The Project Gutenberg EBook of Das Naturforscherschiff, by Sophie Wörishöffer

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Title: Das Naturforscherschiff

Author: Sophie Wörishöffer

Release Date: June 7, 2015 [EBook #49158]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS NATURFORSCHERSCHIFF ***




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S. 284—286.

Naturwissenschaftliche Übungen in der Kajütte.

Das Naturforscherschiff

oder
Fahrt der jungen Hamburger mit der „Hammonia“ nach
den Besitzungen ihres Vaters in der
Südsee.

Von
S. Wörishöffer,
Verf. von „Robert der Schiffsjunge,“ „Auf dem Kriegspfade,“
„Kreuz und Quer durch Indien,“ „Onnen Visser.“

Vierte Auflage.

Mit fünfundzwanzig Tonbildern.

Bielefeld und Leipzig
Verlag von Velhagen & Klasing.
1888.

Alle Rechte vorbehalten.

Inhalt.

Erstes Kapitel.

Die Hammonia und das Haus Gottfried. Palma. Ins Innere. Der Lamantin. Das Negerdorf und der Zauberer. Der Fledermausbau. Der Heerwurm. Zibetkatzen und Pythonschlange. Die Gallinas. Elefantenjagd. Waldbrand. Franz unter den Gallinas. Die Rettung. Die Bestrafung des Zauberers. Wieder an Bord. Erste Präparierübung.

Zweites Kapitel.

Fischfang mit dem Licht. Flußpferdjagd mit der „Hansa“. Der Uralte der Gewässer. Dr. Bolten in Lebensgefahr. Heuschreckengenüsse und Hippopotamusbraten. Der Nashornvogel. Naturwissenschaftliche Beschäftigungen an Bord.

Drittes Kapitel.

Vor der Nigermündung. Im Lande der Bonnyleute. Der Affenberg. Der Löwe. Getrennt von den Genossen. Die Nacht im Baume. Der Mandril. Die Rhinozerosse. Besiegt von den Moskitos. Die Büffeljagd. Wieder vereinigt. Heim zur Hammonia.

Viertes Kapitel.

Nach Fernando Po. Die Quelle. Im Cyklon. Der Hai. Nach der Kapstadt. Mazembas Kraal. Nach dem Kaffernlande. Die Zwergmakis. Die Buschmänner. Überfall der Kaffern. Die Belagerung. Der Tod des Retters. Zur Kapstadt zurück.

Fünftes Kapitel.

Nach Madagaskar. Der weiße Hahn. Der Krokodilteich. Das Gottesurteil. Der verhängnisvolle Schuß. Gefangen. Das Todesurteil. Gerettet von den Genossen. Rua-Roa. Jagderlebnisse. „Zwei tote Affen und zwei lebendige Stachelschweine.“

Sechstes Kapitel.

Nach Mauritius. Naturwissenschaftliche Übungen an Bord. Rua-Roas Gipsabguß. Die Vogelinsel. Fregattvogel und Tölpel. Zur Fouquéinsel. Die Nacht auf dem Riff. Korallenfischerei. Der Hai. Der Blutschwur. Auf dem Bambu Pik.

Siebentes Kapitel.

Nach Ceylon. Im Urwalde. Die Elefantentränke. Der Überfall des Tigers. Die Tempelruinen. Das Dorf der Singhalesen. Die jungen Tiger und die Ziegenamme. Ratten und Schlangen. Singhalesischer Pfannkuchen. Das Diamantfeld.

Achtes Kapitel.

Zu den Ureinwohnern Ceylons. Das Veddadorf. Die Schakale. Verrat der Veddas. Die Höhle. Rettung. Zurück zur Hammonia im Hafen von Galle.

Neuntes Kapitel.

Nach Java. Das Totenthal. Die Flammen des Moro Api. Der Gewittersturm. Die Höhle des Verrats. Das Tigerpaar. Wieder unter Menschen. Der Feuer und Schlammberg. Zurück zur Hammonia. Die Strafe der Gelben.

Zehntes Kapitel.

Nach Borneo. Fänge mit dem Schleppnetz. Die Seewiese. Begegnung mit dem Julius Cäsar. Nachrichten von zu Haus. Weitere Arbeiten mit dem Schleppnetz. Ankunft in Borneo. Banjar-massing. Der photographische Apparat. Im Kohlenbergwerk. Die malaiischen Führer. Ins Innere.

Elftes Kapitel.

Die Nacht bei den Dajaks. Die Schädeltrophäen. Totenfeier. Blutrache. Das Ende der Führer.

Zwölftes Kapitel.

Nach Lombock. Die einmal blühende Palme. Nach Celebes. Naturwissenschaftliche Beschäftigungen an Bord. Das Pfahldorf der Orang-Badju. Die Zauberlaterne im Märchenreich. Überfall der Orang-Badju. Rettung. Ins Innere am Nordende von Celebes. Der Hirscheber und die Alfuren. Der Fang des Meerwurms. Der ermordete Kamerad. Nach den australischen Inseln.

Dreizehntes Kapitel.

Die „Schatzkammer der Naturforscher.“ Die Nightinsel. Das Beuteltier. Die Papuas und ihr Lager. Jagdbeute. Der Rüsselpapagei und der Leierschwanz. Der Doktor in der Felsspalte. Der Atlasvogel. Der Taucher und die Sepie. Nach Sidney. Ins Innere. Die Australneger und die Schafherden. Die Känguruhjagd. Känguruhbraten. Rua-Roa und die Buschotter. Der lachende Hans. Der Wombat. Der Verrat der Australneger. Gerettet und fast verschmachtet. Das Manna. Wohl aufgehoben bei deutschen Landsleuten.

Vierzehntes Kapitel.

Durch das Korallenmeer. Auf Tonga. Das Seebeben. Das Wrack der „Eintracht“. Die Gefangenen der Menschenfresser. Ihre Befreiung.

Fünfzehntes Kapitel.

Nach den Samoainseln. „Tabu.“ Auf des Vaters Besitzungen. Die Nachricht vom Attentat. Dankgottesdienst. Haifischjagd. Tänze der Eingebornen. Ausflug ins Innere. Barbarische Justiz und Rettung. Rua-Roas Taufe. Abschied von Samoa.

Sechzehntes Kapitel.

Heimreise. Am Sinai vorüber. Der Suezkanal. Letztes Abenteuer. Taucher und Schwertfische. Ankunft und Wiedersehn! —

Erstes Kapitel.

Vor der Barre der afrikanischen Handelsstadt Lagos am Meerbusen von Guinea lag auf den blauen Fluten des Atlantischen Meeres ein stattlicher Schraubendampfer, von dessen Topp die rotweiße Hamburgische Flagge lustig im Morgenwind flatterte. Am Heck stand mit großen goldenen Buchstaben der Name „Hammonia“, das ganze Schiff war neu, vor nicht viel mehr als etwa vier Monaten daheim in der freien Reichsstadt erst vom Stapel gelaufen und für diese seine Reise um die halbe Erdkugel auf der Werft des Hauses Gottfried am Reiherstieg eigens erbaut worden.

An Bord befanden sich die beiden Söhne des Reeders mit ihrem Erzieher, dem würdigen Doktor Bolten und dem jungen Doktor Holm, einem Vetter der Knaben, zugleich dem naturwissenschaftlichen Lehrer und Führer der kleinen Expedition, die nicht allein das geheimnisvolle Innere Afrikas, sondern auch die Sundainseln, Australien und die Perlen des Großen Ozeans besuchen sollte, und deren Zweck mehr in wissenschaftlichen als kaufmännischen Erfolgen bestand.

Das Haus Gottfried ist eine der größten und unternehmendsten Handelsfirmen Hamburgs. Wenn eins unserer jetzigen großen Kaufmannshäuser an die Handelsfürsten der ehemaligen Reichsstädte des Mittelalters erinnert, an die Fugger und Welser von Augsburg, die Krafft von Ulm, so thut es dieses. Nicht allein daß seine auf eigenen Werften erbauten Schiffe alle Meere durchpflügen, daß seine Wechsel auf allen Kontoren in den Hafenstädten der fünf Erdteile so gut gelten wie bares Geld, es gleicht besonders darin dem mächtigen Hause der weiland Welser, welche damals das heutige Venezuela mit eigenen Feldhauptleuten und Truppen besetzen und kolonisieren ließen, daß es auch seinerseits und zwar auf einer Inselgruppe des Stillen Ozeans sich eine Herrschaft geschaffen hat, die einem Königreiche gleichkommt.

Aus diesem Gottfriedschen Handelsreiche holen die Schiffe des Hauses die Landesprodukte, hierhin bringen sie wieder zum Austausch europäische Waren. Aber nicht bloß dem Gewinn dienen die großartigen Unternehmungen und Verbindungen des Hauses Gottfried, auch der Wissenschaft kommen sie zu gute, für welche der Handelsherr offenen Blick und offene Hand hat. Das „Museum Gottfried“ ist Zeuge davon. In ihm findet sich vereinigt, was Forscher und Gelehrte im Auftrage des Prinzipals auf der Inselwelt der Südsee gefunden haben. Seine Schiffe führen junge Gelehrte mit, welche die Tierwelt der Tiefsee und des Landes, die Flora des Meeres und des Innern, die Rassen und Gebräuche der Einwohner erforschen, und kostbare Werke mit prachtvollen Abbildungen berichten von den Schätzen des Museums Gottfried.

Dem jüngeren Sohne des weltbekannten hamburgischen Reeders war von den Ärzten eine Luftveränderung, namentlich ein Aufenthalt in tropischen Klimaten verordnet; Herr Gottfried bestimmte daher sein neuerbautes Schiff, die Hammonia, zur Reise nach den Südseeinseln und gestattete, daß dem langgehegten Wunsche des ältesten Knaben, einen wissenschaftlichen Ausflug ins Innere von Afrika zu machen, bei dieser Gelegenheit unerwartete Erfüllung zu teil wurde. Franz bezeigte bis jetzt für das Stillleben hinter dem Kontorpulte nur außerordentlich geringe Neigung, er schien mit seinem Wandertrieb und seiner regen Teilnahme für alle naturwissenschaftlichen Entdeckungen zum Kaufmann nicht so recht geschaffen; der Vater beschloß daher, ihn die Welt jenseits des Ozeans und jenseits europäischer Kultur durch eigene Anschauung kennen lernen zu lassen und dann erst über seine fernere Zukunft zu entscheiden; für diese Reise waren zwei bis drittehalb Jahre bestimmt und den beiden Knaben nicht allein zuverlässige Begleiter, sondern auch an die geachtetsten Handelshäuser aller Häfen schon vorausgesandte Empfehlungen mitgegeben, so daß nach menschlichen Kräften überall bestens gesorgt schien und das Unternehmen die schönsten Früchte versprach.

Auf Madeira war die Hammonia nach zwölftägiger Fahrt angelangt; hier wurden die jungen Leute einstweilen abgesetzt, und während der Dampfer aus Rio eine Ladung Reis holte, vollendete Hans, der zweite Sohn des Reeders, eine vom vortrefflichsten Erfolg begleitete Kur, die ihn so glücklich genesen ließ, daß schon jetzt im Beginn der Weiterreise fast alle Spuren des schleichenden wie eine Art von beginnendem Brustleiden aufgetretenen Fiebers beseitigt waren.

Die Hammonia war inzwischen von Rio zurückgekehrt, hatte die Gesellschaft an Bord genommen, und nach einem dankbaren Abschiede von dem schönen Madeira trat das wackere Schiff die Fahrt nach Lagos an, wo wir unsere Freunde soeben wohl und munter angekommen fanden.

An Bord herrschte Lust und Leben, alles freute sich des wundervollen, wolkenlosen Himmels und der balsamischen Luft, deren Durchsichtigkeit die Stadtbewohner früher auch nicht einmal geahnt, viel weniger für möglich gehalten hätten. Während der Dampfer mittels kleiner Schleppschiffe, die allein über das Riff vor dem Hafen den Weg finden, seine Ladung löschte, wurde das große Boot herabgelassen und für die Fahrt nach dem einige Seemeilen entfernten kleinen Örtchen Palma mit Proviant und Munition hinreichend versehen. Das Wetter gestattete diese Fahrt längs der Küste, und so hatten sich denn sämtliche Teilnehmer der Reise, ganz afrikanisch gekleidet, aufgemacht, um voll Erwartung kommender Abenteuer den sechs Matrosen nachzuklettern.

Der alte Doktor ging voran. Er war ein sehr rüstiger, wohlerhaltener Fünfziger mit ebenso milden als intelligenten Zügen, von Kopf bis zu den Füßen gleich den übrigen bewaffnet und vielleicht zum erstenmale seit seinen Knabenjahren in weißes Leinen gehüllt. Jeden Augenblick ermahnte er die jungen Leute zur Vorsicht, ohne indessen viel Gehör zu finden; die lustige Schar sprang und kletterte ihm nach, ehe seine Worte von allen verstanden worden waren.

Auf den Köpfen die breitrandigen Strohhüte mit herabflatterndem leinenen Schirm zum Schutz des Nackens, im Gürtel die breiten dolchartigen Messer und am Riemen über der Schulter die Botanisierkapseln nebst Fangnetz, so präsentierten sich der sechsundzwanzigjährige Karl Holm, und die beiden Brüder Gottfried, Franz von sechzehn, Hans von vierzehn Jahren, hübsche schlanke Knaben, auf deren jugendlichen Gesichtern die wärmere Sonne des Südens schon anfing, ihren Einfluß zur Geltung zu bringen. Außer diesen vier Hauptpersonen und den Matrosen befand sich im Boote noch ein Kommis der in Lagos ansässigen Zweigniederlassung des hamburgischen Handelshauses Geiser und Kopp, von seinen Prinzipalen den Söhnen des befreundeten Reeders als Dolmetscher beigegeben, ein junger Hamburger, den die Knaben persönlich kannten und der mit Land und Leuten durch längeren Aufenthalt vollkommen vertraut geworden war.

Vom Bord grüßen der Kapitän und Papa Witt, der Obersteuermann, ein alter Freund der Brüder, die er schon als ganz kleine Kinder gekannt und denen er jahraus jahrein von seinen Reisen die schönsten ausländischen Seltenheiten mitgebracht hatte. Wenn er zu Hause war, dann gab es gewiß für die Jungen an Sonntagnachmittagen ein Jagdvergnügen auf den kleinen umbuschten Elbinseln, eine Erzählung von fremden, geheimnisvollen Gegenden, der sie mit atemlosem Interesse horchten, oder einen Besuch in seiner Kajütte, wo dann aus Kisten und Kasten die verlockendsten Spielereien hervorkamen, genug, der Alte, selbst unverheiratet und im Dienste des Gottfriedschen Hauses ergraut, hatte seine ganze Zuneigung den beiden Knaben geschenkt, daher sah er ihnen auch jetzt so wohlgefällig nach und schwenkte den Strohhut, als die Matrosen ihre Ruder einlegten.

„Hübsch langsam!“ ermahnte er zum zehntenmale und mit dem ganzen Abscheu des Seemanns vor Fußwanderungen. „Nichts übereilt, ihr habt Zeit genug.“

Der Kapitän nickte lächelnd. „Hofft nur von dem Anblick der Küste nicht zu viel Schönes,“ warnte er. „Das meiste ist Busch!“

Ein Grüßen herüber und hinüber, ein Hurra der Matrosen auf dem Dampfer, und die wissenschaftliche Expedition hatte in aller Form begonnen. Bisher war man nur in den Häfen zivilisierter Völker gewesen oder schwamm in bequemer, ja eleganter Kajütte über das Meer, hier aber, hinter der Ansiedelung Palma, in dem kleinen Dorfe L’epée, entfaltete sich das geheimnisvolle, unbekannte Naturleben der Neger, hier wohnten die Schwarzen, unbeeinflußt von Kultur und Sitte, ganz wie seit Anbeginn der Schöpfung, eben darum aber das Sehenswerteste, Interessanteste, was es für die jungen abenteuerlustigen Reisenden überhaupt geben konnte.

Die Knaben sahen immer wieder nach ihren Gewehren. Sollte sich denn nicht bald am Strande irgend ein „wildes Tier“ erspähen lassen, und wäre es auch nur ein ganz bescheidener Vogel oder eine Fledermaus?

Aber nichts dergleichen zeigte sich. Bis nach Palma hin erglänzte die baumlose sandige Küste in unangenehm blendendem Weiß, nur verkrüppeltes Buschwerk reckte seine niederen Äste, und ohne Weg oder Steg erhob sich steil abfallend das wüste Gestade.

Doktor Bolten sah durch die Brille. „Wahrhaftig,“ sagte er, „auf den ersten Anblick hin erscheint Afrika äußerst häßlich.“

„Das ist die Küste beinahe überall,“ antwortete der junge Kaufmann. „Erst etwa eine halbe Stunde von der See entfernt beginnt die eigentliche tropische Vegetation. Hier herum lebt auch außer den Strandvögeln kein Tier.“

Auf eine Jagdbeute vom Boot aus war also nicht zu hoffen, und erst als das kleine Palma erreicht wurde, sahen unsere Freunde in ziemlicher Entfernung bewaldete Höhenzüge. Hier standen zwei oder drei steinerne wie Speicher erscheinende Gebäude, zwischen denen sich Negerhütten vereinzelt erhoben und wo auch mehrere schwarze Gesichter den Reisenden begegneten, obwohl doch kein eigentliches Dorf vorhanden war. Das Negerreich L’epée lag hinter einem breiten, mit geringem Pflanzenwuchs bestandenen Landstrich, dahin ging es in Begleitung von mehreren als Gepäckträger gemieteten Krunegern ohne Aufenthalt vorwärts.

Mit jeder Viertelstunde wurde die Gegend hübscher und die Vegetation üppiger. Hier flog ein bunter, farbenprangender Schmetterling, dort blühten nie gesehene Blumen oder reiften Früchte an saftigen Stielen, so daß die Knaben voll Entzücken bald hierhin, bald dorthin sprangen.

„Langsam! langsam!“ ermahnte Doktor Bolten, „jede Anstrengung kann für den Weißen in diesem Klima tödlich werden. Der Weg ist ohnehin beschwerlich genug!“

Und das war er wirklich. Die Luftwurzeln der Bäume erstreckten sich in mächtigem Umfang Hunderte von Schritten weit in die Umgebung hinaus, Rankengewächse flochten grüne, hängende Mauern, und Sumpfstellen nötigten oft zu weiten, zeitraubenden Bogen.

Man wollte eine breite Lagune erreichen, sich dort übersetzen lassen und dann jenseits des Wassers das Negerdorf besuchen. Als nach vieler Mühe der Rand des Gewässers sichtbar wurde, fand sich auf den Fluten desselben ein äußerst reges Treiben. Einige zwanzig bis dreißig Rindenkähne mit Balancierstangen, aber ohne Mast oder Segel, voll von schwarzen Gestalten, strebten sämtlich dem Mittelpunkt der Lagune zu, und vom anderen Ufer her kamen immer noch mehr nach. Kaum gelang es dem Dolmetscher, durch wiederholte Zurufe endlich einen der Schiffer zur Umkehr zu bewegen und ihn an das Land zu locken. Erst nachdem der Schwarze Geld gesehen, ruderte er schnellstens herbei, trieb aber mit rückwärts gewandten Blick fortwährend zur Eile und ermahnte seine Genossen, durch verdoppelte Arbeit die verlorene Zeit wieder einzuholen.

Die vier Kruneger warfen das Gepäck ins Boot, nahmen ohne weiteres ihr einziges Kleidungsstück, einen Streifen Baumwollenzeug, von den Hüften, banden ihn um die Köpfe und schwammen wie Fische dem leichten Fahrzeug voran. Es war, als sei die ganze Bevölkerung plötzlich toll geworden.

Nur ein einziges Wort rief jeder dem anderen zu: „Manati!“ —

„Sie haben wahrhaftig Glück, meine Herren!“ sagte der jugendliche Dolmetscher. „Es wird sich Ihnen eine äußerst interessante, sehr seltene Jagd zeigen.“

Die beiden Knaben griffen wie elektrisiert zu ihren Gewehren. „Ein Haifisch?“ rief der eine, „Ein Krokodil?“ der andere.

„Keines von beiden, auch darf niemand an dem Fang des Tieres teilnehmen. Thun Sie das nicht, meine Herren, es könnte uns alle in Gefahr bringen. Jetzt aber sehen Sie selbst!“

Ganz in der Nähe erschien jetzt ein Boot, in welchem drei Männer Platz genommen hatten, zwei gewöhnliche Neger und ein dritter von eben so komischem als abscheulichem Aussehen. Die nackten Glieder waren wie das Gesicht mit feuerroter, dick aufgepinselter Farbe so bemalt, daß Flammen und Zacken, Tierköpfe und geringelte Schlangen überall die schwarze Haut zu bedecken schienen; das Haar hatte dieser Mann durch hineingeflochtene Massen von Pflanzenfasern zu einem nach allen Seiten weit abstehenden, den Kopf ellenbreit umgebenden Wulst gestaltet und die Zähne spitz gefeilt. Um Hals und Handgelenke, aus dem Haar, an den Füßen und vom Gürtel starrten die Posen des Stachelschweines, Federn von allen Farben flatterten im Winde und ganze Gehänge von Muscheln klapperten und rasselten bei jeder Bewegung. In der Hand trug der Neger eine Büchse aus Bambus. Seine beiden Begleiter hatten außer den Rudern noch starke eiserne Harpunen.

„Das ist der Zauberer des Stammes,“ erläuterte der Dolmetscher. „Er spielt den Oberpriester im Schlangentempel, den Arzt und nicht selten auch den unmittelbaren Botschafter der Götter, letzteres besonders, wenn auf Befehl derselben dieser oder jener Neger gemaßregelt werden soll. Mit einem Wort, er ist der König des Königs.“

„Aber wo bleibt das Wild?“ rief Franz. „Ich sehe nur Wasser und Menschen.“

„Gleich, gleich,“ beruhigte lächelnd der junge Kaufmann. „Wenn ich es Ihnen erzähle, so ist ja der Spaß verdorben.“

Die Negerboote hatten jetzt einen Kreis gebildet, und in der Mitte befand sich das Fahrzeug des Zauberers. Unsere Freunde sahen aus nächster Nähe, was vorging. Der rotbemalte Neger nahm vom Boden des Kahnes eine große Muschel und begann nach der ohrenzerreißenden, von ihm selbst vollführten Musik dieses wunderlichen Instrumentes einen Tanz, wobei er sich wie rasend auf einem Beine drehte. Die Zieraten rasselten, die Federn flogen und die Spitzen der Posen glänzten im Sonnenlicht wie feurige Reifen, die von allen Seiten den Körper umgaben. Unter den Negern herrschte lautlose Stille.

„Es muß doch ein Krokodil sein,“ raunte Franz, den die Ungeduld fast verzehrte.

„Das hier ist ja alles süßes Wasser, also — —“

„Ach, was thut der Spitzbube jetzt?“

Alle Hälse reckten sich. Der Zauberer hatte Musik und Tanz beendet und nahm nunmehr aus seiner Bambusdose ein Pulver, das er unter fortwährendem Murmeln neben dem Boot ins Wasser streute. Die beiden ihn begleitenden Neger hatten ihre Harpunen handgerecht erfaßt.

„Jetzt geben Sie acht!“ flüsterte der Dolmetscher.

Das stille Wasser begann sich zu kräuseln, leichte Schaumwellen schlugen gegen den Kahn, und vom Grunde herauf leckte eine breite, rote Zunge begierig das Pulver. In diesem Augenblick schüttete der Zauberer den ganzen Inhalt der Büchse aus, und sofort kam ein plumper, schwarzer Kopf mit kleinen Schlitzaugen zum Vorschein. Das Tier stürzte sich, alle Vorsicht vergessend, auf den ihm gespendeten Leckerbissen und schluckte aus allen Kräften; eben so schnell aber hatten auch die Neger ihre Harpunen gehandhabt. Die langen Holzschäfte zitterten und verschwanden ruckartig unter der Oberfläche; das Wasser, dunkelrot gefärbt, schlug hohe Wellen, und von den im Boot befestigten Rollen liefen rauschend die starken Bastseile in die Tiefe hinab.

Ein rasender Beifallssturm ertönte jetzt von allen Booten. Die Neger klatschten in die Hände, trampelten mit den Füßen, jauchzten und schrieen um die Wette. Von allen Seiten stürzten sich schwarze Gestalten in das Wasser und tauchten wie Enten, um die Todeszuckungen des erlegten Tieres zu beobachten; ein lauter Zuruf begrüßte die Spitzen der wiedererscheinenden Harpunen. Nun war das Wild tot und konnte ans Land geschafft und verzehrt werden.

Zehn Hände befestigten unter der Oberfläche des Wassers Schlingen von Bast; der Zauberer saß wieder in seiner früheren unbeweglichen Ruhe, und unter allgemeiner Fröhlichkeit ruderte man dem Dorfe zu.

Das gefangene Tier glitt schwimmend durch die Fluten. Als es an das Ufer gezogen wurde, zeigte sich ein sonderbarer, nur wenigen Gattungen eigener Körperbau. Bei einer Länge von vier Metern und einem Durchmesser von mehr als einem halben Meter war es beinahe zwei Meter breit und spindelförmig gestaltet. Der ungeheure Körper fand sich mit einzelnen straffen Borsten besetzt und war bläulich grau, auf dem Rücken fast schwarz.

„Ein Lamantin!“ rief Holm, „nun erkläre ich mir diese allgemeine Jagdfreude. Die Tierart ist fast ausgestorben; wir können uns Glück wünschen, noch ein Exemplar gesehen zu haben.“

Die vier treulos gewordenen Kruneger fanden sich jetzt auch wieder vor, das Gepäck wurde an’s Land geschafft, und nun konnte man nach Herzenslust ein echtes, wirkliches Negerdorf in Augenschein nehmen. Vorher aber beobachteten die Reisenden, wie das getötete Tier in aller Eile seiner Haut entkleidet und ausgenommen ward. Nachdem das geschehen, drängten sich die Neger schnatternd und schreiend, nicht selten sogar unter Anwendung von Faustschlägen scharenweise herzu, und nach ganz kurzer Zeit lag an der Schlachtstelle nur noch das blutige Gerippe; alles Fleisch dagegen kochte in eisernen, auf drei oder vier zusammengelegten Steinen stehenden Töpfen, und um die fortgeworfenen Eingeweide balgten sich zahlreiche Hunde.

Unsere Freunde wurden in aller Form bewillkommnet. Der alte König, dem schon mehr als ein weißer Reisender vorgestellt sein mochte, empfing sie sitzend mit der ganzen Würde seiner nackten, nur von einem schmalen Lendenschurz verhüllten Persönlichkeit. Er stellte in schwerfälliger Rede das Dorf mit allem, was darin war, den Gästen zur Verfügung und bat sie, jede Hütte als ihr Eigentum zu betrachten. Beim Abschied fragte er aber etwas verstimmt, ob man ihm denn nichts mitgebracht habe. — Und nun kamen die Geschenke zum Vorschein; die Fremden hatten sie nur des Spaßes halber versteckt, um zu sehen, wie weit die königliche Selbstverleugnung gehen würde. Spiegel und Scheren, Metallknöpfe und brennend roter Kattun wanderten in die unersättlichen Hände der schwarzen Majestät, Kopf an Kopf standen im Kreise die Dorfbewohner und schnalzten mit den Zungen oder schlugen sich vor Entzücken auf die Brust, wenn wieder ein neuer glänzender Tand ausgepackt wurde, aber ihr Herr und Gebieter teilte mit keinem, sondern knurrte wie ein angeketteter Vierfüßler, sobald sich nur seine Frauen oder Kinder begehrlich näherten. Als er endlich den letzten Gegenstand hinter sich verborgen, streckte er die Hand aus und bat auch noch um Doktor Boltens Uhrkette. Nachdem ihm aber der Besitzer derselben die daran befindliche Uhr gezeigt und diese an das königliche Ohr gehalten hatte, da veränderte sich die Sache plötzlich. Seine Majestät mochte höchstwahrscheinlich einen solchen lebenden Fetisch früher schon gelegentlich einmal gesehen haben, aber weit davon war doch gut vorm Schuß. Er murmelte noch einige verworrene Laute, dann aber verschwand er hinter einer Matte, vorsichtig mit der schwarzen Hand einen seiner erbeuteten Schätze nach dem andern in das Versteck ziehend.

Unsere Freunde verteilten, nach Herzenslust lachend, draußen noch den Inhalt eines zweiten Packens an das Volk und zwar zumeist an Frauen und Kinder, die sich dafür mit den Gesichtern in den Sand warfen und durchaus den Gästen die Füße küssen wollten.

Nachdem sich der König von seinem jähen Schrecken einigermaßen erholt hatte, schickte er Abgesandte, welche die üblichen Gegengeschenke brachten, Straußfedern, Elfenbein und zum großen Ergötzen der Knaben auch zwei mit Bastseilen gefesselte, hübsche kleine Äffchen, die neugierig und beweglich umhersahen und, als ihnen versuchsweise eine Vorderhand gelöst wurde, sogleich die kräftigsten Ohrfeigen verteilten. Der Dolmetscher wollte sie nach Palma mitnehmen, zumal Holm versicherte, daß sich diese Art sehr leicht zähmen lasse. Möglicherweise konnten ja die drolligen Tiere während der ganzen Reise als unterhaltende Gesellschafter dienen; die Knaben tauften sie wenigstens zu diesem Zweck schon jetzt.

Schwarznase wurde dem älteren der beiden Brüder, Wickelschwanz dem jüngeren zugesprochen. Dieser war der drolligste. An allen vier Händen gefesselt, glaubten ihn die Knaben zur Flucht unfähig, aber ehe sie sich dessen versahen, hatte er den langen Schweif um einen herabhängenden Baumast geschlungen und blickte von dort zähnefletschend auf seine Bändiger hinab. Nach dieser schnellen That erhielt er seinen Namen, und da nun doch auch der andere benannt werden mußte, so hieß man ihn Schwarznase.

Der Dolmetscher hatte einen Neger, welcher geläufig Englisch sprach, an seiner Stelle als weiteren Führer gemietet, und nun nahm er selbst, beladen mit den fürstlichen Geschenken, Abschied, ohne erst den Lamantinbraten kosten zu wollen. „Essen Sie nur nicht zu viel von den schwarzen Kugeln aus Maniokmehl, die hier als Brot gelten,“ warnte er, „dergleichen kann nur ein Negermagen überwinden. Und schlafen Sie unter keinen Umständen auf dem Erdboden, trinken Sie auch kein Wasser, ohne etwas Chinin hinterher zu nehmen.“

Nachdem man versprochen, alle diese Anordnungen pünktlich zu befolgen, ruderten ein paar Neger den jungen Hamburger wieder über die Lagune zurück. Das Boot der „Hammonia“ sollte in Palma liegen bleiben und die aus Lagos mitgebrachten Kruneger den kleinen Zug als Gepäckträger begleiten. Es war den Reisenden ein etwas seltsames Gefühl, als sie nun unter der schwarzen Horde im afrikanischen Urwalde allein blieben, aber dem ließ sich doch bei dem ganzen Unternehmen nicht aus dem Wege gehen und mußte daher überwunden werden. Überdies war auch das Verhalten der Neger ein durchaus vertrauenerweckendes, freundliches. Sie kamen von allen Seiten mit dampfenden Fleischstücken herbei, brachten das kugelförmige Maniokbrot und noch verschiedene landesübliche Gerichte außerdem, die zum Teil gar nicht schlecht schmeckten, so z. B. halbreife Maiskörner, unzerquetscht mit Fett, Pfeffer und Salz geschmort, Bataten, Melonen und ein Getränk wie Kaffee aus den Früchten der Kolanuß.

Die vier Weißen saßen auf ihren mitgebrachten Schlafdecken unter den wogenden Kronen der großen, vielgestaltigen Waldbäume, deren Arten nicht zu zählen waren, und in deren Blättergewirre die verschiedensten Vögel ihre Nester bauten. Papageien, besonders der schöne aschgraue mit purpurnen Schwanzfedern, die prachtvollen Whaidafinken, deren Schweif sechsmal so lang ist wie der Vogel selbst, Mandelkrähen mit blauem Gefieder, Bienenfresser und Halmvögel, alles rauschte und schwirrte durcheinander; dazwischen stolzierten zahme Perlhühner, und ringsum blühte es in nie gesehener Schöne.

Unsere Freunde führten natürlich Blechteller, Löffel, Messer, und Gabel mit sich, sonst hätten sie wie die Wilden das Fleisch mittels der Zähne zerreißen und es aus dem Kochtopf weg ohne Teller verzehren müssen. Der Manati schmeckte leidlich, fast wie ein feiner Schweinebraten, desto weniger aber wollten die Maniokkugeln munden. Bleischwer, noch feucht, ohne Fett oder Hefe gebacken, glichen sie rohem, festen Teig und wurden daher dankend abgelehnt. Die in Blechbüchsen von Hamburg mitgebrachten Cakes schmeckten denn doch besser.

„Warum wohl die Neger über den Lamantin so begierig herfielen?“ fragte Hans. „Ein besonderer Leckerbissen ist er keineswegs?“

„Für uns,“ versetzte Holm, „aber für die Neger ist alles Fleisch ein Leckerbissen. Sie betreiben keine Landwirtschaft, also gibt es auch kein Schlachtvieh. Das, was an genießbarem Wild frei herumläuft, verzehren größtenteils die Raubtiere; es bleiben den Menschen daher nur die Affen, deren zähes Fleisch einen außerordentlich schlechten Braten gibt. Bisweilen steigt die Not so sehr, daß eine schreckliche Krankheit, der Guambo oder Fleischhunger, sich der Unglücklichen bemächtigt; sie werden tiefsinnig und fallen über Tiere her, um sie roh zu verzehren. Viele Gelehrte behaupten, daß daraus die ersten Anfänge des Menschenfressens entstanden sind.“

„Findet man denn auch den Lamantin nur selten?“ fragte Franz.

„Sehr selten. Die Gattung der Fischsäugetiere besitzt in der Familie der Seekühe oder Sirenen einen aussterbenden Zweig. Lamantin und Dugong werden noch zuweilen, das Borkentier gar nicht mehr angetroffen. Dieser Seeriese wurde acht Meter lang und lieferte, an den Grenzen des Eismeeres lebend, den Walfischfahrern einen so vortrefflichen, frischen Braten, daß er ausgerottet worden ist. — Dabei fällt mir übrigens ein, daß ich den Zauberer doch um ein wenig von seinem Pulver bitten will. Was bieten wir ihm nur als Tauschmittel?“

„Ein Rasiermesser!“ riet Hans. „Niemand trägt hier einen Bart, daher sind alle diese Messer übrig geblieben.“

„Eine Pistole,“ meinte Franz. „Dann thut er es sicher.“

„Aber er schießt vielleicht später auf uns selbst,“ zögerte Holm, „alle diese schwarzen Kerle sind falsch oder wenigstens doch unzuverlässig.“

„Ich habe es!“ rief Doktor Bolten. „Ein Hundehalsband aus Messingdraht mit kleinen Glocken, das kann er zur Erhöhung seines Ansehens persönlich tragen.“

Alle lachten, und nun wurde das Dorf besichtigt, um die Höhle des Zauberers zu finden. Sämtliche Bambushütten ruhten etwa einen halben Meter hoch über dem Erdboden auf Pfählen, waren spitz wie Bienenkörbe, mit Pflanzenfasern nach Art deutscher Bauernhäuser gedeckt, fensterlos und mit einer niedrigen, zum Kriechen eingerichteten Thür versehen. Eng gedrängt in ununterbrochener Reihe lagen diese elenden Wohnstätten nebeneinander und bildeten zusammen ein geschlossenes Viereck, dem kein Feind vom Rücken her sich nähern konnte.

Vor jeder Thür lagen Feldsteine zum Gebrauch als Feuerherd, und an den untersten Baumzweigen hing eine Art von aufgeklappter, einem Feigenkorb ähnlicher Matte, — die Wiege der schwarzen Säuglinge, deren lautes Geschrei erst den Reisenden das Geheimnis verriet. In den Hütten selbst waren nirgends Mobilien zu finden, nur ein Lager aus trocknen Bambusblättern und ein ausgehöhlter Kürbis, als Wassereimer dienend.

Der schwarze Dolmetscher schüttelte zweifelnd den Kopf. Er glaubte nicht, daß es gelingen werde, den Zauberer zur Herausgabe seines Mittels zu bewegen, aber er fragte nach der Hütte desselben und führte dann die Gäste dorthin. Am äußersten Ende der ganzen Reihe stand ein etwas größeres Gebäude, das nach allen Seiten offen, nur von Pfeilern getragen wurde, und dessen Dach nicht so steil herabging. Ein seitwärts belegener Anbau erwies sich als die Behausung des Zauberers, das offene Rondell aber war der Tempel. An den Wänden standen Fetische aus Holz, Elfenbein und Thon, sämtlich Tier- oder Menschenbilder in zwerghafter Form und mit der bekannten, keinem heidnischen Götzen fehlenden, scheußlichen Fratze; es waren aber auch lebende, als göttlich verehrte Wesen vorhanden und zwar Schlangen sonder Zahl. An den Wänden, um die Pfeiler geringelt, unter dem Dach, auf dem Fußboden und den nächsten Baumzweigen, überall kroch und schlüpfte es, hatte sich sogar um die Fetische geringelt oder lag zusammengerollt wie eine schleimige Masse im Winkel.

Aus der niederen Thür sah das verschmitzte Gesicht des Zauberers. Er streckte den Ankömmlingen gebieterisch die Rechte entgegen und rief ein befehlendes Wort, natürlich das Verbot, den Tempel zu betreten; das verstanden alle.

„War wahrhaftig nicht nötig!“ sagte lebhaft Doktor Bolten. „Man hätte Lust, das Schlangengezücht mit dem Absatz zu zertreten.“

„Giftige sind nicht darunter,“ versicherte der Dolmetscher. „Sie werden gleich sehen, daß sich die Tiere um des Zauberers ganzen Körper ringeln.“

S. 12.

Beim schwarzen Zauberer.
„An den Wänden, um die Pfeiler geringelt, unter dem Dach, auf dem Fußboden und den nächsten Baumzweigen, überall kroch und schlüpfte es ...“

Er rief nun den listigen Patron aus seiner Hütte hervor und sobald dieser kam, krochen ihm die Schlangen überall an den nackten Gliedern empor, legten sich um Hals und Arme, hingen in den Stacheln des Gürtels und bedeckten förmlich die schwarzen Beine, ohne dadurch den Neger aus seiner künstlich angenommenen Würde irgendwie herausschrecken zu können. Er fragte, was die Weißen von ihm verlangten, und nachdem er es erfahren, schüttelte er den Kopf. „Nein, durchaus nicht. Das Zauberpulver wollte er behalten.“

Dann aber kam das Lockmittel zum Vorschein. Franz nahm den Strohhut ab und setzte sich das Hundehalsband auf den Kopf. Die kleinen Glöckchen klangen lustig.

Der Schwarze reckte den Hals. Erst bot er Pfeffer, Palmöl und Elfenbein, als aber alles verschmäht und zugleich das begehrte Band wieder in die Tasche spediert wurde, da kroch er trotz Schlangen und rasselndem Muschelputz eilends in das Innere der Höhle und kam gleich darauf mit der Bambusdose zurück. Der Dolmetscher mußte den Tausch vermitteln, und nun wurde die niedere Thür der Wohnung auffallend schnell geschlossen. Es schien als fürchte er, daß die Weißen den Handel bereuen könnten.

Holm steckte sehr erfreut die Büchse zu sich. „Jetzt müssen wir beraten, wo unser Nachtlager aufgeschlagen werden soll,“ sagte er, „hier im Dorfe oder im freien Walde. Was meint ihr dazu? Ich bin dafür, daß wir einen Ausflug machen und dann zurückkehren, um unsere Matten an diese Bäume zu hängen.“

Alle stimmten bei, und so ließ man denn einen der Neger mit dem Gepäck im Dorfe zurück, nahm nur etwas Lebensmittel und machte sich auf den Weg, tiefer und tiefer in den Urwald hinein.

„Jetzt denkt daran, eure Kapseln und Behälter zu füllen,“ ermahnte Holm. „Einer sammelt Pflanzen und der andere Insekten. Die Gewehre schußfertig.“

„Aber wenn uns ein Löwe begegnet!“ rief Hans, dem doch in so weiter Entfernung von der Küste etwas zaghaft zu Sinn wurde. „Dann sind wir alle verloren.“

„Löwen gibt es im äquatorialen Afrika nicht, Hänschen. Nur rechts und links von diesem mittleren Erdgürtel werden sie angetroffen, — in Sierra Leone sehen wir vielleicht späterhin den König der Tiere.“

Man schritt vorwärts, bis plötzlich ein Ausruf des Erstaunens die Schritte hemmte. Vor den Reisenden erhob sich ein Baum von sonderbarem Aussehen. Kein grünes Blatt war zu bemerken, keine Frucht und in den Zweigen nicht das mindeste Leben. Wie mit schwarzgrauen, starren Klumpen bedeckt, stand der Riese inmitten seiner grünenden, farbenprangenden Umgebung da.

Der Dolmetscher nahm das Gewehr und feuerte mitten in die anscheinend kahlen Äste hinein. Was nun folgte, läßt sich kaum beschreiben. Tausende und abertausende von Fledermäusen schwirrten empor, etliche fielen tot oder verwundet auf den Boden, die Luft schien im Augenblick beinahe verfinstert von all diesen Flügelschlägen, und als sich die unheimliche Sippschaft entfernte, da stand der Baum völlig abgestorben da. Die Knaben sammelten einige der verendeten Fledermäuse, aber Holm wollte kein Exemplar ausstopfen. „Es ist die gewöhnliche Art,“ sagte er, „nur hier etwas größer wie bei uns im Norden. Wir werden für das Museum zu Hause in Hamburg schon noch einen echten Vampyr auftreiben.“

Man ging weiter und blieb bald hier stehen, bald dort. Von einem Zweige, der unvorsichtig berührt wurde, fielen prachtvolle, purpurrote Blüten, fein wie Haare, auf den Hals und das Gesicht des jüngeren Knaben herab. Hans schrie, als werde er gespießt. „Ich verbrenne! ich verbrenne!“

Das waren Dolichesranken, ein wundervoller Baumschmuck, so farbenreich wie wenige andere, aber auch eben so heimtückisch als schön. Die getroffenen Hautstellen schwollen an wie von der Berührung unserer Brennessel und empfanden dabei ein quälendes, schmerzendes Jucken, dem indessen die Neger einigermaßen abzuhelfen wußten. Sie zerquetschten eine breitblätterige, hellgrüne Pflanze und legten die Masse auf Hände und Nacken des Knaben, der denn auch mannhaft den Schmerz verbiß und sogar mit dem Taschentuch eine Ranke des verräterischen Gewächses behutsam pflückte und in die Trommel legte, nachdem er sie für sich in festes, dünnes Papier eingewickelt hatte, damit ihre Brennhaare sich nicht unter die noch zu sammelnden Pflanzen mischten.

Franz hatte während dieser Zeit einige große, prachtvolle Schmetterlinge eingefangen, die er in viereckige Schachteln that, jetzt hielt er zwischen den Fingern einen rotbraunen Käfer von etwa anderthalb Zentimeter Länge. Das kleine Geschöpf hatte hinten am Körper ein paar respektable Kneipzangen und strampelte außerordentlich, um seine Freiheit wieder zu gewinnen. „Karl,“ rief er, „wie heißt der Bursche?“

Einer der Neger hatte das Tier gesehen. Sein durchdringender Schreckensruf lockte die anderen herbei und veranlaßte sie zu gleichen Äußerungen des Entsetzens. Die kindische, unselbständige, ratlose Natur der schwarzen Menschenrasse trat blitzschnell zu Tage, indem einer der Neger hierhin sprang, der andere dorthin, aber alle sinnlos, zitternd, wie aufgeschreckte Schafe, wenn der Wolf in die Hürde eingebrochen ist. „Baschikuays!“ schrien sie jämmerlich lamentierend und heulend, „Baschikuays!“

Franz hatte im ersten Schrecken den für giftig gehaltenen Käfer fallen lassen, Holm aber suchte ihn wieder auf und schien nun selbst etwas bedenklich auszusehen. „Ein Heerwurm!“ rief er, „aber möglicherweise war das Tier versprengt.“

Der Dolmetscher schüttelte den Kopf. „Das kommt bei den Baschikuays nie vor, Sir! Der Heerwurm ist in der Nähe, und wenn er zufällig auf seiner Wanderung einen Kreis beschreibt, so sind wir verloren.“

„Aber man klettert in diesem Fall auf die Bäume!“

„Das können Sie nicht, Sir. Der Zug hat eine Länge von zwölf bis zwanzig Stunden und ist zu breit, um ihn zu überspringen.“

„So wollen wir die Sache untersuchen, aber doch nicht gleich den Mut verlieren!“ rief Holm. „Gehen die Baschikuays über das Wasser?“

„Nie!“ versicherten einstimmig die Neger.

„Gut, so halten wir uns am Rande dieses Flüßchens. Kommt uns dann der Heerwurm auf einer Seite entgegen, so waten wir hinüber auf die andere.“

Er sprang bei diesen Worten voran auf einen schmalen Fußweg, den Bäume und Gesträuch fast verdeckten. „Mir nach,“ rief er, „die Sache muß sich ja doch in ganz kurzer Zeit ausweisen.“

Er hatte kaum die Worte gesprochen, als schon einer der Neger jubelnd auf das andere Ufer hinüber deutete und vor Vergnügen hüpfte und tanzte. Unsere Freunde sahen nun ganz aus der Nähe das gefürchtete Ungeheuer aufmarschieren. In einer Breite von wenigstens fünf Fuß wälzte der Heerwurm seine braunen Massen heran. Solche Käfer, wie einer durch irgend einen Zufall, wahrscheinlich indem ihn ein Vogel herübergetragen, in Franzens Hände gelangt war, wanderten zu vielen Millionen in gerader Linie vorwärts. Dabei waren die Reihen so dicht bevölkert, daß man vom Erdboden nichts sah, und die einzelnen Glieder hielten sich in streng geschlossener Form. Zu beiden Seiten des Zuges gingen in bestimmten Entfernungen je zwei der größten Exemplare dieser Tiere, gewissermaßen wie Offiziere und Häuptlinge, und ganz inmitten der Reihen sah man Geschöpfe von hellerer Farbe, vermutlich also der junge Nachwuchs.

„Und davor ergreift ihr das Hasenpanier?“ rief Franz. „Was ist es denn mit diesen harmlos aussehenden Tieren?“

„Geben Sie acht!“ rief der Dolmetscher, indem er aus seiner Basttasche eine der getöteten Fledermäuse hervorzog und mit schneller Bewegung über den Fluß warf. „In einer Minute wird nur noch das Skelett übrig sein.“

Alle sahen gespannten Blickes auf die Stelle, wo sich eben der Knäuel für kurze Zeit sammelte, die braunen Gesellen schossen neben und über einander her, es entstand eine Art von Getümmel oder Kampf, und dann wurde eine weiße Masse aus den Reihen hinausgedrängt, — der Zug ordnete sich und marschierte weiter.

Einer der Neger sprang ins Wasser, watete hinüber und ergriff vorsichtig die abgenagte Fledermaus. Nur das Knochengerüst war zurückgeblieben, nicht eine einzige Fleischfaser hing mehr daran.

„So ergeht es allen lebenden oder toten Geschöpfen, welche diesem Heerwurm in den Weg kommen und ihm nicht ausweichen können,“ erläuterte Holm. „Selbst Elefanten werden von den blutgierigen Käfern angefallen und durch Hineinkriechen in den Rüssel vor Schmerz rasend gemacht. Wirft sich dann das riesige Tier, um seinen Qualen zu entgehen, ins Gras, so nehmen Legionen der winzigen Gegner von dem gestürzten Koloß Besitz, und in längerer oder kürzerer Zeit wird auch er skelettiert. Menschen, die z. B. im Schlafe von dem Heerwurm überfallen werden, sind verloren, wenn es ihnen nicht gelingt, ihre Kleider rechtzeitig abzuwerfen und, wie sie Gott geschaffen hat, zu flüchten. Dreht sich die furchtbare Kette, durch Hindernisse gezwungen, zufällig im Kreise, so gibt es daraus kein Entrinnen. Sechs bis acht dieser Geschöpfe auf der bloßen Haut genügen, um ein lebendes Wesen zur Verzweiflung zu bringen.“

„Und die greulichen Gesellen fressen nur Fleisch?“ fragte Franz.

„Alle Lebensmittel überhaupt. Eine verwandte Art dagegen zieht das trockene Holz und namentlich das Papier vor. Ganze Bambusgebäude, Bücherkisten und Möbeln verschwinden über Nacht. Diese letztere Sorte bildet die euch dem Namen nach bekannten Termiten, sie marschiert auch in Zügen, aber nur während der Dunkelheit und unter der Erde, indem sie maulwurfsartige Gänge aufwirft. Ferner lebt in den Blättern niederer Bäume eine rote Art, die sich in ganzen Wolken herabfallen läßt, und im Sande eine graue, die von unten her ihr Opfer angreift. Zu dieser entsetzlichen Familie gehört auch die bei uns in Europa leider neuerdings wieder aufgetauchte Wanderheuschrecke. — Termitenbauten möchte ich übrigens doch gern in Augenschein nehmen,“ setzte er hinzu. „Achilles, gibt es hier herum dergleichen?“

Der Dolmetscher nickte. „Es ist ein ganzes unbewohntes Termitendorf in der Nähe, Sir,“ versetzte er. „Wir können es in einer Stunde erreichen.“

„In Papas Museum sind übrigens auch solche Bauten!“ warf Franz ein. „Hast du sie nicht gesehen, Karl?“

„O ja, mein Lieber, aber ebensogut könntest du einen Riesen und einen Zwerg ohne weiteres vergleichen, indem du beide einfach Menschen nennst. Die Exemplare von Termitenbauten, welche Papas Kapitäne ihm für sein Museum aus Afrika mitgebracht haben, sind vielleicht so groß wie ein Wassereimer, die völlig fertigen, bewohnt gewesenen Höhlen dagegen sind höher, geräumiger und besser erbaut als Negerhütten.“

„Man könnte also ordentlich hineingehen?“ riefen voll Neugier die Knaben.

„Das natürlich nicht, ihr Voreiligen! Die Termiten haben sämtliche Gänge für den eigenen Bedarf, aber weniger für die Höhe junger, wissensdurstiger Naturforscher eingerichtet.“

„Freund Achilles,“ setzte er gegen den Dolmetscher hinzu, „könnten Sie mir einen jener Generale, die dort an den Seiten des Zuges marschieren, herüberlangen? Ein recht großes Exemplar möchte ich gern haben und ein unausgewachsenes Junges außerdem.“

Man blieb an geeigneter Stelle stehen, und der Neger brachte zuerst einen der stattlichsten Braunröcke, ein Tier von 1½ Zentimeter Länge; dann aber mußte er, um ein Junges zu erreichen, in die Mitte des Zuges hineingreifen, und das konnte er nur, indem er auf den äußersten Rand der lebenden Masse trat. Binnen Sekunden war das unbekleidete Bein bis zum Knie mit den blutsaugenden Geschöpfen bedeckt, eben so schnell aber tauchte der Neger das gefährdete Glied ins Wasser und entledigte sich dadurch der sofort verendenden Quälgeister. Ohne die mindeste Unterbrechung, geräuschlos, unabsehbar wanderte mit Milliarden von Füßen der scheußliche Heerwurm. Die eingefangenen Exemplare wanderten in ein weithalsiges, halb mit starkem Spiritus gefülltes Glas, in welchem sie nach wenigen Zuckungen verendeten.

Unsere kleine Reisegesellschaft brach auf. Wenn das nahe Termitendorf besehen war, so mußte man den Heimweg antreten, um noch vor Nacht wieder bei den Negerhütten zu sein. Erst morgen sollte ein größerer Ausflug in aller Frühe unternommen werden.

Eine weite Lichtung dehnte sich vor den Blicken, ordentlich wohlthuend nach soviel undurchdringlichem Gewirre von Stämmen und Ranken, Blumen und Gebüsch, aber ungleich heißer freilich als unter dem Blätterdach. „O was doch der Schatten thut!“ rief Hans.

„Freilich, mein lieber Junge,“ lächelte Holm. „Die Pflanzen wehren den Sonnenstrahlen, so daß nur ein Bruchteil bis auf den Boden gelangt. Das ist das Geheimnis der Waldkühle und zugleich das der regenlosen Gegenden, wie z. B. der Wüste Gobi, der Kergueleninsel und anderer Landstrecken. Die bewaldeten Höhenzüge stehlen dem Wind alle und jede Feuchtigkeit, so daß er auf der entgegengesetzten Seite völlig trocken ankommt. Ich will euch — —“

Ein gellender Schrei, ein Rauschen und Krachen in den nächsten Zweigen unterbrach plötzlich die angefangene Rede. Papageien flogen kreischend in die höchsten Spitzen der Bäume, Früchte, dürre Äste und Schalen prasselten, offenbar als Geschosse verwendet, auf den Boden herab, und eine Schar ganz kleiner Affen floh behende über die Wipfel dahin. Einen Augenblick schien es, als husche an einem der Stämme ein dunkles, seltsam gestreiftes und geflecktes größeres Tier hinauf, dann war im Augenblick alles still.

„Schleichkatzen!“ sagten die Neger, „Virenen!“ und darauf umringten sie von mehreren Seiten den Baum, indem zugleich die Weißen mit geladenen Gewehren Posto faßten und alles, was ihre Führer thaten, scharf beobachteten.

„Ein Jagd in aller Form!“ flüsterte Doktor Bolten. „Wer hätte gedacht, daß man in seinen alten Tagen noch am Äquator Zibetkatzen schießen würde!“

„Pst! Klang das nicht ganz wie Kindergeschrei?“

„Die jungen Kätzchen sind also in unmittelbarer Nähe!“ raunte Holm. „Auf, ihr beiden, sucht das Nest!“

Mit Mühe einen lauten Jubelschrei unterdrückend, verschwanden die Knaben am Rande des Unterholzes, und nun wurde minutenlang alles so totenstill, daß man sein eigenes Herz schlagen hörte und das leichte Flüstern der Blätter im Winde.

Achilles schlich an den Doktor heran, zwei Finger auf die Lippen gelegt und so leise, als sei er selbst ein Kater, der das Wild überrumpeln wolle. Die anderen Neger folgten ihm. „Pythonschlange!“ hauchte er. „Dort!“

Aller Blicke folgten dem ausgestreckten Finger. Durch das meterhohe, üppig wachsende Gras der Lichtung wand sich’s braunschillernd, gelbgefleckt mit schuppigen Ringeln dahin, wenigstens zehn Meter lang und vom Durchmesser eines tüchtigen Baumstammes. Lautlos glitt die Schlange bis an den Stamm, darauf die Zibetkatze saß, und begann denselben zu umschlingen, indem sie sich dabei auf die Stummelfüße des Schwanzes stützte. Ein Schnaufen und Prusten der überlisteten Katze bewies, wie sehr sich das Tier fürchtete. — Die nächsten, stärkeren Zweige konnte es springend nicht erreichen, an den Erdboden gelangen auch nicht; was blieb ihm also übrig, als widerstandslos auszuharren, bis sein Körper durch die kalten, glatten Schlangenglieder umstrickt und ihm alle Knochen im Leibe zerbrochen sein würden?

„Wollen wir die Schlange erobern oder die Katze?“ fragte Doktor Bolten. „Eins ist nur denkbar!“

„Die Bälge beider Tiere,“ gab Holm zurück. „Die Schlangen können ihre Beute nicht kauen, sondern verschlucken sie ganz. Wenn die Katze zermalmt, mit Geifer überzogen und verschlungen ist, läßt sich die Schlange träge herabsinken und leicht durch einen Schuß in den Kopf töten.“

Wieder wurde alles still, nur ein Angstschrei aus den Zweigen gellte zuweilen herab, und einige Papageiennester mit Eiern oder erwürgten, halbflüggen Jungen fielen ins Gras. Dann aber folgte ein Knirschen und Krachen, der ganze Baum zitterte unter den heftigen Bewegungen da oben, und endlich sank die Schlange unförmlich angeschwollen wie ein Klumpen auf den Boden herab.

Ehe einer der Männer Zeit bekam, das Gewehr an die Wange zu legen, krachte von der Seite her ein Schuß, und Franz sprang mit lautem Hurra der erlegten Riesin näher, um durch einen Kolbenschlag sein Werk zu vollenden, — Holm konnte ihm kaum zur rechten Zeit in den Arm fallen. „Um des Himmels willen nicht, du tapferer Nimrod!“ rief er. „Ich will ja die Bestie für das Museum ausstopfen, also muß mir der Kopf heil bleiben.“

„Ihr Teil hat sie!“ nickte der Doktor. „Die wütenden Schwanzschläge verraten es.“

„Aber wo ist Hans?“ rief in diesem Augenblick der junge Naturforscher. „Mein Himmel, er wird doch nicht“ —

„Hier!“ antwortete die Stimme des jüngeren Knaben. „Hier!“

Und Hans trat aus dem Gebüsch hervor, in jedem Arm ein spielendes, braunfleckiges Kätzchen, das er fest an die Brust drückte. „Du darfst sie nicht töten, Vetter Karl,“ rief er, „ich habe sie gefunden und kann es nicht sehen, daß ihnen ein Leides geschieht!“

Der junge Gelehrte lachte. „Bewahre,“ rief er, „Hans, wohin denkst du? Die sollen mit hoffentlich noch manchem anderen Tropenbewohner als Erinnerung an die wissenschaftliche Reise des Naturforscherschiffes den Hamburger Zoologischen Garten verherrlichen helfen. Wir nehmen alles hier Erbeutete, lebende oder tote Schätze, mit nach Lagos und schicken es von da durch den nächsten Postdampfer nach Hause. Papa wird sich freuen, wenn für die großen Kosten dieses Unternehmens schon so bald Erfolge einlaufen.“

Die beiden niedlichen Kätzchen gingen von Hand zu Hand. Sie waren noch sehr jung, konnten nicht essen und nicht so recht laufen, daher verursachte es wenig Schwierigkeit, sie fortzubringen. In dem Lendentuch des einen Negers, der es hier im Urwalde mit der üblichen Sitte der Bekleidung nicht so genau nahm, wurden sie weich gebettet, und während nun die Schwarzen sich daran machten, die unterdes verendete Schlange abzuhäuten und auch die alte Zibetkatze wieder ans Tageslicht zu befördern, gingen die vier Weißen mit dem Dolmetscher über die Lichtung, dem nahe belegenen Termitendorfe zu. Als man den zerstreut liegenden Pyramiden bis auf wenige Schritte gegenüberstand, erhoben sich aus dem Gebüsch mehrere kleine, zwerghafte Gestalten von gelbgrauer Farbe, nur einen bis anderthalb Meter hoch, kränklich aussehend und vollkommen unbekleidet, von erschreckender Häßlichkeit. Sie streckten mit einer Art von Bettlergebärde und kläglich wimmerndem Tone den Schwarzen sowohl wie den Weißen ihre Hände entgegen.

„Zwerge!“ rief voll Erstaunen der Doktor. „Es ist also doch wahr, daß im Innern Afrikas ganze Zwergvölker leben.“

Achilles mußte nun die kleinen, schmutzigen Menschen ausfragen, und was er erfuhr, war folgendes. Die Zwerge nannten sich Obongos, sprachen von ihren Verwandten, den Akkas und Dokos, aber sie hatten, so lange sie lebten, nie ein Dorf bewohnt, einen König gehabt oder zu ihrem Lebensunterhalt durch Arbeit das Geringste beigetragen, ja sie waren daran gewöhnt, auf Bäumen zu schlafen und ohne alle Kleidung einherzugehen. Ihre Nahrung bestand aus Wurzeln, Beeren und Heuschrecken, die roh in zerquetschtem Zustande verzehrt wurden.

„Ob es viele von ihnen gebe?“ fragte begierig der Doktor durch den Mund des Dolmetschers.

Sie schüttelten die Köpfe, und ihre trübseligen Mienen wurden immer trübseliger. Die Sonne versank unzählige Male, bevor sie in den Wäldern einen einzigen ihrer Brüder antrafen.

Man schenkte ihnen von den mitgebrachten Cakes und Fleisch und sah dann die kleinen Gestalten wie in den Boden hinein verschwinden. Diese ganze Art stand offenbar auf der niedrigsten Stufe menschlicher Entwickelung.

Jetzt waren auch die Termitenbauten erreicht. Schwarze, spitze Hütten, an den Außenseiten vielfach höckerig und wie mit Stufen, zahllosen Einschnitten und Erhöhungen versehen, so zeigten sie sich den Beschauern, die vergeblich versuchten, mittels ihrer Messer Stücke dieser Wände loszubrechen. Das Gemäuer war von fester Thonerde, und erst als Franz einen schweren Stein aufhob und ihn gegen die höchste Spitze warf, fiel ein schwarzer Klumpen zu Boden. Inwendig zeigten sich solche Gänge oder Rinnen, wie man sie als die Zerstörungswege der Maden im Käse kennt, natürlich nur bedeutend breiter.

Die Beute wurde der anderen zugefügt, und dann wanderte man dem Saume des Waldes wieder zu. Die schillernde Schlangenhaut sowohl als auch der Balg der Zibetkatze lagen schon zum Trocknen auf dem Rasen und waren nach Holms zufriedener Bestätigung wie vom besten Kürschner abgezogen worden. Das Fell des Raubtieres hatte eine schöne graue Grundfarbe mit launenhaft und unregelmäßig darüber hergestreuten schwarzen Flecken und Streifen; es zeigte die starke, schwarze Rückenmähne, den spitzen Kopf und den schlanken Körperbau der Gattung und maß von der Schnauze bis zur Schwanzspitze etwas mehr als einen Meter. Holm sagte, daß man eine afrikanische, eine amerikanische und eine asiatische Zibetkatze kenne, ebenso eine sehr selten gefundene europäische, und daß diese Tiere den in der Medizin bekannten Zibet lieferten. Die Nubier und Abessinier zähmen sie und drücken ihr wöchentlich zweimal den in einer Blase am Bauch befindlichen Zibet heraus, — in der Freiheit thut es das Tier selbst.

Mit Schlangenhaut, Balg und Kätzchen beladen, wanderte die Jagdgesellschaft zum Dorf zurück, nicht ohne jenseits des Baches nochmals den braunen Heerwurm ziehen zu sehen. Gottlob ließ er die Negerhütten weit links liegen.

Als man ankam, war die Sonne fast versunken, und um das Dorf herum lagerte eigentümliche Stille. Alle Feuer schienen erloschen, alle Bastvorhänge waren geschlossen und auf den Straßen niemand zu sehen, obgleich noch die letzten Sonnenstrahlen den Waldrand umsäumten. „Wie kommt das?“ fragte Holm.

Die Neger thaten sehr geheimnisvoll. „Ilogo!“ flüsterten sie und beeilten sich, so rasch als möglich die Hängematten der Weißen an den Bäumen zu befestigen. Dann waren sie über alle Berge, und kein Rufen oder Bitten brachte sie zurück.

Die Weißen sahen einander erwartungsvoll an. Was mochte jetzt bevorstehen und was konnte das Wort „Ilogo“ bedeuten?

Sie sollten es sehr bald erfahren. Immer tiefer senkte sich die Nacht, am Himmel glänzte mit hellem Schein der Vollmond und weiß und silbern lag auf den Hütten das milde Licht. Aus der Wohnung des Königs hervor trat in diesem Augenblick ein Mann, dessen schwarzer Körper vom Kopf bis zu den Füßen mit abwechselnd weißen und roten runden Flecken übermalt war. Die Arme gekreuzt, den Kopf zurückgebeugt und die Blicke zum Himmel erhoben, so begann der schwarze Monarch langsam die Dorfstraße hinabzutanzen. Kein Laut begleitete dies sonderbare Vornehmen, tiefe Totenstille lag auf der ganzen Umgebung, und selbst unsere Freunde unterhielten sich nur flüsternd. Was da der arme, unwissende Neger that, das war zwar für den ersten Anblick komisch genug, aber trotzdem schimmerte immer hindurch eine Ahnung von höheren Gewalten, der er diesen seltsamen Ausdruck verlieh.

„Alle Naturerscheinungen finden unter diesen Heidenvölkern göttliche Verehrung,“ belehrte der Doktor. „Die für böse gehaltenen werden gefürchtet, und die guten denkt man sich gewissermaßen wie Heilige. Gott selbst heißt: „Mawu“, der Himmel „Osi“, die Sternschnuppen „Nyikpla“, der Blitz „Nebroso“, der Donner „Agtui“, die Erde „Anyigba“, die Luft „Thama“ und endlich der Fürst der Finsternis „Abosam“. — Ilogo wird also wohl der Mond sein; ich finde diese Art von Naturkultus zum mindesten poetischer als die Anbetung von Götzenbildern. Ist er nicht eine ‚Stimme von oben‘, der alte lächelnde Geselle, dessen Rund jetzt über der Villa eurer Eltern in Dockenhuden ebenso hell glänzt wie hier unter dem Äquator, Tausende von Meilen weit?“

„Oder auch tief unter grauen, nordischen Wolken versteckt ist,“ sagte etwas erzwungen der junge Gelehrte, und damit war glücklich die ernst gewordene Stimmung verscheucht. Man schlief, als der tanzende König den Blicken entschwunden war, sanft von linden Lüften geschaukelt, ruhig und ungestört bis an den hellen Morgen.

Hans erkundigte sich, sobald er aufgestanden, d. h. fünf Fuß tief auf den Erdboden hinabgesprungen war, zuerst nach seinen Kätzchen. Achilles hatte sie einer säugenden Hündin in die Mutterpfoten gelegt, und hier teilten sie brüderlich mit einer Schar krabbelnder, noch blinder Hündchen, ihren Erzfeinden, die labende Milch; der jugendliche Eigentümer wußte also seine Jagdbeute vollkommen in Sicherheit und konnte sich mit Muße anderen Angelegenheiten widmen, namentlich der komischen Verzweiflung des Doktors, welcher Kaffee, Handtücher und warmes Wasser äußerst schmerzlich vermißte. Den Trank der Kolanuß erklärte er für Lehmwasser und die Maniokkugeln für Steine; erst als der grüne Wald ihn wieder umgab, und der Blick des Botanikers in ihm so viele neue Schätze entdeckte, da taute er auf. Heute sollte das Mittagsmahl aus eigenen Vorräten im Freien gehalten werden, man wollte den ganzen Tag jagen und hatte noch zu aller Vorsicht ein halbes Dutzend Neger mehr mitgenommen. Der Ausflug versprach daher eine Reihe von Genüssen, vielleicht auch von Gefahren, aber das schreckte nicht. Wer eine wissenschaftliche Weltreise mitmachte, der mußte die Furcht zu Hause lassen.

Heute ging es nach völlig veränderter Richtung vorwärts; man wandte sich einer schilfumwachsenen Sumpffläche zu, und zwar um womöglich ein paar Krokodile aus der Nähe zu sehen. Hier war nun zum erstenmale der wirkliche Urwald zu durchklettern. Schönheit überall, mehr Formenfülle und Farbenpracht als sonst irgendwo bei einander sind, aber dafür nirgends jener majestätische, ruhige Zauber des deutschen Hochwaldes. Aus ungezählten Baumarten bestehend, hier hoch, dort niedrig, hier mit breiten, dunklen, lederartigen Blättern, dort hellgrün und kraus wie Riesenfarne im ersten Frühlingsschmuck, so erglänzte das Laub in allen erdenklichen Schattierungen. Orchideen mit ihren zierlichen Luftwurzeln, purpurrot und violett, die Blütentrauben der Fuchsie, Magnolien, ungeheure Lilien und Kommelinen, alles kletterte von Stamme zu Stamm, schaukelte in den Lüften und hing wie ein dichter, bunter Teppich, von den Ästen herab. Tausend kleine Singvögel schwirrten dazwischen, alle Farben glänzten im Sonnenlicht, alle Formen zeigten die reiche tropische Vollentfaltung.

Besonders erschwerten die überall zu Tage tretenden Luftwurzeln das Gehen. So ein einziger Armleuchter-Pandang verursachte für sich allein einen weiten Umweg. Etwa zwei Meter vom Erdboden schlossen sich die strahlenförmigen Ausläufer wie ein ungeheurer Hühnerkorb zusammen und bildeten den glatten Stamm, dessen Äste erst ganz in der Krone begannen. Sechs bis zehn regelmäßig stehende Arme trugen wie die eines Kronleuchters je einen Büschel steifer, dunkelgrüner, geradeausstehender Blätter, und zwischen diesen befand sich die Blüte, eine weiße, länglichrunde, große Blume, die genau wie eine Lampenglocke aussah. Der Baum war hübsch und eigentümlich, aber die Mühe ihn zu umgehen desto unangenehmer. Überall stolperte der Fuß, überall blieben die Kleider in Fetzen an den Gebüschen hängen, und zuweilen versank man bis ans Knie jählings in einen vermoderten, außen mit den verlockendsten Blüten überzogenen, alten Baumstamm. Dabei füllte sich die Luft mehr und mehr mit einem Etwas, das sich die Wanderer durchaus nicht erklären konnten. Bald kam es, bald verschwand es, aber was es eigentlich war, das wußte keiner, bis endlich Holm ausrief: „Das ist Rauch!“

„Ich dachte es längst!“ nickte Franz, „und wollte nur das Wort nicht aussprechen, um keine Dummheit zu Markt zu bringen. Woher sollte im Urwald Rauch kommen?“

„Freund Achilles, weißt du es?“

„Gallinas!“ antwortete der Dolmetscher. „Elefantenjäger. Sie treiben die umzingelte Herde bis an den versumpften See und stecken hinter ihnen das Gras in Brand. Die Tiere, vom Feuer auf das äußerste erschreckt, sind dann leichter zu töten.“

„Der Rauch kommt von Osten her,“ rief Franz. „Achilles, gibt es eine Stelle, von wo wir die Jagd mit ansehen könnten?“

„Aber, aber,“ wehrte Doktor Bolten, „kann man den Gallinas trauen?“

„Sie greifen uns wenigstens nicht an,“ versetzte der Dolmetscher.

Obgleich die Antwort etwas seltsam klang, war doch das Verlangen nach dem aufregenden Jagdgenuß zu groß, um lange Bedenken zu hegen. Achilles glitt voran, die übrigen folgten, und nach einer halben Stunde anstrengenden Marschierens war der Rand des Sumpfes erreicht. Ein unbewachsener, von Büffel- und Elefantenspuren bedeckter freier Platz, gedörrt fast durch die senkrecht fallenden Sonnenstrahlen, lehmfarbig und fahl, abstechend von der farbenprächtigen Umgebung, lag genau in der Mitte eines halbmondförmigen Sees, dessen trübe, grünliche Wellen ihn bis auf einen schmalen Zugang völlig einschlossen. Vor diesem Platz dehnte sich grasüberwuchert in den stechenden Sonnengluten eine kahle nur hier und da mit Reis oder Zuckerrohr bestandene Fläche.

Am jenseitigen Ufer lagerten unter den schattenspendenden Stammkolonien des in mehr als fünfzig Säulen aus einer Wurzel aufschießenden Dubabelbaumes unsere Freunde. Der Rauch schlug jetzt in hohen, blaugrauen Wellen über die Lichtung dahin, und zuweilen war es auch, als höre man fernes Donnern.

„Das sind die Elefanten,“ sagte Achilles, „sie kommen hierher, weil ihnen jeder andere Weg abgeschnitten wird. Hinein in den See wagen sie sich aber nicht, — die Gallinas machen sich ihre Furcht vor den Alligatoren zur Verbündeten.“

„Welche Waffen führen diese Leute?“ fragte Franz.

„Vergiftete Pfeile,“ antwortete der Dolmetscher. „Man trifft den Elefanten ins Auge, und er verendet sofort. Die Gallinas sind vortreffliche Schützen.“

Jetzt stampfte die Schar der Kolosse heran. Helles, offenbar angstvolles Trompeten mischte sich mit dem kläglichen Geschrei anderer Tiere, die ungeheuren Füße ließen den Boden erdröhnen, und das Knistern der Flammen wurde hörbar. Am Himmel sammelte sich während dessen eins der in den Tropenländern so zahlreich und so überaus schnell entstehenden Gewitter. Schwarze Wolken hingen tief herab, Blitze zuckten über den Horizont dahin, und krachende Donnerschläge übertönten allen andern Lärm. Jetzt entstand ein Durcheinander, dessen tausendstimmiger Chor alles in sich schloß, was an Tönen überhaupt gedacht werden kann. Schwere Regentropfen schmetterten die Früchte von den Zweigen, ein sausender Wind bog und schüttelte die Laubkronen, Tiere flüchteten und schrieen, Affen in ganzen Scharen duckten sich zitternd an einander, Insekten suchten ihre Schlupflöcher, und scheue Vögel verbargen sich im Dickicht. Jetzt erschienen auch in fliegender Eile die vom Feuer aus dem hohen Gras vertriebenen Tiere; wenigstens zwanzig Elefanten, große Männchen mit den gewaltigen Zähnen und der Trompetenstimme, säugende Kühe mit noch kleinen Kälbern, ein paar Büffel und Antilopen, grunzende Warzenschweine und eine schlanke, scheue, vor Angst zitternde Giraffe. Neben und durch einander, sich überstürzend, drängend, schossen sie vorwärts, und hinterher wälzte sich die Flammenwoge, niedergepeitscht, raucherfüllt, mit gierigen, roten Zungen nach allen Seiten leckend, ein Ungeheuer, raublustiger und gefährlicher als irgend ein Tier der Schöpfung.

Es war ein schrecklicher und doch schöner Anblick. Zitternd in grenzenloser Angst die Riesen der vierfüßigen Gattung, vergessen aller Vernichtungskampf der Geschöpfe unter einander, gelöst alle Bande und machtlos der drohende Blick des Todfeindes, des sonst so gefürchteten. Schleichkatze und Antilope stehen neben einander, die gefleckte falsche Hyäne, das treuloseste Tier der Schöpfung, duckt sich unter die bebende Giraffe, und ein versprengter Strauß huscht hier und dort zwischen den großen Elefanten umher.

Nur die Krokodile lauern. Träge im Uferschlamme liegend, wissen sie, daß es ihnen nicht gelingt, auf festem Boden die Beute zu besiegen. List allein kann ihnen helfen, in offenbarem Angriff ziehen sie den kürzeren. Die raublustigen Augen blinzeln, die schmutzfarbenen, altem Holze nicht unähnlichen Körper schieben sich mehr und mehr aus dem Wasser heraus.

Vielleicht kommt ja eines der Tiere dem gefahrbringenden Ufer zu nahe, vielleicht läßt sich ein in seiner Todesangst wehrloses Geschöpf im Rücken fassen und hinabziehen in das nasse Grab.

Abgesondert von dem eigentlichen Waldrande, der brennenden Grasfläche ganz nahe, steht ein hoher, alter Tamarindenbaum. Zehn Fuß hoch über dem Erdboden, hinaushängend auf den See, beugt sich ein schlanker, starker Ast. — Jetzt hat ihn die rote Lohe beinahe erreicht, — wird der Riese unter seiner Umgebung, der Uralte des Waldes, dem gefräßigen Elemente zum Opfer fallen?

Da zuckt ein Blitz herab, greller und stärker als alle früheren, blendend und purpurn, zischend und vom betäubenden Donner gefolgt. Das ist, als wolle die Erde in ihren Tiefen bersten, als breche furchtbar und urplötzlich der jüngste Tag herein.

Weit zurück geschleudert in das Feuermeer ist die Krone des Tamarindenbaumes, in der Mitte geknickt der Stamm, und nur noch jener starke, untere Ast ragt über das Wasser dahin. Glut mischt sich mit Glut; jetzt schlägt eine Feuergarbe hoch empor, es bäumt und regt sich rauchverhüllt und von Blättern bedeckt, der Ast schwankt und auf ihm sitzt geduckt, glänzende Augen rollend, mit schweratmenden Flanken ein Leopard.

S. 26.

Der Waldbrand.
„Neben- und durcheinander, sich überstürzend, drängend, schossen sie vorwärts, und hinterher wälzte sich die Feuerwoge ...“

Hinter dem Feuer, vom Waldrande kommend und über die rotglühenden Stoppeln dahinblickend, erscheinen schwarze Gestalten in arabischer Kleidung, weiß beturbant und mit langen Wurfspießen, mit Bogen und vergiftetem Pfeil.

Hin und her über die Angehörigen der vernunftlosen Schöpfung messen sich die Blicke erstaunter Menschen.

Sind sie Feinde, die Gallinas?

— — — — — — — — — —

Franz sah nur den Leopard. Von diesem Ast konnte er nicht fort, weder in die brodelnde Glut noch in den See hinein! Das Herz des jugendlichen Jägers schlug mit verdoppelter Eile, er sprach nicht, dachte nicht einmal, sondern handelte unter dem Eindruck des Augenblickes. Das Gewehr an die Backe legend, zielte er sekundenlang, der Schuß krachte, — und der Leopard fiel, sich überschlagend, bis ganz nahe an den Sumpf. Obwohl seine hastigen Bewegungen zeigten, daß er noch lebte, so war doch jedenfalls sein baldiger Tod gewiß.

Zwei Gallinas sprangen herzu, um die Beute den Krokodilen zu entreißen. Die anderen berieten flüsternd, offenbar mit Bezug auf die Weißen. Doktor Bolten und Holm waren von dem Jagdeifer ihres jungen Gefährten unterdessen angesteckt worden, ebenso Hans. Schuß krachte auf Schuß, zwei der größten Elefanten wälzten sich in ihrem Blute, ein Büffel hatte schon mehrere Kugeln auf den Pelz bekommen, doch ohne sich sonderlich darum zu kümmern, und auch eine Antilope war getötet. Die Wilden schossen ihrerseits gar nicht. Es schien ihnen offenbar bequemer, sich das Wild vor die Füße legen zu lassen, als selbst ihre wertvollen Pfeile zur Erlegung desselben zu verschwenden; ganz in aller Stille aber teilte sich der Trupp, und ohne daß es die Weißen merkten, waren sie eingeschlossen.

Das Getümmel vor dem See nahm indessen zu. Einer der Elefanten stürzte ganz in der Nähe der Giraffe, und diese trat erschreckend zurück bis an den Rand des Sumpfes. Sofort erhoben sich zwei der scheußlichen Ungeheuer halben Leibes aus dem Schlamm und packten mit ihren fürchterlichen Rachen das lautschreiende Tier, welches sich aus allen Kräften, aber natürlich vergebens, gegen diese Übermacht zu sträuben versuchte. Ehe eine Minute verging, gurgelte das grünliche Wasser und trieb Blasen, dann aber schloß es sich über dem Opfer, dessen Verderben die Schützen nicht gewollt hatten, und das nun von den blutdürstigen Räubern der Tiefe in Stücke zerrissen wurde. Zuweilen tauchte aber bei dem erbitterten Kampfe, welcher ohne Zweifel auf dem Grunde des Sees entstanden war, der Kopf des einen oder anderen Krokodils plötzlich hervor, und um einen solchen Augenblick zum wohlgezielten Schusse zu verwenden, schlich Franz mit leisen Schritten in das Gebüsch hinein. Die hintere Mitte des Halbmondes war bedeutend breiter als die beiden Ausläufer, daher hoffte er am Rande der letzteren im gegebenen Fall sicherer zielen zu können.

Die Gallinas waren um den glücklich geretteten Leoparden so beschäftigt und so eifrig dabei, die Antilope auf dem Fleck auszuweiden und am Spieß zu braten, daß sie vielleicht, auf die Feuerwaffen der Europäer allzusicher vertrauend, für sich selbst die nötige Vorsicht ein wenig außer Augen ließen. Einer der großen, männlichen Elefanten, angeschossen aber nicht getötet und aus diesem Grunde vor Schmerz rasend, drehte sich plötzlich gegen die zur Seite befindliche Negerschar, erhob herausfordernd den Rüssel und stürzte mit lautem Wutgeheul den vermeintlichen Feinden entgegen. Die erschreckte Schar empfing ihn mit Schüssen und wohlgezielten Würfen, — drei Pfeile zitterten am langen Schaft in seiner Hornhaut, das Blut rann stromweise von dem kolossalen Körper herab, aber dennoch gelang es ihm, mit schwindenden Kräften den nächsten der Neger zu erfassen. Er hob ihn hoch über den Kopf und schleuderte ihn dann mit solcher Kraft auf den Erdboden, daß sich die Glieder des Unglücklichen zuckend dehnten und ohne weitere Bewegung liegen blieben. Der Sieger überlebte aber seine Rachethat nur um einige Minuten, die Riesengestalt drehte sich schwindelnd im Kreise und stürzte mit dumpfem Dröhnen zu Boden.

Jetzt nahm der ganze Vorgang einen abschreckenden Charakter an. Das war keine Jagd mehr, sondern ein Blutbad. Die Krokodile, halben Leibes an das Ufer kletternd, bemächtigten sich lebender und toter Körper, die Elefanten wurden von den Gallinas ihrer Zähne beraubt und abgebalgt, das halbgare Antilopenfleisch mit den Fingern zerrissen und der getötete Neger nicht mehr beachtet, als sei er eins der gefallenen Tiere. Unsere Freunde erhoben sich, um diese Stätte sich entfaltender Barbarei zu verlassen, und jetzt erst bemerkten die übrigen, daß Franz noch immer fehlte.

Holm pfiff auf zwei Fingern. „Hallo, Franz, wo steckst du?“

Keine Antwort.

Holm und Doktor Bolten sahen einander an; das Gesicht des alten Herrn war entsetzlich blaß geworden. „Die Verantwortung!“ sagte er fast stammelnd, „ich habe dem Vater gegenüber die volle Verantwortung auf mich genommen!“

„Nun, nun,“ tröstete Holm, dem selbst das Herz heimlich schlug, „er wird ja wiederkommen. Was sollte ihm geschehen sein?“

Noch einmal erschallte der laute Ruf über die Waldwipfel dahin, noch einmal legten alle drei Zurückgebliebenen in diesen kurzen einen Laut die ganze Unruhe, die stärker und stärker werdende innere Furcht ihrer Seelen. „Franz! — Franz! —“

Wieder keine Antwort.

„Achilles,“ sagte Holm, „was kann das bedeuten?“

Der Neger zuckte die Achseln. „Vielleicht Gallinas!“ antwortete er.

„Hilf Himmel, sie sollten ihn getötet haben?“

„O — auf keinen Fall. Gallinas handeln in Lagos mit Geiser und Kopp, viel zu klug, um die Buchmänner zu erzürnen. Aber Gallinas Diebe.“

Holm atmete auf. „Es handelt sich also im schlimmsten Fall um ein Lösegeld, Achilles? Die Schwarzen werden den armen Knaben doch nicht töten?“

Der Neger schüttelte den Kopf. „Wollen Feuerwaffen haben und Fetisch,“ antwortete er, auf Holms Uhr deutend.

„Herr Gott, so laßt uns eilen.“

Und in stummer Hast drängte alles vorwärts. Doktor Bolten konnte sich von dem Schauplatz des geschehenen Unglückes anfangs durchaus nicht trennen. „Weggehen und den unglücklichen Jungen so gewissermaßen treulos verlassen,“ preßte er hervor. „Es ist zu schrecklich. Wenn er nun in das Wasser gefallen und von den Krokodilen —“

„Pah, das ist ganz unmöglich. Der Junge ist doch kein Wickelkind, daß er in den See plumpsen und sich fassen lassen sollte, ohne zu seiner eigenen Rettung das allermindeste zu unternehmen? — Die Gallinas haben ihn, und wir müssen sehen, mit dem Raubgesindel thunlichst zu unterhandeln.“

Das war ein schlimmer, aber doch der einzig mögliche Trost, und nachdem noch die Neger zur Vorsicht festgestellt hatten, daß nirgend im Umkreis des Sees ein Unglück geschehen sein könne, beeilte man sich, die vordere Seite zu erreichen. Hier waren auch die Gallinas mit dem Aufbruch beschäftigt; sie ließen den Dolmetscher äußerst gleichmütig an sich herankommen und beantworteten seine Fragen nach dem verschwundenen Knaben fast nur durch Achselzucken. Vielleicht hatte er ihre vorangegangenen Gefährten begleitet, sie wußten es nicht.

Aber nicht allein Achilles, sondern auch die Weißen waren durch den Ton dieser Antworten in ihrem anfänglich gehegten Verdacht vollkommen bestärkt worden, sie folgten daher ohne weiteres den nach Hause gehenden Gallinas, und nur einmal fragte Holm den Dolmetscher, ob denn das Dorf derselben in der Nähe liege. Die Antwort traf wie ein Kanonenschuß, — man mußte acht bis zehn Stunden marschieren und dann natürlich während der Nacht im Walde bleiben.

Neue Verwirrung, neues Entsetzen bemächtigte sich der beiden Männer. „Achilles,“ rief Doktor Bolten, „machen Sie doch Ihren Landsleuten den Vorschlag, uns den Knaben hierher zurückzuliefern. Wir wollen alles, was wir besitzen, mit Vergnügen hergeben.“

Der Dolmetscher schüttelte den Kopf. „Gallinas klug“, antwortete er, „fürchten Feuerwaffen. Achilles allein gehen mit Fetisch und Gewehren.“

Das aber konnten wieder die beiden anderen nicht zugeben, auch Hans wollte sich trotz aller Vorstellungen nicht mit einem der Neger auf den Rückweg machen, und so zog denn die kleine Gesellschaft in tiefstem Schweigen, verstimmt und unruhig durch den Wald dahin. Die Gallinas in ihren weißen Turbanen und Burnußen gingen gewissermaßen als Wegweiser voran, und sobald sie Halt machten, lagerten auch die Weißen mit ihrer Begleitung, um scheinbar wenigstens ein Mahl einzunehmen. In der That aber sprachen nur die Kruneger den mitgebrachten Vorräten tapfer zu.

„Wie wäre es,“ meinte Holm, „wenn wir alle mit dem Gewehr auf dem Rücken, also in ganz friedlicher Absicht, jetzt zu den Gallinas gingen und ihnen vor die Füße legten, was sie zu besitzen wünschen? Wo das geschieht, ist doch gleichviel.“

Aber Achilles wies den Vorschlag durchaus zurück. „Gallinas lassen den weißen Knaben frei, ohne ihm Waffen oder Führer zu geben,“ sagte er. „Gallinas falsch, weißer Knabe von Raubtieren zerrissen.“

„Und warum hat man uns nicht gleich an Ort und Stelle den ganzen spitzbübischen Handel vorgeschlagen?“ rief Holm.

„Zehn Feuerwaffen,“ lächelte Achilles, die Gewehre überzählend, „zehn entschlossene Männer. Gallinas klug — den Gegner müde machen.“

„Diese Spitzbuben! Sie wußten also, daß wir bis an das Ende der Welt dem armen Jungen nachgehen würden?“

Und man brach wieder auf, bis der Abend herabsank und die Schatten länger wurden. Plötzlich an einer Waldlichtung waren die Weißmäntel wie in den Boden hinein verschwunden, — auch nicht ein einziges Zeichen verriet, wohin sie sich gewendet.

Die Kruneger berieten heimlich, und dann wandte sich der Dolmetscher zu den Weißen. Eine Viertelstunde von hier läge das Dorf, versicherte er, sie wüßten es ganz gewiß. Zwei von ihnen wollten die Zugänge desselben bewachen und die übrigen hier aus den mitgenommenen Decken ein Zelt errichten. Der Plan der Gallinas sei ihm und seinen Genossen jetzt ganz klar.

„Und wenn uns die schwarze Bande in Gemeinschaft verrät?“ flüsterte Bolten.

„Dann sind wir unter allen Umständen verloren. Unserer drei gegen ebenso viele Hunderte.“

„Aber wir haben die Gewehre!“

„Dem Himmel sei Dank dafür! Die Schurken fürchten uns wie den bösen Feind, weil eben die Feuerwaffen aus so weiter Entfernung zu schaden vermögen.“

Achilles und seine Genossen bauten mit flinken Händen das Zelt, reinigten den Boden von Moos und Insekten und zündeten bei einbrechender Dunkelheit ein riesiges Feuer an, welches die Raubtiere verscheuchen sollte. Zwei Neger verschwanden ganz in der Stille, die anderen trugen Wasser herbei, kochten Kaffee und rösteten Mais zwischen rohen Feldsteinen, dann aber mußten auf ihren Rat die Gewehre, auch die der fortgeschlichenen Krumänner, vor dem Zelt zusammengestellt werden. Nachdem das geschehen, begaben sich scheinbar alle zur Ruhe, die Weißen im Zelt, die Neger davor. — Stunde nach Stunde verrann; von fern brüllten mit ihren greulichen Stimmen die wilden Tiere; im Gebüsch raschelte und krachte es wie von glatten Schlangenleibern, vom Fuß schleichender Raubkatzen; das Feuer hüllte alles in seine purpurnen Gluten; nagende, quälende Unruhe hielt die drei leise flüsternden Deutschen wach. So ganz allein am Rande der Zivilisation, nahe jener Gegend, die noch kein weißer Mann betreten, den Schwarzen und den reißenden Tieren wehrlos preisgegeben, — das konnte mit Recht eine böse Lage genannt werden.

Und Doktor Bolten flüsterte kaum hörbar: „Vater, wenn es möglich ist, so laß diesen Kelch vorübergehen.“

„Amen!“ schluchzte Hans, der wohl fühlte, daß dies Gebet seinem verschwundenen Bruder galt.

Achilles, der vor dem Eingang des Zeltes saß, hob in diesem Augenblick die Hand.

Vom Schein des Feuers hell bestrahlt, warf die schwarze Hand einen Riesenschatten, — unwillkürlich erstickte ihr Erscheinen jeden Laut.

Der Neger streckte sich, als schlafe er; tiefe Totenstille beherrschte die Umgebung, dann hoben von hinten mehrere Hände den Zeltvorhang auf. Gallinas in starker Anzahl hielten das Lager umzingelt, hatten die Gewehre ergriffen und die Messer der drei Deutschen an sich gerissen, ehe viel Zeit verging; jetzt untersuchten sie sogar die Taschen und bemächtigten sich der Uhren, — nur die Bambusbüchse des Zauberers wurde verächtlich bei Seite geworfen.

So schnell wie sie gekommen, verschwanden die unheimlichen Gäste.

„Und nun?“ fragte Bolten. „Sie haben den Jungen doch sicher ermordet.“

Achilles schüttelte lachend den Kopf. „Wozu?“ sagte er. „Bald genug hier sein, — sehr bald.“

Und wirklich war kaum eine Viertelstunde vergangen, als aus dem nächsten Gebüsch die beiden Kruneger hervortraten, in ihrer Mitte den Knaben, grinsend von einem Ohr zum andern, äußerst vergnügt, daß sie List mit List vergolten hatten. Franz war unversehrt, er flog den anderen entgegen und warf sich stürmisch in ihre Arme. Minuten verflossen, bis einer der Männer sprechen konnte. „Kinder,“ stammelte endlich Doktor Bolten, „Kinder, laßt mich unserm Gott danken und diesen beiden braven schwarzen Menschenbrüdern hier —“

Aber weiter kam der alte deutsche Theologe nicht, sondern ging mit offenen Armen zu den beiden fettglänzenden, schwarzen Wilden und küßte die erstaunten Gesichter, — und das war ein echter, wahrhaftiger Gottesdienst, wie er tief aus dankbarem Herzen heraufquoll.

„Nur mein kostbares Zauberpulver ist gerettet!“ rief Holm, „sonst alles dahin. Aber gerade dieses — — O nein!“ unterbrach er sich plötzlich, „das ist denn aber doch empörend!“

Man umringte ihn und sah in die offene Schachtel hinein. Sand, purer grauer Sand, weiter war nichts darin. Der Zauberer hatte das vielbegehrte Hundehalsband erlangt, sein Geheimnis aber daneben schlau bewahrt.

Ein dröhnendes, nicht endenwollendes Gelächter stellte die urgemütliche Reiselaune wieder her. „Gib nur acht, Karl,“ rief Franz, „ich will den Betrüger mit seinen eigenen Waffen schlagen. Er soll mich für einen noch größeren „Medizinmann“ halten, wie er selbst es ist und schon Respekt bekommen. — Jetzt aber laßt uns wandern! Auf, hinaus in den Mondschein!“

„Aber ohne Waffen!“ rief Hans.

„Nicht ganz!“ lächelte Holm. „Meine Taschenpistolen hatte ich in Sicherheit gebracht.“

Er zog die Waffen unter dem Moos hervor und lud beide Läufe. Auch einer der Neger brachte grinsend vor Vergnügen Bogen und Pfeile herbei, die er im Dorfe der Gallinas stibitzt hatte, und die Franz sogleich für Papas Museum mit Beschlag belegte. Das kaum errichtete Zelt wurde seiner Decken wieder beraubt, und dann im Freien am Wachtfeuer eine köstliche Mahlzeit gehalten; jetzt machte, nachdem Angst und Sorge vorüber waren, die Natur ihre Rechte doppelt geltend, und namentlich Franz schmauste wie ein Halbverhungerter. „Die Gallinas haben mir Heuschrecken vorgesetzt,“ schauderte er, „und einen halb rohen, halb verbrannten Affenbraten.“

„Aber wie war es eigentlich möglich, daß sie dich wegfangen konnten, ohne unsere Aufmerksamkeit zu erregen, Junge? Ich begreife es nicht.“

„Sie warfen mir von hinten eine Decke über den Kopf,“ erklärte Franz, „und wenn nur nicht gerade der eine große Elefant so fürchterlich trompetet hätte, dann müßtet ihr auch meinen Schreckensschrei und das Zerren und Schleifen durch die Gebüsche gehört haben. Aber darauf war vielleicht gerade gerechnet worden.“

Man brach nun auf und hatte das Glück, im hellen Mondschein ungefährdet das Dorf Lope zu erreichen. Nur ein paar kleinere Tiere liefen über den Weg, aber die wurden verschont, teils um keine Zeit zu verlieren, teils weil man gar nicht in der Stimmung war, irgend ein Geschöpf zu töten. Die Botanisierkapseln waren dafür bis an den Rand gefüllt.

Am folgenden Morgen begab sich Franz, mit einem kleinen Brennspiegel ausgerüstet, in die Nähe des Tempels und nahm seinen Platz so, daß er gerade vor der Thür der Hütte saß. Der Zauberer lag wie immer faul im Innern derselben.

Alle übrigen hatten sich in der Nähe versteckt.

Jetzt drehte Franz das Glas so, daß der Sonnenstrahl versengend die Hand des Zauberers traf und dieser erschreckt zurückfuhr. Er lugte durch eine Spalte der Bambuswand und gab so sein schwarzes Ohr preis, — husch, hatte der Strahl es erfaßt.

Nun ging ihm die Geschichte über den Spaß. Er kam heraus, offenbar um das Ansehen seiner Person geltend zu machen; die Augen rollten vor Zorn, und die Fäuste waren geballt. Er schrie einige Worte in der Negersprache.

Franz drehte heimlich das Brennglas und hielt es jetzt so, daß es der Schwarze deutlich sehen konnte. Im Zickzack stach es und prickelte Brust und Kopf, Schultern und Beine.

Der Zauberer stieß ein sehr natürlich klingendes Geheul aus, schoß in die Hütte und erschien wieder mit dem Halsband, das er weit fortschleuderte. Sein Ruf klang jetzt unverkennbar wie „Gnade! Gnade!“

Franz trat mit der ernsthaftesten Miene vor und nahm das Halsband vom Boden. „Betrug ist Betrug, auch wenn er komischer Natur wäre, nicht wahr, Herr Doktor? Damit durfte der graue Sünder nicht durchkommen.“

Und lachend zogen alle von dannen. Die beiden Neger, welche Franz aus dem Dorf der Gallinas sicher zu den Seinigen gebracht hatten, sowie Achilles erhielten in Lagos namens der Eltern des Knaben von den Herren Geiser und Kopp eine ansehnliche Belohnung und dann ging es, von ihren Segenswünschen begleitet, beladen mit allen Schätzen dieser kleinen Reise, an Bord der Hammonia zurück.

Trotz der mannigfachen Gefahren, die der kleine Trupp der Naturforscher mit Mut und Glück bestanden hatte, war die Ausbeute an Naturalien aller Art keine geringe geworden, nun galt es die gewonnenen Schätze vor dem Verderben zu bewahren, damit sie wohlerhalten in Europa anlangten, um den Gelehrten als Material zum Studium oder zur Vervollständigung der Sammlungen zu dienen.

Zunächst wurden daher jene Gegenstände in Angriff genommen, die dem Verderben am meisten ausgesetzt waren, und da vier rüstige Arbeiter zur Verfügung standen, machten sich alle an die Arbeit, deren Einteilung Holm, als der Führer der Expedition anordnete. Dem Doktor Bolten war die Aufgabe zugefallen, das Tagebuch zu führen, in welches alle Erlebnisse niedergeschrieben wurden. Hans wurde der botanische, Franz der zoologische Teil zugewiesen, während Holm die nötigen Anleitungen gab und bald dem einen bald dem andern half, wenn besondere Schwierigkeiten zu überwinden waren.

Es galt nun vor der Hand die Schmetterlinge zu präparieren, damit dieselben schön ausgebreitet die Pracht ihrer Flügel, die bunte Zeichnung derselben und ihre ganze Form auf das deutlichste erkennen lassen konnten. Zu diesem Zwecke waren einige 30 Zentimeter lange und 5 Zentimeter breite glatte Bretter mitgenommen worden, die der Länge nach eine 2 Zentimeter breite Furche enthielten, deren Tiefe fast ebenso viel betrug. Aus einer der Schachteln wurde der eingesperrte Schmetterling nun vorsichtig herausgenommen und zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand festgehalten.

„Ehe wir das Tier spießen,“ sagte Holm, „wollen wir es vergiften, damit es keine zu großen Qualen leide. Wir könnten hierzu von dem Chloroform aus der Reiseapotheke nehmen. Allein, wer weiß, ob wir dasselbe nicht noch zu anderen, wichtigeren Zwecken gebrauchen werden.“

„Haben wir denn noch ein anderes Gift, das uns dieselben Dienste leistet?“ fragte Franz.

„Ich bin soeben im Begriff einiges zu bereiten,“ antwortete Holm mit scheinbar wichtiger Miene.

„Wo denn,“ fragte Franz verwundert, „ich sehe keine Retorte noch sonst einen chemischen Apparat.“

„Hier, dies ist mein großes Laboratorium,“ erwiderte Holm lächelnd, indem er auf die kleine Tabakspfeife deutete, die er vor kurzem in Brand gesetzt hatte. „In dem unteren Behälter,“ fuhr er fort, „sammelt sich der Tabakssaft an, der beim langsamen Verbrennen des Tabaks entsteht und jenen Giftstoff enthält, den die Chemiker Nikotin nennen. Dieses Nikotin ist ein Gift für alle Insekten, die deshalb den Tabaksrauch auch ängstlich meiden.“

Holm goß den Tabakssaft in eine kleine Muschelschale, tauchte eine Nadel in denselben und feuchtete den Rüssel des Schmetterlings, den er vorsichtig aber doch sicher in der angegebenen Weise festhielt. Nachdem der Schmetterling einige kleine Tropfen des ihm tödlichen Giftes gekostet hatte, war er vollkommen leblos geworden.

Nun wurde ihm eine lange Insektennadel durch das Rückenschild gestoßen und dieselbe in der Furche eines der vorhin erwähnten Bretter derart festgesteckt, daß der Rumpf des Schmetterlings sich in der Furche befand. Leicht war es nun möglich, die Flügel auf der glatten Fläche des Brettes schön und eben auszubreiten, Streifen von starkem Papier wurden über die Flügel gelegt und an ihren äußeren Enden mit kleinen Nadeln ebenfalls befestigt, so daß die Flügel in der ihnen einmal gegebenen Lage verharren mußten. Ein Schmetterling nach dem andern wurde in gleicher Weise behandelt, bis kein Platz auf dem Brette mehr vorhanden war und die noch leeren an die Reihe kamen.

„Was machen wir mit den übrigen Schmetterlingen?“ fragte Franz, als auch diese besetzt waren.

„Wir lassen sie bis morgen leben,“ antwortete Holm, „denn dann sind in dieser tropischen Hitze die jetzt ausgebreiteten soweit trocken, daß wir sie abnehmen und in eine Schachtel bringen können, deren Wände aus Kork bestehen, in welchen wir die Nadeln mit leichter Mühe spießen. Ist die Schachtel voll, so befestigen wir ein Stück Kampfer in derselben, setzen den Deckel auf und kleben die Fugen gut zu.“

„Wozu dient der Kampfer?“ fragte Franz.

„Um den Motten und anderen Insekten die Lust zu nehmen, unsre mühevoll präparierten Schmetterlinge zu zerstören. Ohne diese Vorsichtsmaßregeln würden wir nur Staub und Moder nach Hamburg mitbringen.“

„Das wäre ein übler Lohn für unsere Arbeit und ein Resultat unserer Expedition, auf das wir nicht stolz sein dürften,“ entgegnete Franz.

„Das Einsammeln der Naturalien ist nicht minder schwer als das Schützen derselben vor Zerstörung,“ erwiderte Holm. „Es ist daher dem Forscher mitunter unmöglich, seine kostbare Beute in die Heimat zu transportieren, weil es ihm in der Wildnis an den Mitteln zur Erhaltung derselben gebricht. Nun wollen wir noch jede Nadel mit einem Stückchen Papier versehen, auf das wir eine Nummer schreiben. Diese Nummer wird in einem kleinen Büchlein ebenfalls notiert und dahinter schreibst du den Fundort des Tieres und sonstige Bemerkungen, Datum des Fanges und Beobachtungen, die wir an dem lebenden Tiere machten.“

Franz versprach die gewissenhafte Ausführung des Auftrages und sagte: „Man soll nicht von uns behaupten, daß wir des Vergnügens wegen reisten, sondern daß wir der Wissenschaft zu nützen suchten, so viel in unseren Kräften stand.“

„Bravo!“ sagte Doktor Bolten, „diesen Ausspruch will ich mir für unser Tagebuch merken.“

Holm zeigte nun Hans, wie er mit den Pflanzen verfahren müsse, um dieselben in ihrer Form möglichst gut zu erhalten. Zu diesem Zwecke wurden die Pflanzen auf einen Bogen weichen Löschpapieres sorgfältig ausgebreitet, die Blumenblätter so gelegt, daß die Form der Blüte nicht verzerrt, sondern, so weit dies möglich, in ihrer natürlichen Gestalt erschien. Sobald ein Blatt, eine Blüte, oder sonst ein Teil der Pflanze in die geeignete Lage gebracht worden war, setzte Holm einen ziemlich schweren Kieselstein auf denselben, damit er in seiner ihm einmal gegebenen Stellung verharrte.

Als dies geschehen, wurde ein zweiter Bogen Löschpapier auf den ersten gelegt, unter gleichzeitiger gewandter Entfernung der Kieselsteine, worauf die derart eingelegte Pflanze unter eine Presse kam, die ganz einfach aus einem Kistendeckel bestand, den einige Steine nicht allzusehr beschwerten, um die zarten Teile, wie Stengel, Fruchtboden u. s. w. nicht zu zerquetschen.

„Werden die Insekten auch die Pflanzen angreifen?“ fragte Franz.

„Ihnen ist einerlei, was ihnen vor die Freßwerkzeuge kommt,“ antwortete Holm. „Die tropischen Insekten, namentlich die Ameisen, schonen nichts, was ihnen nur irgendwie schmackhaft vorkommt.“

„Dann müssen wir auch hier Kampfer anwenden,“ meinte Franz.

„In diesem Falle nutzt uns derselbe nichts,“ entgegnete Holm, „denn es wird uns schwer werden, ein großes Paket gesammelter und zwischen Papier liegender Pflanzen luftdicht einzuschließen, denn in nicht luftdichten Kasten verdunstet der Kampfer. Wir haben jedoch ein anderes Mittel, das freilich sehr giftig ist, mit dem wir die trockenen Pflanzen einpinseln. Es ist dies in Weingeist aufgelöster Sublimat, eine Verbindung von Chlor und Quecksilber, die fast alles Lebende tötet.“ Sobald die Pflanzen getrocknet wären, wollte Holm das Einpinseln derselben mit dem Gifte selbst vornehmen.

Hans meinte, daß das Einlegen der Pflanzen viel einfacher sei, als das Präparieren der Schmetterlinge, und daß gar keine Schreibereien damit verknüpft seien.

„Da irrst du dich gewaltig,“ rief Holm lachend. „Nein, es wird ebenso wie bei den Tieren der Fundort angemerkt, ferner die Beschaffenheit des Bodens, ob derselbe sandig, felsig, trocken oder sumpfig. Dann, ob die Pflanze im Schatten wächst, oder in der Sonne, ob sie an anderen Gewächsen emporrankt oder gar auf ihnen schmarotzt, wie viele der prachtvollen Orchideen, zu denen auch die Vanille gehört.“

„Ich wollte, ich hätte einen Becher Vanille-Eis,“ sagte Franz, „der sollte mir in der Hitze hier schmecken!“

„Und was für Gesichter die Eingebornen wohl machen würden, die nie in ihrem Leben Eis gesehen, noch viel weniger solches gegessen haben,“ fiel Hans ein.

„Sie würden glauben, sich den Mund verbrannt zu haben,“ erklärte Holm, „denn diese Empfindung würde sich ihnen zunächst aufdrängen. Auch erzeugt sehr große Kälte ebensowohl Brandblasen auf der menschlichen Haut, wie eine hohe Temperatur.“ — Dann wandte er sich wieder zu Hans und fuhr fort: „Ferner müssen die Früchte und Samen von den Pflanzen gesammelt und in Papier aufbewahrt und genau bezeichnet werden, teils für den Forscher und teils für den Gärtner, der dann versucht, sie im Gewächshause zum Keimen zu bringen.“

„Ich verstehe schon,“ fiel Hans ein. „Wenn der Gärtner nicht erfährt, wo und wie die Pflanze wächst, dann säet er am Ende den Samen einer Sumpfpflanze in trocknen Sand, als stammte er von einem Steppengewächs und steckt den Samen einer Kletterpflanze ins Wasser. Ich will alles genau notieren.“

„Wo aber bleiben der Heerwurm und die anderen Käfer, die noch im Spiritus sitzen?“ fragte Franz.

„Die nehmen wir aus ihrem nassen Grabe und spießen sie ebenso auf wie die Schmetterlinge. Die größeren derselben wickeln wir in Papier und bezeichnen sie mit Nummern. Nur die Mücken, die Fliegen, die bienenartigen, die Stechfliegen und Schlupfwespen lassen wir im Spiritus, in welchem sie sich am besten halten.“

Material war genügend vorhanden und somit fehlte es nicht an Arbeit. Bald wurden die Gegenstände präpariert, bald gab es Notizen zu machen und zu schreiben, und die Knaben erlangten schon in kurzer Zeit eine große Geschicklichkeit in der Handhabung der einzelnen Gegenstände. Als aber Holm ihnen sagte, daß noch schwierigere Aufgaben zu bewältigen seien als diese, verloren sie den Mut durchaus nicht, sondern meinten, dann wird uns die Sache erst recht interessant.

Während sie so arbeitend plauderten und über dem oft heiteren Gespräch die Arbeit nicht versäumten, rief Franz plötzlich: „Womit soll ich die Nummern an die Pflanzen kleben? Wir haben das Gummi arabikum vergessen.“

Holm lachte. „Wir werden in die Apotheke schicken!“

Als die Knaben ihn ungläubig ansahen und riefen: „hier in der Wildnis gibt es keine Apotheke,“ sagte er, „auf dem nächsten Ausfluge werden wir schon jemand finden, der uns das Gewünschte gibt.“

Zweites Kapitel.

Nichts vergißt sich schneller als Mühe und Gefahr, nachdem beide glücklich überstanden sind. Kaum waren die mitgebrachten Insekten und Pflanzen in die verschiedenen Sammlungen gehörig eingereiht und Geist und Körper durch etwas Ruhe neu gestärkt, als sich die Knaben auch schon nach weiteren Abenteuern umsahen. Zehn Tage lang mußte das Schiff noch vor dem Hafen von Lagos liegen, um dort seine Ladung Palmöl einzunehmen. Diese ganze kostbare Zeit konnte man unmöglich an Bord verbringen und eben so wenig in der Umgebung von Lagos, die nur aus Busch und Flachland besteht und außer dem Krokodil kein jagdbares Wild mehr aufweist.

„Wir wollen das Schleppnetz auswerfen,“ entschied Holm. „Heute abend nach Eintritt der Dunkelheit sollt ihr ein nie gesehenes Schauspiel erleben, den Fischfang vermittelst einer großen Laterne, die das Meer in einer Tiefe von etwa fünfzehn Metern weit umher erhellt und von allen Seiten die neugierigen Bewohner desselben herbeilockt. Morgen machen wir dann vielleicht bei günstigem Wetter mit dem kleinen Bugsierdampfer „Hansa“, der uns des Sonntags wegen von seinen Eigentümern zur Benutzung überlassen werden kann, eine Fahrt stromauf in das Innere hinein. Ich möchte ein paar Flußpferde schießen oder harpunieren.“

„Wenn wir ein Junges fangen und nach Hamburg bringen könnten!“ rief Franz.

„Das wird uns nicht so leicht gelingen,“ antwortete Holm, „denn die Flußpferde sind äußerst scheu und dabei im gereizten Zustande sehr gefährlich. Außerdem macht der Transport des lebenden Tieres große Schwierigkeiten.“

„Einerlei,“ riefen die Knaben. „Auf dem Dampfer befinden wir uns überdies auch in voller Sicherheit. Ist es gewiß, daß wir ihn benutzen dürfen?“

„Ganz gewiß, ich habe heute morgen mit dem Kapitän gesprochen. Nun aber laßt uns das Schleppnetz herrichten.“

Die Kiste wurde geöffnet und das aus Hamburg mitgebrachte Netz hervorgeholt. Im bedeutenden Umkreis mehrere eiserne Ketten, die den Mittelpunkt bildeten, einrahmend, war es ein großes, starkes Fischernetz aus Flechtwerk, das flach auf das Wasser gelegt wurde, und von dessen Zentrum die Lampe herabhing, natürlich vom Bord des Schiffes mittels eines starken hölzernen Hebebaumes in ihrer richtigen Stellung erhalten. Über den bethörten, durch eigene Neugier verlockten Fischen mußte sich das Netz sehr leicht zusammenziehen und oben an den Ketten befestigen lassen. Die Lampe selbst war ganz aus Schiffsglas, sehr groß und für vier starke Wachslichter bestimmt; sie hatte am oberen Ende einen wasserdichten Schraubenverschluß, während ihr durch Schläuche Luft zugeführt wurde. Ohne die Lampe folgt ein solches Schleppnetz dem Laufe des Schiffes und wird von Zeit zu Zeit seiner Gefangenen entledigt, mit derselben kann es natürlich nur gebraucht werden, wenn das Fahrzeug völlig still liegt.

Als bei hellem Mondschein und durchaus ruhigem Wetter die Lichter entzündet waren, sammelte sich die ganze Besatzung auf dem Verdeck, und alles sah gespannten Blickes hinab in die Tiefe. Müde von der schweren Arbeit des Tages, nachdem die Ölspuren einigermaßen beseitigt und die Rationen verteilt waren, pflegten jetzt diese lebensfrohen, an Leib und Seele gesunden jungen Leute der Ruhe, indem sie ihren Gedanken nachhingen und müßig die kühlere Nachtluft einatmeten. Einer von ihnen spielte Harmonika, deutsche Weisen klangen über das Wasser hin, und deutsches, gemütliches Beieinander verwischte den Unterschied von Stand und Rang. Wo Hunderte von Meilen zwischen dem Menschen und seiner Heimat liegen, da schließt er sich fester an die Nächsten, da bildet er in weiter Ferne mit dem Genossen der unsicheren Fahrt nur mehr eine einzige, große Familie. Weitab schimmerten die Lichter der Stadt, zuweilen klang von anderen Schiffen her Gesang und Rufen, sonst war alles still, alles dunkel, — nur da unten regte sich mehr und mehr das geheimnisvolle Leben der Tiefe.

Im Umkreis von zehn Schritten hell beleuchtet, bildete das Wasser den Tummelplatz ungezählter Fische und anderer Geschöpfe. Was nie an der Oberfläche erschien, sich nie dem Menschenauge am hellen Tage preisgab, das schwamm jetzt vorsichtig herbei, um den ungewohnten Anblick des Lichtes aus der Nähe zu genießen. Rundlich und platt, größer und kleiner, bald zierlich schlank, bald von außerordentlicher Häßlichkeit, so scharte sich’s um den kleinen, hellbeleuchteten Glaspalast da unten in der Tiefe. Zitternde Strahlen umgaben den Mittelpunkt, halbverwischt spiegelten sich Mond und Sterne, und lautlos glitt und krabbelte es in dem beweglichen Element. Zwischen Felsspitzen, deren höchste Ausläufer vielleicht bis zu sechs Metern unter dem Schiffskiel heraufragten, öffnete sich eine Art von Thal, das unzählige lebende Geschöpfe und Organismen bewohnten. Große Einsiedlerkrebse, die sich im heftigsten Kampfe befanden, kleine mit dem Schneckenhause, in dem sie leben, Ringelwürmer, Wasserspinnen, dazwischen die zierlichen Seesterne, Muscheln und Schnecken ohne Zahl — so bevölkerte es, sich mit tausend Gliedern regend, aufgeschreckt durch die plötzliche ungewohnte Helle, den Grund, während weiter oben in den Strahlen der Lampe die verschiedensten Fische herbeieilten.

„Sieh diesen!“ rief Franz, „er will das Licht verschlingen!“

Ein lautes Gelächter aller Zuschauer begleitete das komische Gebaren des Fisches. In Kugelform, scheinbar ohne Kopf, häßlich und plump schoß er heran und ebenso schnell wieder zurück, wenn sich die Nase an der Glaswand stieß. Seine Sprünge im Wasser, sein halb keckes, halb furchtsames Vorgehen erregten immer aufs neue die Heiterkeit der Versammelten, dennoch aber konnten sie ihre Aufmerksamkeit nicht diesem, dem Kofferfisch allein zuwenden. Der anderthalb Meter lange und dabei nur daumsdicke fliegende Drache mit Fledermausflügeln, der Drachenkopf mit seinem häßlichen Gesicht und hahnenkammartigen Flossen, der Flughahn mit förmlichen Flügeln, der Seeskorpion mit Hörnern auf dem Kopfe, der Seehase mit breitem Maul und großen Kuhaugen, alle drängten sie sich herbei, um zu staunen.

„Wollen wir nicht jetzt das Netz heraufziehen?“ fragte Hans.

„Noch nicht,“ wehrte Holm. „Es müssen ein paar Größere mit hinein.“

„Rochen, nicht wahr, Doktor? Ich habe gerade die längste Art hier zahlreich vertreten gefunden.“

„Ah! — da ist schon einer und zwar ein stattlicher Kerl, ein Hairoche von drei Meter Länge! — Und dort noch einer. Nun gibt es Krieg.“

S. 42.

Fischfang mit Schleppnetz und Licht.
„Rundlich und platt, größer und kleiner, bald zierlich schlank, bald von außerordentlicher Häßlichkeit, so scharte sich’s um den kleinen hellbeleuchteten Glaspalast da unten in der Tiefe.“

Von zwei Seiten näherten sich die ungeschlachten Tiere mit scheibenförmigem Körper und kaum erkennbarem Kopfe, an dem sich Mund und Kiemenspalten unten, und Augen und Spritzlöcher oben befinden. Die stachlichten Schwänze peitschten das Wasser, die Augen funkelten raublustig; so viel Beute auf einen Schlag, das mochten sie nie erlebt haben.

„Der kleine mit dem kreisrunden Körper ist ein Zitterroche!“ rief Holm. „Nun gebt acht, was folgen wird!“

Wirklich schossen auch die beiden großen Fische auf einander zu und begannen sogleich einen erbitterten Kampf. Sich von der Seite her begegnend, versetzten sie einer dem andern die kräftigsten Schwanzschläge, bis endlich der Zitterroche Gelegenheit fand, seinem Gegner einen elektrischen Schlag beizubringen und dadurch den Streit zu entscheiden. Völlig betäubt fiel der Hairoche auf den Grund des Netzes zurück. Die kleineren Fische hatten unterdessen versucht, nach allen Richtungen zu entfliehen; einigen gelang dies auch, die meisten wurden freilich durch das zur rechten Zeit emporgehobene Netz erfolgreich am Entweichen verhindert, und als endlich mit Hilfe mehrerer Matrosen das ganze schwere Netz an Bord geholt war, da zappelte in den Maschen desselben noch eine hübsche Anzahl von Flossenträgern; der kecke Kofferfisch, der arme Geselle, sogar im Maule des Zitterrochens, halbzerquetscht und ängstlich schwanzschlagend wie sein Besieger selbst.

„Das war ein reicher Fang!“ rief Holm. „Besonders die Rochen sind ihres Fleisches wegen viel wert, ebenso die meisten kleineren Fische um ihrer Seltenheit willen. Wenn wir sie aus der Nähe besehen haben, mögen sie weiterschwimmen.“

Und so geschah es. Verschiedene gewöhnliche Arten wanderten in die Schiffsküche, während man jene ungenießbaren Fremdlinge der Tiefe barmherzig verschonte und nur einige besonders wertvolle Exemplare zum Ausstopfen vorbereitete.

Der Zitterrochen wurde geschlachtet, um morgen den Mittagstisch in der Kajütte auszustatten. Den gänzlich betäubten Hairochen legte man in die große Deckwaschbalje, um zu beobachten, wann das Leben zurückkehren werde, und nachdem nun in dieser Weise der Fang besorgt war, sprach Holm noch über das Fischgeschlecht im allgemeinen einige belehrende Worte, daß es nämlich nicht weniger als achttausend lebende Arten gibt, daß die meisten davon eßbar sind, und daß nur wenige giftige Gattungen bekannt sind. „Wir werden Schleppnetz und Lampe im großen Ozean erst eigentlich zur Verwendung bringen,“ schloß er, „und dort jene interessanten Geschöpfe kennen lernen, die zwischen dem Pflanzen- und Tierreich gleichsam einen Übergang bilden, die Quallen in unzähligen Formen, die Korallen und Schwämme, — das alles hat da seine wahre Heimat. Ebenso habe ich für seichte und vor den Haien geschützte Buchten auch einen Taucherapparat mitgenommen. Gewiß sind mehrere unter Ihnen, die sich auf die Anwendung desselben verstehen?“ fragte er die Matrosen.

Ein mehrstimmiges „Ich, Herr!“ beantwortete diesen Satz, und der alte Steuermann fügte sogar bei, daß auf den Inseln des Stillen Ozeans jeder Mann ein geborner Taucher sei. „Ich habe oft gesehen, wie sie sich dem auf dem Grunde der Bucht behaglich liegenden Hai im Fluge nähern und ihn mit einem Stock oder wohl gar mit der ausgestreckten Hand zum Zorn reizen, damit er an die Oberfläche kommen und sich harpunieren lassen möge,“ sagte er.

„Essen denn diese Menschen das Raubtier?“ fragten erstaunt die Knaben.

„O, das essen auch wohl noch andere,“ meinte der Alte. „Ich habe manchen Hai mit eingefangen und verzehrt, namentlich bei langen Reisen, wo das Trinkwasser faul und das Fleisch knapp wurde. Da nimmt es der hungrige Magen nicht so genau.“

„Aber wenn nun der Hai vielleicht am Tage zuvor einen Menschen gefressen hatte,“ rief voll Entsetzen Franz.

„Das mag häufig genug vorgekommen sein, mein Junge. Früher gab es aber auf Schiffen kein Fleisch in luftdichten Blechdosen, wie jetzt, kein eingemachtes Gemüse und keinen Apparat, um das Salzwasser genießbar zu machen, — die Naturwissenschaften haben in den letzten fünfzehn Jahren das Los der Seeleute zu einem vollständig anderen, besseren umgeschaffen.“

„Und wir sind Naturforscher!“ rief Hans.

Alles lachte. Der Abend war so schön und die Gemüter so angeregt, daß man an diesem Tage später als sonst die enge, heiße Koje aufsuchte. Früh morgens brachte ein Boot die beiden Knaben mit Holm und ihrem Erzieher sowie einer Anzahl Matrosen von der „Hammonia“ an Bord des kleinen Bugsierdampfers „Hansa“, der vor Lagos liegt und die größeren Schiffe über die den Eingang sperrende Barre hinüberschleppt. Des Sonntags wegen war er von den hamburgischen Reedern, denen er gehörte, den jungen Söhnen ihrer Vaterstadt gern zur Verfügung gestellt worden, und so dampfte man denn nach kurzer Küstenfahrt lustig in den stark bewegten Strom hinein. Wahre Riesenstämme erhoben sich zur Rechten und Linken. Mangrovengebüsche drängten sich zuweilen bis weit in das Fahrwasser vor und ein vielgestaltiges Tierleben begann die Ufer zu schmücken.

„Zuerst beseht euch die Mangroven,“ ermahnte Holm. „Sie werden nur in den Tropen getroffen und sind immer grün; gerade diese Baumgattung ist es, die an der afrikanischen Küste das Landen so sehr erschwert. Jeder Busch bildet für sich ein kleines Wäldchen.“

„Wie langes Haar hängt es von den Zweigen herab!“ rief Franz.

„Das sind die Wurzelfasern. Jede einzelne treibt, sobald sie den Schlamm berührt, neue Schößlinge und wächst, selbst noch zum Mutterstamme gehörig, wieder als faserbildender Busch empor. Dadurch entstehen die gefährlichen tropischen Sümpfe, welche, weder Land noch Wasser, pestartige Dünste aushauchen und den wilden Tieren als Aufenthalt dienen. Unter und zwischen den engverbundenen Stämmen bilden sich ganze Moräste sowohl als auch Grasflächen.“

Immer dichter und üppiger wurde das Gewirre. Schlanke Stechpalmen ragten daraus hervor, himmelhohe Farne wiegten sich im Wind, und ungezählte Blumen durchflochten das Ganze. Auf den Wipfeln der Bäume nisteten zu ganzen Scharen Fischaare und Eisvögel, im Gras unter denselben lagen Wasserböcke, Rohrböcke und Buschböcke. Andere wilde Tiere zeigten sich nicht, nur einmal ein Leopard, der aber schleunigst das Weite suchte. Der Strom wurde zuletzt immer schmäler und mündete in einen See, von welchem mehrere Arme in verschiedene Richtungen ausliefen. Einen davon bezeichnete der Kapitän des Dampfers als den Hauptaufenthalt der vielen in dieser Gegend lebenden Flußpferde. „Sie stecken im Schilf,“ sagte er, „und betreten am Tage nur selten das Ufer. Man hört sie wie Ochsen brüllen und sieht sie das Wasser aufblasen, aber ganz nahe kommt man ihnen fast nie.“

Das größte Boot wurde nun ausgesetzt und bemannt, unsere Jäger nahmen Platz und fort ging es in den schmalen Flußarm, mitten in das Herz der grünen Wildnis hinein. Die Ruderer mußten natürlich oft mit den Rudern gegen das Schilf stoßen, mußten die Mangrovenfasern zurückschlagen oder durch natürliche Laubgänge fahren, sie hielten zuweilen auf Holms Bitte gänzlich an und entdeckten auch selbst an manchen Stellen Neues und Schönes, das erst besehen wurde. Hier ein Dorf oder eine Kolonie der kleinen fleißigen Webervögel, die ihre Nester aus Halmen glockenförmig und enggedrängt neben einander unter die Baumzweige hängen, dort Nashornvögel in der ganzen Pracht ihrer Farben und etwas weiter hin Herden gefleckter scheuer Antilopen. Wohin das Auge traf, begegnete ihm Schönheit, lockte der Zauber des Waldes zum Ausruhen, zum Genießen, — nur die gewünschten Flußpferde zeigten sich nicht.

Plötzlich — horch! unter den Mangroven zur Linken regte sich’s. Das Wasser kräuselte, die Zweige rauschten, und einige kleine Vögel flogen erschreckt davon, dann wurde wieder alles still. Die Reisenden sahen einander an. „Was war das?“

„Vorsichtig!“ ermahnte Doktor Bolten. „Jede Art gefährlicher Raubtiere lebt hier herum.“

„Aber in das Boot hinein kann keines kommen. Ich will einmal nachsehen, was sich da bewegte!“

Und Franz fuhr mit dem Ruder in die Gebüsche hinein. Ein Pistolenschuß, den Holm abfeuerte, begleitete diese energische Nachforschung, aber der Erfolg war anders, als man es erwartete. Ein Schrei aus Menschenkehlen durchzitterte die Luft, ein schwarzes Gesicht, bis an den Mund im Schilf verborgen, sah mit dem Ausdruck der Todesangst zu den Weißen hinüber, während gleichzeitig ein Boot mit etwa zehn Negern an dem der Europäer vorbei das Weite zu gewinnen suchte. Kaum sahen aber die Schwarzen den in bedeutender Entfernung quer vor dem Flußarm liegenden Dampfer, als sie mutlos die Ruder sinken ließen und sich hockend im Kahn zusammendrängten. Die Feuerwaffen schienen ihnen den entsetzlichsten Schreck eingeflößt zu haben.

Erst jetzt entdeckte man, daß der im Schilf stehende Schwarze mittels eines Riemens aus Wurzelfasern am Boot befestigt war. Zwischen seinem Körper und dem Fahrzeug befand sich eine Schnur von etwa sechs Meter Länge.

Die Weißen sahen einander an. Was mochte das zu bedeuten haben? — „Versteht keiner unter Ihnen die Sprache dieser Leute?“ fragte Doktor Bolten die Matrosen.

„Ein paar Worte kann ich schon,“ meinte einer, „aber viel ist es nicht. Wir müssen die Mohrenkerle zutraulich machen.“

Er nahm aus dem Vorratskasten eine Branntweinflasche und trank etwas von dem Inhalt derselben, dann reichte er sie den Schwarzen hinüber. „Prosit, ihr Affengesichter! Nun laß dir’s wohlschmecken, altes Haus.“

Der Mund des Negers verzog sich von einem Ohr zum anderen. Ein Schnalzen mit der Zunge, ein Schlagen beider Hände auf die Kniee bewies nur allzu deutlich, daß er das Feuerwasser der Weißen nicht erst in dieser Stunde kennen lernte. Die Flasche nehmen und sie an die Lippen setzen war eins.

Und nun schien der Bann gebrochen. Die Neger, offenbar auf der untersten menschlichen Bildungsstufe stehend, duldeten es, daß sich das Boot der Weißen seitlängs legte, und daß der Matrose, welcher ihre Sprache verstand, einige Fragen stellte, besonders weshalb denn einer unter ihnen neben dem Fahrzeug her schwimmen müsse.

Die Wilden kamen, nachdem sie etwas zutraulicher geworden, hinüber in das andere Fahrzeug, sie betasteten jeden Gegenstand mit alleiniger Ausnahme der Gewehre, denen sie einen heillosen Respekt entgegen zu bringen schienen, sie ließen sich mit Entzücken Knöpfe, Münzen und sonstige Kleinigkeiten schenken, flüchteten aber vor einer Spieluhr, welche Franz heimlich aufzog und ihnen zeigte, bis in den fernsten Winkel ihres eigenen Bootes hinüber. Erst als sich in ziemlicher Nähe ein lautes, langgezogenes Brüllen hören ließ, griffen sie schleunigst zu ihren Harpunen; der Schwimmende sprang schnellstens in das Wasser zurück und binnen wenigen Minuten wäre die ganze Gesellschaft verschwunden gewesen, wenn sich nicht unterdessen der Matrose mit dem Häuptling derselben verständigt hätte.

„So ist die Geschichte!“ rief er. „Na, dann spanne sich nur einer von euch schwarzen Teufeln vor unser Boot; wir nehmen’s gar nicht übel, bedanken uns vielmehr ganz ergebenst, denn für uns wäre es durchaus kein Vergnügen, im Schlamm zu krabbeln, aber Flußpferde schießen wollten wir doch gern. Allons! Ihr seid waschecht, euch schadet das bißchen Schmutz nichts!“

Während dieser Rede hatte er durch einzelne Worte und durch Bewegungen die Neger dahin verständigt, daß sie auch die Führung des zweiten Bootes übernahmen. Seinen Reisegenossen dagegen setzte er auseinander, was ihm der Häuptling mitgeteilt. Die Schwarzen waren Flußpferdjäger und ihr Verfahren, um diese Tiere aufzutreiben, ein höchst eigentümliches. Der Schwimmer an der Leine reizt den im Uferschilf verborgenen oder gar auf dem Grunde liegenden Koloß zum Zorne, so daß er an die Oberfläche kommt und harpuniert werden kann. Die Jäger im Boote müssen dann aber mit vereinten Kräften den gefährlichen Widerstand des Tieres zu bewältigen suchen, so daß diese Jagd immer eine äußerst aufregende ist, namentlich da die hölzernen Waffen zwischen den Zähnen des Ungeheuers wie Strohhalme zerbrechen.

Ein zweiter Schwimmer spannte sich vor das Boot der Weißen, auch das Ruder ging in schwarze Hände über und schneller als vorher glitten, nachdem die gefürchtete Spieluhr unsichtbar geworden war, beide Fahrzeuge durch das Wasser dahin. Jenes dröhnende Gebrüll, das schon einmal die Aufmerksamkeit der Neger erregt hatte, tönte jetzt nahe und näher. Der Flußarm erweiterte sich, ganze Strecken von Schilf, bis zu halber Höhe überflutet, dehnten sich nach rechts und links, und inmitten desselben lagerten an mehreren Stellen die Weibchen der Flußpferde mit ihren Jungen. Von Röhricht und Wasser verdeckt blinzelten sie mit den dummen Schweinsaugen schläfrig herüber, ohne indessen, da die Boote nicht in ihre unmittelbare Nähe kamen, sich aus der bequemen Stellung, die sie inne hatten, zu rühren. Keiner der beiden Schwimmer nahm von ihnen die mindeste Notiz.

Jetzt aber tauchte plötzlich der eine, worauf unter dem Wasser ein Rauschen und Toben entstand. Die Halme bogen sich, die Wellen gingen höher und höher, das Boot wurde durch einen heftigen Ruck vorwärts gezogen, der Schwarze erschien mit dem Wollkopf über der Oberfläche, um zu atmen und tauchte dann nochmals, — alles während kurzer zwei Minuten.

In dem anderen Boote hielten sämtliche Neger die Wurfwaffen handgerecht; sie schienen zu wissen, daß jetzt der Augenblick der Jagd herangekommen war. Gespannten Blickes verfolgten sie das Toben und Schlagen unter dem Wasser.

Und dann erschien plötzlich unter der trübegewordenen Flut ein plumper Kopf, fast viereckig, mit kleinen Augen und drohenden Stoßzähnen. Einige ruckartige Bewegungen förderten den ganzen Koloß zu Tage und auf die ziemlich flache Uferwand. Prustend und schnaubend, das Wasser aus den beiden Spritzlöchern hoch empor schleudernd, so stand der Hippopotamus, der einzige seiner Art, im Schilf und brüllte wie ein wütender Stier, obgleich seine ganze Erscheinung weit mehr derjenigen des gemästeten Schweines glich. Reichlich vier Meter lang und über zwei Meter hoch, hatte er eine bräunliche, haarlose, purpurn durchschimmerte Haut, einen Hängebauch, der beinahe den Boden berührte und plumpe, schwarze, viereckige Füße, kurz er war alles in allem von so unbeschreiblicher Häßlichkeit, daß nicht einmal der Zorn, welcher ihn im Augenblick beherrschte, dieselbe vergeistigen und wenigstens furchtbar machen konnte.

„Laßt uns nicht schießen!“ rief Holm. „Ich möchte sehen, wie die Neger diese Jagd zu Ende führen.“

Im selben Augenblick schwirrten auch schon die Harpunen durch die Luft, und wenigstens ihrer sechs zitterten an den langen Leinen, welche sie hielten, im Fleische des Ungeheuers. Jetzt mochte dieses die Gefahr begreifen; es wollte, dem ersten Antrieb gehorchend, flüchten und trat rückwärts, aber schon waren sämtliche Neger Hals über Kopf aus dem Boot an das Ufer gesprungen und zogen mit vereinten Kräften das Tier zu sich heran. Die mächtigen Kinnladen schlugen voll Wut gegen einander, der Körper, bluttriefend und von Wunden zerrissen, bog sich mit der größten Anstrengung nach hinten, die plumpen Füße glitten aus und die ganze schwere Masse stürzte vor Schmerz brüllend in dröhnendem Fall auf den Erdboden.

Noch während ihm die Eisenwaffen der Neger den Garaus machten, schlug der Hippopotamus mit den Füßen um sich und zerbiß, was er erreichen konnte; jetzt aber war sein Schicksal besiegelt, schon nach wenigen Augenblicken hatte er aufgehört zu leben. Unter dem Jubelgeschrei der Schwarzen wurde er sofort in Stücke zerlegt, auch die Weißen verfolgten das anregende, ungewohnte Schauspiel mit dem lebhaftesten Interesse, und eben wollten sich die Knaben an Land begeben, als plötzlich der Schwimmer einen lauten Ruf ausstieß. Dicht vor dem Boote erschien ein behaarter Kopf, dem alsbald der ganze Körper folgte. Ein dumpfes, anhaltendes Gebrüll, die dunklere Farbe und die erstaunliche Größe zeigten das alte, zornige Männchen; die gelbgefärbten, spitzen Hauer ragten bedrohlich aus dem weitgeöffneten Maul hervor, und die ganze Haltung bewies, obwohl sich das Tier scheinbar ruhig verhielt, daß es dennoch zum äußersten entschlossen sei.

Die Neger ließen bei diesem Anblick plötzlich ihre blutige Arbeit fallen und warfen sich mit den Gesichtern in den Sand. Einer unter ihnen ging mit vorgehaltenen Händen, ohne Waffen, zitternd an allen Gliedern, der Stelle zu, wo mitten im Schilf das kolossale Tier, der Behemot unserer christlichen Überlieferung, brüllend mit gesenktem Kopfe dastand. Nur der Matrose, welcher vorhin die Schwarzen angeredet, verstand was er sagte. „Du bist der Uralte dieser Gewässer, du bist der Mähnenträger, der furchtbare, den Abosam gesandt, du bist es, der schon die jungen Leute mit seinen Hufen zertreten hat, als unsere Großväter an deinen Weideplätzen wohnten, und der noch das dritte und zehnte Geschlecht nach uns zertreten wird, bis der Geist, welcher in den Wolken wohnt, die Erde nehmen und sie zerschmettern mag wie einen Ball. Wir verfolgen dich nicht, Furchtbarer, wir haben dich nicht gerufen, — geh zurück in dein Reich.“

Die Worte wurden in singendem, beschwörendem Tone gesprochen, und nachdem sie der Neger beendet, fing er an zu tanzen. Es war aber ein sonderbarer, fast schauerlicher Tanz, dem der Ausdruck des Entsetzens in den schwarzen Zügen eigentümlich widersprach. Sich langsam von einer Seite zur anderen drehend, behielt er fortwährend den Feind im Auge, hob plötzlich, den Oberkörper zurückbiegend, beide Arme über den Kopf und schlug dann mit den Händen von oben nach unten durch die leere Luft. Der Hippopotamus blieb in seiner zuwartenden Stellung, von Zeit zu Zeit brüllte er eine kurze, herausfordernde Antwort oder spritzte hohe Wasserstrahlen durch die Nasenlöcher hervor, dann sah er sich wieder im Kreise um und peitschte ungeduldig die Wellen. Es schien, als sei er auf einen Angriff gerüstet.

Der Matrose hatte unterdessen die Worte des Negers ins Deutsche übersetzt. „Was meinen Sie, Herr Doktor,“ fragte er blinzelnd, „wollen wir dem Uralten eins auf seinen borstigen Kopf brennen, daß er es vergißt, mit den großen Elefantenfüßen die schwarzen Kerle zu zertreten? Mir deucht, das wäre ein kapitaler Spaß.“

„Sie sehen ihn für eine Art von bösem Geist an!“ rief Franz. „Laßt uns die Bestie niederschießen, damit die armen, unwissenden Menschen ihren Irrtum erkennen.“

„Wo ist der Schwimmer geblieben?“ fragte Holm. „Wahrhaftig, auch der hat sich beizeiten aus dem Staube gemacht.“

„Feuer!“ kommandierte Doktor Bolten. „Wenn die mißleiteten Heiden das Blut fließen sehen, so werden sie sich ja nicht länger vor ihrem Behemot fürchten.“

Mehrere Schüsse krachten zugleich, ein Schreckensschrei der Neger begleitete den Schall, und über das ganze Boot hin spritzten schlammige Wellen. Das Flußpferd raste förmlich. Die schwarzen Borsten an der Nase und den Ohren standen kerzengerade empor, der ungeheure Kopf riß ganze Büschel von Schilf und Ranken aus den Uferwandungen, das Gebrüll glich dem fernen Rollen des Donners. Es blutete aus mehreren Wunden, ohne tödlich getroffen zu sein.

S. 50.

Der „Uralte der Gewässer“.
„Es war aber ein sonderbarer, fast schauerlicher Tanz, dem der Ausdruck des Entsetzens in den schwarzen Zügen eigentümlich widersprach!“

Der Neger, welcher vorhin getanzt hatte, lag jetzt neben den übrigen im Sande, aber nicht ohne fortwährend seine Beschwörungsformeln zu murmeln und die Hände über den Kopf zu erheben. Das Wort „Abosam“ (Teufel) wiederholte sich häufig, der Ton aller dieser Worte verriet die innerste Herzensangst.

„Das Tier ist nur leicht verwundet!“ rief Holm. „Wir müssen auf die Augen zielen. Feuer.“

Eine zweite Ladung von Kugeln traf den Dickhäuter, zugleich aber trieben die Wellen, durch das Stampfen und Toben des wütenden Flußpferdes in Bewegung gebracht, den Kahn bis in die tiefere Mitte des Wassers. Der getroffene Koloß, halb und halb schon taumelnd im letzten Kampfe, brüllend vor Schmerz und Wut, näherte sich mit ungestümer Bewegung dem Boote und packte von oben und unten den Rand desselben. Die gewaltigen Hauer schlugen tief in das Holz hinein, die breite Brust hob wie einen Strohhalm das Fahrzeug empor und warf es samt allen seinen Insassen mit solcher Macht in das Wasser, daß dieses hoch aufspritzte und im zischenden Strudel das Boot weit hinausschleuderte. Kieloberst schaukelte es im Schilf, — von den Weißen war keine Spur mehr zu sehen.

Das Flußpferd taumelte, machte Schritte nach rechts und links, schüttelte den Kopf wie in unerträglichem Leiden und fiel schwer zurück in das Schilf. Nur halb vom Wasser verborgen, lag es tot und regungslos da. Die Neger verbargen noch immer ihre Gesichter.

Mitten im Wasser arbeitete und kämpfte es, ein Kopf kam zum Vorschein, — Franz sah aus den Fluten hervor. „Helft doch!“ rief er mit lauter Stimme, „um des Himmels willen, so helft doch! Wollt ihr denn um eurer unsinnigen Furcht willen andere Menschen ertrinken lassen?“

„Hierher, Franz!“ rief hinter dem Knaben der junge Gelehrte. „Faß an.“

Er hatte sich halben Leibes aus dem Wasser herausgearbeitet und hielt in seinen Armen den jüngeren Knaben. „Ach, das ist gut, Hans kommt schon wieder zu sich! — Jetzt rasch, damit wir unseren alten Freund noch rechtzeitig finden.“

Er hob den taumelnden Knaben an das Ufer, und nun begann auf dem Grunde des Flusses die eifrigste Nachforschung, der sich auch binnen wenigen Augenblicken sämtliche Matrosen anschlossen. Es war allen gelungen, die Oberfläche zu erreichen, nur Doktor Bolten allein mußte, vielleicht vom Schilf zurückgehalten oder von einer Ohnmacht ergriffen, dem Anschein nach als verloren gelten. Selbst sein Körper konnte nicht entdeckt werden.

Die Neger hockten im Kreise um den gefallenen „Uralten“ ihrer Flüsse. Sie sprachen mit ihm, sie betasteten vorsichtig seinen großen Kopf und schlugen mit Binsen auf die dunkel gefärbte, haarlose Haut, ohne sich im mindesten um das Geschick der Fremdlinge zu bekümmern. Als sie sich überzeugt hatten, daß das Leben des Gefürchteten entflohen sei, faßten sie sich wie Kinder an die Hände und begannen einen Freudentanz, wobei sie sich abwechselnd auf den Rücken warfen und in rasender Eile herumwirbelten. Sowohl ihre Jagdbeute als auch die Feuerwaffen der Weißen waren vergessen, — nur daß der Abkömmling Abosams tot vor ihnen dalag, schienen sie zu begreifen.

Die Stimme des Matrosen rüttelte sie auf. „Wollt ihr gleich Hand ans Werk legen, ihr schwarzen Teufel!“ rief er. „Wir vermissen noch einen Mann, helft uns ihn wiederfinden.“

Die Neger drängten sich schnatternd zusammen, und nach kurzer Beratung trat der, welcher ihr Anführer zu sein schien, vor. „Ob die Weißen den Körper des getöteten Tieres herausgeben und darauf keinen Anspruch machen wollten?“ fragte er zögernd.

„Alle fünfhundert Peitschen, die ihr aus dem Fell schneiden könnt, sollen euch auf dem schwarzen Rücken tanzen, wenn ihr nicht zugreift!“

Diese kräftige Ermunterung genügte, um alle Unverschämtheit in Respekt zu verwandeln. Die ebenholzfarbigen Männer tauchten unter das Wasser wie Enten, oder schwammen dem Boote nach, holten vom Grunde die Ruder und Gewehre herauf und suchten emsig den Körper des offenbar Ertrunkenen. Ehe mehrere Minuten vergingen, brachten sie den ganz von Schilf und Wasserpflanzen umstrickten Körper an die Oberfläche. Doktor Bolten hatte allem Anschein nach aufgehört zu leben.

Die Schreckensrufe der Knaben unterbrachen das lastende Stillschweigen; einer nach dem andern versammelten sich alle, Matrosen, Neger und die Reisegefährten selbst, um den unglücklichen, seinen Freunden so teuren Mann, auch Hans schlich herzu, obgleich er sich selbst kaum auf den Füßen halten konnte. Niemand dachte an die Gefahr der Lage, an die durchnäßten Schießwaffen und verlorenen Lebensmittel, sondern aller Augen verfolgten gespannt und ängstlich die Bemühungen Holms, der nun den Ertrunkenen nach ärztlicher Weise zu behandeln begann. Zuerst legte er unter Beistand der Matrosen den Körper auf Bauch und Gesicht, um das eingedrungene Wasser herausfließen zu lassen, und dann brachte er seinen Mund an den des anderen, fortwährend aus allen Kräften in die unthätigen mit Blut überfüllten Lungen Luft hineinblasend, während zugleich Franz die inneren Handflächen rieb, und ein paar Neger die entblößten Füße mit Nesseln peitschten. Aber trotz aller dieser vereinten Bemühungen dauerte es lange Zeit, bevor der Verunglückte die ersten Lebenszeichen gab; man verbrachte eine angstvolle halbe Stunde und fing schon an, die Sache als hoffnungslos fallen zu lassen, da endlich kehrten Wärme und Atem zurück, die Lippen bewegten sich, und ein Schauer durchlief den ganzen Körper. Es galt jetzt nur noch, die gesunkenen Kräfte des alten Mannes durch einige stärkende Nahrungsmittel wieder zu beleben und ihn, ehe das Bewußtsein erwachte, wenigstens in trockene Gewänder zu hüllen.

Da das Negerdorf etwas weiterhin unmittelbar am Flußufer lag, so wurde langsam der Weg dorthin fortgesetzt. Einige Schwarze blieben bei den erlegten Tieren zurück, die anderen ruderten, und nach wenigen Minuten war die kleine Niederlassung erreicht. Mitten im Walde belegen, nur aus einer geringen Anzahl von Hütten bestehend, zeigte sie sich als das Bild trostlosester Armut. Zwischen Pfützen und Lachen, in denen sich Schweine mit verschiedenem Geflügel einträchtig tummelten, sah man die spitzen Rohrdächer der Wohnungen oft an mehreren schwankenden Pfählen befestigt, ohne daß zwischen diesen letzteren irgend eine Wand zu entdecken gewesen wäre. Wie alle Negerhäuser etwas über dem Erdboden belegen, also Pfahlbauten, hatten sie einen dürftigen Bambusfußboden und ein paar Matten zur Lagerstatt, weiter nichts; nur die allerwenigsten zeigten feste Wände.

