*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 69575 *** Anmerkungen zur Transkription Das Original ist in Fraktur gesetzt. Im Original gesperrter Text ist _so ausgezeichnet_. Im Original fetter Text ist =so dargestellt=. Weitere Anmerkungen zur Transkription befinden sich am Ende des Buches. [Illustration: Signet] Wanderschuhe und andere Erzählungen Von Anna Schieber Elftes bis fünfzehntes Tausend. Verlegt bei Eugen Salzer in Heilbronn 1914 Druck: Christliches Verlagshaus, Stuttgart Inhalt Seite Wanderschuhe 1 Ein Sommer 59 Aus Kindertagen 109 Ellen 133 Ein Vater 187 Sein Geburtstag 223 Wanderschuhe [Illustration] Novembernebel lag dicht und schwer auf der Erde; droben auf der rauhen Alb war es. Kaum daß man zwei, drei Schritte vor sich sah. »’s könnt’ Schnee kommen, Herr Pfarrer,« sagte der Ulmer Bote, der neben seinem schwergeladenen Wagen herging und prüfend in die Luft guckte. »Aber freilich, nichts Gewisses weiß man nicht.« Der Pfarrer hatte einen Gast abgeholt, einen jüngeren Freund und Bundesbruder. Er selber war alt geworden im Amt, er war schon viele Jahre hier und mochte auch nicht mehr ans Wandern denken; er war verwachsen mit dem rauhen Stück Erde da oben und mit den Menschen, die auf ihm emporwuchsen. »Ich hätte dir gern die Gegend in sonnigerem Lichte gezeigt,« sagte er zu dem Jüngeren. »Gestern noch wäre es schön gewesen, da hatten wir blauen Himmel und Sonne, die Wälder sind noch vielfarbig bunt, nun müssen wir uns im Hause einspinnen.« Dann saßen sie einander gegenüber in der großen Wohnstube. Ein gutes Feuer brannte in dem mächtigen eisernen Ofen, der von der Küche aus geheizt wurde. Draußen hantierte die alte Magd, die Pfarrfrau war verreist. »Großmutterpflichten,« sagte der Pfarrer lächelnd, »es ist das sechste Enkelkind, drunten im Unterland, wir werden immer reicher.« Drüben auf dem Turm fing eine Glocke an zu läuten. Ernst und schwer drangen die Töne durch den Nebel; oder schien es dem Gast nur so? »Ich muß dich nachher eine halbe Stunde lang allein lassen, du magst dich so lang an meinen Bücherschränken umsehen, die sind dir doch schon längst im Sinne. Es ist eine Beerdigung – und sonderbar genug ist der Fall, ich erzähle dir nachher davon, da du doch auf Geschichten erpicht bist. Nein, nein, laß nur, das wissen wir noch von früher her. Und im Grunde, was ist uns auch näher, als der andern Menschen Geschichte, Lust und Leid, Arbeit, Liebe und Tod?« Der Gast nickte. So war der Pfarrer immer gewesen; unter allen Interessen waren ihm die, die des Menschen Schicksale betrafen, am nächsten gestanden. So war er warmen Herzens ein Vater seiner Gemeinde geworden, ihn konnte man wohl so nennen, es war keine Phrase. Nun läuteten die Glocken zusammen. Draußen der Nebel war dicht und dichter geworden. Der Gast stand am Fenster, das auf den Kirchhof ging und sah, wie sich die Schulkinder mit dem Lehrer um einen aufgeworfenen Hügel versammelten, und wie ein kleiner Leichenzug zu dem unteren Tor herein kam, wie sich der Pfarrer zu ihm gesellte und wie der Sarg, auf dem ein einziger Kranz lag, niedergestellt wurde. Ein Mann mit einem kleinen Bübchen auf dem Arm stand zunächst des Sarges; das mußte der Hauptleidtragende sein. Das alles sah der Gast nur in schattenhaften Umrissen, es war alles dicht eingehüllt in den Nebel, und aus dem Nebel heraus drangen auch dünn und wie verschwommen die Stimmen der singenden Kinder, dann die tiefe Stimme des Pfarrers. In der Stube war es heimelich warm und die Bücherschränke übten ihre Anziehungskraft aus; bald saß der Gast mit einer seltenen Ausgabe der Aeneide im Sofa, aus deren altertümlichen Kupfern er erst den Blick wieder erhob, als der alte Pfarrer vor ihm stand. Der kurze Novembertag ging schon stark zur Neige, und, als müßte es so sein, fielen nun weich und lautlos die Schneeflocken vom Himmel und legten sich auf das neue Grab da draußen, in dem ein unruhiges Menschenherz war zur Ruhe gelegt worden. »Nein, kein Licht, Ursel,« sagte der Pfarrer, als die alte Magd mit der Lampe erschien, »wir wollen im Dämmer sitzen und uns Geschichten erzählen.« Dann, als die Pfeifen brannten, fing er an: »Es war so ein Tag wie heut, das ist nun drei Jahre her. Ich weiß es wohl noch. Wir hatten die beiden ältesten Enkelkinder da, die spielten um den Tisch herum und jauchzten laut, daß es meiner Frau und mir zumute war, als kämen die alten Zeiten noch einmal herauf, wo unsere Eigenen so herumtollten. Über dem ging die Tür auf; wir hatten ein leises Klopfen überhört, und in dem Rahmen stand ein junges Zigeunerweib. Ursel war an den Brunnen gegangen und hatte die Haustür solange offen gelassen, so war die Fremde unberufen bis in die Wohnstube gekommen. Die Kinder verstummten in ihrem Jubel und hingen sich meiner Frau an das Kleid. Ich habe schon viele aus diesem fahrenden Volke gesehen, Siegfried, es hat immer mein Herz bewegt, daß sie sind wie die Wanderschwalben, immer mit dem Trieb in die Ferne, und doch mit der Sehnsucht nach einer Heimat. Aber die hier stand und bittend die Hand ausreckte, die war so das Urbild eines Mädchens aus der Fremde, ein blütenjunges Weib, dem in dem bräunlichen Gesicht Lippen und Wangen in einem matten Rot leuchteten und dem aus dem bläulichen Weiß die Augensterne in einem feuchten, goldenen Braun hervorglänzten, die noch schlanke, junge Gestalt in ärmliche, doch etwas phantastische Gewänder gehüllt. Ich weiß das noch so genau, denn dieses junge Weib ist hernachmals noch oft in meinen Weg getreten und immer sah ich an ihr das Fremdartige, das sich in die Ferne sehnte und doch aus der Ferne wieder zurückstrebte, das Rätsel der Menschenseele, die ein Zuhause sucht durch alle Welt hindurch. Für jetzt bat sie nur in fremdartig klingender Sprache um etwas alte Leinwand und Bettzeug, da in dem Wagen draußen vor dem Dorf, da, wo es hart an den Wald anstößt, ein Kind zur Welt geboren sei, und nichts vorhanden, es einzuwickeln. Meine Frau ging, unter mütterlichem Schelten über den Leichtsinn, solch ein junges Wesen in die Tür zu dieser Welt treten zu lassen, eh’ ihm ein Bett bereitet sei, um einiges, was ihr das Herz eingab, zusammenzusuchen. Da, während ich diese und jene Frage an die Wandernde stellte, beugte sie sich plötzlich, wie von einem unwiderstehlichen Trieb geheißen, zu dem kleinen Mädchen nieder, das sie mit großen Augen ansah, und strich ihm mit einer sachten, weichen Bewegung über das Blondhaar, irgend etwas Zärtliches in fremder Sprache murmelnd. Und sonderbar, das Kind, das sonst scheu sich vor Unbekannten zurückzieht, faßte von dem Augenblick an eine Zuneigung, eine fast leidenschaftliche Liebe zu der Fremden. Das ist nachher – doch ich greife voraus – noch andern so gegangen. Es war ein paar Tage später. Da brachte unsere Ursel eine fast unbegreifliche Kunde mit ins Haus, die im Dorf die Zungen und die Gemüter stark in Bewegung brachte und die auch uns, ich muß es gestehen, nicht ohne einige Aufregung ließ. Draußen, am südlichen Ende des Dorfes – du hast vielleicht beim Hereinfahren das stattliche Giebelhaus mit dem gebräunten Balkenwerk gesehen – wohnte damals ein Junggeselle, von dem man allmählich die Meinung gewonnen hatte, daß er es bleiben würde, ein begüterter Bauer, der sich den Vierzigern näherte, und, seit ihm seine alte Mutter gestorben war, allein mit einer halbtauben Magd in seinem großen Anwesen hauste. Der sollte, so ging nun die Sage, mit der schönen Zigeunerin versprochen sein und sie zur Bäurin machen wollen. Ich konnte es nicht glauben, aus allerlei Gründen nicht. Aber am selben Abend noch, als ich schon in meiner Studierstube bei der Lampe saß, klopfte es an meiner Tür und der Bauer erschien, den weichen Filz etwas verlegen in den Händen drehend, und doch die sonst etwas trockenen Züge des hartgeschnittenen Gesichts von einem inwendigen Licht überglänzt. Ich habe dieses Licht schon je zuweilen auf Menschengesichtern leuchten sehen, und wenn ich es sah, ist es mir immer schwer gefallen, etwas dagegen zu sagen und es hat auch nie viel geholfen. Denn was ist die menschliche Vernunft gegen die geheimnisvolle Macht, die über alles hinüber die Menschen zueinander zieht? Nun, es war richtig so, wie die Ursel es ins Haus getragen hatte. Der Bauer saß mir gegenüber, und als er dann Worte gefunden hatte, da kam die Geschichte zutage. Du weißt, wir stehen gut miteinander, meine Pfarrkinder und ich, sie sind nicht scheu gegen mich. Er hat es vielleicht nicht mit den gleichen Worten gesagt, aber so ungefähr war es doch: als er an jenem düsteren Nebelabend hinausging, die schweren Holzläden an den Wohnstubenfenstern vorzulegen, da stand, wie aus der Erde gewachsen, die Fremde vor ihm. Sie bat um etwas Milch für die Wöchnerin; man konnte von dort aus das flackernde Feuer, über dem der Kessel hing, vor dem Wagen der fahrenden Leute, durch den Nebel sehen. Der Bauer, er heißt Markus Lohrmann, hieß sie ins Haus kommen und führte sie unter das Licht der hängenden Ampel in der großen Stube, wo in einer Ecke die alte Burge saß und spann. Er war von jeher so ein wenig anders, als die meisten Leute im Ort, er gab sich auch mit Bücherlesen ab und hat schon manchen Band von mir geliehen, hat auch eine stattliche Bücherreihe auf dem Brett über dem Sofa stehen. Die alte Burge sah wohl etwas unwillig drein: die Zigeunerin hätt’ auch draußen warten können, was wollte sie hier in der Stube? Aber sie stand doch auf und ging in die Milchkammer, die hinter der Küche lag, um nach einer Weile mit dem gefüllten Gefäß des Mädchens wiederzukommen. Was derweil drinnen in der Stube geschehen war, wußte wohl keines von allen dreien zu sagen; aber es war doch so, daß aus den jungen, seltsam-schönen Augen der Fremden und aus ihrem ganzen Gesicht und Wesen der rätselhafte, zündende Funke auf den Mann übergesprungen war, der seither von den Mädchen im Dorf für einen hagebüchenen Einspänner hatte gehalten werden müssen. Burge mußte sich fast zu Tode wundern, daß nach dem Abendessen der Bauer, der sonst um diese Zeit sich über eines seiner nachdenklichen Bücher zu beugen pflegte, noch einmal seine Kappe aufsetzte und in den dicken Nebel hinausging. Sie blieb, als sie mit den Abendgeschäften fertig war, hinter dem Spinnrad sitzen und mag da wohl über dem Warten eingenickt sein, denn sie fuhr erschrocken empor, als ihr mit einemmal der Bauer die Hand auf die Achsel legte: »Warum gehst du nicht ins Bett, Burge? Es hat elf Uhr geschlagen, du solltest längst drinnen sein.« Ihm selber hingen im Haar und in dem dunkelblonden, dünnen Schnurrbart die feuchten Nebel, die sich zu kleinen Tropfen sammelten. Er war stundenlang umher gelaufen, um eine Unruhe los zu werden, die er selber nicht an sich kannte, aber sie war nur größer geworden. Freilich, er hatte sie auch im Umkreis des flackernden Feuers herumgetragen, anstatt weit hinaus zu laufen über die Felder hin oder ins Dorf hinein. Aus dem Wagen war Zitherklang gekommen und Gesang einer Frauenstimme; eine fremdartig-sehnsüchtige Melodie kam zu ihm herüber, die Worte konnte er nicht verstehen. Dann, als eine Weile alles still war, glaubte er das Weinen eines Kindes, ein dünnes, hohes Stimmlein zu hören. Aber es wurde durch Männerstimmen und dann wieder durch ein Hundegekläff abgelöst. Am andern Morgen erschien das Mädchen wieder mit dem Milchgefäß, gerade zu der Zeit, als Burge im Stall auf dem Melkstuhl saß und der Bauer die beiden Taglöhner, die bei ihm schafften, anwies, ihm nur voraus auf den Rübenacker zu gehen. Und da geschah das Merkwürdige, daß der große schottische Schäferhund des Bauern, der in der Stube auf einer alten Strohdecke lag, winselnd zu der Zigeunerin herrutschte und ihr seine eiternde Vorderpfote zeigte, wie ein Kind, das fragt: Kannst du mir nicht helfen? Sie aber beugte sich, wie sie es bei unserem Enkelkind getan hatte, nun zu dem Tier herunter, das sie mit großen, ausdrucksvollen Augen ansah, strich ihm sachte und lind über das Fell mehrere Male und fing dann an, die kranke Pfote zu bestreichen. Das alles tat sie nur mit einigen leisen, halbsingenden Tönen, – su su – sie schien den Bauer dabei vergessen zu haben. Und, nun magst du darüber sagen, was du willst, aber der Hund, der schon seit Wochen auf dem Stroh gelegen, der stand doch, als das Mädchen gegangen war, auf, und kratzte bellend an der Tür; er wollte ihr nach, und seinem Herrn erging es nicht anders. Die Pfote soll auch noch denselbigen Tag geheilt sein. – Der Pfarrer blies nachdenklich einige leichte Wölkchen aus seiner Pfeife, als wollte er in den krausen Gebilden, die sich im Dämmerschein ergaben, eine Lösung suchen für das Rätselhafte, das mitunter in unser Leben tritt in allerlei Gestalten. – Dann fuhr er fort: früher hat man Hexen verbrannt, heute nennt man es Sympathie. Aber wir wollen nicht zu den Alleswissern gehören, Siegfried. Es ist so viel Wunderbares rings um uns herum, was hilft es uns, daß wir ein Wort dafür suchen? Es liegt doch hinter unserem Horizont, wenigstens jetzt noch. – Aber ich habe ja nur zu berichten, nicht zu erklären, sagte er lächelnd. Markus Lohrmann war es, als habe dieselbe leichte Hand, die vor seinen Augen den Hund gestreichelt hatte, auch ihm selber Stirn und Augen berührt und dort allerlei weggetan, was ihm bisher das Leben verhüllt hatte: er sah, daß die alte Burge doch bei all’ ihrer grämlichen Treue nicht das für ihn sei, was er zum Leben brauche; daß seine Stube öd sei und sein Tagwerken niemand nütze. Und er fing an, sich zu wundern, daß nie eine von den Dorfmädchen so in seinen Augenkreis getreten sei, daß er sich, wie bei der Wandernden, immerfort herzklopfend nach ihr hatte hinwenden müssen. Wie oft hatte man ihm früher das Heiraten vergeblich vorgestellt; aber dies hier war doch ein anderes Ding. Und daß ich’s kurz mache; nachdem er sich den einen und andern Tag umsonst damit herumgequält hatte, die schöne Fremde aus seinem Denken und Fühlen auszuschließen, ging er ihr nach, als sie dort am Waldrand dürres Holz aufzusammeln beschäftigt war und fragte in stockenden Worten, ob sie denn nicht bei ihm bleiben könne, nun die andern, die im Wagen dort, weiterzögen. »Als deine Magd?« fragte sie und richtete sich auf. Es sei ein seltsames Glänzen dabei in ihren Augen gelegen, – doch das lag ja eigentlich allezeit darin – so als wenn die Königstöchter in den Märchen für eine Zeitlang in Lumpen gehen müssen, weil ihnen ein Zauberer das angetan hat, und nun doch ein Eckchen des goldenen Kleides darunter hervorguckt. Da faßte sich der Bauer ein Herz; er mag wohl in den wenigen Sekunden, die es dauerte, seine ehrsame Verwandtschaft im Dorf überflogen haben und die Gesichter, die sie machen würden, wenn er ihnen die Zigeunerin zuführte, und das Gesicht der Burge, wenn sie die neue Bäuerin sähe. Aber das konnte alles nichts helfen, denn wenn er dachte, daß Mirza wieder aus seinem Leben entschwinden würde und er sie nie mehr sähe, dann tat ihm etwas im Innersten weh, wie noch nichts in seinem Leben. Also atmete er tief auf und sagte: »nein, als mein Weib, denn –« da wußte er nicht mehr weiter und sah sie nur hilflos an; aber als sie wie in ausbrechender Freude das gesammelte Holz aus der Schürze fallen ließ und die Arme hoch in die Luft hob, da wagte ers und legte zaghaft den einen Arm und dann auch den andern um sie. Sie hatte sich immer, wenn sie durch die Städte und Dörfer kamen, nach einer Heimat gesehnt, nach einem Dach, unter dem man wohnen und bleiben konnte; ob auch nach einem Herzen, das ihr allein gehöre, das weiß ich nicht. »Der Jarno ist gestorben,« sagte sie; »er hat mich gewollt und ich hätte ihn auch nehmen müssen. Aber er war so wild und ich kann das nicht leiden.« Sie sah ihn aufmerksam an, als müsse ihr aus dem minutenlangen Sehen ein Wissen um des Freiers ganzes Wesen erwachsen. »Du bist gut,« sagte sie dann kopfnickend, »ich habe es gleich gesehen, daß du gut bist. Nun kommt der Winter und es wird kalt; ja, ich will bei dir bleiben.« Das alles sagte sie wie aus Träumen heraus; sie ließ es aber geschehen, daß er sie fester an sich zog. Mehr hat er mir nicht davon erzählen wollen; ich mußte es aus seinem freudig aufgewachten Wesen lesen, daß für ihn mit Mirza, – denn wir nannten sie bald alle so – wirklich die Zeit angebrochen war, da man aus dem Alleinsein für sich in das Alleinsein zu Zweien übergegangen ist.« »Aber,« der Gast rückte etwas unruhig in seiner Sofaecke hin und her, – »du als Pfarrer, ich meine, es hätte da doch« – Sein freundlicher Wirt unterbrach ihn. »Kommt schon, Siegfried, ich weiß, du meinst, ich hätte da nachsehen müssen, wie es mit dem Katechismus und mit der Moral und dem Vorleben bestellt gewesen sei. Das haben andere mich auch gefragt; ich weiß, ich bin dazu bestellt, daß alles ordentlich und recht zugehe in meiner Herde. Aber siehst du, manche Menschen haben es auf dem Gesicht geschrieben, was sie sind. Da haben Gott oder die Natur oder wie du es nennen willst, etwas gemacht, das für sich selber redet. – Wir hatten in meinem väterlichen Garten ganz hinten in der Ecke einen Schutthaufen, auf den alles Abgängige geworfen wurde. Es wuchsen Nesseln darauf, auch manchmal ein Stechapfel oder eine Distel. Aber eines Tages standen weiße Lilien darauf. Weiße Lilien, hoch und schlank und mit den goldenen Staubfäden in dem Grunde der weißen Kelche. Und wir versammelten uns alle darum und staunten, und mein Vetter, der Apotheker, sagte, daß das eigentlich gar keine richtigen Lilien sein könnten, denn die wüchsen nur, wenn man sie pflanze und pflege. Aber da lachten Alle, denn es waren unzweifelhaft weiße Lilien und man wußte nur nicht, wie der Samen, oder eine Zwiebel davon unter die Komposterde gekommen sei; sonst war da keine Frage. – Nun,« er unterbrach sich, »ich wollte nicht sagen, daß Mirza eine weiße Lilie gewesen sei. Nur, etwas Besonderes unter ihresgleichen, das war sie schon. Und das andere fand sich auch noch. Markus Lohrmann hatte sie zu einer Base gebracht drüben im Filialdorf. Das war die einzige aus seiner Verwandtschaft, die er um solche Güte ansprechen konnte, wie es die war, eine Zigeunerin ins Haus zu nehmen. Sie war arm, und es war so mancher Sack mit Kartoffeln und mancher Brotlaib schon in ihr Häuslein gewandert im Lauf der Jahre. Er hatte ihr Geld gegeben, daß sie die Fremde in landesübliche Gewänder kleide und sie hatte das auch getan. »Aber,« flüsterte sie dem Vetter zu, als er darauf kam, die Braut zu besuchen, »sie sieht trotzdem nicht aus, wie eine Bäurin, da magst du machen, was du willst.« Nein, so sah sie ja freilich nicht aus. Als er in die niedrige Stube trat, erhob sich von der Bank, wo sie nähend gesessen hatte, eine Gestalt, die ihm vertraut und doch fremd war, in dem weiten, gefältelten Rock, der die Füße in blauen Strümpfen und niederen Lederschuhen freiließ, der breiten Bundschürze und dem Leibchen aus rot und blau gewürfeltem Zeug, aus dem die weißen Hemdärmel hervorkamen. Drüben auf dem Bett, dessen Vorhänge zurückgeschoben waren, lagen noch die weiteren Stücke der Ausrüstung, der tuchene Spenser und das breitbebänderte Spitzhäubchen der Älblerinnen. Also das war seine Bäurin, seine. Sie sah nicht aus wie die andern, sie war auch jetzt nur in einer Vermummung, wie sie es zuvor in den zusammengeschenkten Bettlerkleidern gewesen war. Aber sie sah ihn lächelnd an, mit freudigen Blicken, sie hatte sich das dunkle, weiche Haar gescheitelt und in zwei Zöpfe geflochten. Draußen sauste der Wind vorbei, die Fenster des Stübchens klirrten. Da erschauerte sie leise und barg sich bei ihm. »Ich habe nun Heimat und Haus und dich,« sagte sie, »wo aber mögen die andern sein?« Ihm aber war es recht, daß sie nichts von »den andern« wußte, er wollte nur sie allein und bei aller Liebe, mit der er sie umfaßte, die übrige Gesellschaft wußte er doch am liebsten in möglichst weiter Ferne. Sie hatte auch keine nahen Verwandten unter ihnen, ihre eigenen Leute waren gestorben. Bald darauf kamen sie einmal miteinander zu mir; es war in der Abenddämmerung. Markus Lohrmann wollte so schnell als möglich Hochzeit machen und, da es doch einmal sein sollte, war es auch besser so, schon damit das Geschrei und Gezeter im Dorf aufhöre; denn das hatte er nicht mit Unrecht vorausgesehen, es war ihm nichts davon geschenkt worden. Nun hatte ich mit ihnen zu reden, wie sie es mit dem Hausstand und mit der Trauung halten wollten. Denn er war evangelisch; Mirza aber gehörte, wenn man davon überhaupt reden konnte, der katholischen Kirche an. Freilich, sie wußte nicht viel von deren Lehren, nur einige stark abergläubisch vermischte Formeln, wie sie unter den fahrenden Leuten von Mund zu Mund gingen. Ich hatte einiges gefragt und es war still in der Stube. Da sah sie mit hingebenden Augen ihren Verlobten an: »Du bist gut und ich will bei dir daheim sein – ja, ich will sein, wie du bist.« Das war vielleicht ein mangelhafter Grund, auf dem die neue Gotteserkenntnis aufgebaut werden sollte. Aber ist nicht beim Besten in uns immer wieder das Verlangen nach einer Gemeinschaft, ist nicht die Liebe immer wieder die treibende Kraft gewesen? Nun kamen manche Tage, da das fremde Mädchen, freilich jetzt in Bauerntracht und mit hängenden Zöpfen, mir gegenüber saß. Es war bald nicht mehr der Wunsch allein, so zu sein wie Markus Lohrmann, es war, als sprängen in dieser jungen Seele lauter Quellen auf, die bisher geschlafen hatten. Mitunter öffnete sie die Lippen, wie durstig, einen frischen Trunk einzuschlürfen, wenn ich sie an der Hand nahm, um sie aus dem dämmernden Halbdunkel, in dem Dämonen, Amulette, Alräunchen und allenfalls die fernen Heiligen regierten, unter den freien Himmelsdom zu führen, in dessen tiefem Blau eine Sonne über allen schien, und, wie wir in Ehrfurcht und Herzensmüssen glauben, ein Herz für alle war. Ich habe nicht von mir zu reden. Sonst, Siegfried, es ist auch nicht nichts für unsereinen; wenn man Sonntag für Sonntag seine Bauern vor sich sitzen hat – nun, ich habe die meinigen gern – aber man weiß nicht sicher, denken sie nun an Korn und Haber und Viehhandel, oder an ihre Krauthäfen daheim die Weiber, oder hören sie, was du sagst. Es ist auch nicht nichts, wenn so ein paar durstige braune Augen so dringlich fragen: »Hast du sonst noch etwas? gib mir alles, was du hast.« In diesen Stunden stahl sich wohl mein Enkeltöchterchen leise zu uns herein und schlüpfte, die Augen auf mich gerichtet, ob ich es nicht verjagen werde, zur Mirza hin. Die faßte die kleine, warme Kinderhand, ohne sich im übrigen zu rühren, und das Kind saß glücklich dabei, wie ein Vögelein unter Flügeln sitzt. Auch das nahm sein Ende. Eines Tags im Dezember standen die beiden, Markus Lohrmann und Mirza, vor dem Altar. Draußen wehte es stark, ein scharfer Nordostwind fegte durch die Gassen und über unsere Hochfläche hin, und ich, als mir bei den wenigen Schritten vom Hause bis zur Sakristei der Kirchenrock flatternd um die Beine schlug, mußte es nachsprechen, was ein anderer vor mir gesagt hat: »weh’ dem, der keine Heimat hat.« Nun, die beiden, die sich in dieser Stunde die Hände gaben, die hatten ja nicht nur ein Dach über sich, sondern, was erst recht die Heimat macht, ein Herz, um darin daheim zu sein, ein jedes im andern. Zwar daß bei ihm die Leidenschaft stärker und tiefer war, als bei ihr, das hatte ich schon gesehen. Aber sie hatte sich doch hingebend und nicht ohne eine stille Innigkeit in ihn gefunden und wollte ihm allein gehören; das mußte genug sein. Seltsam, daß so die Rollen vertauscht waren: unsere Albbauern haben es sonst nicht so stark mit den Gefühlen, sie sind mehr aufs Nüchterne, Praktische gerichtet, und das fremde, dunkeläugige Volk der Zigeuner, das gilt bei uns eher für heißblütig und leicht hingerissen. Das war aber nun, wie es war. Mir kamen die beiden nun für eine Zeitlang mehr aus den Augen; es war Winter und es gab allerlei Kranke am Ort, die ich zu besuchen hatte. Doch hörten wir ab und zu, daß dort draußen in dem Hause mit den braunen Balken alles gut gehe, den Schwarzsehern und Unglücksraben, die alles Böse hatten prophezeien wollen, zum Trotz. Selbst die alte Burge, die anfangs gemeint hatte, daß nun der Himmel einstürzen müsse, ließ sich, als gegen den Frühling hin eine böse Grippe ins Dorf kam, gern von den leichten und geschickten Händen des jungen Weibes pflegen, und mir war, als ich sie besuchte, als ob ihre grämlichen, harten Züge einen sanfteren Ausdruck gewonnen hätten. Da kam ich einmal, als die Märzstürme mit aller Macht bliesen und auf den höhergelegenen Flächen den Schnee wegfegten, gegen Abend vom Nachbarort her. Es war eine frische, reine Luft, es lag etwas frühlinghaftes trotz der Schärfe darin und ich blieb stehen, um – den Hut hatte ich abgenommen – ein paar tiefe Züge davon einzuatmen und mir auch den alten Kopf ein wenig durchwehen zu lassen. – »Du weißt, ich bin hart gewöhnt worden da oben,« unterbrach sich der Erzähler lächelnd, »ihr Jungen hättet euch vielleicht dabei einen Schnupfen geholt.« Da sah ich auf dem kleinen Hügel, den eine einzelne alte Eiche bekrönt, eine Frauengestalt unbeweglich stehen. Sie wandte mir den Rücken, sie sah in den sinkenden Abend hinein. Dort, im Westen, hingen einige leuchtende Wolken, denen die schon entschwundene Sonne schmale Purpursäume gewoben hatte. Ich sah es nun auch, sie veränderten ihre Form in rascher Folge, ballten sich zusammen und flossen auseinander, eine reichere Phantasie als die meinige hätte wohl allerlei Wesenheiten aus ihnen geschaffen. Mir will so etwas nie gelingen. Das aber sah ich, daß die Frau da oben wie in einer starken Bewegung die Arme ausbreitete und so eine kleine Weile regungslos verharrte. Dann, als rasch nacheinander die Purpurfarben am Horizont verlöschten und es dort grau und trübe wurde, wandte sie sich langsam um und ging mit zögernden Schritten den schmalen Weg, der zu der Landstraße führt, herunter. Und ich sah, daß es Mirza sei. Wäre es eine Fremde gewesen, ich wäre weitergegangen. So blieb ich noch eine Weile stehen, um sie herankommen zu lassen. Sie sah mich erst, als sie fast vor mir stand. Ich aber sah, daß ihr Gesicht tiefernst war, und daß ihre Augen immer noch in die Ferne gingen, wie in einer großen Sehnsucht. Als sie mich gewahr wurde, schrak sie zusammen, wie jemand, der in Träumen gegangen ist und den man angerufen hat. Dann färbte sich ihr Gesicht langsam mit einer dunklen Röte, aber sie faßte sich schnell und streckte mir die bräunliche Hand hin: »Guten Abend, Herr Pfarrer.« Ich wollte sie nicht fragen, was sie da draußen zu suchen gehabt habe bei sinkendem Tag; ich fragte nach ihrem Haus und ihrem Mann, nach Burge, die wieder gesund war und sagte scherzweis: »Und im Pfarrhaus, da lässest du dich gar nicht mehr sehen, seit du die Lohrmannsbäurin geworden bist, – oder ist es, seit das Agathlein nicht mehr da ist?« Das Agathlein, du weißt es, ist das Enkelkind, das sich so schnell in die Fremde verguckt hatte. Sie gab mir auf alles Red’ und Antwort, aber doch wie eine, die nur mit Mühe dabei ist und neben dem, was es aussprach, schien ihr Mund immer noch etwas zu hüten, was er verschweigen mußte. So kamen wir selbzweit bis an das Haus, unter dessen Tür der Ehemann stand und nach seinem Weibe Ausschau hielt. Er sah heiter aus und bot mir die Hand. »Ja, nicht wahr, Herr Pfarrer,« sagte er, »mein Weib, das fürchtet sich nicht vor Wind und Wetter.« Und, als er sah, daß Mirza zusammenzuckte, sagte er mit einem guten Lächeln: »Ich weiß es wohl, sie ist das Stubensitzen nicht gewohnt, sie muß sich hie und da verlüften. Aber wart nur, sei’s um kurze Zeit, so fängt draußen das Ackern an, da kannst du frische Luft haben, und Bewegung, grad genug. Und man hat einen weiten Umblick bei uns da oben.« Er lachte ein frohes Lachen: »Das ist dann doch anders, so im Eigenen, mit der Sonne hinaus und mit der Sonne heim.« Das Weib stand still daneben. Dann, als zwinge sie etwas hinunter, atmete sie auf. »Du bist gut,« sagte sie und drängte sich an ihn. Immer wieder: »Du bist gut.« Da gingen sie miteinander ins Haus und ich dachte: »Um die zwei brauchst du keine Sorge zu haben, die wachsen schon zusammen,« aber ich konnte es doch nicht ändern, daß mir hie und da wieder das sehnliche Gesicht vor die Seele trat, das ich da außen gesehen hatte. Da, es war schon gegen Ende April – auch bei uns, zu denen der Frühling erst spät kommt, knospeten die Hecken und standen die Veilchen im Grase – kam die Bötin aus dem Nachbarort bei uns vorbei; sie hatte meiner Frau etwas aus der Stadt mitgebracht. »Ja, ja,« sagte sie, als sie in der Küche saß und eine große Schüssel mit heißem Kaffee vor sich auf dem Tisch stehen hatte, »ja, ja, so geht’s, wenn man etwas anderes will, als Seinesgleichen. Die Marie vom Adlerwirt, die wär ihm nicht davongelaufen, und ist auch eine saubere, postierte Person; es hätt’ nicht gerad eine schwarze Zigeunerin sein müssen; aber wer nicht hören will.« Ich kam gerade an der Küche vorbei und hörte ihr Reden. »Was sagt sie da, Bötin?« fragte ich. »O nichts, als daß der Lohrmann ja jetzt das Nachsehen hat, er hat sie ja nun den Winter über durchgefüttert.« Ich wollte nichts mehr hören, es durchfuhr mich doch in jähem Schreck. Und, obgleich es Samstag war und meine Predigt noch nicht fertig, nahm ich Stock und Hut und ging ans Ende des Dorfes, um zu sehen, was es mit der Sache auf sich habe. Der Bauer war in der Scheuer, er machte sich allerlei zu tun, aber ich sah doch auf den ersten Blick, daß seine Gedanken nicht beim Futterschneiden seien. Als er mich gewahrte, sah er mit einem eigenen, stillen Blick auf, darin nichts von der Frohheit der letzten Zeit lag, aber etwas anderes doch, das mir für ihn wohl tat, etwas Unentwegtes. Er führte mich wortlos in die Stube; dann erst, als er die Tür hinter sich geschlossen und mir einen Stuhl angeboten hatte, sagte er: »Ich weiß wohl, warum Sie kommen, Herr Pfarrer; ich dank’s Ihnen. Aber wenn’s nach mir gegangen wäre, ich hätt’s keinem Menschen gesagt. Sie können’s nur immer nicht schnell genug ausschnüffeln, die Leut’, wenn irgendwo etwas nicht im Gleis ist. Die Burge hätt’ nichts gesagt, die auch nicht. Aber der Fuhrknecht vom Lammwirt, der hat sie gestern in der grauen Morgenfrühe gesehen, wie sie mit einem ganz kleinen Bündelein in der Hand Blaubeuren zugegangen ist. Und, Herr Pfarrer, sie hat das rote Tuch um Kopf und Schultern gehabt, in dem sie einst hierher gekommen ist. Im Lamm hat er’s erzählt, sie sei gegangen, wie auf Federn, so leicht, und leis vor sich hingesungen habe sie. Jetzt wissen sie’s im ganzen Dorf und das ist mir leid um sie. Denn sie kommt wieder, o Herr Pfarrer, sie kommt wieder, sie kann es gar nicht anders. Es ist nur das Frühjahr, ich seh’s gut, ich seh’ in sie hinein wie in einen Spiegel.« Und damit stieg ihm wieder etwas von der Freude in die Augen, als ob er sein Weib schon vor sich sähe, wie sie zur Tür herein käme: da hast du mich wieder. »Und dann, wenn sie kommt?« ich fragte es eigentlich ohne Not; denn ich sah es ja, wie er sie aufnehmen würde. Da brach es aus seinen blauen Augen wie ein heller Strahl. »Dann?« Er ballte gewaltsam die Hände zu Fäusten und preßte die Lippen aufeinander, daß sie es nicht hinausschrieen, was dann sei; die Augen mußten es ganz allein sagen mit ihrem Leuchten. Und ich sagte und wandte mich wieder zum Gehen, denn der hier wurde allein fertig: »ja, ja, Markus, die Liebe muß immer das letzte Wort behalten. Gott geb’s, daß sie es auch bei euch tue.« »Es ist mir nur um sie. Sie hat so wie so keine Freunde im Dorf; sie werden arg über sie herfallen. Aber was tut’s am Ende? Daheim ist sie doch nur bei mir.« Damit gab mir Markus Lohrmann das Geleite bis vor die Tür und schon als ich ein kleines Stück weit vom Hause entfernt war, hörte ich wieder das Klappern der Futterschneidemaschine. Am andern Tag, als wir unseren Sonntagsspaziergang machten in den Frühlingswald hinaus, meine Frau und ich, kommen wir an Lohrmanns Haus vorbei: da saß im Sonnenscheine die alte Burge am offenen Fenster. Sie hatte die Brille auf der Nase und das Gesangbuch auf dem Schoß, aber ihre Augen gingen ins Weite, und als sie uns herbeikommen sah, winkte sie mächtig mit dem Kopf: »ich bin allein im Haus, der Bauer ist mit seinem Weib hinaus, sie wollen ein bißchen nach der Saat sehen.« Und, als wir beide uns in freudigem Schrecken nach ihr hinwandten; fuhr sie fort: »ja, ja, das Böse kommt immer schneller herum, als das Gute, aber heut in aller Gottesfrühe, es waren noch die übernächtigen Sterne am Himmel, da höre ich doch trotz meiner dicken Ohren, daß etwas draußen am Laden herumtastet. Und da schlägt auch schon der Hund an und reißt an der Kette, wie toll, aber eh’ ich meine Röcke überwerfen kann, geht schon die Haustür und der Bauer tritt über die Schwelle. Geschlafen hat er nicht die zwei Nächte, das weiß ich wohl. »Ich muß bei der Hand sein, wenn sie kommt,« hat er gesagt. Und als ich meinen Laden aufstoße, da steht sie richtig draußen und guckt ihn so an, als ob sie heulen und lachen möchte an einem Stück, und er nimmt sie nur so an beiden Händen und sagt: »komm, komm;« es hat ihm ganz die Stimme verschlagen. Und er zieht sie so an den Händen ins Haus herein und läßt die Türe wieder ins Schloß fallen. Da müssen sie lang gestanden sein, denn erst nach einer Viertelstunde hab ich ihre Kammertür gehen hören. Ich bin wieder ins Bett gestiegen, ich bin ein alter Mensch und die Nächte sind kalt. Und es war mir auch, ein drittes sei zu viel dabei: Aber wie ich dann hinauskomme ein paar Stunden später, da hantierte die Frau schon in der Küche, und der Bauer steht dabei und guckt ihr zu, wie sie die Milch seiht, und der Hund, Gott verzeih’ mir’s, wenn’s eine Sünd’ ist, aber der steht daneben und frißt sie fast mit den Augen, ganz gleich wie der Bauer. Und wie ich sag: »so, so, auch wieder da?« und daß wir in der Angst gewesen sind, – da hat sie die Augen voll Tränen und lacht dazu und sagt: »Burge, Burge, ihr hättet mich sollen nicht ins Haus nehmen, so einen Wandervogel. Ich hab hinaus müssen, ich wär gestorben sonst. Aber, – und dann guckt sie den Bauern an, daß es mir altem Weib ganz siedheiß wird unter dem Kittel – haben müßt ihr mich jetzt doch, denn ich muß hier daheim sein, das kann man nicht mehr ändern. Es ist eine Not.« Und dann schlüpft sie an ihn hin, wie ein Kind, wenn es Angst hat, und, Herr Pfarrer, ich mag’s kaum sagen, aber der Bauer trägt sie ja richtig auf seinen Armen in die Stube und sagt: »mit einem siebenfachen Seil bind’ ich dich an, daß du mir nicht entlaufen kannst«, und sie sagt immer nur: ja, ja, bind mich an, aber mir ist angst, ich komme dir doch noch hinaus.« Die alte Burge schüttelte den Kopf. »Was soll ein alter Mensch, wie ich bin, dazu sagen? Ich habe in meinem ganzen Leben noch nichts solches gesehen, es ist nicht der Brauch bei uns. Aber so eigentlich bös sein, das kann man ihnen beiden nicht.« Und damit nahm das runzelige, trockene Gesicht einen Ausdruck an, den es noch nie gehabt hatte vorher; sie liebte Mirza, wider ihren Willen. »Sagen, Burge? wir wollen gar nichts sagen.« Meine Frau war in mütterlicher Wallung für die beiden Menschen. »Gott behüt uns alle, wir haben’s alle nötig.« Und damit setzten wir unseren Weg fort, und als wir von Weitem ein Menschenpaar Hand in Hand durch die hellgrünen Saatfelder gehen sahen, bogen wir auf ein Seitenweglein ab. Denn wir hatten nichts dabei zu tun. Wir haben es später erfahren, daß Mirza auf den Blaubeurer Felsen herumgestiegen sei und auch, unter einen überhangenden Stein geduckt, frierend dort genächtigt habe. Und daß sie, hin- und hergerissen von ausbrechender Wandersehnsucht und von dankbarer Liebe zu dem Mann, der sich selbst und sein Haus zu ihrer Heimat gemacht hatte, umhergewandert sei, bis sie im Talgrund unten einen Wagen mit Leuten ihres Volkes gesehen habe. Da sei es ihr in heißem Schreck ins Herz gefahren, daß sie zu ihnen nicht gehöre, und sie sei atemlos gelaufen bis vor die Schwelle »seines« Hauses. Und sie hat ja nicht vergeblich dort geklopft, da die Liebe wach war und auf sie wartete.