The Project Gutenberg EBook of Helianth. Band 2, by Albrecht Schaeffer This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org/license Title: Helianth. Band 2 Bilder aus dem Leben zweier Menschen von heute und aus der norddeutschen Tiefebene Author: Albrecht Schaeffer Release Date: April 1, 2019 [EBook #59187] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HELIANTH. BAND 2 *** Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.
Bilder
aus dem Leben
zweier Menschen von heute
und aus der norddeutschen Tiefebene
in neun Büchern dargestellt
von
Albrecht Schaeffer
Der drei Bände zweiter
Im Insel-Verlag zu Leipzig
1920
Georg ging eine schräge, braungoldene Fläche hinunter. In der Tiefe war ein lichter, weißer Wald; die Bäume standen weit voneinander und sahen wie große, schneeweiße Tüten aus, die auf der Spitze standen. Im Näherkommen gewahrte er, daß es riesige, schön gewundene Muschelschnecken waren; ihre Windungen glühten rosig, und in ihnen rieselte es goldig. Vor der nächststehenden waren zwei Pfähle aus Ebenholz, einer immer etwas höher als der andere, so daß sie eine Treppe bildeten, und indem er noch dachte, es müßten, da sie sich gegenseitig stets überhöhten, doch wohl mehr als nur zwei Pfähle sein, war er schon hinaufgestiegen, beugte sich über den rundwulstig nach innen gebogenen Rand der Muschel und sah, daß eine Wendeltreppe hinunterführte. Er stieg sie hinab, sie wand sich ins Bodenlose unter seinen Füßen fort, es ward Abend und Finsternis, dieweil er stieg, aber dann wußte er, daß er wieder die verbotene Treppe im Trassenberger Pallas beging. Diesmal aber war die Tür doch offen, es wehte eisigkalt aus dem Gang, Georg wußte, daß ein solcher da war, ohne ihn sehen zu können, und tastete sich furchtsam, mit beiden Händen die ganz nahen Wände streifend, vorwärts. Bald kam er an eine Biegung, an eine andere, es ging rechts, ging links, Georg dachte: gleich muß die Falltür kommen, er schritt immer langsamer, in großer Angst, auf einmal war eine schwarze Türöffnung da und hinter ihr das Bodenlose. Die Angst verschlug ihm den Atem, er wußte, daß er sterben, daß er hinunterstürzen und zerschellen sollte, nein, er wußte, schon wenn er fiele, würde alles aus sein, und schon wich der Boden, er fiel, er löste sich, rücklings sinkend, auf in den Tod, noch denkend, es ist ja gar nicht so schlimm, das Sterben — —
Da schlug er die Augen auf.
Eine Weile unbegreifend, wo er sich befand, erkannte er langsam die braune Tür gegenüber mit dem hellen Lichtspalt von nebenan, dann in der Ecke rechts davon den kleinen Kamin mit dem Schattenriß des hängenden Teekessels über der roten Glut — langsam das ganze, kleine Zimmer, gefüllt mit Schatten, den Schattenriß des Tisches zwischen Kamin und dem Sofa, auf dem er saß, und er hörte die englischen, losen Schiebefenster knacken und leise prasseln unter gelinden Stößen des Nachtwinds. Im Nebenzimmer räusperte sich jemand, Benno ... Da saß er unsichtbar und komponierte bei seiner Lampe ...
Im selben Maß wie die Schlafbenommenheit entwich auch die Erscheinung des Traumes, nur die Erinnerung an den finstern Gang blieb noch; ihn schauderte leise im Gedanken des Sterbens, wie er sich auflöste, angstvoll und doch schon beruhigt ...
Da aber sah er wieder, wie immer, Renate, abgewandt von ihm, durch ein Zimmer gehn, undeutlich, nur ihre Erscheinung, fast nur ihre Haltung, als komme sie aus der Tür und ginge zu — zu einem Tisch — Georg sah ihn nicht — und legte etwas darauf, ein Buch, ein Schlüsselbund, worauf sie sich auflöste ... Immer dieselbe Erscheinung ...
Georg stand, trunken von Schlaf und Gefühl, vom Sofa auf, legte ein paar Stücke Holz in die Glut, setzte sich daneben auf den Stuhl am Tisch, klappte den daliegenden Briefblock auf, ergriff die Feder und stürzte sich ins Schreiben.
Serk, schrieb er, im Mai.
Galatea, o Galatea! Ich sterbe, ich sterbe ja vor Heimweh nach Dir! Im Traum eben litt ich einen leichten Tod, Du warst nicht in dem Traum, ich verstehe es nicht, wie konnte der Tod leicht sein ohne Dich! An meinem Leibe sind alle Adern geöffnet, das Blut strömt, auf jeder Welle entschwimmt mir Dein Lächeln mit dem fortfließenden Leben ...
Soll ich Dir Träume erzählen, süße Seele? Komm, höre einen Traum!
Es war ein Garten und ein Gebüsch. Eine Stimme war im Gebüsch, sie rauschte nur. Da kam ein Arm hervor, der die Zweige nach oben hob, ein weißer Arm, dann stand eine Frau in der Aprilnacht, holte zwei Schwerter hinter dem Rücken hervor, in jeder Hand eines, und stieß sie mir durch Rücken und Brust ...
In einer Nacht aber hatte ich diesen Traum:
Ich ging am Strande des Ozeans, da sah ich das Meerweib von fern. Sie stand, nahe von ihr war ein Felsenbogen, ein gewaltiger Grotteneingang, und sie stand, als habe sie beim Auftauchen aus der dunklen See eine Glocke von Gewässer mit hochgenommen, die wölbte sich nun als schwarzes Kleid um ihre untere Hälfte, um die obre hing Wellenschaum als weißes, dreieckiges Tuch mit langen, fließenden Fransen. So stand sie, die Hand am Kinn, in der anderen den Ellenbogen, sinnend, aber sie sang, ich hörte ihre Stimme:
Einsamkeit, du schöner Born
Stillgewordner Seelenklagen!
Rausche durch das Muschelhorn
Tönend in den langen Tagen.
Wenn der Gott das Horn ergriff,
Rollt der Donner an den Küsten,
Und es dröhnt des Gottes Schiff,
Und es tönt — —
Einsamkeit — — schrieb Georg noch, dann riß es ab, denn er hatte: ‚und es tönt in meinen Brüsten‘ schreiben wollen, verdrängte es aber, da es ihm frivol und unpassend vorkam, insgeheim derartig von ihr zu sprechen, als ob er sie entkleidete, ohne daß sie’s wußte; dann kam ihm auch der Reim zu alltäglich und gemein — heutzutage — vor, er ergänzte noch teilnahmslos die Lücke mit: ‚in Felsgerüsten‘, hörte nervös das störende Geklapper des Deckels auf dem Teekessel und hockte sinnlos. Vor seinen Augen verging der rötlich durchschienene Dampfstrahl aus der Tülle, nebenan wurde ein Stuhl gerückt, Benno ging behutsam durch das Zimmer, dann klangen ein paar Griffe auf dem Klavier und plötzlich ein leiser Akkord von solcher Süßigkeit, daß Georgs Herz sich zusammenzog. Angst, Sehnsucht, Schwermut sogen gewaltsam an seiner Brust; warum sitze ich hier? dachte er schwer.
Gedankenlos, nur um etwas zu tun, zog er die Schieblade gegen seinen Leib auf, holte eine Wachstuchkladde heraus und schlug sie auf. La vita nuova stand groß und einsam auf der ersten Seite. Georg machte kritische Augen. Auf der nächsten stand ebenso vereinsamt: Galatea ...
Georg schlug willkürlich einige Blätter um und las:
„Die See war schwarz und eigentlich unsichtbar, aber über ihren Rand aus dem Nichts stieg eine rote Scheibe, glühte und war ein großer, runder Fisch, der über das schweigsame Meer herschwebte. Auf seinem Rücken stand ein schwarzer Mann wie ausgeschnitten, mit einem abstehenden Kranz von wildem Haar, hielt ein Muschelhorn an den Mund und blies unhörbar. Da sagtest du: man muß die Einsamkeit in das Herz schießen. Ich hatte aber nur eine kleine Gummizwille in der Hand, wie wir sie als Jungens machten. Da zielte ich auf den Fisch, und wie ich ihn traf, blieb er langsam stehn, wurde wieder ganz rund und wedelte einmal mit dem Schwanz. Dann zauberte er ein glotzendes, grünes Auge in sich hinein, sah mich boshaft damit an und versank in die Flut, wo er sichtbar blieb im Tiefersinken, dieweil das Wasser in schwarzen Falten über ihn hinging. Der Mann, sein Horn noch immer am Munde, sank mit, und da wußte ich, daß das Ganze aus Pappe geschnitten und ein kleines Theater war ...“
Georg hob die Augen vom Ende der Seite, griff eine Zigarette aus dem Kasten, tastete, völlig aufgelöst in Bewußtlosigkeit, nach den Streichhölzern und blieb hocken, die Zigarette im Munde, minutenlang.
Der Teekannendeckel klapperte irrsinnig. Georg fuhr mit einem Ruck aus sich auf, hob den Kessel aus den Haspen und setzte ihn auf die Erde, wo er noch eine Weile ingrimmig vor sich hin kollerte und prustete, bis ihm der Atem ausging und er verstummte. Die Blätter des Hefts hatten sich in die Höhe gesträubt, Georg las irgendwo die Worte:
„Es giebt nichts, wozu man die Natur nicht gebrauchen könnte; ich will sie als Medikament gebrauchen. Es muß mir gelingen, einige Zeit ohne Gedächtnis zu leben. Wenn es nicht geht, werde ich es Benno übergeben. Es giebt nichts, was man ihm nicht anvertrauen könnte.“
Ja, ja ...
Die Nacht war totenstill, nichts zu hören vom Meer. Da saß man nun mitten im riesigen Kanal, die ungeheure Brust des Atlantischen Ozeans drängte gegen ihn heran, fern überall in ihrer Einsamkeit wanderten die Schiffe ...
Angst lag auf Georgs Brust. Hatte sich irgend etwas geändert? War irgend etwas klarer geworden? Ach, wenn doch Benno Klavier spielen wollte, daß er sich ins Dunkel daneben setzen könnte und wie als Knabe, wenn Onkel Salomon einmal spielte, das Ohr gegen die tönende Wand legen und sich vergessen im Staunen über das drinnen tosende musikalische Rumoren. Ach nein, er hatte Benno sein Gedächtnis nicht anvertraut, immer standen Dinge bevor, die er nicht begriff, als sollte er sich am nächsten Tag zur Bedienung einer Maschine stellen, von deren Bau und Wirkung er keine Ahnung hatte ...
Georg blätterte weiter in seinem Heft, über Seiten voller Verse hin, Sonette, Sonette, Sonette, und: welche Kunst, dachte er, seine Stimmung vermittels plausibler Vergleichungen zum Ausdruck zu bringen! — Dann kamen wieder Briefe an sie, die er Galatea nannte — indem es ja sein höchster und heimlichster Traum war, daß sie, dieser wunderbarlichste Marmor in Frauengestalt, durch ihn zum warmen Leben sich einführen lasse, — Ergüsse, Lobgesänge, Gebete, Beichten in blumenreicher Prosa ...
Und wiederum sah er ihre ungewisse Gestalt, abgewandt von ihm, hingehn und — — entschwinden in die Luft.
Da stand geschrieben:
„Ich reinige meinen inneren Menschen. Ich werde ein Stück Natur, Erdboden, wenn mich der Sonnenschein, Baum, wenn mich der Wind, hohle Muschel, wenn der unablässige Donner der See mich mit lärmendem Geläute erfüllt. Luftiger, offener, ausgebreiteter wird mein Wesen, ich fühls, ich leere, ich reinige mich. —“
Haben wir uns gereinigt, Benno? Gute Seele, was stauntest du doch über dies ossianische Eiland von grauem und rötlichem Fels, dies titanische Gefüge, Grotten, Felsenbögen und Höhlen wie auf Odysseebildern von Preller. Und ringsum der gewaltige Kanal. Da ließen wirs uns wohl sein, rollten im Ufersand gegen die Brandung, stürmten über den Felsendamm zwischen den beiden Inselhälften, hundert Meter über der Meeresfläche, mit flatternden Hemdkragen gegen den offenen Himmel, gegen den wild anrennenden Wind, schrien den englischen Möwen auf Deutsch unverständliche Beschimpfungen zu — dann —, dann schoß ich Kaninchen auf dem Eilande Brechou, und du bewundertest mich dabei. Ach, immer hast du mich bewundert! Als ichs allein nicht mehr ertragen konnte, als mir eines Tages das Gedächtnis alles Gewesenen wie ein Baum aus dem Haupt wuchs und riesige Früchte, die herunterstürzten, mich zu erschlagen drohten, da — ja, da vergingst du in Schaudern über das unerhörte Begebnis und in Bewunderung meiner, der sicherlich das Richtige treffen würde ...
Und Georg erinnerte sich, wie sie nächtelang miteinander sich besprochen, den Zweikampf wie mit beweglichen Puppen gefochten hatten, des Ideales hier, ein Fürst zu werden, wie die Welt einen verlangte, der Wahrheit dort, die Selbsterniedrigung von ihm forderte. Aber die Fehde blieb immer unentschieden, sie verstummten, schlichen trübe umher — nun, Benno freilich tat das nicht lange, er hatte ja unendlichen Mut geschöpft, und nachdem er früher kaum gewagt hatte, eine Zeile zu schreiben, aus Furcht, Beethoven könnte es ihm verargen, so getraute er sichs nun, es mit allen Stimmen des Ozeans und der Winde aufzunehmen ...
Und dann lagen wir auf einer der grünen, windüberstrichenen Inseln im Innern, gaben uns kummerlos der Sonne preis, träumten Buntes und Phantastisches, für Benno Unerhörtes, Gloria und Kränze, Frauen und Wettrennen, Yachten unter Riesensegeln und weiße, nackte Frauenleiber in einer azurenen See und in paradiesischem Durcheinander mit gestreiften, gelben Tigern und schwarzen Leoparden.
Bennos Schritte näherten sich der Tür, Georg hörte ihn fragen hinter seinem Rücken: „Schreibst du?“
„Nein, ich lese bloß! Du willst wohl schlafen gehn?“
Sich wendend sah er Benno, so lang er war, noch dünn- und langhalsiger in dem aufgeschlagenen Hemdkragen, Gesicht und Augen durchglüht und beschämt von Visionen, durchs Zimmer gehn und sich aufs Sofa setzen, gleich die Beine übereinanderlegend und sich schmal machend vor angeborener Demut. Der rötliche Schnurrbart hing zerzaust und wie bestraft, die Augen gingen — wie immer — nach oben.
„Sieh mal, was ich da geschrieben habe“, sagte Georg, nachdem Benno etwas wie „gar nicht müde“ gemurmelt hatte, und las:
„Widersetze dich niemals einer Erkenntnis. Jede seelische Geste, festgehalten in der Anmut gereimter Zeilen, strömt eine bestrickende Glaubwürdigkeit aus. Je leichter dir das Versemachen fällt, um so schöner werden deine Empfindungen. Es ist doch nur ein papierener Frühling. Wind und Sterne, Mond und Sonne, Wogen und Möwen, das alles treibt dich rundum, und am Ende liegst du da. Du bist nur ein Naturkreisel. — Horch, Benno, es giebt noch einen Zusatz. Zusatz: Wirbelt die Oberfläche eines buntbemalten Kreisels herum, so schwinden die Farben in belangloses Grau. So ist es auch mit der Seele. Wenn sie aber daliegt und stille wird, zeigt sie lieblich ihre reinen, farbigen Kreise ...“
Benno saß und lächelte freundlich.
„Benno, was denkst du?“
„Ich? Ach! Ich dachte“, sagte er schamvoll mit seiner gebrochenen Stimme, „an den Kiwi in Unterprima und —“
„Ach, weil ich von physikalischen Dingen rede, denkst du an Physikprofessoren! Ach du mein Gott, diese Physikstunden waren das Gräßlichste auf der Welt! Und wenn er mal ein Experiment machte, ging alles kaputt. Ja, da sitzen wir nun im Kanal ...“
Benno erhob sich mit einem Ruck zu seiner Länge und trat an das Fenster, stützte die Hände auf und sah in die Nacht. — Ich glaube, dachte Georg, er hat Heimweh.
Nach einer Weile, da weiter nichts geschah, sagte er:
„Ja, wie ist es, Benno, wenn du nicht zu müde bist, könnten wir ja noch einen Schritt vor die Tür und das Meer besehn ...“
Benno drehte sich still um; sie gingen hinaus und durch den engen, warmen Flur voller Schränke ins Freie. Die Nacht war dunkel, von den erloschenen Häusern kaum hier und da eine weiße Wand im Finstern zu erkennen; oben segelte der kleine Mond hastig durch silbergraues, bewegtes Gewölk. Da! — sagte die Kälte, indem sie auf die Stelle mitten auf Georgs Kopf, wo die Kompresse endlich entfernt war, aber noch das Haar fehlte, ihren kalten Finger setzte. — Als sie um die Hausecke bogen, warf sich der Seewind ihnen straff entgegen; Georg wars, als legte er ihm miteins ein glattes Kleid von Kühle um den ganzen Leib. Vor ihnen lag die schwarze Fläche von Haidekraut, die sich ins Nichts verlor; da und dort, über der unsichtbaren See in der Tiefe, war ein vereinsamtes Sternlicht. Langsam, während sie auf dem schmalen Pfad von Klinkern dahingingen, wurde die Brandung hörbar und lauter.
Eine leise Melodie, von Benno gepfiffen, ein kleines, getragenes Stück in Moll, zärtlich, feierlich, plötzlich abbrechend, wehte an Georgs Ohr, einmal und noch einmal. Er fragte: „Was ist das, Benno?“
Ja ... es sei das Thema des ersten Satzes: Sehnsucht nach der Ebene. Und übrigens hätten sich ihm, als er es fand, von selber die Worte unterlegt: Denk ich an Deutschland in der Nacht ...
„Ach, denkst du an Deutschland in der Nacht, Benno?“
Benno schwang einen Arm, warf den Kopf zurück — Georg konnte die Haare im Dunkel flattern sehn — und war ein wenig entrüstet. Ob es nun vielleicht eine Schande sei, Heimweh zu haben!
„Ach,“ sagte er, „ihr seid ja nun Alle Europäer! Aber wenn du dichtest, Georg, dichtest du dann vielleicht europäisch? Dichtest du international?“
„Aber die Musik, Benno? Überhaupt alles Geistige, Kunst, Wissenschaft, sind sie nicht allgemein?“
„Der Stoff, Georg, ach natürlich doch, der Stoff! Sind wir nicht Alle Menschen? Der Gedanke der Verbrüderung ist natürlich herrlich! Aber im Geist war sie doch immer schon da, und dem Bauern und dem Handwerker, wenn er einen Schrank macht oder Rüben baut — was soll dem Verbrüderung? Keine Feindschaft soll sein, keine gegenseitige Verachtung, alle sollen sich gelten lassen und ertragen, jawohl, aber — das ist doch weiter nichts als Menschenpflicht, da ist doch der nächste Nachbar der nächste Anlaß, dergleichen zu üben, und wozu brauchts da fremde Völker und Erdteile? Das Gute kommt doch immer von selbst.“
Benno mußte schreien, so laut war nun der Donner der Brandung. Georg sah im Finstern vor sich die Zaunpfähle am Rande des Abgrunds; jetzt bog ihr Weg ab und begann langsam anzusteigen; alsbald erschien auch der Schattenriß des kleinen Pavillons über ihnen in der Nacht. Georg sah Helenenruh, das weiße Haus, Wiesen und Park, eine sonnige Insel; dann erschien die Goethestraße in Altenrepen, sein Schulweg, das rote, vielfenstrige Haus mit der Sonne überm Türmchen. Ja, er hatte wohl auch ein wenig Heimweh ...
Sie betraten den Bretterboden des Pavillons, traten an die hölzerne Brüstung und stützten sich darauf. Alle Hörner der See stießen ihr gewaltiges Gebrüll aus; sich überneigend sah Georg, schaudernd vor der Tiefe, den weißen Gischt, wie er sich wütend aufwarf und zerflog. Da war nun, unsichtbar, unermeßlich nach Westen hin die schwarze, bewegliche Meeresebene, meilenweit kalte Wasser, Bergtiefen der Gewässer. Ein, zwei rötliche Lichter in der Ferne schienen eine Küste zu bedeuten, aber es waren Schiffe, in ungeheurer Einsamkeit verlassen durch die schwere See hinstampfend, aber innen in ihnen war es doch wieder warm und hell, waren Tische und Lampen, Keller und Lager voll Geruch von Teer und Waren, Kabinen voll Schlaf ... Seltsam, diese winzigen, fahrenden Wohn- und Kaufhäuser in der Meeresfinsternis ...
Georg ließ sich auf die Bank nieder, leise betäubt vom Brausen der Tiefen, Benno blieb am Pfeiler stehn.
„Und die schönsten Dinge, Georg,“ sagte er plötzlich mit Eifer, „die schönsten Dinge der Welt giebt es doch nur in Deutschland.“
„Zähle auf, Benno, zähl auf!“
Benno schöpfte tief Atem.
„Eine deutsche Sommernacht“, sagte er.
„Ja, Benno, da hast du recht. ‚Wenn die Brunnen verschlafen rauschen‘, nicht wahr? Und Kornfelder im Mondschein und silberne Ritter von Thoma auf allen Hügeln, die Wache halten. Oder — nein so, Benno: Eine Mondnacht ... Ein Stück weißer Straße — und eine weiße Hauswand mit dunklen Fensterscheiben, Gartenmauer, weiß, und darüber die dunklen, schweren Baumwipfel, in denen der Nachtwind rieselt — rieselt —, nun hier — nun da, nun rauschend, nun ganz leise nur — knisternd, daß du fast die einzelnen Blätter sehen kannst, die sich wenden ...“
„Ja, Georg! ja!“
„Und — — kennst du das von Rilke:
Und dann ein Rauschen und ein Ruf der Ronde,
Und eine Weile bleibt das Schweigen leer,
Und eine Geige dann ...
... und sagt ganz langsam: Eine Blonde ...“
Benno war begeistert. „Eine Blonde!“ hauchte er. „Ja, ein blondes deutsches Mädchen, das gehört auch zum Schönsten!“
„Ich will sie dir nicht rauben, deine Blonden,“ sagte Georg, „aber ich bin nun mal mehr für Dunkel.“
„Du für Dunkel, Georg? Aber Renate?“
„Renate? Ach, erstens ist sie nicht blond! Sowas nennt sich nicht blond, und zweitens: ist sie vielleicht ein Mädchen?“
Benno sagte, das verstünde er nicht. Georg wußte es selber nicht zu erklären. Nein, dachte er, sie ist weder Mädchen noch Frau, aber sie ist — — als wäre sie drei Nächte lang die Geliebte eines Gottes gewesen, und ist verzaubert von unsterblichen Küssen und überweltlicher Hoheit. — Aber wieso sagte ich nur eben, ich wäre für Dunkel? Magda ist doch blond — ja, deshalb liebte ich sie wohl auch nicht richtig! — Iris Runges elfenbeinernes Gesicht erschien ihm da und die türkisfarbenen Augen im schwarzen Oval der Haare.
„Zähle weiter, Benno, was giebt es noch?“
„Ach, der Frühling, Georg, einen deutschen Frühling, giebt es den vielleicht in Italien oder in Indien! Wenn die Ebenen noch ganz grau sind und ferne Wälder durchsichtig und kahl, und die Wolken gehen so niedrig und langsam übers Land. Der Wind ist feucht, man riecht die Erde, und irgendwo stehen schon Primeln ...“
„Ach, wohl, Benno, wohl, und ein deutsches Ährenfeld, du sagtest es schon! Diese Gelbe, und das lange Schwanken der glatten Mauer und Lerchen im Sommersonntag und ganz ferne Glocken!“
„Und bist du einmal im Herbst über Land gegangen, Georg —“
„Deutsche Herbstwälder, Benno, mein Gott ja, deutsche Herbstwälder giebts auch in Griechenland nicht! Goldgelbes Birkenlaub in flammend blauen Lüften ...“
„Ja, und ich dachte eben an die Ebene. Im September, wenn die weißen Morgennebel alles rings verschließen, und die Sonne bricht nun durch, und auf einmal ist da eine glühende, weiße, beleuchtete Hauswand, dann siehst du das Dach, und nun die Kronen von Obstbäumen, dunkelgrün, triefend naß, nun die roten Flecke der Äpfel, und am Zaun, der auf einmal aus den weißen Tüchern kommt, lehnt vielleicht ein ganz blaues Waschfaß ...“
„Herbstkräftig,“ murmelte Georg und fuhr lauter, damit Benno ihn hören könne, fort: „herbstkräftig die gedämpfte Welt — In warmem Golde fließen ...“
„Ach, ja, Georg, und die Dichter, glaubst du denn, daß je irgendwo die Dichter so ihr Land ausgesaugt hätten wie Eichendorff und Lenau, und wie Claudius und George? Wie war doch das noch: ‚Im Morgentaun — trittst du hervor —‘. Von George, ich weiß es nicht mehr, du lasest es vor ...“
Georg fuhr leise und seltsam schmerzlich fort:
„Den Kirschenflor
Mit mir zu schaun.
Duft einzuziehn
Des Rasenbeetes ...
Durch die Natur
Noch nichts gediehn
Von Frucht und Laub.
Rings Blüte nur ...
Von Süden weht es ...“
Benno, zu seinem Munde herabgebeugt, wiederholte voll Inbrunst: „Von Süden weht es ...“ Dann warf er sich mit einem Ruck hoch, trat weg und setzte sich auf die Bank.
„Ja, da sitzen wir nun im atlantischen Kanal in der Nacht und haben Heimweh nach Deutschland. Wenn wir jetzt Wiener wären und an Wien dächten, so würden wir weinen“, murmelte Georg. Aber im selben Augenblick brach alles immer Unterdrückte mit einer solchen Wucht in ihm los, daß er aufsprang, den Holzpfeiler neben Benno mit beiden Fäusten packte und, die Stirn darangepreßt, ächzte:
„Verstehst du es denn, Benno, ja versteht es denn ein Mensch, was das heißt, nicht mehr zu wissen, woher man kommt? Und ich, Benno, ich, der immer so stolz war auf Ahnen und alle Vergangenheit und Zusammenhänge, und daß all das nun Lüge war, Unsinn, gemeine, scheußliche, stinkende Lüge und Irrtum —“ Er brach ab und schüttelte sich.
Einen Augenblick später sich wieder aufrichtend und Haltung nehmend, trat er von Benno fort und lehnte sich mit dem Leib gegen die Brüstung und über das Meer. Hinter sich wußte er Benno, der so still in sich saß vor Scheu und Ergriffenheit, daß sich keine Muskel und keine Faser an ihm bewegte. Und wiederum erschien da, abgewandt, hingehend, die unsichtbare Gestalt Renates ...
Seltsam, seit wann ist das nur, daß ich sie so sehe? fragte sich Georg. Und woher gerade diese Bewegung an ihr? Es giebt ja wohl keine Stellung oder Lage, keine Tätigkeit und keine Bewegung, in der ich sie nicht geträumt hätte — woher nun diese? Als ob sie selber, indigniert, sich von mir fortwendete, jedesmal, und davonginge. Habe ich sie totgeträumt? fragte er sich erschrocken. Ja, ist mein Gefühl noch immer so stark wie im Anfang? Ich glaube — — nicht ... Ach, Renate, Renate, warum stehe ich denn hier über dem finstern Atlant, kalten Gewässern und landfremden Schiffen? Du bist es doch, die gilt, einzig gilt! Dich zu krönen, aus den Sternen den Thron, für dich, für dich, das ist doch — nun, wenn nicht das Ziel selber, doch der Leib, in dem es sich irdisch darstellen muß, um möglich zu werden. Nein, nun ertrage ich es nicht mehr. Dies ist ja eine dergestalt menschliche Angelegenheit, daß tatsächlich nichts weniger helfen kann als Fels und Meereswoge. Ich muß unter Menschen. Die Maske muß probiert werden, das Herz angestoßen werden auf reinen oder unreinen Klang.
„Wie ist es, Benno,“ sagte er, sich umwendend, „wenn wir morgen fahren, kann ich noch eben rechtzeitig zur Einschreibung ins Semester kommen.“
Benno sprang auf.
„Ja,“ sagte er, lang dastehend, aus tiefster Seele, „ja, reisen wir!“
Neben Georg tretend, legte er einen Arm um seine Schulter. Lange standen sie so, der Raum füllte sich mit dem Brausen der Tiefen, schläfriger dachte Georg an Deutschland, an Altenrepen und verlangend und hoffnungsvoll an einen Garten, Orgel und Liebe.
Renate saß spät am Abend an ihrem Schreibtisch, in ihrem Gedächtnisbuch blätternd, um eine Eintragung zu machen; sie schlug, unschlüssig, wie beginnen, einige Seiten zurück und las das zuletzt Geschriebene.
Helenenruh, am 20. April
Im Grunde bin ich doch froh, daß ich hierhergekommen bin. Zwar kann ich so gut wie nichts tun, aber sooft ich denke, ich sei überflüssig, so muß ich nur Magda ansehn und denke gleich, es kommt einmal der Augenblick, wo sie zusammenbricht, und es ist niemand da, der sie bettet. Und nun, wo auch Jason al Manach, der die ersten Tage nach meiner Ankunft nur heiß und stumpf umhersaß, sich mit einer schweren Gehirnentzündung hingelegt hat, so verbrennt sie ja in Mitleiden und Dienstbarkeit. Seitdem herrscht tiefe Stille in Helenenruh, nur das Motorrad des Doktors unterbricht das dumpfe Krankenzimmerschweigen, in dem wir Frauen, die Domina und die Pflegerinnen, umhergleiten, und während draußen der April grüne Seiden ausbreitet und die schönen Farben hineinstickt, lagert im Hause die beständige Dämmerung verschlossener Vorhänge oder des Nachtlichts und die schwere, dumpfe Luft.
Was war das doch für ein anderes Helenenruh in Magdas Briefen! Soviel Trauriges darin war, es war doch das Bogners und der kindlichen Magda, die ich damals noch vor Augen hatte und nicht auslöschen konnte trotz dieser fremden Briefe. Dies aber, das ich hier gefunden habe, das weiß von alledem nichts; es sind nur Wege und Bäume, ein Teich, die Wiesen und die See, ein schönes Haus mit Sälen und vielen Fenstern, und wenn ich im Klaviersaal gespielt habe und am Fenster stehe und zum Verwalterhause hinüberblicke, die Vorfrühlingswolken über dem Park sehe und den Wind, der silbergraue Streifen über die frisch ergrünte Wiesenfläche schleppt, so finde ich keine Spur von dem hier, was ich hineingedacht habe, und ich sehe wohl ein, daß wir alles für uns allein haben. Die Dinge bleiben sich gleich und lassen uns an sich vorüber.
am 1. Mai
Chalybäus hat sich langsam erholt und vor ein paar Tagen sein Bett verlassen in Gestalt einer schiefen, vertrockneten und zusammengekrümmten Steinzeitmumie. Gleich verlangte er Wein, und als der ihm verweigert wurde, bekam er einen Tobsuchtsanfall. Es scheint nichts anderes übrig zu bleiben, als ihm zu willfahren; der Arzt wenigstens erklärt, es sei vorläufig nichts zu machen. Nun ist er bei einer alltäglichen Menge von drei bis fünf Flaschen Rotwein und verhält sich einigermaßen still. — Du arme Magda!
Jetzt beginnt nun auch Jason al Manach, dies fremde Wesen, auf der Bank neben der Haustür zu sitzen, einer kümmerlichen, weißen Kellerpflanze ähnlich und zuerst klagend, das Licht stürze sich wie brennende Vogelschwärme in seine Augen; aber das Brennen hörte auf, nicht nur seine Augen, sondern auch Lungen und alle Adern sogen still, er genas.
Viel habe er überstanden, sagte er heut abend zu mir und Magda. Sie stand in der Haustür nahe bei unserer Bank, über den drei Stufen, ach, so gebrechlich aussehend von der übermäßigen Anstrengung der Pflege, in ihrem schlecht und lose sitzenden Hängekleid von Nessel, das Haar in einem hellen Tuch, unter dem ihre Züge wie ausgewischt erschienen. — Man könnte auch sagen, fügte er hinzu, er habe sich selbst überstanden, und dann sagte er wieder einmal wie in seinen Delirien, aber mit ganz verständigem Ausdruck etwas sehr Sonderbares. Er habe ihn wohl gesehen, den großen Grauen am Fußende seines Bettes; freundlich habe er ihn, den kranken Jason, eingeladen, doch mit ihm zu gehn, aber er habe ihm ruhig geantwortet, daß er doch selber einsehn müßte, es sei durchaus keine Kunst, das Leben vermittels des Todes zu überwinden, allenfalls mit Hülfe des Sterbens, womit er sich ja auch eingehend beschäftige, aber solange es nach ihm gehe, wolle er nicht völlig sterben, sondern vielmehr so gesund wie möglich werden, und übrigens glaube er schon längst nicht mehr überzeugt an die Existenz des vor ihm Stehenden, der sich denn daraufhin auch achselzuckend entfernt habe. So gesund wie möglich, wiederholte er bekräftigend — er glaube, es würde ihm noch gelingen. — Magda, schwach und todmüde, begann leise zu weinen, es dämmerte zwischen den Bäumen, aus dem Heckengang quoll die Nacht, Jason blickte gegen den hellen, herniederleuchtenden Himmel oben, wir hörten hinter uns das kleine Weinen rinnen und gedachten des ewigen Lebens.
am 2. Mai
O, das sind garstige Dinge, die sich da zugetragen haben!
Schon längst schien mirs eine fixe Idee von Ch. zu sein, daß der Herzog ihn tödlich beleidigt habe, daß es ein Verbrechen von ihm, dem Ch., wäre, nur einen Pfennig vom Herzog anzunehmen — eine eigentümliche Veränderung der Sachlage —, und daß daher ihm und seiner Tochter nichts anderes übrig bleibe, als mit einer Drehorgel auf den Märkten umherzuziehn. — Nun war er doch entlassen. Magda zeigte mir einen Brief vom Herzog an Ch. vor einigen Tagen; darin änderte er einen ersten Vorschlag an Ch., die Heilanstalt Frankenhöhe aufzusuchen — da er mittlerweile vom Arzt erfahren hatte, daß eine Kur vorderhand unmöglich sei —, in eine Rente nebst freiem Aufenthalt in Helenenruh, Magda zuliebe, die ja so an H. hängt. Der Brief hatte einen fürchterlichen Wutausbruch ihres Vaters zur Folge, hinterdrein ein Schreiben an den Herzog, das er insgeheim Jason diktierte, für den er noch immer eine schöne Sympathie bewahrt. Darin standen Dinge, von deren Unwahrheit Jason wohl überzeugt war, vielleicht auch ist sein Denkvermögen noch immer etwas imaginär, jedenfalls gab er den Brief M., in meiner Gegenwart. Magda las lange an dem Brief, schob ihn dann zu mir herüber, ohne das Gesicht zu verziehen, und sah auf den Tisch vor sich. So las ich denn, daß ihr Vater — auf welche Weise war nicht zu erkennen — Kenntnis erlangt hatte von einem nächtlichen Besuch des Prinzen in Magdas Zimmer (im vergangenen Juli). Ob ihr Vater nun mehr dazu neigte, die Ehe zu verlangen, oder ob er nur einen Erpressungsversuch machen wollte, das war infolge des Jammergeredes, in das er alles wickelte, nicht deutlich zu erkennen. — Als ich endlich aufsehn mußte vom Lesen, fand ich Magdas Augen auf mich gerichtet, so erloschen und hart, daß ich mehr darin lesen mußte als Abscheu vor ihrem Vater.
Im ersten Augenblick war ich so erschrocken — — Ich sah sie aufstehn und das Zimmer verlassen, endlich brachte ichs fertig, ihr nachzugehn, und im Park fand ich sie denn, wie sie wie eine Verlorene schwankend an den Fliederbüschen hinstreifte, und führte sie sanft ins Haus. Sie blieb aber stumm — und was ist auch zu sagen?
Es ist, als sollt es kein Ende nehmen mit den Lasten, die ihr aufgebürdet werden. Sogar bereits Überstandenes kommt nun wieder und trifft sie von neuem und von einer anderen Seite. Gott mag wissen, was er damit will.
Nun, dies wenigstens hat ein Ende, so ekelhaft es bis zur Neige war. Ich will auch dies aufschreiben, um mich später zu erinnern.
Jason schickte Ch.s Diktat an den Herzog mit ein paar Zeilen von ihm selber, in denen er ihm kühl vorlog, daß Ch.s Verdächtigung selbstverständlich aus der Luft gegriffen sei.
Diesen Brief hat der Herzog mit dem von Ch. an seinen Sohn geschickt und ist nach empfangener Antwort gestern hier eingetroffen. Ich sprach eine halbe Stunde mit ihm und hätt es gern länger getan. Ich hielt ihn für einen ergrauten Mann in den Fünfzigern, aber nun ist er kaum fünfundvierzig und sieht aus wie Ende Dreißig, ein wenig zu bärtig, aber kühn, und ein Riese, wenn er sitzt. Ihn gehen zu sehn, ist freilich ein Jammer. Georg also hat gelogen wie Jason, und somit hat der Herzog dem Ch. einfach eine donnernde, ungeheure Standrede gehalten — wir konnten sie in allen Zimmern und bis in den Obstgarten hören — und ihn wahrhaftig damit niedergeschmettert. Das alte Vasallenempfinden hat vielleicht auch mit geholfen, jedenfalls hat er sich geduckt und in alles gewilligt. Der Herzog hat Magda sehr gestreichelt und gutherzig bedauert, daß zwischen ihr und seinem Sohne alles aus sei, denn er hätte sich gefreut und so weiter, und sie solle Helenenruh nur jetzt schon als ihr Eigentum betrachten, erben würde sie es sicher einmal, und der neue Verwalter sei unverheiratet und könne vorderhand im Gestüt wohnen.
Übrigens ist der Herzog ein Filou, denn als der Sandschneider, den er selber kutschierte, den Heckengang hinunterrollte, stand ich gerade am Goldregen und schnitt Dolden herunter, und er rief: Danae! daß es schallte, nickte, freute sich, hieb auf den Schimmel ein und jagte ums Haus, daß die Funken stoben.
12. Mai. (Altenrepen)
Nun hab ich mein Mädchen hier, zwar auch den Vater in Kauf nehmen müssen, aber es ist gut so, und mich wird er nicht stören. Er hat nicht in Helenenruh bleiben wollen, nun wohnen sie ganz in meiner Nähe. Leider ist Jason al Manach auf der Reise hierher ihnen abhandengekommen.
Renate ergriff die Feder und schrieb:
18. Mai
Wieder acht Tage nicht zum Schreiben gekommen. Am Tage nach ihrer Ankunft legte Magda sich mit Lungenentzündung; von der Pflege der Andern, von aller eigenen Pein entkräftet, lag sie auf das schwerste danieder, dies arme Herz weigerte sich, weiterzugehn, und sie begehrte innig, zu sterben. Diese Gefahr ist nun vorüber, gebe nur Gott, daß es endlich die letzte war!
So darf ich denn wieder anfangen, an mich selbst zu denken, denn der gute Saint-Georges wartet schon lange ungeduldig mit seiner Geschichte der Vereinigten Staaten, damit ich ihm die in englischer Sprache geschriebenen Bücher deutsch vorlese; das wird eine schöne und keine leichte Arbeit werden.
Und Ulrika und Irene warten auf Musik. Josef, ob du merkst, daß du vermißt wirst? Freilich mehr dein Cello als du, und dies ist leider nicht unersetzlich wie du. Saint-Georges hat mir einen Cellisten versprochen; er trägt den etwas verqueren Namen Sigurd Birnbaum und studiert Medizin.
Wohlan, der Tag scheint gefüllt!
Renate, zur ersten Arbeitsstunde mit Saint-Georges fahrend, wurde einigermaßen verwirrt vom haushohen Anblick der roten Gefängnismauer an der linken Seite der Freiherr-von-Stein-Straße, die sie sich freilich anders vorgestellt hatte, als Georges ihr den Namen nannte, — und gleich darauf hielt der Wagen vor einem ihrer häßlichen Häuser aus rotem oder gelbem Backstein — trübe und schmutzig vom Ruß der Fabriken —, und dieses war gelb obendrein. — Welch ein Gedanke, dachte sie, gegenüber vom Gefängnis zu wohnen! Aber paßt er nicht irgendwie zu meinem stillen Georges? — Noch fiel ihr sein gelähmter Bruder ein, als sie den schmalen Hausflur betrat, gleich umhüllt von einem Schwaden von Gerüchen — Kartoffeln, Kaffee, Kinder, alte Kleider. Dafür waren die Wände mit um so köstlicheren, freilich bereits abgeschabten und zerbröckelten Malereien bedeckt — eine Schneelandschaft mit Rehen sah sie im Hindurchgehn. Die ausgetretene Treppe hinansteigend, fing ihr denn doch einigermaßen zu bangen an vor der möglichen Ärmlichkeit seines Zimmers, und indem las sie auf der rechten von zwei gelbbraunen, im Winkel zusammenstoßenden Türen seinen Namen auf einer Besuchskarte, die an einem Reißnagel hing — auch das wenig versprechend —, und darunter war eine Porzellanklingel mit gräßlich hart aussehendem schwarzen Knopf. Das war er auch, als sie darauf drückte, wobei er mit zähem Widerstreben einen Ton aufspringen ließ, klanglos wie eine Greisenstimme, dann aber, beim Loslassen ihres Fingers, noch einen, als sagte er: Da! Bist du nun zufrieden? — Renate hatte während des Wartens das peinliche Gefühl, einen leibhaftigen Adamsapfel mit dem Daumen eingedrückt zu haben, was sie ein wenig wieder erheiterte.
Nun kamen eilige Schritte auf weichen Socken oder Filzschuhen, und in der Tür wurde — zu ihrer neuen, aber ganz angenehmen Überraschung — statt des erwarteten Dienstmädchens der graue Kopf eines freundlichen und listigen alten Mannes sichtbar, der auf ihr „Herr Saint-Georges erwartet mich!“ in den engen und dunklen Gang deutend, sagte: „Bitt schön, die Glastür zum Herrn Doktor!“ und lächelnd zur Seite trat. Sie ging auf den Schimmer in der linken Wand zu, an einem Gaszähler, einem Kleiderschrank und einer Kommode mit zwei Petroleumlampen vorüber und zauderte vor dem Arabeskenwerk von Milchglas, das die Scheiben bedeckte, weiter oben in klares verlaufend. Dann, mit Entschluß, hob sie sich ein wenig auf den Zehen und spähte hindurch.
Es war — erfreulich zu bemerken — ein sehr großer Raum, der sich langhin quer vor ihr erstreckte; sie selber stand in der Mitte der langen Wand, den vier Fenstern gegenüber, durch deren Gardinen sie noch eben die Bekrönung der roten Mauer und weiter zurück die vergitterten Quadrate einiger Gebäude mit flachen, grasbewachsenen Dächern gewahren konnte. — Kaum, dachte Renate, bin ich beim Gefängnis, benehme ich mich wie ein Spitzbube, — und brachte die Augen getrost näher ans Glas, sich tröstend, das Zimmer sei leer. — Im Gegenteil aber saß am Fenster ganz links ein junger, blonder Mensch mit sehr zartem, rosigem Gesicht, ein wenig spitzem Kinn und flachen, hellen Augen, die hinausblickten, in einem Lehnstuhl, die Beine unter einer Decke. — Das war sein Bruder; am Gesicht wäre die Gelähmtheit zu sehen gewesen, wenn Stuhl und Decke nicht von ihr gesprochen hätten. — Da sah sie ziemlich in der Mitte des Zimmers rechts, ihr den Rücken zuwendend, eine junge Dame sitzen, so hübsch angezogen, daß sie näher zusah. Ei das war reizend: ein kleiner grüner Strohhut mit langen dunkelgrünen Seidenbändern, die im Bogen tief herunterhingen; der Kleidrock wie die halblangen, spitzdütig auslaufenden Ärmel war weiß — Piqueeleinen augenscheinlich —, die Taille aber, die Brust, Rücken und noch die Hüften fest und schlicht anliegend umschloß — war aus einem buntgeblümten Stoff — Rot, Gelb und ein wenig Grün auf mattblauem Grunde. Sie hatte ein Bein über das andere gelegt, die Hände im Schoß, weiße Schuhe und Strümpfe, — und nun wandte sie auch das Gesicht nach links hinüber, so daß ihr Profil, zart mit vorgewölbter Oberlippe und dunklen Augen sichtbar wurde. Die Lippe bewegte sich, sie sprach. Aber dorthin, wohin sie zu sprechen schien, war für Renate nichts zu sehn, sondern nur noch eine braune Tür mit Giebel an der linken Querwand. — Wieder rechts hinüber schweifend, schon die Hand auf der Klinke, sah Renate noch einen großen, dunkelhaarigen Menschen, der sich quer über einen langen, schreibtischartigen Tisch vor der rechten Wand beugte, um aus einer Reihe von dastehenden Büchern eines herauszulösen.
Renate wunderte sich, wer alles da zusammen war, und trat ein.
Gleich sah sie in der Buchtung eines alten, braunen Flügels zur Linken Saint-Georges selber stehen, der nun auf sie zukam. Die junge Dame stand auf und hatte ganz runde braune Augen. Der Mensch am Schreibtisch drehte sich um und zeigte ihr ein langes, schönes Gesicht mit dunklen, ein wenig schwermütigen Augen. Alle Wände waren bis zur Decke, auch die Zwischenräume der Fenster mit Bücherreihen bedeckt.
„Guten Tag, Georges“, sagte sie.
Er stellte ohne weitere Verlegenheit seine Gäste vor: „Fräulein Cornelia Ring und der Student Sigurd —“
Renate hörte vor Überraschung beim Namen der Cornelia den zweiten Namen nicht mehr. Eilfertig im Unterbewußtsein suchend — denn bewußt hatte sie sich bestimmt keine Vorstellung von ihr gemacht — fand sie irgend etwas Bleiches, Stolzes, Einsames, — nun diese muntere Bereitwilligkeit der rundesten Augen von der Welt ...?
„Aber wie mich das freut!“ sagte sie, ihre Hand ergreifend. „Josefs Freundin, nicht wahr?“
Die errötete lächelnd und sagte nichts. Indessen war Renate inne geworden, daß der schöne jüdische Mensch Saint-Georges’ neuer Cellospieler sein mußte, und reichte auch ihm die Hand, die er mit linkischer Verbeugung ergriff. Mund und Kinn waren voll und weich, die Stirn hoch und rein unter buschigem, schwarzem Haar, die Nase ein langer, im oberen Stück heruntergebogener Haken, die geröteten Backenknochen standen ein wenig vor. — O, der gefiel ihr! Und wie fest und warm seine Hand war!
„Und hier ist mein kleiner Bruder“, sagte Saint-Georges.
Rasch hinübergehend, beugte sie sich zu ihm und fand ihn so rührend in seinem flammenden Rotwerden — das, da er keine Hand bewegen konnte, alles sagen und geben mußte —, daß sie ihn auf die Stirn küßte, worauf er ganz erschreckt „O danke!“ sagte.
Der Schreibtisch war nichts als eine lange fichtene Platte auf Böcken voller Papiere und Bücher. Daneben war noch eine braune Tür, und in der Ecke dahinter stand ein altes, rotes Plüschsofa vor einem ovalen Tisch und ähnlichen Sesseln; aber ein sehr schöner türkischer Schal, ein Longschal mit schwarzer Mitte, ein Erbstück, hing über dem Tisch.
Sie sei eben recht gekommen, um zu helfen, sagte Saint-Georges zu Renate, nachdem sie abgelegt hatte und im Sofa saß, die Cornelia im Stuhl neben sich, während Sigurd Birnbaum sich an dem Bücherstreifen neben dem Schreibtisch zu schaffen machte. — Ja, Fräulein Ring suche eine Anstellung, erklärte Saint-Georges, vor den Beiden stehend, weiter, aber bisher habe selbst Sigurd nichts gefunden. Sigurd nämlich wisse Rat für alles. — Sigurd hingegen verfinsterte sich und murmelte wegwerfend nach den Fenstern zu, er wisse gar nichts. Gar nichts!
„Sie tun immer so,“ grollte er, „als ob Gottweißwas an mir wäre, und dabei bin ich — bin ich —“ Er schloß, augenscheinlich keinen Grad der Niedrigkeit findend, mit einer verächtlichen Handbewegung und stellte sich an die Bücherwand, trotzig.
„Wie man alten Schweinslederbänden neuen Glanz verleiht,“ sagte Saint-Georges lächelnd, „wie und wo man einen vor fünf Jahren in einer völlig vergessenen Zeitschrift gelesenen Aufsatz über den Anteil des rumänischen Bauern an der Weltwirtschaft wiederfindet, — wie man für einen aus Sibirien entsprungenen politischen Verbrecher Geld, Pässe und Gönner in Amerika findet — — und so weiter, nicht wahr, Sigurd?“
Der mußte wider Willen lachen, gebärdete sich aber ergrimmt.
„Und Sie suchen eine Anstellung?“ fragte Renate Cornelia. „Ja, was können Sie denn Gutes?“
„Gar nichts!“ lachte sie munter, „das ists ja eben. Alles, was ich gelernt habe, war Singen — bis mein letzter Lehrer mir die Stimme verdarb. Und da —“ sie verstummte.
— kam Josef, ergänzte Renate im stillen, indem sie „Wie traurig!“ sagte. Wie gut, dachte sie, könnte sie zu uns ins Haus kommen und mir helfen, allein — das würde sie selber nicht wollen, das selbe Haus in Josefs Abwesenheit betreten, das ihr, als er da war, nicht offen stand. Aber, als habe etwas aus diesen Gedanken den Weg zu Cornelia gefunden, sagte sie jetzt mit scherzender Betrübtheit: dann könnte sie ja Köchin werden ...
„Die Kochkunst“, sagte Saint-Georges, „darf niemand verachten. Wo haben Sie gelernt?“
„In Budapest.“
„Glänzend! Die besten Mehlspeisen in Böhmen, die besten Fleischgerichte in Ungarn. Wer mit Liebe und Ehrfurcht kocht, erhebt diese Verrichtung zu einer wahren Kunst, wie auch alle anderen nur dadurch zu einer werden.“
„Aber für wen kocht man mit Liebe?“ meinte sie kläglich.
Sigurd bemerkte schlechtweg:
„Für Bogner, nicht wahr? Der sucht doch eine Haushälterin.“
„Ich habe doch gesagt, Sigurd, du würdest es wissen. Bogner —“ wandte er sich an Renate, die eben dabei war, sich hastig den Kopf zu zerbrechen mit der Frage, ob sie wohl auch mit Andacht und Liebe für ihn kochen könnte, — „Bogner hat ein einsames Haus an einem unbekannten Waldrand gemietet und sucht eine Vertrauensperson, die ihn pflegt, denn die es zuletzt tat, ist vor kurzem selig geworden. Abgemacht, Verehrteste, Sie gehen zu Bogner. Sie wissen doch, wer das ist?“
„O — ob ich will?“ sagte sie aufstehend heiß und wie es schien ergriffen. „Ja — o ich kenne ihn! Aber — glauben Sie denn, daß er will?“
„Welche Frage! Wenn ich Sie bringe. Er hat mich doch beauftragt.“
„Dann ists gut“, sagte sie fromm und bereit, nahm ein Paar langer Schwedenhandschuhe von der Tischdecke und streckte Renate die Hand hin, sich entschuldigend, daß sie gestört habe. Renate, innerlich schwach, äußerlich mit Nachdruck „Auf Wiedersehn!“ wünschend, bedauerte sehr, daß sie ging. Wie leicht ihr Gang war! —
Saint-Georges, der sie hinausgeleitete, blieb eine Weile aus; so benutzte sie die Gelegenheit, gleich auf ihren Quartettenplan zu stoßen und Sigurd zu fragen, ob er in ihr Haus zum Spielen kommen wollte. Allein Sigurd lehnte völlig ab. Das sei ganz ausgeschlossen, denn er könne nicht das geringste. Er sei ein Stümper, behauptete er, den Kopf gesenkt, mit den Füßen bemüht, den umgeschlagenen Rand eines grauen Läufers mit roter Kante zu glätten, der seiner Länge nach am Boden durch das Zimmer gespannt war.
Ablenkend fragte Renate zu dem Gelähmten hinüber, sein Bruder laufe beim Arbeiten wohl fleißig auf und ab, daß er diesen Läufer hergelegt habe? — Der Gelähmte lachte nur heiser zur Antwort, Sigurd aber bemerkte lächelnd, der Läufer sei doch seine Erfindung! Der Fußboden wäre ganz weiß abgelaufen darunter.
„Sie studieren Medizin?“
„Ja — leider“, erwiderte er mit tiefem Ernst.
„Warum sagen Sie leider?“
Ganz düster versetzte er: „Weil mir als Juden doch die besten Wege verlegt sind. Ich meine natürlich nicht,“ fuhr er hochmütig fort, „daß ich nicht ordentlicher Professor werden kann, sondern daß mir die technischen Hülfsmittel verschlossen bleiben, die mit solchen Stellen verbunden sind. Und ich bin solch ein kraftloser Mensch ...“
Renate, ganz unwirsch von soviel Erniedrigung, war froh, Saint-Georges wieder im Zimmer zu sehen, der lächelnd dastand, gegen Sigurd blickend, die Finger in den Westentaschen. Ernst werdend, sagte er dann zu Renate:
„Wir kamen früher schon überein, Sigurd und ich, daß alle Juden sollten umgebracht werden.“ Und schon rief Sigurd erzürnt:
„Sogar die Russen sind vornehmer, tun wenigstens wie Herren, behandeln den Juden als Sklaven und schlagen ihn tot zum Zeitvertreib. Dies aber, dies ist das Verruchte, dies Geltenlassen und Verachten, daß wir herumgehen wie in einem Labyrinth schmaler Mauergänge, abgeschlossen, aber nicht ausgeschlossen, beklebt von oben bis unten mit Erlaubnissen und Verboten, und die Türen stehen uns alle offen, aber kein einziges Herz.“
Renate hatte sich auf das Sofa gesetzt, aber er vermied ihren Blick.
„Ja, Saint-Georges, was ist da zu sagen?“ fragte sie.
„Ich,“ brach Sigurd los, nicht ohne Pathos: „ich will nichts sagen, ich will was leisten, mich einsetzen, dazu ist mein Volk das nächste; ich will kämpfen und mich ereifern, solange ich jung bin. Ich kann nicht die Achseln zucken und mein Schicksal anerkennen, kann auch nicht jüdische Witze reißen in christlicher Gesellschaft. Sie, gnädiges Fräulein, kommen doch aus einem Pfarrhaus, und da können Sie mir vielleicht sagen, ob Ihr Christus, den ich gewiß so gut zu lieben verstehe wie Sie, ob er die Silbe anti gekannt hat? Und wenn er sie gekannt hat, ob nicht etwa sein ganzes Leben und Sterben darin bestanden hat, sie auszurotten? Sie haben doch recht behalten, die unten standen und schrien: Dein Blut komme über uns!“
„Sein Blut doch nicht“, sagte Renate begütigend und mit innerem Lächeln, denn von seiner grad eben betonten Kraftlosigkeit schien in diesem Augenblicke keine Spur vorhanden.
Verächtlich erwiderte er: „Freilich, er hat ja vergeben — was das schon hilft!“ und setzte sich auf den Stuhl, der hinter ihm stand.
Jetzt sah Renate, da er den linken Arm auf die Tischplatte legte, diese große, prachtvolle Hand, die wie ein sicherer Bergsteiger vom Halse des Cellos zur Brust nieder und wieder aufwärts klettern mußte, und sie winkte Saint-Georges mit den Augen zu ihr hin. Der sah sie an und sagte langsam:
„Ja, das ist Gideons Hand, die Hand der Makkabäer, Salomos Hand war nicht anders, sie weiß noch von davidischen Harfengriffen, und es ist eines Fischers Haus, und Saulus erhob sie bei Damaskus. Es ist eine gute Hand, und warum sollte Christus eine andere gehabt haben?“
Sigurd errötete und schnob grimmig, die wären Alle hin, und Christus am längsten tot. Taten müßten geschehen, hätte er in einem neuen Buche gelesen, und er zog ein Zeitungsblatt aus seinen mit Broschüren vollgepfropften Taschen, warf es auf den Tisch und sagte:
„Da hat wieder einer eine Umfrage losgelassen, woher es denn nun eigentlich käme, daß kein Mensch uns leiden könnte, und er faßt alles über uns gut und glatt und schonungslos zusammen, ich könnts nicht besser, und meint ihr, wir wüßten selber nicht, wo’s uns fehlt? Und das natürlich steht auch drin, daß, wo ein Arier gemein handelt, er, wo ein Jude gemein handelt, die ganze Rasse verdorben und schuld dran ist. Gott im Himmel, was haben wir denn gegen euch, warum streuen wir denn Gift aus, wie kommen wir denn dazu, will denn nicht jeder am liebsten in Frieden leben, wenn man ihn nur läßt? Wir sind doch nur da und wollen leben, nur die schmählichste Achtung haben, warum muß denn immer auf uns herumgetreten werden, seid ihr denn besser? Freilich, ohne Sklaven gings nirgends, der Amerikaner hat noch immer seinen Neger, und ihr habt euren Juden.“
Er sprang auf und stellte sich an seinen Bücherstreif, um daran zu zerren. Das Buch, das er in die Hand bekam, schlug er auf, blätterte, schlugs wieder zu und bohrte es vorsichtig, die unteren Ecken voran, hinein. Überdem klopfte es.
Renate hatte bereits vor Sekunden die Flurglocke gehört und wunderte sich, wer nun erscheinen würde. Was hereinkam, war eine liebliche kleine Chinesin — Renate hätte es auf den ersten Blick geschworen — in einem schwarzweiß gestreiften Kleide von leichter Halbseide, einen großen, flachen, schwarzen Strohhut in der Hand. Ja — ganz eiförmig war das kleine, dunkelhäutige Gesicht; die nach hinten gekämmten, glattschwarzen, glänzenden Haare waren zu einem kunstvollen, chinesischen Bau getürmt, in dem etwas Silbernes steckte; ganz klein und lackrot war der Mund; die Augen, geschlitzt, funkelten schwarzbraun im Lächeln, wie sie knickste und vorwärts getrippelt kam und, wieder lächelnd, stehen blieb. Und doch lag wieder ein deutlicher Hauch von Europa über dem Ganzen, der das Befremdliche lieblich vertuschte und versüßte. — Richtig: das waren die Brauen; sie schienen, so dünn und fein sie gezogen waren, doch nicht chinesisch geführt.
„Sieh da, Esther!“ sagte Saint-Georges und zu Renate: „Das ist Sigurds kleine Schwester.“
Esther sah ein wenig schüchtern aus glitzernden Augen zu Renates Größe auf, während sie ihr die Hand gab.
„Ach, entschuldigen Sie nur,“ sagte sie ganz deutsch, „ich wollte nur — ich dachte, du kämest mit spazieren. Bitte, entschuldigen Sie vielmals.“
Sigurd, noch mit dem Hineinstecken seines Buches beschäftigt, nickte und murmelte, er komme.
„Du wirst doch noch mal Bibliothekar, Sigurd!“ sagte sie träumerisch und lachte. — Saint-Georges, während Renate lächelnd bekräftigte, das wäre ja ein Ausweg, meinte auch: gewiß, in eine Bibliothek vergraben brauchte er sich um nichts zu bekümmern.
„Und nun macht, daß ihr fortkommt! Jetzt müssen wir arbeiten!“ rief er.
Esther knickste gleich und ging zur Tür. Renate konnte es nicht lassen, zu Sigurd, als er ihr die Hand gab, bittend zu sagen, er werde doch einmal kommen, versuchsweise, — und nun versicherte er errötend und bereitwillig, ja, sehr gern, außerordentlich gern. Dann waren sie Beide draußen.
„Nein, woher kommt dieser Tapfere?“ fragte Renate gleich. „Und diese Chinesin? Ach, die ist ja zu reizend! Georges, die müssen Sie mir bringen.“
„Zuerst“, sagte Saint-Georges, „muß ich um Entschuldigung bitten wegen der Besucher. Allerdings kam nur Cornelia unerwartet; Sigurd ließ ich selber holen, einesteils damit er helfe, andernteils weil er Ihnen auf diese Weise am einfachsten gegenübergestellt wurde, denn in Ihr Haus hätte ich ihn schwerlich bekommen. Wie gefällt er Ihnen?“
„Sehr gut, Georges! Aber wie ist er sonderbar! Und von Ihrem Läufer sagte er, er hätte ihn hingelegt. Und warum holt er immer Bücher heraus und —“
„Das ist wieder ganz Sigurd“, lachte er. „Unseren alten Läufer, Jürgen,“ rief er zu seinem Bruder hinüber, „den schon mein Vater abzulaufen angefangen hat, den hat er hingelegt!“
„Ja, lügt er denn?“
„O niemals, Renate! Er ist nur immer gleich so bei jeder Sache, daß es ihm scheint, sie stamme von ihm her. Er ist ganz wundervoll. Wenn man ein Mensch ist, der Pläne hat, Aussichten in die Zukunft, kann man keine bessere Stütze finden als ihn. Was man ihm sagt — Dinge, die einem selber vielleicht noch unklar sind —, davon läßt er sich mit seinem guten Herzen und hellem Geist augenblicks dergestalt durchflammen, als wär es sein Eigentum, als habe er nichts getan, als eben diese Sache von Grund aus zu treiben, und kommt man drei Tage später und sagt: Sigurd, das war alles Unsinn, was ich neulich geredet habe, die Sache sieht vielmehr so aus, dann ist er wieder völlig derselben Meinung, gänzlich als habe er das erstemal keine andere als die zweite Meinung verfochten. Ja, schlüpfrig ist er schon, fassen läßt er sich nirgend, aber welches Juwel! Sein ganzes Dasein scheint nur darauf gestellt, Andern zu helfen. — Ja, was ist denn?“ brach er ab, trat ans Fenster und öffnete, indem er sagte: „Es hat gepfiffen.“
Sich hinauslehnend, bemerkte er zurück: „Es ist Esther!“ Renate hörte ihn dann nach draußen sprechen und lachen, ohne die Worte zu verstehen. Dann schloß er das Fenster wieder, lächelte hocherfreut und sagte:
„Da haben wir ihn wieder. Esther sagt: vor ihrer Haustür — sie wohnen gleich hinter der Ecke — habe Sigurd erklärt, er hätte noch eine Postkarte zu schreiben. Sie habe dann gewartet, er aber kam nicht, und wie sie endlich zu ihm ins Zimmer geht, sitzt er und liest, und dann schmollt er und behauptet, wir hätten Alle gesagt, er wäre ein Trottel.“
„Was?“
„Nämlich, weil wir gesagt haben, er müßte Bibliothekar werden, denn alle Bibliothekare wären Trottel und ergo — — ja, das ist Sigurd! Ein eirundes Kind mit einem Goldfasan innen!“
„Ich glaube, Georges, zum Arbeiten kommen wir heut doch nicht. Da erzählen Sie lieber noch von ihm!“
„Ja, beim erstenmal pflegt das so zu sein“, meinte Saint-Georges gelassen und setzte sich vor den Schreibtisch, Renate zugewandt.
„Er ist Balte,“ begann er dann, „sein Vater ist tot, von seiner Mutter läßt sich seit langen Jahren nur sagen, daß sie ‚noch lebt‘. In ihrer Jugend hat sie einen jungen Menschen geliebt, den sie wegen beiderseitiger Armut nicht heiraten konnte. Dann besorgte sie ein paar Jahre einem alten und sehr reichen, verwitweten Verwandten das Haus, bis er starb, beerbte ihn und heiratete nun ihren Jugendgeliebten. Der Vater war nach Sigurds Beschreibung der edelste, wahrhaftigste Mensch, aber er verstand nichts vom Gelde, machte Konkurs und schoß sich leider tot. Seitdem ist die Mutter so wunderlich. Aus der Masse kam dann doch noch genug zum Vorschein, daß die Drei kümmerlich leben können, wenigstens bis Sigurd selber verdient.“
„Was mag aus ihm werden?“ fragte Renate nachdenklich.
„Ich hoffe, das, was er vor hat, ein Kinderarzt und ein guter. Er ist ein Mensch mit natürlicher Anlage, sich aufzuopfern. Sie haben wohl auch seine Sucht bemerkt, sich herabzusetzen.“
„Freilich! und er sagte, alle Wege wären ihm verschlossen.“ Saint-Georges lachte herzlich. „Wegen seines Judentums, nicht wahr? — Aber das ist seine Jünglingsmelancholie, die sich bei Andern in Weltschmerz oder in Weltwonne zu äußern pflegt, bei ihm in Selbstverachtung. Seine Tüchtigkeit, sein praktischer Blick, seine Arbeitskraft stehen außer Frage, und den Ausnahmen im Lande, wie er eine ist, haben noch immer alle Wege offen gestanden, außer dem in den Staatsdienst, den er sicher nicht gehen wird, — um so besser. Sein Kopf ist ebenso greisenalt wie sein Gemüt knabenjung. Da sieht er aus wie ein verbannter Erzengel und kommt sich vermutlich so abstoßend vor wie Beelzebub. Wer ihn drei Tage lang kennt, liebt ihn, er aber bejammert seine Unbrauchbarkeit und Niedrigkeit. Eher erschrecken könnte man schon, wenn er schwört — in seinen trübsten Stunden tut ers —, er würde irrsinnig, weil seine Mutter — und so weiter. Nun, man muß ihn reden lassen und warten, daß er älter wird. Gott erhalte ihm nur den Knaben im Herzen. — Heute ist der Zionismus seine Leidenschaft, weniger aus Überzeugung, daß die Rückkehr nach Zion die einzige Rettung sei, als um seiner selbst willen: um was tun zu können.“
Renate schwieg in Gedanken, hörte ihn nach einer Weile fragen, ob es ihr recht wäre, anzufangen, nickte und hatte gleich darauf ein englisches Buch in der Hand, während sie Saint-Georges drüben am Schreibtisch sich zurechtsetzen sah, um seine Notizen zu machen.
Georg, nicht unfroh unterm Absingen des schönen Liedes von der ‚aura academia‘, saß auf der Gartenterrasse des Baltenpreußenhauses bei seinem Pflichtbesuch.
Die vielen Verse des Liedes ließen ihm Muße, umher- und alles anzusehn. Es dämmerte bereits; zum Erstaunen geschmackvolle, schön geformte und zartfarbene Japanlampions schwebten in der dunklen Luft. Grüne Gärten in allen Tiefen schauerten angenehm im Sommeratem, wenn es still war in den Pausen des Gesangs; dahinter waren die roten, festungsartigen Mauern der Papierfabrik dunkel zu gewahren. Georgs Blick kehrte zurück und schweifte über die kleine Tafel mit ihren Gästen in kornblumenblauen Alltagszerevisen von Mützenstoff und Pekeschen, deren Blau infolge der Größe heller schien als das der Mützen, indem er bedachte: wie nett, daß es so Wenige sind, und die Wenigen obendrein so nett, wie es scheint. Besonders sein Gegenüber war ihm herzerfreuend, wie er dasaß, gut mittelgroß, eingepreßt den rundlichen Leib in die zartgrüne Einjährigenuniform der schweren Jäger mit hohem und engem, grünem Kragen, voll- und rotbäckig, die linke Wange leider von Narben zerfetzt, freundlich umherglänzenden Auges hinterm ungerandeten Kneifer, die Stirn mächtig gewölbt und gebuckelt unterm geschorenen Schädel, — im ganzen nicht nur älter und gesetzter, sondern durchaus anders scheinend als die Übrigen, fast fremdartig, aber nicht ohne Behagen in sich selbst beschlossen und für sich allein bei aller Teilnahme. Beim Vorstellen hatte er nur „Schwalbe“ gesagt, doch gehörte er vermutlich zu den kurländischen Freiherren, die mit den Keyserlings verwandt waren, von denen wieder Georgs Fuchsmajor bei den Schwaben und — vor allem — der Dichter abstammte; ein tröstlicher Gedanke. Der Präses neben Georg, zufällig auch Korpssenior, Graf Ellerau, sah in seiner gewaltigen Größe und Breite, dunkelhaarig und kleinäugig, gutmütig und ein wenig schläfrig aus, dagegen unten am Fuchsmajorat der kleine, kaffeebraune portugiesische Marquis, der aufs Haar einem seltenen Azteken glich, mißfiel Georg. Beim Vorstellen hatte er bloß gegurgelt. Was kann er den Füchsen beibringen, wenn er kein Deutsch redet? Ja, etwas schien er ihnen beizubringen: er schenkte ihnen Allasch aus einer Kruke in jedes Bierglas, — was doch wohl nur dazu dienen konnte, daß sie sich übten, bei früher Betrunkenheit sich lieblich aufzuführen, — eine wahre Hundsfötterei. — Reizend, was so die Ausländer bei uns lernen! — Georg bedauerte die drei Füchse, besonders die übermäßig langen und dünnen Zwillinge Rotenhahn — seltsam vergoldet von literarischen Erinnerungen — mit ununterscheidbaren, eben handgroßen, blassen Gesichtern, über denen die kleinen, blauen Mützendeckel schwebten. Der dritte Fuchs war belanglos, klein und schwärzlich. — Unangenehm waren die Gläser, aus denen ein scheußliches dünnes Biergemisch getrunken wurde, weil wenig über faustgroß: Georg, an seinen Münchener Maßkrug gewöhnt, glaubte mindestens schon zehn verschluckt zu haben in kaum mehr Minuten, allein, wie er bemerkte, war es Sitte, überhaupt nur Ganze zu trinken ...
Indem hob Georgs Nachbar zur Rechten, der Nordeck hieß und bei erstaunlich langer Nase und blassen, ein wenig idiotenhaften Zügen, blondes, zierlich gekräuseltes Haar trug, sein Glas und trank Georg zu, der, mitkommend, das seine gegen jenen, merkwürdigerweise pockennarbigen, finster und vereinsamt wie ein Anarchist aussehenden Grafen Tastozzi schwang: „Übers Kreuz vor, Graf, mit Ihrer Erlaubnis!“ Der errötete heftig, ergriff tastend sein Glas und trank mit. — Der Diener kam, beide Hände voll gefüllter Gläser, und Georg bemerkte, daß er jedem immer gleich mehrere hinsetzte, praktisch unleugbar — für ihn, weniger für das ohnehin schale Bier; jedoch gehörte vielleicht auch dies zur Erziehung.
Ja, wenn nicht das Trinken wäre, seufzte Georg, könnte es ja reizend sein. Ich bin doch überrascht ...
Der Präsidenspeer knallte auf der Tischplatte. „Schönes Lied ist aus, ein Schmollis den Sängern! Prost Markwis!“ rief der Senior stehend, schüttete den Inhalt seines Glases hinunter und setzte sich. Georg beugte sich zu dem Freiherrn gegenüber: ob er nicht Balte sei ...
„Ich bin Balte“, wiederholte der, schnell und fest, bereitwillig sich zusammenraffend und die Arme auf den Tisch legend. „Nein, danke,“ wehrte er Georgs Zigarettendose ab, „ich rauche nur, wenn ich mich langweile.“ — Recht behaglich klang sein nicht allzubreites Ostpreußisch mit leicht zungengeschlagenem R-Laut. Er hatte die Gewohnheit, die Augen hinter dem Kneifer niederzuschlagen, sobald er sprach.
„Und sind mit den Keyserlings verwandt?“
„Ich bin mit Keyserlings verwandt, allerdings, aber mit welchen meinen Durchlaucht? Mit Ihrem Keyserling bin ich nicht verwandt“, betonte er lächelnd mit tippendem Zeigefinger.
„Ich dachte an den Dichter.“
„Mit dem Dichter bin ich verwandt, jawohl“, bekräftigte er, den Kopf vorwärts drückend, während Graf Ellerau ihm die Hand auf die Schulter legte und nicht unfreundlich sagte:
„Unser Schwalbe ist selbst Dichter. Er macht schöne Verse. Ja, wir sind solch ein Ästhetenklub. Die Zwillinge sollen auch dichten insgeheim; sie schwärmen für alle schönen Künste, besonders Malerei, glaub ich. Wie ists, Füchse, Erwin! Emil! Prost! Für welche Kunst schwärmt ihr grade?“
Die verdonnerten Fuxen griffen nach ihren Gläsern und schwiegen. Georg sagte, um die Aufmerksamkeit von ihnen abzulenken, in das Gelächter der Andern:
„Das ist ja aber erstaunlich! Sie machen Verse — und Sie lesen sie womöglich?“
„Ab und zu“, gestand der Senior lächelnd ein. „Ein gutes Buch hin und wieder ist man doch schon seiner Gesundheit schuldig.“ Schwalbe ließ seine Augen standhaft und freundlich in Georgs. „Es zuckt mir manchmal geradezu in den Fingern nach Seitenblättern — wie’s einem im Herbst drin zuckt, wenn die Krickente streicht, nach dem Abzug.“
Der gekräuselte Nordeck, ein mächtiges, tiefes und hohles Gelächter herausschüttend, sagte breit altenrepenisch: „Ja, man bodet ja auch alle vierzehn Toge! Ihr Wohl, hohoho, Durchlaucht, ich gestatte mir.“
Georg trank. „Unser Keyserling“, wandte er sich dann wieder zu Schwalbe hinüber, „pflegte gern von zu Haus zu erzählen. Sagen Sie, ist das wahr: er behauptete, er hätte, bevor er zu uns kam, nie einen Buchenwald gesehen.“
„Ja!“ Schwalbe setzte sich wieder in Anteil und Bewegung, „das ist wahr. Als ich selber zuerst einen Buchenwald sah, dachte ich, ich käme in einen Palmenhain. Es jiebt ke—ine Buchen bäi uns.“
„Was dann? Fichten? Nadelholz?“
„Jawohl; Fichten. Vor allem aber — Birken. Und die Birken wachsen nicht wie hier, in Trupps und kaum mehr als armdick. Bei uns sind es janze Wäldchen, aber die Stämme stehen janz ver—e—inzelt, doch wie die E—ichen, und der Bo—den ist Wiese und daher janz mit Blumen bedäckt.“
„Ah!“ Georg sah lebhaft die einzelnen, weißen Säulenstämme mit grünem Laubgeschleier vorm Himmelsblau und unterhalb einen Teppich buntfarbener Anemonen. „Das muß ja beinah — arkadisch aussehen.“
„Stellen Sie sich Orkodien so vor, Durchlaucht?“ schüttelte der blonde Nordeck mit seinem unmäßigen Gelächter heraus. Der Tastozzi drüben lächelte gezwungen mit; Georg entschloß sich, ihm „definitiv“ zu kommen, was ihn wieder sehr zu erschrecken schien, und Georg gewann ihn fast gern dadurch.
Ach, deine Sicherheit! durchzuckte es ihn beim Trinken jählings. Er stellte mit innerlichem Achselzucken sein Glas hin. Ich bin, der ich je war, stellte er fest und biß die Zähne zusammen.
Da er nun den Präsiden mit dem Korpsdiener flüstern und die Worte „telephoniert haben“ sowie einige Namen, darunter Schley, zu verstehen glaubte, wandte er sich an Ellerau mit der Frage, ob etwa seinetwegen etwas vorgehe — womöglich die Alten Herren behelligt würden —, und Ellerau wehrte verlegen ab. In der Tat, die Nachricht von Georgs Erscheinen sei erst so spät gekommen, — da habe er sich bei dem ohnehin geringen Bestand des Bundes erlaubt, einige alte Herren, die immer sonst kämen, noch telephonisch herbeizurufen —, worauf er, abbiegend, die Gelegenheit geschickt benutzte zu höflichem Keilen, indem er Aufklärungen gab über die hiesigen Korpsverhältnisse, die durchweg leider nur geringen Bestände an Aktiven, die Erwünschtheit des Zuwachses — wo dann eine kleine Schmeichelei über die Beziehungen zu den Münchener Schwaben seit altersher einlief —, ferner über die verhältnismäßig freie Auffassung vom Korpsleben in der norddeutschen Großstadt, wo der Student nicht, wie an den kleinen Hochschulen, alles gelte und jedem bekannt sei, — was alles Georg mit schweigsam nickender und lächelnder Höflichkeit über sich ergehn ließ, am Ende einen Augenblick still war und, dem Grafen zutrinkend, nach dem gehörten Namen Schley fragte. Ob er mit der Motorenfabrik zusammengehöre.
„Jawohl. Sein Vater ist der Besitzer. Der Adel — Schley-Schleyenburg — ist ein bißchen sehr — jung; zu jung für manchen unter uns ... ich weiß nicht, wie Durchlaucht ...“
Georg äußerte, ihm wärs egal, wenn —
„Wenns Herz nur schwarz ist, hohoho, nicht wahr, Durchlaucht?“ lachte Nordeck an seiner Seite, sich vornüber kippend, „Ihr Wohl, Durchlaucht, ich gestatte mir!“ — Also auch der zitierte was, wenn auch eben nur Rosegger, — aber Georg setzte eben sein Glas an die Lippen, als die gesamte Fuchskorona von den Stühlen schnellte und ihr Major beinahe verständlich gurgelte, das Fuchsmajorat nehme sich Freiheit — vier Ganze! — — „O, der Teufel hole eure Freiheit“, murmelte Georg, hinunterwinkend, sein Glas an den Lippen, und trank, dem Nordeck nach und, was seit langem nötig geworden war, Schwalbe vorkommend. Alsdann stand er auf, um hinauszugehn.
Durch den halb erleuchteten Kneipsaal auf die Flügeltür zugehend, gewahrte er draußen in der ovalen und rahmenlosen Spiegelscheibe an der Wand des Vorraums ein neues Gesicht, in dessen rechtem Auge ein Monokel steckte; im übrigen war es blaß, die lange Nase verlief oben in die schräge zurückfallende Stirn, deren Linie wieder weiterhin in den nackten Schädel verging unter das spärliche blonde Haar; auch hier war ganz wenig Aztekenerinnerung und nordecksche Geistesleere. — Jetzt aber, der Türe näher kommend, sah Georg eine überlange Gestalt darin erscheinen und erkannte, freudig überrascht, an ihrem oberen Ende das schmale rechteckige und rötliche Gesicht, die etwas vorquellenden blauen Augen und die breit auf den breiten, von dünnen blonden Bartzipfeln chinesenhaft umrahmten Mund gedrückte Nase von ‚Novalis‘, altem Herrn seines Schülerlesevereins, — und sein Kinn fiel genau wie damals zurück. Georg streckte heiter die Hand aus:
„Graf Hardenberg! Wie reizend, Sie hier zu sehn! Aber Sie sind doch nicht Baltenpreuße? Nun, was machen Sie? Ich habe lange nichts von Ihnen gelesen. Sie haben doch nicht aufgehört? Und was macht Ihr Pollux oder Kastor, Ihr Freund — wie hieß er doch noch? Nun, das müssen Sie mir alles drinnen erzählen, ich bin eben auf dem Weg nach draußen, ja, vielleicht zeigen Sie mirs gleich ...“
Hardenberg, verlegen, rot werdend und einsilbig wie stets zu Anfang, begnügte sich mit Verbeugungen und Händedruck. Da kam Georg, der weiter wollte, das Gesicht aus dem Spiegel entgegen, jetzt über sehr breiten Schultern und — bei etwas schlenkrig stolperndem Gang der schmalen Füße unten — so geradeswegs und mit so leerem Ausdruck auf ihn zu, daß er einen Augenblick glaubte, von dem Andern nicht gesehen und überrannt zu werden. Doch fiel jetzt, einem großen Wassertropfen gleich, das Einglas herunter, die Figur blieb stehen, verneigte sich und sagte breit:
„Schley.“
Georg schüttelte ihm die Hand und versicherte, entzückt zu sein. Der Freiherr fing an, überaus langsam und mit näselnder, nein nöliger Stimme zu sprechen:
„Durchlaucht — wollten wohl nach — draußen. Ich erlaube mir — mitzukommen.“
Also gingen sie zusammen.
Dieser hier war erstaunlich, dachte Georg über seiner Verrichtung vor der marmornen Nische, aber Hardenberg — das war wirklich eine neue Freude. Dies Haus steckte ja voll Überraschungen. O, Hardenberg schrieb die entzückendsten Dialoge, fast ein Geplapper, das sich aber zu einer fast furchtbaren Verve steigern konnte, und in dem er auf die allergeistvollste Weise meist die Daseinsberechtigung der geistlosesten Dinge verfocht. Ja — zudem war er allerdings homosexuell, allein er machte — wie es in der Schülersprache hieß — keinen Gebrauch davon, und angesichts seiner stillen Würde und unwandelbaren Vornehmheit hätte niemand es gewagt, in seinem, wie kein anderes inniges Freundschaftsverhältnis zu — — Georg konnte nicht auf den Namen kommen — etwas anderes als eben — Freundschaft zu argwöhnen. Wie sich die Kunde von seiner Anormalität verbreitet hatte, war unklar, doch die Tatsache stand fest.
Um etwas zu sagen, äußerte Georg beim gemeinsamen Händeabtrocknen zu Schley, ob noch viele Balten das Korps aufsuchten, was der langsam bejahte.
„Mein Vater allerdings“, fuhr er in seiner Nöligkeit fort, „war — Kölner. Aber ich bin ei’nlich ’n halber Franzose. Ich seh bloß nich so — aus.“ Dabei kratzte er sich ratlos den Kopf und ließ — plötzlich — das Glas aus dem aufgerissenen Auge tropfen. Als sie den Vorraum wieder betraten, machte er sich erbötig, Georg das Haus zu zeigen, und so wandelten sie denn ziemlich schweigsam von Zimmer zu Zimmers, Schley die Namen sagend, die sich ohnehin von selbst verstanden nach der Einrichtung, Georg einen Lobspruch fallen lassend. In der Bibliothek aber fand Georg ein wohlbekanntes stark violettes Buch liegen und sagte:
„Da liegt ja der ‚siebente Ring‘. Wem mag der denn gehören?“
Schley sah näher hin. „Das wird wohl meiner sein“, bemerkte er zögernd, nahm ihn langsam auf, betrachtete ihn ebenso langsam von allen Seiten und erklärte, ja, es wäre seiner.
„Ich hab’n Schwalbe geliehen, der seinen glaub ich auf seinem Gut vergessen hatte. Meine Frau — ich bin drei Tage verheiratet — hat ’n mir grad erst geschenkt.“
„Haben Sie denn schon drin gelesen?“ fragte Georg neugierig.
„O freilich! Ich kenne ihn lange! Er ist ja sehr — schwierig, aber wenn man sich ’n büschen Mühe giebt, dann — geht es. — George — — ja, das ist so ’n — großer Saturn möcht ich sagen ... So ein ganzer riesiger Weltkörper in einem goldenen Ring von Gesetzen. Nee, wissen Sie,“ fuhr er auf einmal ganz lebhaft fort, das Monokel schnell wegtropfen lassend, „wissen Sie, da is ein Gedicht in einem früheren Buch, das fängt an: ‚Die Herden trabten aus den Winterlagern ...‘ Kennen Sie das? — Ja, ich muß doch sa—gen,“ sprach er wieder langsamer, „wie ich das zuerst las — da sind mir die Tränen in die Augen getreten.“
Georg fühlte sich eigentümlich ergriffen, weil der Mensch so ernsthaft und echt sprach.
„Ja, nicht wahr,“ erwiderte er eifrig dann, „so ists mir mit manchem Gedicht ergangen, und —“
„Und er hat so was Heiliges, muß ich sagen,“ hörte er die gar nicht mehr näselnde Stimme wieder, „so etwas Götternahes wie sonst nur Hölderlin. Das ist alles wie so große eherne Platten ...“
„Ja, eingegraben, nicht wahr? So unabänderlich und unerbittlich!“
Georg ärgerte sich, daß ihm Worte und Geist versagten, wandte sich und trat an das offene Fenster, das nicht eben hoch über der Straße lag.
Plötzlich gab es einen Stillstand in Georg.
Die Bogenlampe über dem Portal verbreitete ein stark flutendes rotes Licht. Jenseits von dessen Grenze lagen die Anlagen im Dunkel, wo wenige, grünlich weiße Laternen brannten. Eine Zeile von ihnen führte unterhalb des hochübertürmten Schattenrisses der Universität vorüber; eine andere zur Linken in die Ferne, unterm schwarzen Wall der Alleebäume. Das Pflaster war schwarz, naß beregnet. In ein und dem selben Augenblick spürte Georg einen sehnsuchterregenden Atemzug aus der Mainacht und hörte er eine Stimme in seinem Innern sagen:
‚Im Spiel, im Fieber, im Gespräch mit Toren —
In Liebesqual — in leerem Zeitverprassen ...‘
O mein Himmel ja, ‚wer wüßte je das Leben ...? Wer hat die Hälfte nicht davon verloren?‘
Schley hinter ihm im Zimmer sagte etwas; Georg konnte sich nicht losmachen, blickend, ohne zu sehen, doch fing er willenlos an zu zählen, als die Uhr im Turme der Universität schlug, und zählte zehn Schläge. — Im Spiel, im Fieber, im Gespräch mit Toren ... Nein, das ging ein wenig zu weit ... Freilich, was kam auch heraus bei solchen Gesprächen? Nun, wenns gut ging, eine angenehme Bekanntschaft — man mußte doch Menschen kennen lernen — eine Freundschaft womöglich. Schade, daß Schwalbe, als Soldat, selten zu haben sein würde ... Aber wenn ich öfter herkäme — Verkehrsgast würde ... Öfter herkäme ... öfter herkäme ...
Ja: meine Maske ... Deshalb kam ich ja. — Georg merkte den leisen Druck der Angst auf der Brust und fuhr auf. Mit heftigem Schnarchen warf ein gewaltig großes, offenes Automobil mit blendenden Scheinwerfern sich um die nahe Hausecke zur Linken und rauschte heran; etwas Kleines, Weißgekleidetes befand sich einsam im erhöhten Rücksitz, eine junge Dame, die, gegen den Fahrtwind geneigt, mit der einen Hand, erhobenen Armes, einen helmartigen kleinen Hut aus rosafarbenem Stroh auf den Kopf drückte, und im nächsten Augenblick hielt der Wagen dicht vor Georg. Aus einem kleinen, weißen, fast dreieckig geformten Antlitz richteten sich übergroße schwarze Augen auf ihn. Dann öffnete sie den Mund und sagte:
„Guten Abend. Ach bitte, ist mein Mann vielleicht hier? Baronin Schley.“
Baronin Schley? Georg staunte. „Aber gewiß, Baronin!“ rief er, „Augenblick!“ und zu Schley zurück: „Herr von Schley, freuen Sie sich, Ihre Gemahlin ...“
Schley kam ungläubig und mit Seelenruhe ans Fenster, hatte aber kaum einen Blick hinausgeworfen, als er nur: „Virgo?“ sagte und schnurstracks hinausging. — Virgo? dachte Georg. Mein Gott, das ist hinreißend! — Und ging flugs hinterher.
Durch das offene Haustor, die Stufen hinunterblickend, sah er sie im geöffneten Wagenschlag stehn, leicht mit dem einen Fuß hin und her schlenkernd — ganz rosenfarben war der von Strumpf und Seidenschuh — emsig auf ihren Mann herunter redend und lachend, und während Georg nun hinzuging, rief sie ihm entgegen:
„So, also Sie sind dieser Prinz, dessentwegen er mir durchgegangen ist! Was gehn dich wohl fremde Prinzen an, wenn du gerade geheiratet hast! — Er telephonierte, ein Prinz wäre da und er müßte hierher.“ Sie schöpfte Atem. Ihr Mund mit gesenkten Winkeln war ein entzückendes kleines rotes Dach. Die Nasenflügel blähten sich zitternd, und wie hoffärtig war die kleine Biegung der Spitze! Tiefe, bläulich schwarze Ränder unter den Lidern machten die Augen noch größer, als sie waren.
„Und da wollten Sie ihn wegholen?“ hatte Georg gefragt.
„Nein,“ sagte sie, „nun will ich hinein. Nun will ich die akademischen Sitten kennen lernen.“
Schley, während Georg nur „Ach weh!“ äußerte, meinte, zu ihr aufsehend, langsam und ruhig: „Ach, davon verstehst du ja — gar nichts“; worauf sie aus dem Wagen kletterte.
„Los!“ sagte sie, zwischen den Beiden stehend, „Ihren Arm, Durchlaucht! und deinen, Wolf!“ Sie warf auflachend den Kopf zurück und zog die Beiden wie ein Kind mit sich; und wie bei einem Kinde — Georg sahs, als sie vor den Haustorstufen den Kopf senkte — war unter der tiefen Krempe von zartem, rosigem Stroh — eine einzige goldene Rose saß daran — das Haar, braun, kurzgeschnitten, in lockeren Büscheln durcheinanderstehend.
Augenblicke später fuhr die freudig überraschte Korona auf der Terrasse von den Stühlen, wurde vorgestellt, der Senior legte seine Würde nieder und — die Fidelität eröffnend — die des Vorsitzes zur ersten Attischen in die Hände Georgs.
Ja, nun würde es köstlich werden ... Georg drückte sich mit Behagen gegen die hohe Rücklehne des Präsidenstuhls zurück, die Tafel hinunterschauend, die kleine Fremde zur Rechten, ihren Mann zur Linken und weiterhin all die erwartungsvollen, blitzenden Augen und roten, vergnügten Gesichter, Schwalbes feste, bereitwillige Freundlichkeit und des überragenden Hardenbergs Georg zugewandtes Lächeln, das merkwürdig menschlich an dem, wie ein Zaunpfahl ungefüge zurechtgeschnittenen Haupte angebracht war.
„Entschuldigen Sie, Baronin,“ sagte Georg, „nun giebts einen Knall!“ und sie fuhr zusammen, als das Schlägereisen über die Tischplatte prallte. Dann sagte Georg schnell ein paar verehrungsvolle Begrüßungsworte auf und befahl — ihr zumurmelnd: „als erste Vorführung“ — den Salamander.
„Ad exercitium salamandri! Salamander incipitur eins, zwei, drei, eins!“
Georg spähte, während hörbar ringsum aus den angesetzten Gläsern das Schlucken gluckste und sichtbar die gelbe Flüssigkeit abnahm, nach Virgo — denn so nannte er sie. Sie sah großäugig, den Mund halb offen vor Staunen, zu ihrem Mann auf.
„Zwei, drei. Eins — — zwei — — drei.“ Die Gläserböden rumorten auf dem Tisch. „Eins! — zwei! — drei!“ Der Aufschlag sämtlicher Gläser erdröhnte tadellos. „Füchse haben nachgeklappt, in die Kanne eins, eins, Blume melden! Salamander ex, silentium ex, colloquium!“ schnurrte Georg zu Ende und setzte sich, nicht ohne Stolz.
„Wolf, was für’n — Unsinn!“ sagte sie hörbar in das allgemeine Schweigen, worauf ein Gelächterhallo folgte. Drei, viere begannen auf sie einzureden, aber sie schnitt alles ohne weiteres ab und gebot spöttisch: „Na denn weiter! nächste Nummer!“
Georg schlug vor, ein Lied zu singen. „Von Scheffel,“ sagte sie, „die sollen ja so komisch sein,“ und da mehrere Stimmen den ‚Enderle‘ beantragten, befahl Georg diesen. Das Klavier ertönte, vier, fünf Hände reichten ihr Liederbuch der Kleinen, Füchse kamen viel zu spät, aufgeregt noch blätternd, zu dem selben Zwecke herangesegelt, Georg erhob sich, das Lied begann.
Leider verzog sie, wie Georg bemerkte, bei keinem der köstlichen Verse eine Miene; selbst das ‚Jetzt weicht, jetzt flieht, jetzt weicht, jetzt flieht, mit Zittern und Zähnegefletsch!‘ entlockte ihr kein Lächeln, und das Lied war aus.
„Aus“, sagte sie seufzend und sah umher. „War das komisch?“ Sie zog ein Gesicht, als argwöhnte sie, daß man sich über sie lustig machte. „Warum singt ihr dann nicht lieber von Christian Morgenstern etwas; darin ist doch wenigstens Sinn. Na, also dann weiter, was giebts noch zu sehen?“
Also wurde ihr der Trinkkomment vorgeführt. Ein Feuerwerk von Zuprosten nach allen Seiten sprühte. Vor-, mit-, nachkommen, übers Kreuz, unter demselben, definitiv, bis keiner mehr wußte, was er wem schuldig war, während die Füchse in die Kanne steigen mußten, daß sie verreckten, in den Verruf flogen und sich verzweifelt herauspaukten, der aus dem zweiten, der aus dem dritten, ein Tohuwabohu, in dem sie immer stiller und immer blasser und immer schmaler an ihrer Stuhllehne wurde, selten matt lächelnd, wenn jemand auf ihr Spezielles mit ausgeschlossener Löfflung trank, — als wovon ihr Georg erklärte, daß es keine Beleidigung sei, sondern eine Ehre.
„Nun ists genug,“ raffte sie sich endlich auf, „ihr werdet ja alle betrunken werden.“
Schley und Georg betrachteten sich sardonisch während des Höllengelächters der Übrigen, Beide augenscheinlich das gleiche Wort auf den Lippen, das sie verschwiegen. Georg selber keuchte einigermaßen vom quellenden Bier in seinem Innern.
„Ich hab mal“, hörte er sie erst nach einer Weile leise sagen, „was von Bier — Bierjungen — heißt es nicht so? gehört. Was ist denn das? Das ist noch nicht vorgekommen“, meinte sie mit mühsamer Heiterkeit. Georg seufzte.
„Also los, Baron, zanken wir uns. Ein Bierjunge“, erklärte er ihr, „ist ein Bierduell nach vorangegangener Beleidigung. Ich muß mich doch wundern, Baron, Sie nach kaum angefangener Ehe in solcher Gesellschaft zu sehn.“
„Das geht Sie ja gar nichts an, Durchlaucht.“
„Nichts angehen! Das ist Tusch!“ schrien ein paar Stimmen.
„Bierjunge!“ sagte Georg finster.
„Doppelt!“ erwiderte Schley, „das ist hier so üblich,“ setzte er hinzu, „entschuldigen Sie.“
„Dreifach!“ versetzte Georg. „Na, nun ists aber genug. Herr von Schwalbe, bitte wollen Sie Richter sein?“ Schwalbe erhob sich bereitwillig mit einem Ruck.
Da es nun eine Pause gab, bis Schwalbe, zwischen Georg und Schley sich setzend, die herangeschleiften sechs Gläser auf ihre genau gleichmäßige Füllung verglichen hatte, meldete der Fuchsmajor gurgelnd von unten einen Solokantus der Zwillinge, die sich wankend erhoben, dann mit ungeheurer Anstrengung steif dastanden, die Mützen abnahmen und sich langsam herdrehten. Ihre kleinen, todbleichen Gesichter mit schwimmenden Augen sahen so entsetzlich aus, daß Georg Virgo kaum anzublicken wagte. Sie sah vor sich nieder. Stumm standen die Zwillinge. Aus den Anderen scholl Gelächter, aber auch Widerspruch. Dann schrie Ellerau, breit dasitzend, grausam: „Also los, Füchse, wirds bald! Euren Kantus! Baronin wartet.“ Die schluckten. Hohl, um so hohler, weil ohne Klavierbegleitung, fingen sie an zu singen:
„Ach, unsre Ju—u—geend —
Wird — so — ver—geu—eu—det —
Ja — uns—re — Jugendzeit —
Die — wird — ver—tan ...“
„Nun ists aber genug“, bemerkte Schley. „Genug!“ schrie Georg, „geschenkt, Füchse, hinsetzen! Macht, daß ihr —“, er verstummte, für sich allein ergänzend: „— hinauskommt!“ — Und die Zwillinge setzten sich verdutzt und eilig. Augenblicke später verschwanden sie. — Schwalbe erhob sich, verkündete das Bierduell mit dem Stichwort „Baltoborussia sei’s Panier!“ und Schley und Georg standen auf.
„Ergreift die Waffen, berührt die Waffen, los!“
Die ersten Gläser verschwanden schnell. Als Georg, etwas langsamer am zweiten schlang, sah er zu Virgo hinüber; die saß wie ein Steinbild mit Augen wie schwarze Löcher. Als ihr Mann das letzte Glas ergriff, erhob sie mechanisch die rechte Hand, wie um ihn zurückzuhalten.
„Borussia sei’s Panier!“ sagte Georg mühsam, das Glas hinsetzend, und Schwalbe kündigte an, daß Herr Baron von Schley als zweiter Sieger hervorgegangen sein dürfte.
Plötzlich war alles durcheinandergeraten. Georg saß irgendwo und redete ununterbrochen auf die Allerholdeste ein, aber dann riß das ab, Georg irrte umher zwischen Stehenden und Sitzenden, fühlte sich sehr unglücklich und in seiner Sehkraft beeinträchtigt. Lichter verschwammen blitzend in Qualm, Wänden und blauen Flecken; was er ansah, schwang sich kreisend zur Seite; ganz hinten stand eine weibliche, kleine, weiße Gestalt, die er auf keine Weise erreichen konnte, sie hatte ihn ja weggeschickt, obwohl er sie so glühend liebte, nun stand sie mit einem Andern dort und sprach Schlechtes von ihm, o, sie war ihm entsetzlich böse, und unglücklich war sie, Georg brach das Herz, es war im Leben nicht wieder gutzumachen, denn morgen — nein übermorgen reiste sie nach Japan. — Da, jetzt saß er wieder, hatte einen andern — Schwalbe — dicht neben sich und redete unaufhörlich auf ihn ein, steigende Rührung im Herzen und das Gefühl unermeßlichen Genusses im Ausschütten seiner geheimsten Gedanken. Hin und wieder hörte er auch den Andern sprechen, verstand ihn auch, sah seine rundliche, rote Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger auf sein eigenes Knie zu tippen, fühlte sich bekräftigt und verstanden und redete wieder. — Dann wurde ihm furchtbar übel; er bezwang sich noch, allein es ward schlimmer, der Raum, die Lampen, grüne Wipfel, ein großer, geschweifter, grauer Lampion wankten auf ihn zu, er stand auf und fand sich im selben Augenblick unter ungeheuren Qualen seiner in Stücke brechenden Brust, keuchend mit rinnenden Augen und quellendem Munde über ein Becken gehängt. Dann riß wieder alles ab, er erwachte und hörte ein ohrenbetäubendes Geheul, fühlte sich in die Lüfte erhoben, Hände tasteten an seinem Leib, er wurde getragen, hatte eine blaue Mütze in der Hand, die er schwenkte, rief: „Baltoborussia for ever!“ Plötzlich glitt er zur Erde, stand wankend, umarmte jemand und saß auf einem Stuhl, ein Glas in der Hand, während immerfort jemand kam, um ihm die Hand zu schütteln, worauf er dann einen Schluck ekelhaft bittern Zeugs in sich trank.
Und wiederum eine Weile später kämpfte Georg mit den Ärmellöchern eines Mantels, fluchte, weil jemand ihn hinten am Kragen in die Höhe reißen wollte, und dann stand er vor einer Droschke, innen und außen beladen mit Korpsbrüdern in Zivil, die sich auf Georg stürzten und ihn — durch das Fenster, wie es schien — hineinzwängten. Sie führen nach einem herrlich stinkenden Ort, sagten sie und sangen den schönen Choral: Lasset uns noch einen verlöten! während einer unendlichen Fahrt durch eine finstere Fabrikstadtgegend. Schließlich hielten sie den Wagen an und hatten noch zwei Straßen zu gehn, vornüberschießend, Georg unter jedem Arm einen Zwilling, von denen immer einer stehen bleiben wollte, um eine Rede über Moses zu halten. Dann ging es irgendwo Treppen hinauf in ein Haus, in einen kleinen Saal voller Mädchen, die in Jubelgeschrei ausbrachen. Georg wußte noch: nach dem ersten Glase Sekt bin ich hin ... Dann trank er es.
Einige Zeit später hatte Georg das Gefühl, zu erwachen, jedenfalls wurden allerhand Dinge deutlich um ihn, und er fand sich an der Wand eines Saales mit unaussprechlich öden Wänden lehnen, ein Sektglas in der Hand, das im selben Augenblick zu Boden fiel, und zum Umsinken berauscht. Im Saal, unter den vom Tabaksqualm und Staub fast blinden Glühbirnen war ein Hexentanz von einigen zwanzig Mann in Fräcken, Röcken oder Hemdsärmeln und ebensovielen splitternackten Weibern, die Georg unsäglich garstig und alle zu kurzbeinig erschienen. Einmal tat sich für Sekunden der Schwarm auseinander und durch die Gasse sah Georg drüben einen großen, hagern Menschen stehn, hektisch und ungesund, der mit theatralischer Gebärde im ausgestreckten Arm ein nacktes Mädchen lehnen hatte wie eine Harfe, auf deren Leib er mit der Rechten große Harpeggien griff; dazu deklamierte er mit hohler Stimme, deutlich vernehmbar: Vom Eise befreit sind Strom und Bäche ... Dies Bild schwand spurlos, etwas Nacktes und Weiches taumelte gegen Georg, sank, während er, selber auf einen Stuhl fallend, es schwach festhielt, in seinem Schoß zusammen und schlief ein. Eine Zeitlang betrachtete er das fleischerne, magere Bündel Schlaf und tote Freude auf seinen Knien, legte ihren Kopf behutsam an seiner Schulter fest, ließ sein Gesicht weinend darüber fallen und schlief auch.
Schütteln erweckte ihn wieder; auch das Mädchen erwachte, klammerte sich an ihn, schluchzte und wollte ihn nicht fortlassen. Georg entkam jedoch irgendwie, fand sich bald darauf allein in einer morgengrauen, nebligen Straße und ging mit dem stumpfen Entschluß, zu Fuße heimzugelangen, halb im Schlaf so lange durch unbekannte Straßen, bis ihn ein Automobil fand, in dem er sein Haus in der Morgensonne unter lebhaftem Vogelgezwitscher erreichte. O Gott! dachte Georg, als er auf sein Bett fiel, o Gott! Morgen ist Sonntag!
Georg, an sich selber verzweifelt festgebissen, mit Verwünschungen beladen, entstellten Herzens voll Wut und Öde, hockte auf einer Bank im Park am Sonntagnachmittag. Seltsam schwärzlich war die, schon wie später Abend tiefe Dunkelheit in der Luft; tiefschwarz, nur durch den Fußweg und schmalen Uferstreifen von Georgs Füßen getrennt, der Teich, in dem große Stücke von kalt grauem Silber glommen. Der letzte, mehr schwere als scharfe Atemzug des abgestorbenen Winters schien in den feuchten Lüften abzustehn.
Ich habe, sagte Georg zum hundertsten Male zu sich, wie eine Canaille an mir selber gehandelt. Ich bin ein Pfuscher meines Lebens. O mein Gott, flehte er elend, sollte es wahr sein, daß seit — seit — er tastete nach einer Vorstellung und fand wieder nur, seltsam in der Luft hängend wie ein Stück kalten Mondes, diese — Maske —, seit dieser Maske also die Dinge anfangen, mir zum Unheil auszuschlagen? Ja, warum ging ich denn zu den Balten? Um die Maske zu versuchen. Dann war alles natürlich und überraschend freundlich und nun — — ich weiß zwar nicht: ist Schley wirklich auf dem Wege nach Japan? Und bilde ich mir nur ein, daß er seinen Assessor abgelegt hat? — Nun, es wird schon so sein, daß er verschwindet. Schwalbe werde ich kaum haben können, höchstens für mich allein, nicht an den Abenden, den — o diese Abende, nun kommen sie wieder, da kommen sie! Ich bin verwünscht! — Er krümmte sich, die Stirn zwischen den Fäusten. — Selbst wenn es, wie Ellerau sagte, nur drei in der Woche sein sollten und ich mich um die andern herumdrücken kann, für mich allein esse ... dann ist noch der Paukboden, und der ganze Fechttag am Sonnabend, da sind tausend Zwischenfälle, die mir Stücke aus meinem Leben schneiden — ach, es ist ja nicht auszudenken! — Ihm brach der Schweiß aus allen Poren; es war, als schwitzte er Fett aus Händen und Gesicht, sein Hirn dröhnte und kochte, die Augen brannten, der Gaumen lechzte, und im Magen polterten ekelhafte, moorige Massen. — Wenn ich, dachte er sich als letzte Rettung aus, in spätern Jahren einmal mein Leben in der Hand halten werde und nachsehen, was dies und jenes für ein Gewicht und Gesicht darin hatte — was für ein Aussehn mag dann dies Erlebnis haben?
In der Grotte von Buschwerk hinter ihm raschelte es, ein Vogel oder eine Ratte, sonst war kein Laut in der furchtsamen Abendstille. Die Stücke bleichen Himmels glommen leidenschaftlich und zuckten im düstern Teich; Gewölk rollte darüberhin, graues und schwarzes. Auf den Ufern umher standen die kaum belaubten Bäume dunkel und regungslos; schwer hangend, fahl, die Trauerweiden drüben an der kleinen Brücke, die ins Trostlose zu führen schien. Oben huschte die lautlose, verfinsterte Wolkenbewegung. Die Luft stand, nicht kalt, nicht warm, unfreundlich.
Will es nun nicht endlich bald regnen? dachte Georg erbittert. — Es regnete nicht, aber es wurde unheimlicher, als stünde etwas bevor. Bäume fingen an wie Gespenster auszusehn, wie entseelt, wie entsetzt. Aber all dies ist in mir, dachte Georg; die gute Natur, sie weiß nichts, sie nimmt die Gestalt von dieser oder jener Stunde an, wenn wir das Herz danach haben, es zu sehn. Wir sagen dann: heiter, oder: trübe, weil uns immer etwas peinigen muß oder freun. Du, Natur, schlichte, richtige, bist ohne Entweder-oder, aber du giebst nach, wenn wir uns an dich hängen, wir immer Beladenen; du hast nur dich selber zu ertragen, du entwächsest dir nie, du bist dir immer leicht und schwer genug, derweil wir stürzen oder steigen, hängen oder fliegen — ich glaube, all das Elend kommt doch allein von unsern Füßen her. Wenn wir fest stünden, würden wir vor unendlichem Staunen über all die Bewegung um uns her längst in diese milde Ergebenheit des duldenden Baumes versunken sein, der allem nachgiebt und um nichts sich bemüht. Aber diese Stunde ist wahrhaft schrecklich. Vielleicht war es doch sie allein, die sich den Nachmittag über entfalten wollte, rang und nicht konnte. Ich stand am Fenster, stundenlang, und sah, wie sichs wandelte. Nun ist es ja, als lägen überall Tote begraben; unterm Rasen dort rechts, der wie mit umdüsterten Augen herüberblickt, durch die Dunkelheit, die sich hebt und bewegt; im Teich, unter allen Bäumen — vielleicht liegen welche überall, still, mit gefalteten Händen, ohne Bewegung, aber sie haben begriffen, daß sie tot sind, und wissen nicht, was nun geschehen wird.
Ach, stünden sie auf einmal! alle, in irgendeiner Gestalt! gingen umher, streiften mich, daß doch nur einmal etwas geschähe, das entsetzte, das starr machte, das man nicht aus sich heraus erfinden müßte wie jedes Staunen, jeden Schrecken, jedes Gefühl, das tausend Jahre alte, tausend Male empfundene. Daß einmal etwas hereinbräche über einen, von draußen, von weit draußen, ein Unmeßbares, für das man nicht im Augenblick alles bereit hätte, um es festzustellen, um es zu erkennen! Ich verstehe Raskolnikoff, ich verstehe, daß er etwas tun mußte, von dem er nicht vorher wußte, was es sein würde; das sich vorher berechnen ließ bis aufs Haar, und das doch ein völlig anderes sein würde, wenn es geschehen war. Ich verstehe, wie er mit all seinen Haaren, mit zehntausend schmerzlichen Knoten an seiner Umgebung hing, an Steinen und Menschen, an Häusern und Geschäften, an Gefühlen und Plänen, an Büchern und Maschinen, und wie er den einen, einzigen Ruck haben wollte, wo alles das riß, und er so allein war im Raum, wie nur die Seele eines Mörders allein ist, die zwischen Sternen sitzt und friert.
Dummheit friert an mir. Aber ich schreibe ihnen, sie möchten entschuldigen, ich wäre gestern betrunken gewesen, und sie möchten mich gefälligst ... Heut noch schreib ichs, denn wenn ichs heut nicht tue, so fällt mir morgen ein, mich an ihre edlen Regungen zu wenden und dem Konvent eine freundliche Rede zu halten, und dann bin ich schon ihresgleichen, und sie kriegen mich doch herum. Oder am Ende ists heute doch nur der Alkohol im Leibe, und wenn morgen früh die Sonne scheint, denk ich, es wird schon gehen, oder daß ich wieder acht Tage verreisen kann, und daß sie mich auf vier Wochen hinaushängen, oder daß ich einfach versuche, zu tun, was mir paßt, zu ihnen gehe, wann mirs beliebt, und warte, was sie tun. Warum soll ich auch handeln? Wär es eine Gemeinheit, ein Verbrechen, das man bereuen könnte, Herrgott, so hätte man doch was getan! Nun ists bloß eine Dummheit, und — ist das ein Mensch, der Schatten da? Ich bin ja ganz schreckhaft geworden! —
Hinter der nackten Esche, die vom rechten Ufer her ihren riesigen Ast kahl und schweigsam über die fahle Fläche reckte, kam der Schatten hervor, trat dicht ans Wasser und stand dort, seltsam, als ob er hinge, dunkel vor der Undeutlichkeit des Parks und dem bleichen Scheinen im Wasser. Nach einer Weile glitt er fort und verschwand zur Rechten hinter Gebüsch. Georg nahm seinen Stock von der Bank, drehte sich seitwärts, legte das linke Bein über das rechte, den rechten Ellenbogen auf die Banklehne und den Kopf auf den Unterarm.
Es ist ja nicht das, lief das Rad in ihm weiter, nicht diese Eselei, wieder im Korps zu sein, und auch nicht der Alkohol. Es ist einfach die Angst, weil du nicht weißt, was werden soll. Dies ist nun der dritte Versuch. Erst sollte die Natur Klarheit schaffen; dachte natürlich nicht daran. Außerdem Benno, — nun das war wohl nur ein halbes Viertel von einem Versuch. Nun die Menschen, auf die es ja schließlich ankommt, und da merke ich nun die verfluchte Verzauberung der Relativität. Renate, schönes Licht! dachte er seufzend, aber sein Feuerzeug war wohl naß geworden, das Licht glomm nicht auf, es wurde nur dunkler umher. Woran soll ich mich denn messen, wenn alles relativ ist und ich nicht aus mir heraussteigen kann! Bin ich denn ein Lügner? Ich spiegle den Menschen etwas vor, das ich nicht bin. Schade ich damit? Bin ich nicht bereit zu allem Besten? Zahle ich nicht mit Qual? Irgend jemand sagt mir, ich sei nicht der Sohn meines Vaters, und da soll ich miteins andere Gefühle bekommen? Wie kann ich zwanzig Jahre auslöschen wie ein Talglicht? Darauf aber kommt es an, auf das Innere, und alles andre — — ich weiß nicht, sitzt da jetzt einer neben mir oder nicht?
Er wandte langsam und vorsichtig den Kopf. Ja, neben ihm saß ein Mensch, den Kopf in den Händen; schien übers Wasser hin zu sehn. Das war ja ... Georg wandte sich, beugte sich vor, sah das Profil des Dasitzenden und sagte erleichtert: „Guten Abend, Herr Birnbaum!“
Der Angeredete wandte sich um und stand hastig auf.
„Entschuldigen Sie, Prinz,“ sagte er mit mehreren Verbeugungen, „ich hatte Sie nicht erkannt. Und diese Bank“, setzte er hinzu, „ist gewissermaßen mein Eigentum, meines und meiner Schwester, wir sitzen oft darauf.“
„Aber so setzen Sie sich doch, alter Freund, und erzählen Sie! Vor zwei Jahren haben Sie Examen gemacht, oder erst vor einem? Habe ich Sie nicht im Syndikatskolleg gesehn?“
Birnbaum bejahte, sagte aber, daß er Mediziner sei.
„Daß Sie’s gleich hören, Georg: meine Mutter ist vergangene Nacht gestorben“, sagte er kurz. „Nein, sagen Sie nichts, es ist nichts zu sagen,“ fuhr er heftig fort, „sie war ja kein richtiger Mensch mehr, jahrelang schon, wir hatten uns, wenn ich so sagen darf, ihrer schon längst entwöhnt.“
Georg dachte an Bennos Mutter, fragte, ob sie denn krank gewesen sei, und bekam zur Antwort:
„Ja, geisteskrank, sechs, sieben Jahre.“
Sie saßen still beieinander. Georg suchte den verwirrten schwarzen Himmel ab — war dort nicht ein Stern? — Nacht stand um den Teich; nichts regte sich darin.
„Standen Sie vorhin dort am Wasser?“ fragte Georg. „Sehen Sie, es ist wieder jemand dort! Sehn Sie den Schatten?“
Der Andere blickte hin und sagte: „Ich glaube fast, das ist meine Schwester.“ Er schüttelte den Kopf. „So ist sie nun; geht aufs Geratewohl in die Nacht hinein und ist überzeugt, daß sie mich findet. Dafür ist sie ja nun mein Geschöpf.“
Die Gestalt kam langsam am Ufer den Weg herauf, zögerte, kam näher, stand endlich vor ihnen, schmal und dunkel, einen Schal um den Kopf.
„Bist du’s, Sigurd?“ fragte sie. Er stand auf, trat zu ihr und legte einen Arm um ihre Schulter. „Bist du böse, daß ich mitten aus dem Kaddisch weggelaufen bin?“
Georg schiens, als bewegte sie leise den Kopf hin und her, dann hörte er sie fragen — eine huschende, verhaltene Stimme —: „Mit wem sitzt du denn hier, Sigurd?“
Sigurd sagte: „Es ist Prinz Georg, Esther, du weißt, daß er eine Klasse unter mir war.“
Georg, der inzwischen aufgestanden war, reichte ihr die Hand; die ihre, in einem Zwirnhandschuh, fühlte sich hölzern an. Ihr Gesicht im Dunkel war nur ein weißer Fleck mit zwei schwarzen darin, den Augen, die allerdings absonderlich geschlitzt schienen. Sie setzte sich ans andere Ende der Bank, ihr Bruder sich zwischen den Beiden. Nach einer Weile hörte Georg ihn flüstern, dann sie, er schloß die Ohren, verstand auch nichts, aber das Flüstern dauerte an ... Nun schloß er auch die Augen, vernahm das seltsame Geräusch der Lippen in Pausen, dachte an die tote Frau und geriet an Heines Vers: ‚Keine Messe wird man singen, keinen Kaddosch wird man sagen ...‘ Kaddisch hatte Birnbaum gesagt, aber das war wohl dasselbe. ‚Dunkler Hund im dunklen Grabe ...‘ kam das nicht im selben Gedicht vor? Nein, das war ja:
Nicht gedacht soll seiner werden.
Aus dem Mund der armen, alten
Esther Wolf ...
Keine Messe wird man singen, keinen Kaddosch ... Es ließ ihn nicht wieder los. Sieh, aber nun waren Sterne da! Lieber Gott, wie das nun gleich erleichterte! Da standen sie, klein, schwach, bläulich, dort einer, dort ganz oben, fast über ihm. — Keinen Kaddosch wird man sagen ...
„Verzeihen Sie, Birnbaum, was ist Kaddisch? Sie sagten es eben. Und mir fiel ein Vers von Heine ein, da heißts —“
„Kaddosch,“ sagte Birnbaum, „es ist dasselbe. Kaddisch ist das Totenbeten; die Verwandten verrichten es, oder auch — wie bei uns, die wir keine in der Stadt haben — Freunde und angestellte Frauen. Ich bin davongegangen. Ich konnte nicht ertragen, das Klagen zu hören, wo ein Mensch endlich seine Seele wieder hat, denn das müssen die Andern doch wenigstens glauben. Komm, Esther, siehst du die Sterne? Wollen wir Mutter unsern Kaddisch sagen?“ Sie antwortete nicht. Einige Minuten später hörte Georg ihn sprechen, nicht mehr in seiner wegwerfenden, schnell fertigen Art, sondern seltsam innig und sanft. —
„Mutter,“ sagte er, „warst du denn noch ein Mensch? — Kannst du uns jetzt sagen, was du warst? Da warst du, warst so klein und noch ganz schön, saßest immer bei uns und hattest keine Augen für uns, wenn wir hinsahn. Aber wenn wir still saßen und lasen, wie oft merkten wir dann, daß deine Augen auf uns waren, wie Kinderaugen, verschüchtert, wie ein Bestraftes, das nicht sein darf wie die Andern ...
„Und so seltsame Dinge mußtest du immer tun! Wenn du allein warst, da bewegte sichs in dir, und du mußtest immer folgen, und wenn einer von uns wieder hereinkam, so warst du nicht mehr da. Dann hocktest du zwischen Sofa und Bücherschrank ganz klein, die Hände im Schoß, oder du knietest unter der Tischdecke, als wolltest du Verstecken spielen, oder du hattest ins Schlafzimmer gehn müssen, das Bett gesehn und dich halb ausgezogen und hineingelegt. Und niemals durftest du im Bett sein nachts, wenn Esther erwachte und nachsah: dann mußtest du mit kalten Füßen beim Schrank stehn, oder im Fenstervorhang, aber du warst doch immer willig, kleine Gestalt, und tatest, was man verlangte, legtest dich gleich wieder hin und decktest dich zu. Manchmal freilich war dirs verboten, mit uns zu essen, und dann mußtest du heimlich in die Speisekammer gehen und finden, was Esther dir hingesetzt hatte ...“
„Und wie war es denn, als du starbst?“ fing er leise wieder an. „Auf einmal fandest du die Korridortür nicht verschlossen und huschtest hinaus. Und als dein Sohn im Dunkel mit dem Streichholz die Treppe heraufkam, saßest du auf den Stufen, klein und weiß in deiner Nachtjacke, die Stirn ans Geländer gelehnt, und da warst du tot ...
„Ja, Esther, da war er nun wieder hinausgegangen, der törichte Geist, der ihr all das Seltsame riet, über das sie so viel den Kopf schütteln mußte. Und all das, weil eines Tages ein lieber Mensch auf der Erde lag und nicht mehr antworten wollte auf ihr Schreien und Schütteln und Schlagen, und all das, damit sie nun sein Gesicht wieder hat — ein wenig Wehmut am Mundwinkel, ein wenig Friede über Schläfen und Augen, und das Unbegreifliche ...“
Sigurd war verstummt. Georg sah nicht ohne Erleichterung viele Sterne oben in der Nacht; auch in der Schwärze des Teichs waren sie sichtbar geworden.
„Und wir,“ sagte Sigurd leise, aber wieder heftiger schon, „wir bewegen uns, wir greifen dies und jenes an und nennens Verstand. Einmal merken wir dann, daß wir immer das Verkehrte getan haben. Aber in uns saß doch einer, der wollte es so. Es war so seltsam, Esther, wie Mutter nun dalag unter der Hängelampe, und du standest neben ihrem Kopf, in deinem schwarzen Haar, mit fließenden Augen, im langen, weißen Hemd und getötet vom Schlaf. So sonderbar war das! Nun wirst du bald heiraten wollen und über das große Wasser fortgehen. Ja, meine Lehre ist nun aus. Sehen Sie,“ wandte er sich zu Georg nicht ohne ein wenig Bombast, „es ist ja nichts ohne eine gute Seite. Esther mußte die letzten vier Jahre aus der Schule fortbleiben; da hat sie viel unnützes Zeug gespart und eine Menge Gutes von mir gelernt, Buchführung und Philosophie, Sozialwissenschaften, und einen ungeheuren Stoß gute Bücher gelesen. Verloben konnte sie sich auch, und ich kann dann von dem kleinen zum großen Mütterchen zurückgehen, Mütterchen Rußland, und sehen, ob man mich dort brauchen kann.“
„Sie sind doch Balte?“ fragte Georg, um etwas zu sagen. Sigurd nickte.
„Komm, Esther, wir wollen gehn“, sagte er, und sie stand auf. — Georg ging willenlos mit.
Sie sprachen nicht mehr, bis sie am kleinen Palais anlangten. Als Georg sich hier verabschieden wollte, hörte er Esther zum ersten Male nach den wenigen Worten zu Anfang etwas sagen, indem sie erstaunt fragte, ob er hier wohne? — Leider, gab Georg zurück, sei die Einrichtung noch nicht fertig, sonst würde er sie bitten, hereinzukommen.
„Siehst du, Sigurd,“ sagte sie da ganz heiter, „nun komme ich doch hinein!“
„Sie hat es sich als kleines Kind schon gewünscht,“ erklärte ihr Bruder, „einmal in den verschlossenen Garten zu kommen, da freut sie sich nun freilich.“
Georg meinte, das Stück hinter dem Schlößchen sei nur klein, aber es würde ihn doch sehr freuen, — was nicht aufrichtig war, denn er hatte keinerlei Eindruck von ihr gehabt, und obendrein war sie verlobt. Er haßte Verlobungen. — Also schieden die Geschwister von ihm.
Im Hausflur zauderte Georg, ob er in die unfertigen Zimmer gehen sollte oder in die für die Zwischenzeit zurechtgemachten Prunkgemächer. Aber nach einem Blick in den kahlen, vom schwarzen Abend verdüsterten Raum voller Bücherkisten, Teppichballen und Möbeln in Lattenkäfigen, und einem weiteren durch die Gartentür ins Freie, ob etwa aus Bennos Fenstern Licht falle — doch alles war dunkel dort —, wanderte er schlaff und unfähig in der dunklen Zimmerflucht hin und her, bald nahe am Weinen vor Schmerzwut im Gedanken an Benno, der natürlich bei Renate war. Renate, die ihm ewig verschlossene! Denn dort war ja nun Magda im Hause, und dies — nein, dies brachte er nun doch nicht fertig, vor ihren Augen zu Renate zu beten.
Er stand wieder still, durch ein Fenster starrend auf den Rasenplatz, wo aus der Eichengruppe die Nacht wie eine schwarze Fackel aufstieg. ‚Keinen Kaddosch wird man sagen ...‘ Dieser Sigurd war gewiß ein ungewöhnlicher Mensch, in der Schule wurde ja viel von ihm gesprochen, seinen Kenntnissen, seiner Belesenheit und — ja vor allem seiner Hülfsbereitschaft. Nun, mich wird er schwerlich aus meinem Sumpf herausziehen können. Also was bleibt mir übrig?
Darauflos leben, lustig sein, wieder die Nächte durchsausen, saufen, speien, johlen, Zoten hören. Ach, wenn nur die studentische Ausgelassenheit heutzutage nicht so unendlich nichtswürdig wäre! Wenns noch Freude wäre, Überschwang, Lebensüberfülle, wahre Ausgelassenheit voll Geist und Witz. Ausgelassenheit? Ja, die Vernunft wird ausgelassen und der Stumpfsinn herein, sie betäuben sich, anstatt sich zu befreien, vernichten sich selber in Berauschung, sie sind so unfeurig, das ist es, sie brennen ja von nichts und für nichts, ja sie brennen bloß von Alkohol, von Spiritus, dünne, kraftlose Flämmchen, — o Renate, Renate!
Georg mußte sich niedersetzen vor Mattigkeit, hatte jedoch innerlich etwas Haltung gewonnen.
Was also muß ich tun? fragte er sich, so klar er konnte. Ihnen abschreiben oder nicht abschreiben? — Es durchzuckte ihn, daß er diese Last auf sich nehmen müsse, wegen der — Maske, die sich gerade im ständigen Umgang mit seinesgleichen allein probieren lasse. Lieber — dachte er — ein besonders schweres Stück Weges jetzt — und dann Freiheit so oder so, als die lange Ungewißheit, Ratlosigkeit, und so — Verschleppung.
Wenn ich, dachte er, Herzog bin, werde ich das alles abschaffen. Und damit ich das kann, fuhr er innerlich errötend fort, muß ich nun wohl dafür bluten ...
Die Augen fielen ihm zu; er öffnete sie schwer, sah die zwei grauen Rechtecke der Fenster bleich und öde im Dunkel und tastete nach seinem Herzen. Die Angst stieg darum wie Flut; er atmete mehrmals, so tief er konnte. Entschließe dich, Georg, gebot er sich, schreibe, schreibe gleich! — und schon zum Aufstehen aus dem tiefen Sessel sich vornüberbückend, die Hände auf den Knien, kam er nicht weiter aus dieser Haltung.
Wenn ichs nicht tue, fragte er sich besinnungslos, tue ich es dann aus Tapferkeit nicht oder aus Feigheit?
Georg, an einem glanzlosen Vormittage im Junianfang, ritt Unkas im langsamsten Schritt die breite Mittelstraße zwischen den Alleen in der Richtung auf Herrenhausen hinunter, vornüberhängend mit halb geschlossenen Augen, im verschwommenen Blick nahe die leise schlagende schwarze Mähne, tiefer das wechselnde Zum-Vorschein-Kommen der breiten Hufe, unter denen die staubtrockenen Erdklumpen vorspritzten. So saß er, in seiner schweren Müde, seiner Angstwut, seinem unendlichen Mißbehagen, das Hirn in Bierdünsten, das Herz in Öde; zerpreßt.
Ihm fiel ein, wie er in der Nacht zuvor halbtrunken in die Güntherstraße gelaufen war; wie er — auf ihm selber unbegreifliche Weise — zur Rückseite des Gartens gelangt war, halb bewußtlos vor Trunkenheit und Qual am Zaun gehangen und hinüber gelechzt hatte nach dem grauen, ganz dunklen Hause hinter den Bäumen.
Renate ... Wann würde er sie je wieder sehn! Magda — es geschah ihm freilich recht, daß sie ihm den Eingang verschloß, denn das tat sie ...
Dies war die Gegenwart: freudlos, dumpf, entstellt durch eigene Schuld. Das war die Zukunft: dumpf, abgeschlossen, umflügelt von Gespenstern des Grauens. Dennoch mußte er hinein, mußte, die Maske vor, versuchen, ob — — erfahren, ob es erträglich, möglich ...
Unkas stolperte träg; er riß ihn hoch und bemühte sich gewohnheitsmäßig, ihn mit Schenkelschluß und kleinen Paraden zusammenzustellen. In seine geöffneten Augen blendete das halb verhüllte Licht; Spatzenzank schrillte und überlaut Finkenschlag, dicht zu seinen Häupten. Emporblickend folgte er eine Zeitlang den fast auf ihn herunterhängenden Zweigen, deren erste, dünne Belaubung — Blätter und Blättchen, kaum entrollt, noch zerknittert, weich, weißlich behaart, kaum geborenen Tieren gleich — Verlangen erregte, danach zu greifen, eins abzupflücken und vorsichtig hineinzubeißen als in leise bitter Süßes. Aber er brachte — schon zwischen den Zähnen fühlend, wie das Trockene innen saftig sich zusammendrückte und knisterte — die Hand nicht hoch, und eine hülflose Rührung, die ihn überkam, reizte fast zu Tränen. — Nun schmerzte sein nach oben gedrehtes Genick; er senkte den Kopf wieder gerade.
Da sah er, ein paar hundert Schritte weit vor ihm, auf dem getretenen Fußpfad neben dem Hufschotter zwei Gestalten kommen, eine weibliche und eine kleinere männliche, und sofort erkannte er Magda in der weiblichen, erkannte sie mit dem Instinkt, obwohl er sich sagte, daß er, wenn sie es wirklich war, sie gar nicht erkennen konnte, so entfremdet wie sie aussah. Allein im Näherkommen blieb es untrüglich Magda, — und er dachte: Magda — warum nicht mehr Anna? Es kam so ... Magda in einem hängenden, nein schlottrigen, mattblauen Kleide, das sie mit den Achseln trug anstatt mit den Hüften. Wie weit ihr Gang war! und trug sie nicht Sandalen oder wenigstens keine Absätze unter den Schuhen? Damenschuhe ohne Absätze waren Georg unleidlich. Er konnte die Beine sich abzeichnen sehen unter dem schrittweis hin und her schlagenden Stoff, jedoch — wie reizlos! Auf dem Kopf hatte sie einen großen Panamahut mit tief gerundeter Krempe, und er sah nun schon ihr Gesicht darunter, blaß, mit undeutlichen Zügen, wie verwischt.
Und daneben, in schwarzem Anzug, den Strohhut aus der Stirn gerückt, die Hände auf dem Rücken, in unbedenklicher Haltung etwas vornüber — das war ja al Manach! Richtig wieder unter den Lebenden ...
Georg sah ihr Gesicht nun von innen sich erhitzen und ganz rosig werden; sah den Blick der alten braunen Augen und lenkte Unkas hinüber. Augenblicke später hielt er mit Herzklopfen vor ihr, sie lachte heiter, nickte ihm zu, rief: „Tag, Georg!“ und begann Unkas den Hals zu klopfen.
„Grüß Gott, Herr al Manach,“ sagte Georg, „na wie gehts denn?“
Besten Dank, äußerte Jason, es ginge ja. — Den Strohhut, den er höflich abgenommen hatte, behielt er in der Hand.
„Aber Georg, was ist das mit Unkas?“ fragte sie, bevor er etwas vom Zusammentreffen und Langenichtgesehenhaben vorbringen konnte. „Er klemmt ja die Zunge zwischen die Zähne.“
„Tut er das? So. — Ja, er wird ja auch alt ...“
„Na Georg, schon so alt? Wieviel Jahre hat er denn?“
„Ich soll wissen! — Neun oder zehn.“
„Ach, Georg, du weißt gar nichts!“ lachte sie. — Wehmütig an ihrem Gesicht vorüber auf die absatzlosen, staubgrauen Schuhe hinunterblickend — waren es nicht einmal kleine Lackschuhe gewesen, mit eingedrückter Spitze? — hörte er sie weitersprechen: ob er vergessen hätte, daß er ihn gekriegt habe, als er elf Jahre alt wurde ... „Ich bekam Terpsichore — erinnerst du dich noch? — den Schimmel, der gleich das linke Vorderbein brach — ich kriegte doch immer was mit an deinen Geburtstagen — und du Unkas, und damals war er noch nicht drei Jahre alt. Also ist er nun —?“
Georg brauchte eine Weile, bis er hinter den Zähnen hervorbrachte: „Zehneinhalb!“ mit alles vergessender Traurigkeit nun an ihren brauenlosen Augen haftend und sehr zu fragen versucht: Hast du denn so gelitten, daß du gar nicht mehr weißt, was Leid ist, und nichts empfindest bei solchen Erinnerungen? —
Dann ermannte er sich, lachte, wiederholend: „Zehneinhalb! das muß Onkel Salomons Handschuhnummer sein! Wie gehts denn dem Alten?“ und sprang ab. Er hängte die Trense hinter den Bügelriemen ein, gab Unkas einen Klaps auf die fletschende Zunge, daß er unwillig zurückfuhr, und setzte sich neben Magda in Bewegung, dem Wallach es, wie ers gewohnt war, überlassend, ob er mitkommen oder stehen bleiben wollte. Er kam ja doch immer ...
Sie gingen still. Zehn Schritte weiter hörten sie Unkas, der nachgetrabt kam, bis er mit dem Maul an Georgs Schulter stieß, zum Zeichen getreulichen Vorhandenseins. Jason sagte: „Das gute Pferd.“
Erst Augenblicke später fühlte Georg ein zartes Lächeln in sich aufquellen, wie seltsam bestimmt, sanft und bedeutungsvoll es geklungen hatte: Das gute Pferd ... Er spähte verstohlen an Magda vorüber auf Jason, der vor sich hin ging. Alles war ein wenig krumm an ihm, Genick, Rücken und Knie; die schwarzen Augen aber bewegten sich glanzvoll, lebendig und mit Gelassenheit umher.
Und währenddes hörte er sich Magda nach ihrem Vater fragen, hörte sie irgend etwas Unbestimmtes antworten, dann weitersprechen, von Krankheit, ihrem Gesangslehrer und einer Musikvorlesung, die sie in der Universität hörte, und daß sie Georg einmal von weitem dort gesehen hatte. Wie es ihm denn ginge ... Er sehe gar nicht gut aus ...
„Ach mit mir ist nichts mehr los, Anna“, sagte er gedankenlos.
„Ach Georg!“
„Ich bin wieder aktiv geworden.“ Er sah starr geradeaus. Sie blieb stumm.
Das dauerte eine Weile, bis Georg aus den Anlagen zur Rechten die Front des Schlößchens schimmern sah, worauf er sich zusammennahm und fragte, ob die Beiden nicht seine Wohnung anschauen möchten; sie sei eben fertig geworden. Und dann könnten sie ja auch Benno besuchen und sehn, wie er Glück strahlte. — Magda nickte, sie bogen ab, durchschritten die Allee und wanderten um das Rasenrund.
Dann sagte Georg aus halber Besinnungslosigkeit, ohne die Worte unterdrücken zu können:
„Nun bist du ja wie eine Taube, Anna ...“
Sie blieb stehen, so daß auch er halten mußte und sich zu ihr wenden, sah ihn sanft an und sagte:
„Anna nennst du mich? Ja, behalte nur den Namen.“
Dann ging sie weiter, dem vorausgewanderten Jason nach, indem sie anfing, von Renate zu erzählen, und daß sie nun zweimal allwöchentlich einen Quartettabend hätten; Saint-Georges spiele die Bratsche oder zweite Geige, Irene die erste, Sigurd Birnbaum Cello, „— kennst du ihn nicht von der Schule her?“ — und Georg nickte. — Benno Prager, Ulrika und Renate wechselten am Klavier. — Auch Trios spielten sie, Mittwochs würde geübt, Sonntags müßte gekonnt werden.
„Und wenn du magst, Georg, kannst du gern zuhören kommen. Ich habe mit Renate darüber gesprochen.“
Georg zuckte stark. Aber das — — nein das — — Sie wußte ja nicht, was sie tat. Aber er konnte es nicht hindern, daß ein Freudegefühl mächtig und mächtiger seine Brust aufdehnte, die Angst daraus — nein, das Bittere der Angst vertrieb und Süßes hineinflößte. Er richtete sich innerlich auf, straffte seine Haltung, und die Welt sah plötzlich sonniger aus.
Schon hatte er, den Türschlüssel in der Hand, das geheime Gefühl, eine andere als die kleine grau gestrichene Tür hier aufzuschließen; leichtfüßig, die vier Stufen überspringend, strich er voraus durch den Flur und schlug die Tür zu seinem schönen Zimmer auf, — zum blassen Egon, der hübsch in der Gartentür lehnte, hinunterrufend, daß Unkas draußen stehe.
Ja, es war schön. Magda schlug die Hände zusammen und machte nur große Augen. Zwischen den klarweißen Vorhängen der hohen Fenster, im Schatten des dunkelgrünen Wandstücks hinter ihm, saß der ernste, dunkle Pensieroso und sann nach über die Welt. Es war ganz feierlich. Von überall her schimmerten oder funkelten die erlesenen Farben der Kleinode auf den Bücherregalen, leuchteten die Farben der Frühjahrsblumen, rote und hellgelbe Tulpen, ein tiefvioletter Busch Veilchen, Narzissen, gelbe und weiße, hängende stark blaue und rote Petunien und ein riesiges Gebüsch lichtgelber Mimosenblüten. Jason stand schon unten und untersuchte aufmerksam die hölzernen braunen Apostel unter dem Treppendach.
„Nein, die Lilien!“ sagte Magda mit Andacht. Steil aufrecht, edel und großmütig erhoben sie sich über den dunklen Pensieroso.
„Nein, meine Bucharas!“ sagte Georg und sah zu seiner Freude zum erstenmal wieder rasches Leben durch Magda fluten, die nun die Stufen hinunterlief, sich auf die Teppiche bückte, ja sogar sich niederwarf, um sie zu streicheln.
„Himmlisch, Georg!“ sagte sie, „ganz himmlisch!“
Worauf er eifrig zu den Fenstern lief, ein neues Blendwerk versprach, den gewaltigen samtgrauen Vorhang niederrauschen ließ und zugleich eine Lichtkurbel drehte. Hoch oben im Raum, zwei Meter unter der Decke entfaltete sich und schwebte eine milchweiße Sphäre, wie ein großer Kürbis groß, die ein fremdes, fast beklemmendes Mondlicht durch den dämmerig bleibenden Raum ergoß.
„Nein, hier muß ich Renate herbringen!“ gestand Magda noch langer Atemlosigkeit. „Jason, was sagst du?“
Allein kein Jason war vorhanden. Nachsehend fand Georg ihn im Nebenzimmer, wo er, die Hände auf dem Rücken, den Kopf im Genick, geduldig zu dem weißen Perserteppich aufstaunte, der das Wandstück neben der gläsernen Apsis bedeckte. Auch dies Zimmer mit seiner großen Helligkeit, den Vitrinen, schwarzem Stutzflügel und Peddigrohrsesseln in der musselinverhangenen Fensternische fand Magda himmlisch; aber sie war nun wieder stiller geworden und in sich zurückgekehrt.
Wenige Minuten später geleitete Georg die Beiden den langen Flur hinunter und durch den Saal vor Bennos Tür. Drinnen sahen sie ihn in der Mitte stehen, so lang er war und aussehend, als sei er stundenlang, glücksmatt und strahlend in seinen drei Zimmern vor seinen vielen Möbeln auf und nieder geschritten, die er nun selig zeigte: vom Messingbett (es mußte eines sein!) und dem fließenden Waschtisch, an den Bücherschränken und Schreibtisch von Palisander vorüber bis zum Bösendorfer im schön getäfelten Musiksaal, glücksmatt und strahlend, als ob er sie alle geboren hätte. Auf vieles Zureden Georgs wagte er endlich, eine Taste anzuschlagen, lauschte verzückt, saß augenblicks vor der Klaviatur und ließ eine Fuge darüber hinrollen, daß die Wände bebten. Und er fing an, Kunststücke zu machen, fegte den Des-Dur-Akkord über die ganze Klaviatur und lustfunkelte beim Staunen der Andern, da sie den Akkord drinnen nachbrausen hörten, als wärs eine Orgel. Und er sang einzelne, besondere Noten in das offene Instrument und freute sich innig mit Georg, wenn nach Augenblicken aus der Tiefe das Echo sang wie ein gehorsamer Gott. — Magda kannte diese Kunststücke schon. Und so verließen sie den Beglückten.
„Du bist auch ein guter Mensch“, sagte Magda, als sie den Korridor zurückgingen, verstummte aber bei Georgs heftigem Auffahren. — Und ich betrüge sie ja doch schon wieder! dachte er wild, Renate vor brennenden Augen.
Als sie dann unter der Haustür standen, nahm Magda seine Hand und sagte, indem sie Jason nicht mehr zu beachten schien als den lieben Gott im Himmel oder vielleicht das Sims über der Tür:
„Ich wußte wohl, Georg, daß ich dir heute begegnen würde.“ Sie lächelte kindlich: „Ja, was du da nun wieder mit dir angestellt hast, das mußt du wohl ausessen. Ich, weißt du, kann mich um so etwas nicht mehr viel kümmern.“ — Schon wieder ernst geworden bei den letzten Worten, fuhr sie fort: „Ich bin sehr bös krank gewesen, Georg, aber ich habs überstanden, alles, weißt du, und ich möchte dich nicht gerne ganz verlieren. In unser Haus kannst du nicht kommen, deshalb sprach ich mit Renate. Du mußt aber still sein wie ich, willst du?“
Ganz nahe, während sie dies sagte, hatte Georg ihre Züge unter den Augen, und während er diese fest in Magdas geheftet hatte, mußten seine Blicke doch gleichzeitig in ihrem Antlitz umherwandern, mit immer beklommenerem Staunen die, nur aus dieser Nähe erkennbare Veränderung der Züge begreifend; denn diese nun blasse Haut, unter der jetzt ein anderer Stoff als Fleisch zu sein schien, war einmal rosig gewesen, und es lebten damals lebendige Gefühle lieblicher Art um die verwischten Linien des farblosen Mundes, der freilich damals schon herabgezogen war an den Winkeln, aber doch nicht so! Unter dieser glatteren Stirn lebten jetzt andere Dinge, und es war eine ganz andere Stirn; Fältchen waren im Begriff, sich an den Außenwinkeln der Augen zu bilden, und noch — nein, noch war da nichts Welkes unter den Lidern, nur etwas sehr Durchsichtiges, und das Haar — — Indem glaubte er sich eines andern Gesichts zu erinnern, das er auch in einem irgendwie bedeutenden Augenblick so wie dieses gesehn hatte, allein nun hatte er ihr dankend in die Augen zu sehn, ihre Hand zu drücken, Jason ebenfalls, und zu gehn. Ohne es gewollt zu haben, wandte er bald den Kopf nach ihr um. Da gingen sie nebeneinander die weiße, chaussierte Straße hinab, vorüber an den kleinen Kugelakazien, aus denen die Sternwarte sich erhob, dunkelrot und schwarzgrün im Efeubehang, Georgs Blicke für Sekunden emporlenkend, daß er ihren Ernst, ihr Alter, ihre bedrohliche Würde empfand —: Jason, die leeren Hände auf dem Rücken, schwarz und etwas vorgebeugt, den Strohhut wieder im Genick. An Magda war nichts zu sehn; sie ging ihres Wegs.
Kein Reiz mehr hauchte aus ihr, das wars.
Hatte sie allen Glanz der Welt von sich getan? Hatte er selber sie gelöscht wie ein Licht? Aber ihre Augen glänzten anders innerlich, es gab vielleicht Nonnen, deren Augen wie die ihren in einer sehr gewissen Flamme brannten, in der sie alle äußeren Lichter reiner und edler hatten. Dieser Jason hatte ja Augen wie ein Märchenerzähler, man müßte — aber schon, indem Jason ihm erschien, mit einem riesigen schwarzroten Turban bekleidet, ein blaues, langärmeliges indisches Hemde am Leibe, mit untergekreuzten Beinen auf einem Teppich, schob sich das Gesicht seines Vaters in dieses Bild hinein, so als wäre es dicht über Georgs Augen. Wann war —? Ach, an seinem Geburtstage wars, nicht am Geburtstage, am Tage vorher, mittags, — und schon flogen von allen Seiten Bildstücke auf Georg zu, die hellen Fenster, und draußen die Wipfel im Regen, Visionen des Trassenbergischen Landes, und schon der Saal im kleinen Palais, Benno auf einem Stuhl an der Wand, der Achattisch, Napoleons Weste, Stirn und Haar, und jählings wieder Magda an der Erde, am Abend im dunklen Wiesengrün, ihr rötliches Kleid, ihr ohnmächtiges Gesicht mit geschlossenen Augen und — — Georg merkte, daß er vor seiner Haustür stand, die in ihr Schloß gefallen war, fing an, in der rechten Hosentasche die Schlüssel zu suchen, vergaß dabei, was er aus der Tasche holen wollte, wälzte Feuerzeug, Taschentuch, Schlüsselbund durcheinander, brachte dies endlich hervor und schloß auf. Sein Zimmer in geisterhafter Mondesdämmerung erschreckte ihn, er riß den Vorhang hoch, öffnete die Glastür. Sonnenlos war draußen der Garten, er lehnte sich gegen den Türrahmen, warf den Hut irgendwohin und hing nun ganz und gar tief über dem Erinnerungsfeld jenes Tages, wo Jasons schwarzer Körper aus dem Grün der Teichoberfläche erschien, an einem Arm emporgezogen, und er sah die klebenden grünen Blattlinsen auf dem bleichen Gesicht. Unkas stand da, verzerrt, der Maler ging neben ihm, der Maler saß im Zimmer in der Fensterbank, am Tisch, schob seinen Bleistift in der Blechhülse, und da war das weiße Zeug des Vorhangs an Magdas Fenster in der Nacht, die kleinen Kronen der Obstbäume in der Dämmerung, das Spalier an der Hauswand, und nun war er im Zimmer, legte die weiße, fremde Gestalt auf das offene Bett, — diese fremde Gestalt, fremde, fremde, fremde — wiederholte er immerfort, und die Kälte des Augenblicks fühlte er, und fragte sich, ob das immer so sei, wenn man eine Frau —, dies — Sichentkleiden, dieser schaurige Stillstand in den erst glühenden Empfindungen, und dies — Sichzurechtlegen und Rücken und — Gepeinigt von diesen Empfindungen mußte er sie um so hartnäckiger verfolgen, erinnerte sich des wilden kleinen Wesens in München, Fliddridd — ja, das war freilich ganz anders, viel natürlicher, denn die war selber äußerst bei der Sache gewesen — — aber wenn eine Frau selber nichts — — du mein Gott, ja — das Blut schoß ihm siedendheiß in den Kopf — was ging denn während dieser Zeit in ihr vor, die da vor ihm lag und still hielt, was dachte sie denn, was fühlte sie denn? und war sie nicht weiter von ihm weg als der Sirius von der Sonne? Und was war denn das, was er tat an ihr? Hatte er sie nicht einfach vergewaltigt?
Georg schüttelte aufgeregt diese Vorstellungen ab, seufzte, fühlte das Metall seiner Zigarettendose glühend heiß und feucht in der linken Hand in der Hosentasche, zog es hervor, zündete mit flackernden Händen eine Zigarette an und zog mit heftigem Genießen den Rauch in die schwellende Lunge hinunter. Das abgeglühte Streichholz in die Aschenschale auf dem Schreibtisch legend, dachte er: Ich wußte es ja, man liebt eine Frau niemals weniger als in dem Augenblick, wo man sie — liebt, denn im glühendsten Momente dann — ist sie ja auch nicht mehr vorhanden, sondern bloß — das Feuer, in dem man selber schon vergeht, und ein minuten-, ein sekundenlanger Blick Auge in Auge enthält ein tausendfaches Mehr an Glut und Unauslöschlichkeit. Liebend besitzen kann ich jede, liebend anschauen — wie wenige! Aber Magda? — Magda? —
Er merkte, daß er unbewußt nach seiner Brust getastet hatte, denn dort hatte sich wieder der Druck gezeigt, das Angstgefühl, das lange bekannte, das im Augenblick schon da war, wenn er allein war, und das ihn lähmte, das Morgen verschleierte, das Gestern verhüllte, das Heute entfärbte. Doch fand er, es sei leichter geworden, loser ...
Es zuckte in ihm, aufzuspringen und in das geheime Zimmer hinüberzulaufen, das Zimmer der Königin ... Allein in dem Sessel, in den er gesunken war, saß er unbeweglich fest, bald nichts mehr spürend als unerkennbare Gedanken und Vorstellungen, die an ihm zehrten.
Renate vernahm, als die Quartettgesellschaft — Irene, Ulrika, Benno Prager, Saint-Georges, Sigurd nebst Schwester und Magda — an einem Sonntagnachmittag auf dem Rasenplatz im Montfortschen Garten buntgestreifte Reifen warf, plötzlich aus dem Gang zur Straße neben dem Haus einen hitzig prasselnden und knatternden Lärm, und kaum daß sie hinsah, sauste mitten in die schreiend auseinander Stiebenden ein rädriges Ungetüm, schnaubend und zischend, mit einem ganz ledernen Kerl darauf. Da hielts stille, und da wars Bogner, von dessen Gesicht eine Brille fiel, und der lautlos lachte auf seine Art, während sie ringsherum wie angewachsene Daphnes, wenigstens was die Frauen anlangt, in mehr oder minder zierlichen Posen verharrten. Aber nun umdrängten sie ihn und beschimpften ihn wie die Sperlinge, wie die Krähen eine muntre Eule, und er berichtete, daß er schon wochenlang auf diese Weise unter die Dörfer über die Haide fliege, — „jedoch“, sagte er, „nicht jede vernichtete Gans wird ein Stilleben.“ Nun habe er allerlei Dinge gesammelt, wolle gleich anfangen, und zwar, mit Renates Erlaubnis, in der Kapelle, die er mit sechs schönen Engeln schmücken wolle.
„Was kostet ein Engel?“ fragte Irene, fragten sie Alle. Alle wollten möglichst einen Engel haben. Bogner sagte, er verkaufe nur an fremde Leute und an Herzöge, und da waren sie tief niedergeschlagen, denn keiner wollte ein fremder Mensch sein, und keiner war ein Herzog, und schenken lassen konnten sie sich doch auch nichts, woran der Maler ja nun auch keineswegs dachte. Sie sollten nicht böse sein, sagte er begütigend, er wollte später jeden von ihnen in schwarzem Papier ausschneiden, dann könnten sie sich gegenseitig mit ihren Konterfeis beschenken und dann hätten sie jeder einen Engel. — Dies, meinten sie, wäre nicht ganz das Richtige. —
Bogner, der sein Rad gegen das Postament der Sonnenuhr gelehnt hatte, fragte Renate, ob Erasmus im Hause sei, denn mit ihm müßte geredet werden. Er wäre ein Sonderling und möchte am Ende nicht zugeben, daß er, Bogner, Renate Bilder schenkte. —
Ja, ob er denn wirklich nichts dafür haben wollte? —
Nein, es wäre doch seine Angelegenheit und ein Geschenk für sie. —
„Bogner,“ sagte sie, „das kann ich nicht annehmen.“
„Schnickschnack,“ sagte er, „Renate Montfort kann alles annehmen. Der Bauer schenkt dem König Wurst, — sind Bognersche Engel nicht ebensoviel wert?“
Renate war überwunden, mußte aber nun fragen, warum Erasmus gefragt werden mußte.
„Es ist höflicher“, sagte Bogner.
„Bogner,“ sagte sie, „Sie haben einen schönen Charakter.“
Renate war plötzlich verstummt, während sie durch das Haus gingen. Warum sagte ich das? grübelte sie nach, einen schönen Charakter? Woher sind die Worte? Ein gutes Herz wollte ich sagen ... Da fiel ihr ein, daß es Worte Bogners waren, aus einem seiner Briefe; ihr Herz zog sich zusammen; als ob er alles wissen müßte, errötete sie langsam und fing eilig an, über Erasmus zu klagen. Sie bekomme ihn kaum noch zu Gesicht, er arbeite Tag und Nacht und komme nicht einmal zu den Mahlzeiten heraus, sondern esse in der Stadt. Der Onkel sei so still geworden und arbeite auch unaufhörlich, wenn nicht in der Fabrik, in seinem Zimmer. Die Aktiengesellschaft war ja längst vollkommen, und nun waren Onkel und Erasmus Angestellte im eigenen Betriebe, pekuniär war freilich alles fast wie früher. — Renate verstummte, da sie inzwischen im Obergeschoß und vor Erasmus’ Tür angelangt waren. Sie klopfte, hörte ihn laut Herein rufen und öffnete.
Sie hatte erwartet, daß er am Schreibtisch sitzen werde, aber er stand mitten im Zimmer, halb den Rücken zur Tür, das Gesicht über die Achsel hergewandt, die linke Hand auf dem Rücken. Süßlicher Qualm erfüllte den Raum, und als er sich zur Türe umdrehte, wurde in seiner linken Hand eine halblange Jägerpfeife mit Troddeln sichtbar. So schien er umhergewandert zu sein, und die Schreibunterlage auf dem Schreibtisch war leer. Dieweil er Bogner freundlich die Hand gab und mit seiner tiefen Stimme ein paar Bemerkungen über seine Belederung machte, sah Renate sich verstohlen um, da sie noch nie hier oben gewesen war.
Es sah wie in einer Studentenbude aus; ein schiefes Bücherregal hing an der Wand, Stapel und Stöße von wissenschaftlichen Zeitschriften lagen auf Stühlen und Teppich, ein Schrank stand halb offen, ein Mantel hing vom Sofa an den Boden, alle Bilder hingen schief. Unbewußt rieb sie die Knöchel der rechten Hand in der Linken, als ob sie fröre. Erasmus’ „Wollt ihr euch nicht setzen?“ klang steif genug zur übrigen Unwohnlichkeit. Bogner, in seiner Lederjoppe breiter aussehend als früher, lehnte sich gegen den Schreibtisch, sprach von seinen Malplänen; Erasmus nickte dazu und sagte am Ende nur, wenn es ihm, Bogner, gerade darauf ankäme, seine Engel in Renates Kapelle unterzubringen, so solle ers gewiß tun, bezahlt kriegte er ebenso gewiß nichts dafür, und Renate fragte sich mitleidig und unwillig, ob er Bogners Andeutung vom Schenken nicht verstanden habe oder absichtlich alles ins Geschäftliche zöge.
Sie hätten nichts übrig, sagte Erasmus, alles würde auf die hohe Kante gelegt, „aber“, sagte er, nach seiner Art plötzlich in Wut ausbrechend, „der Teufel soll mich holen, wenn ich nicht alle Lust verliere, wenn ich dich jeden Tag in dieser weißen Fahne herumlaufen sehe! Meinst du, wir sind Bettelleute geworden? Etwas mehr Takt, das möchte ich denn doch bitten, meine Liebe!“
Renate fing unwillkürlich an zu zittern, fand aber einen Ausweg. „Wo hast du mich denn gehen sehn, Erasmus?“ fragte sie.
Er wandte sich weg und murrte, sie habe wohl vergessen, daß sein Schlafzimmerfenster auf den Garten hinausgehe, und das schien Renate eine so dumme Ausrede, daß sie lachte und sagte: „Es ist doch Sommer, Erasmus, da trage ich nur Weiß und doch nicht immer dasselbe Kleid!“
Auf einmal war sie mutig geworden und wagte die Bitte, ob er nicht auch in den Garten kommen wolle, Herzbruch komme nachher, um seine Frau zu holen, der sei doch ein alter Freund von ihm, was der denn denken solle.
„Sag, daß ich arbeite!“ schnob er, jedoch nicht unsanft.
„Erasmus,“ sagte sie, „das ist nicht wahr.“
Er stand am Papierkorb, hatte den Pfeifendeckel aufgeklappt und rührte mit Irgendetwas in der Asche, die herausfiel. So gut und dumm ist er, dachte Renate, nun fällt ihm wahrhaftig nichts ein, seine Stirn ist ganz runzlig vom Nachdenken, und die Augen quellen heraus.
„Wo ist dein Onkel?“ knurrte er endlich, ohne aufzusehen, blies in die Pfeife und schüttete den Rest heraus.
„Erasmus, müssen die Dinge denn mit Gewalt immer noch schärfer und eckiger gemacht werden?“
Er klappte die Pfeife zu, legte sie auf die Tischplatte, sah auf und sagte ruhig:
„Geht nur, geht, es nützt ja nichts.“
„Erasmus!“ — bat sie, aber es war nichts mehr mit ihm anzufangen, er schob Bogner zur Tür, und sie ging mit gesenktem Kopf und rasch an Beiden vorüber hinaus.
„Bogner, bin ich so ungeschickt gewesen?“ klagte sie draußen. „Wenn ich nur Saint-Georges gefragt hätte, der weiß immer alles. Sie zucken natürlich die Achseln.“
„Ich,“ meinte der Maler, „wenn ich er wäre ...“
Renate hob die Schultern, machte ein feindliches Gesicht und stieg schnell und mit möglichster Ruhe vor ihm treppab.
Unten aber zwang etwas sie, stehen zu bleiben, sich nach ihm umzuwenden und zu fragen: „Wollten Sie mir nicht noch etwas erzählen? In Ihrem letzten Brief ...“ Der Maler nickte, meinte aber, es fände sich wohl einmal eine Zeit, wenn er erst am Malen sei und nicht könnte.
„Ach, ihr seid eine Horde von Egoisten!“ lachte Renate, „wie soll das überhaupt mit der Malerei werden, Sie malen womöglich den ganzen Tag?“
Kohleaufrisse, sagte er, könne er auch nachts machen, aber die Musik würde ihn gewiß nicht stören, nein, Musik sei sogar ein ganz ungemeines Geräusch.
„Himmel, Maler!“ brach sie aus, „denken Sie denn nun wahrhaftig nicht daran, daß Sie uns stören könnten?“
Sie lachten Beide; nein, er hatte nicht daran gedacht, versicherte aber nun, daß er ganz wenig Platz brauche, und versprach, immer nur an einem Fenster zu malen.
„Sie waren doch auf der Schule mit Erasmus,“ sagte sie plötzlich, „wie machten Sie es denn da, wenn er nicht wollte wie die Andern?“
Sie standen in der Veranda. Der Rasenplatz war leer, von der Kapelle her tönten Orgelklänge gedämpft, nur Irene stand neben Bogners Rad, sanfthüftig und anmutig in ihrem, gegen die Füße leicht verjüngten weißen Kleid, und drückte vergeblich an Bogners Huppe herum, ohne einen Ton herauszubekommen. Die schöne Nachmittagsglut fiel in breiten Streifen durch das Gartengrün, und darüber standen sie schweigend. Im Rasen erglänzte hier und da ein Stück von einem bunten Reifen. Der Maler sagte laut: „Beide Hände! Mit beiden Händen gehts!“
Irene, hochrot im Gesicht, flog herum, blitzte ihn an und entfloh über den Rasen nach der Kapelle hin.
„Damals“, sagte der Maler, „blieb jeder sich selbst überlassen; wer sich abgesondert hatte, mußte sich freiwillig wieder herzufinden. Oder es wurde geboxt; das geht nun nicht mehr. Erasmus war immer ein Topf ohne Henkel.“ Er hob die Achseln. „Das sind wir Alle im Grunde. Ihr Frauen solltet wohl eigentlich diejenigen sein, die immer noch eine Handhabe entdecken. Leiden machen unbeweglich, ich weiß das. Wenn dann kein Gott zugreift, steht solch einer ewig am Feuer und brennt.“
„Und da soll man warten, bis sie ausgekocht haben?“ fragte Renate, „o Bogner!“
„Wir reden in Gleichnissen“, sagte er beinah ungeduldig „Steht der Topf denn an Ihrem Feuer?“
Sie stand, ihre lange Kette von rosenroten Korallen in den Händen, und zog die straffgespannte langsam an den Lippen hin und her. „Ja, in meinem Hause jedenfalls,“ sagte sie endlich leise, „und doch scheint mir: es ist alles verzaubert, und ich kann den Spruch nicht finden. Glauben Sie, Bogner,“ fragte sie ratlos, „daß ich Josef schreiben soll, daß er wiederkommt? Ach Gott, ich habe ja keine Ahnung, wo er ist!“ klagte sie mutlos und ließ den Kopf hängen.
Sie sah Bogners Rechte, die er ihr reichte, legte die ihre hinein, sah ihn gehn und blieb, wo sie stand, ohne zu denken, ohne sich zu bewegen, bis wieder Schritte laut wurden und Herzbruchs breite Kaufmannsgestalt und sein gelehrtes Gesicht hinter der runden Hornbrille in der Tür erschienen.
Georg, am Leibe weiter nichts als das einärmelige Mensurhemd und die oftgewaschene alte Leinenhose, setzte sich rittlings auf den alten Bandagierstuhl, kreuzte die Arme auf der Lehne und ließ sich von Tastozzi eine nach der andern die viele Meter langen, fast handbreiten schwarzen Halsbinden umwickeln, die, glitschig vom Blut und Schweiß vieler Wunden des Mensurtages, stanken wie der Teufel. Aber wundervoll war wieder die unendliche Sorgsamkeit, mit der Tastozzi wickelte, sanft legend die klebrigen Riemen wie Wundbinden von weicher Gaze, nachtastend mit der Linken und immer wieder fragend: „Ists so recht, Georg? Drückts auch nicht?“ Nichts drückte, im Handumdrehn steckte der Hals in einer weichumschließenden Wand, um die noch die handhohe wattierte Manchette leicht umgeschnallt wurde. „Sitzts?“ „Danke, glänzend!“ O Tastozzi war dunkel, aber eine Seele! Das wußte, wenn kein Andrer, Georg. Er sah dankbar auf, allein Tastozzi hatte sich schon zur Fensterbank hinter ihm abgewandt, wo die Armbinden aufgehäuft lagen.
Von diesen sanfteren Empfindungen abgesehn, befand Georg sich nicht in der bänglich freudigen Laune seiner früheren Waffengänge. Früh erwacht, nach wenig Schlaf, endlos wachen Stunden übler Peinigungen des Geschlechts, Halbtraumvisionen in endlos hartnäckiger Jagd, hatte gleich der Gedanke an seine noch immer nicht restlos vernarbten Kopfwunden sich festgesetzt: beim Betrachten der kaum behaarten Stelle im Spiegel zeigte sichs, daß sie wieder geschwitzt hatten. — Ekelhaft, so mit offenem Kopf zu fechten!
Georg blickte finster gegen die blaugetünchte Wand des kahlen kleinen Raums, der leer war — Tastozzi setzte seine Eigenart durch, beim Anbandagieren keinen Zuschauer zu dulden — leer, bis auf die Tische, die drüben gehäuft voller Bandagen, Schurze, Drahtmasken und Sekundantenspeere mit farbigen Körben, an den Wänden links und rechts dagegen bedeckt waren mit dem ganzen Rüstzeug der Ärzte, auf Wattelagern ausgebreiteten Scheren, Zangen und Nadeln, flachen Schalen voll rosiger Sublimatlösung und Bergen von Watte. Georgs Blick schweifte abweisend drüber hin und heftete sich auf den eigenen nackten Unterarm, den er hochhielt, die Faust schon im gepolsterten Handschuh, während Tastozzi die Handgelenkbinde von dünnem gelbgrünem Flanell zart und fest umlegte: der Arm gefiel ihm, wie er war: glänzend weiß, kräftig und harmonisch gebaut, und „Schöner Arm, nicht?“ brummte er halbfragend. Der Andere schwieg, die grauen Augen im gelblichen, dunklen und eckigen Gesicht mit voller Aufmerksamkeit auf die Schleife gerichtet, die seine Finger knüpften, worauf er, ohne hinzusehn, die erste Armbinde von der Fensterbank griff und die zu Boden hängende geschickt aufrollte, dann den Ballen um Georgs Arm abzuwickeln begann. Georg folgte gedankenlos mit den Augen, immer wieder das leise: „Sitzts, Georg? Drückts auch nicht?“ hörend und die linke Hand Tastozzis sehend, deren Finger er auf jede neue Lage prüfend aufsetzte; und er wickelte bereitwillig wieder und wieder zurück, schon auf Georgs leisestes Antwortzaudern hin. Es war eine Lust, von Tozzi bandagiert zu werden!
Die beiden krassen Füchse, der jüngere Ellerau und von Germersheim, kamen hereingeschlendert und fragten Georg zum siebenten Male, wie er sich fühle.
„Ich habs euch schon sechs Mal gesagt: glänzend! Macht bloß, daß ihr weg kommt; nicht wahr!“ schnob Georg und bewegte das Handgelenk noch einmal prüfend, ehe er Tozzi den dünn wattierten schwarzen Seidenärmel über das Ganze ziehen ließ.
„Gib mal Speere her, Rudi!“ befahl er dann. „Ellerau, geh mal fragen, wer auf Gegenseite sekundiert. Hoffentlich nicht Everdingen, der fällt immer — was ist, Tozzi?“
„Nichts. Du kannst aufstehn.“
Georg erhob sich. „Die ekelhafte Hose klemmt immer so!“
„Man sollte nackt fechten“, hörte er Tozzi hinter sich. — Rudi, mit zwei Mensurspeeren in den Händen vor ihn tretend, meinte lachend: „Baden muß man ja sowieso hinterher.“
„Hol einen Schurz, Rudi, und red nicht, eh du gefragt wirst.“ Georg führte abwechselnd mit jeder der beiden Klingen in den kürbisgroßen, blauweißschwarzen Blechkörben ein paar Lufthiebe, und trat zurück, da sein Gegner, fix und fertig gerüstet, den Arm auf der Schulter eines Korpsbruders hereinkam und sich verbeugte, ein mittelgroßer, schwerer Mensch mit gedunsenem Gesicht, aber friedlichen kleinen Augen.
Während Tozzi ihm dann den von Germersheim gebrachten großen Lederschurz vorhängte, der, steif wie ein Panzer, eine neue Wolke beißenden Schweiß- und Blutgeruch ausströmte, fragte er, in Georgs Rücken festschnallend: „Hast du noch irgendeinen Wunsch? Fürs Sekundieren mein’ ich?“
„Ich wüßte nicht ...“ Da kam Ellerau zur Tür herein. „Also wer sekundiert drüben?“ fragte Georg halblaut.
„Altenburg soll er heißen.“
„Gott sei dank. Also dann, Tozzi,“ fuhr Georg leise fort, „nur eins, nicht wahr, was ich immer schon sagte: nie einfallen, wenns nicht unbedingt notwendig ist, — Abfuhr oder so. Ich — ja um Gottes willen, Rudi, bring mir bloß die Speere nicht durcheinander, nicht wahr! Ja, welchen hab ich denn nun eigentlich ausgesucht? Gieb den noch mal her! den, wo du grad — — nicht den! den andern! Sakrament noch mal, ihr Füchse seid eine Gesellschaft, nicht wahr!“
Bei dem Lufthieb aber, den er mit dem empfangenen Speer ausführte, hätte er sich ums Haar das Handgelenk verrenkt; es schmerzte, und das war ein Omen. Georg fluchte leise und sagte, er nähme den andern, Ellerau sollte ihn in der Hand behalten. — Der erklärte hochherzig, er testierte Georg ja sowieso, worüber sein großer Bruder hereinkam und sich wunderte, daß Georg noch nicht fertig war.
„Die Brille, Tozzi“, sagte Georg beklommen. Der Augenblick, wo das blindmachende, tränenerregende Eisengestell mit Drahtvergitterung um den Schädel geschnallt wurde, war jedesmal der schlimmste.
„Was wolltest du mir denn noch sagen?“ hörte er Tozzi fragen, der gleichzeitig sanft den Brillenbügel — der Gute hatte ihn zuvor mit Watte umwickelt — auf Georgs Nasenwurzel legte. Es ward dämmrig vor Georgs Augen, dann fühlte er, wie unendlich behutsam die Schnalle am Hinterkopf zugezogen wurde und — nicht ohne leise Rührung, daß Tozzis Linke die kurzen Haare, um sie nicht einzuklemmen, nach oben strich. Die Riemen zogen sich zusammen, langsam, weich, dann ein kleiner Ruck; die Brille saß. Wundervoll!
„Ja — also du weißt ja, nicht wahr! Ich ziehe beim ersten Hiebe immer nur an, nicht wahr, komme also erst beim dritten, nicht wahr, auf Terz heraus und dann mit der Hakenquart. Von der Uhlenburg bolzt zwar sicher, aber für alle Fälle, nicht wahr — nicht einfallen! auch wenn du mal Blut — — Also kanns losgehn?“
Der Raum war jetzt gedrängt voll stehender Korpsleute aller Farben; Georg wurde durch die Mauer geschoben und geführt, fand sich plötzlich — was ihm ein leichtes Leeregefühl in der Magengegend versetzte — vor der leeren Saalmitte voll blutfleckiger Sägespäne, fünf Schritt gegenüber seinem Gegner, der puppensteif auf einem Stuhl hockte, das Gesicht halb verdeckt von der eisernen Brille, an der noch ein Nasenblech saß, den rechten Ellbogen auf dem hochgestützten Knie seines Testanten, so daß die Schlägerklinge senkrecht emporstand. Und indem Georg merkte, daß ihm von hinten ein Stuhl untergeschoben wurde, hörte er durch das gedämpfte Stimmengemurmel ruhig und vernehmlich sagen: „Silentium für die Mensur.“
Mein Leder! dachte Georg und vernahm, sich nach links wendend, gleichzeitig Tozzis tiefe Stimme: „Mein Paukant ist noch nicht fertig. Das Leder fehlt. — Ist es groß genug?“ fragte er, Georg die handtellergroße, lederbezogene Platte von Eisenblech an ihren schwarzen Bändern vorhaltend. „Ich denke“, erwiderte er, aber nun gabs erst Aufenthalt. Der Unparteiische trat herzu. Andere von beiden Seiten steckten die Köpfe vor, alle wollten das „überlebensgroße Leder“ sehen, das „Geburtstagsleder“, wie eine Stimme sagte, bis der Arzt kam, Georg den Kopf senken ließ, kaltfingrig auf der nackten Stelle tastete und das Leder für ordentlich erklärte. Bis es über den noch unvernarbten Wunden festgebunden war, verging noch eine Minute, und Georgs Arm mit der Waffe auf der Schulter des Fuchsen war unterweil lahm geworden.
Endlich trat gegenüber der Sekundant vor seinen Fechter und erklärte, die Drahtmaske vom Gesicht lüftend, sein Paukant trete mit Nasenblech an wegen Nasenoperation; worauf Tastozzi — plötzlich überaus schlank und kraftvoll erscheinend, die Drahtmaske ritterlich im Arm, die Klinge schräg nach unten — das Leder verkündete.
Georg schöpfte tief Atem; gleichwohl haftete die Bedrängnis in seiner Brust.
„Silentium für die Mensur.“
Georg trat zugleich mit seinem Gegner vor, so daß sie wenig mehr über einen Meter voneinander entfernt standen. Dann erstarrte in ihm die letzte Beängstigung, während die Sekundanten mit ihren Schlägern den Abstand von Brust zu Brust maßen, und Georg, noch auf seine Münchener Art die Faust im Korbe dicht überm Hinterkopf haltend, so daß die Klinge hinten herunterhing wie ein Zopf, biß die Zähne zusammen. Das letzte, was er deutlich hörte, war drüben das gellende: „Auf die Mensur!“ Zwei Sekunden später sah er die schräg vorragende Speerspitze des Gegners sich bewegen und hieb selber zu. Dann kam eine längere Zeit blinden verbissenen Dreinhauens, kurzes Pausieren, wieder Dreinhauen; er fühlte — gar nicht wie etwas Dazugehöriges — keulenschwere Schläge auf seinen Schlägerkorb und den Arm fallen und sah endlich aus der, vom Brillenriemen eingeschnürten Stirn dadrüben einen Blutstropfen quellen, dann einen kleinen roten Riß. Alsbald gab es eine Pause. Ein Mensch in weißem Kittel, Arzt, erschien und verdeckte für Augenblicke den Gegner.
Georg, keuchend und schwitzend, atmete erleichtert auf, augenblicks — wie immer — ruhiger geworden beim ersten Blut, und konnte sogar lächeln, da er mit einem Blick nach links unten Tozzi sich nach seiner Gewohnheit auf beide Absätze hocken sah, statt nur sich über das durchgedrückte linke Knie nach hinten zu beugen, — um aus dieser Stellung schneller hochfliegen zu können, wenns not war.
„Silentium für den Fortgang der Mensur.“ Durch die Drahtmaske Tozzis glaubte Georg ein ganz kleines Augenlächeln aufblinken zu sehen. Als zeige er eine kleine Blume dahinter, dachte Georg dankbar.
Er hatte aber noch kaum zum ersten Hieb wieder ausgeholt, als er einen schmetternden und so wütend schmerzhaften Keulenschlag langhin über den Kopf erhielt, daß er zusammenzuckte und taumelte. Zum Hiebe kam er nicht, seine Klinge wurde aufgefangen, er hörte Halt schrein, hörte Tozzis Stimme, dann wieder den Gegensekundanten: „Auf Gegenseite wurde zurückgegangen?“
„Infolge der Wucht der Hiebe?“ Tozzi.
„Ich habe nichts bemerkt“, erklärte der kleine Unparteiische, auf seine Notizkarte blickend.
Georg, noch halbblind vor Schmerz, wollte „bitte Pause!“ sagen, verhinderte sich jedoch noch rechtzeitig, da das wie ein Zugeständnis ausgesehen hätte, auch war da plötzlich, von der Maske verdunkelt, Tozzis Gesicht mit blitzenden Augen vor ihm, aus dem es zischte: „Nimm dich zusammen, Georg, du zuckst ja!“
Georg schwieg. Einen Augenblick danach war er im heißen Kampf. Zweimal, dreimal riß es wie Feuer über seinen Kopf hin, er schäumte vor Wut, mußte warten, da es wieder Anfragen gab wegen seines Taumelns und Zurücktretens, — ich zucke nicht, dachte er weinend und hieb mit blinden Augen auf eine kaum sichtbare rote Kugel los, dann hörte er ein Geschrei: „Leder weg!“ und wieder die Frage: „Wurde zurückgegangen?“ Er lauerte auf die Antwort nach Tozzis augenblicklichem: „Infolge der Wucht der Hiebe?“ und hörte erst nach Sekunden ein trockenes: „Nein.“
Georg saß und fühlte Hände an seinem Kopf beschäftigt. Besorgt und mit einem tiefen Ausdruck von Güte beugte Tozzis Gesicht ohne Maske zwischen Andern sich über ihn; er fragte ängstlich: „Habe ich noch gezuckt, Tozzi?“ Der bewegte verneinend den Kopf und lächelte. Indem hörte Georg die Stimme des Arztes über sich, der ruhig bemerkte, die alten Schmisse seien aufgeplatzt, er verbürge sich nicht für weiteres ... Eine große Hand umspannte Georgs Schädel, Elleraus gutherzige Augen erschienen über ihm, bevor er den Kopf senkte. Als er wieder aufsah, stand Tozzi zwei Schritte vor dem Unparteiischen, verbeugte sich genau wie zu Anfang und sagte: „Herr Unparteiischer, wir führen ab“, worauf er sich schlank umdrehte, seinen Speer wütend auf die Erde schleuderte, den Handschuh von der Hand zerrte und hinterdrein schmiß und ganz bleich flammenden Gesichts Ellerau mit halber Stimme anfuhr: „Ich habs euch vorher gesagt, ich! Das war eine Roheit!“ dann sich wegdrehte und hinausging.
Wieder rittlings auf einem Stuhl, jetzt die Stirn auf den Armen, von der heißen Bandagenrüstung erleichtert, den schrecklich schmerzenden Kopf von kühlenden Wattebäuschen betupft, fragte Georg den Arzt, ob wieder genäht werden müßte. — Das sei leider unmöglich; man müßte es so zu heilen versuchen. Eine böse Geschichte. — Wie lange es denn dauern könne? — Nicht unter sechs Wochen.
Georg sank das Herz. Daß die Mensur zu alledem schlecht gefochten war, stand fest; er mußte Reinigung fechten, dazu kam es vielleicht nicht einmal mehr in diesem Semester, so war er gezwungen, auch im nächsten noch aktiv zu bleiben. Sein ganzer Kopf schwamm in Schweiß und Feuer; er glaubte ohnmächtig zu werden, hob den Kopf schwankend und sah noch Tastozzis Gesicht und Gestalt, der mit einem Glase Wasser zur Tür hereinkam. Trinkend kam er rasch zu sich, fröstelte, nahm sich zusammen und sagte, mühsam scherzend: „Bei der nächsten wetzen wirs aus, Tozzi, was?“
Der fragte unbeweglich blickend: „Wann?“
„In sechs Wochen, sagt der Arzt.“
Drei Sekunden lang sah Georg Tastozzis Augen fest und seltsam stille gegen die seinen eingestellt, dann bewegte er stumm den Kopf auf und nieder und wandte sich ab, sein Glas auf den Tisch zu setzen. Der Arzt hob die rotgewaschenen Hände voll Watte über Georg, der den Kopf senkte und sich verbinden ließ.
Georg, den Kopf mit erhitzenden Binden umwickelt, dampfend von Angst, Öde und Jammer, saß im tiefsten Sessel dicht vor der Glastür zum Garten und sah den Regen in massig fallendem Strom durch den dämmernden Abend niederstürzen, laut rauschend im Blätterwerk der Gebüsche, aus denen überall weißliche Blüten, zerrissenen Nachtschmetterlingen gleich, hervortrieben und umhertaumelten. Ein Türgeräusch weckte ihn aus halbem Schlaf, er hörte Egons Stimme hinter sich und drehte sich langsam um. In der Kaminecke schwebte, erleuchtet, der grüne Lampenumhang, zwei Gestalten kamen den Flur herab auf die offene Tür zu, dann erkannte er Esther und Sigurd und sprang erleichtert auf.
Herr du meines Lebens, wie sie trieften! Das war ja unerhört! — Sigurd — noch über den Stufen oben — zog mit zwei Fingern den Stoff seiner Hose vom Bein ab, um zu zeigen, wie er klebte, Esther schwenkte ihren Hut, daß es spritzte, und schüttelte den Kopf. Da flogen alle Kämme und Nadeln aus dem Haar, und der schwarze Schopf schlug ihr ums Gesicht; vorn senkten sich die Bögen des Scheitels, und sie drückte die gewölbten Hände dagegen, hob das Gesicht und lachte innig, während Georg erstaunte, denn sie war ja unbeschreiblich kostbar und chinesisch anzusehen! Diese feinen, halbkreisrunden Brauen unter dem weißen Dreieck der Stirn — wie ein marmorner Giebel —, die geschlitzten, glitzernden Augen, und der Mund, ah, er war erstaunlich süß, denn er hatte einen Bart, einen entzückenden, verführenden Flaum von Bart über den Mundwinkeln! Esther hieß sie? Sie war ein wenig klein, Rebekka hätte besser gepaßt, wie sie dem langen Jakob auf den Zehen den Krug zum Munde reichte und alle Kamele mit himmlischem Wasser tränkte, — aber was nun? Kleider mußten herbeigeschafft werden, dies war ja ein gottvolles Unwetter!
Georg hob den Deckel der Truhe in der Kaminecke.
„Dies“, sagte er, „ist ein völlig ungetragener Bademantel, dunkelrot mit handbreiter blauer Kante, der steht Ihnen fabelhaft, Sigurd, ziehen Sie ihn schleunig an! Und hier, aus diesen Seidenpapierhüllen schält sich — aha! aha! ein Morgenkleid der Weimarer Werkstätten in ungefährer Form eines japanischen Kimonos!“ Und er machte wollüstig verlockende Augen zu Esther, welche die Hände zusammenschlug über der breit entfalteten braungoldenen Seide, bestickt mit schwarzgestielten und kupferfarbenen Mohnblumen, vom Saum nach oben steigend. Augenblicks öffnete Georg sein Schlafzimmer, machte Licht, warf das Kleid über sein Bett, schob das Mädchen hinein und machte die Tür zu. Dann half er Sigurd die klebenden Hosen vom Leibe, wobei der erzählte, wie sie jählings im Park von dem Unwetter überrascht und hergeflüchtet seien, natürlich Esthers wegen, die behauptete, es wäre näher hierher als bis zur elektrischen Bahn, und das freute Georg über die Maßen. Der blasse Egon half lächelnd bei den Stiefeln und stürzte davon, um den Tee zu beschleunigen. Esther steckte den Kopf aus der Tür und rief: „Schuhe! ich habe alles ausgezogen!“ Aber da war nur ein Paar japanischer Holzschuhe in der Truhe mit zwei Zoll hohen Sohlen, die reichte Georg hinein, und nach einer Weile ging die Tür auf, und sie kam herein, o wunderbar! auf ganz kleinen, vorsichtigen Schritten, so daß sich kaum das Kleid bewegte, das sie weit und mächtig umfloß, die Unterarme vor der Brust gekreuzt, das Haar hochaufgesteckt und mit einer sehr lieblichen Königinnenhaltung des kleinen Hauptes. Ja, da stand nun Sigurd und sah wie ein Hoherpriester aus mit seinem langen, ernsten Gesicht, schweren Augen und dunklem Haarbusch in dem langen roten Kleid. Egon räumte die Bücher vom niedrigen Tisch, setzte das Teegeschirr auf, Georg zog die Lampe mit dem grünen Umhang tiefer und konnte sich nicht satt sehn. Esther drehte sich um und um, und überdem zirpte das Telephon vom Schreibtisch. Georg nahm den Hörer auf und vernahm drüben Bennos Stimme, der mit unzählbaren Entschuldigungen vortrug, Frau Tregiorni, Herr Bogner und Herr Saint-Georges seien schon den halben Nachmittag bei ihm und säßen nun fest, und nun wollten sie Tee trinken, — worauf nach einem unverständlichen Gemurmel Ulrika Tregiornis Stimme erschien, die Georg beglückwünschte, daß er da sei, denn Jason al Manach fehle, um Geschichten zu erzählen, und er hätte sicherlich was vorzulesen. Georg freute sich heftig, bat sie aber, zu ihm herüberzukommen, da sie etwas Erstaunliches zu sehen bekommen würden. Das versprach sie gerne.
Unterweil hatte Esther Tee eingeschenkt und saß auf den Knien ihres Bruders, der in einen Ledersessel versunken war und sie umschlungen hielt, während sie vorsichtig die dünne Tasse an seine Lippen setzte, aber er schüttelte heftig den Kopf, es sei viel zu heiß! worauf sie ihm gut zuredete, und dann trank er wieder einen Schluck, und sie schwätzte erstaunlich dummes Zeug dazu. Auf dem Flur draußen aber entstand ein Getöse von schlürfenden Schritten und Stimmen und unmäßiges Gelächter, und dann flog die Türe auf mit einem heftigen Ruck, und — ja da standen sie!
Esther nämlich war entsetzt aufgesprungen und stand nun, mit den Füßen heimlich ihre halbverlorenen Schuhe angelnd, etwas gekrümmt, die Hände auf den Knien, mit den Armen ihr Kleid am Leibe festdrückend, lächelnd und errötend —, ja so stand sie dicht neben dem großen grünen Lampenumhang ihr zu Häupten. Georg stellte vor, aber darauf hörte niemand; endlich fragte Ulrika: „Georg, was ist dies? Ein Märchenfisch?“
„Es ist Esther“, sagte er.
„Aus der Bibel?“
„Freilich, freilich!“ — Und da gingen sie Alle herum um Esther und verneigten sich, sogar Bogner, auch Benno, aber schrecklich verlegen. Saint-Georges schlug vor, daß sie es vormachen sollte. Was? — Nun, das aus den Stücken in Esther, ob sie die Stelle nicht kennten? — Nein! — Also mußte Georg eine Bibel herbeischaffen, und er hatte wirklich eine, eine Kunstbibel, so groß wie der Tod. Saint-Georges schlug auf und las:
„Und am dritten Tage legte sie ihre täglichen Kleider ab und zog ihren königlichen Schmuck an.
„Und war sehr schön, und rief Gott den Heiland an, der alles siehet, und nahm zwo Mägde mit sich, und lehnete sich zierlich auf die eine, die andre aber folgete ihr und trug ihr den Schwanz am Rocke.
„Und ihr Angesicht war sehr schön, lieblich und fröhlich gestalt; aber ihr Herz war voll Angst und Sorge.
„Und da sie durch alle Türen hinein kam, trat sie gegen den König, da er saß auf seinem königlichen Stuhl in seinen königlichen Kleidern, die von Gold und Edelsteinen waren, und war schrecklich anzusehen.
„Da er nun die Augen aufhub, und sahe sie zorniglich an, erblassete die Königin und sank in eine Ohnmacht und legte das Haupt auf die Magd.“
„Da wandelte Gott dem Könige sein Herz zur Güte ...“
Ja, so wollten sie es machen! „Lieblich und fröhlich gestalt“, sagte Georg, es paßte alles genau, und er wollte die eine Magd machen, Sigurd sollte König sein, aber der wollte nicht, denn er wäre nicht schrecklich anzusehen, was Esther auch fand, aber das tat sie nur, um davon zu kommen, und sie protestierte auch gegen Georgs Magdtum, und Ulrika fand wieder, daß sie zu schlecht angezogen sei als eine königliche Magd, aber Georg hatte schon einen anderen Kimono aus seiner Truhe geschöpft, der war so blaßgrün wie ein Morgenhimmel und war zu vielen Teilen bedeckt mit einem Gewimmel von ganz rosa Wölkchen, silbergerandet, echt japanische Stickerei, also verschwand sie mit ihm und Esther strahlend im Speisezimmer, um sich anzuziehn, denn von dort wollten sie hereinkommen, und sie wollte beide Mägde zusammen darstellen.
Unterweil tranken sie ihren Tee, und Benno berichtete nachträglich sehr errötend, daß er auf dem Wege von seiner Wohnung hierher nirgend die Kurbeln für das Licht habe finden können, und so seien sie entsetzlich furchtsam den Korridor herangetappt, denn Ulrika hätte geschworen, es seien überall Schächte und Wolfsgruben in diesem alten Palais, Saint-Georges aber hatte versichert — Benno krümmte sich vor Schamhaftigkeit und Gelächter —, die Wege zu den Dichtern wären immer dunkel, und dann hatte er einen Schüttelreim gemacht zum Totlachen, und Ulrika, die alles durch die offene Tür hörte, lachte schon und schrie: „Nein, wie dumm! Aber herrlich war er! Sagen Sie ihn, Benno!“ Und Benno brachte wirklich den Schüttelreim heraus, und er hieß:
Ein Dichter bei den Milben saß
Und lernte sie das Silbenmaß.