Frauen und Kinder liefen den Ankömmlingen entgegen, hundert Stimmen sprachen zugleich; das gutmütige Völkchen brachte den schrecklichen Kaffee der Kolanuß sowie den Branntwein, welcher vielfach in tropischen Ländern aus den Wurzeln einer Pfefferart gewonnen wird, kurz die schiffbrüchigen Fremdlinge wurden außerordentlich gastfrei aufgenommen, und als endlich der langsam Erwachende in Matten gehüllt sicher gebettet lag, als Holm erklärte, daß nun alle Gefahr vorüber sei, da kehrte bei den Knaben das Vergnügen des Abenteuers, das Verlangen, sich die Negerhütten näher zu besehen, mit Macht wieder in die Herzen zurück. Sie mußten ja ohnehin die nassen Kleider am Körper trocken laufen und spürten auch infolge des kalten Bades einen Hunger, der ihnen nur durch die Gastfreundschaft der Schwarzen gestillt werden konnte. „Gib acht,“ flüsterte Franz, „man setzt uns Affenbraten vor, — ich habe das bei den Gallinas erlebt.“

So wohl sollte es indessen den jungen Naturforschern nicht werden. Als die ganze ausgehungerte Schar so plötzlich über das arme kleine Dorf herfiel und vor allen Dingen essen wollte, da erschien auf den großen, grünen Blättern, welche Teller und Tafeltuch zugleich vertreten mußten, ein Gericht, das sämtliche Deutsche dem Aussehen nach für geschnittenen weißen Kohl hielten, und das in einer Art von Pfanne auf offenem Feuer vor den Hütten geschmort worden war. Franz roch daran, „Essig gibt’s hier nicht, — schade!“

Der Matrose hob ein paar Fäserchen von seinem Blatt empor. „Das sieht mir aus wie Mückenbeine!“ sagte er bedenklich. „Hm, hm, auf dem Halm oder sonst aus irgend einer Wurzel heraus ist die Geschichte nicht gewachsen.“

Hans schauderte. „Sie meinen doch nicht, daß es Tiere sind, Maat?“

„Sehen Sie einmal dahin, junger Herr! Rechts auf Ihrem Teller lebt das Gericht noch und will eben jetzt mit geknickten Beinen Reißaus nehmen, — Heuschrecken, sage ich Ihnen, leibhaftige Heuschrecken.“

Und so war es wirklich. Zu Tausenden auf dem Felde eingefangen, wurden diese Tiere von den Wilden zwischen zwei flachen Steinen zermalmt und mit etwas Fett und Gewürz einige Augenblicke lang der Hitze ausgesetzt. Daß dabei das eine oder andere arme Geschöpf nur halb getötet worden und noch lebend und zappelnd in die Glutpfanne gelangt war, — nun das ließ sich nicht ändern. Es schmeckte auch roh gut, wenigstens verspeisten die reichlich umherspielenden Kinder mit Behagen jedes Insekt, das ihnen über den Weg lief.

Den Deutschen war der Appetit gründlich vergangen. Etwas anderes als das graugrüne, unangenehme Gemisch vor ihnen gab es in dem Negerdorf nicht, was blieb daher übrig, als zur Unglücksstätte zurückzufahren und ein tüchtiges Stück Fleisch des erlegten Dickhäuters herbeizuholen? Gedacht, gethan! Zwei Matrosen mit den Knaben ruderten wieder stromauf, während die beiden anderen bei den durchnäßten Gewehren Wache hielten und dieselben so gut als es ging von dem eingedrungenen Wasser reinigten. Als die Abgesandten mit einem tüchtigen Braten beladen wieder anlangten, wurde ein starkes Feuer entzündet, Pfefferkörner und Salz mit einigen frischen Lorbeerblättern, einer Zwiebel und einer Menge grüner Bohnen, die reichlich rings umher wuchsen, zum Feuer gesetzt und das abgewaschene Fleisch hinzugethan. Ein Matrose spielte den Koch und gab ganz ernsthaft den übrigen seine Befehle. „Sie, junger Herr, pflücken Sie gefälligst ein paar reife Melonen, die ich dort in großer Menge wachsen sehe, und Sie, besorgen Sie für die Gesellschaft einige Teller! Flache Steine wären mir aber bei meiner armen Seele lieber als Blätter, denn ob das Fleisch sehr mürbe werden wird, steht einstweilen noch dahin, — wir müssen es vielleicht nachdrücklich mit dem Messer bearbeiten. So, jetzt wäre die Hauptsache gethan. Im Fall es ein Schweinebraten sein sollte, müssen wir uns Zwiebel und Lorbeer, im Fall es ein Pferdebraten ist, die Bohnen hinwegdenken. Ein weiser Haushalter bereitet sich vor auf alle etwa eintretenden Verhältnisse, und wer noch keinen Hippopotamus verspeisen half, der kann nicht wissen, wie er schmeckt. Ich habe gesprochen!“

Die übrigen lachten. Wie der helläugige, spitzbübisch lächelnde Sohn Hammonias mit untergeschlagenen Beinen, den Eisenlöffel in der Hand, vorm Feuer saß und Befehle gab, die alle sofort befolgt wurden, da schwand aus den Herzen der letzte Schatten des Unbehagens, Franz pflückte Beeren und Früchte verschiedenster Art, Hans sammelte Nüsse für den Nachtisch, ein Matrose zerrieb zwischen zwei Steinen die reifen Maiskörner, um Mehl für einige Klöße zu gewinnen, und der letzte suchte die nötigen Teller zusammen, welche dann im Flusse erst einer gründlichen Reinigung unterzogen wurden.

Als Franz zur Feuerstelle zurückkehrte, hob der Matrose den Deckel vom Topf. „Nun, junger Herr, wonach riecht’s?“

Franz beugte sich über die wallenden Dampfwolken. „Nach etwas außerordentlich Gutem, Maat! Ich glaube, es wird ein Schweinebraten!“

Er nahm mit dem Taschenmesser eine Bohne aus dem brodelnden Gemisch heraus und aß sie mit Behagen. „Noch nicht gar,“ erklärte er, „aber sehr schön schmeckend. Ob wohl diese schwarzen Menschen gar keine Gemüse essen?“

„Das wollen wir gleich sehen.“ Und der Koch nahm aus dem Gefäß einen Löffel voll Bohnen, den er zierlich gegen eine der anwesenden Frauen vorstreckte. „Diese ehrenwerte Madame oder das gnädige Fräulein — man weiß hier nicht so recht, wie es mit den Titeln steht — hat schon seit einer Stunde heimlich die Heuschreckenpastete benascht,“ sagte er, „immer wenn ich zur Seite sehe, schwebt so ein unglücklicher Grashüpfer zwischen den schwarzen Fingern und den greulichen, spitzgefeilten Zähnen, die edle Dame muß also einen gewaltigen Hunger im Kamisol haben. Don’t schenir you!“

Mit dieser letzteren, aus englisch und deutsch in freier Bearbeitung zusammengesetzten Ermunterung bot er der Negerin den Inhalt des Löffels, aber eine hastige, abwehrende Antwort, nur dem Tone nach verständlich, schallte ihm entgegen. Die Schwarze wandte sich schaudernd ab.

Der Matrose zuckte die Achseln. „Kann dir nicht helfen, meine Schöne,“ sagte er, „es kommt im Leben allemal auf den Geschmack an. Was thut ihr denn aber mit den Bohnen, he?“

Die Frau mochte den Sinn dieser Frage verstehen. Sie nahm aus einer Ecke der Hütte anstatt aller Antwort eine Handvoll trockner Bohnen und warf sie den Hühnern vor.

„Dazu?“ nickte der Matrose. „Würde übrigens den guten Eierspenderinnen lieber die Heuschrecken überlassen und die Bohnen selbst behalten. Aber — chacun à son känguruh, wie, glaube ich, die Franzosen sagen. — Junger Herr, wollen Sie jetzt zu Tische rufen?“

Laut lachend sprang Franz davon und wandte sich der anderen Seite des Dorfes zu, wo mittlerweile sein alter Erzieher in mehrstündigem Schlaf die Folgen des unvermuteten Bades überstanden hatte. Der würdige Gelehrte steckte bis über die Schultern in einem Haufen von angenehm duftenden, trocknen Farnkräutern, auf dem auch sein Haupt einen behaglichen Ruhepunkt gefunden. Seine Kleider schaukelten an den nächsten Baumstämmen.

Die ohnehin durch das Französisch des Matrosen erregte Heiterkeit schwoll bei diesem Anblick in der Seele des Knaben bis zum lauten, jubelnden Ausbruch. Er warf sich lachend neben dem seltsamen Blätterlager auf die Kniee und küßte seinen väterlichen Freund der so nahe, so nahe an den Pforten des Todes dennoch dem Leben glücklich erhalten worden war. „Wir wollten bei Ihnen bleiben, Herr Doktor,“ sagte er herzlich, „aber Karl schickte uns fort, Hans und mich.“

„Daran that er sehr recht,“ antwortete lächelnd der alte Herr. „Es war für euch besser, das kaltgewordene Zeug laufend und springend zu trocknen, als hier zu sitzen und mich schlafen zu sehen. Das Flußpferd hätte mir übrigens um ein Haar den Garaus gemacht, ich stürzte kopfüber in ein undurchdringliches Gewirre von Pflanzenfasern, wollte mich herausarbeiten und geriet immer tiefer hinein, bis ich das Bewußtsein verlor. Die Neger müssen gerade diese gefahrbringende Stelle gekannt haben, sonst würde ich nimmer gefunden worden sein.“

„Sie sind alle wieder zu den erlegten Tieren zurückgekehrt,“ berichtete Franz. „Es scheint, als ob sie den Uralten ihrer Flüsse jetzt auch nicht eher aus den Augen lassen wollen, bis er in hundert Stücke zerlegt und seine Wiederkehr unmöglich geworden ist.“

„Jetzt laßt uns nur eilen, um erst einmal tüchtig zu essen,“ riet Holm. „Nachher zeige ich euch am Ufer ein Schauspiel, das allerdings nicht großartig, aber höchst komisch ist. Hier, Herr Doktor, Ihre Garderobe, — es scheint alles ziemlich trocken.“

Franz half seinem Erzieher, der sich doch immer noch etwas matt fühlte, und dann wanderten die drei bis zu der Stelle, wo eben die letzten, kugelrunden, von den derben Fäusten des Matrosen gedrehten Klöße gar geworden waren, und wo das fertige Gericht im Topfe dampfte. Freilich beanspruchte das Fleisch recht gesunde Zähne, hatten die Klöße eine gewisse unleugbare Ähnlichkeit mit Bleikugeln, und waren die grünen Bohnen zu Brei zerkocht, aber dennoch aßen alle mit dem besten Appetit und bedauerten nur, den Wilden keinerlei Geschenke machen zu können. Als die Negerboote, beladen mit Jagdbeute, zurückkehrten, und jetzt das ganze Dorf erfuhr, welche Heldenthat die Fremdlinge verübt, da war der Bewunderung und des Jubels gar kein Ende. Ein Schwarzer mit einem seltsam geformten, aus Bambus angefertigten Instrument begleitete spielend und tanzend die Gäste, wohin sie gingen, und Frauen und Kinder warfen sich mit den Gesichtern in den Sand.

Durch den Matrosen, welcher ihre Sprache verstand, wurde ihnen ein reiches Geschenk zugesichert, und dann machten die Deutschen am Flußufer in der unmittelbaren Nähe der Niederlassung noch einen kleinen Spaziergang. Weit hinein in den Wald durften sie sich ja ohne alle Waffen nicht wagen.

„Kommt hierher,“ erinnerte Holm, „ich wollte euch etwas zeigen.“ — Er führte die übrigen zu einer Stelle, an welcher der Fluß ein breites, sandiges, ganz flaches Ufer besaß. Dort hatten sich Tausende von Krabben, — die kleinen Soldatenkrabben — eine neben der anderen aufgepflanzt und brachten den Sand mit ihren Scheren zum Munde. Es sah aus, als verzehrten sie die wenig einladende Speise, in der That aber sogen sie die darin enthaltenen tierischen Stoffe nur heraus, um ihn dann wieder fallen zu lassen. Ein klingendes, leises Geräusch, aus dem Erdboden herauftönend und wie fernes, leichtes Singen die Luft erfüllend, bezeichnete den Ort als Hauptansiedelung des Krabbengeschlechtes, deren größere Arten in unterirdischen Höhlen wohnen und dort ihre Konzerte aufführen.

Unsere Freunde verhielten sich lautlos, denn bei der geringsten Bewegung tauchten die Krabben in ihre Löcher hinein und verschwanden auf diese Weise buchstäblich bis in den Erdboden, — da bewegten sich unvermutet die niederen Gebüsche zur Seite des Strandes, und ein schwarzer Rüssel streckte sich vor. Kleine, verschmitzte Augen übersahen die freie Fläche, ein leichtes Grunzen wurde hörbar und eine Familie von Warzenschweinen, Papa und Mama mit acht Sprößlingen, erschien in Geschwindigkeit auf der Szene. Das Krabbenkonzert verstummte wie durch Zauberei, die kleinen Soldatenkrabben waren im Handumdrehen verschwunden, und die Schweine schienen um ihre gehoffte Beute betrogen zu sein. Dem war aber nicht so! Die Schlauheit des kleinen Gegners vollkommen würdigend, begannen die Räuber mit ihren plumpen Rüsseln den Sand aufzuwühlen und unbarmherzig die kleinen wehrlosen Geschöpfe zu verschlingen. Ihre häßlichen Köpfe hatten große, hängende, mit Warzen bedeckte Hautlappen, die erwachsenen Tiere, waren in der Größe etwa unserm Wildschweine gleich, von wildem Aussehen, mit einem gefahrdrohenden Gebiß, so daß es nicht geraten gewesen wäre, sich ihnen ohne Waffen zu nähern, namentlich da mehr und immer mehr Familien aus dem Walde hervorkamen, um hier ihre Abendmahlzeit zu halten. Einige Arten gruben auch Wurzeln aus der Erde oder fraßen Kräuter, die meisten aber durchwühlten den Sand nach Krabben.

„So lebt überall auf Erden immer eine Art von dem Untergang der anderen,“ sagte Holm, „die Natur aber sorgt für das trotzdem bestehende Gleichgewicht durch den Umstand, daß sich die Raubtiere in ihrer Anzahl zu den geraubten oder Pflanzenfressern wie eins zu sechs verhalten, und daß niedere Geschöpfe, z. B. Insekten, Kerbtiere, Muscheln und kleinere Fische in jedem Jahre nach Millionen neu entstehen, um einigen wenigen Verfolgern zur Nahrung zu dienen. Je wertloser das Einzelwesen, in desto größerer Menge ist es vertreten.“

„Wollen wir nicht jetzt, da doch leider keine Jagd mehr möglich ist, noch ein paar Vogelnester suchen?“ fragte Franz. „Eine Eiersammlung möchte ich gar zu gern von dieser Reise mit nach Hause bringen.“

„Auch Nester habe ich entdeckt!“ antwortete Holm. „Es wohnen hier herum ganze Scharen von Nashornvögeln, in jedem hohlen Baum wenigstens ein Pärchen.“

Man wanderte wieder bis unter die uralten Stämme zurück, und bald sah auch schon aus einem ganz kleinen, kaum handgroßen Loche der schöne, stolze Kopf eines Pfefferfressers hervor, während ein anderes großes und schöngezeichnetes Exemplar derselben Art dicht daneben saß, gleichsam Wache haltend und die Ankömmlinge mit seitwärts geneigtem Kopfe musternd, offenbar das Männchen der gefiederten Hausfrau, welche treulich im Nest ihre Eier behütete.

„Aber,“ rief Hans, „wie ist nur der stattliche Vogel dort hineingekommen? Jetzt kann ja kaum mehr der Kopf hindurch!“

„Das möchte ich auch wissen, mein Herr Naturforscher!“ fügte Doktor Bolten hinzu.

„So will ich das Rätsel einfach genug erklären!“ lächelte Holm, indes Franz bereits den Baumstamm zu erklettern begann. „Wenn das Nest im Innern der geschützten Höhlung erbaut ist, und alles für den Empfang der Jungen vorbereitet, dann vermauert der Herr Papa höchsteigenschnäbelig und sonder Rücksicht den Zugang, so daß Mama nicht mehr heraus kann, sondern wohl oder übel brüten muß, bis die Jungen im Nest zirpen. Freilich soll er bei dieser Gelegenheit auch beweisen, daß ein guter Hausvater es versteht, die Seinen zu ernähren, und ist daher von früh bis spät thätig, um Pfefferkörner aufzusuchen, so daß verschiedene Naturforscher behaupten, er werde unter dieser doppelten Anstrengung mager wie ein Skelett und sitze zuweilen vor Mattigkeit schwankend auf den Zweigen. Erst wenn das Brütegeschäft vollendet ist, wird die Gefangene wieder in Freiheit gesetzt.“

„Ein schöner, stolzer Vogel!“ meinte der Doktor. „Schade, daß wir ihn nicht schießen können. Dieser scheint noch keineswegs ermattet.“

„Ich will ihn fangen,“ erklärte Franz. „Auf ein paar Schnabelhiebe kommt mir’s weiter nicht an.“

Er hatte auch wirklich den Baumstamm bis zum Nest sehr bald erklettert, da aber erhob sich der Vogel und flog fort; es blieb also nur das eingesperrte Weibchen mit den Eiern. „Soll ich das Nest erobern?“ fragte lachend der junge Wagehals.

„Greife hinein und sieh nach, ob Eier oder Junge darin sind,“ antwortete Holm. „Ist ersteres der Fall, so gib mir ein Ei herunter.“

Franz begann, auf einem starken Aste stehend, das Gemäuer rings um den Zugang her zu zerbröckeln, aber nicht weiter als notwendig war, um die Hand hindurchzubringen, dann verband er dieselbe mit seinem Taschentuch und griff hinein. „Au!“ schallte es den übrigen entgegen, „Au! — Es sind Eier! — Au, du boshafte Kröte! wahrhaftig — da hast du eins, Karl! — wahrhaftig bis aufs Blut gebissen.“

Er reichte ein Ei dem jungen Naturforscher, der es gegen das scheidende Sonnenlicht hielt und zu seiner Freude noch ganz unbebrütet fand. Es mochte erst gestern oder heute gelegt worden sein. „Kannst du den Vogel ergreifen, Franz?“ fragte er. „Das wäre viel wert!“

„Ich will’s versuchen!“ rief der Knabe, „aber so leicht bekomme ich ihn nicht. Er beißt wie ein Papagei, — Au du! — Au!“

Holm lachte. „Das kommt mir vor wie jenes Rätsel: Es sieht aus wie eine Katze und miaut und schleicht wie eine Katze. Was ist es? — Ein Kater. So ungefähr ergeht es dir im Augenblick mit dem Verwandten der Papageienfamilie. Erkennst du nicht an Kopf und Schnabel die Art?“

Franz streckte den Arm aus und brachte das an beiden Flügeln gefangene Tier zum Vorschein. „Ja,“ seufzte er, „ich erkenne den Schnabel!“

Das klang komisch genug, um selbst ihn trotz seiner blutenden Wunden zum Lachen zu zwingen. Unter allgemeiner Heiterkeit wanderten die Eier in des jüngeren Knaben Strohhut, und dann trat unsere kleine Gesellschaft den Heimweg an. Holm trug an den Flügeln den gefangenen Vogel und machte Franz auf verschiedene Pflanzen aufmerksam, die auch eingesammelt wurden. Plötzlich machte Holm vor einem dichten Gebüsch aus dornigem Gestrüpp Halt und sagte: „Wir haben kein Gummi arabikum zum Kleben, jetzt ist die schönste Gelegenheit da, es zu besorgen.“

„Ich sehe aber keine Apotheke,“ entgegnete Franz.

„Wir beziehen unsern Bedarf direkt, ohne Zwischenhändler. Hier dieses Gesträuch ist der arabische Schotendorn, eine Akazienart, die das Gummi ausschwitzt, wie bei uns die Kirschbäume.“ Franz trat näher und fand an den Zweigen der Sträucher zahlreiche verhärtete Gummitropfen, die der Dornen wegen freilich mühsam zu sammeln waren. Es gelang ihm aber, Vorrat genug zu gewinnen. Mit Beute mancherlei Art erreichten sie das Negerdorf.

Was aber bisher im Walde unbemerkt geblieben, das zeigte sich jetzt: — der verscheuchte Nashornvogel war seinem geraubten Weibchen von Stamm zu Stamm gefolgt. Selbst bis auf die Zweige der einzeln stehenden Bäume inmitten des Örtchens wagte er sich hinan.

Der Gefangene wurde in einen alten, roh aus Binsen geflochtenen Korb gesteckt, und dieser wohlverschlossen auf den freien Platz gelegt. Sogleich kam das Männchen heran und setzte sich daneben wie früher vor das Nest.

„Wir fangen ihn ein und haben dann ein Pärchen für den zoologischen Garten!“ rief Franz. „An Bord kann man schon eine Falle herrichten.“

Der Abschied wurde nun schnell bewerkstelligt, noch ein paar zerquetschte Blätter auf die verwundeten Finger gelegt, und die Gewehre wieder umgehängt, dann ging es fort, dem Dampfer zu. Die Sonne war fast ganz verschwunden, ein schrilles Pfeifen vom Bord der „Hansa“ rief die Jäger zurück, und so ruderte man möglichst schnell der Ausmündung des Seitenarmes entgegen, immer gefolgt von dem beharrlich nebenher fliegenden Pfefferfresser.

Vom Schiff aus erhielten die begleitenden Neger reichliche Geschenke, um welche sie sich sofort rauften und schlugen, dann wurde das Boot eingeholt und der Dampfer dem Waldrand so nahe als möglich gebracht. Auf den letzten Zweigen saß flügelschlagend der beraubte Vogel, er beugte den Hals weit vor und ging ängstlich auf und ab, aber das Schiff zu berühren wagte er offenbar nicht.

„Lassen Sie das Weibchen fliegen!“ rief der Kapitän. „Diese Tiere pflegen eins ohne das andere nicht leben zu können.“

„So müssen wir es ausstopfen,“ versetzte Holm. „Diese Reise ist eben eine wissenschaftliche, und am Ende dürfte auch der Hornvogel nicht besser sein als alle übrigen Geschöpfe, die wir eines vernünftigen Zweckes wegen fangen und töten.“

Dennoch aber ging es auch ihm durchs Herz, als jetzt der Vogel in weitem Kreis das Schiff umflog und dabei einen wahrhaft erschütternden Schrei ausstieß, den das gefangene Weibchen erwiderte. Noch einmal — zweimal schoß er durch den aufsteigenden Rauch dahin, dann kehrte er schweren Flügelschlages zum Lande zurück und blieb auf dem nächsten Baume sitzen.

„Schade! Schade!“ brach es über aller Lippen, „er folgt uns nicht.“

Daran ließ sich indes jetzt nichts mehr ändern, und der Dampfer verfolgte seine Bahn, bis er die heimkehrenden Jäger an Bord der „Hammonia“ abgesetzt hatte. Man versuchte nun, den in einen leeren Hühnerkorb gebrachten Nashornvogel zu füttern, aber das Tier nahm keinerlei Speise, sondern saß geduckt und ängstlich da, so daß auch Holm sein Fortleben bezweifelte. Die Eier wurden des Dotters durch Hineinpusten beraubt und eine Sammlung dieser Art Naturalien besonders angelegt, auch die beiden gefangenen Affen sorgfältig verpflegt und nach dem betäubten Rochen gesehen. Der war zu seinen Vätern versammelt, wie der Koch sagte, die Affen dagegen sehr wohlbehalten und sogar schon etwas vertraulicher als im Anfang.

In den nächstfolgenden Tagen schrieb man Briefe nach Hause, die erste Sendung an Reiseberichten und Jagdbeute wurde dem Postdampfer übergeben, und eines schönen Morgens lichtete das Naturforscherschiff die Anker, um an der Küste den Weg bis nach Sierra Leone zu verfolgen. Dort sollte ein Segelschiff von der Firma Gottfried das Palmöl in Empfang nehmen, und der Dampfer selbst mit den jungen Reisenden die Inseln im Busen von Guinea besuchen. Die Fahrt dauerte nicht lange, aber sie brachte manche schöne und reiche Erinnerung, namentlich den Anblick einer Wasserhose, die bei starkem Gewitter dicht neben dem Schiff stand und einen unvergleichlichen Anblick gewährte. Eine schwarze Wolke, spitz zulaufend, senkte sich tiefer und tiefer auf das Wasser, dieses selbst schien sich genau unter derselben immer mehr zu heben, kräuselte weißschäumend und griff endlich ganz urplötzlich wie mit Fangarmen hinauf. Eine hohe, gedrehte Wassersäule stand auf der Meeresfläche und begann dann unheimlich schnell zu wandern. Das gleiche Ereignis wiederholte sich noch zweimal, dreimal in nächster Nähe, so daß gleichsam die dichte, schwarze Wolke eine Brücke bildete, deren Riesenpfeiler wie Diamanten erglänzten. Hohe, gewölbte Bogen trennten die einzelnen Säulen, dazwischen schäumten schwarze, tosende Wellen, und glitten in ununterbrochener Reihenfolge die blendenden Blitze über das Ganze hinweg. Es war wie im Feenpalast des Märchens, wenn so ein grüngoldener, von Purpur und Violett angehauchter Schein die weißen Schaumkronen überflutete, wenn sich plötzliche Helle auf das tiefe Schwarz legte und es dann in um so dichterer Finsternis zurückließ.

Nach einer Viertelstunde begannen die Pfeiler zu schwanken, sich schief zu stellen und endlich den Halt zu verlieren. Ein Rauschen und Klatschen, das den Donner übertönte, begleitete den Sturz, und das ganze schöne Schauspiel endete mit einem Platzregen.

Am dritten Tage nach der Abreise war der Nashornvogel tot. Holm nahm ein scharfes Messer und machte an der Bauchseite des Vogels einen Einschnitt, der jedoch nur die Haut auftrennte. Dann begann er vorsichtig die Haut des Vogels abzuziehen, und nach einer kleinen Viertelstunde hatte er den Balg von dem Körper getrennt. An dem Kopfende saß der große ungestalte Schnabel und an den Beinen waren die Füße geblieben. Damit der Balg so unverletzt als möglich erhalten wurde, ließ Holm sich bei dieser Operation genügende Zeit, denn die mit Federn besetzte Haut der Vögel ist ziemlich zart und zerreißt bei ungeduldigem Ziehen gar leicht.

„Nun werden wir den Balg ausstopfen,“ meinte Franz.

„Das hat Zeit, bis wir wieder in Hamburg sind,“ entgegnete Holm. „Gesetzt den Fall, wir würden diesen Nashornvogel auf das schönste ausstopfen, wer verbürgt uns, daß er unversehrt ankommt? Außerdem erfordert das Ausstopfen viele Zeit, die wir hier besser anzuwenden haben, als daß wir sie an eine Arbeit verschwenden, die in der Heimat besser und bequemer besorgt wird als hier. Alles was wir thun können ist, den Vogelbalg zu trocknen und wie die übrigen Naturalien vor dem Appetit der Herren Insekten schützen.“

Holm holte bei diesen Worten ein Gefäß aus der Reiseapotheke, das eine salbenartige Masse enthielt, mit welcher er die innere Seite des Vogelbalgs bestrich. „Ist diese Salbe auch ein Gift gegen die Insekten?“ fragte Hans.

„Eins der stärksten Gifte, das wir kennen,“ antwortete Holm. „Diese Masse besteht aus einer Mischung von Arsenik und grüner Seife. Die Seife verhindert mit ihren schmierigen Eigenschaften das Umherstäuben des weißen, pulverigen Arseniks und verhütet, daß der Präparator den Giftstaub einatmet. Gleichzeitig ist etwas Alaun zugesetzt, der die Eigenschaft hat, die Haut des Tieres in eine Art Leder zu verwandeln, wodurch bewirkt wird, daß die Federn festsitzen und nicht ausfallen.“ Als der Vogelbalg mit der sogenannten Arsenikseife gehörig eingerieben war, wurde er an einer Raa zum Trocknen in der Luft aufgehängt. Franz kletterte die Strickleiter hinauf, welche zum Maste führte, und war in wenigen Augenblicken auf der Raa, als wäre er ein echter Schiffsjunge. Als er die Haut des Vogels dort mit einem starken Bindfaden befestigt hatte, rief er laut Hurra und kam wieder herunter.

Befragt, warum er einen lauten Freudenruf ausgestoßen habe, antwortete er lachend: „Ich glaubte, wir hätten nun Ferien, denn der Vogel ist das letzte Stück von unserer Beute, das zu präparieren war.“

„Ein wirklicher Forscher kennt keine Ferien,“ sagte Holm. „Außerdem irrst du dich, wenn du meinst, es gebräche uns an Material zur Beobachtung. Jetzt, da wir auf dem Schiffe gewissermaßen Ruhe haben und nicht auf dem Kriegspfade mit Menschen und Tieren wandeln, haben wir hinreichende Muße, uns mit dem Leben der Kleinwelt zu beschäftigen, die uns das Mikroskop erschließt. Kommt laßt uns in die Kajütte gehen, es sind alle Apparate da, deren wir bedürfen.“

Sie gingen in die Kajütte hinab. Hier nahm Holm aus einem wohlverwahrten Kasten ein herrliches Mikroskop, das er derart auf den Tisch stellte, daß das Licht, welches durch das Kajüttenfenster fiel, von dem Spiegel des Mikroskopes aufgefangen werden konnte.

Er ließ die Knaben durch das obere Glas, das sogenannte Okular, hindurchsehen, und sie nahmen eine runde, hellerleuchtete Fläche, das Sehfeld des Mikroskopes wahr. Holm zeigte den Knaben nun, wie je nach der Stellung des Spiegels das Sehfeld heller oder matter beleuchtet erschien, und übte ihr Auge und ihre Hand dadurch, daß er ihnen die Aufgabe stellte, diejenige Stellung des Spiegels ausfindig zu machen, bei der das Sehfeld den hellsten Anblick gewährte. Hierauf nahm er eine kleine, längliche Glasplatte, auf die er mittels eines zu einer Spitze ausgezogenen Glasrohres einen Tropfen Wasser brachte. Diese Platte bezeichnete er als den Objektträger, weil auf derselben die zu untersuchenden Gegenstände — die Objekte — ausgebreitet werden. „Sind Tiere in diesem Wassertropfen, die wir beobachten können?“ fragte Hans.

„Nein,“ erwiderte Holm. „Das Wasser, welches ich hier habe, ist durchaus frei von allen Verunreinigungen. Wir werden jetzt eine winzig kleine Menge jenes gelbgrünen Schlammes in das Wasser bringen, die ihr mich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten an den Ufern der Flüsse, der Wassertümpel und Sümpfe entnehmen saht, die wir passierten.“ Bei diesen Worten entfaltete er eine Anzahl von Papierpaketen, in denen sich ein dunkelfarbiger Staub befand. Dieser Staub war der angetrocknete Schlamm, den Holm auf seine eigene Hand gesammelt hatte. Mittels einer Stricknadel, die an einem Ende platt geschmiedet war, so daß sie einem kleinen Spaten mit langem Stiel glich, mischte Holm von dem Staub in den Wassertropfen und bedeckte diesen dann mit einem Glase, das so groß war wie eine Briefmarke und nicht dicker als festes Schreibpapier. Dies Glas nannte er das Deckgläschen. Dieses sogenannte Präparat legte er auf den Tisch des Mikroskopes und blickte durch das Okular, indem er mit der Schraube scharf einstellte, dann ließ er Franz hinein sehen.

Franz brach in einen lauten Freudenruf aus, nachdem er eine Zeitlang in das Mikroskop geblickt hatte, und das, was er sah, war auch wohl geeignet, ihn zu entzücken.

Das Sehfeld des Mikroskopes war mit Hunderten von ganz merkwürdigen Gebilden wie übersät. Einige derselben glichen kleinen Schiffchen, andere Tellerchen, die auf das reizendste mit Punkten und regelmäßigen Linien verziert waren. „Ist das der Staub?“ fragte Franz.

„Derselbe Staub, der dem unbewaffneten Auge harmlos erscheint,“ entgegnete Holm, „stellt sich unter dem Mikroskope bei starker Vergrößerung in einem Reichtum der Formen dar, wie er größer kaum gedacht werden kann. Diese kleinen Geschöpfe sind halb Tier halb Pflanze, sie bewegen sich willkürlich schwimmend im Wasser und enthalten doch den grünen Farbstoff, der den Pflanzen eigen ist. Sie bestehen aus zwei zierlichen Schalen, die genau aufeinander passen, und wenn sie sich vermehren, so teilen sie sich in zwei Hälften, von denen jede ein neues Wesen derselben Art bildet. Aus diesem Grunde hat man sie Spaltalgen oder auch Diatomeen genannt, nach einem griechischen Beiworte, das auf deutsch „zerteilt“ bedeutet. Über zweitausend Arten dieser Diatomeen sind schon ermittelt, aber es sollte mich nicht überraschen, wenn wir neben den bekannten Arten einige noch nicht benannte und beschriebene fänden.“

Die Proben wurden eine nach der anderen sorgfältig durchgemustert, und nicht lange währte es, als Holm eine der seltensten Arten entdeckte. Es war eine runde Scheibe mit verziertem Rande, in deren Mitte sich eine Figur erkennen ließ, die einem Kirchenfenster glich. „Das ist der Campylodiscus ecclesianus,“ erklärte Holm, „eine ihm sehr nahestehende Diatomee besitzt an derselben Stelle vier Fensterchen und wird deshalb Campylodiscus fenestratus genannt, wir wollen genau nachsehen, ob wir sie finden können.“

Nun hieß es sorgfältig beobachten, und erst nach einer halben Stunde gelang es, ein Exemplar derselben zu bemerken. „Hier ist ein fenestratus,“ rief Hans, der gerade an der Reihe war. Holm bestätigte die Wahrnehmung und bemerkte mit dem Bleistift auf dem Papier, aus welchem der zur Untersuchung genommene Staub sich befand, den Namen der Diatomee. Da es bereits dunkelte und die Augen von dem angestrengten Sehen ermüdet waren, packte Holm das Mikroskop wieder ein und versprach den Knaben, ihnen am nächsten Tage lebende Diatomeen zu zeigen.

„Woher werden wir die nehmen, da wir doch auf offener See sind?“ fragte Franz.

„Wir fischen ein treibendes Stückchen Seegras auf,“ sagte Holm, „und werden an demselben herrliche Formen finden. Fast überall, wo Feuchtigkeit ist, kommen Diatomeen vor, sowohl im süßen Wasser wie im Meere. Wenn wir einen Fisch fangen, so wollen wir seinen Mageninhalt untersuchen; namentlich sind die Schellfische große Liebhaber von Diatomeen, und ihr Magen ist in dieser Beziehung ein wahres Museum für den Forscher.“

„Da wird er viele Diatomeen zu sich nehmen müssen, ehe er satt wird,“ meinte Franz lachend.

„Allerdings,“ bestätigte Holm, „denn diese Geschöpfe sind außerordentlich klein. So z. B. besteht der Polierschiefer bei Bilin in Böhmen aus lauter abgestorbenen Diatomeen, deren unverwesliche Schalen feste Kieselsäure sind. Um einen Raum von einem Kubikmillimeter einzunehmen, müssen ihrer fünfzig Millionen zusammen sein.“

„Dann hat ein Fisch viel zu thun, um Jagd auf sie zu machen,“ bemerkte Hans lachend.

„Wenn er jede einzelne Diatomee fangen sollte, würde er sich schwerlich bei Kräften erhalten,“ erwiderte Holm lächelnd, „aber da dieselben meistens in dichten Kolonieen bei einander leben und auch an den Seepflanzen haften, die von manchen Fischen gefressen werden, so hat die Natur es ihm ermöglicht, sich bequem von diesen Geschöpfen nähren zu können. Die ungeheure Anzahl der Einzelwesen ersetzt die Größe und ebenso verhält es sich mit ihrer Vermehrung. Während das Elefantenweib alle drei Jahre nur ein Junges zur Welt bringt, hat eine Diatomee, wenn keine Störungen eintreten, in vierzig Stunden schon eine Nachkommenschaft von einer halben Million Urenkeln.“

„Wenn die Elefanten und Walfische ihnen dies Kunststück nachmachten,“ warf Franz ein, „dann wäre in einem Jahr kein Platz mehr auf der Erde für andere Geschöpfe. Die Elefanten würden uns ins Wasser drängen und die Walfische aufs Land. Es ist doch gut, daß in der Natur nicht alle Geschöpfe mit gleichen Eigenschaften begabt sind.“

„Indem wir die Gesetzmäßigkeit in der Natur erkennen,“ sagte Doktor Bolten, „sehen wir, daß ein weiser Schöpfer über uns und aller Kreatur wacht. Je tiefer der Menschengeist in die Natur eindringt, um so mehr erkennt er das Walten einer höheren Macht. Ob wir die Bahnen der Himmelskörper, der fernen Welten im weiten Himmelsraum verfolgen, ob wir die Diatomee im Wassertropfen in ihrer zierlichen Kleinheit bewundern, oder ob die Majestät der tropischen Urwälder uns mit geheimen Schauern erfüllt, überall fühlen wir die Größe des Schöpfers.“ —

Man wünschte sich gute Nacht, nachdem Holm den Knaben versprochen hatte, sobald die Gelegenheit sich darbieten werde, ihnen neue Wunder mit dem Mikroskop zu erschließen.

Während der Schlaf die Forscher zu neuer Thätigkeit stärkte, setzte das Schiff unverändert seinen Kurs fort, der Steuermann am Rade wachte für sie, bald nach den Sternen, bald nach dem Kompaß blickend, und so glich das auf dem Ozean dahingleitende Schiff der Erde selbst, die ihre Bahnen zieht, wie sie ihr ein höherer Lenker vorschreibt.

Drittes Kapitel.

Lagos und der Golf von Benin lagen hinter der „Hammonia“, die Nigermündung war in Sicht. In dieses sumpfige, fast unbekannte Land, dessen Fieberklima bei längerem Aufenthalt für den Weißen tödlich ist und selbst von den eingebornen Negern kaum vertragen wird, sollte ein Vorstoß gemacht werden. Man wußte, daß das Land von einer Menge kleiner Stämme bewohnt wird, die zu den wildesten, niedrigst entwickelten der Neger gehören. Bei einigen geht sogar noch die Menschenfresserei im Schwange. Ein portugiesisches Handelsfahrzeug, welches Tauschverkehr mit diesen scheuen, wenig zugänglichen Stämmen trieb, fand man an der Sumpfküste vor Anker. Von seinen Matrosen wurden einige, welche bereits ins Innere gekommen und der Landessprache einigermaßen kundig waren, als Führer angeworben und mit ihrer Hilfe einige zwanzig Küstenneger als Träger und Leibwache gemietet.

Zunächst der Küste saß der Stamm der Bonny, oder wie sie sich selbst nannten, der Bonnyleute. Sie befanden sich augenblicklich wieder einmal in einem jener kleinen, niemals aufhörenden blutigen Kriege mit dem Stamme der Benin. Wie ein Fluch hängen diese Raub- und Mordfehden über dem schwarzen Erdteile, ein Stamm mordet den andern, die schwarze Rasse zerfleischt sich unter einander, teils aus Blutrache, aus Haß oder aus Gewinnsucht, der Besitztümer oder der Sklaven wegen.

Man nahm einerseits Herden und anderseits Sklaven weg, lieferte Schlachten und verbrannte ganze Dörfer; jedoch hatte sich der Krieg weit landeinwärts gezogen, es ließ sich also annehmen, daß die Gegend, welche dem Kriegsschauplatz fern lag, im Augenblick ungefährdet zu durchziehen sei.

Die wohlversehene Handapotheke, Waffen jeder Art, Lebensmittel und Decken, auch ein Dolmetscher, der die Bonnysprache redete, wurden mitgenommen, und so ausgerüstet machten sich die Weißen auf die Reise nach dem unteren Niger, um den berühmten Affenberg, wo wenigstens fünf- bis sechstausend dieser Tiere ihren Wohnsitz haben sollten, aus der Nähe zu sehen. Das Unternehmen hatte bedeutend größere Gefahr als die früheren, aber es versprach auch reicheren Lohn, namentlich was die Kenntnis von Natur und Bewohnern dieses fast unbekannten, nur selten von einem portugiesischen Händler betretenen Landes betraf.

Man erreichte das erste Bonnydorf. Die Eingebornen gewährten den Fremdlingen bereitwilligst Unterkunft, und so blieben zwei der weißen Führer zur Beaufsichtigung des Gepäcks im Dorfe zurück, während die übrige Reisegesellschaft weiterzog. Obgleich die Küstengegend viel mehr den Charakter eines unwegsamen Sumpfes als den eines festen Landes trug, so zeigte sich das wenig erforschte Binnenland doch an Pflanzen- und Tierformen ebenso reich, in der Wildheit seiner Bewohner ebenso gefährlich wie jenes früher gesehene Stück Afrika, in allen Beziehungen aber großartiger.

Ganze Trupps von gefesselten Sklaven und Kriegsbeute der Bonnys begegneten den Weißen, sowohl Männer als Frauen und Kinder, sogar Säuglinge, die, auf den Hüften der Mütter sitzend, von dem einzigen Bekleidungsgegenstand derselben, einem großen Wollentuch, gehalten wurden. An einer langen Stange, die sie auf den Schultern trugen, gingen mit zusammengeschnürten Händen die unglücklichen, total nackten Geschöpfe zwischen den triumphierenden Gestalten ihrer Besieger, den weißgekleideten, mit langen Wurfwaffen versehenen Bonnyleuten; sie kannten ihr Schicksal und hatten sich offenbar vollständig in dasselbe ergeben, wie denn überhaupt zwei Dritteile aller Bewohner Afrikas ihr lebenlang Sklaven bleiben, ganz einerlei ob unter der menschlicheren und zuweilen sogar guten Behandlung der Weißen oder der schlechten ihrer eigenen Landsleute. Sie kennen nichts anderes und haben sich in ihre Lage von jeher gefunden.

Im Gebiet der räuberischen, aller Kultur entfremdeten Benins, wo noch Menschenopfer und sogar noch Menschenfresser angetroffen werden, machte man nach einigen Tagen mühseligen Marsches Halt. Weiße Leute waren hier nie gesehen, die Dorfbewohner drängten sich zusammen, und eine Frau flüsterte halb ängstlich, halb erwartungsvoll ihrer Nachbarin zu: „Ob man diese Tiere essen kann?“

Die Führer übersetzten das Gehörte und erregten dadurch begreiflicherweise die ausgelassenste Heiterkeit. Das ganze kleine, ärmliche Dorf wurde für mehrere Stunden in Beschlag genommen und Land und Leute aus der Nähe besehen.

Man blieb hier zur Nacht, um am folgenden Morgen den Affenberg zu besichtigen. Hunde, Schweine, Enten und Gänse durchzogen herdenweise die Straßen zwischen den Hütten, Affen kletterten auf allen Zweigen, und von Krokodilen wimmelte die ganze Gegend. In den sumpfigen Niederungen des Flusses lagen sie halben Leibes am Ufer, grauen, verwitterten Baumstämmen gleich, zuweilen die ungestalteten Rachen mit den gräßlichen Zahnreihen lauernd geöffnet, in unzählbarer Menge. Der Führer erzählte, daß ihm im Dorfe die jährlichen Opfer dieser Bestien auf Hunderte angegeben worden.

„Dort die graue Wand ist der Affenberg!“ setzte ein anderer hinzu. „Wir können uns aber nicht ganz in die Nähe wagen, da uns sonst ein Hagel von Steinen auf die Köpfe fallen würde.“

Man durchzog also den Wald, dessen Stämme an Umfang alles übertrafen, was unsere Deutschen in Heimat und Fremde jemals gesehen. Hier wuchsen reichlich und üppig fast alle Pflanzengattungen des tropischen Klimas, besonders verschiedene Baumarten, die eben nur an dieser Stelle zuhause sind. Der Affenbrotbaum erschien wie ein kleines Wäldchen für sich. Die unabsehbare Krone wurde von einem im Durchmesser bis zu zehn Metern haltenden Stamm getragen, während viele Äste weit über vierundzwanzig Meter hinausragten, bedeckt mit weißen, zarten Blüten und Fruchtschoten an einem und demselben Stengel. Die Knaben ließen es sich natürlich nicht nehmen, den breiigen Teig, in welchem der Same liegt, sogleich zu kosten und fanden auch diese Näscherei von sehr angenehmem Geschmack. Soviel als möglich wurde in die Botanisierkapseln gebracht, und dann ging es weiter, bis ein unerwarteter Anblick die Schritte fesselte.

Von dem Blättergewirre der kleineren Bäume, aus Ranken und Blumen waren kreisrunde, hutförmige Dächer geflochten, die genau wie ein großer, aufgespannter Regenschirm zur Seite des Stammes je ein daruntersitzendes Affenpärchen bedeckten, zuweilen sogar ihrer drei, wenn das Weibchen ein Junges auf dem Arme trug.

Diese seltsamen Wohnungen bauen sich die Affen zum Schutz gegen Sonne und Überfälle aller Art, sie hausen darin aber nur so lange wie das Dach grün und frisch bleibt, sind dagegen die Blätter verwelkt, so wird eine neue Heimat aufgesucht. Die Eingebornen nannten das große, dunkelgefärbte Tier den „Nschiego nebure,“ behaupteten aber, daß es nicht zu zähmen sei und außerhalb seines Vaterlandes in der Gefangenschaft auch nicht leben könne. Es zu schießen, wäre daher unnötige Grausamkeit gewesen, mindestens jetzt, wo an ein Mitnehmen des getöteten Körpers, der weiten Entfernung wegen, nicht gedacht werden konnte.

Immer deutlicher traten an lichten Stellen die Umrisse des Affenberges hervor, der Strom mit seiner blauen Breite schimmerte durch das Gezweig, und endlich gegen Mittag war die beträchtliche, in ihrer Weise einzig dastehende Anhöhe zur Seite des Wassers erreicht. Der massige Fels, welcher sich in gewaltigem Umfange terrassenförmig bis in den Fluß hinab erstreckt, birgt mehrere tausend Höhlen und Zugänge, die sämtlich von Affen bewohnt werden. Die Tiere machen während der Nacht ihre Streifzüge in den Wald, aber die eigentliche Heimstätte ist doch der Berg, und Tausende von ihnen bevölkern die Stufen bis zur höchsten Höhe hinauf. Viele Affenmütter mit den kleinen Säuglingen saßen wie Frauen vor der Hausthür auf einer vorspringenden Zacke, andere kauten Nüsse oder Früchte, und halberwachsene Junge spielten mit einander gleich Kindern. Immer aber hielten sich die verschiedenen Gattungen gegenseitig getrennt. Familienweise sah man graue und braune, gelbliche oder schwarze, kleine und große bis hinauf zu dem Schimpansen und dem Pavian, welche beide Arten aber weniger zahlreich vertreten waren. Es schien zwischen der einen und anderen Gruppe keine Freundschaft zu bestehen, ja sogar an manchen Stellen ein offener Krieg.

„Sieh nur diese beiden Paviane!“ rief Hans, „ich glaube, da gibt es einen Kampf.“

Aller Blicke folgten der angedeuteten Richtung. Die beiden großen Affen standen in entschieden feindseliger Haltung einander gegenüber; bald streckten sie, auf den Hinterbeinen stehend, mit drohender Gebärde die Arme aus, bald umliefen sie sich wie wütende Hunde. Erst fielen einzelne schallende Ohrfeigen, dann packten sie sich und rangen liegend in festverschlungenem Knäuel, wobei einer den anderen nach Möglichkeit zu beißen suchte. Ihr Geschrei, so mißtönend und krächzend, erfüllte die Luft.

„Ich möchte dazwischen schießen,“ gestand Holm. „Wie es aussehen müßte, wenn einmal alle diese behenden, lebhaften Tiere zugleich in Bewegung gerieten!“

„Thun Sie das nicht, Herr,“ warnten die Führer. „Wir könnten angegriffen werden.“

„Nun, und was hätte das zu bedeuten? Vierundzwanzig mit Feuerwaffen versehene Männer gegen eine Horde Affen!“

Die Jagdlust riß ihn gewaltsam mit sich fort, der Schuß krachte und widerhallte in zehnfachem Bergesecho. Die Wirkung war eine unbeschreibliche. Als sei jedes einzelne Tier getroffen worden, so stürzten und fielen, liefen und kugelten die Affen durch einander. Einige flohen in ihre Höhlen im Innern des Felsens, andere spähten aufrecht und mit gerecktem Hals nach der Ursache des plötzlichen Schreckes, alle aber waren aus ihren Spielen oder Streitigkeiten aufgestört. Nur zu bald sollte es sich zeigen, daß die Mahnung des Eingebornen eine wohlberechtigte gewesen; der Feind war entdeckt, und eine ganze Flut von Wurfgeschossen hagelte herab. Steine, Felsstücke und die Knochen ihrer von Raubtieren erwürgten Genossen, alles schleuderten die Affen in wahnsinniger Wut den Angreifern entgegen, dabei aber rückten sie selbst immer weiter vor, sammelten sich zu ganzen Haufen und schrieen in allen möglichen Tonarten.

„Wir müssen fliehen!“ riefen die Führer. „Es ist die höchste Zeit! Schnell, schnell!“

Aber Holm und Franz hörten nicht. Sie schossen wieder und wieder in das lebende Gewirre hinein, rechts und links stürzten die Affen, und jetzt waren auch schon die vordersten bei den Weißen angelangt, — im nächsten Augenblicke hätte ein Handgemenge entstehen müssen.

Die mitgenommenen Führer drängten unsere Freunde bis unter die schützenden Bäume des Waldrandes, von wo es leichter wurde, den nachsetzenden Tieren zu entgehen. Trotzdem aber hätte bei der unübersehbaren Anzahl der Gegner die Sache immerhin noch eine schlimme Wendung nehmen können, wenn nicht in diesem drohenden Augenblick ein Ton, langgezogen und gewaltig wie ferner Donner, unverhofft als Ablenkungsmittel erklungen wäre. Die Affen mochten bei dem furchtbaren Gebrüll alles übrige vergessen und nur an ihre eigene Sicherheit denken, sie ließen plötzlich von der Verfolgung der Feinde ab, kehrten um und suchten mit eiligen Schritten, einander überstürzend, die geschützten Felshöhlen zu erreichen. Bis auf zwei getötete, die im Wege liegen blieben, waren in wenigen Augenblicken alle verschwunden.

„Ein Löwe!“ ging es von Mund zu Mund. Er schien nahe.

Alle Gewehre wurden geladen, die Reisegesellschaft bildete einen festgeschlossenen Trupp, und lautlos drang man vorwärts in das dichte Unterholz hinein. Noch eine Viertelstunde verfloß, aber nichts zeigte sich.

„Schade!“ rief Franz, „eine Löwenhaut hätten wir erobern müssen.“

„Hier sind die Spuren,“ bemerkte einer der Führer. „Das Tier ist vor uns diesen Weg gegangen, — jedenfalls hat es in der Nähe seine Lagerstatt.“

„Blut!“ rief plötzlich Holm, „Blut auf dem Gras und an den Baumstämmen. Der Löwe hat ein Tier getötet, das er nun mit aller Muße verspeist.“

Wirklich führten rote Perlen auf dem grünen Boden wie ein schlangenartig gewundenes Band der nahen Lichtung zu. Am Ufer des Stromes bildeten Dubabelbäume mit ihren fünfzig und noch mehr aus einer Wurzel aufschießenden Stämmen eine Art von undurchdringlicher Laube, in deren Innerem es fast dunkel erschien. Dahin führten die Blutspuren.

Eine Kette von Schützen umgab das Dickicht; es war unmöglich, daß irgend ein Tier herausschlüpfen konnte, ohne gesehen zu werden. Der aufregende, spannende Augenblick, in dem sich die Entscheidung vollziehen mußte, ließ aller Herzen höher schlagen. Wo auch der Löwe erscheinen würde, da begrüßten ihn zehn Büchsenkugeln zugleich, während niemand nahe genug stand, um von ihm im Sprunge erreicht werden zu können. Alles blieb vollkommen still.

„Wir müssen ihn herausjagen!“ rieten die Führer. „Schade, daß uns ein paar tüchtige Hunde fehlen.“

Ein Steinwurf in das Gebüsch hinein begleitete den Satz, — der Löwe gab kein Zeichen seiner Anwesenheit.

Wieder vergingen Minuten. Sollte man sich völlig getäuscht haben?

Aber nein. Unter den Schlingpflanzen, welche von Stamm zu Stamm lebende Wände flochten, zeigten sich plötzlich ein Paar funkelnde, mit rotem Schimmer leuchtende Augen, das gewaltige Brüllen drang erschütternd in die Herzen der Hörer, und endlich kam der königliche, mähnenumwogte Kopf zum Vorschein.

Mit einem einzigen elastischen Sprung erreichte der Löwe das Freie. Noch troff Blut von seinem Maul, die Mähne hatte sich gesträubt und der Schweif peitschte wütend den Erdboden. Etwa zehn Schritt vor dem Platze des jüngeren Knaben blieb er brüllend stehen.

Fünf oder sechs Schüsse krachten, auch Hans selbst gab Feuer, das gewaltige Tier blutete aus mehreren Wunden, noch einmal setzte es an zum Sprunge, flog zusammenbrechend, taumelnd, eine kurze Strecke weit vorwärts und stürzte dann dumpf brüllend auf den Boden. Die eine Vordertatze riß im Fall den Knaben mit sich, — Hans lag unter dem Schenkel des verendenden, im Todeskampfe zuckenden Löwen. Schon nach wenigen Augenblicken erhielt sein Gesicht eine bläuliche Farbe, die Hände griffen krampfhaft in das Gras, und ein Gurgeln wie das des Erstickens verriet die furchtbare Gefahr, in welcher er schwebte. An den Löwen heranzutreten und ihm sein Opfer zu entreißen, war unmöglich; wer es gewagt hätte, der würde das eigene Leben dahingegeben haben, ohne dem armen Hans nützen zu können. Holm besann sich daher nicht lange, er kniete unmittelbar neben dem bedrohten Knaben ins Gras, sprach in fliegender Eile diesem Mut zu und ermahnte ihn, keine Bewegung zu machen, dann schoß er über seines Zöglings Körper hinweg dem Untier die tötende Kugel in den Kopf. Der Löwe streckte sich, atmete noch ein paarmal und hatte aufgehört zu leben.

Jetzt konnten vereinte Kräfte den Halberstickten hervorziehen; man rieb und schüttelte ihn, gab ihm Branntwein zu trinken und spritzte ihm Wasser in das Gesicht, bis er endlich wieder ganz zum Bewußtsein gebracht war. Auf der Brust fanden sich vom Druck des Löwenschenkels blaue Flecke, die Glieder schmerzten und der Kopf war schwer wie Blei. „Wir müssen einen kleinen Halt machen,“ riet Holm, „Hans ist zu sehr angestrengt worden, und uns anderen thut es ebenfalls gut, namentlich nach der schmählichen Flucht vor den Affen.“

Dieser Vorschlag fand allgemeinen Beifall. Die Führer warfen ihre Vorräte und Waffen ins Gras, ein Teil ging aus, um frisches Wasser zu suchen, ein anderer raffte trockenes Holz zusammen, und Franz und Doktor Bolten wanderten mit den Gewehren am Ufer hin, um womöglich irgend einen frischen Braten zu schießen; schon nach wenigen Minuten war es um die beiden Zurückgebliebenen still wie in einer Kirche.

S. 71.

Hans unter dem Löwen.
„Die eine Vordertatze riß im Fall den Knaben mit sich ...“

Helle, goldene Sonnenstrahlen umspielten Blätter und Blumen, buntfarbige Vögel schossen überall singend und pfeifend durch das Gewirre, Käfer und Schmetterlinge bevölkerten die Luft, zuweilen zeigte sich am Rand der Lichtung eine scheue, flüchtige Kudu-Antilope, ein Papagei ließ sein mißtönendes Kreischen hören, oder eine kleine, schillernde Schlange kroch durch das Gras; aller Streit aber, aller Krieg und Kampf schien aus der Natur verbannt. Die hohen Farne, bei uns nur Gräser, in den Tropen aber Bäume, bogen im Wind die federartigen, hellgrünen Wipfel; Stechpalmen strebten kerzengerade empor; Blätter wie grüne, faltenreiche Mäntel hingen in ungeheurer Breite von Rankengewächsen herab; spitze dunkle, säbelförmige Pfeile bohrten sich dazwischen, und Hunderte von weißen, roten und violetten Orchideen umzogen und verflochten wie ebenso viele grüne Arme das Ganze. Dazu murmelte das Wasser und rauschte der Wind, kurz es war eine wundervolle Stille, welche auf die jungen Leute beinahe einschläfernd wirkte. Mitten in der freien Lichtung lag der tote Löwe, dessen Körper bereits anfing verschiedenen Tiergattungen zum Schmause zu dienen. Namentlich ein großer, brauner Käfer erschien in starker Anzahl und ebenso, verlockt von der tiefen, mittäglichen Stille, eine Rattenart mit spitzem Zahn und raublustigem Blick.

Holm stand auf. „Das verbitte ich mir,“ rief er scherzend den ungeladenen Gästen zu. „Kommt wieder und laßt’s euch wohlschmecken, wenn ich die Haut in Sicherheit gebracht habe!“

Noch waren seine Worte nicht verhallt, als plötzlich ein lauter mehrstimmiger Ruf die Einsamkeit durchdrang. Wie „hierher!“ oder „Hilfe!“ klang es, und noch einmal, aber kürzer, weniger laut, wiederholte sich der Ton, dann wurde alles still. Die beiden Zurückgebliebenen aber behielten keine Zeit, über das Gehörte ihre Ansichten auszutauschen. Ein Schauspiel, das sie von allen am wenigsten erwartet haben mochten, fesselte plötzlich Augen und Ohren. Aus dem Walde her kamen im Laufschritt ganze Horden nackter, schwarzer Beninkrieger, zum Teil kämpfend, fliehend, mit einem Geheul, das Wut und Todesangst ausdrückte, verfolgt von ebenso vielen bewaffneten Bonnyleuten, die offenbar den Sieg behalten hatten und jetzt den letzten Überrest ihrer entspringenden Feinde in Sicherheit zu bringen suchten. Jeder Sklave ist dem Häuptling Tauschware, ganz so wie Elfenbein, Felle oder lebende wilde Tiere; je schlechter also die Jagdbeute gewesen, desto eifriger wird der Feldzug gegen einen benachbarten, schwächeren Stamm betrieben, nur um bei den reichen Häuptlingen im Inneren oder gar bei gewissenlosen weißen Unterhändlern an der Küste mit den lebenden Handelsgegenständen ein gutes Geschäft zu machen. Die Bonnyleute trugen sämtlich den hohen Federkopfputz, den Streifen Bastgeflecht oder Kattun um die Hüften, den hölzernen, reichgeschnitzten Schild und den Spieß oder Speer von Eichenholz mit Metallspitze. Sie stutzten zwar bei dem unerwarteten Erblicken der beiden Weißen, nahmen aber von denselben weiter keine Notiz, sondern setzten Kampf und Verfolgung ununterbrochen fort. Als das ganze Getümmel von schwarzen und braunen Gestalten gleich einer Windsbraut vorübergestürmt war, lagen Sträuche und Gräser zertreten am Boden, die Ranken hingen geknickt und zerrissen herab, und mitten im Wege krümmte sich sterbend ein von mehreren Lanzenstichen durchbohrter Neger. Holm, obgleich tödlich erschrocken und wegen der Reisegefährten in begreiflicher Unruhe, beugte sich dennoch zu dem armen Schelm herab und versuchte es, seine Schmerzen zu lindern, aber schon nach wenigen Minuten war alles vorüber, der Körper dehnte sich noch einmal lang aus, und die zuckenden Hände fielen matt ins Gras. Nur aus der Ferne schallten Stimmen und ein lebhaftes Krachen der brechenden Baumstämme herüber, hier am Flußufer herrschte wieder die frühere Stille.

Hans sah unruhig in das Auge seines älteren Freundes. „Wo doch Franz und die anderen bleiben?“ sagte er zweifelnd.

Holm setzte eine kleine Pfeife an die Lippen. Der schrille Ton scheuchte die umherfliegenden Vögel, aber eine Antwort brachte er nicht. Auch ein paar Schüsse, nach verschiedenen Richtungen abgefeuert, blieben ohne Erfolg. Eine Viertelstunde des peinlichsten Wartens verging den beiden jungen Leuten, mehr und mehr stieg die innere Furcht, welche einer dem andern zu verbergen strebte, dann aber kam der Augenblick, wo gegenseitiges Aussprechen nicht länger zu umgehen war. „Jetzt müssen wir eine kleine Robinsonade durchleben, Hänschen,“ sagte in erkünstelt sorglosem Tone der Gelehrte. „Wahrscheinlich sind unsere Gefährten durch die Bonnyleute fürs erste gänzlich von uns abgeschnitten worden.“

„Wie wäre das möglich?“ rief Hans. „Ich denke, daß man sie getötet hat wie diesen armen Schwarzen hier, und — du glaubst das auch, Karl.“

„O, fällt mir gar nicht ein,“ beteuerte Holm. „Die Führer mögen gefangen genommen sein, und eben weil sie dadurch schutzlos wurden, haben sich der Doktor und Franz verirrt.“

„Wollen wir denn diesen Ort verlassen, Karl?“

„Noch nicht, mein Junge. Vielleicht gelingt es uns doch, durch irgend ein Zeichen die beiden Verlorenen zu uns zurückzuführen, und überdies — wie sollten wir uns am Tage in der pfadlosen, meilenweiten Waldwildnis bis zum nächsten Dorfe oder gar bis an die Küste durchbringen?“

Hans erschrak. „Aber Karl, wenn das am Tage unmöglich ist, so sehe ich wahrhaftig doch kein Mittel, es während der Nacht auszuführen?“

„Ich desto besser, Hänschen. Die Sterne müssen mir ebensowohl im Urwalde als Wegweiser dienen können wie auf dem Meer. Einen Kompaß führe ich auch bei mir, — um die Heimkehr zum Schiff — sei du also um diesen Punkt ganz außer Sorgen.“

Hans sprach nicht mehr. Er hatte den Nachdruck, welchen Holm vielleicht unbewußt auf das Wort „diesen“ gelegt, deutlich herausgehört. Das hieß nichts anderes, als: wenn wir lebend hinkommen, an wilden Menschen und Tieren, an den Gefahren des Fiebers, des Verhungerns und der Vergiftung glücklich vorüber, dann wird wohl endlich die Küste wieder zu erreichen sein.

„Mach fort, mein Junge,“ ermahnte Holm, mehr um die Gedanken seines Zöglings abzulenken, als der Sache wegen. „Die Herren Bonnys haben glücklicherweise weder unsere Lebensmittel noch unsere Waffen des Mitnehmens wert befunden, also können wir vor allen Dingen essen, damit Leib und Seele kräftig bleiben. Denke an das Unglück, wenn eins von uns krank würde — dann erst wären wir beide verloren.“

Der wohlgemeinte Zuspruch that seine Wirkung; wenigstens äußerlich schien Hans ruhiger, obgleich in seinen Augen helle Thränen schimmerten, als er jetzt die Vorräte auspackte und einiges davon auf einen umgestürzten Baumstamm legte. Franz hatte ja vielleicht in diesem Augenblick nichts zu essen, lebte vielleicht nicht einmal mehr. —

Holm entzündete nun ein mächtiges Feuer, dessen aufwirbelnder Rauch möglicherweise den beiden Verirrten als Wahrzeichen dienen konnte, er trug dürres Holz, so viel sich in der Nähe zusammenraffen ließ, herbei, und erst als helle Flammen an den alten, von der Sonne ausgetrockneten Zweigen hinaufleckten, setzte er sich zu dem Knaben, um etwas Zwieback und Rauchfleisch zu genießen, ebenso ein paar Tropfen Madeira. Das alles war in luftdichten Gefäßen von Hamburg mitgebracht, und namentlich der Wein mit seiner belebenden Wirkung stärkte fühlbar die gesunkenen Kräfte der jungen Reisenden, auch die Frucht des Affenbrotbaumes würzte das Mahl, und dann machten Lehrer und Zögling ihre Pläne für den Tag, oder besser gesagt, für die Nacht, denn bis dahin waren es jetzt nur noch wenige Stunden.

„Wir müssen uns zuerst nach einem einigermaßen geschützten Zufluchtsort umsehen,“ meinte Holm, „der wilden Tiere wegen. Ich schlage vor, in einen Baum zu klettern.“

„Schlangen und Leoparden kommen uns dahin nach! — Aber wenn wir einen hohlen Stamm finden könnten, das wäre gut.“

Holm warf noch ein paar starke Äste in das Feuer, dann ergriff er sein Gewehr und forderte den Knaben auf, ihm zu folgen. „Mir deucht, ich habe auf dem Wege hierher einen ausgehöhlten Boabab gesehen, den wollen wir suchen.“

Die beiden machten sich auf und fanden wirklich in der Entfernung von etwa hundert Schritten den Baum, welchen Holm bemerkt hatte. Sein ungeheurer Umfang ließ die natürliche Hütte in seinem Innern als geräumig und hoch voraussetzen, nur fragte es sich, ob nicht etwa dieser laubumrauschte Palast bereits einen Bewohner gefunden hatte, der sich aus seinem Daheim keineswegs vertreiben zu lassen gedachte. Ein schwerer Stein, von Holms Hand geschleudert, flog hinein, aber nichts zeigte sich, — die Höhle schien leer.

„Bleib du zurück,“ gebot er seinem jungen Begleiter, „ich will einmal hineinleuchten und Umschau halten.“

Hans brachte das Gewehr in Anschlag. Obwohl er noch sehr heftige Brustschmerzen empfand und auch mit geheimer Sorge ununterbrochen lauschte, ob nicht irgend ein Zeichen die Rückkehr der beiden Verschwundenen andeuten würde, so war es ja doch seine Pflicht, den Freund im gegebenen Falle zu beschützen, und anderseits mochte er auch nicht müßig zusehen. Die Kugelbüchse schußgerecht zur Hand, blieb er dicht hinter dem Vorangehenden.

Ein Zündhölzchen flammte auf, die mitgebrachte Wachskerze wurde in Brand gesetzt und das Innere des Baumes beleuchtet.

Ein heiseres Gebell tönte den beiden entgegen.

„Hunde!“ rief erstaunt der Knabe. „Karl, sind es Hunde?“

Die Antwort erschien in der Gestalt des Bellenden selbst. Ein Mandril oder hundsköpfiger Affe sprang über Holms Schulter hinweg aus seinem Versteck hervor und mit Windeseile auf den nächsten Baum. Ebenso rasch aber hatte er auch die Früchte desselben, halbreife Zitronen, geschäftig abgerissen und eröffnete nun auf die Störer seiner häuslichen Existenz ein so wohlgezieltes Bombardement, daß sofortige Deckung hinter irgend einem Schutzwall geboten schien. Hans erhielt zwei steinharte, grüne Zitronen dergestalt zwischen die Schultern, daß er um die Wette lachte und hustete, sich aber in einem mächtigen Tamarindenbaum einen Verbündeten suchte und nun, von dem Stamm desselben verborgen, den Affen so lange neckte, bis Holm die ganze innere Höhle beleuchtet und leer gefunden hatte. Der Mandril mit seinem Hundekopf saß auf dem Zitronenbaum und fletschte das greuliche Gesicht. Die ganze Erscheinung dieses selbst unter dem häßlichen Affengeschlecht als allerhäßlichstes Exemplar bekannten Tieres rechtfertigte den Namen „Waldteufel“, welcher ihm häufig beigelegt wird. Über einen Meter hoch, hatte er eine kurze, struppige, ganz schwarze Mähne, und dünne olivengrüne Schenkel, dazu eine grellrote Schnauze und blaue, gefurchte Backen, sowie große Ohren, plumpen, hundsartigen Körper und spitzen, gelben Bart. So angethan saß er mit einem schnell zusammengerafften Vorrat von Wurfgeschossen lauernd auf einem starken Ast, und so oft Hans nur die Hand vorstreckte oder gar ein wenig um den Stamm herumzulugen wagte, gleich flog eine Zitrone durch die Luft, meistens freilich ohne zu treffen, aber immer von einem gebellartigen Brüllen des Unholdes begleitet.

Holm hatte innerhalb des Affenbrotbaumes Posto gefaßt. „Ich will ihm den Garaus machen,“ sagte er, „diese Gattung lebt meistens in ganzen Trupps, wenn uns daher die Genossen durch das wütende Bellen auf den Hals gelockt würden, so könnte es uns schlimm ergehen. Reize einmal die Bestie, sich nach dieser Seite zu drehen, damit ich sie aufs Korn nehmen kann.“

Hans lugte um den Baumstamm herum, dann streckte er den Arm vor und schien werfen zu wollen. Der Jagdeifer riß ihn dermaßen mit sich fort, daß er im Augenblick die drohende Gefahr der Verschwundenen sowohl als seine und Holms schlimme Lage gänzlich vergaß. „Jetzt kannst du schießen, Karl,“ rief er, „der greuliche Kobold bietet dir die Brust dar!“

Und das Pulver blitzte, der Schall zog donnergleich zwischen den dichten Stämmen dahin, das getroffene Tier lag, immer noch bellend, am Boden, aber nach kurzer Zeit hatte es zu leben aufgehört. Jetzt konnte die innere Höhlung des Baumes gereinigt werden; trocknes Reis diente als Besen, Scharen von Käfern und Spinnen, selbst kleinere Vögel und ein paar Eidechsen mußten das Feld räumen; aus einer in einem hohlen Ast verborgenen Ecke flog schwerfällig und erschreckt eine Eule heraus, und als letzter der vertriebenen Bewohner wurde ein zusammengerollter Igel vorsichtig entfernt; dann war die Festung erobert, die Sieger konnten ihre Wolldecken auf dem Boden ausbreiten und sich für die Nacht häuslich einrichten. Draußen mahnte indessen das sinkende Tagesgestirn zur Eile, man mußte noch so viel als möglich von den aufgestapelten, am Lagerplatz zurückgelassenen Mundvorräten in Sicherheit bringen und auch etwas Wasser zu erlangen suchen, jedenfalls aber den getöteten Affen vom Eingang der Höhle entfernen, um nicht durch die Leiche den Raubtieren verraten zu werden.

Beide jungen Leute gingen zu der Stelle zurück, wo am Morgen die verhängnisvolle Trennung stattgefunden hatte, und obwohl sich einer wie der andere bemühte, äußerlich ruhig zu erscheinen, so wurden doch beide von einem gleich wehmütigen, niederdrückenden Gefühl erfaßt. Nun galt es, von dieser Stelle Abschied zu nehmen, die überzähligen Waffen und nicht fortzubringenden Lebensmittel ihrem Schicksal zu überlassen und so gewissermaßen ein letztes, unsichtbares Band zwischen ihnen selbst und den Verlorenen zu durchschneiden. Aber es mußte geschehen, jedes Zögern konnte ein Todesurteil werden. Wenn ihre Rückkehr in die schützende Höhlung des Baumes sich verspätete, wenn vor ihnen ein Löwe oder Gorilla davon Besitz nahm, — was dann? Für diese Nacht ließ sich an keine Wanderung durch den pfadlosen Urwald mehr denken, dazu waren beide viel zu ermüdet, viel zu ruhebedürftig und abgespannt, sie mußten in dem todbringenden afrikanischen Klima zuerst und zunächst ihre Kräfte schonen, mußten alles vermeiden, was möglicherweise ein Erkranken herbeiführen konnte, da sonst jede Hoffnung auf ein glückliches Entkommen aus der Wildnis von vorn herein abgeschnitten gewesen wäre.

Um den toten Löwen hatte sich eine Schar von beutelustigen kleineren Tieren versammelt, sogar mehrere scheublickende Hyänen flüchteten in den Schutz des Dickichts zurück, und Raubvögel flogen schwirrend empor; der König der Wälder war zerrissen und zernagt, sein Fell hing in Streifen herab, sein Blut färbte den Rasen. — Holm beeilte sich, den Knaben von hier fortzubringen, er wußte nur allzuwohl, daß weiterhin der Leiche des getöteten Negers von dem Raubgesindel gerade ebenso mitgespielt sein würde, weshalb aber sollte Hans auch diesen trostlosen Anblick mit in den Schlaf hinübernehmen? „Rasch,“ ermahnte er, „auf Wasser müssen wir wohl verzichten, mein Junge, oder wenigstens bleibst du in der Höhle, während ich ausgehe, um die Quelle zu finden. Nimm diese Weinflaschen, den Zwieback, das Fleisch, — so, so, Hänschen das übrige bleibt in Gottes Namen liegen, da wir es unter keiner Bedingung forttragen könnten. Ist einmal das Dorf der Bonny wieder erreicht, dann begleiten uns neuangeworbene Leute, und der Streifzug beginnt abermals, wenn auch anders und schneller. Die Unsrigen sind wahrscheinlich Gefangene der Bonnys, weshalb denn die Verständigung ganz leicht werden wird.“

Hans antwortete nicht, es war ihm so sonderbar eng ums Herz, er konnte kein Wort herausbringen. Der helle Tag läßt ja jede Befürchtung, jede Unruhe leichter ertragen, die Abendschatten dagegen fallen wie Fesseln auf die Seele, im Dunkel erscheint alles Schlimme und Beängstigende doppelt quälend, doppelt schwer. Ohne zu sprechen gingen die jungen Leute schnellen Schrittes zum erwählten Nachtquartier zurück. Holm schaffte den toten Affen beiseite, holte Wasser aus einer in der Nähe vorüberfließenden Quelle und entzündete, als es gänzlich finster geworden war, eine der mitgebrachten Wachskerzen. Das Auge fand jetzt ein malerisches, nie gesehenes Schauspiel. In halben Windungen, hier enger und dort weit offen, erstreckte sich die Höhlung bis in die obersten Zweige des Baumes; keineswegs jedoch waren ihre Wände überall dicht und verschlossen, im Gegenteil sah hier und da funkelnd ein Sternchen vom hohen Himmel in das seltsame Nachtquartier der beiden jungen Leute hinein; Vögel und Fledermäuse huschten über ihre Köpfe hinweg, ziehende Schatten verhüllten die höchsten Spitzen, und je zuweilen unterbrach plötzlich eine fremdartig klingende Stimme erschreckend die Stille der anbrechenden Nacht.

„Den Eingang können wir nicht verschließen,“ meinte Holm, „daher muß einer von uns wachen, während der andere schläft. Lege dich hin, Hänschen, und sei völlig ohne Sorgen, hörst du?“

Der Knabe widersprach nicht. Er wußte nur allzu wohl, daß kein Schlummer seine Augen umhüllen werde, und daß es ihm daher möglich sei, in jeder Minute dem etwa bedrohten Freunde zu Hilfe zu eilen, — mochte es recht still bleiben, mochte die Unterhaltung gänzlich stocken, desto besser ließ sich den eigenen schlimmen Befürchtungen nachhängen.

Und so vergingen Stunden. Das geheimnisvolle Leben des Urwaldes regte sich und sprach und flüsterte mit tausend Stimmen. Es glitt über das Moos dahin, es lauschte durch die hohen Farn und flatterte in den Wipfeln. Zuweilen fielen reife Früchte herab, oder stürzte polternd unter den ungestümen Sprüngen einer Affenschar ein dürrer Ast auf den Boden; lautes Kreischen und Bellen bezeichnete den Weg, den die nächtlichen Plünderer genommen, hart vorüber an dem hohlen Baum wälzte sich der wilde Haufe, und durch die entstehende Stille klangen wieder die Stimmen derjenigen Geschöpfe, welche jählings aus ihrer Ruhe aufgescheucht worden waren. Da schien plötzlich der Boden selbst zu erdröhnen, wie dumpfes Rollen tönte es herüber, Zweige und Äste knackten, größere Körper bewegten sich vorwärts, offenbar dem Versteck der beiden entgegen. Holm versicherte sich seiner Kugelbüchse, — die Herannahenden konnten ja möglicherweise Bonny- oder gar Beninleute sein. —

Hinter ihm erhob sich geräuschlos die leichte Gestalt des Knaben. „Ich schlafe nicht, Karl! Was bedeutet das sonderbare Geräusch?“

Ein Schnaufen und Brüllen durchdrang die Luft, — Holm atmete auf. „Gottlob, wenigstens doch keine Menschen.“

Er stellte die Büchse neben sich. Die da herankamen, waren ohne Zweifel Elefanten, also in betracht des engen Zuganges ein unschädlicher Besuch; im Gegenteil konnte man sie so recht bequem aus der Nähe beobachten. Die ersten Riesengestalten wurden im Halbschatten unter den Stämmen bereits sichtbar; dunkel und gewaltig wälzten sie sich heran, in gerader Richtung dem Versteck entgegen, pfeilschnell jetzt, feindlich wie es schien, wenigstens zwölf an der Zahl. Als das erste Tier mit gesenktem Kopfe, rasch nach einander drei laute gellende Pfiffe ausstoßend, den Baum anrannte, da konnten sich beide jugendliche Bewohner desselben doch des unwillkürlichen Erschreckens nicht erwehren, obwohl freilich der erlittene starke Anprall den alten Boabab in keiner Weise erschüttert hatte. Nun erst erkannten Lehrer und Schüler den Feind ihrer nächtlichen Ruhe. — Die Herde bestand aus glatthäutigen schwarzen Rhinozerossen mit je zwei großen Hörnern, einer Tiergattung, die zu den bösartigsten unter allen gerechnet wird, wenigstens was Kampfbegier und Stärke anbetrifft. Die gellenden Pfiffe wiederholten sich, wütende Stöße trafen den Baum, so daß Splitter und Flechten nach allen Seiten flogen, dennoch aber war keine eigentliche Gefahr vorhanden, die Wände standen wie von Eisen. Holm trat zurück und legte an. Freilich konnte die Kugel das Tier nicht verwunden, aber doch vielleicht erschrecken.

Der Erfolg entlockte beiden Versteckten ein herzliches Gelächter. Sobald der Schuß krachte, fuhr das zunächst stehende Ungeheuer wie vom Blitz getroffen zurück, mitten in die Herde seiner Genossen hinein, alles sprengend, alles in Verwirrung setzend und dann mit lautem Gebrüll davon eilend. Hinter ihm her jagten die übrigen, als sei ihnen der böse Feind auf den Fersen.

Holm und der Knabe lachten, wie sie es seit geraumer Zeit nicht mehr gekonnt. „Unser Glück war es, daß wir den schwarzen Riesen nicht im offenen Walde begegneten,“ sagte endlich der junge Gelehrte, „sonst wäre es uns schlimm ergangen. Um diese Zeit wandern die Nashörner in ganzen Trupps auf bestimmten Wegen zur Tränke, am Tage dagegen liegen sie meistens unter dem Baum, dessen Zweige ihr Dach bilden, und lassen sich nur stören, wenn ihnen der Wind die Witterung eines Feindes — des Menschen — zuführt. Während sie weder scharf sehen noch hören, ist ihr Geruchssinn so ausgebildet, daß sie auf Hunderte von Metern das Herannahen eines Jägers mit Sicherheit erkennen. Sie stürzen sich ihm dann blindlings entgegen und fallen in die verdeckte Grube, welche zu diesem Zwecke vorher sorgfältig angelegt worden ist. Nur auf diese Weise läßt sich das gewaltige, bösartige Tier einfangen.“

„Die schwarzen Unholde hatten eine ganz glatte Haut,“ bemerkte Hans, „ihr Vetter im Hamburger Zoologischen Garten ist am Körper überall mit Falten bedeckt. Wie kommt das?“

„Letztere Art ist die indische,“ antwortete Holm. „Aber nun will ich schlafen, mein Junge. Wahrhaftig, — es muß sein, — in der nächsten Nacht werden wir ja wandern.“

Und wieder kehrte die frühere Stille zurück. Holm schlief, Hans hörte seine tiefen Atemzüge, alles rings umher lockte zur Ruhe, zum bequemen, wachen Träumen und sich hinzugeben an das Schweigen der Nacht. Unmerklich sank des Knaben Kopf gegen die Baumrinde, unmerklich schlossen sich die Augen — er konnte ja hören, auch wenn er nicht sah! — und dann kam der sonderbare Zustand, wo wir zu wachen, zu handeln und uns zu bewegen glauben, während doch der Schlaf mit siegreicher Gewalt immer mehr von unserm Bewußtsein Besitz ergreift und es endlich ganz in Dunkel hüllt. Als die beiden erwachten, erst Hans und dann, durch dessen lauten Ausruf erschreckt, auch der junge Gelehrte, da schien die Sonne hell vom Himmel herab, es mußte wenigstens acht Uhr morgens sein; Bäume und Blüten erglänzten im frischen Schimmer, ein angenehm fächelnder Wind zog durch die Laubkronen und mit ungezählten Stimmen sangen im Gezweig die verschiedenen Vogelarten.

Holm und der Knabe sahen einander an. Wie nahe war vielleicht während dieser Nacht der Tod an ihnen vorübergegangen!

„Das laß uns als gutes Vorzeichen nehmen,“ rief Holm. „Wir haben geschlafen, obgleich Löwen und Hyänen uns umschlichen, wir haben Geist und Körper neu gekräftigt, ohne durch irgend eine Gefahr beunruhigt zu werden, also ist auch unsere Stunde noch nicht herangekommen. Gib acht, wir finden heute noch die anderen wieder!“

Seine gute Stimmung belebte auch den Knaben. „Was thun wir denn jetzt zunächst, Karl?“ fragte er.

„Hm, wir schießen uns einen Braten, pflücken Früchte, holen Wasser und gehen ein wenig auf die Jagd, kurz, wir spielen Robinson zu zweien. Sobald dann das erste Sternchen am Himmel erscheint, beginnt die Heimreise.“

„Und das denkst du durchführen zu können, Karl?“

„Ganz gewiß, Hänschen, nur bleibt es unbestimmt, ob wir auf diesem Wege ein Dorf der Bonny streifen werden oder nicht. Unser Schiff müssen wir erreichen.“

Während dieser Unterhaltung waren die beiden aus ihrem Versteck hervorgekommen und sahen nun von draußen die Verheerungen, welche in der letzten Nacht durch die Rhinozerosse angerichtet waren. Handgroße Holzsplitter lagen umher, Büsche und Gräser waren zerstampft, als sei eine Schlacht geliefert worden und hier und dort sogar ein junger Baum vollständig geknickt. Der Weg, den die riesigen Tiere eingeschlagen, zeigte sich als sehr leicht erkennbar.

Holm winkte seinem jungen Begleiter. „Jedenfalls gibt es hier herum einen Flußarm oder sonstiges Gewässer, in dem sich keine Krokodile befinden,“ sagte er. „Die Rhinozerosse bahnen sich herdenweise ihre Pfade durch das Unterholz immer nur, um eine Tränke zu erreichen; laß uns also der Spur nachgehen.“

„Aber wenn die schwarzen Teufel noch da wären?“

„Das sind sie keinesfalls, überdies weht uns auch ein ziemlich starker Wind gerade entgegen, sie könnten unsere Annäherung daher durch kein Zeichen erkennen.“

Die Gewehre wurden nachgesehen und geladen, zur Stärkung ein Schluck Wein genommen, und dann ging es vorwärts; schon nach fünf Minuten zeigte sich ein schmaler, sonnenbeschienener Fluß, dessen Wellen leise murmelnd dahinglitten, und der sich zur Rechten in einen See zu verwandeln schien. Die Ufer mußten sehr flach sein, denn Wasservögel aller Art verzehrten teils stehend, teils langsam wandernd, halb von den Wellen überspült, ihr aus Schnecken oder Fröschen und kleineren Fischarten zusammengesetztes Frühstück; weiterhin, wo das Wasser breiter wurde, lagen im Sonnenschein die weiblichen Flußpferde mit ihren Jungen, zu denen sich nicht selten ein auf dem breiten Rücken des Muttertieres neben den Kleinen stehender Reiher oder Kranich gesellt hatte. Das Flußpferd blinzelte gemütlich, der Vogel hielt scharfen Ausguck nach Beute, die jungen Tierchen neckten einander und fielen zuweilen klatschend in den See, der aber auch hier nicht tief schien; kurz, es war im ganzen ein Bild des ungestörtesten Friedens, den selbst die Büffelherde im hohen Farngras trotz ihrer Hörner und ihres bedrohlichen Aussehens nicht zu scheuchen vermochte. Marabuts und Ibisse, Pelikane und Plotos wiegten sich halbgeschaukelt, halb auf einem Bein im Wasser stehend; Fische zuckten zuweilen vom Grund herauf; Schmetterlinge aller Größen, golden und purpurn, ganz weiß oder im schönsten Blau prangend, huschten von Blüte zu Blüte; geschäftige Bienen trugen Beute; Ameisen in langen Zügen marschierten auf dem duftenden Erdboden; unschädliche Schlangen verschwanden blitzartig unter dem nächsten Gebüsch oder ein paar vertrockneten Blättern.

„Karl,“ fragte Hans, „kennst du die sonderbare Frucht, welche von diesem Baum herabhängt, flaschenförmig und ganz grün wie das Blatt selbst? — Die müssen wir uns einmal in der Nähe besehen.“

Er ging zu einem Stamm, von dessen Zweigen unzählige grüne, langgestreckte Früchte oder Auswüchse herabhingen. Mit der Hand ließen sich dieselben nicht erreichen, Hans schüttelte daher den untersten Ast, und nun fielen allerdings die unbekannten Dinger haufenweise herab, aber — — — welchen Inhalt ausschüttend!

„Um des Himmels willen!“ rief Holm, „das sind die Nester der Eloway-Moskitos! Wie konnte ich mich denn auch darüber täuschen! Schnell, Hans, schnell, nimm einen dichten Busch und schlage damit in den Schwarm hinein. Wir müssen flüchten, — so rasch als möglich.“

Während dieses schreckensvollen Rates hatte er bereits ein paar blattreiche Zweige abgebrochen und einen davon seinem jungen Genossen zugeworfen. Die Moskitos, Tausende an der Zahl, umschwärmten ihre vermeintlichen Angreifer und begannen laut summend zu stechen, wohin sie sich setzten. Jeder Schlag tötete eine bedeutende Anzahl, aber wo eine gefallen war, da erschienen hundert andere an ihrer Stelle; Holm und der Knabe befanden sich inmitten einer schwarzen Wolke dieser Blutsauger, die vereint in der Weise beleidigter Bienen ihren Angriff vollführten. Es war unmöglich, sich der kleinen Gegner zu erwehren; aus allen Nestern krochen sie hervor, fanden den Weg unter die Kleider der beiden jungen Leute und verursachten ihnen so heftige Schmerzen, daß die Jagdlust davor weichen mußte. „Ins Wasser,“ rief Holm, „ins Wasser oder wir sind verloren!“

Die Gewehre lagen schon längst im Grase, die Strohhüte auch, und so sprangen denn Lehrer und Schüler, sich notfalls auf ihre Schwimmkunst verlassend, Hals über Kopf in die blaue Flut hinein. Bis an den Mund unter Wasser, war es ihnen nunmehr ein leichtes, den etwa nachfliegenden Verfolgern durch schnelles Tauchen zu entgehen. Triefend, mit zerstochenen, geröteten Gesichtern, die Augen voll Wasser, so sahen sie sich an und brachen zugleich in ein herzliches Lachen aus. „Von einem Mückenschwarm besiegt!“ rief Hans.

Karl hob aus der schützenden Flut unvorsichtig den rechten Arm, um auf das Ufer zu deuten, zog ihn aber sogleich wieder zurück, als ein Dutzend Moskitos über seine Hand herfielen, der Kopf folgte nach, und so förderte er in Absätzen, prustend, sich schüttelnd und verschluckend, die beabsichtigte Rede zu tage, nur je zuweilen inne haltend, wenn er sah, daß Hans wie eine flinke Ente tauchte, und daß er also in diesem Augenblick keinen Zuhörer hatte. „Du sagst Mückenschwarm, mein Junge? Die Art sticht durch — warte Bestie! — prr, ich meine, sie bohren sich durch das Leder bis in die Haut. — Junge, wo bist du? — aha, ich sehe dich bereits. Hier haben wir auch die Iboko-Hornisse, die größte von allen! Bitte, ich verzichte auf nähere Bekanntschaft.“

Er entfernte sich während dieser Rede mit seinem Begleiter von der gefährdeten Stelle und machte es möglich, unter dem Schutz eines dichten Gebüsches das Ufer wieder zu erklettern. Die ertrunkenen oder zerquetschten Mücken wurden aus den Kleidern geschüttelt, das Wasser so gut als thunlich entfernt und Schilf und Halme abgelesen. „Jetzt warten wir noch ein Viertelstündchen, bis sich die Wut der Tiere gelegt hat,“ meinte Holm, „dann holen wir die Gewehre und schießen Büffel.“

„Überfallen denn die Moskitos nur ihre Angreifer, Karl? Nicht vielmehr alle Geschöpfe, die des Weges kommen?“

„O bewahre, sie sitzen ruhig in ihren Nestern, bis man dieselben bedroht, dann aber kennt auch, wie wir soeben sahen, ihr Zorn keine Grenzen. Laß uns nur warten, der Schwarm wird schon durchsichtig, die meisten sind davongeflogen.“

Nach kaum zehn Minuten war es den beiden Freunden möglich, ihre Hüte und Gewehre ohne weitere Gefahr wieder an sich zu nehmen, und nun begann die Büffeljagd. Schon bei dem ersten Herannahen ihrer Verfolger ergriffen sämtliche Tiere die Flucht, alle einer bestimmten Richtung folgend, und wie es schien, unter der Leitung eines besonders großen, alten Stieres; sie donnerten über den Boden dahin, daß er dröhnte, und schon glaubten die Jäger, daß ihnen kein Stück zu Schuß kommen würde, als plötzlich hart vor ihrem Wege aus dem feuchten Grunde ein Büffel aufsprang und mit gesenktem Kopfe auf sie zustürzte. Nach rechts und links ausweichend, ließen ihn die jungen Leute im heftigsten Anprall gegen einen alten Tamarindenbaum rennen, die Hörner drangen tief in das Holz desselben, dichte Ranken thaten das Ihrige, um ein Loskommen im Augenblick zu verhindern, und so hatte sich der Büffel in eigener Falle gefangen. Von zwei Kugeln getroffen, stürzte er verendend am Fuße des Baumes zu Boden. Ganz schwarz behaart und mit dicht stehenden, mächtigen Hörnern war er ein Gegner, dessen Gefährlichkeit erst jetzt, nachdem man ihn in der Nähe besehen, so recht erkennbar wurde. Gegen zwei Meter hoch und dem entsprechend lang ließ sich das Tier nicht von der Stelle bringen, die glücklichen Schützen mußten also aus dem Rücken ein tüchtiges Stück herausschneiden und das übrige den wilden Räubern preisgeben. „Schade um die Zunge,“ sagte Holm, „sie ist das Feinste von allem, aber wir haben für keine Zubereitungsart die nötigen Geschirre; das Fleisch muß roh mit Salz und Pfeffer verzehrt werden.“ — So zogen sie heimwärts und pflückten unterwegs noch einige Ananas, die als Nachtisch dienen sollten. Glücklicherweise hatte sich für die Höhle noch kein vierfüßiger Bewohner eingefunden, die zurückgelassenen Decken und Vorräte lagen unversehrt an der früheren Stelle, und nachdem daher das Fleisch auf einem flachen Stein geschabt worden, begann das durch den besten Appetit gewürzte Mahl, bei dem nun freilich die letzten Zwiebäcke und der letzte Wein verzehrt wurden. Aber das machte keine Sorge, es gab hier herum Lebensmittel die Hülle und Fülle, man brauchte nur zu pflücken oder einen Schuß Pulver dran zu wenden.

„Gottlob,“ sagte Holm, nachdem er den Vorrat in der Jagdtasche untersucht, „Munition ist reichlich vorhanden. Wir können in dieser Beziehung ruhig sein.“

Gegen Mittag fiel ein heftiger, andauernder Regen, der unsere Freunde zwang, unter Dach und Fach zu bleiben; sie mußten auch einigen größeren Affen, welche den Baum erobern wollten, den Zugang wehren, und da späterhin für einen Ausflug die Zeit zu weit vorgerückt war, so verbrachten beide plaudernd und ruhend die Stunden, bis auf den Tag wieder die Nacht folgte und nun der gefahrdrohende, überaus schwierige Weg durch den Urwald angetreten werden sollte. Gerade um diese Zeit brachen auch alle wilden Tiere, auf Raub ausgehend, aus ihren Schlupfwinkeln hervor; gerade jetzt war die Gefahr am größten, lauerte hinter jedem Baum und sprach aus jedem Laut der Wildnis, aber es gab kein Bedenken, ein Zögern inmitten dieser Verhältnisse, ohne Nahrung außer Früchten und rohem Fleisch, ohne menschliche Nähe oder einen gesicherten Schlafplatz wäre ja unfehlbarer Untergang gewesen. Da also der Führer fehlte, so mußte man, um nicht durch völlige Unkenntnis des Weges möglicherweise noch tiefer in die Wildnis hineinzugeraten, während der Nachtstunden reisen, — gelang das, so war die Küste bald erreicht.

Von dem allen plauderten die beiden, von der Heimat und tausend anderen Dingen, die ihnen am Herzen lagen, nur nicht von den Verschollenen; es war als könne sich keiner entschließen, zuerst ihre Namen auszusprechen. Die Gewehre wurden geladen, von den Früchten auch soviel als sich verpacken ließ, mitgenommen, die leeren Flaschen am Ufer gefüllt, und fort ging es in die Wildnis hinein.

Wo der Weg über eine baumlose Strecke führte, da beleuchtete heller Mondschein die Umgebung, wo aber wieder so ein Stück Hochwald begann, da herrschte fast völlige Dunkelheit, an welche sich jedoch das Auge bald derartig gewöhnte, daß es wenigstens leicht wurde, größere Gegenstände zu erkennen und zu unterscheiden. Links von den Wandernden rauschte der Fluß, in einiger Entfernung zeigten sich die dunklen Umrisse des Affenberges, Holm hatte also den Rückweg richtig aus den Sternen herausgelesen, und dadurch wuchs natürlich auch in beider Herzen die Hoffnung, das Dorf der Bonnys wieder zu erreichen. Dort gab es nicht allein Führer, sondern es befanden sich unter der Obhut der Eingebornen alle zurückgelassenen Vorräte, man durfte mithin auf eine bessere und leichtere Reise zählen.

Holm sah, so gut es anging, in das Auge des Knaben. „Getrost, Hänschen, es ist mir immer, als müsse sich heute noch etwas Angenehmes zutragen. Ich“ —

„Pst! — dort unter den Büschen bewegt es sich!“

Beide horchten. Alles ringsumher war still, aber an der bezeichneten Stelle schaukelten die Farne, als sei ein größerer Körper hastig hindurchgekrochen, ja sogar weiterhin bewegte sich das Unterholz, und endlich klang es wie das Knacken von Gewehrhähnen. Eine menschliche Gestalt glitt blitzschnell aus den Büschen hervor hinter den nächsten Stamm.

Holm ergriff den Arm des Knaben. „Ein Schwarzer,“ raunte er, „ein Bonny! Um des Himmels willen still also. Die Schar hält vermutlich das von uns herrührende Geräusch für die Annäherung wilder Tiere und zieht weiter, wenn alle Gefahr vorüber scheint.“

Auch im anderen Lager flüsterte es. Mehrere Schwarze begannen mit ihren langen Spießen in das Unterholz hineinzustoßen, um den vermeintlichen Feind erst einmal von Angesicht zu Angesicht kennen zu lernen. Es waren ihrer wenigstens sechs bis zehn, sie schienen entschlossen, die Jagdbeute nicht aufzugeben, sondern zu umzingeln und aus dem Dunkel herauszutreiben. Dort im Gewirre von Schmarotzerpflanzen, unter Ranken und Zweigen mußte der Gegner verborgen sein! — Immer enger rückten die Verfolger heran.

„Das geht so nicht länger!“ flüsterte Holm. „Noch ein paar Schritte näher und die langen Spieße erreichen uns. Folge mir nach, Hans, zwischen diesen beiden Bäumen müssen wir durchschlüpfen — ich glaube, hinter denselben steht kein Schwarzer Wache.“

Das Gewehr im Anschlag glitten die beiden so geräuschlos als möglich über den dichtbewachsenen Boden dahin. Wirklich, kein Schwarzer war zu sehen, vielmehr schienen sich alle nur mit dem dornigen, wildverwachsenen Gebüsch jenseits der zusammenstehenden Bäume zu beschäftigen, schienen den Ausgang nach dieser Seite hin vergessen zu haben. „Gerettet!“ raunte Holm, „wir warten nun unter irgend einem Schutz, bis die Räuber weiter ziehen.“

Noch hatte er den Satz nicht vollendet, als ihn von hinten zwei Arme umschlangen und rückwärts zu Boden rissen. Sein Angreifer versuchte es, ihm das Gewehr aus der Hand zu winden. Ein schwarzes Gesicht beugte sich über das seine, funkelnde Augen blickten ihn an, und ehe er es hindern konnte, war ihm der Mund mit einem baumwollenen Tuche völlig gestopft. Das alles geschah zu schnell, um dem vorauseilenden Knaben bemerkbar zu werden, Hans verschwand unter den Stämmen, und Holm lag wehrlos am Boden.

„Ob das ein Beninkrieger ist?“ flüsterte in der Nähe eine Stimme. „Gott stehe uns bei, wenn wieder ein Trupp dieser räuberischen Halunken um die Wege wäre! Man muß jedenfalls den Gefangenen hindern, seinen Freunden ein Zeichen zu geben.“

Holm bewegte sich mit allen Gliedern zugleich; er rang heftig gegen die Eisenarme des Negers, ein dumpfes Stöhnen hob seine Brust. Da gelang es ihm, eine Hand freizumachen; er wollte das Tuch aus dem Mund reißen, wurde jedoch daran plötzlich durch den, der eben gesprochen hatte, verhindert. Jetzt zweien Gegnern preisgegeben, blieb ihm nur übrig, dieselben so viel als möglich zu beschäftigen; vielleicht kam ja Hans, wenn er ihn vermißte, hierher zurückgesprungen und konnte ihm beistehen. Hätte er nur zu rufen vermocht, nur irgend einen Laut von sich geben oder die Hände gebrauchen können! Aber alles das war unausführbar, bis nach einigen Augenblicken der Schwarze von ihm abließ und horchend aufsprang. In der Nähe hatten die Büsche gerauscht, dann folgte ein Blitz und eine Büchsenkugel flog haarscharf über die Köpfe der Ringenden hin. Sämtliche Anwesenden standen starr vor Schreck.

Diesen Moment benutzte Holm, um mittels einer schnellen, unerwarteten Bewegung seines ganzen Körpers den Mann, welcher ihn, gebunden wie er war, am Boden festhielt, in gewaltsamer Weise mit sich hinaus zu schleudern auf den hellbeschienenen Grasstreifen, der wie ein schmales Silberband zwischen den Bäumen dahinlief. Dann lag er mäuschenstill und sah nur gespannt und erwartungsvoll empor in das Gesicht des anderen.

Dieser selbe Mann stützte beide Hände auf den Boden und schien nicht mit Sicherheit zu wissen, ob er wache oder träume. Immer noch kniete er über der hingestreckten Person seines Gefangenen, aber ohne doch gegen die Freiheit desselben irgend etwas zu unternehmen. Holm brachte die gefesselten Hände an den Mund, das Tuch wurde bei Seite geschleudert, und nun erst kam wieder Bewegung in diese stille Gruppe. „Ich grüße Sie, Doktor!“ sagte trocken der junge Mann.

Ein lautes, fröhliches Lachen, in das der andere sofort einstimmte, beantwortete diesen Satz. Es schien nicht enden zu wollen, es erstreckte sich mit auf die beiden Knaben, welche dort einander umarmten, vor Freude sprangen und jubelten, aber trotzdem immer wieder lachen mußten, lachen, bis ihnen die hellen Thränen über das Gesicht herabrollten.

„Wie kommt ihr hierher, ihr unklugen Deserteure, weshalb habt ihr uns überhaupt verlassen? Und wofür hieltet ihr uns jetzt?“

„Für das, was ihr seid, Bonnys und Wegelagerer!“ klang es zurück. „Wie könnt ihr euch gestatten, friedliche Reisende für Raubtiere zu halten und sie mit langen Spießen zu bedrohen?“

„Wer kraucht denn in dem Busch herum, anstatt wie ein rechtschaffenes Menschenkind Rede und Antwort zu geben?“

„Wer stellt ein schwarzes Gesicht an die Spitze des Zuges und verdächtigt dadurch die ganze Reisegesellschaft?“

„Nun, Gott im Himmel sei Dank, wir haben uns wiedergefunden!“

„Meiner Sternkunde sei Dank, wollten Sie doch sagen, Doktor?“

„Und wer hat die Sterne als Wegweiser an den Himmel gestellt, Freundchen?“

„Amen. Sie sollen den Sieg behalten, Doktor. Jetzt komm einmal her, Hans, beinahe hättest du uns beide zugleich erschossen.“

„Ich hab’s gethan!“ rief Franz. „Glorreich vorbei, Gottlob. Wie konnte ich auch ahnen, daß du es warst, den unser würdiger Doktor aus Leibeskräften bändigte, in der besten Meinung, einen Beninkrieger unter seiner Faust zu haben.“

„Ja, ja, meine Brille!“ seufzte der alte Theologe, „das ist nun die zweite von sechs, welche ich zur Vorsicht mitnahm. Die unsinnige Rauferei hat mich die zweite Brille gekostet!“

Jetzt ging nun das Fragen und Verständigen an. Der Stamm der Reisegesellschaft mit den Führern und Bonnyträgern hatte durch Vermittelung der letzteren leicht einen Vertrag mit dem Häuptling des heimziehenden Haufens der siegreichen Bonnyleute geschlossen, wonach sie gegen entsprechende Geschenke und unter nachdrücklichem Hinweis auf die drohend nahe ihren Heimatdörfern vor Anker liegende „Hammonia“ freien Hin- und Rückweg haben sollten.

Nach einem gemeinsamen Friedensmahle und einer unbehelligt verbrachten Nacht war die ganze Schar vor Tagesanbruch auf und davon, ohne durch irgend ein Zeichen verraten zu haben, wohin. „Einer der weißen Führer ist im Gefecht umgekommen, drei andere sowie die Schwarzen sind mit uns gegangen, so daß die ursprüngliche Reisegesellschaft wieder beisammen ist. Wollen wir nach dem Erlebten noch weiter in die Urwälder vordringen?“ schloß Franz die Erzählung.

„So ohne Brille?“ seufzte der Doktor. „Ich finde es wahrhaftig nicht ratsam, allen diesen streifenden Bonnys und Benin gegenüber, namentlich da wir durch die unvermutete Trennung so viele Gewehre und alle Lebensmittel verloren haben.“

„Auf denn!“ entschied Holm. „Zunächst zurück zum Dorf der Bonny und dann wieder auf unser Schiff. Die afrikanischen Urwälder mit ihren menschlichen und tierischen Bewohnern sind wahrhaftig aus der Entfernung gesehen interessanter und lockender als in unmittelbarer Nähe.“

Franz errötete, als enthalte dieser Satz für ihn eine Rüge. „Ich habe mir auch das Leben in der Wildnis anders gedacht wie es ist,“ bekannte er. „Mir schien immer, daß es langweilig sein müsse, so als Kaufmann jahraus jahrein am Pult zu sitzen, und daß sich nur der Naturforscher frei und glücklich fühlen könne, aber — —“

Er schüttelte, ohne den Schluß der Rede beizufügen, den Kopf. Holm und der Doktor sahen einander lächelnd an, aber keiner von beiden sprach, sondern alle brachen auf, um so bald als möglich das Dorf und damit die zurückgelassenen Vorräte zu erreichen. Jetzt, mit einer stattlichen Anzahl von Führern versehen, ging die Reise schneller und sicherer vorwärts, kamen, nun die beiderseits Verlorenen sich wiedergefunden, erst alle Genüsse der Wanderung recht zum Bewußtsein. Eine Abteilung der Schwarzen voran, dann die vier Weißen und zum Beschluß der Rest der gemieteten Begleiter, so ging es vorwärts in die köstliche Mondnacht hinein. Nach zweitägigem Marsche war das Dorf des Bonnystammes erreicht, Weiße und Schwarze befanden sich im besten Wohlsein, Lebensmittel wurden gegen die üblichen Tauschwaren in Hülle und Fülle gespendet. Ebenso boten die wenigen anwesenden Greise (denn die kampffähigen Männer hatten ihren Streifzug weiter fortgesetzt und waren noch nicht heimgekehrt) bereitwillig den Gästen eine Hütte, wo sie auf weichen Matten von den Anstrengungen der letzten Tage ausruhen konnten.

Viertes Kapitel.

Beladen mit Schätzen an Blumen und Pflanzen, an Insekten aller Art, die Botanisierkapseln und Ledertaschen gefüllt bis zum Rande, so hatte sich die kleine Karawane auf der „Hammonia“ wieder eingefunden, und jetzt dampfte man den Inseln an der Küste des Guineabusens entgegen. Hier in diesem ungesundesten aller existierenden Klimate, hier, wo die leichteste Hautabschürfung, ja ein Nadelstich schon binnen weniger Stunden bis zum bösartigsten Geschwür fortschreitet, war ein längerer Besuch freilich nicht in Aussicht genommen, überhaupt sollten nur die bedeutenderen der fünf Inseln besehen werden, nämlich Fernando Po und die Prinzeninsel.

Die Knaben mußten nach den ersten Rasttagen während dieser Überfahrt tüchtig Botanik und Geographie treiben, daneben aber genossen sie alle die Reize der angenehmen, vom besten Wetter begünstigten Reise, die an jedem Tage neue Abwechselung darbot. Das Meer war hier eine Fundgrube nimmer gesehener Kostbarkeiten, es brachte Unterhaltung und Belehrung zugleich, namentlich da seine blaue Oberfläche in dieser starken Entfernung vom Lande einen Durchblick bis zur Tiefe von etwa fünfzehn Metern überall gestattete, und daher die stummen Bewohner des Wasserreiches deutlich zu erkennen waren.

Große, formlose, häßliche Sepien, mit allen Fangarmen rudernd, grau und unheimlich in ihrer Kopflosigkeit, mit weitem, immer offenen und nur zum Saugen eingerichteten Mund, — die umfangreichsten, gefährlichsten aller Polypen, schwammen träge durch die Tiefe dahin und hielten in ihren zahllosen Armen alles fest, was sie erreichen konnten; der Hai mit seinem Adjutanten, einem kleinen, schlankgebauten, kaum einen halben Meter langen Fischchen umschnupperte zuweilen das Schiff; fliegende Fische tummelten sich in der Luft und fielen auf das Verdeck; selten auch zeigte sich ein riesiger Wal mit allen den schmarotzenden Bewohnern, welche sein stattlicher Rücken jahraus jahrein beherbergt; seltener noch ein besonders fremdartig gebauter, kleinerer Fisch; zu Hunderten und Tausenden dagegen die blauen, rundlichen Polypen, deren Züge oft stundenlang das Meer durchfurchten, und denen wieder eine größere gelbe oder violette Art folgte, die sich von den blauen ernährte, deren häßliche Saugwerkzeuge daher blau gefärbt erschienen.

Einmal bei ganz stillem Wetter sahen die Knaben neben dem Schiff eine purpurrote Kugel von der Größe einer ausgewachsenen Kokosnuß mit einem himmelblauen, gefalteten Kragen und über einen Meter langen Fangarmen vom schönsten Rosa. Die Qualle schwamm, ob auch andrängende Wellen sie zu überschütten drohten, immer auf dem Kamm derselben, einsam im ganzen Glanze einer wunderbar fesselnden Schönheit. Weit und breit ohne ein Wesen gleicher Art, gewährte ihr Erscheinen auf der Oberfläche des unendlichen Meeres den einzigen Ruhepunkt für das Auge, zugleich aber auch ein Bild, das anziehend genug war, um die Aufmerksamkeit der Beschauenden im höchsten Maße zu fesseln.

„Papa Witt!“ rief Franz, „schnell, schnell, können wir das Ding nicht einfangen?“

Der Alte schüttelte den Kopf. „Das ist eine Seifenblase,“ antwortete er halb ernsthaft, halb lächelnd, „gerade wie das Glück — erfaßt du es, so bleibt von all diesem Glanze nur ein graues, zerstäubendes Etwas!“

„Man kann also die bunten Quallen niemals aus der Nähe besehen?“

„O doch, dann aber muß man sie mit einem Eimer oder anderen größeren Gefäß herausschöpfen, und das ist bei voller Fahrt unmöglich.“

„Papa Witt, könnte denn nicht das Schiff stoppen?“

„Lauf,“ lächelte der Alte, „lauf und frage, Junge.“

Franz stürmte fort und hatte zwei Minuten später alles an Deck versammelt, den Kapitän, den Doktor, Holm und Hans. Ein Stück seiner Garderobe flog dem andern nach, er holte unter allgemeiner Heiterkeit ein starkes Seil herbei und ließ sich vom Koch einen leichten Blecheimer geben. „So, wenn nun das Schiff still liegt, laßt mich nur über Bord springen,“ rief er. „Einen Hai würdet ihr ja rechtzeitig sehen können, und vor dem Ertrinken habt keine Furcht. Ich schwimme wie ein Fisch. Jetzt also — paßt auf!“

„Berühre die Qualle nicht, Franz!“ lachte Holm.

„Sie beißt dich, Junge!“ rief der alte Witt. „Du denkst noch tagelang an ihre Nesseln, wenn sie dich erfassen sollte.“

„Franz,“ fügte halb ängstlich der Doktor hinzu, „du müßtest dergleichen Wagestücke doch unterlassen. Bedenke —“

Aber da plätscherte der Junge schon im Salzwasser, die Schaumperlen rollten über seinen Körper dahin, die Woge hob und senkte den kecken Schwimmer. „Springen Sie mir nach, Doktor,“ rief er lustig, „es ist viel kühler hier unten, als auf dem Verdeck.“

Der alte Theologe hielt, um desto genauer über den Schiffsrand hinweg in die Tiefe sehen zu können, vorsichtig mit beiden Händen die dritte der bewußten sechs Brillen fest. „Ich?“ wiederholte er erschreckt, „du bist ein Erzspitzbube, aber man kann dir trotzdem nicht böse werden. Gib nur acht auf deine Sicherheit.“

Die purpurne Qualle war während dieser Worte dem Knaben entgegengeschwommen. Es schien wirklich schwer, dies kugelförmige Geschöpf für mehr als eine bloße Pflanze zu halten, dennoch aber zeigte das beständige Tasten der Fangarme jenen Zustand teilweisen Lebens, der das Polypengeschlecht zur „Übergangsstation“ macht, wie Professor Schleiden es nennt, „zu einer Entwicklungsstufe, die das Tier- und Pflanzenreich verbindet.“ Nur Magen besitzt die sonderbare Gattung, keinen Kopf, mithin auch nur einen der an lebenden Wesen gefundenen fünf Sinne, den Tastsinn, und daneben einen breiten, lippenlosen Mund. Einzelne Spielarten sind häßlich, andere sehr farbenreich, besonders die in den tropischen Meeren lebenden.

Franz nahte mit des Kochs großem Blecheimer. Sechsmal und zehnmal hob er ihn mit schnellem Ruck über die Oberfläche, immer aber schaukelte sich die Qualle unbekümmert auf den Wellen, während unser Freund lediglich Salzwasser eingefangen hatte. Ob er noch so sicher glaubte, jetzt das bunte Ding erwischt zu haben, in der nächsten Sekunde lagen wieder einige Schritte Entfernung zwischen ihm und seiner Jagdbeute. — Die übrigen lachten natürlich, dadurch aber steigerte sich der geheime Ärger, welcher den Knaben schon vorher erfaßt hatte, zum Zorn. Schließlich aber sah er ein, daß er nur mit Besonnenheit zum Ziel gelangen könnte. Listig schob er den Eimer seitwärts unter die Qualle. Ein lautes Hurra meldete den anderen den glücklichen Fang.

„Na! Na!“ brummte der alte Witt, „sind das Streiche. Holt ihn ein, Jungens, aber rasch. Koch, eine Bütte voll Salzwasser an Deck.“

Seine Befehle wurden schleunig ausgeführt. Ein paar Minuten später befand sich der unerschrockene Knabe wieder in der Mitte der anderen, der alte Steuermann selbst setzte die Qualle in das Messinggefäß und das Schiff nahm die Fahrt wieder auf. Franz hatte viele Neckereien zu ertragen. Obwohl ihn aber die roten Striemen, welche das Seil an dem unbekleideten Körper zurückgelassen, heftig schmerzten, so lachte er doch darüber und ließ sich von seinem Bruder helfen, die abgeworfenen Kleidungsstücke wieder anzulegen. Mit stolzen Blicken kniete er vor der Bütte, worin das gefährliche Halbtier schwamm. Es war im Zustande vollen Lebens erhalten, die drei verschiedenen Farben glühten so prächtig wie draußen auf dem Meer, nur schienen seine Tentakeln, wie diese Fangarme heißen, etwas unruhiger zu tasten. Überall, wo sie gegen das Holz der Bütte stießen, zogen sie sich plötzlich gegen den Körper zurück.

„Diese Glieder wachsen, wenn man sie abschlägt, wieder nach,“ erläuterte Holm, „später werden wir, gefällt’s Gott, sogar im Großen Ozean Polypen sehen, deren aus Hunderte von Körperchen bestehende Familie nur eine Mundöffnung und einen Magen besitzt. An dem Burschen hier, der dir so viele Mühe machte, soll das Todesurteil vollzogen werden, nicht wahr, Franz?“

Unser Freund lachte etwas gezwungen. „Nicht meinetwegen, Karl, aber damit man einmal diese Geschöpfe genau kennen lernt.“

Der Koch brachte einen großen Rührlöffel und Holm hob vorsichtig das Tier heraus, um es in eine leere Bütte zu legen. Augenblicklich verschwanden die prachtvollen Farben, es ging stufenweise abnehmend alles über in ein fahles Grau, und die Fangarme verloren ihre Fortbewegungskraft. Als Holm einen derselben ergriff, blieb in seiner Hand eine gallertartige, zerrinnende Masse, die höchst unangenehm festklebte. Das Halbtier zerging ohne irgend eine äußere Verletzung, ohne wahrnehmbares Sterben in kurzer Zeit zu formlosem Schleim.

„Sagte ich es nicht,“ nickte der alte Witt, „eine Seifenblase.“

„Dort schwimmen mehrere,“ rief Franz, — „wie hübsch doch die Dinger in so weiter Entfernung aussehen, wie schade, daß wir diesen Anblick nicht auch unseren Freunden in der Heimat ermöglichen können. Diese Geschöpfe lassen sich ja nicht transportieren, wie wir uns eben selbst überzeugt haben.“

„Und wegen dieser buntschillernden Quallen eine gefährliche Reise anzutreten, ist nicht jedermanns Sache,“ sagte Doktor Bolten. „Was nützten mir auch alle Wunder und Schönheiten der Natur, wenn die Wilden meine letzte Brille gestohlen hätten. Ein wahres Glück, daß ich noch ein Paar Augengläser habe, andernfalls wäre es einerlei, ob ich hier wäre oder in Dockenhude.“

Alle lachten über den Doktor, der die letzten Worte in einem etwas kläglichen Tone gesprochen hatte. Dann fragte Holm: „Wie würden wir es wohl anfangen, um auch unseren Landsleuten daheim eine Vorstellung von der Farbenpracht und dem Aussehen solcher Geschöpfe zu geben, die im Tode ihre Schönheit verlieren? Viele farbenprächtige Fische büßen, sobald sie sterben, ihren Glanz und Farbenzauber ein, wie z. B. die blau und rot schillernde Meerbarbe, die schon den alten Römern als Delikatesse bei ihren Schwelgereien galt. Ja die Meerbarbe wurde sogar vor den Augen der Gäste getötet, die sich an dem wechselnden Farbenspiel, welches das Tier beim Sterben zeigt, ergötzten. Wer von euch,“ wandte er sich wieder zu den Knaben, „kann mir nun sagen, auf welche Weise es möglich ist, das Vergängliche für die Mit- und Nachwelt aufzubewahren?“

Die Knaben sannen nach. „Man setzt die Quallen und Fische in ein Aquarium,“ rief Hans.

„Das wäre ein Ausweg,“ entgegnete Holm, „der wohl für einzelne Fälle, aber nicht für alle passen würde. So lebte früher, gegen das Ende des sechzehnten Jahrhunderts, auf der Insel Mauritius eine Art von großen, unbeholfenen Vögeln — die Dronte — die nunmehr ganz ausgestorben ist. Wir würden gar keine Kenntnis von der Gestalt dieses merkwürdigen Vogels haben, wenn nicht ein damals lebend nach London geschickter Dronte von einem Maler — porträtiert worden wäre.“

„Ich hab’s,“ rief Franz, „man muß solche Gegenstände, die sich nicht erhalten und transportieren lassen, naturgetreu zeichnen und malen.“

„Ganz recht,“ bestätigte Holm, „und deshalb habe ich auch einen Tuschkasten mit den feinsten Farben und alles zum Zeichnen und Malen Erforderliche vorsorglich mitgenommen. Später werden wir auch besonders interessante und wichtige Landschaften, Bäume, Felsen, Wohnungen der Wilden und diese selbst mittels eines photographischen Apparates aufnehmen, der uns nachgesandt werden wird.“

„Und wenn unsere Zeichnungen und Abbildungen gut ausfallen, finden sie Platz in naturwissenschaftlichen Werken,“ rief Franz voll Freude, „ich hätte Lust, jetzt gleich eine zweite Qualle zu fangen und sie zu konterfeien in Form und Farbe.“ Er ging rasch zu Papa Witt, um ihn von seinem Vorhaben in Kenntnis zu setzen.

Der Alte schüttelte den Kopf und antwortete nicht.

„Sind Sie ungehalten über mich, Papa Witt?“ fragte Franz.

Dieser aber blickte den Knaben ernst an und ging zum Kapitän, der den alten Steuermann zu sich winkte.

Die Blicke beider Männer begegneten sich, und eine halblaute Unterhaltung in plattdeutscher Sprache zeigte, daß der gleiche Gedanke den einen wie den anderen beherrschte. „Stüürmann,“ sagte der Kapitän, „wie krigt noch watt!“

Der Angeredete nickte. „Weet wull, Kaptein.“

Und damit waren die Verhandlungen beendet. Obgleich weder Passagiere noch Mannschaft irgend etwas Verdächtiges bemerkt hatten, sahen sie doch, daß ein Ereignis im Anzuge sein mußte; sämtliche Segel wurden eingezogen und nur die großen Sturmsegel gesetzt, alle kleineren Gegenstände von Deck entfernt, die Luken verschlossen und das Feuer ausgelöscht. Bleierne Windstille lag auf der ganzen Umgebung, nur zuweilen flog gleichsam vorüberhuschend ein gewaltiger Stoß über das Wasser daher, und im Nordosten zuckten ferne Blitze. Seltsam war das plötzliche immer wiederkehrende Wechseln aller Erscheinungen. In diesem Augenblicke regnete es stark, im nächsten heiterer Himmel; jetzt neigte sich das Schiff, vom Stoß erfaßt, zur Seite, als wolle es stürzen, und dann wieder schien jede Bewegung der Luftmassen erstarrt. Die Maschine wurde mittlerweile tüchtig geheizt und das Steuer so gedreht, daß die „Hammonia“ ihren Kurs nach Nordosten nahm.

Und nun brach es herein, schrecklich und schön zugleich, weit großartiger, erhabener, als sich’s menschliche Einbildungskraft ausmalen könnte. All der Farbenreichtum, der Glanz und die Fülle des südlichen Erdteiles trat auch hier im Toben der Elemente zu Tage. Blitz folgte auf Blitz, sein prachtvollstes Glühen aber erlosch neben dem des elektrischen Feuers, das in ganzen Garben überall explodierte. Glitzernde Meteore fielen vom Himmel in das schäumende, kochende Meer hinein; der Sturm brüllte, der Donner ging über in ununterbrochenes Getöse, Spritzwasser schlug in Wellen auf das Verdeck, und fast völlige Dunkelheit brach herein.

Franz versuchte es, hinauszutreten, seine unerschrockene Seele wollte den Kampf mit den entfesselten Urkräften der Erde nicht allein dem Schiffsvolk überlassen, er wünschte selbst Hand anzulegen und für sein und aller Leben zu streiten; aber das erwies sich als unausführbar. Es war ihm nicht möglich, festen Fuß zu fassen, er konnte weder atmen noch sprechen, die dünne Leinenjacke flog in Fetzen davon. Holms kräftige Arme zogen ihn auch schon wieder zurück in den Vorraum der Kajütte hinab. „Willst du über Bord gefegt werden, Junge? Da können Unerfahrene wie du und ich nichts nützen.“

In diesem Augenblick erschien der Kapitän, um den verlorenen „Südwester“ mit einem anderen zu vertauschen und dabei seiner Reisegesellschaft etwas Mut einzuflößen. „Wir sind in einer Viertelstunde, so Gott will, hindurch, meine Herren,“ rief er. „Ich habe die beste Hoffnung.“

„Hindurch?“ wiederholte Doktor Bolten, „das verstehe ich nicht.“

Holm nickte. „Es ist also ein Wirbelsturm,“ antwortete er, „ich dachte mir’s gleich. Der Kapitän will die äußerste Grenze des Halbkreises erreichen.“

Jetzt aber war für Erläuterungen keine Zeit, keine Ruhe vorhanden. Einer nach dem andern trat an das Kajüttfenster oder unter das Glasdach der größeren in der Mitte liegenden Wohnkajütte. Hierher konnten allerdings die Wogen nicht gelangen, aber desto mehr sah man vom Himmel, an dem es wie mit tausend Brillantfeuern leuchtete. Schon nach wenigen Minuten war aus den seitwärts belegenen Fenstern nichts mehr zu sehen.

Ganze Berge von Wasser hoben und drehten das Schiff, Schaumwolken verhüllten alle Aussicht, das Getöse des Anpralls betäubte förmlich. Die kleine Gruppe stand, sich an dem stark befestigten Speisetisch haltend, bei einander im Salon, dessen verglaste Decke einen freien Aufblick ermöglichte. Grünlich und violett zuckte es herab, sturmgepeitscht, von Flammen überall umgeben, als ob Erde und Himmel in Brand geraten, so loderten die Gluten.

Zuweilen lag das Schiff dermaßen auf einer Seite, daß es den Anschein hatte, als ob Sofas und Bilder an den Wänden über den Köpfen schwebten, — einer sah den anderen an, die Herzschläge setzten aus, die Gedanken traten als ein „Gott erbarme sich!“ unwillkürlich auf die Lippen, — und dann ging es wie ein Knarren, ein Ächzen durch das Eisenwerk, langsam kehrte der kräftige Bau zum gewohnten Halt zurück, nochmals hatte des Todes Flügelschlag nur gestreift, aber nicht getroffen.

„Sonderbar,“ flüsterte Franz, „ich habe doch bei den Gallinas und wohl auch während unseres Nachtaufenthaltes im unbeschützten Walde der Vernichtung Aug’ im Auge gegenübergestanden, ganz wie jetzt, aber die Ruhe, welche ich trotz dieser Gefahr empfinde, fehlte damals, — woher doch der auffallende Unterschied?“

Der alte Theologe legte die Hand auf seines Zöglings Schulter, „Das ist die Ehrfurcht, welche ein gewaltiges, erschütterndes Ereignis dem Menschenherzen abnötigt, mein Junge, das ist die Unthätigkeit, wozu wir angesichts der Gefahr verurteilt sind, die uns ganz wehrlos in Gottes Hand legt. Du vertraust nicht mehr auf dich, also fühlst du auch keine Unruhe, — das ist das Geheimnis alles wahren Glaubens!“

Es wurde still in der reichgeschmückten Kajütte; niemand sprach mehr, nur die Stimme des Donners klang über das Wasser dahin, und der Sturm brauste wie Orgelklang dazwischen. Oben auf dem Verdeck arbeiteten die wackeren Hamburgischen Matrosen, deren eigene Sachkenntnis sie die Blicke und Bewegungen des Kapitäns verstehen zu lassen schien; wenigstens hätte keine menschliche Kraft ausgereicht, um in solchem Wetter vernehmlich zu sprechen, geschweige denn bestimmte Befehle zu geben. Einer der Schornsteine war verbogen wie ein geknickter Halm, ein Notmast über Bord gegangen, und von der Mannschaft fehlten zwei. Die beiden Thüren der Kombüse, einander gegenüberliegend, waren herausgerissen und sämtlicher Inhalt des kleinen Raumes ins Meer gespült, kurz auf jedem Zollbreit Bodens zeigten sich die Spuren einer grauenvollen Verwüstung, eines Kampfes, dem nichts gewachsen war, was überhaupt losgerissen oder zerschlagen werden konnte.

Wieder trafen sich die Blicke des Kapitäns und des alten Steuermannes. Witt nickte, worauf sein Vorgesetzter in die Kajütte hinabging. „Gewonnen!“ rief er, „obwohl es schwere Opfer gekostet hat. Jetzt ist die äußerste Grenze erreicht, der grimmige Feind muß uns seine Kraft dienstbar machen und die „Hammonia“ mit verdoppelter Eile nach den Inseln im Guinea-Busen befördern.“

Holm versuchte es, dem Kapitän näher zu treten, wurde aber sogleich, nachdem er den schützenden Halt losgelassen, unsanft auf den Fußboden gesetzt und unter das Sofa gerollt. „Ein Cyklonenritt, nicht wahr?“ fragte er von dort her.

Jetzt lachten alle. „Ein Cyklonenritt!“ wiederholte der Kapitän. „Woher wissen denn Sie eingefleischte Landratte, der Sie nicht einmal „Seebeine“ besitzen, was das Ding bedeuten will?“

Holm hatte sich mittlerweile wieder aufgerichtet. „Belehren Sie uns,“ sagte er artig. „Sie haben die Sache praktisch kennen gelernt, ich habe sie studiert; einer kann also das Wissen des anderen ergänzen.“

„Demnächst, mein Freund. Jetzt kommen Sie mit mir an Deck, immer hübsch im Schutz eines niet- und nagelfesten Gegenstandes, und sehen Sie sich das Schauspiel im weiteren Umkreise an. Noch ein Viertelstündchen, dann hat es ausgetobt, der Himmel wird wieder im Sonnenglanz leuchten und nur ein starker, regelmäßiger Wind, dessen kreisförmige Richtung uns jetzt nicht mehr schaden kann, das Schiff wie im Fluge vor sich her treiben. Folgen Sie mir, meine Herren!“

Die ganze kleine Gesellschaft, mit Ölzeug und Südwester versehen, klomm an Deck. Man konnte es wirklich nur klimmen nennen, da jeder Anprall des Sturmes einen lebhaften Widerstand erforderte und kein Schritt ohne die Führung des quergespannten Seiles möglich war. Welch ein Anblick bot sich dem Auge! Erschütternd furchtbar und doch wieder großartiger als alle Schöpfungen der Kunst, ja selbst der entflammtesten Phantasie. Am Himmel alle Farben, vom glühenden Purpur bis zum weißen, elektrischen Licht, vom tiefsten Schwarz der Wetterwolke bis zum grün und gelb schillernden, rotumrandeten Zackenblitz, — unten im Meer die Schaummasse zu Bergen getürmt, von Klüften und Thälern durchschnitten, rollend und grollend, wie ein Raubtier aufspringend gegen die Eisenwände des Dampfers, gekrönt mit tausend weißen Perlenbogen und in seiner tieferen Mitte schwarz wie das Wasser des Höllenflusses dahingleitend, — so bot das Gesamtbild fortwährend neue Formen, so schien jedes einzelne das schönste und erhabenste im großen Ganzen.

Und doch war noch ein Schauspiel, seltener und fesselnder als alle vorigen, den Zuschauern vorbehalten. Aus einer dichten Wolke fiel in nächster Nähe eine riesige, purpurrote Feuerkugel so hoch herab, daß ihr Lauf bis zu der Meeresoberfläche deutlich verfolgt werden konnte. Je näher dem Ziele, desto mehr verstärkte sich die Schnelligkeit des Falles, desto heller wurde der Purpur, bis endlich auch dessen letzter Schimmer in Weiß überging, und die Kugelform allmählich unter der Gestalt eines Ovals verschwand. Als die Erscheinung fast neben dem Schiff das Meer berührte, spritzte sie auseinander wie geschmolzenes Blei, und eine Dampfsäule, schnell verziehend, bezeichnete das plötzliche Erglühen des getroffenen Wassers.

Der Kapitän nickte, als beantwortete er seine eigenen Gedanken. „Nun noch ein halbes Stündchen Gewitter ohne Sturm oder Regen, dann haben wir Ruhe. Gott sei den Schiffen gnädig, die jetzt im Mittelpunkt kämpfen.“

Es geschah wie er vorausgesagt. Der Aufruhr der Wogen legte sich, an Deck konnte einige Ordnung wieder hergestellt werden, das Feuer im Maschinenraum erlosch, und das Schiff flog vor dem Wind wie ein Vogel über die geglättete Fläche dahin. Immer noch zuckten Blitze, immer noch ging die See hoch, aber dennoch war alle Gefahr vorüber, und nun versammelte sich die Reisegesellschaft bei hellem Sonnenschein um eine Tasse Kaffee, die zwar stehend getrunken werden mußte, aber trotzdem nach der gehabten Aufregung vortrefflich mundete. „Solche Cyklonen, — auch Orkane, Taifune oder Hurrikane genannt — sind Wirbelwinde,“ erläuterte der Kapitän. „Ganz dasselbe, was wir alle am Lande so oft gesehen haben, wenn vor einem Gewitter plötzlich die Luftmassen sich um ihre eigene Mitte drehen und irgend einen leichten, zufällig dort befindlichen Gegenstand aufheben oder weitertreiben. Der innerste hohle Raum der Wettersäule ist natürlich windstill, da aber die Bewegung in großer Eile fortschreitet, so ist eben diese Stelle die gefährlichste von allen, weil sich der stärkste Anprall darüber hinwälzt. Ein Schiff im Zentrum des Orkans ist meistens verloren, die Benutzung des äußersten Sturmrandes dagegen jetzt schon an Punkten eines häufigen Vorkommens desselben zu einer Art Verkehrseinrichtung geworden. Wer die Sache praktisch kennt und daneben zu denken versteht, kann auch dem Orkan rechtzeitig aus dem Wege gehen, d. h. seinen äußeren Rand erreichen.“

„Wie Sie soeben gethan, nicht wahr, Herr Kapitän?“

„O weh — da bin ich unvorsätzlich mit dem Klingelbeutel gegangen. Aber wirklich ist dies nicht der erste Wirbelsturm, den Witt und ich mit einander bekämpfen. — Hole den Alten herunter, Franz, wir wollen unsere Rettung durch einen guten Trunk feiern; sag auch dem zweiten Steuermann, daß er ein paar Flaschen Sekt herausgibt und den Leuten eine tüchtige Extraration Grog zukommen läßt.“

Der Knabe sprang davon, um seinen Auftrag auszurichten; als aber die Gläser an einander klangen, da wurde doch die allgemeine Stimmung eine sehr ernste. Zwei Matrosen hatte der Sturm in den Wellen begraben, zwei trauernde Familien zuhause in Hamburg waren ihrer Söhne und Brüder beraubt; das trat erst jetzt, nun die Schrecken vorüber, mehr in den Vordergrund und verscheuchte die Heiterkeit. Auch vom Matrosenraum her erklang kein Singen und Lachen, wie es sonst bei Gelegenheit jeder Extraration von der immer gutgelaunten Schar angestimmt wird, der Kapitän hielt eine Ansprache, der noch Doktor Bolten einige ernste Worte beifügte, und dann wurde das sämtliche Eigentum der beiden Ertrunkenen fest versiegelt in die Kajütte gebracht, um mit der rückständigen Heuer an das nächste Hamburgische Konsulat abgeliefert zu werden. An diesem Tage kam keine rechte Unterhaltung mehr in Fluß, auch zum Arbeiten gelangte man nicht. In allen Ecken und Winkeln des Schiffes lagen ja die beweglichen Gegenstände über einander geschichtet; da mußte neu geordnet und aufgeräumt werden; das Verdeck glich einem Schlachtfelde. Die Fleisch- und Wasserfässer waren hinweggespült oder ihres Inhaltes beraubt worden, so daß sich der Kapitän Glück wünschte, mit beschleunigter Fahrt die Insel Fernando Po erreichen zu können.

Fernando Po läßt überall vulkanische Natur erkennen. Schon von weitem sahen die Reisenden den Pik gleichen Namens, welcher prachtvoll bewaldet in der Höhe von 3500 Fuß das Meer überragte; sowohl der Kapitän als auch Holm waren aber der Ansicht, daß ein Ersteigen dieses Berges wie überhaupt ein Aufenthalt von längerer Dauer ganz unmöglich sei. Die fünf Inseln im Guineabusen sind eben die ungesundesten Punkte des tropischen Klimas, weshalb auch Spanien die Insel Fernando Po als Deportationsort braucht. Das große Gefängnis sah wie ein dunkler Punkt aus der heiteren Umgebung hervor, mehrere Kirchen und Kapellen wurden bemerkbar, aber dennoch wohnen fast gar keine Europäer dort, weil die bösartigsten Hautkrankheiten fortwährend herrschen.

Ein Tierleben kennen die Inseln, soweit es Vierfüßler betrifft, fast gar nicht. Nur einige Affen leben auf den Bäumen, Schaltiere am Strande und außerdem verschiedene Vogelarten. Der Spaziergang war daher von keiner Gefahr bedroht, zumal die Eingebornen, die Aniyas, wie sie sich nennen, ein sehr scheuer, friedfertiger und verarmter Menschenschlag sind. Es lebt auf den zerstreuten Inseln nur eine verhältnismäßig sehr geringe Bevölkerung.

Aber schön wie im Paradiese war die Umgebung. Rauschende Wasserfälle stürzten sich über Felszacken herab, prachtvoll blühende tropische Pflanzen aller Art bedeckten die Ufer, und Höhlen und Gänge, tiefe Schluchten und schwindelnde Berghöhen entzückten das Auge. Die Knaben füllten ihre Botanisierkapseln mit den Blüten und Blättern großer Prachtlilien, des Papyrus, der Kommelinen, Datteln und der Killingia, sie sammelten ungestört Moose und Flechten, die duftigsten Kräuter, die verschiedensten Waldbeeren von schönem Purpur oder Hellrosa, — nur Menschen begegneten ihnen nicht.

„Gibt es denn hier keine Dörfer?“ fragte Bolten den finster blickenden spanischen Führer. „Wird kein Feldbau betrieben?“

„Nichts!“ war die Antwort. „In diesem Klima arbeitet niemand.“

„Ein trauriges Paradies!“ setzte Holm hinzu. „Aber horch, ich glaube, es kommt jemand durch den Wald.“

„Das ist wohl möglich. Die Aniyas streifen überall herum und suchen Beeren.“

Wirklich erschien auch in diesem Augenblick die Gestalt eines Greises, der mit dem Weidenkorb am Arm Schwämme sammelte. Auf einen langen Stab gestützt, bot der Alte einen ebenso seltsamen als bedauernswerten Anblick. Ganz nackt, ohne jegliche Spur von Bekleidung, trug er auf dem Kopf ein korbartiges Gestell aus Weidengeflecht, über welches die grauen Haare nach allen Seiten hin künstlich zusammengedreht waren. Nadeln von Affenknochen, kranzartig gesteckt, hielten den Bau, und Schnüre von kleinen gelben Okerkugeln schlangen sich hindurch. Am Oberarm hatte der Mann ein hölzernes Stäbchen mit mehreren Schnüren befestigt, sonst war nicht einmal zum Schutz der nackten Füße irgend eine Vorrichtung getroffen, außerdem aber auch die Haut des ganzen Körpers mit einer Art Aussatz bedeckt.

Die Jammergestalt wollte schleunigst flüchten, aber auf Holms Wink ersuchte ihn der Führer noch zu bleiben und den Herren zu antworten. „Es soll dir kein Leides geschehen, Graukopf,“ setzte er hinzu, „komm und sprich dreist.“

Der Wilde trat näher und bot den Fremden seine Schwämme. „Die Aniyas sind arm,“ sagte er, „sie können den Weißen keine Gastfreundschaft darbringen; ihre Wohnungen bestehen aus einem Mooslager in der Felsenspalte und ihre Nahrung aus Waldfrüchten.“

Die wohlduftende Gabe wurde dankbar angenommen und dafür der Korb des Wilden mit Geschenken aller Art angefüllt. Holm fragte den Führer nach dem Grunde dieser auffallenden, fast nirgends mehr gefundenen gänzlichen Nacktheit und erhielt zur Antwort, daß kein Eingeborner von Fernando Po jemals ein Kleidungsstück an sich dulden würde; vielfache Versuche in dieser Richtung seien bereits fehlgeschlagen, dagegen verwende man auf die Herstellung des Kopfschmuckes alle mögliche Sorgfalt. „Die Aniyas sind ein melancholisches Volk,“ setzte er hinzu. „Der fortwährenden, hier heimischen Hautkrankheiten wegen glauben sie unter einem Banne zu stehen. Aber der Alte soll selbst erzählen.“

Und dann nach kurzer Rücksprache berichtete der Wilde folgende Thatsachen, die auf Fernando Po wie eine Art geschichtliche Überlieferung sowie eine Glaubenslehre gelten. „Die ersten Menschen lebten gesund und glücklich,“ hieß es, „denn sie kannten noch nicht die Wohnung des großen Geistes, sie hatten noch nicht seinen Zorn herausgefordert und das Mißgeschick über ihre Häupter herabgerufen. Schwämme und Beeren, Wurzeln und Früchte boten die Wälder, die See lieferte Fische und Muscheln, die Kinder meines Volkes wußten nichts von Krankheit oder Hunger. Da verleiteten die bösen Mächte, die in den finsteren Erdtiefen wohnen, einstmals einen der Aniya-Jäger, einem voraneilenden Affen über Felsspalten und durch verworrene Schluchten zu folgen, bis endlich ein grauenvolles, nur von zuckenden Blitzen erhelltes Thal sich vor ihm aufthat. Der Affe verschwand plötzlich, der Weg wurde enger und enger, sonderbares, unbekanntes Getier flog und kroch über die Felsspitzen, und aus dem Winkel hervor trat ein Riese von übermenschlicher Größe mit schweren Waffen und einer furchterregenden Stimme. ‚Was vermissest du dich, mein Reich zu betreten, vorwitziger Mann!‘ rief er. ‚Das sollst du mit dem Leben bezahlen.‘“

„Der Aniya-Jäger, welcher nicht wußte, daß der große Geist in Gestalt eines Riesen vor ihm stand, bereitete sich zum Kampfe. Im Anfang des Ringens schien es, als ob der Bewohner der Höhle siegen werde, dann aber traf ihn ein Schlag von dem Jagdspeer des anderen und streckte ihn zu Boden. Er sah zu seiner Rettung nur noch einen Ausweg, nämlich den der List. ‚Ich bin mächtig,‘ begann er, ‚viel mächtiger als du glaubst, Mensch, ich kann alle deine Wünsche erfüllen. Wähle dir, was du zu besitzen verlangst, aber laß mich frei!‘

„Der Aniya erbat sich nun eine ewige, nie wechselnde Fruchtbarkeit des Bodens, einen heiteren Himmel und schöne Blumen; er wollte Jagdglück erringen und kräftige Muskeln behalten bis in das höchste Alter; — alles bewilligte ihm der Riese und mußte zuletzt auch den Felsen gebieten, sich zu öffnen und den Fremdling ziehen zu lassen. Sobald aber dieser die unheilvolle Grotte im Rücken hatte, ertönte hinter ihm ein spöttisches Lachen. ‚Ha, ha, ha, deine Haut hast du vergessen, kurzsichtiger Thor! Fortan soll dich jede Stunde daran erinnern, daß du dem großen Geiste eine Beleidigung zugefügt. Zieh hin, das Kra-Kra wird von deinem Stamm nicht mehr weichen.‘“

„Und so geschah es,“ schloß der Alte. „Mein Volk ist bis auf diesen Tag nicht wieder erlöst von dem Zorn des großen Geistes. Das Kra-Kra überfällt jedes seiner Kinder.“

Der Führer hatte Wort für Wort diese ganze Rede übersetzt; er schüttelte den Kopf, als Doktor Bolten entrüstet einer solchen Auffassung von dem Wesen des großen Geistes entgegentreten wollte. „Das nützt nichts, meine Herren,“ versicherte er, „sie glauben es alle, Männer und Frauen, wie sie denn auch alle an der schlimmen Hautkrankheit zu leiden haben. Dieser hier plagt sich augenscheinlich daneben auch noch mit dem berüchtigten Guineawurm. Sehen Sie, er haspelt ihn aus der Haut heraus.“

Der Wilde zeigte seinen Oberarm, an dem unter einer Schicht von gequetschten Blättern, da wo das Holz lag, ein kleines Geschwür zu Tage trat. Ein rot schillernder Faden, dünn wie Zwirn, war zum Teil um das Stäbchen gewickelt, zum Teil aber mußte er noch im Fleische stecken. „Der Guineawurm,“ erläuterte der Führer. „Er kommt nur an der Goldküste und hier vor, also an den ungesundesten Stellen, und erregt da, wo er sich Eingang verschaffte, ein bösartiges Geschwür. Als unsichtbar kleine Milbe auf die Haut gelangt, wächst das schreckliche Tier im Fleische bis zur Länge von vier Metern, und zwar wie alle mit der Polypenfamilie verwandten Geschöpfe, indem es, etwa zerrissen oder durch äußere Gewalt halb von seinem Platze entfernt, trotzdem sich ergänzt und ungestört fortlebt. Welche Schmerzen es erregt, das läßt sich denken.“

„Und mit diesem Holze wickelt es der Mann heraus?“ fragte Franz schaudernd.

„Ja, das heißt, sehr langsam, vielleicht kaum einen Zentimeter lang an jedem Tage. Es fordert Monate, bis der ganze Wurm beseitigt ist.“

Mehrere andere Eingeborne waren während dieser Unterhaltung herbeigekommen, alle mit Körben zum Schwämme- oder Beerensuchen, alle mit dem seltsamen Kopfputz und ohne Kleidungsstücke. Die Reisenden sahen keinen einzigen, der nicht hier oder da Spuren des Kra-Kra gezeigt hätte.

„Laßt uns Abschied nehmen,“ ermahnte Holm. „Das ist ein unerquicklicher Aufenthalt.“

Die Wilden wurden reichlich beschenkt, einige ihrer Knochennadeln und Ockerkugeln wanderten für das Museum zuhause in Hamburg in Holms Botanisierkapsel, und dann war der Aufenthalt in diesem kleinen Paradiese, das doch so viel Elend und tiefste menschliche Unwissenheit barg, zu Ende. Alle freuten sich, als sie die Planken des Schiffes wieder unter ihren Füßen fühlten, ja Holm beantragte sogar, den Besuch der Prinzeninsel ganz zu unterlassen, namentlich da der Kapitän erklärte, daß diese außer einer noch reichhaltigeren und blendenderen Schönheit ebenso wie Fernando Po kein weiteres Interesse darzubieten habe. Bei den Hottentotten im Kaplande war jedenfalls mehr Aussicht auf Abenteuer. Der Dampfer änderte also, nachdem Fleisch und Wasser eingenommen waren, seinen Kurs und steuerte der Südspitze von Afrika, der Kapstadt zu. Unterwegs wurde ein Hai gefangen, was natürlich den Knaben besonderes Vergnügen gewährte. Das Raubtier mit seinem kleinen Adjutanten umschwamm während eines ganzen Vormittags beharrlich das Schiff, zuweilen verschwindend, zuweilen plötzlich fast aus dem Wasser hervorragend, bis endlich auf vieles Bitten der beiden Brüder der sogenannte Haihaken ausgeworfen wurde. Ein tüchtiges Stück Speck saß daran; die Kette, womit er, durch mehrere Blöcke gegen einen unerwarteten Ruck gesichert, am Mast befestigt worden, konnte man zuverlässig nennen. Die Fahrt des Dampfers ist auf halbe Kraft gesetzt, der Speck schwimmt verlockend und appetitlich durch das blaue Wasser, — jetzt nur noch ein schneller Sprung, Meister Hai, und dann hat dich dein Geschick ereilt!

Der alte Witt brachte eine Handspeiche von solidem Aussehen, schon mehr eine kleine Keule; selbst die an solche Jagd gewöhnten Matrosen und Doktor Bolten sahen voll gespannter Erwartung über Bord; der Koch setzte sich eine flache Schüssel und ein großes Messer zurecht; Holm rieb die Hände in der Hoffnung auf den Riesenkopf, welchen er bereits gehörig abgekocht als weißes, sauberes Knochenpräparat vor sich stehen sah. „Auch den Magen muß ich selbst öffnen, Kapitän,“ rief er lebhaft, „das bedinge ich mir. Vielleicht sind Würmer und Schnecken darin, die man sonst nirgends zu erlangen vermag.“

„Aber die Nürnberger hängen keinen, Doktor! es sei denn, sie hätten ihn zuvor.“

„Wir werden ihn schon kriegen.“

Das schien indessen doch nicht so gewiß. Der Haifisch schnupperte, aber er biß nicht; zuweilen kümmerte er sich gar nicht um den Köder, und schon machte Franz den Vorschlag, den Räuber, wenn man ihn denn durchaus nicht fangen könne, wenigstens zu erschießen, da trat der alte Witt an die Kette und hob langsam den Speck aus dem Wasser. Das Mittel half über Erwarten. Als Meister Hai die Beute verschwinden sah, griff er hastig zu und schoß dann so urplötzlich auf den Grund, daß das Schiff in allen seinen Fugen zitterte. Ein lautes Hurra der Mannschaft begleitete das Stoßen des letzten Kettengliedes, jetzt hatte man ja den Erzfeind gefangen.

Rüstige Arme hängten sich an die Kette, im Wasser entstand ein Toben und Wogen, daß der Schaum hoch über das Verdeck dahinspritzte; dann zeigte sich der Kopf mit den raublustigen Augen, der Körper folgte nach, und wütende Schwanzschläge peitschten das Verdeck. „Aus dem Wege!“ rief ängstlich Doktor Bolten, „aus dem Wege!“

Er zog mit beiden Händen seine Schüler von der gefährdeten Stelle hinweg, zumal jetzt, als zwei Matrosen den Mast erkletterten, um die vorerwähnte Speiche aus allen Kräften dem Ungeheuer in den Rachen zu stoßen. Das half, die heftigen Schläge hörten auf, und sehr bald lag der Fisch tot an Deck, um in hundert Stücke zerlegt zu werden. Holm schnitt den Kopf herunter; er brannte vor Begier, das große, kräftige Exemplar gut präpariert nach Hamburg zu bringen, der Koch bemächtigte sich des Rückenfleisches, und die Matrosen zogen die Haut ab; dann aber wurde der Magen geöffnet und darin verschiedene Schnecken und sogar Krebse gefunden, die der Nimmersatt erst ganz kürzlich verschlungen haben mochte. Alles übrige warf man ins Meer zurück. Am folgenden Tage erschien dann das Hai-Steak auf der Tafel, fand aber nur äußerst wenig Beifall, da es sehr zähe war und etwas nach Thran schmeckte. Für den herrlich abgekochten Kopf erhielt der Koch desto mehr Lobsprüche; auch kein Zahn von allen diesen hintereinander stehenden Reihen war ausgefallen, ja sogar die Gelenkigkeit des zweiten Gliedes, das in die etwa entstehenden Lücken des ersten sogleich einen Ersatzzahn hineinschiebt, war bestens erhalten, der ungeheure Rachen mußte eine Zierde des Museums werden; er sollte schon mit dem ersten Postdampfer von der Kapstadt aus die Reise nach Europa antreten; deshalb verpackte ihn Holm eigenhändig in eine Kiste, die der Zimmermann genau nach Maß angefertigt hatte, und die man in der Kajütte verwahrte.