« – Der alte Pfarrer stand auf und ging ein paarmal im Zimmer auf und ab. Der Gast wußte, daß er nun eine innere Bewegung und vielleicht auch die Versuchung, eine Nutzanwendung zu dem Gesagten zu machen, in sich unterdrückte; so saß er schweigend und wartete. Der Feuerschein aus dem Ofen fiel durch das geöffnete Türchen auf den weißen Stubenboden; draußen war es dunkel. Ursel steckte den Kopf zur Tür herein. »Bring ein Krüglein Wein, Ursel. Nein, nicht vom Neuen, von dem kleinen Fäßchen im Eck, alten roten. Und dann auch die Lampe.« Nun kam der Hausherr wieder in Zug. »Es ist nicht bei dem einenmal geblieben,« fuhr er fort. »Sie ist noch hie und da, dem dunklen Trieb in die Ferne gehorchend, auf einen oder zwei Tage aus ihres Mannes Haus verschwunden und immer wieder beim Sternenschein oder beim ersten Hahnenschrei zurückgekehrt. Er hat sie jedesmal mit der steten Treue seines Wesens aufgenommen, und sie barg sich dann, wie in wachsender Angst vor sich selber, in seinen Armen. Ich sah aber doch hie und da, daß ein Zug von stiller Schwermut auf dem Gesicht des Mannes lag, bis er eines Tags wie übersonnt vor Freude in mein Haus trat. »Er ist da,« sagte er, »der Bub, wir haben einen Buben.« Ich mußte mich mit ihm freuen. »Das ist ja gut,« sagte ich und gab ihm die Hand, »nun wird ja auch die Mutter noch fester bei euch einwurzeln, als sie es bisher getan hat, nun, da sie die Wiege neben dem Bett hat.« »Das wird sie, so Gott will,« sagte der Bauer und wieder brach ein freudiger Strahl aus seinen Augen, »wir zwei, wir binden sie an auf immer, der Bub und ich.« Meine Frau konnte dem Drang ihres mütterlichen Herzens nicht lange widerstehen. Sie wußte es wohl, das fremde junge Weib hatte keine Freundinnen unter den Dorfweibern. Und wenn auch die alte Burge da draußen herumhantierte, – kurz, sie mußte hin und nach dem Rechten sehen. Es war ein sonniger Märztag, als sie den Gang machte. Und als sie an den niedrigen Fenstern vorbeiging, die halbgeöffnet waren, da drang ein leiser, lieblicher Gesang an ihr Ohr. Das war Mirza, die ihrem Kindlein ein Wiegenlied sang, eine fremdartig süße Weise, wie deren die wandernden Leute so viele haben. Drinnen soll es lieblich genug ausgesehen haben. Die junge Mutter hatte das Büblein an der Brust und der Vater stand, ein Schnitzmesser in der Hand, unter der Tür, die nach dem Stadel hinausführte und konnte sich nicht ersättigen am Anblick der beiden dunkelhaarigen Köpfe, die da so traut beieinander auf den Kissen lagen. Denn das Kindlein hatte einen Wald von schwarzem Kraushaar und die großen, glänzenden Augen der Mutter mit in die Welt hereingebracht. »So ist er jetzt immer,« sagte Burge, »hundertmal läuft er von allem Geschäft weg und guckt die zwei an, als ob sie ihm könnten gestohlen werden.« Aber sie selber machte es nicht viel anders, das konnte man deutlich sehen. Sie versorgte Mirza und wickelte das Kind und besorgte den Hausstand. Es war, als ob sie Räder an ihre alten Füße bekommen hätte und ein junges Gesicht dazu. Das machte alles die Freude. »Viel zu gut habe ich’s,« sagte Mirza. »Die Frauen meines Volkes – wenn ich denke, wie sie hinter einer Hecke oder auf einem Heuhaufen –,« sie brach ab, als der Mann mit einer hastigen Bewegung auf sie zukam: »Dein Volk ist jetzt hier, Mirza, bei uns, bei mir, sonst nirgends mehr.« Und sie preßte das Köpflein des Kindes an sich und sagte: »ja, ja, das ist es. Aber ich kann’s nicht ändern, ich muß auch an die andern denken.« Und leiser, das rote Fäustchen und das sattgetrunkene Mäulchen küssend, fuhr sie fort: »er hat’s gut, mein Kleiner. Er ist da geboren, wo er hingehört. Ihn wird es nicht in der Welt herumwerfen – und nicht hinausziehen mit aller Gewalt.« »Ja, und du bleibst nun auch da, Mirza, nun bleiben wir alle beieinander,« sagte der Mann, und es sei eine leise Angst und eine rührende Bitte in seinem Ton gelegen, sagte meine Frau. Nun ging ein Jahr hin, – mehr als ein Jahr – ein Sommer und ein Winter und wieder ein Sommer, das war für Markus Lohrmann eine gute Zeit. Ich weiß noch einen Sommertag vom vorigen Jahr; es war im Heuet; draußen an der großen Wiesenbreite gegen die Elchinger Markung hin gingen wir beide, das Agathlein, das zum Besuch gekommen war, und ich, selbander spazieren. Das heißt, das Agathlein hüpfte mir voraus, immer drei Schritte vor und einen zurück, und machte einen Strauß aus Heckenrosen und gelbem Ginster und solchem Blumengezeug an den Rainen, das nicht unter der Sense gefallen war. Und dazwischen hinein sah es sich um, ob der Großvater auch nicht verloren gehe. Aber auf einmal, an einer Wegbiegung, – es stand eine Gruppe von Schlehdorngebüsch davor, tat das Kind einen Schrei aus seinem freudigen Herzlein heraus und rannte gradeaus über die Wiese hin, bis wo unter einem Vogelbeerbaum ein Häuflein Menschen saß, offenbar beim Vesper. Ich stieg langsamer hintendrein, bei unsereinem pressiert’s nicht mehr so stark; da fand ich das Agathlein schon neben seiner Freundin Mirza auf dem moosigen Mäuerlein sitzen, das dort die Wiese abschließt, und es hatte auch wie die andern ein Stück Käsbrot in der Hand, von dem es fröhlich herunterbiß. Das schwarzhaarige Büblein, das für seine viereinhalb Monate schon prächtig herangediehen war, das lag mit weitoffenen Guckaugen auf seiner Mutter Schoß und krabbelte mit den Händlein an ihrer Brust herum, als ob es wisse, daß es jetzt dann an die Reihe komme mit der Mahlzeit. Mirza war, wie Burge und wie der Mann und die beiden Taglöhner, in Hemdsärmeln. Sie unterschied sich durch nichts als durch ihre fremdartige, dunkle Schönheit von einer echten Albbäurin. Aber das Sehnsüchtige, Rätselhafte in ihren Augen und um ihren Mund, das war jetzt ausgelöscht oder doch zugedeckt durch eine weiche, mütterliche Freude an dem jungen Leben, das sie in ihrem Schoße hielt, und als sie aufsah und mir die Hand hinstreckte, tat sie es mit einem Lächeln, wie es nur ein Mensch hat, dem es im Herzen wohl ist. Ich bin damals eine gute Vesperviertelstunde lang mit unter dem Eschenbaum gesessen und auf dem Heimweg war mir’s warm, nicht von der Sonne allein, auch nicht von dem Glas Bratbirnenmost, das ich nicht hatte ausschlagen wollen; so ein Stück reifen, guten Sommerglückes, das man Menschen, die man gern hat, genießen sieht, das wärmt einen im Innersten. Das Agathlein, – das muß ich noch sagen – blieb auf der Wiese zurück. »Ich muß den Marx hüten, die Mirza muß wieder schaffen,« rief sie mir nach. Und als ich mich einmal umwandte, da sah ich Markus Lohrmanns Weib, wie sie rüstig neben ihm mit dem Rechen hantierte; er aber konnte es nicht lassen, zwischenhinein seine Augen nach ihr hinzuschicken. Ja, da hatte er gute Zeit. Wenn man sie gegen ein langes Leben hinhält, war sie kurz. Aber wie viele gehen über die Erde hin, die nie ein ganzes, volles Leuchten in sich gehabt haben, so eins, das durch dunkle Tage und Jahre hinscheint wie ein Licht: damals bin ich glücklich gewesen. Zu denen gehört Markus Lohrmann nicht. Wenn er nun mit seinem Büblein in seinem Haus da draußen sitzt und es kommt ihm so leer vor, und das Kind wächst daher und sollte eine Mutter haben, – ich weiß, dann nimmt er es auf den Schoß und erzählt ihm, noch eh’ es den Verstand dazu hat, daß einen Sommer und einen Winter und wieder einen Sommer lang sich dunkle Augen in den seinigen gespiegelt haben. Daß eine zärtliche Stimme schöne, seltsame Weisen über seinen ersten Kinderschlaf hingesungen hat, daß sein schwarzes, lockiges Köpfchen im Schoß einer lieben Frau geruht hat, die seine Mutter war. Und wenn er dann auch in vergeblicher Sehnsucht die Arme nach dem fernen Bild ausstrecken wird, es ist doch sein eigen gewesen. Und er wird sein Büblein an der Hand nehmen und« – »Du wirst ja ganz poetisch,« sagte der Gast dazwischen, und dann räusperte er sich und nahm einen Schluck Wein. Der Pfarrer nahm auch einen. »Na ja,« sagte er, »das ist sonst meine Art nicht. Aber es ist mich so angekommen. Im vergangenen Sommer, – der kleine Marx zog schon sein hölzernes Gäulchen an einer Schnur hinter sich her und wackelte auf seinen anderthalbjährigen Füßen ums Haus herum – sah ich Mirza eines Tags gegen ihre sonstige Gewohnheit an einem sonnenheißen Tag unter der großen Linde, die nahe bei ihrem Haus steht, auf der Steinbank sitzen. Sie hatte ein altes, rotes Tuch um die Schultern gelegt und zog es an sich, als ob sie friere. Und ihre Augen sahen müd und traurig aus. »Was ist dir, Mirza?« fragte ich und setzte mich neben sie. »Du siehst nicht gut aus. Bist du krank?« Nein, das sei sie nicht, sagte sie, nur müde, es sei unbegreiflich, und doch auch wieder nicht. Es kam und ging eine dunkle Röte auf ihrem Gesicht. Sie kämpfte augenscheinlich damit, mir etwas zu sagen, tat aber dann ein paar lange Atemzüge und strich sich mit der Hand übers Gesicht, wie um dort etwas wegzuwischen. »Wenn dich etwas drückt, Mirza, und du möchtest’s mir gern sagen, – das weißt du wohl, daß ichs gern hören will,« sagte ich. »Aber freilich, wenn man so einen guten Mann hat, wie du, dann hat man den Beichtvater bei sich im Haus und braucht den Pfarrer nicht dazu.« Ich versuchte zu scherzen, aber eigentlich war es mir nicht recht um Spaß zu tun. Denn die Augen des Weibes neben mir sahen wie in eine dunkle Tiefe oder in eine große, weite Ferne. »Es gibt Sachen, Herr Pfarrer,« sagte sie tiefernst, »mit denen muß der Mensch ganz allein ins reine kommen, da hilft das Reden nichts,« und ich spürte, daß es bei ihr so sei. So machte ich mir nur noch ein wenig mit dem Bübchen zu schaffen und freute mich, daß, als ich weiterging, der kleine Bursch vor seiner Mutter auf dem Boden saß und sein eifriges Gesichtlein zu ihr erhob, die seine stammelnde Sprache allein bis jetzt verstand. Einige Tage später hörten wir von der alten Burge, die in letzter Zeit wegen zunehmender Kurzatmigkeit einer jungen Magd Platz gemacht hatte, aber gleichwohl noch dort draußen aus- und einging, wie ein Eigenes, daß dem kleinen Marx ein Geschwisterlein sollte geboren werden, vielleicht so gegen den Wintersanfang hin. »Die Mirza ist nicht recht zuweg,« sagte sie, »auch vergnügt ist sie nicht. Es nimmt mich wunder; sie können ja gut mehr Kinder verhalten, darum braucht sie sich keine Sorgen zu machen. Aber freilich, ich kenn mich nicht aus bei ihr, es ist wohl nicht ums tägliche Brot, daß sie so unter dem Druck herumläuft. Sie hustet auch so viel, ich mein’ immer, der Mann solle den Doktor holen. Nur, wenn ich das sage, dann schüttelt die Mirza stumm mit dem Kopf und guckt ihn so flehentlich an mit ihren großen Augen, als ob sie sagen wollte: das, was mich krank macht, das ist nichts für den Doktor. Und er – er tut ja, was sie will, da kann unsereins nichts machen.« Meine Frau tröstete an der treuen Seele herum. Das sei oft so in diesen Zeiten bei den Frauen, da müsse man nur warten und Geduld haben, mit dem neuen, jungen Leben werde auch der neue Lebensmut geboren und was man so zu sagen pflegt. Aber es war doch auch uns beiden nicht recht wohl ums Herz, als wir in einer der nächsten Wochen bei einem Abendspaziergang das junge Weib dort draußen auf dem kleinen Hügel trafen, auf dem ich sie schon einmal hatte stehen sehen, damals im Vorfrühling. Heute sah sie krank aus, mit übergroßen, dunklen Augen, die wie in einer sehnlichen Glut brannten; das schöne Gesicht war hager geworden und um die Mundwinkel lag ein fremdes, trauriges Lächeln. Sie wollte sich zwingen, heiter zu sein, als sie, sich dichter in das alte, rote Zigeunertuch hüllend, sagte: »die Schwalben sammeln sich schon wieder zum Fortgehen. Ich hab ihnen zugesehen, man sieht so weit hinaus da oben.« Aber es war, als ob eine gefangene Seele die beschnittenen Flügel höbe: warum kann nicht auch ich hinausziehen in die große, uferlose Weite? Ich wollte nun doch auch einmal mit Markus Lohrmann reden, das nahm ich mir vor; denn ich wußte wohl, daß er in Sorge und Liebe jetzt seine Tage hinbringe, und es war mir auch, als ständen wir alle vor einem tiefen Rätsel, zu dessen Lösung wir uns die Hände reichen müßten. Aber eh’ ich noch, durch allerlei Amtsgeschäfte abgehalten, dazu kam, ihn aufzusuchen, geschah, was geschehen mußte, so wie das Leben nun einmal ist. Es war ein Tag im Herbstanfang, so, wie es bei uns da oben viele gibt, blau, sonnig und von einer durchsichtigen Klarheit. Das Agathlein war wieder einmal bei uns. Es stand, als ich von einem Krankenbesuch im Filial heimkam, am Gartenzaun und streckte sein Näschen zwischen den Latten durch. »Großvater,« sagte es, als ich herankam, »sei einmal ganz still, ich höre Musik, feine, schöne.« Und ich stellte mich neben das Kind, das den Finger vor den Mund gelegt hatte und sich horchend vornüberneigte und horchte mit ihm in die blaue Luft hinein. Da hörte ich es denn auch, es kam näher und näher: Klarinetten und eine Geige, und dazwischen die klagenden Töne des Dudelsacks. Es war eine Zigeunermusik; die halbe Dorfjugend und, so viele ihrer sich ein Gewerbe auf der Straße machen konnten, auch von den Alten, zogen hinter einigen schwarzhaarigen, bräunlichen Gesellen in malerischen, aber vertragenen Gewändern drein. Und bald ging es von Mund zu Mund: heute Abend sollte große Tanzmusik droben im Ochsen sein. Draußen vor dem Dorf, in der gleichen Bodensenkung stand nun auch der Wagen der fahrenden Leute wie einst der, der Mirza gebracht hatte. Ein paar Weiber gingen vor die Türen, allerhand heischend, was es so bei den Bauern gibt; mir war Angst im Herzen um Mirza, an die ich heut immer denken mußte, als ob ihr Schlimmes bevorstände. Aber, wie so oft schon, ich beruhigte mich bei dem Gedanken, daß sie ja in einer treuen Liebe geborgen sei; die würde auch heute um sie wachen. Als ich jedoch am späten Abend von einer Krankenkommunion heimkehrend an Markus Lohrmanns Haus vorüberging, sah ich nur die dunklen Fenster ringsherum und bei näherer Betrachtung den alten Knecht auf dem Bänklein vor dem Hause, wie er mißmutig in seiner Pfeife herumstocherte. Der Bauer sei für drei Tage ins Unterland gegangen, er wollte Vieh kaufen und Wein. Und die Frau? Die sei seit einer Stunde fort, wohin, das wisse kein Mensch, und ganz richtig sei es nicht mit ihr und es gehe auch nicht gut, das sage er. Wo nun der kleine Marx sei? fragte ich. Da erhellten sich die Züge des Knechts. Ei, der liege in seinem Bettlein und schlafe. Die Frau habe ihn hineingetan und habe bei ihm gesungen, als er schon lang geschlafen habe; es sei gewesen, wie geweint, ihm, dem Zuhörer da außen, habe sich alles um und um gedreht im Innern. Er verstehe nichts von so Sachen, aber es sei wahrhaftig gewesen, wie wenn eine arme Seele ums Lösgeld bitte. Und dann sei sie zur hinteren Haustür hinausgegangen und in ihrem alten, roten Tuch übers Feld hinauf in den sinkenden Abend hineingelaufen. »Sie ist halt anders, als alle dazuland,« schloß der Knecht, »aber unrecht, das ist sie nicht, bloß anders.« Mir kam die Angst aufs neue, die ich bei Tag verscheucht hatte. Denn dieses Menschenkind, das hast du schon gesehen, lag mir am Herzen. Ob wohl ihre fahrenden Stammesgenossen bei ihr gewesen waren? Ob sie die Musik der dunklen Gesellen gehört hatte? Und der Mann war nicht da, bei dem sich Mirza sonst wohl in der Not, auch vor sich selbst, geborgen hatte. Es hatte sich ein starker Wind aufgemacht, einer von den Herbststürmen, wie sie bei uns da oben so manche Nacht ihr wildes Lied singen. Nach dem schönen, sonnigen Tage war es verwunderlich; das Wetter mußte rasch umgesprungen sein. Nun trieben schwere Wolken in großen Heerhaufen am Himmel dahin. Wenn sie den Mond, der hinter ihnen stand, auf Augenblicke freigaben, so warf der sein blasses Gesicht auf ihre zerrissenen, zerklüfteten Gestalten, die seltsam rasch über ihn dahinflogen. Der Wind rauschte in den Bäumen, es war eine andere Musik, als die sie da oben machten im Ochsen. Die klang mir nun auch in die Ohren, je mehr ich mich meinem Hause näherte, um so stärker. Ich gönne meinen Burschen und Mädchen wohl ein Vergnügen; ich habe selber auch schon zugesehen, wenn sie sich im Reigen drehten, und ich wußte, so, wie heute, bekamen sie nicht oft aufgespielt. Du kennst das kleine Liedchen, wir haben es schon miteinander gelesen: »Eine braune Geige schluchzt, Und daneben juchajuchzt Eine tolle Flöte.« Das fiel mir ein, als ich eine Weile horchend stehen blieb; denn, anstatt in mein Haus zu gehen, ließ ich mich von den Tönen noch ein Stück näher gegen den Ochsen hinziehen. Es war mir, als müsse ich sie diesmal still sein heißen; als müsse ich sagen, es sei ein Krankes um den Weg, das Stille brauche. Als ob die schluchzende Geige, der klagende Dudelsack Mirzas Seele seien, die sich zur Ruhe singen wolle und nicht könne. Aber die Instrumente sangen weiter, ein jedes seinen Ton, und nun hörte ich auch das Stampfen der Stiefel auf dem Saalboden des Ochsenwirts und sah an den hellerleuchteten Fenstern des Oberstocks die Gestalten der Tanzenden vorübergleiten. Ich wollte wieder umkehren, ich hatte ja eigentlich nichts da oben zu suchen; und dennoch, fast von selber, gingen meine Augen durch die Dunkelheit in allen Winkeln umher; sie suchten dennoch etwas. Da, als ich mich schon zum Gehen wandte, riß eben der Wind, der da oben noch ganz anders hausen mochte, die Wolkendecke wieder einmal auseinander. Und in dem unsteten Licht, das sich aus dem Wolkenspalt heraus ergoß, sah ich, hart an die Wand des gegenüberliegenden Hauses gedrückt, eine Frauengestalt in einem roten Tuch, und ein blasses Gesicht, aus dem die Augen, groß nach dem hellen Lichtschein aus dem Tanzsaal gerichtet, fast herausspringen wollten wie in Hunger und vergeblicher Sehnsucht. Ich trat zu ihr hin und fühlte, als ich ihr die Hand bot, wie sie heftig zusammenschrak. »Guten Abend, Mirza,« sagte ich, aber es wollte mir jetzt kein heiterer Ton gelingen. Mir war nur, als müsse ich mich still neben das arme Weib hinstellen, das die Zähne zusammenbiß und zitterte, wie in körperlichem Schmerz. Wir schwiegen eine Weile miteinander, dann sagte ich: »Komm, Mirza, ich begleite dich an dein Haus, heim, du mußt nicht so im Sturm draußen sein, ich meine, du seist nicht wohl die Zeit daher. – Ums Zusehen beim Tanzen wird dir’s ja nicht sein,« versuchte ich nun doch zu scherzen. Sie schüttelte nur stumm den Kopf, es war nicht der Mühe wert, darauf zu antworten, es lag so weit ab. Ich wußte es auch wohl, es war nur die Musik, die von der weiten Ferne redete, von dem Lied, das der Herbstwind in den Bäumen spielt, von allem Glück und Elend, das im Wandern liegt, – ach, mehr als das, von allem Hinausdrängen und Heimbegehren der Menschenseele. Ich sah es wohl, sie trank das alles in sich hinein, – und verging fast daran. Ein wenig zögerte sie noch, dann ging sie still neben mir her. Ihre Schritte waren schwer, das mochte wohl ihr körperlicher Zustand machen, aber nicht er allein. Sie ging wie eine, die eine Last trägt und weiß: ich kann sie nicht ablegen, eh’ ich mich selbst ablege. Vor ihrer Haustür bot sie mir mit einer seltsam heftigen Gebärde die Hand. »Nicht bös sein, Herr Pfarrer, gut an mich denken,« sagte sie und ich sah trotz der Dunkelheit ihre Augen flehentlich auf mich gerichtet. »Gut an dich denken? Das tu’ ich immer, Mirza,« sagte ich. »Komm doch in diesen Tagen, so lang dein Mann fort ist, einmal auf ein Stündlein zu meiner Frau hinauf. Du weißt, sie freut sich darüber. Das Agathlein ist auch da, du mußt dein Bübchen mitbringen.« Sie sagte nichts darauf, sondern machte sich mit dem Hausschlüssel zu schaffen, und ich dachte, der Friede ihres Hauses werde über sie kommen, wenn sie drinnen in der Kammer das Atmen ihres Kindes höre und ließ sie allein und sagte zuversichtlich beim Gehen: »Gott behüt dich, Mirza. Wir müssen alle durch schwere Zeiten hindurch, aber sie vergehen wieder und es wird wieder hell.« So ist es mit uns Menschen. Wir ahnen einer des andern Not und gehen ein Stück neben ihm her und glauben ihn zu kennen. Aber sie brennt uns nicht auf der Seele, wie ihn, und wenn er lautlos neben uns stöhnt in Qual, dann sagen wir zuversichtlich: es wird schon besser werden – und meinen wunder, was wir Gutes wissen. Ach ja, wir Menschenhüter! Es ist uns doch immer wieder ein großes Müssen, an eine Hand zu glauben, die in alle Tiefen reicht und in die hinein sich die Verirrten und Verwirrten bergen können. Am andern Tag, das heißt, als es schon in die tiefe Dämmerung überging, kam Markus Lohrmann zu mir in den Garten, wo ich nach meiner Gewohnheit noch ein wenig zwischen den Beeten auf und ab ging. Er hatte den kleinen Marx auf dem Arm und sah fahl und verstört aus. »Schon zurück, Markus?« fragte ich noch, da brach ein Ton so schmerzlichen Jammers aus seiner Brust hervor, daß ich im tiefsten Grund erschrak. »Was ist – mit Mirza?« fragte ich. Da bot er mir ein Blatt, das mit den etwas mühsamen, ungelenken Schriftzügen, die ich während des Religionsunterrichts bei Mirza kennen gelernt hatte, bedeckt war. »Ich muß gehen,« stand darauf. »Ich weiß nicht, wohin, daß Gott erbarm. Markus, du bist gut, ich wäre auch gern gewesen, wie du bist. Aber ich bin doch anders. Es treibt mich hinaus unter die Bäume und unter den freien Himmel, ich meine, ich müsse ersticken schon lange Zeit. Und ich meine, ich müsse weit, weit fort. Die Musik heut abend; ich hätte nicht zuhören sollen; ich kann nicht mehr ins Haus hinein. Ich weiß mir nicht mehr zu helfen, – daß Gott erbarm –« da brachen die Schriftzüge ab. Das Blatt war unter der Haustür gelegen, als der Knecht in der Morgenfrühe öffnete. Er hatte es grimmig auf den Tisch in der Wohnstube gelegt. Von dort hatten es wohl die Spatzen vertragen; denn im Dorf ging es wieder einmal von Mund zu Mund: sie ist mit den Musikern fort. Art läßt nicht von Art – und dergleichen mehr, was die Leute so sagen. »Ach, Markus, sie kommt wieder,« sagte ich, als ich das Blatt gelesen hatte. Aber ich glaubte es selbst nicht recht, ich fühlte wohl, das Glück kam nicht mehr für die beiden. Er schüttelte auch den Kopf und drückte das Kind an sich. »Jetzt hab’ ich nur noch dich,« sagte er zu dem Bübchen. »Jetzt sind wir zwei allein miteinander,« und wieder kam das kurze Stöhnen. Dann faßte er sich äußerlich zusammen. »Ich bin erst seit einer Stunde da,« erzählte er. »Ich bin schon heut gekommen, anstatt morgen, weil es mir keine rechte Ruhe mehr ließ. Das Weib ist so sonderbar gewesen die Zeit daher. Sie hat auch im Schlaf geredet, da hab’ ich gemerkt, daß sie krank ist nach der Ferne. Sie ist gewesen wie ein Vogel im Käfig, und doch hat sie mich lieb gehabt – und das Kind auch.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist ein Jammer. Ich weiß nicht, was tun. Ich habe gedacht, ich wolle Ihnen das Kind aufzuheben bringen, Herr Pfarrer, und fortgehen, sie zu suchen. Aber ich glaube, ich muß sie lassen, wie sie muß und will. Ich darf sie nicht zu mir zwingen.« Er wußte nicht, wie vornehm und wie lauterer Güte voll er mir erscheinen mußte; er redete und tat alles aus seinem einfachen, liebenden Herzen heraus. Ich wußte, er verging nach ihr; er hätte sie auch gefunden, wenn er sie ernstlich gesucht hätte. Aber er wollte sie nicht im Käfig halten. »Ach, Markus,« sagte ich, »Gott helf’ uns allen.« Er nickte nur, ernst und schwer; er wußte auch keinen andern Trost. Dann ging er wieder; er drückte das Kinderköpflein an seine Wange und ich hörte ihn zärtliche Worte sagen, als er den Gartenweg hinunterschritt. In den paar Wochen, die nun folgten, bin ich oft eine Dämmerstunde lang oder auch beim Licht der Ampel draußen in Markus Lohrmanns Stube gesessen. Ich wußte, er sei so allein und er habe niemand, der so recht mit ihm fühle. Da saßen wir einander gegenüber, oft mit einer Pfeife Tabak, oft auch ohne das. – Was? Du meinst, ich sei verbauert da oben? Anderswo wäre das unmöglich? Ja, ja, das kann schon sein. Aber weißt du, so eine gemeinsame Pfeife, – und dann, – viel reden, das ist nicht meine Sache, – da spürt so ein Mensch doch, daß jemand da ist. Ach was – nun will ich weiter erzählen. Da kam eines Tages ein Brief an mich. Er war von einem Amtsbruder im Schwarzwald. Warte, du kannst ihn lesen, ich habe ihn da bei der Hand.« Der Pfarrer kramte unter seinen Papieren, dann brachte er ein Blatt zum Vorschein. Der Gast las es. »Geehrter Herr Amtsbruder! Es liegt in einer Kammer des hiesigen Armenhauses ein Weib, offenbar eine geborene Zigeunerin, die aber in älblerischen Bauernkleidern hierher kam und behauptet, in Ihre Gemeinde zu gehören. Besagtes Weib ist in einer Waldhüterhütte eines toten Siebenmonatkindleins genesen, und, da sie dort aufgefunden wurde, als eine Schwerkranke zu uns heruntergeschafft worden, bis sie ihr wanderndes Leben wieder fortsetzen könne. Ich glaube aber, sie wird nicht viel irdische Fahrt mehr vor sich haben, denn ihre Kraft schwindet hin, wie ein Licht verbrennt. Es ist eine wunderliche Geschichte, die mir, da ich als Seelsorger nach der neuen Insassin sehen wollte, das Weib erzählt hat. Und kaum zu glauben wäre sie mir, sowohl um des einen willen, daß ein seßhafter Bauer sollte eine aus dem fahrenden Volke zu seiner Ehefrau gemacht haben, als auch um des andern, daß solche dann wieder aus aller bürgerlichen Ordnung und reichlicher Versorgung weg ins Elend hinaus gelaufen wäre, wenn nicht das Menschenherz zuweilen wunderliche Wege ginge, daß auch ein alter Praktikant den Kopf schütteln und sich des Verständnisses begeben muß. Es ist nämlich, wie ich sagen muß, Gesicht und Sprache, auch das ganze Gehaben des Weibes nicht das einer Verdorbenen oder Lügnerin, sondern nur einer Verirrten, die sich nun im Angesicht des Todes wieder dahin zurücksehnt, von wo sie ausgegangen ist. Freilich sagt sie – und ich habe ihr solches auch reichlich bestätigt, – daß sie wie eine Undankbare gehandelt habe, die so großer Liebe ihres Mannes nicht wert gewesen sei, da sie ihn und auch ihr unmündiges Kind verlassen habe. Aber ob auch ihre Augen ernst und traurig dreinsehen und beim Reden bittere Tränen daraus hervorgeflossen sind, so sagt sie dennoch: Gott weiß, ich habe nicht anders können, er ist stärker gewesen als ich. Da ich sie nun gestern ermahnt habe, Gottes Verzeihung zu suchen, so schüttelte sie den Kopf und sagte: »mir tut not, daß mir mein Mann verzeiht, Gott wird es wohl tun.« Damit nun diese Seele sich vom Irdischen ab- und dem Ewigen zuwenden könne, so ersuche ich Sie, Herr Amtsbruder, um Ihre Vermittlung, daß der Mann, der Markus Lohrmann heißen soll, nicht achtend seiner erlittenen Kränkung, der Sterbenden, denn das wird sie bald sein, ein Wort der Verzeihung schicke, wie wir denn vergeben sollen, damit auch uns vergeben werde.« Darauf folgte die Unterschrift. »Und?« Der Gast fragte es mit einem Lächeln, das schon vieles zu wissen schien. Da tat der Pfarrer einen tiefen Atemzug und bekam leuchtende Augen hinter seiner Brille. »Jetzt horch, Siegfried, denn jetzt bekommst du etwas zu hören, das ist wie ein Fest, ist lauter Hochzeit, Sieg, Liebe und Leben, obgleich es aussieht wie Elend, Not und Tod. Es war am späten Abend, als ich Markus Lohrmann den Brief brachte. Er tat gerade sein Bübchen ins Bett und entschuldigte sich, daß es spät geschehe: »Es wird so bald dunkel und die Abende sind schon so lang. Da hab ich das Kind so gern bei mir. Ich weiß, es gehört ins Bett. Aber, Herr Pfarrer, draußen stürmt’s und die Nächt’ sind schon so kalt, und ich muß dann immer hinausdenken, ob sie herumirrt und kein Haus hat. Und oft ist mir’s, sie rufe nach mir.« »Sie ruft auch, Markus,« sagte ich und gab ihm den Brief. Er las ihn und blieb ganz still. Nur daran, daß das Blatt in seiner Hand zitterte und daß sich seine Brust stark hob und senkte, so als ob er sein Leben mühsam in sich berge, sah ich, was ich schon vorher wußte, daß sein ganzes Wesen erschüttert sei. Ein paarmal lächelte er beim Lesen und ich verstand warum; es schnitt mir ins Herz und machte mich auch stolz auf ihn. Nach einer Weile fing er an zu reden. Es geschah zu dem Kind. »So, so, Marxle,« sagte er, »jetzt mußt du hinliegen und schlafen. Der Vater muß fort, der muß zu deiner Mutter, die wartet und kann sonst nicht einschlafen.« Dann versagte ihm die Stimme und er machte sich an dem Bettchen zu schaffen. Als er ringsherum das Deckbett um den kleinen Kerl fest gemacht hatte, hob er das Gesicht zu mir. »Ja also, Herr Pfarrer, wie ist da die Reise?« fragte er. »Ich muß mich noch ein wenig anziehen, dann kann ich gleich gehen. Ich hol’ sie, ich bring’ sie noch heim. Da ist keine Red’ davon, daß sie in dem Armenhaus dort stirbt, das hat sie nicht nötig. Kann sein, sie wird wieder gesund, sie haben scheint’s dort keinen Doktor.« Wir machten den Reiseplan miteinander. Er mußte sich noch gedulden bis gegen Morgen. Dann, es war noch tiefdunkel, schritt er durch die nächtlichen Gassen. Ich hörte seinen festen Schritt und hörte ihn mit dem Stock aufstoßen. Denn sein Weg führte nah am Pfarrhaus vorbei. Ich lag wach und sah den Morgenstern hoch am Himmel stehen und hätte dem Wanderer gern ein gutes Wort nachgerufen; aber ich besann mich anders. Der hat in sich, was er braucht, dachte ich, der bedarf eines Wortes nicht. Er war mir lieb so. Das war der Morgen des ersten Novembers. Am Abend des dritten kamen die beiden miteinander heim. Wir wußten es von der alten Burge, die es sich nicht hatte nehmen lassen, den kleinen Marx zu versorgen, und die Weisung erhalten hatte, das Wägelein mit dem Braunen an die Bahn zu schicken. Im Dorf war viel Gerede und viel Schelten. »Er hätte sollen froh sein, daß er sie los hat. Auch noch nachlaufen, einer solchen, – aber er ist rein nicht gescheit. Jetzt, wo unser Herrgott ein Einsehen gehabt hat; sie hätt’ dort hinten im Schwarzwald sterben können, dann hätt’ er seine Ruh’ gehabt.« Aber die zwei, die auf dem Wägelein saßen, das spät am Abend in sachtem Tritt durch die Gassen fuhr, die horchten nicht nach dem Gerede hin. Sie hatten, das sah ich, als ich sie am übernächsten Tag besuchte, auch die Meinung, daß unser Herrgott ein Einsehen gehabt habe, es war aber doch anders, als die Dorfgenossen es meinten. Sie wußten es wohl, daß sie nicht beisammen bleiben konnten, ich brauchte da nichts einzureden. Aber sie hatten noch ein paar Sommertage vor sich, eh’ es Nacht wurde, das war ihre hohe Zeit. Mirza atmete mühsam und schwer, denn ihr Herz war schwach und das Fieber brannte in ihr mit hoher Glut. Aber sie hatte leuchtende Augen, die waren bis zum Rande gefüllt mit Liebe und mit Heimatgefühl und nichts mehr von vergeblichen Kämpfen und von ausbrechender Sehnsucht stand in ihren Zügen. Und Markus Lohrmann, der eben den Doktor hinausbegleitet hatte und von ihm wußte, wie es stehe, der stützte sie, daß sie leichter atmen konnte, und streichelte ihre heiße Hand, und sie waren eins im andern daheim, wie ich es noch nie gesehen hatte. Das machte, daß ihnen die Angst vor sich selber, vor allem Bitteren und Bösen, das sie einander hätten antun können, und vor aller Qual der vergeblichen Wanderwege nun abgenommen war, wie man Kindern ein gefährliches Spielzeug sacht aus den Händen nimmt und sagt: so, nun laßt das, nun kommet her zu mir, ich will euch etwas Schönes erzählen. Und darauf horchten sie nun und sagten eins dem andern, was es im Herzen erhorchte. »Ich hab’ dich anbinden wollen,« sagte der Mann, »weißt du noch? mit einem siebenfachen Seil, daß du mir nicht hinauskommest. Aber das Anbinden, das hilft nichts; hätt’ ich’s nicht tun sollen, Mirza?« »Doch, du hast müssen, Markus,« sagte sie. »Und ich hab’ auch so tun müssen, wie ich getan habe. Wir können nicht anders, wir sind arme Leut, wir Menschen. Ich hab’ oft gedacht, wie ich so herumirrte und doch nicht heimkonnte: wenn ich der Gott wär’, ich hätt’ so ein großes Mitleiden mit allen, daß ich vom Himmel herunterlangen müßte um zu helfen.« – Ich war lang still dagesessen, mehr im Hintergrund. Sie taten sich vor mir keinen Zwang an, ich war ihnen nie ein Fremder gewesen. Der Abend brach stark herein und wir schwiegen alle eine Weile. Dann mußte ich aber doch sagen: »Das tut er ja auch, Mirza. Dir ist die Welt und dein Ich zu eng gewesen; jetzt gehst du wohl in eine Weite, da wirst du nicht anstoßen und auch nicht fremd sein.« Dann schwiegen wir wieder. Es ging so vieles durch mich durch. Es ist ein so großes Heimbegehren in uns Menschen allen. Der alte Claudius fiel mir ein: »Es muß irgendwo ein Ozean für uns sein.« Das und noch vieles. Aber ich konnte jetzt nicht davon reden. Wenn Markus Lohrmann diesen Winter mir hie und da gegenüber sitzen wird, – und das wird er, ich weiß es – dann werden wir wohl von diesen Dingen reden. Damals – ich habe selber mit horchen müssen und mit nach der Hand greifen, die Mirza wollte vom Himmel herunterlangen sehen, um uns allen zu helfen.« »Und dann?« fragte der Gast, als der Pfarrer eine Zeitlang schwieg. »Und dann ist auch diese Zeit zu Ende gegangen, wie alle unsere Zeiten, die hohen und die tiefen. Ich denke, es sei so recht geworden, daß wir das, was des Wanderns müde war, begruben, und daß das, was nach der uferlosen Weite begehrte, ›laut jubelnd wieder in die Flut gegangen ist.‹« Drunten am Haus schellte es. Ursel machte auf und man hörte sie reden. »Und der Marxle ist noch auf und noch draußen?« sagte sie. »Arm’s Büble, du g’hörst ins Bett jetzt, so Männer haben doch keinen Verstand für die Kinder.« Dann ging die Tür auf und der Mann, von dem sie so viel gesprochen hatten, kam herein. Er trug sein Bübchen auf dem Arm, das war in ein großes Tuch gewickelt und hatte warme, rote Bäckchen und legte sein schwarzhaariges Köpflein an das blasse, ernste Gesicht des Vaters. Der sah den Gast nicht, der im Schatten saß. »Drum hab’ ich nur noch wollen einen Dank sagen,« hob er an. »Ich – ich wär’ sonst am Grab so allein gewesen, – aber was der Herr Pfarrer gesagt hat, das –«. »Red’ nicht so daher, Markus,« sagte der Pfarrer, »du hast noch ein »gut’ Nacht« holen wollen, das ist recht. Morgen komm’ ich und seh’ nach dir. Was danken. Ich hab’ sie auch lieb gehabt, da dankt man nicht.« Der Mann setzte noch ein paarmal an, aber dann schien es ihm auch, als ob sonst nichts zu sagen sei. Ja, ja, liebhaben, da ist nichts zu bedanken, das geschieht umsonst. Da ging er wieder. Der Gast saß still in seiner Sofaecke. Der Pfarrer sah ihn in seiner Brieftasche blättern, und dann ein gelbes, zerlesenes Blättchen herausholen. »Lies,« sagte der Gast und hielt es seinem Freunde hin. »Ich meine, es werde nicht viel anders sein.« Der Pfarrer las halblaut: Es kam eine arme Seele im Himmelreich an: Tut mir auf, tut mir auf, daß ich eingehen kann! Und als sie nun stand am himmlischen Tor, da kamen die Englein mit Haufen hervor: »Arme Seele, was hast du zerrissene Schuh!« Bin immer gewandert, fand nirgendwo Ruh. »Verblichen, zerrissen dein altes Gewand!« Das trug ich in Regen und Sonnenbrand. »Arme Seele, was gehst du so krumm und gebückt?« Mich haben die Lasten des Lebens gedrückt. »Arme Seele, was suchst du im himmlischen Haus?« Gott Vater, den sucht’ ich weltein und weltaus. Dem leg ich zu Füßen die Kleider und Schuh, die Last und mein sehnendes Herze dazu. Da traten die Englein zusammen in Reihn und führten die arme Seele hinein. Da ward sie beschienen vom himmlischen Glast, da war sie genesen der sehnenden Last. – Die seligen Engel im ewigen Licht, _so_ selig waren die Engel nicht. – Er reichte ihm das Blatt still wieder hin. »Ja, ja,« sagte er. »Es wird gut werden, irgendwie gut, ganz gut. Wir wollen still sein und warten.