Herr du meines Lebens! Georg wollte sterben vor Lachen. Er fiel auf seinen Stuhl am Schreibtisch, spreizte die Beine von sich, hob den linken Arm hoch und ließ die Hand wie eine Traube auf seinen Kopf hängen. „Und lernte sie das Silbenmaß!“ rief er, „das ist großartig! Das ist ganz großartig! Das ist sogar keß!“
Im nächsten Augenblick schrie Ulrika: „Fertig! Ist der König auch fertig?“ Flugs wurde der Schreibtisch beiseite geschoben, ein Sessel vor die Treppe gerollt, der Vorhang vor die Fenster gelassen, — die große Mondkugel schwebte milchbleich in Lüften auf und verwandelte den Raum in eine geheimnisvolle Palastgegend voll feenhafter Dämmerung, Sigurd setzte sich majestätisch zurecht und rollte die Augen, und da kamen sie nun herein, Esther wie zuvor, die Stirn süß gesenkt, ängstlich genug, Stirn und Wangen überflogen von Erröten, hinter ihr Ulrika in fließenden Himmelsmorgenfarben, weit zurückgelehnt, die Schleppe in ausgestreckten Händen, die Augenlider tief gesenkt, das dunkelrote Haar in zwei dicken langen Zöpfen neben den, im grünlichen Licht durchscheinenden zarten Wangen herabhangend. Ja, das war ein bezaubernder Anblick, die Männer zu beiden Seiten sanken mit flach zusammengelegten Händen auf die Knie und sangen nach der schönen Melodie: ‚Reich mir deine Hand! deine weiße Hand!‘ die Worte: „Schenk mir einen Kuß! schenk mir ei—nen Kuß!“ Esther aber sah den König angstvoll an, wankte zierlich und wurde auf das anmutigste aufgefangen. Dann stand sie wieder, schleuderte aber plötzlich wider alle Verabredung ihre Holzschuhe links und rechts den Männern an die Köpfe und stürzte sich, dunkelgoldumwogt und nacktfüßig in die Arme ihres königlichen Bruders. Georg sagte: „Das ist ein duftender Abend!“
Renate saß am Abend des ersten Juli, ihres Geburtstages, am Schreibtisch und schrieb im letzten Licht des Sommerhimmels:
„Mein lieber Josef:
Hiermit schenke ich dir zu meinem Geburtstage eine Stunde von ihm. Eine sehr kostbare Stunde, denn unten sitzen sie Alle um Jason in der dämmerigen Veranda und hören ihn kleine Geschichten erzählen. Du kennst Jason ein wenig durch meine Berichte. Wirklich ist er zu den Lebendigen zurückgekehrt. Nun erzählt er Geschichten. Geschichten, die er augenscheinlich selbst macht. Dann sitzen wir Alle um ihn herum, und er erzählt, halblaut, leise plätschernd, den blassen Mund immer ganz leicht gekräuselt, beinah möchte man sagen: kaustisch, aber das ists nicht, es ist bloße Freundlichkeit, immer geruht er ganz leicht, und seine Langmut ist ja nun unendlich. Die schwarzen Augen wandern unaufhörlich umher, vom Einen zum Andern, und immer muß man sich freuen, wenn man angesehn wird. Er weiß auch immer eine Antwort, nicht wie Georges, der Aufschluß erteilt und Dinge klarlegt, sondern da ist irgendwie eine sanfte, ganz sanfte Unabänderlichkeit in seinen Worten, sie sind so da wie eine kleine Wiese, sie stehen da wie ein Büschel Blumen, — was ließe sich dagegen einwenden? Aber er spricht niemals von selber, man muß ihn immer anreden, und dann weiß er immer etwas, ach, ich könnte stundenlang davon schreiben! Niemals widersteht er; wenn einer spazieren gehen will, Jason geht mit; wenn einer im Garten sitzen möchte, Jason sitzt mit im Garten; wenn einer was erzählt haben will, Jason erzählt gleich was. Aufschreiben wollte er nichts, sagte er, er wäre kein Literat, aber nachdem ich ihn gebeten habe, hat er mir schon dies und das Stück Papier gebracht, darauf war mit ganz kleiner, zierlicher Schrift eine seiner Geschichten aufgeschrieben, und wenn der Bogen zu Ende war, war die Geschichte auch aus; das nehme er sich so vor, sagte er.
Aber weiter zu den übrigen ‚Allen‘, die ich erwähnte. Da ist:
Magda, die Du kennst, doch wurde sie freilich durch Krankheit und Schicksal recht verändert. Wenn Du Dir eine sehr mädchenhafte und sehr deutsche Madonna vorstellen kannst, eine Madonna, die nicht geboren hat —, dann kannst Du sie sehn, wie sie jetzt ist. Siehe, es giebt Menschen, die werden durch vieles Leiden — wie der Stahl durch Bestreichen mit dem Magnetstein — magnetisch für anderes Leid, und wer das seine mit ihr in Berührung bringt, dem weiß sie es sanft zu entziehen. — Glück, hörte ich Dich einmal sagen, ist eines der häufigsten Fremdworte in der Erdensprache. Nun — dann hat meine Magda jene Sprache verstehen gelernt, aus der es stammen mag.
Ulrika kennst Du, und sie ist dieselbe; mir nicht ganz nah wie bisher, so sehr ich sie liebe. Sie muß einen seltsamen, mir unbekannten Geist mit sich herumtragen, den vielleicht verstehen mag
Bogner, doch will ichs nicht beschwören. Sie sind viel zusammen, soweit er nicht, wie zurzeit, vor einem Wandstück in der Kapelle sitzt, die er mit musizierenden Engeln auszuschmücken beschäftigt ist. Um es gleich zu sagen: Was Bogner sich unter Engel vorstellt, ist nicht mehr und nicht weniger als ein heroisches Wesen, dem er diesen Namen giebt. Er hat einen Haufen Studien um sich herstehen und malt. Nein, mit ihm ist nichts anzufangen, obwohl er nicht ohne Bereitwilligkeit ist; jedenfalls wenn er nicht malt.
Irene kennst Du. Mit ihr, Georges, dem gleichfalls Dir bekannten Benno — dessen Namen ich nur anzuschlagen brauche, um Dich den ganzen rührenden Akkord mit allen Ober- und Unterstimmen seines Wesens hören zu lassen — und einem Dir Unbekannten, der das Cello spielt, haben Ulrika und ich eine Quartett- und Triovereinigung an Mittwoch- und Sonntagabenden. Was das Cello angeht, so bist Du vollkommen ersetzt. Er heißt
Sigurd Birnbaum, studiert Medizin und ist neunzehn Jahre alt. Menschen beschreiben kann ich nicht gut, so mußt Du Dich mit der Versicherung begnügen, daß ich ihn schön finde und so aussehend, daß ich ihn Unkas getauft habe nach dem letzten Mohikaner. So sieht er aus; so geht er — schwer und mit den Füßen etwas einwärts, wie diese, noch ein wenig tierhaften Menschen sich den Gang auf langen Wanderungen erleichtern sollen; so einfältig ist sein Gemüt, kampfbereit sein Geist — und im übrigen habe ich einen Vers darauf gemacht, der später kommt. Seine Schwester heißt
Esther, ist das Lieblichste von der Welt, gleicht aufs Haar einer kleinen Chinesin, wird von allen liebgehabt und kann sonst auch gar nichts, obwohl sie sehr klug ist. Da sie aber etwas tun muß, so haben wir einen Fond gegründet für Handarbeiten, denn darauf versteht sie sich. Was kann das Mädchen himmlische Sachen sticken! Wie ich gestern in Dein Zimmer komme, sitzt sie da mutterseelallein über einem großen Stück schwarzer Seide und näht an einer handtellergroßen Scheibe in der Mitte aus kleinen Rosen, von kunstvoll zusammengefalteten, lichten Seidenläppchen; in handbreiter Entfernung soll ein dichter Doppelkranz von gleichen Rosen herum, und das Ganze bekommt eine altgoldene Spitzenborte, die ich hergeben werde. Leider ist sie ganz arm. Also hat sich der wohlhabende Teil unserer Gesellschaft zusammengetan und einen schönen Fond gegründet zum Einkauf von unermeßlichen Seidenstoffen, Kanevas, Wolle, Seidenfäden und so weiter, und die gute Esther wird die ganze Gesellschaft mit Kissen und Morgengewändern, Fenstervorhängen und Tischdecken versorgen. Außerdem ists unendlich behaglich, wenn einer vorliest und jemand dabei sitzt und stickt. Jason kann ihr Geschichten erzählen, wenn sie allein ist.
Prinz Georg wäre dann der letzte zu erwähnende, und Du kennst ihn. Nicht wahr: immer freundlich, gutherzig, ehrlich, immer gern literarisch — oder muß es in diesem Fall literatisch heißen? — und im übrigen so wie der Vers, den ich auf ihn gemacht habe. (Kommt später!) Allzuhäufig sieht man ihn nicht, denn er ist in einen ‚Geheimbund‘, wie er das nennt, eingetreten, wo er ‚sich in den Sitten wilder Völkerschaften übt‘.
Ein Name — sagte Josef einmal — ist was der Henkel am Topf; also nennen wir uns die Friedliebende Gesellschaft. Wir kommen und gehen in diesem Hause, wie es uns beliebt, und unser einziges Statut ist, uns nur einmal am Tage zu begrüßen.
Ich — ja was kann ich zurzeit andres tun, als gute Menschen zu versammeln und zu denken, daß sie sich nichts zuleide tun und, solange sie beisammen sind, sich des Lebens freun. Sie haben ein jeder ihre Arbeit, draußen; also werden sie auch alle ihre Leidenschaften und ihre Leiden, ihre Feindschaften, ihre Seufzer und ihre Plagen haben, so wie ich die meinen, aber sobald sie hier sind, das weiß ich, herrscht Wohlsein, und unsere Gemeinsamkeit ergeht sich auf dem Boden guter Arbeit erholenderweise, wie der Bauerntanz auf der Tenne. Dazu ist Sommer, alles blüht, die Farbe herrscht, in der Natur und an den leichten Kleidern von uns Frauen. Nach der Hitze des Tages leben sie Alle bei Dunkelwerden vollends auf, wandern umher, hören von fern irgendeine Musik, gehen über die Wiesen hinaus, an den Fluß, singen unter den Sternen und hinüber zu den Lebensbäumen des Friedhofs; wir leben gegenwärtig, gedankenleicht, unbedacht, geschwisterlich. Kommt die Nacht, steht Schlaf bevor, sind wir jeder wieder allein. Dann herrscht das Unsrige, — das Eigentliche wohl. Mag es.
Und so ist es schön. Wer ins Haus kommt, der weiß als Gewissestes den Maler in der Kapelle; der findet Esther, von buntem Zeug umgeben, im gotischen Fenster, findet Jason im Hintergrund, findet Georg, eine Seidensträhne durch die Finger ziehend neben Esther, findet Benno am Klavier phantasierend, findet Irene, Arme voll Blumen zusammentragend, die sie ihrem arbeitsamen Mann heimschleppt, damit er auch was hat, findet Magda unter den sechs Linden, unserer ‚kleinen Allee‘ hinter der Kapelle hin- und herschlendernd, als ob sie innen sänge, der armen Frau Marie Grubbe gleich, als sie noch ein Mädchen war und sehnsüchtiger als mein Kind Magda, und findet uns schließlich Alle beisammen in der Kapelle unterm Gewölk von Klängen voller Sterne, Blumen, Blitze und Engelsgesichter.“
Renate merkte, daß es so dunkel geworden war, daß sie ihre eigenen Schriftzüge kaum noch erkennen konnte. Sie streckte die Hand nach der Lampe, die Glühbirne im kleinen gelben Schirm flammte auf, sie blickte einen Augenblick geblendet nach oben, erkannte das weiße Gesicht Ech-en-Atons über ihr, lächelte und schrieb weiter.
„Zum Beschluß eine kleine Szene von der heutigen Geburtstagsfeier. Zu diesem Zweck wurde Renate in ihrem allergrößten, dem glühroten Kleide mit blauem Moireemuster, das Du kennst, nebst der grünen Halskette von Dir, vor der Orgel aufgestellt, und die ganze Gesellschaft kam im langen Zuge zur Kapellentür herein, indem sie nach der Melodie: ‚Mariechen sitzt auf einem Stein, einem Stein, einem Stein‘ den schönen Choral sangen: ‚Renate hat Geburtstag heut, -burtstag heut, -burtstag heut!‘ Als sie, Georg als der Durchlauchtigste voran, am Podium angelangt waren, setzte Benno sich an die Orgel und spielte ganz leise den Jungfernkranz in Fis-Moll, während Einer nach dem Anderen das Podium bestieg und seine Gabe überreichte. Herrliche Dinge gab es da. Georg schleppte eine große, chinesische Göttin der Barmherzigkeit aus mattgetöntem Porzellan, die wie eine Muttergottes aussieht und lieblich lächelnd segnet. Hinter ihm kam Irene mit einem halben Dutzend langhängender Seidenstrümpfe in allen Farben an jeder Hand. Ulrika trug einen Stoß Noten auf dem Kopf wie ein Negersklave. Sigurd hatte alles und Alle photographiert, Menschen, Haus und Garten, und trugs in einem schönen Album unter dem Arm herbei. Magda hatte Spitzen geklöppelt, dünn wie Spinnweb, der Himmel mag wissen, wo sie die Zeit hernahm, die immer nur für Andere da ist! Saint-Georges brachte eine ererbte Kostbarkeit herbei, einen grünen Porzellanmops, den ich schon immer hatte haben wollen, und Esther kam, in ausgebreiteten Händen einen grauen Florschal, den sie mit silbernen Vögeln bestickt hatte, ein Wunderwerk der Kunst. Zuletzt kam Bogner und hatte Stiefel gekauft. Das war zum Totlachen! Das heißt, Stiefel nannte es Irene, die vor Gelächter sterben wollte, aber es waren ganz schlichte, kleine, gelbe Schuhe, und der Maler versicherte, er hätte tagelang nachgedacht, bis ihm beim Anblick der Schuhe in einem Schaufenster die Erleuchtung gekommen sei, und er hatte es gut gemacht, denn als Renate ihren linken Schuh abstreifte, saß der neue wie angegossen. Bogner hatte wirklich einen schönen Charakter, obgleich Renate im Herzen zitterte und knirschte, nachdem sie eine Woche lang sich vorgestellt hatte, was er ihr wohl malen würde. Darum, als durch das Gedränge der Übrigen auf dem Podium, die gegenseitig ihre Geschenke bewunderten und anpriesen, der gute Benno sich endlich durchgewunden hatte und mit unzähligen Verbeugungen, Erröten und Stammeln eine zierlich geschriebene Kantate auf den 133. Psalm geschrieben: ‚Siehe, wie fein und lieblich ists, daß Brüder einträchtig beieinander wohnen‘ überreichte, wäre sie mit Freuden in Tränen ausgebrochen. — Stiefel! jauchzte Irene, der Maler hat Stiefel gekauft! — Aber nun, wo war Jason al Manach? Siehe, da kam er herein, wie stets, wenn er verlangt wurde, nickte Allen herzlich zu, gab Renate die Hand und seinem Wohlgefallen Ausdruck, daß wieder einmal Alle da wären. Ja, ob er nicht wisse, was heute sei? Richtig, da fiel ihm ein, daß Geburtstag war. Er hatte es vollständig vergessen. O Jason, wie wurdest du da verhöhnt! Sein berühmtes Gedächtnis! — „Saint-Georges, was sagen Sie dazu?“ fragte ich geknickt. Er aber, der alles weiß, fand das erlösende Wort: „Was hielte stand vor Renate?“ sagte er. „Sogar Jasons Gedächtnis versagt.“
Renate aber ergriff eine perlgestickte Tasche, holte eine Handvoll gekniffter Zettel hervor und verteilte sie, befahl darauf, daß jeder, in der Folge, die sie bestimmte, den Inhalt laut und deutlich vorlese. — Renate hatte nämlich die ganze Gesellschaft mit Ritornellen beschenkt. Sie selber begann, Magdas Hand, die neben ihr stand, ergreifend:
Magda, — vom Leide
Geführt, in unserm Kreis der kleinen Freuden,
Ist unser Aller Trost und Herzensweide.
Georg mußte lesen:
Georg, der Trasse,
Stürzt sich ins Leben wie ins Meer der Schwimmer,
Drum sieht er rings — nur Masse, Masse, Masse.
Ulrika las, nicht ohne Erröten:
Ulrika, holde!
Gott segne deine immer klaren Augen
Und fülle sie mit immer tieferm Golde!
Irene las und dankte mit Knicks und Lächeln:
Irene, hell,
Beschwingt und tönend wie die schwarze Amsel,
Ist nur vergleichbar einem — Ritornell.
Maler Bogner las, nachdem er mit einem Blick auf seinen Zettel: Eiweih! gemurmelt hatte:
Der Maler Bogner
Ist unsres Hauses festgefügte Säule,
Ein Selbsterzeugter und ein Selbsterzogner.
Esther Birnbaum las ganz leise und tief errötend:
Die kleine Esther
Ist eine Königin ganz im geheimen.
Wie schön ist das! Nun nennen wir sie Schwester.
Sigurd las ein wenig ernst und scheinbar betroffen:
Sigurd. — Ein Mahner
An Gideon, der Makkabäer Nachfahr,
Im Adlerschmuck vom — letzten Mohikaner.
Saint-Georges beschloß:
Saint-Georges, der Stille
Im Hintergrund, ist regsam wie im Fachwerk
Die niemals ruhende, geschäftge Grille.
Und nun hob Jason ein ganz furchtbares Lamentieren an, weil er keins bekommen hatte. Die Anderen verhöhnten ihn maßlos, weil das die Strafe für seine Vergeßlichkeit sei, Renate aber entschuldigte sich, sie hätte wohl an ihn gedacht, aber keinen Reim weder auf Jason noch auf al Manach gefunden, und davon habe sie nicht loskommen können. „Ach, du lieber Gott,“ sagte er, „es ist doch so leicht wie Wattepusten:
Statt des letzten Wortes ließ er den Mund erschreckt und kindlich halb offen stehen, als habe er nun auch das Reimwort vergessen.
Eine Weile später fand Renate sich von Saint-Georges gefragt, warum sie selber sich vergessen habe. „Ach, Georges,“ sagte sie, „Sie können gern noch eins haben, obwohl nur die Hälfte von mir selber ist und die andere Hälfte von Mörike:
Des Freundes Achtung
Ist vor Renates Versen sehr gesunken:
Sie stieg hinab ‚zum Abgrund der Betrachtung‘.“
„Warum so giftig?“ sagte er freundlich.
Von zwei Menschen, die zur Vervollständigung meines derzeitigen Lebensbildes gehören würden, habe ich bislang geschwiegen und — will es nun bis ans Ende tun.
Dein Auftrag ist ausgeführt. Cornelia Ring lernte ich schon vor längerer Zeit durch einen Zufall kennen und denke seitdem nicht an sie, ohne zu bedauern, daß sie nicht unter uns sein kann. Übrigens befindet sie sich in meinem ‚Weichbild‘, denn Maler Bogner hat sie zu sich genommen, und sie hält ihm alles instand, von den Strümpfen bis zu den Pinseln.
Ja, Josef, was fange ich mit dem Brief an, den Du mir da geschrieben hast? Ein Feuilleton über ‚den Unfug der Vereinigten Staaten‘. Du hättest es an die Frankfurter Zeitung schicken sollen. Darf ichs nachträglich für Dich tun?
Gott befohlen, Josef!
Renate.“
Ohne das Geschriebene noch einmal zu überlesen, legte sie die Bogen zusammen, faltete, kuvertierte sie und schrieb die Adresse. Danach löschte sie das Licht, trat einen Augenblick ans Fenster, ließ sich von der lauen Nachtluft an die Gesellschaft in der Veranda erinnern und ging treppunter.
Als Renate die dunkle Halle betrat, war von der Veranda her so kein Laut hörbar, daß sie glaubte, es sei niemand dort; doch gewahrte sie gleich darauf im linken Fenster den Schatten eines Menschen, der wohl draußen auf der Fensterbank saß, und nun auch im grauen Rechteck der Mitteltür einen weiblichen Schattenriß, undeutlich, der draußen stand. Auf dem weichen Teppich kam sie wider Willen unhörbar bis zur Tür und sah nun, daß doch wohl Alle da waren, aber so still wie die Büsche im Garten und kaum zu erkennen im Finstern.
Der weibliche Schatten war Magda, die dicht an der Treppe zum Garten an der Brüstung lehnte, halb verhangen von dem schwarzen Rankenwerk des Weins und Jelängerjeliebers, das vom Verandadach herabhing. An der andern Seite des Eingangs stand, fast wie sie, Ulrika. Ganz ferne links in der äußersten Ecke war der weiße Schein von Jasons Gesicht tief unten zu erkennen: er mußte auf einem Taburett, fast am Boden sitzen. In seiner Nähe saß, kaum zu unterscheiden von der Brüstung und den Blumen darauf hinter ihr, Esther; an der Wand Saint-Georges, am roten Glühpunkt seiner Zigarette zu erraten. Der im Fenster hockte, war Sigurd, und neben ihm, als Einziger bescheidentlich auf einem graden Stuhl aufrecht, saß Benno, wie er pflegte: ein Knie überm andern, die Hände darauf, den Rücken gebogen, das Gesicht ein wenig emporgerichtet. Und Irene? — Sie saß wohl verborgen hinter der Rückenlehne des Sessels, ganz in Renates Nähe. So war nur Bogner abwesend, — und Georg — in seinem Geheimbund vermutlich.
„Erschreckt nicht,“ sagte Renate behutsam, „ich bin es.“
Ein Schimmer — Irenes Auge — erschien über dem Sesselrücken. Die Übrigen bewegten sich Alle ein wenig, doch keiner sprach.
„Ich habe,“ bemerkte dann Jasons Stimme fein aus dem Hintergrund, „wie man von feindlichen Batterien sagt, sie sämtlich zum Schweigen gebracht.“
„Wie denn?“ fragte Renate.
Für Jason antwortete Irene nach einer Weile tief: „Er erzählte so seltsam ...“
„Darf ich wissen was?“ fragte Renate, in einen leeren Sessel gleitend.
„Ach,“ hörte sie Esther aufatmen, „wie kann man das sagen? Es sind ja keine Geschichten. Nur ein Stück Leben, das er erscheinen läßt, wie — wie in einer Laterna magica, so farbig und so leise.“
„Wenn Sie“, ertönte Saint-Georges’ Stimme nach einer Zeit, „den Inhalt wissen wollen: Da war ein Buchbinder. Der stand von früh sieben Uhr bis abends zehn am Arbeitstisch. Er hatte einen sehr alten, weißbärtigen Vater, der noch helfen konnte, eine große, üppige Frau, die an besonders arbeitsreichen Tagen zugriff, und einen zehnjährigen Jungen, der ins Realgymnasium ging, aber albern war, nur herumlief und lachte, nichts lernen konnte; ein halber Idiot. Damit der einmal zu leben habe, mühte sein Vater sich tagein tagaus, ohne Festtag, ohne Freude als eben diese.
„Eines Tages fing er an, sonderbare Reden zu führen. Dann verschwand er. Dann kam er wieder, redete irre, tobte. Dann kam er ins Irrenhaus, und dort starb er bald darauf. Fast das ganze Guthaben des Sparkassenbuches hatte er vergeudet.
„Nun stellte die Frau sich an seinen Platz. Sie hatte alle Fertigkeit gut begriffen, nur die feineren Einbände machte der Schwiegervater, aber bald konnte sie das Vergolden der Titelschriften und dergleichen besser als der Alte, ja mit Frauengewissenhaftigkeit machte sie’s sogar akkurater als der Tote, in freilich längerer Zeit. Und dann starb plötzlich der Schwiegervater. Ja — und dann fand man sie eines Morgens am Bett des Knaben, sitzend, über ihn gebeugt, und das Zimmer war gefüllt mit Leuchtgas.“
„Ja,“ setzte Saint-Georges nach einer Weile hinzu, „das wars.“
„O nein, das wars nicht!“ sagte Ulrikas Stimme hinter Renate. „Wir haben es doch alles gesehen! Die lange Werkstatt mit den blinden, verklebten Fensterscheiben voll rostiger Eisenquadrate, und den langen Arbeitstisch, darunter das Werkzeug, — und wie der Mann mit seinen dunklen Augen und dem zurückfallenden schwarzen Kinn und den wehmütig hängenden Mundwinkeln soviel plappert, immer seine kurzen: Ja, ja, — jawohl, jawohl, — ja ... Und dann der Geruch ... der Leim auf dem Herd, der Kleister, Druckerschwärze und gekleistertes Papier, und Leder, und Kaliko, jedes ...“
Benno räusperte sich. „Ach,“ sagte er, „und draußen der schmale Hofraum, das alte Pflaster voll Gras, und in der Ecke der alte Leierkasten, der herrenlos war ...“
„Und gegenüber den Fenstern“, redete Sigurd, „die vier braun gestrichenen Türen der Klosette mit dem Herzloch oben, nicht wahr, und dahinter die alten Fachwerkwände, die Fenster und Gardinen, und die Geraniumstöcke im Sommer ...“
Nun schwiegen sie wieder. Renate, schon — wie den Geruch der Blumen, des Rasens, des ganzen Atems der Sommernacht — den Duft des Erzählten aufsteigen fühlend, bat innerlich: nur weiter! so bekomm ich vielleicht doch noch das Ganze ...
Und überdem hörte sie Esther wieder:
„Es war so traurig! Am traurigsten war, wie die große, dunkle Frau da am Bett sitzt und nicht mehr lebt. Nein,“ überbot sie sich, „das Traurigste war wohl doch, wie der Mann da die Dirnenbekanntschaft gemacht hat, und er nimmt seine Frau mit zum Stelldichein —“
„Ich glaube,“ fiel Magda leise ein, „am schrecklichsten fand ich, wie er dann seine Frau auf den Rücken klopft und sagt, sie wäre aber doch die Beste und —“
„Nein, Magda,“ raffte Esther sich erregter auf, „das wars doch nicht! nicht das, sondern — wie sie selber Jason das alles erzählte und dabei Zeitschriften heftet und weint und alles zwei und dreimal wiederholt und ‚du bist doch die Beste‘, wie er das gesagt habe, und sie sagt, daß sie das ja auch immer gewußt hätte, er wäre nur bloß eben ... Und wie sie eigentlich gar nichts Besonderes drin fand und — — sags doch, Sigurd!“
„Keinen Namen, keine Bezeichnung dafür, nicht wahr? Nur ein Unglück, ein furchtbares Unglück; so furchtbar, daß es sich nur hinnehmen ließ ...“
Sie waren verstummt. Renate konnte, da es heller vor ihren Augen geworden war, nun von Allen die Helligkeit der Gesichtszüge und die dunklen Flecken der Augen erkennen, in denen es glänzte. Plötzlich tat sich neben ihr, fast laut, entrüstet und verwirrt, Irenes Stimme auf:
„Und das Ganze kommt nur von der fehlenden Anzeigepflicht der Geschlechtskrankheiten.“
Ein Lächeln, kaum hörbar rauschend, wehte im Kreise umher. Und Saint-Georges sagte: „Bravo! Die Frau ihres Mannes.“
Bevor Irene auffahren konnte, wurde jetzt Jasons melodische Stimme hörbar, der langsam sagte:
„Ihr Kinder! ihr Kinder! Wie seid ihr doch sonderbar! Meint ihr denn nun eigentlich, die Menschen in meinen ‚Geschichten‘ seien andre als ihr selber, daß ihr von alledem sprecht, als ob ihr nie dergleichen gesehn hättet? — Und in meiner letzten Geschichte, von dem Buchbinder, da waren sie wohl euch wieder nicht gütig genug bei all ihrem Unglück, denn war die Mutter nicht öfters hart zu dem albernen Jungen, und es gab auch wohl Schläge, und der Alte erst, der immer schlechter Laune war und brummte, obwohl er tun und lassen konnte, was er wollte, um sechs Uhr Feierabend machte und sein Bier trank, und als der Sohn tot war, sprach er obendrein schlecht von ihm. Denn über ihnen Allen war das Unsichtbare, das, was Irene andeutete, was sie alle Drei wußten und nicht wissen wollten, das Verschulden, das doch keines war, sondern in Wahrheit — Verhängnis. Verhängnis? Sie waren es doch selber, in ihnen wirkte es, ihr Leben wars, das, wonach sie sich eingerichtet hatten, und sonst nichts.“
„Ja,“ fing Esther an, „ich weiß nicht, Jason, — deine Menschen sind doch sonderbar. Irgendwas — glaub ich — fehlt. Sie sind nicht gütig und nicht schlecht, nicht tugendhaft und nicht edel, und auch nicht gemein. Eigentlich sind sie gar nichts.“
„Sind sie nicht vielleicht — leidend?“
„Oh freilich, Jason ...“
„Und das, kleine Esther, ist zu wenig, wie? Außerdem, meint ihr, muß jemand noch etwas sein, wie? Nicht nur so — leben, das Leben verrichten, sondern auch gewissermaßen eine Vorstellung davon haben. Sage mal — seid ihr denn wohl anders? Seid ihr auch so etwas Bestimmtes, so ein Bild mit was Gutem oder was Schlechtem darauf?“
„Nein, Jason! aber —“
„Aber die Menschen in Geschichten, das habt ihr so gelernt aus den Geschichten, die müssen außerdem noch etwas bedeuten, nicht wahr? Nämlich: Charaktere; dann: Frömmigkeit, Festigkeit, Güte, Heimtücke, Verwahrlosung, Verkommensein und dergleichen schöne Dinge mehr, die es gar nicht giebt.“
„Aber Jason!“
„Weil es eben nur Menschen giebt, und jeder Mensch die Bewegungen, die Handlungen und all das, was sein Leben ist, tut, wie sie aus ihm kommen, weil er so ist, aus allen seinen bunten Eigenschaften, die über jeden in Menge, ganz gleichmäßig von der verschiedensten Art und immer nur teilweise freilich, niemals ganz, ganze Eigenschaften, abgewogen und ausgeteilt sind, und bloß ihr, ihr habt daraus die Begriffe gemacht, und wieder aus jedem Begriff einen ganzen Menschen, und darum verlangt ihr dann, daß die Menschen — die Andern! euch selber seht ihr ja niemals — sich nach den Begriffen richten, danach wachsen und nach ihnen sich gebärden sollen, nicht nach sich selber. Dann fehlt euch an jedem etwas, darum scheint euch alles so unzulänglich, es könnte noch so bitter und zerlitten sein, darum kommt ihr immer höchstens zu eurem: er hat doch auch so viele gute Seiten ... darum seid ihr nie zufrieden miteinander, und Großmut und Wahrheit, Glaube, Liebe und Hoffnung, die gehen ihrer Wege.“
Da waren sie auf einmal Alle aufgestanden. Auch Renate erhob sich, betroffen, und bewegte sich mit den Übrigen auf Jason zu, sie waren Alle um ihn herum, und mehrere Stimmen fragten: Was ist es denn, Jason, du weißt es doch, was fehlt uns Menschen, wie sollten wir sein, wie uns halten, wie uns helfen? —
Er hatte aber die Augen geschlossen und sah fast unwillig aus und kränklich, und sie wollten sich schon abwenden — denn war er nicht selber vor kurzem erst von den Toten auferstanden? — als er die Augen wieder aufschlug, und sie erschraken wohl Alle wie Renate vor diesen schwarzen Augen, die plötzlich im Dunkel waren, viel schwärzer als alles Schwarze, so glanzlos, als ginge es dort in die schwarze Ewigkeit hinunter. Dennoch, obgleich er die Augen nun langsam von Einem zum Andern bewegte, schien er durchaus keinen wirklich zu sehn, sondern etwas ganz andres. Sie selber aber fühlten nicht ohne Schauder an seinen Augen: da war es, wonach sie gefragt hatten. Nennen ließ es sich nicht, aber — es war da. Es glänzte aus dem Schwarzen herauf, es — nein, Jason lächelte, das war das Ganze.
Sie gingen aber schweigsam auseinander danach, kaum mehr als stumm sich die Hände reichend und zunickend beim Abschied; nicht Zwei blieben beisammen.
Georg, am letzten Spielabend vor Semesterende in die Terrassentür tretend, sah, daß er wieder, wenn auch gegen jede Absicht seinerseits, zu spät gekommen war: um die kleine Tafel zur Rechten vor der Hauswand saßen die wenigen Korpsbrüder, wie stets in zwei Gruppen am Kopf- und Fußende; ein hellrot beschirmtes Windlicht in der Nähe jeder Gruppe malte ihre Schatten beweglich an der Wand empor. Eigentümlich still schienen sie Alle, — die Füchse unten mit einer Bowle beschäftigt, schweigsam, ganz ohne den gewöhnlichen Lärm bei dergleichen; oben die Zwillinge, Nordeck, Sousa — ah auch Schwalbe saß da und in Zivil! — Ellerau hatte die Uhr gezogen, sah jetzt Georg unbestimmt entgegen, dann vor sich hin, indem er, ein Lächeln unterdrückend, mit vorgeschobenem Kinn die Oberzähne auf die unteren setzte, einen Augenblick, — worauf er seine Haltung löste; und Georg wußte wohl, das hieß mit Worten: Auch heute wieder verspätet; da es aber der letzte Abend vor Semesterschluß ist — Schwamm drüber! —
Georg, innerlich aufatmend, trat näher, in dem er „Guten Abend“ sagte und „Na, so still heut?“
Ellerau sagte: „Ja.“ Er griff mit der Hand in die innere Brusttasche und zog einen Brief heraus, sah darauf, streckte dann die Hand mit ihm gegen Georg und sprach:
„Diesen Brief hat Tastozzi für dich hinterlassen. Er ist tot.“
„Tot?“ fragte Georg erschreckt. „Tozzi? Tastozzi?“ verbesserte er sich verwirrt. „Mein Gott ...“
„Leider. Er hat sich heute nachmittag in seiner Wohnung erschossen. Bisher weiß niemand warum. Er war uns ja immer völlig verschlossen. Vielleicht giebt er dir Aufschluß.“
Georg, den Brief mit winzig kleiner Aufschrift am oberen Rande in der Hand hin und her drehend, ruckte sich zusammen, trat an die leere Stelle des Tisches, riß den Umschlag auf und hielt die herausgezogene längliche Karte in die Nähe des Lichts. — Kleine, kaum leserliche, verschnörkelte Schriftzeichen ... Er entzifferte mühsam allmählich:
„Lieber Georg:
Fremd allen Andern, hatte ich Deine Augen immer lieb. Nun, indem ich fortzugehen bereit bin, sehe ich, daß niemand da ist, von dem zu scheiden wäre, also auch niemand, den der Grund meines Fortgangs etwas anginge, zumal ihn nennen, das teuer gehütete Geheimnis meines Daseins preisgeben hieße. Da sehe ich Deine Augen vor mir in jener Sekunde, wo man Dir mein Fortgehen berichtet, und mir scheint, daß sie verstehen möchten — und nicht so wie die Andern. So reiche ich Beides — Grund und Geheimnis — Dir, schon abgewandt, ohne mehr wissen zu wollen, ob Du trauern wirst oder richten.
In beiden Fällen: Beklage mich nicht. Es ist gut so.
Aber ich erhoffe ein wenig Trauer.
Tastozzi.“
Georg, nichts begreifend, bemerkte jetzt ein kleines Zeichen, einen schrägen Strich zwischen zwei Punkten in der rechten Ecke unten, das ‚wenden‘ zu bedeuten schien, und drehte scheu die Karte herum.
„Es geschah aus Liebe zu einem Knaben“, las er.
Er zuckte leise zusammen. Langsam erschienen hinter dem Licht die Köpfe der Sitzendem von denen keiner ihn ansah. Schwalbe blickte nach oben; die Andern sahen vor sich hin. Viele Sekunden lang blicklos dies vor Augen, merkte Georg, daß er etwas in sich niederkämpfte, merkte, daß es — Widerwille war, und drückte es entschlossen hinunter. Sich aufrichtend, sagte er leise:
„Ja. Es steht hier. Er wünscht aber, daß ich es für mich behalte.“
„So.“ Ellerau streifte mit einem Blick über Georg hin; die Andern lösten ihre Haltung und bewegten sich. Keiner sah Georg an.
Da spürte er im Augenblick klar, daß er und der Tote für diese zusammengehören. Keine Feindschaft — doch auch nicht Freundschaft. Sie hatten ihn — außer vielleicht Schwalbe — nie begriffen. Wie war er zu ihnen geraten?
In einem leichten Hochmutsgefühl neigte er den Kopf und ging stumm hinaus.
Die Haustür öffnend empfand er jählings eine so übermächtige Sehnsucht nach Renate, daß er sich geblendet fühlte und blindlings die Richtung nach ihr einschlug, bis er Schritte beharrlich neben sich bleiben merkte und seitwärts blickend Schwalbe erkannte, der lächelte und sagte: „Ich komme mit dir, wenn du erlaubst.“
„Du weißt, weshalb er starb?“
„Ich weiß es nicht,“ sagte Schwalbe, „aber — ich ahnte es immer.“
War es zu ahnen? fragte Georg sich. War ich so arglos?
„Und was denkst du davon?“
„Was soll ich davon denken?“ fragte Schwalbe frisch und fest. „Wenn sie Jugendliche verführen, sind sie Verbrecher, und wenn sie das nicht tun, sind sie zu beklagen. Und ich weiß nicht, ob man sie beklagen — kann. Es sind Menschen mit einem andern Weltbild. Ihre Leiden und ihre Freuden — abgesehn von der Verbanntheit — sind keine andern als die unsern.“ Das klang sehr klar und schön in der singenden Mundart.
Eine Weile, rasch vorwärtsgehend durch die sommerwarmen, dunstigen Straßen im Licht der Bogenlampen, dann der Laternen in kleineren Gassen, blieben sie still, bis Georg sich Hardenbergs erinnerte und halblaut sagte: „Auch Hardenberg ...“
„Hardenberg war homosexuell“, versetzte Schwalbe hurtig.
„Man sollte“, fing Georg bald darauf wieder an, „eine Stadt für sie gründen, wo sie leben könnten und zufrieden sein ...“
„Ja! Das sollte man tun. Das erinnert mich daran, daß ich Hardenberg einmal über das Mönchtum sprechen hörte — du kennst ja seine Weise —, und zwar kam er bald auf den Trappistenorden, der, wie er sagte, der einzig mögliche sei. Und dann schilderte er uns das Schweigen dort. Er machte es wunderbar. Er zog gleichsam mit vollen Händen das Schweigen aus den Dingen dort, aus den Mauern, den Zellen, aus jedem Gerät, aus Gießkanne und Gebetpult, aus Spaten und Egge, aus den Blumen im Garten, den Bäumen. Wir waren ganz eingehüllt in das Schweigen, obwohl er selber unausgesetzt sprach. Und ich muß sagen, ich war ganz erschrocken, als er — nach seinem wunderschönen — Gesang auf dies Schweigen — plötzlich von den Vögeln sprach, die auch stumm geworden waren und nicht mehr sangen im Klostergarten.“
Ergriffen sagte Georg leise: „Wie schön!“ — und blieb stehn.
Sie waren auf der kleinen Brücke zwischen alten Häusern, die zur Insel hinüber führte. Rechts unten strömte der schnelle, dunkle Fluß zwischen alten Mauern, am Ufer drüben blinkten Lichter aus winzigen Fenstern, aus dem Grün und Blumenrot der Dachgärten, deren Silberkugeln und weiße Geländer in der Dämmerung schimmerten. — Still sahen sie eine Weile dorthin, dann legte Georg die Arme auf die Brüstung, und in der dunklen Wasserfläche unten erschien ihm das Gesicht des Toten mit jenem besorgten Ausdruck, den es bei Georgs letzter Mensur gehabt hatte.
Ach, wußte er nun, was hat denn auch er andres getan und gewollt als — Lieben. Seine Natur schrieb ihm diese furchtbare, angstvolle Stille vor, aus der er niemals heraustrat, er, der mit keinem sprach, bevor er gefragt oder angeredet wäre. Sich um Andre bemühn, dienen, gütig sein, war sein Wunsch, und da fand er denn dies heraus ... Georg mußte sprechen; er sagte, Schwalbe auf dem Geländer lehnen sehend wie er selber, breitbrüstig und ruhig:
„Es war doch schön, wie er um uns Alle besorgt war beim Fechten. Bist du je von ihm anbandagiert worden? Erinnerst du dich, wie er die Brille zuzog? Diese Sanftheit des Ziehens, bis mit einem kleinen Ruck die Brille saß, wie sie nicht besser sitzen konnte?“
„Jawohl. Wie du das sagst, scheint mir, es war doch etwas Hellenisches um ihn. Nicht nur, daß er einen wundervollen Körper hatte —“
„Ja, hast du ihn gesehn? Ich kam zufällig einmal dazu, wie er sich eben ausgezogen hatte zur Mensur und dastand, ganz grade, das Mensurhemd in erhobenen Armen überm Kopf, wie ein gelber Marmor.“
„Hellenisch war, scheint mir, vor allem seine Art, uns zum Kampfe zu rüsten. Der Kampf war ihm mehr als uns, war ihm eine schöne Sache, und einmal — ja einmal habe ich ihn richtig reden gehört. Da sprach er ein paar Worte über italienisches Fechten, das so viel beweglicher sei als unser stumpfes Dreinhaun und den ganzen Körper erziehe und durchbilde ...“
Man sollte nackt fechten ... Tastozzis leise Worte, irgendwann gehört, zogen durch Georgs Erinnerung.
Sie schwiegen und sahn auf das endlose dunkle Fließen unter ihren Füßen. Georg dachte:
Aber warum hellenisch? Er wollte im Grunde doch nur dienen. Oh der arme stumme Trappist mußte eine Leidenschaft haben, mit Handlung, mit der sorgsamen Dienstleistung auszudrücken, was ihn beseelte. Aber ... Nun, auch wenn es ein körperlicher Reiz und ein sinnliches Verlangen war, zu den Gliedern der jungen, geschmeidigen Menschen eine Begierde: die Begierde war es doch nicht, die seinen schönen stummen Händen diese Sanftheit gab, diese Behutsamkeit, diese Freude am verständnisvollen Behandeln; die kam aus seiner ganzen Natur, von der das andre nur ein kleiner Teil war, und so fand er denn in seinem Leben diese vorsichtige kleine Stelle, wo er ein wenig geben konnte und — ein wenig nehmen ...
Schwalbe richtete sich auf.
„Ich muß leider nach Hause“, sagte er. „Es war schön hier, mit dir zu stehn und an Tozzi zu denken.“ Er streckte seine breite Hand aus. „Auf Wiedersehn am Grabe, Georg. Übermorgen ist die Beerdigung. Gute Nacht.“
Georg, der noch gern ein Wort gefunden hätte auf das zugetane „es war schön hier, mit dir ...“ fand nichts als stummes Zunicken und Lächeln beim Händedruck, mit dem sie sich trennten. Gleich darauf befand er sich außerhalb der Stadt, mitten in den dunklen Wiesen.
Auf Wiedersehn am Grabe ... klang es ihm da im Ohr. Merkwürdig, sagte man so? Das habe ich noch nie gehört, — und es ist ja auch der erste Tote, den ich kenne. Auf Wiedersehn im Grabe ... das klang fast genau so. Armer Tozzi! — Sonderbar, da war er uns Allen ganz fremd, und doch nannten wir ihn mit der liebevollen kleinen Abkürzung. So muß doch bei allem Abgekehrtsein von ihm in jedem geheim ein kleines Gefühl für ihn gehaust haben, das sich, für Alle unhörbar, ganz laut mit diesem Namen nannte ...
Hineilend auf dem vor ihm dämmernden, hellen Streifen des Fußpfades am Ufer über dem hastig mitkommenden, glucksend sich manchmal überstürzenden Fluß, sah Georg jetzt wieder Renates einzig schöne Gestalt in der Ferne, und heiß schwoll ihm die Brust. Nie noch fühlt ich solche Sehnsucht nach ihr, dachte er, ja ist nicht dies das allerseltsamste, daß sie mich betäubt, wenn ich vor ihr stehe, und daß ich sie — vergessen hatte, wenn ich allein war? Überseltsames Wesen, Renate! — Er lief und lief. Fast feurig aus den dunklen Gründen der Wiesen strömte erdiger und grasiger Geruch und der Nachdampf von Regen. Jenseits des Flusses fern zackten Schattenrisse von Türmen sich über schwarzem Gewipfel in das glühende Nachtrot des Städtehimmels. — Seliger sich fühlend, befreiter, zuversichtlicher erklomm Georg den Hügel der Bismarcksäule, überschritt langsam die Plattform, faßte mit schweifendem Blick die schwarze Gegend in sich, ein Erglänzen in der hochgewölbten Fläche des Stroms, eine lose Schar Sterne, leis blinkend im Finstern, und stürzte sich mit einem schweren, beklommenen Lustgefühl die Böschung hinunter in die Wiesen.
Weißlich leuchteten von drüben die Grabhäuser zwischen den Lebensbäumen. Jetzt dämmerte ein Lichtschein darüber, seltsam unwirklich und groß. Langsam erschien eine fleckige Scheibe, der Mond, rot wie neues Kupfer im grauen Himmel; eine schwarze Spitze reckte sich vor ihm, die er bald mühelos überklomm. Georg stand und hatte das Gefühl, als ob er nicht weitergehen könne, ehe es Tag wurde. Schon hing der Mond dort, mächtig groß, voll und nun bernsteingelb, rauchig; schieferblau der Himmel, — und Georg ging langsam weiter im Finstern, vorsichtig die sumpfigen Stellen umgehend, und das einzige Geräusch weit und breit war das Rascheln der Halme und Blumen, die um seine Füße schlugen. Da bewegte sich ein Schatten links vor ihm, ein weißer Fleck erschien im Dunkel, — ah, das waren die alten Omnibuspferde, die hier einen Sommer lang Erholung genießen durften. Er kam ihnen näher, er kannte sie ja, da stand das schwarze ganz nah als ein dickes Schattenpferd, er hörte, wie es emsig Gras abrupfte, hörte es schnurpsen; und da war auch der Schecke mit den großen weißen und dunklen Placken; der stand still, schnoberte und trabte heran; er liebte die Menschen. Georg tastete mit der Hand zwischen den Drähten der Einfriedigung hindurch und empfand mit freundlichem Schauer das gewaltig Lebendige, die weiche, samtige Tierschnauze, die aus der Nacht kam und sich befühlen ließ, empfand das sonderbare Geström der Fremdheit aus diesem großen, stummen Wesen, das mit Fell bekleidet war und ein großes, weiches Maul hatte. — Armer Tozzi! murmelte er leise. — Still stand das alte Pferd und atmete tief und laut.
Im Weitergehen war es Georg, als schluchzte etwas in der Dunkelheit. War ihm selber danach zumute? — Auf einmal hörte er eine Melodie, ein paar lange, süß hinzitternde Noten, eine Stimme, Worte dazu, aber all das war in ihm selbst, die Nacht umher totenstill, doch erkannte er jene schöne Kirchenarie von Stradella, die ihm Magda vorgespielt hatte, weil sie sie singen wollte, und er hatte ihr auf ihre Bitte einen deutschen Text dazugeschrieben, der sich in der Kirche singen ließ. Jetzt hörte er die Worte deutlich, hörte die kleinen Tonreihen, die langen Pausen dazwischen, hörte, niederschwebend von den Sternen, die sanfte, melodische Frage:
Wer weint in Finsternis?
Und wieder, nach einer Pause:
Wer schluchzt im Dunkel?
Begütigend nun eine milde Stimme:
O du, sei still!
Chorstimmen, begütigend, hallten daher:
Siehe doch funkeln
Sternenschein gewiß!
Siehe doch funkeln
Sternenschein gewiß!
Holder, gesteigerter, entzückter schwoll die Melodie:
Lasse das Weinen,
Gott hilft den Seinen,
Gott, der die Gepeinigten
Aufrichten will ...
Jetzt? Im helleren Mondlicht deutlich sichtbar stand ein neuer Schatten ferne auf Georgs Weg; ein menschlicher wars. Mystische Schauder schweiften im Dunkel. Es konnte der Tod sein, der dort stand, zwischen ihm und dem Friedhof, einen schwarzen Arm gegen die goldene Mondscheibe emporstreckend. Hoch oben im Nachtwind verhallten die zarteren Stimmen ...
Georg schritt weiter, behutsam, beklommen; gleichzeitig glitt der Schatten vor ihm davon; war es eine Frau? trug er antikes Gewand? — Nun verschwand er vom Weg, und als Georg die Stelle erreichte, wo er abgebogen sein mußte, wars dort, wo auch Georg abzubiegen hatte, wenn er zum Montfortschen Hause gelangen wollte. — Wie still es war! Wer ging dort und führte ihn ungerufen? Da war schon das Gittertor, da der Graben. Der Schatten, unhörbar, glitt zwischen den, von weitem verschlossen scheinenden Stäben hindurch, erschien an etwas höher gelegener Stelle im vollen Licht; es war Renate.
Renates Haltung war es, obgleich sonst nichts an der Schattenfigur Renate zu erkennen gab. Georg folgte ihr leise von fern, süßliche Angst im Herzen, andächtig, sie nicht zu stören, zitternd, voll Melodien. Er sah sie die schräge Ebene emporgleiten, unter den Bäumen schwinden, wo Finsternis stand, eine Uhr schlug nicht fern zweimal hell und zuversichtlich. Er hörte die Gartentür zufallen, trat leise hin und sah Renates Schattenriß im Lichtschein zur Rechten, der die offene Kapellentür ausfüllte. Es trieb ihn näher, er versuchte, lautlos durch das Pförtchen zu kommen, es gelang, er schlich unterm Buschwerk über den Rasen bis zur Tür, trat rechts neben die Stufen und hatte den Raum vor sich, der von einer unsichtbaren Lichtquelle erleuchtet war. Renate stand mitten darin; sie trug eine lose grüne Tunika mit kurzen Ärmeln, die bis in die Nähe der Knie hinabreichte; die Farbe des am Boden schleppenden Untergewandes war nicht zu erkennen, aber das Grün leuchtete an ihrer Brust, wie sie sich jetzt zur Seite drehte, ihm halb den Rücken wendend, auch der weiße Nacken, — und nun erschien sie Georg draußen im nächtlichen Wiesenland, hinter ihr der Mond, — er ging auf dem Grassteig auf sie zu, an ihr vorüber, sah ihr weißes Gesicht und die Augen ohne Blick wie eines sinnenden Gottes, und das fremde Gewand. — Wo kommt sie her? wie kommt sie zu uns? in dies Land? dachte er. Sie ist ja fremd hierzuland.
Georg sah, daß sie mit leicht geneigter Stirn zu jemand sprach, den er nicht gewahren konnte; das mußte wohl Bogner sein. Georg gab es einen Stich, er wollte davon, blieb aber und sah hin. Ach, ihr gesenkter Scheitel, der gewellte Bogen von der Stirn zum Ohr, ähnlich, doch nicht ganz so tief wie bei Esther, und dies seltsame lichte Braun des Haars ...
Sie sprach: „Noch nicht fertig, Bogner?“ „Morgen früh“, hörte Georg die Stimme des unsichtbaren Malers. „Will es nicht gehn?“ Sie sprach ruhig, mit verdunkelter Stimme. Die Antwort des Malers blieb unverständlich; nach einer Weile kam wieder Renates Stimme: „Sie sollten schlafen.“ Wie schön verhallte das im leeren Raum!
Nun wars still. Renate stieg auf das Podium, setzte das Windwerk in Gang, öffnete das Manual und spielte bei geschlossenen Registern ganz leise den Choral: ‚Nun ruhen alle Wälder‘ mehrere Male.
Schweigen. Georg, im Dunkel an die Mauer gepreßt, durch die Zweige über ihm emporblickend, sah einen und zwei kleine Sterne, zitternd im Ewigen. Er vernahm das sanfte, melodische Brausen in der Nachtstille und wünschte, nur Herz zu sein, in diesem beweglichen Rauschen ruhend, atmend darin, wie der still im ziehenden Gewässer schwebende Fisch ... Er zuckte leise; seitwärts in der Tür über ihm stand jemand, Renate; sie stieg nieder, verschwand im Gebüsch und kam nicht wieder zum Vorschein; nach langer Zeit hörte er unendlich leise das Geräusch ihrer Füße auf dem Steinboden der Veranda. Sie war im Haus. Georg trat auf die Stufen und ging in die Kapelle.
Bogner nickte bloß, als er ihn begrüßte. Nein, der wunderte sich ja wohl über nichts. Er saß da in der Nähe der Orgelempore, hatte die Fäuste auf den Oberschenkeln und sah nach oben gegen sein Gemaltes. Da er nicht rauchte, steckte Georg ihm eine Zigarette zwischen die Finger, zündete sie ihm an und rauchte selbst eine. So, die Hände in den Hosentaschen, ging er hin und her, die fertigen Gemälde betrachtend, drei an der Zahl, zwischen den Fenstern gegenüber dem Eingang. Es war wohl geplant, daß die Wand oben zwischen den gotischen Spitzbögen über den drei Meter breiten und zwischen fünf und sechs Meter hohen Gemälden mit ihrem Himmel bemalt werden sollte bis zum Beginn der Wölbung, denn die Bemalung endete oben nicht rechteckig, sondern zerfloß in dünnes Gewölk und Grau, ähnlich dem Stein. Georg stand vor dem äußersten Engel.
Engel? freilich nur, weil er faltiges Gewand trug und ein Instrument in Händen. Georg trat zurück und betrachtete sie alle drei. Oh, sie waren groß! Obgleich sie alle in der Ferne sich durch ihre Landschaft bewegten, erschienen sie riesenhaft und übermenschlich; die Haltung ihres Schreitens war in Formen von Eisen gepreßt, die Luft mußte scharf und bitter schmecken, mit solcher Schnelle wurde sie von diesem riesigen Pilger durchschnitten. Es war keine Beleuchtung da, Licht lag in der Luft. Ja, da schritt er, der engelhafte Bote, in grauviolettem, wehendem Gewand, heroisch von Zügen, eine kleine Harfe in ausgestreckten Händen, vor einem kleinen dunkelgrünen Föhrenwald mit grauen Stämmen; gelbe und schwarze Haidelandschaft ringsum, aber unendliche Stille herrschte; nur der Engel ging, ausgreifend vollen Vorderfußes wie ein Löwe, emporfedernd den Hacken des andern. Oh, siehe daneben den andern in Mattrot, wandelnd mit der Gitarre um einen kleinen grauen Teich unter einigen Zedern! Und hier, der Schwefelgelbe blies die gegen Himmel gerichtete lange Lure auf violettem Haidehügel mit kleinen Wacholderstauden, schwarzgrün. Georg wanderte vom einen zum andern; sie blieben, um sie herum schien sich die Landschaft zu wandeln im Vorbeifliehn, es wehte von ihren Kleidern, sie bewegten sich und holten aus, sie fegten dahin, — nein, aber dies war nur der eine, der Violettgraue mit der Harfe, der so hinjagte über die runde Welt; um die andern wars still, sie standen.
Georg wandte sich und trat hinter den Maler. Da saß er in seinem buntgescheckten Kittel unter der tief hängenden, eigens für ihn angebrachten Osramlampe, die scharf strahlte, umgeben von Töpfen und Pinseln. — Ah, das war unglaublich! Dolomitisches Geklüft, rosengrau, Felswände, Terrassen, übereinander gesteigert, immer ferner, immer tiefer, bis sie ganz ferne mit wagrechtem Kamm gegen den mattblauen Himmel abschlossen, und dort, hoch oben, weit fern, saß der weiße Engel, so groß und deutlich, daß er noch überm ungeheuerlichen Geklüfte ein Riese schien, aber er war doch schmaler, doch zarter als die andern; es war eine Frau, sie hatte kein Instrument, sie lauschte und zeigte die zarten Züge und das dunkelrote Haar der Ulrika Tregiorni.
Georg blickte näher hin, ob sie es wirklich sei, — nun, die Ähnlichkeit war schwach und bestand hauptsächlich im Haar, aber er bemerkte bei dieser Gelegenheit nun, welch eine simple Malerei dies war, — aber welche Kunst! Was mußte das gekostet haben, bis die Sparsamkeit dieser zarten Kontraste, dieser Flächen, dieser Linien herausgepreßt war aus der Zahllosigkeit der Möglichkeiten. Was aber diesen Engel anging — er war kaum zwei Schuh groß und hielt das Kinn in der Hand des aufgestützten linken Arms —, so hatte er keinen rechten Arm, und dieses schien es zu sein, worüber Bogner sich den Kopf zerbrach, denn da standen auf der Erde unterschiedliche Arme um ihn herum, die Hand nach unten, als sollte der Engel seinen rechten Arm ein wenig hinter sich aufstützen.
Bogner sah auf zu ihm, hatte rote Flecken im grauen Gesicht und schien verwirrt.
„Ganz schön, nicht?“ sagte er. — Georg legte ihm eine Hand auf jede Schulter und sagte feierlich: „Bogner, Sie sind ein edler Mensch.“
Bogner ergriff einen der Kartons mit der Kohlezeichnung eines nackten Frauenarms, Ulrikas Arm, wie es schien, nicht sonderlich schön, aber durcharbeitet, durchseelt; auch eine Hand, locker ausgestreckt, war noch auf dem Karton. Ja, das war diese seltsame Klavierhand, hager und mit unzähligen Runzeln auf den Fingergelenken in der locker gewordenen Haut. Da fiel Georg Renate ein, und es kam ihm, Bogner geradeswegs zu fragen: „Warum lieben Sie nicht Renate Montfort?“
„Ach, ich!“ wehrte der Maler unbetroffen ab, wandte sich aber nach einer Weile ein wenig um und fragte, ob Georg glaube, daß sie ihn lieben könne. —
„Lieber Gott, Bogner,“ sagte Georg, „danach sollte der Mensch doch zuletzt fragen! Ich glaube, Maler, Sie sind ein Individuum gänzlich ohne Leidenschaft.“
„Muß denn bloß so heißen, was sich sexualiter äußert, Prinz?“ fragte Bogner, stand auf, setzte seine Kohlezeichnung an die Erde, reckte sich und fing an, hin und her zu gehn.
„Übrigens“, sagte er, „könnte ich auch wie der Tobias — wie heißt er, in der Komödie?“
„Bleichenwang?“
„Ja, wie der Tobias Bleichenwang sagen: Mich hat auch mal eine lieb gehabt. Zärtlichkeit ist wunderschön, ja, das weiß man ja schließlich, ja, man entbehrt sie sogar manchmal, — nun, das kann ja alles noch kommen. Warum fragen Sie überhaupt immer so aufdringlich?“
Georg lachte: „Sie brauchen ja nicht zu antworten! Setzen Sie übrigens Zärtlichkeit mit Liebe gleich?“
„Das nicht“, meinte der Maler.
„Zärtlichkeit, Wollust und Liebe, das sind die drei unterschiedlichen Liebesempfindungen,“ sagte Georg, „nur wo alle drei vorhanden sind, ist das Gefühl vollkommen.“
Ob er das meinte, fragte Bogner. Ja, also Liebe ... Nach einer Weile, vor dem posaunenden Engel stehend, fuhr er fort, daß er auch die Liebe ganz gut zu kennen glaube; er habe sich darin versucht gewissermaßen und sie immer verschieden gefunden, auch sehr angenehm, besonders im Anfang: März. Aber es sei ihm zuletzt doch immer nur vorgekommen wie ein Absud von männlichem und weiblichem Geschlecht, im Tiegel so lange gemischt und geschüttelt, bis er einfach erschien; in Ruhe gelassen sonderte sich beides alsbald, männliches sank, weibliches schwamm oben, es habe wohl irgendein wirklich bindendes Element gefehlt. Er sprach undeutlich, da er abgewandt stand. Georg sagte, eben das wäre es, darauf käme es an, das Element sei zu finden, sei zu suchen.
Suchen? meinte der Maler. Wer denn dazu Zeit habe? Auch sei’s wohl klar, daß, wenn es dies Element wirklich gäbe, es einzig sei, wirkbar nur bei einzigartigen Menschen, immer zwei auf zwanzigtausend.
„Ja, ja!“ rief Georg entzündet, „Sie bringen mich auf einen Gedanken! Zum Beispiel Romeo und Julia. Was sind die Beiden? Ein liebender Geliebter, eine liebende Geliebte; sonst nichts. Womit beschäftigten sie sich? Mit ihrer Liebe. Hatte Romeo einen Beruf? Kümmerte ihn die Geschlechterfehde? Er und sie hatten nicht Eltern, nicht Geschlecht, nicht Volk, nicht Stadt noch Heimat; alles dieses war belanglos wie Tisch, Bett und Gartenbank, von denen nichts vorhanden war, solange nicht ihre Gemeinsamkeit ihrer bedurfte. Nichts gab es außer ihnen als die Freunde, die ihrer Liebe beistanden, und den Tod, der das Gift in Adeptengestalt verkaufte. Aufgelöst waren sie in jenes Element, in dem sich alles mischen mußte zu einer einzigen Riesenempfindung. Ja —“ setzte er zögernd hinzu, denn Tozzis Gesicht erschien ihm: „vielleicht ist es also — der Tod?“
Der Maler war von ihm fortgegangen und stand bei der Tür, einen ausgestreckten Arm gegen den Rahmen gestemmt, in den Raum hereinblickend zu seinen Engeln.
„Wirklich,“ fuhr Georg fort, „die allgemeine Liebe empfindet und wünscht nichts als gesteigerte Freude, gesteigertes Dasein; jene Beiden aber fühlten die letzte, höchste Steigerung, überlebensgroß, in den Tod, unbewußt schon in der ersten Umschlingung, und so erreichten sie die Dauer.“
„Im Tod?“ fragte der Maler von fern. „Nein, das ist vorläufig noch nichts für mich.“
Ja, wo aber die Leidenschaft bleibe? hielt Georg hartnäckig fest. Bogner streckte die Hand aus und deutete auf seine Engel, einen und den andern, den posaunenden, den wandelnden mit der Gitarre, den reisigen mit der Harfe. Georg senkte niedergeschlagen den Kopf.
„Unbewußt in der ersten Umschlingung?“ fragte der Maler, gutgelaunt, wie es schien. „Wie Sie das so wissen können! Ich will Ihnen aber etwas erzählen. Nämlich, als ich siebzehn Jahre alt war, also mitten in der schönsten Erstlingsglut, liebte ich ein Mädchen, etwas älter als ich, für mich wunderschön, klüger, tapferer und sanfter als ihre Schwestern.“
„Die Frauen,“ sagte Georg, da der Maler innehielt, „die Frauen, das glaube ich nun, sind an und für sich nichts; aber es kann alles aus ihnen werden. Jeder, möchte ich sagen, jeder Mann findet zur Zeit diejenige, aus der er machen kann, was er im Augenblick braucht. Sehr gut sind sie. Und so unendlich geduldig!“
Georg, Magdas arme Gestalt mit wehmütigem Gedenken umfassend, hörte den Maler weitersprechen:
„Zur selben Zeit geriet ich an den Scheideweg. Dort mein Vater und sein, hier ich und mein Wille. Entschied ich gegen ihn, so wars auch gegen sie, denn dann ging ich fort, und sie mußte bleiben. Sie half mir beim Fortgehn, ja, das tat sie. Dafür bin ich ihr dann treu gewesen, so gut ich es konnte, und habe auch jedes spätere Mal für mich und gegen die Liebe entschieden, denn, sehen Sie, das wollte ich sagen: damals, ein für allemal, entschied sich für mich diese Angelegenheit.“
„Was ist aus ihr geworden?“ fragte Georg.
„Danke. Sie hat es gut überstanden. Sie war, wie gesagt, tapfer. Sie ist mit einem Kaufmann verheiratet, hat vier Kinder, und alle sind gesund. Ich sehe sie zuweilen. Stattlich sieht sie aus, gewiß nicht, als ob sie jemals vor einem Menschen auf den Knien gelegen und gefleht hätte: Um Gottes willen, geh! geh, ehe ich dich halte! —“
„So sind Sie wohl Beide Ihrer Bestimmung treu geblieben“, mußte Georg, wie ihm schien nicht sehr tiefsinnig, bemerken, und der Maler erwiderte nur zerstreut, ja, ja, er habe ja auch gar nichts dagegen einzuwenden, und griff nach seiner Pfeife.
„Gehn wir schlafen“, sagte er, als er sie gestopft und angezündet hatte. So verließen sie die Kapelle, der Maler schloß sorglich zu, und sie gelangten durch den Garten, am dunklen, schlafenden Haus vorüber auf die Straße.
Viele und seltsame Pferde liefen durch Georgs Träume in dieser Nacht, gelenkt und vorgeführt von Bogner mit langem Pinsel wie von einem Zirkusdirektor, aber Renate erschien nicht darunter. Gesang schlug an, engelstimmig und süß, Georg erwachte, und es war Morgengrauen. In abgeklärten Pausen sang draußen die schwarze Amsel, laut und friedevoll in der Morgenstille.
Esther und Georg saßen am Wassergraben im Park auf der Bank, und sie hatte den ganzen Schoß voll großer Zentifolien in allen schönen Farben. Da kam Jason al Manach, setzte sich, ließ sich fragen, woher er komme, und erzählte:
„Gestern abend, als es schon dunkelte, trat ich irgendwo aus dem Walde. Wiesen und Äcker waren voll Nebel, darin stand ein einsames, schlechtes Haus mit einem Stockwerk, ich strich an einer fensterlosen Mauer hinunter, und wie ich in eins der Fenster nahe über dem Erdboden an der, auf die Felder hinaus gewandten Seite des Hauses hineinsehe, sitzt da Maler Bogner in einem Liegestuhl und raucht eine Pfeife in Hemdärmeln, denn der Abend war milde. Ich grüßte: Guten Abend! Ich störe gewiß. — Ja, sagte er, wenn Sie stehen bleiben und mir die Aussicht zudecken. Kommen Sie herein.
Ich wandte mich wieder, und sieh, da wars eine jener Stunden, wo einem die Augen für das Wunderbare der Erde aufgehn. Als hätte der Maler gewinkt, so sah ich nun in eine Landschaft von seltsam wilder Feierlichkeit. Jenseits der braunen Äcker voll stehender weißer Nebel blinkte ein Stück des abendklaren Flusses aus der unteren Dämmerung, voll von gespiegeltem Licht und Baumsilhouetten; die wirklichen Wipfel darüber hoben eine mächtige schwarze, von einigen scharfen Fabrikessen überstiegene Mauer in das lohende Gelb und Rosa des Himmels. Darüber flossen zerblasene, graue, schwärzliche und violette Wolken in trübes Rot; zur Linken aber, hoch über dem graugrünen Dunkel der Wiesen jenseits des Stromes stand im blaßblauen, leeren Äther ein einzelner blitzender Stern; der war gleich einem silbergestählten Sankt Georg und die schweigsame, blutende Landschaft wie ein verendendes wildes Untier zu seinen Füßen.
O, aber als ich mich zur Rechten wandte, drohte da die Stadt, schwarz, eine ungefüge Masse von Dächern, Kuppeln, Türmen; ein stummes Meer, brandete hinter ihr der Himmel, überwölbte sie mit durchsichtiger Woge von offener Scharlachglut, in der sich ein Getümmel von zerrissenen Wolken umhertrieb und verzehrte, glorreich und ungestüm, in einem Wirbel triumphierender Farben, blutig, traurig, drohend und lechzend von Gelb und ungesättigtem Purpur. Von allen Richtungen liefen Schnüre und Reihen von Lichtern, opalenen, grünlichen und goldenen, in den schwarzen Berg der Stadt hinein.
Solche Dinge hatte dieser einfache Maler vor sich, wenn er abends in Hemdärmeln seine Pfeife rauchte. Es war so viel, daß er manche gar nicht beachten konnte, denn als ich nun um das Haus herumging, sah ich über ein verdunkeltes, undeutliches Gelände von Feldern und Lichtern hinweg den Mond, eine Scheibe von goldenem Kupfer, der sich mitten aus einer stumpfen bleifarbenen Wand heraushob.
Das Zimmer, in das mich der Maler führte, war folgendermaßen: Es hatte tapezierte, zerfetzte Wände, einen von herausquellendem Pferdehaar wie von Geschwüren strotzenden Diwan und zwei hölzerne Stühle, außerdem den Liegestuhl und am Boden eine trübe Pfütze von einem alten Gebetsteppich. In einer Ecke aber stand ein Bananenast, rundum mit gelben und schwärzlichen Früchten besetzt, einem Bienenkorb ähnlich. Ja, und in einer andern Ecke stand ein Spucknapf, der war mittendurch gesprungen. Eigentlich war es kein Zimmer, es war ein Durchgang von Abend zu Morgen, weil es nachts regnen könnte.
Als aber nun der Maler aus einem Nebenzimmer zwei in Porzellanfüßen stehende Paraffinkerzen holte, anzündete und auf den Gebetsteppich stellte, so offenbarten sie dessen ganzes Elend. Mich ergriff wohl Sympathie mit dem Spucknapf, denn in seine Nähe zog ich mir den Liegestuhl. Mich rühren so die zersprungenen Dinge, die sich gar nicht zu helfen wissen. Der Maler legte sich auf den Diwan und lag so still, als ob er schlafe. Die Kerzen zuckten zuweilen und störten mich in der Betrachtung meines Schattens ein wenig, der neben mir an der zerlöcherten Mauer saß. Drüben, vom fast unsichtbaren Maler her, glimmte zuweilen ein Manschettenknopf rot und golden.“
Jason schwieg so lange, daß Esther fragte: „Nun, sprachet ihr gar nichts miteinander?“
„Doch,“ erwiderte Jason, „aber wir schwiegen viel länger, als ich eben geschwiegen habe. Dann fragte ich den Maler, ob wir uns nicht unterhalten wollten, und er fragte wieder: Ja, wovon? — Ich schlug vor, wir wollten Aphorismen sagen, — aber nun, er redete sich aus, er könnte das nicht.“
„Ja,“ sagte Esther erstaunt, „kann man denn das so?“
„Oh, gewiß. Falls du mich nicht mißverstanden und gemeint hast, ich hätte gesagt, Aphorismen machen statt Aphorismen sagen. Ich bin angefüllt mit Aphorismen.“
„Zum Beispiel?“ fragte Georg.
„Dies“, erwiderte Jason, „ist eigentlich mehr ein Kalenderspruch: Nichts ist so imaginär wie der beständig geküßte Hund einer jungen Dame.“
Esther dachte angestrengt nach und brachte schließlich heraus, sie verstünde das nicht.
„Oh kleine Esther,“ erklärte ihr Georg, „es befinden sich doch lauter imaginäre Liebhaber in dem Hund.“
„Nun ein andres“, sagte Esther.
Jason, der schon längere Zeit mit einem von Esthers dänischen Handschuhn spielte, die neben ihr auf der Bank lagen, hob ihn jetzt ans Gesicht, roch daran und sagte, es wären gleich zwei auf einmal in dem Handschuh. „Wißt ihr,“ fragte er, „was die traurigste Freude ist? Das ist der Parfümduft aus Frauenbriefen, die man spät in einer Schieblade findet. — Und nun, Esther, wenn ich dich liebte, würde ich zu dir sprechen: Deine Hand im Handschuh ist nur ein Körper, aber der Duft aus dem leeren ist Wesen.“
„Ach,“ sagte Georg, während Esther rot wurde und lachte, „Sie können mir gewiß einen Unterschied formulieren, über den ich neulich nachdenken mußte, nämlich den eigentlichen zwischen einem Dichter und einem Schriftsteller.“
Nein, Jason bedauerte. „Das würde auf etwas Moralisches hinauslaufen, und moralisch kann ich nun einmal nicht sein.“
„Ja,“ sagte Esther, „das ist auch langweilig, erzähle mir lieber, worüber du dich mit dem Maler unterhalten hast.“
„Richtig,“ sagte Jason, „du erinnerst mich an einige sehr gute Dinge, über die der Maler mich belehrt hat. Ich sagte ihm nämlich, ich hätte verschiedentlich von Menschen sagen hören, daß der Künstler oder Dichter, um einer von Bedeutung zu werden, ganz außerordentlich viel leiden müßte. Andre dagegen hätte ich wiederum sagen hören, daß es auf der ganzen Welt nichts Grausameres gäbe als Künstler, und dies beides schiene mir doch zu widersprechen. Da sagte der Maler, was die Menschen anginge, so würden sie sich über derlei Dinge kaum aufklären lassen, weil, so sagte er, sie diese Dinge nicht aus der richtigen Sehrichtung betrachten könnten, nämlich aus der des Genius. Und das ist richtig, denn mit dem Genius verhält es sich so wie mit dem, was der reiche Mann zum armen Lazarus sagte, als der in Abrahams Schoße saß. Wenn Moses oder einer der Propheten zu ihnen käme, so würden sie nicht hören, aber wenn Lazarus von den Toten auferstünde, so würden sie. Denn immer unsichtbar bleibt den Menschen der Genius, wahrnehmen können sie nur seine Kraft, nämlich im Werk, — und nun sagte der Maler, grausam sei allerdings der Genius, mitleidlos, weil er vollkommen sachlich sei und alles Menschliche und Natürliche einfach als Stoff ansehe. Hier mußte ich auch wieder eine Wahrheit finden,“ sagte Jason, „nämlich die, daß die Menschen wohl imstande sind, einen Dichter grausam zu finden, der sich einen Menschen mit all dessen Eigentum an Leiden und Lüsten zur Darstellung nimmt, nicht aber, wenn er so mit einer Landschaft verfährt oder einem Baum oder sonst einem Gegenstand, und dies bedenken sie nicht, nur weil sie von solchen Dingen weniger wissen oder gar nichts, wovon der Dichter vielleicht sehr viel weiß. — Wenn der Genius nun“, sagte der Maler weiter, „sich vollkommen sachlich verhält, so tut er das doch auch gegen das Leiden des Menschen, in dem er wohnt, das heißt also, daß ihn des Menschen Gefühl und Meinung von diesem Leiden gar nichts angeht, sondern er würde lachen, wenn der Mensch sie ihm vorhielte, und sagen: Da sorge du! Mach das mit dir allein ab! — Gefällt es ihm aber wiederum, so sagt er vielleicht: Zeig her! das da scheint mir brauchbar, ein Funken, nicht viel wert, aber ich wills versuchen und ihn anblasen. — Ja, da bläst nun dieser Gott,“ sagte Jason, auf seine Knie herunterblickend, „und was ist nun wohl der Mensch, dieser Wurm, in einer solchen Lohe, die ihm Knochen und Mark verzehrt, freilich, Lohe einfach, schmerzlos wie lustlos, nur bloß verzehrend, was dann andern Augen gemeinhin erst an der Asche sichtbar wird, und dann staunen sie nun über Beethovens Totenmaske. Er aber, am ganzen Leibe brennend, schaffte in der Himmelsglut das Werk, blinden Auges, tauben Ohrs, denn der Genius sieht, der Genius hört; mit flatternden Händen, denn der Genius lenkt, und dieses, dies ist das Leiden und dies die Grausamkeit, dies darf Leiden und Grausamkeit genannt werden, weil aus ihnen Leben entsteht, ewiges, so Gott will, dieweil das andre nur zum Sterben gut ist; doch reinigt der Tod.“
„Hat das der Maler gesagt?“ fragte Esther nach einem Schweigen leichthin.
Georg sah, daß Jason, wenn das bei ihm möglich war, verlegen schien.
„Es kommt ja nicht darauf an,“ sagte er, „die Menschen sagen so vieles nicht, das meiste sagen sie nicht, und du kennst ja mein Gedächtnis, es muß sich an so vieles erinnern, und gedacht hat er es jedenfalls, davon seid ihr doch wohl überzeugt. Übrigens“, fuhr er fort, „sind wir bald auf das Meer und die Berge zu sprechen gekommen, und nachdem wir uns darüber geeinigt hatten, daß das Meer groß sei, groß, sonst nichts, indem nichts von seiner Größe sei, so fragte ich ihn, wie das wohl zugehe, daß manche Menschen sagten, das Meer drücke sie nieder; es mache sie melancholisch, sagen sie. Er vermutete, eben deshalb, weil es ihnen zu groß erscheine, sie selber daher zu klein. Berge dagegen, ich erinnere mich genau, daß er dieses sagte, weil darauf ich an zu sprechen fing, Berge verhielten sich menschlich, und gewiß ist das so, was ihr beurteilen könnt, wenn ihr euch solch ein einzelnes, weißes Schneehaupt vorstellt. Denkt ihr euch nun daneben die Erhabenheit eines wunderbaren Menschen, Dantes oder Bachs, Rembrandts oder Michelangelos oder Homers, so habt ihr gleich eine Kette einsamer, strahlender Bergeshäupter. Halbgötter sind die Berge, dem Himmel nah und doch furchtbar irdisch verankert, und sie stimmen den Beschauer zur Andacht, unvermindert seine eigene Person, eben wegen des göttlichen Eindrucks, der aus Kleinheit hinaufziehend, nicht aber niederdrückend ist: Gott läßt immer viele Möglichkeiten offen, um so strahlender, wenn er sich menschenhaft offenbart. Blickt ihr aber von der Höhe über ganze Ketten und Felder andrer Gipfel und Gebirgszüge hin, so habt ihr auch hier ein Meer von Wellen, von erstarrten jedoch, von gebändigten, innerlich unfreien, ihre Verdammung zur Schweigsamkeit mit Größe und Heldensinn ertragenden, gleich einem Volk gefesselter Könige; ihr aber, ihnen gegenüber, von Beweglichkeit, von eurer ganzen rühmlichen Freiheit ringsum strotzend, ihr fühlt die Majestät solcher Versammlung mit Andacht und angenehmer Demut. Dies alles“, sagte Jason lächelnd, „erklärte der Maler nicht wie ich, sondern mit einem einzigen Worte, und danach fingen wir an, von den Wolken zu reden. Von ihnen sagte Bogner gleich, daß er sie liebe, nämlich die vereinzelten, geballten, weißen, mittäglichen, und er sagte, daß sie wie Götter seien, schweigend und leuchtend, nur ihr Wesen ausstrahlend unbeeinflußbar, — und ich dachte wieder, wie richtig das sei, da eben solche Wolken diejenigen Eigenschaften haben, die wir uns wünschen, die uns fehlen: die Ruhe, die Unberührbarkeit, dies leuchtende Dulden der Vereinsamung, das Schweigen, und so sind sie, wie alle Gottheiten, vergottete Menschen, uns ähnlich, daher noch zu erfassen, noch in uns, wie die übrige Natur, und indem ich dies bedachte, fiel mir ein, ob der immer sonderbare und rätselhafte Eindruck des Ozeans wohl darauf beruhe, daß er nicht in uns sei wie die übrige Natur, und dies sagte ich dem Maler. Da erzählte er mir ein Erlebnis aus seiner Kindheit.
Er beschrieb mir, wie er an einem Sommerabend als Knabe in einem Kahn gelegen habe. Wie er da mit sich allein war in der unsichtbaren Dämmerung und eine Hand ins Wasser hängen ließ, da sei nun aus dem Abgrund des Meeres der Mond heraufgestiegen, ganz wie ein schweigender Gott. Das Herz habe ihm da zum Zerspringen geklopft; er habe gemeint, der Mond komme aus seiner Brust. —
Dies ist nun freilich ein schöner Irrtum gewesen, denn das Unsichtbare war es, das seine Brust so weit zu machen wußte, daß sie auch die Nacht, das Dunkel, alles in sich aufnahm, das Meer spielte eigentlich keine Rolle in seinem Erlebnis, und ich sagte ihm dies, indem ich ihm nachwies, daß damals, als das einfachste Tier, unser Vorfahr, die Noctiluca, aus dem Meere das Land erstieg, das Meer von uns abzufallen begann, durch die Jahrmillionen, durch unzählbare Geschlechter von Verwandlungen, und das Leben auf dem Trocknen ward anders als im Gewässer, fremd ward uns das Meer, aber es war unsre älteste Heimat, und darum, wenn wir darüber hinsehn, so meinen wir, daß dort drüben, an einem andern Ufer, unsere Heimat liegen müsse; wie Odysseus sich vorstellte, daß gleich drüben der Rauch aus seinem Dache steigen müßte; aber die Heimat eigentlich ist in dem Meer, ist es selbst, und deshalb macht es uns wehmütig, heimschmerzlich, und das drückt uns wohl nieder, um so geringer unser Glaube, um so tiefer unser Verlangen nach Heimat ist. Da kamen wir nun auf die Sterne zu reden, und ich glaubte schon, davon würden wir die ganze Nacht nicht wegkommen. Aber die größten Dinge sind auch wieder die einfachsten, und so verhält es sich auch mit den Sternen, daß von ihnen schon alles gesagt ist, wenn man nur an sie denkt. Dann genügt ein zufälliges Wort, und so fiel es dem Maler ein, zu sagen, daß die Sterne jenseits wären. Wie wahr ist das, denn sind sie nicht außerhalb unsrer Erde? Was aber reicht über unsre Erde hinaus? Wir? Unser Gefühl? Gegen das unzerreißliche, metallene Gewebe des Firmaments prallt unsre Seele an wie ein Federball; nichts dringt dort ein, es sei denn — das Gefühl, nicht eindringen zu können, das uns so wunderbar anmutet. — Übermenschlich, seht ihr, das sind Wolken und Berge; überirdisch, das sind die Sterne. Mit ihnen ist uns nichts gemeinsam, nicht einmal das Gefühl der Fremde. Das Meer jedoch, es ist unmenschlich, eine Natur außer uns, eine Leidenschaft außer uns, eine donnernde Unbegreiflichkeit.
Ja, so sprachen wir miteinander,“ sagte Jason nachdenklich, „und inzwischen hatte der Maler seinen Bananenast aus der Ecke geholt, stellte ihn auf den Teppich, setzte sich auf die Erde davor mit dem Rücken gegen die Fenster und ermunterte mich zu essen, indem er eine Frucht abriß, hurtig schälte und die Schale über seine rechte Achsel zum Fenster hinauswarf. Wie das aber so geht mit mir, — ich stand auf einmal in der Tür, und da sehe ich ihn noch so sitzen in dem leeren Raum bei seinen rötlichen Kerzen und seinem schattenwerfenden Bananenast, und die Schalen zum Fenster hinauswerfen. Auf einmal stand ich dann und blickte gegen den wunderbarsten Nachthimmel, und es war kühl und vieler Atem im Finstern um mich her. Der Himmel aber, der vor mir niederhing, war ein wundersamer Gobelin mit einem silbernen Wolkenmeer, in dem, dicht aneinandergedrängt, andre, schwärzliche Wolken gleich riesenhaften Delfinen und Seeungetümen sich bewegten, und dies alles durchglitt der Mond, klar und sanft und sich schaukelnd, eine silberne Schale von einem Götterboot.“
Jason schwieg, rückte ein wenig und schien ans Fortgehn zu denken.
„Sage, Jason,“ fragte Esther, „hast du nun wirklich gar nicht daran gedacht, dir von dem Maler Bilder zeigen zu lassen, da du einmal dawarst und doch kein Mensch herausbekommt, wo er wohnt?“
Nein, Jason hatte nicht daran gedacht. Er schien geistesabwesend.
„Es waren so viele Bilder da,“ sagte er, „ringsherum, der ganze Himmel voll. Vielleicht“, sagte er aufstehend, „habe ich mir eingebildet, er hätte sie alle selber gemalt.“
Sprachs, nickte ihnen leutselig zu und ging davon. Sie mußten ihm nachsehn, wie er an den Gebüschen hinstreifte, ein wenig geduckt, die Knie leicht eingedrückt, den Strohhut im Nacken, die Hände auf dem Rücken, schmal in seinem feinen Rock von schwarzem Tuch, und so schwand er den Weg hinunter um die Ecke, und es war nicht ersichtlich, ob er nicht nur das äußere Verschwinden abgewartet hatte, um gänzlich fort zu sein, weg, nicht mehr vorhanden oder vielleicht schon in Südamerika. Esther und Georg aber taten ihre Augen zusammen, nickten sich zu und sagten, daß es ab und an gut sei, Jason zu hören.
Georg, Sigurd und Benno saßen spät abends beisammen; Georg, wie er es gern tat, in seinem Armstuhl, den er mit der Rücklehne gegen den Schreibtisch gedreht hatte, so daß er zur Kaminecke hinüber sah gegen den grünen Lampenumhang, — und rechts dort saß Benno, in seinem Sessel so tief, daß er Georg unsichtbar war hinter den dunklen Figuren und dem breiten Dach des Treppengeländers: nur sein obenliegendes Knie war zu sehn, hell glänzend dicht unter der grünen Tischdecke im nach unten fallenden Licht. An der anderen Seite hatte Sigurd sich in den breiten Ledersessel zurückgelegt, das Gesicht nach oben gewandt, das linke Knie so hoch gegen die Schulter gezogen, daß er die Hände dicht überm Fußgelenk falten konnte, das auf dem rechten Knie lag. Georg hatte, da sie eben damit beschäftigt waren, sich nach Kräften an- und auszuschweigen, Muße genug, ihn zu betrachten, diesen erstaunlich Schönen; sein dunkelhäutiges langes Gesicht glänzte leise aus der Dämmerung wie etwas Gegossenes; ein Lichtfunke, in jedem Auge hängend, machte sie starr in aller düstern Lebendigkeit. Schön im Schweigen formte sich der volle Mund.
Georg dachte in behaglicher Zufriedenheit über ihn nach. Sich erinnernd, wie er in dem dunkelroten Mantel hohepriesterlich bei so viel Jugendlichkeit erschienen war, dachte er, daß noch kaum ein Mensch — und am seltensten eine Frau — so das Empfinden ihm bekräftigt habe, es müsse im schönen Leibe auch eine schöne Seele wohnen. Renate — ja — eigentümlich: ihr Glanz war so außerordentlich, so vollkommen, so nichts mehr zu wünschen lassend, daß man nichts begehrte außer eben ihn, — und doch nein; war es nicht seelisches Feuer allein, das, ihre Züge und Farben durchglühend, sie in solche Harmonie und solches Leuchten versammelte? Also war vielmehr dies das Absonderliche, daß aus Renate Einheit strahlte; hier, aus dem Manne dagegen nur Eines, das ein Zweites ahnen und wünschen ließ, — und so sehr, dachte er, ist also Schönheit etwas Nebensächliches, etwas Störendes fast beim Manne, dessen Geist und Seele allein es sein sollten, die Licht verbreiten. Ja, und Esther, wie war es mit der? Hatte sie wohl eine Seele überhaupt, oder war da alles — nur süß; bis hinab in das Innerste? Ach, kleine Esther, kleine Chinesin, bin ich nun eigentlich verliebt in dich? und wenn wirklich, wie wäre das möglich in Anbetracht Renates? — —
„Wie doch das Schweigen tönt!“ hörte er da Benno träumerisch sagen. „Wir sind ja ein Dreiklang.“
„Dur oder Moll, Benno?“
„Ich weiß nicht, Georg. Musik der Seelen — und die ist es doch, die ich höre — weiß wohl von irdischen Tonarten nichts, und dort ist das innerlich Selige von Dur und Moll ein unirdisches Gemisch.“
„Ja — dort, Benno, nicht wahr? Aber wir sind hier und müssen immer heiter oder traurig sein. Es ist aber schön zu denken, was du sagst.“ Georg schwieg.
Nach einer Weile zogen ihm sanfte Verszeilen durch die Erinnerung, und er sagte langsam auf:
„Die Linien des Lebens sind verschieden
Wie Wege sind und wie der Berge Grenzen.
Was hier wir sind, kann dort ein Gott ergänzen
Mit Harmonien und ewigem Lohn und Frieden.“
Sie schwiegen lange.
Benno sagte: „Ergänzen, ja. Zu Moll das Dur und zu Dur das Moll; und doch wird es Ergänzung nicht allein sein, sondern das — andre, das — von hier, wird mit darin sausen, und das wird die Vollkommenheit sein, die weder Dur ist und weder Moll. Und das hat Bach gewußt.“
Es war wieder still. Georg versank in ihm selber Unbewußtes.
Plötzlich — als sei es genug — sah er undeutlich Sigurds Haltung sich lösen; er setzte den Fuß an die Erde neben den andern, beugte sich vor, legte die Hände um eines der Bücher auf dem Tisch und sagte in seiner kurzen Weise:
„Wissen Sie, Georg, — ich wollte Ihnen immer schon etwas sagen. Wegen Esther. Sie wissen ja: meine Schwester gehört mir, mir ganz allein. Ich habe sie erzogen von Kind auf; sie ist — mein Werk. Es gab eine Zeit, wo sie den Leuten langweilig war, so sehr war sie ein Abguß von mir und sprach mit meinen Worten. Und was wissen wir schließlich von solch einem Wesen?“
Er brach ab. Ja, was wissen wir, dachte Georg. Sie geht umher und sieht süß aus. Alles, was wir wissen, sind Dinge, die sich auf uns beziehn. Obendrein antwortet sie nur, schweigt, spricht selten von selber, oder ganz Belangloses, Tatsächliches. Und dabei diese Wandelbarkeit, als hätte sie gar keinen Kern! Mit jedem Kleid, in jedem Hut, ohne Hut, im Mantel, in der Jacke ist sie ein andres Wesen; heut ein Kind, morgen abwesend, eine kühle fremde, Verirrte, jetzt sanft und hülflos, morgen sicher und verständig, ja scharfsinnig, heut altklug und morgen unbewußt —, als ob sie immer und nur auf geheime Unterweisung sei und handle, — aber immer ist sie verführerisch und gefällig mit Miene und Lächeln. Ja, wenn ich das Sexuelle auch so überschätzte, wie Alle es tun, so würde ich denken, ich sei in sie verliebt, bloß weil ich ab und an den zärtlichen Wunsch habe, sie auf den Arm zu nehmen und irgendwohin zu tragen. — Während er sich dies sagte, betrachtete er Sigurd, der, die Zunge im Munde wälzend, das Buch hin und her drehte, und dachte, falls er, wie es schien, ihm etwas mitteilen wollte, sei es das beste, zu schweigen. Richtig fing Sigurd auch wieder an:
„Was wissen wir von ihnen? Ihre Gedanken laufen doch immer wo anders hin. Nun sind sie in Amerika. Sie giebt bekanntlich vor, einen jungen Mann zu lieben, da drüben ...“
„Warum: giebt vor?“ fragte Georg.
Sigurd blickte wegwerfend auf: „Ich sagte ja, daß sie mir gehört, also liebt sie in Wirklichkeit mich, nur ist sie eben meine Schwester und merkt es nicht. Und überhaupt nun diese sogenannte Liebe. Esther ist immer von irgendwem geliebt worden und hat immer irgendwen geliebt. Endlich kommt einer und sagt, er muß sie heiraten, und da muß sie nun auch. So ists immer, Alle heiraten aus Zufall, und nachher ist das Unglück da.“
Georg glaubte sich zu erinnern, daß er das selbe schon einmal von einem andern Menschen gehört hatte, — war es nicht Ulrika? ... Aber Sigurd war aufgestanden, lehnte sich mit der rechten Schulter gegen das Bücherregal, den Kopf gesenkt, hier und da einzelne Bände tiefer ins Fach klopfend, während er sprach:
„Ich will sie nicht hergeben, ich brauche sie, wofür lebe ich denn?“ Er wandte sich zu Georg. „So etwas kennen Sie natürlich nicht,“ sagte er mit verächtlicher Traurigkeit in den schweren Augen, „Geschwisterliebe. Nicht Frau, nicht Geliebte, nicht Freundin, aber von jeder ein Hauch, — und andrerseits, wenn ich denke, ich könnte eine andre Frau lieben, so würde mir das Verwandtschaftliche bitter fehlen.“
„Irgend etwas“, sagte Georg weise, „fehlt immer.“
„Esther,“ fuhr Sigurd fort, ohne hinzuhören, „Esther hat diese Macht über die Menschen, dies Verlockende, das ihr eigentliches Wesen ist. Sie kann nicht anders, sagen Sie selber: wenn sie mit Ihnen allein ist, ist sie da nicht ganz eine andre, als wenn Andre dabei sind? Unter Vielen ist sie überhaupt nichts, da steht sie wie ein kleiner Hund im Regen ...“ Er lachte verlegen, Georg lachte gefällig mit.
„Nun also der in Amerika“, fing Sigurd wieder an. „Ein außerordentlich tüchtiger Mensch, müssen Sie wissen. Unglücklicherweise nahm er an einem Monatsletzten — als er noch hier war — dreißig Mark aus der Kasse, um sie am Ersten wieder hineinzulegen, da kam die Revision. Es gelang mir natürlich,“ sagte er mit innerlichem Stolz, „den Chef zu überzeugen, daß er keine Anzeige machen durfte und ihm ein Zeugnis ausstellte auf Tüchtigkeit und Fleiß mit dem Vermerk: verläßt seine Stelle nach Übereinkunft. Ja, und trotzdem verfiel der arme Junge so in Verzweiflung, daß er in die Staaten hinüberging. Oh auf ihn kann man sich verlassen, aber auf Esther? Warum soll sie nun grade den immer und ewig lieben, nachdem sie sich so oft geirrt hat? Aber ihr Gefühl für mich, das ist immer das gleiche geblieben. Sie fängt nach einem halben Jahr an, sich zu langweilen, immer mit dem selben Mann, wohin soll sie sich noch entfalten?“
„Ja, ja,“ lachte Georg, „Sie haben recht: unter mehreren Männern ist sie die bescheidene und kluge Lauscherin — Leonore im Tasso —; mit einem allein entfaltet sie sich zart — Leonore mit Tasso.“
„Achtzehn Jahre ist sie alt,“ sagte Sigurd kopfschüttelnd, „und bildet sich wahrhaftig ein, dieser Kaufmann drüben sei in Europa und Amerika der einzige Mensch, mit dem sie das Leben zu Ende führen kann.“
„Sie sind närrisch,“ meinte Georg, „Liebe und Überlegung ...?“
„Ja, soll sie ihn lieben!“ brauste er auf, „aber warum denn um Himmels willen heiraten? Wie schön ist die Liebe, wie ideal ist die Liebe! Sie erregt alle heftigen Gefühle, Sehnsucht, alle Empfindungen nach — hinaus, nach oben, ins Offne, ins Unbegrenzte, — und dann wird geheiratet.“ Er lief an Georg vorüber und hinter seinem Rücken im Zimmer hin und her.
Georg fiel Cora ein, die er seit Monaten einfach vergessen hatte, und sagte: „Ideale, das wissen Sie doch, Sigurd, sind dazu da, daß man sie hat, nicht daß man danach lebt. Zum Leben brauchen die Menschen Ziele.“
„Na, und was machen Sie da wieder für einen psycho-philosophischen Unterschied?“
„Ein Ideal“, sagte Georg ernsthaft, „ist keines — nicht wahr — innerhalb erreichbarer Grenzen; ein Ideal ist doch nichts Persönliches, nichts, was man für sich allein hat, oder käme es nicht mehr von Idee her? Ideal ist Religion. Wie ich schon sagte, nicht wahr: auch Religion müssen die Menschen haben, aber wer lebt danach? Für ihr Leben haben sie ihre Gesetze und sonst praktische Wegweiser, was ich Ziele nannte. Wegmarken braucht der einfache Mensch, um zu sehn, woher er kommt und worauf er zugeht, und daß er sich bewegt.“
„Ach, Sie denken immer so artistisch! Dem Künstler freilich sind seine Werke solche —“
„Dem Künstler“, griff Georg mit Festigkeit ein, „sind seine Werke niemals Ziele, sondern stets Ideal. Was er erreicht — im Werk —, das mag Andern, ja mag ihm selber ein Ziel scheinen, eine Wegmarke, eine Stufe, um höher zu steigen: im Grunde bleibts ideal, weil unvollkommen gegenüber seiner Idee. Ein vollendetes Kunstwerk, nicht wahr — das kann niemals mehr heißen als: ein fertiges. Selbst Gott hat nur gesagt, es wäre sehr gut, und ich bin überzeugt, daß sein Ideal von Welt hoch, aber höchst anders ausgesehn hat!“ Georg, nachdem er seine Sätze auf das eifrigste hervorgesprudelt hatte, stand auf, ging hin und lehnte sich gegen die Bücherwand. In der Tiefe des dunklen Raumes sah er Sigurd neben dem Pensieroso stehn, der vor ihm saß, unbekümmert wie je, den Handrücken unterm Kinn, sinnend.
„Es giebt so viele Worte“, sagte Sigurd. „Wie alt sind wir eigentlich? Unsereins sieht immer über die rationalen Dinge hinweg, als ob Gott und Welt und Ewigkeit das einzige wäre, was uns anginge, als ob wir sie im Sack hätten, als ob sie nur so um uns herumstünden wie Schränke. Übrigens haben Sie davon angefangen.“
„Ja, Sie merken doch alles, Sigurd“, sagte Georg sardonisch. „Glauben Sie wirklich nicht, daß das Alltägliche genügt, um es zu tun? Soll man auch davon reden?“
„Nicht vom Alltäglichen,“ versetzte Sigurd kurz, „das ist eine Unterschiebung. Ich sprach vom Realen oder Tatsächlichen und bin nicht der Meinung, daß es so einfach ist, daß Tun genügt.“
„Ich kenne eine Frau,“ erwiderte Georg nachlässig, „deren Ideal wäre es, die Geliebte eines Prinzen zu sein. Jawohl, Sie bemerken ganz recht: der Prinz bin ich selber.“ Sitzt mir die Maske? fuhr es durch ihn hin. Er sammelte sich und fuhr fort. „Ich sage Ideal, Sie würden sagen Ziel.“
„Weil Sie,“ Sigurd lachte spöttisch, „weil Sie ihr dies Ziel nicht erfüllen wollen? Also ein idealisches Ziel, wie Ihr Kunstwerk, wie der Himmel für den primitiven Frommen, den Moslem oder so: solange man danach strebt, Ideal, wenn mans hat, Ziel.“
„Ach, Unsinn!“ murrte Georg. „Der Himmel (und die Hölle genau so gut) sind keine Ideale für den Frommen, sondern einfach Ziele, weil sie mit zum Irdischen gehören, weil sie in seinem Dasein inbegriffen sind.“
„Also leugnen Sie überhaupt Religion?“
Es klopfte. Die Tür zum Flur wurde geöffnet, und Esther stand über der Treppe in einem dicken bräunlichen Regenmantel, den Kragen hochgeschlagen, kaum sichtbar das kleine Gesicht mit den funkelnden Augen unter tiefen Scheiteln und der Kappe aus schwarzem Haar, die sie heute trug. Sie hatte einen Brief in der Hand.
„Ein realer Brief,“ sagte Sigurd, indem er näher trat, „siehst du, Esther, der Prinz leugnet alle Religion außer Buddhismus.“
Ich dachte an Märtyrer, sagte Georg sich schweigend, indem er Esther die Hand gab und fand, daß sie wie ein gutes, schwärzliches Tierchen aussah, süß zum Wegtragen und Füttern. — „Als wir anfingen, Esther,“ sagte er, „sprachen wir von Ihnen; nun sind wir glücklich beim Nirwana.“
Sie lächelte. „Das ist eben das Gute an uns, daß ihr von uns überall hingeraten könnt! Ihr müßt immer bei uns anfangen, ihr Männer.“
„Und von überallher zu euch zurückkommen“, schloß Georg lachend. „Ihr seid der Kreis und seid im Mittelpunkt.“
„Ja, Kreis“, wiederholte Sigurd, am Schreibtisch stehend, Georgs Malaiendolch in der Hand. „Was ist mit dem Brief?“ schloß er kurz.
Esther erklärte munter, wie sie, um den Brief in den Kasten zu werfen, vor die Tür gegangen, wie die Nachtluft so herrlich nach dem Regen gewesen sei und nach nassem Pflaster geduftet habe, daß sie hergelaufen sei, um Sigurd abzuholen, — und den Brief habe sie dabei in der Manteltasche vergessen. Georg verschlang sie mit Augen dieweil und hörte kaum ihre Worte. Sigurd nahm ihr den Brief wortlos fort, während Georg, ihr aus dem Mantel helfend, freundschaftlich fragte: „Für wen ist denn der dicke Brief, kleine Esther?“
„An meinen Verlobten,“ hörte er sie abgewandt sagen, und einen Stich im Herzen, fiel ihm ein, daß Sigurd ihm ja etwas hatte mitteilen wollen, Esther betreffend. Was konnte das wohl gewesen sein? — —
Nun saßen sie schweigend alle Vier, bis Esther mahnte: „Sagt doch was, Kinder, seid ihr immer so schweigsam?“
„Ja, Benno!“ — Benno saß ganz grade auf dem Vorderteil seines Sitzes, dieweil eine Dame zugegen. — „Benno hat den ganzen Abend noch nichts gesagt. Also Benno ...“
Benno lachte erschütternd. Er habe alles, was ihm für heute zu reden gegeben sei, schon vor Esthers Anwesenheit gesagt. „Nun müßt ihr reden!“
Esther schlug vor, Georg möge etwas vorlesen.
„Ja, Georg!“ bat Benno schmelzend und glitt erwartungsvoll unbedacht tiefer im Sessel, richtete sich aber gleich wieder auf. Georg wehrte jedoch ab; er habe nichts Rechtes. Als Sigurd nun aus der Ecke am Kamin fragte, ob und was Gutes Georg zurzeit lese, fühlte er einigen Ärger über Sigurds schlankes Abbiegen und sagte nachlässig bloß: „Jean Paul.“
Keiner von den Dreien erwiderte etwas. Der Name löste wohl zwiespältige Empfindungen aus, die nicht zu Worte gelangten.
„Natürlich,“ sagte Georg, „wenn man Jean Paul sagt, sind Alle wie auf den Mund geschlagen. Habt ihr Jean Paul gelesen? Haben Sie Jean Paul gelesen, Esther?“ — Esther murmelte etwas vom Katzenberger.
„Dieser ewige Katzenberger! Als ob das nun Jean Paul wäre, nicht wahr! Katzenberger! Das ist wie — wie so eine hornhäutige Ferse am Absatz eines Engels; als solche ja ganz merkwürdig. Aber den Engel solltet ihr reden hören! Wartet —“ Sich im Stuhl drehend griff er den kleinen schwarzen Band vom Schreibtisch hinter sich. „Flegeljahre,“ sagte er, „ich will euch nur eine Stelle vorlesen, nur eine, und ihr sollt —“ Er blätterte erregt. „Nein, wartet mal, wo war doch das! Richtig, ich hatte doch ein Zeichen ... An der Stelle ging mir zum ersten Mal mit blendender Klarheit der Unterschied zwischen Dichtersprache auf und — wie soll ich sagen? — da ist die Stelle!“
Georg hatte sein Zeichen gefunden, nahm es heraus, bog das Buch auf und las:
Walt setzte sich schon im Bette auf, als die Spitzen der Abendberge und der Thürme dunkelroth vor der frühen Juli-Sonne standen, und verrichtete sein Morgengebet, worin er Gott für seine Zukunft dankte. Die Welt war noch leise, an den Gebirgen verlief das Nachtmeer still, ferne Entzückungen oder Paradiesvögel flogen stumm auf den Sonntag zu ...
„Das ist es!“ rief Georg, „das ist es: ferne Entzückungen oder Paradiesvögel flogen stumm auf den Sonntag zu. Ja, was denkt ihr euch dabei? Ist das irgend etwas Vorstellbares? Ist das nicht unbeschreiblich imaginär? Entzückungen, die fliegen? stumm? auf den Sonntag zu? Und da quillt einem doch das Herz über von etwas geisterhaft Irdischem und Unirdischem in wunderbarster Vermengung, und die Seele über von unsagbaren Visionen des Morgenhimmels und der Dämmerstunde. Und deshalb — nicht wahr — was liegt an den Worten? Das überwogende Empfinden des Dichters schwemmt sie hervor, — vom Rhythmus, der alles ist, ergriffen, ankristallisiert, schwemmt es sie hinüber in uns, wo sie zergehend wieder ausschäumen in Empfinden und in Vision. So spricht der Dichter.“
Still waren die Andern. Wie, keine entzückte Bejahung? — Endlich sagte Sigurd:
„Und wie, meinen Sie, sprechen wir?“
„Wir? Wir machen uns verständlich. Wir wollen verstanden werden, wollen wirken und suchen den passenden Ausdruck, den treffenden, nicht wahr, Deutlichkeit. Der Dichter will sich niemand verständlich machen, nicht wahr, sondern muß singen, nachsingen, was der Dämon vorschreibt, und dies eben, nicht wahr, daß er vollkommen weiß: er kann sich auf unsre Weise nicht ausdrücken, weil dann nur Deutlichkeit entstünde, aber nicht — Empfinden, Sichtbarkeit, Fühlbarkeit, das — nicht wahr — giebt ihm die Gegensprache vom Ausdruck, das — eigentlich ists ein Verhüllendes, nicht wahr, das — Bild, Gleichnis, die Gestalt, das heißt: er stellt dar. Darstellung und Ausdruck, das sind die beiden.“
„Dagegen“, sagte Sigurd nach einer Weile, „ließe sich wohl nichts einwenden. Wie Sie aber — in dem, was Sie zuerst sagten — das Wort so erniedrigen, zum Mittler des Gefühls erniedrigen können, das verstehe ich nicht. Ich —“ Georg, obwohl sprachlos vor Überraschung, daß er erniedrigen sollte, er, dem wie keinem Andern die Einzigkeit, die vollkommene Aristokratie des Wortes bewußt war, — kam nicht zum Einfallen. „Ich empfinde“, sprach Sigurd weiter, „da ganz anders. Ich empfinde —“ Vorgebeugt in seiner Ecke, die Ellenbogen auf den Knien, legte er Gelenke und Fingerspitzen der gewölbten Hände mit kleinen formenden Bewegungen gegeneinander — „ich empfinde — den Leib des Wortes. Ein tiefes Erfülltsein, Umschlossensein; kein Überströmen.“
Esther, die sich bislang unteilhaft verhalten hatte, nickte jetzt beistimmend und schüttelte den Kopf. Auch Benno drehte sich.
„Nein, da müssen Sie mich mißverstanden haben“, sagte Georg. „Das Wort als Mittler? Auch ich —“ die Zeile Jean Pauls wie auf einer langen Fahne vor sich, ließ er sie auf sich wirken, und sagte, langsam seinem Gefühl nachsprechend: „Ich empfinde das Wort, Leib und Seele. Die Seele aber flutet über die Ränder und — bildet, mich erfüllend, den Leib noch einmal in mir. Und das geht — hin und her, nicht wahr; immer ist eines im andern. Die Seele freilich — auf die kommt es doch allein an — die Seele des Worts ist die mächtigere, die immer wieder überflutet und mich — ahnen läßt, tausendmal mehr ahnen, als das Wort enthält.“
„Sie lassen Ihre Phantasie spielen, Georg. Sie sind Romantiker,“ sagte Sigurd, „und —“
„Ich bin kein Romantiker, was fällt Ihnen ein?“
„Dann denken Sie eben an besonders romantische Gedichte, die es ja giebt, die von dieser überfließenden Art sind.“
Esther und Benno nickten lebhaft.
„Aber ich bitte euch!“ widerstritt Georg. „Nehmt doch etwas andres, nehmt — was ihr wollt! Nehmt ‚Der Wald steht schwarz und schweiget — Und aus den Wiesen steiget — Ein weißer Nebel wunderbar ...‘ Was liegt denn an den Worten? am schwarzen Wald und weißen Nebel? Aber eine golden verschattete Welt steigt auf, und das ist die Kunst, wie ich sagte: mit einem Wort hundert und tausend mal mehr zu geben, als es enthält.“
„Und das ist romantisch“, beharrte Sigurd.
„Ja, Georg,“ wagte Benno sich hervor, „handelt es sich hier nicht um etwas andres? Das ist doch — Landschaft. Die soll gemalt sein, gesehen werden, und da wirkt natürlich die Phantasie. Hier tut sie’s auch bei mir. Sonst aber — verhüllt sie sich eher —“
„Verhüllt sich!“ sagte Sigurd. Esther nickte und lächelte.
„Zum Beispiel, wenn du an das von George denkst, dies Wunderbare, du lasest es neulich: ‚So war dein sanfter Sang der Sang des Jahres — Und alles kam, weil du es so bestimmt.‘“ Benno verhauchte beseligt. Sigurd am Regal lehnend, die Finger in den Westentaschen, das Gesicht vornüber gesenkt, sagte kurz, nach innen grübelnd:
„Es muß etwas andres sein. Sie nehmen die Dinge ästhetisch. Es muß ein ethischer Vorgang sein.“
„Da komme ich nicht mit“, erklärte Georg. „Jeder Vorgang ist an sich rein ästhetisch, nicht wahr? Ethisch wird er allein durch die Erkenntnis — Sie verstehen, Esther —, durch Erkenntnis von Werden und Entstehn, von den Zusammenhängen, von der Form. Hier aber, hier handelt es sich ja um Vorgang und nur um Vorgang. Das Ethische können Sie ja dazu haben, aber — was hat das mit Dichtung zu tun? Das ist doch — abstrakt.“
Benno war nicht einverstanden, und Sigurd bewegte stumm den gesenkten Kopf. „Warum abstrakt?“ fragte Benno und mit ihm Esther aus den Augen.
„Warum? Also — — also wenn ich sage: Bauen, — nicht wahr? Wer baut? Einer schleppt Steine, einer legt sie aufeinander, einer macht Fenster, Türen, Fußböden, einer das Dach. Wer baut denn nun? Der Architekt macht Pläne, beaufsichtigt, das alles sind die Vorgänge. Was aber alle zusammen tun, nicht wahr, und auch allein der Architekt durch Planen und Beaufsichtigen, das sehen wir im Begriff ‚Bauen‘. Begriff! der kann ethisch sein, aber wie wollt ihr den empfinden, nicht wahr? Wo das Wort so voll Vorgang ist, so voll Vorgang!“
„Das können Sie nicht sagen, Georg!“ Sigurd hob voll die heißen Wangen und brennenden Augen gegen ihn.
„Ich empfinde das eben.“
„Ich auch, Georg!“ rief Benno.
„Du auch? Ich hatte sonst sagen wollen: Sie, als Jude, nicht wahr, — seien vielleicht eher begabt für das rein Gedankliche.“
„Das sind wir. Herz und Intellekt wohnen bei uns näher zusammen als bei euch.“
„Und darum überschätzen Sie das Wort!“
„Ach das Wort, Georg, doch nicht das Wort!“ Benno lief aufgeregt mit schwingenden Armen in den Raum. „Wie wäre es dann mit der Musik, die wortlos ist? Wärens da Töne, Akkorde, Septimen, Quinten und Quarten? Ist es nicht —“
„Und die Musik,“ rief Georg aufspringend und sich zu ihm drehend, „die Musik, da du davon sprichst, wie läßt die erst überwogen, sich auflösen, ins Namen-, ins Uferlose, ins —“
„Bei dir, Georg, aber doch nicht bei mir!“ schrie Benno vom bronzenen Borgia her. „Die Musik ist eine so völlig klare, gesättigte Sprache wie die der Dichter. Ja, das ists! Sprache, Georg, Sprache! Nicht das Wort, das Ganze — eben — Musik!“
„Das ist wieder was andres, Benno. Meinen Sie das?“
Sigurd nickte.
„Dann also — meint ihr — den Rhythmus, nicht wahr?“
„Es ist mehr, Georg, es ist —“
„Unter Rhythmus“, erklärte Georg, „meine ich die innerste Essenz, die wieder Destillat ist aus dem allen: Worten und Takten, nicht wahr, Reim, Bildern und ihrer Wahl und Ordnung, der Glut der Stunde vor allem — was man Stimmung nennt, nicht wahr? — der Duft, die Seele — und der Leib — all das, all das strömt zusammen zum Rhythmus, der die Seele des Gedichts ist, die Seele der Form. Mit einem Wort, die Form meint ihr, das ganze Gedicht. Ja, dann freilich, — das ist bei mir natürlich auch so. Das Gedicht tritt in mich ein und —“
„Nun kommen wieder Ihre überquellenden Ränder“, sagte Sigurd, der ein Buch aus der Reihe vor ihm gezogen hatte und es eben aufschlagen wollte. Er ließ es aber in der Hand hängen und fuhr fort, zur Bekräftigung damit Stöße gegen Georg führend:
„Der wirkliche Vorgang ist: den Leib des Wortes, samt der Seele, die ganze Form: noch einmal aufrichten, noch einmal baun. Er ist, wie alles in Wahrheit Ethische — ein Schaffen, Neuschaffen von Grund aus.“
„Ja, Georg, ja, Sigurd!“ jubelte Benno aus dem Hintergrund, kam hervor gestürmt und stand nun im Licht so lang er war, hoch gerötet in großer Gebärde mit flammenden Augen und fliegender Stirn.
„Georg!“ rief er mit ganz unterdrückter, inbrünstig eindringen wollender Stimme, „hast du’s denn nie gefühlt? Nie dies tiefe Glück empfunden im Empfangen der Form, das — den — den Einklang, das Vollkommene, die ewige Harmonie des Irdischen mit dem Unirdischen, vollzogen im göttlichen Augenblick? Musik, seht ihr, sie ist nicht der Himmel selbst, aber — sie ist das Zwischengebiet, von uns erreicht, ja von uns erzeugt mit unsern irdischen Kräften und unserm überirdischen Glauben, — wo das Himmlische irdisch ward und das Irdische himmlisch — himmlisch im Tönen, himmlisch in der geschaffenen Form, in der wir nun aufgehn, aufgehn, Georg, in beiden — und doch nur eins noch empfinden: Glück.“
„Wundervoll, Benno, ja, aber das, was du da sagst, das habe ich im Tiefsten immer empfunden. Das ist allerdings ethisch, und es ist dann so, daß ich es unbewußt empfand. Ich kann ja — wenn ich überhaupt ein ethischer Mensch bin — nur hierin das Wunder der Kunst erfahren, und — ja, es ist doch so, nicht wahr: die meisten Menschen — nun, ethisch sind sie natürlich alle, denn wenn einer es sein kann, müssen alle es sein. Sie alle haben, nicht wahr, einen ethischen Grundstoff. Von dem wissen die Meisten gar nichts und können deshalb nur moralisch empfinden, das heißt: das Stoffliche. Die Nächsten gelangen bis zur Anschauung, zum Empfinden der Form, also zum Ästhetischen, nicht wahr, und das sind die, die wir gemeinhin Ästheten nennen. Die Dritten haben nicht nur die Erkenntnis des Ethischen, sondern auch — wie Sigurd, nicht wahr — das Empfinden davon. Und bei mir ist es nun so, nicht wahr, daß ich, als selber Schaffender, zwar die Erkenntnis haben und für sich allein auch empfinden kann, aber der Anschauung verhaftet bleibe. Ich habe Phantasie, ich kann sie nicht unterdrücken; alles was sie, die Anschauung mir zuführt, bewegt mich vor allem andern, und das Ethische — Vischer meinte es wohl auch, wenn er das ‚Moralische‘ sagte — versteht sich von selbst.“
„Ja, Georg, dann sind wir ja einig“, bekräftigte Benno mit gerührt sich verbiegendem Körper, als wären sie nach langer Verfehdung wieder Freunde geworden.
„Ja, und Sie, kleine Esther,“ sagte Georg, vor sie hintretend, „Sie haben überhaupt nichts gesagt.“
Ihre Augen glitzerten. „Oh ich,“ lächelte sie errötend, „ich freue mich, wenn kluge Männer sprechen, daß ich verstehen kann, wie sie es meinen.“ Sie lächelte mehr bei jedem beziehungsvollen Wort:
„Ich folge gern, denn mir wird leicht zu folgen,
Ich höre gern dem Streit der Klagen zu —
Wenn die feine Klugheit,
Von einem klugen Manne zart entwickelt,
Statt uns zu hintergehen, uns belehrt!“
Georg, die ganze Zeit, während sie sprach, stark und stärker versucht, ihr Gesicht in beide Hände zu nehmen und zu küssen, konnte es nun nicht lassen, wenigstens ihre Schultern leicht zu berühren, indem er lachend spottete:
„Aber das war ja auch nicht von Ihnen, Esther, das war ja von Goethe!“
„Wir müssen gehn“, sagte Sigurd. „Es ist höchste Zeit.“
Renate schrieb:
„Tage und Nächte, Tage und Nächte! Da liegst du nun auf der Lauer über deiner Arbeit wie ein Panther, und ich stehe dabei und weiß nichts. Wie in der Ermattung dein Menschliches von dir abfällt, so tritt alltäglich, daß ich ihn sehe, der Gott aus deiner Brust, sitzt da groß, durch Wind und Wolkenriß hinunterspähend auf das Werdende; Länderflucht und Wolkenschatten jagen durch seine unbewegten Augen. Warum muß ich ausgeschlossen sein aus deiner Seele, in einer andern Welt, sprachlos wie Echo in einem Walde, den niemand betritt? Will mir denn niemand dies Geheimnis lösen, warum dir alles sichtbar ist, nur nicht ich? Überstrahle ich sie nicht alle? Bringe ich nicht Glück hin, wo ich eintrete? Ach, daß ich alle Spiegel der Welt zerschlagen könnte und kein Bild mehr haben, damit du es merktest, wie ich dürste nach deinen verhängten Augen! Ich ertrage es nicht, du! daß ich dastehn muß wie unbekannt, unsichtbar vor dir in meiner Fülle, und dein Auge blinzelt nicht einmal! An wen soll ich mich denn wegschenken, sag, damit du endlich, endlich begreifst am Zerschlagenen, was dir aus den Händen fiel!“
Sie hielt ein, glühend über und über, fliegend, warf die Feder hin, knüllte ihr Taschentuch in der Rechten, faßte mit der Linken in den Ausschnitt ihres Kleides am Halse und zerrte. Sie schlug das Buch zu, löschte die Lampe vor sich und stand auf; teilte den Vorhang und sah hinaus. Da war nur Finsternis, undeutlich, aber nach Augenblicken wurde der schwarze Schattenriß des Kapellendaches sichtbar über dem Gewipfel gegen den gestirnten Himmel, dann auch darunter da und dort der gelbliche Schein und die Form zweier Fenster. Dort saß er! dahinter saß er! Saß, malte und sonst nichts. — Sie preßte die Stirn gegen das kühle Glas, atmete tief und wurde ruhiger. Es ist beschämend, dachte sie, ich muß es jetzt vergessen; man könnte es mir ja vom Gesicht ablesen, was ich in das Buch schrieb. — Sie sah in die Tiefe ein wenig rechts und gewahrte den Lichtschein, der aus dem Verandazimmer breit in den Garten fiel, darin die Schlagschatten, über Weg und Rasen hin, der dünnen, rankenumwundenen Pfeiler und der hangenden Reben voll Weinlaub; grau schimmerte, wo die Helligkeit am Boden endete, der Sandsteinsockel der Sonnenuhr. Nun sah sie auch, daß eine weiße Gestalt zwischen den Büschen umherging, jenseit des Rasenplatzes; bald kam sie unten zum Vorschein auf dem Wege, langsam dahinschlendernd, ging durch den Lichtschein — es war Magda — die Unterarme hinter dem Rücken zusammengelegt, am Hause vorüber und wieder in die Tiefe, wo sie schwand, aber nach einer Weile wieder sichtbar wurde, stehen blieb und nach oben schaute. Einen Augenblick glaubte Renate, sie spähe nach ihr, aber sie stand ja im Dunkel und war dunkel gekleidet. So blickte sie wohl zu dem gotischen Fenster empor, wo Georg und Esther unter der Lampe saßen; sie hatte ja dort auf einmal weglaufen müssen, um zu schreiben.
Magdas weiße Gestalt wendete sich wieder und ging zurück und kam abermals wieder und verschwand auf dem Weg zum Gemüsegarten. Renate, all ihr Eigenes kräftig niederdrückend, folgte ihr zärtlich mit Gedanken. Sie öffnete leise das Fenster und beugte sich hinaus. Gleich drang mit der schönen Nachtkühle und dem Geruch des vielerlei Blühenden eine gedämpfte Musik undeutlich an ihr Ohr — o, sie übten ja an ihrem Brahmsquartett in der Kapelle —, und nun standen deutlich sichtbar alle drei spitzbogigen Fensters, dunkelgelb leuchtend, im Finstern. Über den blütenlosen Massen der Baumwipfel war das Heer der Sterne in reicher, strahlender Stille aufgezogen. Ganz fern zur Linken schimmerte noch Weißes, — wohl Magdas Kleid.
Renate dachte, daß sie das grüne Fenster von unten gesehen haben müsse, wie sie selber immer wieder leise betroffen von seiner Stille im Schweben, und es wurde ein alter Vers in ihr wach, — vielleicht summte auch Magda ihn im Gehen vor sich hin, sie kannte ihn ja:
Gottesauge still und klar
Zwischen dem Gezweige!
Wandellos im Sternenjahr,
Dulde, daß ich wandelbar
Meine Seele vor dir neige,
Die verzweifelt war ...
Bist du nun am Land, Kind? dachte Renate. Du bist es, ich weiß. Deine Gedanken gehen kleine Wege, wie deine Füße im wohlbekannten Garten von selber sich durch das Dunkel finden; gehen ein Stückchen neben Georg, laufen zu Bogner, der unbekümmert um das musikalische Getöse hinter seinem Rücken vor seinem Wandstück sitzt und mit Kohle Landschaft und Gestalt in den großen Linien festhält. Du brauchst deine Gedanken, die dir nicht mehr weh tun, wenn sie sich nur bewegen, nicht mehr zu hüten; es giebt kein Hinaus mehr aus der wunderbaren, nur mit Gottes Hülfe zu begreifenden Schmerzlosigkeit, die all deine Poren erfüllt ...
Sie atmet leicht, sagte Renate, ich weiß es. Ihre Gedanken halten sich ans Geschaute, rühren an die alltäglichen Vorgänge, an Menschen und Dinge umher nun mit einem sicheren Gefühl und machen sie milde. Nein, es gab nichts Hartes mehr für sie; ein wenig schattenhaft war alles geworden, ein unveränderliches Abendrot von unirdischer Gläubigkeit ruhte am Himmel aus, von dem die sehnsuchtslosen Schatten ein sanftes Dasein bekamen; da mußten alle Stimmen leiser gehn, auf den Gesichtern lag das starke, aber milde Leuchten des Sonnenscheidens, — hatte sie ihr selber nicht einmal gesagt, wie durchsichtig die Gesichter ihr schienen, bis ins Innerste der Gedanken; von ihrem eignen, Renates, Antlitz hatte sie es gesagt und hinzugefügt, was sie Saint-Georges einmal von ihm hatte sagen hören: Niemals kann es welken ...
Da war sie schon wieder bei sich. Ein halbes Jahr jünger war die Freundin als sie und schien älter fast um zehn Jahre. Sie aber stand im Anfang ihres Herzens und — Renate richtete sich auf und ging durch das dunkle Zimmer hinaus.
Im Treppenhaus blendete sie das grelle Licht, und als sie durch das erleuchtete Verandazimmer gehen wollte, erschrak sie plötzlich vor einer schönen und großen Gestalt, die auf sie zuschritt in einem großen, dunkelgrünen Kleide, — bei Gott, sie selber wars, vor der sie erstaunte, die aus dem Empirespiegel auf sie zugeschritten kam. Sie blieb stehn, lächelte verzweifelt zu der drüben hin und spottete sie an: Ist es wohl nun zu begreifen, daß du hier herumgehst so groß wie ein Pferd, und kein Mensch sieht dich? — Achselzuckend trat sie an den Tisch; dort standen Früchte in Schalen, Brombeeren und Himbeeren, auch Bananen und mächtige Trauben von schwarzblauen Beeren. Von denen nahm sie eine in jede Hand, drückte sie zu beiden Seiten unterm Kinn gegen den Hals, trat so vor den Spiegel, aber das half alles nichts, im Gegenteil dachte sie, daß ihre Augen genau wie die Weinbeeren aussähen, und das ärgerte sie irgendwie, sie warf eine der Trauben wieder auf den Teller, erschrak aber und sagte: Nun mußt du sie auch essen, warum hast du sie angefaßt! — Warum nicht? Gerne! — So schlenderte sie auf die Veranda, nachdem sie der Verschwendung des elektrischen Lichts Einhalt geboten, sah ins Dunkel, aber es war niemand zu sehn. Sie trat an die Brüstung, legte eine der Trauben darauf, lehnte sich gegen den eisernen Pfeiler ins Rebgewind und fing an, Beere um Beere sachtsam ablösend, zu essen, und nach einer Weile, als ihre Hand sich mit den Schalen füllte, die folgenden in den Garten zu spucken. In diese Aufgaben vertieft, angenehm durchtränkt von dem süßen Saft, als ob sie Beeren aus Nachtkühle äße, hörte sie Schritte unten auf dem Sande, blickte auf und sah Jason al Manachs Schattengestalt und weißes Gesicht unverkennbar um die Hausecke kommen. In der Nähe der Stufen zur Veranda blieb er stehn und sagte: „Guten Abend.“
In der Meinung, er habe sie erblickt, wollte sie gerade antworten, als sie unter sich Magdas Stimme: „Guten Abend, Jason!“ sagen hörte, und sich überneigend gewahrte sie richtig Magda, die auf der Bank dicht unter der Veranda saß. Jason ging zu ihr und setzte sich neben sie.
Eine Weile blieb alles still. — Ich habe Lust, dachte Renate, hier stehen zu bleiben und zu hören, was sie reden. Vielleicht reden sie von mir. Vielleicht reden sie von Bogner. Sicher reden sie irgend etwas Gutes. Es muß angenehm sein, hier in der Nachtkühle zu stehn und gute Dinge zu hören, die im Dunkel beredet werden.
„Nun, Jason, woran denkst du wohl?“ hörte sie Magdas Stimme.
„Woran möchtest du denn, daß ich denke?“ kam es freundlich zurück.
„Wie ich vorhin im Garten herumging, mußte ich viel an Ulrika denken. Sie kommt mir so verwandelt vor. Was mag mit ihr sein?“
Minutenlang herrschte Stille. „Ulrika Tregiorni,“ hörte Renate Jasons Stimme ganz langsam, „Ulrika Tregiorni hatte bis zum Heimkehrtage Benvenuto Bogners, des Malers, niemals nachgesonnen über das Leben, seine Gewalt und Verhängnisse, vermochte also nicht zu wissen, daß es Menschen giebt, die eines Tages aus weiter Ferne herkommen, vielleicht um in ein Haus zu treten und zu jemand zu sagen: Tue dies! und wieder fortgehn, keiner weiß wohin, und unbekümmert um Verwirrung oder Zerstörung, die sie angerichtet haben mögen und hinter sich dort zurücklassen, wo Ordnung und gelassene Zufriedenheit das Gesetz aller Tage gewesen war.“
„Wie sonderbar du sprichst, Jason!“ klang Magdas Stimme. „Als ob du eine Geschichte anfangen wolltest.“
„Sind wir nicht Alle Geschichten?“ sagte er leise und sprach weiter: „Dies wußte sie nicht. Ihre kühlen, beschränkten Mädchenaugen hatten nie mehr als den Glanz gerader und gefälliger Oberflächen erfaßt; und sie hatte es nicht anders gekannt, als daß alle Dinge, zwischen denen sie aufgewachsen war, ihr dienten und ihr weiterdienen und mit ihr gehn und sich nie verändern würden, so wie sie selber einfach und geraden Weges aus einem Kinde ein Mädchen und Weib geworden war, das den natürlichen Gang des Geschehens auch darin erblickte — — nun, Ulrika, du kannst fortfahren, auch darin erblickte ...“ Richtig, da stand ja Ulrika Tregiorni, weiß gekleidet, im Dunkel vor den Beiden. „Spracht ihr von mir?“ fragte sie. „Worin soll ich was erblicken, Jason?“ Damit wurde sie für Renate unsichtbar; sie setzte sich wohl auf die Bank, zwischen die Beiden, kam es Renate vor.
„Ich sagte,“ wurde Jason wieder hörbar, „es sei außerordentlich natürlich für dich gewesen, eines Tages zu heiraten.“
„Ach, Jason, ist heiraten natürlich oder unnatürlich vielleicht?“
„Unnatürlich, Ulrika, ganz gewiß, denn man spricht von natürlichen Kindern.“
Renate, während die unten herzhaft lachten, biß sich auf die Lippen, um nicht laut zu werden.
„Ist Bogner in der Kapelle?“ fragte Ulrika. Einer von den beiden Andern mußte wohl genickt haben, denn sie sagte gleich darauf: „Er muß morgen wieder in die Haide, ich weiß nur noch nicht, wie ichs anstelle, er sieht ja schauerlich aus. Ich werde ihm alle Pinsel in Ölfarbe stecken.“
„Du bist doch ein glücklicher Mensch, Ulrika“, sagte Jasons Stimme.
„Hünde,“ sagte Ulrika, „Hünde, hörte ich einmal ein kleines Mädchen sagen, sind doch glückliche Menschen!“
Es gab wieder ein kleines Gelächter. „Glücklich?“ kam nach einer Weile Ulrikas Stimme. „Ja, da fand ich Hölderlins Gedichte oben auf dem Tische und darin die Worte, — er sagt vom Menschen: „Daß er verstehe ...“ Wie heißt es genau, Jason?“
„Alles lerne der Mensch, sagen die Himmlischen,
Daß er, kräftig genährt, danken für alles lern’
Und verstehe die Freiheit,
Aufzubrechen, wohin er will.“
Wieder war es still unten. Ulrika sagte, ein wenig leiser als zuvor: „Wie sonderbar du das betonst: daß er verstehe die Freiheit! Ganz so sagte mirs Bogner, als ich mit ihm darüber sprach. Und ich begreife noch nicht recht, daß Freiheit etwas so Sichtliches —, wie soll ich sagen, so einfach Vorhandenes sein soll, daß auf das Verstehen das meiste ankommt. Aber es wird schon so sein.“
Jason sagte: „Die Freiheit ist das Natürliche, mein Kind, das weißt du doch auch, denn die Natur ist frei, auch du, wie du da geboren bist und mit sämtlichen Gedanken. Wenn du dich einmal unterworfen haben wirst, wirst du auch verstehen, was Freiheit ist.“
Lange Zeit herrschte Schweigen; Renate hörte den Nachtwind in den Bäumen oben, dann tiefer unten. Es rauschte, bald hier, bald dort; es kam kühler aus der Tiefe. Eine leise Frauenstimme sagte dort gedankenvoll: „Ja, so meinte er es wohl“, ohne daß Renate erraten konnte, ob die Stimme den Dichter meinte oder Bogner. Jetzt war alles still, ein kleines Gelächter Ulrikas ward hörbar, und sie sagte:
„Eben fällt mir etwas so Nettes von ihm ein.“ (‚Ihm‘ sagt sie, dachte Renate betrübt, als ob es nur den Einen gäbe.) „Als wir neulich in ein Dorf marschierten und der Maler gerade mit seinem ungeheuren Baß eine schauerliche Musik machte, kam uns ein winziges kleines Mädchen entgegen, blieb bei unserm Anblick, andachtsvoll den Finger im Munde, stehn, rannte plötzlich aus Leibeskräften auf den Maler zu, der es anguckte, und hatte ihn schon bei der Hand erwischt, was er aber, immer herrlich singend, gar nicht recht zu merken schien; er schleppte es so am Zeigefinger mit sich, es trabte eifrig, da stolpert’ es, fiel hin und erhob ein so jämmerliches Geschrei, daß er es schleunig auf die Arme nahm. Was nun kommen sollte, wußte er augenscheinlich nicht, aber das Gesicht des Kindes — es war kränklich und schmutzig mit übergroßen braunen Augen — blieb mitten im Weinen stehn, und als er sich nun mit einem beruhigenden Gemurr darüber beugte, wurde es ganz still und sah ihn an. — Ich weiß nicht, was er da gesehen haben mag, aber später zeichnete er das Gesicht des Kindes in sein Buch aus dem Gedächtnis, und es war sonderbar, während er zeichnete, hatte sein Gesicht denselben Ausdruck wie vorher, als er das Kind anblickte, so daß es ruhig wurde und ihn ernsthaft ansah. Es läßt sich nicht sagen ... Er lächelte ein wenig, und von Güte, von Beruhigung, von Väterlichkeit, von Verständnis, von all dem war etwas darin.“
Einen Augenblick, nachdem sie geendet hatte, setzte die Musik in der Kapelle wieder ein mit einem schwunghaften Angriff aller Instrumente, deren jedes deutlich zu unterscheiden war, Klavier, die Geigen zusammen und die knarrende Stimme des Cellos. Renate hörte zwar wieder Sprechen nach einer Weile, doch war nichts zu verstehn. Sie wollte schon hinunter gehn, aber die Musik brach plötzlich ab, und Ulrikas Stimme wurde hörbar. —
„Nein, nie! Davon spricht er scheinbar höchst ungern, und ich habe ihn beinah im Verdacht, daß er mit seinem Schweigen bloß seine Dummheit bemänteln will, aber ...“ Sie lachte und fuhr fort: „Ich versuche es ja immer wieder, auf den verzwicktesten Umwegen ihn dazu zu bringen, aber kaum daß ich ihn habe, wo ich will, beweist er mir einen gräßlichen Irrtum und sagt: Da denken Sie nun mal schön darüber nach!“
Renate riet noch, um welch geheimnisvolle Sache es sich wohl handeln möge, als derselbe Angriff der Musik wieder aufbrach, so daß sie nichts mehr verstand. Nun wartete sie nicht ohne Ungeduld auf das Ende des Satzes; er war nicht lang, wie sie wußte.
Endlich war es still, aber auch im Garten herrschte Schweigen. Ein wenig übergebeugt, sah Renate alle Drei unten sitzen, Ulrika in der Mitte, die Hände um das übergeschlagene rechte Knie gefaltet. Gleich darauf sagte sie:
„Aber wie ich schon sagte: Nachdem ich ihm die schwierigsten Sachen vorgeführt, Technisches und Handwerkliches, den Orgelpunkt und auch Kontrapunktisches, soviel ich davon weiß, meinte er, es bestehe nicht der geringste Zusammenhang.“ Womit denn nun? dachte Renate verzweifelt, ich muß doch hinuntergehn, — während Ulrika weitersprach: „Alle Künste, sagte er am Ende, sind so völlig voneinander getrennte Gebiete wie die fünf Sinne, wenn sie auch alle an derselben Stelle verankert sind. Und seht ihr, so macht er’s nun! Mir fiel nämlich ein, daß es ja auch fünf Künste giebt, wie fünf Sinne, und ganz geschwind setzte ich ihm auseinander, wie das sich auch entspräche, denn Gehör und Gesicht haben ihre Kunst, auch der Geschmack, sicherlich, denn die Kochkunst und ihr Genuß, wenn ihr’s euch richtig vorstellt, ist eine wahrhafte Kunst, wie das Dichten und Gedichtegenießen; für das Gefühl steht die Dichtkunst, innerlich und äußerlich, denn unsre Sprache ist doch die Vermittlerin unseres Fühlens; nur der Geruch habe keine Kunst entwickelt, sagte ich, und das entspricht nun genau der Architektur, die auch keine Kunst an sich ist, sondern im Zweck wurzelt, versteht ihr, wie ich es meine? Der Geruch ist uns ganz Mittel geblieben, während die andern Sinne sich doch über ihre Zweckmäßigkeit zu reinem Empfinden, zum Genuß des Schauens und Hörens entwickelt — ist es nicht so?“
„Was für ein kluges Mädchen du doch bist, Ulrika!“ sagte Jason.
„Das hat er auch gesagt,“ versetzte sie gleichmütig, „und dann meinte er, es wäre alles Unsinn, und nun sollte ich mal drüber nachdenken, — ich sagte ja, so macht er’s.“
„Hast du schon?“ fragte Jason.
„Was?“
„Nachgedacht?“
„Noch nicht, aber vielleicht hilfst du mir!“
„Gerne,“ sagte Jason, „aber nun fängt die Musik wieder an, und Renate versteht kein Wort mehr.“
„Renate?“ fragte nach einer Weile Ulrika verdutzt. —
Renate lehnte sich über die Brüstung.
„Jason, du schmählicher Verräter!“ sagte sie leise.
Die beiden Frauen wandten die Gesichter herauf, auch Jason langsam. „Hast du uns wahrhaftig belauscht?“ rief Ulrika.
„Wahrhaftig. Es war so schön, hier oben zu stehn und euch sprechen zu hören. Der Wind rauschte, aber die Musik war vorhin wirklich zu laut. Nun sind sie ja am Adagio, und Jason kann ruhig weitersprechen. Auf eurer Bank ist ja sowieso kein Platz mehr. Los, Jason, was wolltest du sagen?“
Ulrika flüsterte Magda etwas zu, dann flüsterte Magda, dann waren sie still, und Jason fing an.
„Was denkst du eigentlich vom Tanzen, Ulrika?“ fragte er, „ist das keine Kunst?“
Ulrika schien betroffen. „Wenn man will ...“ sagte sie endlich zögernd.
„Nun, wolle nur!“ redete Jason ihr zu, „und denke auch gleich einmal an die Mathematik. Nicht an die angewandte, die du so kennst, sondern die reine. Und Reiten, wie steht es damit? Ist es keine Kunst, mit einem Tier so zu verwachsen, daß es keinen Willen mehr hat als dessen, der es lenkt? Und bedenke, was nötig war! Es muß doch Jahrhunderte gedauert haben, bis das Pferd so weit gebracht war, und gleichzeitig wurde obendrein das ganze Pferd umgewandelt und aus einem kleinen, bösen Vieh ein großes, seelengutes Tier. Für Gefühl hast du die Dichtkunst einfach eingesetzt, aber mir scheint, die Tanzkunst entspricht dem noch viel einfacher, da sie die empfangenden Nerven an die bewegenden anschließt, innere Wollust in erleichtertes Bewegen auflöst und wieder auf die Sinne zurückwirkt, betäubt und befreit, — und was meinst du, wäre ein tieferer Zauber aller Künste als eben der, zu betäuben und zu befreien, im Wechsel auf und nieder?“
„Mit dem Reiten“, sagte Renate von oben, „scheinst du mir zu übertreiben, aber das tat nach meinem Gefühl auch Ulrika, ich konnte es bloß nicht sagen vorhin, mit ihrer Kochkunst. Nur mit der Mathematik magst du recht haben, ich weiß nur nicht ganz, wie.“
„Ich will es erklären“, sagte Jason.
Ringsum war alles still. Jason sagte: „Was, meint ihr, ist denn nun Kunst? Ja, nun müßt ihr meine Worte recht verstehn, denn nun will ich vom Allerfeinsten reden, vom Gefühl, vom Empfinden, und das ist, als ob ich Seifenblasen mit Handschuhen anfassen wollte. Aber doch scheint mir ‚Heilen‘ das beste Wort. Kunst ist Heilkunst. In Heilkunst liegt Heilkunde zuerst, nicht wahr? Und Mathematik ist Zahlenkunde, da habt ihr schon einen kleinen Zusammenhang. Und nun denkt euch einmal ein Kunstwerk, eine Dichtung oder eine marmorne Figur, wie sie dasteht, wie sie einfach ist, wie sie klar ist, so leicht zu begreifen, so unweigerlich, so sichtlich und mit den zehntausend unsichtbaren Verknüpfungen in ganz unbekannten Schächten eurer Seelen verankert, euer Dunkel erhellend im Augenblick und tiefer vertiefend, — und nehmt dagegen eure Welt, alle Verworrenheit, alle Irrtümer, alle Unkunde, alles ewig Schmerzliche, den Tod und die Wege der Liebe, Trübsinn und Weisheit, Erraten und Verfehlen, Schwinden und Funkeln, Erstehn und Verfallen, die ungeheure Gesetzlosigkeit, die unzählbaren Ahnungen, — und wieder blickt nun zurück! Da stehen mitten in dieser traurigen, zerrissenen, unbekannten Welt zwei Dinge: die Zahl — und das Werk. Beide innig verbunden durch eins: Harmonie. Gott machte die Sterne, wir aber machen schöne Werke immerhin, die uns erfreuen, die, wie sie auch sein mögen, heiter und tragisch, bitter und schwer und voll Elend geschilderten Jammers, doch den tiefen Glanz der Ordnung haben, des Selbstgewollten, des Geregelten, der Harmonie. Den Schein immerhin von etwas Absolutem, das tiefe Feuer der Notwendigkeit, denn mußte nicht Kunst kommen? Mußte sie nicht, wie eines Tages die Zahl entdeckt wurde, daß sie sei und gelte allgegenwärtig? Heilkunde trägt die Kunst; unsre immerwunde, betrübte, seelenkranke Herzenswelt heilen wir mit dem schönen Werk, ja den Tod heilen wir und heben ihn auf mit dem unvergänglichen, dem unsterblichen, dem ewigen Werk. Und Heilkunde, Heilkunst ist auch die Mathematik, weil sie nach dem Reinen strebt, weil sie Gesetze erkennt, und so ein jedes Betreiben, ein jedes irdische Geschäft, das über irgendeinen alltäglichen Zweck hinausgeht gegen das Ewige; das mehr will als Menschliches, mehr als sich selbst, das Unabhängigkeit will, eignes Wirken, Freiwilligkeit, Freude, denn am Ende ist dies doch wohl das gute, einfache Wort.“
Jason schwieg, still blieb es im Garten, in der Nacht, bis mit so erschreckender Plötzlichkeit aus der Tiefe der Büsche die Stimme des Cellos, tief und inbrünstig, einen stürmischen Seufzer aushauchte, daß alles umher zusammenzuschaudern schien. Renate fühlte im Augenblick die Erinnerung an die Stunde vor dieser, oben in ihrem Zimmer, in sich heraufschießen mit einem so unermeßlichen Schmerz um Bogner, daß sie glaubte, es nicht ertragen zu können. Aber der Schmerz ebbte langsam und schwand später. Renate fühlte ihr Haar wehn auf der Stirn, kühle Atemzüge strichen über ihre Wange, ihre Stirn, den Hals, es rauschte allenthalben in der Nacht, es bewegte sich, Ulrika stand groß und weiß unten, die Hände im Nacken gefaltet, das Antlitz emporgerichtet. Die andern Instrumente hatten den Seufzer längst mit Beruhigung und Verschleierung in ihre sanftere Gemeinschaft zurückgezogen, gleich darauf verstummten sie nacheinander, der Garten lag schweigend.
Hinter Renate im Saal flammte das Licht auf, nach Augenblicken wurde Esther sichtbar, hinter ihr Georg, aber sie sahen Beide Renate nicht. Esther lief die Stufen hinunter, Georg folgte langsamer quer über den Rasen. So verließ Renate ihren Platz, schritt die Stufen abwärts, fand unten aber nur noch Magda, die ihr entgegensah. Jason war verschwunden. Ulrikas Gestalt entfernte sich zwischen dem Buschwerk nach der Kapelle hin. Renate, in unbestimmte Gefühle verloren, hörte Magda fragen, ob Obst im Zimmer stünde, nickte nur freundlich und ging weiter.
In der Kapelle herrschte Vergnügtheit. Esther stand da, drehte sich, als sie Renate hörte, zu ihr, rief „Fertig!“ und schwenkte einen herrlich glitzernden Kissenbezug. Ganz rechts in der Ecke hockte der Maler vor seinem Wandstück und rauchte. Über den Pulten und am Klavier, wo Benno glücklich saß, brannten rötlich die vielen Kerzen, Ulrika und Irene haschten nach Esthers Kissen. Ja, und der Prinz und Saint-Georges und Sigurd waren ja auch da. Gleich darauf erschien Magda mit den beiden Schalen voll Obst, und alles stürzte sich auf sie. Renate sah Ulrika eine Handvoll roter Himbeeren greifen und damit hinter den Maler schleichen. Über seinem Kopf hob sie die Hand empor und ließ die Beeren fallen; eine blieb in seinem Haar hängen, er faßte, völlig geistesabwesend das Gesicht herumdrehend, mit einer Hand danach und zerquetschte sie grausam. Was er zwischen den Fingern behielt, betrachtete er nachdenklich, bis Ulrika kam und ihm unter vielen Entschuldigungen mit ihrem Taschentuch die Finger putzte.
Erst als Esthers Kissen ihr an den Kopf flog, endete Renates Verwirrung.
Georg dachte: Sommer, o Sommer! Wie das alles hängt! Die heiße Luft in den grünen Wipfeln, in diesen schwer schlagenden Massen, und herein hängen die Wolken, weiße Ungeheuer, und das Blau hängt herein in all die glühende Enge. Wie glüht der graue Stein am Haus! Oben, die kleinen Barockfiguren auf dem Dach sehn aus, als wollten sie schmelzen in der blauen Glut, und sie schmachten nach dem eiskalten Schnee der Wolken, die über ihnen hinsegeln, — arme, kleine Tantalusse! O Sommer, o Sommer, o — — Sommer — — Som— —
Georgs Verstand blieb hier stehn. Durch seinen Traum gingen leichte Schritte, Schritte im Gras, Schritte aus Sonnenschein, aus Baumschatten, und etwas sah ihn an, Wesenloses, dann war’s weg, und in Meilenferne brüllten langgezogen die Helenenruher Kühe. Dann sprengte ein Schimmel über den Deich herauf, wiehernd und stampfend, Georg bestieg ihn und flog mit ihm davon, wunderbar leicht, nicht mehr als ein paar Fuß hoch über der Erde, und es wiegte wie ein Karussellpferd, es ging den Deich hinunter und über das Wasser, in dem eine kleine Insel schwamm, auf der sein Vater, Onkel Salomon und Professor Prager Skat spielten in Hemdärmeln, und Georg sah seinem Vater über die Schulter; der aber hatte keine Karten in der Hand, sondern lauter Photographien von Georgs Korpsbrüdern, sagte aber ganz richtig Solo an und spielte aus. Es war aber gar nicht Georgs Vater, sondern der Wachtmeister aus Wallensteins Lager, und sang in einem fort: Und ist die Nase noch so groß, das macht nichts für das Kinn! Esther aber saß derweil still zu seinen Füßen, war zehn Jahre alt und stickte ungeheure kupferrote und lavendelblaue Blumen auf einen eisengrauen Vorhang, vor dem sie saß, und —
Wo bin ich denn? dachte Georg, sich aufrichtend. Bin ich denn nicht in Helenenruh? Nein, da steht ja das Montfortsche Haus in der Sonne, heiß und grau, und hier ...
Im Grase sitzend, sah er neben seiner linken Seite das Postament der Sonnenuhr. Auf den Stufen zur Veranda vor ihm hüpften die Spatzen. Drinnen war es dunkel und schattig; die weiß und grün gestreiften Leinenvorhänge bauschten sich leicht gegen die Pfeiler und Glyzinienreben. Georg besann sich, daß er aus der Universität fortgelaufen und hergefahren war, nachdem er Esther nicht im Schlößchen gefunden hatte, aber hier ... Er rutschte etwas vorwärts und beugte sich vor, um an der Sonnenuhr vorüber zu sehn, und richtig, da saß, als hätte sie immer da gesessen, die Chinesin im Schatten des weiß und grün gestreiften großen Leinenschirms und arbeitete an etwas Winzigem in ihrem Schoß.
Ach, wie kühl sah sie aus! Weißgelblich war ihr Kleid und ihr Gesicht wie Marmor in dem grünlichen Licht. Aber als er kam, hatte doch nur ihr Stuhl dagestanden und Nähsachen auf dem Sockel der Uhr? — Esther sah auf, schien ihn aber nicht zu sehn, griff über sich auf die Platte der Uhr, nahm ein dickes Buch herunter, schlug’s auf und blickte längere Zeit hinein. Dann legte sie’s vor ihre Füße ins Gras, und flugs machte sich ein kleiner Sommerwind damit zu schaffen wie ein Meerschweinchen, drehte sich darin herum und schlug die Blätter hin und her, als ob was darunter zu finden wäre. Georg aber fand auf einmal Esthers dunkle Augen auf sich gerichtet, und sie lächelte paradiesisch.
„Habe ich geschlafen?“ sagte Georg. „Wo waren Sie denn? Warum sind Sie nicht in unserm Park?“
Esther sagte, sie hätte Brehms Tierleben gebraucht, und Renate hatte ihr gesagt, daß es in der Bibliothek ihres Onkels sei. — Georg rutschte noch etwas weiter nach vorn.
„Eben träumte mir,“ sagte er, „ich wäre in Helenenruh und ritte auf dem alten Trompeterschimmel von Magdas Vater, immer einen halben Meter über der Erde, o, es war wunderbar, und Sie saßen — wo saßen Sie doch? Ich weiß nicht mehr, aber sie stickten feurige Lilien ins Montfortsche Haus. — Vulnerant omnia —“ las er vom Sockel der Uhr ab.
„Was murmeln Sie da?“ fragte Esther.
Georg legte sich lang auf den Rücken und gähnte: „Vulnerant omnia, ultima necat sagte ich. Was auf der Sonnenuhr steht.“
Esther antwortete nicht. Es zwitscherte überall, es rauschte leise. Oben schoben sich die Wolken, lautlos, riesig, unaufhörlich.
„Helenenruh,“ sagte Georg, „da müssen wir einmal hinreisen.“
„Ist es so schön?“
„Helenenruh ist der ewige Sommer. Immer ist Sommer in Helenenruh und Ferien. Weiß der liebe Himmel, wann die Menschen da arbeiten. Es wird nur auf Schimmeln geritten. Gott, was rede ich für’n Unsinn.“ Ihm fiel Unkas ein, der See und Jason al Manach, — welch ein Tag, welch ein sonderbarer Tag! — Ach, heute war ihm wohl, endlich, endlich einmal wohl ...
„Helenenruh — — wissen Sie, wie das ist?“ sagte Georg. „Das ist bloß Wiese. Wiese nach allen Himmelsrichtungen, und da liegt man und brennt in der Sonne. Mit vier Jahren habe ich da gebrannt, mit fünfen, mit sieben, und immer so weiter. Die Grillen zirpen, weit weg brüllt eine Kuh, und manchmal kann man das Meer hören. Blau ist die Luft, man kann sie aus Tassen trinken. Oh, Helenenruh ist schön, Helenenruh ist ein Inbegriff.“
Esther sagte nichts. Georg richtete sich wieder auf, rote Flecken schwammen vor seinen Augen, die tränten. „Vulnerant omnia —“ las er wieder. „Wissen Sie was von Jason?“
„Ja, was ist das eigentlich für ein Mensch?“ fragte Esther, ohne von ihrer Arbeit aufzusehn. Sie hatte einen kleinen Pappdeckel im Schoß und stocherte mit einer Nadel drin herum.
„Was machen Sie denn da eigentlich?“ fragte er. „Sind das Perlen?“
„Richtig,“ sagte sie, „und er geht eigentlich immer nur herum und sagt gar nichts. Und — wissen Sie — einmal, nein, schon mehrmals, wenn ich so seine stillen Augen ansah, kam mir’s vor, als ob er wirklich alles wüßte, auch von mir, wenn er mich ansieht, und sogar, was einmal aus mir werden wird, aus mir und uns Allen.“
„Das ist ja unheimlich,“ sagte Georg, „nun, wenn ich einmal nicht weiter weiß, werde ich ihn fragen.“ Er stützte sich auf die Hände und sprang auf. „Jetzt will ich aber sehn, was Sie machen. Schmetterlinge?“ fragte er, eine Abbildung in dem offnen Buch erblickend.
Sie hielt ihm hin, was sie in der Hand hatte, einen fingerbreiten Streif aus lichtgrünen Perlen, aus dessen einer Breitseite ein halber Falterflügel herauswuchs, dunkelrot von Perlen mit hellgelbem Auge. — Esther erklärte:
„Dies wird ein schmaler Streifen, lichtgrüner Grund und lauter ganz bunte Schmetterlinge, so schräg hin und her nebeneinander, als ob sie flögen. Die Farben kann ich wohl selbst erfinden, aber die Formen nehm ich aus dem Buche.“
„Und wenn’s fertig ist?“
„Kommt’s um eine Lampe mit einer flachen grünen Kuppel.“
„Wie die auf meinem Schreibtisch?“
Esther lachte. „Sagen Sie mir nun, wie die Inschrift auf deutsch heißt!“
Georg stierte gegen die Inschrift. Er reckte sich, stöhnte, knickte zusammen und fühlte sich wunderbar sommerschlaff.
„Alle verwunden, heißt es, die letzte tötet. Es sind die Stunden gemeint.“ Ja, — ultima necat. Sollte das wahr sein? Gott sei gelobt, für die erste Hälfte stimmte es im Augenblick nicht. Danach kroch er vor Esthers Füße und legte sich zufrieden nieder. Durch halbgeschlossene Augen sah er den Saum ihres Kleides und die Spitzen leise in Wellen gehn, sah die weiße Haut durch den dünnen Strumpf schimmern und die kleinen Eindrücke um die Spitze des bronzenen Schuhs. Dies nicht zu küssen, ist schwer, dachte Georg.
Indem bemerkte er das kostbare gelbe Haupt einer Nelke an Esthers Kleidausschnitt und fragte eifersüchtig: „Esther, woher kommt die Blume?“
„Von Sigurd“, sagte sie gleichmütig.
„Das“, schrie Georg, „ist zum Tollwerden! Er hat mir vor drei Tagen, als ich mit Blumen zu Renate kam, den längsten sozial-ethischen Vortrag gehalten, was für ästhetische Albernheiten das wären!“
Esther zuckte die Achseln „Gott, Georg, Sie kennen doch Sigurd.“
„Jawohl kenne ich ihn!“ tobte Georg, „und wenn ich ihn jetzt darauf festnagelte, so würde er entweder schlank leugnen, oder er würde lächeln wie ein Waisenknabe und sagen: Ja, da habe ich wohl gelogen ...“
Esther nickte strahlend. „Ich liebe ihn,“ sagte sie, „er ist entzückend.“
„Merkwürdig ist er jedenfalls. In allen geistigen Dingen zuverlässig wie — Ajax, aber im Persönlichen wie eine berauschte Wetterfahne.“
„Er ist doch so reich, Georg!“ verteidigte Esther, „können Sie das nicht verstehn? Sehen Sie doch: er war immer Zionist; jetzt kam einer und zeigte ihm, wie kostbar, wie einzig gerade die nicht nationale, die kosmopolitische Seite des Judentums wäre, und —“
„Wetterwendisch und vaterländisch, wie er ist —“
„Und feurig, wie er ist, sah er nur das Große, Seltene, Tiefe drin und entbrannte dafür.“
Es ist ja schrecklich, dachte Georg, wie sie ihn liebt! — Er schwieg gekränkt.
„Und weiter, Georg. Kommen Sie ihm heute mit Psychoanalyse, so glaubt er sich dafür geboren, und morgen mit Chirurgie, so will er Chirurg werden. Haben Sie gesehn, wie er zeichnen kann? Bogner war sogar erstaunt, und —“
„Nun will er Maler werden?“
„Glauben Sie nicht, daß er’s sein könnte? Und wie spielt er Cello! — Ach, Georg,“ sagte sie plötzlich mit einer Wehmut, „glauben Sie, es ist schwer, so zu sein. Da hat er Stunden, daß man meint, die Sonne säße ihm in der Brust, und er könnte, und er möchte die ganze Welt hell machen. Ja, und dann liest er vielleicht über — über dementia, und denkt an seine Mutter und sagt, er wird wahnsinnig. Georg, man kann nicht lachen dabei, denn Sie kennen seine Bestimmtheit, und man sieht, wie er’s in sich frißt.“
„Aber Esther, Estherchen!“ Georg benutzte die Möglichkeit, ihr die Hand auf den Kopf zu legen, „es hält doch nichts vor bei ihm, es ist ja — alles nur Jugend, nicht wahr?“
„Aber kann so einer je alt werden? Stellen Sie sich vor!“
Georg tröstete mit Bestimmtheit, Sigurd würde sich ändern und ein Greis werden. Sie seufzte und wandte sich wieder zu ihren Perlen. Georg lagerte sich geschmackvoll zu ihren Füßen, tröstete sich selber mit dem Anblick seiner schön abgestimmten Kleidung, nämlich zur Flanellhose pfirsichgrüne Socken, gleichfarbiges Hemde und etwas dunkler getönter Schlips, ließ dessen kühle Seide durch die Finger gleiten und dachte nach, worüber er ablenkend reden könne.
„Wissen Sie, Esther,“ fing er träge zu sprechen an, „es ist ärgerlich mit den Träumen. Vor ein paar Monaten, da hat Renates Vetter Josef — Sie kennen ihn nicht? — mir so erstaunliche Dinge vom Träumen erzählt, daß ich alle Bücher darüber gewälzt habe. Sie haben sie wohl gelesen?“ Esther nickte und sagte: „Freud.“ — „Natürlich! Und nun — sehen Sie, was kommt heraus, nicht wahr? Gar nichts am Ende — abgesehen von dem Wert fürs Heilverfahren, der ja unschätzbar sein mag —, gar nichts, als daß der Zustand des Träumens ein fortgesetztes Wachen ist, bloß daß unsere logischen Verknüpfungen fehlen. Manchmal, so nach Tische, wenn ich nicht geschlafen, sondern nur so gedämmert habe, nicht wahr, — konnte ich genau beobachten, wie meine Vorstellungen allmählich in Bilder übergingen, traumhaft leibhaftig wurden, nicht wahr, wie die Zeitrechnung verschwand und — auf einmal alles ein Wirrwarr war und solche Albernheit, wie ich da eben geträumt habe, — nun weiß ichs nicht mehr ...“
„Ein Schimmel“, half Esther.
„Ja, gleichviel, und mein Vater war Wachtmeister und spielte Karten. Und das, sehen Sie, ist, was mich ärgert. Diese — Unfruchtbarkeit. Anstatt daß gerade unsere Verworrenheit, die im wachen Leben doch groß genug ist, — anstatt daß die sich auflöste, Klarheit, Ordnung, Erfahrung — nicht wahr — entstünde, — anstatt dessen die völlige Sinnlosigkeit, hinterdrein Vergessen, und das Ganze ist abgelaufen wie Wasser vom Stein. Es kann mich ganz unwirsch machen, wenn ich denke, was da vergeudet wird!“
„Aber nun giebts doch die Traumdeutung, Georg.“
„Ach, das ist ja viel zu umständlich! Und was kommt auch mehr dabei heraus, als was ich aus meinem wachen Zustand ebenso gut, vielleicht besser erfahren könnte, wenn ich mich nur gehörig beobachten würde. Eben das ist’s! Alles denken und Alles fühlen, unaufhörlich, nicht wahr, an diesen zehntausend Fäden unsers verworrenen Daseins hängen, — und dann noch beobachten, raten und knacken — das ist zuviel. Und wie wäre es da nicht einfach und schön und heilsam, wenn der Schlaf, der die Glieder und Sinne so liebevoll löst —“ Georg war träumerisch stolz, so gut sprechen zu können — „wenn er auch die Seele und das Schicksal nur ein wenig befreite, und wir kämen klarer hervor, als wir hineingingen.“
„Jason,“ sagte er nach einer Weile, da Esther schwieg, gedankenvoll, „Jason kann es vielleicht. Irgendeine Medizin muß er haben. Jason“, schloß er bescheiden, „ist ein guter Mensch. So sollten wir Alle sein.“
„Haben Sie,“ fragte Esther nach einer Weile, „haben Sie eigentlich auch dies merkwürdige Gefühl, wenn er fortgegangen ist, — als ob er überhaupt verschwunden wäre?“
„Gar nicht mehr vorhanden?“ fragte Georg. „Freilich, wenn ich mir ihn jetzt vorstellen soll, bringe ich es nur fertig, indem ich ihn mir irgendwo bei andern Leuten denke. Können Sie sich denken, daß er irgendwo allein ist, zu Hause bei sich, allein in einem Zimmer, lesend? oder schreibend? Oder wie er sich wäscht? Oder wie er im Bett liegt und schläft? Ich glaube, Esther,“ sagte er, sich überbeugend, ganz leise neben ihrem Ohr, „er ist ein Geist. Er braucht nicht zu essen und zu schlafen und sich zu waschen, er ist immer so, wie er uns erscheint, und nur in unsrer Gegenwart ist er wirklich. Sonst unsichtbar, ein Geist, nimmt er Gestalt an, wenn er zu uns tritt, es ist schauerlich, finden Sie nicht?“
Esther hatte zuhörend ihr Gesicht langsam zu ihm nach oben gedreht. Sie sahen sich in die Augen, und Georg dachte angstvoll: Erwartet sie jetzt, daß ich sie küsse? Oder macht das unsre Haltung bloß zufällig? Nein, sie erwartete es scheinbar nicht, denn sie sagte ganz nachdenklich:
„Es giebt soviel Seltsames. Da Sie von Träumen sprachen ... Hören Sie einmal zu.“
Georg setzte sich wieder vor ihre Füße, nahm eine Zigarette hervor und rauchte. Esther begann, ein wenig stockend und unbehülflich:
„Es hat aber eine Vorgeschichte. Ich kannte längere Zeit einen jungen Menschen, der war lungenkrank. Er liebte mich sehr. Um Weihnachten zogen seine Eltern von hier fort. Er schrieb mir öfters, ich hab ihm aber nie geantwortet, er verlangte das auch nicht. Lange Zeit kam kein Brief, und ich dachte niemals an ihn. Nun, — in der Nacht von Oster— Gründonnerstag nennen Sie’s, nicht wahr? — auf Karfreitag — übrigens war er Christ — träumte ich, — ja, wie soll ich das beschreiben? — Es war ein Kreuz, und daran ein Gesicht mit sterbenden Augen. Ich wußte, es war ein Sterbender, er schien mir auch bekannt, als ich aufwachte, aber ich konnte mich nicht besinnen. Ich war aber ganz verstört von dem Traum, Sigurd merkte es mir noch an, als ich zum Frühstück kam, und ich erzählte ihm, was mir geträumt hatte. Dann erfuhr ich eine Woche später durch Bekannte, der junge Mensch, der lungenkranke, sei gestorben, und da wußt ich im Augenblick, daß ich ihn im Traum gesehen hatte. Nun schrieb ich an seine Schwester, die ich kannte, sie möchte mir sagen, wann er gestorben sei, und sie schrieb —, aber ich muß erst sagen, daß sie etwas sonderlich war, altjüngferlich und pathetisch — und so war auch ihr Brief, nur drei Zeilen, ohne Anrede: Er starb in der Nacht von Gründonnerstag auf Karfreitag um ein Uhr morgens mit Ihrem Namen auf den Lippen.“
Esther schwieg. „Wie sonderbar!“ sagte Georg nach einer Weile halblaut. Er dachte noch nach, als er auf einmal Bogner bei der Sonnenuhr stehn sah, in seinem Malkittel, mit wüstem Haar, rotem Gesicht und verschwimmenden Augen. So starrte er auf das Zifferblatt der Uhr.
„Grüß Gott, Maler!“ rief Georg, „wollen Sie wissen, was die Uhr ist?“
Bogner sah ihn zerstreut und unwirsch an. „Ich wollte was,“ — sagte er, „aber nun hab ichs — vergessen. Ich wollte ins Haus und — — ah Streichhölzer!“ sagte er erleichtert. — „Ich hatte mir eine Pfeife —“ Er sah verwundert seine leeren Hände an, suchte in allen Taschen. „Nun habe ich die Pfeife liegen lassen!“ schrie er grimmig, machte kehrt und lief davon. Georg rief ihm nach, er sollte doch warten und sein Feuerzeug mitnehmen, aber er hörte nicht.
Georg wartete noch eine Weile, ehe er zu sprechen anfing, aber der Maler kam nicht wieder. „Nun hat er das Rauchen vergessen,“ sagte Georg, „der arme Kerl! Warten Sie einen Augenblick!“ stand auf und ging in die Kapelle. Ja, da saß er und hatte eine kalte Pfeife im Mund, malte aber tüchtig an etwas Schwefelgelbem. Georg entzündete ein Streichholz und hielt es auf den Tabak. Der Maler merkte, daß es brannte, sog kräftig, sah verworren auf und murmelte: „Danke! danke!“ Georg gab ihm den Rat, zu heiraten, aber er hörte nicht darauf, und Georg ging zu Esther zurück.
Die Arme auf der Sonnenuhr, den Zeiger in Händen, sagte er:
„Wissen Sie auch, Esther, was an Ihrem Traum das Seltsamste ist? Viel seltsamer als der Traum selbst?“ Sie hielt inne mit Arbeiten und sah ins Gras zu ihren Füßen. Er sagte: „Da war doch ein Sterbender, Esther, nicht wahr, einer, der Sie liebte, ein immer Kranker, der seine ganze, trostlose Liebe zu Ihnen in einen ungeheuren Augenblick zusammenpreßte und angesichts des Todes die Geliebte dachte! dachte, und es gelang, nicht wahr, und einen Augenblick zwischen Tod und Leben schwebte seine glühende Seele, einen Augenblick lang vollbrachte sie dies Riesenhafte, daß sie sich über die Natur erhob und eindrang in ein fremdes Dasein. Freilich war es wehrlos in dem Augenblick, es schlief, und vielleicht gelang es ihr nur deshalb, daß sie eindrang und Traum ward in Ihnen. Sie aber, Esther, Sie, der diese gewaltige Anstrengung galt, diese furchtbare Liebe zuströmte, — Sie hatten davon nichts als den leisesten Schauder. Furchtbar, wissen Sie, furchtbar finde ich diese Einrichtung. Liebe gilt nichts, so gewaltig sie sich ereifert; gilt nichts, gilt nichts, denn Sie schliefen, und ein dünnes Traumbild wurde aus der Verzweiflung. Ja, so können wir uns bemühn mit heißester Glut, wir können Blut und Tränen vergießen, alle Ängste um etwas leiden, unser ganzes Dasein zum Opfer bringen: all das, alle Anspannung, alles Säen nützt nichts, wenn keine Erwiderung da ist, keine Willigkeit im Boden. Liebe allein gilt nicht, nur Doppelliebe. Und — ja, was gilt nun hier der Traum, den Sie davon hatten!“
Georg nahm sein Taschentuch heraus und trocknete sich die Stirn. Es regnete Glut über ihn, und er sah betroffen, als wär es das erstemal, daß der schräge Weiser vor ihm einen Schattenstreifen über das abgeschliffne Erz zog. Esther saß still da, bewegte einmal die Lippen, zog die untre ein wenig in den Mund, sagte aber nichts.
Es war Mittag, der Vogellärm schwieg. Vor Georgs Augen lag der geheimnisvolle Schatten des Sonnenzeigers, der in unendlicher Wandrung um seine Wurzel unzählbare Stunden anzeigte, spurlos auf der metallenen Fläche von Ewigkeit. Aber es bewegte sich etwas über Georg, irgend etwas wurde in seinem Augenfelde sichtbar, und über den Verandastufen stand Renate, schön wie Elysium, winkte mit ihrem Lächeln, und Georgs doppelt ergriffenes Herz riß in zwei Stücke mit lautem Stöhnen.
Renate, an einem Abend im späten September ihr Gedächtnisbuch schließend, in das sie eine Eintragung gemacht hatte, hörte jemand an die Tür klopfen; sie antwortete nicht, in dem Glauben, es sei ihre Zofe, welche die Eigenart hatte, ihr Eintreten durch ein leises Pochen anzumelden, legte das Buch in eine Schieblade, schloß zu und erhob sich. Indem klopfte es wiederum, sie ging zur Tür, öffnete und sah ihren Onkel draußen stehn, gebückt und wartend.
„Oh du bists,“ sagte sie erschreckt, „aber bitte, komm doch herein.“
Etwas übermannte sie so, daß sie an das Fenster treten mußte und hinaussehn; freilich sah sie nichts in der Nacht.
Oh so war er nun! Stand geduldig draußen und wartete, und so ging er ja immer im Hause herum, als ob er nur geduldet würde und jedes Recht verloren hätte. Tränen zurückdrängend wandte sie sich und sah ihn im Zimmer stehn, das rötliche Gesicht ein wenig schief haltend; die Ellbogen angezogen, rieb er die Knöchel der Linken mit der rechten Hand. Wie waren seine Schläfen doch eingefallen und grau geworden. Das Lampenlicht funkelte in den stark geschliffenen Gläsern des goldenen Kneifers, hinter dem die hellen Augen kaum zu sehn waren. Schnell trat sie auf ihn zu und legte den Arm um seine Schulter. Er sah flüchtig zu ihr auf, sagte leise, wie schön sie es hier hätte, das freute ihn, ja, es sei doch alles in der Ordnung. — Sie führte ihn zum Sofa, aber er setzte sich auf einen Stuhl, wobei er plötzlich mit beiden Händen eine geschwinde Bewegung nach den Schläfen machte, ohne sie zu berühren, worauf er nach seinem Halskragen tastete und am Schlips schob, eine erschreckend hülflose Gebärde, die Renate wohl kannte. Er machte sie, ohne es zu wissen, manchmal auch wenn er die Zeitung las, am Abend, und Renate von fern nach ihm sah in Besorgnis, da es schien, als habe er das Zeitungsblatt nur vor sich, ohne es zu sehn. Da stand sie wieder auf, trat zu ihm, faßte seinen Kopf, lehnte ihn zart gegen ihren Leib und streichelte leise seine Wange. Er nahm den Kneifer ab, sah zärtlich und dankbar auf.
„Wolltest du mir etwas sagen?“ fragte sie. Er nickte, ergriff ihre linke Hand, drückte sie und schob sie von sich. Da setzte sie sich in die Sofaecke. Er sagte nichts, setzte den Kneifer wieder auf und sah nach den Bildern umher, die Lippen bewegend und ein-, zweimal nickend. Endlich nahm er den Kneifer wieder ab, legte ihn auf den Tisch, senkte den Kopf und sagte, den Kneifer in den Fingern drehend:
„Ich möchte mich nun doch zurückziehn, weißt du, aus dem Geschäft. Ich habe ja“, sprach er eilig weiter, „seit — seit dem Tag damals die technischen Angelegenheiten fast ganz Erasmus überlassen, der es ja auch alles unübertrefflich besorgt, viel besser als ich, großzügiger, und die Gesellschaft steht ja prachtvoll. Dafür habe ich mich mehr mit unsern Wohlfahrtseinrichtungen beschäftigt, an die ich früher viel zu wenig gedacht habe, und die, ich kann wohl sagen, jetzt gleichfalls in einem recht guten Stande sind, so daß ich —, jedenfalls —“ er stockte.
Lange Zeit drehte er an den dünnen Enden des weißrötlichen Schnurrbarts und schien sich anstrengend zu besinnen. Das vorher fleischige, feste Gesicht war schrecklich locker geworden, das Haar weit zurückgetreten über der breiten, runden Stirn, locker auch das geringfügige Kinn. Renate beugte sich vor, legte die Hand über seine auf dem Tisch und bat: „Wir reisen, Onkel, nicht wahr? Diesmal giebst du nach! Nach Italien oder Spanien, gelt? Hast du mir nicht lange schon den Prado versprochen?“
Er sah sie unsicher an. „Versprochen, — so? Ja, ich glaube, — freilich! aber —“ Er zog die Hand weg, schob beide ineinander, rieb sie verlegen und brachte endlich hervor, er wollte allein reisen.
Renate fröstelte seltsam. Was war nur mit seinem Gesicht? War es nicht eine Maske, hinter der es dämmerte wie — wie das Skelett des Kopfes? Als sollte Haut und Fleisch auf einmal abfallen und — Sie schüttelte den Gedanken ab und begann leise zu widersprechen, alles mögliche zu reden, was sie selber kaum vernahm; er ließ das sanftmütig über sich ergehn, er hatte sich wohl so in seine Bescheidenheitsrolle gewöhnt, daß er nicht zu widersprechen wagte, und machte schon dieser Gedanke sie verstummen, so bewirkte das obendrein die Bewegung nach den Schläfen, die jetzt wieder kam. — Die Arme an den Leib gepreßt, faltete sie die Hände mit heftigem Druck und hielt den Atem an vor plötzlicher Angst.
Ja, nun war es zu spät! Nun war es wahrscheinlich zu spät. Warum hatte sie sich so wenig um ihn bekümmert, ihn nicht zu stören gewagt, wenn sie ihn lesend fand, sich immer beruhigt, wenn sie es doch einmal versuchte und er bescheiden und verlegen abwehrte. Nie hatte sie erfahren, was in ihm vorging, nun hatte sich wohl alles angesammelt und brach seines Weges auf, und sie saß dabei.
„Ich reise in einer großen Unruhe fort,“ hörte sie ihn nun reden, „ja, in einer großen Unruhe, mein Kind, oder ich kann fast sagen, es ist Angst, es ist etwas furchtbar Bedrückendes, Abscheuliches —“ er suchte nach seinem Tuch in den Taschen — „nein, nein, bleib sitzen, mein Kind, ich befehle dir, — das heißt, das muß jetzt alles ausgesprochen werden, ich habe soviel gegrübelt und gedacht die ganze Zeit, daß ich schon nicht mehr weiß, ob das, was ich sagen wollte, will, nicht vielleicht ganz unsinnige Gedanken sind, die mir nun“ — er suchte lange nach einem Wort — „erwägungswert scheinen. Ja, es betrifft meinen Sohn Erasmus.“
Er hielt inne und atmete auf. Nach einer Weile sagte er geistesabwesend, an sich selbst gewendet, seufzend: „Er ist ein harter Mensch, mein Sohn Erasmus.“ Plötzlich drehte er sich nach ihr herum, versuchte, sie anzusehn, senkte die Augen und fragte: „Du — wie ist es, ich meine —, du könntest ihn nicht heiraten?“ Wieder flogen seine Hände zu den Schleifen und endeten hülflos in der Luft.
Renate fand lange kein Wort. Dann hörte sie auch schon wieder seine Stimme aus der Ferne in ihre wirren Gedanken, sie solle ihm nicht antworten, es habe ja Zeit, vielleicht später, und anderes mehr, das sie nicht verstand. Sie fühlte nur nach einer Weile, daß sie ihn vergessen hatte über sich selber, weckte sich auf und sah ihn dasitzen, tief im Schatten des Zimmers, nach der gelben Schirmlampe auf dem Schreibtisch blickend.
Er sagte: „Du entsinnst dich Ruths — Josefs Mutter? Ach Gott, verzeih nur, du warst ja damals noch gar nicht geboren. Ja,“ fuhr er in tiefer Verlegenheit fort, „ich habe leider kein Bild von ihr, ich habe sie damals alle verbrannt, und übrigens, was ich sagen wollte ...“ Er hielt inne, fragte dann plötzlich ganz lauernd: „Denkst du viel an Josef?“ Renate verneinte einfach, und er seufzte auf.
„Damit du mich verstehst,“ begann er jetzt beruhigter, „ja, ich möchte wohl, daß du mich ein wenig verstehst, und möchte dir deshalb etwas von mir sagen. Sieh mal, zwischen deinem Vater und mir war ein sehr großer Unterschied. Kinder wurden ja zu meiner Zeit noch anders erzogen als heute, strenger und mehr in Furcht vor ihren Eltern, oder wenigstens ihrem Vater, und du weißt vielleicht, ein wie strenger und — ja, trockner, einsamer Mensch mein Vater war. Da er mich früh von der Schule nahm und ins Geschäft steckte, so blieb ich immer in seiner Zucht.
„Von meiner Jugendzeit ist sehr wenig zu sagen. Ich tat eigentlich nur nichtsnutzige Dinge, war wohl ganz fleißig, führte ein geselliges Leben, ja, na, — damit brauche ich dich nicht aufzuhalten. Eines Tages ließ ich mich dann auch verheiraten. Mein Vater beschloß es und führte es aus. Von meiner ersten Frau hast du wohl ein Bild gesehn? Schön war sie ja nicht, aber doch ganz anmutig, ein wenig dürftig, ja, das war sie, aber meinem Vater genügte ja der Reichtum und der gute Name. Ich willigte wohl um so leichter ein, als ich hoffte, dadurch selbständiger zu werden. Damals war es ja so, daß eine Heirat den jungen Menschen plötzlich veränderte in den Augen der Umwelt; vorher war er Kind, und nun wurde er gewissermaßen Vater und damit selbständig.“ Er lächelte, und Renate war ganz glücklich, doch einen Hauch seines Geistes wieder wahrzunehmen.
„Ich veränderte mich auch; ich versuchte erst, mich mit unsern technischen Betrieben besser zu beschäftigen, aber — abgesehn davon, daß mein Vater meine Bemühungen mit Kühle abwies — konnte ich auch für dies Verfahren, das damals gerade aufkam, die Benutzung der Photographie zur Vervielfältigung von Bildern, — bis dahin gabs nur die Heliogravüre, ein Wort, das du vielleicht schon gar nicht mehr kennst, also, was wollte ich sagen? Ja, ich hatte meinen Umgang meist unter Künstlern, Landschaftern, die damals zuerst von unsrer Haide verlockt wurden, und ihnen, und mir deshalb auch, entsprach diese Popularisierung von Kunst — aber was rede ich davon? Jedenfalls, ich zog mich zurück, ich gewann auch meine Frau sehr lieb, wir zogen damals in dies Haus, das ich nun so schön gestaltete, wie ich nur konnte, aber dann kam schon diese — ja, diese Entfremdung.“
Renate, ein kleines, mattes Aquarell der lange Verstorbenen vor Augen, geriet, ihr selber unerklärlich, in um so kältere Erregung, je geordneter und sicherer, auch eiliger ihr Onkel sprach. Mit Anspannung hörte sie weiter:
„Es muß wohl eine, — ja, ich weiß nicht, welche Störung in ihr diese Entfremdung bewirkte, die im Augenblick von Erasmus’ Geburt begann. Kaum, daß sie mich das Kind sehen ließ. Sie richtete sich ein Schlafzimmer allein ein, und dahinter lag das Kinderzimmer, das ich nur durch das ihre betreten konnte. Und so weiter ... In so einer Art Trotz verkapselte ich mich nun selber, fing an zu sammeln damals, auch den Rosengarten legte ich an, — nun, für meinen Charakter war das alles ja sehr gut; ich fing an, Bücher zu lesen, die Philosophen, glaubte schöne und reiche Quellen in mir zu entdecken, und wurde recht eigentlich damals erst der, den du kennst. Ja, und plötzlich war sie dann tot. Von jenen Jahren weiß ich sehr wenig. Und nun war dieser verschlossene, rätselhafte Junge da, der alles tat, was man ihm sagte, der nie etwas gab, keine Widerrede, keine Bitte und keinen Dank, der nie eine Miene verzog, so — das dachte ich damals — so als ob ihm im Verborgenen von seiner Mutter ein böser Geist eingeflößt, — nein, nicht böse, was sage ich denn! nur diese Verstocktheit, dies furchtbar einsame Wesen. Ich ließ ihn gehn, — ja — ich — ließ — ihn — —“
Er hielt inne und schien sich zu verlieren; sein Kinn fiel ab, er starrte vor sich hin. Aber er ermannte sich, richtete sich grade, atmete und sprach weiter.
„Als ich Ruth zuerst sah, war ich zwanzig Jahr. Du weißt, daß sie von der Mutter her Jüdin war, und auch, daß sie schön war, fast so schön wie du, ja, ja.“ Er lächelte vor sich hin. „Freilich ganz anders als du, eher so wie deine kleine Freundin, Esther heißt sie ja wohl, nur viel größer, eher stattlich und wie aus Marmor. Damals heiratete sie einen Kaufmann, und der starb nun einige Jahre nach dem Tode von Gabriele, und da ich sie immer von fern sehr verehrt hatte, und auch weil ich glaubte, daß mein Sohn eine Mutter haben müsse, bewegte ich sie, mich zu heiraten. Sie sagte, bevor sie mir ihr Wort gab, in der ihr eigentümlichen, entfernten Weise — übrigens war sie nach der Meinung der Leute ohne Herz — also sagte sie, es gebe in ihrem Leben etwas, danach dürfe ich nicht fragen, und das sei es, warum sie so sei, wie Alle sie kennten, — nun — ich habe es nie erfahren, ich liebte sie auch nicht mit solcher Leidenschaft, daß es mich beunruhigt hätte, ich war zufrieden, sie mein zu nennen, was man so mein heißt.“ Immer fließender, aber auch mit immer mehr Hast und oft unter sonderbarem Zucken der Schulter oder eines Arms sprach er weiter:
„In Wahrheit weiß ich nicht, ob sie imstande war, eine Wärme für irgend etwas zu empfinden. Davon wüßte Erasmus vielleicht etwas zu sagen, denn mit ihm war sie gewissermaßen — befreundet. Er hielt sich in ihrer Nähe, ließ sich auch bei seinen kleinen Arbeiten von ihr helfen, er lernte unsagbar schwer, ja, ich glaube — das ganze Leben war für ihn von Anfang an eine ungeheure Aufgabe, die er jeden Tag vom frischen angreifen mußte, und ich weiß nicht, ob er jemals richtig aufgeatmet hat ... Nun, aber ich wollte —“
Da stockte er wieder völlig, die Hände gingen empor, er fuhr zusammen, warf einen scheuen Blick nach Renate, schloß die Hände, beugte sich vor und saß nun so, die Ellbogen auf den Knien, die Hände hart gefaltet, mit den Augen drüberhin auf den Boden starrend, während er redete.
„Er war nicht imstande, das Pensum einer Klasse anders als in zwei Jahren zu erledigen, hatte keine Spur von Gedächtniskraft, aber einen fürchterlichen Pflichteifer, so daß er sich auf das härteste Tag und Nacht mit Dingen peinigte, die Andre im Vorbeigehn erledigten. Freunde hatte er nicht, er war unbeliebt bei Lehrern und Schülern, ich glaube, wenn er nicht aus so guter Familie gewesen wäre, — das spielt ja immer eine Rolle, aber so wurde sein Fleiß doch anerkannt, und all das wurde auch besser in den Jahren, wo der Unterricht in Mathematik, Naturwissenschaften und Physik begann, wo er sich denn gleich auf wahrhaft erstaunliche Weise hervortat. Seiner Stiefmutter aber diente er auf so eine verborgene Art, wie ein kleiner Sklave, geriet aber in grausame Wut, wenn irgend jemand einen seiner kleinen Liebesdienste entdeckte. Vielleicht war sie für ihn die Königin eines Feenreiches und er ein dienstbarer Gnom, — ich habe freilich nie bemerkt, daß er sich mit Büchern und Märchen abgegeben hätte; er war immer ein Bastler und Ingenieur, der Dinge zusammentrug, verglich und zusammenstellte, als er noch klein war, und der aus allen ein Werkzeug oder Kasten hervorbrachte, als er größer wurde. Eines Tages stand dann wohl im Zimmer seiner Mutter oder auch in meinem ein Segelboot, oder etwas Gepapptes oder eine kleine Maschine; aber davon durfte man nichts sagen ... Seine Mutter duldete all dies ohne Aufhebens, und so vertrugen sie sich.“
Ohne daß er seine Haltung veränderte, richtete er jetzt seine Augen gerade auf die Renatens, seine Blicke aber gingen durch sie hindurch, weich wie Spätsonnenstrahlen, in die Erinnerung, während er sagte:
„Ich habe sie unendlich geliebt von dem Augenblick an, wo sie mir sagte, daß sie Mutter —, nein, sie hat es mir nie gesagt, ich sah es, und in diesem Augenblick fing ich auch schon an, um ihr Leben zu zittern. Sie war ja nicht mehr jung. Ich habe damals an Liebe nachzuholen versucht, was ich im Leben vorher versäumt hatte, habe sie in einen Garten kostbarer Dinge gesetzt, sie durfte nur Schönheit sehn, nur Reinheit atmen, nur Stille trinken, und der Sohn, den ich mir erhoffte — —, ja, er ist ja auch wohl so geworden, so schön und ...“ Die Augen wieder auf die Hände senkend, sagte er leise: „Es giebt im Talmud eine Anekdote, die erzählte sie mir damals, in ihrer sparsamen Art, in dem sie nach einem langen Schweigen plötzlich anfing, — eine Anekdote von einem Rabbi, der sich am Frauenbade aufzustellen pflegte, damit die Schwangeren ihn sähen und sich versähen an seiner Schönheit. Von ihm wird auch erzählt, so sagte sie langsam vor sich hin, daß, als Rabbi Elieser im Sterben lag, dieser Jochanaan bei ihm eintrat, und, da es dunkel im Gemache war, so erhob er einen Arm, streifte den Ärmel zurück, hielt ihn hoch und erleuchtete die Finsternis mit der Weiße seines Arms. Elieser aber weinte, und nachdem er drei Fragen Jochanaans nach dem Grunde seiner Tränen verneint hatte, sagte er endlich: Ich weine, weil auch deine Schönheit einmal im Grabe faulen wird ...“
Renate schauderte leise, aber nach einer kleinen Stille fuhr er eilig fort:
„Bald danach hatte ich den zweiten Sohn, und sie war tot. Wie sie gestorben ist, weiß ich nicht; es drang nichts nach außen. Einmal sah sie mich an und sagte: Danke. — Sie lag mit offnen Augen und schwieg. Später waren ihre Augen geschlossen; noch später war sie kalt. Ihren Sohn hat sie nicht gesehn.