Das war schon die zweite Sendung nach Hause! Papa sollte sehen, wie ernst es seine Söhne nahmen mit dem naturwissenschaftlichen Zweck dieser Reise.

Ungefährdet erreichte das Schiff die Kapstadt. Nachdem ein Tag verwendet, um die schöne, reiche Stadt mit ihren sehenswerten Umgebungen, namentlich den Tafelberg in Augenschein zu nehmen, nachdem verschiedene Geschenke für die Hottentottenhäuptlinge gekauft und Führer und Pferde gemietet waren, begann aufs neue die fröhliche Wanderung ins Innere. Der Dampfer nahm Ladung für Port Louis auf Mauritius, hauptsächlich Wein und Wolle, daher blieb Zeit genug, um auch hier in dem viel gesunderen Klima durch die Wälder zu streifen und Land und Leute kennen zu lernen.

Die ersten Tagreisen hinter der Kapstadt bringen keine Begegnung mit Raubtieren, dafür ist die Kultur schon zu weit vorgeschritten und das Wild durch stete Verfolgung in die Wälder zurückgetrieben. Unsere Reisenden sahen hübsche Dörfer, Landsitze und Meiereien, überall den blühendsten Wohlstand und das beste Gedeihen, aber nirgends ein größeres Tier, nirgends Hottentotten im Naturzustande und vor allen Dingen nicht die Schönheit der Landschaft, welche sie an der Westküste und auf Fernando Po bewundert hatten. Es kamen lange reizlose Strecken voll Buschwerk und Sand, dann wieder niederer, dünngesäeter Wald oder endlose, langweilige Grasflächen, nur verschönert durch blühende Pelargonien (Geranium) in allen Farben und in einer bei uns in Deutschland ungeahnten Größe der Blume; an den wenigen Flüssen, welche sie antrafen, wuchs der Oleander, und üppig blühte auf jedem Schritt der Heidestrauch, bald am Boden hinkriechend, bald mannshoch und zuweilen als stattliches Bäumchen. Das Kapland hat einen so unendlichen Pflanzenreichtum und so viele Erscheinungen auf diesem Gebiet ganz für sich allein, daß es unmöglich wäre, sie alle aufzählen. Holm teilte mit, daß allein fünfhundert Arten von Heiden und dreihundert von Geranien schon in europäischen Gewächshäusern bekannt seien, ja daß zuweilen durch eine seltsame Laune der Natur irgend eine Pflanze in einer einzigen Schlucht hier vorkomme und außerdem nirgends in der ganzen weiten Welt wieder gefunden werde.

Auch die Aloe mit ihrer märchenhaften Blüte fand sich zahlreich vor, und jetzt begann schon das Leben der freien Tierwelt. In ganzen Herden zeigten sich die großen Kuduantilopen, die Zebras und Quaggas, die Springhasen und Sandgräber, aber kein Raubtier kreuzte den Weg, bis endlich die erste Nacht im Freien verbracht wurde und lüsterne Hyänenaugen von fernher durch die Büsche schimmerten. Die feigen, hundeähnlichen Geschöpfe wagten sich aber nicht heran, weil während der ganzen Nacht ein tüchtiges Feuer unterhalten wurde. Es war hier des Nachts kalt genug, um Feuer und Wolldecke gern anzunehmen; die Reisenden freuten sich, als der Sonnenaufgang den Weitermarsch möglich machte, namentlich da die Führer versicherten, daß jetzt ein Hottentottenkraal binnen wenigen Stunden zu erreichen sei.

„Hat dieser Stamm einen König?“ fragte Franz.

„Gewiß. Mazemba bewohnt die größte Hütte im Kraal und hat die meisten Frauen; aber er ist alt, seine Krankheit erlaubt ihm nicht mehr, Rinder zu hüten oder auf die Jagd zu gehen.“

„Was betreibt er denn jetzt?“ forschte der junge Hamburger begierig, von dem rinderhütenden Fürsten mehr zu hören. „Hat König Mazemba Kinder?“

Der Führer, selbst ein Sohn des gelben Volkes, nickte. „Die Quaquas (so nennen sich die Hottentotten) bleiben, wenn sie Männer geworden sind, selten mehr in den Kraalen ihrer Väter,“ antwortete er, „sie suchen die Dienstbarkeit der Weißen und werden auch oft selbst Landwirte. Es gibt in der Umgegend der Kapstadt manchen Gelben, der seine eigene Schafzucht oder Käserei besitzt und um keinen Preis zu den Verwandten in die Wälder zurückkehren würde.“

„Was ich ihm durchaus nicht verübeln kann!“ schaltete Holm ein, wobei er sich jedoch, um niemandes Gefühle zu verletzen, der deutschen Sprache bediente. „Schau hin, Franz, mein Söhnchen, das Ding da ist der Kraal, Seiner Majestät Mazembas des Wassersüchtigen Allerhöchste Residenz, oder ich will bis an das Ende aller Tage Afrikareisender bleiben.“

„Ein furchtbares Los!“ konnte sich Doktor Bolten nicht enthalten auszurufen.

Franz lachte. „Karl, weshalb glaubst du, daß dieser Fürst notwendig an der Wassersucht leiden müsse,“ fragte er. „Da vor uns haben wir ja einen nackten, langgestreckten Erdhaufen.“

„Aber dahinter liegt dennoch Mazembas Palast; glaub mir’s, mein Junge. Und die Wassersucht hat der Monarch auch, entsetzlich geschwollene Füße und Schmerzen in allen Gelenken, das ist das Los fast eines jeden der Häuptlinge, die ihr Leben faulenzend und liegend in den feuchten, beinahe unterirdischen Höhlen verbringen und nicht selten so träge sind, daß sie sich von ihren Weibern buchstäblich füttern lassen. Da gibt es für solch einen Schmutzmenschen keine geistige oder körperliche Thätigkeit, er schläft und ißt, prügelt seine Umgebung und schläft wieder, bis endlich ein frühes Erkranken und Altern das nutzlose Dasein abschließt. Das wirst du noch häufig, namentlich auf den Südseeinseln bemerken, wo fast alle alten Leute an der Elefantiasis, d. h. furchtbar geschwollenen Beinen und Füßen, leiden.“

Der Führer streckte jetzt den Arm aus. „Das ist Mazembas Kraal,“ rief er, auf eine überhängende, spärlich mit Moos bewachsene Berglehne zeigend, „hier bin ich geboren, aber Vater und Mutter leben mit mir in der Stadt. Es ist doch traurig, so zwischen den Felsen zu hausen, obgleich dieser Kraal ein sehr reicher ist, er besitzt sogar eine Quelle.“

„Dessen kann sich hier also nicht jeder Haushalt rühmen, Freund Quaqua?“

„Ganz gewiß nicht. Viele Stämme müssen mit dem, was der Regen spendet, und mit den reichlich wachsenden Wassermelonen fürlieb nehmen. Außer dem Bedarf zum Reinigen des Kochtopfes brauchen freilich meine Stammesgenossen auch kein Wasser, denn die Kühe und Schafe treiben sie auf entfernte Weiden, wo sich Trinkplätze vorfinden.“

„Ach! — der echte Quaqua wäscht also seinen Körper niemals?“

„Nicht mit Wasser, Herr, er reibt ihn mit Fett.“

„Was diese Nachbarschaft für die Nasen der Kulturvölker äußerst unangenehm macht,“ sagte trocken der Gelehrte. „Aha, da zeigt sich Jung-Hottentottentum in schönster Naturwahrheit.“

Ein halbes Dutzend spielender, durchaus unbekleideter Kinder lief beim Erblicken der Fremden laut schreiend zum Eingang des Kraales zurück; bald darauf zeigten sich gelbe Gesichter, mehrere Frauen kamen herbei, und selbst Männer erschienen mit ausgestreckten Händen, um von den Weißen etwas Tabak zu erbetteln. Nirgends gewahrte man indessen jenes Erstaunen, das verwunderte Aufhorchen, welches die Neger ergriffen hatte, wohin die Reisenden bis jetzt kamen; es trat vielmehr deutlich zu Tage, daß diese Leute den Besuch weißer Fremdlinge schon oft empfangen, ja daß manche unter ihnen selbst in der Kapstadt gewesen sein mochten und das Leben außerhalb ihres Kraales sehr wohl kannten.

„Dort liegt Mazembas Hütte,“ berichtete der Führer. „Gehen Sie ohne Besorgnis durch die Dorfstraße, meine Herren, die Quaquas sind keine Verräter, es wird ihnen nichts Böses geschehen.“

Doktor Bolten klopfte ihm auf die Schulter. „Hübsch von dir, daß du dein Volk verteidigst, mein Sohn,“ sagte er. „Geh also und melde uns dem Fürsten.“

Die beiden anderen Führer blieben bei den Weißen, und so setzte sich der Zug langsam in Bewegung. Es schien doch einigermaßen gewagt, so in den Engpaß hineinzugehen und sich der Großmut der Wilden preiszugeben; aber auch die zwei letzten Führer hielten das Unternehmen für gefahrlos; sie hatten schon früher Reisende hierher begleitet und wußten, daß die Hottentotten an keinen Überfall dachten. — Eine Doppelreihe erbärmlichster Lehmhütten zeigte sich den Blicken der vorauseilenden Knaben; keine einzige davon war höher als bis zu etwa drei Metern, sämtliche Thüren gestatteten den Eingang nur mittels des Kriechens auf allen vieren, und die Dächer liefen trichterförmig in eine Spitze aus. Während die Wohnungen der Neger ohne Ausnahme Pfahlbauten waren, hatten sich die Hottentotten halb in den Boden hineingewühlt, lebten ohne einen einzigen Lichtstrahl in engumschlossenen Räumen und konnten auch nicht den kleinsten Versuch zu Anpflanzungen aufweisen. Alles lag vergraben unter Schmutz, die Dorfstraße war eine Art von Pfütze, die gelben, überaus häßlichen Gesichter zeigten gänzliche Unbekanntschaft mit dem Wasser, und die Felle, in welche beide Geschlechter gehüllt waren, hingen zerfetzt und besudelt von den durchweg kleinen Gestalten herab, die Männer von den Schultern bis zu den Knieen bedeckend, während sie bei den Frauen den Oberkörper frei ließen. Unzählige Troddeln aus kleinen, schwarz und weißen Thonperlen fielen über die Brust herab, und an Armen und Beinen waren die Sehnen oder Därme geschlachteter Tiere als Verzierungen angebracht; alles durchaus schmutzig, mit Fett beschmiert und vielfach zerrissen.

Trotz dieses elenden Zustandes schienen die Quaquas ein sehr lebensfrohes Völkchen, das sogar seine Gäste mit Musik bewillkommnete. Aus mehr als einer Thür kroch eine olivengelbe Gestalt, die in den Händen einen ausgehöhlten halben Kürbis trug und nun auf drei darüber hingespannten Saiten ein nervenerschütterndes Katzenkonzert verübte. Jeder spielte für sich, und jeder tanzte einen tollen Wirbelreigen für sich, so daß es bei dem Anblick dieser halbnackten, komischen Gestalten für die Weißen unmöglich war, den zu einer Vorstellung bei Hof so äußerst notwendigen Ernst zu bewahren. Sie lachten noch alle, als der vorausgeschickte Führer zurückkam und verkündete, daß König Mazemba sogleich vor der Thür seiner Wohnung erscheinen und die Gäste empfangen werde. Auch hier in unmittelbarer Nähe des fürstlichen, mit mehreren bunten Lappen und einem greulichen Götzenbilde verzierten Palastes hörten die Künstler nicht auf, ihre Instrumente zu bearbeiten, nur tanzten sie nicht mehr, sondern hatten sich rechts und links vom Eingang postiert, wo sie immer noch mit lebhaftem Wiegen oder Schaukeln den musikalischen Vortrag begleiteten. Ein ganzer Haufe von Frauen und Kindern war den Weißen gefolgt, und jetzt nahte auch schon Seine Majestät selbst; auf Händen und Füßen kriechend, unter schmerzlichem Ächzen kam Mazemba ans Tageslicht. Was er sagte, das ging einstweilen unseren Freunden verloren; als ihm aber der lebhafte Franz unter die Arme griff und solchergestalt half, sich auf einen vor der Höhle befindlichen Erdhaufen niederzulassen, da zeigte ein verblüffter Ausdruck des gelben, verschrumpften Gesichtes, wie sehr sich der Alte wunderte, daß es jemand gewagt habe, seine geheiligte Person zu berühren. Er sah blinzelnd von einem zum anderen und ergriff dann einen im Wege liegenden Stein, den er ohne weiteres nach den Musikanten schleuderte, worauf sofort diesem nicht mißzudeutenden Befehl des Stillschweigens Folge gegeben wurde. Alles verstummte, die Weißen zogen ihre mitgebrachten Geschenke hervor, und der Führer begann sein Amt als Dolmetscher.

Ein schnalzender Laut drang über die Lippen des alten Königs und wurde dann in das Wort „Tabak“ übersetzt, worauf sogleich mehrere Pakete in die begierig ausgestreckten Hände fielen. Seine Majestät schoben eiligst, ohne zu zaudern oder zu danken, das begehrte Labsal in den Mund, dann wurde noch ein Wort gehört — Branntwein! — und als ein Achselzucken darauf antwortete, hielt der Alte jede weitere Bemühung für überflüssig. Mochte der bunte Putz, den vielleicht die Reisenden außerdem noch mitgebracht hatten, seinen Weibern zu teil werden, er selbst kümmerte sich darum nicht. Mit Mühe zum Eingang der Höhle zurückkriechend nahm er französischen Abschied, ohne die Reisenden eines weiteren Blickes zu würdigen; im nächsten Moment aber tönte die verdrießliche Stimme aus dem Thürloch wieder heraus, diesmal in längerer Rede. „Wenn die weißen Männer unter sich einen Zauberer haben, der im stande ist, meine Schmerzen zu bannen, so will ich ihnen den fettesten Stier schenken. O! o! Wie das reißt und bohrt!“

Natürlich war auch dieser Wunsch unerfüllbar, und so bewegten sich die Reisenden weiter ins Dorf hinein, nicht ohne von der Stimme des geplagten alten Königs noch eine Strecke begleitet zu werden.

„Zwei Kühe zu dem Stier, wenn ihr helfen könnt! — Drei Kühe!“

„Sagte ich es dir nicht?“ lächelte Holm. „Branntwein, Feuchtigkeit der Wohnung und steter Müßiggang — im Alter die Wassersucht und das Zipperlein.“

„Merkwürdig wenig Zeremoniell war an dieser Hofhaltung vorhanden!“ rief der Knabe. „O lieber Himmel, da fängt die Musik wieder an.“

S. 112.

Der Zug nach Mazembas Kraal.

Olivengelbe Gestalten schwangen sich rechts und links dem Zuge voran, die büschelweise gewachsenen struppigen Haare flogen im Winde, die zerrissenen Kuhfelle klappten auf und nieder, und ein wilder Reigen fand an den überhängenden Felswänden der einen Straßenseite sein Echo. Wohin die Gäste sich wandten, da folgte ihnen diese unerwünschte, jedenfalls aber als Ehrenbezeugung aufgefaßte Begleitung, selbst als an der Quelle Halt gemacht wurde, um zu rasten, tönte noch immer die sonderbare Musik fort, bis denn endlich eine Verteilung von Geschenken stattfand, und nun die Spielleute ihren Anteil forderten. Die Kürbis-Violinen flogen ins Gras; neugierig, mit langen Hälsen warteten alle der Dinge, die da kommen würden. Und dann brach der Jubel los. Spiegel, um die eigene, bodenlose Häßlichkeit, die zuweilen ein Dritteil des ganzen Gesichtes ausmachenden Lippen und die plattgedrückte Nase zu beschauen, feuerrote Kattuntücher und Glasperlen für die Frauen, Tabak und Messer für die Männer, Spielzeug für die Kinder, alles wurde verteilt, aber auch in dieser Beziehung wieder beobachtet, daß die Hottentotten solche Dinge bereits kannten, obgleich sie zu arm waren, um auf den Besitz Anspruch zu machen. Die Umgebung der Quelle sah aus wie ein Marktplatz; rings im Kreise saßen schnatternde jubelnde Frauen, und bewegten sich in Gruppen die Männer, bei denen es dieses oder jenes Stückes wegen nicht selten bis zu Thätlichkeiten kam; ein alter Hottentotte, der große Herden besaß, feilschte mit den anderen um ihre Messer und bot Kälber und Kühe für ein besonders gewünschtes Stück; ein jugendlicher Stutzer hatte sich mit nicht weniger als fünf roten Tüchern an allen möglichen und unmöglichen Stellen seines auswendigen Menschen umwickelt und stolzierte jetzt wie ein Pfau zwischen den übrigen umher, ja endlich gerieten zwei junge Damen einer Perlenschnur wegen dermaßen in Harnisch, daß sie sich eine förmliche Schlacht lieferten. Beiß- und Kratzwunden, Büschel ausgeraufter Haare, Fetzen von der Fellbekleidung und endlich das jähe Zerreißen des Perlenbandes, alles das drängte sich zusammen in wenige Augenblicke; nachdem aber die begehrten Glaskugeln auf den Boden gerollt waren, entstand plötzlicher Friede. Beide Kämpferinnen lagen auf ihren Knieen, um möglichst viele der bunten Flüchtlinge zu erhaschen; eine suchte noch emsiger als die andere, und sobald eine Perle gefunden war, flog sie in den Mund der glücklichen Besitzerin, woselbst ihr ein sicheres Versteck hinter dem respektablen Gebiß bereitet wurde. Es fehlte aber auch neben diesen kleinen, ergötzlichen Auftritten nicht an den Zeichen wahrer Gastfreundschaft und Dankbarkeit; die armen Frauen boten den Gästen ein Nachtlager in ihren Hütten und eine Mahlzeit von den wenigen Vorräten, welche sie selbst in einer Art Grube oder rohangelegtem Keller unter der Wohnung verwahrten; sie küßten die Kleider der Fremden, und einige brachten sogar zum Entsetzen derselben eine Art von Zither zum Vorschein, auf der sie spielten.

Das Essen wurde dankend abgelehnt. Worin es eigentlich bestand, ließ sich nur schwer sagen, denn alle möglichen Gerüche stiegen aus dem verbogenen, rostigen Eisengefäß empor, und Spuren früherer Mahlzeiten hafteten reichlich an den Wänden. „Ich halte es für Mehlbrei!“ erklärte Franz.

„Hm, wenigstens waren erst ganz kürzlich noch Zwiebeln in diesem Topfe.“

„Etwas gleicht der Duft demjenigen einer verbrannten Milchspeise.“

„Und hier schwimmt eine jugendliche Wanze, Todes verblichen vor der Zeit infolge eines gewagten Sprunges aus dem Fellgewande der Köchin in diesen Hexenkessel.“

Holm fischte das berüchtigte Insekt. „Ich brauche dich nicht mit mir zu nehmen, internationale Blutsaugerin,“ sagte er mit seinem launigen Tone, „denn du gehörst zu der Verwandtschaft, welche auch in deutschen Federbetten vorkommt, — fleuch!“

Er schnippte die Wanze von den Fingern und spendete das letzte bunte Tuch einem kleinen Mädchen, dessen Wollkopf er damit umwickelte. „Wir müssen doch in eine oder die andere dieser Hütten hineinkriechen, nicht wahr?“ fragte er. „Vielleicht ist dies der einzige Hottentottenkraal auf unserem Wege. Wer geht mit, Rittersmann oder Knapp, zu tauchen in solchen Schlund hinab?“

„Mich entschuldigen Sie, bitte,“ lächelte der Doktor. „Ich bin nicht mehr jung genug, um mich für derartige Expeditionen noch genügend begeistern zu können. Auf allen vieren, das dürfte für den sechsundfünfzigjährigen Doktor der Gottesgelahrtheit ein wenig empfehlenswertes Unternehmen sein!“

„Kommt also, ihr Jungen,“ rief Holm, „aber ich bitte Sie, Doktorchen, weichen Sie nicht vom Fleck. Mir ist seit unserer neulichen Trennung nur allzuwohl erinnerlich, wie meisterhaft Sie im Faustkampf Ihren Mann stehen, — ich möchte nicht bei nächster Finsternis unbekannterweise wieder zwischen Ihre Finger geraten.“

„Unbesorgt, ich bleibe hier und studiere den Bau des Kraales.“

Die jungen Leute ließen den Dolmetscher anfragen, ob es erlaubt sei, eine Hütte zu besehen und wurden von den unermüdlichen Violinisten bis zum Eingang der nächstliegenden begleitet. Dann ging es auf Händen und Füßen vorwärts in den lichtlosen Raum hinein. Ziemlich geräumig mit dichten Erdwänden, halb unter der überhängenden Felswand verborgen, hatte die Hütte einen festgestampften Lehmboden und im Hintergrunde ein Lager aus Moos und Fellen. Möbel waren nicht darin, nur ein ausgehöhlter Kürbis voll Wasser, ein Eisentopf, eine Bratpfanne, Eisenlöffel und eine Reihe von Götzen. Schauderhafte Fratzenbilder aus Holz, Thon, Lehm und Knochen standen auf einer vorspringenden Erhöhung der Wand, Tiergestalten dem Bau nach, obgleich kein Auge im stande gewesen wäre, aus dieser plumpen Form die Gattung herauszufinden, Menschengesichter von abschreckender Häßlichkeit und Schlangenfiguren in Lebensgröße, zusammen mehr als zwölf verschiedene Arten. Holm wollte einen derselben berühren, aber die Bewohnerin der Hütte streckte unruhig den Arm aus. „Das ist die Gottheit, welche meine Kühe und Ziegen vor den Raubtieren beschützt,“ übersetzte der Dolmetscher. „Du darfst sie nicht nehmen, Meister.“

Holm trat, um kein Gefühl zu verletzen, sofort zurück, erlaubte sich aber, eine Wachskerze in Brand zu setzen und alles genauer zu besichtigen. Große Spinnen hingen an den Wänden, Tausendfüße von erschreckender Länge krochen zwischen den Fugen, und sogar Eidechsen mit glänzenden Augen schlüpften durch das Moos; im Mittelpunkt des Baues stand ein einzelner, rohbearbeiteter Balken, der das Dach stützte, und nach der Straße hin führte eine Treppe aus Erdstufen in eine kellerartige Vertiefung. Hier konnte nur eine Person Platz finden, daher stieg zuerst Holm und nach ihm die Knaben hinab. Berge von Zwiebeln und anderen Knollengewächsen lagen da aufgespeichert, Felle, getrocknetes Fleisch und Kaffernkorn in großer Menge, ebenso Pfeffer und einige frische Früchte. Offenbar waren diese Vorratskeller sowie die ganze Bauart des Kraales auf einen etwaigen Überfall berechnet; vielleicht hatten häufig streifende Buschmänner oder gar Kaffern ihre früheren Raubzüge bis in die Wohnungen der friedlichen Gelben ausgedehnt, so daß von alters her für einen derartigen Fall gesorgt worden war. Jetzt freilich finden diese Kriege erst viele Meilen weiter in das Land hinein noch statt, während die Hottentotten unter dem Schutze Englands leben.

Ein Übelstand war es besonders, der die Fremden so schnell als möglich ihre Besichtigung zu Ende führen ließ, die unerträgliche, mit Zwiebelduft, Ledergeruch und zahllosen anderen Beimischungen erfüllte Luft des rings verschlossenen Raumes; sie atmeten auf, als die Straße wieder vor ihnen lag, und trugen kein Verlangen, noch mehrere dieser schmutzstarrenden Höhlen in Augenschein zu nehmen. Was die Negerwohnungen in Dahomey und am Niger so ungemütlich machte, das war ihre lockere Bauart, welche dem Wind von allen Seiten freien Zutritt gewährte, dennoch aber mußten sie Paläste genannt werden im Vergleich zu diesen schrecklichen Gefängnissen, denen selbst die Grundbedingungen alles Lebens, Luft und Licht, vollständig fehlten. „Da unten aber ist’s fürchterlich!“ fuhr Holm in seiner Nutzanwendung des Schillerschen Tauchers fort, „Doktor, ich versichere Ihnen feierlich, daß Sie nichts eingebüßt haben.“

Der alte Herr saß immer noch auf dem Abhang an der Quelle, jetzt aber stand vor ihm ein kleiner, pausbackiger Junge von etwa zwölf Jahren, den er eben mit Hilfe eines Dolmetschers ein wenig zu erziehen versucht hatte, von dessen Bekehrung er aber seufzend absah. „Wissen Sie, Freund Holm, was mir dieses Kind antwortet, als ich ihn frage, ob er je von dem lieben Gott gehört? — Da nickt er und sagt: ‚Wir haben erst vor ein paar Tagen einen neuen bekommen. Großvater ist gestorben, der Zauberer machte uns für die Hütte eine Schlange aus Thon, und darin wohnt nun Großvaters Geist, zu dem wir beten! —‘“

„Schlimme Nachrede für den alten Herrn!“ lachte Holm. „Aber alle diese Völkerschaften des Kaplandes glauben, daß die Seelen Verstorbener in Schlangenleibern wohnen, das ist um nichts sinnloser und beleidigender, als wenn z. B. die Chinesen heilige Schweine von ihren Geistlichen umtanzen lassen. — Jetzt aber zu unseren Pferden, nicht wahr?“

Man brach auf und ging durch den Kraal zurück. Aus Mazembas Hütte sah das gelbe, vertrocknete Antlitz des Eigentümers blinzelnd hervor. „Zwei Stiere will ich geben und sechs Kühe, alle meine Kühe, wenn mir der weiße Zauberer helfen kann!“

Das war halb komisch, halb bedauernswürdig. Holm schüttelte nur stumm den Kopf, gab den begleitenden Kürbisviolinisten ein Geldgeschenk: „Das doppelte hättest du bekommen, wenn du uns mit deiner Fiedelei verschont hättest,“ wie er in deutscher Sprache hinzusetzte, und dann ging es fort, der Kafferngrenze entgegen. Schon in einiger Entfernung glich der Kraal einer bewachsenen Erhöhung, von der nichts Zeugnis gab, daß dahinter mehrere Hunderte von Menschen lebten.

Obwohl Unterholz und Bäume überall am Wege Schatten spendeten, fehlte der dichte, engbevölkerte, von lebenden Wesen aller Art wimmelnde Hochwald bis jetzt gänzlich, so daß die Pferde ziemlich schnell vorwärts gelangen konnten und noch vor Abend die Weideplätze der Hottentotten erreichten. Solch ein gelber, halbnackter Hirte, von einer Anzahl magerer, bösartiger Hunde umbellt, behütete nicht selten Rinder- und Schafherden in so großer Anzahl, daß es kaum möglich schien, alle diese Tiere zu überblicken und zu zählen. Demnach mußten sich die Leute auf ihr Hunde verlassen können, da sie meistens in träger Ruhe unter einem Baume lagen oder die landesübliche Kalebasviole spielten. Unsere Reisenden ritten durch dichtgedrängte Scharen friedlicher Wiederkäuer oder besonders großer und schöner Schafe, die auf den Ebenen weideten, — noch immer war das eigentlich „wilde“ Gebiet nicht erreicht. Am Horizont schimmerte indessen bereits ein langgestreckter, dunkler Streif; das war der Wald, und mit ihm kamen die Abenteuer, welche diesmal ernstlicher werden sollten, als sich’s die kleine Gesellschaft dachte. Im Schutz einer Felsschlucht wurde das Nachtlager aufgeschlagen und ein mächtiges Feuer entzündet, so daß die nächste Umgebung ziemlich hell beleuchtet war. Als die Stimmen schwiegen und ringsumher tiefe Stille eingetreten, begann sich’s in den Zweigen der ziemlich dicht stehenden Bäume zu regen. Kleine Geschöpfe glitten wie Schatten auf und ab, glänzende Augen sahen zum Feuer hinüber. Franz glaubte, plötzlich der Prinz des deutschen Märchens geworden zu sein; er meinte, die Zwerge auf dem Gras sich tummeln zu sehen und hörte ihr leises geisterhaftes Flüstern. — —

Trugen sie nicht Holz herbei, saßen sie nicht im Kreise um das Feuer, grauröckig, kahlköpfig und nickend, die Brosamen verzehrend wie einst die Bettler der biblischen Überlieferung am Tische des Reichen? — —

„Karl, Karl, was ist das? — Habe ich Fieber?“

„Pst, du verscheuchst sie, Junge! Das sind Zwergmakis.“

„Nicht größer wie eine Maus!“ raunte Franz, der sich von seinem Erstaunen noch immer nicht erholen konnte. „Ob es unmöglich wäre, einen davon zu fangen, Karl?“

„Das vielleicht nicht, aber wer könnte ein so kleines Wesen fesseln? Diese Art lebt nur in der Freiheit und nur in der heißen Zone. Schade, daß ich keine Vogelflinte besitze, um ein Exemplar zu schießen und auszustopfen. Es bildet in seinen kleinsten Formen den Übergang zum Nagetier, — auf allen vieren laufend würde es von einer großen Maus kaum zu unterscheiden sein. Aber sieh dorthin, die Gesellschaft mehrt sich.“

Von allen Bäumen kletterten die Halbaffen (Lemuren) herab, um die Überbleibsel der gehaltenen Mahlzeit zu erhaschen. Mit ihren großen schwarzumränderten Augen, dem spitzen Gesicht und dem dichten abstehenden Bart schienen die schlanken Tiere beinahe unheimlich. Die Vereinigung des Affen und der Ratte zu einem geschmeidigen, hübschen und listigen Geschöpfe repräsentierend, sind sie halb Nager halb Affe, doch ohne die Häßlichkeit der letzteren Familie. Alle verstanden es aufrecht zu gehen, die kleinste Art schien sogar dieser Fortbewegungsweise den Vorzug zu geben; winzige, krallenbewaffnete Hände nahmen den Brocken und führten ihn der spitzen Rattenschnauze zu; beide Arme öffneten sich weit, um mit großer Anstrengung das Knöchelchen eines gebratenen Huhnes fortzuschleppen oder irgend einen saftreichen Blumenstengel in das Nest zu tragen.

Endlich nahte auch so ein kleines Lemurenmütterchen mit zwei Jungen, die auf ihrem Nacken hockten, so daß es aussah, als habe die Alte drei Köpfe. Eins der Kleinen war so unruhig, daß es das Äffchen herabnahm und wie ein Kind auf dem Arme trug, indes die andere Hand Cakesbrocken aus dem Moos des Bodens hervorsuchte. Franz glaubte, nie etwas Hübscheres gesehen zu haben; er konnte der Versuchung, die kleine Gesellschaft zu füttern, nicht widerstehen und warf plötzlich eine Hand voll Krumen auf den freien Platz hinaus. Schon in der nächsten Sekunde war alles wie in den Boden hinein verschwunden, selbst die größeren Tiere hatten schleunigst das Weite gesucht. Es konnte aber auch nicht schaden, wenn eine Gattung der anderen Raum gewährte, gerade jetzt sollte sich ja der außergewöhnliche Reichtum an lebenden Wesen, wie ihn das Kapland besitzt, erst einmal zeigen. — An den Bäumen hing in großer Anzahl das träge, schwerbewegliche Chamäleon mit seinen blitzenden Augen und dem spitzen Rüssel, aus welchem die Zunge hervorhängt, die ruckartig hineingezogen wird, sobald sich eins der Tausende von herumfliegenden Insekten darauf gesetzt hat. Bald grau, bald rot, grünlich oder schwarz schimmernd, je nachdem es jagt oder ruht, triumphiert oder grollt, ist das kleine Tier so leicht zu zähmen, daß es von den Eingebornen zur Vertilgung der Insekten vielfach als Hausbewohner gehalten wird; seine angeborene Trägheit aber verläßt es nie. Fast über den Köpfen der Reisenden wiegten sich die braunen Pelze an den Zweigen; Nachtvögel huschten mit schwerem Flügelschlag vorüber, und vom Thale herauf drang zuweilen das dröhnende Brüllen des Büffels. Franz hatte wenig geschlafen, als am anderen Morgen die Pferde gesattelt wurden. Zu viel Neues, Sehenswertes war an seinen Blicken vorübergegangen; er suchte förmlich hinter jedem Busch oder Strauchwerk die kleinen, geschäftigen Lemuren in ihren grauen Röckchen und den langen Bärten; aber jetzt am hellen Tage hatten sich alle versteckt, die Halbaffen, die Chamäleone, die Eulen und Fledermäuse. Dafür belebten Antilopen den Weg, und ganze Herden von galopierenden Straußen zogen vorüber, einmal auch eine Elefantenschar, die durch das Unterholz brach und alles vor sich zu Boden warf, was ihr die Bahn versperrte. Natürlich hüteten sich die Reisenden, hier einen Angriff zu wagen; das schmetternde Trompeten der alten Männchen, ihre drohend erhobenen Rüssel und überhaupt das ganze Verhalten der kolossalen Geschöpfe flößten zuviel Respekt ein, als daß man bei einer so geringen Anzahl von Schützen den Kampf gegen etwa zehn bis zwanzig dieser Gegner hätte aufnehmen wollen.

Die Herde brauste vorüber, daß der Boden dröhnte, eine breite Spur zerknickter Pflanzen aller Art hinter sich zurücklassend; das Unterholz war zerstampft, Zweige abgerissen, Vögel aufgescheucht und zahllose kleinere Tiere heimatlos gemacht.

Holms Kugel erlegte eine Antilope, die gerade vor den Pferden aufsprang. Zum Mittagessen sollte sie gebraten werden, nach langer Zeit das erste frische Fleisch, welches die Reisenden erhielten: man wollte Gemüse kochen und Beeren pflücken, kurz sich einige recht gemütliche Stunden machen, aber — der Mensch denkt und Gott lenkt. Es mochte etwa zwölf Uhr sein, als die kleine Karawane ins Thal hinabschritt, um unten am Flußufer zu rasten. Üppiger Grasreichtum entfaltete sich, Früchte jeder Art luden zum Genuß; es war, als dürfte in dem Rahmen so vieler Schönheit, so vieler Schöpfungspracht auch nicht eine einzige Form, eine einzige Farbe fehlen. Am Rande der Lichtung begann dichter Wald, und auch selbst die offene Fläche war stellenweise von Bäumen durchstoßen. Die Pompelmus, eine apfelsinenartige, aber weniger wohlschmeckende Frucht, hing von den Zweigen so reichlich herab, daß die Reiter sie vom Sattel ergreifen und brechen konnten, Datteln und Tamarinden wuchsen über ihren Köpfen, der schöne Lumienbaum mit seinen purpurroten Blüten wiegte sich im Winde, und Kaktuspflanzen aller Arten schmückten die Gegend. Hier befand man sich an der Grenze des Kafferngebietes; es war also einige Vorsicht notwendig, weshalb auch die Führer voranritten und Umschau hielten. Die Weißen folgten langsam nach.

Plötzlich klang aus nächster Nähe Hundegebell, man hörte mehrere Stimmen lebhaft rufen, und ehe sich die kleine Gesellschaft dessen versah, war sie von einer bedeutenden Anzahl gelber Gestalten umschwärmt. Von geringerer Größe als die Hottentotten, noch häßlicher und ganz ohne Kleidung außer einem den Rücken bedeckenden Stück Fell, wilder und roher in ihrer Erscheinung, glichen die Buschmänner einer Schar unterirdischer Gnomen oder Zwerge; sie schrieen alle zugleich, betasteten die Pferde und Kleider unserer Reisenden, verlangten mit ausgestreckten Händen dieses oder jenes, was ihnen besonders ins Auge fiel, und schienen namentlich mit dem ihnen zu teil gewordenen Anblick weißer Menschen noch gänzlich unbekannt.

„Hallo, Führer!“ rief Holm, „haben wir da Feinde?“

Und zugleich riß er die Kugelbüchse von der Schulter, um auf den Nächststehenden anzulegen. Die kleine, gelbbraune, häßliche Gestalt blieb unbeweglich, offenbar hatte der Stamm noch nie Feuerwaffen im Besitz gehabt.

Der eingeborne Führer ritt im Trabe herbei. „Die Saab thun uns nichts zu leide, Herr!“ rief er. „Das sind arme, dumme, vertierte Geschöpfe, die zwar stehlen, was sie erlangen können, aber doch keinen Mord begehen. Wir dürfen ungefährdet ihr Lager in Augenschein nehmen.“

Einige Worte, die er seinen Stammesverwandten zurief, schienen diese Behauptung zu bestätigen, die Buschmänner liefen wie Kinder, welche einen Gast in das Haus führen, den Fremden durch den Felsenpaß voran ins Thal und sahen dabei fortwährend zurück, als ob sie fürchteten, den Gegenstand ihrer lebhaften Neugierde plötzlich wieder zu verlieren. Umdrängt von der gelbbraunen, häßlichen, mit lauter Zisch- und Schnalzlauten durch einander schwatzenden Menge gelangten die Weißen bis an den Lagerplatz der Buschmänner, wo Frauen und Kinder an den verschiedensten Stellen herumhockten, ohne sich irgend einer Beschäftigung zu widmen. Es brannte kein Feuer, man sah kein Zelt, kein weidendes Tier oder irgend ein Gerät, wohl aber ließ sich erkennen, daß die Buschmänner in Felsspalten, in den verlassenen Höhlen wilder Tiere oder auch nur unter einem besonders dichten Gebüsch ohne weiteres Quartier zu nehmen pflegten. Ein Lager auf flachem Boden mit einigen Handvoll Blättern als Kopfkissen, das war alles, was sie beanspruchten.

„Führer, Sie bürgen uns also, daß kein plötzlicher Überfall erfolgen wird?“

„Ganz sicher, Master Doktor, ich kenne ja meine Landsleute.“

Holm und die Knaben stimmten einmütig für eine Rast unter den so unerwartet gefundenen Gelben. So tief wie dieses Volk schien kein Schwarzer der Westküste zu stehen; es war in naturwissenschaftlichem und kulturgeschichtlichem Interesse gleich wichtig, so viel als sich äußerlich wahrnehmen ließ, von Lebensweise und Charakter der Saab kennen zu lernen.

Die Reisenden stiegen von den Pferden und errichteten sich im Schutze mehrerer neben einander stehender Zitronenbäume ihr eigenes Lager. Während der Nacht wollten sie in der Niederlassung des wandernden oder, besser gesagt, vagabundierenden Volkes bleiben und dann noch etwa eine oder zwei Tagreisen verwenden, um auch den Anfang des Kafferlandes kennen zu lernen.

Ein Feuer loderte auf; die Führer weideten und zerlegten die Antilope; die mitgebrachte Pfanne kam zum Vorschein, und bald brodelte der Braten, dem man Früchte aller Art beigesellte. Die gelben Menschen schienen gar nichts, was einem Haushaltungsgerät ähnlich sah, zu besitzen, und auf eine Frage des Führers, wie denn bei ihnen das Wild zubereitet werde, antworteten sie nur durch spöttisches Lachen. „Ich weiß es wohl,“ sagte halb abgewandt der junge Hottentotte, „sie verzehren alles roh und essen auch alle Abfälle mit dem Fleisch. Übrigens kommt dergleichen selten vor, denn ihr eigentliches Heimatsgebiet ist eine Sandwüste, wo es nur niederes Gebüsch, Strauße und Quaggas gibt. Sie ziehen von Stelle zu Stelle, schießen das Wild, essen die Früchte und setzen ihren Stab weiter, sobald nichts zu plündern mehr vorhanden ist. Arbeit kennen sie nicht, betreiben weder Ackerbau noch Viehzucht, ja sie haben nicht einmal Hütten, sondern verkriechen sich wie wilde Tiere und stehlen, wo es angeht, die Herden der Quaquas. Es ist schon vorgekommen, daß ein Stamm von vielleicht zweihundert Köpfen bis zu sechshundert Ochsen und Schafe wegtrieb, wobei dann alles an einem Tage abgeschlachtet und späterhin verfault gegessen wurde. Meine Verwandten, die Saab, sind ein sehr armes, niedriges Volk.“

„Aber ihre Waffen möchte ich sehen,“ rief Franz. „Pfeile und Bogen natürlich. Ob sie davon verkaufen oder vertauschen würden.“

Der Führer sprach mit den Gelben, aber keiner wollte sein Eigentum hergeben, bis endlich der Packen mit den noch übrigen bunten Spielereien geöffnet wurde und nun auch die Widersetzlichsten bezähmte. Die Buschmänner tanzten wie Kinder, schlugen sich auf die Kniee vor Entzücken und jubelten laut. Für ein Messer erhielt Franz Bogen und Pfeile, von welchen letzteren ihm aber der Führer sagte, daß sie ohne Zweifel vergiftet seien. Ein Spiegel dagegen erregte den Wilden die lebhafteste Furcht; sie sahen aus einiger Entfernung hinein, griffen dann plötzlich hinter das Glas, offenbar um den vermeintlichen Widersacher zu erfassen. Nichts konnte sie bewegen, den „Fetisch“ zu berühren, ja, die Mütter drängten sogar ängstlich ihre neugierigen Kleinen, so oft sie sich heranwagten, zurück, bis endlich die gefürchteten Zaubergeräte wieder eingepackt wurden. Perlen und Kattun erregten ungemessene Freude, auch den Abfall der Mahlzeit ließen sich die harmlosen Kinder der Natur vortrefflich schmecken, entwickelten aber dabei einen so gesunden Appetit, daß notwendig zur Vollendung dieses Gastgebotes auch noch ihre eigenen, gewohnten Hilfsmittel herangezogen werden mußten. Und da zeigte sich denn, weshalb gerade diese Stelle zum Lagerplatz erwählt worden war. Neben einem längst gestürzten, in Verwesung übergegangenen Baum befand sich ein großer Ameisenhaufen mit wenigstens sechs bis zehn Kolonieen, die alle von den Buschmännern nach Eiern und Puppen durchsucht wurden. Ebenso begann auch die Jagd auf Heuschrecken; nirgends aber trug man das Erbeutete zusammen und verzehrte es aus einem Geschirr oder wenigstens gemeinschaftlich; sondern jede Heuschrecke wanderte zerquetscht von der Hand des Finders in den Mund, die kleinen weißen Ameiseneier wurden mit affenartiger Behendigkeit aus den Nestern herausgefischt und verzehrt, außerdem aber auch die überall wachsenden Zwiebeln aus der Erde gegraben und roh genossen.

„Ich hätte Lust, einmal zu schießen,“ meinte Holm. „Was sie für Augen machen würden.“

Gesagt, gethan. Franz band um die Krone eines in einiger Entfernung stehenden Bäumchens ein Stück Papier, und Holm schoß es herunter. Als der Schuß krachte, entstand unter den Wilden eine Bewegung, wie wenn ein Steinwurf einen Flug Sperlinge aufschreckt. Es war ersichtlich, daß die gelben Geschöpfe, denen der Name „Mensch“ kaum zuzukommen schien, nie im Leben ein Feuergewehr kennen gelernt hatten; sie flüchteten insgesamt unter den Schutz des Felsens, jedenfalls fest überzeugt, einem unheilvollen Zauber nicht mehr entrinnen zu können; ihre Bewegungen verrieten die lebhafteste Furcht, viele lagen sogar auf den Knieen und hielten das Gesicht in den Händen verborgen. Holm und Franz versuchten umsonst, die Leute zutraulicher zu machen; sie wollten ihnen die Kugelbüchsen zeigen oder gar hinreichen, aber alles vergebens; die Buschmänner flüchteten, sobald sie sich näherten, ja die allgemeine Angst schien so stark, daß überhaupt keine fernere Unterhaltung mehr möglich war.

Das Gewehr wurde beiseite gelegt, die Decken im Schutz einer Felswand ausgebreitet und die Pferde so an Bäumen befestigt, daß sie zwischen den Reitern und dem freien Platze standen. Als ein langsam brennendes Feuer von halbtrocknem Holz seine Rauchwolken zum Himmel sandte, streckten sich alle um die angenehm wärmende Glut und schliefen im Gefühl vollkommener Sicherheit sehr bald ein. Die Pferde mußten sie ja bei dem geringsten verdächtigen Zeichen durch ihre Unruhe sofort wecken. Stille und Dunkelheit lagerten über dem malerischen, mit so vieler Schönheit ausgestatteten Thal, von fern her klang das Rauschen des Waldes, die Quelle murmelte, Nachtfalter in wundervollen Farben, groß und glänzend, schwebten vorbei; geschäftig wanderten zu Tausenden die beraubten Ameisen fort aus ihrem halbzerstörten Bau, um sich eine neue Heimat zu gründen, Vögel zwitscherten wie flüsternd in den Zweigen, und Eidechsen schlüpften durch das Gras. Aber seltsam, kein größeres Tier zeigte sich, — und doch brachen und knickten drüben am Waldrand zuweilen die Gebüsche.

War es der Wind? War es ein Elefant oder — vielleicht Menschen?

Die Pferde standen ruhig fressend, also konnten es keine Raubtiere sein.

Da, wieder! es rauschte und krachte, das war nicht der Wind — —

Ein Mondstrahl brach aus den Wolken, Helldunkel überflutete das Thal. Schleichende Gestalten, katzenartig leise, glitten heran — — waren das Teufel? Flammend rot von Kopf bis zu Füßen die kräftigen Gestalten, die bräunlich schwarzen Gesichter voll Kampflust und Feuer, geschoren der Kopf bis auf den federdurchflochtenen Wirbelschopf, hohe Schilder aus Büffelfell in den Händen und einen langen hölzernen Wurfspieß mit Eisenspitze auf der Schulter. Einer nach dem anderen, Hunderte an der Zahl, so drangen sie vom Waldsaum her über den Fluß, sich rücksichtslos hineinwerfend, schwimmend wie ein roter glänzender Streif unheimlich in der fahlen Beleuchtung. — —

Und da, wo sich die Gelben angstvoll geschart, blieb alles still. Immer heller wurde der Himmel, immer deutlicher traten rings die Gegenstände aus der Finsternis heraus, — da wieherte eins der Pferde, und schläfrig dehnte sich Franz auf seinem Lager. „Wie kalt!“ schauderte er.

Der Führer erwachte und hob den Kopf. Ein durchdringender Ruf klang über das Thal dahin. „Die Amakossa! — Die Amakossa!“

Jetzt wachten alle. Instinktmäßig griffen sie zu den Gewehren, Fragen und Vermutungen schwirrten durcheinander, in weniger als einer Minute standen sämtliche Männer schußbereit. Am Himmel teilte sich die letzte Wolke, der Vollmond erglänzte über dem Waldsaum, — jener Fels, an dem die Buschmänner gelagert, war leer. Ohne Zweifel hatten alle im Schutz der Dunkelheit geräuschlos die Nähe der gefürchteten Feuerwaffen verlassen.

„Das sind Kaffern,“ flüsterte nach dem ersten Erschrecken der eingeborne Führer, „Amakossas von den wandernden Stämmen, welche durch Krieg und Raub ihr Dasein fristen. Sie ziehen von Norden nach Süden, überall Feinde, überall Zerstörer; die Urbewohner von Britisch-Kaffraria am Atlantischen Meer, damals geflohen und seit Menschenaltern heimatlos in den Wäldern hausend, während ihre Brüder mit der Kapkolonie Handel treiben und nicht mehr Wilde zu nennen sind. Sie haben die Schüsse gehört und wollen jetzt unsere Gewehre erbeuten.“

Das alles war hastig hervorgestoßen, halblaut, und indem der Sprecher unausgesetzt die Wilden beobachtete. Diese schienen Kriegsrat zu halten, gedeckt durch Bäume oder Felsen. Hinter ihren hohen Schilden verborgen, sprachen sie lebhaft miteinander, offenbar das Pferd verwünschend, welches vor der Zeit ihre Pläne verraten hatte. Sich hinauszuwagen in die Schußlinie dieser blitzenden Musketenläufe, das war nicht geraten; die Amakossa hatten viel zu häufig mit ihren Genossen von der Küste oder mit streifenden Zulus verkehrt, um nicht zu wissen, daß ihnen die Feuerwaffe den Weg versperrte, bevor noch die Hälfte desselben zurückgelegt war. Wo sich ein Kopf ohne Deckung zeigte, da konnte er im nächsten Augenblick von der Kugel durchbohrt sein.

Die Weißen befanden sich in keiner besseren Lage. Wenn ihre unbeschützten Pferde mittels der weittragenden Spieße getötet wurden, so standen sie den räuberischen Kaffern wehrlos gegenüber und mußten nebenbei auch fürchten, die ganze weite Strecke bis zur Küste, mehr als fünfzig deutsche Meilen, nicht zu Fuß zurücklegen zu können.

Der Führer dachte dasselbe. „Ich habe es übernommen, die Herren sicher wieder zur Kapstadt zurückzubringen,“ sagte er nach kurzem Besinnen, „das ist aber nur mit guten Pferden möglich. Ich gehe hinaus und bringe die Tiere hinter den Felsen.“

„Wir begleiten dich!“ riefen einstimmig die Weißen.

Der Quaqua schüttelte den Kopf. „Ich gehe allein,“ beharrte er. „Was liegt denn an dem armen, verachteten Gelben? Wer fragt nach ihm, wenn er nicht wiederkommt? Der Farbige trägt immer ein Brandmal auf der Stirn, — er sollte wild bleiben, wenn er glücklich leben will, ganz wild, die Weißen zählen ihn ja doch niemals zu ihresgleichen. Fort da, junger Herr, ich will keine Begleitung haben.“

Es war Hans, der sich dem Hottentotten zugesellte. „O Karl,“ sagte vorwurfsvoll der stille, wenig lebhafte Knabe, „kannst du das zugeben?“

Holm und Franz gingen ohne weitere Worte dem Führer nach und deckten mit ihren Gewehren seinen Körper, als er unter den Pferden hindurchkroch, um sie loszubinden.

Ein Hagel von Wurfspießen schwirrte ihnen entgegen, blindlings geschleudert, nachdem die Amakossa zu ihrem lebhaften Verdruß erkannten, daß sie im ersten Schreck versäumt hatten, sich der Tiere zu bemächtigen und dadurch die Gegner zu entwaffnen. Ein Kriegs- und Wutgeschrei erschallte aus hundert Kehlen, Wurfspieß nach Wurfspieß sauste durch die Luft, Holm hatte den Hut vom Kopf verloren, eine Spitze bohrte sich in Doktor Boltens Schulter, der eine Führer blutete aus drei leichten Wunden, und zwei Pferde waren getroffen, obwohl nicht besonders gefährlich. Dann aber befanden sich auch sämtliche Tiere in Sicherheit, die Weißen konnten aufatmen.

„Schießt nicht!“ ermahnte der alte Theologe, während er bemüht war, mit dem Taschentuch das hervorquellende Blut zu stillen. „Schießt nicht, Kinder. Wenn die Wilden einen Angriff wagen, so müssen wir uns natürlich verteidigen, bis dahin aber verhaltet euch ruhig, als sei nichts geschehen.“

„Die Amakossa sind Räuber, diebische Hyänen!“ rief erbittert der verwundete Führer. „Man sollte sie niederschießen wie tolle Hunde.“

Der alte Mann sah mit festem Blick dem Aufgeregten ins Auge. „Ich verbiete dir solche Reden und jeden Gedanken an Ausführung solcher Absichten, mein Sohn!“ sagte er gelassen.

Der Farbige senkte die Wimper. Er wagte es nicht, die Ehrfurcht gegen das ruhig überlegene Wesen des alten Herrn aus den Augen zu setzen, heimlich aber ballte er die Faust, und selbst Franz konnte sich nicht enthalten zu antworten, daß doch eine scharfe Lehre den Buschkleppern sehr heilsam sein müsse. „So gut wie die abgesandten Wurfspieße nur leichte Wunden verursachten, hätten sie auch den Tod bringen können,“ fügte er hinzu.

„Und du wolltest der Vorsehung den Dank für eine beinahe wunderbare Errettung durch den Mord an einem unwissenden Wilden abtragen, mein Junge?“

Franz errötete. „Wir sind noch nicht gerettet, Herr Doktor,“ antwortete er. „Die Amakossa scheinen uns in aller Form belagern zu wollen.“

„So werden wir uns in aller Form verteidigen, lieber Franz. Sei dessen sicher.“

Die Kaffern hatten während dieser kurzen Unterredung der Weißen ihrerseits den Kriegsrat geschlossen. Einer nach dem anderen verschwanden sie aus dem Thal, so daß es aussah, als sei der Platz von ihnen geräumt, thatsächlich aber war gerade durch diesen Schachzug bewiesen, daß sie zum Verderben der Weißen planmäßig handelten. Der eingeborne Führer erkannte das sofort. „Wir können uns jetzt wieder hinlegen,“ sagte er, „ein Angriff wird nicht erfolgen, — man erreicht mit List, was vielleicht durch Gewalt unmöglich wäre.“

„Aber wie denn?“ fragte Holm.

„Indem man uns umzingelt und vom Wasser abschneidet. Wer sich auf der freien Fläche sehen läßt, der ist ein Kind des Todes.“

Holm fühlte, wie es ihm kalt über den Rücken herablief, und auch die anderen blieben lange Zeit stumm. Ihrer sieben gegen mehrere Hundert, da war ein offener Kampf ganz unmöglich, — so im Winkel versteckt zwischen Felsen langsam mit der Waffe in der Hand aus Mangel an Nahrungsmitteln zu Grunde zu gehen, das schien aber ein entsetzliches Schicksal. „Ob sich denn nicht durch die Schnelligkeit der Pferde entkommen ließe?“ fragte nach langer drückender Pause der ältere Knabe.

„Auf freier Fläche, ja; hier im waldigen, von Bäumen durchzogenen Gebiet unter keiner Bedingung. Die ersten fünfhundert bis tausend Schritt um diese Stelle herum können nur langsam, nicht einmal im Trab zurückgelegt werden.“

„So sind wir also ganz verloren!“ rief Franz.

„Noch nicht,“ versetzte der Hottentotte. „Ehe wir hier verhungern und verdursten, entschließen wir uns zur Fußwanderung bis nach der Küste. Die Sache geht langsam, aber unmöglich ist sie nicht.“

„Jedenfalls laßt uns daher Pulver und Blei aus den Satteltaschen nehmen, damit wir zur Flucht gerüstet sind,“ riet der Doktor. „Wenn nur der Mond nicht so hell schiene!“

„In dieser Nacht können wir keinen derartigen Versuch wagen,“ entschied der Führer. „Es bedarf dazu nicht allein völliger Dunkelheit, sondern auch der vorherigen genauen Ortskenntnis. Wir müssen wissen, ob und in welcher Stärke die Umgegend besetzt ist.“

„Großer Gott, Führer, was sagen Sie da? — Wir sollten in dieser verzweifelten Lage, ohne Wasser und auf eine enge Felsschlucht beschränkt, noch einen ganzen Tag verharren?“

„Vielleicht noch zwei Tage, drei Tage, Herr, bis der Augenblick zur Flucht herangekommen ist. Das läßt sich nicht voraussagen.“

Eine tiefe Stille folgte diesen Worten. Man hörte wieder die leisen Laute der Natur ringsumher, nichts verriet feindliche oder zerstörende Absichten; fast schien es, als sei doch das ängstliche Hin- und Herreden, das bange Pulsieren des Blutes in den Adern nur ein Spuk der wildbewegten Einbildungskraft, als könne unmöglich an einem einzigen Schritt in dieses blühende Thal hinaus Tod und Leben hängen, ein qualvoller, entsetzlicher Tod fern vom Vaterlande unter den Spießen der rotbemalten Teufel.

Stunden vergingen so; obgleich der Führer wiederholt zum Schlafen mahnte, konnte niemand die Augen schließen, niemand konnte es unterlassen, fortgesetzt zu horchen. Wenn die Wilden Mut genug besaßen, mit plötzlichem, gewaltsamem Überfall die Schlucht zu stürmen, wenn sie es nicht beachteten, daß zehn oder zwanzig von den Ihrigen als Opfer fallen mußten, was dann? Ein kurzer, erbitterter Kampf Mann gegen Mann, und alles war zu Ende. Keine Stimme gab Zeugnis von dem, was in der Wildnis geschehen.

Endlich dämmerten die ersten Morgenstrahlen. In Busch und Wald wurde es lebendig, Vögel sangen, Affen kletterten auf den Zweigen, verspätete Ameisen rannten geschäftig hin und her, das ferne Heulen der Hyänenhunde war allmählich verstummt. Im Thale zeigte sich nichts, auch kein einziger Wilder sah hinter den Bäumen hervor; alles schien still und ausgestorben.

„Ob sie die Sache aufgegeben haben?“ fragte mit halbem Zweifel der Gelehrte.

„Ach, da kennen Sie die Kaffern nicht, wir werden in jeder Sekunde bewacht.“

„Führer, haben Sie schon ähnliche Lagen wie diese jemals durchgemacht?“

Der Gelbe nickte. „Unser Kraal ist mehr als einmal von den Amakossa überfallen worden,“ antwortete er. „Die Leute sind weder Menschenfresser noch blutdürstige Mörder, aber sie stehlen, und scheuen zur Erreichung ihrer Zwecke kein Mittel. Wenn wir unsere Waffen ausliefern, ebenso die Pferde, so trachten sie uns nicht länger nach dem Leben.“

„So laßt uns das lieber versuchen, Kinder!“ rief Doktor Bolten.

Der Führer schüttelte den Kopf. „Unmöglich, Herr. Wie könnten wir ohne Gewehre und Lebensmittel fünfzig Meilen durchwandern? Die Amakossa würden uns nichts, vielleicht nicht einmal die Kleider im Besitz lassen.“

„Woran erkennen Sie denn mit so großer Bestimmtheit ihre Gegenwart, Führer?“

„Zunächst an dem Charakter der Kaffern überhaupt und dann an dem Fehlen aller auf dem Erdboden laufenden Geschöpfe. Was fliegt und in den Bäumen klettert, das sehen wir herankommen, aber all die Hunderte von kleinen Vierfüßlern, welche sonst am frühen Morgen zum Flußufer gehen, halten sich fern. Das allein beweist die Nähe von Menschen.“

Er schürte das Feuer und fing an, die Fleischstücke von gestern zu braten. „Wir dürfen uns nicht mutlos zeigen, Herr, nicht aussehen, als fürchteten wir die Halunken; desto länger werden sie einen eigentlichen Angriff hinausschieben. Dort, der große Geier über der Citrusgruppe, holen Sie ihn doch herunter!“

Franz hatte schon angelegt. Die Kugeln aus seiner und seines Bruders Büchse trafen zugleich den in der Luft schwebenden Vogel: mit schrillem Laut sich überstürzend und flügelschlagend, fiel er bis hart vor das Gebüsch, in welchem die Wilden versteckt sein mußten. Ein Schrei aus mehreren Kehlen, deutlich erkennbar, mischte sich in den Klang, — der Führer sah von einem zum andern. „Hören Sie wohl, meine Herren?“

„Wahrhaftig, die Roten sind noch dort,“ gestand Franz. „O diese heillose Geduldsprobe.“

Doktor Bolten stellte das Gewehr an den Felsen. „Im Augenblick sind uns alle Mittel und Wege abgeschnitten“ sagte er seufzend. „Wir müssen uns darein ergeben und der Sache die erträglichste Seite abzugewinnen suchen.“

Die Decken wurden zu Sitzpolstern verwendet, den Pferden Futter vorgeworfen und einstweilen das Frühstück aufgetragen. Lebensmittel besaß man noch für mehrere Tage, auch wenn nichts Frisches an Fleisch oder Früchten hinzukam, dagegen aber fehlte das Wasser schon jetzt sehr empfindlich. Rum oder alter Portwein, zur Stärkung in kleinen Flaschen mitgenommen, war vorhanden, konnte jedoch trotz seines teuren Preises das klare, kalte, von Mutter Natur geschenkte Quellwasser nicht ersetzen; namentlich die Tiere schnauften und ließen die Zungen heraushängen, so daß der mitleidige Hans leise hinging und recht große tiefsitzende Blätter pflückte, um durch die gesammelten Tautropfen derselben wenigstens einige Linderung zu bringen. Ein vernunftloses Geschöpf leiden zu sehen, thut ja dem fühlenden Menschenherzen so weh.

Die Amakossa gaben kein Lebenszeichen; offenbar lag es in ihrem Plane, die Eingeschlossenen zu einer Unvorsichtigkeit zu verleiten und ihnen alsdann in den Rücken zu fallen, eine Absicht, welche auch ohne die Gegenwart des farbigen, mit derartigen Fuchsfallen genügend vertrauten Führers vollständig erreicht worden wäre. Sie konnten hinter sicherer Deckung zum Wasser gelangen und sich durch Jagd mit Lebensmitteln versorgen, es wurde ihnen also sehr leicht, die Belagerung siegreich zu Ende zu führen, umsomehr als die Kräfte der Weißen in immerwährender Unruhe notwendig aufgerieben werden mußten. Etwa vierzig bis fünfzig Quadratfuß Raum für sieben Menschen, kein Trinkwasser, kein Brennmaterial zum Schutz gegen die nächtliche Kälte, keine freie Bewegung, und, was das schlimmste, sehr bald schon kein erreichbares Pferdefutter mehr, — das konnte unmöglich länger als einige wenige Tage ausgehalten werden.

So berechneten die Amakossa und warteten geduldig.

Der Tag ging langsam vorüber, bleiern und schwer folgte die nächste Nacht, aber immer noch änderte sich nichts. Die Belagerten saßen in dumpfer Ruhe bei einander, gefoltert vom Durst, mehr und mehr hoffnungslos in die nächste Zukunft sehend. Es war unerträglich, den Fluß plätschern zu hören, die ziehenden Wellen zu beobachten und dabei alle Qualen des Verschmachtens zu erleiden; es schnitt ins Herz, die Pferde mit gesenkten Köpfen dastehen zu sehen oder liegend wie im Sterben begriffen, — dennoch aber wollte der Führer bis zum letzten Augenblick aushalten, wollte von Übergabe nichts hören. „Die zweitfolgende Nacht wird ganz dunkel,“ sagte er, „dann ist es Zeit zum Handeln.“

„Was wollen Sie thun?“ fragte Holm.

„Ich habe meinen Plan,“ versetzte der Gelbe.

Damit war das Gespräch wieder zu Ende; es schien, als sei in allen die Lebenskraft dem Erlöschen nahe. So unthätig, belagert von einem nur geahnten Feind, laut- und regungslos wie im Kerker die Tage zu verbringen, das war ein entsetzliches Schicksal. Kopf und Augen schmerzten unausgesetzt, eine Art von Lähmung hatte sich aller Glieder bemächtigt, und das Sprechen wurde schwer. Eine Entscheidung mußte herbeigeführt werden, so wie die Sache jetzt war, konnte sie keinesfalls länger bleiben.

„Wenn es nur ein paar Tropfen regnen wollte,“ flüsterte Hans, „nur so viel, um ein einziges Mal die Zunge zu befeuchten.“

Holm schwieg. Ihm fehlte der Mut, jetzt zu antworten, daß es in der Nähe hoher, bewaldeter Gebirgszüge nicht regnet, weil die Feuchtigkeit durch den Pflanzenwuchs der Luft entzogen wird; er streichelte nur stumm die heiße Stirn des Knaben. Franz stand am Felsen, düster in das Halbdunkel hinausblickend. „Karl,“ sagte er leise und mit unsicherer Stimme, „man sollte für die Güter des Lebens, so lange man sie besitzt, dankbarer sein, — ich — ich habe so oft den Kaufmannsstand langweilig und das Sitzen am Pult trostlos genannt, — das war unrecht von mir.“

Holm lächelte. „Nun, da du den Wunsch deines Vaters, dich zum Geschäftsnachfolger zu erziehen, nicht erfüllen wolltest, so bist du Naturforscher geworden,“ antwortete er. „Was davon unzertrennlich ist, das mußt du in den Kauf nehmen.“

Franz sah ihn an. Die tiefliegenden Augen des Knaben glühten vor Erregung. „Und wenn wir alle hier sterben, Karl, dann — bin ich schuld daran.“

„O nicht doch, Junge. Was ficht dich an? — Schau dorthin, der Quaqua bereitet sich zu seinem großen Plane.“

Der Gelbe war beschäftigt, den Pferden die letzten erreichbaren Blätter und Gräser vorzuwerfen, dann zerschnitt er eine der Wolldecken und umwickelte mit den einzelnen Streifen die Hufe der Tiere. „Geben Sie mir jetzt die Büchse mit Zündhölzern!“ bat er, und nachdem ihm Holm das Verlangte gereicht fuhr er kopfnickend fort: „Sie kennen die Stelle, wo etwas oberhalb dieser Lichtung ein Quell aus dem Felsen springt? Nur hundert Schritte von hier, — wir hielten bei unserem Kommen dort an, um die Pferde zu tränken.“

„Ich weiß es,“ antwortete Holm. „An den Zitronenbäumen vorüber und neben der Felswand hinlaufend. Aber —“

„Wenn ich Ihnen zurufe: ‚Jetzt!‘ dann nehmen Sie die Pferde an die Zügel und gehen mit denselben auf diesem Wege bis zum Quell,“ fuhr eilfertig der Gelbe fort. „Dort treffe ich Sie und wir reiten über die Ebene, einerlei ob das auf unserem ursprünglich verfolgten Wege liegt oder nicht. Haben wir zehn Minuten Vorsprung, so können uns die Amakossa nichts mehr zu leide thun.“

Holm schüttelte den Kopf. „Aber sollten denn an der Felswand keine Wächter stehen?“ fragte er.

„Bis jetzt gewiß. Sie dürfen auch erst dann gehen, wenn ich das Zeichen gebe, nicht früher, so lieb Ihnen Ihr Leben ist. Also aufpassen!“

Und fort war er, mit unhörbaren Schritten hinaus in die freie, offene Thalfläche, welche sich zum Flusse hinab erstreckte. Den Zurückgebliebenen klopfte das Herz in banger Erwartung, Auge und Ohr verdoppelten, verzehnfachten ihre Anstrengungen, um den kühnen Mann auf seinem Wege zu begleiten, um durch die dichte Finsternis zu sehen und auf dem Gras noch Schritte zu hören. — —

Vergebens, es blieb alles still. Der Gelbe mußte keinem Feind begegnet sein. Aber was wollte er thun, womit die Amakossa von jenem Felspfad hinweglocken?

Ein langgezogener, dumpfer Laut durchhallte die Umgebung, ein blaues Flämmchen blitzte knisternd auf, und ein Knarren oder Schaben wurde hörbar. Bald hier bald dort einen Kreis beschreibend, erglühten die schnell verlöschenden Flammen. Im Gebüsch auf der anderen Seite regte sich’s, Menschenstimmen schrieen durcheinander, Angstrufe störten die Ruhe der Nacht. Immer schneller, immer näher dem Versteck der Amakossa folgten sich die aufblitzenden Feuerfunken.

„Unsere schwedischen Zündhölzer,“ raunte Holm. „Der kecke Patron setzt damit das ganze Kaffernheer in Schrecken!“

Die Amakossa brachen fliehend durch das Unterholz. Wo sich böse Geister in das Spiel mischten, wollten sie offenbar nicht länger ausharren. Jenes Brummen und Schaben, die gespenstischen, knatternden Lichter brachten sie um alle Fassung. Und jetzt fiel plötzlich die Flamme in das Gebüsch, dürres Gras loderte hoch empor, griff züngelnd um sich und lief den Wilden nach, vom Wind getragen, rauchverhüllt, das Thal in um so tieferem Dunkel zurücklassend. Sie verschwanden wie Schatten vor der Sonne.

Ein langgezogenes „Jetzt!“ noch immer in dem ersten dumpfen Tone, drang zu den Weißen hinüber. Holm hatte bereits zwei Pferde am Zügel erfaßt, die anderen thaten dasselbe, und das letzte Tier folgte freiwillig, während draußen auf der Ebene das Brummen, das Stampfen und Schlagen zu lautem Lärm überging.

Zwei Pferde am Zügel führend, die Pistole schußgerecht in der anderen Hand, so drangen die sechs Männer vorwärts. Trotz der umwickelten Füße würden aber dennoch die Schritte der Tiere hörbar gewesen sein, wenn nicht der Hottentotte klüglich den Feind in eine Aufregung versetzt hätte, die ihm alles Beobachten unmöglich machte. So sehr auch die Herzen klopften, so angestrengt die Blicke spähten, es zeigte sich keiner der Roten, es hinderte nichts die langersehnte Flucht. Man kam zum Quell, Menschen und Tiere tranken einträchtig neben einander, Menschen und Tiere dankten dem Himmel für das köstliche, neues Leben spendende Naß, die einen in halbgedachten, halbgestammelten Worten, die anderen in kräftigem, von lautem Schnaufen begleiteten Schütteln des Kopfes. Man übergoß sich das heiße Gesicht, man badete die Hände und konnte nicht satt werden, immer wieder und wieder zu trinken. Die Führer füllten ihre Flaschen, das Gepäck war aufgeladen, einer nach dem anderen stieg in den Sattel, aber — wo blieb der Gelbe?

Man ritt bis an den Ausgang des Gebüsches, die Ebene lag im Halbdunkel ohne einen einzigen Baum weitgedehnt vor den Blicken; links erhob sich dichter, ragender Hochwald, alles war still, die Gelegenheit so günstig, aber ohne den tapferen Quaqua doch an keine Entfernung zu denken. Wenn er nur käme! —

Drüben wälzte sich das Feuer durch die Gesträuche dahin. Unmöglich konnten dort noch Wilde versteckt sein, sie mußten sich also in der Nähe befinden, und die Gefahr kehrte vielleicht im nächsten Augenblick zurück. Wo blieb der Hottentotte?

„Gelungen!“ flüsterte eine Menschenstimme. „Hier bin ich!“

Er schwang sich unter dem einstimmigen „Gott sei Dank!“ der ganzen Reisegesellschaft in den Sattel und schüttelte mit erhobener Hand die schwedischen Zündhölzer. „Ist es ganz recht, daß ein Mann hilft, seine eigenen, armen, unwissenden Brüder zu betrügen?“ fragte er halb traurig, halb lachend.

Und noch ein letztes Flämmchen zuckte auf, um den Weg aus dem Unterholz zu beleuchten, die Gefahr des Strauchelns abzuwenden. „Vorwärts, weiße Männer!“

Aber das vorderste Pferd bäumte, es wollte nicht in die Ebene hinaustreten, — der Führer schrie laut auf — „da sind sie! — Vorwärts! Vorwärts!“

S. 135.

Die Flucht vor den Kaffern.
„Ihre Wurfspieße zischten durch die Luft, ein Wutgeheul schallte den Fliehenden nach.“

Die schwarzrote Schar mit Federschopf und Schild brach aus dem Walde hervor. Gellendes Kriegsgeschrei übertönte die Worte des Hottentotten, Ausrufe furchtbarster Wut und des Hasses erfüllten die Luft. Jetzt erst erkannten die Amakossa den ihnen gespielten Betrug, rasend vor Zorn wollten sie Rache nehmen an dem, der sie so erfolgreich zu überlisten verstanden. „Verfluchter Quaqua!“ hörte sie der Führer schreien, „der Hundesohn, der falsche Schakal!“

Seine gelben Züge wurden fahl. Er peitschte rechts und links die Tiere, daß sie zusammenschreckend in die Ebene hinausflogen, unaufhaltsam in sausendem Galopp.

Noch eine Minute, eine einzige, und die Amakossa hätten das Nachsehen gehabt. —

Ihre Wurfspieße zischten durch die Luft, ein Wutgeheul schallte den Fliehenden nach. — Keiner als nur Franz hörte den leisen Schmerzenslaut von den Lippen des Hottentotten. „Sind Sie getroffen?“ fragte er heftig erschrocken.

Die sieben Pferde sausten über die Ebene dahin wie ebenso viele jagende Schatten, lautlos mit den umwickelten Füßen, dicht gedrängt in rasender Eile, als wüßten sie, daß Leben und Tod an ihrer Schnelligkeit hing, daß alles, alles verloren sei, wenn sie jetzt strauchelten oder zögerten. —

Franz sah wie der Führer im Sattel schwankte, er umfaßte ihn mit kräftigem Arm und hörte voll Erschrecken das leise: „Lassen Sie mich liegen und fliehen Sie, — mit mir ist es aus.“

„Gewiß nicht!“ rief der warmherzige Knabe, „gewiß nicht! Karl, hilf mir, unser Retter ist verwundet. Ach, könnten wir doch anhalten!“

„Um Gottes willen nicht,“ drang es kaum verständlich über die Lippen des Hottentotten. „Mich rettet nichts mehr, — lassen Sie mich fallen.“

Aber Holm und Franz hielten dicht gedrängt von beiden Seiten den unglücklichen Mann, dessen Blut auf dem Gras die Spur bezeichnete. Heller und heller graute der Morgen, welcher diese entsetzliche Nacht vertrieb, in weiter Ferne verlor sich das Schreien der Amakossa. Immer noch flogen die Pferde dahin, bis endlich ein Dickicht von Dubabelbäumen auftauchte und Wasser und grünes hohes Gras den Blick erfrischte. Hans sah zurück. „Es ist kein Wilder mehr erkennbar, Karl,“ sagte er, „soweit das Auge trägt scheint alles leer, — laß uns anhalten.“

Der Gelbe konnte schon nicht mehr sprechen; er winkte nur, daß die übrigen fortreiten möchten; diesem Verlangen wurde aber natürlich keine Folge gegeben, vielmehr die Pferde angehalten und der Verwundete sanft auf eine schnell ausgebreitete Decke gelegt. Das Gesicht zeigte bereits jene unheimliche Veränderung, welche dem Tode voranzugehen pflegt, die breite Brustwunde entsandte rote Ströme, und das Auge war halb geschlossen. „Gottlob!“ flüsterte er, „ich habe doch — sechs Menschen —“

Seine Stimme brach, die Hand sank matt herab. Da kniete der alte Geistliche neben dem Sterbenden ins Gras und legte voll Milde seine Rechte auf die schon erkaltende Stirn. „Du hast durch deine mutige That sechs Menschen vom Tode errettet, mein Sohn,“ sagte er herzlich, „du sollst in unserer Erinnerung fortleben als der, welcher sich für uns geopfert, und möge dir der barmherzige Gott ein so gnädiger Richter sein, wie wir alle es für dich erflehen!“

In diesem Augenblick brach golden und glänzend der erste volle Sonnenstrahl aus den Wolken hervor; in unwillkürlicher Ehrfurcht hatten alle die Hüte vom Kopf genommen und umstanden wortlos das Sterbelager des Reisegefährten. Stiller wurde es, immer stiller in der keuchenden Brust, ein friedliches Lächeln umspielte die Lippen, und während der leisen, innigen Trostesworte des christlichen Priesters ging unmerklich die Seele des armen Hottentotten hinüber in das Jenseits, und die Gebete der Geretteten erflehten für ihn vom barmherzigen Vater eine selige Urstätte.

— — — — — — — — — —

Holm legte mit leiser Hand den Zipfel der Decke über das erstarrte Antlitz. „Mut!“ sagte er halblaut, obgleich seine eigene Stimme verändert und unsicher klang, „Mut, Freunde. Wir sind von hundert Gefahren umdroht, wir dürfen uns nicht beherrschen lassen, nicht schwach werden. In jedem Augenblick können die Kaffern hier erscheinen.“

Der alte Theologe hob den Kopf. „Aber unmöglich dürfen wir die Leiche hier den wilden Tieren überlassen! Was haben Sie beschlossen, mein junger Freund?“

Holm sah zum Wasser hinüber. „Zwei von uns müssen den Körper tragen, soweit der Grund des Flusses dies zuläßt und ihn dann versenken, wie ich meine. Wir besitzen kein Mittel, die Erde aufzugraben, ebensowenig aber könnten wir die Leiche mit uns nehmen,“ versetzte er.

„Das ist auch unsere Ansicht,“ nickten die Führer.

Man wusch und reinigte also nach Möglichkeit den Körper des toten Hottentotten, hüllte ihn in eine Wolldecke und band an das Ganze mehrere große Steine. Die Führer warfen ihre Leinenkleidung ab und traten in das Wasser, welches schon nach den ersten zehn Schritten zu tief wurde, um darin noch weitergehen zu können. Vorsichtig und langsam ließen sie unter dem stummen Gebet der am Ufer stehenden Weißen den Körper ihres ermordeten Gefährten hinabgleiten auf den Grund.

„Die Erde ist überall des Herrn,“ sagte laut und feierlich der alte Geistliche, „und wo ein guter Mensch begraben liegt, da halten die Engel Wache.“ —

Schweigend und ernst, noch tief erschüttert von den durchlebten Ereignissen, suchten alle ihre Pferde, und fort ging es, auf einem anderen Wege der Kapstadt wieder zu.

Fünftes Kapitel.

Für den Rückweg bis zur Kapstadt wurde natürlich eine veränderte Richtung eingeschlagen, aber obwohl auch hier manches Neue und Sehenswerte den Blicken begegnete, obwohl mehr als ein Kraal in Augenschein genommen und mehr als ein Tier erlegt wurde, so kehrte doch auf dem ganzen Wege die rechte Freudigkeit in die Herzen der Reisenden nicht wieder ein. Das jähe Ende eines Menschen, mit dem wir noch vor wenigen Stunden oder Tagen im engsten Verein lebten, führt auch den Leichtsinnigsten zur inneren Einkehr, wie viel mehr mußte sich ein solches Ereignis in den Vordergrund drängen, wo gute, fühlende Herzen von seinem Eintritt erschüttert wurden! Das Bild des stillen, feierlichen Waldrandes und der weiten Ebene zur Rechten, wie die ersten morgendlichen Sonnenstrahlen über das Wasser dahinstreiften, als der Tote zur letzten Ruhe bestattet war, — das alles hatte sich unverwischbar den Seelen der Umstehenden eingeprägt, und erst als in der Kapstadt Briefe von Hamburg die Ankömmlinge freudig überraschten, löste sich der Druck, den bisher alle empfanden. Nachrichten aus der geliebten Heimat! Nur wer in weiter Ferne allein und freudlos unter Fremden lebte, der kann ermessen, welchen Jubel ein solcher Brief hervorruft. Nicht allein Papa und Mama hatten geschrieben, auch die Schwestern und Freunde, auch Schulkameraden und Nachbarn; alle beglückwünschten die kühnen Afrikareisenden, alle baten um lange Briefe und um irgend ein interessantes Geschenk, am liebsten Photographieen von Wilden, oder sonst einen Gegenstand, den man nicht kaufen könne. Der bereits erwartete photographische Apparat mit allem Zubehör war ebenfalls wohlverpackt eingetroffen, sowie eine Sendung dicht verschlossener Metalldosen, in denen sich Gips befand, dessen Gebrauch den Knaben vorläufig noch unbekannt blieb. Holm freute sich sehr über die Ankunft desselben. „Einen Tag hindurch bei euch sein möchte ich wohl,“ schrieb Karl, Franzens Klassenkamerad vom Johanneum, „aber nicht über das Weltmeer fahren und auch nicht in Urwäldern schlafen, das muß doch schauderhaft sein! Erkältet ihr euch nicht immer dabei? Ich kann nun einmal unmöglich für solche Abenteuer schwärmen, aber Emil und Theodor und alle anderen aus Sekunda beneiden euch; Johannes will, seit er eure Briefe gelesen hat, jedenfalls Naturforscher und Afrikareisender werden, er kann kaum erwarten, bis die Zeit da ist. Eure Geschenke sind glücklich angelangt und schmücken bereits den Zoologischen Garten und das Museum, schickt nur mehr mit der nächsten Post, vor allen Dingen aber schreibt fleißig, ihr müßt aus jedem Hafen einen Brief absenden.“

Auch Doktor Bolten hatte eine längere, eingehende Mitteilung von dem Vater seiner Zöglinge. Herr Gottfried dankte ihm für das richtige Gefühl, welches in Palma den Bonnynegern, die Franz aus den Händen der Benins befreiten, ein Geldgeschenk namens der Eltern des Knaben bestimmt hatte; er erlaubte auch für künftige derartige Fälle dem würdigen Erzieher, das zu thun, was nach seiner Ansicht das Richtige sei, und so erhielten denn vor der Abreise nach Madagaskar die Hinterbliebenen des verunglückten Führers eine Summe, die wenigstens dazu angethan war, ihre äußerlichen Sorgen zu lindern. Alle Errungenschaften an Pflanzen, Blumen, zahllosen Insekten, Kerbtieren und Schlangen wurden auf das Schiff gebracht, neue Einkäufe besorgt, lange Briefe nach Hamburg geschrieben, und dann lichtete der Dampfer seine Anker, um jetzt die Inselwelt des Indischen und Großen Ozeans aufzusuchen. Zunächst durch den Kanal von Mozambique nach Madagaskar, wo an einer nur für Boote zugänglichen Bucht des am wenigsten bekannten und bereisten Teiles die Entdeckungsfahrt in das Innere wieder begann. Da die Seereise kurz und ohne Störung von statten gegangen war, so gaben sich alle mit fröhlichem Mut der Hoffnung hin, daß auch dieser Ausflug neue, reiche Schätze zutage fördern werde. Das Tier- und Pflanzenleben, die Wohnungen und die Beschäftigungsweise der Malagaschen kennen zu lernen, genügte ein Ausflug in die Dörfer des Innern, und den unternahm man, nachdem alle Vorbereitungen getroffen und einige des Weges kundige Führer gemietet waren. Durch einen dichten Wald der schönsten, verschiedenartigsten Palmen ging es auf bald bergigem, bald flachem Boden dahin; blühende Lianen schlangen sich um alle Zweige. Der Sagobaum und die giftige Brechnuß wuchsen in malerischen Gruppen, die afrikanische Palme zeigte ihren sonderbaren, einem Wickelkinde nicht unähnlichen plumpen Stamm, und endlich erschien auch die Ravinala, welche allein auf diesem Teil unseres Erdkörpers gefunden wird. Der hübsche, schlanke Baum mit emporstrebenden Stielen, die immer nur in ein einziges, breites Blatt auslaufen, heißt auch der Baum der Reisenden, und zwar weil das untere Ende jedes dieser Blattstiele eine innere Höhlung besitzt, in welcher sich klares Wasser sammelt, das ohne Mühe mittels Durchstechen der grünen Umwandung erlangt werden kann und daher den Reisenden von großem Werte ist. Unsere Freunde wollten Halt machen, um die seltsame, nur auf Madagaskar gefundene Flüssigkeit zu kosten, aber die Führer schüttelten den Kopf und deuteten auf die in der Ferne sichtbare Niederung, wo aufsteigender Rauch ein Dorf ankündigte. „Unternehmt nichts im Lande des bösen Geistes Angatsch,“ warnten sie, „berührt keinen seiner Bäume, keines seiner Tiere, ehe ihr nicht den geweihten Hahn zu eurem Schutze bei euch habt. Im Dorfe könnt ihr ihn kaufen.“

Der alte Theologe hörte mit großem Erstaunen an, was der olivenfarbige Eingeborne in schlechtem Englisch vorbrachte. „Ein geweihter Hahn?“ wiederholte er entrüstet, „was behauptest du da, mein Sohn? Ein Hahn —“

„Doktor, Doktor, wir sind in Feindes Land und müssen also klüglich seinen Sitten folgen! Wenn uns dieser gelbe Angatschgläubige als Ketzer verklagt, so werden wir möglicherweise alle in einem Tempel wie Opfertiere behandelt, lassen Sie uns lieber gütlich erfahren, was der geweihte Hahn bedeutet, und auf diese Weise unsere Kenntnisse bereichern. Sie erinnern sich ja des Hottentotten-Großvaters als Schlange, nicht wahr? und des mondanbetenden Dorfkönigs aus dem Dahomey-Lande?“

Der alte Herr lächelte wider Willen. „Aber ein Hahn!“ seufzte er.

Holm war sehr belustigt. „Was ist’s mit dem Geweihten?“ fragte er ganz ernsthaft die Führer. „Wir wollen niemandes Gefühle verletzen.“

Die Malagaschen deuteten zum Dorfe. „Alle ganz weißen Hähne sind heilig,“ erklärten sie, „aber eben darum werden sie auch von den Zauberern sehr teuer verkauft. Wer einen weißen Hahn besitzt, der ist gegen Angatschs Verfolgungen gesichert. Jeder Reisende nimmt solches Tier mit sich, und unter jedem Dache lebt eins.“

„Aha! — und auch wir können einen derartigen Beschützer erlangen?“

Die Führer hielten Rat, endlich erbot sich einer, im Dorfe den Hahn zu kaufen, worauf ihm Holm das nötige Geld einhändigte und ihn mit einer kleinen, in deutscher Sprache gehaltenen Standrede entließ. „Hole uns den Gebieter der Bilderfibel, mein Sohn, aber glaube nicht, daß du im stande seiest, uns zu täuschen. Ein ansehnlicher Obolus wird in deinen Besitz übergehen, obwohl du keine Taschen führst; vielleicht stiehlst du sogar den Meister Kikeriki vom nächsten Düngerhaufen weg, aber das thut hoffentlich in den Augen des eingebornen Satanas von Madagaskar seiner Heiligkeit keinen Eintrag. Fleuch!“

Der Malagasche verstand natürlich nicht, was ihm gesagt worden war, aber der Ton des letzten Wortes im Verein mit bezeichnender Handbewegung verrieten einigermaßen den Sinn der Worte. Er trollte sich schnellen Schrittes, indes die übrigen Halt machten, um unter den wundervollen Bäumen im Moos zu lagern.

Die Ruhe that den Reisenden wohl, und ganz gaben sie sich dem Genusse der schönen Landschaft hin, die sich vor ihren Augen ausbreitete. Unter fröhlichem Geplauder erwarteten sie die Rückkehr des Führers.

Ein langgezogenes Krähen verkündete alsbald die Nähe des zaubernden weißen Hahnes. Der Führer erschien und brachte in einem schlechtgearbeiteten Bambuskäfig das heilige Tier, indem er zugleich geheimnisvoll andeutete, daß noch ein weiteres Schutzmittel gegen den bösen Geist notwendig sei, ein Amulett, welches die Fremden auf der Stirn tragen müßten. Holm wollte natürlich auch das kaufen und erhielt nun für teuren Preis den Zahn eines Krokodils an einer mit Glasperlen verzierten Schnur. „Jetzt seid ihr sicher, Fremdlinge,“ erklärte der Malagasche, dem ein Geschäft mit den Weißen noch nie so leicht gewesen sein mochte, „jetzt ist Angatsch ohnmächtig gemacht und der Riese Darafif, der Sohn Zannaars des Weltgeistes, euer Freund geworden. Der weiße Hahn blendet die Blicke aller Häuptlinge, daß sie euch die Hände reichen und euch Brüder nennen, der weiße Hahn lähmt die Sinne der Wildschweine, daß sie sich taumelnd in eure Spieße stürzen.“

Holm hörte zu, ohne eine Miene zu verziehen. „Lacht nicht, Kinder,“ ermahnte er in deutscher Sprache, „lacht nicht. Die Malagaschen sind als hinterlistig und äußerst rachsüchtig bekannt, sie möchten uns hier inmitten ihrer Urwälder empfindlich strafen, wenn wir sie beleidigen würden.“

Er dankte den Eingebornen, und nun erst konnte das Wasser des Ravinala probiert werden, ebenso die Früchte des Brotbaumes und die vielen wildwachsenden Beeren. Langsam wanderten die Reisenden dem Dorfe entgegen, das ihnen bei näherer Betrachtung durch irgend ein außerordentliches Ereignis in Aufregung versetzt zu sein schien. Den Mittelpunkt der Niederlassung bildete ein großer, versumpfter See, an dessen einem Rande sich die Hütten erhoben, und wo jetzt Hunderte von Menschen durch einander liefen. Schon der erste Blick zeigte, wie hoch über den wilden Negerstämmen die Malagaschen stehen. Sie alle waren in weite, faltenreiche Gewänder gehüllt, trugen zum Teil sogar Hüte und bewohnten geräumige, runde, mit Palmenblättern gedeckte Hütten, welche mit ihren hölzernen Einfriedigungen einen guten Eindruck machten. Sogar Thüren von genügender Höhe fanden sich, Hunde, Hühner und Schweine hatten ihre abgesonderten Stallungen und um die Hütten herum grünten und gediehen zahlreiche Anpflanzungen.

Wie ein wahres Gegenstück zu diesem friedlichen Bilde erschien der Anblick des Sumpfes, aus dessen trüben Fluten große Krokodile ihre greulichen Rachen erhoben. Nur die kleinen tückischen Augen verrieten durch ihr Blinzeln, daß diese Masse lebe. Überall zeigten sich die gefährlichen Bestien; der See mochte mehr als fünfzig beherbergen, ja sogar in einem breiten Flusse, der mit dem stehenden Gewässer nicht weit vom Dorfe in Verbindung trat, schwammen noch die häßlichen Geschöpfe, so daß Holm voll Erstaunen den englisch sprechenden Führer fragte, weshalb man es unterlasse, sich dieser Raubgesellschaft auf kürzestem Wege zu entledigen. Aber der olivenfarbige Mann antwortete kopfschüttelnd: „Das verstehst du nicht, Fremder. Die Tiere haben hier das Richteramt im Dorfe, sie sind unverletzlich; wir füttern sie und bezeugen ihnen die größte Verehrung. Siehst du nicht dort am Ufer die versammelte Menge?“

„Freilich. Aber was treiben diese Leute?“

„Ein Sklave steht im Verdacht des Diebstahls, Fremder. Die Krokodile werden also zu Gericht sitzen und entweder seine Unschuld beweisen oder ihn strafen, wie es sich gebührt.“

„Das heißt — den Unglücklichen fressen?“

„Wenn er wirklich gestohlen hat, ja.“

„Ein Gottesurteil in aller Form also. Wie tief doch bei jedem, auch dem wildesten, niedersten Volke der Zug nach dem Anlehnen an ewige, wandellose Mächte im Charakter begründet liegt! Es hat noch keine Nation versucht, sich ohne Götter oder Göttliches zu behelfen. — Aber“, fügte der Doktor gegen den Eingebornen hinzu, „ist nicht durch diese seltsamen Richter der Angeklagte in allen Fällen überführt? Habt ihr schon erlebt, daß die Krokodile Barmherzigkeit übten?“

Der Eingeborne wiegte den Kopf. „Nur sehr selten, Fremder, das ist wahr, aber — die Sklaven sind auch außerordentlich diebisch.“

Während dieser Worte hatte sich die kleine Gesellschaft dem Dorfe bis auf hundert Schritt genähert. Rechts von ihnen flutete der See mit seinen greulichen Bewohnern, links lag der Wald und geradevor die regelmäßig erbaute Hüttenreihe. Aller Augen blickten den Weißen entgegen; Frauen mit kleinen Kindern auf den Rücken liefen sogar neugierig herbei und stellten Fragen jeder Art; nur eine Gruppe vor dem See blieb ganz abgesondert; wie es schien, in sehr ernster Verhandlung begriffen. Ein älterer Mann in weißer Kleidung, umgeben von mehreren anderen, und ein jugendlicher, an Händen und Füßen gefesselter, ganz nackter Bursche bildeten die handelnden Personen des Trauerspieles, das hier seinen Anfang nahm. Eine lautgesprochene, den Reisenden natürlich unverständliche Frage schallte über das Wasser dahin, — der Führer wiederholte auf englisch die Worte. „Im Namen Zannaars des Weltgeistes und seines Sohnes Darafif, des Riesen, frage ich dich, hast du deinem Herrn das gewirkte, rote Tuch gestohlen oder nicht?“

Der Sklave schüttelte den Kopf. „Nein. Möge mich Angatsch verschlingen, wenn ich schuldig bin. Ich habe das Tuch nicht berührt.“

Der alte Malagasche, offenbar das Oberhaupt des Dorfes, sprach nochmals. „Wir glauben, daß du lügst, um dich zu retten, Rua-Roa,“ versetzte er. „Die heiligen Krokodile müssen also entscheiden zwischen dir und uns. Nehmt ihm die Fesseln ab!“ setzte er gegen seine Begleiter gewendet hinzu.

Die Seile aus Bast wurden von den Gelenken des jungen Burschen entfernt; dann ergriff ihn der Ankläger am Arm und trat so mit ihm aus dem Kreise der übrigen heraus bis nahe an den Rand des versumpften Sees. „Hört mich, ihr heiligen Krokodile“ — übersetzte der Führer — „hört mich, Boten des mächtigen Zannaar, und leiht ein gnädiges Ohr meiner Bitte. Ihr seid dem Volke der Hovas gesandt als Verkünder für die Beschlüsse des Weltgeistes, ihr werdet auch heute verkünden was recht ist. Wenn dieser Sklave das Tuch nicht gestohlen hat, so laßt ihn ungefährdet das Ufer wieder erreichen; wenn er aber ein Dieb ist, dann straft ihn nach Recht und Billigkeit.“

Eine Handbewegung zeigte dem Burschen, daß der Augenblick jener entsetzlichen Entscheidung durch die Bestien nunmehr gekommen sei; vielleicht glaubte aber auch er ganz fest an die Gerechtigkeit ihres Urteils, vielleicht fühlte er sich sicher geborgen im Bewußtsein vollkommener Schuldlosigkeit, genug er erhob unter dem tiefsten Schweigen sämtlicher Zuschauer beide Arme über den Kopf und stürzte sich in das hochaufspritzende Schlammwasser. Wenige Augenblicke später sahen alle den schlanken, olivenfarbigen Körper langsam auf der Oberfläche dahingleiten.

Die Augen des älteren Knaben glühten, er hatte wie halb unbewußt das Gewehr von der Schulter genommen. „Noch sehe ich keines dieser Ungeheuer sich bewegen,“ flüsterte er in gepreßtem Tone.

„Franz,“ warnte Holm, „du darfst unter keiner Bedingung schießen, mein Junge. Was hier geschieht, das empört sicherlich uns alle, aber eine Einmischung in derartige, das Rechts- und Glaubensleben des Volkes berührende Angelegenheiten wäre verhängnisvoll. Tötest du eines der Krokodile, so ist noch ein halbes Hundert übrig, um den unglücklichen Knaben zu zerreißen — uns aber würde man höchstwahrscheinlich auch den heilig gehaltenen Bestien als Futter vorwerfen.“

Franz sah starr auf das Wasser. „Es ist eine Abscheulichkeit,“ murmelte er. „Ich könnte dem armen Schelm nachspringen, um ihn zu retten.“ Dabei verwandte er aber keinen Blick von dem langsam schwimmenden Malagaschen, der jetzt die Hälfte seiner Bahn bereits durchmessen hatte und dem mehrere Krokodile anscheinend ohne mörderische Absicht folgten. Ein fester Entschluß lag auf seiner Stirn, er hielt die Finger am Drücker.

Selbst der schüchterne Hans war entrüstet wie nie. „Lieber Herr Doktor, helfen Sie doch dem armen Menschen,“ bat er dringend. „Papa bezahlt es gern, wenn sie seinem grausamen Besitzer eine Summe bieten, um ihn zu kaufen und zu befreien. Soll man denn nicht das Böse überall, wo es uns entgegentritt, bekämpfen?“

„Natürlich!“ murmelte Franz. „Natürlich, und ich werde mich auch nicht hindern lassen, das zu thun, was ich für recht halte.“

Der alte Herr ging geraden Weges zu jener Gruppe des Häuptlings oder Zauberers, wo vorhin die Verurteilung des Sklaven stattgefunden hatte. „Leute,“ rief er in englischer Sprache, „Leute, was thut ihr? Bedenkt, daß das Leben dieses Kindes verloren ist, wenn ihr ihm nicht schleunigst zu Hilfe kommt, und daß die Verantwortung auf euch zurückfällt! Ich will den Sklaven kaufen, befehlt ihm, so schnell als möglich an das Ufer zu schwimmen.“

Finstere Blicke antworteten ihm. „In was mischest du dich, Fremder?“ fragte grollend der weißgekleidete Alte. „Ich bin der Priester dieses Stammes und stehe hier im Namen Zannaars des Weltgeistes, der die Sünde strafen will.“

Doktor Bolten streckte die Hand aus. „Zannaar in deiner und Gott in meiner Sprache!“ rief er, „aber immer ein Wesen voll Gerechtigkeit und Erbarmen, das solche Greuel strafen und verabscheuen muß. Dein —“

Der Knall eines Büchsenschusses zerriß die Stille, vom Wasser her tönte ein gellender Aufschrei, der in Hunderten von Kehlen sein Echo fand. Sprachlos mit beschwörend erhobenen Armen starrte der Priester auf den See, wo jetzt der braune Knabe in schnellerer Bewegung dem rettenden Ufer zueilte, wo aber auch eine Blutlache und ein Toben und Ringen unter dem Wasser nur zu deutlich verriet, daß eins der heiligen Tiere getroffen war und sich sterbend im Schlamm wälzte. Von allen Seiten stürzten aufgeregte erbitterte Menschen den drei Weißen entgegen, vergeblich bemühte sich der Führer, Frieden zu stiften; wie eine Lawine vergrößerten sich die andrängenden Massen; Drohworte wurden laut und in weniger als einer Minute waren den drei wehrlosen jungen Leuten die Waffen entrissen.

Franz hatte seine Absicht ausgeführt. Als eins der Krokodile den Rachen aufsperrte, um das geängstigte Opfer zu verschlingen, da legte er gedankenschnell das Gewehr an die Wange und traf als geübter Schütze das Auge der Bestie, so daß sie schnaufend zusammenbrach und rings umher das Wasser mit ihrem Blute färbte. Der Malagasche schrie vor Entsetzen, mehr erschreckt durch den plötzlichen Schuß als durch die anwesenden Krokodile, dann aber floh er alles vergessend, so schnell es seine Kräfte erlaubten, dem Lande zu. Vielleicht waren von dem ungewohnten Ereignis auch die Tiere in Verwirrung geraten, sie tauchten in den Schlamm und versuchten keine weitere Jagd. Noch eine Minute, dann sprang der gerettete Knabe unversehrt an das Ufer.

„Gottlob!“ rief Franz. „Das abscheuliche Verbrechen wäre vereitelt.“

„Aber um teuren Preis. Ich glaube nicht, daß einer unter uns mit dem Leben davon kommt! — O Franz, Franz, was hast du gethan?“

„Das Rechte!“ rief ungestüm der Knabe. „Ich fürchte mich nicht.“

Er versuchte keinen Widerstand, als ihm und den übrigen die Hände auf den Rücken gebunden wurden. „Nur zu, das soll euch schlecht bekommen, ihr Mordgesellen,“ rief er. „Unmöglich kann Gott dem Bösen den Sieg verleihen.“

Von einer heulenden, schreienden und schimpfenden Menge umdrängt, von geballten Fäusten und wutblitzenden Augen bedroht, wurden die drei zum Dorf geführt, wo ihnen der alte Zauberer mit ebenfalls hocherhobenen Händen entgegen kam; der Volkshaufe tobte und verlangte, daß zur Sühne für den Tod des einen Raubtieres die Gefangenen den anderen als Futter vorgeworfen würden und zwar auf der Stelle. Aber der Zauberer schüttelte dazu den Kopf. „So lange sie den weißen Hahn besitzen, sind die Fremden unverletzlich,“ erklärte er, „auch muß Zannaar das Zeichen geben, ehe wir die Strafe vollstrecken können. Lani-Lameh (damit meinte er sich selbst) wird die Götter herbeirufen und ihren Entschluß vernehmen.“

Holm lächelte, als ihm der Führer die Übersetzung dieser letzteren Worte heimlich zuflüsterte. „Lani-Lameh scheint ein großer Schlauberger zu sein,“ sagte er auf deutsch. „Vielleicht bestimmen ihn die Götter, uns rein auszuplündern und laufen zu lassen, ohne daß nachher der beschränkte Unterthanenverstand erfährt, wer das eigentlich bekommen hat, was in unseren Taschen vorgefunden wurde. Einstweilen schützt uns noch der weiße Hahn.“

„Wenn wir unsern Führer bestechen könnten!“ meinte der Doktor. „Er kümmert sich offenbar um den Tod der Bestie nicht im geringsten. Vielleicht ist er ein Christ!“

„Vielleicht aber auch ein Verräter!“ warnte Holm. „Er zieht im Lande umher ohne bestimmten Wohnsitz, er kennt alles und alle, dient Fremden als Führer und möglicherweise den Zauberern als Spion. Die Malagaschen sind längst keine Wilden mehr.“

„Ich möchte nur eins wissen,“ seufzte Hans, „ob uns vor der Hinrichtung gestattet wird, einen Brief nach Hamburg zu schreiben?“

S. 145.

Der verhängnisvolle Schuß am Krokodilteiche.
„Der Knall eines Büchsenschusses zerriß die Stille, vom Wasser her tönte ein gellender Aufschrei ...“

„Und ich, ob der Kapitän und der alte Witt ruhig die Hände in den Schoß legen, wenn wir nicht morgen abend verabredetermaßen wieder an Bord sind!“ rief Franz.

„Ruhig, Kinder,“ ermahnte Holm. „Da das Urteil nicht sofort und unter dem Einfluß des erbitterten Volkes zur Vollstreckung gelangt, so ist noch Hoffnung vorhanden. Fürs erste bin ich gespannt, ob man uns den Hahn wegnimmt!“

Das geschah nicht. Die vier Gefangenen wurden in eine leere Bambushütte am äußersten Ende des Dorfes einquartiert, und der Hahn blieb einstweilen in ihrem Besitz. Schwarze und rote Decken aus Pflanzenfasern, ein paar Körbe für Lebensmittel und ein plumpes, eisernes Gefäß für Trinkwasser bildeten die einzige Ausrüstung; Fenster waren nicht vorhanden, dagegen aber gestatteten die Fugen zwischen den Bambusstäben sowohl der Luft als auch dem Blick einen ungehinderten Durchgang, so daß wenigstens für die unentbehrlichsten Lebensbedürfnisse, Luft, Licht und Wasser, einigermaßen gesorgt war. Was es nun freilich zu beißen gab, das blieb noch dahingestellt.

Lani-Lameh näherte sich in Begleitung des Führers, der ihm als Dolmetscher diente, und der in seinem Namen die Weißen aufforderte, all ihr bewegliches Besitztum herauszugeben. Taschenmesser, Kamm, Spiegel und Portemonnaie mit Inhalt wanderten in das Körbchen, welches der heilige Mann am Arm trug, ehe sich derselbe jedoch von seinem Gefährten trennte, gab er diesem mit schneller, heimlicher Bewegung ein paar Goldstücke, — die Gefangenen sahen es und wechselten einen bedeutsamen Blick. Man konnte also dem schlauen Gelben keinesfalls trauen.

Die Thür der Hütte wurde verschlossen und mit mehreren starken Eisenriegeln noch obendrein von außen verwahrt, der Volkshaufe, welcher anfänglich das Gebäude umtobte und umheulte, begann sich zu verlaufen, und leise sanken die Schatten der Nacht herab. Es war ganz still in dem engen, von leichtem Luftzug fortwährend durchwehten Raum, nur der Hahn krähte zuweilen — vielleicht begriff er nicht, wo so plötzlich die Schar seiner Hennen, wo die köstliche Freiheit seines Düngerhofes geblieben war.

Holm streichelte das schneeweiße Gefieder. „Kann ich es machen, so sollst du mit uns nach Hamburg zurück,“ sagte er. „Ohne deine schützende Nähe war unser Leben der Volksjustiz längst verfallen. “

Franz rüttelte an allen Stäben. „Ob wir nicht fliehen können, Karl?“

„Siehst du denn nicht draußen den Hüter? — Ich möchte übrigens wissen, was dieser Bursche betreibt!“

„Er schmiedet!“ erklärte Hans. „Vor sich hat er auf ein paar großen Steinen ein Reisigfeuer, und auf einem anderen flachen Stein hämmert er. Was er macht, sind Löffel.“

„Ich sehe von dieser Seite mehrere Männer bei einer derartigen Arbeit,“ bemerkte der Doktor. „Einer hält das glühende Eisen, und zwei andere schlagen taktmäßig, ja sie haben wahrhaftig sogar einen Blasebalg aus Bambusstäben und plumpen, hölzernen Cylindern. Wären nicht die Leute halbnackt, so könnte man glauben, eine deutsche Dorfschmiede zu sehen.“

„Es wird dunkel,“ schauderte Hans. „Wie sonderbar ist doch das Gefühl, ein Gefangener zu sein.“

„Still, — es kommt jemand.“

Die Thür öffnete sich, und ein Mann legte schweigend ein großes Stück Fleisch sowie vier schwarz aussehende Gegenstände auf den Boden der Hütte; dann entfernte er sich sogleich, ohne irgend ein Wort gesprochen zu haben. Holm nahm eines dieser runden, etwa zolldicken und tellergroßen Stücke in die Hand. „Ach,“ rief er, „ich weiß schon, das ist ein Mückenkuchen!“

„Um des Himmels willen! Und den sollten wir essen?“

„Der Hunger wird’s schon eintreiben, Freund Franz. Weshalb schossest du auf den Kaiman?“

„Weil ich einen Mord verhindern wollte, und das ist mir auch gelungen.“

„Gut, dafür speisen wir Heuschreckenkuchen. Ich habe übrigens mehrfach gehört, daß diese schwarzen Pasteten recht gut schmecken.“

Er griff in die Tasche, um das Messer hervorzuziehen; dann aber, nachdem er den Irrtum erkannt, schloß er die Augen und biß tapfer in das große Brot hinein. „Oho, meine Herrschaften, Sie werden sich wundern! — Als wäre es der feinste Kaviar aus Heimerdingers Delikatessenhandlung.“

Er aß mit lebhaftem Appetit und verlockte dadurch auch die anderen, das fremdartige Gebäck zu probieren. Es schmeckte salzig und scharf, aber durchaus nicht unangenehm. „Komm her, Franz,“ fuhr er fort, „das Fleisch müssen wir auf Tigermanier zerlegen.“

Die Knaben lachten, auch der Doktor biß endlich mit in das gutgekochte Schweinefleisch hinein, und zuletzt machte der Wasserkrug die Runde. Holm hatte seinen Zweck erreicht, es war wenigstens auf den ersten Schrecken einige Ruhe gefolgt und durch die guten, ausgiebigen Nahrungsmittel auch für Erhaltung der Kräfte gesorgt. Obgleich er im innersten Herzen von dem günstigen Ausgang der Sache keineswegs überzeugt war, so wollte er doch seine Besorgnisse lieber allein tragen, als auch die Knaben dadurch beunruhigen. Mochten sie jetzt schlafen, — vielleicht brachte ja schon der nächste Morgen das Todesurteil.

Es wurde still ringsumher, auch der Schmied hatte aufgehört zu hämmern, die Stimmen im Dorfe waren verhallt, und hoch am Himmel glänzte der Mond. Aus dem Schlammwasser krochen die Krokodile hervor, um schwerfällig am Ufer zu spazieren, immer mehr und mehr, gewiß fünfzig bis sechzig an der Zahl, eins noch größer, noch scheußlicher als das andere, — Holm schauderte. Diese Ungeheuer lebten von Menschenfleisch, sie wurden ernährt mit den Körpern armer Opfer, die einem schrecklichen, heidnischen Irrwahn als Gegenstand dienten. Wer in irgend einem Verdacht stand, wen der Zauberer aus dem Wege schaffen wollte, oder wer sich als verachteter, rechtloser Sklave der Grausamkeit seines Besitzers nicht zu erwehren vermochte, der verfiel dem Urteilsspruch dieser Bestien, die sich träge und satt von Menschenblut im Sumpfe dehnten und alljährlich an Zahl bedeutend zunahmen.

Wenn er dachte, daß die beiden Knaben, diese jungen, glücklichen Kinder, die Söhne eines reichen, ja fürstlichen deutschen Handelshauses, auf so schreckliche Weise den Tod finden sollten! Seine Finger umklammerten mit eisernem Griff die Bambusstäbe, aber er fühlte, daß der Versuch, das biegsame Holz zu zerbrechen, vergeblich sei. Seufzend warf er sich auf die Matte.

Da reichte ihm Doktor Bolten die Hand. „Rufe mich an in der Not, und ich will dich erretten!“ — sagte leise mit eindringlichem Tone der Greis.

Holm wandte erschüttert bis ins tiefste Herz das Gesicht gegen die Bambuswand.

— — — — — — — — — —

Der nächstfolgende Morgen brachte keine Veränderung, auch der lange, unendlich lange Tag schlich dahin, ohne daß irgend jemand die Gefangenen besucht hätte. Das Fleisch und der Mückenkuchen waren verzehrt, das Trinkwasser ging zur Neige; wieder brach die Nacht herein, wieder wurde es dunkel und verstummte das Leben des Tages. Und doch befanden sich die vier Unglücklichen im Zustande fortwährender Aufregung, doch erwarteten sie beständig nahende Schritte, horchten bei jedem Laut und erschraken heimlich, so oft einer der Eingebornen in die Nähe kam.

Während der zweiten Nacht schlief keiner. Ein furchtbares Gewitter schüttelte die Baumriesen des nahen Waldes, pfeifend heulte der Sturm, und von Zeit zu Zeit brach mit donnergleichem Krachen ein alter Stamm, den Blitz oder Windsbraut erfaßt, zu Boden. Aufgeschreckte Affen flohen kreischend hinaus auf die Ebene, eine Büffelherde zog in eiligem Galopp vorüber, und strömend rauschte der Regen. Es war so recht eine Nacht, um im sicheren, gemütlichen Heim nahe an einander zu rücken und dem Singen und Heulen des Sturmes zu lauschen; es war aber auch eine Nacht, um die Herzen der Gefangenen zur Mutlosigkeit herabzudrücken und sie mit den düstersten Ahnungen zu erfüllen. Was würde der nächste Morgen bringen?

Holm glaubte alle Hoffnung aufgeben zu müssen. Lani-Lameh konnte aus mehr als einem Grunde nicht daran denken, seine Gefangenen wieder freizugeben, wenn er nicht die eigenen Interessen auf das schwerste gefährden wollte. Hier im westlichen Innern der Insel war überhaupt der einzige Punkt, wo noch das Heidentum regierte, wo die Christuslehre bis jetzt nicht festen Fuß fassen konnte, und wo also für ihn, den Zauberer, Wahrsager oder Götzenpriester, allein noch der Weizen in Blüte stand. Er mußte sich folgerichtig gegen das Vordringen der Kultur wie gegen seinen schlimmsten Feind verteidigen und durfte daher die Tötung des heiligen Krokodiles nicht ungerächt hingehen lassen. Der schlaue Geselle fürchtete nebenbei auch die Weißen, welche nur der Tod verhindern konnte, das auszuplaudern, was sie hier gesehen hatten.

Schon am folgenden Morgen zeigte sich die Richtigkeit dieser Schlußfolgerungen. Man brachte den Weißen Speise und Trank, befahl ihnen sich zu waschen und alsdann auf den freien Platz in der Mitte des Dorfes zu erscheinen. Die Thür des Gefängnisses blieb offen, trotzdem aber war an keine Flucht zu denken, denn eine ununterbrochene Kette von Bewaffneten umgab von drei Seiten die kleine Niederlassung, während vorn die greulichen Rachen der Krokodile wie eine unübersteigbare Mauer den Weg versperrten.

Draußen glänzte nach dem nächtlichen Gewitter die Natur in doppelter Schöne. Überall grünte und blühte die üppige Prachtfülle des Südens, überall lag auf der Szene jener goldene Sonnenzauber, der erst die Schöpfung zu erwecken scheint. Tauben in zahllosen Arten bevölkerten die Gehöfte, große Schmetterlinge wiegten sich auf Blumen und Hunderte von Singvögeln schmetterten in jubelhellem Chor. Es war hart, nach erdrückender Gefangenschaft in solchen Morgen hinauszutreten, um aus dem Munde heidnischer Barbaren das Todesurteil zu vernehmen, um zu erfahren, daß dieser Tag der letzte sei vor einer Hinrichtung, die an Abscheulichkeit und nichtswürdiger Brutalität von keiner anderen übertroffen werden konnte. Es war hart, aber dennoch bewahrten die Weißen alle Würde und Ruhe ihrer Nationalität. Sie hatten beim Hinaustreten auf die Dorfstraße einander nur stumm die Hand gedrückt; auch jetzt gingen sie schweigend durch die friedliche, malerisch belegene Niederlassung bis an den Punkt, wo ein zweiter, engerer Kreis von Bewaffneten eine Gruppe umschloß, in deren Mitte gebieterisch der Zauberer stand. Lani-Lameh erwartete mit fünf Beisitzern dieses schauerlichen Gerichtes die Gefangenen; er hatte sich in ein langes, scharlachrotes Gewand gehüllt, auf dem Kopfe trug er einen spitzen, mit goldenen Schnüren und Troddeln umwickelten Hut, ein goldenes Band hielt die Falten in Gürtelform zusammen. Die anderen Richter waren ähnlich gekleidet, nur fehlte bei ihnen das Gold, während die gemeinen Krieger überhaupt nichts trugen, als eine Art von formlosem Hemd aus Grasfasern und die langen Wurfspieße, hier Sagaien genannt.

Einer derselben hatte aus dem Gefängnis den weißen Hahn herbeigeholt und setzte jetzt den Käfig desselben zu Füßen Lani-Lamehs auf den Boden.

Das Tier krähte laut und lustig, wahrscheinlich um in seiner Weise den wundervollen Morgen zu begrüßen.

Lani-Lameh erhob die Hand. „Vom Abendlande her kommen die Ungläubigen,“ sagte er mit lauter Stimme, während der Dolmetscher jedes Wort übersetzte, „sie drangen mit ihren Feuerwaffen in das Land der Hovas und nahmen keinen Anstand, den großen Geist Zannaar und den Riesen Darafif, seinen Sohn, auf das empfindlichste zu beleidigen, indem sie den Gesandten der Gottheit, den heiligen Kaiman erschossen. Lani-Lameh hat die Geister gerufen und sie gefragt, welche Strafe den Übelthätern zu teil werden sollte; er warf sich vor den Unsterblichen auf sein Antlitz und beschwor sie, die Stimme des Priesters zu hören. Zannaar, der große Geist der Welt, befahl den Wolken, das Land mit Wasserfluten zu übergießen, er sandte den Sturm und den Blitz, um die Menschen zu erschrecken, und redete mit der Stimme des Donners. Lani-Lameh verstand den Beschluß des großen Geistes! Die vier Übelthäter sollen dem Gericht der Krokodile überliefert werden,“ sprach er. „Sie sollen den See zweimal durchschwimmen, nachdem die heiligen Tiere während eines Tages und einer Nacht kein Futter mehr erhalten haben. Wer von ihnen auf diesem Wege lebend das Ufer wieder erreicht, der möge gehen, wohin es ihm beliebt. Die Götter haben ihn freigesprochen.“

Nachdem der Zauberer mit lauter Stimme diese Worte vorgebracht und dabei das Gewitter der letzten Stunden für seine Zwecke klüglich ausgebeutet hatte, nahm er den Käfig vom Boden und ließ den weißen Hahn herausfliegen. „Jetzt seid ihr rechtlos,“ schloß er, „Zannaar hat euch verlassen und Angatsch der Böse Besitz genommen von eurem Schicksal. Morgen mit Sonnenaufgang wird das Urteil vollstreckt werden.“

Eine Handbewegung gebot einigen Kriegern, die Gefangenen wieder in ihre Hütte zurückzuführen, der Hahn flatterte, immer noch vergnüglich krähend, zu seinen Genossen in das Dorf, und unsere vier Freunde wanderten in das Gefängnis, dessen Thür sich für sie jetzt nur noch ein einziges Mal öffnen sollte. Wie blaß die Knaben waren, und wie ernst der Doktor aussah. Holm ging von einem zum anderen, um zu trösten. „Noch haben wir fast volle vierundzwanzig Stunden,“ sagte er, „wer weiß, was geschieht! Der Tod war uns ja auf dieser Reise schon mehr als einmal um Haaresbreite nahe, wir sind dem Orkan und den reißenden Tieren, wir sind den afrikanischen Wilden entgangen, — wer weiß, was geschieht!“

„Aber woher sollte die Rettung kommen?“ fragte Hans. „Wir sind verloren, Karl, wir müssen sterben, ohne daß irgend jemand von den Unsrigen erfährt, wie und wo wir zu Grunde gingen. Der Kapitän wird nach der Hauptstadt fahren und dort den deutschen Konsul benachrichtigen; man wird die Insel durchforschen und überall fragen, wo wir blieben; aber niemand gibt die Antwort, niemand bringt Kunde nach Hamburg. O es ist entsetzlich, viel entsetzlicher als der Tod im Kampfe gegen wilde Tiere.“

Holm streichelte das blasse Gesicht des Knaben. „Schon in dieser Rechnung ist das Fazit ein voreiliges, mein Junge,“ sagte er freundlich. „Gesetzt, daß das Schlimmste wirklich geschähe, — könnte und würde dann nicht höchstwahrscheinlich wenigstens einer unter uns gerettet werden? — Das gäbe zwar den Getöteten das Leben nicht zurück, aber es würde doch zur Sühne für ihre Ermordung genügen. In weniger als Jahresfrist wären deutsche Kriegsschiffe hier, um Rechenschaft zu fordern.“

Franz erhob plötzlich den Kopf. „Ich glaube noch nicht, daß wir sterben müssen, Karl,“ rief er. „Ich kann es nicht glauben, — Gott darf es nicht zulassen, er —“

„Still, mein Sohn, du vermißt dich! Gewiß war deine Absicht eine reine und gute, eine solche, die auch vor den Augen des höchsten Richters Gnade finden wird, gewiß glaubtest du das Rechte zu thun, weshalb dir, wie du weißt, deine Erzieher keinerlei Vorwürfe gemacht haben; aber doch mischtest du dich unberufen in die Verhältnisse eines wilden Volks, erlaubtest dir einen Eingriff in die Empfindungen anderer, das war menschlich aber unklug. Bitte Gott, mein lieber, warmherziger Junge, aber fordere nicht, und vor allem laß uns die Stunden, welche vielleicht auf Erden unsere letzten sind, nicht durch persönlichen Groll entweihen.“

Niemand antwortete dem alten Geistlichen; jeder war zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, zu sehr erschüttert, um sprechen zu können; auch das Essen blieb unberührt stehen, und als der Abend herabsank, setzten sich die Unglücksgefährten so nahe als möglich neben einander auf eine Matte, um noch, so lange ihnen Zeit blieb, einer dem anderen ein freundliches Wort zu sagen und vor allen Dingen gewissermaßen das Haus zu bestellen, ehe es an das Verlassen desselben ging. „Werdet ihr gerettet, so grüßt zuerst meine Mama, dann die übrigen!“ bat Hans.

Der alte Geistliche hielt mit beiden Händen die der Kinder, welche er erzogen. „Meiner harrt zuhause in Hamburg kein trauerndes Herz,“ sagte er, „um mich wird niemand weinen, niemand Kummer fühlen. Sorgt, wenn ihr glücklich in die Heimat zurückkehrt, daß das, was ich an irdischen Gütern hinterlasse, irgend einer milden Stiftung zufällt, am liebsten einer Freischule oder einem Stipendium. Ich — —“

Franz umklammerte aufschluchzend mit beiden Armen seinen geliebten Lehrer. „Sie sterben nicht, Herr Doktor, Sie sterben nicht!“ rief er, „ich bleibe bei Ihnen und verteidige Sie mit meinem Leben, ich gebe Ihnen Zeit, den Ungeheuern zu entkommen.“

„Das versprechen auch wir,“ riefen in einem Atem die beiden anderen. „Sie sollen in unserer Mitte bleiben, lieber Herr Doktor, wir schützen Sie so lange als nur möglich.“

Der alte Geistliche legte im Dunkel der Hütte seine beiden Hände auf die Köpfe der jungen Leute. „Seid gesegnet, meine Kinder,“ sagte er mit erstickter Stimme. „Es wird geschehen nach Gottes Ratschluß, der Herr wird alles wohl machen.“

Draußen an der Bambuswand regte sich’s. Wie leises Flüstern tönten Menschenstimmen, und vernehmlich klang es durch die Spalten „Hummel! — Hummel!“[1]

[1] Schlagwort der Hamburgischen Schifferkreise.

Die vier Unglücksgefährten glaubten zu träumen. Was war das? — Hatte die Aufregung ihre Nerven so überreizt, daß sie die Stimmen ihrer weit entfernten Freunde wie aus unmittelbarer Nähe zu hören vermeinten?

Franz schauderte. „Klang das nicht, als hätte das der alte Witt gesagt?“ flüsterte er. „Hummel! — Hummel! — das war ein Abschiedsgruß aus der Heimat.“

Holm stand auf und trat an die Wand. Draußen sah man nichts, es war unmöglich, durch die engen Spalten hindurch irgend etwas zu erkennen. „Wer da?“ rief er leise, mehr auf das gute Glück hin, als wirklich im Glauben, irgend jemand anzureden. „Wer da?“

„Gut Freund, Herr Holm! — Nur stille, hören Sie, daß die Schwerenöter nichts merken. Sie sind doch alle wohlauf?“

Im Dorf krähte mit heller Stimme ein Hahn. War es der weiße? — Sein Schmettern klang wie „Wohlauf! — Wohlauf!“

Eine Hand hatte die Riegel der Hütte hinweggezogen. Einer nach dem andern traten die dunkeln Gestalten unter das Bambusdach, zwölf bewaffnete, mit Kugelbüchsen, Revolvern und Enterbeilen versehene Männer, die gekommen waren, um ihre bedrängten Freunde zu erlösen. Nur der Kapitän und vier Matrosen waren als notwendigste Besatzung an Bord des Dampfers geblieben, alle übrigen zogen durch den nächtlichen Wald, fest entschlossen, die Gefangenen zu befreien oder mit ihnen unterzugehen. — Und draußen vor der Thür stand noch einer, ein schlanker, dunkeläugiger Knabe, der die Retter hierhergeführt, der sein eigenes Leben gewagt hatte, um der heiligen Pflicht der Dankbarkeit zu genügen, Rua-Roa, jener verurteilte Sklave, den Franz mit seinem plötzlichen Schuß von den Krokodilen erlöste. Jetzt bewachte er sowohl den Eingang zur Hütte, als auch den geknebelt und gebunden am Boden liegenden Hüter, der von unseren braven Hamburger Teerjacken im halben Schlummer so energisch überrumpelt worden war, daß ihm keine Zeit blieb, auch nur den kleinsten Schrei auszustoßen. Rua-Roa zitterte im Gedanken, daß ein einziger Zufall alles verraten könne.

„Schnell! Schnell!“ ermahnte er.

Aber die da drinnen hörten ihn nicht. Es war wie ein Rausch über ihre Sinne gekommen, wie ein Taumel, sie sprachen in abgebrochenen Lauten und waren kaum fähig, zusammenhängend zu denken. Nur der alte Witt trieb zur Eile. „Da hast du eine Kugelbüchse, Zackermentsjunge, ich habe sie ausdrücklich für dich über alle diese vermaledeiten Baumwurzeln und Ranken geschleppt, — ist doch ein schauderhaftes Vergnügen, so bergauf und bergab durch den Wald zu klettern. — Na, schon gut, da braucht’s gar keinen Dank und keine Rührung, deucht mich; oder hättest du etwa ruhig zugesehen, Junge, wenn die Menschenfresser zufällig über mich, anstatt über dich selbst hergefallen wären?“

„O ich wußte es ja, ich wußte es ja, wir sind gerettet!“

Und Franz sprang von einem zum andern, unfähig, seinem Jubel zu gebieten. „Wollen wir Lärm schlagen?“ rief er übermütig, „die gelben Halunken mit ihrem Oberhaupt, dem Lügenpriester, zu Paaren treiben und alle Krokodile erschießen?“

„Franz, Franz, — und das im ersten Augenblick unserer Rettung!“

Holm fand seine gewohnte Ruhe wieder, als ihn der unbesonnene Vorschlag aus dem anfänglichen Freudenrausch aufschreckte. „Kommen Sie, Herr Doktor,“ setzte er hinzu. „Rasch, rasch, ich kann es nicht erwarten, den blauen Himmel wieder über mir zu sehen.“

Auch der Steuermann näherte sich dem alten Herrn. „Ich habe Ihnen eine Handlaterne mitgebracht, Herr Doktor,“ sagte er, „die einzige, welche an Bord zu finden war. Sie thut nötig bei diesen halsbrecherischen Unternehmungen.“

Und mit dem ganzen Abscheu des Seemanns gegen Fußpartieen zog er eine blecherne Diebslaterne aus seiner Jacke hervor. „Da ist das Ding, Herr Doktor, aber anzünden wollen wir es lieber erst draußen.“

Holm und Franz lachten ihn aus. „Wer hat uns denn durch den afrikanischen Wald geführt, Papa Witt?“ rief der Knabe. „Naturforscher mit dem Talglicht! das ist köstlich.“

Hans war der erste draußen. „Kommt, kommt,“ bat er, „ich sehne mich nach dem Anblick unseres Schiffes.“

Die Matrosen hatten inzwischen den ganzen kleinen Raum untersucht, und als sie kein Stück des Eigentums ihrer Reisegenossen mehr vorfanden, die Hütte verlassen. „Ich hätte Lust, den Bau in Brand zu stecken,“ raunte einer. „Irgend ein Andenken müßten wir doch diesen Schuften vermachen.“

Und gedacht, gethan. Ehe es die Weißen hindern konnten, flog ein brennendes Stück Papier auf die Matten am Boden, rote Flammen krochen züngelnd weiter, eine Rauchwolke wirbelte auf, und bald stand das ganze, abgesondert liegende Gebäude in heller Glut. Den gebundenen Malagaschen legten die Hamburger in gesicherte Entfernung, und dann ging es fort zum Walde, wo die lustige Schar den Tadel, welcher sie empfing, ohne bemerkbare Zerknirschung hinnahm, zumal der Steuermann sich begnügte, mit pfiffigem Blinzeln hinzuzusetzen: „Schade, daß nicht das ganze Dorf in Rauch aufgeht. Die gelben Landpiraten hätten verdient, einmal selbst bei ihren Krokodilen Nachtquartier suchen zu müssen.“

„Sollen wir sie aus dem Schlaf stören?“

Die Kampflust, der Übermut dieser ganzen jugendlichen Schar waren kaum noch zu zügeln. Holm und der Doktor mußten ihr Ansehen als Führer des Zuges voll in die Wagschale werfen, um weitere Ausschreitungen zu verhüten; nur widerstrebend konnten sich die Matrosen entschließen, das Dorf und die brennende Hütte ihrem Schicksal zu überlassen, ja es ist ungewiß, ob das jemals geschehen wäre, wenn nicht eine plötzlich auftauchende Erscheinung das allgemeine Interesse für sich in Anspruch genommen hätte.

Unter den Bäumen stand im unsicheren, zuckenden Licht der vielen elektrisch glänzenden Fliegen jener Malagasche, der zuerst die Weißen in das Dorf geführt hatte. Er trug unter dem Arm den Käfig mit dem weißen Hahn und streckte jetzt lächelnd die Hand aus. Sein verschmitztes Gesicht zeigte, daß er alles wußte. „Ein kleines Geschenk für den Führer,“ sagte er in englischer Sprache. „Er war es, der Rua-Roa den Weg zeigte.“

Papa Witt sah voll Erstaunen von einem zum andern. „Was will der Mosjöh Zitronengesicht?“ rief er. „Schenkt mir einen Hahn! — Ist der Kerl verrückt?“

„Sagte ich’s nicht,“ lächelte Holm. „Er verrät beide Parteien um des klingenden Lohnes willen. Aber besser ist es, Freund Steuermann, Sie geben ihm ein Stück Geld, das ich mit Dank zurückerstatten werde, — in meiner und des Doktors Tasche ist es leer wie am ersten Schöpfungsmorgen.“

Der Alte griff in den perlengestickten Geldbeutel, welchen er nur bei festlichen Gelegenheiten zu tragen pflegte. „Eine tüchtige Tracht Prügel wäre dir bedeutend dienlicher, du Galgenholz,“ brummte er auf deutsch, „es ist schade, daß du immer noch ungehängt über Gottes Erde läufst, aber wenn wir dich jetzt mit der richtigen Münzsorte bezahlen wollten, so könntest du uns aus Dankbarkeit alle deine Brüder auf den Hals hetzen. Marsch mit dir, — den Hahn kannst du selbst verzehren.“

Aber Holm ergriff den Käfig und nahm ihn an sich. „Das Geheimnis dieses Geschenkes erkläre ich Ihnen zuhause, Steuermann,“ lachte er. „Vorwärts jetzt, vorwärts um des Himmels willen, — die Malagaschen sind aus dem Schlaf erwacht!“

Wirklich sammelten sich schreiende, wehklagende und drohende Haufen um das Gefängnis, dessen leichte, dürre Bambuswände in der Glut zusammengestürzt waren und einen funkensprühenden Trümmerhaufen bildeten. Ein fesselnder Anblick bot sich dar: all die gelben, in den seltsamsten Kostümen — dasjenige Adams nicht ausgeschlossen — umherlaufenden und gestikulierenden Menschen, erhellt von der roten Lohe, deren Widerschein zugleich das Ufer färbte, wo mehr als ein riesiger Kaiman lüstern spähend mit halbem Leibe aus dem Sumpf auftauchte.

Allen voran im flatternden Gewande mit hocherhobenen Armen stürzte Lani-Lameh, der Zauberer. Wilde Verwünschungen schallten von seinen Lippen; er ermunterte offenbar die übrigen, den Flüchtlingen zu folgen.

Als sich diese nach dem Führer umsahen, war er verschwunden. Der listige Geselle mußte jetzt im Dorfe bemerkt werden, um nicht durch seine Abwesenheit Verdacht zu erregen; — Holm begriff das, aber er erschrak. Wohin im Dunkel fliehen, ohne den Verfolgern in die Hände zu fallen.

Da erfaßte jemand seinen Arm. In englischer Sprache erklang ein rasches „Dort hinaus, Herr!“ und ohne erst zu fragen, wer der Sprechende sei, folgte die kleine Schar dem gegebenen Rate. Nach einer Viertelstunde angestrengten Marschierens, wobei der Steuermann zweimal über vorspringende Baumwurzeln fiel und in allen Tonarten auf Wälder und Fußreisen und Dunkelheit schimpfte, war endlich eine Lichtung erreicht, von der verschiedene Wege abzweigten. Kein Laut verriet die Nähe der Malagaschen, kein Zeichen deutete auf Gefahr, daher ließen sich die Flüchtigen Zeit, endlich auch aus den mitgebrachten Vorräten der Matrosen eine tüchtige Stärkung zu sich zu nehmen. „Prosit!“ nickte der Steuermann. „Und dergleichen nennen Sie ein Vergnügen, mein Herr Holm? So schauderhafte Strapazen finden Sie ganz unterhaltend und angenehm? — Um des lieben Himmels willen, was wollen Sie mit dem Hahn?“ setzte er hinzu. „Freilich bin ich kein Gelehrter, aber mich deucht doch, daß der weiße Kerl ein ganz gemeiner Haushahn ist.“

„Oho, Papa Witt, mehr Respekt, wenn ich bitten darf! Dieser Hahn, den ich als unseren persönlichen Schutzhahn an der einen bräunlichen Feder vorn auf der Brust mit Sicherheit erkenne, — dieser Hahn ist ein Sendbote Zannaars und des Riesen Darafif wider die Macht und Tücke Angatschs des Bösen; — oder ernsthaft gesprochen: er war eines der Werkzeuge, deren sich Gott bediente, um uns vor grauenhaftem Tode zu bewahren. Wären wir ohne den weißen Hahn gewesen, so hätte uns das wütende Volk auf dem Fleck in Stücke zerrissen.“

Er setzte nun den Verlauf ihres Abenteuers dem Alten kurz auseinander und fragte jetzt erst, wie denn eigentlich die Freunde an Bord des Dampfers Kunde von dem Geschehenen erlangt hätten. Ehe Papa Witt antworten konnte, zog Franz an der Hand den jungen Hova-Sklaven aus dem Hintergrunde hervor. „Herr Doktor,“ rief er, „und du, Karl, hier ist Rua-Roa, der weder Mühe noch Gefahr scheute, um uns zu retten. Er hat in der Nacht den ganzen weiten Weg bis zum Schiffe zurückgelegt, er hat unsere Reisegenossen hierhergeführt, — ihr dürft ihn nicht verstoßen!“

Der junge Malagasche warf sich auf den Boden und umfaßte mit beiden Armen die Kniee des Geistlichen. „Nimm mich mit dir, Herr,“ bat er leise und innig. „Rua-Roa will dein Sklave sein, er will dir gehorchen und dir danken bis an das Ende seiner Tage, aber nimm ihn mit dir auf das Schiff und unter weiße Leute!“

Doktor Bolten schüttelte zweifelnd den Kopf. „Das geht nicht so ohne weiteres, mein junger Freund,“ sagte er herzlich. „Zuerst müßte ich doch wissen, ob du Eltern hast, denen ich unmöglich ihr Kind rauben dürfte, dann aber —“

Ein Ausruf des Knaben unterbrach ihn. „Rua-Roa hat keine Eltern mehr, Herr, er ist ein armer Sklave, der dem härtesten aller Hovas als Eigentum gehört. Arra-Arra ist grausam wie ein reißendes Tier, er schlägt und tritt seine Knechte, er vermietet sie nach der Hauptstadt Tananarivo zu den schwersten Diensten und gibt ihnen kaum so viel, um sich eine Decke oder ein Hemd kaufen zu können. Er wirft sie, wenn der Feuertrank der Weißen sein Gehirn umnebelt, zum Vergnügen den Krokodilen vor.“

Ein Ausruf der Entrüstung tönte von den Lippen aller Anwesenden. Die Matrosen bedauerten noch jetzt auf das lebhafteste, nicht an den gelben Schurken ein warnendes Beispiel statuiert zu haben; sie wollten dem Knaben kleine Geldgeschenke machen und ihn ihres Schutzes versichern, aber der Doktor erklärte, daß notwendig vorher erst eine Frage entschieden sein müsse. „Das Christentum kennt keine Sklaverei,“ sagte er, „es kann nie und nimmer den einen Menschen als das rechtmäßige Eigentum des anderen betrachten, ich will daher mit gutem Gewissen dieses Kind einem grausamen und trunksüchtigen Gebieter entziehen, um aus ihm einen rechtschaffenen Christen heranzubilden, aber nur dann, wenn Rua-Roa wirklich kein Dieb ist. Einen solchen könnte ich den mir anvertrauten Zöglingen nicht zum Gesellschafter geben. Sprich also, mein Sohn, sei wahr, als ständest du vor dem Richterstuhle Gottes, — hast du jenes rote Tuch genommen oder nicht?“

Der Sklave schüttelte traurig den Kopf. „Rua-Roa hat keine Mutter oder Schwester, der er es schenken könnte, Herr; Rua-Roa hat auch keine Hütte, um es darin zu verstecken oder für sich selbst zu behalten. Wenn Arra-Arra, sein Gebieter, schlechter Laune ist, oder wenn ihn das Feuerwasser krank gemacht hat, so läßt er den Zauberer kommen, um ihn zu fragen, wessen böser Blick oder wessen Verbrechen das Unglück verschuldete; Lani-Lameh nennt dazu jedesmal einen Sklaven als den Übelthäter, weil nur diese den Krokodilen vorgeworfen werden dürfen und weil ihm solche Richtersprüche viel Geld und Ansehen eintragen. Rua-Roa hat das Tuch nicht genommen, Herr, möge ihn Zannaar, der Weltgeist, strafen, wenn er lügt!“

Das war so einfach, so kindlich gesprochen, daß es auf keinen der Anwesenden seinen Eindruck verfehlte. Der alte Geistliche reichte dem Malagaschen beide Hände. „Steh auf, Rua-Roa,“ sagte er, „du sollst bei uns bleiben, armer Junge, ich will vor Gott und den Menschen verantworten, daß ich dich, der du uns alle vom sicheren Tode errettetest, aus so unwürdigen, verderblichen Umgebungen entferne. Du sollst nach deiner freien Wahl bei uns bleiben oder dich hinbegeben, wo du Lust hast, aber zurückschicken werde ich dich um keinen Preis. Ist das nicht auch Ihre Meinung, Freund Holm?“

„Vollständig!“ nickte der junge Gelehrte. „Franz würde es ja doch nie verzeihen, wenn wir uns weigerten, nicht wahr, du?“

„Ich würde sehen, Rua-Roa heimlich an Bord zu bringen!“

Holm sah ihn an. „Da das dem Knaben nicht verständlich geworden ist, so mag es hingehen, Franz,“ sagte er leise. „Du solltest dich bemühen, ihm als Vorbild zu dienen, denke ich.“

Franz errötete, während der Malagasche im unklaren Gefühl, daß er hier einen Freund gefunden, seine Hand ergriff und küßte. „Wir wollen den Blutschwur tauschen, du und Rua-Roa,“ flüsterte er. „Auch Freie tauschen ihn mit Sklaven.“

„Was ist das, ein Blutschwur?“ fragte lebhaft interessiert der Knabe.

„Pst, — hier nicht. Ich sage dir’s später, Herr!“

Er dankte halb wehmütig, halb freudevoll dem alten Geistlichen und auch Holm; er gelobte nochmals, ein treuer ergebener Diener zu sein und sprang dann allen voran, um den Weg zum Strande weiter zu verfolgen. Allmählich hatten auch schon die ersten Sonnenstrahlen das Dunkel gelichtet, es wurde Tag, und ringsumher glänzte die Schönheit der südlichen Welt, entfaltete sich das Tierleben, und spielte neuerwacht der Morgenwind mit tausend Blüten. Die Reisenden sahen zum erstenmale den Tangaibaum, welcher nur auf Madagaskar angetroffen wird, und dessen Früchte wie Pfirsiche herabhängen, unter ihrem ziemlich geschmacklosen Fleische jedoch einen sehr giftigen Kern verbergen; dann die einheimische Feige und endlich in einem kleinen murmelnden Flüßchen die Gitterpflanze, welche gänzlich unter der Oberfläche des Wassers stand. Holm nahm eine davon mit allen ihren Teilen sorgfältig heraus, um sie zu präparieren. Die neun bis zehn Zoll langen Blätter lagen kaum zwei Zoll breit wagerecht unmittelbar unter dem Wasserspiegel und zwar in einem Kreise von mindestens drei Fuß Durchmesser; dabei zeigten sie in ihrer Entwickelung die verschiedensten Farben, von dem Blaßgelb der ersten sich bildenden Blättchen durch alle Schattierungen von braun und grün bis zu den größten, ganz schwarzen Blättern, die einzigen in der Natur, welche die dunkle Totenfarbe tragen. Und wie eigentümlich waren die langen, schmalen Blätter! — Nur Gerippe von solchen, nur Blattgerüste. Der klare Grund glich einer feinen, durchbrochenen Spitze, und doch war das Gewebe zart genug, um die ganze Schwere der Pflanze zu tragen. Holm freute sich außerordentlich, das seltene Gewächs aufgefunden zu haben, ebenso die Destillierpflanze, deren kammartige, mit Deckeln versehene Blumen inwendig einen förmlichen Destillierapparat besitzen, und mehrere andere. Selbstverständlich wurden Blätter der seltenen Gitterpflanze mitgenommen.

Jeden Augenblick wurde die Wanderung unterbrochen, was ebensoviele Äußerungen der Ungeduld von seiten des Steuermannes hervorrief und endlich dazu führte, daß sich die kleine Gesellschaft einstweilen trennte. Hier in der Nähe des Meeres war von den Malagaschen nichts zu fürchten, sie hatten vielmehr alle Ursache, sich mäuschenstill zu verhalten und Gott zu danken, wenn nicht in der Hauptstadt gegen sie Klage geführt wurde. Papa Witt marschierte also mit seinen getreuen Teerjacken auf kürzestem Wege zum Ankerplatz zurück, die anderen dagegen unternahmen noch einen kleinen Streifzug in die Umgegend, wobei ihnen Rua-Roa als Führer diente. Alle Sorgen, aller Kummer und alle erlittenen Strapazen waren vergessen. Man befand sich wieder im grünen Walde, wohlbewaffnet und mit Korbflaschen versehen, und überließ sich der Hoffnung, noch einige seltene, wenn auch nur harmlose Tiere zu erlegen.

„Rua-Roa, kannst du uns keinen Eichhornmaki aufspüren? Ich glaube, ihr Malagaschen nennt ihn Aye-Aye!“

Der Bursche erschrak. „Angatsch will nicht, daß dem Aye-Aye Schaden geschieht, Herr!“ antwortete er etwas ängstlich.

Holm lächelte. „Dergleichen mußt du jetzt über Bord werfen, mein Junge,“ sagte er freundlich. „Nur das Böse ist zu fürchten und bringt Strafe, aber wer das Böse vermeidet, braucht sich nicht zu fürchten vor dem Grimme eines zornigen Rachegeistes. Es gibt keinen Angatsch, Kind, und noch viel weniger eine Tiergattung, die man heilig halten müßte. — Auf welchen Baumarten lebt vorzugsweise der Eichhornmaki?“

Rua-Roa schüttelte den Kopf. „In hohlen Stämmen wohnt er, Herr, wie die Eulen nur bei Nacht auf den Fang ausgehend und am Morgen schlafend. Wir werden sehr bald den Aye-Aye sehen, wie er nach Hause zurückkehrt.“

„Und hoffentlich auch schießen,“ setzte Holm hinzu. „Komm her, mein Junge, willst du das Feuergewehr kennen lernen?“

Der Malagasche wich zagend zur Seite. In seinen großen schwarzen Augen lag deutlich der Ausdruck des Grauens, so daß Holm lachend die Kugelbüchse zurückzog. „Horch,“ rief er, „was war das?“

„Wildschweine, Herr,“ antwortete der Bursche. „Eberjäger! sie kommen über die Ebene rechts von uns, wir werden die fliehenden Bestien sehen.“

„Sind diese Jäger Hovas?“ fragte mit einiger Besorgnis der Geistliche.

„Nein, Herr, Sakalawas, schwarze Männer, die mit ihren Sagaien die Tiere erlegen. Sie sind im ganzen Lande hochgeehrt, essen und schlafen in jeder Hütte ohne Bezahlung und wohnen nirgends, sondern ziehen umher und töten überall die Eber, welche das Feld zerstören und die Ernten vernichten.“

Der Lärm kam immer näher, die Gebüsche knackten und brachen, wildes Geheul und Schnaufen mischte sich mit den lauten Zurufen von Menschenstimmen. Unsere Freunde nahmen daher in einer Linie Stellung, indem sie sich den Rücken durch nebeneinander stehende, breite Baumstämme deckten und den gefährlichen Wildschweinen gegenüber auf diese Weise zu erfolgreichem Widerstande aus vier Kugelbüchsen zugleich gerüstet waren. „Paß auf, Rua-Roa,“ rief Franz, „sobald sich der erste Eber zeigt, hat er das Blei zwischen den Rippen.“

Aber der Malagasche schien von der Aussicht auf das angekündigte Schauspiel keineswegs erbaut; vielmehr schwang er sich mit einem raschen Satz auf den nächsten Tamarindenbaum, dessen starke, dichtsitzende Äste ihm diese Flucht ungemein erleichterten, und zog dann zum geheimen Verdruß des Doktors ein Amulett — bei den Malagaschen Fanfuti — hervor, das er zwischen den Fingern hielt und wiederholt küßte.

„Was treibst du da, Junge?“ fragte ärgerlich der alte Herr.

Rua-Roa sah verlegen von einem zum andern. „Ich bitte den Feuerriesen um seinen Schutz, Herr. Tenn-Tenn herrscht über alles, was von der Flamme stammt.“

„Gib mir das Ding, welches du da in der Hand trägst, Rua-Roa.“

Der Malagasche trennte sich offenbar nur äußerst ungern von seinem Amulett, aber er wagte keinen Ungehorsam, sondern gab es zögernd hin — eine kleine starkriechende Wurzel und ein Bambusrohr, das einen beschriebenen Pergamentstreifen barg. „Der Feuerriese Tenn-Tenn wird dich töten, wenn du es vernichtest, Herr,“ sagte er ängstlich.

S. 162.

Eberjagd auf Madagaskar.
„Das wütende Tier mit seinem plumpen schwarzen Kopf und den am Halse befindlichen Auswüchsen stürzte sich blindlings gegen die Stelle, wo vier Büchsenkugeln seiner harrten ...“

Dem alten Theologen blieb zur Antwort keine Zeit. Aus den Gebüschen brach ein mächtiger Eber, dem zwei Bachen mit einem Rudel jüngeren Nachwuchses folgten; das wütende Tier mit seinem plumpen schwarzen Kopf und den am Halse befindlichen Auswüchsen stürzte sich blindlings gegen die Stelle, wo vier Büchsenkugeln seiner harrten, die Stoßzähne wühlten den Boden auf, die kleinen Schweinsaugen funkelten vor Kampflust; es kam, unbekannt mit der Wirkung der Feuerwaffen (die auf Madagaskar zur Jagd nicht verwandt werden) ganz nahe heran und senkte zum heftigen Angriff den Kopf — da krachten die Büchsen; unter den übrigen Tieren entstand eine wilde Flucht, und der Eber wälzte sich in seinem Blute. Schon wollte Franz vorspringen, um ihm mit dem Messer den Garaus zu machen; da klang es plötzlich in einiger Entfernung wie das schmerzliche Wimmern einer Menschenstimme. Gedehnte, ächzende und schluchzende Laute erfüllten die Luft, Todesröcheln mischte sich schaurig in leises Weinen. — —

Die Weißen standen regungslos vor Schreck. Sie sahen nicht wie sich der erlegte Eber im letzten Kampfe wand, wie mehrere der schwarzen Jäger, halbnackt, mit den langen eisenbeschlagenen Sagaien bewaffnet, durch die Büsche lugten und beim Anblick der Europäer schleunigst das Weite suchten, — nur ein entsetzlicher Gedanke erfüllte ihre Herzen: war einer von den Sakalawas durch ihre Kugel getroffen worden?