« Sie sahen eine Weile schweigend ins Lampenlicht. Dann redeten sie von andern Dingen. Ein Sommer [Illustration] Ob die Himmelreichsgasse ihren Namen mit Recht oder mit Unrecht trage, darüber gingen die Ansichten auseinander. Die da meinten, er soll besagen, es sei ein himmlisches Leben und Aufenthalt daselbst, die schüttelten ärgerlich und enttäuscht den Kopf, wenn sie die niedrigen, rauchigen Häuser sahen, die rechts und links von dem ausgetretenen Pflaster standen und die Last ihrer spitzen Giebel trugen. Wer aber die steil ansteigende Gasse als einen Weg ins Himmelreich betrachten wollte, räumlich angesehen, der gab wenigstens zu, daß das obere Ende demselben ein gut Stück näher sei als das untere. Und das ist in dieser unhimmlischen Welt auch nicht nichts. Die letzten, obersten Häuser, zu denen noch eine Flucht von Staffeln emporführte, stießen dicht an den Wald an. Von dessen Rand aus konnte man einen weiten Blick, ein ordentliches Auge voll tun über Erd’ und Himmel hin. Unten lag der alte Marktflecken, von einem kleinen Fluß durchzogen, von steil ansteigenden Höhen sorglich umschirmt. Hier oben war es still, friedlich und weit. Es war doch nicht ganz ohne mit der Himmelreichsgasse. Die stieg an einem schönen Junitage ein junges Fräulein empor. Es trug in der einen Hand einen zusammengeklappten Feldsessel, zwischen dessen Tragbändern ein hellgrauer Schirm stak, in der anderen einen schwarzen Kasten mit blitzendem Metallgriff, über dessen Zweck und Inhalt sich die Bewohner der Himmelreichsgasse vergeblich den Kopf zerbrachen. Mit aufmerksamen Augen studierte das Fräulein im Hinansteigen die Inschriften der Hausschilder, die Auslagen der Metzger- und Bäckerläden, die Blumenbretter vor den Fenstern und die Schwalbennester an den Balkenvorsprüngen. Die Hausnummern sah sie auch prüfend an. Aber da sie dabei rüstig weiterschritt, so wagte sie niemand anzureden mit der Frage, die auf jedem Gesicht stand, wohin sie wolle, und etwa noch, warum? Es war gegen Abend. Auf dem Pflaster spielte die Jugend, vor den Häusern standen Mütter mit den kleinsten Kindern auf dem Arme, vor der Schmiede stand ein Fuhrmann mit seinem Gaul, und der Schmied trat mit dem glühenden Eisen an der Zange unter die Tür. Es war ein belebtes Bild, das Fräulein sah mit lebendigen Augen um sich. Vor der Tür des letzten Hauses ganz oben links, blieb sie stehen, besah sich die Nummer, nickte zustimmend, klinkte an dem schwarzen eisernen Griff der Haustüre, sah, als diese verschlossen war, zu den niederliegenden Fenstern des Erdgeschosses hinein und schüttelte den Kopf, als auch da kein lebendes Wesen zu entdecken war. Da sah sie hinter dem Bänklein unter dem Ahorn, der das niedrige Haus beschattete, ein Kindergesicht hervorlugen und blitzschnell wieder verschwinden. Nur ein blonder, borstiger Haarschopf guckte noch hervor. Dem ging sie nach. Mit einem leichten, geschickten Griff zog sie den widerstrebenden, kleinen Buben aus seinem Schlupfwinkel, stellte ihn vor sich hin und sagte: »Nun sag mir einmal, du Bürschchen, gehörst du in das Haus da?« Der Kleine nickte nur und steckte alsdann den Daumen in den Mund. Nur die Augen sprachen weiter; sie sagten: »Ich weiß gut, wer du bist. Du bist das Fräulein, das die obere Stube gemietet hat und unser Sommergast werden will.« Aber diese Augensprache war dem Fräulein nicht genug. »Warum ist das Haus geschlossen? Wo sind deine Eltern?« fragte sie. »Du gehörst doch dem Schuhmacher Notacker?« Das war ein bißchen viel auf einmal gefragt. Es brauchte schon eine Weile, bis die ganze Antwort herauskam. »Das Haus schließt man, wenn man aufs Feld geht. Aber der Schlüssel liegt hinter dem Schuhabkratzer. Der Vater trägt geflickte Stiefel fort, und die Mutter ist auf dem Rübenacker. Die drei Kleinen hat sie mit.« »Die drei Kleinen? Ja, wie alt bist du denn?« Das wußte der Bub nicht so genau anzugeben, wohl aber, daß er Gottfried heiße und in zwei Jahren in die Schule komme. Ferner, daß er ein Sonntagsgewand im Schrank hängen habe und auf den Winter eine Pelzkappe mit Ohrlappen besitze. Als Gottfried mit diesen Berichten fertig war, kam von unten her ein Mann, der zum Zeichen, daß er etwas sehr Merkwürdiges sehe, fortwährend mit der linken Hand seine Mütze hin und her rückte und nun auch anfing, seine Schritte zu beschleunigen. »Da ist das Fräulein,« sagte er, als er da war. »Da ist sie nun, und das Haus geschlossen, und kein Mensch zum Empfang da. Das ist eine schöne Geschichte, das hätte nicht sein sollen.« Man brauchte es einem nicht zu sagen, daß der Mann ein Schuhmacher sei. Er trug eine grüne Schürze mit einer gelben Metallkette als Schloß, trug die Hemdärmel aufgekrempelt und hatte an Händen und Armen deutliche Pechüberreste. Er roch auch stark nach Leder. Er habe ein gutes, ernsthaftes, etwas gedrücktes Gesicht, dachte das Fräulein. »Das tut ja nichts,« sagte sie. »Wenn man nicht genau angibt, wenn man kommt, so kann man auch nicht erwarten, daß man empfangen wird. Zudem hat mich der Gottfried schon ganz gut unterhalten.« Der Bub lachte so ein wenig bei diesem Bericht und der Vater sagte: »Da muß es das Fräulein gut mit den Kindern können, wenn er das getan hat. Denn er ist sonst scheu und ganz stumm vor Fremden, so gut sein Mundwerk läuft, wenn er daheim und unter uns Eigenen ist.« Er schloß die Haustür auf und geleitete das Fräulein die steile, halbdunkle und ausgetretene Treppe hinauf in den Oberstock, wo unter dem spitzen Dachgiebel ein einziges Stüblein eingeklemmt lag. Das Fremdenzimmer. Es war mit Liebe und Stolz eingerichtet, das sah man sofort. Mit allem guten Willen, das Möglichste an Eleganz aufzubringen. Das sagte sich das Fräulein, als ihm jeglicher Mangel an gutem Geschmack empfindlich auf die Nerven ging. Sie beschloß, das Angenehme daran herauszufinden. Das fiel ihr auch nicht schwer, als sie zum offenen Fenster hinaus die Aussicht sah. »Wie schön,« sagte sie, »o wie schön!« Der Schuhmacher nahm das Lob auch gleich für die Stube. »Man tut halt sein Möglichstes,« sagte er. »Wenn’s dem Fräulein nur bei uns gefallen wird. Es wär uns eine Freude.« »Das wird es, das wird es schon.« Das Fräulein streckte dem Mann plötzlich die Hand hin. »Auf gute Hausgenossenschaft.« Er nahm sie, behutsam, sie war so weiß und fein gegen seine schwielige Schustershand. Es ging ein warmer Strahl über sein bärtiges, ernsthaftes Gesicht. »Jetzt kommt die Mutter,« rief Gottfried, der bisher stumm zugesehen hatte. Drunten knarrte ein Wägelchen, Kinderstimmen wurden laut. Gottfried polterte eilfertig die Treppe hinunter. »Mutter, das Fräulein ist da,« rief er schon von weitem. »Sie hat gesagt, es sei schön bei uns. Sie ist schon droben in ihrer Stube.« »Ich will Ihnen meine Frau schicken,« sagte der Mann, »und wenn Sie einen Wunsch haben, und es ist zu machen, so tut man’s.« Dann ging er auch. Sie sah sich in ihrer neuen Klause um, als sie allein war. Grelle, blaue Tapeten, buntfarbige Öldrucke darauf, weiße gehäkelte Deckchen auf Tisch und Kommode, ein Stückchen geblumten Teppichs auf dem Fußboden. »Es ist schrecklich, aber es ist gut gemeint; es ist gewiß ihr Stolz. Ich will mir’s nach und nach ein wenig menschlich machen. Was ist das für ein rührend ernsthafter, sorgenvoller Mann. Ich bin begierig, wie die Frau ist.« Das Fräulein fing an, seinen Koffer auszupacken, der schon vorher angekommen war. Und dazwischen hinein ging sie ans Fenster, immer wieder, und sog den Anblick in sich hinein. In langen Zügen tranken ihre Augen die friedliche, liebliche Schönheit des Sommerabends. Das Fenster bot so recht eine Mischung von dem, was sie liebte. Nach rechts hinunter den Blick in die Himmelreichsgasse, wo die Kinder spielten und die Alten vors Haus kamen am Feierabend. Das war ein Stück Menschenleben, einfach, eng begrenzt, aber anheimelnd. Es zog sie an, es war ihr, als müsse sie hier etwas erleben. Gerade mit den Menschen da vor ihren Augen, etwas Gemeinsames, Verbindendes. Aber was? Das würde sich ja zeigen. Das brauchte man gar nicht zu suchen. Gegenüber war kein Haus mehr, da ging der Blick ohne Hindernisse ins Weite. Wie abendstill nun das Tal dalag. Wie dunkel und schweigend die grüne Wand des Tannenwaldes in den dämmerigen, nachtenden Himmel hineinragte! »Kaum zwei Minuten ist’s dahin, wo der Wald anfängt. Da muß ich noch hin, das muß ich alles grüßen und in Besitz nehmen,« sagte das Fräulein zu sich selbst. »Das Auspacken mag warten.« Es ging ein so heimatliches Grüßen aus ihr heraus und um ihre Umgebung herum. Sie war einer von den Menschen, die überall daheim sein können, weil sie es in sich selber sind. An der Tür wurde geklopft. Die Schustersfrau kam herein. Sie blieb hart an der Tür stehen. »Ich will nicht stören,« sagte sie, »ich hab’ nur dem Fräulein Grüß Gott sagen wollen.« Sie war eine kleine, schmächtige Frau mit zerarbeiteten Zügen und geraden, stillen Augen. »Ja, aber das ist ja natürlich, daß wir uns begrüßen müssen,« sagte das Fräulein lebhaft und trat zu ihr. »Wenn man einen Sommer lang Hausgenossenschaft halten will. Wir wissen ja noch gar nichts von einander, persönliches, mein’ ich. Da war Ihre Anzeige in der Zeitung und meine Anfrage, und Ihre Zusage. Sonst nichts. Sie werden kaum noch meinen Namen wissen? Doch? Solger, Adelheid Solger. Ich will hier kein müßiger Kurgast sein. Ich will zeichnen und malen, und hoffentlich nütze ich meine Zeit gut aus. Es ist gefährlich, wenn es so schön ist um einen herum. Da sitzt man so leicht und macht beide Augen auf, daß alle die Schönheit hinein kann, und vergißt, daß man daran lernen wollte. So wiedergeben Strich um Strich, das ist dann ernsthafte Arbeit. Aber ich hoffe, daß ich den Sommer ausnütze.« Sie unterbrach sich. »Das rede ich Ihnen nun alles vor. Es hat mir oben gesessen, seit ich da zum Fenster hinaussehe: Wenn du nur auch ans Zeug gehst, so in der Freiheit, nun dir niemand den Stundenplan macht.« »Davon weiß unsereins freilich nichts,« sagte die Frau. »Es ist immer etwas da, das zuerst getan sein muß. Man weiß oft nicht, wo anfangen. Da braucht man sich nicht extra zu besinnen, ob man jetzt will oder nicht.« Ihr Gesicht blieb ganz ruhig, während sie sprach; ihre Stimme hatte einen tiefen, etwas bedeckten Ton. »Soll ich jetzt eine Lampe bringen?« fragte sie noch, schon die Türklinke in der Hand. »Das Nachtessen ist auch bald fertig, soll ich das dem Fräulein dann heraufbringen?« »Ja,« sagte das Fräulein, »bis es fertig ist, bin ich wieder hier. Ich gehe noch die paar Schritte bis an den Wald hin, eh’ es ganz dunkel wird. Damit kann ich nicht warten bis morgen.« Unter der Haustür auf der Schwelle saßen zwei Kinder, verkleinerte Abbilder des Gottfried. Sie waren barfüßig, trotzdem sie Schusterskinder waren, hatten vielfach geflickte Röckchen von Druckkattun an und guckten mit runden, blauen Augen vor sich hin. Aus der offenen Stubentür kam kräftiges Geschrei eines noch kleineren Notackerleins, das von Gottfried im Wagen hin und hergeschoben wurde, und dazwischen hörte man das klopf klopf des Schusterhammers. Das Küchenfeuer warf einen flackernden Schein auf den kleinen Vorplatz. Das Fräulein trat jetzt, von der Treppe herkommend, in seinen Lichtkreis. »Ah,« sagte sie fröhlich, und sog den kräftigen Duft ein, der einer Bratpfanne entstieg, »da gibt’s etwas Gutes. Da freu’ ich mich aufs Wiederkommen.« Die beiden kleinen Buben auf der Schwelle zogen auch die Näschen hoch. Das war ein Duft, den sie kaum kannten. Es war für sie mit dem Fräulein verwoben, nicht mit Unrecht. Was da protzelte, war nicht für die Schelme. Sie sahen sich verlegen an, als der Sommergast an ihnen vorbeischlüpfte. »Bleibet nur sitzen, ihr zwei,« hatte das Fräulein gesagt, »an zwei so kleinen Mäusen komme ich schon noch vorbei.« Da ging sie hin den Waldweg hinauf. Sie kam ihnen sehr groß und sehr schön und sehr vornehm vor. Sie war etwas Neues, etwas Niedagewesenes für das ganze Haus. Und sie gehörte ihnen, aber nur zum Anstaunen. Sie war »unser Fräulein«. * * * * * »Also das gibt’s noch,« sagte Adelheid Solger und streckte sich wohlig. »Das gibt’s noch. Das hab’ ich gar nicht mehr gewußt. Seit ich ein Kind war, bin ich nicht mehr im Heu gelegen. Das ist schon lang her. Und nun so. Sehen Sie, Meister Notacker, wie schön es ringsum ist? Sehen Sie’s recht?« Sie lag lang ausgestreckt auf der abgemähten Wiese, die sich ziemlich steil talwärts zog. Die Hände hatte sie als Kopfkissen in den Nacken geschoben, die Augen gingen mit einem sonnigen Behagen hin und her, blieben in der Weite hängen, kamen wieder in die Nähe zurück und fragten dann eindringlich in den Mann hinein, der auf seinen Rechen gestützt dastand und an einer Antwort arbeitete. Es liege ein Leuchten darin, dachte der. Sie war erst vorhin aus dem Wald gekommen, angeregt von ihrer Arbeit frisch und vergnügt. »Nun hab’ ich ein Recht, eine Weile zu feiern,« hatte sie gesagt. »Ich war ausbündig fleißig diesen Morgen. Ich muß mich selber ein wenig loben, es ist sonst niemand, der es tut. Und es ist mir nötig, ich brauch’s. Was ist das für eine Welt! Im Wald war’s so dämmerig und hier ist alles voll Sonne.« Und dann hatte sie die Frage an ihn gestellt. »Sehen Sie, wie schön es um und um ist?« Was sollte er nur darauf sagen? Sie konnte ja nicht wissen, wie es in ihm aussah, und das war ihr wohl auch nicht wichtig. Aber in ihm lebte ein starker Drang nach allem Schönen hin, der regte sich neu, seit sie da war. Er war weder im Aussprechen noch im Sehen geübt. Und sie war das beides. Die Sonne lag mit vollem Glanz auf der Landschaft, der Fluß blitzte darin in tausendfältigem Geflimmer, die nachbarlichen Höhen hatten einen dunkelblauen Ton. In der Nähe lagen hellgrüne Kornbreiten, blaue Kornblumen und roter Mohn leuchteten in starken, sicheren Farben daraus hervor. »Ja,« sagte er langsam, »es ist schön – aber,« er stockte. Er hatte noch sagen wollen: »Aber so, wie Sie, seh’ ich’s nicht.« Er sah an ihren Augen, daß es so sei. Aber er verschwieg es. Vielleicht fürchtete er, zu viel zu sagen. Denn das, was sich mit Macht in ihm regte, durfte sie nicht erfahren. Das war ein Neid gegen sie und alle, die so ungehindert, so selbstverständlich in einer Welt lebten, die ihm verschlossen war. Er war ein Schuster gegen seinen Willen. Er wäre gern etwas anderes geworden in seiner Jugend. Irgend etwas, bei dem der Geist die Flügel regen konnte, er wußte es selbst nicht so genau. Lernen hatte er wollen, viel und vielerlei, Bücher lesen, Musik machen, alles, was es nur gab. Aber da war nichts zu machen gewesen. Er war kein Genie, das sich einen Weg erzwingt, er hatte nur eine durstige Seele, die sich in einem engen Käfig duckte und draußen eine weite Welt ahnte, an der sie nicht teilhaben durfte. So lernte er sein Handwerk, aber verdrossen und unfroh, wie einer, der nicht an seinem Platz ist. Er brachte es nicht weit darin. Das wunderte ihn auch gar nicht. »Warum hab’ ich nichts anderes werden dürfen?« sagte er sich vertrutzt, wenn er sah, wie andere seines Handwerks weiter vorwärts kamen als er. »Ich passe einmal nicht dazu.« Er hatte es ein wenig vergessen gehabt, daß er so verkürzt sei. Aber nun kam es stärker herauf als je zuvor. Davon wußte ja das Fräulein nichts. Die war so frisch und lebensfreudig, erzählte so harmlos drauf los von ihrer Welt, die nicht die seine war und nahm die Schönheit der Welt und des Lebens in Besitz, als ob das gar nicht anders sein könne. »Jetzt habe ich aber lange und geduldig gewartet,« sagte Fräulein Solger und richtete sich auf. »Es kommt wohl keine Fortsetzung mehr auf das Aber. Da erscheint nun der Gottfried und ruft uns zum Essen. Ich hätte so gern wissen wollen, ob’s nur mir allein so schön vorkommt, mir mit meinen Stadtaugen, denen es so golden wohl ist in der Freiheit nach der Enge des Zeichensaales?« Da gab der Mann dem Rechen und sich selbst einen Ruck. Den Rechen rammte er fest in die Erde, da stand er aufrecht und frei. Aus sich selber heraus sagte er, langsam, als müsse er jedes Wort von unten heraufholen: »Es wird wohl so sein, wie Sie meinen, so schön. Es gibt Leut’, die sehen’s immer. Denen liegt’s in den Augen, die sind dazu gemacht. Die anderen sehen das andere, es ist viel auch nicht schön in der Welt. – Aber heut’ seh’ ich’s auch.« Es war eine Anstrengung gewesen, das alles zu sagen. Der Mann atmete tief auf. Fräulein Solger sah ihn von der Seite an, aufmerksam und nachdenklich. Was mochte hinter dieser Stirn mit den tiefen Querfurchen vorgehen? Gottfried war vollends herangekommen. »Die Mutter wartet schon lang,« sagte er. »Sie sagt, du habest gewiß wieder nicht Zwölfe läuten hören. Und das Fräulein hätt’ ich auch suchen sollen.« »So,« sagte das Fräulein heiter, »im Wald hättest du mich aber lang suchen können. Ich bin im dicksten Dickicht gesessen und habe Baumwurzeln gezeichnet.« Sie klappte ihr Skizzenbuch auf und hielt es dem kleinen Buben vors Gesicht. »Da sieh her. Gefällt dir’s, du?« Gottfried sah ernsthaft auf das Blatt und machte ein kurioses Gesicht. So ein knorriges Zeug? So ein Gewirre? »Nein,« sagt er, ganz kurz und bestimmt. »O du Staatskerl du. Versprichst du mir, daß du deiner Lebtag’ so deutlich sagen willst, was dir gefällt und was nicht?« Fräulein Solger hatte nicht übel Lust, dem Kritiker einen Kuß in sein ernsthaftes Kennergesicht hinein zu geben; aber er sah aus, als ob er ihn wieder wegwischen könnte; sie ließ es. »Wenn ich nach Haus komme, muß ich’s meinem Professor zeigen. Vielleicht gefällt’s dem besser als dir. Aber du darfst zur Belohnung meinen Feldsessel tragen, und heut’ nachmittag darfst du in meine Stube kommen, dann zeig’ ich dir, was dir besser gefällt. Ich habe schon noch Schöneres. Und jetzt marsch marsch. Auf meiner Magenuhr ist’s schon lang Zwölfe vorbei.« Gottfried trabte stolz mit dem Feldsessel voraus. Die zwei anderen folgten. Der Mann hatte auch mit in das Skizzenbuch gesehen, gesagt hatte er nichts. »Wenn Sie dem Buben Bilder zeigen,« hob er nach einer Weile, als sie so nebeneinander hergingen, zögernd an, »am End’ dürft’ ich’s auch sehen. Man sieht auch gern einmal etwas anderes. Und ich, – ich hab’ immer eine Freud’ an so etwas gehabt.« Es kam fast entschuldigend heraus. Die Lust war größer gewesen als der Vorsatz, zu schweigen. Das Fräulein sah aus, als ob ihr eine große Freude widerfahren wäre. Das war auch so. Sie hatte eine so ehrliche, gesunde Freude an ihrem Studium, die wollte sie so gern mit den Menschen, die um sie her waren, teilen. Und wenn sie einen Sinn dafür fand, wo sie ihn nicht vermutet hätte, da begrüßte sie ihn mit der ganzen geraden Herzlichkeit ihres Wesens. »Das ist ja fein,« sagte sie, »das freut mich ja von Herzen, Meister. Wollen wir das heute abend tun? Gleich heut?« Sie nannte ihn immer Meister. Das Wort gefiel ihr so für den einfachen, biederen Mann. Sie hatte bis jetzt immer geglaubt, er gehe in seinem Handwerk auf, und er war so gar kein Herr. Am Ende kannte sie ihn aber doch noch nicht. Die Frau stand unter der Tür und wartete. Sie schützte die Augen mit der vorgehaltenen Hand vor der Sonne. Ihr Gesicht war so eben und unbeweglich wie immer und mit dem gewohnten ruhigen Ton grüßte sie die Ankommenden. »Das Essen steht schon droben, Fräulein,« sagte sie. »Es ist hoffentlich noch gut. Ich hab’s auf zwölf Uhr gerichtet.« »Geschieht mir ganz recht, wann ich’s kalt bekomme; ich bin so gar kein pünktlicher Mensch. Erziehen Sie mich nur ein bißchen.« Adelheid Solger hatte immer das Gefühl, als wenn sie diese Frau ein wenig aufheitern, ein wenig froh machen sollte. Aber wie? Sie war wohl auch gar nicht traurig, nur so tonlos, so gleichmäßig still ging sie ihres Weges. Und man wußte nie, was in ihr vorging. »Aber das ist ja vielleicht das allerbeste,« dachte das Fräulein, als es die Treppe hinanstieg und sein Zimmer betrat. »Es ist gar nicht immer gut, wenn man einen so durch und durch sehen kann, wie zum Beispiel mich, die ich keinen Gedanken verbergen kann. Ich will sie nur ruhig ihres Weges gehen lassen. Wenn ich’s nur könnte. Ich kann es ja doch nicht. Einen Tag lang, ja, aber dann muß ich wieder in ihrem Gesicht herumstudieren, und in seinem. Warum bin ich nur so, so menschenhungrig? Warum muß ich an allem teil haben, was um mich herum vorgeht?« Ihr Tisch war sauber gedeckt. Mit billigem Geschirr und dünnem Tischzeug, wie man es in Warenhäusern um ein Geringes bekommt. Aber alles neu und ganz. »Das ist für mich angeschafft,« dachte sie. »Da sitz’ ich nun allein dabei und ess’ das Beste, was im Haus ist. Es ist mir zuwider. Ich bezahl’s ja, sie verdienen noch ein bißchen dabei. Aber es ist mir doch zuwider. Soll ich ausgehen und im Wirtshaus essen? Dann kränkt’s die Frau, sie tut, was sie kann. Jetzt würde ich wieder ausgelacht, wenn mich meine Freunde sähen. ›Immer rücksichtsvoll,‹ würde Heinz sagen, und spöttisch den Hut ziehen. Ich weiß, was ich möchte. Ich möchte unten mit am Tisch sitzen und mitessen. Ich habe ganz gewöhnlichen Menschenhunger.« Damit beendete sie ihr Selbstgespräch und fing an zu essen. Sie war jung und gesund, es schmeckte ihr trotz allem. Ein gutes Stückchen hob sie für Gottfried auf, der eilig daherstolperte, kaum daß er den Löffel weggelegt hatte. Er blieb staunend stehen. Das Zimmer war anders, als da das Fräulein einzog. Auf der Kommode stand in einer breiten tiefen Schale ein Waldstrauß, ein duftiges Gewirre von grünen und rötlichen Ranken, langstieligen Glocken und Waldlilien. Die Öldrucke waren von den Wänden verschwunden; ein paar Kreide- und Kohlezeichnungen waren mit Reißnägeln da und dort lose angeheftet, über dem Bett hing an einer roten Schnur ein farbenfreudiges Aquarell. Ein hohes, graues Steinhaus mit einem mächtigen Portal, vergitterten Fenstern im Erdgeschoß und einer heiteren Fensterreihe oben, zwei der Fenster mit Brettern voll brennendroter Geranien davor. Vor diesem Bild pflanzte sich der kleine Bub auf und guckte es mit großen Augen an. »Siehst du, da bin ich daheim,« sagte das Fräulein und wies auf die Blumenfenster. »Da geh’ ich wieder hin, wenn ich im Herbst fortgehe. Es war einmal ein Schloß und hat einem Grafen gehört. Der ist aber schon lang tot.« »Gehört’s jetzt dir?« fragte Gottfried. »Nein, Bub, so reich bin ich nicht.« Sie lachte. »Da wohn’ ich nur, und außer mir noch viele Leute; fast in jeder Stube jemand anderes. Und in der Mitte ist ein ganz mächtig großer Hausflur, so groß, daß man euer Haus hineinstellen könnte. Da tanzen bei der Nacht die Mäuse.« Gottfried sah unbefriedigt aus. Es paßte ihm nicht, daß dem Fräulein das Haus nicht gehöre und daß bei Nacht die Mäuse darin tanzten. Er hatte mit den Kindern der Himmelreichsgasse schon viel von »unserem Fräulein« gesprochen. Kein Mensch außer ihnen hatte einen Sommergast. Er hätte den anderen gern das Haus gezeigt; die hätten Augen gemacht. Aber wenn’s ihr gar nicht gehörte. Dann konnte man nur gleich still sein. »Ist dein Vater und deine Mutter auch drin?« fragte er. Da machte sie ein sehr ernsthaftes Gesicht. »Ich habe keinen Vater und keine Mutter mehr,« sagte sie. »Schon als ich so groß war wie du, nicht mehr.« Gottfried war immer enttäuschter. »Ja, hast du denn gar niemand?« fragte er. Da überkam das Fräulein wieder »dieser ganz gewöhnliche Menschenhunger«. Sie konnte doch dem kleinen Buben nicht sagen, daß sie zu niemand gehöre, zu gar niemanden. Sie hatte doch so viele Freunde, so einen frohen, belebten, anregenden Kreis. Aber jemand eigenes? »Doch,« sagte sie nach einer kleinen Weile. »Ich habe schon jemand. Es ist fast, wie wenn ich eine Mutter hätte. Oben, ganz da oben, man sieht das Fenster nicht auf dem Bild, es ist auf der anderen Seite, da wohnt sie. Sie kann nicht gehen, sie ist krank. Aber sie ist immer da, wenn ich zu ihr komme. Die hat mich lieb, sie gehört mir.« Gottfried verstand den Bericht nicht so ganz. Das konnte er ja auch nicht. Das Fräulein hatte ja gar nicht gesagt, wer da oben wohne und fast wie ihre Mutter sei. Sie kam ihm ein klein bißchen weniger erstaunenswert vor, als er wieder die Treppe hinunterging. Sein Vater saß am Schustertisch und flickte einen klaffenden Riß in einen Bauernschuh. Dem konnte er alles erzählen. Er horchte auch hoch auf. »Daß sie am End’ gar nicht zu beneiden wär?« dachte er. »Daß sie auch ihren Schatten hat in ihrem Leben?« Er zog den Pechdraht eifriger durch die Löcher, die die Ahle machte. »Aber sie hat’s doch schön; Herr! wenn man selber so ist, so gescheit und geschickt, und tun kann, wie man will!« Derweil saß das Fräulein oben und schrieb einen langen Brief an die, die »fast wie ihre Mutter« war. Mit dem Herzen und Gedanken kehrte sie ein in der stillen Stube der alten Freundin, die fast nichts mehr tun konnte und doch so viel war. So ein aufgeschlossener, warmer, lebendiger Zufluchtsort für die, die sich draußen herum müde und unruhig gemacht hatten. Sie wurde wieder froh während des Schreibens, ihres Reichtums bewußt. Es ging ein starkes Grüßen dem Brief voraus, direkt durch die Luftlinie. »Wenn ihr jetzt nur die Ohren klingen möchten,« dachte das Fräulein, als es die Himmelreichsgasse hinunter wandelte und den Brief in den gelben Schalter steckte, ganz unten an der Ecke. Denn sie wußte wohl, daß die Freundin manchmal saß und nicht wußte, wozu ihr tatenloses Leben noch tauge. Wie das einem Gemüt gehen kann, das nichts von seinem segnenden Reichtum weiß. Das nicht weiß, daß es eine stille Heimat ist für die, die es lieb hat. – – – – Das war ein Sommerleben, ein rechtes, echtes! Früh heraus, fast mit der Sonne, und den ganzen Tag sich des Daseins gefreut. »Ich werde braun, wie eine Bäuerin,« dachte Adelheid Solger vergnügt und studierte ihr sonnverbranntes Spiegelbild. Die Himmelreichsgasse hatte das schon von ihr gemerkt. Sie war so ein bißchen Gemeingut geworden, da mußten die Leute schon darauf achten. Wenn sie die Gasse hinabging, hatte sie viele Händedrücke von sauberen und schmutzigen Händlein in Empfang zu nehmen und viele Grüße zu erwidern. Sie tat es gern, es war ihr so selig patronatsmäßig und landpomeranzig zugleich zumute. Der Schmied war ihr guter Freund und die dicke Bäckersfrau ihre Freundin. Und der Sternenwirt unten an der Ecke zog, wenn er sie kommen sah, seine Spieluhr auf. »Freut euch des Lebens,« konnte sie spielen und den Hohenfriedberger Marsch. Denn das Fräulein blieb dann regelmäßig stehen und horchte; sie wippte so einverstanden mit dem Kopf zu der Musik. Das freute den Sternenwirt. Sie ging aber viel öfter gleich vom Haus aus in den Wald. Nicht nur so in die nächste Nähe. Sie machte große Streifereien und brachte reiche Beute im Skizzenbuch heim. Wie die Bienen sammelte sie ein in der schönen Welt. »Das war ein Prachtsgedanke von Heinz,« dachte sie. Dieser Heinz war ein Freund und Studiengenosse von ihr, der sich gern zu ihrem väterlichen Berater aufwarf und er hatte sie hierhergeschickt. »Sie müssen so recht in die Natur kommen,« hatte er gesagt, »das ist für Ihr Studium und für Ihren Menschen nötig. Sie werden neuerdings so zivilisiert.« – »Ich wollte, er könnte mich jetzt sehen.« Sie lachte, als ihr der Wunsch kam. Denn jetzt lebte sie so natürlich, als nur möglich. Es war eine Lust, zu leben. Sie hätte so gern ihre ganze Umgebung mit ihrer inneren Frohheit angesteckt. Das gelang teilweise, teilweise auch nicht. Meister Notacker, der lebte auf; er sang sogar manchmal. Er hatte eine schöne, tiefe Stimme und er kannte alte, wunderbare Volkslieder. Es war lang her, seit er sie gesungen hatte, die Kinder horchten hoch auf, und die Frau warf einen langen, merkwürdigen Blick auf ihn, als er’s das erste Mal tat. Er sah den Blick nicht, nur Adelheid Solger sah ihn. »Ist’s ihr am End’ nicht recht, daß er singt?« dachte diese. »Sie sollte doch froh sein, wenn er ein wenig Leben zeigt. Wenn ich einen Mann hätte mit solch einer Stimme, er müßte mir alle Tage singen.« Aber die Frau hatte schon wieder den Kopf über die Näharbeit gebeugt und zog mit unbewegtem Gesicht den Faden aus und ein. »Ich habe mich wohl getäuscht,« dachte die Beobachterin. Sie hieß jetzt nicht mehr Fräulein schlechtweg, sie war zum Fräulein Adelheid geworden. Sie hatte sich’s nicht ausgebeten, das war nach und nach so gekommen, ganz von selbst. So war’s ihr recht. Sie saß auf einem dreibeinigen Schemel am offenen Fenster. Draußen war’s Nacht, eine warme, düftereiche Sommernacht. Um die aufgehängte Ampel über dem Schustertisch surrten aufgeregte Schnaken mit langen Füßen und glasigen Flügeln. Der Meister saß mit einem halbgeflickten Rohrstiefel auf dem Schoß, ließ die Hände ruhen und sang aus gehobener Brust. »Es waren einmal drei Reiter gefangen, gefangen waren sie.« Und dann noch viele andere. Die Kinder spitzten die Ohren und horchten wie die Mäuse, und die Frau wendete das zerrissene Röcklein hin und her, bis alle Löcher zu waren. Dann stand sie auf: »So jetzt ins Bett, Kinder, ’s ist schon viel zu spät für euch.« Adelheid konnte es schon lang wieder nicht lassen, an ihrem undurchdringlichen Gesicht und Wesen herumzustudieren. »Warum sie nur so ist? So stumm und ernst. So sorglich und fleißig, und brav und still. Aber gar nichts Warmes. Ich möchte sie wohl fragen, ob sie nicht glücklich ist. Aber das wag’ ich ja gar nicht. Sonst bin ich so keck und vor ihr scheu’ ich mich. Wie das nur ist? Am End’ hat sie schwere Nahrungssorgen. Der Mann ist nicht so übereifrig. Aber sie haben doch auch die Wiese und eine Kuh. Da bin ich nun schon wieder beim Grübeln.« Adelheid gab sich einen innerlichen Rippenstoß und kehrte in die Gegenwart zurück. Der Meister hatte aufgehört zu singen. »Sie haben gar nicht mehr gehorcht,« sagte er. »Meine Gedanken sind mir durchgegangen,« gab sie reumütig zu. »Ich hab’ aber danebenher doch noch zugehört. Sie haben eine gute Stimme, warum singen Sie nie? Das sollten Sie viel öfter tun.« – »Ich will’s tun, wenn Sie’s freut. Es ist mir selten singerig zumute. Das muß einem von innen heraus kommen, sonst ist’s nichts.« Adelheid mußte wieder einmal sein Gesicht betrachten. Es hatte in letzter Zeit so etwas Lebendiges, Aufgehelltes bekommen. Sie wußte nicht, daß er in diesem Augenblick in seinen Gedanken zu ihr sagte: »Ja, wenn du immer da wärest, dann sänge ich wohl. Wie hast du mir das Leben aufgetan, du Sommergast.« Es war gut, daß sie es nicht wußte. Sie holte ihr Skizzenbuch herbei und zeigte ihm Altes und Neues daraus. Er tat so verständige, tüchtige Bemerkungen dazu, sie waren beide so plaudersam angeregt, als die Frau zurückkam und wieder ein Paar Strümpfe zum Stopfen vornahm. »Ich habe fast ein böses Gewissen,« sagte Adelheid, »Sie sind noch so fleißig und ich habe so frühen Feierabend gemacht. Lassen Sie mich ein bißchen mithelfen, ich kann auch Strümpfe stopfen, Sie werden’s schon sehen.« Die Frau warf einen Blick in ihr bittendes Gesicht. »Ich glaube, Sie meinen’s gut,« sagte sie. »Aber helfen können Sie mir nicht. Ich habe auch nur noch das eine Paar vor.« »Wie sie das nun wieder so tief und schwer sagt,« dachte Adelheid. »Das ist doch so eine harmlose Sache. Ich glaube, Heinz hat recht. Es gibt Leichtblüter und Schwerblüter. Die Frau gehört zu den Schwerblütern. Die müssen alles schwer nehmen.« – »Ich glaube, daß Sie’s gut meinen.« »Will’s glauben, daß ich’s gut meine. Oder eigentlich, ich meine es weiter gar nicht. Ich bin nur so ein vergnügter Mensch und hätte die andern gern auch so. Das ist eigentlich lauter Egoismus.« Damit erstieg sie ihre Treppe und begab sich zur Ruhe. »Ihre Lieder müssen Sie mich noch lehren, Meister,« rief sie noch von der Treppe her. »Die nehm’ ich im Herbst mit nach Hause und sing’ sie meinen Freunden vor. Da krieg’ ich einen Preis; so schöne können die nicht. Aber wir müssen bald daran, die Zeit vergeht so schnell.« Das Letztere war so wahr. Die Zeit verging so schnell: es war fast nicht zu glauben. Die Ernte war vorbei, der Wind ging übers Stoppelfeld. Heute hatte Adelheid den ersten silbernen Altweibersommerfaden an einer Hecke gefunden. Den besah sie sinnend. Sie freute sich auch wieder auf ihren alten Kreis in der Stadt. Aber es war ein so schöner, reicher Sommer gewesen, es tat ihr leid, daß er scheiden wollte. Die Menschen hier waren ihr auch wert geworden, so, wie einem die wert werden, an deren Sein und Tun man teilgenommen hat; wie das ein rechter, echter Mensch an denen tut, die um ihn her sind. Gottfried hatte ihr schon lang verziehen, daß das große Haus in der Stadt nicht ihr gehöre. Sie hatte so viele andere Vorzüge, er war ihr guter Freund geworden. Auch die anderen Notackerlein krabbelten die dunkle Treppe herauf und pumperten mit den Fäustlein an die Tür, und nach und nach taten das noch andere Kinder aus der Himmelreichsgasse. Auf einem Eckbrett stand eine glänzende Büchse, darin waren Himbeeren, wie man sie nicht im Wald findet, groß und glänzend, von süßem Zucker. Die banden die kleinen Herzlein an das große. Es waren nicht nur die Himbeeren, es war sonst noch viel Liebes und Schönes. Adelheid malte einen Zweig fliegender Herzen und in jedes rote Herzchen hinein einen der Kinderköpfe. »Lauter Originale,« sagte sie mit Stolz und trug das Bildchen im Haus herum, um es bewundern zu lassen. Sie traf die Schuhmachersfrau am Waschzuber. »Da sehen Sie her,« sagte sie, »das nehme ich mit nach Haus. Ich muß doch meinen Freunden zeigen können, was ich diesen Sommer gewonnen habe. So viele Herzen, und lauter frohe, harmlose, und keins betrübt und zerbrochen.« Wie froh sah sie aus, als sie das sagte, und so frisch und herzenswarm. Sie mußte wahrlich die Herzen gewinnen. Die ernsten Augen der Frau lagen auf ihrem Gesicht, und plötzlich brach ein warmer Strahl, der sich nicht zurückhalten ließ, aus ihnen. »Das ist ein herziges Bildchen,« sagte die Frau. Und dann, ganz unvermittelt: »Sie meinen es gut, es muß Ihnen gut gehen auf der Welt. Wenn Sie nur auch so froh bleiben, wie Sie jetzt sind, es tut einem so gut, auch noch frohe Menschen zu sehen, die sind selten.« Adelheid war seltsam befangen. Es kam plötzlich solch eine Wärme aus dieser verschlossenen Frau heraus und sie wollte sich dessen freuen, aber sie konnte nicht recht. »Ach,« sagte Adelheid, »ich habe auch schon mein Teil Trauer gehabt im Leben. Wenn man ohne Eltern heranwächst und niemand ganz Eigenes hat. Es ist aber wahr, ich weiß nicht, wie’s kommt, ich muß mich an vielem freuen. Das Leben ist doch so schön, ich wollte, alle Menschen freuten sich dessen. Und,« sagte sie auf einmal mit hervorquellendem Mut: »ich wollte, ich hätte Ihnen etwas zu geben, das Sie froh machte. Sie sind’s nicht. Oder mein ich das nur?« Die Frau wusch eifrig weiter. Sie hatte das Gesicht über ihre Arbeit gebeugt und nichts mehr regte sich. »Es geht mir nicht schlecht,« sagte sie nach einer kurzen Weile. »Es kommt jedem etwas, das er tragen muß. Mancher ladet sich’s selber auf und muß es dann schleppen. Was man sich selber aufladet, ist auf die Dauer schwerer als das, was Gott schickt. Aber es muß dann auch gehen.« Sie stand so unscheinbar an ihrem Waschzuber. Sie war weder jung noch schön, noch lieblichen Wesens, auch nicht besonders klug und hatte keinerlei Interessen, die über ihren täglichen Kreis hinausgingen. Und doch hatte sie etwas ganz Besonderes an sich. War es, daß sie im stillen eine Last trug, die sie niemanden klagte? Was mochte sie sich aufgeladen haben? Denn sie hatte doch vorhin von sich selbst gesprochen. Adelheid stand noch in stillen Gedanken ihr gegenüber, da sagte die Frau, wie aus einem langen Gedankengang heraus: »Ich bin gar nicht in die Welt hinausgekommen. Ich war immer hier, in diesem Haus. Es ist meines Vaters Haus. Man kann aber daheim auch genug erleben, das ist überall eins.« Dann brach sie wieder ab. Sie hatte noch viel auf dem Herzen. Aber sie drückte es wieder hinunter, sie hatte die Macht dazu, es für sich zu behalten, und Adelheid wollte nicht fragen. Sie ging in die Stube, um dem Meister ihr Blatt zu zeigen. Der sah es an, er wollte es nicht loben. Er atmete aus tiefer Brust und zog die Augenbrauen zusammen. »Was ist, wo fehlt’s?« fragte Adelheid. Da nahm er einen Anlauf zum Reden. »Es ist gut gelungen,« sagte er. Sonst nichts. Es lag ihm etwas anderes obendrauf, etwas, das er nicht sagte, das konnte man gut merken. »Wenn’s Ihnen nicht gefällt, so sagen Sie’s nur ganz ehrlich.« Adelheid war ein wenig ärgerlich. »Sonst muß ich mir den Gottfried holen, der sagt seine Meinung frei heraus.