„Es muß ungefähr ein Jahr später gewesen sein, da fand ich Erasmus — er war neunjährig — über das Bett seines Bruders gebeugt. Du weißt nicht, wie — ja, wie abstoßend sein finstres Gesicht anzusehn war, denn es war fast nur Stirn und Augen, — die untere Hälfte war verkümmert und wuchs sich erst spät und spärlich aus. Dies Gesicht hob er zu mir und sagte in seiner furchtbaren, kindlichen Ruhe und mit seiner tiefen Stimme: „Die Leute sagen, meine Mutter starb, weil mein Bruder auf die Welt kam. Also hat er sie umgebracht?“ Ich vergesse das nie. Damals schrie ich wohl: er nicht, er nicht! Ich, ich selber habe es getan! — Ob er es verstanden hat, weiß ich nicht, er war von den sonderbarsten und entsetzlich schweren Begriffen, die er sich in seiner Einsamkeit selbst anfertigte von dem, was ihm zuflog, und die er dann so behielt, unveränderlich, nicht daran zu rütteln.“
Jetzt war es sie selber, Renate, gegen die seine Augen andrangen aus einer grausamen inneren Verhärtung, da er sagte:
„Nun weißt du,“ ganz langsam setzte er die Worte hin, „nun weißt du, was meine Söhne wurden. Nun weißt du, was an ungeheuerlicher Schuld in jenen Jahren von mir angehäuft wurde. Nun weißt du, daß der eine Sohn mir alles, alles, und der andre mir nichts, nichts war. Nun weißt du, welche Gerechtigkeit mich jetzt heimgesucht hat, da ich zwei Söhne habe und doch keinen, denn der eine ist nicht da, und der andre rührt mich nicht. Dieser aber wuchs auf wie eine schöne Blume, zart, süß, kräftig, blühend. Der hatte alle Leichtigkeit, alle Anmut, der war ein Windspiel, ein — ein Herrscher, so trat er von Anfang an auf, nur sein Wort, sein Blick galt im Haus, alles war ihm untertan, aber — die Leute sagten, er habe kein Herz. Wenn seine Mutter keins hatte, ja, wie sollte dann er ...“ Er hielt den Kopf in den Händen, er schüttelte sich plötzlich und streckte die Hände nach ihr aus. Auf den Knien vor ihm liegend, sein Gesicht an ihre Brust drückend, hörte Renate ihn stammeln: „Ich kann doch nicht fort, ich kann doch nicht! Wenn er wieder kommt, und ich bin nicht da ...! Und Erasmus wird ihn töten, er hat ja schon als Knabe einmal mit dem Messer ...“
Laut aufschluchzend weinte er wie ein Kind jämmerliche, erstickte, zerbrochene Worte heraus, er fürchte sich namenlos vor Erasmus, er müsse doch fort, er könne nicht, Renate solle ihm verzeihn, er wäre elend, er habe mit ihr den Erasmus bestechen wollen, und er wisse ja, daß Beide sie liebten.
„Warum willst du ihn denn nicht?“ rief er, sich losmachend und ihre Augen mit seinen heißgeweinten suchend. „Ist er denn nicht gut, mein Sohn Erasmus?“ bat er mit ausgestreckten Händen, „ist er nicht adlig und tüchtig und gehorsam und — ach, du mein Gott, was für ein Engel ist er gegen seinen Vater und seinen Bruder. Und der Herr sah gnädiglich an Abel und sein Opfer, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Kannst du denn, kannst du denn nicht diese entsetzliche Angst von mir nehmen, ehe ich fortgehe, und ich will fortgehn, und will nicht wiederkommen, und unstät und flüchtig werden ...“
Er verstummte, weil sie seinen Mund mit ihrer Wange verschloß, sein nasses Gesicht in den Händen an der Brust, selber am ganzen Leibe zitternd, frierend, entsetzt. Danach machte er sich los, keuchte ein paar Mal heftig, umklammerte ihre Handgelenke und flehte mit den Augen. Da raffte sie sich auf, küßte flüchtig seine Stirn und sagte: „Ich will versuchen ...“
Ein welkes Versprechen. Hatte sie ihn wirklich damit beruhigt? Sie stand abgewandt, die Hände unter dem Kinn gefaltet, auf ihre Lampe blickend; hinter ihr sagte er halblaut, er sei von Sinnen; dreißig Jahre habe er ein Leben in Gedanken- und Planlosigkeit geführt, und das solle nun sie ihm bezahlen. Nun, sie solle nur ruhig sein, er sei es auch, er habe es ja nun vom Herzen herunter, und nur die Nerven wären wohl schuld, eine Reise würde ihn bald wieder aufrappeln ...
Sie hörte ihn kaum. So war es nun mit Allen. So trug Erasmus das Seine, jahrelang wortlos, so hatte Bogner jahrelang schweigsam unerschütterlich sein Leben vollführt, bis sie ihn einmal zum Reden brachte; so flammte mancher wohl einmal auf, aber hinterdrein — so waren sie Alle — zogen sie schon wieder den Mantel knapp um sich und wollten nichts mehr wahr haben. Dann waren die Nerven schuld. Was sagte der Onkel jetzt? Er fuhr fort, alles so hinzustellen, als ob es auch ebensogut ganz anders sein könne, als er es eben dargelegt. — War das nun wieder ihretwegen, die für Alle so eine schöne Sache war, unter einer unsichtbaren Glasglocke? Nein, nein, woher nur diese grausame Eifersucht auf unsre Leiden, auf unsre Schmerzen? Die sind freilich unser einziges und letztes Eigentum, so eins, das man wohl einmal zeigt, aber an dem keiner teilhaben darf, und sie —, ja, würde sie vielleicht anders sein? Wie angewachsene Hermen, dachte sie, so stehen wir da an den Lebensstraßen, unsre Füße bleiben immer im Stein, einmal schreien wir zum Nachbarn hinüber. Josefs Mutter, wie sie schwieg ... Keiner konnte helfen, keiner. Was? Konnte, sollte sie denn nicht? Ja, um Gottes willen, war denn das etwas Denkbares, dies mit Erasmus? Sie verstand nicht mehr. Hier saß der Onkel und tat, als wäre alles nichts, und hier stand sie vor einem Wirbel, aus dem es toste. —
„Verzeih!“ hörte sie ihren Onkel hinter sich sagen, wandte sich um und sah, daß er eine Zigarette in der Hand hielt und Streichhölzer. Verloren in sich selbst, ging sie zum Schreibtisch, nahm eine kleine blutrote Steinschale und setzte sie vor ihn. Er rauchte und sah miteins ruhig, gefaßt, beinahe jovial aus. So ging sie auf ihn zu, legte die Hände auf seine Schultern, zauderte und sagte:
„Also laß uns reisen. Oder — möchtest du lieber, daß ich bleibe, falls — falls Josef kommt?“
Er lächelte trüb, meinte, der komme ja nicht, und stand auf.
„Ja, falls ich reisen sollte, möchte ich dich wirklich bitten, zu bleiben,“ sagte er bescheiden wie im Anfang, „wirklich. Ich möchte auch allein sein, ich — nun —“ Er brach ab, küßte sie freundlich auf die Stirn und ging hinaus.
Lange stand sie mit hängenden Armen, ermüdet und kraftlos; dann ging sie zur Wand, rückte die kleine Genellizeichnung, die dort hing, gerade, warf sich, die Arme vor dem Gesicht, gegen die kalte Tapete, schluchzte ein paarmal tränenlos, schlich matt zu einem Sessel und fiel darauf nieder. Ein wenig Tabaksrauch schwebte süßlich im Raum, und das war der Rest. Sie warf den Kopf auf den Tisch und seufzte: Ach! — Bogner kam doch niemals. Ob sie Saint-Georges fragen sollte? — Sieh, sagte sie spöttisch zu sich selbst, du bist doch nicht so und schleppst deinen Kummer gleich zu jemand anders. Er ist freilich auch danach, dieser Kummer. — Überdem stand sie auf und begann gedankenlos ihr Kleid zu öffnen, ließ es zu Boden fallen, öffnete die Untertaille, merkte, was sie tat, raffte das Kleid auf, ging müde ins Schlafzimmer, kleidete sich aus, legte sich und löschte das Licht. — —
Hatte sie schon geschlafen? Sie setzte sich auf im Finstern, rieb die Augen. Was für eine wunderliche Trunkenheit? Aber da war ja Licht — sie erschrak — im Nebenzimmer; die Tür war angelehnt. Bleich um sie her war der Raum, die weißen Schränke still, dunkler der dreifache Spiegel dort hinten, voll Geheimnis, wie ein Schrein, der sich geöffnet hatte, während sie schlief. Hatte er etwas entlassen? Wollte er empfangen? — Sie versuchte, sich zu ermuntern, doch gelang es nicht, und so, seltsam trunken und gefangen stand sie auf, ging nacktfüßig zur Tür und blickte mit leiser Furcht in den Raum. Still war es drin, o so still! Was war hier doch vorgegangen, am Abend? Still, nur ihr sanftes Wesen verbreitend, stand die gelbe Schirmlampe auf dem Schreibtisch, geduldig weiter brennend, ohne Vorwurf, daß sie vergessen war, — ach, und wie blühte darüber die geisterhafte Blume, das Angesicht des ägyptischen Königs mit dem küssend gewölbten Mund, einsam auf seinem Pfeiler! Still war alles, und lebte doch. Gespräche, die sie unterbrochen, schienen überall gestockt zu sein; es knackte im Sofa; in seiner kornblumenblauen glänzenden Seidenbespannung schien es ganz eine himmlische Höhle; nur die einzelnen Bücher auf dem Tisch davor schienen in sich gekehrt und zu schlafen. Mächtig, aufrecht, geziert ragte das Lilienbüschel hoch empor. Leise funkelte es aus der Vitrine, im Schliff der Scheiben glänzte es gelb und rötlich. Welch fremdes Reich, das sie hier überraschte! Oh all dies gehörte sich selber an, jeder Stuhl, der Teppich, der Schreibtisch, die Vasen, die Bilder, jedes gehörte sich selber allein in einem stummen, aber starken Leben, und nicht ihr. — Eilig ging sie zum Fenster, öffnete es und bog sich hinaus, fast zurückgestoßen jedoch von einem graden, kalten Wind, der sie gewaltsam umschloß. Da erinnerte sie sich: er war das Rauschen gewesen, das sie, während der Onkel sprach, unablässig fernher gehört und — auch das wußte sie jetzt — längere Zeit für das ferne Wehr im Fluß gehalten hatte. Die Nacht war völlig schwarz; in den unsichtbaren Wipfeln sauste und tobte es, — ach, es war ja September, längst ... Morgen früh würde sie den noch verschonten Garten zerrissen finden wie von einer sinnlosen Hand, und sicherlich war der gestrige der letzte der weißen und goldenen Nebelmorgen gewesen. — Hastig, nicht weiter zu denken, schloß sie das Fenster, löschte die Lampe und tastete sich in das Schlafzimmer.
Aber nun war sie doch wacher geworden. Und, verlockt von der dunklen Höhle des Spiegels, ging sie hin, wiederum leise erschreckend, da ihre weiße Gestalt ihr von fern entgegenschwebte und gegenüber stillhielt. Eine Fremde, murmelte sie, eine Fremde ... und griff, ohne zu denken, nach der Kurbel. Starkes weißes Licht senkte sich von oben, sie schloß die Augen, öffnete sie wieder, und da gingen in dem Spiegelantlitz die beiden dunklen, blauen Feuer auf, tief leuchtend, beseelt, aber ganz so fremd wie die eines zweiten Menschen, in dessen Innres kein Eingang war. Als sie zu lächeln versuchte, sich lächeln sah und von der Bewegung der Lippen im Spiegel die Bewegung der eigenen Lippen empfand, erkannte sie wohl, daß sie selber es war, aber hinter diesen Augen, dieser Stirn war Unbekanntes, blieb Fremde. Sie sah das Heben und Sinken ihrer Brust unter dem Hemd, streifte es von den Schultern, ließ es zu Boden rinnen, und nun, wie in einem weißen Ring von Wellenschaum nackt dastehend, die Hände, sich vorbeugend, links und rechts gegen die andern beiden Glasflächen der Flügelspiegel gestützt, sah sie sich schaudernd an, fühlte schaudernd verdoppelt die schöne Lebendigkeit des weißen Leibes, dahinter, tief im Grunde, sonderbar in das Gegenüberzimmer hineingestellt, das Fußende des weißen Bettes, ein Stück der zusammengeschobenen Decke und die Dämmerhelle der nächtigen Stunde. An ihrem rechten Knie zitterte leise das Ende der einen, nach vorn herabgefallenen, lichtbraunen Flechte. Sie grüßte sich, sie murmelte unbedacht: „Nein, Erasmus, nein, nein“ ... Darüber sanken ihr die Augen zu, mit geschlossenen Lidern ertastete sie die Kurbel, drehte sie, raffte ihr Nachtkleid auf, streifte es über, erreichte ihr Bett, verhüllte sich fröstelnd, atmete tief und schlief ein.
Georg, mit Sigurd aus der Universität herübergekommen, der ihm an diesem Wochentage eine Stunde lang zwischen zwei Vorlesungen Gesellschaft zu leisten pflegte, fand sein schönes Zimmer hell im vollen Licht der Sonne, obgleich sie, noch die Fenster nicht erreichend, nur über den Herbstgarten sich ausgoß. Aus den Nischen zwischen den Bücherregalen flammten die mächtigen Farben der Oktoberblumen: gelbe Dahlien und weinschwarze, schneeweiße Lockenhäupter der Chrysanthemen, violette Asternsträuße, und stämmige Büschel rotgeflammten und gelben Laubes.
„Sie haben,“ fragte Georg schläfrig und etwas verdrossen, da Sigurd, ohne von alledem etwas zu sehn, seine Mappe in einen Sessel gleiten ließ und zu den Büchern ging, „Sie haben wohl nie bemerkt, daß das Jahr mit denselben Farben beginnt und schließt.“
„Davon versteh ich nichts, Georg“, bemerkte er nur, seitwärts den Kopf tief hinunter beugend, um einen Titel im untersten Fach längs des Buchrückens zu lesen.
„Nämlich gelb und violett. Gelbe und violette Krokus, Primeln, Veilchen und Narzissen, und Astern und Sonnenblumen im Herbst.“
„Schön. Wills mir merken“, murmelte Sigurd und schob die Unterlippe vor, zog plötzlich ein schmales Buch heraus, blies über den Schnitt und klappte es auf. „Kassner,“ sagte er. „Von den Elementen der menschlichen Größe. Das kenn ich noch nicht. Würden Sie mirs leihen?“
„Gern.“ Georg rollte stöhnend einen Sessel über die Teppiche, gab ihm einen Schwung, daß er vor die offene Gartentür flog, rückte ihn zurecht und ließ sich hineinfallen. Seine Zigarettendose und Feuerzeug hervorziehend, murrte er: „Was haben Sie bloß von all den Philosophen! Von Kassner verstehe ich nicht ein einziges Wort. Sie sollten Verse lesen. In drei Zeilen von Rilke steckt mehr Wissen von den Dingen als in — ich weiß nicht was.“ Den ersten, tiefen Zug aus der Zigarette in die Lungen schlürfend, dehnte er die Brust empor und sprach mit tiefem Aufatmen:
„Als wäre die Gebärde
einer Mädchenhand
auf einmal nicht wieder vergangen ...
Ja das! Und das von dem Panther:
Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille
und hört im Herzen auf zu sein ...
Und so tausend andre! Merken Sie denn, wie einen da die Seele der Dinge anhaucht, durch Mark und Bein? Wie sie alle menschlich werden, und in der Vermenschlichung schon halbgöttlich?“
„Die Seele der Dinge?“ hörte er Sigurd hinter sich. „Nun, das ist in diesem Falle wohl nicht viel mehr als das Empfinden des Dichters von ihnen.“
„Ich fürchte, Sigurd, unsre ganze Seele ist nichts andres als unser Empfinden von unserm Leben. Sehen Sie mal ...“ Die Lider halb schließend, blinzelte Georg in die Sonne, „ich meine so: zur Zeit als der Mensch — nämlich der, der er anfangs gewesen sein mag — den Unterschied zwischen seiner Zeitlichkeit bemerkte und dem, — was er damals Ewigkeit nannte; Ewigkeit, nämlich die länger als sein Ablauf scheinende Dauer seiner Umwelt, bis zu Sternen hinauf, — da — nicht wahr — hielt er sie für ewig und gab diese Ewigkeit einem Gott oder mehreren zur Wohnung, wie er selber in der Zeit wohnte. Da stand also der Mensch — gleich Zeit — gegen Gott — gleich Ewigkeit.“
„Schöne Spekulationen“, hörte er Sigurd kurz hinter sich murmeln. „Vorher, meinen Sie, stand bloß Mensch gegen Mensch?“
„Vorher“, sagte Georg, „nahm der Mensch den andern Menschen als Teil seiner Umgebung, — das heißt, ich meine so: daß Mensch gegen Mensch, gegen seinesgleichen stehe, das konnte er erst als Schicksal empfinden, als er seine Einsamkeit und Kleinheit gegenüber der Ewigkeit spürte, so daß dies Gefühl erst wuchs durch jenes.“
„Die Seele also“, fragte Sigurd, „wäre ein — eine Wunde des Daseins?“
Georg versetzte: „Ja, sehen Sie, ich dachte folgendermaßen: der Körper atmet durch Poren, der Geist — durch Wunden. Die Seele ist eine Wunde; die Wunde des Geistes. Ich kam auf andre —“
„Freilich,“ hörte er Sigurd erwidern, „die Lust am Dasein, jedes Wollustempfinden ist denkbar, ohne Seele. Erst die feindlichen Empfindungen, das Bewußtsein ... Sie wissen ja: ein Hund fürchtet sich beim Gewitter, ohne zu wissen warum ... also: das Bewußtsein übernatürlicher Mächte, unverständlicher Gewalten und Peinigungen, das Bewußtsein von allem Schmerzlichen und Zerstörenden, das macht erst den Menschen.“
„Natürlich! das Feindliche!“ sagte Georg. „Die freundlichen Naturmächte nahm er einfach und unbedenklich hin, erst die feindlichen rüttelten ihn auf, mit ganz physischen Mitteln: er mußte sich wehren. Lust bringt nichts hervor, Schmerz macht erfinderisch, Schmerz ist zeugend allein. Lust zweifelt nicht, Lust will bekanntlich Ewigkeit, das heißt Dauer — ihr erster Schmerz ist die Ahnung, daß sie enden muß —, Schmerz will Erkenntnis.“ Er verstummte, nicht unerfreut über diese Leistung. — Dann, da Sigurd still blieb, bog er sich um die Rückenlehne seines Sessels, entdeckte aber erst nach einer Weile Suchens ganz hinten nur seinen hohen Kopf zur Rechten der Treppe vor den Büchern; das Übrige seiner hockenden Gestalt war hinterm Schreibtisch verborgen.
„Hören Sie mir eigentlich zu?“ fragte Georg unzufrieden. Da schnellte er plötzlich zu seiner Länge empor, und Georg mußte lachen, weil er richtig ein Buch aus der Tiefe heraufgetaucht hatte.
„Ja, jetzt weiß ich, wie Sie’s machen“, sagte er. „Sie ziehen in jeder Bibliothek die Bücher heraus, lesen Titel und Verfasser, dazu einen Abschnitt auf Seite siebenundvierzig, und dann kennen Sie’s.“
Sigurd schmunzelte geringfügig, ohne übrigens so auszusehn, als ob er gehört hätte, ging zum Schreibtisch und setzte sich davor, worauf Georg die Beine über die Sessellehne warf, um ihn im Auge zu haben.
„Wovon sprachen Sie denn eben?“ fragte Sigurd, sein Buch aufschlagend.
„Von den ersten Menschen“, erwiderte Georg zweideutig.
„Die im Paradiese,“ äußerte Sigurd aufblickend, „wenn Sie die meinen, kannten freilich Gott. Ob sie aber deshalb schon Menschen waren?“
„Gott?“ fragte Georg. „Nein. Gott war wohl mehr ihresgleichen. Und sie wußten doch nichts von Zeit, und daß alles einmal enden könnte.“
„Ach, Georg, Sie glauben ja nicht an Gott. Haben Sie übrigens je bemerkt, daß jenes Verbot im Garten Eden, wegen des Apfels, nur an Adam erlassen ist? Neulich fiel mirs auf, als ich zufällig den Text nachlas; Eva war noch gar nicht erschaffen. Wie sollte sie also nachher begreifen? Sie mußte sich einfach auf den Mann verlassen, der es ihr mitteilte, und das gefiel ihr natürlich nicht.“
„Von da an, bis jetzt,“ sagte Georg lächelnd, „hat sie sich immer auf den Mann verlassen sollen, aber sie ist immer dagegen angegangen und hat ihn immer zum Essen verlockt.“
Sigurd schien zu lesen. Ich habe doch einmal an Gott geglaubt, dachte Georg angestrengt. An Gott? Ja, an einen einfachen guten Menschengott, — wann war das? Und auf einmal war er fort. Ich wurde konfirmiert, — nein, damals schon, — aber ich entsinne mich doch genau, was für Kämpfe ich seinetwegen gehabt habe, und wie wir Jungens uns stritten halbe Nächte lang — aber, es kommt mir doch vor, als ob schon alles über ihn entschieden war, ehe die Kämpfe begannen. Sie waren mehr der Form wegen, und aus Angst, aber damals fürchtete man sich ja nicht vor der Welt, so getraute man sich schon, es allein, ohne Gott, mit ihr aufzunehmen. Da wars um Gott geschehn. Wann aber glaubte ich wirklich an ihn? — Als ich noch rot werden konnte, durchfuhrs ihn, und er fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht stieg. Ich erröte ja noch! dachte er — nein, nein, dies ist ein andres Erröten, ich erröte vor mir selber; ich meinte aber das Erröten vor der Welt, in der Gott war, das Erröten, das von Gott kam, nicht dies aus mir selber. — Jetzt klappte Sigurd sein Buch zu, legte es auf den Tisch und sagte:
„Außerdem, fällt mir ein, steht auch von einer Strafe nichts im Buche. In der Bibel, mein’ ich. Er sagte nur: ihr dürft nicht. Hätte er gleich zu Anfang gesagt: dann werdet ihr ausgetrieben —“
„Dann“, sagte Georg, „würden sie sich wohl auf den Apfel gestürzt haben!“
„Wie?“ fragte Sigurd zerstreut und sprach weiter: „Er verbot nur, wie sollten sie das verstehn? Adam sagte es Eva, worauf sie vermutlich gedacht haben wird: Verboten hat er es zwar, — aber wenn ichs doch tue? — er hat doch gesagt, er wäre ein lieber Gott ... Und Adam dachte: Was wohl geschehn wird, wenn ... Sehn Sie, er konnte ja nicht anders, er mußte zweifeln, ihm konnte nichts genügen, ihn hungerte nach Erkenntnis, nach dem Apfel, nach Schmerz ... Sie sehn, es kommt auf das selbe hinaus.“
Georg, mitgerissen, sagte nachdenklich: „Und schon kam die Angst — Gott hatte noch nichts gesagt! — sie versteckten sich.“ Plötzlich wieder in seinen eignen Gedanken, sagte er langsam: „Er muß ganz rot geworden sein, als er aß.“
„Wie meinen Sie?“ fragte Sigurd. Georg besann sich; Sigurd, das Gesicht in den Händen, sah auf den Teppich.
„Das Verstecken“, sagte er, „war eine Dummheit. Schuldgefühl verdammt von vornherein. Die Frauen, wie Sie schon sagten, glauben an einen liebenden, verzeihenden Gott — nämlich deshalb, weil sie ihre Schuld gern für geringer halten, als sie ist, denn sie können nicht abwägen —, der Mann an einen gerechten Gott.“
„Nach dem Talmud“, versetzte Georg.
Sigurd schwieg. Nach einer Weile, sich aufrichtend, ohne Georg anzusehn, bemerkte er, das wären so deutsche Unterhaltungen ...
„Wieso?“
„Der Deutsche redet am liebsten von Dingen, von denen er zwar nichts versteht, an denen sich aber sehr viel raten läßt, herumraten.“
„In Rußland allerdings“, biß Georg zu, „wird nur von Rußland geredet. Und wissen Sie,“ lachte er, „was das Deutscheste an unserm Gespräch ist?“
„Nun, sagen Sie’s schon.“
Das Telephon zirpte, Georg erhob sich. „Daß wirs hinterher kritisieren; oder wenigstens feststellen, wovon es gehandelt hat. Nun können wir ja noch —“ Das Telephon zirpte abermals — „feststellen,“ sagte Georg, indem er hinging, „daß wir festgestellt haben, daß der Deutsche gern feststellt —“ Lächelnd den Hörer abnehmend, über den Tisch gebeugt, sagte er: „Georg Trassenberg.“
„Grüß Gott, Georg,“ hörte er Esthers Stimme, wie es schien ein wenig matt. „Ist Sigurd da?“
„Grüß Gott, Esther! Ja, er ist hier. Wie gehts Ihnen denn?“
„Danke ...“ Das kam zögernd; danach nichts mehr.
„Augenblick, Esther!“ Georg reichte den Hörer an Sigurd, der noch am Tische saß.
„Ja, Esther. — — Nein, ich wollte heute erst später kommen. Was ist denn?“ — — Georg wanderte langsam bis vor den Pensieroso, Sigurd weiter hörend in Pausen: „Du sollst kommen? — Ja, dann fahr doch.“
Georg — sonderbar härtlich hatte das Letzte geklungen — wagte es, den Kopf ein wenig zu drehn, allein Sigurd — er war aufgestanden — drehte sich fort.
„Natürlich mußt du fahren.“ Das klang wieder wie immer, kurz angebunden, — doch so war er. „Nach Hamburg erst? Ja, natürlich, sie warten ja darauf. Wie? Sie warten darauf, sag ich. Wann geht denn das Schiff?“ Georg zuckte zusammen. Schiff? — Er lauschte mit wildem Herzklopfen plötzlich, doch kam nun endlose Zeit nichts, und er stand, flimmernd Buntes und Grünes vor den Augen, gemartert von der unhörbaren Stimme in der Ferne, die alles sagte. Endlich hörte er Sigurds Stimme wieder.
„Ja, dann wirds am besten — wie? — am besten wirds übermorgen — ja, Fräulein, ich spreche noch!“
Wieder alles still. Also nach Amerika. Fort. Einfach fort. Esther. Das war unmöglich. — Georg hörte seinen Namen, dann deutlich Sigurd, der ihn ans Telephon bat.
„Ja, was ist denn, Esther?“
„Mein Verlobter hat geschrieben, Georg. Er wartet ja schon seit einem, seit dreiviertel Jahr bald. Und er schreibt von einem Schiff, das ich benützen soll, — es fährt Mitte nächster Woche, und —“ Georg glaubte, sie Atem schöpfen zu hören. „Und nun erwarten Verwandte von uns in Hamburg, daß ich sie erst noch besuche. Also —“ Ihre Stimme erlosch, raffte sich dann wieder auf. „Also werde ich wohl übermorgen fahren. Dann hab ich noch morgen den ganzen Tag zum Packen und —“ Es kam nichts mehr.
„Ja, Esther, wenns sein muß. Was kann man da machen?“ Böse, einen Stich im Herzen, fuhr er gleisnerisch fort: „Es tut mir nur leid, daß ich Sie dann nicht zur Bahn werde bringen können. Morgen muß ich fechten, und das wird ziemlich schlimm werden, ich — ja, ich kann Ihnen das so nicht gleich erklären, warum. Dann —“ seine Brust zog sich zusammen — „dann sehn wir uns wohl gar nicht mehr.“
Keine Antwort. — „Sind Sie noch dort, Esther?“
„Ich — ich könnte ja heute noch — — wenns Ihnen recht wäre ... Ich habe jetzt Zeit.“
„Aber natürlich, Esther, herrlich! Also kommen Sie? Auf Wiedersehn! Wollen Sie Ihrem Bruder noch — — Sind Sie noch dort?“
Georg legte, schwer atmend, den Hörer auf, sammelte sich und sah sich nach Sigurd um. Er saß auf der Lehne von einem der Sessel in der Kaminecke, den Kopf gesenkt; das Gesicht war heiß, die Augen finstrer als je. Langsam, die Lippen vor und hin und her schiebend, fing er an zu sprechen.
„Einmal mußt’s ja sein. Nun ist’s zu spät.“
Georgs Zunge bewegte sich schwer. „Wieso: zu spät?“
Sigurd bückte sich tief, den einen Fuß anhebend, zupfte an einem Faden im Hosenaufschlag und riß. „Um sie zu halten“, stieß er dabei undeutlich hervor.
„Ja, wer kann sie halten, wenn sie heiraten wollen“, witzelte Georg unglücklich.
„Halten kann man sie schon“, äußerte Sigurd verdrossen und sah in die Luft. — Sonderbar! Das war ja fast wie ein — ein Wink? — Indem fiel Georg ein, daß Sigurd ihm doch einmal etwas hatte sagen wollen, in bezug auf Esther. War es das gewesen? — Er? Konnte er sie, hätte er sie halten können?
Sigurd war aufgestanden. „Also auf Wiedersehn, Georg“, sagte er, ihm die Hand hinhaltend, während er mit der andern seine Mappe aus dem Sessel nahm. „Sie kommt ja wohl her. Dann will ich nicht stören.“
„Adieu, Sigurd.“ Sigurd stieg die Stufen hinan. „Vielleicht versuchen Sie’s doch noch mal selber!“ rief Georg ihm nach. — Sigurd öffnete die Tür, schwieg, sagte dann: „Ach was!“ und ging hinaus.
Georg stand verstört. Vor sich niederblickend, entdeckte er plötzlich die farbigen Bänder auf seiner Brust, faßte wütend nach dem Porzellanknopf im Rücken unterm Rock, der sie zusammenhielt, zerrte wütender daran, bis er die Bänder endlich losgerissen hatte, schnellte sie hervor, ballte sie zusammen und schmiß sie auf den Tisch.
Wenn morgen, fluchte er, die Mensur nicht wäre, würde ich mit ihr in die Gegend fahren, und niemals käme sie fort, niemals! — O, wie verstört sie war! Warum? Warum? — Er hockte sich in einen Sessel, tat die Stirn in die Hände und fühlte Angst vor der Abschiedstunde. Ja, soll ich, will ich, kann ich sie denn halten? O Gott, liebe ich sie denn nun oder nicht? —
Da war Esther, da Renate. Da waren Renates Schultern, an dem verwünschten Festabend, — das Herz zog sich ihm zusammen. Und da war Esther, wenn sie frühmorgens aus dem Garten kam, kaum sichtbar hinter einer Garbe frohlockender Blumen, und er im Stuhl mit seinem verstauchten Fuß, und die langen, langen Tage. Und dann dies, — war es denn nun eine Dummheit gewesen? Sie kam herein, und er dachte: ich habe sie auf eine ebenso eigenartige wie ganz unschädliche Weise lieb und werde es ihr jetzt sagen. Da stand sie in der Tür zum Garten, lächelte zu ihm hin, und er nickte und lachte aus seiner Ecke, und wie sie die ganze Last von — Päonien oder Stockrosen, oder was es nun war, auf den Schreibtisch niederwarf, sagte er, nein, da rief er sie zu sich, nahm ihre Hände und sagte, nicht ohne starkes Herzklopfen und das deutliche Gefühl, er solle es lieber unterlassen: Eben, kleines Wesen, ist mir was Prächtiges eingefallen. Ich habe Sie so lieb, wie ich nie einen Menschen gehabt habe, auf eine ganz besondre Weise, was sagen Sie dazu? Ist’s Ihnen recht? — Auf ihrem Gesicht flog ein sonderlicher Schatten auf, ein — ja ein Lächeln gleichsam auf Stelzen. Sie ließ seine Hände los und sagte: O ja ... Sie ging zu den Blumen, nahm eine auf, warf sie wieder hin, nahm eine andre und roch daran, raffte den ganzen Haufen zusammen und trug ihn ins Speisezimmer.
Und danach, eine lange, endlose, atemlose, schreckliche Zeit, während der er sie nebenan gehen und hantieren hörte, Vasen zusammentragen, Stiele abschneiden, vor die Tür und an die Wasserleitung treten, und hörte, wie das Wasser rauschte, dunkel erst, dann heller, aufsteigend in den Gefäßen, saß er und rang mit sich um Unerkennbares im Herzen und sagte sich schließlich nur, damit die Zeit verginge, auf: Sie also auch, sie also auch, — ganz sinnlos, und dann: Da bin ich ja grauenhaft ungeschlacht gewesen. Sie wußte es nicht, und nun weiß sie’s.
Also liebte sie ihn? Und wollte doch nach Amerika. Sigurd wollte sie behalten, und er sollte das besorgen. Ja, wie hatte er doch gesagt? Sie hat immer irgendwen geliebt. Er hielt das also für einen Übergang, auch hier bei Georg, und im Grunde liebte sie eben ihn, ihren Bruder, und fand immer wieder zu ihm. Ja, konnten sie vielleicht einander noch in die Augen sehn, nachdem er damals dies zu ihr gesagt? Nein, sondern da war zwischen ihm und ihr eine Wand von Angst, Gefahr und Süße, durch die ihre Blicke nicht zueinander gelangen konnten, außer wenn sie lachten oder viele Menschen zugegen waren.
Eines Tags aber, würgte er weiter, sah ich Renate in einem goldnen Kleid. Das Unterkleid war erdbeerfarben, darüber das Oberkleid vorn offen und nach rückwärts geschweift, so daß es leicht wehte beim Gehn; es war wie Flügeldecken aus goldener, bräunlicher Seide, ach, und ihr Hals, ihr Hals! — Aber dennoch, — wenn ich es formulieren wollte, so wäre es so: Wäre Renate weniger schön, so würde ich sie lieben; wäre aber Esther weniger schön, so würde ich sie nicht lieben. Das soll heißen, daß ich Renate liebe wie einen schönen Gegenstand (zum Beispiel die Venus von Milo), und nur das Zufällige ihrer weiblichen Gestalt und der sexuelle Reiz spiegelt mir ein wahres Liebesempfinden vor. Esther dagegen, — ja, wie kann man nur zwischen Beiden schwanken? Esther war, — o sie war ja klug und alles mögliche, aber eigentlich war sie doch nur ein süßes Wesen, ja ein so süßes Wesen, daß ich eben unwiderstehlich davon verlockt werde, von den braunen Streifen im schwarzen Haar, von der Stelle der Stirn, an der das Haar ansetzt und das krause die kaum sichtbaren Schatten wirft, von ihrem Hals, und der Biegung zum Kinn, und — und was sollte denn daraus werden? schloß er langsam und stand auf.
Er öffnete die Gartentür, trat ins Freie ein paar Schritt vor und ging ins Zimmer zurück, erregter, angstvoller, wartend, daß sie komme.
Renate, schlechterdings, sie war zu einer fürstlichen Stellung geschaffen und gehörte ihm. Er nahm den kleinen Band der Odyssee vom Tisch unter der Lampe, blätterte, suchte und fand die Stelle:
Kai tote dä Kronidäs afiei psoloenta keraunon,
Ka d’epese prosthe glaukoopidos obrimopatras;
Dä tot’ Odysäa prosefä glaukoopis Athänä ...
Halblaut übersetzte er:
Nieder warf der Kronide den funkelnden Blitz, daß er hinschoß vor der strahlengeäugten, der Tochter des obersten Vaters. Und zu Odysseus sprach die strahlengeäugte Athene ...
Das war sie. Eine Göttin in Menschengestalt, Fürstin, Herrscherin, kluge Beraterin, ein Kunstwerk. — Er schloß das Buch, legte es hin, und nun erschien ihm Renate in ihrem weißen, sommerlichen Faltenkleid mit viereckigem Ausschnitt, eine Kette von rosigweißen Korallen, die tief herunterhing, um den Hals, ohne Gürtel und mit weit offenen Ärmeln. So stand sie in der Kapellentür wie ein Legendenwesen, so saß sie an der Orgel, ausgebreitet, schwebende und gewaltige Stimmen entfesselnd, so war sie, stets würdig, stets Anmut, stets Kühle, eine schöne Weisheit in Frauengestalt. An wen erinnerte sie nur? Lange grübelte er in Büchern herum, endlich begann es ihm zu dämmern, seine Kinderstube erschien, und ein altes Buch, quadratisch, braun, abgegriffen, mit Vignetten, — von Richter? Richilde — stand in verschnörkelter Schrift auf einer Seite, ein Ritter ritt durch eine Landschaft, ein spitzbärtiger Ritter kniete vor einem Walfisch, aus der Kelchblüte einer großblättrigen, stilisierten Pflanze winkte ein elfenartiges Wesen mit einem Schleier nach einem Jüngling, der hinter einem Paar schöner, weißer Stiere schritt, — Libussa. — Flugs stieß Georg einen Sessel zur Seite und langte das Buch tief unten aus einem Regal, wiedererkannte es freudig, schlug es auf und fand nach einigem Blättern und Verweilen die Geschichte Libussas, der Elfentochter, der späteren Herzogin von Böhmen, welche die drei höchsten Güter in sich vereinte, nämlich Weisheit, Schönheit und Reichtum; und Libussa hatte in ihm als Knaben jenes Gefühl erweckt, das ihm jetzt von Renate auszugehn schien: sie war ihm zu makellos und wandellos, zu hoheitsvoll, zu leidenschaftslos erschienen, zumal gegenüber den kriegerischen Werbern, — ja, wollte Esther denn noch immer nicht kommen? Wenn ich lese, dachte er, wird sie gleich hier sein, setzte sich und las, und es stellte sich heraus, daß jenes Knabengefühl ganz ungerechtfertigt gewesen war, denn liebte Libussa nicht den Primislav, sieben Jahre getreu, und sandte ihm endlich ihr weißes Leibroß, um ihn zu holen und zu ihrem Herzog zu machen? — Ein rechtes Märchen, aber bei Renate und mir ists ja umgekehrt. — Folgende Stelle las er mit Vergnügen:
‚Libussa hatte nicht den stolzen, eiteln Sinn ihrer Schwestern. Ob sie gleich die nämlichen Fähigkeiten besaß, in die Geheimnisse der Natur einzudringen und sich ihrer verborgenen Kräfte zu bedienen: so genügte ihr dennoch an dem Anteil der wunderbaren Gaben aus der mütterlichen Erbschaft, ohne solche höher zu treiben, um damit zu wuchern. Ihre Eitelkeit erstreckte sich nicht weiter, als auf das Bewußtsein ihrer Wohlgestalt, sie geizte nicht nach Reichtum, wollte weder geehrt noch gefürchtet sein wie ihre Schwestern. Wenn diese auf ihren Landhäusern herumtoseten, von einer rauschenden Freude zur andern eilten und den Kern der böhmischen Ritterschaft an ihren Triumphwagen fesselten, blieb sie daheim in der väterlichen Wohnung, führte das Hausregiment, erteilte den Ratfragenden Bescheid, leistete den Bedrückten und Preßhaften freundlichen Beistand, und das alles aus gutem Willen ohne Entgelt. Ihre Gemütsart war sanft und bescheiden und ihr Wandel tugendsam und züchtig, wie es einer edeln Jungfrau ziemt.‘
Auch dieser Satz gefiel ihm sonderlich: ‚Sie nahm mit bescheidenem Erröten die Herrschaft über das Volk an, und der Zauber ihres wonniglichen Anblicks machte jedes Herz ihr untertan.‘
O Himmel! dachte er aufseufzend, wenn ich Herzog bin, wird dann alles anders sein? Wer ist denn zur Herzogin hier geeignet, sie oder Esther? — Er lachte fast, hielt kaum rechtzeitig inne.
Das Licht hatte sich verändert draußen, die Schatten waren tiefer und länger geworden, Esther kam nicht. Georg, immer angstbeklommener vor dem, was kommen sollte oder könnte, trat wieder in die Tür zum Garten, der windstill, tief beschattet bei sinkender Sonne, tiefgrün mit schönen großen Farbflecken, gelben, roten, glattbraunen, von Birke, Platane und Roteiche, unter dem reinen, erlösten Himmel ruhte. Darin sollte sie nun nicht mehr umhergehn mit ihren kleinen, ein wenig breiten Füßen, kleinschrittig, von denen der rechte bei jedem vierten oder fünften Schritt leicht nach innen schlug.
Indem hörte er hinter sich die Tür, Esther stand drin, sehr blaß, in dem Kleid, das er liebte, von rotvioletter Seide mit Goldborte an Hals und Ärmeln. Sie kam auf ihn zu und gab ihm die Hand, wie sie pflegte, mit ein wenig vorgeschobenem Leib ganz nah herankommend, und murmelte etwas wie: Sigurd hätte ihm wohl alles gesagt.
„Wann geht dann das Schiff?“ fragte Georg.
„Mittwoch.“
„Und Sie bleiben erst ein paar Tage in Hamburg?“
„Ja, ich fahre am Sonntag.“ „Und morgen“, sagte Georg trübe, „muß ich wieder auf Mensur.“
„Schon wieder?“
Sie hatten sich unterweil in Bewegung gesetzt und schritten langsam den Weg hinunter. Georg hob eine in den Weg hängende Hopfenranke über Esthers Kopf, dachte: Wenn Sigurd gesagt hat, daß sie immer irgend jemand liebte, so heißt das wohl auch, daß sie mich alsbald vergessen wird, — und verstrickte sich derweil in umständliche Erklärungen: daß er seine letzte Mensur im vergangenen Semester schlecht gefochten habe —
„Ach, als Sie so lange mit dem Kopfkissen herumliefen?“ fragte sie lächelnd. Sie meinte das schwarze Stück über der Gazekompresse, das er zum heimlichen Gespött aller Freunde wochenlang nicht vom Mittelkopf los geworden war. Er bejahte und fuhr fort: daß die Mensur ungenügend beurteilt worden sei; daß er Reinigung fechten müsse, und nun habe es sich über die Ferien hingezogen, während er doch für dies Semester seinen Austritt geplant hatte, und schließlich würde er morgen einen so scharfen Gegner bekommen, daß — ja also daß sie sich heute wohl zum letzten Male sähen ... Dies schien sie gewußt zu haben, denn sie antwortete nichts.
Sie standen jetzt am dunklen Wassergraben; ringsum loderte der Herbst, das unbeschreiblichste Grün, mit Gelb gemischt, lohendes Rot, prangendes Kaisergelb flatterte hoch oben vor der vergoldeten Bläue der Luft; noch höher wehten weißliche Geister aufgelöst durch den Oktoberhimmel. Ach, wie lieblich war ihre verschleierte, huschende Stimme! — Sie sagte, es würde ihr wohl sehr schwer fallen, nicht mehr des Morgens in diesen Garten gehen zu können, und Georg murmelte etwas Unklares von Kalifornien, Palmen und: auch sehr schön ... Dann setzten sie sich auf die Bank, die hinter ihnen stand. Esthers Hände lagen im Schoß.
Georg dachte daran, wie er ihre Hand zuerst im Handschuh gefühlt, halb leblos, und wie sie hier mit Jason gesessen hatten, der ihren Handschuh von der Bank nahm und davon sprach. Sie schwiegen. Kein Blatt fiel. Etwas simmte an Georgs Ohr, und eine verspätete Mücke setzte sich auf seine Hand, aber sie sog nicht. Da vertrieb Esthers Linke sie mit einer flatternden Bewegung, die an ihrem Haar endete, und Georg sagte mit einem Versuch zu scherzen:
„Und nun will so ein kleines Mädchen ganz allein über das große Wasser fahren?“
„Der gute Jason“, sagte sie — dies war ihr letztes Lächeln! — „wird mich bringen. Merkwürdig, nicht: Eben traf ich ihn, und er brachte mich hierher. Als ich ihn scherzend fragte, war er gleich bereit, und im vollsten Ernst. Er hätte längst mal nach Amerika gewollt, sagte er.“
Jetzt wird sie in Tränen ausbrechen, dachte Georg und vermied den Anblick ihres Gesichts, sah aber doch, geradeaus blickend, neben sich ihr Profil, ein wenig vorgeneigt, unterm straff zurückgespannten Haar, die Stirn glatt, ganz wenig gerunzelt, das fremdgeschnittene, bewegungslose Auge, den unbeweglichen Mund. — Um nur etwas zu sagen, fragte er: „Warum der gute Jason?“
„Ich weiß nicht“, meinte sie nach einer Weile. „Einmal, das fällt mir ein, wollte er ein Buch auf den Tisch legen, und es fiel daneben. Da sagte er ganz erschrocken: O entschuldige, Buch! — Ich mußte so lachen.“
„Ja, er ist mit allen Dingen, die sich nicht selber helfen können, wie mit kleinen Kindern. Wissen Sie eigentlich etwas aus seinem Leben?“
„Nein, gar nichts.“
„Ich war dabei,“ sagte Georg leiser, „als er sich das Leben nehmen wollte, zweimal, und doch glaube ich, daß dies nicht das Schlimmste in seinem Leben war. So wie er jetzt ist, ist er noch gar nicht sehr lange.“
Hörte sie eigentlich, was er sagte?
„Wissen Sie,“ begann sie nach einer Weile, — „aber Sie dürfen nicht lachen, — nein, ich meine — — Sie dürfens nicht zu ernst nehmen — —“
„Immer was Sie gern wollen, Esther.“
Sie schwieg.
„Wollen Sie es für sich behalten, dann —“ er zögerte — „nehmen Sie es mit nach Amerika.“
„Oh!“ stieß sie schmerzlich hervor, beugte sich vor und sah nach oben.
„Schön ist doch der Herbst,“ sagte sie dann wie beruhigt, „das sanfte Scheiden.“
„Ja, es wird gut mit uns gemeint.“
Auf einmal schnürte sich ihm das Herz zusammen, er suchte nach gleichgültigen Dingen, fand nichts und bat:
„Was wollten Sie denn eben sagen?“ Sich vorneigend wie sie, sah er sie nun an und merkte, daß ihr Gesicht von innen kalt und bleich geworden war.
„Ich wollte sagen,“ sprach sie sehr langsam und ohne Betonung, „es muß gut sein, zur rechten Zeit sterben zu können. Ich glaube, der Tod —, ich meine: das Sterben, der letzte Augenblick giebt dem Menschen eine Klarheit, eine Kenntnis, ganz sichere, über Leben und Tod. Gut kann die sein oder sehr schmerzlich. Und die gute wäre, daß man zur rechten Zeit stirbt.“
Sie hatte nun ganz leise und mit rauher, verhauchender Stimme gesprochen, und Georg, obgleich er kämpfte, konnte es nicht lassen, tiefer zu gehn und zu fragen: „Esther, sind wir denn so traurig, daß wir statt vom Scheiden vom Sterben reden müssen?“
Sie stand auf, zuckte mit den Schultern, wie um etwas abzuwerfen, und sagte: „Ich muß gehn.“
Jenseit des Grabens stand eine junge Roteiche, reich mit großen, heftig gezackten Blättern überhangen, rot wie neues Kupfer und so einzeln, daß sie sich zählen ließen; im bläulichen dunklen Wasser unten hing ihr Spiegelbild, umgekehrt, verdunkelt. Uns, dachte Georg mit seltsamer Empfindung, uns und unsre Spiegelbilder sieht von drüben der stille Baum, und nun war ihm, als sähe er selber sich und sie — in dem schön violetten Kleide mit goldenen Borten sie und sich in dem dunkelgrünen Anzug — wie zwei geschmückte Geister in einer elysischen Gegend, weltferne Zwiesprache haltend. Aber, sich umwendend, fand er Esther nicht mehr neben sich und sah sie schon fern zwischen den grünen Büschen den Weg hinunter auf einen Trupp hoher, verdorrter Sonnenblumen und schwarzroter Dahlien zugehn; ihr Gang war nichts als ein notwendiges Bewegen der Füße, aber daran, daß der rechte nicht nach innen —, doch, da schlug er nach innen, und nachdem Georg eben gedacht hatte, er müsse sie so weiter und weiter und fortgehen lassen, eilte er ihr jetzt nach, holte sie aber erst im Zimmer ein, wo sie stand und sich umsah.
Eiskalt war ihm am ganzen Leibe, er zitterte, wußte aber gleichwohl, daß er imstande sei, die simpelsten Höflichkeiten zu sagen, redete auch ganz bedeutungslos draufzu, indem er sie bat, sich doch etwas zum Andenken mitzunehmen. Sie bewegte den Kopf langsam hin und her. Gleich darauf sank er tief herunter, ihre Brauen zogen sich wie grüblerisch fest zusammen, doch war es wohl etwas andres, und er konnte es nicht mit ansehn und trat an den Schreibtisch. Mit dem Rücken gegen die Platte gelehnt, sah er, wie sich ihr Kopf langsam wieder hob; sie stand aufrecht und sah ihn an, ohne zu lächeln. Jetzt kommt es! dachte er im Frost, was soll ich jetzt tun? was fragt sie jetzt hinter ihrer Stirn?
Indem fiel ihm ein: Wenn aber nun alles Einbildung ist? Ja, wie, wenn sie nicht meinetwegen so verzagt ist, sondern Sigurds wegen? Sollt’ ich so närrisch sein? — Fast ward ihm da leichter; er dachte: also muß es geschehn ...
„Esther“, sagte er, nur um nicht zu schweigen, um nicht — —
Und sie kam. Er nahm ihre erfrorenen Hände und legte sie auf seine Brust. Sie blieb, sie würde bleiben, sie mußte, er konnte sie nicht entbehren. — So blickte er in ihre Augen, sah ganz nah die schönen Brauen, sah winzig sein eigenes Gesicht, ganz wenig verschwollen in dieser, in jener schwärzlichen Pupille, und die Reflexe vom Licht, sah die kleinen schwärzlichen Härchen neben den Mundwinkeln und mußte die Lippen darauf drücken. Seine Augen schlossen sich. O, wie süß war dieser Mund! O nicht fremd wie — wie — —
Da öffneten seine Augen sich wieder, sie war zurückgetreten, er sah sie zum Stuhl gehn, ein flacher, grauer Hut lag darauf mit grünen Blättern und schwarzen Rosen, den hob sie auf. Ja, mußte denn noch etwas — —, mußte er noch etwas — —? — Er sah sie den Hut aufsetzen, die Nadeln festmachen, und da lag auch eine Jacke, die sie nun anziehen wollte, und er hätte fast vergessen, ihr zu helfen. Noch einmal, während er den Kragen ihres Kleides in die Jacke hineinglättete, ihren Hals berührte, sah er ihren Haarknoten, weich geschlungen, ganz nah, aber dies galt schon nicht mehr, und sie wandte sich und gab ihm die Hand, und er sagte: „Leb wohl!“
Das Schluchzen stieg ihm in die Kehle, sie sagte nichts, ging zur Treppe, der Raum kreiste, etwas klang hart, Esther war nicht mehr im Zimmer.
An einem Eisenbahnfenster über vorbeisausender Felderlandschaft erschien Esthers Gesicht; darauf stand geschrieben: Trostlos. — Georg näherte die Hände dem Gesicht, ermannte sich, schüttelte den Kopf, nahm eine Zigarette vom Rauchtisch, zerbrach ein Streichholz, noch eines, noch eines, tat endlich den ersten Zug und setzte sich.
Ja, sagte er, ja, ja ...
Nicht mit Absicht berauschte Georg sich an diesem Abend sinnlos, das heißt, er setzte sich nicht in der Absicht, sich zu betrinken, zum Trinken nieder, sondern es kam so. Quid quod, sagte er in der letzten hellen Minute, das ist eine lateinische Redensart und heißt ungefähr: Was soll man dazu sagen? — Einige Zeit später weinte er sehr am Halse seines Leibfuchsen, der auch weinte, und abermals eine Zeit später wachte er mit riesigem Schädel und ohne Denkvermögen in seinem Bette auf, tat unbewußt das am Morgen Nötige des Badens und Ankleidens, saß ein paar Stunden, bloß eine kahle Bouillon im Magen, bei den Mensuren herum, übrigens ein wenig voll Ekel, ein wenig voll Wut und ein wenig voll Beschämung, worauf er sich anbandagieren ließ, heftig angewidert von den nassen, warmen, nach Blut, Schweiß und Äther stinkenden Binden am Halse. Armer Tozzi, heut gehts mir schlecht, dachte er, die Zähne zusammenbeißend, als die eiserne Brille auf seine Nase gepreßt wurde, und nieste. Dann stand er da und arbeitete schwerfällig mit dem Schläger, fühlte bald, wie ihm das Blut vom Kopf rieselte, es gab Pause, er saß, stand wieder, es gab endlose Pausen, um ihn schwirrte und rannte es, er hörte ein Flüstern: laß dich lieber abführen! — aber das wollte er nicht. Der Speer ward ihm fortgeschlagen, noch einmal fortgeschlagen, er wankte und taumelte bei jedem Hiebe und stand dann, den Kopf gesenkt, von dem das Blut herunterlief, wie Spülwasser so dünn vom Alkohol. Dumpfe Wut hielt ihn aufrecht, aber er ermattete immer mehr, nach jedem Gang schien eine Pause zu kommen, er trank Wasser, trank Kognak, ihm ward zum Erbrechen elend, und dann merkte er noch, auf dem Stuhl sitzend, daß sein Blut nicht mehr lief. Und was war das mit seinem Herzen? Das machte ja Sprünge! Von allen Seiten beugten sich höfliche, neugierige, ein wenig mitleidige Gesichter, er hörte wieder die Stimme des Sekundanten von weit fern her: Also noch einen Gang, weiter! Stand auf, schwankte, hörte hoch über sich die Worte verhallen: Baltoborussia führt ab nach dreizehn Minuten, und verlor die Besinnung.
Renate, in der Hand die Gartenschere, trat am frühen Morgen auf die Terrasse hinaus und blieb über den Stufen stehn. Warm schien die Sonne, aber es wehte so heftig, daß sie mit den Händen in den Falten ihres dunkelgrünen Kleides hinunterfuhr, um sie gegen den Leib zu drücken; sie bauschten sich schwer hinter ihr, und die langen Enden der dicken, silbernen Kordel, die sie unter der Brust um den Leib geschlungen hatte, flatterten wie ihr Haar. Der Garten, schon sehr entblößt, war ein flatterndes Gewimmel von Blättern und kleinen Zweigen, gelb und lockrig ließen die Wipfel überall den hellen, dunstigen Himmel durchscheinen, aufgelöst ins Trinken des reichen goldenen Lichts. Vollhängende Fuchsiensträucher schwankten unter der Veranda. Wege und Rasen waren mit Blütenblättern bestreut; der Gärtner hatte den mit Laub verschütteten Rasenplatz zur Hälfte gekehrt und war zum Frühstücken gegangen; nun rollte der Wind die braungelbe Masse von einer Seite auf die andre mit einem kindischen Vergnügen. — Renate kämpfte sich gegen den Wind die Stufen hinab, ging auf dem Wege zur Linken weiter, durch die Büsche und rechtsum unter den sechs Linden am Gemüsegarten hin auf die Rückseite der Kapelle zu. Dort flammte, gegen den Wind geschützt, die ganze Schar farbiger Georginen und Dahlien, schwarze, rote, scharlachne, weiße und gelbe. Renate schnitt von ihnen, langsam auswählend, einen Arm voll. Da hörte sie ihren Namen, fern von Magdas Stimme gerufen, antwortete: Hier! und sah bald darauf, sich wendend, Magda den Weg unter den Linden herbeieilen, ein Zeitungsblatt in der Hand, heftig atmend und mit schreckerfüllten Augen.
„Du weißt noch nichts?“ fragte sie atemlos. „Das Schiff —“
„Was für ein Schiff?“
„Mit Esther! Es ist untergegangen.“
Renate schrie: „Magda!“ ließ die Schere fallen, preßte die Blumen an sich, griff nach der Zeitung und las unter strömenden Tränen entsetzliche Dinge von einem Eisberg, bei Nacht, und Hunderten von Toten.
„Vielleicht ist sie doch gerettet“, weinte sie. Der Wind riß an dem großen Zeitungsblatt, sie kämpfte, um es zusammenzulegen, packte dann ihr Blumenbündel hinein und suchte nach ihrem Taschentuch im Gürtel. Da sah sie es nicht weit von ihr auf dem Wege liegen und eilte daraufzu, damit es nicht wegfliege.
„Weiß Sigurd es denn?“ rief sie Magda zu, die mit zusammengelegten Händen dastand. Die fuhr aus ihrer Versunkenheit auf, sagte, ja, sie sei ja gekommen, um mit Sigurd zu telephonieren, und eilte eifrig an Renate vorüber nach dem Hause.
Mit ihrem großen, bunten Blumenbündel im Arm, heftig weinend und an Nase und Augen wischend, schwankte Renate den Weg zurück, über den Rasen und bis zur Sonnenuhr, blickte lange darauf, als wollte sie die Zeit enträtseln, und legte dann, heftiger aufschluchzend, mit einer wilden Gebärde die Last auf das Zifferblatt; das Zeitungsblatt öffnete sich und flatterte. Sie lehnte sich mit dem Rücken gegen das Postament, wurde langsam ruhiger, blickte wartend in die Veranda. Schritte wurden hörbar, Sigurds lange Gestalt erschien, er kam herunter, rote Flecken im Gesicht, die Augen geschwollen. Er blieb dicht vor ihr stehn und ließ den Kopf hängen.
„Ja, hier ist es immer schön“, sagte er nach einer Weile, umhersehend.
„Sigurd,“ bat sie leise, „ich —, ist es denn — ist es — ist es denn gewiß?“
Er zuckte die Achseln.
„Für mich ist sie tot“, sagte er nach einer Weile abweisend.
Renate wußte nichts zu sagen, legte ihm nach einer Weile eine Hand auf die Schulter, in der sie ihr kleines Taschentuch zusammengedrückt hatte. Sigurd, den Kopf senkend, blickte darauf und sagte: „Ganz naß ...“
Seine Lippen zuckten, er begann: „Esther —“ Dann: „Was war sie nur? Ja, was hat sie euch viel bedeutet! Ein kleines Gartenland, — ausgerauft.“ Er stockte. „Esther, mein Gott!“ sagte er, faltete die Hände, blickte irr und schrie auf einmal: „Ich dachte, sie wäre hier! Ich dachte, sie wäre hier, und nun ist sie ja nicht da!“
Über den Stufen der Veranda erschien Magda in ihrem mattblauen Kleid und blieb da stehn, an einer Weinranke zupfend. Sigurd wand sich verzweifelter.
„Helfen Sie mir doch,“ sagte er, „wie soll ich denn das verstehn, daß sie auf einmal tausend Meter tief im Wasser liegt, und die Fische schwimmen drüber weg, und man kann sie nicht heraufholen. O ich Mensch! o ich Mensch!“ stöhnte er, die Finger in den Haaren, „daß ich sie habe allein fahren lassen! Aus Trotz ließ ich sie weg und hetzte diesen Prinzen, diesen Literaten, diesen Hanswurst —“
Magda blickte langsam nach ihm hin; Renate sagte leise: „Sigurd! Wir können uns doch beherrschen.“
Er hielt mitten in seiner Wutgebärde inne, blickte sie erstaunt an, schien ihr Gesicht zu erkennen und stürzte zu ihren Füßen hin, laut schluchzend, röchelnd und sich schüttelnd. Das Gesicht auf ihren Schuhn, umschlang er ihre Knie und riß daran, — Renate schwankte und griff nach dem Zeiger der Sonnenuhr hinter sich, um sich daran zu halten. „O, ich liebe dich doch,“ jammerte er laut, „ich liebe dich, und nun ist alles aus!“
O das war schrecklich. Da er wieder ruhiger wurde, gelang es Renate, seinen Kopf zu fassen, zu heben und an ihre Knie zu drücken. Da stand er schwerfällig auf, zog sein Taschentuch und brachte Gesicht und Haar in Ordnung.
„Eins zieht das andre nach sich“, sagte er trocken. „Daß man sich in Sie verliebt, ist freilich natürlich. Ich wußte ja, wenn sie den Prinzen näher kennen lernte, so konnte sie nicht widerstehn, niemals konnte sie’s. Dann ging alles seinen Gang. Eines Tages war die heillose Verwirrung da, und sie wußte nicht mehr, wohin sie sollte, nach Amerika, zum Prinzen, oder zu mir. Da dachte ich, wir müßten es probieren, und wenn wirklich ich die Hauptperson in ihrem Leben war, so würde sie sich ja auch aus Amerika zurückfinden. Nein, Gott, nein, wie hätte ich allein bleiben können! Mein Dasein hatte seinen Glanz und seine Freude doch bloß von ihr, und ohne das ist man doch in einer steinernen Öde und friert. Aber da hatte ich mich ja selbst von ihr abgewandt und zu Ihnen. Nun, freilich, was das schon hieß, aber mein Gefühl, ja, mein Gefühl war doch dadurch schwächer geworden gegen sie, und dafür bin ich nun gestraft. Ihm aber, bei Gott, Renate, ihm aber werde ichs einmal heimzahlen, daß er sie zu sich herüberbog so weit und dann wieder fahren ließ, dieser Bastard von einem Literaten! Konfus hat er sie gemacht,“ schrie er aufgebracht, „und da zeigte der Tod ihr einen Mittelweg, und sie folgte natürlich wie immer. Meinen Sie denn etwa,“ fragte er mit zornigen Augen, „ich wüßte nicht, wie sie gestorben ist! Meinen Sie, ich hätte —, ja, glauben Sie etwa, Jason wäre auch ertrunken?“
Da er einen Augenblick schwieg, um Atem zu schöpfen, murmelte Renate: „Der gute Jason ...“ Auch sie konnte sich nicht denken, daß er tot sei.
„O Gott,“ stöhnte er nun wieder vor sich hin, „ich seh ihn ja immer und immer herumlaufen, über alle Verdecke, durchs ganze Schiff, oben, unten, in alle dümmsten Winkel spähn, und die Angst ... Und ich bin mit ihm herumgerast und hab geschrien: Esther! Esther! Esther! — Aber sie“, schloß er leise und verwirrt, „lag wohl schon lange unten und war auch — wohl ganz froh ...“
Nach diesen Worten drehte er sich langsam und vergrämt um und ging fort, die Stufen empor, wo Magda einen Arm um ihn legte und mit ihm weiterging. Sie waren verschwunden, aber nach einer Weile erschien er wieder allein, blieb über den Stufen stehn, hob die Hand winkend und rief: „Machen Sie sich keine Sorge um mich!“
Renate lief auf ihn zu, wollte ihn fragen, was er denn vorhabe, da kam er herunter zu ihr und erklärte ihr ruhig und zurückhaltend, er könne natürlich nicht hier bleiben, wo an jeder Straßenecke und in jedem Zimmerwinkel Esthers Schatten stünde, sondern ginge nach Berlin, wo er noch gerade rechtzeitig zur Immatrikulation kommen würde.
„Geld,“ sagte er, „habe ich ja nun mehr als früher. Dann, wenn ich die Examina gemacht habe, — das muß schnell gehn, höchstens in einem Jahr geh ich nach Rußland zurück. Da können sie mich vielleicht brauchen. Jedenfalls bewegt sich das Leben dort in den Kreisen, die mir nahe sind, so, daß ich hineinpacken kann; ich muß mich ja nun wohl an das Allerreellste halten, was man so ‚Taten‘ nennt, und — und vielleicht kann man die Dinge doch fühlen; ich will versuchen, sie wieder anzuwärmen; der Tod pflegt ja alles erst mal kalt zu machen. Sie werden wohl zuweilen an den letzten Mohikaner denken.“
Renate nickte nur und sah ihm liebevoll in die Augen; er ergriff ihre Hand, küßte sie ungeschickt, ging ruhig und kehrte nicht zurück.
Renate, noch hinter ihm her sehend, erinnerte sich, daß Josef der letzte war, der ihr die Hand geküßt hatte. Dem einen war alles genommen, der andre wollte nichts mehr haben. Sie sah über das Dach des Hauses hinauf, wo die kleinen grauen Steinfiguren sich vor dem leichten Gewebe von Wolkenweiß und Himmelsblau zu bewegen schienen; die Sonne brach kräftiger hervor. Seltsam war mit dem Ende von Sigurds heftigem Ausbruch auch der Wind stiller geworden; es wehte nur leise durch den Garten hin. Sie zog die silberne Schnur, deren Knoten sich gelockert hatte, fester zusammen, nahm ein zusammengerolltes Blatt von ihrem Kleid, glättete die grüne Seide, in der schwarze Linien von oben nach dem Saum hin liefen, und sah die Blumen auf ihrer Zeitung auf dem Postament liegen; der Wind zauste darin wie ein Kakadu; einige lagen am Boden. Die sammelte sie gedankenlos auf und legte sie zu den andern. Ja, nun mußte sie wohl zu Saint-Georges —, nein, es war ja Sonntag. Sie dachte an ihre Orgel, irgend etwas aber trieb sie, den Weg, den sie vorhin gekommen, zurückzugehn. Vor einem Trupp halb welker Sonnenblumen stand eine sehr hohe mit nicht sehr großem Antlitz, das sich mit einem geringen Ausdruck von Ernst und Hoffart herabneigte. „Wie stolz du bist, Schwester Sonnenblume,“ sagte sie, „laß dich küssen.“ Sie bog das gelb und schwarze Sonnengesicht zu sich hinunter, küßte es leicht in die Mitte, knickte den Stiel dicht unterm Kopf ab, hielt einen Augenblick die weiche Blätterschale in den Händen, hängte sie dann vorn in den spitzen Ausschnitt ihres Kleides. Dann ging sie weiter, langsam an einer Linde nach der andern vorüber, die den Weg mit welken Blättern bestreuten, blieb endlich am letzten Stamm stehn, die Hände auf dem Rücken zusammengelegt, den Blick durch die fast entlaubten Wipfel emporgerichtet. Ununterbrochen trieb und flatterte es von oben durch das Licht. Sie spürte, in Gedanken verloren, wie ihr Kleid unten zuweilen seine Falten regte, sich bauschte und wieder hinsank.
Saint-Georges kam die Allee herunter und blieb bei ihr stehn; sie sah ihn durch den dünnen Schleier an, den eine vom Wind gelockerte Haarsträhne über ihre linke Wange breitete, und las in seinen ernsten Augen, daß er alles wußte. Er sagte nichts weiter als seinen Gruß; nach einer Weile begann sie leise:
„Ach, Georges, hören Sie die Glocken?“
Lauschend vernahmen sie Beide das ferne, dunkle Getöse, das in der hohen Weite gegen den Wind ankämpfend umher wanderte und nach Gläubigen hinunter rief.
„Eben war mir,“ fuhr sie fort, „als hätte ich schon ein Jahr hier gestanden und die rufenden Glocken im Winde gehört. Alles war mir so fern, — daß Josef ging, und der Zorn des Erasmus, und Sigurds Schmerz und Empörung. Hier bleibt es immer still.“
Ihr fielen bei diesen Worten Sigurds ganz ähnliche ein, die er beim Kommen gesagt hatte, allein sie vermochte nicht zu begreifen, wie das zusammenhing. „Entblätterte Linden,“ sagte sie wie zu sich selbst, „entblätterte Linden ... Am Boden wirbeln gelbe Blätter ruhlos, — wer weiß, wer weiß, wohin einst wir verschwinden!“
Getrieben vom Verlangen, ihre eigne Stimme zu hören, um die Stille und die ferne Stimme Sigurds abzuwehren, sprach sie weiter: „Sie sind nun bald alle fort. Wissen Sie, daß auch Magda geht? Ihr Lehrer ist an die Berliner Oper gekommen, sie will ihn nicht aufgeben, ein Wechsel wäre ja auch ungesund für die Stimme. Bogner ist irgendwohin; Ulrika ist mit ihrer Mutter nach Süden; wo ist Jason? Jason ist verschwunden. Sigurd geht, Georg ist fort, und Esther ... Ach, mir gellt immer noch das Todesgeschrei all der Menschen in den Ohren, das ich hörte, als Sigurd: Esther! schrie. — Ich bin geblieben, — wie kommt das? Was wird aus ihnen, dort, wo ich sie nicht mehr kenne? was wird aus mir?“ Sie faltete die Hände und sah ihn ängstlich an.
Saint-Georges’ ruhige, lichte Augen umfaßten ihre Gestalt, berührten die Sonnenblume, sie hörte ihn sagen: „Ich sah Ihre Blumen auf der Sonnenuhr liegen, — hatten Sie die schöne Last in die Zeit fortgelegt? Da dachte ich, daß —“ er sprach sehr langsam — „daß Ihnen nichts geschehen wird, solange Sie in diesem Hause sind. Hier können Sie leben und sterben unwandelbar; verlassen Sie es nie.“
„Josef“, entgegnete sie nachdenklich, „muß vor langer Zeit einmal etwas gesagt haben, worin das Gegenteil von Ihren Worten stand.“
Er lächelte nun abwehrend, berührte mit einer Hand leicht die Sonnenblume und sagte nach einer Weile versonnen: „Wissen Sie, woher das Wort Heiland kommt?“
Renate meinte, es bedeute doch wohl heilend. Ja, das lege man dem Wort wohl jetzt unter, versetzte er, „aber,“ fuhr er aufblickend fort, „die Sonnenblume heißt griechisch Helianthos, und daraus wurde Helianth, Heliand, wie es noch im Frühmittelalter hieß, dann Heiland.“
Renate schauderte leise unter einem unkenntlichen Gefühl und hörte ihn weiter sprechen:
„Carossa sagt: ‚Wenn uns gegeben wäre, immerfort ein Wesen zu schauen und zu denken, so würden wir uns langsam in dasselbe verwandeln.‘ So glaubten Heilige, und so verbürgt es die Form der Sonnenblume.“
„Und wissen Sie,“ fuhr er fort, „wer dasselbe geglaubt hat, und wessen Antlitz es uns verbürgt?“
Sie lächelte und sagte glücklich: „Ech-en-Aton.“
Und, kaum wissend, was sie tat, griff sie nach der Blume, löste sie vom Kleide und reichte sie ihm, ließ aber ihre Hand noch am Stiel, den er faßte. Den Kopf hielt sie tief gesenkt, und, in blinde Wonne versinkend, sah sie mit unbeschreiblichem Staunen eine kleine Gestalt in weißem Gewande vor sich stehn, den König, der an ihr vorüber sah mit dem fortschwebenden Blick, den er immer hatte, und sie reichte ihm die Blume, demütig, die er nicht sah. — —
Plötzlich schrak sie leise schaudernd auf, blickte auf die Blume und rief: „Aber —, sie ist ja schwarz, die Blume, mit goldenem Rand, umgekehrt wie die Sonne.“
Nun standen sie Beide, die Blume zwischen sich haltend, und Saint-Georges schien nicht minder betroffen als sie.
„Ja,“ sagte er endlich, „so weit ist sie gekommen, diese große, eifrige Blume. Da sie keine Augen hat wie wir, so ist es wahrscheinlich, daß sie die Sonne als scharfe Lichtscheibe wahrnimmt, und herum ist es schwarz; davon ward sie das Negativ, und so auch wir: Denn der Gott ist das gewaltige Strahlen in der Finsternis; wir aber, finster von Leiden, wir können einmal strahlen, — schön, Renate.“
Langsam ließ sie ihren Blick aus seinen Augen gleiten, ließ auch die Blume los, nickte, sich fassend, und ging an ihm vorüber den Weg hinab.
Saint-Georges sah: Es flatterte und rieselte gelb und grünlich über ihre große, grüne Gestalt; das Kleid wehte nach links in schwerem, gebogenem Bausch, vom Hacken bis zur Hüfte zeigte sich in Festigkeit die Linie des rechten Beines, das sich gegen den Stoff preßte, seltsam lebendig, geheimnisvoll anzusehn, als wäre es der Leib der Dryade, an den Stamm, ins Gezweige geschmiegt. Etwas vorgeneigt ging sie, langsam Fuß vor Fuß, ihr Haar wehte, ein bräunlicher Schleier, die Arme hatten ab und an eine leichte, anmutsvolle Bewegung. Da blieb sie stehn, wandte sich, hob mit sanfter Gebärde das Haar aus der Stirn, so daß es wie ein Winken schien, und Saint-Georges folgte ihr nach.
Flor am Rhein, 9. Nov.
Mein Lieber!
So bin ich doch vom Fenster fort zum Papier geflüchtet. Es ist offen — mein kleines Zimmer liegt im Oberstock des Lehrerhauses —, und lange saß ich davor über dem langsam verdämmernden Garten. Der Tag, den ich ins matte Braun und Grün der Baumwipfel versickern sah, war wolkenverhangen und warm; und wenig anders im Herzen, empfand ich wieder das wolkenverhangene weite Land, durch das ich bis zum Nachmittag gereist war, den achtlos hinjagenden Himmel von grauer und weißer Gestaltlosigkeit und die Einsamkeit alles kleinen Lebens an seinem Grunde, ähnlich dem im dunklen Wasser abgeschlossenen, langsamen mit sich selber Beschäftigtsein von Schnecken, Käfern, Pflanzen, das man am Grunde von Teichen beobachten kann. Und so, wenn ich mich einsam empfand, empfand ich mich doch nicht allein einsam, sondern innerhalb der einen großen Verlassenheit unter dem Himmel, von der ich wußte, daß sie heilbar sei. Mein Auge derweil hielt dem mählichen Dunkelwerden stand, worin sich hier und dort die Gegenwart eines geheimnisvollen Wesens verriet — an dem Blätterwerk eines kleinen Strauches in der Tiefe, am schon entblätterten Ast einer Kastanie, an Blumen ganz unten, die schon nicht mehr zu erkennen waren, und die alle von Zeit zu Zeit sich bewegten, ganz lautlos, so als habe etwas sie verlassen, und sie verneigten sich und murmelten unhörbare Abschiedsworte. Da wars beruhigend, sich ein stilles und unsichtbares Geistwesen zu denken, das hier beschäftigt war, Zuspruch und Beruhigung auszuteilen vor Nacht.
Aber dann kam das Dunkel, und die Einsamkeit überlief mich. Mir schien, ich bin meinem lieben Freund doch eine Erklärung schuldig, warum ich ihm mitten aus der Arbeit fort und hierher in die Heimat gelaufen bin, aber leider — das muß ein bißchen Geheimnis bleiben. Daß man es aus einer rechten Verwirrung heraus getan hat, wird er ja verständig geahnt haben. Sagen aber läßt sich, was man hier suchte — und auch fand —, und um so lieber, weil ich mich erinnere, daß Sie schon mehr als einmal nach meinem Papa gefragt haben und ich damals noch nicht erzählen konnte, will ich es heute tun und nun gleich damit anfangen ohne weitere Vorrede.
Einmal fragten Sie, ob es kein Bild von ihm gebe, und ich sagte: Nur in meinem Herzen. — Photographien mochte er nicht leiden, und an Malern fehlte es wohl. Aber er ist nicht schwer zu beschreiben. Ein kaum mehr als mittelgroßer, etwas gebeugter Mann, an dem Ihnen zuerst seine Nase aufgefallen wäre, die nicht eben schön war und etwa so krumm und mißgestalt wie die von Allmers. Sein Haar, ursprünglich von rötlichem Blond, begann früh weiß zu werden und auszufallen, und ich sehe ihn nun immer so weiß wie in den letzten zehn Jahren seines Lebens. Nur fünfzig ist er alt geworden. Seine Stirn war an Reinheit und edler Wölbe das Schönste, was ich mir vorstellen konnte als Kind. An seinen Augen wuchs ich auf. Sein Geist war feurig, er erregte sich leicht, und dann waren sie blaue Flammen. Wie der Sommerhimmel, wenn ich ihn in die weiße Obstblüte glühen sah, so waren sie und ihr Blick nur schwer zu ertragen. Durchdringend war er, fast durchbohrend, eine unbeschreibliche Mischung von Güte und Strenge. Was aber Strenge schien, das kam allein aus der starken Wahrhaftigkeit seines Willens und Geistes, und sein Herz machte es milde, wie die Strenge des Marmors mild wird in der Seele des Bildes. Sehen Sie, Georges, er liebte die Welt, und er und ich, wir liebten uns so, daß wir uns nie verließen, und was mich betrifft, ich bin krank geworden, wenn ich mehr als eine Stunde Weges von ihm getrennt war. Ich konnte nicht atmen mehr, und das war wirklich. Meine Mutter habe ich nicht gekannt und sie doch niemals vermißt. Er war mein Lehrer; in eine Schule bin ich nie gegangen, auch mit Kindern habe ich selten gespielt, aber ach die unendlichen Spiele mit ihm! Wie wurde da alles lebendig unter seiner Hand, und er bevölkerte meine kleine Welt mit unzählbaren süßen Seelen. Er hatte so viele Gewalt, er konnte Krankheiten heilen durch Handauflegen. Gewiß — nicht Lungenschwindsucht und dergleichen — Sie verstehn. Mir fällt ein: Als Magda krank war, sagte ich es zu Jason, der trübsinnig an ihrem Bett saß, und er sagte in seiner furchtbaren Zerstreutheit: Freilich, freilich, ich kann es ja auch! Es sei gar nicht so schwer, meinte er, man müsse die Geister beschwören. — Die Geister, Jason? — Nun, sagt er, oder die Nerven, ich habe keine Vorliebe für das Wort. Das sei auch so eine Erfindung wie die mit dem Telephon; ein jeder brauchts, aber keiner weiß, wie es zugeht.
Wie aber kann ich Ihnen begreiflich machen, was er lehrte? Er flößte mir sein Wesen ein. An jedem Tage, in jedem Augenblick gab er mir seine strahlende Liebe zu erkennen, und daß sie ein Licht war im größern Licht. Er lehrte nicht Gott. Bedenken Sie, daß ich sieben und acht Jahre alt wurde, ohne das Wort Gott zu hören, und daß ich noch älter geworden bin, ohne mehr und andres davon zu wissen, als daß es der Name aller Völker für ein Wesen sei, das ich lange kannte, also daß es einen Gott der Juden gab, der Griechen oder der Christen. Sehen Sie, Georges, er wollte, daß mir das Wort ganz heilig sei, daß ich mir nicht angewöhnte, es diesem und jenem beizulegen, oder es im Munde zu führen. Er wollte, daß ich es selber erzeugen sollte aus meinem tiefsten Gefühl, und so ist es gekommen. Als ich fünfzehn Jahre alt war, mußte er eine Reise machen und ließ mich zurück, weil ich einmal zu erfahren hatte, wie es ohne ihn sei. Es waren zwei grausige Tage. Ich lag krank am zweiten an Leib und Seele, mir war zum Ersticken in meiner Not, am Abend konnte ich nicht mehr liegen, konnte auch kaum gehen, und halb auf dem Weg ihm entgegen, fiel ich um und lag an einer Hecke, als er kam. Da schrie, da weinte ich: Gott! — unwissend, ob ich den Vater meinte, der wiederkam, oder das väterliche Wesen, das ihn mir wieder gab.
Aber nein, so geht es nicht weiter, ich sehe, man muß sein Leben erst kennen, um verstehen zu können, was er lehrte, denn auch Christus war ihm Gottes Sohn nicht anders, als wir alle seine Kinder sind. Wo fang ich an?
Flor ist nur ein kleines Dorf, abseits vom Rhein, aber die Kirche, die für das ganze Kirchspiel erbaut ist, ist ziemlich groß und sehr hübsch, ein einfaches und leichtes Barock, graue Pfeiler und Bogen und Kanten, dazwischen die Flächen von neuer, schön gelber Tünche. Der Turm ist zierlich, mit einem Kranz kleiner Säulen unter dem Helm, durch die man die Glocken sehen kann, die ein und aus fliegenden Schwalben und den Himmel. Im selben Stil war unser Haus gebaut, das nun nicht mehr steht. Wenige Tage nach seinem Tode schon brannte es ab mit allem, was darin war, in einer Nacht. Damals war manches geheimnisvoll, und auch dies. Das ist nun zwei Jahre her. Die Menschen im Dorf, in der ganzen Gegend haben ihn sehr geliebt. Sie haben nur den Schutt fortgeräumt, einen Rasenhügel aufgeworfen und ihn darunter begraben, denn sein Grab war noch kaum geschlossen. Auf den Hügel haben sie eine alte steinerne Sonnenuhr gestellt, von der er selber einmal gesagt hatte, daß er unter ihr liegen möchte. Unter ihrem Spruch: Demit una, dat altera war Platz für seinen Namen. — Übrigens waren die zwei ersten Lettern der Schrift immer ausgelöscht, und Papa sagte, man könnte also das Wort sowohl als Demit ergänzen wie als Sumit, je nachdem, wie man den Spruch wünsche: die eine Stunde nimmt fort, die andere giebt wieder, oder: die eine empfängt, und die andre giebt hin. —
Dort stand ich nun heut, und im Anfang war es doch schmerzlich, so im Leeren zu stehn. Von der Haustür, an deren Stelle ich mich versetzen konnte, führt eine Allee kleiner Kuppellinden auf die Gittertür des Friedhofes zu; zwischen ihren Stämmen sind mannshohe dichte Hecken, so hoch, daß die Baumkuppeln nahe darüber schweben, im Sommer ein ganz grüner Gang, ganz voll Schatten, Sonnensprenkeln und Lindenduft und tönend vom Summen der Bienen. An jedem Abend gingen wir lange darin auf und nieder. Das Land umher müssen Sie sich vorstellen wie einen einzigen Obstgarten. Nur nach dem Rheine zu sind es Rebengärten, etwas kahl, und der glatte Strom, der sich biegt, scheint öde zwischen den grünen Uferhängen. Aber ich war dort geboren, und er war mir vertraut und sehr lieb.
Ach, Georges, aber das ist auch kein Anfang geworden, und meine tickende kleine Uhr sagt, es ist schon zwölf. Nun, ich bin gar nicht müde und will nun ganz von vorn anfangen und bei meinem Großvater.
Papa sprach selten von ihm, aber Onkel Augustin sagte, er sei unwidersprechlich der härteste Mensch gewesen, den man sich einbilden könne. Stellen Sie sich Onkel Augustin vor, seine Gestalt und Gesicht, ein bißchen kleiner, aber in den rosigen und ewig freundlich scheinenden Zügen eine nicht zu beschreibende Verhärtung. Seine Mutter ist eine Wuppertalerin gewesen, und er sah recht aus wie so ein alter Wuppertaler Fabrikmensch, glatt, freundlich, geistlich und hart. Diese Härte ist aber so innerlich gewesen, daß sie sich niemals unmittelbar äußerte. Gegen alle Menschen, auch die er quälte und zugrunde richtete, war er höflich und scheinbar herzlich; in Gesellschaft verstand er zu plaudern wie ein Franzose, aber sein Witz soll Tränen in die Augen gebissen haben. Er war so, daß er zum Beispiel sagte, er pflege zum Aufschneiden der Bücher, die er lese, ein silbernes Obstmesser zu benützen; davon bekämen selbst die trockensten eine Erinnerung an Früchte.
Onkel Augustin ist ganz in seiner Gewalt gewesen — das waren Kinder auch damals noch mehr als heut —, aber mit meinem Papa traf er es schlecht, der war unbändig. Er war kein gutes Kind, war über die Maßen hitzig, kannte im Zorn keine Ehrfurcht noch andere Grenzen und hatte — ja, er litt unter einem unbezähmbaren Zwang, seinen Gelüsten zu folgen. Zwischen seinem Vater und ihm kam es, als er kaum laufen und sprechen konnte, zu solcher Feindschaft, daß es ihn, Papa, wie er mir erzählt hat, noch als er schon lange erwachsen war, schüttelte in der Erinnerung an manche Szene, und er hatte die qualvollsten Träume. Man muß freilich wissen, daß Vaters Wesen damals, als er Kind war, nicht sein wirkliches war, und die Feindschaft kam aus einer höllischen Gegensätzlichkeit ihres Wesens. Der eine war eben warm, der andre ganz kalt.
Kalt, ja, und hat doch seine Zeit einer Wärme gehabt. — Papas Mutter war ein sanftes, ganz weiches Wesen. An ihr hätte, so sagte Papa, ein Engel nichts auszusetzen gefunden, und sein Vater hatte keine Gelegenheit, seine Härte gegen sie anzuwenden. Zärtlichkeit kannte er zwar nicht, aber — sie war katholisch, und um sie heiraten zu können, ist er es geworden.
Als Papa sieben oder acht Jahre alt war, gab Großvater den Kampf mit ihm auf und steckte ihn in eine von Jesuiten geleitete Erziehungsanstalt. Sie wären, meinte Papa, seinem Vater alle ähnlich gewesen in der äußeren Höflichkeit und Glätte des Betragens und der inneren Verhärtung, und es waren für ihn furchtbare Jahre. Nicht ohne sein Verschulden, gewiß, er verübte tausend Tollheiten, er bemühte sich, ihnen entsetzlich und unerträglich zu werden, als er sah, daß Davonlaufen nichts half, da er stets eingefangen wurde, und wie er es anstellte, ihnen schrecklich zu werden, können Sie sich denken. Er höhnte und lästerte die Religion, er verdarb seine Mitschüler, er kämpfte einen jahrelangen Berserkerkampf gegen das Göttliche, die heiligen Einrichtungen und Symbole bis zu den schmählichsten und ausgesuchten Lästerungen. Dies war in ihm wie ein wüstes Feuer, und er war klug und erfinderisch, und als er im Unterricht auch die heidnische Götterwelt kennen gelernt hatte, stellte er sich als Heide, behauptete, das Blut oder die Seele irgendeines Griechen oder Römers in sich zu spüren, und statt zur Mutter Gottes oder einem Heiligen zu beten, sprach er mit lauter Stimme Anrufungen an Isis oder Dionysos. Denen errichtete er insgeheim Altäre in der Absicht, daß sie entdeckt würden, feierte mit selbsterfundenen oder gar den kirchlichen Riten ihre Kulte, ja, und dann endete es, glaub ich, damit, daß er eine Katze umbrachte, um sie dem Poseidon oder Ares Opfer darzubringen. Da haben denn auch die frommen Väter den Kampf aufgegeben und ihn heimgeschickt. Drei Tage später saß er im Kadettenkorps.
Das war wenige Jahre vor dem Krieg 1864, den er als Junker mitgemacht hat. Im Korps tat er zwar kaum besser als bei den Vätern Jesuiten, aber jenes schwarze Feuer der Gottlosigkeit fand dort keinen Stoff, um zu brennen, und alt genug war er auch geworden, um einzusehen, daß er den Erwachsenen ausgeliefert war, und daß er nichts Klügeres tun konnte, als sich zu beeilen, gleichfalls erwachsen zu werden; so nahm er sich mit seinen Tollheiten, nächtlichen Gelagen und Kartenspielen und was es nun war, einigermaßen in acht. Obschon er nicht aufhörte, alles Religiöse, vor allem die frommen oder frömmelnden Äußerungen der Mitschüler zu verspotten, sagte er mir, daß mit dem Abfallen jenes schaurigen Zwanges der Gotteslästerung eine wahrhafte Erleichterung über ihn gekommen sei.
Trotz allem diesem hat er nicht so wenig gearbeitet und gelernt, nur eben aus Trotzigkeit nicht im Unterricht; für sich allein aber trieb er beispielsweise Italienisch und Spanisch. Wenn aber in der Klasse Thukydides gelesen wurde oder Cicero, so las er im Gegenteil Pindar und den verbotenen Catull oder die Begebenheiten des Enkolp — ach, er war schrecklich!
Das Schlimmste daran, jedenfalls für ihn, war, daß er sich zwar weder kannte, noch anders konnte, daß es aber im Grunde eine unaufhörliche Qual gewesen; daß ihm immer bewußt gewesen ist, falsch zu handeln, zu denken, zu fühlen, so als sei er einmal vergiftet worden und müßte Gift ausschwitzen bei jeder Erregung. Onkel Augustin hat mir erzählt, als wir über dies alles sprachen, daß Papa als ganz kleines Kind beim ersten Sehen seines Vaters in ein heftiges Schreien und Weinen ausgebrochen und noch lange Zeit später seinem Anblick niemals begegnet sei ohne Geschrei, ohne Tränen, dergestalt daß er späterhin — Onkel — sich des Gedankens nicht habe erwehren können von einem schaurigen Spiel der Natur, und daß Papas Dasein von Anfang an auf ein falsches Geleise gesetzt worden sei, von dem frei zu kommen die gefangene törichte Seele kein Mittel gefunden habe. — In der Jesuitenschule hat er einen Freund gehabt, einen sehr alten Mann, der keinen Unterricht mehr erteilte, seine eigenen Wege ging und sich — freilich immer in dem vom Glauben gezogenen Rahmen — mit naturwissenschaftlichen Forschungen beschäftigte, auch mit Sternkunde und Astrologie. Der habe, erzählte Papa, ihm wie jedem neuen Schüler das Horoskop gestellt, und was er erfuhr — er verriet es nicht —, muß ihn bewogen haben, den Knaben in seine Nähe zu ziehen. Nun war sein Äußeres so ehrfurchtgebietend, daß Papa ihm gegenüber sich hat beherrschen müssen. Sicherlich erfuhr der alte Mann — Bruder Jucundus, so hieß er — von den Lehrern der Anstalt alles über den Jungen, was ihm selber verborgen blieb. Er hat aber nie etwas andres getan, als ihm beim Betreten und Verlassen seiner Zelle die Hand auf den Kopf zu legen und in sein Auge einen Blick zu senken, dem der Knabe vergeblich standzuhalten versuchte. Er ließ ihn teilnehmen, auch mit den jungen geschickten Händen helfen bei seinen Untersuchungen mit dem Mikroskop und den chemischen Experimenten, wies ihm an klaren Abenden die großen Himmelskörper im Fernrohr, abgesondert vom Firmament, und ohne eine Erwiderung je zu verlangen, lehrte er ihn nicht nur die Kenntnisse, sondern das Walten der göttlichen Vernunft in alldem, und daß Stern und Tier und Pflanze und Menschenherz nur Äußerungen seien eines ewigen Willens. Seltsam sei es gewesen, sagte Papa, daß er die Stunden mit dem Greis allzeit als schön, als rein, als wundervoll empfand, und daß doch mit dem Augenblick, wo die Tür hinter ihm zufiel, wo noch der unwiderstehliche Abschiedsblick in ihm brannte, die Luft des Flurs, des übrigen Hauses als dumpfe Wolke sich über ihn gesenkt habe. Im Augenblick habe er vergessen müssen, krampfhaft und doppelt gereizt zum alten Treiben.
Beim Verlassen der Anstalt hat Pater Jucundus ihm dann ein einziges Wort gesagt. Er sagte: Ich weiß alles von dir, mein Sohn, habe es immer gewußt, und Damaskus ist nun nicht mehr fern. Gehe mit Frieden! — Dies, und mehr noch der gütevolle, ja vertrauensvolle Ausdruck, mit dem es gesagt wurde, hat Papa noch lange bewegt, ehe er es vergaß.
Es vergingen aber seit seinem Abschied von dort noch vier Jahre. Dann, wie ich schon sagte, machte er den Feldzug gegen Dänemark mit, und da traf er sein Schicksal.
Lieber Georges, nun ists aus, und ich kann nicht mehr. Halb drei ist, mein Licht ganz heruntergebrannt, ich bin todmüde, so schön die Nacht eben ist. Aus der Tiefe des Gartens steigt so ein feines Duften, das Schlafende atmet stärker, auch reiner als am Tag, und immer wieder hör ich ein ganz leises Knistern — Regentropfen auf Zweigen —, und da fühl ich so schön: die Natur schläft und trinkt zugleich wie ein ganz kleines Kind. Die gute Natur! Sie ist geduldig und voll, und wir sind schlaflos und rastlos und verstehen uns nicht in ihrer Fülle.
Am 10. (vormittags)
Gestern kam ich vor Schläfrigkeit nicht mehr dazu, Ihnen zu sagen, daß ich den ganzen Tag noch hierbleiben muß. Der Lehrer hat nicht reinen Mund gehalten über mein Hiersein, nun weiß es die ganze Gegend, und alle wollen mich sehn. Aber es gießt vom Himmel in Strömen, ich kann nicht aus dem Haus, und keiner kann zu mir. Da sitzt sichs schön in der Verschleierung und Regenkühle dicht am offenen Fenster, mitunter spritzt was herein, also was da Flecken sind in der Schrift, das ist aus den Augen des Himmels gefallen und nicht aus meinen.
Und nun gehts weiter.
Sie wissen von dem Übergang der preußischen Truppen über den Sund und der Erstürmung der Insel Alsen am 29. Juni. Er war dabei, in großen Kähnen setzten sie über, und als der Morgen graute, wagten sie die Landung.
So hat er mirs zwanzig- und hundertmal beschrieben. Die lange Nachtfahrt, lautlos, ohne Licht, mit umwickelten Rudern, dann das schaurige Ergrauen der Welt im Osten, das Schwinden der Sterne im kalten Nachtraum. Ihm war schon schauerlich um das Herz; obwohl er seine Erregung nur für Abenteuerlust hielt, schien es ihm mehr, als führen sie alle zu einem Fest der Sonne über das dunkel Unsichtbare, dessen Dasein seltsam plätscherte an den tastenden Rudern, als zum Sterben und Töten. Als einer der Ersten sprang er dann in das flache Wasser. Es ward bereits hell; die Umrisse der Insel erschienen deutlich im Morgengrau, und das Letzte, was mein Vater sah, war am bleichen Osthimmel der eisige Morgenstern und seine schreckliche Verwandlung. Denn da fiel ein Schuß, er spürte einen allmächtigen Schlag auf die Brust, nein, mitten auf das Herz, und in einem ungeheuren Erdonnern fand er sich angedroht von dem gewaltigen Stern wie vom Auge der Welt.
Ihm schwanden die Sinne; er lag, als er erwachte, am Ufer; und da war er ein anderer Mensch.
Und wie ging es zu, Georges? Er hatte in seinem Besitz eine alte große Münze, die er bei einem seiner ersten Besuche in der Zelle seines alten Freundes an sich genommen und später nicht zurückzugeben gewagt hatte. Die war ihm eigentümlicherweise in die Hand geraten am Tage, wo er seinen Koffer für den Feldzug packte, und in einem unbegreiflichen Gefühl, wie unter einem unwiderstehlichen Zwang hatte er, da ein Loch darin war, eine Schnur durchgezogen und sie um den Hals gehängt auf die nackte Brust. Er zog sie hervor, als er am Ufer der Insel in der Morgensonne lag; ein Geschoß steckte darin, und sie war blutig, da es noch in seine Brust eingedrungen war.
Nicht wahr, Georges, das scheint nicht eben viel, ein glücklicher Zufall, nichts weiter, und ich glaube wohl, man müßte es alles erlebt haben, um es zu begreifen: die nächtliche Fahrt, die Waffen, die morgendliche See und den Feind im Verborgenen, den bleichen gewaltigen Himmel und den Stern und vorher das ganze gequälte Leben: um zu fühlen, daß eine Hand ausfahren kann aus dem Unendlichen, um ihren Finger auf eine Brust zu setzen, während das Auge des Ewigen dich bedroht.
Ja, so war sein Damaskus. Er hat dann den Feldzug noch mitgemacht, ohne freilich mehr an den Feind zu kommen, hat danach sein Abschiedsgesuch geschrieben und ist mit bewilligtem Urlaub ins Riesengebirge gefahren. Er fand dort eine Stelle, wo er in fast völliger Unabhängigkeit von Menschen und in Einsamkeit leben konnte, und dort ist er länger als ein Jahr geblieben, indem er gewann, was er gewinnen sollte: die Einsicht in die vollkommene Ordnung der Welt.
Verstehen Sie, Georges? Die Weisheit Kaiser Mark Aurels, ‚die von Ende zu Ende reicht und stark und sanft alle Dinge ordnet‘. Ganz gewiß, diese wars, die er einsehen lernte, und die ward sein Glaube. Aber welcher Art war diese Einsicht? Sie hat ihn erfüllt wie ein Odem, so war sie überall, und jedes Ding von ihr lebend, sie, die ewige Weisheit, deren Walten die Liebe ist. Aus Neigung und Abneigung der gewaltige Einklang, und daß alles Beseelte beseelt ist vom Streben nach Neigung und nach dem Einklang.
Ich weiß nicht, ob Sie ganz verstehen, oder ob Sie vielleicht fragen, wie mancher fragen wird: Warum, wenn eine Vollkommenheit ist, warum ist sie so, daß ich sie nicht zu sehen bekomme, indem es mir elend geht?
Nun, auf diese Frage hatte er allerlei Antworten, und eine sehr einfache ist mir im Gedächtnis geblieben. Er sagte: Wenn einem Menschen, der niemals ein Bauwerk gesehn hat, ein einzelner Stein gezeigt wird, so wird es ihm auf keine Weise gelingen, sich eine Vorstellung zu machen von der Vollkommenheit des Gebäudes, das sich aus einer Anzahl solcher Steine errichten läßt. Und, die Vernunft des betrachtenden Menschen in jenen Stein übertragen, so wird auch der Stein keine Vorstellung haben können. Darum, wie hoch auch die Vernunft eines Teiles sein kann, so wird er doch niemals eine Vorstellung gewinnen können von der Ordnung des Ganzen, dem er zugeteilt ist, ja das durch ihn besteht. Daß aber der Mensch nur ein Teil ist, kein Ganzes, wie jedes Ding, das braucht nicht bewiesen werden.
Nein, höre ich meinen klugen Freund sagen, denn sonst würde er nicht zeugen, — immerhin aber ein sehr schwerer Glaube für Menschen, und gab es keine Erleichterung?
Freilich wohl, und eine vor allem. Er hatte doch in einem Augenblick seines Lebens diese Vollkommenheit wirklich gesehen. Ja, Georges, er hatte ihren Finger gefühlt leibhaft, mitten im Herzen — das heißt, er hatte Allmacht gefühlt, sie, die ihm dann in seinem einsamen Jahr wieder erschien in anderer, nicht mehr bedrohlicher Gestalt, eben als die Vollkommenheit. Also konnte sie offenbar werden. Und so war dies sein Erkennen und sein Glaube, daß sie beherrscht war von einer süßen Neigung, offenbar zu werden. Liebe, das war die Kraft, die all die Myriaden Teile dieses Ganzen zusammenhält, und so war es ihm durchzogen von einem schimmernden Netzwerk von Offenbarungen. Lassen Sie es mich noch einmal sagen: als er Einsicht gewann in die ewige Weisheit, da ward sie ihm so feurig leibhaftig, so odemvoll lebendig, so schnaubend regsam in ihm und reich an unendlichen Sinnen und Kräften, daß sie sich von einem persönlichen Gotteswesen, wie Andere es für wahr halten, nur durch die Eigenschaften unterschieden haben mag, die eben die Andern ihm beilegen. Sie hatte ja fast Züge, und mir, Georges, mir sah sie schon ganz aus wie mein Vater. Sehen Sie, Freund, Gott ist immer ein und derselbe, und verschieden sind nur die Wege.
Ein wundervolles Gewebe von Offenbarungen, das erfüllte ihm die Welt, und überall konnte dessen Feuer hervorleuchten, aus einer Blume, aus einem Stern, aus Kindesmund, aus der Bibel. Der Einfältigste konnte es empfinden, und der Weise es auslegen. Ja, so stark sei der Wunsch Gottes, offenbar zu werden, daß die Offenbarung nicht wahr zu sein brauche an sich, sondern allein wahr durch den Glauben des Herzens, und Spiritismus und Okkultismus, Bibelauslegung und Zungenreden der Sekten — all das galt ihm so lange für ernst, wie er den Ernst zu sehen glaubte in der Seele des Menschen. Er selbst glaubte fest an die Sterne, und das war der Grund, weshalb ich geboren wurde.
Das ist nun aber mal furchtbar komisch gewesen. Er glaubte an die Sterne, ihren Zusammenhang untereinander und unseren mit ihnen, wie schon sein alter Lehrer, Pater Jucundus, ihn unterwiesen hatte. Und so — nachdem er gründliche Kenntnisse in der Sterndeutekunst erworben hatte — glaubte er auch, daß ein Mensch, zu einer bestimmten Stunde gezeugt, zu einer bestimmten Stunde geboren, gewisse, in den Sternen ausgedrückte und erkennbare Eigenschaften auf die Welt bringen würde. Und nun sehen Sie, Georges: es ist alles eingetroffen, Zeugung und Geburt zu den vorgesetzten Stunden, und gewisse Eigenschaften auch, bloß — er hatte alles berechnet auf einen Sohn, und es kam eine Tochter, nämlich ich.
Papa, als er es mir erzählte, sagte, er sei im Leben nicht so verblüfft gewesen. Er hatte die Möglichkeit, daß es kein Sohn werden könne, überhaupt nicht im entferntesten geahnt und wollte nicht glauben, was er sah. Nachher freilich habe er auch lachen müssen wie nie im Leben. Er sah nun ein, daß die Vorsehung sich zwar erkennen läßt, aber in keiner Weise beeinflussen. Im übrigen stimmte, wie gesagt, die Sternenberechnung durchaus, und auch ich hatte gewisse Eigenschaften bekommen, die jene Stunde der Geburt einem weiblichen Kinde verleihen sollte, und weiter noch hat es sich in meinem Leben gezeigt, daß von drei ‚Schicksalstagen‘, als welche auch in der Sternauslegung eine große Rolle spielen, der erste eingetroffen ist — die andern verriet er mir nicht —, sein Todestag.
Aber davon später; wir verließen ihn ja im Riesengebirge, und ich will weiter erzählen.
Nun wieder nachts
Es ist doch Besuch gekommen, und ich hab abbrechen müssen. Gegen Mittag hat das Wetter sich dann aufgeklärt, ich konnte meine Besuche machen, und um ja zu recht Vielen zu kommen, hab ich einen Wagen anspannen lassen. Das war eine Fahrt! Der Himmel so blau, die Erde dampfte ganz wild in der Sonne, und über das lächelnd Blaue flog immerfort Weißes, als würden lauter Tücher emporgeworfen, immer dahinten, wo man nicht sein kann. Die Obstblüte, dahier das Schönste, ist ja leider zu andrer Jahreszeit, aber dies Grün, o dies nasse, schwere Grün der Bäume und Wiesen, und noch Blumenfarben in den kleinen Gärten und die blitzenden vielen Silberkugeln und die blauen, die sie lustig hineingestellt haben, und in denen man den Himmel sehn kann und alles, mitten zwischen den Blumen. Vor jedem Dorf auf der Landstraße kamen die Kinder mir entgegengelaufen, alle kleinen Hände voll Sträuße, mein Wagen ist so voll geworden, daß sie an den Seiten wieder herausfielen, und aus den Haustüren traten die alten Leute, lachten und weinten — sicher hab ich zwanzigmal Kaffee getrunken, na und Kuchen so viel, daß ich kein’ Atem mehr kriegen konnt, und geredet! Das sind ja dahier rheinische Menschen, nicht so plump wie der Bayer und so derb, auch nicht so verschlossen wie der Bauer im Norden, sondern treu- und offenherzig und redselig, und o fein sind wir und gebildet, und wie war ich froh, daß ich ihr Schwäbisch noch hab verstehen können! Ach, daß sie mich Alle gern mögen, weiß ich ja auch, aber eigentlich hat es alles doch ihm gegolten, und ich bin ja auch sein Geschöpf, und ich hab wohl gesehen, daß ihnen Allen so lustige kleine Spruchbänder vom Mund wegflogen, wie auf den Bildern im Mittelalter; wo aber auf denen jedesmal der Name der Person aufgemalt ist, da hat immer sein Name gestanden —, ach lieber Freund, ganz satt und trunken haben sie mich gemacht mit ihrer Liebe zu ihm!
Und ich muß nun, wenn ich weiter erzählen will, im Gegenteil von Lieblosigkeit reden, aber es wird ein Übergang sein, und halt läßt es sich nicht ändern.
Er hatte, bevor er in seine Einsamkeit ging, dies Vorhaben und seine Notwendigkeit seinem Vater nur schriftlich mitgeteilt und keine Antwort empfangen. Ins Haus zurückkehrend, mußte er von der Dienerschaft erfahren, daß seine Mutter gestorben war, und daß sie den Auftrag hätten, ihn am Eintritt zu verhindern. Er kehrte um, eine Adresse zurücklassend, um die er gebeten wurde. Der Großvater schrieb ihm, daß er nunmehr satt sei der Unbotmäßigkeit. Er möge sehn, was er treibe, ihm jedoch nicht früher vor Augen kommen, als bis er im Besitz eines Berufes sei, der ihn ernähre. Die Unterstützung hierzu könne er alljährlich bei einer Bank beheben. —
Papa hatte nun das Glück, einen wundervollen Aufschwung all seiner Kräfte und Fähigkeiten zu erleben. Die Offenheit der Welt war in ihm, und was in ihn stürzte, war Reichtum der Welt und kostbare Nahrung. In der Einsamkeit hatte er zu der großen ersten Erkenntnis eine zweite, für sein tätiges, sein gleichsam persönliches Leben gültige gewonnen — die seiner Berufung zum Priester. Zum Priester ja, und weniger zum Verkünder, zum Apostel, sosehr er glaubte, damals, im mächtigen Feuer seines Gottesgefühls glaubte, den Schatz einer neuen Religiosität gefunden zu haben. Jedoch hatte er bei aller Leidenschaftlichkeit keinerlei Anlage zum Revolutionär, ja, er verabscheute das Revolutionäre, das Zerstörerische daran und auch die Gewaltsamkeit neuer Formung. Da allezeit kaum der hundertste Teil von dem, was der revolutionäre Geist erstrebt, seine Verwirklichung in der menschlichen Gemeinschaft findet, so schien es ihm ersprießlicher und seinem Wesen gemäß, die Verwirklichung des von ihm Erkannten zu erstreben und versuchen im einfachen Wirken. Bilden, sagte er, im menschlichen Stoff, ist Umbilden; ist, den guten, den brauchbaren Keim zu erkennen und, ihn entfaltend, die alte Form zu durchwirken und umzuschaffen.
So ging er fürs erste daran, die menschlichen Wissenschaften vom Göttlichen sich zu eigen zu machen, indem er zunächst Theologie studierte, später auch Philosophie, Natur- und Sozialwissenschaften. Dazu erwarb er reiche Kenntnis in den lebenden und toten Sprachen, sogar im Sanskrit und der Bilderschrift der Ägypter, überall aus den Quellen selber zu schöpfen geneigt. Erst fünf von den zehn Jahren, die er daran setzte, waren vorüber, als sein Vater die Zahlung der Unterstützung einstellte mit der Begründung, es sei ihm zu Ohren gekommen, daß er mit einer Weibsperson zusammen lebe. Er möge sie aufgeben oder ihn. Papa mußte dies Ansinnen leider abweisen. Durch seine Verheiratung mit jener Weibsperson, meiner Mutter, einige Jahre später, und seinen gleichzeitigen Übertritt zum Protestantismus, zog er sich die väterliche Verfluchung zu. (Seltsam, nicht wahr, daß der Großvater am Sohn nicht anerkennen wollte — ja, vielleicht nicht einmal erkannte —, was er selber im gleichen Alter getan hatte!) Er ließ ihn wissen, daß er fortan nur noch einen Sohn habe, und er hielt dies Wort so, daß er auch die Beziehung zwischen Papas Bruder und ihm gewaltsam verhinderte und ihn nicht rufen ließ, als er starb. Papa hat ihn nur als Leiche wiedergesehen. — Lassen Sie mich aber nun erst von meiner Mutter erzählen.
Nachdem jener Schuß auf Alsen Papa getroffen hatte, lag er noch zwei Tage an der Küste von Schleswig in einer seltsamen Gelähmtheit, die er erst am folgenden Morgen verspürte, fast weniger der Glieder als des Willens, bei dänischen Bauersleuten, die ihn pflegten. Besonders nahm sich ein Mädchen seiner an, noch halb ein Kind, das in jenem Haus aufgewachsen war, aber ihm nicht entstammte. Sie war eine Deutsche und dies alles, was man von ihr wußte. Eines Morgens war das Kind auf dem trocknen Strand in einem Korbe gefunden worden, ohne Zweifel in einem Boot hergebracht. Ein Zettel von männlicher Hand mit der Bitte, sich des Kindes um Gottes willen anzunehmen und es zu taufen, verriet so viel, daß es nicht von bäurischer Herkunft war, was sich denn auch erwies, als es heranwuchs und von übergroßer Zartheit des Leibes ward. Nicht eben schön, von sehr schmächtigem Wuchs und auch schmächtigen, länglichen Zügen, blond und helläugig mit jenen starken Augäpfeln, wie man sie nicht selten sieht bei so zarten und schmächtigen Geschöpfen, so kenne ich sie nach ihrem einzigen Bild. Sie war so still wie ein Licht, und wie das Licht nur Flamme ist, so verzehrte sich in ihr eine goldene Seele von lauter Feuer. Seit dem Augenblick, wo sie meinen Vater erblickte, hing ihre reine Jungfräulichkeit ihm an, und er wurde der Leuchter, der die allzuglühende Flamme noch so lange dem zarten Körper erhielt. Muß ich sagen, daß und wie sehr er sie liebte? Sie wich nicht von ihm. In die Einsamkeit zog sie mit, freilich nur bis zu einem Dorf in der Nähe seines Aufenthalts, von wo sie ihm alltäglich Speisen brachte. Später lebten sie dann ehelich zusammen, merkwürdigerweise lange Jahre, ohne Kinder zu bekommen. Denn auf jenen Einfall der Sternengeburt ist Papa erst viel später gekommen, und obschon sie dann eine Pause eintreten ließen im ehelichen Umgang, bis sich die Stunde erfüllte, schien ihm die anfängliche Kinderlosigkeit grade ein Zeichen, daß alles sich so vollziehn sollte, wie es dann geschah. Aber ach, sie hat mit dieser Geburt ihre Kraft erschöpft! Fast nur noch Seele, glühte sie in grausamer Schnelle nieder, und sie erlosch ganz, anderthalb Jahr nach meiner Geburt, freilich in der inbrünstigen Gewißheit, nunmehr erst zu reiner Flamme aufzublühn in der Vollkommenheit und überall zu sein wie das Licht.
Ich habe, soviel ich vom Vater bekam, doch manches von ihr ererbt. Sie muß eine Norddeutsche gewesen sein, nach ihrem Charakter und allem, was man von ihr weiß, und übertrug so auf mich, was schon von Voreltern her Nördliches im Blut des Geschlechtes war und was mein Vater entbehrte, dessen Ungebärdigkeit und plötzliches Wesen erst in späteren Jahren zur Ruhe kam, zu einer mehr gleichmäßigen Glut sich verdichtete.
Was aber nun ihn angeht und seinen Beruf, so hatte er inzwischen einsehn gelernt, was ich schon sagte: daß Gott der Eine ist, verschieden nur die Wege. Er wollte Neues bringen, einen neuen Weg, aber nicht mit Schrecken und Übermaß, sondern allein durch das Wirken von innen. Er hatte auch die Menschen kennen gelernt und sah, daß sie des Priesters bedurften, die Einfältigen wie die Klugen, des Hülfreichen, Heilenden, so gut wie ihr Körper des Arztes, und dies wollte er sein. Ja, wenn er einen neuen Weg zu finden gemeint hatte, so war er ersichtlich doch neu nur in seinen Augen und uralt in Wirklichkeit, daher es seinem Wesen widerstrebte, als neu auszurufen, was es in Wahrheit nicht war. Längst erkannt hatte er auch Jesus von Nazareth und sein ewig Gültiges, obschon er ihm mehr durch sein Leben als durch sein Sterben jene ‚stark und sanft alle Dinge ordnende Weisheit‘ zu vertreten schien. Und wenn sie ihn nicht gekreuzigt hätten, sagte er, würde er nicht gen Himmel gefahren sein nach solchem Leben? Also kann ich mit Recht den Kreuzestod überschlagen, aus dem sich doch, wenn man die Summe zieht, zwar die Kraft seines Wesens und Glaubens, aber mehr noch die Unvernunft der Menschen ergiebt, und die, sagte er und lachte, ist schon anderweitig bekannt geworden. Er unterließ nicht, auch das Blutzeugnis Christi anzurufen, wenn er an die Kraft der Gläubigkeit im Menschen gemahnen wollte, aber seine Abendmahlspredigten — nun, ich werde sie Ihnen daheim zu lesen geben.
Er hatte ferner erkannt, daß der einfache Mensch der Satzung bedürftig sei und des Dogmas, aber daß es Beruf und Aufgabe eben des Priesters sei, diese auszulegen auf den rechten Gebrauch, damit sie würden, was sie sein sollen: Mittel des Lebens, Hülfen, Ordnungen, nicht aber was die Menschen allzeit aus ihnen gemacht haben: Ketten, Hindernisse und Kerker und Fallen, die sie unaufhörlich einander stellen. Er erkannte endlich, wie schwer es sei, sie zu seiner Einsicht zu führen, die für ihre Augen zu blendend war, und daß sie der lindernden Spiegel bedurften, um den ewigen Strahl zu ertragen, um ihn zu lernen, bevor sie ihn ungeschützten Auges empfingen, — aber auch daß es überall die Wenigen gebe, die der Wahrheit ins Antlitz zu schauen vermögen; daß es seine Aufgabe sei, vor allem diese zu finden, zu bilden, zu einer Gemeinschaft zu gestalten, die weiterhin sich auswirke.
Priester des katholischen Bekenntnisses zu werden, war ihm solchermaßen unmöglich, da er keinen Stellvertreter des Ewigen auf Erden anerkennen konnte. Im Kern der protestantischen Lehre dagegen, dem: so halten wir es nun, daß der Mensch gerecht werde nicht durch des Gesetzes Werk, sondern allein durch den Glauben, fand er den Quell seiner Lehre wieder, die mit der Einsicht in das Wesen der Vollkommenheit beginnt, die eine Religiosität und Lehre freilich sein soll für das Leben und das Handeln, in der aber jegliche Handlung erst möglich wird durch den Glauben. — So ist er Protestant geworden und verknüpfte mit dem Übertritt die äußerliche Form der Ehe mit Mama, die zuvor nur vor Gottes unsichtbarem Altar geschlossen war.
Sehen Sie, lieber Freund, welch schwerer Glaube es war, den er seinem Kinde von Anbeginn lehrte, nur mit dem einen lindernden Spiegel, dem Augenpaar ewiger Liebe unter seiner eigenen Stirn. Denn eines war für den Menschen in dieser Lehre nicht enthalten; eines, dessen mit allen Religionen auch das Luthertum, das er auf der Kanzel vertrat, nicht zu entraten wußte; die eine gewaltige Hülfe Gottes im Leben: das Gebet. Ja, die Wenigen, die er ganz für sich gewann, des Gebets zu entwöhnen, war die schwerste, war ja die eine, eigentliche Aufgabe. Denn sie ist, die Vollkommenheit, ist, und sonst nichts. Erflehen läßt sie sich nicht, sondern allein empfinden, und dies ist die Aufgabe, die sie auferlegt, so ganz von ihr erfüllt zu sein an Seele und Gliedern, sie so aufgesogen zu haben in das Sein, ins Fühlen und Denken und Handeln, daß sich in ihr leben läßt, und daß Leben heißt, sie ausstrahlen. Und davon die Folge? Daß in jeder Lebensnot, jeder Gefahr, in aller Ungeduld und Verwirrung und Trübsal der Mensch allein angewiesen ist auf sich selbst. Nichts ist, was sich erbitten und beschwören, was um Halt, um Erleuchtung, um Linderung sich anrufen ließe. Man muß glauben. So viel gab er wohl zu, daß ein Streben in der ewigen Weisheit walte, eine Neigung, zurückzugewinnen, was aus ihr gefallen sei, entgegenkommend dem Streben des Gefallenen selbst. Verwirrung dagegen ließe sie kaum noch gelten, sagte er, und was überhaupt die große Mehrzahl der Daseinsnöte angehe, alltägliche Kümmernisse und dergleichen, so möge sich keiner einbilden, daß sie, die Weisheit, eine Ahnung davon habe, und möge sich für sich allein damit abfinden. Wohl habe das Göttliche eine Sehnsucht danach, ausgestrahlt zu werden vom letzten Punkt der Erde, und eine Freude daran, sich zu ergießen in jede willfährige Stelle; sie bemühe sich aber so wenig um das Taube wie um das Blinde, und das hingegen möge der Mensch selber besorgen.
Man muß glauben; und ich, ach ich habe es bald erfahren, denn hier bin ich ja, heute wieder geheilt, aber die Verwirrung, in der ich kam — ach wie klein seh ich sie nun! —, war doch so stark, daß sie alles umwarf in mir und mich hertrieb zu der ganz irdischen Stelle, wo ich einst alles hatte, Gott und Glauben und Vater und Heimat und Seelenruhe, alles in ihm, der zu frühe ging und als ich noch lange nicht fertig war.
Als er starb, da glaubte ich es zu sein. Das war so:
Er legte sich nieder in seinem fünfzigsten Jahr mit Lungenentzündung und sagte gleich, er wisse, daß es das Ende sei. Er sagte das mit einem furchtbaren Gram der Sorge um sein Kind, und bald, als er das Bewußtsein verlor und delirierte, war aus den Worten, die er hervorstieß, zu erkennen, daß er von nichts anderem gequält wurde als einer maßlosen Angst, mich schutzlos, unfertig zu verlassen, und ins Ungemessene stieg auch die meine. Plötzlich war dann für mich alles aus. Was geschehen ist, weiß ich kaum. Von Papas Bruder, den ich gerufen hatte, dessen Kommen ich aber schon nicht mehr wahrnahm, erfuhr ich später, daß ich bewußtlos dagelegen habe und wie von Stein. Und dies sieben Tage. Er hat mir nicht sagen wollen, was unterweil mit meinem Vater geschah; sein Grab war, als ich aus einem tiefen und reinen Schlummer erwachte, eben geschlossen. Vorher, vor dem Schlummer, so viel nur weiß ich, war das Entsetzliche. Es hatte keinerlei Gestalt, doch ich weiß, daß es Kampf gewesen ist. Ein Kampf um Leben wurde ausgefochten, ich weiß nicht von wem, aber mein Vater hat teil daran gehabt wie ich selbst. Wer gesiegt hat in dem Kampf, auch das ist mir unbekannt geblieben, aber mein Vater starb. Später sagten sie mir, die Vögel der ganzen Gegend hätten nicht gesungen noch gezwitschert in jenen sieben Tagen, — und was es bedeutet, werden Sie verstehen, wenn Vetter Josef sagte — er war mit seinem Bruder zum Begräbnis gekommen —, daß er niemals eine so vollkommene Reinheit der Luft eingeatmet hätte wie während jener Tage im Haus.
Es war früher Morgen, als ich zu mir kam aus dem schönen Schlaf, — Ende des März wars, und in mein Fenster zu ebener Erde herein blühten die Kirschbäume des Gartens. Am Fenster stehend, so erquickt, als sei ich in Himmel gebadet, sah ich ihn über den Wolken der Blüte, erwacht wie ich selbst, seiner wieder froh, vollkommen rein und leicht wie das Licht. Daß Papa nicht mehr war, wußte ich auf einmal; aber kein Schmerz! So wie damals in seine Brust der Stern, aber liebend traf mich von oben sein wieder ewiges Auge. Es machte mir zum Hause die Welt; es legte mich mit Blumen und Sternen und Häusern und für immer an seine Brust.
Damals, ach damals war ich stark in seinem Glauben wie nicht vorher, nicht nachher. Ja, noch so stark, daß, als ich eine Woche später das Haus verschloß, um in die Schweiz zu fahren, so schmerzlich mich das Scheiden von allem bewegte, was sein, was doch leiblich an ihm gewesen war, süß und haltbar, — daß ich als ganz leicht die Ahnung empfand, ich würde das Haus nicht wiedersehn. Und selbst als ich, wieder eine Woche danach, die Nachricht bekam, daß es niedergebrannt sei, weinte ich wohl, aber ich hielt es für gut und schön, daß auch die weitere Hülle seines irdischen Daseins nicht mehr sein sollte.
Seitdem bin ich schwächer geworden und so schwach, daß ich nun hier sitze. Er war gut zu mir wie je, ließ mich die Schwäche nicht entgelten, sondern blickte mich an aus allem, aus seinem Hügel und der stillen Uhr, aus Bäumen und Wolken, und es fiel mir bald leicht, ihm zu versprechen, daß es das erste und das letzte Mal gewesen sein sollte.
Sein Blick nämlich erinnerte mich an eine kleine besondere Lehre, ein privates Haben von ihm, das er mir mitteilte, und dem freilich viel in meiner Natur entgegenkam — die Lehre vom Warten. Wie er sein Damaskus gehabt hatte zur festgesetzten Frist, so glaubte er — jawohl, ein bißchen abergläubisch! — an bestimmte Stunden, in denen lange Gereiftes zur Vollendung komme, an Tage, in die das Schicksal sich sammle, und — wieweit er recht hat, weiß ich zwar nicht, aber in mir kam immer alles ihm entgegen, wenn er von der Pflicht sprach, geduldig zu sein, ohne Unrast, nicht bitter zu werden vor der Reife, nicht kränklich im Sehnen, sich nicht zu vergeuden, nicht zuzugreifen nach allem, was scheine, nicht den edlen Hunger zu speisen mit nichtigen Happen, stark und eifrig nur in jedem Streben nach einem Guten, dem Glück, da es doch niemals nütze, die vorbestimmte Frist durch Übereifer und trabende Füße zu quälen, so wenig es im Eisenbahnwagen helfe zu laufen. Ja, schön, nun weiß ich das alles wieder recht gut, und doch wäre ich gern den Gang auf und nieder gerannt im Eisenbahnwagen, um schneller hier zu sein und die Stillung zu empfangen für das innre Gerenn meiner letzten Wochen.
Sie aber wissen nun auch, lieber Freund, weshalb ich Ihnen so dankbar bin für das Geschenk des ägyptischen Königs, und weshalb ich ihn so sehr liebe, Ech-en-Aton, unseren Freund! Daß ich sein Antlitz erkannte als reinen Spiegel der Weisheit; daß ich an seinem Auge sehe, wie es blind und selig ins Herz des ewigen Wesens blickt und sein Strahl es nicht blendet; daß er nur immer dasteht seit Ewigkeit und sich müht, die Vollkommenheit aufzufangen mit Leib und Seele. O möchte ich ihn einst brüderlich empfinden können, wie heute noch tief unterlegen!
Gute Nacht, Freund, morgen komm ich zurück. Den Brief werden Sie zwar später zu sehen bekommen als mich selbst, aber deshalb stecke ich ihn morgen doch in den Kasten, weil ich weiß, daß übermorgen Ihr Geburtstag ist, und allein zu diesem Zweck hab ich ihn geschrieben. — Auf Wiedersehn!
Renate
Es waren wohl Wochen vergangen. Georg vermutete so, — und auch, sehr krank gewesen zu sein. Nun war da Helenenruh, und irgendwie war alles gut. Er merkte, daß er sehr allein war, daß er nicht denken konnte, daß ganze Tage durch ihn hingingen wie Schatten durch Wasser, daß sein Vater da war — und nicht mehr da. — Daß er zittrig umherging, daß es einmal Nachmittag war, einmal Abend, und daß viele Fenster waren, hinter denen es regnete.
Plötzlich war Bogner zugegen. Er legte eine Mappe vor ihn hin mit Radierungen, und Georg konnte sehn, was es war, konnte sich freilich nicht recht entscheiden, ob diese Dinge da wirklich vor sich gingen oder nur gezeichnet waren. Es sei ein Zyklus ‚Hades‘, hörte er eine Stimme mehrmals sagen, und jetzt kam er zu sich, Bogners Gesicht dicht über sich gewahrend, da er neben ihm stand, um die Blätter umzuwenden. Jetzt hätte er ihn fragen können, wie er denn hierher komme, mochte das aber nun nicht mehr, sondern beugte sich tiefer über die Blätter, die ihm ungeheuerlich erschienen wie manche Dinge im Traum. Da waren die Danaiden, ein unbeschreibliches Gewimmel von Frauenkörpern, die sich über drei aneinandergereihte Blätter hin an den Gestaden eines Flusses bewegten; etliche lagen an der Quelle, blumenflechtend, etliche beugten sich mit ihren Krügen von bekränzten Flößen, Gruppen und Scharen, und einzelne Wallerinnen schritten in schöner Bewegung von Hügeln zur vollen Stromesbreite, alle in einer unwahrscheinlichen Helligkeit, alle nur in Umrißlinien gehalten, und alle ohne Gesichtszüge, leere Ovale statt der Antlitze zeigend, grauenhaft seelenlos anzusehn. Da war Tantalos, eine kaum sichtbare Gestalt in einem schwarzen Geklüft, am Boden ausgestreckt wie ein Frosch, wo ein Wasser verrann, und hier noch einmal, emporfliegend wie ein Schatten zu den über ihm fortwirbelnden Zweigen und Früchten. Sisyphos war da, der Akt eines Athleten, der mit Händen, Kinn und Schultern zusammengekrümmt den riesigen Würfel bergan trieb; und hier starrte er vom Hügel dem rutschenden Felsen nach, ein Riese, hülflos, mit ungeheuerlich nach vorn hängenden Schultern und vergreistem Antlitz; und da war der zu Tal jagende Block in Qualm und Geröll, dahinter der Mensch, nachstürmend, mit flatternden Haaren, springend, schreiend, aufgerissen, sinnlos. Persephoneias Antlitz blickte gerade aus dem Blatt, bleich und ergraut; durch kerzenschlanke Stämme hinter ihr, unter wagrecht abgeschnittener Masse schwarzer Wipfel schimmerten elysische Gefilde und Gestalten. — Georg gingen die Augen über; Bogner war nicht mehr da.
Nun kam viel Schlaf. Dann konnte er wieder grade umhergehn und erkennen, daß es November war. Hin und wieder schlief er, in Decken gewickelt unter freundlich wärmender Sonne auf der Terrasse. Milch gab es zu trinken, sehr schöne, in kleinen, kostbaren Schlucken. Stundenlang hockte sichs angenehm schläfrig an einem Fenster im Klaviersaal, während es draußen hagelte und stürmte, oder während die Nebel heranwogten und alles verhüllten.
Dann trat eines Tages Jason al Manach bei ihm ein, setzte sich nach der Begrüßung — es war im Klaviersaal —, erhob sich wieder, ging zu Bogners Gemälde und stand lange darunter. Georg folgte ihm mit den Augen und wunderte sich, daß er in kleinen Pausen immerfort den Kopf hin und her bewegte oder schüttelte. Dann sah er ihn einen Stoß Briefe vom Harmonium nehmen, damit zum Fenster gehn und sie langsam durchsehn; schließlich behielt er ein Telegramm in Händen und drehte es um; es war verschlossen. Al Manach öffnete es, schüttelte, schüttelte, schüttelte den Kopf, las für sich, schnaubte eine Art Lachen und sah Georg an.
„Sie haben seit drei Wochen keine Post gelesen?“ fragte er.
Georg bejahte, auf einmal ganz wenig geängstigt. „Ist denn was?“ fragte er.
Jason blickte wieder in das Telegramm und las vor: „New York, 28. Oktober. Gerettet. Esther verloren. Jason.“
Georg zuckte leicht zusammen, hörte das laute Rauschen des Regens auf den Steinplatten der Terrasse, besann sich, was die Worte bedeuteten, sah al Manach ans Fenster treten, hinausblicken, den Kopf schütteln, sah ihn sich setzen, den Kopf senken, ängstlicher nun jeder Bewegung dieses Menschen anhangend, und hörte ihn reden.
„Also: Zusammenstoß mit einem Eisberg. Nachts. Ich saß im Café. Die Rettungsboote kamen meist nicht ins Wasser, zerschellten. Die See war glatt. Es herrschte eine sogenannte Panik. Ich benahm mich verständig. Ich suchte Esther. Ich habe sie nicht gefunden. Ich half Leuten in die Boote. Ich suchte, wie man so im Traume was sucht. Ich sah einen, der vor Angst ins Wasser sprang. Da wurde ich über Bord geworfen. Ich hatte eine Schwimmweste an. Ich wurde von einem Boot aufgefischt. Ich sah etwas, das Sie eine Halluzination nennen werden. Nämlich, ich kenne den Tod sehr gut. Ich habe ihn seit meiner Kindheit vor mir her gehen sehn, zuweilen stehn bleiben und mich anschaun und mich vorüberlassen. Auch unterhielten wir uns oft über das menschliche Leben. In bedeutender Weise erschien er mir mehrmals, diesmal wars das achte. Wo ich geboren wurde, stand er dabei, und meine Mutter starb. Als ich acht Jahre alt war, fiel ich drei Stock hoch herunter und blieb lebendig. Als ich sechzehn alt war, stand er vor meinem Bett, wo mich die Diphtheritis am Hals hatte. Als ich vierundzwanzig alt war, stand er zu Füßen des Bettes, in dem Angelika starb in ihrem Blut. Als ich zweiunddreißig alt war, sah ich ihn an einem brennenden Eisenbahnzug entlang gehn, und dann gab er die Genauigkeit auf, und ich sah ihn gleich darauf an einem Teich, und bei einer Windmühle, und jetzt sah ich ihn mitten im Wasser stehn, grau und verschleiert wie immer. Ich sah noch etwas. In der Nacht hoch über mir — denn so ein Ozeandampfer hat eine schöne Höhe — war eine Gesichterreihe überm Bordgeländer, und darin das Gesicht von Esther, sehr deutlich. Das war still, und die Augen sahen starr nach einem, der neben mir im Boot saß. Sie warens, Prinz. Da gingen ihre Augen zur Seite, sie sah wie ich den großen Grauen im Wasser, der den Arm hob und nickte. Dann lächelte sie. Ich bin gekommen, um Ihnen zu sagen, daß Esther Sie angesehn hat, als das Schiff unterging. Dies war sehr feierlich. Sie spielten einen Choral. Ich habe den Tod so großartig noch nicht erlebt.“
Nachdem er eine Weile aufrecht gestanden hatte, setzte er sich nun wieder, als müsse er sich da durch zum Aufhören seines Redens nötigen. Georg fühlte, daß ihm etwas Schmerzliches in Kehle und Augen aufstieg, daß etwas ihm heiß über die Wange lief, und dachte: Ich glaube, ich weine. Darüber aber rannten die Gedanken fort ins erste Kapitel von Jean Pauls Flegeljahren, wo die Erben um den Tisch sitzen und sich in einer halben Stunde zum Weinen zu bringen suchen, um das Haus zu gewinnen, und einer erhebt sich feierlich und sagt, grade wie ein Andrer die Tränen in sich steigen fühlt: Ich glaube, — ich weine ... Georg fing leise an zu lachen, wollte das Lachen halten, es gelang ihm nicht, endlich schluchzte er auf und wurde still.
Tot war die kleine Esther. Schon lange war sie fortgefahren, schon lange war sie tot. Darum hatte sie ihm so traurig zugenickt aus dem Eisenbahnfenster. Vom ‚zur rechten Zeit sterben‘ hatte sie etwas gesagt. War das nun eingetroffen? — Einmal hatte er ihr ein Veilchensträußchen gekauft; eines war herausgefallen, das hatte sie ihm gegeben, eine winzig kleine, embryonische, dunkle Blume, die er innen in seinen Handschuh geschoben hatte. Beim Ausziehn dieses Handschuhs fiel es auf die Erde, und er hob es in einer leeren Zigarettenschachtel auf, er hatte soviel Anhänglichkeit an so was. Als er sie nach ein paar Tagen wieder öffnete, war die Blume schwarz und trocken, aber die Schachtel war ganz voll von Duft gewesen. So breitet die süßere Seele sich über — über ... Wie berauschend brauste der Regen! welch ein Getöse! Es ward dämmrig, es ward dunkel. Jasons bleiches Gesicht war noch dort, aber nach einiger Zeit verschwand es auch, löste sich auf. —
Ob der rote Baum noch am Wasser stand? — Ein sterbendes Gesicht an einem Kreuz, erzählte Esther, das mich ansah. — Georg fing heftig an zu weinen. Draußen rauschte das unendliche Wasser. Ganz unten lag die eine Tote, rotviolett gekleidet; eine Muschel lag vor ihrer Stirn, sie schlief sich aus. — Warum so ernst, Esther? — Georg weinte heftiger und unaufhaltsam, weinte wieder leiser und verlor Schmerz und sich im Schlaf.
Altenrepen, am 23. Dezember
Mein liebes Herz:
Du sollst nun hören, weshalb ich Dir einen ganzen Monat fast nicht geschrieben habe. Onkel ist am 2. zurückgekommen; er war nicht zu erkennen. Im Treppenhaus sah ich einen alten Mann; er war weißhaarig, mit weißen Bartsprossen am Kinn, gebückt und schlottrig, und verzog sein Gesicht zu einem abwesenden Höflichkeitslächeln. Dann ging er an mir vorüber zu seinem Zimmer. Ja, da hing ich am Treppengeländer, mir wars, als wär ich aus Kalk. Ich weiß nicht, wie lange Zeit verging, bis ich wagte, ihm nachzugehn. Er saß in einem Sessel und schien aus dem Fenster zu sehn, antwortete auf nichts. Wie er hergefunden hat, — ich weiß es nicht. Ich umschlang ihn und weinte, aber er schien es nicht so recht zu begreifen; schien nur ungeduldig, mich los zu sein. So ist er seitdem. Die Speisen kommen meist unberührt zurück. Milch trank er gern; soviel er bekam, trank er immer aus, und nachdem die Köchin ihn einmal aus der Speisekammer hat kommen sehn und hinterdrein eine Verminderung der Milch bemerkte, lasse ich immer eine größere Menge auf seinem Zimmer sein; das bildet nun, mit etwas weißem Brot, seine Nahrung. Im Anfang, wenn ich ihn auf meinem Weg zur Kapelle oder zurück am Fenster stehn sah, lächelte er noch und grüßte mich, aber auf eine so fremde und unterwürfige Art, — mich schaudert noch; aber später verlor er mich scheinbar aus dem Gedächtnis. Jeden Mittag, gleichviel wie das Wetter ist, geht er in den Garten und fängt an, den Rasenplatz zu umkreisen, die Hände auf dem Rücken, eine Stunde und länger. Nun laure ich jedesmal auf seinen Schritt im Treppenhaus, um ihm einen Mantel umzuhängen. Der Bart ist ihm lang gewachsen, er sieht nun ganz würdig aus, sein Gesicht ist sonderbar rosig geblieben, die Augen scheinen nun viel dunkler, und der Bart fängt dicht darunter an. Natürlich habe ich ihn von Doktor Pahl beobachten lassen; der meinte, er müsse einen Schlaganfall erlitten haben; ich erzählte ihm alles, von Josef und auch das andre, was er vor seiner Reise mit mir sprach, und der Doktor sagte etwas von fixer Idee, und was hilft uns das?
Einmal sprach ich mit Erasmus. Der sagte wenig. Um seinetwillen, sagte er, wäre sein Vater nicht so geworden.
Ich klage nicht, Magda. Ich weiß nicht, wieviel hiervon mein Verschulden ist. Ich habe ihn allein reisen lassen, ich habe mich früher viel zu wenig um ihn gesorgt, o wenn es doch mehr wäre, hundertmal mehr, daß ich etwas hätte, daß ich leiden müßte, leiden! Nun ist alles so unbestimmt und macht nur müde.
Denkst Du auch wohl an heute vor einem Jahr? Ja, da war ich groß und stolz und voll guter Lehren.
Wie ich sonst lebe? Das Haus verlasse ich kaum. Saint-Georges kommt, und wir arbeiten hier zusammen. Damit der Gelähmte seinen Bruder nicht entbehrt, habe ich ihm ein Zimmer zurechtmachen lassen, und er wohnt hier. Das ist er recht zufrieden, sitzt behaglich am Fenster und liest in sieben Büchern auf einmal. Nun hab ich zwei Gelähmte im Haus.
Irene kommt sehr oft, hat Dir auch wohl geschrieben. Ihr Mann hat so viel Arbeit, daß sie viel allein ist: vorläufig trägt sie’s mit Munterkeit. Ulrika gab ein schönes Konzert; sie ist viel in andern Städten. Sie behauptet, jedesmal den kopfschüttelnden Jason zu treffen, ich weiß nicht, wie sie das macht, da ich ihn auch mindestens in jeder Woche zu sehn bekomme, aber er hat ja wohl übernatürliche Fähigkeiten.
Ich lese viel. Philosophie ist kein Trost, aber haltbar; ich kam durch Zufall dazu, da ich Schopenhauer aufschlug und in der Vorrede ein so nachdrückliches Verbot der Lektüre seines Werkes fand, es sei denn, man hätte die sämtlichen Philosophen vor ihm gelesen, daß ich — unter Saint-Georges’ Anleitung — von vorn angefangen habe.
Dies ist ein schlechter Brief. Mir stehn die Tränen im Halse, und die Feder in der Hand will nach jedem Wort stillstehn.
Eben öffne ich in Gedanken den letzten Brief von Ulrika. Folgendes steht drin: „Mir fällt gerade ein, wie ich Dich neulich dasitzen sah und lesen, in Deinem grünen Kleid neben der Schirmlampe, das Buch im Schoß, ein Bild der Nachdenklichkeit. Jetzt weiß ich, wem ich Dich damals bewußt verglich; ich dachte, Du seist Pallas Athene, der man das erste gedruckte Buch in die Hände legte, und sie kann es gleich lesen, die Allwissende, und freut sich, wie klug die Menschen mit der Zeit geworden sind. Man kann sich kaum denken, daß Du wirklich liesest, was Du in der Hand hältst, Du bist so schön, was kannst Du auch lernen, es ist, als hättest Du alle Weisheit, und Dein Lesen ist nur ein Wiedererkennen von Dingen, die Du vor tausend Jahren selber erdachtest.“ Mir zur Strafe hab ich das aufgeschrieben. Das denken, das wissen die Menschen von Einem, so können wir erscheinen, ach, das Mißverhältnis, zwischen dem, was man ist, und dem, wofür unser nächster Nachbar uns hält, wird mir vor Tragik bald komisch erscheinen. — Übrigens ist mir Ulrika eigentlich auch so fremd wie — — ach, was wissen wir voneinander!
Manchmal, weißt Du, ist es so still, daß ich meine, ich müßte es hören, wenn nur ein Zug in meinem Gesicht sich bewegt. Es ist ja alles in dieser furchtbaren Stille vor sich gegangen. Alles? Sigurd schrie doch einmal auf, Erasmus tobte; aber mir scheint, dies war nicht das Eigentliche. Stillschweigend ging Jason, still Esther, stillschweigend der Onkel, und in diesem Schweigen vollzog sich das Eigentliche, und dennoch, dies, was wir nicht lärmen und platzen hörten, es schickt doch seine gefährlicheren Wellen in den Raum, und diese verschlingen und vergiften uns schrecklicher und boshafter als die lauten Gefahren und die erschütternde Verzweiflung.
Nun läuft die Feder. Ich fragte Saint-Georges: Wie nennt man doch diese Zeit der Windstille im Jahr, — ich vergaß das Wort. Er, gleich verstehend wie stets — ja, wenn ich ihn nicht hätte! — sagte: Wenn der Eisvogel, Halkyon, brütet, herrscht Windstille, wie man sagt. — Dann, sagte ich, haben wir wohl die halkyonischen Jahre. Der große Eisvogel Schicksal brütet. Er hoffe, meinte er freundlich, es werde kein Basiliskenei sein, das man ihm untergeschoben habe. — Ja, wer weiß denn, ob nicht alles erst kommt ... Ich bin ja auch vollkommen unberührt. Eigenes Schicksal blieb aus; ich warte.
Ein Paket mit ein paar Kleinigkeiten ging schon vor drei Tagen an Dich ab. Jede mußt Du Dir eingepackt denken in eine Hülle guter, frommer Wünsche. Sag, sind das nicht Verse von Georg, die er Dir einmal schickte:
Sie hält ihr Herz nun offen in der Hand
Wie eine Lampe, liebreich im Verspenden,
Dieweil sie weiß: durchstochen und verbrannt,
Ihm kann nichts mehr geschehn von fremden Händen ...
Ich vergaß das Übrige; damals mochte ich es nicht sehr, eben traf es mich seltsam. Hirten und Himmlischen ein Wohlgefallen, — schloß es nicht so? Genug. Leb innig wohl!
Renate
Renate stand, den Rücken in eine Fensternische der Halle gelehnt, und blickte in die gelben Lichtflammen des kleinen Baums auf dem reichbeladenen Tisch, den sie für Saint-Georges’ Bruder aufgebaut hatte. Saint-Georges saß auf einem Stuhl daneben, ein Buch in der Hand, in dem er blätterte. Sie schwiegen.
Renate dachte: Gleich werde ich anfangen zu weinen. Die Lichter verschwammen vor ihren feuchtwerdenden Augen, unsägliche Kindheitsstunden lösten sich aus dem Geruch von brennendem Wachs, Harz und Nadeln. Ihre Stimme war heiser, als sie fragte: „Wie feiertest du, — wie feierten Sie eigentlich Weihnachten?“
Er sah nachdenklich auf und antwortete: „Gar nicht. Da wir keine Eltern hatten, hatten wir auch kein Weihnachten.“
„Richtig,“ sagte sie, sich ermannend, „es ist ja ein Familienfest. Wollen Sie nun Ihren Bruder holen?“
Überdem wurden viele Schritte draußen hörbar, es klopfte, Köchin, die Hausmädchen, Zofe, Diener, Gärtner, Chauffeur kamen verlegen herein, knicksten und dienerten und wollten sich bedanken. Der Diener hielt eine kleine Rede, in der er dem Hause „auch wieder frohe Tage wünschte, da sie es alle so gut gehabt hätten“. Renate gab allen die Hand, dankte ihnen für ihre Dienste und fragte, ob der junge Herr auch bei ihnen gewesen sei. Ja, und er hätte sogar Punsch mit ihnen getrunken. Immerhin schienen sie Alle froh, wieder verschwinden zu können. Eins der Hausmädchen, verschmitzt, wünschte Renate persönlich beim Händedruck, daß auch der junge Herr Josef bald wiederkommen möchte. — Gleich darauf rollte Saint-Georges seinen Bruder im Stuhl herein, schon hochrot im Gesicht.
Und nun bekam er Gottfried Kellers sämtliche Werke, die er sich gewünscht hatte, und Conrad Ferdinand Meyers sämtliche, von denen er einmal zart wie von etwas unerreichbar Kostbarem gesprochen hatte, und den schönen Till Eulenspiegel von de Coster, und den ganzen Strindberg, und den ganzen Jakobsen und die Gedichte von Rilke und die Geschichten vom lieben Gott und alle Novellen von Storm, o Gott, es schien überhaupt nicht aufzuhören. Es kam dazu, daß er ganz laut krähte. Aber dann saß er glühend still neben seinem Tisch und dem eichenen Regal, das diese Herrlichkeiten enthielt, und versank darin. Renate, vor unsäglicher Gerührtheit zitternd, wäre Saint-Georges gerne um den Hals gefallen, gab ihm eine goldene Uhr im Armriemen und stammelte verzagt, er möchte auch an sie denken. Bei seinem Gelächter fand sie sich wieder, konnte mit Fassung sein Geschenk, nämlich eine Photographie von sich selber entgegennehmen, die sie sich ausbedungen hatte, und als es jetzt wieder klopfte und Bogner mit einer großen Kiste auf der Schulter erschien, in der Tür stehn blieb und erstaunt sagte: „Guten Abend, Frau von Bernus!“ hatte sie sich so weit wieder, daß sie triumphierend die bloßen Arme ausstrecken konnte und rufen: „Er hats gleich gesehn, und du hast nichts gesehn!“ (Aber mein Gott, dachte sie, ich verspreche mich bald fortwährend!)
„Was denn?“ fragte Saint-Georges. — Bogner setzte geschickt seine Kiste ab wie ein Dienstmann. — Sie trat vor Saint-Georges, ließ den breiten Umhang von Blaufuchs von den nackten Schultern gleiten, zeigte ihm die spitze Schneppe der Taille vorn, strich die grauen Falten ihres mächtigen Seidenrocks weit auseinander und schüttelte den Kopf, um ihm die Frisur von Zöpfen zu zeigen, die vorn vor den Ohren in Schleifen herunterhingen.
Ja, aber er kennte Frau von Bernus doch gar nicht.
Bogner erklärte, es sei ein Porträt von ihr von dem Maler Veit in der Jahrhundertausstellung gewesen, und Renate sei ihr tatsächlich ein wenig ähnlich, wenn auch im Entferntesten nicht so süß.
„Und meine Hakennase!“ schrie Renate. „Nein, denkt euch, nun muß ich euch was erzählen. Die Kiste mach ich nachher auf, Bogner, ich darf doch? Also ich wollte doch Erasmus etwas zu Weihnachten schenken. Da ging ich in sein Zimmer, um nachzusehn, was er wohl brauchen könnte. Aber da sahs aus! Ein Wust von Sachen, alle Stühle waren hochauf beladen mit Stapeln von technischen Zeitschriften, aber dann hab ich eine merkwürdige Entdeckung gemacht. Über seinem Bett an der Wand hing an einem eisernen Krampen und Schnüren ein ganz windschiefes Bücherbrett, drei Stockwerke, und darauf standen die sämtlichen Werke von Jean Paul, Balzac, Dickens und Dostojewsky, diesen ausgenommen in der Ursprache. Und auf dem Nachtkasten, offen mit dem Rücken nach oben, lag der Komet von Jean Paul. Hättet ihr das von ihm gedacht? Nun hab ich ihm ein festes Gestell machen lassen, und da die Bücher alle grausam zerfleddert, auch die Ausgaben sehr gewöhnlich waren, hab ich ihm alle neu gekauft, und schließlich die ganzen Zeitschriften in das große Regal nach Nummern geordnet, ja, das war eine Arbeit!“
Bogner sagte nachdenklich, den Erasmus kenne keiner, worauf er sich verabschiedete. In der Tür begegnete ihm der Diener, durch den Erasmus das gnädige Fräulein und die Herren Saint-Georges bitten ließ, mit ihm zu speisen. Renate staunte.
Das Speisezimmer war leer, als sie es betraten. Auf Renates Teller lag ein Strauß samtschwarzer Rosen, darunter ein Lederetui, in dem sie unter einer Karte mit einem Glückwunsch von Erasmus’ Hand eine mehr als talergroße Scheibe von dunkelbraunem, stumpfem und rauhem Bernstein fand, die an einer dünnen Goldkette hing, eingefaßt in einen Kranz kleiner Perlen. Darüber entstand eine kleine Wirrnis in ihr. Welche Anstrengung der Phantasie für seinen mühseligen Geist! So also beschäftigte er sich mit ihr?
„Georges,“ sagte sie — denn sie mußte sich herauswinden — „haben Sie ihm dabei geholfen?“ Er gestand es.
Da sie nun den Schmuck um den Hals hängen wollte, erwies sich die Kette nicht lang genug, daß die Scheibe auf ihrer Brust aufliegen konnte. Saint-Georges nahm sie aus ihrer Hand und legte sie um ihr Haar, so daß die Bernsteinplatte vor ihrer Stirne hing. Sie trat vor den Spiegel. Ja, sie war ein Wunder an Schönheit. Überdem liefen ihr die Tränen aus den Augen, sie stürzte aus dem Zimmer, an Erasmus vorüber, ohne ihm mehr als einen furchtsamen und hastig versüßten Blick zuzuwerfen, die Treppe hinunter und hielt vor der Tür ihres Onkels inne. Sie öffnete lautlos, glitt hinein. Im Dunkel waren Kopf und Oberkörper des alten Mannes, hell genug beleuchtet vom einfallenden Schein der entfernten Straßenlaterne draußen; so saß er am Fenster; an der Decke über ihm hing der Schlagschatten des Fensterkreuzes, verzerrt. Als sie die Hand leise auf seine im Schoß gefalteten Hände legte, blickte er auf und lächelte gütig, ließ es sich auch gefallen, daß sie seinen Kopf an ihre Brust legte, aber nach einer Weile merkte sie das Widerstreben seiner Kopfhaltung, ließ die Hände fallen, trat von ihm fort, zerrte an ihrem Taschentuch, raffte den Pelzumhang zusammen, faßte und hob ihr Kleid überm Knie und glitt leise hinaus.
Wie lange Zeit vergangen war, wußte sie nicht, da sie sich am Fenster der dunklen Halle fand, hinter sich die Stimme des Dieners vorwurfsvoll vernehmend, es sei doch aber schon lange angerichtet. Auch was sie gedacht und empfunden in diesen Minuten, suchte sie vergebens in sich, als sie, wieder im Speisezimmer, verdunkelten Auges auf Erasmus zuging, der vor seinem Teller stand, ihm die Hände auf die Schultern legte und ihn zwang, mit den Augen den ihren standzuhalten.
„Ich danke dir auch“, sagte sie heftig atmend. Ihre Brust wogte. Da merkte sie, daß sie nicht seinetwegen zu ihm gegangen war, sondern um jemand zu haben, an dessen Schulter sie einmal diesen nie gebeugten Hals ausruhen könne, und nun erschrak sie: Was tu ich denn! was mach ich aus ihm? ich werde ihn verrückt machen. Sie glitt hastig mit den Händen an seinen Armen herunter, drückte ihm die Hände und sagte irgend etwas Muntres. Später bemerkte sie die ungemeine, fast gewandte Gesprächigkeit des Erasmus, redete ihn auf ihr Geschenk an und hörte seine beinah launischen Vorwürfe, daß ihr Erscheinen vorhin ihn nicht zum Danken habe kommen lassen. Als sie nun ihre Verwunderung über seine schöne Autorensammlung äußerte, meinte er kurz — es war deutlich, daß er sofort alles Verdienst ablehnen wollte —, Josef habe er das zu danken. Er, Erasmus, sei der Meinung gewesen, daß ein gebildeter Mensch eine gewisse geistige Nahrung brauche, und habe Josef gefragt, ob es nicht in jedem Lande ein Dichtergewächs gebe, das so quasi die besten Möglichkeiten seines Bodens und Klimas in sich entfaltete, so daß man also mit dreien oder vieren der Art alle gute Nahrung beisammen hätte, und er habe sich denn auf Rußland, das ein schönes, breites Land sei, England, Frankreich und Deutschland beschränken wollen, was Josef einen sehr ordentlichen Gedanken genannt habe, nur schien er gemeint zu haben, daß Deutschland noch um ein Stück breiter sei als Rußland, und da sei die Auswahl schwer. „Da ich nun Goethe ablehnte, denn den hatten wir ja auf der Schule, so nannte er mir Jean Paul.“
Denn den hatten wir auf der Schule, dachte Renate, wie ist das nun wieder kümmerlich und traurig.
„Also will ich den nehmen, sagte ich“, fuhr Erasmus fort. „Der wird dir aber zu schaffen machen, sagte Josef.“
Renate, die den Namen seit einer Ewigkeit nicht gehört zu haben glaubte, staunte noch mehr darüber, daß er sich so leicht hinsagen ließ wie Hamburg oder Wettrennen.
Erasmus sagte weiter, er könnte ja nur abends vor dem Schlafengehn zwanzig oder dreißig Seiten lesen, aber er hoffte doch, vor seinem Tode noch fertig zu werden. — Welch eine tiefe, dröhnende Stimme er doch hatte! — Wer ihm denn der liebste von den Vieren sei, fragte sie, um noch einen kleinen Schlüssel zu ihm zu erlangen.
„Chuzzlewitt,“ sagte er mit grausiger Aussprache, und Renate hörte ihn wieder „Schang Pol“ sagen; Jean Paul freilich, dachte sie, würde sich noch im Grabe freuen, wenn er sich ausgesprochen hörte, wie er wollte. —
Unterweil verbesserte sich der Erasmus und nannte Dickens. Der sei so komisch. — Er lachte gleich: „Ha ha, ha!“ Ja, manchmal nachts im Bette könnte er sich totlachen über Sam Weller, und wenn Mister Micawber sagte: ... kurz! — „Dabei“, setzte er mit einem Anflug von Ehrfurcht hinzu, „ist der Chuzzlewitt für mich viel grausiger als der ganze Dostojewsky.“ Saint-Georges könne ihm vielleicht sagen warum.
„Weil“, sagte Saint-Georges, „die Menschen des Dostojewsky, wie auch die Balzacs, sich noch gebärden. Weil sie Leidenschaften haben, die immer noch den Schein einer wenn auch dämonischen Freiwilligkeit erzeugen, und weil sie diesen Leidenschaften nachgeben, weil sie sich peitschen lassen und selber peitschen, sich beugen und zerbrechen, rasen, stammeln, schluchzen und klagen. Vor allem klagen. Wir sehn dann die Gebärde, aus der die seelische Glut wie Rauch und Flammen hervorschlägt, und das empfinden dann Sie wohl wie — Erleichterung. Bei Dickens aber ist das Leid, wie soll ich sagen — krötenhaft; hockt da, funkelt bösäugig, und es ist ja alles komisch. Drinnen aber hockt die sich quälende Kreatur, stumm, boshaft, verhärtet. Denken Sie mal an Peckskniff. Ein furchtbarer Schurke, der sich für einen Engel hält, aufrichtig. Es läßt sich gar nicht ausdrücken, diese Art, nur Gemeinheiten zu begehn im Schein, in der Form edelsinniger Taten. So kreuzen sich fortwährend die Gebärden, die boshafte der inneren Gemeinheit und die sich in die Brust werfende der scheinbaren Hochherzigkeit.“
„Chuzzlewitt“, sagte Erasmus langsam, mit der Fingerspitze auf dem leeren Salatteller kreisend, „kommt mir vor, als müsse er sich immer heimlich die Hände an den Hosen wischen, damit nicht das Gift aus den Fingerspitzen herunterläuft.“
„Und Raskolnikoff und der Jüngling lecken ihre Fingerspitzen mit Wollust“, schloß Saint-Georges. Sie schwiegen nun.
Renate hörte die Männer sprechen, ohne etwas zu verstehn. Sie sah den Erasmus, wie er im Bett lag, das ihr viel zu schmal und kurz für ihn erschienen war, unter den Bücherreihn an der Wand, das Haar gesträubt um den schweren Schädel, lesend und laut vor sich hinlachend. An seiner Statt erschien ihr der Onkel, in seinem dunklen Zimmer, im Laternenlicht, von Einsamkeit überwölbt dieser wie jener, und hier saßen sie zusammen, nanntens Gemeinsamkeit. Sie begriff nicht, wie all dies in einem Hause sein konnte. Nun wurde wieder der Tisch vor ihr sichtbar, rund, blumengeschmückt, mit silbernen Armleuchtern und stillen Kerzenflammen; ringsum die Gesichter, Saint-Georges gegenüber, gut, ernst und still, das rosige Knabenantlitz seines Bruders mit dem spitzen Kinn, den großen, flachen Augen, und links das überhängende des Erasmus, mit gesenkten Augenlidern unter der gebuckelten Stirn, und dann sah sie diese und sich selbst, die ganze, stille Gesellschaft fern drüben im Spiegel, die Lichter, die Dämmerung umher. Eine tiefe Stimme sagte etwas, sie schrak auf, da eine Hand von rückwärts an ihr vorüber nach ihrem Teller griff, der darin fortschwebte; alsbald versank wieder alles, und ein wenig später sah sie sich im Spiegel drüben aufstehn; sie hob die Tafel auf. Nachdem sie den Gelähmten selbst ins Rauchzimmer geschoben hatte, ging sie in die Halle hinunter und machte Licht.
Die flache Kiste war mit Drahtstiften so leicht verschlossen, daß sich der Deckel mit kleiner Mühe hochbiegen ließ. Sie holte ein Bild in einem dunkelsilbernen Rahmen heraus, lehnte es gegen den Tisch und sah, daß sie selber es war: auf einem Grunde von dunklem Rot, im unteren, linken Viertel des Bildes ihr Gesicht, nach links blickend, im Profil, sehr zart, vergehend, scheinbar in einer Dämmerung schwebend wie eine Erscheinung; rechts oben in einer fensterartigen Öffnung war eine ferne Landschaft, sonnig, ein Birkenweg zwischen Wiesen, bräunlich, rötlich, und ganz wenig tiefblauer Himmel; die Farben ihrer Augen, ihres Haars, ihres Mundes, die in dem gemalten Gesicht kaum angedeutet waren, leuchteten deutlich dort oben.
Ja, dies war doch ein Traum von ihr, von ferne gesehn und geträumt, und vielleicht, wenn es früher gekommen wäre — — ja, was dann? Es waren doch wohl nur Vorstellungen malerischer Art, die sie ihm erregt hatte. Seltsam fröstelnd stand sie vor dem Bild. Wie alt bin ich eigentlich? schoß es plötzlich durch sie hin, aber sie konnte die Zahl nicht finden, war es achtzehn, neunzehn oder zwanzig? Ungeduldig machte sie sich von alldem los, legte das Bild in seine Kiste, den Deckel darauf und ging nach oben.
Durch die offene Tür zum Rauchzimmer fiel Licht in die vordere Hälfte des Speisezimmers; im hohen Spiegel konnte sie ein Stück des Ledersessels sehn, in dem Saint-Georges saß, seine Unterschenkel und den Kopf, den er in die Hand gestützt hatte; den Erasmus hörte sie reden; Tabaksschwaden zogen in der Luft unter der elektrischen Krone.
Auf einmal brannten vor ihren Augen alle Lichterbäume der Stadt, sie hörte Gejubel, Klavierspiel und Kinderlieder, dann das wirkliche Getön ferner Glocken. Und da war der letzte Christabend mit ihrem Vater, mit bescheidenen alten Männerchen und Weiberchen, Kinderchorgesang im Schlackerschnee und der väterlichen Stimme, die den Weihnachtstext auslegte. Da war der erste Weihnachtsabend in diesem Haus, mit einem Berg glitzernder Geschenke, mit dem Gelächter des Onkels, des Erasmus Gefräßigkeit in Marzipan und Spekulatius, mit Josefs Eleganz, mit den Gedanken an Magda und mit Bogners Brief im Kleid auf der Brust. Sie machte eine unwillkürliche Bewegung nach dem Halse und merkte ihren Irrtum: Bogners Brief war erst am zweiten Feiertage gekommen. Die absonderlichen Weihnachtstage, die er beschrieben hatte ... Seltsam, daß sein Weg doch in diesem Hause begonnen hatte ...
Sie fing an, die Hände auf dem Rücken im Zimmer hin und her zu gehn, lautlos auf dem Teppich, nur ihr Kleid knisterte und rauschte, wenn sie sich drehte. Wenn, dachte sie stillstehend, einmal nach mir das Schicksal die Hand ausstrecken wird, so werde ich erkennen, daß seine Füße — vielleicht in dieser Stunde stehn, vielleicht in der glücklichsten früher. Furchtbar finster war es umher. Wo mochte Sigurd nun sein? Käme doch Jason! Alle waren fortgegangen. Saint-Georges wußte jede ihrer Fragen zu beantworten, aber er stand ihr nicht bei. Nicht bei? Ja, bei was denn? Was quält mich? Wie alt bin ich? Wen erwarte ich? Was fehlt mir? Tue ich zu wenig? Oh was sagte doch Saint-Georges einmal von der Sonnenblume? Nein, war es das? Vor ihren Augen brannte wohl kein Licht, in das sich zu verwandeln ihr Herz sich verzehrte. Wie lebten denn Andre? Schiffe gingen unter, es gab Hunderte von Toten, Bergwerkszechen explodierten, und es gab Hunderte Toter, Eisenbahnzüge stürzten um, — ja, verlange ich nach solchem Geschehn? Wie leben Andre? In Armut, in Lastern, in Qual jahraus, jahrein, hülflos verstrickt in Unrettbarkeit, unerbittlich erniedrigt. Aber — Frauen hatten doch Männer und Männer Frauen, auch Kinder; Bogner hatte sein Werk, sie hatte nichts als sich, und Josefs Stimme sagte grandios, wie am Abschiedstage vor einem halben Jahr: Was brauchst du eine Seele? Niemand sieht sie. Und er sagte noch etwas von einer goldenen Bluse, die sie trug. — Sie schritt aufgeregter auf und nieder. — Es ist so still! klagte sie furchtsam. Lebe ich? träume ich? Weihnachten ist, — wem schenke ich was? Wen liebe ich? Alle und keinen. Warum ist niemand da? Oh — Zärtlichkeit! — So geriet sie in die Tür zum Nebenzimmer. Erasmus stand am Schreibtisch und sagte, er habe ihr gerade Gute Nacht sagen wollen; es sei noch zu arbeiten, die Neujahrsabschlüsse ...
Wiederum war sie vor ihn hingestellt. Ganz laut — obgleich sie schwieg — hörte sie sich sagen: Wie wäre es, Erasmus, wenn du mich heiratetest? und sah ihn zurücktaumeln. Jetzt war etwas geschehn. Sie stand gerade und aufrecht, dachte noch: Einen Stoß, — so! — einen Stoß habe ich versetzt! — und währenddem war nichts geschehn; sie sagte währenddem irgendwelche freundliche Worte, die nichts galten. Sie fühlte seine Hand, ließ ihn, tiefer ins Zimmer tretend, an sich vorüber, wandte sich dann und sagte: „Erasmus ...“
„Ja, — ist noch etwas?“ fragte er stehen bleibend.
Er liebt mich ja viel zu sehr, dachte sie klar, und muß allein bleiben.
„Hab auch Dank für den Abend“, sagte sie und ließ den Kopf sinken. Er murmelte etwas und ging.
Am Kamin saßen Saint-Georges und sein Bruder, sahn in die Flammen. Da faßte sie hundert verworrener Fragen in eine zusammen, trat zu dem Gelähmten und fragte, seinen Kopf fassend, schlicht zu seinem Bruder hinüber: „Georges, lieber Freund, was fehlt mir?“
„Kinder,“ sagte er, ohne sich zu bedenken, „es ist Weihnachten.“
„Ach so, deswegen ... Ja, da kannst du recht haben.“
Schon wieder versprochen! Oh ich will ihm eine Freude machen, dachte sie mit Heftigkeit, streckte die Hand aus und fragte bestrickend: „Möchtest du nicht du zu mir sagen?“
Er stand langsam auf, ergriff ihre Hand, küßte sie und sagte schlechtweg: „Wie du befiehlst.“
Jetzt aber fiel alles von ihr ab, sie stampfte mit dem Fuß auf und schrie: „Georges!“ Aber dann, in plötzlicher Sanftmut zerschmelzend, legte sie die Hände zusammen, trat dicht vor ihn und flehte: „Georges, lieber Freund, bitte, was ist mir?“
Er erfaßte ihr linkes Handgelenk, blickte mit tiefer Freundlichkeit in ihre Augen und sagte langsam und sicher: „Nichts ist dir, Renate, gar nichts.“
„Ja, ja,“ nickte sie seltsam erleichtert, „es ist ein Übergang, nicht wahr?“
„Jawohl, ein Übergang“, bestätigte er lächelnd. — Sie seufzte: „Dann ist es gut. Kommt, dann wollen wir noch etwas Schönes lesen, die Leiden eines Knaben, von Conrad Ferdinand, nicht?“
Sie nickte dem Gelähmten zu und ging in die Halle hinunter, das Buch zu holen.
Trassenberg, am 15. 1.
Danke, teuerster Benno, danke Dir tausendmal für Deine Karte! — Ich, siehst Du, ich kann nicht schreiben. Wenn Du mein Tagewerk kenntest, würdest Du versteinern. Seit ich hier bin, also seit bald zwei Monaten, kenne ich nur noch ein Ding: die Zentrale. Papas Zentrale, das große rote Verwaltungsgebäude — Du erinnerst Dich — unten am Waldrand, das kaum zu sehn ist und zu dem kein Weg zu führen scheint, gegen das aber eine elektrische Zentrale mit ihren hunderttausend Anschlüssen, Krafteinnahmen und Kraftverteilungen in einer deutschen Großstadt gar nichts ist. Gar nichts, Benno! Dort verbringe ich nun fast den ganzen Tag. Onkel Salm führt mich in alles ein. Verwaltung, Verwaltung, Verwaltung! Hast Du eine Vorstellung, Benno? Nein! So kann ich Dir auch keine erwecken. Stelle Dir nur vor, daß unser ganzes Land mit allen Anhängseln in Übersee, und mit allem, was darin hervorgebracht wird jeder Art — Landwirtschaft, Viehzucht, Heilanstalten, Wissenschaft, Kunst, Industrie und so weiter, so weiter — hier zusammenströmt und von hier wieder aus. Genug! Mir schwindelt der Schädel, wenn ichs denke, die einzige Möglichkeit, die ich habe, ist, mich blind hineinzufressen, wie in den berühmten Berg der köstlichen Hirse. Dann ists in Augenblicken doch, als fräße ich weder, noch grübe mich in dampfende Finsternis, sondern ich stiege, stiege einen gewaltigen Berg hinan, darf nur weder hinaufblicken — um mir nicht den Mut — noch hinunter — um mir nicht die ganze Größe des Ausblicks von oben zu verderben. Zahlen, Zahlen, Zahlen. Um eine elementare Grundlage zu bekommen, lerne ich doppelte Buchführung; dazu Lombardieren, alle Arten des Wechselgeschäfts. Hast Du in Deinem ganzen Leben je einen Kurs gelesen, Benno? Weißt Du, was das ist? Tröste Dich, Benno, ich weiß es auch erst seit kurzem. Im übrigen sorge Dich nicht um mein Herz, es arbeitet wieder vortrefflich. Noch was über Tageseinteilung: weißt Du, daß ich trotz alledem beinah zehn Stunden am Tage schlafe? Folgendermaßen: aufgestanden wird — um fünf Uhr morgens. Siehe da, was ist der Erfolg? Vormittags um zehn, wenn Du träge Deinen Tag anschlürfst, habe ich beinah schon einen Arbeitstag hinter mir, um elf sinds, mit kleinem Imbiß dazwischen, ganz gut sechs Stunden. Dann wird geschlafen, fünf Stunden, im Bett, fest, und wenn Du Dich dann, wie ich, um vier Uhr zum Essen erhöbest, würdest Du jauchzen vor Kraft, Frische und Arbeitswonne, welche drei bis Mitternacht mit Abendbrotpause freudig vorhalten. Also — machs nach, Benno, machs nach und lebe jetzt wohl, es ist Mittag, ich geh schlafen. Wie gesagt: keine Sorgen, guter Engel, und im zweiten Monat nach diesem befinde ich mich wieder im gesegneten Altenrepen. Was macht der Flügel, die Wohnung, die Vögeleins? Grüße alles, was lebt und mir freundlich gesinnt ist, und sei umarmt von Deinem bis in den Tod getreuen
Georg
am 16.
Der Brief blieb versehentlich liegen.
Ein letztes Wort, Benno, über mich selbst.
Nämlich, läge die Sache einfach; wäre er, den ich Vater nenne — heut wahrer als jemals! — wäre er ein Privatmann, und handelte es sich sonach für mich um nichts weiter als Namen, gesellschaftliche Stellung usw.: dann wäre die Sache einfach. Ja, dann wäre sie derartig einfach, daß ich fast denke: in solchem Fall würde ich bleiben, der ich — scheine, sein Sohn. Es wäre nicht der Rede wert, Änderungen zu schaffen, die rein moralisch sein und bleiben würden, die keine praktischen Folgen hätten.
Die Sache liegt aber nicht einfach, sondern verdoppelt durch die Möglichkeit, das ich in Deutschland regierender Landesherr werde; daß ich — die Worte klingen großartiger als die Sache — vor einen Teil der Menschheit mit Ansprüchen hintreten kann, die sie nach den in ihr bestehenden Gesetzen mir nicht zubilligen würde, wenn sie mein Geheimnis kennte.
Dies die negative Seite der Sache; und die positive?
Nicht eitel genug, mir vorzuspiegeln, daß dieses Land, das ich innig liebe, Trassenberg, meiner bedürftig ist und keines Andern; und zu klug, um nicht einzusehn, daß ich nur selbstsüchtig, nur aus — Ehrgeiz handle, weiter nichts: kann und darf ich mich doch der Einsicht in das nicht verschließen, was werden würde, wenn ich — abtrete. Trassenberg ist, dank der Einflüsse meines Vaters, ein blühendes Land. Beuglenburg ist ein Sumpf mit einigen Kaligruben, und aus dem Beuglenburger Geschlecht kann nichts Gutes mehr kommen. (Der Alte ist krank und stumpf, der Sohn ein kränklicher Knabe, eine Tochter zählt nicht, weil nicht erbberechtigt.) Muß mir nicht Vieles schicksalsvoll vorkommen? Warum liegen die Dinge eben so? Warum gehörte dies Land einmal den Trassenbergern? Warum war und ist mein Vater, warum grade ich? Hier ich — und da die todkranke Beuglenburger Sippe?
Darum nunmehr zum Kern.
‚Von des Lebens Gütern allen ist der Ruhm das höchste doch‘ ... Wie, Benno, ich sollte verzichten mit dieser Aussicht? Solche Mittel in Händen — zu meiner gottseidank noch unerschütterten Gesundheit, meiner geistigen Freiheit und Beweglichkeit, meiner Lernkraft, meiner Kultur und meiner Tatenlust die äußeren Machtmittel meines Vaters, deren Ausmaß Dir bekannt ist: sollte ich ein hundertfaches Gutes ungetan lassen, das ich auf mich warten sehe? Ich kann Ruhm gewinnen, wahrhaftigen Ruhm, nicht einer vereinzelten Tat oder Eigenschaft, nicht den Ruhm des Entdeckers, Eroberers, Erfinders, des Feldherrn, des Dichters, Volksmanns; Ruhm, der vom Dämonium abhängt, von Begabung und vom Glück, — sondern einen Ruhm, den ich herzustellen, den ich anzufertigen habe mit meiner Hände lebenslanger, unverdrossener Arbeit; den nur mein ganzes Wesen, mein ganzes Sein mir verschaffen kann, weil nur Arbeit eines ganzen Lebens, und das heißt jedes Tages, jeder Stunde seine Grundlage sein wird. Verstehst Du den Unterschied, den ich meine? Nicht Taten, Werke, Gedanken — obwohl diese im einzelnen Verkörperungen sein können, sondern: sein muß ich, leben, von A bis Z meinen Platz ausfüllen, nicht sternhaft erstrahlend, wie Dichtung und Kunstgebild plötzlich blitzend hervortreten aus langem Gewölk, sondern still im Schatten meiner vier Wände, da doch die Wenigsten und niemals die Masse bemerken werden, was hinter dieser und jener offenbaren Erscheinung an unvermerkter Anstrengung und Mühsal liegt. Zu schweigen davon, daß, wenn mir überhaupt etwas zu leisten gelingt, das Dauer hat und Würde vor späteren Geschlechtern, es bei den Zeitgenossen kaum Anerkennung, ja eher Verkennung, Verachtung, wo nicht Feindschaft erregen wird. Wer ein Dauerndes zu schaffen gewillt ist, der muß im Morgen leben, nicht im Heut, darf also nicht verlangen, daß das Heute ihm Kränze flicht. Ich bins gewillt.
Wie ich denkt mein Vater, und was wäre ich freilich ohne diese Stütze? Der wundervolle Mensch! Mit keinem Blick, mit keiner Miene hat er sich mir als Beistand gezeigt. Ohne Blick, ohne Miene hat er mich verständigt, daß ich seines Beistandes gewiß sein werde, wenn die Entscheidung erst gefallen ist. Sie ist schon gefallen, in meinem Herzen ist sie’s. Ach, mein Benno, wie ist der glückselig, der im Wünschen und Schwanken, im Zweifeln und Vertrauen sicher ist eines Unwandelbaren, und wenn er Vater nennen kann, was mit Leib und Seele, mit Haut und Haar, mit allen Kräften der Liebe ihm väterlich ist!
Und dies giebt mir Kraft, dies wird mir Heil geben. Ja, ich weiß, Freund, ich weiß: wäre er mir nur um ein Gran minder väterlich, so würde ichs spüren, würde meine Kraft sinken, mein Recht bleichen, — ich wäre entblättert, ehe ein Monat um wäre. Aber ich stehe auf ihm, und so sei’s drum.
Ich bin entschlossen. Und somit — Gott befohlen!
Georg
Hier enden des vierten Buches neun Kapitel oder ebenso viele Monate.
Renate und Ulrika saßen des Abends an den beiden ineinander geschobenen Flügeln unterm Orgelpodium und übten an Johannes Brahms’ deutschen Tänzen, als Renate, der Orgel gegenübersitzend, eine dunkle Gestalt hinter Ulrika vorübergehn und die Stufen zur Empore hinansteigen sah. Schreckhaft, wie sie diesen Winter war, nahm sie die Hände von den Tasten, blickte, während Ulrika noch einige Takte weiterspielte, angestrengt durch den rötlichen Nebelglanz der Lichter und sah nun, daß es Saint-Georges war, der sich grade leise in den Drehsessel oben niederließ. Vor drei Tagen war er verreist, um seinen plötzlich verstorbenen Vater zu beerdigen, — ihn, von dessen Dasein Renate niemals etwas geahnt hatte.
Da auch Ulrika jetzt auf und zu ihr herüber sah, sagte sie:
„Georges ist gekommen.“ Und zu ihm hin leise: „Schon zurück?“
Er nickte. Sein Gesicht in der dunstigen, rötlichen Beleuchtung der wächsernen Kerzen schien ihr nicht blasser oder trauriger als immer, — doch wars vielleicht eben dies, was sie bewog, aufzustehn, zu ihm hinauf zu gehen und eine Hand auf seine Schulter zu legen.
„Bleib sitzen,“ sagte sie, da er eine Bewegung machte, — „ist es gut hier?“
„Das wollte ich sagen, Renate. Ja, wieviel Kerzen habt ihr denn da angezündet?“ Er zählte über die dicken gelben Kerzen in graden Silberfüßen hin, die sich in der schwarzen Politur der Klaviere spiegelten, und sprach weiter: „Acht Stück. Eine schöne Zahl, die mir immer angenehm war. Sie enthält so viel und ist so ordentlich und glatt, auch der Laut: acht, — zwei mal zwei mal zwei. Schade übrigens, daß ihr selber das gar nicht sehn konntet, wie ich, als ich hereinkam von weitem, euch dasitzen sah in dem rötlichen Nebel der Lichter an den großen schwarzen Instrumenten, und dazu deinen großen schwarzen Kleidrock, dein farbiges Gesicht, und Ulrikas rotes Haar und braunes Kleid; dazu die graue Orgelwand über euch, und umher —“ er machte eine umschreibende Handbewegung — „die sechs gemalten Unsterblichen an den Wänden. Es war nicht ganz düster — und auch nicht sehr froh, — ja, eigentlich wars ganz so, wie wenn man von Begräbnissen kommt und wieder ins Leben will. Dank für den schönen Übergang, Renate,“ sagte er zu ihr empor und, ehe sie etwas sagen konnte, „bist du mir zuliebe so schwarz heut? Ja, du bist ein guter Mensch.“
„Möchtest du mir nicht ein wenig von deinem Vater sprechen?“ bat sie.
„Ja,“ sagte er, „es gäbe wohl allerlei zu er—zählen. Aber das ist nun immer so: wenn ich nur die Klinke an der Vorgartentür anfasse, so weiß ich schon: hier ist alles anders. Jetzt bleibt vieles draußen, denn hier ist die Grenze. Hier endet eine Welt, hier fängt eine andre an. Hin und her zwischen beiden gehen nur die Körper; die Seelen aber sind andre, ganz andre. Ich stand vorhin schon eine Weile bei der Tür und bewunderte die Engel.“ Er lächelte zu Ulrika hinunter. „Die gemalten, meine ich. Sie sind jedesmal gewachsen, wenn ich komme; tiefer ist ihre Einsamkeit, mächtiger ihr Schritt, — und da sitzt ihr nun zwischen ewigen Wänden und ertragt es so mühelos. Freilich euch Frauen sind Dinge selbstverständlich, die wir nie begreifen. Es braucht fast nur etwas recht groß zu sein, so seid ihr zuhause darin, als wäre es für euch gemacht. Als wäret ihr darin aufgewachsen. Ja, ihr wachst; unsereiner muß immer Stufen steigen und sie obendrein selber haun. Ich habe dir da ein Paket auf den Stuhl gelegt. Es sind Briefe meines Vaters, die du lesen sollst. Mein Vater lebte fünfundzwanzig Jahr in einer Irrenanstalt, und nun ist er endlich tot.“
Renate wagte nicht, sich zu bewegen. Nur ihre Hand schob sie ein wenig höher, so daß sie seinen Nacken berührte. Sie sah die Kerzenflammen leise sinkend sich zusammenziehn, während andre flatternd in sich standen, sich aufrichten wieder und haardünne Strahlen aussenden. Dann hörte sie von Georges’ Stimme leise die Verse Hölderlins:
„Es haben ihn die Götter sehr geliebt,
Doch nicht ist er der erste, den sie drauf
Hinab in sinnenlose Nacht verstoßen
Vom Gipfel ihres giftigen Vertrauns.“
Eine Weile danach löste sie ihre Hand, stieg die Stufen hinunter und setzte sich vor ihren Flügel. Während sie ihr Notenheft lautlos zuklappte und zur Seite legte, hörte sie ihn reden.
„Hölderlins Schicksal hatte er wohl, ein Dichter war er auch, aber niemand wird von ihm sprechen. Es lohnt sich allerdings nicht. In den achtziger Jahren erschien ein Epos ‚Elias‘, später auch noch Gedichte, — ihr könnt euch eine Vorstellung machen, wenn ihr an Enoch Arden denkt; ein weiches, mattes Gedicht, in dem viel von Elias’ furchtbarer Leidenschaftlichkeit die Rede ist. Sonderbar, daß davon nichts Gestalt wurde. Er selber, der das dichtete, war ein so leidenschaftlich atmender Mensch. Du wirst es sehn in den Briefen. Ich kenne ihn nur als grau-, dann weißhaarigen Mann mit gutherzigen braunen Augen und einer wundervollen Stirn, wie ein Stück Himmel gewölbt. Und drinnen das Chaos.
„Die Briefe sind an eine Frau gerichtet, mit der er befreundet war, — damals. Dann liebten sie sich. Sie war verheiratet und hatte Kinder. Ein Jahr rissen sie Beide an der Kette, aber der sie festgelegt hatte, ließ nicht los. Zwei Jahre danach heiratete mein Vater ein sanftes Mädchen, und ich bin ihr Sohn. Sie liegt nun auch schon so lange in der Erde, wie mein lahmer Bruder lebt, und das ist ihr gut.“
Renate, betrübt, fragte nach einer Weile zaghaft:
„Sage mir, Georges ... Giebt es denn das, daß jemand einen Menschen gegen seinen Willen zwingen — —“
Er lächelte mitleidsvoll. „Ich sagte es ja, Renate: hier ist die eine Welt, und draußen die andre, die man auch die moralische nennen könnte. Die Menschen, Renate,“ fuhr er aufatmend mit leichterer Stimme fort, „haben Einrichtungen geschaffen, die sind für unsereinen — nicht schlecht, oder sinnlos, oder falsch, sondern sind: unglaublich schlechterdings, nicht zu glauben, auf keine Weise zu begreifen, weil dir dazu Organe fehlen, — so wie der Fisch nicht atmen kann in der Luft. Etwa folgendermaßen: Gesetzt, du bist ein halbes Kind von einem Mädchen, in einer geldarmen aber zahlreichen Familie. Und ein Mann setzt dir zu, mit Jammer und mit Tränen, mit Flehen und mit Drohungen, er stürbe, wenn du ihn nicht heiratest. Und aus reinem Mitleid giebst du nach und giebst dir nun auch Mühe, jahrelang, ihm gut zu sein, und schenkst ihm Kinder —“
Renate schauderte unbewußt. „Was ist, Georges?“ fragte sie, da er innehielt. Er lächelte sanftmütig.
„Ja, wenn du schon jetzt schauderst, Renate, was willst du denn später tun?“
„Habe ich geschaudert? Ach — bei den Kindern, — von der Frau, die ihren Mann nicht liebt. Nur weiter“, sagte sie kühl.
„Gern, Renate. Immerhin wollen wir uns einen Augenblick lang darauf besinnen, daß — wir zwar da sind zu dem, was wir wollen, also auch um zu lieben, was und wen wir wollen. Daß aber die Welt nicht da ist, um zu lieben, sondern um zu bestehn, also sich fortzupflanzen, wozu sie Frauen braucht, die Kinder gebären. Das tun sie auch. Und auch das ist Liebe.“
Er schwieg. Renate erwiderte nichts. Er fuhr fort.
„Gesetzt also, du tatest alles dies, und eines Tages siehst du nun, es geht nicht, er ist ein trauriges, stumpfes Wesen, mit dem sich nicht leben läßt, er streut Bitterkeit umher, er macht dich zu Alltag, er verstaubt dich mit Nörgelei und Gejammer, und du siehst und kennst dich nun selbst, da du in die Jahre dazu kamst, merkst tausend schöne Kräfte in dir, Flügel deines Geistes, Taster, zarte, innige, deiner Seele, Lust, in dein Weltgetriebe hunderthändig hineinzugreifen, so hilft dir doch alles nichts, und du mußt dir die Seele besudeln und dir eine Hölle machen lassen aus deinem, zum Segen dir geschenkten Dasein, solange — solange er deinen Leib nicht schlägt, denn so lange gehört ihm nach dem Gesetze dein Leib, und alles andre sind Fisematenten. Wenn du aber am Ende einen Andern findest, einen Menschen, einen Edlen, Gütigen, Zarten, Wissenden, und Worte der Ewigkeit klingen an dein Ohr und erinnern dich an dein Herz und was du schuldig bist, dir und den Menschen und deinen Kindern zumeist: nämlich einen so vollkommenen Menschen du aus dir zu machen weißt, und dazu: Freiheit, dein Himmelslehen, die dich rüstig macht, deine Seele zu reifen, deine Kinder blühen und schön zu machen, — und erinnern, was du verschuldet hast, weil du nicht warten konntest, warten Jahre und aber Jahre, bis das kam, was du träumtest, und nicht lieber mit allen Träumen wie eine triumphierende Meereswoge in dein Grab gestiegen bist, so hilft dir all das doch nichts, denn du bist kein Mensch, du bist eine Sünderin bloß, auf die jeder den ersten Stein zu werfen bereit ist, am ehesten aber ihr Mann, und bist nicht würdig, Kinder zu haben, denn du bist gemein. Denn mit einer Ehe verhält es sich so, daß du sie nur nicht zerbrechen darfst, brechen darfst du sie in Hirn und Herzen wohl tausendmal bei Tag und Nacht; aber wenn du nur deinen Leib im alten Bette läßt, so bist du edel und würdig, Kinder zu haben.“
Renate war so heftig aufgesprungen, das der Deckel des Klaviers, auf dem ihre Hände lagen, zuschlug und alle Saiten nachdröhnten.