„Karl,“ flüsterte Franz, „hörst du das?“

Holm nickte. „Wir müssen nachsehen, mein Junge. Wenigstens konnte keinem von uns der Gedanke an ein solches Unglück im voraus kommen.“

„Ist der arme Mensch erschossen, so berühre ich in meinem Leben kein Gewehr wieder,“ rief Hans. „O warum sind wir nicht mit den Matrosen gegangen!“

„Still,“ seufzte Holm. „Erst muß die Sache untersucht werden.“

Da legte vom Baum herab Rua-Roa die Hand auf des jungen Mannes Schulter. „Babakut!“ sagte er, „der Menschenaffe.“

Wie in plötzlicher Übereinstimmung suchten aller Augen seinen Blick. Wenn das wahr wäre!

Rua-Roa hielt noch immer den Ast des Tamarindenbaumes umklammert. „Kennst du den Menschenaffen nicht, Herr? Leben im Abendlande unter deinem Volke keine Trägen, Faulen, die niemals arbeiten, sondern nur essen wollen? Und verwandelt sie Zannaar bei euch nicht in Babakuts, die ein Antlitz haben wie Menschen und doch Affen sind, die menschlich weinen und klagen, und doch keine Seele besitzen? Der da wimmert, ist ein solcher.“

Franz zögerte nicht länger, er mußte wissen, woher die immer schwächer werdenden, kläglichen Jammerrufe kamen, und trennte daher mit kräftigem Arm die verschlungenen Zweige, um in das Innere des Gewirres von Ranken und Blättern hineinzusehen. Sein Jubelruf lockte die übrigen herbei. Da lag auf dem blutgetränkten Moos ein ganz grauer, mit kurzem Haar bedeckter Affe von etwa einem Meter Höhe und mit so menschenähnlichem Gesicht, wie es die Reisenden noch an keiner anderen Gattung bemerkt hatten. Die brechenden Augen sahen voll stummer Anklage empor, der schweiflose Körper streckte sich und nach wenigen, letzten Zuckungen war alles vorüber.

„Das nenne ich Glück haben!“ jubelte Holm. „Diese Art ist bis jetzt selten oder nie erlegt worden, wir besitzen da einen Schatz, wie ihn kein deutsches Museum nachweisen kann. Schnell, Rua-Roa, komm her und nimm vorsichtig den Affen, da du kein Gewehr zu tragen hast, wir wollen ihn auf dem Schiff in aller Form einbalsamieren oder in Spiritus bringen, je nachdem es sich macht. Jetzt ist Umkehr geboten, um keinen Preis dürfte uns der Babakut verloren gehen.“

Aber Rua-Roa that, als sei er plötzlich taub geworden. Mit dem großen Messer, welches ihm Hans gegeben, zog er gewandt das borstige Fell des Ebers ab, weidete ihn aus und schnitt die besten Bratenstücke herunter, während nur dann und wann ein scheuer Blick den getöteten Affen streifte. Die Furcht vor dem Halbmenschen Zannaars war offenbar zu groß, um ihm das Näherkommen zu gestatten.

„Mag er das Fleisch tragen!“ entschied der Doktor. „Ehe nicht sein Geister- und Riesenglaube besiegt ist, hilft es nichts, ihn zum Gehorsam zu zwingen. Ich bin nur begierig, wie Sie es anfangen wollen, die Beute fortzubringen, mein bester Herr Holm.“

„Und müßte ich sie wie ein Wickelkindchen tragen,“ rief der junge Gelehrte. „Aber was will Rua-Roa, er winkt mir fortwährend!“

Der Malagasche hatte das abgezogene Fell von Blut und Fleischteilen gereinigt und dann einen spitzen Stock geschnitten. „Da, Herr,“ sagte er etwas ängstlich, „willst du nicht den Babakut hineinwickeln? Zwei von euch können ihn tragen, an jedem Ende des Stockes einer. Rua-Roa nimmt das Fleisch.“

Holm lachte. „Zwei von euch!“ wiederholte er. „Nur du selbst nicht, Schlingel, und doch habe ich oft gehört, daß deine Landsleute den Babakut essen.“

Rua-Roa machte eine Gebärde des Abscheues. „Die Ambonga,“ sagte er, „die Wilden. Sie essen auch Schlangen und Makis, die Hovas kennen dergleichen nicht.“

„Makis!“ rief Holm. „Da erinnerst du mich, Junge. Ich möchte doch gar zu gern einen Eichhornmaki schießen.“

Der Malagasche nahm mit Hilfe eines zweiten, derben Steckens das Fleisch auf die Schulter. „Jetzt schläft der Aye-Aye, Herr,“ versetzte er, „aber Rua-Roa wird den Baum finden, in welchem er wohnt, und wird ihn aufscheuchen. Komm nur, dort unter den alten Tamarinden ist mehr als ein hohler Stamm, dein Sklave weiß es, er hat hier oft die jungen Papageien aus ihren Nestern genommen, um sie, wenn eine Anzahl beisammen war, nach Tananarivo zu bringen und für seinen Herrn zu verkaufen. Den Babakut kannst du hier liegen lassen, bis wir wiederkommen; es stiehlt ihn dir niemand, dessen bist du sicher.“

Holm schwankte. Durfte er den seltenen Schatz dem Zufall anvertrauen? — Aber freilich, fleischfressende Tiere gab es ja auf dieser Insel nicht, wer sollte ihm also sein Kleinod rauben? Nach kurzem Besinnen verbarg er das Paket mit dem unheimlichen Inhalt unter einer Schicht von großen Blättern, dann folgten alle dem vorangehenden Malagaschen. Der Hochwald dieser Gegend war unbeschreiblich schön und trug ganz den Charakter der tropischen Zone, wenigstens was die Mannigfaltigkeit des Pflanzenwuchses betraf. Hohe Mangobäume mit ihren saftreichen, unseren Birnen gleichenden Früchten neigten ihre tiefhängenden Äste schwer vom Segen so weit herab, daß die Knaben nach Herzenslust pflücken und essen konnten; wundervoll gefärbte Orchideen, lila, rosa, blau und schneeweiß oder vom reinsten Purpur, schwebten an ihren langen Kletterwurzeln in der Luft; ein kleines blaues, dem Vergißmeinnicht ähnliches Blümchen schmückte zu Tausenden den Boden; blütenreiche Akazien spendeten ihren Wohlgeruch, und mehrere Pandanusarten lieferten wohlschmeckende Früchte von der Größe einer Pomeranze. Ebenso wuchsen im Dickicht die verschiedensten Nüsse, weshalb auch bunte Papageien in ganzen Scharen die Baumwipfel bevölkerten. Das emsige Forschen des jungen Eingebornen währte nur kurze Zeit, dann hatte er den Schlupfwinkel eines Eichhornmaki entdeckt und konnte den heranschleichenden Gefährten ein Zeichen geben. In einer uralten Tamarinde befand sich eine Höhlung von der Größe eines Tellers, vor derselben lagen Haufen von Nußschalen, und an der rauhen Rinde des Eingangs klebten braune Haare, für den geübten Blick des jungen Malagaschen nur ebenso viele Zeichen, daß im Innern des hohlen Stammes ein Eichhornmaki seinen Wohnsitz haben müsse.

Holm und Franz standen mit geladenem Revolver hinter den nächsten Bäumen, während Rua-Roa die Tamarinde umschlich und mit dem Knöchel des Zeigefingers überall anklopfte. Längere Zeit hindurch blieben seine Bemühungen ohne Erfolg, die Weißen zweifelten, daß eines dieser zierlichen Äffchen in dem Baume verborgen sei; der Bursche aber blieb bei seiner Behauptung. „Aye-Aye schläft,“ sagte er, „wir müssen ihn wecken.“

Und vor die Mündung der Höhle tretend, brachte er das Gesicht derselben ganz nahe. Ein schriller, plötzlicher Schrei durchgellte die morgendliche Stille des Waldes, — dann suchte der Sklave seinen früheren Versteck wieder auf. Eine Gebärde befahl den Weißen, sich mäuschenstill zu verhalten.

Kaum wenige Sekunden später zeigte sich der Erfolg. Das graue, menschenhafte und auch wieder eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Fuchs verratende Gesicht des Gespensteraffen blickte aus dem Loch hervor, der Aye-Aye horchte offenbar neugierig dem immer wiederholten Klopfen, er gähnte wie ein aus dem Schlaf aufgeschreckter Mensch und reckte die langen Arme; dann sahen ihn die Weißen mit trägen, langsamen Sprüngen auf die Äste der Tamarinde klettern. Das kleine Geschöpf hatte die Höhe von kaum einem halben Meter, der Schwanz allein aber war länger als der ganze übrige Körper. Die untere Partie der Haare war von weichem Gelb, die obere rotbraun und nur an den Seiten wie am Bauche grau, Schwanz und Füße dagegen schwarz.

„Schieß nicht,“ flüsterte Franz. „Ich habe von meinem Platz aus das Ziel sicher!“

Er legte an, und als der Knall erfolgte, stürzte das Tier mit lautem Aufschrei, sich mehrmals überschlagend, zu Boden. Es war so glücklich getroffen, daß der Tod im Augenblick eintrat. — Hinter seiner schützenden Tamarinde sprach Rua-Roa in der einheimischen Mundart ein Gebet, aus dessen hastiger Wortfolge der Name Tenn-Tenn wiederholt auftauchte; jedenfalls versicherte er sich in so unmittelbarer Nähe der gefürchteten Schießwaffe vor allen Dingen des Feuerriesen, ohne dessen Gnade es nach seiner Meinung allzu leicht um ihn geschehen sein konnte.

Holms Freude war grenzenlos. Weder im Zoologischen Garten noch im Museum fand sich dieses Tierchen; er würde also der erste sein, welcher es nach Hamburg brachte, vorläufig freilich nur die Haut, aber doch wohlerhalten, denn die kleine Kugel hatte das aufrecht sitzende Äffchen in den Unterleib getroffen, so daß sich die Wunde beim Ausstopfen verbergen ließ, ohne irgend eine Entstellung herbeizuführen.

„Jetzt laßt uns den Rückweg antreten,“ rief er, nachdem dem Maki die Haut abgezogen war, „es kann nicht weit von neun Uhr entfernt sein, wir werden also pünktlich zur Mittagsmahlzeit eintreffen. Nachgerade sehnt man sich, wieder eine warme Suppe und einen Schluck Kaffee zu erhalten. Freund Rua-Roa, du hast deine Sache gut gemacht; jetzt finde auch den Rückweg zum Babakut!“

Der Eingeborne ergriff ohne weiteres die Haut des Eichhornmaki und trug sie sorgfältig wie einen wertvollen Schatz durch das Gebüsch. Ohne diesen, der Umgegend so vollkommen kundigen, mit den Ortsverhältnissen und dem Tierleben des Waldes genau vertrauten Führer hätten die kecken Abenteurer den Rückweg zum Meer kaum wieder aufgefunden, keinesfalls aber die beiden seltenen, so äußerst interessanten Affen erlegen und aufspüren können. Rua-Roa sah im Moos des Weges die Spuren, wo kein Weißer sie entdeckt haben würde; er erkannte unter den dichtstehenden Bäumen an einer einzigen Liane oder Orchideenblüte den einzuschlagenden Pfad; er hatte an Stellen, wo durch die grünen, lebenden Wände von Ranken und Geflecht einer nach dem anderen sich Bahn brechen mußte, doch noch irgend ein Zeichen bemerkt, das ihn später richtig führte. Genau an demselben Punkt, von dem die kleine Schar ausgegangen, betrat sie wieder die Lichtung, in deren Mitte der Eber gefallen war.

Holm griff zunächst in die natürliche, halb überwölbte und von großen Blättern verdeckte Höhle unter den Wurzeln eines Mangobaumes, um sich von dem Vorhandensein des Babakut zu überzeugen, zog aber auch im selben Augenblick die Hand mit einem leichten Schmerzensschrei wieder zurück. „Rua-Roa!“ rief er, „was kann das bedeuten? Als hätten mich zehn Nadeln zugleich gestochen!“

„Lassen Sie sehen, Bester!“ sagte erschreckend der Doktor. „Ich will nur hoffen, daß es kein Schlangenbiß ist.“

„Dann müßten zahlreiche Schlangen zugleich ihre Zähne gebraucht haben. Alle meine Finger bluten.“

Er hob die Hand empor, aus welcher rote Tropfen auf das Moos fielen. „Nein, nein, das sind Stichwunden, — Junge, komm her und sage, was du davon hältst.“

Aber Rua-Roa hütete sich, dem Babakut, der nach seiner Meinung ein verzauberter Mensch war, näher zu treten. „Tanrak!“ sagte er aus der Entfernung. „Tanrak, Herr, er ist keineswegs bösartig oder giftig.“

Franz hatte während dieser Unterhaltung zwischen den anderen mit seinem großen Messer die Ranken und Blätter entfernt; jetzt zerschnitt er etliche Baumwurzeln, zog den toten Affen hervor und warf Moos und Erde zurück, daß die Stücke flogen. Hans half nach besten Kräften und in wenigen Minuten war die Höhlung bloßgelegt. Im Hintergrunde derselben saßen ein paar kleine wunderliche Gesellen, die mit dem Kleide aus Borsten und mit dem langen spitzen Rüssel sogleich von allen Anwesenden als Glieder der Igelfamilie erkannt wurden. Nach Art dieser Tiere versuchten sie bei ihrer plötzlichen Entdeckung keine Flucht, sondern saßen still und unbeweglich auf einer Stelle, sonderbar anzusehen mit den ganz schwarzen, nur von drei weißen, über den Rücken herablaufenden Längsstreifen gezeichneten, starren Borsten, die ihre eigentliche (Maulwurfs-) Größe zu verdoppeln schienen. Im Sommerschlaf gestört, blinzelten sie verdrießlich und waren aus der bequemen geduckten Haltung nicht aufzurütteln.

Franz ergriff den Affen und trug ihn auf die andere Seite des Platzes. „Rua-Roa,“ rief er, „wie fangen wir es an, die Tierchen lebend zum Schiffe zu bringen? Haben müssen wir sie.“

Der Malagasche nahm den aus weißem Gras geflochtenen Hut vom Kopf; dann die Hand in einen Zipfel seines langen Hemdes wickelnd, ergriff er vorsichtig das stachlichte Pärchen und setzte es in den Hut. Mit kräftigem Schwunge das Fleischstück am langen Stecken über seine Schulter werfend, unter dem linken Arm die Tanraks, schickte er sich an, wieder das Amt des Führers zu übernehmen. „Du machst dir vergebliche Mühe, Herr,“ sagte er, „weder den Babakut, noch den Aye-Aye, noch den Tanrak kannst du essen.“

Alles lachte, so daß der Halbwilde ganz verdutzt dreinschaute. Die beiden Brüder trugen den Babakut, Holm nahm die Haut des Eichhornmaki und so wanderten alle zum Strande hinab, wo in grüner, lauschiger Bucht das Boot der „Hammonia“ lag, um sie an Bord des Dampfers zu bringen. Ein fröhliches „Ahoi!“ der Matrosen empfing die Wanderer, rüstige Arme hoben all die reichliche Ausbeute an Pflanzen und Tieren in das kleine Fahrzeug, die Kette wurde gelöst, und als der letzte von allen bestieg Rua-Roa die Planken, welche ihn von seinem Vaterlande für immer trennen sollten. Er schien die Insel, auf der er geboren, ohne Schmerz zu verlassen; dagegen erregte ihm der Dampfer eine heimliche Furcht, die sich noch steigerte, als vom Vorderteil her die Kanonen einen Willkommensgruß über die blauen Fluten dahin und den Ankömmlingen entgegensandten. Das rotweiße Wappen von Hamburg flog am Mast empor, der Kapitän schwenkte grüßend den Hut; wie ein Strom von Gold lag heller Sonnenglanz auf Schiff und Meer.

Es war diesmal den Reisenden so recht ein Nachhausekommen; es wehte sie an wie Heimatsgefühl und sonntäglicher Friede, als sie das Deck wieder betraten, — nur Papa Witt hatte das alte Schelmengesicht und den alten, unverwüstlichen Seemannshumor auch in dieser Stunde behalten. „Zwei tote Affen und zwei lebendige Stachelschweine!“ sagte er. „Gott stehe mir bei, und dafür wären nahezu vier gute Christen von den Krokodilen verschlungen worden. Ein anderes Mal gehe ich mit, wenn die Herrschaften wieder an Land wollen; dann bleibt alles fein vernünftig auf ebener Straße.“

Dagegen protestierten nun freilich die jungen Leute auf das entschiedenste. Papa Witt sei am Lande völlig ungenießbar, versicherten sie, er möge lieber den Koch antreiben, daß jetzt ein recht guter Bissen auf den Tisch komme.

Holm suchte unter den Fässern im Schiffsraum ein passendes leeres aus, in den er den Babakut legte und ihn mit Spiritus übergoß. Da jedoch nicht aller Spiritus verwendet werden sollte und das Faß noch nicht voll war, so füllte er den Rest desselben mit Rum aus, den ihm der Steward geben mußte, worauf der Schiffszimmermann das Faß wieder dicht schloß und die Fugen desselben leicht verpichte. Die Makihaut wurde in derselben Weise mit Arsenikseife präpariert wie früher der Balg des Nashornvogels.

Papa Witt zürnte anfangs über den Mißbrauch des guten Rums, aber als Holm ihm erklärte, daß die anatomische Zergliederung der Affen der Wissenschaft von größtem Interesse sei, antwortete er scherzend: „Es wäre doch wohl besser gewesen, von dem Rum einen schönen Grog zu brauen, als ihn dem alten häßlichen Affen zu geben, der noch dazu tot ist und seine Güte nicht zu würdigen versteht.“

So war denn alles an Bord nur Heiterkeit und Freude. Nachdem aber mit Essen und einem stärkenden Mittagsschlaf die ersten Stunden vergangen, erinnerte Doktor Bolten die kleine Gesellschaft, daß es heute Sonntag sei. Unter dem Sonnensegel am Deck wurde ein Gottesdienst gehalten, den Rua-Roa voll schweigender Ehrfurcht, vielleicht zu seinen Heidengöttern betend, mit anhörte. Der alte Theologe dankte dem Himmel für die Rettung aus höchster Todesangst, stumm hing alles an den Lippen des verehrten Mannes, leiser spielte der Wind mit den weißen Wogenhäuptern, und laut schmetternd krähte der heilige Hahn, der Sendbote Zannaars des Weltgeistes.

Sechstes Kapitel.

Während das Schiff durch den Kanal von Mozambique zurückdampfte, um nach der kleinen Felseninsel Mauritius zu steuern, welche, als sie den Franzosen gehörte, den Namen Isle de France führte, jetzt aber, seit sie im Jahre 1810 von den Briten erobert wurde, wieder ihren ursprünglichen Namen trägt, den sie zu Ehren des Kommandanten der niederländischen Seemacht, Moritz von Nassau, erhalten hatte, gab es in der Kajütte mancherlei für die jungen Naturforscher zu thun.

Franz hatte schon den Wunsch ausgesprochen, das genaue Abbild von einem der Stammesgenossen Rua-Roas zu besitzen, um daheim den Freunden zeigen zu können, wie die Ungeheuer in Menschengestalt aussehen, in deren Gewalt sie sich befunden hatten. Holm sagte, daß unter so gefährlichen Umständen, wie die jüngst durchlebten, es schwer halten würde, die mißtrauischen Wilden zu bewegen, dem Zeichner oder dem Photographen still zu sitzen, weil sie alles Fremdartige für Zauberei hielten. „Es wird uns aber gelingen, auch milder gesinnte Wilde zu treffen und diese werden wir nicht nur später photographieren, sondern, damit wir die genaue Form ihres Antlitzes erhalten, auch in Gips abgießen.“

„Aha,“ sagte Franz, „nun weiß ich auch, weshalb Sie sich den Gips nachkommen ließen, Sie wollen die Wilden abformen.“

„Um dem Forscher Material zu liefern, an dem er die feineren Rassenunterschiede der Wilden studieren kann,“ erwiderte Holm, „und damit ihr mit dieser Operation genau vertraut werdet, wollen wir die freie Zeit benutzen, die Eigenschaften des Gipses und seine Handhabung kennen zu lernen.“

Holm öffnete eine der Blechdosen, in der sich ein weißes Mehl befand — der gebrannte Gips. „Dieser gebrannte Gips,“ erklärte Holm, „ist schwefelsaurer Kalk, dem durch Erhitzen das in ihm vorhandene Wasser ausgetrieben wurde. Fügen wir dem entwässerten Gips wiederum Wasser zu, so verbindet er sich mit demselben zu einer festen Masse, die nach dem Trocknen hart wird. Diese Eigenschaft macht den Gips zu einem wertvollen Material, sowohl um Gegenstände abzuformen, als auch plastische Figuren aus demselben herzustellen. Franz, bitte den Koch um einige große Tassen, wir wollen ungesäumt an die Arbeit gehen.“ Franz that, wie ihm gesagt war, Hans holte Wasser und Holm suchte einen Thaler hervor, der das Bildnis des deutschen Kaisers in besonders schöner Prägung zeigte.

Zunächst nun rieb er die Münze mit einem Tropfen Öl ein, um das Ankleben des Gipses an derselben zu verhindern, worauf er sie mit einem drei Zentimeter hohem Rande von Schreibpapier umgab, dessen loses Ende er mit Gummi arabikum festklebte. Franz war nicht wenig stolz darauf, das so wichtige Klebmittel selbst geerntet zu haben, wenn auch die spitzen Stacheln des Schotendorns seine Hände nicht wenig zerkratzt hatten. Auch der Papierrand wurde mittels eines Pinsels mit einer kleinen Menge Öl getränkt. Dann rührte Holm etwa einen Eßlöffel voll Gips in einer Tasse rasch mit soviel Wasser an, daß ein nicht zu dünner Brei entstand, und goß denselben auf die Münze, welche derart auf dem Tische lag, daß sie selbst den Boden, der Papierstreif aber den Rand einer Schachtel bildete.

Nach etwa fünf Minuten war der Gipsbrei bereits erstarrt. Der Papierrand wurde vorsichtig abgenommen, worauf die erhärtete Gipsmasse auch von der Münze getrennt werden konnte. Mit allen, selbst den feinsten Einzelheiten war die nach oben liegende Seite der Münze in dem Gipse abgeformt, nur mit dem Unterschiede, daß die Erhöhungen der Münze in der Gipsmasse vertieft zum Vorschein kamen.

Die Knaben freuten sich über den wohlgelungenen Versuch. Holm trug Hans auf, den erhaltenen Abguß dem Koch zu bringen, daß er denselben auf eine nicht zu warme Stelle des Herdes legen möge, damit er gehörig austrockne. Dann ließ er Franz und Hans ebenfalls Abgüsse von der Münze machen, was ihnen, da sie gut aufgemerkt hatten, auch vortrefflich gelang. Rua-Roa sah verwundert zu und konnte nicht klar darüber werden, was die Weißen für sonderbare Dinge vornahmen. Holm aber sagte auf deutsch: „Du sollst nicht lange im Unklaren bleiben, mein Junge, nachher geht es dir, wenn auch nicht an den Kragen, so doch an dein gelbes Menschengesicht.“

Als die vorhin hergestellte Form auf dem Herde trocken geworden war, tränkte Holm sie mit etwas Öl und umgab sie ebenso wie vorher die Münze mit einem Rande von Papier. Dann goß er frischen Gipsbrei hinein, wartete bis derselbe festgeworden und konnte dann die beiden Gipsstücke leicht von einander ablösen. Das zweite Gipsstück zeigte nun ein genaues Abbild der ursprünglichen Münze, das Bildnis des Kaisers, die Umschrift und alle feinen Zeichen derselben. Die erste Form nannte er die Hohlform, die zweite den Abguß. Den Knaben war nun klar, daß wenn man einen Gegenstand plastisch in Gipsabgüssen vervielfältigen will, vor allen Dingen zuerst eine Hohlform hergestellt werden muß. Nachdem die Knaben gelernt hatten, wie der Gips zu behandeln sei, sagte Holm zu Rua-Roa: „Nun kommst du daran, mein Teuerster, lege dich da einmal auf den Fußboden.“ Rua-Roa that wie ihm gesagt wurde, denn bis jetzt hatten die Weißen ihm keinerlei Leides gethan, er hatte volles Vertrauen zu ihnen.

Dann stellte Holm aus einem großen Thonklumpen durch Rollen auf einem Brette eine große, lange Wurst her, die er dem auf der Erde Liegenden so um das Gesicht herum legte, als wollte er ihm ein Zahntuch aus Lehm umbinden. „Dieser Thonwulst soll das Herabfließen des Gipsbreies verhüten,“ sagte Holm, „und damit derselbe sich nicht in Rua-Roas Augenbrauen festsetzt, bedecken wir dieselben mit feinem, ölgetränkten Seidenpapier.“

„Aber erstickt Rua-Roa nicht, wenn wir ihm das ganze Gesicht voll Gips gießen?“ fragte Franz.

„Wir befestigen ihm mit etwas Lehm in jedem Nasenloch einen Strohhalm,“ erwiderte Holm, „dadurch kann er hinreichend atmen. Das haben sich vor ihm schon manche Wilde gefallen lassen müssen, und er wird auch nicht der letzte sein, zumal der ganze Vorgang keine fünf Minuten währt.“ Rua-Roa ließ sich geduldig das Seidenpapier auf die Augenbrauen und anderen Stirnhaare legen, auch gegen das Einölen des Gesichtes machte er keine Einwendungen. Als Holm ihm aber die Strohhalme in die Nase befestigen wollte, sprang er auf und weinte. Das war ihm zu viel. Keine Bitten konnten ihn bewegen sich wieder niederzulegen, er glaubte, daß man ihn umbringen wolle. „Doktor,“ rief Holm, „reden Sie ihm zu, er hat ja selbst gesagt, daß er Ihr Sklave sein wollte. Spielen Sie einmal den Plantagenhalter und brauchen Sie Ihre Autorität.“ Doktor Bolten lächelte milde und ging auf Rua-Roa zu. „Mein Sohn,“ sagte er, „der mutige Knabe hat dich aus dem Rachen des Krokodils gerettet und war in Lebensgefahr deinethalb, wie wir alle. Kannst du glauben, daß deine Erretter dir Schaden zufügen wollen? Sieh, wir verlangen nur einen kleinen Dienst von dir, du wirst doch eine geringe Unannehmlichkeit ertragen können, um deinem Dank Ausdruck zu geben, von dem du in so beredten Worten gesprochen. Nicht Worte machen den Dank, sondern die That.“

Rua-Roa hörte auf zu weinen. Er sah zu komisch aus mit dem vom Lehm eingerahmten Gesichte und den Thränen, die von der eingeölten Haut herunterliefen, wie das Wasser von den fettigen Federn einer Ente. Dann legte er sich ergeben auf den Rücken und wartete der schrecklichen Dinge, die da kommen sollten. „Schließe die Augen und den Mund, atme langsam durch die Strohhalme,“ rief ihm Holm zu, der in einer großen Schüssel den erforderlichen Gipsbrei anrührte. „Und nun nicht gemuckt, freundlich gelächelt, damit du später nicht als Heulmeier in Gips erscheinst.“ Bei diesen Worten schüttete Holm den bereits im Erstarren begriffenen Gips auf das Gesicht Rua-Roas, der sich wirklich Mühe gab zu lächeln. „Halte dich ruhig, mein Junge,“ ermutigte Holm den Daliegenden, der eine unförmliche Maske von Gipsbrei vor seinem Gesichte hatte, „und schnaube mir nicht zu sehr. Es ist dein eigener Schade, wenn die Hohlform von deinem ehrenwerten Antlitz nicht gelingt, denn dann, mein Lieber, mußt du noch einmal daran. — So,“ rief Holm, „der Gips ist bereits erhärtet.“ Er entfernte zuerst die Strohhalme, dann lüftete er die Gipsmasse bald an der einen Seite, bald an der anderen, um sie allmählich zu lockern, und hob sie behutsam von dem Antlitz Rua-Roas ab.

Rua-Roa that einen tiefen Atemzug und sprang auf. Holm überzeugte sich, daß die Hohlform vorzüglich gelungen sei, und sagte: „Du sollst schön bedankt sein für dein ruhiges Verhalten, Ruachen. Jetzt gehe nur mit Franz zum Koch, daß derselbe dir lauwarmes Wasser und Seife gibt, um dir Lehm und Öl abzuwaschen.“ Rua-Roa sprang fröhlich von dannen, von Franz begleitet. Während der Gelbe sich von den letzten Spuren der glücklich überstandenen Tragödie befreite, ging Franz an seinen Reisekoffer, dem er ein schönes Taschenmesser entnahm. Dieses schenkte er Rua-Roa, der kaum ein Wort des Dankes finden konnte, aber dem jungen Weißen die Hand treu und ehrlich drückte.

Am nächsten Tage wurde aus der Hohlform ein Abguß gemacht und Rua-Roas Antlitz präsentierte sich, wenn auch mit geschlossenen Augen, so doch, wie es ja auch nicht anders sein konnte, naturgetreu und ähnlich.

„Ein Apollokopf ist es nicht,“ meinte Holm, „aber es ist das Gesicht eines treuen, guten Menschen, er hat sogar versucht freundlich zu lächeln, wie ich ihm sagte.“

„Schade daß der Abguß so weiß aussieht,“ sagte Hans, „ich hätte Lust ihn farbig anzumalen, dann würde er unserm neuen Kameraden erst recht ähnlich sehen. Aber woher sollen wir soviel Farbe nehmen, der Tuschkasten würde darauf gehen.“

Auch hier wußte Holm wieder Rat. „Der Schiffszimmermann wird Farben haben, mit denen er die einzelnen Teile des Schiffes anzustreichen pflegt. Wir gebrauchen ja nur Gelbweiß für die Haut, Rot für die Lippen und Schwarz für die Haare.“

Der Zimmermann war glücklicherweise im Besitz des Gewünschten. Holm mischte die Farben und Hans malte den Gipsabguß, während Rua-Roa Modell sitzen mußte, damit die Farben auch mit dem Originale übereinstimmten. In einer halben Stunde war das Werk vollendet. Als Rua-Roa die kolorierte Gipsmaske sah, erschrak er. „Ach — Malagasche!“ rief er und wollte fliehen. „Laufe nur nicht vor dir selbst weg,“ lachte Holm, und nur mit Mühe konnten sie den Wilden dazu bringen, sein eigenes Abbild schließlich in die Hand zu nehmen und sich zu überzeugen, daß es kein lebendes Wesen sei, was er hielt. Die Matrosen bewunderten dies Kunstwerk, und einige wünschten, sie möchten auch so abgegossen werden. Holm aber sagte, daß sie photographiert werden sollten, sobald die Gelegenheit günstig wäre, das Abgipsen sei für die Wilden. Franz wandte jedoch ein Bedenken gegen diese Prozedur ein. „Wenn schon Rua-Roa sich so sehr sträubte, werden dann auch die Wilden sich hergeben, die uns lange nicht so freundlich gesinnt sind wie jener?“ fragte er. — „Nur mit reichen Geschenken wird es uns gelingen, ein lebendes Modell zu gewinnen,“ antwortete Holm, „und dann auch nur schwierig. Ihr könnt hieraus ermessen, welche Mühe und welche Energie dazu gehört, das Material für den Forscher in genügender Reichhaltigkeit zusammenzutragen, und wenn ihr später einmal wieder ein ethnographisches Museum besucht und solche Gipsabgüsse seht, dann werdet ihr nicht achtlos vorüber gehen, sondern daran denken, daß an jeden Kopf sich ein Kampf knüpft, wenn auch nur der friedliche der Überredung.“

„Mit der nächsten Post schicken wir Rua-Roas Abguß nach Hamburg,“ sagte Franz, „damit sie dort sehen, wie der gute Bursche ausschaut, der uns das Leben retten half.“

„Und den ersten Wilden, der sich mir anvertraut, werde ich abgipsen,“ rief Hans. „Ihr sollt sehen, ich werde meine Sache schon gut machen.“

Am Nachmittage wurde an einer kleinen öden Insel angelegt, die nur von Fregattvögeln, Albatrosarten und Tölpeln bewohnt war, auf die Jagd gemacht werden sollte.

In großen, bis über die Kniee hinaufreichenden Seestiefeln, mit Waffen und Proviant versehen, machten sich die Knaben in Holms und einiger Matrosen Begleitung auf den Weg, während der alte Geistliche dieser Unternehmung fernblieb. Gefahren gab es nicht zu überstehen, wohl aber mußte man unausgesetzt klettern, und das überließ er denn doch lieber den jüngeren Beinen.

Durch Röhricht und Schilf, über Klippen und Vorsprünge, durch flache Seeen ging es dahin, Rua-Roa und Franz immer voran und hinter ihnen die übrigen, mit Einschluß des Kapitäns, dem es Vergnügen machte, eine kleine auf diesen wüsten Inseln häufige Taubenart zu schießen. Die anderen verfolgten freilich interessantere Zwecke, sie fingen und erschlugen oder schossen vom Nest weg die Vögel, welche ihnen kaum aus dem Wege hüpften, sondern ganz zutraulich sitzen blieben, da sie ja in den Menschen noch keine Feinde kannten. Ein Kauffahrteischiff kommt selten in diese entlegenen Gegenden, viel weniger ein Postdampfer; die riesigen Anwohner des Meeres nisten also und brüten von Geschlecht zu Geschlecht in ungestörter Ruhe, nur sehr selten von dem Besuch des Naturforschers überrascht und um einige Glieder ihrer ausgedehnten Familie ärmer gemacht. Weiße, bis zu reichlich drei Meter Flugbreite haltende Albatrosse, ihre jüngeren braunen Sprößlinge, die großen Fregattvögel und in Scharen die grauen Tölpel, so saß es und watschelte, so flatterte und flog es zwischen den Klippen, wie wenn die wüste, vielleicht kaum den Flächeninhalt eines Marktplatzes besitzende Insel ein zoologischer Garten wäre, wo man künstlich gezähmte, fremde Tiere ungestört von Angesicht zu Angesicht bewundern kann; aus allen Löchern kamen Raubmöwen und Sturmtaucher hervor; auf jeder Klippe krochen riesige, graue Krabben, die hier von dem leben, was die Vögel als Beute ihren Jungen zutragen, und die in der Nähe eines solchen Nestes förmlich auf der Lauer liegen.

Im tiefsten Grunde der Insel brüteten allemal zu Tausenden die Pinguine, deren scharfe Schnabelhiebe zuweilen, wenn sie an den derben Stiefeln abglitten, ein schallendes Gelächter, wenn sie dagegen eine unvorsichtig herabhängende Hand trafen, einen Schmerzensschrei hervorriefen. Die Tiere blieben ruhig sitzen, wollten aber eine Annäherung ihrerseits nicht gestatten und verteidigten daher die Nester, auf denen sie hockten, mit solcher Entschlossenheit, daß mancher Umweg dieser starken Schnäbel wegen gemacht werden mußte. Eier und erlegte Tiere aller Gattungen waren stets die Ausbeute solcher Streifzüge, die freilich nicht immer ohne Unfall verliefen und einmal sogar das Leben der jungen Abenteurer ernstlich bedrohten. Ein plötzlicher Sturm drängte das Schiff von den Ufern der Klippe zurück, die Brandung ging haushoch, das Boot zerschellte in tausend Splitter, und Wind und Wasser fegten wie rasende Kobolde über den einsamen Fleck im rings sich dehnenden Ozean dahin. Ganze Sturzseen schlugen über den äußern Rand, Legionen von Tropfen regneten herab, und das donnerähnliche Geräusch des Sturmes verschlang jeden Laut. In Scharen wiegten sich Fregattvögel und Albatrosse, des Tobens froh, in der bewegten Luft; flügelschlagend kämpften sie gegen das empörte Element, rings umher entfaltete sich die Thätigkeit aller dieser meergewohnten Geschöpfe mit verdoppelter Stärke; nur die Menschen standen ratlos neben einander im Schutze eines Felsstückes, sie allein hatten zu fürchten, daß dem Schiffe ein Schaden geschehe, und daß sie dann in dieser grauenvollen Wildnis ohne irgend ein Lebensmittel, ohne Baum oder Feuer, dem qualvollsten Untergang verfallen würden, — Stunden vergingen, die Mastspitzen der „Hammonia“ verschwanden am Horizont, die ganze Insel triefte, und selbst das harte Schiffsbrot in den Taschen war aufgeweicht und zu Brei verwandelt; dann aber sprang der Wind nach anderer Richtung über, seine Wut ließ nach, und vor Sonnenuntergang sahen die unfreiwillig Verbannten das Schiff, dessen Kanone ihnen von Viertelstunde zu Viertelstunde einen Gruß gespendet, im fernen Blau wieder auftauchen. Papa Witt schickte sechs Matrosen mit einem Boote ans Ufer, und nach beschwerlicher Überfahrt, bei der jedoch die Jagdbeute glücklich geborgen wurde, hatten alle das rettende Deck wieder erreicht. Dennoch aber war damit der Krieg gegen die Vogelwelt keineswegs als beendet anzusehen. Zahllose große Vögel verfolgten, nach Abfällen spähend, das Schiff, namentlich Albatrosse, auf die dann die Matrosen Jagd machten, indem sie an langer Leine einen Angelhaken, in Fleisch versteckt, dem Dampfer nachschwimmen ließen. Die Vögel stürzten sich auf den ersehnten Bissen, verschlangen ihn und flogen nun in Todesangst, bang flügelschlagend, so weit es die Schnur gestattete, bis die glücklichen Jäger ihre Beute ohne alle Mühe heranzogen. Doktor Bolten erwirkte indessen sehr bald bei dem Kapitän ein Verbot dieser grausamen Belustigung, welche keinerlei ernsten Zweck hatte, sondern nur als Zeitvertreib diente. Das Fleisch des Albatros ist ungenießbar, seine Federn nicht zu brauchen; also mochten die großen, schönen Tiere leben, wo sie niemand schadeten, im Gegenteil vielleicht das Auge des Schiffers im Einerlei der Meeresfläche angenehm berührten.

Die Angeln wurden daher entfernt, und die Albatrosse blieben unbehelligt, ebenso die Tölpel, welche sich oft ganz dreist auf das Schiff setzten und sogar mit den Händen berühren ließen. Die dummen, grauen Tiere waren bei all ihrer Geistlosigkeit doch sehr schlaue Fischer, und immer, wenn sie irgend ein schwimmendes Geschöpf, Qualle oder Flossenträger, gefangen hatten, zeigte sich’s, weshalb die Fregattvögel so beharrlich in ihrer Nähe blieben. Der Tölpel ist der Leibeigene des Fregattvogels, er fängt die Beute, und jener verspeist sie.

Die Knaben saßen unter dem Sonnensegel des Verdecks und beobachteten das beständig wechselnde Spiel. In der Nähe des Schiffs, hart über dem Wasser, schwebten mit vorgestrecktem Halse die grau und schwarz gesprenkelten, etwa an Größe einem starken Raben gleichenden Tölpel und wußten geschickt unter der beweglichen blauen Oberfläche des Meeres die auftauchenden Fische zu entdecken. Sie schossen hinab und brachten, nie ihr Ziel verfehlend, den zappelnden Flossenträger im Schnabel mit sich herauf, aber schon ehe noch die Segelstange oder der Mast, wo sie ihren Raub zu verzehren dachten, halbwegs erreicht war, fielen die bedeutend größeren Fregattvögel über sie her, preßten ihnen die Kehle zusammen und nahmen den gefangenen Fisch dem eigentlichen Räuber siegreich wieder ab.

Einmal fiel solch ein kämpfendes Paar, in einander verbissen, plötzlich durch die Segel weg auf das Verdeck, und nun entstand eine höchst ergötzliche Szene. Aus einer der Seitenkojen im Matrosenraum sprang Murr, der große, schwarze Schiffskater, plötzlich mit Tigersprüngen hervor und blieb fauchend dicht neben den Ringern auf den Hinterfüßen sitzen. Seine von Zeit zu Zeit in die Luft schlagende Pfote, seine funkelnden Augen und das gereizte Knurren bewiesen nur zu deutlich, wie gern er über die beiden großen Vögel hergefallen wäre, aber die heftigen Flügelschläge, die scharfen Schnabelhiebe des Fregattvogels mochten ihn doch in respektvoller Entfernung halten, während ihrerseits die kämpfenden Segler der Lüfte von dem gefahrdrohenden Feind in ihm keine Ahnung hatten, sondern unbekümmert mit lautem Krächzen den eigenen Streit fortsetzten. Der Tölpel hielt beharrlich den gefangenen Fisch im Schnabel, wußte sich aber so zu drehen, daß es dem Fregattvogel nicht gelang, seinen Hals zu umklammern, obwohl ihn die scharfen Fänge desselben unerbittlich gepackt hielten.

Die riesigen Flügel, bald weit ausgebreitet, bald fest an den Körper gelegt, peitschten das Deck, herausgerissene Federn wirbelten in der Luft umher, und Blutstropfen färbten den Boden, — der Fisch hatte bereits zu leben aufgehört, aber immer noch währte der Kampf, als endlich die lachenden, mit gespannter Aufmerksamkeit den Vorgang beobachtenden Knaben ihren jungen Hova-Freund herbeiriefen. „Rua-Roa! komm her, komm her, sieh die Katze, — es ist um sich die Seiten zu halten.“

Der Malagasche kam schleunigst herbeigesprungen, sobald aber seinem suchenden Blick Murr, der wohlgenährte Rattenvertilger, begegnete, fiel er vor Schreck auf die Kniee und hob beide Hände zum Himmel empor. „Zannaar!“ rief er in Todesangst, „Zannaar! Darafif, großer Riese, steht uns bei! Angatsch der Böse, der Mörder und Betrüger, hat seinen Diener auf das unglückliche Schiff geschickt!“

Zufällig machte in diesem Augenblick Murr den bekannten hohen Buckel, sein langer Schweif fegte im Halbkreis unruhig das Deck, die grünschillernden Augen leuchteten vor Kampflust, er ersah den günstigen Moment, in welchem der Fregattvogel außer stande war, sich mit seinem Schnabel zu verteidigen, und stürzte sich geräuschlos nach Tigerart urplötzlich auf die Streitenden. Ein kurzer, schriller Schrei — dann hatte der große Vogel zu leben aufgehört; der Tölpel dagegen saß geduckt, dumm glotzend und sich schüttelnd auf den Brettern. Als ihm niemand mehr die Beute streitig machte, ergriff er seinen Fisch und verschlang ihn mit gierigem Ruck.

Der Malagasche betete fortwährend in der Hova-Sprache zu allen möglichen guten Geistern um Erlösung vom Übel; keine Macht der Erde hätte ihn bewegen können, den sieghaften Kater zu streicheln, und selbst als die beiden andern Knaben das thaten, schauderte er sichtlich. Auf ganz Madagaskar sei kein solches Tier zu finden, erklärte er, es müsse ein böser Geist sein.

Doktor Bolten wehrte den Knaben, als sie ihren jungen Freund zwingen wollten, sich mit Murr, dem Schnurrenden, Behäbigen, auf vertrauten Fuß zu stellen. Er hatte den religiösen und geschichtlichen Unterricht, welchen er dem ehemaligen Sklaven erteilte, so eingerichtet, daß der Geisterglaube ganz von selbst dem besseren Erkennen weichen mußte; jeden äußeren Zwang erklärte er für schädlich. Der Kater lief frei im ganzen Schiff herum, aber man ließ es scheinbar unbemerkt, wenn Rua-Roa mit wahrhaften Seiltänzerkunststückchen der Begegnung des Schwarzen auswich; seine Freunde überließen es der Zeit, ihn von dieser kleinen thörichten Furcht zu heilen, namentlich da der Gelbe in jeder Beziehung achtbar und liebenswürdig auftrat, sich seinen Wohlthätern dankbar bewies und im Lernen die besten Fortschritte machte.

Besonders mit den beiden aus Afrika herübergebrachten Affen hatte er sich in das glücklichste Einvernehmen zu setzen gewußt. Wickelschwanz und Schwarznase schienen für den jungen Farbigen eine besondere Zuneigung zu hegen; sie saßen auf seinen Schultern, fraßen aus seiner Hand und gehorchten ihm auf das erste Wort, den Widerwillen ihres Bezähmers gegen Murr in jeder Weise teilend. Der faule Kater erhielt von den flinken Händen mehr als eine Ohrfeige, und wenn zuweilen bei stillem Wetter der Schwarze und die beiden Affen sich im Takelwerk jagten, dann klang erbittertes Prusten, Schreien und Miauen über das Deck hin, bis meistens der Kater urplötzlich herabfiel und sich schleunigst unter den Kojen der Mannschaft verkroch.

Die beiden Tanraks dagegen sollten nicht lange zur Unterhaltung der Knaben dienen. Nachdem die letzten auf den öden Inseln gesammelten Würmer verzehrt waren, weigerten sich die Tierchen, irgend eine andere Nahrung zu nehmen, und starben ehe noch die Insel Mauritius erreicht wurde. Die Tiere wanderten zu dem Affen in den Spiritus und wurden mit allen übrigen gesammelten Gegenständen von Port St. Louis, der Hauptstadt der Insel, nach Hamburg geschickt.

Das Schiff verließ indessen nach sehr kurzem Aufenthalt diesen Hafen und setzte die Reise bis zur Fouqué-Insel fort. Erst da wurde Anker geworfen.

„Auf Mauritius haben wir für unseren besonderen Zweck keinen günstigen Boden,“ erklärte Holm, „das Tierleben der Insel ist arm, ursprüngliche Bewohner, also einen eingebornen Stamm hat sie gar nicht, es führen Landstraßen von einem Ende zum andern; kurz, Hoffnung auf naturwissenschaftliche Entdeckungen oder interessante Abenteuer ist nicht vorhanden. Die kleine Fouqué-Insel muß uns entschädigen.“

„Später machen Sie dann noch einen Spaziergang auf den Bambu-Pik,“ schaltete der Kapitän ein, „jedenfalls verlohnt die Aussicht dieser Mühe, nebenbei aber begegnen Ihnen doch auch vielleicht einige Eidechsenarten, indische Meerkatzen und viele schöne Pflanzen.“

„Wollen sehen!“ nickte Holm. „Erst zur Fouqué-Insel.“

Und so warf denn der Dampfer in stiller Bucht seine Anker aus. Unübersehbar dehnte sich vor den Blicken der Reisenden das Korallenriff, welches die ganze Insel Mauritius wie ein Gürtel umgibt und von den weißen Brandungswellen des Meeres bei hoher Flut fast völlig überschäumt wird. Daran lehnt sich, flach und ohne einen einzigen Baum den glühenden Sonnenstrahlen preisgegeben, ein kleines, unbewohntes Eiland, dessen ragender Leuchtturm den Schiffen als Warnungszeichen dient. Es war gleichsam eine Fortsetzung des Riffes, dessen oberste platte, von den Wogen geglättete Fläche zur Ebbezeit einen vorsichtigen Spaziergang recht wohl gestattete, zugleich aber wurde auf seinen Strand alles das geworfen, was die brandenden Wellen an toten und lebenden Bewohnern des Meeres mit gewaltiger Kraft emporhoben, und was späterhin, bei dem schnellen Sinken derselben, von tausend Zacken und Riffen festgehalten, den Rückweg in das heimische Element nicht mehr fand.

Es war Ebbe, als das große Boot die Reisenden zur Fouqué-Insel brachte. Im Schatten des Leuchtturms wurde ein Zelt aufgeschlagen, frische Früchte und Lebensmittel von Mauritius herübergeschafft und Haken und Netze, sowie einige Eimer aus dem Schiff mitgenommen. Die Flut brauste heran, nachdem kaum die nötigsten Vorarbeiten beendet waren. Haushoch, in kurzen Pausen, schlugen weißgekrönte, wie flüssiges Silber schäumende Wellen gegen das Riff, ein Donnern und Grollen, ein Zischen und Klatschen wie es die Reisenden nie vorher gehört, erfüllte rings die Luft; Tausende von fliegenden Fischen erhoben sich, flutgetragen, blau und violett schillernd im Sonnengold, mit Schaumperlen übergossen in jeder Woge; große Quallen zeigten ihre Ungestalt; Fische mit dem Gesicht und der Brust eines wohlgenährten, runden Vogels, mit Taubenaugen, aber derben drohenden Zähnen, wiegten sich in der Wassermenge, bunte Velellen, Krebse mit langen Scheren und Wasserschlangen tauchten auf und ab. Stunden vergingen, ehe dies wechselnde Spiel mit dem Eintritt der Ebbe endete, aber doch schien es jedem der Anwesenden, als habe er erst seit wenigen unzulänglichen Augenblicken den Ozean in dieser seiner großartigen Pracht bewundert, doch wurde die letzte am Fuße des Riffs zerfließende Welle wie ein scheidender Freund bedauert.

Jetzt galt es, die schlüpfrigen Stellen abzusuchen und von den aufgefundenen Tieren die schönsten Exemplare einzusammeln. „Immer nur einige von der gleichen Gattung,“ hatte Holm ermahnt, „es soll kein Tier, das für unsere Sammlungen taugt, übersehen, aber auch keines aus bloßem Mutwillen getötet werden.“

Rua-Roa zeigte sich beim Hinausgehen auf den schlüpfrigen, vielleicht fünfzig Fuß hohen und ebenso breiten Damm im Anfang etwas zaghaft. Löcher und Fugen, Risse und Spalten überall; hier ein klarer Teich, in dem das Seewasser schäumte und brodelte; hier eine Kluft, die mühsam übersprungen werden mußte und dort sogar eine plötzliche Teilung des Weges, drei oder vier schmale Pfade, kaum fußbreit, zackig, von Schleim überzogen, — so zeigte sich das Riff, dessen Gefüge erst viel tiefer nach unten sich zur dichten, von keinem Spalte mehr durchlöcherten Mauer verstärkte. Hier oben in den jüngsten Korallenschichten war alles Berg und Thal, alles von Poren zersetzt, von den Gängen und Höhlen unzähliger Wassergeschöpfe wie ein Bergwerk untergraben.

Franz hüpfte, ohne sich viel nach Beute umzusehen, über den schlüpfrigen Weg dahin. Rechts das Meer, links ein stiller blauer Wasserstreif und dann die malerischen, von üppigem Baumwuchs bestandenen Ufer der Insel Mauritius — so bot sich dem staunenden Blick ein Bild der höchsten, blendendsten Naturschönheit. Der Wald da drüben schien ein seltsam doppelter; erst unten das Dickicht, von Ranken und Blumen durchflochten; dann die stolzen, himmelanstrebenden Palmenstämme mit ihren schönen, federartigen Kronen, die Kampeschen und Agaven, der nie fehlende Bambus und die breitästige Tamarinde. Während so im Verein von Formen und Farben die Pracht des Ufers den Sinn bewältigte, fesselte auf jedem einzelnen Schritt Neues, Niegesehenes die Blicke. Seeigel, Seesterne, Schnecken und Seewalzen, alles krabbelte, schwamm oder glitt über- und durcheinander. Besonders die schönen Seeanemonen, welche fest auf den Gesteinen saßen, erregten Holms Aufmerksamkeit; er nahm sie sorgfältig, jede Berührung vermeidend, mit einem großen Holzlöffel aus den Lachen heraus und setzte sie in einen Eimer, den zu diesem Zweck der Koch hatte liefern müssen. Um sie zu erhalten und lebend dem zoologischen Garten in Hamburg zuzuführen, schlug er mehrere Stücke des Korallenriffes ab, die dann in einem größeren Behälter den seltsamen Halbtieren zum Anklammern dienen sollten; mittels täglicher Zuführung von frischem Seewasser dachte er sie wohlerhalten über den Ozean zu bringen. Hier waren alle Arten vertreten, die purpurnen, gelben, violetten und ganz weißen; ferner die Seesterne, deren Formen sich am besten mit sogenannten Kotillonorden vergleichen lassen, bald rund und strahlenbildend, bald wie Schleifen, dann wie Perlenschnüre oder wie eine gelbe, in der Mitte gebundene Garbe, — die Seespinnen in ihren verschiedenen, alle am Lande lebenden Arten weit überragenden Größen, die hübschen roten Ringelwürmer mit dem federgleichen Häubchen und endlich das Heer der Krebse, die nun freilich ohne Erbarmen samt und sonders in einen Eimer wanderten, um folgenden Tages das Mittagsmahl verschönern zu helfen. Junge Einsiedlerkrebse trugen noch das Schneckenhaus, in welchem sie bis zur Ausbildung der Scheren ihren Hinterkörper zu verbergen pflegen, auf dem Rücken; die alten dagegen setzten selbst jetzt noch, wo sie im Riff hilflos hängen geblieben waren, ihre erbitterten Kämpfe fort und wurden zuweilen paarweise mit in einander verschlungenen Scheren eingefangen. Gold- und Silberfische, Papageienfische, in allen Farben schillernd, und zahllose Schnecken krochen zwischen den Spalten; auch eine andere Art von Geschöpfen, das baumartige Pflanzentier fehlte nicht; Glasschwämme und der gemeine Badeschwamm, irgendwo vom Grunde durch überlegene Stärke losgerissen, hatten sich an einer spitzen Klippe gefangen und fielen jetzt den emsigen Forschern zur Beute; braune und grüne Algen, unter anderen der bekannte Seetang, lagen zu ganzen Haufen über einander geschichtet und dienten den Wasserkäfern als Schlupfwinkel; auch die große weiße, nach innen rötliche Muschel wurde in den Fugen des Gesteins entdeckt und mußte in den Sack, welchen Holm trug, mit hinein wandern, obwohl sie ihn fast gänzlich ausfüllte und die Last zu einer sehr schweren machte. Stunden waren vergangen, ehe man an den Rückzug dachte; ein lüsterner Hai mit greulichem Rachen schwamm hart neben dem Riff im Meer hin und her, vielleicht in unbestimmter Ahnung die kommende Flut erwartend und sich des nahen Raubes freuend; die Sonne stand schon tief am Horizont, der Wind wehte frischer und die Kräfte der Suchenden bedurften der Stärkung, — noch eine halbe Stunde, dann kam die Flut, dann war alles, worauf jetzt die Füße so sicher standen, von blauem Gischt überschäumt. Schon hob sich im Grunde die See unmerklich gegen den Wall, schon tönte als Verkünder des donnerähnlichen Tobens ein leichtes Brausen und mahnte zum Rückzug.

„Karl,“ rief Franz, „könnten wir nicht bis zum letzten Augenblick hier oben bleiben? Ich möchte von hier aus das majestätische Heranrauschen der großen Wogen beobachten. Sieh den Hai, er überlegt, wann wir ihm den unverschämten Rachen füllen werden.“

Holm schüttelte den Kopf. „Das bleibt denn doch besser ungeschehen, Franz! — Was verschlägt dir’s, ob du die Wellen von einer oder der anderen Seite siehst?“

„Ich möchte sie gern mir selbst entgegenspringen lassen und — am allerliebsten hier oben im Gischt stehen bleiben, wenn die höchste Flut da ist.“

„Die vielleicht sechs oder sieben Fuß über den Damm hinauswächst und den grünlichen Hai da unten bis hierher trägt. Ich verzichte darauf, ihm Aug’ in Auge gegenüber zu stehen.“

Franz lachte, plötzlich aber bückte er sich und deutete auf einen Gegenstand, der vor seinen Füßen in der nächsten Spalte steckte. „Wieder eine solche Muschel,“ rief er, „und noch schöner als die erste. Karl, wir müssen sie notwendig herausbrechen.“

Der junge Gelehrte betrachtete mit fast zärtlichen Blicken die Rosaschale, den weißen, feingefalteten Rand und das bequem eingebettete Tier, welches diese schöne Heimat bewohnt. „Wahrhaftig,“ antwortete er, „du hast recht, Junge! — und da noch, und da! — bei Gott, ein ganzes Lager von Schaltieren! Grüne, blaue und diese braunfleckigen, ich bitte dich, sieh her!“

Er warf den Sack zu Boden und kniete neben der Rinne, wo im klaren Wasser alle möglichen Muscheln und Schnecken sich angehäuft hatten. „Der indische Ozean ist für diese Tiergattung so recht die wahre Fundgrube,“ fuhr er fort. „Wir müssen hier einsammeln, was irgend erreichbar ist; eine so günstige Gelegenheit wird uns höchst wahrscheinlich nicht wieder zu teil. Entweder liegen die Korallenbänke unter Wasser, oder sie sind unzugänglich; — ach, da hätten wir dich, Tridacna gigas!“

Er hob eine Seite der Schale mühsam empor, fand aber, daß es ihm durchaus unmöglich sei, die ganze Muschel von ihrem Platze zu entfernen. Und doch war das Exemplar so schön, eines der größten seiner Art; er mußte es haben.

„Hört,“ rief er den übrigen zu, „geht zum Leuchtturm und schafft mir ein paar von den dort stationierten Wächtern oder zwei von unseren Matrosen, damit diese Muschel nicht verloren werde. Die nächste Flut könnte sie wegspülen.“

„Ich bleibe bei dir!“ rief Franz.

Der Doktor, Hans und der Malagasche beluden sich mit dem bereits gemachten Fang, und nachdem sie thunlichste Eile versprochen, kehrten alle drei auf dem schlüpfrigen Pfade zur Fouqué-Insel zurück, während Holm und Franz emsig so viele von den kleineren Muscheln losbrachen, als sich ohne Beistand erreichen ließen; weder einer noch der andere bemerkte, daß die Flut unaufhörlich stieg, ja, daß die Spitzen der Wogen jetzt schon bis auf wenige Fuß an das Plateau des Riffes hinaufgriffen. Nur einmal zog Holm die Uhr und sah nach. „Ach, Gottlob, noch zwanzig Minuten, das ist Zeit genug.“

Die anderen gingen indessen weiter. „Hütet euch, Kinder,“ ermahnte der alte Herr, „ich bitte dich, Hans, bleib in der Mitte. Das ist ein verzweifelter Weg!“

Er sah immer vor seine Füße, zeigte ängstlich den beiden Knaben jeden Spalt und jede Lache; von den Gesetzen der Flut und Ebbe wußte er vielleicht überhaupt nur das Alleroberflächlichste und vertraute rücksichtlich dieser Dinge auch durchaus seinem jungen Reisegefährten. Daher kam es, daß er dem Meere keinen Blick schenkte, sondern vielmehr erleichtert aufatmete, als die gefährliche Expedition zu Ende und das Zelt unter dem Leuchtturm glücklich erreicht war.

Eimer und Netze, sowie der große Sack wurden geleert; dann lief Hans hinauf und bot den Wächtern ein Trinkgeld, wenn sie helfen wollten, die große Muschel aus dem Riff hervorzuziehen.

„Morgen,“ antwortete kopfnickend der Portugiese. „Jetzt wäre vor Eintritt der Flut keine Zeit mehr!“

Hans erschrak sehr. „Die anderen sind noch auf dem Riff! — Mein Himmel, es droht ihnen doch keine Gefahr?“

Die Schiffer, der englischen Sprache alle mächtig, eilten zu einem der Fenster und sahen jetzt in ziemlicher Entfernung die beiden knieenden Gestalten, welche, an der Landseite des Riffes beschäftigt, offenbar das Meer durchaus vergessen hatten. Worte, ja selbst der lauteste Schrei aus Menschenbrust konnten hier nichts ausrichten; rasch entschlossen also ergriff einer der Männer das große, an der Wand hängende Nebelhorn und ein langgezogener dumpfer Ton brauste über das Wasser dahin.

Da unten in der Tiefe drehte Franz den Kopf. War das ein Signal? — „Karl,“ rief er, „Karl, die Flut ist da!“

Der junge Gelehrte fuhr auf wie von einem Schusse getroffen. „Die Flut? — Gott im Himmel, wie ist das möglich, ich habe doch —“

Er riß die Uhr heraus und hielt sie erschreckend an das Ohr, er rüttelte wie in Verzweiflung an dem Gehäuse — sie stand still.

Die Wogenkämme schlugen jetzt über den Rand des Dammes herein, weißer Gischt spritzte hoch auf, — binnen Sekunden mußte die ganze Breite unter Wasser stehen.

Mit blassem Gesichte sah er hinaus auf das brandende Meer. „Jetzt sind wir verloren, Franz!“ klang es kaum verständlich von seinen Lippen. —

Und auch oben auf dem Turm wiederholte tödlich erschrocken der jüngere Knabe: „Sie sind verloren!“

„Das ist nicht gewiß, ja sogar nicht einmal wahrscheinlich,“ trösteten die Portugiesen. „Schon mancher Hummerfänger oder Perlenfischer hat sich während der Flut da auf dem Damm gehalten, um die Tiere wegzufangen, ehe nach eingetretener Ebbe eine Menge von anderen weniger kecken Insulanern die Ernte mit ihm teilen konnten. Das Meer schlägt bei ruhigem Wetter höchstens zwei Fuß über den Damm hinweg.“

Hans horchte atemlos. „Und wenn es stürmt?“ preßte er mühsam hervor.

„Dann vielleicht häuserhoch, — das läßt sich nicht bestimmen.“

Der Knabe flog die Treppen hinunter zu den beiden anderen. Sein verstörtes Gesicht sprach deutlicher als alle Worte, nur einzeln kamen die Silben von seinen bleichen Lippen. „Franz und — Karl — müssen ertrinken.“

Das Entsetzen des alten Geistlichen läßt sich nicht beschreiben. Er stieg erst zu den Turmwächtern hinauf und bot vergeblich Summen über Summen, dann ließ er sich an das Schiff bringen und beschwor den Kapitän, doch der drohenden Brandung zu trotzen, aber beides umsonst. Die einen wollten um keine noch so große Belohnung ihr Leben einsetzen, der andere erklärte, daß das Schiff wie eine Nußschale an dem festen Riff zerschellen, aber nie und nimmer bis zu den beiden Bedrängten gelangen werde. „Sie müssen es eben so gut als möglich ertragen,“ fügte er bei, „von einer eigentlichen Gefahr kann noch nicht die Rede sein. Zwei junge, kräftige Burschen werden sich ja doch von den Wellen nicht fortspülen lassen, — sie müssen in eine Rinne treten und sich anklammern.“

„Aber in der Nacht und auf so lange Zeit!“ rief entrüstet der Doktor.

„Es ist heller Mondschein und das schönste Wetter von der Welt, Herr Doktor, — und fünf Stunden schaden den jungen Wagehälsen gar nichts.“

Auch der Steuermann suchte den alten Herrn zu beruhigen, obwohl beide, der Kapitän und er, die Sache durchaus nicht so leicht nahmen, wie es den Anschein hatte. Wenn sich nur der unbedeutendste Sturm erhob, dann war es um die beiden jungen Leute geschehen.

Der Doktor kehrte also in Begleitung des Kapitäns zur Fouqué-Insel zurück, wo sie an das Riff traten und mit den Abgeschnittenen aus der Ferne Grüße wechselten. Aber was war denn das? — Da draußen standen in der Brandung ihrer drei, die hinüber winkten, — Franz schwenkte sogar seinen Strohhut.

Der Doktor stürzte zum Zelt. Sollte auch Hans — —

Aber nein, der fand sich zum Glück noch vor. Es war Rua-Roa, den nichts hatte bewegen können, seinen Freund in der Not zu verlassen. Er raffte zwei mit Haken versehene Eisenstangen welche vom Schiff mitgebracht worden waren, an sich und ging hinaus, der schäumenden, tosenden Flut nicht achtend. Der ganze Damm stand bereits unter Wasser, die Unterscheidungsgrenze für den festen Boden und das eigentliche Meer war bei jedem neuen Anprall der Brandung völlig verwischt, aber der Malagasche ließ sich nicht einschüchtern. In den kurzen Pausen drang er behende wie ein Vogel über die Klippen vor, und sobald eine neue Woge gleich einem anrückenden weißglänzenden Berge dahergerollt kam, warf er sich auf die Kniee, während unter dem Druck seiner beiden muskulösen Arme die Eisenhaken sich tief in den Klüften des Gesteins festklammerten. Nur Schritt um Schritt gelangte er auf diese Weise vorwärts, mit steter Todesgefahr ringend, mehr als einmal halb erstickt, genötigt erst liegen zu bleiben und Atem zu schöpfen, aber doch endlich ans Ziel kommend und im stande, mit strahlendem Blick und einem Lächeln innigster Freude den beiden Weißen ein Tuch voll Lebensmittel zu überreichen, das er sich um den Hals gebunden hatte, und dessen Inhalt, zwar stark durchnäßt, sonst aber doch genießbar, für die bevorstehende Geduldprobe wenigstens einige Stärkung verhieß.

Was hatte er denn eigentlich mitgebracht. Franz sah nach. Ein tüchtiges Stück Schinken, einige Schiffszwiebäcke und ein Dutzend Orangen, das ging ja an; besonders die Früchte waren willkommen, denn sie löschten den Durst, der sich bekanntlich bei jeder Aufregung bis zur Qual steigert. Franz schwenkte wieder den Hut. Zwar lief das Wasser jetzt schon von oben in die Seestiefel hinein, aber es war ja nicht kalt, die Sache ließ sich ertragen. Wenn so eine Welle heranbrauste, dann fand sie die drei Genossen vereint in der Vertiefung, welche sich die große Muschel zum Wohnsitz erwählt, und wo sie nun allerdings fürs erste in Sicherheit war. Zum Überfluß wurden noch die schweren Eisenstangen befestigt, und dann galt es nur mehr geduldig auszuharren. Bei manchen Stößen ging das Wasser bis an den Hals; zuweilen tauchte aus dem Gischt der Kopf des Haifisches plötzlich hervor, die mordlustigen Augen sahen in gleicher Höhe mit denen der jungen Leute zu ihnen hinüber, der Schwanz peitschte voll wütender Ungeduld das Wasser, die nächste Minute aber zwang den Raubgesellen, doch mit der fallenden Woge wieder zurückzusinken in das tiefere Meer. Sein Instinkt warnte ihn, sich auf das zackige, todbringende Riff hinaufzuwagen.

Die letzten Tagesstrahlen verschwammen, der Mond stand hell am Himmel, und in seltener Klarheit glänzte das südliche Kreuz. Nichts deutete auf Sturm; vom Leuchtturm grüßte friedlich das rote Licht, der Dampfer gab von Zeit zu Zeit durch einen Kanonenschuß Kunde von seiner Nähe, und auf der Fouqué-Insel brannten Pechfackeln, die der Kapitän vom Schiff herüber bringen ließ. Dennoch aber verbrachten die drei, von der Mitwelt so gänzlich abgeschlossen, eine Nacht, der nur Franz die heitere Seite abzugewinnen wußte. Er hatte gewünscht, sich die Wellen nahe herankommen zu lassen, und er ertrug es lachend, wenn sie ihn mit immer neuen Schauern bis auf die Haut durchnäßten.

S. 188.

Die Nacht auf dem Riff.
„... zuweilen tauchte aus dem Gischt der Kopf des Haifisches plötzlich hervor ...“

Allmählich füllte auch das gleiche buntgestaltige Tierleben des gestrigen Nachmittags wieder alle Risse und Poren. Fußlange Spinnen kletterten an den Armen der jungen Leute hinauf, Krebse und große Hummer segelten vorüber, mehr als einmal erfaßten die Hände Quallen, so daß noch empfindliche Schmerzen zu der Erstarrung und der allgemach eintretenden Mattigkeit hinzukamen. Als die Wogen anfingen schwächer zu werden, da fühlten alle, daß noch eine solche Nacht, solches Alleinsein gewissermaßen auf unsichtbarem Boden inmitten des Ozeans, gleichbedeutend werden müsse mit dem Tode.

Vorsichtig krochen die Verschlagenen, um womöglich das Wasser aus den Stiefeln zu gießen und aus den Kleidern zu ringen, näher an den Rand des Meeres heran. Jetzt konnten sie ja den Schutz der Vertiefung entbehren, die höchsten Wogenkämme reichten kaum noch bis an das Plateau, die Gefahr war vorüber. Aber erst als das Wasser nicht mehr wie eine warme, schützende Decke ihren Körper umgab, fühlten die jungen Leute den Einfluß des kalten Morgenwindes. Schaudernd, von Gänsehaut überlaufen, begrüßten sie die beiden Matrosen, welche im ersten Tagesschein über das Riff geklettert kamen, um auf Befehl des Kapitäns mit vereinten Kräften die Riesenmuschel aus der Versenkung hervorzuheben. Nachdem das Tier entfernt worden, trugen abwechselnd vier Männer die schwere, teuer erkaufte Schale, und noch ehe die Sonne hoch am Himmel stand, langten alle glücklich im Zelt unter dem Leuchtturm wieder an.

Holm streckte zähneklappernd die Hände den Freunden entgegen. „Keine Rührung, Doktor,“ sagte er scherzend, „ein tüchtiges Glas Grog wäre uns in dieser katzenjämmerlichen Verfassung bedeutend mehr von Nutzen.“

Der Kapitän lachte. „Ich dachte mir’s,“ nickte er. „Stoff ist vorhanden. Aber wollen wir denn nicht gleich zum Schiffe zurückkehren?“

„Behüte! erst müssen noch Korallen eingefangen werden.“

Dem stimmte auch Franz bei, und zwar sollte noch während der Ebbe vom großen Boot aus das Schleppnetz in die Tiefe hinabgesenkt werden. Überall schimmerten ja die roten und weißen unterseeischen Bäume durch das Wasser herauf, an einer Stelle hatte Holm sogar die seltene, wenn auch nicht hochgeschätzte schwarze Koralle gesehen, man mußte also die Gelegenheit wahrnehmen und einsammeln, was zu erlangen war.

Zwei Stunden Schlaf, trockne Kleider nebst einer tüchtigen Mahlzeit und einem echten Seemannsgrog verscheuchten im Verein sowohl Schauder als Schläfrigkeit und gaben den jungen Leuten ihre ganze gewohnte Frische voll zurück. Das Schleppnetz wurde ausgeworfen und brachte einen reichen Fang von Korallen aus der Tiefe empor an die Oberfläche, freilich nicht, ohne daß vom Boote her die Eisenstangen der Matrosen ihre hilfreichen Dienste gethan. Man fuhr längs den bis nahe an den Wasserspiegel hinaufreichenden Bänken hin; die ganze farbenglühende, in phantastischen Formen und Windungen aufgebaute Pracht da unten lag sichtbar vor aller Augen, feingeästelt vom zartesten Silberweiß bis zum gesättigten Purpur und glänzenden Schwarz; einem puppenhaften Walde gleich, schimmerten die Korallenstücke durch das blaue, spielende Wasser, und wo sie von den Eisenhaken der Bootsmannschaft getroffen wurden, da fielen sie in das ausgespannte Netz hinein.

Holm gab bei dieser Gelegenheit den Knaben einige Erklärungen über die Entstehung der Korallen, von denen meistens angenommen wird, daß sie, inwendig hohl, die Wohnungen von Tieren bilden. „Sie sind vielmehr das Tier selbst,“ erläuterte er. „Die kleinste Quallenart, ein kaum sichtbares Schleimklümpchen, saugt mit seinem aller Organe beraubten Körper die Kalkteile des Seewassers in sich auf, stirbt, sobald die Verkalkung vollständig eingetreten und wird von den nachkommenden Geschlechtern als Wohnstätte benutzt, um den gleichen Kreislauf immerwährend neu zu beginnen und neu zu vollenden. An seichten Stellen setzt sich die erste Quallenfamilie fest und auf ihren abgestorbenen Überresten baut die zweite weiter, bis endlich nach Jahrhunderten die Oberfläche des Wassers erreicht ist und nun für das Tierchen die Lebensmöglichkeit aufhört. Von der Luft berührt, stirbt die Qualle.“

Er nahm eins der gesammelten Stücke und zeigte seinen Zuhörern den zähen, grauen Schleim, welcher dasselbe überzog. „Das ist das jüngste Quallengeschlecht, das eigentliche, ursprüngliche Korallentier“, setzte er hinzu, „der Stoff, aus welchem die Natur ganze Inseln, also feste Wohnplätze für Menschen im Lauf der Zeit erschafft. Es ist nicht unmöglich, daß nach Jahrtausenden, Jahrmillionen vielleicht, der am meisten von dieser Gattung bevölkerte Ozean, das Stille Meer nämlich, einen festen Weltteil bilden wird, langsam entstanden aus Korallenbänken, Insel an Insel, die endlich zusammenrücken und ein untrennbares Ganze ausmachen.“

Rua-Roa hatte mit weit offenen Augen dieser Erklärung zugehört. „Zannaar ist groß!“ sagte er halblaut, nachdem jener geendet.

Holm streichelte lachend den Krauskopf des jungen Halbwilden. „Zannaar ist groß!“ wiederholte er, „und selbst die schleimige Qualle sein Prophet. — Aber siehe da, von dem kleinsten der Meerbewohner bis zu einem der größten ist nur ein einziger Schritt. Unser Freund von der letzten Nacht her!“

Er deutete mit der Rechten auf das Kielwasser des Bootes, wo sich lüsterne, tückisch blinzelnde Augen bis fast über die Oberfläche erhoben. Der grüne Hai war immer noch zur Stelle; er konnte sich, wie es schien, nicht losreißen von der schmeichelnden Hoffnung, endlich doch eines dieser Opfer zu erwischen; jetzt folgte er dem Boote und blieb dicht hinter dem Steuer desselben.

Holm ließ das Netz einziehen, um es vor der Wut des Ungeheuers zu schützen, dann nahm er aus seiner Tasche eine Pistole. „Der Raubgeselle soll daran glauben,“ sagte er. „Paßt auf, Jungens, ich ziele nach dem rechten Auge. Und ihr, Leute, sobald ich geschossen habe, treibt das Boot von der Stelle, damit uns die Schwanzschläge nicht schaden.“

Die Matrosen erfaßten ihre Ruder, alles war still vor Erwartung. Der Hai spielte im Wasser, sein abscheulicher Kopf hob sich handbreit heraus. — —

Da krachte der Schuß. Zu Bergen türmten sich weißschäumende Wogen, schwere Schläge peitschten das Wasser, ein Klatschen und Gurgeln erfüllte die Luft, ein Tropfenregen überschüttete das Boot, und wie im innersten Grunde aufgewühlt, tobte das Meer.

Die Matrosen hatten ihre Schuldigkeit gethan. Zwar tanzte das kleine Fahrzeug wie ein Kreisel auf den Wellen, aber dennoch schlug keine derselben über Bord; als sich das Wasser glättete, war von dem Raubfisch nichts mehr zu sehen. Jedenfalls stak er tot zwischen den zackigen Korallenästen im Grunde.

„Und jetzt heimwärts!“ gebot Holm, der sich von dem richtigen Gang seiner Taschenuhr diesmal vorher überzeugt hatte. „Wir dürfen uns hier durch die Flut nicht überrumpeln lassen.“

Das Boot wurde zunächst zur Fouqué-Insel zurückgelenkt, dort noch der Leuchtturm besichtigt und dann der Dampfer wieder aufgesucht. Die Ausbeute an Schätzen für das Museum war eine ungewöhnlich reiche, die große Muschel allein ein unbezahlbarer Fund; aber als das Schiff an der Korallenbank vorüberfuhr, da sagten sich doch die drei jungen Leute, daß sie auf der Höhe derselben eine Nacht verlebt, deren Schauer ihnen ewig im Gedächtnis bleiben werde. Franz drückte lebhaft die Hand des Malagaschen. „Du bist doch ein guter Kerl, Rua-Roa,“ sagte er, „ohne die Erfrischungen, welche du uns brachtest, hätten wir die Anstrengung kaum überstehen können.“

Die Augen des Halbwilden leuchteten. „Ich habe dich lieb, Herr,“ antwortete er, „darum kam ich. Wollen wir beide den Blutschwur tauschen, du und ich?“

Franz wurde aufmerksam. „Das sagtest du schon früher einmal, Freund,“ versetzte er lebhaft. „Was ist damit?“

„Das sollst du erfahren, Herr!“

Und am Abend desselben Tages, als das Schiff im Hafen von Port St. Louis vor Anker lag, winkte er im Dunkel des Vorderraumes dem jungen Weißen. Seine Hand hielt zwei kleine Stücke Ingwerwurzel und ein scharfes Messer, mit dem er zunächst die Haut über dem eigenen Herzen ein wenig ritzte und dann in das hervorquellende Blut das eine Stückchen tauchte. „Iß!“ sagte er leise, „und thue das Gleiche. Laß mich dein Blut kosten!“

Franz erschrak heimlich. Das war doch eine ganz heidnische Zeremonie.

Aber Rua-Roas Augen baten so beredt, der junge Mensch schien von der Heiligkeit dieses Bündnisses so durchdrungen, daß es grausam gewesen wäre, ihm da, wo er gläubig das Rechte, Gute vermeinte, ein halb komisches, halb sträfliches Heidentum vorzuwerfen. Zudem erinnerte sich jetzt Franz, daß die eingebornen Hovas von Madagaskar den Blutschwur ausschließlich mit ihren vertrautesten Freunden tauschen, und daß der, welcher ihn etwa bräche, als ehrlos gelten würde; er verschluckte daher ohne Widerrede die duftende, mit dem Blute seines neuen Bruders getränkte Wurzel und ließ aus der Haut über seinem Herzen die roten Tropfen hervorquellen, um damit das andere Stück zu befeuchten. Rua-Roa streckte, als er es gegessen, beide Hände aus. „Dein Wille gehört seit dieser Stunde mir, Herr,“ sagte er halblaut in beschwörendem, feierlichem Tone, „und der meinige dir. Wir können nichts thun, einer ohne den anderen, kein dritter kann zwischen uns treten, keine Macht kann das Blutband lösen. Schwöre, daß du niemand verraten willst, was in dieser Stunde geschehen.“

Franz hob die Hand zum nächtlichen Himmel empor. „Bei Gott!“ sagte er leise, selbst wider seinen Willen erfaßt von der geheimnisvollen Feierlichkeit in dem Wesen des Malagaschen. „Bei Gott, Rua-Roa, ich schwöre es dir!“

Der Halbwilde nahm die Hand seines Freundes und legte sie sich auf den Kopf, während umgekehrt seine Rechte Franzens Scheitel berührte. „Ich danke dir,“ sagte er innig, „du hast deinem Sklaven viel geschenkt, aber er wird sich dessen würdig zeigen.“

Franz fühlte eine eigentümliche Beklommenheit. Das war so etwas wie Zauberei oder eine Art von abergläubischem Unsinn; er gratulierte sich, daß es ein Geheimnis bleiben sollte. Wenn sein Erzieher davon erfahren hätte, so würde ihm ein scharfer Tadel sicher gewesen sein. Rua-Roa sollte womöglich auf den Samoa-Inseln von den dortigen Missionaren getauft und in die christliche Kirche aufgenommen werden; er durfte also den heidnischen Brauch seiner Heimat nicht im Herzen festhalten, Franz durfte ihn darin nicht bestärken, aber doch ließ er sich von der Macht des Geheimnisvollen überwältigen; der Eid war geleistet und verlangte nun strenge Heilighaltung.

Mit einem Händedruck trennten sich die beiden jungen Leute, nicht ahnend, welche schwerwiegenden Folgen das seltsame, dem Malagaschen hochfeierliche Spiel dieses Abends späterhin nach sich ziehen sollte.

Doch greifen wir den Ereignissen nicht vor.

Am anderen Tage wurde die Stadt St. Louis besehen, Einkäufe aller Art besorgt und ein Ausflug ins Innere der Insel gemacht, um dort den Bambu-Pik zu ersteigen. Auf dieser Tour füllten sich die Botanisiertrommeln mit vielen bis dahin noch nicht angetroffenen Pflanzen, namentlich einer Phönixart mit roten, prachtvollen Trauben, Mimosen mit scharlachnen, gelben und hellgrünen Blüten und vielen ausgezeichneten Kasuarinen; auch von den beiden hier angesiedelten, ursprünglich amerikanischen Bäumen, der Kampesche und der Agave, wurden Zweige gepflückt. In den Gärten gedieh die wohlriechende Vanille; ganze Felder von Zuckerrohr boten sich dem Blick; Tamarinden bildeten lange, schattige Alleen; aber Getreide wurde nirgends gebaut. Der Bambu-Pik selbst zeigte sich als roter, stellenweise in das schwärzliche hinüberspielender Basalt, dem aller Baumwuchs fehlte, der aber mit dem schönsten, üppigsten Gras bedeckt war. In den Thälern weidete hier und da ein vereinzelter Hirsch, andere Tiergattungen fanden sich jedoch nicht vor; die Übervölkerung der Insel hat sämtliche vorhandene Arten dem Untergange schon längst preisgegeben; von den ursprünglich in den Wäldern angetroffenen Wildschweinen findet sich kein einziges mehr, ebensowenig Schildkröten oder jener große ausgerottete Vogel, die Dronte, der hier auf Mauritius „Dodo“ heißt, und von dem man überall nur noch Knochen besitzt, aber nirgend ein lebendes Exemplar.

Die Aussicht von der Höhe des Bambu-Pik war entzückend schön, obgleich der Charakter dieser ganzen Landschaft keineswegs etwas Großartiges oder gar Wildes besaß. Dörfer und stille, einsame, an Flüssen liegende Mühlen, reiche Gärten und Pflanzungen, dazwischen wenig Wald und über die ganze Insel hinlaufende Straßen, alles umsäumt von den tiefblauen Fluten des Indischen Ozeans, so zeigte sich das Gesamtbild, dessen Einzelheiten trotzdem manches Neue und Überraschende darboten, hier einen Käfer, dort eine Ranke oder ein Stück Erz und dann wieder einen bescheidenen Erdwurm, der sich nicht träumen ließ, daß er heute auf seinen Wanderungen einem raublustigen Feinde begegnen werde.

Ein Tag genügte, um diesen Ausflug zu beenden. Schon der nächstfolgende Mittag sah das Schiff wieder auf hohem Meere, der Insel Ceylon entgegendampfend. „Jetzt kommen wir abermals in die Gebiete wilder Völker und wilder reißender Tiere,“ erläuterte Holm. „Da heißt es, die Sorglosigkeit der letzten Wochen abstreifen und bis an die Zähne bewaffnet sein Leben gegen feindliche Angriffe verteidigen. Wo denken Sie die Insel anzulaufen, Herr Kapitän?“

„Im Norden,“ antwortete der alte Seemann. „Landen wir bei Trincomali oder Galle, so sind wochenlange beschwerliche Reisen notwendig, um in das Innere zu gelangen. Auf der Nordseite dagegen, in den großen Bergwäldern, hausen die Veddas; dort ist Tier- und Pflanzenleben sowie das der Bewohner noch ganz ursprünglich, — ich denke, Sie werden Ihre Zwecke in diesen Gegenden am besten erreichen, namentlich was die Jagd betrifft.“

„Für Waffen und Munition ist gesorgt,“ versetzte Holm. „So können wir denn diesmal das Moschustier erlegen und den malabarischen Schakal.“

Die Knaben freuten sich der Aussicht auf die langentbehrte, aufregende Jagd. Sie erzählten dem Malagaschen so viel von den großen Raubtieren und den Pflanzenfressern, welche er nicht kannte, sie zeigten ihm so viele Bilder von Elefanten, Giraffen und Löwen, daß auch er anfing neugierig zu werden und nebenbei Lani-Lamehs Weisheit in Zweifel zu ziehen. Die Erde sei eine große, flache Scheibe, hatte auf Madagaskar der verschmitzte Zauberer seinen gläubigen Zuhörern eingeprägt, und die Insel selbst schwimme als Mittelpunkt des Ganzen in einem großen Wasser. Alles übrige sei wüstes Land, wo nur die Weißen wohnen, die nichts als Schiffe und Bücher besitzen und von Menschenfleisch leben.

Franz zeigte dem Erstaunten einen Globus, erzählte ihm von der Kugelform der Erde, von ihrer Drehung und bezeichnete mit Stecknadeln Madagaskar, Mauritius und Ceylon. Dann ließ er ihn die Bilder großer europäischer Städte sehen und brachte es allmählich dahin, ihm sagen zu können, daß die „Hammonia“ von Hamburg aus ihre Fahrt angetreten habe, um in die Heimat der Aufklärung und allgemeinen Bildung solche Schätze an Naturalien zurückzubringen, wie sie eben nur der tropische Süden besitzt, und wie sie nur gedacht werden können in einem Lande, wo noch Menschen und Tiere im ursprünglichen Wildheitszustande mit einander um die Herrschaft streiten. — Rua-Roa lauschte fast andächtig diesen Belehrungen seines jungen Freundes. Er ahnte nicht, daß für den weißen Knaben selbst bedeutend mehr als für ihn an Erkenntnis daraus hervorging. Franz dachte der Niederlassungen seines Vaters in der Südsee, und wie vielen Hunderten, ja Tausenden von armen Wilden das Haus Gottfried schon bürgerlichen Wohlstand und Erlösung aus der Nacht tiefster menschlicher Unwissenheit in ihre entlegene Inselheimat gebracht. Der Beruf des Kaufmannes war doch ein schöner, großer, war ein Zweig der hohepriesterlichen Sendung, welche nach Gottes Willen der Mensch dem Menschen gegenüber vollzieht, wo immer dem ärmeren Bruder die Hand gereicht und das Fackellicht der Gesittung in früheres Dunkel getragen wird.

Es sind eben der Wege so viele und der natürlichen Anlagen oder Neigungen so mannigfache; Missionar und Naturforscher brechen Bahn; sie bilden die Pioniere der Zivilisation; sie würden aber ganz ohnmächtig bleiben, wenn nicht der Kaufmann mit großen äußerlichen Mitteln nachkäme und den Gedanken bürgerlich geordneter, christlicher und menschenwürdiger Zustände durch Handel und Wandel zur Wirklichkeit erhöbe.

Es war gewiß, daß Franz nicht mehr beabsichtigte, seinem Bruder dereinst den Thron des väterlichen Kontors allein zu überlassen und selbst fortwährend die Welt zu bereisen; im Gegenteil freute er sich mehr denn je auf die persönliche Kenntnis der Samoa-Inseln und spann schon jetzt weitaussehende Pläne, träumte von Schöpfungen, die erst in fernen Jahrzehnten das Licht des Daseins erblicken konnten.

Rua-Roa lernte emsig. Außer seinen regelmäßigen Unterrichtsstunden widmete er sich mit der ganzen Wißbegier eines aufgeweckten Kopfes allen solchen Dingen, die in einem zivilisierten Lande dem Kinde gleichsam unmerklich, mühelos bekannt werden, und Franz war auf allen diesen Gebieten sein treuer Führer. Die Mühe blieb aber auch nicht ohne Lohn; Rua-Roa, nachdem er erfahren, daß das Katzengeschlecht über die ganze Welt verbreitet ist, und daß es so vielfach der Stellung des verhätschelten Lieblingstieres gewürdigt wird, — Rua-Roa nahm eines Tages Murr auf den Arm und schloß Frieden mit dem alten Rattenbesieger, der schon lange Jahre auf anderen Schiffen nach allen Teilen unserer Erde mit Kapitän und Steuermann Reisen gemacht und dem Leben am Lande ganz fremd geworden war. Auch daß seine Amulette als Kuriosität in das Museum wandern würden, und daß der weiße Hahn — eben ein Hahn war wie alle übrigen auch, wußte und erfuhr der Gelbe, aber die Erkenntnis wurde ihm nicht aufgedrängt, und zugleich mit dem besseren Verstehen kam über seine Seele jene Gewißheit des Christen, daß, wenn auch nichts Irdisches ein guter oder böser Geist oder gar übernatürlicher Kräfte fähig ist, so doch selbst das niederste Wesen zum Werkzeuge Gottes wird. Der weiße Hahn hatte durch seine Nähe die augenblickliche Vollstreckung des Todesurteils erfolgreich verhindert, Rua-Roa lernte aber jetzt erst, daß nur dem göttlichen Willen, nicht dem Werkzeug desselben, der Dank des Menschen dargebracht werden darf.

Während der Fahrt gab es hinreichende Arbeit für die jungen Forscher. Denn auf den Felsriffen und in den kleinen flachen Binnenseen, welche die Koralleninseln bildeten, war eine reiche Beute gesammelt, die zum Versand präpariert werden mußte. Die Seeigel und Seesterne hielten sich in einer großen Bütte, die mehrere Male des Tages mit frischem Seewasser gefüllt wurde, in Gesellschaft der Seerosen und vieler Krebse am Leben, und deshalb gelangten zuerst die Schnecken und Muscheln zur Präparierung, von denen einige bereits einen unangenehmen Verwesungsgeruch aushauchten.

„Von den Schnecken gebrauchen wir die Schale und die — Zunge,“ sagte Holm, „das übrige Tier ist nur ein unangenehmer Ballast.“

„Die Zunge?“ fragte Hans.

„Jawohl,“ antwortete Holm, „die Zunge, diese ist das einzige feste Organ im Schneckenleibe. Sie besteht aus derselben harten Masse, die den Panzer der Käfer und anderer Insekten bildet und ist mit vielen Reihen eigentümlicher Zähne besetzt, mit denen sie die Pflanzenstoffe zerreibt, von denen sie sich nährt. Die Schneckenzungen sind sehr verschieden gestaltet, aber die zu einer Gattung gehörenden Arten besitzen in der Zungenbildung stets große Ähnlichkeit, wenn ihre Gehäuse in Farbe, Form und Zeichnung auch noch so sehr von einander abweichen. Die Zungen dienen daher zur Feststellung der einzelnen Arten und sind den Zoologen, welche sich vorzugsweise mit dem Studium der Konchylien beschäftigen, außerordentlich wichtig.“

Die gesammelten Schnecken wurden mitten auf den Tisch geschüttet, alle setzten sich um denselben, auch der Doktor, der eine Pfeife angezündet hatte, um den üblen Geruch der bereits faulenden Meertiere zu mildern. Holm nahm nun eine der Schnecken und zeigte den Knaben, wie man mit einem krummen kleinen Haken aus Eisen im stande sei, den weichen Körper der Schnecken aus ihrem Gehäuse herauszuziehen, wozu freilich Geduld und Geschicklichkeit gehörte, denn er saß oft sehr fest in den engen Windungen der Schale. Sobald der Schneckenkörper frei dalag, machte Holm mit einem scharfen Messer, dem sogenannten Skalpell, einen Einschnitt in den vorderen Teil desselben und konnte dann nach einigem Suchen mittels einer feinen Pinzette einen länglichen, ziemlich zähen Gegenstand herausziehen — die gewünschte Zunge. Nachdem dieselbe in einer kleinen, mit Spiritus gefüllten Schale abgespült worden war, wurde sie in ein Stückchen Papier gewickelt und in das mittlerweile gereinigte und ausgespülte Schneckenhaus gesteckt, das ebenfalls in Papier gewickelt wurde. So kamen denn stets die wichtigsten Teile, Schneckenhaus und Schneckenzunge, zusammen, und eine Verwechselung konnte später nicht möglich sein.

Als sie unter den Schnecken ein schönes Exemplar der Purpurschnecke fanden, sagte Holm: „Nun werde ich euch eine sehr schöne Zunge unter dem Mikroskop zeigen.“ Er legte die dem Schneckenkörper entnommene Zunge auf den uns bereits bekannten Objektträger, brachte einen Tropfen Wasser auf dieselbe und bedeckte sie mit einem Deckgläschen, das er sanft preßte, um die Zunge etwas breit zu drücken. Die Knaben waren erstaunt, als sie bei einer zweihundertfachen Vergrößerung die spitzen Zähne dieser Zunge erblickten und die Regelmäßigkeit wahrnahmen, mit welcher dieselben sich aneinander reihen. Um ihnen den Unterschied zwischen den einzelnen Formen zu zeigen, präparierte Holm in gleicher Weise die Zunge einer Strandschnecke (Litorina). Hier waren die Zähne weniger spitz, dagegen rundlicher geformt als bei der Purpurschnecke, aus der bereits die Phöniker den blauroten Farbstoff gewannen, mit dem sie die berühmten Purpurgewänder färbten.

Da die Zunge der Strandschnecke in natura um vieles größer war, als die Zunge der kleineren Purpurschnecke, so mußte bei gleicher Vergrößerung das mikroskopische Bild derselben auch bedeutend umfangreicher erscheinen.

Nachdem die Schnecken in der angegebenen Weise präpariert, eingewickelt und fest in eine Kiste gepackt und auf einem Zettel die Fundorte bemerkt worden waren, versah Holm das Kollo mit der Adresse, und bei nächster Gelegenheit konnten diese Schätze abgesandt werden.

„Ein wahres Glück, daß diese Arbeit vorüber ist,“ meinte der Doktor, „meine Geruchsnerven haben kein besonderes Gaudium daran gehabt.“

„Unsere Nasen haben sich bald daran gewöhnt,“ rief Franz. „Einem Naturforscher darf es auf solche Kleinigkeiten nicht ankommen.“

Nun galt es, die Seesterne und Seeigel zu konservieren. Aus dem Raum wurden große Glashafen mit eingeschliffenem, breitem Stöpsel gebracht, in denen sich Baumwolle in Gestalt von Watte befand. Diese wurde herausgenommen, dann schichtete Holm abwechselnd Watte und Seeigel in dem Glashafen auf, damit die Geschöpfe mit ihren zerbrechlichen Stacheln, die oft den Durchmesser des Rumpfes um das vierfache übertrafen, unbeschädigt blieben. Als dies geschehen, füllte er den Hafen mit starkem Spiritus, setzte den Stöpsel ein und verband denselben mit angefeuchteter Blase, um das Verdampfen des Spiritus zu verhüten. In derselben Weise wurde mit den Seesternen und den vielen Krabben- und Krebsarten verfahren.

„Aha,“ sagte Hans, „nun begreife ich auch, warum der Affe teilweise Rum erhielt, denn ohne diese Vorsichtsmaßregel hätten wir nicht genügend Spiritus gehabt, und diese prachtvollen Naturalien wären uns verdorben.“

„Man kann eben nicht haushälterisch genug mit solchen Dingen sein, die in der Wildnis gar nicht zu erlangen sind,“ entgegnete Holm. „Unsere Reise würde nur zur Hälfte ihren Zweck erfüllen, wenn wir nicht im stande wären, die gesammelten Seltenheiten zu konservieren.“

Holm zeigte den Knaben die merkwürdigen Greiffüße der Seeigel unter dem Mikroskop. Diese Füßchen gleichen kleinen, inwendig gezähnten Dreizacken und sitzen auf der kugelförmigen Oberfläche der Seeigel in großer Anzahl. Faßt nun ein solcher Greiffuß ein winzig kleines lebendes Wesen, so gibt er es seinem Kollegen, der es wieder weiter gibt, wie ein Eimer in der Kette der Löschmannschaften von Hand zu Hand geht, bis es von Fuß zu Fuß nach dem an der Unterseite des Tieres liegenden Mund gelangt, in den es als gute Beute spaziert. Man kennt von den Seeigeln über 200 lebende Arten und gegen 1500 Arten versteinerter aus früheren Perioden unserer Erde. Oft werden dieselben im Sande, namentlich aber in der Kreide gefunden.

Aus der großen Riesenmuschel, der Tridacee, wurde der weiche Körper ausgelöst, wie eine Auster aus ihrer Schale. Da sie fest und unzerbrechlich war, wurde sie im Raum der „Hammonia“ festgestaut, wie jedes andere Kollo; ihretwegen brauchte sich niemand Sorge zu machen.

Siebentes Kapitel.

Die Reise nach Ceylon wurde schnell und glücklich beendet; man fuhr am Hafen von Galle und an dem von Kolombo vorüber bis zur äußersten Nordspitze, die freilich nur eine Landung im Boot gestattete. Dafür versprach aber auch der gänzliche Mangel an Kultur und an irgend einem gebahnten Wege die beste Jagdbeute. Vor der Hand mußte man sich ohne Führer behelfen; die Küste war flach und stark mit Sandsteinstrecken versetzt, dazwischen aber lagen schöne, fruchtbare Thäler und ragende Wälder, in denen Palmen von unglaublicher Höhe und zu vielen Tausenden alles andere gleichsam als nebensächlich erscheinen ließen. Stämme von dreißig bis vierzig Meter waren die unbedeutendsten und bildeten das, was in einem deutschen Walde Unterholz heißt, hier noch mit einer Fülle von Sträuchern und Ranken jeder Ausdehnung um den Platz streitend.

Da keine Pferde zu haben waren, marschierte der kleine Zug auf Schusters Rappen in die grüne Wildnis hinein. Jeder Mann hatte seine Wolldecke, seinen Leinensack mit Lebensmitteln, Korbflasche, Pulverhorn, Schrotbeutel und Messer bei sich, und war außerdem mit mancherlei Kleinigkeiten zum Verschenken, mit etwas Branntwein und ein paar kleinen Taschenpistolen, sowie mit Feuerzeug und Wachskerzen versehen. Der Doktor, Holm, zwei Matrosen, die Knaben und Rua-Roa bildeten einen wohlausgerüsteten Entdeckungszug. Sie wollten womöglich die Insel quer durchschneiden, zuerst das Tiefland kennen lernen und dann die Gebirgspartie. Etwa vier bis sechs Wochen waren für diese Reise in Aussicht genommen.

Schon gleich nachdem die ersten tausend Schritte zurückgelegt, entfaltete sich das bunteste, einheimische Tierleben. Auf den unscheinbaren Blüten der Zimtpflanze wiegten sich große, ganz weiße Schmetterlinge; Papageien und Nashornvögel bevölkerten das Dickicht, schlanke Genettkatzen glitten wie Schatten in einiger Entfernung vorüber, und Stachelschweine in beträchtlicher Anzahl lagen faul zusammengerollt unter Blumen. Es waren dies die echten, in Deutschland fehlenden mit den schöngefärbten, großen Stacheln, die auch in allen Häfen der Insel von den Eingebornen zum Verkauf ausgeboten werden; unsere Freunde töteten daher sogleich zwei der schönsten Exemplare, um sich ihrer Stacheln zu bemächtigen; die Jagd nahm so recht frei und unbeschränkt wieder ihren Anfang; alle Herzen schlugen froher, die Gefahr schärfte alle Sinne und lockte mit geheimnisvollem Zauber.

Es ist äußerst angenehm, sich nach bestandenem Abenteuer schwelgend in Sicherheit und Fülle aller Naturreize ausruhen zu dürfen, aber dennoch hat auch der Kampf um neue Güter, neue Genüsse sein unendlich Verführerisches. Wer nichts einsetzt, der kennt auch nicht das Hochgefühl des Sieges, wer nicht mit Mühe errang, der erfährt nie die echte Freude des Besitzes. —

Auf jedem Schritt wurden Schätze entdeckt, und als man sich zum ersten, durch manche frischgepflückte Frucht noch verschönerten Mahl ins Grüne setzte, da schmeckte allen die gewohnte derbe Schiffskost wie etwas ausgesucht Feines. Würziger Hauch wehte über all diese Blütenpracht dahin, Vögel sangen in den Zweigen und große Käfer schlüpften durch das Gras. „Nur entsetzlich viel kriechende Tiere scheint es zu geben,“ meinte Franz, „ich fühle das Krabbeln am ganzen Körper.“

„Ich auch!“ rief der Doktor. „Aber merkwürdig, in der Luft fliegt nichts.“

„Die Bestien stechen!“ mischten sich jetzt zugleich Holm und Hans in diese delikate Unterhaltung. „Ich glaube, auf meinem Rücken allein sitzt ein ganzes Schock.“

Rua-Roa griff unter die weiten Falten seiner Leinenjacke und brachte dann die fünf Finger ziemlich durchnäßt wieder hervor. „Blut!“ sagte er voll Erstaunen.

Alle andern waren bereits beschäftigt, Stiefel und Röcke abzuwerfen; das Brennen in der Haut wurde unerträglich, das Krabbeln wie von tausend kleinen Füßchen reizte ärger als der stärkste Schmerz. Nachdem Franz die Schulter entblößt, zeigten sich nicht weniger als Hunderte von ganz dünnen, an Größe einer länglichen Wanze gleichenden, schwarzbraunen Würmern; alle diese häßlichen Geschöpfe hingen am Körper des Knaben wie — Blutegel! was sie thatsächlich auch waren. Sobald einer gewaltsam entfernt wurde, quoll das Blut aus der Wunde.

Holm lachte. „Rückwärts! Rückwärts, Don Rodrigo!“ rief er lustig, „hier heißt es Fersengeld geben, hier hilft nur das Hasenpanier zum Siege. Nehmt alles, was wir besitzen, und laßt uns aus dem Gebiet der Sandegel so schnell als nur möglich dort hinab an das Ufer flüchten. Die schwarzen Gesellen leben, wo sie einmal sind, zu Myriaden, abschütteln kann man sie nicht.“

„Am besten ist es, wir baden uns,“ rief Franz. „Das Brennen macht ganz ungeduldig.“

„Und wie die Dinger anschwellen! sie saugen uns leer, wenn wir es gestatten.“

Die ganze kleine Gesellschaft machte sich auf und trug Lebensmittel und Gepäck zum Flußufer, wo Holm den Boden, nachdem er ihn untersucht hatte, für frei erklärte. Und dann umspülte das frische Wasser die brennenden Hautwunden, während jedesmal drei von den Männern Wache hielten, und drei die festgeklammerten Egel zum Ertrinken zwangen. Das war ein Aderlaß in aller Form, sogar die Hemden mußten gewaschen und zum Trocknen auf die nächsten Büsche gehängt werden; dennoch erregte das kleine Abenteuer auch allgemeine Heiterkeit, es bildete den Anfang zu neuen Erlebnissen; daher mußte es mit in den Kauf genommen werden, wenn selbst ein wenig Blut geflossen war.

An den Ufern zeigten sich scharenweise die schönen roten Flamingos; Hasen eilten mit den bekannten langen Sätzen über das Flachland dahin, weiße Kakadus wiegten sich auf den Palmen, überall lagen Kokosnüsse reif am Boden, Pfefferpflanzen kletterten von Stamm zu Stamm. Undurchdringliche Dickichte zwangen die Wanderer zum Umkehren. Hierher mochten nur selten Menschen gekommen sein, keine Spur eines Weges ließ sich erkennen, nichts deutete auf die Nähe einer Ansiedelung, mehr als einmal dagegen drang das ferne Brüllen des Tigers zu den Ohren der Weißen, oder stampfte im Galopp eine Büffelherde vorüber, aufgescheucht durch das Erscheinen menschlicher Wesen in ihren Weidegebieten, Hunderte an der Zahl, ziemlich klein und gedrungen, aber von wildem, bösartigem Aussehen. Die Jäger gingen solchen herankommenden Herden aus dem Wege, um nicht angegriffen zu werden; einen der Nachzügler aber schossen sie aus dem Hinterhalt und schnitten einen tüchtigen Braten ab, der abends am mitgebrachten Spieß geröstet werden sollte.

An einer passenden Stelle, wo überhängende Zweige ein dichtes Dach bildeten, wo eine Quelle sprudelte und der Rücken durch eine Felswand gedeckt war, wurde Halt gemacht. Zelte von Leinen, bequem und ohne Regelmäßigkeit zwischen den Bäumen ausgespannt, ein von Kriechtieren gesäuberter Boden und ein paar Wolldecken gaben unter dem milden Himmel ein prächtiges Nachtlager, während vor den Zelten ein Feuer hell und behaglich aufloderte. Das Büffelfleisch wurde am Spieße gebraten, frische Früchte gepflückt und dann ein Nachtessen eingenommen, so köstlich wie nur Jäger im grünen Walde es kennen. Der Rücken war gedeckt, ein feindlicher Angriff nicht möglich, ohne im voraus bemerkt zu werden; das Wetter hatte sich von heißer Mittagsglut zu linder Wärme herabgestimmt, Mücken spielten in der klaren Luft, und auf den Zweigen saßen große, rote Papageien, die neugierig mit schiefgehaltenen Köpfen herabsahen. Jene große Gattung, deren Rücken in Purpur und Blau schimmert, wechselte mit dem schneeweißen Kakadu und dem kleineren, rosa überhauchten Verwandten; Gesellschaftsvögel flatterten dazwischen, und auch den schönen Nashornvogel von der Westküste Afrikas sahen die Reisenden hier wieder. Nur die Affen fehlten, und dadurch ging ein großer Teil der sonst gewohnten Unterhaltung verloren.

Franz und ein Matrose hatten den ersten Teil der Nachtwache übernommen, die anderen schliefen in den Zelten. Fast Tageshelle lag auf der Umgebung, in weitem Blau schimmerten die Sterne, lächelnd sah der Vollmond herab auf das farbenprangende Landschaftsbild; leise flüsternd unterhielten sich der Matrose und der Knabe von Hamburg, ihrer beiderseitigen Heimat, — da knisterte es seitwärts in den Zweigen, so daß die Aufmerksamkeit der jungen Leute erregt wurde. Was würden sie sehen? — Einen Tiger? — Wilde? —

Aber nein. Es waren die zierlichen, schöngefleckten Axishirsche, welche hier in ganzen Trupps an die Quelle kamen, um zu trinken. Schlank wie Rehe, mit großen sprechenden Augen, das Geweih zurückgeworfen, zeigten sie sich dem überraschten Blick, ebensowenig furchtsam wie die Papageien, ebensowenig gewöhnt, Menschen in ihren Wäldern zu sehen wie diese. Fast bis auf sechs oder zehn Schritte kamen sie heran, kleine Kälbchen liefen neben den Müttern, ein Bock mit mächtigem Geweih schien der Anführer des Zuges zu sein.

„Wir wollen nicht schießen, Maat,“ raunte Franz. „Fleisch für morgen ist ja noch genug vorhanden, — es wäre schade um die hübschen Tiere.“

„Hm, hm, junger Herr, da ist nur eins zu bedenken!“

„Und das wäre?“ forschte der Knabe.

„Wenn nun diese Stelle hier am Wasser ein Trinkplatz ist? Wenn noch mehr und vielleicht nicht so harmlose Tiere herkämen?“

Noch während er sprach, erdröhnte von fern die Erde, als wenn eine reitende Batterie darüber hinwegeilte. Ein heller, trompetenartiger Ton klang durch die Luft, Zweige brachen und knackten, von der anderen Seite des schmalen Wasserarmes her kamen aus dem Walddunkel graue Riesengestalten hervor, ungeheure Kolosse trabten heran, dazwischen kleinere bis herab zu kaum dreitägigen und neugeborenen Rüsselträgern. Etwa dreißig Elefanten standen am Quell und löschten ihren Durst.

Die Axishirsche nahmen von dieser Nachbarschaft keinerlei Notiz, sie lagerten sich vielmehr in ungestörter Ruhe am Uferrand, die Jungen tranken nach Herzenslust an den Zitzen der Mütter, und die Alten benagten spielend, in der Fülle des Gebotenen schwelgend, die üppigen Grasspitzen ringsumher oder die blütenschweren Ranken, welche von den Bäumen herabhingen.

Franz kroch lautlos in das Zelt und weckte die anderen. Ein zugleich so friedliches und so großartiges Bild wurde dem Blick vielleicht nicht zum zweitenmale geboten, eine Herde von Elefanten sah man nicht alle Tage.

Rua-Roa schien bei dem Anblick der Kolosse im ersten Schrecken entfliehen zu wollen. Er ließ sich gar nicht überzeugen, daß die trompetenden Dickhäuter ohne Menschenfleisch zufrieden sein könnten, und etwas wie eine Erinnerung an Angatsch den Bösen und alle seine Tücke zog wieder durch das halbzivilisierte Gemüt. „Schieße nicht!“ bat er beklommen, „schieße nicht. Wer weiß, was sie im Schilde führen?“

Holm lachte. „Hast du die Bilder von Elefanten, welche wir dir gezeigt, gänzlich wieder vergessen, Junge? Glaubst du, daß uns der Anblick dieser Tiere überrascht?“

Der Malagasche errötete. „Aber du könntest doch den großen Körper nicht fortbringen, Herr, auch wenn du ihn getötet hättest,“ versetzte er ängstlich.

Holm schwankte. „Einen dieser prachtvollen Stoßzähne würde ich doch außerordentlich gern erbeuten! — was meinst du, Franz?“

„Wir schleichen bis zu den drei Tamarindenstämmen, Karl, da! zu denen, die ganz dicht neben einander stehen,“ flüsterte eiligst der Knabe. „Es kann uns in dies Versteck kein Elefant nachkommen, — die anderen mögen auf Bäume klettern.“

„Ich will mit Ihnen,“ nickte der Matrose. „Ihr Gedanke ist gut.“

Als der Malagasche sah, daß keine Gegenrede den Jagdeifer der Weißen erschüttern konnte, nahm er schnell seine Kugelbüchse und kroch durch das Unterholz den Vorangegangenen nach, während der Doktor und Hans in einiger Entfernung Posto faßten, um nötigenfalls den wütenden Riesen von anderer Seite bekämpfen zu können. Der zweite Matrose blieb vor den Zelten im Anschlag liegen.

Die Axishirsche hatten ihre schönen, schlanken Köpfe gedreht und horchend einen Augenblick lang Miene gemacht zu entfliehen, dann aber, als sie niemand sahen, kehrte die frühere Ruhe zurück; ein leichter Wind strich spielend über ihre Stirnen dahin, sie schnupperten sorgfältig, — nichts Verdächtiges störte den Frieden ringsumher.

Holm und Franz drangen vor bis an die Gruppe von Arekapalmen und Tamarinden. Hier inmitten von wenigstens zehn Stämmen waren sie gegen den Zorn der Elefanten vollkommen geschützt.

Rua-Roa fühlte sich etwas beklommen; er tastete unruhig wie in halber Zerstreutheit an derjenigen Stelle seiner Brust, wo früher die schützenden Amulette zu hängen pflegten. Sein Blick durchdrang spähend die grünen, blütengeschmückten Umgebungen.

„Der da!“ raunte Holm, „der große, rechts von den beiden Kälbern. Die Zähne sind wahre Prachtexemplare.“

Er legte an, schon zuckte der Finger zum Drücker des Gewehres, da berührte die Hand des Malagaschen seinen Arm. „Ein Kopf, Herr, ein gelbes Tier! — siehst du nicht dort die funkelnden Augen?“

Holm ließ das Gewehr sinken. „Gelb?“ fragte er rasch, „wo denn? — Ach, bei Gott, ein Tiger!“

Gleich einem Blitz schoß die Raubkatze im Sprunge über das Gebüsch dahin. Wenigstens sechs Meter durchmaßen die geschmeidigen Glieder, der lange Schweif flog hinter ihm durch die Luft, ein mißtönendes Geschrei erschreckte die Tierwelt ringsumher. Gleich Schatten waren die Hirsche entflohen, kreischend und flatternd verbargen sich die Papageien im Gezweig. Der Tiger hatte ein junges Elefantenkalb zum Opfer ausersehen, sein plötzlicher Überfall warf das wehrlose Tier zu Boden, er biß mit den gewaltigen Zähnen in die Kehle des Halberstickten, jammervolles Klagegeschrei erfüllte die Luft, Ströme von Blut rannen über das Gras dahin.

Die alten Elefanten schienen indessen keineswegs gesonnen, den Räuber ihres Kleinen ungestraft entkommen zu lassen. Ihr Gebrüll widerhallte an den fernen Bergwänden, wütende Angriffe mit dem Rüssel hoben in diesem Augenblicke den Tiger hoch in die Luft empor, um ihn am Boden zu zerschmettern, im nächsten hatte er sich durch sein scharfes Gebiß befreit und hing jetzt als der Stärkere buchstäblich mit den Zähnen im Fleische eines Elefanten. Dieser ungleiche Kampf des Einen gegen so viele konnte indessen nicht von langer Dauer sein. Der Tiger wehrte sich wie ein Verzweifelter, auch sein Blut floß, die rote Zunge hing lechzend aus dem Rachen hervor, der Schweif peitschte den Boden, heiser und immer heiserer klang das wütende Gebrüll. Die Elefanten traten ihn, ihre Stoßzähne bohrten sich in seinen Leib, sie warfen ihn von einer Stelle zur anderen und wichen dann selbst schäumend vor Wut zurück, wenn ihre empfindlichen, weichen Rüssel die Kraft seiner Bisse fühlten.

Besonders den großen, alten Elefanten, ein Männchen mit gewaltigem Kopfe, hatte er bös zugerichtet. Der Koloß zeigte zerfetzte Ohren, aus dem Rüssel waren große Stücke Fleisch gerissen und an manchen Orten hing die Haut, von den Pranken der Raubkatze erfaßt, in Lappen herab. Das Tier brüllte vor Schmerz, die ganze mächtige Gestalt schwankte, der Kopf triefte von Blut, aber dafür wurde ihm auch die Genugthuung, seinen Feind jetzt völlig besiegt zu sehen. Der Tiger lag, zum formlosen Klumpen zertreten, unter den Füßen der grauen Kolosse; er atmete nicht mehr, das schöne Fell war bis zur Unkenntlichkeit besudelt und zerstampft, alle Rippen zerbrochen und der Kopf zerquetscht.

Neben seinen verstümmelten Überresten lagen die des getöteten Elefantenkalbes, und nach allem Toben, allem Kampf der letzten Viertelstunde war es traurig zu sehen, wie sich die Mutter des kleinen Geschöpfes bemühte, es wieder in das Leben zurückzurufen. Sie beroch und betrachtete es, versuchte mit dem Rüssel seinen Kopf aufzuheben und emporzuziehen. Als alles vergeblich war, stieß das Tier mit zurückgelegtem Kopfe ein erschütterndes Klagegeschrei in die Luft hinaus, so ganz anders wie das Wutgebrüll der Männchen, so trostlos und gramvoll, daß es die Herzen der zuhörenden Männer rührte. Diese beraubte Mutter schrie nach ihrem Kinde, alle verstanden den Ton, alle gönnten es dem Tiger, daß er für seine Unthat bestraft worden war.

„Und doch hat auch er vielleicht Junge im Nest, denen er Futter zutragen wollte,“ sagte endlich wie in Beantwortung seiner eigenen Gedanken der junge Gelehrte. „Krieg ist das Losungswort der Tierwelt, eine Gattung immer die Bekämpferin der anderen. — Jetzt aber wollen wir, als die vornehmsten, mit den stärksten Waffen versehenen Räuber, doch dem alten Herrn da den Garaus machen. Der Tiger hat uns bestens vorgearbeitet.“

Er zielte nochmals, und die schwere Kugel drang dem Elefanten in das Auge, um ihn auf der Stelle zu töten. Die Erde dröhnte, als er fiel.

„Ah! — die beiden Stoßzähne hätten wir sicher.“

Holm wollte sogleich aus dem Versteck hervortreten und sich seiner Beute bemächtigen, aber der Matrose warnte ihn vor der bekannten Hinterlist der Elefanten, weshalb er wartete, bis sich die großen Tiere, erschreckt durch mehrere ihnen zugesandte Schüsse, endlich entfernt hatten. Die Walstatt selbst bot einen furchtbaren Anblick. Überall war die Erde fußtief aufgewühlt, Lachen von gerinnendem Blut füllten die tieferen Stellen, Gebüsche und schwächere Baumstämme lagen zertreten, Ranken zerrissen und Blumen geknickt. Dazwischen die zermalmten Tierleichen, — so fanden Holm und Franz das Gesamtbild, als sie mit den anderen kamen, um die Stoßzähne des großen Elefanten herauszubrechen. Das Handbeil des Matrosen leistete dabei die besten Dienste, es gelang über alles Erwarten gut, und schon waren die Jäger im Begriff, den Rückweg zu ihren Zelten anzutreten, als von einiger Entfernung her ein leises Wimmern oder Pfeifen die nächtliche Stille durchdrang. Es hörte sich an, als weine ein kleines eigensinniges Kind, oder wie Katzengeschrei.

Alle horchten. Da klang es nochmals. Ein größeres Tier konnte es unmöglich sein.

Die ganze Gesellschaft ging dem Schall nach. Im Widerspruch mit den Gewohnheiten wilder Geschöpfe verstärkte sich bei dem Näherkommen der Männer das Wimmern, es tönte deutlicher und immer deutlicher, bis zuletzt Franz als der erste im Zuge seitwärts vom Wege ein Nest aus dürren Halmen entdeckte und darin zwei junge Tiger, die, kaum größer als Ratten, vielleicht erst seit dem gestrigen Tage lebten und sich ängstlich verkrochen, als der Knabe in ihren Schlupfwinkel sah. Bei der ersten Berührung versuchten die zahnlosen Mäulchen zu beißen.

„Richtig so wie ich mir dachte,“ nickte Holm. „Die säugende Mutter hat es, vom Hunger getrieben, gewagt, das Elefantenkalb inmitten seiner Herde anzugreifen und ist dabei der Übermacht erlegen. Was fangen wir an mit diesen kleinen Schreihälsen?“

„Totschlagen!“ entschied der Doktor. „Sie können dann keinesfalls mehr schaden.“

„Es ist auch barmherziger, sie auf einen Schlag zu töten als dem langsamen Verhungern auszusetzen,“ meinte der gutmütige Hans.

„Ich will euch etwas sagen,“ rief Franz. „Morgen müssen uns doch höchstwahrscheinlich Eingeborne begegnen, denen zeigen wir das Nest. Halberwachsene Tiger werden von den Hamburger und Londoner Tierhändlern bis zu tausend Thalern bezahlt.“

„Topp!“ versetzte Holm. „Das klingt vernünftig. Selbst zum Ausstopfen sind die Dinger noch zu klein, — wir können für unsere Zwecke nichts damit anfangen.“

Die Richtung und Entfernung von der Quelle wurde nun genau festgestellt, die Elefantenzähne wie Gewehre geschultert und der Rückweg angetreten. Holm und Rua-Roa bezogen die Wache, später von Hans und dem zweiten Matrosen abgelöst, und kein weiteres Ereignis störte den Schlaf, der bis zum hellen Morgen dauerte.

S. 208.

Die Ruinen auf Ceylon.
„An einer Stelle mitten im dichten Walde, von tausend Ranken und blühenden Flechten überzogen, harrte der Reisenden ein unerwarteter Anblick.“

Der Rest des Büffelfleisches wurde gebraten, um zu jeder Zeit und an jedem Orte verzehrt werden zu können, die Zelte abgebrochen, und nun ging es weiter durch den Wald dahin; unermeßliche Strecken von Tiefland mit Kokosbäumen dicht besetzt, Hochebenen voll der schönsten Palmen, Kaffeefelder, Zimtfelder, Massen von Kardamomen, von Eben- und Sapanholz, ebenso wieder der Brotbaum, der Dschambu- und Kaschubaum, alles wechselte in erdrückender, sogar Afrikas Üppigkeit übertreffender Fülle. An einer Stelle mitten im dichten Walde, von tausend Ranken und blühenden Flechten überzogen, harrte der Reisenden ein unerwarteter Anblick. Neben und unter den schlanken Palmenstämmen erhoben sich die grünbewachsenen Ruinen einer ehemaligen Stadt, Steinmauern, deren letzte Bruchstücke hier dem Zahn der Zeit Trotz boten, die vielleicht vor vielen Jahrhunderten einer wohlhabenden und gebildeten Bevölkerung als Wohnsitz gedient hatten. Holm jubelte, obwohl dieser Fund weniger in das naturwissenschaftliche als vielmehr in das kulturhistorische Gebiet hineingehörte. Da waren uralte Treppenstufen aus Granit, gebrochene Säulen, Pfeiler, an denen selbst die Jahrhunderte mit ihren Stürmen und Regenfluten nicht zu rütteln vermocht hatten, und als die Reisenden weiter vordrangen, in der Mitte dieser versunkenen, uralten Stadt ein ausgemauerter Teich, oder doch die Steinfassung eines solchen, wenn auch das Wasser längst versiegt sein mochte. Über alle diese Zeugen einer toten, großartigen Vergangenheit aber wob die Gegenwart ihren grünen, blütengestickten Schleier. Wo einst ein Tempel gestanden, da sandte von tausend Ästen die Tamarinde ihre erquickende Frucht der Hand des Wanderers entgegen; wo sich müde Menschen zur Ruhe gebettet, da hob die schöne malabarische Ziege spähend vom Nest ihre Hörner, und unter den Stufen der gewundenen Treppen hausten Moschusratten, die bei der Annäherung von Fremden eilends in ihre Löcher schlüpften, deren zwei oder drei aber doch erlegt wurden, um sie den übrigen Schätzen dieser Reise zuzugesellen. Auch ein junger Bock mußte das Leben hingeben und gleich an Ort und Stelle als Braten dienen. Die Steinstufen boten einen vorzüglichen Herd, Feuer war bald entzündet, und in der Blechpfanne schmorte und brodelte es. Holm mit den Knaben suchte nach Früchten, wobei wieder eine neue Entdeckung gemacht wurde. Ein einsamer uralter Feigenbaum, der „Bo“, wie ihn die Eingebornen nennen, hoch und von mächtiger Breite, überschattete einen steinernen, nur noch als Ruine dastehenden Tempel der ehemaligen Buddhisten; seine Blätter waren gleich denen der Pappel in beständigem Zittern begriffen, eine Art von Altar befand sich im Innern, und das Ganze lag malerisch im Halbschatten verhüllt. Hoch oben sangen Vogelstimmen ein helles Jubellied, der Wind spielte in den Zweigen, die zutraulichen Ziegen weideten überall auf den Abhängen, und unten im Thale stieg der Rauch des Herdfeuers wirbelnd zu den Wolken empor.

„Hier haben vor tausend Jahren indische Weise gelehrt und geherrscht,“ sagte beinahe feierlich der junge Naturforscher, „jeder dieser Steine gibt Zeugnis von einer großen, reichen Vergangenheit, — heute gehört das Gebiet den Raubtieren, und seine Einwohner sind Wilde.“

„Ob wir doch endlich welche sehen werden?“ rief Franz.

Der Wunsch sollte sehr bald in Erfüllung gehen. Als die kleine Gruppe auf Steinblöcken und Stufen um das Feuer herum Platz genommen und den Braten zerlegt hatte, teilten sich plötzlich in einiger Entfernung die Büsche, und braungelbe hübsche Gesichter sahen hervor. Auf allen diesen Zügen lag Verstand und Gutmütigkeit zugleich, das Haar hing schwarz und seidenartig lang über die breiten, kräftigen Schultern herab, weiße Mützen saßen keck auf den Köpfen, und die Spitzen mehrerer Eisenwaffen schimmerten durch das Grün.

Im ersten Augenblick erschraken unsere Freunde oder faßten doch maschinenmäßig nach ihren Gewehren. Man konnte ja immerhin nicht im voraus wissen, wie die dunkeln Gestalten den Besuch aufnehmen würden. Holm erhob sich und ging ihnen entgegen, ebenso schnell und noch schneller tauchten die Wilden zurück in das Grün; erst als er einen lauten Zuruf in den Wald hineinschickte, erschienen hier und da einige der dunklen Gesichter und als auch die übrigen Weißen aufstanden und mit ausgestreckten Händen näher traten, da kamen die Gestalten ganz zum Vorschein. Weiße Mütze, Jacke und eine Art von kurzer Schürze, alles aus feinem, leichtem Gewebe gefertigt, so zeigten sich ohne die geringste Bekleidung der Beine oder Füße die Singhalesen, wenigstens sechzehn bis zwanzig an der Zahl, sämtlich bewaffnet, aber mit den friedlichsten Gebärden die Europäer begrüßend. Mehrere unter ihnen verstanden die englische Sprache, es ließ sich also ohne Mühe eine Unterhaltung anknüpfen, und bald hatten sich die Weißen und Braunen bunt durcheinander in das Moos gelagert; nur fünf von den Farbigen waren in einiger Entfernung stehen geblieben, als gehörten sie nicht zu den anderen.

„Rufe deine Freunde, Tippoo,“ wandte sich Holm an den Häuptling, nachdem er dessen Namen erfahren und seinen Rang kennen gelernt hatte. „Weshalb sind die Leute so scheu?“

Der Singhalese schüttelte den Kopf. „Diese Männer sind meine Sklaven, Sahib, sie dürfen nicht sitzen, so lange ich gegenwärtig bin, sie können auch das Mahl nicht mit mir teilen und dürfen nur antworten, wenn ich frage.“

Der Doktor näherte sich dem Häuptling. „Aber du gestattest heute einmal eine Ausnahme, nicht wahr, mein werter Tippoo?“ fragte er. „Diese Armen, die du Sklaven nennst, sind nicht minder Gottes Geschöpfe wie du selbst, überhaupt kann nie ein Mensch dem anderen wie eine Sache oder ein Tier gehören.“

„Gewiß, Sahib, diese Leute gehören mir! Ihre Väter haben meinem Vater gehört und ihre Söhne werden meinen Söhnen gehören.“

„Und da ist kein Freikaufen, keine Erlösung möglich? Das Kind des Sklaven wird unter allen Umständen wieder ein Sklave?“

„Natürlich. Habt ihr nicht im Abendlande auch Häuptlinge, Freie und Sklaven?“

Der Doktor schüttelte energisch den Kopf. „Sklaven nirgends, Freund Tippoo, nirgends, ich gebe dir mein Wort darauf. Und nun gestatte, daß deine Diener hieherkommen.“

Aber das war vergebliche Mühe, der stolze Singhalese blieb unerbittlich; er schien es gar nicht als möglich zu betrachten, daß sich seine Sklaven dem Umkreise des Feuers nähern könnten. Zur Jagd auf Felle und junge Tiere nahm er sie mit sich, aber doch nur ihrer Dienste wegen, nicht als Gefährten. Und ganz wie er dachten auch die anderen braunen oder olivenfarbigen Söhne der Wildnis. An keinem europäischen Hofstaat konnten die Klassengegensätze und der Adelsstolz stärker entwickelt erscheinen als hier im grünen von Tigern und Elefanten bewohnten ceylonischen Walde. Die Singhalesen erwiesen sich höflich, zuvorkommend und bescheiden, sie erboten sich zu Führern und luden die Fremden ein, bei ihnen im Dorfe zu wohnen, aber um keinen Preis hätten sie vermocht werden können, von dem gebratenen Ziegenfleisch auch nur einen Bissen zu genießen. Schaudernd lehnten sie ab, was ihnen angeboten wurde, und nahmen nur von einer Art aus Maniokmehl bereitetem, platten Kuchen, den die Sklaven ihnen in große Blätter gewickelt nachtrugen. Das Fleischessen sei von ihren Priestern strenge verboten, erklärte Tippoo, kein Anhänger der buddhistischen Religion dürfe es genießen, eben so wenig berauschende Getränke.

Diese Ansicht wurde natürlich von den Weißen durchaus respektiert; weniger zufrieden waren sie, als der Singhalese auch das Pflücken der Feigen, insoweit es den heiligen Bobaum betraf, mit der diesen sauberen, hübschen Leuten eigenen gebietenden Hoheit ohne weiteres untersagte. „Wenn ihr unsere Gäste sein und friedlich unter unserem Volke leben wollt,“ sagte er, „so heißen wir euch willkommen in Singhala (so nennen die Eingebornen ihre Insel) und laden euch ein, unsere Hütten zu teilen, aber den Sitten des Landes müßt ihr euch fügen und vor allem unsere Götter ehren. Pflückt Feigen, wo ihr wollt, meine Sklaven sollen euch die schönsten zu Füßen legen, aber berührt nicht den Baum Buddhas.“

Das wurde versprochen und den Knaben eingeschärft, unter keiner Bedingung heimlich von der verbotenen Frucht zu naschen; dann kam auf die Bitte, welche Hans seinem Lehrer zuflüsterte, die Angelegenheit der verlassenen kleinen Tiger zur Sprache. Tippoo kannte den bezeichneten Ort, und zwei Sklaven machten sich auf, um die beiden jungen Raubgesellen herbeizuholen. Einige Wochen älter waren sie in Galle oder Trincomali doch immer ihre hundert Thaler wert.

Nachdem man gegessen und getrunken, mußten die Sklaven das Gepäck schultern und dann wurde der Weg zum Dorfe angetreten. Diese Gegend lag noch weit von dem eigentlichen Ziel der Reise entfernt; die Singhalesen konnten nicht wohl Wilde genannt werden, sie betrugen sich höchst anständig und hatten gutgearbeitete Waffen; zum Lande der schwarzen Veddas aber waren sie gewiß die tauglichsten Führer. Tippoo selbst wollte den Weg zeigen, d. h. wenn die Weißen gut bezahlten, es schien als habe der braune Heide die Rechenkunst sehr sorgfältig studiert. „Die Veddas sind schmutzige Gesellen,“ berichtete er, „sie essen jedes Tier, das ihnen in den Wurf kommt, zuweilen sogar roh, und wohnen wie die Sklaven auf ebener Erde.“

Franz sah ihn an. „Wohnen denn die Singhalesen — etwa auf den Bäumen?“ fragte er belustigt.

„Gewiß, die Vornehmen, die Vellalahs wohnen auf Bäumen!“

„Mit Kind und Kegel, mit Küche und Haustieren? — Nicht möglich!“

„Die Tiere haben ihre Ställe am Boden,“ berichtigte der Braune, „auch gekocht wird vor der Hütte. Aber du sollst gleich unser Dorf sehen, Fremder.“

Noch eine kurze Strecke wurde zurückgelegt, dann ertönte von den Lippen der Weißen wie auf Verabredung ein allgemeines „Ah!“ der höchsten Überraschung. Es war ein lachend schönes, ländliches Gemälde, das sich jetzt auf freier Hochebene dem erstaunten Blick entrollte. Weite Äcker, wohlgepflegt und umzäunt, dehnten sich fast unübersehbar, Kaffee und Zimt, Mais und Maniok, dazwischen Erbsen, Bohnen, Lupinen und Beerenfrüchte in Menge, so drängte sich Schattierung an Schattierung, so lockte es von hundert Punkten zugleich das Auge. Das Seltsamste aber waren in diesem Singhalesendorf die Häuser selbst. In Entfernungen von etwa fünfzig Schritten standen alte, weitästige, mit ungeheuren Stämmen versehene Bäume, meistens Tamarinden oder Brotbäume, und in jedem dieser Riesen hing gleich einem Vogelnest auf den untersten Zweigen eine menschliche, aus Bambusstäben luftig geflochtene Wohnung. Die Äste waren derart behauen und eingerichtet, daß sie Raum in Fülle boten, die abgeschnittenen, biegsamen Stäbe hatte man sinnreich und geschickt an allen Ecken mit den lebenden verbunden, das ganze Haus bog sich wie der Baum selbst nach jedem Windstoß, so daß es nie von der Wucht desselben herabgeschleudert werden konnte; es hatte Fensteröffnungen nach allen Seiten, obgleich freilich die Glasscheiben fehlten, und eine mit einem Mattenvorhang versehene Thür. Das spitze Dach war von Rankengewächsen und Blumen vollständig überwuchert, rauschende Zweige schlugen über dem Giebel zusammen, bunte Papageien wiegten sich im Laube, Singvögel schmetterten ihre Lieder. Es konnte nichts Reizenderes geben als diese laubenartigen, von paradiesischer Schönheit rings umfluteten Wohnungen, zu denen starke Strickleitern aus selbstgebautem Hanf hinaufführten. So unsolide und gewagt die Sache auf den ersten Augenblick scheinen mochte, so zweckmäßig erwies sie sich bei näherer Betrachtung. Wenn abends diese Strickleiter von den Bewohnern heraufgezogen wurde, dann gab es weder für Menschen noch für Tiere ein Mittel den Zutritt zu erzwingen.

Rings im weiten Kreise umgab jeden Baum eine Einzäunung von Bambusstäben, diesem unentbehrlichsten aller Lebensbedürfnisse des Tropenbewohners, eine dichte, grüne, lebende Hecke, die das Notwendige fortwährend ergänzte, wo Baumaterial, Stacketpfähle, Wasserbehälter, Dosen und hundert andere Geräte lustig in immer grüner Fülle aufschossen als schlanke Zweige, die sich unter den Händen der Eingebornen so vielfach verwandelten und umgestalteten. An die Hecke lehnten sich Ställe für Ziegen und Hühner als die einzigen bekannten Haustiere, und weiterhin in größerer Entfernung von dem Stamm selbst lagen die Hütten der Sklaven, alles Bambusgeflechte wie das Haus oben in den Zweigen. Vor der Thür so zu sagen, d. h. am Fuße des Wohnungsbaumes, lagen Steine und Trümmer aus den Waldruinen als Herd aufgeschichtet; ein großer platter Stein zum Zerquetschen des Getreides befand sich daneben und am Dreispitz von Eisen hing ein Kochgeschirr aus demselben Metall.

Ziemlich durch die Mitte der Niederlassung floß ein klarer Quell, und auch hier beschattete ein alter, weitästiger Bobaum einen Tempel Buddhas, einen Dagop, wie ihn die Eingebornen nannten. Der Altar hatte Kugelgestalt, war inwendig hohl, um die geheiligten Schriften der Priester aufzunehmen und trug auf der oberen Fläche eine zilinderförmige Erhöhung. Des Priesters Hütte befand sich in den Zweigen des heiligen Baumes, und der Bewohner selbst saß in der offenen Thür, ein Greis mit weißem Haar und lang bis auf die Füße herabwallendem weißen Gewande. Er grüßte mild und freundlich wie ein Vater seine heimkehrenden Kinder, und alle erwiderten den Gruß. Das ganze Dorf in den Lüften machte einen höchst angenehmen, wohlthuenden Eindruck.

Tippoo öffnete die Thür einer der größeren, im Augenblick leerstehenden Sklavenwohnungen. „Ich weiß, daß euer Volk keine Schmach darin sieht, auf plattem Boden zu schlafen,“ sagte er, „richtet euch darum häuslich ein, damit ihr ungestört und ungehindert euren Neigungen nachleben könnt. Maniokkuchen und Früchte bringen euch meine Sklaven; wollt ihr aber Fleisch essen, so müßt ihr selbst die Tiere erlegen und zubereiten. Mein Haus betrachtet wie das eure.“

Damit entfernte er sich und ließ seine Gäste allein. Die Hütte welche sie jetzt bewohnten, war noch luftiger als das Staatsgefängnis auf Madagaskar, frisches, duftiges Moos bildete, von den Sklaven herbeigebracht, die Lagerstatt; eine lange Bambusröhre diente als Wasserbehälter, und die Speisen wurden in einem Winkel auf den Fußboden geschüttet. Natürlicher, paradiesischer konnte das Dasein nicht gedacht werden, schöner die Umgebung, reiner die Luft nirgends auf Erden sein. Der Thürvorhang wurde zurückgeschoben, die leinenen Kleider mit frischen vertauscht und dann das Dorf und das Haus des gastfreien Häuptlings in Augenschein genommen. Franz kletterte zuerst hinein. „Ich bitte euch,“ rief er, „folgt nicht alle zugleich; wenn der Käfig niederbräche, wären wir verloren.“

Holm kletterte nach, die anderen setzten ihren Spaziergang fort, und die beiden Matrosen wuschen unterhalb des Dorfes im Bache das Leinenzeug, wobei ihnen hübsche Sklavenfrauen nicht allein halfen, sondern auch eine selbstverfertigte, sehr gute Seife brachten. Die Unterhaltung der Hamburger Teerjacken mit den neugierigen, schwatzhaften Singhalesinnen gestaltete sich höchst lustig, so daß das beiderseitige heitere Lachen über den freien Platz dahinschallte; unterdessen spielten oben im Baume der junge Gelehrte und Franz bei der Gemahlin Tippoos die galanten Kavaliere. Sie setzten sich nicht ohne einige heimliche Besorgnisse auf den Fußboden, der so neidlos den Durchblick freigab, und ertrugen auch nicht ganz ohne Schmerzen die Abwesenheit jeglicher Stühle oder Polster, aber die Anstandsvisite bei der holdlächelnden, mit prachtvollen Zähnen und vielen aus Muscheln geflochtenen Verzierungen geschmückten Dame ging doch in aller Form vorüber, obwohl Frau Häuptling Tippoo kein Wort englisch und unsere Freunde wiederum kein Wort singhalesisch sprachen, sondern beide Teile einander nur eine Zeitlang entgegenlächelten und von seiten der Herren ein kleiner Spiegel, von seiten der Dame einige besonders schöne Muscheln, Meerhörner, Lazarusklappen und Wendeltreppen als Geschenke ausgetauscht wurden. Späterhin, nachdem der Doktor und Hans die gleiche Höflichkeitspflicht erfüllt, versammelten sich vor dem Schlafengehen alle neben dem Baume und hielten gemütlich im Grase liegend noch ein abendliches Plauderstündchen, wobei Tippoo von den buddhistischen Göttern erzählte und seinerseits aufmerksam zuhörte, als die Fremden von europäischen Einrichtungen sprachen. Ganz zuletzt kamen die beiden Sklaven mit den aufgefundenen Jungen der Tigerin nach Hause, und nun erwachte erst die Freude der Knaben. Aus dem Stall wurde eine der schönen, seidenlockigen malabarischen Ziegen hervorgeholt und ihr die kleinen halbverschmachteten, nur noch schwach wimmernden Raubtiere an die mütterlichen Euter gelegt, — aber das Experiment gelang nicht so ohne weiteres. Die Ziege sprang, so bald sie den Erbfeind gewahrte, auf die Hinterbeine, senkte den schöngeformten Kopf wie zum Angriff und schien entschlossen, den labenden Quell, welcher ihrem lustig herumspringenden Böckchen gehörte, gegen jedweden Angriff zu verteidigen; erst die gütlichen Zureden ihres Wärters und vielleicht das jammervolle Klagen der hungernden Tierchen, dem sie offenbar lauschte, bewogen die Ziegenmama, diesmal ein übriges zu thun. Ein Blick auf die gefüllten Vorratskammern mochte ihr sagen, daß für das impertinente, streitlustige Böckchen jedenfalls noch genug übrig sei, und so legte sie sich denn großmütig in das Gras, es den Tigern überlassend, sich am Quell zur Sättigung zu verhelfen. Ja, nachdem die Halbverdursteten herzhaft zugegriffen, erwachte sogar in der friedfertigen Amme das mütterliche Erbarmen mit den hilflosen Säuglingen; sie besah die kleinen, scheckigen Kätzchen, besah sie nochmals und leckte dann gutmütig die Fremden, wie sie es sonst ihren eigenen Kindern that.

Nach einer Viertelstunde waren die kleinen Tiger so rund wie Muffen und schliefen den Schlaf gesunder Sättigung, während ihre Pflegerin mit den großen Augen im Kreise umhersah und der Milchbruder Bock neben den Eindringlingen sich gelagert hatte, um auch seinerseits den Nachttrunk einzunehmen. Franz zeichnete emsig. Von allen besonders schönen und interessanten Augenblicken hatte er sich im Album eine dauernde Erinnerung gesichert, auch dieses Bild sollte darin Platz finden.

Für die Nacht wurde den Tigern noch ein Logis im Ziegenstall angewiesen, wo sie bleiben sollten, bis ihnen Zähne gewachsen und mit diesen die Raubgelüste erwacht wären; dann würde es fortgehn nach Galle und von da nach Europa. — Tippoo zog oben im Baum die Strickleiter ein, vor allen Thüren erschienen die Musselingardinen und das Vogelgezwitscher verstummte; müde von langer Wanderung streckten sich die Weißen auf das Mooslager.

Hier brauchte niemand zu wachen; bis in die Niederlassung hinein wagte sich kein Raubtier. Holm ließ sogar die Thür offen, um der milden, gewürzigen, von tausend Wohlgerüchen durchtränkten Luft Zutritt zu gewähren; bald hatte ein weicher Schlummer seine Sinne umfangen.

So mochten Stunden vergangen sein, der Mond stand hoch am Himmel, alles schwieg und ruhte; nur die Blätter des Bobaumes flüsterten im Wind, — da erwachte der junge Gelehrte, als habe ihn plötzlich jemand gerufen. „Franz,“ sagte er leise, „sprachst du?“

Keine Antwort. Die tiefen Atemzüge des Gefährten verrieten ihren ruhigen Schlaf, — was war es also gewesen?

Holm richtete sich auf und sah in das Helldunkel der Nacht hinaus. Nichts regte sich, kein Schatten deutete auf die Anwesenheit eines lebenden Geschöpfes. Sonderbar! — er begriff nicht, welcher Schall ihn erweckt haben könne, aber er hatte ihn doch deutlich vernommen, wenn auch nur im Halbschlaf und auf Sekunden. Er horchte unruhig.

Lange Zeit blieb alles still, dann aber huschte es wie mit leichten Schritten durch das Geäst des Daches, erst vorsichtig, dann immer dreister und dreister, ein Poltern, Schlurfen und Fallen verriet die nächtlichen Ausflüge der Wanderratte; dennoch aber schien es, als sei diesmal das braune, bissige Nagetier nicht der Jäger, sondern der Gejagte, als werde es verfolgt und aus allen seinen Verstecken herausgescheucht. Plötzlich durchdrang ein Zischlaut die Stille der Nacht, ein Quietschen wie in Todesangst folgte, das leise Wimmern erstarb schnell.

Mit einem Sprung war Holm auf den Füßen, das Streichholz knisterte und die Flamme der Wachskerze beleuchtete den Boden. Da lag tot eine große, braune Wanderratte und in Ringeln hatte sich um ihren Körper eine stahlblaue Natter geschlungen. Die lange spitze Zunge trat lüstern aus dem Munde hervor, die gelbe Krone richtete sich auf, und ein Zischen bekundete den Ärger über die plötzliche Störung. Noch ehe Holm überlegte, was er that, hatte sein Fuß die Schlange zertreten.

Aber damit war nichts gewonnen. Er hielt die Wachskerze hoch empor und beleuchtete das Holzwerk des Daches. Von mehr als zehn Stämmen hingen die Schlangen herab, aus jeder Ecke leuchteten ihre gelben Kronen, eine fiel und lief ihm kalt und glatt über die Hand, daß er schauderte. „Franz!“ rief er halblaut, „Franz, wach auf!“

„Ja!“ antwortete schlaftrunken der Knabe. „Ja!“

„Steh auf, Franz, — es sind Schlangen hier. Nattern sogar!“

Jetzt erwachten alle. Eine Schlange ist jedem Menschen widerwärtig, mit ihrem Geschlecht versöhnt sich niemand, sie hat nirgends auf Erden Freunde, nebenbei aber ist auch die Gefahr, welche sie bringt, so groß, daß ihr gegenüber die höchste Vorsicht zur Notwendigkeit wird. Stecken und Wurfgeschosse hagelten an die Decke, zehn Kerzen flammten auf und alle sprachen zugleich. Es entstand ein solcher Lärm, daß sich draußen vor der Thür die Singhalesen in hellen Haufen sammelten, einige ganz ohne alle Bekleidung, andere nur mit der Schürze und wieder eine dritte Gruppe bis an die Zähne bewaffnet. Es war ein Aufruhr, als sei mindestens ein Tiger in das Dorf gekommen. Als die Männer hörten, daß es sich um nichts als Nattern handelte, schüttelten sie voll Erstaunen die Köpfe.

„Wir lassen sie unsere Häuser von den lästigen Ratten befreien und machen niemals Jagd auf sie, dafür haben wir selbst Ruhe!“ erklärte Tippoo.

„Aber um des Himmels willen, ihr schlaft weiter, während eine der giftigsten Schlangengattungen über euren Köpfen an der Decke baumelt?“

„Ja, die Tiere thun uns nichts, weil wir ihnen nichts thun. Übrigens steigen auch die Schlangen nur sehr selten auf Bäume.“

Holm und seine Gefährten sahen einander ratlos an. „Weißt du, was ich vorschlage,“ meinte endlich Franz. „Wir hängen unsere Zelte wie in Dahomey an die Bäume und legen uns hinein. Auf die Anständigkeit der Nattern zu bauen, scheint mir etwas gewagt.“

„Was kriecht da?“ rief plötzlich der Doktor. „Hier, hier, — ich glaube —“

Er vollendete nicht. Holm hatte das schnell im Dunkel verschwindende, halb spinnen- halb krebsartige Tier mit der schwarzbraunen Farbe und dem aufrecht getragenen Schwanz sofort erkannt. „Ein Skorpion!“ rief er. „Das fehlt noch.“

Tippoo lachte, auch unter den übrigen zeigte sich große Heiterkeit. „Dies Tier frißt die Stechmücken,“ sagten sie, „es ist uns sehr nützlich. Kennen die Fremden in ihrem Lande keine Schlangen und keine Skorpione?“

„Beißen euch auch diese nicht?“ war die Gegenfrage.

„Sehr selten. Wir lassen sie in Ruhe.“

„Dann habt ihr aber einen Zauberer, der sie und die Nattern beschwört?“

Ein allgemeines Kopfnicken war die Antwort. „Natürlich, einen Zauberer hat jedes Dorf.“

Holm wandte sich lächelnd zu dem jungen Malagaschen. „Hier vereinbart man sich gütlich mit den giftigsten Reptilien,“ sagte er, „und in deiner Heimat sind die Krokodile der oberste Gerichtshof, — wie findest du das, Freund Rua-Roa?“

Der ehemalige Sklave sah verlegen zu Boden. „Ich bin doch jetzt kein Wilder mehr!“ antwortete er halblaut. „Ich mag auch den heidnischen Namen nicht länger hören, Herr, — du könntest mich wohl schon Rudolf nennen, als wäre ich bereits getauft.“

Holm und der Doktor wechselten einen Blick. „Ich dachte mir’s,“ nickte der Gelehrte. „Wenn er die kindischen Anschauungen anderer Wilder sieht, wird er den Unwert seiner eigenen erkennen lernen.“

„An die Arbeit!“ setzte er in ermunterndem Tone hinzu. „Unsere Hängematten gewähren uns jedenfalls den besten Schutz gegen das Ungeziefer.“

Die Zeltleinen wurden doppelt genommen und von den Matrosen in wenigen Augenblicken ausgespannt. Da oben schwebend an ein paar starken Ästen konnten die Reisenden höchstens den Besuch eines neugierigen Eichhörnchens, vielleicht einer Papageienfamilie oder einer großen Eule erwarten, aber die Schlangen verstiegen sich nicht dahin und die Skorpione auch nicht.