« »Ja,« brach er nun los, »ich wollte, ich dürfte das auch. Aber das habe ich mein Lebenlang noch nicht gedurft. Als ich so ein Bub’ war, wie der Gottfried jetzt, starb meine Mutter. Meinen Vater hab’ ich nie gekannt. Da kam ich hierher ins Haus meines Pflegers. Der war ein Schuhmacher. Ein geschickterer, als ich geworden bin. Ich mußte auch einer werden, als ich aus der Schule kam. Das war so natürlich, daß man mich gar nicht fragte. O ich hab’ auch einmal aufgemuckt. Ich hab’ auch einmal gesagt, was ich wollte. Ich wollte Musik machen lernen, es nahm mir fast den Atem, wenn ich ein Instrument hörte. Ich hätt’ auch etwas anderes gelernt, ich hätte die Musik dran gegeben, wenn ich hätte in Büchern lernen dürfen. Aber da kam ich schön an. Wissen Sie, wie man mir die Gelüste ausgetrieben hat? Hinausgehauen hat man sie! Ausgeprügelt.« Der Mann war in einer Erregung, Adelheid hatte ihn noch nie so gesehen. Als sei an einem vollen Dampfkessel das Ventil geöffnet, und lasse die zusammengepreßte Gewalt ausströmen, so flutete es aus ihm heraus. Er nahm sich gewaltsam zusammen. »Aber das ist nichts für Sie,« sagte er. »Was wissen Sie von so etwas?« »Doch, das ist etwas für mich.« Adelheid saß ihm gegenüber auf dem niedrigen Fenstersims. Sie lehnte den Kopf an den Rahmen und sah ihn herzlich an. Ihr kleiner Ärger war längst verflogen. »Erzählen Sie mir das alles, warum soll ich von so etwas nichts wissen? Ich bin dreiundzwanzig Jahre alt und weiß, daß man im Leben kämpfen muß.« Sie füllte die Fensteröffnung fast ganz mit ihrer hellen Gestalt; er sah an ihr hinauf und sprach weiter, gesänftigter, als ob es ihm eine Wohltat sei, sein Leben vor ihre Augen zu legen. Von den Lehrlingsjahren sprach er und von seinem Ungeschick zum Handwerk. Von seiner Unlust dazu, die ihn drückte und würgte, und von der Furcht vor den Schlägen des Lehrmeisters. Von der ganzen zusammengepreßten Jugendlust am Streben und Leben. Dann von der Gesellenzeit und den Militärjahren, wo er von ferne die bunten Bilder des Lebens hatte an sich vorbeiziehen sehen. »Da hab’ ich meine Lieder singen gelernt,« sagte er. »Das war schön, wenn wir sie sangen zum Marschieren am frühen Morgen beim Ausrücken. Und wenn dann die Regimentsmusik spielte. Die Brust wollt’s einem zersprengen vor Hochgefühl. Da hab’ ich mich auch manchmal vor die Schaufenster gestellt, wo Bücher und Bilder ausstanden, und hab’ alles um mich herum vergessen vor Staunen. Daß man so viel Bücher schreiben kann. Was da alles darin stehen mag? Und die Bilder; wie man so etwas machen kann? Das ist ja ein Wunder. Grad so viel hab’ ich gesehen, daß ich’s weiß, das gibt’s alles; mehr nicht.« Er hämmerte eine Weile drauf los, schweigend, und wie von einem inneren Drang beseelt, sich frei zu schaffen. Dann sagte er: »Grad an dem Tag, als ich vom Militär frei kam, schrieb mir Regine – das ist meine Frau. Das wissen Sie noch nicht, daß sie meines Pflegers Tochter ist? Wir sind immer zusammen gewesen. Sie ist aber älter als ich. Jaso. Ja, sie schrieb mir, daß ihr Vater krank sei, vom Schlag gelähmt. Ich solle kommen, das Geschäft fortführen. Was sollte ich anders? Ich konnte mich nicht besinnen, ob ich wollte oder nicht. Das hab’ ich nie gekonnt in meinem Leben, es stand immer alles vor mir, ein Zaun hüben und drüben am Weg. Und das, was ich gern gewollt hätte, war hinter dem Zaun.« Adelheid sah so teilnehmend in ihn hinein. Sie konnte hier nichts geben, als ihr lebendiges, stilles Zuhören. Was für ein Strom verborgenen, zurückgedämmten Lebens ging da an ihrer Seele vorüber. Sie sagte auch in den Pausen nichts; sie war ganz still. »Dann ging vollends alles seinen Weg,« fuhr der Mann fort. »Nach einem Jahr starb der Meister. Er konnte nicht mehr sprechen, aber zeigte mir mit Gebärden, daß ich das Geschäft fortführen solle. Und dann – dann tat ich’s. Die Tochter hat dazu gehört. Ich hab’s nicht gleich begriffen, ich hatte nicht daran gedacht. Sie war mir lieb und wert. Aber ich hatte mir das anders vorgestellt, das mit dem Liebhaben und Zusammengehören. Ganz anders. Man machte mir das deutlich. Es sei ein Glück für mich, hieß es. Ein Haus und ein Geschäft zu haben, und eine rechte Frau dazu. Solch ein armer Mensch wie ich. Sie wollte mich gern, das konnte ich deutlich sehen. Am Ende hatte ich mir das andere nur eingebildet, das mit dem Glück und dem Zusammenstimmen. Da hab’ ich sie gefragt. Und seither hausen wir zusammen.« Der Sommergast hatte sich langsam von seinem erhöhten Sitz herabgelassen. Das war so etwas Wehtuendes. Das schnitt so scharf in ihre liebewarme Seele hinein. Sie waren alle beide nicht glücklich, der Mann und die Frau. Und dabei war wohl nichts zu helfen. Adelheid wendete das Gesicht den Fenstern zu. Draußen kam vom Tal herauf ein Herbstnebel und hüllte nach und nach die ganze Gegend ein. Sie sah dem Gewoge zu. Da sprach er weiter, hinter ihr. Sie sah nicht, wie seine Augen an ihrer Gestalt hingen, wie er aufstand und die Hände auf dem Rücken verschränkte in ohnmächtigem Verlangen. Sie hörte nur, daß seine Stimme zitterte. »Es geht mir immer so,« sagte er. »Jetzt, heut’, mit Ihnen. Ich sehe und höre von allem, was das Leben reich macht, so viel, daß ich weiß: das gibt’s. Daß ich sehe: das könnte ein Leben sein, wenn du das hättest. Und dann muß ich’s wieder lassen. Nur grad soviel, daß ich Hunger darnach bekomme. Nur grad vor mir sehen und nicht fassen dürfen.« Sie wagte nicht umzusehen, es wurde ihr so unbegreiflich schwül zumute. Das war ein Ausbruch! Daran hatte sie nicht gedacht. »Und da soll ich noch Ihr Bildchen loben und mich dran freuen? Das sind die Herzen, die Sie diesen Sommer gewonnen haben? Und Sie nehmen sie mit nach Hause und zeigen sie Ihren Freunden und sagen: ›Seht her, was ich mitgebracht habe!‹ Bin ich nicht auch ein Mensch? Und ich bleibe hier zurück, und wie? Sie aber gehen, denn der Sommer ist dahin.« Sie war ein rechtes, tüchtiges Menschenkind. Es war eine junge, starke Kraft des aufrichtigen Empfindens und Wollens in ihr. Darum wandte sie sich nun nicht in heiligem Unwillen von ihm, flüchtete nicht erschrocken vor den Wellen seiner armen, heißen Lebensleidenschaft. Sie fing auch nicht an, mit grüblerischem Forschen in sich herumzuquälen: »Hätte ich etwas anders machen sollen? War es am Ende Sünde, daß ich ihn an allem teilnehmen ließ, was ich lebte und genoß?« Die Schwüle war vergangen. Das, was sie sah, war klar, und sie verstand sich selbst und ihn. Der Schuster hatte damals auf der Heuwiese zu ihr gesagt: »Es gibt scheint’s Augen, die immer sehen, was schön ist, die sind dazu gemacht.« Da hatte er noch nicht gewußt, daß solche Augen auch Innerliches sehen können, und daß sie das Schöne herausfinden, mit dem tiefen, sicheren Blick des Quellenfinders, auch da, wo es sich nicht klar und lauter zeigt, wo es getrübt und vermischt mit Unreinem ist. Sie hatte ihm etwas, das ihn freute, in sein Leben hereingebracht. Und nun sie es wieder mitnahm, litt er darunter. Das war so natürlich. Dafür konnten sie beide nichts. Das mußte getragen sein. Er war ein armer Mensch, er hatte keinen Trost in sich selbst. Es verlangte sie, ihm einen zu geben. Aber welchen? Daß sie in Freundschaft seiner gedenken werde? Das war nichts. Das konnte ihm nichts helfen. Sie hatte auch eigentlich nur eine offene, herzliche Teilnahme für ihn. Die war echt. Aber sie konnte dem Mann nichts helfen. Die konnte sie ihm nicht geben. Wenn er doch nur gesehen hätte, wie viel Gutes er habe, Eigenes, bei sich im Haus, das ihm blieb. Und wenn’s nur die Kinder waren. Aber das konnte sie ihm alles nicht sagen. Ratlos wandte sie sich um. Sie wollte ihm die Hand geben und nach einem Wort suchen, das vom Herzen komme. Da sah sie unter der offenen Tür auf der Schwelle die Frau stehen. Und als sie ihr ins Gesicht sah, wußte sie, daß hier eine verborgene Kraft der Seele ins tätige Leben getreten sei, und daß die Kraft Gutes bedeute, irgend etwas Gutes, für den Mann, der so arm war in seiner innerlichen Unkraft. Daß sie nicht zu helfen brauche mit ihrer armseligen Teilnahme, sondern daß da Liebe sei, echte, rechte, die sich ans Tageslicht dränge wie ein Quell. Zu dieser Stunde und nicht früher, obgleich sie früher wohl dagewesen sein mochte. Adelheid ging zur Tür. Sie wußte nichts zu sagen. Es war ihr auch nicht mehr not. Aber im Hinausgehen gab sie der Frau die Hand. Die tat einen Schritt vorwärts. Sie trocknete sich die Hände und streifte die Ärmel herunter. In ihrem tieferblaßten Gesicht sprachen nur die Augen, und sie holte Atem, tief und schwer von unten herauf. Der Mann konnte noch nicht lesen, was in ihren Augen stand. Er ließ die geballte Faust schwer auf den Schustertisch fallen und streifte mit den Augen die Frau; scheu und trotzig und unsäglich elend sah er aus. »Sag nichts,« sagte er mit tonloser Stimme, »sag nichts! Du hast alles gehört, ich seh’s. Na ja. Ich bin auch ein Mensch. Das will einmal heraus. Jetzt weißt du’s. Laß mich mit Fried’, jetzt.« Es kam stoß- und ruckweise heraus. »Oder, ’s ist mir auch einerlei, kannst auch schelten. Aber nichts über das Fräulein. Kein Wort. Die ist gut, die kann nichts dafür, daß ich –, das ist alles aus _mir_ heraus.« Seine Stimme verging. Es schüttelte ihn von innen heraus. Er legte die Hand auf die Augen. Da trat sein Weib zu ihm. Wie eine Mutter und auch wie ein liebendes Weib trat sie zu ihm. So voll des Rechtes, zu trösten. Er war unglücklich, und sie hatte ihn lieb. Er war nie recht glücklich gewesen und sie hatte ihn immer lieb gehabt. Aber sie hatte es ihm nicht zeigen dürfen. Sie hatte eine Schuld auf sich gehabt, all die Jahre her, die hatte sie stumm gemacht und scheu. Und ihre Schuld war gewesen, daß sie sein Leben an das ihre gekettet hatte, trotzdem sie wußte, daß er sie nicht liebte mit einer großen, starken Männerliebe. Sie hatte auf das Kommen dieser Liebe gehofft und gewartet, und als die Hoffnung abnehmen mußte, als sie ihn hungrig sah, gedrückt und flügellahm an ihrer Seite, da wollte sie wenigstens eins tun, ein Großes, ihm zu Lieb. Sie wollte ihre Liebe in sich hineinschließen. Er sollte sie nicht sehen, sie mußte ihn ja quälen. Sie sorgte für ihn und für die Kinder. Mehr durfte sie nicht. Aber jetzt, heute. »Andres,« sagte sie, »Andres, mußt nicht so verzagt sein.« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, leicht, leise. Es war ein Glücksgefühl in ihr, ein ganz eigenes. Eines, das nur die Menschen kennen, die schon ganz arm gewesen sind. Teil haben an seiner Last, die man so gut kennt, so gut. In seiner Armut zu ihm stehen, nun das andere geht, das Sonnige, Helle, das sein Leben gestreift hat. Ihm zeigen: Du bist nicht allein, die Treue bleibt dir, du Armer. Das ist auch schon ein Glück für solch ein Herz. Aus dem vollen Reichtum heraus wäre das ein Elend. Aus der Armut heraus, aus dem stummen, zugeschlossenen Nebenhergehen – ihr war es ein Reichtum. Sie hatte diese Stunde kommen sehen, all die Zeit daher. An seinem aufgehellten Wesen, an seinem Gesang, an tausend kleinen Zügen. Und sie hatte gewußt, daß ihm die andere nichts zu geben habe. Daß sie gehe und sein aufgewachtes, hungriges Herz zurücklasse. Das hatte so kommen müssen. Daran war gar nichts aufzuhalten und zu ändern gewesen. Das hatte der Sommer zur Reife gebracht. Und nun war er dahin. – Er zuckte zusammen unter ihrer linden Berührung. Als ihn ihre Stimme traf, mit so einem eigenen, zitternden, warmen Klang, sah er auf. Er hatte etwas anderes erwartet. Er hätte auffahren, lospoltern mögen, sich verteidigen, ihr ins Gesicht schleudern: Laß mich, du! Was verstehst du vom Leben, vom Liebhaben, vom Feuer, das in mir brennt? Das konnte er nun nicht. Das konnte er ihr nicht sagen. Diese Frau, deren Augen so voll und tief und fest auf ihm lagen, verstand _wohl_ etwas von dem allen. Das sprach aus ihr heraus. Und ihn streifte eine Ahnung von dem, was in ihr war. Er ließ den Kopf wieder sinken. Da wagte sie es, sein Haar zu streicheln. Der kleine Bub’ hatte sich am Morgen gestoßen, er hatte eine Beule an die Stirn bekommen; den hatte sie auch so gestreichelt und dazu liebe Worte gesagt: »So, so, nun wein’ nicht mehr. Das geht vorüber. Das tut nur eine Weile weh.« Das gleiche konnt sie zu ihm nicht sagen, der da saß und wund vom Leben war. Aber ihre Liebe redete doch. »Ich versteh’ dich so gut. Ich weiß, wie das ist. Sehen, vor Augen haben und doch nicht besitzen. Lieb haben und sich hungrig sehnen. Und vorbei lassen müssen. Wenn man’s nicht wüßte, wär’s leichter. Aber glaube, meine Last war schwerer als die deine. Denn ich trug sie lang und still, und ich mußte dich leiden sehen. Durch mich.« Das sagte sie ihm nicht alles so nacheinander. Aber er verstand sie doch. Er saß und rührte sich nicht. Er war so wunderlich aufgerührt in seinem Innern. Da war noch ein Leid neben dem seinigen. Da war ein Mensch, ein lebendiger, dessen ganzes Herz ihm gehörte. Der begehrte nichts, als zu ihm zu stehen, ihn zu trösten, etwas Gutes zu sein in sein Leben herein. Wie ein Riß im schwülen, dunklen Gewölk war das, durch den der klare, blaue Himmel hereinsieht. Wie ein Acker, der vom Hagel verwüstet und ganz zertreten schien, und auf dem sich doch noch Halme mit Ähren aufrichten, still und stark, und eine Ernte verheißen, wenn auch keine üppige, lachende. Sie begehrte jetzt kein Wort von ihm. Er ließ sie ja bei sich. Er wies sie nicht ab mit ihrer stillen Tröstung. Das war jetzt genug. Das Kleine in seinem Wagen erwachte und ließ seine Stimme hören. Da ging sie hin zu ihm und hob es heraus. Und ein Lebens- und Freuden- und Kraftgefühl war in ihr, daß sie das Kind hoch in die Höh’ hob. »Du Schatz,« sagte sie, »du Schatz.« Sie war ja jetzt reicher als vor sechs Jahren als Braut. Damals hatte sie nach Liebe gehungert und ihrer begehrt. Jetzt liebte sie. Sieghaft brach die Liebe aus ihr heraus. Hier in diesem Haus war Liebe nötig, echte starke. Und niemand sollte fürderhin daran Mangel leiden. Das wuchs, das drängte. Sie hatte selbst nicht gewußt, wie lebensreif das alles in ihr gelegen hatte. »Mann,« sagte sie zu dem zusammengesunken Dasitzenden, »du, Mann, da guck den Kleinen an. Ist er nicht ein Schatz?« Sie hätte jetzt noch viel sagen können. Liebes, Warmes, Aufmunterndes. Aber er war so wund, da durfte man nicht derb zugreifen. Da konnte sie nicht sagen: »Ich bin nun einmal dein Weib, und die Kinder sind deine Kinder. Und wir wollen suchen, einander mehr zu sein, als seither.« Das nicht und sonst viel Schönes nicht. Das sagte nur ihr Wesen, ihr stilles, liebes Tun, das auf einmal so anders, so selbstverständlich um ihn her war. Er hatte seine Mutter kaum gekannt. Nun schien ihm sein Weib beides zu sein, Weib und Mutter. So hatte er sie noch nie angesehen, so warm hatte es ihn nie zu ihr gezogen, wie jetzt, da sie das, was ihn als Schuld drücken wollte, nur als Lebensleid ansah, und sich zu ihm stellte, es tragen zu helfen. Es war am Abend. Die Mutter saß in der dunklen Kammer an den Kinderbetten und sang leise ein Lied. Das tat sie selten. Heute mußte sie es tun, es war so viel Aufgewühltes, Unruhiges, Frohes und Schweres durcheinander in ihr. Das mußte zur Ruhe kommen. Die Kinder schliefen drüber ein. Draußen in der Stube saß der Mann, allein, die Ellbogen schwer auf den Tisch gelegt, den Kopf auf der Brust. Sie hätte ihn so gern auch in den Schlaf gesungen, mit Liebe zugedeckt. Aber sie wagte sich doch nicht so nah an ihn heran. Die aufflackernde Freudigkeit des Nachmittags war nicht mehr in ihr. Er liebte sie ja doch nicht. Er trauerte ja, daß die andere ging. Und er sehnte sich nach einem Leben, das sie ihm nicht geben konnte. »Sei du Schloß und Riegel, Unter deine Flügel Nimm dein Küchlein ein,« sang sie leise. Mit einem Herzen, das gern stark sein wollte und doch unruhig und zitternd schlug, sang sie es. Da kamen schwere, unsichere Tritte von der Stube her durch die dunkle Kammer. Wie einer, der eine schwere Last auf den Schultern hat, kam der Mann gegangen. Er tastete sich zwischen den Kinderbetten durch. Und dann sank er vor ihr nieder und legte den Kopf in ihren Schoß. »Kathrin,« sagte er, und seine Stimme brach mitten in dem Aufschrei: »Kathrin, ich weiß mir nicht zu helfen. Hilf mir!« – – – – Die Freunde in der Stadt waren nicht so recht zufrieden mit der heimgekehrten Adelheid. Zwar sie war braun, frisch und gesund, hatte reiche Beute im Skizzenbuch und in den Mappen mitgebracht und zeigte auch ihr Kinderbildchen mit Freude und Stolz. Aber sie war nicht so mitteilsam, als Heinz und die andern gewünscht hätten. Sie waren begierig auf Adelheids Erlebnisse gewesen, denn sie waren samt und sonders stolz auf sie, und überzeugt, daß sie überall die Menschen, und nicht nur die Kinder gewinnen müsse. Das hätten sie nun gern mitgenossen. Aber Adelheid sagte nur: »Sie waren alle gut gegen mich. Viel zu gut. Erzählen? Ja, das kommt schon noch, nach und nach. So Besonderes war nicht dabei.« Und dann fing sie an, sich auf die Arbeit zu werfen, als stünde der Hunger hinter ihr. Nein, da mußte etwas nicht in Ordnung sein. Die alte Freundin, oben unterm Dach, die mit dick verbundenen Füßen im Lehnstuhl saß und ihre Gichtschmerzen aushielt, die wußte nun wieder einmal, wozu sie auf der Welt sei. Draußen riß der Wind die Pappelkronen hin und her, daß sie ächzten. Drinnen saß Adelheid im Dämmer auf einem Schemel und sah in die Ofenglut. So liebte sie’s. Zu dieser Zeit pflegte sie zu kommen und, wie sie’s nannte, »ihren Tag hier auszubreiten.« Heute war sie lange still geblieben. Es geht etwas in ihr um, dachte das alte Fräulein. Das braucht seine Zeit, bis es spruchreif ist. Sie konnte warten. Sie wußte schon, daß es komme. Adelheid nahm die Feuerzange und stieß in die Ofenglut. Mit einer so heftigen Bewegung tat sie es, als ob sie damit irgend einem unsichtbaren Feind einen Treff versetzen wollte. »O, ich wollte, ich brauchte gar nicht mehr von hier hinaus,« sagte sie plötzlich, unvermittelt: »Wenn man nie weiß, was man den Leuten antut mit sich selbst. Wenn man einfach in den Tag hineingeht und sich des Lebens freut und der Menschen. Und dann ist’s doch nicht gut getan. Und ich kann nicht anders sein, als ich bin.« Da kam nun die Sommergeschichte an den Tag. Sie hatte sich doch mehr damit gequält, als sie am Anfang gedacht hatte. Nicht mit Selbstvorwürfen. Aber mit Fragen: warum ist das so? Warum haben nicht alle Menschen die Macht, sich aneinander und am Leben zu freuen? Warum müssen sie durcheinander leiden und sind doch ohne Schuld daran? Da war die Mutige, Frohe eine Furcht vor dem Leben angekommen. Es ist nicht leicht in Worten wiederzugeben, was aus dem abgeklärten Gemüt der Alten in das junge, aufgestörte Wesen hinüberfloß. Daß die Menschen einander brauchen, zum Aufwachen, zum Werden, durch Freuden und Schmerzen hindurch. Daß ein heiliger Wille auch über dem lebe und walte, was uns unklar und verworren scheine. Und daß nur Einer sehe, was der Sommer des Lebens für Frucht zeitigen solle. Und daß die Menschen nur reines Herzens vor ihm leben sollen, und das andere ihm anheimstellen. Man kann das nicht so sagen. Man muß solche Dämmerstunden kennen, um zu wissen, welch still- und frohmachenden Schatz man von ihnen hinaustragen kann ins laute Leben des Tages. * * * * * Es war ein heller, heißer, staubiger Sommertag im nächsten Jahr. Kurz vor den großen Ferien. Niemand hatte mehr rechte Lust, Vorträge anzuhören oder Studien im Zeichensaal zu machen. In der viertelstündigen Pause zwischen den Vormittags-Übungsstunden der Kunstschule war es. Sie standen so in zwanglosen Gruppen herum, die jungen Träger der Kunst der Zukunft. Auf der Steintreppe, unter den Arkaden, in der kühlen Eingangshalle. Wohin man ausfliegen wolle, beriet man, und ob man den Semesterschluß ganz abwarte – bei dieser geisttötenden Hitze. »Eine Schande ist’s, jetzt in den Stuben zu hocken,« sagte Heinz, den wir bereits kennen und dessen anderer Name hier nichts zur Sache tut. »Fenster auf und hinaus. Einmal ich. – Hallo, was gibt’s da?« unterbrach er sich. Er trat aus seiner Gruppe und sah zu, wie Adelheid Solger, aus der Halle kommend, die breite Treppenflucht hinunterflog, auf einen Mann von bäuerlichem Ansehen und einen kleinen Buben zu, sah, wie sie den Beiden die Hände schüttelte, und wie das bärtige Männergesicht aufleuchtete in frohem Grüßen. Und dann ging er, als der Nächste dazu, ein paar Schritte entgegen, als sie die Gäste heraufführte. »Das sind meine Freunde aus Steinkirchen,« sagte Adelheid, sobald sie bei ihm angelangt waren. »Dies hier ist Gottfried, wissen Sie, mein Kritiker. Und das ist sein Vater.« Der Schuhmacher sah froh und verlegen zugleich drein. Er hatte etwas auf dem Herzen. Aber er brachte es nicht so leicht vor, hier, in dieser Umgebung, wo ihm das Fräulein fremder, ferngerückter schien, als da sie bei ihm in der Himmelreichsgasse wohnte. Es war nur gut, daß er den Gottfried mit hatte. Der tat nicht lang fremd. »Jetzt mußt du wieder kommen,« sagte er mit seiner hellen Bubenstimme. »Wir haben ein Kleines, und die Mutter hat gesagt, das müsse so heißen, wie du. Damit man wieder eine Adelheid habe, und du mußt zu Gevatter stehen, hat sie auch noch gesagt.« Heinz lachte laut auf. »Du bringst deine Sache gut vor, Junge,« sagte er. »So ist’s gut, nur nicht lang gefackelt.« Diesmal besann sich Adelheid nicht lange, ob sie nicht abgewiesen werde. Sie beugte sich zu dem kleinen Buben herunter und küßte ihn in sein rundes, ernsthaftes Gesicht hinein. »So, muß ich?« sagte sie und lachte. Es war ein so fröhliches, befreites Lachen. Und sie streifte dabei mit fragenden Augen den Mann. »Ist das wahr? Könnt ihr mich brauchen?« »Der Bub’ sagt’s ungeschickt,« sagte der Mann entschuldigend. »Aber Sie nehmen’s ja nicht für ungut, das weiß ich wohl. Das nicht und nichts sonst. Von ›müssen‹ kann ja keine Rede sein. Aber wenn wir halt recht schön bitten dürfen. Weil alles so gut steht bei uns; und weil wir halt immer sagen, das Weib und ich: daß das Fräulein gekommen ist, damals, das ist ein Gottessegen.« Er streifte mit einem verlegenen Blick den fremden Herrn, der dabei stand und der gar nicht gesonnen schien, sich von der Gruppe zu trennen. Er hätte gern noch mehr gesagt. Aber das ging nun nicht an. Das mußte er noch aufsparen. »Ja, Meister, das ist mir ja eine Freude, eine große, rechte,« sagte Adelheid in überquellendem Empfinden. Ihr war so froh zumute, so reich. Da war etwas Gutes gewachsen, das konnte man ja sehen. Das bedurfte gar nicht vieler Worte. Und sie sollte daran teil haben. Wie schön das Leben war. Wie schön. Ihre Augen leuchteten. »Ist das nicht herrlich?« fragte sie zu Heinz hinüber. »Aber nun kommen Sie, nun wird heut’ Feiertag gemacht. Sie gehen mit, ganz freundschaftlich. Wir müssen den Beiden alles Schöne zeigen, das sie nur in sich hineinkriegen. Ist es nicht ein Fest?« »Daß irgend etwas wunderschön ist, seh’ ich an Ihren Augen. Und ich seh auch, daß Sie uns heuchlerisch verschwiegen haben, was unter Freunden geteilt gehört. Aber ich räche mich,« sagte Heinz. »Komm, mein Junge, du gehst mit mir.« Und darauf rächte er sich, indem er seiner Freundin den Freund und Verehrer Gottfried gänzlich abspannte, und bald voraus, bald hintendrein, des kleinen Burschen Herz im Sturm eroberte. Es nahm’s ihm niemand übel. Die beiden gingen allein, Adelheid und Meister Notacker. »Jetzt hab’ ich die Stadt nicht mehr gesehen, seit ich vom Militär wegkam,« sagte der Meister. »Mich dünkt, sie ist seither noch viel schöner geworden.« Er sah so aufgehellt aus. In seinen Augen und auf seinem Gesicht lag so einfache, biedere Kraft. Wie einer, der das Leben erkannt und aufgenommen hat, sah er aus. »Ich hab’ nicht hierher gewollt,« sagte er. »Ich hab’ schreiben wollen. Aber ich hab’ keinen rechten Brief zustand’ gebracht. Es ist mir so viel im Kopf herumgegangen. Da hat meine Kathrin’ gesagt: »Geh doch selber. Männer müssen auch hier und da etwas sehen, wie’s draußen zugeht.« Da bin ich gegangen.« Er wurde ganz warm. »Sie versteht’s, was man braucht.« »Ich weiß nicht, wo ich meine Augen gehabt habe,« hob er nach einer Weile wieder an. »So ein Weib, wie mein’s. Was einem das sein kann. Und geht neben einem her, und man merkt’s nicht. Und wartet, bis man’s braucht. Dann ist es da, und hilft einem, und hat keine unschöne Rede, nicht eine. Das hat uns zusammengebracht. Das wär’ sonst nie so weit gekommen. Und jetzt ist’s gut, gottlob!« Es war in der Gemäldegalerie. Sie standen vor einem goldenen Kornfeld, dessen reife Ähren sich schwer niedersenkten in der Last ihrer Körner. Voll warmen Sonnenglanzes war die Luft; und im Hintergrund führte ein schmaler Weg zu einer Menschenhütte. Sie sahen lang darauf hin. Ihre Gedanken waren beim vorigen Sommer. Und dann gaben sie sich die Hand darauf, daß das Leben doch reich sei, fruchtbar und schön. Ohne Worte, nur aus einem inneren Verstehen heraus, das den Sommer des Lebens ansah, wie den Sommer des Feldes. Aus Kindertagen [Illustration] Ich bin wieder einmal die alten Wege gegangen. Den Landolinsberg hinauf gegen die Burg hin und den grünen Weg entlang. Mich dünkt, er sei nicht mehr so grün, wie einst. Ich kann mir noch Zeiten denken, da schlugen die Büsche und Bäume hoch über einem zusammen und man war ganz ins Grüne hineingetaucht. Bis sich dann auf einmal die Wölbung auftat und das Neckartal vor einem lag und alles in Licht und Sonne und Farbe und Duft schwamm, die Stadt, die liebe, alte Stadt mit ihren Türmen und Giebeln und Gassen und der Neckar und die jenseitigen Höhen. Wenn dann eine Uhr zu schlagen anhub und eine nach der andern folgte, die auf dem neuen Rathaus, und die auf dem alten Rathaus, auf der beim Zwölfuhrschlag der Adler mit den Flügeln schlug, und auf der Stadtkirche und dem Schelztor und dem Pliensautor, und die hellen und dunkleren Töne da oben in der Luft verzitterten. Und wenn dann noch die Vesperglöckchen nacheinander läuteten, das helle, flinke auf der Burg drüben zuerst und man wußte: in fünf Minuten kannst du drunten sein, da, wo der Giebel des Vaterhauses hart an die alte Stadtmauer anstößt. Ich kann doch nicht verlangen, daß alles noch gleich sei, wie damals. Das alte Schützenhäuschen kann ich nicht mehr finden, das dem Weinbergschützen zum Unterstand diente. Und in die Weinberge hinein, die sonst dort hinanstiegen, haben sie eine Villenstraße gebaut. Sie haben recht, es ist da schön zu wohnen. Und der grüne Weg ist viel breiter, als früher und hat schöne Anlagen mit Sitzbänken. Ich kann es nicht anders verlangen, aber ich bin doch lieber weitergegangen. Es wohnt jeder einmal im Paradiese, und es muß jeder einmal hinaus und den Acker bauen, der Dornen und Disteln trägt. So lang man drin ist, weiß man’s nicht, und wenn man davon weiß, dann ist man – drin gewesen. Und man sucht den Ort, aber er ist nicht mehr. Dann muß man still sein und sich in sich selbst bergen, denn da allein ist er noch zu finden. Da grünen noch die alten Bäume und reifen die Früchte, die später nirgends mehr so frisch und süß zu finden sind, da wandeln die Gestalten, die längst dahin sind, da ist alles unverloren aufgehoben und es liegt noch ein Goldglanz darüber, das ist der Edelrost, den die Jahre dazu tun. Der Weinberg, in dem der Mattheiß einst seine Reben beschnitt, ist auch nicht mehr. Zwar, als ich vorüberging, wehte der süße Duft der Rebenblüte fein und stark aus dem Garten, der an seiner Stelle liegt, zu mir herüber. Aber es ist nur ein Wandelgang, mit Wein bewachsen, der den Garten oben abschließt, und zwischen den Lücken schimmern dunkle Blumenbeete und die weißen Wände eines neuen Hauses gegen die Straße herauf. So muß ich versuchen, die Erinnerung, die mit dem Duft der blühenden Reben und dem grünen Weg und dem Mattheiß zusammenhängt, aus mir herauszuholen und sie noch einmal ans Tageslicht zu bringen, ehe sie der Vergessenheit anheimfällt, wie alles, was seine Zeit auf Erden gehabt hat. Zwar der Anfang liegt mir nicht offen; es ist ein lichter Nebel darüber gebreitet, wie über einen Maimorgen. Man sieht nur die Umrisse, die nach und nach schärfer und bestimmter werden, während der Nebel sich lichtet, bis auf einmal Häuser und Bäume dastehen und ein Fluß aufglitzert und Gestalten, die man kennt, dazwischen hingehen. Ein Morgen dämmert mir zuerst herauf, wenn ich an den Mattheiß denke. Er war im Weinberg, draußen vor der Stadt. Wie ich aber dahin gekommen bin, weiß ich nicht mehr zu sagen. Es war sonnig und doch kühl dabei und ich weiß noch, daß in dem leuchtenden Blau des Himmels große, zusammengeballte, weiße Wolken hingen, die langsam fortsegelten und daß ich zu dem Mattheiß sagte, ich möchte auf so einer Wolke in den Himmel hineinschwimmen. Der Mattheiß sah mich an und schüttelte mit dem Kopf, denn er konnte nicht begreifen, daß man sich so etwas wünschen mochte. Er war groß, grobknochig und hager und kam, wie der Volksmund sagt, »oben herein«, das heißt, er trug den Kopf und die Schultern stark vornübergebeugt. Das kam wohl davon, daß er viele Jahre seines Lebens die schweren Butten voll Erde den steilen Weinbergshang hinaufgetragen hat. Aus seinem schwarzbebarteten Gesicht heraus aber sahen ein paar gute, blaue Augen in die Welt hinein und auf mich nieder, als er sagte: »Auf was für Gedanken kommst du aber auch. Auf einer Wolke! tätest ja herunterfallen. In den Himmel kommst du auch so noch, heißt das, wenn du brav bist.« Aber so tief wollte ich die Sache nicht genommen wissen. Mir war nur beim Anblick der leuchtenden Segler da oben die Sehnsucht aufgestiegen, die auch schon in einem Kinderherzen Platz hat, und die die Arme breiten möchte in lichte, unbekannte Fernen voll Glanz und Herrlichkeit. Nun kam ich wieder auf die Erde herunter. Der Mattheiß hantierte schon wieder mit seiner Schere an den Reben herum. Ich war seither auf einem Weinbergsmäuerchen gesessen, jetzt kam ich heran und sah ihm zu. Die Schere klappte eintönig weiter, und wo sie zugriff, da fielen saftstrotzende Triebe auf die Erde und hingen schwere, klare Tropfen an den Wunden der Reben. Die lösten einander ab und klatschten auf dem Boden auf und der Boden trank sie in sich hinein. »Mattheiß, warum tust du so?« wollte ich wissen. »Warum läuft das Wasser da heraus und warum schneidest du alles das Holz weg?« Und der Mattheiß gab mir Auskunft wie ein Schulmeister und auch wie ein Philosoph und ich meine, damals habe mein Kinderherz zum erstenmal gespürt, wenn auch unklar, daß es auf der Welt Wunden und Schmerzen und Tränen gebe, die sein müssen und die man einem nicht ersparen könne. Ich hielt mein Halstüchlein an eine solche tropfende Wunde, denn der Mattheiß hatte mir gesagt, daß das geweint sei, was die Reben jetzt tun, und ich meinte, ich müsse den funkelnden Regen aufhalten. Aber das Wasser drang hindurch und ich mußte mein Tüchlein in die Sonne breiten zum Trocknen und so lang es trocknete, ersah ich mir eine Freude, die das flüchtige Leid schnell vergessen ließ. Am unteren Ende des steilen Hanges stand ein Syringenbaum in voller Blüte, und ich brach von dem niedrigsten Ast ein paar prächtige lila Blütendolden und begann eines jener zerbrechlichen Kränzlein zu flechten, die man hie und da mit Rührung und Staunen noch nach Jahren in seinen alten Schulbüchern getrocknet findet, die aber an der Sonne so schnell vergehen, wie die Stunde, in der sie geschaffen wurden. * * * * * Mattheiß war ein alter Metzgerknecht, der neben dem Beruf her seines Herrn Weinberg bearbeitete. Den Herrn sah ich auch ein paarmal. Er war klein und dick und kurzatmig und hatte rote, entzündete Äuglein, die wie zwei schmale Schlitze in dem runden, rötlichen Gesicht standen. Als ich eines Tags bei meinem Freund auf der Weinbergsmauer saß und mit ihm sein Vesper teilte, Blutwurst und Schwarzbrot, und wir im allervergnüglichsten Gespräch waren, da kam der Herr an einem Stock mit kurzen, eiligen Schrittlein dahergesteckelt und schnaubte gefährlich, als es aufwärts ging, und sah mich mit seinen kleinen Äuglein verwundert an. Er war gar kein böser Mann, nicht im mindesten, aber es war mir unbehaglich, daß er nun so umhersuchte und die Traubenstöcke besah, die schön angesetzt hatten und daß er meinen Freund Mattheiß dies und jenes zu tun anwies, und daß er mich schließlich in einen meiner bloßen Arme kniff und – he – he – he hervorhustete, indem er mit Wetzstahl und Messer, die er unter der Schürze hängen hatte, eine üble Musik vollbrachte: »die sind gut fett, die.« Das alles schien mir eine Einmischung in unser stilles, schönes Weinbergsleben zu sein und besonders in meines Freundes Königreich. Denn ich hatte ihm den Weinberg schon lange zugeteilt als seinen Ort, an dem er regiere und walte und daheim sei, und an den ich zu ihm kommen konnte als in sein Eigentum. »Ja, was denkst du auch,« sagte der Mattheiß, als ich ihm meine Entrüstung und meine ganze Anschauung vortrug. »Was denkst du auch. Ich – und einen eigenen Wengert. Das wär noch schöner. Ich bin ein armer Dienstbot. Das bin ich meiner Lebtag gewesen.« Es tat mir etwas weh, als er das so ruhig hinsagte. Ich hätte ihm etwas schenken mögen, ein Stück Land oder ein Haus oder Rosse und Wagen. Aber ich hatte nichts, das ich verschenken konnte. Da sagte er, und deutete mit dem Hauenstiel hinüber, wo die weißen Kreuze und Grabsteine des Friedhofs in der Sonne schimmerten und die dunklen Cypressen wie ernste Wächter standen: »guck, Kind, da kriegt einmal ein jeder sein Plätzle. So groß er’s braucht und nicht größer, auch nicht kleiner. Der Wengert, so lang ich drin schaffe, gehört mir jeder Traubenstock, und mitnehmen kann ihn der Herr nicht und der Knecht auch nicht.« Er war ein Philosoph, mein Freund Mattheiß, ein Lebenskünstler. Das verstand ich damals nicht. Aber irgend etwas in mir, eine Unruhe, ein Drang kam zur Ruhe. Es war nicht unrecht, wie es war, es war recht. Dem Mattheiß war es recht. Da war es mir auch recht. Was das weiche Wachs eines Kindergehirns alles aufbewahrt! Hie und da sind Lücken. Ich weiß nicht mehr, wo unsere Freundschaft anfing und es ist niemand, der es mir sagen könnte. Aber sie war. Ich wurde damit geneckt, vom Vater und von den Brüdern, und ich ließ es mir gefallen. Wenn er mir, was ein paarmal vorkam, mit dem Metzgerkarren begegnete, auf dem ein geschlachtetes, zerhauenes Stück Vieh lag, dann ging er mich nichts an. Dann sah ich ihn, der eine blutige Schürze trug und der in großen, groben Schuhen mit schlürfenden Schritten hinter dem Karren herging, von der Seite an wie einen Fremden. So muß ich denken, daß er mir draußen im Weinberg etwas von sich gab, das er nur dort zu geben hatte, ein Stück Leben, eine Weisheit und Güte, die sich dort draußen auftat, wo die Natur um ihn und um mich herum war mit Sonne und Winden, mit Himmelblau und mit ziehenden Wolken, mit tropfenden, blühenden, früchtetragenden Reben. Einmal schickte er mir einen Gruß in die Ferne. Das war, als ich zur Herbstzeit in der Vakanz verreist war. Da trat viel Neues in mein Leben, Menschen, Gärten, Wälder und Berge, Eichhörnchen und junge Raben, eine Schaukel zwischen zwei Bäumen, auf der man hoch in die Lüfte fliegen konnte, Buben und Mädchen und ein Luftkegelspiel. Ich lebte ganz in der Gegenwart und ich glaube nicht, daß irgend ein Gedanke in diesen Tagen den Mattheiß auch nur gestreift hat. Da kam eines Morgens eine große Holzschachtel aus der Heimat an mich mit der Post, und als ich die Schnüre löste und den Deckel aufhob, da lachten mich aus grünen und purpurnen Blättern heraus die schönsten Trauben an. Blauschwarze, großbeerige Portugieser, und hellgrüne, durchsichtige Gutedel, und die gelblichen, süßen Muskateller, die die würzigsten von allen sind. Da war ich mit einem Schlag eine reiche, wichtige Persönlichkeit geworden, die Gaben auszuteilen hatte und es ging an ein großes Schmausen und Sichfreuen. Es war aber ein Blatt auf den Boden gefallen, liniertes Papier aus einem alten Schreibheft, das hob eine Magd auf und gab es mir, denn es war ein Brief an mich, in großen, ungelenken, groben Schriftzügen von meinem alten Freund geschrieben. Er dachte an mich, und weil die Trauben reif waren und ich nicht da, schickte er mir diesen Gruß, »ehrlich bezahlt an den Herrn,« wie er deutlich schrieb. Ich hatte den Brief lange Zeit aufgehoben, nun ist er nicht mehr vorhanden, ich weiß auch nur noch den Schluß ganz wörtlich. Er lautete: »Ewig dein getreuer Matthias Holzapfel, Knecht bei Metzger Hammer in der Apothekergasse.