„Es ist Wahnsinn,“ sagte sie, „es ist mir unerträglich zu hören.“
In ihrem großen, schwarzen Kleide rauschte sie in der Kapelle hin und her, blieb stehn, faltete die Hände vor der Brust und rief zu ihm hinauf:
„Ich will nicht, daß es wahr ist, Georges, ich will es nicht! Es macht mich unrein in allen Frauen, die so etwas dulden können. Sage, daß es — vergieb mir, Georges,“ bat sie leise, „ich habe dich über mir vergessen.“
Sie wogte, ihr war, als müßte sie in Tränen ausbrechen. „Ulrika, was sind wir für Wesen,“ klagte sie, „es ist ja nicht zu sagen!“
„Dies, Renate,“ hörte sie Saint-Georges von oben, derweil Ulrika gesenkten Hauptes verblieb wie vorher, „dies ist ja alles nichts. Auch das ist nichts, daß ein Mann, weil er zu schwach ist, daran zugrunde geht. Aber daß eine Frau, eine solche Frau, die ich beschrieb, es nicht nur leidet, sondern sich daran gewöhnt, das ist — sagen wir — erstaunlich. Erinnerst du dich“, fragte er, „Dora Vehms, der Schwägerin Irenens?“ Renate nickte. „Ich denke,“ fuhr er fort, „die muß dir gefallen haben. Ich weiß Einiges von ihr, sie soll an Lebenskräftigkeit, an sachlicher Tüchtigkeit ein Wunder sein; ihr sah das Bild jener Frau, das ich bei den Briefen meines Vaters fand, etwas ähnlich, und ich glaube, sie wars auch im Wesen. Nun denke dir solch eine Frau, und weiter denke dir folgendes.
„Bei den Briefen meines Vaters — die er also scheinbar von ihr zurückerhielt, wie er ihr die ihren zurückgab, denn ich fand keine — lagen zwei mit einem Jahre späteren Datum; der eine von seiner, der andre von ihrer Hand. In dem ihren stand etwa folgendes. Er möge ihr doch nicht schreiben; er wisse, daß sie versprochen habe, jede Gemeinschaft mit ihm abzubrechen, und sie wolle das halten. Nun wolle sie ihm aber noch mitteilen, daß sie sich sehr über die Nachricht von der Geburt eines Sohnes gefreut habe; ja, so sehr, daß sie gedacht habe, nun dürfe sie auch noch einmal eine Freude haben, und die sei ihr denn auch erfüllt, und sie habe vor einiger Zeit einen Sohn bekommen.“
Renate sagte: „Au!“ ohne es gewollt zu haben.
„Wunderst du dich“, hörte sie Georges, „über die Logik? — Das also schrieb sie und setzte noch hinzu: alles was je zwischen ihnen Beiden gewesen wäre, das sei unvergänglich, oder so ähnlich. Und zum Schluß wiederholte sie: er möge ihr, wie gesagt, nicht schreiben. Wenn er ihr aber doch schreiben wolle, so möge ers gleich tun, denn ihr Mann sei eben verreist. — Sagtest du was, Renate? Sag au, Renate, immer sag au, aber bitte: denke dir keine alberne Gans als Schreiberin jenes Briefes, denke dir Dora Vehm, die du kennst, ja denke eine so verständige Frau, wie du selbst bist, und wundere dich nur, wie — Erniedrigung die Menschen erniedrigen kann! — Sie bekam also einen Sohn von — dem Mann.
„Und der andre Brief,“ redete er mit einer grausamen Leichtigkeit weiter, „den ich fand, der von meinem Vater, der war augenscheinlich nicht abgeschickt worden. Es stand nur darin, daß er auf ihre Nachricht hin nichts weiter sagen könne, als daß sie durch die fortgesetzten Keulenschläge auf ihn, und damit auf sie selbst, sich gleichsam immun gehämmert habe. Er empfinde deshalb weiter keinen Haß gegen sie, müsse aber doch sagen, daß, wenn er hören würde, jemand habe sie durch ein rasches Gift oder durch einen Messerstich aus der Welt geschafft, daß es ihm nicht leid sein würde.“
Er schwieg. Renate saß so völlig leer von Gedanken und Gefühlen, daß sie mit einem seltsamen Schauder die Flammen der Lichter, die Gestalt von Georges, Ulrikas Kopf, die Wände, alles in sich hereinschweben spürte, als ob sie Luft geworden wäre und alles umfassen könnte. Dann schmerzte ihr Kopf; sie kam zu sich. Saint-Georges sagte:
„Was haben wir denn, wir — Andern? Wenn es denn schon Niedriggeborene giebt, und wenn sie uns zwingen können, was haben wir denn für uns, als: besser zu sein und immer besser zu werden? Wenn sie niedrig sind, so ist doch ihre schlimmste Niedrigkeit die, daß sie uns nicht verstehn, und daß sie uns verurteilen, wir aber, wir können sie verstehn und ihnen die Niedrigkeit nachsehn. Dieser Mensch da, dieser Andre, ihr Mann, der hatte nie etwas andres als sich selbst und seine Begierden. Die aber sind es, die nichts haben als sich und ihre Begierden, die sich zum Schutze jene Gesetze ausgedacht haben, nach denen nun alles geregelt wird. Wenn du nach Jahren des Jammers und des Ekels, der Ohnmacht und der Verzweiflung dich eines Tages vergißt und in deinem armen, unseligen Mädchenhunger nach ‚Glück‘ den Rest der Süße, die dir noch verblieben ist, mit einem andern Mann teilst, als deinem Ehegatten, so bist du nur gemein und wert, davongejagt zu werden. Giebst du aber nach, weil du Kinder hast und weißt, man stirbt an vernichteter Liebe vielleicht, aber niemals an Mutterliebe, und bleibst und läßt dir Leib und Seele vergewaltigen, so bist du edel und gut, und ob du gemein bist oder edel, das hängt nicht von dir ab, sondern von dem, was du zu tun scheinst. Die Kinder aber, die du geboren hast, mit deinen Schmerzen, mit deiner Todesnot, mit deiner unbeschreiblichen Gutwilligkeit, etwas herauszuschenken aus deiner Fülle, und wenn es dich das Leben kostet, die du ernährt hast und erzogen, jahrelang allein, während sie deinem Mann ein unverständliches Spielzeug waren, und späterhin, wo er nicht viel mehr Zeit für sie hatte, als sie Sonntags zu prügeln für die Wochensumme ihrer Unarten, — diese Kinder legt er dir als Kette um dein Herz und erdrosselt dich mit deiner eignen —“ Er verstummte und fuhr gleich darauf leiser fort: „Das Gesetz, so heißt es nämlich, ist für Alle da und muß deshalb schematisch sein. Verfolgst du nun aber einen Scheidungsprozeß, so findest du Monate und Jahre womöglich an Zeit und Mühseligkeit aufgewandt, um jeden Schmutzfleck, jedes Staubkorn aufzudecken, um alles und aber alles aufzuhäufen, was mit dieser Angelegenheit nur von fern einen Zusammenhang haben könnte, aber geurteilt wird am Ende nach dem Schema. Ist das nicht ein ekelhafter Widersinn? Dies aber ist möglich, denn hier liegt das Gesetz mit seinen angestellten Richtern und hier die Einrichtung der Anwälte. Denn das Gesetz, heißt es, muß da sein, danach kann es verdreht und gedeutet werden. Wem aber kommt dies zugute? Den Findigen, den Hurtigen, den Geschickten, und allemal sind auch dies die Untiefen, die Leichten, die Liederlichen, die zur Ehe zusammenlaufen und wieder auseinander, die ihre Kinder verwahrlosen lassen oder zerdrücken, die gar nicht wissen, was ein Kind ist, dies heilige Geschöpf, die finden im Gesetz ihre Möglichkeiten, ihre Erlaubnisse, ihre Freiheiten. Aber der Edle, der Schwere, der Wahrhaftige, der Zarte, der Scheue, der Liebende, der Fromme, wenn der sich fürchtet, vor allen Augen den Unrat zu offenbaren, mit dem er beschmutzt wurde, so kann er von jeder Bestie vergewaltigt werden, deren Eigentum er zufällig ist wegen einer jahrealten Unbedachtheit. Bei Gott hat dein Vetter Josef recht, als er sagte, daß der Mensch vielleicht gut sei, alle zusammen aber eine Gemeinschaft von Bestien.“
Nachdem seine Worte stets eisiger und härter geworden waren, hörte Renate ihn nun mit Gelassenheit sagen: „Merke dir für alle Fälle, was ein Gesetz ist. Ein Gesetz ist keine Einrichtung, um zu nützen, zu schützen, zu erleichtern, den Guten zu helfen und die Schlechten zu unterbinden, das Gute zu fördern und das Böse auszutilgen, sondern ein Gesetz ist dazu da, daß die Menschen nach ihm gemessen und beschnitten werden, daß sie mit ihm sich gegenseitig verurteilen und mißhandeln, Gewalt antun und verkröpfen.“
Er war, noch während er den letzten Satz hinwarf, aufgestanden, kam vom Podium herunter und reichte Ulrika die Hand. Neben Renate stehend, sagte er:
„Lies die Briefe. Sie sind schön, sie sind leidlos. Die übrigen hab ich verbrannt. Es steht nirgend der volle Name der Frau drin, an die sie gerichtet sind, und das ist ganz gut.“ Renate sah trübe zu ihm auf, aber er lächelte nun und schien alles für erledigt zu halten. Sie faßte seine Hand und fragte ängstlich:
„Sag mir noch —, ist die Krankheit deines Vaters — —, hängt sie zusammen mit —“
Er schüttelte nachdenklich den Kopf und erwiderte: „Laß das Fragen. Es weiß keiner genau. Krankheiten des Gehirns kommen wohl niemals von außen, sie können höchstens beeinflußt und — vielleicht — verfrüht werden. Also vielleicht ein Unterschied von fünf Jahren, um die ich länger einen Vater gehabt hätte. Er ist nun tot und hat Frieden. — Draußen ist Februar. Da zieht ein Winter nach dem andern herauf. Er und die Gestorbenen bleiben sich unveränderlich gleich, und dazwischen leben wir und geben uns keine Mühe. — Gute Nacht, Kinder, gute Nacht!“
Es war lange Zeit still in der Kapelle. Ulrika stand auf, ergriff die Lichtschere und beschnitt alle Dochte vorsichtig und säuberlich. Renate ging in der Kapelle hin und her, stieg zur Orgel hinauf, setzte sich. Sie schauderte leise, bedenkend, daß der Freund nun wieder durch die Winternacht ging, allein, zu dem gelähmten Bruder und der Aussicht auf die Gefängnismauer, die sie plötzlich begriff. Tief aus ihrer Versonnenheit fragte sie endlich Ulrika, die wieder vor ihren Noten saß: „Und was sagst du zu alledem?“
Ulrika hob langsam den Kopf. Gegen die Dunkelheit hinter ihr zeigte sich, von den Kerzenflammen hell beschienen, ihr Profil, streng Nase und Brauen, wie wenn sie spielte, und in dem für Renate sichtbaren Auge glänzte es feucht und rötlich auf vom Lichterschein. Sie sagte nichts, sondern klappte das Heft vor sich zu, stand auf, ging um den Flügel, legte es hin, legte, in der Einbuchtung des Flügels stehend, beide Unterarme auf die Platte, senkte schließlich den Kopf tief darüber und sagte:
„Ich bin auch verheiratet.“
Renate zuckte zusammen und regte sich nicht. Aber da richtete Ulrika sich schon wieder auf, strich eine Haarsträhne aus der Stirn, machte sie fest, wandte sich und sagte:
„Du mußt nichts Falsches denken. Mein Mann ist sehr gut. Ja, er ist wohl noch viel besser, als ich bisher gedacht habe, nach dem, was ich heute höre. Aber die Menschen werden wohl allerlei reden, weil er niemals hier ist.“
Sie legte die Arme wieder auf die Platte, ließ die Augen umherwandern und sprach leise weiter:
„Du mußt wissen, daß ich niemals etwas andres gekannt und gewußt habe als mein Klavier. Ich verlobte mich, weil es so kam und wir uns sehr gern hatten, und am Ende heirateten wir auch, aber ich dachte nicht, daß das etwas Besondres wäre. Ich wußte ja nichts. Gar nichts. Und so — nun, so war ich am andern Tage wieder bei meiner Mutter. Ich bin dann wieder zurückgegangen, aber — seine Frau bin ich nie gewesen. Ich weiß nicht,“ sprach sie schnell weiter, „all das hat mir immer ganz einfach geschienen, nur dies eine, das er von mir verlangte, als etwas Ungeheures, und jetzt ist es plötzlich umgekehrt, und es scheint, als wäre es ungeheuerlich, daß er sich in alles fügte, aber das eine hätte ganz einfach sein sollen. Oder doch nicht? Wer sagt mir das nun? Da ich nichts wußte, so wußte ich doch auch von mir selber nichts. Ich brauchte mich selber ja nicht, ich hatte ja mein Klavier, wozu mußte ich das eine für mich behalten? Wem hab ich damit gedient? Mir doch nicht. Wie er leben mag, das weiß ich freilich nicht, er ist in seinem Auslandgeschwader, und wir reisen jedes Jahr ein paar Wochen zusammen. Das ist freilich keine Ehe.“ Sie brach ab und legte das Gesicht in die Hände.
„Wenn es dich beruhigen kann,“ sagte Renate sanft, „ich würde so gehandelt haben wie du.“
„Ach,“ sagte sie nun, aufschauend erhitzt und rot, „das ists ja wohl gar nicht, was mich plötzlich beschwert. Ich habe ja auch meine Freiheit und kann —“ Sie brach wieder ab, legte jählings den Kopf in die Arme und auf das Instrument und weinte.
Renate glaubte, alles zu wissen. Sie stand leise auf, ging hinunter und zog die Weinende in ihre Arme. Dort wurde sie bald ruhiger, trocknete ihr Gesicht, lachte leise und sagte:
„Du meinst nun, ich dachte, es könnte mir so ergehn wie der Frau, von der er erzählte, aber findest du nicht, daß ich einen Vorsprung habe? Oswald ist doch gut, ich weiß, er ist gut“, sie faltete die Hände, drückte die Unterarme gegen die Brust und die rechte Wange gegen den Handrücken und fragte ängstlicher: „Glaubst du nicht, daß er gut ist? Nach allem, was wir hörten —, aber —“ sie warf Hände und Arme auseinander, ließ den Kopf sinken und sagte: „Da hab ich zeitlebens in die Noten gestarrt, und wenn was passiert, werde ich selber schuld sein. Endlich kam Bogner und machte ein Fenster auf; das war er selbst, und vor lauter Wundern und Gegenständen draußen sah ich ihn selber nicht. Da kommt nun dieser Saint-Georges und macht das Fenster einfach zu, und da steh ich nun, und da seh ich ihn nun, und es ist finster, und draußen mögen die schrecklichsten Dinge bevorstehn —“ Sie verstummte und starrte verloren an den Boden. —
„Komm,“ sagte sie plötzlich, „ich muß heim.“
Sie fing an, die Lichter auszublasen. Renate ging willenlos zur Kurbel für die elektrische Lampe, die häßliche Helle bedrückte sie, und Beide verließen eilig und schweigsam den plötzlich ungastlich gewordenen Raum.
Renate, in ihrem Zimmer später, glaubte beide zu spüren: von Ulrika her Schatten einer Zukunft, von Saint-Georges her die Schatten des Vergangenen, und ihr Herz zog sich schauriger als je zusammen. Dann aber ließ dies ab, und statt dessen brachen von innen die Schauder der Gegenwart, da sie sich mit deutlichen Worten sagen mußte: Da stehst du unversehrt und freust dich dennoch nicht, sondern du ängstigst dich vor Kommendem, und gleichfalls wäre dir alles andre lieber als diese deine schöne Leere. — Da — plötzlich — erschien die immer fremde Freundin ihr, wie sie zuvor neben dem Flügel stand im Lichterschein, seidenbraun, rot im Haar, und bleich neben dem schwarzen Ungetüm, und die Arme auseinanderwarf und etwas sagte, das Renate nicht mehr wußte und verstand, in den schmerzlichen Brauen aber, in den Winkeln des Mundes und in den Augen so viel jäh ausbrechende Inbrunst und innerstes Leuchten, daß Renate erschrak. — Sie ging auf und ab im Zimmer.
Ihre Brauen —, an denen hing sie jetzt fest. Was ist denn, Ulrika, du fremde Seele, nun habe ich Jahre schon, sooft du saßest und spieltest, deine Brauen geliebt — fast — ja fast wie ein sehr schönes, adliges Tier, einen Aar, einen Sperber — so ernsthaft ausgebreitet schwebten sie dunkel überm großen Strom der Musik, — und immer doch habe ich sie vergessen müssen, wenn der Strom endete und — du selber da warst. Dann blieb da ein feines, zartes, unendlich gescheites, ernstes und liebenswertes Geschöpf, aber zwischen ihm und mir — war Zwischenraum, und ging er nicht von dir aus? eine Zauberluft, in der du dich abschlossest? Und warest du erst abwesend, so vergaß ich dich fast, und du warst nicht viel mehr als ein farbiger Schatten.
Und das wars natürlich auch — ja, das wars vor allem: Wann hätte sie je von sich selber gesprochen? Oder so sie’s tat, wars — Musik; ihr Lernen, ihr Vorwärtskommen, Konzerte ... Warum aber das? Ach, sie war doch verheiratet, hatte einen Mann —, wovon zu sprechen natürlich gewesen wäre, aber dies — hatte ja kein Dasein in ihr, es sei denn ein so verfehltes, daß es verdeckt werden mußte vor ihr selber. Und er — mein Gott, ja — er, der Einzige, der ihr der Nächste sein sollte — ihn mußte sie immer fernhalten von allen Gedanken, vom ganzen Leben, — und davon blieb die Haltung dann wohl, die innerlich abweisende Gebärde, die Einsamkeit, in der dem dunklen Göttervogel an ihrer Stirn die Flügel hingen, bis er sie wieder ausbreiten durfte im pfeilgraden Flug über Strömen.
Sie blieb stehn und sah den Ech-en-Aton, der aus seiner Ecke über sie hinweg blickte, wie seit ewig. Ja, staunte sie, du ja auch! In Ulrikas Haltung nicht, nicht in den Zügen, — im Wesen war dieser Blick — über alles hinweg, der mir manchmal — wie Hochmut schien, trotz deines warmen und glühenden Herzens, für alles was edel, rein und wahrhaftig ist. Doch verurteiltest du manchmal, und wo du nicht verstandest, da wolltest du auch nicht verstehn. Oh gleichviel, bin ich vielleicht besser? — Diese Frau — Renate wandte sich ab —, wie Georges sie erklärte, war sie unsäglich liebenswert und traurig, allein — — Sie blickte wieder das kleine Königsantlitz an. ‚So glaubten Heilige, und so verbürgt es die Form der Sonnenblume‘, murmelte sie. Sich verwandeln, wie? Ja — Ulrika, — sie war Musik und nichts andres. Wie sagte sie selber? „... daß ich nie etwas andres gekannt habe als mein Klavier.“ Das wars wohl. Und du, Bogner — ah, wars das, was dich zu ihr zog: Glut, unstillbar, wie die deine, zum einen Ziel, und die Verwandlung? Du aber bist doch nicht einsam, nicht verschlossen, obgleich ... Sie brach seufzend den Gedanken ab.
Nicht einsam? nicht verschlossen? nicht mir ewig fremd?
Und doch, fing sie nach einer Weile wieder an, kaum bemerkend, daß sie auf einem Stuhl saß, — Ulrika war — mehr als — beschlossen. Sie war — — Angestrengt nach einer Vorstellung suchend, fand sie schließlich: befangen. Das ungefähr, dachte sie, gefangen in sich selber, unfrei irgendwie in der einen Aufgabe. Georges — Renate lächelte —, was würdest du nun sagen? — Jedoch fiel ihr ein Wort Josefs ein: Tennisspielende Frauen werden schief; tennisspielende Männer niemals. Und — hatte er hinzugefügt — jeder Frau, die alles an eine Sache setzt wie ein Mann, es sei denn an die natürliche, ergeht es wie den Tennisspielerinnen.
Ist uns denn — mein Gott! — murmelte Renate verzagt, wirklich nur die eine Stelle im Dasein gegeben, um zu lieben und ganz wir selber zu sein und schön?
Wieder war über ihr das Königsgesicht, fortblickend ins Ewige. — Er lächelt ja! durchzuckte es sie leise. Sie senkte den Kopf: Und was steht vor deiner Seele, Renate, und fordert die Verwandlung?
Lange Zeit blieb alles leer in ihr und dunkel. Dann fiel ihr ein, daß sie das Paket mit den Briefen in der Kapelle hatte liegen lassen. Also ging sie fröstelnd und traurig, — von Treppe zu Treppe, von Zimmer zu Zimmer von dem auflohenden und verlöschenden Licht begleitet, durch das dunkle Haus, den zerstörten Frostgarten und in die Kapelle, wo sie noch die halbe Nacht, da Streichhölzer fehlten, unter der hochhängenden Glühbirne saß und schaudernd in der Nachtkälte mit heißem Gesicht las, als wäre sie es Saint-Georges schuldig, was sein toter Vater einst schrieb.
Georg, abgespannt von überhitzten Arbeitswochen in Mozarts Figaro sitzend, merkte schon während des ersten Aktes, daß es ihm wie immer erging: nach dem ersten wunderbaren Durchspültsein von der göttlichen Musik, dasitzend mit geschlossenen Augen, um die Bühnengeschehnisse unbekümmert, entfaltete in ihm sich Phantasie; Bilder, von den Klängen tiefer gefärbt und bewegt, schwirrten auf, schwanden, wiederholten sich und vergingen unter neuen Erinnerungen an dies und jenes, Gedanken an die Zukunft, die er erleichtert sah, plötzlich ein Stück Traumes aus der letzten Nacht, ein Mädchen, eine Frau — deren Gestalt und Züge ihm kaum noch erinnerlich waren, die er geliebkost hatte, wie sie ihn, bis zur höchsten, letzten Wollust liebkost, in einem Garten ... worauf er, erwachend, dann merken konnte, daß nur seine Seele geträumt hatte, nicht aber sein Leib. Und wieder, wie in der Nacht, fühlte er das Peinliche der Erleichterung, — und Erleichterung doch. Diese Weise war immer noch besser als — — er zerdrückte das Übrige, sah, die Augen öffnend, ein wenig geblendet von der Helligkeit der Bühne, eben den Grafen, ohne daß ers gleich merkte, den silbernen und blauen Cherubim aus der Decke hüllen, lächelte zerstreut und ließ sich untergehn im harmonischen Wirrwarr der Instrumente und Stimmen, bis der Vorhang fiel.
Benno hinter ihm seufzte tief auf, und sein heißes, gerötetes Gesicht kam zum Vorschein mit ersterbenden Augen. Allein, wie deren Blick jetzt in das Logenhaus hinunter geriet, zeigte sich Erschrockenheit darin. Er faßte Georg am Arm und flüsterte:
„Sieh nur! das Gespenst unten! Drüben auf der Seite, in der dritten — vierten — fünften Parkettloge, wo all die Schauspielerinnen sitzen!“
Georg suchte dort, über die Brüstung der Proszeniumsloge geneigt, und gewahrte in der Tat bald ein seltsam gespenstisches Gesicht, das, als gehörte es zu einem Kinde, dicht über dem grünen Plüschwulst der Brüstung war: gelbes, in die Stirn gekämmtes Haar, unter dem hervor aus dem ganz weißen, altkindischen Gesicht mit spitzer Nase, unbestimmt helle Augen umherspähten, sich verdrehend, so daß darin das Weiße glänzte, äugend in einem abstoßenden Gemisch von Munterkeit und Bosheit. Ein Gespensterwesen ohne Jugend und ohne Alter, fast Knabe und fast Mädchen ...
„Siehst du?“ raunte Benno. „Ein Vampir!“
Allein Georgs abirrender Blick hing an dem Gesicht daneben fest, aus dem zwei schöne und traurige, dunkle Augen ihn anblickten; ihn? — ja — gewiß — ihn, — und zwar senkte sie wohl gleich die Lider — sehr schwarz und lang mußten die Wimpern auch am untern Lide sein, denn die Augensterne waren rundum verschattet —, aber im nächsten Augenblick kam der Blick wieder empor und hing an ihm fest, viele Sekunden lang. Dann wagte Georg es, zu lächeln; sie blieb ernst. Nein, nun lächelte auch sie, traurig, und schlug die Augen nieder.
Georg streckte die Hand nach dem Opernglas, das Benno haben mußte, murmelte, er müßte das Gespenst sich näher ansehn, erhielt es und konnte nun die Gesichter beide nahe vor sich sehn und in fast natürlicher Größe. Das des Gespenstes war weiß geschminkt und abscheulich; auch das der Andern war — ein sehr weiches, fast rundes Oval — weiß, eher ein wenig grau, wie von vielem Schminken. Auch diese — waren es wirklich Schwestern? — trug das Haar in die Stirn gekämmt, aber es war tiefbraun, sehr altem Mahagoni oder polierter Eiche gleich, ja, es schien fast einen grünlichen Hauch zu haben wie Bronze, — aber das kam wohl von dem nahen Samtgrün der Brüstung und — ja, auch ihr Kleid war von ähnlich grünem Samt. — Befremdend war der Mund, von dem nur in seiner Mitte ein hagebuttengroßer, tiefroter Fleck der Oberlippe sichtbar war; die Mundwinkel, tief ins weiche Wangenfleisch eingebettet, waren darin wie ausgewischt, ähnlich wie die Augen vom Schwarz der Lider.
Indem sah er sie ein kleines Opernglas heben, aber gleich wieder sinken lassen, — wohl da sie das seine auf sich gerichtet sah.
Und dann, nachdem er das seine fortgetan, blickten sie einander wieder in die Augen, in Pausen, wieder und wieder. Es war süß, melodisch, — fast wie Drosselgesang, dachte Georg. — Dann begann der nächste Akt.
Wer ist sie? dachte Georg, wieder im Dunkel geschlossener Augen und wirrer Harmonien. Hat sie mich erkannt? Ach, wahrscheinlich doch! Überall haben sie ja Photographien von mir aufgehängt. Freilich, wenn die Menschen einen vor sich sehen — im Laden zum Beispiel —, denken sie doch nicht, daß mans sein könnte. Er lächelte, da ihm einfiel, was der berühmte Gaffron, der Mime, ihm einmal erzählt hatte, wie er eine Ansichtskarte von der Wiener Burg gekauft und die Verkäuferin ihm eine empfohlen hatte mit den Worten: Da habens auch den Gaffron gleich mit drauf ...
Er wandte sich und suchte im Dunkel der Menschen unten ihr Gesicht, fand es auch, mattweiß leuchtend, und sah, daß sie zu ihm emporblickte. Obwohl er ihren Blick nicht wahrnehmen konnte, fuhr er fort, hin und wieder sekundenlange Blicke mit ihr zu tauschen, dieweil er dachte:
Will sie etwas? Sie sah so ernst aus; das muß echt sein. Nein, dirnenhaft war sie doch gar nicht! Empfand sie wirklich etwas für ihn? Ach, ja so wars immer mit ihm gewesen: die er hätte haben mögen, pflegten ihn nicht zu sehn, solange sie nicht wußten, wer er war, und die Unbekannten, die ihm ihre Geneigtheit zeigten, stießen ihn ab eben dadurch. Auch diese — — sie ging fast zu weit ... Und was nun? Nun das Anknüpfen, das unleidlich war. Sie mußte ihm erst doch mehr entgegenkommen, damit er sicher würde, dann wars ja einfach, allein — — um so mehr würde dann wieder die Zudringlichkeit ihn abstoßen ... Und natürlich grade heute mußte ihm dies begegnen, wo er nach Wochen und Wochen des Schmachtens und Leidens — nun einmal sich bedürfnislos fühlte! Dieses Leben hier war von allen Bestien die heimtückischeste.
Schweren Herzens, als der Vorhang fiel, erhob er sich doch langsam und sah sie aufstehn. Bennos Arm nehmend, schlenderte er durch das heiße Gedränge auf den Treppen und Gängen, behelligt und unwirsch vom vielen Ansehn derer, die ihn erkannten, in den Wandelgang hinter den Proszeniumslogen hinunter, der fast leer war. Sie stand in der Tür ihrer Loge und sah ihn kommen, bewegte sich vor, ging an ihm vorüber, ihn ansehend, ohne zu lächeln.
Und dann begegneten sie sich, Beide umwendend — Benno, aufgelöst in Musik, wanderte blindlings und schweigsam mit —, begegneten sich noch einmal — und lächelte sie jetzt nicht wieder? — und ein drittes Mal, worauf sie verschwand. Das grüne Samtkleid, das schlecht und lose saß, wunderte Georg, ohne seine wachsende Zuneigung viel zu stören.
Oh er würde sie lieb haben können! Wenn sie nur nicht törichten Geistes war, — aber das schien nicht so. Also mußte es sein. Mußte, mußte! Nicht wieder aus Feigheit die Gelegenheit versäumen! Nun — aber wie? — Es mußte sich finden ...
Der dritte Akt war noch nicht halb vorüber, als Georg sie mit dem Gespenst flüstern sah. Dann stand sie auf, stand noch einen Augenblick aufrecht, zu ihm aufblickend, und verschwand.
Georgs Herz tat einen Sprung und begann zu rennen. Festgebannt noch für Sekunden, erhob er sich dann doch und sagte zu Benno, er müsse ihn entschuldigen, und, verlegen lächelnd: ein Abenteuer verlangte ihn ...
„Aber wie denn, Georg?“ fragte Benno fassungslos. „Ich hab doch gar nichts gesehn!“
Georg drückte ihm die Hand, verließ eilig die Loge, ließ sich Hut und Mantel geben und lief mit angstpochendem Herzen hinunter. Noch auf der Freitreppe sah er sie unten in der Halle stehn, — ja was für einen abscheulichen, vergilbten alten graden Strohhut hatte sie denn auf dem Kopf! — Georg fand sie so entstellt, daß er fast dies als letzten Ausweg benutzt hätte, um davonzukommen, allein was sollte Benno denken? — Sie stand — er sah sie von der Seite —, langsam einen schmutzigen weißen Glaceehandschuh anziehend —, und nun wandte sie sich herüber, sah ihn und ging schnell hinaus. Er folgte. Sehr langsam; so langsam er konnte.
Die dunkle, enge Straße war voll von wartenden Automobilen und Equipagen. Die Nachtluft atmete lau. Und dort links bewegte ihr Schatten sich davon, auf das rote Leuchten der breiten Goethestraße zu. Langsam folgte Georg, mit Entschlußlosigkeit kämpfend, mit: Soll ich? und: Soll ich nicht? wechselnd fast bei jedem Schritt. An der Ecke angelangt, gewahrte er sie erst nach einigem Suchen schon fern drüben auf der andern Seite, wo das steinerne Brückengeländer die Häuserzeile fortsetzte, und etwas rascher nachgehend, sah er sie über die Brücke, am Gitter der Molkerei hinabgehn, dann um die Ecke biegend entschwinden. Selber dort — auf einmal ganz verwirrt vom Erinnerungsgeruch der Gegend, durch die ihn jahrelang sein Schulweg geführt, — sah er sie wieder auf der andern Seite der zweiten Brücke über der Flußbiegung, und sie stand still an der Brüstung, flußabwärts blickend, — dorthin, wo am linken Ufer sein alter Schulhof lag und dahinter das rote Haus mit der Sonne auf dem Türmchen ...
Ja, nun mußte es geschehn. Unaufhaltsam kam er näher. Was war zu sagen? Abscheulich war das ja! Und dies Wesen war womöglich ihre Schwester mit dem Gespenstergesicht! — Und dann ballte er sein Innres zusammen wie ein Papierknäuel, trat neben sie und sagte — eben zwei näherkommende Männer gewahrend — im Ton alter Bekanntschaft, wenn auch heiser:
„Es ist angenehm kühl hier, nicht wahr?“
Nun erst wandte sie das Gesicht herum, lächelte ein wenig krampfhaft, bewegte die Lippen und sagte endlich, dieweil Georg plötzlich in schönster Sicherheit dachte: sie hat ja mehr Angst als ich! —:
„Ja.“
Und nun gingen sie zusammen weiter, Georg besinnungslos dies und jenes redend, von der Musik, von den Darstellern, ohne zu wissen, was er sagte, — gingen die dunklen, laternenerhellten, gewundenen Straßen, wo Georg jeden Stein kannte, an seiner alten Öltzenstraße, ganz nahe am Pragerschen Hause, am Kolonialwarenhändler Kiffe, am Bäcker Engelhardt vorüber, an den alten Schildern mit Anpreisungen von Malzkaffee, Kindermehl, Leibnizkakes, — wo Georg dann merkte, daß er vor Erinnerungen wieder verstummt war — einerseits, und daß sie ja in der Richtung seiner Wohnung gingen — andrerseits.
„Wohin gehen wir eigentlich?“ fragte er da kameradschaftlich.
Sie lachte leise. „Halt in die Allee.“
Und so kamen sie über den Platz und waren bald im Dunkel der noch kahlen Lindenwölbungen. Da schob Georg seinen Arm in den ihren, und siehe da, sie faßte mit der Hand, an der kein Handschuh war, die seine, und er mußte nach einer Weile wieder loslassen, um gleichfalls den Handschuh auszuziehn.
„Und nun,“ sagte Georg in völliger Sicherheit, „nun erzählen Sie mir, nicht wahr! Wie heißen Sie? Nur den Vornamen, — Nachnamen interessieren mich nicht.“
„Cornelia“, hörte er sie sagen.
„Cornelia?“ fragte er überrascht. Wer hieß denn Cor—? Ach, Cornelia Ring!
„Nicht Cornelia,“ sagte sie lachend, „Cordelia mit d, von cor, cordis.“
„Oh Sie können ja Latein!“
„A bissel!“
„Und Bayrisch?“
„Na freilich! Oberbayrisch, mei Muttersprache!“
„Am Ende auch Griechisch?“
„Auch. A weng!“
„Das glaab i nimmer!“ versuchte Georg sich Münchnerisch. „Sagen Sie mal was auf!“
Sie sah gradeaus. Er merkte beseligt, daß ihre Finger mit den seinen spielten.
„Na, fällt Ihnen nichts ein? Dann übersetzen Sie mal: Anär tis athänaios — uk ebuleto fotografizestai!“
Leicht auflachend stutzte sie. Hatte sie gelogen?
„Was heißt denn das?“ fragte sie dann. „Ein griechischer Mann, der nicht photographiert werden wollte? Wo kommt denn das vor?“
„Also wahrhaftig, Sie könnens! Das ist so ein alter Schülerscherz. Dann können wir ja griechisch weiter reden.“
„Awo!“ sagte sie, seine Hand drückend. „Sagens mir lieber, wie Sie heißen?“
„Wissen Sie das nicht?“ fragte er unbedacht. — Sekunden vergingen, bis sie ihn ansah und fragte: „Nein, — woher soll ich das wissen?“ Und Georg atmete auf.
„Georg? Ach, das ist schön!“
„Und auch griechisch.“
„Ja: ge—vor—gós,“ sagte sie mit genauer Betonung schulmäßig, „der Landmann. Sans an Landmann, gell?“
Oh dies ‚gell‘ war entzückend! Georg schüttelte nur lachend den Kopf, und sie wanderten langsam weiter, schweigsam, während Georgs Herz immer zärtlicher, sein Geschlecht immer begehrlicher empfand. Sie nahm jetzt den Hut ab, schüttelte den Kopf, und Georg sah, daß ihr Haar kurz geschnitten rund um den Nacken fiel. Darüber erlag er plötzlich, blieb, sie festhaltend stehn, umschlang sie und drückte sie an sich, während ihr Kopf schon hintenüber sank, ihr Mund emporkam, doch traf er, sie küssend, erst die Wange. Dann, als er ihren Mund gewann, brauste sein Blut siedend auf, durchflammt von der erschreckenden Süßigkeit dieses Mundes. Er stolperte, sie schwankten, ließen sich dann los und gingen hastig weiter, Georg trunken und beglückt. Bald nahm er ihre Hand, dann zog er sie davon, durch die Bäume der Allee und in einen der Wege in den Anlagen. Und dann saßen sie auf einer Bank, er hielt sie fast auf den Knien, ihre Brust lag an ihm, sie ließ sich küssen, Gesicht und Hals, küßte wieder und atmete tief und wild.
Wieder stille geworden nach dem Ausbruch, fragte Georg, ganz froh vor glücklicher Überraschung:
„Nun sag, was möchtest du? Hast du Wünsche? Wollen wir nach Ägyptenland reisen? Oder nach Stockholm? Na?“
Sie schwieg; ihre Augen blieben geschlossen an seiner Schulter.
„Aber erst muß ich wissen, wer du bist, nicht wahr?“ sagte er leise scherzend. Da schlug sie die Augen auf und sah ihn lange an. Endlich sagte sie ganz ernst und mit tiefer Stimme:
„Ich bin nur eine arme Seele!“
Und eine Weile später hörte er, übermannt von Mitleid, Zärtlichkeit und Staunen, sie sagen:
„Bist du denn so reich? — I moan,“ setzte sie hinzu, „weils du von Reisen redst.“
„Möchtest du denn reisen?“
„Ich will, was du willst“, sagte sie leise.
Ihn überliefs. Was war das hier? Was hielt er denn hier im Arm?
Lange wars still. Ob ihr nicht kalt sei, fragte er.
Oh nein, sie sei ja ganz glühend.
„Aber schad, daß nicht Mai ist“, meinte sie dann träumerisch vor sich hin.
„Die Nachtigall ...“ fing er an.
„— müßt halt schlagen“, ergänzte sie wohlgemut, halblaut wie aus dem Schlaf.
„Also gehn wir doch hin, wo sie schlägt, Cordelia. Du wolltest dir doch was wünschen. Wünsch doch mal! Na, was möchtest du wohl jetzt?“
„Was i möcht?“ Sie lächelte geschlossenen Auges und fuhr sachte mit lieblichem, innerm Humor fort:
„Ich sollt in eim Schloß sein dürfen ... im Garten von dem Schloß —, und in an — Teich. Ja, in dem Wasser, dem kühlen, — da sollt ich stehn dürfen, bis zun Knien. Und auf meinen Armen — so ausgestreckten Armen weißt und am Kopf und den Schultern — da sollt alles voll sein dürfen von — Papagoyen. Naa! ich mein’ ja nicht Papagoyen, ich mein’ — Lerchen. So a kloans Gsindl, weißt! Aber — — das bräucht halt a net! Bloß das kühls Wasser bis zun Knien, das sollt schon dürfen“, schloß sie bescheiden.
„Und das Schloß?“
„Und das Schloß halt“, wiederholte sie befriedigt.
„Dann also los, gehn wir hin!“ entschied Georg, sprang, sie abgleiten lassend, auf und zog sie mit sich den Weg hinunter auf die chaussierte Straße zum Schlößchen. Sie sagte lange Zeit nichts, wohl im Glauben, er scherze. Plötzlich aber hielt sie an, faßte ihn mit beiden Händen bei den Schultern und fragte, ihre Augen fest und ganz nah unter die seinen haltend:
„Georg! bist du wirklich reich?“
Er bejahte verwundert. Langsam irrte ihr Blick ab, fiel, sie senkte die Stirn gegen seine Brust.
„Ach, das ist schade!“ seufzte sie tief auf. „Ich dachte, du wärest auch arm ... Aber gut bist du, nicht wahr?“ sprach sie, ihn wieder anblickend, hastig weiter, „bist du nicht? Ja, du bist gut! Oh sag doch, daß du gut bist, bitte sags, bitte, bitte sag mirs doch!“ wiederholte sie bettelnd gequält, bis er Ja sagte.
„Danke“, seufzte sie leise. „Dank dir viele Male. — — Gehn wir nun zum Schloß?“ fragte sie kindlich zum Spaß. Er nickte nur, verwirrt von all dem sonderbaren Hin und Her, aber sehr gerührt, dankbar und voll Vorfreude über die kommende Überraschung.
„Ists das?“ fragte sie, als zur Linken die Hausecke im Dunkel sichtbar wurde. Er nickte nur und zog sie weiter an der Hand, die Rampe empor vor das Portal, wo er sein Schlüsselbund hervorholte und mit den Worten „Wolln mal sehn, ob einer paßt!“ einen nach dem andern versuchte, bis er den richtigen nahm und aufschloß.
„Es geht ja auf!“ schrie sie ganz entsetzt. Er aber war schon im Saal, drehte die Lichtkurbel, nahm den Hörer des Haustelephons von der Wand, hörte nach Sekunden — dieweil er sie dastehn sah, ihren alten Hut in der Hand, fassungsloses Staunen überm ganzen Gesicht — des blassen Egon verschlafene Stimme und trug ihm auf, Limonade und zwei Gläser ins Arbeitszimmer zu bringen.
„Oder magst du lieber Wein? Ich trinke keinen“, fragte er sie, die mit runden feuchten Augen immer noch langsam umhersah. Dann schien sie ihn zu erkennen, ihre Augen verdunkelten sich schwer, auf einmal war sie vor seine Füße hin an den Boden geglitten, legte die Stirn an seine Knie und sagte:
„Habe Dank, Herr!“
Und nach einer ganzen, für Georg fast verzweifelten Minute in der Scham seines Nichtseins und Scheinens:
„Ich bin dein eigen.“ —
Dann gelang es ihm endlich, sie hochzuziehn. Sie ließ sich geduldig küssen wie ein erschöpftes Kind, lachte dann leise und verlangte, wieder in ihrem kindlichen Spaßton, „das Übrige.“
Georg schloß aus alledem mit Bestimmtheit, daß sie Schauspielerin war; zwar hatte er nie eine gesehn, die so fortwährend agierte; aber die Art, wie sie’s tat, war ihm bezaubernd.
Als aber bald darauf im Arbeitszimmer die Mondsphäre aufleuchtete, war sie vor Andacht kaum zu bewegen, daß sie die Stufen herunterkam, und dann ging sie umher und bewunderte und berührte ein jedes, die Kostbarkeiten, die Blumen, die Möbel, mit einer kleinen, scheuen, bittenden und vertraulichen Bewegung der Hand, bis sie vor dem Penserioso in vollkommenes Schweigen versank. Unterweil brachte Egon Limonade, Georg mischte ein Glas, brachte es ihr, und sie nahm es, ohne es zu bemerken, trank und gab es ihm wieder.
„Man möcht ihn immer anschaun“, sagte sie endlich. Und, die Hände faltend vor der Brust:
„So möcht man auch einmal können sitzen — immer so — und nachdenken, immerfort nachdenken, wie das alles kommt ...“
„Ja, nun bin ich im Schloß!“ stellte sie erwachend fest. „Und du bist also der Prinz. Schad, wie a Prinzessin schau ich net aus da herum!“ sagte sie, den Fuß vorstreckend, um ihn auf ihr altes Kleid aufmerksam zu machen.
Georg lief zur Truhe neben dem Kamin. Darüber gebückt, in den seidenen Zeugen wühlend, erinnerte er sich mit Macht, aber er wollte sich nicht Esthers erinnern, wühlte stumpf weiter, den roten und blauen Bademantel hervor, den Sigurd, den Kimono, den Ulrika getragen. Es mußte etwas Dunkles sein für Cordelia, — nein, es war nichts, das gepaßt hätte, außer Esthers Gewand. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, als er es Cordelia brachte und sie, ganz wie Esther dazumal, ins schnell erleuchtete Schlafzimmer damit drängte. Dann kühlte er sich mit Limonade und versuchte, zu glauben, daß Esther das Kleid gerne hergab.
Ihre Stimme hinter sich hörend, drehte er sich um. Oh sie sah nun köstlich aus in dem düstern Kleid mit feurigen Blumen, das sie, nacktfüßig, mit beiden Armen an den Leib drückte, schmitzäugig flüsternd; sie habe nichts drunter an; so weich sei’s, so ...
Er glaubte, alles zu begreifen, sprang auf sie zu, ergriff ihre Hand, lief mit ihr zur Gartentür, öffnete und zog sie ins Freie, den Weg hinunter durchs Gebüsch bis an den Wassergraben. — Das sei der Teich, den er hätte. Aber ob es ihr denn wirklich nicht zu kühl sei ...
Sie stand, den Kopf im Nacken, lange nach oben blickend. Endlich flüsterte sie melodisch und auch theatralisch:
„Nicht Mond noch Sterne in der Nacht. Dann will ich leuchten!“ und ließ das Kleid an den Boden fallen.
Georg zitterte in den Knien. Er wagte fast nicht, sie anzusehn, sah die dunkle Wasserfläche, das schwarze Strauchwerk drüben, auch — einen grauen Fleck im Schwarzen der Flut — den jungen Schwan, der sich bewegte, und endlich sie selber, die wieder erhobenen Hauptes aufwuchs aus der Erde, völlig wie Marmor so bleich weiß, so weich und schmal, aber mit vollen, schönen, breit aufgesetzten Brüsten. Sein Blut lief über, er lag an der Erde und küßte ihre Knie, ihre Füße, sprang wieder auf, wollte sie an sich ziehn, erschrak, ihre Brust berührend, weil sie kühl war, nein kalt, wie Marmor, jedoch weich, — allein sie wies ihn leicht ausweichend von sich und ging schnellfüßig die schräge Uferböschung hinab bis ans Wasser. Er sah, daß sie strahlte mit ganzem Leib. Nun rauschte die Flut, in die sie watete. Stehen bleibend, drehte sie sich nach ihm um; er hörte durch das Brausen in seinen Schläfen ihre Frage, ob der Schwan gefährlich sei, und sah, leise verneinend, sie tiefer in die schwarze Flut gehn. Der Schwan kam jetzt mit leichten Stößen heran, — er war jung und zutraulich —, bewegte voll Anmut den Hals auf und nieder, drehte den Kopf, beschrieb einen Kreisbogen, sie streckte die Hände nach ihm aus und lockte, da kam er näher, ganz nahe zu ihr, richtete sich auf, spreizte sich und schlug mit den Flügeln. Stillehaltend danach, ließ er sie sich zu ihm bücken und ihn liebkosen, schmiegte den Hals an ihr empor und legte den Schnabel auf ihre Brust.
Fast kühl ward es Georg im Hinsehn. Die Nacht war unbewegt, windlos, geräuschlos, wie ohne Jahreszeit, nur Nacht, und, ins Vorjahrgras der Uferböschung niedergleitend, fühlte er das Rieseln über Rücken und Armen vom unbegreiflichen Schauder einer Furcht, bis er jetzt ganz überronnen, schamhaft wie ein Knabe das Gesicht in den Händen verbarg, dann völlig verwirrt, glücklich, schwellend von tausend Gefühlen, sich auf dem Rücken ausstreckte.
Leise rauschte es wieder in der Flut. Er sah sie heraufkommen, nicht dort, wo er lag, ein wenig links von ihm, und hingleiten. Lange Sekunden mußte er ohne Bewegung bleiben, nach oben blickend, trunkenen Auges. Als er sich dann zu ihr wandte, lag sie abgekehrt, ganz still, und wie er nun die Hand ausstreckte nach ihrer Schulter und sich hinüberbog, erkannte er, daß sie den Kopf auf den Arm gelegt hatte und weinte. — Erschrocken zog er die Hand zurück, streckte sie wieder aus, wollte etwas sagen, blieb stumm, ratlose Bestürzung im Herzen und Mitleid, so wenig er begriff.
Plötzlich lag sie auf den Knien, das Haupt tief hintenüber zum Rücken gesenkt, die Arme schlaff. Trotz des Dunkels konnte er sehn, wie ihre Brust sich hochwölbte und spannte, bis ihr Mund mit einem haschenden Wehlaut aufbrach, und sie seufzte ein sterbend tiefes, erschütterndes: Ach!
Im nächsten Augenblick war sie aufgestanden und ging langsam, ohne nach ihm zu sehn, das Ufer hinauf, den Kopf gesenkt, schlaff hangender Arme, und weiter und zwischen dem schwarzen Strauchwerk fort, wo das Weiß ihrer Glieder noch lange schimmerte. Endlich klang leise die Tür zum Haus.
Georg wartete, still in sich hinein lächelnd. Sie schämt sich nun, dachte er, oh wie werde ich sie lieben können!
Als aber sein Blut anfing, heftiger zu sausen, das Zittern der Begehrlichkeitsangst über der Herzgrube wütender pochte, spiegelte er sich vor, sie erwarte ihn drinnen, im Schlafzimmer womöglich — und ging, jedoch langsam.
Das Arbeitszimmer war leer. Die Tür zum Schlafzimmer stand halb offen, und drinnen war Licht. Er trat leise näher und spähte hinein. Niemand war darin.
Georg fühlte sich einen Augenblick versucht, die Schränke zu prüfen, ob sie sich in einem versteckt halte, doch brachte ers nicht fertig, ging ratlos ins Zimmer zurück, und als er absichtslos über den Schreibtisch hinblickte, schien ihm dort irgend etwas verändert. Nähertretend sah er auf dem weißen Löschblatt der Schreibunterlage große Schriftzüge, mit dem Blaustift geschrieben, der noch darüber lag.
„Dank! Dank! Dank!“ las er; und darunter: „die arme Seele.“
Haß und Enttäuschung, die aufquellen wollten, kamen doch nicht hoch vor dem Schauder der Ratlosigkeit und des Staunens. Seine Stirn sank langsam vorüber, indem er in den Stuhl hinabglitt. Er hätte weinen mögen vor Bitterkeit. Dann verging auch diese in offenbares Nichtverstehn. Sie wieder im Wasser unter sich sehend, beneidete er den Schwan. Bald fühlte er sich müde, stand kopfschüttelnd auf, lächelte mit Anstrengung und begab sich ins Schlafzimmer.
Renate erwachte beim Frühgeläut aus der nahen katholischen Kirche, dehnte sich, machte die Augen versuchsweise ein paar Mal auf und wieder zu und stellte fest, daß sie friedlicher und behaglicher Laune war. Vielleicht, dachte sie, kommt ein Brief, oder Besuch, und sie streckte sich gerade aus, faltete die Hände unterm Nacken, sagte sich, wie wunderbar breit ihre Muschel von Bett sei, heftete die Augen auf die bei der Dämmerung kaum kenntlichen Züge der dunklen Madonna Feuerbachs drüben an der lichten Wand, schnurrte schließlich gähnend wie eine Spirale in sich zusammen und sprang aus dem Bett. Im Schlürfen ihre bastenen Badeschuh an die Füße bringend, ging sie ans Fenster, das weit offen stand, schlug den Vorhang zurück und fand den kaum ergrünten Garten angenehm verschleiert von einem lautlos fallenden Regen, worauf sie mit schönem Schaudern wieder unter die Decke kroch, um sich zu erinnern, was sie geträumt hatte. — Allein unvermutet entglitt sie sich selber, und langsam, nicht wissend, ob sie wache oder träume, sah sie es vor ihren Augen sich entfalten ...
Sie glaubte, daß sie auf der Veranda stehe und über die Stufen in den Garten schaue, in dem es nicht dunkel, nicht hell war; schattenloses Traumlicht herrschte, es war alles grün, Bäume und Büsche standen dichter und stiller als sonst. Da begann etwas Weißes sich im Garten umher zu bewegen, und sie erkannte sich selber, die auf dem um den Rasenplatz führenden Wege plötzlich deutlich sichtbar ward und sich in das enge Grün hinein entfernte. Darin taten sich immer neue Wege auf, und ihr Gehen war schön und friedlich anzusehn, und jetzt war sie es auch wirklich selber, die ging, und sie sah sich nicht mehr. Hinter ihr sagte die Stimme Bogners: Jetzt kommen die großen Verneigungen. Da war wieder die weiße Gestalt, sie selber, und hatte auch schon angefangen, sich zu verneigen, mehrere Male, im Gehen, und aus Verneigung und Sichaufrichten wurde ein sehr ernster Tanz, der endete, indem all dieses verschwand in einem grenzenlosen, leidenschaftlichen Schluchzen, das aus allen Tiefen und Höhen zugleich herauszuquellen schien, zusammenschlug und sie verschlang. — Renate ging suchend im Garten umher, Magda wars, die sie hinter allen Gebüschen suchte, immer ängstlicher und aufgeregter, allein immer, wenn ein Weg und ein Blick frei zu werden schien, verstellte etwas die Aussicht, ein Mensch, den sie umgehn, ein Busch, ein Zaun, ein kleines Haus, um die sie laufen mußte, und auf einmal befand sie sich vor ihrer Orgel, die mitten in einem Walde stand. Es war dämmrig geworden, und oben auf den matt glänzenden Pfeifen saßen regungslos viele dunkle Vögel ohne Augen, und sie sagte: Das sind die Eulen. Sie mußte die Bälge wohl angetrieben haben und dachte, wenn ich ganz leise spiele, werden die Eulen es vielleicht nicht merken, sonst würden sie gewiß aufgeplustert und in die Luft geworfen werden, und sie zog Vox humana und das Flötenmanual auf, aber indem sie nach ihren Füßen blickte, die sie auf die Pedale setzen wollte, hörte sie hoch über sich die Vox humana ganz fern Agnus dei singen, vor ihren Füßen aber rauschte Wasser klar hervor, die Orgelpfeifen standen darin, und in der hellen Flut wurden erst Hände, dann Bogners Züge sichtbar, die langsam nach oben schwebten, anzusehn wie ein grüner Wassergott ...
Renate fuhr zusammen und spürte, daß sie lag. Und jetzt, da das Glockengeläut schwieg, hörte sie die kleinen Takte und Pausen der schwarzen Amsel und wußte, daß die es gewesen war, die im Traum Agnus dei sang.
Eine Weile noch lag sie still; die Amsel sang nicht mehr; sie hörte das Hausmädchen, das die Treppe fegte und mit dem Schmutzblech klapperte, und auf einmal — fühlbar — merkte sie den Stillstand in sich und fragte: Wie kommst du hierher, Renate? — Sie lag und mußte still liegen, und es war Unveränderlichkeit, das wußte sie, solange sie diese Lage festhielt. Nichts konnte geschehen, zuvor war alles ein beständiges Fließen, Gleiten, Nachfolgen gewesen, nun aber war sie hier angelangt, aus gelinder Flut den Kopf an ein schlichtes Gestade hebend, rückschauend über Strom, Brücken fern, Stadt und Türme, — wie fremd sah alles aus! Wer denn hatte sie hierher getragen? Es schien ihr nun, als ob einmal viele Arme und Hände sie umschlungen hatten, worauf ihr Leben sich zerstreut, immer zur Hälfte, zu Dritteln, zu Fünfteln sich weggegeben hatte, und jedesmal entstellte und beraubte der fortgegebene auch den gebliebenen Teil. Wann hatte das angefangen? Als sie in dies Zimmer kam, in dies Haus. Ja, hatte sie vordem nicht allein auf sich gestellt hingelebt? Zugleich freilich ihrem Vater, aber wie war der ihr gewohnt gewesen! Der war nun schon so lange tot, daß sie, seiner gedenkend, nichts empfand als sein gütiges Gewesensein in ihrem Leben, nichts sah, als sein immer freundliches altes Gesicht. — Dann, ja, dann war dies hier gekommen, Erasmus, Josef, der Onkel, und bald alle die Andern, die Friedliebende Gesellschaft, Saint-Georges und — Bogner. Und lange schon waren Viele von ihnen wieder fort. Herbst, Winter, Frühling, — das waren Namen, — für was? Orgel- und Klavierspiel, Arbeit mit dem Freunde, ein Konzert, ein Besuch, ein Mensch, der von der Reise kam, Gespräche, viel Bücher, immer Beschäftigung, und alldas — wozu? Wellen durchs Herz, spurenlose. Sie mühte sich eine Zeitlang, deutliche Erinnerungen zu finden, aber im Augenblick hatte alles ins Unsichtbare sich hinweggezogen, es war leer, Windstille, Eisvogelbrüten. Siedendheiß ward ihr plötzlich. Liebte ich nicht jemand? fragte sie lautlos, aber beinah grimmig in die Stille hinein, richtete sich auf und heftete die Augen angstvoll ratlos in die regenumschleierten Wipfel draußen. Wie weiß das Zimmer ist! dachte sie plötzlich, und, mit Heftigkeit die Knie an sich ziehend, die Hände neben sich aufstützend, zur Tür blickend, sagte sie laut: Hier kommt niemand herein. —
Da mußte sie lächeln über diese Versicherung an sich selbst. Und was habe ich schon davon, murmelte sie und ließ den Kopf hängen. Eine Flechte fiel an ihrer Wange herab, sie ergriff das Ende davon und strich damit über die Decke wie mit einem Pinsel.
Ich bin wohl, sagte sie sich kühl, zu Manchem hingegangen; wer kam zu mir? Niemand. Wie? Kam nicht Josef, nicht Erasmus? Georg vielleicht, war der nicht auch auf dem Wege gewesen, und wie war das mit Sigurd? Aber du, du, du, eiferte sie böse, du kamst nicht, und was sollten mir also die Andern! — Sie schleuderte ihr Haar hinter sich zurück, packte es mit beiden Händen am Hinterkopf und warf sich so ins Kopfkissen. — Mein ganzes, unverbrauchtes Herz habe ich so in der Hand, knirschte sie wutentbrannt, wie dies Haar, meines Weges bin ich dahergeglitten, und nun kommen die tiefen Verneigungen. — Da mußte sie nun lächeln, ihres Traumes gedenkend, und jetzt gedachte sie einen schönen Namen zu flüstern, einen selbstgesprochenen Namen zärtlich zu hören, aber statt dessen schleuderte sie die Füße unter der Decke hervor und saß nun aufrecht auf dem Bettrand, vorgebeugt, die Hände aufgestemmt, und horchte. Alles blieb still, aber ihr Herz schlug laut und langsam. Plötzlich schlug es dreimal schnell hintereinander, setzte aus und ging wieder ruhig. War sie erschrocken? Sie lächelte über sich selbst. War jemand ins Haus gekommen? Die Klingel konnte sie hier nicht hören. Sie blickte auf die Uhr, es war acht. Gleich darauf klopfte es an der Tür, und das Mädchen meldete Frau Tregiorni.
Als Renate nach beschleunigtem Bad und Ankleiden herunterkam, wurde ihr gesagt, Ulrika sei in der Kapelle. Es regnete heftiger, sie mußte unterm Schirm hinübergehn. Ulrika, in einem nassen Lodenmantel und Kapuze, frisch und lebendig aussehend, stand vor einem von Bogners Engeln. Ja, nun mußte Renate erst ihr Kleid von allen Seiten in Augenschein nehmen lassen und erzählen, daß sie sich für den Winter als Haustracht drei solcher einfacher Röcke habe machen lassen, einen russischgrünen, einen violetten und einen eisengrauen; die Blusen hatten die Form eines russischen Kittels mit ledernem Gürtel, an dem der Hals frei blieb und der Verschluß von der rechten Seite des Ausschnittes schräg über die Brust hinunter zur linken Hüfte lief. Ja, und der graue Kittel war orangefarben gepaspelt, und man konnte jeden Kittel zu jedem Rock tragen, und so trug sie heute Grau und Grün zusammen. Alle Farben könnte sie tragen, jammerte Ulrika, sie mit ihrem roten Haar hätte bloß ihr ewiges Blau oder Grün, und an Festtagen Lila. „Braun hab ich dir doch offenbart“, lachte Renate und umarmte sie. — Warum sie aber wohl in aller Herrgottsfrühe herausgelaufen sei? — Dies wußte Ulrika keineswegs; es hätte so schön geregnet. Und sie hätte so seltsam geträumt, sagte sie nachdenklich.
Während Ulrika ihren Traum erzählte, frei in der leeren Kapelle stehend, den Blick im offenen Fenster, wogten so seltsame und wirre Empfindungen durch Renate, daß sie plötzlich erschrak, da sie allein, als habe sie Ulrika geträumt, vor ihrer Orgel saß. Nachträglich begann jetzt Ulrikas Erzählung sonderbar in ihr zu klingen, in einem langsam schreitenden Takt, der die Worte allmählich ordnete, und sie begann in das erste beste Notenbuch vorn auf die leere Seite den Traum aufzuschreiben, folgendermaßen:
Mir träumte: In der nächtigen Allee
Entgegen kam ich ihm; ich sah: er war es,
Jedoch ein Fremder schien er, und er ging
Vorüber mir wie ich an ihm, jedoch
Nach wenig Schritten mußte ich mich wenden.
Da stand er hergewandt nach mir, und Beide
Entgegen kamen wir uns nun und sahn
Uns lange ernsthaft, ernsthaft in die Augen.
Ich kann nicht sagen, was ich da empfand.
Wir gingen nun zusammen, er und ich,
Hinab die finstere Allee ganz schweigsam.
Am Ende blieb er stehn, ich aber bog
Zur Seite in den Park, und um den Teich
Ging ich und sah nicht um, doch als im Bogen
Ich weit herumgekommen war, da sah
Ich ihn, wie er mir langsam nachging. Endlich
Fand ich die Bank, wo wir einmal die Drossel
Am Abend hörten und gesprächig wurden.
Dort setzt ich mich. Da kam er, und er sah
Nicht mich und ging vorüber als ein Fremder.
Verschwunden war er, aber ich stand auf
Als eine andre; als ein andrer Mensch;
Neu war ich, reif, vollkommen, ganz in Frieden,
Mit mir, mit euch, mit Gott; nicht klug, nicht reich,
Jedoch gehalten, aufrecht, und von innen. —
Sag, warum weint ich so, als ich erwachte?
Sag, warum weint ich so, als ich erwachte, wiederholte Renate noch willenlos, auf die geschriebenen Bleistiftzeilen starrend. Dann errötete sie langsam, während sie sich fragte: Habe denn nun ich das geträumt, oder wer? — Sie sah Gegend und Menschen dieses Traumes dergestalt leibhaft, daß ihre Vernunft ihr in Verwirrung zu geraten drohte. Auch die Amsel sang in diesem Traum, bloß hatte Ulrika gesagt: Drossel. Nein, ‚entgegen kam ich ihm‘, das hatte sie nicht gesagt, sondern: ‚Bogner‘.
Renates Augen, die gedankenleer langsam nach oben gingen, trafen sie selbst in dem kleinen Spiegel über ihr. — Ja, so schreckhaft bin ich geworden, sagte sie vor sich hin, daß ich den Spiegel da habe machen lassen. Manchmal kam Onkel ja herein, während ich spielte. Wie oft saß ich schon hier, sagte sie, sich immer ansehend, entfremdet hinter dem Spiegelglas, seltsam zusehend, wie in den Zügen Bewegungen entstanden, eine Wendung des Halses, ein Senken der Lider, die doch sie selbst machte, die aber da drinnen von selber vor sich zu gehn schienen, — wie oft saß ich hier, spielte nicht, hatte die Hände im Schoß und hatte in ihnen so wenig wie im Herzen. — So saß sie nun wieder, müde an sich selber, ratlos, tatlos, sah durch das in ihrer Nähe offene Fenster das matte Regengrün des Gartens, hörte die Spatzen und die ersten Töne der Grasmücken. Verging nun Zeit? Ja, es regnete nicht mehr; ganz fern, kaum hörbar sang die Amsel. Verging Zeit? Sie schloß die Augen, sie hörte wieder das spitze Picken von Regentropfen auf Blättern, und nun strömte es schwer herunter, es wurde dunkler, es rauschte ganz um sie her, schließlich spritzte es naß zu ihr herein, und sie stand widerwillig auf, ging die Stufen hinunter und schloß das Fenster, hinter dem die Sträucher sich unwillig im Regenstrom hin und her warfen. Ihr fiel ein, daß es Zeit sein müsse, zu Saint-Georges zu fahren, aber sie brachte es nicht fertig, die Uhr hervorzuziehn, sie stand vor dem großen Engel, der mit der kleinen Harfe in ausgestreckten Händen durch die Landschaft über die Wand hineilte, dachte: So läuft er an mir auch vorüber! und ärgerte sich ungemein, daß sie immer und immer an ihn dachte. Da schüttelte sie sich, ging zur Tür, sah nichts mehr, fühlte nur das große Rauschen der Wasser, das alles in sich hinabschlang, fühlte sich ergebungsvoll und nachlässig gefangen gehalten. Durch diesen Regen komme ich ja nicht, sagte sie. Wozu hinaus? Ich schlafe langsam vor meiner Orgel ein, die Eulen setzen sich lautlos auf die Pfeifen, damit kein Staub hineinfällt, und ich werde hundert Jahre so sitzen. Nicht Jahre, nein, Jahr—en! sagt man hierzuland. Die Orgel schläft über mir, der Regen braust, wir wachen niemals auf.
Auf einmal war sie dabei, nachzurechnen. Jeden Vormittag vier Stunden Arbeit mit Georges; jeden Tag wenigstens zwei bis drei Stunden Klavier und Orgel; jeden Tag mindestens ein Besuch bei Kranken oder Bedürftigen; dazu Küche, Haushalt und all die Rechnungen, nur Abends Erholung, ein Buch, ein Konzert, ein stilles Gespräch mit Georges. Es ist so viel, daß ich mitunter nicht zum Nachdenken komme. Warum genügts mir denn nicht? Ist mein Herz nicht dabei?
Sie verlor sich, lange gedankenlos, mußte sich mühsam besinnen, schreckte zusammen und flüsterte: Nein, so ists aber nicht! Mein Herz ist immer dabei, und ein jedes ist mir Freude, solange ich dabei bin ... Aber eben: solang ich dabei bin nur, und wenn ich jetzt daran denke, so meine ich — so mein’ ich ...
Wieder sich verlierend, ertappte sie sich, daß sie schief auf dem Stuhl saß, den rechten Ellbogen auf dem Knie, die Hände gefaltet, vornüberhängend, aber sie war minutenlang unfähig, die Haltung aufzulösen, saß nur gelähmt und vermochte sich nicht zu helfen, bis ein Gezwitscher draußen vorm Fenster sie aufzuschauen bewog und sich grade zu setzen.
‚Die rechte Freude am Leben‘, träumte sie dann, ‚kann nur von einer tiefen liebenden Erregtheit kommen, gleichviel auf was sie sich richtet, Gott oder Mensch oder Sache; denn dann findet sie ihre Erfüllung in jedwedem Tun, jedem Geschäft und Gedanken, und alles wird liebevoll. Dann formt sich das ganze Wesen in Tätigkeit aus, nichts wird gespart, nichts unterdrückt, und die Belohnung ist guter heilsamer traumloser Schlaf.‘
Das war Papas Rede, dachte sie, Wort so für Wort. Ja, so war er selber erfüllt von Gott, und ich wars von ihm, aber heut bin ich leer.
Plötzlich schrak sie zusammen. Ihr Herz schlug laut, sie atmete schwer. Was ist das, mein Gott, dachte sie angstvoll, ich war doch so leicht und bewußt beim Erwachen? Was geht denn vor? Was geschieht jetzt? — Und einen Augenblick lang war sie völlig wie verzaubert, gelähmt, nicht imstande, ein Glied zu bewegen. Aber dann wußte sie: Mein mattes Herz, meine schwache Seele, mein müder Geist, die lähmen mich so. Nutzlosigkeit, sagte sie langsam vor sich hin. Und danach, mit Anstrengung, sich selber verlockend:
Es ist nicht die Stille. Es ist nicht das Unglück dieses Hauses, nicht das finstre Wesen des Erasmus, nicht die Angst vor dem Onkel, nicht mein Schuldgefühl, was mich so lähmt, mich so ungefüge, so nutzlos, so kleinmütig, so beklommen, so elend macht. Vielleicht, ja, es wird auch all dieses mit sein, aber seit wann bin ich denn so, daß Fremdes mich hindert, anstatt mich gut und hülfreich zu machen?
Tief in ihr schrie eine gellende Stimme: Was ich bin und habe, Leib und Seele, Leib und Seele, alles, alles, Herz und Schoß, Brust und Knie, Haar und Augen und Lippen will ich — will ich — —
Auf einmal lief sie gepeitscht durch den Raum, aufs Podium, drückte sich mit dem Rücken, die Hände ringend, in die Nische der Tabulatur zu den Registern hinein, warf den Kopf in den Nacken, als biete sie den Hals einer Kralle, einem Gebiß, das hineinschlagen solle, wehrte sich, kämpfte, überwand sich, senkte das Haupt wieder, blickte starr, schloß die Hände, rang die Hände. Sie demütigte, zerknirschte, öffnete sich, wollte, versuchte zu sprechen, flüsterte, gestand und sprach: Ich will bekennen.
Wieder warf sie sich herum. Ich will, ich kann nicht, hilf mir, mein Gott! Und sie umklammerte mit den Augen ein Bündel Pfeifen und sagte laut und deutlich empor:
Auf dich warte ich jeden Tag. Um deinetwillen leide ich, durch dich bin ich so müde, so lahm, so nichtswürdig, so arm. Ich liebe dich, du! Ich liebe dich, ich liebe dich! Von mir und dir rührt all dies Elend her, an deinem Leben hänge ich, an deinen Lippen schlafe ich, von deinen Augen träume ich, du machst mich so schwer. Für dich singt die Drossel, zwitschern die Vögel, grünen die Bäume und blühen die Sträucher, aber ich habe meine Augen abgewandt, und all das ist mir nichts. Vergieb mir, du, meinen Stolz, höre mich an, erhöre mich, sei gut zu mir, tröste mich, richte mich auf, mache mich wieder gut, komm zu mir, komm zu mir! Ich vergesse die Welt, wenn du da bist, ich vergesse mich, wenn du da bist, ich bin leicht, ich bin gut, ich bin schön, wenn du da bist. O vergieb mir, du bist ja langmütig! vergieb, du bist freundlich, vergieb, ich war so klein! Sage mir, daß du bist, so will ich alles Elend der Erde tragen. Sage mir, daß du an mich denkst, so will ich tapfer sein und nicht sorgen. Sage mir, daß du morgen kommen willst, so will ich mich ver—wan—deln ...
Sie brach ab, denn sie hatte unweigerlich einen Schritt auf den Steinfliesen der Veranda gehört, und doch war das unmöglich, denn die war viel zu fern. Sie schwankte todbleich. Was habe ich getan? Hat er mich gehört? Rief ich ihn her? Und indem wurde sie ganz kühl. Jetzt kommt Ulrikas Freund, dachte sie friedlich, und siehe da, in der Tür stand Bogner, schwenkte einen triefenden Hut, lachte und rief, ob Ulrika nicht da wäre. Renate lachte gleichfalls und erwiderte, sie sei eben gegangen. Der Maler kam einen Schritt vor, drehte und besah seinen Hut, schien unschlüssig und murmelte endlich verlegen, ja, dann könnte er wohl wieder gehn. Scheinbar war er in Ulrikas Wohnung gewesen, aber er vergaß natürlich, das zu sagen. Einen Augenblick später war er verschwunden. Renate aber hörte, eigentümlich melodiös und schmeichelnd die Worte auf sie zuschweben: Ja, wenn du lebtest, wäre vieles nicht. Der Tag nicht blaß, es glänzte dein Gesicht. Die Nacht nicht schwarz, du leuchtetest mir gern, ach, du bist fern, bist fern, bist fern, — ich weine nicht. —
Freilich nein, gütiger Himmel, sie weinte nicht. Ja wenn — du — leb—test! sagte sie mit listiger Betonung vor sich hin. Bogner? Das war ja ein gänzlich fremder Mensch gewesen! Sie mußte sich umdrehn und an den Orgelpfeifen emporsehn, ob da vielleicht noch von ihrem Bekenntnis etwas hafte und ihr beweise, daß es ihm, Bogner gegolten habe. Nein, da war nichts. Dieser Bogner aber war nur ein Bild, eine Heiligenfigur gewesen, und sie hatte an ganz jemand Andern gedacht. An wen? An irgendwen! Und was war nun? Erlösung? Freiheit, Guterdingesein, Hoffnung, Sicherheit, Zukunft, Irmelin Rose, nämlich: alles was schön ist? — Nichts davon, nein, sondern eine furchtbare Traurigkeit senkte sich in schwarzen Schauern über sie, Schritte waren im weichen Sand des Gartens hörbar, langsam, unbekannte, — nein, war das — —?
Und langsam, wie ein Geist in ihren Augen anzusehn, dem sie entsetzt entgegenstarrte, stieg die schwere Gestalt des Erasmus die Stufen in der Tür herauf, den Kopf gesenkt, und nun sah er sie erst, zuckte ein wenig die Stirn empor, stand still, murmelte: „Verzeih, ich dachte —“ Dann ganz heiser: „— bei dem Regen ...“
Dann warf er die Schultern auf und nieder, als wende er sich im Rock angewidert hin und her, wütend, daß er gekommen war. Renate glaubte, sie würde im Augenblick zu ihm hinfliegen, ihm zu Füßen, ihn anzuflehn, er solle gut sein, anders sein, — ja, was denn? — — Aber sie stand, ganzen Leibes in die Tabulatur hineingedrückt, die Augen im Schrecken weit offen, und danach, als er wieder verschwunden war, sank ihr der Kopf langsam wie abgeschlagen vornüber auf die Brust.
Viel später fand sie sich, durchnäßt vom Regen, mitten im Garten, wie sie zu den Fenstern aufsah. Ohne Willen machte sie sich dann zurecht und fuhr zu Saint-Georges wie alltäglich.
Georg stand vor dem großen Spiegel im Schlafzimmer und betrachtete sein Abbild auf einem schönen Hintergrunde offener Fenster voll Gartengrün, Sonnenlichter, Goldregen und windiger Bewegung. Ein Ladenknabe, so dachte er, könnte sich leicht eleganter anziehn als ich. Zum Beispiel würde er doppelt so weite Hosen tragen, um zart anzudeuten, daß er die Mode kenne; aber ihm würde nicht einfallen, dunkelblauen Marengo zum Cutaway zu nehmen wie ich — hier lachte er und freute sich —, denn das ist eine Kunst. — Er atmete auf. Ich glaube, heut bin ich glücklich. Plötzlich, nahe an sein Spiegelbild herantretend, faßte er mit Gewalt sein Antlitz ins Auge, und so, Auge in Auge mit sich selber, mit festgebissenen Zähnen, murmelte er sich zu: Sage! Sag, bist du ein Prinz, oder nicht? Schurke! sagte er besinnungslos, gesteh! — Irgendetwas im Gegenüber schien zu bejahen. Das Blut stieg ihm in die Schläfen, er schüttelte den Kopf, lächelte und wandte sich ab. Am Fenster stehend, empfand er die überschwängliche Güte des Tages. Der Garten vor ihm lag im Schatten, still die Wege, ins Buschwerk entschwindend; über den schillernd grünen Wipfeln flammte der feuerblaue Himmel und im tiefen Blau große, gewaltige, schneeweiße Wolkenballen mit majestätischen Schatten. O göttlicher Tag, dachte er. Und außerdem Korso! und ein fabelhaftes Tandemgespann! Und Renate! Und mein Plan. Mein Plan. Langsam, langsam — aber näher werde ich ihr kommen. Und in den Sommerferien dann Helenenruh. Da werde ich sie ganz ...
Augenblicks meldete hinter ihm der blasse Egon: Fräulein von Montfort. — Georgs Herz erschrak wunderbar angstvoll. Mit der Pünktlichkeit der Könige ... murmelte er und eilte hinaus.
Drüben, mit ausgestreckter Hand auf Renate zueilend, umfaßte er ihre Gestalt mit Blicken und sah alles: das graue Schneiderkleid, den flachen, grauen Hut und die schwarze, hangende Feder. Er strahlte.
„Ach, Sie sehen ja wie eine Prinzessin aus!“ sagte er glücklich. „Ja, jetzt wollen wir Tee trinken. Oder lieber Kaffee?“
Da Renate um Kaffee bat, schrie er zur Tür hinaus: Kaffee! —
„Ach, Sie haben ein Bild von Esther,“ sagte sie, am Schreibtisch stehend, „darf ich es sehen?“ Sie nahm es in die Hand, ihr Gesicht ward wehmütig, sie stellte es wieder fort. „Heut vor einem Jahr war es anders“, sagte sie leise.
Es ist eine ganze Rinde um sie, dachte Georg und erinnerte sich, wie sie im Vorjahr um diese Zeit hinter Irene durch die Büsche gejagt war, oder auf dem Rasen gelegen hatte.
„Wir sind ein ganzes Jahr älter geworden“, bemerkte er nichtssagend.
„Zwanzig Jahr werd ich“, meinte sie ruhig.
„Ein Monat mehr als ich. So, hier kommt Kaffee.“ —
Sie zog die Handschuh aus, goß sich Kaffee ein, dann für Georg Tee aus der andern Kanne, tat Zucker, Sahne hinein und gab ihm die Tasse. — Wie es denn mit seinem Herzen stehe, fragte sie, in den Sessel gleitend.
Er lehnte sich an den Schreibtisch und versicherte: „Glänzend! Die Wochen im Taunus haben mich völlig wiederhergestellt. Ich habe in Trassenberg schon wieder fest gearbeitet. Übrigens haben Sie dort einen großen Verehrer. Das heißt, eigentlich sinds zwei, denn mein Vater fragte gleich nach Ihnen. Der andre ist Onkel Birnbaum. Sie kennen doch Onkel Salm? Sie haben einmal in Helenenruh drei Worte mit ihm gesprochen, davon ist er noch beseligt. Als ich anfing, sprechen zu lernen, soll Onkel Salm mein erstes Wort gewesen sein. Ach, was haben wir ihn geliebt, Magda und ich! Er war zu allem gut, er hatte in Helenenruh immer Zeit für uns, schleppte uns herum, ließ sich malträtieren, kam für jeden Schaden auf, vertuschte alles, oh eine Seele von einem Menschen.“
„Weiter, Georg, Sie erzählen so nett.“
Er setzte die Tasse fort, faltete die Hände ums übergeschlagene Knie und dachte an seine Kindheit.
„Haben Sie je gemerkt, wie sonderbar das mit uns ist, Renate? In meinem Leben hat es — Gott, ich bin ja noch so jung! — viele goldene, schöne, glückliche, erhebende Augenblicke gegeben. Wenn ich mich aber jetzt erinnern soll: wann war ich glücklich? was fällt mir dann ein? Dann muß ich an die Stille denken im Pragerschen Hause, nach dem Essen, wenn alles schlief, wenn ich in meinem Zimmer saß und Karl May las oder Käpten Marryat und dabei von fern, aus der Küche, die Geräusche des abwaschenden Mädchens hörte, und hier und da ein Stück ihres Gesangs: Es war ein Sonntag hell und klar ... so eintönig, so — öde und — ach, so unbeschreiblich sonderbar in der Stimmung, — und dazwischen das Klappern der Teller, die sie in die Aufwaschbütte stellte. Ja, da muß ich glücklich gewesen sein. Oder ich sehe die Dämmerung, und in der Dämmerung die Tapete im Trassenberger Kinderzimmer, und das dicke Federbett vor mir, unter dem ich mit ein bißchen Mandelentzündung oder Masern, oder was es nun war, lag, und mit diesem wunderbar dumpfen Gefühl angenehmen Krankseins im Kopf sehe ich den hängenden Schnurrbart von Onkel Salm, und seine immer noch ein bißchen abstehenden Ohren, und seine dicklichen, und doch so geschickten Finger, mit denen er mir eine Festung pappt, oder Figuren ausschneidet, oder die Steine auf dem Damebrett zieht. Oder ich sehe ihn auf den Zehenspitzen hereinkommen, von weitem spähend, ob ich wach sei oder nicht. So sonderbar ist das! Wenn meine Mama einmal kam — Georgs Gedanken irrten flatternd ab —, das war immer eine erstaunliche Freude, und auch ein Schauder, obwohl ich den damals wohl noch kaum spürte, aber glücklich war ich, wenn Onkel Salm kam, den ich am Schnurrbart zerren konnte ... Haben Sie je etwas Ähnliches ...“ fragte er hastig, seine Gedanken abbrechend.
„Oh ja —“ sagte sie gedehnt, „es ist wohl ähnlich bei allen Menschen ...“
„Ja,“ sagte er wissend, „denn was aufregend war, vergeht, alles Plötzliche verliert seine Kraft, da es ja niemals wieder plötzlich sein kann, aber was sich von selber einstellte, kaum bemerkt, ja ganz unbewußt, — was namenlos in uns war, aber innerst tief und stark, das taucht wieder auf, das sind stille Schätze, die sich immer wieder hervorholen lassen ... Was vom Menschen nicht gewußt, oder nicht bedacht ... Durch das Labyrinth der Brust ... Ja, nun wollen wir fahren, ists Ihnen recht?“
Sie gingen hinaus, traten aus der Tür und — halloh, da standen sie! „Ja, was sagen Sie nun?“ fragte Georg triumphierend.
„Es ist ein Staat“, sagte sie und ging schnell zum Vordersten der beiden großen, stämmigen Belgier, die unbeweglich hintereinander standen, weiß und rot gesprenkelt, mit weißem Lederzeug. Auch der Gärtner hatte seine Sache brav gemacht und den Dogcart sehr leicht in die schwarzen Iris gepackt; die Räder waren durchsichtige Scheiben davon.
„Graue Iris,“ sagte Renate, „Georg, das ist wirklich schön!“
„Raffiniert, heißt es,“ lachte er, „sehen Sie wohl: Schwarz, das nicht Schwarz, Weiß, das nicht Weiß, und Rot, das nicht Rot ist! Steigen wir ein.“
Ja, dieses war ein wahrhaft königlicher Tag. Leicht klangen die Schellen vor der Brust der locker vorwärts stelzenden Pferde, leicht und locker wippte das Wagengestell. „Schade,“ meinte Georg, „daß Sie nicht spüren können, wie die Pferde im Zügel gehn, als wären sie blind; nur von Zügel und Peitsche hängen sie ab, geben Sie acht, ich lasse einen Augenblick locker! jetzt!“ Der Wagen rollte langsamer, die Pferde standen still. Georg schnalzte, warf die lange Peitschenschnur wie eine Angel aus, und es ging leicht und locker um den Rasenplatz weiter.
Die Alleen waren ein Gewimmel schwarzer und weißer Menschen unter einer goldenen Schicht von Staub; Blumengestelle, fahrende Ungetüme, die Kutscher, Reiter ragten drüber hinweg. Vorsichtig tastete er sich mit den Pferden durch das Getümmel den Fahrdamm hinunter zum Ende der Alleen und bog um ins Innere der Lindenreihn, den vor ihm rollenden Wagen folgend. Ah, ja die Rotschimmel erregten mächtiges Aufsehn, wie sie fast nackt in dem dünnen Riemengeschirr das schwärzliche Gefährt dahinrollen ließen. Georgs Sinne fingen heftig an zu glühn. Das ist diese herbe Rinde um ihre Gestalt, dachte er, um Gottes willen, ihr Mund ist ja zum Tollwerden! Und dies Profil, und dies Lächeln!
„Ha,“ sagte er, „sehen Sie, die Leute fangen an zu grüßen. Ich hoffe, sie denken, ich fahre meine Braut. Welch ein Jammer, daß ich nicht regierend bin, dann würden sie Hurra schrein.“ Dies scheint mir wirklich haarsträubend natürlich, dachte er innerlich. Die Militärmusik rauschte auf, Staub wölkte, Wagen um Wagen rollte vorbei. „Aufgedonnerte Gemüsekähne“, murrte Georg. „So, da wären wir am Ende.“
Langsam drehten die Pferde sich um ihre Mitte und liefen den Weg zurück. Georg, Renates Profil unverrückbar in den Augenwinkeln, hing am unaufhörlichen Spiel der braunroten Ohren, er wehrte traumverloren die Fliegen von den blanken Rücken, — ununterbrochen gingen die Stummelschwänze hin und her. Die Menschen drängten unter den Bäumen heran, Mädchen knicksten scharenweise, Renate neigte das entzückt scheinende Gesicht, und Georg nannte sie die Königin des Tages.
Da waren sie wieder am Ende. Renate meinte, noch einmal hinauf, dann sei es wohl genug. — An diese Augenblicke, dachte Georg, werde ich mich niemals erinnern, aber sie sind doch kostbar. Ach, da steht ja Benno! „Sehen Sie, Renate, da steht Benno und strahlt!“
Sie nickte und winkte, Benno, hochrot, warf den Kopf zurück, lächelte beseligt und verbeugte sich tausendmal.
„Unter diesem Getümmel das reinste Herz“, sagte Georg anerkennend. Da waren sie wieder am Ende, und Renate bat, sie noch um den See zu fahren.
Während sie auf dem hohen Ufer um den tiefliegenden Teich voll Himmelsblau und Wolkenballen hinrollten, biß Georg die Zähne zusammen und verschwor sich, daß er an Renate und alles andre seine Seele setzen wolle. Ich habe sie doch immer geliebt, sagte er sich zornig, ich kann ja nicht los von ihr. Bin ich nicht etwa der Einzige, zu dem sie paßt? — Er fand keine Worte mehr, still schweigend fuhren sie dahin, ununterbrochen klangen die kleinen Schellen, trabten die acht Hufe. Georgs Sinne verlangten nach einer verdreifachten Schnelligkeit und zuckten zugleich vor Schreck, wenn ihm einfiel, daß alles gleich ein Ende nehmen würde. Der See lag schon hinter ihnen, da glühten die Sportswiesen zur Rechten weithin dunstig in der Sonne, rot- und weißgestreifte Hockeyspieler sprangen in wilden Zuckungen hin und her, nun rollten sie in den Schatten der großen Bäume, da stand der Obelisk am Wassergraben, der Weg bog zur Rechten aus, sie waren wieder im Freien, neben der Hecke, an den Wiesen, dumpf polterten die Hufe auf der kleinen Holzbrücke, Baumschatten nahm sie auf, rechts dunkelte der Graben, hinten erschien der gelbe Mauerputz des Schlößchens im bewegten Grün. — Ob ich ihr nicht eine Andeutung — ein ...? Aber er wagte kein Wort. Seine Hände glühten in den Handschuhn, er ließ die Zügel locker, die Pferde fielen zum erstenmal in Schritt, er sah, wie sie gleichmütig dahinschritten, wie Kühe mit schaukelndem Rücken. Die Hälse gingen tief nieder und empor, das Vorderpferd hob den Kopf, schüttelte ihn und grunzte. Wie still es war! Es ist Wahnsinn, dachte Georg, aber wie kann ich sie ungeküßt lassen?
„Nun, wars schön?“ fragte er freundschaftlich. Sie nickte und meinte, es führe sich sehr angenehm und leicht. Duft ging unbeschreiblich von ihr aus. Es flimmerte vor Georgs Augen. Blaue Stürze von Himmel brachen durch das Gewimmel der Wipfelzweige, laut schlugen Buchfinken. Drei Spatzen tummelten sich im weißen Staub der Straße, schimpften und flatterten schwärzlich auf vor den Hufen. Da standen die Kandelaber vor der Rampe, da der große schwarze Kasten von Automobil am Rande des Rasenplatzes, und der Kutscher ging schon um den Wagen und bückte sich und warf den Motor an. Die Pferde standen still.
Georg, kalt vor Erregung, Bitterkeit im Munde, schleuderte die Zügel unbekümmert über die Pferde hin, daß sie erschraken, vortraten und der Wagen anruckte, während er absprang und nach der andern Seite herumlief, um Renate selbst herunterzuheben. Das Herz schlug ihm süßlich, als er ihre Hand, ihre Last auf der Schulter spürte. Sie wechselten noch irgendwelche Worte, sagten: „Auf Wiedersehn!“ Dann sank sie in die Tiefe des dämmrigen Wageninnerns zurück, der Motor murrte und rasselte, und alles rollte mit langsam knurrender Schwenkung auf die Wegmitte und davon. Georg las noch lange ohne Gedanken die Nummer auf dem Schilde unterm After der Karosse, stand und wußte auf einmal nichts mit sich anzufangen. Ja, was nun? dachte er. —
Danach stand er beim Vorderpferde, das den Kopf auf seine Schulter legte, tätschelte ihm den festen Hals, atmete den Geruch von Roßhaar am Gesicht und sagte sich: Was war nun das? Eine halbe Stunde Pferdelenken. Die Gäule verkauf ich morgen mit Gewinn an Prinz Taxis, was soll ich mit einem Tandem? Unkas genügt mir. Da bin ich mit einer schönen Frau über den Korso gefahren, und wir haben geplaudert. —
Der Groom sagte etwas, Georg antwortete etwas, wandte sich um und sah am Rande des Rasens eine Dame stehn, in einem fliederblauen Kleid, verschleiert, die mit der Spitze des Sonnenschirms zwischen den Halmen stocherte, und es war Cora. Hatte sie ihn gesehn? Aber natürlich! Er bewegte sich, sie sah auf und tat, als sähe sie in diesem Augenblick, daß er es sei. Nun ging er auf sie zu, unwissend, was kommen würde, aber entschlossen, daß nichts ihn bekümmern sollte. Sie blickte ihm gerade in die Augen und sagte:
„Bereits außer Dienst gestellt, Prinz, oder nur à la suite?“ Über sein langes Fernbleiben also glitt sie stillschweigend hinweg ...
Er fragte, ob sie einsteigen wolle, aber sie antwortete gar nicht. Abgewandt stand sie da, Georg stumm neben ihr und verbissen.
„Zeigen Sie mir lieber Ihre Wohnung,“ sagte sie spitz, „wo waren Sie so lange?“
Ich will nicht antworten, dachte er und bemerkte obenhin, es sei ein schöner Tag, und er wäre viel unterwegs gewesen; übrigens schien sie keine Antwort zu erwarten, entspannte einen apfelgrünen Sonnenschirm und setzte sich in Bewegung.
Auf dem Flur, im Zimmer sah sie sich mit leichten Bewegungen des Kopfes im langsamen Vorbeigehn alles an, ließ sich den Schirm abnehmen, blieb dann vor einem kleinen Ölbild stehen, das am Boden stand, an den Schreibtisch gelehnt, eine Bulldogge, von Bogner gemalt.
„Ach,“ sagte sie entzückt, „das muß von Benvenuto sein! Es ist herrlich, der Mann ist ein Genie, finden Sie nicht? Schade, daß er so selten hier ist, haben Sie von dem Riesenauftrag gehört? Ich habe ihn kaum zu sehn gekriegt, ich bin jetzt viel allein, mein Mann ist verreist, — ja, er hat sich überarbeitet, — nein, dieser Hund! Wie er dasteht! Aber möchten Sie so einen Hund haben? Er ist doch zu häßlich! Ich kann Bulldoggs nicht ausstehn, Herbert wollte immer einen haben, — Gott, wenn man keine Kinder hat! wir hatten auch mal einen Terrier, aber er roch so ... Sie sehen gut aus“, sagte sie, vor ihn hintretend.
Sie hatte den Schleier hochgeschoben, er sah ihre matten Augen, das blasse Band von Sommersprossen darüber, den verwischten Mund, die in der Mitte breiten Lippen, dann wichen ihre Augen aus, sie ging an ihm vorüber und mit ihren weichen Seitwärtsbewegungen im Zimmer umher. Georg trat an ein Bücherregal zurück, stützte, die Hand am Hinterkopf, den Ellenbogen dagegen, sah ihren Hals von hinten und den goldbraunen, flachen Strohhut, wie sie sich über den Schreibtisch beugte und Esthers Photographie in die Hand nahm. Doch war sie eigenartig, und ihm ward lüsterner zumut, er spürte ein hitzig glühendes Schwellen am Leibe, dachte, er wollte hinter sie treten, ihren Kopf zurückbiegen und — bloß sie haben, ja so bloß ... Da sah er Esthers kleines, photographiertes Gesicht in ihrer Hand, ihm fiel ein, wie er hier zum erstenmal eingetreten war nach ihrem Tode, wie er sie dann überall verspürt hatte, immer hinter sich; wenn er am Klavier saß: im Nebenzimmer, wenn er am Fenster stand: am Klavier, — aber empfinden ließ sich das nicht mehr. Dann war er in den Taunus gefahren ... Esther war lange tot. —
Cora hatte das Bild stillschweigend wieder hingesetzt, bewegte sich wieder, stand in der Tür zum Nebenzimmer. Er glühte auf, ging auf sie zu, trat hinter sie, faßte ihre Ellbogen, sie wehrte sich, gleich darauf fiel ihr Kopf nach hinten zurück, ihr Gesicht lag an seiner Schulter, sie atmete heftig, die Augen geschlossen, den Mund zugepreßt. Er legte den seinen darauf, preßte, so stark er konnte, ihre Lippen teilten sich, er fühlte ihre Zähne und schob seine Zunge dazwischen. Nun warf sie sich herum, gegen seinen Leib, warf ihre Arme um ihn, er fühlte ihre Hände auf seinem Rücken zucken und fliegen, ihr Leib ging stoßweise auf und nieder, während ihre Lippen, ihre Zungen, ihre Atemstöße sich vermischten, er riß ihr Kleid auf, tastete nach ihrer Brust, und sie griff zu und riß die Bänder an der Untertaille auf, und er hatte ihre linke Brust in der Hand, schlaff, warm und weich, aber doch ... Da wankten sie, — oh Teufel, nun war kein Diwan da! Wohin mit ihr? Sein Bett war greulich schmal. In den Garten? am lichten Tag? Wütend jagte es ihm durch den Schädel: das verschlossene Zimmer! Er ließ sie los, griff die Schlüssel aus der Tasche, lief, die Türen aufstoßend, durch Bade- und Schlafzimmer zur Tür, schloß auf und öffnete, ohne umzusehn. Er zauderte, kehrte langsam zurück, da stand sie abgewandt, vorn an ihrer Taille hakend, aber sie hatte den Hut abgenommen, und er umschlang sie wiederum, hob sie auf und trug sie davon. Sie war schwer, aber er zwang sich bis zur Tür des Zimmers, wo er sie niederlassen mußte. Sie, ungeschickt sich aufrichtend, machte erstaunte Augen in den Raum, während ihm die seinen überquollen vor Gram über die Schändung des Heiligen, so daß er sekundenlang nichts sah, als die schwarzen, über die Fenstervorhänge von Cremeweiß fliegenden Reiher. Dann erschien, schräg im Raum mit dem korngelben Teppich am Fußboden, der dunkelviolett überspannte Diwan mit einigen Kissen in Lichtgrün, Fleischfarbe und Weiß, dahinter das alte indische Tempelpaukenbecken auf einem Ebenholzschemel gefüllt mit imaginären Blumen. Und endlich mußte er gegenüber der Tür das Himmelbett sehn, meergrünes Gewoge von Falten und Bäuschen, aus dem das wenige Mattgold der schlanken Säulen blitzte und — unter seinem wilden Fingerdrucke entflammte eine geheimnisvolle Leuchte — der zarte Perlmutterschimmer in den Kassetten des Betthimmels. Indem sah er Cora vorwärts gehn und das ovale, in rosene Marmorwülste gefaßte Becken in Augenschein nehmen, aus dem ein silberner, fadendünner Strahl steigen und Wohlgeruch aus Ophir zerstäuben sollte, wenn — — Georg verließen die Sinne. Aus den großen farbigen Flecken schmolz die eine Farbe, die Un-Farbe, die nicht auszudrückende, nicht zu beschreibende, — nicht weiß, nicht rosen, nicht elfenbeinen, nicht marmorn, und doch Farbe von allem, vom Schnee, und vom Mandelbaum, vom Kirschbaum und der Narzisse, und nicht Farbe, Äußeres, sondern Hauch von innen, Leuchten, Atem, Blut, Süße von innen, — Renate! — Georg zuckte.
Mit geschlossenen Augen saß sie da. Dann warf sie sich, das Gesicht in den Händen verbergend, in die Kissen. Einen Augenblick dachte er, davon zu laufen. Da war wieder diese entsetzliche Pause! Er spreizte die Hände von sich, die kalt und schweißig waren. Sie rührte sich nicht. Da kniete er mit dem rechten Knie neben sie auf den Diwan und fing an sie auszuziehn, die Taille, den Rock, den Unterrock, graue Halbseide, das Korsett, violett, abscheulich, — wie dick ihre Beine waren! Er hörte sich schnaufen, zerdrückte das beständige Gefühl vieler Scheußlichkeiten, sah ihre gelbliche, sehr glatte Haut zum Vorschein kommen, streifte Hose, Strümpfe, Schuhe herunter, sie fühlte sich kalt an, das Hemd ließ er ihr noch, während er sich auszog, nichts denkend, gar nichts denkend. Sie hatte ihr Gesicht wieder versteckt, warum wohl? aber jetzt sah sie auf und sah das Himmelbett, richtete sich auf, wollte aufstehn und hingehn, aber da schrie er wütend: Bleib! riß das steife und verwickelte Manschettenhemd über den Kopf und stürzte sich über sie, fühlte sie und sich kalt und unbehülflich, dann bäumte sie sich und umschlang ihn mit allen Gliedern. Einen Augenblick, über ihren Kopf, ihr verschlossenes Gesicht, die Kissen hin, zu Boden starrend, ging es durch ihn hin: Esther — — Renate — — Welche war es? Süß quoll es in ihm auf: Cordelia! — Da erschien ihm Renates Gesicht, schwebte und entwich, er fühlte Cora, eine fremde Frau, auf der er lag, die ihn schwer umschlang. Einen Pulsschlag lang schauderte ihn, und er gefror; eine Schlange lag um ihn mit kalten Ringen; die aber wurden warm und schmolzen, und er würgte sich in sie hinein.
Georg wachte auf in der Nacht; der Regen spritzte ins offene Fenster, es donnerte in der Ferne, — ihm war heiß, das Federkissen lag an der Erde, die Schlafbeinkleider waren ihm bis zu den Hüften heraufgerutscht, scheußlich! Schlaftrunken tastete er nach der Wasserkaraffe, setzte sie an den Mund, trank lange, ließ die Hand mit ihr zu Boden hängen, den Kopf vornüberfallen und dachte: Aus der Karaffe trinken ist die größte Wollust des Lebens. — In allen Gliedern merkwürdig leicht und gelockert, wollte er sich umdrehn und weiter schlafen, aber der Regen plantschte jetzt heftiger auf das Fensterbrett, und er stand unwirsch auf, ging ans Fenster und machte es zu. Am Riegel hangend, wand er sich im ungeheuren Gähnkrampf und dachte: Ach, ich möchte auch ein Gewitter sein! — Dann legte er sich wieder hin, schwacher Blitzschein glomm vor seinen Augen auf, es donnerte lauter. Ah, wie der Regen rauschte!
Ich wollte, sagte er vor sich hin, es schlüge ein und Cora ginge dabei tot. Ich denke unchristlich. Man kann nicht für Gedanken. — Er sah sie an der Erde liegen, maustot, er sandte einen Kranz zu ihrem Begräbnis, munterte sich dann auf, setzte sich im Bett hin, ein krachender Donner rollte wütend im finstern Mauerhof der Nacht umher, dann ging die Tür auf, und Cora stand darin, bleich, sichtbar im Blitzschein. Er verstand nicht, was sie sagte, da ein neuer Donner herunterknallte, rollend dahinbrüllte, polterte, aufgrollte und sich murrend zusammenrollte. Cora hatte Licht gemacht, er fragte, ob sie sich fürchte.
„Fürchten nicht,“ sagte sie matt, „aber man regt sich doch auf.“
Sie glitt durchs Zimmer zur Tür gegenüber, öffnete, glitt hindurch, Georg sah auch dort drinnen das Licht aufflammen. Ihr nachsehend dachte er kümmerlich: Sollte dieses Weib es darauf angelegt haben, mich zugrunde zu richten? Wie werde ich sie bloß wieder los? — Er rollte sich im Bett zusammen, indem flammte das Zimmer blauhell auf, und mit ungeheurem Prasseln knatterte der Donnerschlag hinterdrein, daß alles knallte und krachte, sprang in wüsten Sprüngen, tobend, lärmend, um sich hauend mit Keulen, Wagenlasten voll metallener Schilde umstürzend, Züge voll Porzellan zusammenschiebend und schlagend, weit hinweg, ermattete endlich in langen röchelnd rollenden Stößen und ward still, während Cora erschreckt im Türrahmen erschien. Ganz leise fiel nun der Regen.
Das Licht brannte in George Augenwinkeln; er sah sie dastehn, mädchenhafter aussehend mit dem gelösten Haarschopf. Sie sagte theatralisch, sie möchte nackend draußen im Regen liegen und mit Blitzen spielen. Georg lachte kurz, der Donner knatterte wiederum auf, jedoch entfernter, er sagte, sie solle schlafen gehn. Wirklich ging sie gleich darauf hinaus, ohne das Licht abzudrehn.
Georg sah sie nebenan in dem königlichen Bett liegen und würgte an trocknen Verwünschungen. Herr des Himmels, dachte er, man tut so was wohl einmal, man umschlingt sich und genießt sich, aber einmal doch bloß, einmal! Ach, daß zur Verrichtung der sexuellen Notdurft eigentlich alle Frauen zu schade sind! Wie kann ich denn eine Frau acht Tage lang, acht Jahre lang immerzu lieben? Das ist doch eine Unmöglichkeit! Ich schwöre, daß man eine Frau, die man liebt, ein einziges Mal umarmen darf, nicht mehr! Oder es müssen Wochen und Monate vergehn, bis man das erste Mal vergessen hat. Ich hasse dies Weib. Ich habe sie von Anfang an gehaßt, ich erinnere mich nicht, mich jemals mit solcher Wut in eine Frau gebohrt zu haben, — aber, dachte er, wenn ich schlaff — zusammengekrüllt wie ein welkes Blatt oder — wie so eine aufgestochne Raupe neben ihr lag, so war das doch geradezu eigenartig. Wenn ich nun bloß wüßte, was sie von mir will! Bloß so: nicht wieder weg? Geld? nein, das glaube ich nicht. Sie verdarb sich ihr Dasein, indem sie heiratete, und nun kann sie den neuen Weg nur nicht finden, hat wohl auch noch Scheu davor. — Hier fingen seine Gedanken an, undeutlich zu werden, bald darauf schlief er ein.
Beim Erwachen fiel ihm ein, daß — wie eigenartig! — Himmelfahrt sei. Er mußte schlecht geschlafen haben, fühlte sich dumpf und unklar, kam erst einigermaßen zur Besinnung, als er mit der ersten Zigarette vor der Gartentür im Sessel saß, angesichts des gewaltig herunterströmenden Regens, in dessen grauer, kalter Masse die Gartenbäume erschüttert und duldend hin und her wankten. Cora kam dann und ging zu ihrem Frühstück hinter ihm vorüber nach nebenan. Er gähnte krampfhaft, legte sich mit geschlossenen Augen zurück und genoß die Wohltat des großen Rauschens und der fallenden Gewässer, spürte aber alsbald den Angstdruck in der Magengegend, ruckte wieder empor, saß fröstelnd, die Handknöchel reibend, und begann zu überlegen. Wenn er abreiste, — ja, wohin? Und wie stand er dann vor seinem Vater? Von England war er eben rechtzeitig ins Semester gekommen, an dem Herzfehler war er freilich gewissermaßen unschuldig, aber dies Hin und Her war doch abscheulich! Und Renate? Er fühlte den Druck in der Magengegend stärker, die Gedanken zerstreuten sich. Da sprang er auf, ging ins Schlafzimmer, zog feste Stiefel und den Gummimantel an und lief in den Regen hinein. Das tat wohl, er konnte über sich selbst hinwegsehn, Wipfelwanken und Regensturz groß und stürmisch empfinden, und als er wieder die Tür des Schlößchens öffnete, hatte er das Gefühl, daß etwas sich inzwischen ereignet habe. Ja, der Diener sagte, Fräulein Chalybäus habe aus Berlin angerufen; sie würde nach einer Stunde noch einmal telephonieren. Magda? Was war da geschehn? Sie hatte kein Telephon in der Wohnung, er mußte warten.
Als er ins Zimmer kam, saß Cora am Flügel und klimperte aus irgendwelchen Noten, die sie gefunden hatte. Er setzte sich wieder in den Sessel und begann alte Gedichte durchzulesen, um zu sehn, was sie wert waren. — ‚An E.‘ stand da.
Lieben lernen? Einen Glockenklang?
Der aus unbekanntem Tal ...
Georg überflog zwei Strophen und kam zur letzten:
Und indes die Nacht anbricht,
Sprech ich seufzend zu den Winden:
War ich heimgerufen nicht?
Aber sagt, wie soll ich finden!
Georg fluchte. Vor einem Jahr schrieb ich das? Und wann hätte ich jemals zu den Winden gesprochen? — Da fing er das nächste Gedicht an:
Aber du, Geliebte, deine Augen
Hat noch nie ein falscher Hauch getrübt ...
— übersprang eine Zeile —: In der seligen Geduld geübt ... Wen meinte ich damit? Er nahm ein anderes Stück vor und las:
O Herbst, du schwankend Abbild meiner Seele!
Wo jähe Klarheit schnellt aus Dämmernissen,
Vom Himmel flutend, überall zerrissen,
Und oft durchbrüllt von einer rauhen Kehle.
Und Bäume, Felder und der Büsche Hügel
Wälzen sich hart, ganz wankend ist die Welt,
Und nirgends etwas, das nicht nächstens fällt,
Doch noch im Sturz sich hebt auf kargem Flügel.
Und wie das Blatt, das golden, schöngebräunt
Zum Falter wird in buntem Taumelfluge,
So spür ich tiefer fröstelnd, armer Freund:
Was in mir zuckt, sich wirft, lebt, schwankt und siedet,
Sich selber jagt wie eine irre Fuge:
Alltod umfängts, Allsterben stillt und friedet.
Dies gefiel ihm ganz gut, obgleich es schwächlich klang und an hohe Vorbilder gemahnte. ‚Lied des Sehers‘ stand über dem nächsten. Was ist das? fragte er sich, wann schrieb ich das? Er las:
Du Herrlichkeit! Weißt du denn nicht dies Glück:
In blinden Spiegeln, Scherben, blankem Tand,
Falschen Juwelen oder trüben Wassern
Der großen Sonne einen Strahl zu fangen?
(Weiterlesend dachte er an Cora, und an wen er wohl damals gedacht haben mochte ...)
Jubeltest niemals du, wenn nach des langen
Schwermütigen Regens Dämmernis am Abend
In ferner Häuser grauer, öder Mauer
Ein Glas aufquoll, lebendiges Blut und Feuer?
Du Herrlichkeit! (Georg schüttelte den Kopf) gebückt, wenn du mir fern,
Schleif ich die Blicke über dumpfem Boden;
Dann zuckt ein Glanz, dann regt vielleicht ein süßes,
Mitleidiges Leuchten ...
Heftig schrillte das Telephon. Georg legte das Buch aus der Hand, ging hin und hob den Hörer. Magdas Stimme fragte, ob er es sei; er bejahte, und sie bat um Verzeihung, daß sie störe, aber ihr Vater sei in der Nacht gestorben. Ja, als sie am Morgen ins Zimmer gekommen sei, habe er tot im Bett gelegen.
„Es ist ja wohl gut, Georg,“ hörte er sie sagen, „er hat ein sanftes, unbemerktes Ende gehabt. Und nun wollte ich dich bitten ... Wie ist es, hast du nicht Pfingstferien?“ Georg bejahte. „Dann, — könntest du vielleicht ein paar Tage kommen und mir helfen? Ich habe hier eigentlich niemand und —“ Georg unterbrach sie mit heftigen Versicherungen, daß er sofort komme, und sie endeten das Gespräch.
Eine Weile ohne feste Gedanken stand Georg hinter dem Sessel, in dem das aufgeschlagne Buch lag, nahm es dann auf und las willenlos das Gedicht zu Ende:
Mitleidiges Leuchten sich und singt von dir:
Nichts das von dir nicht lebte, selige Sonne!
Da ist nichts so gering: ich liebe es doch
Und dränge mich daran mit Auge und Lippe.
Auch im Verworfenen fand ich den Spiegel,
Darin die Gottheit gerne sich vergißt.
Nun lächelte er trüber, fragte sich, ob Cora der trübe Spiegel von Renate sein solle, und ob er davon wirklich entzückt sei, wenns der Fall wäre, legte das Buch in die Schieblade, stand davor, die Schlüssel in der Hand, und konnte sich auf nichts besinnen. Endlich fiel ihm ein: Kursbuch! — Er fand es auf dem Schreibtisch, sah, daß es zum Zwölfuhrzug schon zu spät war, daß es bis zum Dreiuhrzug ihm zu lange dauerte, ging hinaus und befahl dem Hausmeister, den Reitknecht zu den Adlerwerken an der Goseriede zu schicken und einen Wagen zu mieten. Er selber half dem Diener den Koffer packen. Danach ging er zu Cora und sagte, er verreise, was sie zu tun gedenke. Oh, sie würde warten, meinte sie leichthin.
Sie lag in dem selben Sessel ausgestreckt, in dem er eben gesessen hatte. Ihn schauderte vor ihrem ganzen körperlichen Dasein, an dem keine Stelle nicht abgenützt war durch Liebkosung und nicht nur durch seine. Ob sie tatsächlich nicht zu ihrem Mann zurückwolle, fragte er.
Sie habe es ihm ja gesagt; ihre Ehe sei längst keine mehr, sie hätten sich bloß noch körperlich gebraucht, sie sei das müde, ihr Mann vermutlich auch, aber man könne ja nicht wissen, vielleicht liebte er sie noch immer, sie aber könne nicht mehr.
„Du hast eignes Vermögen?“ fragte Georg in Gedanken. Sie zuckte die Achseln und meinte: „Genug für mich!“
„Ich werde“, sagte Georg langsam, „nicht zurückkommen. Dies Haus ist zu deiner Verfügung, nur mußt du die Güte haben, in der Stadt zu essen.“
„Das heißt also, ich bin entlassen?“ fragte sie spitzig.
Georg senkte den Kopf und meinte, wenn sie es so ausdrücken wolle ...
Er setzte sich auf die Lehne des Schreibsessels, griff nach dem Schildpattmesser zum Briefaufschneiden und sah, daß es schwächer regnete; am Himmel, über den Bäumen, brach silbrige Helligkeit auf. Daß es grade Magda sein muß, die mich frei macht! dachte er gebeugten Sinnes, und vor ihm schwebte seltsam das Gesicht ihres Vaters.
Die Gedanken verliefen sich; er sah ungeduldig auf die Standuhr, indem trat der Reitknecht ein und sagte, der Wagen stünde draußen. Er hörte Cora etwas sagen, verstand es aber nicht, da er nun den Telephonhörer aufhob, den antwortenden Hausmeister bat, ihn mit Benno zu verbinden, dann Bennos Stimme hörte und ihm sagte, daß Magdas Vater gestorben sei und daß er hinfahre, um ihr zu helfen. Benno fragte nichts weiter, trug ihm Grüße auf, und jetzt war der Diener da mit dem Mantel. Er zog ihn an, schickte den Diener weg und ging auf Cora zu. Auf einmal hob sie die Hände wie Krallen, Lenuschs Gesicht erschien ihm in dem ihren, da sie die Lippen öffnete bei zusammengebissenen Zähnen. „Hüte dich!“ keuchte sie und warf sich herum, ihr Taschentuch in den Mund steckend. Da mußte er lächeln und sagen, sie werde ihm hoffentlich nichts kaputt machen in der Wohnung. Sie warf die Schultern hin und her, fiel in den Sessel und weinte. Sie tat ihm leid.
Cora, sagte er leise, legte ihr die Hand auf die Schulter und fragte, was denn aus ihnen Beiden werden solle.
Sie unterdrückte ihr Schluchzen, murmelte, er sei’s ja nicht wert, sie wollte nicht weinen. — Ach, sie hatte ihn doch wohl sehr lieb. —
Nun sprang sie auf und meinte kühl und hoffärtig, er hätte wohl recht, sie wolle fort. Da legte er den Hut wieder aus der Hand und sagte, er wolle ihr helfen, ihre Sachen zu packen. Sie ging, und er folgte. Das schöne Zimmer, kaum entstellt, machte ihn traurig, sie packten wortlos Coras Koffer und Handtasche, der Diener trug alles hinaus, Georg half Cora in den Mantel, sie gingen.
Im Wagen starrte sie abgewandt aus dem Fenster. Als sie in die Eichstraße einbogen, sah er, daß sie weinte. Aber sie übersah seine Hand, nickte nur, stieg aus und ging ins Haus. Der Diener folgte ihr mit den Koffern. Georg atmete auf und bedauerte sie erleichterten Herzens.
Was wird nun kommen? dachte er, als der Wagen sich wieder in Bewegung setzte.
Georg, aus Berlin zurückgekehrt, hatte sich umgekleidet und trat eben aus dem Schlafzimmer hervor, als die Tür zum Flur von draußen geöffnet und — vom überragenden Benno vorwärtsgeschoben — etwas anscheinend sehr Liebliches über der kleinen Treppe sichtbar wurde, ein Mädchen in gesticktem weißen Kleide und gelben Schuhn, das Gesicht noch zurückgewandt unter einem großen und flachen, gelblichen Strohhut von ländlicher Form, einen leichten Feldblumenkranz um den Kopf und mit langen, nach hinten hängenden breiten Bändern von schwarzem Samt. Das Gesicht, das nun erschien — errötet und mit schüchternem Lächeln — war ganz und gar mädchenhaft, jung, zart, gerundet, großäugig, ja überaus lieblich wie das Ganze. — Benno aber kam jetzt die Stufen herunter gestürmt, fliegend über und über, fliegender langer Beine und Rockschöße und Arme, fliegender Stirne und Haare, fliegender Augen, ja selbst die rot angelaufene Nase im heißen Gesicht schien, sich krümmend und mit den Flügeln zitternd, entfliegen zu wollen, und so hatte er Georgs Hände gepackt, zerrte sie nach unten, riß sie nach oben und schleuderte sie wieder nach unten, stotterte und war glückselig.
„Das ist sie, Georg!“ Seine Stimme war ganz ins Tiefe umgebrochen. „Ich habe sie errungen! Nun nimm sie!“ Und die Stimme verhauchte ihm. Die Augen verkehrt in Scham und Wonne, ließ er Georg fahren, stürzte wieder zu dem oben noch zögernden und lachenden Mädchen, ergriff ihre Hand und rief, sie ritterlich zu ihm geleitend:
„Das ist Georg! Nun — sieht er fürchterlich aus? — Sie hat gedacht,“ kicherte er, und das eigene Lachen verschlug ihm die Stimme, „du müßtest schrecklich sein wie Artaxerxes!“ Und lachte unmäßig über den Witz.
Georg, bei allem Gerührtsein über Benno, fand sich wider Erwarten mehr überrascht als entzückt, dieweil er dem Mädchen entgegenging, lachte und fragte:
„Bennos Braut, das solls doch bedeuten, nicht wahr?“ Und er beteuerte seine Freude, klopfte Benno die Schultern, alle Drei lachten, das Mädchen eine erstaunlich melodische, fast romanhafte — dachte Georg — Silberlache, die Tonleiter hinauf und hinunter.
Rötlich blond war sie; die Scheitel, von der Stirnmitte über die Brauen zu den Ohren gesenkt, bauschten sich locker und zausig, und weißliche Streifen zeigten sich im Roten und Goldenen. Die Augen schienen gemischt Grau mit Braunem und Grünlichem. Oh, sie war hübsch.
„Aber wie heißen Sie denn, bitte? Benno, wie heißt sie? Denken Sie, ich weiß Ihren Namen so wenig, wie ich bislang von Ihrem Dasein etwas ahnen durfte. Wie kommt das, Benno, gesteh!“
Benno war tödlich verlegen. Doch — einmal — ganz im Anfang hätte er Georg von ihr erzählt, — von Begegnungen ...
Tausenden sei er begegnet, Tausenden! — Und wieder ertönte das gurrende Lachen hinauf und hinunter, während sie sich mit geschmeidiger Bewegung vor und zurück bog. Georg gestand, mit halbem Bewußtsein lügend: „Ja, Benno, wenn sie lacht, ist sie unwiderstehlich. Und nun bitte den Namen!“
Aber Benno ereiferte sich noch über die tausend Begegnungen, war selig gekränkt, eitel und beschämt und beteuerte, seit einem Jahr, wo er sie das erste Mal gesehn, habe er nicht eine einzige Begegnung gehabt. „Und sie heißt Elfriede!“ brachte er endlich, wieder verzückt, hervor.
„Elfriede Krumm“, sagte sie fröhlich und bewußtlos.
„Aber ich habe sie — Elfe getauft!“
„Wunderbar, Benno! das ist recht!“ lobte Georg, in diesem Augenblick seiner erst unbewußten Enttäuschung ganz inne. Der schändliche Zuname hatte sie ans Licht gefördert. — Ja, was ist denn? fragte er sich besorgt. Hatte ich etwas andres erwartet von Benno? Warum gefällt sie mir denn nicht? — Überdem sah er den blassen, stets lächelnden Egon dastehn zum Zeichen des Abendessens.
„Geh hin, Egon, gratuliere Herrn Prager, das ist sein Fräulein Braut.“ Während Benno des blassen Egon Arm auszureißen suchte, drängte Georg die Elfriede — Elfe gelang ihm zu denken nicht — zum Mitessen und bewegte sie, obwohl sie sich zierte — ihre Mama erwarte sie doch —, allmählich durch das Zimmers, dann zum Annehmen seines Arms und führte sie durch die Tür.
Er konnte sie von der Seite betrachten im Gehn. Ihre Nase war grade, kurz, schlecht und recht, — wie auch der Mund, der undeutlich und blaß war, ‚als Mund gemacht‘, wie Georg einfiel, der sich nicht von ihm verlockt fühlte. Und nun sah er etwas —, etwas Winziges nur, doch — es war etwas ... Am äußeren Augenwinkel nämlich zwei kleine Fältchen in der Haut, kaum bräunliche Fältchen, die sich bewegten, wenn sie, wie sie beständig tat, die Augen zusammenzog im Lächeln und Lachen. — Die sinds, stellte Georg unerbittlich fest; ich werde dahinterkommen, was sie bedeuten.
Und während das Mädchen nun am Kopfende der ovalen Tafel in der Apsis zwischen den Freunden saß, mehr lachte als sprach, Georg ihr von der Omelette und ihrer Füllung von kleinen Frühjahrserbsen mit der Bemerkung vorlegte, das sei „die einzig mögliche Speise für zarte Bräute“ und, so weiterhin scherzend, mehr albern war als heiter — was jedoch allein er selber zu bemerken schien —, prüfte er sie auf das genaueste.
Die Bewegungen beim Essen waren zierlich. Aber die Hände waren nichts. Rötlich, ausdruckslos, nicht groß, nicht klein; die Zeigefinger waren schief gebogen, die Gelenke verdickt, und der Daumen hier — oh der Daumen war ein leibhafter Altjungferndaumen, und augenblicks erkannte Georg, daß ihre Augen — hart waren, im Schnitt und Eingefügtsein in die Lider, nein hart sogar, wenn sie sich ernst verhielt, im Blick. Und da waren die zwei Fältchen links und rechts. Diese Fältchen, dachte Georg, werden dafür sorgen, daß ihr Gesicht lange so bleiben wird wie jetzt, rundlich, weich, die Züge unverändert, nur die Frische, die wird eines Tages verschwunden sein — ich sehe ja das reizlose Fleisch schon jetzt unter der zarten Haut. Und dann auf einmal wird sie — hart geworden sein, oh hart ist sie jetzt schon ganz innen! — und alt ...
Es half Georg nichts, sich zu wundern und zu schelten wegen seiner Richterlichkeit. Sie war reizend — und er mochte sie nicht. Und ihn bangte wegen Bennos. — Habe ich nicht immer für ihn sorgen müssen? fragte er sich gerührt, ihn sitzen sehend in seiner Übergossenheit von Seele und Seligkeit.
Egon trug, wie Georg befohlen, Sekt im Kühler herein und stellte Spitzgläser auf, zu Bennos tiefstem Entsetzen auch eins vor Georg, der doch keinen Wein mehr trank seit seiner Krankheit.
„Ich dulde es nicht, Georg!“ empörte er sich, „es ist unerhört von dir!“ und ging so weit, ihn am Arm festzuhalten, daß der Wein das Tischtuch überschäumte. Das schaffte denn Aufschub, und Georg gelang es, seinen Trinkspruch auszubringen, anzustoßen und einen Schluck zu nippen.
„Aber was wird nun Renate sagen?“ spottete er, das Glas niedersetzend. „Ich denke, Benno, du verzehrst dich in Anbetung, nicht wahr —, und nun ...“
Oh dies ewige, mühelose Lachgeklingel sollte der Teufel holen! — Georg, dem nach der langen Entbehrung der Schluck Weins doch den Kopf erhitzte, sah und hörte nichts mehr, dieweil er innerlich scharrte: Da ist nun Renate, da ist doch auch Ulrika, Irene, Magda erst! — Da war Esther, da war die ganze Stadt voll schöner, sanfter Frauen, — und er nahm diese endlose Heiterkeit. Ist das nun seine Ergänzung? Hatte er denn je ein Verlangen nach Leichte und Fröhlichkeit bezeigt? Ach, sie ist ja gewöhnlich, Benno, siehst du’s denn nicht? Ihre Mutter möcht ich gesehn haben, dann wüßte ich alles. — Und nun hatte Georg auch ein ungefähres Bild von dem stillen und ernsten, vielleicht sanften und rührenden, jedenfalls aber ernsten Wesen und jedenfalls ganz zarten und feinen, in Heiterkeit vielleicht liebevollen Geschöpf, das er unbewußt irgendwie als Bennos Ideal in der Zukunft zu gewahren geglaubt hatte. Nun diese kleine Tänzerin oder Sängerin meinetwegen, Elfriede Krumm, — na, für den Namen konnte sie freilich nichts, obwohl besser noch grotesk als gemein — aber immerhin hatte sie es nicht weiter gebracht, als an diesem holzigen Stamm eine kleine Windenblüte aufzutun. Eine seltene Aloe am Stamme des Gemeinen war sie nicht, und Georg fing an, sich den Kopf zu zerbrechen, ob nur Benno sich von ihrem Liebreiz hatte blenden und irren lassen, oder ob also doch ein Stück vom Bürger in ihm steckte, den es zu seinesgleichen zog. Schubert, dachte er, Schubert war auch so ein Halbgott in Stiefeln, unsterblich wenn er sang, im Dasein ein kleiner Spießbürger. — Ganz heiß ward ihm da im Gedanken, dieser süße versilberte Engel könnte den armen, schwachen Benno aus seinem wahren Paradies vertreiben. Denn was tut sie, und was ist an ihr, wenn sie nicht lacht? — Heiraten, mein Gott! Wenn er sie doch zur Hetäre nähme! Oh Benno, es wird ein Unglück geben!
„Wißt ihr, fahren wir doch gleich zu Renate,“ mischte er sich mit Bewußtsein wieder ins Gespräch. (Oh wie zog es ihn zu Renate!)
„Aber meine Mama ...“
„Bei der fahren wir vor. Oder sie kommt mit.“
„Im Dogcart, Georg?“ Benno, sein Glas in der Hand, mußte es schnell niedersetzen, um in eine schallende Lache ausbrechen zu können, die ihn unwiderstehlich schüttelte, während das Mädchen errötete, unwillig schien, ja sichtlich einen bösen Blick unterdrückte, — und Benno unterbrach sich jählings im Gelächter, nun furchtbar verlegen.
„Ja, was lachst du denn so?“ stach Georg — in einer Ahnung — auf ihn ein.
„Mama —“ sagte die Elfriede überernst in Bennos Gestammel, „paßt allerdings kaum in einen Dogcart. Mama ist ein wenig stark.“
Dick ist sie! Unglaublich dick! eine Maschine! ein Elefant! jauchzte und fluchte Georg innerlich. Nun ist mir alles klar. Eine Bürgersfrau aus der Markthalle. Rentiere im Adreßbuch! — Und um so dringlicher fuhr er fort, der Tochter sein Schimmelgespann zu preisen, das schon halb verkauft sei; so sei’s vielleicht das letzte Mal ... Ich muß die Alte sehn, dachte er. Und dann zu Renate!
Egon, sich zu ihm beugend, flüsterte: die Dame sei wieder da ...
„Was für eine Dame?“ fragte Georg laut.
„Die gestern schon da war, wie ich Durchlaucht ...“
„Ach, die sich nicht offenbaren wollte? Bitte entschuldige mich, Benno, — gnädiges Fräulein ... Es wird wohl ein Bittgesuch ...“ Georg legte die Serviette hin, ging zur Türe, öffnete und schloß hinter sich, das Zimmer zuerst leer findend. Dann sah er Cordelia.
Sie war noch keinen Schritt in den Raum gekommen; oben vor der Tür, die Hand am Geländerdach stand sie, ihren alten Strohhut in der Hand, ein welkes weißes Kleid, mit moosgrünem Seidenband unter der Brust, um den Leib gezogen. Aber — — oh — das ist ein Mensch! war Georgs erstes, voll aufseufzendes Empfinden in der Erinnerung an Bennos Elfe.
Erstaunt, entzündet von Freude sie wiederzusehn, sagte er leise nur „Cordelia —“, nun erschüttert von einem unendlichen und schweren Ernst, einer Wehmut, einer Demut und — diese durchglühend — einer fast mystischen Süße im Dunkel ihrer fernen Augen, im ganzen bleichen, atmenden, sehnsüchtig bewegten Gesicht.
Der Hut, ihr entfallend, rollte die Stufen hinunter. Sie folgte ihm, schrittweis, die Hände gefaltet, die Blicke unveränderlich auf ihn geheftet mit einem für Georg kaum noch erträglichen, sprachlosen Flehen. Einmal lächelte sie hülflos. Ein paar Schritte noch von ihm entfernt, hielt sie an, schauderte heftig zusammen, bezwang sich furchtbar, lächelte mit Anstrengung und fragte kaum hörbar: „Muß ich — ganz — hin?“
Ihm brach das Herz. Sich losreißend, durchzuckt: Sie stirbt ja vor Angst! — sprang er zu, riß sie an sich, legte ihren Kopf an seiner Schulter fest, hielt ihn, der herabsinken wollte, streichelte ihn unaufhörlich, flüsternd: „Was ist denn, mein Gott, was ist denn? Es ist ja gut! ist ja gut! Ich bin ja glücklich!“
Leise schluchzend hörte er sie etwas stammeln wie: Gott sei Dank! und: ja, nun ist es gut ... Langsam kam ihr Gesicht wieder hoch, naß überströmt, fließender Augen, aber er lächelte wie ein Engel durch den glänzenden Strom. Sie bewegte stumm den Kopf hin und her. Ihre Augen fielen zu.
„Willst du mich denn noch?“ fragte sie zwischen den Zähnen, „wirklich?“
„Ob ich will, Cordelia? Ja doch, ja! Ich bin ja nur glücklich, wenn du kommst! Ach,“ fuhr er, erschüttert von Mitleiden, fort: „sag mir doch, was dir fehlt, was dich quält, alles, alles! ich will dir doch helfen!“
Aber sie schwieg.
Im Nebenzimmer ward ganz leise ein Akkord des Flügels hörbar, nur der eine, süß aufschwirrende Schlag, als habe ein Vogel die Tasten gestreift, für Georg ein lieblich erstaunendes Zeichen des Augenblicks. Dann, abgelenkt, sah er durch die Wand Bennos lange Schattenfigur, wie sie sich auf die Tasten bückte: er mußte sie wohl doch einmal berühren, einen Ton hören, die Musik ein Wort sagen lassen zu seiner Inbrunst.
Cordelia aber hatte aufhorchend die Augen geöffnet.
„Was war das?“ flüsterte sie, und Georg gestand, es sei Besuch nebenan, ein Freund mit seiner Verlobten; ob sie erlaube, daß er ihnen eben Bescheid sage, sie seien eben schon im Begriffe zu gehn. Cordelia nickte nur stumm und machte sich los von ihm.
Die Tür öffnend scheuchte er das Brautpaar aus der Buchtung des Flügels und aus einer ganz ähnlichen Stellung wie die, in der Georg selber sich eben befand, was seine Betäubtheit rasch in angenehme Heiterkeit löste, also daß er, da das Mädchen ohnehin heimwärts drängte, mit leichtem Bedauern der verhinderten Fahrt sich entschuldigen konnte. Er brachte sie noch durch das gangartig lange und halbdunkle Billardzimmer auf den Flur und bis vor die Tür, winkte ihnen nach und dachte, mit den Augen an Bennos Rücken haftend: Seltsam doch, daß grade er so aus unsern Kreisen fallen mußte. Gedichte mach ich ja auch, aber der einzige Unsterbliche war doch immer er. Ach so, erinnerte er sich im Abwenden, die Götter trugen ja immer nach besonders irdischen Frauen Verlangen. Ja, sie war eine kleine Rubensschönheit, Danaë ... und —
Georg richtete sich lächelnd straff. Und Benno muß heiraten, muß — weil er das nicht fertigbringt was ich. Ah sie war wieder da! Gott sei gelobt, murmelte er vor sich hin, nun kommt die Erlösung erst von Cora! — Er schloß die Tür hinter sich.
Wie er aber leichtfüßig den Flur zurückeilte, wurde die Tür am Ende geöffnet, mit Vorsicht. Cordelias Antlitz erschien im Spalt, groß offenen, furchtsam spähenden Auges, und erschrocken bei seinem Anblick schlug sie den Türflügel wieder vor ihm zu, den er gleich darauf erreichte.
Als er dann drinnen stand, war sie an das Geländer zurückgewichen, hielt es mit den Händen neben sich gefaßt und ließ wie eine Schuldige den Kopf sinken. Sich überwindend, sie nicht feindlich anzusehn, versuchte er zu scherzen, ob sie ihm doch wieder habe entwischen wollen ...
Sie lächelte traurig und sah auf. „Es soll also wohl doch sein“, sagte sie leise. „Nein!“ sie drängte sich an ihn, „sieh mich nicht so an! frage nicht! ja, versprich mir das, schwören mußt du’s, Georg, hörst du, du mußt es schwören!“
„Ja, gewiß! gewiß doch! was denn?“
„Nie fragen, Georg! Nie, nie, niemals und nach nichts fragen! Ach,“ weinte sie plötzlich laut auf, „was willst du denn von mir? Ich weiß doch, daß du mich nicht liebst.“ Sie brach ab, ihn hart und verschlossen anblickend.
Georg vermochte nicht auszuweichen. Nicht lügen! dachte er nur, und seinen Augen es überlassend, sie zu bezwingen, sagte er klar und verständlich, wie er es meinte.
„Ich brauche dich.“
„Den Leib“, hauchte sie elend.
Was nun sagen? — Er küßte behutsam ihre Stirn, und damit schien er Glück gehabt zu haben, denn mit aufblühendem Lächeln unter seinem Kuß flüsterte sie:
„Und die arme Seele mit ... Meinst du, daß ich eine habe? — Ach laß nur“, wehrte sie matt und drückte die Augen an seine Schulter.
„Du kennst mich doch nun ein wenig,“ redete er, ihr Haar streichelnd, auf sie herab, „du weißt doch, wer ich bin!“ und hörte sie aufsagen leise, ohne den Kopf zu heben: „Prinz — Georg — Trassenberg.“
Dann, sehr liebevoll: „Mein Prinz!“ und Georg fuhr zurück wie gestochen. Er strauchelte auf den Stufen, erreichte mit Mühe aufrecht den Boden, seine Knie versagten, er tat noch zwei Schritte und stand, entsetzt, die Hände an den Schläfen.
Jetzt — da wars! Jetzt wars gekommen. Jetzt mußte — — mußte — was? — was? — Die Wahrheit gesagt werden oder — oder gelogen. Warum gelogen? Um die letzte Probe ... um zu sehn, ob es erträglich, möglich ...
„Was ist dir denn?“ hörte er sie aus weiter Ferne fragen, sah aber in der selben Sekunde dicht vor sich ihre besorgten Augen, die flackerten; ihr Gesicht, ihre weiße Gestalt, die dunklen Wände des Raums, der große, grüne Lampenumhang — alles flackerte auf und nieder wie aus gasigen Flammen, während er sie nur anstarren konnte und merkte, wie sie seine Hände ergriff und herabzog. Durch das Sausen in seinen Ohren hörte er sie etwas sagen, ohne zu verstehn.
Du Feigling! sagte dann eine Stimme, du willst es ja nur aufschieben!
„Nichts, Kind, nichts!“ brachte er endlich hervor. „Es war wohl mein Herz, — es ist nicht ganz in Ordnung. Laß nur, es geht schon wieder. Ja, wovon sprachen wir doch eben? Richtig, meinen Namen sagtest du ...“ Er irrte wieder ab. „Ja, und wie ist der deine?“ hörte er seine eigene Stimme fernher, erwachte dann und setzte beherrscht hinzu: „Oder darf ich das auch nicht fragen?“
„Cordelia Severin“, sagte sie leise. „Aber ist dir auch wirklich wieder gut? Komm, setz dich hin!“
Sie führten sich gegenseitig zu einem der Sessel in der Kaminecke, Georg fiel ermattet hinein und zog sie auf seine Knie. Sein Herz jagte in der Tat haltlos. Vielleicht war doch der Schluck Sekt schuld.
„Und was wird nun aus uns?“ konnte er indessen wieder scherzen. „Bleiben wir zusammen? Möchtest du hier wohnen? In einem Schloß?“ — Es stach wieder in seinem Herzen. Er verstand nicht recht, weshalb ihm so unendlich sanft und weich zumute war, und fuhr fort, ihr weiches Gesicht unablässig zu streicheln und zu glätten. Da sie nur nachdenklich vor sich hin lächelte, fragte er weiter: „Oder soll ich zu dir kommen?“
Nun schauderte sie leicht zusammen. „Nein! oh nein!“ stieß sie hervor.
„Also was denn? Soll ich ein Haus kaufen?“
Wieder ruhiger blickte sie in seine Augen, küßte ihn leise auf den Mund und sagte liebreich:
„Ich will, was du willst. Aber ich möchte nicht gern in — dein andres Leben. Möcht ganz für mich sein — und für dich. In mein Leben sollst du auch nicht. Wir wollen zusammen ein drittes haben, ganz für uns, gell?“
„Ja, das wollen wir. Also dann willst du wohl Geld haben, was?“
„Ja, bitte!“ sagte sie ganz ernst.
„Ich hab aber selber keins da“, meinte er lustig. „Nun, warte, es findet sich schon ein Weg. Willst du mich mal aufstehn lassen?“
Während er eine Schreibtischlade aufzog, ein Checkbuch hervorholte, sich setzte und mit eiliger Hand in ein Dutzend und mehr Seiten seinen Namen eintrug, fragte er zurück, ob sie vielleicht auch schon ein Haus wisse? — Leise auflachend bejahte sie und sagte plötzlich wieder im Dialekt und in ihrem verträumten Ton:
„I hab ans aangschaut vor a paar Tag. In der Alleestraße heroben, ganz heroben am End, auf an Hügel liegts. I tu alsfort Häuser anschaun, wanns fein ausschaun und Mietzettel ham.“
„Na, das ist ja schön! Da muß ich dir wohl einrichten helfen?“
„Nimmer nötig! ’s steckt ganz voll von Möbeln bis ans Dach, schöne Möbel, olte, ach du mein!“
Georg, sich umdrehend beim Schreiben, sah sie auf der weichen Sessellehne sitzen und mit runden Augen nach allen Seiten spähn.
„Nicht so schön halt wie die“, plapperte sie weiter, nach der Bücherwand nickend. „Aber ein Schlafzimmer hats, das wird dich freun. Da stehts Bett im Alkoven, der hat — so ein Fuß grad überm Bett — ein ganz schönes, breites, großes Fenster. Wenn man da naus schaut, — ja, das glaubst net, Gorch, da hast vor dir das ganze Land, alle Wiesen und Weiden und die blauen Wälder hinten und Dörfeln — ah — viele! Schlafen kannst da mitten im Frein, und unterm Fenster — da ist der Garten, und der Teich, und eine ganze Wüstn von floribus“, schloß sie plötzlich mit hörbarem Punkt. Georg sprang auf, warf sie fast in den Sessel hinunter und erstickte sie mit Küssen.
„Und Hesekiel! Georg, laß los, ich ersticke ja!“ keuchte sie, „und Hesekiel, darf ich den aach kaufn?“
„Was du willst, Liebling, was du willst! Aber wer ist denn Hesekiel?“ — Er hielt sie wieder auf den Knien und ließ sich kleine Küsse von ihr geben, während sie erzählte:
„Hesekiel — das ist ein — orms Luder. Ein bißchen dumm ist er schon, weißt! so ein — Idiot oder — — wie? Er vergißt halt alles. Nur eins, ein einziges, das kann er grad behalten. Und er hat ein’ Buckel und ein ganz spitzes, altes Gesicht und einen wehmütigen kleinen Mund. Oh Hesekiel ist ein lieber Kerl, der wird dir gfalln. Nun ist er — was die Bälle aufklaubt bei die Tennisleut. A so a olter Mensch und klaubt Bäll auf. Verheirat is er net. Gell, den nehm mir? Den nehm mir zu uns?“
Georgs Herz jubelte vor Entzücken. Oh Benno, was habe ich und was du! — Sogar die Erscheinung Renates ging schmerzlos vorüber. Ich werde lebendig sein, ganz lebendig, arbeiten können, gesund sein, und das andre — alles andre wird sich finden, sich finden.
Renate schrieb in ihrem Zimmer am späten Abend:
„Hellwach wie ich bin, will ich gleich suchen, Einiges von diesem Abend festzuhalten.
Nachmittags gegen sechs Uhr fuhr ich zu Irene hinaus (ich mußte es einmal wagen; Saint-Georges versprach, auf Onkel achtzugeben, und es ist nichts geschehn). Es war so warm, daß ich unterwegs das Verdeck zurückschlagen ließ, und so war es schön, durch den weiten Frühling zu fahren, zwischen den unendlichen, tiefgrünen, saatgrünen Flächen, auf den Himmel zu, den weit fernen, bläulich weißen, goldgestreiften von der tiefen Sonne, an den kleinen Gehöften vorüber, die stets schräg mit der Stirnseite zur Straße stehn, unter Bäumen, kaum ergrünten. Einzelne Primeln waren auf den Wiesen zu sehn, und alle Rinder waren schon draußen, grasten fromm der untergehenden Sonne nach, oder standen still an einer Planke, einem Graben, den sie im Vorsichhinweiden erreichten, hörten mit Käuen auf und sahen nach dem schwarzen Ungetüm, in dem ich, hoch sitzend, dahinrollte; lange Schatten warfen sie, wie alles umher.
Unterwegs griff ich noch Jason auf; mit einmal sah ich ihn ein paar hundert Meter vor mir am Rande der weißen Straße dahinwandern, ein wenig krumm und die Hände auf dem Rücken. So läuft er, dacht ich, um die ganze Welt fürbaß in seinem schwarzen Anzug, da hielt auch schon der Wagen neben ihm still, es war wie Zauberei, als ob er es befohlen und ihn mit dem Rücken gesehn hätte, — aber Reinhold, der ihn kannte, hielt natürlich von selber. Dann saß er zufrieden in seiner Wagenecke, blickte stolz umher und sagte: Der gute Mensch trifft immer Wagen, die ihn zu schönen Orten tragen.
Wo er so lange gewesen sei, fragte ich ihn, denn ich hatte ihn beinah drei Wochen nicht gesehn. In Schleswig, sagte er, bei der Familie des Kreisphysikus Liegel, Odysseus Liegel, ja, so heiße er richtig. Eine zahlreiche Familie sei das, vier Söhne, drei Töchter, Eltern, Großmutter und Urgroßmutter, in einem kleinen Hause Alle beisammen, und sie fürchteten sich samt und sonders vor spitzen Gegenständen, besonders die Urgroßmutter, die könnte überhaupt nichts Spitzes sehn, ohne furchtbare Zustände zu kriegen, bei den Andern sei es verschieden, der eine reagiere nur auf Taschenmesser, ein andrer auf Nähnadeln, wieder eine habe Angst vor Löffelstielen oder Hutnadeln, und sie ärgerten sich Alle fortwährend gegenseitig damit, das heißt zum Spaß, sie meinten es nicht böse, und nur der Vater freilich, der sei immun, auf den würde überhaupt nicht geachtet. Eigentlich sei er wohl immer leise betrunken von holländischem Likör, das dufte gar nicht so unangenehm, und meist sitze er ja in seinem Zimmer oder machte Krankenbesuche, wo er dann immer zwei, drei kleine Schnäpse trinke, das mache schon ein paar Dutzend am Tag. Die Söhne aber seien große Kerle, blond und bärtig, der eine Lloydoffizier, einer Kaufmann, und zwei Studenten; die hätten die ganze Kraft der Familie an sich gerissen, gingen schallend umher und schubsten alles beiseite; Gott sei Dank seien selten mehr als einer oder zwei anwesend. Die Töchter seien alle Drei ein bischen welk und kümmerlich, mit viel Heiratsplänen behangen und sehr arbeitsam. Ja, die Mutter sei das Tüchtigste dieser Familie. Ganz klein sei sie, habe ein Gesicht wie eine Backbirne und eine lahme Hüfte, oder eigentlich seien es zwei; kein Mensch wisse, wie sie es eigentlich fertigbringe, zu gehn, sie gehe aber, und zwar immer ganz schnell. Als sie alt genug gewesen war, zu heiraten, hatte sie es darauf angelegt, diesen Odysseus Liegel zu heiraten, und es gelang ihr auch. Darauf gründete sie ihm eine Praxis, in der sie viele Jahre immer am Hungertuche her lebten; auch jetzt hänge es noch immer in einer Ecke und verstaubte niemals gänzlich. Eines Tages hatte sie von einer Freundin gehört, daß es in gewissen kleinen Städten Stipendien, Legate gäbe, ausgesetzt von verstorbenen Wohltätern für Knaben, in der Stadt geborene, um ihnen ein Studium zu ermöglichen, und die brave Frau soll es fertigbekommen haben, durch Herumreisen in diesen Städten zur Zeit, wenn sie ein Kind erwartete, dreien ihrer Söhne je ein Legat zuzuschieben. Oh es sei eine ganz herrliche Familie, sagte Jason. Die Mutter würde verherrlicht von Allen, sie wäre ganz ungeheuer geizig, sie hatte immer nur einen einzigen Groschen auf der Tischkante liegen sehn, und wenn man ihr etwas mitbrächte, dürfe man nie unterlassen, zu sagen, was es koste, denn erst wenn sie das wisse, könnte sie sich freun. Aber nur Kleinigkeiten dürften es sein. Was ist das? sagte sie dann wohl, mit braunen Fingern und kurzsichtigen Augen zugreifend, eine Banane? Oh herrlich! Was kost die? Zehn Pfennig. Nun sieh mal einer, zehn Pfennig für solch eine herrliche Frucht. Und dann wollte jedes von ihren zehn Kindern die Banane haben ... Zehn, Jason? — Sie machten noch für viel mehr Lärm, sagte er vergnüglich, du solltest sie einmal hören. —
Auf dem Weg durch den Gemüsegarten kam uns die kleine Nora entgegen, Dora Vehms Tochter, langsam und ernsthaft wie immer, nur mit den vergrößerten Augen sich freuend, nicht im geringsten mich, sondern ganz allein Jason unerschütterlich anblickend. Als der aber fragte: Wo ist denn dein Vater? — sagte sie mit ihrer tiefen, langsamen Stimme: Der sitzt auf dem Klosett. — Wie peinlich für ihn! sagte Jason, nun wollen wir bloß nicht nach ihrer Mutter fragen. Da kam Irene, blond und lieblich wie immer, uns auf dem Gartensteig entgegen, so entzückend anzusehn, daß mir das Herz lachte: wie eine versehrte Blume, nämlich in einer engen grünen Taille, Filetguipure am Halsausschnitt und den halben Ärmeln, kleine Falten quer über der Brust und mit vier spitzen Schößen, vorn, hinten und über den Hüften, gleich den grünen Kelchblättern einer Blume, aus denen die große schwarze Tulpenglocke des seidenen Rockes nach unten schwoll und abstand, — und während so ihr Kleid und Körper eine Blume darstellte, war es ihr ganz glühend rosiges und von Haar goldenes Gesicht, das blühte. Sie erzählte, es sei gerade ein Freund ihrer Schwägerin gekommen, ein Dr. Ägidi aus Stuttgart, Journalist, den ihr Mann durch Doras Vermittelung für seine neue Zeitschrift gewonnen habe. Da die Beiden sich jahrelang nicht gesehen hatten und jetzt in der Halle saßen, gingen wir in die ‚Hecke‘ und trafen dort Georg, der im Grase lag und mit Doras Pallu spielte. Eigentlich heißt er Paul, aber das konnte er nicht sagen und taufte sich Pallu.
Wir aßen dann oben in Irenens Zimmer zu Abend, ein wenig eng in der Ecke neben dem Kamin, zu eng vor allem, wie mir schien, für die Stimmung unter uns. Irene war völlig geistesabwesend; sie hat es sich ja nun so angewöhnt, sich zu erlauben, was ihr gefällt. Ich merkte aber, daß diese Abgekehrtheit irgendwie mit ihrer Schwägerin und mit Dr. Ägidi zusammenhängen mußte, die mir auch wieder heißer und röter schienen, als selbst ein Wiedersehn nach zwei Jahren — — doch was geht das eigentlich mich an? Ja, insofern wohl, als eben diese Stimmung auch mich ergriff und mich, ängstlich, unsicher und sonderbar, wie ich Onkels wegen an sich schon bin, mit dunklen Empfindungen bewegte. Es wäre vielleicht noch sonderbarer gewesen ohne Jason, der wohl alles haargenau wußte, freilich keine Miene verzog und keine Geste zeigte, sondern nur viel sprach, in dieser unendlich hinfließenden Art, und so sehr jeden, den er anblickt, mit Augen fesselnd, daß man selber zu reden glaubt, — nun, ich werde das nie beschreiben können. Übrigens war Doras Mann nicht anwesend; er hat ein Darmleiden, und zudem ist er noch lungenkrank und schon halb auf dem Wege nach Arosa.
Schön, dunkel und funkelnd sah diese Dora aus (und übrigens in einer prächtigen Tunika, die ich mir merken muß, aus einem dunkelblauen, lockern Seidenstoff mit eingewebtem, gleichfarbigem Blumen- und Rankenmuster, die sie über den Kopf gezogen hatte; braune Pelzstreifen an den offenen Ärmeln und am Halsausschnitt). Ihre tägliche Arbeitsleistung, von der Georg mir erzählte, ist ja erstaunlich. Ich glaube wohl, sie möchte noch viel mehr Kinder haben. Ihr Mann sah auf einer Photographie still, fremd, abgeschlossen aus; ein sehr zartes Gesicht mit tiefen Augen, sehr spitzem Kinn und einem seltsam übertriebenen dunklen Schnurrbart wie der Nietzsches, doch tiefer hängend. — Wenn ich sie ansehe, muß ich sie für eine schlechterdings glückliche Frau halten. Aber ob sie nicht mich ebenfalls — —? Was wissen wir?
Ich wollte mir doch einiges von dem merken, was gesprochen wurde? Ach, nein, die Geschichte, die Jason der kleinen Nora erzählte, als sie im Bett lag, muß ich doch wieder zusammenbringen. Sie hieß, glaube ich: Der liebe Gott und das kümmerliche Telephon, oder so ähnlich und fing an:
Prrrrr! machte das Telephon. Kruzitürken, sagte der liebe Gott und nahm den Hörer auf, was ist denn das schon wieder! Hat man denn keinen Augenblick Ruhe? — Du, Onkel Jason, sagte Pallu von gegenüber her, der liebe Gott flucht aber wüst. — Türken, versicherte Jason, wären Heiden und darum würden sie geflucht. Da hörte der liebe Gott ein kleines Mädchen ganz unten auf der Erde ins Telephon piepen: Hier ist das Knasterlein und hat so furchtbare Bauchschmerzen. (Das Knasterlein soll zu allem gut sein in Jasons sämtlichen Geschichten.) Ha, da hat sie Zwetschenkuchen gegessen, dachte der liebe Gott und sagte: Aber liebes Kind, du mußt doch nun nicht bei jeder Kleinigkeit ... Sprechen Sie noch? sagte das Fräulein am Amt. Pallu stellte sich auf den Kopf und sagte: Kruzitürken, die kommt ümmer dazwischen, ümmer. — Jawohl, Fräulein, ich spreche noch, sagte der liebe Gott, — ja, da hast du wohl zu viel Zwetschenkuchen gegessen? — Ja, sagte das Knasterlein. — Ist denn der Doktor schon dagewesen? — Och, lieber Gott, mein Papa ist doch selber Doktor! — Hier entspann sich, glaube ich, ein großer Streit zwischen Nora, ihrer Mutter und Jason wegen der ungenauen Kenntnis des lieben Gottes, wobei er sich, fürcht ich, damit ausredete, der liebe Gott habe das verwechselt. Also der Doktor war jedenfalls dagewesen, und der liebe Gott war sehr erstaunt, was Knasterlein denn nun noch von ihm wollte. Was zum Einschlafen, sagte es, es könnte doch nicht schlafen. Das wollen wir gleich haben, sagte der liebe Gott und murmelte: Abadra, kadrabra, maleborus, maleborus, widdewiddewitt fi—na—le! — Sprechen Sie noch? fragte das Amt. Scht! machte der liebe Gott und legte ganz leise den Hörer hin, worauf sich denn Knasterlein in Nora verwandelte, die sich mit tief ernstem Gehorsam umdrehte, die Decke bis an die Augen zog und nach einem großen Seufzer und unerschütterlich auf Jason gerichtetem Blick sich augenblicks einzuschlafen bemühte. — —
Wovon sprachen wir noch beim Essen? Richtig, Jason, — da er alle Menschen kennt, so kannte er auch Ägidi, von irgendeiner Universität her —, nein, zuerst war ja von Herzbruchs’ Zeitschrift die Rede, von der Sozialdemokratie und — ich weiß nicht mehr, wie das so kam, — jedenfalls äußerte Jason gleich eine Meinung, die dann zu einer ganzen Rede wurde. Die Sozialdemokratie, sagte er, hätte zwei Fehler, und der eine sei die mangelnde Schulbildung. Wenn ich zum Beispiel, fuhr er munter fort, einen Reichstagsbericht lese, was fällt mir auf? Ein großer Mangel an Lebensart, nicht etwa bei der Sozialdemokratie allein, nein, bei den Angehörigen sämtlicher Parteien ganz gleichmäßig. Nun aber ist die sozialdemokratische Partei die einzige, bei deren Vertretern dieser Mangel sich auf den genannten, nämlich die fehlende Schulbildung zurückschieben läßt, was denn jedenfalls fleißig von allen andern Seiten geübt wird, und hinwieder kann man den andern Parteien bei gutem Gewissen diesen Vorwurf nicht machen, da sie ja alle über eine ganz vortreffliche Schulbildung verfügen. Also, sagte er, die Sozialdemokraten hätten somit nichts Besseres und Eiligeres zu tun, als sich diese Schulbildung zu erwerben, womit sie ja gleichzeitig alle übrigen Parteien auch an Lebensart übertreffen müßten, oder das Gegenteil würde der eben aufgestellten und bewiesenen Behauptung vor den Kopf stoßen, daß eben in der mangelnden Schulbildung ... Hier legte ihm wohl Herzbruch die Hand auf den Arm und veranlaßte ihn wohlwollend, zu dem zweiten Mangel überzugehn. Ja, das sei nun wieder ein Überfluß, fing er frisch an, nämlich ein nicht hoch genug zu veranschlagender Überfluß an Sanftmut. Drei Mittel nämlich, erklärte er, hätte die Internationale an der Hand, um ihre Ziele durchzusetzen, ohne doch nur ein einziges zur Anwendung zu bringen, nämlich erstens das ein wenig veraltete des allgemeinen und gleichen Revolutionierens, mit Barrikaden, Kopfab und allen Schikanen, aber, was ihn angehe, so schalte bei seiner angeborenen Abneigung gegen alles Blutvergießen dieses Mittel für ihn aus. Das nächste sei der Generalstreik natürlich, wogegen er wenig mehr einzuwenden habe, als daß ihm das dritte Mittel besser gefalle, zudem auch dem angedeuteten sanftmütigen Charakter dieses Menschenschlages am meisten zu entsprechen scheine ... nämlich die passive Sabotage. —
Denkt euch, sagte er, einen nach dem andern von uns mit überredenden Blicken ins Auge fassend, denkt, welche Zeit anbrechen würde. Passive Sabotage ohne Generalstreik. Alle Arbeiter würden in der Arbeit bleiben, und vielleicht sogar ein wenig Überstunden machen. Alsbald würden sich die Erzeugnisse der Industrie und Waren aller Art in den Speichern, den Fabriken und Silos häufen, sie bis zum Rande füllen und überquellen, und die Lebensmittel würden zu erstaunlichen Preisen herabsteigen, ja womöglich verschenkt werden, und man könnte sich wohl denken, daß jemand, der ein Ei kaufen wolle, eine Dreschmaschine oder ein Karussell als Zugabe erhielte. Und nun aber, bei allgemeiner Einigkeit und Zufriedenheit, welche Stille in Stadt und Land! Vom festgesetzten Uhrenschlage an verließ kein Schiff die Rheede, kein Brief den Kasten, kein Telegramm den Drahtkorb des Beamten, kein Postwagen die Remise, kein Eisenbahnzug den Bahnhof. Auf den von Automobilen, Geschäftsrädern, Autobussen und Trambahnen herrlich leeren, breiten, befreiten Straßen ergösse sich eine festlich gekleidete Menge, von deren heiteren Antlitzen jede Spur des alten Hastens und Jagens miteins verschwunden sei. Fröhliche Scharen von Post- und Telegraphenbeamten mit ihren munteren, rotgestreiften Mützen veranstalteten singende Umzüge unter Entfaltung ihrer schön gestickten Innungsfahnen, und die Straßenkehrer hingen unter Absingung fröhlicher und patriotischer Lieder ihre Besen und Gummirechen an den Kreuzen längst erloschener Laternen auf. Was sei aber all dies gegen die wunderbare Stille draußen im ländlichen Land. Da wandre sichs leicht, die mitgenommenen Butterstullen in die letzte Zeitung eingeschlagen, auf der unverlierbaren Linie der mit sanftem Grase überwachsenen Bahndämme, wo die Wärter vor ihren Häuschen mit Frau und Tabakspfeife behaglich feierten, wo die Weichengestelle bald unter üppig wucherndem Ginster verschwanden, die Schlagbäume und Signalmaste schon vom weiten den munteren Wallern ihre bunten Fahnen von Hopfenranken und blühenden Glyzinien entgegenschwenkten, während zu beiden Seiten aller Straßen Eppich, Crimsonrosen, Bohnenblüte und rankende Winde aus den Telegraphenstangen und ihren Drähten farbige Triumphgirlanden, gleichsam über Nacht, geschaffen hätten; an den Straßen übrigens, auf den die wieder hervorgeholten schönen alten Planwagen, mit welchen die bäurische Bevölkerung die mühelosen Erzeugnisse ihres Bodens zur Stadt führten, um sie gegen geringes Entgelt einzutauschen, — auf ihnen erzähle nur selten die bereits überrankte und moosbewachsene Ruine eines Opel- oder Horchwagens vom bestraften Frevelmut seines Besitzers, der ohne Mechaniker eine verzweifelte Geschäftsreise zu unternehmen gewagt habe. Und schließlich, da inzwischen auch die Arbeit aus Überfluß an allen Dingen eingestellt sei, so hetze sich nunmehr niemand ab, als einzig an ihren Schreibtischen die nimmermüden Erfinder, emsig bemüht, Ideen zu entwickeln zur Ausnützung des Überflüssigen, also zum Beispiel ein Verfahren, aus schlecht gewordenem Schweinefleisch gut sitzende Anzüge zu verfertigen ...“
Mitternacht. Leichtfüßig erschreckte Renate der silberne Schlag der kleinen Uhr hinter ihr im stillen Zimmer. Sie wandte sich halb, warf einen Blick über ihre Schulter in die dämmrige Tiefe der Wände und verhaltenen Möbel und schrieb weiter:
„Ich mußte mich umsehn, die Stille gewahren in diesem sanften Raum, in diesem ganzen, schlafenden Hause. Ach, es tat wohl, einmal draußen, einmal weit weg gewesen zu sein, im immer wieder zauberhaften Menschenwald, wo auf den stillsten Lichtungen — große Spinnen in den Silberrädern ihrer Netze — die Geschicke weben, ach, zum Heil oder Unheil, ich wills nicht wissen, denn jedes, jedes, das weiß ich, ist besser als nichts. Aber weiß ich denn, ob nicht das meine schon längst über mir schwebt, mich zu umschlingen und zu binden, ob ich nicht längst schon ergriffen vielleicht, gehalten und — abgetan bin? Denn vom Himmel — wir wissen es doch — vom Himmel stürzt kein jählichster Blitz, der nicht in einem kleinen Korn auf Erden gesät und draus aufgegangen wäre, und der Schlag, der heute das Haupt trifft, zu ihm war ausgeholt, als noch unsre Mutter nicht von uns träumte.
Wacher und wacher sehe ich in die vergangenen Stunden zurück. Wieder um den runden Tisch sehe ich uns sitzen, enge beisammen in der Ecke am Kamin, sehe an der Hängelampe vorüber das tief und tiefere, seltsame Blau der Dämmerung draußen, die nur im Vorfrühling so leuchtet, sehe die bleichen Vorhänge sacht auffliegen und empfinde die leichten Atemstöße des hereingeneigten Windes. Unsre beleuchteten Gesichter kann ich sehn, das hübsche, schmale, blasse des Doktor Ägidi mit kleinem, kurzem und schwarzem Schnurrbart, das selten aufsieht zu dem unaufhaltsam plätschernden Jason; rechts von ihm das Doras, bräunlich, gerötet, mit starken Brauen und feurigem Auge, und Herzbruchs Hornbrille daneben, hinter der hervor er ab und an auf Irene oder sonst jemand einen unbestimmt und halb abwesenden Blick schießt, und sein massives Gelehrtengesicht kraust sich häufig und häufiger im verhohlenen Gähnen zusammen; und dort Irenens ganz rosiges Gesicht, und dort das schlanke, überaus ehrliche Georgs, der von Allen allein ganz bei der Sache scheint, lacht und auf Jason schaut, während die Augen aller Übrigen meist auf den Teller gesenkt sind. Herzbruch nur aus Müdigkeit, aber Alle waren sie froh über Jasons Phantasmagorien, und als er schwieg, lachten sie wohl ein wenig, waren aber dann sämtlich still. Auch mir fiel nicht gleich etwas ein, ich vergaß die Übrigen, glaubte wohl im weiten Lande draußen Fragmente von Jasons bunter Vision unterm Hauche des Abends dahingleiten und entleuchten zu sehn, und ich weiß nicht mehr, ob ich selber es war, die ihn nun fragte, er habe vorhin auch die Ziele der Sozialdemokratie erwähnt, ob er nicht auch davon eine ähnliche Rede halten möchte, aber er winkte ab. Nein, das will ich nicht, sagte er, ich habe so schon Ägidis Neigung verscherzt, freilich aus Mißverstand, da ich doch nicht seine Partei, sondern im Gegenteil die Anwesenden ganz sanft verspottet habe. — Wieso denn das? fragte Irene laut und verständnislos, aber er sagte erst nach einer Weile, und nachdem er eine ganze Sprotte gehäutet und zerlegt hatte, und mit einem fast kalten Ernst auf einmal: Taucht nur immer euer allabendliches Butterbrot in Tränenwasser vom Tartaros; es kommt einmal der Tag, wo die es euch nicht gedenken werden, die unter Brückenbogen der Themse schlafen, die in verfaulten Speichern ihre Kinder zur Welt bringen, die zwischen Betten der Liebeskrankheit aufwachsen, und die, Stück für Stück ihres ausgemergelten Leibes, zwischen den Zähnen der Maschine aufgezehrt werden. Nicht gedenken werden sie es euch, daß ihre Seele zersprang wie ein schlechter Topf, derweil ihr plaudertet von ihren Zielen. —
Irene fuhr rot, zornig und verlegen auf mit einem zerdrückten: Man kann doch reden ... Wir andern schwiegen, Herzbruch brummte zustimmend, und Dora und Ägidi — — sahen nach den Fenstern, als sähen sie sich an.
Es gebe ja aber andre Sachen in Hülle und Fülle, von denen zu reden wäre, fing Jason wieder an, und wie wäre es zum Beispiel mit einem Vortrag von Irene über den Vorzug des Einzelschlafzimmers vor dem gemeinsamen? Statt des Tellers, wie sie gern gemocht hätte, warf sie ihm nun ihre Serviette an den Kopf, sprang auf und stammelte, wir wären wohl fertig mit Essen. — —
Nun werde ich doch ein wenig müde. — Aber ich will nun nicht aufhören, ehe ich auch das Letzte von diesem Abend geschrieben habe, denn solange ich schreibe, glänzen mir seine Farben noch reich; dann wird es wieder für lange still und eintönig werden ...
Später war Jason auf einmal verschwunden, Herzbruch mit Ägidi im Rauchzimmer nebenan, um sich geschäftlich mit ihm zu besprechen, Dora hinunter zu ihrem Mann. Ich hatte am großen Vogelbauer der armen Esther das übergehängte Tuch gelüftet, um darunter zu schaun, und sah, wieder fortblickend, Irene unter den Blumenstöcken des breiten Fensters auf dem schwarzen Roßhaarsofa sitzen. In ihrem ausgebreiteten schwarzen Faltenrock, das heiße, rote Gesicht in die Hand gestützt, den Ellbogen auf dem Knie, sah sie wieder so fein und lieblich aus, daß ich zu ihr ging, ihr Gesicht in die Hände nahm und sagte: Du bist heut so unwirsch, Irene! Sie sah mich verloren an, streifte meine Hände weg, ihren Rock glatt und sagte endlich — es klang recht komisch bei ihrer Ernsthaftigkeit —: Es ist alles so symbolisch ... Ich antwortete nichts, dachte, sie würde schon von selber anfangen, und setzte mich in die Sofaecke. Richtig fing sie nach einer Weile an.
Am Nachmittag sei Ägidi gekommen. Eine halbe Stunde vorher, da sie selber gerade auf der Treppe gewesen sei, habe sie ihre Schwägerin aus der Stadt kommen hören und sei, um sie zu erschrecken, mit einem Schrei ins Zimmer gesprungen, Dora sei aber ganz ruhig geblieben, denn sie habe sie im Spiegel kommen sehn. — Das fand ich schon so symbolisch, — weißt du — ich sagte es auch Dora —. Man sollte immer solch einen Spiegel bei sich haben, — alles trifft einen immer so schrecklich unvorbereitet, — ja, ich dachte das nun mal, und eine Zeit später, als wir schon von ganz andern Sachen geredet hatten, sagte Dora, es sei viel tüchtiger, unvorbereitet und doch beschirmt zu sein, den Panzer zusammenzureißen im Augenblick, sagte sie, glaub ich. Ja, und nun — — gerade bevor du kamst — Ägidi war ja nun da — war ich so beim Herumschlendern im Garten halb die Treppe der kleinen Vorhalle hinaufgeraten, von wo man durchs Fenster in die große Halle sehn kann, und da sah ich die Beiden. Dora saß, und er auf der Lehne ihres Stuhls hielt ihre Hand, und so sprachen sie, und — nun jedenfalls: es war etwas in ihrer Haltung, das andere als — ja. Du weißt wohl gar nicht, — sie waren Freunde, sonst nichts, ich weiß es bestimmt von Dora, die nicht lügt, — sie haben sich kaum einmal im Leben gesehn, aber jahrelang in fast täglichen Briefen zusammen gelebt, und ob nun das Wiedersehn, — jedenfalls — — Irene brach hier ab, stand auf und sagte: Einen Augenblick, bevor wir Alle zum Essen hinaufgingen, war ich allein mit ihr. Ich hielts für aufrichtig, ihr zu sagen, daß ich sie gesehn hatte, und: Was war denn das? fragte ich. Sie schwieg eine ganze Weile, sagte dann sehr ernst: Ich glaube, — das war unvorbereitet. Sonst nichts, und das — genügt ja wohl auch. —
Wie sie nun im Zimmer stand, die Hände gefaltet, nachdenklich und so anmutig, war es wieder die alte Irene, die draußen am Zaun stand und meine Orgel hörte und symbolische Träume träumte. — Sie setzte sich dann zu mir und fing an, von ihrer Schwägerin zu erzählen, was sie von Otto Herzbruch gehört hatte, über ihre Verheiratung: daß niemand begriffen habe, warum das reiche, kräftige, schöne Mädchen den kränklichen, seltsamen, ein wenig kümmerlich scheinenden Mann genommen habe, was er nun freilich nicht sei, vielmehr erfülle ihn eine ganz unsägliche Güte, er sei der zarteste Arzt, und sicher beklagten es Viele, daß er sich an den Tuberkulosebetten seiner Kassenpraxis infiziert hatte. Doch durch mehrere Jahre hatte sie seine wiederholten Anträge abgelehnt, schließlich mußte sie wohl doch einmal heiraten, es war Zeit, das Mitleid mit ihm kam hinzu, und dann hatte sie ihn mit der Zeit gewiß sehr liebgewonnen.
Warum aber, fragte Irene nun, warum glaubst du, ist ihr Leben so angefüllt mit hundert guten, fleißigen, wertvollen Dingen, hundert Dingen, die sie für sich allein, an denen ihr Mann keinen Teil hat! — Irene nannte den Namen einer bekannten Arztfrau, die ihren Mann zuerst mit Handreichungen, bei Narkosen, bei Mandeloperationen der Kinder und dergleichen unterstützt, und die mit der Zeit so viel bei ihm gelernt habe, daß sie nun selber ihr Examen gemacht und eine Frauenpraxis ausübe. Keine Frau, sagte sie heftig, die Verstand hat und sich bemüht, braucht eine Beschäftigung außerm Hause zu suchen, und jeder Mann braucht und hat gern eine Hülfe, zumal an einer Frau, und zumal wenn sie klug ist ...
Ich sagte kein Wort, wartete stillschweigend, daß sie selber stutzen und sich sagen würde, wie sehr sie, anti domum, wie man wohl sagen kann, gesprochen hatte, aber siehe da, mein Herz Irene merkte nicht das geringste — ja, wie sehr befangen in sich selber muß sie sein! — sondern war zu Doras Kindern übergegangen, die in Wahrheit, trotz Volksspeisungen und Gesang und Frauenverein, ihr tiefes und einziges Glück seien. —
Nun fallen mir die Augen zu. Ein wenig später kam auch Dora, dann wurde Irene schläfrig, und ich fuhr heim. Ägidi nahm ich mit in die Stadt, doch sprachen wir nur über Literatur und dergleichen. Ein Zug in seinem Gesicht schien mir — nun was soll das? — — — —“
Die Augen schließend und wieder öffnend, nahm Renate in diesem Augenblick das kleine, auf seinem schmalen Halse wie eine zarte Blüte vorgestreckte Antlitz von weißem Gips, über ihr auf seinem Pfeiler im Winkel, wahr. Verzaubert, als sähe sie es zum ersten Mal, liebenden Auges, fast schmerzlich geöffneten Mundes, nahm sie, ohne hinzusehn, die Feder auf und schrieb, ohne hinzusehn, regellos über das Blatt, die Lippen bewegend, weit offnen Herzens:
„Da aber gehst du wiederum über mir auf, schönes, ewiges weißes Antlitz des Sonnenkönigs; da meines müde ruhen will, Ech-en-Aton, mein weiser Freund, zeigst du mir das deine, emporgewendet unermüdlich zu dem unermüdlichen Gestirn, das nur fortging zu fremden Völkern, nicht unterging, um zu ruhn. Deine Tempel und deine Stadt, die du zum Dienst der Sonne errichtest, sind lange, lange in ungestalteten Staub zerfallen, du aber lebst immer, immer! Unerschöpflich deine unsterbliche Seele glüht in unendlichen Verwandlungen, immer sehnsuchtsvoller nur, immer eifriger nur, der einen, unaufhörlichen Flamme des Himmels zu, die Ewigkeit kostet dein sehnsüchtig immer küssend gewölbter Mund, meine Augen hängen an ihm, von selber findet die Feder ihren Weg, dein Antlitz wandelt sich magisch in der tiefen Nacht, atmet nicht schon die samtige Haut, rötet sie sich nicht unter der Berührung der gelben Strahlen? Unbeweglich steht dein Auge, steht das Auge deiner Seele, ganz in Flammen, ganz in Inbrunst, durch Jahrtausend um Jahrtausend, unverrückbar, unverbrüchlich, selig, seliger, vor dem Ziel.“
Georg, geblendet, schwer schlaftrunken, riß die Augen auf und kniff sie heftig wieder zu. Große rote Flecken sausten heran, schwebten, hielten still, dazwischen flackerte brennend Grünes, grüne Blätter, Baumwipfel, und Himmelblaues. Er rieb die Augen, merkte, daß er in der Hängematte lag, die Lider fielen ihm schwer wieder zu, in allen Gliedern knackte, sauste und prickelte der jählings abgebrochene Schlaf, der verdampfte. Ringsum brodelte der Juni, und da, seltsam fern, mitten im Sommer, schönem Schatten, Baumstämmen und Sonnenlichtern und herein leuchtendem Himmelsblau stand Egon mit seinem schwarzen Haarwisch in der Stirn und lächelte. Georg gähnte wie ein Löwe und kaute hervor, wie spät es sei? Durch eine Wand von Schlaftrunkenheit hörte er Egons Stimme: Gleich fünf Uhr. Und Herr Bogner sei eben gekommen, und auch ein Telegramm. — Georg brachte die Augen nicht auf im Gähnen, streckte die Hand aus und dachte: Ach, Bogner, — richtig, er brachte das Bild, für Helene ... Er zerrte die Füße aus den Maschen der Hängematte, saß da, krümmte die Arme gewaltig, dann den Rücken, reckte und dehnte sich, daß es krachte. Schließlich hockte er im Netz, den Kopf schwer vornüber hangend, in dem es kribbelte und summte; die Schläfen brannten, die linke Wange war wie Feuer von Jucken, und er kratzte sich wütend; eine Mücke mußte ihn im Schlaf gestochen haben. Was träumte ich nur? dachte er. Das war ja sehr sonderbar! Ich ging mit Bogner im Walde, und auf einmal war noch jemand da, ein großer, blasser Fremder, mit dem Bogner eifrig sprach, und ich blieb zurück, es war dämmrig im Walde und sehr grün, und dann, — dann war da, glaub ich, Saint-Georges, den fragte ich: Wer ist denn das eigentlich? und er sagte erstaunt: Das wissen Sie nicht? Es ist doch Christus. — Ja, das war, weil Bogners Bild den Gang nach Emmaus darstellen soll. Und dann gingen wir weiter, und ich dachte, wenn wir jetzt aus dem Walde kommen, muß gleich links Helenenruh sein, aber Helenenruh kam nicht, sondern ein fremdes dunkles Tal, und Bogner und — der Andre entwichen schon fern drüben zwischen den Stämmen, und gleich rechts stieg Renate ganz einsam den steilen Hang hinauf. Aber als ich ganz froh und zitternd zu ihr kam, wandte sie das Gesicht her, und da war es — Helene, — ja, und sie hatte das seltsame Antlitz wie auf Bogners Bild ... Sonderbar, wie so alles durcheinanderging, Bogners Bild und Helenenruh, wohin ich — ach, bald — bald fahre, zu Renate, die dort ist ...
Immer noch sehr dumpf, und schwer imstande, die Augen ganz zu öffnen, brach er nun das Telegramm auf und las mühsam die Maschinenschrift von dem sonneflimmernden Blatt: Lieber Georg, Ihre Mutter ist eben sehr schwer erkrankt, Sie müssen sofort kommen und auf alles gefaßt sein. In Liebe Renate.
Gott im Himmel, Gott im Himmel, Gott im Himmel ... Das Blatt wurde blutrot vor Georgs Augen, die Schriftbänder verbogen sich und zerfielen. Braun und leuchtend stand da der Kiefernstamm, schwarzfleckig; hoch oben breiteten die grünbehangenen Äste sich ins flammende Blau. Schwer erkrankt ... auf alles gefaßt sein ... In Liebe ... Das hieß? In Liebe ... Tot, dachte er, tot, — — sie ist tot. In Liebe hätte sie nicht in ein Telegramm geschrieben, sondern es hieß: in Mitleid. Georg bewegte schwer im Mund die klebrige Zunge; die Augenwinkel schmerzten, langsam ward es um ihn klar, er stand auf und ging auf schwachen Füßen, wankend davon, auf das Haus zu. Da war die weiße Tür, Bogners Gesicht. Georg blieb stehn, schnob ein verächtliches Lachen durch die Nase und dachte unter furchtbar aufsteigender Angst: Das Bild, das Mutter zum Geburtstag haben ... Sein Kinn zitterte, im Halse würgt’ es, seine Augen wurden feucht, beizend. — Da stand er vor Bogner, streckte ihm wortlos das Telegramm hin, fiel auf einen Stuhl und schluchzte zwei, dreimal trocken und würgend.
Aber wenn sie doch noch lebte?! Besinnungslos sprang er auf, taumelte erst, denn es war alles rot umher, und vom Schreibtisch, den Fenstern, der Lampe gab es nur fliegende Bruchstücke. Dann entdeckte er den Telephonapparat, stürzte darauf zu, nahm den Hörer ans Ohr, hörte die weibliche Stimme, wußte im Augenblick die Nummer nicht, erhaschte sie dann, sagte heiser: Achtundneunzig — achtundneunzig bitte! und wartete. Eine schnarrende Stimme schrie ihn an: Hier Adlerwerke! — Nun stammelte er zusammen, er habe neulich schon ein Automobil gehabt, ob er wieder einen solchen Wagen ... oder besser einen schnelleren, einen Rennwagen, jedenfalls den schnellsten, der da wäre ... Dazwischen nannte er seinen Namen, hörte dann, daß ein Wagen geschickt würde, er bat noch um einen guten Fahrer und um Benzin für sieben, acht Stunden. —
Sieben, acht Stunden, dachte er stumpf, am Schreibtisch hockend. Ohne zu denken, öffnete er die Schieblade und nahm einen Plan auf Leinwand heraus. Da fahr ich wieder zu einem Toten, murmelte er hülflos. Wenn sie nur noch lebte, nur noch ... Auf ein Räuspern hinter seinem Rücken wandte er sich um und sah Bogner dasitzen, das Telegramm in der Hand, das er nun langsam zusammenlegte. Dann blickte er auf, sah ihn ruhig an und sagte:
„Sie können trotzdem mein Bild ansehn. Ich will es hereinholen.“
Er sah Bogner aufstehn, zur Tür und auf den Flur treten, wo an der Wand das Bild lehnte, mit einem Tuch verhangen, so hoch wie Bogners Schulter. Er trug es herein, löste die Tücher ab, — es hatte noch keinen Rahmen, — und lehnte es schräg gegen den Pfosten der Schlafzimmertür.
Georg schauderte leise. Da war Nacht, tiefes Dunkel, braun, grünlich, das herunterhing; ganz tief unten zur Linken war Helle und ganz kleine Gestalten. Die Höhe des Raumes schien ungeheuer, er stieg oben in die Nacht auf, undeutlich waren Pfeiler sichtbar, ganz fern, aber kein Gewölbe, nur Nacht und ein, zwei weißliche, gelbliche Flecken von Sternen. Unten links war eine Fensteröffnung, durch die breit ein Lichtstrom hereinschwoll und zerstäubte an einer stehenden Gestalt in der Mitte des Bildes, die einen Arm, vom Schreck betroffen, nach links von sich streckte. Unterm Fenster, im vollen Licht war ein Tisch gedeckt, dahinter, geduckt vor Schrecken, ein Mensch. Und links daneben, hochangelehnt, die Arme leicht ausgebreitet, die flachen Hände auf der Tischplatte, ganz golden von Licht, — der Christ.
Emmaus ... zog es fern durch Georgs Staunen. Oh diese ungeheure Nacht! Und Nachtstille und Geschehn. Das Göttliche blühte schweigend aus dem Lichtstrahl auf und sah sich um. In der Nacht draußen war die ganze Welt, Sterne, Raum, Ebene, Getier, das Meer, die Finsternis, in unendlicher Stille.
Von der Gartentür her sagte der Maler:
„Ich sah dies in einer Kirche in Venedig. Die Wölbungen waren nicht so hoch, es war dunkel, nur in einem fernen Seitenschiff ein Lichtschein. Als ich hinging, saßen dort ein paar Priester und spielten Karten. Das alles hat sich im Laufe der Jahre sehr verändert.“
Nach einer Weile hörte Georg des Malers Stimme wieder:
„Und als ich eines Tages zufällig Conrad Ferdinand Meyers Gedicht zu lesen bekam, ‚die tote Liebe‘ heißt es, glaube ich, Sie werden es kennen ...“ Georg hörte die Eingangsverse: Entgegen wandeln wir — Dem Dorf im Sonnenkuß — Fast wie das Jüngerpaar — Nach Emmaus ... Und den Schluß: Da ward die Weggesellin — Von uns erkannt — Da hat uns wie den Jüngern — Das Herz gebrannt ... und dazwischen die Stimme des Malers weiter: „Da traf mich dies einmal: Da hat uns wie den Jüngern — Das Herz gebrannt ... Denn — — es ist so, daß wir wie die Blinden daherwandern, und die Augen gehen uns auf, wenn es zu spät ist, immer hinterdrein, und — wir wissen es nie gut; wir wissen es immer nur besser.“
Da hat uns wie den Jüngern das Herz gebrannt ... Immer wieder schlugen die Worte an. Wir wissen es nie gut, — wir wissen es immer nur besser ... Und nun war Helene tot, die — Mutter tot, — Mutter, — nicht meine, dachte Georg ratlos und konnte nichts anfangen mit dem Gedanken. Gott sei Dank, sie hat es nie gewußt! mußte er aufatmen. Aber wenn sie doch noch lebte? — In Liebe Renate. Ach, aus diesem Grunde schrieb sie: in Liebe! Georg biß sich auf die Lippen, jagte den Gedanken davon und fragte sich: Warum hat Magda nicht telegraphiert? Warum hat sie nicht telephoniert? Weil sie mich neulich schon zu einem Toten rief. —
Und — ach du mein Gott — nun schon wieder fort von Cordelia! Sein Herz verbitterte sich! Ist man einmal glücklich, so kommt was dazwischen! Ja, dann muß ich alles verschieben, jetzt länger in Helenenruh bleiben und mit Renate, — aber wie kann ich es recht anfangen mit ihr, wenn Trauerzeit ist? Schöne Gedanken, mein Georg, schöne Gedanken! — Er biß sich auf die Lippen. —
Sieben Stunden dauerte die Fahrt wenigstens, — oh diese Ungewißheit! — Georg schwankte, ob er nicht in Helenenruh anrufen sollte, — oder in Trassenberg, aber bis die Verbindung hergestellt war, konnte eine Stunde vergehn. Nein, nein, lieber die Ungewißheit! — Er erhob sich und klingelte. Zu Egon, der alsbald eintrat, sagte er, er müsse gleich nach Helenenruh, er habe schon einen Wagen bestellt, seine Mutter ... Egon sollte mit den Koffern im nächsten Zuge fahren. —
Unterdes hatte Bogner die grüne Stoffhülle vom Boden aufgenommen. Georg trat auf ihn zu, faßte seine Hand und brachte heiser hervor, der Maler möchte das Bild dalassen, er wisse nicht, was er ihm dafür geben könne, — und da der Maler freundlich und abwesend lächelte, so lächelte auch Georg und meinte:
„Ich hoffe, Sie schenken es mir, — ich werde sehn, — ich finde schon, was ich Ihnen als Gegengeschenk — — wenn erst alles ...“
Der Maler nickte und sagte: „Ich weiß ja ...“
Georg blickte noch einmal auf das Bild. Ja, — Christus war tot und mußte wieder kommen, damit sie alle glaubten. Eine hielt ihn für den Gärtner, die andern gingen, sprachen, aßen mit ihm, — dann erkannten sie ihn, und — ihnen brannte das Herz. — Er fühlte sein Gesicht glühend, schüttelte sich frierend und wandte sich ab.
Minuten später stand er vor einem flachen grauen Wagen, mit Radreifen und Benzintanks beladen, und hörte zu, wie ein Mensch ihm dies und jenes erklärte. Dann saß er am Steuer, riß den Hebel an, der Wagen stieß von unten, brauste auf, rollte, er drehte das Steuer, der Wagen, gehorsam, wandte sich mit ihm um und rollte die weiße Straße hinab in den grünen Sommer. Bald lag schon das heftig durchkreuzte Getümmel der Stadt, Plätze, Lärm und Getöse, Menschen, Automobile und Pferde hinter ihm, vor ihm, schnurgerade, die Chaussee, zwei Baumreihen, in der Ferne zusammenschmelzend, unterm glühenden Himmel, und der Wagen schnurrte darüberhin, daß Georgs Körper und sein Herz erzitterten. Verschwommen kreisten die Flächen der Haide, braun, dann Moore, wieder Haide, die Straße senkte sich und stieg so schnell, daß es kaum zu sehn war, wundervoll ruhig tuckte der Motor im Innern, Georg sah in der Glasröhre neben seinem linken Fuß das schwärzliche Öl langsam tropfen und undeutlich den beweglichen Zeiger des Manometers; sein Gesicht kühlte sich wohlig im eisigen Wind, ihn packte die Lust, hinzustürmen über die sich drehende Erdkugel, schnarrend wie ein Uhrwerk. Automatisch, wenn ein Pferd, ein Wagen fern sichtbar wurde, sah er die Hand des Mechanikers nach unten greifen und den Auspuff schließen. In der Ferne dröhnte hin und wieder die eigene Hupe. Ehern, rein blau, feurig blieb das Gewölbe des Himmels. Gehöfte unter Eichen, beschnittene Hecken, Hoftore, Eggen, Dämmerblicke in Kuhställe, Geranien vor Fenstern, heranlaufende Kinder, mitflüchtende, endlich querüber jagende schneeweiße Gänse, flatternde Hühnerscharen, locker vorbeischwebende, riesige fahrende Heuberge, der fliegende blaue Schleier einer vermummten Frau in einem Automobil, das überholt wurde, — all das flackte und spritzte in Fetzen auf und herum, und verflüchtigte sich in Augenblicken immer wieder in den stabgraden weißen Strich der Chaussee, die niemals endete, im Endlosen immer wieder aufgebrochen wurde, soviel sie in der Ferne zusammenzulaufen schien. Als die Flächen umher sich abendlich beschatteten, überließ Georg das Steuer dem Mechaniker, setzte sich in den Wagen und schloß die Augen.
Er verfiel alsbald in einen unruhigen Halbschlaf. Der Mückenstich auf seiner Wange brannte und juckte wiederum, er rieb und kratzte ihn und träumte dazwischen, so leicht, daß er selber wußte, er träumte. Er träumte, daß er im Automobil fuhr und in Helenenruh ankam, aber es kam nicht ganz dazu, er wachte wieder auf, schlief wieder ein und fuhr wieder, gelangte auch nach Helenenruh, aber es war alles dunkel, kein Mensch zeigte sich, und das Haus war ein ungeheurer, niedriger Langbau, an dessen Fenstern zu ebener Erde er hinunterging; hinter einem von ihnen sah er Menschen in einem Zimmer, die ihm etwas Liegendes verdeckten, und er dachte: Sie wollen es mir nur verbergen ... Seine Wange juckte wieder, er war wach, scheuerte sich und sah, daß es dunkel war, und daß die Chausseebäume, von den Scheinwerfern weithin beleuchtet, vorauseilten, kalkbleiche Gestalten zu Hunderten; dann tauchten drei Radfahrer auf und glitten dicht an ihm vorbei, zuletzt eine Frau in roter Bluse, die halbumgedreht einem kleinen weißen Hunde etwas zuschrie, der kläffend gegen den Wagen ansprang.