Als alles rund umher still geworden war, tönte wieder aus dem Innern der alten Holzdächer jenes Rumoren und Poltern der Ratten, das Zischen und Todesgeschrei. Holm schlief nicht mehr, so unangenehm hatte ihn die Nähe der Schlangen berührt; er war froh, als der Morgen heranbrach und die Jagd wieder beginnen konnte. Heute sollten die Fremden mit einigen Betriebsarten der Eingebornen bekannt werden; man zeigte ihnen, wie aus dem Saft der Palmyrapalme ein höchst wohlschmeckender Sirup gewonnen wurde und wie die Maniokwurzeln sich zwischen Reibeisen in Mehl verwandelten. Den Kaffee, obwohl sie ihn bauen, trinken die Singhalesen nicht, sondern meistens Kokos- oder Ziegenmilch. Unter den Hühnern, die in reicher Fülle vorhanden waren, zeichnete sich das Purpurhuhn durch seine auffallende Schönheit am meisten aus. Ganz schwarz mit drei vom Kopf über den Hals herablaufenden Purpurstreifen, zu denen bei dem Hahne noch ein Flügelsaum von gleicher Farbe hinzukam, war das Tier etwas größer als seine gemeineren Verwandten, dafür aber keineswegs so friedlich wie diese, sondern dermaßen streitlustig, daß es den Fremden nachlief und zum Ergötzen der Knaben erbittert in die Stiefel hackte. Der schönste Anblick aber wurde unseren Freunden zu teil, als sie in früher Morgenstunde rings um die Felder gingen und nun einem eifrig speisenden Volk wilder Pfauen begegneten. Diamanten gleich erglänzten im Sonnenlichte die Augen auf den entfalteten Rädern der Männchen, Blau und Rot und strahlendes Gelb wechselten mit dunkleren Farbentönen, während die jungen Tiere noch ein einförmigeres Grau zeigten. Einzelne alte Hähne hatten eine wahrhaft bewunderungswürdige Größe erreicht.

„Wir wollen kein Tier schießen,“ meinte Holm, „sondern lieber für den Zoologischen Garten ein junges Pärchen mitnehmen und dann vom nächsten Hafen nach Hause schicken. Es ist übrigens jammerschade, wie die Felder durch diese Tiere geplündert werden, ich glaube, man macht hier die Geschöpfe so dreist, weil kein Fleisch in den Topf kommt.“

„Was kriecht da?“ rief Rua-Roa, halb im Begriff, die Flucht zu ergreifen, halb zögernd in der Furcht, sich lächerlich zu machen. „Ein Ungeheuer, Franz, ein Ungeheuer!“

Und dabei überwältigte ihn das Entsetzen. Mit zwei Sprüngen war er auf dem nächsten Baum, in diesem Augenblick ganz Wilder, katzengleich an den Zweigen hängend, für jeden Körperteil mit erstaunlicher Gewandtheit Schutz findend. „Franz, Franz, es kommt hierher!“

Die übrigen suchten mit den Augen, dann legte Holm den Finger auf die Lippen und machte lachend dem Malagaschen im Baum eine Faust. Die ausgestreckte Hand zeigte allen, was sich so Greuliches da heranschlich, und sofort begriffen auch die Weißen, weshalb vollkommene Stille geboten war. Die vier Paar lachender Augen, welche den geflüchteten jungen Burschen ansahen, trieben diesem das Blut heiß ins Gesicht, jetzt durfte er ja aber nicht sprechen und hing also mit trübseliger Miene stumm da oben im alten Feigenbaum.

Der Drache, den er gesehen, kam indessen schwerfällig herangewatschelt und zeigte sich als eine harmlose, aber riesige Schildkröte. Das große Tier verfolgte seinen Weg bis zu dem Schatten eines dichten Gebüsches und fing hier an, mit den Hinterfüßen ein Loch von mehr als einem halben Meter Tiefe zu scharren, indem es die Erde hinter sich aufwarf. Alle vier Zuschauer verfolgten lautlos die Arbeit der Kröte, Rua-Roa hinter seinem Schutzwall duftender Feigen that das Gleiche, aber heimlich stieg bei diesem Anblick seine Furcht nur noch immer mehr. Ganz gewiß vollzog sich hier ein schlimmer Zauber, vielleicht grub sogar das boshafte Tier ein Grab, in das es die Fremden stürzen wollte, und diese Unseligen, Verblendeten sahen zu, ohne sich zu verteidigen, ohne rechtzeitig die Flucht zu ergreifen! Rua-Roa telegraphierte mit Händen und Füßen, um sie zu warnen, aber ganz vergeblich; die Tolldreisten lachten ihn aus, ja, sobald er es wagte, ein halblautes Wort zu sprechen, erhoben sie drohende Finger, — er mußte das Ärgste geschehen lassen.

Die Schildkröte hatte mittlerweile ihre Arbeit beendet, sie saß jetzt ganz still und hielt, nachdem sie einen kleinen Schritt zurückgetreten, den Hinterkörper etwas geduckt, — das Zauberwerk mußte nach des Malagaschen Ansicht nun unmittelbar beginnen.

Und was that in diesem Augenblick der tollkühne Franz? — Rua-Roa traute seinen Sinnen nicht. Er sprang mit einem plötzlichen, gewaltigen Satz auf den Rücken der Schildkröte und stand dort wie ein Sieger, den anderen in deutscher Sprache einige Worte zurufend, die der Malagasche nicht verstand. Was nun? das war zu arg. Alles Blut des jungen Menschen drängte zum Herzen, unmöglich konnte er seinen Freund, seinen Bruder in solcher Lage allein lassen. Und wie ein Ball plumpste Rua-Roa ohne alle Rücksichten auf Knochenbrüche und Verrenkungen vom Baum herunter, todesverachtend sprang er neben Franz auf den Rücken der nun gänzlich wehrlos gewordenen Kröte und sah die anderen an, als wollte er sagen: „Ist’s so recht?“ —

Ein schallendes Gelächter schlug sämtliche benachbarte Vögel in die Flucht. „Arm in Arm mit dir, so fordre ich mein Jahrhundert in die Schranken!“ rief Holm. — „Paß auf, tapferer Geselle, wie ich nun dem Erzfeind den Garaus machen werde.“

Er nahm vom Gürtel das kleine, scharfe Handbeil, welches alle vier der zahllosen Hindernisse wegen immer bei sich zu tragen pflegten, und trennte mit einem kräftigen Hieb den vorgestreckten, dünnen Hals der Schildkröte vom Rumpf. Das Blut schoß wie aus einem Springbrunnen hervor, die Füße streckten sich, und das große Tier war tot.

Franz sprang herab, der Malagasche war noch immer zu erschrocken, um ihm gleich folgen zu können; erst als ihn die anderen riefen, trat auch er auf den Sand. „Ein steinernes Geschöpf, das sich bewegt und Blut enthält wie ein lebendes Wesen,“ sagte er ganz fassungslos.

„Gib acht,“ rief Holm, „du sollst unter der Steinhülle gleich das Tier kennen lernen, Freund Rua-Roa, — denn für den Rudolf bist du doch noch nicht ganz reif! — Faß an und hilf uns den Koloß auf den Rücken legen.“

Alle fünf bemühten sich nun mit vereinten Kräften, das Tier umzuwenden; es gelang aber erst unter Beistand eines zufällig des Weges kommenden Sklaven, dem für diesen Dienst die Schale des Tieres zugesprochen wurde, dann rief ein verabredetes Signal die beiden Matrosen herbei, und aus dem saftigen Fleisch der Beute wurde Suppenstück und Braten herausgeschnitten. Das war für zwei Tage ein Herrenessen; nach dieser Zeit fand sich schon etwas anderes, denn die steinharten Maniokkugeln und die laue Kokosmilch der Eingebornen im Verein mit den ohne Fett oder Salz abgekochten Gemüsen bildeten doch für europäische Magen ein klägliches Ernährungsmittel. Franz meinte sogar, daß er jedenfalls noch heute einen der zahllosen umherstreifenden Hasen schießen werde: „Wildbraten und Schildkrötenragout passen gerade zu einander.“

Holm tastete mit beiden Händen im Sande. „Bin ich so heiß,“ sagte er, „oder ist es der Boden? Mir deucht, die Sonne kann unmöglich den Sand so erwärmen.“

Die anderen untersuchten gleich ihm das Terrain, dann sprang Rua-Roa, der gern die Aufmerksamkeit von der Schildkröte ablenken wollte, etwas weiter über den Weg hinaus und befühlte dort den Boden. Er war merklich kühler.

Holm stutzte. „Laßt uns in entgegengesetzter Richtung vordringen,“ forderte er die anderen auf, „da muß ich klar sehen.“

Das Gebüsch wurde umgangen, ein paar dichte Bäume auch noch, und nun zeigte sich der Grund des eben entdeckten Wunders. Wenige Schritte weiter senkte sich der Boden zu Thal, eine Schlucht von Geröll und Kieseln fiel ziemlich unvermittelt abwärts, kein lebendes Pflänzchen trieb oder gedieh am Rande, und inmitten der Steinwüste sprudelte ein heißer Quell, dessen Wasser sechs bis zehn Meter hoch in die Luft hinaufgeschleudert wurde und eine wirbelnde Dampfwolke hinaufsandte in das heitere Sonnengold.

„Aha,“ rief Holm, „eine Botschaft vom ewigen Feuer aus dem Mittelpunkt der Erde! Das werden wir benutzen, um unser Leinen gründlich zu reinigen.“

Die Knaben drangen weiter vor, so weit, bis die Füße anfingen, selbst durch das Sohlenleder hindurch die Hitze des Bodens nicht mehr ertragen zu können. Das war aber auch ganz nahe am Quell, dessen stäubende Tropfen Brandwunden verursachten; Franz umwickelte die Hand mit dem Taschentuch und trat nahe genug heran, um abgewandten Gesichtes eine geringe Menge des Wassers einzufangen. Als es in der Blechflasche abgekühlt war, probierten es alle, aber jeder schnitt eine Grimasse. „Petroleumartig mit Zwiebelduft,“ entschied Holm.

„Wie Heringslake, durch ein altes Gasrohr filtriert!“

„Brr! in acht Tagen werde ich meine Flasche nicht wieder brauchen können.“

Hans war davongesprungen und hatte eines der Eier geholt, welche die Schildkröte, ehe der unvermutete Angriff kam, in das Sandloch gelegt. Jetzt wurde es in eine mit dem Beil gemachte Vertiefung nahe dem Quell versenkt und in drei Minuten gar wieder herausgezogen.

Holm nahm noch etwas von dem greulich schmeckenden Wasser mit, um es chemisch zu untersuchen. Die Knaben füllten ihre Taschen mit bunten, zum Teil sehr seltenen Kieseln, und dann hatte der Ausflug für diesmal ein Ende. Der knurrende Magen mahnte allzu laut an das Frühstück.

Die Matrosen waren inzwischen ihrer Stellung als Hausmeister und Oberkoch glänzend gerecht geworden. Sie hatten das Unmögliche möglich gemacht und das Erstaunen der ganzen weiblichen Bevölkerung des Dorfes erregt. Verschiedene Blech- und Eisenpfannen wurden mittels bedeutsamer Winke und gelegentlicher kleiner Scherze von den Sklavenfrauen zusammengeliehen, und nun machte sich Hannes, der Hamburger von echtem Schrot und Korn, mit aufgestreiften Ärmeln an die Arbeit. „So viele Bohnen und doch keine Tasse Kaffee?“ räsonnierte er, „das wollen wir erst einmal sehen!“

Sprach’s und schüttete in die über dem Feuer hängende Pfanne die rohen, getrockneten Bohnen, welche er dann mit dem Messer beständig umrührte, bis sie anfingen zu duften, zu springen und sich lieblich zu bräunen. Der zweite hatte indessen eine Ziege gemolken, sich mit abgezogener Mütze und einem Kratzfuß sondergleichen von der Gemahlin Tippoos in einer Bambusschale etwas Palmensirup verabreichen lassen und durch Pantomimen das Bedürfnis nach Trinkgefäßen so lebhaft ausgedrückt, daß er sechs Bambusbecher geliefert bekam. Jetzt stampften beide mit vereinten Kräften die gebrannten Bohnen zwischen zwei Steinen zu Pulver, während in der Pfanne das Wasser kochte, und darauf kam der große Augenblick, wo Hannes gelassen die Leinenmütze vom Kopf nahm und beides, Pulver und heiße Flut, hineinstürzte, so daß der Kaffee, aus mehr als einem Grunde schwarz wie die Mitternacht, in das bereit stehende Gefäß hinabträufelte. Mit Feldherrnblick übersah Jan Maat sein gelungenes Werk. Die untere Pfanne wurde auf leises Feuer gestellt, das Gemisch in der Mütze fleißig umgerührt und nun zum zweiten größeren Unternehmen geschritten. Hannes wollte die Maniokkugel in ihr verdientes Nichts zurückdrängen, seine Seele arbeitete an einem Pfannekuchen, der ihn bei den Frauen von Singhala in bleibendem Andenken erhalten mußte. Zwei saubere Steine waren bald gefunden, trockne Maiskörner verwandelten sich in Mehl, der Hühnerstall lieferte Eier, Milch kam hinzu und ein wenig Salz; dann wurde zerlassenes Schildkrötenfett in eine andere Pfanne gegossen und mit dem großen eisernen Kochlöffel der Frau vom Hause der duftende Teig hineingefüllt. Jetzt zog Hannes das große Messer, schäkerte erst ein wenig mit den neugierig dreinschauenden Frauen, denen er unter schauderhaften Grimassen die Spitze auf die Brust setzte, und warf dann kunstgerecht den halbgaren Pfannekuchen um.

„Markst Müüs?“ fragte er selbstzufrieden, als sich das Erstaunen in den Blicken seiner Bewunderinnen spiegelte. „Man muß euch doch zeigen, daß hinter dem Berge auch noch Leute wohnen, die zu leben wissen, wobei ein guter Pfannekuchen und eine Tasse Kaffee zu den Hauptsachen gehören. Vernünftige Speisen zeigen, daß der Mensch gebildet ist!“

Nach diesem Ausspruch holte er sich den Stein, welchen er eben vorher als Mühle benutzt, wischte ihn mit dem Ärmel bestens ab und servierte den fertigen Kuchen, dessen Rund er in kleine Bissen zerschnitt, diese in Sirup tauchte und mit den Fingern ohne alle Ziererei der nächsten Singhalesin in den Mund schob. „Das bekommt anders wie eure Kanonenkugeln aus Maniok und Wasser, nicht wahr?“ fragte er. „Ja, das mögt ihr, ich sehe es schon! — bitte, bitte, nicht prügeln, schickt sich das für Damen?“

Seine kräftigen Arme trennten zwei Sklavenfrauen, die einander vielleicht schon längst nicht recht grün waren, die nun aber über der erhaltenen Leckerei in hellen Zorn ausbrachen; er stopfte der einen den Rest des Kuchens in den Mund und der andern als Ersatz für den erwarteten Leckerbissen den Messerstiel; dann aber buk er im Schweiße seines Angesichts weiter, wobei ihm die neugierigen Frauen von allen Seiten Milch, Eier und Sirup zutrugen, ja sogar die Maiskörner für ihn stampften, aber als Lohn auch für sich und ihre zahlreichen Sprößlinge die fertigen Kuchen begehrten. Er dankte Gott, als endlich die Weißen von ihrem Spaziergange zurückkehrten, und nun die Frauen flüchteten; seine Berühmtheit war ihm schnell sehr lästig geworden, — so unter den sengenden Strahlen der Sonne von Ceylon ohne Mütze vor dem Feuer zu stehen und für hundert hungrige Mäuler zu backen, das hatte sein Schweres, auch wenn es Ehrenbezeugungen in der Gestalt von Jauchzen, Schnalzen und entzückten Schlägen in die eigenen braunen Hände der beschenkten Schönen reichlich eintrug.

Jetzt endlich durfte er selbst essen, — das war angenehmer als andere zu füttern.

Seine Zurüstungen fanden gebührende Anerkennung; es wurde im Freien getafelt, den dienstbaren Singhalesinnen die Reinigung der Geschirre überlassen und dann unter Führung von mehreren Eingebornen ein benachbartes großes Diamantenfeld besucht. Inmitten der lachenden, von reichhaltigstem Pflanzenwuchs überzogenen Umgebung dehnte sich eine öde, graue Sandfläche, auf der auch nicht die magersten Halme mehr gediehen, wo kein Vogel sang und kein Hase die Ohren spitzte. Das Ganze war Berg und Thal, tiefe vom Regen ausgewaschene Rinnen, Anhöhen und Schluchten in regelloser Abwechselung. Zu Hunderten knieten hier die Sklaven und Sklavinnen verschiedener Stämme, alle mit einer einzigen geisttötenden und in dem heißen Klima unendlich anstrengenden Arbeit beschäftigt, nämlich den losen Sand mit den Fingern zu durchwühlen und die kleinen blitzenden Edelsteine aus demselben hervorzusuchen. Ganze Tage vergehen ohne die mindeste Ausbeute, der einzelne Sklave wühlt vielleicht wochen- und monatelang umsonst in den glühenden Sandwolken, aber doch ist die Diamantenlese der Betriebszweig einer bestimmten Kaste, und — von den Gesetzen derselben gibt es keine Erlösung.

An der Küste des Indischen Ozeans wird vielfach von dort wohnenden Stämmen die Perlenfischerei betrieben, andere fangen Austern, jeder aber bleibt innerhalb seiner Grenzen und vererbt die gleichen Anschauungen wieder auf seine Kinder; ein Hinübertreten aus einer Kaste in die andere gehört hier zu den Unmöglichkeiten. — Die armen Diamantengräber sind aber jedenfalls am schlimmsten daran. Wasser und Wald, ja selbst das Getreidefeld bieten noch Abwechselung und erfrischende Kühle; der heiße Staub aber erstickt die Lungen, so daß seine schädlichen Einflüsse auf den abgemagerten Gesichtern und in den entzündeten Augen der Arbeiter deutlich erkennbar sind.

Diese armen, mehr als halb Wilden, unfrei bis zum Grabe, von Pflanzenkost lebend, dem Biß der giftigsten Reptilien zu jeder Stunde ausgesetzt, ohne die mindeste Hoffnung, aus ihrer jammervollen Lage je erlöst zu werden, — diese Elendesten unter den Elenden fördern aus dem Sande, den ihre Finger auf schattenloser Fläche durchwühlen, die kostbarsten und wertvollsten Edelsteine zu Tage. Rubine, Amethyste, Topase, Saphire, Granate, Turmaline, Kannelsteine, Katzenaugen, Chalcedon, Hyazinthe und Berylle, alles liegt hier lose und ohne Umhüllung von Erz oder Gestein unter der Oberfläche des lockeren Staubes, bisweilen viele Meter tief, bisweilen der emsig suchenden Hand auf den ersten Griff entgegenfallend. Die Diamantenfelder von Ceylon bringen einen jährlichen Durchschnittsertrag von 200000 Mark; sie ruinieren aber auch vieler Menschen Gesundheit und erwecken unter den Sklaven zuweilen die allerschlimmsten Leidenschaften.

Holm kaufte einige besonders schöne Stücke; dann, nachdem noch rings umher Trinkgelder gegeben worden, verließen alle das heiße Sandfeld und wandten sich dem Walde wieder zu. Hier lebte es, kroch und flog, brummte und flötete, hier dufteten Blumen und rauschte in hohen Laubkronen der Wind; das erste, was unsre Freunde sahen und was den Malagaschen mit maßlosem Staunen erfüllte, waren Termitenbauten, Kegel an Kegel, und von den bekannten großen Tieren bewohnt; dann kam, den Weg versperrend, ein breiter stehender Sumpf, aus dem wie halbvermorschte Baumstämme die Körper der Krokodile hervorsahen. Überall tauchten und schwammen sie, überall öffneten sich ihre scheußlichen Rachen; vor den Augen der Reisenden wurde eine Hirschkuh, die sich in plötzlichem Schrecken zu weit an den Rand des Sumpfes heran gewagt hatte, von einem dieser Ungeheuer ergriffen und in die trübe Flut hinabgezogen.

Ein paar Kugeln fuhren dem Räuber nach in das Wasser; ob sie aber ihr Ziel getroffen hatten, ließ sich natürlich nicht ermitteln. Der Malagasche atmete auf, als nach langer Wanderung das Bett des Sumpfes umschritten und der offene Wald wieder erreicht war. Er und Franz schossen noch drei Hasen, die dann am folgenden Tage, in Schildkrötenfett gebraten, auf den Tisch kamen und vortrefflich schmeckten.

Achtes Kapitel.

Nachdem die Umgegend überall durchforscht, wurde der große Zug zu den Veddas angetreten. Tippoo und etwa dreißig seiner Sklaven begleiteten die Weißen, Waffen und Vorräte wurden in Menge mitgenommen, ebenso von unsern Freunden diejenigen kleinen Geschenke, welche sich nur bei ganz Wilden anwenden lassen und daher den selbst webenden und Putzgegenstände fertigenden Singhalesen nicht geboten werden konnten.

Schon einige Tagereisen hinter dem auf Bäumen belegenen Dorfe der Vellalahs hörte jede Spur von Zivilisation vollständig auf. Kein Getreidefeld, kein gebahnter Weg, keine Hütte zeigte sich mehr dem Blick, das Terrain wurde bergiger und immer bergiger; die Hasen, Hirsche und Ziegen machten den Büffelherden, den Elefanten, Stachelschweinen und Genettkatzen Platz, große Geier hausten auf den Höhen, Adler wiegten sich in der Luft und Tigerspuren im Sand verrieten, daß der Würger ganz in nächster Nähe lauerte.

Jetzt befanden sich, nach des Häuptlings Angabe, die Reisenden im Innern der Insel; das ganze Gebiet war dichter Wald, meistens aus undurchdringlichem Gebüsch und darüber den hohen, wehenden Palmen bestehend; zuweilen mußte ein Umweg gemacht werden, um den Durchgang zu erzwingen, zuweilen versperrten gefallene Bäume die Passage, und wenn der eine oder der andere versuchte, auf den grünüberzogenen Stamm zu treten, um so an die andere Seite zu gelangen, dann brach plötzlich die grüne Decke, eine Wolke von Schutt und Moder drang hervor, Spinnen oder Käfer flohen nach allen Seiten, braune Eidechsen von mindestens einem halben Meter Länge mit glänzenden, perlengleichen Augen schlüpften durch das Gras, und zusammengerollte Schlangen verließen in eiliger Flucht ihr Lager; — noch aber sah man kein Dorf und kein menschliches Wesen.

Als sich endlich die Wohnstätten der Veddas dem Blick offenbarten, da schien es den Reisenden, als sei plötzlich Westafrika nach Ceylon versetzt. Elende, schwankende, schiefe und dem Einsturz nahe Zelthütten aus Pflöcken und schmutzigen Fellen; ganz nackte schwarze Menschen; Tümpel, in denen sich Enten, Hühner und Kinder wälzten; derselbe Schmutz, dieselbe Vertiertheit wie in Dahomey, — nur nicht dieselbe Harmlosigkeit und Bekanntschaft mit der Existenz weißer Menschen. Frauen und Kinder flüchteten schreiend, die Männer griffen zu ihren aus Holz geschnitzten Wurfspießen und nahmen hinter den nächsten Stämmen in offenbar feindlicher Absicht Stellung. Es war unmöglich, sie durch gütliches Zureden zum Näherkommen zu bewegen; sie gaben keine Antwort und ließen auch die auf den freien Platz vor der nächsten Hütte niedergelegten Geschenke an Waffen unbeachtet, bis endlich die Vermittlung der Frauen durch bunte Tücher und Perlen erfolgreich gewonnen wurde. Die schwarzen, fettglänzenden Gestalten mit ihren überaus häßlichen Gesichtern und kleinen Schlitzaugen kamen erst zögernd, dann aber immer dreister aus den Hütten hervorgekrochen und tanzten und sprangen wie Wahnsinnige, sobald es ihnen gelungen war, irgend einen jener verlockenden Gegenstände zu erhaschen; sie streckten die Hände aus, um mehr zu empfangen, aber ganz wie Tiere, die das Maul öffnen, sobald man sie füttert, durchaus nicht wie Menschen, die für ein erhaltenes Geschenk danken und diesen Dank auch bethätigen möchten. Wer die Fremden waren, wie die ganze Sache zuging, und selbst in welcher Weise man die bunten Schmuckgegenstände verwenden sollte, schien diesen verkommenen Geschöpfen gar nicht einzufallen; sie hielten Tücher oder Bänder in den Händen, das war ihnen genug.

Die Singhalesen wandten sich voll Abscheu von diesem Treiben hinweg. Ihnen fehlte naturgemäß das hohe, wissenschaftliche Interesse, welches die Weißen leitete; sie sahen wie auf unsaubere Tiere auf die Neger herab, und nichts hätte sie bewegen können, kriechend eine dieser im Schmutz begrabenen Hütten zu betreten. Wieder wurden die Zeltleinen wie Hängematten befestigt, die Singhalesen schlugen ihre Wohnungen unter den Bäumen auf, und ein hohes Wachtfeuer loderte zum Himmel empor. Brotfrüchte, Fleisch, Palmenwein und gekochte Eier sowie Kaffee bildeten das Nachtmahl, bei dem beide wilde Stämme, die Braunen und die Schwarzen, von fernher zusahen. Erstere hielten sich an ihre Maniokkugeln und aus Mais gebackenen, nicht minder unverdaulichen Kuchen, letztere hätten vielleicht bei ihrer unbeschreiblichen Armut alles Gebotene gierig verschlungen, wagten sich aber nicht nahe heran, sondern blieben in gemessener Entfernung unter den Bäumen stehen und bewunderten das seltsame Schauspiel.

Die Männer bildeten Gruppen, in deren Mitte sehr lebhaft gesprochen wurde; niemand von allen näherte sich indessen dem Lager der Weißen, niemand schien der englischen oder singhalesischen Sprache mächtig.

„Die Hälfte von uns muß wachen,“ entschied Holm. „Fünfzehn von deinen Leuten, verehrter Freund Tippoo, und unserer zwei dazu. Die Kerle sind falsch, glaube ich, sie führen irgend einen Spitzbubenstreich im Schilde.“

„Was suchst du hier, Herr?“ fragte der Häuptling. „Von allen Söhnen Singhalas sind die Veddas die niedersten, — geh zu den Tamils und den Malaien, da findest du bessere Sitten.“

Holm lächelte. „Das verstehst du nicht, Tippoo,“ antwortete er. „Gerade den Naturzustand will ich ja kennen lernen, nicht die Sitten, welche künstlich erworben, sondern die, welche angeboren sind. Gerade die Veddas in ihrer geringen Anzahl bilden die letzten Abkömmlinge der Ureinwohner von Ceylon, sie sind die interessantesten von allen, denn sämtliche andere gehören fremden Ländern an, — die Singhalesen z. B. höchstwahrscheinlich dem verhältnismäßig nahen Indien.“

Der Braune sah sehr erstaunt aus. „Woher weißt du das, Herr?“ fragte er.

„Aus den Berichten solcher Reisenden, wie wir welche sind, Freund Tippoo. Oder schreiben nicht etwa eure Priester ihre heiligen Bücher auf die Blätter der Schirmpalme und zwar im Sanskrit oder der Palisprache? — beide sind indischen Ursprungs.“

Der Singhalese bejahte. „Zu Hause habe ich in einer Bambusschachtel einen Eisenstift und ein Buch aus solchen Blättern,“ antwortete er. „Ich will es dir schenken und dir einen Spruch hineinschreiben, — hier bei den Veddas findest du nichts dergleichen.“

„Das glaube ich aufs Wort, Meister Tippoo,“ lachte der junge Gelehrte. „Die schwarzen Schurken trachten ohne Zweifel weniger nach Bildung als nach Speise, — ich denke, wir besehen morgen im hellen Tageslicht das schmutzige Dorf von allen Seiten, bringen womöglich einen oder den anderen dieser Kerle zum Sprechen und kehren dann um. Es sind Wochen vergangen, seit wir uns in der Nähe deines Dorfes unter den Ruinen der alten indischen oder persischen Stadt zuerst begegneten; wir haben Eile, zu unserem Schiff zurückzukehren.“

„Meine Leute und ich begleiten euch dorthin,“ antwortete der Braune. „Gerade an der Küste leben viele Tiger und Genetten, es ist gefährlich, in so geringer Anzahl ihnen entgegen zu gehen. Ihr seid nur durch besonderen Zufall dem Verderben entronnen.“

Holm sah zum Walde hinüber. Ein starker Regen rauschte herab, ohne indessen das Blätterdach durchdringen zu können, die Luft war köstlich abgekühlt, und das Feuer warf malerische Streiflichter über das elende Dorf, welches zwar freie, keinem Oberhaupt untergebene, aber dafür auch fast den Tieren gleichstehende Bewohner barg.

„Ich sah im Sande noch ganz kürzlich eine Spur wie von Raubtierfüßen, jetzt erst fällt mir’s wieder ein,“ sagte er, „aber von kleinen.“

Der Singhalese nickte. „Schakale,“ versetzte er, „ich habe es auch bemerkt.“

„Ach, dann können wir vielleicht in dieser Nacht noch einen Angriff erleben. Wenn die Bestien hungrig sind, kommen sie in die Dörfer, nicht wahr?“

„Selten, aber es ist doch schon vorgefallen, Herr.“

„Nun gut, Häuptling. Je mehr Feinde, desto mehr Ehre! Laß nur die Hälfte von deinen Leuten wach bleiben, die anderen aber schlafen, damit sie rechtzeitig jene ersten ablösen können. Ich denke, wir gehen jetzt zur Ruhe.“

Der Singhalese gab seine Befehle, worauf sich die Hälfte der Sklaven mit gekreuzten Beinen, das Gesicht dem Dorf zugekehrt, um das Feuer herum auf den Boden setzte und, die Waffen in der Hand, scharfen Ausguck hielt, während Holm und der Malagasche mit geschultertem Gewehr gewissermaßen auf Vorposten im Halbkreis patrouillierten. Pünktlich um zwei Uhr nachts erfolgte die Ablösung, allein auch während der letzten noch übrigen Stunden bis zum Morgen geschah nichts, was den tiefsten Frieden in irgend einer Weise gestört hätte. Das Negerdorf lag vollkommen still und ruhig, die Bewohner schienen zu schlafen, kein Laut drang aus den Hütten hervor.

Als Tippoo und Franz die übrigen weckten, hatte man eine ruhige Nacht verbracht, und dennoch stieg bei unseren Freunden ein banger Verdacht auf.

Es war unseren Reisenden aufgefallen, daß sämtliche Männer des Negerdorfes verschwunden waren; auch nicht ein einziger befand sich mehr in der Nähe. Jedenfalls hatten sie während der dunkeln Nachtstunden das Weite gesucht, um von irgend woher einen verräterischen Überfall zur Ausführung zu bringen, ebenso sicher aber waren sie auch nicht allzu tief in den Wald vorgedrungen, da ja keiner unter ihnen wußte, welche Richtung die Fremden einschlagen würden. Die Veddas hielten ihr Dorf umzingelt und beabsichtigten bei Einbruch der zweiten Nacht irgend ein Bubenstück zu vollführen; darüber konnte kein Zweifel obwalten.

„So werden wir uns schlagen müssen,“ nickte Holm. „Jedenfalls ist unserseits nichts geschehen, um die Wilden zu reizen oder zu beleidigen; wir dürfen daher ruhig sein und außerdem auch mit Sicherheit den Sieg erwarten. Die hölzernen Wurfspieße werden es mit den Feuerwaffen nicht aufnehmen können. — Zuerst laßt uns das Dorf besehen.“

Die Schmutzhütten und die meistens aus Pfützen bestehenden Plätze zwischen denselben wurden besichtigt, aber auch heute zeigten sich Frauen und Kinder durchaus unzugänglich; sie kamen nicht in die Nähe der Weißen, antworteten auf keine Frage und flohen in das Innere der Höhlen, wo dies möglich war, — so oft man ihnen freilich irgend ein Geschenk hinlegte, stürzten sie eilends herzu und rafften es ohne ein Wort des Dankes begierig vom Boden auf.

Vergeblich suchten die Reisenden eins von den ziemlich herangewachsenen Kindern zu bewegen, sich abgipsen zu lassen, obgleich ein Abguß von dem Gesicht eines dieser Ureinwohner Ceylons von hohem Interesse gewesen wäre. Hans machte ein ziemlich langes Gesicht, als er einsah, daß sowohl Bitten als Geschenke machtlos waren, und begriff nun erst recht, was Holm ihm über die Schwierigkeit dieser Operation gesagt hatte.

Vor den Hütten lagen die üblichen Herdsteine, denen auch der rohgearbeitete Eisenkessel nur selten fehlte, dennoch aber bewiesen manche Zeichen, daß auch rohes Fleisch gegessen wurde, ebenso halbreifer roher Mais und Brotfrüchte. Diese letzten wenigen Ureinwohner der Insel betrieben durchaus nichts, sondern lebten wie die Buschmänner vom Kap in den Tag hinein, vielleicht Heuschrecken essend, wenn weiter keine Nahrungsmittel vorhanden waren, Kokosmilch trinkend und im Schmutz vergehend, dabei scheu, häßlich und durch das stete Einreiben mit Palmöl einen unangenehmen Geruch verbreitend; sie waren von allen Völkerschaften, die unsere Freunde kennen gelernt, die am wenigsten anziehende, — ohne allen Zweifel, weil ihre Anzahl fortwährend schmolz, ihr Gebiet von Singhalesen und Malabaren alljährlich verkleinert und sie in jeder Beziehung durch die auf der Insel fortschreitende Kultur dem Untergang entgegengeführt wurden.

Von schwarzen Kindern und dem verschiedensten zahmen Geflügel umkreischt und umschnattert, sahen die Weißen in jede Hütte, so gut als es ging, hinein, aber nirgends fand sich mehr als nur ein Lager aus Moos und Blättern, nirgends waren Geräte zu entdecken, und überall krochen Insekten in reicher Fülle.

„Die Veddas wandern,“ erklärte Tippoo, „sie schlagen ihre Zelte auf, wo Brotbäume und genießbare Früchte wachsen, zuweilen kommen sie sogar in die Nähe unserer Felder, aber wir bereiten ihnen immer einen so heißen Empfang, daß der Besuch nur sehr kurz währt. Wenn an einem Orte nichts mehr zu holen ist, zieht die verlumpte Schar weiter und sucht günstigeren Boden.“

„Gerade wie bei uns die Zigeuner,“ rief Franz. „Ohne Arbeit, in stetem Müßiggang, stehlend und bettelnd, unter Schmutz vergraben, jedes feste, dauernde Obdach meidend, — welche Ähnlichkeit!“

„Weil die Verhältnisse die gleichen sind,“ fiel der Doktor ein. „Menschen ohne Nationalgefühl, ohne staatsbürgerliche Rechte und Pflichten müssen sittlich verkommen. Alle diese als „wild“ und „halbwild“ bezeichneten Völker sterben aus, während die Kulturstaaten alljährlich Tausende ihrer Unterthanen abgeben, um an fernen Enden der Welt neue Reiche der Bildung und Gesittung gründen zu helfen. Die vertierten Veddas haben den Singhalesen weichen müssen, die Malabaren stehen wieder bedeutend höher als diese in ihren Bambusnestern und mit der trostlosen Kastenwirtschaft, während sie ihrerseits durch Kirche und Schule, durch den Umgang mit Weißen und die Notwendigkeit des bürgerlichen Erwerbes allmählich aber sicher den Bildungsgrad und die Lebensweise der Engländer annehmen. — Die letzten Veddas werden im Laufe unseres Jahrhunderts ihre Nomadensitten aufgeben und Ackerbauer werden müssen.“

Tippoo hatte respektvoll den alten Herrn ausreden lassen, obgleich er ihn nicht verstand; jetzt jedoch schlug er vor, sobald als möglich aufzubrechen. „Alle Veddadörfer gleichen einander vollkommen,“ sagte er. „Wenn wir auch bis an die Meeresgrenze vordringen würden, so gäbe es doch nichts Neues kennen zu lernen. Die schmutzigen Neger sind hier wie dort falsche Schurken.“

Man nahm einstimmig diesen Vorschlag an und traf nach dem Frühstück Anstalten zur Abreise. „Wir werden nun von allen Seiten beobachtet,“ erinnerte der Singhalese. „Aus jedem hohlen Baum, aus jedem Dickicht und hinter jedem Felsvorsprung sehen lauernde Blicke uns nach, es wäre daher gut, wenn ihr einmal die Wirkung eurer Feuerwaffen zeigen würdet.“

Aller Augen suchten nach einem Ziel. „Seht ihr da den Kaschubaum?“ rief Holm. „Der Blitz scheint ihn getroffen zu haben, ein Teil der Borke ist herabgerissen, — da, gerade im Eingang der Felsspalte, kaum fünfzig Schritt von den ersten Hütten entfernt. Laßt uns auf die weiße Fläche zielen.“

Gesagt, gethan. Alle Büchsen wurden geladen und Kugel nach Kugel schlug in den Stamm. Zuweilen flog auch eine daneben bis tief in den inneren Raum des Felsens hinein, und dann war es den Männern, als töne ein Winseln oder Bellen, ein Angstgeheul wie aus weiter Ferne zu ihnen herüber, — sie schossen jetzt absichtlich in die Spalte; was darin steckte, ob Mensch oder Raubtier, das sollte sich zeigen.

Aber nein, ein Mensch war es nicht, das hörten alle, eher ein Fuchs.

Tippoo pfiff seinen Sklaven. „Schakale“ sagte er. „Sucht die Ausgänge.“

Und während sich die Singhalesen gehorsam entfernten, um von allen Seiten den Gebirgspaß zu umschleichen, berichtete er den Weißen, daß sich höchstwahrscheinlich ein Rudel von vielleicht ein- bis zweihundert Schakalen hier im Berge zusammengefunden habe, um den Enten und Gänsen der Veddas einen Besuch abzustatten, und daß diese hungrige Meute nun von den plötzlich eindringenden Kugeln erschreckt worden sei. „Wenn meine Leute den Zugang gefunden haben,“ schloß er, „dann schießt ihr aus nächster Nähe in die offene Spalte hinein, während wir die roten Gesellen in Empfang nehmen, sobald sie erscheinen.“

„Ganz gut, Freund Häuptling, aber was wollt ihr mit einem Tier, dessen Fleisch ungenießbar, und dessen Fell unverwendbar ist?“

„Wir verkaufen die Jungen nach Galle oder Kolombo, Herr. Wozu hätte ich Sklaven, wenn sie mir nichts verdienen müßten? Der die beiden jungen Tiger hinbringt, kann auch Schakale mitnehmen.“

Tippoos Talent zum Finanzminister wurde allerseits anerkannt, und als die ausgeschickten Sklaven zurückkamen, war der Feldzugsplan genau entworfen. Rechts vom Dorfe war ein stark befahrener Schacht, an dessen äußerer, enger Mündung zahlreiche rote und graue Haare verrieten, daß sich alte, ausgewachsene Tiere in starker Anzahl hindurchgedrängt haben mußten; weitere Zugänge fanden sich nicht, und durch den vorderen Spalt konnte unmöglich auch selbst der magerste Schakal ins Freie gelangen; die Singhalesen nahmen also zu beiden Seiten des Schachtes Stellung hinter den Bäumen und in den unteren Zweigen derselben; Franz mit Rua-Roa hatten sich fast ganz an den Ausgang gedrängt, und Holm und die beiden anderen standen vor dem Spalt.

In aller Augen glühte die Jagdlust; die gefährliche Lage, in der man sich den raubsüchtigen Wilden gegenüber befand, war vergessen; man dachte jetzt nur noch an die räuberischen Tiere, welche diesen Bau bewohnten und an das Vergnügen, sie herauszutreiben.

„Feuer!“ kommandierte Tippoo.

Drei Kugeln flogen in den Berg hinein, drei weitere folgten, Pulverdampf und schauerliches Geheul drangen aus dem Spalt hervor; dann entstand ein Toben und Drängen, ein Scharren wie von vielen hundert Füßen, und endlich stürzte die rote Meute, einander überkollernd, schreiend in rasendem Lauf den harrenden Todfeinden entgegen. Es war offenbar für die nächtlichen Räuber ein letzter, von der Verzweiflung eingegebener Entschluß, sich am hellen Tage hinauszuwagen in das Dorf, aber die einschlagenden Kugeln da drinnen führten eine so beredte Sprache, daß jedes Schwanken im Keime erstickte; — brausend wie ein entfesselter Strom ergoß sich das rote Heer.

Bei dieser seltsamen Massenjagd war es für die Schützen nicht nötig, zu zielen. Wo aus einem engen Schacht in ihrer unmittelbaren Nähe das Wild herausquoll wie Wasser aus einem Brunnen, da hinein brauchten sie nur zu feuern oder ihre eisenbeschlagenen Wurfspieße zu schleudern, und Opfer nach Opfer war ihnen gewiß.

S. 234.

Die Schakalhöhle auf Ceylon.
„— brausend wie ein entfesselter Strom ergoß sich das rote Heer.“

Holm schoß immer noch in den Spalt, bis zuletzt auch die alten Weibchen der Schakale mit ihrer Nachkommenschaft sich zur Flucht entschlossen. Ganz junge Tierchen, kaum so groß wie ein neugeborener Pudel, noch unsicher gehend, aber doch mit Raubtierblicken um sich schauend, folgten den fliehenden Müttern, und eben darauf hatten die Singhalesen gewartet. Sie umringten zu vier oder sechs ein solches kleines Füchschen und ergriffen es trotz seines ängstlichen Sträubens, keineswegs aber ohne eigene Leibesgefahr. Die Weibchen gerieten in Wut, als sie die Not ihrer Kleinen sahen und wandten sich angreifend gegen die Singhalesen, welche indessen den Kampf mit diesen Tieren schon aus Erfahrung kannten und auf Gegenwehr von seiten der Mütter gefaßt waren.

Fünf oder sechs Spieße bohrten sich in den hundeähnlichen rot- und graubehaarten Körper des Schakals, sobald er zum Sprunge ansetzte, um den Räuber seines Kindes mit den Zähnen zu packen, zuweilen freilich nicht früh genug, nicht ehe das scharfe Gebiß die nackten Lenden der Männer erfaßt und furchtbar zerfleischt hatte, immer aber so rechtzeitig, daß das erbeutete Junge von anderen, die im Augenblick herzueilten, in Sicherheit gebracht werden konnte. Nachdem auf diese Weise sechs kleine Schakale gefangen waren, befahl Tippoo, die Jagd einzustellen, d. h. nur noch zu erlegen, was nahe genug kam, aber keine Jungen mehr zu ergreifen.

Franz und Rua-Roa schossen unaufhörlich den Fliehenden nach, wenigstens fünfzehn bis zwanzig tote Schakale lagen auf der Walstatt, ebenso viele und noch mehr schleppten sich mit Wunden bedeckt davon, um in den nächsten Gebüschen zu verenden, und wieder andere wanden sich im Todeskampfe zwischen den Dorfhütten. Negerinnen, Kinder und Geflügel waren, um die Wette schreiend und kreischend, entflohen, die Luft ringsumher von Pulverdampf erfüllt und der Boden schlüpfrig vom vergossenen Blut, unter den Bäumen verbanden die Singhalesen so gut sie konnten ihre zum Teil recht bedeutenden Wunden, und vom Spalt her näherten sich die drei, welche dort postiert gewesen, dem eigentlichen Kampfplatz.

Franz und der Malagasche hatten jeder mehrere von den großen Männchen erschossen; sie bedauerten lebhaft, daß es anstatt der wertlosen Schakale nicht lieber Leoparden gewesen; so hätten sie doch wenigstens die Felle als Siegeszeichen aufbewahren können; — mit den fuchsähnlichen, fahlgelben, rötlichen oder grauschwarzen groben Pelzen war eben gar nichts anzufangen, dennoch aber glühte die Jagdfreude in den beiden hübschen Gesichtern und einstimmig wurde beschlossen, ein Pärchen der jungen Tiere dem Singhalesen abzukaufen und nach Hamburg zu schicken.

Tippoo trieb zum Aufbruch. „Die schwarzen Hunde haben das alles mit angesehen,“ versicherte er, „sie wissen nun, was ihrer harrt.“

„Glaubst du denn ganz bestimmt, daß wir noch angegriffen werden, Häuptling?“

Der Singhalese nickte. „Warum wären sonst die Männer fortgegangen? — Überhaupt leben seit Jahr und Tag die Veddas mit meinem Volk im Krieg; wir erschlagen sie, wo wir ihnen begegnen.“

Holm unterdrückte einen Seufzer. Dieser Kampf mit vernunftlosen Wilden war ihm unerwünscht; er wollte weder die armen, vertierten Geschöpfe in ihrer Existenz bedrohen, noch sich und den Seinen von ihnen Schaden zufügen lassen; aber dergleichen Empfindungen hätte der braune Häuptling durchaus nicht verstanden, es war also besser, sie in sich zu verschließen und dem Unabwendbaren so gefaßt als möglich entgegen zu gehen.

Er wußte, daß dieses Volk die Wurfspieße nicht vergiftete, und vertraute darauf, daß die Feuerwaffen den Sieg bringen mußten; er beruhigte sich also mehr und mehr und vermochte das unbehagliche Gefühl, welches ihn überschlichen hatte, den Knaben gänzlich zu verbergen.

Während des ganzen Tages herrschte drückende Hitze, die sich gegen Abend in einem Gewitter entlud. Der Häuptling hatte auf kürzestem Wege eine ihm bekannte Stelle erreicht, wo sich Felspässe in- und durcheinander schoben, hier eine glatte Mauer den Pfad versperrte, dort eine Höhle das Nachtdunkel ihrer weiten Öffnung den Wanderern unheimlich darbot. Er lächelte grimmig, als im Dämmerlicht des scheidenden Tages die wildromantische Gegend vor seinen Blicken auftauchte. „Das ist Singhalesengebiet,“ sagte er, „die Schwarzen kennen es vielleicht gar nicht, aber auch selbst wenn sie bereits hier waren, fehlt ihnen doch jedenfalls nähere Kundschaft über die Örtlichkeit. Sie sollen alle mit dem Tode zahlen.“

Er ordnete nun, den Oberbefehl wie selbstverständlich an sich nehmend, zunächst an, daß keine Zelte oder Hängematten aufgeschlagen würden, daß auch kein Feuer brenne, vielmehr jeder einzelne Mann, so gut er es vermöge, mit Waffen und Kleidern auf dem nackten Erdboden schlafen und mit kalter Kost fürlieb nehmen solle. „Unserer sind alles in allem vierzig,“ setzte er hinzu, „der Schwarzen aber vielleicht zweihundert, es ist daher Vorsicht durchaus geboten. Komm, Herr, ich will dir zeigen, wie die Schmutzgesellen in die Falle laufen sollen.“

Er ließ zwei mit Fackeln aus einer Art wohlriechendem Harz versehene Sklaven vorangehen und folgte mit dem jungen Gelehrten in die Höhle, unter deren natürlichem Vorsprung man sich gelagert hatte. Wechselnde Lichter und Schatten trafen eine hohe, gewölbte Decke, Schlangen huschten an den Wänden hin, und Eidechsen schlüpften über das Gestein. Nachtschmetterlinge umflatterten neugierig das ungewohnte, helle Licht, große Eulen streiften schweren Flügelschlages die Köpfe der Wanderer, und Fledermäuse schwirrten nach allen Seiten durch die Luft.

Rechts im Hintergrunde dieser weitgedehnten Höhle zweigte sich ein enger Weg ab, den nur wenige Menschen zugleich betreten konnten. Vorspringende Felsstücke verdeckten ihn dem Auge; — wer nicht wußte, daß hier ein Pfad hinausführte in den Wald, der mochte tagelang suchen, ehe er ihn fand. Anderseits brauchte nur an der rechten Stelle einer dieser umherliegenden Blöcke etwas verschoben zu werden, und der enge Durchgang existierte nicht mehr.

Tippoo stand still; sein Auge glänzte, seine ganze Haltung war straffer geworden. Er deutete mit der Rechten zum anderen Ausgang. „Dort denken uns die feigen, schwarzen Hundesöhne zu überfallen und uns trotz der Feuergewehre durch ihre Mehrzahl zu erdrücken,“ sagte er. „Weißt du, was ihnen dafür zu teil werden soll? Wir flüchten in die Höhle hinein bis an diesen Seitenpfad und locken im Dunkel die Verfolger nach, während uns selbst der Engpaß sicher hinausführt. Sie kennen die Felsen nicht, sie drängen ungestüm vorwärts und wähnen, daß ihre List uns sämtlich in die Falle gelockt hat, — unterdessen aber sind wir schon auf Umwegen wieder hier, gedeckt durch die großen Blöcke; wir haben das Wild schußgerecht in der Höhle, aus der es kein Entrinnen gibt. Ihr feuert, feuert, bis es drinnen still wird, bis kein Angstschrei mehr die Luft zerreißt, — Schakale oder Neger, das ist gleichviel; heute morgen bei der Jagd auf die roten Räuber dachte ich an diese Felsen; — es soll kein Schwarzer entkommen; noch nachgeborne Geschlechter sollen mit Staunen von der Heldenthat Tippoos sprechen, — die Singhalesen werden ihre Hände baden in dem Blute der schlechten Veddas.“

Als er seine Rede beendet hatte, winkte der Häuptling den Sklaven wieder umzukehren. „Ihr Weißen bleibt zwischen den Felsspalten vorn am Ausgang der Höhle versteckt,“ sagte er. „Meine Leute und ich, wir locken die Schwarzen hinein. Erst wenn ihr mich rufen hört, gebt ihr Feuer.“

Holm nickte stumm. Er hielt es für unnötig, jetzt dem braunen Halbwilden zu widersprechen, aber dennoch stand der Entschluß, das beabsichtigte Blutbad um jeden Preis zu hintertreiben, in ihm vollkommen fest. Das „Wie“ mußte der Augenblick entscheiden.

Die Fackeln erloschen; im letzten Tagesschein wurde gegessen und getrunken und dann die Ruhe gesucht. Von den Negern war weit und breit keine Spur zu sehen.

Der Donner krachte, Blitze durchzuckten die dunkle Luft, ganze Fluten warmen Regens ergossen sich. Es hätte den unter dem natürlichen Wetterdach Gelagerten ganz behaglich zu Mute sein können, wäre nur nicht der Gedanke an die Schwarzen immer wieder als Störenfried in den Vordergrund getreten. Aber wer konnte denn behaupten, daß sie wirklich in der Nähe waren?

Eintönig rauschte es herab, und eintönig sang in den Laubkronen der Wind; man schloß die Augen, um sich vom Blitz nicht blenden zu lassen; man lebte seinen eigenen Gedanken und spann sich hinein in Traumfäden, die halb Wirklichkeit, halb Phantasiegebilde waren. Stunden vergingen, die Weißen schliefen, draußen am Eingang aber wachten und spähten die Singhalesen.

Tippoo war der Vorderste. Sein Gesicht lag auf dem Arm, er horchte! und als wieder der schwefelgelbe Schein aus den Wolken herabschoß, tauchte sein Blick bis tief in den gegenüberliegenden Waldesschatten. Nein, nein, er hat sich nicht geirrt, dort unter den Bäumen regte es Hunderte von schwarzen Gliedern; es drang im Schutz der Dunkelheit langsam vor, — jetzt waren sie da, die Veddas, die Verhaßten.

Seine Hand glitt über die Gesichter der Weißen, seine Lippen berührten fast ihre Ohren. „Auf! auf! — Seid still, wenn euch euer Leben lieb ist!“

Holm hatte sich am schnellsten aufgerafft. „Häuptling,“ sagte er, „bleib bei uns. Laß deine Leute die Schwarzen hierher locken und dann habe ich dir einen Vorschlag zu machen.“

„Welchen?“ fragte hastig der Singhalese.

„Davon später,“ entschied Holm. — „Ach, sie kommen!“

Wie eine Herde brüllender Teufel stürzten sich die Schwarzen in den Felspfad, welcher zur Höhle führte. Während die bei weitem größere Hälfte der Singhalesen versteckt blieb, entfloh die kleinere auf des Häuptlings Anordnung in das Innere den Negern voran, so daß diese bei dem Schein des Blitzes die weißen Gestalten verschwinden sahen und ihnen mit dem Geheul des höchsten Triumphes nachsetzten. Sie wußten ja, wie sehr ihre Anzahl den Gegnern überlegen war.

Dunkle Massen wälzten sich bergauf, die Höhle konnte viele Hunderte von Menschen fassen; mehr und immer mehr nackte schwarze Körper drängten nach, nun mußten alle im Innern des Berges sein, sie schrieen und jauchzten, heulten und brüllten wie Wahnwitzige.

Jetzt glaubte ihr Unverstand die Singhalesen wehrlos und zitternd im finsteren Winkel zusammengepfropft, jetzt hielten sie sich für die Herren des Schlachtfeldes und begannen ihren Siegestanz, noch ehe ein Tropfen Blut geflossen war. Nahe vor dem Versteck der Weißen am Ausgang der Höhle trieben sie ihre unsinnigen Sprünge, kreischten und warfen die Arme in die Luft, hüpften wie Tollhäusler auf einem Beine hin und her. —

Holms Rechte legte sich mit festem Griff um den Arm des Häuptlings. „Tippoo,“ sagte er leise, „willst du Geld verdienen? — viel Geld?“

Das Wort hatte für den schlauen Gelben einen wahren Zauberklang. „Womit?“ fragte er kaum hörbar, atemlos vor Begier, „womit, Herr?“

„Indem du deinen Leuten befiehlst, sich einzeln, verstohlen aus dem Bereich dieser rasenden Teufel zu schleichen und uns in einiger Entfernung an einer bestimmten Stelle zu treffen, Häuptling. Wir fliehen voraus, — dann haben die Neger im Dunkel unsere Spur verloren. Ich will kein Blutvergießen, Tippoo, hörst du, ich will es nicht. Fünfhundert Rupien sind dein, wenn du thust, was ich verlange.“

Der Häuptling kämpfte einen schweren Kampf zwischen Ehrgeiz und Habsucht. Fünfhundert Rupien waren eine große Summe, aber dennoch, dennoch, — die Veddas besiegt zu haben, galt noch mehr.

„Herr,“ ächzte er unschlüssig, „wenn uns die Schwarzen verfolgen und finden sollten, wäre der Ausgang unsicher, hier dagegen haben wir den Sieg in Händen.“

Er sprach noch, als plötzlich bei dem Schein eines Blitzes ein völlig unerwarteter Anblick sich zeigte und der ganzen Sachlage ein verändertes Antlitz gab. Drinnen in der Schlucht tobte der Höllenlärm der siegestrunkenen Schar, und draußen vor derselben, den Versteckten so nahe als den Schwarzen, funkelten glühende Katzenaugen durch die Nacht, dehnten sich scheckige Glieder und lechzten blutrote Zungen. Zwei große Leoparden streiften mit ihrem heißen Atem die Stirnen der Weißen. — —

„Tippoo, ich beschwöre dich, gib nach! An diesen Wächtern vorüber können uns die Neger nicht schnell genug verfolgen.“

Der Singhalese schwankte nicht länger. Ein paar Worte, seinem nächsten Sklaven zugeraunt, genügten, diesen zu verständigen; der Mann verschwand schattengleich und ebenso schnell huschten die übrigen den Weg durch die Felsen voran in den Wald hinab. Zwei Minuten später hielt das Dunkel unter den Bäumen die ganze kleine Gesellschaft in seinem Schutz, während die Singhalesen, immer einer nach dem anderen, laufend folgten. Als der letzte zu den Seinigen gestoßen war, verwandelte sich da oben im Berge das satanische Triumphgeheul in die Laute des höchsten Erschreckens. Wahrscheinlich hatten die Leoparden einen plötzlichen Angriff ausgeführt.

Tippoo seufzte. „Schade,“ sagte er, „schade, die Gelegenheit war so günstig.“

„Auf,“ ermahnte Holm, „auf Häuptling, wir müssen eilen.“

Der ganze Zug setzte sich in Bewegung, erst langsam, des tiefen Dunkels wegen, dann, als dichte Gebüsche den Rückweg deckten, im Schein von dreißig Fackeln so schnell als nur möglich. Gegen Morgen war jede Gefahr, welche von seiten der Schwarzen gedroht hatte, geschwunden.

„Ich möchte ihr Erstaunen gesehen haben,“ lachte Franz. „Wie sie wohl suchten und suchten und sich hundertmal an allen Felsecken stießen, gewiß glauben sie jetzt an Zauberei.“

„Natürlich. Da sie fast niemals Weiße sehen, halten sie dieselben ohnehin für Wesen, die mit den bösen Mächten in Verbindung stehen. Eins weiß ich gewiß, daß sie nämlich jetzt wie gehetzte Hasen in ihr Dorf zurückflüchten. Schade, schade, wir hätten einen ganzen Stamm ausrotten können.“

Holm lächelte und nickte mit den Augen dem Doktor, der eben seiner höchsten Entrüstung Worte geben wollte. „Du sollst es nicht bereuen, dich unseren Wünschen gefügt zu haben, Häuptling,“ sagte er, „wir werden dir den versprochenen Lohn unverkürzt auszahlen und außerdem auch noch einen anderweitigen für deinen Geldbeutel sehr ersprießlichen Vorschlag machen. Freilich im Augenblick ist uns nichts so nötig als Schlaf.“

Das erkannten alle, und im Schatten hoher Tamarinden und Arekapalmen, eingesungen vom Chor der buntgefiederten Waldbewohner, schlummerten sie diesmal dem Sonnenaufgang entgegen, obwohl freilich aus den regenschweren Zweigen bei jedem Windstoß ganze Schauer von Tropfen herabrauschten und stellenweise alle Kleider durchnäßten. Das konnte nicht nachteilig sein, Luft und Wasser waren warm, der Wind schaukelte die Hängematten wie auf hoher See, die Gefahr lag hinter den kecken Abenteurern, — sie schliefen bis Mittag, während die Singhalesen längst ein Feuer mit vieler Mühe entzündet hatten und daran ihre durchnäßten Kleider trockneten.

Nach einem erfrischenden Bade wurde die Reise fortgesetzt und das Dorf auf den Bäumen in einigen Tagen glücklich wieder erreicht. Hier kam nun Holms Vorschlag zur Sprache. Er wollte die beiden Matrosen, welche unterdessen eine wahre Küchenrevolution unter den Frauen veranlaßt hatten, in Begleitung einiger Sklaven zum Schiff zurückschicken und den Kapitän auffordern, ohne seine flüchtigen Passagiere nach dem Hafen von Galle zu steuern und dieselben erst da wieder an Bord zu nehmen. „Du, Freund Tippoo,“ setzte er hinzu, „bringst uns mit einem guten Gefolge nach diesem Hafenplatz und bekommst dort dein Geld. Ich möchte einmal mit eigenen Augen sehen, wie sich auf einer und derselben Insel Schritt um Schritt die tiefste Vertiertheit des Menschengeschlechts in europäische Kultur verwandelt. Bist du einverstanden, Tippoo?“

Der Singhalese nickte, und so machten sich denn die beiden Teerjacken in Begleitung mehrerer Sklaven, schmerzlich betrauert von der weiblichen Bewohnerschaft des Dorfes, an einem schönen Morgen auf den Weg, während die Herren mit dem Häuptling und einer Schar dienstbarer Geister den Marsch in der Richtung auf Galle antraten. Madame Tippoo und ihre Kleinen hatten reichliche Geschenke erhalten; von dem ganzen sauberen, gastlichen Dorfe ward ein freundschaftlicher Abschied genommen, und sowohl Schakale als auch die jungen, inzwischen tüchtig herangewachsenen Tiger und ein wildes Pfauenpärchen in Käfigen von Bambusgeflecht den Sklaven auf den Rücken geschnallt. Allen denen übrigens, die den Zug zu den Veddas mitgemacht, verabreichten Holm und der Doktor ein anständiges Geschenk, — Tippoo erlaubte gnädigst, daß sie es annehmen durften.

Und so wurde von Dorf zu Dorf der Weg durch das paradiesisch schöne Land zurückgelegt; erst einzeln, dann immer zahlreicher erhoben sich aus dem Grün der Wälder die stattlichen Kaffee- und Zimtpflanzungen; es erschienen Wirtshäuser, europäische Speisen, weiße Menschen und endlich zwischen Kolombo und Galle schaukelnd im gemächlichen Trott des Viergespanns ein Omnibus. Die Knaben wollten sich bei diesem Anblick ausschütten vor Lachen. Da wo sie noch so kürzlich mit Tigern und wilden Menschen gekämpft, ein Omnibus wie auf dem Pflaster von Hamburg! — Sie rasteten nicht, bis das Gefährt in Beschlag genommen war, und bis Weiße und Wilde, Raubtiere und kreischende Pfauen sehr zum Erstaunen der Bewohner von Galle auf dem Vierspänner dahergerasselt kamen.

Vorüber an Häusern ohne Fensterscheiben und feste Dächer, vorüber an Menschen von allen Farben, Negern, Chinesen, Weißen, Indoarabern, Malabaren und Singhalesen, bis hinaus zum Hafen. Da lag schon die „Hammonia“ vor Anker, da begrüßte Papa Witt mit ein paar tüchtigen Böllerschüssen die Ausreißer, da fanden sich Briefe von Hamburg und da dehnte man so recht nach Herzenslust die Glieder in bequemen Betten wieder aus.

Tippoo wurde von dem Kapitän mit allen Ehren empfangen. Man gab ihm auf dem Schiffe ein Gastmahl, an dem die Offiziere aller im Hafen liegenden hamburgischen Fahrzeuge teilnahmen. Er aß auch bei dieser Gelegenheit keinen Braten und trank keinen Wein, aber man sah, wie sich sein Häuptlingsstolz geschmeichelt fühlte, wie er erhobenen Hauptes durch die Straßen ging, als wolle er sagen: „Seht, ich bin der, dem zu Ehren die Weißen ein rauschendes Fest veranstalteten.“

Nach einem herzlichen, beinahe innigen Abschied von dem Manne, der auf einem Baum wie ein Vogel wohnte, der ein Wilder war und doch ein so redliches, ehrenhaftes Herz besaß, nachdem Tiere und Briefe mit dem Postdampfer abgesandt und die Haufen von Blumen, Pflanzen, Insekten und Strandgeschöpfen, welche man gesammelt, erst vorläufig untergebracht waren, lichtete das Schiff die Anker und steuerte den Sundainseln zu.

Neuntes Kapitel.

„Kapitän,“ meinte Holm eines Morgens, während der Dampfer den Sundainseln zusteuerte, „Kapitän, ich hätte Ihnen einen Vorschlag zu machen.“

„So lassen Sie hören, mein Bester.“

„Ich möchte, ehe wir später nach Australien gehen, noch — bis zur südlichen Barriere vordringen.“

„Daß dich!“ rief voll Erstaunen der Alte. „Weiter nichts?“

„Nein Kapitän, weiter nichts. Das Geheimnis des Südpols mag immerhin noch unentdeckt bleiben, aber bis an das Packeis wollte ich doch gern kommen. Wir brauchen auch die Tiefseegeschöpfe der kalten Regionen, wir möchten Walfische und Robben, Eisberge und die Brandung der unzugänglichen Macdonaldinseln kennen lernen. Ein paar Monate werden es ja thun.“

„Gewiß,“ nickte der Kapitän. „Kleine tausend Meilen, was will das sagen?“

Alles lachte. Daß sich aber der gutmütige Führer dieser Expedition nicht sträuben würde, die allen Seeleuten so außerordentlich unliebsame Tour nach dem Südpolarkreise wirklich zu unternehmen, wußten sie trotzdem. Die Knaben entwarfen bereits lange Listen solcher Gegenstände, welche für die Tage des Frostes und Schneefalles unerläßlich waren, nämlich große Mäntel aus Schaffellen, Pelzstiefel und Pelzmützen, Fußdecken und ein Käfig für die beiden Affen, denen das Spiel im Tauwerk doch leicht zu ungemütlich werden könnte. Das alles sollte in der nächsten Hafenstadt gekauft werden, ebenso Harpunen und solche Vorräte, die durch außerordentlich hohe Kältegrade nicht leiden. „Es muß köstlich sein, einmal wieder nach Herzenslust zu frieren,“ meinte Franz. „Wenn ich Schnee fallen sehe, dann — könnte es mich überrumpeln wie Heimweh.“

„Nicht wahr, zu Hause ist’s doch am besten?“

„Möchtest du denn immer auf Reisen bleiben, immer fremd am fremden Orte, ohne eine Heimstätte, die dir gehört, Karl?“

„Gewiß nicht, mein lieber Junge. Andere Gegenden haben vielleicht hohe Reize, aber die Heimat hat doch den höchsten. Für den Grönländer sowohl wie für den Tropenbewohner.“

„Ob man sich aber nicht wieder hinaus sehnen wird in die bunte Ferne, Karl, ob man, nachdem an Auge und Geist die Schönheit aller Länder vorübergezogen, noch wieder ruhig in Hamburg im engen Kontor sitzen und — Profit und Schaden gegen einander abwägen kann?“

Holm lächelte. „Ich hoffe es,“ antwortete er nur.

Damit war die Unterhaltung beendet, namentlich weil man mit dem Schleppnetz fischen und die Tiefe untersuchen wollte. Was an bereits eingefangenen Krebsen und genießbaren Flossenträgern mit herauf kam, das wanderte in die Küche, alles andere dagegen wurde präpariert und verpackt, die Würmer, Schnecken, Quallen und die hübschen Anemonen, ebenso einige seltene Fische und einmal sogar eine kleine Wasserschildkröte, deren Art Holm völlig unbekannt war.

So zog die „Hammonia“ wochenlang durch den blauen Indischen Ozean dahin, erst südlich von Sumatra, dann längs der Küste von Java nach Norden.

Als der Hafen von Surabaja nach glücklicher Fahrt erreicht war, wurden Pferde gemietet und unter Begleitung von Malaien die neue Reise angetreten. Da hier die Eingebornen an den Verkehr mit Europäern vollständig gewöhnt und nirgends mehr wild waren, so gestaltete sich alles leichter, obwohl freilich Kapitän und Steuermann den Ausziehenden rieten, vor dem treulosen, hinterlistigen Charakter der Malaien auf ihrer Hut zu sein. „Sie sind sämtlich falsch wie Galgenholz, die gelben Kerle,“ sagte Papa Witt. „Ihren Profit kennen sie wie Juden, und Gewissen haben sie nicht mehr, als ein schlitzäugiger Chinese, — nun hüten Sie sich vor Schaden.“

Die Summe, welche der Anführer der kleinen Schar als Bezahlung empfangen sollte, wurde verabredet, ein Teil davon als Handgeld gegeben, und dann begann der Ritt durch weite Ebenen, in denen Reis, Mais, Indigo, Tabak und Baumwolle üppig gediehen. Alle diese Felder waren nett und sauber gehalten, die Wege gut im Stande, künstliche Kanäle hindurchgeleitet und von wilden Tieren keine Spur zu erblicken. Am interessantesten erschienen die Wohnhäuser der Malaien. Rund wie Bienenkörbe aus Bambus und einer anderthalb Meter langen Grasart, Alang-Alang genannt, künstlich geflochten, standen sie auf Pfählen 1¾ Meter hoch über dem Erdboden und waren ganz regelrecht von Zimmerleuten erbaut. Die Pfähle steckten in einer Entfernung von 1½ Meter im Boden und bildeten einen Kreis im Durchmesser von 10 Meter, während die Wand selbst vielleicht 3 Meter Höhe hatte. Das Dach wurde von drei Balken getragen und zeigte einen hübschen, wie eine Veranda gestalteten Vorbau, in dem jedesmal mehrere Vogelkäfige hingen, sowie ein eng bevölkerter Bienenkorb, dessen stachellose Insassen die Javanesen mit Wachs und Honig versorgen. Den Fußboden dieser nur für Verheiratete gebräuchlichen Wohnungen fanden die Reisenden in Ermangelung von Betten auf eigentümliche Art hergestellt. Zuerst grobe Feldsteine auf starken Bambusstäben, dann feinere Steine, endlich Kies und ganz oben gespaltene Bambusstäbe, die ihre platte Seite nach außen kehrten. Der Fußboden war also dicht und bequem, viel besser als ihn unsere Freunde irgendwo in den Dörfern der Eingebornen auf Ceylon bemerkt; auch befand sich des häufigen Regens wegen die Feuerstelle inmitten jeder Wohnung. Für Unverheiratete war ein größeres derartiges Haus, abgesondert von den übrigen, hergestellt.

Alle diese kleinen, gelben, beweglichen Menschen mit wenig schönen Gesichtern und struppigem, grobem Haar, schienen sorglos in den Tag hinein zu leben, ihre Arbeiten möglichst oberflächlich und träge zu bewerkstelligen und den Besuch der Fremden in ihren Dörfern sehr gern zu sehen. Von der zurückhaltenden Würde der Singhalesen, von ihrem religiösen Gefühl und ihrem Stolz war nichts zu entdecken, vielmehr boten alle, selbst die Kinder, den Weißen dieses oder jenes zum Kauf an, umdrängten sie und ließen nicht ab, bis ihr Besuch im Schauspielhause für denselben Abend zugesagt war. Die jungen Leute trauten ihren Ohren kaum. Ein Schauspiel unter den Wilden auf Java! Das übertraf allerdings die kühnsten Erwartungen. Mit gespanntem Interesse nahmen alle ihre Plätze in der großen, leicht und luftig erbauten, für die Wandertruppe auf dem Dorfmarkt errichteten Bude; die seltenen Gäste bezahlten hier zwar ihre Plätze verhältnismäßig höher als im teuersten europäischen Opernhause, aber dafür bot sich auch etwas nie Gesehenes, wobei nur die Gehörsnerven empfindlich litten. Die Musik war nämlich nichts mehr und nichts weniger als ein Höllenlärm, wobei der Ganelang (ein Glockenspiel) noch außerdem durch die beständige Wiederholung desselben Tones wahrhaft betäubend wirkte. Als das Schauspiel begann, jubelten und lachten, schrieen und jauchzten alle Zuschauer laut durch einander, so daß aus den Tönen rings umher ein Gewirr, Tosen und Brausen entstand, in dem jede Einzelheit verloren ging. Freilich hätten die Europäer ohnehin dem Gange des Stückes nicht folgen können, da ihnen das Verständnis der javanischen Sprache gänzlich fehlte, aber dennoch gehörte eine tüchtige Gesundheit dazu, um dies „Vergnügen“ ohne Schaden zu ertragen. Der Doktor klopfte auf Holms Schulter, seine Bewegungen sagten deutlich: „Ich bin einem Schlaganfalle nahe, lassen Sie mich hinaus!“ und Holm telegraphierte zurück: „Gehen Sie allein! ich stehe in der Brandung und werde aushalten.“

Dann verschwand der alte Herr, die Knaben stimmten mit der ganzen Heiterkeit ihres glücklichen Alters in den Jubel und Trubel mit ein, nur Rua-Roas Gesicht wurde länger und immer länger. Er begriff nicht, was da vorging, er hielt die Szene für Wirklichkeit und wollte durchaus einem von Panthern und Tigern verfolgten Eingebornen zu Hilfe eilen, was natürlich den Frohsinn der übrigen nicht weniger steigerte. Auf der Bühne wurde indessen der Spektakel immer ärger. Ein Held im vollsten einheimischen Putz, klirrend von Blech, Messing, Perlen und Schnallen, bunt von Malerei, mit grimmigen Gebärden und laut brüllendem Tone, besiegte alle möglichen Ungeheuer, während ein zitterndes, flüchtendes Mädchen bald auf die Kniee fiel, bald sang und einen sonderbaren Tanz vollführte; andere Gestalten flogen dazwischen, ein Zweikampf fand statt, wobei der Besiegte in wirklicher Wirklichkeit durchgebläuet wurde, und zuletzt schloß das Ganze mit einem Tanz, bei welchem die Schauspieler jeder nach seinem Belieben ohne Takt oder Ordnung nur wilde Sprünge und Lärm vollführten.

Als sich unsere Freunde draußen wiedersahen, als ihnen vom Lagerplatz her der Doktor mit teilnehmendem Gesicht entgegenkam, da lachten alle, daß ihnen die Seiten weh thaten. Einmal in einem Javanesentheater und nie wieder! Sie hatten sämtlich das Gefühl, als stehe eine Mühle, deren Rauschen und Dröhnen bis dahin ihre Nerven betäubt, jetzt plötzlich still.

„Kinder, genießt erst ein wenig,“ ermahnte der alte Herr, „die Nüchternheit der landesüblichen Speisen wird euer Blut bestens abkühlen. Reis ohne Fett oder Gewürz und ein trockener Fisch, das ist alles, was sich auftreiben ließ.“

Man erstand gegen teuren Preis von den Eingebornen dazu einige Kokosnüsse, und dann nach beendetem Mahle wurde die Nachtruhe gesucht. Franz und Holm lagen in der Nähe der offenen Thür auf ihrem Mattenlager, als plötzlich der Knabe die Schulter seines Lehrers berührte. „Du, Karl, ich bitte dich, hier fliegt alles, was anderswo auf vier Beinen läuft. Sieh doch einmal dorthin, ein Hund — große Frösche, alles segelt durch die Luft.“

Die beiden jungen Leute sahen vor ihren Augen ein Bild sich entrollen, das allerdings seltsam genug war. An den Zweigen hingen Tiere von nicht völlig einem halben Meter Länge und mit dunkelbraunem, dicht behaartem Körper, der in eine vollständige Hundeschnauze auslief. Hundeohren, Hundestirn und große gutmütige Hundeaugen, alles vereinte sich, um die Täuschung zu vollenden; erst der schwarze mantelartige Hutschirm über dem ganzen Körper, die Flugbreite von wenigstens 1¾ Meter verrieten die Fledermaus, deren riesigstes Exemplar, der Kalong oder fliegende Hund, hier massenhaft vorkam. Rechts und links schossen die großen Tiere durch die Luft, an allen Fruchtbäumen in den Gärten hingen ihre langen Krallen; kein Zweig, keine Sorte blieb unbenascht. Die sonderbaren Tiere mußten sehr friedlicher, zahmer Natur sein, da sie sich so in die unmittelbare Nähe der menschlichen Wohnungen wagten.

„Ob ich schieße?“ zögerte Holm. „Haben möchte ich ein solches Exemplar um jeden Preis, aber man weiß nicht, wie die Sache aufgenommen wird.“

„Hm, — im Freien darf man am Ende doch schießen.“

Nach kurzem Besinnen kletterte der junge Gelehrte zur Thür hinaus und wollte eben hinter einer Palme Posto fassen, als, wie aus dem Boden gewachsen, mehrere Eingeborne vor ihm standen. „Was wünschest du, Herr?“ hieß es.

Holm blieb ganz gelassen. „Einen Kalong zu schießen,“ versetzte er. „Weiter nichts.“

„Dann lege dich nur ruhig wieder schlafen, Herr. In allen Hütten leben zahme Kalongs, du kannst sie kaufen.“

„Desto besser. Gute Nacht, mein Freund!“

Und Holm schwang sich in die treppenlose Thür wieder hinein. „Siehst du,“ raunte er, „wir werden bewacht. Umsonst gibt es hier nichts, auch keine Jagdfreiheit, wie mir scheint; die Eingebornen betrachten uns wie ihre gute Beute.“

Er legte sich wieder hin, heimlich geärgert von den vielen, die Fruchtbäume nach Herzenslust plündernden Kalongs, die er nicht schießen durfte; endlich aber lachte er doch mit dem Knaben und zwar über die großen Frösche, welche zahlreich unter den Bäumen einher flogen. Zwischen den Zehen befand sich eine Haut, und der ganze Körper war zur dreifachen Größe aufgebläht; unten gelb, oben grün mit schwarzen Schwimmhäuten, segelte das unförmliche Geschöpf wie ein Pfeil durch die Luft, während eine kleine Eichhörnchenart lustig von einem Baume zum anderen hüpfte und sich die Nüsse schmecken ließ. Kleinere Fledermäuse schwirrten zu Tausenden umher.

Allmählich kam der Schlaf und verwischte im bunten Durcheinander des Traums die verschiedenen wechselnden Bilder dieses Tages; es ruhte sich bequem auf den weichen Matten, und unsere Freunde erwachten erst wieder, als die Sonne hoch am Himmel stand.

Jetzt überzeugte sich Holm von dem Vorhandensein zahlreicher gezähmter Kalongs; er kaufte daher vorerst noch keinen derselben, sondern beschloß diesen Handel bis zum Rückwege hinauszuschieben. Es galt heute, eine der Gifthöhlen Javas zu besehen. Während des ganzen Tages ritten die Weißen mit ihren Begleitern über schattenlose, meilenweit gedehnte Grasflächen, auf welchen ihnen Spuren von Rhinozerossen, Hirschen und Wildschweinen begegneten; dann kam eine dürre, felsige Gegend; himmelhohe Abhänge, grünbewachsene, von den wundervollsten, farbenprächtigsten Vögeln belebt, erhoben sich zu beiden Seiten des steinigen, abschüssigen Weges; Papageien, Pfauen, Turteltauben, der wilde Hahn, der Ziegenmelker, der Reisdieb, der Manuk Kasu, ein entzückend singender, kleiner Vogel, und endlich die Schwalbe, welche jene berühmten eßbaren Nester baut, alle flatterten und flogen, hüpften und standen unter den schönbelaubten Bäumen verschiedenster Art, inmitten zahlloser blühender Orchideen und anderer wuchernder Zierpflanzen. Die Krone von allen aber bildete der Königsparadiesvogel. Sechs Zoll lang, mit tiefpurpurnem Gefieder, einem breiten, grüngoldenen Querband auf den Flügeln, grünen Seiten, grüner Brustbinde und weißem Bauche, erschien er den Reisenden einigemale auf flüchtige Sekunden und in ziemlicher Entfernung, dann war er davongeflogen, ehe noch ein Schuß ihn ereilen konnte. Das Gefieder blitzte im Sonnenlichte wie mit Edelsteinen übersäet; besonders die spiralförmig gewundene Schwanzfeder war von überraschender Schönheit.

„Der Manukodiata,“ sagten die Eingebornen, deren Pfeile ebenso rasch und ebenso vergeblich angelegt wurden, wie die Gewehre der Weißen, „seine Federn machen hieb- und schußfest in allen Schlachten.“

Dadurch war denn das seltene Erscheinen des Vogels genügend erklärt. Wenn ihn die Eingebornen als Federbusch auf dem Kopfe tragen, so mußte wohl seine Ausrottung schnell genug von statten gehen. Die unschönen Weibchen zeigten sich häufiger. — Noch mehrere andere Spielarten derselben Gattung wurden wahrgenommen: der rote und der stolze Paradiesvogel, aber keine war zu erlangen; ebenso Schmetterlinge vom schönsten, prächtigsten Farbenspiel und der karmoisinrote Pirol. Weiterhin durch die Ebenen jagten stampfend Herden von wilden Stieren, hoch hinauf in das ewige Blau ragten die Felsgipfel und südlich kosende, von Blumendüften erfüllte Luft fächelte die Stirnen. Es war eine Erholung für alle Sinne, nach dem meilenweiten Ritt durch das Alanggras, jetzt in dieser wundervollen Umgebung Auge und Ohr schwelgen, die angespannten Kräfte träge ruhen zu lassen. Bisweilen wurde der Weg zwischen den hohen, oft von Staubbächen überrieselten Gebirgswänden so eng, daß die Pferde eins hinter dem andern gehen mußten; weicher Halbschatten, linde, wohlthuende Dämmerung lag dann auf der blühenden Landschaft. Häufig fanden sie an den Zweigen der Büsche jene seltsam gestaltete Gespenstschrecke, welche die dornfüßige genannt wird, und deren Vorkommen bis jetzt nur auf Java beobachtet wurde. Das mit stummelhaften Flügeln ausgerüstete Weibchen derselben wird bei einem Leibesdurchmesser von etwa einem Zentimeter gegen zweiunddreißig Zentimeter lang und besitzt eine braungraue Farbe. Den Kopf kann dieses Tier in eine tiefe Ausbeugung der vorgestreckten Vorderbeine legen und sieht dann in der Nähe einem dürren Aste zum Verwechseln ähnlich. Diese Ähnlichkeit des Tieres mit dem Orte, an welchem es sich aufzuhalten pflegt, findet sich bei den Kerbtieren nicht selten und ist als ein Schutzmittel zu betrachten, das die Natur auch diesen ihren Kindern verliehen hat, um sie vor den Augen der Feinde zu verbergen. Bei Nacht verzehren sie die Blätter des Unterholzes, bei Tage dagegen ruhen sie von ihrer nächtlichen Arbeit aus und können nur dann leicht erkannt werden, wenn sie vorwärts kriechen. Man hat die Gespenstschrecken auch wandernde Äste genannt. Holm war erfreut, diese seltene und seltsame Art vorzufinden, und da sich günstige Gelegenheit bot, wurden viele Exemplare derselben gesammelt, um teils trocken aufgespießt und mit Tabaksaft vergiftet, teils in Spiritus aufbewahrt zu werden. Die Vogelwelt war auf das reichste vertreten. Goldglänzende Pfauen schlugen ihr Rad, vom Nest lockte das Turteltäubchen und auf blumengeschmückten Ranken wiegte sich die buntgefiederte Schar. Ein kleiner, scheuer Hirsch, der Kantschil, erschien auf unnahbarer schwindelnder Klippe; ein Affe lugte aus verborgenem Schlupfwinkel hervor; vom Baume warf mit wütenden Gebärden der graue Manjet-Affe die reifen Früchte den Vorüberreitenden nach, und aus dem Felsspalt zischte die pantherartig gefleckte, wilde Katze. Überall reges Leben der Wildnis, überall Tiere und der Krieg des einen Geschöpfes gegen das andere; hier Termiten, die geschäftig bauten, dort das Schuppentier, welches die eben fertigen Wohnungen zerstörte und die kleinen braunrändigen Baumeister zu Hunderten verspeiste; dazu auf allen Bäumen, in allen Höhlen und Spalten Fledermäuse ohne Zahl. Der Blick irrte von Schönheit zu Schönheit, von Reiz zu Reiz, hier lagen ganze Beete blühender Orchideen, dort brauste ein Gebirgsbach durch die Schlucht; hier senkte sich das Thal zur tiefen dunklen Mulde, dort führte der Weg über zackige, scharf am Abgrunde dahingleitende Bahnen.

Hinauf, immer weiter hinauf in den rauschenden Hochwald, stundenweit empor, bis die Nacht kam und zum Ausruhen zwang. Affen in ganzen Scharen bevölkerten die Bäume, Stier und Nashorn brüllten in den Ebenen, Schlangen krochen durch das Gras, neugierige Eidechsen wagten sich ganz in die Nähe des Lagers, und schöne Stachelschweine wurden ohne viele Mühe eingefangen. Am nächsten Morgen ging es weiter, immer bergan, bis allmählich die Landschaft ihren Blütenglanz und ihr Tierleben verlor. Große Adler traten an Stelle der Pfauen und des Pirol, Bergziegen weideten das spärlicher gewordene Grün, und einmal erhob sich aus dem Gestrüpp fast vor den Füßen der Pferde ein großer Königstiger. Noch ehe einer der Männer schießen konnte, war er mit ungeheurem Satz hinter den nächsten Gebüschen verschwunden; nur sein wütendes Brüllen schallte über die Umgebung dahin. Ein einzelner Mann, selbst zu Pferde, wäre von der gereizten Bestie in Stücke zerrissen worden; der größeren Anzahl gegenüber wagte sie keinen Angriff.

S. 250.

Ins Hochgebirge von Java.
„Hinauf, immer weiter hinauf in den rauschenden Hochwald.“

Einer der Führer deutete hinauf in die Luft, wo sich auf halber Höhe des Berges eine Art Lücke, eine Unterbrechung der glatten Wand zeigt. „Das ist Pakaraman, das Totenthal!“ sagte er feierlich.

„Da oben auf der Höhe?“

„Ja. In einer Stunde werden wir dort sein. Gefahr ist um diese Zeit nicht dabei.“

„Wie kommt es,“ sagte Franz, „daß das Totenthal nicht immer seine tödliche Wirkung auf die Besucher ausübt?“

„Dieses Thal,“ antwortete Holm, „liegt in unmittelbarer Nähe von Vulkanen, und in demselben sammelt sich von Zeit zu Zeit Kohlensäure an, welche von vielen Vulkanen fast ununterbrochen ausgehaucht wird. Diese Kohlensäure — ihr kennt sie alle als das perlende Gas, welches in dem bekannten Selterswasser enthalten ist — wirkt eingeatmet auf die Lungen als tödliches Gift. Wenn nun kein Luftzug sich regt und die vulkanischen Ausdünstungen sehr heftig sind, so sammelt sich im Grunde der trichterförmigen Schlucht so viel Kohlensäure an, daß der Besuch derselben gefährlich wird. Wenn dagegen die Ausströmung des Gases sich vermindert und ein starker Wind in die Schlucht dringt, so kann dieselbe ohne schlimme Folgen betreten werden. Übrigens,“ fuhr er fort, „gibt es auch in Europa eine Grotte, deren Boden etwa ein bis zwei Fuß hoch mit Kohlensäure bedeckt ist, die, weil ihr spezifisches Gewicht das der atmosphärischen Luft an Schwere übertrifft, sich nur unten aufhält.“

„Ah, ich weiß schon,“ rief Franz, „es ist die Hundsgrotte bei Neapel. Der Mensch betritt sie, ohne von der Kohlensäure belästigt zu werden, Hunde dagegen, die man mitnimmt, ersticken, weil ihre Atmungsorgane sich im Bereich des giftigen Gases befinden, sobald sie auf den Boden gesetzt werden.“

„Ganz recht,“ bestätigte Holm. „Die Ursachen beider Merkwürdigkeiten sind dieselben, nur die Form, in der sie sich äußern, ist eine verschiedene.“

Der steil ansteigende Weg wurde in beschwerlichem Ritt auf den kleinen javanischen Pferden zurückgelegt, und dann standen die Wanderer vor einem überraschend schönen Anblick. Ein breiter blauer Strom sandte seine Wellen zu Thal, Krokodile, Leguane, und Wasserschlangen bevölkerten die röhrichten Ufer, und zur Seite des rollenden Stromes senkten sich die Bergwände zum tiefen, trichterförmigen Kessel. Eine breite Rundung gab den Blick frei in die schwindelnde Tiefe des Totenthales. Zuweilen entströmen hier der Erde so furchtbare Ausdünstungen, daß alles Pflanzen- und Insektenleben während einer einzigen Nacht zu Grunde geht, zuweilen grünt und blüht es da unten bis zum mittelsten flachen Kreise von etwa fünf Metern Durchmesser; dieser innerste, unterste Fleck ist gleichsam durchseucht von dem Gift in seinem Schoße; er trägt nie einen grünen Halm, nie eine Blüte; auf ihm lastet ewig unfruchtbare Dürre.

Die Pferde wurden an Bäume gebunden, und Holm und Franz mit dem Malagaschen versuchten das Hinabsteigen, während Hans und der Doktor oben blieben. Die Führer kletterten voran, an ihren Ledergürteln lange Knotenstöcke tragend, die bei dem Wege bergab für die Weißen als Stützen und später bergan als Handhabe dienen sollten. Oben am Rande wuchsen von allen Seiten knorrige, wildverschlungene Baumstämme über die Schlucht hinaus, der Pfad bergab lief schräg an der Felswand hin, das helle Tageslicht fing schon nach den ersten fünfzig Schritten an, in Dämmerung gehüllt zu erscheinen. Große Eidechsen schlüpften über das Gestein; eine kalte Luft wehte von unten herauf.

Die Javanesen und der Malagasche sprangen mit jener überlegenen Geschicklichkeit der wilden Völker ziemlich ohne Mühe von Ast zu Ast, von Klippe zu Klippe bis auf den untersten Grund hinab; weniger leicht folgten ihnen die Europäer. Nur mit blutenden, geschundenen Händen gelang es diesen letzteren, die dunkle Tiefe im Schoße des Berges überhaupt zu erreichen; klopfenden Herzens standen sie unter dem gewaltigen Eindruck einige Augenblicke sprachlos; nur mit Mühe konnten sie in der kalten, schweren Luft Atem schöpfen. Hundert Meter hoch über ihnen lag auf dem Rande der finsteren, unheimlichen Schlucht blitzend und glühend das Sonnenlicht, kaum erkennbar, nur wie ein funkelnder Streif, von den schwarzen Tiefen hier unten gänzlich ausgeschlossen, keinen Strahl hinabsenkend, keinen warmen Hauch, kein noch so schwaches Leuchten.

Wahrlich, das Totenthal verdiente mit Recht seinen Namen. Der gleiche beklemmende Eindruck, den es verursachte, lag auf allen Teilnehmern dieser gefährlichen Expedition. Als in Holms Hand die mitgebrachte Wachskerze aufflammte, beleuchtete ihr schwaches in der Kellerluft da unten kaum die nächste Umgebung erhellendes Glimmen lauter blasse Gesichter und ernste Mienen. Es war doch ein seltsames Gefühl, so von allen Lebenden getrennt, abgeschieden von Luft und Licht, da unten allein in schweigender Öde die nassen Wände und die verkümmerten wenigen Gewächse anzusehen, letzte Spuren der Pflanzenwelt, letztes welkes Grün, grau und fahl gesprenkelt, kaum noch lebend, ohne Saft und Mark am verknoteten dürren Rankgeflecht. Eine große Schlange glitt ringelnd über das verwitterte Gestein dahin, Unken und Frösche glotzten aus den Winkeln, Eulen mit runden gelben Augen schossen auf, gespenstigen Fluges die Stirnen der Männer streifend; auch hier schwirrten Fledermäuse wie Mücken im Sonnenschein.

Holm brach zur Erinnerung an die Stunde im Bauch des Hexenkessels, dessen todbringender Hauch schon so oft Verderben über die Umgebung gebracht, vom Gestein der Wand ein Stück, das er in die Tasche steckte, ebenso aus dem mittleren, wüsten Bodengrund etwas Kies; dann wurde der Rückweg angetreten.

Jetzt ging es leichter; die schweren Stöcke der Eingebornen dienten den Weißen als eine Art von Treppengeländer; sie hielten sich, wo es nötig war, daran fest und gelangten so nach und nach an die Oberfläche, wo schon der Doktor und Hans ungeduldig gewartet hatten. „Nun, nun,“ drängte ersterer, „ihr seht ja aus, als sei euch da unten — der Himmel vergebe mir die Sünde! — der leibhaftige Teufel begegnet!“

Holm lächelte. „Da unten aber ist’s fürchterlich!“ citierte er. „Ich möchte doch um keinen Preis die Tour noch einmal machen. Und du, Franz?“

Der Knabe schauderte. „Mir ist es immer noch, als fühlte ich die kellerkalte, drückende Luft,“ antwortete er.

Nur die Eingebornen waren sehr gleichmütig; sie hatten die Fahrt in den Höllenschlund schon mehr als einmal bewerkstelligt und behielten bei der ganzen Sache ausschließlich den Verdienst im Auge. Auch Rua-Roa erklärte, in seiner Heimat oft noch ganz andere Streifzüge unternommen zu haben; er würde sich nicht bedenken, jetzt gleich und zwar allein wieder hinunter zu klettern. Das wilde Element in ihm trat auch so recht zu Tage, als es galt, an der entgegengesetzten Seite des Hochgebirges wieder ins Thal zu gelangen. Der Weg war äußerst beschwerlich, Steinwildnis folgte auf Steinwildnis; erst nach längerem, mühsamen Ringen, wobei die kleinen, einheimischen Pferde, des Steigens gewöhnt, die besten Dienste leisteten und gleitend, rutschend und springend über Abstürze gelangten, vor denen ihre Reiter schaudernd die Augen schlossen, — verwandelte sich der rauhe Pfad wieder in den bewachsenen, von Bäumen beschatteten Waldweg. Man war immer noch im Gebirge; die Führer vermieden absichtlich das tiefere Thal, und zwar um den Reisenden das „Moro Api“ oder ewige Feuer von Java zu zeigen; aber dennoch blühte und grünte üppige Pflanzenwelt rings umher und plätscherte in munteren Sprüngen ein Fluß, der Gunang Morio, zur Seite des Weges dahin. Breiter und breiter dehnte sich die blaue Fläche, mehr und mehr umhüllten die Schatten mit grauen Schleiern das schöne Landschaftsbild. Es wurde dunkler Abend, der Vogelgesang verstummte, die Blumen dufteten stärker, Eulen und Fledermäuse belebten die Luft, Wildkatzen begannen ihre Jagd, Marder von ungewöhnlicher Größe kletterten den Tauben bis auf die höchsten Kronen nach, und fernher schallte das Bellen der wilden Hunde; — da erschien zwischen den Baumwipfeln ein unsicheres, flackerndes Licht, noch kaum erkennbar; wie ferner Feuerschein, wie wenn jemand mit der brennenden Lampe kommt und geht, ohne an einem Orte zu verweilen.

„Das kann kein Dorf sein,“ rief Franz, „sonst müßten ja die Leute im Wasser wohnen. Das Licht schwebt über dem Flusse.“

„Moro Api!“ sagten die Javaner.

Neugierig gemacht, eilten die Weißen so schnell als möglich vorwärts, ohne Bedenken den Eingebornen nach, als diese in das Flußbett hineinritten und quer über eine breite, ganz mit Wasser bedeckte Ebene dahinsprengten. Jenseits des murmelnden, silbernen Elementes fing das Gewirre von Klippen und Abgründen wieder an, zerstreute Blöcke und phantastisch geformte Zackenreihen sprangen weit in das Wasser hinaus vor, natürliche Bogen und Säulen wechselten mit senkrecht abfallenden Wänden, und spitze einzelne Felskegel ragten wie Leuchttürme aus den Fluten empor. Dieses ganze wildromantische Bild war erhellt gleich dem Feengarten des Märchens; überall auf Spitzen und Dächern, in den Tiefen und zwischen den Säulen spielten die violetten, purpurnen oder ganz weißen, goldglänzenden Lichter des Moro Api; überall glitten Flammen und Flämmchen, von jedem Luftzug lang aufflatternd wie Bänder, an den Felswänden dahin, die vielzackigen, wunderlichen Formen in ihren Strahlen badend, Schattenbilder malend und über verworrene Trümmer huschend wie Fabelwesen aus uralter Märchenzeit. Wenn zuweilen ein leichter Wind das Wasser kräuselte, dann schwebten die bläulichen und roten Lufttänzerinnen im Kreise empor, gaukelten hierhin und dorthin, beleuchteten plötzlich eine dunkle Spitze oder eine tiefere Schlucht und kehrten dann nickend und sich biegend zu ihren früheren Standpunkten zurück.

Das erhabene Naturschauspiel bannte die Zungen aller; ein fast andächtiges Schweigen beherrschte die kleine Schar. Rings das blaue stille Wasser und darüber in geheimnisvoller Schönheit jene körperlosen, lichtspendenden Wesen, jene ewigen, seit dem ersten Schöpfungsmorgen brennenden Lampen, deren Licht unter allem Wechsel fortglühte und fortglühen wird bis an das Ende, — alle diese Bilder ließen nur lautlose Bewunderung aufkommen.

„Am hellen Tage,“ erklärte endlich einer der Eingebornen, „ist das Moro Api nicht sichtbar oder doch im Sonnenglanz nur sehr schwer zu unterscheiden. Wir müssen uns jetzt aber beeilen, das Nachtlager im Gebirge zu erreichen. Alle Anzeichen deuten auf einen Gewittersturm, wie sie hier zu Lande üblich sind.“

„Können wir denn den Ausbruch desselben nicht gerade an dieser Stelle erwarten?“ fragte Holm. „Ich wäre neugierig, die Flammen wie rasende Kobolde an den Felsklippen hinauf klettern zu sehen, ich möchte ihre tolle Jagd im Sturme kennen lernen.“

Aber die Eingebornen schüttelten mit den Köpfen, obgleich sämtliche Knaben ihre Bitten der des jungen Gelehrten hinzufügten. „Die Fremden wissen nicht, was ein Gewittersturm in den Bergen zu bedeuten hat; es ist ein Spiel um Leben oder Tod. Felsblöcke werden herabgerissen, Bäume niedergebrochen, der flache Gebirgsfluß wird zum tosenden Strome, die Blitze bedrohen alles, was lebt. Wir müssen schleunigst die sichern Höhlen aufsuchen.“

„Sind die denn weit von hier?“ fragte Franz.

„Nein, im Gegenteil ganz nahe.“

„So laßt uns aufbrechen,“ ermahnte der Doktor. „Diese Leute kennen doch das Land und das Klima besser als wir.“

Holms und des Knaben Blicke begegneten sich. Beide nickten wie im Einverständnis, und dann ritt die kleine Schar unter Vortrab der Javanen tiefer in das geklüftete Gebirge des Gunong Morio hinein, bis nach vielleicht fünf Minuten eine enge, dunstige Höhle erreicht war. Hoch in die Wolken erhob sich über der niederen Wölbung die Felskuppe; dichte, moosbewachsene Wände sicherten vor allen möglichen Angriffen; massive granitne Pfeiler stützten eine Art von Vorhof, und weiterhin gegen das Innere öffnete sich Gang nach Gang, aber die Luft war drückend, weshalb alle beschlossen, so lange als thunlich draußen zu bleiben.

Die Eingebornen entzündeten mehrere Wachskerzen und warnten dann die Reisenden, sich über eine bestimmt bezeichnete Grenze nach rechts hinaus zu wagen. Ein sonderbarer Anblick wartete hier der staunenden Beschauer; überall war der Steinboden durchlöchert und zerklüftet, überall schoß unter demselben in wildem Toben ein Gebirgsbach zu Thal, etwas weiter hin als breiter, glänzender Wasserfall über rundgeschliffene, glatte Wände in den Abgrund stürzend, tausend kühle Tropfen den Wandernden entgegenspritzend, jene köstliche, unnachahmliche Frische des kalten Quellwassers der heißen Luft mitteilend, schön und großartig im wechselnden Licht der Kerzen, donnernd und grollend, gleich einem fernen Gewitter.

„Morgen können Sie sich, wenn sie schwindelfrei sind, bis an den Abhang hinauswagen,“ erklärte der Führer, „die Felsblöcke liegen sicher, aber am Abend ist die Sache unmöglich.“

Es blieb also nur übrig, unter dem Rauschen und Brodeln des Falles, unter dem leise anhebenden Singen des erwachenden Sturmes die Ruhe zu suchen und einstweilen auf weitere Ausflüge zu verzichten. Man speiste, die Pferde wurden etwas weiter draußen in einer der Vorhallen an Bäume gebunden und die Wolldecken ausgebreitet. In einer Höhle lagen sämtliche Javanen, in der zweiten die Weißen; von wilden Tieren hatte sich nichts gezeigt, der Sturm heulte sein großartiges Wiegenlied, langgezogener murrender Donner erhob die Stimme, und rauschend in schweren Tropfen fiel der Regen herab. Die Augen der Menschen schlossen sich, obwohl zuweilen falber Schein den Wolkenschleier zerriß, und einzelne Stöße brüllend und schnaufend den gewaltigen Anlauf des Orkanes verrieten. Bis hierher drangen weder Regen noch Sturm, dies Dach ließ keine Tropfen durchsickern, diese Wände konnten dem Anprall aller Erdenkräfte Trotz bieten. — Das Gefühl der Sicherheit schläfert ein, Leib und Seele wiegen sich in Schlummer, alle Spannung ist gelöst, die Augen fallen zu, ehe es der Träumer weiß.

Holm und Franz schliefen nicht. Als es rings umher still geworden war, schlichen sie zusammen unter tausend Gefahren und Mühen auf dem Wege zum Moro Api zurück. Jene hüpfenden Flammen bildeten den Punkt, nach welchem sich ihre Schritte lenkten, und unbekümmert, ob ihnen der Sturm die Sprache raubte und der Regen ihre leinenen Kleider bis auf die Haut durchnäßte, drangen sie vorwärts. Der Aufruhr aller Elemente war von wilder Schönheit. Einmal draußen, dem Schutze der Felsmauern entrückt, hörten sie Sturm und Donner im unentwirrbaren Tonganzen ihre betäubende Stärke entfalten, Blitz auf Blitz zerriß die drückende Luft, schwefelgelb und bläulich fuhren Zacken und Strahlen über den Horizont dahin, und hochauf spritzten die Wellen des Flusses. Das Schönste von allem aber blieben die Flammen des Moro Api. Unausgesetzt drang aus dem vulkanischen Erdinnern das Gas hervor und unausgesetzt entzündete es sich durch die Berührung mit der atmosphärischen Luft, wieder und wieder schlugen züngelnde Feuer aus den Spalten herauf, vom Wind erfaßt, sobald sie entstanden waren, hierhin und dorthin entführt, in zahllose Teilchen gerissen, bald klein, bald groß, bald in dieser, bald in jener Form. Bis auf die höchsten Punkte der Klippen jagten einander die Luftgestalten, nicht mehr spielend, gaukelnd wie vorhin in der linden, stillen Gewitterluft, sondern tobend wie toller Märchenreigen, wie eine Schar entfesselter Höllengeister, die sich erfassen und wieder verlieren, die einander wutentbrannt folgen und im Kampfe zum Knäuel verschlungen untergehen.

Der Sturm blies mit vollen Backen unter die Flüchtenden. Hier malte er aus dem zitternden weißen Flämmchen ein Menschenantlitz und dort ein laufendes, langgestrecktes Tier, hier einen Riesenvogel mit ausgebreiteten Schwingen und dort ein Zwergenmännchen mit Keule und Schild; überall aber hetzte und verfolgte er die lockere Schar, Klippen hinauf und Klippen herab, durch Schlünde und Abgründe, über schmale Brücken und auf einsamen Pfeilern, überall zerriß er die glänzenden Lichter in Streifen und Fetzen.

Dazwischen schlugen Blitze in das Wasser und zuweilen in die höchsten Bäume des Waldes. Erschrockene Vögel flatterten ängstlich durch den Sturm, Papageien kreischten wild mit anderen Vögeln um die Wette, hier und da stürzte ein Jahrhunderte alter Riese, im Falle zahllose Rankengeflechte zerreißend und das Wasser hoch aufspritzend, daß ganze Schauer die beiden jungen Leute überfluteten. Zu sprechen war unmöglich, sie konnten sich, hinter den letzten Ausläufern des Gebirges einigermaßen geschützt, nur durch Zeichen verständigen, ihre Haare flogen wild um die Köpfe, das Zeug klebte am Körper, die Stiefeln waren schwer wie Blei, und bei jedem neuen Windstoß überlief eine unangenehme Kälte die Haut. Sich jetzt in die Wollendecken zu hüllen, und an trockener, geborgener Stätte ausruhen zu dürfen, mußte doch recht behaglich sein! Einer hinter dem anderen krochen sie, das Schauspiel der ewigen Flammen nur ungern verlassend, Schritt für Schritt im Toben des Wetters zum Lagerplatz hinauf, länger als eine Stunde brauchend, wo vorhin fünf Minuten, freilich auf den Rücken der behende kletternden Pferde, genügt hatten. Noch schlief alles, selbst da, wo die Eingebornen lagen, rührte sich nichts, und auch die Tiere waren merkwürdig still. Wenn irgend ein Angriff kam, traf er die Gesellschaft durchaus unvorbereitet.

Holm ging zu der etwas entfernten Stelle, wo die Pferde standen; helle Blitze zeigten ihm den Weg, er konnte nicht irren. Merkwürdig, daß sie so still blieben! —

Jetzt war er da, gewiß, er erkannte deutlich den Baum, an welchem er sein eigenes Tier befestigt, aber dennoch — von den Pferden keine Spur.

Zehn Schritte weiter und das Plateau fiel steil ab ins Thal. Wohin waren die Tiere gekommen? — Ein furchtbarer Gedanke durchzuckte sein Inneres, im Nu stand er vor der Schlafstätte der Eingebornen; — auch hier alles leer.

„Franz!“ rief er mit unterdrückter Stimme. „Franz!“

„Nun? — Was hast du, Karl?“

„Sieh her, die Javanen sind mit den Pferden über die Berge. Auch sämtliche Lebensmittel haben sie mitgenommen.“

Die beiden sahen einander starr vor Schreck ins Auge. Das war hier, wo es die gefährlichsten Raubtiere in furchtbarer Anzahl gab, ein schwerer, ja entsetzlicher Schlag. Ohne Pferde ließ sich bei den meilenweiten, von Alanggras bedeckten Ebenen und namentlich bei den Wegen über zackigen, abschüssigen Boden die Rückreise gar nicht denken.

„Laß die anderen schlafen, Karl,“ sagte endlich der Knabe. „Sie erfahren es morgen immer noch früh genug. Und nebenbei, — ich habe auch einen Gedanken, der mich wenigstens über das Ärgste tröstet. Wir werden bald neue Führer wieder haben, wenn auch für wahre Unsummen.“

„Weshalb glaubst du das, Junge?“ fragte voll Erstaunen der andere.

„Nun, die Lumpenkerle müssen doch mit ihrer Flucht irgend einen Plan verbinden! Sie haben gleich anfangs im Dorfe einigen anderen aufgegeben, ihnen zu folgen und die Stelle verabredet, wo sie uns mitten im Urwaldsgebirge verlassen wollen. Wenn die Lage bedenklich wird, erscheinen von ungefähr ein paar dieser gelben Schurken und erbieten sich, uns gegen doppelten Führerlohn nach Surabaja zurückzubringen, — das ist alles beschlossene Sache, und der Raub wird gütlich von den Spitzbuben geteilt.“

Holm lachte. „Wahrhaftig, du kannst recht haben,“ antwortete er. „Dann ist es ohne Zweifel das beste, hier zu bleiben und die Helfershelfer der gelben Betrüger zu erwarten. Einstweilen aber laß uns schlafen, — ich bin todmüde.“

Der Malagasche wurde geweckt und ihm, der nun schon einige Stunden geruht, die Wache übertragen, in welcher ihn gegen Morgen Hans als letzter in der Reihe ablöste. So verging die Nacht, und am folgenden Morgen saßen alle einander gegenüber, hungrig und ratlos, in schlimmster Laune. Hier zu bleiben war ganz notwendig; aber wovon leben? Wovon nach der Überschwemmung der letzten Nacht ein Feuer entzünden? Allerdings hatten die Gewehre im Trocknen gestanden, auch ließ sich leicht dieser oder jener Braten erlegen, aber er mußte roh gegessen werden, und das war äußerst unangenehm.

Der Doktor blieb als Hausherr und Platzkommandant allein in der Höhle zurück, wohlversehen mit Pulver und Blei, aber sonst auf die Sicherheit zwischen den Felswänden und seine eigene Vorsicht angewiesen, — die vier jungen Leute zogen aus, um Lebensmittel herbeizuschaffen. Wasser gab es da oben genug, man brauchte sich nur zu bücken, um es in köstlicher Klarheit zu erhalten, aber dafür stieg auch der Hunger von Stunde zu Stunde.

Das erste was heraufgeschafft wurde, waren Kokosnüsse; ihnen folgten die Eier verschiedener Vogelarten, Beerenfrüchte, eine kleine Schildkröte und endlich ein Hirsch, dessen Ziemer Franz im Schweiße seines Angesichtes keuchend nach Hause schleppte. Dann begann die Thätigkeit des Doktors. Er mußte mit dem Taschenmesser das Fleisch schaben; einige kleine Zwiebeln, die im Thale wuchsen, wurden dazu gehackt, das Ganze mit Salz und Pfeffer, welche jeder einzelne bei sich führte, reichlich vermengt und nun gegessen, dazu Nußkern und rohe Eier.

„Der Mückenkuchen auf Madagaskar schmeckte schlechter!“ meinte Holm.

„Der Flußpferdbraten in Dahomey war zäher!“

„Das Dürsten im Kaplande weit schrecklicher!“

„Ja, das ist wahr!“ sagten wie aus einem Munde alle Anwesende.

„Nun, so laßt uns dies rohe Fleisch mal ohne Bitterkeit verzehren. Vielleicht schmeckt auch das Fleisch der Schildkröte im Naturzustande erträglich.“

„Wenn nur vor Nacht die Eingebornen wirklich kämen!“ seufzte der Doktor. „Eure Berechnung könnte auch täuschen!“

„Ganz unmöglich, bester Doktor. Franz hat recht, es ist auf Plünderung abgesehen; ich glaube aber nicht, daß sich die Javanen blicken lassen werden, ehe wir durch Hunger und Gefahren tüchtig mürbe gemacht worden sind. — Einstweilen wollen wir den Rest des Fleisches in die Schildkrötenschale legen und einsalzen. Franz, du bist wohl so gut, die Eier und die Nüsse in eine sichere Ecke zu bringen; ich denke, wir essen zur Nacht nur frische Früchte, ihrer besseren Verdaulichkeit wegen. Hans und Rua-Roa haben vortreffliche Melonen und Erdbeeren heraufgebracht, sie müssen davon noch mehr holen.“

Das geschah, und so zog durch die angestrengte, körperliche Thätigkeit sowohl als auch durch das Zureden Holms einige Ruhe und Zufriedenheit in die Herzen wieder ein. Gegen Abend, als noch ein paar erlegte Vögel und ein Hase die Vorratskammer anfüllten, als sich Berge von Beeren und Eiern häuften, gewann sogar die alte fröhliche Reiselaune die Oberhand. Zwei von den jungen Leuten sollten wachen, zwei schlafen, und am folgenden Morgen wollte man auch ein Feuer entzünden. Die heißen Sonnenstrahlen des letzten Tages hatten Zweige und Gräser vollständig getrocknet, Wachskerzen und Streichhölzer waren genug vorhanden; also ließ sich mit Recht erwarten, daß die Eier hart gekocht und das Fleisch gebraten werden könne. Von dem Gepäck der Weißen hatten die Javanen nichts mitgenommen, daher fand sich auch der Blechkessel nebst Pfanne noch vor, ebenso Gabeln und Löffel; alles wurde schönstens an den Wänden der „Küche“ geordnet, trocknes Holz und Gras herbeigeholt und Steine zum Herd aufeinander gelegt. Was von Insekten, Fledermäusen und Schlangen in den Winkeln umherkroch, das beförderte ein schneller Griff mit dem künstlich aus Gras und Reisern hergestellten Besen in die Tiefe des Wasserfalles hinab oder in die Freiheit des Hochwaldes hinaus, und als so das Haus wohl bestellt war, setzten sich die beiden ersten Wachhabenden, Holm und Hans, mit geladenen Kugelbüchsen unter den Eingang, während die übrigen schliefen.

Das ungewisse Licht des Mondes fiel zuweilen in die Schluchten hinein, zuweilen versteckte es sich unter Wolken und ließ alles in um so schwärzerer Dunkelheit zurück; die Baumkronen flüsterten und rauschten, reife Früchte fielen von den Zweigen, und mehr als eine Tiergattung zeigte sich den Blicken. Affen plünderten die Fruchtbäume, namentlich die Tamarinden; Schuppentiere mit ihrem sonderbaren länglichen und von dreieckigen Panzerplatten bedeckten Körper verfolgten emsig die Ameisen und Termiten in den unteren Schichten des bewaldeten Berges; kecke, gefräßige Wanderratten gingen dem Geruche der frisch geschlachteten Tiere nach, und nicht selten erschien sogar zähnefletschend ein grauer Affe oben auf dem Berge.

Die beiden jungen Leute plauderten halblaut. Hans war es im Stillen zufrieden, daß die Weltreise jetzt zur Hälfte hinter ihm lag, er sehnte sich nach geordneten bürgerlichen Zuständen und sprach mit dem Freunde über dessen eigene fernere Pläne, als stärker und stärker werdend, aus dem Thale ein Geräusch herauftönte. Es klang wie der Schritt vieler kletternder, scharrender Füße, ja sogar Laute, die dem lechzenden Atem eines jagenden Hundes glichen, durchdrangen erkennbar die nächtliche Stille. Holm und Hans sprangen auf, ihre Gewehre lagen im selben Augenblick schußgerecht, sie riefen mit lauter Stimme die anderen.

Vielleicht hatten diese überhaupt nicht so ganz sicher geschlafen; in wenigen Augenblicken standen alle kampfbereit den Genossen zur Seite. Wo aber war nun der Feind? — Weit und breit zeigte sich kein lebendes Geschöpf.

Holm legte den Finger auf die Lippen. „Still! von da unten her kam es. Ich bin meiner Sache ganz sicher.“

Auch Hans bestätigte, daß lebende Wesen im Anzuge sein müßten; alle Glieder der kleinen Gesellschaft horchten daher gleich gespannt, beobachteten mit gleicher Aufmerksamkeit den breiten Paß, durch welchen heraufkommen mußte, was sich ihnen in ihrer Felsenburg als Besucher nahen wollte. Eine Viertelstunde verging in dieser Weise ohne irgend ein Ergebnis zu bringen; schon wurde flüsternd beraten, ob es nicht das Klügste sei, einige Schüsse abzufeuern und so die Tiere, welcher Art sie wären, zur Flucht zu veranlassen, als ganz plötzlich in dicht gedrängten Haufen die Angreifer auf dem Kampfplatz erschienen. Wilde Hunde, vielleicht zwanzig bis dreißig an der Zahl stürmten den Berg hinan; die roten, lechzenden Zungen hingen aus den Mäulern hervor, die Augen funkelten bösartig unter den langen, struppigen Haaren; die Gestalten waren durchweg mager und von Mittelgröße; die Erscheinung sowohl dem Fuchs als dem Wolfe ähnlich und das Fell von schmutzig rötlicher, schwarzgesprenkelter Färbung. Die Meute, sonst vor dem Menschen flüchtend, war von dem Geruch der oben aufgespeicherten Tiere angelockt worden und wälzte sich jetzt gleich einer Lawine durch den Gebirgspaß heran, dabei von den Männern durchaus keine Notiz nehmend, sondern unter einander kämpfend und beißend um das frische Fleisch. Alle diese dunkeln Gestalten waren zum Knäuel geballt; ein Bellen und Schreien, ein Toben und Stürzen, das wahrhaft betäubend wirkte, lähmte jeden Entschluß. Menschen und Tiere rangen um den engen Raum des Felsens, Menschen und Tiere vermischten ihre Stimmen zum unentwirrbaren, dämonischen Lärm.

Wieder war es Franz, den die ungestüme Leidenschaft hinriß, einen argen Fehlgriff zu begehen. Er legte an und schoß ohne zu zielen in den Haufen der wilden Hunde hinein. Jetzt kam, was kommen mußte! Wütend gemacht durch den plötzlichen Angriff, wandten sich die Tiere den Jägern zu, und es entspann sich ein Kampf, bei dem die Männer schießend und schlagend, ja sogar mit ihren großen Messern stechend bis an die Felswand zurückwichen und nur unter Aufbietung aller Kräfte das Leben retteten. Während die Hunde niemals ihrerseits angegriffen hätten, wurden sie durch den ersten Schuß in Wut versetzt und kannten nun keine Scheu mehr. Rechts und links füllten ihre Leichen, ihre zuckenden, schwer verwundeten Körper den Weg, aber auch sämtliche Männer bluteten. Der Doktor hatte eine Wunde im Oberarm, Franz war gefallen und in die Schulter gebissen, Holms Stiefel klaffte weit aus einander, während der Fuß blutete, und Hans seinerseits hatte genug zu thun, um mit der arg zerfetzten Rechten überhaupt noch Notwehr zu leisten. Nur der Malagasche war gut davon gekommen. Auf einen Felsblock springend und von dort schießend, kämpfte er tapfer mit, ohne selbst in Gefahr zu geraten, der Instinkt des Wilden leitete ihn an, vorerst für seine Person Deckung zu suchen.

Als etwa eine Viertelstunde erbitterten Kampfes verflossen war, als Blut von allen Seiten über das Gestein herabtroff, wichen die letzten noch überlebenden Hunde, von Schüssen und Kolbenschlägen verfolgt, verwundet und heulend, kaum ein Viertel jener stattlichen Anzahl, die den Berg mit eiligen Sprüngen erstürmt hatte; jetzt erst konnten die Weißen im Schutze der überhängenden Wände ihre Kerzen entzünden und den erlittenen Schaden feststellen. Eine wahre Wüstenei breitete sich vor ihnen aus. Tierleichen, Stücke zerfetzter Körper, geronnenes und fließendes Blut, Büschel Haare, alles stapelte über- und neben einander, alles zusammen bot einen trostlosen und grauenhaften Anblick, dessen Beseitigung jetzt die erste Sorge sein mußte.

Nachdem die Wunden einen notdürftigen Verband erhalten, ging man ans Werk. Gewehre und Decken, kurz alles Gepäck wurde in eine der inneren Höhlen geschafft, und dann befahl Holm, aus einzelnen Felsblöcken vor dem Eingang derselben eine Art Barrikade mit Schießscharten herzustellen. „Der entsetzliche Blutgeruch bringt uns ohne allen Zweifel auch von den Tigern und Wildkatzen noch einen Besuch,“ seufzte er. „Also rasch! wir müssen den Zugang verrammeln, ehe der Feind eindringt.“

„Sollen wir denn bis zum hellen Tage da drinnen gefangen sitzen, Karl?“

„Hättest du nicht so voreilig geschossen, dann wäre es überflüssig, mein Bester!“ war die etwas scharfe Entgegnung.

Franz wechselte die Farbe. Er hatte längst seinen Irrtum erkannt und beeilte sich daher jetzt so viel als möglich wieder gut zu machen. Den Schmerz in der Schulter verbeißend, half er eifrig die zerstreut umherliegenden Blöcke auf einander zu schichten, und so eine breite Mauer herzustellen, die, nach außen hin etwas geneigt, jeden, der etwa an ihrem Bau rütteln würde, sogleich unter schweren, stürzenden Massen zerschmettern mußte. Nur ein kleines Schlupfloch ließen die emsig Schaffenden offen, einen schmalen Gang, durch den sich einer nach dem anderen hineindrängen konnte, und dann begannen sie die Tierleichen in den Abgrund zu stürzen. Der Besen fegte Ströme von Blut in das Wasser hinab, während Kochkessel und Bratpfanne unaufhaltsam frische, reinigende Fluten schöpften und nachspülten. Es galt ja den gefährlichen, verderbenbringenden Blutgeruch schnellstens zu entfernen.

„Schlafen können wir in dieser Nacht nicht mehr,“ erklärte Holm. „Kommt mir nach, wenn draußen das Hauptsächlichste geschehen ist, und dann müssen zwei von uns den Eingang, die übrigen die Schießscharten mit geladenem Gewehr bewachen.“

„Für so unvermeidlich hältst du den Angriff, Karl?“

„Ich fürchte, ja. Der Wind trägt die Ausdünstungen des geronnenen Blutes hinab in das Thal, wo ohne Zweifel eine Menge Raubkatzen leben. Auch die Hunde waren ja schon dadurch heraufgelockt, wie ich überzeugt bin.“

Man widersprach ihm nicht; vielleicht trieb auch der Gedanke an einen Kampf mit Königstigern zur größtmöglichen Beschleunigung des angefangenen Werkes; diese Zähne richteten doch ganz andere Verwüstungen an, als die der wilden Hunde.

Nach wenigen Minuten fanden sich alle in dem engen Raume versammelt. Jetzt stand der Vollmond über dem Gebirge, alles in bläulichem und silbernem Glanze badend, jede Schlucht erhellend: die Nacht war still, als sei die ganze Schöpfung nur ein einziger, großer Tempel; fliegende Frösche glitten durch die Luft, und fernher zwischen den Bäumen glitzerte im Thale wie ein Irrlicht das Moro Api.

Da schlichen zwei Gestalten den Berg herauf, kurze Schatten werfend, vorsichtig mit gespitzten Ohren und spähenden Blicken. Voran die größere, das Männchen mit dem braungelben, gestreiften Fell und dem abstehenden Bartkranz um das kluge Gesicht, leicht erhoben die Vordertatze und zurückgelegt über den Rücken den glatten Schweif, — es sog die Luft ein, witterte, es duckte sich wie zum Sprunge — da hinter den Steinen atmeten Menschen!

Ihm nach schlich das Weibchen. Weniger derb gebaut, ohne Bart und minder kräftig gezeichnet, war es doch nicht minder blutdürstig, glühten auch seine Augen wie Kohlen im gelben, falschen Glanze des Katzengeschlechtes. Ein leises Brummen, ein Lechzen der Zunge verrieten die Kampflust, welche beide beseelte.

„Aufgepaßt!“ raunte Holm. „Doktor, Sie nehmen mit Hans zugleich das Weibchen aufs Korn — wir drei das Männchen. — Feuer!“

Die Schüsse krachten, Pulverdampf drohte die Eingesperrten zu ersticken, ein wildes Heulen durchdrang die Luft, und außen wälzte sich das Weibchen des Tigers sterbend im letzten Kampfe; auch das Männchen war getroffen, von allen drei Kugeln sogar, aber trotzdem nicht tödlich. Eine Wendung, die es im entscheidenden Augenblick gemacht, hatte das Ziel verrückt und die Schüsse, anstatt in Kopf und Brust, vielmehr nur in die Beine und den oberen Teil des Rückens eindringen lassen.

Jetzt erst war die Gefahr nahe. Während drinnen in fieberhafter Eile die Büchsen wieder neu geladen wurden, sprang der gereizte Tiger außer sich vor Schmerz und Wut gegen die aufgeschichteten Steine, mit seinen gewaltigen Pranken die Blöcke niederreißend, so nahe, so furchtbar nahe, daß die Eingesperrten seinen heißen Atem auf ihren Stirnen fühlten. Zwei Kugeln trafen in seine Brust; immer noch lebte er, und immer mehr Blöcke riß er herab, rasend, schäumend vor Wut. — —

Noch Sekunden und er war drinnen. —

Da geschah, was Holm bei Anlage der Mauer berechnet hatte, sie stürzte und begrub unter ihren hundertpfündigen Blöcken den schlanken Leib des Tigers. Wenige Minuten hatten hingereicht, um die beiden gefährlichen Raubtiere zu töten.

„Welche Nacht!“ seufzte der Doktor. „Die ärgste von allen — unser Leben hing am seidenen Faden!“

„Und ist trotzdem immer noch nicht außer Gefahr,“ ergänzte Holm. „Wer weiß, ob diese beiden Bestien die einzigen hier in der Nähe waren.“

„O und die furchtbare Luft.“ — —

Franz drängte sich hinaus ins Freie. Er und der Malagasche zogen den Tiger unter dem Steinhaufen hervor und schleppten beide Leichen etwas weiter den Berg hinab; dann wurde die Mauer wieder hergestellt, und wachend in unbehaglichster Stimmung der Tag erwartet. Aber es erfolgte kein weiterer Angriff, nur vereinzelte wilde Katzen erschienen und suchten sich noch irgend welcher Überreste zu bemächtigen: diese ließ man, aller Jagdlust bar, unbehelligt laufen. Müdigkeit, Hunger und Erschöpfung waren zu groß, um irgend einer anderen Empfindung Raum zu gestatten.

Der helle Tag bot einen trostlosen Anblick. Zerstampft und zertreten die Vorräte für das Frühstück, kein Ei und keine Nuß, kein Bissen Fleisch mehr vorhanden, dazu wieder ein neues Gewitter am Himmel, neuer, stetig fallender Regen, dessen feine Tropfen alles durchnäßten. Es fand sich auch kein genießbarer Gegenstand, selbst die großen Kokosnüsse waren über den Abgrund und ins Bodenlose gerollt.

„Auf! Auf!“ drängte der Doktor. „Unerträglicher als hier kann es nirgends sein.“

„Aber sollen wir ohne Führer im dichten Walde umkommen? sollen wir ohne hinlängliche Bedeckung den Kampf mit Tigern, Büffeln und Rhinozerossen aufnehmen?“

„Besser, als hier bleiben. Dieser Ort ist mir fürchterlich. Wir können doch immerhin hoffen, ein Dorf anzutreffen — schon unsrer Wunden wegen müssen wir Ruhe haben.“

Holm besah seine Stiefel. „Wie weit werde ich damit marschieren können?“ fragte er halb seufzend, halb lachend.

Es schwieg wieder alles: selbst der Mut, Beeren und Eier zu suchen, fehlte jetzt; die Trostlosigkeit des vorigen Abends war zurückgekehrt und lastete mit doppelter Stärke auf den Seelen der Vereinsamten. Und doch wußten sie ja alle, daß es so nicht lange bleiben könne.

„Laßt uns fortgehen!“ riet nach drückender Pause abermals der Doktor. „Ich halte es hier nicht mehr aus, — mich deucht, die Leichen verderben bereits die Luft.“

„Das thut das Blut zwischen den Abhängen und Steingeröllen. Aber brechen wir in Gottes Namen auf, — was verloren geht, ist nur ein Dach und der Gedanke, daß gerade hierher die gelben Schurken ihre Genossen ausschicken müßten.“

„Die laufen uns schon nach,“ tröstete Holm, immer mit bedenklichem Gesichte seine klaffenden Stiefel von einer und der anderen Seite besehend. „Hätte ich doch nur wenigstens einen tüchtigen Bindfaden!“

Rua-Roa wußte zu helfen. Er kannte eine Pflanzenart, die auch in Madagaskar heimisch war und deren Ranken als Seile dienen konnten. So wurde denn der Stiefel zusammengebunden und die Reise wieder angetreten; Holm ging behutsam, das linke Bein wie ein Lahmer nach sich ziehend, aus Furcht endlich gar barfuß die Wildnis durchlaufen zu müssen; überhaupt kam man nur äußerst langsam vorwärts, da unterwegs jede Beere, jede Frucht hastig gepflückt und gegessen wurde. Der Pfad über das Steingerölle ermüdete unsäglich; weder Holms unversieglicher Humor, noch des Doktors Ermahnungen konnten die spitzen Kiesel glatter oder die schrägen Ebenen weniger unbequem machen; man wanderte, beladen mit dem schweren Gepäck, in rieselndem Regen und unter den Mühen des Weges fürbaß wie arme Verbannte, die der Heimat den Rücken kehren und noch nicht wissen, an welchem Punkte der Erde es ihnen vergönnt sein wird, neue Hütten zu bauen.

Da schimmerte durch die Baumzweige zur Linken ein Etwas, das wohl geeignet war, sämtliche Reisende in Erstaunen zu versetzen. Zwei Hörner ragten empor, und das biedere Haupt eines Jochochsen schaute friedlich, kauend mit beiden Backen, urgemütlich blickend den Fremdlingen entgegen. Das war kein wilder Büffelstier, sondern ein Zugochse ohne bösartige Absichten, ohne Ahnung von der Wucht seines Nackens, ganz wie wir sie bei uns sehen, Bilder des dörflichen Lebens und der Beschaulichkeit, gemütliche, behäbig brummende Haustiere ohne Arg und Falsch. — —

Hans streckte die Hand aus und sah hinüber, wo der Karbau (Name für den auf Java allgemein üblichen Zugochsen) stand. „Menschen!“ rief er nur, „Menschen!“

Das Wort wirkte wie ein elektrischer Schlag. „Wo? — O Gott, wenn es die Eingebornen wären! — Wo sind Menschen?“

Aller Blicke suchten die bezeichnete Stelle; man lief in Sprüngen vorwärts, man vergaß alle ausgestandenen und noch gegenwärtigen Leiden, nur einem Gedanken folgend, nur eins im Auge, — Menschen! Menschen! — Vier Ochsen weideten auf dem Gras unter den Bäumen des Waldrandes, neben ihnen standen zwei plumpe, wie kleine Häuser aussehende Holzkarren, und gemächlich am Boden lagerten ein paar Gelbgesichter, die sich bei einer Mahlzeit aus Fleisch, trocknen Fischen und gerösteten Kartoffeln gütlich thaten. Das Zeltdach aus Büffelhäuten mußte schon während der letzten Nacht an dieser Stelle befestigt gewesen sein, denn der Boden darunter war vollkommen trocken und sogar eine Feuerstätte erkennbar. Indes die Weißen einige tausend Schritt weiter oben mit dem Tode und allen seinen Schrecken rangen, hatten hier die Helfershelfer derer, welche sie in so fürchterliche Lage gebracht, ganz ruhig und ohne Gewissensbisse abgewartet, was sich in ihrer unmittelbaren Nähe vollzog, hatten keine Hand erhoben, um von den arg Bedrohten das Verderben abzuwenden. Ihre harmlosen Blicke schienen sehr erstaunt, so plötzlich mitten in der Wildnis weiße Reisende anzutreffen.

„Nun mäßigt euch, Kinder,“ ermahnte in deutscher Sprache der Doktor. „Laßt nicht erkennen, daß wir die erbärmliche Verräterei vollkommen durchschauen. Die holländische Regierung führt hier ein sehr strenges Regiment, wahrscheinlich haben also jene Schurken ihren Genossen eingeschärft, uns nie wieder nach Surabaja zurückkehren zu lassen, sobald wir Miene machen, die Sache den Behörden anzuzeigen.“

Das leuchtete den jungen Leuten vollkommen ein, und die Verhandlungen mit den Eingebornen wurden in ruhigster Form eröffnet. Man hatte sich verirrt, war von den Führern getrennt worden und wollte gern gut bezahlen, wenn es möglich wäre, in Begleitung der Männer nach Surabaja zurückzureisen.

Die Malaien schüttelten die Köpfe. Eigentlich wollten sie einen ganz anderen Weg gehen, hatten eine Ladung Kartoffeln nach einem entfernten Orte zu bringen und besaßen ja auch für die Herrschaften keine Pferde; kurz, sie glaubten doch nicht, daß sich die Sache machen lasse; dann aber, nachdem Geld über Geld geboten, schwanden wie Nebel vor der Sonne alle diese Bedenken; ja, es fand sich sogar in der Entfernung von höchstens einer halben Tagereise ein Dorf, wo auch Pferde zu bekommen waren, und so wurde denn der Handel abgeschlossen, obgleich Holm lebhaft bedauerte, die gelben Spitzbuben nicht lieber mit einem tüchtigen Bambus als mit blanker Münze bezahlen zu dürfen. Wie schlau war das alles eingeleitet, wie passend der Platz gewählt, und wie teuflisch die Hilflosigkeit der Weißen gerade hier auf dem zerklüfteten, steinigen und unebenen Boden voraus berechnet!

Während dieser diplomatischen Verhandlung, hinter der schlecht verborgen die Kampflust auf beiden Seiten lauerte, hatten sich die Knaben den Inhalt der plumpen Karren besehen. „Wahrhaftig, Kartoffeln! — Hurra!“ rief Franz, „das ist ein Fund. Kartoffeln haben wir seit England nicht mehr gegessen, — Karl! Herr Doktor! wir müssen sogleich welche kochen. Freue dich doch, Hans, es gibt Pellkartoffeln!“

„Mit gebratenen Zwiebeln!“ ergänzte dieser, als er aus einem Korbe ein tüchtiges Stück Wildschweinsspeck hervorzog. „Karl, laß uns das den Halunken abkaufen!“

Auch dieser Handel kam zu stande, und bald prasselte unter dem schützenden Felldach, während ringsumher alles vom Regen troff, ein neues belebendes Feuer; Zwiebeln wurden ausgegraben, Wasser geschöpft, Speck zerschnitten und Kartoffeln aufgesetzt; die Knaben beobachteten jede Blase im Kessel, und als endlich die Probe mit dem Taschenmesser das Gericht als gar kennzeichnete, da war des Jubels kein Ende. Pellkartoffeln mit Zwiebeln! Deutsches Nationalgericht bescheidenster Ansprüche, wie kamst du zu nie geahnten Ehren im Urwalde von Java! — —

Es ist doch ein eigen rührender Klang, der aus ferner Heimat zu uns herüberdringt; es ist, als würden tausend liebe Bilder wach bei seinem leisen Grüßen! — Als der Duft der Kartoffeln emporwallte, als die beiden Knaben die erste Frucht trotz ihrer Glühhitze zwischen den Fingern aufbrachen, da schimmerte es seltsam glänzend in den hellen, frohblickenden Augen. Franz ließ sich keine Zeit, die Zwiebelsauce hinzuzuthun. „Hamburg,“ sagte er leise, mit dem Kopf nickend, während die Kartoffel zwischen seinen Zähnen verschwand, „auf dein Wohlergehn!“

Die übrigen stimmten in diesen Glückwunsch lebhaft ein. Es wurden bei der Mahlzeit erstaunliche Quantitäten bewältigt, auch das Fleisch schwand zusehends, und die Flaschen der Malaien mußten ihren schlechten Branntwein bis auf den letzten Tropfen hergeben. Einer der Männer unterzog den schwerverwundeten Stiefel mittels Bast und Schnüren seiner ärztlichen Behandlung. Dann wurden noch die Tiger oben am Gebirgsabhang ihrer Felle entkleidet und endlich auf Waldwegen, die weit besser zu passieren waren, das besprochene Dorf aufgesucht. Nachdem kurze Rast gehalten, ging es auf den kleinen, munteren Pferden, aller Sorgen und Befürchtungen ledig, wieder vorwärts; die Wunden hatten zweckmäßigen Verband bekommen; es waren Vorräte eingekauft und die nassen Kleider getrocknet; ja sogar verabredet worden, daß man erst bis an die jenseitige Grenze der Zivilisation vordringen wolle, ehe der Rückweg eingeschlagen ward; der grüne Wald umgab also wieder dicht und lauschig von allen Seiten die kleine Schar; man ritt einem Gebirgszuge entgegen, dessen höchste Spitze, ein noch thätiger Vulkan, wenigstens von fern in Augenschein genommen werden sollte.

Zwei Tage und Nächte verbrachten die Reisenden auf dieser angenehmen und vom schönsten Wetter begünstigten Tour, obwohl in jeder Nacht die Weißen abwechselnd mit geladenen Gewehren ihre Führer bewachten. Dann, am Mittag des dritten Tages, näherte sich der kleine Zug dem feuerspeienden Berge, dessen Gebiet weder Wald noch sonstigen Baumwuchs zeigte.

Als noch der eigentliche Berg in bläulichem Duft wie ein ferner Riese dalag, bestand schon auf eine halbe Meile im Umkreis der Boden aus Lava und Schlacken, Geröll und jenen großen, eckigen Steinblöcken, welche die thätigen Krater auf Java bei ihren bedeutenderen Ausbrüchen emporzuschleudern pflegen. Die Landschaft zeigte fahle, aschgraue und gelbliche Totenfarbe, kein Tier belebte den Weg, kein Vogel sang und kein Blatt sproßte hervor aus dem heißen verdorrten Boden. Jene berüchtigten Zacken und Rinnen, mit denen feuerspeiende Berge meistens umgeben sind, erschwerten das Klettern, tiefe Klüfte mußten von den Pferden übersprungen werden, leichter Schwefeldampf in der Luft beklemmte die Brust; zuweilen glitten die Tiere auf spiegelglatter Lava wie auf einer Eisfläche dahin, und dann wieder rollten sie mit bröckelndem Gestein plötzlich eine tüchtige Strecke rückwärts.

Die Führer ritten nicht; Ochsen und Karren hatten sie natürlich am Fuße des Berges zurückgelassen, ebenso ihre eigenen Tiere. Sie zogen die Pferde der Weißen unter steten Zurufen am Zügel nach sich und wählten sorgsam die wenigst gefährlichen Stellen; ebenso sammelten sie auch bereitwillig jeden Stein und jede Schlacke, die ihnen bezeichnet wurde.

Der Berg war, obgleich kein eigentlicher Ausbruch stattfand, doch sehr unruhig; unsere Freunde sollten das erwartete Schauspiel so schön als nur möglich genießen. Als zwischen Lavageschieben, Schlacken und Blöcken, zwischen zahllosen einzeln stehenden Kegeln und über weite, tote Aschenfelder der Krater bis auf vielleicht fünfhundert Schritt Entfernung erreicht war, machten die Führer Halt. Von diesem Punkt aus ließ sich das Ganze am besten überblicken; noch näher heranzukommen wäre gefährlich gewesen; denn zuweilen werden selbst an den ruhigsten Tagen größere Steine aus dem Innern hervorgeschleudert und zur Seite geworfen; ebenso nimmt auch der Schwefeldunst derartig zu, daß ihn die Atmungsorgane nicht mehr ertragen können.

Eine hohe Rauchsäule, im Purpurscheine glühend, stieg aus dem Krater auf, wallende, wirbelnde Massen vereinigten sich hoch in blauer Luft zu einer Wolke, aus deren mit Elektrizität angefülltem Schoße ohne Unterlaß nach allen Seiten zuckende Blitze niederfuhren. Steine von Faustgröße wurden ununterbrochen mit den Rauchmassen herausgeworfen und fielen dann polternd mit rollendem Getöse in die unheimliche Tiefe zurück. Den Höhepunkt seiner Schönheit erreichte aber das Naturschauspiel, als plötzlich eine hohe, mit rasender Schnelligkeit aufschießende Säule sprudelnden, kochenden Wassers in die Luft aufstieg. Wie ein glühender Regen verbreitete sich zischend und stäubend die Flut nach allen Seiten, Staubwolken aufwirbelnd, mit einem durchdringenden Geruch von schwefeliger Säure. Eine Wassersäule nach der anderen drang hervor, vermischt mit Rauch und Steinen, es rollte und donnerte im Inneren des Berges, die Luft wurde von Viertelstunde zu Viertelstunde unerträglicher.

„Jetzt wollen wir auch einen schlammspeienden Berg besehen,“ rieten die Führer. „Zwar ist derselbe nicht so schön und auch nur niedrig, aber doch ebenfalls eine Naturseltenheit. Sollen die Pferde umkehren?“

Nachdem das erhabene Schauspiel hinlänglich bewundert, wurde diesem Vorschlag Folge gegeben und der sonderbare, höchstens hundert Meter hohe Schlammkegel aufgesucht. „Diese Berge verschwinden während der Regenzeit gänzlich,“ erklärten die Führer, „sie werden dann zu Morästen, aus denen Gasblasen immerfort wirbelnd aufsteigen, die sich aber bei dem Eintreten der Hitze allmählich verdichten, austrocknen und nun so lange Thonklumpen aufwerfen, bis sich der Berg gebildet hat. Es ist ein solcher ganz in der Nähe.“

Der mühselige Weg wurde also zurückgelegt und jener einem großen Maulwurfshaufen gleichende, häßliche Berg mit seiner schwarzgelben Farbe aus der Nähe besehen. Ringsumher bildete der Boden eine Schlammkruste, während aus dem regelrecht geformten Krater eine dichte Rauchwolke aufstieg und leise Schlammwellen von Zeit zu Zeit über den Rand herabflossen. Hier herrschte anstatt des Schwefelgeruches eine ebenso scharfe, wenngleich minder unangenehme Ausdünstung, von dem in Tropfen fortwährend aus dem Erdinnern hervorquellenden Naphtha herrührend. Auch in der Umgebung dieses Kegels, deren die bekannte Welt nur sehr wenige aufzuweisen hat, wuchs nichts und lebte nichts.

Die kleine Gesellschaft atmete auf, als nach ein paar Stunden die Wüstenei von Steinen und Geröll hinter ihnen lag und die Vegetation wieder den früheren üppigen Charakter annahm. Sie machten nun größere Tagereisen und ließen sich’s hauptsächlich angelegen sein, Pflanzen und Insekten zu sammeln, besonders die schönen großen Schmetterlingsarten, an denen alle Sundainseln so reich sind. Einige Exemplare des fliegenden Frosches kamen für das Museum hinzu, ebenso kleinere Fledermäuse und Eidechsen; ein Kalong wurde gekauft, ein Schuppentier sowie mehrere Marderarten und Eichhörnchen erlegt und einige Wildkatzen abgebalgt. Holm sammelte Orchideen, das Alanggras, Vogeleier jeder Sorte und die ganze Unzahl von Käfern, Spinnen und Gewürm, die im Walde dem Reisenden auf jedem Schritt begegnen. Unterwegs wurde auch beraten, wohin zunächst die „Hammonia“ ihre wissensdurstigen Passagiere bringen solle. Man kam überein, Sumatra, an dem man überdies schon vorüber gefahren war, nicht zu besuchen, und zwar weil hier das Pflanzen- und Tierleben bis auf einige wenige Abweichungen dem von Java völlig gleichsteht. Sumatra hat Rhinozerosse mit zwei Hörnern, einen etwas anders aussehenden Elefanten und einige andere Affenarten, ebenso eine besondere Baumwolle, einige auf Java nicht gefundene Holzarten und so weiter; aber der Unterschied ist nicht erheblich genug, um eine Reise durch das Innere zu rechtfertigen.

Es wurde also beschlossen, direkt nach Borneo zu gehen, vorher aber in Surabaja womöglich mit den Eingebornen zu Nutz und Frommen anderer Reisenden noch eine kleine Abrechnung zu halten. Glaubten sie, arglose, freigebige Menschen überlistet zu haben, so sollten sie dafür diesmal selbst die Überlisteten sein. Weder Holm noch der Doktor ließen irgend einen Plan durchblicken, sobald aber Surabaja erreicht war, und die Führer schon vor den ersten Häusern der Stadt Bezahlung verlangten, da änderte sich die Sache. Holm und Franz nahmen die Hilfe der Behörden in Anspruch und erzwangen von den Malaien ein umfassendes Geständnis ihrer Verräterei. Erst versuchten sie keck zu leugnen, sobald aber der Stock im Hintergrunde des Verfahrens auftauchte, legten sie Hände und Füße zusammen und bekannten alles. Nachdem sie die Mitschuldigen an dem Schurkenstreiche genannt, wurde jedem einzelnen eine kleine Gefängnisstrafe zuerkannt und kein Pfennig über die erstbedungene Summe hinaus gezahlt. Zwar baten die Knaben in letzterer Beziehung ihre Lehrer um Nachsicht für die Spitzbuben, welche sich in der eigenen Falle gefangen, aber sie trafen bei den beiden auf entschiedenen Widerstand. „Das Unrecht darf nie den Sieg behalten,“ erklärte der Doktor. „Redliche Menschen dürfen nie die Hand bieten, um gegen Betrüger eine höchst unangebrachte Milde zu üben. Die Gefängnisstrafe schütteln diese halbwilden Menschen sehr leicht ab, der Verlust aber bringt sie zum Nachdenken und zu der Erkenntnis, daß es selbst nicht einmal klug gehandelt ist, andere zu hintergehen, sondern daß aus der Sünde unnachsichtlich die Strafe erwächst.“

Bei dieser Gelegenheit faßte Hans einen guten Gedanken.

„Da die gelben Verräter nun doch einmal in unserer Gewalt sind und von Rechts wegen für ihre Schandthaten büßen müssen,“ sagte er, „so sehe ich gar nicht ein, warum wir die schöne Gelegenheit nicht benutzen sollen, einige von den Gelbgesichtern abzugipsen. Im Gefängnis werden sie schon still liegen.“

„Du hast recht,“ erwiderte Holm, „und wenn sie ruhig Modell liegen, so werden wir sehen, ob ihnen für gutes Verhalten nicht die Zeit ihrer Freiheitsstrafe verkürzt werden kann.“

Hans setzte alles zum Abgipsen Erforderliche in Bereitschaft, wobei Rua-Roa ihm hilfreiche Hand leistete. — „Es ist nicht sehr angenehm, den weißen Teig auf dem Gesichte zu haben,“ meinte Rua-Roa, „es drückt, es zieht, es beißt, es kratzt und der Strohhalm kitzelt in der Nase, aber da die Javaner uns schlecht behandelt haben, so bin ich dafür, daß ihnen das Vergnügen des Abgipsens nicht vorenthalten bleibe.“ Zu dieser Auseinandersetzung schnitt Rua-Roa so bezeichnende Grimassen, welche das Unangenehme der ganzen Prozedur schilderten, daß alle in ein lautes Gelächter ausbrachen.

Den Gefangenen wurde auseinandergesetzt, worum es sich handelte, und da sie vernahmen, daß sie um so eher aus ihrer Haft entlassen würden, je fügsamer sie sich verhielten, so willigten sie mit allerdings ziemlich sauren Gesichtern ein.

Hans und Rua-Roa machten sich alsbald an die Arbeit. Vier Abgüsse gelangen vortrefflich, der eine Javaner jedoch wurde ungebärdig, als die Gipsmasse auf seinem Gesichte sich zu verhärten begann. Er suchte dasselbe mit den Händen von der Masse frei zu machen, allein er wischte sich diese in die Haare des Kopfes und in die Ohren, so daß es nachher nicht möglich war, den festgewordenen Gips ganz zu entfernen. Man ließ ihn jedoch mit den anderen laufen, weil man nicht Lust hatte, wegen des einen Verbrechers viele Umstände zu machen.

„Hoffentlich wird sein Heiligenschein aus Gips von guter Wirkung auf seine Stammesgenossen sein,“ meinte Holm lachend, „sie werden daran sehen, daß die Weißen sich nicht ungestraft beleidigen lassen. Einige Wochen wird der Bursche wohl mit dem unfreiwilligen Kopfschmucke umherlaufen und die Erinnerung an seine Vergehen mit sich umherschleppen.“

Die erhaltenen Hohlformen wurden sorgfältig verpackt, um später in Hamburg zur Abformung von Abgüssen zu dienen. Hans erhielt für die gelungene Arbeit von Holm wohlverdiente Anerkennung, von der Rua-Roa als getreuer Assistent auch einen Teil empfing, worüber er nicht wenig stolz war.

Es war Zeit, daß die „Hammonia“ die Anker lichtete. Bald lag Java hinter unsern Freunden, und munter dampfte das gute Schiff Borneo zu.

Zehntes Kapitel.

Natürlich wollte jeder einzelne der Schiffsbesatzung des genauesten über die wunderbaren Erlebnisse der Naturforscher im Innern Javas unterrichtet sein.

Papa Witt lachte, als er von dem verhängnisvollen Abenteuer seiner Freunde erzählen hörte. „Die Malaien taugen alle nichts,“ sagte er, „man muß sie prügeln, das ist das beste Mittel. Ihr könnt übrigens froh sein, daß euch kein Dolch zwischen die Rippen fuhr, die ganze gelbe Sorte ist falsch wie Seifenschaum. Wollen wir wirklich nochmals an ihren Ufern landen?“

„Noch mehrere Male, Alter; für heute aber soll einmal wieder die Tiefe untersucht werden. Wir haben lange nicht mit dem Schleppnetz gearbeitet.“

Gesagt, gethan. Die Fangarme der Maschen senkten sich in das Meer hinab und brachten eine reiche Ausbeute zurück. Große Seeaale zappelten in den hanfenen Ketten, Silber- und bunte Papageienfische, Krebse und die kleinen, gelbgrünen Schildkröten, namentlich aber Seerosen, von denen gerade diese Gegend einen außerordentlichen Reichtum zu besitzen schien. Von ungewöhnlicher Größe, meistens ganz gelb und auf langem, starkem Stamme gewachsen, mit krauser, blumenartiger Krone, waren sie die hübschesten unter allen bisher gesehenen, während sich ihre Verwandten, die großen, frei schwimmenden Quallen, durch Häßlichkeit förmlich auszeichneten. Beim zweiten Zuge war es fast unmöglich, das Netz heraufzubringen, alle Seile krachten und drohten zu reißen, die Tragkraft schien auf das äußerste angespannt.