« Das kam mir damals sehr schön und sehr rührend vor, und vielleicht war es mir einen Augenblick, als müsse ich jetzt gleich geschwind zu meinem Freund hinlaufen und mich zu ihm auf die niedrige Mauer setzen. Aber als ich heimkam und mich meine Mutter fragte, ob ich ihm auch gedankt habe, da hatte ich’s nicht getan. Es ist so eine Sache ums danken bei Kindern. Sie haben das Herzlein voll, wenn ihnen jemand etwas Liebes tut, und wenn man ihnen dann ins Gesicht sieht, so kann man’s aus den Augen herauslesen, daß da etwas lebt und überfließt. Aber zum sagen kommt’s nicht so leicht, und wenn man’s von ihnen verlangt, daß sie’s sagen, dann ist der Herzensdank gewöhnlich vorbei, ausgelöscht. Aber das tat meine liebe Mutter nicht. Sie sagte nur: »Er hat ein paarmal nach dir gefragt. Er ist ein Guter.« Da kam es mich an, daß ich ihn sehen wollte und ich suchte unter meinen Besitztümern nach etwas, das ich ihm schenken könnte und fand ein Bildchen aus einem durchsichtigen Stoff, den wir Menschenhaut nannten. Das war purpurrot und es war ein goldenes Blumenkörbchen darauf gedruckt und ein schöner Vers stand darunter. Das wollte ich ihm bringen. Ich ging zum Haus und zur Stadt hinaus; das war nicht weit, und ich lief und lief, und es war ein starker Wind um mich her. Die ganze Gegend war grau und es war herbstlich kühl und droben am Himmel riß ein Sturm die Wolken dahin, daß sie flogen. Es waren große, schwere Gebilde und sie veränderten sich fortwährend, aber als ich im Laufen zu ihnen hinaufsah, trieb mir der Wind Staub in die Augen und zugleich fühlte ich, daß einzelne Tropfen fielen. Da lief ich noch schneller, denn nun war ich ganz nahe an dem Weinberg, und ich dachte nicht anders, als daß der Mattheiß da sein müsse, wenn ich ihn suche. Aber ich fand ihn nicht. Im Weinberg sah es trostlos aus. Er war abgeherbstet und der Wind riß dürre Ranken und raschelnde, welke Blätter umher, die Pfähle aber standen noch immer im Boden und hatten nichts mehr zu halten. Da rief ich, so laut ich konnte: »Mattheiß, Mattheiß.« Aber nirgends wurde sein schlürfender Schritt hörbar, nirgends trat er hervor in seinem zerschundenen Lederjanker und mit seinem guten Gesicht. Da stieg ich die vielen Staffeln empor bis zur Höhe des grünen Wegs, denn vielleicht konnte er auch dort droben sein. Ich kam mir auf einmal so allein vor in dem kühlen, starken Wehen. Als ich oben ankam, fing es an stark zu regnen, der Mattheiß aber war nirgends zu finden. Da trat ich in das offenstehende Schützenhäuschen und setzte mich, da kein anderer Sitz vorhanden war, auf den Sims der scheibenlosen Fensteröffnung, um im Trockenen zu warten, bis es ausgeregnet habe. Es goß in Strömen; das Tal war von breiten, wallenden Wolkennebeln fast ganz verhüllt und ich sah nur in undeutlichen Umrissen Türme und Häuser daliegen und hörte Uhren schlagen wie aus weiter Ferne und mich kam ein Grausen an, das war schön und schrecklich zugleich, vor dem Vergehen des Jahres und der Sonne und vor allem Fern- und Alleinsein. Das kann ein Kind so stark empfinden, als ein Erwachsenes, es weiß es nur nicht zu sagen, nicht einmal sich selbst. Da, in dem Augenblick, als ich mich besann, ob ich nicht mein Röckchen über den Kopf tun und heimlaufen wolle, riß der Wind mein schönes Bildchen, das neben mir auf dem Sims lag, in den Regen hinaus, und ich sah es davonwirbeln und dann schwer und naß niedersinken und wußte, daß es jetzt vergehe. Da schlurfte etwas daher, das man noch nicht sehen konnte, aber ich wußte, daß es der Mattheiß sei, noch eh’ ich ihn sah, und war von aller Einsamkeit erlöst. Er tropfte vor Nässe und als er hereinkam, flossen Bäche von ihm, aber wir waren vergnügt und froh und er erzählte mir im Warten eine Geschichte von einem Weingärtner aus der Zeit, als die Franzosen im Land waren um den Anfang des Jahrhunderts. Der konnte bannen, das war eine schauerliche Kunst und er hatte sie von seinem Großvater ererbt. Und als er eines Tags in seinem Weinberg in der Neckarhalde schaffte, da kam ein Franzos’ das Tal heraufgeritten, der war ein Quartiermacher und wollte in die Stadt. Und der Weingärtner war ein großer, baumstarker Mann und konnte, sagte der Mattheiß, so mit den Augen funkeln, wenn er einen Zorn hatte, daß man Angst kriegen konnte. Als er den Reiter sah, zog er, ohne ein Wort zu sagen, seinen Lederjanker aus und legte ihn vor sich hin und begann mit dem Stiel seiner Weinbergshaue so stark drauf loszudreschen, als ob er ihn, sagte der Mattheiß, in Grundserdsboden hineinhauen wollte. Da fing unten auf der Landstraße der Gaul des Franzosen an, gewaltige Sprünge zu machen, und der Franzos hüpfte auf dem Sattel herum und schrie um Hilfe und die Leute meinten, er sei toll geworden und ließen ihn schreien. Je ärger aber der Weingärtner auf den Janker losdrosch, desto jämmerlicher schrie der Franzos und als er in die Stadt hineinritt, da mußte ihn der Wirt zum wilden Mann vom Gaul heben und ins Bett spedieren, so zerschlagen war er und voll blauer Flecken und Beulen. »Und,« schloß der Mattheiß, »als er wieder reiten konnte, da kehrte er seinen Gaul um und ritt das Neckartal hinunter; und von der Stadt wollte er nichts mehr wissen.« Derweil hatte der Regen aufgehört; in der grauen Wolkenwand war ein Riß entstanden, daraus sah das Himmelsblau hervor und drunten in der Stadt fingen die Dächer an zu glänzen, weil ein blasser Sonnenstrahl über ihre nassen Giebel hinging. Das ist das letztemal, von dem ich mir denken kann, daß ich mit dem Mattheiß dort draußen zusammen war. Und es ist auch möglich, daß es überhaupt das letztemal war. Es kam der Winter, da sahen wir uns nie. Und es kam der Frühling, da war ich ein blasses Pflänzlein und lange krank. Ich weiß nicht mehr recht, was es war, ich weiß nur noch, daß ich in einem Gitterbett lag und allerhand Gesichter und Figuren aus den Tapetenmustern herausstudierte, und daß ich mich viele Tage und Stunden lang an den Bildern in »Arndts wahrem Christentum« vergnügte. Und einmal kam ein Tag, da sonnte ich mich draußen in dem kleinen Mauergärtchen hinter dem Hause. Es war alles wieder neu und schön. Der Schnittlauch und der junge Salat waren so grün und die Blumen in der Rabatte so freudig. Im Nachbarhof watschelten junge Entlein um eine Entenmutter herum und patschten in einen Wassertümpel hinein. Die Geschwister spielten im Hof und mein großer Bruder saß im Kastanienbaum und las. Der Vater kam und strich mir mit seiner großen, guten Hand übers Haar, und ich duckte mich in sie hinein wie ein Vögelein ins Nest, und auf einmal spürte ich den feinen, starken Duft der Rebenblüte von der Kammerz her, die das Stück Stadtmauer bedeckte, das unsern Garten abschloß. Da fiel mir vieles ein, das ich den Winter über vergessen hatte, und auch der Mattheiß fiel mir ein und ich dachte, er werde nun auch im Weinberg sein und ich wolle ihn bald einmal besuchen. Aber ehe ich dazu kam, hörte ich eines Nachmittags vom Fenster aus ein Gespräch an, das zwei Männer auf der Straße miteinander führten. »Nein, nein, es hat ihm niemand etwas getan,« sagte der eine. »Es ist ein Herzschlag oder so etwas gewesen. Er ist der ganzen Länge nach in den Reben gelegen, mit dem Gesicht auf dem Boden.« Und der andere sagte: »Es ist ihm gut gegangen, wär’ ein mancher froh, er käme so leicht weg von der Welt. Wenn ich denke, wie sich der alte Hammer plagen muß schon seit Jahren, er kriegt schier keine Luft mehr.« »Ja, aber im Bett sterben wär doch besser,« sagte der erste. »Wenn ich denke, so auf dem Weinbergsboden,« – dann verhallten ihre Worte und ihre Schritte, und ich war in großer Not. Es war ja zwar nicht auszudenken, aber es konnte doch sein, daß sie den Mattheiß meinten, und dann war ein scharfer Riß in der sonnigen Frühlingswelt, von der ich eben erst wieder Besitz genommen hatte. Denn wie konnte das sein, daß ein Mensch auf einmal nicht mehr lebte, sondern mit dem Gesicht auf dem Weinbergsboden lag und nicht mehr aufstand? ein Mensch, den man kannte und der in den Reben schaffen mußte und dorthin gehörte und sonst nirgends? Das konnte nicht sein, sonst zerriß etwas. Und ich wollte schnell zur Mutter gehen, daß sie das Dunkle aus der Welt schaffe mit einem guten Wort. Aber ich fand sie nicht, sie machte einen Ausgang, das sagte die Magd Mine, die ich in der Küche antraf, und sie sagte auch noch, gleichgültig, unters Rübenputzen hinein: »Jetzt kannst du auch deinem alten Metzgerknecht zur Leich’ gehen. Den haben sie im Wengert gefunden, da ist er schon ganz steif gewesen.« Ich wäre am liebsten aus der Küche geflohen, irgendwo hin, wo mich das alles, das Dunkle, nicht erreichen konnte. Aber ich mußte vorher noch etwas wissen und ich fragte ängstlich: »Ist er noch draußen? liegt er immer noch so da und hat das Gesicht auf dem Boden?« Da lachte die Mine und sagte: »Du bist ein Dummes. Er liegt daheim in seiner Kammer, da haben sie ihn hingetragen. Das wär noch schöner, wenn man einen grad liegen ließe. Geh’ weg, ich muß dahin, an den Spülstein.« Und weil sie sah, daß ich ganz aus dem Gleis war, wollte sie mich noch ein wenig aufrichten und sagte: »Mach kein so Gesicht, fort müssen wir alle.« Sie sah selber so breit und rot und gesund aus, und wenn sie lachte, zeigte sie zwei Reihen starker, gesunder Zähne. Das mit dem Fortmüssen, das war wohl nicht so bitter ernst bei ihr. Da schlich ich mich die Treppe hinunter und zum Haus hinaus. Wenn mir jetzt die Mutter begegnet wäre. Aber sie kam nicht. Mich zog etwas vorwärts, das wußte ich nicht zu benennen. Ich ging durch die Webergasse und über den Markt. Ich sah Fuhrwerke fahren und hörte einen Fuhrmann auf einem Rosenblatt eine lustige Melodie blasen; ein Spitzer stand hinten auf dem Wagen und bellte in die blaue Luft hinein. Kinder spielten im Kreise: »Mariechen saß auf einem Stein« und sie riefen mich an, ich sollte mittun. Aber wie konnte ich mittun? Die Obstliese saß da, breit und mächtig, wie sie immer war und hielt Kirschen feil, die waren noch selten und teuer, und strickte daneben an einem mächtigen Strumpf. Ein Ausrufer schellte etwas aus, da standen die Leute hin und horchten. Und ich stand vor der trübseligen Apothekergasse und wußte, daß ich da hineinmüsse und es graute mir doch davor. Die Apotheke stand im hellen Sonnenlicht am Markt. Über ihrer Tür fraßen zwei Schlangen aus einer Schüssel, und die Schüssel glänzte und die Scheiben der Fenster glänzten, und es waren blühende Blumenstöcke an den Fenstern, und dort hinten in dem engen Gäßchen war der Tod. Es war alles ganz still und leer dort drinnen. Die Häuser standen so hoch und standen eng beisammen und neigten sich nah zueinander. Das mußte alles so sein, es konnte nicht anders sein. Der Metzgerladen hatte ein vergittertes Fenster nach der Straße heraus und es hingen Würste dahinter und ein zerteiltes Schaf. Eine rostige Schelle war neben der Haustür angebracht, ich wußte, wie sie tat, schwach und heiser; aber es war natürlich, daß jetzt niemand daran zog und daß es ganz still war ringsherum. Die Haustür stand offen; man sah in einen langen, schmalen Öhrn hinein und ich trat ein und meine Kindertritte hallten in der Stille und ich mußte an allen Türen vorbei, ohne zu wissen, was dahinter liege, bis an die letzte linker Hand. Da stand ich still und mein Herz schlug laut und ich horchte, ob niemand komme, denn es war so einsam. Aber ich wußte, daß es so sein müsse. Es war ein breiter, eiserner Riegel vor der Tür; er war nur ein wenig vorgeschoben mit seiner Spitze. Ich zog ihn zurück und trat hinein. Es war eine enge Kammer, lang und schmal. Ein Fenster hatte sie, das ging nach dem Hof hinaus, es war mit einem alten, rissigen Vorhang verhüllt. Hinten in der Ecke stand das Bett. Das war auch verhüllt, das heißt, es lag etwas darauf, das war mit einem Leintuch zugedeckt. Wenn jetzt die Mutter dagewesen wäre. Aber sie war nicht und niemand war da. Mir schlug das Herz noch lauter, als vorher. Aber dann schlug ich doch das Leintuch zurück, ich mußte, es mochte sein, wie es wollte. Und da lag etwas, das war einmal der Mattheiß gewesen. Eine lang ausgestreckte Gestalt, unglaublich lang und gerade, die Hände, die großen, breiten Hände lagen auf der Brust und waren gefaltet und sahen so seltsam blaß aus und so wuchtig schwer. Und das Gesicht, das war, als hätte ich es vor langer Zeit gut gekannt und es hätte damals mit mir geredet, aber nun sei es so fremd und fern geworden, daß es nicht zum Aussagen war. Die Augen waren geschlossen, aber der Mund war ein wenig geöffnet, und es war eigentlich, als ob er lächeln wolle, aber über etwas ganz feierliches, merkwürdiges. Nur über die Stirn lief ein bläulich gefärbter Riß, da war er wohl auf dem Weinbergsboden aufgeschlagen. Es war mir, als ob ich mich nicht rühren könne, jetzt nicht und nie mehr. Als ob ich immer dastehen und den fremden Mann ansehen müsse und irgendwo draußen, ganz fern, ging das Leben weiter, hier drinnen aber war es so atemlos still. Da wagte ich es nach einer Weile und tippte mit dem Finger seine Hand an. Und es ging ein seltsam schauerlicher Strom von Eiseskälte durch mich hindurch, bis ganz innen hinein. Da ergriff mich plötzlich und mit Gewalt das Grauen des Lebens vor dem Tode und ich entrann der Kammer und dem Haus und der düsteren Gasse und lief über den Marktplatz, auf dem das Gold der sinkenden Sonne lag, und weiter, und heim. Von weitem sah ich den Vater unter der Haustür stehen. Er hatte die Hand schützend vor die Augen gelegt und sah nach irgend etwas aus, und ich drängte mich an ihn und barg mich in seiner lieben, lebendigen Nähe vor allem Grausen. Aber es war nicht so schnell zu verscheuchen. Ich weiß noch, daß es Nacht war und daß ich im Bett lag und die Augen schloß, aber es drängte sich überall hinein. Da hörte ich Tritte und meine Mutter kam mit einem Lämpchen herein, denn sie hatte gehört, wie ich mich umherwarf. Und sie küßte mich und sagte, der Mattheiß sei beim lieben Gott, und da kämen wir alle hin, wenn wir sterben. Aber das konnte ich nicht begreifen, denn er lag ja in seiner Kammer und war so kalt. Sie sagte aber, ich solle mich nicht darüber besinnen, das werde schon alles ganz richtig besorgt und das in der Kammer sei gar nicht mehr der rechte Mattheiß, das habe ich doch selber gesehen, den rechten habe der liebe Gott in seine Hand genommen und er habe uns alle darin. Aber ich mußte mich doch noch besinnen. Da setzte sie sich an mein Bett und sang mir mit halber Stimme ein Lied, das hüllte mich ganz warm und weich ein. Ich blinzelte noch hie und da zwischen den Lidern hervor, um sie da sitzen zu sehen, und während sie sang, kam eine große Hand über mich hin, die wurde größer und größer und nahm mich ganz in sich hinein. Ich wußte, wem sie gehöre, aber ich konnte mich nicht auf den Namen besinnen und es machte mir auch keine Mühe, denn es war überaus gut darin zu sein. Als ich erwachte, war ein Sonnentag. Es schien zu den Fenstern herein und hatte tausend arbeitsame, lebendige Geräusche und breitete ein Bilderbuch vor meine Augen, und alles, was lebte, regte sich und war fröhlich. Ellen [Illustration] Er stand am Meer und sah darüber hinaus, so weit er konnte. Es war ihm so unbegreiflich zumute. Das hatte er sich jahrelang gewünscht, einmal ans Meer zu kommen, es gab kaum eine Zeit, da er es nicht gewünscht hätte. Einmal, in einer schweren Krankheit, hatte er einen Traum davon gehabt, daß er mitten in einer großen, leuchtenden Flut schwimme, mit starken, vorwärtstreibenden Stößen auf ein unendlich strahlendes, leuchtendes Ziel zu. Das Ziel hatte er nicht erreicht und auch nicht deutlich gesehen, aber er hatte immer, durch die Jahre hindurch, so oft ihm der Traum einfiel, das atemraubend starke Gefühl wieder bekommen, das ihn damals erfüllt hatte: Unendlichkeit! Unendlichkeit! Er hätte es hundertmal vor sich hinsagen können, das eine Wort, und immer wieder hätte es ihn getragen wie damals, auf großen, leuchtenden Wogen in eine unnennbar große Weite. Damals hatte er das Meer noch nicht gesehen, aber natürlich wurde von jetzt an der Trieb nur noch viel stärker, es zu sehen, denn sonst war ja nichts in seiner Umgebung, das auch nur von ferne an jenes uferlos Große herangereicht hätte. Nun war sein Wunsch erfüllt. Aber er war ja freilich anders erfüllt, als er sich gedacht hatte. Das geht meistens so. Er hatte auch jetzt gerade etwas anderes gewollt: in ein Amt eintreten, arbeiten, weiter studieren daneben, es gab noch so vieles, das man nicht wußte und doch wissen sollte. Er war Theologe und hatte das erste Examen hinter sich. Da kam ein Halsleiden und da mußte er nach dem Süden. Das mußte er, denn sonst konnte seine Stimme ganz verloren gehen, und dann? Und so stand er denn jetzt am Meer und sah darüber hinaus. Aber es war doch ganz anders, als er es sich gedacht hatte. Es lag vor ihm, wie etwas Riesiges, Unfaßbares, es war grau und groß und schwer. Unendlich, ja, das war es _auch_, es floß hinten mit dem Horizont zusammen, der war auch grau und groß. Unten Wellen und oben Wellen; aber es war eine andere Art von Unendlichkeit. Von weit, weit draußen herein kamen die Wellen, in langen Reihen, immer eine Reihe hinter der andern. So kamen sie rastlos daher, unablässig, unablässig drängten sie ans Ufer, warfen sich mit ausgebreiteten Armen an die Felsen und rauschten laut auf. Es war, als ob sie erzählten, daß sie da draußen das nicht gefunden hätten, was sie suchten, und das konnte er begreifen, denn es ging ihm hier am Ufer ebenso. Aber dann mußten sie doch wieder hinaus und noch einmal suchen, und das verstand er wohl auch, denn auch er suchte fortwährend etwas, das er sich vom Meer versprochen hatte. Es kam jemand die Stufen herunter, die in den Felsen gehauen waren, und stellte sich neben ihn auf die lange, schmale Klippe, die sich ins Meer hineinstreckte. »So einsam?« fragte eine Stimme. Da sah er sich um. Es war eine große, schlanke, vornehme Frau, die zu ihm gekommen war. Sie hatte ein gütiges, helles Gesicht mit etwas Leuchtendem darin und sie trug die Tracht der Johanniterinnen. Er hatte sie noch nie gesehen, denn er war erst gestern abend angekommen; aber er wußte, wer sie sei: Schwester Clementine, die Besitzerin der weißen Villa, in der er wohnte. Die Villa lag oben gegen Sant Ilario hin. Sie lag in einem großen Garten und der Garten erstreckte sich bis ans Meer. Man war gewissermaßen noch im Garten, wenn man hier auf dieser Klippe stand. Denn man kam durch ein Mauerpförtchen auf den Felsen und auf die Klippen heraus, niemand konnte sonst daheraus kommen, als die Gäste der Villa. So war es begreiflich, daß Schwester Clementine sich hier als Gastgeberin fühlte, auch in bezug auf das Meer, das man von ihren Klippen aus sah. »Nicht wahr?« fragte sie und wies über das Meer hin und hatte ein ermutigendes Lächeln und Zunicken für ihn. Da verstand er, daß er nun etwas Bewunderndes sagen sollte. Aber das konnte er nicht. Er fühlte sich bedrückt und klein, sonst nichts. Das da draußen, das war ihm so fremd und so groß. Und er sagte etwas kleinlaut, daß er den Eindruck noch nicht recht bewältigt habe, er könne noch nichts darüber sagen. Da meinte sie, und sagte ihm das auch mit einem immer noch gütigen Lächeln, daß er wohl stark in den Nerven herunter sei, denn sonst hätte er doch wohl Augen für die Schönheit des Meeres. Aber das werde ja noch kommen. »Das hoffe ich auch, Frau Gräfin.« Und sie sagte, daß er sie nur Schwester Clementine nennen solle, denn das sei sie hier, und für die Patienten vor allem, und sie habe nun zu tun und müsse ins Haus zurückkehren, sie habe ihn nur begrüßen wollen und sie wünsche, daß er sich hier gut erhole. »Ja, das hoffe ich auch, Frau – Schwester Clementine.« Da ging sie mit einem anmutigen Neigen des Kopfes davon. Er sah sie noch die Stufen hinansteigen, fein und schlank und vornehm. Sie war eine deutsche Gräfin, aber das wollte sie ja hier nicht sein. Sie war es aber dennoch, das ließ sich nicht ändern, und es zeigte sich auch in dem gütigen Lächeln und in allen ihren Bewegungen. Da wandte er sich wieder dem Meere zu. Daran hatte sich inzwischen nichts geändert, es rauschte noch ebenso grau, groß und schwer ans Ufer heran, wie zuvor. Er wurde nicht eher damit fertig, als bis er das, was ihm so gewaltig auflag, in Worte faßte, die freilich nur ein Stammeln von etwas ganz Großem waren. Aber das schadete ja nichts, er fühlte sich dennoch befreit durch diese Verse: »Da ist es nun. Und ich, ich steh daran, stumm, regungslos, allein. Am Meer allein. Und meine Seele hebt zu suchen an und geht dann wieder still in sich hinein. Das bist du, Meer, das meine Sehnsucht war, das ich von ferne durstig lang gegrüßt? Bin ich so herzensarm, so geistesbar, daß mir sich deine Schönheit nicht erschließt? In breiten Wogen flutest du daher so urgewaltig und so grenzenlos. Grau hängt der Himmel drüber, wolkenschwer. Ich kann nichts fassen, kann verstummen bloß. Ich bin zu klein, du großer Ozean, dem Riesenpulsschlag, der dich senkt und hebt. Rühr, daß ich sehe, meine Augen an, du Geist, der ob den Wassern waltend webt.« * * * * * »Ich wünsche dir, daß du guten Anschluß findest«, hatte seine Schwester gesagt, als sie ihn an die Bahn begleitet hatte. Sie stand so frisch und einfach da und hatte so viel Liebe für ihn in den braunen Augen, und es war ihm, als ob er sie am liebsten selbst mitnähme, dann hätte er den erwünschten Anschluß gleich bei sich. Aber das ging nicht an. Sie mußte zu Hause bleiben und die alte Mutter versorgen, deren Jüngste, Einziggebliebene sie war. Und, ja, das Geld hätte auch nicht für zwei gereicht, um es ganz deutlich zu sagen. Da war er nun darauf angewiesen, sich seinen Anschluß selber zu suchen. Es ging nicht so überaus schnell damit. Er war wohl etwas schwerfällig, das war er in den meisten Dingen. Schwabe und Tübinger Stiftler und Theologe. Das konnte allein schon zur Erklärung dieses Umstands genügen, aber er war ja freilich doch wohl besonders wenig rasch beweglich in geistigen oder seelischen Dingen, also auch im Anschluß an die Menschen. Die andern, die hier umher gingen, die waren so unbegreiflich gewandt. Sie kamen an und stellten sich einander vor und da fanden sie sogleich, daß sie da und da auch schon gewesen waren, also am selben Orte mit den andern und da konnte die Unterhaltung sogleich losgehen. »Ach, was Sie sagen! München? da waren wir letzten Winter auch. Sagen Sie, haben Sie die Ausstellung der Sezession gesehen? Mein Mann war drin, ich nicht. Ich halte mich in München immer an die Schackgalerie, da habe ich nun so meine Freunde.« Dieses und ähnliches sagten sie zueinander und wurden rasch bekannt. Und sie sprachen vom Wetter, das konnte sehr gut und sehr ausgiebig als Einleitung dienen, und von ihren Krankheiten. Denn sie waren alle mehr oder weniger krank oder begleiteten ein Krankes oder hatten eine Krankheit hinter sich, davon konnte man im Notfall stundenlang reden. Er hatte es auch einmal versucht, zum Donnerwetter, er war doch auch nicht stumm geboren. Da war eine sehr nette Dame, eine Rheinländerin, die heiteren Gemütes war, groß und blond und ein wenig üppig, sie war angenehm anzusehen. Sie setzte sich beim Frühstück neben ihn und sagte, indem sie sich Tee einschenkte: »Sie sind eben erst angekommen, Herr Kandidat?« Ja, das hatte sie doch sehen können, wo sollte er denn sonst seither gesteckt sein? »Ja, gestern,« sagte er und wartete auf eine neue Anrede. Die kam auch. »Sie sind Ihrer Gesundheit wegen hier?« »Ja«, sagte er, der Wahrheit gemäß. Das war ein vielversprechender Anfang, es gefiel ihm ganz gut, hier zu sitzen und sich mit der netten Dame zu unterhalten. Sie fragte denn auch nach einer Weile, ob es gestattet sei, das Fenster ein wenig zu öffnen, es sei doch so warm draußen, – ha ha, – im Dezember. Wenn man bedenke, wie es um diese Zeit zu Hause sei. Sie habe einen Brief: das reinste Sudelwetter sei am Rhein. Da hätte er nun vom Rhein mit ihr reden können, der war seine große Liebe, seit er einmal sonnige Sommertage an seinen Ufern verwandert hatte. Darüber hätte er viel sagen können. Das hätte er auch getan, wenn sie ihm Zeit gelassen hätte, einen Anfang zu finden. Aber sie stand nach kurzem Warten auf und öffnete das Fenster selber, das hätte ja eigentlich er tun sollen. Aber nun war es schon zu spät. Sie sah ein wenig spöttisch aus dabei. Das meinte er vielleicht nur, aber es hatte doch die Wirkung auf ihn, daß er die Unterhaltung abbrach und sein Frühstück stumm verzehrte. Dann sprach er ein paar Tage lang nur wenig. Schließlich eilte er ja nicht so sehr mit dem Bekanntwerden, man konnte das ja alles an sich herankommen lassen. Allerdings, die andern sahen doch recht vergnügt aus und hatten fortwährend etwas zu reden und zu lachen und manche auch zu jammern. Aber es konnten nicht alle gleich sein. Da geschah es, am fünften Tag seiner Anwesenheit, daß richtig sein Anschluß an ihn herankam. Er hatte in der Nacht vorher, gerade vor dem Einschlafen, als ihm das Meer mit gedämpftem Rauschen sein Schlaflied sang, Pferdegetrappel und Räderrollen und dazu Menschenstimmen vor der Villa gehört, und hatte noch gedacht: da kommen Neue. Und es hatte gerade noch zu einem dankbaren Umdrehen im Bett gereicht: daß er es nicht war, der da neu ankam. Denn neu ankommen, das war das Unangenehmste, das hatte er eben erst überstanden. Dann schlief er schon. Als er am Morgen zum Frühstück kam, saß ein kleines Mädchen an dem Tisch, an dem er gewöhnlich zu sitzen pflegte, ungefähr gegenüber von seinem Platz. Es sah ihn wohlgefällig an, als er sich in seiner Nähe niederließ und betrachtete ihn eine Zeitlang aufmerksam, indem es die Augen über den Tassenrand hin zu ihm hinüber schweifen ließ. Er hörte ein regelmäßiges, behagliches Schlucken und ein kleines Schnaufen dazwischen und dann war die Tasse leer und stand auf dem Tisch. »Du siehst aus, wie mein Papa. Nicht ganz, bloß ein bißchen,« sagte das Kind. »So?« sagte er. »Ja, aber mein Papa hat einen ganzen Bart und du hast bloß einen halben. Unten am Mund hat er auch einen, nicht bloß oben.« Ja, da könne er nichts dafür, da sei ihm noch keiner gewachsen. »O, das tut nichts,« tröstete sie. »Aber an den Augen, da siehst du so aus, wie mein Papa. Da hast du auch eine Brille. Das wäre doch schön, wenn er auch da wäre, nicht?« Aber er war zu gewissenhaft, um das ohne weiteres zuzugeben, er sagte, er kenne ja ihren Papa nicht, da könne er es nicht wissen. Das mußte sie zugeben, dafür fing sie aber an, von ihm zu erzählen, weil er ihr so leid tat, daß er ihren Papa nicht kannte. Es sei ein Doktor und mache die kranken Leute gesund, und er sei jetzt so allein, bloß die Margret sei bei ihm und der Andres. Der Andres, der versorge die Freya und den Wotan. Das seien doch natürlich die Pferde. Denn er hatte gefragt, wer denn das sei, die Freya und der Wotan. Und den Barry versorge der Andres auch. »Das ist ein großer, schwarzer Hund,« setzte sie rasch hinzu, denn sie hatte gesehen, daß ihr Zuhörer belehrungsbedürftig sei. Die Margret versorge bloß den Papa, sie sei die Köchin. Er interessierte sich sehr für alles, er war ganz ernsthaft bei der Sache. Das gefiel ihr gut, es schien, der Papa war auch so. Ob er auch ein Papa sei, fragte sie. Aber das mußte er verneinen. Sie war vier Jahre alt. Er hätte sie für fünf gehalten, aber sie wußte es genau, daß sie fünf werde, wenn es im Bühringer Wald Maiblumen gebe. Die suche sie mit dem Papa und dann bekomme sie einen Kranz davon aufgesetzt. Da einigten sie sich also auf viereinhalb, denn jetzt war Dezember. Sie hatte große, runde, braune Augen und kurzgeschnittene braune Haare und war nicht ohne weiteres das, was man ein anmutiges Kind nennt. Obgleich, ja, sie erschien ihm dennoch als das netteste Kind, das er je gesehen habe. Da konnte er sie jetzt wohl auch nach ihrem Namen fragen. Sie heiße Ellen, sagte sie. Aber der Papa sage immer Schnirks oder Buzi oder Schneck oder sonst so was zu ihr. »So, ja wer nennt dich denn dann Ellen?« »O, meine Mammi.« Da kam es denn zutage, daß sie auch noch eine Mutter habe, die sie Mammi hieß. Der Bericht war aber kurz und ohne sonderliche Wärme gegeben. »Die Mammi ist noch oben und schläft.« Also war sie mit der Mutter gekommen, ja natürlich, das hatte er ja doch nicht denken können, daß dieses Kind etwa allein hier sei. Es war ihm einen Augenblick lang ein unangenehmes Gefühl, daß noch jemand zu ihr gehöre. Es war so nett gewesen, sich allein mit ihr zu unterhalten. Aber schließlich konnte er nicht verlangen, daß das immer so sei. »Hast du auch eine Mammi?« fragte sie. Ja, das hatte er, aber er nannte die seinige nicht Mammi, er sagte Mutter zu ihr. »Wie sagt sie denn zu dir?« Da mußte er bekennen, daß sie meistens Holder zu ihm sage, obgleich er Reinhold getauft sei. Er war ihr einziger Sohn bei fünf Töchtern und da äußerte sich die Liebe nun eben so, daß sie Holder sagte. »Dann will ich auch Holder zu dir sagen,« entschied sich Ellen. Das war ihm zwar ein wenig peinlich, wenn er an die Gesellschaft dachte. Drei Damen und ein Herr waren nach und nach schon zum Frühstück gekommen und sahen mit einigem Staunen, wie angeregt sich der stille Schwabe mit dem neuangekommenen Kinde unterhielt. Nicht daß sie ihn für irgend beschränkt gehalten hätten; sie sahen ihn im Gegenteil mit seinem vierkantigen Kopf und dem bedeutungsvollen Schweigen für einen heimlichen Denker und Weisen an, aber darum konnten sie nun doch staunen, daß er so aufgetaut war. Er gab sich aber schnell einen innerlichen Ruck und beschloß in der angenehmen Wärme, in der er sich eben befand, nichts danach zu fragen, was »die ganze Bande« dazu sage, wie das Kind ihn nenne. Es war vielleicht nicht schön von ihm, daß er die völlig harmlose und ehrenwerte Gesellschaft in der Villa eine Bande hieß. Aber man muß doch auch bedenken, daß er bis vor ganz kurzem noch Student gewesen war, und daß ihn die viel größere Redegewandtheit der – andern Stämme die Tage daher nicht wenig bedrückt hatte. Im Grunde meinte er es mit allen Menschen gut, er konnte es nur nicht immer so von sich geben. Indem kam eine Frau herein, von der niemand hätte denken sollen, daß sie Ellens Mutter sei. Sie war es aber dennoch und sie kam sofort auf Ellen zu, da entstand eine kleine Morgenbegrüßung, die aber schnell erledigt war. »Hoffentlich hast du den Herrn nicht gestört!« Nein, das habe sie nicht, gar nicht, und der Herr heiße Holder und er sehe doch ein bißchen aus wie der Papa, nicht? Diese Erwähnung war ihr nicht so besonders angenehm, das konnte man gleich sehen, indessen faßte sie sich schnell und sagte: »Entschuldigen Sie, mein Herr, das Kind ist so furchtbar lebhaft, es kommt auf Dinge, die kein Mensch denken sollte. Übrigens –« sie sah ihn erwartungsvoll an, da sagte er, sich halb erhebend: »Döttling« und setzte sich wieder. »Frau Hermelink,« sagte sie und sah ein wenig erstaunt aus. Dies war das einzige Wort gewesen, das er gesprochen hatte, sie war das nicht gewöhnt. Indessen nahm sie mit einer ganz leichten Neigung des Kopfes, die vielleicht »Sie gestatten« oder so etwas heißen sollte, Platz neben Ellen und begann ihr Frühstück. Da konnte er sie nun betrachten. Er tat das hinter der Zeitung hervor, die soeben angekommen war. Sie war groß, schmal gebaut und halbblond. Vielleicht war sie hübsch, das konnte er nicht so schnell feststellen, jedenfalls ungewöhnlich konnte man sie ohne weiteres heißen. Sie hatte ein schmales, längliches Gesicht, »rassig«, dachte er, es waren so ganz bestimmte, festgeprägte Züge, die sie wohl gerade in dieser Form ererbt hatte. Die Augen, die schienen persönlicher Besitz zu sein, nicht in ihrem harten Blau, das gehörte mit zum guten Erbteil, sondern in dem seltsamen Feuer, das in ihnen lag. Es war kein helles, stilles Brennen, es war ein unruhiges Flackern und Umhersuchen. Sie hatte ein großes, nordisches Schmuckstück vorn an dem Ausschnitt ihres Kleides stecken. Norwegerin? dachte er. * * * * * Er war nun längst eingelebt und hatte es alles gründlich in Besitz genommen, Haus, Garten, Land und Meer. Das mit dem Meer ging nun aus einer andern Melodie: »Augen, o ihr Augen mein, seid ihr neu geboren? stromgleich zieht die Schönheit ein zu euch beiden Toren. Bin bis oben angefüllt von dem goldnen Blinken, und ihr wollt noch ungestillt trinken, trinken, trinken?« Er konnte es nicht lassen, noch mehr Verse darüber zu machen, in denen er nun diese seine Augen aufforderte, es genug sein zu lassen, da er ja unmöglich alle die Pracht in sich fassen könne, – »all’ den Duft und Glast und Schein, der mir heut begegnet,« und endete mit dem Ausruf, der seine Freunde nicht an ihm verwundert hätte: »Augen, o ihr Augen mein, seid ihr so gesegnet?« Denn wenn er einmal warm wurde, so wurde er es gleich recht, »wie ein buchenes Scheit, wenn es ins Glühen kommt,« hatte nicht unrichtig ein Bundesbruder einmal gesagt. Nicht, daß er seinen Meertraum erfüllt gesehen hätte. Der lag tief verborgen in seinem Innern, er wußte jetzt gerade selber nichts von ihm, oder doch höchstens das, daß es ein ganz, ganz anderes Meer sei, das er damals gesehen hatte, eines, das vielleicht einmal in ganz hoher oder tiefer Stunde sich wieder vor ihm ausbreiten würde, aber nicht hier, nicht jetzt. Er lag ausgestreckt auf einer der Uferklippen und las Ellen seine Verse vor. Ellen saß neben ihm und hatte das Schürzchen voller Kieselsteine. Die Kieselsteine waren rund und glatt gespült vom Wasser, die Verse verstand sie natürlich nicht. »Ist das nicht schön, Ellen?« fragte er. »Doch,« sagte sie überzeugt, denn er machte ein so frohes Gesicht dazu, und das gefiel ihr gut. Sie verstanden sich vorzüglich miteinander und sie brauchten eigentlich sonst niemand zum Vergnügtsein. Zwar hatte er längst seine Scheu vor den Hausgenossen abgelegt und manchmal unterhielt er sich ganz nett mit diesem und jenem, aber im Grunde war er doch am liebsten mit Ellen zusammen und sie hatte es mit ihm gerade so. Mammi brachte keine Störung in ihren Verkehr. Sie seufzte viel, daß es so furchtbar langweilig sei, aber das hatte sie in Bühringen auch getan. Dann war Ellen immer zum Papa gegangen und hatte sich in seiner Studierstube ein eigenes Haus aus Büchern erbaut, in dem er sie dann besuchte, oder sie war bei Margret in der Küche oder bei Andres und Wotan und Freya im Stall. Und hier war sie bei Holder, das war der ganze Unterschied. Sie ging mit ihm an die Klippen hinunter, da sahen sie die Fischerboote weit draußen liegen und sahen die Segel in der Sonne glänzen. Oder sie sahen einen Dampfer von Genua herkommen und ruhig seine große Bahn ziehen und wieder verschwinden. Dann mußte Holder erzählen, wohin er fahre und wie es dort sei, wo er hinkomme. Von braunen Kindern erzählte er da, und von Palmenwäldern und Affen. Palmen gab es zwar auch hier; sie gingen dahin, wo sie am schönsten und höchsten standen, in einen wunderbaren Garten, der einem Marchese gehörte. Der Marchese war fort, das war er meistens, er lebte lieber in großen Städten als hier. Da gingen sie unter den Palmen herum und in den Orangen- und Zitronengärten, und zwischen Rosenhecken, die ganz voller Blüten standen, und sahen das weiße Haus, das so still dazwischen lag, und taten, als ob es ihnen gehöre. »Grüß Gott, Fräulein Ellen, ich möchte gern in unser Haus hinein.« »Grüß Gott, Herr Holder, ich habe keinen Schlüssel.« »Dann müssen wir warten, bis unsere Magd kommt. Wo ist sie denn?« »Sie ist auf dem Markt und holt etwas zu essen.« »Was holt sie denn?« »Orangen und Schokolade.« Da sagte er, er möchte auch noch einen Rettich dazu, und sie rief in das Olivenwäldchen hinein: »Minna, bringen Sie auch noch einen Rettich mit.