Georg ging nun an einer langen Mauer hinunter, er wollte zum Begräbnis seiner Mutter, es war schon spät, und er konnte den Eingang zum Friedhof nicht finden, der hinter der Mauer lag. Auf einmal kamen dunkel gekleidete, ernste Leute von allen Seiten, die sonderbare Gegenstände, unenträtselbare, in den Händen hielten, und er dachte bei sich: es sind die Leid Tragenden. Dabei merkte er, daß er selber nichts hatte, er mußte seines zu Hause vergessen haben, suchte vergebens und mit großer Verzweiflung an sich, aber es war nicht zu finden, — es zu holen, war es viel zu spät, er war auch schon mitten unter den Leuten und hielt sich beschämt dicht hinter den vor ihm Gehenden, immer besorgt und beklommen, daß es gemerkt würde. Nun sah er aber, daß sie gar nicht Alle etwas hatten, — nein, es hatte überhaupt niemand etwas, er atmete auf und schalt sich, daß er sich eingebildet hatte, man müsse etwas haben, und indem verschwanden die Letzten durch ein kleines Mauerpförtchen. Als er dort anlangte, kam gerade Benno von der andern Seite, unbegreiflich gekleidet, und fragte ernst: Willst du auch zum Grabe? — Ganz erleichtert wußte Georg nun, daß nicht seine Mutter tot war, sondern Christus, aber das war schon lange her, und hier war sein Grab zu sehn, es war in Jerusalem. Als sie nun durch einen großen Garten gingen, wo unter weitstehenden, mächtigen Bäumen hohe, gelbe Narzissen, einzeln und in Gruppen, aus dem niedrigen Grase ragten, sagte er zu Benno: Sonderbar! so hatte ich mir Palästina gar nicht vorgestellt. — Ja, so ist es in Okrodia, sagte Benno, und Georg verstand nun alles, nur war es jetzt nicht Benno, mit dem er ging, sondern einer der beiden Jünger von Emmaus, und er selber war der andre. — Nun war da vom weiten ein Gebüsch zu sehn, große, dichte Hügel von blühendem Rhododendron, rot und auch etwas weiß, und daneben kniete Maria Magdalena, Menschen in langen Kleidern standen um sie herum, auch andre in Gruppen anderwärts, und durch diese hindurch sah Georg die Tür des Grabes an einer Felswand offen, und Benno sagte: Das Begräbnis ist doch schon vorüber, wir können aber hineinsehn. — Georg geriet im Weitergehn an eine Gruppe von Menschen, die sich unterhielten, er dachte: sie beratschlagen wegen Pilatus, aber als er zuhören wollte, sprachen sie gar nicht, sondern standen bloß da, und keiner sah ihn an, er stand bei ihnen und schwieg und dachte: Das dauert ja endlos ... Zwischen den Beinen der Leute wurde Maria sichtbar, es war Cordelia, sie kniete und suchte auf der Erde, weinte heftig und sagte: sie haben ihn fortgetragen ... Ja, weiß sie denn nicht, daß er auferstanden ist? dachte Georg verwundert und wollte es ihr sagen, aber nun war er am Grabe und sah hinein. Stufen führten hinunter, ein großer, fremder Mann lehnte halb sitzend unten an einem Tisch, vor ihm stand Bogner und sprach unaufhörlich, und der Fremde war Josef von Montfort. Georg dachte enttäuscht: so habe ich es mir nicht vorgestellt! und ging an der andern Seite zur Tür hinaus, wo er Magda und Renate ganz eilig in ein kleines, dunkles Tal hinuntergehn sah; er folgte ihnen, indem er dachte: Sie wissen den Weg ja gar nicht, nach Emmaus geht es doch auf der andern Seite! aber er konnte sie nicht einholen, da seine Knie sich nicht bewegen ließen, er blieb immer auf der selben Stelle, stöhnte und ächzte verzweifelt, konnte endlich die Füße einen um den andern sehr langsam vorbringen, aber nun waren die Beiden verschwunden, ihm war sehr beklommen, daß er sie hatte falsch gehen lassen, er bewegte sich mit qualvoller Anstrengung weiter, wußte, daß er viel zu spät kommen würde, sah aber nun ein helles Licht aus der Ferne nahn, einen Menschen, der einen strahlenden Silberkelch vor sich trug. Das Gesicht war das seines Vaters, aber der Mensch war sein Vater nicht, es war Christus, und Georg brach in Tränen aus vor unsäglichem Glück, daß er ihm hier entgegenkam, er legte den Kopf an jene Brust und weinte endlos lange, in namenloser Wonne, zu weinen.
Als Georg erwachte, war ihm die ganze Brust noch so voll von Tränen und Schmerzensglück, daß er die Trockenheit seiner Augen nicht begriff. Es war Nacht, der Fahrtwind umsauste kalt sein Gesicht, im mächtigen Licht der Scheinwerfer bog sich die Doppelreihe schimmernder Stämme vor ihm auseinander und gleichfalls die Doppelreihe von hohen und aufrechten, kalkweißen Steinen, ähnlich Leichensteinen, die zwischen den Bäumen am Grabenrand standen; dahinter war die erst dämmrige, dann dunkle Grotte der Wipfel, auf die der Wagen zuschoß, ohne sie je zu erreichen.
Georg suchte nach seinem Traum, aber es zerstob alles vor ihm, nur das sonderbare Wort, das Benno gesagt hatte, schwebte noch eine Weile vor ihm, hieß aber dann richtig Arkadien, worauf ihm einfiel, daß sein Korpsbruder Schwalbe ihm einmal die Birken seiner Heimat so beschrieben hatte. Seltsam, daß auch Montfort, dieser Träumedeuter, hineingeraten war ... Und so blieb ihm schließlich nur sein Weinen unvergeßlich. Ach, dachte er, wo gäbe es eine Brust, an der sich so weinen ließe! — Renates gedachte er, nun würde er sie sehn, aber wie war alles anders! Er würde wohl für eine Weile mit seinem Vater nach Trassenberg gehn müssen, wenn der nicht etwa in Helenenruh blieb, aber seine Mutter würde doch jedenfalls in Trassenberg beigesetzt. — Da merkte er, wohin seine Gedanken voraufgeeilt waren, schalt sich erbittert, der Vers fiel ihm ein: Da hat uns wie den Jüngern das Herz gebrannt ... aber das seine brannte nicht, ihm war kalt vom Winde und heftiger Erregung vor dem Kommenden. Frierend zog er seinen Mantel an, hockte vorgebeugt und trieb innerlich mit wilder Ungeduld Fahrer und Motor an, schalt halblaut, wenn immer wieder gebremst wurde, da ein Dorf durchkreuzt werden oder der Fahrer eine Wegtafel lesen mußte. Gottseidank! er erhaschte von einem Wegweiser das Wort Böhne und die Buchstaben km, aber die Zahl entging ihm. Nun wartete er in immer kälterer Erregtheit, endlich tauchten die ersten Häuser von Böhne auf; der Wagen rauschte laut und langsam durch dunkle Straßen mit wenig Laternen, an erleuchteten, großen und gardinenverhangenen Scheiben der Restaurants vorüber, über den schräg ansteigenden Marktplatz, wo innerhalb der Lorbeerbäume und Efeuhecken in Kästen vor dem erleuchteten Ratskeller noch Menschen saßen, dann in enge Gassen hinein, um eine Ecke, wo Georg durch eine offene Tür mit geriffelten Gläsern über drei Stufen die Ecke eines Holztisches sah, einen Kutscher in blauem Fuhrhemd vor der Theke, dahinter die blanken Messingkrahnen und unter einem bunten Öldruck der Kaiserin den Wirt, ein rotes Gesicht, der von drei Gläsern mit hellem Bier mit einem kleinen Brett den Schaum niederstreifte. Nun über die Brücke, das Wasser war von schwarzen Bäumen und Zweigen verhangen, der Wagen warf sich hin und her auf dem Kopfsteinpflaster der Gartenstraße, wo in der Tiefe der Gärten, hinter Bäumen und Gebüschen die weißen Landhäuser schliefen, und nun endlos die Eisenbahnstraße neben dem Plankenzaun hinunter; eine Rangiermaschine schnaufte roten Funkenregen, da flog der gelbe, häßliche Bahnhof mit erleuchtetem Zifferblatt links vorbei, sie waren auf der Landstraße, der Wagen ruckte an und schoß davon wieder in die Nacht, zwischen den Stämmen der schwertragenden Apfelbäume auf die dunkle Laubgrotte der Ferne zu.
Noch fünf Minuten, sagte Georg. Eigentlich mußte es eine schöne Fahrt sein durch die Nacht, aber er empfand es nicht, saß eiskalt und zitternd, die Uhr, deren Zeiger er nicht sehn konnte, in der Hand, an der Aufziehkurbel drehend, ganz heiß war die Uhr. Plötzlich tauchten Rampe und Fensterreihen und der vorderste weiße Turm von Helenenruh aus der Nacht, hell sichtbar im Scheinwerferlicht, es ging die Rampe empor, der Wagen stand vor dem erleuchteten Portal, aus dem ein Diener eilte, der den Schlag aufriß, und Georg sah Magda im Innern über der Stufenreihe, blaß und viel verweinter, als nach dem Tode ihres Vaters. Sie kam herunter, Georg verwickelte sich mit den Füßen im Aussteigen in die Reisedecke, strauchelte und fiel Magda in die Arme; er atmete den wohlbekannten Duft ihres Haares, als sie die Stirn an seine Schulter drückte, stammelnd unter heftigem Schluchzen: „Alle — — Alle — gehn fort! Esther, — und Papa, und nun —“
Also tot ... tot ...
Ja, es war furchtbar für sie, furchtbar ... Georg streichelte ihren Rücken, sie machte sich los, trocknete ihr Gesicht, nahm seine Hand und führte ihn über die Treppen in den Klaviersaal, wo ihm Renate entgegenkam, schwarz gekleidet und mit verweinten Augen. Er warf den hellen Mantel ab und ging in seiner kalten, schrecklichen Beklemmung durch all die hellerleuchteten, fremd anmutenden Zimmer, voll steifer Möbel und großer, reicher Schränke mit Schnitzwerk oder Einlegearbeit, bis zum Zimmer seiner Mutter. In der Tür blieb er stehn.
Es roch stark nach Rosen. Der große und hohe Raum war mit Nacht gefüllt, in der Tiefe brannten zwei silberne Armleuchter mit vielen, rötlich strahlenden Kerzen; unter ihnen war ein weißes Lager, davor Rücken und Hinterkopf von Georgs Vater, der gebückt saß. Im Schatten hinter den Lichtern sah Georg die runden Wipfel von Lorbeerbäumen. Zu seiner Rechten sah er an einem, vor langer Zeit einmal erblickten, dunklen Empireschreibtisch unten die vergoldeten Löwenfüße schimmern, aus denen die Säulen wuchsen, dann auch das Gold an Eckenbeschlägen und den Knäufen kleiner Schiebladen; rötlich glänzte die Politur. — Georg stand furchtsam, hülflos, traurig und gelähmt. Endlich zwang er sich vorwärts zu gehn.
Sein Vater bewegte sich nicht. Georg blieb hinter ihm stehn, — es ist ja nicht meine Mutter, dachte er verstört und sah über einer goldenen Decke zwei steife, gelbliche Hände mit den Fingerspitzen gegeneinander gelegt; darunter kam ein Lilienkelch hervor. Dann steifes Leinen und Spitzen, eine Halskrause, und nun ein Gesicht, ganz klein, gelblich mit sehr hagrer und gebogner Nase, — mein Gott, wer ist das? — fragte Georg sich tief erschreckt und gewahrte nun die große, dunkle Locke, die unter der Ohrmuschel hervorquellend vorn auf den Spitzen am Halse lag, und sie erinnerte ihn an seine Mutter. Aber das Haar war in der Mitte gescheitelt, — nein, es war ein ganz fremdes Gesicht! und wie war dieser Mundwinkel seltsam gebogen! wie — hülflos ...
Georg sah und konnte es nicht verstehn. Es ist, sagte er sich, es ist — ja, — es ist ein Gebilde, was ist es nur? Es lebt ja nicht, Gott, es ist ein Mensch, aber sie lebt ja nicht! Es kann sich nicht bewegen, und wie gelb es ist, — es ist ja gar nicht wie — wie von Natur, es ist — — erstarrt, aber — — das giebt es doch nicht ... Ein Leichnam ... dachte er schwer und fühlte sich fast erleichtert, da die Tote nichts wahrnehmen konnte. Oh Gott, dachte er zerknirscht, dies ist ja nur zum Begraben, was soll man damit, wo ist denn die Seele? —
„Vater —“ sagte er leise.
Der Herzog bewegte sich, nahm das Gesicht aus den Händen und wandte es. Undeutlich sah Georg die vom Licht abgekehrten Züge, Augen, einen starrenden Bart und darüber, vom Licht durchsickert, das zerrüttete Haar. Eine Hand ergriff seine Linke und preßte sie schmerzhaft, dann stand er dicht vor der Toten, hörte eine rauhe Kehle etwas hervorstoßen und sich räuspern, dann die Worte: „Wohl ist ihr — — wohl — — und —“
Es brach ab; Georg sah, wie sein Vater den Kopf in die Hände stieß und sich schüttelte und so maßlos schluchzte, daß ihm selber die Tränen in die Augen stiegen, und er legte zaghaft eine Hand auf die Schulter unter ihm.
Wie sie Alle weinen, dachte er bekümmert und fremd. — Ach, sie weinten über das, was sie verloren hatten, — ja, freilich, — ich habe nichts verloren, dachte er bitter und vorwurfsvoll gegen sich selber. — Irgend etwas ward ihm plötzlich zuviel, er drehte sich um und ging leise wieder hinaus.
Im Klaviersaal fand er Renate und Magda am Harmonium. Renate saß, Magda lehnte müde, halb sitzend am Deckel. Sie sahen sich schweigend an, dann fragte Renate etwas leise, das er nicht verstand. Unfähig gegenzufragen, sagte er:
„Gestern“, sagte Renate, zu Magda aufsehend, „ging es ihr so viel besser, nicht wahr? sie sagte noch, sie fühlte sich ordentlich jung. Den ganzen Nachmittag und Abend war sie mit uns zusammen. Heut morgen kam sie auf einmal zum Frühstück herein, — ich sehe sie noch, in ihrem gelblichen Morgenkleid, ich stand am Fenster, du warst noch nicht im Zimmer. Dann — dann frühstückten wir zudritt, und auf einmal — sah sie uns groß an und sagte — ihr würde so sonderbar ...“ Renate schwieg. Ganz leise sagte sie dann: „Plötzlich — — plötzlich sagte sie: Ich glaube, ich —, senkte den Kopf und legte die Stirn auf den Tisch. Und dann — — dann fiel der eine Arm herunter.“
Renate schluchzte plötzlich auf und stammelte, das Gesicht im Taschentuch.
Georg hätte gern den Arm um sie gelegt, verbot es sich heftig und dachte: Darüber weint sie nun? Seltsam, worüber Frauen weinen.
Er ging wieder durch die Zimmer zurück zu seinem Vater und fragte ihn leise, ob er sich nicht niederlegen wolle, er selber würde wach bleiben die Nacht. — Eine Zeitlang blieb sein Vater unbeweglich, erhob sich dann, Georg reichte ihm seine Stöcke und fühlte sich plötzlich von ihm an die Brust gerissen und heftig geküßt. — Nun hat er nur noch mich, dachte er beschämt und angstvoll. — Er sah seinen Vater hinaushumpeln, stand noch eine Weile, ging dann durch die Zimmer zum Klaviersaal, löschte dort und zurückkehrend überall das Licht und setzte sich auf den Stuhl neben die Tote; aber bald schon stand er behutsam auf, fühlte Müdigkeit und ging zum Schreibtisch seiner Mutter. Im Stehen zog er diese und jene kleine Lade auf, sah Briefbündel darin, ein Medaillon, kleine Stöße alter Photographien, und öffnete endlich die breite Schieblade unter der Platte. Sie war unordentlich gefüllt mit hineingeschobenen Briefen, mit und ohne Umschlag, zusammengefalteten und ausgebreiteten Blättern. Obenauf lag eine Mappe, mit einem alten Brokatstoff überzogen. Georg nahm sie heraus, die Bänder hingen offen, er schlug die Deckel auseinander und sah, daß es die Verse waren, die er seiner Mutter zu Weihnachten abgeschrieben hatte, mehrere große Bogen ineinander. Auf der Titelseite stand in gemalter Lateinschrift der alte Sonnenuhrspruch: Vulnerant omnes, ultima necat. — Alle verwunden, die letzte tötet. Georg übersetzte es sich, an den Anfang eines Gedichts erinnert, das er nach dem Uhrspruch gemacht hatte. — Darunter stand: einige Gedichte für meine Mutter zu Weihnachten von Georg. —
Er setzte sich nun traurigen Herzens und dachte, die Gedichte zu lesen, warf einen Blick, halb andächtig, halb bittend auf die Tote zurück und las das erste Gedicht:
Jetzt bin ich jung, und es läßt mir der sanftere Abend
Oft die Beruhigung schmeichelnder Lieder zurück.
Sonst die Gedanken in alternder Schwermut begrabend,
Find ich in ihnen ein seltsam befremdendes Glück.
Werde ich alt sein, so möcht ich das Wunder am Morgen
Gerne erfahren, wenn Rosen das Zwielicht durchsprühn.
Daß mir doch einmal aus Feldern der kindlichen Sorgen
Lächelnd durch Tränen die Blumen der Freude erblühn.
Er sah noch eine Weile auf die stark geschwungenen, sehr ornamental gezogenen Buchstabenreihen und wagte nicht recht, eine Meinung von dem Gedicht zu haben, da er es gleichsam wie ein Totenopfer las. Er schlug die Seite um, — da sah er auf der, von ihm leer gelassenen Rückseite des Blattes Schriftzeilen von der Hand seiner Mutter, ein Gedicht, und es war dasselbe, das er eben gelesen hatte. Er schlug die nächste Seite um und hatte denselben Anblick, nur daß dort: Elegie stand, die Überschrift des zweiten Gedichts, und so fort durch die Blätter bis ans Ende, alle die Gedichte hatte sie sich abgeschrieben, sie hatte ja zuweilen über die Schwierigkeit geklagt, seine Handschrift zu lesen, — jetzt krampfte Georgs Herz sich zusammen, er dachte noch, welche Mühe das Abschreiben sie gekostet hatte, — sie, die überhaupt nur eine Stunde am Tage zu solcher Arbeit fähig war — denn sie hatte die Abschrift immer auf die Rückseite des Gedichts geschrieben, hatte also fortwährend hin und her blättern müssen ... Georg fühlte seine Kehle zugeschnürt, es jagte ihm glühendheiß in die Augen, — so hat sie mich geliebt! dachte er noch, schlug die Hände vor das Gesicht, und im Bemühen, nicht laut zu sein vor der Toten, erstickte er fast vor Schluchzen in seinen Händen, rang mit sich, warf Kopf und Arme über die Schreibtischplatte, schluchzte laut, stand auf, wankte blindlings zu der Toten hin und fiel bei ihr nieder, stammelte, verbrennend in Scham: „Vergieb mir, o vergieb mir doch, Mutter, daß ich so schlecht —“ und fand kein Ende mit Weinen, immer wieder von innen sich mit Anklagen und Vorstellungen ihrer Liebe, ihrer Einsamkeit, ihrer unsäglichen Verlassenheit und Armut emporstoßend, bis er erschöpft, heiß überströmt und aufgelöst in Schmerz sich im Stuhl wieder fand, am Schreibtisch, und begann weiter zu lesen. Er las die Schrift seiner Mutter, zuerst die Elegie und in ihr zuerst die mit Bleistift unterstrichenen Worte: Heiliges Kindheitsland, wo bist du? — und tiefer die ebenfalls unterstrichenen:
Aber es ist uns gegeben kein Raum uns zu ruhn, als zu Füßen
Hinzubetten uns dort, wohin wir abends gelangt ...
— die ihn wieder zittern machten vor Mitleid, da sie ihm wie für sie geschrieben schienen. — Einige Zeilen unterhalb dieser Worte hatte sie eines nicht lesen können und eine Lücke gelassen; ‚sicher‘ mußte es heißen; er wäre fast wieder in Tränen ausgebrochen bei dem Gedanken, daß sie immer eine Lücke hatte lesen müssen ... Dann sammelte er sich und las:
Einer vergänglichen Welt entsproßt und seit alters leibeigen,
Seh ich entgleiten die Zeit, Sand in verrieselnden Sand.
Was ich empfange als Gold in die mühsamen Hände, es rinnt als
Staub, unfruchtbarer Staub auf den entfliehenden Weg.
Vor mir leuchtet der Pfad und erreichbar himmlische Landschaft,
Städte und Wälder, der Strom, Berge zum Äther getürmt,
Berge, beladen mit Wolken gleich Ballen voll göttlicher Schätze,
Hinter mir dämmert aus Nacht trostlos zerfallende Welt.
Finster im Zwielicht der Sterne, der ruhigen, kühlen, erheben
Sich die Ruinen, einsam, Mauern, ein Baum oder Turm.
Heiliges Kindheitsland, wo bist du? — ach, und mich fröstelt!
Stets auf der Wandrung, wie gern möchte zurück man, das Haupt
In dem Vergangenen ruhn, in bekannte, erleuchtete Räume
Treten, wo Wand auch und Bild grüßt und ist freundlich gesinnt.
Wo vor dem Schlafengehn man sicher sich fühlt und erleichtert
Nickt zu den Sternen hinauf, gütiger Müdigkeit froh.
Aber es ist uns gegeben kein Raum uns zu ruhn, als zu Füßen
Hinzubetten uns dort, wohin wir abends gelangt.
Ja, auch das Fremde ist gut; das Weib auf eigener Schwelle
Schenkt von dem Überfluß liebreicher Mienen auch uns.
Freundliches Wort gedeiht ja auf Erden, — die Züge auch Fremder
Scheinen nicht achtlos, und nur innen ist jeder für sich.
Innen tönt immer die Mühle, die eherne, welche die Körner
Mahlt der stürzenden Zeit: Immer gefüllt von dem Schwall,
Stehen wir tönend und rauschend im Ewigen, mahlende Mühlen,
Schwarz auf den dämmrigen Kreis der Horizonte gestellt.
An Lornsens Mühle dachte ich dabei, erinnerte Georg sich dumpf und drehte langsam das Blatt um. ‚Klage‘ las er; in diesem Gedicht war nichts angestrichen.
Wir sind heimatlos, wie sind heimatlos,
Unsre Welt ist viel zu groß.
Unsere Lampen brennen viel zu grell,
Alle Wege enden schnell.
Dunkel schäumt in uns das Blut und läuft,
Sehnsucht, die nach innen träuft,
Hebt mit Geisterhänden aus der Bucht
Schwer empor des Lebens Frucht.
Oft — verfinstert sich ein Nachmittag —
Harren wir gewitterzag,
Schwüle drückt an unsrer Stirnen Rand,
Heiß und hastig seufzt das Land.
Doch, hier waren zwei kleine Striche seitwärts neben ‚Rand‘. Seine Mutter hatte das Gedicht zuweit rechts angefangen, nun kam sie mit dem Raum nicht aus, — Georg betrachtete wehmütig ihre ein wenig englisch aussehende, sehr vorwärts flüchtende Schrift, mit langen, darüber fliegenden t-Balken, d-Haken und u-Strichen, die sehr weit und flach hingezogenen Verbindungsstriche zwischen den kleinen Buchstaben, die dem Ganzen einen Schein von straffer Flüchtigkeit gaben, und diese Art, die letzten Worte der Zeile, wenn der Raum nicht reichte, umzubiegen nach unten, so daß in diesem Gedicht fast alle Zeilen wie mit Haken am Seitenrand festgekrallt hingen. — Nun las er weiter:
Doch es wird nur Nacht und tot und dicht,
Fortgezogner Wetter Licht
Zeigt die Flur, ein bleiches Nachtgesicht,
Das umdunkelt und verweint
Fremd wie eine ferne Heimat scheint.
Neben den ersten beiden Strophen des folgenden Gedichts waren starke und lange Bleistiftstriche; Georg las:
O schwarzer Himmel in mir! und giebt es nichts
Denn, nichts, zu schmelzen mich? keine funkelnden
Azure glühender Sommer? und die
Bäume und Quellen und Vogelstimmen
Sind ganz umsonst? nur tiefer im feurigen
Gewoge voller Strahlen bewahrst du die
Furchtbare Starrheit und die Schwere
Schwärzer und drohender mir im Herzen ...
— und erschrak, so sehr brannte sich jedes Wort, als sei es für sie geschrieben, in sein Herz, aber er hatte an sie nicht gedacht, nicht einmal, als er dies abschrieb für sie, hatte den Gram seiner so leichten Seele dahingesungen, und sie fühlte, ja, sie fühlte den schwarzen Schmerz im eigenen Kopf und die Blindheit und — — Verzweifelt und mit umdunkelten Augen las Georg weiter, fast aufschreiend, als er eine zitternde Linie, voraufeilend mit dem Blick unter den Worten: gekühlten Windes Balsam — fand:
O Gott der süßen Früchte und Amselschlags,
Der sanften Regen träufelt und schmelzenden,
Gekühlten Windes Balsam schüttet
In die geduldigen Völker der Ähren:
O senke einen kühlenden Strahl, nur ein
Aufküssend Säuseln über mein Heimatland.
Und tausend Ernten duften, tausend
Lerchen entschwirren, geblähten, feuchten
Georg eilte hastig zur nächsten Seite, oh es war grausam, hier fand er die Worte unterstrichen: der Kranke seufzt, und seiner Stirn Gewicht drückt ihn zurück, — zu meiner Strafe! knirschte er sich an und las:
Aus dumpfen Wolken taucht der trübe Mond
Wie eines Kranken Antlitz aus den Kissen,
Die er schon viele Jahre lang gewohnt,
Mit müdem Blick, der nur begehrt zu wissen,
Ob noch im Nachbarhaus der Kranke wohnt,
Der näher schon als er den Finsternissen,
Daß ihn sein Anblick tröstet und belohnt.
Im Hause drüben glimmt herauf ein Licht,
Das wie mit Fingern, fahlen, leichenblassen,
Zitternd durch dunkle Fensterscheiben bricht.
Der Kranke seufzt, und seiner Stirn Gewicht
Drückt ihn zurück. Er seufzt und weiß es nicht,
Daß dort der Schimmer in der Nacht der Gassen
Nur Widerschein vom eigenen Gesicht.
Angstvoll schlug Georg die letzte Seite um. Nur noch ein Gedicht, — nein, hier war nichts unterstrichen, und er las, immer noch argwöhnisch:
Aus dem Haus der Freude ausgeschlossen
Jag ich mit den beiden schwarzen Rossen
Durch die finster schweigenden Alleen
Tief hinunter, wo kein Ende dämmert.
Auf den beiden nassen Rossensrücken
Stehend wie auf schwanken Nachenbrücken,
Hör ich ihren Atem schnaufend gehn
Und den Hufschlag, welcher dröhnt und hämmert.
Niemals kommt ein Ruf aus meinem Munde,
Bleich und stumm und traurig ist die Stunde,
Wo kein Stern und keine Lampe flämmert,
Nur die Ebnen seh ich, die sich drehn.
Plötzlich stehn sie keuchend still und zittern,
Und statt ihrer rauscht der nächtige Regen.
Einem Morgenrot, das sie nur wittern,
Schreien ihre Häupter dumpf entgegen.
Georg starrte auf die letzten Zeilen. Freilich —, etwas, das sie damals auf sich passend finden konnte, stand nicht darin, aber wie hörte er den dumpfen Schrei in dieser Nacht, aus der ganzen langen Lebensnacht seiner Mutter! — — Aber da standen ja noch Gedichtzeilen mit Bleistift auf einem Blatt, das unter die langen Heftfäden geschoben war, mit denen der Stoff des Umschlags innen zusammengehalten war, eine rohe und hülflose Arbeit, die sie selbst gemacht zu haben schien. Georg zog das Blatt hervor, es waren auch Verse, er las:
Ja, so sprach sie von sich, so sprach sie ...
Doch weiß er wohl,
Wie’s um mich steht!
Er giebt mirs zart,
Macht zu —
Vor Georgs Augen verschwamm alles, es würgte ihn im Halse, er ließ das Buch fallen, sagte stumpf das letzte Wort der Zeile „— und geht“, stand auf und ging durch die finstern Zimmer hinaus, trat an ein Fenster im dämmerhellen Klaviersaal, sah die Mondsichel glimmend und undeutlich über den Parkbäumen, glitt langsam auf die Erde nieder, schlug die Stirn gegen die Wand und stöhnte: Emmaus! — Er lag stundenlang am Boden bis zum Morgengrauen, aufbrennend in entsetzlicher Scham, in Verzweiflung, in Ohnmacht, bis er todmüde wurde, sich erhob, in das Sterbezimmer ging und, ohne einen Blick auf die lächelnde Tote zu wagen, sich auf ein Ruhebett ausstreckte und entschlief.
Georg, als wäre brennendes Feuer hinter ihm, jagte aus Helenenruh zurück, wie er hingekommen. Langausgestreckt im Fahrsitz, das Steuerrad auf der Brust, die verengten Augen hinter den Brillengläsern stur gradaus gerichtet, vor sich her einschlingend das stabgerade oder eifrig sich windende Band der weißen Straße, konnte er doch keine Minute lang in dieser Lage aushalten, mußte sich aufsetzen, die Füße heranziehn, sie wieder von sich strecken, wieder liegen, — lag und ächzte leise vor sich hin, den Chauffeur neben sich vergessend, auf unerträgliche Weise gefoltert von dem einen Wort Renate, das in ihm herumrannte wie eine Quecksilberkugel im Spielzeug.
„Oh lieber sterben, lieber sterben, als noch einen Tag, eine Stunde länger den Wahnsinn ihrer Gegenwart ertragen! Was das ist mit meinem Blut, weiß ich nicht, aber es muß wohl vergiftet sein, oder habe ich sie nicht vor einem Jahr fast täglich gesehn und sie ertragen? War ich blind damals? Geblendet von Esther? Warum ists denn jetzt, als wäre sie eine lohe Fackel von Wollust und Würde — oh satanisches Gemisch! — und ich griffe beständig hinein und brennte? Renate, ah — oh Renate! — In ihrem weißen Kleid, die lange schwarze Kette um den Hals, aber an Hals und Wangen, den schon bräunlich sich dunkelnden, in den blauen Lebensfeuern ihrer Augen, in dem unsterblichen Haar von zaubrischem Braun, in ihrer ganzen, von Süße, von Anmut, von Seligkeit, von hundertfach ausschmelzendem Dasein leuchtenden Gestalt — nichts von Trauer, — so war sie überall, erscheinend, im Grün der Wiesen, im Dämmergrün des Parks, als doppele Phryne gespiegelt im Teich, auf der Terrasse, im Saal, bei Tafel, gegenüber zum — oh zum Sterben, zum Sterben! — Und dazu Magda, blaß, schwarz, ganz Jammer und Stille, und dazu Tod und Begräbnis und die Erinnerung an die Stunde der Scham, die Nacht und die hülflose Tote mit dem verzogenen Mundwinkel, jener Stelle, wo alles, was ohnmächtig, verzweifelt und ratlos in ihr gewesen sein mochte, entwichen war und seine Spur hinterlassen hatte ... Es war mehr, als ein Mensch ertragen kann.
Cordelia, süße, gute, nun hilf mir du, ja, nun mußt du helfen! Ich verspreche dir, an keine andere will ich denken bei deinem Leib, — oh verdammt will ich sein, wenn ichs tu! — Sein Fleisch zuckte wütend nach Umarmung. Das runde, bleiche Antlitz im düster braunen Haar — wie einer elfenbeinenen Nonne in Eichenholz — die dunkelbraunen Augen in süßen Verwandlungen, die sie spielte mit ihrer zierlichen Kunst, lockten ihn unleugbar trotz des Feuers hinter ihm dieses — ah, dieses Dämons. — Nein, Georg, stöhnte er, nein, so wäre das nicht gegangen, wie du’s dachtest. Dein Plan war ganz unsinnig. Giebs zu, Georg: was stelltest du denn vor — in ihren Augen? Ein halbes Nichts von einem jungen Mann, mit dem sich geistreich plaudern ließ. Eh du nicht mindestens etwas vorstellst, das innere Leistung zu verbürgen scheint — ist nicht an sie zu denken. Ja, aber nun bin ich fest. So gehärtet bin ich in diesem Glutofen immerhin, daß mich nun nichts mehr anbröckeln kann, und — innen umschließ ich mein Ziel. Das erreicht, dann — Platz da, der Heuwagen! Oh Teufel, diese Bauern sitzen auf ihren Ohren! Wollt ihr euch zum Henker scheren auf die andere Seite, ihr Sch—“
Der Wagen jedoch, haushoch beladen mit Heu unter Leinwand, wich und wankte nicht. Die Hupe brüllte, Georg schäumte vor Wut, aber sein eigener Wagen kam fast zum Stillstand, eh der Berg vor ihm sich zur rechten Seite der schmalen Straße hinüber bewegte. Aufschnarchend nahm der Motor die frühere Geschwindigkeit wieder auf, die Landstraße krümmte sich wie getreten, Fahrtwind brauste eiskalt, und zu beiden Seiten fächerte sich gelassen die schöne Weite des grünen Landes aus, sich ziehend und dehnend unter der großen Schattenbewegung des wolkengrauen Himmels, im kühlen Licht, von Sonnenbalken selten zu überraschender Lieblichkeit unterbrochen. Die Obstbäume an den Grabenrändern, vom seitlichen Windesansturm getroffen, taumelten und überbrausten sich, allmählich ward Georg ergriffen von der gierigen Lust des Vorwärtsstürmens, dem herzlichen Beben im Zwerchfell beim Lauschen auf die so innerlich ruhige, ehrenfeste Arbeit der vernünftigen Maschine, und dem geschmeidigen Freudegefühl am Mitwinden der Straßenbeugen im unmerklichen Drehen des Lenkrads. Sein Herz begann wieder ruhigen Schlag, er atmete eben und tief, schwermutvoller ward sein Empfinden zurück, zärtlicher, häufiger das Zucken voraus in der Vorstellung der Liebenden, im immer hastiger zerdrückten Gedanken der kommenden Lüste, denen er sich vergrößert zustürzen sah wie einen rädrigen Riesen von Metall. Wenn sie bloß im Hause ist! dachte er bänglich. Und also stob er dahin, vom Magneten schienenglatt hingezogen, gewaltig im Wagen, als wälze er selber sich den Weg, Dörfer spaltend, daß es krachte, Wälder zerfurchend, Dörfer wieder, und wieder hinknatternd über das endlose Band, das unter ihm hervorfliehend sich windende, aufseufzende Band der Straßen. Da sprangen Takte in ihm auf. Worte alsbald.
Stürme an den Wäldern hin,
Donnre übers Brückenjoch ...
Was war das? Ihm erschien, entgegenkommend auf hohem Damm, die Maschine eines Schnellzugs, vornübergeneigt in kolossaler Rüstigkeit, stämmig, ein Kentaur:
Eisenroß, das Morgen roch,
Mitten schon im Morgen drin ...
Morgen? woher der Morgen? Ah, es war nicht der Anfang des Gedichts. Weiter:
Eisenhengst im Radgestampf ...
Nein, so: Rase ... Ja, mit hellem a-Aufklang:
Rase durch das Morgenland,
Eisenhengst im Radgestampf,
Glutgefüllt und lustentbrannt ...
Ich vergesse den ersten Vers! Also — wie wars? Donnre — nein:
Stürme an den Wäldern hin,
Donnre übers Brückenjoch,
Eisenroß, das Morgen roch,
Mitten schon im Morgen drin.
Nun der Anfang ... Doch indem klangen andre Worte:
Feld und Wiesen farbig lohn,
Hügel wandern — Hügel spenden blauen Rauch ...
Hügel wandern blau im Rauch,
Silberblitzend winkt dir schon
Weißdorn und ...strauch.
Ja, aber der Anfang, wie war ...?
Rase durch den ...
Und richtig: nach der zweiten Strophe umarmte der äußere Reim den innern, also:
Rase durch das Morgenland,
Jage durch den Nebeldampf,
Eisenhengst im Radgestampf,
Glutgefüllt und lustentbrannt.
Stürme ...
Georg befand sich mitten in einer kleinen Stadt, die er für Altwedel hielt, bei langsamer Fahrt über Kopfsteinen. Vorübergehende, die sich umdrehend stehen blieben, Kinder, sah er noch glasig und verständnislos durch die inneren Gesichte, dann deutlicher düstere Läden, eine enge, aber augenscheinlich die Hauptstraße, jetzt zur Rechten ein Ungetüm von alter, gotischer Backsteinkirche, nur plumpes Schiff mit Dachreiter, — und indem gab es hinter ihm einen scharfen Knall. Ein Reifen war geplatzt.
Georg lenkte den Wagen an den Gossenrand und hielt, der Chauffeur sprang ab. Also Mittagspause, die ohnehin einmal hätte gemacht werden müssen. Daß ich bloß meine Verse nicht vergesse! — Eisenhengst im ... „Welcher ists, Dietrich? Der Linke? Also eine halbe Stunde dauerts wohl?“
Kalt und ein wenig zittrig kletterte Georg aus dem Verschlag in einen Haufen schon vorhandener Kinder, löste den Halsschal und ging auf der Suche nach Speisegelegenheit, aber bei innerer Beschäftigtheit ohne etwas zu sehn, die Straße hinunter. Vor einem Schaufenster stehen bleibend, dachte er, abirrend plötzlich:
Es ist doch wundersam: alles ist nur Rhythmus. Wie mußte ich bei meinen Gedanken und Gefühlen vorher auf diese Verse verfallen? Der Rhythmus stanzte die Worte heraus. Und vor allem dies: daß man, ob das Gedicht nun schwermütig sei oder heiter, solange es sich hervorarbeitet, weder das eine sein kann noch das andere, denn da ist für kein eigenes Empfinden mehr Raum, nur die Form wirkt sich, dehnt sich und glüht und bewirkt in dem Stoff, in meinem Dasein, meinem ganzen Ich — dies absonderliche Gefühl von Angst — ob ich es richtig mache —, von Quälerei und etwas Lust, Angstlustquälerei ... absonderlich ...
Ratskeller, las Georg, den Kopf auf die linke Schulter geneigt, in schräger Schrift von unten nach oben jenseits eines rechteckigen, von Kugellinden umsäumten Platzes, auf dem Türpfeiler eines Kellereingangs. Ja, das getünchte Haus mit Säulen war vermutlich das Rathaus. Also wanderte er zum Wagen zurück, wies den Chauffeur an, ihn nach getaner Arbeit dort aufzusuchen, wo er Essen bekommen würde, und fand sich gleich darauf, nach zerstreuter Bestellung von irgendetwas an einen Kellner, wieder bei seiner Arbeit an einem runden Tisch, jetzt schreibend auf einem Blatt aus seinem Checkbuch, weiter hastend, zitternd im Schwung:
Worauf er unverzüglich anfing, das Ganze von vorn durchzuarbeiten, jedes Wort aufzuheben, umzudrehn und wieder hinein zu prüfen, andre einzuwechseln, streichend, wieder streichend, hineinklammernd, endlich das Ganze noch einmal schreibend und nach mehrmaligem Streichen ein drittes Mal, worauf er, zum ersten Entwurf zurückkehrend, lauter Unwählbarkeiten fand und, erschöpft ins Leere aufschauend, nach einer Weile bemerkte, daß Schüsseln mit Essen vor ihm standen. Er aß, aber die Versworte, freiwillig gegeneinander weiter hadernd und sich verfitzend, ließen nicht ab, ihn zu peinigen, er stand endlich auf, während eben der Chauffeur hereinkam, bestellte eine Mahlzeit für ihn und trat wieder ins Freie.
Ein leichter Regen wehte nieder. Die Kirche war protestantisch und daher geschlossen. Um sie herumgehend, fand er eine gebogene kleine Gasse, in deren Hintergrund er etwas wie die Auslage eines Antiquitätenhändlers zu entdecken glaubte und hinzuging.
In der Tat — es sollte etwas dergleichen sein, jedoch enthielt ein, das Schaufenster füllendes Regal fast nur Sachen von heute.
Ja — fiel ihm ein — und gesetzt, es wäre so, das einzige Empfinden eines Dichters beim Bilden des Gedichts wäre ein solches Mischgefühl von gequälter Lust und verzückter Qual — was wäre die Folge für das Gedicht, seine Farbe, die sogenannte Stimmung? Ein wahrhaft reines Gedicht könnte, das wärs, weder die Farbe der Trauer noch der Freude haben, sondern — sondern? Ein Mittel zwischen beiden, oder — mit einem Worte: Ernst. Und das würde — klassisch sein, weil harmonisch; das andre, das Zwiespältige dagegen wäre romantisch, — haben wir nicht einmal darüber gesprochen, Benno und Sigurd? — Ja, wo ist wohl Sigurd?
Ältliche Stehlampen sah Georg, schlechte Gipsvasen mit herausragenden Italienerköpfen, blindes Silberzeug in verstaubten Kästen — dick mit Staub überzogen voll Fingerabdrücke war alles —, ein paar Zinnteller, Steinkrüge, die übliche Perlentasche, ein Bündel Pfeifen mit Porzellanköpfen und schlechte Figürchen, ausgestopfte, ruppige Vögel, Pistolen und derlei Zeug, — und als er ins dunkle Innre spähte, ließ sich zwischen Tischen, Schränken und Kommoden aus den achtziger und neunziger Jahren noch eine hübsche Kirschvitrine bemerken, die unerkennbare Dinge enthielt.
Georg trat unter einem wimmernden Glockenlaut der Türe ein und erhielt Muße, sich umzusehn, bis aus dem hinteren Düster weiche Schritte hörbar wurden und aus einer niedrigen Tür eine bleiche und dunkeläugige Frau trat, ein Tuch um den Kopf, die Hände in der Schürze trocknend. Ein kleiner Junge, der an ihr hing, hatte das ganze Gesicht mit einem ekelhaften roten Schorf voll gelber Eiterränder bedeckt und wurde hart fortgejagt.
Einen Anfall von Ekel unterdrückend, fragte Georg nach der Perltasche, entdeckte, während die Frau dorthin ging, hinter dem Porzellangeschirr und den Tafelgläsern der Vitrine im untersten Fach etwas Dunkelrotes, öffnete und holte, freudig erstaunt, ein rotes Glas hervor, das ein wahrhaftig echtes Rubinglas war, ein grader Becher mit Fuß, ohne Verzierung, dick, hart und schwer wie Stein, nur wenig angeschrammt am Fuß, — ein Fund. Ja, war nicht etwa ein echtes Rubinglas das Kostbarste von der Welt? Und wie er nun ans Licht vortrat, den Becher hochhielt und das helle Blutrot im dunkleren, schwärzlichen aufglühte, inbrünstig, mächtig, wie der düsterrote Blick der ewigen Lampe im schwarzen Kircheninnern — er atmete den Weihrauch —, hatte er sonderbarerweise die starke Empfindung, so und nicht anders müsse Cordelias Blut sein.
Ich nehme es ihr mit, — oh — ah ja! aus diesem Kelch will ich dein süßes Blut trinken, dachte er begierig und überlegte, an den kranken Knaben erinnert, vor sich die ärmliche und verbitterte Frau, die ihr Kopftuch vor der Brust kreuzte, was ein Rubinglas für Cordelia wohl wert sein dürfte. Auf seine hingeworfene Frage, wie denn ein solches Geschäft ginge an diesem Ort, fing die Frau heftig an zu klagen, — er hätte ja wohl gesehn, was mit dem Jungen sei, der Vater sei seiner Wege gegangen und nicht aufzutreiben, das Geschäft habe sie geerbt, im Sommer ginge es ja wohl — Altwedel wäre doch Kurort —, aber im Winter komme fast niemand, sie verstehe auch nicht viel von den Sachen, und mehr dergleichen, was Georg zu peinlichem Mitgefühl und der Erwägung bewog, daß hundert oder tausend Mark für ihn dasselbe, tausend jedenfalls für ein Rubinglas Cordelias ein Preis sei.
Mantel und Rock aufknöpfend, um sein Checkbuch und den Füllhalter hervorzuziehn, murmelte er etwas beschämt, er habe zwar kaum so viel bei sich, wie er für das Glas zahlen möchte, aber sie würde ja wohl ... und begann ein Blatt auszufüllen, was die Frau stumm abwartend geschehen ließ. Als sie dann den Zettel in Empfang genommen und gelesen hatte, fuhr sie los: „Ja, das wäre sowas! Sone Checks, da ist schon mancher drauf reingefallen! Und denn gleich Prinz, nee, da bilden Sie sich bei mir man nichts ein! Nee, mein Herr —“ Sie nahm ihm das Glas aus der Hand und stellte es hin — „das Glas kost fuffzehn Mark, wenn Sie nich zahlen können, denn lassen Se’s ebent, denn bleibt das Glas hier.“
„Aber — aber mein —“ Georg stand verdonnert, kümmerlich, und fing vor Aufregung wunderlich an zu zittern, während die Frau ihm seinen Schein in die Hand drückte. Nein, sie war gar nicht nett, die Frau, sondern sie war gemein. — Georg holte zitternd das Gold, das er bei sich zu tragen pflegte, aus der Hosentasche, legte ein Stück davon neben das Glas, nahm das an sich und ging hastig zur Tür, dieweil die Frau, die sein Gold in der Hand wohl bemerkt hatte, sich nun auf ihren Irrtum verbiß, erst murmelnd, dann lauter hinter ihm her schimpfte: „Wolln Se Ihre fünf Groschen denn nich raus haben? Son Schwindel! Erst wolln se einen beschuppen, un denn haben se’n ganzen Sack voll. Na wenn Se nich wollen ...“ Die Tür fiel wimmernd zu.
Schade! dachte Georg und erreichte, alles weitere Denken, aber nicht dies sonderbare Zittern unterdrückend, seinen Wagen. Alles war in Ordnung, er stieg ein und fuhr ab.
Ach so, dachte er dann, ich bin ja auch kein Prinz!
Und dann: Komisch! wie sie das gleich gemerkt hat!
Aber er kam nicht los von der Szene, sah sie immer wieder von vorn, und es fiel ihm auch ein, daß es vielleicht besser gewesen wäre, er hätte sie nicht beschämt mit seinem Gold, sondern ganz im ersten Glauben gelassen, indem er sie nun sah, wie sie sich zwar keine Vorwürfe machte, wie aber ihr Gemüt noch verbitterter wurde, und der Junge —, Georg sah ihn gegen eine Schrankecke fliegen und ...
Mit dem Gedanken an den Becher in seiner Tasche tröstete Georg sich langsam, der kalte Fahrtwind kühlte sein erhitztes Gesicht. Es wird mich doch ewig verfolgen! seufzte er höhnisch. Aber Cordelia — ihr sage ichs heute. Es muß einmal sein.
Sogleich sah er mit angeregter Phantasie sich im Wohnzimmer auf dem Roßhaarsofa sitzen, sie am Fenster, wie sie gern saß, den Ellenbogen zwischen den Blumenstöcken auf der weißen Bank. Er hörte sich: Ich wollte dir schon immer etwas sagen, Cordelia, höre einmal zu ... Ihre Antwort blieb undeutlich, etwas zu erfinden gelang ihm nicht gleich, — sie lachte wohl und sagte: Ich höre, mein Prinz. — Ja, und nun sagte er: Eben das ists, Cordelia, du sagst und du glaubst: Prinz, aber — du mußt wissen — ich bin das gar nicht. Ich bin ...
Wie ungläubig war ihr Gesicht! Natürlich hielt sie es für einen Scherz, lächelte und — aber da, auf einmal, sah er ihr Gesicht deutlich, auf dem das Lächeln erlosch! Sie wollte das verhindern, allein — wieder sah ers: das Erlöschen der Freude, das Schwinden des Besitzes, den sie mit solcher Andacht umfaßt hatte, die Armut, die Traurigkeit ... Sollte er sie wirklich berauben dürfen, sie, die an Glück doch wohl — was wußte er? — sehr arm gewesen war?
Aus den innern Gesichten aufblickend, fand Georg die Breiten der Viehweiden, ein nahes Gehöft, gelbe Haferstreifen und entfernte Wäldchen sonnevergoldet unter wimmelnden Schatten des Nachmittags. Der weite Himmel war ein leicht durchbrochenes Getümmel von Blau und weißem und grauem Gewölk. Wie schön! der Abend würde klar sein ...
Ach, nun wieder das! Nun will wieder Mitleid mich stören und hindern, und schon weiß ich nicht mehr: Soll ich — soll ich nicht? Und: wenn ichs lasse, lasse ichs wirklich aus Gefühl für sie oder aus Furcht für mich?
Man müßte es auf die Gelegenheit ankommen lassen, vielmehr auf eine Gelegenheit passen. Warum so plötzlich erschrecken? Es kam eine ernste Stunde, ein Gespräch der bekümmerten Seelen, wo die schmerzlichen, aber auch die schönen Tiefen des Daseins sich öffneten und zur natürlichen Form des Lebens wurden, — wie wog dieses dann leicht, Geständnis und Sache selbst ging auf im großen Strome der Leiden, auf im schwesterlich natürlichen Verstehn, und ließ ein solches Gespräch sich nicht herbeiführen, leichter als leicht, mit ihr, der Bereitwilligsten, der so unsäglich Wandelbaren?
Ach, wenn ich sie nur erst habe! — Sein Mund sank ein in den weichen Marmor ihrer immer kühlen Brüste, seine Hand tastete nach dem Süßesten, seine Augen ... Er riß sie krampfhaft auf, starrte durch Schleier auf ferne Punkte von Menschen oder Wagen zwischen den Baumzeilen, hörte den Motor donnern, setzte sich auf und schnob: Glutgefüllt und wutentbrannt! muß es natürlich heißen, nicht lustentbrannt ...
Und es erschienen die Türme und der dunstige Häuserberg von Altenrepen ...
Als Georg, eiskalt am ganzen Leibe, steif und zittrig dem Wagen entstiegen, durch das Gittertor spähte, gewahrte er gleich Hesekiel; Hesekiel mit seinem Höcker in einer wunderschönen, glänzend rot- und schwarzgestreiften Dienerweste, der sicherlich wieder etwas Merkwürdiges vorhatte. Er stand im gelben Kies oben auf dem Hügel vor dem Hause, einen langen roten Wasserschlauch zwischen den Beinen, und bemühte sich, die Betunien, die über der halbkreisförmigen kleinen Vorhalle vom Balkon hingen, von unten zu sprengen, was sehr schwierig war, denn der verfluchte Strahl ging immer darüber hinaus gegen die Wand und die oberen Hälften von Glastür und Fenster, und die Blumen selber, wenn sie getroffen wurden, warfen sich so gewaltig und wild nach oben, daß es schrecklich anzusehn war. Georg, der mittlerweile den Hügel mit seinem schönen, grünsamtenen Rasenbelag, mit Rosenstöcken, Gebüschgruppen und einer prachtvollen Blutbuche zur Hälfte erstiegen hatte, blieb stehn und rief: „Hesekiel, was machst du denn da?“
Ach Gott, das hätte ich nun wieder nicht tun sollen, dachte er dann, denn nun geriet Hesekiel, sein verkümmertes, spitzes und heißes Gesicht mit der wehmütigen Mundschnirre herwendend, in abscheuliche Verwirrung. „Ach, der Herr Doktor!“ — es war unbekannt, ob Hesekiel sich diesen Titel ersonnen hatte oder vielleicht überhaupt nur Doktoren kannte — lächelte er freudig — allein was nun? Die Spritze hinlegen, deren Strahl sich triumphierend über ihm in die Lüfte bohrte, und zur Begrüßung hergerannt kommen, wie’s ihm gelehrt worden war? Oder den Strahl erst abdrehn? oder zur Meldung ins Haus davonlaufen? — Das war zuviel für ihn, und so tat er von jedem den Anfang in wirrem Durcheinander; tastete nach der Schraube, lief ein paar Schritte gegen Georg vor, streckte die Hand mit der Messingtrompete gegen die Erde aus, wollte davonlaufen, ehe sie lag, und blieb endlich zwischen allem, geduckt, erschöpft und ratlos sich selber verlächelnd stehn.
„Na komm, Hesekiel,“ sagte Georg, dem der Strahl jetzt knatternd entgegensprang, „leg mal die Spritze hin.“ Hesekiel tats gehorsam und erleichtert. „So ists schön! Und nun kommst du und giebst mir die Hand.“ Hesekiel kam glücklich und verklärt. „Ist die gnädige Frau denn zu Hause?“ Hesekiel nickte und deutete mit dem Daumen. „Ja, sag mal, wie kommst du denn auf die Idee, die Blumen da oben zu sprengen?“
„I wollt halt so gern der gnä Frau — gnä Frau bissl Arbeit erleichtern.“
„Das ist brav, Hesekiel, denn man weiter!“ Georg verließ den eifrigen Bediener der Natur und ging leise, nach den Fenstern spähend, zur Rückseite des Hauses, dessen grauer Stein und rotes Dach heiß glühte im starken Abendlicht, dieweil er dachte: Ach, Hesekiel! du hast eine schöne, dienende Seele im Höcker, — kannst du mir vielleicht sagen, warum die Frau so gemein war? Ach ja — ach! — du kennst nur Doktoren und weder Prinzen noch Nichtprinzen ...
Georg blickte zu dem breiten Schiebefenster empor, hinter dem drinnen sein Bett stand, und siehe da, zwischen den weißen Geranien, die im grünen Gitterwerk drunter hingen, erschien die lange Tülle einer kleinen grünen Gießkanne mit gelben Reifen, und gleich darauf Cordelias Hand, Stirn und die beschäftigten Augen, die nach den Blumen spähten, und —
„Na?“ sagte Georg
Sie warf vor Schreck die Gießkanne herunter. Dann war sie verschwunden. Georg hörte ihre Absätze drinnen auf der Treppe und wartete glückselig, bis sie ums Haus gelaufen kam, aber zehn Schritte vor ihm anhielt, die Hand gegen die Hausecke stützte und ihn tief und inbrünstig anblickte.
Wie schön sie ist! dachte er stumm in diesem Blick. Das Kleid, das sie trug, von dunkelvioletter Seide, war auf unkenntliche Weise ihrem Körper umgewunden; es war eine Art Empire, jedoch fast geschlossen um die Füße, und eine ganz kurze Schleppe lag am Boden. Der schöne Busen atmete sichtbar mit beiden Wölbungen und hob auf der bloßen Brust das goldne Medaillon, in dem sein Bild und Haar war.
Im nächsten Augenblick hielt er sie umschlungen, ihr Gesicht an sich pressend, den Mund in ihrem Haar, flüsternd in flutender Erlöstheit: „Da bin ich wieder! Ach, ich konnte nicht mehr!“
„Ja, bist denn meinetwillen gekommen, Georg, wirklich meinetwillen?“
„Ja doch, Cordelia, warum denn sonst?“
„Aber — dein Vater?“
Sie sah ihn an durch Tränen unsäglicher Liebe und konnte nur die Lippen bewegen. Endlich fragte sie dann nach seinem Befinden; ob er nicht Ruhe brauche.
„Ja, ich würde mich gern etwas hinlegen. Und — sag mal — hast du was zu essen?“
„Ich werd schaun. Eier sind da. Und Salat. I werd halt schaun.“
Also wanderten sie umschlungen ums Haus, Cordelia verschwand in die Küche, Georg stieg ins obere Stockwerk hinauf. —
Die weiße Türe öffnend, mußte er den Atem anhalten, so erschreckend trafen ihn Glanz und Feierlichkeit, die der niedrige, kleine Raum vor ihm auftat.
Die tiefstehende Sonne flutete in vollem, glühendem Strom zu den Fenstern herein; Georg konnte zwischen den lodernden Gardinen und grünen Fuchsienstöcken — diese waren wie aus grünem Golde gehämmert — ihre brennend goldene Scheibe sehn. Der Raum, von güldener Woge erfüllt, glitzerte, funkelte und glänzte überall, die tiefe Lebendigkeit seines Alters, seine vielgenützte Würde und den Stolz der kunstvollen Erzeugung hier leise, hier vernehmlicher ansagend. An der rechten Wand, in den sehr dunklen Spiegelscheiben des holländischen Kastenschranks, der bis an die schweren Balken der weißgetünchten Decke reichte — Messinggriffe und Schlösser an den Schubladen blitzten wie reines Gold — dort war alles noch einmal, vertieft und dunkler zu sehn, geheimnisvoller: Sofa und Sofatisch gegenüber unter den Silhouetten in glänzenden Goldrähmchen und verblichenen Kreideporträten, von denen die dunkelblaugemusterte Tapete fast zugedeckt war, und daneben am Fenster — Georg wandte den Blick vom Gespiegelten hin und folgte dann selber hinüber — dieser Glanz war erstaunlich! Das flüssige Feuer lief in den vergoldeten Blätterleisten des hohen Spiegels, aus dessen Oberstück die arkadische Landschaft bläulich schimmerte, und, ein wenig vorgeneigt in der verschleierten Spiegelung des alten Glases wiederholte sich stiller, was auf der kleinen, goldhellen Platte des dünnbeinigen Birkentisches davor stand: der Abendmahlskelch, eiförmig aus dunkelblauem Glase, in silberne Rispen gefaßt, nach oben verlaufend vom Fuß wie die langöhrig ausgezogenen Henkel, zwischen denen der flache Deckel ruhte; dazu links und rechts von ihm starke, dunkelgelbe Kerzen in Messingleuchtern, — was alles flammte in seiner Ruhe und Heiligkeit.
Georg drehte sich um. Da überragte in seiner Ecke drüben der schmale weiße Ofen — stiller als alles übrige, weil vom vollen Leuchten nicht mehr erreicht — den Ofenschirm, dessen quadratischen Grund eine satte Schicht von grünem Feuer überzog um die roten und blauen Flügel seiner flatternden Papageien.
Georg blieb auf der Sofalehne hocken, fast schwermütig gestimmt; wovon? Von soviel Anmut, Lauterkeit und feurigem Leben? Womit habe ich das doch verdient? fragte er sich still.
Der Saum weißer Stifte, von dem die schwarze Roßhaarbespannung des Sofas gehalten wurde, war ebenso vergilbt wie an den breiten Stühlen, die den Tisch umgaben. Am kleinen Sekretär mit schräger, eingelegter Platte zwischen den Fenstern war die Fournierung hier und da gesprungen, eine Kante gesplittert, das Schloß war locker, ein Griff fehlte an einer der unteren Laden. All das gehörte sich so; es waren ehrsame Narben. Hatte Jason al Manach nicht einmal von den ererbten Dingen gesprochen? Georg wußte die Worte nicht mehr, allein hier redeten sie ja selber ihre gedämpfte, aber wie vernehmliche Sprache: daß sie hervorgegangen waren, einzeln wie die Könige aus einzelner Hand, die einsam von Grund aus sie gefertigt, liebevoll, verständnisvoll für ihr Ganzes, für unendliche Zeiten bestimmt zu dauern; und da waren sie wie damals, gealtert, viel genützt und unverbraucht, nur stattlicher in ihrer alten Erinnerung, ihrem Bewahrtsein, in der schlichten Gebärde, mit der sie um sich den Hintergrund schrieben, der zerfallen war: Menschen und Geschicke.
Ja, — und ich? dachte Georg.
Glänzend mit mächtigem Antlitz von Messing in ihrem die Decke berührenden Haupte stand die Älteste neben der weißen Tür, die standfeste Riesin, die englische Dielenuhr, die auch die Monate zu zeigen verstand; sie schlug langsam, wie im Geburtsjahr 1757, den selben gemessenen Pendelschlag, auf den hinhorchend Georg für lange Sekunden sich verlor. Sie tickt den Schritt der Sekunde, sagte er sich dann; das macht es so geruhig und wohltuend. Und wie vornehm, wie zurückhaltend war das gedämpfte Rücken im Gehäus! Ja sie war die Älteste.
Georg lächelte bitter. — Eigentlich sollte ja ich es sein. Ich, der sich einmal einbildete, mit Friedrich Barbarossa vor Akkon gelegen, bei Benevent für deutsche Sehnsucht gefochten und vielleicht das Leben verloren zu haben ... Ihm zogen Georges Verse aus den Romfahrern durch den Sinn:
‚Freut euch, daß nie euch fremdes Land geworden ...
Durch euer Sehnen ... Georg zitterte, er glühte von der triumphierenden Schönheit der Strophen. Durch euer Sehnen nehmt ihr ewig teil ...
Ja, sein Teil war das. Sehnen — nach was? Nach oben doch, nach — nach sich selber zu immer höherer Geburt, besser zu werden, reiner zu werden, edler, tüchtiger, wissender ... Was wollte er denn auf einem Thron?
Bin ich nicht glücklich hier? Hilfst du mir nicht, süße, teure Seele, mein Auge immer wieder nach innen zu lenken? Wohnt nicht vielleicht doch ein Gott dort innen und pocht ein ewiges Werk, pocht bei mir und wirkt bei dir in immer strahlenderen Farben das Gewebe unsäglicher Liebe? Habe ich nicht genug, ernst zu sein, unruhig zu sein im unaufhörlichen Verlangen nach Besserem? Wenn es denn schon keinen Gott giebt, das Ahnen des Göttlichen, den Zwang des Göttlichen, den Hauch von Jenseits in der Brust? Habe — ja, habe ich nicht etwas Neues für mich allein, dachte er erleichtert in der Erinnerung an seine eigenen Verse, Neues — nein, sondern Uraltes, Anfängliches, älter und edler und reicher sogar an Ahnen, abertausend Ahnen in unablässig geistiger Beugung? Und mag mein eigenes Handeln als Bürgschaft solchen Ahnentums noch so bescheiden sein: der alte Geist hat doch Leben in mir und Bewußtsein. — Da stieg strahlende Heerschar vor seinen sinkenden Augen auf, Heroe gereiht an Heroe, Erzengel an Erzengel, unübersehbar, von George hinab zu Dante, zu Pindar, zu Homer, und wieder herauf im gewaltigen Schwung über unsterbliche Häupterschar zu Hölderlin, zu Novalis, zu George.
Georg legte nicht ohne Demut in der gedämpften Bewegung seinen Mantel ab, denn es trieb ihn, bei aller Abgespanntheit, seine Verse jetzt nicht unvollkommen zu lassen. Dabei schlug ein schwerer Gegenstand in einer Tasche gegen die Stuhllehne, er faßte, im Innern schon murmelnd und sich erinnernd: Hügel wandern blau im Rauch, — danach und holte geistesabwesend das Rubinglas hervor, lächelte flüchtig und wußte vor geistiger Abwesenheit, gleichzeitig nach Schreibpapier ausblickend, längere Zeit nicht, wohin er damit sollte. Endlich hatte er die Platte des Sekretärs herunter und auf die ausgezogenen Leisten gelegt, stellte das Glas nun ins Innere vor die kleinen Laden, öffnete Cordelias Schreibmappe, fand zum Glück einen Briefbogen, holte seine Niederschrift hervor und begann, das Ganze sorgfältig durchprüfend noch einmal zu bilden. Im Schreiben der letzten Zeile hörte er hinter sich die Tür gehn und sah im zerstreuten Sichwenden Cordelia, die ganz erschrocken schien, ihn nicht schlafend zu sehn.
„Komm nur, ich lese dir was vor“, sagte er. — „Wie du nur aussiehst!“ erwiderte sie näher kommend, „ganz überwacht!“
„Schadt nichts, setz dich nur!“ Sie blieb stehn, an den Kastenschrank zurücktretend, und er las, kräftig Takte herausfördernd und Reime:
Rase durch das Morgenland,
Durch den weißen Nebeldampf,
Eisenhengst im Radgestampf,
Glutgefüllt und wutentbrannt.
Stürme an den Wäldern hin,
Donnre übers Brückenjoch,
Eisenroß, das Morgen roch,
Mitten schon im Morgen drin.
Feld und Wiesen golden lohn,
Hügel opfern blau im Rauch,
Silberblitzend winkt dir schon
Hagedorn und Holderstrauch.
Immer voller flammt der Tag,
Tobend, wiehernd, fortgerafft,
Spaltest du mit Riesenkraft
Eichenhain und Fichtenschlag.
Schleuderst Dörfer hart beiseit,
Wo die Ebne staunend schwillt:
Wie dein Atem eisern schreit,
Wie du rasselst im Gefild.“
„Das ist ja großartig, Georg!“ Beschämt ließ er sie ihm um den Hals fallen. „Wirklich, Georg, das gefällt mir! Das ist wieder gesund und beflügelt, nicht so wie die letzten, die warn auch schön, aber so wie kranke Blumen, weißt. Ja, nun mußt du schlafen, pascholl! — Aber was ist denn das hier?“ — Sie sah das Glas.
„Ach, dein Glas, Cordelia, da hab ichs hingestellt! Hier, das hab ich dir mitgebracht.“
Still, während er sich entzog und zwischen Stuhl und Tisch hindurch sich ins Sofa zwängte, nahm sie das Glas an, trat zum Fenster und hielt es empor, so daß es augenblicks aufloderte wie ein Juwel, blutrot.
„Ach, Georg ist das schön!“
„Dein Herz, Cordelia,“ sagte er, plötzlich taumelnd von Schlafverlangen, „dein Herz — mußt ich denken ...“
Er hörte nicht mehr, was sie sagte. Noch vernahm er Schritte, leise, dann das Niederrollen der Rulos, Schritte, das leise Zudrücken einer Tür. Die Augen noch einmal öffnend, sah er, daß es dunkler im Zimmer war, goldbraune Luft, und daß vor ihm das rote Glas stand. Eine zärtliche Wallung verging, kaum sich regend, im schweren Rieseln der Umnachtung.
Renate, an einem offenen Flurfenster im ersten Stockwerk des Nordflügels von Helenenruh stehend, als es eben Nacht geworden war, hörte Magdas singende Stimme, die im Klaviersaal die Gruppe aus dem Tartarus begann. Ein Fenster war dort offen und matt erleuchtet. Renates Augen ruhten halbgeschlossen im ungewissen Dunkel, das leise vom fallenden Regen rauschte und sich zu bewegen schien. Ein Tropfen spritzte hier und da herein, ihre Hand treffend, ihre Stirn; es war kühl. Am Himmel oben über den beweglichen, finsteren Massen der Baumwipfel war ein wenig Licht hinter gelblichem, dahinflüchtendem Gewölk. Bleich gegenüber schimmerte die Wand des Südflügels. Ohne hinzusehn konnte sie in dem erhellten Saalfenster zur Linken den Lichtschein der unsichtbaren Lampe gewahren, die in der Mitte auf einem Tisch stehen mußte, und, schräg durch den Raum hin, die hohe weiße Mitteltür samt ihrem flachen Giebeldreieck und dem fast schwarzen Porträt im Goldrahmen darüber, dicht unter der Zimmerdecke. Zu sehn war niemand.
Die Musik des Harmoniums kam sanft und wehend, — schön, klar und kräftig kamen die dunklen Töne der singenden Stimme durch den Regenfall. Ein heftiges Aufschaudern der windgetroffenen Baumkronen überrauschte jetzt alles, es ward still, leiser der Gesang, in einer Dachrenne plätscherte hörbar die Regenflut, es klapperte, — oder wars auf der Terrasse? — Da stürzte mit mächtigem Aufbruch, ja wie ein großes, schwarzes Panthertier stürzte die große, tiefe Stimme mit „Ewigkeit! Ewigkeit! Bricht die Sense des Saturns entzwei!“ in das Finstre, warf sich durch den Nachtstrom empor, triumphierte, senkte sich, stieß ein zweites Mal siegreich vor und schwand im Allgemeinen der Musik, untertauchend wie ein Schwan, und in den verworrenen Stimmen der Regennacht.
Renate bebte leise, frierend von Nachtkühle und dem Gesang. Lauter toste der Regen. Oh dies gewaltig gebliebene Herz in der singenden Brust! Aber oh, wie waren die Toten einsam und ganz im Freien, ausgesetzt aller windigen Geschäftigkeit der Nacht und der wimmelnden Erde! — Da sah sie den Katafalk der Herzogin mitten in der Nacht stehn, schwarz, die großen Kandelaber, flatternd im Winde Flöre und Kerzen, das große, starkriechende Gepränge der Blumen, Schleifen, Palmwedel, umher die Schauer gedrängter Menschen, und inmitten das seltsam kleine, kaum wahrnehmbare tote Antlitz der aufgebahrten Gestalt, in weißen Kissen, gerader und viel steifer, als sonst ein Mensch liegt. Daneben war der Rücken des Herzogs, gebeugt, sein Hinterkopf, der kein Auge von der Schläferin wandte.
Aber dies verschwand, und im lichten Morgenkleide kam die Herzogin zu einer Tür herein, zu ihr, die an einem Fenster stand, einen Morgengruß hinnickend, und setzte sich an den Frühstückstisch. Sie sagte mit leichter Stimme etwas, aber Renate konnte es nun nicht mehr hören, besann sich vergeblich auf Worte, fühlte, daß sie traurig war und das schreckliche Entgleiten eines Toten, der uns nicht sehr nahe stand, ins Ungewisse. Da war das Gesicht des Herzogs, wie es langsam aus dem Wagenschlag kam, die heißen Augen, die herumfuhren, zu ihr empor, und sie wollte die Stufen hinunter; sein ganzes Gesicht war gesträubt von Bart, dann kamen unten die Stöcke zum Vorschein, er zwängte sich heraus, stand, und an Renate vorüber eilte Magdas schwarzgekleidete Gestalt zu ihm, und dann schien etwas ihn zu durchbrausen, und er hing über ...
Wollte Magda nicht wieder anfangen? Das Harmonium war sehr gedämpft hörbar, lange Zeit. Renate setzte sich auf die Fensterbank, den Rücken gegen den Rahmen gelehnt, vom Schlosse weg ins Dunkel der Parkwiese blickend. Gleich darauf ward es am Ende des Flurs hell; die Wendeltreppe, aus der Tiefe beleuchtet, ward weißgetüncht sichtbar, und von unten heraufsteigend erschien ein Diener in Frack und Kniehosen; er griff nach der Wand, die Lampe unter der Decke glühte hell auf, kam auf sie zu und bat sie, in den Saal zu kommen. Sie fragte, ob auch die Fürstin Schwester dort sei, und er bejahte.
Wenig später stand Renate vor der Saaltür und hörte von drinnen das Harmonium im sachten Vorspiel zu ‚Du bist die Ruh‘. Sie zauderte, wartete dann einen Augenblick ab, wo der Gesang schwoll, öffnete behutsam und trat ein. An der Tür blieb sie stehn.
Auf dem ovalen Tisch in der Saalmitte stand eine Petroleumlampe von glänzendem Messing mit geradem, grünem Schirm. Aha, die selbe Lampe, welche die alte Fürstin stets auf Reisen mit sich zu führen pflegte, ergrimmt auf das elektrische Licht. Da saß sie, rechts am Tisch, und strickte, sah nicht auf, denn sie zählte gerade, die Maschen mit dem linken Daumennagel zusammenschiebend; das in Falten hängende Kinn — Festons hatte Georg gesagt, und einen Augenblick kam Renate sein Gesicht dazwischen, verdunkelt von der schwarzen Kleidung und verlegen, weil er gescherzt hatte mitten in seiner Trauer — gegen die Brust gedrückt, sah sie von oben schräg auf ihre Hände; eine kleine eiserne Brille hing ganz vorn auf der Nasenspitze wie ein windiges Geländer. Diese sparsame Alte trug eine gestrickte schwarze Mantille um die Schultern, aber die Hände, die aus schwarzen Pulswärmern kamen, waren über und über beladen mit funkelnden Ringen. Jetzt sah sie gegen Renate auf, dunkeläugig, rückte an ihrer Brille, musterte sie scharf, fuhr mit flacher Nadel über die aufgesträubten Blätter eines vor ihr liegenden Buches — sie dehnten sich gleich wieder empor —, blickte hinein, blickte wieder auf und verneigte sich mit dem Oberkörper, freundlich lächelnd und nickend, während Renate zu Boden sank. Dann hielt sie ihr Strickzeug weit von sich ab, fuhr mit gewaltigem Stoß der linken Nadel hinein und rasselte darauflos, nicht ohne schräg von oben gegen die emporstehende Buchseite zu blicken. — Renate lächelte in sich hinein, denn da die Fürstin außer ihren beiden Beschäftigungen auch wohl noch auf den Gesang hörte, so schien ihr dies eine gewinnsüchtige, aber geschickte Alte.
Links am Tisch sah Renate nun den breiten roten Rücken eines Sessels mit vergoldeter Umrahmung auf ganz kurzen Beinen. Darüber war der Hinterkopf des Herzogs, wie ein Strudel: eine tonsurhafte kahle Stelle mitten im Wirbel des großen, runden Haarschädels im Schatten der Lampe. Renates Eintreten hatte er scheinbar nicht gehört.
Und da rechts in der Ecke, halb im weißen Vorhang des offenen Fensters, war noch etwas Lebendiges, nämlich ein kleiner Greis mit glattem, rosigem Gesicht, aus dem zwei freundliche kleine Augen Renate unbeirrt anstarrten, während ihm ein rosenroter Papagei über die Hände im Schoß an der Weste hinaufkletterte, sehr mühselig, mit Schnabel und Krallen sich abwechselnd einhakend und festkrallend.
Daneben war die dunkle Türöffnung zu den Zimmern der Toten. Stand sie vielleicht darin, auch zuhörend, die Augen im sanften Licht, erleichtert? — Aber Magda blickte vom Harmonium herüber, nickte und lächelte während des Zwischenspiels. Renate lehnte sich gegen die Tür, folgte den langsamen und kunstlosen Griffen und Veränderungen der schmalen Hände auf der Klaviatur, selber fern in unbewußten Gedanken, kaum hörend, daß jemand sang. Dann war es still im Raum.
Der kleine Greis, augenscheinlich der Mann der Fürstin, klopfte seinem Papagei auf den Kopf und erhob sich. Die Fürstin sah auf, räusperte sich stark zum Herzog hinüber, zog, da er sich nicht bewegte, eine Nadel aus dem Strumpf, zeigte damit auf Renate und sagte: „Nun sie!“
Magda erhob sich. Jetzt bewegte sich der Kopf des Herzogs, einen Augenblick wurden seine Stirn und Augen über der Sesselwand sichtbar, dann stand er schwer auf und sagte heiser: „Guten Abend.“ Und zu den Andern: „Bitte, dies ist Fräulein von Montfort.“
Der kleine Fürst kam zierlich und ein wenig schlotternd im Gehrock herbei, den Papagei an die Brust gedrückt, und verneigte sich sehr tief.
„Setz dich nur!“ schrie die Fürstin. Er machte mit der rechten Hand eine Muschel am Ohr und hielt es ihr hin, aber sie sah es nicht, und während er sich, Renate zulächelnd und kopfschüttelnd, zurückzog, sagte sie zum Herzog, kaltblütig auf französisch, dies wäre ein sublimer Mensch, worauf sie in derselben Sprache zu Renate fortfuhr, sie habe das auf französisch gesagt, um die Schmeichelei nicht so geradezu herauszuschmettern. Freundlich und auf deutsch bat sie dann etwas zu spielen. „Aber nichts Modernes!“ sagte sie.
Renate setzte sich, aber nun fiel ihr nicht das geringste ein. Endlich fand sie die kleine Ballettmusik zu den Gluckschen Gefilden der Seligen und fing damit an, gleich darauf sich erschreckt fragend, ob wohl außer Magda jemand den unpassenden Titel der Musik kannte; die war freilich sanft und lieblich genug. Als sie geendet hatte, sagte die Fürstin, das wäre Kleinkindermusik. So begann sie denn das Orgelkonzert von Friedemann Bach, indem sie dachte: ich will dirs heimzahlen. Bald aber erschrak sie heftiger, denn sie fühlte plötzlich eine Hand auf ihrer Schulter. Die Fürstin neben sich gewahrend, wollte sie schon die Hände von den Tasten nehmen, weil aber weiter nichts erfolgte, spielte sie fort, die Fürstin blieb so neben ihr, und nun jagte sie die achttaktige Fuge in ihr großes Rasen hinein, daß es in den Fugen des Instrumentes krachte. Am Ende des ersten Satzes sagte die Fürstin nur: „Weiter! Zweiten Satz!“ Sie schien mächtig aufgeregt, und so ging auch dies endlos scheinende Gigantengehämmer des nächsten Satzes ohrbetäubend vorüber, ohne daß die alte Dame ihre Stellung verändert hätte. Am Ende atmete sie gewaltig auf, packte Renates Gesicht, küßte sie unter plötzlich strömenden Tränen und rief: „Heldenhaft! Heldenhaft!“ Dann erklärte sie, daß sie gern so neben einem Spielenden stünde; das ginge ihr dann gewaltig durch Mark und Bein. — Als Renate sich im Sessel umdrehte, blickte sie gerade gegen die geröteten Augen des Herzogs, die sie starr anschauten. Seine Schwester trocknete sich die Augen und das Kinn, über das ihr vor Eifer ein wenig Mundfeuchte heruntergelaufen war. Dann riß sie ihren großen Pompadur auf, fuhr tief hinein und brachte einen Kake zum Vorschein; den schenkte sie Renate; er war nicht mehr ganz heil. Es war eine kriegrische alte Frau.
Am Tische sitzend nahm sie ihren Strumpf wieder auf, setzte die Brille auf, kratzte sich dann nachdenklich mit einer Nadel den Kopf und sagte:
„Weißt du, Woldemar, an wen dies Spiel mich erinnert? An meinen Kardinal. Kardinal Massi. Er war nur ein dürrer Mensch,“ erklärte sie Renate, „aber er hatte allmächtige Pranken und eine höllische Seele. Er war ein gottloser alter Heide, aber vor jeder Musik, die er machte, sagte er die Worte: ‚Im Namen des allbarmherzigen Gottes ...‘“
Der Herzog lächelte und meinte, so fingen die Koransuren an.
„Die was?“ fragte seine Schwester.
„Die Gebete im Türkenkoran.“
„Er wird sich den Teufel um Suren kümmern, wenn ihm einer auf goldenen Wolken zufliegt, der Herrgott“, versetzte sie stramm, nahm ihr Buch vor und fing trotzig zu lesen an.
Es war nun still. Renate sah zu Magda empor, die hinter ihr an der Wand lehnte; sie blickte mit weit offenen Augen ins Leere. Renate sah die Gestalt der Toten in diesem Blick und wandte ihr Gesicht vorsichtig dem Herzog zu. Der saß tief vornübergebeugt im Stuhl. Jetzt löste sich fern drüben zwischen den Klavieren eine Gestalt aus dem Dunkel, Dr. Birnbaum, der auf den Zehen herkam, eine dicke Zigarre vorsichtig in der ausgestreckten Hand, von der er ein großes weißes Aschenstück in eine Bronzeschale auf dem Tisch legte. Er entfernte sich ebenso leise und ohne die Augen zu erheben. Ganz hinten auf einem Stuhl an der Wand zwischen zwei Klavieren setzte er sich nieder. Aber dem Herzog mußte der Vorgang doch bewußt geworden sein, denn nun richtete er sich auf, zog ein Zigarrenetui aus der Brusttasche, nahm eine heraus, die Augen mit ungewissem Blick gegen die Lampe gerichtet, biß die Spitze ab, nahm sie von den Lippen, legte sie auf die Aschenschale, ergriff die Streichhölzer und schien dann all dies zu vergessen. Er bewegte sich nicht mehr. Endlich kam Magda zum Tisch vor, nahm die Schachtel aus seiner Hand, strich ein Hölzchen an und hielt es ihm hin. Aufblickend nahm er es aus ihren Fingern, nickte sehr eifrig dankend, rauchte an und sagte: „Ihr macht eine schöne Musik ...“ Dann blies er das Streichholz aus und legte es hin.
Indem sagte eine ganz ferne, lippenlose, vernöckerte Stimme, leise warnend: „Heinrich, der Wagen bricht!“ —
Magda, der Herzog, Renate, alle Drei sahen nach dem Papagei in der Ecke, der sorglos vom Fußboden am Vorhang hinaufstieg. Der Herzog blies eine starke Qualmwolke, lehnte sich grade zurück und sagte mit Gleichmut vor sich hin: „Nein, Herr, der Wagen nicht!“ Und schwieg. Die Fürstin hatte nicht aufgesehn.
Da erst fühlte Renate die Beängstigung des Raumes und der Stille. Die Tote war überall zugegen; jede Bewegung bog um sie aus, jedes Wort hielt sich vor ihr zurück, jeder Blick glitt erst von ihr ab, ehe er zu jemandem hinging. Oh, gegenwärtiger war sie nun als jemals, da sie ja kaum sichtbar gewesen war am langen Tag; oder war es gerade dies, daß Alle, die sie gekannt hatten, immer nur eine Abwesende in ihr besaßen? Und wenn sie jetzt erschiene, — würden sie erschrecken? Sie war doch immer so selten gekommen! — Dumpf polternd fiel der Papagei zu Boden, der Vorhang bauschte sich, hörbar war der Regen, und Renate zerbrach sich den Kopf um etwas, das sie sagen könnte, aber die unsichtbare tote Seele hatte auf alle Dinge umher die Hand gelegt und Schweigen geboten. Dazu quälte es Renate, daß sie sich inständig mit dem Herzog beschäftigen mußte, ohne im geringsten wissen zu können, welcherlei Art das war, das in ihm vorging, und so folgte sie stumm und wie gebannt den Bewegungen seiner Schwester, die jetzt ihr Buch zuklappte, die Brille abnahm, ins Futteral steckte, dann Brille und Buch in ihren Pompadur, und aufstand. Gleichzeitig erhob sich ihr Mann in der Ecke. Sie ging um den Tisch, blieb vor ihrem Bruder stehn, der in die Lampe sah, und fragte ihn in versöhnlichem Ton und schonend: „Glaubst du vielleicht ans Jenseits, Woldemar?“
Er blickte sie kurz an, sah wieder fort, schien lange zu zaudern mit der Antwort und sagte endlich: „Ich weiß nicht ...“
„Nein, Woldemar,“ sagte sie entschieden, „nein, das verstehe ich nicht. Denn erstens wirst du sehn, daß es unrecht ist, später, denn dann hast du sie fortgeschickt, nach da oben hin —“ Sie trat eilig an den Tisch, strich mit beiden Händen die Falten der Decke glatt und fuhr fort: „— und dann wirst du sehn, wie schrecklich es ist, wenn ihre Seele in allem abstirbt, was sie hier unten hatte, und auch in dir. Zweitens aber —“ Sie, klein und zierlich, kreuzte die Arme unter ihrer Mantille und sprach über die Lampe hinweg zu Renate hinüber — „— zweitens sind wir allerdings von Natur ungenügsam, und sollens auch sein; das mit dem Jenseits aber, das sollten wir doch wohl den Armen lassen. Es sind schon so viel, daß das ganze Jenseits davon voll wird. Sollen sie gar nichts für sich allein haben?“
Der Herzog sah zu ihr auf, aber Renate konnte sein Gesicht nicht sehn. Nach einer Weile fuhr die Fürstin fort, das Gesicht wieder auf die Lampe senkend, und als rede sie mit sich selber: „Mehr als dreitausend Mark im Jahr für sich haben und dann noch an ein Jenseits glauben, — das ist ruchlos.“
„Sie leben“, unterbrach der Herzog mit rauher Stimme, „auch mit dreitausend Mark wie in einem irdenen Topf.“
„Die meine ich nicht,“ versetzte sie fest, „du weißt wohl, wie ich es meine. Ihr habt,“ sprach sie nun leiser fort, „ihr habt eine Seele, mit der ihr die ganze Erde bedecken könnt; ihr habt eine Phantasie, mit der ihr die ganze Welt mit Göttern, Christussen, Heiligen und Helden bevölkern könnt; ihr habt eine Liebe, die euch das Fernste so nah machen kann wie Kleid und Haar, — was habt ihr nicht? Und ihr wollt doch noch ein Jenseits, damit es gar niemals aufhört? Seid froh, wenn ihr endlich schlafen könnt.“
„Du warst immer eine harte Frau“, sagte der Herzog.
„Ich dachte, du wolltest sagen, eine harte alte Frau,“ erwiderte sie nicht ungütig, „aber das würde nicht gestimmt haben, wenn ich auch zwanzig Jahre älter bin als du.“
„Zwanzig Jahre“, sagte der Herzog ruhig, „ist sie da im Dunkeln auf ihrem Teppichstreifen hin und her gegangen, und du sagst: ‚daß es nur niemals aufhört‘.“
Renate, die das selbe gedacht hatte, sah auf einmal Magdas Augen, die noch am Tische stand, die Hände auf der Platte, sehr dunkel im erbleichten Gesicht auf sich gerichtet. Sie schien etwas sagen zu wollen, die Fürstin ebenfalls, aber dann sahen Beide sich an und schwiegen. Dann kam etwas Weinerliches in die verwelkten Züge der alten Frau, sie machte ein paar heftige Kaubewegungen, nickte irgendwohin und sagte: „Also, gute Nacht!“ — Ihr Mann folgte ihr nach tiefer Verbeugung vor Renate mit leicht verwirrtem Gesicht hinaus.
Jetzt fegten die Sommerstürme durch den Park hin, warfen sich gegen das Haus und schütteten Regen, daß es rauschte. Die Läden krachten und klapperten, am offenen Fenster wehte der Vorhang, Magda ging hin und schloß die Flügel. Der Herzog warf sich plötzlich im Stuhl herum und fragte hastig: „Sie bleiben doch noch?“
Renate nickte erregt und hülflos, fragte sich, ob sie noch spielen sollte, wandte sich dann zu Magda hinüber, aber die war nicht mehr am Fenster. Noch zauderte Renate, erhob sich dann aber leise, schritt bis zur Türöffnung und ging dann, da sie fern einen leisen Lichtschein bemerkte, durch die dunklen Zimmer Magda nach.
In dem großen, düstern Gemach saß Magda am kleinen Rokokoschreibtisch der Herzogin bei einem Licht vor den matt glänzenden Goldbronzebeschlägen der vielen kleinen Schubkästen des Aufsatzes, unter dem Bilde des Herzogs, die Unterarme auf der Tischplatte. Renate legte, zu ihr tretend, die Hand auf ihre Schulter, und sie sagte:
„Ich kann nicht mehr; ich möchte zu Bett gehn. Laß ihn noch nicht allein. Starke Männer wie er sind so hülflos. Es wäre gut, wenn er weinen könnte. Was schenkst du mir vorm Schlafengehn?“ fragte sie, zu ihr aufblickend.
Sie schwiegen Beide, Beide an die Genfer Zeit denkend, wo Renate Magda allabendlich einen Spruch schenken mußte, und Renate schauderte vorm Schwinden der Zeit. Lange fiel ihr nichts ein, doch dann kamen die Worte Hölderlins zum Vorschein, die sie leise über Magdas Scheitel vor sich nieder sagte:
„Gleich dem Gewölke dort geh ich dahin, und du
Ruhst und glänzest in deiner
Schöne wieder, du süßes Licht.“
Als sie zusammen in den Saal zurückkehrten, stand der Doktor Birnbaum neben dem Herzog, an seiner Zigarre wickelnd, den Kopf gesenkt; der Herzog hielt den seinen in der linken Hand, die er auf das Knie gestützt hatte. Plötzlich machte der Doktor einen kleinen Ruck von Verbeugung und schlich leise hinaus. Magda hatte sich von Renate losgelöst, stand einen Augenblick frei im Raum, schien zu schwanken, aber dann ließ sie die Hände fallen und ging eilig zur Tür und verschwand. Renate blieb stehn, schaudernd vor Ratlosigkeit. Der Sturm wühlte heftiger um das Gebäude; am ganzen Haus schienen klappernde Dinge locker zu sein, die sich losreißen wollten. Auf einmal schlug irgendwo in der Tiefe eine ferne Tür laut hallend zu. Der Herzog ließ die Hand sinken, richtete sich auf und sah Renate in seiner Nähe. Augenblicks mußte er lächeln, und sie sah deutlich den Ausdruck eines Menschen, der leidet und dem ein Andrer eine schöne Sache hingeschoben hat, über die er sich freuen muß, — aber dies erlosch, er senkte langsam den Kopf und sagte, scheinbar aus früheren Gedanken und sehr verzweifelt: „Wissen Sie denn vielleicht einen Spruch?“ — Sie erschrak.
Aber sie dachte nicht weiter, suchte umher, aber nun war sie durch die Verse vorhin an Hölderlin gefesselt, ihr fiel ein: ‚Wie so selig doch auch mitten im Leide mir ist‘, und das sinnlose Wort ließ sich lange nicht abschütteln, bis sie endlich wieder jenes erste erhaschen konnte, und im dunklen Gefühl, daß es irgendeinen Sinn habe, sagte sie leise das Ganze auf:
„Heilig Wesen! gestört hab ich die goldene
Götterruhe dir oft, und der geheimeren
Tieferen Schmerzen des Lebens
Hast du manche gelernt von mir.
O vergiß es, vergieb! gleich dem Gewölke dort
Vor dem friedlichen Mond, geh ich dahin, und du
Ruhst und glänzest in deiner
Schöne wieder, du süßes Licht!“
Sie hatte nach der Lampe gesehen, solange sie sprach, und nun, ohne erst mit Augen zu fragen, wußte sie, daß sie zu ihm hinzugehn hatte, aber jetzt war es der Erasmus, dem sie die Hand auf die Schulter legte. Während vor ihren verdunkelten Augen die Wände der Kapelle sichtbar wurden, die Pfeifen der Orgel, die Fensters, hörte sie das aufsteigende Schluchzen in der Brust des Mannes, das er noch bezwingen wollte, dann fühlte sie ihre linke, herabhängende Hand heftig ergriffen, und diese an seine Schläfe pressend, daß es sie schmerzte, weinte er, und sie hielt still, bis er genug hatte. Einmal, wie ein Knabe, der glaubt, sich entschuldigen zu müssen, brachte er hervor, ungeschickt und kläglich: „Sie war doch nie da, und nun ist sie ganz fort.“ Renate biß die Zähne zusammen; langsam hörte er auf. Um ihn ja nicht zu beschämen, ging sie eilfertig hinaus.
In ihrem Zimmer saß Renate lange auf einem Stuhl, biß ins Taschentuch und dachte, es sei nicht anders, und sie müsse dem Erasmus nun schreiben, daß er sie haben könne. Sie fühlte mit furchtbarem Reiz den Zwang, irgend etwas zu tun, als sei da ein Strom des Leidens, über den ein einzig Mal und in diesem Augenblick der Damm einer Tat geworfen werden müsse, und wenns eine Untat war. Der Erasmus hatte niemand, und ihm stand sie doch nah, und der reiche Mann hier, der Herzog, der hatte gleich jemanden bei der Hand. Ihr quoll das Herz von Elend, die Zunge ward ihr bitter im Mund, sie sprang auf, lief zur Tür, auf den dunklen Flur und an ein Fenster. Aber es war kein Licht mehr im Saal. Im Dunkel gesträubte Gestalten von Bäumen schüttelten sich, wankten, schlugen mit Ästen; schwer goß der Regen, und die Dachpfannen lärmten. Einmal, dachte Renate sinnlos, sind wir ja alle tot. — Als aber jetzt ein Geisterscheinen durch die Nacht ging, hielt sie es für die abgeschiedene Seele, die in Sturm und Nächtelärm auch noch nicht wußte wohin, herumwehend, nach Seufzern der Lebenden haschend und langsam, langsam sich verlierend in das Allgemeine der dämmrigen Welt.
Sie trat zurück vom Fenster, ging in ihr Zimmer, entkleidete sich müde, legte sich und verlor in Bälde Sinne und Herz in dem öden Dämmerland der zerfließenden Träume.
Renate saß auf dem Rand des Deiches im Schatten des hinter ihr stehenden Sonnenschirmes, ließ die Füße nach unten hängen, hielt die Hände über Buch, Briefblock und Bleistift im Schoß gefaltet und betrachtete die hellblaue, sonnenglitzernde Wasserfläche vor ihr mit tiefem Behagen. Als sie sich satt gesehen zu haben glaubte, legte sie das Buch neben sich ins Gras, klappte den Löschblattdeckel des Briefblocks um, setzte die Feder an und schrieb:
„Lieber Josef!“
An meinem Geburtstage kam ich diesmal leider nicht —, wollte sie fortfahren, allein das war nicht möglich. Es gab nichts zu schreiben. Sie wollte sich besinnen, weshalb das so war, fand aber keinen Grund, worauf sie das Blatt lostrennte, es erst zusammenfalten wollte, dann aber wie es war aus der Hand fliegen ließ. Es stolperte mühselig, vom Luftzug unbeholfen gestützt, die grüne Deichwand hinunter bis unten, wo es groß und weiß haften blieb. Wenn ich nun wüßte, ob Flut oder Ebbe ist, dachte Renate geringschätzig, könnte ich ja noch warten, bis es in See sticht. Ein schönes weißes Blatt mit Wasserlinien und Lieber Josef! darauf dürfte genügen. Sie wartete wirklich ein Weilchen, sah eine, zwei Wellenzungen — träge, als ob es die Mühe nicht lohnte, nach dem Blatt emporlecken, dann hatte sie genug, sah auf das neue Blatt auf ihren Knien, setzte wieder an und schrieb in einem Zuge:
„Ach, Georges ...
„Ein ganz kleiner Wind möchte gar zu gern den unteren Rand des Blattes hochheben, auf dem ich schreibe, immer wieder versucht ers, seine unsichtbare, kleine weiche Hand drunter zu schieben, bis ich ihm einen Klaps gebe, dann ist er für Augenblicke still. Auf dem Papier liegt Schatten, und links unter mir liegt ein unförmliches Ungetüm von Schatten die Grasböschung hinunter, das bin ich mit dem hinter mir stehenden Sonnenschirm; rundum aber ist alles Licht, schwellendes, singendes, funkelndes, flimmerndes, tanzendes Sommerlicht, aber was mir im Ohre, im Blute rauscht, leise rauscht, anschlagend immerfort, immer wieder, ununterbrochen, das ist die See, die See dicht mir zu Füßen am Deich, auf dem ich im Grase sitze, die See, die, wie mir scheint, in die höchste Flut gestiegen ist, die beim Landwind nicht brandet, sondern nur anschlägt, immer wieder, ein kleiner Schlag, und wieder — ein leichter Schlag, und so fernhin zur Linken, und fernhin zur Rechten am Ufer die leise Bewegung des weißen Bandes, das zurückgezogen wird und wieder angeworfen, so leicht, so leicht ... Aber wenn ich die Augen hebe, liegt sie still und gewaltig da, nicht eben unermeßlich, der Horizont ist ganz nah, es ist nur ein kurzes Stück Wasser, das ich sehe, aber es ist doch unermeßlich, denn es endet nirgends, und es bewegt sich so geheimnisvoll, es ist wie eine ungeheure Masse von Wesen, Tierwesen, Götterwesen, gestaltlos aufgelöst und doch wesenhaft, als könnte jeden Augenblick Gebärde und Blick und Leib deutlich herausspringen und sich zeigen, aber schon versinkt es wieder und ist so beklemmend allgemein, Heerscharen, nur Heerscharen heranströmender Seelen, die niemals näherkommen. Und kühl ist es dabei, wonnig kühl und glitzernd und wäßrig dunkelblau und unsagbar ruhig unter der großen Sonne am Himmel.
„Ich hab die burgunderrote Seidenjacke an, Georges, es wäre mir aber nicht unlieb, wenn Du Dir den hinter mir stehenden gelblichen Leinenschirm weg dächtest und an seiner statt — Septentrio, sanftesten Seewind, einen kiefernbraunen Götterjüngling, der mit ebenhölzernem Kamme — — soweit. —
„Lieber guter Georges, als ich zuerst eben Deinen Namen schreiben wollte, hätte ich fast mit einem S angefangen und Schorsch geschrieben oder auch Schorschl. Siehst Du, so wohl ist mir! Nicht ganz christlich wohl, denn wir haben ja vor kaum acht Tagen die arme Helene zur Ruhe gelegt auf der kleinen Insel im Süßwasserteich. Am Rande einer kleinen Lichtung liegt sie, wie sie es gewünscht hatte, unter einer Blutbuche. Kein Grashügel ist zu sehn, nur flacher, grüner Rasen, und am Baumstamm ist eine eherne Tafel, von weitem kaum sichtbar, auf der steht nur
Helene
Herzogin
„Der Herzog war fast drei Wochen fort; ich sehe ihn nun zuweilen von weitem im Park sitzen. Georg ist wieder fort ins Semester.
„Lieber Freund, es ist ein Wintertag gewesen, und an diesem Wintertage verlor sich diese Renate Montfort und sagte zu Georges, weil er etwas gesagt hatte, das ihr nicht gefiel: Geh hinaus. Da ist er aufgestanden und hinausgegangen, und sie saß böse da und zerriß ihr Taschentüchlein wie so eine Hysterische, bis er wieder hereinkam und sagte, es hätte aufgehört mit Regnen. Da ist sie aufgestanden und vor ihn hingetreten, hat aber nur ihr rechtes Handgelenk auf seine linke Schulter gelegt und ist so einen Augenblick dagestanden und hat den Kopf gesenkt gehalten und ist hinausgegangen. Ich habe eben versucht herauszubekommen, was ich gedacht haben mag in jenen Augenblicken, aber es muß feststehn, daß ich wirklich nichts gedacht habe, nur etwas empfunden. Ich glaube, bei Männern ist das unmöglich, und ich sage gleich, daß sie es deshalb besser haben, denn sie wissen sich immer zu helfen mit einem obstinaten Gedanken, wir aber sind uns selber preisgegeben, müssen aus solchen Pausen des Nichtseins nachher handeln, und alles wird verkehrt. Sonst habe ich ja diesen ganzen, traurigen Winter lang nichts getan als herumgegrübelt, es war entsetzlich, ich weiß nun erst, wie meiner armen Magda ums Herz gewesen sein muß in dem Winter vor zwei Jahren.
„Sage, Georges, ist es wahr, daß in der Güntherstraße die Sonne nicht mehr scheint? Oft, so oft, wenn ich mittags am Fenster stand und den alten Mann in seinem schwarzen Mantel, gebückt und schneeweiß auf dem Weg um die Sonnenuhr wandern sah, so dachte ich, daß er den Schatten von der Uhr fortgenommen habe und selber der Schatten sei, der in furchtbarer Schnelle herumkreise und die ganzen Sonnenstunden des Tages abwirble, und wenn er plötzlich fort war, war auch keine Zeit mehr im Garten und im Hause, und alles stand still.
„Es war immer Schlackerschnee und Regen, solange ich diesen Winter zurückdenken kann, nur einmal erinnere ich mich eines Vorfrühlingstages, da fuhr ich zu Irene, und die Sonne schien, aber siehst Du: in der Güntherstraße war das nicht. Und ich kränkelte immerfort — wann wäre ich früher krank gewesen! — und oh wie mir am ganzen Leibe zumute war, das kannst Du ja gar nicht ahnen, und ich kanns nicht beschreiben.“
Aufblickend dachte Renate, daß aus den zwei Tagen, die sie allmonatlich zu ruhen pflegte, mit der Zeit fünf geworden waren, wo sie sich kaum zu regen vermochte, wo sie kaum ein Stück Kleidung am Körper ertragen konnte und immer nur auf dem blauen Sofa lag, halb oder ganz entkleidet, stundenlang manchmal vor sich hin weinend vor Gram und Hülflosigkeit über sich selbst, aber das konnte sie ihm nicht gut schreiben, und sie fuhr fort:
„Tagelang, wochenlang drückte mich jedes Band, jede Falte auf der Haut, ich kam mir neidlos vor wie die berüchtigte Prinzessin auf der Erbse, und wieder tagelang und wochenlang war ich so schlampig, daß ich vor reiner, oder vielmehr unreiner Trägheit manchmal des Morgens nicht gebadet habe, sondern bloß abends. Ich weiß nicht, woher ich so war, denn das kann ich doch nicht auf mein Herzeleid wegen Onkel Augustins schieben. — Was es auch gewesen sein mag, so bitte ich Dich jedenfalls heute herzlich um Verzeihung wegen jeder Laune und Unwirschheit, wobei mir albernerweise einfällt, daß ich noch nie einen Menschen habe sagen hören, er sei wirsch, aber nun bin ich wirsch.
„Da ist der Bleistift abgeschrieben, und ich habe kein Messer, um ihn anzuspitzen, und Georges ist nicht da, der ein Messer haben würde, und ich denke, wenn mans wagen könnte, so würde ich mich jetzt splinterfaselnackt ausziehn und von oben ins Wasser springen, da wo es am tiefsten ist. Leider konnten wir noch nicht in der See baden, es ist noch zu kalt. Ich hole das letzte Bißchen Graphit aus dem Bleistift heraus, sende Dir viele schöne Grüße und anbefehle, daß Du spätestens am fünfzehnten Juli in Helenenruh zu erscheinen hast. Helenenruh gehört nämlich jetzt Magda, und da sogar der Herzog sich als ihr Gast betrachtet, so wirst Du kaum herzoglicher als der Herzog sein wollen. Grüß Gott, Georges, und mach, daß Du kommst! Stets Deine alte Renate.“
Renate legte die Blätter zusammen und in das Buch, auf dem sie geschrieben hatte, legte es ins Gras und streckte sich lang aus. So lag sie eine halbe Stunde, oder eine ganze, sie wußte es nicht, die Hände unterm Kopf, friedlich aufgelöst in Sonnenschein, Himmel und Geräusch der See. Dann stand sie auf, klappte den leinenen Sonnenschirm zu, klemmte ihr Buch unter den Arm und schlenderte langsam über die Wiesen hin, im Gehen einen lockern Strauß von gelben Sternblumen und Gräsern sammelnd. So geriet sie in den Schatten des Parks, wanderte hindurch und geriet an den Teich, ging zur Bank, die dort stand, und setzte sich, machte ihr Buch auf und las ein Stück im Großen Kriege der Ricarda Huch, merkte aber, daß es sich nicht gut las im Freien und in der Sonne. Ja, dachte sie aufsehend, wie kann man im Sonnenschein lesen: Graues Gewölke bedeckte den Novemberhimmel, oder dergleichen? Aber sonderbar, daß nur das künstliche Licht abprallt — denn dabei gehts doch! — aber die Sonne läßt ihrer nicht spotten ...
Das Stück des Weihers vor ihr war glatt und schwarz, Himmelsblau und Wolken erfüllten die Tiefe, vielmals tiefer als der Weiher selber war, zur Rechten war alles grün, eine rasenhafte Fläche von Entenflott, ja dort war wohl Magda hineingeritten und hatte Jason herausgeholt. Wie war das zu verstehn? Jason, der herumging wie eine sonderbare Abart des lieben Gottes, der sollte hier — —? Magda freilich, — ihre Tat war eher zu verstehn heute. Nur dunkel tauchte in Renate eine sonderbare Prophezeiung auf, — ach längst erledigt und abgetan! — Renate sah nach links hinüber zu den Baumkronen der Insel in einiger Entfernung. Sonderbar, die kleine Brücke, die dort hinüberführte, stand ja schräg empor? Richtig, sie erinnerte sich, daß ein Gewinde daran war, um sie durch einen Knopfdruck, wenn man auf der Insel war, steigen zu lassen, so daß niemand herüber konnte, denn es war ja einmal ein Liebespavillon auf der Insel gewesen, die Trümmer waren erst jetzt fortgeräumt, denn nun war es ein Friedhof; und nun hatte der Herzog wohl auch das durchgerostete Hebewerk erneuern lassen. Renate dachte an Stöckelschuh unter breiten Seidenröcken, an zierliche Krummstäbe, Bänder und schäferliche Hüte, die einmal über diese Brücke geglitten waren. Schwerer trug sich ein Sarg von Ebenholz mit silbernen Beschlägen an dem traurigen Tag der Fackeln und Flöre, seltsam flatternd in kräftigem Seewind und hellem Sonnenschein.
Indem bewegte sich etwas auf der Insel, ein Mensch, schwarzgekleidet, kam auf die Brücke zu, von einem andern, kleineren begleitet, der Herzog auf seinen Stöcken. An der Brücke blieb er stehn und schien herüberzublicken. Dann ging er über den Steg, blieb stehn, und nun entfernte sich der Andre, Dr. Birnbaum wars, nach dem Schloß hin. Der Herzog kam auf dem Uferwege auf ihre Bank zu, langsam, Stock um Stock und Fuß um Fuß vorwärtssetzend, vornübergebeugt, — Renate blickte fort, um es nicht mit anzusehn. Als sie seine Schritte nahe hörte, stand sie auf, er versuchte eiliger zu gehn und bat sie schon, sitzen zu bleiben. Bald darauf saß er neben ihr, erhitzt von der Anstrengung, sein Keuchen unterdrückend, die Stöcke zwischen den Schenkeln, barhaupt. Renate fand ihn stiller, die Augen freilich hatten sich noch nicht gänzlich wieder in der Gewalt, und ein Blick von sonderbarer Ängstlichkeit kam dann und wann zum Vorschein. Verquer dazwischen fuhr dann ein gewaltsamer Ausdruck von Verächtlichkeit, am Munde im Bart verzuckend. So saß er eine Weile still, über den See hinblickend, sah dann zur Seite, sah Renates Buch auf der Bank, rührte mit der Hand daran und sagte, er habe sie hoffentlich nicht gestört. Renate, schon zufrieden, daß er sich wieder an einen Menschen gemacht hatte, dachte, daß er nun einen Anfang gefunden habe, und lächelte nur verneinend; da er aber wieder schwieg, sagte sie ihm, was sie eben gedacht hatte vom Lesen im Sonnenschein. Er hörte zu und schwieg weiter, sagte dann, einen Schweißtropfen mit der Hand von der Stirn wischend: „Ein hübscher Gedanke, ja, sehr hübscher Gedanke. Meine Frau las viel, auch die letzten Jahre wieder konnte sie sich doch vorlesen lassen, ja, sehen Sie, das muß man doch sagen, ja, das muß man doch sagen, daß es, solange ein Mensch lebt, solange er leben muß, nichts Unerträgliches gibt. Ihr Kopfschmerz war so, immer durch Tage, ja durch Wochen hin so, daß sie in den ersten Jahren mit Gewalt am Leben gehalten werden mußte. Ja, und dann hat es sich doch gegeben, oder vielmehr sie ist es gewohnt geworden. Mitunter waren ja auch Tage, zwei Tage, drei Tage, wo der Schmerz nur ganz leicht war. An den schweren Tagen soll es so gewesen sein, als ob — also wie diese mittelalterlichen Mundbirnen — als ob ihr die Knochen des Kopfes von einer ungeheuer langsamen Gewalt auseinandergetrieben würden, aber das waren nur die Nerven, ja nur die Nerven. Sehen Sie, und das dauerte nun bald zwanzig Jahr.“
Er hatte langsam, aber doch leicht und ruhig, beinah trocken vor sich hingesprochen. Jetzt drehte er sich zu Renate herum, legte die Hand auf das Buch und sagte:
„Die Weisheit des Herrn ist unvergänglich, und seine Güte währet ewiglich. Dies Wort ging so in mir herum, und sehen Sie, ich finde es doch erstaunlich, wie die Menschen solche Worte aufgestellt haben. Man kann fast nicht daran rütteln, es steht so da wie ein Turm, und wenn es sich auch nicht denken läßt, so läßt es sich doch sehn, nicht einsehn, aber sehn, jawohl ...“
Nun schwieg er wieder und sah vor sich hin. Renate dachte, daß dieser Mensch wahrscheinlich niemals geschwiegen habe. Er konnte alles sagen; was er wollte und wie ers wollte. Immer waren Menschen da, die es anhören mußten und darauf eingehn. Und vielleicht gerade, weil er gegen seine Frau zum Schweigen verurteilt war, hatte dies ihn um so leichtherziger gemacht im Aussprechen seiner Gedanken gegen die Andern, gegen seinen Sekretär vor allem, der ihm durch den Tag hin anhing wie ein Schatten. Denn das Eigentliche war es doch nie, was er sagen konnte, oder wenn es schon das Eigentliche war, so konnte ers doch nicht auf die rechte und innerst gewünschte Weise hervorbringen, und es war — aber in diesem Augenblick hörte Renate ihn wieder sprechen und merkte betroffen, daß er eben das, was sie zu denken im Begriff war, aussprach, indem er anfing:
„Ich will Ihnen sagen — es ist nun schon so, daß ich den Mund nicht halten kann,“ unterbrach er sich lächelnd — „ich will Ihnen sagen, daß ich eigentlich jahrelang, zwanzig Jahre lang in einer fremden Sprache geredet habe. Ich habe nicht wenig geredet, es war ja immer wer zum Zuhören da, aber immer habe ich meine Gedanken erst so übersetzen müssen; in die Fremdsprache. In der eigentlichen schwieg ich mich aus, in der hätte ich mit Helene reden können, aber nun war das ja zugeschüttet. Haben Sie“, fragte er, sich unterbrechend, „meine Schwester kennen gelernt? Richtig, Sie spielten uns ja vor neulich abend! Ja, mit der Fürstin habe ich wohl auch hier und da ein Wort in unsrer Muttersprache gesprochen, aber es war doch nicht die richtige, nein, es war nicht die richtige.“
Er faßte sich mit der Hand nach den Augen, als gebe es etwas wegzustreifen, und sagte:
„Es ist mir doch fortwährend, als wäre sie selber wie ein Schleier vor mir weggenommen, und ich kann sie nun erst sehn, wie sie wirklich war, und was ich — nie besaß, und was ich nun endgültig verloren habe.“
Er hielt inne, und Renate merkte wohl, daß dies auch nicht die rechte Sprache war, und wie er herumtastete, hülflos genug, und nach um so gemeineren, allgemeineren Worten griff, je heftiger ihn nach eigentümlichen verlangte. Hastig sprach er schon weiter, auf einmal von seinem Malheur, an das er nun immer denken müsse, dies merkwürdige Zusammentreffen mit dem Krankheitsbeginn seiner Frau, und er erzählte, wie das gewesen sei: zwei Stockwerke hoch sei die Planke des Baugerüstes gebrochen, und er habe schwankend und um sich greifend sich noch gesagt: springen und — vornüberfallen, sonst ist das Rückgrat zum — da lag er unten, die beiden Füße waren einfach ab. Anfänglich habe er, als es mit dem Gehen nichts wurde, geheult wie ein Dorfköter an der Kette, — er lachte gutmütig und zeigte Renate eine Narbe am Handgelenk, die sei vom Einschlagen der Glasscheibe am Gewehrschrank, den sie zugeschlossen hatten, ja, damals sei er ganz außer Rand und Band gewesen. Wie sich denn aber das Leiden seiner Frau so hartnäckig erwiesen habe wie seine Gehunfähigkeit, da habe er nachgegeben und um so leichter verzichtet. Vielleicht, meinte er, hätte ich sogar gehen gelernt, der Arzt sagte sowas von ein paar Jahren, dann würde alles wieder zurechtgewachsen sein ...
„Aber sehen Sie,“ hörte Renate ihn wieder deutlicher reden, da sie sich aus den Vorstellungen und Bildern, die seine Worte erzeugten, losmachte, „da wollte ichs denn auch nicht mehr, wenn Sie vielleicht eine Ahnung haben, was Warten ist, Warten, wie sie und ich auf ihre Heilung, auf Linderung gewartet haben, erst Wochen, sechs Wochen, neun Wochen, zwölf Wochen, und auf einmal warens Monate, drei Monate, fünf Monate, acht Monate, und nun — Jahre, ein Jahr, drei Jahre, vier Jahre, fünf Jahre, sechs Jahre und am Ende — alles umsonst.“
Er schlug die Handballen gegen die Stirn, krümmte und wand sich innerlich. Gleich aber ermannte er sich wieder, setzte sich gerade, faßte seine Stöcke und sagte:
„Ja, sehen Sie, dabei bin ich nun das hier geworden. Sie glauben vielleicht, ich wäre als Junge so was gewesen wie Georg. Ha, der Junge denkt in einer halben Stunde soviel wie sein Vater nicht im halben Jahr!“ Er lachte. „Ich sage nicht, daß ich mit ihm zufrieden wäre, man muß ihn schon lassen, da läßt sich nichts ändern, übrigens ist er die Monate jetzt in Trassenberg stramm hinter der Arbeit gewesen, mein Sekretär bezeugts, also ist es wahr. Ein komischer Bursch. Ja, hören Sie mal, wir machten eine kleine Reise zusammen, gehen in einen Laden, und ich kaufe was für Helene, da habe ich kein Geld bei mir und sage ihm, er solls auslegen. Ja, er hätte kein Geld bei sich, sagt er. Nun, das kann vorkommen, aber ein paar Tage später passiert dieselbe Geschichte, und da erzählt er mir denn, er hätte überhaupt niemals Geld und zeigt mir so zwei, drei Goldstücke, das sei alles, die brauche er hin und wieder zum Verschenken, und zeigt mir ein Scheckbuch und sagt: ‚Ich schreibe immerzu meinen Namen.‘ Unbegrenzten Kredit haben, ist groß, sagt er, ihn benützen kann nur kleiner sein, — oder so ähnlich. Nein, da war ich ein Windhund gegen ihn. ‚Höchstes Glück der Erde,‘ wie der Dichter singt, ‚heißt der Adelsspruch, liegt auf dem Rücken der Pferde‘ und so weiter. Ja, das waren auch Zeiten!“ Er sah an Renate vorüber weit weg in die Erinnerung.
„Eines Tages,“ begann er wieder mit leiserer Stimme, „eines Tages sagte eine junge Dame zu mir, weil ich irgendwas nicht gewußt hatte: ‚Wie kann man so dumm sein!‘ Das hatte ich noch nie gehört, und nun von solch einem Wesen mit großen Augen und braunen Haaren! Die Sache war schon abgekartet, sie war Hofdame und würde nicht viel haben, aber doch gerade so ein Stück Land, das meinem Vater zur Abrundung fehlte, sie war reichsunmittelbar, und so paßte alles, bloß ich habe ihr ganz und gar nicht gepaßt. Wir verlobten uns allerdings, und ich war heftig verliebt, sie aber schickte mich auf Reisen. Mein Vater hatte nichts dagegen, und so reiste ich, ja, ich reiste nicht allein, ich hatte eine Geliebte, die nahm ich mit, ich war trotzig auf meine Braut, so fuhr ich um die halbe Welt, aber ich kam wohl nicht viel anders wieder, als ich ausgefahren war. Ja, nun hören Sie, wie es mir erging. Ich hatte doch gedacht, meine Braut würde das nicht merken mit meiner Reisebegleiterin, aber weit gefehlt, denn sie hatte mich auf der ganzen Reise von einem Freund beobachten lassen — dies gestand sie mir erst Jahre später —; und also, wie ich wieder vor sie hin trete, sagt sie: Wo bist du gewesen? — Es ging mir durch und durch, wie sie mich ansah, dermaßen kaltblütige Augen machte sie, und ich fing an zu stottern. Bisher, sagte sie da, ich höre es noch heute, bisher habe ich dir wenig genützt; nun kannst du noch mal andersherum um die Welt fahren, dann werden wir weiter sehn. — Diesmal aber gab sie mir einen Freund mit, einen kleinen Juden, den ihr Vater als Bocherknaben aufgegriffen und erzogen hatte. Er hatte alles gelernt, was es in der Welt zu lernen giebt, sprach viele Sprachen, war so unauffällig wie eine Katze, so bescheiden wie ein wohlerzogener Hund und so klug wie Rabbi Löw, nun, Sie kennen ihn, er hat sich seitdem verändert, es ist mein Doktor Birnbaum, der ging also mit, und da gingen mir die Augen auf. Als ich dann wieder kam, — nun, was mich selber angeht, ich hatte einen Eckstein zu mir gelegt, und sie fiel mir damals um den Hals und sagte, sie wäre gestorben, wenn sie mich nicht gekriegt hätte. Sie hätte mich ja nicht gewollt, grollte ich da. Dummes Zeug, sagte sie, ich —“
Überdem gingen ihm die Worte aus, seine Augen verdunkelten sich, es rauschte im See, er drehte sich heftig um, der schwarze Artaxerxes kletterte von der Insel ins Wasser, schlug mit dem lebendigen Flügel und glitt schaukelnd davon.
„Ein Jahr“, sagte der Herzog vor sich hin, „neun Monate lang war sie jung und schön und zierlich; ihre Hände griffen kräftig zu, und so packte sie mein Herz, sie ließ ihrer nicht spotten, ja, und nun ist sie ja tot ...“
Der Schwan hatte einen Bogen geschlagen, kam nun in schnurgerader Bahn auf die beiden Sitzenden zugeschwommen, hin und wieder den Kopf drehend, ein wenig emporfahrend bei jedem Stoß des ruhig treibenden Fußes. Gleichzeitig wurden Schritte hörbar, Doktor Birnbaum erschien, langsam am Ufer hergehend. Der Herzog wandte sich nach ihm um, nickte und sagte, wieder zu Renate gedreht, trübherzig spottend: „Der Arzt mit der mahnenden Arzneiflasche Arbeit.“
Der Doktor nahm ein Stück Brot aus der Tasche, brach Brocken ab und streckte die Hand aus; der Schwan schwamm ans Ufer, stieg herauf, der lahme Flügel hing kahl und ergraut zu Boden, er streckte den Hals, nahm den Brocken und verschluckte ihn; dabei sah er mit dem roten, stirnartigen Wulst über dem Schnabel und den rotgeränderten Augen nicht klüger und nicht stolzer aus als ein häuslicher Hühnervogel. Der Herzog seufzte leicht und stand auf.
„Doktor Birnbaum, sehen Sie, hat auch den Schwan repariert,“ sagte er, „schon benimmt er sich wieder zahm und manierlich.“
Er nahm die Stöcke in die linke Hand, streckte Renate die rechte hin und bat, ihm nicht zu zürnen ... Sie konnte ihn nur herzlich ansehen und ihm die Hand drücken. Er drehte sich weg, reichte dem Doktor einen Stock und faßte seinen Arm. Renate wandte sich ab.
Auf dem grünen Uferstreif hockte der Schwan und putzte mit dem Schnabel an dem vertrockneten Flügel. Lange blickte sie gedankenvoll auf ihn herunter, dann kam Magda, um sie zum Frühstück zu holen, aber sie schien dem Schwan nicht zu gefallen, er fauchte, machte sich auf, stieg ins Wasser und zog mit unwilligen Kopfbewegungen davon. Magda lächelte und meinte, er habe es ihr nicht vergessen, daß sie ihn überflog, — fragte dann, ob Renate mit dem Herzog gesprochen habe. Renate versuchte, während sie auf das Haus zugingen, einiges von dem, was er gesprochen hatte, wiederzugeben, gewahrte aber jetzt, als habe Gewölk sie bisher verdunkelt, die Sonne wieder, den juligrünen Garten, atmete auf, brach einen Satz inmitten ab, legte einen Arm um die Freundin und sagte:
„Ich möchte dich an der Hand fassen, wie meinen Vater als Kind, wenn ich ‚blind‘ mit ihm spielte, und so mit geschlossenen Augen durch den Wind und den Sommer hingehn.“
Sie blieb stehn, schloß die Augen, streckte die Arme ein wenig rechts und links und rief leidenschaftlich: „Ach, ein Unsichtbarer hat uns ja doch immer an der Hand und führt uns durch Winter und Sommer, wohin er will.“
Georg erwachte im Finstern und hörte den Donner rollen, blieb aber so sehr in der Verschüttung des Schlafs, daß er sich einbildete, er träume, nur aufseufzte und sich streckte. Dann war aber ein Mensch im Zimmer, und mit gelindem Erschrecken erschien ihm in einem schwachen Blitzleuchten Cordelias weißes Gesicht und das glänzende Schwarz ihres Mantels. Indem er noch murmelte, was sie denn wolle, fühlte er ihre Hand auf seinen Augen, die sie zudrückte, und am Einsinken der Matratze, daß sie neben ihm kniete. Dann hörte er sie den festen Laden, über ihn hingebeugt, zart umlegen und verriegeln, endlich auch das Schiebefenster langsam, fast geräuschlos herabziehn. Im Begriff, etwas Dankbares zu murmeln, schlief er wieder ein.
Als er dann wieder zu sich kam, war es dämmrig, fast noch dunkel im Raum, doch hingen unmittelbar über ihm an seiner Linken Lichtfäden im Laden, und schon hellwach und frisch sich zurücklegend, sah er die beiden ausgeschnittenen Herzen im Holz oben matt leuchtend schweben. — Es regnet wohl, dachte er, schade! in schwacher Erinnerung an ein Gewitter bei Nacht. Ach, sieh an, wie wundervoll ich jetzt schlafe, selbst bei Donner und Blitz! — Und die Arme mit geballten Fäusten ausstoßend und beugend, fühlte er sich krachen und strotzen von grüner Gesundheit.
Aber ich hab mir doch über etwas klar werden sollen über Nacht, fiel ihm ein, und im Augenblick auch schon der homerische Vers: Πολλα δ’ὁ γ’ἐν ... der dritte der Odyssee, über den sie gehadert hatten miteinander, bis ihnen die Augen zufielen, weil Cordelia gesagt hatte, es sei der prachtvollste Vers aller Dichter und Völker, worauf aber er sich anheischig gemacht hatte, ihn nichtsdestoweniger in sein geliebtes Deutsch zu übertragen, aber war sie vielleicht zufriedenzustellen? Nun, er selber wars auch nicht, aber nun wollte er es gleich noch einmal versuchen ..
Polla d’ho g’en ponto pathen algea hon kata thymon ...
Ah nein, was waren es auch für Worte, was war es für ein Rollen und Knattern, eine strotzende Vollheit im Wohlklang der wechselnden O- und A-Laute, und hinter dem köstlich geschmeidigen algea das schroff gesetzte hon, dann das kalt schmetternde kata und endlich — ihre ganze Wonne — nach all den dunkelklaren und großoffenen Lauten das tiefe, hinziehend glühende: thymon ...
Voll des Grames da ward vom Meere die Seele des Kühnen ...
Nein, sie hatte recht, es war nichts. Kühnen hatte sie freilich als schön erfunden zugeben müssen, da thymos ja nicht nur Seele hieß sondern auch Mut, — aber wo waren die vielen O und A? Den Ersatz durch die zwei prachtvollen E-en konnte Georg jetzt auch nicht mehr aufrechterhalten und begann, nach As und Os zu suchen, wälzte sich umher und bekam endlich nach vieler Mühe zusammen:
Zornvoll, gramesvoll ward vom Donner der Wogen der Kühne.
Freilich zu wenig A-en waren es immer noch, aber es klang doch sehr schön: Zornvoll, gramesvoll ward ... Wie spät war es eigentlich? schon fünf und Zeit zum Aufstehn? — Aber die Uhr vom Nachttisch ertastend, erkannte er, daß es noch nicht halb fünf war. Ah dann konnte er einmal die Sonne aufgehn sehen!
Das kaum fußhoch über seiner Matratze eingesetzte Fenster hochgeschoben, den Laden auseinandergeschlagen, empfing Georg den erstaunlichen Anblick einer dunklen Welt, in der es schon Tag war. Nicht Tag, — es war seltsam verhangen, aber schon hell, die Sonne noch nicht aufgegangen. Kein Vogellaut ließ sich hören, Totenstille war umher, der Himmel oben grau, aber siehe da — gerade drüben überm unermeßlich dämmernden Land, blitzend in güldener Weiße, stand der Morgenstern in klarem Raum, einsam in unendlicher Kühle. Nun begriff Georg auch den Schauer der Stille im eigenen Herzen, die von dem großen Stern ausging. Heilig stand er, ein silberner Erzengel, gebieterisch, ein Herold des Ewigen, nicht fürstlich bei aller Hoheit, ein Diener des Fürstlichen, und hinter ihm — das undurchdringliche Fernengrau der Leere, die dämmernd bläuliche Unendlichkeit voller Straßen, die sich, alle zusammenlaufend, ins Unermeßliche verloren: Alle diese bleiben euch unzugänglich, sagte er ernst. — Georg konnte die Augen nicht wegwenden von der strahlenden Hoheit, und als er es endlich wagte und in den Garten hinabsah, war es ihm, als brenne der Stern seinen Blick durchdringend auf seine Stirne ein.
Stille unter ihm lag die halbkreisförmige kleine Plattform aus gelbem Kies, von der, unter der Rosenhecke hinweg, der grüne Rasen nach allen Seiten abfloß; still in der Mitte die roh gefügte Steintreppe, von Moosen und Staudengewächsen und schönen Gläsern bedrängt, ruhig hinabsteigend zum großen, rechteckigen Becken gründurchwachsenen Wassers, das kaum glänzte, die gemauerten Ränder überwuchert von Binsen, Schilf und Iris sibirica. Seitlich stiegen die Böschungen sacht an zum wagrechten Wiesenboden, der sich unter Buschwerk und Bäume verlor, an unzählbaren Stellen besetzt mit den großen weißen und farbigen Flecken der Blumen und Staudengewächse, die, jetzt matt scheinend, alle überleuchtet wurden von den mannshohen Pfeilern des Edelrittersporns, bekleidet rundum mit dem kalten und tiefen Blau der großen Blüten. Wie aber war die ganze Senke eingeschlossen in regungslose, betrachtende Erwartung des kommenden Lichts! Wie unsäglich stille verhielten sich die beblätterten Ranken der Crimsonrose mit schweren Blütenbüscheln, die jenseits des Wasservierecks vom pfeilergetragenen Balken hingen! und ringsumher wagte kein Hauch sich zu regen in den Sträuchern, den Hügeln der großen Aspiräen, den umschließenden alten Bäumen, durch deren breite Lücke und über die hinweg Georgs Blick nun mit Andacht hinauswanderte in das stille Morgenland, über die Weideflächen seiner Ebene im farblosen Licht, bis hin zu den Schatten der Wälder.
Wieder ausgestreckt, auf den linken Ellenbogen gestützt, erwartete auch Georg den Tag.
Langsam erst jetzt, unmerklich vorquellend, drang die Morgenfrische zu ihm herein, so unbeweglich war die Luft. Georg schloß die Augen und ließ es rieseln um sein Gesicht. — Sie schlief wohl noch unter ihm, die arme Seele. Arme Seele — wie sie sich in ihren Briefen, auch im kindlichen Geplauder mitunter nannte — und die reicher war, tausendmal reicher als er. War sie nicht wieder im Zimmer gewesen diese Nacht? Freilich — das Gewitter — sie hatte es nahen hören und war gekommen, sein Fenster zu schließen. Aber schon früher einmal hatte er, erwachend, sie neben sich kniend gefunden, dem Fenster zugewandt. Was sagte sie noch? Ich gab mir doch Mühe, es zu bewahren, aber wer behält all ihre Einfälle? man müßte Jasons Gedächtnis haben. — Richtig: was machst du denn da? fragte ich, und sie sagte, den Finger hebend, andächtig: Da zähl ich die Sterne. Ja, da zähl ich und zähl ich, und immer verzähl ich mich. Sprachs und legte sich enge zu ihm, und das war wohl ihr Nachtgebet, die Sterne über ihm zu zählen ... Aber dann erzählte sie noch etwas, ja, er hörte sie leise lachen und sagen: Rübezahl, das war aber ein dummer Geist, der wo die Rübsen hat zählen sollen und net können. Na, so eine Dummheit, die ollen Rübsen zählen und sich verzählen. Nein, weißt, einer war — der hat ‚Sternezahl‘ geheißen, auch so ein dumms Luder von an himmlischen Engel, der wo gsagt hat zum Herrgott: die Stern, und die zählt er ihm schon lang auf, so vüll sans denn do net! Hats aber net können. Sondern hat dagstanden eine ganze Ewigkeit lang und gezählt und gezählt und hat sich verzähln müssen olleweil. Weils halt — zu — viel san. Da is er trauri geworn, schloß sie kleinlaut. —
Aber weißt — sie freute sich wieder — den lob i mir, i! Net den dummen ... Sprachs, sagte: schlaf wohl! und war verschwunden.
Georg atmete dankbarlich auf und öffnete die Augen. Der helle Stern war tiefer gesunken und verblaßt, der Himmel sanft bläulich geworden und weiß, ein Wolkenrand, ein Hauch kleiner, silberweißer Bogen war lieblich hingemalt auf die kühle, schon leuchtende Wand. Da krähte ferne ein Hahn. Es wurde immer feierlicher umher; Georg schlug das Herz. Nichts, das sich regte, — doch — im Wasser unten gluckste es, ein Ring zeigte sich und dehnte sich blinkend aus; es ward heller. Auf einmal wehte ein kühler Atem so lebendig Georg an, so menschenhaft, daß es ihn überlief. Plötzlich hatten die Blätter der großen Akazie dort hinten sich bewegt, erwachend, nur an einem großen Ast, und überall knisterte es nun leise, Häupter bewegten sich, Schläfer, die ihre Lage wechseln wollten, wachten auf, Zweige rauschten sanft, die hohen Königskerzen bewegten sich gemessen, Binsen beugten sich und rauschten, unbeweglich standen die Irisstauden am Wasserrand scharenweis. Und nun wartete alles in Ergebenheit.
Georg erschrak. Was war das? Etwas Fremdes war über die Erde gekommen! Lautlos wie ein Geist war der rote Rand einer gewaltigen Kuppel in der Nebelferne erschienen.
Georg kniete im Bett. Die Hände willenlos zusammenlegend, sah er, ganz nah, die Gewaltige heraufsteigen, die rote, göttliche Riesin, unleuchtend, stumm, ungeheuerlich, unnahbar einsam, so erhob sie das mächtige Haupt und sah in die erschrockene Welt. — Er mußte die Stirn auf den Rahmen des Fensters vor ihm legen, sprachlos, quellenden Herzens.
Als er wieder aufzusehn wagte, war es Tag. Die Ebene hatte sich mit ziehenden Schwaden von Nebel bedeckt, die sichtbar über die glühende rote Scheibe wogten, die jetzt an einzelnen Stellen golden zu brennen begann. Von hundert Orten umher zwitscherte es nun und zirpte, in den Lüften flog Gold, ah und wie schwer hing alles Laubwerk und blitzte vom Guß des Gewitters! Schon entstieg zarter Dampf, kleine, weiße Rauchsäulen erhoben sich schwebend über der Wasserfläche, alles leuchtete und ließ sich besonnen.
Georg sprang aus dem Bett, öffnete die merkwürdige Luke am Boden, die Cordelia für ihn hatte machen lassen, und stieg die Leitertreppe hinunter ins Badezimmer.
Von dort erfrischt und sauber zurückgekehrt, kleidete er sich eilig in ein wunderbares Hemd von gelber Rohseide mit offenem Halskragen, weiche, vom Ledergurt gehaltene Flanellbeinkleider, Strümpfe von der Hemdfarbe, und schlich, die braunen Schuh in der Hand, die noch dunkle Treppe hinunter ins Freie, dann an der Hinterseite des Hauses, so leise er konnte, an Cordelias offenen Fenstern vorbei über den Kies — ah wie die Rosen dufteten am Rande! — setzte sich auf die Treppe oben und zog seine Schuhe an. Langsam schlenderte er darauf von Stufe zu Stufe, tauchte die Hand in den tropfenbesäten Hügel der weißen Aspiräen und lächelte, den ganzen Blumenflor überschauend, von dessen tausend Namen er jeden Tag ein paar hatte lernen müssen, — nun war alles längst unrettbar durcheinander in ihm. Das da hinten an der Böschung war Schleierkraut, aber wie hieß es lateinisch? Und daneben die brennende Liebe? Lychnis — ja, Lychnis chalzedonia und mit robusta noch etwas ... Volksversammlungen der handtellergroßen Margueriten blickten nach ihm hin, merkwürdig, wie die Menschen auf alten Bildern. Leucanthemum maximum — das war der Name. Georg balancierte behutsam auf dem Mauerstreifen um das Becken zwischen Trollius und Schwertlilien. Die ansteigende Wiesenböschung zu seiner Rechten war mit prangenden gelben und blauen Farben bedeckt, große Beete des Phlox, blaue, rote, weiße Blüten flammten oben, und dort standen, regungslos, die kostbaren, die Königskerzen, ganze Bäume mit aufstrebenden Ästen, mit den scheibenartigen Blüten, isabellengelb, zartlila und goldenblaß, — wie hießen sie? Delfinum — ah nein, das war ja der erstaunliche Edelrittersporn, drüben von der andern Seite flammten die großen schwarzblauen Blüten, Delfinum hybridum — ists richtig, Cordelia? Die Königskerze aber hieß — hieß — Verbascum, jawohl, Verbascum vernale, ein glänzender Name! — Es war ein Paradiesgarten und sie der Gärtnerengel darin!
Georg rauschte im Vorjahrlaub die kleine Böschung durch das Birkenwäldchen hinunter und glitt unten ins schon trockne und sonnenwarme Gras, wo er die Aussicht über die ganze grüne Ebene frei hatte, über die Landstraße, Haidestreifen, kleine Birken- und Tannenschläge — ins Unendliche hinein, über dem die goldene, brennend brodelnde Sonne kochte im Wolkenlosen.
Sanft ist sie, dachte er, auf den Rücken gestreckt, ins Blaue nach oben schauend, sanft wie die Sonne am Morgen und doch feurig. Das ist das Wundervolle an ihr. Alle schönen Frauen müßten so sein, so — sanft; nicht weich, hülflos, ohne Feste, sondern im Gegenteil — fest, aber zart, glühend innen, seelenvoll ...
Sanft halt, würde sie selber gesagt haben.
Georg setzte sich auf. Die Grashalme neben ihm verschwammen vor seinen Augen, so bedrängte, fast angstvoll, ihn ein unsinniges Glücksempfinden. Nun bist du ja gesund, Georg, murmelte er, und glücklich. Sag dirs, Georg, daß du’s weißt, daß du’s behältst und nicht vergißt: glücklich, ganz glücklich, und wenn du dich fragst, wem dankst du all dies, Gesundheit, Freude, Arbeitskraft, Unermüdlichkeit —, alles, alles, dem seltsamen, dem erstaunlichen Wesen, das dich in Liebe hüllt, wie — wie ...
Sich zurückwerfend wieder, die Augen schließend, fühlte er sich umschlossen von ihr mit einer noch nie so lauteren, so klaren Lust, die ihn von ihr träumen ließ. Er sah sich am Spätnachmittag den Hügel zum Hause hinansteigen, und dann erschien sie schon unter der kleinen Vorhalle, entweder in köstlich phantastischen Kleidern oder meist ruhte nur ihr dunkler, brauner Kopf über der mächtigen Glocke des ärmellosen Mantels von schwarzer schwerer Seide, in dessen weitem Faltenwurf es grünlich und bräunlich glänzte. Dann warf sie ihn auseinander, dann stand sie darunter, eine schlanke, gerundete Leibesform in türkisblauem Trikot, oder in feuerfarbenem, oder an den heißen Tagen in gar keinem marmorweiß, — ach, die Erstaunliche! Und es begann der Abend! begannen die langen Stunden stiller Wanderung im Garten umher, in den zierlichsten oder tiefsinnigsten Gesprächen, denn — oh sie war wandelbar wie die Natur selber durch Tages- und Jahreszeiten, sie blühte morgendlich heiter, sie verschattete sich ernst, sie rauschte, leicht windbewegt, sie konnte gewitterhaft flammen, und lächeln, lächeln immer wieder, und nie erlosch am Grund ihres Wesens die reine Farbe, der tiefe Glanz der Heiterkeit, aus der Zaubervögel ihres Lächelns in immer neuen Flügen, einzeln und scharenweis, Süße und Himmelsinnigkeit herüber trugen. Kam das Abendbrot, so fand es immer wo anders statt, nur bei schlechtem oder kaltem Wetter im kleinen Eßzimmer, sonst auf dem winzigen Viertelkreis des Balkons, auf der Plattform hinterm Hause oder in irgendeinem Dickicht, an der Erde, und Hesekiel mußte rennen und verlor zwanzigmal die Stelle aus dem Gedächtnis. Sie essen zu sehn, war allein die Mahlzeit wert. Sie liebte es, mit aufgestützten Ellenbogen zu sitzen, irgend etwas zwischen den Fingern, Brot, das sie zerbröckelte und das nachher säuberlich aufgescharrt wurde für die Spatzen, plaudernd unaufhörlich, zwischenhinein irgend etwas vertilgend, was kaum gesehen verschwunden war. Oh sie war eine Schauspielerin, natürlich, das wußte er ja, — ach, von denen vielleicht eine, die im Leben alles und doch nichts Rechtes können auf der Bühne, weil es ihrem Können — vielleicht am Letzten — vielleicht nur an einem Tropfen richtigen Theaterbluts fehlt, an der Wonne zu verkörpern, Fremdes darzustellen vor fremden Augen; sie haben die Gabe, sich zu steigern, alles aus sich zutage zu fördern, aber sie können sich nicht zu anderm vervielfältigen und bleiben stets sie selber. Immer spielte sie ja, aber es war doch so, daß diese Kunst ihr nur dienen durfte, Vorhandenes vollkommen zu gestalten, ohne leeres Spiel zu sein, sondern Feuer nur und Schwung im treibenden Rade des Herzens. Ihre Einfälle waren unzählbar, sie schien sich geladen zu haben tagsüber mit Schnurren und Geschichten wie der vom Sternezahl, sie holte eine Anekdote aus der Gießkanne und Legenden aus Bäumen und Sternen. Dann kamen die Abende, in denen langsam die Liebesstunde sich vorbereitete, in denen, je dunkler die Stunde, ihr Herz und ihr befeuerter Geist um so höheres Leuchten begannen, und sie schöpfte das Füllhorn ihrer Brust aus nach Weisheit und Gedichten aller Zeiten und Sprachen, bis es stiller und stiller wurde, bis zuletzt immer der gleiche Augenblick da war, in dem sie, dastehend allein, den Mantel von sich gleiten ließ, ernst wie ein Gebilde ...
Die Nächte, oh diese Nächte! Den seltsamen Marmor ihrer Brust mit tausend Küssen immer wieder zum Glühen zu bringen — welch unerschöpfliche Wonne! Dann war sie miteins zur lohen Fackel geworden, und sie — oh sie umtanzte seinen Leib mit flammendem Reigen ihrer Liebkosungen und Umschlingungen, bis —
Georg setzte sich trunken auf, blinzelte geblendet, von innen und außen glühend erhitzt, in das sprühende Gold und versuchte, inständig zu denken: Hab ich nicht einmal behauptet, man liebte nicht im Augenblick der Liebe? — Ist das wahr? Sie — ich liebe sie vielleicht nicht einmal, nicht mit ganzem Dasein jedenfalls, oh — es ist ja gleichgültig, aber doch — ich fühlte Liebe zu ihr auch in der äußersten Verzückung; und wenn ich nun wahrhaftig liebte, müßte es nicht geschehn, daß es aus der seelischen Glut auch in die leibliche Flamme überströmte zu tieferem Lodern?
Er sank wieder zurück und lächelte. Arme Seele, ich liebe dich wahrhaftig, so sehr ich kann, und ich bin dir dankbar, oh dankbar! Du Verzaubernde! — Die Abendfahrten über Land fielen ihm ein, im Automobil, wo es immer paradiesische Entdeckungen gab, Stücke Landschaft, Haidhügel mit Wacholder, ein namenloses Dorf, zu dem sie Geschichten erfand, und wars nur eine trübsinnige Henne in einer schmutzigen Kate, — und wie sie mit den Menschen hantierte, mit einer Herzlichkeit und Frische, die den härtesten Bauernschädel knackte, jeden Augenblick Miene und Sprache wechselnd, aus dem Hochdeutschen ins Oberbayrische fallend oder in ihren Mischmasch aus beidem ... Ihm lachte das Herz, als ihm der blinde Leierkastenmann mit seiner schwarzen Brille, der Orgel auf dem Rücken, ins Gedächtnis kam, der sich am Straßengraben hinstocherte mit seinem schmierigen Spitz und nun aufgeladen wurde in den königlichen Rücksitz allein, und wie sich dann weiß Gott wie herausstellte, daß der Kerl sah! Herr du meines Lebens, das Ungewitter! Wie sie im Sitz neben mir kniete, im flatternden Haar wie ein Windgott, und über die Brüstung mit geballten Fäusten auf die Kanaille im Rücksitz loswetterte, und ich davonraste und plötzlich anhielt, und sie über die Lehne weg wie ein Pardel, und der Kerl aus dem Wagen wie der exorzisierte Satan. — Gott im Himmel, Georg, wann wirst du jemals wieder so glücklich sein!
Er sprang auf und blickte auf die Uhr. Es war schon dreiviertel sechs, Zeit zum Frühstück. Um sechs saß er doch sonst immer an der Arbeit. Wieviel Stunden Ferienkurs waren heut? Zwei wie meist, dann noch zwei Stunden Arbeit von zehn bis zwölf, dann Schlaf, Essen und wieder Arbeit bis Zwölf oder Elf. Jeden Tag beisammen zu sein, verbot das Gesetz der Liebe ...
Noch ein mal sich reckend, die Arme mit geballten Fäusten ausstoßend und sich dehnend, daß es krachte, klomm er die Böschung wieder hinan, ein wenig beschwert in der Brust, denn — sagte er sich — kann man ein solches Kleinod jemals aus den Händen lassen? Eine Prinzessin von solcher Art wie diese halbe Kroatin aus Oberbayern gab es freilich nicht, welch ein Jammer!
Aber Renate. Renate mußte — bei aller Hoheit gegen Fremde — ihr doch ähnlich sein, wenn — wenn sie liebte. Nun, Renate — es machte Schwierigkeit, an sie zu denken in dieser glorreichen Epoche seines Lebens. Jedenfalls aber — — noch ein halbes Jahr vielleicht, dann kam — der Vertrag, kamen tausend, kam die eine Pflicht; kam auch Renate, das stand fest.
Auf der Plattform hinter dem Hause angelangt, hörte Georg bereits das Badewasser im Innern rauschen und entglitt freudig dem geistigen Labyrinth. Hesekiel erschien, den Frühstückstisch vor den Leib geklemmt, und Georg half ihm, ihn zur Plattform zu tragen, was den Guten äußerst verwirrte und zu tausend Segnungen bewog, worauf Georg die kleine Diele im Innern betrat, an der Tür des Badezimmers klopfte und den Kopf durch den Spalt steckte. Natürlich, der Raum war undurchsichtig von Wasserdampf, Cordelias Kopf war kaum zu sehn über der eingelassenen Wanne im Boden, und Georg unterließ nicht, ihr zum hundertsten Male bedeutende Vorhaltungen zu machen.
„Ja, was willst denn überhaupt? Zu seiner Zeit a jeds, hörst, das ist überhaupt unschicklich, da herein zu kommen! Geh, Georg, sei stad, ich komm gleich!“
„Ja, ich geh ja schon! Übrigens, was ich sagen wollte: ich hab den Vers jetzt!“
„Na?“
„Es heißt: Gramvoll — nein! Zornvoll, gramesvoll ward vom Donner der Wogen der Kühne.“
Sie schlug die Hände überm Kopf zusammen. „Ach, Georg, was bist du für ein Klabautermann! Zornvoll, gramesvoll ward —“ sie bauschte die Worte im Munde — „ja, und wie heißt es im Griechischen? — Viel — im Meer — litt er Schmerzen im Gemüt — die allersimpelsten Worte, — geh, mach, daß d’ weiter kimmst mit dein’ Bombast, mit dein’ Donner der Wogen!“
Georg klappte die Tür zu vor einem triefend nassen Badeschwamm, der herüberflog, und stieg in äußerster Kümmernis über seine Dummheit ins kleine Wohnzimmer hinauf, wo ihm in der Ecke des Sofas alsbald glückselig die Augen zufielen.
Georg verlor an einem Regennachmittag im September die Lust an der Arbeit so gänzlich über dem Verlangen, in den Regen hineinzugehn, daß er, kaum gedacht, in festen Schuhen, Gummimantel und Mütze vor der Türe stand, mit weitoffenen Nüstern die kalte, frische Feuchte der Luft in die Lungen ziehend.
Wundervoll war die Leere des verschleierten Parks. Georg ging; der Regen fiel mit fast lieblicher, mit liebkosender Leichte, hinwehend über die Lichtungen der Wiesen, hingebungsvoll sich mitunter ganz in Seele, in nebelnde Feuchte auflösend, in Schleiern sich einsenkend in die ruhig duldenden Wipfel. Die aufgeweichten Wege schienen noch nie betreten. Noch war alles Laub tiefgrün, hier und da zart gelb gesprenkelt; nur wo Nußbäume standen, leuchtete das nasse Gelb. Die Gruppen der Bäume und Gebüsche, von der Regenumschlingung zusammengeschlossen, schienen schöner aufgeteilt. Gleichmäßig rieselte die Stille mit dem Säuseln der Feuchte; alles bewahrte Ruh im Empfangen der Erquickung.
In linden Gedanken sich selber umschweifend, gelangte Georg an den grauen, dampfenden Spiegel des Teichs, an die Bank, wo vor langem Sigurd den Kaddosch gesprochen. Esther, kleine Esther — was war aus ihr geworden am Grunde der großen Wasser? — Ein Regentag, gewaltsamer als dieser, wars, da kamen die Beiden herein, triefend und lustig, und es gab Verkleidungen und Gelächter.
Matt, sehr verblaßt glänzten die Farben der Erinnerung durch den Nebelregen der Jahre.
Ist es nicht doch besser geworden? dachte Georg; und ernster? ‚Ein guter Geist hält über mir die Wage ...‘ Ich weiß noch: hier saß ich, wie ich Balto-Borusse geworden war, und fragte mich, welches Gewicht einmal dies Erlebnis haben würde. Um richtig wägen zu können, dürfte wohl noch nicht genügend Zeit verstrichen sein, aber ich denke doch: über die letzten Folgen bin ich hinaus. Ein leichter Herzfehler, Meidung alkoholischer Getränke, die Erinnerung an Tozzi, an Schwalbe —, das ist wohl alles, soweit ich sehe, und nicht eben viel.
Georg wanderte weiter in einer plötzlichen Sehnsucht nach seinem Vater. — Ich könnte doch eigentlich viel mehr von ihm haben, stellte er fest, und deshalb ist es doch schade, daß er nie schreibt. Nein, für Gedankenaustausch ist er nicht zu haben — gesetzt, ich hätte was zu tauschen —; sein Leben beschränkt sich auf Leistung. — Überdem fiel ihm eine Andeutung aus Magdas letztem Brief ein, als ob sein Vater es wieder mit dem Gehen versuchte; er hielt das wohl geheim oder ließ merken, daß es unbeachtet bleiben sollte, solange kein Erfolg sich zeigte. Sonderbarer Mensch, der er doch war! Sollte er wirklich der kranken Frau wegen sich freiwillig diese Fessel an den Fuß gelegt haben? Und weshalb wollte er nun los? Freilich war er jünger, als man seine Väter sich so denkt, drei-, vierundvierzig, und konnte noch bald ebensoviel vor sich haben ...
Georg war im weiten Bogen zum Ende der Lindenalleen gelangt und ertappte sich in der Richtung zu Cordelias Hause. Auf die Uhr blickend, fand er, daß sieben nahe bevorstand. Vielleicht war sie da, — sie pflegte ja allabendlich die Blumenstöcke zu gießen und den Vasenblumen frisches Wasser zu geben. Und wenn sie nicht kam, — konnte es nicht einmal ganz schön sein, ohne sie in ihrem Duftkreis zu weilen?
Alsbald, die stille Alleestraße zwischen Gärten und Landhäusern bergan geschlendert, öffnete Georg das Gittertor und stieg den gewundenen Weg hinan zum Hause, das nun ganz in einen Kranz von Dahlien eingefaßt war, schwarzroten, eigelben, weißen und feuerfarbenen, alle Häupter übersät mit metallblanken Tropfen. Unter der Vorhalle aber saß, ganz still und so vertieft, daß er nichts umher sah noch hörte, ein kleines Buch vor den Augen, Hesekiel. Auf Georgs Anruf kehrte er erschrocken in sich selbst zurück, dienerte heftig und lief herbei, wehmutvollen Mundes, aber heiterer Augen. Georg fragte, was er denn lese; er brachte das Buch, ein Neues Testament.
Ob er denn auch verstünde, was er lese.
„Gnä Frau hat mirs angestrichen, was i lesen derf. Sehr schön is, sehr schöne Sprüch.“
Richtig fand Georg hier und da ein paar Zeilen, einen Absatz dick mit Bleistift eingerahmt. „I solls auswendig lernen,“ erklärte Hesekiel diensteifrig, „sie hört mirs dann ab.“
„Na dann sag mir doch auch mal einen Vers! Einen, den du gern hast, — oder vielleicht die gnädige Frau ...“
Hesekiel zog die Stirn in Falten, schwer sich besinnend. „Es sind halt so viele“, äußerte er bedenklich, fing aber im nächsten Augenblick an zu sprechen und brachte stotternd, aber ganz richtig zusammen:
„Unser keiner lebt ihm selber, und unser keiner stirbt ihm selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn, darum wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn, den Spruch hat gnä Frau so schön gefunden.“
„Sehr schön, Hesekiel!“ Er lächelte mühselig. „Verstehst du’s denn auch?“
„I woaß net so gnau. I denk mir schon was. Mir san katholisch, mir zwa“, erklärte er plötzlich.
„Ah, du und die gnädige Frau?“
„Ja, mir san katholisch.“
Georg wußte nun nichts mehr, gab dem armen Teufel sein Buch wieder und ging ins Haus.
Sanft grüßend empfing ihn das kleine Wohnzimmer, dämmrig, enger als sonst. Georg trat ans Fenster, und ihm kam, da er jenseit des ums Haus führenden Kiesweges große Sonnenblumen stehen sah, die Häupter gesenkt, schwer von Regenperlen, — wieder Magdas Brief ins Gedächtnis: er hatte so in Tränen gestanden, so gebeugt in Wehmut um die Gestorbene. — Georg hatte ihr gesagt, unfähig falscher Gefühle zu scheinen vor ihr, daß ihm keine Mutter gestorben war, und dies hatte ihren Schmerz fast vertieft.
Unser keiner lebt ihm selber, und unser keiner stirbt ihm selber ... Georg fand, daß er die ganze Stelle im Gedächtnis behalten hatte, so hing eines im andern. — Leben wir, so leben wir dem Herrn ... Auch in diesen Worten war eine Erinnerung an Magdas sanfte Gestalt. — Darum wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn. — Es klang sehr tröstlich; klang nach Händen, die nichts entgleiten lassen.
Georg hatte Lust, ihren Brief zu beantworten; nicht zu beantworten, — was gäbe es zu antworten auf Schmerz? — aber zu schreiben. Allein wie anfangen?
Jetzt, vor dem Sekretär sitzend, gewahrte Georg sich selber zur Linken hinter dem bläulichen Glasschleier des Spiegels, ein wenig sonderbar nicht nur durch die prunkvolle Umrahmung von Leisten und Gespiegeltem, den Kerzen und der mattblauen Vase, die heute dort stand, den Rand überhängt von gelben Rosenköpfen, sondern durch die Verschleierung vor allem, die ihn sich selber wie in einem andern Zimmer erscheinen ließ, dasitzend einsam, ohne Stunde, ohne Zeit, nicht vergehend. So einsam also sieht man immer aus, wenn man allein ist, dachte er. Es war beklemmend hinzusehn, er wollte sich schon wegwenden, entdeckte jedoch nun in seinen, übrigens wie immer scheinenden Zügen etwas Neues, eine kleine, neben dem linken Mundwinkel eingegrabene Falte, deren Herkunft er nicht begriff, bis er, unbemerkt den Mund verziehend, spürte, daß diese Mundbewegung etwas wie — Verachtung ausdrückte. — Dazu, sagte er, entschlossen sich abwendend, scheint mir denn doch wenig Ursache. — Es sei denn Verachtung deiner selbst, fuhr eine andre Stimme in ihm fort, die er indes überhörte, in Cordelias Schreibmappe nach Briefpapier suchend.
Er fand aber zuerst einen Brief mit seiner Adresse von ihrer Hand darauf, schön, groß, rund, klar in Lateinschrift geschrieben, drehte ihn herum — er war offen —, dachte, es sei vermutlich solch einer, wie er ab und zu bekommen hatte, sei’s weil sie ihm einmal absagen mußte, sei’s aus keinem triftigeren Grunde als dem, ein Zeichen zu senden, einen zärtlichen Gedanken, einen kleinen Vers, — und richtig, als er den Bogen erwartungsvoll herauszog und entfaltete, las er Verse:
O komme, Geliebter, es freun sich die Fluren,
Der Storch und der Star und verwandte Naturen.
Weiß schimmern die Birken auf grünender Trift,
Da ich schreib in die Rinde mit brennendem Stift:
O komme, Geliebter, zu festlichen Stunden,
Wir wollen uns tränken, wir wollen uns munden!
Die arme Seele.
Nun da bin ich ja! freute sich Georg, aber wo bleibst du? — Wie lieblich sie das wieder zusammengeleimt hatte, gar nicht empfindsam, klein und frisch wie ein Veilchenstrauß! Sie war ein Juwel.
Aber er wollte doch an Magda schreiben, und damit ließ sich nicht anfangen. Indem geriet ihm, als er mit einem verlorenen Blick hinter sich die Bücherregale streifte, die im Eck neben dem Sofa zusammenstießen, Irene in den Sinn, nach der Magda gefragt und die er gestern wieder einmal mit einem Detektivroman im Arbeitskorb gefunden hatte. Und im selben Augenblick hatte er eine so schöne Hohnrede über sie, mit soviel aparten und glatten Wendungen im Kopf, daß er hastig ein paar frische Bogen aus der Mappe fingerte, seinen Halter zog und zu schreiben begann.
Liebe Magda:
Dies also, dies ist Irene Herzbruch! Dein Wunsch, von ihr zu hören, umarmt den meinen, von ihr zu reden. Gut, fangen wir an, liefern wir eine Beschreibung.
Daß sie mit ihrem Mann vor ein paar Monaten ihre Langenhagener Sommerwohnung bezogen hat, weißt Du, vermutlich auch, daß sie diese Wohnung — eine Photographie bekommst Du — mit Herzbruchs Schwester, Dora Vehm und deren Mann teilen. Nachdem ich dreimal ganze und halbe Tage draußen gewesen bin, habe ich die Männer übrigens noch kaum zu Gesicht bekommen. Dr. V. hat seine Praxis und Sprechstunden in der Stadt, H. dito seinen Verlag. Dora Vehms erinnerst Du Dich vielleicht von Irenens Hochzeit: prachtvoll anzusehn, mit dunkler Haut, schwarzem Haar, schwarzen, glänzenden Augen und einer schönen, sicheren und freien Haltung. Die Stimme manchmal etwas schrill, zum Beispiel, wenn sie sagt: Nein, das ist ja rasend komisch! — (N. b. daß sich doch alle Frauen im gesellschaftlichen Umgang solche Übertriebenheitsworte angewöhnen müssen, wie rasend, oder himmlisch oder reizend.) Diese tüchtige Frau ist Urheberin einer Volksspeiseanstalt, wo Arbeiter und Frauen für 40 oder 50 Pfennige ein nahrhaftes Mittagbrot bekommen, und diese Anstalt leitet sie ganz allein, teilt sogar nicht unhäufig selber das Essen aus; ferner ist sie Vorsitzende irgendeines Frauenvereins; ferner leitet sie ihren Haushalt; ferner hat sie Freunde, denen sie lange Briefe schreibt; ferner singt sie, und gar nicht schlecht; ferner geht sie in viele Konzerte, Theater, Vorträge, Vorlesungen; ferner ist sie in der schönen Literatur verblüffend bewandert, und auf ihrem Tisch liegen Knoop, Kierkegaard, Hamsun und die Geschichte des Dr. Bürgers von Hans Carossa; und schließlich hat sie zwei entzückende Kinder von drei und fünf Jahren, Knaben und Mädchen, mit denen sie, ungelogen, niemals weniger als eine volle Hälfte des Tages zusammen ist. Da soll einer sich ein Beispiel nehmen. Und nicht etwa, daß dieses Ganze ein verfitzter Rattenkönig oder Schlangenballen wäre, aus dem all diese unterschiedlichen Verrichtungen mal dieses mal jenes Haupt züngelten, um was zu verschlucken, sondern ohne Unrast, ohne Fahrigkeit, auf einer einzigen, sanft und ebenen Linie rollt ein solcher Tageslauf einer solchen Frau ab, sie ist heiter, gelassen und fröhlich, und hat immer, immer noch für ein Dreizehntes Zeit in der zwölften Stunde.
Ach so, ich wollte von Irene schreiben. Du merkst, daß ich diese Frau anbete und verehre. Von dem Denkmal, das ich ihr in meinem Herzen gesetzt habe, war dies eben ein freilich sehr kümmerlicher Abdruck. Ein Hurra allen wackeren Frauen, würde Bernhard Kellermann sagen. Also nun Irene.
Als ich das erstemal zu ihr kam, — ja, also das Haus siehst du sehr schön auf einem Hügel liegen, der von der Chaussee langsam flach ansteigt: zu unterst sind Gemüsefelder, dann kommt ein Blumengarten — alles noch neu und sehr spärlich, zumal um diese Jahreszeit, dann Wiesen mit dem Haus in der Mitte; die rückwärtige Seite ist mit der ‚Hecke‘ bewachsen, wie man das hier nennt, das heißt also Buschwerk und Unterholz, Haselstauden, Eschen, Weiden, auch Tannengestrüpp, ein wahres Dickicht, Wassertümpel und zuletzt ein kleiner, abgenutzter Steinbruch. Ja, also da fand ich Irene, ihrer Stimme folgend, die von weither gellend hörbar war: Sie! Sie haben ja ihren Fusel noch dick in den Augen! Was Sie sind? Sie sind weiter gar nichts als ein besoffenes Schwein, wissen Sie das? Gehn Sie mal nach Hause und schlafen Ihren Rausch aus — und so weiter. Ja, da stand sie breitbeinig im Bohnenbeet, einen Spaten schwingend, aber der so beschimpfte Gärtner war wirklich äußerst betrunken und gerade dabei, tätlich zu werden. Ein andermal fand ich sie mittags auf dem Rasen im Dickicht mit einem Roman von Skowronnek. Und das drittemal trug sie mit der Forke von einem kleinen Handwagen den Kompost und verteilte ihn über die Melonenbeete.
Dies wäre Irene? Freilich, freilich! Und was wäre viel dagegen zu sagen, wenn nicht — ja, wie soll ich das beschreiben?
Sieh mal, wenn die Frau eines Rittergutspächters, dessen Dasein reineweg von seinen Äckern, Beeten und Ställen abhängt, sich so gehabte, da wäre das trefflich, obzwar auch dann noch zu fragen wäre, ob hierzu der Weg über ein Kloster vonnöten gewesen wäre. Was ist alte, älteste männliche Forderung an eine Frau? Daß sie das Notwendige mit Anmut tue. Was heißt Anmut? Eben jene Leichtigkeit und Gelassenheit der Gebärde, jene Unscheinbarkeit, ja Unsichtbarkeit des Tuns, jenes Darüberschwebende des Ganges, so daß von allem Kräfteaufwand nichts eigentlich vor andern Augen erscheint, als der Überschuß und die Freiheit zu andern Dingen, eben jene Anmut Dora Vehms, welche genau die des Trapezkünstlers ist, der nach jeder Vorführung, ein Lächeln auf den Lippen und mit ausgebreiteten Armen vortänzelnd, dem Zuschauer vorzuspiegeln hat, daß seine Leistung Kinderspiel sei, abgetan zwischen zwei kleinen Atemzügen. Sie aber geht in diesen Dingen bis zur Selbstvernichtung auf. Wenn sie morgens früh um fünfe ihre Hühner füttern muß, so schläft sie natürlich Glock neune ein. All dies, um im Winter selbst eingeweckten Spargel und selber eingekochtes Pflaumenmus essen zu können. „Und das Ganze“, hören wir meinen Vater sagen, „ist denn wie an die Wand —, usw.“ Langsam umnachtet sich ihr Geist. Bücher liest sie keine, außer den oben angezeigten. Für derbe Worte und Redensarten hatte sie immer eine Vorliebe; Rhinozeros ist ihr Lieblingswort, das sie ja freilich am fröhlichsten an sich selber verschwendet. Siehe sie dastehn: in einem lachsfarbenen Morgenrock, Rüschen an Hals und Ärmeln wie immer, mit ihren sanft und länglich gerundeten Hüften — noch sind sie’s — tausend goldne Lockenwirbel ums krebsrote Gesicht, indem sie sich mit dem Zeigefinger vor die Stirn tippt und sagt: Ich Rhinozeros!
Schließlich weiß man ja nicht, wie lange sie’s treiben wird. Ferner ist auch die Abwesenheit ihres Mannes in Erwägung zu ziehn, aber wiederum — die sozialwissenschaftliche Hauptabteilung seines Verlags, und die neue Zeitschrift gleichen Charakters, die er jetzt zu gründen im Begriff ist, könnten ihr genug Gelegenheit bieten, mit ihm zusammen ein gemeinsames Leben ernster und würdiger, wirkender und fortwirkender Tätigkeit zu führen, anstatt daß sie sich Sommers abrackert, um Winters essen zu können. Sauwohl fühlte sie sich, sagt sie, und überhaupt sei dies die wahre Bestimmung des Menschen, zu essen und zu trinken und dafür zu sorgen, daß man zu essen und zu trinken habe. Ihre Geige, wenn du danach fragen solltest, ist seit Monaten vergessen. Gewiß: Bau und Einrichtung von Haus und Garten mußte sie so ziemlich allein bewerkstelligen, und es ist ja auch reizend geworden, aber wozu? Sie wohnt ja nicht, sie hat ja immer bloß zu tun. Ihre Kleider sind entzückend, sie macht sie selbst, Renate auch, aber ich habe Renate nie am Schneidertisch gesehn.
Ja, wären nicht die Kinder — du weißt, ich liebe Kinder — und Dora Vehm, so würde ich diesen Verkehr vermutlich aufgeben. Manchmal ist ja auch H. abends anwesend, und auch der Doktor ist ein feiner, freilich sehr stiller, in sich gekehrter Mensch, aber da braucht man nur irgendeine Sache unterm Himmel zu berühren, so giebt es ein schönes, ernstes Gespräch, man fühlt einen feinen Keim in die Brust fallen, und die Stunde war nicht umsonst.
Ehrlich, Magda: Im Gastbuch unseres Korps fand ich die folgenden, sonderbaren Verse meines Papas, soviel ich weiß die einzigen, die er je gemacht hat, frei nach Storm:
Habe niemals eine Meinung!
Innerstes bleibt stets verborgen.
Was am Nachbarn du bedauerst,
Tust du heute, tust du morgen.
So würde ich mir auch nicht diese Meinungsäußerung über die gute Irene erlaubt haben, wenn ich nicht selber während der Trassenberger Monate ernstlich an mir selber gefeilt und mich besonnen hätte, was ich war, und wer ich sein soll. Ich habe auch ganz tüchtig gearbeitet, denn das abgebrochene Altenrepener Semester drückte kräftig genug, und wenn auch Greifbares nur wenig dabei herausgekommen sein mag — ein Überblick, flüchtig genug, über das gesamte, über dies ungeheuerlich horrende Besitz- und Arbeitsfeld Papas — so habe ich doch Arbeitslust und Zukunftseifer in reichlichem Maße davongetragen. Froh bin ich dabei — darf ich das einmal sagen? — daß Du, immer Gütige und Verstehende, meinem Wege treu geblieben bist, und mit mir hoffst, und mit mir vertraust. Denn das tust Du doch, nicht wahr? Deine Briefe taten mir so wohl! Wirst Du nicht bald einmal wieder nach A. kommen, damit ich Dich singen hören kann? Oder ist die Stimme noch immer nicht so weit? Nein, nein, rede mir Du in deiner Bescheidenheit das nicht aus: Dein Gesang ist besser als Irenens Einmachegläser. Weiland Josef Montfort schenkte mir einmal — der Großmütige! — ein Wort; es ist von Salomo und lautet: Erhalte dir dein Herz, denn aus ihm kommt das Leben. Aus dem Herzen kommt Deine Stimme, aus einem allwissenden Herzen, Magda, ich muß es sagen, und ist Leben und muß Leben wirken.
Irene hat ihr Herz eingeweckt; möge sie sich im Winter ihres Mißvergnügens daran laben. —
Georg hielt inne. Der Nachsatz, fand er, hatte den Abschluß verdorben; nun konnte er so nicht enden, und ein Übergang war schwer zu finden. Auch schien ihm noch etwas zu fehlen, ja, die Hauptsache war mit den wenigen Worten gegen Ende doch noch nicht ausgesagt, sein dankbares Gefühl für sie und ...
Er stand auf, trat ans Fenster, merkte, daß der Regen stärker niederrauschte, und schloß es. Sogleich dämpfte sich der Lärm, aber Georg gewahrte auch, daß es dunkler geworden war mittlerweil, er mußte zum Ende kommen. Da verschleierte sich der Raum langsam vor seinen Augen, er sah noch vom Sofatisch her etwas Rotes dunkel glimmen, das Rubinglas, das er einmal mitgebracht hatte. Es quoll undeutlich in ihm, er sah wieder den für Magda bestimmten Brief liegen, setzte sich davor und schrieb:
Ich mußte eben die Feder hinlegen und lange am Fenster stehn. Es ist dämmrig, der Regen schlägt an die Scheiben. Esthers Volière fand ich bei Irene, wo ist Esther? — Wie sind wir Alle auseinander gewirbelt! Daß wir immer wohl dies und jenes unternehmen können, aber halten läßt sich nichts davon. Wer hielte sein eigenes Herz, geschweige denn fremde? Unwiderstehlich angezogen treiben wir zu immer neuen Wirbeln hin, und schaurig ist, daß, was am wildesten glühte, am eiligsten erkaltet. Ferne, liebe Freundin, ich weiß nichts von Dir, aber wie den guten, immer gleichen Benno hier — natürlich vergaß ich den Allzubescheidenen zu nennen, als ich eben die Hiergebliebenen zählte — so sehe ich Dich dort: ein Bleibendes im Getümmel, eine sanfte Säule im Kreisen, einen immer steten, leisen, aber in jeder Stille um so geheimnisvoller vernehmbaren Ton, und ich denke: tausend Saiten des aufgeregten Daseins schwirren und rasseln ihr verworrenes und bezauberndes Spiel: eine Saite ruht immer und tönt tagein, tagaus, jahrein, jahraus immer den gleichen, himmlisch einfachen, und o so tröstlichen Klang!
In Dankbarkeit der Deine
Im Begriffe, seinen Namen zu schreiben, hielt Georg ein. — Was ist denn das? sagt er schwer aufatmend, was hast du denn da gemacht? Du hast ja gelogen. An sie hast du nicht gedacht, sondern hast Cordelia empfunden, und das Gefühl nur ein wenig umgewandelt, daß es paßte ...
Aber wenn es paßt, mußte er sich widerlegen, so hats doch seine Gültigkeit irgendwie. Eben war es so, daß ich nicht an Magda denken konnte, wenn ich es aber wirklich tue, ernstlich, so empfinde ich auch, wie ich schrieb, und — ja, und das vor allem wars, was ich empfand: sie wird immer bleiben, immer —
Und Cordelia? Ist es denkbar, je ohne sie zu sein?
Jetzt höre ich auf zu denken für mindestens drei Stunden, dachte er ärgerlich lachend, unterschrieb, faltete und schloß den Brief in einen Umschlag, den er adressierte, worauf er sich erhob, um in der Sofaecke nun ganz die Dämmerung zu genießen und die Erinnerung an die Zärtlichste, die Einzige ...
Im Niederlassen jedoch merkte er, daß er sich auf etwas Hartes, Buchartiges setzte, und zog unter sich ein großes Heft im Aktenformat mit blauen Pappdeckeln hervor, schlug es auf und las im Zwielicht das groß und geschwungen — als Titel — von Cordelias Hand geschriebene Wort: Theodosis; darunter, kleiner: Tragödie.
War das eine Rolle? Er hatte noch nie den Namen gehört. Auch schien ihm jetzt, als er das Blatt umschlug und Verse fand, die Handschrift Cordelias anders als jetzt, nicht so ausgeschrieben, jugendlicher; und schon im Begriffe, das oben stehende Personenverzeichnis zu lesen — Pelagios, Thespesios hatte er schon erhascht — hielt er sich zurück, von einer Art Duft oder Hauch berührt, der ihm Einhalt bot; schlug das Heft wieder zu und legte es auf den Tisch.
Und dann hörte er deutlich durch das Regengeräusch das Nahen eines Automobils; es ward lauter, kam ganz nahe und verstummte dann. Das mußte sie sein. Georg war im Nu durchs Zimmers, die Treppe hinunter, trat unter die Säulen vor der Tür, als sie eben den Weg heraufkam, ohne Hut, im grünen Regenmantel, und hielt sie im nächsten Augenblick in den Armen.
Im Zimmer oben zog er sie eifrig zum Sofa, als sie das Heft bemerkte und — zum erstenmal glaubte er diese Bewegung zu sehn — die Augen feindlich zusammenzog. — „Hast des gfunden?“ fragte sie.
„Es lag in der Sofaecke. Sollt ichs nicht sehn?“
„Warum net gar? Die alte Sach.“ Damit hatte sie’s aufgenommen, ging zum Kastenschrank, zog unten eine Lade auf und legte es hinein. Im Zuschieben mit Händen und Knien schien sie sich zu verlieren, richtete sich langsam wieder auf und trat an das Fenster.
Erinnerungen, dachte Georg; sie ist traurig geworden. — Nein, diesmal will ich nicht, wie man immer tut, Zartgefühl nur durch Schweigen beweisen. Erinnerung will gelöst sein, nicht zerdrückt — und er ging leise zu ihr, zog sie an sich und fragte behutsam, über ihr Haar streichelnd: „Warum hast du’s fortgelegt?“ — Sie schwieg. Wie ihr Haar duftete! Sie atmete stark.
„Möchtest du mirs nicht vorlesen?“ fragte er wieder, da er ein leises Nachgeben in ihren Schultern zu spüren meinte. „Oder spielen?“ setzte er, noch leiser, hinzu.
Eine lange Weile blieb sie still. Dann, heftiger atmend, fragte sie weich: „Woher weißt denn, daß ich spielen kann?“
Nun hielt ers für das beste, zu schweigen. Immer tiefer und schwerer wogte ihre Brust.
„Möchtest du’s denn gern?“ flüsterte sie kaum hörbar und räusperte sich. — Er drückte sie an sich. „Wart ein Weilchen“, sagte sie schnell, drückte sich um ihn herum, lief durchs Zimmer und verschwand.
Es war ganz dunkel geworden. Georg, am Fenster stehend, dachte: Ich sollte nie fragen! sagte sie im Anfang — und nun kommt es doch, ganz von selber. So ist es im Leben. Eine wirkliche Elsa hätte auch nicht geradezu gefragt: Wer bist du? Wo kommst du her? — Eines Tages hätte es sich von selber ergeben, und dann wäre es auch vermutlich nicht halb so schlimm gewesen, wie der Lohengrin ankündigte ...
Er mußte jedoch lange warten, bis sie wieder kam. Still und ernst, auf unhörbaren Füßen erschien sie im dunklen Raum, dunkel selber im Haar und dem schweren, schwarzen Mantel; nur ihr Gesicht schimmerte sehr weiß.
„Setz dich ins Sofa“, bat sie, und er tats. Sie blieb vor dem Kastenschrank stehn, legte still eine Hand in die andre und sprach, das Gesicht zum Fenster gewandt, erst nach langer Zeit:
„Theodosis war eine arme Seele. Sie war stumm geboren und blind. Dennoch fand sich ein Mensch, der sie liebte, dem sie vermählt wurde, und der von einem Nebenbuhler erschlagen ward in der selben Nacht. Nun kommt ihr alter Lehrer Thespesios, der sie als Kind lehrte, den Druck seiner Finger in ihrer Hand zu verstehn und zu erwidern, und sagt ihr, was geschehn ist. Der Schrecken durchbrennt sie, sie lodert auf, sie kann sprechen.“
Cordelia schwieg. Georg, in seltsam tiefer Erregung, da er ihre Stimme noch nie so gehört hatte, so tief und tönend, so voll aufkeimender Musik, sah ihre Augen durch den Raum wandern, mit fernem Blick, unsäglich ernst, bis zu ihm, doch sah sie ihn nicht an.
Auf einmal glitt von ihren Schultern der Mantel — ihr Leib glänzte fast metallisch auf in der Dunkelheit —, glitt bis zu den Hüften, wo ihre linke Hand ihn hielt; die Rechte streckte sich ein wenig vor, steif, als würde sie von einer andern gefaßt. Sie hielt den Kopf lauschend vorgesenkt; dann entflog irgendwo ein gurgelnder Laut: „Weh über mich!“
Die Rechte noch in derselben Haltung, fuhr die Linke zum Munde, in ihrem Blick war Entsetzen, der Mantel war am Boden, aber jetzt — kaum daß Georg noch Worte vernahm, so flutete eine maßlose Stimme durch den Raum, wie ein Engel in tosenden Flügeln —
„Mein Mund! was ist mit meinem Mund? er brennt!
Wehe, ich brenne! eine Flamme schlug
Aus meinem Mund, und alles steht in Brand.
Was ist? ich höre eine schreckliche
Entstellte Stimme. Meine Stimme ists!
Ich konnte sie nicht halten ...“
Sie war still: sie stand noch immer wie zuerst. Georg bebte am ganzen Leib. Diese nie gekannte Stimme! Diese singende Kraft, diese schwelgrische, üppige Musik, und Verse, die sie schwang wie Fackeln und Dolche, lodernd, triumphierend, in seine Brust. Und nun — nur die Arme ein wenig zu einer hülflosen Gebärde des Umarmens ausgestreckt, tiefer gebeugten Leibes — sang sie weiter:
Sie warf die Hände empor und rückwärts zum Genick, empor das Gesicht:
„Nun schrei, zerborstner Stein, nun gell es aus,
Daß ich nur höre diese grauenvolle,
Verworfne Stimme, die nur ward zum Schrei
Erschaffen, nur zum Schrei!“
Wieder vornüber sinkend, faltete sie die Hände in der Höhe der Brust, sie wand sich zart, Georg sah jetzt ihr Gesicht, entfremdet, die Augen geschlossen, schmal geworden; sie lächelte Gram:
„O meine Kindheit!
O meine Sehnsucht, süß und schmerzenvoll!
Da alle Welt voll Lieder war und klang,
Wie tönte jedes Ding, wie sprach von Liebe
Das kleinste auch, dran meine Hände rührten,
Du Becher, draus ich trank, du Ring, du Vase,
Glücklich beredt, und lächelte mich an,
Daß ich euch liebte tief aus meinen Schmerzen.
Dann manchmal schiens, als sei doch einmal alles
Verstummt, und kein Geräusch als in den letzten,
Versteinerten Tiefen, dunkel in mir murmelnd,
Die Stimme, meine Stimme, die vergrabne,
Arbeitende ... Ich konnte ihr nicht helfen.“
War das denn Spiel? Übermannte sie jetzt wirklicher Schmerz? Aber da wich schon die Qual, sie lächelte wieder, doch fielen die Hände auseinander, fielen ab, unwissend geschlossen bis zu ihren Schenkeln, wo sie haften blieben, und sie stand nun, eine hülflos gekrümmte Figur ...
„Wie sollte sie
Einst süßer tönen! ach, wie sollte sie
Liebkosen! all die stummen Herzen sollten
Von ihr gestillt und fröhlich sein. Es würden
Die alten, göttlichen, unsichtbaren Flügel
An ihren Schultern wieder sichtbar werden,
In Himmel tragen, die entgegenschweben ...“
Ihre Stimme, zu innigster Innigkeit versüßt, verhauchte im Geflüster der brünstigsten Sehnsucht:
„Ich wollte ihnen dienen. O in Schauern
Sollten sie stehn und horchen: Hört, es klingt
Die Erde, ja die Erde klingt, die alte.
Alles wird klingen, alles ist voll Liebe,
Wir Menschen sind geliebt, wir sind geliebt,
Denn eine Blinde baut uns goldne Brücken,
Denn eine Stimme kam, um uns zu dienen ...“
Mein Gott, sie sprach ja von sich selbst! Das war ja sie, sie, und stockte nun, besann sich, sagte stumpf: „Nun schreit sie bloß!“ und flog plötzlich in ihren Armen empor in den Raum, stand langausgestreckt nach oben, schmerzausjauchzend wie eine knatternde Flamme:
War es denn zu Ende? Georg wagte nicht, sich zu bewegen. Sie stand immer noch wie zuletzt, die Augen geschlossen. Dann schien sie zu wanken. Georg sprang auf und kam eben rechtzeitig, sie aufzufangen. Sie fiel abgebrochen gegen ihn wie eine Säule. Er fühlte sie schweißbedeckt und eiskalt am ganzen Leib, aber sie war nicht ohnmächtig, sie zitterte, er raffte den Mantel vom Boden, selber zitternd, und hüllte sie hinein, während Gedanken in ihm schwirrten wie Funken. Sie an sich drückend, flüsterte er stumm: „Ich weiß ja, ich weiß ja nun alles. Ärmste, du hast nie spielen dürfen, was du konntest, du hattest — ach, was weiß ich, wie es war, aber nun ... Komm,“ sagte er sanft, „komm, leg dich hin, komm, es ist ja nun gut! ich weiß ja nun ...“
Da horchte sie auf. „Was weißt du nun?“ hauchte sie.
„Ach — alles; was dir fehlt, wer du bist. Aber das hat nun ein Ende. Ich kann ja alles für dich tun, ich —“
„Was willst du tun?“ fragte sie, seltsam schmelzend und ergeben.
„Ach ... Du weißt doch: das Theater ist doch nichts ohne meinen Vater, und ich selber ... man hat doch alles für Geld. O die Schurken, nun weiß ich alles! Was soll ich tun, Herz? Soll ich morgen zum Intendanten gehn? Willst du hier bleiben? Willst du nach Berlin? Sag doch, Herz, du bekommst ja!“
„Zum — — In—ten—danten?“ sagte sie vergehend. Ihm schmolz das Herz in der Brust. Mein Gott, warum hatte sie denn nur geschwiegen, immer geschwiegen!
Da merkte er, daß sie weinte. Und dann war sie auch schon in ein Schluchzen ausgebrochen, daß ihm das Herz stillstand vor Grauen. Sie schüttelte sich minutenlang wie ein rasendes Tier, dann brüllte es aus ihr heraus, sie fiel vornüber so schwer, daß sie ihn mitriß, er mußte knien, um sie zu halten, sie lag halb am Boden, er richtete sie auf, sie wimmerte, er sah ihr Gesicht, aus den geschlossenen Lidern schossen stromweis die Tränen, während der Mund sich verzerrte, und sie fiel wieder um, er richtete sie mit Mühe auf, sie fiel ihm über den andern Arm, lag am Boden, schluchzte, schluchzte, schluchzte, sie schüttete Schmerz aus, wimmernd aus keuchender Brust, als würden eiserne Stücke in ihr zerbrochen, und es nahm kein Ende.
Georg konnte nur noch neben ihr sitzen und ihre Hand festhalten, selber wie erfroren vor Mitgefühl, bis der Ausbruch langsam zu erlöschen begann, das Weinen leiser wurde, das furchtbare Zittern aufhörte; bis er es dann wagte, sie aufzurichten und zum Sofa zu führen, wo sie sich hinbetten ließ und dann still wurde. Er trocknete ihr geschwollenes Gesicht, die immer noch fließenden Augen mit seinem Tuch, doch nahm sie es nun fort, schob sich ein wenig höher in den Kissen, öffnete die Augen und sah ihn an. Ihren Blick — dunkel, kaum sichtbar im Dunkeln, da sein Schatten noch über ihr lag — verstand er nicht, auch schloß sie die Lider bald, lag still und sagte leise:
„Weißt du, Georg — wir wollen noch ein wenig warten ...“
„Ach, nun wieder warten!“
„Ja, Georg. Sieh mal: — — es ist doch nun alles anders geworden, als ich dachte. Ich muß mich ja nun ganz — herumdrehn. Ich — ich möchte aber nicht, daß du in — in dies hineingerätst, was ich jetzt bin.“ Sie sah ihn nun wieder an und schien zu lächeln. „Sein Stolz hat halt a jeds. Ich möcht auch schon net hier bleiben, wenns einmal anders werden soll. Da mach ich erst hier ein End, und dann — in Berlin — da bin ich ganz frei, da hast mich dann ganz für dich und kannst mit mir machen. Möchtst das net? Georg?“
Georg wand sich und war gar nicht einverstanden.
„Na, Georg, du mußt das doch einsehn! I kann doch net so auf einmal! Sagn mir halt: Berlin. Is recht, Georg?“
Georg gab nach für den Augenblick. Es ist ja noch ein Monat Zeit, einerseits — und vielleicht hat sie ja auch recht. Wenn schon überhaupt anfangen, dann ganz oben, dachte er, küßte sie dann zärtlich und ließ sich von ihr das Haar glätten.
„Aber Cordelia,“ mußte er nun gestehn, „was kannst du alles! Es ist ja unerhört!“
„Ich kann schon was“, meinte sie mütterlich. „Und dann für dich ...“
„Wie du nur dastandest! Hast du wirklich die ganze Zeit mit geschlossenen Füßen gestanden? Alles mit den Armen gemacht und mit der Stimme? Kind, was hast du für eine Stimme!“
Sie lächelte sanft, schloß die Augen, seufzte und streckte sich aus.
„So ist gut, Georg. So liegen ist gut. Und nimmer viel reden, weißt! Ich ruh mich ein wenig. Wir haben ja noch die ganze Nacht.“
Die ganze Nacht ... Er deckte sie sorgfältig mit dem Mantel zu bis ans Kinn, tastete nach ihrer Hand darunter und hielt sie. Ein wenig wandte sich ihr Gesicht herüber. Sie lag still. Und so saß er bei ihr, glücklich, dankbar, gut sein zu dürfen, hülfreich. Der Herbstregen schlug schwer gegen die Scheiben. Er hörte den Gang der Pendeluhr durch das Geräusch der Wassers, langsam, seelenruhig, und sein Innres ebnete sich, hinschwellend durch die immer sanftere Stunde, der verhangenen Ebene gleich, zu den zaubrischen Wäldern der Zukunft.
Renate, mit Saint-Georges und Magda, die vor ihrer Rückkehr nach Berlin noch einige Zeit bei ihr bleiben wollte, aus Helenenruh heimgekehrt, suchte ihr Zimmer auf, um sich umzukleiden.
Die Fenster im Wohnzimmer standen weit offen; es war wie im Freien, der Septembernachmittag drinnen wie draußen leicht, bläulich und durchgoldet. Auf ihrem Schreibtisch fand Renate eine kleine Druckschrift — Feruccio Busoni: Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst — aus der ein kleiner Zettel fiel; von Ulrikas Hand stand darauf gekritzelt: Ich bin in der Kapelle. Bogner sitzt im Garten.
Das Mädchen trug mit dem Chauffeur Koffer und Hutschachteln herein. Renate legte Jacke und Hut ab, auf einmal ein wenig wehmütig, ohne erkennen zu können, weshalb. Ob es schon die Luft des Hauses war, die sie wieder bedrängte? — Sie trat ans Fenster und vergaß für Augenblicke die trübe Wallung über dem Anblick weißer, goldiger Wolkenstreifen im Blau über den noch schweren und dichtgrünen Massen der Gartenbäume.
Und siehe da: Bogner saß — natürlich drehte er ihr den Rücken zu! — auf einem Feldstühlchen vor einem roten Busch, ein großes Skizzenbuch auf den Knien, aber die rechte Hand, die Renate sichtbar war, lag völlig still; er betrachtete nur.
Und dort zur Linken — ja, da saß der Onkel, nicht anders scheinend als ein friedlicher Patriarch, kahlhäuptig und weißbärtig, auf der weißen Bank in der Grotte von Buschwerk, neben der ein Birkenbaum, goldgelb im Laub, leichte Wache hielt, vor sich den Rasenplatz. Gedämpft aus der Kapelle ward die Orgel hörbar — alles war wie zuvor, nicht leichter, nicht schwerer, aber — da es wieder neu war — schwerer ließ es sich auch wieder an.
Renate ging ins Schlafzimmer, zog eilig Rock und Bluse aus, wusch sich im Badezimmer, legte dunkelblaue Seidenstrümpfe, die ihr grad in die Finger gerieten, an, kleine blaue Schuh und irgendein weißes Kleid, locker und schlicht von oben bis unten, beim Zuhaken bemerkend, daß es einen hohen, anschließenden Kragen hatte, mit kleiner Rüsche, in Wellenform geschweift unter Kinn und Ohren. Als sie ihre Schatztruhe öffnete, überkam sie Erinnerung. Der freie Raum darin, den die aufgeschichteten Lederkästen ließen, war angefüllt mit dem bunten, glitzernden Gewirr des Alltagschmucks; sie griff hinein und zog ein Bündel langer Ketten heraus in allen Farben, blaugrün, rosenfarben, weiß, gelb und gelbgrün; ein mattgoldner Armreif fiel zurück, und sie ließ das Ganze wieder sinken, legte die Hand auf einen der Kästen und dachte an ihr erstes Halbjahr im Hause, wo der Onkel und Josef allwöchentlich gewetteifert hatten in Geschenken, die dann sie, immer eines bis zum nächsten, tragen mußte, abwechselnd einen Tag um den andern. Kleine Verse hatten sie dazu gemacht —
Eine Chatelaine —
Perlen nennt man Tränen.