„Vorsichtig!“ ermahnte Holm, „vorsichtig! Es wäre doch jammerschade, wenn uns diese Beute entschlüpfen sollte.“

Langsam wurde die schwere Last von den Matrosen heraufgewunden, und als der Inhalt über dem Wasserspiegel erschien, da zeigte sich eine riesige Qualle von grauer, schmutzig-weißer Farbe, mit langen Fangarmen und einem scheußlichen, beständig schnappenden Maul, das zwischen den kranzartig abstehenden Gliedern seinen Platz hatte. Ohne Kopf, ohne Sinnesorgane, ganz Magen und Fanghaken, war das Geschöpf gegen die Maschen des Netzes geraten und hielt in der Meinung, einen guten Fang gethan zu haben, krampfhaft saugend fest, bis es an die atmosphärische Luft gelangte und sogleich anfing langsam zu zerrinnen. Die Glieder schlugen und tasteten, der ganze, über zwei Meter lange Körper zog sich zusammen und dehnte sich wieder aus, dann aber ging die ursprüngliche Festigkeit über in zähen Schleim, und was nach dem letzten Erlöschen des Lebens dem Meere zurückgegeben wurde, war eine klebrige Masse ohne Form und Halt.

„Diese Geschöpfe erreichen die Größe von sechs Metern und wiegen zuweilen Tausende von Pfunden,“ sagte Holm, „ihre kleinsten Verwandten, welche den Badegästen der Nord- und Ostsee äußerst lästig werden, bringen es über den Umfang einer Linse nicht hinaus. Ihre Verschiedenheit in Form und Farbe ist unübersehbar, alle Arten jedoch, vom Korallentier bis zu den größten, bestehen lediglich aus zähem Schleim.“

Das Netz wurde an dieser so sehr ergiebigen Stelle zum drittenmale herabgelassen, und wieder brachte es reiche Beute; außer verschiedenen Fischen noch mehrere Cephalopoden, die sogleich in Behälter mit Wasser gesetzt und so aus bequemster Nähe beobachtet wurden. Eins besonders, das Perlboot, war von überraschender Schönheit. Etwa acht Zoll im Durchmesser haltend, hatte es ein milchweißes, an einigen Stellen hellbraun gestreiftes, perlmutterartig schillerndes Gehäuse von beinahe halbrunder, gezackter und inwendig eine Schale bildender Form. Das ganze Tier, wie eine Auster inmitten des Gehäuses festgewachsen, bot ein Farbenspiel, welches lebhaft an das des wechselnden Regenbogens erinnerte. Bald erglänzten die dehnbaren Zellen des kleinen, beweglichen Körpers im schönsten Blau, bald violett, purpurn und hochgelb; so oft die Knaben vorsichtig das Tier berührten und dadurch die Nerven desselben reizten, verdoppelte sich die Stärke dieses sonderbaren Spieles; sie konnten jedoch nicht nur ausschließlich das Perlboot bewundern, auch noch andere und nicht weniger interessante Geschöpfe hatte ja das Netz zu Tage gefördert. Da war das Nabelboot und das Papierboot, die schöne Seeglocke mit becherartiger, drei Zoll im Durchmesser haltender, rötlich gestreifter Schale, da waren kugelige Seeigel und sogar auch als seltener Fang eine große Feuerscheide, das sonderbare mit den Quallen verwandte Geschöpf, welches, aus einer ganzen, zahlreichen Familie kleiner Einzelwesen bestehend, doch zusammen nur ein Leben besitzt. Die wenige Linien großen, form- und farblosen Tierchen bilden um einen gestielten Mittelpunkt eine Art von Kreuz, wobei alle Mundöffnungen nach außen gekehrt sind. Der walzenförmige Stiel ist vom schönsten Hellgelb und bis zu vierzehn Zoll lang bei drei Zoll Durchmesser.

Das Papierboot verdiente seinen Namen mit Recht, denn seine Schale war in der That nicht dicker als Schreibpapier.

„Wir werden zwei dieser zerbrechlichen Geschöpfe, wohl in Watte eingehüllt, in Spiritus setzen,“ sagte Holm, „damit an dem weichen Körper zoologisch-anatomische Studien gemacht werden können, aus den übrigen eingefangenen Exemplaren wollen wir versuchen, den leicht in Fäulnis übergehenden Inhalt zu entfernen.“

„Wenn wir den eisernen Haken anwenden, dessen wir uns bei den hartschaligen Schnecken bedienten,“ warf Franz ein, „so dürfte es schwer fallen, die papierdünne Schale unverletzt zu lassen.“

„Gewalt wäre in diesem Falle übel angebracht,“ bestätigte Holm, „aber ihr wißt ja — wo Gewalt nichts vermag, muß die List aushelfen.“

„List?“ fragte Hans. „Sollte es möglich sein, den Bewohner aus seiner Schale herauszulocken, wie einen Hund mit einem Knochen aus der Hundehütte?“

„Nein,“ entgegnete Holm lächelnd, „hier würde kein Zureden nützen. Was meinst du aber, wenn wir ein Mittel besäßen, den weichen Körper durch eine Substanz ganz und gar zu zerstören, so daß er sich in Wasser auflöst?“

„Dann wäre uns geholfen,“ antwortete Franz.

„Nun gut,“ sagte Holm. „Unter unseren Vorräten befindet sich ein chemisches Präparat, das ich zu dem vorliegenden Zwecke mitgenommen habe, und das sich auch in anderen Fällen nützlich erweisen wird. Es ist dies das sogenannte Ätzkali, eine salzartige, leicht in Wasser lösliche Substanz, welche die Haut, Weichteile und Fette zersetzt. Mit dem Fett geht es eine Verbindung ein, deren wir uns sogar täglich bedienen, es ist die Seife. Wir wollen jetzt in einem eisernen Gefäß ein apfelgroßes Stück des geschmolzenen Ätzkali in Wasser auflösen und in der so erhaltenen „Lauge“ die gefangenen Exemplare des Papiernautilus so lange über gelindem Feuer langsam kochen, bis das weiche Tier zersetzt und in lösliche Seife verwandelt worden ist.“

Gesagt, gethan. In kurzer Zeit waren die Schaltiere auf dem Feuer zum Erstaunen des Koches, der sich außerdem über den unangenehmen Geruch beklagte, der sich aus dem eisernen Topfe während des Kochens entwickelte.

Etwa einen halben Tag lang wurde der Topf mit seinem sonderbaren Inhalte gelinde erwärmt, bis eine herausgenommene Schale erkennen ließ, daß der Körper des Tieres von der Kalilauge zerstört und aufgelöst sei. Jetzt war nur noch nötig, die Schalen mit reinem Wasser gut abzuspülen, zu trocknen und zu verpacken. Damit das papierdünne Gehäuse nicht zerbrechen konnte, wurde seine innere Höhlung, soweit als möglich, vorsichtig mit Baumwolle vollgestopft.

Franz äußerte, als die trefflich erhaltenen, sauberen Schalen in Sicherheit gebracht waren, „ein Naturforscher müsse doch eigentlich von vielen Dingen Kenntnis haben, wenn eine Reise in fremde, wilde Länder mit gutem Erfolge gekrönt sein soll. Sogar ohne ein wenig Chemie kann man nicht auskommen,“ meinte er.

Holm stimmte ihm bei. „Auf keinem Gebiete rächt sich die Einseitigkeit mehr, als auf dem der Naturforschung,“ sagte er. „Die Geheimnisse der Natur werden nicht durch einen einzigen Schlüssel erschlossen, zu ihren Wundern führt nicht bloß ein Weg, sondern mannigfaltig, wie sie selbst sind, sind auch die Mittel und Wege, sich ihr zu nahen und sie zu erkennen. Unsere Aufgabe,“ setzte er hinzu, „besteht hauptsächlich darin, den Gelehrten neues und reiches Material für ihre Beobachtung zu verschaffen. Es ist dies zwar nur ein Zweig der Naturforschung, aber wie ihr seht, erfordert er mancherlei Kenntnisse, Handgriffe aller Art, und selbst die Chemie darf nicht fehlen. Denn das Zersetzen eines tierischen Körpers mit Kalilauge ist ein chemischer Prozeß.“

Seesterne jeder Gestalt, Würmer, Krabben und mehrere Fische, sogar ein ganz kleiner Haifisch bildeten den Rest des ergiebigen Fanges, dessen Einteilung und Aufbewahrung mehrere Stunden in Anspruch nahm. Alle diese Schalen sollten vom nächsten Hafen nach Hause geschickt werden, man mußte sie also vorher reinigen und von ihren Insassen vollständig befreien; der Hai wurde zum Ausstopfen bestimmt und die Würmer in Spiritus gesetzt, kurz, man hatte alle Hände voll zu thun, als plötzlich ein lauter Schreckensruf über das Deck dahinschallte.

„Land! Land! — Wir laufen geradeswegs auf den Strand.“

Rua-Roa hatte mit bleichem Gesicht und dem Ausdruck des Entsetzens die Worte hervorgestoßen; jetzt deutete seine erhobene Rechte auf das Meer hinaus. „Seht doch! Seht doch! — Wir sind unrettbar verloren.“

Vom Ausguck her erscholl fröhliches Lachen, auch Papa Witt schmunzelte, und der Kapitän rief aus der Kajütte herauf ein kräftiges: „Donnerwetter, Junge, entdeckst du neue Weltteile?“ — Dennoch aber entstand im ersten Augenblick ein Laufen und Fragen, ein Durcheinander, wie es bei jedem Schreckensschrei sich zu entwickeln pflegt; die kleine Gesellschaft drängte zum Schiffsrand, sämtliche Arbeiten wurden vergessen, und aller Augen suchten den gefürchteten Strand.

In geringer Entfernung vom Schiff erschien auf den Fluten eine unübersehbare grüne Fläche. Schlanke Halme wogten im Wind, nirgends war von Wasser eine Spur zu bemerken, kleinere Vögel hatten sich in dem dichten Grün häuslich niedergelassen, und sogar liegende Baumstämme, Zweige mit Laub und Blüten trieben an den Kanten. Das Ganze schien regungslos auf der Oberfläche des Meeres zu schwimmen, es sah aus wie eine üppige Grasfläche, so daß selbst Holm dem inzwischen an Deck gekommenen Kapitän fragend und einigermaßen erstaunt entgegenblickte. „Was in aller Welt ist das?“ rief er.

„Eine Seewiese!“ lächelte der Alte, „und eine sehr unbedeutende sogar. Das, was Sie da sehen, ist der sogenannte Seetang, die bekannte grüne Alge, welche massenhaft in allen Meeren vorkommt. Diese Wiese ist in ihren ersten Anfängen irgendwo vom Grunde losgerissen, weitergetrieben und anderen treibenden Pflanzen begegnet, das alles hat sich verflochten und verfilzt, ist gewachsen und zur ansehnlichen Fläche geworden, bis endlich eine förmliche, treibende Insel entstand. Dergleichen findet man sehr häufig.“

Er rief den Decksjungen und befahl ihm, einige große Stücke Steinkohlen zu bringen. „Sehen Sie her, wie dicht mit der Zeit ein solches Gewebe wird!“ fügte er hinzu.

Seine Rechte warf auf das grüne Ufer, an dem man hart vorüberfuhr, eine Kohle, die auf der Oberfläche liegen blieb. Es sah aus, als gleite das Schiff dahin am friedlichen, fruchtbaren Gestade, als sei die Reise eine Fahrt durch den engen, dörflichen Fluß, dessen Ränder Wiesen und Äcker begrenzen. Länger als eine Viertelstunde währte diese Täuschung, dann blieb das Eiland mit seinem saftigen, erquickenden Grün allmählich hinter dem Dampfer zurück, und schon vor Mittag war es den Blicken entschwunden.

Das Diner wurde wie gewöhnlich bei schönem Wetter an Deck eingenommen, der Koch hatte zu den frischgefangenen Krebsen die notwendige Schüssel mit Spargel hergerichtet, dazu gab es von Surabaja her noch Kartoffeln und Hühner; die Mahlzeit war also ganz danach angethan, ihre Teilnehmer besonders zu befriedigen und an die Heimat zu erinnern. Seit länger als anderthalb Jahren befanden sich die Reisenden unterwegs, aus den Stadtkindern von zarter Gesichtsfarbe und lang aufgeschossenem Wuchs waren derbe, sonnenbraune junge Leute geworden; Hans zeigte keine Spuren früherer Kränklichkeit mehr, sein älterer Bruder behauptete sogar, in nicht allzu ferner Zeit ein Rasiermesser anschaffen zu müssen, und selbst Holm hatte sich kräftiger entwickelt, wie alle gesunden Menschen, die viel Seeluft genießen und in weiten Fußwanderungen ihre Muskeln stärken; — Westafrika, Madagaskar, Mauritius, Ceylon und Java waren durchforscht, Gefahren aller Art bestanden und Schätze des Wissens eingesammelt worden; — um so häufiger aber dachten die Herzen der Weltumsegler gerade der engen nordischen Heimat; mitten in den Prachtbildern der südlichen Zone erschien ihnen oft im Traume das Antlitz der Vaterstadt, und schöner und entzückender als die Tropen mit aller ihrer Reichtumsfülle deuchte den weit Entfernten der Elbstrand, an dem sich daheim das Elternhaus erhob. —

„Schiff in Sicht!“ rief der Matrose am Ausguck, und wenige Augenblicke später fügte Papa Witts Stimme hinzu: „Ist ein Hamburger! — wahrhaftig, ich glaube sogar, einer von unseren eigenen Dampfern!“

Der Kapitän sprang auf und sah durch das Fernrohr. „Richtig, es ist der „Julius Cäsar“!“ rief er, „ich erkenne ihn am Bau.“

Jetzt kam Bewegung in die jungen Leute. Der „Julius Cäsar“ war daheim auf Steinwerder erbaut, sie kannten den Kapitän und durften hoffen, noch mehr als ein vertrautes Antlitz an Bord zu entdecken. Das beste aber war, sie würden ganz neue Nachrichten erhalten, würden dieses und jenes erfahren, was zu Hause inzwischen passiert war, und selbst mit denen sprechen können, die das alles angesehen hatten; — ihre Ungeduld, ihre sehnliche Erwartung stieg von einem Augenblick zum andern. —

„O, Herr Kapitän, wenn nur das Schiff nicht achtlos an uns vorüberfährt!“ rief Hans.

„Hat keine Not, mein Junge. Sie beobachten uns ebensowohl als wir sie. Aha, da hörst du es!“

Ein Kanonenschuß rollte über das Wasser dahin, ein zweiter und dritter folgten. Die „Hammonia“ war erkannt, der Kapitän vom „Julius Cäsar“ grüßte den schwimmenden Bau, der die Söhne seines Chefs über das Weltmeer trug. Noch war die Entfernung für einen Anruf durch das Sprachrohr zu groß, aber dafür antwortete vom Deck unseres Dampfers die Kanone; beide Flaggen wechselten Zeichen, und endlich begann die Unterhaltung. Der „Julius Cäsar“ war von einer Hamburger Firma für Batavia gechartert und kam von dort, um nach den Schifferinseln zu gehen, wo er die Rückfracht für Reeders Rechnung einnehmen sollte, er fuhr im Augenblick mit Ballast und würde sich die Ehre geben, der „Hammonia“ eine Visite abzustatten.

Nah und näher schwammen die beiden Eisenkolosse an einander heran. Was deutsche Schiffsbaukunst erfunden und deutsche Hände gefügt, das trug in seinem sicheren Schoße jetzt am entgegengesetzten Ende der Erdkugel deutsche Herzen auf unergründlichem Weltmeer einander entgegen; Deutschlands Flagge entfaltete rauschend ihr leuchtendes Schwarzweißrot; hüben und drüben wurden die Hüte geschwenkt; jubelnde Zurufe bekundeten das gegenseitige Erkennen, und dann lagen beigedreht, rastend vom eilenden Laufe, die beiden Gottfriedschen Schiffe Seite an Seite; von jedem Bord senkten sich die Boote ins Wasser, und alles was Urlaub hatte, das machte dem neugewonnenen Nachbar einen Besuch, alles was Stimme hatte, das grüßte die Landsleute, das sprach ein Wort des Willkommens, der Freude.

Vor wenigen Monaten waren ja die Leute vom „Julius Cäsar“ noch in Hamburg gewesen; der Kapitän hatte den Papa und die Mama persönlich gesehen, sie gesund und glücklich verlassen; er berichtete hundert Einzelheiten von zu Hause und wurde doch unaufhörlich nach allem Möglichen gefragt, mußte über die geringsten Kleinigkeiten Auskunft geben und beinahe mehr antworten als er Atem hatte. Die Matrosen auf beiden Schiffen erhielten einen freien Tag und eine Extraration Rum; die Handharmonika wurde hervorgeholt, in aller Eile ein bißchen für den äußeren Menschen gethan, und dann entwickelte sich auf dem engen Raum des Verdeckes ein lustiges Tänzchen, wobei die Leichtmatrosen als Damen galten, aber trotzdem ihren Anteil an Grog und Kautabak bestens entgegennahmen. In der Kajütte wurde bei Kaffee und Kognak geplaudert, während die alten heimatlichen Melodieen, die Hamburger Straßenklänge über das weite Wasser dahinschallten und die derben Stiefel der Mannschaft den Takt vernehmlich stampften.

„Drucks nicht so, drucks nicht so, — Kommt ’ne Zeit, bist wieder froh!“ —

Die Reisegenossen sahen einander an. Wie oft hatten sie es erfahren!

Und leise, leise fielen sie ein in die bekannten Strophen. Es lag doch in diesem Wiedersehen auf hohem Meere außer der Freude auch ein stiller, beinahe feierlicher Ernst. So nahe dem Tode, nur durch eine schwache Wand von der Tiefe getrennt, durch die ganze Erdkugel von der Heimat und allen Lieben geschieden, an den höchsten Zielen der Menschheit, ihrer wissenschaftlichen Aufklärung mitarbeitend und selbst das Höchste genießend, was wenigen Glücklichen beschieden ist, sich frei und ungehemmt, vom äußerlichen Druck der Verhältnisse unberührt, nach Wunsch und Bedürfnis einrichten zu können, — wie lagen hier die ernsten, schwerwiegenden Kontraste des Lebens so nahe bei einander, wie gingen untrennbar verflochten Hand in Hand die edelsten geistigen Genüsse und die vollkommenste Selbstentäußerung tausend und abertausend Beschwerden gegenüber.

Der Abend dämmerte schon, und die Sterne bezeichneten den Kurs, als endlich an den Aufbruch gedacht wurde. Wie viel Neues hatten nicht die Wanderer erfahren, mit wie vielem Stolz und Vergnügen hatten sie gehört, daß hinter den Gittern des Zoologischen Gartens und im Museum alle ihre Sendungen, namentlich der reiche Fang von Mauritius den Landsleuten als ein Teil der gemachten wissenschaftlichen Ausbeute täglich vorgeführt wurde. Die großen seltenen Muscheln waren unbeschädigt, die ausgestopften Tiere wohlerhalten angelangt, die lebenden erfreuten sich des besten Gedeihens; Kapitän Hollberg hatte daheim in Hamburg jedes einzelne gesehen und bewundert; auch das erste Buch von Franzens Reiseerinnerungen, lauter Bleistiftskizzen aus dem Urwalde, im Zelt oder auf hoher See gefertigt, war mit dem Postdampfer richtig angekommen, Mama zeigte es mit Stolz allen Freunden des Hauses, und sämtliche Klassenkameraden ihres Sohnes drängten sich, um darin blättern zu dürfen.

Noch immer anderes, immer mehr gab es zu berichten, und doch mußte jetzt die Trennung erfolgen. Ein herzliches Lebewohl wurde ausgetauscht, ein Glückauf von Bord zu Bord, die Ziehharmonika ging unvermerkt über in die Melodie von „Muß ich denn, muß ich denn zum Städtle hinaus!“ — Die Dampfmaschinen begannen abermals ihre Thätigkeit, nach rechts und links wandte das Steuer den schlanken Bau, und die Flaggen wehten Abschiedsgrüße.

„Übers Jahr, übers Jahr, wenn ich wied’rum komm!“ sangen die Matrosen; von hüben und drüben dröhnten die Kanonen den Baß, und weiter und weiter dehnte sich zwischen den Schiffen das blaue, bewegliche Element. — Nichts mehr zu erkennen jetzt, die Abendschatten umhüllten mit ihren Schleiern jegliche Form, nur zuweilen flog ein Seevogel über das Deck dahin, und eintönig schlugen, immer drei und drei, die Wellen gegen den Rumpf; sonst alles still, so still wie nach einem Abschied das Herz zurückbleibt, — einsam und heimlich schauernd.

Franz suchte den Malagaschen. Der war eigentlich heute ganz vernachlässigt worden, man hatte seiner vergessen, als so plötzlich die Heimat ihre Boten sandte. Rua-Roa saß hinter der Kombüse und sah mit gekreuzten Armen über das dunkle Meer hinaus; Franz erschrak, als er das blasse Gesicht seines Freundes heimlich beobachtete; er legte ihm die Hand auf die Schulter. „Woran denkst du, Rua?“ fragte er halblaut.

Der Malagasche zuckte leicht. „Waren das deine Brüder, Herr?“ sagte er nach einer Pause. „Männer aus deinem Lande?“

Franz nickte. „Warum hast du dich so ferngehalten, Rua?“

Der junge Mensch seufzte. „Ich dachte so an manches, Herr; du mußt nicht glauben, daß ich mein Vaterland vergessen habe, aber — — dahin möchte ich doch nie wieder.“

„Warum nicht? Wenn du ein Christ geworden bist und deutscher Unterthan, dann kann niemand mehr deine persönliche Freiheit beschränken.“

Der Malagasche sah ihn an. „Niemand, der Gesetze kennt und Gesetze achtet, Herr, aber meine Brüder sind arme Wilde, sie würden den entlaufenen Sklaven den Krokodilen vorwerfen. Ein Sklave hat keine Heimat!“

„So hast du sie da, wo ich die meinige besitze, Rua!“ sagte innig der Sohn des Millionärs. „Du rettetest uns allen das Leben, seit dieser Stunde bist du mein Bruder.“

Und der Malagasche lächelte, obgleich sich in seinen Augen schwere Thränen gesammelt hatten. Die Musik und die Wiedersehensfreude der anderen weckten in seinem Herzen, ihm selbst unbewußt, das schlummernde Heimatsgefühl, er dachte an die Bambushütten und die bunten Wolldecken, an das feierliche Krokodilgericht und Lani-Lameh den Zauberer, der einst seine ersten Begriffe gelenkt, der ihm gesagt, daß die Welt eine runde Scheibe sei, schwimmend im Urmeer, und Madagaskar darin die Mitte; daß sich in das Gebiet der bösen Gewalten hinauswage, wer ein Schiff besteigt und die Ufer der Erde verläßt, ja und daß irgendwo tief verborgen Zannaar der Weltgeist in einer Höhle wohne, in unsichtbaren Räumen, nie erspäht von Menschenaugen, nie zu finden, so lange auch Sterbliche suchen mögen. — —

Jetzt kannte er die Irrtümer aller dieser Anschauungen, jetzt wußte er, daß Lani-Lameh ein schlauer Spitzbube sei und die Hovas arme Wilde, aber doch hatte es ihm heute so eigen weh ans Herz gegriffen, und er dachte heimlich: „Ich möchte ein großer Vogel sein und einmal über die stillen Dorfhütten dahinfliegen, — nur einmal!“ —

„Du bist mein Bruder!“ wiederholte Franz, „mein lieber, guter Bruder.“

Der Malagasche nickte, aber auf die weiße Hand, welche ihn liebkoste, fielen warme Thränen.

— — — — — — — — — —

Das Zusammentreffen mit den Landsleuten hatte in den Gemütern der jungen Reisenden ein Gefühl zurückgelassen, das fast dem Heimweh glich. Der Doktor suchte die Trauer der Knaben durch milde Worte zu verscheuchen, allein es gelang ihm nur halb. Holm dagegen meinte: „Doktor, das beste Mittel gegen Betrübnis ist und bleibt die Arbeit, vergessen wir nicht, zu welchem Zwecke wir die Reise unternommen haben. Auf, ihr jungen Argonauten,“ rief er, „verlangt uns auch nicht nach dem goldenen Vließe, so steht unser Sinn doch nach den Schätzen des Meeres, die es in seinem weiten Schoße birgt. Laßt uns sehen, was das Schleppnetz an das Licht der Sonne fördert. Nutzen wir Zeit und Gelegenheit.“ Ein engmaschiges, lang dahingestrecktes Netz, dessen Vorderseite mit einem schweren, eisernen Rahmen versehen war, wurde am Spiegel des Schiffes hinabgelassen und folgte auf dem Grunde des Meeres nachschleifend der „Hammonia“.

Nach zwei Stunden rascher Fahrt wurde es in die Höhe gewunden, und von diesem Augenblicke an wich die trübe Stimmung der gewohnten Lust zum Sammeln, Beobachten und Präparieren, und auch die alte Fröhlichkeit stellte sich wieder ein.

Das Schleppnetz hatte reiche Beute nach oben gebracht. Holm entdeckte beim Sortieren eine kleine Krebsart, die, kaum einen halben Zentimeter lang, sich durch besondere Zierlichkeit auszeichnete; es war dies der Leuchtkrebs, der zu den vielen Meergeschöpfen gehört, die durch ihren phosphorischen Glanz das Meeresleuchten hervorbringen. Außerdem war ein großer Molukkenkrebs ins Netz gegangen, der, einen halben Meter lang, einer Kasserolle mit langem Stiel glich. Die Wilden bedienen sich der harten, scharfen Schwanzstacheln als Lanzenspitzen. Da diese Krebsart in den Aquarien nicht selten ist, beschloß Holm dies Exemplar nicht mitzunehmen. Es wurde daher der Tiefe wieder übergeben. Von Schnecken fand sich die seltene Birnenschnecke vor, über deren inneren Bau noch mancherlei verschiedene Ansichten herrschen und die daher sogleich in Spiritus wanderte, um für das Seziermesser aufbewahrt zu werden. Die Eischnecke war ebenfalls unter der Beute. Holm erklärte, daß dieselbe früher bei den Einwohnern von Korea in hohen Ehren gestanden habe, denn nur die Vorfechter im Kampfe und diejenigen Krieger, welche einige Köpfe von erschlagenen Feinden aufweisen konnten, durften das Gehäuse um den Hals oder im Haarschopf tragen.

„Also eine Art von Orden für Tapferkeit,“ meinte Hans. Holm lächelte und sagte: „Nicht ganz übel gedeutet.“ Dann machte er die Knaben auf eine eigentümlich geformte Nacktschnecke aufmerksam, die er als „Seehase“ bezeichnete. Von den vier Fühlhörnern streckten sich zwei in horizontaler Richtung vor, um den Weg und die Nahrung zu betasten, zwei derselben glichen dagegen in ihrer aufrechten Stellung einem Paar großer, löffelförmiger Hasenohren, denen das Tier auch seinen Namen verdankt.

Holm setzte den eingefangenen Seehasen in eine Bütte mit frischem Seewasser, in dem er sich alsbald wohl sein ließ. Hierauf sagte er zu Franz, nachdem sie das Tier genugsam betrachtet hatten: „Fasse den Seehasen einmal an.“

„Bei den Löffeln wie ein Kaninchen?“ fragte Franz.

„Ganz wie dir beliebt,“ antwortete Holm, „nur gib genau Obacht auf die Veränderungen, die mit diesem seltsamen Geschöpfe vor sich gehen.“

Franz griff in das Wasser, um den Seehasen zu erfassen.

Kaum aber hatte er das Tier berührt, als dasselbe eine dunkelviolette Flüssigkeit absonderte, die es wie mit einer undurchsichtigen Wolke umhüllte und den Blicken aller entzog.

„Es versteckt sich,“ rief Franz.

„Dieser violette Farbstoff dient dem Seehasen als Schutzmittel gegen seine Verfolger, in derselben Weise, wie sich auch der Tintenfisch durch Ausspritzen einer braunen Flüssigkeit zu schützen sucht, die im getrockneten Zustande von den Malern als Sepia zum Tuschen gebraucht wird.“

„Läßt sich der Farbstoff der Seehasen nicht auch zu ähnlichen Zwecken verwenden?“ fragte Hans.

„Man kann allerdings mit demselben Seide und Wolle violett färben,“ entgegnete Holm, „aber trotzdem wird aus diesem Grunde keine Jagd auf ihn gemacht, denn derselbe Farbstoff, den der Seehase in seinem Organismus erzeugt, wird in Europa alljährlich in Hunderten von Zentnern fabrikmäßig hergestellt und zwar aus dem Steinkohlenteer. Genaue Untersuchungen haben ergeben, daß der Farbstoff des Seehasen nichts anderes ist als — Anilin-Violett.“

„Wir müssen diesen Anilinfabrikanten des Meeres mitnehmen,“ rief Franz.

„Gewiß,“ antwortete Holm, „zumal diese Art von jener im Mittelmeer lebenden bedeutend abweicht. Eins ist aber zu bedenken. Wenn wir den Seehasen in Spiritus legen, so löst dieser den Farbstoff auf und färbt die Weichteile der übrigen Geschöpfe, welche wir in denselben Behälter thun, ohne Gnade violett. Er muß daher in einen Glashafen für sich gelegt werden und warten, bis er Gesellschaft von seinesgleichen erhält.“

Also geschah es auch. Die übrigen Schnecken wurden in der bereits bekannten Weise gereinigt und verpackt.

Mit den Fischen mußte allerdings anders verfahren werden, denn sie verlieren im Spiritus zum größten Teil ihre Farbe.

Holm verfuhr zum Konservieren der Fische nun in folgender Weise.

Er füllte eine kleine Spritze aus Zinn, die mit einer langen feinen Ausflußröhre versehen war, voll von einer Auflösung von Karbolsäure in starkem Weingeist. „Die Karbolsäure,“ erklärte er, „ist eine Substanz, welche tierische Körper vor der Fäulnis schützt. Auch in dem Rauche von Holz und Torf kommt sie vor und bewahrt Fleisch und dergleichen vor dem Verderben, wie das Räuchern von Schinken und Würsten zur Genüge darthut. Selbst menschliche Leichen wurden im alten Ägypten oft durch bloßes Räuchern in Mumien verwandelt.“

Das feine Rohr der Spritze wurde nun vorsichtig in den Rücken des Fisches gesteckt und durch langsamen Druck das dort befindliche Fleisch mit der Karbolsäurelösung durchtränkt. Ebenso wurden die Eingeweide, der Rachen und das Gehirn mit der Lösung ausgespritzt. Mittels eines Pinsels erhielt die Oberfläche des Fisches ebenfalls ihren Anteil der konservierenden Flüssigkeit, und dann wurde der Fisch in die Sonne zum Trocknen gehängt.

In wenigen Tagen waren selbst große Fische fast steinhart angetrocknet und konnten hierauf mit einem durchsichtigen Firnis überzogen werden, der die Einwirkung der Luft abhielt und die Farben glänzend hervortreten ließ. Das war die einfachste Methode zum Konservieren der Fische, die ihre natürliche Gestalt behielten und so gut wie möglich ihre Farbe. Einzelne Exemplare jedoch mußten gezeichnet und mit Tuschfarben koloriert werden, da sie auch bei dieser Prozedur ihr schönes Aussehen verloren. So in voller Beschäftigung schwanden die Stunden und Tage, bis Borneo in Sicht kam und gelandet werden konnte.

Borneo! — Eine neue Wunderwelt tropischer Geheimnisse, aber auch neue harte Mühen und Drangsale. Das äquatoriale Innere brachte zum erstenmale seit Afrika wieder jene brennende Sonnenglut, an die sich der Europäer nie so gewöhnen kann, daß sie ihm nicht mehr lästig und schädlich wäre; es brachte den voraussichtlichen Kampf mit fast ganz wilden Menschen, den Dajaks oder Kopfjägern, die zum Teil so berüchtigt sind, daß an eine Durchforschung ihres Gebietes gar nicht gedacht werden konnte; mit reißenden Tieren und allen Gefahren des dichten Urwaldes; aber dennoch zog die kleine Schar fröhlich und voll heiteren Mutes fürbaß, nachdem schon die Einfahrt auf einem der vielen großen Arme des Baritoflusses zur wahren Vergnügungsreise geworden war. Borneo ist von einem 6—10 Meilen breiten Gürtel von Anschwemmungen umgeben, so daß nur auf den Flüssen ein Eindringen in die Insel überhaupt möglich wird, diese Fahrt aber zwischen himmelhohen Bergen und im Angesicht einer zauberhaft schönen Pflanzenwelt gehört zu den großartigsten Eindrücken, welche der Reisende jemals empfangen kann. Freilich verhindert die Unzugänglichkeit der Insel auch im höchsten Maße das Vordringen der Kultur, freilich schreckt sie die Weißen erfolgreich zurück (es wohnen dort alles in allem keine dreihundert Europäer, während Java viele Tausende zählt), aber sie macht auch dem Naturforscher gerade diesen Punkt der Sundainseln zum interessantesten und bedeutendsten unter allen. Nirgends die häßlichen, kahlen Ufer Afrikas, der Sand und Busch, die Mangrovensümpfe, welche dort den Ankommenden empfangen; hier war alles üppig treibender Urwald, hier blühte es und trug Riesenblätter, Riesenhalme auf jedem Zollbreit Bodens; ja nicht selten neigten sich die Wipfel von beiden Seiten so schirmend und schattenspendend über den Fluß herein, daß das Schiff in einer kühlen, vom süßesten Blumenduft durchwehten Laube dahin zu schwimmen schien. Die Stadt Banjar-massing hat keinen weltbekannten Namen, ist kein vielbesuchter Hafen wie Batavia und Surabaja; die Reisenden konnten also nicht erstaunt sein, auch keineswegs eine schöne, wohleingerichtete Stadt zu finden, vielmehr nur äußerst notdürftige, ja zum Teil erbärmliche Wohnungen, in denen eine Bevölkerung von Chinesen, Arabern, Malaien und den eingebornen, hier an der Küste als Tagelöhner arbeitenden Dajaks ein buntes, aber wenig anziehendes Gesamtbild lieferte. Jede Wohnung, jede Straße, ja selbst jedes Menschenantlitz schien schwärzlich vom Staub der Kohlengruben, die sich in großer Anzahl um den Ort herum befanden.

Die Rast in Banjar-massing benutzte Holm, um einen lang gehegten Wunsch in Erfüllung zu bringen, der darin bestand, den von Hamburg aus nachgesandten photographischen Apparat in stand zu setzen und sich desselben zu Aufnahmen zu bedienen. Bis jetzt war es ihm nicht möglich gewesen, die nötige Ruhe und einen geeigneten Ort zu finden, um die Knaben in der Handhabung des Apparates zu unterweisen, und schon oft hatte er bedauert, an so vielen schönen und merkwürdigen Punkten vorübergehen zu müssen, ohne sie, bis auf das kleinste Detail naturgetreu, auf photographischem Wege abkonterfeien zu können. Wenn auch die Knaben im Zeichnen nicht ungeschickt waren und manchen Naturgegenstand fast künstlerisch ausgeführt in ihren Skizzenbüchern verewigten, so ließen doch die Zeichnungen von Personen und besonders von Landschaften manches zu wünschen übrig.

Des bequemen Transportes wegen war der Apparat sehr leicht gearbeitet. Er besaß zwei photographische Linsensysteme, um gleichzeitig zwei Bilder von ein und demselben Gegenstande aufnehmen zu können, als wenn derselbe von den beiden Augen des Menschen betrachtet würde. Später mußten die hiermit erhaltenen Bilder im Stereoskop den körperlichen Eindruck hervorbringen, als wenn sie dem Beschauer plastisch greifbar vor Augen ständen.

Holm richtete den Apparat so, daß eine Straße von Banjar-massing sich vor den geschliffenen Gläsern desselben befand, und zeigte den Knaben nun, wie diese auf der matten Glasscheibe, welche den Hintergrund der sogenannten Camera obscura bildete, in umgekehrter Stellung mit allen Einzelheiten in verkleinertem Maßstabe zum Vorschein kam. Zu unterst erschien der blaue Himmel, dann kamen die Dächer der auf dem Kopfe stehenden Häuser, die Fensteröffnungen, die Thüren, dann folgten als oberster Teil des umgekehrten Bildes die Straße und der Erdboden.

„Nun gilt es,“ sagte Holm, „an die Stelle der matten Scheibe, auf die das scharfe, deutliche Bild der aufzunehmenden Gegenstände fällt, eine Glasplatte zu bringen, die mit einer lichtempfindlichen Substanz überzogen ist und die derart von den Lichtstrahlen verändert wird, daß die feinsten Abstufungen zwischen Licht und Schatten, hell und dunkel auf derselben deutlich und unveränderlich sichtbar werden. Da wir nun eine solche lichtempfindliche Platte nicht im Tageslicht präparieren können, müssen wir diese Operation im Dunkeln vornehmen.“

„Aber im Dunkeln kann man doch nicht sehen, was die Hände vollbringen!“ warf Hans ein.

„Wir bedienen uns einer Lampe oder einer brennenden Wachskerze,“ entgegnete Holm, „denn das Licht einer kleinen Flamme besitzt nicht so viel chemische Wirkung, um der Platte schaden zu können. Auch das Tageslicht, welches durch eine gelbe Glasscheibe fällt, ist wirkungslos, so daß das Reisezelt, in welchem wir unterwegs die Platten präparieren werden, mit einem gelben Fensterchen versehen werden konnte, welches genug unwirksames Licht für unsere photographischen Manipulationen durchläßt.“

Holm nahm nun eine der mitgebrachten Glasplatten und putzte sie mit einem weichen Leinwandlappen und einigen Tropfen Weingeist so lange, bis sie vollkommen rein war und der Hauch des Mundes nur flüchtig an ihr haftete. „Merk auf, Rua-Roa,“ sagte er, „denn das Amt eines Plattenputzers mußt du später übernehmen.“

Aus einer Flasche goß Holm hierauf ein weniges einer gelblich gefärbten sirupartigen Flüssigkeit, die einen starken Geruch nach Hoffmannstropfen verbreitete, auf der Platte. „In dieser Flasche befindet sich eine Auflösung von Schießbaumwolle in Äther und Alkohol,“ sagte er. „Da der Äther auch in den Hoffmannstropfen enthalten ist, die häufig als belebendes Mittel gebraucht werden, so erklärt sich euch der bekannte Geruch dieser Flüssigkeit. Die aufgelöste Schießbaumwolle hinterläßt beim Antrocknen eine glasartige zähe Haut, und gerade diese Eigenschaft ist es, welche uns hier zu gute kommt.“

„Aha,“ sagte Franz, „ich weiß schon, wie man diese Flüssigkeit auch sonst nennt. Sie heißt Kollodium und eignet sich zum Überpinseln von Brandwunden, damit sich eine Haut über denselben bilde, die vor dem Zutritt der Luft schützt.“

„Ganz recht,“ bestätigte Holm, „nur ist bei diesem Kollodium zu bemerken, daß in demselben Jod- und Bromsalze aufgelöst sind, deren Eigenschaften wir jetzt im Dunkelzimmer näher studieren wollen.“

Sie begaben sich jetzt alle in ein Gemach ihrer provisorisch gemieteten Wohnung, dessen Fenster mit Kokosmatten lichtdicht verhängt waren. Ein Lämpchen brannte auf dem Tische und beleuchtete mit mattem Scheine eine Anzahl von Flaschen, einen schmalen hohen Glastrog, den Holm als „Küwette“ bezeichnete, und ein mit reinem Wasser gefülltes Gefäß.

„In dieser Küwette befindet sich eine Auflösung von salpetersaurem Silber,“ erklärte Holm. „Wir tauchen unsere mit Jodkollodium überzogene Glasplatte vermittelst eines breiten Glashakens in diese Lösung hinein, und nun beobachtet, was geschieht.“

„Die Oberfläche der Platte fängt an sich zu trüben,“ rief Franz.

„Sie wird milchweiß,“ bemerkte Hans nach einer kleinen Weile.

„Ein Zauber,“ rief Rua-Roa ängstlich.

„Kein Zauber, sondern ein chemischer Vorgang,“ lachte Holm, „obgleich du von deinem Standpunkte nicht so ganz unrecht haben magst, Ruachen; wurde doch selbst im zivilisierten deutschen Lande zur Zeit des Mittelalters mancher Chemiker für einen Hexenmeister gehalten. Und wenn ich dir nun auch auseinandersetzte, daß hier die Jod- und Bromsalze, welche in der Kollodiumhaut sind, sich mit dem Silber der Lösung zu unlöslichem, gelblichweißem Jod- und Bromsilber verbinden, so würdest du das doch nicht verstehen, mein guter Malagasche, denn von der chemischen Wahlverwandtschaft weiß dein kleiner Heidenverstand nicht die Spur.“

Rua-Roa machte ein verlegenes Gesicht, als hätte er irgendwie, unbewußt ein Unrecht begangen, aber Franz tröstete ihn und sagte: „Sei nur ruhig, lieber Freund, Chemie ist meine stärkste Seite auch gerade nicht.“

Die Platte wurde an dem Haken, auf dem sie ruhte, aus der Küwette herausgezogen. Die Kollodiumhaut hatte in der That ein gelblichweißes Aussehen erlangt und war nun, wie Holm sagte, lichtempfindlich.

Ein kleines hölzernes Kästchen — die Kassette — nahm die präparierte Platte auf. Dasselbe war mit einem Schieber versehen, der sich seitlich wegziehen ließ, und besaß hinten einen Deckel, der es lichtdicht verschloß, nachdem die Platte, mit der Kollodiumschicht nach vorne, hineingelegt worden war. Gegen jeglichen Lichtstrahl geschützt, konnte die Platte in der Kassette nach dem photographischen Apparate transportiert werden, dessen optische Gläser mit Deckeln verschlossen waren.

Holm entfernte die matte Glasscheibe, setzte die Kassette an ihre Stelle und zog den Schieber der letzteren heraus. Darauf entfernte er die Deckel von den Gläsern.

„Nun fällt das umgekehrte Bild, welches wir vorhin auf der mattgeschliffenen Glasscheibe wahrnahmen, direkt auf die weißgelbe Jodsilberschicht, die wir im dunkeln Zimmer bei schwachem Kerzenlichte hergestellt haben,“ erläuterte Holm. „In dem Zeitraum von fünf bis sechs Sekunden werden die Lichtstrahlen hinreichend gewirkt haben, und deshalb schließen wir den Apparat, nachdem wir langsam bis sechs gezählt haben, schieben auch den Schieber der Kassette wieder zu und begeben uns in das Dunkelzimmer zurück.“

Hier angelangt nahm Holm die Glasplatte aus der Kassette und zeigte sie den Knaben.

„Ich sehe keine Spur von einem Bilde,“ rief Hans, nachdem er die Platte aufmerksam betrachtet hatte.

„Nicht eine Andeutung von Zeichnung,“ bestätigte Franz, „gewiß hat das Licht nicht lange genug eingewirkt.“

„Ich fürchte fast, wir haben bei dem hellen Lichte des hiesigen unbewölkten Himmels schon zu lange exponiert,“ sagte Holm. „Jedoch wir wollen sehen.“

Bei diesen Worten goß er mit Gewandtheit eine klare Flüssigkeit über die Platte, die in der That nicht im geringsten verändert erschien, und nun zeigte sich ihnen ein Schauspiel von ganz eigenem Reiz. Einzelne Teile der präparierten und dem Lichte ausgesetzt gewesenen Schicht begannen sich dunkel zu färben, und zwar erschien diese Veränderung da zuerst, wo der blaue, lichte Himmel war. Dann folgten die weißen Mauern der Häuser, welche sich scharf von der dunkleren Straße abhoben, die auf der Platte fast weiß blieb. Überhaupt konnte man wahrnehmen, daß überall da, wo das hellste und stärkste Licht gewirkt hatte, die Jodsilberschicht sich dunkel färbte, daß dort, wo gemäßigtes Licht von halberleuchteten Gegenständen hingefallen war, die Färbung im Verhältnis schwächer blieb, während die Stellen, welche in der Natur dunkel oder schwarz waren, auf der Platte keinerlei Färbung annahmen, sondern weiß blieben.

Nach einiger Zeit spülte Holm die Platte mit reinem Wasser tüchtig ab und hielt sie gegen das Licht.

Ein Freudenruf entschlüpfte den Lippen der Knaben. Da war ja die Straße von Banjar-massing mit allen ihren Einzelheiten in verkleinertem Maßstabe auf der Platte sichtbar, so allerliebst und so sauber ausgeführt, wie es der menschlichen Hand mit Stift und Pinsel nicht möglich war. Nur erschienen die hellen Partieen auf der Platte dunkel und die dunklen hell; es waren die Verhältnisse zwischen Licht und Schatten umgekehrt.

„Wir nennen ein solches Bild, mit verkehrtem Licht und Schatten, ein Negativ,“ sagte Holm; „es verhält sich in dieser Beziehung ähnlich wie die Gipshohlform zum Körper, der abgeformt wurde, und ebenso wie jene dient das Negativ zur Anfertigung von Abdrücken, bei denen die alte Ordnung wieder hergestellt wird.“

„Wie kam es aber,“ fragte Franz, „daß das Bild erst sichtbar wurde, als eine Flüssigkeit über die Platte gegossen wurde, und was enthielt diese Flüssigkeit, um diese merkwürdige Wirkung auszuüben?“

„Ich goß eine Auflösung von Eisenvitriol in Wasser über die Platte,“ entgegnete Holm. „Der Eisenvitriol hat die Eigenschaft, das Silber aus seinen Lösungen in Gestalt eines feinen, grauen, metallischen Pulvers auszuscheiden, und dieses Metallpulver legt sich auf jene Stellen des Jodsilbers an, die vom Lichte getroffen wurden. Je stärker die Lichtwirkung war, um so dichter setzt sich der Silberniederschlag ab, weshalb denn auch die hellsten Teile des Bildes, der Himmel und die weißen Wände der Häuser, am schwärzesten und undurchsichtigsten sind. Jetzt haben wir nur noch nötig, das Jodsilber durch eine Auflösung des giftigen Cyankali in Wasser zu entfernen, die Platte gut zu waschen und zu trocknen, worauf sie gefirnist wird, um sie vor Verletzungen, Schrammen u. dgl. zu schützen. Sobald wir später auf dem Schiffe Muße haben, werden wir von den Negativen, die wir aufnehmen, Abdrücke machen. Jetzt, ihr jungen Forscher, benutzt die günstige Gelegenheit und bildet euch durch praktische Übung zu tüchtigen Photographen aus, damit es unserem Journal nicht an Illustrationen fehle.“

In wenigen Tagen hatten die Knaben die erforderliche Übung in den photographischen Handgriffen erlangt, worauf die Reise in die Umgegend von Banjar-massing unternommen wurde.

Gleich am ersten Tage wurde eins der schon erwähnten Kohlenbergwerke besichtigt. In starken Körben gelangten die Reisenden bis zu dem tief unter der Erdoberfläche liegenden, im Mittelpunkt des Baues befindlichen Raum, von wo aus Seitengänge hineinführten in die schwarze, glitzernde Tiefe. Der Anblick war eigentümlich genug. Nur mit einem Lendenschurz bekleidete Dajaks schwangen hier im lichtlosen Schoß der Erde ihre Keilhacken, um das Brennmaterial für weit entfernte Länder oder zum Gebrauch für Dampfschiffe aus den festen Lagern loszubrechen und in Körbe zu sammeln, die dann mittels der Windenvorrichtung hinaufbefördert und ausgeschüttet wurden. Jeder Mann trug vor der Brust eine Blechlaterne, bei jedem war das Haar, lang und seidenweich wie Frauenflechten, am Hinterkopf zusammengebunden und fiel in schwarzer, glänzender Flut auf den unbekleideten Rücken herab; auch weibliche Geschöpfe nahmen teil an dieser gesundheitsschädlichen Beschäftigung, alle aber waren von ihrer mühseligen Arbeit dermaßen in Anspruch genommen, daß sie kaum aufzublicken wagten, und von den gewiß seltenen Besuchern keinerlei Notiz nahmen.

Ein trauriges Bild des Menschenelendes zeigte sich in diesen armen Wesen, die von der holländischen Regierung sowohl als von ihren eigenen malaiischen Gebietern nur wie Lasttiere angesehen werden und fast nicht besser wie Sklaven sind. Die Luft in den engen, schlecht gestützten Gängen war kaum zu atmen, erstickend heiß, mit tödlichem Staub gefüllt und lag drückend auf den Nerven der Weißen; das Klettern über den unebenen Weg und die stete Nähe der Gefahr ließen sie sehr bald an Umkehr denken. Holm brach aus den ganz mit Kohlenschichten angefüllten Wänden einige Stücke los, die Knaben verteilten unter die Arbeiter das zu diesem Zweck mitgebrachte Kleingeld, und dann krochen alle aus den verschiedenen Seitengängen zurück zur Mitte, wo wenigstens hoch über ihnen der blaue Himmel seine Decke spannte. Die Grube war ungewöhnlich breit, im Dreieck angelegt und mit erbärmlich unsicheren Stellagen versehen. Was that es, wenn einmal ein Gang verschüttet wurde? Quer durch das ganze gesegnete Land zog sich das meilenbreite Kohlenlager, und Arbeiter gab es ebenso in Hülle und Fülle. Mochten immerhin einmal ein paar hundert zu Grunde gehen, das fand kaum Beachtung. Die Winde oben setzte sich in Gang, einer nach dem andern gelangte an das Tageslicht, und einer nach dem andern sah schaudernd zurück in die gähnende Tiefe. Wie war es nur möglich, daß lebende Wesen da unten jahrein, jahraus zu atmen vermochten, daß sie nicht jedes sonstige Los diesem Lebendigbegrabensein vorzogen?

So weit die holländische Botmäßigkeit reicht, ist die eigentliche Sklaverei abgeschafft, nur eine Art von Robot- oder Zwangsarbeitssystem nötigt die Eingebornen zu geregelter Thätigkeit, oft nicht ohne einige Härte. Im Innern aber tobt zwischen Malaien und den älter eingebornen Dajaks Fehde und Blutrache, und wer von den Dajaks in die Hände der Malaien fällt, ist Sklave.

Die wenig für ausdauernde Arbeit geschaffenen, leichtsinnigen und jähzornigen Dajaks sind bei allen diesen Eigenschaften lebhafter Charaktere dennoch feige; sie finden nie den Mut, die eingedrungenen Malaien mit Gewalt aus ihrem Lande zu entfernen, aber sie überfallen dieselben bei jeder Gelegenheit, einzeln oder in ganzen Mordgesellschaften, auf ihrem eigenen oder auf gegnerischem Gebiet; immer jedoch aus dem Hinterhalt, niemals in offener ehrlicher Fehde. Jeder derartige Mord, mittels Kopfabschneiden ausgeführt, zieht die sogenannte Blutrache nach sich, ein Greuel, der um ganze Familien und ganze Stämme seine dämonischen Bande schlingt und nicht eher erlischt, bis vielleicht der Ur-Urenkel des Gemordeten den Ur-Urenkel des Mörders erschlug und seine Kinder mit sich führte in die Sklaverei. —

Fremde Reisende waren an dieser Küste offenbar eine seltene Erscheinung. Araber und Chinesen umdrängten die seltenen Gäste in der Hoffnung, sie gehörig rupfen zu können; als aber jegliches Geschäft ausgeschlagen wurde, als man sah, daß es sich nicht um Gold-, Diamanten-, oder Kohlenspekulationen handelte, da ließ man die sonderbaren Schwärmer, welche nur Insekten einfangen und die wilden Dajaks kennen lernen wollten, ihres Weges gehen, ohne weitere Notiz von ihnen zu nehmen. Ebenso schwer war es, den seßhaften Küstenmalaien, die nur zu ganz andern Zwecken ins Innere vorzudringen pflegten, begreiflich zu machen, daß man zur Reise in das Innere notwendig einige ortskundige Führer brauchte. Die Leute kannten dergleichen Unternehmungen aus früherer Erfahrung nicht; es kam nie jemand, um das Land zu durchforschen; sie schüttelten daher zuerst die Köpfe und hielten lange Beratungen, bis endlich fünf Männer, offenbar als Abgesandte der ganzen Kolonie, bei den Weißen in der chinesischen Herberge erschienen und ihre Dienste anboten. Sie wollten die Fremden begleiten, natürlich für schweres Geld, dessen Auszahlung nach erfolgter Rückkehr bei dem deutschen Konsul stattzufinden hatte. Durch die gemachten schlimmen Erfahrungen gewitzigt, ließen Holm und der Doktor diesem Kontrakt die Klausel beifügen, daß sich die fünf Männer durch keinerlei Stellvertretung selbst den übernommenen Verpflichtungen entziehen dürften und daß die Bezahlung nur dann verdient und fällig sei, wenn beide Teile, Führer und Reisende, mit einander wieder anlangen sollten.

Darauf gingen die Malaien ohne Widerspruch ein; sie mußten also nichts Arges im Schilde führen, und nachdem alles genügend vorbereitet, machte sich die Gesellschaft auf, um das Innere der schönen Insel zu sehen, freilich zu Fuß, da eingeborne Pferde gänzlich fehlen, aber darum in nicht weniger fröhlicher Stimmung, nicht weniger hoffnungsvoll und mit offener Seele für all das Neue, das sie hier erwartete. Keine Raubkatzen außer einer kleinen Leopardenart, — keine Giftschlangen, Elefanten und Nashörner! Es blieb also wenig zu fürchten, und bei der Fülle des Affengeschlechtes sowie aller Grasfresser sehr viel zu hoffen; die Reise begann unter den besten Aussichten, doch ging sie langsam von statten, weil der Wald dicht und die ganze Pflanzenwelt wie im äquatorialen Afrika so üppig war, daß sie oft durchhauen werden mußte, um weiteres Vordringen zu ermöglichen.

Die Führer bestanden aus zwei älteren Männern, den Brüdern Torio und Bassar, sowie drei erwachsenen Söhnen derselben, außerdem war ein Dajakischer Dolmetscher angeworben worden, der der englischen Sprache ziemlich mächtig war; sie wählten die nächsten Wege, um aus den die Küste umsäumenden Niederlassungen heraus und in das Gebiet der Dajaks zu kommen, überhaupt zeigten sie sich sehr gefällig und ließen es an keiner Gelegenheit fehlen, ihre Gäste auf diese oder jene besondere Schönheit des Landes aufmerksam zu machen.

Schon am dritten Tage lag der letzte bebaute Acker weit hinter den Reisegenossen, der Urwald schüttelte seine grünen Riesenhäupter, und wilde Geschöpfe huschten hindurch, namentlich Zibetkatzen in ungeheurer Anzahl, Affenarten und sehr viele Vögel mit buntem, prachtvollem Gefieder, Schmetterlinge von nie gesehener Größe und Insekten jeder Form und Farbe.

Hier fanden sich die seltsamen Bäume auf Luftwurzeln, der Teppanbaum, dessen erste Äste in der Höhe von etwa 3—4 Metern sich seitwärts senkten, und in dessen Stamm unzählige wilde Bienenschwärme ihre Nester bauten; die sonderbare Kannenpflanze mit ihren wie eine Waschkanne geformten purpurnen Blüten; Gummibäume, der Taban, welcher die vortrefflichste Guttapercha liefert, der Sagobaum und die Rotangpalme, deren Stengel man gemeinhin Spanisches Rohr nennt.

Ein Baum war es besonders, der den jungen Leuten als ganz fremd sogleich in die Augen fiel. Von schlankem, auffallend hohem Stamm, mit verhältnismäßig wenigen schwertförmigen Blättern, trug er hellrote, große Blumen und mit einer hölzernen Schale umgebene Früchte von der Größe eines Kopfes. Der Höhe wegen ließ sich Deutlicheres nicht erkennen, nur soviel stand fest, daß man diesem Baume noch nie vorher begegnet war.

„Das sind Durianen,“ erklärte Bassar, der älteste der Führer. „Die Zibetkatzen essen ihre Früchte.“

„Und die Eingebornen nicht?“

Eine unverkennbare Gebärde des Abscheues beantwortete diese Frage. Holm lächelte. Er wußte, daß die Frucht einen feinen, ausgezeichneten Wohlgeschmack besitzt, der aber nach dem sonderbaren Willen der Natur von einem entsetzlichen üblen Geruch gleichsam umhüllt ist und daher durch einen einzigen gründlichen Forscher, den Engländer Wallace, erst festgestellt wurde.

„Wir wollen doch die Durianen probieren,“ erklärte er.

Die kleine Gesellschaft machte also Halt, obwohl auf den Rat der Malaien in respektvoller Entfernung, um nicht etwa von einer fallenden Frucht dieses seltsamen Baumes erschlagen zu werden, dann kletterten Bassars Söhne wie die Katzen an dem schlanken, astlosen Stamm hinauf und brachten den Weißen mehrere reife Durianen herunter.

Die Schale erwies sich nicht härter als die der Kastanien und war gleich unserer Stachelbeere mit grünen, krautartigen, ganz kleinen Auswüchsen bedeckt; fünf genau begrenzte, gleich große Felder durch Linien bezeichnet, gaben für die zu machenden Einschnitte die nötigen Winke, aber — o Himmel, als sich der Kern ohne Hülle zeigte! —

Ein Geruch wie von Fäulnis und Zwiebeln erfüllte die Luft, so daß sich alle unwillkürlich abwandten, obwohl kaum ein appetitlicherer Anblick als der dieser Frucht gedacht werden konnte. Das eigentliche Fleisch zunächst der Schale, glänzend wie schneeweißer Atlas, barg in seiner Mitte einen rosafarbenen Brei, der vier Kerne umschloß, — eben diese halbflüssige Masse war es, die so besonders angenehm schmecken sollte. Holm schauerte heimlich, aber dennoch kostete er, — kostete nochmals und nickte den entsetzten Malaien zu. „Steigt nur immer hinauf, Freunde, holt mehr Früchte herunter und eßt selbst mit, wenn ihr klug seid. Eine solche Delikatesse gibt es nicht zum zweitenmale.“

„Wirklich, Karl? — Gib her, gib her!“ — „Aber bester Holm, dieser Geruch, wie konnten Sie sich nur entschließen!“

So schallte es durch einander, während der junge Gelehrte mit dem aus dem Besteck gezogenen Löffel die Frucht ihres breiigen Inhaltes entleerte und schon nach der zweiten griff, ehe noch jemand im stande war, das Wunder zu glauben, „Ich sage euch, so haben wir lange nicht gespeist, Kinder! Doktor, halten Sie den Atem an, während der erste Bissen auf Ihrer Zunge schmilzt, späterhin bekümmern Sie sich um alle Zwiebeldüfte der Welt nicht mehr! — Freund Bassar, pflücken Sie gefälligst noch etwa zehn oder zwölf Früchte, soviel Gastfreundschaft müssen uns die Zibetkatzen dieses Landes schon erweisen.“

Während er sprach, hatte Franz mit dem Taschenmesser die letzte Duriane geöffnet und ließ die anderen kosten. Es war ein komischer Anblick. Alle schmeckten, alle fuhren mit den Zungenspitzen über die Lippen und sahen einander an. „Wie Bratensauce und Zwiebeln!“ erklärte Hans. „Gib mir mehr, ich finde den Geschmack vortrefflich.“

„Wie alter Madeirawein!“ nickte der Doktor.

„Nein, wie die feinste Melone!“ rief Franz.

S. 296.

Unter den Durianenbäumen Borneos.
„Und dann folgte ein wahrer Vernichtungskrieg gegen die Früchte ...“

Und dann erfolgte ein wahrer Vernichtungskrieg gegen die Früchte, welche Bassars Söhne von oben her in das fußhohe Gras herabfallen ließen. Erst als niemand mehr zu essen vermochte, wurde die Wanderung fortgesetzt und später am abendlichen Feuer die gesammelten Kerne der Durianen wie Kastanien geröstet, um zusammen mit einem Hirschziemer ein vortreffliches Nachtmahl zu geben. Die wollenen Decken wurden an einer geschützten Stelle ausgebreitet, Wachen ausgestellt, und dann begann wieder der Halbschlummer, das Ausruhen in weicher, linder Tropennacht. Fliegende Frösche und Kalongs bevölkerten auch hier die Luft, glänzende Insekten, schillernd wie Funken, krochen über den Boden; Holm brach ein großes Blatt und zählte nicht weniger als sechzehn verschiedene Geschöpfe, darunter einen alten Bekannten, wenn auch in beträchtlich vergrößertem Maßstab, den deutschen schwarzen Holzbock! Wie oft hatte er ihn als Knabe eingefangen und in ein Papierhäuschen gesteckt, wie beredt erzählte der Schwarzrock, emsig nach einem Weg über die Untiefen des Blattrandes spähend, von vergangenen Tagen, von Knabenfreude und Knabenwünschen, — Holm ließ ihn in den Spiritusbehälter wandern, um ihn mitzunehmen.

Elftes Kapitel.

Nach einigen Tagen kam das erste Dajaksdorf den Reisenden zu Gesicht. Bassar und Torio versicherten, daß die Kopfjäger niemals Europäer angreifen, sondern immer nur Malaien; unsere Freunde hatten dasselbe auch schon in der Stadt gehört, und so fanden sie denn keinen Grund, den übereinstimmenden Berichten aller hier ansässigen Leute zu mißtrauen, vielmehr folgten sie ohne Bedenken den Führern in das Thal, wo der räuberische Stamm wohnte. Das ganze Dorf der Dajaks bestand aus einem einzigen, etwa zweihundert Meter langen und vierzig Meter breiten Bambusschuppen mit einem spitz zulaufenden Dach aus Palmenblättern. Dieser Bau wurde getragen von fünf Meter hohen Stämmen und hatte überall Strickleitern, die man des Nachts heraufzog; er stand so hoch über dem Erdboden, daß ein beladener Wagen darunter hätte hinwegfahren können. Fenster und Thüren fehlten gänzlich, dafür flatterten überall hübsche Matten, und aus den offenen Löchern sahen braune, neugierige Gesichter hervor. Die meisten dieser Leute mochten nie in ihrem Leben weiße Menschen gesehen haben, andere dagegen gaben in ihrer Sprache Erklärungen; sie gestikulierten äußerst lebhaft und kamen in Sprüngen die Leitern herunter, nicht selten, um mit scheuen Fingern die Fremdlinge zu betasten und durcheinander zu schnattern wie eine Schar Gänse. Gegen die Malaien zeigten sie sich äußerst furchtsam und unterwürfig, alle Fragen, welche diese stellten, wurden diensteifrig beantwortet.

Endlich erschien an der vorderen Eingangsthür ein Mann, dessen Lendenschurz und Glieder mit Messingplatten, Schildern, Ringen und Glocken derartig behangen waren, daß er bei jedem Schritt wie ein Schlittenpferd klirrte und klingelte; das war der „Liau“ oder Priester des Stammes, und dieser gewaltige Machthaber lud in Abwesenheit des „Panglima“ oder Fürsten die Fremden ein, das sonderbare Wohnungsdorf zu besuchen und als ihr Haus zu betrachten. Nachdem die Malaien namens der Weißen gebührenden Dank gesagt und angemessene Bezahlung versprochen hatten, wurde das Gebäude erstiegen. Der ganzen unübersehbaren Länge nach war es in zwei Hälften geteilt, deren vordere die Unverheirateten, die Gäste und — das Federvieh einnahmen, wogegen die hintere, für Einzelwohnungen bestimmt, den Familien als Aufenthalt diente. Ein rings umschlossener thürloser Raum, der „Lowang“, etwa von der Größe eines mittelmäßigen Zimmers, mußte als Wohn- und Schlafgemach sowie als Küche ausreichen, ob auch noch so viele kleine, völlig nackte Dajaks die braune Mutter umsprangen und außer dem gemeinsamen Blätterlager weiter gar kein Gerät mehr Unterkunft erlangen konnte. Dergleichen gab es überhaupt außerordentlich wenig. Matten, Körbe, Waffen und ein paar Kochtöpfe, das war alles, was die Weißen sahen. Der vordere Raum starrte von Schmutz, den besonders die Hühner und Tauben verbreiteten, er bildete ein schreckliches Durcheinander von Federvieh, Futter, umgestürzten Saufnäpfen und aufgestapelten Waffen, während es ihm an Bewohnern gänzlich mangelte. Der Stamm war ausgezogen, um in weiter Entfernung vom eigenen Wohnsitz einen Raub an Lebensmitteln und womöglich Gold oder Diamanten zu vollführen, Frauen und Kinder lebten daher augenblicklich unter dem Schutze des „Liau“ und der „Bliangs“ oder Priesterinnen, mehrerer jungen Mädchen, die bei den Dajaks etwa das sind, was wir barmherzige Schwestern oder Diakonissen nennen; sie pflegen die Kranken, waschen die Gestorbenen und haben neben dem Liau allein das Recht, den Naturgeistern Gebete vorzutragen; sie allein kennen auch die Schöpfungsgeschichte der Welt, wie sie im Dajaksbewußtsein lebt, und werden um dieser Kenntnis willen verehrt wie Heilige.

Auch ihre Wohnung, offen wie alle, durchspähten die neugierigen Blicke der jungen Leute. Die Bliangs, sechs an der Zahl, trugen Jacken und bis kaum an die Kniee reichende enge Röcke von blauem selbstgewebten Baumwollenstoff mit weißen und roten Streifen, Kopftücher aus rotem Gewebe, reich mit Goldfäden durchwirkt, und halbmondförmige Ohrringe; außerdem Schnüre von großen schwarzen und weißen Perlen und aufgereihten Muscheln, wo immer sich dieselben anbringen ließen. Diese Bliangs nahmen, obwohl sie von den Fremden aufs artigste begrüßt wurden, doch ihrerseits keine Veranlassung, die gebotene Aufmerksamkeit zu erwidern; sie saßen im Kreise auf bunten Matten und rauchten Opium, ohne dabei ein einziges Wort zu sprechen.

Dies Zimmer wurde schnell verlassen. „Ein wahres Glück, daß man hier zu Lande kein Fensterglas kennt,“ meinte Hans. „Hätte nicht zu dem angenehmen Heimwesen der Hühner und der rauchenden jungen Damen die Luft beständig von allen Seiten freien Zutritt, dann möchte es in solchem Dorfe unter Dach und Fach schon sehr bald anfangen, unerträglich zu werden.“

„Mehr von diesen Wohnungen wollen wir nicht besehen,“ erklärte Holm. „Draußen im grünen Walde ist es besser. Aber, lieber Himmel,“ fügte er plötzlich hinzu, — „was haben wir denn da?“

Seine Hand deutete auf einen wahrhaft greulichen Schmuck, welcher über dem Eingang des nächsten Familienzimmers angebracht war und von dort herab den Kommenden entgegengrinste. Wenigstens zwanzig bis dreißig am Hals abgeschnittene Menschenköpfe hingen auf Pflöcken, wie etwa bei zivilisierten Völkern die Jäger ihre erlegten Hirschgeweihe aufzuhängen pflegen; einige waren gänzlich Skelette, andere mochten in irgend einer Weise präpariert sein, so daß sie aussahen wie Mumien; langes und kurzes Haar hing von diesen Schädeln herunter; man erkannte hier einen Krieger, dort eine alte, eisgraue Frau, und selbst junge Mädchen und Kinder fehlten nicht. Durch die Haare aller dieser Opfer flog und flüsterte der Wind, ja bei jedem etwas stärkeren Stoße schaukelten und baumelten die Köpfe, daß es unheimlich klapperte wie von totem Holz.

Bassar legte die Hand auf seinen Arm. „Die Dajaks sind Kopfjäger,“ sagte er in englischer Sprache. „Keiner unter ihnen darf heiraten und einen eigenen Herd besitzen, ehe er nicht wenigstens einen Kopf selbst vom Rumpfe getrennt hat; keiner kann die Würde des Panglima erreichen, der nicht hundert Köpfe über seiner Thür hängen hat. Sehen Sie nur dort die Wohnung des Häuptlings!“

Dem Gemach der Bliangs gegenüber lag die Königshütte des Dorfes. Hier waren alle Matten mit Gold durchflochten, Sklavinnen kauerten in großer Zahl auf dem Fußboden, der ganze Raum war bedeutend breiter, und auf einem Mattenhaufen saß rauchend die Königin; — über der Thür prangten nicht weniger als hundertundfünfzig Köpfe.

Der alte Theologe stand starr. „Dieser Greuel!“ rief er. „Ob da nicht Steine und Wände predigen müßten! Es ist himmelschreiend.“

„So abscheulich dieser Schmuck auch ist,“ sagte Holm, „so wollen wir doch nicht unterlassen, diese Stätten entsetzlichen Heidentums photographisch aufzunehmen, sie werden zu den traurigen Ansichten der Bergwerke ein Seitenstück bilden, das eindringlicher als Worte Zeugnis von dem verwahrlosten Volke der paradiesischen Insel ablegt. Vielleicht erweckt ihr Anblick in dem Herzen glaubensvoller Männer das Verlangen, den armen Heiden die milden Sitten des Christentums aufs neue entgegenzubringen, wenn auch bis jetzt weder Missionare noch Kaufleute einen entscheidenden Einfluß haben ausüben können; man kennt nicht einmal annähernd die Verhältnisse des Innern, wohin auch wir nicht gelangen werden; — es wäre umsonst, diesen Heiden, die nur in den Naturereignissen feindliche Gewalten anerkennen, überhaupt irgend eine Moral predigen zu wollen. Wir haben nun das Dorf gesehen, also laßt uns vor demselben unsere Hängematten aufschlagen.“

Torio und Bassar schüttelten die Köpfe. „Das geht nicht, Herr, die Dajaks würden es als große Beleidigung ansehen. Es ist einmal Sitte, im Vorderraum jedes Dorfhauses die Gäste unterzubringen, — länger als eine Nacht bleiben wir ja ohnedies nicht.“

„Aber wenn wir nun gleich auf der Stelle weiter reisen!“ rief ärgerlich der Doktor.

Die Malaien hielten ihre Weigerungen aufrecht. „Das sei ganz unmöglich,“ beharrten sie.

Holm wechselte mit den Reisegenossen ein heimliches Zeichen. Trauen konnte man den Gelben nie vollständig; sie hier zu reizen oder gegen ihre Absichten irgend etwas durchsetzen zu wollen, schien nicht ratsam. „Schlafen wir also, da es nicht anders sein kann, eine Nacht auf derselben Streu mit Hühnern und Tauben,“ sagte er. „Es gab ja am Ende schon schlimmere Stunden als diese. Vor der Hand thut freilich ein Imbiß am meisten not.“

Bassar lieh gegen Geld und gute Worte von der nächsten Dajaksfrau einiges Kochgeschirr, ein Feuer wurde entzündet und die Reste des Hirschfleisches gebraten, dazu Reis, das einzige tägliche Nahrungsmittel der Malaien. Man ließ die umstehenden, neugierig blickenden Kinder mitessen, verteilte kleine Münzen und brachte schließlich das Gepäck in einen bestimmten Winkel, wo Bassars jüngster Sohn als Wachhabender zurückblieb; dann wurde ein Ausflug in die Umgebung unternommen. Schlechtbestellte Felder in der Nähe des Dorfes trugen allerlei Gemüse, Reis, die Kalampanfrucht, aus der die Eingebornen Öl pressen, sowie in ganzen, kleinen Wäldern die Gomutupalme, welche den Zucker liefert, es weideten Ziegen an allen Abhängen, und zahme und wilde Vögel waren in reicher Anzahl vorhanden.

Nachdem das sämtliche Reisegepäck, Decken und Vorräte zu Hause gelassen worden, war der Spaziergang hinaus in den Wald um so angenehmer. In der balsamischen Luft wiegten sich Schmetterlinge von neun Zoll Flügelweite, Tiere wie sie die Reisenden nie gesehen hatten, kohlschwarz und samtartig glänzend, mit einem breiten, anmutig gebogenen Goldstreifen quer über beide Flügel, mit grünen federartigen Flecken und einem purpurnen Halskragen, sowie mattweißen, schmalen Saum rings um den ganzen Körper. Auch blaue, gelbe und ganz hellrote Arten waren vorhanden, alle riesig groß und in solcher Anzahl, daß sie sich unschwer fangen ließen; Käfer und Fliegen, Mücken, wilde Bienen, Erdwürmer von Fußlänge und mehr als Zolldicke, Spinnen und Hunderte von kleinen verschiedenen Geschöpfen der Insektenwelt belebten den Kelch jeder Blume, die Falten jedes Blattes. Die meisten dieser Tierchen verbreiteten einen feinen Wohlgeruch, der sich bei jeder Berührung verstärkte, — auch eine Erscheinung, welche sonst noch nirgends beobachtet worden war.

Zuweilen brachen die jungen Leute irgend ein großes, tellerförmiges oder wie ein breites Schwert gestaltetes Blatt und besahen aus der Nähe diese azurblauen, weißen oder tiefroten Geschöpfchen, beobachteten die feine Schattierung ihrer Flügeldecken und den hauchartigen Wohlgeruch, bis dann der Käfer plötzlich die bläulichen Schwingen hob und davonhuschte, eine Flut von Duft zurücklassend, in der nächsten Sekunde verschwunden unter Hunderten seiner Gattung, die überall schwirrten und wie glänzende Funken die Luft durchsegelten.

Die Botanisierkapseln und Spiritusbehälter waren schon bis an den Rand gefüllt, ehe noch der Marsch die Dauer einer halben Stunde erreicht hatte; man brauchte hier thatsächlich nur die Hand auszustrecken, um das Gewünschte zu erlangen.

Die Malaien verfolgten seit mehreren Minuten aufmerksam eine Reihe von Spuren, die sich an geknickten Büschen und niedergetretenen Blumen und Gräsern bemerkbar machten; es mußten größere Tiere, mehrere an der Zahl, hier durchgedrungen sein und zwar erst ganz kürzlich, denn die gebrochenen Blumen hatten noch keine Zeit gehabt zu verwelken, das Gras lag abgerissen, aber grün und frisch am Boden. Jetzt schien es auch, als töne aus geringer Entfernung ein wohlbekanntes, nicht eben sehr melodisches Grunzen den Horchenden entgegen, — alle sahen einander an. „Wildschweine?“ fragte Franz.

Torio nickte. „Sie graben Wurzeln,“ versetzte er. „Ganz in der Nähe wird sich das Feld befinden, wo die Herde ihre Lieblingsnahrung entdeckt hat. Schweine sind hier in Unzahl vorhanden, da die eingebornen Dajaks nur Reis und Gemüse essen, dem Überhandnehmen der Tiere also durchaus nicht entgegentreten; — wir müssen ihnen hinter dem Wind beizukommen suchen.“

Einer nach dem andern schlichen die Männer mit den geladenen Kugelbüchsen in den Händen durch das dichte Unterholz, immer dem Schall nach, bis sie, wie die Malaien vorausgesagt hatten, eine etwas weniger bewachsene Stelle antrafen, wo unter den Bäumen dreißig bis vierzig Schweine eifrigst mit ihren Rüsseln das Grün des Bodens aufwühlten und aus der fettigen, mergelhaltigen Erde apfelgroße Früchte herausholten, welche dort zu sechs bis zehn gleichsam in Nestern bei einander wuchsen. Ganz schwarz und einen knoblauchartigen Geruch verbreitend, gehörten jedenfalls diese Wurzeln zu den bekannten Trüffeln; Holm beschloß sie noch näher zu untersuchen, in diesem Augenblick richtete sich jedoch seine Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Schweine, welche bei ihren schwarzen Borsten und dem plumpen Kopf einen ganz weißen Bart trugen. Sie schienen durch Jagd nie belästigt zu werden, waren keineswegs scheu und ließen die Männer nahe an ihren Weideplatz herankommen. Alte, große Keiler rissen mit den Stoßzähnen die Erde auf, daß Gras und Ranken hoch umherflogen, Bachen mit zwölf bis vierzehn Ferkeln lagen, gemütlich grunzend, im Schatten und ließen ihre Kleinen trinken; auch einige schwarze Tapire mit den spitzen Schnauzen nahmen an der Mahlzeit teil, bis ein Schuß aus Torios Kugelbüchse plötzlich dem Familienleben unter den Bäumen ein Ende machte. Die Herde drängte und schrie in eiliger Flucht durch einander, mehrere Schüsse aus den Gewehren der Weißen streckten ihre Opfer nieder, und als endlich der Kampfplatz leer war, hatten fünf Ferkel und ein junger Eber das Dasein eingebüßt; die Tapire dagegen waren zum Ärger der Schützen glücklich davongekommen.

Da es hier wenig Raubtiere gab, ließen die Führer das erlegte Wild bis zu ihrer Rückkunft liegen, und weiter ging die Wanderung in den Wald hinein. Hier gelang es, mit der Vogelflinte einen schönen, männlichen Paradiesvogel vom Baum zu holen, ebenso eine Zibetkatze, die Holm auszustopfen gedachte, und mehrere schöngezeichnete Amseln mit dunkelroter Brust. Ein Leopard sprang einmal hart vor den Füßen der Reisenden vom Baum herab, aber erlegt wurde er nicht, obwohl ihm auf das gute Glück hin mehrere Kugeln nachgesandt wurden; ganze Rudel der großen, schlanken Pferdehirsche, von einem auf einer Anhöhe stehenden alten Bock bewacht, grasten an den Ufern breiter zu Thal fallender Flüsse, erhielten aber bei der ersten Annäherung der Weißen von dem Führer einen Warnungsruf und verschwanden mit ihm, ehe noch ans Schießen gedacht werden konnte. Scheu wie ihr ganzes Geschlecht, flohen sie die Nähe des Menschen, obgleich auch auf ihr Leben hier wenig Jagd gemacht wurde. Nur bei besonders festlichen Gelegenheiten essen die Dajaks Fleisch, sie sind an den Reis als einzige Nahrung gewöhnt und geben sich nicht die Mühe Wild zu erjagen und zuzubereiten.

Es dämmerte bereits, als die erlegten Schweine aufgeladen wurden und nun die Gefangenschaft im Hühnerloch, wie Franz erbost bemerkte, ihren Anfang nehmen mußte. Vorerst freilich loderte ein mächtiges Feuer empor, zwei Ferkel steckten am Spieß, und fette Bissen wanderten in die Händchen der naschhaften braunen Kinder; dann erkletterten unsere Freunde die Leiter, welche hinter ihnen von den wenigen im Dorfe zurückgebliebenen Männern heraufgezogen wurde, und das Lager aus Matten und Palmblättern empfing sein Opfer.

Rechts in der nächsten Nähe sangen die sechs Bliangs in eintönigen Weisen, Hirn und Nerven ermüdend, die Totenklage für eine an demselben Tage gestorbene junge Frau; überall ertönte das herzhafte Geschrei kleiner Kinder und die Beschwichtigungsmittel der Mütter, das Gurren mehrerer hundert Tauben und die rastlosen Kampfrufe der Hähne, deren Gemahlinnen glücklicherweise die Gewohnheit ihres Geschlechtes, mit dem Untergang der Sonne zu verstummen, auch hier auf Borneo festhielten. Draußen schrieen die Papageien, jagten sich in den Bäumen die Affen und quakten die Frösche — es war eine Nacht, die selbst den geduldigsten Sterblichen aus der Fassung bringen konnte.

Heimlich machte sich aus den Falten und Tiefen des Blätterlagers eine feindliche Armee auf die Beine und marschierte im Geschwindschritt gegen den Feind. Wohin der Finger traf, da begegnete ihm jener kleinste, springende Vertreter des rüsseltragenden Geschlechtes, wohin sich das Haupt zur Ruhe bettete, da scheuchte es ein plötzlicher, scharfer Stich wieder auf, wohin die Gedanken eilten, da schreckte das Durcheinander von Tönen wieder in die unliebsame Gegenwart zurück; besonders ein großer, bunter Hahn von streitlustigem Aussehen, einen Fuß trotzig erhoben, den Kopf lauernd seitwärts geneigt und das Auge vor Bosheit funkelnd, erregte am meisten den Ärger der jungen Leute.

Rührte einer von ihnen Hand oder Fuß, dann hielt sich der Kammträger verpflichtet, mittels eines schallenden, langgedehnten Kikeriki diesen Hausfriedensbruch zu rächen, und sofort stimmten sämtliche Genossen in den Schlachtruf ein, wobei noch als besonderer Übelstand hinzukam, daß jedesmal ein anderer benachbarter Hahn diese Herausforderung als an sich gerichtet aufnahm und durch Heranfliegen das Duell eröffnete. Dieser alte Bursche, zerzaust und seiner Federn in mancher heißen Schlacht beraubt, mußte sich stark erkältet haben, denn er brachte es bei den Antworten, welche er gab, nur bis zu einem heiseren „Kück!“ — Dann schien seine Stimme zu versagen, und die Handlung trat an Stelle aller Neckereien. Gerade über den Köpfen der Gesellschaft sprangen die beiden Hähne gegen einander auf, zogen sich an den Schnäbeln gegenseitig so gewaltsam, daß nicht selten der Alte jählings auf das Blätterlager herabfiel, und schlugen sich mit den Flügeln, bis die unten Liegenden verzweiflungsvoll aufsprangen, um Staub und Federteilchen aus den Augen zu reiben.

„Soll ich ihn umbringen?“ fragte Franz, auf den hübschen, streitlustigen Hahn deutend, „der verrückte Kerl hält uns die ganze Nacht in Atem.“

Die Hand des Doktors hielt ihn zurück. „Franz, vergißt du, daß hart neben uns unter demselben Dache eine Leiche liegt?“ fragte er halblaut.

„Das ist wahr! — Still, du Schreihals.“

Ein Schlag mit dem Taschentuche verscheuchte den älteren Hahn in geziemende Entfernung, während der bunte lauernd auf dem Posten blieb und vor den Brutkörben seiner Damen Wache hielt; der Vogelkampf ruhte einen Augenblick, aber die Quälereien der Insekten dauerten fort, und der Gesang vom Totenzimmer her zerriß die Gehörorgane.

„Dewata-dugingang! — Dewata-dugingang!“ — Fast ohne Abwechselung, sich immer wiederholend, sangen die sechs Mädchen mit gedämpfter Stimme diese Silben, die in ihrer steten Folge ebensowohl ermüdend als aufregend wirkten, bis endlich Holm vorschlug, diese Stelle des langgestreckten Lagers zu verlassen und einige hundert Schritte weiter Erholung zu suchen. Sowohl der entsetzliche Totengesang als auch die Trompetenklänge des Hahnes mußten dort weniger empfindlich einwirken, man konnte vielleicht doch schlafen oder wenigstens die Augen schließen und ruhig daliegen. Der junge Gelehrte verband damit heimlich noch einen besonderen Zweck. Ihm war das Benehmen Bassars schon längst auffallend gewesen, er glaubte zu wissen, gleichsam zu fühlen, daß unausgesprochene Absichten den Alten zu dieser Expedition veranlaßt hatten, daß er irgend etwas im Schilde führte. Ihn zu beobachten schien daher höchst notwendig.

Und wirklich, als an dieser geschützteren Stelle einiger Schlaf auf die müden Augen sich herabsenkte, als alles ruhte, da sollte sich der gehegte Verdacht bestätigen. Bassar richtete vorsichtig den Oberkörper vom Lager auf, er sah umher, und nachdem ihn dieser Rundblick überzeugte, daß die Weißen schliefen, da wechselte er mit seinem Bruder ein kaum wahrnehmbares Zeichen und glitt auf leisen Sohlen hinüber in die jenseits des breiten Vorderraumes liegenden Familienwohnungen.

Was konnte er dort wollen? — Es waren nur Frauen anwesend.

Holm verbrachte mit geschlossenen Augen, regungslos horchend, eine qualvolle Viertelstunde. Die brennende Wachskerze qualmte und tropfte, allerlei fernes und näheres Geräusch traf das Ohr des jungen Mannes, der endlich, getrieben von folternder Ungeduld, den Kopf zur Seite drehte, um nur die Augen öffnen und in das hohle, dunkle Innere des Raumes hinaussehen zu können. Torio und die Söhne Bassars lagen ruhig, letztere schliefen sogar ganz fest; drüben im Frauengemache hinter den Matten tönten flüsternde Stimmen, leise Schritte wurden auf dem knarrenden, schwankenden Boden bemerkbar, — immer noch kam der Malaie nicht zurück.

In einem Augenblick drängte es den jungen Mann, die Genossen zu wecken und so schnell als möglich zu den Waffen zu greifen, schon schwebte auf seinen Lippen der Ruf „Verrat! Verrat!“ — dann aber fiel ihm wieder ein, daß ja doch noch nichts erwiesen sei, und daß vielleicht erst die ausgesprochene Beleidigung Feindschaft erregen konnte, — er wartete noch, obgleich ihm das Herz gegen die Rippen pochte, als habe er selbst ein Verbrechen begangen.

Endlich erschien der Malaie. Sein verschmitztes Gesicht trug den Ausdruck größter Zufriedenheit, er legte sich neben seinen Bruder auf die Streu und sprach lange und eifrig mit ihm; offenbar hatte er von den Frauen der Dajaks eine Nachricht erhalten, die ihn sehr befriedigte und die also mit den Weißen in keinem Zusammenhang stehen konnte. Holm atmete auf, aber er selbst schlief doch nicht eher, bis Bassars Atemzüge bewiesen, daß er wenigstens für den Augenblick durchaus keine verbrecherischen Absichten hegen könne. Irgend etwas ging vor, irgend etwas wurde heimlich geplant, davon war Holm überzeugt; er wollte also die Gelben unausgesetzt beobachten, namentlich dann, wenn irgend ein anderer Dajaksstamm erreicht war.

Den Rest der Nacht schliefen alle; die Malaien hatten schon das Frühstück fertig, als die Weißen herauskamen und die Nachwehen der schlechtverbrachten Ruhestunden in dem Anblick der dampfenden Kaffeekanne vergaßen. Diesmal hatte man die edlen braunen Bohnen vom Schiff in die Wildnis mitgenommen, Zucker und Milch gaben die Frauen, und so gelang es bestens, den kräftigenden Trank herzustellen. Eben wollte Franz die Lippen öffnen, um vom Aufbruch zu sprechen, als ein sonderbarer Zug seine Blicke fesselte. Voran gingen, in ihren klingendsten Putz gehüllt, der Liau und drei Bliangs, dann folgten vier Männer, die auf Bambusstäben eine Leiche trugen, ohne Zweifel die der jungen Frau, der die schauerliche Totenklage dieser Nacht gegolten; den Beschluß machten drei weitere Bliangs.

Wieder murmelte es von allen Lippen „Dewata-dugingang! Dewata-dugingang.“

„Ob das eine Beerdigung wird?“ raunte Hans. — „Wie unzart, nicht einmal das Gesicht der Leiche zu verhüllen.“

„Wir wollen mitgehen,“ ermunterte Franz. „Laßt uns doch die Sache mit ansehen!“

Holm fragte die Malaien, ob das erlaubt sei, und diese antworteten äußerst bezeichnend: „Wir nehmen unsere Waffen mit! Es sind ja keine Männer da.“

Und so folgte man aus anständiger Entfernung dem Leichenzuge, aber nicht etwa auf ein freies Feld hinaus, sondern mitten in den dichtesten Wald. Da wurde unter einigen breitästigen Bäumen Halt gemacht, die Leiche mit der Bahre zu Boden gesetzt, und nun begann eine seltsame, ganz stumme Szene. Die Männer — lauter Sklaven — zogen sich auf einen Wink des Liau etwas zurück, die Leiche erhielt ihren Platz inmitten eines geschlossenen Kreises, der mit einem Stock auf dem Moos bezeichnet war; dann vollführten die Bliangs und der Liau einen Tanz, bei dem jedes für sich den Körper wie Kautschuk verdrehte, sich hintenüber und vornüber beugte, die Haare zerzauste und die Arme in die Luft warf. Die Putzgegenstände rasselten und klapperten; immer toller, immer rasender wurde der Tanz, bis eine nach der anderen, die Bliangs und der Liau, atemlos wie vom Schlag gerührt zu Boden sanken. Damit war die Vorfeier beendet. Jetzt kamen die Sklaven, beluden sich mit Bahre und Leiche und fingen an, den nächststehenden Baum zu erklettern. Es war ein schauerlicher Anblick, so vom Rücken der braunen Gesellen das Totenantlitz dann und wann zwischen den Bäumen erscheinen zu sehen! Rings Blüten und Früchte an einem Zweig, flatternde Schmetterlinge und purpurrote Singvögel, rings Schönheit und reiches, üppiges Leben, — dazwischen, wie eine Mahnung an die Vergänglichkeit alles Irdischen, das fahlbleiche Gesicht mit dem gramvollen Zug um die Lippen, — die herabhängenden kleinen Hände.

„Gott im Himmel,“ fragte Hans, „was wollen denn die Leute mit der Toten da oben im Baumwipfel?“

Die Malaien wußten es wohl, und bald sahen es auch die Weißen. Auf der höchsten Höhe, über den letzten Zweigen wurde die Bahre befestigt und so die Leiche den Raubvögeln zum Zerfleischen preisgegeben. Nachdem die Hanfseile gehörige Sicherheit verhießen, stiegen die Sklaven wieder zur Erde, wo sich bei ihrem Anblick Liau und Bliangs wunderbar schnell von der früheren Ohnmacht erholten und in das Dorf zurückkehrten. Schon jetzt verriet ein Krächzen über den Wipfeln, daß die geflügelten Räuber ihre Beute in Empfang genommen hatten.

„Das Skelett wird späterhin beerdigt,“ erläuterte Bassar, „aber nicht eher, bis alles Fleisch verzehrt ist, so will es die Sitte. Andere Stämme verbrennen ihre Toten, ebenso gibt es einige, die sie durch Räuchern mit bestimmten, nur dem Liau bekannten Kräutern zu Mumien dörren und verwahren. Diese Art der Bestattung ist die häufigste.“

Der Doktor schüttelte den Kopf, als ihn Holm am Arm fortzog. „Ist es denn nicht empörend, da oben die Tote unter den Fängen der Geier zu wissen?“ fragte er.

„Sie fühlt’s ja nicht!“ begütigte der junge Gelehrte. „Und dann — mir hat der Gedanke an das Grab mehr Schrecken als der eines so schnellen Zerfallens in tropischer Luft. Kommen Sie, — ob hoch oben im freien Blau oder tief unter dem Boden, — zu Erde wird, was von ihr stammt, nach Gottes Gesetz überall. Wenn mich etwas empört hat, so war es der tolle Tanz um die Leiche herum. Heda, Bassar, sagen Sie uns doch, ob nun im Dorfe noch eine Fortsetzung der Feier stattfindet?“

Der Malaie nickte. Er selbst war, wie alle ansässigen Glieder seines Volkes, Mohammedaner und hielt sich daher über das Heidentum der Dajaks hoch erhaben. „Diesen Leichenschmaus sollten Sie aber lieber nicht mit ansehen,“ riet er, „das ist ein greuliches Gelage, bei dem die Bliangs und der Liau so viel Opium rauchen und Tuach-Katan (Arrak) trinken, bis sie in Raserei verfallen und dem leichtgläubigen Volke vorspiegeln, daß die Götter, nur ihnen sichtbar, mit am Tische säßen. Sie schreien, bekommen Krämpfe und Verzückungen, kurz es wird ein arger Skandal.“

„Den wir nicht mit ansehen wollen!“ erklärte Holm. „Besser in den grünen Wald hinaus, als zu solch einem Gaukelspiel, von dessen Lügeninhalt seine Vertreter ganz genaue Kenntnis haben. Lassen Sie uns nur schnell noch etwas Geld verteilen und unsere Sachen aufpacken, dann geht’s fort. Sie kennen ja die Richtung, welche wir einschlagen müssen?“

Bassar nickte. „Zunächst ist es doch den Herren daran gelegen, einen wandernden Stamm in seiner Häßlichkeit zu sehen, nicht wahr? Nun, für diesen Zweck müssen wir am Flusse hinunter in das Thal zwischen jenen Gebirgszügen gehen. Da weiden die Mankeian.“

Wieder sah Holm in den falschen Zügen jenes Aufblitzen, das Lauern und den glühenden Haß, der so oft darin auftauchte. Ob Bassar bei den Angehörigen der Mankeian irgend einen Feind hatte, den er herausfordern wollte?

Sie verstanden einander offenbar alle fünf, die Männer mit den niederen, umbuschten Stirnen und dem verschmitzten Aussehen; Holm hätte nicht eingewilligt, gerade die Mankeian zu besuchen, wenn nur das Verbot durchführbar gewesen wäre; aber wie sollte er in der unbekannten Wildnis irgend einen Pfad bezeichnen, wie einen Stamm von dem anderen unterscheiden? — Zu aller Sicherheit nahm er den Malaien beiseite. „Gestehen Sie mir’s, Bassar, bei den Mankeian haben Sie irgend einen alten Streit auszufechten, irgend einen Handel, den Sie uns verschweigen! — es lebt unter diesem Stamm ein Mann, dessen erbitterter Feind Sie sind?“

Bassar hob die Hand zum Himmel. „Bei Allah und seinem Propheten,“ sagte er in feierlichem Tone, „die Mankeian sind meine Freunde. Der Stamm kommt zuweilen an die Küste und tauscht Edelsteine oder Gold gegen Kleider und Schmucksachen, ich kenne den König sowie viele Männer aus dem wandernden Volke, — ein Feind ist nicht darunter.“

Das wurde mit jenem überzeugenden Tone vollkommenster Wahrheit gesagt, das schien eine bestimmte, unwiderlegliche Thatsache; Holm konnte also nur einwilligen, den Zug anzutreten, im stillen aber dachte er einmal über das andere „du lügst doch! unausgesprochen, verdreht und umschrieben vielleicht, — Lüge ist’s doch!“

Dies Bewußtsein trug nicht dazu bei, die Stimmung, in welcher er sich befand, zu verbessern; erst als das Dorf weit hinter der kleinen Schar zurückgeblieben war und dadurch die letzten, noch halb und halb schwebenden Fragen erledigt, da that wie immer im Leben die vollendete Thatsache das Ihrige, um ihn ruhiger werden zu lassen. Nur langsam drang der Zug vor in die grüne Wildnis, einesteils der gehäuften Hindernisse und anderseits der brennenden Hitze wegen; alle Weißen hatten auf den Rat der Führer im Nacken ein herabhängendes Stück Leinen nach Art unserer Kohlenträger befestigt, die Strohhüte mit breiten Rändern beschatteten das Gesicht, und hoch heraufgehende Stiefel erlaubten den Weg über das dichte Rankengeflecht mit seinen zahllosen kriechenden, stechenden und zum Teil giftigen Bewohnern. So üppig wie hier war ihnen der Pflanzenwuchs nirgends entgegengetreten, dafür aber auch das Durchdringen desselben nirgends so schwer gewesen; Affen, in ungeheurer Anzahl und zu ganzen Gesellschaften vereinigt, bevölkerten die Bäume, Paradiesvögel hüpften, auf Java so selten, hier von Zweig zu Zweig, große Orang-Utangs, mit Baumästen bewaffnet, versuchten es, den Eindringlingen ihre entlegene waldige Heimat streitig zu machen und konnten nur durch ein paar Büchsenschüsse zur Umkehr bewogen werden.

„Haben die Mankeian nur einen Weideplatz?“ fragte wie zufällig Holm.

„Mehr als hundert,“ versetzte unbefangen der Malaie, „wir können daher ganz sicher sein, wenigstens einen anzutreffen. Morgen oder übermorgen sind wir da.“

„Wenigstens hundert!“ wiederholte sich Holm, „und alle diese Leute wandern. Sollte der Schurke in Erfahrung gebracht haben, wo gerade die Familie lebt, bei der er Rache sucht? Unmöglich!“

Und von diesem Gedanken beinahe beruhigt, half er am Abend das schwebende Lager herrichten und die Mahlzeit bestellen wie gewöhnlich. Eine der zahllosen, das gesegnete Land durchziehenden Wasseradern plätscherte über Kiesel und Sand dahin, schöne Schwimmvögel bauten an den Ufern ihre Nester, Fische glitten durch das klare, blaue Element, und große Schildkröten lagen träge im letzten Sonnenschein. Es war den Malaien gelungen, einen Hirsch zu schießen, Früchte hingen von allen Zweigen, Gemüse verschiedenster Art wuchs genug, um ganze Bataillone zu sättigen, prachtvolle Ananas wuchsen in den feuchten Niederungen; es häuften sich also die seltensten und teuersten Delikatessen, um diese Abendmahlzeit zu würzen, selbst frische Eier fehlten nicht; nur das Tafelgerät war äußerst unzureichend und sparsam, Blechteller, Blechlöffel, ein paar Gabeln und Pfannen nebst dem Messer, welches jedermann in der Tasche trug, das war alles. Im heißen Aschenhaufen mußten die Eier kochen, die Schildkrötensuppe blieb ungeschäumt, das Rückenstück vom Hirsch ließ die Kartoffeln schmerzlich vermissen, und das Gemüse hätte mit Butter noch weit besser als mit Hirschfett geschmeckt; aber dennoch mundete es allen vortrefflich, und auf die fatale Nacht im Dajakshause folgte hier unter freiem Himmel, an schwankenden Zweigen, ein herrlicher, durch nichts gestörter Schlummer, der bis zum Morgen währte.

Dann aber kamen Prüfungsstunden. Es mußte ein tiefes Thal durchwandert werden, eines jener sonderbaren, auf Borneo vielfach vorkommenden Gebiete, welche während der Regenzeit unter Wasser stehen und kleineren oder größeren Meerbusen gleichen, späterhin jedoch austrocknen und einen sehr fruchtbaren Boden abgeben. Gerade jetzt war die entstandene Schlammschicht vielleicht noch einige Zoll tief; braun und unbeweglich, Blasen treibend, von glühender Sonnenhitze überhaucht, lag die weite Fläche wie ein deutsches Moor, einsam, nur von wenigen Raubvögeln besucht und zuweilen von aufsteigenden Gasen unangenehm durchzogen, dem Auge endlos und öde erscheinend da; dennoch aber mußte man hinüber, — hinter den Bergen, die dort vom blauen Duft verhüllt ihre Häupter erhoben, wohnten ja die Mankeian, und diese zu erreichen war das nächste Ziel. Bassar prüfte, als Anführer des Zuges, zuerst den unsicheren Boden. Die Schlammschicht schien nicht mehr gefährlich, man konnte sie ohne Bedenken betreten. Es wurden also große Wanderstäbe geschnitten, alles Gepäck auf den Rücken geschnallt, die Hüte so tief als möglich herabgezogen und dann in Gottes Namen der wenig verlockende Marsch begonnen. Überall traf der Fuß den toten, ausgedörrten Körper solcher Tiere, welche während des täglichen Regenfalles hier in hoher Flut lustig geplätschert und sich wohlbefunden, aber später, als das Wasser plötzlich ablief, den Rückweg zum eigentlichen Strome nicht mehr gefunden hatten. Kleine Schildkröten, Krebse, Muscheln, Schnecken, sogar ein halbwüchsiges Krokodil und zahllose Wasserkäfer, deren einige noch bemüht waren, im zähen Schlamm mühsam kletternd das Leben zu fristen, und die als willkommene Beute den Botanisierkapseln der Forscher anheimfielen. Binnen wenigen Wochen würde üppiges Grün den Boden bedecken, sagten die Führer; für jetzt aber sproßte noch kein Halm, kündigte kein kleinstes Keimchen das verborgene, der Auferstehung harrende Leben. Es war schwer, mit dem Fuß in der weichen Masse einen festen Halt zu gewinnen, es war schwer, ihn wieder herauszuheben, die langen Stöcke mußten einmal über das andere helfen; von allen Stirnen rann der Schweiß, aller Glieder waren todmüde, ehe noch die Hälfte des Weges durchmessen worden, und dennoch gab es kein Plätzchen zum Ausruhen, dennoch konnten nur stehend die mitgebrachten Erfrischungen eingenommen werden, indes die Sonne auf die Köpfe ihre glühenden Strahlen senkrecht herabsandte und unter den Füßen im Schlamm allerlei böse Miasmen erzeugte. Zuweilen tönte der heisere Schrei eines Raubvogels, sonst unterbrach kein Laut die tiefe, beinahe grauenvolle Stille; es war, als sei dies Thal der Vorhof zur Unterwelt.

„Noch zwei Stunden,“ tröstete Bassar, „dann ist’s hinter uns gebracht.“

S. 312.

Die Wanderung durch das Schlammfeld.
„Und wieder pilgerten die Wüstenfahrer den voranschreitenden Gelben nach.“

Und wieder pilgerten die Wüstenfahrer den voranschreitenden Gelben nach, einer den anderen ermutigend, so gut es gehen wollte, heimlich jeder fürchtend, daß diese Aufgabe doch alle Kräfte übersteigen werde. Der einzige Trost blieb jenes blaue Gebirge, das allmählich anfing, in deutlichere Formen überzugehen. Man sah Wald und kahle, vulkanische Kegel, das Grün der Bäume trat hervor, stille, liebliche Thäler, jähe Felsstürze und Wasserfälle öffneten sich dem Blick; eine Herde schöngezeichneter Büffel graste an den Abhängen, die Vogelwelt, die alles bezaubernde, farbenprächtige, war zum Leben erweckt und endlich auch das braune, grauenhafte Schlammfeld überschritten, — der Fuß betrat wieder üppiges Gras, balsamische Luft umfächelte die Stirn und Blumen über Blumen spendeten ihren süßen Wohlgeruch.

Sie warfen sich in das wallende grüne Blätterlager, wo es sich jedem zunächst bot, sie wollten nur ruhen, ruhen um jeden Preis. Aller Hunger war vergangen, die Mahlzeit der Malaien blieb unberührt, ein mehrstündiger Schlaf erst stellte das Gleichgewicht zwischen Verbrauch und Kräften wieder her. Und danach ein Bad! ein Bad unter dem sprudelnden, silberhellen Fall! — Sie bemerkten nicht, daß selbst das Wasser lauwarm geworden war auf seinem Wege durch die äquatoriale Sonnenglut; sie fühlten nur, wie es über ihre steifgerüttelten, schmerzenden Glieder lebenspendend herabträufelte und den letzten Rest von Mattigkeit glücklich entfernte, — jetzt konnten auch das kalte Fleisch und die Früchte zur Anerkennung gelangen; mit wahrem Wolfshunger fielen alle darüber her.

Hinter ihnen lag unübersehbar das Schlammfeld, ganz in der Nähe zeichneten sich noch am Rande desselben die Fußspuren der Wanderer deutlich ab, — nicht für Schätze hätte ein einziger unter ihnen, die Malaien ausgenommen, nochmals das tote, verödete Reich durchwaten mögen; der Doktor gestand sogar, daß er mehr als einmal im Begriff gewesen sei, sich fallen zu lassen und das Ende zu erwarten; selbst die Knaben schauderten, nur der Malagasche fand die Sache nicht so schlimm. „Wenn jenseits des Thales meine Heimat läge,“ sagte er leise, „dann ginge ich hin und wieder her in einem Atem, um sie zu sehen, wär’s auch auf Augenblicke!“

Franz nickte. „Ich auch!“ rief er. „Sähe ich von hier den Michaelisturm von Hamburg, ich könnte die Arme ausbreiten und laufen — laufen — bis ich ihn erreicht hätte.“

Der Doktor schüttelte den Kopf. „Ich thue nicht mit!“ lächelte er. „Die Sechzig machen sich heute nach der beschwerlichen Wanderung doch fühlbar. Wollen wir hier rasten, Kinder?“

Alle waren einverstanden, und die Hängematten wurden aufgeschlagen. Am frühen Morgen begann der Weg über das Gebirge, dazu mußten die Reisenden ihre Kräfte schonen.

War das Wandern im Schlamm eine mühevolle Arbeit gewesen, so konnte auch das Ersteigen des Gebirges eine solche genannt werden, nur daß es hier Ruhepunkte in Hülle und Fülle gab, und daß überhaupt die Schönheit des Weges seine Beschwerden nicht wenig milderte. Dajaksdörfer fanden sich auf diesem Höhenzuge nicht; wohl aber brachten die Reisegefährten einen ganz unerwarteten kleinen Gast, einen Orang-Utang von vielleicht drei oder vier Monaten, mit hinunter in das Thal zu den Mankeian. Bassars Kugel traf die Mutter, als sie von einem Baume herab in Ermangelung anderer Waffen mit Nüssen warf, und das Kleine stürzte aus ihren Armen köpflings ins Gras. Die dichte Blätterschicht ließ es unversehrt ankommen, und nun trugen die Männer abwechselnd das kleine Geschöpfchen, um ihm womöglich unter den Haustieren der Dajaks eine Pflegemutter zu finden. Holm wollte es aufziehen und mit nach Europa bringen.

Im Thale lagen unzählige Hütten aus Gras und Mattengeflecht, dicht gedrängt in langen Reihen, jede auf Pfählen und jede spitz wie ein Bienenkorb; daneben Hürden für das Vieh, Büffelkühe, Bergschafe, Schweine und Geflügel und an einer Seite bebaute Felder, an der anderen dagegen verschiedene rohe Werke von Holz, die auf Goldwäscherei schließen ließen. Ein breiter, aus dem Gebirge herabfallender Fluß begrenzte die Niederlassung, deren ganze Ausdehnung die Reisenden nicht überblicken konnten. Jedenfalls hatten sich mehrere der wandernden Züge hier zusammengefunden, es schienen nicht weniger als tausend bis zweitausend Köpfe unter diesen Laubdächern zu wohnen.

Holm legte ungesehen von den übrigen die Hand auf Bassars Achsel. „Da wären wir nun am Ziel,“ sagte er mit leisem, eindringlichem Tone, „versprechen Sie mir, den Frieden dieser Hütten zu ehren, Bassar? wollen Sie da unten keinerlei Zwist oder Hader ausfechten?“

Der Malaie vermied es, ihn anzusehen. „Die Mankeian sind meine Freunde,“ versetzte er, „ich habe Ihnen das schon einmal mitgeteilt, Sir.“

Gerade diese Worte waren es indessen, die Holm hören wollte. „Gut, Bassar,“ beharrte er, „das freut mich ja, aber dennoch möchte ich von Ihnen eine bestimmte Antwort erlangen. Sehen Sie einmal ab von den Mankeian und versprechen Sie mir, mit niemand, er sei wer er wolle, Streit anzufangen.“

Ein ärgerlicher Blick des Führers streifte den seinen. „Das hat keinen Sinn, Herr,“ antwortete er in einem Tone, den er sich bis jetzt niemals erlaubt hatte, „und das ist auch meine Sache allein. Lebe ich, so bringe ich Sie wohlbehalten an das Schiff zurück, — sterbe ich, dann thun das meine Söhne und mein Bruder. Mehr haben Sie nicht zu verlangen.“

Das war deutlich; Holm fragte nicht weiter, aber er hielt es jetzt für notwendig, den übrigen seine Besorgnisse mitzuteilen. Demgemäß wurde einstimmig beschlossen, sich den Dajaks gegenüber möglichst zurückhaltend zu benehmen und den ganzen Besuch auf einen Tag und eine Nacht zu beschränken. Also auch Bassar und Torio waren in ihrer Weise Verräter, man konnte den Malaien unter keiner Bedingung trauen! — Papa Witt behielt recht, wenn er sagte: man muß die gelben Halunken prügeln, das ist das beste. —

In den Herzen aller Weißen regte sich lebhaft das Verlangen, den schlechten Streich der Führer zu bestrafen. Um ihrem Rachegelüst zu genügen, hatten sie die wehrlose Schar der Reisenden auf beinahe unzugänglichem Pfade in das Herz der Wildnis gelockt, ohne sich darum zu bekümmern, welcher Nachteil, welche Lebensgefahr daraus erwachsen würden, — das war nicht minder schändlich als die Betrügerei der Javanen, deren Geldgier sie bewog, die Fremden unter Tigern und Rhinozerossen schutzlos zu verlassen.

Der alte Theologe predigte Ruhe und Besonnenheit. „Noch haben wir nur Vermutungen, Kinder! Seid also auf eurer Hut, aber nicht voreilig im Urteil. Vielleicht endet das alles viel besser, als wir jetzt zu hoffen wagen.“

Holm seufzte. „Dem Panglima und dem Liau dieses Dorfes müssen wir bedeutende Geldgeschenke machen,“ riet er, „ich würde auch vorschlagen, ihm die Pistolen zu Füßen zu legen und das eine oder andere Taschenmesser, obgleich sich die Leute selbst Waffen schmieden. Mir ist, um es rund heraus zu gestehen, diesmal die Sache sehr unbehaglich.“

„Kommt nur,“ drängte Franz, „kommt nur, der Besuch bei dem Panglima ist das Notwendigste.“

Und so zogen sie denn aus, um in der Mitte des Dorfes den Heerführer in seiner Hütte zu begrüßen. Mehrere Männer gaben ihnen das Geleite, überall auf den Dorfstraßen wimmelte es von nackten, schwarzhaarigen Gestalten, die lebhaft, wie etwa bei uns Franzosen oder Italiener, durcheinander schwatzten, schnelle, leichte Bewegungen vollführten und mit blitzenden Augen um sich sahen. Sie schienen heiter, liebenswürdig und freundlich zu sein, aber sehr heftig und von leidenschaftlicher Gemütsart.

Der Panglima zeigte sich inmitten einer Schar bewaffneter Krieger, die alle lange Bambusspieße mit Stahlspitzen und Bogen mit vergifteten Pfeilen trugen. Er war ein Greis von gewiß sechzig Jahren, dem heißen Klima gemäß aber nicht etwa ein alter, wohlerhaltener Mann, sondern schneeweiß mit pergamentfarbenem Gesicht und erloschenem Blick. Seine Hände stützten sich auf einen schlanken, feueräugigen Knaben, seinen Enkel; er empfing mit der ganzen Herablassung eines Fürsten die fremden Reisenden und ließ ihnen in der offenen Hütte eine Mahlzeit aus Hirschbraten, Tuach-Katan und Reis auftragen, auch schlug er es aus, die gebotenen Geldgeschenke zu nehmen. „Die Mankeian sind nicht arm,“ sagte er. „Beseht immerhin ihr Land, jagt den großen Affen und den Paradiesvogel, wenn ihr dergleichen Geschöpfe zwischen euren Heimathütten nicht besitzt, aber behaltet euer Geld. Nigura ist ein großer Kriegsherr, er braucht sich nichts schenken zu lassen.“

Sein matter Blick streifte dabei die abgeschnittenen Köpfe über dem Eingang, als nähme er vor diesen Zeugen bewiesener Tapferkeit den wohlverdienten Ruhm in Anspruch. „Es ist kein Weißer darunter,“ fügte er bei, „auch kein Mann meines eigenen Volkes, das alles sind die Köpfe der Erbfeinde meines Landes, der Malaien.“

„Und du selbst hast diese Menschen getötet, großer Panglima?“ fragte Holm.

Der Greis nickte. „Die Köpfe, welche du hier siehst, sind mein, Fremdling. Jeder meiner Söhne hat eben soviele, ja sogar dieser Knabe, mein Enkel, besitzt schon den Kopf eines Malaienknaben von seinem eigenen Alter, — nicht wahr, Omaha?“

Der junge Bursche sah voll Stolz von einem der Besucher zum anderen. „Ich will auch Panglima werden!“ übersetzte der Dolmetscher seine Antwort ins Englische.

Holm schenkte ihm eine Taschenpistole, die der Knabe mit einem Freudenschrei empfing und vor Entzücken einmal über das andere küßte. Er wolle damit hundert Malaienschädel zerschmettern, versicherte er.

Holm näherte sich dem Panglima. „Unsere Führer sind, obwohl von dem dir verhaßten Volke stammend, doch in deinem Dorfe ihres Lebens sicher, nicht wahr, König Nigura?“ fragte er. „Wir besitzen einen Schutzbrief des holländischen Statthalters, der euch befiehlt, uns und die Malaien ungehindert zu lassen, willst du den respektieren, oder verlangst du, daß wir dein Gebiet meiden?“

Der Greis lächelte. „Wer ist der holländische Statthalter?“ fragte er in geringschätzigem Tone. „Womit will er Nigura, den großen König der Mankeian, zwingen, seinen Fetisch zu achten oder seine Freunde zu beschützen? Wenn es mir beliebt, lasse ich eure und die Köpfe der gelben Diebe über meine Thüre nageln, der holländische Statthalter kann mich daran nicht hindern, aber ich schenke euch Freiheit und Leben, weil kein Mankeian seine Gäste beleidigt, und wären es selbst Malaien. Ihr wohnt in unseren Hütten, ihr eßt an unseren Tischen, so lange es euch beliebt.“

Damit schien er die Audienz beenden zu wollen, man erhob sich also, um im Vorraum zu speisen, bei Gelegenheit des Abschieds aber fragte Holm noch wie zufällig, ob denn nur die Mankeian oder sonst noch ein anderes Volk in diesem Thale wohnten.

„Die Punan,“ hieß es, „ein armer Stamm, der Getreide baut und sich mit den Affen um die Ernte streitet. Der Goldfluß gehört den Mankeian.“

Die kleine Schar wechselte bezeichnende Blicke. Also die Punan waren es, welche Bassar aufsuchen wollte, und daß er als Gast bei den Goldwäschern unverletzlich sei, hatte der Gauner jedenfalls auch recht gut gewußt. Mochte er jetzt thun und lassen, was ihm beliebte, das Wort des Panglima schützte die Weißen vor aller Gefahr.

Der Hirschbraten, das Lendenstück vom Büffel und das erbsenartige Gemüse waren gut zubereitet, der Tuach-Katan wärmte äußerst angenehm den Magen, und die Früchte, welche von allen Seiten herbeigebracht wurden, schmeckten vorzüglich; nach Tisch besahen die Weißen den Fluß, der das Gold im Sande mit sich führte, Holm kaufte eine Handvoll unausgewaschenen, von den gelben glitzernden Spuren durchzogenen Flußsandes; der Dolmetscher mußte, um alles erklären und übersetzen zu können, bei der Gesellschaft bleiben, und so verging ein Abend und eine Nacht, ohne die geringste Störung zu bringen. Interessante Pflanzen und Insekten wurden gesammelt, die Dorfbewohner zeigten sich äußerst zuvorkommend, überall fanden die Weißen gedeckte Tische und willige Hände, auch der kleine Orang-Utang hatte an einer Schafmama eine gutmütige Ernährerin erhalten; man veranstaltete Kampfspiele und Wettfahrten in schmalen, selbstgebauten Booten, den Fremden zu Ehren. Diesem ganzen Treiben aber hielten sich die Punan durchaus fern. Es kam kein einziger von ihnen in das Dorf der Mankeian, wie denn auch die fünf Malaien sich hüteten, ihrerseits das Gebiet der Punan zu betreten; Holm hatte das sehr bald entdeckt, obgleich Bassar achselzuckend die Sache für Zufall erklärte.

Am Abend des zweiten und letzten Tages, nachdem Schmetterlinge, Vögel, Käfer und selbst kleine Vierfüßler in Menge erlegt worden, nachdem man das Leben der Dajaks aus nächster Nähe kennen gelernt hatte, — wurde zur Abreise gerüstet. Das Gepäck war geordnet und für den kleinen Affen eine Ziege gekauft, man hatte sich vom Panglima verabschiedet und Geschenke gemacht und erhalten; die Umgebungen des Dorfes waren aufgenommen, kurz alles wider Erwarten gut abgelaufen; die Weißen mit dem Dolmetscher und den Malaien schliefen oder schienen doch zu schlafen; denn in der That wachten die Gelben und auch der junge Gelehrte. Holm hatte ein verdächtiges Flüstern gehört; er fühlte eine geheime Unruhe, die ihn hinderte, sich dem Schlummer hinzugeben.

Bassar reckte das Haupt. Sein Blick durchdrang die Dämmerung der tropischen Nacht, sein Ohr horchte. Alles still! — Er winkte den übrigen. Torio und die drei jungen Leute mußten dies Zeichen bereits erwartet haben; wie Schatten glitten sie an des Führers Seite, und alle fünf nahmen langsam schleichend, an den Weißen vorüber, den Weg zum Ausgang der Hütte. Holm sah jede Bewegung, — sollte er Einhalt gebieten, sollte er fragen, wohin?

Noch zauderte er. Was konnte ihm die Einmischung nützen? Bassar würde seine Absichten ausführen, ob er sie mißbilligte oder nicht, das war sicher.

Jetzt hatte schon der erste den Thürvorhang erreicht, Holm streckte die Hand aus, um zunächst den Dolmetscher zu wecken, da plötzlich wurde von draußen die Matte hinweggezogen, heller Fackelschein verbreitete sich über das Innere der Hütte, und wenigstens zwanzig Dajaks, mit Spießen und großen Messern bewaffnet, erschienen auf der Schwelle.

Die Aufregung, welche sich während der nächsten Minuten jedes einzelnen Herzens bemächtigte, läßt sich nicht schildern. Nur der Dolmetscher blieb kaltblütig, er schien sehr wohl zu wissen, was da im Entstehen begriffen war, und dachte vielleicht, um seiner Unentbehrlichkeit willen von den Weißen nur noch mehr Geld erpressen zu können. Es gab ja im ganzen Dorfe keinen zweiten, der die einheimische und die englische Sprache gleich geläufig beherrschte, man brauchte ihn notwendiger als jemals.

Aufspringend gleich allen anderen, übersetzte er, was gesprochen wurde.

Ein älterer Dajak, die Stirnbinde um den Kopf, den handbreiten Lendenschurz als einziges Kleidungsstück am braunen, wetterharten Körper, mit düsterem Blick und erhobener Hand trat dem Anführer der Malaien entgegen. Sein Zeigefinger berührte die Brust des Gelben. „Kennst du mich, Bassar, Sohn Hawalles?“ fragte er in feierlichem Tone.

Der Malaie hatte ihn seit dem Augenblick seines Eintretens unverwandt angesehen. Das gelbe Gesicht wurde fahl, in dem Blick des verschmitzten lauernden Auges spiegelte sich ein furchtbares Erschrecken, die ganze Haltung zeigte das offenbarste Schuldbewußtsein. Hinter ihm zischelten und flüsterten die übrigen so leise, daß es dem Dolmetscher unmöglich war, ihre Worte zu übersetzen.

„Kennst du mich?“ wiederholte der Dajak seine frühere Frage.

Bassar schien sich einigermaßen gefaßt zu haben. „Nein!“ antwortete er in rauhem, abweisendem Tone, „nein, ich kenne dich nicht, habe dich nie im Leben gesehen. Gib Raum, was willst du von mir?“

Aber der andere stand unerschütterlich. „Du kamst hierher, um den Stamm der Punan mit Krieg zu überziehen, Bassar,“ fuhr er fort, „du wolltest die Köpfe der Männer holen, deren Großväter einst im Kampfe um den Besitz der Küste deine Vorfahren erschlagen, du wolltest vielleicht sogar ihre jungen Kinder mit dir führen in die Sklaverei der Kohlenbergwerke, aber Dewata-Dugingang sah deine falsche Absicht und lenkte die Schritte der Rächer hierher in dies Thal. Ich bin Solani, der Sohn Alteis, kennst du mich noch nicht?“

Bassar umklammerte krampfhaft den Kolben seiner Büchse. Nur der Hinblick auf die vergifteten Pfeile der Dajaks hielt ihn ab, von der Schußwaffe sofort Gebrauch zu machen. „Was willst du von mir?“ fragte er wieder.

„Deinen Kopf!“ entgegnete düster der Wilde. „Entsinnst du dich des Tages, wo du mit deinen Spießgesellen einbrachst in das unbeschützte, entlegene Dorf der armen Hirten, wo du die Mädchen und Knaben in die Sklaverei schlepptest und das Eigentum der Alten stahlst? — Mein Vater verteidigte seine Hütte, seine jungen, blühenden Töchter, die du in Spielhäuser und an tyrannische Herren verkauft hast, er fiel von deiner verruchten Hand, er mußte seine Kinder dahingeben, ohne sie retten zu können, denn deine teuflische List hatte den Überfall ausgeführt, als die jungen Männer des Stammes abwesend waren, — jetzt gib dafür, was dein ist, dich selbst und die Söhne, welche dir gefolgt sind, ebenso den andern Mann aus deinem Raubtiergeschlecht, deinen Bruder.“

Bassar trat zurück. „Du lügst!“ schrie er wild, „du lügst!“

Holm näherte sich dem Dajak. „Laß ab von deiner Rache, Freund Solani,“ sagte er überredend. „Wir wollen dir eine große Summe Geldes geben, wenn du uns unbehindert unseres Weges gehen läßt.“

Der Dajak schüttelte den Kopf. „Kaufst du mit deinem Gelde das Leben Alteis zurück, weißer Mann?“ fragte er, „kaufst du die Verzweiflung seiner Kinder, die in Kohlengruben und unter den Peitschenhieben grausamer Gebieter elend zu Grunde gingen? — Das war Solanis Vater, das waren seine Schwestern und Brüder!“

Holm klopfte die Schulter des Erregten. „Nein, Solani, nein,“ sagte er eifrig. „Du bist in den Deinigen unheilbar gekränkt und verletzt, aber was nützt es dir, wenn du jetzt einen Mord begehst? Wird dadurch die Sache besser?“

Der Dajak neigte den Kopf. „Ja!“ gab er einfach zurück. „Der Ermordete schläft nicht, bis der Mörder bestraft wurde, und wäre es erst nach vielen Ernten (der einzige Begriff der Zeitrechnung bei den Wilden auf Borneo!), ja wäre es erst in seinen Ur-Urenkeln. Bassar nimmt meinen Kopf, oder ich nehme den seinen! — komm heraus, Sohn Hawalles!“

Der alte Theologe hob die Hand zum Himmel, von dem Mond und Sterne so friedlich herabsahen auf die Greuel des Hasses, welche sich da unten vollzogen. „Verblendete,“ rief er in eindringlichem Tone, „laßt ab von euren abscheulichen Plänen, euren wahnwitzigen Folgerungen! Die Toten bedürfen keiner Erdenhilfe mehr, die Blutrache ist vor Gott eine Todsünde!“

Auch das übersetzte der Dolmetscher, aber ohne damit Eindruck zu machen. „Komm!“ wiederholte Solani, und als Bassar keine Folge gab, entstand ein Handgemenge, bei dem sich zwar die Weißen zu gunsten ihrer Führer beteiligten, woraus aber die Dajaks nach kurzem Ringen als Sieger hervorgingen. Immer mehr Kopfjäger drängten nach, die Weißen wurden abgeschnitten zwischen ihnen und den Dajaks bildete sich eine dichte Mauer, die Malaien befanden sich draußen und in der Gewalt ihrer Gegner, ehe noch wenige Minuten vergingen.

Vor der Hütte hatten sich Hunderte versammelt, teils Punan, teils Mankeian, sie wußten offenbar alle, um was es sich hier handelte, keiner von ihnen streckte die Hand aus, um das beabsichtigte Verbrechen zu hindern.

Als sich die Weißen in der verlassenen Hütte allein sahen — nur der Dolmetscher war geblieben! — da erfüllte ein einziger Gedanke die Seele aller. Zum Panglima! er mußte Hilfe schaffen.

Die königliche Behausung war bald erreicht und der alte Nigura aus dem Schlaf erweckt. Ein paar Kienspäne sandten ihre flackernden Lichter, ihre dichten, blauen Rauchwolken zum Himmel empor; im Gras zirpten und huschten glänzende Insekten die Blüten dufteten stärker, der Mond spiegelte sein lächelndes Antlitz im Flusse, und über den Himmel eilten im schnellen Fluge schimmernde Sternschnuppen.

So tiefer, tiefer Schöpfungsfriede, so stille, träumende Mondnacht, — und in nächster Nähe mordete der Mensch den Menschen, wurden einem furchtbaren Irrwahn blutige Opfer gebracht, starben in diesem Augenblick fünf Männer wehrlos unter den Fäusten eines ganzen erbitterten Stammes.

Der Doktor eilte allen voraus dem alten König der Mankeian entgegen. „Panglima,“ rief er, „hilf uns, hilf uns, man mordet die Malaien, denen du Schutz zusagtest.“

Der Greis schüttelte den Kopf, auch er wußte offenbar alles. „Das thun nicht die Mankeian, Fremder,“ versetzte er, „sondern die Punan, und diese sind im Recht. Bassar wollte hieher kommen, um eine uralte Fehde, einen Kampf der ersten Besitzer mit den ersten Eindringlingen, für sich auszubeuten, indem er, gestützt auf die Gastfreundschaft der Mankeian und euern Beistand, ein paar junge Leute in die Sklaverei entführte; es traf sich aber, daß bei den Punan ein anderer Stamm weilte, und daß unter diesen ein Mann lebte, dessen ganze Familie jener Malaie aus Habsucht ins Verderben stürzte, — das ahnte der Schuldige nicht, er würde sich sonst gehütet haben, die Rache herauszufordern! Im Augenblick, als Bassar aus den Hütten der Punan seine Opfer stehlen wollte, sandte Dewata-Dugingang den Sohn Alteis, — ich kann nichts thun, um ihn an seinem gerechten Vorhaben zu verhindern. Nur für eure Sicherheit werde ich sorgen.“

Der Doktor hatte mehrfach versucht, den alten Häuptling zu unterbrechen. Jetzt, als er schwieg, ergriff er dessen Hand. „Ich bin ein Liau, Panglima,“ sagte er, mit innerem Widerstreben seinen heiligen Stand in der Weise dieser Barbaren bezeichnend, „ich bin ein Liau, und als solcher frage ich dich, ob du glauben kannst, daß Dewata-Dugingang den einen seiner Söhne erschaffen habe, damit er den andern morde? Ist das vernünftig, ist das gut und erlaubt?“

„Nicht immer, Fremder, und nicht wenn der eine des anderen Genosse, oder wenn er ihm ganz unbekannt ist, wohl aber, sobald sich der Dajak und der Malaie gegenüberstehen. Es ist den Göttern wohlgefällig, daß wir den gelben, falschen Stamm ausrotten, das Gleiche lehren auch die Liaus deines Volkes, Fremder! Nigura ist ein großer König, er hat viele Küstenländer besucht und mit den weißen Seefahrern Handel getrieben; er hat gehört, daß auch in ihren Hütten Feindschaft entbrennt, so oft ein Stamm den anderen überfällt.“

„Aber das ist etwas durchaus anderes, Panglima! Die —“

„Still!“ winkte der Alte. „Du weißt nicht, Fremder, welches Elend die Malaien über unser friedliches Volk gebracht haben, du weißt nicht, was es heißt, ganze Stämme, die bisher glücklich und zufrieden lebten, in Sklaverei geraten zu sehen. Der Malaie kam und zerstörte unsere Häuser, nahm unsere Felder und Herden, nahm unsere jungen Kinder und trieb hinein in den Wald, wo nichts wächst, was den Menschen ernährt, alle die seinen Peitschenhieben entflohen, die nicht in seinen Kohlengruben lebendig verscharrt werden wollten, — Fluch den Malaien!“

Der alte Geistliche seufzte mutlos. „Das ist das Volk, welches bislang alle Missionare ermordete und allem Eindringen des Christentums einen Damm entgegensetzte,“ sagte er leise in deutscher Sprache. „Ich halte weitere Bitte für verschwendet.“

„Panglima,“ wandte er sich dann nochmals an den greisen Häuptling, „willst du für Geld unsere Führer in Schutz nehmen? Ich biete dir große Summen.“

In den eingesunkenen Augen des Fürsten blitzte plötzlich ein heißer Strahl. „Mehr als alles Geld der Erde ist es wert, den Kopf eines Malaien abgeschnitten zu haben,“ versetzte er mit düsterem Ernst. Dann aber, die Hand erhebend, fügte er hinzu: „Hört ihr?“

Die Weißen horchten und vernahmen voll inneren Grauens einen Ton, der wie Drohung, wie wildes Flehen klang, und der endlich in schauerliches Röcheln überging. —

„Kommt!“ mahnte Holm, „kommt, wir haben das Unsrige gethan. Es ist vergebens, bei so eingefleischtem Hasse Erbarmen zu suchen.“

Die kleine Schar verabschiedete sich stumm grüßend von dem alten weißhaarigen Heidenkönig, der inmitten seiner Getreuen, durchaus nicht ohne persönliche, angeborene Herrscherwürde, die Gäste entließ, indem er mehreren Unterhäuptlingen leise Befehle gab. Die Malaien waren tot, daran ließ sich nicht zweifeln; unsere Freunde befanden sich also vollständig in der Gewalt der Eingebornen, sie konnten nicht zuviel auf die versprochene Sicherheit bauen. Das Gepäck wurde aufgeschnallt, die Dolmetscher abgelohnt und in Begleitung von vier bewaffneten Dajaks die Weiterreise angetreten. Schon graute der Tag, als die kleine Karawane das Zeltlager der Punan durchschritt; überall standen und saßen in Gruppen die Männer, man flüsterte und zischelte, obgleich keinerlei Angriffe oder Beleidigungen stattfanden; schon war fast das ganze Dorf passiert, als an der letzten Hütte desselben die Dajaks stehen blieben und zum Mittelbalken hinauf Worte riefen, aus deren Ton sich der haßerfüllte, beschimpfende Inhalt unschwer erraten ließ. Sie schwangen die Waffen und ballten die Fäuste, wildes gellendes Jauchzen erfüllte die Luft. — —

Holm sah hinauf, nicht ohne eine Vorahnung dessen, was seinen Blicken begegnen würde, — er versuchte es, die Knaben so schnell als möglich vorüberzuführen, aber der Doktor verhinderte ihn daran, indem er selbst stillstand und den Strohhut vom Kopfe nahm.

Da oben über dem Eingang hingen, umspielt von den ersten Strahlen der jungen Morgensonne, die abgeschnittenen Köpfe der fünf Malaien, noch blutend, noch wie im Leben mit offenen Augen — grauenhaft, entsetzlich zu sehen. Wo die Körper geblieben, das verriet kein Zeichen; nur der Kopf ist es ja, nach dem des Dajaks brennender Ehrgeiz trachtet.

Der alte Theologe sprach unbeirrt von den drohenden Gefahren des Augenblicks auf Deutsch ein Gebet für die Seelenruhe der Ermordeten, und während dieser in ernstem, würdevollem Ton gehaltenen Rede schwiegen selbst die rohen Heiden, wagten sie keinen Widerspruch, keine Beleidigung, sondern hielten sich still, als sei der „fremde Liau“ ein Priester ihres eigenen Volkes. Der Greis sprach zu den Göttern, Dewata-Dugingang verweilte ungesehen in ihrer Mitte, — sie regten kein Glied, um nicht die Gewaltigen zu erzürnen. —

Das ist die erhabene Macht des Gottesgedankens, daß selbst die wildesten Wilden sich ihr widerstandslos beugen! Kein Volk so niedrig, kein Volk so vertiert — es betet doch. — —

— — — — — — — — — —

Fast ohne alle Unterhaltung, ohne die alte frische, fröhliche Reiselaune wurde der erste Teil des Weges zurückgelegt. Gewiß waren große Sünder jählings im Augenblick ihrer kecksten, verbrecherischen Pläne vom Schicksal ereilt worden, gewiß war frevlem Übermute hier von Gottes Hand ein Ziel gesetzt, aber dennoch ließ das Grauenhafte der ganzen Begebenheit zunächst diesem Gedanken noch keinen Spielraum; erst als am Abend ein neues Dorf der wandernden Mankeian erreicht war und hier dem Unterpanglima von König Nigura der Befehl überbracht wurde, die Reisenden in Schutz und Geleit zu nehmen, als die vier Dajaks den Rückweg antraten und somit die äußere Erinnerung an den fünffachen Mord nicht unwillkürlich in jedem Augenblick aufgefrischt ward, da fingen die Weißen an, das schauderhafte Ereignis zu vergessen oder wenigstens doch sich aus dem Bann desselben freizumachen. Auf anderem Wege als dem, welcher sie hierhergeführt, durch lachende Thäler und üppiges Weideland verfolgten sie von Dorf zu Dorf ihren Zug über den ganzen Mittelrücken der Insel. Viele Tausende von Dajaks wohnten im Inneren, und alle gehorchten ohne Widerspruch dem Befehl Niguras, jeder Stamm gab bis zu den nächsten Hütten der kleinen, wandernden Schar einige seiner Krieger zum Geleit, so daß die Weißen von Hand zu Hand bis in die Nähe der Malaiengrenze gelangten; dann freilich hüteten sich die Dajaks, noch weiter vorzudringen, um nicht etwa für jene ersten Schuldigen, hundert Meilen tiefer im Urwalde, zur Rechenschaft gezogen und als willkommene Beute in die Kohlengruben gesteckt zu werden.

Im Angesicht der ersten malaiischen Pflanzung waren sie ohne Abschied wie in den Boden hinein verschwunden.

Die Reisegenossen saßen am Wege und hielten Rat. Holm war verdrießlich, weil er bei der übereilten Flucht seinen kleinen Orang-Utang im Stich lassen mußte, der Doktor riet ernstlich, nun mit den Malaien keine Verbindung wieder anzuknüpfen, nur die drei jungen Leute wollten von keinem Zurückweichen oder Aufgeben hören.

„Wir gehen direkt nach Celebes zu den Alfuren!“ sagte Franz.

„Ich will nach Lombock, um die nur dort wachsende Palme kennen zu lernen, welche, nachdem sie einmal getragen hat, stirbt,“ warf Holm ein.

„Eine Expedition unter Malaienführung mache ich nicht noch einmal wieder mit,“ beharrte der Doktor. „Ihr könnt allein reisen.“

„Laßt uns den Kapitän hören,“ schlug Hans vor. „Vielleicht kann er Gutes raten.“

Und das geschah denn auch. Die letzten paar Meilen durch das Malaiengebiet wurden in langsamen Märschen zurückgelegt, und in der Stadt dem holländischen Gouverneur die ganze Angelegenheit zu Protokoll gegeben, ebenso das bedungene Geld den Hinterbliebenen Bassars ausgezahlt; dann steuerte das Schiff nach Lombock, einer der kleinen Sundainseln, an dessen von steilen Gebirgswänden umgebenen Küsten es tagelang warten mußte, ehe die fast unmögliche Landung zu glücklicher Stunde bewerkstelligt werden konnte.

Zwölftes Kapitel.

Wie ein Kranz von wutentbrannten Raubtieren mit drohend offenem Todesrachen umgab die Brandung das verhältnismäßig kleine Eiland, haushohe Wogen, schillernd in grün und blau, sprangen an kahlen Klippen hinauf, nirgends zeigte sich ein Hafen, nirgends war vom Schiff aus Wald und wohlthuendes Grün zu sehen, nur Bergspitzen ragten hoch über den Wolkenrand hinaus, leichte Rauchwolken auf einzelnen Punkten zeigten die thätigen Vulkane, grau und düster zogen sich Felsketten nach allen Seiten.

Es war verabredet worden, weder hier auf Lombock, wo gar keine bemerkenswerten Tiere leben, noch später auf Celebes weitere Touren in das Innere zu unternehmen. Tiere und Pflanzen sind auf den Sundainseln, wenn man Java und Borneo gesehen hat, mit sehr unbedeutenden Ausnahmen alle einander gleich, die großen Vierfüßler fehlen namentlich auf Celebes und der Gruppe der „kleinen Sundainseln“ gänzlich, die Erzeugnisse des Bodens sind dieselben, wenn auch in etwas abweichenden Arten der Baumwolle, der Farbehölzer u. s. w. Die Annahme des englischen Naturforschers Wallace, daß alle diese zerstreuten Erdflecke zusammen in vorgeschichtlicher Zeit ein Weltteil gewesen, erhält dadurch eine entschiedene Bestätigung.

Nachdem das Schiff auf einer sehr schlechten, offenen Reede vor Anker gegangen, begaben sich alle, die an Bord entbehrlich waren, zum Ufer, ohne jedoch daselbst irgend eine Spur von Menschen oder Menschenwohnungen zu entdecken. Im Gegensatz der entzückend schönen Landschaften Javas und namentlich Borneos war hier die Küste sandig, pflanzenarm und von niederem, reizlosen Buschwerk stellenweise bedeckt. Der vulkanische Ursprung zeigte sich auf jedem Schritt; die hohen Felsmauern, welche das ganze Land umgaben, fielen nach innen keineswegs ab, sondern bildeten eine breite Hochebene, die in der Weise eines Deiches unabsehbar dahin lief. Zahllose Käfer belebten den Sand, Schmetterlinge wiegten sich auf den Büschen, und stellenweise kletterten große Krebse über das steile Ufer schleunigst in das Meer zurück oder ließen sich ohne weiteres hineinfallen. In einiger Entfernung zeigte sich der Wald, weshalb die Reisenden dorthin ihre Schritte lenkten und auch bald des sonderbaren Anblicks, um den sie überhaupt einzig und allein hierher gekommen, teilhaftig wurden. Die grünen Wipfel standen äußerst undicht; aller Orten lagen zwischen den schlanken Stämmen der Fächerpalmen die gestürzten, fünfzig und mehr Meter hohen Baumriesen, oder starrten die grauen Überreste abgestorbener Exemplare, deren lebende, im besten Gedeihen befindliche Brüder ein ganz seltsames Aussehen zeigten. Die Palmen von Lombock, eine der höchsten Arten, blühen nämlich nur ein einziges Mal, werfen im Augenblick der Entstehung dieser Blüte sämtliche Blätter ab und tragen auf kahlem Stamm Früchte. Sind diese reif, so stirbt der Baum.

Dieses Bild von Zerstörung war eigentümlich, aber durchaus ohne allen landschaftlichen Reiz und von herbstlicher Grundfarbe. Hier oder da stand eine Palme im vollen Schmuck ihrer grünen, fächerförmigen Blätter; dann folgte eine mit kleinen unansehnlichen, ja kaum erkennbaren Blütenbüscheln auf dem nackten Holz; dann eine mit langen Ähren, in denen die glatten, grünen, ovalen Früchte wie Pflaumen bei einander lagen und zwischen diesen das Heer gestorbener Stämme, deren Holz in weniger als einem Jahr zu Staub zerfällt.

Die Früchte schmeckten erfrischend, waren aber sehr schwer zu erlangen und wurden außerdem verteidigt von einer Menge großer Kakadus, deren weißes Gefieder von allen Zweigen glänzte. Holm erlangte durch die Geschicklichkeit der im Klettern geübten Matrosen einige Blüten und Blätter des merkwürdigen Baumes, den die Erde nur an dieser einen kleinen Stelle trägt; dann wurde, nachdem der Hauptzweck so schnell erreicht, das nächste Dorf aufgesucht. Wald schien die Insel nicht besonders viel zu haben, nur ödes, häßliches Buschwerk versperrte den Weg; nach einigen Stunden fortgesetzten Vordringens dagegen zeigten sich Baumwollenfelder und in einer sumpfigen Niederung üppiger Reisbau, die gewohnten Baumarten, Schlinggewächse, Affen, Papageien und Insekten aller Art. Zerstreute Gebäude auf Pfählen, etwa fünf bis sieben Familien fassend, lagen unregelmäßig zwischen den Äckern, die weißen Turbane und die blaugestreiften Lendentücher verrieten die Bekenner des Islam.

Unsere Freunde lagerten an einer schattigen Stelle, entzündeten ein Feuer und begannen die vom Schiff mitgebrachten Vorräte zuzubereiten, wobei sich der Kreis ihrer Zuschauer mehr und mehr verdichtete. Hierher nach Lombock kam sehr selten ein Schiff, viel weniger aber die Besatzung desselben in die Dörfer der Malaien; es war ersichtlich, daß die meisten dieser halbnackten Wilden nie weiße Menschen, nie Schußwaffen oder überhaupt Spuren der Zivilisation kennen gelernt hatten; sie hielten sich in respektvoller Entfernung, die Kinder flüchteten bei jeder Anrede erschreckend zu den Müttern, und selbst die Männer zeigten eine Scheu, welche nur ganz Wilde den Europäern gegenüber an den Tag legen.

Hier auf Lombock konnten wieder wie in Westafrika kleine Spiegel, Knöpfe und Perlen als Geschenke dienen; am meisten aber belustigte die Art und Weise, in welcher unsere Freunde ihre Mahlzeit verzehrten, das gelbe zusehende Völkchen, und als endlich einige Männer nach langem Ermuntern und Bitten an der Tafel auf Gottes grüner Erde mit Platz nahmen und sich von den vorhandenen Lebensmitteln vorsetzen ließen, da wagten es die übrigen, langsam näher zu kommen. Die Messer schienen den Leuten bekannt, nicht aber die Gabeln, vor deren Berührung sie sich kopfschüttelnd zurückzogen; ebensowenig die Löffel. Das Fleisch spießten sie mit einem spitzen Holzstäbchen, und den Reis warfen sie mittels dreier Finger in die Luft, um ihn dann geschickt mit den Lippen wieder einzufangen.

Die Matrosen kannten das schon; den Knaben dagegen war es ganz neu, weshalb denn auch beide Parteien, die Wilden und die Weißen, einander beim Essen neugierig beobachteten und nicht selten laut lachten, wenn z. B. die Aufmerksamkeit des Speisenden abgelenkt war und ihm die Reisportion anstatt auf die Lippen, vielmehr auf die Nase fiel, oder wenn die jungen Leute versuchten, das malaiische System nachzuahmen und durchaus den halbflüssigen Reis zwischen ihren Fingern nicht halten konnten.

Es war im ganzen ein gutmütiges, gastfreies, wenngleich scheues Volk, das von Lombock; erst nach längerem Verweilen der Fremden gelang es, die Leutchen einigermaßen vertraulich zu machen und sie zum Sprechen zu bringen, wobei freilich das gegenseitige Verständnis nicht besonders weit hinaus ging, denn auf der ganzen Küste gab es keinen englisch redenden Eingebornen; das was die Matrosen durch häufigen Aufenthalt in Batavia und Surabaja von der malaiischen Mundart erlernt hatten, blieb das einzige Mittel zur Unterhaltung. Der Radscha von Lombock war der holländischen Regierung von Java tributpflichtig; er mußte für den Baumwollen- und Reisertrag der Insel alljährlich eine bedeutende Steuer zahlen und verkaufte seine Waren an einige Holländer und Amerikaner, die weiterhin an der Küste ihre Faktoreien besaßen; sonst aber wohnten von den „Menschen mit weißen Gesichtern“ auf dem Eiland keine, und ebensowenig kamen jemals Fremde hierher, um das Innere zu durchforschen. Alle Einwohner bauten Baumwolle und Reis.

Holm fragte nach Raubtieren, er beschrieb ihre Größe, er zeichnete auf ein Blatt Papier die Gestalt eines Leoparden, eines Büffels, aber keiner der neugierig beobachtenden Eingebornen hatte ein solches Geschöpf jemals gesehen, Hirsche dagegen waren vorhanden und auch der Orang-Utang, — die Malaien machten ihm eine Faust, als sie das Bild sahen. „Er stiehlt unsere jungen Mädchen,“ sagten sie, „und nimmt die geängstigten mit sich in seine unerreichbaren Felsenschlupfwinkel; unsere Knaben zerdrückt er an seiner Brust wie Strohhalme.“

Auch Pferde kannten die harmlosen Leutchen nicht, wohl aber schöne Ziegen und Schafe; ebenso kletterten auf allen Zweigen die Papageien und Kakadus, deren lautes „Arra! Arra!“ in der Umgegend widerhallte. Die grüne Art schien hier sehr zahm, sie flog, wie bei uns das Sperlingsvölkchen, ganz nahe heran, um womöglich von der Mahlzeit ihren Teil zu erhalten, und als einmal Hans ein Stück Schiffszwieback nahm und es einem der Vögel zuwarf, da entstand eine höchst lebhafte Balgerei.

Nachdem alles in Augenschein genommen, wurde der Rückzug zum Schiff angetreten, unter dem Geleit sämtlicher Wilden, die nie ein solches Fahrzeug kennen gelernt hatten. Was sie besaßen, war eine sogenannte Prau, ein flaches, schlechtes Boot, mit dem sie oft von einer der zerstreuten kleinen Inseln zur anderen fuhren.

Nur die Kecksten wagten es, mit an Bord zu gehen; wie Kinder betasteten und bewunderten sie jeden Gegenstand, die Wanduhr hielten sie sogar für göttlichen Ursprunges, und als Franz in der Kajütte anfing, das Piano zu spielen, da verstummten die harmlosen Hörer vor lauter Staunen. Auf den Zehenspitzen schlich sich einer heran und dicht hinter den Stuhl des Knaben, der seine Absicht schon ahnte. „Vierhändig?“ sagte er zum Ergötzen der anderen in deutscher Sprache.

Der Malaie nickte. Behutsam den Zeigefinger ausstreckend vollführte er einen plötzlichen, heftigen Schlag gegen eine Taste, und als der Ton hell erklang, sah er triumphierend seine Landsleute an. Der Geist hatte für ihn gesprochen.

„Gib acht,“ lächelte Franz, „jetzt werden sie alle ihre Kunst probieren wollen.“

Und so geschah es wirklich. Der eine wagte nur mit spitzen Fingern das Instrument zu berühren, der andere legte die ganze Hand darauf, der dritte fuhr langsam von oben bis unten über alle Tasten und lachte vor Vergnügen über die „verschiedenen Stimmen, die ihm geantwortet hatten.“ Aber auch ein Ehrgeiziger fand sich darunter, einer, der den Bock einnehmen und mit beiden Händen spielen wollte, wie er es von Franz gesehen; dieser rötliche, in Adams Staatsanzug erschienene, aber dabei mit Bogen und Köcher wohlbewaffnete Jüngling mußte sehr genau beachtet haben, was vorging, denn er ahmte vollständig die Handbewegungen des jungen Weißen nach, schlug auch energisch auf die Tasten, vollführte aber dabei natürlich einen solchen Höllenlärm, daß sich unsere Freunde am liebsten die Ohren zugehalten hätten. Franz lachte, daß ihm die Thränen aus den Augen liefen: so urkomisch war das Bild des entzückten, emsig hämmernden Malaien.