« Ganz wie zu Hause waren sie da, und das geschah dem Marchese ganz recht, daß sie in seinem Garten wie zu Hause waren, warum zog er auch immer in der Welt herum? Sie setzten sich auf eine weiße Bank, die stand ganz im Grünen, aber gerade davor waren die Hecken so ausgeschnitten, daß man ein großes Stück blauen Meeres vor sich sah. Denn seit die Sonne schien und der Himmel blau war, sah das Meer auch blau aus. Ganz blau und still, nur am Rande hatte es kleine, weiße Wellchen, die plätscherten leise, es war, wie gelacht. Er sagte es zu Ellen, da hörte sie es auch, und natürlich lachten sie dann alle beide zur Gesellschaft mit. Manchmal ging er auch allein fort, etwa mit einem Buch in der Tasche oder unter dem Arm. Dann setzte er sich irgendwohin und wollte lesen. Aber gewöhnlich war es viel zu schön ringsumher, als daß er seine Gedanken beisammen behalten hätte, oder es kamen Leute vorbei, die ihn fragten, warum er hier so allein sitze und was er denn studiere. »Was, Kirchenrecht? hier am Meer?« Da verstummten die Leute meistens, halb aus Respekt und halb aus Bedauern mit ihm, daß er hier sitze und den Kopf über schwere Bücher hinneige. Er hatte sich vorgenommen, die Zeit gut auszunützen, es waren da so viele Lücken in seinen Kenntnissen. Aber es war doch nicht viel anzufangen. Vielleicht konnte er sie auch anderweitig ausnützen. Und schließlich, ja, da kam etwas wie Leichtsinn über ihn: mußte denn immer alles nützlich sein? Da ging er mit langen Schritten ins Haus zurück und in seine Stube, dort waren noch viele Bücher, auch Goethe und Mörike und Konrad Ferdinand Meyer. Er hatte sie alle mitgeschleppt, denn er konnte nicht ohne Bücher sein. Aber jetzt sagte er mit einer Verbeugung: »Unterhalten Sie sich gut, meine Herrschaften,« und ging wieder ins Freie. Er wollte auf die Strandpromenade gehen, da waren viele Menschen, die gingen hin und her, und hörten auf die Musik, die in einem Pavillon spielte, und unterhielten sich dabei. Das konnte er doch auch einmal tun. Aber als er durch den Garten ging, sah er Ellen allein unter einer kleinen Lorbeerhecke sitzen und ganz gerade vor sich hinsehen. Sie hatte ein so ernstes Gesicht, daß es gar nicht auszuhalten war an einem viereinhalbjährigen Kind, und dann seufzte sie tief auf. Das letztere durfte aber auf gar keinen Fall sein, das hatte sie vielleicht von ihrer Mutter angenommen? »Was ist mit dir, Ellen, warum sitzt du so da und seufzest?« »Ich seufze nicht, ich denke an meinen Papa.« »So, und warum muß man denn dabei so betrübt aussehen?« »Ich sehe nicht betrübt aus, ich möchte nur, daß er da wäre. Er ist ganz allein, und ich bin auch ganz allein.« Da ging es ihm durchs Herz. Das durfte ja doch nicht sein. Aber er machte noch einen Versuch zum Hinauskommen, denn sein Sinn stand jetzt gerade nach der Strandpromenade. »Du bist doch nicht allein, Ellen, du hast doch deine Mammi!« Da wurde das liebe Kindergesicht irgendwie hart oder herb. »Meine Mammi hat gesagt, ich sei ein unnützes Kind, weil ich sie immer etwas gefragt habe. Hat deine Mammi auch so zu dir gesagt, als du noch klein warest?« Nein, das hatte sie freilich nicht getan, das Herz schmolz ihm hin; er war doch kein Unmensch gegen so ein Kind. »Wo ist sie denn?« fragte er, und machte im Geist eine Faust nach ihr hin. »O, droben, sie hat gesagt: ich kann dich jetzt nicht brauchen.« Er wußte schon, wie es da war. Er hatte einmal droben angeklopft, weil sie ihn ausdrücklich dazu ermuntert hatte. Sie wollte ihm etwas zeigen, er wußte jetzt nicht mehr, was es gewesen war. »Sie sind immer so nett gegen meine Tochter, da müssen wir doch auch ein wenig bekannt werden, nicht?« Ja, also, da hatte er angeklopft. »Herein.« Da lag sie auf dem Sofa und rauchte Zigaretten. Ein feiner, bläulicher Rauch erfüllte das ganze Zimmer. Sie winkte ihm anmutig zu mit ihrer schönen, weißen Hand. »Ach, wie hübsch, daß Sie kommen. Bitte, machen Sie sich’s behaglich.« So ganz behaglich wurde es ihm aber dennoch nicht. »Sie bedienen sich selbst, nicht wahr? hier ist Kognak und Chartreuse, und hier sind die Zigaretten. – Was, Sie rauchen nicht? wegen Ihres Halsleidens? ist das so schlimm? wissen Sie, man kann auch zu gewissenhaft sein. Sehen Sie, mir ist zum Beispiel beides verboten, Rauchen und der Kognak. Mein Mann ist selbst Arzt und er sagt, es schade meinen Nerven. Aber er ist ein Hüne, ha, ha, Sie sollten ihn sehen, groß und breit, eigentlich ein stattlicher Mann, er gefiel mir gleich so gut, weil er so stattlich war. Aber was weiß er davon, wie es ist, wenn man sich abgespannt fühlt? Gerade wenn ich abgespannt bin, dann habe ich solche Sehnsucht nach der Auffrischung, die in dem beidem liegt. Und gleich wird mir wohler, wenn ich es habe. Ich finde, man muß sich selbst zu behandeln verstehen. Nicht?« Aber ihm ging es nicht so. Er hatte so manche gute Pfeife mit seinen Freunden verraucht, er wollte aber jetzt gesund werden und sonst gar nichts, also ließ er es. Fertig. Das sagte er ihr auch. Sie sah ihn belustigt an. »Ich finde das amüsant,« sagte sie. »Ha ha, mein Mann würde entzückt von Ihren Ansichten sein. Wie doch die Menschen verschieden sind.« Dann gähnte sie ein weniges hinter der Hand, die mit vielen Ringen geschmückt war. »Ich finde es so schrecklich langweilig hier,« sagte sie klagend. »Diese Hausordnung mit den frühen Mahlzeiten und der frühen Schlußstunde am Abend. Und dann, es ist ja nichts los, aber auch gar nichts. Ich wollte an einen größeren Platz gehen, aber mein Mann wollte es nicht. Er ist solch ein Tyrann. Und dabei bin ich nicht eigentlich krank, es sind nur die Nerven. Ich war immer so entsetzlich verstimmt in letzter Zeit. Er sagt, ich müsse Ruhe haben und nicht zu vielerlei Eindrücke. Und dabei ist es gerade die Ruhe, die mich tötet.« Das konnte er nicht so recht verstehen. Sie schickte doch Ellen immer von sich fort, weil sie Ruhe brauchte. Aber es war wohl eine andere Art von Unruhe, die sie suchte. Er kam sich plötzlich ein wenig beichtväterlich vor. Er hatte ja gerade ins Vikariat treten wollen, als die Krankheit kam. Freilich, er hätte zu Bauern gesollt, auf ein Albdorf, er kannte den Pfarrer schon, zu dem er sollte. Dies hier war anders. »Haben Sie etwas Gutes zu lesen?« fragte er. »Das ist manchmal auch ein gutes Hilfsmittel fürs Gemüt.« Er dachte, er wolle ihr Bücher leihen, er überschlug schnell seinen Vorrat. »Ach ja, ich lese eigentlich ziemlich viel,« sagte sie. »Aber schließlich, was hat man denn? Die Franzosen, ja, und dann die Russen, Turgenjeff und Gorki und Dostojewski. Wissen Sie sonst noch etwas?« Da sagte er, ob sie denn Wilhelm Raabe nicht kenne und Gottfried Keller, und Mörike und –, er besann sich einen Augenblick, weil ihm so viele auf einmal einfielen, die er ihr sagen wollte, er sah wie in einen Garten hinein und wußte nicht, was zuerst brechen, – da lachte sie ihm hell dazwischen hinein. Sie legte die Hände an die Ohren, aber so, daß man die kleinen Diamanten noch sah, die in den hübschen Ohrläppchen steckten. »Ach, hören Sie auf,« rief sie, »das können Sie einem doch nicht im Ernst zumuten, daß man das liest. Überhaupt, die Deutschen, was haben sie denn? Sie sind so langweilig, zahm und langweilig, das sind sie.« Da fühlte er, daß er grob werden müsse und brach die Sitzung ziemlich kurz ab. Vielleicht war er es auch geworden, das kann man bei ihm nicht sicher wissen. Jedenfalls ließ er die hübsche Frau, denn das war sie trotz alledem, in einigem Staunen zurück. Ja, also so lag sie jetzt jedenfalls auch da oben, es war ihm, als ob er durch die Wände sähe. »Komm, Ellen,« sagte er. »Wir gehen spazieren, wir brauchen sonst niemand dazu.« Da gingen sie zuerst durch die lange, schmale Hauptstraße von Nervi hin, an den vielen Läden vorbei und beredeten, was sie alles kaufen wollten, wenn sie Geld hätten, und machten aus, wenn einmal das Geldschiff komme, dann sollten alle, die sie zu Haus gelassen hätten, etwas ganz Schönes kriegen und außerdem Ellen noch ein Eselsfuhrwerk. »Kommt es denn einmal?« fragte Ellen, und er sagte, daß man so etwas nie ganz gewiß wissen könne, daß sie aber nun zuerst die Frau Eidechse besuchen wollten. Die Frau Eidechse wohnte in einer Mauerritze, ganz weit draußen an der Strandmauer, da, wo der rote stachelige Kaktus blühte hoch über dem Meer. Sie mußten durch ein schmales Gäßchen hinunter, das war links und rechts aus hohen, steinernen Gartenmauern gebildet. Oben sahen die dunkelgrünen Zypressen und Pinien und die silberigen Olivenbäume herüber, was aber sonst noch dahinter war, das konnte kein Mensch wissen. Das war das Allergeheimnisvollste, was es geben konnte, so ein Garten hinter einer steinernen Mauer. Sie gingen aber schnell durch das Gäßchen hindurch, sie wollten es gar nicht wissen, was dahinter sei, denn von unten her glänzte schon das Meer herauf. Da lag es in der Sonne und da lag auch die Strandmauer. »Guten Tag, Frau Eidechse, Sie werden höflich zu einem Konzert eingeladen,« sagte er. Sie war aber nirgends sichtbar. »Sie hat noch im Haus zu tun bei den Kindern. Ist auch gut, so fangen wir einmal an.« Da fing er an zu pfeifen. Denn pfeifen, das konnte er trotz des Halsleidens, das schadete nichts. Er hatte sich darin zu einer gewissen Virtuosität ausgebildet. »Was soll ich pfeifen, Ellen?« Sie kannte sein Repertoire gut. »O du lieber Augustin,« sagte sie unverweilt. Da pfiff er: »O du lieber Augustin.« Ellen bekam glänzende Augen. Nicht wegen des Pfeifens, sondern weil nach kurzem Zögern die Frau Eidechse richtig aus ihrem Mauerloch herausschwänzelte. Sie hatte ein grünes Kleid an und Goldbörtchen über den Rücken herunter, und ihre schwarzen Äuglein funkelten lebhaft. »Grüß Gott, Frau Eidechse, ist das nicht schön? Wo haben Sie denn Ihren Herrn Eidechserich?« »Ach, der wird bald kommen, er ist auf den Berg gegangen zum Mückenfang.« Ellen sagte nachher, diese Antwort habe Holder gegeben, aber er sagte, die Eidechse habe es selber getan auf eidechsisch, da konnte sie nicht streiten. Das Publikum wurde unruhig, drehte den Kopf hin und her und wackelte mit dem Schwanz, so mußte er weiter pfeifen. Als das Lied aus war, zog sich die Frau Eidechse zurück. Da pfiff er auf Ellens Wunsch: »Weißt du, wie viel Sternlein stehen?« alle drei Verse. Aber die Eidechse kam nicht mehr. Er versuchte es nochmals mit dem »lieben Augustin«, und siehe, da war sie gleich wieder zur Stelle. Da stellten sie es nun fest, daß »O du lieber Augustin« ihr Leiblied sei. Und das bekam sie nun immer zu hören, so oft sie zum Besuch da heraus kamen. * * * * * Es war merkwürdig: neuerdings bekam Mammi manchmal Anfälle von großer Zärtlichkeit für Ellen. Dann konnte sie sich plötzlich im Garten auf dem Gras niederlassen und beide Arme nach ihr ausbreiten. Aber Ellen war das nicht gewohnt und kam darum nicht so schnell dahineingeflogen, wie Mammi wohl erwartet hatte. Dann sagte sie klagend: »Ellen, hast du denn deine arme Mammi gar nicht lieb?« und küßte sie viele Male, auf den Mund, in die Augen, auf die Stirn, und drückte sie fest in die Arme. Und Ellen mußte sagen, daß sie die Mammi lieb habe. Das tat sie auch, sie tat es aber ein wenig zögernd, ernst und still. Und Mammi sagte, das Kind müsse mehr unter Menschen kommen, und putzte sich selbst und Ellen schön heraus, so daß sie beide sehr wohl in den nächsten Umkreis des Musikpavillons paßten, und ging mit ihr dort spazieren. Das tat sie einige Male. Da wurde sie eines Tags von einem Herrn, der gleichfalls dort spazieren ging, gefragt, ob gnädige Frau vielleicht Norwegerin sei, sie trage so wundervollen nordischen Schmuck, und sie sagte: ja, wenigstens von Geburt und Erziehung. Und es fand sich, daß der Herr auch schon »da oben« gewesen war und auch sonst schon an allerlei Orten, die sie kannte, es gab wundervoll viel zu reden darüber und über noch vieles andere, an diesem Tag, und am folgenden noch mehr, und so immer fort. Mammi erholte sich zusehends, wurde auch im Hause lebhaft und gesprächig und fand, daß ihr Mann doch damit recht gehabt habe, daß er ihr viel frische Luft und Bewegung verordnet habe. Besonders auch Segelpartieen bekamen ihr gut, aber natürlich konnte sie dabei das Kind nicht mitnehmen, es war wohl überhaupt besser, wenn es regelmäßig lebte, es war oft nicht so ganz wohl in letzter Zeit. Das fand Holder auch. Er sah, daß es an Heimweh litt. Es war merkwürdig an so einem Kinde, aber es sehnte sich wahrhaftig immer nach seinem Vater. Und es wußte, der Vater sehne sich auch nach ihm. Er hatte oft an einem inneren Grimm zu würgen. Da ging sie nun wieder im gelben Leinenkleid mit dem silbernen Gürtel, strich dem Kind übers Haar: »Adieu, Kleines, geh artig zu Bett, hörst du? Mammi hat Schokolade für dich.« Weg war sie. Als ob es dem Kind um Schokolade gegangen wäre. Sah sie denn nicht, daß es Hunger litt nach Liebe, nach Daheimsein? Nein, das sah sie nicht. Er aber sah es. Heute früh hatte er ein Lied gefunden; es stand in einer Zeitschrift und hieß: Das frierende Seelchen. Das ging ihm heute den ganzen Tag durch den Sinn. Es schien so sehr für Ellen zu passen. Wenn ich nur wüßt’, wo der Heimweg wär! Was bin ich nicht geblieben? Suchen muß ich, hin und her bläst ein Wind, und mich schauert sehr, irgendwer hat mich vertrieben. Irgendwo, weiß ich, bin ich zu Haus, aber wo, wer kann’s sagen? Flüglein hab ich, und breit’ sie aus, fänd’ ich nur aus der Welt hinaus, wollt’ ich nimmer klagen. Bin ein armes, verirrtes Kind, such in dem Lärm der Gassen, horche hinein in den wehenden Wind, ob ich nirgends die Töne find’, die ich zu Haus verlassen. Hie und da nur ein leises Getön, ein Wort, ein Streifchen Sonne, ein lieber Blick, ein feines Verstehn, dann muß ich wieder suchen gehn nach meiner Heimatwonne. »Komm, Ellen.« Er nahm sie mit sich ans Meer hinunter. Artig zu Bett gehen, das konnte sie noch lang. Jetzt lag die Sonne noch über dem Wasser, es war ein wundervoller Abend. Weithin lagen die Berge am Ufer rotgolden beschienen, die weißen Villen glänzten und Fenster leuchteten in der Abendsonne. Fischer fuhren hinaus und sangen in ihrem Boot, und irgendwoher kamen fröhliche Stimmen, Gelächter und Jubel. Und so ein Kind sollte nicht froh sein? Auch hatte das Gedicht nämlich noch einen zweiten Teil gehabt, der ihn heut besonders rührte. Vielleicht wäre ihm Ellens bekümmertes Gesichtchen sonst nicht so besonders aufgefallen. Er verhöhnte sich selbst damit, daß sie ihm nur als Objekt für seine lyrische Stimmung diene, aber das mochte sein, wie es wollte, darum freute es ihn doch, daß sie nun da unten neben ihm saß und ihr kleines Händchen in seine große Hand schob. Da sagte er es richtig noch einmal in Gedanken vor sich hin: II. Schlug das Seelchen seine Flügelein, barg sein trauerndes Gesicht hinein, weinte leis und bang und bitterschwer: Wenn ich doch zu Haus, zu Hause wär! Kam die Lieb’ des Wegs und rührt es sacht: Grüß dich Gott, ich habe dein gedacht! Hob das Seelchen sein verweint Gesicht, weil sie sprach, wie man zu Hause spricht. Nahm die Lieb’ das Seelchen in den Arm, hüllt’ es in des Mantels Falten warm, sprach: Wir sind vom Himmel, du und ich, armes Seelchen, komm, ich trage dich! Spannt’ das Seelchen seine Schwingen aus: Liebe du, du bist mir Heim und Haus! Liebe, bleib mir Trost und Weggeleit! Sprach die Liebe: bis in Ewigkeit! Wenn man es genau untersucht hätte, so hätte er vielleicht auch ein wenig Heimweh gehabt, oder vielleicht nennt man es bei Männern anders. Es war aber doch, da es schon ein wenig gegen das Frühjahr hin ging, und es mit dem Hals nicht so vorwärts wollte, wie er gedacht hatte, so etwas. »Du, Holder,« sagte Ellen, »ich habe dich furchtbar lieb. Ich habe dich so lieb – bis wo der Himmel anfängt.« »So,« sagte er, »das ist aber hoch hinauf.« Da war es ihr auf einmal nicht genug. »Nein, noch höher hinauf,« sagte sie. »So hoch wie der liebe Gott ist.« Davon mußte er nun notwendig ein bißchen abzwicken. »So hoch hinauf kann man nicht,« bemerkte er. »Aber bis wo dem lieben Gott sein Kopf anfängt,« sagte sie. Mehr wollte sie nicht abgeben. Da ließ er’s; später, dachte er, werde es sich schon ausgleichen. Die Sonne sank tiefer und tiefer. Schon nahte sie sich dem Wasserspiegel. Er sah still in ihr goldenes Licht und über die beschienenen Fluten hin. Da fühlte er, wie sich das Händchen da in seiner Hand so krampfhaft festhielt und als er in Ellens Gesicht sah, da war es angstvoll und die Augen sahen ihn hilfeflehend an. Er sah, es ging ihr um die Sonne. Sie hatte sie noch nie ins Wasser tauchen gesehen. Aber er wollte ihr nichts sagen; er war ein Pädagog; sie sollte es nur erleben. Er hielt aber doch das Händchen ein wenig fester als zuvor, zum Zeichen, daß er im Notfall auch noch da sei. Und sie sank und sank; da war sie nun am Wasser, und leise, leise glitt sie hinab. Da brach Ellen das zitternde Schweigen. »O, sie fällt ins Wasser, sie fällt ins Wasser,« rief sie in so jammervollem Tone, daß ein Stein hätte trösten müssen. Er war aber härter als ein Stein und schwieg. Da wurde es dunkler und dunkler; nur noch ein goldenes Auge sah über die Fluten hin, dann erlosch auch dieses, da eilten die purpurnen Wellen so verlassen und klagend zum Ufer hin. »O, jetzt haben wir keine Sonne mehr,« klagte sie. »O, jetzt ist sie hinuntergefallen, jetzt haben wir keine Sonne mehr,« jammerte Ellen. Da trat ihr Freund in den Riß, denn jetzt war es Zeit dazu. Und er sagte, daß sie nicht hinuntergefallen sei und daß sie morgen wieder komme. Denn dort hinten, ganz weit hinten, sagte er, die braunen Kinder, zu denen die Schiffe hinfahren, die müßten doch auch Sonne haben, nicht? Da wurde das Gesichtlein wieder froh, aber erst, als er ganz sicher versprochen hatte, daß sie wieder komme und daß sie, Ellen, in aller Frühe zu ihm kommen dürfe und mit ihm sehen, wie die Sonne aufstehe. Das tat sie denn auch. Ein Fingerlein pochte an seine Tür, als die Luft draußen noch grau war und er noch im Bett. Dann, als das Fingerlein keine Antwort bekam, wurde eine kleine Faust zum Klopfen geschickt. »Ja?« »Ich will sehen, wie die Sonne aufsteht.« »Sie ist noch weit, sie ist erst in Chiavari, sie muß noch hinter dem Berg heraufsteigen.« »Du, Holder.« »Ja?« »Laß mich herein. Ich geh’ derweil auf deine Terrasse hinaus, dann sag’ ich dir, wenn sie kommt.« Da mußte er sie doch hereinlassen. »Wer hat dich denn geweckt, Ellen?« »Niemand, ich bin selber aufgewacht.« »Wer hat dich denn angezogen?« »Selber.« Es war vielleicht darnach, aber das war den zwei Freunden einerlei, die gleich hernach miteinander draußen standen und ihre Augen ausschickten, ob sie die Sonne kommen sehen. Das Meer war auch noch nicht recht aufgewacht. Es warf sich plätschernd herum und wollte zu sich kommen. »Du, Holder, was sagt es?« »Es sagt: Mutter gib mir einen Kuß, sonst friert’s mich.« »Wer ist die Mutter?« »Die Frau Sonne.« Da schoß auf einmal ein goldener Strahl wie aus einem Hinterhalt hinter dem Berg hervor, dann noch einer, dann viele. Dort drunten am Meer macht die Sonne keine langen Vorbereitungen. Sie kommt auf einmal und dann ist sie da. Da nahm sie sie alle in die Arme wie eine rechte Mutter, alle ihre Kinder: den Mann und das Kind, und die Gärten und das Meer. Da breiteten sie sich alle ihr entgegen und glänzten auf, so froh waren sie. Vielleicht war das Kind am frohesten, weil es gestern abend am meisten getrauert hatte. Die andern, das Meer und die Bäume, die hatten sie schon öfter gehen und kommen gesehen, sie wußten schon, wie sie es mit ihnen halte und daß immer wieder ein Aufgang komme nach dem Niedergang. * * * * * Holder ging allein in der Welt herum. Er kam von einem weiten Spaziergang zurück und hatte einen großen Blumenstrauß in der Hand. Den wollte er nach Hause schicken, er sollte seine Schwester an ihrem Geburtstag grüßen. Langsam bog er in den Garten ein. Es ging vielerlei in ihm um. Die Wintergäste fingen an, abzureisen, vorgestern waren einige gegangen, und gestern wieder. Heute, das wußte er, reiste ein Ehepaar, an das er sich einigermaßen angeschlossen hatte. Es tat ihm nun doch auch leid. Er brauchte lange, bis er sich den Menschen auftat, aber wenn es dann geschah, so war es auch nicht nur so obendrauf. Er hatte so gar keine Eintagsfliegennatur. Nun hatte er nach und nach an diesen allen teilgenommen, die da um ihn her lebten, litten und sich freuten. Er hatte gesehen, daß sie alle ihre Schicksale in und mit sich trugen, daß das Verschiedene an ihnen doch viel mehr zufällig und äußerlich war, und daß sie alle Menschenherzen hatten, die nach Leben, Liebe und Gemeinschaft verlangten, daß sie oft Wunden zudeckten, wo sie lachten und feine, herzliche Züge an sich trugen, wo er zuvor nur Oberflächlichkeit und leichten Sinn gesehen hatte. Einer von ihnen war gestorben, der lag nun draußen auf dem kleinen Friedhof am Berge, den Pinien und Zypressen beschatteten und zu dem das Meer, das sich an den Felsen brach, sein ewiges, großes Schlummerlied heraufsang. Und zwei junge Menschen hatten sich gefunden, um immer miteinander zu gehen. Sie waren krank angekommen, und gesund geworden, und nun lag das Leben vor ihnen in leuchtender Fülle und sie wollten es fassen und halten und eines in des andern Augen das Meer, das große Meer mitnehmen. Das war so schön, frohe Menschen froh zu sehen. So ganz von tief unten herauf froh, wie diese es waren. Das war das Schönste, was man sehen konnte, schöner als Rosen- und Nelkengärten, schöner als Sonne, Meer und Land. Ueberhaupt, das mit dem schönen Land. Er hatte es genossen, das mußte man sagen. Er hatte es mit allen Sinnen in sich hineingenommen. Aber nun hatte er plötzlich genug davon. Es war doch schließlich immer dasselbe. So ein farbenfrohes Leuchten, Glänzen, Blühen war schön, wenn es vorher trüb, dunkel und kalt, wenn es Winter gewesen war. Er hatte es wieder mit dem Dichten. Unterwegs, auf dem Gang ins Nervital, hatte er sich bei dem schönen Land erkundigt, ob es denn sonst nichts habe als üppige Glut und Füll’? kein zartes Knospen und Werden. kein Fragen, ob’s auf Erden wieder lenzen will nach langem Winterharm? und nirgends Bäume im Garten die ihres Frühlings warten mit ausgestrecktem Arm? Er sah es so deutlich vor sich, wie es nun zu Hause war: linder, goldener Sonnenschein auf wintermüden Gassen, da und dort noch ein Fleckchen Schnee, und an geschützten Stellen schon die Veilchen, und Amselgesang auf kahlem Geäst, dem im währenden Singen ein lichter grüner Schleier sich wob. »Du, Ellen, ich muß dir etwas sagen.« Denn sie war soeben durchs Mauerpförtchen herein von der Strandpromenade her auf ihn zugerannt. »Ja, was?« Aber er mußte sie vorher betrachten. Sie hatte ein hellblaues Seidenkleidchen an und eine weißseidene Schärpe, und hatte einen großen, weißen Spitzenhut auf. »Geputzt wie ein Affe,« dachte er plötzlich grimmig, obgleich sie freilich hübsch genug aussah. »Da sieh, Holder,« und sie zeigte ihm mit Wichtigkeit ein Schmuckstück, das sie um das runde, weiche Ärmchen trug. Es war eine kleine Eidechse aus grünem Email mit zwei winzigen roten Rubinäuglein. »Fein, gelt? Ich habe es von dem Onkel, der immer mit Mammi geht. Und er schenkt mir morgen eine Dose, die kann man aufziehen, dann macht sie Musik. Und heut mittag darf ich mit dem Onkel und mit Mammi ausfahren in einem Wagen, der hat rote Samtpolster. Das ist fein, nicht? Ich bin so froh, bist du auch so froh, Holder?« Ja, sie war so froh über ein bißchen Freundlichkeit und Mitgenommenwerden, und er hätte ihr am liebsten das Armband genommen und ins Meer geworfen, so zornig war er. Er sagte gar nichts. Aber sie merkte es heute nicht gleich, daß er verstimmt sei. Sie war zu froh dazu. »Meine Mammi ist schön, gelt?« sagte sie. »Dort unten kommt sie. Sie hat ein schönes Kleid an und lacht, und sie hat zu mir gesagt: ›Du bist ein süßer, kleiner Schneck.‹ Gelt, das freut dich auch, wenn deine Mammi so zu dir sagt?« Aber er wollte jetzt nicht sehen, wie schön Mammi sei. Er wollte jetzt nichts von Mammi wissen. »Komm, wir gehen da hinüber,« sagte er. »Wir setzen uns ins Rosenrondell, dann sag’ ich dir etwas.« Ja, das wollte sie gern, sie machte ihre großen Augen; was er wohl sagen wollte? »Denk einmal, als ich heute morgen aufwachte, da ist vor meinem Fenster alles dick voll mit Schwalben gesessen. Auf der Terrasse, auf der Dachrinne, auf den Telegraphendrähten. Sie sind übers Meer her gekommen und jetzt gehen sie heim. Sie sind schon wieder fortgeflogen, sie haben nur hier ein wenig ausgeruht.« »Heim, wo ist das?« Sie riß die Augen mächtig auf. »Heim ist in Deutschland, am Neckar und am Rhein und im Schwarzwald, und auch in Bühringen.« Denn Bühringen lag im Schwarzwald. »Da haben sie ihre Nester an den Häusern unter den Dächern.« »Ja, du, Holder, bei uns auch, am Stall und an der Waschküche. Der Andres hat gesagt – mhm, man dürfe sie nicht fortjagen und die Katze dürfe sie nicht fressen, weil es Schwalben sind.« »Und als sie mich gesehen haben, da haben sie angefangen zu schwatzen, alle durcheinander.« »Was haben sie denn gesagt?« »Sie haben gesagt: ›Wir sind so froh, daß wir heimkommen. Daheim, da fangen jetzt die Bäume an zu blühen, und der Schnee ist fort, und es gibt Veilchen, und viele tausend Mücklein fliegen in der Sonne herum, die fangen wir alle.‹ Da habe ich gesagt: ›Nehmet auch einen Gruß mit an Ellens Papa, weil er so allein ist, und sie komme bald nach, sie wolle dann mit ihm Maiblumen holen im Bühringer Wald, die seien jetzt bald offen.‹« Sie nickte ernsthaft mit dem Kopf und ihr glückliches Gesichtlein beschattete sich. Er kam sich schändlich vor. Mußte er denn mit Gewalt das Heimweh heraufrufen, das ein wenig geschlafen hatte? Er meinte freilich, dieses Heimweh gehöre gar nicht anders kuriert als durchs Heimkommen. Der »Onkel, der immer mit Mammi ging«, der kurierte es mit Armbändern und Spieldosen. Da kam nun Mammi den schmalen Gartenweg herab. Sie suchte ihre Tochter und sah ja freilich schön aus. Was man so schön heißt. Sie kam so groß und schlank und blond daher in ihrem leichten, hellen Seidenkleid und unter dem großen, federngeschmückten Hut. Ja, und sie lachte, ganz wie Ellen gesagt hatte. Aber ihm gefiel das Lachen nicht, es war, als ob sie etwas damit verscheuche oder zudecke, das sie jetzt nicht hören und nicht sehen wolle. »Ah, siehe da, der Herr Kandidat,« sagte sie fröhlich. »Sie haben mir meine Tochter entführt. Ha ha. Sagen Sie, haben wir nicht herrliches Wetter jetzt und ist es nicht schön hier?« »Mammi,« rief Ellen, »er hat die Schwalben gesehen. Sie sind heimgeflogen und er hat einen Gruß an Papa gesagt. Mammi, wann gehen wir heim?« Aber davon wollte Mammi jetzt nicht reden. Sie zog die Augenbrauen zusammen und gab keine Antwort. »Das hat mir gerade gefehlt,« sagte sie und brach eine voll erblühte gelbe Rose vom Strauch, »sie paßt so gut hierher an meinen Gürtel. Haben Sie vielleicht eine Stecknadel, Herr Kandidat?« Das hatte er, fast wider seinen Willen. »Ach,« sagte sie, plötzlich seufzend, und ließ sich ihm gegenüber auf der runden Steinbank nieder, »es ist nicht immer leicht, gut zu sein.« Was war das nun wieder? »Ihnen fällt es wohl immer leicht? Sie sind so ernsthaft und pflichtgetreu und gehen so geradeaus Ihren Weg. Man könnte Sie beneiden.« »So, woher wissen Sie denn das?« Er fragte es fast grob. »Ach, das sieht man doch. So – so unverdorben und so geordnet.« Es ärgerte ihn, denn gar zu tugendsam wollte er doch auch nicht erscheinen, obgleich nichts gegen ihre Worte zu sagen war. »Das bin ich nun leider nicht,« seufzte sie. »Aber ich kann auch nicht anders sein, als ich bin.« So? er hatte schon lang einiges gegen sie in sich angesammelt. Es konnte eine schöne Rede geben, wenn er sie losließ. Das wäre ja recht bequem, einfach: ich kann auch nicht anders sein – er fing an, sich zu besinnen, wie er anfangen wollte, da sagte sie, als habe sie seine Gedanken gelesen: »Nein, nein, Sie müssen nichts sagen, Sie kennen mich nicht genug dazu. Sehen Sie, das Kind hat recht, Sie haben wirklich etwas von meinem Mann. Nun machen Sie dasselbe Gesicht wie er, wenn er unzufrieden mit mir ist. Dann liebe ich ihn gar nicht.« Sie sah plötzlich sehr ernsthaft aus. »Ich möchte nicht, daß die guten Menschen schlecht von mir denken. Das tut mir leid, aber sie wissen vielleicht nicht, wie es ist, wenn man in ganz anderer Luft geboren und erzogen ist.« Er sagte nichts, es war ihm so sonderbar, daß sie ihn nun so plötzlich zum Beichtvater machte, und doch war es ihm, als rufe etwas aus ihr heraus, das nach Verstehen und Verzeihen verlange, und er wollte sie hören. Er saß ganz still da und war auch ein wenig verlegen, und sie war dankbar, daß er nicht redete und sagte, als müsse sie es aus sich herausschaffen: »Haben Sie eine Heimat gehabt, in der Sie immer wohnten und gut und sicher aufgehoben waren? Nun, ich ging auf Reisen, als ich drei Jahre alt war, weil mein Vater den Ort nicht mehr sehen wollte, an dem meine Mutter starb. Immer in Pensionen, bald im Norden, bald im Süden. Kennen Sie das? O, wir waren sehr vergnügt, mein Vater und ich. Alle Leute kannten mich immer als sehr vergnügt. Einmal war ich des Lachens überdrüssig, da weinte ich eines Abends für mich allein. Es war auf einer Veranda am Vierwaldstättersee. Vielleicht war es, weil mein Vater kurz vorher gestorben war. Oder ich weiß nicht warum. Das sah einer, für den es eigentlich nicht bestimmt war, und er meinte, er sehe nun etwas von meinem eigentlichen Ich, und das Lachen sei nur obendrauf. Vielleicht meinte ich es damals auch, und kurzum, ich heiratete ihn und wir waren sehr verliebt ineinander, wie mir scheint. Es kam mir hübsch vor, so auf dem Lande zu leben in einem grünumrankten Hause, und einen solch ernsthaften, biederen Mann zu haben. Aber wissen Sie, wie es allmählich wurde? Wie ein Käfig, in dem ein lustiger, farbiger Vogel sitzt und den ein Bär bewacht. Der Bär ist gut und der Käfig ist gut und der Vogel ist in seiner Art auch nicht schlimm, sie passen nur nicht zusammen. Das ist das Ganze.« Sie hatte, während sie sprach, drei oder vier Rosen zerpflückt, es lag eine Menge gelber, schimmernder Blätter auf dem Rasen. »O sehen Sie, das Kind,« unterbrach sie sich plötzlich, »was es für Augen macht. Ganz große. Ellen, mach andere Augen. Sie hat natürlich alles gehört.« »Das Kind haben Sie vorhin nicht mit aufgezählt«, sagte er trocken. »Welchen Platz geben Sie dem? gehört es zum Vogel oder zum Bären?« Da beugte sie sich rasch herunter und küßte es heftig, drei- oder viermal, aber eine Antwort gab sie nicht. »Das Kind gehört heim.« Nun war es ihm, als ob er seine ganze Rede gehalten hätte, denn sonst wußte er eigentlich nichts zu sagen und darum stand er auf und schickte sich zum Gehen an. Er hatte immer noch seine Blumen in der Hand, die wollte er nun einpacken. »Ja, ja,« sagte sie und sah aus, als suche sie etwas in weiter Ferne. »Er hängt furchtbar an Ellen und auch an mir. Es ist nicht leicht, das läßt sich aber nicht ändern. Man kann nicht aus seiner Haut heraus, er nicht und ich nicht. Das ist überall so. Glauben Sie, Sie kennen die Welt noch nicht. Es ist nicht immer alles so glatt im Leben.« Sie schüttelte sich, wie um aus Träumen zu kommen und sagte leichthin: »Es ist nur gut, Kinder fühlen das noch nicht so, sie sind überall zu Hause. Komm, Ellen, gib deiner armen Mammi einen Kuß.