Tränen sind aus Salz —
Schling sie um den Hals.
Ihre Augen verschleierten sich; sie löste eine lange Kette von fingernagelgroßen, länglichen Perlen aus Lapislazuli, hartblau mit goldenen Spuren, aus den übrigen, legte sie über den Nacken und ließ sie vorn bis zum Schoß herunter fallen. So ging sie, Ulrikas Heft an sich nehmend, hinunter.
In der Halle jedoch hielt ihr lebensgroßes Spiegelbild sie auf. — Wie seh ich denn aus? fragte sie sich erstaunt, ich bin ja ganz fremd geworden! — Aus dem weißen Kleidhals mit der blauen Kette stieg ihr Gesicht, fast so braun wie ihr Haar; die Wangen glühten röter als sonst, auch der Mund, und die Augen, tiefer liegend, schienen in dunklerem Feuer zu stehn. Plötzlich fühlte sie sich so angeprahlt von den eigenen Farben und Gluten, daß ihr das Blut in die Wangen schoß und sie sich abwandte. — Wofür denn nun all das, wofür? Was soll denn ich damit, und ich brauchte es ebensowenig mehr zu tragen wie den Schmuckberg da oben, der bald zwei Jahre im Finstern liegt. —
Überdem fiel ein Schatten von draußen herein, der Onkel erschien in der Tür. Auch seine Stirn, die kahle, schöngewölbte, war gebräunt, die heitern Augen hatten keinen Blick, fast verhangen vom Weiß des Bartes. Seltsam hoch und spitz — fast wie bei einem heiligen Antonius eines alten Bildes — war sein kahler Kopf. — So ging er vorüber und hinaus. Die Hände gefaltet sah Renate ihm nach.
Eine Weile später stand sie ein paar Schritt hinter Bogner. Auf dem Blatt war ein Durcheinander, von allen vier Rändern ins Weiße gezeichnet, Blätter, Zweige, ganze Stücke des Busches, einzelne Blätter haargenau, ihre Drehung, Schattung, Glanz und Zahnung, Ansatz am Stengel, Verknotung im Ast, alles hundertmal lebendiger geworden im Durchgang durch seine Augen, als die Augen Renates es am wirklichen Gewächs wahrnehmen konnten. — Ach, hier war Leben, hier wars! —
Leise ging sie wieder davon, setzte sich auf die Bank, auf der sie zuvor ihren Onkel gesehn hatte, und versuchte, sich in die Zeit der Friedliebenden Gesellschaft zurückzuversetzen, indem sie nicht zu Ulrika ging, da die Zeit zur Begrüßung von selber herankommen würde. Sie öffnete die Druckschrift, sah zu Bogner hinüber, sah empor und erblickte das Gesicht von Saint-Georges’ Bruder zart und rosig an seinem Fenster, nickte ihm zu und winkte. Er, tief errötend wie stets, sprach ins Zimmer hinein, und gleich darauf erschienen Magdas Gesicht und schwarzbekleidete Schultern, die nickte und lächelte, dann auch Saint-Georges. — Sie zogen sich wieder zurück. Renate blätterte zum Anfang des Buches, hier und da einen Blick hinein stechend, blieb haften mit einem und las:
‚Und was kann schließlich die Darstellung eines kleinen Vorgangs auf Erden, der Bericht über einen ärgerlichen Nachbar — gleichviel ob in der angrenzenden Stube oder im angrenzenden Weltteile — mit jener Musik, die durch das Weltall zieht, gemeinsam haben?‘
Hineinsinnend in das königliche Wort hob Renate die Augen. Auf der Veranda stand Magda, schmal, im hängenden schwarzen Kleid, aber schön bräunlich von Antlitz. Bogner hatte wohl ein Geräusch gehört, drehte sich um, sah Magda, winkte ihr zu und erhob sich. Bogner war braun wie ein Affe, an den seine Augenhöhlen jetzt mehr als früher erinnerten; hier war Einer immer brauner als der Andre. Jetzt entdeckte er auch Renate, lächelte, warf sein Buch zu einigen andern in den Rasen, kam und streckte ihr die Hand hin. Sie möchte nur entschuldigen, er säße schon ein paar Wochen jeden Tag hier und studierte, ja, er wollte nun die ganze Friedliebende Gesellschaft malen, ein bei ein, sechs Meter lang, fünf Meter hoch. Nein, sitzen brauche ihm niemand, antwortete er auf Renates Frage, wäre alles schon fertig von damals her.
Indem kam Ulrika von der Kapelle her, gelbweiß gekleidet, und war richtig auch so braun wie ein Mulatte, nein, eher kupfern, und sie sagte gleich tief beschämt, ihr Haar sei nun glücklich übergeflossen. Das Heft auf der Bank neben Renate entdeckend, raffte sie’s auf und sagte, sie müßte Renate eine Stelle vorlesen. Während sie noch suchte, kamen Magda und Saint-Georges, es gab ein langes Händegeschüttel, dann hatte Ulrika gefunden und las:
„‚Wohl ist es der Musik gegeben, die menschlichen Gemütszustände schwingen zu lassen: Angst, Beklemmung, Erstarkung, Weichheit, Aufregung, das Überraschende‘ und so weiter —“ sagte Ulrika — „‚ebenso den inneren Widerklang äußerer Ereignisse, die in jenen Gemütsstimmungen enthalten sind. Nicht aber den Beweggrund jener Seelenregungen‘ — und so weiter! Nun: ‚Ebenso vergeblich ist es, moralische Eigenschaften, Eitelkeit, Klugheit in Töne umzusetzen, oder gar abstrakte Begriffe wie Wahrheit und Gerechtigkeit ... Könnte man denken, wie ein armer, doch zufriedener Mensch in Musik wiederzugeben wäre? Die Zufriedenheit, der seelische Teil, kann zu Musik werden; wo bleibt aber die Armut, das ethische Problem, das hier wichtig war: zwar arm, jedoch zufrieden. Das kommt daher, daß »arm« eine Form irdischer und gesellschaftlicher Zustände ausdrückt, die in der ewigen Harmonie nicht zu finden ist.‘“
Ulrika sah sich triumphierend um. Renate aber hörte weder ihre Worte, noch was die Andern sagten, ganz gefangen in ihren Blick, der von ihr, die allein saß, über die vor ihr Beisammenstehenden glitt, gefesselt von den Gesichtern, Ulrikas lebhaftem, Magdas im Zuhören äußerlich abwesendem, und Georges’ gelassenem, leicht ein wenig sarkastischem. Länger haftend an seinem, dem ägyptischen König in diesem Augenblick, wo es sich glättete und der Blick aus lichten Augen nach oben ging, ähnlicher als jemals scheinenden Gesicht — hörte sie auch ein paar seiner Worte — vom verräterischen Glanz des Bestrickenden an der schönen Form — und wußte auf einmal, weshalb sie wehmütig geworden war beim Anblick von Ulrikas Zettel oben, den sie wieder vor sich sah. Ja, damals, als es die Friedliebende Gesellschaft gab, lag in der Halle wohl, oder auf der Sonnenuhr, oder sonst irgendwo, solch ein Papierschnitz mit einem Namen, dem er galt, und einem Ort in Haus oder Garten, und nur die Handschrift zeigte an, wer ihn hingelegt hatte. In ihrer Schreibmappe mußten noch ein paar zu finden sein.
Aber wir sind ja Alle wieder da! Magda, Bogner, Ulrika, Georges! Irene, Jason, Georg, Benno sind irgendwo in der Stadt — ja, warum ist es nicht wie früher? wer fehlt denn? Ach Gott, Esther, hab ich dich wirklich so vergessen? Und Sigurd ... wo mochte der sein? — Könnte es nicht doch werden wie damals?
Da sah sie die Andern wieder vor sich stehn, schweigsam jetzt, jeder nachsinnend über etwas, wie es schien, sonderbar still, jeder für sich mit seiner inneren Welt, umgeben vom Grün, von der warmen, herbstlichen Luft — und doch alle von Nachdenklichkeit eigentümlich vereint. Es war so traumhaft ...
Nein, das war gewesen! Und das hier — das waren die Schatten davon, die zusammen kamen, um den alten Ort anzusehn. Es war —
Renate stand auf, die Andern lösten sich, und Ulrika legte den Arm um sie, fragte dies und das, erzählte, doch kam der Maler alsbald, seine Bücher unterm Arm, und nahm sie mit fort, denn er wollte durch den Wald laufen, und sie wollte mit. Ulrika immerhin schien froher und offner als jemals.
Auf einmal war Renate allein mit Saint-Georges; auch Magda war gegangen.
„Ach Georges,“ sagte sie, „ich muß mich ins Gras legen, glaubst du, daß es was schadet?“
Nein, er glaubte es nicht. Also streckte sie sich längelangs in den hohen Halmen und verdorrten Blumenstauden auf dem Rücken aus, blinzelte gegen den immer goldeneren Himmel und fühlte wonnig an Schultern und Rücken, Füßen, Waden und Kniekehlen überall die andrängende, mächtig tragende Feste der Erde, auf der sie — die Augen schließend, fühlte sie es mit Macht — in ungeheurer Sicherheit, vom riesigsten Rücken getragen, durch Helles und Dunkles, Tage und Nächte, jahrlang durch gewaltige Räume umrollend dahingetragen wurde. Ja, einen Augenblick glaubte sie zu spüren, wie es hinter ihr, im Westen stieg, wie sie selber nicht lag, sondern stand, ausgebreiteter Arme, wie angenagelt an die immer sonnenaufgangwärts umrollende Kugel, selig gekreuzigt, schmerzlos im Herbsttag, gefüllt mit goldenen Adern von himmlischer Luft, nur ein leichtes Gewebe selbst, im Gras ausgebreitet, von purpurnen und goldenen Fäden und Maschen, in dem das wunschlos pochende Kleinod schwebte, liebevoll, ihr Herz.
So lag sie lange Zeit, still, die Augen zu, vor dem verschlossenen Blick das leise Brennen der unsichtbaren Helle; hoch über ihr rauschte es selten einmal und ward wieder still, schauderte etwas leicht auf und beruhigte sich wieder, eine kühle Welle lief über ihr Gesicht, ein Haar oder zwei wehten kitzelnd über Nase und Wange, ein Tier kroch juckend über ihre Hand, rings wehte kaum vernehmbar das Gras, die gedämpfte Natur krachte unhörbar leise im Saft, sie ruhte, Renate ruhte.
Aber jetzt mußte sie den Kopf heben, die Lider halb öffnen und Saint-Georges ansehn, über ihre Füße hinaus spähend; er saß in der Bankecke, einen Arm auf der Rückenlehne, ein Bein auf dem Sitz, und schaute schräg in die Höhe; seinem Blick folgend, sah Renate zwischen den Steinfiguren auf dem Dach, die hell besonnt im Lichten standen, zwei farbige Tauben laufen; es blitzte Weiß in der fernen Bläue auf, eine dritte schwang sich zu den andern.
„Georges,“ sagte sie, sich wieder legend, „seit langem ist es mir dann und wann, als ob ich warte; oder ungeduldig bin; oder — — ist Warten gut, Georges, oder nicht?“
Einige Zeit verging, bis sie ihn sprechen hörte. „Jeder Mensch,“ sagte er, „dessen Geist Augen hat, zu sehen, bekommt von Anbeginn die Richtung zuerteilt, in der sie sein Leben lang stehn: ins Heute, ins Gestern, ins Morgen gerichtet. Das sind die drei Temperamente; vier giebt es nicht. Wer allzutief ins Gestern blickt, dem verfärbt es das Morgen, wie Rot das Weiße grün färbt; wer allzuscharf nach Morgen späht, der erblindet fürs Heut, der wird unruhig, vielleicht unselig. Wer nur aufs Heute schaut, wird leicht bodenlos — ohne Gestern — und erbarmungslos — ohne Morgen. Die Menge blickt halben Auges verschwommen — nach allen drei Seiten. Der große Einsame blickt ganzen Auges tief und klar — nach allen drei Seiten.“
„Ach,“ sagte Renate dankbar, „eine Antwort hast du mir glaub ich nicht gegeben, aber es ist wunderbar, auf dem Rücken zu liegen und nach Schmetterlingen zu gucken.“
„Herbstschmetterlinge, Renate,“ hörte sie ihn antworten, „die Flügel grau, von Weisheit verstaubt.“ —
„Sage mir, Georges,“ fing sie nach einer Weile wieder an, „wenn ich denn schon unruhig bin, warum rühre ich mich nicht mehr?“
„Wir lesen“, sagte er langsam, „im Leben der Bienen von Maeterlinck über die Bienenkönigin: sie bleibt gleichgültig, regt sich nie auf und nimmt sich Zeit.“
Alsbald riß Renate die Staude aus, die sie gerade in der rechten Hand hielt, und warf sie nach ihm hin, jedoch mehr zum Schein, denn sie machte die Augen deshalb nicht auf. Auf einmal kam ihr auf dem Weg über Bogner Cornelia Ring ins Gedächtnis, sie fragte nach ihr, hörte Georges etwas antworten und sagte, verloren in Gedanken: „Josef wurde ihretwegen in vielen Häusern nicht eingeladen ...“
„Ja, das geht auch nicht“, meinte Saint-Georges. Die Augen geöffnet, sah sie das Skurrile in seinem Gesicht.
„Hätte ers heimlich tun sollen?“
„Heimlich, Renate? Was ist heimlich? Alle tun, was er tat, nur meist in mehr sporadischer und ebenfalls mehr widerwärtiger Form. Aber sie tun es mit allerhöchster Erlaubnis ihrer Frauen, Mütter und Schwestern — ich nehme die Bräute aus, denn sonderbarer- oder auch rührenderweise gilt Brautzeit gemeinhin als Schonzeit, und dann ist es natürlich auch so, daß jede Mutter, jede Frau immer im eignen Sohn oder Mann eine Ausnahme sieht. Also sie tun es, mit der Erlaubnis, es heimlich zu tun; z. B. nachts, wenn die Gesellschaften zu Ende sind, in die Bars und Bordelle zu fahren, wie das hier und wohl in allen Städten üblich ist. Die Gesellschaft — aber ich weiß nicht, ob du —“
„Nur zu, Georges,“ sagte Renate, „ich sagte es ja schon: es ist wunderbar, im Grase zu liegen und von der Gesellschaft reden zu hören. Sprich von der Gesellschaft, wir haben ja schon davon angefangen, vorhin bei Busonis Wort.“
„Die Gesellschaft“, redete Saint-Georges, „hat durchaus nichts gegen Unmoralität, sondern braucht sie im Gegenteil notwendig als Würze und als Hintergrund, wie gewisse Dinge nur weiß aussehn, wenn man sie auf was Schwarzes legt. Die Gesellschaft, wenn du das etwa glauben solltest, hat — wovon das Wort herkommt: von mores und mos gleich Gewohnheit — kaum Moral, sondern sie hat Sitten, und giebt danach Gesetze, bestraft daher nicht die Sittenlosigkeit, sondern allein die Sittenwidrigkeit. Sie wird daher ferner immer das Geheime dulden; was sie nicht duldet, ist die Ausnahme. Zum Beispiel Bogner. Sie kennt keine Dirnen — als Dame — aber uneheliche Mütter — als Fürsorgevereinsmitglied. Sie hat Verbote nötig, um sich Grenzen zu ziehn, nicht Gesetze, um das Übel zu tilgen. Sie überwacht nicht tuberkulöse Väter in spe, sondern versucht, tuberkulöse Kinder zu heilen. Dito Geschlechtskranke, Trunksüchtige und dergleichen. Sie verurteilt die Prostitution — als Gatte — und unterhält Bordelle — als Gemeinderatsmitglied. In diesen wieder überwacht sie die Insassen, aber nicht die Gäste. Sie ist gegen die Trunksucht, weil sie die Gesundheit untergräbt, und verachtet den Abstinenten, weil er ihre Gesundheiten nicht ausbringen will. Sie erlaubt einer Dienstmagd von vier Sonntagen zweie zum Ausgang, um sich zu vergnügen, und jagt sie zum Teufel, wenn sie guter Hoffnung ist. Sie hat den Frauen nacheinander das Tanzen, Reiten, Schlittschuhlaufen, Schwimmen, Radfahren, Studieren verboten und wieder erlaubt. Sie erlaubt dem Ehebrecher, den Ehemann zu töten, und sie tötet den Ehemann, der sich ans Gesetz wendet. Sie erlaubt, die Ehe zu brechen, aber sie erlaubt nicht, sie zu zerbrechen. Sie verabscheut das Laster, aber sie füllt die Gerichtsverhandlungen. Die Gesellschaft weiß nichts von Logik, sondern nur von Gewohnheit, hält für schädlich nicht das Zerstörende, sondern das Neue, will nicht verbessern, sondern verdecken, will nicht bestrafen, sondern sich schützen, sie verbannt nicht, sondern läßt verhungern. Sie hat ein Gutes: gar kein Gedächtnis. Sie gleicht der Fliege vollkommen. Sie setzt sich auf alles; sie ist völlig geschmacklos.“
Ach, wie angenehm das plätschert, dachte Renate und fragte, warum er Bogner erwähnt habe. Saint-Georges lachte mit Behagen.
„Bogner?“ sagte er. „Bogner lief als Knabe weg und kam wieder als Mann. Er machte Besuche, in einen sehr schönen Schoßrock gekleidet, mit einer lichten Weste, anstatt in Samtjacke und Schlapphut daher zu kommen, oder wie es jetzt Mode ist, in Wickelgamaschen und Joppe. Das war schon gefährlich. Er zeigte sich weder geistreich noch boshaft, weder unmanierlich noch blödsinnig, er war artig. Das war schon sehr gefährlich. Er ließ aber seine Augen im Zimmer umherwandern, und siehe da, alle Schande ward ihm offenbar. Weder die unmoderne Einrichtung mit Sofaumbau, die längst hatte ersetzt werden sollen, noch die Sofaschoner — Antimakassars, sagte man früher dazu —; weder das Loch im Teppich, noch der zerbrochene Glühstrumpf, weder die schmutzigen Gardinen, noch die ungewaschenen Fenster, nichts sahen sie seinen Augen entgehn. Ich kenne Leute, die Leute kennen, die ... und die sagten es mir. Natürlich sah er gar nichts dergleichen, aber die ihn sahn, mußten es glauben, denn was kann man denn anders sehn, wenn man so sieht wie er, als Schäden, Flecke, Löcher. Furcht voreinander ist der erste Eckstein der Gesellschaft, Renate. Aber weiter. Er übersah das Ölstilleben von der Tochter des Hauses und fragte nach der Miniature eines längst begrabenen Urgroßvaters, der nichts hatte erben lassen. Er legte die Photographie des Schwiegersohns wortlos fort und nahm einen alten, grünen Porzellanmops in die Hand, unter dessen Hinterteil er zwei gekreuzte blaue Schwerter entdeckte, die noch nie ein Mensch gesehn hatte. Er machte auf einen schief hängenden Starenkasten aufmerksam, der sein Dasein verfehlte, aber seit Jahren schon so hing und das Bild des Gartens vervollständigte. Er nannte eine gemeine weiße Rose: welch schöne Clara Watson! und verachtete das verblüffende Wachstum der Araukarie. Er bat um die Erlaubnis, eine Skizze vom Kohlenkeller machen zu dürfen, in dem doch alle leeren Boonekampkrüge der Hausfrau aufgestapelt waren, und er malte keineswegs das Porträt der Braut in Pastell. Er schickte kein Bild zur Ausstellung der heimischen Kunstgenossenschaftler, und als er einmal daselbst betroffen wurde, bat er gerade den Kustos um ein Glas Wasser, weil er vor einer Landschaft des Stadtmalermeisters an einem Lachkrampf erstickte. Er —“
„Ach, Georges, das ist doch nicht wahr!“
„Nein, natürlich ist es nicht wahr,“ rief er aus einem Gelächter, „aber ist es nicht glänzend erfunden? Hätte er doch von der Musik der Farbgebung, dem Rhythmus der Flächen und der seelischen Dynamik des Pinselstrichs geredet, so wäre es gegangen. Er aber sagte überhaupt gar nichts. Welch ungeheure Boshaftigkeiten also mußte er verschweigen. Er hätte auch die fürchterlichsten Lästerungen, Frivolitäten und Frevelmeinungen äußern dürfen, denn mit dergleichen verhält es sich seit alters so, daß der Bourgeois sie verdammt und verabscheut, wenn sie in Büchern stehn, wenn aber jemand sie äußert, so heißt es: das sagt er nur so! Der Bourgeois glaubt nicht nur nicht, was ein Andrer sagt, wenn es fremd und erschreckend klingt, sondern glaubt nicht einmal, daß der Andre selber es glaubt. Wäre er aufrichtig, für welch schaurige Lügner müßte er alle Sonderlinge und Eigengänger halten. Früher wurde von einem Manne verlangt, daß er tut, was er denkt. Milder Denkende rieten späterhin, es genüge, zu sagen, was man denkt. Heute giebts schon niemand mehr, der denkt, was er denkt. Und von Bogner sagen sie ja nun: er hat süffisante Augen.“
„Ach,“ rief Renate, sich aufrichtend, „nun weiß ich, daß du die Wahrheit sagst! Da auf der Bank habe ich gesessen und dies Wort in einem Briefe von Magda gelesen; ihr Vater brauchte es gegen Bogner. Ach, wie lange, wie lange ist das her!“
Sie wollte eben das Gesicht gegen die Knie senken, als sie zu ihrer Rechten hinter den Büschen etwas Menschliches zu sehn glaubte, eine Bewegung, ein Gesicht. — Vielleicht war jemand am Zaun draußen vorübergegangen. Sie wollte sich wieder legen, sah aber nun, daß der Garten schon tief im Abendschatten lag; nur zu ihren Häupten, hoch in den Wipfeln, hing noch das scheidende Licht, und noch flossen warme Spuren und goldne Hauche über den weitoffnen Himmel. Sie sprang auf, schüttelte ihr Kleid und rief Saint-Georges zu, er solle schnell seinen Bruder herunterholen, damit er noch an die Luft komme, — und da stand auch schon Magda wieder in der Veranda und fragte herüber, ob es nicht Zeit sei, den Gelähmten zu holen. Saint-Georges folgte, Renate rief ihm noch zu, sie ginge in die Kapelle. Der Lahme liebte es sehr, die Orgel am Abend zu hören, wenn er umhergefahren wurde.
Den Weg zwischen den Gebüschen hinunter, gegen den Zaun zu gehend, gewahrte Renate jetzt deutlich ein Gesicht draußen hinter dem Gezweige. Näherkommend sah sie die Blätter sich bewegen, eine Hand teilte sie; Josefs Gesicht war draußen, seitwärts gedreht; er sah sie nicht an.
„Josef!“ stieß sie hervor. Ihr Herz tanzte. War sie erschrocken? Ihr Herz kümmerte sich um gar nichts und war außer sich. — Nun drehte er langsam das Gesicht her. Seltsam ... wie starr das Auge war! und die ganze Hälfte des Gesichts, die rechte, war — ja, sie war nicht da, etwas Schwarzes war da, aber die Dämmerung ... Nun lief sie hin, trat ins Buschwerk auf den Rasen, da war der Zaun, da stand er, schwarz, fein gekleidet, unbeschreiblich duftend, wie immer.
„Wirklich, ich bins, Renate,“ sagte sein halber Mund, das halbe, lächelnde Gesicht, „willst du herauskommen?“
Nun stand sie ganz dicht vor ihm, hörte, daß er atmete, sah das schwarze Tuch, das vor der rechten Gesichtshälfte war, nein — der ganze Kopf war damit verhüllt, nur vom linken Ohr bis zur Nase, in senkrechter Linie über die Stirn, neben der Nase, über den Mund und das Kinn herunter abgegrenzt war sein Gesicht zu sehn, wie ein Viertelmond, bräunlich bleich und schön wie je, nur das Auge starrer, doch verging auch dies, nun sie tiefer hineinsah.
„Josef, was ist mit deinem Gesicht?“
„Komm heraus, komm heraus, o du schöne Braut!“ lockte er, „dann sollst du alles erfahren!“ ging zwei Schritte am Zaun hin und öffnete die Tür; sie schob sich unter dem Strauchwerk her dorthin, ging durch die Tür, wollte fragen, warum er denn nicht hereinkomme, ließ es aber, stand vor ihm, furchtsam vor seinem Aussehn, aber doch innig froh im Herzen. Sie legte die Hände auf seine Schultern und ließ zu, daß er die seinen auf ihre Hüften legte. „Daß du nur da bist!“ sagte sie glücklich. „Ich merke nun, wie oft am Tage ich dich in meinem Herzen unterschlagen habe. Ich kann ja nicht sagen, wie ich mich freue. Ja, ich bin sehr erstaunt darüber.“
Er lächelte fortwährend, zuckend mit Mund und Augenwinkel. „Wenn du mir einen Kuß gäbest,“ sagte er, „wie wäre das?“
Sie hob sich ein wenig auf den Zehen und küßte ihn unter das linke Auge. Danach mußte sie freilich mit dem Fuß aufstampfen, mit der Faust in die Handfläche schlagen und sich verschwören, daß es ein Elend sei, daß die Ungeratenen, was sie nur wollten, erhielten, während die Guten ohne Ende darben müßten.
„Ich fürchte,“ sagte Josef, „es liegt nicht an den Bösen und an den Guten, sondern allein an dem menschlichen Herzen. Du goldnes Mädchen!“ sagte er plötzlich erschüttert und schien gewillt, auf die Knie zu sinken. Er bückte sich bis tief auf ihre herunterhängende Hand, faßte und küßte sie gewaltsam. Sie legte die Hand auf seinen Kopf, merkte, daß sie fast standen wie damals beim Scheiden, Josefs Vater wanderte fremd, sinnlos heiter vorüber, es war dämmrig, feuchte Schleier hingen vor einer fremden Mauer, ein Dach darüber ... ihre Kapelle wars. Sie fühlte seltsam das schwarze Zeug unter ihrer Hand, faßte jählings, von unverständlichem Zorn ergriffen, zu, zerrte und riß es herab. Er richtete sich auf, so hoch er war, der Lappen hing schwarz an seinem Hals, Renate prallte zurück und schauderte vor seinem rechten Gesicht, das fehlte, das nur dunkelrote Haut war, nach innen gedrückt, ohne Spur von Zügen, kein Kinn, keine Augenwölbung, nur ein Loch, zugekniffen, kein Backenknochen, der Mundwinkel hineingewischt. — Sie schlug die Hände vors Gesicht. Als sie wieder aufsah — ach, es war wohl doch ein Traum, das Ganze! Denn nun war sein schönes Gesicht wieder da, eine Hälfte davon, unverstellt und unverändert wie vor zwei und einem halben Jahr, ja, so edel und bedeutend, daß schon das Spukbild eben ausgetilgt war und nichts mehr galt als dies. Dies Gesicht lächelte nun, sie folgte mit Mund und Augen und sagte: „Verzeih, ich war ungeschickt! Ich habe nichts gesehn. Und nun komm ins Haus.“
Josef bückte sich, hob einen Stock, einen leichten grauen Hut mit schwarzem Band und ein kleines Paket vom Boden, setzte den Hut auf und sagte: „Ins Haus nicht. Wir gehn zu der Schaukel dort unter den Bäumen, da kannst du sitzen.“
Damit ging er vorauf. Sie folgte zögernd.
Es war eine große, wohl zwei Meter lange Schaukel mit eisernem Geländer, die in einem Eisengestänge an vier starken Pfosten hing. Josef bot ihr die Hand, sie stieg auf das Bohlenbrett und setzte sich auf das Geländer. Sie sah sich um. Seit den Tagen der Friedliebenden Gesellschaft war sie nicht hierhergekommen. Damals hatten sie einmal Alle in der Schaukel gestanden, Irene, Ulrika, Esther, Georg, Benno, und hatten sich geschaukelt und gesungen dazu im Kanon: „Oh wie wohl ist mir am Abend ...“ Die Schaukel knarrte. Josef, am andern Ende stehend, setzte sie leise in Bewegung; das sanfte Wiegen tat Renate wohl. „Wo warst du?“ fragte sie.
An das Geländer der Schaukel gelehnt, den Kopf gesenkt, stand er und schwieg. Einmal zuckte sein Mundwinkel. Renate sah eine feurigrosige Wolke sehr langsam über das Dach der Kapelle hinfahren; leicht sitzend auf dem friedlich schwankenden Boden, erinnerte sie sich, wie sie im Rasen lag eben zuvor, Saint-Georges plauderte, die Welt war eng und angenehm und still, — da stieg dieser Mensch aus dem Rasen herauf, im glitzernden Behang eines riesigen Hintergrunds, der Fremde, der — nie war sie so davon durchdrungen wie jetzt! — im Leben nichts gewußt hatte von Gesellschaft und Gewohnheit; der in ihr so gut war wie ein Jaguar, der sich zahm stellt, in einem Geflügelhof. Ja, so stand er, wieder zahm, strömend aber wilden, atemraubenden Dunst; und hinter sich, pompös, das Porta der Welt.
„Zu fragen, woher einer komme,“ hörte sie ihn sagen, „das liegt freilich nahe für den Weilenden, aber dem Kommenden, das kannst du mir glauben, liegt es wirklich reichlich fern. Guter Gott, wie schön du doch bist! Ist denn all die Zeit hier einer gewesen, der dir das gesagt hat?“ Ja, sieh da, er traf den Nagel, wie immer, auf den Kopf. „Setze mich wie ein Siegel auf deinen Arm und wie ein Siegel auf dein Herz“, sagte er. „Denn Liebe ist stark wie der Tod, und ihr Eifer ist fest wie die Hölle. Ihre Glut ist feurig, eine Flamme des Herrn, daß auch viele Wasser nicht mögen die Liebe auslöschen, noch die Ströme sie ertränken. Wenn einer alles Gut in seinem Hause um die Liebe geben wollte, so gälte es alles nichts.“
Ihr Gesicht stand in Flammen, sie genoß das Funkeln seines Auges, atmete tiefer und dachte mühsam: Einmal wird einer noch andre Worte haben, er braucht sie nicht von Salomo borgen, und sie werden mich doch verbrennen, wo ich diese nur brennen sehn kann.
„Du hast mich angehört“, fuhr er kühler fort, „in der letzten Stunde, du hörst mich wieder an in dieser, ich muß reden, es nützt mir nichts, und wenn ich alle sechzig Minuten dieser Stunde zusammenpressen könnte in eine, sie würde doch nicht so glühen, um dich zu durchbrennen. Ich weiß, es liegt nicht an dir, wie es nicht an mir liegt, es liegt an der Einrichtung allein. Ich sehe dir an, daß niemand zu dir kam, seit ich fort bin, dein Hals ist der alte Turm von Elfenbein —“
Sie zuckte, er hob die Hand gegen sie, lächelte kurz und sagte: „Hab keine Angst, ich fahre nicht fort in der salomonischen Beschreibung. Wahrhaftig: häufig habe ich nicht an dich gedacht, aber eines Tages hats mich doch übermannt, da kam ich gleich. Wie braun du bist! Das Feuer deiner Augen brennt kalt wie der Edelstein in meiner Tasche, aber dein Mund ist hundert und tausendmal süßer geworden.“
Renates Augenlider wankten, sie fühlte, daß ihr Kopf hintenüber wollte, und dachte sekundenlang: ... ich würde mich nicht wehren ... Heute nacht, dachte sie, wird es mich zerreißen vor Pein nach — nach wem denn? Sie öffnete die Augen und freute sich, daß er viel zu hoffärtig war, um mehr zu nehmen als ihr Weichwerden und ihr Dämmern.
„Sage nun,“ bat sie mit verschleierter Stimme, „wo du warst, und wo blieb — dein Gesicht!“
Er setzte sich auf das Schaukelbrett vor ihre Füße; in der tieferen Dämmerung unter den Bäumen sah sie jetzt nur seinen schwarzverhüllten Kopf, seine Nase und ab und an den Schein seines Gesichts und das auffunkelnde Auge; er hielt den Hut in den Händen, die Ellenbogen auf den Knien.
„Drei Viertelstunden hast du noch,“ sagte sie, „dann ist Abendbrotzeit, und wir müssen hinein.“ Er schwieg noch ein Weilchen, dann hörte sie seine Stimme.
„Zu sagen, wo ich war, lohnt sich nicht, aber du bist ja nun neugierig. Übrigens ist die Welt viel kleiner, als man gemeinhin denkt, wenn man die wilden Erdteile ausnimmt: dort war ich nicht, auf Forschungsreisen zu gehn, hab ich für später vorbehalten, ich wollte ja erst Menschen sehn. Ich bin ja nun einmal Idealist und ging daher aus, einen zweiten zu suchen.“
„Was ist ein Idealist?“ fragte Renate.
„Ach, unterbrich mich lieber nicht, sonst muß ich zuviel nachdenken, ob du auch verstehst, was ich sage; ein Idealist ist ein Mensch, der sich in einen Kochtopf voll Wasser setzt, denselben ans Feuer rückt und nicht heraus steigt, ehe er ganz und gar drin verkocht und verbrannt ist. Der Kochtopf kann ja denn Liebe, Tibet, Goldmachen, Verseschreiben, Marxismus oder sonstwie heißen.“
„Fandest du solch einen?“
„Zwei!“ sagte er, „in Amerika. Den einen traf ich im Polizeigefängnis in Ohio —“
„Im Poli—?“
„Ich sage ja, du sollst mich nicht unterbrechen, denn sonst geraten wir ins Uferlose, ja, ich saß darin wegen einer großen Minensache, es war eine so große Schiebung, daß während des Verfahrens die halbe Welt hineinverstrickt wurde, und da mußte es niedergeschlagen werden. Der Idealist war ein vielfach rückfälliger und bestrafter schwerer Tresoreinbrecher, der mir durch Klopfsprache seine Entrüstung mitteilte, daß er immer wieder bestraft würde, während er doch von einem kleinen Kapital ein bescheidenes und ordentliches Leben und die Einbrüche nur ausführte, um das erlangte Geld sofort an Bedürftige auszuteilen, das heißt, in Wahrheit war er nicht hierüber so entrüstet, sondern weil es nicht gelingen wollte, den Richtern zu beweisen, daß er überhaupt nicht stahl; denn was er stahl, sei ja nicht fort, sondern sei da, er hatte immer die Belege bei der Hand, Reverse der Banken über Einzahlungen auf diesen und jenen Namen — frage nicht, das Geld war den Leuten absolut sicher — also sei es durchaus nicht gestohlen, sondern habe nur den Liegeort gewechselt. Dies war ein Amerikaner. — Den andren Idealisten fand ich auf einem englischen Leuchtturm eines winzigen Eilands, ich darf nicht sagen, wo, irgendwo an der Küste. Er war kein Engländer, galt aber für einen, war ein deutscher, verabschiedeter Offizier und hatte bereits an die dreißig Jahre seines Lebens in dieser Einöde damit verbracht, auf den Augenblick zu warten, wo zwischen Deutschland und England der Krieg ausbrechen würde, um alsdann seine Lichter auszupusten und gehängt zu werden. Nun möchtest du wohl wissen, was ich und wo ich noch war. Die Vereinigten Staaten sind das Grauenhafteste auf der ganzen Welt, ich war auch im Westen, war Minengräber, Goldwäscher und Viehhirt, es war für eine Weile ganz lustig, aber ich konnte es auf die Dauer nicht ertragen, wie sie ihre Pferde mißhandeln.“
Da er eine Pause machte, fragte Renate, nichts als zuhörend: „Aber das Mißhandeln von Menschen, das konntest du —?“
„Denn der Mensch“, sagte er, „kann sich wehren, das Tier nicht. Das Tier kann beißen und ausschlagen, aber das hilft ihm nichts, denn es muß dableiben; der Mensch kann weggehn. Er geht in ein andres Land oder geht aus dem Leben. Das Tier kann nicht aus dem Leben, wie es nicht aus seiner Haut kann. Ferner war ich Agent. Agenturen giebt es für alles, zumal in Amerika. Agenturen für Politik, für Minen, für Geldgeschäfte, für Doktordiplome, für Mädchenhandel, für Bestechung, Spionage, An- und Verkauf deutschen Adels an reiche Mädchen, für Schmuggel, Gründungen und für Mord. Einige werde ich wohl ausgelassen haben. In Colorado Springs war ich auch Falschspieler, du weißt, ich kann die Karten nicht leiden, aber Falschspiel ist reizend, solange man sich einbilden kann, der einzige am Tisch zu sein, der betrügt, und das gelingt ja wohl eine Weile. Dort wars, wo ich mein Gesicht verlor, es stahl natürlich eine Frau, beschreiben möchte ich es dir lieber nicht. Ich habe ja auf Frauen immer eine gewisse Anziehungskraft ausgeübt; dort, wo man weniger empfindet und denkt, sondern gemeinhin tut, was man empfindet oder denkt, war es fast unerträglich, und so war ich nicht sehr böse über den Verlust; leider stellte sich dann heraus, daß die Halbierung die Anziehungskraft nicht unbedeutend gesteigert hatte. Ach, Kind,“ unterbrach er sich, „ist es nicht genug? Ich könnte niemals fort gewesen sein und das gleiche erzählen, du würdest nicht besser wissen, ob du mir trauen darfst oder nicht.“
Er sah trübe zu ihr auf. Renate dachte gelähmten Herzens nur: Josef — und lügen, um sich einen Hintergrund zu geben? — „Aber ich habe dir Grüße auszurichten“, sagte er nun. „Ein gewisser Sigurd Birnbaum, weiland Cellospieler Renates, trug sie mir auf, mit dem ich gewisse Operationen auszuführen hatte, um einen gewissen Geheimbundsfreund in Tscheliabinsk aus der Katorga zu befrein.“
„Mein Gott, Sigurd,“ sagte Renate, „was ist aus ihm geworden?“
„Dort,“ erklärte Josef sehr ernst, indem er sich langsam erhob, „dort giebt es Idealisten. Aus Frankreich — es lebt sich dort angenehm, wenn man es versteht, für einen Franzosen gehalten zu werden, jedoch — aber das führt zu weit — jedenfalls kam ich von dort nach Russland und schloß mich der revolutionären Bewegung an. Dort verbrodeln die Menschen freiwillig und mit Gesang. Ich will dir etwas erzählen.“
Er setzte sich wieder hin. Was wird nur Onkel sagen? dachte Renate. Wird er ihn erkennen? Sie merkte, daß sie zitterte. Sie begann sich zu fürchten und hörte Josefs Stimme aus der Ferne, die langsam Satz um Satz hinsagte.
„Ein jüdischer Knabe war vierzehn Jahre alt, als er seine Eltern und deren ganzes, sehr großes Vermögen durch ein Pogrom verlor. Er ernährte sich selber, besuchte das Gymnasium weiter und wollte Apotheker studieren. Mit sechzehn Jahren wurde er bei einer Massendemonstration verhaftet, in Bausch und Bogen mit verurteilt und kam ins Gefängnis. Dort wurde er mit den sozialistischen Ideen bekannt, eignete sich das theoretische Wissen an und verließ das Gefängnis als Sozialist. Er verdiente Geld durch Unterricht, studierte, erreichte in der Bewegung bald eine führende Stellung, las viel und hungerte mehr. Als Redner bei einer Demonstration wurde er wieder verhaftet und kam für zwei Monate ins Gefängnis. Er und seine Arbeit waren für die Bewegung wichtig; daher ließ eine Studentin, mit der er zusammen gelebt hatte, sich jede Nacht in einem, dem Gefängnis benachbarten Holzlager einschließen, kletterte, obgleich auf sie geschossen wurde, zu seinem Fenster an der Mauer hinauf und tauschte Zeitungen und Berichte mit ihm aus. Er saß in Einzelhaft, durfte weder rauchen, noch lesen, noch irgend etwas tun. Er durfte eine einzige Stunde am Tage spazieren gehn und erhielt so Verbindung mit den sogenannten Kriminellen, das sind die wirklichen Verbrecher, unter denen er sozialistische Propaganda betrieb durch Reden und Broschüren, ihnen Verteidigungsreden anfertigte und sie vorbereitete. All dies durch die Klopfsprache, deren System ich dir ein andermal erkläre; man kann nach vier Seiten, oben, unten, links und rechts klopfen. Er organisierte unter anderm einen Hungerstreik wegen der Verurteilung von Leuten, die nichts mit der Bewegung zu tun hatten. Er war ein Idealist. Als er das Gefängnis wieder verlassen hatte, half er bei der Vorbereitung einer Revolution, reiste als Provisor, arbeitete in kleinen Orten, benutzte die Nächte zur Propaganda, zur Verbreitung gefährlicher Druckschriften, übernahm selbst deren Ausarbeitung und Druck, arbeitete zum Beispiel vier Wochen in einem Keller, um halb im Dunkeln eine Anzahl Broschüren mit der Handpresse zu drucken. Die Revolution brach aus, die Regierung organisierte eine Gegenrevolution, wie das da üblich ist, der Pöbel machte Pogrome, die Soldaten beteiligten sich an der Plünderung, die Sozialisten organisierten eine Miliz zum Schutz der Unbeschützten, und er wurde Hauptführer des Bundes jüdischer Sozialisten. Die Juden sind dort, wo er war, Fabrikarbeiter. Er wurde verhaftet und für lebenslang nach Sibirien verschickt. Nun ist in Rußland alles organisiert, auch die Bestechung; die Sozialisten haben eine eigne Gesellschaft gewissermaßen, auch eine Kasse, zur Befreiung der Militanten oder politischen Verbrecher. Er entkam während des Transportes mit einem Andern, sie fuhren sechzehn Tage auf der sibirischen Bahn als blinde Passagiere unter den Bänken der Waggons, verließen wenige Tagereisen vor Petersburg den Zug, hängten sich unter einen Wagen, um bei Nacht abzuspringen, aber der Freund hatte Angst, er mußte mit dem Revolver auf ihn schießen, sie sprangen ab und schürften sich die Haut. Die Organisation beförderte sie an die Grenze, er bekam einen falschen Paß, einen Verkehrspaß für Galizien, den dort jeder haben muß, darin stand leider, er sei ein alter Mann mit grauem Bart. Er wurde wieder verhaftet, brach allein aus, verschaffte sich Bauernkleidung, wanderte als Landarbeiter von Ort zu Ort, kam über die Grenze und durch Rumänien, Ungarn, Österreich, die Schweiz nach Frankreich. Als Ausländer wurde er an der Sorbonne nicht zugelassen, er arbeitete in einer kleinen Maschinenfabrik und organisierte dort einen Streik wegen schlechter Löhne. Seine letzte Kraftleistung war, den Fabrikbesitzer aus dem Fenster zu werfen; er arbeitete weiter in seinen Betrieben, als Buchbinder, lebte von dreißig Franken monatlich, aber seine Energie war zu Ende. Da kam aus Rußland jenes Mädchen, das ich erwähnte, die Studentin, sie brachte ihn in eine Apotheke als Laufburschen, wo er sich die französischen Namen der Medizinen aneignete. Er studierte wieder, es gelang ihm später, an der Sorbonne zugelassen zu werden, er studiert nun weiter. Die Examina sind dort in Pharmazie zahlreich und sehr schwer, er ist jetzt Provisor, um Geld zu verdienen, muß noch das Abiturientenexamen und Staatsexamen machen, um die Erlaubnis zum Besitz einer Apotheke zu bekommen. Ich lernte ihn kennen, da ich jenen Sozialisten, dem ich mit Sigurd zur Flucht verhalf, nach Frankreich brachte, wo er in Paris unter den Sozialisten eine bedeutende Stellung einnimmt.“
„Nun hast du wohl“, sagte Josef, „einen Begriff, wie andernorts Menschen leben. Im Vergleich zu ihnen — ich nannte eben absichtlich seinen Namen, denn es giebt mehr als einen solchen — lohnt es sich natürlich nicht, von mir zu reden. Ich nahm ja an alledem auch nur teil wegen der Bewegtheit, nicht wegen der Ziele. Sigurd Birnbaum übrigens studiert in Odessa, ist Assistent in einem Krankenhaus und der gute Heiland aller kranken Kindlein; übrigens — war er immer so finster? Er soll an Schwermut leiden und — ja, nun mußt du wohl zum Essen hinein.“ Er holte einen Zettel aus der Tasche. „Hier ist eine Adresse,“ sagte er, „wenn du Verlangen nach mir haben solltest, bin ich durch sie immer zu erreichen.“
Renate nahm das Blatt nicht, das er ihr hinstreckte, sah ihn nur an und sagte: „Josef!“
„Nein!“ versetzte er gebieterisch. „Bitte nicht, fordre nicht, es ist unmöglich. Du brauchst mir nichts zu sagen. Ich bin nicht erst seit heute in dieser Stadt, ich weiß alles, was sich während meiner Abwesenheit in diesem Hause zugetragen hat, ich weiß auch alles von dir, was sich durch dritte Hand wissen läßt. Vorläufig bleibe ich, ich bedarf etwas Ruhe.“ Er erfaßte ihre Hand, drückte den Zettel hinein und schloß sie darüber. „Willst du Gründe? Ein andermal wird Zeit dafür sein. Immerhin: ein Wort!“ Sein eines Auge starrte bedeutsam, während er schloß: „Erasmus; ich gedenke noch zu leben.“
Er zog die Uhr, hielt sie empor, um das Zifferblatt zu erkennen, und sagte: „Es ist hohe Zeit für dich. Daß du von mir schweigst, halte ich für selbstverständlich; es könnte sonst Unheil geben. Nun genug. Lebe wohl! auf Wiedersehn.“ Er bot ihr die Hand.
Renate erhob sich, legte die Hand auf seine Schulter und sprang von der Schaukel auf die Erde. Nun versuchte sie es noch einmal, richtete durch die Dunkelheit ihre Augen auf das seine und bewegte die Lippen. Angezogen, kam er ganz nahe, legte den Arm um ihre Schulter und, den Mund dicht vor ihrem, sagte er: „Was — —?“
Renate fühlte ihr Blut gerinnen. „Alles —“ sagte sie lautlos; und nach einem Augenblick: „— für deinen Vater.“
Er fuhr zurück, sein Auge starrte wütend, er stieß hervor: „Bist du denn wahnsinnig geworden?“ Drehte sich um und ging in Eile unter den Bäumen weg. Sie sah ihm fassungslos nach. Weiter unterhalb, wo es heller war über den Wiesen, kam noch einmal sein Schatten zum Vorschein. Sie fühlte den Zettel in der Hand, öffnete ihn und las trotz der Dunkelheit leicht das einsame Wort: Jason. — Sie sah etwas Weißes auf der Erde, bückte sich und fand das Paket, das er bei sich gehabt hatte; sein Stock lag darüber. Sie nahm beides und ging langsam in den Garten zurück, in die Kapelle, legte die Sachen auf einen Stuhl, ging hinaus, verschloß die Tür und ging durch den Garten ins Haus.
Vor der Tür des Eßzimmers hörte Renate von drinnen lautes Durcheinandersprechen und Gelächter; sie glaubte Ulrikas Stimme zu hören, legte die Handrücken gegen die Wangen und fühlte, daß sie glühten; die Hände waren eiskalt. Sie trat ein; ja, Ulrika war da, auch Bogner; Alle, Erasmus, Saint-Georges, sein Bruder und Magda saßen bereits essend um den Tisch. Renate blieb an der Tür stehn, klatschte, ihr Zuspätkommen und ihre Erregung zu verbergen, in die Hände und rief lustig: „Ach, sieh, der Maler mit den süffisanten Augen ist wieder da!“ Die Andern lachten, Ulrika rief, sie sollte sich schnell hinsetzen, sie kriegte sonst nichts mehr zu essen, fragte, was das heißen sollte: süffisante Augen, erklärte dann aber erst, daß sie und Bogner im Walde im Kreis gelaufen und wieder hergekommen seien. Nun bestand Bogner auf Erklärung seiner süffisanten Augen, aber Renate, in plötzlicher Mattigkeit, verwies ihn an Saint-Georges. Sie sah eine Tomate auf ihrem Teller, die dampfte, nahm die Gabel, löste den Deckel ab und zwang sich zu essen. Wie dröhnten denn die Stimmen? Selbst die ruhige von Saint-Georges summte bohrend in ihr Gehör.
„Dieser berühmte Maler“, sagte Saint-Georges, „pflegt die Dinge vereinfacht zu sehn, um nicht zu sagen, abstrahierend; er scheidet das Gewohnte aus und sieht, was fehlt, oder aber was da sein könnte, oder was zuviel ist, und was den Andern mißfällt, das gefällt ihm gerade, weil es krumm ist.“
„Ach,“ sagte Bogner heiter, „nun fällt mir ein, daß einmal jemand zu mir sagte, wenn ich ihn ansähe —“
„Bitte,“ unterbrach ihn Saint-Georges, „das hat er sicher nicht gesagt. Er hat gesagt: Wenn Sie einen ansehn — nicht ‚mich‘, nicht wahr? Die Gesellschaft ist ‚man‘, Renate, nicht ‚ich‘, das ist auch ein Eckstein davon.“
Renate sah seine Augen von drüben auf sich gerichtet; es kam ihr vor, als ob er alles wüßte. Sie nickte und senkte das Gesicht. Der Maler fuhr fort:
„Also, wenn ich einen ansähe, sagte er, hätte man immer das Gefühl, ein Westenknopf wäre offen, oder der Schlips säße schief, oder es wäre ein Fleck am Kragen, und man müßte immer an sich herumfummeln.“
„Siehst du,“ sagte Ulrika, „warum willst du auch niemals lachen! Du machst immer bloß so krumme Mundwinkel, und das sieht denn so heimtückisch aus.“
„Und dann vor allem,“ begann wieder Saint-Georges, „diese raffiniert sokratische Methode, alle Augenblicke zu sagen: Davon verstehe ich nichts.“
Renate zuckte zusammen; mein Gott, wie laut lachten sie denn, das prasselte ja nur so auf ihren Kopf herunter!
„Meinen Sie, daß Ihnen das einer glaubt, wirklich? Deshalb hält man Sie doch bloß für — entweder teilnahmslos — um nicht zu sagen: interesselos, oder hochfahrend, oder faul, oder für einen verkappten Anarchisten, Atheisten oder so.“
Plötzlich dröhnte Erasmus’ tiefe Stimme in das Gelächter, — aber nein, er saß ja ganz still da und sagte ruhig: „Wäre die Welt so undankbar, wie es nach Ihnen scheinen sollte?“
Ach, Erasmus war ein guter Mensch, und sein Bruder stob wie ein Windhund durch die Welt ... Renate griff nach der Tasse, um die aufsteigenden Tränen mit dem Tee herunterschlucken zu können, aber nun war der Tee so heiß, daß sie mit einem kleinen Schrei die Tasse wieder hinsetzte; sie lachte verlegen, die Andern verlachten sie, sie kühlte die Zungenspitze an der Serviette und war froh über ihr Ungeschick. — Magdas Stimme klang wohltuend leise:
„Ja, Erasmus, wenn man jemand so sprechen hört wie Saint-Georges, klingt alles so fremd, sieht so zerbrochen, so zerstückt aus, hoffnungslos, und die Menschen so ungütig. Ich kenne ja eine Menge Menschen, in Berlin, meinen Lehrer und ähnliche. Ja, sie lügen viel und beschwatzen sich, sie können ja niemals, wie sie wollen, sie hängen Alle voneinander ab, sie möchten gerne anders, ein jeder, aber —“ Sie stockte.
Ulrika hob die Achseln und meinte, die Künstler seien freilich die schlimmsten, nicht die Schaffenden, sondern die Darstellenden, die Virtuosen, denn da herrsche über alles der Agent.
Renate schlug nur das letzte Wort mit wildem Sinn ins Ohr, sie fuhr erschrocken auf und stieß hervor: „Was sagst du?“
Ulrika lachte. „Warum erschrickst du denn so?“ Renate wußte nichts zu antworten, hörte nichts mehr, nur Stimmengewirr, raffte sich endlich auf und sah, daß es Zeit sei, von Tische aufzustehn. Jähliche Todesangst im Herzen, zog sie Magda einen Augenblick an sich, strich ihr übers Haar, ging hinaus und trat über den Flur vor das Zimmer ihres Onkels. Sie glaubte, ihn nicht ansehn zu können, fühlte sich gleichwohl gezwungen, dies sofort zu versuchen, hinter ihr wurde die Tür geöffnet, sie drückte eilig die Klinke nieder und trat ein.
Der Schattenriß des alten Mannes war vor dem einen Fenster; er schien auf die Straße zu blicken; in den Fenstern stand das blaue Zwielicht. Gleich darauf fiel heller gelber Schein von unten herauf durchs Zimmer; die Laterne war draußen angezündet. Schritte waren hörbar und entfernten sich.
„Onkel!“ flüsterte sie. Er drehte sich langsam um, sie sah im Lichtschein seine Augen, einen Augenblick fast gedankenvoll. Schnell ging sie auf ihn zu, legte die Stirn an seine Schulter, umfaßte ihn an den Armen, hoffte inbrünstig, er möchte ihrem Leib anfühlen, was sie wußte. Sie zitterte, als sie seine Hand auf ihrem Rücken fühlte; Gott sei gelobt, dachte sie, er ist ruhiger geworden, er muß etwas empfunden haben, ja vielleicht wußte er es schon eher als ich! — Leise versuchend hob sie das Gesicht. Er sah wieder auf die Straße.
Aber nun schob er sie sanft von sich, sie trat zurück, er ging an ihr vorüber, legte die Hände auf den Rücken und begann im Zimmer auf und nieder zu gehn. Da fiel ihr ein, daß sie schon seit einigen Tagen seinen Schritt im Zimmer gehört hatte — ach, es war sicher, er — nein, ruhiger war er nicht geworden, das war ja Unsinn, er war ja immer die Ruhe selbst gewesen! Unruhig war er geworden, er ging umher, er sah auf die Straße, wartete, lauschte, suchte.
Im Augenblick überfiel sie gewaltig die Ahnung, die Gewißheit, daß Josef nicht fortgegangen oder daß er inzwischen wiedergekommen war, daß sie ihn finden konnte ... Aufgeregt schritt sie zur Tür und hinaus, lief die Treppe hinunter — seltsam, es war alles leer! wo waren denn die Andern? — Nun durch den Garten, den Weg hinab durch die Büsche; am Pförtchen lehnte ein Mensch, es war Georges. Ihr Herz sprang verzweifelt auf und stürzte. „Georges!“ rief sie halb weinend, „bist du allein?“ Sie mußte sich von ihm halten lassen, bebte an allen Gliedern und weinte. „Ich habe ihm alles versprochen,“ schluchzte sie, „was soll ich denn tun, mein Gott, was soll ich denn?“
Langsam fühlte sie sich wieder geborgen, ermannte sich, trat zurück und trocknete ihr Gesicht.
„War Josef da?“ fragte er leise. Sie nickte.
„Wenn er zurückgekommen ist,“ fuhr er begütigend fort, „wird er auch eines Tages ins Haus treten. Ich kenne ihn nicht, aber — er hat wohl kein Verbrechen begangen, aber das verwirrte Herz seines Vaters wird ihn doch herumtreiben und anziehn.“
„Ach, Georges,“ klagte Renate, „was hat er denn getan? Du weißt ja, was ich dir von seinem Vater erzählte, und da siehst du wieder: was ein Mensch tut, das allein macht das Unheil nicht aus; das Unheil, weißt du nicht mehr, damals sagtest du es selber, ja, Georges, du hast es mir erklärt: das Unheil bildet sich im Herzen. Josef ging nur fort, was war auch dabei? aber sein Vater nahm es als Strafe vom Himmel für eigenes Verschulden.“
Saint-Georges antwortete nicht. Sie standen schon wieder auf dem Gartenweg, Renate ging langsam zum Haus zurück. Beim Anblick der Kapellentür fielen Josefs Paket und Stock ihr ein, sie sagte Saint-Georges davon und bat ihn, die Sachen an sich zu nehmen, vielleicht in seines Bruders Zimmer zu bringen.
Sie gingen in die Kapelle, er machte Licht, Renate nahm das Paket auf.
„Vielleicht braucht er es aber“, sagte sie, streifte nach kurzem Zaudern die Hülle ab und hielt einen Lederkasten in der Hand, wie eine flache Zigarrenkiste groß. Am Ende ists etwas für mich! dachte sie und öffnete den Deckel, hatte aber kaum hineingesehn, als sie entsetzt alles fallen ließ, und was da am Boden lag, war Josefs halbes Gesicht; es sprang und rollte wie aus Kautschuk und lag still, eine halbe Maske. Saint-Georges hob sie auf.
„Sei ganz ruhig,“ sagte er, „es ist nichts Schreckliches, eine Maske.“
Sie trat voll Furcht und Abscheu näher, er drehte das Ding in den Händen, ja, es war ein halbes Gesicht, dem Josefs so ähnlich in der Tönung, Kinn, Wange, Stirnansatz und ein furchtbar blickendes schwarzes Auge, daß es sie durchschauderte. Sie stammelte ein paar erklärende Worte von Josefs Aussehn.
„Elfenbein“, sagte Saint-Georges, zwei Bänder durch die Hand gleiten lassend, die an der Stirn hingen; am Halsstück war eine, fast zum Kreis gebogene Spange aus Elfenbein, die wohl den Hals umschließen sollte. Saint-Georges entdeckte und wies ihr chinesische Schriftzeichen an der Innenseite und meinte, wenn es mit Josefs Gesicht so sei, wie sie sagte, so könnte die Halbmaske wohl in der Dämmrung oder bei halber Beleuchtung ein ganzes Gesicht vortäuschen; es sei kostbare Arbeit, nur ein Chinese könnte dergleichen anfertigen, ohne Zweifel würde sie ausgezeichnet schmiegsam passen. Seine Erklärung beruhigte Renate nicht; die Maske ihm aus der Hand nehmend, wieder schaudernd, dachte sie: die andre Gesichtshälfte von ihm habe ich nun in der Hand — und kann kein Ganzes daraus zusammensetzen. — Dann überließ sie Saint-Georges die Maske, der sie wieder verpackte.
Aber danach, zur Ausgangstür vorgehend, glättete sich ihr Empfinden. Fast, fühlte sie, hätte er mich hineingerissen in seine Fremde. Wie toste es schon, Meerflut, Inseln und fliegende Sterne, allein — wie hatte doch Georges gesagt? ‚Sie bleibt gleichgültig, regt sich nie auf und nimmt sich Zeit.‘
Indem sah sie ihn selber neben sich in der Türe stehn, die Blicke durch das Dunkel ruhig in die ihren senkend, und sie lächelte, die Augen schließend, ohne zu wissen warum.
Als sie dann ins Freie traten, fühlte Renate erquickend den vollen Strom der herbstlichen Nachtluft, und siehe da, über den Bäumen — ach, wie lange hatte sie es nicht gesehn! — schwebte Josefs Fenster in der Nacht, schöne, sanfte, grüne, gotische Fläche. Magda, oder auch Ulrika und Bogner mußten dort oben sein. Sie konnte die Augen nicht abwenden von dem tröstlichen Schein, folgte endlich Saint-Georges, der voraufgegangen war, minder verzagt und hoffenden Herzens.
Georg, aus seinem Schlafzimmer am Abend hervortretend, wo er die Koffer für Berlin geschlossen hatte, erschreckte sich vor einer geduckten kleinen Gestalt, die im Geisterlicht der Sphäre am Treppenfuß stand: Hesekiel. Ärgerlich auf Egon, der trotz häufigen Tadels wieder einmal zu faul gewesen war, nur die Stufen hinunter zu gehn, um die Kurbel der Hängelampe zu drehn, fragte er: „Nun, was ist denn, Hesekiel? noch ein Brief?“ indem er die Schreibtischlampe aufflammen ließ. Ja, Hesekiel hatte einen Brief, einen großen, sonderbar dicken Brief. Als Georg, im Stuhl sitzend, ihn aufschnitt, kam ein ganzer Pack beschriebener Blätter zum Vorschein, um den ein gleichfalls beschriebener Briefbogen geschlagen war; alles Cordelias Schrift. Georg klappte den Briefbogen auseinander und las:
„Die arme Seele sendet ihrem Gebieter diesen letzten Gruß.
Glück und Segen! Es ist alles gekommen, wie es beschlossen ward in dem himmlischen Rat, so wird auch das letzte bald geschehen sein. Glück und Segen! das Bett ist gemacht, bereit steht der Becher, bereit ist die arme Seele. Glück und Segen über das heilige Leben dessen, der dies liest.“
Georg flimmerten die Augen. Esthers dunkelfarbiger Schmetterlingskranz um die Kuppel der Lampe zuckte leuchtend und tanzte. Das Herz vom Angstkrampf zusammengezogen, starrte Georg. Das Ende, sagte er, das Ende ... Cordelia war ... war ...
Er nahm das Blatt wieder vor, seine Hände flackerten, er mußte es auf die Tischplatte legen, er las:
„Glück und Segen, die arme Seele ist nun nicht mehr da. Wo bist Du, Geliebter? Glück und Segen, ich bin schon den kleinen Fluß hinuntergeschwommen, schon rauscht der ewige Strom, ich hebe noch einmal die wieder verarmte Hand, es rauscht — horch, es rauscht ...
Glück und Segen, Glück und Segen!
Im großen, dunklen Meerstrom sind alle Wellen einander gleich. Was macht so dunkel den Strom, so groß, und die Wellen so gleich? Das ist die ewige Liebe. — Doch einmal, wenn Abend ist über der schweren See, die Rose, die himmlische, entfaltet ist an der unsterblichen Brust, so blinkt eine Welle auf ganz fern, die Du kennst, eine lächelnde Welle, die Dich erinnert an: Einmal ... Und Du sinnst: arme Seele, bist du’s?
Und so gehn die Jahre, so wandert die Zeit. Ist auch Dein Herz nun alt geworden, geliebte Jugend, Dein Haar ergraut, faltig Dein Mund? Die Berge stehn dunkel, so ernst sind die Sterne, nicht mehr lang ist der Weg, schon hörst Du den Strom.
Glück und Segen, das Leben war schön! Sang es der Wind, klang es der dunkelnde Baum? O mein sinkender Freund, es war die arme Seele! —
Viele Menschen kommen herein und stehn um einen Schläfer in friedlichem Schlaf. Da kommt auch die arme Seele mit ihrer Blume und ihrem Dank. Sie hatte einmal die Hände voll Gold — es ist alle geworden. Nun legt sie die kleine Blume auf die erstorbene Brust, ihr Amt ist nun aus, sie wandert ins Meer und vergeht. Wo bist Du, Geliebter?
Gute Nacht, schlafe wohl! Es muß wohl sein. In meiner Brust sitzt eine goldene Schlange, die will seit ewig hinaus, aus der himmlischen Schale zu trinken. Gott ist allzeit gut.
Ich liebe Dich, Geliebter, auch dort, wo Du mich nicht mehr siehst. Das Blatt ist aus, aus ist das Licht, aus ist das Leben. Geküßt tausendmal! Abschied — ich kann nicht mehr — alles gut.
Cordelia.“
Georgs Kopf sank langsam vornüber auf das Blatt und lag fest. Als die Umnachtung wieder gewichen war, sprang er auf, riß alle Kraft, die zu erreichen war, zusammen in das Jagen seines Herzens, sah Hesekiel stehn und sagte: „Weißt du, was geschehen ist, Hesekiel?“
„Is ein Unglück geschehn, Herr Doktor?“
„Es — es scheint so, Hesekiel. Sage mir jetzt — kannst du mirs genau sagen: warst du allein im Haus, als du gingst?“
„War ganz allein, Herr Doktor, sell kann i —“
„Wann bekamst du diesen Brief?“
„Gestern abend, Herr Doktor. Gnä Frau gab ihn mir. Gestern abend wars, so um halber acht herum.“
„Und was sagte sie?“
„Sehr lieb und gut war s’, wie halt immer. Gab mir den Brief und sagte, daß ich ihn bringen soll, heint, wenn dunkel wär. Ach, Herr Doktor, is am End gar g’storm, gnä Frau?“ Hesekiel fing an zu weinen.
Georg legte ihm bewußtlos die Hand auf die Schulter. — „Ich muß sie sehn,“ fuhr er dann auf, „ich muß wissen, muß — Hesekiel, sage mir — besinne dich, sage mir: weißt du die — die andre Wohnung von gnä Frau?“
„Sell weiß i net, Herr Doktor.“ Georg sah es wieder dunkel werden. „Man könnt am End — am End könnt ma nachschlagen im Adreßbuch ...“
Natürlich, mein Gott! das gabs ja, Adreßbuch ... Georg lief ins Ankleidezimmer, wühlte Mütze und Mantel hervor, dann stand er wieder vor Hesekiel, sah gleichzeitig den Stoß Blätter noch ungelesen auf dem Tisch liegen, raffte ihn samt dem Brief auf und steckte ihn in die Tasche. Hesekiel nahm er mit sich ins Freie und schickte ihn mit irgendwelchen Worten nach Haus.
Cordelia nicht mehr da! Nicht mehr da, mehr da, mehr da ... Das Ende ... das Ende ... Georg jagte die Allee hinab, über den Platz, auf ein erleuchtetes Schild ‚Schloßwende‘ zu, stand dann vor einer Theke, eine Frau gab ihm ein Adreßbuch, er blätterte, suchte, er fand endlich: Severin, Karl, Tischler; Severin, Doktor; Severin — plötzlich, furchtbar deutlich: Severin, V., Privatiere, und C., Schauspielerin, Inselbrückstraße 9, Hinterhaus 2 Treppen.
Georg lief wieder durch schwarze, nasse Straßen mit Laternen. Inselbrückstraße — ganz in der Nähe — Gerberstraße — Inselbrücke — da war die Hartwigstraße, er bog ein ... Severin, V., Privatiere ... O, sie hatte eine Schwester! — Georg mußte an einer Laterne stehen bleiben und den Schweiß von der Stirn trocknen. Er merkte plötzlich, daß er sich fürchtete. Inselbrückstraße, eine verrufene Gegend ... Er schüttelte den Kopf und ging weiter mit lahmen Füßen, dann wieder schneller durch die enge Buchbinderstraße, wo es fast finster war. Er hörte Schritte hinter sich, längere Zeit, plötzlich eine Stimme, die seinen Namen sagte, blieb stehn und drehte sich um. Ein großer, breitschultriger Mensch zog den Hut, es war — war? — Josef von Montfort. Merkwürdig sah sein Gesicht aus ...
„Aufs höchste entzückt, lieber Prinz! Sie erinnern sich doch meiner?“ Der fast schmerzhafte Händedruck brachte Georg zu sich. „Ja, da streift man so herum durch abenteuerliche Gegend, und da findet man die Erlauchten. Aber — mein Gott, Prinz, wie sehen Sie aus? Was ist Ihnen?“
Georg fühlte, daß sich ein Arm um seine Schulter legte, daß er weitergeführt wurde, und vergaß sein Erstaunen über die Begegnung vor großer Erleichterung.
„Ich verstehe, ich verstehe schon“, hörte er begütigend hinter sich sprechen. „Ein Unglück, ein Schmerz, eine Tote vielleicht? Kopf hoch, mein Junge, nur ruhig, nur ruhig! Wohin geht der Weg?“
Georg sagte: „Zur Inselbrückstraße. Ich bekam einen Brief. Ich — jemand wohnt dort, der ... Ich war nie dort ... Ich wäre dankbar ...“
„Gewiß, aber gewiß! Nun nur ruhig! Wir werden alles an uns herankommen lassen. Inselbrückstraße — eine böse Gegend. Und die Nummer? Sehen Sie, da ist die Brücke schon!“
Die Brücke, überragt von eisernen Trägern und Balken, lag schwarz im Schein ferner Laternen, umrieselt von leuchtendem Nebel. Georg nannte die Hausnummer. Als sie fast hinüber waren, sah er zu seiner Linken, am gemauerten Flußufer hinunter die Inselbrückstraße, Laternen, dampfend, dunkle Häuser und helle Fenster. Montfort, der die Hand unter seinen Arm geschoben hatte, schwieg. Gestalten kamen, nicht als ob sie gingen, sondern wehten, weibliche, in Pelzen und riesigen Hüten, ein Mann schlich an der Hauswand, zwei weibliche blieben stehen, Georg sah ihre gefärbten Gesichter deutlich im Vorbeigehn. Er hörte Montfort etwas murmeln, fühlte sich angehalten und blieb stehn. Nun bekam er sich wieder fest, las von einem, viereckig um eine Lichtkugel gebogenen Glasstreifen ‚Unionkino‘ in roten Lettern und sah eine transparente Glaswand darunter leuchten von Schrift und gemalten Indianern. Daneben war ein schmaler Hausflur und daneben eine große, dunkle Torfahrt mit geschnitzter Tür, über der in einem kleinen blauen Oval deutlich eine goldene Neun erschien. Montfort erfaßte den Drücker und bewegte ihn, die Tür war zu.
„Das war zu denken“, sagte er. „Und dies Haus —“
Indem lehnte sich zu einem offenen Parterrefenster neben der Torfahrt ein fettes Weib heraus, rief: „Man Geduld, meine Herren, ich komme sofort!“ und verschwand.
„Um Gottes willen, das ist ein Bordell!“
„Ja, da wollen wir nicht hinein. Kommen Sie, es wird sich anders machen lassen.“ Montfort zog ihn zu dem Hausflur, in dem Georg jetzt einen Billettschalter entdeckte. Montfort bezahlte, empfing zwei rote Billetts, sie traten auf einen Vorhang zu, der den Flur versperrte, doch wurde er im selben Augenblick von drinnen zurückgeschlagen. „Erster Platz!“ rief eine weibliche Stimme, ein Mann ließ sie eintreten, Georg sah Finsternis, dann einen Lichtkegel, der aus dem Hintergrund breit nach vorn flutete, darunter eine Menge beleuchteter Gesichter, ebensolche gerade vor sich, etwas höher, Stehende, die nun vor ihnen bereitwillig auseinander wichen, da der Mann sie den Gang hinunter führte. Sein Gesicht war Georg plötzlich ganz nahe, indem er sagte: „Einen Augenblick, meine Herren, es wird gleich hell.“ Dann ging er wieder nach vorn.
Eine Weile standen sie, und Georg sah das Flimmern und Zucken der schwärzlichen Bildfetzen auf der Leinwand. Dann fühlte er sich an der Hand ergriffen, Montfort zog ihn zu einer Tür, über der ein Licht war und auf einem Pappdeckel ‚Erfrischungsraum‘ zu lesen stand. Nun war da ein kleiner Flur mit Türen links und rechts und schräg gegenüber. Auf der linken stand wieder ‚Erfrischungsraum‘, über der rechten ‚Toilette‘, Montfort trat zu der gegenüberliegenden — ein rotes Licht neben der Aufschrift ‚Notausgang‘ brannte darüber —, öffnete sie, sie standen in einem dunklen Hof. In der Nachthöhe hier und da schwebte ein leuchtendes Fenster. In der Rückseite des Vorderhauses waren viele große Fenster hell, und Georg konnte durch ein offenes in einem erleuchteten Raum einen Mann sehn, der sich ein wollenes Hemd über den Kopf streifte, worauf ein gelber Vorhang davorfiel.
Und nun fiel ihm ein, daß er hier Cordelia suchte ...
Im Finstern hinten waren zwei wandgroße Öffnungen, in denen es gräulich dämmerte. Montfort murmelte etwas von Speichern und dem Fluß, während Georg hinter ihm über das glitschige Pflaster ging. Eine Türöffnung war da, ein Flur, ein Treppenhaus, und auf einmal ein kleiner Lichtkegel, der umher tastete. „Wieviel Treppen?“ fragte Montfort; Georg erwiderte: „Zwei!“ Sie tasteten sich vorwärts, stolperten über Stufen, dann sah Georg im Lichtschein der kleinen Taschenlaterne das Geländer und die Stufen der Treppe und folgte Montfort hinan, krampfhaft bemüht, zu vergessen, was bevorstand. Das Steigen dauerte endlos, die Hand am Geländer. Endlich stand Montfort vor einer Türe still und sagte: „Wir sind oben.“
Sie mußten unter dem Dach sein. Der Lichtkegel schöpfte aus der Tür ein Porzellanschild heraus, auf dem klar und leserlich der Name ‚Severin‘ stand. An der glatt braun gestrichenen Türfläche war nur ein metallener Knopf. Indem erlosch das Licht.
Das dauerte wieder endlos ... Anklopfen — Warten — Anklopfen, lauter. Die Schläge dröhnten durch das Haus. — „Wir müssen öffnen“, sagte Montfort. Das Licht blitzte wieder auf und erlosch, Georg hörte rütteln; gleich darauf flog die Tür gegen seine Stirn, daß er zurückfuhr.
„Nun bitte ruhig sein,“ flüsterte Montfort, „ich werde vorangehn. Aber da ist ja Licht!“ Er zauderte.
Undeutlich quoll das rötliche Leuchten aus dem Hintergrund, wie es schien, über eine Wand empor, die halbhoch war. Im wiederaufleuchtenden Laternenschein gewahrte Georg Schränke, einen Stuhl, ein Sofa an den Wänden eines kleinen Korridors, dann erlosch das Licht wieder, und Montfort sagte leise: „Ich habe etwas gesehn, warten Sie“, worauf Georg ihn nach links hinüber gehn sah.
Dort — er zuckte zusammen — stand ein Mensch, stand ganz gerade und still; nur den Kopf hielt er tief gesenkt. Darüber war das bleiche Quadrat eines schrägen Fensters im Dach.
„Nein,“ hörte er Montfort laut und langsam sagen, „das kann sie nicht sein“, und trat zitternd näher. „Machen Sie doch Licht“, sagte er.
„Man muß nicht alles beleuchten.“
Und nun sah Georg, da das Dunkel sich aufhellte, einen Kopf mit weißlichem Haar, das Genick und eine Schnur, die nach oben verlief. Arme standen seitlich ab. Alle Kraft zusammennehmend, zischte er wütend: „Machen Sie doch Licht!“ — Aber er fuhr doch gepeitscht zurück, als er die kleine, in Kleidern schlottrige Figur mit abstehenden Armen und hängendem Kopf dastehen sah, die zwischen Zahnreihen hervorstehende Zungenspitze, das Zahnfleisch, zurückgeraffte Lippen, die lange spitze Nase im weißen Gesicht und nun auch das Weiße in halboffenen Augen, aus denen ein schiefer, listiger Blick zu ihm sprang. Dennoch fiel eine Berglast von seiner Brust. „Das Gespenst“, flüsterte er heiser. Und dann, erklärend: „Ihre Schwester.“
„So, so. Aber was hat sie denn da?“ Indem machte der Arm des Leichnams einen Ruck und hielt Georg einen langen Papierstreifen hin. Montfort lenkte den Lichtkegel darauf, faßte das Handgelenk und drehte es herum, fing dann an zu lesen:
„Unser keiner lebt ihm selber, und unser keiner stirbt ihm selber. Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn, darum wir leben oder sterben, so sind wir des Herrn.“
Er hatte schön und ruhig gelesen, und als Georg jetzt hinzutrat, konnte er sehn, daß es Cordelias Schrift war. In plötzlicher Kälte und Gelassenheit drehte er sich darauf um, öffnete eine lose kleine Tapetentür und fand sich in einem großen Raum mit zur Hälfte schrägem Dach, in dessen Hintergrund auf einem Tisch ein schöner messingner Tempelleuchter mit einigen halb herabgeschmolzenen Kerzen brannte. Darunter funkelte etwas Blutrotes, ein Glas, und dahinter, an der Wand, stand ein Bett, über das Cordelias schwarzer Seidenmantel gebreitet war, weit, bis auf den Fußboden herab.
Lange Zeit kam Georg nun nicht weiter. In seine Augen brannte der rote Becher, und dahinter zeigten sich unbekannte Erscheinungen: eine Frau in einem dunklen Laden mit einem Kopftuch, ein Schaufenster voller Lampen und Geschirr auf Regalen, ein altes, plumpes Kirchenschiff, — bis er plötzlich, weit rechts von dem Glase, am Ende des Bettes, zwei weiße Füße gewahrte, die gegeneinander gewinkelt emporstanden. Und jetzt zog Cordelias Antlitz wehend vorüber in einem schmerzlichen Gefühl. Er trat näher an das Bett, es waren Umrisse eines Körpers unter den schwarzen Seidenfalten zu erkennen, die stark glänzten. Hier sollte Cordelia liegen ... Und dies waren ihre Füße ...
Und nun sollte der Mantel von oben aufgehoben werden, dann würde etwas — da — sein ...
Georg wußte nicht, wie, doch nun hatte er den Mantel aufgeschlagen, und dort lag ein Gesicht und — es schien Cordelias Gesicht.
Er beugte sich darüber und sah von oben auf zwei festgeschlossene Augenlider unter einer fremden, sehr reinen Stirn, von der das braune Haar zur Seite gestrichen war. Aber dann — ein Schauder, nie gekannt, rieselte durch seinen ganzen Leib — sah er das Lächeln eines Mundes, das ausströmte, mit einem namenlosen Triumph, gegen sein Herz.
Plötzlich war alles in ihm ausgelöscht und vernichtet. Nur das Lächeln noch strömte sich unaufhörlich aus. Das ganze, weiße, weiche, sanft gerundete Antlitz unter ihm schwieg in tiefem Schlaf; schwieg sich in Ewigkeit aus, schwieg, leuchtete ihn an mit grenzenlosem Schweigen. Und auch das Lächeln schwieg, schwieg und gebot Schweigen. Da war nur dieser Mund, der sein Lächeln festhielt; festhielt mit beiden hochgebogenen Winkeln, um nicht aufzuhören mit Lächeln, nicht auf-, nicht aufzuhören mit Lächeln.
Und dies war jenseits; jenseits von allem, von jedem Ahnen und jedem Wort. Sie lag und wußte; wußte, daß sie schlief; lächelte, lag, lächelte, weil sie wußte, alles wußte, alles, alles ...
Georg wandte sich langsam fort. Hier war nichts mehr. Kein Tod, kein Schmerz, kein Verlust. Nur — Ende. Sie war drüben.
Aber, unwollend die Hände in die Manteltaschen senkend, fühlte er Papiere in der einen und erkannte beim Herausziehn Cordelias Schrift. Längere Zeit verging, während es ihm einfach schien, die Blätter in eine der Kerzenflammen zu halten, allein das Gefühl: Cordelia, jene, die Andre, habe sie geschrieben und für ihn bestimmt, hielt ihn zurück. Nach einem Stuhl umherblickend, hörte er ein leises Geräusch; in der rötlichen Lichterdämmerung des Raumes stand die hohe und dunkle Gestalt Josef von Montforts, der zum Bett hinsah — seltsam, mit einem lebendigen und einem starren Auge, und wie der Länge nach mittwärts gespalten schien sein Gesicht. Georg winkte ihm, näherzukommen, sah ihn herzutreten und vor das Bett, worauf er nach einem Blick auf das Antlitz überrascht zurückfuhr, dann wieder sich überbeugte und in dieser Haltung verblieb, so lange, daß Georg, einen Stuhl entdeckend, ihn herbeitrug. Nun stand Montfort wieder aufrecht, den Blick in die Leuchterflammen geheftet, und sagte nach einer Weile wie zu sich selber langsam: „Das war ja fast zum Fürchten ...“ Dann wandte er sich zu Georg.
„Sie wollen etwas lesen?“ fragte er mit Zartgefühl gedämpft. „Ich werde nicht stören. Sie werden mir aber erlauben, daß ich Sie nicht allein lasse in diesem Hause.“
Er neigte ernst den Kopf, und Georg sah ihn auf den Fußspitzen durch den Raum zurückgehn und hinter der kleinen Tür verschwinden, — wobei er sich nun des abscheulichen Leichnams erinnern mußte, der dort hing, doch hinderte ein Streifblick auf den unwandelbar lächelnden Mund alle weiteren Gedanken. Er stellte den Stuhl neben das Bett, setzte sich so, daß er das schlafende Antlitz mit jedem Blick über den Rand des Papiers erreichen konnte, faltete die Bogen auf und las.
Ein ganzer Monat fast ist vergangen, seit ich Dich zum erstenmal sah, und zu einem Entschluß bin ich nicht gekommen. So bin ich hierher gefahren in den kleinen Haideort, dessen wunderlicher Name Cananoë lieblich an Kindheit und die geheimnisvollen Kähne der Indianer erinnert, die man Kanoee nannte. Es ist kühl, windig, der Himmel bewegt — zum Abschied, zum Willkommen? — er selber weiß es kaum, wie es scheint, ob es Herbst ist oder April hier unten in der Welt. Meine Fenster zu ebener Erde im kleinen Bauernhaus gehen auf den Obstgarten hinaus, der noch ganz kahl ist, und ich kann beim Schreiben durch den Raum hinten die braune, kahle Haide zu Hügeln mit schwarzen Wacholderstauden ansteigen sehn, und dahinter den blauen Himmel, in den kleine und größere Wolkenballen lichtweiß unaufhörlich hineinquellen ... Und unaufhörlich wechseln Sonnenschein und Beschattung. Zu hören ist nichts als der Wind und fernes Schnattern von Enten.
Und so will ich denn einmal mein ganzen Leben ausbreiten vor mir und vor Dir, denn ich ahne wohl, daß Du einmal diese Zeilen lesen wirst. Ausbreiten wie ein elendes Gewand, an dem alles und alles zerrissen ist. Und muß wohl anfangen mit dem Anfang. Wie soll der Anfang heißen? — Es war eine arme Seele.
(Denn sie war ein paar Jahre im Paradiese der Kindheit und dann immer im Fegefeuer.)
Das Haus, in dem sie geboren wurde, hätte seinem Namen nach das allerheiterste sein müssen, und für die arme Seele, die sieben Kinderjahre darin verlebte, war es das auch. Viele schöne, blondhaarige und schwarzhaarige Wesen in himmelblauen und rosenfarbenen Gewändern waren im Wachen und Träumen um sie her, pflegten sie, badeten und liebkosten sie und lachten beständig, und als sie erst so alt war, daß sie Märchenbücher lesen konnte, wußte sie ganz genau, daß es Feen waren, und sie ein Königskind, alldieweil nur solch eines Feen und Elfen zu Dienerinnen haben konnte, alle Tage Schokolade trinken und Zuckerwerk essen, soviel sie mochte. Dazu gab es allezeit, besonders aber am Abend, eine himmlische, geheimnisvolle Musik zu hören, auch des Nachts, wenn sie einmal aufwachte, Musik und Gesang, Gelächter und Gläserklirren aus den schönen Zimmern und Sälen voller Spiegel und Lampen und kostbarer Teppiche. Und von Allen wurde sie liebgehabt, wurde geküßt und gedrückt, war immer die einzige ihrer Art und führte das wunderbarste Leben. Du verstehst wohl, daß es ein Freudenhaus war. — Ihre Mama, eine große, dunkle Frau mit blitzenden Steinen in den Ohren, war die Herrin, der all die Schönen dienten und zuweilen böse von ihr gescholten wurden. Dann legte die arme Seele sich ins Mittel, es gab Gelächter, und alles war in Ordnung.
Diese herrlichen Tage dauerten, bis die arme Seele sieben Jahre alt war. Da kam auf einmal ein großer Jammer und Aufruhr, die Mama lag ganz bleich zwischen Kerzen und grünen Bäumen, Alle weinten, obschon es sehr feierlich war und nicht traurig, also weinte sie auch. Dann kam ein großer, starker Mann mit einem schwarzen Schnurrbart, der schon manchmal die arme Seele auf seine Knie genommen hatte, wenn er einmal da war, und gesagt, er wäre ihr Papa. Er gefiel ihr nicht besonders; böse schien er nicht zu sein, aber er roch häßlich und nahm die arme Seele mit fort.
Nun wurde es beinahe noch herrlicher. Die Feen waren zwar weg, aber dafür kamen die Tiere. Alle Tiere aus den Bilderbüchern kamen, waren ganz zahm und fraßen aus der Hand, Pferde, ganze Reihen und in allen Farben, schwarze, braune und weiße, die buntesten Katzen, Hunde aller Arten, vom kleinsten Rehpinscher bis zum riesigen Neufundländer, Affen in bunten Soldatenjacken, ein großes Schwein, eine Menge Gänse, Ziegen und Esel und die ernsten Kamele, und vor allem zwei ungeheure, graue Elefanten. O und auch wilde gab es, die einen durchdringenden, ganz betäubenden Geruch ausströmten und nur durch Eisenstangen gesehen werden konnten, Löwen, Tiger, Jaguare und Leoparden, und das war mit das herrlichste, ganz klein im Dunkel zu stehn und in dem wilden, starken Geruch und sie hinter den Gittern am Boden liegen zu sehn, ganz schlaff wie Häute, aber sie atmeten heftig, und auf einmal, wenn sie den Kopf hoben, erschienen ihre gelben Augen, die eine Weile Ausschau hielten in weite Ferne ...
Die Menschen dahier waren mit der armen Seele stets lustig und freundlich, jedenfalls die Männer, die fürchterlich stark waren oder fürchterlich gelenkig; sie meinten es gewiß gut, wenn sie die arme Seele mit einer Hand an die Decke schwangen, aber ihr Geruch war schwer zu ertragen. Die Frauen hier kümmerten sich weniger um die arme Seele, gingen bei Tage grau und mürrisch umher und strahlten erst am Abend, wenn die Vorstellung kam und alles anfing zu glänzen.
Und alle paar Tage gabs eine andre Stadt zu sehn und dazwischen wundersame Reisen in der langen Wagenkolonne. Sind denn alle Wandertage durch das flache Land Sommer- und Sonnentage gewesen? Die wenigsten waren es wohl, aber nun ist da nur ein unendliches Lerchengetriller, unendliches Himmelsblau, sind die gelben Wände der Kornfelder, aus denen man mit vorsichtigen Armen große rote Mohnblumen und blaue Cyanen herausholen durfte, sind die weißen Landstraßen mit den vielen Schatten der grünen Wagen und der Pferde, die kurzen, wunderlichen Schatten, die unter einem fortzogen, wenn man sich abmühte, darauf zu treten, und sind die schmalen grünen Streifen zwischen Straße und Grabenrand, auf denen man sich immer wieder lange, lange bis zum Schreien und Winken der ganz klein gewordenen Kolonne vergessen konnte, im Suchen nach einem Vierblatt unter den aberhundert kleinen grünen Blättern des Klees.
Ein komischer alter Mann war da, der immer kaute, ganz vertrocknet im Gesicht, schief, mit einem Holzbein, ein gewesener Clown, dem einer von den Löwen das fleischerne zerrissen haben sollte, der war ihr Lehrer. Er muß viel mehr Kenntnisse gehabt haben, als die arme Seele damals ahnte; viel später merkte sie erst, was alles sie gelernt hatte, ohne je in eine Schule gegangen zu sein.
Im Zirkus zu arbeiten brauchte sie nicht. Sie hatte sich gleich beim ersten Versuch etwas gebrochen, wobei sich herausstellte, daß ihre Knöchlein zu zart waren für diese gefährliche Arbeit. So wars ein glückliches Leben, und das ‚Schönste‘ darin ist noch nicht einmal beschrieben.
Später aber wurde alles immer blasser und farbloser, sie wuchs heran, und eines Tages starb auch ihr Vater. Sie und ihre Schwester kamen damals zu einem Onkel ins Haus, der sie ungern nahm, sich aber später mit der armen Seele ganz gut vertrug, ein strenger, trockner Mann, knochig und wortkarg, der einen kleinen Weißwarenladen hatte in einer süddeutschen Stadt und Guttempler war. Hier ging die arme Seele auch eine Zeitlang in eine richtige Schule, aber dann kam eine böse Zeit endloser Kämpfe und Schmerzen, denn sie wollte nun Schauspielerin werden. Sie hatte schon im Zirkus alle möglichen Dichter und Stücke gelesen, und schon als sie noch klein war, angefangen, die Leute dadurch zu belustigen, daß sie ihnen vormachte, wie sie waren, worin sie es mit den Jahren zu großer Fertigkeit brachte. Und die Kämpfe gingen vorüber, die arme Seele bekam einen Lehrer, und einen andern Lehrer, sie kam in eine andre Stadt, lernte und lernte, und das Leben bestand nur noch aus Lernen und Theater und Theaterleuten, und eines Tages hatte sie ausgelernt, und jeder prophezeite ihr eine glänzende Zukunft. Sie hatte auch schon einen schönen großen Vertrag mit einer guten Bühne in der Tasche, und die lange, lange Qual fing an.
Ja, wie ist das? Man meint, man hat eine feurige Sonne in der Brust, und nun wird nur der Vorhang hochgezogen, und die Sonne strahlt, daß alle Bühnenlampen erblinden müssen. Und wie ist das? Ein Theater ist da, da soll man spielen. Aber da sind Viele, die spielen wollen, für jede Rolle bald zwei und drei, man muß warten, o man hat ja Geduld, die Sonne brennt, es tut weh, aber sie brennt, und man wartet. So spielt man die kleinen Rollen, kommt in ein Zimmer, verneigt sich, giebt die Hand, wie mans gelernt hat, und man wartet und hat viel Zeit, weiter zu lernen und — da sind nun die Männer. Man mag sie nicht, sie riechen schlecht und haben böse Augen und — man wartet vielleicht auf einen, denn — man ist eine arme Seele, die nicht viel weiß von der Welt.
Da geht man zum Feind, der der Direktor ist, und bittet um eine Rolle. O, ja, gewiß, die Rolle ist da, sie wartet schon, der Direktor ist einfach und kühl, und man möchte sterben vor Schreck und Beseligung: die große Rolle!
Da kommen nun die Proben, und es geht ja nicht? Was ist nur, warum es nicht geht? Es ist alles schlecht und verkehrt, was man sich in den langen, langen Nächten ausgedacht und geprobt hat und so sicher wußte, und es sind ja nun auf einmal lauter Feinde da, die lachen und kaum noch antworten, und kaum noch nicken, wenn man grüßt. Der Regisseur ist da, ein Feind, der gerät ganz außer sich über das unmögliche Spiel. Wo ist denn die Kraft geblieben? Wartet nur bis zum Abend, Geduld, es wird besser werden, die Sonne brennt, — aber sie ist so klein geworden, täglich wird sie kleiner und schwächer, sie sieht einer Sonne gar nicht mehr ähnlich, vielleicht war es gar keine? Alle lachten und sehen, wie klein sie ist, Alles und Alle sind kalt, und die Sonne erlischt, man hat die Rolle nicht mehr, man steht auf der Straße.
Oder war es vielleicht nicht so? Vielleicht war es ganz anders? Es ist lange her ...
Da ist eine andre Bühne. Da ist ein Freund, ein guter Mensch, nun wird alles gut werden. Eine Rolle ist da, nicht so groß, aber gut genug, um zu zeigen, wieviel heller die Sonne brennt, und es geht ja vorzüglich, der Freund hilft, Alle staunen. Ein Tag kommt, da ist der gute Freund nicht mehr der Freund, er riecht, er ist ein Feind geworden, aber was schadets? Die Sonne ist da, die Sonne genügt.
Der Abend ist da, die Sonne kann nicht ihre ganze Kraft brauchen, aber man sieht sie hell genug, und daß sie heller sein könnte. Man ist zufrieden, man schläft wieder einmal, man hofft — aber was steht denn in den Zeitungen? Es war nichts, es war alles so übertrieben, kein Verständnis für den Umfang der Rolle, in ganz verkehrten Händen, eine Anfängerin, die bescheidener sein sollte ...
Sinds denn schon Jahre geworden? War es denn so? War es nicht ganz anders? viel mehr? Wie gingen denn die Jahre? Ging man denn immer spazieren im Park, im Feld, in den Straßen? Nähte man die alten Kleider immer noch einmal um? — sie lachen schon lange im Salonstück, so geht es nicht weiter, mein Fräulein! — Aber meine Gage ...
Gage liegt auf den Straßen reichlich genug zum Aufheben. Die arme Seele will die Gage von der Straße nicht, sie wartet, sie hat ja Geduld, sie steht Tag für Tag im häßlichen Zimmer und lernt, für später, die Sonne brennt, sie vertausendfacht ihre Kraft in tausend Gestalten, Alle haben die Sonne in der Brust, sie sehnt sich, sie lernt, sie lernt, sie hungert, sie weint längst nicht mehr ...
Ach, kann man das schreiben? Es war ja nicht so, es war ja alles ganz anders. War die Welt etwa schlecht? Warfen sie sich Alle über die eine arme Seele her und wollten sie zerdrücken? Die Welt ist nicht schlecht, die Menschen sinds nicht, es will, sagt der kluge Georg, ein jeder nur das Seine und will sich nicht hindern lassen dabei, aber — die arme Seele hatte kein Glück.
Kein Glück? Es sind Jahre geworden, aber nun ist das Glück da, der Tag ist da, der — Tag ist. Eine Rolle ist da, und alles geht sehr schnell, eine Aushilfe, der Direktor zuckt die Achseln, aber man kann ja die Rolle, im Schlaf kann man sie, und man spielt, und die Sonne brennt und strömt aus Augen und Kehle, aus den Gliedern und dann — am Morgen nach dem glückseligen Abend, wo sie Alle ihr um den Hals fielen, der armen Seele, und sie küßten und weinten, und sie kaum schlief vor Trunkenheit — was steht in den Zeitungen der kleinen Stadt? O welche Empörung! War das nicht Babel? War das nicht abscheuliche Realistik? (Und war doch nur Stil gewesen, nur Stil, so dumm ist die kleine Stadt!) Die Welt war nicht gut am Morgen, die Menschen hatten alles vergessen, was die arme Seele für unvergeßlich gehalten, in den Zeitungen stand, daß man es vergessen müßte, der Direktor war ja nicht unfreundlich, es tat ihm leid, aber — Sie sehen, Severin, Sie sind nicht für hier ...
Aber die Sonne, ein Widerglanz ganz klein saß er doch in einer Zeitungsspalte, ein Keim, der aufging, und da war man in einer andern Stadt und spielte sich aus, das Glück war da, die Sonne brannte, brannte sehr schön im klassischen Stück. Aber im klassischen Stück war das Parkett leer, im Salonstück saßen die Offiziere und Damen, — die Toiletten der Severin waren unmöglich, und waren doch so schön, wie die größere Gage erlaubte, die Sonne brannte ...
Warens schon viele Jahre?
O der wahn—witzige Durst! O die wütende Sehnsucht! O die Verzweiflung! All die vergebene Arbeit und Müh! Man ging wieder spazieren. O brennende Nächte, Fleiß, Fleiß, Fleiß, und Darben, die arme Seele wurde mager und häßlich, was schadete das, sie wartete auf den Tag, sie hatte keine Sorge mehr um Hunger, um Scham und Verzweiflung, wenn eine Rolle kam und ihr wurde ein Hemd angezogen, das reichte kaum zu den Knien, und die Stimme des alten Feindes sagte: Sie müssen wohl selber sagen, Severin, mit den Beinen ... Tage und Nächte. Alle Bücher gelesen, alle Rollen studiert, alle Werke, Geschichte, Kostümkunde, Biographien, die Sonne brannte, ein Morgen kam, grau, grau, sie war allein, kein Licht mehr.
Schon viele Jahre ...
Da kam ein Mensch. O zart, o schön und ganz sanft wie ein Engel. Sein Blick durchbohrte die arme Seele, er war rein. Verkündigung, dachte sie, o Engel, bist du’s? Ein Dichter, er hatte ein Stück geschrieben, Theodosis, das wurde aufgeführt, die arme Seele sollte spielen, sollte sagen:
Ich wollte ihnen dienen. O in Schauern
Sollten sie stehn und horchen: Hört, es klingt
Die Erde, ja die Erde klingt, die alte.
Wir sind geliebt, wir Menschen sind geliebt,
Denn eine Blinde baut uns goldne Brücken,
Denn eine Stimme kam, um uns zu dienen ...
Und da — gnädiger Gott! — war die Erwartung zu groß? Wars schon zuviel? Da erkannte die arme Seele, daß sie all die Zeit noch ein andres Leben mit sich getragen hatte, geheim, von dem niemand wissen durfte, aber Er, Er mußte es wissen, er würde nicht richten, sie dachte: du bist rein, alles ist rein vor dir, auch dies Leben. Er war rein, aber er war zart. Er ertrug nicht den Anblick, er ging fort. Keiner erfuhr, wohin. Als Jahre dahin waren, konnte die arme Seele in einem Zeitungsblatt lesen, daß im Walde eine Leiche gefunden war.
So furchtbar war ihr andres Leben ... Ich zeige es auch Dir.
Erlosch die Sonne? Das Stück ward nicht gespielt, die arme Seele brach durch.
Nein, es kam ja das Glück. Wie hatte der große Mann von ihr gehört, in der königlichen Stadt, vor dem die Könige spielten und in Gold und Seide gingen? Wie konnte denn das Firmament sich neigen wollen? Die arme Seele sollte dort hinauf, die Sonne sollte vor Allen brennen, der große Mann wollte es. Die Seele war nicht gebrochen.
Die Sonne brannte, es war ein alter Vertrag, in dem stand: noch ein halbes Jahr, die arme Seele wollte ihn halten. Weshalb? Sie hatte zuviel Geduld gehabt. Der große Mann würde warten, noch ein halbes Jahr, die Sonne brannte, der große Mann wartete nicht.
Aus wars mit der armen Seele. Abend und Nacht und Morgen, die Sonne war aus, aus war das Leben.
Nun, wie war es denn? Warum saß die arme Seele im Theater wieder wie jeden Abend? Freilich, sie war nun zufrieden mit allem, sie wußte, lange dauerte es nicht, die Menschen waren ganz fern, der armen Seele war leicht, die Menschen hatten sie glücklich gequält.
Sie hatten mich glücklich gequält, Georg, und an diesem Abend kamst Du.
Deine Augen sagten: bist du’s? Deine Augen sagten: steh auf! Deine Augen sagten: geh voran, ich komme.
Eine Brücke. Wo warst Du, Georg? Glück und Segen, dachte die arme Seele, er kommt, etwas soll noch sein. Und kommt er nicht, so ist hier die Brücke, das Wasser ist unten, es geht ja schnell.
Glück und Segen, geliebter Herr, und höre nun von dem anderen Leben!“
Georg — sein ganzes Blut lag ihm im Innern, zu einem glühend kochenden Klumpen geballt — sah sich jetzt aufstehn, zur Wand gehn, die Arme dagegen legen und den Kopf auf die Arme und — — nein. Nahe vor ihm lag ein schlafendes Gesicht, die Augen fest geschlossen, aber der Mund lächelte vor sich hin, hatte nicht aufgehört zu lächeln, schwelgte im Lächeln und wußte, wußte ...
Er sah auf das Blatt. Da war wieder der siedende Katarakt, an dem er eben gestanden hatte, war diese Feuersbrunst von Leiden, die in seinen Ohren leiblich getost hatte, dies Gigantengehämmer der Qual. All dies in Cordelias Brust, seiner Cordelia, der immer heitern, immer kindlichen, seligen, immer — nein, einmal war der Schmerz ausgebrochen, das Untier, aufbrüllend, alles zerfetzend mit dem Hieb seiner Pranken, einmal ... Einmal ist nichts, und hier war das Lächeln.
Georg nahm die Blätter wieder vor und las weiter.
„Du hast gesehen, Georg, daß die arme Seele eine Schwester hatte, und hast sie wohl abstoßend gefunden. Da die arme Seele selber sie kannte vom ersten Blick des Lebens, war sie die Häßliche immer gewohnt. Und diese Häßliche hatte ja auch das ‚Schönste‘. Das ‚Schönste‘ war vom ersten Bewußtsein des Lebens an, später erst lernte sie, daß die Schwester es hatte, daß es sich von ihr immer bekommen ließ, und noch später, daß es sich nur von ihr bekommen ließ, und daß niemand sonst davon wissen durfte; und noch viel später endlich, daß es kein ‚Schönstes‘ war, sondern ...
Wenn die arme Seele kaum in ihrem Bett lag am Abend, das Licht gelöscht war und Alle gegangen, die beim Auskleiden und Waschen geholfen, gescherzt und gelacht hatten, dann ging leise die Tür, die viel ältere Schwester kam herein und stieg zu ihr ins Gitterbett, und dann ...
Laß, Georg, laß! laß doch los, Georg, ich kann ja nicht!
Seltsam! Als ich die letzten Worte schrieb, wars Nacht, es ging schon auf Morgen, ich legte mich und schlief bald. Nun ist auch Morgen und Mittag gewesen, ich habe wieder eine Stunde geschlafen, und plötzlich ist alles verwandelt. Ich weiß so viel, alles glaube ich zu wissen, ich glaube, ich darf ...
Es ist fast, als hätte ich Dirs gesagt. Du hast ja verstanden, Georg, Du bist ein Mann — Männer verstehen ja solche Dinge, auch wenn man sie gar nicht meinte, also hast Du verstanden.“
Georg sah die Tote an. Ja, sagte er, ich habe verstanden. Aber —, — er wußte nicht weiter. Er las.
„Nein, nichts habe ich Dir gesagt, ich weiß es, und doch — ich glaube, ich darf. Auf einmal ist auch das Gewebe fertig, an dem ich so lange gesponnen habe, ohne es zusammen zu bringen, das ich meiner Schwester überwerfen kann, damit sie mir ein halbes Jahr läßt. Ein halbes Jahr, das genügt, und mehr ist unmöglich.
Ein halbes Jahr Glück. Mir ist eingefallen, daß ich ja die Sonne habe. Zwar ist sie eigentlich so beschaffen, daß sie nur vor Vielen brennt, aber ich denke, sie wird sich nicht versagen.
Ich will kommen und will spielen, Georg. Wundersam, nicht? daß man sagt: spielen. Ein halbes Jahr, ich bin glücklich, bins schon, ich brauche nichts zu erfinden, nur die Lüge muß ich verbergen, nur dazu ein wenig Spiel; und ein wenig, wenn es — wenn es einmal schwer ist, zu spielen. Oh ja, nun werde ich spielen!“
Georg fühlte die Glut auf der eigenen Stirn. — Also das wars? Sie hat gespielt und gelogen, und ich habe gelogen, wir Beide. Oh Gott sei gelobt, daß ichs getan habe! durchfuhrs ihn, ich hätte ihr am Ende noch das Letzte zerstört.
Er suchte die Zeile, wo er aufgehört hatte, wieder und las:
„Ein halbes Jahr — und dann der Tod. Ein halbes Jahr lügen und dann die Wahrheit. Ich sehe das halbe Jahr, es glänzt; und ich sehe die Stunde, wo Du dies liest. Weißt Du nun alles, Georg? Richtest Du, wie der Arme, Zarte nicht richten konnte und doch zerbrach und hinging; tragen wollte und doch nicht konnte und vielleicht anfing, die Sterne abzuzählen auf das Rechte, und steht noch heute und findet es nicht heraus ... Weißt Du noch den Anfang, vor einem Monat, weißt Du nun, warum Du mich gar nicht verstehen konntest? Weißt Du, wie ich in Deine Tür kam und vor Staunen verging?“
Georg sah und wußte alles. Ihre Andacht, ihre grenzenlose Beklommenheit, und wie sie am Boden kniete und sagte: „Ich bin dein eigen“ ... Und dann, in der Finsternis, am Wasser, wie sie heraufgestiegen war, auf den Knien lag und aufseufzte den einen tiefen Seufzer, und dann lag und weinte und aufstand, fortging und nicht mehr kam ... Dann hatte sie einen Monat gerungen, dann kam das halbe Jahr, — und er hatte nichts gewußt. Sie hatte die Hölle unter ihre Füße gestampft und stieg herauf, wie ein Engel rein, sie ... Georg faßte behutsam den Mantel und zog ihn über ihren Gliedern fort, bis zu den Knien, sah leise schaudernd die weiße, im Kerzenschein nicht abgestorbene Haut ohne Makel, wie er sie gekannt, legte den Mantel wieder darüber, das Lächeln ihres Mundes scheuchte ihn ganz zurück, er gewahrte die Blätter in seiner Hand und las, entschlossen, zu Ende zu kommen.
„Genug, Georg, genug. Ich weiß nicht, was Du denkst. Vielleicht denkst Du jetzt, ich hätte sprechen sollen. Vielleicht verstehst Du es gar nicht, denkst, ich hätte es versuchen sollen, hätte den Tag herankommen lassen sollen, wo mein Vampir vor Dich hingetreten wäre und ausgeschrien hätte, was ... Vielleicht verstehst Du auch mich nicht, daß ich dem Vampir so habe erliegen können, so in seiner Gewalt blieb ... Ach, fünfzehn Jahre unwissender, solcher Gewohnheit — und nichts ist mehr zu retten. Tausend Versuche, und kein Erfolg; aus seinen Krallen gab es ... wozu? Töten — nicht wahr, Georg? das denkt sich so einfach und nah für den Fernen, aber ich weiß, daß man dazu geboren wird oder anders nicht dazu kommt — vor dem eigenen Tod.
Ich komme, Georg.
So war das Ende der armen Seele doch beschlossen auf der Brücke, als sie auf Dich wartete und dachte: entweder — oder. Nur ein wenig hinausgerückt wars, weit genug, um es ganz vergessen zu können für ein halbes Jahr.
Ach, und eine kleine Hoffnung ist noch. Soll ichs noch sagen, Georg?
Ein Kind, Georg, ein Kind. Dann, oh dann, weiß ich, ist alles gut, ist alles andre wie abgerissen, dann ist nur das eine, nur es, das Kind, Tod und Leben ganz gleich, nur nötig das Leben, weil es lebt. —
Ich bin müde, die Welt wird dunkel, ich werde wieder schlafen. Diese Blätter hebe ich auf bis zu dem Tag, wo Du alles wissen mußt. Ich sehe die Zukunft nicht, alles was ich sehe, ist die Sonne in meiner Brust, und daß sie brennt, alles was ich will. Gute Nacht! Ich komme.
Heut war der Abend, an dem ich vor Dir Theodosis spielte, zum erstenmal ganz: spielte. Das Halbjahr ist um, das Zeichen war da, es soll nicht mehr sein. Wie es kommen wird, mag sich zeigen, von heute an ist Abschied.
Glück und Segen, geliebtes Haupt, es war wunderbar! Glück und Segen, die arme Seele ist nicht sehr betrübt, obgleich es schwer ist, von Dir zu gehn. Das Ziel ist erreicht, mir ist nicht bange, ich werde gar nicht mehr spielen brauchen die letzte Zeit. Alles hat sich so geglättet, all das viele Leid ...
Es ist doch alles nur Liebe gewesen. —
Und vielleicht — auch wenn ich aus dem roten Becher getrunken habe — nimmt es noch kein Ende mit ihr.
Dann werd ichs wissen.
Erhalte mir Dein Herz, denn aus ihm kommt das Leben!
bittet
die arme Seele
Cordelia.“
Georg legte die Blätter leise zusammen und erhob sich. Es war still. Er suchte in sich, die tiefgebrannten Flammen der Kerzen im Blick. Er versuchte, zu begreifen, daß hier Tod war, und was das war: Tod? Aber er fand nur eine unerkennbare Fremdheit. Nicht Angst, nicht Grausen, nicht Schmerz, — nur eine feierliche Schwere, die nicht drückte. Er heftete noch einmal die Augen auf das Lächeln der Toten, zog schnell den Mantel darüber hoch, nahm das rote Glas an sich, löschte dann eine nach der andern die Flammen und ging leise durch den Raum auf den Lichtspalt der Türe zu, jetzt merkend, daß von dorther der Geruch des brennenden Tabaks kam, den er schon längere Zeit unbewußt wahrgenommen hatte.
Josef Montfort wandte sich im Stuhl um, in dem er, den Rücken der Tür zugewandt, in der Nähe eines Sofas saß, das an der Wand stand. Er rauchte, an der Erde stand eine Kerze im Blechleuchter, ein Wasserglas mit rötlichem Bodensatz und eine Flasche Wein. Es hätte behaglich ausgesehn, wenn nicht auf dem Sofa der weibliche Körper gelegen hätte; allein als Georg, Ekel und Schauder, die heftig in ihm aufstiegen, überwindend, hinzutrat, war auch hier nichts Abscheuliches mehr. Montfort hatte der Toten die Hände zusammengelegt, sie lag grade, die Augenlider waren geschlossen, die Zungenspitze verschwunden, der Mund geschlossen, sie sah müde, friedfertig und gut aus. Montfort zeigte ihm alles deutlich, indem er die Kerze hochhielt und leuchtete. Dann gab er ihm auch den Zettel in die Hand, den die Tote gehalten hatte, und Georg steckte ihn in die Tasche zu dem übrigen. —
Leben wir, so leben wir dem Herrn ... Dem Herrn? dem Herrn? Nun gleich, das Wort enthielt ja wohl alles, und wenn Cordelia es für die Schwester geschrieben hatte, so war auch hier alles geschehn.
„Wollen wir gehn?“ fragte er Montfort. Der nickte, ließ ihn voran bis zur Tür und löschte das Licht.
Die Taschenlaterne leuchtete ihnen nach unten. Im Hof fiel es Georg ein, daß sie kaum würden aus dem Hause kommen können, doch zeigte Montfort, ehe er etwas sagen konnte, einen Schlüssel, lächelte ein wenig mit einem Auge und sagte: „Ich sorge für alles.“
Auf der Straße, überm Fluß brauten Nebel und nächtliche Dämmerung. Die Laternen waren erloschen. Montfort warf das Ende seiner Zigarre über das Geländer, die rote Flugbahn erlosch, er sagte, Georg unter den Arm nehmend:
„Ich muß Sie um einiges bitten, lieber Freund. Erstlich, zu vergessen, daß Sie mich hier sahn, jedenfalls vor jedem, der mich kennt. Ich weile unbekannt hier. Zweitens sich nicht weiter zu wundern, daß Sie mich trafen. Es dürfte Ihnen ja kaum unangenehm gewesen sein. Mich selbst wundert es durchaus nicht, da ich seit Kindesbeinen, möchte ich sagen, die Gewohnheit habe, an Stellen aufzutauchen, wo sich das Fürchten lernen läßt. Gelernt habe ich es leider nie. Das Unglück meines Lebens. Nun — ich hoffe, wir plaudern ein ander Mal darüber. Sehen Sie, da sind wir über die Brücke. Übrigens — mit Ihrer Erlaubnis würde ich nichts dagegen einzuwenden haben, wenn Sie mir ein Bett anböten für die Nacht; bis zu dem meinen wäre es verteufelt weit in Anbetracht der Stunde. — Ja, noch etwas: mein Gesicht. Sie haben vermutlich bemerkt, daß etwas damit nicht in Ordnung ist. Nun — auch darüber werden wir plaudern, wenn uns das Leben wieder zusammenführen sollte, was, wie ich hoffe, in für Sie weniger schwerer Stunde der Fall sein wird.“
Georg, willenlos übergossen von der plätschernden Suada, blieb nun stehn, da sie bei der ersten Laterne angelangt waren, blickte Montfort an, blickte zu dem Glaskäfig auf, in dem der Glühstrumpf atmete, und dachte: Habe ich denn nun alldas geträumt? Wann stand ich denn schon einmal neben einer solchen Laterne? War das nicht — als ich Renate zum ersten Mal sah? — Er zuckte zusammen. Seine linke Hand fühlte die Papiere in der Tasche, seine rechte das warme Glas. Kein Traum. Cordelia war tot. Aber auch kein Schmerz kam hoch in seiner Brust; im Dunkel wehte es auf, lächelte tief, und entschwand. Georg ging weiter.
Allein! sagte jemand tonlos in seiner Nähe; allein, allein, allein.
Hier enden des fünften Buches neun Kapitel oder ebenso viele Monate.
Georg sah, als er eines Nachmittags den dunklen Gang in seiner Berliner Wohnung hinunterging, einen Brief hinter der Korridortür liegen, augenscheinlich durch den Postschlitz geworfen, und erkannte im Aufheben mit Verwunderung und Verdruß nicht nur seinen Berliner Pseudonymen, sondern auch Bennos Handschrift: die Universität, an die adressiert war, hatte den Brief nachgeschickt. Äußerst mißgestimmt gegen Benno, der sein nachdrückliches Verbot des Schreibens übertreten hatte, stopfte er ihn in seine Manteltasche, und erst, als er im vollbesetzten Stadtbahnabteil an der Türe lehnte, gab er der Reizung des Verschlossenen in seiner Tasche nach — dazu dem Verlangen nach einer Beschäftigung, das von dem stumpfen, gerüttelten Beisammensein mit den ereignislosen Gesichtern der Mitfahrenden hervorgerufen wurde — und öffnete, sehr widerstrebend, den Brief. Nur mit den Augen zu überfliegen und wieder fortzustecken willens, las er:
Altenrepen, den 26. 11.
Ja, mein Georg, so siehst Du mich Dein strenges Gebot übertreten. Aber Du kannst, nein, Du kannst nicht verlangen, daß ich es halte, daß ich weiter in dieser alltäglichen und — ach mehr noch! — allnächtlichen Sorge und Ungewißheit um Dein Ergehen hinlebe. Ich bitte Dich, gieb mir ein Lebenszeichen! Wenn ich an Dich denke, sehe ich Dich in diesem entsetzlichen Berlin wie in einem Mahlstrom umgetrieben, es flimmert mir vor den Augen, Dich, allem Schönen, Reinen, Edlen so hingegeben und nun so zu Boden gedrückt durch das furchtbare Erlebnis, in der Einöde zu denken, die der Name Berlin vor meinen Augen entstehen läßt. Georg, die Nacht, wo Du mir von Cordelia sprachest, die Tote selbst, ihr Lächeln, der schauerliche öde Raum unter dem Dach — unzählige Bilder, die nicht vor meinen Augen weichen, werde ich im ganzen Leben nicht vergessen. Ich träume davon, es läßt mir keine Ruhe, auch ist ja niemand da, mit dem ich darüber sprechen könnte. Elfriede — ich versucht’ es, aber — was kann sie davon verstehn, die nichts sah, noch mein Empfinden für Dich teilen kann; ihr muß es ein fremdes schauerliches Märchen bleiben, und von vielem darin hätte ich kaum einmal gewußt, wie es ihr sagen. Ich bin manchmal recht allein, Du fehlst mir täglich, ich spreche mit Hesekiel von Dir, aber — der Sprachschatz des Armen ist recht beschränkt, — ach, unsre schönen Gespräche! Wird all das jemals wieder kommen? Auch Magda ist fort, — willst Du sie wirklich nicht aufsuchen? Sie würde doch sicherlich ein gutes heilsames Wort, ein linderndes Mitschweigen für Dich haben. Genug, ich sehe längst Deine Unzufriedenheit, und vielleicht — ich hoffe es ja — sind all das auch nur Einbildungen von mir.
Ich bin fleißig, Elfriede ist heiter und engelhaft wie je, und mein Leben könnte das glücklichste von der Welt sein, ohne — Du weißt, wie ichs meine.
In Treue Dein alter
Benno
Kümmerlich, dachte Georg, sehr kümmerlich ist das! indem er den Bogen faltete und in das widerspenstige gelbe Seidenpapierfutter des Umschlages pfropfte. Guter Benno, deine Sorge ist ebenso rührend schön — für dich, wie herzbeleidigend für mich. Außerdem geht mirs glänzend, und alles was du schreibst, ist Unsinn. Du — — Überdem wurde die Tür hinter Georg aufgerissen, drei und mehr Menschen drängten herein und ihn bis zur gegenüberliegenden Tür — sehr ärgerlich! denn was hatten sie auf diesem winzigen Tiergartenbahnhof, wo überhaupt niemand einzusteigen pflegte und deshalb auch niemand einzusteigen hatte, obendrein in seinem Abteil zu wollen? giftete er sich. — Eingezwängt stehend, eine Hand am Gepäcknetz, ließ er seine Verstimmtheit gegen den Freund weitertosen. Wie er mich bloß so falsch verstehen konnte! Als ob nicht mein ganzer Jammer eben darin bestanden hätte und bestünde, daß sie — daß sie tot ist, nichts als das, fort mit allem, jenseits, zugedeckt mit diesem Lächeln, das mich verfolgt ...
Georg verlor seine Gedanken über dem Anblick der Leute in seiner Nähe, die ihn zu nichtswürdiger Beschäftigung mit ihren gebündelten Zügen, häßlichen Händen, Hüten und dergleichen zwangen; die Fahrt des langsam dahin trabenden Zuges schien in alle Ewigkeit währen zu sollen, er geriet am Ende wieder an den Brief. Ich bin sehr allein ... hatte er das nicht geschrieben? Und überhaupt die ganze Stelle mit Elfriede klang doch sehr merkwürdig und — ah natürlich! das war der wahre Grund des Schreibens! Armer Benno, fängt es nun an? Der erste Argwohn, das gescheuerte Gold sei — am Ende doch Messing? — Georg wurde, so sehr er Benno bemitleiden mußte, warm und wohler ums Herz, er verließ im Bahnhof der Friedrichstraße aufatmend den Zug, eilte durch die schon dämmernden, nebelgrauen Straßen und saß alsbald in seiner abgelegenen Ecke der Seminarbibliothek an seinem Tischplatz, unsichtbar außer für den, der ein Buch in der Bücherwand hinter seinem Rücken suchte, eine andre Bücherwand vor sich, zur Linken das Fenster. Allein kaum, daß er die dritte Seite in Gerlachs Abhandlung über die deutsch-dänischen Handelsbeziehungen gelesen hatte, empfand er, daß er gestört war, mußte sich anders setzen, das Buch anders legen, erst einen, dann mehrere Sätze doppelt lesen und lehnte sich plötzlich aufseufzend im Stuhl zurück. Gedankenleer zum Fenster hinausgewandt, sah er drüben die kahlschwarzen Kastanien des Wäldchens, flatternd von letzten braunen Blattfetzen, die Baracke für Vorträge über Kunst darin, kahl, nüchtern und unfreundlich, dahinter die Rückfront der Universität. Ein paar Gestalten, frostig anzusehn, wandelten im Garten. Auf der Straße davor flammte grünbleich die erste Laterne auf.
Ja, da ist es wieder, das Alte, dachte Georg im Empfinden des Drucks, der Beklommenheit, der Angst in der Brust. Nun ist alles wieder drohend und ungewiß. Sie schläft, sie lächelt, sie ist drüben. Ich bin allein. Wie lang ist es her? Fünf Wochen!
Mein Gott! — ihm ward heiß — wie ist es denn möglich? Hin, alles hin, ganz und gar wie ein Traum, wie ein Sonntag, alles, alles fort! — Er zwang sich, er sah sie, ihren glänzenden Leib, in der Nachthelle, in einem Gartendickicht, auf dem Schwarz des Mantels — Sterne bewegten sich im Laub. Auf dem Bett unterm Fenster, über ihre strömenden Glieder hinaus, tauchte sein Auge in die helle Nacht, die dunklere Ferne, die Ebene endlos — und darüber die zahllosen Augen der Sterne. — Dies erlosch, im rötlichen Schein der Kerzen funkelte das rote Glas, das schlafende Antlitz lächelte vor sich hin, — im Schwinden sah er noch Montfort, den Hut aus der Stirn gerückt, vor der verschlossenen Türe stehn, eine Hand über sich aufgestützt, die Füße gekreuzt, in der herabhängenden Linken die kleine Taschenlampe, aus der er von Sekunde zu Sekunde den Lichtkegel zu Boden fallen ließ, in dessen Schein er selber vor Georg erschien, ein Bild, das sich wie kaum ein andres ihm eingebrannt. — Georg versuchte es wieder, er sah sie unter der Vorhalle des Hauses, ihm entgegenschmelzenden Gesichts ... Was sich jetzt regte in ihm, war sein Geschlecht, die Entbehrung, er rückte unruhig im Stuhl, fühlte sein Sitzfleisch zerdrückt von Beinkleidfalten, — die alte Quälerei war wieder da, der ewige Durst, der sich so wenig überwinden noch betrügen ließ wie das Bedürfnis des Leibes nach Feuchte, nach Kohle, nach Eiweiß, — ach armer Benno, das Leben ist so schauerlich anders, als du meinst!
Überdem empfand Georg eine fast unlustähnliche Lust, ihm zu schreiben. Er trennte nach einigem Widerstreben ein paar Bogen aus seinem Heft, setzte an und brachte es plötzlich nicht fertig, die gewohnte Schrift zu schreiben, worauf er aus dem Punkt des angesetzten L den kleinen Bogen des stenographischen Zeichens dafür zog und langsam zu malen begann.
Lieber Benno: Ich hoffe, Du kannst dies noch lesen. Vergieb schon, aber es scheint mir das von Cordelias Brief zurückgeblieben, daß ich — nun, es ist wie ein Grauen vor offener Schrift. So eine Art Hysterie vermutlich. Und die weich geschwungenen Zeichen malen sich so angenehm aus der Hand.
Habe Dank für Deinen rührend liebevollen Brief. Scheinbar weißt Du, Halunke, daß ich es liebe, gerührt zu werden, und wenn nicht alle Empfindungen des Vermissens in dieser Beziehung von Dir beschlagnahmt wären, so könnte ich wohl Hesekiel vermissen, seine immerrührende Figur und rührenden Sprüche.
Was mich angeht aber keinerlei Sorge! Wenn ich mich auch nicht eben wohlbefinde, so ist das aus keinem der Gründe der Fall, die Deine Einbildungskraft Dir vorspiegelt. Berlin ist freilich der Mahlstrom, als den Du es Dir vorstellst, allein — einerseits war es ja meine volle Absicht, mich hineinzustürzen — ich hoffe, Du hast beim wohlwollenden Übertreten meines Schreibverbots das nicht gleich mitvergessen —, und andrerseits stehe ich vorläufig noch ganz am Rande und lasse michs schwindeln. Im Vertrauen: mir schwant, daß ich trotz aller Absperrung vom bisher Gewohnten, trotz scheinbaren Untertauchens durch Pseudonym, Inkognito und die vorgebliche Lebensführung eines von hunderttausend Studenten, Bureauschreibern, Literaten, Referendaren et cetera — gleichwohl nicht in den Strom gelangen werde, aber — vielleicht ist der Schwindel am Rande, wenn dauernd, das fürchterlichere.
Die Stadt ist furchtbar. Ich meine damit nicht Berlin im Gegensatz zu andern Großstädten des Erdballs. Ich meine die Großstadt an sich, als Lebensform, als Weltteil, als Schicksal; meine den Fluch der Anhäufung von Dasein und Geschick. Ah genug, wir werden sehn, übrigens wie singt der Poet?
Allein die Städte wollen nur das Ihre
Und brauchen viele Völker brennend auf,
Wie hohles Holz zerbrechen sie die Tiere ...
und so weiter, im Stundenbuch nachzulesen. Dennoch giebt es die merkwürdigsten Oasen mitten in der Meereswüste, deren Nötigkeit sich kaum begreifen läßt, wie etwa jene Schächte in farbige Jahrhunderte und Jahrtausende hinunter, die sich Nationalgalerie, Völkermuseum nennen. Nein, da bin ich gestern unvermutet an einem der seltsamsten Eilande gelandet und will Dir davon erzählen. —
Georg hielt inne. Wozu das eigentlich? dachte er unwirsch. Aber die wieder aufgetauchten Bilder des gestrigen Abends, Hardenberg, der stille Plauderer, Dachgarten, die kranke Frau, die Bilder — bewegten sich in ihm, wie die Samentierchen zum Eileiter, zur Gestaltung, und er fuhr fort:
Im Tiergarten traf ich unlängst auf Hardenberg. Du erinnerst Dich seiner vom Leseverein in Prima. Wir sprachen uns an, gingen zusammen, wir kamen ins Gespräch, ich machte meinem Ärger Luft über das Gemisch von Stangen und Statuen, das in meinen Augen der Tiergarten war, und hörte bald herzlich erfreut das wohlbekannte, leicht altenrepensch gefärbte: „Ich muß doch sä—gen ...“ mit dem er die Absicht einer kleinen Abhandlung anzukündigen pflegt, und siehe da — wie ein Mandelbaum aus den Fingern des zaubrischen Chinesen entfaltete sich alsbald ein Sommertiergarten, ein grünes Idyll der Behaglichkeit und des Friedens. Und aus dem einen, dem Tiergartenpark entfächerte er die Parke der Stadt, wie sie alle heißen: Kleistpark, Preußenpark, Schöneberger Stadtpark, Steglitzer, Dahlemer, beschrieb die Findigkeit ihrer Anlage in der Ausnützung der Bodenverhältnisse, beschrieb ihre Sommerabende nach dem Regen, ihre Verschwiegenheit, ihre erfrischten, leuchtenden Wege, die umdampften, schweren Gruppen der Bäume, auf dem Hügel den weißen Pavillon, den Goldregenbaum, die Fliedersträuche und plötzlich lächelnd am Wege das zarte Wunder der lila Akazie, ihre bebenden Trauben haltend wie eine Tänzerin mit zierlichsten Fingern, — das Herz lachte im Hören und Sehen! — Es ward ein ganzes Lob auf Berlin, die Stadt der Blumen und Parke, wie er sie nannte. Wahrhaftig hat er recht. Ich selber weiß von früher, daß in keiner andern Stadt Europas fast alle, auch die steinernsten Riesenstraßen im Sommer Alleen sind, in keiner so viel Vorgartenstreifen vor den Häusern liegen, in keiner die Straßenfronten so liniiert sind mit den buntfarbigen Zeilen der blumengeschmückten Balkons, und daß in kaum einer Blumenläden zu finden sind — von den erlesenen der vornehmen Viertel ganz zu schweigen —, wie man sie hier noch in den finstersten Stadtteilen finden kann. Und von dieser ‚Kultur der Blume‘ kamen wir dann bald auf den Begriff der Kultur im allgemeinen, den er schlechtweg als deutsch bezeichnete, da für die Begriffe andrer Nationen Zivilisation genüge. Kultur, sagte er, könne nicht sein, was man in Frankreich sehe einerseits — als Blüte einer einzigen kleinen Oberschicht, Geschmack, Esprit und Eleganz von Louis XIV. bis Louis XVI. —, noch was in England andrerseits als Steigerung der gesellschaftlichen Formen. Dergleichen Dinge seien nichts als Schöpfungen eines Volkes, wie ein andres vielleicht geistige Genies, ein andres Erfindungen, ein andres Strategen hervorbringen könnte. Sondern der Begriff der Kultur müsse mitumfassen ein vollkommenes Durchdringen des gesamten Volksstoffes, eine Essenz, die an hundert der verschiedenartigsten Stellen anzutreffen sei, und die höchste Vollendung in Kunstdingen etwa ebenso mit einschließe wie soziale Pflege der Ärmsten, Leibl und Ehrlich, George und Bodelschwingh. Kultur nicht denkbar ohne Geist, nicht denkbar ohne Liebe. Nicht denkbar ohne Gewissen, ohne Verantwortlichkeitsgefühl des Einzelnen für das Ganze. Die ‚Kultur‘ also des Franzosen ist ein Erzeugnis von Eitelkeit und innerhalb dieser von Ruhmsucht und einem ganz körperlich innesitzenden Verlangen nach und Gefühl für das Anmutige, Schmückende und — in diesem Betracht — dann auch Schöne. Kultur jedoch verlangt nicht nach Schönheit; aber in ihr begriffen sein wird auch das Schöne, und sie wird es wirken, weil sie für jeden Würde des Daseins, für jeden ein Bestes verlangt. — Aber übrigens: in welchem Volk giebts das eigentlich?
Georg stockte mit der Feder vorm nächsten Absatz. Ja, wohin gerate ich denn? Nachsehend fand er bereits drei Seiten mit den stenographischen Zeichen gefüllt, aber, erregt von der Geistesarbeit und Phantasie, dachte er: Nun, um so mehr freut sich Benno, es wird ja auch das einzige Mal sein, und nun werd ich mich kurz fassen. — Er fuhr fort:
Bezaubert wie ich war von der überaus zierlich und leicht wachsenden Art seines Plauderns und in meiner angeborenen Höflichkeit konnte ich dann nicht widerstehn, als er mich einlud, und bin gestern nachmittag hinausgefahren. Beim Abschied erschreckte er mich noch durch zweierlei, nämlich erstens seine Adresse: Hasenheide und eine dreistellige Hausnummer, die ich nun vergaß (ich sah in der Hasenheide bisher eine Einöde und Exerzierplätze wie Tempelhoferfeld, kein Ding mit Hausnummern), sodann durch die Mitteilung, er sei verheiratet, seine Frau allerdings schwer leidend. — Nun, Du weißt, daß Hardenberg homosexuell ist. — Sollte die Anlage — stark war sie wohl nie, dacht ich — geschwunden sein? Dann, muß ich zu meiner Schande gestehn, wurde mir einen Augenblick schwül um die Brust, und ich geriet von meinem lieben, sanften, allgütigen Hardenberg auf — Stawrogin! Stawrogin, Du erinnerst Dich, in den Dämonen, der vor Entartung aller Gefühle zur Erlebnisform einer Heirat mit einer Schwachsinnigen greifen mußte, der Marja Timofejewna, — doch befinden wir uns ja in Norddeutschland, Hasenheide usw. Ich fuhr mit der elektrischen Bahn hinaus.
Unsäglich! Unsagbar! Straßen, Straßen, Straßen! Prachtstraßen gegen London, Paläste gegen Paris, riesige Offenheit und Breite gegen die Steinschluchten Wiens, allein — das Getümmel, das Hinundwiederströmen, der Anblick der tausend und tausend Fenster, Zimmer, Wohnungen, Schicksale ohne Ende — — es hätte mich umgestürzt vor Schwindel, hätte nicht das Staunen noch die Wage gehalten. Wie leben die Menschen hier? wie können sie leben? warum leben sie hier und so? Es ist ja sinnlos, aber: aus dem heftigen Gefühl, daß mir selber Alles und Alle fremd, in Weg und Hantierung, Ziel, Seele, Beschäftigung, Beruf, in allem völlig fremd und unbegreiflich waren, mußte mir die Vorstellung entstehn, daß von ihnen auch jeder dem Andern, dem Nächsten ebenso fremd und unbegreiflich sei, daß es nur zehntausend Wege waren, die sich kreuzten, jeder ganz in sich abgeschlossen und vom nächsten, von all den durchkreuzenden nicht mehr wissend als nötig war, Zusammenstöße zu vermeiden, und so wards um mich ein eisernes Geklirr, Metallstücke, leblos, gegen Metall, ohrenbetäubend, herzlähmend.
Die Hasenheide enttäuschte freilich angenehm als eine Riesenstraße alter Bäume, fast durchweg eingebettet in Biergärten, ein bei ein, richtige Gärten mit schönen, mächtigen Bäumen, jetzt kahl und Durchsicht lassend weithin. In Hardenbergs Hause dann schwenkte mich der Lift bis unter das Dach, ich wurde in ein geräumiges helles Zimmer — denke Dir ein sogenanntes ‚Gelehrtenzimmer‘ — geführt, dessen breites Fenster und Glastür einen jetzt leider kahlen, aber wunderschönen Dachgarten mit Pergola und Aussicht über das Dächermeer vermutlich in die Tiefe der Gärten boten. Die Stille war fast vollkommen.
Hardenberg erschien und bald auch seine Frau.
Du wirst nun mein Entsetzen mitfühlen können, mit dem ich in der aufgehenden Türe erscheinen sah — das Gespenst. (Ja, Gespenster begegnen uns gern und verdoppeln sich gar!) Ich fürchte, ich vergaß vor Betäubtheit aufzustehn, — bis ich denn sah, daß hier das Haar nicht fischweiß war wie bei Cordelias Schwester, sondern brandig rot, — doch wars auf die nämliche Weise in die Stirne gekämmt; die Augen darunter waren so blaßblau mit viel sichtbarem Weiß — wie dort —, das Gesicht so milchhaft, die Nase schien ebenso spitz ... ich erholte mich wohl am Mund, der wundervoll war, groß, tiefrot und von der köstlichen, tief geschwungenen Bogenform, worauf ich dann von neuem erschrak, denn der bloße Hals — stark, von vorne gesehen so breit wie das Gesicht — war —
Georg stockte mit der Feder. Ein Klumpen ballte sich oben in seiner Brust und zwängte sich zur Kehle; er sah gradaus, seine Augen brannten, dann zitterte sein Kinn; er schüttelte den Kopf, versuchte zu lächeln, sah wieder auf das Papier, mußte plötzlich die Stirn auf die Tischkante legen und schluchzte zweimal, dreimal tränenlos. Als er aber bemerkte, daß er da um sich selber weinte wie ein Knabe, setzte er sich wieder grade, erkannte dabei, daß es dunkel geworden war, ließ die grüne Schirmlampe aufleuchten und schrieb weiter: — Cordelias Hals.
Hardenberg hatte mich schon auf den Anblick vorbereitet, den ich bekam, als das arme Wesen jetzt vorwärts ging. Sie hat seit ihrer Kindheit ein Leiden (d. h. als Hauptleiden von etlichen andern, an denen sie alle paar Monate schwer darnieder liegt), infolgedessen ihr das Gleichgewicht fehlt im Stehn und Gehn. So kam sie hastig tastend, bevor er aufspringend zu ihr gelangt war, um sie zu geleiten, und ihre Beine und Arme schlotterten und zuckten dabei völlig unbeherrscht in den Gelenken. Auch ihre Sprache, als sie nun saß und die Hände — wundersam lang und geschmeidig, gesalbt von Schmerzen — im Schoße still lagen, kam stoßweise, rauh, manchmal hart wie gestoßene Steine; ihr Gelächter — sie lachte viel und gern — war ein Gebell. Kostbar war ihr Profil, das ich lange sah, dazu der Hals von der Seite, nicht senkrecht aufgesetzt, sondern schräge nach vorn, geschwungen ...
Ja, dies. Und als wir dann eine Weile später ins Atelier hinübergingen (denn dies Wesen ist Malerin und hat studiert wie eine jede, z. B. Aktstudien gemacht, stundenlang stehend mit einer Stuhllehne als Stütze), so entfaltete sich aus Mappe um Mappe ein Zaubernebel von Farben und weichem Geleucht. Ihre Kunst ist beschränkt, aber in der Beschränkung reich und reizvoll. Wasserfarbe, Linoleumschnitt und der Buntstift. Aber sie zaubert mit dem Buntstift. Sieh ein Straßenstück — zu Dutzenden gabs —, Regendämmrung, Nässe, Abend, in der Tiefe abschließend ein graugrünliches Gebäude, rechts ein rotes, eine rote Mauer, ein Baum darüber, novemberschwarz gespenstisch, auf der Straße Undeutliches, ein Wagen, ein Mensch — und all das aufgelöst in tausend farbige Striche, das mattglitzernde Pflaster in Wirklichkeit so bunt wie ein Kolibri, desgleichen der quellende Himmel, und nirgends die Farbe — das rote, das graue Haus —, die Du zu sehen meinst, sondern jede zur Hälfte bewirkt durch die andre. Oder — von der Brücke gesehn — ein Stück Isarbach im Englischen Garten in München, milchiges Grün, bewegt, bewegt, kristallenes Blau, Schneeufer, Bäume, gesträubt im Nebel, die Tiefe Schneedunst, und alles scheint weiß, und alles Weiße kam aus dem blauen Stift, und welch ein Duft von Lüften, von Ferne, von Ahnungen!
Du warst nie im Berliner Aquarium, Benno. Denke Dir, daß Du in dunkle Korridore trittst mit vielen und großen Rechtecken, starkleuchtenden in gelblichem, grünlichem Licht: die Glasscheiben der Wasserbehälter in der Wand, hinter denen sich das Leben der Tiefe bewegt, sprachlos, in leuchtenden Farben. Fische, durchsichtig aus Perlmutter gemacht, die Augen wie leuchtende Kugeln, die sich drehn, die Leiber dünn scheinend wie Pappe durch die Brechung des Wassers. Fische, gemacht wie aus weißem und gelblichem Sandgekörn, flach wie ausgeschnittene Papiere, die sich wellenförmig im weißen Sandboden fortbewegen, wo sie schwinden, wenn sie liegen. Fische, feuerfarben, Leiber wie senkrecht flach gedrückte Eier, an die seitlich und hinten lange, schlagende, faltige Schleier angesetzt sind, und dieselben in Schwarz wie in Trauer. Fische, blaugrau wie aus frischgefallenem Samt, Scharen, stille, die eine Handbreit über dem Grundsande hinweidend sich bewegen wie die Weidetiere unserer Ebenen ...
Und von diesem zog sie den farbigen Abglanz in kostbar stilisierten Umrissen, ins Geschwungene gelöst, in die Faltenregung der Wasser, zog sie das Unheimliche der Tiefe, die ewige Sprachlosigkeit, die Dämmerung und die unendliche Stille. —
Beim Zurückfahren am Abend nahm ich eine Bahn zum Potsdamer Platz — das abendlich reißend geschwollene schwarze Getümmel nur wahrnehmend wie einen donnernden Strom, über den ich hinglitt in der Muschel meines Herzens —, von wo ich mich zu Fuß zum Schachte der Untergrundbahn vor der Wertheimarkade durchzwängte.
Ja, da ragte es, ernst, mit umdunkelter Stirn, das Heim der Wertlosigkeiten, mit dem Aussehn eines ehrfurchtgebietenden Heiligtums. O, ihr Deutschen! Da wolltet ihr ein Kaufhaus bauen, eine Gelegenheit, wo euch das Kaufen, das Geldvergeuden ein glitzerndes Vergnügen sein soll, und anstatt eine lustige Menagerie hinzustellen, errichtet ihr eine düstre, alle Eitelkeit des Irdischen verneinende Kathedrale: Ziehe deine Schuhe aus ... und nennts den neuen Warenhausstil. Die einzige Kirche des zwanzigsten Jahrhunderts ...
Wie ich mich aber dann umdrehte, unter die Pfeiler mich rettend, drüben aus der Nachthöhe rings um den Platz die bunten, feurigen Räder umliefen, gigantische Schriftbänder vorstießen, Pfeile, Sonnen sich ausstrahlten, und am Grunde dieses Nachtgewässers der Strom sich ergoß, in den tausendfachen Skandal verdonnernd, eiserne Wagen an Wagen, erleuchtet, bis zum Rande voll stehender, sitzender Schicksale ohne Häupter, und die Kanäle der Fußgänger, unerschöpflich; wie ichs hervorquellen sah aus den tausend sich schwingenden, umwirbelnden Türen, und dahinter wimmelnde Treppenhäuser, senkrecht stürzende, senkrecht entfliegende Förderkörbe voll von Wimmelndem, und wimmelnde Säle, wimmelnde Zimmer bis unters Dach, zehntausend Fußpaare, zehntausend Schicksale sich hinabstürzend zum Grunde und im Ebenen hingerissen in eisernen Gleisen ihres Lebens, ein wieherndes Toben der Mühseligkeit, der Beladenheit, des Genusses, zum Schaudern ameisenhaft ganz und gar — — sieh, da wars wieder dasselbe Bild, das ich sah: ein einziger Strom des Lebens, der wahrhaften, göttlichen Lebensessenz um den Erdball ergossen, aus dem ein jeder schöpfen mag für sein Dasein, wo er steht. Und an solchen Stellen wie dieser, wo Hunderttausende trinken wollen — wieviel kommen da Tropfen in jeden der schnappenden Fischmunde? Sie ersetzen durch Luft, was fehlt an Essenz, durch Betriebsamkeit den Lebenstrieb, und das giebt dann — Sekt —, was Wein sein sollte —, das Göttliche versetzt mit Kohlensäure, Schaum für Kristall.
Dann aber, mein Benno, erschienen sie mir dort oben, im Dunkel der Berge, am Ursprung des heiligen Quells, die Beiden, die Geächteten so oder so, die Ausgeschlossenen von dem, was man ‚das Leben‘ nennt: an den Händen sich haltend mit Zartheit, die stillen, beredsamen Augen in Eintracht hinabgeneigt zum dunklen Kristalle des ewig Reinen, und herausholend vom Grund — wie der Tiefseeforscher im Perlkranz der Wassertropfen den farbig leuchtenden Schleier der Infusorien, der Zauberformen, der Rätselkristalle, der Rädertierchen und mikroskopischen Algen — so heraufholend diesen zartesten Schleier ihrer Künste, sie auszubreiten über Gebrechlichkeit und den unendlichen Schmerz. — —
Georg schob die Blätter zusammen. Ich schließe ein andermal, dachte er matt, jetzt finde ich weder zu mir noch zu ihm den Übergang, und — ich schrieb es ja wohl auch nur für mich.
Die Hände lasch auf den Blättern, vor den Augen noch Tumult und Vision, entkräftet im Herzen, lehnte er sich zurück, die Blicke aufwärts richtend in das Dunkel, wo die schweigsamen Fronten der Bücher sich in Stockwerken reihten.
Und du, Cordelia, dachte er vereinsamt, was tatest du? Fünfunddreißig Jahre Nacht, Nacht, Qual, Qual. Endlich die farbige Wonne, der kleine Schleier eines Halbjahrs. Und endlich — die Stille — der Triumph — das Lächeln für immer. Das war ein Leben?
Ist das das Leben? Ist dies der Strom: Leiden? Giebts keine andre Essenz, die das Leben verleiht? — Dann, dachte Georg, den alten Angstdruck aufkeimen fühlend in der Brust, dann komme ich wohl langsam näher ...
Nahm seine Sachen zusammen, löschte die Lampe und ging.
Georg, zerdrückt, zersetzt und mißgefärbt, wie er sich aus Berlin mitgebracht hatte, wanderte gegen halb zwölf Uhr in der Neujahrsnacht vor der Reihe der sechs vom Erdboden aufsteigenden Fenster des langen Saales in Trassenberg auf und nieder. Dabei hatte er außerhalb der Fenster das schwarze Nichts, die Nacht mit einem oder zwei roten Lichtern im unsichtbaren Grunde des Landes; innerhalb den langgestreckten Saal, aus dessen drei Wänden, aus den drei Steinkaminen der Flammenschein herausschlug. Die Kamindächer hingen steil und düster wie gewaltige Brauen über den Feueraugen, deren Flackerblick die beiden mannsdicken, in der Höhe verästeten Holzpfeiler im Schatten ließen, welche, ein paar Schritt weit voneinander entfernt, die Saaldecke trugen. In der Dunkelheit der Wände oben ließ sich von Georgs irrendem Blick hier und dort aus den verblichenen und verrußten Wandmalereien eine Gestalt ergreifen, steif in Umrißlinien und Falten des zwölften Jahrhunderts, ein Schwert, ein verhangenes Roß oder die seltsam verschobene Figur einer Frau, hintenübergezogen vom spitzen Kopfputz und hangenden Schleier.
Georg blickte auf die Uhr, ohne die Zeit zu sehn, und erwartete seinen Vater. Ihn fröstelte; deutlicher empfand er die beiden Toten in der Nähe, Cordelias ewig triumphierendes Lächeln und die Gestalt seiner Mutter; diese manchmal hinter sich, an einem der Fenster, vereinsamt dastehend wie eine Verbannte, — und dann verspürte er wieder ihren Kopfschmerz, als könne der noch immer nicht vergangen sein ...
Diese Mutter ... Er zwang sich, zu vergessen, daß sie nicht die seine war, sich zu erinnern, wie es hier früher in dieser Nacht gewesen. Dann saßen erst er und sein Vater dort beim Punsch vor dem mittleren Kamin. Zehn Minuten vor Mitternacht erschien die Helene, Diener mit Windlichtern, die ein paar Fenster und die Glastür zum kleinen Altan öffneten — dem Einzug des neuen Jahrs. Sie sagte ein paar heitere Worte. Dann gingen sie zusammen zur Altantür und standen dort im kalten Atem der Winternacht und erwarteten den Glockenschlag. Er kam, feierlicher als jeder Stundenschlag im ganzen Jahr. Dann wurde in der Tiefe, vor der Kirche im Dorf der Holzstoß entzündet; sie sahen von hoch oben den roten Flammenschein, Gestalten, Portal und weiße Wand des Kirchturms im Schein, und im Kreis um das Feuer die Bläser mit ihren Messinginstrumenten. Nun läuteten die Glocken, der Choral stieg vernehmlich zu ihnen empor: Bis hierher hat mich Gott gebracht ... Beim zweiten Vers traten sie in den Saal zurück und ...
Jahrein — jahraus — zehn, elf Male hatte er das erlebt. Immer eine feierlich leichte, schöne Stunde ... Mein Gott, ist es anders geworden! Sie ist nicht mehr dabei, und ich selber bin —, nein, ich soll ... soll? Hier ein Fremder sein, ein Eindringling ...
Ratlos auf den nächsten Pfeiler zutretend, wie im Verlangen nach einer Stütze, fühlte Georg unter der tastenden Hand die Hunderte der Kerben, die den Stamm bedeckten. Hier hatten sie sich eingeschnitten, die einmal die Seinen waren, bei jedem Bankett, jeder Jagdtafel, sie und ihre Gäste, burggeseßne, erb- und schloßgeseßne Herren, später Grafen, Markgrafen, Herzöge ... Auf einem der Böden mußten noch mehr solche Stämme liegen, nachdem die ersten vollgeschrieben waren bis obenhin, — es war wohl mehr als ein Arm gebrochen, wenn sie Stühle auf Tische setzten in ihrer Berauschtheit, um höher hinaufzulangen, und an einem Pfeiler oben stand: Heint hab ich, Hugo Remmele, den — soundso — fast zu Tode gestochen, sintmal ich b’soffen von oben stürzte mit dem Säufang ... Oder so ähnlich ... Als Junge, sann Georg, konnte ich stundenlang um die Stämme rutschen, um die Namen zu entziffern, die Wahlsprüche und das Lateinische. Drei Kreuze, dacht ich, bedeuteten Tote ... Merkwürdig viel Kreuze ...
Georg sah aus Knabenkleinheit, in die er sich versetzt, geisterhaft umher. Die drei Kyklopenaugen glotzten, die Flammen züngelten in Buchenkloben, es war still ... Nein! nein! er nicht dazu gehören? Nein, davon empfand nie und nimmer etwas sein Herz! Nur unsäglich traurig war alles geworden. Traurig? Warum nur, warum? Nun hatte die Zeit auch Cordelias Lächeln fast getilgt, dies allzutriumphierende Lächeln ...
Georg, längst wieder am Fenster stehend, die erst kalte Scheibe warm geworden an seiner Stirn, hörte ein Geräusch und wandte sich. Ein Flügel der Tür zur Linken in der langen Wand war aufgeschlagen, und daneben stand im Schein des Armleuchters, den er selber hochhielt, Egloffstein, schwarz in Frack und Kniehosen, das faltige Gesicht unterm weißen Haar schief geneigt wie immer. Die Schritte und die Stöcke des Herzogs wurden hörbar, er kam zum Vorschein, im Frack, — ja, das war nun auch anders, denn er ging, er ging ganz gut, schon ziemlich grade, machte richtige Schritte, — erstaunlich, was sein Wille in ein paar Monaten zustande gebracht hatte! — Georg ging ihm entgegen, nur mit einem ernsten, schnellen Blick von ihm ins Auge gefaßt. Hinter ihm Leopold und Egbert in ihren blauen Livreen trugen, der eine das Brett mit dem Bowlengefäß und Gläsern, der andre eine kleine Truhe, und setzten beides auf den alten Holztisch vor dem Mittelkamin. Georg hörte Egloffstein seinen Vater etwas fragen und „Halb eins“ aus der Antwort, während er Egbert zusah, der den Fuß eines Baumstamms zum Feuer trug und hineinlegte; die Flammen duckten sich, leckten mit körperlosen Zungen daran empor, unterhalb knisterten dunkelrote Funken in der schneller anglimmenden Rinde. Georg gingen die Augen über im Hinsehn, bis ein leises Klirren ihn veranlaßte, sich umzudrehn. Sein Vater, jetzt allein, stellte eben den Löffel in die Bowle zurück, reichte dann Georg sein Glas. „Ach, du trinkst ja wohl nicht ...“ sagte er, sich erinnernd, und lächelte. Georg antwortete mit einem Lächeln und setzte sich am andern Ende des Tisches den Fenstern gegenüber. In dem Glase dampfte der goldenbraune Punsch, Schwaden zogen sich um die Flammen des Leuchters. Ja — dies war wie immer ... Auch dies, wie sein Vater das Glas gegen die Lichter hob, dann kostete. Auch Georg nahm einen Schluck; die flüssige Glut verschlug ihm den Atem, er mußte hüsteln.
Und dann folgte er mit den Augen den langsamen Bewegungen seines Vaters, mit denen er seine Zigarrentasche hervorholte, eine herausnahm, nachdem er mehrere hinter den Klappen gelüpft und gedreht, sie auf den Tisch legte, die Tasche schloß, dann wieder aufklappte und Georg mit einem Lächeln hinhielt. „Dir zu Gefallen“, sagte Georg, eine nehmend, biß wie sein Vater die Spitze ab, aber das mißlang natürlich, er mußte das Deckblatt festlecken und vergaß darüber, seinem Vater den Leuchter zu reichen. Plötzlich sah er ihn aufrecht dasitzen, eine Hand auf der Tischplatte, die Zigarre im Munde, den Leuchter erwartend ...
Er hatte sich aber noch kaum nach den ersten Zügen zurückgelehnt, als die kleine, stets Minuten vorgehende Uhr auf dem Kaminsims zum Schlag aushob. Sie nickten sich zu, der Herzog hob seine Stöcke, sie gingen zur Glastür, Georg öffnete, eisig schlug die Nachtluft über sie hinweg. Da — in der Tiefe rechts brannte schon der Holzstoß, Schatten bewegten sich umher, die Bläser stellten sich im Kreis, Messing blitzte, die Dörfler drängten sich herum, beleuchtete Gesichter waren zu sehn. Dann klang der erste Glockenschlag, die Mitternacht schwebte vernehmlich in klaren Tönen herauf, der Choral setzte ein. Georg spürte auf seiner Schulter eine schwere Last, die Hand seines Vaters.
Zudritt mit der Unsichtbaren standen sie in der nächtigen Höhe. Georgs Herz schlug schwer, — er sah das Vorjahr, die Vorjahre ... sah sie und ihn und sich selber wieder in den Saal zurückgekehrt ... Doktor Birnbaum war schon da mit seiner großen Truhe auf einem Stuhl und Fräulein von Rabenau mit ihrem Arm voll weißer Narzissen. Die Saaltüren standen weit offen. Sie waren lustig. Draußen war der Rücken des Kantors sichtbar, taktschlagend mit beiden Armen, und der Kinderchor klang. Dann kamen sie herein, der Kantor, die Kinder, dahinter das ganze Gesinde, von Egloffstein geführt, bis hinunter zum letzten Stallknecht und Hütejungen, Knechte, Mägde und die Dienerschaft. Zogen vorbei, und jeder bekam dreierlei: vom Herzog einen goldenen Händedruck aus der Truhe, von Georg einen einfachen, von Helene eine Narzisse. Und hundert Stimmen, tief und hoch, heiser und hell — der Neujahrswunsch. Seit er stehen konnte, im weißen Kleidchen, hatte er seine kleine Hand hinhalten müssen, seinen Diener gemacht und in die großen fremden Züge über ihm gesehn ... Die Mägde machten heilige Gesichter, wenn sie ihre Narzisse hatten, trugen sie hinaus wie ein Altarlicht, und manche weinten trotz strengen Verbots. Und Mama ... Manchmal war sie am Umsinken vor Schmerzen. Dann stand sie, die Augen fielen ihr zu, die Finger der Linken preßten die Schläfenader, nahm eine Blume nach der andern aus der Hand des alten Fräuleins, reichte sie hin und lächelte dazu. Jeder bekam seine Blume und sein Lächeln. Dann hauchte sie Gutenacht und lief hinaus.
Georg brannte der Kopf. War dies nicht schon der dritte Vers des Chorals? — Da wußte er, daß sein Vater sich fürchtete — wie er selber — vor dem Sichumdrehn und dem, was hinter ihnen war ... Aber im nächsten Augenblick fühlte er sich von der Hand auf seiner Schulter herumgedreht, sein Blick streifte dabei über das angespannte, entgeisterte Gesicht seines Vaters. Da war der leere Saal ...
Heiser hörte Georg ihn fragen:
„Und nun, Georg, wie ist es: fühlst du dich — zu Hause?“
Georg verstand, senkte den Kopf, hob ihn wieder und sagte in den Saal hinein: „Es ist nicht wie früher. Es — — mir ist glaub ich so wie einem, der sich jahrelang herumgetrieben hat und — als hätte er nun kein Recht mehr ... so ungefähr.“
„Armer Junge“, hörte er murmeln. Sein Vater drückte ihn liebevoll an sich; er blickte in seine Augen und murmelte, seine Hand suchend, schamvoll: „Wenn ich nur dich habe ...“ Sein Vater drückte die seine kurz und hart, ging dann durch den Saal zum Tisch, öffnete den Deckel der Truhe und nahm ein zusammengefaltetes Papier hervor, aus dem an seiner Schnur ein großes Wachssiegel herausfiel. — Georg wußte, was es war, und begann im Augenblick heftig zu zittern.
„Dies,“ sagte sein Vater, den Bogen langsam aufschlagend und hineinsehend, „dies ist der Vertrag.“
Er legte ihn wieder zusammen und in den Kasten zurück, den er schloß.
„Du kannst ihn an dich nehmen und Gebrauch davon machen. Später — wenn du meiner Hülfe bedürfen solltest ...“
Er brach ab, nickte ein paar Male vor sich hin, setzte sich dann.
Georg spürte die hinter ihm hereinströmende Kälte, wandte sich, warf das bitter schmeckende Ende seiner Zigarre hinaus und schloß die Tür. Dann zündete er sich eine Zigarette an und begann, alles umher vergessend, wieder vor den Fenstern auf und ab zu gehn.
Jetzt, während alle Gedanken in ihm, dem Kommenden zustrebend, doch angstvoll vor unsichtbaren Widerständen zurückprallten, tastete seine angereizte Phantasie nach der Schmerzgestalt der Mutter; die aber entzog sich, schwand, und statt ihrer sah er zum ersten Male Cordelia.
Alles sah er. Ein Zimmer. Auf einem ovalen Tisch eine brennende Petroleumlampe; davor einen Berg Wäsche; und daneben — sie, an einem glänzenden Kleide nähend, das über ihren Schoß hin lag, und sie trug ein niegesehenes, loses, morgenrockartiges Kleid, unordentlich; und vor dem Wäscheberg lag ein aufgeschlagenes, vom Zusammenrollen verbogenes Heft, aus dem sie lernte, — ja, er sahs, alles, und nur eins sah er nicht, obgleich er sich bemühte: ihr Gesicht, — nur das Braun vom Haar, undeutlich. Aus der Erscheinung aber glühte es ihn an, daß ihm heiß wurde und heißer: ihr Leben, ihre Tage und Nächte, der endlose Kampf, die brennende Sehnsucht, die Hülflosigkeit am Abend, immer wieder Unverzagtheit am Morgen, immer Hoffnung, Hoffnung, Erwartung, heute, wieder heute, hundert, tausend Heute der gleichen Mühsal, und immer Enttäuschung, immer Entsagung, Verzweiflung, Ratlosigkeit, neue Kraft, neuer Wille, und wieder umsonst, und Arbeit, Arbeit, nächtelanger Fleiß, die ganze unselige Inbrunst, die rasende Erwartung, das Nichtmehrwartenkönnen, das verzweifelte Weinen, der Jammer grenzenlos. Er sah ihre zerbrochene Seele, daliegend entstellt wie eine ausgerissene Pflanze. Alles einst Strahlende, innerst immer noch mit wütender Glut sich Wehrende, in trostlosen Zimmern zerstampft, verschüttet, — ein ewig währender Schmerz in der Brust, wie die Andre ihn im Kopfe trug, wandelnd Beide mit feuergefüllten Becken im lebendigen Fleisch ... Und wieder sah er sie eintreten in das schöne Tor, in das leuchtende Schloß, betäubt von Ehrfurcht, zum Kinde geworden vor unsäglichem Staunen, — doch schob sich selbstwillig ein andres Bild dazwischen, das sich nicht verdrängen ließ: die erste Nacht, ihre fast unheimliche Scheu, die dann jählings umschlug in überschwängliche Wonne, Tränen der Wonne — weshalb? Er wußte es nun, verstand nun die Verzweiflung der jahrelang verfälschten Lust, die zum ersten Mal doch endlich sie selber sein durfte, hinströmend in der Umarmung des Geliebten. — Der Brief, ihr Brief mit ihrem Leben brannte auf seiner Brust, und plötzlich, alles Denken fortkrampfend, riß er ihn heraus, ging auf seinen Vater zu, sah ihn ihm entgegenblicken und blieb zaudernd stehn.
„Nun, mein Junge, was hast du?“ fragte er weich.
„Ich? — Ich, Vater, ich hatte — zwei Tote in diesem Jahr. Und — — wenn du dies vielleicht lesen möchtest ...“ Er gab ihm die Briefe, den kurzen und den lebenslangen, setzte den Leuchter näher herzu, warf sich dann selber in den Sessel am Ende des Tisches, legte den Kopf in die Hand und schloß die Augen.
Er wollte nicht denken. Er ließ Wortgebilde, Begriffe, Sätze, Bildstücke in sich herumlaufen, sinnlos und leer, immer wieder zurückprallend mit der inneren Woge von den Briefblättern, die er hin und wieder leise knistern hörte, immer wieder hineingezogen, zu dieser Stelle, zu jener, an welcher sein Vater jetzt halten mochte ...
Sie war glücklich das Halbjahr, dachte er, und doch hatte sie noch eine Hoffnung über das Glück hinaus, mußte noch immer hoffen — hoffte, fruchtbar zu sein — ein Kind ... War es diese Sehnsucht, die sie dermaßen befeuerte, die Nächte so glühend machte, Nächte — jede wie eine Traube, und jede Beere eine Zelle von Rubin, in der sich Götter umarmten, daß die ganze Traube erdröhnte ... Ach, nein, ihre Hoffnung war leise, blühte auf in den stillsten Stunden des Einsamseins, war ein Duft, ein Glück über dem Glück, denn nur das Glück ist ganz süß durch und durch, über dem noch ein andres Glück schwebt ...
Georg wartete noch, wartete, wieder leer, ertrug es endlich nicht mehr und sah nach seinem Vater. Der saß groß, aufrecht zurückgelehnt. Die Blätter lagen auf dem Tisch. Nun kam sein Blick herüber, Georg sah die nahstehenden Augen, verschleiert, sehr weich, und der Blick durchschmolz seine Brust, so daß er sich plötzlich schämte und die Augen abwandte.
„Sie ist tot?“ hörte er fragen.
Georg nickte. „Ich habe sie gesehn“, sagte er dann. „Sie lächelte. Es läßt sich nicht sagen. Aber — sie war ganz drüben — und wußte — alles.“
Es war still.
„So ist es überall das gleiche“, sagte der Herzog langsam. „Abgrund. Dich dachte ich nicht so nahe daran. Aber — du hast es überstanden?“
Georg konnte nur den Kopf neigen, wieder und tiefer beschämt, als werde er belohnt für eine Leistung, die ein Andrer ihm abgenommen hatte ... Ich habe ja nichts getan! dachte er.
Indem vernahm er wieder die Stimme seines Vaters.
„Siehst du, — einmal ... du warst noch ganz klein — standen wir dort, zu Zweien, in der Neujahrsnacht. Und da —“ Er stockte, räusperte sich, hustete und fuhr fort: „Hast du je empfinden können, was sie gelitten hat? Später wurde es ja wohl besser, das Dunkel tat wohl, die Gewohnheit ... Aber dies Dasein! Ihr Geist, ihre vielen Gaben — so verurteilt! Aber — der Anfang! Sie schloß sich ein des Nachts. Ich konnte nicht zu ihr. Da habe ich — nächtelang — vor ihrer Tür gelegen und gehorcht. Und sie wimmerte, sie — kannst du dir das — denken? Ich glaubte, ich könnte ihre Zähne aufeinander schlagen hören. Ich hörte sie hin und her irren und leise jammern, minutenlang, Worte stammeln, schnell, immer schneller, bis es immer lauter wurde und sie aufweinte. Dann wurde es wieder leiser, hörte ganz auf. Und dann fing es wieder an. Und endlos. Heulen hab ich sie gehört. Sie, diese —, sie ...
„Und dann — einmal — standen wir dort. Der Vorbeizug war vorüber, sie taumelte auf mich zu, wir waren allein, sie bohrte ihre Stirn gegen mich und schrie: Ich kann nicht mehr! — Dann riß sie sich los und lief auf den Altan. Ich weiß nicht, wie ich sie noch einholen konnte, und dann, — dann wollten wir Beide hinunter. Ich — ich war jung, und gelähmt, und dazu sie ... Ich wollte auch nicht mehr können. Plötzlich sah sie mich an, ihr verzerrtes Gesicht glättete sich sonderbar. Sie sagte: Merkwürdig ... nun ist es weg. — So stand sie lange, lauschte und wartete, schüttelte den Kopf und wiederholte: der Schmerz sei weg. Wir weinten wohl zusammen und dachten eine Weile, er sei wirklich und für immer verschwunden. Ich weiß noch: sie lächelte wieder und meinte, es wäre wohl wie beim Zahnarzt: wenn man die Treppe zu ihm hinaufstiege, sei der Schmerz fort. Ich hielt sie noch, und dann merkte ich auf einmal, daß sie schlief. Ich hab bei ihr gesessen, sie schlief bis zum Morgen. Da war der Schmerz wieder da ...“
Georg hatte zugehört, in Siedehitze getaucht vom Kopf zu den Füßen; seine Hand war feucht, als er sie von der Stirn löste, doch hörte er nun ein Geräusch, wandte sich und sah Egloffstein gedämpft hereinkommen und sich dem Herzog zeigen, worauf er wieder verschwand. Sie erhoben sich Beide, der Herzog murmelte, es sei Zeit für ihn, — ob er noch sitzen bleiben wolle ... drückte Georg nur heftig die Hand und ging hinaus.
Als Georg dann wieder im Stuhle saß, sah er die Zukunft vor sich stehn, unentrinnbar. Er fühlte, daß nichts sich hatte ändern lassen, er hatte weiter und weiter gehen müssen auf diesem Weg, nun nur noch wenig Schritte, und das Ziel war da. Trotz der Angst aber, die es ihm einflößte — oder war das nicht es? — schien ihm alles sehr leer, oder leicht, oder — sinnlos. Das Wirkliche, dachte er, ist doch ganz wo anders. Dies gehört zum Dasein, jenem, in dem man sich kleidet und ißt, arbeitet, einen Beruf hat, Umgang mit Andern, Pflichten. Es ist nicht das Leben.
Und da war es ihm, als befände er selber sich weder hier noch dort. Er lächelte; saß er nicht in der einsamen Nacht zwischen dem ersten Tag des neuen und dem letzten des alten Jahrs? — Er mußte eine Bewegung mit den Händen machen, wie um nach rechts zu tasten und links, das Dasein zu fühlen, dort, und hier das Leben. Da war aber nirgend etwas. Nur die Luft. Es ward totenstill. Und in der Leere konnte er sein Herz sehn wie einen schwarzen Klöppel, der ohne Glocke hing, sinnlos, im Schwarzen der Nacht.
Renate, beide Handflächen gegen die plötzlich entflammenden Wangen pressend, im Sessel vorgeneigt, rief: „Das möchte ich nun einmal wissen, warum du und ich am Neujahrssonntag hier sitzen!“
Saint-Georges, tief im Sessel ihr gegenüber, die Ellbogen in den weichen Lehnen, die Hände flach unterm Kinn gefaltet, blinzelte in die losen Flammen im Kamin; dann sah sie langsam ein immer freudigeres Lächeln um seine Lippen und in den Augen aufquellen, bis es den Mund öffnete und er sagte:
„Nun, das ließe sich am Ende noch beantworten. Was meinst du: stünden wir Beide in einer Geschichte, so würde die Antwort vermutlich lauten: weil es der Autor so will. Übersetze das lateinische Wort, und was kommt heraus? der Willen des göttlichen Urhebers.“
Renate, unwirsch über und über, warf sich zurück, strich mit der Rechten die dunkelblauen Falten aus ihrem Schoß, blickte unter gesenkten Lidern böse zu ihm hin und mußte noch einmal ausbrechen:
„Georges! Ich frage! ich will deutlicher fragen: Warum mußte — ich muß es wissen! — warum mußte das Weltgeschehen diesen Verlauf nehmen, zu dieser Stelle, an der wir nun als diese Menschen in dieser Weise sitzen und miteinander reden und schweigen!“
„Eine Frau“, erwiderte Saint-Georges freundlich, „fragt mehr, als zehn Männer beantworten können.“
Renate lachte verdrossen. „Ist dir denn nie dieser Gedanke gekommen? und wie ungeheuerlich er ist? Daß man hervorging, hervorgehen mußte aus dieser riesenhaften Weltgewalt?“
„Du denkst viel“, sagte er leise.
Renate erhob sich, machte sich einen Augenblick an Teekessel, Tassen und Dosen auf dem Rolltisch neben ihr zu schaffen, ging dann ins Zimmer hinein und, erst langsam, dann rascher auf und ab. Ihre Erregung, ihr selber unfaßbar, begreiflich nur so weit, daß sie entstanden sein mußte vor Jahren schon und gewachsen war seither und wachsen würde — machte sie schwindlig im Sitzen. Plötzlich sah sie Josef. Seit sie ihn in der Stadt wußte, fühlte sie sich umkreist von ihm, wo sie ging und stand, und wohin ihr Gesicht gerichtet stand, da stand er.
„Mir wäre besser,“ sagte sie bewußtlos vor sich hin, „ich säße in einer Dachkammer an der Nähmaschine. Armut, find ich, paßt soviel besser zum Leben.“
„Gut, Renate. Gehe hin und tue desgleichen.“
Sie blieb stehn. „Was heißt das, Georges, warum kann ich nicht fort, warum kann man nicht heraus?“
„Richtig,“ versetzte er, „daß du ‚man‘ sagst, nicht: ich. Im übrigen könnte man ja den Vetter Josef kommen lassen, um zu erfahren, ob er herausgekommen ist.“
Da kam er auch mit Josef! — „Das wäre eine Antwort?“
„Also einfach,“ erklärte er, „Fahnenflucht ist keine Kunst. Jeder verbleibe an seinem Platze. Einmal stellt sich doch immer heraus, daß es ein Posten war, auf den uns die Zukunft stellte. Wollen die Vögel auch schwimmen können?“
„Haus, Garten, gut Essen und schöne Kleider“, sagte sie, „sind freilich kein Verdienst.“
Er ließ die Hände fallen und suchte in der Rocktasche. „Sie sind der Einzige“, sagte er dann glatt. „Alle Menschen verdienten dergleichen.“
„Und wenn die Vögel nicht schwimmen wollen,“ fuhr sie heftig fort, „will der Mensch doch fliegen.“
„Und dann?“ fragte er bloß. Sie murmelte, den Kopf hängend: „Fortschritt ...“
„Daran zu glauben, halte ich nun für ganz verfehlt“, meinte er sorglos.
„Und was glaubst du?“ Sie stellte sich hinter dem Tisch gegen ihn auf.
„An das Rad“, sagte er aufblickend. Dann, da sie weiter fragte, mit den Augen ergriffen von der Festigkeit seines Blicks, fuhr er, leis lächelnd, fort: „Das Rad weder des guten Lamas im Kim, noch den Roman von Jensen meine ich damit, sondern —“
Renate, mühsam sich zu Ruhigkeit zwingend, glitt wieder in ihren Sessel und hörte zu, anfänglich gefesselt von dem Wohlklang seiner Stimme.
„Stelle dir“, fing er an, „ein Rad vor, wie Homer es malte, einen Radreifen mit vier Speichen, erzbeschlagen, und ein Rad, wie ein Heutiger es malt, eine flimmernde Scheibe von konzentrischen Kreisen; darin haben wir den Unterschied. Weiter: lege eine glühende Kohle auf die Erde, das ist der Anfang: ein glühender Kern, der Strahlen versandte, erst einen, mehr, immer mehr, die sich an unserm Horizont der kreisförmig andrängenden Ewigkeit umbiegen und ihren Stoff dort ablagern zu — Geschichte, dem Radband um unsere Zeit. Die Strahlen, immer dichter sich drängend, füllen schon den Kreis; nun wird abgespalten. Zum Beispiel: Malerei. Sie begann mit dem Bildnis, ging über zum Zimmer, zur Kleidung, zum Nackten, zog die Landschaft hinein, ging zur Landschaft hinaus, und es begannen die Techniken, Helldunkel, begannen die Charaktere, die Italiener, Holländer, kamen Holzschnitt, Radierung, Kreide, kamen Impressionismus, Expressionismus, Futurismus. Zehntausend Mannigfaltigkeiten und doch von Giotto bis Kokoschka ein einziger Glutkern: das Genie, die wahre Kunst, die Techniken und Programme und Richtungen nur benutzt, aber nicht von ihnen abhängt. Oder: Wissenschaft. Zuerst gab es die sieben freien Künste, die in einer einzigen Hand liegen konnten zu Anfang, die anschwollen, daß für jede eine besondere Hand notwendig wurde, ein besonderer Kopf, und wieder jede allein anschwollen, daß sie gespaltet werden mußten, und wieder gespaltet und aber wieder, bis wir heute zum Beispiel unzählbare Fächer der Naturwissenschaften, und so viele Spezialärzte haben wie Organe oder gar Krankheiten. Und siehst du die Abspaltung hier, so sieh die Zusammenfassung auf der andern Seite: Columbus, Luther, Giordano Bruno, Spinoza, Kant, Goethe, Bismarck, Darwin, die Bündel von Strahlen zur Garbe banden. Und immer die Ablagerung auf dem Kreisring, die Erfahrung, die Geschichte. Es wird immer anders, — das ist der ‚Fortschritt‘. Kannst du glauben, daß, wenn es je ein ‚Schön‘ gegeben hat, es heute ein ‚Schöner‘ geben könne? Oder ein ‚gut‘ oder ‚wahr‘ oder ‚edel‘, das heut besser wäre, wahrer, edler? Ja, einen Gott, der heute göttlicher wäre oder minder göttlich? — Kannst du glauben, daß du dich an einem Zeitpunkt befindest, tausendsiebenhundert Zeitmeilen entfernt von einem ‚Anfang‘? Kannst du dir vorstellen, daß du dich an einem Rande befindest? Muß nicht jedes, all und jedes, was ist, seinen Ursprung in der Mitte des Alls haben, in der Mitte sein? Alles, was ist, ist im Kern. Pascal — falls du nach einem Kronzeugen verlangen solltest — nannte das Weltall eine Kugel, deren Mittelpunkt überall, deren Umfang nirgend sei. — Wir strahlen ein jeder noch immer aus dem ersten und einzigen Kern, haben um uns den Rand, sind selber das Rad.“
Renate, die schlecht und kaum willig zugehört hatte, murmelte vor sich hin: „Nichts ist, was dich bewegt, du selbsten bist das Rad, das aus sich selber läuft und keine Ruhe hat ...“ Das war Bogners Zeichen unter seinen Bildern. Und keine Ruhe hat ... und keine Ruhe hat ...
Sie merkte, daß es schon lange still im Raum geworden war. Saint-Georges bückte sich, nahm den Blasebalg von der Erde und begann langsam die Flammen anzublasen, so lange, daß sie das anhaltende Gleichmaß der Lustseufzer kaum noch zu ertragen glaubte und ihm eben Einhalt tun wollte, als das Stubenmädchen erschien und meldete: „Frau Tregiorni.“
Als ob sie gesagt hätte: ein Engel! dachte Renate, erlöst aufspringend und zur Tür eilend, die sie öffnete. Sie umarmten sich und beglückwünschten sich zum Fest, — aber Ulrika sah keineswegs gut aus, blaß, das Haar schien die Stirn zu bedrücken und saß nicht vorteilhaft, die Nase trat scharf hervor, die Augen lagen tief. Nachdem sie auch Saint-Georges begrüßt, sagte sie, in einen Stuhl gleitend, die Augen niedergeschlagen und mit tonloser Stimme, wie sie beides mitunter an sich hatte: sie sei eigentlich gekommen, Renate um Vinzent van Goghs Briefe aus Josefs Besitz zu bitten, um — Renate verstand den Grund nicht, indem sie schon zur Tür ging, um das Buch zu holen, woran wieder Georges sie hindern wollte. Dann bemerkte Ulrika gleichgültig, sie könne ja mitkommen, sie sei ohnehin lange nicht oben gewesen, und er merkte wie auch Renate, daß Ulrika mit ihr allein sein wollte, worauf sie sich bei ihm entschuldigten und gingen.
Aber es war kalt im Zimmer oben, die Heizung nicht angestellt. Renate tats, suchte dann das Buch im Halblicht des violetten Lampenumhangs und trug es zum Tisch. Ulrika schien verschwunden in der dunklen Nische des großen Fensters, sie wechselten ein paar Worte wegen der Kälte, — dann setzte sich Renate doch, da die Freundin bleiben zu wollen schien. Das weiße Buch leuchtete still auf der leeren grünen Tischdecke. Und wieder erschien Josefs Gestalt, die Straße heraufkommend, auf eine Laterne zu ... Renate fröstelte und wünschte sich einen Schal. Ob sie das Buch kenne, fragte sie Ulrika. Die schien zu verneinen in ihrem Dunkel und zu fragen, wie es sei, worauf Renate allerlei hinsprach, daß es fast langweilig zu lesen, nur vom Malen die Rede sei, von Bildern, an denen er male, oder die er malen möchte, oder gemalt habe, und daß man doch nicht loskommen könne vom Anfang bis zum Ende ... Ulrika war derweil herangekommen, stand, den linken Arm hinterm Rücken gefaßt mit der andern Hand, nieder blickend auf das Buch.
Was mag ihr sein? fragte sich Renate. Da war die Freundin wieder die Fremde, die Umschlossene, die alles verschwieg. Wollte sie sprechen?
„Glut und Eifer“, sagte Ulrika ohne Ton, „ersetzen ja manches. Und wenn eine Lebendigkeit tief und gewaltig erscheint, so glaubt man wohl, an die ganze offene Welt angeschlossen zu sein, alle Stimmen zu hören, alles Weben zu sehn, denn man sieht —“ Sie hob den Blick schweifend über Renate weg, die bei sich dachte: Nun ist sie ja schon dort, wohin sie wohl kommen wollte ...
Immer noch gesenkter Lider glitt sie nun in den Sessel, der hinter ihr stand, legte ein Knie über das andre, zog den Kleidrock nach unten und faltete die Hände darüber.
„Hast du“, fragte sie aufblickend an Renate vorüber, „dich je gefragt, wie man im Traume sieht? Man sieht durch die schlafgeschlossenen Lider, deshalb ist immer alles so — unklar, wie durch Wasser gesehn. So wars all die Monate mit mir, und nun —“ Sie schwieg.
„Ist es anders geworden?“ wagte Renate leise zu fragen.
„Eifer und Glut, Wollen und Glauben,“ sagte Ulrika wie zu sich selber, „die genügen ja nicht.“
„Weil sonst jeder etwas Großes werden könnte, meinst du, der es sich nur ernstlich vornähme, und eben das nur diejenigen können, die auch — die Gabe haben?“
„Auch nicht die Gabe“, versetzte Ulrika ernst. „Auch die läßt sich haben, so mancher hat sie; aber deshalb hat er noch nicht — — das Leben“, schloß sie unsicher.
Renate mußte das Wort Liebe denken und sagte es leise, doch nun fielen Ulrikas Hände auseinander. „Auch nicht,“ sagte sie emporblickend, „nein. Das genügt alles nicht. So jedenfalls nicht, wie man das Wort versteht. Was tut er denn, dieser Maler,“ lächelte sie flüchtig auf, „glaubst du vielleicht, er liebt die Kunst, so wie wir, du, ich sie lieben?“ Sie sprach eilig weiter. „Nein, was tut er, was tat dieser van Gogh? Sie atmen Kunst ein, und sie atmen sie aus. Sie leben — weiter nichts. Ihr Leben ist Kunst, sie haben das Leben. Sie denken ja nicht nach, oder wenn sie nachdenken, ists doch wieder etwas für sich, ist kein Malen, kein Leben. Ach, all das ist so schwer zu denken und zu sagen!“ Sie stand mutlos auf.
Renate, nun ganz ruhig und sanft, fragte liebevoll hinüber: „Muß mans denn denken und sagen?“
Ulrika blickte wieder auf das Buch und gab ihm, das Ende des heraushängenden Lesezeichens fassend, eine kleine Drehung. „Man muß wohl“, sagte sie schwach lächelnd.
„Sie sind eben die Seltenen, diese“, fuhr sie wieder fort. „Man kann ihnen in keiner Weise gleichen. Was tun sie denn nur?“ Sie grübelte angestrengt nach. „Ich glaube, sie tun nichts, als daß — ja, daß sie sich selber schaffen jeden Tag. Und dadurch schaffen sie Welt. Ja, wie? Ihr Schaffen ist — ist —, die Welt sichtbar zu machen, Sichtbares und Unsichtbares erst sichtbar zu machen. Denke dir Kunst fort aus der Welt — es ist ja nichts mehr vorhanden. Keiner wüßte, wo er stünde, keiner“ — sie lächelte hell, zum Zeichen, daß sie Bogner zitierte — „wüßte, wie Baum und Sonne und er selber aussähe, wenn nicht eines Tages einer angefangen hätte zu malen. Hier sind doch neue Gesetze, begreifst du? Nicht unsre, gar nicht die Naturgesetze, ganz eigne.“
Wie leuchtete nun ihr erhitztes Gesicht! „Ja — — du bist ja aber glücklich, Ulrika!“ sagte Renate ergriffen. Die hellen Augen erloschen augenblicks hinter fallenden Lidern.
„Ich sollte es ja sein“, erwiderte sie dann ruhig. Plötzlich trat sie zurück in den Raum, blickte funkelnd und heiß und sagte: „Ich war es ja, war es ja bis heut! Sie war ja schon Lebenskraft geworden — meine Musik. Kannst du’s denn verstehn? Wie soll ichs nur erklären? Das Leben haben, sagt’ ich, nun — und was ist das? Allwissend sein, wissend um alles Werden, alle Entfaltung, alle Geschichte, die Leiden kranker Kinder, die Not geplagter Eltern, die Trübsal der Gebrochenen, das Elend der unentrinnbar Verstrickten, und die Wonne des Sommerabends, die Augen der Sterne — dies alles wissen und — hochheben im Werk, zeigen im Werk, sich als dessen Durchgang, dessen Werkstätte fühlen, wo es umgeschmolzen, umgewirkt wird zu Ordnung, zu Klarheit, zu Gesetz, aus dem es dann alles wieder strömt —: verwandelt, so daß wirs empfinden. Nun, und ich — ich war wohl noch weit davon, aber — ja, wie sage ich es denn nur?“
Verzweifelt umherblickend, trat sie an das nächste Bücherregal, legte die gefalteten Hände gegen seine Kante, die Stirne darauf und sagte wie herausbetend: „Daß es eben nicht Musik war, was ich spielte! nicht Noten, Quinten, Synkopen und Fugen, Sonaten, Konzerte, sondern — Menschenwerk, Menschenleben, Weltleben, Weltwerke. Formen allen Seins und allen Leidens, Erzeugnisse einer unendlichen Liebeskraft und einer unendlichen Daseinsnot, nicht Musik — nein, Liebe und Leiden, und nicht Allegro, nicht Andante, sondern — Kindheit und Wachstum und Älterwerden, Schmerzen eines Knaben, Zweifel eines Mannes, Hoffnung auf weiche Hände, Enttäuschung, ach — und das Aufstehn frühmorgens, die Schwermut am Abend — alles all, was ist, was wir Alle sind.“
„Und nun nicht mehr?“ fragte Renate, ganz heiß durchströmt von dem Brand.
Ulrika richtete sich auf, und wie sie nun wieder zu ihrem Sitz ging und sich hinließ, war sie wieder die Abwesende, die wohl preisgeben wollte und es doch nicht vermochte, in sich gefangen. Sie sagte bedrückt:
„Die Worte machen ja alles so anders. Nichts war ja so, wie ich sagte, ich lebte ja nur, ich fühlte mich auf die eine Weise, bis er kam, und nun auf andre Weise. Aber die erste ist doch nun nicht mehr, also ist es auch nicht anders, — kannst du denn herabsehn auf dein Leben? Man steht doch immer darin, man fließt mit, und alles ist unentrinnbar. Ach, wenn man nur fühlen könnte! Dann wäre kein Mord eine Untat. Sage das Wort nicht — was ist dann?“
Renate verlor die Worte im Hören, ohne sie begriffen zu haben. Eine Weile danach kam sie zu sich, unwissend woher, und erkannte, daß Ulrika von einem Bilde sprach — ja, einem Bilde, an dem Bogner malte, wieder malte, nachdem er es schon als Knabe geplant: der Kampf um Troja, Achilleus auf dem Wall, wie er um Patroklos schreit so gewaltig, daß die ganze Schlacht zurückrollt gegen die Stadt ... „Ja, kann man denn Schreien malen?“ fragte sie ungewollt.
„Ich sagt’ es ja eben,“ erwiderte Ulrika, „er selber behauptete, es sei unmöglich, ganz sinnlos, und doch muß er an diesem Bild schon bald zwanzig Jahre sitzen ...“ Wieder vergeßlich, versunken ins Anschaun dessen, wovon Ulrika sprach, der hundert Studien, Leiber, verrenkter Gliedmaßen, Verwundeter, Sterbender, Arme, Beine, schreiender Münder, dann auch eines Eisenbahnunglücks, das Bogner mitgemacht habe, und dessen Schmerzensausdrücke bei den Verletzten er später bei den Aktstudien aus der Erinnerung noch habe übertragen können, hörte sie langsam die etwas klagende Stimme der Freundin wieder deutlich werden:
„Und wie ich dastand in dem öden Raum, der ganz voll war von diesem wilden Leben, Rossen und Wagen, Kampf und Verzerrung, immer wieder dieselbe Gebärde des Grauens sah, dazwischen Entwürfe zu einem schwarzen Sonnenuntergang, in dem der Heros ganz klein stehen sollte, während vorne die zurückflutende Schlacht sich bäumt, — o Gott, all dies Stückwerk zu sehn, Rüstungen, Schienen, Fäuste, immer wieder Fäuste mit abgebrochenen Schwertstücken, Beine, nackt, verdreht, Rippen, von Armen herausgepreßt — und zwischen all dem er, so unbekümmert, bei aller Zweifelei so im Triumph seiner Ganzheit, in der die tausend Stücke einmal aufgehen würden, — da — ja, da trat ich glaub ich ans Fenster, ganz mutlos und hoffte nichts, als daß — nun was? Aber ich sagte etwas wie: ‚Wenn ich dir helfen könnte ...‘ Da legte er seine Hände auf meine Schultern, zwang mich ihn anzusehn und sagte ganz leicht, ich hülfe ihm ja — nun, noch dies und jenes, was ich nicht mehr weiß, was lag auch an den Worten! — Mir ward leicht, ganz leicht.“
„Und nun?“ mußte Renate endlich fragen, da sie vor sich niederblickend schwieg.
„Nun siehst du’s ja: ich bin hier. Ich kam heim, ich saß bei Mama, dann legte sie sich bald, sie kränkelt ja immer mehr, dann kam eine Schwester von ihr — da wurde ich auf einmal unruhig und ging hierher. Unterwegs —“
Renate horchte auf, da sie Schritte im Treppenhaus hörte; auch Ulrika schien sie zu hören, denn sie brach ab, erhob sich, nahm das Buch und sagte: „Es ist ja auch nichts weiter zu sagen.“ Sie trat auf Renate zu, die sich erhob, schloß sie in die Arme und meinte, es würde wohl alles wieder anders werden, wer könne wissen ... und dergleichen, während schon Saint-Georges den Kopf ins Zimmer steckte und erklärte, dies gehe zu weit! Dreiviertel Stunden sitze er allein, am Neujahrsabend!
Wie er doch den rechten Augenblick abgepaßt hat — für Ulrika, dachte Renate, obschon selber ratlos, was das Ganze nun bedeuten sollte. — Als sie einen Augenblick später hinter den Beiden, die miteinander sprachen und lachten, die Treppe hinabstieg, empfand sie bekümmert die Linderung, die aus Ulrikas Unruhe ihre eigene durchflossen hatte.