Und dann kam bei Wein und allerlei Geschenken, unter denen namentlich blanke Knöpfe sehr begehrt waren, der Abschied, den Papa Witt mittels einiger Kanonenschüsse verherrlichte. Zuerst erschraken die Wilden, so daß einige unter ihnen laut aufschrien, andere sich köpflings über Bord ins Wasser stürzten, dann aber überzeugten sie sich, daß ihnen kein Schade geschehen war und kamen wieder, um den Geist nochmals reden zu hören. Als die letzten an Land gesetzt waren und das Schiff seine Fahrt begann, da stürzte sich der ganze Stamm, Männer und Frauen, ohne weiteres in das Meer und gab dem langsam dahingleitenden Koloß, noch eine Strecke schwimmend und laute Zurufe ausstoßend, das Geleit; erst als der Dampfer seine volle Kraft entfaltete, blieben sie natürlich im Kielwasser desselben weit zurück.

S. 330.

Das Klavier und die Eingebornen von Lombock.
„Aber auch ein Ehrgeiziger fand sich darunter, einer der den Bock einnehmen und mit beiden Händen spielen wollte.“

Die Weißen waren von diesem Besuch unter den harmlosen Naturkindern sehr befriedigt; sie wollten bei den Alfuren auf Nordcelebes ebenso verfahren oder doch höchstens eine einzige Nacht am Lande bleiben, zumal man dort keineswegs diese kindliche Unbekanntschaft mit den zivilisierten Völkern der Welt mehr voraussetzen konnte, die Alfuren vielmehr wegen ihres schlechten, hinterlistigen und durch den Umgang mit ihren weißen Unterdrückern mißtrauisch gewordenen Charakters berüchtigt waren.

„Wir dürfen dorthin gar nichts mitnehmen,“ erklärte Papa Witt, „wir müssen in unseren Kleidern schlafen und die Waffen in der Hand behalten, denn alle diese schwarzen Kerle stehlen wie die Raben, haben Ungeziefer und sind zu jeder Schandthat fähig, säbeln auch ebenso wie die Dajaks mit großer Vorliebe anderer Leute Köpfe herunter, ohne jeglichen Unterschied der Farbe, die weißen sowohl als die gelben. Führer können wir nicht brauchen, sie würden uns vielleicht in den nächstbesten Hinterhalt locken und ermorden.“

„Sind Sie dagewesen, Alter?“ fragte Holm.

„Ich? Wo wären wir beide nicht gewesen, der Kapitän und ich? Wer so seine dreißig und mehr Jahre auf der See ‚schwalkt‘, der hat am Ende alle Küsten der Erde gesehen. Ich sage Ihnen, da bei den Schmutzmenschen in Menehasse ist nichts Erfreuliches zu holen.“

„Einerlei, Papa! haben wir nun nach einander alle möglichen westafrikanischen Negersorten, die Hottentotten, Buschmänner und Kaffern, die Malagaschen, Singhalesen, Javanen, Dajaks und Malaien von Lombock gesehen, dann dürfen schließlich auch die Alfuren nicht fehlen. Zwei oder drei Tage auf Celebes machen nichts aus.“

„Zwei oder drei Tage!“ knurrte der Alte. „Und darum einen ganzen Breitengrad segeln, ohne Sinn und Verstand im Zickzack, es ist zum Tollwerden. Mit Naturforschern reise ich all mein Lebtage nicht wieder. Die gebahnten Straßen sind ihnen ein Greuel, den sicheren Handelshäfen gehen sie weit aus dem Wege und landen da, wo rechtes Diebsgesindel wohnt, und wo das Schiff kaum eine Stelle findet, um seine Anker auszuwerfen. — Nun, da ihr doch einmal nicht zu bessern seid, will ich euch in der Bucht von Lomini eine Stelle zeigen, wo ihr mit dem Boot über die Spitzen eines unterseeischen Waldes dahinfahren und eine kleine Pflanzung von lauter Algen ansehen könnt. Es ist lange her, seit ich hier war, — wir begruben damals im Meer einen Kameraden, der von den Alfuren ermordet wurde, — mitten in der Nacht, denn der Kapitän hatte uns verboten, an Land zu gehen, aber wir wollten natürlich unseren Genossen nicht ohne Seemannsehren dem nassen Grabe überliefern und machten daher die Sache heimlich. Erinnern Sie sich noch, Kapitän?“

„Gewiß!“ nickte der. „Damals waren wir junge schlanke Leichtmatrosen, unternehmungslustige Hamburger Schlingel, die zu fünfen das Schiff verließen, um mit den Eingebornen Händel zu suchen. Einer von uns wagte sich im besten blauen Anzug, mit Uhr und Kette allein in ein solches verdammtes Wohnhaus hinein, noch dazu mit der Harmonika, spielend wie ein Neapolitaner, tanzend und aller Thorheiten voll, der arme Junge! — Als wir ihn nach stundenlangem, ängstlichen Suchen wiederfanden, da war er bis auf die Haut entkleidet und des Kopfes beraubt. Aus Furcht vor Strafe fuhren wir weit in die Bucht hinein und versenkten ihn da, der Kapitän hat niemals erfahren, wo wir in jener Nacht gewesen, und wohin der fehlende Leichtmatrose gekommen.“

„Hört ihr’s?“ ermahnte Doktor Bolten. „Also vorsichtig, solchen Menschen gegenüber. Hier und in den Australischen Inselgruppen können wir keine weiten Landreisen unternehmen; es kommen zu wenig Weiße hin, als daß die Eingebornen wie in Afrika und auf Madagaskar oder Java an eine Bestrafung ihrer Mordthaten denken sollten. Celebes hat, so viel ich weiß, nicht einmal einen namhaften Hafen?“

„Nur Makassar!“ nickte der Kapitän. „Dahin aber kommen wir nicht. Unser Weg führt uns zu den Orang-Badju, welche in einer stillen Bai auf dem Wasser leben und zwischen ihren Pfahlbauten nur in Booten verkehren, und zu den Alfuren nach Menehasse.“

„Und wann gelangen wir etwa dorthin?“ fragten neugierig die jungen Leute. Der Gedanke an ein Dorf auf dem Meer hatte ihr Interesse im höchsten Maße erweckt.

„In acht bis zwölf Tagen,“ war die Antwort.

Das schien zwar vorerst eine lange Zeit, aber Borneo hatte hinreichendes Material geliefert, das präpariert werden mußte, und so war nicht zu fürchten, daß Langeweile ihren Aufenthalt an Bord nehmen würde.

Einige der geschossenen Vögel mußten abgebalgt werden und anderseits galt es, die an Ort und Stelle gewonnenen Häute tüchtig mit Arsenikseife einzureiben, denn in etlichen zeigten sich schon zerstörende Maden und Würmer. Auf Borneo hatte Holm den Baya erlegt, den berühmtesten aller Webervögel, der aus Grashalmen ein Nest zusammenflechtet, das aussieht wie die Retorte des Chemikers. Meistens hängt er sein Nest an die Palmen an, in Birma aber, wo dieser Vogel auch vorkommt, nistet er an den Häusern und Hütten, ohne Furcht vor den Menschen zu äußern, und oft sieht man dort an den Wohnungen der Eingebornen zwanzig bis dreißig solcher Nester hängen.

„Ähnlich wie bei uns die Nester der Schwalben,“ warf Hans ein, „denen niemand etwas zuleide thut und die sogar auf dem Flur der Bauernhäuser sich friedlich ansiedeln.“

„Merkwürdig ist noch der Umstand, daß dieser Vogel Lehmklumpen in sein Nest einträgt, die oft ein Gewicht von hundert Gramm haben,“ sagte Holm, „und deren Zweck zu sein scheint, das Nest im Gleichgewicht zu halten, wenn der Wind heftig daherweht.“

Prachtdrosseln waren in mehreren Arten erlegt; darunter der Pulih, dessen Oberseite metallisch grün, Schwanz und Flügel schwarz, Spitzen der Flügel und des Schwanzes mattblau, Kehle rosenrot, Oberbrust gelblich, Unterbauch scharlachrot ist. Der nur auf Borneo lebende seltene Kellenschnabel war von Franz geschossen worden, der ihn auch eigenhändig abbalgte und einseifte. Von Taubenarten war man so glücklich gewesen, die reizende Sperbertaube und die prachtvolle Mähnentaube zu schießen, die in den glänzendsten Farben prangt. Der Kopf, der Hals und die ganze Unterseite sowie die Schwingen sind schwarzgrün, die Federn der Unterseite kornblumenblau gesäumt und die langen, mähnenartigen Federn des Halses grasgrün und goldschimmernd. Das Auge ist licht rotbraun. Auch hatte Hans glücklicherweise ein Exemplar des Maleo erlegt, ein Buschhuhn, das ähnlich wie der Strauß seine Eier in den Sand legt und von der Sonnenwärme ausbrüten läßt.

An gefangenen Buschhühnern hat man das Brutgeschäft genau beobachten können. Das männliche Buschhuhn beginnt beim Herannahen der Brutzeit innerhalb seines Geheges alle nur irgendwie vorhandenen Pflanzenstoffe zusammenzuscharren, indem es dieselben mit dem Fuße nach hinten wirft, und zwar immer einen Fuß voll auf einmal. Da es seine Arbeit stets am äußeren Rande des Geheges anfängt, so wird die Masse nach innen in den Kreis geworfen und allgemach zum Haufen aufgetürmt. Sobald dieser eine Höhe von etwas über einen Meter erreicht hat, machen sich beide Vögel daran, ihn zu ebnen, und wenn dies geschehen, höhlen sie im Mittelpunkte eine Vertiefung aus. In letzterer werden zu bestimmten Zeiten die Eier niedergelegt und ungefähr vierzig Zentimeter unter dem Gipfel in einem Kreise geordnet. Die verfaulenden organischen Stoffe entwickeln nun, in ähnlicher Weise wie im Mistbeet, eine nicht unbeträchtliche Wärme. Das Männchen beaufsichtigt den Hergang der Entwickelung und namentlich den Zustand der Wärme des natürlichen Brütofens sehr sorgfältig. Es bedeckt gewöhnlich die Eier und läßt nur eine runde Öffnung, durch welche die den in der Brut befindlichen Eiern unumgänglich notwendige Luft nach unten gelangt und durch welche eine übermäßig gesteigerte Wärme gemildert wird. Bei heißem Wetter aber nimmt es zwei- oder dreimal täglich fast die ganze Decke weg, damit die Eier nicht zu heiß werden.

Diese Mitteilung interessierte die Knaben in hohem Grade, und sie bedauerten nur, daß die Verhältnisse es nicht gestatteten, brutfähige Eier des Maleo nach Hamburg zu senden, damit im dortigen zoologischen Garten Beobachtungen an diesen Verwandten des Buschhuhns gemacht werden könnten.

„Ich sehe immer mehr ein,“ bemerkte Franz, „wie ungemein schwer es ist, einen zoologischen Garten mit seltenen Tieren zu versehen. Wenn auch der Fang, trotz der vielen Gefahren und Schwierigkeiten gelingt, so kommt hinterher noch erst der Transport der Tiere, durch Wüsten und unwegsame Gegenden, über Meer und über Land, bis sie den Ort ihrer Bestimmung erreichen. Wie viele Tiere sterben unterwegs aus Mangel an geeignetem Futter und weil es ihnen an allem fehlt, was ihnen sonst zum Gedeihen notwendig ist.“

„Und doch,“ unterbrach Holm ihn lächelnd, „besuchen viele Menschen die zoologischen Gärten nur — um ein Konzert zu hören oder ihren neuen Anzug bewundern zu lassen. Doch das soll uns jetzt nicht viel kümmern. Wir haben hier eine Anzahl schöner Schmetterlingsraupen, die präpariert werden müssen.“

„Legen wir sie in Spiritus?“ fragte Hans.

„Nein,“ erwiderte Holm, „im Spiritus verlieren sie zum Teil ihre Farbe und zuweilen auch ihre Form. Wir müssen sie in Mumien umwandeln und zwar dadurch, daß wir sie mit Tabakssaft töten und dann in gelinder Hitze rasch trocknen.“

Er nahm eine der eingefangenen Raupen und tötete sie mit einem Tropfen Tabakssaft, wie er die Knaben gelehrt hatte die Schmetterlinge zu töten. Dann spießte er die Raupe vorsichtig auf einen feinen Eisendraht, der mit Nickelmetall überzogen war, damit er nicht verroste, und über dem Feuer einer Spiritusflamme wurde die Raupe hierauf unter fortwährendem Drehen und Wenden langsam getrocknet, bis sie keine Feuchtigkeit mehr enthielt und fast zerbrechlich geworden war.

„Das ist eine Arbeit für mich,“ rief Doktor Bolten, „sie erfordert keine größere Geschicklichkeit, als ich mir zutrauen darf.“

„Nehmen Sie sich nur in acht, daß Sie mit den rauhhaarigen und borstigen Raupen der Flamme nicht zu nahe kommen,“ rief Holm lachend, „denn abgesengte Exemplare haben keinen Wert mehr für uns.“

„Ich will meine Sache schon gut machen,“ antwortete Doktor Bolten. „Während Franz und Hans ihre Journale vervollständigen, werde ich Raupenmumien präparieren, denn mit meinen Aufzeichnungen bin ich fertig.“

„Gut,“ sagte Holm, „hier ist eine recht große fette Raupe, nun zeigen Sie einmal ihre Geschicklichkeit.“

Der Doktor tötete und spießte die Raupe und brachte sie über die Flamme. „Seht ihr,“ rief er, „ich verstehe mich ausgezeichnet auf solche Sachen!“

Kaum aber hatte er sich dieses frühzeitige Lob erteilt, als die Raupe anfing sich dick aufzublähen. Dann aber sagte sie laut „Paff“ und war auseinandergeplatzt.

„Was ist das?“ fragte der Doktor und machte eine bestürzte Miene.

„Sie haben die Raupe der Flamme zu nahe gebracht, teuerster Doktor,“ antwortete Holm. „Sie hätten bedenken müssen, daß eine Raupe kein Bratapfel ist.“

Alle lachten, auch der Doktor stimmte mit ein. „Von jetzt an werde ich vorsichtiger sein,“ sagte er. „Jedenfalls hat ein mißlungener Versuch das Gute, daß man aus ihm lernt, wie man es nicht zu machen hat.“

Die getrockneten Raupen wurden in Watte gehüllt und gut in Blechdosen verpackt. Reichliche Mengen von Kampfer wurden dazwischen gelegt, um zerstörende Insekten von ihnen fernzuhalten.

So vergingen die Tage auf dem Schiffe in voller Beschäftigung, bis an einem schönen Morgen die massigen Umrisse eines weit hinausreichenden Vorgebirges in blauer Ferne aus dem Wasser auftauchten; die langgestreckte, skelettartige Form von Celebes zeigte einen ihrer Arme, das Kap Rivers; ein ungeheurer Höhenzug trug rauschenden Wald und thätige, von Wolken umwirbelte Vulkane; darunter aber in stiller enger Bucht, gleichsam an die Brust des Felsens geschmiegt, lag das Pfahldorf.

Die Bauten unserer ersten Eltern, die Uranfänge aller Menschenwohnungen, die nächsten, natürlichsten Schutzmittel gegen wilde Tiere! — ein sonderbarer Anblick, so Hütte an Hütte auf muschelbedeckten, von Schnecken und Austern bewohnten Pfählen, unter denen das seichte Wasser kaum zwei Meter tief dahinfloß. Selbstverständlich konnte der Dampfer nicht bis in die Nähe gelangen, aber er setzte Boote aus, und die ganze kleine Gesellschaft fuhr in die schmalen Straßen zwischen den Häusern hinein. Fahrzeug nach Fahrzeug kam ihnen entgegen: Fische, Krebse, Austern, Schneckenhäuser und hundert kleine, zierliche Arbeiten aus Muscheln, Schildpatt, Korallen und Perlen wurden zum Kauf angeboten; die Menschen zeigten sich als eine Mischlingsrasse, sowohl den Malaien als den Chinesen verwandt, waren hell und hübsch, und in ihrem Auftreten äußerst bescheiden und friedliebend. Aber wie arm, wie eng schienen diese Hütten! Das Boot von der „Hammonia“ steuerte hindurch, die jungen Leute kauften von jedem Händler etwas, sahen bei Gelegenheit in jede Thür hinein und entdeckten dort immer nur ein Blätter- und Mattenlager, Fischgerät, einen rohen Tisch und ein paar Decken; gekocht wurde draußen in den Booten. Überall war es lebendig, überall wimmelte es in chinesischer Überfüllung von Kindern und Erwachsenen; nur eine schmale Fahrstraße lief zwischen den engbewohnten Bienenkörben dahin, Seitengänge zweigten sich ab, manche Familie schien sogar nur das offene Boot als Heimstätte zu besitzen und hinter einer vom Mast flatternden Decke auf bloßen Brettern zu schlafen.

Wie doch die Orang-Badju auf den Gedanken kamen, so ihr ganzes Dasein in dieser Bai zu verbringen? Meilen und abermals Meilen standen ihnen auf der schönen fruchtbaren Insel offen, unbegrenzte Ebenen lieferten Weideplätze und Ackerland, unbegrenzte Wälder den Schutz und die Früchte ihrer Riesenstämme; aber das handeltreibende Völkchen zog es vor, abgeschnitten von allen Schönheiten der Natur, aller Freiheit der Bewegung und des Verkehrs, hier auf dem Wasser in feuchten, unbequemen Käfigen sein Dasein zu verbringen, wahrscheinlich ohne jemals selbst die Möglichkeit einer Änderung ins Auge gefaßt zu haben. „Derartige Niederlassungen in Buchten und schmalen Wasserstraßen gibt es hier herum viele,“ sagte der Kapitän. „Die Leute sind Fischer und treiben Tauschhandel mit allen benachbarten Küsten.“

„Aber im Sturm,“ fragte Hans, „wie machen sie es im Sturm?“

„Dann schlagen vielleicht die Wellen zur Thür hinein, spülen Kinder und Greise mit sich weg oder reißen die ganze Hütte in ihren Schoß hinab, daran läßt sich eben nichts ändern. In China hat man ja engbevölkerte, schwimmende Städte, die oft über Nacht meilenweit stromab getrieben werden, von denen im Orkan ein Dritteil aller Bewohner zu Grunde geht; — es bleiben immer noch mehr als genug Menschen übrig. Die Familienliebe, die Zärtlichkeit der Eltern für ihre Kinder ist wenig entwickelt, da wo es großen Massen am Notwendigsten fehlt; in den unteren Schichten des Volkes verkauft der Chinese mit Vergnügen seine Sprößlinge für billiges Entgelt, verschenkt sie auch wohl gar, um nur die hungrigen Mäuler loszuwerden. Ich glaube, die Orang-Badju machen es nicht besser.“

Wirklich sollte Holm mit dieser Vermutung recht behalten. Mehr als ein gelber, verschmitzt blickender Fischer kam in seinem Boote heran und deutete vertraulich blinzelnd auf einen größeren oder kleineren Jungen, den er mit sich führte. Ob nicht der fremde Herr einen Schiffsjungen brauche, einen Diener oder sonst einen Knecht irgend einer Art; ganz wohlfeil sei er zu haben, für geringe Bezahlung, er sei ein so geschicktes, anstelliges Kind, so klug und so sanft wie ein Mädchen, der Herr möge ihn nur erst einmal mitnehmen!

Und wenn dann der Kapitän den Kopf schüttelte, bot der brave Vater seinen Sohn ganz umsonst an, meistens wurde erst eine entschiedene Drohung notwendig, ehe die beharrliche Verfolgung ein Ende nahm.

Etwas weiter hin, außerhalb des Gebietes der Pfahlbauer, begann dann an der Küste im seichten Wasser die Algenfischerei, zuerst mittels der herabgelassenen Lampe, die ohne Schleppnetz oder eine andere Vorrichtung zum Fang nur als Beleuchtungsmittel diente. Während das blaue, bewegliche Element auf hohem Meer bis zu zehn und zwölf Meter Tiefe ganz durchsichtig bleibt, ist diese Eigenschaft an der Küste selbst nicht mehr bis zu einem Meter vorhanden, die Strahlen der Laterne waren also erforderlich, um dem tauchenden Matrosen den Weg zu zeigen. In einen Taucheranzug gehüllt, wurde der Mann hinabgelassen, nachdem der Schlauch der Luftpumpe wohl gefüllt, und dann die Laterne nachgesandt. Das Wasser war vielleicht sechs Meter tief, einige Augenblicke hätten genügt, um auf das leiseste Zeichen hin den Taucher an die Oberfläche zu bringen, die Sache konnte daher ganz ungefährlich genannt werden und machte hauptsächlich den Knaben großes Vergnügen.

Auch die Orang-Badju kamen auf ihren Booten von allen Seiten heran, vielleicht bei dem Erblicken des Tauchers an Zauberei denkend, vielleicht in der stillen Hoffnung, den Schatz, welchen nach ihrer Ansicht die Weißen aus dem Meere hervorholen wollten, ohne viele Mühe an sich zu bringen, jedenfalls aber voll Erwartung, im tiefsten Schweigen und in dichtgedrängter Menge. Eine förmliche Flotte umgab das große Boot von der „Hammonia“, und als sich der Grund des Wassers zu erhellen begann, da stiegen zu den „Empong“ oder Göttern der Insel doch allerlei Stoßgebete empor. Sie selbst kannten nicht einmal ein Mittel, am Abend die trockene Luft zu beleuchten, diese Weißen dagegen verstanden es, sogar das Wasser anzuzünden. — —

Ein Gemurmel durchlief die Menge. Den Zauber sollten die Weißgesichter herausgeben, — einer verständigte sich mit dem anderen durch Blicke; um jeden Preis mußte man das Feuer, welches tief unter dem Wasser brannte, besitzen.

Unsere Freunde hatten inzwischen ein reiches Lager von Algen entdeckt. Was auf hohem Meere vielleicht eben so schön und mannigfaltig vorhanden war, das ließ sich doch nur sehr selten und meistens in zerrissenen oder abgestorbenen Exemplaren einsammeln; hier aber wuchs es nahe der suchenden Hand in üppigster Vielgestaltung; manche ganz neue Art sah Holm zum erstenmale, manche bekannte, lang vermißte fand er endlich wohlerhalten vor, während die jungen Leute und der Doktor in ein wahres Zauberland zu blicken glaubten.

Die Welt da unten glich der des Märchens, es war der Palast und der Wald des verwünschten, in einen Frosch verwandelten Königssohnes; allerlei kriechendes, sonderbares Getier bildete die Dienerschaft, das Bett war von grünen, ganz kleinen, aber üppig dicht neben einander stehenden Pflänzchen, und zur Wache thronten an beiden Seiten große Krebse mit weit heraustretenden Augen. Das waren die wie Samt aussehenden Konserven, die dichten Teppiche, auf denen sich Würmer mit roten Ringeln und Federbüschen am Kopf behaglich dehnten; aus ihrer Mitte heraus wuchs der Meersalat mit breiten, grünen Blättern und zuweilen hier oder da die rosa und scharlach gefärbten Irideen in der Pracht ihrer riesigen, mantelförmig gefalteten Blätter, dann der gewöhnliche, olivenfarbene Tang und die seltsamen, netzförmig durchbrochenen Thalassiephyllen und Agaven. Diese letzteren bildeten in des Zauberprinzen Königreich schon die großen Baumarten; sie sahen aus wie ein tropischer Wald und schillerten zuweilen sogar auf einer und derselben Blattfläche in allen Farben. Gelb, grün, rot und blau in Verbindung mit sämtlichen Zwischenstufen dieser verschiedenen Grundtöne, dehnten sich die meterlangen und ebenso breiten, von Gestalt unförmlichen Blätter unter dem Wasser, gestickten Maschen gleich, ganz glattfest, knorpelig oder wie Gallerte, je nach ihrer besonderen Eigenart, tief unter dem Schatten der großen Riesen des Wasserwaldes. Diese letzteren waren die Laminarien mit ihren zehn Meter langen, dem Auge unübersehbaren, wie breite wellige Bänder dahinflatternden Blättern, die Makrocystisarten mit birnenförmigen Blasen, die langgestielten Alarien, deren Stamm von einem schmalen Blattbüschel wie von einer Manschette umfaßt, in das einzige riesige, auf hohem Meer bis zu zwölf, hier freilich nur bis zu fünf Metern anwachsende Blatt auslief. Erst fadenförmig, dann stärker und stärker werdend, endete dieses Blatt als plumpe, runde Keule, auf der ein ganzer Büschel langer, schmaler Blattstreifen sich nach allen Seiten ausbreitet. Zwischen und unter den genannten großen Gattungen wuchsen zahllose, purpurne Florideen, und endlich und zuletzt erschienen als die Blumen dieser weitgedehnten Busch- und Baumanlagen die schönen zarten Seerosen aller Farben, von den kleinsten, die wie Fingerhüte an jeder vorspringenden Klippe hafteten, bis zu den größten, deren Umfang den der Rose weit hinter sich ließ, von weiß bis dunkelrot, violett und hochgelb in allen Schattierungen.

Das ganze Bild im schwankenden Licht der Laterne hatte etwas wunderbar Phantastisches, Märchenhaftes; die Gestalt des Tauchers, vom Wasser vergrößert und auseinandergezogen, erschien wie die eines Riesen, der raublustig einbricht in das stille Reich und ganze Wälder, ganze Fluren auf einen Griff verwüstet. Wenn die große Hand solch unterseeische Pflanze erfaßte und in den mitgebrachten Sack steckte oder zum Boukett, dessen letzte Ausläufer zehn Schritt weiter hin im Wasser lagen, zusammenraffte, dann flüchteten Krebse und Käfer, Schnecken und Muscheln nach allen Seiten. Die Seerosen wurden verschont; man hatte sie oft genug gesehen und wußte ja, daß ihnen die freie Luft sofort tödlich war; ebenso die kleinen Krebse und Muscheln.

Die Winde am Deck begann zu arbeiten, langsam erschien auf der Oberfläche des Meeres der Taucher mit dem Sack voll Algen, und vorsichtig wurde ihm dieser, sowie das gesammelte Boukett der größeren Pflanzen aus der Hand genommen. Holm zog die langen Blätter an sich wie Schätze, die ihm der nächste Hauch entführen könnte; er ließ die Laternen aufwinden und gab Befehl, so schnell als möglich zum Schiff zurückzukehren; dann aber, als seine Blicke der feindlichen Haltung aller dieser Wilden begegneten, stutzte er. Was bedeutete das?

Der vorderste Gelbe streckte die Hand aus. „Das Feuer, welches unter dem Wasser brennt,“ sagte er in englischer Sprache, „wir wollen es haben.“

„Die Laterne?“ rief erschreckend der junge Gelehrte. „Das ist unmöglich, ich kann mir während dieser ganzen Reise keine zweite verschaffen und muß sie behalten!“

Der Orang schüttelte den Kopf. „Sie soll uns Fische und Krebse zeigen, wir wollen sie auf alle Fälle haben.“

Der Kapitän erhob sich vom Sitz. Bisher war ihm bei dem interessanten Schauspiel da unten nicht in den Sinn gekommen, die Boote der Eingebornen zu beobachten, er sah erst jetzt die nahende Gefahr. „Ich gebe euch eine solche Laterne, Leute!“ rief er mit hallender Stimme. „Kommt zum Schiff, und ihr sollt sie haben.“

Die Orang-Badju flüsterten. An ihrer Haltung ließ sich leicht erkennen, daß sie dem Versprechen nicht trauten, sie antworteten mit einer neuen energischen Forderung.

Der Kapitän übersah die augenblickliche Lage. Vom Schiff wenigstens fünfhundert Schritte entfernt, von einer gedrängten Anzahl bewaffneter Männer umgeben, war die Lage der kleinen Schar so ungünstig wie nur möglich. Alle diese Orang-Badju hatten Bogen und Pfeile, schwere mit Eisenspitzen versehene Harpunen und nicht selten auch noch lange Spieße; wenn sie sich ernstlich gegen das Boot der „Hammonia“ kehrten, so war dasselbe verloren.

„Die Gewehre in Anschlag!“ kommandierte er. „Keinen Schuß, ehe ich das Zeichen gebe.“

Dann trug der Wind den Schall der Signalpfeife über das Wasser dahin; jedenfalls aber mußte an Bord die Bedrängnis der Gefährten schon bemerkt worden sein, denn im selben Augenblick stießen die beiden letzten Boote voll bewaffneter Matrosen vom Schiffe ab, und an Deck brummte die Kanone. Eine Kugel flog über alle diese Pfahlbauten hinweg weit in das grüne Ufer hinein, riß die Krone eines Baumes fort und brachte so den Wilden von der verheerenden Macht des Geschosses einen ungeahnten Begriff bei. Sie stutzten, vergaßen im Augenblick die gewohnte, für ihre Absichten so durchaus notwendige Vorsicht und ermöglichten es dadurch dem Kapitän, mittels schneller Bewegung des Steuers aus dem umgebenden Kreise heraus und an die Seite ihrer Fahrzeuge zu gelangen.

Ohne weiteren Befehl legten sich die Matrosen mit vereinten Kräften in die Riemen, das Boot schoß wie eine Möwe über die blaue Flut dahin, — die List der Weißen schien gelungen.

Aber nur sekundenlang währte die Überraschung der Orang-Badju, dann brach von ihren Lippen ein Wutgeheul gleich dem Toben wilder Tiere los, überall schwirrten Pfeile durch die Luft, ja sogar Harpunen wurden geworfen, und wieder einmal erhielten unsere Freunde verschiedene nicht unerhebliche Wunden; sie selbst aber schossen nur auf die leichten Fahrzeuge, nie auf die Eingebornen, deren Wut sich vergrößerte, je mehr Vorsprung ihre Feinde gewannen. Hier oder dort sank eines der schlechten Boote; die Matrosen vom Dampfer vereinigten ihre Kräfte mit denen der Kameraden, und um endlich die Sache gründlich zu behandeln, schlug eine zweite Kanonenkugel derartig ins Meer, daß die Mehrzahl der Wilden von dem gewaltigen Spritzwasser, welches sie überschüttete, zu Boden oder häufig gar über Bord geworfen wurde. Es war eine Szene bodenlosester Verwirrung und des Aufruhrs sondergleichen. Hochgehende Schaumwellen, schwimmende Wilde, leer treibende und versinkende Kanots, dazu Spieße, Ruder, Pfeile und Harpunen, alles nickend und tanzend, wie die Wogen kamen und gingen. Inmitten dieses Trödelmarktes auf den Wellen drangen die Boote mit den Matrosen weit genug vor, um sich erfolgreich zwischen beide Parteien zu werfen; man schoß auch hier nicht, aber dennoch hielten die Kugelbüchsen und vor allen Dingen die Schiffskanone den ganzen Schwarm der Orang-Badju dermaßen in Respekt, daß kein weiterer Versuch zu Feindseligkeiten gewagt wurde. Wie im schweigenden Einverständnis hatte man allerseits das Leben der Wilden verschont und doch seine Zwecke erreicht; Papa Witt nickte grimmig, als die kleine Expedition blutend und mit bleichen Gesichtern wieder an Bord kam. „Die gelben Hunde!“ sagte er. „Wär’s nicht unchristlich gedacht, ich möchte wohl ein paar Vollkugeln in das Dorf hineinschicken und die Banditen unter ihren eigenen Dächern begraben.“

Dann aber verband er mit des Kapitäns Hilfe die verschiedenen schmerzenden Glieder und legte Salben auf das von den Pfeilen zerrissene Fleisch; erst nachdem der erste Schreck überwunden, konnten die jungen Leute ihre Erinnerungen sammeln und sich alle Einzelheiten des kleinen Abenteuers ins Gedächtnis rufen. Das war so schnell, so überraschend gekommen, sie wußten selbst nicht recht wie. Nur daß die Wilden geglaubt hatten, diese Lampe sei ein Zauber, der das unter dem Wasser Befindliche zu entdecken und zu heben vermöge, schien klar; kein Wunder also, daß sie lebhaft wünschten, für ihre Fischerei und ihren Perlenfang den Fetisch zu besitzen.

Als das Schiff am Ausgang der Bai vorüberfuhr, hielten sich die Gelben sämtlich versteckt, wahrscheinlich aus Furcht, eine dieser entsetzlichen großen Kugeln in ihr Dorf einschlagen zu sehen. Die Fahrzeuge waren an Pfählen befestigt, alles Treiben ruhte, alle diese Wasserstraßen voll Kinder und Frauen, diese Boote voll handelnder Männer schienen plötzlich ausgestorben, dafür aber gewann, nachdem Kap Rivers umschifft worden, die Landschaft des Ufers einen immer anziehenderen Charakter. Auf weiten, freien, von üppigstem Graswuchs bedeckten Ebenen weideten zahllose Herden von kräftig gebauten Büffeln, Antilopen und namentlich auch kleinen, äußerst feurigen wilden Pferden, die ersten, welche die Reisenden in freiem Zustande angetroffen. Es gab ein hübsches Bild, die gewaltigen, plumpen Büffel und die leichtfüßigen Pferde so über das ebene Land dahingaloppieren zu sehen, zwischen ihnen schlanke Antilopen und den Annang, ein Mittelding des Rinder- und Antilopengeschlechtes, über ihnen auf allen Bäumen die schönsten, farbenprächtigsten Vögel, namentlich den Tropikvogel mit seiner wunderbaren, gebogenen, einzeln dastehenden Schwanzfeder und verschiedene Arten des Paradiesvogels, ebenso die großen samtglänzenden Schmetterlinge der Tropen.

Wäre nicht die Hitze beinahe unerträglich und dadurch die Schmerzhaftigkeit der Wunden bedeutend verstärkt gewesen, so hätten die Reisenden an manchem Punkt dieser einsamen Nordküste von Celebes schon angelegt und die friedlichen Wälder streifend durchforscht; so aber gab es viel zu leiden, Franz hatte sogar Fieber, und der Malagasche hinkte wie ein Stelzfuß; die Wunden waren noch nicht völlig geheilt, als einige Boote die Abenteurer an dem nördlichen Punkt der Insel, in Menehasse, an Land setzten. Absichtlich hatte man eine ganz versteckte, unbewohnte Ecke gewählt; hoch und steil ragte in scharfer Biegung das Ufer bis in die Wellen hinaus; eine schmale enge Bucht, am Felsen dahinlaufend und langsam im Grün des Bodens verschwindend, führte durch schattiges Dunkel auf einer Seite in den etwas versumpften dichten Wald und auf der anderen zum sandigen, der Sonne preisgegebenen Strande.

Diesmal war alles, was das Schiff entbehren konnte, mitgenommen worden, um die Alfuren von Feindseligkeiten zurückzuschrecken; auf Führer verzichtete man, Häuser wollte man nicht besuchen und auch nicht Tauschhandel anbahnen, sondern einzig und allein Pflanzen und Tiere sammeln. Zwei Tage und Nächte waren für diese gefährliche Expedition bestimmt, und jeder einzelne Mann trug Waffen für zwei. So ausgerüstet, verproviantiert und mit Munition und Wolldecken reichlich versehen, schlugen die kecken Abenteurer zunächst den Weg ein, der sie in das kühlere, schattige Innere des Waldes führte. Welch eine Labung nach der langen, brennend heißen Fahrt durch die Celebessee! Mit welchem Entzücken ließen die jungen Leute den stäubenden Wasserfall über sich dahinströmen; mit welchem Hochgenuß verzehrten sie die Beeren, deren reiche Fülle auf jedem Schritt zum Pflücken einlud! Hier brachte der Wind unter den undurchdringlichen Laubkronen die ersehnte Kühlung, hier lockte das dichte Moos des Bodens zum Ausruhen, der Gesang in den Zweigen, der Duft der Blumen zum Träumen auf weichem Blätterlager. Das Fleisch war gebraten vom Schiff mitgenommen, eine tüchtige Portion Brot und Cakes steckte in den leinenen Taschen, Käse und Rum befanden sich wohlverpackt daneben, ebenso gekochte Eier in Unzahl; man brauchte also für den Magen nicht zu sorgen, sondern konnte sich ganz den Neigungen überlassen.

Papa Witt war an Bord geblieben, nach langem Widerstand zwar, aber doch endlich besiegt. Die jungen Leute wollten ihn nicht mit sich nehmen, um unbehindert ihre Streifpartie hierhin und dorthin ausdehnen zu können, wobei ihnen der Alte im Wege gewesen wäre. „Es geht über Stock und Stein,“ hatte Holm gesagt, „die höchsten Berge hinauf und die tiefsten Schluchten hinunter, — wollen Sie das wagen, Steuermann?“

Und er wagte es nicht, aber er schärfte noch allen ein, sich vor den Alfuren zu hüten, besonders den Matrosen, deren Neigung für Reibereien und kleine Ausschreitungen er aus Erfahrung kannte. „Ihr geht in kein Haus hinein, Jungens,“ befahl er, „oder ich lasse euch im nächsten Hafen für Ungehorsam in aller Form bestrafen. Und noch eins — die Handharmonika bleibt hier auf dem Schiff!“

Sein ernster Blick suchte den des Kapitäns. „Ist mir’s doch, als sei es gestern gewesen, wo wir unseren Kameraden ohne Kopf wiederfanden,“ sagte er heimlich schauernd. „Gleich hier hinter der Ecke liegt das Dorf, — ich erkenne die Bucht und die scharfe Biegung; da hat sich in allen den Jahren nichts verändert, Kapitän. Wissen Sie was? — Wir verbieten kurz und gut den ganzen unklugen Zug in das Land der Halsabschneider. Ich will’s vertreten vor dem Chef, wenn wir nach Hause kommen.“

Dazu wollte aber der Kapitän sich nicht verstehen, obwohl ihn selbst der Anblick der bekannten Bucht weit tiefer erschüttert hatte, als er es dem alten Gefährten gegenüber äußerte. Weiterhin gab es keine Stelle mehr, wo Boote ungesehen die Landung zu bewerkstelligen vermochten; er schlug sich daher die Besorgnis, welche auch ihn heimlich beherrschte, so gut es anging, aus dem Sinn, und fügte nur noch den Ermahnungen des Steuermanns die seinigen hinzu; dann hatte er die kleine Gesellschaft ziehen lassen.

Tiefe Stille lag auf dem Walde, kein Mensch und kein Tier kreuzte den Pfad, nur seltsame, nie gesehene Vögel saßen auf allen Zweigen. Offenbar wurden diese hübschen Geschöpfe selten oder nie gejagt, denn ihre Zutraulichkeit ging so weit, daß sie sich zuweilen mit ausgestreckter Hand ergreifen oder sich eine Hanfschlinge über den Kopf werfen ließen. Einen derselben sahen die Knaben, als er an sumpfiger Stelle Schlamm mit dem Schnabel aufhäufte und dann davonflog. Es war ein niedriger Hügel entstanden; Franz untersuchte ihn sofort und entdeckte zu seinem Erstaunen unter einer zähen, leichten Schlammschicht fünf Eier, die jedenfalls dort von der Sonnenwärme ausgebrütet werden sollten. Eine genauere Durchforschung der Umgegend brachte noch dreißig oder vierzig weitere derartige Erdnester an das Tageslicht, zum Teil unter Schlamm, zum Teil unter Gras und Blättern verborgen, blaue und weiße, grüne und gesprenkelte Eier zeigend, aber sämtlich in einer Vertiefung des Bodens gelegen; nirgends zeigten sich Spuren einer brütenden Mutter. Natürlich wurden nur so viele Eier genommen, als verschiedene Arten vorhanden waren und immer auch nur eins aus jedem Neste; die Vögel schienen sich indessen um ihre Nachkommenschaft sehr wenig Sorgen zu machen, sie flogen davon und ließen die Weißen in ihrem Thun unbehelligt.

Von Strecke zu Strecke wurde der Wald sumpfiger und unwegsamer. Ausgedehnte stehende schwärzliche Gewässer, von mannshohem Schilf umkränzt, lagen unter dem ewigen Schatten der Bäume, große Krokodile dehnten sich an den Ufern, Schlangen glitten über den Fußboden dahin, und zuweilen tönte in der Ferne ein Brechen und Knacken, als wenn von flüchtenden Tieren das Unterholz gewaltsam beiseite gedrängt werde. Dann horchten die Weißen; aber der Klang verhallte, und es zeigte sich nichts; die Herde mußte ihren Weg in entgegengesetzter Richtung genommen haben.

„Das sind wilde Schweine,“ behauptete Rua-Roa, „ich kenne ihre Art.“

Holm schüttelte den Kopf. „Die gibt es hier nicht,“ antwortete er. „Aber ja doch, ja,“ setzte er plötzlich hinzu, „wie konnte ich denn den Hirscheber, den Babirussa, vergessen! Wir müssen ihn unter allen Umständen schießen, wenigstens aber zu Gesicht bekommen.“

„Das wird nicht leicht sein,“ versetzte der Malagasche. „Nur erfahrene Schweinsjäger vermögen es, das Tier zu erlegen; in meiner Heimat sind sie hochgeehrt und gehen in jedem Hause aus und ein, als sei es das ihrige.“

„Verstehst du selbst denn nicht ein wenig von der Jagd, Junge?“

Rua-Roa schüttelte den Kopf. „Die Hovas sind keine Jäger, Herr! Aber wenn mich nicht alles täuscht, so werden diese Schweine von Eingebornen gejagt. Da sind sie wieder!“

Diesmal erklang das Grunzen und das Brechen der Zweige aus größerer Nähe, man hörte einen Augenblick lang auch Menschenstimmen, dann den Aufschrei eines Tieres, und alles war wieder still. Die Weißen sahen sich an, — Alfuren hinter den nächsten Gebüschen!

Holm legte den Finger auf den Mund. „Still, vielleicht kommen wir noch unbemerkt davon!“

Niemand rührte sich; es war, als behaupte eine Anzahl Versteinerter den Platz unter den Bäumen, nur der Wind flüsterte, und die Insekten schwirrten, — der Instinkt der Wilden hatte trotzdem die Gegenwart der Fremden entdeckt. Aus den Zweigen hervor sah ein rotes, von schwarzem Haar umgebenes Gesicht, dunkle, tiefleuchtende Augen sendeten spähende Blicke über die Gruppe der Weißen dahin, und dann sprach der Mann nach rückwärts zu seinen Genossen einige wenige Worte, worauf zwölf bis sechzehn Alfuren erschienen, sämtlich nackt, vollbewaffnet und von einem Schmutz, einer Verkommenheit der Erscheinung, wie man sie selbst bei den Urbewohnern Ceylons nicht wahrgenommen hatte. Alle diese Männer waren klein, schmächtig, von ungesunder Hautfarbe, mager und nicht selten mit einem Gesichtsausschlag behaftet; um die Lenden trugen sie den bekannten, zerfaserten Grasgürtel, sonst aber nichts als nur Waffen, einige von ihnen gingen auch ganz ohne alle Bekleidung einher.

Holm und die übrigen grüßten höflich, nur einer der Matrosen, ein blutjunger Mensch, sagte auf deutsch: „Das Lumpenzeug! sechs davon nehme ich allein auf mich!“

Der vorderste Alfure sah ihn an; es war ein langer, verborgenen Haß sprühender Blick. Hatte der Ton den Inhalt verraten? — —

„Di meen ick, Döskopp!“ setzte nickend und lachend der junge Hamburger hinzu.

Holm verbot mit kurzen barschen Worten dergleichen Scherze, auch die übrigen stimmten ihm bei, so daß die Alfuren aufhorchten, der Matrose jedoch allerlei Gegenreden in den Bart brummte. Der Auftritt ging schnell vorüber, aber er hatte genügt, in dem Herzen des jungen Menschen einen eigensinnigen Trotz wachzurufen und anderseits die Alfuren aufmerksam zu machen. Sie versicherten, ein schlechtes Englisch sprechend, daß den Weißen bei ihrer Jagd im Walde keinerlei Hindernis erwachsen würde und stellten ihr Dorf mit allem, was sie besaßen, den Gästen zur Verfügung. Holm dankte ebenso höflich; dann wurden kleine Geschenke verteilt und von den Wilden das eben erlegte Tier herbeigeholt, um es den Fremden als Gegenleistung anzubieten.

Darauf trennte man sich, nachdem die Alfuren noch versichert, daß in einer Bucht nahe bei ihrem Dorfe heute abend Trepang gefangen werden würde, und daß dazu die Weißen höflichst eingeladen seien!

Holm hatte nichts Eiligeres zu thun, als sich des Hirschebers zu bemächtigen und das seltene Tier nach allen Richtungen zu besehen und auszumessen. Dieses große, vollausgewachsene männliche Exemplar zeigte die Länge von anderthalb Metern und war etwas über einen halben Meter hoch; es hatte die rauhen Borsten des gemeinen Schweines, aber dabei die melancholischen, sprechenden Augen des Hirschgeschlechtes; die hauerartigen Eckzähne durchbohrten an beiden Seiten die Oberlippe.

S. 346.

Begegnung mit den Alfuren auf Celebes.
„... worauf zwölf bis sechzehn Alfuren erschienen, sämtlich nackt, voll bewaffnet ...“

„Haben wir ihn einmal, so wollen wir ihn auch essen,“ meinte Holm, „sein Fleisch ist ohnehin bekannt als das zarteste der gesamten Schweinefamilie. Wir lassen ihn hier liegen und nehmen ihn heute abend mit zum Alfurendorf; den Fang auf dem Meer möchte ich doch gern ansehen, nebenbei aber ist es auch klüger, jetzt, nun uns die Wilden einmal bemerkt haben, nicht geradezu vor ihnen zu flüchten. Unser Nachtlager können wir ja im Schutz der Uferfelsen vor den Dorfhäusern aufschlagen, und morgen an den Spießen der Alfuren das Schwein braten.“

Man warf also große Zweige und Blätter über den toten Körper und drang dann tiefer in das grüne Gewirre hinein. Ungeheure Bäume, wahre Riesen, versperrten in urweltlicher Fülle und Breite den Weg; manche Arten waren für die Weißen noch ganz neu, so besonders der Upasbaum, das Tekholz, das Sandelholz, die Zeder und Muskat- und Ebenholzbäume, sie sammelten überall Blüten und Blätter, ebenso unzählige Kletterpflanzen und große schöne Blumen, es begegneten ihnen aber auch mehrere Alfurendörfer, deren Einwohner bettelnd und neugierig hinterher liefen; alles, Häuser und Menschen, unter Schmutz vergraben. Die einzige Beschäftigung der Leute schien im Einfangen dessen zu bestehen, was die Natur freiwillig spendete; wenigstens arbeitete niemand, und als Holm in einem der wackelnden, trübselig verfallenen Dörfer eine diesbezügliche Frage stellte, da antwortete man mittels eines einzigen Lautes: „Trepang!“

Der Fang des Meerwurmes wurde also gewerbsmäßig betrieben; unsere Freunde wollten es keineswegs versäumen, sich die Sache anzusehen und nahmen zur sicheren Erreichung dieses Zweckes einen jungen Alfuren mit sich, der sie zum Dorfe der Strandbewohner geleiten sollte. So ziemlich kannten alle den Weg selber, es war daher gar kein Verrat möglich, auch konnte der eine Alfure gegen die Überzahl von sechzehn Männern natürlich nichts unternehmen.

Wilde Bienenschwärme bevölkerten die Luft; ein mattes, rosiges Glühen der untergehenden Sonne lag auf dem Gras und vergoldete die Zweige hundertjähriger Bäume; einige kleinere Singvögel zwitscherten im Laube ihr Abendlied; große Spinnen, Riesen ihrer Art, webten jene Netze, in denen sich sogar die geflügelten Sänger auf Augenblicke zu verstricken im stande sind; Ameisen zogen in langen Reihen, mit Beute beladen nach Hause; kurz, alle Zeichen deuteten auf das Hereinbrechen der Nacht, und eben daher beeilten sich unsere Freunde so sehr als möglich, die Küste zu erreichen. Der Trepangfang durfte ihnen nicht entgehen.

Da plötzlich raschelte es im Laube, eine Nuß flog herab, dem Doktor gerade an den Kopf, und als sich der alte Herr äußerst erstaunt nach dem unvermuteten Angreifer umsah, blickte zähnefletschend ein großer, schwarzer Affe vom Baum; kaum aber hatte diesen der Alfure bemerkt, als er mit einem Satz zurücksprang und sich auf beide Kniee warf. Seine Lippen murmelten abgebrochene Laute, seine Bewegungen deuteten auf lebhafte Furcht.

Der Doktor stand still und sah ihn an. „Herr des Himmels, betet der zu dem Affen?“ sagte er ganz aus aller Fassung.

Holm verbot den Matrosen das laute Gelächter und fragte dann den zitternden Eingebornen nach dem Grunde seines sonderbaren Benehmens. Der Alfure blinzelte verstohlen zu dem lauernden Vierhänder hinüber. „Der schwarze Verräter ist der Spion und Diener der Empongs,“ antwortete er, „von ihm erfahren sie, was die Menschen thun und treiben, er hält das Gute und das Böse in seiner Hand. Dem Schwarzen darf kein Leides geschehen, oder es entsteht ein Unglück.“

Holm schüttelte den Kopf. „Aber der Affe ist doch ein Tier wie jedes andere,“ bemerkte er.

Der Alfure fuhr immer fort zu beten. „Die Empongs haben ihm Menschengestalt und Menschenlist verliehen,“ sagte er, „dafür verrät er ihnen die Geheimnisse des Stammes, bei dessen Hütten er lebt. Thut ihm nichts zuleide, Herr, sonst schicken die Empongs einen Sturm, der in dieser Nacht alle Boote zerstört und die Trepangfischer ertrinken läßt.“

Holm wandte sich zu den jungen Leuten. „Laßt den Affen in Ruhe,“ sagte er auf deutsch. „Was nützt es uns, diese armen Wilden in ihrem Aberglauben zu stören; wir selbst würden den Schaden davon haben. Kommt nur und thut, als wüßtet ihr nichts.“

Das Jagdvergnügen mußte also diesmal geopfert werden, und während der Doktor sich alle mögliche Mühe gab, im schlechtesten Englisch den Alfuren vom ganzen Unwert seiner Anschauungen zu überzeugen, wanderte die kleine Schar dem Stranddorfe zu. Auf dem Wege dahin begegneten ihnen große, graue, langbeinige Kasuare, die ihre umfangreichen, grünfleckigen Eier in den Sand legen, sie lose bedecken und dann der Sonne zum Ausbrüten überlassen; häßliche Tiere mit bräunlich-schmutzfarbenem Gefieder und wie bei dem Truthahn vom Hals herabhängenden feuerroten und himmelblauen Hautlappen, große, behende Schnellläufer, mit denen es ein Windhund an Eile und Ausdauer nicht aufnehmen kann. Es war unmöglich einen von ihnen zu schießen.

Auch den Hirscheber in seinem Versteck fanden die Reisenden nicht mehr vor und schlossen daraus mit Recht, daß die Alfuren hinter den nächsten Bäumen gelauert und das Wild, sobald sie sich unbeobachtet sahen, schleunigst wieder an sich genommen hatten. Dieser Verlust war zu verschmerzen, aber er zeigte doch aufs neue, daß Treue und Glauben den Gelben ganz fremde Eigenschaften seien und die höchste Vorsicht ihnen gegenüber geboten schien. Als das Dorf im tiefen Thal am Strande auftauchte, wurde der junge Alfure entlassen und in geschlossenen Gliedern der Platz zwischen den drei oder vier langgestreckten Häusern besucht, um dann unter einem überhängenden Felsen das Nachtquartier aufzuschlagen.

Die Frauen und Kinder der Alfuren hielten sich in scheuer Entfernung, nur selten kam irgend ein altes, hinkendes oder blindes Weib, geführt von nackten Kindern, und streckte bettelnd die Hand aus; auch Greise näherten sich, um ein buntes Tuch oder ein Messer zu erhaschen; im ganzen aber waren die Leute zurückhaltend und bescheiden.

Vom Meer herüber glänzten Hunderte von Fackellichtern, der Trepangfang war im vollen Gange, und Boot an Boot trieb auf den ruhigen Wellen, während verhältnismäßig wenige Männer die kleinen, schlanken Fahrzeuge besetzt hielten. Wo hatten sich die übrigen versteckt? — Das Rätsel sollte sich sehr bald lösen. Unsere Freunde benutzten die Erlaubnis mehrerer Eingebornen, sich der am Strande befindlichen Kanots zu bedienen und befanden sich bald mitten unter den Alfuren in der Bucht. Was sie von fern nicht deutlich erkennen konnten, das lag jetzt offen vor ihren Blicken; die Wilden tauchten ununterbrochen und spießten mit dünnen, spitzen Bambusrohren das auf den Algen am Grunde lebende Tier; in jedem Augenblick erschien auf der Oberfläche der Kopf des Fischers; ein paar fußlange, vier Zoll dicke, walzenförmige Würmer von brauner Grundfarbe mit schwarzem Punktenschmuck und einer Reihe Fransen oder Fühler um den Mund wurden in das Boot spediert, und dann verschwand der Alfure, um neue Beute heraufzuholen. Die wenigen in den Fahrzeugen gebliebenen Männer hielten die Fackeln aus Kienspänen und sammelten die wurmartigen Stachelhäuter, welche auch eßbare Seegurken genannt werden. Sie besitzen eine lederartige, bräunliche, rötliche oder schwarze Haut, die sie vorm Austrocknen behütet, wenn sie auf den Strand geraten und wie lange Würste ohne Lebenszeichen im Sande von der Sonne beschienen werden. Getrocknet bilden sie unter dem Namen Trepang einen wichtigen Handelsartikel in der Südsee, zumal da die Chinesen diese Speise für einen Leckerbissen halten, der allerdings dem europäischen Gaumen wenig oder gar nicht zusagt. Holm hoffte später in den seichten Tiefen der Korallenriffe einige seltene und schöne Exemplare dieser Seewalzen oder Holothurien, wie sie wissenschaftlich bezeichnet werden, zu fangen. Die Wilden warfen die gespießten Seewalzen in bereitstehende Körbe und fischten eifrig in buntem Durcheinander.

Es war ein malerischer, unvergeßlicher Anblick, die vielen schaukelnden Fahrzeuge mit den Gestalten der braunen, nackten Wilden, die auf- und abtauchenden Köpfe, die Fackeln in wirbelnde Rauchsäulen gehüllt und als Hintergrund des Bildes die düsteren, hohen Felsmauern, unter deren Schatten das Dorf seine Hütten barg. Alles dieses scharf umrissen vom Helldunkel der Tropennacht, zuweilen grellrot angehaucht im Fackellicht, zuweilen silbern umsäumt im matten Glanz der Sterne, gewährte ein Gesamtbild, dessen poetische Schönheit die Herzen der Weißen entzückte. Sie verließen erst nach stundenlangem Schauen und mit den letzten Alfuren die Bai, konnten sich aber nicht entschließen, den dargebotenen gerösteten Trepang zu kosten, sondern warfen heimlich die widerwärtige Speise beiseite und begnügten sich mit ihren vom Schiff gebrachten Vorräten, worauf dann die Wolldecken ausgebreitet und zu später Stunde die Ruhe gesucht wurde. Holm zählte die Häupter seiner kleinen Schar, alle sechzehn waren vorhanden! Zwei Matrosen erhielten die erste Wache; das Verbot, sich in die Alfurenhäuser zu begeben, wurde nachdrücklichst wiederholt und den Leuten gesagt, daß sie sich gerade hier unter den wildesten, am wenigsten zivilisierten Bewohnern der ganzen Insel befänden; dann suchte jeder zu schlafen.

Franz und jener junge Matrose, der am Morgen die Alfuren verspottet, lagen zufällig hart nebeneinander. Nachdem alles still geworden, stieß der Hamburger leise gegen den Arm seines Genossen. „Schlafen Sie, Herr Gottfried?“

„Nein — was ist los?“

„Pst! Nichts, gar nichts, wecken Sie doch nur den Doktor und Ihren anderen Lehrer nicht auf, die thun ja, als ob die gelben Kerle hier herum Menschenfresser wären. Wissen Sie, ich möchte gar zu gern das Innere eines solchen Alfurenhauses sehen! — was ist denn auch weiter dabei, und wen geht es an, ich trage meine eigene Haut zu Markt.“

Franz schüttelte den Kopf. „Lassen Sie sich dazu nicht verleiten, Hartmann,“ warnte er. „Die Sache könnte ihnen doch gefährlicher werden, als Sie denken, und überdies ist wahrhaftig der Aufenthalt in einem solchen Familienhause nichts weniger als angenehm. Schreckliche Luft, Ungeziefer, Kindergeschrei und Hahnenkämpfe, das ist das Bild einer Nacht unter diesen Dächern; ich habe es auf Borneo kennen gelernt.“

Der Matrose schien nicht überzeugt. „Man kann aber doch seinen Spaß haben,“ versetzte er. „Ich möchte hinein.“

„Das dürfen Sie nicht, Hartmann, und Sie thun es auch nicht.“

Der Matrose lachte. „Hm, schwören Sie nicht darauf, junger Herr. Ich hatte übrigens gehofft, daß gerade Sie heimlich mit mir gehen würden.“

Franz errötete bis unter die Haarwurzeln. Also man hielt ihn jedes tollen Unternehmens ohne weiteres für fähig.

„Gute Nacht, Hartmann,“ sagte er etwas kurz. „Ich möchte schlafen.“

Dabei drehte er dem jungen Menschen den Rücken und bekümmerte sich nicht weiter um ihn. Daß der Bursche in ihm den Teilnehmer einer Unklugheit vermutet, beleidigte seinen Stolz. Aber wahrhaftig, in Zukunft sollte das anders werden.

Erst sehr spät schlief er ein; die wachthabenden Matrosen saßen rauchend und leise plaudernd in halbliegender, bequemer Stellung im Gras, die laue stille Luft wirkte fast betäubend, ringsumher störte kein Laut die Ruhe. Auch jenes Flüstern der Blaujacken drehte sich um die Vorsicht, welche der Steuermann und Holm den Leuten so dringend empfohlen hatten. „Narretei,“ sagte der eine, „es ist lächerlich, hier zu sitzen und zu wachen. Die Kerle denken an keine Feindseligkeiten, sie waren ja ganz höflich, brachten uns sogar die vertrakten Würmer zum Essen! Aber weil vor einem halben Jahrhundert einmal ein Mord passiert ist, muß man am Lande über Stock und Stein klettern und darf nachher nicht einmal schlafen.“

Ein herzhaftes Gähnen schloß den Satz, der andere legte sich etwas bequemer, übersah die ganze Reihe der Schlummernden, brummte Unverständliches aber offenbar wenig Schmeichelhaftes in den Bart, und dann schwieg auch diese Unterhaltung.

Es war alles still wie in einer Welt ohne lebende, atmende Wesen.

— — — — — — — — — —

Am andern Morgen erwachte Holm, nachdem die Sonne schon hoch am Himmel stand. Sein erster Blick suchte die Wachen, — sie lagen lang ausgestreckt im Gras und schnarchten vernehmlich. Holm lächelte; die Leute mußten schon geschlafen haben, ehe sie ihre Kameraden wecken und von diesen abgelöst werden sollten, wenigstens bemerkte er kein Zeichen, das die Nähe eines wachenden Menschen verkündet hätte. Alles schlief den festen Schlaf der Jugend und Ermüdung.

Aber mochten sie doch! Es war nichts passiert, die Gefahr glücklich vorübergegangen, der ganze Tag bis zum Abend, wo in der Einfahrt die Boote ihre Passagiere erwarteten, konnte noch zum Ausflug in die Umgebung auf der anderen Seite verwendet werden.

Holm richtete sich höher auf. Wieder wie am gestrigen Abend zählte er, heimlich besorgt, immer im Bann von Papa Witts schauerlichem Erlebnis, halb ohne Absicht; aber er zählte maschinenmäßig — — eins, zwei, drei, — nun, wo steckte denn der sechzehnte?

Er überzeugte sich, daß der Doktor und die Knaben unversehrt an seiner Seite lagen, und etwas ruhiger geworden zählte er nochmals. Der sechzehnte fehlte.

Jetzt stand er auf, sein lauter Zuruf weckte die übrigen, er wollte eben fragen, welcher von den Leuten vermißt werde, als sein Blick im Hintergrunde des Lagers die Stelle streifte, wo alles Gepäck aufgehäuft worden war. Dort unter dem Felsen hatte es gelegen, die Waffen, die Vorräte; aber jetzt befand sich auf dem ganzen Gebiet des Nachtquartiers davon auch kein einziges Stück mehr. Was nicht die Reisenden an ihrem Körper getragen hatten, das war fort.

„Herr des Himmels, — unsere Gewehre!“

Holm fühlte, wie es ihm kalt über den Rücken herablief. „Still!“ rief er mit lauter Stimme. „Still! Wer ist der Mann, welcher in unserer Zahl fehlt?“

Sekunden genügten, um festzustellen, daß es Hartmann sei, den die kleine Expedition vermißte. Franz erzählte erbleichend, was er mit ihm während der Nacht gesprochen.

Eine unbeschreibliche Aufregung und Erbitterung hatte sich aller Gemüter bemächtigt. Nach rechts und links schallte der Name des Verschwundenen durch die stille Morgenluft, die Matrosen verwünschten den Schlaf, der sie überfallen, Holm war stumm vor Schmerz und Zorn, der Doktor trieb wiederholt zum Aufbruch und Franz und sein Bruder verlangten energisch jetzt am hellen Tage die Durchsuchung der Alfurenhäuser.

Rua-Roa nahm die Spur des verlorenen Leichtmatrosen da auf, wo er während der Nacht gelegen, und verfolgte sie über Gras und Blumen hinweg mit dem Instinkt des Wilden bis hinab zum Dorfe, wo vor der Thür des einen Pfahlbaues jedes kleinste Merkmal endete. Es erschien unzweifelhaft, daß der junge Mensch hier seinen Tod gefunden.

„Vielleicht halten sie ihn nur gefangen, um ein Lösegeld zu erpressen,“ meinte einer der Männer. „Wir sollten doch nachsehen!“

„Damit sie uns mit unseren eigenen Gewehren erschießen? — Ohne Waffen können wir gar nichts ausrichten.“

„Ich möchte mich selbst ohrfeigen,“ rief der Matrose. „Wären mir nicht die Augen zugefallen, so hätten wenigstens die Kugelbüchsen nicht gestohlen werden können.“

Holm suchte ihn zu trösten. „Darüber beruhigen Sie sich, Schwarz,“ sagte er. „An eine Gefangenschaft des armen, jungen Menschen, an Wiederfinden und Lösegeld ist nicht zu denken. Hätten wir alle Waffen der Welt, so könnten uns dieselben das geraubte Leben nicht zurückgeben. Nur finden und ehrlich begraben möchte ich den Ermordeten.“

„Sollten auch wir eine kopflose Leiche an Bord bringen, Karl?“ fragte Franz.

Der junge Gelehrte wandte sich ab. „Er wurde gewarnt,“ sagte er seufzend. „Weshalb suchte er im Ungehorsam eine Art von Ehrgeiz?“

Franz sah stumm über das Meer hinaus. Der arme Schelm hatte so fröhlich dreingeschaut, sein lebensfrisches Bild stand so klar vor der Seele des Knaben, — er fühlte, wie Thräne um Thräne über die Wangen herabrollte. Dies Ereignis machte auf ihn einen Eindruck, stärker und erschütternder als alle früheren.

„So laß uns suchen,“ ermahnte er endlich. „Laß uns wenigstens den toten Körper finden.“

Es wurde nun eine Kette gebildet und rings im Halbkreise das Waldgebiet durchforscht; kein Gebüsch, keine Niederung blieb unbeachtet, aber nichts war zu finden, bis am späten Mittag der Malagasche eine Stelle entdeckte, an der er stehen blieb. „Hier ist in der letzten Nacht die Erde aufgegraben worden,“ sagte er. „Das Gras und das Moos wachsen nicht, sie sind nur lose in den Boden gesteckt.“

Er lockerte mit der Hand den Pflanzenwuchs, unter welchem sich sogleich die frisch umbrochene Erde deutlich zeigte, und wo schon nach geringer Mühe, in einer Tiefe von kaum sechs Zoll, die Leiche des unglücklichen jungen Menschen gefunden wurde, — kopflos wie man erwartet hatte.

Schweigend umstanden alle das offene Grab, besonders Franz war tief im Herzen erschüttert. Noch immer hörte er den Toten sagen: „Ich hatte gerade gehofft, daß Sie heimlich mit mir gehen würden!“ —

O wie inbrünstig dankte er dem Himmel, hier nicht nachgegeben zu haben; wie demütig gestand er dem eigenen Bewußtsein, daß nur der Mangel an Neugier, nicht aber ruhige Überlegung ihn zurückgehalten. Hätte er nicht auf Borneo das Innere eines solchen Familienhauses genügend kennen gelernt, wer weiß, ob nicht die Versuchung auch ihn überwältigt haben würde. Es war ein stilles, aber festes Versprechen, das er an diesem Grabe sich selbst leistete.

„Auf!“ ermahnte der Doktor. „Hüllt die Leiche in unsere Wolldecken, Kinder, und tragt sie abwechselnd, damit wenigstens ein ehrliches Seemannsbegräbnis dem Armen zu teil werde. Ich übernehme es, zuerst an Bord zu gehen und dort unsere Freunde vorzubereiten.“

Vier Matrosen nahmen den Körper ihres Kameraden, banden ihn mit ihren Riemen an ein paar derbe Stangen und trugen ihn so schweigend, in unheimlicher Stille, gefolgt von den übrigen, bis zur Bucht am Strande. Keiner dachte an Essen, obwohl ihnen seit dem gestrigen Abend nichts mehr zu teil geworden war; keiner dachte an eine Bestrafung der hinterlistigen Alfuren, die sich heute morgen alle sorgfältig versteckt gehalten hatten, oder an die verlorenen Waffen; — sie beeilten sich nur, so schnell als möglich das Gebiet des tückischen Stammes zu verlassen und atmeten voll Erleichterung auf, als ihnen durch das Buschwerk des Strandes der Ozean blau und friedlich entgegenschimmerte.

Der Dampfer lag hart an der Küste, und auf dem Verdeck stand der Steuermann, — er musterte wie in Gedanken verloren das felsige Ufer. Erst als ein lautes „Schiff Ahoi!“ der Matrosen sein Ohr traf, fuhr er zusammen. Schon die nächste unwillkürliche Handbewegung zeigte den Schrecken, welcher ihn durchbebte.

Das abstoßende Boot brachte den Alten selbst, und da war es denn der Doktor, welcher ihm entgegenging, um in schonender Weise das Unglück zu berichten. Papa Witt schüttelte den Kopf. „Ich weiß es schon,“ sagte er, „ich wußte es, seit wir in den malaiischen Archipel kamen. Bin nicht hier gewesen seit jener Unglücksnacht, hab’s immer vermieden, obgleich ich tausendmal im Traum diese scharfe Ecke und die unruhigen schwarzen Wellen am äußersten Vorsprung sah, — aber daß es geschehen würde, wußte ich. Solch ein Vorgefühl täuscht nicht. Na, nun sagen Sie mir nur, wer es ist; Hartmann, nicht wahr, Herr Doktor?“

„Konnte es mir denken,“ fuhr er fort, „gerade er war der helläugigste, frischeste Bursche unter allen, ihn trieb die kecke Lebenslust ins Verderben, wie damals meinen Kameraden. — Steigen Sie nur ein, Herr Doktor, das große Boot soll die Leiche holen.“

Er hatte dem alten Theologen zu keiner Antwort Zeit gelassen, hatte auf dem Gesicht desselben die Richtigkeit seiner Vermutung schon gelesen und drängte ihn jetzt in das kleine Fahrzeug hinein. So kam es, daß der Doktor auch den Kapitän vorbereiten konnte, ehe nach einer Viertelstunde das große Boot die Leiche mit den übrigen Reisegenossen wieder an Bord brachte.

Von den Alfuren zeigte sich auch jetzt kein einziger; sie mochten, ihrem eigenen wilden und rachsüchtigen Denken nach, wohl annehmen, daß jetzt die Weißen ihre Kanonenkugeln in das Dorf hineinschicken würden, und waren alle landeinwärts in die Wälder geflohen. Natürlich aber geschah dergleichen nicht; das Schiff verließ die Küste, und erst als der letzte Streifen Landes dem Auge entschwunden war, versenkten die Kameraden auf hoher See den Leichnam des Vorwitzigen, der so kecklich seinem Übermute die Zügel schießen ließ und vielleicht die schrecklichsten Martern erlitten hatte, ehe ihn der Tod aus den Händen der Alfuren erlöste.

Noch einmal grüßte, langsam hinauf und herab gleitend, Deutschlands Flagge vom Mast den toten Sohn der Vaterstadt, noch einmal sahen die Genossen zurück zu der Stelle, wo die Celebessee den kopflosen Leichnam verschlungen — dann drehte sich der Eisenrumpf, und das Schiff steuerte den Inseln Australiens entgegen, zunächst der kleinen, wenig bekannten Nightinsel zu, wo ein friedliebender, harmloser Papuastamm auf allerunterster Stufe, fast im Zustand der Tierheit, leben oder besser vegetieren sollte.

Dreizehntes Kapitel.

Wie wohlthuend berührte nach der brennenden Hitze in der Celebessee die immer frischer und frischer werdende Kühle jede Stirn! Jetzt ging es mit gleichem Schritt über Australien bis zur antarktischen Barriere, und die beiden Knaben freuten sich schon im voraus des Schnees, mit dem sie nach so langer Entbehrung wieder Ball spielen wollten. Es war höchst komisch, welche Mühe sie sich gaben, dem Malagaschen begreiflich zu machen, was Schnee sei. „Gefrorenes Wasser,“ sagte Hans, „kleine zarte, sechseckige Sterne.“

„Der Übergang zwischen Wasser und Eis,“ setzte Franz hinzu.

Rua-Roa schüttelte immer wieder den Kopf. „Aber was ist denn gefroren?“ fragte er.

Da winkte ihm der Koch, eben jener gemütliche Sohn Hammonias, der auf Ceylon den Singhalesinnen Pfannkuchen buk. „Komm mal heran, Gelber! Sieh, mein Sohn, hier ist Butter, die ich eben geschmolzen habe. Sie fließt wie Wasser, nicht wahr? Das that die Hitze, weißt du; wenn ich sie aber wieder kalt stelle, läuft sie zusammen und wird ein Klumpen. Das macht das Wasser ebenso, und dieser Klumpen heißt Eis, — wenn’s sehr kalt ist nämlich. Und kalt sein, mein Junge, das heißt, wenn man eine bläuliche Nasenspitze hat und Kribbeln in den Fingern.“

Und jetzt hatte Rua-Roa begriffen! Also eine Temperatur, die das Wasser erstarren ließ! — Er wandte sich kopfschüttelnd zu seinen Erziehern. „Wenn es nur keine Fabel ist von diesem Lande,“ sagte er bedenklich. „Ich kann schwören, daß auf Madagaskar nie Eis getroffen wurde.“

Ein helles Gelächter klang über das Schiff dahin, und eine Extrastunde Geographie war die Folge. Jetzt wurde übrigens der junge Hova in den verschiedenen Lehrfächern schon so fest, daß er hübsch lesen und erträglich schreiben konnte; nur wenn so ganz Unerwartetes ihn aus der Bahn warf, griff seine Phantasie unwillkürlich zurück zu den Verhältnissen und Anschauungen der Heimat, als dem einzig Sicheren, was er besaß. Holm errettete ihn aus der verlegenen Situation, indem er die anderen darauf hinwies, wie schwer es sei, sich von etwas Ungesehenem einen Begriff zu machen; dann brachte er das Gespräch auf die Nightinsel, der nun das Schiff entgegensteuerte. „Kapitän, waren Sie früher schon einmal dort?“

Der Gefragte nickte. „Das ist die Kannibalengegend,“ antwortete er, „freilich nicht die Nightinsel selbst, aber doch die Gruppe, zu der sie gehört. Ich habe einmal hier Schiffbruch gelitten und mit dreißig Mann gegen über hundert Wilde gefochten, bis ein Schiff vorbeikam und durch seine Kanonen die Neger in die Flucht schlug. Zwei von uns, die unglücklicherweise vom Hauptquartier abgeschnitten worden waren, ließen ihr Leben am Bratspieß der Wilden, — wir fanden später die abgenagten, verkohlten Überreste.“

„Sollte uns denn dergleichen auf der Nightinsel nicht geschehen können?“ fragte schaudernd der alte Theologe.

„Unter keiner Bedingung. Da leben die Makadamas, eine Horde gutmütiger Geschöpfe, die sich durch nichts von harmlosen Tierarten unterscheiden, die keine Kleider oder Gesetze, kein Oberhaupt, keine Wohnung oder Ehe, ja nicht einmal eine Arbeit kennen; sie laufen nackt umher, stellen sich beim Regen unter einen Baum, schlafen ein, wo sie müde werden, und essen, was sie finden; Feuer dagegen unterhalten sie der Kälte wegen immer und sind auch sehr geschickt in allem, was das Leben auf dem Wasser betrifft.“

„Bewohnt denn dies Naturvölkchen die Insel ganz allein?“

Der Kapitän schüttelte den Kopf. „Das treffen Sie nirgends,“ antwortete er. „Ist eine Insel überhaupt groß genug, um Menschen zu ernähren, so hausen auch auf ihr zwei Stämme, die einander hassen und bekämpfen. Auf Nighteiland leben außer den Makadamas noch die Echaus, weshalb Kriege, bei denen man sich gegenseitig mit langen Spießen zu durchbohren sucht, hier gar nichts Seltenes sind. Auch die Frauen kämpfen, diese aber bedienen sich schwerer Holzblöcke, welche eine der anderen auf den Kopf schlägt.“

„Sehr einladend!“ lachte Holm. „Wir werden also Gelegenheit finden, ganz neue Menschen und Verhältnisse kennen zu lernen.“

„Wollen wir vorher nach Timor anlaufen?“ fragte Franz.

„Nochmals zu den Alfuren? — Ich danke, nein.“

„Aber jenes kleine Koralleneiland, an dem die Wogen hoch aufschäumen, möchte ich inspizieren,“ sagte Holm, „es kann uns der Besuch desselben höchstens einen halben Tag aufhalten. Ich hoffe dort ziemlich reiche Beute, gerade in diesem Meere zu machen.“

Das Schiff drehte bei, dann wurde ein Boot ausgesetzt und die Naturforscher erreichten das Innere der Koralleninsel von der brandungsfreien Seite aus. Ein stiller, ruhiger Salzwassersee bildete das Innere der Insel. Während sich an den Korallenriffen die Woge in furchtbarer Brandung brach, herrschte hier Ruhe und Frieden, und in dem klaren Wasser lebte eine eigene Tierwelt ihr vergnügtes Stillleben. Papageifische zermalmten mit ihren harten Kiefern die Korallenzweige. Schnecken aller Art weideten förmlich die Korallenfelder ab, indem sie die weichen Tiere erwischten, welche aus ihrem harten Kalkbau hervorkamen, um auf Nahrung zu lauern. Seesterne, Seeigel und Haarsterne mit nach unten gerichtetem Munde belebten den See, in dem die von Holm vermuteten Holothurien sich ebenfalls in reicher Anzahl und mannigfaltigen Arten vorfanden. Sie alle ließen es sich wohl sein unter dem Schutze des Korallenriffes, das sie vor der Vernichtung durch die Wellen des Meeres bewahrte, indem es einen festen Wall, gleichsam eine Schanze gegen das anstürmende Meer bildete.

„Hier in diesem glasklaren See wollen wir das seltsame Wesen der Seewalzen beobachten,“ sagte Holm, „und dann nach Herzenslust fischen. Seht hier die violette Seewalze, wer hat Lust, sie zu ergreifen?“

Kaum hatte Holm die Frage gethan, als auch schon Hans sich niederbeugte und die lange Seewalze mit festem Griff der Hand umklammerte. Nun aber ereignete sich etwas sehr Seltsames.

Kaum bemerkte die Seewalze, daß ein Feind sie gepackt hielt, als sie sich krampfhaft zusammenzog und durch den Mund ihre sämtlichen Eingeweide ausspie. Hans kümmerte sich jedoch nicht darum, daß das Tier ihn mit seinem klebrigen, anhaftenden Inhalt besudelt hatte, sondern suchte seine Beute aufs Trockene zu bringen, aber dies Vorhaben wurde ihm von dem Tiere gründlich vereitelt, denn es schnürte sich ein und teilte sich in mehrere Enden, als wenn es eine Wurst wäre, die der Metzger durch Abdrehen in mehrere Teile zerteilt hätte. Nur ein Stückchen Haut behielt er in der Hand.

„Sieh einer doch solche Bosheit,“ rief er, „das Tier vierteilt sich selbst, um der Gefangenschaft zu entgehen.“

„Es schnürt sich ab bis auf den Kopfteil,“ sagte Holm. „Dort liegt ein ringförmiger Nerv, und so lange dieser unzerlegt bleibt, ist es der Seewalze möglich, wieder nachzuwachsen. Die Zerstörung durch freiwillige Abschnürung geht bei einigen Arten so weit, daß noch kein Naturforscher sich rühmen konnte, ein vollständiges Exemplar aus dem Meere heraufgeholt zu haben.“

„Aber warum übt es solche Selbstverstümmlung aus?“ fragte Hans.

„Diese Abschnürung ist ein wunderbares Auskunftsmittel, um bei der gänzlichen Widerstandslosigkeit gegen Angriff und Verfolgung wenigstens das Leben zu retten. Selbst im Rachen eines gierigen Räubers vermag die Seewalze sich in zwei Hälften zu teilen, deren eine sie als wertlos dem Feinde überläßt, während das Kopfende das Meer zu erreichen sucht, um auf dem Grunde desselben einen Ruheplatz zum Neuwachstum und Ersatz des preisgegebenen Körpers zu suchen. Selbstwillige Zerstörung und rasches Wiederherstellungsvermögen sind es, die bei der Seewalze die Verrichtung eigentlicher Verteidigungsorgane höherer Tiere ersetzen.“

„Wir wollen uns jedoch durch dieses Gebaren der Seewalzen nicht beirren lassen, sondern so viele Bruchstücke derselben zu erlangen suchen, wie nur möglich, denn die übrigbleibende Haut liefert dem Mikroskopiker das Material zu Präparaten, die jedes Auge erfreuen.“

Es wurde nun eifrig Jagd auf Seewalzen gemacht, und die Stücke, welche nach der freiwilligen Vierteilung übrig blieben, wanderten nach Holms Anleitung in den Spiritusbehälter. Holm versprach den Knaben, während der nächsten Fahrt auf dem Schiffe ihnen die Wunder der Holothurienhaut unter dem Mikroskop zu zeigen.

Von den Papageifischen, die sich durch die Eigentümlichkeit ihres Gebisses ebensowohl auszeichnen als durch die Farbenpracht ihrer Schuppen, wurden mehrere Exemplare gefangen. Die Tiere, welche weder den Menschen noch das Netz kannten, waren mit leichter Mühe zu erlangen.

Holm fand an einer Stelle die rote Orgelkoralle, bei der die kalkigen Wohnungen der Einzeltiere als schlanke Röhren wie die Orgelpfeifen neben einander stehen. Auch die elegante Seefeder sowie der Neptunsfächer wurden erbeutet, zierliche Korallenstöcke, die sich ausnahmen wie Hutfedern oder wie riesige Fächer von bräunlicher, rötlicher und gelber Farbe.

Der Ausflug nach diesem kleinen Koralleneilande war ein überaus lohnender gewesen. „Wir wollen diesem Punkte im Ozean einen Namen geben,“ schlug Hans vor. „Was meint ihr, wenn wir ihn „die Schatzkammer der Naturforscher“ nennen?“

Alle waren damit einverstanden, und als sie wieder an Bord waren, trug der Kapitän das Inselchen und seinen Namen in die Seekarte ein.

Das Schiff setzte seine Fahrt fort, bis endlich nach kaum drei Wochen die kleine, wenig bekannte Insel an der Nordküste Australiens erreicht war. Viele gefährliche Klippen starrten himmelhoch und von Brandungen umtobt den Seefahrern entgegen, viele stille Baien, anmutig in flaches, grünes Land verlaufend, schienen aber auch zur Einkehr zu locken, und als das Schiff langsam zwischen den Korallenfelsen hindurchlief, zeigten sich auch schon gleich beim ersten Erblicken des Innern die Bewohner vom Stamme der Papuas. Kleine, gedrungene Gestalten, die Weiber von ungeheurer Häßlichkeit, die Männer mit dick aufliegenden Stammesnarben geschmückt, rot und weiß angemalt, im Haar den gelben, dick mit Thran aufgestrichenen Ocker, beide Geschlechter aber bis auf den zerfaserten Grasgürtel der Frauen ganz wie Gott sie erschaffen, so standen die Wilden scharenweise am Ufer, vielleicht hoffend, daß das Schiff stranden und ihnen seine Eisenteile zum Verbrauch überlassen solle, jedenfalls aber ohne irgend eine böse Absicht, etwa einer Rinderherde gleich, die ahnungslos den Fremden an sich herankommen läßt, ihn kaum beachtend, gleichgültig und ruhig.

Hätten nicht diese schwarzen, schauderhaft beklecksten Gestalten deutlich den entlegenen Weltteil verraten, so würden sich unsere jungen Freunde nach Europa zurückversetzt geglaubt haben. Hohe, schlanke Nadelhölzer, besonders die prächtige Kaurifichte, spendeten kühlen Schatten, das Gewirre des Unterholzes und der Schlinggewächse fehlte gänzlich, den Boden bedeckte üppiges Gras, und aus seiner grünen Fülle hervor sah das bescheidene, deutsche Maßliebchen. Auch die parkartige Ähnlichkeit der Hölzer unter einander, die gleichmäßigen Stämme und die Einförmigkeit des ganzen Pflanzenwuchses erinnerten lebhaft an deutsche, stille Wälder mit ihrem Sonnenschein und ihrem tiefen, nur zuweilen durch Vogelstimmen unterbrochenen Frieden. Die Vogelwelt freilich bot wieder ganz fremde und noch dazu neue Erscheinungen, nämlich Strauße so klein wie Truthühner, aus Erdlöchern hervorsehend und schnell in dieselben zurückschlüpfend, Papageien und schöne Reiher, die an den Uferklippen ihrer Beute harrten.

Das Gesamtbild trug den Charakter des ländlichen Stilllebens. Als die Weißen ausgeschifft waren, kamen ihnen die Wilden vertraulich entgegen und betasteten sowohl ihre Anzüge als auch ihre Gesichter, wie um sich zu überzeugen, daß lebende Wesen dahinter steckten; sie lachten laut und ahmten nicht selten den Gang, die Haltung oder gar die Worte ihrer plötzlich erschienenen Gäste nach, was jedenfalls auf gänzliche Unbekanntschaft mit der weißen Menschenrasse schließen ließ. Ebenso vergeblich war es, ihnen in englischer Sprache irgend etwas zu sagen, sie verstanden davon keine Silbe, sondern lachten wie Kinder, denen das Fremde Spaß macht; viele von ihnen sprangen auch sogleich in das Wasser und versuchten es, den Dampfer zu erklettern, andere eilten zu ihren Booten und umfuhren das Schiff; nirgends aber trafen sie Vorkehrungen, den Weißen irgend etwas anzubieten; in dieser Beziehung standen sie offenbar ganz auf der niedrigsten menschlichen Stufe.

„Wir wollen doch die Insel durchwandern,“ erklärte Holm, „unsere Zelte und Lebensmittel auf den Rücken nehmen und wie die Köhlerkinder des Märchens Zeichen in die Bäume hauen, um später den Rückweg wiederzufinden. Es ist gerade angenehm warm, der Boden nicht durch Hindernisse versperrt, die Tierwelt ungefährlich; also laßt uns sehen, ob denn tatsächlich keine feste Hütten vorhanden sind.“

Es wurde ein deutsches Lied angestimmt; im kräftigen Chor durchhallte das „Freiheit, die ich meine“ den australischen Wald, und gefolgt von einer Menge schwarzer, arg bemalter und tättowierter Gestalten zogen unsere Freunde im hellsten Sonnenschein dahin, vergeblich ein Dorf oder eine Niederlassung suchend, vergeblich nach genießbaren Baumfrüchten ausspähend, vergeblich hinter jeder neuen Lichtung, jedem Busch oder Fluß bebaute Felder erwartend. Nur Fichten und Fichten, dazwischen der amerikanische Hickory, schönblühende Myrthaceen, Kasuarinen, sowie der Gummibaum mit seinen steifen, lederartigen, glanzlosen Blättern; aber nie Fruchtbäume. Am Boden blühten viele schöne Blumen, doch waren sie geruchlos und von großer Einförmigkeit der Erscheinung, den Tropen gegenüber geradezu ärmlich.

Dieser helle, lichte, sonnendurchschienene Wald wechselte stellenweise mit dem berüchtigten, australischen „Busch“, einer Wildnis von Dornen, Akazien, großen Immortellen und Protaceen, auf deren Boden kein Halm sproßte, die dagegen aber bewohnt waren und zwar von verschiedenen, meist unbedeutenden Tiergattungen, namentlich den Dingos (wilden Hunden) und den zahllosen größeren oder kleineren Beuteltieren, marderähnlichen Geschöpfen mit langem, buschigen Schwanz und dem bekannten, an der Unterseite des Körpers liegenden Hautbeutel, worin die Weibchen ihre Jungen tragen, bis dieselben ausgewachsen sind, und wohin diese selbst dann noch zurückkehren, wenn ihnen während ihrer ersten Jugend draußen irgend eine Gefahr droht.

Die behenden Tiere zeigten sich nie im Freien, sondern lugten aus den Erdlöchern der Buschpartieen vorsichtig herauf, um dann eben so schnell wieder zu verschwinden; sie ohne Hunde zu jagen, war ganz unmöglich. Holm postierte bei einer dieser Höhlen die jungen Leute so, daß ihnen das flüchtende Beuteltier jedenfalls zu Schuß kommen mußte; dann begann er selbst mit Hilfe des Malagaschen den Erdhügel oberhalb der Wohnung durch Axtschläge und Spatenstiche abzuräumen, während ein Trupp Wilder daneben stand und neugierig beobachtete, was die Weißen thaten.

Zuweilen zeigte ein leises Geräusch unter der Erde, daß die Tiere höchst wahrscheinlich schon in Unruhe gerieten, daß ihnen vielleicht bröckelndes Gestein auf den Kopf fiel oder die Wahl zwischen Flucht und Tod ihren erschreckenden Einfluß ausübte; dann geschah etwas, worüber alle Weißen lachten, bis ihnen der Atem versagte. Das Männchen des Beuteltieres, der marderähnliche Rotschwanzbeutler, schoß mit einem plötzlichen, gewaltigen Sprung aus dem Eingang hervor; schon mochte er glauben, sich durch seine kecke That der Gefahr glücklich entzogen zu haben, als im selben Augenblick zwei Schüsse krachten und der schlanke, aufbäumende Körper sterbend zu Boden stürzte, — außer ihm, den die Kugeln durchbohrten, waren aber auch alle Wilden wie ein Haufen Kartenmännchen hingefallen und zumeist auf das Gesicht. Höchst wahrscheinlich hatten sie die Büchsen für Stöcke gehalten und waren bei dem doppelten Knall dermaßen erschrocken, daß ihr bißchen Nachdenken sie vollständig im Stich ließ, ja, daß sie die dämonischen Mächte ihrer dunklen, halbverworrenen Vorstellungen verkörpert vor sich zu sehen glaubten.

Es war komisch und bedauernswert zugleich, diese hingestreckten schwarzen Gestalten zu beobachten, wie sie, weit mehr Tier als Mensch, so hilflos dalagen, aller vernünftigen Vorstellung bar, außer sich vor Angst unter dem Eindruck eines Büchsenschusses; der Doktor ging von einem zum andern, sprach hier deutsch und dort jenes fabelhafte Etwas, das er englisch nannte; er versuchte auch, die rotbemalten Schultern aufzuheben und riskierte endlich sogar einen zornigen Befehl, aber das alles half nichts, bis Holm vorschlug, es mit einem andern Verfahren zu probieren. „Zeigen Sie einmal die Knöpfe und Metallringe, welche wir mitgebracht haben, Doktor,“ riet er.

Und das half über Erwarten. Der alte Herr setzte sich auf eine Erhöhung des Weges, in seiner Hand glänzten allerlei Spielereien, womit in zivilisierten Ländern kleine Kinder belustigt werden, — und siehe da, Kopf nach Kopf tauchten aus dem Gras die schwarzen Gesichter herauf. Hier erhob sich vorsichtig eine Gestalt, deren Ocker und Mennig den Boden klumpenweise färbte, hier rang sich ein Laut des Entzückens von den schnalzenden Lippen einer Frau, dort flüsterten Kinder, unfähig, dem erwachten Verlangen zu widerstehen.

Und der alte Theologe hielt mit einer Hand seine Messingknöpfe in das Sonnenlicht, mit der andern winkte er den Zögernden. „Nur her, ihr Ärmsten unter den Armen, nur her, verirrte Wesen, was fürchtet ihr denn eigentlich? — Da, da, — und da! — Aber nun seht euch auch die Gewehre an; hier!“

Er hatte die Waffe aus dem Grase genommen und wollte sie jetzt den Wilden in aller Ruhe zeigen, aber weg, wie vom Wind entführt, war plötzlich die ganze Schar, der nächste Busch hatte sie verschlungen.

Franz hatte unterdessen seine Jagdbeute in Sicherheit gebracht, worauf sich sämtliche junge Leute vereinigten, um nun aus dem Bau das wahrscheinlich noch darin befindliche Weibchen des Rotschwanzbeutlers lebend hervorzuziehen. Vor allen Dingen wurde zu diesem Zweck der Ausgang verschüttet und nun vorsichtig weiter und weiter gegraben, bis die letzte Erdschicht einstürzte und dadurch die Weißen die Möglichkeit erhielten, das kleine, mit den andrängenden Massen kämpfende Tier einzufangen. Es sollte seine Freiheit zurück erhalten; nur wollten die jungen Naturforscher gern den seltsamen Beutel des Muttertieres in der Nähe sehen und womöglich die kleinen Jungen darin entdecken; daher mußte es gefesselt und zur Flucht unfähig gemacht werden. Die Sache gelang nur nach vieler Mühe und einigen von den scharfen Nagezähnen erlittenen derben Bißwunden, dann aber waren glücklich die Vorder- und Hinterfüße, je zwei zusammen, mit starken Stricken gebunden, und zum Überfluß die Schnauze mit einem starken Taschentuch umwickelt. Das Tier pfauchte und zischte, aber es konnte sich nicht wehren, als zwei von den jungen Leuten seinen Körper in ausgestreckter Lage erhielten, während Holm den breiten, unförmlichen Beutel untersuchte.

Diese mit einem engen Spalt versehene Hauttasche umgab rings im Kreise eine Anzahl sehr langer Milchzitzen, an deren jeder ein unausgewachsenes, bewegungsloses und nur mit undeutlichen Gliedmaßen versehenes Junges hing, das dort thatsächlich festgewachsen war und erst, nachdem das kleine Mäulchen die nötige Weite erreicht haben würde, die mütterliche Zitze wieder verlassen konnte. Der Spalt wurde sehr vorsichtig geöffnet, so daß es dem gefesselten Tier keinen Schmerz verursachte, und dann, nachdem alle die kleinen, saugenden Wesen bewundert, die geängstete Mutter wieder in Freiheit gesetzt. Ein einziger, trotz der fünffachen Last gewandter und schneller Sprung brachte den Pelzträger aus dem Bereich der verfolgenden Blicke.

„Eine neue Höhle mag sich das Tier selbst wieder herstellen,“ meinte Holm, „wir wollen uns jetzt etwas näher an das Ufer zurückbegeben und dann unsere Zelte aufschlagen. Die Sonne sinkt, es ist Zeit!“

„Da sehe ich Feuer!“ rief plötzlich Hans. „Ob es ein Dorf ist?“

„Und da! — und da!“ setzten die übrigen hinzu, als heller Schein von allen Seiten den Wald durchleuchtete. „Wie seltsam!“

In der That war dieser Anblick ein nie gesehener, und so im Zwielicht, ohne die Anwesenheit der Wilden, vom kälteren Hauch bereits durchzogen, trug die Landschaft den Charakter des Nordischen, ja fast des Düsteren, Unheimlichen. Wie Soldaten in Reihe und Glied standen die schlanken, astlosen Stämme der Kaurifichten, dicht gedrängt und in den Wipfeln jenes Rauschen verursachend, das so herbstlich, so wehmütig stimmt, das wie ein Wiegenlied über den ganzen Wald von Krone zu Krone dahinklingt; unter ihrem monddurchschienenen Dach erhoben sich die Feuersäulen der brennenden Holzstöße, wallende Rauchwolken strebten empor zum ewigen Blau, und ein eigentümlicher, bald heller, bald dunkler leuchtender Schein traf die ganze Umgebung des Feuers. Hier lag er purpurn auf den Blüten der Myrthaceen, dort rosig auf den Blättern des Gummibaumes, die holzigen, ledernen verjüngend, die glanzlosen mit sanftem Schimmer überziehend; am Fuß der alten Stämme aber fiel sein vollstes Glühen auf die Gruppe der Schwarzen, welche jedesmal dort im Moos oder Gras lang ausgestreckt Nachtruhe hielt und sich so nahe als thunlich um die wärmenden Strahlen geschart hatte. Nicht einmal ein Fell wärmte die nackten Glieder, nicht einmal einen Haufen trockener Blätter hatten sich die Wilden als Lagerstatt zusammengetragen; viel weniger besaßen sie irgend etwas, das einem Dache glich; ja, als die Reisenden näher kamen und den Raum neben dem Feuer überblicken konnten, sahen sie, daß dort von den Eingebornen Fische und Vögel sowie die Wurzeln verschiedener Kräuter in rohem Zustande gegessen wurden.

Als die Weißen ihre kleinen Geschenke auskramten, liefen die Wilden herzu und nahmen dieselben, ohne zu bitten oder zu danken, wie ein Tier das Futter nimmt. Sie standen auch umher, ohne begreifen zu können, was ihre Augen sahen, als später die Weißen Zelte aufschlugen und Decken ausbreiteten. Von den gebotenen Näschereien wie Cakes, Wein, gebratenem Fleische und eingemachten Früchten nahmen sie nur zögernd und ließen nach dem ersten Bissen das übrige wieder fallen. Die Eier, welche sie roh genossen, wiesen sie in gekochtem Zustande schaudernd zurück.

S. 366.

Das Lager der Papuas im Kaurifichtenwalde.
„... am Fuß der alten Stämme aber fiel sein vollstes Glühen auf die Gruppe der Schwarzen ...“

So wurde denn das Lager aufgesucht, auf allen Seiten umgeben von den Feuern der Wilden, kühl, beinahe kalt selbst unter dem Schutz der Wolldecken, auf einer waldumsäumten, kleinen Ebene belegen, inmitten hundertjähriger Baumriesen, deren Kronen das Schlummerlied rauschten. Hier brauchte keiner für die Sicherheit der anderen zu wachen, nirgend bot sich die Möglichkeit einer Gefahr; es lebte in der Nähe kein Tier, das fähig gewesen wäre, den Menschen zu schaden. Nur wenige rote, kleine Papageien saßen in den Bäumen, in der Ferne bellten wilde Hunde, und zuweilen segelte durch die Luft ein Tier, das dem fliegenden Hunde der Sundainseln verwandt war, ein fliegender Fuchs mit spitzer Schnauze und klugem Gesicht, ein fledermausartiges Beuteltier von rotbrauner Farbe. Das Hübscheste aber, was die Augen der Weißen vor dem Einschlafen noch erblickten, war ein großes weibliches Beuteltier mit feinem, grauen Pelz und einem langen Schwanz, um dessen Ansatz sich die Schwänze mehrerer Jungen, welche die Mutter auf dem Rücken trug, festgeklammert hatten. Das Tier kam schnuppernd heran und fraß dann begierig die Überreste der verschiedenen Mahlzeiten, während seine Sprößlinge auf dem Rücken hockten und warteten, bis sich die gesättigte Alte ins Gras lagern und ihnen zu saugen gestatten würde. —

Am andern Morgen ging es wieder in die Wälder, um Jagd auf die Vögel zu machen, die auf den australischen Inseln sowie auf dem australischen Festlande in großer Mannigfaltigkeit vorkommen. „Wir werden uns so wenig als möglich von der Vogeljagd ablenken lassen,“ sagte Holm, „und Wald und Busch auf das sorgfältigste absuchen. Größere Exemplare werden sofort abgehäutet, kleinere Vögel werden wir an Bord präparieren. Die neuholländischen Inseln sind eine wahre Fundgrube für den Zoologen in bezug auf die Vogelwelt.“

Das erste, was ihnen bei ihrer Wanderung aufstieß, war ein Schwarm prächtiger Kakadus mit blendend weißem Gefieder und gelbem Schopf. „Wir wollen von diesen herrlichen Geschöpfen keines erlegen,“ sagte Holm, „denn der Kakadu ist in Europa hinreichend bekannt, und wir würden uns nur unnötig mit den Getöteten beladen. Wenn ihr jedoch einen großen schwarzen Papagei sehen solltet, so zögert keinen Augenblick und sucht ihn zu erlegen.“

Der ersehnte Papagei zeigte sich nicht. Wohl aber schoß Franz einen schön gefärbten Papagei, die Rosella, der bunt war wie ein Harlekin. Oberkopf, Halsrücken, Brust und Unterschwanzdecke waren scharlachrot, die Wangen weiß, die Rückenfedern schwarzgelb gesäumt, der Hinterrücken, die Oberschwanzdeckfedern und der Bauch, mit Ausnahme eines gelben Fleckes, grasgrün, die Flügelmitte hochblau, die Schwingen dunkelblau mit blauem Rande, die Schwungfedern grün, blaugrün und am Ende lichtblau mit weißer Spitze.

Alle waren über diese Beute erfreut, und auch Doktor Bolten äußerte sein Wohlgefallen über die Farbenpracht dieses Vogels. „Die Natur übertrifft oft die Phantasie des Menschen,“ sagte er. „Kein Seidenweber in Lyon ist imstande, ein so herrliches Gewand zu weben, als dieser Vogel trägt, wie denn anderseits noch kein Komponist solche Töne finden konnte, wie die, mit denen daheim die unscheinbare Nachtigall unser Herz erfreut.“ Er wollte weiter sprechen, als ein Schuß seine Rede unterbrach. Hans hatte geschossen und stieß einen Freudenruf aus, als er sah, daß sein Ziel glücklich getroffen war. „Der schwarze Papagei!“ rief er, „ich habe ihn erlegt!“

Er eilte auf die Stelle zu, an welcher der Papagei im Grase lag, und hob ihn auf.

„Fürwahr,“ rief Holm, „ein Rüsselpapagei — der Kasmalos!“ Der Vogel war größer, als alle bekannten Papageien und übertraf selbst den Arra an Länge und Flügelweite. Sein Gefieder war gleichmäßig tiefschwarz gefärbt und schillerte etwas ins Grünliche. Sein Kopf trug eine ebenfalls schwarze Federholle, der große Oberschnabel bedeckte den kleineren Unterschnabel vollkommen. Holm zeigte nun den Knaben den eigentümlichen Bau der Zunge. Diese war ziemlich lang und fleischig, nicht breiter als dick, aber oben ausgehöhlt und vorne an der Spitze abgeflacht. Sie kann weit aus dem Schnabel vorgeschoben und von dem Vogel wie ein Löffel gebraucht werden, mit welchem er die vom Schnabel zerkleinerten Nahrungsmittel aufnimmt und der Speiseröhre zuführt. Die Ränder der Zunge sind sehr beweglich und können vorne von rechts nach links her gegen einander gewölbt werden, so daß sie den ergriffenen Speisebissen wie in einer Röhre einschließen, in welcher er leicht zum Schlunde hinabgleitet. Wegen dieser Eigentümlichkeit der Zunge ist ihm der Name Rüsselpapagei zuerteilt worden. Da der Rüsselpapagei zu den größten Seltenheiten der europäischen Sammlungen gehört, war Holm besonders froh über den glücklichen Schuß, den Hans gethan hatte, der seine Beute nicht ohne Stolz betrachtete.

„Fast könnte ich eifersüchtig auf den Schützen werden, wenn es nicht mein Bruder wäre,“ sagte Franz. „Paßt nur auf, noch ist nicht aller Tage Abend, vielleicht gelingt es mir, ein zweites Exemplar dieser seltenen Art zu erlegen, oder ich schieße ein Geschöpf, das eben so wertvoll ist, wie dieser Rüsselvogel!“

„Ein edler Wettstreit, aus dem die Naturforschung Nutzen ziehen wird,“ meinte Holm lachend.

„Das ist die wahre Konkurrenz,“ sagte der Doktor, „sie fördert und regt an, sie — —“

Schon wieder fiel ihm ein Schuß in die Rede. „Nehmen Sie’s nicht übel, Doktor, daß ich Sie unterbrach!“ rief Franz, „aber hier in der Wildnis geht leider die Notwendigkeit über die Höflichkeit. Ich mußte schießen!“ Er sprang davon und holte die erlegte Beute — einen prachtvollen Leierschwanz.

„Das nenne ich ein Jagdglück,“ rief Holm, „denn dieser Vogel mit seinen wundervollen langen Schwanzfedern, die wie eine Leier gestaltet sind, kommt nur selten zum Schusse. Mancher Jäger hat sich schon tagelang im Busche aufgehalten und hörte die laute, helle Stimme der scheuen Vögel, war aber nicht imstande einen derselben zu Gesichte zu bekommen. Merkwürdig ist, daß wir diesen Vogel hier antrafen, der sonst in Gegenden wohnt, die schwer zu erreichen und wegen tiefer, nur mit vermodernden Pflanzen bedeckter Felsenspalten dem Jäger lebensgefährlich sind.“ Als Holm den Leierschwanz näher untersuchte, ergab sich, daß der Vogel ein verletztes Bein hatte, was ihn am Laufen verhindert haben mußte. Holm mahnte zur Vorsicht beim Betreten des Bodens, denn schon oft sei ein Jäger in die heimtückischen Felsenspalten geraten, in deren Nähe sich die Leierschwänze aufhalten, und nichts sei dem Unglücklichen übrig geblieben, als sich vermittelst eines Schusses durch den Kopf vom langsamen Verschmachten zu befreien, denn auf eine Hilfe von Menschenhand kann niemand in diesen Einöden rechnen, der tief in eine steile Felsenspalte geraten ist.

Kaum hatte er diese Warnung ausgesprochen, als der Doktor vor ihren Augen verschwand und mit einer dichten Masse von moderndem Laub in die Erde sank. „Hilfe!“ rief er aus der Tiefe. Sie eilten rasch an den engen Schlund, der sich vor ihren Augen öffnete.

„Haben Sie sich verletzt, Doktor?“ fragte Holm besorgt.

„Gott sei Dank, nein,“ scholl es herauf; „aber die Felsenwände sind so glatt und schlüpfrig, daß ich mich nirgends anhalten kann. Ich sinke allmählich tiefer. Helft mir rasch.“

Mit größter Eile wurden die Riemen der Gewehre an einander geknüpft und hinabgelassen, sie erreichten jedoch den Doktor nicht, da sie nicht lang genug waren. Was nun beginnen? Woher einen Strick nehmen, um den Verunglückten heraufzuziehen, der langsam weiter in die Tiefe glitt und flehend um Hilfe rief? Mit jeder Sekunde nahm die Gefahr zu, die Felsenspalte konnte unergründlich sein und sich nach unten erweitern. Dann war der Doktor verloren. In solchen Augenblicken der höchsten Not kommen dem Menschen jedoch oft Gedanken zur Rettung und zwar so plötzlich, als hätte sie ihm jemand zugerufen, der unsichtbar ihm zur Seite stände. Wie mit Wundermacht wird dann das Unscheinbarste zum wichtigen Hilfsmittel, und wer nur Augen hat zum Sehen und Ohren zum Hören, der erfährt zu solcher Stunde, daß immer noch Zeichen und Wunder geschehen, daß Gott den Menschen zur Zeit der Prüfung nicht verläßt.

Franz war es, in dem sich blitzschnell der Gedanke zur Rettung des Doktors offenbarte. Ehe noch jemand begriff, was er wollte, hatte er den leichten Rock abgeworfen und sich des starken Leinenhemdes entledigt, das er rasch mit dem scharfen Jagdmesser in Streifen zerschnitt, die er wie einen Strick zusammendrehte und an einander knüpfte. „Wenn es nur ausreicht?“ flüsterte er bange.

Rua-Roa hatte sofort begriffen, was Franz im Sinne hatte, und folgte seinem Beispiele. Auch er warf sein Gewand ab und zerschnitt es mit dem Messer, das Franz ihm damals geschenkt hatte, als er so tapfer die Prozedur des Gipsens über sich ergehen hatte lassen. „Ich helfe dir, mein weißer Bruder,“ rief er, „Doktor Bolten muß gerettet werden und sollte ich meine ganze Habe, ja mein Leben für ihn hingeben. Er hat mich gelehrt, daß alle Menschen Brüder sind und daß der arme Waisenknabe Rua-Roa einen Vater im Himmel hat, dessen Kind er ist. Ich wollte sein Sklave sein, er aber hat mich freigegeben. Retten wir den guten Doktor!“

Die Stricke aus dem Zeug waren in fieberhafter Eile geflochten, alle legten sie Hand an, und nachdem dieselben an die Lederriemen der Gewehre geknüpft waren, wurde das so erhaltene Seil in die Felsenspalte hinabgelassen. „Geben Sie acht, Doktor,“ rief Holm, „und suchen Sie das Seil zu erhaschen!“

Eine ängstliche Pause entstand. „Haben Sie das Seil?“ rief Holm.

„Ich halte es!“ ertönte die Antwort aus der Tiefe.

„Nun zieht an,“ kommandierte Holm.

Alle faßten das Seil und taktmäßig, mit lautem Ahoi, wie auf dem Schiffe, förderten sie ruckweise den Doktor langsam in die Höhe, bis nach einiger Zeit der Gerettete wieder festen Boden unter seinen Füßen hatte.

Doktor Bolten sank auf die Kniee, als er glücklich wieder oben war, und seine Lippen sprachen ein leises Dankgebet. Dann reichte Hans ihm die Feldflasche, aus der er einen tüchtigen Schluck nahm, der ihn nach der überstandenen Angst und Gefahr sichtlich erquickte. Als er erfuhr, auf welche Weise die Rettung zustande gebracht war, reichte er Franz und Rua-Roa beiden die Hand. Er war zu bewegt, um sprechen zu können. Dann faßte er sich und sprach nur die wenigen Worte: „Der Segen eines alten Mannes ruhe auf eurem Haupte!“

Holm schlug nun vor, diese gefährliche Gegend zu verlassen und den Wald aufzusuchen, wo kräftiger Baumwuchs von dem Nichtvorhandensein der tückischen Naturfallgruben Zeugnis ablegte. Alle waren mit diesem Vorschlage einverstanden, und bald war die Gefahr, in welcher der Doktor geschwebt hatte, vergessen. Die Jagdlust und das Vorkommen reichlichen Vogelwildes stellte bald wieder den alten Frohsinn her. Holm erlegte einige der zierlichen Diamantvögel und einen der schwer zu erlangenden Emuschlüpfer. Der Schwanz dieses allerliebsten Vogels besteht nur aus sechs mit zerschlissenen Fahnen besetzten Federn. Seine Behendigkeit vereitelt fast immer die Nachstellungen, wozu noch kommt, daß er in der Kunst des Versteckens außerordentlich erfahren ist.

Als sie vorwärts schritten und in eine Niederung gelangten, auf der immergrüne Zedergebüsche sich ausbreiteten, machte Holm plötzlich Halt und winkte den andern mit der Hand zu, sich ruhig zu verhalten.

Die Knaben hielten ihre Gewehre in Anschlag. „Ein Raubtier?“ fragte Hans.

„Nein,“ erwiderte Holm leise. „Kommt behutsam an meine Seite, uns bietet sich ein reizendes Schauspiel dar.“

Alle traten mit leisen Schritten näher, und in der That nahmen sie durch die dichten Zweige, welche Holm vorsichtig zurückbog, einen merkwürdigen Gegenstand wahr, den sie früher noch niemals gesehen hatten.

Unter einer ziemlich großen Zeder sahen sie aus feinen und biegsamen Reisern erbaut eine kleine Hütte, die in ihrem Aussehen einer spitzdachigen Laube glich und an jeder Seite einen offenen Eingang besaß. Vor der Laube lagen bunte Schneckenschalen, Muscheln, weißgebleichte Knochen und glänzende Kieselsteine. Das Innere der Laube war mit roten, gelben und blauen Papageienfedern dekoriert, als sollte in derselben ein Fest gefeiert werden.

„Sollte das Hüttchen von den Kindern der Eingebornen im Spiel erbaut sein?“ fragte der Doktor.

„Wir haben den merkwürdigen Bau des Atlasvogels vor uns,“ erklärte Holm. „Die Vögel sind soeben davon geflogen, wenn wir uns ruhig verhalten, wird es uns hoffentlich gelingen, Augenzeuge von ihrem Thun und Treiben zu sein.“ Kaum hatte er diesen Wunsch geäußert, als es durch die Luft schwirrte und ein Vogel mit einem Reisigzweig im Schnabel sich vor der Laube niederließ. Sein wie Atlas glänzendes Gefieder war tief blauschwarz, die Flügel- und Steuerfedern samtschwarz, blau an der Spitze, das hellblaue Auge besaß einen roten Ring, die Füße waren rötlich.

Der Vogel, seiner Größe und glänzenden Farbe nach zu urteilen das Männchen, nahm nun den Zweig und verflocht ihn gar künstlich und geschickt in die Wand der Laube, und ließ, als er die Arbeit vollbracht, einige wohllautende Töne hören, als freue er sich des gelungenen Werkes. Nach einiger Weile kam das minder schön gefärbte Weibchen hinzugeflogen, das eine hochrote Papageienfeder im Schnabel hielt, die es im Innern der Laube anbrachte. Als dies geschehen war, lockte es das Männchen, welches in die Laube hüpfte und durch allerlei Gebärden seinem Wohlgefallen an dem neu erworbenen Zierat Ausdruck verlieh. Die beiden Vögel hüpften in der Laube auf und ab, schlugen mit den Flügeln und spielten vergnügt mit einander in dem kleinen Palast, den sie sich erbaut hatten, so gut ein Vogel es nur irgend kann.

„Ihr Nest haben die Atlasvögel an einem anderen Orte,“ sagte Holm, „dies hier ist ihr bestes Zimmer oder, wenn wir wollen, ihr Museum, an dessen Schätzen sie sich erfreuen. Wollen wir die Vögel schießen?“

„Schenkt ihnen das Leben,“ bat der Doktor. „Ihr ganzes Betragen hat so etwas Harmloses und Freundliches, daß es mir fast ein Unrecht erscheint, sie zu töten.“

„Nun so mögen sie leben bleiben,“ versetzte Holm, „obgleich ich gerne ein Exemplar für unser Museum in Hamburg gehabt hätte.“

In diesem Augenblicke kam ein dritter Atlasvogel angeflogen, der sich vor der Laube niederließ und eine blanke Muschelschale zu stehlen suchte, trotz der Abwehr der Eigentümer der Laube.

„Oha,“ rief Holm, „du willst hier annektieren. So ein Sozialdemokrat, der das Eigentum auch teilen will, soll seinen ihm gebührenden Lohn empfangen.“ Ein wohlgezielter Schuß aus der Vogelflinte streckte den unberufenen Gast und Räuber danieder. „Nun haben wir alle unseren Willen,“ sagte Holm. „Der Doktor sieht das Leben seiner Schützlinge erhalten und wir haben einen Atlasvogel für unser Museum.“ Die beiden anderen Atlasvögel waren davon geflogen, und die beste Gelegenheit zum Inspizieren der Laube war gegeben. Franz zeichnete dieselbe, während Holm sich anschickte ein frugales Mahl zu bereiten. Nachdem dieses eingenommen, machte man sich auf den Rückweg, und zur rechten Zeit, noch vor Sonnenuntergang, erreichten sie das Lager.

Am folgenden Tage begann die Durchforschung des Strandes. Schwarze Austernfische fanden sich reichlich, viele hübsche Reiher und weiße schwanenartige Vögel, ebenso auf den Klippen der nur in Australien lebende weiße Hummer und sehr schöne Schnecken und Muscheln, welche die Flut zu hoch hinauf geworfen, als daß ihnen der Rückzug ins Meer noch möglich geworden wäre. Hier sah man auch die Makadamas auf dem Gebiet ihrer eigenen Thätigkeit; sie zimmerten Kanoes, sogenannte Einbäume von alten umgewehten Baumstämmen und zwar mit den Eisenteilen gestrandeter Schiffe. Ohne alle Meßinstrumente, ohne Beil oder Säge, nur mit eisernen Faßreifen, die spitz und scharf geschliffen waren, brachten die Wilden schlanke, schnell dahinschießende Fahrzeuge zu stande; auch platte Doppelruder, die blitzartig von einer Hand zur andern flogen und bei jeder Drehung über den nackten Körper des Schiffers einen Tropfenregen ergossen, hatten diese Boote, denen die Sitzbretter gänzlich fehlten, und deren hinterer Teil zollhoch mit Wasser überspült war. Die dreizackige Harpune des Ruderers brachte nach jedem Stoße einen zappelnden Fisch aus der Tiefe mit herauf.

Während die Weißen über den klippenreichen, vielfach ganz unpassierbaren Strand dahingingen und sich an solchen Punkten, deren Ausläufer wie Kaps bis ins Meer vorsprangen, wieder landeinwärts schlugen, entdeckten sie in den Kronen der Bäume eine Anzahl längliche Pakete, deren Form unschwer erkennen ließ, daß hier auf die Weise der Dajaks Leichen dem Verfall ausgesetzt worden waren, nur insofern anders, als man dort die Gestorbenen den Raubvögeln preisgab, während hier, wo diese fehlten, der Körper in Baumrinde gewickelt, mit Bast umschnürt und am Waldrande aufgehängt wurde, damit ihn die Sonne vertrockne.

Nachdem der Ankerplatz erreicht worden, nahmen die Reisenden, so gut als dies bei der gänzlichen Unkenntnis der Sprache möglich war, Abschied von den Wilden, die auch hierher nachgelaufen kamen und sich bei den vielen Schüssen, welche sie an diesem Vormittag schon gehört, einigermaßen mit Klang und Wirkung vertraut gemacht hatten. In der Bai, wo das Schiff lag, apportierten sie sogar, wie gut geschulte Hunde. Sich hinter Bäumen versteckt haltend, so oft einer der Weißen zielte, sprangen sie in das Wasser und brachten den getroffenen Vogel zwischen den Zähnen herbei.

Alle blanken Knöpfe, Kattunstückchen, Metallringe und namentlich ein Spiegel wurden unter die bemalten Gestalten verteilt; — den kleinen Rasierspiegel erhielt eine Frau, die sogleich, als sie ihr eigenes, nie gesehenes Antlitz erblickte, hinter das Glas griff und die vermeintlich Fremde aus dem Versteck hervorziehen wollte. Erst durch verschiedene Versuche über den Irrtum dieser Anschauung belehrt, schien sie zu glauben, daß hier etwas Geheimnisvolles, Geisterhaftes vorgehe; sie gab das Glas einem der anwesenden Männer, dessen Gesicht sich vor Schreck zusehends verlängerte. Er legte den Spiegel auf den Rand eines Felsens und schlich leise herzu, ganz geräuschlos, als wolle er den Zauber da drinnen überlisten, — Zoll um Zoll hob sich der schwarze Kopf, endlich hatten die Augen den Rand des Glases erreicht, zaghaft sah er hinein und fuhr eben so schnell zurück, — wieder das feindliche Gesicht!

Und dann machte er es anders. Er trat hinter den Spiegel, er ließ eine längere Pause vergehen; der Bursche da drinnen sollte offenbar denken, daß jetzt niemand mehr in der Nähe sei. Ein Lächeln des Triumphes flog über die wulstigen Lippen; plötzlich wie der Blitz sah er wieder hinein, noch dazu mit schadenfroh hervorgestreckter Zunge. —

Aber was war das? Vor Schreck und Furcht blieb er zum Ergötzen der Weißen in seiner einmal angenommenen Stellung unbeweglich stehen. Im Haar, triefend von Thran, den gelben Ocker, Nase und Kinn feuerrot, am ganzen Körper streifenweise rot und weiß beschmiert, den einen Fuß unternehmend vorgestreckt, die Zunge lang heraushängend, so sah er zornfunkelnden Auges in das Glas. Jener andere unterstand sich, die Herausforderung zu erwidern; ja mehr noch, er äffte ihn; er machte ihm alles nach, selbst die kleinste Bewegung.

Das sollte er bereuen. Der Wilde legte den Spiegel platt auf den Felsen und führte mit einem Ruder, welches sich in der Nähe befand, einen so wuchtigen Hieb, daß nun nach seiner Berechnung der feindliche Schädel in Stücke zerschmettert war; dann trat er herzu, um mit der Miene befriedigter Rache die Splitter noch ein paarmal zu treffen, besonders einen, welcher der Vernichtung bis auf die Größe eines halben Groschens entronnen war. Er hob das Stückchen vom Boden und brachte es nahe ans Gesicht — wieder der spukhafte Gegner!

Das ging denn doch über den Spaß. Die verhängnisvolle Scherbe mit einem einzigen Ruck weit hinaus schleudernd in das Meer, floh er hasengleich zurück zum Walde und verschwand zwischen den Bäumen auf Nimmerwiedersehn. Wahrscheinlich erfreute sich dieser Tapfere bei seinem Stamme eines besonders hohen Ansehens, denn nachdem er in der bezeichneten Weise das Signal gegeben, rannten ihm alle wie die Schafe dem Leithammel nach, so schnell sie konnten, bis kein einziger mehr zu erblicken war. Die Weißen riefen und pfiffen, um sich noch länger mit den Naturkindern zu unterhalten; aber es nützte alles nichts; der Strand war und blieb ausgestorben.

Man häufte noch einige alte Waffen, Eisengeräte und Ketten als Abschiedsgeschenke an sicherer Stelle auf, und dann wurde die kleine Insel umfahren, späterhin aber der Besuch bei den Echaus sehr abgekürzt, weil sich dort in bezug auf Land und Leute gegenüber der anderen Inselhälfte durchaus nichts Neues ergab. Hier wälzte sich ein breiter Fluß vom Walde her bis in den Ozean; die Gelegenheit, das Innere kennen zu lernen, war also günstiger als vorhin im Lande der Makadamas. Unsere Freunde bestiegen das große Boot und ruderten, vom schönsten Südwind getrieben, langsam stromauf in den schweigenden Wald hinein. Der Matrose, welcher sich als Taucher schon in der Bucht von Celebes bewährt hatte, war samt dem Apparat mitgenommen worden, und Holm freute sich auf neue Tiefseegeschöpfe, vorher aber mußte man den Grund kennen lernen, um zu erfahren, ob er auch nicht etwa verschlammt sei. Das Patentlot glitt in die Tiefe hinab und brachte günstigen Bescheid; etwa acht Meter Wasser und fester Kiesboden; außerdem offenbar Korallenbildungen, — besser konnte es gar nicht sein.

„Wir wollen zweimal nachsuchen,“ rief der Matrose, „erst hier, wo noch das Wasser salzhaltig ist, und später mitten in der Insel. Zwischen den Korallenstöcken am Strande sitzen gewöhnlich die großen schönen Muscheln.“

Holm sah bedenklich über das Meer hinaus. „Aber die Haie!“ warnte er.

„Bah, die kommen nicht so nahe an die Grenze des süßen Wassers. Wir sind schon über hundert Schritt in den Fluß hinein. Nebenbei bemerkt man auch ein solches Ungeheuer zeitig genug.“

Die Rüstung wurde also angelegt und der moderne Ritter über Bord gelassen. Die Wellen zogen große Kreise, der Apparat that seine Schuldigkeit und schon nach wenigen Minuten kam das Zeichen zum Hinaufziehen. Eine Sammlung wundervoller Pflanzentiere gelangte in das Boot, vielverzweigte, braune Stämme mit goldgelben Blumen und zarten Rosarändern, Geschöpfe, die in der Naturgeschichte zwischen Korallen und Quallen stehen, außerdem Schwämme wie feines gesponnenes Glas, große Seltenheiten in den Museen, und wieder andere wie riesige Handschuhe, andere wie Blumenkörbe; — Holm hätte vor Vergnügen gern einen Luftsprung gemacht, wenn nur ein Boot auf hohen Wellen dazu der geeignete Schauplatz gewesen wäre. „Da unten sind wahre Unmassen,“ berichtete der Matrose, „ich kann Ihnen ganze Säcke voll heraufschaffen. Und dieses Getier, diese Spinnen, Krabben, Würmer, Schnecken! — jeder Punkt hat seinen Bewohner. Nur die Algen sind ganz dieselben von der Celebessee.“

Er wurde wieder hinabgelassen, die jungen Leute bewunderten und sortierten emsig das nasse Durcheinander auf den Brettern; besonders der Schwamm wie eine Blume aus Glasfäden erregte ungeteilten Beifall; Holm erzählte eben, daß ihn die Frauen der Südseeinseln als Kopfputz tragen, da wurde plötzlich von unten her das Signal zum Heraufziehen gegeben, aber so hastig, so wiederholt, daß der Eindruck des Außergewöhnlichen, des Erschreckens sich im selben Augenblick bei allen Anwesenden geltend machte.

„Großer Gott,“ rief Holm, „wenn es ein Hai wäre!“

Alle Arme spannten sich an die Taue, alle zogen mit der Kraft der Angst, — wie ein Ball hätte nach ihrer Berechnung der Taucher an die Oberfläche gelangen müssen, — aber dennoch rührte sich da unten nichts, dennoch hing es bleischwer in der Tiefe und schien aller Bemühungen der Matrosen zu spotten. Wieder und wieder kam aus dem Wasser das Signal.

Kalter Schweiß stand auf Holms Stirn. Hatte etwa ein Hai den Unglücklichen gepackt, und hing er selbst mit seiner ganzen Schwere an dem nur für einen Menschen berechneten Seile?

„Zieht! Zieht!“ rief er mit erstickter Stimme. „Um Gottes willen, thut euer Möglichstes, den Mann zu retten!“

Diesmal hingen sich sogar der Doktor und Hans mit an die Taue, alle Hände bluteten, alle Muskeln spannten sich auf das äußerste, langsam, ganz langsam wurde die Last heraufgehoben. Unheimliche Stille lag auf dem ganzen kleinen Kreise; es schien, als fürchte jeder, den entsetzlichen Vermutungen, welche er hegte, durch Worte Ausdruck zu verleihen. Was würde man binnen wenigen Minuten vielleicht sehen, was zog man Unheimliches, Vielhundertpfündiges da aus dem verborgenen Schoße des Meeres hervor?

Jetzt, jetzt mußte es kommen.

Über dem Wasser erschien der Kopf des Tauchers, die Rüstung war unversehrt, aber als der Mann emporsah, sprachen aus seinem blassen Gesicht Furcht und Verwirrung. — Ein Ruck noch, dann zeigte sich aller Augen das Geschehene.

Um den Körper des Tauchers hatte sich von hinten her eine der größten Quallen, eine Sepie mit vier furchtbaren Armen festgeklammert. Diese letzteren, anderthalb Meter lang und von der Dicke eines starken Ofenrohres, besaßen einen gemeinsamen Mittelpunkt, den mißgestalten Körper, an welchem der befranste, unförmliche Mund ohne Kopf zwischen den Vorderarmen saß und immerwährend mit den Fühlern nach einer offenen Stelle zum Saugen tastete. Offenbar hatte das Ungeheuer der Tiefe den Mann so fest umfaßt, daß ihm der Atem auszugehen drohte; wenigstens schien er beinahe leblos.

Die Sepie ließ auch außerhalb des Wassers nicht von ihrem Opfer; sie mußte aus stärkerem Stoff sein, als ihre kleinen Verwandten; die Axthiebe, welche jetzt Rumpf und Arme trennten, trafen auf eine ziemlich widerstandsfähige Masse, die mehr zähe als fest war und unglaublich viele Saughaken besaß.

Das alles ging zauberschnell, ohne Worte oder Befehle, ohne irgend welche Hindernisse von statten. Die Rüstung wurde abgestreift, der Körper des Scheusals am Rumpf zerschnitten und der Taucher von allen beengenden Einflüssen frei gemacht. Nachdem man ihn gerieben, gewalkt und ihm etwas Rum eingeflößt, kam er langsam wieder zu sich. Ihm war außer der erlittenen Todesangst kein weiterer Schaden geschehen. Erst jetzt wandte sich die Aufmerksamkeit der Reisegefährten dem Untier zu, Franz legte die einzelnen Glieder wieder aneinander, und Holm maß die stattliche Länge von drei und einem halben Meter, wobei jedoch der Matrose versicherte, daß er die häßlichen Geschöpfe schon doppelt so groß gesehen. Er erzählte nun auch, wie sich der Polyp ihm von hinten unbemerkt genähert und ihn umfaßt habe, als wolle er ihm alle Rippen zerbrechen. „Ich versuchte es, den ersten Arm abzulösen,“ sagte er, „aber das war unmöglich; im Gegenteil faßten drei andere nach, und nun ging mir der Atem aus. Was geschehen ist, nachdem ich ein paarmal das Zeichen zum Aufziehen gegeben, kann ich mich nicht mehr erinnern, jedenfalls aber hat mich die Rüstung vor dem sichern Tode geschützt. Diese Saugapparate lassen gutwillig nichts, was sie einmal erfaßt haben, wieder los.“

„Fort damit!“ rief Franz. „Mag sich ein Hai die Überreste holen.“

Schaufeln halfen das Boot von den Überresten des Tieres reinigen, und dann wurde die Fahrt fortgesetzt. „Ich tauche doch noch wieder,“ meinte der Matrose, „nur die Rippen thun mir ein bißchen weh, sonst ist nichts passiert. Langweilige Gegend, was?“

„Düster, düster wie das ganze eigentliche Australien!“ versetzte Holm. „Harte, steife, dunkelgrüne, verholzte Blätter, kein Tierleben, keine Menschenwohnungen, keine Anfänge der Kultur, — woher soll da die Schönheit kommen? Auf dem Festlande, soweit diese Bezeichnung zulässig ist, wird es nur wenig besser; erst die Inseln des Großen Ozeans bringen wieder tropische Vegetation und reichere Tierwelt, wenigstens was Vögel und Insekten betrifft.“

„Hier ist aber auch gar nichts zu finden,“ sagte Franz. „Echaus heraus, damit man euch endlich einmal kennen lernt!“

Niemand beantwortete den Kriegsruf, nur eine Schar Kasuare galoppierte über die Ebene, und ein wilder Hund bellte, sonst blieb alles still. An einer von Wald und Busch umsäumten lichten Stelle trafen die Schiffer die ersten menschlichen Wesen, eine Schar kleiner, krüppelhafter und affenähnlicher Geschöpfe, die zum Teil aus Erdlöchern hervorsahen, zum Teil stumpfsinnig im Sonnenschein dalagen, ohne sich um das Boot mit den Fremden irgendwie zu bekümmern. Holm und auch die übrigen riefen ihnen verschiedene Worte zu, die indessen unbeachtet verhallten, so daß es den Weißen zweifelhaft schien, ob diese tierischen Wesen überhaupt eine bestimmt geordnete Sprache besaßen. Es war sehr begreiflich, daß sich die Echaus den Makadamas gegenüber in respektvoller Entfernung hielten, jedenfalls mußten sie, so roh und unkultiviert auch diese letzteren sein mochten, doch im Kampfe mit ihnen entschieden den kürzeren ziehen.

Ein zweiter Tauchversuch schaffte eine tüchtige Mahlzeit gewöhnlicher Krebse, weiter nichts; Fluß und Wald waren gleich arm an Produkten wie an Reiz. So wurde denn die ungastliche Küste der Echaus sehr bald verlassen und an Bord der Fang des ersten Zuges in Sicherheit gebracht.

S. 377.

Der Taucher und die Sepie.
„... die Axthiebe, welche jetzt Rumpf und Arme trennten, trafen auf eine ziemlich widerstandsfähige Masse ...“

Das Schiff steuerte nun in wochenlanger Fahrt um die ganze Osthälfte des australischen Festlandes und erreichte ohne bemerkenswerte Zwischenfälle Sidney, die Hauptstadt von Neu-Südwales, noch vor sechzig Jahren ein elender Ort für deportierte Verbrecher Englands, jetzt eine große Stadt. Vom Hafen aus wurde sogleich eine Reise in das Innere angetreten, zuerst mittels der Eisenbahn, dann zu Wagen, und nachdem die Grenze der Kolonie erreicht, hoch zu Roß unter Führung von Engländern und Deutschen, die mit den Australnegern im besten Einvernehmen standen und außerdem bis an die Grenzen des bekannten Innern schon mehrmals vorgedrungen waren.

Aber wie traurig war gegen die schönen Sundainseln, gegen das entzückende Ceylon hier die ganze Umgebung! Busch und Sand, Sand und Busch, so wechselte es mehrere Tage lang, bis endlich langgestreckte Weiden, von Hunderttausenden von Schafen bedeckt, eine geringe Veränderung boten. Am Saume dieser Grasflächen stand jedesmal das Hüttendorf des wandernden Stammes, dem die Tiere gehörten, und bei dem nächsten wurde Halt gemacht. Das Dorf selbst hatte rohgearbeitete, niedere, wie Maulwurfshaufen neben einander liegende menschliche Wohnungen, die hier nirgends auf Pfählen standen, sondern viel eher sogar um einen oder mehrere Fuß tief in den Boden hineingegraben waren. Das spitze Dach trugen ein paar starke Pfähle; Blätter und Zweige, auch wohl Stücke von lebendem, lustig wachsendem Gras bildeten die Bedeckung; Fenster gab es nirgends. Das Seltsamste an diesen Gebäuden aber war, daß sie sämtlich keine Vorderwände hatten, auch nicht einmal eine Andeutung derselben, keine Matte oder Vorhang, sondern nur die weit offene Front, vor der gewöhnlich ein helles Feuer brannte. Jeder Stamm hatte nur einen losen Verband, an der Spitze eine Art von Häuptling; der des ersten Dorfes hieß Wi-Tako und war ein großer, starker, alter Australneger, dessen finstere Blicke, im Verein mit dem unförmlichen durch die Nase gezogenen Knochen und der dunkelblauen, den ganzen Neger bedeckenden Malerei ihm ein wenig angenehmes Äußere verliehen. Desto eigentümlicher war die Kleidung, welche bei ihm und bei allen übrigen, sogar auch den Frauen, aus einem langen, vom Kopf bis zu den Füßen reichenden Mantel aus Opossumfell bestand, dazu eine Mütze vom selben Stoff und unter den Sohlen eine Art von ledernen Sandalen. Die Leute schienen sämtlich Hirten zu sein; sie zogen in den wasserarmen Gegenden von Busch zu Busch und fristeten offenbar ein kümmerliches Dasein, obgleich neben den Dorfhütten auch bebaute Strecken auf eine gute Ernte hinzudeuten schienen. Mürrisches Wesen, Roheit und Mißtrauen bildeten die Grundzüge des Volkscharakters.

Häuptling Wi-Tako, der wie die meisten seiner Unterthanen ein leidliches Englisch sprach, bot den Weißen als Aufenthalt eine gerade leer stehende Hütte und lud sie ein, an einer großen für den folgenden Tag festgesetzten Känguruhjagd teilzunehmen; die „Gins“ oder Frauen des Stammes brachten ein steinhartes, bleischweres Brot aus Maismehl, getrocknetes und wieder gekochtes Schaffleisch, sowie ein Gemüse aus Bohnen oder Linsen; dann überließ man die Gäste, ohne weiter Notiz von ihnen zu nehmen, sich selbst, offenbar erstaunt, daß vor ihrer Hütte kein Feuer entzündet, wohl aber der Eingang mit Wolldecken verhüllt wurde. Die Frauen betasteten sogar das Gewebe, flüsterten unter einander und setzten sich dann wieder zu der Wolle, welche verfilzt und verworren in großen Haufen neben jedem Feuer lag, um mit einer Art von grober, hölzerner Hechel vorerst des reichlichen Schmutzes entkleidet zu werden. Sie sahen aus wie eine Gesellschaft zahmer, kränklicher Affen, diese Weiber, besonders die alten, skelettartig mageren, wie sie zusammengekauert unter dem formlosen Fellmantel dasaßen und schweigend Wolle kratzten, anscheinend ohne eine Ahnung, daß aus eben diesem Stoff die leuchtend roten, zartbraunen und weichen Decken der Reisenden gewebt seien. Arm, roh und unwissend in einem Lande ohne Schönheit oder pflanzlichen Reichtum, scheinen sie Stiefkinder der Natur selbst den nackten afrikanischen Wilden gegenüber.

Kein Wasserstreif unterbrach das Gelbgrün des Bodens, wenig Vögel sangen im Busch, und selten nur belebte ein lauterer Schall die Öde. Als der Abend dämmerte, legten sich aller Orten die Schafe in gedrängten Massen zum Schlaf, große magere Hunde umkreisten die Herden, der Hirte im Fellmantel entzündete sich ein Feuer und kochte sein Abendbrot, Wald und Busch verschwammen zum grauen Ganzen; es lief wie die erste Ahnung der nahenden kalten Zone über den Rücken der Reisenden herab, und fester und fester hüllten sich alle in ihre Decken.

„So geht es noch Hunderte und Aberhunderte von Meilen fort,“ sagte Holm. „Das Innerste von Australien ist gerade so unbekannt, wie das des äquatorialen Afrika, es kann aber unmöglich die Forschung in gleichem Grade anziehen, weil das Tier- und Pflanzenleben keinen Reichtum verheißt, weil man den Boden als wasserarm und daher den Ertrag als dürftig kennt. Hier an den Grenzen des der Kultur gewonnenen Landes betreiben die Einwohner noch Schafzucht und Wollhandel, weiterhin in der felsigen Gegend hört auch das auf, da lebt man von der mageren Ernte und vom Raube, da bewohnt man Höhlen und hat den leichtsinnigen, zum fröhlichen Nichtsthun geneigten Charakter solcher Völker, die gar kein Eigentum besitzen. Wir werden auch die Eingebornen der Berge kennen lernen.“

„Wie lange bleiben wir denn hier, Karl?“ fragte Franz.

„Hm, übermorgen geht’s fort, denke ich. Die große Känguruhjagd müssen wir doch jedenfalls mitmachen.“

Dem stimmten die übrigen lebhaft bei; es wurde noch eine Zeitlang halblaut gesprochen; zuweilen wieherte im Busch eins der Pferde, zuweilen flog eine Fledermaus durch den engen Raum oder ein fliegender Fuchs mit spitzer Schnauze; dann schliefen alle, bis sie bei Tagesanbruch durch einen langgezogenen, lautschallenden Ton erweckt wurden. Häuptling Wi-Tako in eigener Person sammelte seine Scharen zum großen Treiben, dem die Feinde der bebauten Felder, die überhand nehmenden Känguruhs, erliegen sollten. Mit einem Muschelhorn vor den Lippen, ohne Mantel, nur angethan mit dem Nud-le-bul oder breiten Gürtel aus Tierhaut, ganz kornblumenblau angemalt, auf Brust und Rücken abscheuliche Tier- und Fratzenbilder von Narben, so stand er da und blies gellende, unharmonische Töne, die indessen von allen Eingebornen verstanden und deren Befehle sofort vollzogen wurden. Schar auf Schar trabte herbei, jeder einzelne Mann bekleidet, bemalt, und tättowiert wie der Häuptling selbst, jeder bewaffnet mit dem gefürchteten Bumerang, jener hölzernen, einen Meter langen, krummen und im Fliegen einen Bogen beschreibenden Waffe, sowie einem Wurfspieß, einem steinernen Hammer und einem Messer, das in der Scheide vom Nud-le-bul herabhing. Als ein paar hundert Männer versammelt waren, wurden die Befehle zur Aufstellung gegeben und mit größter Pünktlichkeit ein Buschgebiet von einer Viertelmeile im Umkreis des Dorfes förmlich umstellt. Unsere Freunde hatten, da die Wilden unberitten waren, auch ihrerseits die Pferde weggelassen und sich bei seiner blaugefärbten Majestät nur ausbedungen, während der Jagd nicht von einander und nicht von den Führern getrennt zu werden. So standen sie denn unter den ersten, ziemlich blassen Strahlen der australischen Sonne im hohen Gras und warteten der Dinge, die da kommen sollten. Hierher wollten die Neger aus dem Busch heraus das sonderbare, springende, einer Riesenmaus nicht unähnliche Geschöpf bis auf die freie Fläche treiben und dort töten; die geladenen Büchsen harrten ihrer Opfer.

Von ferne erklangen jene greulichen Töne der Muschelhörner; zuweilen schlüpfte ein Opossum oder eine Ratte, beunruhigt durch die ungewohnte Störung, eilends vor den Füßen der Jäger vorüber, ein paar Kasuare reckten die langen Hälse, Erdpapageien sahen aus ihren Löchern hervor, Trappen, Tauben und Hühner flatterten vom Walde herüber und Dingos sprangen mit großen Sätzen ins Freie; die Weißen hatten schon hübsche Beute gemacht, ehe noch die ersten Känguruhs aus den Büschen brachen. Das Geschrei der Wilden tönte näher und näher; erst zu zehn und zwanzig, dann zu Hunderten erschienen die aufgescheuchten Tiere und wurden reihenweise von den Bumerangs, sowie von den Wurfspießen der Australier niedergemacht. Fast anderthalb Meter hoch, mit unförmlich langen, fleischlosen Hinterbeinen und einem sehr dicken, meterlangen Schwanz, der beim Sitzen als Stütze dient, hatten die Känguruhs einen graubraunen, auf dem Rücken dunkleren Pelz, der am Bauche bräunlichweiß erschien und in grauen Streifen über das Gesicht lief; die Vorderbeine waren unverhältnismäßig kurz und der Hinterleib plump; alle weiblichen Tiere hatten die bekannten Beutel, in denen sich nackte Junge an den Zitzen ihrer Mütter festhielten.

Etwas vom Kaninchen, etwas von der Maus, ganz eigenartig mit Rücksicht auf den Stützschwanz, zuweilen mittels der Hinterläufe die kräftigsten Schläge austeilend, so erregte das im zoologischen Garten oft gesehene Tier hier in vollster Freiheit das Interesse aller Beschauer, namentlich durch die enorme Anzahl, in welcher es erschien. Fünf- bis sechshundert Känguruhs wurden an diesem einzigen Morgen erlegt und von den „Gins“, nachdem sie ihrer Bälge entkleidet, ins Dorf geschleppt, um dort als leckerer Bissen in den Topf zu wandern.

Unsere Freunde entschlossen sich erst auf das Zureden der Führer, auch ihrerseits einen jungen Bock zu braten und zu kosten. Hatten sie doch im Gefängnis von Madagaskar sogar einen Mückenkuchen genossen, der, wie Franz erinnerte, sogar ganz vortrefflich geschmeckt, — es kam nur auf den ersten Entschluß an.

Das übliche Feuer vor der Hütte flackerte lustig empor, das Känguruh wurde von den Händen der Führer kunstgerecht ausgeweidet und an den mitgebrachten Bratspieß gesteckt; dazu kochte man einheimisches Gemüse, für dessen Bereitung das Wasser weit hergeholt werden mußte, und endlich jenen Kaffee, der nach der anstrengenden Morgenjagd allen gleich wohlthat, den zu kosten aber die Eingebornen sich beharrlich weigerten. Nach dem Frühstück, bei dem das Känguruh als wohlschmeckender Braten von den Reisenden vollständig aufgezehrt wurde, zeigte Wi-Tako seinen Gästen die Umgebung des Dorfes und unter anderem auch das Feld, welches während einer der vorigen Nächte von den Känguruhs überfallen und seiner Früchte vollständig beraubt worden war. „Wenn es mit den springenden Tieren zu arg wird, schlagen wir ein paar hundert tot,“ sagte er, „dann verläßt der überlebende Rest die Gegend. Die Felle verbrauchen wir zu Mänteln und Decken, das Fleisch wird verzehrt oder, wenn die Gelegenheit günstig ist, nach den Städten hin verkauft. Die Kolonisten bezahlen es teuer.“

„Und sonst habt ihr keinerlei Jagd?“ fragte Franz.

„Ein paar Vögel vielleicht,“ entgegnete der blaugefärbte, mit einem gewaltigen Nasenknochen geschmückte Monarch, „aber viel ist es nicht. Wir leben von der Schafzucht.“

„Und was betreibt ihr denn zur Unterhaltung,“ fragte wieder der durch das Einerlei der Umgebung schon heimlich angefröstelte junge Mann, „wodurch erfreut ihr euch oder belebt den Mut, die Lust zur Arbeit? Es muß doch grenzenlos langweilig sein, so fortwährend Schafe zu hüten und zu scheren.“

Der Häuptling tutete wieder in das Muschelhorn hinein, worauf sich vom Dorf her ein langer Zug in Bewegung setzte, junge Männer sowohl als junge Mädchen, alle auf das abschreckendste bemalt, alle nur mit dem Nud-le-bul bekleidet und mit gewaltigen Masken aus Flechtwerk oder buntgefärbtem Thon versehen. Nachgemachtes Haar hing von diesen, die natürliche Größe dreifach überragenden Köpfen in Unmasse herab, die Gesichter waren scheußliche Fratzen, zum Teil sogar Tierköpfe, zum Teil feuerrot oder gelb angestrichen. Die affenartig langen, mageren Arme und Beine der Neger, die sinnlose Farbenverteilung und die Riesenköpfe bildeten ein Ganzes, das durch Häßlichkeit abstieß, dennoch aber in seiner Originalität und als nie Gesehenes das Interesse der Zuschauer in Anspruch nahm.

Die Neger entzündeten mittels Aneinanderreiben zweier dürrer Holzstücke einen Scheiterhaufen, der vorher schon dort zusammen getragen worden war; dann bildeten sie um die brennende Masse eine Kette und begannen zu tanzen, indem die Hände klappernd auf die Kniee schlugen und nach einem einigermaßen erkennbaren Takt ein geheulartiges Singen oder Schreien, begleitet von Fußstampfen, die Luft zerriß. Immer schneller und schneller wurden die Sprünge, immer teuflischer erschienen in der grellroten Beleuchtung die schwarzen Gestalten, immer rasender drehten sich im Kreise alle diese gehörnten, mit Vogel- und Mäuseköpfen verzierten Menschen; hier verschwand in windgetragener Rauchwolke ein Teil der Tanzgesellschaft, hier erglänzte von Funken übersäet ein anderer, und zwischen allen diesen tollen Springern stand, auf dem Muschelhorn tutend, der Häuptling, zuweilen unwillkürlich die Bewegungen der Tänzer nachahmend, zuweilen von seinen langgezogenen Klängen zu kurzen, schrillen, schnell auf einander folgenden übergehend und dann wieder im tiefsten Moll das Geheul der tanzenden Stammesgenossen begleitend.

Nach diesem Tanz kam ein Kampfspiel, wobei die Bumerangs durch die Luft flogen, Spieße und Hämmer weidlich geschleudert wurden und ein Handgemenge mit blitzenden Messern den Einzelkampf versinnlichte. Hier lag ein Schwarzer scheinbar leblos, dort schwenkten und flüchteten andere, ganze Scharen drangen im Sturmschritt vorwärts, Gebrüll und Kampfrufe erschütterten die Luft, selbst das Wehklagen der Sterbenden wurde nachgeahmt, und endlich näherten sich vom Dorfe her die Gins, um mit verhüllten Gesichtern, schreiend und weinend bei den Gefallenen in das Gras zu sinken. Diese ganze Komödie zeigte ein starkentwickeltes Schauspielertalent der Neger; sie kam in manchen Szenen der Wirklichkeit bis zur Täuschung nahe und wurde schließlich von den Weißen durch reichlich gespendete Scheidemünze belohnt.

Es war während der Vorstellung fast Abend geworden; die Scharen der Tierkopfträger und Bemalten, der Bumerangkämpfer und wiedererstandenen Toten wanderten zum Dorfe zurück; helle friedliche Feuer und lagernde Herden begrüßten die Heimkehrenden, nochmals gab es Känguruhbraten, und dann senkte sich die Nacht herab auf diese armen, aber zufriedenen Menschen.

Am andern Morgen wurde die Reise in das Innere weiter fortgesetzt. Große Wälder der gleichen, düsteren, einförmigen Art führten hinauf in das Gebirge.

Wie arm doch das Tierleben war! Wenig Schmetterlinge und Insekten, wenig Singvögel, an Vierfüßlern nur die kleinen Opossums und das Schnabeltier, der Ameisenigel, welcher mit heraushängender, klebriger Zunge wie tot am Boden lag und die ahnungslosen Tierchen zu Hunderten auf den Leim lockte, ehe er sie plötzlich mit einem einzigen Ruck in die Tiefe seines Magens beförderte, um dann dasselbe Spiel von neuem zu beginnen. Auch das einen halben Meter lange Schnabeltier mit dem rüsselartigen Kopf lebte in Erdlöchern, die sich zahlreich neben einander befanden und aus deren Eingängen die tiefliegenden Augen der scheuen Bewohner neugierig hervorsahen, um dann blitzschnell wieder zu verschwinden. Es kostete eine ähnliche Anstrengung wie bei den Beuteltieren der Nightinsel, um ein Männchen zum Schuß zu bringen, schließlich gelang’s aber doch, und Holm präparierte den Balg, um ihn sogleich an Bord der „Hammonia“ auszustopfen und nach Hamburg zu schicken.

So ritt unsere Schar vierzehn Tage lang ins Innere des fünften Erdteils, oft unter großen Entbehrungen für Menschen und Tiere. Als man endlich von einem Gebirgsrücken aus unabsehbar weite Ebenen vor sich sah, deren trostlos trockene Weiten auch keinen grünen Halm für die treuen Pferde verhießen, da hielt man es doch für geraten, die Küste wieder zu gewinnen.