« So besonders hochachtungsvoll war der Blick nicht, mit dem er sie betrachtete, als er nun den Hut zog und ging. »Sie versteht so viel von ihrem Kind, als eine Kuh von einem Eichhörnchen«, brummte er vor sich hin und zertrat mit breitem Stiefelabsatz eine kleine Kröte, die über den Weg hüpfte. Das hatte er nicht gewollt. Er blieb bedauernd stehen, aber es war nun schon so. So etwas kleines ist schnell zertreten. * * * * * Am andern Tag machte er eine Wanderung ins Land hinein. Er ging den ganzen Tag, kehrte in kleinen, verräucherten Wirtshäusern ein, half einer dunkeläugigen Magd Fische in Öl backen, trank tiefroten Chianti aus dem strohumflochtenen Fiasko dazu, redete mit Fischern und Bauern, so gut es sein schlechtes Italienisch hergab, ließ sich von der Sonne durchscheinen und fing im Wandern an, zu singen und zu jodeln. Als sich das der Hals gutwillig gefallen ließ, war es ihm, als müsse er nun schleunigst umwenden und nach Hause fahren, denn nun war er ja gesund. Er blieb aber doch in einem Wirtshaus, das einsam in einem engen, schmalen Taleinschnitt unter alten Olivenbäumen stand, übernacht, fand dort eine Hochzeit, hörte bis spät in die Nacht hinein eine Musik von Dudelsack und Flöten und sah sich die Paare auf dem Steinboden vor dem Hause im Tanze drehen. Dann schlief er tief in den Vormittag hinein und als er erwachte, fielen ihm eine Menge Dinge ein, die er vorgestern hatte der Frau Hermelink sagen wollen. Lange, überzeugende Sätze, die alle darauf hinausliefen, daß es nicht so sehr darauf ankomme, ob das Leben angenehm sei oder nicht, wenn man nur seine Pflicht tue. Und daß man mit einigem guten Willen viel machen könne. Und noch mehreres. Er dachte, sie habe ja doch auch ihre guten Seiten und sie habe ihn ein paarmal fast gerührt. Und sie scheine einen guten Mann zu haben, mit dem sich doch leben lassen müsse. Das sagte er ihr alles in Gedanken, denn in Gedanken war er manchmal recht beredt und verstand sich gut auszudrücken. Aber als er da lag und ihm die Sonne ins Bett schien, da waren die beiden, die Mammi und das Kind, schon unterwegs. Sie fuhren auf einem Dampfer nach dem Süden und die Spieldose stand auf der Bank neben Ellen und spielte: »o du lieber Augustin« und Ellen sagte zu dem Onkel, der sie ihr geschenkt hatte: »das ist der Frau Eidechse ihr Lieblingslied«. Da lachte er und Mammi lachte auch, und weil sie beide so fröhlich waren, lachte Ellen auch mit. Sie wußte nicht, daß Mammi sich verlaufen hatte und den Heimweg nach Bühringen nicht mehr suchen wollte und daß sie selber als ein heimatloses Kind mit auf Reisen ging. Sie sah nur das Heut, das war voll Sonne. * * * * * Er nahm Abschied von Haus und Garten und Meer und zuletzt auch von Schwester Clementine. Er hatte sie immer ein wenig im Verdacht gehabt, daß ihr gütiges Lächeln Herablassung sei und hatte sich stolz und mannhaft dagegen betragen. Aber schließlich hatte er doch nicht mehr ganz dagegen angehen können, daß sie immer so blieb: liebenswürdig und fein und vornehm; – allerdings schien sie zu wissen, daß sie das alles sei, aber dafür konnte sie wohl nichts und er hatte es ihr verziehen und gedacht, schließlich habe sie sich auch nicht selbst zur Gräfin gemacht und es können nicht alle Menschen gleich sein. Zwar die schlanke weiße Hand, die sie ihm zum Abschied reichte, küßte er nicht, obgleich er gestern den französischen Rechtsanwalt so hatte tun sehen. Aber er drückte sie mit seiner ganzen neuerrungenen Kraft und sah mit ehrlichem Dank in das schöne Gesicht. Es habe schmerzlich darin gezuckt, dachte er nachher und wunderte sich, daß es ihr leid zu tun schien, daß er gehe. »Sieh’ da, echtes menschliches Gefühl,« dachte er und wußte ja freilich nicht, daß sie ihre Hand besah, als sie ins Haus zurückging. Sie hatte einen breiten roten Streifen. * * * * * Nun war er zu Hause. Er hatte es alles so gefunden, wie er erwartet hatte: blühende Wiesen, neubestellte Gärten und Äcker, Lerchen, die sich in die Luft schwangen und freilich auch viele, viele Spatzen, die sich lärmend umhertrieben und vor ausgelassener Daseinsfreude schrieen. Er ging durch die Dorfgasse, die nach dem Filial führte, in dem er Unterricht zu geben hatte und mußte sich zugeben, daß sie sehr aufgeweicht sei und ein Bauer sagte ihm, daß das im Frühjahr so die ersten paar Wochen nach dem Schneegang immer so sei. Und es fielen ihm die leuchtend weißen, glatten Straßen ein, die er dort unten gegangen war. Kinder sprangen herbei und gaben ihm die Hände und er mußte an ein anderes kleines Händchen denken, das nicht so klebrig, aber mindestens ebenso vertrauensvoll gewesen war. Wo mochte es sein? was wurde aus ihm? wer nahm es in seine Hand? Es war ihm nicht leicht zumute, als er daran dachte. Er meinte, er hätte es vielleicht festhalten sollen, beschützen, entführen – er wußte selbst nicht, was. Vielleicht hätte er der Mutter mehr sagen sollen; sie hatte ja sonderbarerweise eine Art von Vertrauen zu ihm. Denn, hilf Himmel, was machte sie wohl aus dem Kinde? Sie führte es in der Welt herum, weil sie selber rastlos war, sie lehrte es, zu lachen, wenn sein Herzlein weinte und lehrte es, die Heimat zu vergessen über der Fremde, die Armbänder hatte und Spieldosen und Schmeicheleien statt Liebe. Er dachte an den einsamen Mann dort in Bühringen und meinte, er hätte ihnen allen helfen sollen. Aber er wußte ja freilich nicht, wie, und sie waren ihm nun auch aus der Hand gegangen, er konnte sie nicht mehr finden. Da brannte etwas in ihm, daß man Menschenkinder müsse ins Leben hineingehen lassen, das sie verderben wolle. Er wußte plötzlich, daß ihrer viele seien, die in Gefahr und in der Fremde seien. Und er wußte, daß eine Liebe in ihm sei, die ihnen helfen wollte und die doch in sich selbst arm und machtlos dazu sei. Er sah die Menschen vor sich, die Großen und die Kleinen, die auf ihn warteten, daß er ihnen etwas bringe, das ihnen zum Leben und zum Werden helfe. Sie hatten alle auf einmal Ellens Gesicht und Augen und sagten, – die Kleinen: wir wollen Menschen werden, denke daran – die Großen: wir sind einmal Kinder gewesen. Vergiß es nicht! – Unterdem war er an den letzten Häusern vorbei und ins Freie gekommen, da, wo sich von der Landstraße aus der Blick ins Tal auftat. Rechts hatte er hellen Buchenwald und links ging es in die Tiefe hinunter. Das Tal war noch voll von wallenden Morgennebeln, es war wie ein Meer, und darüber segelten im blassen Blau des Himmels ein paar lichte Wolken. Da dachte er an das Meer, das er im Süden gesehen hatte und wußte, daß alle die Wasser, die in den Nebeln und in den Wolken waren, in die große Flut heimkehren würden, wenn sie ihren Kreislauf hinter sich hatten. Und er dachte auch an das Meer, das er im Traum gesehen hatte, und dachte, wenn einer sei, aus dessen Willen heraus alles geflossen sei, was da webe, so müsse es ihn ja nicht ruhen lassen, bis auch die letzte Welle seines Wesens, die er in ein Menschenkind hinein geschaffen habe, nach allem Irren in ihren Ozean zurückgefunden habe. Und es ward ihm im Ausschreiten groß und froh zumute. Ein Vater [Illustration] 1. Es war kühl und dämmerig in dem hohen, weiten Kirchenschiff. Und still war es da. Nur fernher, gedämpft, gebrochen durch die massiven Steinwände des riesigen Baues, drangen die Laute der großen Stadt in die Stille herein. Durch die bunten Scheiben der Chorfenster fiel das Sonnenlicht auf den blumengeschmückten Altar und auf die grüne Wand der Blattgewächse, die hinter demselben aufgerichtet stand. Der Kirchendiener ging geräuschlosen Trittes auf den ausgebreiteten Teppichen hin und her, rückte an den Stühlen, die im Halbkreis um den Altar standen, und ordnete noch dieses und jenes zum letzten Male. Auf den Emporen knarrte es hie und da von behutsamen Tritten. Da fanden sich nach und nach teilnehmende Freunde und neugierige Zuschauer ein, die der Hochzeitsfeier des reichen, jungen Fabrikanten Bruckmann zusehen und zuhören wollten. Unten im Schiff, ganz allein in den langen Bankreihen saß ein alter Mann. Er war durch die schmale Seitenpforte hereingekommen und mit schweren, stapfigen Tritten durch den weiten Raum gegangen. Nun trocknete er sich mit dem roten Taschentuch das verwitterte Gesicht, nahm die Mütze ab und sah dann still vor sich hin. Es war noch zu früh zum Anfang. Einzelne Orgeltöne schwebten durch den Raum, der Organist setzte sich in Positur; draußen hörte man Wagen vor- und dann wieder abfahren. Die Gedanken des alten Mannes gingen in ferne Zeiten zurück. Er gehörte heute näher zu dem Fest, als all die vornehmen Gäste. Näher, als ein Mensch wußte. Er strich sich über die furchendurchzogene Stirn, wie einer, der seine fliegenden Gedanken zusammenhalten und ordnen möchte. Das ging nicht leicht. Da war so vieles, was sich ihm wieder aufdrängte, als wäre es gestern geschehen. Weißt du noch? Weißt du noch? Ja, er wußte noch. Eine Dorfgasse sah er, still lag sie da im mitternächtigen Schein des Mondes. Der Tod ging hindurch. Zuerst kehrte er in der Villa ein, die auf dem Lindenhügel am Eingang des Dorfes stand. Zwischen Ärzten und Pflegerinnen ging er hindurch, still und unerbittlich, und nahm der jungen Mutter das Kind aus den Armen. Es war ihr einziges. Sie hatte vor einem halben Jahr seine Geburt fast mit dem Leben bezahlt, es war keine Aussicht, daß sie je wieder ein liebes Kind ihr eigen nennen dürfe. Der Gatte hielt sie umschlungen. So, miteinander, mußten sie zusehen, wie der Tod das Kind aus ihrem Haus nahm. Er hatte den Auftrag, daran war nicht zu rütteln. Dann ging der Tod die stille Gasse hinunter, an den dunklen Häusern vorbei, bis zu einem kleinen, alten, aus dessen Fenstern ein Lichtschein fiel. Hier wartete man auf ihn, man wußte, daß er komme. Aber es war doch so schwer, ihn einzulassen. Denn er wollte das Herz aus dem Haus holen. Und das tat er nun auch. Die Kinder schliefen, es waren sieben, und das jüngste lag in einem Korb neben dem Bett der Mutter und wußte noch nichts vom Leben. Und alle miteinander wußten noch nichts vom Sterben und daß die Mutter einmal nicht mehr da sein könnte. Der Mann wußte es; es war eine Qual. Er wollte gern jetzt nicht mehr so stark daran denken, wie er so dasaß in der Kirche und auf die Hochzeitsgesellschaft wartete. Aber er mußte es doch tun. Er sah sich, wie er ihr die Augen zugedrückt hatte. Sie war sein Weib gewesen und die Mutter der Kinder. Und die Welt- und Lebensangst war in hohen Wellen über ihn hereingeflutet, als er in den grauenden Morgen hineinsah und nicht wußte, wie sich für ihn und die Schläfer neben ihm das Leben nun gestalten sollte. Das ganz Kleine rührte sich. Er nahm es heraus. »O du,« sagte er, und das Schluchzen schüttelte ihn, »o du Würmlein. Geh’ mit, geh’ auch zu ihr.« Aber es war nicht gegangen, so nicht, wie er es im ersten Schmerz gemeint hatte. So nicht. Aber doch auch von ihm fort, weiter fast, dünkte es ihn, als wenn es bei der Mutter im Himmel wäre. »Dann hätte sie es im Arm,« dachte er. »Dann wären sie miteinander fröhlich da droben.« Er war ein einfältiger, schlichter Mann. Er konnte es sich nicht anders vorstellen, als daß die Mutter das Kind auf dem Arm trüge, wenn es bei ihr im Himmel wäre. Und das konnte nun nie sein. Denn das Kind gehörte nicht mehr zu ihnen allen. Er hatte es hergegeben, verschenkt hatte er es, und ihm war, als sei es nun mit Leib und Seele denen eigen, die es aufgezogen, zum Leben geweckt und es ins Leben eingeführt hatten. Es war ihm fremd und weh zumute, wenn er heute daran dachte. Er hatte lange nicht daran gedacht; das Leben war voll Arbeit, eintöniger, mühseliger Arbeit in der Fabrik gewesen, und voll Sorge. Es stieg ihm nur in letzter Zeit wieder auf, und heute am meisten. Es lagen zwanzig Jahre dazwischen. Zwischen damals und heute. Er entsann sich jenes Abends noch so gut. Er wußte noch, daß er in schweren Sorgen seinen täglichen Weg von der Fabrik in der Stadt nach dem Dorf hinaus gemacht hatte. Es stieg kein Rauch aus dem Schornstein seines Häuschens, und er wußte, daß er jetzt seine Kinder streitend und sich balgend finden würde, oder auch still und freudlos, je nachdem es ihnen gerad am Tag gegangen war. Das Herz war ihm schwer, und er war müd und herabgestimmt. Da kamen ihm seine zwei kleinen Buben entgegengesprungen. »Vater, es ist Besuch da. Der Herr und die Frau von der Villa droben. Sie warten auf dich. Und Vater, sie haben gesagt, ob wir die Gretel hergeben; sie möchten sie gern. Geben wir sie her, Vater?« Das war sein Jüngstes, die Gretel. Er war damals froh gewesen. Es war doch ein Aufatmen. Und das Kind brauchte doch nicht zu verkümmern, so ohne Pflege, ohne Mutterhände. Er hatte es willig und gern den reichen Leuten gegeben, die so arm waren, daß sie kein einziges Kind besaßen. Für ganz und immer hatte er das zarte, feine Kindlein hergegeben. Sie zogen mit ihm aus der Gegend weg und kamen nicht wieder in das Dorf. Sie gaben ihm ihren Namen, lehrten es Vater und Mutter sagen und gaben ihm Liebe und Zärtlichkeit und allen Reichtum des Lebens, soviel Menschen von dem Reichtum des Lebens zu verschenken haben. Aber das war nun zwanzig Jahre her. Die Geschwister waren aufgewachsen in Mühsal und Armut. Wenn wieder eins aus der Schule war, kam es in eine Fabrik und hatte von nun an sein Brot selber zu verdienen. Das verstand sich fast von selbst. Und dann wurden sie reife Menschen und gründeten sich selber ihren Hausstand, so gut sie’s konnten. Sie kannten nichts anderes vom Leben als Arbeit ums Brot, staubigen Werktag an irgend einer Maschine und den kurzen Lichtblick des Sonntags. Es hatte sie niemand so recht gelehrt, ein Licht in die Woche hinein zu nehmen. Da mußte es auch so gehen. Der Vater hatte es einmal anders gekannt, als er mit seinem jungen Weib auf dem Dorfe gewohnt hatte. Seine Kinder wohnten alle in der Stadt, die Frauen gingen auch ins Geschäft, die Kinder brachte man unter, so gut es gehen wollte. Es war ein Leben mit wenig Sonne; aber sie waren den Schatten gewöhnt. Es ging auch so. Sie lebten doch ein Menschenleben; es gab Glück und Leid darin. Daß sie einmal eine Schwester gehabt hatten, ein kleines Kindlein, das noch irgendwo leben mußte in Pracht und Herrlichkeit, das kam ihnen nur noch wie ein fernes Märlein in den Sinn. Der Tag machte so viele Ansprüche, sie hatten keine Zeit zum Träumen. Sie wäre ihnen nicht ferner gewesen, wenn sie damals gestorben wäre. Der Alte lebte allein jetzt. _Auch_ in der Stadt, in einer stillen Vorstadtstraße. Es war ihm allmählich zu weit geworden, den täglichen, weiten Weg nach dem Dorf zu machen; und die Töchter konnten auch so eher einmal nach ihm sehen. Er lebte still für sich hin, ein eintöniges Leben. Tagsüber in der Fabrik, es war eine Gießerei, abends an irgend einem Wirtstisch, dann allein in seiner Kammer. Er konnte es nicht anders verlangen, Hunderte hatten es nicht anders. Manchmal gingen seine Gedanken in frühere Zeiten zurück; nicht oft, sie waren allmählich etwas stumpf und müde geworden. Da hatte sich vor einigen Wochen etwas ereignet, daran war eine Seite seines Wesens wach und jung geworden. Der Chef, es war der Sohn des alten Herrn, unter dem er dreißig Jahre gedient hatte, war jung verlobt. Und eines Tages durchschritt er mit seiner Braut die Geschäftsräume. Er wollte ihr gern alles zeigen, was sein war. Es kam nicht oft vor, daß solch eine lichte, feine, junge Gestalt die hohe und etwas düstere Maschinenhalle betrat. Es war, als ob sie ein Stück Sonnenlicht mit hereingebracht hätte, ein Stück Frühling. Das _war_ sie auch, beides. Sie grüßte so unbefangen freundlich nach allen Seiten, tat so tüchtige Fragen, nicht nur so, um doch etwas zu reden. Sie wollte das und jenes wirklich wissen. Und sie fragte auch die Arbeiter selbst, den und jenen. Ihr Bräutigam sah sie erstaunt an, erstaunt und vergnügt. Das gab eine Kapitalfrau. Sie wollte teilhaben an seinen Interessen. Die Arbeiter stießen sich an und lachten beiseite. Halb verlegen und halb erfreut. »Das ist die Neuheit,« sagte einer. »Die frägt bald nicht mehr. Damit will sie ihm gefallen.« – »Ach du, aber nett ist sie doch; sie hält unsereins auch für einen Menschen. Nein, was wahr ist, sie tut nicht hochmütig. Und sie soll schwer reich sein, da sind sie sonst anders; man weiß ja, wie.« Das Brautpaar schritt weiter. Als sie an Grau vorbeikamen, sah er auf. Er hatte bisher nichts gehört und gesehen, er putzte eben einen Messingcylinder blank. Da fiel ihm der Lappen, mit dem er fegte, aus der Hand. Ganz starr sah er die junge Braut an. Er strich sich mit der Hand über die Stirn. Das war ja seine Anne. So hatte ja sein junges Weib ausgesehen, im Gesicht und von Gestalt. Vielleicht nicht ganz so fein und zart. Aber so hell aus den Augen, und den gleichen Zug um den Mund, und das gleiche Haar. So trug sie den Kopf, so frei und gerade, und so legte sie ihn ein wenig auf die Seite beim Sprechen. Es war wie eine Geistererscheinung. Keines der anderen Kinder war ihr entfernt so ähnlich. »Na, was ist denn, Grau?« fragte der Bräutigam. Er war in Festtagsstimmung, und nun dachte er, den Alten blende so viel Schönheit und freundliche Anmut, weil sie ihn selber blendete. Aber der antwortete nicht. Er hob seinen Lappen auf, und als das Paar vorüber war, lehnte er sich schweratmend an den Werktisch. Der Werkführer kam heran und sah nach seiner Arbeit, und, gesprächig gestimmt durch ein paar freundliche Worte von der schönen Braut, sagte er: »Er hat’s hingedreht, der Herr. Die ist alles, was man Gutes will, die Braut. Lieb und gescheit und schön und reich. Der kann lachen. Eltern hat sie nicht mehr, er braucht auf kein Erbe zu warten. Sie hat alles schon in Händen. Der Kommerzienrat Falkner war ihr Vater; er hat sie sich aus München geholt, der Herr, mein’ ich.« »Falkner?« Grau hielt sich am Werktisch, mit zitternden Händen. »Ja, was ist da Besonderes? Was haben Sie, Mann?« – »Ach, nichts, so’n bißchen Schwindel.« Er drückte die aufsteigende Erregung nieder. Und dann fegte er weiter, mechanisch. Wie ihm die Gedanken im Kreis gingen, im Wirbel. Das war seine Tochter, seine. Sie wurde nun seine Brotherrin. Wenn er nun aufstünde und zu ihr hinginge und sagte: »Ich bin dein Vater!« Und ihr alles erzählte von dem kleinen Häuschen und von dem Korb, in dem sie als Wickelkindchen gelegen hatte, von ihrer toten Mutter, der sie so ähnlich sah wie keine ihrer Schwestern. Ja, und von ihren Schwestern und Brüdern. Zwei Schwestern arbeiteten in einer Spinnerei und eine war Falzerin in einer Buchbinderei. Und die Brüder? Ja, einer von ihnen war gleichfalls hier im Geschäft, war auch »ihr« Angestellter. Aber das ging ja nicht. Es war ja solch eine große Kluft befestigt zwischen ihnen allen und ihr. Er hatte sie ja hergegeben. Sie hatte von ihm nichts empfangen, als das Leben. Er hatte kein Recht an sie. Und doch wallte es so warm und weich auf in dem alten Herzen. Als wäre das Teil der Zärtlichkeit, das diesem Kinde gebührt hätte, seither in der Ecke dieses Herzens gelegen und erhebe sich nun und walle der Tochter entgegen. Er hatte nie besonders viel Zärtlichkeit auf seine Kinder verwenden können. Was man so Zärtlichkeit heißt. Die hatte sich bei den andern immer in die Sorge ums Brot und die Kleidung und dann, so gut sich das tun ließ, ums Fortkommen umsetzen müssen. Es war auch Liebe gewesen, rechte, echte, wenn man sie gleich nicht beredete und kaum bedachte. Sie, die nun so plötzlich wieder in seinen Lebenskreis getreten war, bedurfte dieser Art von Liebe nicht, und wohl auch des stillen und hellen Flämmleins nicht, das der Alte so warm in seinem Herzen brennen fühlte. Er mußte es für sich behalten, das ging nicht anders. Es war ein Glück und ein Leiden in dem alten Mann, und niemand wußte es. Und heute war Hochzeit. Oben auf der Empore stießen ein paar junge Arbeiter, die der Fürwitz hergeführt hatte, einander an. »Guck, der alte Grau. Da sitzt er, ganz breit und preislich, unten. Der ist wohl eingeladen? Der will sich wohl zeigen?« Und dann lachten sie und nahmen sich vor, ihn heut nachmittag damit zu necken. Die Orgeltöne brausten durch den mächtigen Raum, wie auf gewaltigen Flügeln. Der Alte vergaß, daß er nicht dazu gehöre. Er war von seiner Gedankenwanderung zurückgekehrt, und nun war seine ganze Seele dabei. Dort vorne, um den Altar her, hatte sich die bunte, festliche Gesellschaft versammelt, und nun schritt das junge Paar herein. »Hebe deine Augen auf zu den Bergen, von welchen dir Hilfe kommt.« Irgend ein unsichtbarer Chor sang es. Es klang wie linde, tröstliche, ermunternde Mutterworte. Der Alte verstand den Text nicht so ganz. Er hatte auch nicht viel Übung darin, die Augen aufzuheben, aber seine Seele, die viel im Staub und in den Niederungen des Lebens wohnte, versuchte doch, sich ein wenig in die Höhe zu heben. Es ging schwer. Er tat seine harten, schwieligen Hände ineinander und stand auf, als die Hochzeitsgesellschaft sich zum Gebet erhob, und versuchte mitzubeten. Aber er hatte seine eigene Sprache dabei. »Lieber Gott,« sagte seine Seele, »die Anne wird mir bös sein, daß ich das Kleine hergegeben hab. Und ’s ist auch hart, daß ich muß so fremd sein und doch in der Nähe. Ich möcht mir’s gern recht sein lassen, wenn’s ihr nur gut geht. Sie hat so ein liebes Gesicht. Mach nur, daß ich still bin, und niemand nichts sag’ und sie nicht störe. Und ich bin auch gar allein jetzt, seit die Kinder groß sind. Aber darein muß man sich halt schicken.« Er hätte vielleicht noch viel zu sagen gehabt, aber es liefen ihm jetzt ein paar ungewohnte Tränen über die Backen, er mußte sie wegwischen, und dann konnte er nicht mehr für sich allein weiterreden, denn nun stand das Brautpaar vor dem Altar. Da ging alles Denken unter in einem großen, feierlichem Gefühl. Und dann war es vorüber. Die Wagen rollten davon, die Schaulustigen zerstreuten sich, und der alte Mann ging seinen stillen Weg nach dem Geschäft. Er hatte heute das Mittagessen versäumt, um hier sein zu können. Nun stand immer ein liebliches, junges Gesicht vor ihm, das aus weißen Schleierwolken blickte und vor Glück und Liebe leuchtete. Er war daneben gestanden, als das junge Paar in den Wagen gestiegen war. So nah und doch so weit weg. Der Pfarrer hatte in der Traurede davon gesagt, daß die Braut heute die Eltern zu vermissen habe, und der Bräutigam den Vater, und daß das die Freude des Tages beeinträchtige. Die alte Frau Bruckmann, die Bräutigamsmutter, hatte dabei geweint, und ihm, dem alten Grau, war es durch und durch gegangen: »Sollst hingehen und sagen, daß du da bist. Nun die anderen davongegangen sind, denen du sie gegeben hast.« Aber dann rief er sich zur Ordnung. Was waren das für närrische Gedanken. Sie lebte in einer ganz anderen Welt als er. Da gab es kein Herüber und Hinüber. So war er still, und das mußte er ja wohl immer bleiben. Wie sie ihn neckten in der Fabrik. »Was, nicht beim Hochzeitsessen? Und bist so schön in der Nähe gesessen. Hättest einen Frack entlehnen sollen, Grau, dann hättest Brautführer werden können.« Er lächelte so eigen vor sich hin bei all dem. Da machten sie aus, daß er in die junge Frau verliebt sei und hechelten ihn weidlich durch mit gröblichen Scherzen. Die gingen wie ein Lauffeuer durch die Fabrik. Der Sohn hörte sie, und der Schwiegersohn. Die beiden waren in einer anderen Halle beschäftigt. Aber am Feierabend kamen sie herüber und sagten, lachend und ein wenig ärgerlich: »Was machst du auch für Geschichten, Vater? Machst dich ja zum Gespött.« Es sah dem Alten gar nicht ähnlich; sie konnten nicht recht klug aus ihm werden. Der trocknete sich die gewaschenen Hände und schlüpfte in den abgetragenen Rock, gleichmütig und still, und hatte so einen merkwürdig aufgehellten Zug um Mund und Augen. Aber zu erklären hatte er nichts. »Hm,« sagte er, »was tu’ ich denn? Laß sie doch reden. Allen Leuten recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann.« Das war schon eine lange Rede von ihm. Er war noch wortkarger und schwerfälliger geworden die letzten Jahre, die er nun allein lebte. Da ließen sie ihn und gingen nach Hause. Und auch er ging seines Weges und straffte die nach vorn gebeugten Schultern ein wenig, ohne daß er’s wußte. Das war, weil ihn so etwas Schönes, Junges gestreift hatte, so ein Stück von seiner eigenen Jugend, das unberührt geblieben war von der Mühsal der Arbeit und Sorge. Das ging nun so neben ihm her. Das setzte sich ihm in seiner Kammer gegenüber auf einen der Bretterstühle und fing an, mit ihm zu reden. Er war in seinem Leben nicht viel mit Poesie und Idealen und dergleichen in Berührung gekommen; er kannte sie kaum dem Namen nach. Aber das tat nichts. Darum kamen die freundlichen Geister nun doch zu ihm zu Gaste, und ihm war, als habe er lange auf sie gewartet. Dazu hatte ihn das Alleinsein empfänglich gemacht. Es ist nicht zu glauben, wozu das Alleinsein die Leute bereitet. 2. Nun gingen wieder ein paar Jahre hin. In gleichem Schritt und Tritt wie die früheren gingen sie dahin, und der alte Grau ging mit ihnen im alten Trott. Werktags in die Fabrik, Sonntags manchmal zu einer der Töchter oder zu den Söhnen. Es war nur ein wenig weit dahin, wo sie wohnten, und es waren enge Wohnungen in menschengefüllten Häusern, wo eine Familie dicht an der anderen wohnte bis unters Dach hinauf. Wo sie einander in die Töpfe sahen und in die Familienangelegenheiten einredeten. Das war nicht recht seine Sache. »Wenn ich jung wäre,« sagte er, »ich zöge aufs Land. Da kann man für sich sein, und der Weg tut den Männern nichts, im Gegenteil.« Er hatte so die Meinung, die Frauen könnten dann daheim bleiben, die Kinder und das Hauswesen versorgen und noch ein Stück Land dazu anpflanzen. Und dabei stand ihm seine Anne vor Augen, die das so gemacht hatte. Es war doch eine schöne Zeit gewesen mit ihr. Aber so wollten die Kinder nicht. Sie wollten lieber Stadtleute sein, und das Rechenexempel des Alten stimmte ihnen nicht. Wenn zwei verdienen, gibt’s doch mehr aus, als wenn nur eins verdient. Und für die Kinder gibt’s allerlei Unterkunft, Krippen und Kinderschulen und nachher die Volksschule. Und die Gasse ist auch da. Es war ein mühseliges Leben, das sie führten, noch viel mühseliger, als es die Anne einst gehabt hatte. Aber sie konnten Kleider tragen wie die Vornehmen, am Sonntag wenigstens, und so hie und da zu einem Vergnügen reichte es auch. Nein, sie verstanden einander nicht so recht, die jüngere Generation und der Alte. So kamen sie nicht so oft zusammen, es war einfacher so. Mit den Enkeln probierte er’s hie und da; er hatte ein anschlußbedürftiges Herz, und es gab warme Stellen darin. Er brachte ihnen Brezeln mit oder Äpfel, und am Ostertag Zuckerhasen. Dafür waren sie auch sehr empfänglich. Nur mit der Unterhaltung wollte es nicht so recht fort. Sie rissen sich los und rannten mit ihren Schätzen auf die Gasse, sobald sie konnten. So war er sehr allein, innerlich und äußerlich. Aber es war etwas mit ihm gegangen, all die Zeit daher. Er behielt es ganz allein für sich. Die anderen hätten ihn einen Narren gescholten, wenn sie es gewußt hätten, oder, was noch schlimmer wäre, sie hätten ihn gezwungen, Kapital daraus zu schlagen. So blieb es sein Geheimnis. Er hatte nicht besonders viele Fertigkeiten erworben in seinem Leben, aber zu schweigen hatte er wohl gelernt. So viele Jahre in dem betäubenden Lärm der Maschinenhalle, und auf den einsamen Gängen hin und her, und in der stillen Kammer am Abend, da wird einer in sich hinein geschlossen. Und nun trieb und lebte da innen etwas ganz Neues. Etwas, das ihn manchmal vor sich hinlächeln machte. Das sah merkwürdig genug aus auf seinem zerarbeiteten Gesicht. Wie wenn ein Sonnenstrahl auf einem alten Weidenstumpf liegt; man weiß nicht, was auf einmal so besonders Schönes an dem verwitterten Strunk ist. Die anderen Arbeiter sahen es und lachten. »Er kommt in die zweite Kindheit,« sagten sie. Das war auch wahr, sie wußten nur nicht wie. Der Alte hatte seinen Nachhauseweg etwas geändert. Der neue Weg war ein wenig weiter, aber das tat nichts. Er führte ein Stück weit über leere Bauplätze, zwischen Schutthaufen und wuchernden Brennesseln. Das war so am Rand der Stadt, die einen Ring um den andern um sich herum schloß. Links unten lag in einer Senkung die Vorstadt, und dahin führte ein schmales Weglein zwischen hohen, dunklen Hecken an alten, wohlgepflegten Gärten vorbei. Einer dieser Gärten war’s, um den er den Umweg machte. Es stand ein Haus darin, wie in beinah’ allen, man sah aber hier nur die Rückseite und auch die durch die Bäume halb verhüllt. Eine Veranda, ein paar grüne Fensterläden, ein Stück weiße Wand und ein Schieferdach. Es war nichts Besonderes daran. Nur, seine Tochter wohnte darin. Der Vater war am Anfang nicht oft diesen Weg gegangen, nur so hie und da, von seinen suchenden Gedanken unwillkürlich hingezogen. Der Garten lag meist leer und still; einmal war an einem Sonntagnachmittag allerlei fröhliche Gesellschaft unter den Bäumen zu sehen gewesen, Lachen und Plaudern und lichte Kleider, Hängematten zwischen den Bäumen; er ging leise weiter. Das war nichts für ihn. Er hatte auch seine Frau Prinzipalin nicht entdecken können. An einem warmen Sommerabend hatte er sie gesehen. Das Licht brannte in der Veranda, es warf einen milden Schein in den Garten hinaus. Und zwei Menschen standen in seiner Helle, eng aneinander geschmiegt. Die Frau trug ein helles, fließendes Gewand, sie sah mit Lächeln zu ihrem Gatten auf; er redete irgend etwas zu ihr, das konnte man aber nicht verstehen. Dann setzten sie sich an den Tisch unter der Lampe. Der Alte drängte sein Gesicht an die Zweige der Hecke und lugte durch den Spalt; das war wohl ein liebliches Bild, das er sah. Aber es gab noch ein viel lieblicheres, das brachte der nächste Frühling, und damals erst fing er an, solch eine dauernde Vorliebe für den stillen, grünen Weg zwischen den Hecken zu fassen. Im Mai war es; die Luft war voll Vogelgesang und die Bäume voll Blüten. Den alten Grau kam es wieder einmal an, durch die Hecke zu sehen. Er war lange nicht dagewesen, es war ja nichts zu holen für ihn, es war nur so hie und da ein Blick in eine fremde Welt, an der nur sein Herz teilhatte. Es war dem Hause seines Brotherrn ein Sohn geboren, er wußte es wohl, es war schon längere Wochen her. Aber er konnte nicht denken, etwas von ihm zu sehen, und eigentlich, danach verlangte den Alten auch nicht. Nur, wie es ihr ginge, der jungen Mutter, das hätte er gern gewußt. Er mochte niemanden im Geschäft fragen, denn die Neckereien hätten sonst von vorn angefangen. Daran dachte er, als er durch die grünen Zweige sah, den weißen Kiesweg hinauf, der nach dem Hause führte. Da kam sie selber hinter einer Gruppe von blühenden Syringenbüschen hervor aus einem Seitenweg; sie trug ihr Kindlein auf dem Arm und wiegte es sachte und summte ein leises Liedchen dazu. Sie war voller und stattlicher geworden, seit er sie als Braut gesehen hatte, und hatte so weiche, mütterliche Züge, und aus den Augen leuchtete es. Der alte Grau hatte noch nie so etwas Schönes gesehen, oder ja, schon lange, lange. Das war ihm damals auch schön vorgekommen, damals, als die Anne seinen Georg auf dem Arm gehalten hatte. Er ließ den Zweig fahren, an dem er sich hielt, und rutschte, seinen Standpunkt verlierend, in den Graben. Das gab ein knackendes, stolperndes Geräusch, und die Hecke schütterte etwas. Die junge Frau sah danach hin und dann kam sie vollends näher. Da rappelte sich der alte Mann auf. Er sah nicht gefährlich aus, es war nichts zu erschrecken an ihm, wenngleich es etwas verwunderlich war, daß er sich so an der Hecke zu schaffen machte. Sie erschrak auch nicht, er hatte so ein gutes, wunderliches Gesicht; und jetzt holte er seinen alten Filz aus dem Graben und wollte ganz verlegen weitergehen. »Suchten Sie hier etwas?« fragte sie freundlich. – »Ich? Nein, ich, ich wollte nur, ich habe da nur so ein bißchen hereingesehen.« Er brachte es stolpernd heraus. Das Herz schlug ihm bis an den Hals herauf. Und dann kam eine Kühnheit über ihn. »Das Kind,« sagte er, »wenn ich das ein bißchen ansehen dürfte.« Seine Stimme zitterte, er war doch ein schwacher, alter Mann. Da war die junge Frau stolz und froh wie eine Königin. Das war ja doch natürlich, daß er ihr Kind sehen wollte, das war ja wohl wert, daß man durch die dichtesten Hecken sah. Das war ja auch ein Prinz, den man sehen lassen konnte. Sie lüftete das Schleiertuch und ließ den Alten in all’ die Pracht des zarten, rosigen Kindergesichtchens schauen und sah selbst andächtig mit hinein. »Sie haben gewiß auch Enkelkinder?« fragte sie, als sie den Schleier wieder zuzog. Ja, das habe er, ja, und er danke auch schön, sagte er, und dann stapfte er davon. Damit hatte es angefangen, das Geheimnis, von dem vorher die Rede war, das, was den Alten so vor sich hinlächeln ließ, so oft es ihm einfiel. Denn nun hatte er wahrhaftig noch auf seine alten Tage eine stille Liebe, eine ganz langsam wachsende, verschwiegene, um die »niemand nichts wußte«, ganz wie es im Volkslied heißt, daß eine heimliche Liebe sein müsse. Die ging nun mit ihm und stellte mit ihm an, was sie wollte, und zimmerte sich irgendwo in seinem Herzen einen ganz luftigen, hellen, warmen Raum, und da hauste sie. Der Gegenstand seiner Liebe wußte lange nichts von ihr, wie das so hie und da zu gehen pflegt. Er lag im Kinderwagen und spielte mit seinen Händchen, und dann wuchs er nach und nach heraus und machte im nächsten Frühling seine ersten Schritte auf strammen, rundlichen Beinchen, und hatte um diese Zeit einen steil aufstrebenden, braunen Haarschopf über der Stirn. Ein Wunderkind war er nicht, er brauchte zu allem seine gehörige Zeit, wie das rechtens war. Eines Tags, als er mit zwei Jahren schon selbständig durch den Garten marschierte, fiel er über sein Schuhband auf den Kiesweg, rollte wie eine Kugel ein paar Schritte weiter und blieb mit mörderischem Geschrei nicht weit von der Hecke liegen, hinter der gerade der alte Grau stand und seinen Augenschmaus nach dem Mittagessen hielt. Dem zitterte sein altes Herz, und wenn er nur gewußt hätte, wie das zu machen sei, so wäre er über die Hecke gestiegen trotz der Dornen, die sie trug, oder durch eine Ritze gekrochen. Aber das war weder möglich noch nötig. Eine helle Stimme rief von der Bank her, die in dem Syringengebüsch stand: »Aber so steh doch auf, mein Bub. Komm zur Mutter. Mutter kann nicht kommen, und Willy kann selber aufstehen.« Dort drinnen saß die junge Frau und hatte die kleine Schwester auf dem Schoß, die so winzig in den Kissen lag, wie der Alte den Buben an jenem ersten Tag gesehen hatte. Da stand der kleine Kegel auf, wischte sich mit den Fäusten die Augen und trollte zur Mutter. Er wußte immer noch nichts von seinem alten Liebhaber da draußen. Das dauerte noch eine gute Weile. Aber einmal, er trug schon die ersten Höschen, da rollte ihm sein neuer, feuerroter Ball durch die Hecke und fiel in den Graben, der jenseits von ihr sich hinzog, und er wollte gerade anfangen, sich seinem Schmerz hinzugeben. Da tauchte ein altes, runzeliges Männergesicht über der Hecke auf. »Nun wein’ nur nicht, Büblein,« sagte der Mann. »Ich hol’ ihn dir schon;« er bückte sich. »Siehst du, da ist er schon, da hast du ihn.« Der Kleine griff begierig nach dem Ball; der Alte keuchte ein wenig von dem starken Bücken. »Was tust du da, Mann?« fragte Willy und legte die Hände samt dem Ball auf den Rücken. »Ich? O, nichts, ich geh’ ins Geschäft,« sagte der Alte. »Mein Vater geht auch ins Geschäft,« sagte Willy sachverständig. Er war ein strammer, kleiner Kerl geworden. Niemand war weit und breit um den Weg, da dachte der alte Grau nicht an seine Schüchternheit. Das Herz ging ihm über. »So, nun gibst du mir noch eine Hand,« sagte er, eh’ er ging. »Ich hab dir auch deinen Ball geholt.« Durch eine schmale Ritze in der Hecke kam ein vertrauensvolles Kinderhändchen und legte sich weich und warm in die harte Hand des Alten. Und dann schieden die Freunde, jeder in seiner Art beglückt. Nun waren sie miteinander bekannt geworden, man konnte gar nicht wissen, was alles noch im ferneren Verlauf ihrer Freundschaft liegen würde; das würde wohl alles von selbst kommen. 3. Der alte Grau konnte wohl solch ein freundliches Lichtlein auf seinem Weg brauchen. Er war sonst nicht eben freundlich, sein Weg, noch weniger als früher. Über den Gewerben hing eine Stockung, da und dort wurden Leute entlassen, Streiks schwebten in der Luft; wohin man kam, war die Stimmung sorgenvoll, mürrisch und düster. Durch die Fabriksäle wisperte es, auch in der Bruckmannschen Gießerei: »Im Herbst sollen mindestens fünfzig Mann entlassen werden; es sind keine Aufträge da.« Die jungen, kräftigen Leute ging das nicht so in erster Linie an; aber die alten, verbrauchteren Kräfte, die man in besseren Zeiten leicht ersetzen konnte. Unter ihnen würde man zuerst aufräumen. Der Chef ging mit wuchtigen, sicheren Schritten einher, wenn man ihn einmal zu Gesicht bekam. Wie einer, der sein Schiff schon zu steuern weiß, sah er aus. »Natürlich,« sagten die Arbeiter, »sein Geld und seiner Frau ihres, das läßt ihn schon sicher auftreten. Aber unsereiner.« Es ging manches sorgenvolle Gesicht aus dem Fabrikhof. Der alte Grau war auch in trüben Gedanken. Er konnte sich nicht recht vorstellen, was aus ihm würde, wenn er entlassen werden sollte. Wie auf die Straße gesetzt würde er dann sein. Nicht nur des täglichen Brotes wegen erschien ihm das so. Wo sollte er denn sein, als in der Fabrik? Da war er sein Lebenlang gewesen. Er hatte schon einen Notpfennig. Aber wo war er denn daheim? Sollte er in seiner Kammer sitzen? Oder im Wirtshaus? Oder den Kindern zur Last fallen? Das lag alles auf ihm. Er war auch so müde, die Füße zitterten ihm so sehr. Aber er dachte nicht, daß es ihm gut und nötig wäre, auszuruhen, er fürchtete sich nur vor allem Neuen. Den alten Trott zu gehen, bis – ja bis es ganz zu Ende wäre, das begehrte er, sonst nichts. Oder doch, ja, sonst noch etwas. Jeden Tag das frische Kindergesicht zu sehen, das sich so unbegreiflich tief in sein altes Herz eingeschlichen hatte. Es war, als sei der Junge die Gabe seiner Tochter an ihn. Als dürfe er _ihr_ nicht nahe stehen, ihr nicht, aber dem Kind. Er konnte sich das nicht so klar machen, er hatte mehr Instinkte, als Gedanken. So kam der Herbst heran. Die Akazien im Fabrikhof wurden kahl, der Wind fegte die gelben Blättchen auf Haufen zusammen. Manch ein Familienvater sah mit verlangenden Augen nach den Kohlenvorräten, die der Schuppen neben dem Kesselhaus barg; wie nach einem Schatz, durch den man Wärme und Behagen ins Haus bannen konnte den ganzen, kalten Winter lang, sah er danach hin. Und dann kam es. Zwanzig zuerst wurden entlassen. Darunter war Grau noch nicht. Dann wieder zwanzig. Da traf es ihn auch. Ganz betäubt steckte er seine letzte Löhnung in die Tasche und wickelte seine öligen, zerrissenen Arbeitskleider in ein grobes Stück Papier. Nun mußte er gehen. Nun war er vierzig Jahre hier im Haus gewesen. »Na, Grau,« sagte der Werkführer. »Für Sie ist’s nicht so schlimm. Altersrente bekommen Sie ja anstandslos, und etwas hinter sich haben Sie ja sicherlich.« Er klopfte dem Alten auf die Schulter. Er konnte ja nichts dafür. »Es sind halt schwere Zeiten; andere sind, die trifft’s härter.« – »Ja, ja,« der Alte nickte. »Ja, ja. Das ist denn nicht anders.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen und sah in den Hof hinaus. Dort, durch das Eingangstor, kam eben Frau Bruckmann herein. Was wußte sie von der Not des Alten? Sie sah frisch aus, taghell und fröhlich. Und vornehm sah sie aus in dem dunkelroten Tuchkostüm. Den Alten durchzuckte es: »Nun geh hin zu ihr. Nun sag ihr alles, ihr allein. Sie läßt dich dann nicht fortschicken.« Und wieder vermischte sich ihr Bild mit dem seiner Anne. Er wußte ja nicht mehr recht, was er tat, und was er wollte. Er tat ein paar Schritte nach ihr hin, die eben dem Comptoir ihres Gatten zuging. Da blieb sie stehen. Der Alte kam ihr bekannt vor, vielleicht kam ihr jener Frühlingsmorgen in den Sinn, wo sie ihm das Kind gezeigt hatte. »Wünschen Sie etwas?« sagte sie freundlich. »Ja, das heißt, ich, ich bin heut entlassen. Ich wollte gern – ich muß –« er stockte und verwirrte sich gänzlich. Die hellen Tropfen standen ihm auf der Stirn. Da tat er die Hand vors Gesicht in Scham und Not. »Grau, sind Sie denn rein unklug?« sagte der Werkführer, der eben vorbeiging und glaubte, der Alte wolle die Prinzipalin anbetteln oder sich bei ihr über seine Entlassung beschweren. »Nein, lassen Sie ihn,« sagte Frau Bruckmann. »Er hat irgend einen Wunsch, ich kann ihm vielleicht helfen.« Aber Grau ging stumm in die Halle zurück, und nach einer Weile kam er mit seinem Bündel heraus. Da war die junge Frau nicht mehr da. Sie hatte sich inzwischen belehren lassen, daß hier kein Notfall vorliege und daß der alte Mann jetzt schon zuweilen ein wenig kindisch sei. Der ging seinen Weg mit zitternden Knieen. »Ach, lieber Gott,« sagte er, als er durch den Heckenweg schritt, »leicht ist’s nicht, ich weiß nicht, wie das werden soll. Aber ich hab’s nicht sagen können, ich kann’s ihr auch nicht antun. Und ’s ist doch mein Fleisch und Blut.