Es ist am Ende nur, daß ich zuviel allein bin, dachte sie dann; man hängt sich selber zu sehr nach, und — die Andern sind immer warm und wärmen; ist man dann allein, muß man sich doppelt kleiden und einspinnen ins eigene Fühlen und Grübeln, aber ... aber ...
Renate wußte nicht weiter. Sie waren unten angelangt.
Georg saß und schrieb:
Ein junger Mensch kam an einem Oktobertage mit dem Eilzuge von A. auf dem Bahnhof Zoologischer Garten in Berlin an, ohne Koffer noch Tasche, gut gekleidet, in einem schwarzen Herbstmantel und kleinem grauen Hut, stieg die Treppen hinunter und ging wie ein Müßiggänger die Joachimsthalerstraße hinunter, aber er suchte sich eine Wohnung. Er bog in die Kantstraße ein und ging sie hinunter bis über den Savignyplatz hinaus, währenddem er wohl achtmal, von dem Schilde: ‚Möbliertes Zimmer!‘ angerufen, in einem Hause verschwand, um jedoch ...
Georg strich die letzten zwei Worte unwirsch aus und schrieb statt dessen:
... kam aber alsbald, jedesmal ein wenig erschöpfter, wieder heraus, und zwar bald auf der linken, bald auf der rechten Seite der breiten Straße. Schließlich strandete er vor einem Damenhutladen auf der linken Seite, in dessen Fenster das ‚Möbliertes Zimmer!‘ wiederum auf einer Papptafel zu sehn war. Während er noch zögerte, wurde drinnen im Schaufenster eine Milchglasscheibe geöffnet, es kam ein Frauenarm mit einem Hut auf der Hand hervor, dann auch ein Gesicht, dunkeläugig, dunkelhaarig, ältlich, versorgt und gutherzig. Gleich trat er in den Laden, die Frau zog sich gerade wieder nach innen aus dem Fenster zurück, war ziemlich groß und sah wirklich sehr freundlich aus, ohne etwa ein besonders freundliches Gesicht zu machen. Er sagte: „Hier ist ein Zimmer zu vermieten?“ Die Frau antwortete in einem ihm unbekannten Dialekt (statt müssen sagte sie „missen“), zurückhaltend, es sei aber nur klein, bat ihn dann, mitzukommen, und er folgte durch ein großes Zimmer, in dem vor einem breiten Fenster zur Rechten zwei junge Mädchen saßen, mit dem Garnieren von Hüten beschäftigt. Die Frau stieg drüben ein paar Stufen zu einer Tür empor — sie ging schlürfend in Filzschuhn, schwerfällig; ebenso schwerfällig schlich ein alter schwarzer Pudel, der von einem verschossenen, grüngelbbraunen Samtsofa sprang, auf den jungen Menschen zu und berührte ihn vorsichtig mit der Schnauze — öffnete sie und ging weiter — der Mensch ihr nach — in einen schmalen, dämmrigen Gang hinein, mit Türen auf der rechten Seite, durch deren Milchglasscheiben in der oberen Hälfte spärliches Licht hereinsickerte, und von denen die zweite — die erste war nach dem Briefschlitz darin die Korridortür — halb angelehnt in die Küche hineinsehn ließ. Vor der dritten blieb die Frau stehn, stieß sie auf und ließ den Mieter ins Zimmer sehn.
Es sei gleich gesagt, daß dies Zimmer gemietet wurde. Es war keine vier Meter lang und kaum zwei breit; an der Tür gleich rechts stand ein gewöhnlicher, rotbrauner Kleiderschrank, daran stieß das Fußende des Bettes, und dahinter stand dasjenige Möbel, dem das Zimmer seinen neuen Bewohner verdankte, nämlich ein alter Bücherschrank — wie sein neuer Besitzer ihn nannte — aus braungelber Birke, unten Kommode, darüber Schrank mit sechs Fensterscheiben, von grünem Taft innen verhangen, bedeckt mit flachem Giebeldreieck; gutes Biedermeier. Gleich hinter ihm — er stand halb davor — war das Fenster mit sehr breiter Bank, die Heizung war drunter. Gegenüber dem Bücherschrank war eine kleine braune Tür, die in einen winzigen Verschlag führte; drin stand ein alter, hölzerner Waschtisch mit einem blechernen Becken, einer blauen Karaffe und einem weißen Seifennapf; ein Bort aus zwei Brettern, die an rotbraunen Kordeln hingen, schwebte schief an einem Krampen darüber. Dem Bett gegenüber an der andern Wand — keinen Meter breit war der Zwischenraum, den ein kleiner Tisch unter einer lang herunterhängenden, bräunlichgelb gemusterten, mehrfach gestopften Decke ausfüllte — stand ein altes, gemeines Sofa, das gleichwohl Vertrauen erweckte. Zwischen seinem Kopfende und der Tür zum Verschlage hing ein kleiner, alter Spiegel mit ungeschliffnem, in der Mitte geteiltem Glase, ebenfalls aus gelber Kirsche und ebenfalls mit einem Giebeldreieck. — Über dem Bett hing eine schmutzigdunkelrote Steppdecke, und auf dem Schrank stand eine Lampe aus weißem Glase, in deren Bassin gelb das Petroleum schimmerte. Vor dem Fenster waren alte, aber sehr saubere gelbweiße und geraffte Gardinen. Dies alles zusammen kostete den jungen Menschen achtundzwanzig Mark im Monat, wofür er auch die Heizung, die Lampe und noch eine Tasse Kaffee des Morgens nebst einer gestrichenen Schrippe haben sollte.
Georg, der während des Schreibens unablässig Zigaretten geraucht hatte, sah auf, murmelte: Es wird zu lang, aber die Beschreibung genügt ja nun, und er sah sich um, ob auch nichts vergessen war. Richtig, die Tapete! — Indem empfand er, daß er zu tief im Sofa saß, stand auf, faßte den Tisch an beiden Schmalseiten und trug ihn vor den Bücherschrank. Es war glühendheiß im Zimmer, er tastete nach der Kurbel im Heizkörper, fand sie und drehte sie herum. Dann blickte er durch die Gardinen auf den Hof, und gerade kam langsamen Schrittes aus dem Portal zur Rechten der Briefträger und ging vorüber. Georg fluchte leise: Wieder nicht! beruhigte sich, zog sich zurück, nahm eine neue Zigarette aus der Schachtel, schob die Blätter auf dem Löschblatt zusammen und schrieb weiter:
Der junge Mensch hieß Topf, und so sei er genannt. Diesen Namen hatte er der Zimmervermieterin mitgeteilt, und sie zweifelte nicht an ihm; auch die Polizei nahm ihn gutgläubig hin. Herr Topf also besuchte an Vormittagen die Universität in verschiedenen Hörsälen, und zwar genau bis zum siebenzehnten Dezember des Jahres. Längst von einem allgemeinen Widerwillen gegen die Nähe vieler — und so zusammenhangloser — menschlicher Gesichter erfüllt, wurde ihm insbesondere die Ausdünstung des studentischen Proletariats, welches die Publika besuchte, vermischt mit der fast unleidlicheren, aus Schweißgeruch und Parfüm zusammengesetzten der weiblichen Studierenden unerträglich, aber erst am genannten Tage ward ihm klar, daß er Stunden um Stunden versaß, um nicht mehr als Fingerzeige für eigene Wege zu erhalten, daß er besser tue, sich auf die Schriften selber, die großen Arsenale zu beschränken, und schließlich und vor allem, daß sein Mitschreiben und Ausarbeiten des Gehörten zwar Fleiß sei, jedoch nur um der Fleißigkeit willen von ihm betrieben wurde, nicht wegen des Stoffes und der Kenntnisse.
Herr Topf — dies war der einzige, wahre und echte Grund, den wir heute aufzudecken in der Lage sind — begann am Winter, an der Stadt Berlin, an sich selber zu kränkeln. Er erhob sich ziemlich spät am Morgen, kleidete sich in immer den gleichen, nämlich einzigen Anzug, bloß daß er lederne Reiseschuh an die Füße tat, und begab sich nach vorne in das große Zimmer, wo bereits an ihrem langen Tisch am breiten Fenster die beiden Mädchen saßen, die große, magere, bleiche, blonde, und die kleine, dicke, rote, braune, mit bunten Bändern, Zeugen, Hutmodellen aus Draht und Gaze, ganzen und fertigen Kapottehüten und andern Dingen beschäftigt. Dort sank er in einen tiefen alten Sessel, bekam alsbald seine Schrippe, seine Butter und seine große Tasse voll heißen, aber dünnen Kaffees vorgesetzt, sah in die Zeitung, gestattete dem alten, halbblinden und sehr ruppigen Pudel Valentin, sich an seinen Schienbeinen zu scheuern, sprach ein paar Worte mit den Mädchen oder mit der Wirtin, Frau Wisch, die mit versorgter Stimme und in magdeburgischem Dialekt, wie inzwischen offenbar geworden war, von ihrer Tochter erzählte, als welche in Stolberg am Harz mit einem Gärtner verheiratet war und ein Kind erwartete. Später saß Herr Topf in seinem Zimmer und las in einem Buche, oder er schrieb einen Brief, oder er saß in der Sofaecke und rauchte, oder er lag auf dem Sofa und starrte auf die weiße Glaslampe auf der Schrankecke, oder wenn er anders herumlag, durch die Gardinen, über den Hof gegen die Brandmauer eines Schuppens, oder eines Bildhauerateliers ...
Georg sah aufblickend hin, murmelte: Ich weiß es nicht — und schrieb weiter:
... durch die kahlen, meist nassen Wipfel eines Baumes nach dem meist bewölkten grauen Himmel. Mittags ging er in ein kleines Restaurant in der Nähe zum Essen, legte, zurückgekehrt, sich auf das Sofa und schlief eine Stunde oder schlief auch nicht. Meist aber blieb er liegen, bis es dunkel wurde und länger, denn mit fortschreitendem Winter wurde es früher und früher dunkel, zu schweigen von den Tagen, an denen es gar nicht hell wurde. Er empfand in diesen Stunden wenig, außer der Wärme der Heizung, aber er dachte viel, und nicht selten dachte er ein Gedicht, das er dann beim guten Licht der herabgeholten weißen Lampe aufschrieb. Um die Zeit des Dunkelwerdens jedenfalls, heute früher, morgen später, zog er Stiefel und Mantel an und ging auf die Straße. Nun konnte er verschiedenes unternehmen.
Er konnte sich in den Grunewald hinausbegeben — von dem er beiläufig nie mehr kennen lernte als den Teil vom Bahnhof Grunewald bis zum Restaurant Hubertus mit den beiden Seen, dem Jagdschloß und den zählbar scheinenden, gleichmäßig kahlstämmigen Kiefern — und dort konnte sich wohl die öde Kahlheit des winterlichen Gehölzes, das vielfältige Schweigen und das unsichtbare Auge der Einsamkeit zwischen den tausend nackten Stämmen hervor, konnten die grauen Flächen der schlecht überfrorenen Seen, der seltsam beklemmende Hauch des dunkelgrauen Winterhimmels, und später, im Dunkeln, die Spiegelungen der Laternenlichter im Eis und ihr Durchscheinen des schwarzen Zaunes von Baumstämmen auf dem gegenüberliegenden Ufer —, all dies konnte sich zu einem schauerlichen Schwellen und Tönen in seinem Innern vereinen.
An gewöhnlichen Abenden aber war sein Weg, der Weg des Herrn Studenten Topf, fast immer der gleiche, wenigstens anfänglich: die lange, graue Zeile der Kantstraße, unter der schwebenden Schnur der fleischroten Bogenlampen, zwischen den Wandungen spiegelnder Läden voll feurig beleuchteter und funkelnder Gegenstände —
Georg, sich erinnernd, schweifte mit dem Auge die Straße hinab und sah: Margarinefässer, Pfirsiche, Melonen in gefächerten Kästen, Tomatenhügel, Schaufenster voll stehender Spazierstöcke und Schirme, Buchläden voller gelber, roter, grüner, blauer Rücken von ungebundenen Broschüren, rotblutige, zerteilte Tierstücke auf Marmorplatten, dazwischen grüne Blattpflanzen, Herrenmodenauslagen, Kragen, Hemden, Krawatten, alles herrlich beleuchtet, kostbar und erfreulich, aber er schrieb es nicht auf —
... hinunter (fuhr er fort) bis zur Gedächtniskirche. Kurz vor ihr konnte er zum Zoologischen Garten abschwenken und durch den Tiergarten, die Charlottenburger Chaussee, die Linden, die Friedrichstraße hinab zum Bahnhof gelangen, im blauweißkarierten Aschinger zu Abend essen und mit der Stadtbahn heimfahren. Manchmal gefiel es ihm auch wohl, am Zoologischen Garten im Schacht der Untergrundbahn zu verschwinden, einem Lächeln, dem Schein einer verschleierten Wange, auch einem ganz deutlichen Augenwink nachfolgend, denn die unablässig lauernde Begierde seines Geschlechts ließ ihn immer wieder hoffen, dasjenige weibliche Geschöpf doch eines Tages zu treffen, dem er sich gesellen könne, — doch wagte er es nie, aus Furcht vor Krankheit bei jener Art von deutlich winkenden Geschöpfen, aus Scheu vor der Anknüpfung dort, und manchmal noch im letzten Augenblick aus Furcht vor der Langeweile, die jedes von diesen Wesen bei längerem Zusammensein ihm bereiten würde. Vornehmlich ergötzte ihn der Reiz, das Gefühl, nicht völlig ziellos, einer schmeichelnden, süßen, ach, immer wieder kostbaren, seltenen, verführerischen Sache anzuhangen, die in seiner Nähe ihm gegenüber saß, in ihrer nie zu begreifenden weiblichen Sicherheit, ausgesetzt nach allen Seiten hin, sich besessen fühlend von Blicken in jeder Bewegung, dem Ausstrecken des Fußes, Drehen des Absatzes und Blick danach, dem Dehnen des Schleiers mit dem Kinn, Rücken am Hutrand, plötzlichem Öffnen der großen Ledertasche, aus dem ein Täschchen von Silbermaschen, ein Spiegel, Bleistift, mehrere Trambahnbilletts und endlich ein Brief hervorkommt, — an allem diesem teilzunehmen, immer tastend, hebend mit dem Blick an den Augenlidern, drehend an dem zarten Kopf, bis endlich die erwünschte Wendung, der erhitzende Blick herüberflog, — und währenddem war er vielleicht angelangt auf der Hochbahnstrecke über den Eisenbahngleisen, wo die erleuchtete Wagenreihe wie eine Raupe von glänzendem Meteor über dem untern Sternhimmel der weißen, grünen und roten Signallichter auf dem schwarzen Tuch des weitausgebreiteten Bahnkörpers dahinzog, — und manchmal fuhr er bis zum Warschauer Tor, freilich selten, denn alle holden Geschöpfe hatten die gleiche Gewohnheit, schon bei der zweiten oder dritten Haltestelle zu entschweben, alte, dicke, geschwätzige Weiber dagegen, denen die Korsettstäbe vorn unter der Bluse abstanden, die erfüllten den Wagen mit ihrem, beim Lärm des Wagens unverständlichem Gerede und stiegen niemals aus, bevor er selber sich rührte. Schön und befriedigend war es dann — wenn er bis zum Warschauer Tor fuhr —, die leer gewordenen Wagen bis zum letzten durchschauen zu können, wo auf den befreiten, teilnahmlos hölzernen Bänken oder roten Ledersofas nur hier und da ein einsamer Zeitungsleser hinter seinem papiernen Schild saß oder ein Ladenfräulein (welches dann plötzlich seine Handtasche öffnete, um darin zu kramen, als sei dies gerade jetzt unumgänglich nötig geworden) ...
Georg dachte: Hier habe ich mich wiederholt, aber diese letzte Wendung mußte ich doch noch anbringen.
... Von einer leisen und melancholischen Art Romantik angefeuchtet, fühlte er sich in dieser Verlassenheit behaglich, ihren leisesten Schauern im Aufziehn und Entschwinden nachlauschend, zumal jenem: Wenn es bei aller Menschenfülle im Wagen völlig still ward, im Wagen, der mit tastender Vorsicht, immer langsamer, die Höhe des schwarzen Bahngerüstes erklomm, bis fast zum Stillstand, wo nur das emsige Tucken des Motors hörbar war, unendlich langsam die kleinen Lampen draußen heran- und vorüberglitten, indes der Zug vor der abenteuerlichen Kurve wartete oder sie mit sorgfältigster Langsamkeit umkroch, und der Blick unterweil fiel tief hinunter in die Höfe der Kohlenlager oder Stapelplätze, in denen verlassen aussehende Laternen Teile von Schuppen, stille Geschäftswagen, Plakate und Wandinschriften beleuchteten, eine Menge Dinge, die zu betrachten gerade genug Muße war, wenn auch nicht kenntlich wurde, was dem alten, braun und weißen Pferde fehlte, um das ein paar Menschen standen, und das den einen Vorderfuß hob und zuckte.
Georg unterbrach sich, da er merken mußte, daß es ganz dunkel im Zimmer war; das bleiche Viereck des Papiers leuchtete bläulich weiß; jetzt konnte er auch das eben Geschriebene nicht mehr entziffern, holte eilig die Lampe und zündete sie an. Vor Aufregung des Weiterschreibens irrte er Augenblicke lang zwischen der Absicht, eine Zigarette, Streichhölzer, den Aschenbecher, die Feder zu ergreifen und nach der Kurbel der Heizung zu fassen, da es wieder kalt geworden war; endlich gelang es ihm, alles, was er wollte, der Reihe nach zu tun, er schrieb weiter:
Und wie sonderbar traf m— (dies m strich Georg durch, suchte Augenblicke und schrieb nicht ganz zufrieden, hastig, weiterzukommen —) einen dann die schweifende Stille der großen Hinterfronten mit Riesenfenstern von geriffeltem Glas, hinter denen in hellen Riesenräumen die Schatten von unverständlichen Wesen herankamen oder sich handelnd entfernten; oder auch die Fenster waren klar und zeigten mächtige Säle, gefüllt mit eilig, aber lautlos sich bewegendem Personal, Packern, Schreibern. Und nun die Verschwiegenheit der kleinen Stationen der Hochbahn, wo er wartete mit andern Wartenden, die mantelumhüllt in der Kälte den Rücken in den Wind hielten, den Kopf schief und die Gesichter verkniffen, oder vor Plakatwänden standen, angeschrien, ohne es scheinbar zu beachten, von gemalten Grotesken; vielmehr gähnten sie häufig und spuckten verächtlich aus. Zu warten auf solch einem Bahnhof, mit der schaurigen Aussicht nach links und rechts auf die schnurgerade in die Nacht enteilenden, matt glimmenden Geleise, zwischen denen, wie im Nichts gehend, aus der Ferne ein Mann im Mantel mit einer unterhalb schwingenden Laterne, der sich zuweilen bückt, so langsam heranwandert, als hätte er Jahre Zeit; oder mit dem Blick in die Tiefe, wo über die traurigen, schwarzen, nassen, spiegelnden Plätze und Nebenstraßen ein trüber Omnibus voll stiller, sitzender Menschen hergezottelt kommt und mit lauterem Rasseln, an Geleisen ruckend und geschüttelt, unter der Überführung schwindet, — und wie totenstill kann es dann sein! — Oh, und das Auftauchen aus dem unterirdischen Schlund jählings zu mächtig strahlenden Lampen, in große Freiheit und Aussicht, zu Spiegelscheiben, Litfaßsäulen und der erstaunlichen Majestät einer Theaterfront emporgerissen, vor deren umnachtetem Giebeldreieck Bronzewagenlenker Panthergespanne sorglos in die Luft hineinzügeln.
Am trostlosesten aber war es in der windigsten der Dezembernächte auf einem der kleinen Vorortbahnhöfe, Wilmersdorf, Zehlendorf, Friedenau. Dort schien dem Wartenden die Zeit still zu stehn und niemand sich darum zu bekümmern, ob sie weiterging, aber auf einmal trat ein Mantelträger aus einer Tür an ein Eisengerüst, und dort war oben auf einem weißen Schild das Wort ‚Südring‘ in großen Lettern starrblickend zu sehn, ward aber im selben Augenblick mitten in seiner Bedeutung abgeknickt, und statt dessen erschien, groß und bedeutungsvoll, ‚auf allen Seiten Hintergrund‘: ‚Potsdam‘ in der Nacht. Dort dem endlosen, unaufhörlichen Vorüberrollen eines Güterzuges zuzuschauen, Wagen, Wagen und Wagen, dunkel alle, flache, kistenartige und solche mit Gerüsten, eine Menge voll langer, hinten überstehender Baumstämme, und solche, auf denen Möbelwagen mit riesigen Namenszügen standen, und geheimnisvoll verschlossene gleich fahrbaren Folterkammern, und andre, aus deren Innern das vertraute Stampfen und Klirren eingesperrter Pferde an Kindheit und Abende in warmen, dämmrigen Ställen erinnerte — in den Boxen die Hinterbeine, deckenverhangen, treten hin und her vor den schlagenden Schweifen —, — und ganze Städte zogen vorüber in den Wageninschriften: Bromberg, Hannover, Kattowitz, Posen, Danzig, Bochum, Löhne, Altenbeken, Stettin und Stralsund, und immer noch Wagen und Wagen, dahingerissen, unsichtbar von wem, aber zusammengekettet und fortgerissen, schon springend, dahin tanzend, und wieder beruhigt, verrollend, in einem eisernen Strombett von Getöse, das in jeder Minute den Takt wechselte, bis der letzte der dahingeschleppten Sträflinge unvorhergesehn plötzlich dem versunkenen Betrachter das dunkle Antlitz eines schweigsamen Geistes zuwandte, der ohne rechte Begriffe seines Daseins, stumm, nächtig, gehorsam der dunklen Nachtferne rückwärts zuschwebte, winkend mit einer grünen Laterne. Und wie er dann in die grauen Kissen seines Abteils versank, das ein schönes, behagliches Zimmer war, voller Luft von Menschen! Und noch zu genießen war vom Bahndamm im Entgleiten die hell erleuchtete Ferne des Bahnkörpers, wo lichte Häuserfronten, Balkone und hoch oben beschattete Giebel und Dächer in weiter Runde eine rötlich umrauchte Bogenlampe umstanden, und darunter arbeitete eine kleine Rangiermaschine sich, als ob sie festsäße, unaufhörlich den weißen, durchröteten, fortfliegenden Qualm ausstoßend, hin und her.
O Anschaun, o gedankenlose Empfindung, o Vergeßlichkeit! o kleiner Wartesaal dritter Klasse, mit dem glühenden Kanonenofen, dem Plakatbilde von Freienwalde, das seine Fichtenwälder anpreist, oder von einer Hygieneausstellung, oder von einer Gewerbeausstellung; mit der Tafel: Nicht auf den Boden spucken! mit dem zärtlichen Liebespaar im Winkel, ewig wie Bahnhof und Wartesaal ... Und nun wieder das Getöse, der große Wasserfall, das tausendfältig brandende Geräusch der breit aufklaffenden Straßen, das gewundene Gewirr, und das Gefunkel, und die Lichter, die hunderttausend Schilder, die alle schreien, etwas wollen, die Rufe, die Trompetenstöße, das vielstimmige Klingeln, die Geräusche der Sohlen, Pferdehufe, schreienden Geleise, Motoren, Achsen, die strahlenden Schaufenster wieder, die verheißungsvollen Korsettgeschäfte, das fromm aussehende, tiefernste, niemals bewegte Ungetüm des kirchenhaften Warenhauses, die Schlachterläden, die Gossenränder, die Blumenfrauen hinter Körben und Ständen mit kleinen Spritzen am Mund, die Zeitungsrufer, und hinter den Glasscheiben Aschingers der Tresen mit Messinghähnen, der Glaskäfig mit Stockwerken voll leckerer Brötchen, mit der ganzen, eiligen, schlingenden Gefräßigkeit der Menschen, die im Stehen kauen, mit rückwärts gedrehten Augen wie die Hunde, — und hoch über all dem, hoch in der braunen Nacht — der Tausendfuß, der brontosaurische Gigant, der blinde, der am ganzen Leibe unaufhörlich zitternd seinen elektrisch geladenen Leib an den Türmen, an den Essen, an Schloten, Firsten, Giebeln, Balkonen, Fenstern und Drähten der brüllenden, rasenden, taumelnden, kreisenden, winselnden Stadt scheuert ...
Georg, glühend im Gesicht, obwohl innerlich kalt und verhärtet von Anspannung, legte den Federhalter hin, faßte langsam mit der linken das Gelenk der rechten Hand und spreizte deren verkrampfte Finger mehrere Male, indem er sich mit dem Gesicht auf das Geschriebene neigte. Er überlas ein paar Zeilen, da widerstand ihm das Schreiben, er dachte: Das ist wieder so ein lyrischer Anlauf! — Aber es müßte einem doch gelingen, erwiderte er sich, in hundert Druckseiten diese ganze Stadt nach Eindrücken abzuwandeln ... Er stand auf, ging zum Sofa und streckte sich aus, aber die darstellende Tätigkeit hatte sich verkrampft, er schrieb in Gedanken liegend weiter:
Begab er sich nun nicht in eines der vierhundert Kinematographentheater, für die er eine herzliche und kindliche Zuneigung gefaßt hatte, so pflegte er noch einige Nachtstunden ... sich unterbrechend fiel Georg ein: Töpfer! und Tante Henriette, aber er setzte den begonnenen Satz fort: — ähnlich zu verbringen wie schon die meisten des Tages, lesend, rauchend, oder mit Träumen, Grübeln und Melancholie auf dem Sofa, gewöhnlich so lange, bis die angesammelte geistige Atmosphäre ihren Niederschlag in irgendeiner Erinnerung an eine Beobachtung; ein Erlebnis — wie er es nannte — des Tages fand, dessen Schilderung nebst daran geknüpfter oder daraus erwachsender Betrachtung über gewisse, sich wiederholende und trübe Seelenzustände einen melodischen Ausdruck im Umfange von vierzehn Verszeilen fand. — Richtig, es ist erstaunlich, dachte Georg, wie genau ausreichend das Maß des Sonetts zur Aufnahme von seelischen Entladungen ist. — Jetzt packte ihn wiederum der Schreibezwang, er sprang auf, ergriff eine Zigarette, entzündete sie über der Lampe, nahm die Feder auf und schrieb:
So mußte ihm jeder Tag schließlich zum Erlebnis werden; es quälte ihn automatisch, blieb einer ohne Gedicht; ein Gedicht war Frucht, war greifbar, bleibend, behielt seine Nahrung und würde ihm nach Jahren ... Vorwärtshastend bildete Georg den Rest des Satzes aus Strichen und fuhr fort: Und was etwa konnte nicht zum Erlebnis werden? Nur halbwach mußte man gehn, in sich selber locker schaukelnd, schwingend ständig gewärtig, Schwung aufzunehmen. Dann, in die Finsternis der ödesten Gassen des Nordens verloren, dann konnte er wohl, von einer Dirne aufgescheucht, mit jählings erwachendem, verwandtschaftlichem Grauen vor einem Laternenarm erschrecken, Arm, den tief im Verließ der toten Sackgasse ein Eingemauerter aus der Wand streckte, verurteilt, dies traurige, ihm selber unsichtbare, bleich grüne Licht zu halten, das sich fürchtet, allein seit hundert Jahren mit dem Eingemauerten und mit seinem Spiegelbild in der Pfütze auf dem Pflaster. Und — so schloß das Sonett: Darunter steht das Weib, das nach dir winkt. — Andermals: welch sonderbares Empfinden, von der Eisenbahnbrücke herab auf dem schwarzen Sumpf das Gewimmel von Lichtern zu durchforschen und zu verfolgen, Rubingehänge, dazwischen bleiche Türkise, gelbe Lichter wie Totenkerzen und runde, grüne, erfrischende, regungslos allesamt: dazwischen aber, aus einer schnell geöffneten Türe der Nachtferne, kriechen Ketten und funkelnde Bänder und leuchtende Schlangen, und auf einmal ist nahe darüber ein schwächlicheres Licht zu gewahren, der Mond, der nichts zu sagen weiß, als daß wohl auch dem Oben Beleuchtung gebühre. Zärtlicher, wehmutsvoller, verwandter berührte freilich die Begegnung mit jener Birke, die im abgestorbnen Garten vorm Haus plötzlich als bleicher Nebelstreif erschien, als ob sie zu sich her winkte, und dann, als sei es nun so weit, ihr letztes Blatt fallen ließ.
Georg stockte; er sah sich in Zwielicht und Düster unbekannter Straßenstollen herumgehn, ohne Ausblick, im undurchdringlichen Nebel; wo er die Kirche vermutete, da war nichts, nur Nebelqualm rollte wie — also wie aus einem Faß, und Lichter schwammen darin, farbige, blasse, opalene, schwer und aufgequollen, hochoben größere Lampen, prahlend, dicht unterm festen Verschluß von braunem Rauch, aber dann barst die Mauer, er atmete auf, starrte jählings und geblendet in das breite Blenden einer Riesenstraße von Läden und leuchtenden Schildern. Überdem fiel ihm der umgestürzte Koloß von Zementscherben ein, verklebt mit buntem Papier, der ihm den trostlosen Aphorismus zuseufzte: Hier liege ich, die Säule eurer Kultur, die Litfaßsäule! — Und er erinnerte sich erbittert, an ihrer einer den seraphischen Namen Jean Pauls in halbmeterlangen Lettern gelesen zu haben, aber als er neugierig näher trat, so wars die Ankündigung eines Coupletsängers im Apollotheater ...
Die Kultur, dachte Georg, im Stuhl zurückgelehnt, kommt bald ab, und das Gefühl, glaube ich, wird auch bald abkommen. Man sieht es ja an der Kunst, die kommt schon ab, ihre Züge haben sich bereits erschreckend gewandelt wie die von einem, der in den letzten Zügen liegt, bloß burlesker. Aus dem Drama ward das Theater und zuletzt der Kientopf, aus dem Gedicht das Couplet, aus dem Maler der Futurist, aus der Musik das Grammophon. Und wie ist es mit dem Kunstgewerbe? Da soll nun auf einmal alles geschmackvoll sein, und was kostet das für Mühe! Der Grieche, wenn er etwas machte, das ihm wohlgefiel, siehe da, so wurde es schön; wir aber wollen immerzu etwas Schönes machen, und dann gefällts keinem. Wenn ich aber gar einen individuellen Türklopfer sehe, so wird mir vor meiner Gottähnlichkeit bange. Georg raffte sich auf, tauchte die Feder ein und schrieb:
Zuweilen verbrachte Herr Topf die Abende in einem behaglichen Zimmer von schwerfälligem Reichtum; auf dem Sofatisch brannte eine verstellbare Lampe aus Messing mit grünem Schirm, und daneben saß die Tante von Herrn Topf, die er Tante Henriette nannte, und strickte oder häkelte, während sie sich von ihrem Neffen ein modernes Buch vorlesen ließ, Strindberg oder Sternheim, über den sie sich wütend ärgerte, aber das mochte sie gern. Die kleine Eisenbrille mit dicken Gläsern saß ihr vorn auf der Nasenspitze, zuweilen blickte sie darüber hinweg in die dunkle Zimmerecke, wo ein kleiner weißhaariger Mann in hellgrauen Beinkleidern, sehr soigniert, mit einem rosenfarbenen Papageien im Schoß saß oder auch am Kanarienvogelbauer herumbusselte und seinen grüngelben Bewohner mit dem Taschentuch leise quälte. Oder aber er ging zum Ende seines Korridors, klopfte an die Tür und wurde von einem ganz hellen: Herein! in das große, kahle Zimmer, dämmrig im Schein der Petroleumlampe auf dem Schreibtisch am Fenster, gerufen, wo (unter den riesigen Bildern Kaiser Wilhelms und seiner Gemahlin auf der roten Tapete) der Komparativus von Herrn Topf saß oder vielmehr eilig aufsprang, ganz klein und zierlich, aber mit schönem, dichtem Vollbart um das rötliche Gesicht, hocherfreut und lächelnd: Herr Töpfer, Schriftsteller und radikaler Sozialist ... Georg schrak auf; eine Tür ging fern, langsam kamen weiche Schritte Stufen herauf, schlürften auf dem Gang. War der Briefträger gekommen? Nein, die Schritte endeten in der Küche, ein Topf auf dem Herde wurde hörbar gerückt. Georg legte die Feder hin und begab sich auf das Sofa.
Wozu schreibe ich das? dachte er mißmutig.
Denn immer und immer wieder, fuhr die Kette von Worten und Gedankenbildern in seinem Gehirn hartnäckig fort, kehrte er aus alledem zur ewig gleichen trüben Tiefe des eigenen Daseins zurück. Dort suchte er am Grunde, aber das Gewesene, das er fand, machte ihn hülflos, er hielts und konnte es nicht verstehn, er hatte kein Gedächtnis, keine Erinnerung, die Vergangenheit rührte nicht mehr, das Bewußtsein, daß es einmal gewesen, Bedeutung, Lebendigkeit, Glanz, Farben gehabt hatte, oder daß am Ende er zu schwächlich war, sein Leben nur eine genietete Kette von Augenblicken — deren einzelne unsinnig und monströs in ihrer übertriebenen Verzerrung des Stillstandes aussahen wie losgetrennte, sekundenkurze Bilder eines Films, und von der im Zusammenhang stets nur drei oder vier Glieder sichtbar waren, indem das letzte schon wegschmolz, während das neueste kaum erst keimte —, daß da nur ein Zusammenhängen war, kein Wachstum, ein Gleiten, kein Aufbau, daß er dergestalt, auf einen winzigen Raum von Gegenwart angewiesen und zusammengedrückt, sich erhalten sollte, Jahrtausende, ungeheuer und drohend, hinter sich, eine nachtfinstre Zukunft, drohend und ungeheuer vor sich: das erfüllte ihn mit einer großen Verdrießlichkeit, die, das wußte er wohl, kein Leiden war, kein Schmerzerdulden, die zuzeiten aber doch zu lebhaften Angstzuständen, ja manchmal in ein Schrankenloses der Beklemmung wuchs.
Georg schüttelte den Krampf der sich schreibenden Sätze erbittert von sich, setzte sich auf, legte die Ellbogen auf die Knie, starrte in die Lampe und dachte, er habe wohl den Teufel zitiert, denn nun stieg die Angst wie Spinnen von allen Wänden herunter. Ich habe mich, dachte er verkniffen, vor mir selbst ins Papier gerettet, da liegt nun mein Abklatsch, nichts als ekelhaftes, absurdes, vor sich hinlallendes: Ich! ich! ich! Wozu sitze ich denn hier? Wozu hab ich seit drei Monaten ein und denselben Anzug am Leibe und nenne mich Topf? Was habe ich in diesen Topf gefüllt? Die schwarze Regentraufe von den Dächern ist hineingelaufen, aber von keiner Menschenseele ein Tropfen. Kommt es nicht auf die Menschen an? Ich kenne sie nicht. Töpfer kenne ich, der ist eine kleine Welt für sich, Frau Wisch, nun ja. Alle andern sind mir eklig. Wenn ich sie in der Elektrischen sitzen sehe, zusammengepfercht, viertelstundenlang still, vor sich hinblickend jeder in sein eignes, verrammeltes Ich aus ihren Bündeln von Gesichtszügen, die so notdürftig von da und dort her zusammengerupft und verknotet sind, daß man es kaum begreift, so schüttelt mich der Abscheu. Jeder ist jedes Feind. Mein Feind ist der Kellner, der nicht im Augenblick fliegt, wenn ich eintrete, mein Feind der Schaffner, der geflissentlich meine Hand mit dem Groschen übersieht und zu andern Fahrgästen geht, mein Feind der Beamte am Postschalter, der sein Geld zählt, sortiert und Päckchen häuft, oder Zahlen addiert, anstatt mir meine Fünfpfennigmarke zu geben, mein Feind die Verkäuferin, die mich warten läßt, und die fünf oder drei Frauen und Männer im Laden, die mich zwingen, Minuten meines Lebens wegzuwerfen, die nicht so viel wert sind wie das Einwickelpapier um die Butter, — die ich mir aber um keinen Preis entreißen lasse. Alle hassen Alle, was soll daraus werden? Und nur um der Ungeduld willen. Ungeduld schreit aus jeder Bewegung, aus den Augen des Chauffeurs, dem ich nicht rechtzeitig ausweiche, aus — aus jedem Auge! Ich aber, nur ich, ich hänge überm chaotischen Abgrund einer Seele, meiner Seele, und weiß, daß ich einsam bin, und daß Alle es sind wie ich. Das ist meine Angst, das ist die Angst, das ist die Angst der Stadt.
Nein, du lügst ja, sagte etwas in ihm. Er horchte hin, legte das Gesicht in die Hände und gab es zu. Aber gleichviel, woher die Angst! Sie ist da, und Angst ist Angst. Ich fürchte mich vor der Zukunft. Ich unternehme Dinge, die — deren Ablauf mir unbekannt ist, ich klage einen Vertrag ein, der mich auf einen Thron bringen soll, und ich weiß nicht, was das heißt, was all damit verbunden ist, und wie ich die nötige Sicherheit in mir selber erlangen soll, da ich, da ich — auf diesen Thron nicht gehöre. Und über all das hin braust das unendliche Hunnengeschwader meiner Gedanken, die ich nur fliegen lassen kann, nicht halten.
Georg empfand, daß ihn hungerte; auf die Uhr blickend, fand er, daß es kurz vor halb acht war. Er räumte die Blätter flüchtig auf das Bett, öffnete dann die Tür des Verschlages und holte nacheinander von der Fensterbank eine gläserne Dose mit Butter und einen Teller mit einem Stück Holländer Käse, von dem Bort überm Waschtisch einen Viertellaib Brot, einen Teller, ein Messer, zwei Eier aus einem Kasten, eine Tüte mit Zucker und sein blaues Wasserglas, brachte alles auf dem kleinen Tisch unter, schlug die Eier ins Glas, tat Zucker dazu, rührte um und trank, dann erst setzte er sich, strich zwei starke Scheiben, belegte sie mit Käse, schnitt sie in Würfel und fing an zu essen. Appetitlos kauend und schluckend, folgte er Gedanken, die sich rastlos erneuerten.
Ein Übelstand der Zeit ist es vermutlich, daß wir uns Kenntnisse — nicht Wissen — mit so ungeheuerlicher, hexenhafter Geschwindigkeit aneignen; und mit dieser, durch Jahrhunderte entwickelten Leichtigkeit, Selbstverständlichkeit der Erfahrung kennen wir, was wir nie erfuhren. Was wir kaum sahen, dessen erinnern wir uns schon wie an hundertmal Erlebtes; mit der gesammelten Erfahrung unsrer Vorfahren geboren, ohne sie erworben zu haben, sind wir bloß Erben, — ja, wir, sage ich da recht literarisch, aber wäre ich wirklich allein so? Ich kenne ja niemand, aber ich glaube es nicht. Nichts pflegt einmalig zu sein. Wir leben zu schnell, wahnwitzig schnell, und da heißt es denn — er lächelte kränklich —: In den Ozean schifft mit tausend Masten der Jüngling. Bald auf gerettetem Boot treibt er zum Hafen als Greis.
Aber mir, nein, mir blieb keine andre Wahl, in dieser Zeit nicht. Ich war bislang ein Kind, ein Erzeugnis meines Vaters; der überrumpelte mich; und ich war ein Kind, ein Erzeugnis meiner Zeit. Ich allein hätte mich damals in Altenrepen vielleicht anders entschlossen, wenn ich nicht — wie wir eben Alle — mit den alltäglichen Dingen des Straßenlebens, des Lebens überhaupt so verwachsen wäre, daß ich mich ihrer Beeinflussung nicht entziehen konnte. Wie sollte ich mich zurechtfinden, damals? Zwischen elektrischen Bahnen, am Telephon, zwischen Läden, Kellnern, den Gesichtern, Anzügen, Hüten von heute, die doch nicht nur außen um mich herum sind, sondern organisch wesenhaft in mir, Formen meines Denkens, Empfindens, meines Seins, — ja zwischen all dem, was sollte ich anfangen mit diesem unzeitgemäßen Erlebnis? Es ist Kolportage, auf Hintertreppen war ich nicht eingestellt. Vor zwei, dreihundert Jahren, da hätte es gepaßt, zwischen Butzenscheiben und alte Sprüche an den Hausbalken, verschnörkelte Giebel, seidene Schärpen und nächtliche Straßengefechte, Serenaden und Entführungen. Das Schicksal drückte mirs in die Hand, — ich ließ es fallen.
Helene, dachte er. Der Bissen quoll ihm im Munde, er schluckte heftig, stand auf, griff hinter sich nach der Karaffe auf dem Waschtisch, setzte sie an den Mund, trank einen tiefen Schluck und stellte sie fort. — Sie war mir so fremd, immer so fremd, ich wußte nicht, weshalb, — von welcher Mutter bin ich nun geboren? Vielleicht hat sie vor Jahrhunderten schon gelebt.
Gedankenlos und müde aß er die letzten Brocken und dachte: Was nun?
Plötzlich ekelte es ihn vor dem Sofa. Ich will zu Töpfer gehn, sagte er sich trübe, vielleicht — —. Also löschte er die Lampe, trat auf den Korridor, hörte aber, als er auf die erleuchtete Milchglasscheibe am Flurende zuschritt, Stimmen drinnen, und nun fiel ihm ein, daß er am Nachmittag jemand zu Töpfer hatte gehen hören. Nun gleich, dachte er nachlässig, ich habe nichts gehört, klopfte an, hörte das helle: Herein! und trat ein.
Die Gaslampe am verbogenen Arm unter der Decke strahlte kalte Helle. Ja, da sprang der zierliche, kleine Mensch vom Stuhl am Sofatisch auf — er und ein andrer Mensch saßen essend daran —, stellte sich mit geschlossenen Füßen hinter seinen Stuhl, die Lehne fassend und sang in seinen hellsten Tönen, den Kopf tief zurücklegend: „Ah, der Herr Positiv tritt herein! wie überaus angenehm!“ und dergleichen mehr, während Georg, den Fremden ins Auge fassend, der sich hinter dem Tisch vom Sofa erhob, auf ihn zuging. Teller mit Wurst, Butter, Käse, Milchgläser standen auf der ungedeckten Platte. Der Fremde blickte Georg aus einem zartbräunlich und rosigen Gesicht mit weichem, schwarzem Spitzbart aus herzgewinnend liebenswürdigen, großen Augen an und bot Georg die Hand, während Herr Töpfer weiter sang, dies sei der Herr Topf, der den Berliner Roman schreibe, und das sei der Herr Levite aus Warschau.
Ein Nihilist, dachte Georg, indem er wegen der Störung des Speisens um Entschuldigung bat, aber Herr Levite versicherte mit angenehm weicher und tiefer Stimme, sie seien schon fertig, setzte eine offene Holzdose mit russischen Zigaretten über den Tisch vor Georg und zündete, da Georg eine nahm, gleich ein Streichholz an und reichte es ihm. Georg setzte sich, ungemein angezogen, und versicherte, mit dem Roman sei es nichts. Herr Töpfer, der wieder Platz genommen hatte, wiegte herzlich bedauernd den Kopf und meinte, gleich begütigend, er mache ja auch so wunderschöne Gedichte ... Hellaufsingend schraubte die Stimme sich empor. Die dunkle und weiche fragte sehr ruhig: „Glauben Sie damit der Menschheit zu nützen?“
Georg, erschreckt von der geraden Anrede, wehrte hastig ab: „Nein, nein, Gott bewahre, ich finde mich selber —, ich bin froh, wenn ich mir selber keinen Schaden zufüge!“
„Unser alter Streit“, klagte Herr Töpfer bedauernd und herzlich. „Sollen denn nun die armen Dichter wirklich aus dem Staat heraus? Lieben Sie nicht Ihren Dostojewski über alles? Und — da wir guten Deutschen —“ jubelte er hoch hinaus — „wenn wir von uns selber reden, stets Goethe als Beispiel heranziehn, so sagte Goethe —“
Allein der Pole schlug ihn sanftäugig nieder, während er noch an dem Zitat sammelte: „Goe—the sagt alles.“
Bestrickend war diese Stimme und die Aussprache des Deutschen! Die Silben kamen einzeln, rein und weich umhüllt, die S- und auch die Z-laute summten zart, die Vokale wurden um einen Hauch gedehnt, die Konsonanten um einen Hauch gedrängt, — es klang entzückend, kein Deutscher konnte die Sprache so zierlich handhaben wie dieser Pole.
„Ich liebe ihn,“ sagte die ruhige, nachdenkliche Stimme nun, „und ich verstehe ihn su lesen; für andre ist er — das Gift. Ich muß sugebben,“ fuhr er langsam fort, die Augen zu Georg aufschlagend — während er mit der Zigarette im Aschbecher rührte —, so daß Georg das Herz zitterte vor Hingezogenheit und liebevoller Umfangenheit von diesen guten Augen — „ich muß sugebben, daß die deutschen Dichter etwas voraushaben. Denn sie sind niemals reine Dichter. Wie andere als die grosen Vertreter Englands un Frankreichs, als Dickens und Flaubert oder Balzac gehen die Ihren vor. Jene wollen das Leben darstellen, sie wollen weiter nichts als das: Sie lieben — der Mensch, da steht — der Mensch, Sie sehen ihn, Sie fühlen ihn, er iist so warm, Sie verstehen — sein Leid, und er iist so, Sie heben an ihm, und Sie heben alle Fäden der Wurzeln, er iist fest in seinen Zusammenhängen, das ist so grose Kunst. Wenn dies die Menschen lesen, so vergessen sie sich, es ist — Su—ro—gat, aber es macht sie nicht froh an ihrem Teil, sie schmähen es, sie schmecken es nicht mehr so, sie gehen ihre Treppe nicht gern, ihr graues Haus macht sie Angst, ihre Frau ist schlecht un häßlich, der Hauswirt ist sehr böse, all dies ist nicht in Dickens, dort ist alles schön, der Schmutz ist schön, die Menschen sind schön un böse; sie haben Gewalt, sie scheinen anders lebbend, und dies ist, was ich sage: Gift. Ich kenne nicht viele deutschen Schrift—stellers, aber ich kenne Goethe, ich kenne auch ein wenig Keller und mit dem französischen Namen — — er ist sehr schwer! — Jean Paul, und sie sinnd sehr nachdenklich. Sie wollen nicht darstellen: der Mensch, sie wollen immer sagen: das Lebben, die Welt, der Gott. Ihre Menschen, sie fragen immer: Warum? Sie kümmern sich so viel um sich selber und um der Welt ...“
Da er innehielt, nach Worten suchend, sagte Georg: „Ja, gewiß, aber ist das nicht noch stärker der Fall bei den Russen? Ich meine —“
Der schöne, rote Mund im schwarzen Bart nahm ihm freundlich lächelnd die Rede ab:
„Sie saggen, was ich wollte. Auch der Rus—se, er denkt; er denkt an Rusland. Alles ist Rusland, nur ist Rusland, und ist Rusenwesen, Rusenleben. Nicht aber der Deutsche! Der Deutsche, er rechfertik sich, daß er ist. Er sieht die Welt: Wie kam er herein? Was tut er? Was fängt er an mit sich? Und er fragt: bin ich gut? Er hat viel Sennsuch nach sich selber, der deutsche Mensch. Immer denkt er auf Besserung. Und er muß immer vorher viel denken, ehe etwas kann geschehn. Sehen Sie,“ fuhr er eifriger und gütiger fort, „ich glaube an der deutsche Land,“ — er lächelte, „was nicht heißen soll, ich glaube an der deutsche Staat. Sie gennen Ihre Geschichte. Es hat gegebben ein Reich, Römisches Reich deutscher Nation, das haben gemacht — die Kaiser, gemacht hat es: die Person. Nunn es gieb wieder ein Deutsches Reich seit viersig Jahr, das hat gemacht der Gedanke, es hat selber gemacht: das Land. Fünfhundert Jahre der Gedanke hat gedacht: Deutschland, und es mußte kommen Napoleon und ihm sagen: Endlich fange an! und so fing es an, ein wenik, und es dachte wieder nach, das Land, sechsig Jahr, da gab es ein kleines Deutsches Reich. Ich hoffe sehr,“ lächelte er erst Georg, dann Herrn Töpfer an, „es wird immer denken lang—sam weiter bis in ein deutsches Reich europäischer Nation, wenn es dann giebt nich mehr Sar, un Gaiser, un Gönig.“
Georg, die Arme untergeschlagen, saß still da, so sehr untertauchend in das warme, schmeichelnde, dunkle Wallen dieser Stimme und die Lieblichkeit, mit der die Gedanken darin zum Vorschein kamen, daß lange Zeit verstrichen war, ehe er die Stille im Zimmer bemerkte. Er wußte nichts zu sagen. Ein leises Gefühl — wie Scham — bohrte in seiner Herzensgrube. Töpfer hatte sich mit heftig um einander gewundenen Beinen seitwärts im Stuhl gedreht und hielt, die Stuhllehne unter der Achsel, das Gesicht nahe darüber in den Schatten. Georg hörte den Levite wieder und sah ihn auf dem Sofa sitzen, das Gesicht tief gesenkt, die Arme unter dem Tisch, anmutig lächelnd:
„Mir fällt ein: ein Freund von mir machte dies Gleichnis: Legen Sie hin vor einen Engländer, einen Deutschen, einen Russen, einen Franzosen, geschrieben das Wort Ich, und er soll dahinterschreiben ein — wie heißt es? — ein Verb, was werden diese schreiben? Der Engländer, — er wird schreiben, serr einfach: Ich bin. Der Franzose, gleich — schreibt: Ich lie—be! Der Russe, er schreibt, — er besinnt sich, er schreibt: Ich sün—di—ge ... Der Deutsche, — nun, Sie wissen serr genau, was er schreibt, wenn er nicht sagt: Ich werde gehen und denken, was ich werde schreiben ...“
Sie lachten sich an und freuten sich miteinander. In das Gelächter scholl ein leises Pochen an der Tür, Georg drehte sich im Stuhl und sah Frau Wisch mit einem Brief in der Hand, den sie ihm hinstreckte: „Sie missen unterschreiben, Herr Topf, — ein Brief für Sie!“
Georgs Herz schlug wild, er nahm das Papier und einen Tintenstift, den sie ihm reichte, unterschrieb auf dem Tisch, bat dann die Herren, ihn zu entschuldigen, und ging hinter Frau Wisch her, in sein Zimmer. Lange mußte er nach den Streichhölzern tasten, bis er sie auf dem Absatz des Bücherschranks fand. Endlich brannte die Lampe, er riß den Brief auf, ein Schreiben fiel heraus, er entfaltete den großen Aktenbogen, sah schön geschwungene Schriftzüge, Unterschrift — das Hofmarschallamt, ein unleserlicher Name, er klaubte eilfertig Worte heraus:
„... gnädigstes Schreiben ... ehrerbietigst zu beantworten ... Kenntnis genommen ... Nachsuchen in den Archiven so lange verzögert ... allerdings gefunden ... dürfte aber von einer Art scheinen, daß die Verwirklichung sich nicht ohne Bruch der Reichsverfassung durchführen ließe ... und infolgedessen rätlich sein, daß Euer Durchlaucht sich vielleicht gleich an die hierfür zuständige Stelle ...“
Was war das für ein Unsinn? — War das Hohn? Was hieß das?
Er legte den Bogen zusammen, entfaltete ihn wieder, las, fand keinen Rat. Sollte der Vertrag ungültig sein? Aber sein Vater ...! Nun versteh ich die Welt nicht mehr, murmelte er und sah sich dastehen wie Meister Anton bei Hebbel ...
Nicht ohne Bruch der Reichsverfassung ...? Er dachte an Töpfer. Aber wie sage ichs ihm? Sein Herz klopfte heftiger. Sagen wir ihnen, wer wir sind, dachte er hochfahrend und ging zur Tür. Er mußte plötzlich die Stirn daran lehnen. Er suchte nach Gedanken, dabei fiel ihm ein, daß es besser sei, ihm den Vertrag selbst zu zeigen, ging wieder zum Bücherschrank, öffnete und fuhr zusammen, da Cordelias Rubinglas ihm entgegenfunkelte — — drohend. Sich zusammennehmend, griff er in die Tiefe hinter dem noch verschlossenen Türflügel, öffnete den Truhendeckel und holte den Vertrag heraus, schloß die Tür — mit dem Gefühl, er schlösse eine Tür vor einem Menschen — das Glas noch dahinter sehend —, richtete sich auf, ging hinaus und klopfte bei Töpfer.
Drinnen gab er ihm den Vertrag und bat ihn: sich das mal anzusehn. Kalt und zitternd setzte er sich, nahm eine Zigarette und steckte sie an. Töpfer las stillschweigend, es dauerte endlos. Aber er sah doch einmal auf, lächelte hocherfreut zu Georg, dann auch zu dem Levite hin und sang:
„Ein sehr interessantes Dokument, das Sie da haben! Ist es echt? Aber fabelhaft interessant! Also — oder muß ich schweigen?“
Da Georg nickte, fuhr er zu dem Polen fort: „Herr Topf, denken Sie, giebt mir hier einen Vertrag zwischen dem ehemaligen Herzogtum Trassenberg und dem jetzigen Großherzogtum Beuglenburg, aus dem Anfange des vorigen Jahrhunderts. Damals wurde Trassenberg wie so viele andre kleine Staaten mediatisiert und kam an Beuglenburg. In einem Geheimvertrag aber, diesem, den Sie hier sahen, wurde beschlossen, daß dies nur für hundert Jahre der Fall sein, daß danach Trassenberg wieder selbständig ...“
Er brach ab, während in seinen Zügen das gleiche Lächeln aufbrach wie im Gesicht des Polen. Der streckte die Hand mit einer kleinen Verneigung gegen Georg, nahm den Vertrag, sagte auch, immer lächelnd und den Kopf wiegend: „Sehr interessant!“ las da und dort und gab Georg das Papier zurück.
„Ich habe gehört,“ sagte er, „von diesem Herzog Traßberg. Man nennt ihn: der Genosse, es ist ein Scherz, aber er ist ein kluger Mensch, ein guter Mensch. Wenn wären alle Fürsten ihm gleich, wir hätten längst — der soziale Staat.“
„Ja, und nun,“ sagte Georg ungeduldig, „was meinen Sie eigentlich von so einem Vertrag?“ Sich verwirrend, da es ihm widerstrebte, noch von seinem Vater wie von einem Fremden zu sprechen, fuhr er fort: „Ich meine: gilt er heutzutage oder ...?“
Die Beiden lächelten wieder, und Töpfer sang hoch auf:
„Da Sie, verehrter Herr Topf, dies Papier in den Händen haben, so sehen Sie ja, was es wert sein mag!“ Georg, zornig, als könnte er ihm doch das Gegenteil beweisen, nahm das Schreiben des Hofmarschallamtes aus der Tasche und gabs hin. Töpfer entfaltete es achtsam, las die Überschrift, stutzte, las weiter, blickte auf und fragte mit den Augen. Georg, lächelnd wider Willen: „Na ja, also ich bin der da!“
Töpfer sprang auf, schlug die Hände zusammen, merkte aber alsbald die Unordnung seiner radikalen Gefühle, ward hochrot und krähte:
„Ja, da sage man nun gar nichts mehr! Herr Levite, der Herr Topf hier ist der Prinz Trassenberg!“
Der Pole lächelte hocherfreut, streckte Georg die Hand hin und versicherte ihm seine Freude, ihn kennen gelernt zu haben.
„Also Sie haben diesen Vertrag eingeklagt?“ verwunderte Herr Töpfer sich höchlich. „Aber da wundert es mich doch sehr, daß Ihr Herr Vater Ihnen nicht abgeraten hat! Ja, nun sehen Sie mal an! Ein neuer Staat in Deutschland — bedeutet das nicht ein neues Mitglied des Bundesrats? O lieber Herr Top— verzeihen Sie nur! — Herr — glauben Sie, daß Preußen, daß irgendein anderer Staat einwilligen würde, daß eine Gegenstimme in den Bundesrat gerät? Da müßten denn doch schon sehr schwerwiegende Gründe, sehr schwerwiegende, das heißt im Sinne der Fürstenversammlung schwerwiegende Gründe vorliegen, wenn etwas Derartiges ...“ Die Stimme überschlug sich und zwang ihn, still zu schweigen.
Georg sagte: „So!“ Er sprang auf und lief im Zimmer hin und her.
„Ja, nun sagen Sie aber bloß,“ sang hinter ihm Herr Töpfer, „warum wollen Sie denn nun gerade Herzog werden? Nun, nun, Sie sind ja noch jung und denken sich das so.“
Da Georg keine Antwort fand, lange Erklärungen scheute, so begütigte Töpfer sich selber, indem er meinte, es gebe ja viele gute Dinge im Leben zu verrichten ... Er schien nun doch verlegen, der Levite schwieg gänzlich, so raffte denn Georg seine Papiere wieder zusammen und bat, leutseliger, als er sein wollte, erbittert auf sich selber, die Herren, ihn zu entschuldigen, reichte jedem die Hand und wollte gehn. Der Pole aber hielt seine Hand fest, legte auch die linke darauf und sagte, Georg ganz einhüllend in die tiefe Wärme und Gutherzigkeit seiner Augen:
„Ich sehe, Sie sind ein Aris—tograt, ich habe gern Aristograten des Herzens, aber das will sein sehr gelernt. Gehen Sie su Ihrem Herrn Vater, junger Prinz, grüsen Sie ihn, er gennt meinen Namen wohl, er ist nicht su stolz bei meinem Gruß, sagen Sie ihm, daß er Sie soll lernen zu sein gans Aristograt, so werden Sie gutt lebben, und es wird geben Glück und Segen für eine Menge Volk. Leben Sie wohl!“ Er drückte ihm innig die Hand, und Georg ging. —
Ein breites, dunkelrotes Band schlug qualmend aus dem Lampenzylinder nach oben; voll von schwarzem weichem Flockenfall war die Luft, so daß Georg mit der Hand danach schlug. Er schraubte die Lampe tiefer und riß das Fenster auf, atmete mit Heftigkeit die hereindringende Kälte, aber der Rußflockenregen war unerträglich, er löschte die Lampe, ging hinaus, nahm den Überzieher, den Hut vom Haken und ging auf die Straße.
‚... als nicht existent im Eigensinn — bürgerlicher Konvention — in und aus ...‘ Was war das? Von Morgenstern. ‚An die Bezirksbehörde in ...‘ Es ging ihm schon lange im Kopf herum. Er glitt im Gehen aus, sah den Bürgersteig mit einer pelzigen Schicht von Regenschnee bedeckt, von Fußspuren zersetzt. Regentropfen wehten ihm kalt gegen das erhitzte Gesicht. Oben schaukelten die Bogenlampen an den Drähten. ‚Untig angefertigte Person — — als nicht existent im Eigensinn ...‘ Georg sah den Polen und den Radikalen unter der Gaslampe sitzen, die Rede vom Aristokraten klang ihm im Ohr, die weichgesummten S-laute, die reinen Vokale und Konsonanten, die langsame Sprechart und wieder das Wort Aristokrat, bei dem der Nihilist in seiner fremden Sprache wohl etwas ganz anderes empfand als ... ‚als nicht existent im Eigensinn ...‘ Georg kam nicht los von dem Unsinn ... ‚bürgerlicher Konvention‘, redete es in ihm fort. ‚Untig angefertigte Person, tief bedauernd nebigen Betreff ...‘ Er wollte nun die Teile zusammensuchen, aber es gelang ihm nicht, immer wieder kam nur: als nicht existent im Eigensinn, Eigensinn, Eigensinn! Endlich machte er einen Strich, strengte sich an, den Vertrag, die Herren im Zimmer zu sehn, und hörte Töpfer sagen: — daß Ihr Herr Vater Ihnen nicht abgeraten. — ‚Untig angefertigte ...‘ Ein Rätsel, ein reines Rätsel. Das Gegenteil hatte sein Vater getan! — Georg glitt wieder aus, fand sich vor einer Querstraße, fand sich unfähig, hinüberzugehn, fröstelte, drehte sich im Winde und machte kehrt. Schwer mit dem Winde kämpfend, ging er zurück.
Der dunkle Korridor lag warm und still; an seinem Ende die Mattscheibe in der Tür leuchtete nicht unbehaglich. Die da saßen, waren gute Menschen, ihre Herzen waren die weichsten, und sie waren doch Radikale und Nihilisten. Ja, weshalb auch nicht? dachte Georg ermattet, indem er sein Zimmer betrat. Kalt wars drin, aber in der Gegend der Heizung glühte noch immer die Luft. Er schloß das Fenster, machte Licht, fand, daß Tisch, Bett, Papier, alles mit Ruß bedeckt war, und streckte sich auf dem Sofa aus.
Also es war nichts mit den Sternen ...
‚Korff erhielt vom Polizeibüro‘ —, fuhr es hell durch ihn hin. Er gab nach und fuhr fort: ‚— ein geharnischt Formular — Wer er sei, und wie, und wo.‘ — Da riß es wieder ab; er tastete ... ‚Ob ihm überhaupt erlaubt, hier zu wohnen ...‘
‚Wieviel Geld er hat, und was er glaubt.‘ —
Wieder zu Ende.
‚... und
Drunter stand: Borwosky, Heck.
Korff erwidert schlicht und rund ...
... meldet laut persönlichem Befund
Untig angefertigte Person
Als nicht existent im Eigensinn
Bürgerlicher Konvention ...
... vor und aus und zeichnet, wennschonhin
Tief bedauernd nebigen Betreff ...‘
Nein, jetzt kam:
‚... vor und aus. An die Bezirksbehörde in —.
Staunend liests der anbetroffne Chef.‘
Georg schnaubte ein Lachen durch die Nase, das er nicht empfand. ‚Als nicht exist— —‘ na, nun wars schon genug! — Plötzlich fuhr er hoch und rieb sich die Augen. Er war am Einschlafen gewesen. — Ich verstehe Vater nicht, dachte er kopfschüttelnd. Was hat er dabei gedacht? Er hat ihn mir doch selber gegeben? — Ach, gleichviel, gleichviel, es war aus, und damit gut, gut, gut!
Georg glaubte zu verkommen an Überdruß über sich selbst. Zum Weinen verbittert gedachte er Renates. Erst vernachlässigte ich sie über Esther. (Ach, ich glaube, ich hätte Esther heiraten sollen!) Dann bildete ich mir ein, ich weiß nicht mehr, weshalb, ich dürfte erst wagen, Renate in meine Kreise zu ziehn, wenn alles gesichert sei. Ich wollte ihr ja das Herzogtum zu Füßen legen. So gehörte sichs. Ah, dazu führten nun meine nationalökonomischen Studien! Keine Ahnung, daß ein Vertrag nach hundert Jahren noch einer ist. Ach, ich bin müde und will schlafen, dachte er, sich ergebend, knöpfte die Weste auf und trat an den Tisch, um den Inhalt seiner Taschen darauf zu legen, Uhr und Kette, Feuerzeug, Brieftasche, Schlüsselbund, Taschentuch. Da lagen die Blätter über die Zustände von Herrn Topf auf dem Bett. Er nahm sie, stopfte sie in die Lade. Da mußte er sich im Zimmer umsehn. Ja, hier lebte er seit ein paar Monaten und hatte sich, von allem Tiefsten abgesehn, ganz wohl darin befunden. Gegen früher war nichts verändert. Er gähnte, dachte an Helenenruh, an grüne Wiesen, an gackernde Hennen. Ach, die ersten Ferientage der Kindheit, das fremde Erwachen in Helenenruh, Sonne im Zimmer, draußen das ganz sonnige Gackern der Hennen, der krähende Hahn, ganz fern die jungen Hähne im Dorf, und dann der erste Blick aus dem Fenster, damals, als ich noch im Nordflügel wohnte, auf die Felder hinaus, die leise wogten, und mitten drin die Dächer vom Dorf, der Kirchturm, und unten vorm Fenster schritten die gesprenkelten Hennen, scharrten mit dem Fuß, sahen links und rechts und gingen weiter ...
Und daß alles dies eigentlich gar nicht mir gehört ...
Er hielt die ausgezogenen Hosen in der Hand, ging nun zum Schrank und hängte sie hinein, nahm Rock und Weste vom Sofa und hängte sie fort, setzte sich und begann, die Stiefel auszuziehn. Den ersten niedersetzend, erinnerte er sich Magdas, ganz sehnsüchtig. Vielleicht liebte ich doch sie am meisten, besann er sich trübe. Er zog den zweiten Stiefel vom Fuß, setzte beide unters Bett, zog die Steppdecke zurück und holte das Nachthemd hervor. Nun kann ich ja also zu meinen rohseidenen Schlafanzügen zurückkehren, dachte er verloren. Ich glaube, morgen fahre ich nach Altenrepen. Vielleicht kommt auch morgen ein Brief vom Vater. Da durchkreuzte sich dies Wort mit dem Gedanken, daß sein Vater nicht sein Vater sei, die Galle stieg ihm hoch, er schleuderte das Taghemd von sich, streifte das Nachthemd über, blies hastig die Lampe aus, merkte, daß er noch in Unterhosen und Strümpfen war, streifte sie ab, warf sie aufs Sofa, legte sich ins Bett und schlief gleich darauf ein.
Georg, in einem dumpfen, verbitterten Traumzustand seit Tagen, jetzt durchbohrt von Ungeduld, in andre Kleider und zu Renate zu kommen, verließ den Berliner Schnellzug und schob sich durch vielerlei Reisemenschen die Treppe hinunter und durch den Tunnel in die große Halle, doch heimatlich berührt vom Altenrepener Gesicht. Er trat in eines der Portale, sah nachmittäglichen Sonnenschein auf dem alten Platz, es war warm und roch nach März. Da! Esther! durchfuhrs ihn, — aber sie war ja tot ... Aber die da vor ihm im Wagen saß, nein, Esther war es ganz und gar nicht, nur ihr Mund wars mit dem süßen, schwärzlichen Flaum an den Winkeln; das Gesicht war ähnlich blaß und zart, wie es häufig das Esthers gewesen war. Diese saß im Rücksitz des weiten Kaleschwagens — ein großes schwarzes Pferd stand stämmig und ruhig davor — tief hineingelehnt, in schwarzem glatten Pelzwerk; die Spitze ihrer Nase war zarter und hochmütiger gekrümmt als Esthers Nase; sie trug einen schwarzen Hut aus Filz mit hochgebogener Krempe, postillionartig, und vor ihr, einen Fuß auf dem Wagentritt, stand ein Herr im Pelz und sprach mit ihr. Nun bewegte sie das Gesicht her, und Georg sah in dem kleinen Dreieck erschreckend groß die Augen mit sehr langen Wimpern von —? — Gott, wie hieß sie denn noch? — Schley, Virgo Schley! — Ein Träger, Taschen unter dem Arm, einen Koffer auf der Schulter, schob sich dazwischen, aber ihre Augen kamen unverändert hervor, unverändert in der Richtung auf die seinen, ohne Erkennung darin, — und nun er selber, er dachte nichts mehr, fühlte nur und erwiderte ein wunderbares, tiefes Anschaun, das dauerte — — dauerte — —. Jetzt wandte der Herr sich um — war er ihrem Blick gefolgt? — Georg sah undeutlich sein Gesicht, es schien ihm bekannt, es war Schley. — Der nahm den Zylinder ab, trat auf ihn zu und sagte: „Georg, lieber Junge, seh ich dich wieder?“
Überrascht und erfreut sah Georg das Einglas aus dem langnasigen Gesicht tropfen. Sie schüttelten sich die Hände. Die Frau im Wagen hatte sich aufgerichtet und sah herüber.
„Ja, wie ist es denn mit dir?“ fragte Georg, „du mußt entschuldigen, ich weiß nichts Rechtes, ich habe so für mich gelebt ...“
Der Adel sei dahin, sagte der Freiherr, sonst nichts; er habe ihn seinem guten alten Papa mit in den Sarg gegeben.
„Ja, und nun bist du Abgeordneter, nicht wahr?“
„Jawohl, jawohl, für den Fortschritt, vorläufig, jetzt will ich eben nach Berlin, es ist noch Zeit, komm, ich stelle dich — ah, du kennst ja meine Frau!“
Er zog Georg zum Wagen und sagte: „Hier ist der Prinz Trassenberg, du erinnerst dich wohl? Ja, hör mal, Georg —“
Sie reichte ihm die Hand. Lachte leicht und sagte:
„Damals sahen Sie aber hübscher aus, — was haben Sie denn für Falten bekommen? Daß wir Brüderschaft getrunken haben, hab ich aber vergessen!“
Hatten sie Brüderschaft getrunken? — „Schade,“ meinte Georg, „aber ich verdiene es wohl nicht — für damals.“
Georg hörte Schley lachen und von jenem Abend reden. — Wie seltsam ängstlich ihre Augen waren. — Ihr Mann blickte auf die Uhr, meinte, es würde Zeit für ihn, und küßte seiner Frau die Hand, ermahnte sie, guten Mutes zu sein, drückte Georg die Hand und ging. Nun stand Georg näher vor ihr, sah auf sie herab, aber sie sah ihn nicht an, sondern nach drüben hinaus. Endlich blickte sie auf: ob es ihm recht wäre, sie habe ein Stück die Allee hinunterfahren wollen. Oh, das sei reizend, meinte Georg, da wohne er ja. Er setzte sich in die andre Ecke des Rücksitzes, der Kutscher sah sich um, der Wagen setzte sich langsam in Bewegung.
Georg vermied es, sie anzusehn: sie hielt das kleine Gesicht gesenkt, drückte zuweilen den kleinen schwarzen Muff dagegen, sprach kein Wort. Auch wars allzu lärmend herum, der Verkehr drängte fast in den weit offnen flachen Wagen, vorüber- oder mitfahrende Radler sahen zu ihnen herein, eine lange Zeit blickte vom Hinterperron einer Trambahn ein Halbdutzend Augenpaare auf sie herunter, nun waren sie über den Platz am Café und rollten leichter die breite Straße hinab, plötzlich blendend überflutet vom Untergang der Sonne, in die sie gerade hineinfuhren, die alles umher glühend färbte und Georg zwang, sich im Wagen auf und vornüber in den Schatten des Vordersitzes zu setzen.
Virgo Schley, dachte Georg. Eine Waise, hatte er gehört, die Adoptivmutter eine sondre, alte Frau, — der Vater des Freiherrn hatte sich vor kaum drei Jahren erst den Adel gekauft, der war freilich nicht viel wert. Langsam kehrte ihr erster Blick in ihm wieder, wie war der doch geschwisterlich gewesen, heimatlich ... Da lenkte der Wagen auf die andre Straßenseite und hielt gleich darauf.
„Ach,“ hörte er sie leise sagen, „hier ist ja der Obstladen ... ich wollte ... bitte, helfen Sie mir heraus.“
Georg sprang eilfertig auf den Bürgersteig und hielt ihr die Hand hin, sie streifte, als koste es sie die schwerste Anstrengung, die Decke von den Knien, erhob sich, — und Georg konnte nun die leichte Schwellung ihres Leibes sehn, wie der Kleidrock sich, von der Decke unten gehalten, straffte: sie war guter Hoffnung. Schwer auf seinen Arm sich stützend, stieg sie mit unendlich langsamer Vorsicht aus. Im Laden kaufte sie unter hundert Zweifeln, Zurücknahmen und Änderungen eine Menge Trauben, Ananas und Birnen, so schöne, gelbe, daß Georg, auch aus Mitleid mit der Verkäuferin, für sich einige von ihnen kaufte. Als sie wieder im Wagen saßen, war sie völlig erschöpft, lachte aber nun ein wenig über sich selbst und fing an zu plaudern, fragte, ob Georg noch studiere, ob er Berlin nicht hasse, und Georg wurde redseliger und versuchte, ihr diese und jene absonderliche Schönheit von Berlin zu beschreiben, so einen Frühlingsabend, wie er ihn eben noch gesehn, wenn in den Körben der Verkäuferinnen in den schon grauen Straßen die Blumenberge leuchteten, gelb von Primeln und Narzissen, feuergolden von Tulpen und blaurot von Rivieraveilchen, und dann die gewaltigen Schattenmassen der Häuserblocks mit ihren Schloten und Türmen in einer brandigen, schwärzlichen Röte, die ins sanft Klare rauschte, in durchsichtig weißes Gold, und über allem der grüne Himmel, locker bemalt mit vergehenden silbernen Rändern von unsichtbaren Wolken, höher hinauf so blau wie das Meer auf japanischen Holzschnitten.
Sie rollten schon auf dem Fahrweg neben der kahlen Allee; angenehm trabten durch die Stille die großen, ebenmäßigen Hufschritte. — Da bist du nun ... hatten ihre Augen gesagt — da bist du nun — da bist du nun ... Ein süß beklemmendes Mitleid bedrängte sein Herz. Bereitete sich hier der Frühling vor, den er eben beschrieb? Nacktschwarz und wie hineingesteckt standen die Gesträuche auf dem graugrünen Rasen, der Himmel war rein und leer; Georgs Gesicht wurde im Fahren durch entgegenschwimmende laue und kühlere Wellen gezogen. Schwere Krähen, wie aus Metall gemacht, schritten im weichen Grasboden, spreizten die Fittiche auf, grün schillernd im Schwarzen, sprangen ab, schwebten zwei Schritte überm Boden ein Stück, landeten hart und in kurzen Sprüngen. Ach, nicht denken, stammelte Georg innerlich, nichts denken! Einfach hinnehmen! Wie entsetzlich war dieser Winter! — Ich will sie in mein Haus tragen, sie ist ja wie ein verkümmerter Vogel. — Er sah sie wieder an und sagte sich: Ich werde sie lieben — so wie Esther —, ich kann nicht anders, mein Herz folgt einmal jedem Stern, um so lieber, je zarter und hülfloser er scheint, ich muß immer brüderlich sein und beschützen. Nun, der Wagen rollte von selber den Weg durch die Anlagen hinunter, schräg auf die Sternwarte zu. Georgs Herz fing an zu pochen, sie kamen näher, das Schlößchen wurde sichtbar, da standen die Kandelaber, Gott sei Dank, er war wieder zu Hause.
„Bitte, halten Sie“, sagte er zum Kutscher, als sie in der Nähe der kleinen Tür waren, und faßte sich ein Herz. „Ach, bitte, kommen Sie nun mit, ich zeige Ihnen meinen Garten ...“
„O, wie gerne!“ sagte sie gleich, kindlich erfreut, und siehe da, es ging durchaus leichter diesmal mit dem Aussteigen, und sie lief mit kleinen, leichten Schritten neben ihm her. —
Lächelnd erschien der blasse Egon. — Das Zimmer war vorbereitet, Blumen in allen Vasen — alles war wie einst. — Sie sah sich neugierig um, den Kopf drehend. „Wie hübsch ist es hier!“ meinte sie; sonderbar, das hatte doch noch niemand gesagt! — „Die Menge Bücher! Lesen Sie so viel? — Später werden Sie mir vorlesen, mögen Sie gern Verse? Ich mag nur Verse.“
Ach, da war nun ein Mensch, der nicht das geringste von ihm wußte, und er von ihr — — ja, was war da wohl viel zu wissen. Sie war ganz dicht zu ihm getreten und sah zutraulich zu ihm auf; ganz rasend überfiel ihn das Verlangen, sie in die Arme zu schließen, er sah, daß sie einen Handschuh ausgezogen hatte, ergriff ihre Hand und zog sie zum Munde empor. Da sie nicht wieder fortgezogen wurde, küßte er sie langsam von allen Seiten — o wie war sie glatt und warm und weich und lebendig, ohne Ring, ohne alles! — küßte den Rücken, das Gelenk, die Finger einzeln, den kleinen, weichgekrümmten Daumen, der ein kleines, runzliges Gesicht hatte.
„Ja, was machen Sie denn?“ hörte er sie nach einer Weile fragen. Klein stand sie vor ihm, den Arm hochhaltend, die Brauen ein wenig gerunzelt, aber der Mund lächelte — lächelte atemberaubend.
„Soll ich nicht?“ fragte er.
„Ach, warum nicht,“ meinte sie achselzuckend, „wenn es Freude macht. Aber nun muß ich sitzen.“
Georg mußte ihr einen Sessel vor die Gartentür schieben, dort versank sie, zog auch den andern Handschuh aus, aus dem ein locker sitzender Reifen von Gold zum Vorschein kam, den sie gleich abzog und ihm gab. Er sollte ihn auf den Tisch legen, er sei ihr immer zu schwer. „Aber nicht vergessen nachher, daß ich ihn mitnehme!“ rief sie leicht und lachte in sich hinein.
Georg war ratlos. Sie war ja ein Kind — und Mutter — — und hieß Virgo? — Sie legte die Handflächen gegeneinander über dem Muff im Schoß, neigte das Gesicht und sah nach oben, gegen den verblaßten Himmel, großen, gläubigen Auges. Bald darauf nestelte sie den Hut los — es sei ihr alles zu schwer —, fuhr mit den Händen ins braune Haar, das kurzgeschnitten war und lockig um das kleine dreieckige Gesicht stand; im Nacken war sie völlig ein Knabe. Sie sah wieder gradaus; Georg, nicht weit hinter ihr an der Schreibtischkante lehnend, konnte die Augen nun nicht mehr wegwenden von ihrem Gesicht, und bald kamen die ihren langsam herbei. Die Nasenflügel blähten sich ganz leise auf, Georg sah es deutlich, — es erinnerte ihn an — an ein Kind, das sich im Schlaf bewegt, aufatmet und tiefer schläft.
„Heißen Sie wirklich Virgo?“ fragte er. Sie nickte lächelnd.
„Komisch, nicht?“ Ernster dann, und mit seltsam tiefer Stimme, und doch nicht ohne — ohne etwas Verlockendes in Blick und Stimme, sagte sie: „Denken Sie nur! Ich hatte keinen Vater und keine Mutter, eine alte Frau nahm mich zu sich, die nannte mich Virgo.“
„Pflegt sie nicht in Hosen zu gehn?“ fragte Georg, sich dunkel erinnernd, „und Pfeife zu rauchen?“
Virgo lachte. Sie wäre selber immer in Hosen gegangen, es sei herrlich, und ihre Stiefmutter sei um die Wette mit ihr geritten und habe Hurra geschrien, Georg sollte sie kennen lernen. Nach einem Schweigen sagte sie süß und ganz langsam: „Georg ist ein schöner Name!“ —
Georgs Herz fiel in Stücken auseinander. Cordelias Worte ... Himmel, diese Wiederholungen! — Schwer sich bewegend, nahm er einen Stuhl, er glaubte, sie nicht mehr ansehn zu können, setzte ihn neben ihren Sessel und ließ sich nieder. Ein Weilchen später legte er seinen Arm auf das weiche Lederpolster der Lehne ihres Sessels, und es dauerte nicht lange, so glitt eine leichte, warme Flocke darauf, ihre Hand; ihre Finger schoben sich in die seinen, sie sagte ganz leise wieder:
„Ich habe mich immer“ — jetzt ward ihre Stimme ganz tief — „so namenlos gefürchtet vor — dem Kind. Am meisten vor Wolfgang —“ Die Stimme wechselte wieder und tönte hell: „— nun bei Ihnen ist es gut, und ich kann alles vergessen.“
Georg rührte sich nicht. Ihm war sonderbar zufrieden zumut, ja, glücklich. Dies Kind eine Weile zu schützen, das war sehr gut. Er glaubte, getrost den Arm um ihre Schulter legen zu können, obwohl er es seinetwegen tun mußte, nicht ihretwegen, aber kam es nicht allein darauf an, wie sie es empfand? — So löste er die Hand aus der ihren, legte dafür die andre hinein und den Arm um ihre Schulter. Als sie sich gleich tiefer hineinlehnte, mußte er sich sagen: Sie trägt ja ein Kind — wie kann sie mich empfinden? — So saßen sie schweigsam zusammen, sahen die Schar der qualmenden Fabrikessen in der Ferne langsam undeutlicher werden in der sinkenden Dämmerung, fühlten warm ihre Hände und waren jeder — Georg sprach es sich aus — in einem Reich für sich — aber doch hielten sie einander und spürten Wohltat. — Als es fast dunkel im Zimmer war, machte sie ihre Hand frei und flüsterte, sie müsse gehn, sie würde erwartet. Sie erhob sich dann, Georg reichte ihr den Hut, sie setzte ihn auf, nahm Handschuh und Muff aus seiner Hand, stand noch ein Weilchen und sah sich um. Dann ging sie leicht hinaus.
Aus dem Wagen die Hand streckend, sagte sie nur: „Ich komme bald wieder.“
„Morgen?“ fragte Georg.
Sie lachte hell und kindlich: „Morgen früh! Los, Krischan!“ rief sie dem Kutscher zu. Hinter dem davonrollenden Wagen erschien im Dunkel der Bäume langsam das kleine, bläßliche Dreieck ihres Gesichts fast wie ein leerer Wappenschild, in dem dann langsam die beiden Augen aufgingen. Georg suchte schwereren, aber nur von süßer Ratlosigkeit und Hoffnung schweren Herzens sein Zimmer wieder auf, setzte sich an den Schreibtisch, und etwas fiel zu Boden, rollte und blieb klirrend liegen. So —! Ihr Ring — natürlich hatten sie ihn vergessen. Er suchte, fand ihn nicht, machte Licht und sah ihn vor der Bücherwand liegen, glänzenden Auges wie ein erwischter Igel. Er hob ihn auf, trat zur Lampe, ließ sie aufflammen und suchte nach einer Schrift im Innern des Reifens. Wolfgang Theodor stand darin, 24. Mai. — Georg wog den Ring in der Hand, schob ihn dann in die Westentasche, dachte: Ich will ihn ihr bringen, dann seh ich sie gleich — —, aber er entschlug sich des Wunsches. Da lag die Tüte mit Birnen auf dem Tisch. Ja, Birnen! dachte er erfreut, drehte den Sessel, in dem sie gesessen hatte, gegen das Licht, holte eine Birne hervor, riß durstig den Stiel aus und biß von oben hinein wie als Junge. Der Saft tropfte, er verschlang sie mit Stumpf und Stiel atemlos und griff nach einer zweiten. Indem er sie in der Hand wog, hörte er sagen: Das sind so Sexualitäten. — Er lachte schnaufend durch die Nase. Wo hatte er das —? Richtig, in jenem Tanzsaal in Halensee, zwei solche Handlungsgehülfen standen zusammen, und als zwei Mädchen vorbeitanzten, fragte der Eine: Was sind das für welche? Ach, das sind so Sexualitäten, sagte der Andre. — Georg zertrat den Gedanken ergrimmt. Sie ist Mutter, dachte er, ja, wie ist das zu glauben? Da war ihr knabenhafter Nacken, ja, so mußte Marias Nacken gewesen sein und so geneigt, als der Engel eintrat und die Lilie gegen sie neigte, und sie konnte nichts begreifen ...
Nein, keine Birne mehr! sagte er. Die erste war unübertrefflich, eine Birne ist besser als zwei Birnen, das ist klar, Wiederholung wirkt tödlich. Oh, und nun wird es womöglich eine Wiederholung Esthers geben. — Die Frucht in der Hand, die langsam warm wurde, sah er ins Licht und dachte: Liebe Esther! Es war ihm, als hielte er eine Hand umschlossen, langsam begann es in ihm zu wogen, auf einmal hielt er die Worte: Wer noch so jung ist wie du ... Weiter ... Wie weiter? — Wer noch so jung ist wie du — Fühlt noch der Schmerzen Gewalt ... Behutsam stand er auf, legte die Birne fort, setzte sich vor den Schreibtisch, nahm Bleistift und den Notizblock und schrieb:
Wer noch so jung ist wie du,
Fühlt noch der Schmerzen Gewalt;
Später wird alles gelinde,
Gram und die Lust und der Tod.
Geh auf die Flamme nur zu ...
Wie nun? Sollte auf die ersten Zeilen gereimt werden? Er fand:
Blasse, geliebte Gestalt.
Flamme verzehrt nur ...
Er suchte ... Not, Rot, blinde, Binde, Gewinde, umloht, bedroht ... Ja! Und er schrieb:
Flamme verzehrt nur die Rinde,
Aber du bleibst unbedroht.
Damit war es aus. Laß ihr die goldenen Schuh ... fing er noch wieder an, aber er merkte, es war nichts mehr, und dann warf er wütend den Stift hin und hätte sich mit Entzücken selber auf den Kopf gespien. Das verfluchte Sieb ist es ja nur! verschwor er sich, das verfluchte Berliner Sieb, durch das man seine Empfindungen rührt; unten tropfen die Verse heraus, und in der Brust bleibt nichts zurück als Schale und Satz, und man ist so kalt, so schlaff und so traurig wie nach dem Liebeskrampf. Herrgott, Herrgott im Himmel, was soll bloß aus mir werden! —
Aus seiner verzweifelten Erstarrung weckte ihn das Geräusch des blassen Egon im Eßzimmer, der den Tisch für den Abend deckte. Er sprang auf, trat zur Gartentür, öffnete sie und tat zwei Schritte in den Garten. In der kalten Stille stand das Gesträuch und das Geäst der Bäume regungslos, kaum sichtbar; sichtbar nur oben, wo weiße Sterne waren.
Kommt nun wieder das Frühjahr, wieder die alte, seltene Lust, die immer neue, die nie bekannte? Kommen wieder die Schwalben und wecken das Herz, lieblich tönend im leichten Raum, und kommt das große Sprießen über die Erde und das Buschwerk, in dem Vogelstimmen laut werden, als wären sie gewachsen im Gezweig? Kommt wieder über das empfindungslose Herz der allgemeine Schauder, kommen wieder Winde und Gewölk, die Musik der Halmefelder, und kommt auch wieder, wieder das alte Hoffen?
‚Und so verbürgt es die Form der Sonnenblume‘, hörte er tonlos sagen. Ihn fror leicht. Er ging ins Zimmer zurück, trat an die Bücherwand und suchte Carossas Doktor Bürger. ‚Und so verbürgt es die Form der Sonnenblume‘, das war der Ausgang des Satzes, aber wie hieß es ganz? Das Buch war nicht zu finden, vielleicht hatte Benno es genommen. Da stand Egon in der Tür.
„Weiß Herr Prager, daß ich zurück bin?“ Egon zuckte die Achseln. Er habe für ihn gedeckt. — Georg ging nach nebenan, hörte aber jetzt das Telephon anwecken, ging wieder zurück, hob den Hörer auf und sagte: „Georg Trassenberg.“
Eine kleine, fremde Stimme fragte: „Georg?“
Wer war denn das? Ach, um Gottes willen ... „Virgo?“ fragte er.
Er hörte sie leise lachen. „Wie gehts Ihnen denn?“ fragte sie.
„Ach, wunderbar!“ versicherte er, „wunderbar!“
Eine Weile wars still, er wollte eben fragen, ob er nicht kommen dürfe, da hörte er sie sagen: „Lieber guter Georg, ich konnte es eben gar nicht sagen, ich wollte ...“ Sie verstummte.
„Was denn?“ fragte er liebevoll.
„Ich habe die ganze Zeit denken müssen, wir haben doch Brüderschaft ...“
„Ja, Est—,“ brach es aus seiner Brust auf, „— ja, Schwesterchen, ja, ich habe es auch immer gedacht.“
„Wie schön!“ sagte sie aufatmend. „Da werd ich einmal gut schlafen heut.“
„Ja, das mußt du auch“, bekräftigte er sänftlich.
„Dann, gute Nacht!“
„Gute Nacht, kleine Schwester!“
Georg legte den Hörer hin, stützte die Knöchel auf die Schreibtischplatte, starrte vor sich hin.
So ist es gut, murmelte er tonlos, so ist es gut — so — ist — es — gut — —
Georg sah beim Betreten des Arbeitszimmers, links nahe der Treppe, zu seiner Begrüßung zurechtgestellt, einen langen Gehrock, davor eine Hand, die einen umflorten Zylinder hielt, und darüber eine goldene Brille, streckte die Hand aus und sagte: „Herr Hofkammerrat?“
Der verbeugte sich, nicht eben sonderlich tief. Unterhalb der Brille erschien jetzt das nach unten zurückfallende Kinn; kein Bart, ein ältliches Gesicht mit rötlichen, kleinen, scharfen Augen ohne Brauen und Wimpern, vielleicht — jesuitisch. Im Zimmer klang es trocken:
„Durchlaucht — —, ich komme vom Beuglenburger Hofe, — mit einer Trauernachricht.“
Georg zuckte zusammen. Beuglenburg ... Trauer ...? Er war am Hofkammerrat vorüber zum Schreibtisch gegangen, drehte sich nun langsam herum, hörte:
„Ich bin Überbringer der traurigen Nachricht vom Ableben Seiner Hoheit des Erbprinzen Adolf Emil; er verschied gestern abend gegen sieben Uhr nach langem schwerem und mit unsäglicher Geduld ertragenem Leiden.“
Die ruhige und trockne Stimme erlosch. Georg glühte auf am ganzen Leibe und zitterte über und über, — warum bloß? Was war — —? Da hörte er sich schon sagen: „Mein tiefempfundenes Beileid, Herr Hofkammerrat, das ich auch Seiner königlichen Hoheit auszusprechen bitte.“ Er setzte sich, machte eine Handbewegung und drehte den Schreibstuhl herum gegen seinen Besuch. — Der Hofkammerrat setzte den Zylinder fort, sank in den tiefen Sessel, lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und fing an, die Handschuhe auszuziehn. Es sauste Georg in den Ohren, er wußte, daß er etwas sagen mußte, er dachte, ohne es zu verstehn: Erbprinz, Großherzog, Sigune. Eine dünne englische Stimme rief ganz fern durch einen Garten: „Gunny! Gun—ny!“ — Mit aller Gewalt nahm Georg sich zusammen, setzte sich grade, da verließen ihn alle Gedanken, er sah den Grafen gelassen, tiefer als er, im Sessel sitzen; nun hob er die linke Hand, weiß und flach, klopfte mit den Fingerspitzen gegen den Mund und räusperte sich. Eine Redewendung schoß Georg auf, die er gleich hersagte: er zweifle gleichwohl nicht, daß die Übermittelung dieser Nachricht nicht der Grund sei für das persönliche Kommen ... Und nun hatte er sich einigermaßen wieder.
Die Stimme des Hofkammerrats war wieder hörbar, trocken und leicht hinbewegt, fast herablassend. Er erklärte, es sei dem Prinzen voraussichtlich bekannt, daß nunmehr von drei Kindern dem verwitweten Großherzog noch eine Tochter Sigune, nunmehr im neunzehnten Lebensjahre stehend, verblieben sei; als bekannt dürfe er wohl auch voraussetzen, daß nach Zinnaschem Hausgesetz die Regierung erblich sei im Mannesstamm des Hauses Siegen-Zinna nach dem Rechte der Erstgeburt bis zum letzten Grade nachweisbarer Verwandtschaft mit der Linie, und daß die weibliche Linie auch nach dem Erlöschen des Mannesstammes von der Erbfolge ausgeschlossen bleibe.
Georg hatte kein Wort verstanden. Er dachte verzweifelt nach. Der Erbprinz ... Tuberkeln — — immer krank, richtig. Mein Vertrag, mein Vertrag — mein Vertrag — — Ihm war eiskalt. Wie bin ich denn verwandt mit ...? Er glaubte, dunkel zu wissen, daß außer ihm noch ein Verwandter ... Derweilen fuhr der Hofkammerrat fort, vom Großherzog zu reden und ihn einen armen, kranken, gequälten, der Geschäfte und des Lebens müden Mann zu nennen, durch den Tod des Sohnes völlig gebrochen und gewillt, schon jetzt zugunsten eines Verwandten auf die Regierung zu verzichten. — Nun komme ich, nun komme ich! schrie da etwas in Georg. Ja, — der Großherzog, — magenleidend, von Kind an grämlich, trübsinnig, — sexuelle Anormalität ... verheimlicht ... Seine Frau machte einen Fluchtversuch vor der Heirat ... armes Geschöpf! — — Erster Sohn kam tot ... Sie starb ... Herzschlag — — oder — freiwillig? —
Auf einmal hatte Georg das Gefühl, als ob ihn dieser Mensch unablässig beobachte. Er zog sich im Stuhl zurück, kreuzte die Beine, ließ die Mundwinkel fallen und sagte, da der Graf schwieg: „Bitte, reden Sie weiter.“ Der setzte die Ellbogen leicht auf, lehnte die Fingerspitzen beider Hände zu einem Dach gegeneinander und sprach; seine Augen blieben Georg unsichtbar hinter den zwei scharfen, weißen Ovalen der Brillengläser; die Spiegelung der Fenster, auch Geäst waren darin erkennbar.
Er sprach nun von dem Vertrage, bedauerte obenhin die Unerfüllbarkeit, meinte aber, es würde sich vielleicht ein andrer Weg finden zur Verwirklichung von Georgs Hoffnungen. Dann sprach er von der Verwandtschaft des Zinnaschen Hauses, nannte Georgs Vater, — der habe bereits früher aus einem gewissen Anlaß seine bekannten Grundsätze offiziell betont, die ihm die Übernahme der Regierung unmöglich machten ... Ferner den regierenden Grafen Beuglenburg-Lipsch, Georg Egon, — und schließlich Georg selbst; der Grad der Verwandtschaft Beider mit dem Hause Zinna sei genau der gleiche; immerhin sei der Graf bereits in höheren Jahren, sei zudem zwar verwitwet, aber katholischen Bekenntnisses und katholisch getraut gewesen, so daß eine neue Ehe folglich ausgeschlossen sein dürfte ... Georg dachte noch, daß auch die Zinnas katholisch seien, da schlug ihm das Satzende erst aufs Herz. — Ich soll Sigune heiraten! dachte er, bewegte gleichzeitig die Lippen und hörte sich fremdartig sagen: „Ich bitte Sie nun, Herr Hofkammerrat, sich Ihres vollkommenen Auftrages zu entledigen.“
Nun ließ der seine Hände fallen, setzte sich im Sessel vor, faßte flüchtig nach den Brillenstäben, entschloß sich dann, die Brille ganz abzunehmen, kniff mit zwei Fingern den rotgesattelten Nasenrücken und sagte, die goldene Brille ganz leise in der Linken hin und her bewegend, — er hat ganz gute Augen, dachte Georg, nun, wo er mich grade ansieht —:
„Mein königlicher Herr, der Großherzog, hat den innigen Wunsch, seine Tochter als Ihre Gemahlin, Durchlaucht, zu sehn und damit Sie selber, Durchlaucht, unter der Krone, — unter einer Krone, welche die beiden Lande, Beuglenburg und Trassenberg, vereinigen würde. Sollte Ihnen, Durchlaucht, wie ich wohl annehmen darf, besonders an dem Titel eines Herzogs von Trassenberg liegen, so —“ schloß er ganz schnell und oberflächlich, „würde sich das ja leicht ermöglichen lassen.“
Georg mußte sich zusammennehmen, nicht durch die Nase zu blasen, und glaubte, vor Wut zu explodieren. So. Nun kam es. Erst verzichtete man, fand sich ab, fand sich hinein, ging seiner Wege, — ja, erst hatte man den schönsten Plan, arbeitete dran Jahre lang, rüstete sich, freute sich, kam näher, und dann — wars nichts. Dann — fand man sich ab, war schon ganz wo anders, und jetzt — — fing es wieder an, aber: zum Nichtwiedererkennen abscheulich entstellt! Und — und warum hat Papa nur geschwiegen? Fast zehn Tage geschwiegen? — Dumpf, hinter unbeweglichem Gesicht die Zähne zusammenbeißend, hob er die linke Hand gegen das Gesicht, betrachtete sie aufmerksam, konnte endlich fragen:
„Bitte, — ehe wir weitergehn, haben Sie vielleicht die Güte, mir zu sagen, wie Prinzeß Sigune selber sich zu dem Wunsche ihres Vaters verhält.“ Mn — dachte er, das war ein Faux pas, daß ich auf den väterlichen Wunsch gar nicht eingegangen bin, aber das ist mir — Wurst!
Der Hofkammerrat lächelte. Ja, er lächelte ganz freundlich und sagte: „Die Prinzessin hat selbstverständlich keine andern Wünsche als ihr Vater.“
Georg sah dies Mädchen, mager, eckig, unschön, allzublond, schrecklich schüchtern, — neun Jahre war sie damals. O lieber Gott, nein, diese ganze kranke Familie! Sicher war sie mondsüchtig. — Der Kammerrat derweil sprach ganz freundlich weiter:
„Die Prinzessin ist leider ein körperlich nicht besonders starkes Kind; was aber die Natur hier versagte, das, kann ich wohl sagen, hat sie durch eine reiche, innere Fülle, an geistigen, ganz besonders aber an seelischen, an Herzensgaben ausgeglichen. Dies weiß vielleicht, ja ich möchte ruhig sagen: dies weiß sicherlich niemand so gut wie ich, da sie mir in langen Jahren ihrer — leider — allzueinsamen Jugend fast wie ein eignes Kind geworden ist. Ich bin freilich eine — ich möchte sagen, philologische Natur, andre würden es auch nennen: lehrhaft, — immerhin — die Prinzessin, —“ er bog plötzlich ab und fuhr fort: „Ich selber habe die Prinzessin von diesem sie betreffenden Ereignis in Kenntnis gesetzt. Die Antwort, — obwohl, wie ich der Wahrheit halber gestehen muß, nicht leicht zu erlangen, war derart, wie ich — nun, wie ich sie erwarten durfte. Und meinen Standpunkt in dieser Angelegenheit werden Durchlaucht bereits erraten haben.“ Er hatte seine Brille wieder aufgesetzt, stand auf, griff nach seinem Zylinder und sagte: „Ich habe den Auftrag, Euer Durchlaucht eine Bedenkzeit von einigen Tagen zu überlassen. Der Tod des Erbprinzen, so sehr er die Entschließungen meines königlichen Herrn beschleunigte, bedingt einigen Aufschub. Immerhin, sollten Euer Durchlaucht willig sein, auf die Ideen des Großherzogs einzugehn, so möchte ich mir gleich erlauben, einen Besuch Euer Durchlaucht in Zinna etwa nach Ablauf von drei oder vier Wochen in Vorschlag zu bringen.“
Georg hatte sich erhoben, stützte die Hände auf die Schreibtischplatte und blickte angestrengt aus dem Fenster. Er fühlte die Wut verraucht und sich kraftlos und müde. Ich könnte ihn gleich wegschicken, dachte er gleichgültig. Ohne seine Stellung zu verändern, drehte er Schultern und Gesicht nach dem Dastehenden herum und sagte möglichst ruhig und nicht unfreundlich:
„Ich möchte Ihnen keine allzugroßen Hoffnungen machen. Sie kennen mich nicht, Graf, Sie haben vielleicht von mir gehört, jedenfalls — ich bin kein Mensch —“ hier fiel ihm ein, daß gewiß schon Viele, in der selben Lage wie er, die gleichen Worte gebraucht hatten — „der sich —“ er wollte sagen: auf den Befehl eines alten Trottels, sagte jedoch kurz abschließend: „auf Wunsch verheiratet.“
Danach wandte er das Gesicht nach dem Fenster. Der Graf räusperte sich hinter ihm. Er möchte nicht denken, hörte Georg ihn sagen, daß er eine von dieser sehr verschiedene Antwort erwartet habe. Immerhin gebe es ja noch andre Wege für den Großherzog, und Georg dürfe glauben, daß dieser Weg kaum beschritten worden wäre, ohne Georgs eigne, vorangegangene Initiative, die seine Absichten, zur Regierung zu gelangen, offenbart hätten. — Ja, also nun bin ich noch selber schuld! — dachte Georg gekränkt.
„Also bitte,“ sagte er, sich umdrehend und locker die Hand hinhaltend, „kommen Sie morgen wieder.“
Er fühlte seine Hand kurz ergriffen und wieder losgelassen. Der Graf wich zur Treppe zurück, Georg folgte mit zwei Schritten empor und öffnete, draußen stand Egon und öffnete die Haustür, Georg sagte Adieu, schloß die Tür und blieb stehn. Das Gefühl, niesen zu müssen, ließ ihn das Taschentuch ziehn, er schneuzte sich, nieste dann ein paar Mal heftig, die Augen tränten ihm, er dachte: ich habe mich im Saal erkältet. Nun fühlte er auch Schmerzen im Rücken, wünschte, sich auszustrecken, aber es war kein Sofa da. Langsam ging er in sein Schlafzimmer und legte sich auf das Bett. Im Fenster war der traurige Märzhimmel und Geäst; er lag fast wie in Berlin.
Sie kann ja einen Andern heiraten, und der kann Regent werden. Oder der Beuglenburger Lipsch kriegt einen Konsens und heiratet sie. Ach, was geht das mich an! Nein, ich bin diese Sache nun müde. Merkwürdig! fuhr es durch ihn hin, habe ich eben wohl nur einen Augenblick bedacht, daß ich der gar nicht bin, für den er mich hielt? Genug, genug mit dem Ganzen! — Er warf sich herum, fühlte seine Nase dumpf und verschlossen, legte sich auf die Seite, das Gesicht nach der Wand und zog heftig Atem. Langsam erleichterte sich das rechte Nasenloch und wurde frei. Ob Papa dies alles wohl gewußt hat? — fragte er sich plötzlich. Der Erbprinz war ja immer krank gewesen. Oder weiß er vielleicht einen andern Weg? Und wenn ich nein sage, was dann? — Sein Kopf glühte, er stützte sich auf den Ellbogen, die Nase war wieder fest verschlossen, die Mundhöhle klebrig, und er drehte sich herum und sah nach dem Fenster; das blendete, ah, kam doch die Sonne? Aufspringend, lief er zum Fenster und sah nach oben. Ja, eine silberne, weißliche Quelle bewegte sich da oben im Grau, Gewölk wurde sichtbar, die Bäume regten sich, nun fiel ein blasser, gelber Streifen. Ach, wie sah auf einmal alles anders aus! — Ich bin so gräßlich nervös geworden, dachte Georg, so wie die Sonne wechselt, fühle ich mich froh oder trübe. —
Er ging nun wieder ins Nebenzimmer und setzte sich an den Schreibtisch, nieste heftig, schneuzte sich, — die Sonne war wieder fort. Man könnte es als ein Opfer ansehn, dachte er schwer. Renate, — das war noch eine Versüßung; und — es war zuviel, ein Doppeltes an Gewinst, — es soll aber das eine sein, das reine Ziel. Ach, wie schön, wie schön hätte es werden können! Beuglenburg obendrein — was gab es da nicht alles zu tun! Sigune — —? Wer weiß, was sie heute für ein Wesen ist? Zart, gutherzig würde sie jedenfalls sein, lenksam, willenlos. Freiheit genug würde ihm bleiben. Und Renate — sie konnte ja auch nicht wollen. — Vielleicht sehe ich sie mir einmal an; wenn sie gar zu schlimm ist, bin ich stark genug, auch rücksichtslos zu sein. Möglich auch, — ich sage ihnen dann, wer ich in Wahrheit bin! — Da sah er schon die ganze Szene, Minister, Hofkammerrat, denen er schlichte aber klirrende Worte hinwarf.
Aufstehend setzte er sich auf den Schreibtisch, streckte absichtslos die Hand nach dem Telephon aus, und da er dies getan, nahm er auch den Hörer auf und bat den Hausmeister, ihn mit Benno zu verbinden. Gleich darauf hörte er Bennos Klavier, es brach ab, Schritte kamen, er sagte: „Benno?“ —
„Ja, hier bin ich“, antwortete Bennos Stimme. Georg sprach matt und langsam weiter:
„Ich soll heiraten, Benno, die Beuglenburgsche Prinzessin, ja. Und Großherzog werden, — ja. Na, was meinst du?“
Benno, mit unterdrückter Stimme vor Erregung, sagte: „Ich bin außer mir! Georg! das kannst du nicht! Das ist Gewalt!“
Ach, der gute Benno, dachte Georg und wiegte sich, so ist die Sache denn doch nicht in Fürstenhäusern.
„Ja, lieber Benno, du drückst das ein bißchen stark aus. Wer was erreichen will, muß Opfer bringen. Neigungsheiraten, weißt du, sind an Fürstenhöfen sowieso verpönt. Denke, ich könnte König von Holland werden oder dergleichen, — und die Prinzessin ist vielleicht sehr nett.“
„Ist sie schön?“ fragte Benno.
„Ich weiß nicht, ich glaube nicht; aber sie soll sehr gut sein. Ich kann sie ja denn wenden lassen.“
„Du bist ja gar nicht so zynisch, wie du tust, Georg!“
„Ach, der Teufel“, schrie Georg, „soll da nicht zynisch werden! Na, danke schön, Benno, ich wollte bloß mal hören ... Also du rätst ab?“
Benno stammelte etwas, Georg lachte, er sollts schon gut sein lassen, und legte den Hörer hin. Die Nase juckte ihm wüst, er bearbeitete sie mit dem Taschentuch, indem er spöttisch dachte: Alles ist immer so einfach für die Unwissenden. Ich glaube, ich werde doch mal hinfahren. Ach, wenn man bloß nicht so allein wäre! Wer hilft einem denn? Aber nein, nein, nein, gut so, dies muß ich allein ausführen. Ich will schon fertig werden!
Er dehnte sich, und jetzt schwoll ihm die Brust vor unbestimmtem Verlangen nach Thronen und Fürstendasein. Er sah sich in stiller Arbeit, stiller, freundschaftlicher Gemeinschaft mit einem stillen weiblichen Wesen, das ihn liebte, das er gern sah und das er beschützte. Es könnte doch recht — schön — werden —, sagte er sich leise. Ach, man fühlt doch wieder, daß man lebt! Ziele sind da, Wege, Kreuzungen, Widerstände! — Er faßte nach seinem schmerzenden Rücken, dachte: Vorläufig werde ich wohl Influenza kriegen, und wünschte sich zu Virgo. Er ging auf den Flur, klingelte nach Egon, ließ sich den Mantel anziehn und verließ das Haus.
Renate trat aus der Kapelle, schloß die Tür, zog den grünen Schal fester um die Schultern und blickte eine Weile in den kahlen Garten. Es dunkelte schon; hinter den schwärzlichen Maschen des Buschwerks und der Bäume lag das Haus, stumm und lichtlos, grau, kalt. Frierend lief sie durch den Garten, die Stufen zur Veranda empor und schlüpfte in die angelehnte Tür. Während sie zuriegelte, wurde hinter ihr die Tür zum Flur geöffnet; dann kam vornübergebeugt, auf einen Stock gestützt, ein großer Mann herein, den sie im Halbdunkel nicht erkennen konnte. Drei Schritte kam er vor, die Füße absonderlich hochhebend, die Augen im großen, rasierten Gesicht fest auf sie gerichtet, lachte leicht auf, und — „Herzog!“ rief Renate und schlug die Hände zusammen. Er richtete sich auf und hob den Stock hoch.
„Was sagen Sie nu?“ rief er stolz.
„Ist es die Möglichkeit!“ sagte Renate und ging eilig auf ihn zu. Er nahm ihre Hand in seine Linke, sie merkte, daß sie selber es war, die ihre Hand fast gegen seinen Mund drückte.
„Es ist zwar“, sagte er, sie küssend, „unschicklich in Norddeutschland, einer unverheirateten Frau die Hand zu küssen, aber das macht nichts.“
„Sie gehen! Sie können gehen! Nein, wie mich das freut!“ Renate legte die Hände wieder zusammen und meinte, sie könnte schon ihre Freude recht deutlich werden lassen. „Und so verschönt, so verschönt! Welche Ehre mir da widerfährt!“
Sie ging zu einem der Sessel in der Nähe des Kamins und zeigte ihm einen andern. Nicht unbeholfen ging er draufzu und setzte sich. Zwischen Beiden kniete das Hausmädchen und machte Feuer unter den Holzscheiten. „Recht so,“ sagte der Herzog, „mich friert ausdermaßen. Setzen Sie sich schnell zu mir, ich habe genau zwanzig Minuten Zeit, dann geht mein Zug, ich muß nach Beuglenburg, es giebt die größten Umwälzungen, unterwegs hat mein Chauffeur mich umgeworfen, vielmehr gegen einen Baum gefahren, weil der Bauer nicht so wollte wie er, da bin ich mit dem Zuge gekommen.“
Das Mädchen ging, Renate setzte sich. Er reichte ihr noch einmal die Hand. Sie mußte sich Mühe geben, sein ihr bekanntes Gesicht wiederzufinden. Die Oberlippe war sehr schmal, der Mund schien größer und kräftiger, das Kinn war erstaunlich groß und stämmig. — Sehr ernst sagte er:
„Ich wollte Ihnen vor allem danken. Wenn mir etwas geholfen hat, waren es Ihre Briefe. Sie sind ein guter Kamerad, ich will dafür sorgen, daß Sie’s bleiben. Ja, da habe ich gehen gelernt. So wie’s gewesen ist, wirds ja nicht wieder werden, nicht einmal so, wie es hätte werden können, wenn ich gleich damals angefangen hätte, sagt der Arzt, aber —“ er setzte sich fest, „man muß zufrieden sein. Nun sagen Sie — wie geht es Ihnen denn? Ich fürchte, Sie sahen besser aus im Sommer.“
Renate lächelte nur und war froh. „Wollen Sie mir nun nicht erzählen, was das für Umwälzungen sind?“
Der Herzog sah auf die Uhr. „Bloß noch sechzehn Minuten,“ sagte er, „vielleicht könnt ich doch einen andern Wagen mieten, ich bin im allgemeinen kein Verschwender.“
„Ja, so nehmen Sie doch meinen!“ rief Renate und sprang auf.
„Augenblicklich!“ sagte der Herzog, „wenn Sie mit mir kommen. Sie können in zwei guten Stunden zurück sein!“
Renate, schon an der Tür, klingelte, versicherte, sie komme gerne mit, trug dem Mädchen auf, dem Chauffeur Bescheid zu sagen, und setzte sich wieder. Die Scheite im Kamin glommen langsam und widerwillig auf. Renate kreuzte behaglich die Arme und sah den Herzog erwartend an.
„Also,“ sagte er, „mein Sohn will Großherzog werden. Es ist eine hundsföttische Angelegenheit, mit Erlaubnis! Vor drei Tagen ist der Beuglenburger Erbprinz gestorben. Er hatte Tuberkeln, seit Jahren schon wurde sein Ende erwartet, ja, vor drei Jahren gaben sie ihn schon auf, aber er erholte sich wieder. Sein Vater ist — also — nur noch eine Masse. Erbschaftsberechtigt sind: erstens ich hier, mein Sohn und ein schon bejahrter Graf Beuglenburg-Lipsch, der gerne möchte. Ich falle aus, für mich ist das nichts. Mein Sohn — ja, was meinen Sie eigentlich? Sie kennen ihn doch ...“
Renate sagte: „Ich schrieb Ihnen ja ... Kenne ich Georg? Ich mag ihn gern, er ist klug, sehr fein und bescheiden. Freilich, was heißt das ...!“
„Nun, lassen Sie mich erst weiter erklären“, unterbrach er. „Außer dem verstorbenen Sohn ist da noch eine Tochter Sigune, neunzehnjährig, eine gute Seele, glaub ich, sehr fromm vermutlich, die Beuglenburgs sind katholisch, die Kleine war und ist — was ich leider nicht wußte — ganz in den Händen ihres Erziehers, der Hofkammerrat am Hof ist und nicht nur sie, sondern den ganzen Hof beherrscht. Jesuitisch erzogen übrigens. Die Entwicklung wäre daher die, daß die Beiden heiraten, mein Sohn und die Sigune. Und das scheint mir bedenklich. Georg hat Spätlingsnerven, hat gar kein Talent zur Brutalität, denkt von außen nach innen und ist noch sehr jung. Der Gedanke, daß er erbt, hat ja nun für mich alles Bestrickende. Trassenberg war bis über Achtzehnhundert hinaus selbständig, kam dann zu Beuglenburg. Aber Trassenberg gehört mir. Solange der alte Großherzog regierte, hatte ich keinerlei Schwierigkeiten. Alle Beamtenstellen in Trassenberg besetzte ich. Kommt der Beuglenburger Graf zur Regierung, so habe ich die Jesuiten im Land, und es giebt den ungeheuerlichsten Schlamassel; in jeder Beziehung. Das brauche ich nicht zu erklären. Ich könnte freilich selber regieren, ich bin der nächste, aber — ich will einmal nicht. Doktor Birnbaum ist zwar dagegen, stabiliert nach wie vor sein heiligstes Menschenrecht, nämlich das, jeden Augenblick seine Meinung ändern zu können, aber — ich habe mich an diese Meinung zu sehr gewöhnt, bin auch zu alt zu Neuerungen.“ Er lachte kurz und griff nach einem imaginären Bart.
Indem trat der Chauffeur ein und meldete, der Wagen sei bereit. Der Herzog stand auf. „Fahren wir nur,“ sagte er, „ich bin so schon ungeduldig genug.“
Eine Weile später saß Renate unterm schwarzen Pelz in der Wagenecke, der Herzog in der andern, der rechten, die er sich ausbedungen hatte, da er auf dem rechten Ohre taub sei. Wie Bogner! fiel es Renate ein, wo war Bogner? Oh dies war auch ein Mensch, dieser nicht regierende Herzog! Das Automobil bog gleich in den Wald ein, die Lampe unter der Decke glühte auf, das Gesicht des Herzogs erschien rötlich; eng und warm war der Raum um sie, die Scheiben beschlugen schnell.
Der Herzog war plötzlich verstummt. Renate mochte ihn nicht stören, da er sicherlich viel im Kopfe hatte, auch genügte ihr vollkommen die Wohltat der Fahrt und das Dasein des fremden, immerhin doch — kaum bekannten Menschen. Sie glaubte, in sich versunken, wohl eine Viertelstunde bereits im Fahren zu sein, als sie ihn sprechen hörte, ohne daß er sie ansah.
„Sehen Sie,“ sagte er, „man tut doch immer zu wenig. Oder man ist immer nach einer Seite hin geblendet, und aus den wunderlichsten Ursachen. Jahrelang, jahrzehntelang lag diese Sache nun vor mir, ward sie geplant, beleuchtet — und — den Gedanken an diese Heirat habe ich ebensowenig mit kalkuliert, wie ich einen starken Einfluß des Hofkammerrats, an dieser Stelle, ahnte. Es ist bei Gott, als ob er sich versteckt hätte. Denn nun hat der Gedanke: Georg und Sigune, die verteufeltste Ähnlichkeit mit dem Kolumbusei: solange ungedacht — ists eben nichts — und sobald gedacht das einzig Naheliegende und Natürliche ...“
Nun wars wieder still, lange Minuten, bis auf das Rauschen der Fahrt.
„Ich habe das eben so obenhin gesagt,“ fing der Herzog wieder an, „das mit dem Altsein, aber ich meinte es nicht. Nein, ich bin nicht alt.“ Er beugte sich mit einem Ruck vor, faßte seinen Stock und schlug damit auf seine Stiefelspitzen unter der Decke. „Absichtlich habe ich diese Kraftanstrengung gemacht mit dem Gehenlernen. Ich — ich glaube, es war die Ungeduld von zwei Jahrzehnten, die auf einmal losbrach, und da habe ich denn nachzuholen versucht, was meine Frau in denselben zwanzig Jahren in ihrem Käfig hat abwandern müssen. Nun denke ich mir alles sehr schön. Mein Sohn und ich waren immer gute Kameraden, Birnbaum ist auch da und liebt Georg wie der ihn, es könnte ein Triumvirat, es könnte sehr, sehr gut werden.“
Er schien Renate noch erregter, als sie nach seinen Worten allein erkennen konnte. Sie sagte, es sei sicher viel Gutes in Georg, er beobachte vielleicht ein wenig zuviel sich selbst, aber — „Nun ja,“ murmelte der Herzog, „in diesen Jahren, da ist sich ja jeder ein Labyrinth und sieht an jeder Straßenecke den Minotaurus das Bein hochheben. Ja, entschuldigen Sie nur, ich denke immer noch, ich rede mit Birnbaum wie in all den Jahren. Nun, sehen Sie, so ist Georg. Ich sagte Ihnen, glaub ich, schon einmal, daß ich ihm unbegrenzten Kredit gab. Sie wissen, was das ist.“ Renate schüttelte den Kopf. „Nun, das schadet nichts, es heißt jedenfalls so viel, daß er Geld verbrauchen konnte, soviel er wollte. Es war ein Risiko von mir, eine Probe, bankerott machen konnte er mich ja nicht, und so dachte ich: versuchs lieber auf die Weise, als daß er dich hintergeht, Schulden macht und den Namen versaut. Schulden kann ich auf den Tod nicht leiden. Was tut Georg? Braucht — im Verhältnis — überhaupt nichts. Nun würde das an sich nichts heißen, wenn er ein — also von Natur ein Asket wäre, ein Einsiedler, ein zarter, scheuer Mensch, dem das Bunte der Welt nichts bedeutet. Er aber ging ganz frisch in die Welt hinein, machte Dummheiten, ruinierte ums Haar seine Gesundheit. Aber — —! Was hätte er nicht — —? er hätte einen Rennstall halten können, drei Rennställe, unermeßlich pokern, Mätressen, Automobile, Paläste, Jachten, was weiß ich, halten können. Nichts davon. Was er am Grunde seines Lebens sucht, ist ihm wahrscheinlich so geheim wie mir selber, und wenn er heute Großherzog sein will, so will er vielleicht morgen Dichter sein — nun, es giebt schlimmere Schwankungen. Einmal, das will ich gestehn, war ich mißtrauisch. Ich hatte ihm eines Tages eine — ja, eine schwierige Eröffnung zu machen; er hatte sich zu entschließen. Ich schickte ihn ins Freie, saß und wartete auf ihn. Es ward dunkel; da kam er. Ich dachte: Er braucht sich nicht entschlossen haben, es eilt nicht, aber, dacht ich: Was wird sein erstes Wort sein? Man hat seine abergläubischen Momente, und ich lag selber im Graben. Soll ich Licht machen? fragte er. Ich weiß nicht, das schien mir nicht sehr vielversprechend. Er hätte Licht machen sollen — nun — aber — ich bin wieder davon abgekommen. — Und nun möcht ich rauchen“, bat er, seine Zigarrentasche schon in der Hand. Renate nickte, freute sich, die große Zigarre von Helenenruh wieder zu erkennen, und atmete nicht unbehaglich den zarten Geruch der ersten Wolke. Man muß ihn reden lassen, dachte sie weich.
Der Herzog saß weit vorgebeugt, wischte zuweilen mit der Hand an der Scheibe und sah hinaus, während er sprach. Jetzt blickte er wieder eine lange Zeit schweigsam hinaus, setzte sich dann zurück, drückte den Rücken fest, sah Renate kräftig forschend an, dann wurden seine Züge weicher, er sagte:
„Gute Freundin! Ich habe nie Gelegenheit gehabt im Leben, unaufrichtig gegen einen Menschen zu sein, diesen und jenen Halsabschneider ausgenommen, gegen einen nahen Menschen also, deshalb möchte ich es auch gegen Sie nicht sein. Da ich Sie also einmal mit dieser Angelegenheit behelligt habe — und es tut mir aufrichtig wohl, daß ichs durfte —, so sollen Sie auch den Rest wissen. Georg ist nicht mein Sohn. Er ist — aber das ist gleich, das würde viel zu weit führen, und es genügt ja, wenn Sie die Tatsache wissen. Nun — was sagen Sie dazu?“
Renate wollte heftig erschrocken abwehren: Nein, nein, lassen Sie mich nichts dazu sagen! besann sich aber rechtzeitig mit der Erinnerung an sein Vertrauen, schlug die Augen gegen ihn auf und sah ihn dasitzen, das Kinn auf die Brust gedrückt, die Oberlippe zwischen den Zähnen, unter der geneigten Stirn aufblickend, nun doch zweiflerisch vor ihrer Antwort. Sie machte ihren Blick herzlich, murmelte für sich: Einen Menschen sollst du messen ... und sagte leise:
„Von meinem Freund schrieb ich Ihnen hier und da, Saint-Georges, den ich immer zu fragen pflege, wenn ich etwas nicht weiß. Der schenkte mir einmal den Spruch: Einen Menschen sollst du messen — Wenn du in seiner Haut gesessen. — Und“, fuhr sie, die Hände faltend und mit wärmerem Lächeln in seine Augen blickend, fort: „Wenn Sie geglaubt haben, daß trotz dieser Tatsache er als Ihr Sohn gelten solle, dann habe ich kein Recht, anders zu urteilen.“
„Danke schön“, sagte er und nickte. „Ich muß noch hinzufügen,“ erklärte er dann, „daß erst vor zwei Jahren auch mir dies mitgeteilt wurde, ja, übrigens spielte der Vater unsrer Magda dabei eine verfluchte Rolle, na, der ist nun auch tot. Und dies war die Eröffnung, von der ich eben sprach, die ich ihm zu machen hatte. Mein Sohn und ich — wir haben also alles beim alten gelassen. Sie haben nicht in meiner Haut gesessen, nein, und ich nicht in der seinen, denn schließlich ist er hier ja derjenige, auf den es allein ankommt, aber — ich glaube doch: wir haben alle drei recht.“
Renate sann hin und her, aber das Ganze war ihr allzu fremd, als daß sie sich in solcher Schnelle, wenn überhaupt je, hätte hineinfinden können ...
„Und nun“, hörte sie den Herzog sagen, „können Sie sich immerhin denken, wie dies Geschehnis auf mich wirken mußte. Nicht wahr: Ich hatte ihn verloren, als Sohn, — Sohn meiner Helene; ich behielt ihn aber, ich hatte also — gesetzt, dies sei möglich — noch einmal so väterlich um ihn zu sorgen, als ob er mein echter Sohn sei. Ob möglich oder nicht: dies war mein Gefühl, dies hatte es zu sein.
„Und nun diese Heirat,“ fuhr der Herzog nach einer Pause fort, „wie? was ist?“ unterbrach er sich. Renate, die bemerkt hatte, daß der Wagen, wie bereits mehrere Male, ganz langsam fuhr, reinigte die beschlagene Fensterscheibe mit dem Handschuh und blickte hinaus. Schwarze Nacht wars; der Wagen stand still. Sie ließ das Fenster ein Stück weit nieder, eiskalt drang die Luft ein. Sich hinausneigend sah sie vorn den mächtigen Schattenriß des wulstigen Rades, drohend überwölbt vom Schutzblech, die metallene Halbkugel der Wagenlampe dicht darüber, aus der ein Strahlenkegel weit in die Nacht fiel, schwarz den sargartigen Kühler und blinkende Tropfen an der Glasscheibe vor dem Fahrer. Kalkweiß stand ein gesträubter Chausseebaum im Licht. Gleich darauf tauchte ein zottiger Hund neben einer Weibsgestalt auf, ein Handwagen dahinter; sie hörte den Chauffeur etwas fragen, der Handwagen zog weiter, ein großer Kerl, hinterdrein stolpernd, wandte sich halb im Gehen, schwang die Arme und rief etwas in unverständlichem Plattdeutsch; der Wagen ruckte an, der Motor rauschte, sie rollten.
„Noch zehn Minuten höchstens,“ sagte der Herzog, „aber nun müssen Sie das Ganze hören. Sie haben sich wahrscheinlich bereits gefragt, wie Georg zu der ganzen Sache steht. Ich wills Ihnen sagen. Es fängt mit meinem Urgroßvater an. Der war sehr sonderbar; Astrolog; nicht Astronom, sondern Astrolog. Anfang des achtzehnten Jahrhunderts wurde Trassenberg mediatisiert, aber mein Urgroßvater schloß mit Beuglenburg einen Geheimvertrag, nach dem Trassenberg zwar an Beuglenburg kam, jedoch nur auf hundert Jahre, kündbar. Warum dies, ist unbekannt. Er hatte die merkwürdigsten mystischen Neigungen! In seinem Nachlaß fand sich unter vielen andern Seltsamkeiten, Horoskopen, Prophezeiungen eine Vorhersagung: Im Anfange des zwanzigsten Jahrhunderts würden beide Häuser, Trassenberg und Beuglenburg, oder Zinna, auf zwei Augen stehn; von diesen Augen würde es abhängen, ob die Stimmen beider Gewalt im Rate der deutschen Völker erlangen oder für immer verstummen würden, — die Weissagung besteht aus lateinischen Distichen, astrologische Wendungen, die Gestirne, Venus, Jupiter spielen eine unverständliche Rolle darin. Weissagung und Vertrag haben beide sich in unserm Geschlecht vererbt, und zwar wars üblich, daß diese Erbschaft am Tage der Mündigkeitserklärung vom Erstgeborenen angetreten wurde. Nun konnte es sich nur noch um Georg handeln, aber jetzt lag die Sache folgendermaßen ...
„Der Zinnasche Erbprinz, Bruder eines Totgeborenen und einer schwächlichen Schwester, selber nur mit Mühe und aller Kunst von Geburt an am Leben gehalten, war für mich allezeit — nicht dasjenige Augenpaar, auf dem die Schicksale der beiden Länder ruhen sollten — das heißt: ich füge meine Ausdrucksweise nach der Prophezeiung, die für mich keinen bedenklichen Wert hat noch hatte. Nun: im Sommer werden es drei Jahre sein, Georg zog zur Universität, trat ins Leben, ich hielt es für an der Zeit, ihn wissen zu lassen, was ihn in Zukunft erwartete, um so mehr — bei seinem Hange zur Dichterei und dergleichen schönen, aber wenig weltlichen Dingen. Nun griff eins ins andre. Nämlich: ihn spekulieren zu machen auf den Tod eines noch Lebenden, das widerstrebte mir. Ich hatte aber den Vertrag, der heutzutage — das vergaß ich zu erwähnen — ich will zwar nicht sagen: keine, aber doch keine nennenswerte Gültigkeit — an sich — hat, wenn der Andre nicht will. Wollt ich ihn durchsetzen, so handelte es sich schließlich nur um die Geneigtheit des Bundesrats, und da von den drei Stimmen, die Beuglenburg und Trassenberg gemeinsam drin haben, zwei schon immer in meiner Hand waren, so — nun, Sie verstehn. Also war zu kalkulieren: ist der Erbprinz einmal tot, soll dann weiter geerbt werden im Mannesstamm, so kommt zuerst Georg in Frage, und der Vertrag liegt da als Fundament, als Stütze, wie man will. Also ... wo blieb ich stehn? — So — ich benutzte also Georgs politische Unkenntnisse (sie hielten länger vor, als ich damals ahnte) und sprach ihm damals schon, drei Jahre früher als üblich, von dem Vertrage und seinen Möglichkeiten in bezug auf ihn. Er war daher, bis vor zehn Tagen etwa, war er in dem Glauben, in der Zuversicht: Herzog von Trassenberg werden zu können. Nun vor allem: das Ganze wäre ums Haar schon vor zwei Jahren zum Klappen gekommen, da der arme Junge Adolf Emil sich bereits zum Sterben anschickte, aber wieder — ich argwöhne sehr — gegen seinen Willen daran verhindert wurde, für mich ein Beweis, wie richtig ich gegen Georg verfahren war. Hopla!“ sagte der Herzog, denn der Wagen war aufs Pflaster gerollt und schüttelte erbärmlich. Durch das trübe Glas der Wagenfenster fiel gelbes Licht herein zu dem rötlichen Inneren, Laternen, Schaufenster, Menschenschatten, ein Wagen zogen vorüber. Gleich darauf stand der Wagen still.
„Ja, nun muß ich doch abbrechen,“ bedauerte der Herzog, „oder bringen Sie mich noch bis oben, eine kleine Viertelstunde“, sagte er verlockend.
Renate nickte, der Herzog ergriff das Sprachrohr und befahl dem Chauffeur sich nach dem Schloß hinauf weiter zu fragen. Bald darauf rollte der Wagen weiter, durch Straßen, Pflaster und Asphalt, hin und her, währenddem sie schwiegen, Renate gespannt, als läse sie Balzac. Kaum rollte der Wagen wieder sanfter dahin, begann auch der Herzog:
„Also weiter. Zu Neujahr gab ich Georg den Vertrag; zwei Tage vorher nämlich schreibt mein Agent, aus Zinna: der Erbprinz liegt im Sterben, diesmal ists sicher! (War aber wieder gelogen, er hat noch zehn Wochen gelebt, es war ein Jammer!) Georg geht hin und klagt den Vertrag ein, und — nun kam die Enttäuschung für uns Beide: bekam eine schlichte, ja schnöde Abweisung. Nun, was weiter —
„Er schreibt mir, er steht vor einem Rätsel ... Ich tu’s selber, ich schreibe nach Zinna, es giebt ein unverständliches Hin und Her, endlich kommts denn zu Tage: Georg heiratet Sigune.
„Ich fahre selber nach Beuglenburg. Der Großherzog, wie ich immer wußte, ist eine Null, vor der dieser oder jener seiner Umgebung, am häufigsten sein Hofkammerrat, ein halber oder ganzer Jesuit, zusammenleg- und entfaltbar, jede beliebige Ziffer von zehn bis neunzig formiert. Mit ihm selber ist nichts anzufangen, seine Umgebung schwört: er reagiert nur auf Fremde nicht, beinah hätten sie gesagt: in ihren Händen sei er Wachs, denn das ist er. Ihrer Aussage nach also besteht er auf seinem Willen, das Erlöschen seines Namens um jeden Preis zu verhindern. Na, nun giebt es ja allerlei Möglichkeiten. Der alte Beuglenburger Lipsch kann päpstlichen Konsens erhalten, um wieder zu heiraten. Immerhin — dies ist des Hofkammerrats Vorzugswort — immerhin scheint er — der Hofkammerrat — für seine Sigune — er hat sie erzogen, und da sie aufs äußerste an ihm hängt, muß er wohl auch seine guten Seiten haben; wem fehlen die schließlich nicht? — er scheint also dem jüngeren Georg doch den Vorzug vor dem alten Lipsch zu geben, sagt sich vielleicht auch, daß aus Alter und Krankheit kein brauchbarer Nachwuchs zu hoffen ist und das Erlöschen Zinnas bloß aufgeschoben, nicht -gehoben. Schließlich sind auch Erbschaftsgesetze nichts Unabänderliches, das heißt: die Sigune kann irgendeinen andern von fünfzig gut katholischen Prinzen heiraten, dessen Sohn erbschaftsberechtigt wird. Wir müssen gleich da sein, der Wagen steigt schon mächtig, merken Sie die Serpentinen? Sehen Sie, da liegt das alte Nest!“
Hinausblickend sah Renate das rötliche, qualmende Lichtertal der Stadt unter sich, ein altes Stadttor, den schwarzen, rötlichen Fluß, dahinter Nacht und den braunen Himmel.
„Ich bin ja auch nun am Ende“, sagte der Herzog. „Georg hat man inzwischen Mitteilung von seiner Heirat gemacht, hinter meinem Rücken, die Schurken! Bei alledem ist das Unglück, daß der Großherzog darauf besteht, noch morgen, am liebsten schon heute abzudanken, also seine Tochter so stracks wie möglich zu verheiraten, wobei ich ahnungslos bin, wiederum, ob das sein Wille oder der seines Hofkammerrats ist. Georg schreibt mir einen verzweifelten Brief nach dem andern: Was denn das heiße, er begriffe nicht — er hüte sich natürlich vor jeder Kritik — aber er begriffe nicht, was ich mir je gedacht hätte, er könnte doch das kranke Mädchen nicht heiraten und so weiter.“
„Und was schrieben Sie?“ fragte Renate, da er schwieg. Er sah sie mit ein wenig verqueren Augen an und zuckte die Achseln. Er hätte geschrieben, Georg dürfe schon vertrauen, daß alles mit rechten Dingen zugegangen sei, es sei jetzt keine Zeit zu Erklärungen, die er jeden Augenblick später erhalten könne, er selber stehe ihm sofort zur Aussprache, zur Beratung zur Verfügung, vielleicht jedoch ziehe er es vor, allein seinen Weg zu finden. „Glauben Sie nicht, daß er alt genug ist, um zu wissen, wie er zu handeln hat? Ich selber, schrieb ich ihm noch, würde eigenhändig einen Versuch machen ... Und dabei bin ich ja nun. Ich will —“
Er unterbrach sich; der Wagen rollte über eine Brücke, durch ein Tor, machte eine Schwenkung und stand still.
„Zinna,“ murmelte der Herzog verdutzt, „aber nun will ich ausreden.“
Renate sah durch die klaren Fingerstreifen im Belag des Fensters neben dem Herzog ein erleuchtetes Tor über Stufen, Schatten und bunte Stücke von Hin- und Hereilenden.
„Ich will“, sagte der Herzog, „doch meine Meinung ändern; ich bin der nächste Erbe und —“
Indem wurde der Wagenschlag aufgerissen. „Wollt ihr zulassen!“ schrie der Herzog, zog die Tür am Riemen zurück, klappte und riegelte sie zu. „Hundsfötter!“ murmelte er und setzte seinen Hut auf, einen großen alten Schlapphut, aber er sprach nicht weiter. Nach einer Weile sagte er leise:
„Helene — ja, nun fehlt uns Helene. Wenn ich die Regierung übernehme, so ist die Heirat damit ja immer nur aufgeschoben; der Hofkammerrat weiß, daß ich nur Fisematenten mache und in einem halben oder ganzen Jahr zu Georgs Gunsten verzichte. Also muß ich Sigune ... sie hat die harte Stirn der Zinnas; wenn ich sie herumkriege, so bleibt sie mir sicher, aber wie ich das mache ...?“ Er seufzte.
„Lieber Freund,“ sagte Renate, „und wie wäre es denn nun eigentlich, wenn Sie alle Beide verzichteten?“
„Wer?“
„Sie und Georg.“
„Nicht um die Welt“, sagte der Herzog. „Die Jesuiten kommen ins Land.“
„Können Sie sich nicht wehren?“
„Erstens gegen Jesuiten!“ murrte er unwirsch, „und außerdem habe ich Besseres zu tun. In einem Kriege kann Wunderbares an Kraft und Taten geleistet werden, aber ich wäre ja ein Hundsfott, wenn ich nicht den Krieg vermiede, um eben dies Wunderbare für meinen Frieden zu gebrauchen.“
Renate, hartnäckig zu ihrem eignen Erstaunen, bohrte tiefer: „Sie denken an Ihr Land und vergessen Ihren Sohn. Wie sehr väterlich glauben Sie, daß dies gedacht ist?“
Der Herzog blickte sie grade und schwer an. „Mir,“ sagte Renate beinah spöttisch, „— mir scheint es nun doch, als ob die beiden Augen Ihrer Weissagung — mich jetzt ansehn.“
Er machte eine abwehrende Handbewegung und schlug die Decke von den Füßen zurück. „Sie stören mich ja, mein Kind, anstatt mir zu helfen.“
Renate sah auf die Uhr im Armband: „Nachdem ich Ihnen anderthalb Stunden zugehört habe, ohne das geringste Widerwort.“
Der Herzog lachte und murmelte, um so gefährlicher sei sie, habe nun alles angesammelt, destilliert und spritze das feinste Gift. Übrigens könne sie ja nicht wissen, was für ihn auf dem Spiel stehe. Er tastete mit der Rechten nach dem Türgriff, drehte ihn, drehte ihn zurück und sagte kurz lachend: „Nun denken Sie, ich will ausreißen.“
„Es ist wirklich Zeit“, warnte sie lächelnd.
„Gut,“ sagte er und bot ihr die Hand, „ich werde die Nacht zum Überlegen verwenden.“ Er küßte ihre Hand. „Haben Sie Dank, vielen Dank! Ich bin morgen wieder in Trassenberg. Wenn Ihnen etwas Gutes einfällt, unterlassen Sie nicht, mirs zu schreiben. Gute Heimfahrt! Auf Wiedersehn! Leben Sie wohl! Adieu!“
Er hatte sich nach außen gezwängt, stand, von rückwärts beleuchtet und nahm den Hut ab; stämmig und wacker stand er da, Haar und Oberkopf schimmerten im Licht, die Züge waren von Renate nicht zu erkennen, da sie gegen das Licht sah, auch wurde die Tür nun geschlossen, der Motor brauste auf, der Wagen drehte langsam, rollte über den Hof, durch die Einfahrt und über die Brücke in die Nacht zurück.
Renate setzte sich tiefer in den Polstern, lehnte sich an, hüllte die Decke fester um sich und zog sie gegen die Brust; sie nahm die große Muffe, die sie neben sich gelegt hatte, wieder und senkte die Arme bis an die Ellenbogen hinein; es schien ihr kälter im Wagen geworden. Sie lächelte. Da hatte sie ihn nun ratlos gemacht, das tat ihm gut. Wieder lächelnd, empfand sie, daß dies Lächeln schon lange in ihrem Gesicht feststand. Sie glaubte, den Abdruck zu spüren, dieser Mensch mußte es mitgebracht und festgeschraubt haben, sie konnte es nicht loswerden, da war es schon wieder, sie fuhr mit der Hand über Augen, Nase und Mund, aber es kam unverwischbar drunter wie neu hervor, oder lächelte sie diesmal nur, weil sie es hatte fortwischen wollen? Da habe ich die ganze Zeit über gelächelt, dachte sie nun unwillig, und es ging um die ernstesten Dinge. — Wie, schon wieder die Stadt? Vom Schütteln der Fahrt in ihren Gedanken unterbrochen, sah sie durchs Fenster in die erleuchteten oder dämmrigen und finsteren Straßen voller Menschen und elektrischer Bahnen, solange bis die Chaussee wieder erreicht war. Unterweil war sie nachdenklich geworden, beugte sich vor, stützte das Kinn auf die Fingerknöchel und blickte durch die graue Scheibe in die Finsternis.
Das war ja ein Wassersturz von klirrenden, schillernden und fremden Dingen gewesen. Sie versuchte, sich zu besinnen. Immer sah sie ein kaltes, bleiches, augenloses Gesicht unter einem Jesuitenhut, wie unsinnig! Sigune — Schionatulanders Geliebte, ein schöner, trauriger Name. Kränklich war sie, blond, mit einer harten Stirn, und dieser Jesuit war ihr Lehrer und einziger Freund. Der kranke Bruder — und dieser Vater ... Plötzlich erschien der Herzog wie ein Riese dazwischen und fegte alles über Seite. Renate lächelte wieder, verfinsterte aber dann ihr Gesicht und sagte: Bogner — so hätte er einmal kommen sollen! Aber damals — wie würde ich mich vielleicht gewehrt haben! Heut mittag noch war mein Dasein ein blauer Teich mit kümmerlichen Wasserrosen; da warf sich dieser unbekümmerte Schratt hinein, bloß um drin zu plätschern.
Im kalten Wagen empfand sie sich auf einmal heiß. Diesen Gedanken, sagte sie, an der Lippe nagend, hätte ich noch vor Jahren den Zutritt nicht erlaubt. Bloß um zu plätschern? Aber es giebt mehr Teiche. Aber er fackelt nicht und greift zu, wenn es ihm paßt, erwiderte jemand aus der Wagenecke. Sie sah flüchtig dorthin, wo der Herzog gesessen hatte. Auf einmal kann er wieder gehn, es ist wie im Märchen, freilich, es war bald ein Jahr her, daß die Herzogin starb und er ... Wieder kam die tote Herzogin zur Türe herein, lebend, bewegte sich leicht zum Tisch, lächelte und neigte den Kopf, indem sie sich setzte. Seltsam, welch belanglose Erscheinungen am sichersten in uns haften bleiben! Ihr Gesicht, so entstellt, als ihr die Augen brachen, war nicht mehr zu sehn. Hatte er sie schon ganz vergessen? Sie hörte ihn seufzen: Helene — ja, nun fehlt sie uns! Uns ... Freilich: er mußte seines Weges weiter.
Fünfundzwanzig Jahr ist er älter als ich, dachte Renate und herrschte sich an: Genug jetzt! ein für allemal!
Und nun das — mit Georg! — Man kann es nicht einmal nennen, wie soll ichs begreifen? Georg? Wer war denn Georg? — Georg saß mit Esther oben in Josefs Fenster, oder mit Esther im Garten bei der Sonnenuhr. Wenn er kein Prinz ist, so sieht er doch einem solchen zum Verwechseln ähnlich. Nun wundert michs doch, daß — eigentlich er mich auch nie beachtet hat. Aber das war wohl Scheu wegen Magdas. Zwischen ihm und Esther — was war da gewesen? — Sie hörte Sigurds Stimme, wütend im Schmerz, aber sie fand die Worte nicht mehr.
Bogner und der Herzog, welch ein Gegensatz! Wars wirklich einer? Schien ihr die Kalt— ja, die Kaltherzigkeit des Herzogs nicht nur deshalb so viel heftiger als Bogners stillere Kräftigkeit, weil eben Bogner keine Kraftäußerung kannte als gegen sich selbst und in seinem Werk? Der Herzog war das Hantieren mit Menschen gewohnt, das war sein Leben und sein Werk.
Renate schloß die Augen und schauerte seltsam angenehm zusammen. Indem fielen zwei starke peitschenartige Knalle schnell hintereinander, sie fuhr empor, horchte erschreckt, gleich darauf rollte der Wagen langsamer, auch anders, wie ihr schien, und stand still. Ach, ein Reifen war geplatzt oder gar zwei! Nun kam schon der Schatten Reinholds von vorn am Fenster vorüber, sie öffnete es, fröstelte im Luftzug und sah, daß die Straße weiß war; es hatte geschneit. Reinhold kam zurück: die beiden Hinterreifen wären geplatzt. — Renate öffnete die Tür und stieg aus. Reinhold bemerkte in seiner Berliner Mundart: „Das ha ’k mir jleich jedacht, wo der Wagen so lange in der Garage gestanden hat.“ Er ging in seinem großen Pelz unwirsch um den Wagen, stellte den gehorsam stampfenden Motor ab, klappte einen Kasten auf, nahm Werkzeuge heraus, öffnete einen andern Kasten unterm Sitz und wühlte darin. Die beiden grellen Lichtkegel aus den Laternen fielen weithin über die weiße Chaussee und breiteten sich über die nächtigen Felder aus; grellweiß angeschienen standen die Chausseebäume wie gesträubte Zuschauer da, andre weiterhin, schattenhafter. Weiß wehte Renate der Atem vom Munde, sie trat in den dünnen Schuhen langsam hin und her, fühlte die hartgefrorenen Rillen des Schlammbodens unter der Schneedecke, fror und wollte wieder in ihren Wagen kriechen. „Wie lange dauert es denn?“ fragte sie.
Der Chauffeur, die Riemen an einem der festgeschnallten Räder mit aufmontierten Reifen lockernd, murrte kaum verständlich und mit der Abgeneigtheit seines Menschenschlags gegen Zeitangaben, es könnte auch ’ne Stunde dauern, — bei die Kälte! —
„Armer Reinhold!“ sagte Renate und war unglücklich, so lange im Wagen still sitzen zu müssen. Wo sie denn eigentlich wären, fragte sie. Da wo die Herzbruchsche Villa stände, da müßten sie dicht bei sein. Renate zuckte. Sie ging zum Chausseerand und suchte in der Nacht. Richtig, links über den Feldern war ein roter Punkt in der Nacht. — „Wenn man wüßte, wie weit es ist ...“ sagte sie zögernd. Nun stellte Reinhold sich neben sie und meinte, nach dem Licht spähend, es könnte keine zehn Minuten sein. — Und der Weg? — Die Chaussee hinunter, dann müßte gleich nach ein paar Minuten eine kleinere Chaussee links abbiegen, an der läge das Haus; die große Chaussee mache einen Bogen weit rechts und treffe nachher die schmale wieder. Ob Renate sich nicht erinnere, damals bei der Hinfahrt zum Herzbruchschen Hause, daß sie auf eine kleine Chaussee rechts abgebogen seien „da, wo wir doch den Herrn Almanach getroffen haben.“ Renate zögerte kaum noch.
Irene erwartete sie ja längst. Wie lange hatten sie sich nicht gesehn? Lieber Gott, war das schon seit — Mai — oder Juni? Ja, im Mai war ich einmal draußen, und noch zweimal im Juni. Dann ging ich nach Helenenruh, und eh ich wieder hier war, kam ‚die große Verjüngung‘ über sie, Masern und Scharlach hintereinander, — wie ein Kind so dünn und weiß wie eine Kellerpflanze sollte sie ja wieder zum Vorschein gekommen sein, — Renate seufzte noch einmal, sagte Reinhold etwas Ermutigendes, bat ihn, wenn er fertig wäre, zur Herzbruchschen Villa zu fahren, und machte sich auf den Weg, nun schon ganz in freudiger Neugier, wie Irene aus Italien zurückgekehrt sein mochte ... Auch die Fahrt mit dem Herzog war in ihrer Erinnerung jetzt eitel Freude, die ihren Gang beschwingte. — Auf die Uhr blickend, fand sie, daß es eben halb acht Uhr gewesen war, und sie ging am Rande der Chaussee unter den Bäumen fort, dankbar für die Wohltat der Stille in der Frostnacht nach dem langen Getose des Motors und dem Hinschnarren der Gummiräder über den harten Boden.
Stehen bleibend dort, wo die Lichtkegel der Laternen zerstäubten, vergrub sie die Unterarme tief in die Muffe, behaglich, denn sie fror nicht, nur an der Kopfhaut merkte sie, da sie keinen Hut trug, ein wenig Kälte. Die Chausseebäume, bleiche Stauden, wurden im Finstern kenntlich und neben ihnen in der Grabenböschung die weißen Steine. Eilfüßig lief sie den Weg hinunter, aber die kleine Chaussee ließ auf sich warten, dafür machte aber die große einen immer stärkeren Bogen nach rechts. Sieh, aber da waren ja Sterne in der Nacht, unendlich fern, winzige, weißliche Punkte, und kaum daß sie diese gesehn, zogen mehr, rechts oben von den ersten, ihr Auge an, das an neuen Sternen nun die unsichtbare Wölbung emporglitt und den großen Wagen erkannte; undeutlich, matt blinzelnd, war jeder Stern nur sichtbar, wenn sie ihn einzeln ins Auge faßte, aber er war es doch! Sie sah sich um im Gehn und gewahrte fern die Laternenkegel, strahlend mitten im Felde der Nacht, dahinter den ungetümen Schattenriß des schwarzen Wagens, ganz ein glotzendes Tier. Sie ging weiter und hatte sich bald so ans Gehen und unbestimmte vor sich hin Sinnen gewöhnt, daß sie plötzlich die Nebenchaussee merkte, die sie halb überlaufen hatte. Abbiegend und aufsehend, sah sie auch schon deutlich zur Linken ein erleuchtetes Fensterviereck, wenn auch klein, aber da kam plötzlich der Schatten eines Menschen von rechts aus der Nacht auf die Landstraße zu, und leicht erschreckt eilte sie weiter, während der Mann näher kam; wenige Schritte hinter ihr mußte er die Straße betreten haben, dann hörte sie ihn ihr nachgehn, ging eiliger, ihr Herz klopfte heftig, die Schritte hörten nicht auf, jetzt kamen sie vielmehr näher, sie blieb Atem holend stehen, der Fremde auch.
Sie sah ihn an; seine Züge waren nicht zu unterscheiden, er hatte eine dunkle, englische Mütze auf dem Kopf und trug einen dunklen Havelock. Schon wandte sie sich entsetzt, um zu fliehn, als der Fremde — nun erkannte sie auch den glimmenden Blick seiner Augen — die Mütze abnahm und mit anständiger, leiser Stimme sagte, er bäte um Entschuldigung, er habe sie verwechselt. Sie atmete ein wenig auf und sagte rasch und munter, es befände sich wohl selten um diese Zeit eine Dame in dieser Gegend, noch dazu ohne Hut. Sein Gesicht veränderte sich nicht, während er erwiderte: sie möchte nochmals entschuldigen, zumal er wohl richtig vermute, daß sie zu dem Landhaus — dort — wolle. Sie bejahte, bereits im Weitergehn, er ging schweigend mit, ein wenig voraus. Das Fenster ward langsam größer, sie erkannte die Umrisse des Hauses, des Daches und des Hügels. Der Fremde machte eine Bewegung zurück und fragte leise: „Zu wem gehn Sie denn? zu Herzbruchs oder —?“
„Zu Herzbruchs.“
„So“, sagte er und war wieder voraus. Drei Schritte weiter wandte er sich abermal und fragte, wieder ganz leise: „Aber — Sie kennen — vermutlich auch die — andre Dame?“
Verwundert sagte sie: „Frau Vehm, meinen Sie, ja, ich kenne sie.“
„Und die Kinder, — nicht wahr? die Kinder kennen Sie auch.“
Die Kinder —, — nun erst fiel Renate ein, daß jetzt Doras Kinder beide an den Masern krank lagen. „Sie haben die Masern“, murmelte sie vor sich hin; ihre Schritte wurden langsamer, denn sie fürchtete sich nun vor der Krankheit; bei ihrem Alter war sie gefährlich. Der Fremde war zurückgeblieben, holte jetzt aber wieder auf und ging eilfertig weiter. Nun sah sie auch an der Rückseite des Hauses einen Lichtschein; dort lag die Diele, daneben war der Eingang ins Haus. Sehr unentschlossen hin und her überlegend, ging sie doch weiter, sah die Gartenbäume, jetzt wurde das dünne Geflecht des Drahtzauns neben der Chaussee sichtbar, und da war die Tür; der Fremde stand dort. Plötzlich war ihr sehr unheimlich und beklommen zu Sinne. Fuß für Fuß ging sie bis zur Tür, immer noch schwankend, ob sie nicht lieber umkehrte, aber sie fror nun auch, die dünnen Sohlen der Hausschuh ließen allzusehr die Kälte durch, hastig entschlossen drückte sie die Klinke der Drahttür nieder und sagte: „Guten Abend!“
Der Fremde, die Augen, wie es schien, gegen das helle Fenster gerichtet, blieb stumm. Renate ging langsam durch den Garten hinauf, am Hause vorüber; erfreulich war das Licht in der kleinen Vorhalle, sie ging die Stufen empor, stampfte den Schnee von den Füßen und betrat die Diele.
Gleich vorn zur Linken, mit dem Rücken nach ihr hin, stand ein Herr, ein Buch, in dem er las, in die Nähe der Stehlampe haltend, die auf Dora Vehms Schreibtisch brannte. Erst jetzt drehte er sich schnell herum, klappte das Buch zu und legte es hin; es sah wie ein Tagebuch aus, und der Herr war jener Doktor Ägidi, den sie vor einem Jahr hier kennen gelernt hatte. Sie gab ihm die Hand, fragte nach Irene, die Luft kam ihr schon peinlich dumpf vor, nebenan wohnten die Kinder; so ging sie hastig durch den Raum und traf im Flur mit Irene zusammen, die sie mit leidenschaftlichem Entzücken begrüßte. Trotzdem schien Renate die Wallung rascher vorüberzugehen, als ihr verständlich war. — Noch im Treppensteigen erklärte sie ihr Kommen, der Herzog schien auch Irene einige Teilnahme zu entlocken, sie ging in ihrem Zimmer, während Renate sich unter dem Fenster auf das Sofa setzte, hin und her, in ein großes, schöngesticktes weißes Tuch mit langen Fransen gewickelt. Die Heizung funktioniere wieder einmal nicht, klagte sie, Renate solle nur ihre Pelzsachen sämtlich am Leibe behalten. Das Mädchen kam herein und fuhr fort den Tisch zu decken, sagte dann im Hinausgehn, Herr Almanach — sie betonte den Namen wie alle Dienstleute auf der ersten Silbe — sei gekommen.
„Der Tisch wird überlaufen!“ rief Irene und erklärte, daß sie Besuch erwarteten, einen Freund ihres Mannes, sie laure schon den ganzen Nachmittag auf ihn, nun würde ihr Mann ihn wohl aus der Stadt mitbringen.
„Er wird doch nicht draußen am Zaun stehn?“ fragte Renate mit halbem Lachen.
„Hat denn wer am Zaun gestanden?“
Renate fragte, gleichzeitig mit Irene, wie ihr Besuch denn aussehe. „Du kennst ihn ja selber,“ antwortete Irene, „er heißt Klemens, er war auf meiner Hochzeit, seitdem kann er sich allerdings verändert haben.“
„Dann war ers glaub ich nicht,“ sagte Renate, „dieser hatte keinen Bart oder einen ganz blonden, soviel ich sah, und Klemens war doch —“
„Einen blonden?“ fragte Irene erschreckt und blieb stehn, „dann war es wohl ... Wie sah er denn aus, was hatte er an?“
„Einen Havelock und eine englische —“
„Albert!“ schrie Irene, „mein Schwager wars! Er ist verschwunden vor acht Tagen! Aber das ist ja —! Entschuldige, bitte, ich muß sofort zu — Am Zaun blieb er stehn, sagtest du? Ach, das ist ja —“ damit war sie fliegend hinaus.
Also das wars, dachte Renate. Und Ägidi ist unten im Zimmer. Albert Vehm war doch erst vor kurzem aus Arosa zurückgekommen. Wie er nach den Kindern fragte ... Ich will doch lieber gehn! dachte sie und stand auf. Überdem wurde die Tür geöffnet und Herzbruch trat ein, trotz des Winters in seinem hellen Anzug, breit und stämmig und fröhlich, mit funkelnden Brillengläsern. Wo denn Irene sei, fragte er gleich, und ob Klemens — sie kenne ja wohl seinen Freund Klemens, nicht da sei. Renate verneinte und erzählte noch einmal ihre Begegnung mit seinem Schwager, während jetzt Herzbruch im Zimmer auf und nieder ging, die Hände auf dem Rücken, zuweilen am Tisch stehen bleibend und drauf nieder blickend, als zähle er die Gedecke; als das Mädchen wieder eintrat, fragte er, welche Herde denn da zur Krippe gehn solle, und da das Mädchen Almanach stammelte, legte er ihr vernichtend die Hand auf die Schulter und sagte, es heiße Manach, Manach, und sie könnte ruhig noch mal so laut reden. Das Mädchen wurde glühend rot und entlief, — zu Renate sagte er nur: „Das sind alles schwere Sachen, aber auf meine Schwester kann ich mich verlassen; was sie tut, unterschreib ich.“
Im Augenblick danach trat sie zur Tür herein, Irene hinter ihr, dann Ägidi. Es ist ja genau wie damals, dachte Renate, nur alles viel deutlicher und noch bänger. Dora Vehm freilich schien, wohl durch stärkeren Zwang als damals, gelassener, warnte mit ihrer hellen Stimme Renate vor den Masern; Alle setzten sich wie von selber wie damals um den Tisch; nur Georg fehlte; auch damals war Jason später gekommen. Irene war still, auch Ägidi. Dora berichtete Renate einiges von den Kindern, es gehe schon besser, sie seien munter, Jason sei noch bei ihnen. — Renate tat eine Frage nach Klemens, und Herzbruch antwortete unbedenklich, ja, der habe seine eignen Methoden, komme oder komme nicht, vielleicht sei er erst bei seiner Schwester, er komme aus Irland. — Renate erinnerte sich der kleinen Virgo, die jetzt ein Kind erwarten sollte ...
Nun sagte niemand mehr etwas, die Schüsseln gingen umher, dann öffnete sich die Tür, Herzbruch sah auf und sagte: „Da ist der Kalender.“
Jason kam herein, gab Allen leise kopfschüttelnd die Hand, setzte sich und fing an zu essen. Nach einer Weile blickte Herzbruch auf.
„Also, Kalender,“ sagte er, „können Sie nicht etwas anregend wirken? Stellen Sie doch einmal einen Satz auf.“
Jason erwiderte höflich: „Gewiß, gern. Indem ich den Anblick zweier essender Ehepaare genieße, muß ich den Satz aufstellen ...“
„Zweie?“ Herzbruch ließ den Mund still stehn und sah ihn mißtrauisch von der Seite durch die Brille an. „Sie haben ja ’n Vogel!“
„Das sagen Sie so,“ erwiderte Jason, derweil Renate den Blick auf Dora vermeiden mußte, „aber mein Satz beruht eben darauf. Ich gedachte nämlich zu behaupten, daß man zwischen hundert Ehepaaren beliebig viel Vertauschungen vornehmen kann, und kein einziger der Betroffenen vermag es zu bemerken.“
Ägidi fragte: „Sag mal, — bist du immer so?“
Nicht immer. Er sei verschieden, meinte Jason.
Früher sei er weniger nervös gewesen, bemerkte Ägidi.
Oh, er sei nicht nervös. Ägidi meine das Kopfschütteln. Das sei pathologisch.
Irene erklärte, er habe damals den Schiffsuntergang mitgemacht, blieb aber stecken und rief heftig tränenden Auges: „Wir haben Alle Esther schon vergessen!“ so daß Renate erschrak.
„Die Zeit vergeht,“ sagte Jason ruhig, „die Zeit ist sehr gut. Es giebt nicht annähernd so Gutes. Sie wird mir auch mein Kopfschütteln wieder nehmen. Ja, das Schiff war sehr groß und ging doch unter. Andre wurden wahnsinnig, ich habe das Kopfschütteln.“
Die Stille saß unheimlich und sich blähend vor Klemens’ leerem Teller. Renate war weit fort, sah Esther in ihrem Garten, in Josefs Zimmer, immer blaß, gern lächelnd, arbeitsam, still. Sie hörte Jason durch Schleier sprechen, dann Irene, die zu erzählen schien, wie sie ihren Mann bekommen hatte. Herzbruchs Stimme ertönte schwer und gewichtig dazwischen, nun sah sie wieder den Herzog im Schloßhof stehn, barhaupt, mit einem Heiligenschein, und — — sieh, da war ihr Lächeln wieder da! Renate stand auf, da die Andern aufstanden, Dora ging gleich darauf aus dem Zimmer, das Mädchen deckte den Tisch ab, Renate fing an, auf und ab zu wandern, nahm ihre Muffe vom Sofa und wärmte sich. Jason hatte sich vor Irenes Vitrine gesetzt, öffnete sie, nahm dies und jenes hervor und betrachtete es; Renate blieb hinter ihm stehn und sah zu, ohne etwas zu sehn. Noch eben war Wageninneres, und der Herzog und hundert bewegte Gestalten, auftretend und schwindend, — dann nur Stille der Winternacht, ihre Schritte, und im Dunkel, am Gartenzaun, der dunkle, wartende, einsame Mensch ... Wie war doch alles wirr! Nun Dora Vehm, und jemand ward erwartet, Ägidi kam und ging, Alle trugen etwas, und jeder sagte: Nichts ... ich trage nichts ...
Renate schreckte auf, da sie sich auf dem Sofa fand; mitten im Zimmer stand Irene, wieder in ihrem weißen Tuch, und sagte: „Aber Jason, was machst du denn da?“
Renate folgte ihrem Blick, sah links in ihrer Nähe das Ende des Flügels, sah ihn schräg ins Zimmer ragen, aus der Ecke, wo unter der hohen Figur des delphischen Wagenlenkers, die tief im Schatten stand, Jason saß, die Lider gesenkt, die Arme hin und her bewegend, als ob er spiele, aber er brachte keinen Ton her. Renate sah ihn schweigend an, nichts erfolgte, Jason bewegte hin und wieder das Gesicht, als folge er seinen Händen in Baß und Diskant, dann hoben sich langsam seine Lider, Renate fand seine Augen leise glänzend auf sich gerichtet, er sagte — und im selben Augenblick hörte Renate deutlich — und doch gab es keinen Laut im Zimmer als Jasons Stimme — die Töne, die langsam sich hinzählenden, unendlich beruhigenden Sechszehntel des ersten Präludiums aus dem Wohltemperierten Klavier, und Jasons Stimme sagte darüber: „Ich weiß, was du denkst.“
Und nach einer Weile, während die Sextolen ruhig weiter perlten:
„Das Leben ist nicht wie in Schriften und Büchern der großen und kleinen Autoren. Es ist wie auf Triften dort klar und erkoren, wie Springen der Lämmer, wie Singen von fern, wie des Hirten Schalmei, nicht im Dämmer der Unzahl verloren. Es löst sich ein Schicksal wie Duft aus den Poren der Blumen, du atmest und riechst es dabei, und da glüht es und scheint dir, und Lippe, die redet, und Lippe, die weint, ist dir alles vertraut und benennbar und gar nicht unsäglich, auch jenes, das dumpf und ergraut, — denn es waltet nur eines zur Zeit, und das Leid und das Licht, und die Nacht des Geweines, der Tag voll Verzicht und die Treue des Steines, sie wechseln und ruhn, sie verwechseln sich nicht, und hat jedes sein Wort und Gesicht und besonderes Tun, und du siehst es sich klären. — — Du aber gehst mit gebundenen Händen und kannst dich nicht wehren, du wanderst und stehst, und bist niemals allein, und hast keine Erfahrung. Wie Farben im Staube der Wasser sich bilden, ohne Gewicht, ohne Odem und irdische Nahrung, so siehst du die wilden, die niemals erkannten, verwandten Geschicke sich wölben am Weg, und wanderst vorüber mit gänzlich verzaubertem Blicke, dir selber in Farben und Lichtern wie seltsame Städte mit vielen Gebäuden und Angesichtern unkenntlich erscheinend; und nichts ist bestimmt, und wo etwas beginnt erst, da scheint dir ein Ende, und wo es verschwimmt, scheint dir alles versteint, und lautere Rufe und bunteres Leuchten verschlingen dein Eigentum, — dunkel die Stufe, so dunkel das Zimmer und dunkel dein Auge ins Dunkel hinein, und nur von deinem Blut der rote Schimmer, wenn die Stunde kam, die eine, deine Stunde, — und du bist allein.“
Es tropfte heiß auf Renates Hand. Sie bat Jason mit einem Blick, ihre Augen loszulassen, und gleich senkte er die Lider über die seinen. Seltsam groß und schön, aber wie in weiter Ferne, schwebte der mattleuchtende violette Umhang der Lampe über dem Eßtisch; davor stand Irene unter ihrem Tuch, Renate den Rücken wendend. Mein Gott, sie weinte ja, — was war denn zu weinen? Leise klappte der Klavierdeckel, Jason stand auf, ging zu Irene, legte die rechte Hand auf ihre Schulter, und hielt seine Hand gegen das Licht, so daß Renate ihren Schattenriß sah, und sagte:
„Siehst du wohl, da drinnen sitzt die ganze Musik, Bach, Berlioz und alles. Manchmal, wenn ich so in der Dämmerung sitze, kann ich die kleinen Notenfunken herausspritzen sehn, und wenn ich sie bloß auf einer Tischplatte die Griffe machen lasse, höre ich die herrlichste Musik. Kein Mensch weiß, wieviel zu hören wäre, wenn es nur einmal ordentlich still sein dürfte. Aber ihr habt euch ja nun einmal das Lärmen angewöhnt. Wie ist es, Renate,“ fragte er, sich umwendend, „ich kann Reinhold wohl sagen, daß er noch etwas warten soll?“ sprachs, nickte winkend und ging hinaus.
Vor Renates Augen senkten sich Schleier um Schleier; immer ferner schwebte das sanfte Licht, das nun Jasons Stimme seltsam verschwistert war. Auch Irene war nicht mehr da, es war nichts mehr, die Zeit war hinausgegangen, nur noch die Stille webte im Raum, fast konnte sie die Fäden sausen und Maschen fallen hören, und langsam schwebte der schattiggrüne delphische Lenker herab; starr, wie die Kannelüren einer Säule flossen die Falten seines Rockes zu Boden, er hielt die Zügel ganz leicht, matt glänzte das Gold seiner Stirnbinde, ruhig blickte das Auge gradaus, der volle, wie zum Pfeifen gespitzte Mund blieb stumm, und unsichtbar in den Zügelriemen bäumten sich die Geschicke.
Es war wieder heller; eine Stimme, Irenes Stimme sagte von drüben, vom Kamin her, — ihr Tuch schimmerte dort:
„Dieser Mensch geht nun ein und aus bei dir und mir und trägt das Jenseits in der Hand wie einen kleinen Vogel. Kannst du denn noch wissen, wenn du ihn recht ansiehst, was Gut und Böse ist? Ist er denn gestorben? Und nimmt er an uns und allem nur Anteil, weil er noch mit unsrer Gestalt bekleidet ist und nicht ganz zur Ruhe kommen kann?
„Ich glaube, er hat, noch eh wir ihn kannten, so viel menschlichen Jammer mitgelitten, daß er sich hat dran gewöhnen müssen, und das Schrecklichste ist ihm nun das Einfache; wie gutartig und leicht müssen da wir ihm —“
Sie brach ab. Tief und deutlich fragte Herzbruchs Stimme durch den Vorhang aus dem Nebenzimmer: „Bitte, wie spät ists?“
Irene antwortete nach einer Weile: „Dreiviertel zehn“, und im Augenblick danach schlug die schwere Pranke der Standuhrglocke in Herzbruchs Zimmer dreimal summend auf. Als sei nun alles wieder in Bewegung — so schien es Renate —, fiel neben ihr Irenens weiß und gelber Angorakater von der Fensterlehne auf das Sofa, duckte sich, kroch dann auf ihren Schoß. Lazarus hieß er, weil er so gern in Schößen saß. Da trat auch Jason wieder ein. Renate hatte das Gefühl, gehen zu müssen, aber nun hatte Jason ja gerade dem Chauffeur aufgetragen, zu warten. Einige Minuten lang sprach niemand ein Wort im Zimmer; nebenan wurde ein Stuhlrücken hörbar, Herzbruchs Schritte machten den Boden leise beben, er setzte sich wieder. Jason sagte:
„Ich hab vergessen: Ägidi läßt sich entschuldigen, er ist fort. Dafür kommt ja nun Klemens.“
„Heut abend noch?“ fragte Irene. „Das ist ja Unsinn!“
Jason erwiderte nichts. Renate dachte an das, was er eben vom Klavier aus gesprochen hatte, konnte sich aber nur auf den Anfang besinnen: Das Leben ist nicht wie in Büchern und Schriften der großen ... Nun schien es noch stiller zu werden. Jason saß am Eßtisch, ganz grade, die Unterarme auf der Decke. Einmal griff er nach dem Umhang, hob ihn und blickte, die Augen halb schließend, nach den Glühbirnen; ein Lichtstreif fiel dabei ins Zimmer. Ganz hell schrillte die Hausglocke. Renate zuckte zusammen, Irene richtete sich im Sessel auf und saß still und grade. Wieder gingen Minuten, Schritte wurden auf der Treppe, auf dem Flur hörbar, das Mädchen trat ein und meldete: Ein Herr wünsche Herrn Doktor zu sprechen. Irene stand auf, murmelte etwas Unverständliches, rief: „Otto!“ kaum laut genug, daß er es hören konnte.
Das Mädchen wich zurück, wieder kamen Schritte, in der offenen Tür erschien eine untersetzte kräftige Gestalt in dunklem Anzug, den Rockkragen hochgeschlagen, und Renate erkannte Klemens’ schwarze Bartfräse, die dicken Brauen und die schwere Nase. Er verbeugte sich mit dem Rücken statt mit dem Nacken und sagte: „Guten Abend.“
Jason stand auf und gab ihm die Hand, Irene lief plötzlich zur Vorhangtür und rief hindurch: „Otto! kannst du denn nicht hören?“
Der erschien gleich darauf in der Tür, blieb stehn, sah, wie er pflegte, durch die obere Hälfte der Brillengläser umher, sah Klemens und war mit zwei gewaltigen Schritten bei ihm, schüttelte ihm die Hand und sagte weiter nichts als: „Na, da bist du ja!“ Klemens lächelte nur.
„Hier ist meine Frau, du kennst sie ja noch,“ sagte Herzbruch, „und das ist Fräulein von Montfort.“
Nun ging er zu Irene und gab ihr die Hand, ebenso Renate.
„Jetzt essen!“ meinte Herzbruch, „Irene, er will essen.“
Klemens dankte, er habe ...
„Keine Widerworte,“ sagte Herzbruch, „du —“
„Nein, wenn ich doch sage,“ versicherte Klemens, „ich hab anderthalb Pfund Bananen ge—“
Bananen? Ob das Essen wäre! „Nichts da“, sagte Herzbruch, Klemens aber beharrte: „Na, Höllenelement, ich will aber nichts fressen!“
„Oh la la —“ sagte Irene wie zu einem Kutschpferd, „schreit er immer so, Otto?“
Herzbruch drehte sich halb nach ihr um, sagte dann: „Ja.“ Darauf zu Klemens: „Sag mal, hast du eigentlich keinen Mantel? Hör mal, du bist ja klatschnaß! es schneit wohl wieder?“
Klemens lachte und erklärte, seinen Mantel hätten sie ihm unterwegs weggenommen. „Da war so ein Knabe, weißt du,“ sagte er, „kam aus Kiew, war ausgewiesen, wollte nach England und ließ sich so von einer jüdischen Gemeinde zur andern bugsieren, war aber leider das Frieren nicht gewohnt wie ich.“
Irene, die den Männern den Rücken zudrehte, sagte halblaut zu Renate, die vor ihr stand: „Der ganze heilige Martin auf Ottos Kosten“, und drehte sich weg. Herzbruch zog seinen Freund in einen der Sessel am Kamin und setzte sich zu ihm. „Ja, nun also schlafen,“ riet er, „Irene —“
Das würde kaum gehn, sagte sie obenhin, Jason bliebe doch natürlich hier bei dem Wetter, wie immer, und im andern Zimmer hinge Doras Kinderwäsche zum Trocknen. Herzbruch sagte, dann würde die eben abgenommen.
Das Mädchen sei schon schlafen gegangen, es wäre zehn Uhr.
Klemens lehnte sich derweil hintenüber und wollte sich lautlos ausschütten vor Lachen, als ginge der Streit gar nicht ihn an. Herzbruch schwieg eine Weile, sah seine Frau mißtrauisch an, bemerkte dann kurz: „Also sorge bitte für eine Decke für mich, er schläft in meinem Bett. Bring auch was zum Trinken mit.“
„Wein oder Bier?“ sagte Irene.
„Danke, keins von beiden, ich —“
„Denn nicht“, sagte Irene und ging hinaus. Klemens sprang auf, lief zur Tür, machte sie auf und rief: „Ich trinke nur Wasser, Rebekka, klares, biblisches Brunnenwasser!“ und lachte.
Herzbruch, wider Willen mitlachend, sagte: „Sie heißt nicht Rebekka“, worauf Klemens meinte, sie schiene ihn jedenfalls für ein Dromedar zu halten. Dabei sah er den Wagenlenker in der Ecke, ging daraufzu, faßte ihn ins Auge und sagte: „Ah! — Das ist schön! Wer ist das?“
Jason, in der Vorhangtür neben ihm, erklärte, es sei der sogenannte delphische Wagenlenker. Klemens ließ ihn nicht ausreden und beklagte den fehlenden Arm. Aber man könnte doch sehn, wie die Zügelriemen aus den Händen flössen! Und dieser achtsame, unbeeinflußbare Blick, dieser pfeifende Mund! Über das Klavier gebeugt, spähte er nach den Füßen und pfiff durch die Zähne.
„Wetter noch mal,“ sagte er, „wie die Füße dastehn! aufgesetzt, festgesaugt, und der Faltenfall des Rocks, dieser Reichtum, wie das niedergießt! Er hat ja Lorbeern im Gehirn. Ja, der weiß, was es heißt, dastehn im Tumult der Begeisterten, im Toben, im Gelächter, das sich überschlägt, und tausend winkende Hände, Kopftücher, Zweige, Tumult ... In Marseille,“ sagte er zu Herzbruch hinüber, „weißt du noch? Jean Jaurès, der hatte sie so an den Händen, mehr als zwei glatte Gäule, zehntausend, zehntausend Köpfe, zehntausend Herzen, aus seinem Herzen gelenkt, daß sie schreien mußten, atemlos und lachend vor Erschöpftheit ...“
Renate hatte schon vor einer Weile Dora Vehm in der Tür erscheinen sehn und hörte nun ihre helle Stimme — wie heiß und schwarz doch ihre Augen waren und das ganze dunkle Gesicht leuchtend durch und durch von Leben und Seele! —: „Aber Klemens, das können Sie doch auch! Wissen Sie nicht mehr: Jena ...?“
Klemens drehte sich um, streckte die Hand nach ihr aus und freute sich: „Dora Vehm,“ sagte er, „alter Kamrad, was macht denn die Küche?“
Jason trat leise neben ihn, klopfte ihn auf die Schulter und sagte: „Sie! Ich bin auch ein Redner. Ich könnte auch eine Rede halten, aber Irene hat heut abend keinen Sinn mehr dafür.“
Irene stand mit einem Glas Wasser auf einem Teller, das sie augenscheinlich Jason an den Kopf werfen wollte. Der fuhr indessen fort:
„Sehen Sie, da hat der Delphier nun jahrelang in seinem Winkel gestanden, kein Mensch weiß wozu, und nun kommen endlich Sie und benutzen ihn, um Ihre schöne Seele zu offenbaren. Sehen Sie nicht auch, Dora, daß es kein Wagenlenker, sondern ein Redner ist? Wenn Naumann den Rock anhätte —“
„Gut, Herr Adreßbuch,“ sagte Klemens, „Sie haben es vortrefflich ausgedrückt.“
Jason schien darauf gekränkt und meinte, er drücke alles vortrefflich aus, und ob das vielleicht jemand für ein Vergnügen halte, worauf er sich abwandte.
Irene stand steif wie aus Gips mit ihrem Teller. Eben noch versunken in Jasons ‚schöne Seele‘, dachte Renate, und nun ist sie zur Spinne geworden. — Da sah Klemens das Glas, ging hin, ergriff, tranks aus, setzte es wieder auf den Teller und bedankte sich.
Renate war froh, daß Herzbruch ihn nun mit sich in sein Arbeitszimmer zog; sie saß auf dem Sofa, ungeduldig fortzukommen. Klemens gefiel ihr, aber wie laut war es auf einmal geworden! All die hellen und dunklen Stimmen, Irenes, Herzbruchs, Doras, Klemens’, dröhnten durcheinander; sie sehnte sich wieder nach dem Schweigen ihres Zimmers, ja fast nach dem Schweigen des ganzen Hauses. Da flog auf einmal Irenes Teller neben ihr aufs Sofa, sie gewahrte nachträglich die schlenkernde Handbewegung, mit der Irene, jetzt mitten im Zimmer stehend, den Teller geworfen hatte. Jetzt raffte sie mit zwei flügelhaften Bewegungen der Ellbogen ihr Tuch, das über den Rücken herabgesunken war, wieder um die Schultern, warf den Kopf nach hinten gegen das Nebenzimmer zurück und sagte nachdrücklich: „Pfui Deubel!“
Dora trat neben sie und mahnte: „Na, na, Kind!“
„Mich friert“, sagte Irene tief und hart. „Ich glaube, vor dem fürcht ich mich. Man kann seine Augen nicht sehn. Hat er Augen, Dora? Renate! Dann müssen sie durchsichtig sein, und nichts ist dahinter.“
„Richtig! Sehr gut!“ lobte Jason. „Er hat Seefahreraugen. Auf allen Seiten das Meer.“
„Und sein Mund,“ fuhr Dora fort, „daß du’s weißt, ist wie der des Delphiers.“
„Auch das noch“, murrte Irene. „Wenn er auch sein Kinn hätte, wär mir der Delphier ganz verekelt.“
Renate stand auf; sie hatte genug. Auch Doras Gesicht schien ihr jetzt verfallen und welk. Sie ginge mit ihr hinunter, sagte sie zu Renate; zu Irene dann: „Laß uns schlafen gehn, Kind, der Tag war voll genug. Laß uns schlafen und geduldig sein.“
Sie umarmten sich, gingen zum Vorhang, winkten hinein und riefen: „Gute Nacht, ihr Männer!“ Irene küßte Renate flüchtig, die mit Dora zur Tür ging, aber sie waren noch nicht hinaus, als Renate Irene fast ängstlich rufen hörte: „Dora! — — Dora! was wird aus uns werden?“
Dora wandte sich nach ihr um. Mit tieferer Stimme sagte sie ruhig: „Was fragst du mich? Ich will standhalten. Das andre findet sich. Sei nicht töricht, Irene! Und mach dir keine Sorge um mich. Ich habe meine Kinder. Solange ich die habe —“
Sie verstummte, strich hastig mit der Hand übers Gesicht, lächelte Renate fremd zu und führte sie hinaus.
Auf den Treppen und dem Weg zum Automobil sprach weder Renate noch Dora ein Wort, — aber als sie öffnete, saß bereits Jason darin, pfiffig im Dunkeln. Sie fuhren, ohne Licht gemacht zu haben. Bald überfiel Renate von neuem die Unrast, sie kam nicht schnell genug vorwärts und in ihr Zimmer, und sie preßte unter der Pelzdecke die Finger ineinander, bis sie Jasons Hand fühlte, die er auf die ihren legte, die sich nun leichter zusammenschlossen. Und es dauerte keine Minute, so ward sie ruhig und ruhiger, ihr war, als ob ihr ganzes Wesen schmelze ins Allgemeine und Sanfte, und da zogen langsam von links nach rechts die Gesichter des Tages vorüber, das des Herzogs, Doras, Ägidis, Irenes und ihres Mannes, und das von Klemens, und nicht nur diese, sondern auch die nicht gesehenen Georgs, der fremden Sigune und ihres Lehrers, zwar diese kaum sichtbar, aber sie wußte, daß sie es waren, und das Schwinden eines jeden fügte eine neue Erleichterung zu der alten. Wie leicht rollte der Wagen durch die Nacht! Sie freute sich auf ihr Zimmer, dachte, daß von allen verworrenen und unkenntlichen Schicksalen keines zu ihm Zutritt habe als das ihre, ja vielleicht nicht einmal das, und überdem fielen Jasons Worte ihr wieder tropfend ins Herz: Das Leben ist nicht wie in Schriften und Büchern ... Sie suchte den Weitergang, aber die rechten Worte fand sie nicht, glaubte jedoch nun erst zu verstehn, was sie erst nur als Musik und Wohltat empfunden hatte. Vielleicht, dachte sie, ist wirklich das viele und frühe Lesen schuld an so mancher Wirrnis, mancher Ungeduld, und wieder hörte sie’s tönen: Das Leben ist nicht ...
„Wie hieß es doch,“ fragte sie leise nach dem unsichtbaren Jason hinüber: „Das Leben ist nicht wie in Büchern und Schriften, denn dort ... Ich verstehe es nicht mehr ...“
„Dort,“ hörte sie seine Stimme gedämpft, „dort scheint es dir, als sähest und hörtest du alles zum ersten Mal, was geschieht, was sie sagen, dieser und diese, jener und jene, was sie denken, was sie tun und erleben. Dir aber ist alles angefüllt mit der Erinnerung, weißt du es nicht? Überall tönts dir entgegen: Erinnerung ... Erinnre dich nur! erinnre, erinnre dich! Und: Erinnerung! denkst du versunken und siehst von allem nichts, wie es ist, sondern immer in allem nur das, woran es dich erinnert ...“
„Und dies auch,“ sagte sie fragend, „daß dort immer Gestalt um Gestalt so sichtlich und klar sich erhebt; und so kenntlich und gesondert in Farbe und Erscheinung bildet sich aus Schicksal und Anteil ein leichtes Geflecht, — ist es nicht so, Jason?“
„Und eines hat soviel Gewicht wie ein andres,“ vollendete er, „alles ist abgewogen und schwer befunden. Wenn aber ein Mensch erscheint, und nur einer ist vor ihm da, so glaubst du schon viel zu wissen, und was auch sich ergiebt und ereignet, es scheint, als hättest du es geahnt.“
„Am Ende aber,“ begann Renate von neuem, „am Ende löst sich alles doch irgendwie, ob im Guten oder im Bösen; wie ein längst erwarteter Gast so einfach kommt der häufige Tod, und wenn es denn aus ist, so ist auch immer alles gänzlich und ein für allemal zu Ende.“
„Ja,“ sagte Jason, „ja, da erwartest du denn auch in deiner eignen Welt dergleichen und bist erbittert womöglich, gekränkt und schon ungeduldig, wenn jenes nicht kommt, und dieses ganz andere erscheint, und —“
„So brüchig, Jason, nicht wahr, ohne Weiche, nüchtern, ohne Absicht, ohne Übergang, ohne alle Musik, ohne Klang und Gesang —“
„Da in Büchern“, fuhr er ruhig fort, „doch alles gesungen scheint ...“
„Ach, aber in Wirklichkeit, Jason, ist nichts unterschieden vom andern, nichts ist zu ahnen, nichts wird kenntlich, es wirbelt alles und versitzt sich, Stimmen schallen fern und nah, überschallen, bekriegen sich fassungslos —“
„— und jedes“, bekräftigte er geduldig, „scheint, es scheint so oder so und ist doch anders, ganz anders in Wahrheit, tiefer das Flache, schwerer das Leichte, unerträglich das Schwere, unendlich das Unerträgliche, und du siehst: es trägt sich doch. Nichts wird dir zugewogen, es stürzt über dich herein, Fremdes, Verwandtes, Bittres, Unbekanntes, Lustiges, Trübes, Buntes, Klagendes, Weinendes, alles ist dir ein Unsal von Gewalt, und zu jedem kommst du viel zu spät, denn es ist längst bei dir, wenn du dich aufmachst nach ihm ...“
„— und nichts nimmt nirgends ein Ende ...“
„Aber dennoch, Kind,“ sagte er beschließend, „wenn du allein bist mit deinem Bett, deiner Wand, deiner Lampe, so hat dich auch alles verlassen, denn da Bild und Erscheinung alle fern sind, woran kannst du dich erinnern, um dein eigenes Schicksal zu erkennen? — Du siehst dich selber kaum, die Nacht steht fremd dabei, und vor dem Fenster rauscht der alte Baum, und dich umrauschts, und jemand sagt: Verzeih ...“
Renate erkannte im Dunkel die Laternen und Vorgärten der Güntherstraße. Jasons Hand löste sich, sie schlang hastig die Arme um seine Schulter und küßte seine Wange. — Zu Reinhold sagte sie, er möchte Jason nach seiner Wohnung fahren.
Dann schien sie sich aus dem Wagen ohne Übergang in ihr Zimmer geraten, unsichtbare Hände nahmen ihr die Kleider ab, sanfte Müdigkeit nahm ihr auch die Glieder, rauschte es in der Nacht? Zweige oder Flügel? In weiter Ferne zeigte sich ein ernstes Gesicht. — Ich warte! sagte sie.
Dann schlief sie ein.
xten April, im Fahren
Mein guter Benno:
Fahrt durch Land Beuglenburg. Das Wagenverdeck ist hoch, es hat eben aufgehört zu regnen, oder vielmehr ist Nebel aus dem Regen geworden. Links, rechts, vor mir, hinter mir: Moorlandschaft, öde Ebenen, auf denen die Nebel eines ewigen Februars zu stehn scheinen. Schwarze Bohrtürme auf dem Horizont machen keinen ermutigenden Eindruck. Ich rolle dahin, ich flüchte über diese rollende Kugel Erde, auf der wir ein kleines, flach scheinendes Stück kennen. O Polykrates, o Schiller, o idealische Gefühle! Ich sage nicht, daß alles käuflich sei, ich bin milde gelaunt, obschon trostlos, und sage, daß alles gekauft sein will. Erzählte ich Dir nicht einmal von einem sonderbaren Traum, von einem Filmfestzug, in den ich nicht hineingelangte? Weiland Josef Montfort prophezeite: so erginge es mir im Leben. Meine Gedanken, die es an sich haben, immer merkwürdig leichtfüßig zu bleiben, tragen mich eben in Hauffs Geschichte des jungen Said. Er mußte in Balsora Teppiche und Schleier feilbieten, obgleich er das Patenkind einer Fee und im Besitze ihrer Gabe, einer kleinen Pfeife war, die ihre Hülfe in jeder Mißlage seines Lebens herbeizaubern würde, — nicht jedoch —: vor seinem einundzwanzigsten Lebensjahre. Vielleicht hab ich auch eine Flöte, eine Fee, einen Ablauftag des Unschicksals, und dies vielleicht, dies Mädchen, diese Heirat — ich kehre ins obere Gleichnis zurück — ist der letzte, endgültige Preis, mit dem ich mich zum Handelnden in den Film einkaufe, so daß ich mein eigen Bildnis im Schwarm der Schreitenden, Triumphierenden irdischen Göttern gleich werde dahinfliegen sehn. —
Aus der Ebene, über den Nebel steigt ein schwarzer Kegel, Türme einer kleinen Stadt werden an seinem Fuße sichtbar, jetzt auch Türme auf dem Kegel: Schloß Zinna. Dort oben haust das andre Opfer, die arme Braut, und macht sich von dem Kommenden die sonderbarsten Vorstellungen. — Herrgott, ist dies ein Land! Um diesen Morast auszubessern, werde ich ganz Trassenberg hineinschütten müssen. Hinter der Grenze war mit einem Schlage alles anders. Dieser Tag ist so trostlos, daß er Einöden und Paradiese einander ähnlich machen könnte, aber bei Beuglenburg und Trassenberg brachte ers nicht zustande. Ich kam durch Landstädte, so langweilig wie Speisekammern, in denen alles aufs Geratewohl irgendwo hingestellt ist. Die Dörfer armselig, verfallen, schmutzig, an keinem Fenster mehr eine Blume, die Kinder schmierig, dickschädlig, dünnbeinig, ekelhaft selbst die keifenden Hunde. Dann die Moorkanäle, schwarze Lineale, entseelte Gräben; auf den breiteren, über die ich hinjagte, — da kommt wieder einer! diesmal läßt sich sogar ein Segel drauf sehn, ein braunes, welkes Blatt — diese langen Kähne, die vorwärtsgestakt werden. Nun, wozu schreib ich das? Schloß Zinna wird sichtbar, es scheint ein getünchtes Kloster, lange Fronten mit unzählbaren, kleinen Fenstern, stumpfe, runde und eckige Türme. Meine Hupe wird ihnen wie ein Gjallarhorn dröhnen, wenn ich in die eremitischen Höfe fahre.
Guter Benno, Du bist einer der wenigen, die meine Geschichte von Anfang kennen, ich glaube sogar der Einzige, der sie überhaupt kennt. Erinnerst Du Dich noch der ersten Stunde im Schlößchen, wo ich von Napoleon erzählte? Ob ich gegen Sterne kämpfe oder mit ihnen, — wer weiß es? Ich bin den Weg weitergegangen, der — hoppla, das war ein Sprung auf die Brücke! Dies muß der Styx gewesen sein, so sah er aus, trotz eines Motorbootes, das an der Brücke lag. Vor mir liegt ein Stadttor, ganz mittelalterlich. Später weiter.
Nachts
Ich fahre einfach fort:
Durch schaurige Straßen von Kopfsteinen, über einen ganz netten Marktplatz mit Kugellinden, wieder zur Stadt hinaus, durch eine alte Allee zerfallender Kastanien — braune Vorjahrsblätter an schwarzen Ästen und auf dem schwarzen Boden — brauchte der Wagen auf endlosen Schlangenwegen fast eine Stunde hinauf; oben zeigte sich wenigstens schöner Fichten- und Birkenbestand, aber die Hecken im französischen Park — durch die Gittertore sah ich hinein — schienen seit hundert Jahren nicht beschnitten, die Einfassungen der Teiche zerfielen an der Luft, die Sandsteinfiguren fehlten auf den Postamenten — wie enthauptet standen sie da —, die Becken lagen voll modernden Laubes. Dann der Schloßhof, himmelhohe Mauern im Rhombus mit violetten blassen Fenstern, die drei Fische im Wappen überm Tor nicht mehr zu erkennen, im Jahrhundertregen, der hier fällt, davongeschwommen, die Helmzier mit Taubendreck besudelt, — ja, es gab Tauben; da sie liefen und nicht sprangen, können es keine Dohlen gewesen sein. Drinnen stand Eiseskälte, standen erfrorene Menschen mit einem steifen Spruchband vorm Mund, — eine Kälte übrigens, die in meinem Blut die letzte Wärme prickeln ließ, so daß ich mich vermutlich mit jovialer Munterkeit benommen habe ...
Ich sitze nun an einem von diesen hundert Fenstern im längsten Bau; es ist Nacht, aber der Mond ist da, eine kümmerliche Sichel, die sich schwermütig durch unablässig flutendes Gewölk dahinwühlt, und wenn ich mich hinausbeuge, kann ich diese hundert Fenster leise blitzen sehn, flach auf die Mauer geklebt, als wäre nichts dahinter. Die Nacht ist kühl, aber ich glühe, von Wein, Rührung und Mißmut, habe so viel geschwiegen, daß ich mich nun sehr geschwätzig fühle, die drei Kerzen im silbernen Leuchter schneuze und von der Schreibeschrift in die Stenographie übergehe — ach, Benno, wann war das, als wir Primaner, Sekundaner waren und unsre Ferienbriefe stenographierten, teils wegen Lernens, teils wegen überschwänglich viel zu sagender Dinge! Kannst Du denn immer noch lesen, guter Benno? Also lies:
Bei den erfrornen Menschen blieb ich stehn — vielmehr wurde ich von ihrer einem, seines Zeichens persönlicher Adjutant, zur Disposition gestellter Jägermajor, über Treppen und Galerien in ein stockdustres Gemach geführt, in dem jemand zu sitzen schien. Nach einer Weile erkannte ich einen Kopf, der einem riesigen, gekochten weißen Fischaugapfel glich (wir polkten sie als Kinder aus den Augen der Schellfische!). Ich hörte ein Gemurmel, murmelte ebenfalls, der Adjutant murmelte, noch ein Mensch — der Hofkammerrat — murmelte, wir verbeugten uns Alle, ich stand wieder draußen. Das war der Großherzog, königliche Hoheit.
Ich folgte von neuem beiden Erfrorenen und kam in einen Saal; große dunkle Gemälde an den Wänden, ein Tisch und fünf Sessel, drei um den Tisch konstelliert, zwei an den Türen. Durch deren eine erschienen zwei so völlig schwarze Gestalten, wie ich sie nicht für möglich gehalten hätte, eine große, hagre, alte mit einem schauderhaft törichten Gesicht; die kleinere, andre, zitterte am ganzen Leib, war todblaß, hatte jedoch wider meine Erinnrung nicht gar so blasse, ein wenig vorquellende Augen; der Mund war nur angedeutet, ein blasser Streif, die Nase anmutig, ja, das Ganze — im Augenblick nichts als Angst — war nicht ohne Lieblichkeit, nur entstellt durch Magerkeit und unglaublich sitzende Kleidung. Dazu war das ganz hellblonde Haar so ungünstig angeordnet, daß die breite Stirn mit zwei leichten Buckeln wie ein Felsen aussah. Dies war Sigune, und drei Minuten war ich mit ihr allein.
Lieber Freund Benno, Du kannst mir glauben, ich dachte nicht daran, daß dies meine Frau werden sollte. Ihre Hülflosigkeit war unsäglich rührend, ihre bebenden Hände wollten sich in den schwarzen Kleidfalten verstecken, — nie im Leben bin ich mir so robust vorgekommen. Ja, was machte ich mit ihr? Ich holte die Hände beide hervor, nahm sie in die Linke, klopfte mit der Rechten väterlich darauf und sprach ihr zu, so gut ich konnte: Aber man muß doch nicht bange sein! Aber man muß sich doch nicht vor mir fürchten ... und dergleichen mehr, und da — ach, dies Geschöpf! — nachdem seine erst flehenden Augen sich gleichsam aufseufzend an den meinen beruhigt hatten, machte sie eine Hand aus der meinen los, legte sie um meine Hand und küßte sie ganz schnell. So demütig war sie — lieber Gott! Sie sagte nichts, ihr Haar duftete ganz leise. Ich brauchte wohl eine Weile, um mich zu sammeln, fragte dann — und ahnte nicht, wie gut ich fragte —: „Ruft man dich denn noch Gunny wie vor acht Jahren?“ „Das wissen Sie noch?“ fragte sie hastig, errötete leidenschaftlich, brach dann aber in einen gequälten Husten aus. Ich mußte zurücktreten, Hofdame, Kammerherr und Adjutant erschienen, gleich hinter ihnen der Majordomus mit umflortem Stabe, der auf französisch verkündete, daß angerichtet sei. Es waren noch einige stumme Personen bei Tisch. Ich trank Sigune zweimal zu, was wahrscheinlich ein Etikettefehler, sicher aber ein schönes Mittel war, sie zum Erröten und Lächeln zu bringen. Am Nachmittag gab es bei verbesserter Witterung einen Spaziergang, bei dem ich Sigune mit sanfter Gewalt nötigte, englisch mit mir zu sprechen, nachdem ich herausbekam, daß die Hofdame es nicht verstand. Ich warf ein paar Angeln nach ihrer Bildung aus. Schiller, Uhland, Körner, Rückert, Geibel, Freytags Ahnen und — Hölderlin. Bei diesem Namen ging sie auf eine wunderbare Weise leicht in Flammen auf — wie eine weiße Papierrose. Ob sie den auch im Unterricht kennen gelernt habe? — Nicht im Unterricht selbst, aber doch von ihrem Lehrer. Wer denn das sei? — Sie zögerte eine Weile, versuchte einen Blick zurück nach der hinter uns verbliebenen Hofdame, errötete und sagte ganz leise, und als spräche sie das kostbarste Geheimnis aus, das Wort: Tröstherzeleid. — Oh, Benno, wenn Du es gehört hättest! ich glaube, Du hättest geweint. Ja, und nun — — ich erschrak im Herzen, und als ich fragte, wer denn das sei, was kam heraus? Der Hofkammerrat war es, eben jener Graf Leunstein von Badenbach, Exzellenz, der als erster dieser Beuglenburgschen Zunft vor mir in Erscheinung trat. Der Name, mit dem sie ihn nannte, erzählt wohl genug. Ich fragte auch nicht mehr. Es stellte sich noch heraus, daß sie mir in Philosophie weit überlegen ist, Kant und Leibniz, Spinoza und Stirner, Platons Staat und Ciceros philosophische Schriften im Urtext gelesen hatte — armer Kopf, armer Kopf! Dies Mädchen kennt nur zwei Menschen: ihre Hofdame und ihren Lehrer, — und dann war noch eine armselige Erinnerung an eine liebevolle junge Engländerin, die Gunny gerufen hatte und früh an der Schwindsucht gestorben war. Wie schlecht der kleine Trauerhut mit den Kreppschleifen saß! Und diese Jacke, und dieser Rock und diese Schuh! Alles vom Bazar in Stadt Zinna. Aber die Füße waren schmal und traten zierlich auf.
Die Kerzen weinen Ströme von Tränen — Benno, sollt ich nicht weinen? Ich stand am Fenster, beugte mich in die Nacht, suchte den Mond, er war fort, nur noch eine rinnende Quelle von feuchtem Glanz in der Nacht, über die es sich faltig verschob; in der Tiefe — Nachttiefe allein, unsichtbares Land, aus dem es dampfte, kalt und feucht, ein rotes Bahnlicht fern, mir zu Füßen nur schwarze Leere, denn hier ist die Rückseite des Bergs, Felsen fallen steil ab. Ein Gefühl, als könnte — denk nicht, ich meinte es komisch, obwohl es so klingen mag — als könnte die kleine Sigune jetzt an einem offenen Fenster sitzen und Okarina blasen. Ich habe sie Augenblicke lang deutlich gehört, simple, klagende Noten, wie Fischmunde winzig im willkürlichen Strome der Nacht hinschwimmend, — und da sitze ich, male langsam die sonderbaren Schnörkel auf das Papier, und meine eignen Gedanken scheinen mir wie die Siegel einer Geheimschrift, die zu schnell vorübergleitet, als daß ich sie lesen könnte. Hinter den Wolken sind die Sterne, steht, wie allnächtlich, ihre feierlich glühende Schrift, die großen Siegel leuchten, wir dürfen sie berühren mit der Stirn, wir erbrechen sie nicht, sie schweigen uns an.
Und so will ich nicht weiter denken und das Kommende nur erwägen, wenn es sich stellt.
Ein letzter Funke im Gehirn glüht auf, und ich schreibe, schreibe in offener Schrift: Wenn ich denn lüge, eine Abkunft heuchelnd, die nicht besteht, so ist dies doch ein Opfer. Ein sinnloses — wohl! denn hier zwingen die Alten und Kranken, die Furchtsamen und Beharrenden, sie zwingen die Jungen und in Ängstlichkeit Tapferen in ihren Willen. Wer aber weiß, welchen Sinn all dies hat? Haben diese Kerzen sich ausgeweint, so wird auch eine offene Sonne wieder scheinen über dies traurige Land, das ich wieder zu ermuntern gedenke.
Lebe wohl, Benno! auch ich beabsichtige, wohl zu leben.
Stets treulich Dein
Georg.
Renate hatte mit Saint-Georges in der Kapelle musiziert; während sie die Noten zusammenlegte, Saint-Georges seine Geige verpackte, meldete das Mädchen Doktor Klemens; Renate dachte, ihm Bogners Engel zu zeigen, und bat, ihn herzuführen. — Saint-Georges putzte bedächtig die Kerzen vor der Orgel und an seinem Notenpult eine nach der andern, damit es hell genug sei. Dann erschien Klemens, blickte sich um, noch dicht an der Tür, verneigte sich, so tief er konnte, und sprach sie an: „Holder Geist! Welch unschätzbare Gnade für mich, Sie in Ihrem eigensten Reich begrüßen zu dürfen!“
„Bitte, reden Sie weiter,“ lud Renate ihn munter ein, „Sie sind ja ein Redner!“
Klemens fuhr heiter fort: „Was ich sehe, erstaunt mich ungemein, und ich wähne mich im Traum oder verzaubert. Streitbare Engel sehen mich an oder schreiten auf mich zu, Musikinstrumente wie himmlische Waffen in den Händen. Kerzen! Rötliche Dämmrung! Und vor einer auserwählten Schar Gepanzerter in goldnen Harnischen erscheint mir die himmlische Peri selber, in dunkelrote Seide gekleidet wie in eine runde Glocke aus Abendhimmel. Alles ist äußerst erstaunlich!“
„Bloß von mir“, bemerkte Saint-Georges, „weiß er gar nichts zu sagen und unterschlägt mich schlechtweg. Guten Abend, Meister, was macht die Internationale, schläft sie oder wacht sie?“
Klemens kam nun herbei, reichte Renate und Saint-Georges die Hand, sagte drohend: „Noli turbare ...!“ stellte sich vor den nächsten Engel und versank in Schweigen.
„Nun hab ich so oft von der berühmten Internationale gehört und gelesen und sehe zum erstenmal ein lebendiges Stück von ihr“, sagte Renate, aber er schien es nicht zu hören. Nach einer Weile sagte er, tief Atem holend:
„Sechs sind es, wie ich sehe, und schon einer überwältigt. Ja, wer hätte das gedacht, als es eines Tages im Lyzeum hieß: Bob Bogner kommt nicht wieder, der ist weggelaufen. Internationale, sagten Sie? Ach,“ meinte er abwehrend, „es giebt so viele, in diesem Augenblick weiß ich wirklich nicht, welche Sie meinen.“
Renate verlangte eine Erklärung, allein, in langen Pausen von einem der Engel zum andern gehend, schwieg er sich nach Kräften aus; beim vierten sagte er, die letzten zwei müsse er sich auf das nächste Mal versparen, setzte sich auf einen der Klaviersessel und fing halblaut an zu sprechen:
„Die Internationalen ... Eine Vielzahl konzentrischer Kreise, und hier sehen Sie den äußersten. Die Internationale der großen, rasenden Kunst, ungeheuren Einmuts auf der Spur des alleinigen Gottes in aller Herren Länder, wetteifernd seit ewig im geheiligten Kriege, Engelscharen, Geniescharen, Heroenscharen, friedlich sich bekämpfend zum Ruhme Gottes, den zu mehren, den jährlich tiefer zu entflammen die einzig fruchtbare Schlacht seit tausend und tausend Jahren ohne Ende über die Erde dröhnt.“
Er stand auf. „Die Internationale der menschlichen Hoheit, deren Namen ich nicht wage auszusprechen vor ihrem erlauchten Antlitz, das ich sehe.“ Sein Blick stand in so gerader Flamme gegen Renate, daß es sie mit seltsamem Schauder durchbohrte, und sie errötete noch tiefer, als schon seine Worte sie erröten machten. Dann nahm er ihr Lächeln auf, wandte sich zu Saint-Georges und fuhr fort:
„Damit er sich nicht wieder beklagt, begrüße ich in diesem schlichten Manne die herrliche Internationale des Geistes, der Wissenschaft, die Internationale der wundervoll friedlichen Eroberer in allen Räumen dieser Welt, zu Lande, zu Wasser, im Feuer und im Sturm, im Vogel und im Fisch und im ruhlos schweifenden Atom, Anfüller der unerschöpflichen Arsenale, Herolde, Propheten und Poeten, einmütig heiligen Zornes im unablässigen Grübeln über den Rätseln der unbekannten und der bekannten Welt, Ärzte, Heilmacher des wunden Geistes, der kranken Seele vom Weltgift. — Ich grüße“, sagte er mit einer kreisenden Handbewegung nach oben, „im unbekannten Erbauer dieses Raumes die nächste Internationale, vom Präsidenten Plutus regiert, auf deutsch: das Kapital, eine Internationale von ganz besonderer Einmütigkeit, also daß zum Beispiel, gesetzt es gäbe Krieg, sämtliche Angehörigen dieser Internationale in allen beteiligten Ländern wie ein Mann, Agrarier, Schwerindustrie und Banken, Dampf in allen Kesseln, sich abmühen würden zur Überwältigung des — Friedens.“
Er lachte lautlos. Renate dachte an ihren Onkel, kniff leicht die Augen zu und hörte ihn weiter reden, nachdem er zu der weißen Säule des Ofens in der Ecke gegangen war, dem er die Hand auflegte, während er sprach:
„Und ich begrüße Mittelkreis und Kern aller Internationalen in diesem Ofen und seiner Glut. Ich grüße die Kohle. Ich grüße den Mann im nassen Stollen, den Mann im sausenden Förderstuhl, den Mann in der explodierenden Nacht. Alle Mann grüß ich am bezwungenen Feuer, den Mann am Amboß, den Mann am Schalter, den Mann am offenen Feuerrachen mitten im ruhig fahrenden Schiff, mitten im Ozean, den Mann an der Setzmaschine, den Mann am Gebläse, den Mann am Webstuhl, am Strickstuhl, am Spinnstuhl, den Mann an der Nähmaschine, den ein und tausend Mann, der, schmorend als Kohle im feurigen Ofen, das Lied von der einen, meinen singt: Die Internationale! —“
Er schwieg. „Das war schön“, sagte Renate langsam. „Vielleicht denken Sie, ich sollte nun etwas andres sagen, aber“ — sie wandte sich unschlüssig zu Saint-Georges um und schloß: „— ich weiß nichts andres als das. — Ich weiß,“ fuhr sie, da Klemens den Mund öffnete, fort, „daß viele Tausend Mangel leiden, damit ich —“ sie strich mit den Händen über die Falten ihres Kleidrockes.
„Nein, um Gottes willen, welche Verwechselung“, sagte Saint-Georges. Er ließ die Vorderbeine des Stuhles, auf dessen Lehne er im Stehen die Arme gekreuzt hatte, sich zu Boden senken, drehte ihn um seine Achse und setzte sich reitend darauf.
„Niemand, Renate,“ sagte er, das Kinn auf die Lehne legend, „niemand will, daß du nicht bist, weil Andre in Not sind, sondern im Gegenteil bist du und dein Haus die Erfüllung all ihrer zartesten und tiefsten Träume und Wünsche, und sie wollen nichts weiter, als daß sie, wenn ein Haus voller Engel an ihrem Wege steht, hineingehn können, wann der Wunsch sie dazu treibt, und daß, wenn es Gott gefiel, eine Schale voll Musik über die Erde auszuleeren, der irdene Topf so geeignet sei, um sie aufzufangen wie der goldene Becher.“
„Ich glaube,“ sagte Renate unbedenklich widersprechend, „Doktor Klemens sprach doch von denen, die Not leiden und —“
„Nein,“ sagte Klemens, „ihr Freund hat recht. Ich fragte einmal einen Bierfahrer in Camberwell, ob er schon die Sterne gesehn habe, und dieser Bierfahrer sagte, er wollte verdammt sein, wenn ers getan hätte seit Sarah Pedgewoods Tode, denn er hätte keinen Tropfen Ale gesehn seitdem. Aber sehn Sie, doch geht dieser Bierfahrer auf nur zwei Gliedmaßen aufrecht, und daß er es tut, das ist der Beweis, daß er die Sterne sehn möchte, wenn er nur einen Sinn damit zu verbinden wüßte. Die Notleidenden? Nein, verehrtes Fräulein, die gehen mich nichts an. Not wird gelitten zu Lande und zu Wasser, zu Leibe und zu Seele, und wegen Essens, Trinkens und der Liebe brauchten wir keine Internationale zu gründen, sondern das bringt die Welt ganz von selber in Ordnung. Sie leiden nicht Not, sie, die ich meine“, sagte er hart und schlug leicht mit der Faust gegen den Ofen.
„Was dann, Georges?“ fragte Renate.
„Ungerechtigkeit leiden sie“, sagte Klemens. „Knechtschaft, das ists, was sie leiden. Sie leiden, daß sie verbraucht werden in den guten Jahren, so daß sie darben müssen im Alter. Sie leiden, weil zehn Menschen in der Welt je tausend Äcker haben, und ihrer zehntausend haben zusammen einen. Sie leiden nicht, weil jener sich Gemälde kauft und dieser jeden Tag eine Frau, weil jener die Zigarre mit drei Mark bezahlt und dieser im Sommer nach Japan reist, sondern sie leiden, sie leiden unauslöschlichen Gram, weil sie keine Zeit haben, um Gemälde zu sehn und um an einem Sommertag im Grase zu liegen, denn weiter wollen sie nichts. Sie wollen und sollen nicht zehn Stunden am Tage arbeiten, auch nicht neun oder sieben, sondern allerhöchstens sechs, und ich sage, daß es dazu kommen wird, wenn nicht heute, dann morgen.“
Renate hatte, da er schwieg, Zeit über seine Worte nachzudenken und sagte nach einer Weile: „Mein Vetter, Erasmus, den Sie kennen, und Ihr Freund Herzbruch und Bogner, Ihr Schulkamerad, wie lange glauben Sie arbeiten die am Tage?“
Klemens lachte, kam bis dicht zu ihr, schüttelte den Kopf und sagte: „Der Geist, Verehrungswürdige, hörten Sie nie vom Geist? Nie, daß er es eben ist, der frei ist allein, und daß ich eben sagte: sie leiden Knechtschaft, sie wollen freien Geistes sein? Und übrigens: wenn ein Fabrikant sich durch seine geistige Arbeit zugrunde richtet, so ist das seine Schuld und geht niemanden etwas an. Sonst hat geistige Arbeit mit der schwersten körperlichen das Erhaltende gemein. Der Arm des Pflügers, des Holzfällers, das Auge des Bergsteigers, der Fuß des Matrosen sind mit siebenzig Jahren noch so scharf und sicher und kräftig wie mit zwanzig, und das Hirn des Forschers, des Erfinders ist es nicht minder. Was zermürbt, ist nicht die Anstrengung; was zermürbt, ist allein die Maschine. Das ist mein Gesetz: Wer eine Maschine bedient, soll dies sechs Stunden im Tag tun und nicht länger, soll es vierzig Jahre seines Lebens tun und nicht länger! Nur der Geist ist frei, und sobald ein Dichter nicht mehr das Recht haben soll, freiwillig zu verhungern oder wahnsinnig zu werden, und sie Gewerkschaften gründen zum Schutz ihres Geistes, sobald kann denn das Ganze zum Teufel gehn. Sie sagen vielleicht, ein Dichter, ein Weiser muß deshalb hungern, weil er zu früh geboren wurde, weil die Welt noch nicht reif sei für seine Werke, seine Erfindungen, seine Lehren. Ach, wie sähe es denn aus in der Welt, wenn jeder käme zur rechten Zeit, wenn alles grade sich einpaßte, wo ein Loch wäre, auch der Pfropfen, wo ein Geber, auch der Nehmer, das wäre so langweilig erstens wie Schwarzer Peter spielen, und zweitens möchte man dann ja wohl anfangen zu verlangen, daß auch Sonnenschein und Regen gleichzeitig auf den Acker fallen, und doch würde das dem Acker gar nichts nützen, sondern es ist wohlweise eingerichtet, daß der Nil nur einmal im Jahre steigt — wenn auch auf Kosten von einem Jahr unter zehnen, wo er gar nicht steigt, und einem, wo er zu hoch geht. Glauben Sie, daß ich die Welt verändern will? Glauben Sie es, Saint-Georges?“ Sie lachten Beide, und Klemens lachte mit. Er war aber sehr erregt und fing gleich wieder an, hin und her gehend im Raum:
„Übrigens — Ihnen kann ichs sagen — bin ich nicht in dem Ausmaß international, wie Sie denken, bin ein Deutscher am Ende und sehe, daß die Not hierzulande nicht im entferntesten die Ausmessungen hat wie in andern, in England, in Frankreich. Und was heißt denn Not? Es giebt doch nur Ausbeutung und Arbeitslosigkeit. Arbeitsscheu ist eine Krankheit, oder Anormalität, was Sie wollen, wie Trunksucht. Ausbeutung und Arbeitsmangel bleiben bestehn. Arbeitsscheu und Trunksucht gehören mit Mördern und dergleichen in die Heilhäuser und Arbeitsanstalten; niemand gehört ins Zuchthaus noch aufs Schafott. All das wird nicht heute geändert, aber es wird geändert werden, dafür bürge ich. Tun Sie mir die Liebe und denken einen Augenblick nach. Wann fing das Unheil an? Im Mittelalter gab es keine Armen; es gab Sieche, alte Weiber, Krüppel und Soldaten, in denen sich die gesetzmäßig geregelte Arbeitsscheu verkörperte. Wer arbeiten wollte, hatte immer zu essen. Das Unheil begann mit der Übervölkerung und mit der Maschine. Wie alt ist die Maschine? Knapp hundert Jahr. Nun sehen Sie bloß mal an, seit einem halben Hundert Jahren fing man an, diese Not zu erkennen und zu studieren, seitdem sich alles mit reißender Zeit doch nur verbösert hat, und dabei können wir fröhlich und getrost sein, wenn in tausend Jahren das Blatt sich gewendet hat, dann, wenn man auch im Rächer seiner Ehre, im Totschläger, im Wüstling so wenig mehr einen Verbrecher sieht wie heute im Geschlechtskranken, der Frau und Generationen vergiftet, und im Säufer, der dasselbe tut. Ein Glied faßt ins andre, und keines von den kranken läßt sich für sich allein heilen, sie müssen alle schon im einen ihre Gesundung beginnen.“
Er hörte auf und stand wieder bei seinem Ofen still. Renate, hocherfreut, ihn reden zu hören, fragte, ihn weiter zu stoßen, was er aber damit habe sagen wollen, daß er ein Deutscher sei.
„Ganz einfach,“ sagte Klemens, „ganz einfach!“
„In Frankreich, sehen Sie, wenn ich da eine Rede halten will, muß ich anfangen: La gloire! — In Deutschland, wie muß ich da anfangen? Ich muß mit der Faust aufs Pult haun.“ Er lachte: „Ha, ha, ha!“ und freute sich königlich. „Was ich dann sage, ist schon gleich, ich muß erst mit der Faust aufs Pult haun. Deshalb nun,“ sagte er verschmitzt, „deshalb wäre es nun doch ein Fehler, anzunehmen, daß in Frankreich der Geist herrsche und in Deutschland nicht. Sondern das Gegenteil ist der Fall. In keinem Lande der Welt ist noch der schäbigste Bierfahrer so durchdrungen vom Geist wie in diesem sonderbaren Land. Er hat die fremdartigsten Formen. Er geht in Potsdamer Grenadierstiefeln sehr häufig, übertrieben häufig. Aber er waltet, unsichtbar, jedoch er waltet. Vielleicht nicht die Kultur, aber der Geist ist tiefer hierzuland als anderswo. Deshalb, sehen Sie, beschränke ich mich auf dies Land. Wer schaffen will, kann seine Kreise nicht eng genug ziehen. Mißtrauen Sie meiner Behauptung? Soll ich Ihnen den Geist der Gewerkschaften nennen, noch einmal nennen? Die Internationale, das ist ihr Geist. Der Geist der Geistlosen. Der Geist der Geistigarmen. Und dies ist ihr ganzer, strahlender Reichtum; die Internationale ist ihr Reichtum. Ausgeschlossen vom Nabob, von den Betten der Reichen, träumt jeder sich weich im Arme einer Heerschar von Brüdern, sich reich im Bewußtsein seiner ungeheuren Kraft, im Gefühle, im Glauben, in der Erwartung der Stunde, wo der Riesenarm aus hunderttausend Armen zum Schlage ausholt. Die Internationale ist die große Romantische, die Cherubsarmee, der selbsteigene Trost, die dauernde Zuflucht, das große Asyl aller Obdachlosen, strahlend und gewaltig wie das Junifirmament über eine nackte Erde gewölbt.“
Eine Weile blieb es still im Raum; Klemens stand, die Hand gegen den Ofen gestützt, den Kopf gesenkt. „Ja,“ sagte er aufschreckend, „ich muß nun aber fort, es wird höchste Zeit, ich muß noch zu meiner Schwester, heut abend geht mein Zug.“
Renate wollte eben verwundert fragen, ob er sie denn wirklich nur, um sich zu verabschieden, besucht habe, als Irene in Pelzjacke und Barett in der Tür erschien, während Klemens durch die Kapelle zum Podium kam, wo sie sich vom Stuhl erhoben hatte.
Irene verwurzelte sich im Eingang mit einem solchen Blick auf Klemens, daß Renate den Ausruf ihres Namens unterschlug. Klemens schüttelte ihr kräftig die Hand, indem er umherdeutend sagte: „Sonderbare Reden, die wir hier gehalten haben.“
Indem drehte er sich zu Saint-Georges um, sah Irene und fuhr mit den Schultern zurück. Dann biß er sich auf die Lippen, sagte: „Guten Abend, Frau Herzbruch!“ und gab Saint-Georges die Hand.
Er ging zur Tür, Irene wich nun zur Seite und neigte den Kopf grüßend. Er blieb stehn. „Sie wußten vielleicht nicht, daß ich Otto bat, mich bei meiner Schwester zu treffen?“ fragte er.
„Doch, ich wußte es“, sagte sie.
„Entschuldigen Sie nur,“ rief er leicht, „ich dachte, Sie wären aus Zartgefühl hergekommen.“ Und ging hinaus.
Irene nahm eine Hand aus dem Muff und schob den Schleier hoch, ohne etwas zu sagen.
„Guten Abend, Irene!“ rief Renate, während Saint-Georges zu ihr ging. Da stampfte sie plötzlich mit dem Fuß auf und schrie: „Gott sei Dank! Gott sei Dank, daß er weg ist! Lange genug hats ja gedauert!“
Unter der dreieckigen, fest um den Kopf gezogenen Mütze sahen ihre Augen diamantschwarz unter den Schleierfalten hervor. Sie ging mit harten Schritten zum nächsten der beiden Flügel, warf ihren Muff darauf, zerrte den Knoten ihres Schleiers am Hinterkopf auseinander, warf den Schleier auf den Flügel, riß die Pelzkappe ab und warf sie dazu und fuhr sich mit den Händen in die festgedrückten Locken, um sie aufzurichten; danach ließ sie die Arme fallen, machte einen Schritt, stützte die Hände auf die Hüften und blieb so stehn, mit hängendem Kopf, an der Unterlippe nagend. Renate sah alles mit an. Irene warf den Kopf zurück, trat rückwärts an den Flügel, legte eine Hand auf die Platte, trommelte mit den Fingern, sagte endlich:
„Ja, Renate, jetzt ists also aus. Nun hats eine Ende mit Schrecken genommen, das soll nicht schaden. Gott sei Dank, ich habe durchgekämpft und brauche mir keine Vorwürfe zu machen.“
Was aus sei, fragte Renate unzufrieden.
„Na was! das mit Klemens!“ Oh, Renate sollte schon wissen, wie sie gekämpft und sich erniedrigt habe! „Erst sollte es eine Probezeit auf acht Tage sein, damals —“
„Was sollte?“ fragte Renate kurz, gestört von dem unverständlichen Hin und Her.
„Daß er im Hause blieb! Dann ist ein Monat draus geworden, aber hassen habe ich ihn gelernt, ach gehaßt habe ich ihn vom ersten Augenblick an, diesen Zerstörer, diesen Schönredner, diesen — Tanzenden! Herrgott, wie er mich verwundet hat, wie ich hab frieren müssen! Ich möchte wohl wissen, wie er gegen dich gewesen ist, eben! Auch so höhnisch und so metallen? Hat er das wohl gewagt?“
„Georges hat Hunger,“ sagte Renate, „komm, wir wollen zum Essen gehn.“
Irene nahm wortlos ihre Pelzsachen auf, während Renate die Kerzen löschte, brauchte eine halbe Minute, um ihren Schleier zusammen zu raffen, folgte dann Renate, während Saint-Georges schon an der Kurbel der kleinen Glühlampe stand, die den Raum jetzt erhellte.
Während des Abendessens verhielt Renate sich schweigsam, innerlich unfriedlich, da der gestörte Nachhall von Klemens sich in ihr kreuzte mit Irenens drohender Entladung. Irene verhielt sich schweigsam, innerlich vermutlich bemüht, der vollen Schale ihrer Verdrießlichkeit, oder was es nun sein mochte, jeden Tropfen zu erhalten. Saint-Georges und sein Bruder schwiegen aus Zartgefühl; Erasmus schwieg wie immer. Jasons Kommen unterbrach die Stille nicht weiter, als daß die Begrüßungsworte laut wurden; er kannte ja kein eigentlich selbständiges Verhalten, stets entsprach nur das seine dem der Andern, und auch wenn er etwas Mitgebrachtes allsogleich hervorzog und dartat, schien es wie etwas Erwartetes so natürlich. Nur als Renate eben den Mund auftun wollte, um die Tafel aufzuheben, öffnete er den seinen, schüttelte unmerklich den Kopf und sagte, die stillen, glänzenden Augen auf Renate gerichtet:
„Weißt du, Irene, was Cervantes sagt?“ Und nach einem flüchtig und leidend fragenden Blick Irenens, fuhr er fort: „Cervantes in seinem berühmten Buche Don Quichote de la Mancha, gemeinhin der Donkischott genannt, sagt: Ein Mensch ist nicht mehr wie ein andrer, wenn er nicht mehr tut wie ein andrer. — Es fiel mir grade so ein, als ich euch Alle so schön um den Tisch sitzen sah.“
Erasmus sah ihn an, wie Renate bemerkte, mit dem sonderbar heftig nachdenklichen Blick, den Jason ihm öfters entlockte. Sie hatten, soviel Renate sich erinnerte, noch nie miteinander gesprochen, doch schien Erasmus eine gewisse Ehrfurcht vor ihm zu haben. Jetzt blieb er an der Tür stehn, die Stirn wie immer leicht gesenkt und fragte zurück: „Wie sagten Sie? Ein Mensch ist nicht mehr —“
„— wie ein andrer,“ fuhr Jason fort, „wenn er nicht mehr tut wie ein andrer. Sie sagen aber besser ‚als‘ statt ‚wie‘, ich habe die Übersetzung zitiert, und dann sagte ich es eigentlich nicht zu Ihnen.“
Erasmus nickte und ging hinaus. Die Andern standen still hinter ihren Stühlen, lösten sich nun, Saint-Georges sagte, er brächte seinen Bruder auf sein Zimmer und ginge dann nach Hause. Sie verabschiedeten sich, und Irene, Renate und Jason gingen in die Halle hinunter.
Der Kamin brannte hell, niemand machte Licht. Renate setzte sich ans Feuer und wartete ab; auch Jason setzte sich, nahm den Blasebalg, hielt ihn gegen die Flammen und ließ ab und an einen kleinen Seufzer in die Glut stöhnen. Irene, die hinter seinem Stuhl stehn geblieben war, schien nach einigen Minuten von der Wiederholung dieses Verfahrens nervös zu werden und sagte: „Aber Jason, was machst du denn?“
Jason versetzte still: „Ich unterhalte das Feuer.“
Renate lachte leise. Irene drehte sich um und fing an, im Dunkel des Hintergrundes auf und nieder zu gehn. Endlich trat sie hinter Renates Stuhl und sagte halblaut:
„Weißt du noch, wie ich früher zu dir gekommen bin und mein Herz verglichen hab an deinem? Meins war Angst und Sorge und deines Fülle und Sicherheit. Nun ja, wenn man so schön ist wie du ... Seitdem bin ich lange ausgeblieben, und nun bin ich wieder da.“
„Ein Mensch“, sagte Jason, „ist nicht mehr wie ein andrer, wenn er nicht mehr tut wie ein andrer.“
Renate sah zu Irene auf; ihr rötliches Gesicht, eben noch vom Feuerschein erreicht, blickte mit durchsichtigen Augen ratlos gegen die Flammen. Renate sagte:
„Kind! Ich finde es ja sehr lieb von dir, daß du wieder zu mir kommst —“
„Jag mich nur wieder weg“, murmelte Irene.
„Ich dächte aber eigentlich: du hast doch nun einen Mann; oder kommst du vielleicht seinetwegen?“
Nach einer Weile wurde Irenes Stimme wieder aus dem Hintergrunde hörbar, tonlos: „Auch.“
Dann wars wieder still. Renate war des ziellosen Herumredens und Stehens schon ziemlich müde, aber Irene fing nun zu sprechen an, so daß Renate schon am ersten Wort merkte, sie würde so bald nicht wieder aufhören.
„Er nimmt mir meinen Mann weg“, sagte sie. „Ja das ist nun so.“ Hastig redete sie weiter. „Erst sollte es eine Probezeit auf acht Tage sein, denn — ich sagte Otto gleich noch am ersten Abend, — ach, es war alles so sonderbar! —“ Sie schwieg, fing aber nach Sekunden von neuem an. „Ich lag noch nicht im Bett, am ersten Abend, da hörte ich, wie die Beiden sich an den Kamin setzten und dann an zu reden fingen. Und nun dauerte das Stunden. Immer in Pausen. Viertelstundenlang sprachen sie unaufhörlich, am meisten Klemens. Dann wurde es still, ich wollte einschlafen, — da fings wieder an. Schließlich redeten sie immer weniger, Minuten und Minuten konnte ich sie förmlich schweigen hören und lag und wartete und wartete, und richtig: da fingen sie wieder an. Es war zum Verrücktwerden. Endlich macht ich Licht und saß mit der Uhr in der Hand, eine geschlagene halbe Stunde war kein Laut zu hören, ich dachte, am Ende sind sie doch leise weggegangen. Da zog ich meinen Kimono an, ging zur Tür und öffnete leise. Richtig waren sie noch da. Das Feuer brannte kaum noch, aber ich sah Ottos hellen Anzug, er lag längelangs im Sessel, hörte mich nicht, und auf dem Sofa lag Klemens. Nun fragt ich denn, was sie bloß machten, und warum sie nicht schlafen gingen, und Otto, halb im Schlaf, sagte glaub ich, er hörte zu, wie Klemens sein Bart wüchse, oder so was. — Aber nun ging Klemens doch, und — ja, dann stellte Otto mich zur Rede. Es war herrlich, er stellte mich —! Er hätte ihn doch jahrelang nicht gesehn —“
Renate dachte: Was erzählt sie mir da? Sie hat eine Nacht nicht schlafen können und — Irene hastete weiter, klagend und eintönig:
„— und — ja, ich weiß heut auch nicht mehr, was er sagte, und ich entschuldigte mich auch, denn ich weiß ja, ich bin im Unrecht, er ist sein Freund, und sie kennen sich lange, und sie sind Männer, und ich bin nur eine Frau, und ich kann nur sagen: ich mag ihn nicht!“
„Ein Mensch ist nicht mehr als ein andrer,“ sagte Jason ruhig, „wenn er nicht mehr tut als ein andrer.“
„Hab ich denn nicht mehr ein Recht zu sein, wie ich will?“ begehrte Irene auf. „Hab ich kein Recht als deine Frau? sag ich zu Otto. Und da, — ich sprach grade noch von seinem rodomontierenden Wesen, seinem breiten Bart, und wie er die Worte setzt, alles, was mir so — so — ich weiß nicht! — und seine unsichtbaren Augen ... Auf einmal steht er wieder in der Tür und muß wohl gehorcht haben, es war ja auch nur der Vorhang dazwischen und sagt, — ja, was sagte er doch noch ...“
„Ein Mensch,“ sagte Jason, „ist nicht mehr wie ein andrer.“
„Jason! — Er sagte: weil ich von Rechten geredet hätte ... Er wollte auch von Rechten reden. Meine Ehe, die wäre eine Jammerleistung, ich hätte nicht mal Kinder, und sie wären zwanzig Jahre Freunde, und ich bloß zwei Jahr verheiratet. Ja, und es wäre zum Tollwerden, sagte er, und ich sollte doch erst mal lernen, was eine Ehe ist, ehe ich mich an einen Mann hängte. Oh, es ist uner—, unerhört ist es!“
Renate hörte sie aufgeregt hin und her laufen. Jason hatte es sich im Sessel bequem gemacht, die Hände vor dem Magen gefaltet und schien jetzt aufmerksam zu lauschen.
„Wie gings nun weiter, Irene?“ fragte er, „du erzählst sehr anschaulich. Was hat Otto denn nun wohl gesagt? Sagte er nicht, daß Klemens weder Vater noch Mutter gehabt habe und nicht einmal wüßte, wer sein Vater ist, ein Student zum Beispiel, oder ein Großherzog? Sicher hat er etwas Ähnliches gesagt und wahrscheinlich auch, daß Klemens gehungert hätte für drei und gearbeitet für zehn. Nun, ein Mensch ist nicht mehr als ein andrer.“
Renate sah Irene hinten auf einer Sessellehne sitzen und die Achseln zucken. Jason wüßte ja alles, sagte sie, es sei schon so gewesen. Ja, sie hätte auch gesagt, daß sie ihn, Otto, nicht so lieben könnte, wenn Klemens daneben stünde, aber sie sei schon müde gewesen, und da habe er denn diese Probezeit von acht Tagen verlangt, aus denen dann Wochen geworden wären, und sie hätte ihn ja auch wenig gesehn, nur bei den Mahlzeiten, da er sonst im Zimmer ihres Schwagers gearbeitet hätte ...
„Ja, Albert Vehm,“ sagte Jason, sich aufrichtend, „gut, daß du den Namen nennst. Ein Mensch ist nicht mehr als ein andrer, aber was ist mit ihm?“
„Er ist weg. Wir wissen jetzt, wo er haust; bei einem Bauern aus seiner Praxis, aber niemand bekommt ihn zu sehn.“
Da sah Renate ihn wieder am Zaun stehn und hörte ihn fragen: Und die Kinder ...? Renate schreckte leicht auf, da Irenes Stimme auf einmal dicht über ihr fragte: „Bist du abergläubisch?“
„Nun ja, wie man so ist,“ gestand sie halb lachend, „Katzen und Sternschnuppen und Spinnen, und wenn das Streichholz nicht anbrennen will, daß man sich sagt: das und das wird geschehn, wenn ... aber —“
„Ja, so ähnlich,“ sagte Irene, „jedenfalls hab ich mir ausgedacht, daß in diesen acht Tagen irgend etwas geschehn sollte, das mich bestärkte oder veränderte gegen ihn, aber natürlich ist nichts geschehn, bloß daß er mir immer unangenehmer geworden ist, und dann hab ichs eben langsam immer weiter ertragen, und —“
„Was war denn nun zu ertragen?“ fragte Renate kühl.
„Gott, Renate, daß ihr Beide gegen mich seid, das weiß ich ja längst, und wie soll man denn das auch beschreiben? Die Worte machens doch nicht, das macht doch das Gesicht und die Haltung und die Tonart und alles, oder meinst du, man kann sich da irren, und ich hätte mir bloß eingebildet, daß er es förmlich drauf anlegte, mich aufzubringen und zu empören und —“
„Oh das kann ich mir sehr gut vorstellen“, sagte Jason. „Wenn einer so in die allgemeinsten Dinge eine Spitze hineinsteckt, und man kann nichts sagen, denn da ist gar nichts zu sehn, aber innerlich möchte man aufschrein, nicht wahr, Irene? Und dann so dies: obenhin ... Wenn man sich grade so schön vorgenommen hat, geduldig und artig zu sein, und tut eine bescheidene Frage und kriegt auch eine Antwort, aber was für eine! — So nach einer Weile, als ob sie erst abgeleckt wäre von allen Seiten, so aus dem Mund geholt wie ein Matrosenpriem und auf die Tischkante gelegt zum Trocknen, ja, das kenne ich ausgezeichnet. Wirklich, ein Mensch tut nichts andres als ein andrer.“
Irene antwortete nicht, aber Renate fing an, sich ernstlich zu sorgen, da sie immer geschwinder und wilder durch den Raum hin und her fuhr, die Hände geballt und mit verwirrten, weggeschleuderten Blicken.
„Wenn Otto mir sagte,“ rief sie hart anhaltend, „Klemens könnte keinen Widerspruch vertragen, es sei überhaupt alles Beherrschung an ihm, außer man wäre sachlich oder sächlich, — was weiß ich, ich bin weiblich! — — was blieb mir denn übrig als stille zu schweigen?“
„Gut, Irene, ausgezeichnet!“ lobte Jason, „damit trafst du das Richtige.“
„Schweig, Jason! Und immer hackte er auf meiner Kinderlosigkeit herum! Nein, höre, da fällt mir etwas andres ein, was er sagte. Einmal konnt ichs nicht lassen und fragte, was das denn eigentlich für eine Freundschaft wäre, wo einer sich um den andern jahrelang nicht kümmerte. — Das wäre das Feine dran, sagte er. So, sage ich zu Otto, und wenn ich mich jetzt zwei Jahre Gott weiß wo herumtreibe, dann ists dir wahrscheinlich auch egal. — Darüber habe ich noch nicht nachgedacht, sagt er. Ist das nun vielleicht eine Antwort?“
Glühäugig stand sie da und blickte Renate an. Jason machte erstaunte Augen.
„Ich hatte gedacht,“ sagte er, während Renate ein Lächeln verbiß, „du wolltest von Klemens reden? Nun,“ sagte er und zog sich befriedigt zurück, „du hast ja recht: ein Mensch ist nicht mehr wie —“
„Ja, nun verwechsle ich sie schon“, murmelte Irene, kniff den Mund zu und sagte böse: „Einer ist mir so fremd wie der andre.“
„Höre mal übrigens,“ fing Jason an, „du hast das wohl auch verwechselt. Klemens redete von Freundschaft, und du von Ehe.“
„Ah, sieh, Jason!“ höhnte Irene spitzig, „du hast wohl auch seine Meinungen über Liebe und Ehe und so.“
„Wenn du mir die seinen vielleicht sagen möchtest ...“ meinte Jason.
„Also, einmal frage ich ihn ganz bescheiden, ich hätte eigentlich noch immer etwas Zeit übrig, namentlich im Winter, ob er nicht auch meinte, daß ich mich fürsorgerisch betätigen sollte. In meinem Staat, sagt er, gewiß nicht. Er bemühe sich seit zehn Jahren, das Recht auf Kindersegen für jede Frau durchzusetzen, und ich prätendierte das Recht auf Kinderlosigkeit. In seinem Staat, und so weiter, und ob ich eigentlich wüßte, wieviel Frauen ich die eigentliche Vollendung ihres Daseins wegnähme. Ja, weißt du, warum? Weil ich einen Mann für mich beanspruche, von dem andre Kinder haben könnten. Und damit —“ ihre Stimme wurde heiser und überschlug sich, „kletterte er im Handumdrehn zu der Behaup—“ Ihre Stimme versagte, sie mußte husten und hörte lange Zeit nicht auf.
Das sei aber mal nichts Besondres, meinte Jason enttäuscht; nein, das fände er nun äußerst natürlich und wahrheitsgemäß geredet. Ob er denn sonst nichts gesagt hätte?
Sie hätte es wohl vergessen, murmelte Irene matt, es sei ja auch gleich.
Renate sagte, damit könnte sie wohl recht haben, denn sie hätte wohl gleich gemerkt, daß es sich hier wie immer nicht um das Was handle, sondern um das Wie, und Irene habe sich ja auf unbegreifliche Weise haßerfüllt und abgeneigt von vornherein gegen Klemens gezeigt ... Sie brach ab, da sie Irene in ihrem Sessel hinten, ohne hinzuhören, sich nur angestrengt besinnen sah. Gleich darauf fing sie auch an: Lieben, hätte er einmal gesagt, lieben könnte man doch nur, was einem fremd sei. „Wie? frage ich. — Zum Beispiel: Gott, sagt er. — Gott? frage ich erstaunt, und da fällt mir natürlich Otto ein, und ich frage, ob er vielleicht behaupten wollte, daß Otto mir fremd wäre. — Er wäre überzeugt, unterbricht er mich, daß es nichts gäbe, was einander fremder wäre als zwei Menschen, Mann und Weib.“ Jason spitzte die Ohren. „Mein Mann ist mir lieb, nicht fremd, sage ich. — Abgesehn, sagt er, von der Logik, was meine Ehe denn für eine Kunst wäre. — Liebe, sage ich, nicht Ehe. — Ah, sagt er da und tut hocherstaunt, Sie wissen also doch sehr gut, daß Liebe und Ehe nicht das geringste miteinander zu tun haben. — Ich falle aus allen Wolken und sage: Was? — Denn Liebe, doziert er so recht pedantisch, Liebe ist ein Gefühl, und Ehe ist eine Einrichtung.“
„Nun, da haben wirs“, sagte Jason entzückt. „Ein Mensch kann nicht mehr tun als ein andrer, aber dies war ja nun sehr ausgezeichnet, ein ganz ausgezeichnet wahres Wort! Ich möchte fast glauben, daß er es mir abgelauscht hat. Immer und immer habe ich das gesagt: Liebe und Ehe, die beiden haben miteinander genau so viel und so wenig gemein wie das Leben und der Tod. In der Ehe nämlich herrscht das Gesetz, ja bis in die allerkleinste Wallung und Verrichtung des alltäglichen Ehelebens hinein waltet der Geist der Verträglichkeit auf Grund des Vertrages. Was aber tut das Gesetz? Es tötet. Es tötet ab, es erstarrt. Die Ehe ist recht eigentlich die Idee aller starren Systeme, aber nun, wie es im Liede heißt: Media in vita — mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen. Mitten im Leben der Liebe vom Tode der Ehe umfangen und dennoch höchst lebendig, wohlwollend, verträglich, hülfreich und gut zueinander sein, — das wäre die Kunst der Ehe.“ Sprachs und glitt zufrieden wieder in seinen Sessel zurück. Irene sagte nichts.
Wie rauh und schwächlich, aber auch wie traurig hatte Irenes Stimme doch geklungen; Renate hörte es nun erst, wo sie erloschen war. Sie hätte gern etwas Tröstliches geäußert, aber alles, was sie hörte, brachte keine Begriffe in ihr hervor; es war wie das Plätschern eines Wassers, dem Wehmut und Abgeschiedenheit anzuhören ist, doch bleibt es die betrübte Stimme eines Bachs, eine fremde, nicht zu unterbrechen oder zu enden mit Zusprache oder Streicheln.
„Und nun hat er ja recht behalten“, kam ihre Stimme wieder zum Vorschein, erloschen und trostlos. „Otto ist mir fremd geworden. Vielleicht ist ers immer gewesen, ich weiß ja nun gar nichts mehr. Früher glaubt ich all seine Gedanken zu sehn, jetzt muß ich oft seine Stirn ansehn und denken: Was ist dahinter? habe ich etwas damit zu tun? — — Wie einfach, wie natürlich war nicht alles! Es war nicht groß, du lieber Gott, es war keine Kunst! aber es paßte doch zu uns, und ich wars zufrieden. Nun heißts: es ist keine Kunst, und ich muß über die schwierigsten Sachen nachgrübeln. Manchmal ist mirs schon gewesen, als sei es ganz gleichgültig, ob Otto und ich zusammenleben oder irgend zwei Andre.“
Jason lächelte hier still und friedlich vor sich hin. Renate mußte denken: Er scheint es ja recht leicht zu nehmen ... Irene stand auf, hielt den Kopf gesenkt und zerrte an ihrem Taschentuch.
„Ich weiß ja, ihr wollt mir nicht helfen“, sagte sie, Tränen dick in der Stimme.
Jason erhob sich. „Ich gewiß nicht, Irene,“ sagte er aufrichtig, „obgleich ich nicht weiß, was dir eigentlich fehlt. Nein, ich freue mich im Gegenteil, dich in einer derartigen Verwirrung zu sehn. Verwirrungen erhöhen die Lebhaftigkeit des Daseins und machen die Ruhe angenehm. Nichts ist süßer, als auf dem Sofa liegen nach einem schönen Schwindelanfall. Dir kann ich noch nicht helfen.“
Noch? was das heißen solle, noch?
„Oh nichts so Bestimmtes“, meinte Jason. „Ich wollte bloß zum Ausdruck bringen, daß ich nichts anzufangen weiß mit Leuten, die dastehn und schreien, sie fielen um. Wenn einer an der Erde liegt, so will ich ihn aufrichten; ja, dazu mache ich mich anheischig.“
Plötzlich stampfte Irene mit dem Absatz auf und schrie: „Herrgott, warum muß denn nur alles so verkehrt kommen! Warum liebt ihr euch denn nicht, Klemens und du, statt daß —“ Sie brach verwirrt ab. „Nein, wir hassen uns ja ...“ Sie schien völlig den Faden verloren zu haben, schüttelte sich auf einmal, kam auf Renate zugeflogen, warf sich vor ihr an den Boden, umschlang sie und schluchzte jammervoll:
„Ach, ach, ich muß dirs ja gestehn, ich hab mich nur so herumgeredet, es ist ja so eine furchtbare Schande, aber ich muß —“ sie schüttelte sich krampfhaft — „ich muß es dir sagen, er hat — er hat mich — er hat mich ja so wahnsinnig gedemütigt! Ach, angeschrien hat er mich wie ein Sinnloser, niedergedonnert hat er mich — ach, Otto! Otto!“
„Wie, Otto hat ...“ fragte Jason.
Irene sprang auf und flammte ihn an. „Otto, bist du ganz rasend? Er, er, er, Klemens! Auf einmal ist er ganz blau im Gesicht geworden, ich weiß nicht, ich muß ihn wohl gereizt haben, und dann hat er gelärmt ...! Was das für eine Schande mit mir wäre, dies kindische Wesen, und alles Alte hat er wieder aufs Tapet gebracht, und ich gönnte ihm seinen Freund nicht, und den Mund sollte ich halten und —“
Ihre Stimme erstickte wieder. Renate konnte es nicht mit ansehn, wie sie dastand und sich erniedrigte, schüttelte den Kopf, mußte sich aber nun doch sagen, daß an allem schließlich etwas Wahres sein müsse, nicht alles allein Irenens Schuld sein könne; sie konnte sich aber in der Erinnerung an den Nachmittag mit Klemens ihn in keiner ungebührlichen Haltung vorstellen.
„Wie du dich erniedrigst, Irene!“ entfuhrs ihr unbedacht. Irene zischte wieder empor.
„Ich will mich erniedrigen!“ schrie sie wütend. „Und was er schaffte, das sei mehr wert ... brüllte er, und eine Stimme hat er gehabt, daß alles Glas nur so klirrte, und die Wände haben gezittert, und ich saß da wie versteinert. Das in meinem Haus!“ Fliegend, jauchzend, zitternd, frohlockte sie: „Wahnsinnig hasse ich ihn, wahnsinnig! o ich hasse ihn, ich hasse, ich hasse ihn. Käme er nur, käme er nur noch einmal und ... ach, ich wollte, er täte es noch einmal!“
Das könnte sie haben, meinte Jason gefällig, er hörte Klemens eben draußen klingeln.
Renate vernahm seine Worte nur halb, mit den Augen an Irene hängend, die wie eine Eumenide vor ihr wogte, die Arme schleudernd, als stäken Dolche in den Händen, und alle Locken hatten sich aufgerichtet um ihren Kopf und bebten und zürnten mit.
„Wißt ihr, was er getan hat?“ zischte sie. Mit funkelnden Augen von Renate zu Jason und zurück, hob und krümmte sie den rechten Arm, hob die Hand und machte eine klappende Bewegung damit. „Verstehst du, Renate?“ Renate verstand und reckte sich innerlich. „Verstehst du, Jason? Ja, nicht wahr, das habt ihr doch nicht gedacht, das habt ihr —“ Ihre Stimme und sie selber schwankte.
In der Tür stand das Hausmädchen und sagte: „Gnädiges Fräulein — Herr Doktor Klemens.“
Renate geriet in Schrecken. Was wollte das werden? Irene war nicht anzusehn, ob sie die Meldung gehört hatte oder nicht, sie spähte mit einem sonderbar wirren Blick im Zimmer umher, entdeckte plötzlich zwischen Korridortür und Kamin das Telephon und stürzte darauf zu. — Renate hörte das Mädchen etwas fragen, nickte nur, und gleich darauf flammte das Licht in der Krone blendend auf und übergoß alles. Irene schrie: „Otto!“ dann „Einundsiebzig einundsechzig!“
Klemens erschien in der Tür, verbeugte sich gegen Renate, blickte dann scheinbar abwartend auf Irene, die ihm den Rücken wandte, über das Tischchen mit dem Fernsprecher gebeugt.
„Bitte, schalten Sie um!“ sagte Irene. Gleich darauf: „Ja, umschalten sollen Sie, zum Oberstock, Himmeldonnerwetter, verstehn Sie denn nicht? Um — — Ach, der Teufel soll dich holen!“ schluchzte sie, warf den Hörer hin und fiel in den Sessel, aus dem Jason eben aufgestanden war.
Der ergriff nun den Hörer, fragte: „Bitte, sind Sie noch dort?“ horchte und sagte: „Ach, Sie sind selber am Telephon! Bitte, einen Augenblick! — Dein Mann ist am Telephon, Irene,“ sagte er zu ihr, „es war bereits umgeschaltet. Soll ich ihm was sagen, oder willst du —“
Irene unterbrach ihr Weinen und schluchzte mühsam, sie wolle ihn nicht sprechen, er — sie habe nur hören wollen, ob er zu Hause sei, und sie käme auch gleich.
Jason führte das aus und legte den Hörer hin, dann drehte er sich um und sagte zu Klemens:
„Das ist schön, daß Sie grade kommen. Wir sprachen von Ihnen, und da möchte ich Sie gleich fragen: Haben Sie meiner Freundin Irene wirklich eine Ohrfeige gegeben?“
Irene zuckte nur, als sie merkte, daß er mit Klemens sprach, behielt aber das Gesicht im Taschentuch, richtete sich langsam auf und trocknete ihre Augen. Klemens sagte leutselig zu Jason:
„Junger Mann ... Das heißt,“ unterbrach er sich, „hat Frau Herzbruch dies vielleicht behauptet?“
„Also nicht?“ rief Renate erleichtert.
„Keine Idee! Ich habe bloß so getan“, verteidigte er sich.
„So getan?“ sagte Jason. „Das ist glänzend.“ Zufriedengestellt, wie es schien, drehte er sich ab, ging in den Hintergrund und sagte wie zur Erklärung: „Ein Mensch ist nicht mehr als der andre, wenn er nicht mehr tut als der andre.“
Klemens sah ihm mißtrauisch nach, äußerte dann zu Renate: „Ich kann Ihnen das leider nicht vormachen.“ Nun wandte er sich zu Irene, die langsam aufgestanden war und zu schwanken schien, ob sie ihn ansehn sollte, und sagte:
„Ja, also Frau Irene, ich bin noch einmal gekommen, — es wird mir nicht leicht, und ich habe wohl auch eigentlich —“
Er wollte auf sie zugehn, aber Irene, einen Augenblick geduckt, ging ihm plötzlich entgegen, streckte ihm die Hand hin und murmelte:
„Ich bitte Sie um Verzeihung, Klemens, ich hatte Sie wohl zu sehr gereizt, und — ich bitte Sie um Gottes willen ...“
Klemens ergriff tief erstaunt ihre Hand und brachte kaum den Mund zu. Irene ließ wieder los, ging wie geistesabwesend zur Flurtür, murmelte: „Wohin will ... wohin soll ich denn nun? Ach so, nach — nach Hause ...“ Dann schluchzte sie tief und furchtbar auf.
Renate lief hastig um die Sessel und zu ihr hin, erreichte sie in der Tür, legte den Arm um ihre Schulter und ging mit ihr hinaus. Sie wagte jetzt kein Wort, Irene raffte sich auch wieder zusammen, ging gefaßt in die Kleiderablage, ließ sich von Renate in die Jacke helfen, setzte die Mütze auf, knüllte den Schleier zusammen und steckte ihn ein. Nach einem Blick in den Spiegel holte sie ihn wieder hervor und band ihn mit zitternden Fingern um; Renate half ihr.
„Gute Nacht“, sagte sie leise. Renate wollte sie an sich ziehn, aber sie schüttelte trübe den Kopf und ging hinaus. Renate blieb ratlos zurück.
Wieder ins Zimmer kommend, hörte sie Jason eben sagen: „Seelische Fallsucht ist ein vortrefflicher Ausdruck!“ worauf er sich zu Renate umdrehte, mitten im Zimmer, schmal und kleiner als sonst neben Klemens scheinend, den Kopf ein wenig schräg haltend, und erfreut zu Renate erklärte:
„Herr Klemens sagt, er hätte die seelische Fallsucht. Jahrelang ginge es ihm sehr gut, und dann, auf einmal, wäre die Fallsucht wieder da; es geht ihm also genau wie mir. Ich habe ja mehr die Zitatenfallsucht, aber sie ist ja nun auch im Schwinden, unberufen, und eine Zeitlang hatte ich das Kopfschütteln, aber das ist, glaube ich, auch schon wieder im Schwinden.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, da ist es wieder,“ sagte er enttäuscht, „ich habe es berufen, nun will ich lieber gehn und Irene noch an der Haltestelle treffen. Gute Nacht, Herr Klemens.“ Er reichte ihm die Hand. „Gute Nacht, Renate.“ Er reichte ihr die Hand, lächelte und ging sacht hinaus.
Renate setzte sich schweigsam in einen Sessel, hielt sich grade, rieb die Hände leicht im Schoß und blickte ins niedergebrannte Feuer. Aber beim Anblick des Blasebalges fiel ihr Jasons Bemerkung ein: er unterhalte das Feuer; sie mußte lächeln, sah zu Klemens auf, sah ihn in sich gekehrt im Schatten stehn und sagte: „Ein großer Wirrwarr, wie es scheint! Wollen Sie so gut sein und den Blasebalg etwas in Tätigkeit setzen?“
Klemens fuhr auf. „Blasebalg?“ rief er, „meinen Sie mich oder den da?“ Er lachte, setzte sich, ergriff das Instrument, drehte eins der Holzscheite mit ihm um, setzte ihn dann bedächtig in Tätigkeit. Als das Feuer wieder hell brannte, legte er den Blasebalg fort, setzte sich zurück und sagte:
„Kluge Jungfrau! auch Ihnen wird, nehme ich an, bekannt sein, was gemeinhin nicht viele wissen, ich aber weiß es: Nichts fängt da an, wo es anzufangen scheint. Auch diese armen Tränen, welche Sie sahen, auch die — ich schwöre es! — nicht nur Ihnen imaginär gebliebene Ohrfeige haben ihre Wurzel nicht im heutigen, sondern in Frau Irenens Hochzeitstage. Ich kam nicht zur Trauung, damit fing es an. Ich habe nun eine Abneigung gegen Schwurformeln im allgemeinen, und im besondern, wenn der, welcher sie aufsagt, nicht daran glaubt, und erschien deshalb erst bei der Tafel. Das Ehepaar brach, wie Sie sich erinnern werden, früh auf, so bekam ich Ottos Frau kaum zu sehn, aber was ich bekam zu sehn, das war nicht hoffnungsvoll. Ich dagegen war so hoffnungsvoll, zu glauben, dies werde in zwei Jahren vergessen sein, aber weit gefehlt! Ja, ich dachte es mir ganz schön, ich hatte vor, ein Buch zu schreiben —“
„Ein Buch?“ fragte Renate, aber er winkte großmütig ab:
„O bloß so ein Buch! wie halt a jeder! Und da dachte ich, dies bei mehr Behaglichkeit und Ruhe in Herzbruchs Hause als in so einem möblierten Zimmer tun zu können, denn meine eigne Wohnung hab ich vor ein paar Jahren aufgegeben, und meine Schwester hatte keinen Platz bisher. Natürlich, ich hätte nach der ersten Nacht verschwinden sollen, aber — ja, was ist da zu sagen? Otto bat mich, ich hoffte weiter, ja, Otto, das muß ich sagen, zwang mich gewissermaßen, indem er meine Stiefel versteckte, und als moralischen Grund gab er vor, seine Frau müßte aufgemuntert werden, sie würde zu dick. Alles gut und schön, aber — na, ich blieb doch, und Herzbruch, der hetzte ja denn nach Kräften, er fand es herrlich, wenn wir uns die geschliffenen Partisanen gegen den Kopf rannten, und sagte, sie wäre nicht wiederzuerkennen, und ich wäre ein General-Stabsarzt.“
Renate sprang auf und lief ins Zimmer hinein. „Ach, hören Sie lieber auf,“ bat sie zwischen Lachen und Weinen, „das ist ja nicht auszuhalten! Erst kommen Sie am Nachmittag, und ich freue mich, denke, ich kenne Sie, und wie Irene mir stundenlang etwas vorjammert, bleibe ich bei meiner Auffassung von der Sache, bis es mir denn doch zu ernst wird, und ich denke: was Wahres muß doch dran sein, und dieser Klemens ist kein solcher Cherub, als welcher er sich gehabt.“ „Danke!“ nickte Klemens. „Ach, nichts zu danken, denn nun kommen wieder Sie, und nun sieht die Sache wieder noch ganz anders aus, und nun ist Otto eigentlich derjenige welcher. Was ist denn nun das Richtige?“
Klemens kratzte sich mit schief offnem Munde den Kinnrand im Bart und meinte: er wüßt es nicht, er reiste ja nun ab. Daß der Zweck seines Daseins im Hause Herzbruch vollkommen erreicht sei, das wollte er schwören. Nun ginge er acht Tage auf Reisen, dann würde er bei seiner Schwester wohnen und —
„Ach, papperlapapp,“ unterbrach Renate ihn lachend und ärgerlich, „was ist das mit der Ohrfeige gewesen?“
Klemens wiegte verdrießlich den Kopf. „Die Ohrfeige“, sagte er, „hat nicht stattgefunden.“
Plötzlich wurde er dunkelrot, Renate erschrak und dachte: nun kommts! aber die Fallsucht schien auszubleiben, er ergriff den Blasebalg, warf ihn auf die andre Seite des Kamins, machte böse Augen, schob das Kinn vor und sagte endlich:
„Daß man von unechter Abkunft sei, braucht man sich nicht sagen zu lassen, meine Teuerste. Ich habe in Zeitungen geschrieben und mich mit mehr als einem Preßbengel herumgeschlagen, und daß ich weiß, wie und wo die giftigsten Spitzen anzubringen und abzuschleudern sind, das kann Frau Herzbruch freilich bezeugen. Meine Abkunft jedoch hat der schmutzigste Schmock, obgleich ich nie ein Hehl daraus gemacht habe, nie angetastet, denn auch so einer hat Kenntnis von gewissen Usancen. Ich bin, wenn Sie es wissen wollen,“ sagte er aufstehend, „ich bin darauf auf sie zugegangen, so!“ Er trat dicht vor Renate, „und hab die Hand gehoben, so! Und da hat sie sich geduckt, hat kein Wort gesagt und ist zur Tür geschlichen. Ottos Schwester, auch dies mögen Sie erfahren, war die erste und einzige bisher, der ich es mitgeteilt habe.“
„Genug,“ sagte Renate reuevoll, „verzeihen Sie nur! genug!“
„Ich habe ja nichts gegen Sie,“ lachte er nun, „aber“, schloß er wieder ernst und mit Würde: „wenn ich auch Proletarier bin, bin ich deshalb kein Prolet, sondern reiner Geist; ich stabiliere mich als solchen. Nein, sehen Sie,“ fuhr er leichter fort, „zu Irene sagte ich, nachdem ich — Sie wissen schon! —: ja, da könnte sie nun sehen, wie verdorben sie wäre, daß sie wahrhaftig glaubte, ich wollte sie ohrfeigen, und weiß Gott, es ist etwas daran, und was soll dieser Otto mit einer Frau machen, die glaubt, ihre Ehe geht in Stücke, bloß weil einer zusieht, den sie nicht leiden kann? Ja, bitte, was sagen denn Sie dazu? Sie sind doch ihre Freundin, Sie kennen auch Frau Vehm — ja, du lieber Gott, ist das ein Unterschied zwischen den Beiden!“ Er atmete auf.
Ein Mensch, dachte Renate, ist nicht mehr wie der andre, wenn er nicht mehr tut wie der andre. Es war nicht gerade viel, was Irene zu tun pflegte, zumal im Schatten ihrer Schwägerin betrachtet.
„Der Mann ist ein Sonderling und verkriecht sich,“ hörte sie Klemens wieder sagen, „die Frau ist oft stundenlang, tages und nächtens, bei Wind und Wetter unterwegs, um ihn zu finden, und was sie selber im Herzen zu schleppen hat, das wird ja wohl auch Ihnen nicht unbekannt geblieben sein; aber deshalb weicht sie doch keinen Schritt von ihrem Wege und neigt das dunkle Haupt auch keinen Nagelbreit unter ihrer aufgetürmten Last, sondern steht da, lächelnden Mundes, heller Stimme, sichrer Hand und kräftigen Herzens, schöne, edle Karyatide unter dem stöhnenden Gebälk ihres Daseins. Ach, man möchte singen und verzweifeln um solch eine Frau, und Irene daneben, was tut sie? Sie glauben vielleicht, sie sei Ottos Frau gewesen, aber weit gefehlt! Bis vor drei oder vier Wochen war sie’s nicht, sie wollte ja keine Kinder haben, quält einen Mann zu Tode mit ihrer — Daseinsunwissenheit und wirft sich ihm endlich in die Arme an dem Tage, wo ein Mensch ins Haus kommt mit unsichtbaren Augen.“
Er lief mit großen Schritten zornig im Zimmer hin und her, warf die Ellenbogen vor und schlug die Hände zusammen. Ob denn das zum Blasen sei? fragte er. „Na, aber nun hat er sie ja wenigstens, und so wird denn wohl alles in der Ordnung sein“, murrte er, kam auf Renate zu, hielt ihr die Hand hin und bat, gehen zu dürfen.
Renate sah ihn durch Schleier an. Seltsam erinnerte sie sich Ulrikas. Ohne sie wüßte sie heute kaum, was das bedeutete, was Klemens ihr eben verraten hatte, bedeuten mußte für einen Mann wie Herzbruch.
„Ich fürchte, lieber Herr Klemens,“ sagte sie leise, „so einfach wird es nicht sein, wie Sie denken, aber — wir können ja hoffen. Sie vergessen doch nicht dies Haus, wenn Sie wieder in der Stadt sind, nicht wahr? Ich würde gern noch mehr mit Ihnen sprechen, aber ich bin nun auch recht müde geworden von allem. Also auf Wiedersehn!“
„Ja,“ sagte er, als fiele etwas ihm ein, „und wissen Sie denn eigentlich, warum ich noch einmal zurückgekommen bin?“
Renate schüttelte den Kopf.
„Weil ... Ich verstehe es nicht“, murmelte er, den Kopf senkend. — „Weil“, fuhr der dann erklärend fort, „mich unterwegs die Reue ergriff; weil ich dachte, ich wäre vielleicht doch im Unrecht, und — da man gleich tun soll, was man tun will und kann, so drehte ich wieder um, und — — was geschieht? Sie sahns ja, sie tat, was ich tun wollte, sie bat mich am Verzeihung!“
Auf dies hin wußte Renate nichts. Sie standen noch eine Weile schweigend, dann verbeugte er sich und ging.
Renate nickte ihm noch lächelnd zu, als er aus der Tür grüßte, dann fielen die Schleier wieder über alles, langsam erlahmte ihr Denken, rot glimmte die sinkende Glut vor ihren verdunkelten Augen, sie ging zur Tür, löschte das Licht und ging schläfrig und abgespannt auf ihr Zimmer.
Renate hob den Kopf aus dem Schlaf, weil sie jemand an die Tür klopfen hörte; sie glaubte, nur wenige Stunden geschlafen zu haben, aber es war schon Tag. In der Tür erschien die Köchin, ängstlich, und sagte: Frau Herzbruch habe angerufen, das gnädige Fräulein möchte doch gleich ans Telephon kommen, es sei etwas ganz Schreckliches passiert. Renate war schon mit den Füßen aus dem Bett. — Es betreffe aber nicht Frau Herzbruch selbst, sollte sie sagen. — Renate war schon in den Pantoffeln, rannte durch die Zimmer hinaus und treppab in die Halle. Es mußte mit Vehm ... Sie nahm den Hörer auf, atemlos, und sagte: „Irene?“
Eine Weile war nichts zu hören als das Sausen und Knistern im Apparat, dann kam Irenes Stimme leise und mühsam aus der Ferne: „Renate ...? du wirst — sehr erschrecken. Es ist —“ Wieder war alles still. „Mein Schwager Vehm“, hörte Renate, „ist — — tot. Und — und —“
„Dora!“ schrie Renate entsetzt.
„Nein, nicht Dora,“ hörte sie nach Sekunden. „Die Kinder.“
Renate zitterten die Knie. Sie glaubte, einen ungeheuren Schlag gegen die Brust erhalten zu haben, rang nach Atem, fühlte lange Zeit nichts, tastete endlich hinter sich nach dem Stuhl und sank auf ihn hin. Dann hörte sie ihr Herz schlagen — es mußte Sekunden ausgesetzt haben.
Irene fragte aus der Ferne: „Bist du noch dort?“
Sie würgte einen Laut hervor, brachte dann heraus, was das bedeute?
Lange Zeit antwortete Irene nicht, endlich sagte sie langsam: „Er war gestern wieder da — als ich aus der Stadt kam. — Und — auch Ägidi. — Sie waren Alle in der Diele. Albert sah ganz — verwirrt aus, aber — nachher kam Dora und sagte, er habe ziemlich ruhig gesprochen und gesagt — er — er könnte es nicht ändern, die Kinder wären sein, und deshalb müßte auch die Mutter bei ihnen bleiben, oder — so ähnlich, und — er ist dann gegangen, aber wiedergekommen nach einer Weile und hat gesagt, er hätte sich besonnen — ja, ich kann das alles nicht so sagen — — — jedenfalls, er wollte gehn, und sie sollte die Kinder behalten. Dann ist er fortgegangen, er hat sich nicht halten lassen.“ Irene schwieg wieder.
„Laß es genug sein, Renate“, bat sie dann. „Er muß nachts ins Haus gekommen sein, ohne daß wer von uns es hörte. Dann hat er im Kinderzimmer erst den beiden —“ Irenes Stimme brach schluchzend ab.
Renate legte den Hörer hin und sah, noch die Hand daran haltend, das schwarze und metallene Ding, seltsam fremd und erschreckend, als wäre es ein gefährliches Instrument. Durch es hatte Irene gesprochen, sie hatte Irene nicht gesehn, Irene war vielleicht gar nicht auf der Welt, es war nur ihre Stimme gewesen, Renate glaubte plötzlich zu sehn, wie eine finstre Gewalt Irene vom Telephon in die Nacht hineinriß, schwarze Flocken regneten vor ihren Augen, aber dann sah sie in einem hellen Sonnenschein einen kleinen Jungen im Kreise herumgehn, derweil er eine Blumentopfscherbe und einen alten Kochtopfdeckel zusammenschlug und, die großen Augen immerfort auf sie gerichtet, sang: Wenn ein Vorrat geht zu Ende, zieh den Schieber mit die Hände! — Immer dieselben zwei verdrehten Zeilen, von denen später Dora sagte — was? — Ja, Renate sah in der Montfortschen Küche so eine blauweiße Tafel hängen, um die fehlenden Vorräte anzuzeigen, und darunter stand: Zieh den Schieber vor behende ...
Warum bin ich denn so wahnsinnig erschrocken? dachte sie und war sekundenlang ganz ruhig. Langsam stand sie auf, konnte aber zuerst kaum die Füße aufsetzen. Danach ging es besser, sie schlich die Treppen hinauf und in ihr Zimmer, wo sie langsam ein paar Schlucke Wasser trank. Sie fröstelte davon, legte sich wieder ins Bett, war auf einmal ganz schwach und deckte sich zu. Die Gedanken verschwammen, sie wollte sich besinnen, was denn eigentlich gewesen sei, und dämmerte ein. Da befand sie sich plötzlich in einem großen Saal mit hohen grauen Wänden aus Quadern und ohne Fenster. Nach oben blickend, gewahrte sie an Stelle des Dachs einen rein blauen Sommerhimmel, den eine einzige Wolke von schimmernder Weiße sehnsüchtig verschönte. Wieder die Augen senkend, entdeckte sie, daß der Boden ein Wasser war, das sich in kleinen Windungen und Strudeln emsig bewegte wie eine Menge Getier, und zugleich, daß sie in der Spitze eines Nachens stand. Und jetzt sah sie die Schmalwand des Raumes vor sich geöffnet; ein Tor wars, und durch den Spalt schoß strudelnd ein dunkles Gewässer herein. Der Nachen bewegte sich unter ihr, schwankte, stieg mit den lautlos steigenden Fluten, und nun wußte sie, daß sie in einer Schleuse war.
Darüber mußte sie tief aufatmen, ja seufzen aus einem von Erleichterung und Beklommenheit angsthaft gemischten Gefühl. — Nun wird die Fahrt frei werden! murmelte sie, sich beruhigend, und erkannte, wieder nach oben schauend, in der Wolke einen weit fernen Engel, der von ihr abgewandt und in einer seltsamen Verkürzung hinter sich tretend, stürmisch in die Bläue hineinjagte. Bleibe! schrie sie in plötzlicher Fassungslosigkeit, o bleibe! — Aber er war schon verschwunden, und sie erwachte mit heftig klopfendem Herzen.
Jählings und mit furchtbarem Erschrecken fuhr sie dann hoch, da sie eine unhörbare Stimme traurig sagen hörte: Schöpfe, schöpfe, müde Danaide ... Aber nicht das hatte sie hören wollen, sondern ein Wort von Klemens — wie hieß es? ja, wie hieß es denn? — Schöne edle Karyatide ...
Kaum gedacht, brach ein Strom von Tränen aus Renates Augen, ihr Herz flatterte entsetzt auf mit tausend gestaltlosen Ahnungen, Befürchtungen, Ängsten eigenen Schicksals, sie wühlte das Antlitz in die Kissen und weinte, wie sie noch nie im Leben geweint hatte.
Georg wachte des Morgens auf und dachte: Ach, nun bin ich auch krank! — Stirn und Schläfen schmerzten, er fror; er schluckte, und es tat ihm weh. Auf den Ellenbogen sich aufrichtend, fühlte er sich zerschlagen und müde, blinzelte gegen den Fenstervorhang, die Sonne schien draußen zu sein, aber dies Draußen, der Garten und alles war merkwürdig weit weg und als ob er nicht dazugehörte, sein Gehör schien dumpf und legte etwas Entfremdendes zwischen ihn und die Welt. Ich kann nicht nach Zinna fahren, murmelte er bitter, vielleicht gehts mit ihr heut zu Ende, aber ich kann nicht. Und er dachte, wie glücklich er sein würde, wenn es wirklich zu Ende ... Glücklich, — ja, er ertappte sich, aber es war so, und wider Willen fügte er schon hinzu: Wenn sie nur stürbe! Wenn sie nur stürbe! — Er zog die Decke über die Ohren, glühte und schauderte frostig ineins, wälzte sich herum, lag minutenlang halb dämmernd. Dann rief ein Geräusch ihn zu sich, der Diener mußte eingetreten sein, er drehte sich um und sah einen menschlichen Schatten in der Dämmrung zum Fenster gehn.
„Lassen Sie zu, Egon!“ sagte er, „ich stehe nicht auf, ich bin krank.“
Der Diener kam leise ans Bett, Georg richtete sich auf. Die dunklen Augen, das blasse Gesicht des jungen Burschen sahen ängstlich auf ihn herunter.
„Keine Angst, Egon,“ sagte er lächelnd, „es ist nur ein bißchen Halsentzündung, oder Influenza,“ er räusperte sich, es tat scheußlich weh, „aber ich will einen Doktor haben. Kranksein ist gemein, Egon, ich will sofort wieder gesund werden, wissen Sie einen Doktor?“ Egon wußte keinen. „Ich auch nicht, dann fragen Sie, — rufen Sie bei —“ Er besann sich. Es braucht ja keiner zu wissen, daß ich krank bin, — „also rufen Sie gegen neun bei Dr. Herzbruch an, im Verlag, und wenn er einen Doktor weiß, — der wird ja Telephon haben, — dann rufen Sie auch gleich an und bitten ihn herzukommen. So, gehn Sie aber erst ins Badezimmer und lassen Warmwasser in die Wanne, und wenn ich drin bin, machen Sie hier Durchzug.“
Der Diener ging. Bald darauf zog Georg die Füße unter der Decke hervor, saß einen Augenblick frierend auf dem Bettrand und fühlte sich aus der Welt herausgenommen und in Krankheit gekleidet. Draußen war alles leicht und natürlich, aber sein Wesen entstellt, verfremdet und peinlich. Er schlürfte hinüber, spülte sich Körper und Mund und war froh, im Zimmer wieder unter was Warmes kriechen zu können. Ach, dachte er, so war es damals genau, als ich die Masern kriegte! Mitten im Tag fings an, ich wurde ins Bett geschickt, und wie ich da auf dem Bettrand saß und fror und alles so weit weg war und Altelinda mir die Stiefel auszog und ich so schwer war am ganzen Leib und unbeschreiblich sehnsüchtig, ins Bett zu kommen und den dumpfen Kopf ganz tief ins Kissen zu stecken, — ja all das war genau wie jetzt; eigentlich war es herrlich. Ach, wie geborgen war man in seinem Bett als Kind! „Ist noch was, Egon? Frühstück? Nein, ich mag nichts, aber die Post, nein, keine Post, aber die Zeitung, ja, und dann — rufen Sie auch gleich, oder — wie spät ist es denn? Halb acht? Also rufen Sie in einer Stunde bei Frau Dr. Schley an: ich hätte, — ach, warten Sie damit, bis der Doktor dagewesen ist!“ Egon entfernte sich, Georg rief ihm nach, er sollte die Tür halb offen lassen.
Nun lag er still auf der linken Seite und blinzelte durch die Türöffnung ins Nebenzimmer. Da war ein Stück vom Schreibtisch, mit Aktenstößen, und das Fenster, und die Falten der Vorhänge, und draußen die Sonne und das Sommerliche, ein Stück Teppich unten, und all das so anders als sonst, so ganz für sich und ohne ihn. Er hörte Schritte auf dem Flur, Türen, im Eßzimmer eine Schranktür, deutlich alles und doch ganz dumpf und immer vermischt mit seinem Frostschaudern und Fiebern und dem Herben in der Nase und der Stirnhöhle, und das Ganze wiederum doch nicht unbehaglich. Die Tür ging leise, eine schwere Frauenfigur kam ans Bett und stand still, er öffnete die Augen und lächelte. „Oltsche,“ sagte er, „ich sterbe, mit mir hats nun ein Ende, Sie stehen im Testament.“
Die Hausmeisterin schlug die Hände zusammen und sagte: „Nein, sowas! Und wo unsre Prinzessin auch schon —“ Georgs Husten übertönte das Übrige, die aufgeregte Alte klopfte ihm die Kissen zurecht, er streckte sich aus und bat sie, ihm die Zeitung zu geben. Sie ging und kam wieder mit dumpfen, weichen Schritten, fragte noch, ob er denn gar nichts essen wollte, und war leise hinaus. Georg setzte sich auf und riß die Zeitung auseinander. Es war fast zu dunkel zum Lesen, er hielt die gedruckte Seite zum Licht hin, fand die fettgedruckte Zeile: Das Befinden der Prinzessin Sigune, — die Buchstabenketten fielen auseinander, er raffte sie herzklopfend zusammen und las:
„Im Befinden der Prinzessin ist seit gestern keine Änderung eingetreten. Eine persönliche Anfrage unsrer Redaktion bei Herrn Professor Dr. Bosse bestätigte uns die traurige Gewißheit, daß es sich nicht um die häufigere Art Meningitis, sondern um tuberkulöse Gehirnhautentzündung handelt. Das Bewußtsein ist seit fünf Tagen nicht wiedergekehrt, die Nackensteife ...“ Georg konnte nicht weiterlesen. — Sie muß sterben, sie muß sterben, vielleicht ist sie schon tot, sagte er unaufhörlich, krampfhaft bemüht, dabei nichts zu empfinden und Mitleid hervorkommen zu lassen, und er erzwang das Mitleid durch den Gedanken, daß sie fürchterliche Kopfschmerzen gelitten hatte und nun aus irrem Dunkel ins tiefere hinüberschlafen würde. Er sah sie im Bett liegen, steif, das Gesicht hintenübergebogen, bleich und ohne die Augen schon gar nicht mehr kenntlich für ihn, der sie kaum kannte. — Nun ließ er die Zeitung an die Erde gleiten, wickelte sich bis an die Ohren in die Decke, fühlte die glatte Trockenheit und Hitze seiner Beine und zwang sich, nichts zu denken.
Stand jemand am Bett? Egon sagte, er habe im Herzbruchschen Büro angefragt —. „Ja, wie spät ists denn schon?“ — Es sei gleich zehn Uhr. — Ach, er hatte geschlafen. — Der Arzt heiße Dr. Birnbaum, am Theaterplatz, er würde gegen Mittag kommen. — Birnbaum? Aber Onkel Salm — Sigurd —, sie hatten doch keine Verwandten in der Stadt ... „Haben Sie Herrn Prager Bescheid gesagt?“ Ja, und er ließe fragen, ob er herüberkommen sollte. Ja, Georg ließe bitten. — Egon nahm die Zeitung und trug sie weg.
Benno kam und benahm sich genau wie die Menschen an Krankenbetten, lächelte, tat hoch erstaunt und sagte, was Georg für Geschichten machte; er war fremd und irgendwie kalt und frisch. Georg bat ihn, sich mit Zinna verbinden zu lassen und anzufragen, wie es stünde. Er hörte ihn nebenan sich mit dem Telephon beschäftigen, ohne Worte zu verstehn, durch das ferne Klingen und Summen in seinem Gehör. Dann setzte Benno sich still neben Georgs Bett und schwieg sich teilnahmsvoll aus. Als er gerade etwas zu sagen anfing, schrillte das Telephon laut auf, Benno ging hin, Georg wollte nichts Unverständliches hören und verschloß die Ohren. Wenn sie schon tot ist, — wenn sie schon tot ist ... dachte er. Endlich kam Benno. Es stünde sehr schlimm, sagte er bekümmert, sonst sei nichts zu sagen.
„Ach, Benno,“ fing Georg nach einer Weile an, „wie war es doch schön, wenn man krank war als Junge!“
„Ja,“ sagte Benno begeistert, „wie gut sie gleich Alle waren! Jeder kam herein und machte einen Scherz, mittags kam Vater, legte einem seine große, kalte Hand um die Wange, faßte mit sonderbar harten Fingern nach dem Puls und sagte, es würde schon werden.“
„Hattest du je Masern, Benno?“
„Masern?“ Bennos Stimme überschlug sich, „es war herrlich, ganz herrlich! Man war ganz gesund, bloß im Bett mußte man sitzen, und ich lag mit meiner Schwester in einem Zimmer, die hatte sie natürlich auch, und es war herrlich. Kleine, gebratene Tauben bekamen wir zu essen und alle Tage Apfelmus, so ganz seimig, und eine herrliche Bouillonsuppe, die war aus Sago und ganz goldklar, das war die Krankensuppe, Gott, den Geschmack kann ich jetzt noch spüren und den winzigen Knochensplitter, der drin war.“
„Und die Stille, Benno, weißt du noch? und wie es sang in der Stille, und wie man stundenlang lag und das Muster der Tapete verfolgte, und die alltäglichen Geräusche draußen, die so anders klangen und so weit entfernt, auf der Treppe und nebenan, und man kannte sie doch nicht ...“
„Und dann bekam man die herrlichsten Spiele mitgebracht, oh Georg, Geduldspiele aus ganz blanken Klötzen, unbeschreiblich neu und glänzend, grüne Würfel und rote und — nein, das war ja alles gar nichts gegen die Flechtarbeiten! Hast du nie Flechtarbeiten gemacht? Ich will es dir erklären: Erst kam Glanzpapier, das mußte auf der Rückseite liniiert werden und in schmale Streifen geschnitten, aus denen wurde das Muster geflochten, aber dies Glanzpapier, das vergesse ich nie! Es gab silbernes und goldnes, aber das war nicht das Schönste. Das Schönste war tiefdunkelrot, wie Samt, aber dabei war es so himmlisch glatt und knitternd, obgleich es ganz dick aussah; das Hellgelbe war auch schön, aber eigentlich unangenehm; es gab hellblaues und dunkelblaues, das rosa war so beißend, herrlich war auch das Dunkelgrüne; das war wie ein ganzer Tannenwald ...“ Bennos Stimme verhauchte hingebungsvoll.
„Nein, das hatte ich nicht,“ sagte Georg, „aber ich hatte ein Reißbrett ...“
„Ein Reißbrett?“ jauchzte Benno, „ich hatte auch ein Reißbrett, weißt du noch —“
„Wie es ganz hart war, Benno, und eckig, wenn es in die weichen Kissen gedrückt wurde, über den Schenkeln und gegen den Unterleib, fühlst du das noch?“
„Und wie man nicht dran dachte, und es ganz schief wurde, wenn man die Knie anzog, und alles rutschte herunter!“
„Und der Suppenteller, die Suppe floß über, und das war so klebrig und warm ... Oh mein Reißbrett hatte Onkel Salm erfunden, der schleppte es an, es war in Trassenberg, er saß immer bei mir und baute Zinnsoldaten auf, mein Vater hat eine riesige Sammlung, zwanzigtausend sind es, glaub ich, die Schlacht bei Lützen konnte man machen, und die Schlacht bei St. Privat und bei Waterloo.“
Benno lächelte beseligt mit Georg. „Ich hatte auch Zinnsoldaten,“ flüsterte er, „jede Weihnachten bekam ich eine Schachtel, sie waren oval und aus Span, auf dem Deckel war ein weißblaues, rechteckiges Etikett, und beim Auf- und Zumachen schnurpste der Deckel wundervoll!“
„Und drinnen, Benno, drinnen lagen sie ganz still und blank, die Fußbretter am Rand, die Gewehre und Fahnen nach innen, ganz kostbar, immer nur drei oder vier in einer Schicht und dazwischen ovale Blättchen aus so einem Papier ... einem Papier ...“
„Ein herrliches Papier!“ hauchte Benno, „es war wie Löschblatt, aber dünner und fester und ganz weich ...“
„Ja, ganz weich,“ sagte Georg vor sich hin und sah die blitzenden, unbemalten Säbel und Bajonette und die glänzenden braunen, schwarzen und weißen Pferde, die blauen, roten und grünen Lackfarben der Monturen zum Vorschein kommen. Trommler gingen voran und Fahnenträger, schräg nach vorn geneigt, die Fahne hoch in der Hand, die reitenden Trompeter bliesen immer nach rückwärts, sie bliesen das Signal zum Vorgehn, ja, Onkel Salm machte es mit dem Munde, es war völlig natürlich, und es klang so aufreizend: Tötötötö, tötötötö, tötötötö ... Und dann wurden sie aufgestellt nach dem Lineal, in der vordersten Reihe die Knieenden, dann die Chargierenden, damals sagte man noch chargieren, genau ‚auf Luke‘, und im dritten Gliede die stehend Schießenden. Bei jedem Regiment war ein Gefallener und einer, der grade hintenüberfiel. Oh es gab Schotten in roten Röcken und mit schottischen Unterröcken, mit Dudelsackbläsern, — die Artillerie war immer etwas unangenehm, weil sie im Schritt ritt, die Kavallerie galoppierte mit geschwungenen Säbeln, die Ulanen mit eingelegten Lanzen, und wie war nur alles kostbar und selten, und wenn sie alle aufgestellt waren, mußte man von der Seite gegen die festgeschlossenen Formierungen sehn, und Beine und Gewehre und Arme und Köpfe waren in einer Linie ...
Sie sprachen nicht mehr, sie träumten ... Abends kam die Lampe, wie sah man sie zum ersten Mal, ihr stilles Licht, sie stand anders im Zimmer als sonst, weit fort von einem, und alles lag im Schatten; das Muster der Tapeten sah wieder anders aus, dann kam die Abendsuppe, die mußte der gute Doktor immer selber machen, Wassersuppe von Sago wars, ganz klar und schön sanft grau. Dann entkorkte er feierlich die Weinflasche, hielt einen silbernen Löffel über den Teller und goß den roten Wein darauf, bis er überfloß in die Suppe, und dann lief das dunkle Rot im Grau aus, es gab einen wunderbaren purpurnen Fleck, dann wurde gerührt, und die Suppe war herrlich rot. Der Löffel war kleiner als ein Erwachsenenlöffel, hatte eine punktierte Linie am Rande des Stiels und hieß: der Kinderlöffel. Georgs Kinderlöffel. Jeden Tag kam Mama für zehn Minuten und erzählte etwas Lustiges ...
Die lange schwere Locke an ihrem Hals, — ich durfte sie ganz vorsichtig anfassen. Ich wunderte mich im stillen, wie kühl ihr Hals war, aber die Locke war doch das Schönste auf der ganzen Welt. Magda hatte Puppen, deren Locken faßte ich auch an, aber es war nichts damit. Ja, diese Locke war lebendig; sie ringelte sich um den Finger, und man mußte unendlich vorsichtig sein, daß man ja nicht daran zog, und doch durfte man es. Mama erzählte vom Hühnchen und Hähnchen, vom Ei und der Stecknadel. Wie schön war Mama! — —
Georg fühlte, daß sein Kinn zitterte, und daß es ihm dick im Halse wurde. Damals war ich glücklich, dachte er, und seitdem nie wieder. Damals wußte ich nicht, und heute weiß ich alles, alles.
Da saß Bennos Schattenriß, nah, dunkel und hoch vor der gelblichen Helle des Fenstervorhangs. Georg schob sich tiefer im Bett, steckte die kalt gewordenen Arme unter die Decke, zog sie fröstelnd hoch; sein Kopf schmerzte heftig, er wollte sich einwickeln und eindämmern wie als Kind. — Als er nach einer Weile die Augen öffnete, sah er Benno auf den Zehen an der Tür, ihm fiel ein, seinem Vater Bescheid sagen zu lassen, daß er heute nichts ... „Sei so gut, Benno, und sage in Trassenberg Bescheid. Du kannst dich ja vom Hausmeister verbinden lassen. Dr. Birnbaum sollte heut nicht kommen. Ich könnte heut nichts Geschäftliches besprechen, wenn Unterschriften wären, könnten sie vielleicht mit einem Kurier geschickt werden, und sonst auch was Wichtiges ...“
Nun war alles still. Vom Schreibtisch her tickte die Uhr sachtsam vor sich hin. Gunny, sagte die Uhr, Gunny, Gunny ... Jetzt starb sie vielleicht. Kein Mensch wußte mehr, was in ihr war.
Ein helles Klingen sprang in seinem Ohr auf, er fühlte, daß er geschlafen hatte, dann merkte er, daß nebenan die Korridortür geöffnet und jemand die Stufen herabkam, der aber nicht sichtbar wurde. Dort waren jetzt die Vorhänge geschlossen, eine Wand von Sonnenstäubchen stand golden vor dem Schreibtisch, darin erschien Egon und meldete: „Herr Doktor Birnbaum.“
Georg setzte sich auf, ließ sich Kamm und Bürste geben, ordnete sein Haar und ließ den Doktor hereinbitten. Da fühlte er wieder dies Andre: im Bett zu liegen am hellen Tage und jemand von draußen hereinkommen zu sehn, frisch und lustig und kalt, den Doktor, der ein kleiner zierlicher Mann war mit rundlichem Kopf. Als er vor Georg stand, zeigte er ihm ein rechtes Arztgesicht mit einem kleinen borstigen Schnurrbart, etwas quellenden, gelblichen Augen hinter einem goldenen Kneifer und dünnem, gescheiteltem Haar, an der gebogenen Nase als Jude kenntlich, und wenn er sprach und lachte, wurde sein Gesicht ein wenig eulenhaft. Hin und wieder kniff er nervös die Augen zusammen, freundlich sprechend, ein bißchen witzelnd, er freue sich ja sehr über Georgs Krankheit, nun würde seine Praxis noch mal so groß aufblühn, denn sterben würde er ihm ja wohl nicht. Georg lachte, er hätte nicht die Absicht. „Na, denn wolln wir mal sehn“, sagte der Doktor, Egon mußte den Fenstervorhang öffnen und einen Löffel besorgen. Der Doktor fühlte den Puls, sagte: „Zwischen acht- und neununddreißig“, ließ sich von Georg sagen, wo er Schmerzen habe, dann kam der Löffel, Georg mußte den Mund aufsperren, der Löffelstiel fuhr kalt und bitter schmeckend hinein, Georg krächzte: Oh oder Ah! Der Doktor kratzte mit dem Löffel im Hals, Georg konnte sich wieder hinlegen und zudecken.
Ja, es wäre eine kleine Mandelentzündung, ganz ungefährlich, Diphtheritis sei nicht zu erwarten, der Belag sei leicht zu entfernen, in ein paar Tagen könnte es schon vorbei sein. Ob das Herz in Ordnung sei? — Da Georg verneinte, verlangte der gründliche Doktor, daß er die Jacke auszöge, und klopfte ihn mit größter Sorgfalt ab. Es wäre alles halb so schlimm, meinte er dann, aber er sollte doch lieber nur eine Aspirintablette nehmen, dreimal täglich. Tscha, und einen Strumpf um den Hals, wenigstens nachts und mit Wasserstoffsuperoxyd gurgeln. Da Georg betonte, daß er so schnell wie möglich gesund werden müßte, meinte er, das hinge ganz von ihm ab; Ruhe, wenig essen, leichte Sachen — Sagosuppe mit Wein, sagte Georg — ja, auch Gebratenes — kleine Tauben, dachte Georg — und solange er sich krank fühlte, sei er eben krank, und wenn er sich gesund fühle, sei er wieder gesund. Egon stand all die Zeit daneben, seine dunkle widerspenstige Haarwelle in der Stirn, und sah alles besorgt und genau mit an.
Das war erledigt. Um noch etwas zu sagen, fragte Georg den Doktor, ob er vielleicht mit dem Studenten Sigurd Birnbaum verwandt sei. Der Doktor lachte, daß sein Schnurrbart zitterte, kniff die Augen zusammen und sagte:
„Pirnbaum, Durchlaucht, Pirn, mit hartem P, nein, mit Sigurd bin ich nicht verwandt, aber ich kannte die Beiden schon als kleine Kinder. — Ja, die arme Esther, das war ein böses Ende!“ Ob er von Sigurd noch hörte. — Jetzt seit langem nicht; er sei in Rußland, in Odessa.
Der Doktor schien zum Gehn bereit, sagte dann aber: „Darf ich noch was fragen?“ „Ja, aber bitte!“ „Ach, Sie haben so eine wunderschöne, so eine wunderschöne Miniatüre auf dem Schreibtisch, wenn ich die einmal sehn dürfte?“
Georg winkte Egon. — Aber gerne! ob er sich dafür interessierte? — Der Doktor rückte an seinem Kneifer und lächelte, — Georg dachte: als hätte ich ihn gefragt, ob er was von Diphtheritis versteht. — Egon brachte die Miniatüre von Georgs Mutter. Der Doktor nahm den Kneifer ab, rieb die etwas geschwollenen Lider, brachte die runden Augäpfel ganz dicht an das kleine Bildnis und betrachtete es ungemein sorgfältig.
„Es ist meine Mutter,“ sagte Georg, „als junges Mädchen.“
Das sei wunderschön, ausgezeichnet gemalt, wie man es gar nicht mehr zu sehn bekomme. Er habe eine kleine Sammlung von Miniatüren, so hundertundfünfzig Stück, ja, er sei ein Kenner davon, lachte er.
„Miniatüren“, sagte Georg, „könnte ich auch sammeln, es ist eine wundervolle Art Kunst und wieviel schöner, im Grunde doch wieviel lebensvoller als unsre farblose Photographie trotz des Reizes des Augenblicks. Aber so ein Bild kann ich immer ansehn, es hält den Blick so ruhig aus, und sehen Sie nur die feine, durchsichtige Spitze auf der Brust, und die Locke, wie sie gemalt ist!“
Der Doktor sagte, er habe eine ganz ähnliche aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, deshalb sei ihm diese auch aufgefallen. — Georg hörte ihn noch einiges sagen, jedoch von fern, ohne zu verstehn; sein Traum regte sich in ihm, er fühlte sich wieder weinen mit Cordelia — oder war es Esther gewesen? —, sah die sonderbaren dunklen Zimmer voller Menschen und dann Renate, nein, Dora Vehm, aber auch deren Gesicht war nicht ganz das Doras, sondern fremde Züge waren darin ... Da sah er den Doktor sich vom Stuhl erheben, reichte ihm die Hand, bedankte sich und bat ihn zu erlauben, daß er sich einmal seine Sammlung ansehe, später, jetzt sei ja ...
Ach, ja der Prinzessin gehe es ja so schlecht, aber es sei wohl noch nicht alle Hoffnung verloren ... Georg murmelte irgend etwas, der Arzt ging.
Hatte sie nicht diese Locke gehabt im Traum? Aber wie seltsam sein Herz erregt war von dieser Frau! Ich muß sie geliebt haben im Traum, ich empfinde noch ganz diese Süße ... Die Träume machen aus uns, was sie wollen, murmelte er und verkroch sich frierend.
Egon erschien mit Fragen wegen des Essens. Er sagte ihm Bescheid, trug ihm dann auf, bei Frau Dr. Schley anzurufen, zu sagen, daß er mit einer leichten Mandelentzündung zu Bett liege, und zu fragen, ob sie nicht kommen könnte.
Die Augen fielen ihm wieder zu, aber im Eindämmern störte ihn Egon mit der Meldung, es täte der gnädigen Frau ganz schrecklich leid, aber Herr Doktor käme am Nachmittag aus Berlin, und sie würde nicht vor fünf, halb sechs da sein können. — Ach, das war elend! Schlafen, dachte Georg, schlafen! Seine Schläfen glühten, die Gedanken fingen an, rasend zu arbeiten, er träumte oder phantasierte, er war an hundert Orten, sah Menschen über Menschen, Gesichter, die er nie gesehn, schwebten auf ihn zu, bewegten, verzerrten sich, manchmal nur Gebärden, Begriffe von Gebärden, ein wüstes Wirrsal, aus dem er in ein andres von Versen, Versstücken und Gedichten stürzte, erhitzten Gehirns, stumpf daliegend, aber aus diesem erlöste ihn plötzlich Jason al Manachs freundliche Gestalt. Wie er ihn einmal am Abend im Park getroffen hatte, sah er ihn wieder: er saß, einsamer anzusehn als andre Menschen und doch nicht so verschlossen in sich, nicht so belastet mit Einsamkeit, sondern ganz leicht, auf der Bank auf der kleinen Anhöhe, über die niedre Böschung und die Hecke zu seinen Füßen in die Wiesengegend hinüber schauend, aus denen Abend dunkel und Nebel weißlich aufstiegen. Und auf Georgs gedankenlose Frage, was er tue, hatte er wieder gefragt, ob er Libussa von Grillparzer kenne, und da Georg verneinte, fing er gleich den wundervollen Eingang des Stückes an, — Georg entsann sich wieder:
Ihr Götter! ist es denn wahr und wirklich so?
Daß ich im Walde ging ... am Gießbach ...
Und nun ein Schrei in meine Ohren fällt,
Und eines Weibes leuchtende Gewande,
Vom Strudel fortgerafft, die Nacht durchblinken.
Ich eile ... und trage ...
Die Beute, kalte Tropfen regnend,
... und ich löse
Von ihren Füßen selbst die goldnen Schuhe,
Und breite aus den schwergesognen Schleier,
Und ...
Ach! Jason! sieh! da saß er ja auf dem Stuhl am Bett und sah kühl und angenehm aus. „Eben dachte ich noch an Sie,“ sagte Georg erfreut — „erinnern Sie sich noch, wie Sie mir einmal Libussa vorgesprochen haben? Wir haben uns lange nicht gesehn, wo kommen Sie her?“
Jason, die schwarzen Augen mit großer Ruhe auf ihn gerichtet, sagte:
„Man sage nicht, das Schwerste sei die Tat,
Da hilft der Mut, der Augenblick, die Regung;
Das Schwerste dieser Welt ist der Entschluß.
Mit eins die tausend Fäden zu zerreißen,
An denen Zufall und Gewohnheit führt,
Und, aus dem Kreise dunkler Fügung tretend,
Sein eigner Schöpfer zeichnen sich sein Los.“
Im nächsten Augenblick war er völlig verschwunden.
Georg erwachte. Der warmen, sonnigen Dämmerung nach mußte es schon Nachmittag sein; er fühlte sich leichter und freier und sah zu seiner Verwunderung auf dem Nachtschrank eine Medizinflasche und eine Glasröhre mit Aspirintabletten liegen, in der beim Nachsehn eine fehlte; da auch die wasserhelle Flüssigkeit in der Flasche angebrochen war, mußte er gegurgelt und Aspirin genommen haben, konnte sich aber durchaus nicht entsinnen. Auf sein Klingeln erschien statt Egons Frau Vögelein, mütterlich verhaltenes Zufriedenheitslächeln in den Augenwinkeln, weil er so gut geschlafen habe; es sei schon drei Uhr durch, ob er denn nun etwas essen möchte. — Georg mochte, und richtig bekam er zwar seine ganze Taube, aber die fein zerlegten Bestandteile davon, Keulen, Flügel und zarte, weiße Brustschnitzel; er hätte viel um ein Reißbrett gegeben, — der Stuhl, von dem er essen mußte, war recht kümmerlich.
Danach ließ er von Egon und dem Hausmeister sein Bett ins Arbeitszimmer stellen, an die Wand des Schlafzimmers, das Fußende an dessen Tür entlang, die ausgehängt werden mußte. Das war nun sehr angenehm. Der große Vorhang konnte ein wenig gerafft werden, er sah den sinnenden Borgia dunkel sitzen, sah die nachmittägliche, sonnige Juniwärme im Garten, hörte die Spatzen lärmen und fühlte sich äußerst behaglich in der leichten Dumpfheit seines Gehirns.
Das Schwerste dieser Welt ist der Entschluß ...
Woher stammte das? Hatte das Jason gesagt? — Sie hatten von Libussa gesprochen, richtig — vielleicht war die Zeile aus Libussa. Da fiel ihm ein, wie er vor langer Zeit einmal in Musäus’ Volksmärchen Libussa nachgelesen hatte, Renates wegen, und — jetzt hab ichs! frohlockte er, jetzt hab ich meinen Festzug und das Spiel! Er dachte, wie er sich den Kopf zerbrochen hatte, um für den üblichen historischen Festzug am Tage der Regierungsübernahme etwas Andres zu erfinden; Renate mußte dabei, mußte Glanz und Zentralsonne des Ganzen sein. Also Libussa! Nun schossen Szenen und Ideen von allen Seiten herbei. Libussas Wahl zur Herzogin von Böhmen, dann die Aussendung des weißen Rosses, ich werde Primislaw — nein, das wird nicht gut gehn, ein Schauspieler muß ihn in meiner Maske darstellen, zuletzt werde ich an seine Stelle treten und mit Renate zusammen die Huldigung des Volkes an uns vorüberziehn lassen, Gilden, Zünfte, Wagen, Söldner, oder Ritter — ja, welche Zeit war denn das eigentlich? Um tausend oder so — und wo sollten die Szenen gespielt werden? Ein altes Schloß konnte auf dem Gehrdener oder Benter Berge leicht gebaut werden, — herrlich, wenn das weiße Pferd über die Sommerwiesen bergauf kommt, zwei Reiter müssen es an langen purpurnen Riemen unmerklich lenken, — dann Renate, auf hohem Festwagen, an der Spitze des Zuges in die Stadt hineinrollend, und die Huldigung — vom Schloß aus — unmöglich, es hat keine Terrassen, das Theater hat eine schöne, aber die Anlagen davor — —, die werden beseitigt — und es sieht ja wie ein griechischer Tempel aus — dorische Säulen — ah, die werden mit Rabitzmauern verbaut und in ein Schloß verwandelt, und Renate — — und Sigune?
Sigune lag im Sterben. Sie mußte sterben, jeder sagte es ja, wenn auch nicht mit Worten. Ließ sich denn leugnen, daß es gut sei, für sie und für ihn? Konnte sie je glücklich, je zufrieden werden neben ihm? Mußte sie ihn nicht täglich ... ach, wozu, wozu das denken? Sie blieb leben, dann mußte es ertragen werden, oder sie starb — sie starb ...
Und recht behielten die Sterne ...
Georg fuhr zusammen, dicht über ihm, noch ihm ungewohnt, wurde die Tür geöffnet, Egon kam eilig die Stufen herab und flüsterte: „Seine Durchlaucht ...“ Georg warf sich im Bett herum und schrie: „Halloh!“
Wahrhaftig, da kam sein Vater den Gang herauf, er ging ja immer aufrechter und leichter! — stand gleich darauf riesengroß und hoch über Georg in der Tür, lachte und sagte: „Was sind denn das für Geschichten?“ Er war auch schön frisch und kühl und hatte pikfeine, hellgelbe Schwedenhandschuhe angezogen. Georg schimpfte nun aus Leibeskräften, der Herzog wurde ganz verlegen und entschuldigte sich vielmals. Es sei ja aber ein Katzensprung im Automobil herüber ... Georg versicherte, wie glänzend es ihm schon wieder ginge, bloß das Schlucken täte noch weh, und überdies sei es köstlich im Bett zu liegen. „Heute morgen“, sagte er, „habe ich mir mit Benno erzählt, wie es war, wenn wir als Jungens krank waren, er hatte Flechtpapier, und ich hatte Zinnsoldaten, aber ein Reißbrett hatten wir Beide, und das war das Schönste. Nein, das Schönste“ — Georg stockte innerlich — „war Helenes Locke, nein, die werde ich nie, nie vergessen ...“
„Die arme Helene ...“ sagte der Herzog.
Sie schwiegen und sahen aneinander vorüber. Aber Georg wußte, sie brauchten sich nicht anzusehn, ihrer beider Hände lagen wie an einem dehnbaren, festen Reifen an dem gleichen unnennbaren Gedanken, und — so war alles gut.
„Und Sigune?“ fragte der Herzog. Georg, innerlich die Zähne zusammenbeißend, sah seinem Vater in die Augen und sagte: „Ich fürchte — es geht zu Ende.“
Der Vater antwortete nicht; aber was sie dachten, war wohl wieder das gleiche ...
„Und wie ist es ... giebts etwas Neues, Papa?“ begann Georg nach einer Weile.
Von Wichtigkeit nichts Besonderes, meinte sein Vater. Von der guten alten Beuglenburgschen Sippe habe nun auch der Letzte sich entfernt, der gute, uralte Amtshauptmann Wahrendorff; er habe ihm selber, da sie sich ja lange konnten, geschrieben, daß er sein Entlassungsgesuch eingereicht habe. Im ganzen handle es sich nun also um fünf neue Männer, die zu beschaffen wären, denn Kultus und Landwirtschaft müßten ja nun vom alten Ministerium des Innern abgespalten werden.
„Birnbaum übernimmt die Finanzen, ich will es so,“ sagte der Herzog, „ein Strohmann, der den Titel und die Orden umherträgt, findet sich überall.“
Ob er schon für den Amtshauptmann jemand in Aussicht habe? Sein Vater meinte, er hätte genug, immerhin sei die Auswahl schwierig. Georg lachte plötzlich und meinte:
„Wer wird denn nun eigentlich hier der Großherzog und wer der Strohmann mit Orden und Titel und so? Ich sehe mich schon in den Krankenhäusern und bei Grundsteinlegungen umherfahren und verbindlich lächeln, während im Hintergrunde der Papa ‚am sichern Schreibtisch sitzend Opus hinter Opus aufs Papier wirft‘, wie unser Morgenstern so herrlich sagt.“
„Ich verbürge mich dir,“ schwor der Herzog, „nach spätestens einem Jahr ziehe ich mich nach Lesum zurück und veredle Schafe und Hühner.“ Georg lachte, bis er heiser wurde. — Jawohl, Georg würde schon sehn, wie ihm im Beuglenburgschen Saustall Nase und Atem vergingen. Ob er schon irgend etwas von Kalibohrung verstünde! Ob er eine Ahnung hätte, wie die Kaliförderung in Wiedehopf und Zainhammer sich wieder hochbringen ließe? Wie viele neue Eisenbahnlinien er — etwa — im Auge habe. Und was er von Eisen-, Kopfstein- oder Holzpflasterung denke für Beuglenburg? Wie viele und welche Kanäle er zu ziehen gedenke? Und die Deiche, die alten, hundertmal geflickten Deiche? Und Raschwege, das Gestüt, das einmal berühmt war?
Georg ließ alles fröhlich über sich ergehn und sagte, er wüßte einen Amtshauptmann. „Schley heißt er, das heißt seit gestern; vorgestern hieß er Freiherr von Schley-Schleyenburg, sein Vater hatte eine Wagen- und Pumpenfabrik und kaufte den Adel von Beuglenburg für eine Kleinkinderbewahranstalt oder dergleichen. Es ist ein Korpsbruder von mir, hat den Adel fortgelegt, war Assessor und ist jetzt fortschrittlicher Abgeordneter. Wir haben uns seit einiger Zeit sehr angefreundet, das heißt, eigentlich bin ich mit seiner Frau befreundet, aber wir haben uns in endlosen Nachtgesprächen ungemein schätzen und kennen gelernt. Ich war auch einmal auf die Dörfer mit ihm zu einer Wahlversammlung, und da habe ich das gesehn, weshalb ich ihn dir vorschlage, nämlich die wundervolle Art, wie er mit den Leuten umzugehn weiß; weder leutselig, noch so grob auf du und du, sondern fein teilnehmend und — nun, das läßt sich eben nicht beschreiben; er hat die Gabe — du hast sie ja auch —, aus jedem Menschen gleich das Beste herauszuholen, und ist überhaupt unwiderstehlich. Genügt das? Den Reichstag hat er satt, also —?“ Sein Vater stand auf und setzte sich an den Schreibtisch, um Namen und Daten aufzuschreiben.
Georg blickte verträumt ins Freie hinaus. Dort, in greifbarer Ferne, lag sein Großherzogtum, so fest, so schwer und massig wie hier der Rücken und Kopf seines Vaters am Schreibtisch, und es würde eine herrliche Zeit anbrechen. Keine Träume brauchte es mehr zu geben, zwischen allen Fingern spürte er schon das Gewimmel der tausend großen beweglichen Gegenstände, — wie der Odem eines Tieres, heiß und wild, schnob ihn der neue Atem gesammelter Handlungen an, Land brodelte, im unterirdischen Raum stampfte die geheizte Maschine, durch ihren unsichtbaren Dampf blickten die gesicherten Sterne, einverstanden und wohlgefällig ...
Wenn aber Virgo kommt, muß Papa fort sein, durchfuhrs Georg. Ich will ihn zu Renate schicken, er scheint sie ja sehr zu lieben und kann dort eine schöne Rede auf mich halten. „Ja, wie ist es nun, Papa,“ sagte er, als sein Vater sich mit dem Stuhl herumsetzte, „glaubst du nicht an die Möglichkeit, daß du mir jetzt im Wege sein könntest?“
Der Herzog kniff das linke Auge zu. „Eine Dame“, sagte er und nickte langsam und voll Verständnis mit dem Kopfe. „Ich verschwinde“, sagte er, „und gehe zu Fräulein von Montfort.“
Georg sagte, das hätte er sich im stillen schon gedacht, er würde dort vermutlich eine schöne Rede auf ihn halten. — Sein Vater stand eilig auf, humpelte zum Bett und ergriff seine Handschuh. „Ich komme nachher noch einmal herein. Leb wohl, mein Junge“, sagte er plötzlich sehr warm und legte ihm die Hand auf den Kopf. Georg, die Augen schließend, fühlte die warme Schwere, fühlte sich kindlicher als in allen Erinnerungen des Morgens, wohl beschützt und recht frohen Mutes ...
Als sein Vater hinaus war, rief er Egon und ließ den Vorhang wieder schließen, legte sich auf die Seite, schloß die Augen und verirrte sich liebevoll in bunte Szenen und farbige Trachten. Daß Virgo nicht würde dabei sein können, betrübte ihn, aber um jene Zeit erwartete sie ihr Kind. Virgo, meine liebe, kleine Schwester, dachte er zärtlich, und ohne sein Zutun schlossen sich die Worte an: Weißt du noch, wie wir uns Blumen brachten? Und die lieben, kleinen Vogelnester, die das Herz so zittern machten, und ... und im Park der Teich im runden Rahmen gelber Iris, blank wie ... Mond ... Und ... und wie klangen, wenn wir riefen, unsre Namen, durch die Stille ungewohnt? ... Er fing an, die Unregelmäßigkeiten in den Zeilen auszufüllen, neue kamen hinzu, er sammelte und legte fort, langsam schloß Strophe sich an Strophe, um nichts zu vergessen, sagte er sie sich unaufhörlich wieder vor und schlief allmählich darüber ein.
Die Augen öffnend, wußte er, daß jemand vor ihm stand; er fühlte sich wieder heißer, es war tiefe Dämmrung und nahe über ihm etwas Großes, Weißes; auf seiner Stirn lag etwas Kühles, eine Hand, er schloß die Augen wieder und dachte, noch halb im Schlaf: Sie ist da ... Ganz leise lief hoch über ihm ihr Lachen silberflüssig durch dunkle Luft. Er schlug die Augen auf und sah die ihren, groß und schwarz unter den dicken Brauen, ihr kleines Gesicht, ganz weiß auf dem kleinen, leichten Hals; sie hielt einen riesigen Armvoll weißer Narzissen an die Brust gedrückt und ließ sie nun, sich überbeugend, auf sein Bett, auf sein Gesicht fallen, naß, kühl, feierlich duftend.
„Ja, was machst denn du für Geschichten, Schorse?“ fragte sie. Sie liebte ja nun diese jungenhaften Ausdrücke.
„Jeder einzelne,“ sagte Georg, „der hereinkommt, fragt, was ich für Geschichten mache. Nun setz dich aber!“ Er drückte auf die Klingel. Sie raffte ihre Blumen vorsichtig wieder zusammen, Egon kam und holte eine Vase, die allergrößte, einen dunkelgrünen Topf; er wurde auf den Schreibtisch gestellt, das war kostbar anzusehn.
„Wolfgang läßt vielmals grüßen“, berichtete sie. Halbtot sei er angekommen und habe gebrüllt, daß die Wände gezittert und der Kanarienvogel gezetert hätte. Er wollte lieber sterben, als sich noch ein einziges Mal mit einem Agrarier boxen. Daß der Teufel ein Agrarier sei, das stehe felsenfest.
„Er soll nun Amtshauptmann in Beuglenburg werden,“ sagte Georg, „Papa war da, wir haben es schon abgemacht.“
Virgo war hochentzückt, aber nun mußte Georg auf das genaueste erzählen, was und wo es ihm fehle, wie er den Tag verbracht habe, was er haben wollte, — wobei Georg das Gedicht einfiel, das er vor dem Einschlafen zustande gebracht hatte, und sie mußte sich auf den Bettrand nahe zu ihm setzen, er nahm ihre Hände und sagte leise und langsam, den dichten, weißen Strauß der zarten Sterne mit rötlichem Herzen vor Augen:
„Virgo, meine liebe kleine Schwester!
Weißt du noch, wie wir uns Blumen brachten,
Und die lieben, kleinen Vogelnester,
Die etwas in uns so zittern machten,
Süß und gar so ängstlich, daß sich fester
Unsre Hände schlossen im Betrachten?
Und im Park den Teich im starren Rahmen
Gelber Iris, rund, ein blanker Mond,
Wenn wir durch den stillen Mittag kamen
In den Kleidern, die wir sehr geschont ...
Und wie klangen rufend unsre Namen
Durch die Stille fremd und ungewohnt ...
Kleines Schwesterlein, es ging so bald ...
Ach, wie kam es, Süße, Traute, sage,
Daß so früh sein Stimmlein ist verhallt?
Und wie kommt es, daß ich um es klage,
Da es doch — o Armut meiner Tage! —
Niemals Odem hatte und Gestalt.“
Sie strich leise mit der Hand über seine Stirn. „Nun haben wir uns ja doch gefunden ...“ sagte sie mit ihrer tiefen Stimme.
„Und denken, wie es hätte gewesen sein können ...“
„Ich war so sehr allein“, sagte sie ganz wenig klagend. „Meine Mutter ließ mich so herumlaufen, das war nicht bös gemeint, im Gegenteil, sie sagte es mir auch später, ich hätte vor allem Freiheit haben sollen, und sie war doch damals schon eine alte Frau ...“
„Wenn ich an deine Kindheit denke,“ sagte Georg, „sehe ich immer dein kleines blasses Gesicht mit den übergroßen Augen an eine Fensterscheibe gedrückt, eben dicht über dem Rahmen, und du standest vielleicht auf den Zehen an einer Verandatür, drücktest die kleine Nase platt am Glas und sahst ganz still auf der Terrasse die Spatzen sich um ein paar Krumen zanken.“
„Ja, das mag wohl gewesen sein,“ lächelte sie, „wie schön du das beschreiben kannst! nun seh ich es auch, und es sieht gar nicht so traurig aus.“
„Erzähl mir doch, wie warst du als Kind!“ bat Georg. „Benno Prager und ich haben uns heute morgen vorerzählt, wie es war, wenn wir krank waren als Jungens.“ Da Georg von Flechtpapier und Zinnsoldaten schon seinem Vater erzählt hatte, fuhr er fort: „Er bekam eine Bouillonsuppe, und ich Sagosuppe mit Rotwein: herrlich war das, wenn der rote Wein im grauen Sago zerfloß!“
Sie lächelte und sagte, unaufhörlich mit den Fingern durch sein Stirnhaar streifend:
„Wenn ich krank war, wurde mein Bett in das Zimmer meiner Mutter gestellt, das war ziemlich beängstigend. Sie schlief in einem Saal mit vielen Fenstern und in einem riesigen, uralten Himmelbett mit geschnitzten und so gewundenen Säulen, an denen kleine Tiere liefen, Eidechsen oder Molche, und ganz unten, als Fuß, hockte ein Igel und machte listige Augen. Wenn ich fieberte, liefen die Tiere auf meinem Bette herum, und meine Mutter mußte immer hinter ihnen her sein. Wenn mirs wieder besser ging, setzte sie eine Brille auf, und wir spielten Leben und Tod zusammen mit ganz alten deutschen Karten, so groß wie Postkarten. Dabei hatte sie so putzige Ausdrücke, die mich begeisterten, und ich machte sie kräftig nach. Spielte sie Cœur aus, sagte sie: Cœur du dir an gar nichts! Pikaß war ein Kettenhund, hieß es, und: Trefflich schön singt unser Küster! Wenn aber eine Neun kam, unterließ sie nie, zu murmeln: Neun mal neun sind einundachtzig ... Kannst du dir vorstellen, wie ich so ganz klein im Bett saß mit meinen großen Karten und die alte Frau betrachtete?“
„Ach, erzähl mehr,“ bat Georg, „wie bist du sonst gewesen, was hast du gespielt?“
„Ein Spiel,“ sagte sie nachdenklich, „das weiß ich noch, spielte ich, wenn ich schon im Bett lag. Dann stieg ich wieder heraus, zog mein Hemd aus, faltete es schön zusammen und kniete ganz nackt und klein auf dem Bettvorleger hin. Dann war ich ein ganz armes Kind, das gar nichts mehr hatte, aber nach einer Weile kam eine mitleidige Person, die schenkte mir ein Kleid, das war das Hemd, das durft ich nun wieder anziehn, da war mir schon wärmer, und dann kam meine Mutter in einer goldenen Kutsche vorbeigefahren und nahm mich mit auf ihr Schloß, da durft ich wieder ins Bett steigen und mich ganz warm einmummen, o das war herrlich! Ja, da hatt ich nun ein ganzes Zimmer voll Spielsachen, aber diese selbsterfundenen waren die schönsten. Und einmal weiß ich, da hatte ich mir das Schaukeln verboten. Ich hatte irgend etwas Strafbares getan, keiner wußte es aber, und da bestrafte ich mich selbst und sagte: nun darfst du einen ganzen Tag lang nicht schaukeln. Was das für Qualen waren, kannst du dir gar nicht vorstellen! Alle halbe Stunde ging ich ganz langsam zur Schaukel und faßte sie an, oder ich strich mit der Hand über das Sitzbrett und stand und sah nach dem Balken oben — ja, und dann, als ich am andern Tag wieder schaukeln wollte, da mocht ich nicht mehr. Weißt du, es ging einfach nicht! ich hab nie mehr geschaukelt seitdem.“
Sie schwiegen Beide. Es war dunkler geworden, Georg fühlte sich wieder fiebrischer, die Dinge entfremdeten sich von neuem, Virgos Dasein verschwamm und wurde traumhaft, er warf sich hin und her, fühlte bald ihre Hand auf seiner Stirn, aber alles verwirrte sich, sein Vater war wieder da und auch nicht da, Virgo war fort, Dora Vehm, Benno, Magda und Andre gesellten sich zusammen und führten unvorstellbare Dinge aus, er ermannte sich am Ende, richtete sich im Bett auf und sah wie in weiter Ferne den Schattenriß von Virgos Schultern, Hals und Profil im Dunkel. Von ihrer tief tönenden Stimme hörte er seinen Namen, dann deutlicher: „Georg ist solch ein schöner Name ...“ Ihr Profil verschwand, er sah die dunklen Flecke ihrer Augen, wollte etwas sagen, räusperte sich und schluckte und spürte heftige Schmerzen im Hals. „Du bist so gut, Georg“, flüsterte Virgo.
Er erschrak, lachte rauh und krächzte: „Um Gottes willen!“ was für ein Unsinn, wollte er sagen, mußte aber husten, fühlte, wie sie seine Hand ergriff und an die Wange drückte, und hörte sie sagen: „Du hast ja wieder Fieber!“
„Nun, das kommt so abends“, meinte er, aber sie erregte sich, schalt über sich selbst und über ihn, er habe weder gegurgelt, noch Aspirin genommen, klingelte nach Egon und drückte ihn in die Kissen zurück. Georg schloß die Augen, verlor plötzlich den Zusammenhang mit sich und Allem, fühlte eine Berührung und sah vor sich einen Eßlöffel, dann Virgo, die ihn hielt und seinem Mund näherte; er schluckte den Inhalt hinunter, trank Wasser und setzte sich auf. Nun mußte er auch gurgeln, Egon stand mit einem Waschbecken, Virgo hielt das Glas, und er gurgelte ein paarmal. Er sah eine Platte mit Weißbrotschnitten und einem Ei dastehn, mochte aber nichts essen. Geräusche und Stimmen waren schon unendlich fern und unhaltbar; ihm schien, als sei Virgo jetzt in seinem Schlafzimmer, jedenfalls hörte er sie fragen, wo seine Strümpfe seien, und nach einer Weile aus ferner Tiefe seltsam sagen: Seide! alles Seide! — so daß er lächeln mußte. Einen Augenblick später fühlte er ihre Hände an seinem Hals, fröstelte, als sie den Halskragen öffnete, — und wie kalt waren ihre Fingerspitzen! — sein Kopf schmerzte wüst, etwas Warmes wurde um seinen Hals geschlungen.
Schmetterlinge ... bunte ... Georg hörte sich laut sagen: „Sieh doch mal die Schmetterlinge!“ — Sie schwebten durch das Zimmer, leuchtende, dunkle Farben, einer nach dem andern; plötzlich verkleinerten sie sich und hingen still im Kreis, ein leuchtender Ring wars, wunderbar anzusehn. Sieh, da saßen Esther und sein Vater in einer dunklen Zimmerecke zusammen und sprachen, er wollte zu ihnen gehn, konnte es aber nicht, und merkte, daß er, an allen Gliedern gelähmt, auf einem Bett lag, sonderbar verkrümmt und verzerrt, die Arme ausgebreitet, das linke Knie hochgezogen, es war qualvoll, sein Vater lachte und scherzte mit Esther, von nebenan tönte Gläserklirren, Stimmengewirr und Lachen, es war auf einem Dampfer, sie fuhren, er hörte das Rauschen der Schaufelräder, nun trat sein Vater zu ihm, Georg beklagte sich heftig, daß man ihn festgebunden hätte, aber sein Vater sagte, ob er denn nicht wüßte, das sei doch Mamas wegen, sie dürfe nicht so viel gehn. Georg murmelte etwas Ärgerliches, und dies hörte er plötzlich, merkte auch seinen Mund, den er bewegte, wie etwas Fremdes und sonderbar groß, und öffnete die Augen. Fern im Dunkel schimmerte die flache grüne Kuppel der Schreibtischlampe, darunter hängend leuchtete tief Esthers Schmetterlingskranz, den sie ihm gearbeitet hatte, auf lichtem, grünem Streifen ein dunkelroter, ein gelber und ein ganz bunter Falter. An seinem Bett standen zwei Gestalten, eine sehr große, sein Vater, und eine kleine, Esther; nein, Virgo wars. Er versuchte zu lächeln und setzte sich auf, fragte: „Bist du schon lange da, Papa? Entschuldige, daß ich dich nicht vorgestellt habe ...“
Sein Vater lachte und beugte sich zu ihm; indem sah Georg und sah auch sein Vater, scheinbar erst jetzt, die mütterliche Rundung von Virgos Leib. Seinen Vater schien das zu verwundern; sie senkte unter seinem Blick langsam die Stirn und sagte unsicher: „Ich bin eine Mutter ...“
Georg rührte das sehr, und es schien ihm natürlich, daß sein Vater auf einmal ihr Gesicht vorsichtig in die Hände nahm und sie auf die Stirn küßte.
Nun war eine sehr lange Zeit alles fort. Plötzlich fuhr Georg empor; sein Vater saß, ein breiter Schatten, im Stuhl, den Rücken am Schreibtisch; es war undeutliche Bewegung im Zimmer, dann stand da ein Mensch, Georg erkannte den Grafen Badenbach, dachte: Ach, richtig, er kommt wegen der Verlobung! — und fühlte fröstelnd die beruhigende Anwesenheit seines Vaters. — Aber wie still es war!
Georg setzte sich mit einem Ruck auf und starrte den Kammerherrn an. Der stand da in seiner Nähe, die Hände zusammengelegt, wie — wie an einer Bahre; sein Gesicht war sehr bleich mit roten Flecken, aber er sah sehr würdig aus.
„Ist sie tot?“ fragte Georg entsetzt.
Der Kammerrat neigte zweimal langsam das Haupt. Georg nahm alle Kraft zusammen und setzte sich grade aufrecht. Sein Kopf wollte schwer nach vorn überhangen, er bezwang sich, dachte: Gott sei Dank! Gott sei Dank! und ein leises Mitleid mischte sich flüchtig in die Erleichterung, die er aber nicht nur für sich, sondern auch für die Tote mit empfinden konnte. Eine hauchende Stimme sagte: Tröstherzeleid ... Er hörte den Grafen sprechen.
„Sie ist erlöst, ihr ist wohl. Aber sie litt unsägliche Qualen zuvor. Die Schuld daran trifft zunächst mich. Ich werde —“
„Und wen außerdem?“ fragte der Herzog mit gedämpfter Stimme.
„Außerdem den Fragenden“, versetzte der Kammerrat ruhig. „Den Eingriff in die zarteste, verletzlichste aller Seelen Ihnen, durchlauchtiger Fürst, zum Vorwurf zu machen, habe ich kein Recht. Die Folge liegt sichtbar vor Augen. Die Sonnenblume dreht sich zur Sonne unabänderlich, so stand ihre Seele zu mir gerichtet, und Sie griffen zu, um sie herumzudrehn. Sie blieb bei der Richtung, die ihr gelehrt, die ihr innerster Sinn und eigentliches Leben war, aber sie litt unsagbar, sie verzehrte sich, sie ward schwach, und eine Ohnmacht verursachte dem armen Hirn die Erschütterung, der sie nun erlag. Die ganze Größe der Schuld ist aber mein.“
Die Worte dröhnten und rauschten stromhaft durch Georgs kranken Kopf, und jeder Satz brannte in lichter Flamme hoch, ehe er einem neuen wich.
„Zu meiner Verteidigung“, fuhr er fort, „habe ich nichts für mich selbst und vor Gott als die Vasallenpflicht, die mir gebot, das Geschlecht meines königlichen Herrn zu erhalten. Nun es erlosch, bin ich frei, diese dumpfe und traurige Welt mit einer stilleren zu vertauschen, wo sich meine sündige Seele unter unablässigen Kasteiungen und inniger Reue ...“
Wenn er noch etwas sagte, so vernahm Georg es doch nicht mehr. Er fühlte, daß irgend jemand zu ihm trat, er wurde aufgehoben, fortgetragen und sehr tief niedergelegt. Dann war dichte Finsternis, in die er verlöschend hineinglitt.
Im Finstern wachte Georg auf und fühlte sich schwach, jedoch klar im Kopf. Ganz fern schien ein winziges Lämpchen zu brennen. Er lag wohl in seinem Bett, konnte es jedoch nicht mit Sicherheit feststellen. Er faßte nach seinem Puls, bekam ein glühend heißes Handgelenk von ungeheurer Größe zu fassen und wußte gleich darauf schon nicht mehr, ob er träume oder schlafe. Er hatte Angst, der Kammerrat könnte kommen, und auf einmal wußte er, daß Sigune tot sei. Ja, sie war tot, und er selber konnte sterben. Sterben war schrecklich. Er sah, ohne deutliche Vorstellung, aber er fühlte sich irgendwo unter der Erde liegen, und die ganze Welt ging ihren Gang weiter. Das war das Schreckliche, das war unerträglich. Da war der Platz am Café, Trambahnen fuhren, Menschen eilten hin und her, aus dem Gewühl kam Renate und ging an den Läden hinunter, blickte seitwärts gegen eine Spiegelscheibe und faßte nach ihrem Hut. Er aber lag begraben, und alles dies hörte keinen Augenblick auf, oh, es war entsetzlich! — Da fühlte er, wie das Fieber in ihm schwoll, er wehrte sich, er wollte es nicht, lag, glühendheiß übergossen, und stöhnte schnaufend: O dies entsetzlich Pausenlose! — An dieses schlossen sich deutlich die Worte an: Könnte man doch, könnte man einmal nur, für keinen Tag, für keine Stunde, ach, für Augenblicke nur befreit von diesem Dasein sein! Nichts sein als Aufatmen! Und daß man hinziehn könnte einmal nur, Betrachtung nur und Geist und Seelenfriede! Erleichterung der Brust, Bewußtsein nur des unzerteilten Seins, leicht wie ein sommerliches Rauschen in den Bäumen, wie Blumen leicht, wie Wiesenhalme, die im Winde stehn, jedoch es wissen, wunschlos wissen, reuelos es wissen, — ach, sodann verlöre wohl der Tod den Stachel, mit welchem Ernst, mit welcher Ruhe würden wir von neuem alles Dasein auf uns nehmen, wieviel würden wir geübter, williger und tapferer sein! O dies entsetzlich Pausenlose! Marter, Kette dieser Tage, dieser Stunden, dieser Atemzüge, wo nicht eine, eine Lücke, keine Leere, keine Leere, kein Sichausruhn uns begütigt, Schlaf selbst Unrast nur und Traum und Fieber, nirgend Aufenthalt, kein kleinster Stillstand, Neues immer, Neues immer, hingerissen, fortgeschoben, ohne Ende, — sondern ewig, ewiglich, schon vor uns längst im Gang, und durch uns weiter, weiter dröhnt das pausenlose Pochen der Sekunden ...
Ihm stand der Angstschweiß auf der Stirn. Die Worte fingen von vorn an, wickelten sich wie Stricke umeinander, schallten stets von neuem auf, nicht niederzudrücken, so schnellten sie empor, nicht abzuschneiden, sie wuchsen geradewegs weiter, — er röchelte, sein Hals glühte, er faßte danach und ritzte sich an einer Nadel. Nachfühlend, glaubte er eine Brosche zu fassen, die er unter unsäglicher Mühe aufmachte, dann faßte er das Heiße, das um seinen Hals lag, zerrte daran, es war lang, — ein Strumpf, ein langer Strumpf, — endlich war sein Hals frei, er ließ ihn wonnig die Kühle atmen und fühlte sich erleichtert. Jetzt den Strumpf abtastend, wußte er plötzlich, daß es ein Strumpf von Virgo war. Er lächelte erst, — dann hob er ihn an den Mund, fühlte den weichen Flor, preßte ihn wütend an die Lippen, grub sie und Stirn und Augen in das glühende Kissen, schluchzte herzbrechend auf und stammelte weinend und unaufhörlich: Ich liebe dich doch! ich liebe dich, ich liebe dich! —
Danach kam Dunkel, kam Schlaf, kamen andre Träume.
Renate bekam an ihrem Geburtstage ein großes Schreiben mit Jasons ganz kleiner, schwarzer und überaus zierlicher Schrift, aus dem ein kleiner Brief und mehrere beschriebene Bogen herausfielen. Der Brief lautete:
Liebe Renate:
Den Menschen Jason bekümmert es, nicht an Deinem diesjährigen Geburtstagsfeste, sich beglückwünschend, erscheinen zu können, also muß er schreiben. Auf der Suche nach einer Gabe erinnerte er sich eines Wunsches von Renate, eine der Geschichten, die er in den Zeiten der Friedliebenden Gesellschaft erzählte — insbesondere eine von ihr nicht gehörte — aufgeschrieben zu bekommen. Dies tut er gerne. Es freute ihn dabei, auch einiges von den Menschenwesen, die sich an der Erzählung gewissermaßen beteiligten — wie Du sehen wirst — mit festhalten zu können: sein Gedächtnis erwies sich noch jugendfrisch und in Anbetracht des guten Zweckes also einmal erfreulich. Einiges ist wohl trotzdem erfunden worden, und es wird dann nicht das Schlechtere sein, sintemal nur in sehr wenig Menschen das nicht zu sein pflegt, was man in ihnen vermutet, auch wenn sie es nicht äußern.
Herzliche Grüße sendet
Jason
Renate, die noch am Frühstückstisch dies gelesen hatte, nahm den Brief zusammen, wollte in ihr Zimmer hinauf, stieg aber versehentlich höher und betrat das Josefs. Dort im Sessel sitzend und die Blätter mit Jasons Geschichte aufschlagend, merkte sie dann freilich gleich, aus welchem Grunde sie hier zu lesen hatte und nirgend anders. Sie las:
Sie saßen zusammen im Erker des gotischen Fensters, während es Abend wurde, Esther, Magda, der Maler Bogner und Jason, der zuletzt kam. Zuerst war es Esther allein gewesen, die dicht neben der großen, fast bis zur Erde reichenden, grünlichen Glaswand saß, hoch über sich die schöne Wölbung des spitzen Bogens, das kleine, schwarze Chinahaupt, die reine Stirn, die dunkel brennenden Augen unter den runden Brauen über ihre buntfarbene Stickerei gebeugt, in der Faden um Faden unter den hurtigen Schritten der Stiche aufging, während hin und wieder ein Hauch der Sommerabendluft die kleine, lose Haarsträhne über ihrer Stirn aufhob und sanft zauste, hereinwehend aus einem der kleinen Vierecke, die wahllos über die Fläche der Scheibe verteilt, alle offen standen, so daß jedes ein Quadratstück der Landschaft in der Tiefe enthielt, dieses nur Wiesengrün, jenes einen Ausschnitt vom Bahndamm, jenes ein paar Türme der Stadt weit hinten, und dieses die still und geruhig rauchenden Schlote der Zuckerfabrik ganz rechts. Magda, die dann herausgekommen war, hatte sich nach ein paar freundlichen Worten ans Fenster gestellt, groß, schmal und blaß von Antlitz und Haar, hinausblickend durch das Viereck, das sie gerade vor Augen hatte, in dem nur der Abendhimmel war, licht und von jenseit zart golden durchleuchtet, aber sie hatte nun die ganze Abendgegend unter sich, die Weiden, die dunstige Stadt mit Kuppeln und Türmen, das Wehr und den Fluß zur Linken, und dahinter das Blau der Hügelrücken; und so fand sie der Maler. Aber sein immer graues und bartloses Gesicht hatte sich nur eine Minute, während er seine kurze Pfeife stopfte, über Esther und ihre Arbeit geneigt, und er war in seiner sachten Art wieder im schon dämmerigen Hintergrund verschwunden, wo er vor den Bücherregalen saß; daß er nicht hinausgegangen war, merkten sie im Fenster nur an dem süßlichen Geruch des Qualms, der ab und zu vorüber wehte und ins Freie zog. Schließlich erschien dann Jason al Manachs Gestalt, der, in den Sessel Esther gegenüber versinkend, gleich sagte, er wäre im Museum gewesen. Danach machte er eine Pause, aber der Maler schwieg natürlich, Esther hatte gerade ein paar Seidensträhnen von ähnlichem Grün über ein halb gesticktes Blatt gelegt und betrachtete das mit kleinen, prüfenden Grimassen der Brauen und der Zungenspitze und so versuchte die immer Gütige, Magda, ein wenig sich hinüberwendend, ein leises: „Nun, und?“
„Da traf ich den jungen Stupitzka, den Archäologen, und er erklärte mir alles. Die Archäologen sind doch die freundlichsten Menschen“, sagte Jason. Esther blickte ihn schnell an, ein bißchen ungläubig, um nicht zu sagen spöttisch, und was sie meinen mochte, drückte dann Magda aus: es gäbe wohl keine Menschenart, von der er, Jason, nicht, wenn die Rede darauf käme, versicherte, daß sie die freundlichsten seien. „Und nun, — was gab es Besonderes zu sehen?“ —
Jason, zu ihr, die wieder hinausblickte, aufsehend, indem er still für sich die Spuren der langen Krankheit, der Schlaflosigkeit und der Schmerzen auf ihrem in sich vergehenden Gesicht zählte, sagte:
„Etwas Einziges. Den Kopf eines schlafenden Mädchens, das unserer Ulrika ähnlich sah, — wißt ihr, wenn sie anfangen will zu spielen, die Brauen sich heben, steiler scheinen und ein ernster Schatten über ihr zartes Gesicht fällt. — Sie war nun freilich überlebensgroß, graugelb getönter Gips, aber dennoch ...“
Er fuhr fort, eine Abbildung müsse in einer der Mappen auf dem Schrank sein, und gleich ging Magda, bereit, jederzeit einen Auftrag zu hören und ihn auf sich zu beziehn, hinüber und schleppte die Mappen her, legte sie neben Jason auf die Erde, und der hatte bald gefunden.
„Seht ihr, das ist sie!“ sagte er erfreut. (Esther entschloß sich, einen Augenblick aufzuhören mit Sticheln und Fadenabschneiden.) „Sie schläft. Seht ihr hier das Ohr unter den Wellen des Haares, wie einen Eingang in geheimnisvolle Tiefen? Sie schläft, was mag hier eindringen? Es ist recht ernst, dies Profil, — die Brauen ... Wie schön es im Schlaf auf die Seite gesunken ist!“ Er sah zu Magdas und Bogners — der war hinzugetreten — Gesichtern auf, lächelte und fragte: „Was meint ihr, wer ist es?“
„Muß es jemand sein?“ fragte der Maler.
„Ja,“ erwiderte Jason, „diese Griechen machten immer etwas, das etwas war.“
„Also vielleicht die Gorgo“, schlug Bogner vor. — Esther, die den Kopf nur umgekehrt, von oben, gesehen hatte, sagte, wieder zu ihrer Arbeit zurückkehrend, die Gorgo wäre doch wohl wild und häßlich.
„Nun, nun,“ meinte Jason, „du vergißt ja die Rondanische. Denke auch an das schöne Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer. Ja, es könnte die Meduse sein; sie war ein geheimnisvolles Wesen, sie war nicht häßlich, ihr Anblick versteinte, das war ein Fluch, sie konnte nichts dafür; wenn sie schlief, war sie unschuldig, dann könnte sie so ausgesehen haben. Ich will es euch sagen,“ fuhr er fort, „denn ich selber hielt sie für die Gorgo, aber der junge Stupitzka hat mir gesagt, daß es eine Eumenide ist. Sie verfolgten den Orest, der seine Mutter erschlagen hatte, das wißt ihr ja, und als er sich eines Nachts in einen Tempel geflüchtet hatte, wohin ihm die Dämonen nicht folgen durften, lagerten sie sich draußen auf den Stufen und schliefen auch. Dies ist eine von ihnen.“
Es war nun eine Weile still, nachdem die dunkle und melodische Stimme verhallt war. Sie hörten den kleinen Schrei einer Lokomotive fern, und Magda, die wieder an ihrem Ausguck stand, und auch der Maler, der an ihrem Kopf vorüber hinaussah, bemerkten den kleinen Zug, wie er sich über die schnurgerade Linie des Bahndammes bewegte, und die weißen Rauchballen, die über die Weideflächen leicht davonsprangen, sich auflösend in die goldene Luft.
„Das finde ich nun schön,“ sagte Jason leiser: „auch die Erinnye schläft einmal. Was uns verfolgt und quält, einmal läßt es uns ruhen; auch das Quälende bedarf des Schlafs.“
Esther hatte einen lichtblauen Faden zwischen den Zähnen, zog ihn mit beiden Händen langsam hin und her, während sie irgendwohin blickte, in das verschwommene Grün der Wipfel hinter dem Grün des Glases, bis der Faden mit einem kleinen Ruck zerriß, und sie sagte eilfertig, von oben auf die Abbildung herunterblickend, wie ein Schwan auf sein Spiegelbild:
„Das ist — —, wenn ich so deine Worte höre: Auch die Erinnye schläft ... und dies Gesicht dabei sehe, dann steigt etwas daraus auf wie —“ Sie stockte und blickte erst zu Bogner auf, der noch immer betrachtete aus seiner Höhe, dann in Jasons Gesicht. Während ein Lächeln und das Erröten zugleich auf ihren Wangen langsam aufschwebte, war es ihr, als ob er magisch aus ihr herauszöge, was er sagte:
„Wie Legende, nicht wahr? Als gäbe es etwas zu erzählen.“ Da nickte sie zufriedengestellt, als würde er flugs anfangen, und begann einzufädeln.
„Das sagst du so,“ meinte Jason, „daß ich nun erzählen soll. Freilich ist da etwas, aber nun ist es bloß ein Anfang, und alles Übrige fehlt. Nun, vielleicht findet ihr selber es nachher, also setzt euch.“
Er winkte zu Magda und Bogner, und während dieser sich wieder in sein Dunkel zurückzog, setzte sie sich auf die weiche Lehne von Esthers Ledersessel. Jason, aus den vielfarbigen Seidendocken auf dem Tischchen neben Esther eine dunkelrote ergreifend, die er langsam durch die Finger gleiten ließ, fing an.
„Am siebenten Abend nach dem Beginn der Verfolgung, nachdem er ohne Unterlaß bei Tage hinter sich die Schritte und das Rauschen der Kleider, das Zischen der Nattern und die halblauten, höhnischen und gehässigen Gespräche der drei Schwestern gehört — er hörte sie nur, sie waren fort, wenn er sich wandte —, bei Nacht aber, wenn er sich wie ein Bündel irgendwo hingeworfen, ihre Dolche in seiner Brust, ihre Vipern um seinen Hals, ihren giftigen Atem über seinem Gesicht gespürt hatte, schlaflos bis zum Morgengraun, wo sie schwanden, — am siebenten Abend taumelte Orest eine Treppe hinauf und brach oben an etwas Kaltem und Steinernem zusammen. Als er nach langer Zeit wieder zu sich kam, gewahrte er, daß er im Eingange eines Tempels lag, eines großen, dämmrigen Raums hinter einer Säulenreihe, der wie eine leere Höhle, wie eine Lichtung in Wäldern von unzählbaren, grauweißen Säulen lag, zwischen denen Gänge erschienen; Säulen, riesige, breite, stumme, bedrohliche, ernste überall, aber in der Mitte der hohen Halle, auf einem schlichten Postament, stand einsam die kleine Statue des Gottes aus dunklem Silber, der ein junger Mann in einer knappen Tunika war. Sein Antlitz war im Dunkel dort nicht mehr zu erkennen, deutlich jedoch die beiden kleinen Vogelflügel an seinen Schläfen. Es war der Gott des Schlafs.
„Orest, Atem schöpfend, sah jetzt nach draußen aus dem breiten Tor, an dessen Pfeiler er lag. Dreimal vier lang hingestreckte und flache Stufen führten hinunter; drunten aber war nichts als die Ebene, die kahl war, baumlos, hügellos, glatt und grau bis zum Rauch des düstern, geröteten Abendhimmels. Aus dem Dunst der traurigen Ferne aber löste sich alsbald eine graue Gestalt, gerötet, wie in Blut getaucht, und schien zu kommen. Sie kam, und hinter ihr ein grauroter Schatten, der ersten gleich, und ein dritter hinter der zweiten. Es waren die Schwestern, die so durch die schweigsame Abendebene heranzogen, die an diesem Nachmittage der Wirbel seiner rasenden Füße hinter sich gelassen hatte, und er stöhnte leise, stand auf, und ihm fiel ein, daß hier eine Zuflucht sei, wie er es wußte aus den Legenden von Übeltätern, die er in seiner Kindheit gehört, — nun war er selber solch einer. Er sah, daß seine Füße blutig waren, und schlich mühselig bis zur Statue des Gottes, sah die blauen Augen aus Edelstein in dem dunklen, freundlichen, kleinen Silbergesicht, legte die Hände zusammen und bewegte die Lippen. Darauf schlürfte er eilig zur Türe zurück, und es gelang ihm mit seiner letzten Kraft, die großen Bronzeflügel einen nach dem andern zu bewegen und zusammenzuschlagen.
„Nun stand er im Finstern, schwankend auf unerträglich brennenden Füßen, todmüde, lechzend, sich irgendwo niederzulegen zwischen den Säulen. Im selben Augenblick jedoch, als er die schon zugefallenen Lider noch einmal öffnete, gewahrte er zu seiner Linken ganz fern einen Lichtschein im Dunkel. Wie es langsam heller wurde, sah er den Lichtkreis eines Lämpchens, den Schatten einer gehenden Gestalt, sah die ersten, dunkel droben aus dem Schatten der Wölbung auftauchenden Häupter der Säulen und sah bei aller Müdigkeit doch, wie schön und feierlich das war, da links und rechts Säulenpaar um Säulenpaar aus der Nacht sichtbar wurde und hervortrat, dunkle Riesen erst, die alsbald rein und leuchtend wurden wie in weißen Gewändern, während schon neue Säulen dunkelten, bereit, hervorzutreten, und auch diese erglühten und strahlten, alle ernsthaft von droben herunterblickend auf die kleine weiße, daherwandelnde Gestalt, die zierliche Silberlampe in der linken, eine Schale von gleichem Metall leise blitzend in der rechten Hand.
„Jetzt, nahe dem letzten Säulenpaar drüben, blieb sie stehn, erhob die Hand mit der Leuchte, blickte zu ihm herüber und fragte — es war ein Mädchen — mit sanfter Stimme: Ist jemand hier? —
„Er machte ein paar Schritte, fast schreiend vor Schmerz, da die Sohlen am Boden klebten, und stieß ein paar rauhe Worte hervor. Das Mädchen zauderte, glitt dann herbei, hielt, da sie kleiner war als er, die Lampe gegen sein Gesicht empor, und er sah, welch mitleidige Augen sie machte. Du suchtest wohl Obdach? — fragte sie freundlich. — Er bemerkte seine aus dem zerrissenen Mantel vorgestreckten Hände, die sie gerade betrachtete, die grau und gelb waren und schrecklich anzusehn, habgierig, und: Was für Hände! sagte sie ergriffen, und dein Gesicht ist auch so! und das schwarze Haar, wie verwirrt und zottig! Du mußt entsetzlich müde sein, und es ist noch so weit zur Stadt, fuhr sie fort, aber hier bist du ja recht im Hause des Schlafs. Ich bin eine Dienerin von ihm, erklärte sie errötend, hier hab ich die Milch für die Schlangen. Es sauste ihm in den Ohren, er hörte nichts und stürzte zu Boden. Gleich kauerte sie neben ihm, setzte das Licht auf den spiegelnden Estrich, riß Streifen von seinem Mantel, löste die Riemen der zerfetzten Sandalen, wusch die Füße nach kurzem Zögern mit der heiligen Milch und verband sie. Schließlich nahm sie den Mantel unter ihm fort, rollte ihn zusammen und schob ihn unter seinen Nacken.
„Er richtete sich nun auf, starrte mit blöden Augen in das Licht, lachte ein wenig und fing an, sie zu sehn. Weißt du, wer ich bin? — fragte er plötzlich. — Nun, gleich, sagte sie, wenn ich dir nur helfen kann; du bist ein Armer jedenfalls, sagte sie. Er mußte in ihr ernstes, ruhiges Gesicht blicken, bemerkte, daß die Augen schön braun waren und auch das Haar, wollte sich wieder legen und hörte im gleichen Augenblick draußen Geräusch von Füßen und Stimmengewirr. Er sprang auf.
„Auch sie war aufgestanden und sah erschreckt, wie er dastand, gespannten Nackens, wütend, mit geballten Fäusten, wartend, lauschend mit Augen, Ohren, mit dem ganzen Leib. Dumpfe Schläge fielen gegen das Erz des Tors, er keuchte, Blut stieg ins Weiße seiner Augen, das Mädchen wich langsam, an seine Augen gefesselt, gegen die Tür zurück mit von sich gestreckten Armen und wiederholte mehrmals, angstvoll und eifrig versichernd: Niemand kommt herein! Niemand kommt herein! — Ist das gewiß? schrie er laut. Wie willst du’s denn wissen? Weißt du denn, wer ich bin? Ich bin Orest! Weißt du, wer die draußen sind? Weißt du, was sie halten, sahst du ihre Dolche, ihre Fackeln, ihre Vipern? — Er brüllte. Herein! Kommt doch herein, ihr, wenn ihr könnt! Hört doch, ich bin drin! Ich, Orest, ich, der seine Mutter erschlug, ich! — Draußen erscholl Geschrei, die ehernen Flügel zitterten und bewegten sich, es krachte im Gebälk. Vor der im Lichtschein glühenden Erzwand stand das Mädchen, bleich, hinter sich ihren Schatten hochaufgereckt bis ins Dunkel, da die Lampe noch dicht neben den Füßen des Flüchtlings auf den Fließen stand. Auf einmal kam er mit stampfenden Schritten gegen die Tür vor, knirschend: Geh! sie sollen herein! ich bin das satt! ich will sie jetzt packen, ich will hier mit ihnen die Treppe hinunterkollern wie ein Knäuel von Panthern und Schlangen! — Das Mädchen packte seine Hände und rang mit ihm, er schleuderte sie weg, doch sie kam wieder, warf sich an ihn, umschlang ihn, sie keuchten, schließlich erlahmte der Mann und fiel langsam zusammen, während sie mit fliegenden Gliedern zur Tür zurückjagte, sich gegen die Fuge in der Mitte preßte, schlank wie ein Baum, als wollte sie hinein, sie zu verstopfen. So glitt sie langsam auch zu Boden und hockte dort, großäugig.
„Nur die Stöße seines Atems waren hörbar, auch draußen war es still. Ruhig stieg die vorher hin und her gescheuchte Flamme der silbernen Leuchte. Plötzlich aber sank sie in sich zusammen, wie auf Befehl, zu einem roten, glimmenden Funken, und während ein unendlich leises Flügelrauschen durch die Finsternis hinzuschweben schien, sank von hoch oben eine ernste, klare, langmütige Stimme hernieder und verhallte in alle Fernen des Hauses:
Schlaf, Mensch, so schlaf! Auch die Verfolgerin,
Auch die Erinnye schläft.
„Wieder war alles still. Orestes lag ausgestreckt, so lang er war, die Arme überm Kopf fortgeworfen. Da schien das Tor sich zu bewegen, das Mädchen sprang auf und eilte zu ihrer Lampe, die einige Pulsschläge lang wieder in ihrer früheren Größe aufgerichtet stand, aber nun langsam erblaßte, denn die Torflügel falteten sich langsam auseinander, und draußen war das Mondlicht. Da war die Treppe, breit und schneeweiß, die Ebene, schattenlos, dunkel und doch erhellt vom unsichtbaren Mond in der Höhe, und jetzt sah Orest, das Haupt erhebend, daß neben der ersten Säule der Vorhalle über den Stufen eine dunkle Gestalt im Schatten hockte, ganz still; und als er hinunterblickte, entdeckte er eine zweite mitten auf der Treppe, ruhend wie eine Schlafende, ganz unten aber die dritte, hell im vollen Licht, in sich gesunken, im Schlaf.
„Orest stützte sich auf die Arme und stand auf. Sein Gesicht zuckte, als ob es in Weinen zerbrechen sollte, sein Haupt schwankte, er ging mit schweren Schritten zur Statue des Gottes und sank dort hin, den Rücken gegen das Postament gelehnt. Stracks durchdrang unbeschreibliche Müdigkeit magisch seine Glieder; sie lösten sich auf in Wonne der Schlaftrunkenheit, ein sanftes Prickeln bedeckte seine Seele wie ein vergehender Schaum, — so verging sein Leib. Er schluchzte tief, er sank tiefer in sich, er öffnete noch einmal die Lider, als müsse irgendwo etwas sein, nach dem noch hinzublicken sei, doch sah er nichts mehr als einen nächtigen Lichtschein, dann — ging ein Schritt, rauschte Gewand? — nur noch Finsternis, aus der eine Schattengestalt von fernher zwischen dunklen Wänden nahte und stillhielt. Er erkannte zwei dunkelsilberne Fittiche, zwischen ihnen den Schatten eines braunen Antlitzes und ein bläuliches Lächeln von Augen. Da fielen ihm die seinen zu, und er schlief.“
Jason schwieg. Im Zimmer stand jetzt die Dunkelheit, nur im höchsten der offenen Vierecke war der noch helle Himmel zu sehn; die Bäume rauschten im Dunkel unsichtbar; vor dem Fenster waren die lichten Gesichter der Drei, ganz weiß das Jasons mit den schwarzen Flecken der Augen, ein wenig dunkler das Esthers, Magdas ganz matt, kaum sichtbar über den andern. Wie Jasons Hände im Schoß ausruhten, so auch Esthers linke, während ihre rechte die Hand der Freundin gefaßt hielt, die über ihre Schulter herabhing. —
„Soll ich Licht machen?“ fragte Magda nach langer Zeit. Niemand antwortete. Aus dem Hintergrund scholl ein leichtes Pochen; der Maler klopfte seine Pfeife aus. —
„Es ist doch nicht zu Ende?“ fragte Esther.
„Ich weiß nicht.“ Jasons Schultern bewegten sich. „Das Antlitz der Eumenide erzählt eigentlich nicht mehr. Oder doch?“
„Und wie kam das Mädchen in deine Geschichte?“
Der Maler sagte aus dem Dunkel: „Sie haben von Schlangen gesprochen. Verwechseln Sie das nicht mit Asklepios?“
„Vielleicht,“ erwiderte Jason leicht, „obgleich ich persönlich überzeugt bin, daß die Schlange auch dem Schlaf heilig ist wegen seiner heilenden Kraft. Überdies ist die Schlange dasjenige Tier, das fast immer schläft, und schließlich dachte ich mir auch etwas Besondres dabei. Wie geht es aber weiter?“
„Ich sehe noch etwas“, fuhr er leise fort. „Ich sehe dies Marmorhaupt der Schläferin. Wer hat es gesehn? Der es gemacht hat, muß es gesehn haben, oder einer hat es ihm beschrieben. Orest vielleicht? Wann sah denn er es?“ Esther schlug vor: „Morgens früh, als er weiterging.“
„Sieh, Esther, was für richtige Sachen du denkst! Ja, da muß er es gesehen haben. Er erwachte vor Sonnenaufgang, erquickt und gestärkt. Die Ebene lag unter weißen Nebeln wie eine stille See, und —“ „Und das Mädchen, die Priesterin?“ fragte Magda. „Sie ist fortgegangen. Orest will nun gehn, spricht sein Gebet, da sieht er beim Hinaustreten, daß die Erinnyen noch dort sind und schlafen. Eilig will er vorüberschleichen und tuts, an der ersten, der zweiten, aber wie er unten bei der dritten angelangt ist, da ging inzwischen die Sonne auf, und er sieht ihr Gesicht, und daß sie braunes Haar hat, das ihn an andres Haar erinnert. Da bleibt er nun stehn und sieht ihr leise glänzendes Gesicht, wie ernst es ist, kaum lieblich und doch schön, die Brauen streng und groß, und daß sie unschuldig ist, wenn sie schläft, trotz der erloschenen Fackel neben ihrem Fuß, trotz des Dolches, den sie an die Brust drückt, und er kann sich nicht abwenden und redet leise Worte in die Höhlung ihres Ohrs, in den seltsamen Eingang zu der schlafenden, inneren Welt, indem er sich fragt, ob sein Flüstern wohl eindringe und drinnen zur Gestalt eines Traumes wird, die leuchtet, so daß die Wände der dunkelgoldenen Seelenhalle davon glänzen, oder vielleicht wie die freundliche Silberfigur des Gottes auf der Lichtung inmitten des dämmerweißen Säulenhains. Plötzlich — was erschrickst du?“
Esther, die leicht zusammengeschaudert war, schüttelte abwehrend den Kopf und sagte: „Nur die Fledermaus ... nur weiter!“
„Plötzlich“, fuhr Jason fort, „erblickt er den kleinen Kopf einer Viper, die, ins Haar versteckt, auch dort schlief die Nacht und nun hervorkommt bei der Wärme des Tages. Er wendet sich eilig und flieht.“
„Und dann?“ fragte Esther.
„Dann bleibt er nach ein paar Schritten noch einmal stehn und dreht sich zurück und sieht, daß sie sich aufgesetzt hat. Sie hebt die Arme und lächelt zu ihm; ihre Augen, erst noch geschlossen, öffnen sich schlaftrunken, sie stammelt, ihr Gesicht glüht über und über vom Sonnenaufgang, er starrt hin, da sinkt sie wieder zusammen, fröstelt, tastet nach einem Gewandzipfel und entschläft.“
Es schien nun still bleiben zu wollen im Raum. Magda erhob sich, trat an ihren Ausguck und sah im Dunkel den Horizont besteckt mit den Lichtern der Stadt, darüber die ersten, weißlichen Sterne im Raum. Vernehmlich rauschte das Wehr in der Ferne.
Esther hatte ihre zusammengefaltete Stickerei wieder auseinander genommen, die Farben leuchteten noch matt im Finstern, sie strich glättend mit dieser und jener Hand darüber und sagte endlich:
„Ich sehe noch etwas. Da ist solch ein Wiesental, so bunt wie dies hier am Tage ist, und — ich kann das nicht beschreiben, es ist etwa so wie auf Böcklins Bild, eine kleine blaue Quelle, die sich durch die Blumenböschungen schlängelt, herab von einem Hügel unter großen, schattigen Bäumen. Und dort liegt Orest und —“ sie stockte.
„Nun?“ mahnte Jason in guter Langmut, „was tut er dort? Ja, das weißt du nicht? Vielleicht meinst du, er wartet. Ja, am Ende wartet er.“
„Oder auch nur, weil es so schön dort ist ...“ sagte Esther mit einem kleinen Seufzer.
Über ihnen klang Magdas immer noch ein wenig matte Stimme, doch sehr gütig: „Als ich von den Toten wiederkam, die ich doch schon so nahe gesehn, durfte ich auch wieder in den Garten, nach all den schlaflosen Nächten, und das war gut. Freilich,“ setzte sie mit dunklerer Stimme hinzu, „sie stehn immer hinter uns.“ Und fast hart: „Sie sind ja die Unentrinnbaren.“
Eine Weile wars wiederum still, dann begann Jason:
„Ich glaube, daß er wartet. Er hat sich des Lächelns der Einen erinnert und beschlossen, sie zu erwarten. Er will sich zu ihren Füßen hinwerfen und bitten, daß sie ihn manchmal schlafen lassen. Er denkt, daß sie das nicht werden abschlagen können. Er fühlt sich so neu, kräftig und zu allem bereit, wenn nur etwas Hoffnung da ist.
„Und dann kommen sie nun. Ihm gegenüber ist der Tannenwald, aus dem der Weg hervorkommt, dem sie nahen, und die Jüngste geht voran. Er hält sich hinter einem Felsblock verborgen und sieht, wie sie nacheinander hervortreten und erfreut scheinen von der anmutigen Gegend. Zwei von ihnen legen sich im Tannenschatten ins Gras, aber die eine kommt bis zum Bach, kniet hin, legt Fackel und Dolch neben sich, bespiegelt sich und lächelt sich an. Da übermannt es ihn, und er tritt hervor.
„Wie er herabkommt, sieht sie auf und erschrickt. Sie greift nach ihren Waffen und erhascht den Dolch und springt auf, sieht ihn an, und da erkennt sie ihn nun; ihn, den sie ja zuvor nie, nur in jenem Augenblick des halben Wachens oder im Traum gesehn hat. Er sieht wohl schrecklich aus, in seinem grauen, zerfetzten Mantel, mit dem wirren, schwarzen Haar und dem gelben, eingeschrumpften Gesicht, aber seine Augen strahlen seltsam, und sie muß lächeln und streckt wieder die Arme aus, seufzt und stammelt etwas, und — was geschieht nun?
„Jetzt sieht er auf einmal alles schwarz umher werden. Schwarz jede Blume, schwarz das Gras, schwarz die Tannenwand, schwarz wie Marmor den Quell und schwarz den Himmel. Aus der Erde schauert es eisigkalt, und es durchschaudert sie. Sie windet sich seltsam, als werde sie unsichtbar ergriffen und nach unten gezerrt, ihr Lächeln, wie etwas Erdrosseltes, stirbt, sie öffnet die Lippen, will schreien, da fühlt sie, daß sie hinunter muß, sie verzweifelt, sie zuckt, da erblickt sie ihren Dolch, sie ringt sich noch ein Lächeln ab, erfaßt eine Strähne ihres braunen Haares, sie schneidet zu, sie trennt die Locke, sie wirft sie gegen sein Gesicht hin, das ihr noch glänzt. Langsam nun, blaß und blässer, wie ein farbloser Regenschauer, gleitet sie hinunter in den schwarzen Quell; ihre Füße, ihre Hüften, ihre Schultern verschwinden, noch schwebt ihr schmerzliches Gesicht, lächelnd mit einer späten Qual über dem Schwarzen, und erlischt darin.
„Hades rief sie hinunter. Sie hatte vergessen, wer sie war, vergessen den Haß und Tartaros, ihren Ursprung; da zog er sie zu sich herab. Und er —
„Er warf sich über die Stelle hin, wo sie versunken war, griff in die Flut und — nun, Esther?“
„Er faßte — er erfaßte die großen Büschel schwarzer Iris, die rund herum aufgeschossen waren, und —“
„Und es ward langsam wieder hell um ihn, alles ward wie vorher, dort aber, wo der Weg in die Tannenwand schwindet, haben sich die beiden Schwestern aufgestellt, gleichmütig, gegürtet, abwartend.
„Er aber, schwer aufstehend, gewahrt einen braunen Falter, rostrot glänzend im Sonnenlicht, der gegen ihn fliegt, seinen Mund berührt und zurückbebt und davon und wieder heran und über seine Stirn hin und wieder fort und noch einmal heran, einen Kreis windend um seine ausgestreckte Hand und jetzt fort, auf und nieder, hierhin und dorthin schaukelnd, den Weg hinab und zwischen den Tannen fort. Er aber, wie an einem goldenen Faden nachgezogen, folgt, ein wenig staunend, ein wenig lächelnd, sich vergessend. Er sieht die Schwestern dastehn, er will zwischen ihnen hindurch, er erschrickt, es stehen da zwei schweigsame Fichten links und rechts vom Wege, ernsthaft, auf ihn heruntersehend, dieweil vor ihm das rostrote Blatt in der Sonne im Tannengang leuchtet, und er folgt.“
Obwohl Jason schwieg, schien es den Andern, als halte er nur inne und bedenke die kommenden Worte. Schließlich fragte die Stimme des Malers aus dem Finstern: „Ist das alles?“
„Die Erinnyen sind ja fort“, sagte Jason, während gleichzeitig Esther ein tief ungläubiges „Oh nein!“ hervorstieß.
Jason schwieg und sagte nach einer Weile leise: „Kinder! Was denkt ihr denn nun?“
Esthers Gesicht, der weiße Schein davon, war verschwunden; an ihrer Stimme konnten die Andern hören, daß ihre Hände davor waren; sie bat:
„Mach ihn heil, Jason! Die Wunden von ihren Dolchen werden wieder aufbrechen, und das Gift ... Mach ihn ganz heil!“
Und auch Magda erklärte mitleidvoll: „Er war doch unschuldig. Daß er die Mörderin seines Vaters erschlug, das war fromm, und die Götter wollten es. Ich meine —“ sie rang mit den Worten, „es giebt Sünde und Sühne, Bös und Gut, aber es ist nichts einzeln davon, Eines wohnt immer im Andern, und Orestes büßte lange und wurde schließlich befreit — wenn ich mich recht erinnere ...“ schloß sie zaudernd.
„Es kommt vor,“ hörten sie den Maler von fern, „wenn ich ein Bild machen will, daß ich meine, es müßten zwei gemalt werden. Nicht wegen der Stimmung in der Natur oder so, sondern —, etwa, wenn ich einen Kranken malen wollte, so müßte ich auch einen Gesunden machen, damit man sieht, was all das heißt. Allerdings,“ setzte er, sich räuspernd, hinzu, „das darf nicht sein, obgleich ich mich einmal nur schwer entschließen konnte, denn“, schloß er bedachtsam, „Kunst ist für sich und giebt Gesetze.“
„Orest kam nun,“ fuhr Jason fort, nachdem er Bescheid erhalten, „Orest kam nun, dem Schmetterling folgend, am neuen Abend wieder zu einer Treppe und zu einem Tempel. Schön leuchteten sie beide von weit, Stufen, Säulenreihn und farbiges Dach, aber der Weg war nicht gut gewesen, alle Wunden brannten wieder, auch die Füße, und oft mußte er stehen bleiben, wenn er hinter sich das alte Zischeln und Raunen zu hören glaubte, auch begriff er nicht, weshalb er hinter diesem schaukelnden Blatt einherging. Nun aber sah er die Treppe und erkannte sie gleich, auch das Mädchen, das auf der untersten Stufe saß, gebückt, als betrachte sie etwas in ihrem Schoße. Wie er näher kam, schaute sie auf, und da sah er den Falter mit Heftigkeit gegen ihre Lippen fliegen, worauf er augenblicklich in ihrem Haar verschwand. So ging er auf sie zu, die still saß und ganz wenig lächelte.
„Was tust du hier?“ fragte er, indem er bemerkte, daß sie ihre Silberschale voll Milch mit beiden Händen im Schoß hielt. „Still!“ sagte sie, „bleib ruhig stehn! Sie müssen gleich kommen.“ Und sie pfiff ganz leise zwischen den Zähnen. Alsbald raschelte es im Gebüsch neben dem linken Treppenkopf, und zwei Schlangen, so lang wie ein Arm jede, die eine dunkelbraun, die andre dunkelblau schillernd, kamen hervor, glitten herbei, kletterten links und rechts von der Sitzenden die Stufen empor und begannen von der Milch zu schlürfen. „Erkläre mir dieses!“ sagte Orest.
„Dies“, erklärte das Mädchen, „sind die heiligen Schlangen. Zwei Schlangen trägt der Gott des Schlafs, eine giftige und eine gute. Die giftige träufelt bösen Seim auf das Herz der Bösen, die gute aber ringelt sich über dem Herzen der Guten zusammen und macht es kühl.“
„Oh,“ sagte er enttäuscht, „so giebt es doch Böse und Gute!“
„Jeder,“ sagte sie leise, „jeder ist jedes zu dieser und jener Zeit.“
„Und eine von diesen ist also giftig?“ fragte er.
„Diese nicht,“ sagte sie lächelnd, „sie stellt ja nur eine giftige vor.“ Orestes beugte sich, um die braune zu streicheln, da zückte ihr Kopf empor, und schon hing sie an seiner Hand. Schnell packte er mit der Linken in das Haar des Mädchens, bog ihren Kopf zurück und schrie: „Jetzt erkenne ich dich! Du bist —“ Da er einhielt, sagte sie leise, den Kopf zurückbiegend, um seinen Griff zu erleichtern: „Wer soll ich denn sein?“ Und während er noch, heftig atmend, die Zähne in der Lippe, in dies Antlitz starrte, das ihm gar zu ähnlich dem andern schien, das versank, hörte er sie, auf die Schlange deutend, flüstern: „Sieh doch, sie saugt ja!“ Plötzlich fühlte er eine rieselnde Erleichterung durch seine Glieder strömen; wonnig aufgelöst stand er und blickte auf das Tier herab, das von seiner Hand hing wie ein brauner Riemen, glaubte zu sehn, wie die Wunden seiner Füße sich schlossen, seine Brust sich schloß, und stammelte endlich, halb lachend, halb schluchzend, seine Worte von vorhin: „Erkläre mir dieses, Kind!“
Sie nahm seine Hand aus ihrem Haar, gab sie ihm zurück und sprach:
„Zwei Schlangen, Gastfreund, eine giftige, eine gute. Hast du nie gehört, daß alle Dinge verschwistert sind? Vielleicht war ich selbst eine Schwester und habs nicht gewußt. Ja, vielleicht bin ich eine Schwester von der, die du — sieh!“ unterbrach sie sich.
Die Schlange, auf die ihre Augen wiesen, war heruntergefallen, lag einen Augenblick still, ringelte sich ein paar Schritte hinweg, rollte sich zusammen und lag in der Sonne, blinzelnd. Die andre aber schlich herbei und legte sich schön darüber, so lang wie sie war.
„Ich glaube,“ schloß Jason mit Bedacht, „Orest konnte jetzt zu der Gottheit hineingehn, um zu zeigen, daß er rein war.“
Lange Zeit saßen sie schweigsam. Dann hörten sie, daß der Maler aufstand und gegen etwas im Dunkel stieß. Und dann hörten wohl nur Magda und Esther Jason sprechen, kaum vernehmbar leise:
„Wenn wir jetzt Licht machen, und jemand, der vielleicht unten steht, so ein Orest, sieht den sanften grünen Schein unseres Fensters hier oben, der weiß nichts von den drei Gesichtern und von den Leben und den Schicksalen, die wir sind. Der denkt nur: Dort oben muß es schön sein ...“
Seine Stimme erlosch, und als sie ihn gleich darauf wieder sprechen hörten, schienen es ihnen Verse zu sein, doch vernahmen sie, ein jeder in sich selber versunken, nicht mehr davon als eine ferne Musik ohne Worte. Bald darauf stand Magda auf, ging zwischen Esther und Jason hindurch zur Wand und drehte die Kurbel für das Licht; als es aufflammte, kniffen sie Alle geblendet die Augen zu, und Esther sagte, die Handrücken gegen die Lider drückend: „Aber Jason, nun sind es doch vier Schwestern gewesen, davon drei böse und nur eine gut!“ Indem ging Magda schon durch das Zimmer, öffnete die Tür, wandte sich noch einmal, grüßte müde und gütig und verschwand. Auch Jason schien zu lächeln, sagte aber nichts, und so trat denn Maler Bogner, der älter war als sie Alle, auf das Mädchen zu, legte eine Hand auf ihren Kopf und sagte freundlich:
„Das Gute, Esther, ist doch immer in der Minderzahl.“
Sprachs, nickte und ging hinaus. Esther folgte still, als letzter Jason, der das Licht wieder löschte.
Die Verse aber, die er gesprochen hatte, lauteten folgendermaßen:
O Nacht! O Tiefe! Drunten auf den Stufen,
Du weißt es, schläft die Eumenide nun ...
Noch ist die Gottheit leise anzurufen,
So wird dir, was du sehntest: du wirst ruhn.
Die Säule klingt; die dunkle Wölbung schwindet;
Gestirne wandern über Wäldern fort. —
Blick hin: Er steht schon längst im Dunkel dort,
Schlaf deiner Kindheit, der dich wiederfindet.
Renate, die Augen hebend vom letzten Wort, verwunderte sich, keine Dunkelheit, sondern nur die Dämmerung um sich her zu finden, die vom ohnehin trüben Tage durch das verschleierte Glas bewirkt wurde. Während ihre Lider sich zusammenzogen, sah sie immer größer den fernen gotischen Bogen ragen, und nun war es ein Tor; es schien ausgefüllt vom unendlichen Grün einer Ebene, und winzig klein auf ihr erschien eine schwarze Gestalt — Josef —, die mit rasender Geschwindigkeit daherfuhr, ohne jedoch größer zu werden, und Renate empfand, daß die Gestalt nicht mehr an die Zeit gebunden war, sondern außerhalb ihrer dahinjagte wie ein Gestirn. Alsbald aber spürte sie, daß sie an ihrem eigenen Blick hing, daß der an ihr zog, und sie zwang ihn zu Kraft und Willen, zog mit ganzem Dasein, — allein die Gestalt blieb so klein, wie sie war, und auf einmal war da das Fenster.
War es wieder da? fragte Renate sich betäubt. Aber so war es doch nie? War doch immer nur — Erscheinung? Wann hätte ich je selber hineingegriffen? — Der Gedanke aber, Josef stehe unten und warte, daß sie ihn einlasse, überfiel sie mit solcher Gewalt, daß sie sich kaum halten konnte im Stuhl, gequält vom Reiz, das Fenster zu öffnen, was ja nicht möglich war, da nur die kleinen Quadrate sich auftun ließen.
Warum denn nur, mein Gott, warum kann ich ihn nicht rufen?
Nein, fuhr sie auf, nein! Er soll nicht meinetwegen kommen! Wenn er denn kein Herz hat für den Vater, — was könnte dann auch sein Kommen auswirken? — Und sich zur Ruhe zwingend, lenkte sie die Augen wieder auf den Schluß der Legende, über den sie schon, ganz im Gedanken an Josef, nur hingeglitten war, und las noch einmal: ‚Das Gute ist doch stets in der Minderzahl‘ und dann die Verszeilen:
‚Gestirne wandern über Wäldern fort. —
Blick hin: Er steht schon längst im Dunkel dort ...‘
Mit einem gellenden Schrei fuhr sie zur Tür herum, zitterte und strauchelte im Stehn. Da war nichts. Ihr Herz jagte. Nach endlosem Warten hörte sie Schritte im Treppenhaus, trat, unfähig länger auszuhalten, zur Tür und öffnete. Unten, wo die Treppe sich wendete, erschien die weiße Tolle des Hausmädchens, dann sie selber ganz im rosa Waschkleid und weißer Schürze, blieb Renate erkennend stehn, lächelte und sagte: „Frau Tregiorni ist gekommen. Und Herr Saint-Georges ist schon lange da.“
„Ich komme“, erwiderte Renate heiser und zog die Tür zu, nur um zu verbergen, daß sie nicht aufrecht bleiben konnte. Minuten später hatte sie sich wieder gewonnen und verließ den Raum.
Hier enden des sechsten Buches neun Kapitel oder ebenso viele Monate.
Viertes Buch | |
Erstes Kapitel: Mai | |
Heimweh | 7 |
Magda | 23 |
Bei Saint-Georges | 30 |
Balto-Borussia | 44 |
Kaddisch | 64 |
Zweites Kapitel: Juni | |
Begegnung | 77 |
Erasmus | 89 |
Mensur | 96 |
Esther | 105 |
Drittes Kapitel: Juli | |
Die Friedliebende Gesellschaft | 112 |
Schatten | 129 |
Drei Gespräche: Das erste | 147 |
Drei Gespräche: Das zweite | 158 |
Drei Gespräche: Das dritte | 176 |
Viertes Kapitel: August | |
Hora | 192 |
Fünftes Kapitel: September | |
Vergangenheit | 205 |
Sechstes Kapitel: Oktober | |
Abschied | 222 |
Sonnenblume | 244 |
Siebentes Kapitel: November | |
Renate an Saint-Georges | 255 |
Erschöpfung | 282 |
Achtes Kapitel: Dezember | |
Renate an Magda | 288 |
Heiliger Abend | 292 |
Neuntes Kapitel: Januar | |
Georg an Benno | 305 |
Fünftes Buch | |
Erstes Kapitel: Februar | |
Ulrika | 313 |
Zweites Kapitel: März | |
Leda | 331 |
Renate | 347 |
Drittes Kapitel: April | |
Tandem | 361 |
Cora | 374 |
Überraschungen | 383 |
Viertes Kapitel: Mai | |
Haus Herzbruch | 397 |
Fünftes Kapitel: Juni | |
Emmaus | 414 |
Rubinglas | 440 |
Sechstes Kapitel: Juli | |
Requiem | 462 |
Sommer | 476 |
Siebentes Kapitel: August | |
Frühe | 492 |
Achtes Kapitel: September | |
Regen | 506 |
Wiederkunft | 528 |
Neuntes Kapitel: Oktober | |
Cordelia | 563 |
Sechstes Buch | |
Erstes Kapitel: November | |
Berlin | 597 |
Zweites Kapitel: Dezember | |
Sylvester | 614 |
Drittes Kapitel: Januar | |
Neujahr | 627 |
Viertes Kapitel: Februar | |
Wirrnis | 639 |
Fünftes Kapitel: März | |
Wiedersehn | 675 |
Neuigkeiten | 688 |
Flut und Ebbe | 698 |
Sechstes Kapitel: April | |
Zinna | 741 |
Siebentes Kapitel: Mai | |
Klemens | 749 |
Schrecken | 782 |
Achtes Kapitel: Juni | |
Krank | 787 |
Neuntes Kapitel: Juli | |
Legende | 820 |
Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
Anmerkungen zur Transkription
Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere Korrekturen (vorher/nachher):
End of the Project Gutenberg EBook of Helianth. Band 2, by Albrecht Schaeffer *** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK HELIANTH. BAND 2 *** ***** This file should be named 59187-h.htm or 59187-h.zip ***** This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/5/9/1/8/59187/ Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library. Updated editions will replace the previous one--the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. 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If you do not agree to abide by all the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. 1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be used on or associated in any way with an electronic work by people who agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works even without complying with the full terms of this agreement. See paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic works. See paragraph 1.E below. 1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation" or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the collection are in the public domain in the United States. If an individual work is in the public domain in the United States and you are located in the United States, we do not claim a right to prevent you from copying, distributing, performing, displaying or creating derivative works based on the work as long as all references to Project Gutenberg are removed. 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The Foundation's EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state's laws. The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered throughout numerous locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation's web site and official page at http://pglaf.org For additional contact information: Dr. Gregory B. Newby Chief Executive and Director gbnewby@pglaf.org Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide spread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. Many small donations ($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt status with the IRS. The Foundation is committed to complying with the laws regulating charities and charitable donations in all 50 states of the United States. Compliance requirements are not uniform and it takes a considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up with these requirements. We do not solicit donations in locations where we have not received written confirmation of compliance. To SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any particular state visit http://pglaf.org While we cannot and do not solicit contributions from states where we have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition against accepting unsolicited donations from donors in such states who approach us with offers to donate. International donations are gratefully accepted, but we cannot make any statements concerning tax treatment of donations received from outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff. Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation methods and addresses. Donations are accepted in a number of other ways including checks, online payments and credit card donations. To donate, please visit: http://pglaf.org/donate Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works. Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be freely shared with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper edition. Most people start at our Web site which has the main PG search facility: http://www.gutenberg.org This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, including how to make donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.