« An dem Heckenzaun des Bruckmannschen Anwesens hantierte ein Gärtner mit der Schere. Ein schmales Pförtchen nach dem Weg hin stand offen. Der Gärtner kannte den Alten, er wohnte in seiner Nähe. »Tag,« sagte er, »’s ist windig heut, nicht?« Grau nickte nur, es war ihm einerlei, ob es windig sei. Dort in der Schaukel saß sein Augentrost und ließ die Beine in die Luft fliegen. Aber nun sah er ihn. »Wart’, ich komme,« rief er mit seinem hellen Stimmchen, und dann hielt er die Schaukel so schnell als möglich an und rannte den Kiesweg herab. Die beiden waren sehr gute Freunde geworden den Sommer über. Sie hatten sich über die Hecke hinüber verschiedentlich unterhalten, und noch vorgestern hatte ihm Willy einen großen, dunkelroten Apfel geschenkt. Der stand nun zu Haus auf der Kommode und war des Alten Stolz. Heut sah ihm Willy erwartungsvoll auf die Hände. »Was hast du in dem Paket?« fragte er zögernd. Denn sein alter Freund hatte ihm etwas versprochen. »Ich bring dir aber auch etwas mit,« hatte er gesagt, als er den Apfel annahm. »Wart mal, was kann ich denn?« Und dann war ihm aus vergangenen Tagen ein ganz herrliches Spielzeug eingefallen. »Ich bring’ dir eine Windfuchtel mit,« hatte er gesagt. Nun stand dem Willy die Windfuchtel als das größte Kleinod vor der Seele. Ob sie wohl in dem Paket verborgen war? »Ach nein.« Der Alte war beschämt. Er hatte nicht mehr an das versprochene Spielzeug gedacht vor lauter Herzensschwere. »Ich mach’ dir’s, mein Bub. Zu Haus in meiner Kammer, da mach’ ich dir’s,« sagte er. Willy war ein wenig enttäuscht; warten war nicht seine starke Seite. »Wo ist das, wo ist deine Kammer?« fragte er. »Machst du’s heut noch? Bringst du mir’s?« Das war ein bißchen viel auf einmal gefragt, der Alte konnte nicht so schnell nachkommen. »Dort, den Weg hinunter,« sagte er, und zeigte mit der Hand hin. »Wo die Häuser anfangen, dann in ein Gäßle hinein, und dann linker Hand das Haus mit dem Dachreiter, das ist’s.« Ein Haus mit einem Dachreiter. Das gab neuen Stoff zu Fragen und zu schwerfälligen Antworten. Der Gärtner schüttelte den Kopf. »Jetzt nimmt mich’s doch auch Wunder, was die zwei aneinander haben.« Dann ging der alte Grau davon, und Willy hüpfte wieder nach seiner Schaukel zurück. Es kamen ein paar Regentage, an denen der Sturm im Garten hauste und dürre Zweige von den Bäumen riß. Klein-Willy war bei Mutter und Schwester in der Stube und sah nicht den alten Mann, der geduldig und sehnsüchtig harrte, ob kein kleiner Bub’ an das Heckenpförtchen komme, und endlich naß und durchblasen wieder fortging. Er kam einige Tage hintereinander, dann nicht mehr. Es hätte seinem hungrigen Herzen wohlgetan, wenn er gehört hätte, wie oft im Zimmer droben ein ungeduldiger, kleiner Bub’ von seinem Spielzeug weglief: »Mutter, nun laß mich nur ein einziges bißchen hinaus. Nun hat er die Windfuchtel und ich muß sie holen.« Aber er konnte es nicht hören. Er trug das Spielzeug, das er mit vieler Mühe selbst verfertigt hatte, sorglich unter dem Rock nach Haus, damit es ja nicht Schaden leide, und blies zu Haus mit aller Kraft seiner alten Lungen auf die Rädchen von Glanzpapier, daß sie lustig schnurrten, und gedachte morgen wieder hinzugehen und zu warten. Was sollte er auch sonst tun? Aber es kam wieder ein Morgen, da lag er im Bett und in seiner alten Lunge pfiff und schnurrte es auch so, als ob sie zum Abmarsch zu blasen gedenke. Und das schien ja auch so zu sein. Der Doktor kam, die Hausfrau holte ihn, und schrieb ein Rezept und schüttelte den Kopf, als er mit der Hausfrau draußen war. »Da ist nichts zu wollen. Gänzlich verbrauchte Kräfte, es gibt eine Lungenlähmung. Hat er wohl Verwandte?« Ja, das hatte er. Eine der Töchter kam, sie versäumte zwei Taglöhne um den Vater und pflegte ihn, so gut sie es verstand. Er war auch so mild und weich. »Aber recht bei sich ist er nicht,« sagte die Tochter, als am Abend die anderen kamen. »Immer redet er vor sich hin. Von einem kleinen Buben, ich weiß nicht, von welchem. Man muß ihm dieser Tage einmal die Kinder bringen, das wird’s sein.« Es war ihnen allen auch ernst zumute, sie konnten es nur nicht so zeigen. »Laß ihm nichts abgehen,« sagten sie. »Champagner, wenn’s sein muß. Wiewohl, helfen wird’s nichts.« Dann gingen sie wieder. * * * * * »Was ist das denn für ein Spielzeug, nach dem der Junge immer verlangt? Und für ein ›braver Mann‹? Kauf ihm doch etwas Anderes, Margarete, daß er zufrieden ist,« sagte Herr Bruckmann, ehe er ins Geschäft ging. Der Regen hatte aufgehört und die Luft war windstill. »Hörst du, Willy, ich bringe dir etwas mit. Möchtest du eine Lokomotive haben? Oder magnetische Entchen, die du auf einer Waschschüssel schwimmen lassen kannst?« fragte der Vater beim Gehen. Aber Willy fragte nichts nach dem allen. Eine Windfuchtel hatte ihm sein alter Freund versprochen, und eine Windfuchtel war das Allerbegehrenswerteste, das es nur geben konnte. Aber der alte Grau kam nicht an die Hecke, so oft auch sein Liebling an diesem Tag nach ihm aussah. »Mutter, ich weiß, wo der brave Mann wohnt,« sagte Willy am Nachmittag. »Es ist ein Reiter auf seinem Haus, er hat mir’s gesagt.« – »Wenn er den alten Grau meint,« sagte der Gärtner, der gerade in der Nähe war, »der kommt nicht mehr. Der ist schwer krank. Er ist dieser Tage ein paarmal dagewesen. Weiß kein Mensch, warum er so an dem Willy hängt. Aber jetzt ist er krank und kommt nicht mehr davon. Das hat ihm vollends den Treff gegeben, daß er entlassen worden ist. So wie der an unserem Haus hängt, ’s ist nicht zu glauben.« Da stand vor der jungen Frau wieder das verstörte, bittende Greisengesicht von neulich und rührte ihr weiches Herz noch einmal. »Mutter, laß mich hinlaufen, bitte. Mutter, ich finde gut den Weg, ich komme gleich wieder,« bettelte Willy, immer wieder. Da faßte sie einen raschen Entschluß. Er war nicht so ungeheuerlich, wie er ihr selbst vorkam, sie war so etwas nur gar nicht gewöhnt. Aber nun tat sie es doch. »Wir gehen zusammen hin, Willy, und besuchen deinen braven Mann,« sagte sie. Und dann schritten sie selbander den Heckenweg hinunter, den der alte Grau so oft mit verlangendem Herzen gegangen war und suchten in der Vorstadtstraße das Haus mit dem Dachreiter und traten in die Kammer des Alten ein. Der saß, von Kissen gestützt, im Bett, und atmete schwer. Ein Lächeln ging über sein Gesicht, als er die beiden sah. Nun kamen sie zu ihm, nun sollte er doch noch teil an ihnen haben. Es war ihm, als habe er lange auf diese Stunde gewartet. Es war auch hohe Zeit, daß sie kamen, denn nun ging er davon und war fürder nicht mehr alt und einsam. Das Fenster war ein wenig geöffnet, und in dem leichten Luftzug, der dadurch entstand, drehten sich die roten und blauen Rädchen des Kinderspielzeugs, des letzten Werks, das seine alten Hände vollbracht hatten. »Mutter, das ist sie. Das ist die Windfuchtel,« rief Willy und streckte verlangend die Hände danach aus. Es war eine junge Frau in der Stube, die kam etwas verlegen und mit Staunen den Besuchern entgegen. »Das ist eine Ehr’, daß sie selber kommen,« sagte sie. Da standen die beiden Schwestern, die nichts voneinander wußten, einen Augenblick nebeneinander. Sie waren einander nicht ähnlich, ihr Lebensweg war zu verschieden gewesen. Aber dem Alten war es doch, als könne er nun der Anne sagen, daß sie alle einmal zusammenkommen. Es vermischte sich alles wunderlich in seinem schwachen Kopf, und nun streckte er die Hand aus und strich der feinen, jungen Frau übers Gesicht. »Du Kind,« sagte er, »jetzt bist du doch noch gekommen. Wir gehören doch zusammen. Ich sag’s auch der Mutter. Ich bin immer still gewesen, aber jetzt muß ich’s sagen.« Es lag ein froher Ausdruck auf seinem Gesicht. »Das Kind,« sagte er noch einmal, »das Kleinste.« Frau Bruckmann war einen Augenblick erschreckt zusammengezuckt unter der liebkosenden Berührung des Alten. Sie kam ihr so unerwartet. Aber dann faßte sie sich; sie war tapfer und liebevollen Herzens und sah freundlich in das alte Gesicht. »Ach, entschuldigen Sie nur,« sagte die junge Arbeiterfrau in großer Verlegenheit, »der Vater redet irre, er weiß nicht mehr recht, was er tut und sagt. Nehmen Sie’s nur nicht übel.« Nein, das tat sie nicht. Es war ihr so wunderbar zumute, so ernst und feierlich, und so warm dabei. »Komm her, Willy,« sagte sie, »gib deinem braven Mann die Hand. Er geht weit fort, er kommt nun nicht mehr zu dir.« Der Kleine hatte nur eine Hand frei, in der anderen trug er das Spielzeug; wie eine Fahne trug er es. Aber die eine Hand, die streckte er seinem alten Freund willig hin; das hatte er vordem oft getan. »Warum gehst du fort?« fragte er. »Wo gehst du hin?« Aber der alte Mann redete nicht mehr mit ihm. Er lag müde in den Kissen und lächelte und atmete mit einem Male so leis’ und still. »Komm, Willy, er will schlafen,« sagte die Mutter, »nun laß uns wieder nach Hause gehen.« Und dann gingen sie nach Hause, und der alte Grau ging auch nach Hause. Mehr ist nicht von ihm zu sagen. Vielleicht hat jetzt seine schweigsame Seele reden gelernt. Vielleicht hat er der Anne alles erzählt, und sie warten nun gemeinsam, bis die andern nachkommen, alle, auch das Kind. Sein Geburtstag [Illustration] Die Lichtleskirch nannten sie es im Städtlein, das, was jetzt eben unter Orgelton zu Ende ging, und was eine Stunde lang alles, was Kinder hieß in Hohenstadt, glücklich und strahlend um zwei hohe Bäume und um viel brennende Lichtlein versammelt hatte. So lange sie drin waren in der hohen, alten Kirche, hatten die Englein geschafft, daß es Christtag werden konnte. Den Schnee hatten sie schon zuvor hergerichtet droben am Himmel, da war eine schwere, grauweiße Wolke gehangen, und als sie drinnen anfingen zu singen: »Fröhlich soll mein Herze springen,« ließen sie draußen anfangen zu schneien. Es wurde ganz, wie es sein mußte; ein weicher weißer Teppich auf dem alten, holperigen Pflaster, eine dicke, flockige Haube auf jedem der hohen, spitzigen Giebeldächer, und geschwind in der Schnelligkeit noch eine Verzierung auf allen vorspringenden Fenstersimsen, Läden, Altanen und Staffeln. Der verwitterte Brunnenmann, der Neptun mit seinem abgebrochenen Dreizack in der Hand, lachte unter einer Pudelmütze hervor, und als das die Englein sahen, da fingen sie auch an zu lachen, denn sie waren ohnedies schon nahe daran gewesen. Als die Kirchtüren aufgingen und es herausquoll von jungem Leben, von lauter Menschenkindern und von ihren Müttern, die zu dieser Stunde gerade so jung waren wie die Kinder auch, da huschten die Englein schnell in das dunkle Eck, unten im Glockenturm, wo die Seile zum Läuten hingen, und horchten nur von dort hinten vor auf die leuchtenden, freudigen Stimmlein der Kinder. »Mutter, guck, der viele Schnee!« »Halt, Mutter, mir ist mein Lebkuchen hinuntergefallen, jetzt ist er ganz verzuckert.« »Mutter, das Luisle hat sein Verslein nicht mehr recht gewußt.« Mutter hier und Mutter da. So muß es auch sein am heiligen Abend; da müssen lauter Mütter und Kinder beisammen sein. Und solche, die Kinder geblieben oder wieder geworden sind, und solche, die es heut abend gern sein möchten, und solche, die die Menschen liebend anschauen, wie Mütter ihre Kinder. Der junge Pfarrverweser kam aus der Sakristei heraus und ging durch die niedrige Tür ins Freie. Er hatte sonst auch ein Kindergesicht, wenigstens sagten das die Frauen im Städtlein, die ihm aus Fenstern und Türen mütterlich nachsahen. Aber jetzt gerade hatte er keins. Er trug den Hut in der Hand und ließ sich die Schneeflocken, die jetzt seltener fielen, auf das dunkle Haar sitzen. Die Stirn hatte er ein wenig zusammengezogen, es gab drei steile, gerade Falten, die zeugten davon, daß es noch nicht recht Christtag bei ihm geworden war, obgleich er aus der Lichtleskirch kam. Das brauchte aber niemand zu sehen, darum ging er nicht über den Marktplatz und nicht durch die Gassen, sondern stieg den steilen Hang hinauf, der gleich hinter der Kirche beginnt und in den Wald führt. Dort oben am Waldrand stand eine mächtige Eiche mit weitausgereckten Armen. Eine Steinbank stand darunter und beide, die Eiche und die Bank, trugen viele eingeschnittene Namen derer, die hier oben schon Schatten, Stille und einen weiten Ausblick ins Land hinein gefunden hatten. Dorthin ging der Pfarrverweser jetzt auch. Er war schon oft auf der Bank gesessen. Im Herbst war er nach Hohenstadt gekommen, da hatte er den Wald sich färben sehen und hatte gesehen, wie die Leute ihre Gärten und Krautäcker da unten am Hang einherbsteten. Dann war er im Blätterwirbel, im Novembersturm gegangen und rings um ihn her war das rote, braune und gelbe Laub auf die Erde gesunken; er hatte sich ein kindliches Vergnügen daraus gemacht, über den farbenprächtigen, raschelnden Teppich hinzuschreiten. Nun war der Weg und die Bank verschneit und alles Lebendige war zugedeckt, wenn auch nur mit einem leichten, weißen Tuch. Als er oben war, hatte das Schneien aufgehört. Über der jenseitigen Höhe stand schon, von einem breiten Riß in der Wolkenscheibe freigegeben, ein blasser Stern, und nun kam auch die Mondsichel heraus. Unten im Städtlein erglänzte da und dort eine Fensterscheibe, eine Straßenlaterne. Es wollte Abend werden, heiliger Abend. Aber hier oben war es nicht heiliger Abend, noch nicht. In ihm selber nicht. Er hatte noch keine Predigt für morgen; oder ja, er hatte eine, ein trockenes, seelenloses Gemächte, er konnte sie nicht halten. Als es ihm in all den letzten Tagen nicht glücken wollte, da hatte er zuerst die für den zweiten Feiertag gemacht, dann die nächste. Die lagen geschrieben in seinem Pult. Aber eine Christfestpredigt, die fehlte ihm noch. Es war so schwer, sie zu machen, und so schwer, sie zu halten. Ja, mit den Kindern vorhin, da hatte er leicht und fröhlich reden können. Sie waren mit freudeglänzenden Augen rings um den Altar her gesessen und hatten ihre Lieder gesungen, daß es schallte, und als er nachher mit ihnen die Weihnachtsgeschichte durchsprach, da war immer ein helles Stimmlein eifriger als das andere. »Hat’s denn die Hirten auf dem Feld draußen nicht gefroren?« »Nein.« »Warum denn nicht?« »Weil sie so eine große Freude gehabt haben.« »Warum haben sie denn so eine große Freude gehabt?« »Weil der Christtag gewesen ist.« »Ja, woher haben sie denn das gewußt?« »Der große Engel hat’s zu ihnen gesagt.« »Was hat er denn gesagt?« »Er hat gesagt, das Christkindle liegt schon im Stall drin.« »So? und wer ist denn das Christkindle?« »Der liebe Heiland.« »Kann mir denn eins sagen, wie der Engel gesagt hat?« Das konnte nicht eins, das konnten dreißig und mehr. Ach, wie herzerfreulich war doch das. Die Mütter, das sah man ihnen an, sagten es im stillen mit, und er selber sagte es im stillen mit; es war lauter Freude. »Waren denn noch mehr Engel da?« »Ja, eine ganze Schar.« »Hat man sie denn gesehen?« »Gesehen und gehört.« »So, wie denn?« »Sie haben so arg schön gesungen.« »Könnet ihr denn auch so schön singen?« Freilich konnten sie das. »Ja, dann singet’s einmal.« Da wurden die alten Kirchenmauern auch vergoldet wie damals die nächtlichen Felder durch die klingenden Stimmlein, die lobeten Gott und sprachen: »Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!« Und sie geleiteten die Hirten hinein in das schlafende Städtlein, und er wehrte den Kindern nicht, daß sie ihnen ein Lämmlein, ein weißes, wolliges, mitgaben für das Kindlein, und sie standen vor dem Stall, über dem der goldene Stern mit dem langen Strahlenschweif glänzte, und gingen hinein, da lag das Kindlein, und seine Mutter war da und der alte Vater Joseph und das Öchslein und das Eselein. Das alles hatten die Kinder schon hundertmal gesehen; es war auf den Bildchen so, die sie heut geschenkt bekamen, und stand in Holz und in Wachs nachgebildet daheim unter dem Christbaum. »Woran haben sie denn das Kindlein gekannt und seine Mutter?« »Sie haben einen goldigen Schein um den Kopf herum gehabt.« »So, so, und dann auch an dem Kripplein, gelt und an den Windeln?« Er hatte ihnen nichts gewehrt von all dem Glast und Schein; er hatte selber das Denken vergessen vor lauter herziger, weihenächtlicher Freude an der Freude der Kinder. Aber es war gewesen wie in einem schönen, schönen Märlein, und nun strich der kalte Hauch aus der Welt der Erwachsenen über ihn hin. Was sollte er den Großen sagen? denen konnte er das nicht erzählen. Er hatte nichts für sie, und wenn er sich recht besann, dann hatte er auch nichts für sich. Wenn das Denken nicht wäre! Aber das ist eben, und eigentlich möchte man es ja auch nicht anders haben. Nur daß der goldige Glanz davor erbleicht, der einen als Kind so gefreut hat, der ganze Zauber, der um den Christtag herum ist. Aber so geht’s: zuerst erfährt man’s, daß alles das Schöne, vom Christbaum an, nicht direkt vom Christkindlein kommt, sondern von den Eltern; dann, nach und nach, geht’s ans Christkindlein selber, dann löscht ein Lichtlein ums andere aus. Was soll man dann so Besonderes predigen? Da fiel ihm ein Brief ein, den ihm voriges Jahr um diese Zeit seine Schwester geschrieben hatte. Sie war eine fröhliche Kindermutter, und sie hatte ihn immer besonders gut verstanden. »Er ist der Schönste und Liebste,« schrieb sie, »und es gehört sich, daß man sich an seinem Geburtstag freut. Darum machen die Mütter den Kindern ein Fest, und Alle, die einander lieb haben, machen einander ein Fest, weil er geboren worden ist und weil es gut für uns ist, daß er gekommen ist.« »Ja, ja, Maria,« dachte er für sich hin, als es ihm einfiel, »du hast gut freuen, wenn dich deine sechs Kinderaugen ansehen, – nein, acht sind es jetzt, seit dir das Kleinste in der Krippe, will sagen in der Wiege liegt. Ich möcht’ auch dabei sitzen und mich nicht besinnen müssen, was wahr ist und was dazu erfunden. Die Mutter wäre dann auch da. (Denn die Mutter wohnte bei der Schwester; sie war ein wenig kränklich, und dann brauchte man sie auch als Großmutter ganz notwendig.) Ich aber, ich soll etwas Freudiges geben und habe doch nichts. Ich bin nicht froh, Maria.« Aber leis wiederholte sich doch das Wort in ihm: Es ist gut für uns, daß er gekommen ist. – »Ja, ja, aber man sollte still sein dürfen, bis einem die Freude darüber das Herz füllt und überläuft, daß man es dann sagen _müßte_. Dann könnte man den goldigen Schein und das Engelsingen gut vermissen, es täte dann nichts. Man sollte froh sein, wenn man eine Christtagspredigt macht, tief innen drin froh.« Drunten im Städtlein glänzten nun immer mehr helle Fensterscheiben auf. Die Kirche, die lag jetzt schwarz und schwer im Dunkeln, daneben war das Pfarrhaus, man sah es nur von hinten hier oben. Es hätte ja auch keine hellen Fenster gehabt, wenn man es gesehen hätte. Es war niemand drin. Frau Beseler, das Pfarrhausfaktotum, die ihm die nötigen Dienste tat, die war nun bei ihren Enkelein am anderen Ende des Städtleins. Er wußte schon, wie es war, wenn er hinunter kam. Die Studierstube war warm, die Lampe stand zum Anzünden bereit, auf dem Tisch stand der Spirituskocher zum Teemachen und irgend etwas Kaltes zum Essen lag dabei: das war immer so und es genügte ihm auch sonst; aber es war nicht christtäglich. »Daran will ich jetzt nicht denken; wenn mir nur etwas Frohes einfiele, etwas Wahres für die Großen. Etwas, das nicht nur so geredet ist, etwas, das ich ihnen schenken kann, weil ich’s auch geschenkt gekriegt habe.« Droben am Himmel brannten jetzt die Sterne, da ein Häuflein und dort eins, zwischen Wolken heraus. Der ganze Wald stand schweigend da, als ob er auch den Atem anhielte und wartete, ob der junge Pfarrverweser etwas geschenkt kriege. Der sinnierte weiter. »Einen Brief werde ich antreffen, wenn ich hinunterkomme, von der Mutter einen, und vielleicht auch von Maria. Und, wer weiß, ein Paket. Es sind selber gestrickte Strümpfe drin, und Springerlein und Lebkuchen, und vielleicht eine Pelzkappe; die habe ich mir gewünscht. Und sie schreiben mir, daß sie mich vermissen am Christtag, und daß man nun eben von Weitem in Liebe aneinander denken müsse, und so weiter. Nun will ich hinunter gehen und den Brief lesen, den Lukas einst geschrieben hat und der aus so ferner Zeit zu uns herüberredet, und – und will vor mich hinsagen: Es ist gut für uns, daß er gekommen ist; man muß sich freuen, weil sein Geburtstag ist.« Aber er stieg nicht schnell und nicht mit der leichten Schwingung, die die Freude gibt, hinunter. Nun war er an der Kirche. »O du Haus, du Sorgenhaus!« Er sagte es aber nicht ohne Liebe; er hatte einen Zug zu dem Haus, nur freilich, Sorgen machte es ihm ja dennoch. Nun um die Ecke und – Das war aber doch sonderbar, da waren die drei Fenster seiner Studierstube hell, viel heller, als sie sonst schienen, wenn die Stehlampe brannte. Sollte Frau Beseler da sein? sie hatte sich aber doch ausdrücklich verabschiedet für den Abend. Da stieg er die dunkle Treppe hinauf und durchschritt den mächtigen Oehren, in dem ein kleines Lämpchen brannte, und machte die Stubentür auf, – da saß in dem großen Lehnstuhl, den er von seinem Großvater ererbt hatte, ein kleines, altes Fraulein, das er so gut kannte, so gut. »Mutter, du.« Da lag auch schon der Hut auf dem Tisch, und der starke junge Mann hatte die alte Frau auf dem Arm und drückte sie an sich, wie eine Liebste, und trug sie in der großen Stube umher, bis sie, da alles Zappeln und Schelten nichts half, ihn tüchtig ins Ohrläppchen kniff, daß er sie niederlassen mußte. Unterwegs hatte sie die großen weichen Schuhe verloren, die ihr viel zu weit und zu lang waren. »Hast du meine Hausschuhe gefunden, Mutter?« »Ja, unter dem Bett den einen und unter dem Waschtisch den anderen. Du hast sie hinten hinuntergetreten, sie sehen bös aus. Ich habe in der Lichtleskirch kalte Füße bekommen.« »In der Lichtleskirch, Du?« »Ja, ich, – ich bin gleich vom Zug aus hineingegangen, ihr habt grad gesungen: O du fröhliche.« »Daß Du gekommen bist, daß Du gekommen bist!« Er saß jetzt auf dem Boden vor ihrem Stuhl und hatte sein allerhellstes Knabengesicht. »Ja, gelt, da staunst du. Aber ich habe müssen, es hat mir keine Ruh’ gelassen. Immer hab’ ich gedacht: wir sind da so schön beisammen und freuen uns, und der Paul ist ganz allein.« »O Du, Du Mutter.« »Und die Maria hat auch noch geschoben. So leid mir’s tut, hat sie gesagt, wenn du nicht da bist am Christtag, so mußt du doch gehen. Ich spür’s, er ist nicht vergnügt, hat sie gesagt. Bist du’s?« Sie schob ihn ein wenig von sich und sah ihm in die Augen. »Wenn du da bist, Mutter.« »Nein, sag.« »Jetzt sag’ ich gar nichts sonst, als daß ich den Christtag spüre, seit ich dich da sitzen sah in dem Stuhl. Es ist mir wie ein Wunder.« Da gingen seine Augen in der großen Stube umher. Sie war freilich heller als sonst, das hatte er von unten herauf richtig gesehen. Zwei große, dicke Wachslichter brannten auf dem Schreibtisch und zwei auf dem Eßtisch und in der Ecke an der Wand steckte ein Weißtannenzweig mit vier weißen Lichtlein. Sie brannten still und hell und das Wachs und die Tannennadeln rochen nach Weihnachten. »Nachher mußt du ein wenig hinausgehen, wie ein kleines Kind, ich muß dir deine Bescherung richten,« sagte die Mutter, »ich habe einen schweren Reisesack mitgebracht. Sieh, da steht er.« Es war alles so unsäglich heimelich. Der Reisesack war von dunkelgrünem Plüsch und hatte schon so viel erlebt, daß man ganze Bücher über ihn hätte schreiben können. Der Sohn nahm ihn in den Arm. »O, ich spürs, da unten im Eck ist ein Schnitzlaib, und da rollt etwas umher, das sind Nüsse und Äpfel. Laß mich einmal hineinriechen, Mutter.« »Du Kindskopf, du hast immer noch nicht warten gelernt, du willst immer gleich alles sehen und haben.« »Ja, das muß ich. Du, Mutter!« »Was?« »Du mußt mir nachher helfen meine Predigt machen.« »Welche Predigt?« »Auf morgen früh.« »Ja, Kind, das ist doch dein Ernst nicht, daß du die noch nicht hast?« fragte die alte Frau erschrocken. »Doch, Mutter.« »Aber Bub, du unbegreiflicher Bub, und da läufst du noch im Wald herum bei Nacht und Nebel und mußt dafür in die heilige Nacht hinein studieren.« »Ich hab’ sie da oben holen wollen und hab’ sie nicht gefunden, ich glaube aber, du hast mir eine mitgebracht.« Die Mutter schüttelte den Kopf. »Das versteh’ ich nicht, Paul. Ich glaub’, die Maria hat rechtgehabt, daß etwas bei dir nicht im Blei ist. Ich kann dir nichts helfen beim Studieren, ich bin eine alte, einfache Frau. Ich hab’ gemeint, da setze man sich hin und schaffe drauf los, bis man’s beisammen habe.« »Sei nur zufrieden, Mutter, das tu’ ich sonst auch. Du sollst nur dahinein sitzen in den Lehnstuhl, daß ich dich sehen kann, wenn ich mich umdrehe.« »Ja, dann müssen wir zuerst zu Nacht essen. Deine Frau Beseler hat mir die Schlüssel gegeben, da hab’ ich derweil, bis du gekommen bist, alles gerichtet. Hörst du nichts im Ofen protzeln?« »Doch, jetzt, seit du’s sagst.« »Riech’ einmal, was es ist.« »Es riecht alles zusammen nach Christtag, sonst fällt mir nichts ein.« Da war es ein junges Häslein; es war schon gebraten mitgekommen; es mußte nur wieder warm werden. »Eine Flasche Wein hab’ ich auch mitgebracht, aber wenn du noch studieren mußt, wird’s nichts damit sein?« »Doch, Mutter, ein einziges Glas, wir müssen doch anstoßen. Du, Mutter!« »Was?« »Sag’ mir’s, warum bist du zu mir gekommen?« »Du fragst aber auch Sachen.« Sie sah ihn an mit ihren guten Augen, die es ganz von selber sagten. »Das weißt du doch. Weil ich dich lieb habe, du dummes Kind.« Sie sagte heut immer Kind zu ihrem langen Sohn. Der schluckte zu seinem Essen hin jedes gute Wort in sich hinein und trank mit jedem Tropfen des roten Weines einen Blick aus den mütterlichen Augen, die aus tausend Fältchen heraus so voll warmen Lichtes blickten, als seien sie Fenster an einem guten Haus, und in dem Haus sei Weihnachten. Dann setzte sich der junge Pfarrer an seinen Schreibtisch. Die Lampe durfte jetzt nicht brennen, er wollte im Schein der Wachskerzen studieren; sie waren dick, sie konnten noch stundenlang brennen. Hinter ihm saß im Lehnstuhl die alte Frau. Sie hatte wieder die großen Schuhe an und hatte ein warmes Tuch um Hals und Schultern. Den Kopf lehnte sie an das weiche Polster und die Füße stellte sie auf den Reisesack. »So ists gut, jetzt schaff nur und denk nicht an mich; ich hab meine Unterhaltung in mir drin.« »Was ists für eine?« fragte der Sohn. »Ach, Kind, wenn man’s schon so oft hat Weihnachten werden sehen; da muß man lang, lang zurückdenken; Eins ums Andere fällt einem ein. Es ist nicht immer alles schön gewesen, aber so beim Drandenken, da wirds immer schöner.« Dann machte sie die Augen zu, um in sich drin die alten Zeiten zu Gaste zu laden, und nach einer Weile hörte der Sohn sie tiefer atmen. Und auf ihn senkte sich, da er nun die liebe Frau schlafend sah, eine köstliche Ruhe, wie er sie lange vergebens begehrt hatte, und lichte, stille Gedanken kehrten bei ihm ein, es war kein einziger gequälter mehr dabei. »Sie ist zu mir gekommen, weil sie mich lieb hat.« Dann ging er im Zimmer auf und ab. »Sie hat mich nicht so allein lassen wollen. Sie hat’s schön gehabt daheim bei den andern. Aber das hat alles nichts geholfen, wenn sie gewußt hat, daß ich nicht froh bin.« Er hätte ihr die Hände küssen mögen, die so müd in ihrem Schoß lagen; aber eine solche Zärtlichkeit war nicht bräuchlich zwischen ihnen, und er wollte sie auch nicht wecken. Und doch gab sie ihm seinen Predigttext: »Es ist gut für uns, daß er gekommen ist. Denn er hat uns Menschen lieb gehabt und wir können es brauchen, daß man uns lieb hat.« Da setzte er sich wieder nieder und schrieb und schrieb, und sah sich hie und da wieder um nach dem lieben Frauenbild. Hinter ihm regte sich etwas. »Mutter?« »Ja, Kind, bist du fertig? es muß ja spät sein, bist du arg müd?« »Nein, nein, ich bin ganz frisch und ganz froh.« »Das ist doch sonderbar, jetzt hat mir geträumt, du seiest ein ganz kleines Kindlein und ich habe dich auf dem Schoß und ziehe dich ganz fein und schön an. Und der Vater ist dazu gekommen und hat gesagt: Was machst du auch für einen Staat mit dem Buben, wenn er größer wär, du tätst ihn eitel machen. Und ich habe mich gewehrt und gesagt: Mann, was man so lieb hat, das schmückt man, so gut man kann; es kann einem gar nicht schön genug sein.« Die alte Frau mußte den Kopf schütteln über den Traum, den ihr liebreiches Mutterherz ihr eingegeben hatte, aber noch mehr über ihren großen Sohn, der nun neben ihr auf der Armlehne des Stuhls sich niederließ und ganz dringlich sagte: »Ja, ja, Mutter, gelt, und man schmückt es mit Sternen und Himmelsglanz und mit Engelgesang und schafft aus lauter Liebe wunderbare Mären, die alle von Herzen wahr sind, weil sie die Liebe geschaffen hat.« Das war so sonderbar, halb gemahnte es an die Weihnachtsgeschichte, aber das konnte ja doch nicht sein. Mären! Sie richtete sich vollends auf und sagte: »Du träumst auch, Kind, im Wachen träumst du. Es wird’s doch der Wein nicht machen?« »Nein, Mutter, die Christnacht machts.« Und er hatte sein echtes, rechtes Kindergesicht dabei. Wenn ihn so die Maria sähe! dachte die Mutter voll glücklichen Stolzes. Laut sagte sie: »Hast du deine Predigt fertig?« »Meine? Deine, Mutter.« »Ach, du redst Sachen; sag’s im Ernst.« »Du wirst’s morgen schon hören in der Kirche.« Da wurde sie ärgerlich. »Ich setze keinen Fuß hinein, wenn du ein einziges Wort von mir sagst.« »Sei nur zufrieden, Mutter, es merkt’s niemand, als Du und ich.« Und da küßte er nun auf einmal doch die alten, abgeschafften Hände. Sie entzog sie ihm, aber nur, um mit ihnen den dunklen Kopf auf ihre Knie herabzuziehen; da lag er, still und fest, wie er einst als kleines Kindlein darauf gelegen war. Und es war, wie es am heiligen Abend sein muß, wo Mütter und Kinder beisammen sein sollen. »Du Paul.« »Ja?« »Willst du jetzt noch deine Bescherung bekommen?« »Ich hab sie schon, Mutter!« »Aber, Kind, der Reisesack ist doch noch zu und noch voll, das ist dir sonst nicht so einerlei gewesen.« »Ja, Mutter, dann pack nur aus. Man kann gar nicht genug geschenkt kriegen, gib nur her, so viel du hast.« Und dann stand er draußen am Gangfenster und sah in die sternhelle Nacht hinaus. Drinnen hantierte die Mutter auf weichen Filzschuhen im Zimmer herum; er durfte nicht zusehen, das war noch nie der Brauch gewesen bei ihren Kindern. Es raschelte etwas, eine Nuß fiel auf den Boden, es klirrte etwas, wie Glas. Und dann ein Tönen, hoch her kam es; er glaubte einen Augenblick, eh das Denken kommen konnte, die Engel singen zu hören. Es waren aber nur die Schulkinder, die auf dem Turm sangen, da eben die Mitternachtsstunde schlug: Wir wollen ihm die Krippe schmücken, und bei ihm bleiben die ganze Nacht, die Händ ihm küssen und verdrücken, dieweil er uns so Guts gebracht. Aber wer weiß, vielleicht haben sie doch auch mitgesungen. Es gibt so wunderbare Nächte, da Nichts unmöglich ist. Im gleichen Verlag sind von =Anna Schieber= erschienen: =Alle guten Geister ...= Roman 41.–45. Aufl. Broschiert Mk. 4.--, geb. Mk. 5.--. =Velhagen & Klasings Monatshefte=: »Mit heller Freude und daneben mit einem verwunderten Kopfschütteln muß ich heute von einem Buche erzählen, das anders ist als andere Bücher, das wie eine schöne Predigt ist und doch mehr als eine Predigt, das Menschen vor uns hinstellt, die wir zu Vätern, Brüdern, Schwestern, Freunden haben möchten, das alles Gute in uns anspannt, das uns fröhlich und getrost macht, und das nach diesem Leben, in dem die Geigen oft so unrein klingen, uns ein anderes ahnen läßt, wo sie rein tönen. Wie ein Märchen aus einer schönen, verlorenen Heimat ist das Buch, aber vielleicht wie jedes gute Märchen voll der höchsten Wahrheit, und hinter ihm steht eine so tröstliche Zuversicht, eine so tapfere Gewißheit, eine so klare Menschlichkeit, daß unser Herz längst Ja und Amen zu dem Buche sagt, wenn der kritische Verstand mit leisem Vorbehalt noch bei dem »Ja – aber« ist! »... All denen, die sich an Raabe erquicken, die aus dem Jörn Uhl einst »Mut des reinen Lebens« tranken, sei dieses Buch empfohlen, das gewiß einen Abstand von den genannten Meisterwerken hält, aber verwandter Art und einen Teil ihrer Kraft in sich hat.« Dr. C. Busse. =... und hätte der Liebe nicht.= Weihnächtliche Geschichten. 21.–30. Tausend. In Lwd. geb. M. 1.--, in Leder geb. M. 2.50. =Dr. C. Busse in Velhagen und Klasings Monatshefte=, Febr. 1913: »Es sind kleine Erzählungen, rührend, herzstärkend, gütig; sie predigen von der Liebe, die das Höchste ist, in der wir brennen und verbrennen sollen, die sich selbst gibt. Reinstes Christentum, vor dem wir alle uns beugen, weil es ja nichts anderes ist als reinstes Menschentum, strahlt hier durch erzählerische Verkleidung, und wer auch _nach_ Weihnachten noch weihnachtlich gestimmt ist, soll das Büchlein mitnehmen.« =Neues Tagblatt, Stuttgart=: Gar viel Liebe ist in dieses Büchlein eingeschlossen, ein warmer Born von Menschenliebe. In dem einzelnen Menschen die ganze Menschheit zu umarmen, ist eine Seligkeit, die der Verfasserin beschert zu sein scheint. Die Liebe, die aus diesem Büchlein strahlt, wird dem Leser zum Mittler zwischen ihm und dem Himmel, und die rauhen Regenströme des Lebens gleiten ab an dem schützenden Dache dieser Menschenliebe, so daß es sich sicher in diesem Häuslein wohnt.« _Paul Wittko._ Verlag von =Eugen Salzer= in =Heilbronn=. =Anna Schieber, Amaryllis= und andere Geschichten. 1.–20. Tausend. In Lwd. geb. M. 1.--, in Leder geb. M. 2.50. Anna Schieber erzählt in diesem Büchlein wieder sonnige Geschichten von Menschen, die die andern etwas »von Heimat und von Hilfe spüren lassen«, die trotz allem Erdenleid die Fröhlichkeit wieder finden, deren Liebe zu den Menschen brennend rot wie die Blüte der Amaryllis leuchtet. Es ist ein Büchlein, das Freude machen und das Frieden bringen kann. =Anna Schieber, Sum, sum, sum!= Ein Liederbüchlein für die Mütter und ihre Kinder. Mit farbigen Bildern von =Else Rehm-Vietor=. 3. Tausend. Geb. M. 2.20. =Blätter f. d. Schulpraxis=: »Es sind Verse, die sich wohlklingend und leichtflüssig, kindertümlichen Inhalts und humorvoll, sowohl zum Vorlesen für Mütter als zur Eigenlektüre für Kinder bestens eignen. Die Bilder, gelungen in der Zeichnung, – stimmungsfein ist das Landschaftliche, – vornehm in der Farbe, bilden einen erfreulichen Schmuck dieser Lieder.« =Die Christl. Kleinkinderpflege=: »Anna Schieber kennt die Kinder und ihre Art. Darum sprechen ihre Lieder, deren Stoff sie aus dem Leben des Kindes nimmt, Kinder sehr an. Die kleinen und großen bunten Bilder sind aus den Liedern herausgeboren und wirken durch die eigenartige Farbenzusammenstellung eindringlich. Darum kann ich raten: Kauft’s.« =Freie Bayerische Schulzeitung=: »Bei unserer Ausschau nach neuen Bilderbüchern begegnen wir zunächst einem lieblichen Bändchen, das gar nicht groß tut. In feinbuntem modischem Format kann es sich als Bilderbuch wohl mit den besseren Sachen von Mauder und Caspari messen. Neben kräftig Landschaftlichem fällt die Milderung der Buntheit durch Verwendung origineller Halbtöne und die drollige Naivität angenehm auf. Und erst die Texte! =Hier erleben wir etwas ganz selten gewordenes: Die Verse heben die Bilder noch. Ja, es sind wirklich wieder einmal echte Dichtungen darunter, die das Thema von Kind-, Vögelein und Blümlein in einer neuen Tonart geben, und Mutter wie Kind zu wohlig warmer Herzenszwiesprache anzuregen vermögen.=« =Die deutsche Frau=: »Die deutsche Kinderstube spiegelt sich in den Liedern.« =Die Frau=: »Ein besonders sonniges Kinderbuch ist hier aus gemeinsamer Arbeit entstanden, =das weit über der Höhe des gewöhnlichen Bilderbuchs steht=, ohne sich doch vom kindlichen Verständnis zu entfernen.« Weitere Anmerkungen zur Transkription Offensichtliche Fehler und fehlerhafte Markierungen wörtlicher Rede wurden stillschweigend korrigiert. Lange Folgen von Gedankenstrichen am Absatzende wurden auf einheitliche Länge gekürzt. Ansonsten wurde die Originalschreibweise und Interpunktion beibehalten Das Inhaltsverzeichnis wurde an den Anfang des Buches verschoben. *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 69575 ***