Alle Führer rieten das Gleiche, und so zog die wanderlustige Schar über Berg und Thal den Gestaden des Meeres wieder entgegen, freilich in ganz anderer Richtung als der des Hafens, wo das Schiff lag, hinunter zu den Australnegern der wildesten Gegenden. Die Vegetation ging allmählich über in mehr südlichere Formen, die Vogelwelt wurde mannigfaltiger, schöne Papageien und die noch nirgends gesehenen schwarzen Kakadus füllten die Bäume, Palmen tauchten vereinzelt aus dem Fichtenwalde empor, wildes Zuckerrohr, Kautschukbäume, blühende Theesträuche, Orchideen und viele Kräuter sowie Schlinggewächse bedeckten den Boden. Die Führer warnten jetzt die Reisenden, auf der Hut vor der gefährlichen Schwarzotter zu sein, deren Biß tödlich werden könnte, wenn sie sich im gereizten Zustande befände oder ihr Giftzahn eine blutreiche Stelle des Körpers träfe.

Holm erkundigte sich, ob die Buschotter häufig in Australien vorkomme.

„Sie ist in einigen Gegenden eine förmliche Landplage,“ ward ihm zur Antwort. „Wo sie häufig vorkommt, kann man sich ihrer kaum erwehren. Man mag sich befinden, wo man will, in dem tiefsten Walde oder im dichten Heidegestrüpp, in den offenen Heiden und Brüchen, an den Ufern der Teiche, der Flüsse oder Wasserlöcher, man darf sicher sein, daß man seiner ingrimmig gehaßten Feindin, der Schwarzotter, begegnet. Sie dringt bis in das Zelt oder die Hütte des Jägers; sie ringelt sich unter seinem Bettlaken zusammen, sie legt sich unter seinen Stuhl und kriecht in Kisten und Kasten. Es ist zu verwundern, daß nicht weit mehr Menschen durch sie ihr Leben verlieren, als wirklich der Fall ist. Gegen Ende des März verschwindet sie, um ihren Winterschlaf zu halten, im September aber kommt sie ausgehungert wieder zum Vorschein und ist dann im höchsten Grade beißlustig und gefährlich. Ihre Bewegungen sind schneller als die anderer Giftschlangen, nicht selten verläßt sie das feste Land, um entweder auf Bäume zu klettern oder sich in das Wasser zu begeben.“

„Greift die Schwarzotter den Menschen an?“ fragte Franz.

„In der Regel nimmt die Schwarzotter eiligst die Flucht, wenn sie einen Menschen zu Gesicht bekommt,“ wurde ihm Bescheid. „In die Enge getrieben und gereizt, ja nur längere Zeit verfolgt geht sie ihrem Angreifer jedoch kühn zu Leibe und hat sich deshalb bei den Ansiedlern auch den Namen „Sprungschlange“ erworben. Die Schwarzen fürchten diese Schlange ungemein, trotzdem daß sie selten von ihr gebissen werden, und zwar aus dem einfachen Grunde, weil sie nur mit äußerster Vorsicht ihres Weges dahin gehen und ihre Adleraugen alles entdecken, was sich vor ihnen regt und auch nicht regt. Lange Gewohnheit hat sie in hohem Grade vorsichtig gemacht, so daß sie niemals eine Vertiefung durchschreiten und niemals in ein Loch treten, das sie nicht genau übersehen können. Sie essen Schlangen, welche sie selbst getötet haben, niemals aber solche, welche, wie dies oft geschieht, sich im Todeskampfe selbst einen Biß beigebracht haben.“

Hans wollte hierauf wissen, ob die Schwarzotter nur kleinen Tieren nachstellte, oder sich auch an größere Säugetiere wagte?

„Leider beißen sie in ihrer Wut Rinder und Schafe, die sie zu verzehren nicht imstande sind. Viele Kühe und Schafe, welche man im Sommer sterbend oder verendet auf den Ebenen liegen sieht, sind durch den Biß der Schlange zu Grunde gegangen, obgleich die Schafe viele dieser gefährlichen Geschöpfe töten, indem sie mit allen vier Füßen auf ihren Feind springen und ihn zerstampfen.“

„Also vorgesehen,“ mahnte Holm.

Plötzlich stieß Rua-Roa einen durchdringenden Schrei aus. Alle standen still.

Vor dem Malagaschen erhob sich eine schwarze Schlange von etwa zwei Meter Länge. Ihr lebhaft blaßrot gefärbter Bauch schimmerte im Sonnenlichte, ihre Augen funkelten. Den Kopf hatte sie zurückgelegt, den Rachen mit den Giftzähnen weit zum Bisse aufgesperrt. Rua-Roa schien rettungslos verloren.

„Die Schwarzotter!“ rief der Führer erschrocken.

S. 386.

Rua-Roa und die Buschotter.
„Plötzlich stieß Rua-Roa einen durchdringenden Schrei aus.“

Ehe jedoch die Schlange zum Bisse ausholen konnte, hatte Franz in Blitzeseile die mit Schrot geladene Flinte angelegt und losgedrückt. In scheußlichen Ringeln wälzte das getroffene Tier sich im Grase. Rua-Roa sprang zurück und war gerettet. Eine Sekunde später und er wäre dem giftigen Reptil zum Opfer gefallen.

Die Schlange krümmte sich in ohnmächtiger Wut auf dem Boden, die Schrotkörner hatten sie zwar verwundet, aber ihrem zähen Leben kein Ende gemacht. Sie mochte jedoch wohl fühlen, daß sie zu schwer verletzt sei, um weiter leben zu können und mit einem kräftigen Biß versetzte sie sich selbst die Todeswunde in ihren Schwanz, worauf sie alsbald verendete.

Der Führer lobte Franzens rasche Entschlossenheit. „Du hast mich jetzt zum zweitenmale aus Todesgefahr errettet,“ flüsterte Rua-Roa ihm zu, „wie soll ich dir danken?“

„Hättest du nicht dasselbe gethan, wenn ich an deiner Stelle gewesen wäre?“ fragte Franz. „Und sind wir nicht Blutbrüder?“ fügte er leise hinzu.

Der Malagasche konnte nicht antworten, in seinen Augen aber standen Thränen.

„Was hätten wir beginnen sollen, wenn der Knabe von dem Scheusal gebissen worden wäre?“ fragte Doktor Bolten.

„Das erste wäre gewesen, die Wunde auszuschneiden und mit Schießpulver auszubrennen,“ antwortete der Führer. „Trotzdem aber würde die Wirkung des Giftes sich in großer Schläfrigkeit geäußert haben, gegen die der Knabe nur schwer angekämpft hätte. Wir hätten ihn jedoch zwingen müssen, auf den Beinen zu bleiben, denn aus dem Schlafe wäre er wohl kaum wieder zum Leben erwacht. Die Bewegung ist das einzige Mittel, den üblen Folgen des Bisses zu begegnen, nachdem das Gift so sorgfältig als möglich aus der Wunde entfernt worden. Geschieht keine von diesen Vorsichtsmaßregeln, so ist der Tod des Gebissenen unvermeidlich.“

„Gibt es kein Mittel, diese abscheulichen Tiere auszurotten?“ fragte Hans.

„In den Kolonien werden sie bereits seltener,“ entgegnete der kundige Führer. „Alljährlich wird daselbst das verdorrte Gras auf den Weideplätzen angezündet, um den Boden mit der fruchtbaren Asche zu düngen, und dem Feuer fallen alljährlich Tausende von giftigen Schlangen und anderem Ungeziefer zum Opfer. Man hofft allgemein, daß mit der zunehmenden Bevölkerung und einer regelmäßigen Bearbeitung des Landes die Giftschlangen sich rasch vermindern werden. Auch die Todesotter, welche selbst in der nächsten Nähe von Sidney häufig vorkommt, wird durch das Abbrennen der Weiden ziemlich vernichtet. Wenn auch die Eingebornen diese Schlange, welche bei der Ankunft eines Feindes ruhig liegen bleibt, um ihn zu erwarten, nicht für todbringend halten, so haben die Weißen doch schon das Gegenteil erfahren und halten deshalb die Todesotter für die gefährlichste aller Schlangen Australiens.“

Das soeben glücklich überstandene Begegnis mit der Schwarzotter hatte die kleine Karawane etwas verstimmt und mißtrauisch auf die Umgebung gemacht. Man sah sich vor beim Vorwärtsschreiten und vermied das freie Umherstreifen des einzelnen im Busch, um einer etwaigen Kollision mit dem gefährlichen Feinde aus dem Wege zu gehen. Während sie so dahinschritten und der allgewohnte, rechte Humor sich gar nicht wieder einstellen wollte, ertönte neben ihnen mit einemmal ein lautes Gelächter, das gerade so klang, als wenn eine Gesellschaft von alten Kaffeeschwestern sich köstlich über irgend einen Witz amüsierte.

Alle standen unwillkürlich still und horchten. „Wer war das?“ fragte der Doktor. „Sind Wilde in der Nähe oder spottet ein Heer teuflischer Dämonen über unsere triste Fahrt durch dieses greuliche Australien?“

„O nein,“ rief der Führer mit vergnügtem Gesichte, „das ist der lachende Hans, der beste Freund der Ansiedler, und dort sitzt er auf dem Zweige eines Baumes, uns neugierig betrachtend.“

Die Reisenden erblickten auf dem Baume, nach welchem hin der Führer deutete, eine Anzahl großer, grauer Vögel, mit starkem spitzen Schnabel und buschigem Kopfe, die in ihrer äußeren Gestalt Ähnlichkeit mit dem Eisvogel besaßen. „Es ist der Jägerliest oder Riesenfischer,“ sagte Holm, „ein wenig scheuer Vogel, der alles genau betrachten muß, was seine Neugierde reizt; den Ansiedlern ist er überaus nützlich, die den lachenden Hans oder Jacka, wie ihn die schwarzen Eingebornen nennen, sehr hoch schätzen. Des Morgens früh weckt er die Kolonisten mit seinem Gelächter und heißt deshalb auch des Buschmanns Uhr, da er sich namentlich gerne in der Nähe der Zelte und Wohnungen aufhält. Wegen seiner heftigen Feindschaft gegen die Schlangen ist er sogar ein geheiligter Vogel, den zu schießen als ein Verbrechen angesehen wird. Er tötet die giftige Schwarzotter, sowie die Todesotter, ohne ihrem Giftzahne zu erliegen, und selbst die Teppichschlange, die drei Meter lang wird und als die Riesenschlange Australiens angesehen werden kann, weiß er durch wohlgezielte Hiebe mit seinem scharfen, starken Schnabel zu verwunden und zu erlegen. Durch ihr Geschwätz und schallendes Gelächter bezeugen sie ihre Freude über den Tod ihrer Erzfeindinnen. Ob sie die Schlangen fressen, ist übrigens nicht genau festgestellt, es scheint vielmehr, als wenn sie sich von Eidechsen und den kleinen Säugetieren ernähren, so daß ihr ununterbrochener Krieg gegen die Schlangen aus einem besonderen Haß hervorgeht, den sie auf diese Geschöpfe geworfen haben.“

„Ein dreimaliges Hoch dem wackeren Vogel,“ rief Hans, „auch wir wollen den prächtigen Burschen nicht erlegen, sondern ihm sein nützliches Leben unbehelligt lassen, zumal er mein Namensvetter ist.“

Alle leisteten dieser Aufforderung Folge, worauf sie endlich einmal wieder in ein herzliches Gelächter ausbrachen, in das der lachende Hans mit seiner Sippe fröhlich einstimmte.

Man nahm sich jetzt auch Muße, den Pflanzen Aufmerksamkeit zu schenken. Sie begegneten dem Eisenrindenbaum, dessen festes Holz sich vortrefflich zu haltbaren Zäunen eignet, da es fast gar nicht in der Erde fault. „Das wäre ein Holz für Eisenbahnschwellen und Telegraphenstangen,“ meinte Franz. „Vielleicht bildet es später einmal einen geeigneten und nützlichen Handelsartikel.“

„Bravo!“ rief Holm. „Ich sehe, die Naturforscherreise hat den Sinn für deinen künftigen Kaufmannsberuf nicht erstickt.“

Dann fand sich auch der „Stringybark“, dessen langfaserige Rinde in Streifen von sieben bis zehn Metern niederhängt und dem Baum das Ansehen eines zerlumpten Bettlers gibt, während die abgefallene äußere Rindenschicht in langen, trockenen, braunen Rollen wie riesige Zimtstengel am Boden umherliegt.

Zwischen dem Unterholze bemerkten sie die „Flaschenbürste.“ Sie hat rauhe gedrehte Zweige und ein Blatt, das dem unserer deutschen Stechpalme sehr ähnlich sieht. Sir Joseph Banks gab ihr den Namen Banksia, die Bezeichnung Flaschenbürste erhielt sie wahrscheinlich von dessen Haushofmeister, der am Flaschenputzen mehr Interesse hatte als an der Botanik.

Die aufrechtstehenden, kugelförmigen Blüten, mit denen dieser eigentümliche Busch übersäet ist, gleichen in der That jenem nützlichen Instrument, nach dem er benannt ward. Bei voller Blüte sehen die tief orangefarbenen Blumen vortrefflich aus; im Winter aber, wenn die abgeblühten braunen Kegel noch immer an der Pflanze hängen, geben sie dem Busch ein wildes, wunderliches Aussehen.

Neben der Flaschenbürste standen zwei zierlichere Gewächse das Exocaspus oder die wilde Kirsche, welche den Kern nicht innen sondern außen an der einen Seite der Frucht trägt, und der „Wottle“ oder die australische Akazie, die mit gelben Blütenbüscheln bedeckt ist und die Luft mit balsamischen Wohlgerüchen erfüllt.

Den Eukalyptusbaum fanden die Reisenden häufig. Auch im südlichen Europa fängt man an, diesen rasch wachsenden Baum zu pflanzen, dessen aromatische, harzreiche Blätter nicht nur ein Mittel gegen das Fieber sind, sondern der ferner die herrliche Eigenschaft besitzt, Moräste und sumpfige Gegenden, welche mit ihren schädlichen Ausdünstungen Fieber und Typhus erzeugen, durch seinen Anbau in schöne Wälder zu verwandeln, die dann statt der gefährlichen Miasmen frische, dem Menschen zuträgliche Luft aushauchen.

Die Kasuarinen, welche die Kolonisten sehr ungerechtfertigt Eiche nennen, sind von auffallender Form, ihre blätterlosen, dünnen Zweige geben ihnen das Ansehen baumartiger Schachtelhalme. Die Bewohner der Südseeinseln verfertigen ihre Kriegskeulen aus dem harten Holz der Kasuarinen, weshalb dieselben auch wohl Keulenbäume genannt werden.

Der neuseeländische Flachs wuchs in den Niederungen. Die zwei Meter hohe Pflanze hat viele Ähnlichkeit mit unserer Schwertlilie, jedoch besitzt sie dickere Stengel und rote Blumen. Aus ihren festen Blättern gewinnt man eine Pflanzenfaser, die den Eingebornen schon seit undenklicher Zeit zur Anfertigung von Kleidung, Matten, Netzen und Seilen dient, allein von weit größerem Nutzen hat sich der neuseeländische Flachs (Phormium tenax) für die Europäer herausgestellt. Er eignet sich zu Tauwerk nicht nur unendlich besser als der europäische Hanf, sondern die aus ihm verfertigten Gewebe lassen an Dauerhaftigkeit, Geschmeidigkeit und Glanz die europäische Leinwand weit hinter sich. Die Engländer führen namentlich von Neuseeland jährlich neuseeländischen Flachs im Werte von gegen 20000 Pfund Sterling aus und die Franzosen haben ihn bereits in Südfrankreich mit Vorteil angepflanzt.

Als sie nun so weiter zogen und die fremdartige Pflanzenwelt dieses sonderbaren Weltteiles ihrer Beobachtung unterzogen, trafen sie auf ihrem Gange einen Erdbau an, der fast dem eines europäischen Fuchses glich.

„Der Bau eines Wombats!“ rief der Führer. „Er schläft bei Tage, ohne sich um den Sonnenschein zu kümmern, an dem sich andere Tiere erfreuen, denn er ist ein veritables Nachttier, das erst in der Dunkelheit aus seiner unterirdischen Wohnung humpelt, um sich genügsam von einem harten, binsenartigen Grase zu ernähren oder Wurzeln zu verspeisen, die er sich durch kraftvolles Graben erwirbt.“

„Schade, daß jetzt heller Tag ist,“ äußerte Hans, „einen Wombat hätte ich gern geschossen.“

„Zumal er einen delikaten Braten abgibt,“ sagte der Führer. „Nun, wenn er nicht gutwillig kommt, so wenden wir Gewalt an. Seine Wohnung wird zwei Ausgänge haben und wenn wir in den einen Feuer hineinlegen, so treibt der Rauch ihn zum andern heraus vor die Gewehre.“

Der zweite Ausgang wurde nach einigem Suchen entdeckt und hierher postierten sich die beiden Knaben sowie Holm, mit den Flinten im Anschlag. Rua-Roa und der Doktor bewachten den zuerst gefundenen Ausgang, in dem der Führer trockenes Holz aufschichtete, das er anzündete. „Nun wollen wir den Schläfer dort unten räuchern!“ rief er und legte eine Hand voll grünen Grases in die Flamme. Ein fürchterlicher Qualm entwickelte sich.

„Ich höre etwas schnauben,“ flüsterte Hans.

Alle waren gespannt aufmerksam. — Da kam etwas in dem zweiten Ausgange der Höhle hervor. Ein dicker Kopf mit kurzen Ohren zeigte sich und ein unhöflicher, schlaftrunkener Geselle kroch langsam, mit blinzelnden Augen hervor. Ein wohlgezielter Schuß tötete den Wombat, welcher von dem Rauche aus seiner gemütlichen Wohnung vertrieben war.

„Ein Prachtkerl,“ frohlockte der Führer, „mindestens seine sechzig Pfund schwer; der soll uns schmecken!“ Der Führer weidete das Wildbret kunstgerecht aus, schnürte seine Beine zusammen und warf es wie eine Tasche um den Nacken. „Nun vorwärts,“ rief er, „damit wir zur rechten Zeit das Lager erreichen!“

Alle gingen auf diesen Vorschlag ein, und mit neuem Mute durchzogen sie die Gegend, welche sich immer schöner gestaltete. Es wurde wärmer und wärmer, endlich drückend heiß und in dem Dorfe an der Küste wieder ganz tropisch, wie in den früher bereisten Gegenden. Die kleine Karawane zog über öde Basalt- und Lavafelder, an den Ufern großer Ströme dahin, vorbei an Seen mit Rohr und Schilf wie daheim in Deutschland, mit weißen und blauen Wasserrosen und schwarzen, purpurschnabeligen Schwänen; sie sah zahlreiche heiße Quellen und thätige Vulkane und atmete auf, als das Erscheinen der Eisvögel den Strand verriet. Diese Reise durch so weite, menschenleere Strecken, ohne Fleischnahrung, in dem zwischen nächtlicher Kälte und drückender Tageshitze schwankenden Klima war keine leichte und keine sehr unterhaltende gewesen. Alle erklärten einstimmig Australien für das wenigst interessante Gebiet, welches sie bisher betreten. Und nun stand noch der Südpol bevor!

In den Flüssen an der Küste begegnete ihnen ein alter Bekannter, die Schildkröte; auf den Klippen saß der große Eisvogel, Papageien zeigten sich in großer Anzahl; schwarze Gestalten erschienen, Blätterdächer tauchten auf und Boote schwammen über die krausen Wellen des Meeres dahin. Dieser Stamm hatte augenscheinlich oft weiße Menschen gesehen; die Reisenden wurden ohne Erstaunen, aber mißtrauisch aufgenommen, man schien von ihnen eher Böses als Gutes zu erwarten.

Für Geld erlaubte es der Häuptling, daß die Weißen eine Hütte aus Bambus und Palmblättern bezogen; man band die Pferde an lange Leinen und ließ sie das üppige Gras abweiden, während sich ihre Herren nach Möglichkeit mit den Schwarzen zu verständigen suchten. Der männliche Teil des Fischervölkchens trug gar keine Kleider, die Frauen dagegen zeigten sich im Schmuck des Grasgürtels und verschiedener, sehr hübsch gearbeiteter Zieraten aus Muscheln und Schildkrötenschalen. Sie hatten auch hier wulstige Lippen, magere Arme und die abschreckende Gewohnheit des Bemalens, zu der noch das Einreiben ihrer ganzen Personen mit entsetzlich stinkendem Thran kam. Das Dorf war gewissermaßen in zwei Teile geteilt; unten am Strande wohnte ein kräftigerer Menschenschlag, dessen Angehörige Fischerei betrieben und selbst Boote zimmerten; weiter hinauf dagegen lebten Geschöpfe, deren bloßer Anblick Erbarmen einflößen konnte. Abgezehrt wie Skelette, gelbgrau von Farbe und mit trommelartig aufgetriebenem Leibe, wohnten diese Jammergestalten, deren es übrigens nur wenige zu geben schien, für sich allein im Gebüsch oder in schlechten, ruinenartigen Hütten, einer einzigen Leidenschaft frönend, wie etwa der Trinker dem Genusse des Branntweins, — der des Erdessens.

Man findet diese unselige Gewohnheit, außer an einigen Punkten Südamerikas, nur bei den Australnegern, obgleich auch dort selten. Die Erdesser werden vom Stamm als gewissermaßen unrein ausgestoßen, sie gehen alle dem frühen Tode mit Sicherheit entgegen und sind schwach und elend, oft kaum im stande, sich aufrecht zu erhalten; aber von ihrer schrecklichen, so ganz unbegreiflichen Leidenschaft lassen sie nicht, sondern sterben, wenn ihnen der Genuß einer gelben fettigen Erdart entzogen wird; jede andere Nahrung weisen sie mit Abscheu zurück.

Holm nahm eine Quantität der Erde mit, um dieselbe später einer genauern Prüfung zu unterwerfen.

„Wir werden unter dem Mikroskop finden,“ sagte er, „daß diese Erde reich an Diatomeen ist, von denen wir bereits einige Arten kennen gelernt haben. Es finden sich an vielen Gegenden der Erde große Anhäufungen von Diatomeenpanzern, die der weißen, staubartigen Beschaffenheit wegen Bergmehllager genannt werden. In Lappland und dem nördlichen Schweden, wo der kurze Sommer das Getreide nur spärlich reifen läßt, mischt der leichtbefriedigte Nordländer das leckere Bergmehl dem spärlichen Brotteige zu, um eine größere Quantität des kostbaren Nahrungsmittels, des Brotes, zu erzielen. Obgleich die Kieselpanzer nur wenig Nährstoff besitzen, werden dennoch ungeheure Mengen derselben verzehrt; von dem Bergmehl von Lollhapysön werden alljährlich viele Wagenladungen in der angegebenen Weise verspeist. In Nordasien und Südamerika leben ganze Völkerschaften, welche ebenso wie diese Australier feine Erdarten genießen und sogar als Leckerbissen schätzen. Auch in diesen Erden finden sich unzählige Diatomeen, denen möglicherweise noch eine Spur nahrungsspendender organischer Substanz anhängen mag, die eine Erklärung der wenig einladenden Geschmacksrichtung zuläßt.“

Die Erdesser verkrochen sich vor dem Blick der Weißen; diese Unglücklichen glichen häufig lebenden Leichen und boten mit ihrer Ungestalt einen äußerst abschreckenden Anblick. Während sie über den aufgetriebenen Leib nicht hinwegzusehen vermochten, waren ihre übrigen Körperteile bis auf die Knochen abgemagert.

Die Wilden ernährten sich hier von Fischen, Muscheln und Schildkröteneiern. Vor jeder Hütte war in die Erde ein Loch gegraben; zuerst kam das Holz hinein und, wenn dieses brannte, mehrere flache Steine, die nach ihrer Erhitzung als Pfanne dienten. Die Eier wurden sofort darauf gar, und der Fisch geriet wenigstens in einen Zustand, welcher ihn halb verbrannt, halb geröstet einigermaßen genießbar machte. Auch Kokosnüsse, Brotfrüchte und Taro wurden auf diesen Steinen zu einer harten, brotartigen Masse gebacken. In dem ganzen, an genießbaren Pflanzen so armen Australien schien dies Gebiet das ärmste; es fanden sich hier selbst nicht einmal jene Beerenfrüchte, die in den Wäldern zuweilen als angenehme Erfrischung gedient hatten.

Ihre Fische fingen die Männer, indem sie dieselben vom Boot oder vom Strande aus mit langen Spießen geschickt stachen; außerdem tauchten sie auch wie die Enten und brachten vom Grunde Muscheln in Fülle mit herauf.

Gleich während der ersten Stunden bemerkten die Weißen, daß unter diesem Stamm wieder einmal wie bei den Alfuren ein bedeutend entwickelter Hang zum Diebstahl vorhanden war; sie schossen daher mehrere Eisvögel, kauften einige noch nicht gesehene Schaltiere und beschlossen dann, der Pferde wegen noch vor Nacht wieder abzureisen. Wenn ihnen durch einen Handstreich die Reittiere genommen wurden, so waren sie in dem Lande, das keine Jagd und fast keine wildwachsenden Früchte bot, dem Hungertode preisgegeben. Einer erzählte ohnehin dem anderen, daß er täglich seine Kleider enger einschnüren müsse.

Die Führer hielten Wache und verscheuchten bei dieser Gelegenheit mehr als einmal die Wilden, welche nicht umhin konnten, sich schleichend mit lüsternen Blicken den aufgestellten Gewehren zu nähern; man hielt es aber auch nicht für klug, eine offene Fehde heraufzubeschwören, vielmehr versuchte Mr. Thompson, der Dolmetscher, durch einen Vergleich die Frage allseitig befriedigend zu lösen. „Komm einmal her, Kamerad,“ redete er den schlangengleich durch das Gebüsch kriechenden Schwarzen im ruhigsten Tone an, „wie heißt du, Alter?“

Der Wilde erschrak zwar, aber er gehorchte doch dem Rufe. „Heu-Heu, Master,“ versetzte er etwas unsicher. „Was willst du von dem schwarzen Manne?“

Thompson bot ihm mittels einer Handbewegung neben sich auf der Wolldecke Platz. „Du sollst mir einen Rat geben, mein lieber Heu-Heu,“ fuhr er fort. „Wie weit ist es von deinem Dorfe bis zur nächsten Niederlassung weißer Menschen? — oder wohnen hier herum keine?“

Der Wilde zeigte über seine Schulter hinweg. „Wenn der Kasuar bei Sonnenaufgang von hier fortläuft, so kommt er am Abend zu den weißen Männern,“ antwortete er.

„Aha! das ist eine gute Nachricht, Freund Heu-Heu! Nun höre weiter. Kannst du uns bis zu diesem Dorfe den Weg zeigen?“

Der Schwarze überlegte. Sein lauernder Blick wanderte von den weidenden Pferden zu den Gewehren und von diesen wieder zurück. „Wir werden zu zwanzig oder dreißig die Führung übernehmen,“ versetzte er endlich. „Weniger können es nicht sein, sonst möchten wir uns verirren.“

Thompson zuckte die Achseln. „Das ist schade, mein lieber Heu-Heu,“ sagte er mit der größten Ruhe, „wirklich schade. Einen Mann brauchen wir nur.“

In den Augen des Wilden blitzte der Zorn der Enttäuschung. Wahrscheinlich hatte er es sich sehr leicht und angenehm gedacht, mit seinen Genossen die Weißen in der Wildnis abzuschlachten und sich ihres Eigentums ohne Mühe zu bemächtigen. Dazu aber war eine bedeutende Überzahl ganz unerläßlich.

„Ein einzelner Mann meines Stammes geht nicht mit euch,“ setzte er hinzu. „Einer allein ohne seine Freunde wagt sich so weit nicht hinaus.“

Thompson nickte. „Dann müssen wir es eben ohne Führer versuchen, mein Bester,“ gab er zurück. „Es thut mir leid, dich gestört zu haben, Heu-Heu. Schlaf wohl!“

Aber der Schwarze blieb sitzen. „Geht ihr allein, so fallt ihr in die Hände der räuberischen Ara-Punga,“ sagte er. „Sie wohnen ganz in der Nähe und töten jeden, dessen sie habhaft werden können.“

„Hm, hm, was du sagst, Heu-Heu. Da würden ja auch zwanzig oder dreißig von deinem Stamme nichts ausrichten! Ich sehe schon, wir müssen unsere Reise allein fortsetzen.“

Damit drehte er den Kopf, wie um zu schlafen, indes der Wilde zögernd, heimlich knirschend seine Hütte wieder aufsuchte. Er ballte im Dunkel der Nacht drohend die Faust. „Heu-Heu wird dir zeigen, daß er klüger ist, als alle weißen Länderdiebe und Schurken zusammen,“ zischte er. „Keiner deiner Gefährten erreicht die Kolonie am Meer, keines eurer Pferde soll uns entgehen.“

Er blieb während der ganzen Nacht unsichtbar, am frühen Morgen jedoch erschien er wieder. „Wenn die Weißen langsam reiten wollten, so daß ein Mann zu Fuß bequem folgen könne, dann sei es ihm doch vielleicht möglich, unter den Felsen am Ufer einen Weg zu finden, der das Gebiet der Ara-Punga nicht berühre. Wie viel bei der Sache verdient werden könne?“

Thompson bot im Namen der Weißen eine anständige Summe, und beide Teile einigten sich dahin, gleich nach dem Frühstück abzureisen. „Ich traue dem Frieden nicht so recht,“ erklärte der Führer, „da ist irgend ein Schurkenstreich im Werden begriffen. Wollen wir auf das gute Glück hin allein fortreiten oder riskieren, daß uns der ganze Stamm nachschleicht, um Beute zu machen?“

Die Reisegenossen sahen einander an. „Laßt uns lieber das Geld bezahlen und doch ohne Führer reisen,“ antwortete der Doktor. „Wir hatten ja auch bisher keinen solchen.“

Well!“ nickte der Dolmetscher. „Aber auf dem Gebiet der steinigen, von Klippen durchzogenen, oft aus Sandfeldern bestehenden Küste leben weder Känguruhs noch wachsen solche Wurzeln, die zur Not einen Menschen vom Hungertode erretten können. Was wollen wir essen, wenn uns die Kolonie während mehrerer Tage nicht zu Gesicht käme?“

„Warum trauen Sie denn dem Schwarzen nicht, Thompson?“

„Hm, die Australneger sind durchweg rachsüchtiger Natur. Daß wir ihnen mittels unausgesetzter Wachsamkeit ihre kleinen Diebereien unmöglich gemacht haben, verzeihen sie uns nicht.“

„Da gibt es also nur ein einziges Mittel,“ entschied Holm. „Die Kolonie liegt ohne Zweifel am Meer, wie alle Ansiedelungen auf wildem Gebiet; wir können uns also in der Richtung nicht irren, das ist die Hauptsache. Eine Partie Schildkröteneier und etwas von dem harten Tarogebäck wird sich ja kaufen lassen, das reicht für einen Tag; während der Nacht bleiben wir im Sattel, so daß kein Überfall möglich ist und folgenden Morgens erreichen wir unser Ziel.“

Der Dolmetscher lächelte. „Ganz gut, Sir, ganz gut,“ versetzte er, „aber den Führer können wir dabei doch nicht entbehren. Die Küste ist so unregelmäßig, so von Ausläufern und vorspringenden Landzungen unterbrochen, daß recht wohl in einer dieser versteckten Buchten die Kolonie unseren Blicken entgehen könnte und daß wir direkt hinter dem jedenfalls nur unbedeutenden Städtchen vorüberreiten. Besäßen wir Lebensmittel, dann stände alles anders, so aber stimme ich dafür, den Schwarzen mitzunehmen.“

„Abgemacht!“ rief Franz. „Mr. Thompson und seine Genossen haben nur übernommen, uns durch das Gebirge zu führen; sie erklärten von vorn herein, in den Küstendistrikten ganz unbekannt zu sein; wir können ihnen also jetzt, wo sie uns aus Gefälligkeit unter den schwersten Entbehrungen hierher begleiteten, nicht zumuten, auch noch Leben und Gesundheit aufs Spiel zu setzen. Der Schwarze soll schon gehorchen, wenn er erst mit uns allein im Walde ist.“

Mr. Thompson erhandelte von den Schwarzen, die sich noch mehr als am letzten Abend von ihren Gästen zurückzogen, eine tüchtige Anzahl Eier sowie Taro, beides steinhart gebacken; die Wasserflaschen wurden gefüllt und die Decken aufgeschnallt, dann ging es unter Heu-Heu’s Führung weiter über den Strand dahin. Ein Versuch, diesen ungastlichen, scheuen Wilden Lebewohl zu sagen, schlug gänzlich fehl, sie hatten sich in ihre Hütten zurückgezogen und schienen den Weißen einen tief empfundenen Haß zu bewahren.

Als Heu-Heu an der Spitze der Reiterschar zum Dorfe hinauswanderte, wechselte er mit dem vom Meer herübersehenden Häuptling einen Blick, der den Führern nicht entging. Thompson und die übrigen bedeuteten sich schweigend. Der Wilde hatte gesagt: „Paß auf!“ und der Häuptling geantwortet: „Es bleibt dabei!“ —

„Die Kerle ziehen uns nach, es ist gar kein Zweifel,“ raunte der Dolmetscher.

„Verdammt sollen sie sein. Wir werden ihnen einen heißen Empfang bereiten.“

„Pst! — die Fremden erfahren das früh genug, wenn’s erst einmal so weit ist.“

Im schönsten Sonnenschein ritt die kleine Gesellschaft über den Kies dahin, wurde aber sehr bald durch einen seltsamen Anblick so gefesselt, daß der schwarze Führer stillstehen und Erklärungen geben mußte. Aus dem Schoße eines rieselnden, fußtiefen Sandbodens herauf ragten in langen Reihen die Kiele halbversenkter Boote, deren vorderer Teil mit der offenen Seite nach unten auf dem Sande lag, während der hintere von diesem ganz bedeckt war. Der unbeschützte, von keiner Einfriedigung umgebene Raum bildete den Gottesacker des Stammes; wo ein Mann begraben lag, da hatten ihm die Überlebenden sein Boot, sein einziges irdisches Besitztum als Erinnerungszeichen mitgegeben; wo aber eine Frau die letzte Ruhestätte gefunden, da ragte aus dem Boden die Hälfte des Weidenkorbes, in dem sie Eier und Brotfrucht gesammelt.

So einförmig, so schmucklos und öde dieser Kirchhof den Blicken der Europäer auch erschien, einen so guten, versöhnlichen Eindruck brachte er dennoch bei allen hervor. Wie viel würdiger war es, die Toten der Mutter Erde zurückzugeben und ihre Gräber durch das Erinnerungszeichen vor Entweihung zu schützen, als sie auf Bäumen den Sonnenstrahlen und den Raubvögeln zu überlassen, bis endlich ein Sturmwind die letzten Überreste auf den Erdboden und damit den Lebenden unter die Füße warf. —

Die jungen Leute stiegen von ihren Pferden, um diesen seltsamen Friedhof auf hoher Sanddüne am Meer nach allen Richtungen zu durchwandern; auch der Doktor und Heu-Heu hatten sich ihnen zugesellt, während die Führer bei den Tieren Wache hielten.

Der Schwarze deutete auf eine vorspringende Klippe am höchsten Punkt des ganzen Raumes; seine unverständlichen Reden schienen den Fremden ein besonderes Schauspiel zu verheißen. Ziemlich neugierig näherten sie sich dem Winkel, wo in einer Art von Vertiefung unter überhängendem Dache wirklich ein Anblick, wie sie ihn am wenigsten erwartet, ihrer harrte. In der natürlichen Nische stand ein grobgezimmertes, unbemaltes Kreuz mit der Inschrift: „John Mulgrave,“ darunter die Worte: „Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn.“

Es war jedenfalls ein Missionar, der hier schlummerte, das sahen alle; der Schwarze schien auch die Einzelheiten des Falles zu kennen, wenigstens redete er immer fort; aber erst als Thompson hinzukam und vermittelte, konnten ihn die übrigen verstehen. Mr. Mulgrave hatte lange Jahre unter den Wilden gelebt und war von ihnen hoch verehrt worden, weil er nur Gutes stiftete und allen Leuten nützliche Kenntnisse beibrachte. „Die kleinen Kinder begoß er mit ein paar Tropfen Wasser,“ erzählte Heu-Heu, „und dann wußte er auch viel Schönes von einem Manne, den er gekannt, der ein großes Haus besitze, in welchem sie dereinst nach ihrem Tode sämtlich wohnen würden, Häuptlinge und Sklaven, Weiße und Schwarze, und wo auch der große Weltgeist seinen Sitz habe. In diesem Lande gibt es nicht Hunger noch Durst, die Ara-Punga sind keine Feinde, und Brotbäume wachsen auf allen Wegen.“

Keiner der Weißen fand im Augenblick Worte diesen rührenden Auseinandersetzungen gegenüber. Wie hatte der verbannte, auf den unfruchtbaren, verödeten Küstenstrich vom Schicksal verschlagene Mann so treulich gestrebt, innerhalb des Gedankenkreises seiner Schüler das Christentum zu erwecken, wie schwer und mühevoll war sein Los gewesen!

„Wer hat denn für euren Freund das Kreuz gezimmert?“ fragte endlich Holm.

„Er selbst. Er hat auch den Holzkasten, worin er liegt, mit eigener Hand gemacht; mich trug er auf den Armen, als ich noch ein kleines Kind war.“

„Also ruht er lange schon!“ setzte der Doktor hinzu. „Und was er ausgesäet, ist wieder überwuchert vom Unkraut; die er als Säuglinge taufte, sind heute Wilde und vielleicht arge Schurken dazu. Aber einen Kranz auf das einsame Grab wollen wir doch legen, nicht wahr?“

Die jungen Leute hatten schon den gleichen Gedanken gehabt. Schilf und ein paar spärliche Blüten, wie sie die australische Flora hergab, bildeten einen schlichten Kranz, der das Holzkreuz rings umflocht. Nachdem so der tote Mann ihrer eigenen Farbe von den Weißen geehrt worden war, setzten sie ihre Reise fort, wobei noch der Wilde eingestand, daß er eigentlich John Eward heiße, später aber nach Landessitte von den Seinen wieder Heu-Heu genannt worden sei.

„Sind denn außer diesem einen nie mehr Missionare hierhergekommen?“ fragte Franz.

„Doch, noch viele, aber wir haben sie totgeschlagen. Weiße und wir können nicht zusammenleben.“

„Da hat er recht,“ nickte Thompson. „Eigentümlich genug; aber dies Volk verträgt und mischt sich mit der weißen Rasse nirgends. Wie in Nordamerika die Indianer, so werden in ganz Australien die Eingebornen verdrängt und sterben aus, aber sie schließen mit uns keinen Frieden.“

Heu-Heu sah von einem zum andern. Er hörte, daß von seinem Volke gesprochen wurde, — der lauernde Blick zeigte, daß er etwas verbarg.

„Nicht so schnell,“ ermahnte er schon nach den ersten Wegstunden. „Ich kann mit euren großen Pferden unmöglich Schritt halten.“

Der Führer zügelte sein Tier. „Komm her,“ sagte er, „setze dich hinter mich, der Gaul verträgt’s schon eine Weile.“

Dazu war der Schwarze unter keiner Bedingung zu bewegen, er sträubte sich aus allen Kräften gegen die Nähe des Pferdes, so daß nichts übrig blieb, als im Schneckenschritt den Weg fortzusetzen; dafür aber wurden auch keine Pausen gemacht, zumal nichts zu kochen vorhanden war. Nur als endlich die Nacht herabsank, mußte notgedrungen den Tieren und dem Wilden eine Erholung gestattet werden, obgleich freilich die Weißen an keinen Schlaf dachten.

Die Reiter hielten ihre Tiere an den Zügeln und ließen sie weiden oder sich ausstrecken, während sie selbst die harten Lebensmittel hinunterwürgten. Im weiten Kreise umstanden die Führer das Lager, es war somit an eine plötzliche Überrumpelung nicht zu denken.

„Schlaf!“ ermahnte Mr. Thompson den Neger. „Wonach spähst du umher?“

Heu-Heu streckte sich sofort gehorsam auf den Fußboden. „Ich glaubte ein Geräusch zu hören,“ stammelte er. „Dort! — hinter den Gebüschen regte sich’s.“

Er deutete auf eine in der Richtung des weiteren Weges ziemlich entfernt stehende Gruppe von hohen, üppigen Farnen. „Gewiß, von daher klangen Stimmen,“ beharrte er.

Die Führer wechselten Blicke. „Hinter uns lauert der ganze Stamm,“ flüsterte Thompson. „Hätte ich es nicht schon längst geglaubt, so wüßte ich es jetzt. Wenn wir uns von diesem Schurken verleiten ließen, das Gebüsch abzusuchen, so wäre unser Untergang sicher.“

Einer der anderen näherte sich ihm. „In einer Stunde haben wir Mondschein, Thompson,“ raunte er. „Wie wäre es, wenn wir den Schwarzen an Händen und Füßen knebeln, ihm das Verrätermaul stopfen und ihn auf eines der Pferde binden, so daß er den übrigen Teufeln kein Zeichen geben kann? — Sie sind hier, das ist vollkommen gewiß.“

„Vollkommen!“ bestätigten alle. „Der Schwarze liegt mit offenen Augen, ich habe ihn fortwährend beobachtet.“

Well!“ nickte der Anführer. „Verhaltet euch ganz ruhig, macht euch mit den Tieren zu schaffen, legt ihnen Decken auf, hört ihr!“

Die Leute zerstreuten sich anscheinend absichtslos. Einer oder der andere suchte unter den Bäumen eine Stelle, um mit dem Zügel über dem Arm eine Viertelstunde zu ruhen, die meisten aber breiteten über ihre Tiere die am Sattelknopf befestigten Wolldecken, ohne indessen den schlauen Thompson auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu verlieren. Sie kannten ihn, sie wußten, daß er „mit allen Salben geschmiert“ sei und schon hundert Kämpfe mit den Eingebornen bestanden hatte, aber dennoch begriffen sie nicht, was er jetzt im Schilde führte.

Auch der Neger beobachtete heimlich. Eine heiße Ungeduld durchflutete sein Inneres, — würde denn nicht endlich der Zeitpunkt kommen, wo die Natur ihre Rechte geltend machte, wo die weißen Männer, eingewiegt in trügerische Sicherheit, die Augen schließen und in Schlummer versinken mußten?

Thompson glitt hart an ihm vorüber. Er ging langsamen Schrittes, wandernd die große Wolldecke auseinander faltend und seinem ruhig weidenden Pferde einige ermunternde Worte zurufend. „Wollen dich einhüllen, alter Kerl, damit dir die Nachtkühle nicht schade, he? — bewahrt ist besser als beklagt!“

Während er im Tone harmloser Gutmütigkeit anscheinend dem Tier diese Rede hielt, brachte ihn ein plötzlicher, mit staunenswerter Keckheit ausgeführter Seitensprung in die unmittelbare Nähe des Negers, hatte er über den Kopf desselben die Decke geworfen und durch handfesten Druck auf den schwarzen Mund jeden beabsichtigten Schrei im Keime erstickt. Jetzt sah er lachend zu seinen Genossen hinüber. „Besteigt die Pferde, meine Herren, es ist Zeit, daß wir uns von hier entfernen; die Kerle sind ganz in der Nähe, das behaupte ich, — diesen Burschen nehmen wir eine Strecke Weges mit uns.“

Er und zwei andere banden während dieser Worte die widerstrebenden Glieder des Schwarzen, der auf jede erdenkliche Weise loszukommen und namentlich den Gebrauch seiner Stimme wieder zu erlangen suchte. „Ho, ho, Freundchen,“ murmelte er belustigt, „nicht so wild. Beißt der Kerl wie eine Katze in meine Hand hinein. Na, na, jetzt hast du Ruhe, nicht wahr?“

Er erhob sich vom Boden und zog das Pferd am Zügel heran. Der Neger, den Knebel im Mund, bis unter die Nase wie ein Paket zusammengeschnürt, konnte nur in ohnmächtiger Wut zuweilen gleich dem Fisch auf dem Trocknen mit halbem Leibe vom Gras emporschnellen und die Augen rollen, als wolle er alle Weißen verschlingen.

„Thompson,“ lächelte Holm, „Sie sehen Gespenster. Es ist ja weit und breit alles so ruhig wie in einer Kirche.“

Der Führer nickte. „Aufgepaßt, meine Herren!“ versetzte er. „Der Beweis soll sogleich geliefert werden. Sind Sie alle bereit, Ihren Tieren auf das erste Signal hin die Sporen zu geben?“

„Alle! — aber da ist nichts zu fürchten, Thompson.“

Statt jeder Antwort drehte der alte Squatter den Kopf in der Richtung des zurückgelegten Weges und stieß dann mit aller Kraft seiner Lungen einen tierisch-wilden, furchtbaren Schrei hervor. Es war der Kriegsruf der Australier. Die versteckten Schwarzen sollten glauben, mittels dieses langgezogenen, gellenden Tones von ihren Genossen ein Zeichen zu erhalten, sollten antworten und den geplanten Überfall ins Werk setzen.

Die List gelang vollständig.

Auf der offenen Ebene, die jetzt erreicht war und von dem Strahlen des aufsteigenden Mondes ringsum hell beleuchtet wurde, hielten in breiter Reihe, einer neben dem anderen, die Reiter; aller Blicke waren rückwärts gerichtet.

Und wie das Geschrei von Hunderten von Teufeln brach es los; es zerriß die Luft und ließ das Trommelfell erzittern unter seiner donnerartigen Wucht.

Schwarze, nackte Gestalten sprangen aus den Büschen, wilde Gestikulationen zeigten das rachsüchtige Verlangen nach Raub und Mord. In jeder Hand wirbelte hochgeschwungen der Bumerang, jede Kehle überbot sich in wüstem, sinnverwirrendem Geschrei.

„Achtung!“ gebot mit Donnerstimme der Führer. „Vorwärts!“

Und dahin über die Ebene jagten fünfzehn Rosse, daß „Kies und Funken stoben.“ Wie durch Zauberei erstarrte mitten im Ansatz beim Erblicken dieser fliehenden, ihrer Bestialität entzogenen Opfer das Toben der Wilden. Sie blieben plötzlich stehen, als habe eine feindliche Macht ihre Glieder gelähmt, der eine mit erhobenem, der andere mit herabhängendem Bumerang, — alle totenstill, — regungslos.

Aber nur sekundenlang währte diese Erstarrung; dann begann wie auf ein allgemeines Signal die Verfolgung, welche indessen unsern Freunden keinerlei Befürchtungen einzuflößen brauchte. Brüllend und kreischend, losgelassenen Teufeln gleich, werfend, sich überstürzend im rasenden Laufe, folgte die schwarze Schar den ausgreifenden Pferden; matt und unschädlich fielen ihre Waffen weit hinter den Bedrohten in das Gras, schwächer und schwächer verhallte das Kriegsgeheul, immer undeutlicher wurde den Zurückblickenden der tobende Haufe, bis endlich nichts mehr zu sehen und nichts mehr zu hören war. Nur der Mond schien mit halbem, wolkenverhülltem Glanz vom Himmel herab, hie und da rauschte im kühleren Nachtwind eine hohe vereinzelte Kaurifichte, von den Negern aber war jede Spur verschwunden.

Thompson gebot Halt, die schnaufenden Tiere verfielen in ruhigere Gangart und standen endlich ganz still; einer der Männer sah stumm den andern an.

„Nun, meine Herren, war die Gefahr wirklich eine eingebildete?“

Holm reichte ihm über den gebundenen Neger hinweg die Hand. „Wir verdanken Ihnen das Leben, Thompson,“ sagte er. „Die schwarzen Teufel hätten keinen von uns verschont.“

Der alte Squatter lachte. „Ich kenne die Schufte seit dreißig Jahren,“ versetzte er, „weiß, was sie wert sind und was man von ihnen zu erwarten hat. Als dieser Kerl hier während der letzten Nacht mehrere Male vergeblich zu stehlen versuchte, da stand es für mich ganz fest, daß wir einen Kampf auszufechten haben würden. Die Neger hier herum sind rachsüchtig; sie vergessen und verzeihen nie.“

„Was wollen Sie denn mit Ihrem Gefangenen machen, Mr. Thompson?“ fragte der Doktor. „Ich hoffe, daß Ihnen blutige Wiedervergeltungspläne fernliegen.“

Der Squatter lüftete den breitkrempigen Strohhut. „Ich will dem Schlingel nichts zuleide thun, Ehrwürden,“ lächelte er, „die Glieder schmerzen ihn ohnehin noch acht Tage, und die Wut erstickt ihn beinahe.“ Er sprang vom Pferd und warf den gebundenen Neger wie einen Packen in das hohe, weiche Gras, dann durchschnitt er die Stricke, welche Arme und Füße umwunden hielten. „So, nun lauf, du Spitzbube und grüße deine schwarzen Gesellen. Der weiße Mann sei doch noch klüger als sie.“

Während sich der Neger unter dem lauten Lachen aller Anwesenden mit den krampfhaftesten Verrenkungen aus seiner Decke hervorschälte, hatte der Squatter das Pferd wieder bestiegen und die ganze kleine Gesellschaft setzte in langsamerer Gangart den Weg durch die Ebene weiter fort. Zur Linken rauschte in einiger Entfernung das Meer, ein kalter Wind strich über die Klippen dahin und zuweilen war das lächelnde Mondgesicht derartig unter Wolken versteckt, daß tiefe Finsternis die ganze Umgebung beherrschte. Nur im Schritt konnte dann die Bahn verfolgt werden; jetzt, nachdem die nervöse Spannung der letzten Stunden nachgelassen, fühlten alle Reiter die natürliche Ermüdung des tagelangen und noch dazu unter den härtesten Entbehrungen zurückgelegten Weges; auch die Pferde schnauften und schüttelten die Köpfe in zunehmender Ungeduld. Nur an einer einzigen unbedeutenden Quelle war man seit heute früh vorübergekommen, nur einmal hatten Menschen und Tiere trinken können; das machte sich jetzt immer quälender bemerkbar.

Noch eine halbe Stunde wurde schweigend die Reise fortgesetzt, dann riet Thompson zu einer kleinen Rast, die den Tieren durchaus notwendig sei. Für die Menschen gab es nichts zu beißen und zu brechen, die Pferde dagegen fanden wenigstens Gras in Hülle und Fülle, so daß ihnen die Entbehrung des Trinkwassers etwas erleichtert wurde. Bald ging es wieder vorwärts, — wohin, das wußte keiner unter ihnen.

Vielleicht hatte ja Heu-Heu eine Fabel berichtet, als er von der am Meer gelegenen Kolonie der Weißen sprach, — vielleicht wohnte hier herum ein anderer Negerstamm, und die kaum überwundene Gefahr begann von neuem.

Wie bei einem Leichengefolge so ritten langsam und schweigend die fünfzehn Männer hinter einander durch die Einöde; keiner konnte sich der schlimmsten Befürchtungen entschlagen; es gab keinen, der nicht Kopfschmerz und Ermattung fühlte, alle Stirnen brannten, über den Rücken jedes einzelnen lief es unnatürlich kalt herab, fast wie beginnender Fieberfrost.

Und dennoch mußten sie vorwärts, keiner durfte zurückbleiben, niemand den Mut verlieren. Vor ihnen lag eine weite Ebene, nirgendwo ein Baum, der Früchte lieferte oder nur erquickenden Schatten spendete. Der letzte Zwieback war gegessen, der Hunger meldete sich ungestüm. Die Männer schwiegen wie in dumpfer Verzweiflung, und die Knaben, ihrem Beispiele folgend, äußerten keinerlei Klage, obgleich ihnen jeder ansehen konnte, wie sehr sie litten.

Hans atmete fieberhaft. Seine Augen lagen tief in ihren Höhlen, die Lippen waren trocken und heiß. „Nur Mut, mein armer Junge,“ suchte Holm ihn zu trösten. „Werde mir nur nicht krank. Mit Gottes Hilfe werden wir auch diese Prüfung überstehen.“

„Es klingt mir so seltsam vor den Ohren,“ flüsterte Hans, „wie ferne Musik und dazwischen ist mir, als hörte ich die Stimme meiner Mutter, ich habe sie sogar deutlich gesehen, wie sie mir ein Glas Wasser reichte und ein großes Butterbrot. Als ich zugreifen wollte, war sie aber verschwunden.“

Holm blickte den Knaben ängstlich an. „Er ist kränker vor Hunger und Durst als ich dachte,“ sagte er zu sich selbst, „denn er sieht schon die Traumerscheinungen, welche das langsame Verschmachten zu begleiten pflegen. Naht sich denn keine Rettung?“

Und weiter ging es vorwärts in der Hitze. Die weite Grasfläche schien kein Ende nehmen zu wollen. Der baumbekränzte Horizont, den sie vor sich sahen, wich vor ihnen zurück, wie das Trugbild der Fata morgana. Es war nicht möglich, die Entfernung bis dahin mit den Augen abzuschätzen. Die Ebenen täuschen das Augenmaß ähnlich wie das offene Meer.

„Nur ein Stückchen Zwieback,“ flehte Hans, „nur ein kleines Stückchen, der Hunger thut so weh.“

„Habe nur Geduld, mein guter Junge,“ sagte Holm. „Du siehst ja dort in der Ferne Wald und Busch, dort wird es uns besser ergehen.“ Er hatte nicht den Mut einzugestehen, daß der australische Busch arm an eßbaren Früchten ist, aber er wollte um jeden Preis Hoffnung in dem Gemüte des Knaben erwecken.

„Wachsen dort so schöne saftige Früchte, wie auf Borneo?“ fragte Hans. Holm schwieg, er konnte in dieser ernsten Stunde keine Zuflucht zu einer Notlüge nehmen.

Langsam schritten die Pferde vorwärts; es war eine traurige Fahrt. „Wenn mir nur der Knabe nicht stirbt in dieser Einöde,“ dachte Holm und ein kalter Schauer überrieselte ihn bei diesem Gedanken.

Jetzt hörte der Graswuchs auf und ein dichtes Kraut bedeckte den Boden. „Sieh dort, unser heimatlicher Klee!“ rief Franz. „Hier können wenigstens die Pferde sich neue Kräfte sammeln, damit sie im stande sind uns weiter zu tragen.“

„Das ist kein Klee!“ rief Holm und sein Antlitz leuchtete freudig. „Laßt uns Gott danken, daß er uns diese Pflanze erreichen ließ, ehe wir verschmachteten. Wie der Herr einst das Manna in der Wüste sandte, so läßt er uns dieses unscheinbare Gewächs zum Heile finden. Steigt alle ab, laßt die Pferde weiden und sucht selber am Boden, dort werdet ihr die kleine, schalenförmige Fruchtkapsel der Pflanze finden, welche stärkemehlhaltige Körner enthält, die uns vor dem Hunger einstweilen schützen werden.“

Alle thaten, wie Holm geheißen. Reichlich waren die erwähnten Fruchtkapseln vorhanden und wenn auch klein an Gestalt und mit nur winzigen Körnchen erfüllt, so boten sie doch wenigstens Nahrung. Wie köstlich schmeckten ihnen die kleinen Liliputbissen, wie emsig pflückten sie die unscheinbare Frucht.

„Es schmeckt gut,“ sagte Hans, „es erquickt mich wunderbar.“

„Wir grasen mit den Pferden um die Wette,“ meinte Franz. „Wenn das die Hamburger sähen!“

„Es kann denen in der Heimat ein Dutzend Austern nicht besser munden, als uns in der Öde dieser Klee,“ fügte Doktor Bolten hinzu.

„Bester Doktor,“ rief Holm, „es ist kein Klee, den wir hier verspeisen, sondern die wohlthätige Pflanze, welche uns vom Verhungern rettet, ist die „Marsilea.“ Obgleich ihre Blätter denen des Klees ähnlich sind, so gehört sie wegen ihrer eigentümlichen Fruchtbildung doch zu den Farnkräutern. Wenn wir auch jetzt unsere Nahrung den Vierfüßlern gleich auf der Erde suchen, so sind wir doch noch weit davon, Futterkräuter zu speisen.“

Nachdem der größte Hunger gestillt, pflückte jeder der Reisenden sich einen kleinen Vorrat der Frucht der Marsilea, worauf die Tiere wieder bestiegen wurden und die Reise weiter ging. Es war jedoch nur dem einen Quälgeist etwas gewehrt worden, dem Hunger; der Durst machte sich von Minute zu Minute peinlicher bemerkbar.

Nach und nach näherte man sich dem Waldsaume. Nirgends war eine Quelle zu entdecken oder ein Bach, der Wasser enthalten hätte.

Der Malagasche parierte plötzlich sein Tier. „Halt!“ rief er ängstlich, „halt! — Vor uns ist das offene Meer, — dicht vor uns!“

Die Tiere standen wie auf Kommando. Sie schaukelten die Köpfe und schienen offenbar selbst durchaus nicht geneigt, weiter vorzudringen. Alle horchten.

„Der Schall kommt von links her,“ meinte Franz.

„Das glaube ich auch,“ fügten mehrere andere hinzu.

Rua-Roa blieb bei seiner Behauptung. „Wir haben das Meer vor uns,“ wiederholte er.

Der alte Squatter unterdrückte einen Seufzer. „Ich glaube dir, Junge,“ sagte er. „Alle Farbigen sind den Weißen in dieser Beziehung überlegen, — wahrhaftig, mir selbst scheint, daß sich der Schall gegen früher etwas verändert hat.“

Er sprang vom Pferde und ermunterte die übrigen, ein Gleiches zu thun. In der dichten Finsternis schritten nun unter Führung des Malagaschen die fünfzehn Männer langsam vorwärts, deutlich und immer deutlicher erkennend, daß vor ihnen die Küste lag, daß nach wenigen Minuten ihrem Wege ein Halt geboten sein würde, ein unbedingter Halt, — gleichviel wohin sich die Verirrten sonst wenden konnten. Der Graswuchs hörte auf, der Boden wurde erst steinig, dann sandig, Schilf erschwerte das Gehen, lauter und lauter schlugen die Wellen gegen das Ufer, ein feiner Staubregen erfüllte die Luft. Und endlich erschien das bewegte schillernde Element, vom schönsten Leuchten der zahllosen Salpen und Quallen überglänzt, wie mit Demantstreifen durchflochten, Demanten spielend auf den Strand rollend, Demanten in jeder seiner Tiefen bergend. Blau und golden, purpurn und violett schimmerten die Lichter, in Wellenlinien zog sich’s über das Schwarz der Fluten dahin, weiße Schaumkronen rauschten auf und griffen springend, schrittweit hinein in das Land.

So schön, so hehr und majestätisch die Schöpfung in ihrer Ruhe, so friedlich das ganze von tiefster Stille überhauchte nächtliche Bild — und doch, wie zerriß es die Herzen der kampferprobten, trotzigen Männer.

Dieses Rauschen und Fluten, dieser Sprühregen, diese ganze feuchte, von Wasserduft erfüllte Luft, sie erregten und erhöhten bis zur körperlichen Qual den Durst, den unstillbaren, sie wandelten angesichts dieser unübersehbaren Wassermenge das Verlangen nach etwas Trinkbarem in förmliche Verzweiflung. Die Reisenden wandten sich ab, sie ertrugen es nicht, das Salzwasser anzusehen; sie fühlten, wie Müdigkeit und Hoffnungslosigkeit ihr ganzes Denken gefangen nahmen.

Da vor ihnen kein Durchgang, links kein Durchgang, — wie weit hinein in das Land erstreckte sich vielleicht dieser verderbenbringende Meeresarm?

Dann gab es nur eine einzige Möglichkeit, nämlich zurückzureiten, vielleicht den Wilden entgegen, vielleicht vor Hunger unfähig, sich im Sattel zu halten.

Sie dachten alle das Gleiche, keiner aber sprach es aus. Nur eins konnte sich Thompson nicht enthalten, brummend hervorzustoßen: „Wollte, daß ich den schwarzen Halunken hätte stehlen lassen, was ihm beliebte, dann säßen wir nicht in dieser unseligen Patsche!“

Der Doktor klopfte ihm auf die Schulter. „Das ist ein Irrtum, alter Freund,“ versetzte er in ermunterndem Tone. „Sie durften das Unrecht, welches noch verhindert werden konnte, sicherlich nicht geschehen lassen, Sie würden auch dadurch ganz gewiß keinen Segen gestiftet haben.“

Der alte Führer nickte. „Well, Ehrwürden, aber — die Frage, wie wir aus dieser Einöde lebendigen Leibes wieder herauskommen sollen, ist bei alledem doch noch ungelöst.“

„Aber sie wird sich lösen wie so viele es thaten,“ beharrte der Doktor. „Lassen Sie uns vor der Hand ein paar Bäume suchen, um die Pferde festzubinden und dann unsere Wolldecken ausbreiten. Die eine Hälfte kann ja immerhin wenigstens im Schlafe Erholung suchen.“

Niemand antwortete, aber der Rat wurde dennoch befolgt.

„So laßt uns ausharren, Kinder, laßt uns ausharren,“ ermahnte der alte Theologe. „Noch ein paar kurze Stunden und es ist Tag, die Sonne bringt neues Leben, neuen Mut. Wer wollte denn gleich dem ersten Anlauf erliegen?“

Während er aber die Worte sprach, fühlte der alte Herr doch selbst, wie schmerzlich ihm die Augen brannten und wie die Stimme den Dienst versagte. Er streckte sich in den Sand und behauptete mit dem Aufgebot seiner letzten Kräfte, daß es ein recht bequemes, weiches Bette sei.

Die übrigen waren eben im Begriff, ihm zu folgen, als von fern her ein schwacher Schall ihre Ohren traf, nur die Ahnung eines Schalles vielleicht, aber doch stark genug, um gleich einem elektrischen Schlage die mutlosen, verzweifelten Männer zu berühren. Es waren Glockenklänge, die da der Wind herübertrug, — Glockenklänge, sie hatten es alle gehört, aber kein einziger unter ihnen wagte, dem Zeugnis seiner Sinne zu vertrauen.

Und doch, — es tönte ja fort, es war keine Täuschung möglich, es wurde stärker und stärker, — das war das Feuersignal, wie es deutsche Kirchenglocken in der Nacht den schlafenden Bewohnern des Ortes mitteilen.

Bum! — Bum! — Bum! — die bekannten Einzelschläge von tiefem Baß! Wie sie fern im Städtchen die Herzen erbeben lassen mochten, wie sie hier draußen gleich Engelsstimmen erklangen, — die deutschen Glocken!

Noch sprach keiner der Verirrten. Fürchteten sie, den Traum, den wunderbaren, erlösenden, zu scheuchen durch das laute Wort?

Holm streckte die Hand aus. Was er halb unbewußt flüsterte, das kannten sie alle, das kennt jedes Menschenherz, so weit die deutsche Zunge klingt — —

„Soll eine Stimme sein von oben,

Wie der Gestirne helle Schar“ — —

— Ja, eine Stimme von oben! — Glockenklang in nächster Nähe, eine Niederlassung hinter dem Meeresarm, — was gab es da noch zu fürchten, zu klagen?

„Sagte ich’s nicht, ihr Kleingläubigen,“ lächelte der Doktor. „Kommt und schlaft, ich begann schon in Träume zu verfallen, — es ist weich und bequem hier auf dem Sande.“

Er schlief den Schlaf äußerster Ermattung, indes die jüngeren Leute wachten und sich leise flüsternd unterhielten. Es mußte von hier jedenfalls einen Weg zum jenseitigen Ufer geben, vielleicht sogar direkt in Booten, die auf dem Meere lagen. Hunderte von Hoffnungen und Vermutungen durchzogen die Seelen der eben noch Niedergedrückten; sie hörten jetzt auch Hundegebell und sahen den Feuerschein gerade vor sich emporsteigen. Danach konnte der Meeresarm nur sehr schmal sein; — wenn sich der Landweg zu weit zeigte, erhielten die Bewohner des Städtchens unschwer ein Zeichen ihrer bedrängten Stammesgenossen; schon von den ersten Morgenstunden durfte man mit Recht Erlösung aus dieser qualvollen Verlassenheit erwarten. Niemand dachte an Schlaf, nur die Pferde lagen und träumten, gewiß von gefüllten Eimern, denn sie vollführten mit geschlossenen Augen die Bewegung des Saufens.

„Zuerst nehme ich ein Bad,“ meinte Hans, „aber nicht im Meer, sondern im süßen Wasser. Alles, was ich denke, ist Flüssigkeit, alles, was ich ersehne, träufelt. Der Platz unter dem Strahl jener Feuerspritzen scheint mir im Augenblick als der beneidenswerteste auf Erden.“

„Ja, eine Douche,“ nickte auch Holm. „Gebückt sitzen und es immer über sich herabregnen lassen, das wäre schön. — Wie mir der Gaumen brennt!“

„Meine Haut löst sich ab,“ fügte Franz hinzu. „Damals in der Gefangenschaft bei den Kaffern hatten wir Wein und Branntwein, wir konnten Gras und Blätter kauen, aber hier gibt es nur Sand und das entsetzliche Anschlagen der Wellen. An diese Nacht werde ich denken, so lange ich lebe.“

„Es muß nun sehr bald Tag sein,“ tröstete einer der Führer. „Noch eine Stunde, dann ist wenigstens dies traurige Dunkel gelichtet.“

„Aber solche Stunden sind elastisch, sie dehnen sich so furchtbar!“ versetzte Franz.

Die übrigen lachten; so gut als es eben ging, half man sich über die zögernden, widerstrebenden Minuten hinweg, und als endlich nach langer Geduldsprobe das goldene Tagesgestirn am Himmel seine ersten Strahlen entsandte, da wurde es mit Jubel und unsäglicher Dankbarkeit begrüßt. Jeder neue Sonnenblick enthüllte neue Schätze. Drüben hinter dem Meeresarm lag ein Städtchen mit roten Ziegeldächern und einem bescheidenen, kleinen Kirchturm in der Mitte, ein ganz winziges, unbedeutendes Städtchen von wenigen hundert, zum Teil nur hölzernen, zum Teil strohgedeckten Häusern, mit friedlichen Gärten und wallenden Kornfeldern, mit Schafherden, die rings an den Abhängen das magere Dünengras weideten, und mit einer ländlichen, einfachen Bevölkerung. Aber doch, so dörflich, so anspruchslos das ganze Bild sich zeigte, so innig entzückte es die Herzen der Beschauer. In vielen dieser Gärten, namentlich wo sie an das Meer herantraten, wehte vom hohen Flaggenstock die deutsche Flagge, auch das wunderliche Türmchen ohne Stil oder architektonische Schönheit zeigte am goldenen Knauf das Schwarz-Weiß-Rot der Heimat, neben dem die Flagge des Einzelstaates dem deutschen Herzen unbedeutend erscheint, das in der Ferne den Wanderer, wo er es findet, wie freundliches Grüßen berührt, das in sich, in seiner Vereinigung alles birgt, was deutsch heißt, gleichviel ob dem Süden oder Norden des großen Vaterlandes entstammt.

„Auf! Auf!“ rief Franz, den Strohhut schwenkend, „da werden auch Hamburger wohnen.“

„Hurra!“ tönte es aus geringer Entfernung, „hurra! ich habe Wasser gefunden!“

Der alte Squatter war’s. Er sah Weidengebüsche und auf ihren Zweigen ein paar Eisvögel, — da mußte süßes Wasser sein. In aller Stille, um niemand zu täuschen machte er sich auf und suchte, und richtig, ein murmelndes Flüßchen kroch über den Sand, er konnte sein lautes Hurra! hurra! den Genossen zujubeln.

Menschen und Tiere tranken, Menschen und Tiere badeten unterhalb des Flüßchens die heißen, eingetrockneten, staubbedeckten Glieder; auch der Doktor erwachte von all dem Toben und Jubeln, auch er wurde an den segenspendenden Quell geführt und ihm zum Bade das bequemste Plätzchen ausgesucht. Es war ein Freuen und Jauchzen überall, sogar die Pferde ließ man laufen, damit sie sich in der Umgebung ein Frühstück suchten; Hans dehnte sich im Wasser von einer Seite zur anderen und behauptete, daß er noch stundenlang so liegen bleiben würde, kurz, alle diese gehetzten, halbverhungerten Menschen genossen in vollen Zügen die Seligkeit des frischen Bades und Trunkes, alle steckten sie, Führer und Reisende, jung und alt, bis an den Hals im Wasser; da plötzlich erschienen auf der Szene zwei Personen, die zwar durchaus nicht gefahrdrohend oder schrecklich aussahen, deren Empfang sich aber unter den gegebenen Verhältnissen nicht bewerkstelligen ließ, — zwei Frauen in deutscher Bauerntracht mit großen runden Strohhüten, Körbe am Arm und derbe Holzpantoffeln an den strumpflosen Füßen.

S. 410.

Die Überraschung im Bade.
„Da plötzlich erschienen auf der Szene zwei Personen, die zwar durchaus nicht gefahrdrohend oder schrecklich aussahen ...“

Einen Augenblick schien es, als wollten sie die Flucht ergreifen oder wenigstens um Hilfe rufen. Kopf an Kopf im Wasser, auf dem Strand die Kleider, — was bedeutete das in der Wildnis, wo ihnen noch nie eine Menschenseele begegnet war?

Holm beruhigte durch seinen freundlichen Zuruf die Erschreckten. Im Namen aller seiner Gefährten — gegenwärtig nicht vorstellbar, wie er beifügte, — erzählte er den Hergang des Geschehenen und bat um gastliche Aufnahme im Städtchen.

Die Antwort klang deutsch, norddeutsch sogar; sie entzückte die Hörer: „Willkommen bei Landsleuten, ihr Herren! Geht nur hinunter und laßt euch Speise und Trank geben. Gott zum Gruß!“

Damit entfernten sich heimlich lächelnd die Frauen, um weiterhin am Strande junge Schildkröten aufzulesen; unsere Freunde aber fanden es nun doch geraten, an dieser Stelle, die sich bei näherer Betrachtung als gangbare Landstraße erwies, nicht länger in Adams Toilette zu verharren, sondern sich im ganzen Glanze ihrer vielfach zerrissenen und von Flecken übersäeten Leinenkleidern den Bewohnern des Örtchens zu präsentieren. Eine Stunde später hielten sie jenseits der schnell umrittenen Meeresbucht unter dem kuriosen Türmchen ihren Einzug, und am Abend dieses so schön begonnenen Tages schliefen sie wie die Bären in Federbetten, die zwar nicht in Deutschlands Gauen, aber doch nach deutscher Art gestopft waren. In Federbetten! — seit Hamburg hatten sie keine mehr gesehen, seit Hamburg sich nicht so behaglich gestreckt, so zu Hause gefunden wie hier unter diesen ländlich-einfachen Leuten.

Alles deutsch, deutsch. Früh am Morgen gab es Kaffee und eigengebackenes Brot, „Stuten“, wie die lächelnde Wirtin sagte; die Kinder mußten ihre Lektionen wiederholen und wanderten zur Schule; der Schmied und der Böttcher arbeiteten auf der Straße vor den Werkstätten; hüben und drüben erklangen deutsche Lieder. Die freundlichen Leutchen ließen sich von ihren Gästen wieder und wieder erzählen, was sie alles Schönes, Herrliches in der weiten Welt gesehen, besonders die alte Großmutter horchte begierig diesen Berichten, aber sie schüttelte doch zuletzt den Kopf und fuhr mit dem Rücken der mageren zitternden Hand über die feuchtgewordenen Augen. „Zu Hause ist es am besten,“ sagte sie dann, „in Deutschland ist alles am besten.“

Namentlich Franz erfreute sich ihrer Gunst. „Setze er sich zu mir, junger Herr,“ konnte sie in urwüchsigem Plattdeutsch bitten, „ich möchte ihn einmal etwas fragen. Sieht er, mein Sohn, der Bauer hier im Hause sagte zuweilen, daß auf unseres Herrgottes Erde die deutsche Heimat gerade unter unseren Füßen liege und daß ich, wenn meine Stricknadel dazu lang genug wäre, hier in den Boden hineinbohren und zu Hause in Deutschland wieder ans Tageslicht kommen könne. Ist das die Wahrheit?“

Und als der junge Mann lächelnd bejahte, da wiegte sie den eisgrauen Kopf. „Dann hätte man also gar nicht weiter von Deutschland fortkommen können, als bis hierher, junger Herr?“

„Zu Lande nicht, Mütterchen.“

Die Alte schwieg lange Zeit. „Grüße er mir das liebe kleine Holstein, wenn er wieder heimkommt, junger Herr,“ bat sie endlich. „Da hat vor achtzig Jahren meine Wiege gestanden.“

Franz drückte gerührt die faltige Hand. Ihm und allen anderen wurde es schwer, von diesem traulichen Asyl, das den müden Wanderern Leib und Seele neu erfrischt, nach einigen Tagen des behaglichen Ausruhens wieder zu scheiden. Wie eine Art Heimatsgefühl war es über aller Herzen gekommen; wie von lieben Angehörigen nahmen sie Abschied, und mehr als ein Seufzer flog zum Städtchen zurück, nachdem die kleine Schar abermals im Sattel saß und neuen Gefahren, neuen Anstrengungen entgegenging. Dieser Weg wurde jedoch durch die erhaltene Begleitung mehrerer Bauern, die Wolle zur Hauptstadt brachten, und durch die mitgenommenen reichlichen Vorräte bedeutend erleichtert. Vorüber an himmelhohen Gebirgszügen mit prächtigen Gipfeln an zahlreichen anziehenden Punkten ging es in bequemen Tagereisen und unter dem Schutze ausreichender Ortskenntnis langsam durch das reizlose Land zum Schiff zurück, wo schon der Kapitän und Papa Witt angefangen hatten, heimliche Besorgnis zu hegen.

*                    *
*

Als man am ersten Abend behaglich in der Kajütte saß, warf der Kapitän, der mit Genugthuung einige Herabstimmung bei unseren Freunden gemerkt hatte, mit schlauem Lächeln die Äußerung hin: „also morgen nach dem Südpol?“

Eine längere Pause entstand. Man sah sich gegenseitig an, niemand sagte ein entschiedenes Ja, von dem sonst so kühnen Franz ward sogar ein Seufzer gehört.

Da brach Holm das Eis. „Kinder,“ rief er, „seien wir ehrlich. Es ist offenbar, daß niemand mehr rechte Lust zu diesem ausschweifenden Unternehmen hat, nehmen wir uns nicht selbst unnötig beim Wort, sondern gehen wir mutig einen Schritt zurück und dampfen wir durchs Korallenmeer ruhig nach Samoa. Da ist’s wärmer und behaglicher, und wir kommen einige Monate früher nach Hause.“

„Früher nach Hause, das ist das Entscheidende!“ jubelten die Knaben, der Doktor nickte billigend mit dem Haupte und alle atmeten auf, als sie sich von dem etwas übereilt gefaßten Vorhaben befreit fühlten.

„Damit aber die schönen Wärmemittel nicht umkommen,“ rief Holm, „der herrliche Arrak und die treffliche Zitrone, die uns eure gute Mama für den Südpol geschickt hat, soll uns auch die warme Zone nicht hindern, einen herzhaften Punsch zu brauen. Ihr wißt ja: vier Elemente innig gesellt ...“

Und so geschah es. Das erste Glas galt dem Südpol, vor dem man glücklich bewahrt geblieben war.

Vierzehntes Kapitel.

Der Dampfer durchschnitt die blauen Fluten des Großen Ozeans. Nach herrlicher Fahrt durch das Korallenmeer, südlich um Neukaledonien herum, näherte man sich, quer die Gazelletiefe durchschneidend, dem nächsten Ziele, als welches die Tongainseln ausersehen waren. Die altgewohnten Bilder südlich-tropischer Prachtfülle luden wieder alle Sinne zum Genuß. Hier ragten aus dem Meere die sogenannten Atolls, die schmalen, unbewohnten, meist bogenförmigen Koralleninseln, auf denen schlanke Palmen ihre Kronen wiegten, wo große, schöne Seevögel nisteten und ein reiches, üppiges Grün das Auge des Beschauers entzückte; dort dehnte sich das Gestade eines kleinen, waldigen Inselchens, auf dessen Rund die Forscher nur wenige Pflanzen und Insekten, aber keine menschliche Wohnung fanden, — überall glänzte Schönheit und höchste Vollentfaltung der Natur. Auch das Meer selbst zeigte neue Gestalten. In zahlreicher Fülle umschwamm das Schiff eine Quallenart, wie sie bisher noch nicht erschienen war, eine Familie von Einzelwesen, die jedoch zusammen ein geschlossenes Ganzes bildeten, und bei deren Anblick die Reisenden nur verdroß, daß auch dies farbenschöne Geschöpf nicht eingefangen und mitgenommen werden konnte.

An einer zarten, milchweißen Schwimmblase hingen mehr als fünfhundert kleine, weiße Glöckchen, die immerfort auf- und zuklappten und dadurch das sonderbare Wesen über Wasser erhielten. Sie glichen durchsichtigen klaren Tröpfchen, deren Reiz nur übertroffen wurde durch den des roten gewellten Stieles, des eigentlichen mit Saugapparaten versehenen Nährpolypen, von dessen Rund je eine rosige Kapsel das abwärts geneigte Tröpfchen wie ein Dach überschattete, der fadenartig dünn auslief und gegen das Ende hin weniger und immer weniger kleine Glöckchen trug. Das Ganze glich einer riesigen, aus den zartesten weißen Perlen zusammengesetzten Traube, es lag in der obersten Wasserschicht wie das Geschmeide einer Kaiserin, würdig, im Fürstensaale zu prangen, das Kunstvollste, Reizendste, was auf dem ganzen weiten Gebiet der schaffenden Natur den Forschern begegnet war — und doch in Wirklichkeit nur klebriger Schleim. Holm versuchte nicht, es einzufangen, ebensowenig die hier im großen Ozean schwimmenden, gleich einem wandernden Blumenbeet dahinsegelnden Seerosen, deren bunte Farben das Schiff umgaukelten, während sie in allen übrigen Meeren nur festsitzend auf dem Grunde angetroffen waren; er machte noch einige Züge mit der den Orang-Badju so mühsam abgetrotzten, unterseeischen Laterne; aber die Hauptaufmerksamkeit galt hier doch den Inseln, nicht dem Meeresgrunde, dessen Bewohner in seinen Sammlungen, so weit möglich, schon alle vertreten waren.

An den Tongainseln warf das Schiff zum erstenmale nach langer, schöner Reise wieder seine Anker aus, natürlich nicht in einem Hafen, sondern wo gerade der überall flache, langgestreckte Strand die Landung gestattete. Daß es nicht ratsam sei, hier unter den Wildesten aller Wilden, wo selbst noch Menschenfresser gefunden werden, weite Landreisen zu machen, wußten die jungen Leute, aber zu zwanzig Mann das Ufer betreten, wohlbewaffnet und wohlversehen mit allerlei Geschenken, das ging doch an. Sie nahmen alte Kleider, Lebensmittel, ein paar Säbel und Dolche sowie etwas bunten Kattun; dann wurde das nächste Dorf aufgesucht. Am Strande fischten langbeinige Reiher und große kornblumblaue Eisvögel; in allen Zweigen lebte und wogte es von den schönsten Papageien und Singvögeln, bunte Schmetterlinge segelten durch die Luft, Bienen flogen summend umher, und Käfer krochen am Boden; nur Säugetiere sahen die Reisenden nicht; auch selbst die kleinsten Arten fehlten.

Große, schöne Menschen, hellfarbig mit schwarzen, klugen Augen und langem, schwarzen, durch Kalk an den Spitzen gelb gefärbten Haar kamen aus den Gebüschen hervor und besahen neugierig wie harmlose Kinder die fremden weißen Menschen. Ihre Hütten waren die bekannten Pfahlbauten, welche Bienenkörben gleich hart neben einander im Kreise standen, und wo sich nach australischer Weise der Herd in einem Erdloch mitten in der Wohnung befand; sie zeigten teilweise hübsche, geflochtene Matten, einige Körbe, Waffen und Schmuckgegenstände aus Korallen, im ganzen aber blickte doch die Trägheit und Armut der Bewohner überall durch. Trotz des gesegneten Klimas und des überaus fruchtbaren Bodens war nirgend eine Spur von Landwirtschaft aufzufinden; vielmehr lebten die Leutchen von dem, was der Himmel freiwillig spendete, und wenn ja zuweilen irgend eine Mühe aufgewendet wurde, so war es die, den Meerwurm einzufangen und das widerwärtige Gericht auf heißen Steinen zu rösten.

Die ganze Insel erschien wie ein einziger, großer, schöner Garten, zum Teil Park mit hohen, alten Bäumen, zum Teil flaches Land, auf dem nur die Tierwelt fehlte, um es zum Paradies zu gestalten. Tauben in den seltsamsten Farben, weiß mit violettem Kopf oder weiß mit rosenroter und grüner Brust, bevölkerten die Bananenbäume, deren Früchte sie naschten; Zwergloris, ganz kleine, purpurne und grüne Papageien, zerfaserten die Nüsse der Kokospalme, blaue und weiße Winden krochen an allen Stämmen hinauf, die Sandelholzbäume boten kostbaren Wohlgeruch, und Baumwollenstauden erhoben überall die kapselartigen Häupter.

Es war nicht möglich, sich mit den Wilden zu verständigen, aber dennoch schienen sie den Begriff des Tauschhandels recht gut zu kennen, so daß für die Sachen, welche unsere Freunde mitgebracht hatten, ganze Massen frischer Früchte an Bord kamen. Auch Wasser wurde eingenommen, und nachdem das Dorf besehen, die hauptsächlichsten Vogelarten erlegt und ein paar Zweige des Sandelholzbaumes mitgenommen waren, luden unsere Freunde die schönen, zutraulichen Menschen ein, nun ihrerseits das Schiff zu betrachten. Eine Menge Kähne, lauter sogenannte Einbäume, lagen am Strande, und auf ihnen ruderten die Polynesier heran, Männer und Frauen, Kinder und Erwachsene, sämtlich nackt bis auf den Grasgürtel; sie untersuchten jedes Stück, schwatzten unter einander ohne Aufhören und verlangten wie Kinder alles, was ihnen gefiel. Nur vor Büchern zeigten sie entsetzliche Furcht. Keine Überredung kein Lockmittel konnte sie bewegen, irgend einen Band mit ihren Händen zu berühren, ja, wenn die Weißen den Deckel zurückschlugen und so das Gedruckte ans Tageslicht kam, dann flohen sie bis an das entgegengesetzte Ende des Schiffes und zuweilen sogar ohne weiteres köpflings ins Wasser. Es machte sich bei ihnen die ganze Natürlichkeit des wilden Zustandes geltend, dennoch aber mußten sie von weißen Eroberern schon gehört haben, mußten wissen, daß Bücher für allerlei einengende und unbequeme Zwecke ihnen gegenüber das Mittel waren, daß sie gefährliche Zaubereien enthielten und der gefürchteten Rasse als Waffen dienten.

Erst die hereinbrechende Nacht zwang die Leutchen, in ihren steuerlosen Kähnen, deren jeder einen Zwillingsbruder von ganz gleicher Gestalt, nur unausgehöhlt, wohlbefestigt neben sich führte, ans Land zurückzukehren; das Schiff dagegen blieb liegen, um vor Antritt der Weiterreise an gesicherter Stelle auch das nächtliche Naturleben dieser Breiten kennen zu lernen.

Vom nahen Ufer herüber rauschten die Baumkronen, helle Tropennacht lag auf der leise rollenden See, und hier und da regten sich die Geschöpfe des Strandes oder der Tiefe. Schildkröten watschelten schwerfällig auf dem Kies, große fischende Reiher und Möwen strichen hart über der Oberfläche des Wassers dahin, und durch die Luft huschten graue, häßliche Vampire, sogar das Schiff streifend, lautlos mit faltigen, niedrigen Flügeln und scharfen Krallen. Unzählige kleine Quallen, die Noktiluken und Salpen verbreiteten, in gewundenen Zügen schwimmend, das schöne demantartige Meerleuchten, Fische tauchten auf, und flatternde Nachtvögel jagten einander in den Zweigen. Als die Morgenröte am Himmel emporstieg, hatte sich das ganze Meer mit kleinen, dünnen Würmern wie mit einer erdgrauen Schicht völlig bedeckt; vom Lande stießen eine Menge Boote, in denen die Eingebornen mit großen Körben saßen und geschickt in einer Art Netz die unappetitliche Speise einfingen. Das Wort „Palolo“ ging von Mund zu Mund, und sobald ein Korb gefüllt war, trugen ihn die Frauen in das Dorf, um den Inhalt auf heißen Steinen zu rösten.

Dieser Palolofang schien ein besonderes Fest; wahrscheinlich zeigte sich der Wurm nur selten, weshalb auch die Frauen ihr Haar mit Palmöl, Sandelholz und Blumen geschmückt hatten, während die Kinder durch Tanzen und Jubeln ihre Freude zu erkennen gaben. Einige der schönen, hellfarbigen Gestalten kamen auch an Deck, um die schreckliche Speise anzubieten, und wurden reich beschenkt mit bestem Dank wieder entlassen, indes Hühner und Affen den Wurm eilfertig verzehrten, die Menschen dagegen schaudernd den sonderbar fettig und brenzlich duftenden Pudding von sich wiesen.

Das Schiff lichtete seine Anker und steuerte den Fidschiinseln zu. Von diesen sollte es, da fast alle verschiedenen Gruppen einander im hauptsächlichsten gleichen, nur noch dem eigentlichen Ziele, den Samoainseln, einen Besuch abstatten und dann die Heimreise antreten. „Von den drei größeren Unterscheidungsformen der ozeanischen Völkerschaften, den Melanesiern, Polynesiern und Mikronesiern, sind nur die Polynesier für uns noch neu,“ hatte Holm gesagt, „die beiden andern dagegen nähern sich der schwarzen genugsam bekannten Rasse, sind — namentlich in Neuirland, Neuhannover und den Neuhebriden — falsch und diebisch, wogegen die Mikronesier ganz in der Unkultur und Armut der Negervölker dahinleben; wir wollen deshalb ihren Inseln keine weitere Aufmerksamkeit zuwenden, sondern, lieber den berüchtigten Fidschianern unsere Visite machen: in Samoa ist dann der Aufenthalt ein längerer und eingehenderer.“

Damit waren die übrigen einverstanden, und so dampfte das Schiff durch die heiße, inselreiche See dahin, oft an einzelnen Klippen, oft an blühenden Ufern vorüber, so recht in dem vulkanischsten, den meisten und bedeutendsten Erdbeben ausgesetzten Teile unserer Erde, immer zwischen Korallenfelsen, zwischen den Häuptern rauchender Krater und ganzer Züge erloschener, ehemals feuerspeiender Berge, aus deren brodelndem Inneren sich dereinst vor Jahrhunderten die heute so blühende Insel herausgehoben hatte. Fast alle waren sie von Korallenriffen umgeben, fast alle von einer Menge kleinerer Inselchen und vorspringender Klippen wie von einem grünen Gürtel eingeschlossen; zuweilen glitt das Schiff langsam am Ufer dahin, so nahe, daß die nackten Gestalten der Bewohner deutlich erschienen, oder daß weiße, nach europäischem Muster aufgeputzte Gebäude durch das Grün der Bäume hervorschimmerten, jedesmal ein Anblick, den die gesamte Mannschaft durch lautes Hurra begrüßte.

„Morgen laufen wir in Viti-Levu ein,“ sagte nach dreiwöchentlicher Reise der Kapitän. „Ich hoffe es wenigstens!“ —

Holm sah ihn an. „Wenn es nicht heute noch einen Orkan gibt, gelt?“ fragte er. „Himmel und Wasser haben eine eigentümliche Beleuchtung, — mich deucht, das Meer ist unruhig, obgleich man doch keinen Wind verspürt.“

Der Kapitän antwortete ausweichend. Eine der Fidschiinseln, eine kleine, namenlose, mit hohem, rauchendem Vulkan lag zur Rechten des Schiffes und vor ihr mehrere grüne mit Palmen bestandene Erdfleckchen, mehrere vulkanische, wildzerrissene Klippen — auf diese richtete er sein Augenmerk. Plötzlich deutete er zu dem Krater der Hauptinsel hinüber. „Da haben wir es, ich dachte mir’s bereits!“

Ein rollender, knatternder Ton erfüllte die Luft, eine hohe Feuersäule schlug gen Himmel, und Ströme gelber, glühender Lava flossen nach allen Richtungen am Berg hinunter in die Tiefe. Große Steine wurden hoch emporgeworfen und fielen donnernd wieder hinab in den entsetzlichen Schlund, die ganze Umgebung war in Rauch und Asche gehüllt. Auf dem Schiff standen sämtliche Reisende und betrachteten das herrliche Schauspiel, dem sich jetzt vom Himmel herab ein Gewitter mit blendenden, zuckenden Blitzen zugesellte. Da plötzlich begann die Unruhe, welche das Wasser schon seit Stunden beherrscht, in förmliches Toben überzugehen. Wie im stärksten Sturm hoben sich unter vollkommenster Windstille die Wellen; auf der Oberfläche erschienen Blasen; das Schiff wurde wie von unsichtbaren Händen geschüttelt, so daß jeder der Männer, um nicht zu fallen, nach irgend einem festen Gegenstand griff, und dann, als das Murren und Grollen, das Zischen und Donnern seinen Höhepunkt erreicht, dann geschah etwas, dessen Anblick den Weißen wie ein Zauberkunststück vorkam, das ja unmöglich Wahrheit sein konnte.

Die kleinen Inselchen mit ihren Palmen und Bananen, die Klippen von sonderbarer phantastischer, fast einem Riesenvogel gleichender Form — sie alle schienen zu schwanken, sich zu neigen, die vorderste Klippe drehte sich sogar um ihre eigene Axe — unmöglich, unmöglich, das konnte nicht sein, das war ein Blendwerk. — —

Aber da rauschte es auf, hundertfältiger Donner zerriß den Schoß des Meeres, mitten aus der Klippe fuhr ein Flammenstrahl, betäubend brüllten die Wogen, ganze Berge türmend, ungeheure Wassermassen, die das Schiff wie einen Kreisel drehten, die spritzend, kochendheiß, von Dampf und Funken umflogen, bis über die Schornsteine hinauf ihren Tropfenregen entsandten und überall, wohin sie trafen, die Haut der Männer empfindlich verbrannten. Ein Schrei brach von den Lippen der Beherztesten, mehrere waren von dem Stoß zu Boden geworfen worden, alle lähmte Schreck und Verwirrung. Als aber einige Besinnung zurückgekehrt, und sie wieder hinaus sahen auf den Ort der gespenstigen Katastrophe, da war von den schwankenden Inselchen, von der brennenden, in helle Gluten getauchten Klippe nichts mehr zu entdecken; die Tiefe hatte sie für immer verschlungen; nur große Stücke Schlacken und eine Unmasse grauer und gelber Asche trieben auf den stiller werdenden Wellen, daneben aber auch tote, buchstäblich gekochte Fische, Würmer, Schnecken und Muscheln in großer Anzahl. Binnen wenigen Augenblicken war die ganze Oberfläche des Meeres davon bedeckt; Krebse im schönsten Todesrot, alle Arten eßbarer Flossenträger, Tintenfische, selbst ein Hai, dazu kleine Schildkröten und Muscheln, so trieb es, emporgeworfen von den unterirdischen, den Boden des Ozeans aufwühlenden Gluten, leblos neben einander, während drüben die Ausbrüche des Vulkans fortdauerten und aus den Wolken Blitz auf Blitz herabzuckte.

Ein wahrer Wolkenbruch endete nach einer halben Stunde das furchtbare Naturschauspiel, dem die Reisenden mit ebensoviel Anteil als Grauen beigewohnt hatten und das von seiten der wilden Bewohner jener größeren Insel noch einen höchst unerwarteten Schlußakt erhielt. Die Doppelkähne setzten sich in Bewegung, die braunen, schöngeschnitzten Ruder aus Eisenholz wurden eingelegt und große Weidenkörbe mit den toten Fischen angefüllt. Ohne von den Weißen Notiz zu nehmen, ohne sich Zeit zum Auflesen zu gönnen, fielen die Eingebornen sogleich über ihren Fang her und vertilgten die unheimliche Speise mit Haut und Gedärmen da, wo sie dieselbe aufgriffen. Ohne Zweifel litt also die Insel, wie dies gerade in der heißen Zone so oft vorkommt, an Hungersnot; die Trägheit ihrer Bewohner ließ keine Feldarbeit aufkommen; da wo die Ernte eine zehnfache sein konnte, wurde kein Acker gebaut, kein Fruchtgarten gehalten; — die Menschen fielen wie Hyänen über tote, ekle Körper her, um nur den nagendsten Hunger zu stillen.

Ein paar Säcke Mehl wurden verteilt; dann nahm der Dampfer seinen Weg wieder auf. Das Gewitter hatte nachgelassen; eine angenehme Kühle folgte der furchtbaren Hitze, die See ging ruhig wie zuvor. Früh am folgenden Morgen, als die ganze Gesellschaft, noch das erstaunliche Erlebnis des letzten Tages besprechend, ergänzend und berichtigend beim Frühstück auf dem Verdeck saß, etwa gegen neun Uhr, meldete der Mann am Steuer einen dunkeln Punkt in Sicht. „Ein Schiff ist’s nicht,“ setzte er hinzu, „es fehlen Masten und Takelage.“

Auch der Kapitän sah hin. „Sonderbar, das kann nur ein Wrack sein, denn für ein Boot ist es viel zu groß.“

„Aber wir haben ja gar kein Unwetter, keinen Sturm gehabt! — hm, Steuermann, das müssen wir aus der Nähe besehen.“

Der Alte nickte, die nötigen Befehle wurden gegeben und allmählich schwand der Raum zwischen dem Dampfer und dem treibenden, offenbar herrenlosen Rumpf, dessen Weg die ganze Gesellschaft mit lebhaftem Interesse verfolgte. Als für einen Anruf durch das Sprachrohr die nötige Nähe erreicht worden war, fragte Papa Witt mit lautem Ton nach dem Woher und Wohin; er wiederholte sogar mehrere Male den Zuruf, aber keine Antwort klang von der Stätte der Verwüstung zurück, — auf dem Wrack konnte sich keine lebende Seele mehr befinden.

Jetzt befahl der Kapitän, den Rumpf des unbekannten Schiffes zu entern und ihn behufs Feststellung seiner Verhältnisse einstweilen ins Schlepptau zu nehmen; das geschah auch, die Matrosen zogen mittels langer Haken das Wrack heran, und mehrere von ihnen sprangen an Bord desselben, um den Thatbestand zu untersuchen. Das Schiff, die deutsche Bark „Eintracht“, war offenbar während des gestrigen Gewitters vom Blitz getroffen worden und bis auf das Deck niedergebrannt. Hier mochten die stürzenden Regenfluten dem Verderben Einhalt geboten haben, jedenfalls aber lebte auf den traurigen Überresten des stolzen Baues kein Mensch mehr; die Mannschaft war entweder verbrannt oder ertrunken, vielleicht auch dem Ärgsten entronnen, indem sie rechtzeitig die Flucht ergriff; darüber ließ sich nichts entscheiden. Wo keine Masten, keine Takelage zu entdecken war, da konnte auch kein Boot sein, — möglicherweise trieb es voll hoffnungsloser, verzweifelnder Männer auf offenem Meer, möglicherweise war es verbrannt und die Besatzung mit ihm.

Nachdem die verkohlten Luken geöffnet und die Ladung als Ballast erkannt war, löste man jede Verbindung mit dem Dampfer. Mochte das Wrack, überall angebrannt und total ruiniert, vor Wind und Wellen treiben, bis es irgendwo von den Eingebornen aufgefangen wurde, — da unsere Freunde nie in bekannten Häfen, sondern möglichst immer an irgend einer einsamen Stelle landeten, so konnten sie es nicht mitnehmen; namentlich jetzt nicht, wo sie an der Küste von Viti-Levu für sich selbst eine stille, versteckte Bucht erst suchen mußten.

Hier wohnten die Menschenfresser, es war größte Vorsicht geboten.

Noch vor Abend kam die Insel in Sicht, und am andern Morgen hatte sich auch schon eine Möglichkeit des Anlaufens gefunden. Obwohl das Korallenriff ganz Viti-Levu umgab, so zeigte sich doch hier oder dort eine brandungsfreie Bucht, und in die erste derselben lief der Dampfer ein. Mangroven und dichtes Gebüsch verhinderten den Blick tiefer einzudringen, dennoch aber entdeckten unsere Freunde schon sehr bald etwas ganz Unerwartetes, nämlich ein großes, wohlerhaltenes, keinesfalls aus den Händen der Fidschianer hervorgegangenes Boot, das mittels einer starken Kette am Ufer befestigt lag und außer einigen leeren Trinkgefäßen weiter nichts als die Ruder enthielt. Sobald die Reisenden ihr eigenes Boot ausgesetzt hatten und dem fremden näher kamen, erkannten sie am Steuer den Namen „Eintracht“.

Kapitän und Mannschaft sahen einander an. Schiffbrüchige deutsche Matrosen hatten sich vor der Verheerung durch die Flammen ohne alle Lebensmittel in das Boot gerettet und waren dann vom Hunger getrieben hier an Land gegangen, um womöglich irgend etwas Genießbares aufzufinden; — durfte man die Landsleute schutzlos den Händen der Kannibalen überlassen?

Franz beantwortete die stumme Frage. „Auf, Herr Kapitän, auf! ich bin überzeugt, Sie wollen die ganze Insel durchsuchen, bis diese armen Kerle gefunden sind!“

Der Doktor klopfte ihn auf die Schulter. „Mein warmherziger Junge,“ sagte er freundlich, „wenn keiner mit dir ginge, so thäte ich es. Eine Schande für jeden Mann, der seinen Nächsten feige im Stich läßt!“

Hans und der Malagasche erklärten sich ebenfalls einverstanden, sämtliche jungen Leute suchten schon nach ihren Waffen, nur Holm und der Kapitän zögerten noch. „Das kann eine blutige Geschichte werden,“ meinte bedenklich der letztere, „diese Wilden sind erwiesenermaßen Kannibalen.“

„Vielleicht kommen wir auch bereits zu spät, um die Unglücklichen noch zu retten. Es ist bekannt, daß die Fidschianer alle Schiffbrüchigen verzehren! Wenn auch in den von Weißen bewohnten Küstenstädten, wo das Christentum Boden besitzt, dergleichen vielleicht seit Jahrzehnten nicht mehr geschieht, so ist es doch hier in der vollkommensten Wildnis damit noch ganz wie früher. Die Matrosen von der „Eintracht“ können längst bei einer Kolanfeier verspeist sein.“

Der Doktor schüttelte den Kopf. „Vielleicht aber leben sie noch und bitten den Himmel, ihnen in höchster Not einen Erretter zu schicken,“ versetzte er. „Es ist nicht von ohngefähr, daß wir dem Wrack, und später hier dem Boote begegnen mußten; das behaupte ich, — und nun lassen Sie uns eilen.“

Der Kapitän legte ihm beide Hände auf die Schultern. „Wollen Sie zu Hause in Hamburg die ganze Verantwortung übernehmen, Herr Doktor? Wollen Sie es bei dem Vater vertreten, wenn einem seiner Söhne ein Unglück geschähe?“

„Da wir nicht im Mutwillen, sondern den heiligen Geboten der Menschenliebe folgend handeln, ja, Herr Kapitän! Vor dem Vater und vor Gott will ich vertreten, daß auf mein Zureden die Expedition unternommen wurde.“

Der Kapitän nickte. „Well, dann laßt uns gehen,“ entschied er. „Aber diesmal soll kein einziger fehlen, nur der Maschinenmeister mit zweien seiner Leute mag als unerläßliche Bedeckung an Bord bleiben. Heda, Jungens, wollt ihr die Kameraden von der „Eintracht“ aus den Klauen der Wilden retten helfen? Das hier ist ihr Boot und höchst wahrscheinlich sind sie selbst Gefangene. Ich zwinge keinen; wer nicht mitgehen will, der kann zurückbleiben!“

Ein allgemeines Hurra war die Antwort. Fünfundzwanzig Männer, vom Kopf bis zu den Füßen bewaffnet, schlossen sich der Expedition an, es bildeten sich unter Führung des Kapitäns, des Steuermanns und derjenigen Holms drei Züge, die zunächst vom Boot aus die Spuren ihrer unglücklichen Landsleute aufsuchten, um die Richtung, in welcher sie vordringen wollten, ganz genau festzustellen. Das war freilich keine leichte Aufgabe! Ohne Beistand des Malagaschen wäre sie wahrscheinlich überhaupt nicht gelöst worden. Blumen und Blätter bedeckten das Ufer so dicht, die Pflanzenwelt zeigte so üppige Entfaltung, daß schon Stunden genügen mußten, um in dieser heißen Luft an Stelle des geknickten Halms, der zertretenen Blume eine neue Knospe, neues Grün entstehen zu lassen. Der Malagasche kroch auf Händen und Füßen im Kreise um das Boot herum, bis er die Spur gefunden hatte. „Hier sind die Weißen gegangen,“ behauptete er, „ich sehe die Abdrücke ihrer Schuhnägel in den Yams- und Torablättern; sie haben von diesem Baum Früchte gepflückt und dort eine Kokosnuß zerschlagen. Ach, an den Dornen hängt Blut! Es ist sicher, daß Menschenhände hineingriffen!“

Der junge Hova war in diesem Augenblick ganz Wilder auf dem Kriegspfad. Er ging voran durch die wundervolle, mit verschwenderischer Pracht ausgestattete Schöpfung und fand an hundert kleinen, dem Auge des Weißen unerkennbaren Spuren den Weg, welchen die jedenfalls vergeblich nach Wasser suchenden Matrosen genommen haben mußten; immer tiefer hinein in das Walddunkel marschierte die kleine Schar, deren jeder eine Kugelbüchse, zwei Pistolen und einen tüchtigen Säbel bei sich führte. Alle Arten schöner Vögel, besonders der prächtige Tropikvogel und die großen Papageien, saßen in den Zweigen; Brotfruchtbäume, Bananen auf hohen korbartigen Luftwurzeln, Kokospalmen, Citrusarten und Orangen wiegten im lauen Sommerwind ihre Laubkronen und vereinigten dieselben zu einem förmlichen, alle Sonnenstrahlen abschneidenden Blätterdach, unter denen ein so schwüles Halbdunkel herrschte, daß viele Blumen in grauer Farbe erblüht waren, und alle lebhafteren Farben fehlten.

„Sie suchen Wasser,“ beharrte der Malagasche. „Sie sind früh morgens hier gegangen und haben aus Durst die Blätter des Yaquota durch den Mund gezogen, — auch Orangen haben sie gepflückt.“

Er zeigte einzelne Kerne, kleine Stückchen Schale und hob dann plötzlich ein kaum fingerlanges Pflänzchen aus dem Boden hervor. „Wasser,“ flüsterte er, „es ist Wasser in der Nähe. Diese Blume lebt nur an feuchten Stellen.“

Holm hatte den grünen Stengel ergriffen. „Ein Vergißmeinnicht,“ sagte er lächelnd, „ein deutsches Vergißmeinnicht! — Aber du hast recht, Junge; dergleichen liebt feuchte Gräben oder mehr noch seichtes, fließendes Wasser. Vorsichtig also, um Gotteswillen vorsichtig, die Wilden können ganz in der Nähe ihr Dorf haben.“

Der Malagasche schlich lautlos voran. Den Hut und den Rock hatte er, sonst an diese Bekleidungsstücke zivilisierter Menschen längst gewöhnt, schon abgeworfen; jetzt folgten auch die Stiefel, und nur mit Hemd und Leinenhose angethan, drängte sich der Sohn des wilden Stammes wie ein schlankes Reh durch die niederen Büsche, den einzelnen kleinen Vergißmeinnichtstauden folgend, bis an ein Bächlein, das über den Waldboden dahinrieselte und an seinen Ufern ganze Felder der blauen Blume umspülte. Hier traten erkennbare Fußspuren zu Tage. Die verirrten Matrosen hatten knieend getrunken und dann so gut, als es anging, gebadet; ihr weiterer Weg führte am Fluß hinauf, woselbst denn auch nach kurzer Wanderung der Malagasche die ersten Anzeichen menschlicher Nähe entdeckte. Ein Wink befahl den übrigen, zurückzubleiben; Rua-Roa tauchte geräuschlos wie eine Schlange in das Dickicht und kam nach wenigen Minuten blaß vor Erregung zurück. „Die Fidschianer sind da,“ raunte er, „und die Weißen auch, sechzehn Männer im ganzen. Ich glaube, wir können siegen! — kommt hier herum, — aber leise, leise!“

S. 425.

Befreiung der Gefangenen aus den Händen der Fidschianer.
„Die Kugelbüchsen schußgerecht in den Händen, die Säbel gelockert und die Herzen schlagend vor Erwartung, so folgten die Weißen dem jungen Hova.“

Die Kugelbüchsen schußgerecht in den Händen, die Säbel gelockert und die Herzen schlagend vor Erwartung, vor begreiflicher Unruhe, so folgten die Weißen dem jungen Hova. Bald sahen alle in geringer Entfernung das Dorf der Fidschianer und diese selbst; den Hintergrund bildeten hübsche Pfahlbauten, deren Thüröffnungen bunte, geschmückte Decken zeigten, und über denen auf mäßiger Anhöhe der Ortstempel sich erhob. Dies letztere Gebäude diente den Häuptlingen als Schlafgemach und umschloß eine Art von Altar, vor welchem die Priester den Kolan (Göttern) die üblichen Menschenopfer darbrachten; außerdem aber schienen rings um dasselbe herum in Friedenszeiten die Wurfwaffen der Insulaner als eine Art künstlich geordneter Schmuck verwahrt, während auf dem spitzen Dache eine ungeheure Anzahl von Schädeln zur Pyramide getürmt war.

Die Fidschianer trugen weiße, selbstgewebte Stoffe aus den Fasern einer Binsengattung; diese Kleider hatten aber keinerlei Schnitt und wurden weder angezogen noch geschlossen; vielmehr erschienen Männer und Frauen vom Kopf bis zu den Knieen hineingewickelt, so zwar, daß das letzte Ende des Zeuges je nach dem Range der verschiedenen Personen von einem bis zu dreißig Fuß nachschleppte. Ihre Farbe war schwarzbraun, ihr Haar lang und lockig, die Bärte besonders voll entwickelt und ihre Höhe staunenswert. Manche hatten geradezu riesenhafte Größe.

Alle diese Wilden lagen im Halbkreise um ein Feuer, das soeben zu glimmen begann, und das die Priester schürten. Vor ihnen hockten am Boden um eine große, aus einem Holzblock künstlich geschnitzte Schale eine Anzahl junger Mädchen, die sämtlich beschäftigt waren, den Kriegern das Material zu ihrer Bowle zu liefern und zwar auf eine ebenso abscheuliche als nur diesen barbarischen Völkerschaften eigentümliche Art. Sie kauten nämlich die Wurzeln einer Pfefferpflanze zwischen ihren Zähnen zu Brei und spuckten diesen letzteren in die große Schale, von wo er mit Wasser vermischt an das Feuer kommt und abgeklärt den „Kawa“, ein sehr berauschendes Getränk, gibt.

Hinter den jungen Fidschianerinnen, also in der Nähe der versteckten Weißen, lagen auf dem Gras, an Händen und Füßen gebunden, die gefangenen Matrosen am Rande des Gebüsches. Es schien ganz leicht, sich diesen Männern bis auf Schrittweite zu nähern, schwerer aber war es, ihnen ein Zeichen zu geben, das nicht auch zugleich die Aufmerksamkeit der Wilden erregte, — unsere Freunde berieten leise, was zu thun sei.

„Jedenfalls soll erst das Getränk fertig und der Holzstoß zu Kohlen verbrannt sein,“ flüsterte Holm.

„Wir können also den günstigen Augenblick erwarten.“

„Aber wer schleicht sich hin? Ich kann es nicht thun, da sie mich für einen Wilden halten und mir nie trauen würden.“

„Ich gehe, Rua,“ flüsterte Franz. „Laß mich nur machen. Der Gefangene am äußersten Ende der Reihe scheint mir ein Schiffsoffizier zu sein, vielleicht der Kapitän selbst, — ihm gebe ich mein Messer in die Hand.“

Der Malagasche nickte. „Ich schleiche um das ganze Dorf herum, bis hinter den Tempel und schieße von dorther mitten in die Räubergesellschaft hinein,“ setzte er leise hinzu. „Die allgemeine Aufmerksamkeit kehrt sich also jener Seite zu, — unterdessen können die Matrosen ihre Fesseln durchschneiden und ihr kommt auf der ganzen Linie mit Erfolg heran.“

Franz reichte ihm die Hand. „Rua, wie willst du dich den Verfolgern entziehen?“ fragte er gepreßt.

„Ich? — Die Hovas sind große Krieger, sie lassen sich von keinem Feind besiegen.“

Der junge Halbwilde lächelte stolz und nahm seine Kugelbüchse in die Hand. „Wenn drüben ein Papagei in Absätzen dreimal schreit, dann schieße ich,“ fügte er bei. „Aufgepaßt, mein Bruder, dein Freund wird seine Sache gut machen!“

Er hatte auch das Hemd und die übrigen Waffen von sich geworfen; die Büchse trug er wie einen Stock. Je mehr seine Fähigkeiten, sein Können zur Geltung gelangen sollten, desto deutlicher trat die ursprüngliche Natur in ihre Rechte zurück. Rua-Roa schüttelte das Haar in den Nacken, seine schwarzen Augen glänzten, er verschwand wie ein Schatten den Blicken der übrigen; binnen Sekunden hatten die Gebüsche den braunen, schlanken Körper verschlungen.

Holm lachte. „Der Wilde steckt ihm doch noch tief im Blut,“ raunte er. „Ich wette, unser Freund verlebt, nachdem er mit Rock und Stiefeln die aufgedrängte Kultur abgeworfen, einen wahrhaft beglückenden Tag.“

Auch die übrigen lächelten, indes sie geräuschlos ihre Schlachtlinie ordneten. Franz hatte sich so aufgestellt, daß er, ohne selbst gesehen zu werden, den Anführer der Gefangenen fixieren konnte. Sein Blick haftete auf der Stirn des bleichen, düster dreinschauenden Mannes, bis sich dieser, magnetisch gezogen vielleicht, halb umdrehte und in solcher Weise plötzlich dicht vor sich den jungen Europäer gewahrte. Eben so schnell aber hatte auch Franz den Finger auf die Lippen gelegt, eben so schnell hatte der Gefangene begriffen, daß ein einziger Laut genügen werde, um alles zu verderben. Er regte kein Glied, sondern sah mit dem gewohnten Ausdruck abweisenden Ernstes vor sich hin, dabei aber immer den unerwartet erschienenen Fremdling im Auge behaltend und jede seiner Bewegungen beobachtend.

Die Fidschianer lagen ahnungslos rauchend um das Feuer herum. Sie konnten sich ja nicht träumen lassen, daß in ihren nie von Weißen betretenen Wäldern der Feind nur das Signal zum Kampfe erwartete, daß die nächsten Minuten ein furchtbares Blutbad bringen sollten. Gerade diese vollständige Ruhe sicherte den Weißen den Sieg.

Franz hatte sein Messer aus der Tasche gezogen und es dem Gefangenen gezeigt. Jetzt bückte er sich, um es durch das Moos den gefesselten Händen näher zu bringen. Ein Stöckchen schob nach, eine schlauberechnete Wendung des Körpers deckte das Unternehmen, und der Schnitt durch die scharfgedrehten Binsenstricke war glücklich vollbracht. Franz sah an der Reihe seiner Genossen hinab, sie lagen alle im Anschlag, — atemlos vor Aufregung horchte er den verabredeten Zeichen.

Da trat einer der mit Turban und vielfachen Zieraten geschmückten Priester aus der Mitte der übrigen hervor und näherte sich den Gefangenen, deren einen er ohne Umstände an den Haaren ergriff und gebunden, wie der Unglückliche war, nach sich schleifte. Franz fühlte, wie ihm das Blut in allen Adern kochte; nur mit äußerster Anstrengung bezwang er sich, nicht sogleich den kecken Übelthäter zu Boden zu strecken, doppelt angestrengt aber lauschte er dem Signal, das Rua-Roa zu geben versprochen hatte. So viele Papageien krächzten von den Bäumen herab, — wie würde es möglich sein, gerade den einen erkünstelten Schrei aus der Menge natürlicher herauszuhören?

Die Priester hatten mittlerweile ihr Opfer seiner sämtlichen Kleider beraubt und schritten nun zur Vollstreckung eines Greuels, wie es nicht grausamer und fürchterlicher gedacht werden kann, wie es aber im Innern der Fidschiinseln dennoch bis auf den heutigen Tag, nicht allein Schiffbrüchigen und Kriegsgefangenen, sondern auch den eigenen Stammesgenossen gegenüber Sitte ist. Jeder Häuptling bekommt als Mahlzeit einen in sitzender Stellung gebratenen Menschen; der Gottheit aber wird vorher ein Gefangener geopfert, dem man Arme und Beine vom lebendigen Körper geschnitten, und den man gezwungen, Stücke seines eigenen Fleisches zu verschlucken. Hierfür war der aus der Reihe der übrigen hervorgesuchte Matrose, ein blutjunger Mensch, ausersehen, und die Priester holten steinerne Messer sowohl als eine irdene Pfanne herbei, um die entsetzliche Verstümmelung auszuführen, während sich der unglückliche junge Mensch aus Leibeskräften gegen die Fäuste seiner Angreifer sträubte und nicht unterließ, sie mit den ehrenrührigsten Titeln zu überhäufen.

Franz sah von einem zum andern. Schon schwebte das Messer des Zauberers über dem rechten Arm des jungen Matrosen, schon schrie dieser vor Entsetzen laut auf, — was sollte er thun, um das Fürchterliche abzuwenden?

Da erklang der Ruf des Malagaschen. Franz hört sofort den bezeichnenden, warnenden Klang, ein- — zwei- — dreimal, und zugleich mit dem letzten fiel der verabredete Schuß. In den Kopf getroffen stürzte der Priester, dessen Mordwaffe schon gehoben gewesen, um ein abscheuliches Verbrechen zu begehen.

Tiefe Totenstille folgte dem Schrei des Getroffenen, der ersten Bewegung jähen Erschreckens, das alle Wilden ergriffen hatte. Was war das? Woher kam es?

Aber nur Sekunden währte die allgemeine Erstarrung, dann wandten sich einige Häuptlinge, die Feuerwaffe erkennend, mit furchtbarem Wutgeschrei jener Richtung zu, aus der Rua-Roa geschossen. Sie zogen die übrigen nach sich, der ganze Haufe stürzte gegen die Hütten vorwärts, auch die jungen Mädchen flüchteten schreiend, kurz, es war eine Szene furchtbarster Aufregung und des wildesten Durcheinanders.

Jetzt mußte gehandelt werden, die Weißen sahen es alle. Ohne Kommando fielen auf der ganzen Linie die Büchsenschüsse, während zugleich drinnen der befreite Kapitän im Fluge die Fesseln seiner Leute durchschnitt und so die Zahl der Kämpfenden um sechzehn Männer vergrößerte. Auch der zum Kolanfest bestimmt Gewesene wurde mit Kleidern und Waffen versehen; die nach allen Seiten flüchtenden, ratlosen, unbewaffneten Wilden erhielten noch eine zweite Salve, die gleich der ersten nur in ihre Beine traf, ohne sie zu töten; dann aber benutzten unsere Freunde den Augenblick panischen Schreckens, um so schnell als möglich zu fliehen. Ein Papageienruf klang ihnen vom Dorf her nach, laut und spöttisch, nah und näher, bis endlich der Malagasche aus dem Gebüsch hervorbrach mit blutenden Armen und Schultern, aber mit triumphierenden Blicken, über dem Kopf eine Anzahl Wurfspieße schwenkend, die er vom Tempel herabgerissen, ganz Wilder, ganz der Sohn des Urwaldes. „Ich habe den Tempel in Brand gesteckt,“ rief er, „und das Gewehr liegen lassen, um die Aufmerksamkeit der Menschenfresser einstweilen abzulenken. Hier hinunter, hier, — in fünf Minuten können wir das Riff erreichen, während uns jene auf der anderen Seite suchen.“

Er stürmte voran und die übrigen drängten nach, nicht ohne von einzelnen Fidschianern verfolgt zu werden, die aber durch ein paar Kugeln sehr bald allen Mut zu weiteren Feindseligkeiten verloren und hinkend und blutend zum Dorfe zurückkehrten. Es konnte indessen nicht zweifelhaft sein, daß sogleich, nachdem die erste Verwirrung besiegt, auch der ganze Stamm den Flüchtigen nachsetzen würde; die größte Eile war daher geboten.

„Wir sind nicht weit vom Ufer entfernt,“ rief der Malagasche. „Ich stieg auf einen Baum und sah dabei ziemlich nahe die See durch das Gebüsch schimmern. Rasch, rasch, dann erreichen wir das Korallenriff, ehe uns die Kerle mit ihren langen Schleppen einzuholen vermögen.“

Die ganze Schar folgte der angedeuteten Richtung; schon nach kaum hundert Schritten blitzte im Sonnengold hinter dem Riff der Ozean auf; eine weite freie Bucht dehnte sich bis tief in das Land hinein, an Pflöcken und Baumstämmen lagen hoch heraufgezogen die schönen, schlanken Doppelkähne der Fidschianer.

„Hurra!“ rief Franz, „Hurra, die Ausbeute ist größer, die That ruhmvoller, als man denken sollte! — Wir nehmen die Boote der Wilden und drehen ihnen vom Wasser her eine Nase.“

Der Vorschlag fand allgemeinen Beifall; über Hals und Kopf wurden die Taue gekappt, jeder Mann bestieg eins der schlanken Fahrzeuge, und die übriggebliebenen nahm man, um das Nachsetzen erfolgreich zu verhindern, ins Schlepptau. Es war aber auch die höchste Zeit. Kaum trieb die seltsame Flotte in der Entfernung von etwa fünfzig Schritten auf hoher See, als aus dem Walde die ganze Masse der Kannibalen hervorbrach und mit einem Gebrüll, das nichts Menschliches hatte, ihre Opfer sich entgangen sah. Zugleich sollten auch die Kähne verloren sein; das raubte den Fidschianern alle Überlegung, einige stürzten sich blindlings, heulend vor Wut, ins Meer, um die Flüchtigen zu verfolgen, andere tanzten buchstäblich wie die Verrückten am Ufer auf und ab; alle aber schrieen, daß es klang, als sei eine Herde von Teufeln losgelassen.

Der alte Steuermann bemühte sich voll Ingrimm, mittels des Ruders den Doppelkahn zu lenken; der nebenher schwimmende Klotz ärgerte ihn über alle Maßen, und als jetzt einer der Fidschianer seinem Fahrzeug ziemlich nahe kam, da legte er erbost die Kugelbüchse auf ihn an. „Warte, du Satan, mit dem Schrecken sollst du davon kommen; aber für deine Art, Kähne zu zimmern, will ich dir doch einen Denkzettel geben.“

Er zielte und schoß den Turban vom Kopf des Wilden, der vor Schreck tauchte und erst nach einer Minute in ziemlicher Entfernung wieder zum Vorschein kam. Die Weißen begrüßten mit lautem Hurra den allgemeinen Rückzug des farbigen Rachekorps um so mehr, als jetzt auch der Dampfer in Sicht kam und zum Zeichen des Erkennens einen langhallenden Kanonenschuß über das Meer dahinsandte. Die Antwort wurde mittels hochgeschwungener Taschentücher und Hüte gegeben, nur Rua-Roa konnte nichts dergleichen schwenken, weil er bei seiner Pfadfinderexpedition alles von sich geworfen hatte und ganz als Wilder den Doppelkahn regierte. Die Matrosen fischten indessen glücklich den Turban des Fidschianers und überreichten ihm diesen, der nun tröpfelnd vom Kopf bis zur Kniebeuge herabhing; es war eine Szene ausgelassener, nach dem überstandenen Schrecken um desto lebhafter hervortretender Heiterkeit, die gerade durch den ohnmächtigen Zorn der Eingebornen ihre höchste Würze erhielt. Während diese in großen Sprüngen am Ufer den Weg der Boote begleiteten, und während das Schiff in langsamer Majestät den heimkehrenden Reisegenossen entgegenkam, berieten die Führer, was mit den Booten der Wilden zu machen sei.

„Wir überlassen sie ihrem Schicksal,“ meinte Holm.

Hans protestierte. „Das dürfen wir nicht, Karl. Auch Kannibaleneigentum ist heilig.“

„Aber wie wolltest du es denn einrichten, mein Lieber?“

„Wir binden die Kähne wie einen Rattenkönig zusammen,“ versetzte der junge Mann. „In unser eigenes Boot steigen sodann sechs Mann mit geladenen Gewehren, die das ganze kleine Geschwader an Land bringen, wenigstens bis an das äußere Riff. Die Wilden werden unter der unmittelbaren Gefahr der Bleikugeln keinen Angriff wagen.“

Doktor Bolten stimmte ihm bei. „Hans hat recht,“ entschied er. „Gerade die menschlichen Bestien, welche im Begriff waren, ihrem Nächsten das Leben zu stehlen, gerade diese müssen sehen, daß wir die Besitzrechte anderer respektieren.“

Der Malagasche schüttelte den Kopf. „Diesen Kahn und die Ruder und sämtliche Waffen behalte ich!“ sagte er keck. „Sie sollen in das Museum in Hamburg.“

Der Kapitän lachte. „Nun gut,“ warf er ein, „so wollen wir die Sache ausgleichen. Durch das große Boot von der „Eintracht“ haben wir ein solches zu viel an Bord, das mag mit einigen anderen Geschenken den Wilden in Tausch gegeben werden, nicht wahr? Sie besitzen dann ein Erinnerungszeichen an den Tag des verunglückten Menschenopfers.“

„Und wir haben einen höchst interessanten Doppelkahn von Viti-Levu nebst Wurfwaffen aus Holz mit Menschenknochen!“ rief der junge Gelehrte, jetzt erst die erbeuteten Spieße genauer betrachtend. „Ich kenne sie freilich schon aus verschiedenen Sammlungen, aber diese hier sind ganz besonders schön.“

Er zeigte den übrigen die langen, aus steinhartem Holz gefertigten, braun gebeizten und in schauerlicher Weise verzierten Speere. Nach oben rund und kolbenartig zulaufend, hatten mehrere ein strahlenförmig befestigtes Bündel von Knochensplittern, deren mittlere fußlang und die äußeren von Reihe zu Reihe etwas kürzer waren, während andere platt und länglich an beiden Seiten eingelassene Zähne zeigten: alles schwere Waffen, die den einmal Getroffenen unfehlbar töten mußten.

Der Dampfer war unterdes herangekommen, die Reisenden gingen an Bord und ließen nur so viele Matrosen, als zur Befestigung der Kähne notwendig waren, einstweilen unten. Im Boot der „Hammonia“ brachten dann zehn Bewaffnete, die Kugelbüchsen beständig im Anschlag, sämtliche Fahrzeuge mit Einschluß des vertauschten an Land, ohne daß die Wilden irgend eine Feindseligkeit gewagt hätten. Als ihre Kähne von den Weißen verlassen waren, fielen sie wie ein Bienenschwarm darüber her; das fremde Fahrzeug schien sogleich ein Gegenstand erbitterten Streites zu werden, ja, ehe noch der Dampfer die hohe See gewonnen hatte, rauften sie sich schon untereinander auf das lebhafteste.

Jetzt erst, nachdem die Gefahr vorüber und völlige Sicherheit zurückgekehrt war, kam es zwischen den Geretteten und ihren Rettern zu Mitteilungen. Rua-Roa blieb der Held des Tages, obgleich ihm Holm lächelnd riet, den zivilisierten Menschen wieder anzuziehen; er erzählte, daß im Dorf die Weiber und Kinder ihn für einen bösen Geist gehalten haben müßten, da sie bei seinem Erscheinen mit dem Gesicht auf den Fußboden gefallen und vor Schreck liegen geblieben seien, jetzt aber schien er sich doch seines früheren Rausches einigermaßen ungern zu erinnern und schlüpfte eilends in die Kajütte, um Toilette zu machen.

Der Kapitän der „Eintracht“ berichtete, daß er von Bremen nach Lewuka, der Hauptstadt von Viti-Levu, bestimmt gewesen und daß er mit seinen Leuten die brennende Bark habe verlassen müssen, um nur das nackte Leben zu retten. Vom Erd- oder besser gesagt vom Seebeben hatte er nichts bemerkt, sondern nur von dem heftigen Gewitter, dessen erster Schlag den Großmast zersplitterte und das ganze Schiff in Brand setzte; er erzählte, daß ihn und die Seinen jene räuberischen Wilden nach einer unter allen Qualen des Durstes im Walde vollbrachten Nacht am heutigen Morgen aufgegriffen und zum Opfer bestimmt hätten, daß man ihnen keinerlei Nahrung gereicht und sie gänzlich ausgeplündert. Trauringe, Taschenmesser, Portemonnaies, Schlüssel, Taschenbücher, ja sogar die Papiere des verbrannten Schiffes, alles war in den Händen der Fidschianer geblieben.

Man beschloß daher, Lewuka anzulaufen und hier die Geretteten den zuständigen Behörden unter Mitteilung aller Einzelheiten ihrer Auffindung zu überliefern; das paßte auch Holm und den jungen Leuten gut, da sie bei der schleunigen Flucht aus dem Walde auf jede Ausbeute für ihre wissenschaftlichen Zwecke hatten verzichten müssen. Als das Schiff nach wenigen Tagen den sicheren, hübschen Hafen erreicht hatte, als auf derselben Insel, die in ihrem entlegenen, bergigen Innern noch Kannibalen beherbergte, jetzt eine elegante Stadt mit schönen Gebäuden und glänzenden Läden sich zeigte, da begriffen sie kaum, wie auf verhältnismäßig so engem Raume solche Gegensätze nebeneinander bestehen konnten. Hier ließ sich ein Ausflug in die nächste Umgebung ohne alle Gefahr wagen, nur ein paar Eingeborne wurden mitgenommen, um als Lastträger zu dienen.

Wie schön war die Landschaft ringsumher! Wie belebt von großen Schmetterlingen, von Riesenspinnen, Skolopendren und Käfern, von Tauben, Drosseln und Kakadus. Auf einer grünen Ebene sahen unsere Freunde sogar Termitenbauten, die Holm als bewohnt erkannte. Diesen Fund wollte er sich natürlich nicht entgehen lassen. Es wurde Halt gemacht und man bearbeitete mit kurzen Beilen die Hügel so lange, bis der innerste Mittelpunkt derselben, die Wohnung der Königin, den Blicken bloßgelegt war. Ein Geschöpf, so seltsam wie kein anderes, kam zum Vorschein, das Termitenweibchen mit dem zum unförmlichen Sack verlängerten Hinterkörper der Tausende von Eiern barg und wenigstens viermal so groß erschien als das Tier selbst. Nachdem unsere Freunde diesen Fang in Sicherheit gebracht, verließen sie das Termitendorf, um nicht mit den Bewohnern desselben in Konflikt zu geraten. Noch wurden große Fruchttauben, schwarze Glanzstare und viele andere Tiere erlegt, auch eine grün und rot gefleckte große Wanzenart.

Fünfzehntes Kapitel.

Nach mehrtägigem Aufenthalt, nach beglückendem Stillleben inmitten der abenteuerreichen Reise wurde die Fahrt nach den Samoa- oder Schifferinseln fortgesetzt, zunächst nach Tutuila, einem schönen Garten gewissermaßen, wo die Eingebornen, nackte, hellfarbige Polynesier, in regelrecht gebauten Dörfern lebten und sowohl Landwirtschaft als Viehzucht betrieben, obgleich ihnen Schafe, Ziegen, Hunde und Schweine erst aus den Kulturländern zugeführt worden waren. In den dichten Palmenhainen standen unter grünem Blätterdach die hübschen, runden Hütten, neben denen Ställe aus Bambus, Vorratsschuppen und wohlgepflegte Gärten das Auge angenehm berührten. Wo sich offene Stellen zeigten, da waren Yams, Taro, süße Kartoffeln oder Gemüse und Gewürze angebaut, während in den Wäldern die aus Steinen errichteten Feuerstellen durch ihre reichliche Asche verrieten, daß unablässig Palmöl gekocht wurde. Alle diese gutmütigen Menschen schienen große Freunde von Tieren, namentlich Geflügel, das in ganzen Massen jeden Hausstand belebte. Scharen stolzer Hühner, Pfauen, Tauben und Fasanen bewohnten den Hof, Papageien, zahm wie bei uns, hingen in Holzkäfigen, und allerlei Singvögel schmetterten lustig vom Dach herab.

Obgleich die Eingebornen meistens nur mit dem Gürtel einhergingen, so gab es doch für sie auch einen Staatsanzug, der bei festlichen Gelegenheiten übergeworfen wurde, und der bei den Männern aus einem Gewand von den Blättern der Drauma, bei den Frauen aus einem Mantel von weißem Faserwerk bestand. Eines Morgens erschienen sie sämtlich in diesem Kostüme; durch die Dorfstraße ging ein Mann mit einem großen, hohlen Holzklotz, auf dessen Boden er mit zwei Stöcken taktmäßig schlug und dadurch die Reisegefährten auf etwas Außergewöhnliches vorbereitete.

Sie wohnten hier für die Tage ihres Besuches mitten unter den Eingebornen, schliefen auf Matten aus feinem Flaum, aßen die bescheidenen Gerichte außer dem auch hier beliebten Palolo und sammelten ebensowohl die verschiedenen Arten vulkanischen Gesteins als der einzelnen kleineren Pflanzenformen und Insekten, — jetzt aber war alles das vergessen. Schleunigst folgten sie dem Trommler zu einer mäßigen Anhöhe vor dem Dorfe, wo bereits der Häuptling mit seinem Hofnarren Platz genommen hatte, und wo sich junge Mädchen und Burschen mit dem beliebten Ballspiel unterhielten.

Aller Köpfe schmückten granatrote und weiße Blüten; die Männer hatten sich durch an Brust und Rücken befestigte Palmenzweige auf das wunderlichste herausgeputzt; Frauen und Kinder trugen die langen, zottigen Mäntel, in denen sie wie vermummt erschienen. Die possierlichste Figur bildete der Hofnarr, den bunte Federn, Steine, Blumen, ausgeschnittene Stücke Perlmutter, aufgereihte Muscheln und die greulichsten Malereien in einen menschlichen Teufel verwandelten. Er verbarg sein Gesicht hinter einer ungeheuren, gelb und rot bemalten Maske mit ellenlangem Flachshaar, er tutete auf einem hölzernen, gewundenen Instrument und vollführte die seltsamsten Sprünge, wobei sich sein überall angestrichener Körper wie der eines Verrückten drehte und wendete.

Dieser Narr war keineswegs ein Priester oder Zauberer, sondern lediglich für die Unterhaltung des Königs bestimmt; er durfte alles thun, was ihm eben einfiel, selbst den alten Monarchen necken oder am Ohr zupfen, die Kinder in Schrecken setzen und den Ort, wo des Häuptlings Hütte stand, nach Belieben betreten. Für alle übrigen war die unter hohen, alten Brotbäumen belegene Stelle unzugänglich; es lag auf ihr das „Tabu“ oder die Heiligsprechung, welche fast allen Südseeinseln, einschließlich sogar des großen Neuseeland, eigentümlich ist. Die Wohnungen der Priester und Häuptlinge, die Tempel und zuweilen ganze Orte sind tabu, d. h. der gemeine Haufe darf sie nicht betreten, er wird durch dies Gesetz von jedem Mitbesitz, jedem Recht ausgeschlossen. Wie viel Mißbrauch daraus entsteht, ist begreiflich, weil eben jeder Gegenstand, den die Mächtigen, Reichen für sich zu behalten wünschen, bis herab auf einen besonders schönen Fruchtbaum, eine Hütte oder ein Tier, einfach für tabu erklärt und dadurch der Berührung entzogen wird.

Die Wohnung des alten Königs lag patriarchalisch-friedlich im Schatten hoher Bäume, während rings anstatt jeder Einfriedigung kreuzweis gebundene Palmenzweige die geheiligte Grenze bekundeten. Beide Majestäten, der Häuptling Le-Le und seine Gemahlin Li-Ho saßen auf kostbaren, von weißen und bunten Federn zusammengesetzten Matten mit untergeschlagenen Beinen und ziemlich gleichgültigen Gesichtern, die sich selbst bei den Kapriolen ihres Narren nur sehr selten zum Lächeln verzogen. Als sich die weißen Gäste dem Herrscherpaare unter Überreichung verschiedener, sehr anständiger Geschenke vorstellten, da geschah etwas für die Einwohner des Dorfes nie Dagewesenes; König Le-Le hob den Fremden zu Ehren das Tabu seines Hauses auf und lud alle ein, sich neben ihn zu setzen und mit ihm aus einer Schüssel zu speisen. Letztere Vergünstigung hatte allerdings wenig Lockendes, denn das Gefäß bestand aus einem Holznapf und der Inhalt aus gerösteter Yamswurzel, wobei mittels spitzer Holzstückchen gegessen wurde, während sich die Teilnehmer des Schmauses um die auf dem blanken Fußboden stehende Schüssel gruppierten; dennoch aber erwiesen sich unsere Freunde äußerst höflich, so daß nach und nach der alte Le-Le ganz vertraulich wurde und vor allem die Weißen bat, ihm doch gegen seine quälenden rheumatischen Schmerzen ein Zaubermittel zu schenken, er wolle dafür auch alles, was ihnen etwa erwünscht sei, sogleich zur Verfügung stellen.

Während draußen die Jugend den Mekitanz aufführte, Ball spielte, Taubenschießen hielt und endlich das Fest des Tättowierens beging (die Weißen kannten es von Australien her), kramte der alte Häuptling unter seinen Sachen und förderte Schätze zu Tage, die sowohl Holm als auch die jüngeren Besucher förmlich entzückten.

„An Bord haben wir noch verschiedene Büchsen mit Opodeldok und Nervensalbe,“ meinte der Doktor; „damals in Hamburg nahm ich’s für alle Fälle mit, und jetzt kann es diesem alten Herrn wenigstens als Linderungsmittel dienen. Tauscht nur in Gottes Namen ein, was ihr wollt, morgen schicke ich einen Boten mit ein paar Worten an den Kapitän nach Pangopango, wo dann die Kleinigkeiten verabfolgt werden.“

S. 436.

Beim Häuptling von Tutuila.
„Die Wohnung des alten Königs lag patriarchalisch-feierlich im Schatten hoher Bäume ...“

Das übersetzte der als Dolmetscher mitgenommene Eingeborne dem alten Häuptling, welcher indessen von solcher Verzögerung nichts wissen wollte. „Einer seiner Sklaven könne gleich hinlaufen,“ antwortete er, weshalb denn der Doktor ein Blatt aus der Brieftasche riß und unter andächtigem Staunen aller die Bitte an den Kapitän niederschrieb. Der junge Bursche erfaßte das Blatt mit den fremden, zauberhaften Strichen so zaghaft, als sei es heißes Eisen, dann aber, nachdem er für etwaiges Verlieren oder Versäumen auf kürzeste Weise mit dem Tode bedroht worden war, machte er sich schleunigst davon, indes nun der Häuptling, wahrscheinlich um den Zauber wirksam zu erhalten, seinen Gästen schenkte, was sie eben zu besitzen wünschten, eine Tapa aus Perlmutter, Federn und Pflanzenfasern, in der er früher als junger Mann den Mekitanz mitgemacht, und die, wie eine Art von faltigem Mantel, am Hals beginnend, über Brust und Rücken herabfiel, während die Arme frei blieben und der Kopf hindurchgesteckt wurde, — einen hölzernen, schöngeschnitzten Schläger, eine Rolle Bast des Papiermaulbeerbaumes, ein Steinbeil mit Holzgriff aus uralter Zeit, ehe noch das Eisen von Europa und Amerika eingeführt worden, und ein eben so altes, vom Vater auf den Sohn vererbtes Tättowierinstrument, von dem freilich Seine Majestät berichtete, daß es aus Menschenknochen hergestellt sei. Scharfe, kammartige Spitzen waren an einem Schildpattgriff befestigt und das Ganze sehr alt, es hatte vielleicht Jahrhunderte lang gedient, um die Zeichen der Häuptlingswürde den zuckenden Gliedern einzuprägen, jetzt aber war seine Laufbahn beschlossen. „Die Häuptlinge lassen sich nicht mehr tättowieren,“ setzte Le-Le hinzu, „sie sind fast alle Christen, — ich bin es auch.“

Unsere Freunde hüteten sich, daran zu zweifeln. Der gute, jeden Augenblick vor Schmerz blinzelnde alte Mann war zwar durchaus ein Wilder, aber dennoch mochte das Christentum viel dazu beigetragen haben, auf seinem Gebiet so geordnete wirtschaftliche Zustände ins Leben zu rufen.

Der Kamm aus den Knochen geschlachteter und von früheren Generationen ohne Zweifel verzehrter Menschen wurde als Andenken vergangener, hier für immer besiegter Greuel dankbar entgegengenommen, ebenso die Spenden, welche jetzt Li-Ho, die Königin, denen ihres Gemahls hinzufügte, ein Stirnband ihrer Mädchentage aus aufgereihten, geschliffenen Rosamuscheln, „Pale“ genannt, nur den Töchtern und Frauen der Häuptlinge gestattet, — die dazu gehörigen Armringe und die „Fau“, ein Gewand aus den Blättern des Papiermaulbeerbaumes, das um den mittleren Teil des Körpers bei hohen Festlichkeiten getragen wird, ebenso lange, über Brust und Rücken herabhängende, mit vielen Perlmutterstückchen verzierte Schnüre aus Menschenhaaren.

Das alte Paar hatte keine Kinder, es sah also seine Heiligtümer recht gern in solche Hände übergehen, die wenigstens den empfangenen Wert zu schätzen wußten; erst spät, nachdem nochmals bei der Beleuchtung langsam brennender, halbdürrer Blätter (die auf den Samoainseln als Lampen dienen) der wunderliche Mekitanz, ein wahrer Höllenreigen halbbekleideter und nicht selten vom Kawagenuß mehr als halbberauschter Gestalten, vollführt worden war, spät am Abend unter Sternenschein und dem sanften Wehen des Nachtwindes kehrten die Fremden durch den Palmenwald zu ihrer Hütte zurück. Auf diesen glücklichen Inseln, wo man arbeitete, um zu essen, wo die Natur reichlich spendete, was eine geringe Bevölkerung verbrauchte, wo weder wilde menschliche Leidenschaften noch gefährliche Raubtiere den Frieden störten, auf den schönen, von mildester Luft durchhauchten Inseln mußte es sich leben wie einst im Paradiese; selbst die Angehörigen des Kulturstaates rasteten hier beglückende acht Tage, indem sie das Eiland nach allen Richtungen durchforschten und von den friedliebenden Einwohnern alle möglichen Gebrauchsgegenstände gegen Eisenwaren und bares Geld erhandelten, — Holzgeräte, Perlenschnüre, Waffen, die ungeheuerlichen Beratungsmasken, hölzerne Kopfkissen, Farben und geschnitzte Formen, mittels derer das Grün und Rot den Stoffen aufgedruckt wird. Für den Häuptling kamen von Pangopango nicht allein die versprochenen Medikamente, sondern Franz ließ auch die Zimmerleute, mit Gerät und ein paar großen Glasscheiben ausgerüstet, vom Kapitän erbitten, worauf dann die Hütte Le-Les das wirksamste Mittel gegen Rheumatismus, nämlich dichtschließende Wände, Thüren und Fenster erhielt. Letztere beide Gegenstände waren den Dorfbewohnern durchaus fremd, sie gingen fortwährend an der königlichen Behausung vorüber, um das Wunder der Fensterscheiben anzustaunen, während Le-Le seinerseits nicht müde wurde, von außen und innen das Glas zu betasten und sich selbst zu fragen, ob es denn wirklich möglich sei, daß man einen festen, harten Gegenstand vor sich habe und doch hindurchschauen könne, als sei dieser nur leere Luft.

Die geschenkten Wolldecken, die Medikamente und die erhöhte Wärme in der jetzt überall wohlverwahrten Bambushütte bewirkten so angenehme Veränderung, daß der alte Häuptling den Abschied von seinen weißen Wohlthätern wie einen wahren Verlust empfand. Mehrere Knechte mußten ihnen die schönsten, erlesensten Früchte, die seltensten Vögel und Pflanzen bis Pangopango nachtragen, und so verließen sie eines Tages, von wohlwollenden Wünschen begleitet, das kleine paradiesische Eiland, um dafür die Insel Sawaii, die hochgelegene, einem breiten Felsrücken gleichende, unzugängliche größte Insel der Samoagruppe, aufzusuchen. Auch Tutuila hatte Berg an Berg; auch hier befanden sich thätige und erloschene Vulkane; lag doch der kleine Hafen Pangopango zwischen 250 Meter hohen Felswänden; dazwischen aber befanden sich reizende, fruchtbare Thäler mit üppig tropischer Vegetation, während auf Sawaii neben vorhandenem Wassermangel der entschieden schroffe Gebirgscharakter mehr hervortrat.

Es ist bekannt, daß um die Insel Sawaii herum ein Korallenriff ohne Unterbrechung fortläuft und daß Schiffe keinen Hafen finden. Unsere Freunde besuchten mittels des Bootes die Ostküste, wo alles von braunen, nackten Klippen und Geröllen starrte. Über ihnen erhoben sich die ungeheuren Kuppen der Gebirge, unter ihnen dröhnte der hohle, von vulkanischen Erschütterungen gehobene und zerrissene Boden; stellenweise grünte kein Halm und sang kein Vogel, die ganze Umgebung war mit Blöcken von Lava und Gestein überdeckt. An anderen Punkten ragte dichter, ununterbrochener Hochwald, in dem sich wie auf Tutuila die Palmen am meisten vertreten fanden.

„Wir wollen uns hier nicht aufhalten,“ hatte Holm gesagt. „Nicht nur alle Samoainseln, sondern überhaupt alle im Großen Ozean besitzen eine in den wesentlichsten Punkten übereinstimmende Tier- und Pflanzenwelt, die zwar nach dem Äquator hin üppiger und artenreicher wird, sonst aber doch die gleiche ist. Neues, anderes begegnet uns nicht, auch wenn wir alle Häfen anlaufen; laßt uns daher erst auf Opolu längere Rast machen und dort Felsen besteigen, dort die Schlünde und Untiefen alter Krater durchforschen, namentlich da hier die wenigen Bewohner an der Nordküste leben und für uns weder Führer noch Lebensmittel aufzutreiben wären.“

Der Vorschlag wurde angenommen und die beschwerliche Kletterpartie über ungangbare Pfade nach wenigen Stunden wieder aufgegeben. Schöne, malerische Felshöhlen hatten die Reisenden gesehen, eine großartige, wildromantische Natur, ein selten berührtes einsames Gebiet, auf dem fast alles noch ursprünglich und von keiner Kultur beeinflußt erschien; aber lebende Wesen waren ihnen außer vielen Strandvögeln nicht begegnet. Ein eigentümliches Gefühl beherrschte die Teilnehmer der jetzt gegen drei Jahre dauernden Weltreise, als sie von Sawaii aus wieder an Bord gingen. Auf Opolu wartete ihrer ein halbes Zuhause; bekannte, befreundete Gesichter würden sie empfangen, deutsche Laute, deutsches Wesen ihnen entgegenkommen; da war der Name Gottfried in jedermanns Mund, da standen die großen Faktoreien des Hamburger Handelshauses und hatte deutsche Bildung, deutscher Unternehmungsgeist aus der Wildnis ein kleines, blühendes Gemeinwesen erschaffen, eine hübsche Stadt, die ihre Bewohner gut ernährte, und von wo aus sich europäische Gesittung erfolgreich immer weiter verbreitete. Aber mehr als alles das! — Die Söhne des Gottfriedschen Hauses würden hier in ihrem Eigentum sein, auf väterlichem Grund und Boden wohnen, höchst wahrscheinlich sogar auch mehrere Schiffe der väterlichen Firma antreffen, — das ließ die Herzen höher schlagen, das stimmte weich und fröhlich, wie man es seit langer Zeit nicht empfunden hatte.

Schon folgenden Tages kam Opolu in Sicht, schöner als irgend eine Küste, der die Vielgereisten bis dahin begegnet waren. Das erste, was die Blicke aller magnetisch fesselte, war ein Wasserfall. Von schwindelnder Höhe herab und in die krausbewegten Meereswellen fiel ein mächtig breiter Wasserstrahl über eine natürliche Terrasse aus Felsen, die ihre Vorsprünge und Klippen, ihre Pfeiler und Stufen nur vorzustrecken schien, um den Lauf des flüssigen Elementes in hundert und aberhundert Einzelwege zu teilen, in Ströme und Bäche, die sich dennoch um einige Stufen tiefer wieder zum Ganzen vereinten, breiter und breiter, schäumend, rollend und donnernd, ewig verändert und ewig dasselbe, wunderbar schön im Sonnenglanz, blau und golden überhaucht, ein lebendes, bewegliches, majestätisches Etwas, von dem sich das Auge nicht wieder loszureißen vermochte, zu dem es zurückkehrte, so oft auch andere landschaftliche Schönheiten versuchten, mit diesem höchsten Reiz des Bildes zu konkurrieren.

Hoch über der schäumenden, silberhellen Welt erhob sich die Reihe erloschener Vulkane, auf deren einst so verderbenbringenden Gipfeln heute die Riesen des Waldes ihre grünen Arme ausstrecken, wo Palme an Palme den schlanken Stamm wiegt und Blätter und Blüten im Winde flüstern. Bis in die Wolken hinein, unerreichbar dem Blick, ragte der Krater Tafna, der Riesenwächter, der uralte ernste, der höchste Punkt auf viele Meilen ringsumher.

Schweifend, ziellos wanderte von Schönheit zu Schönheit der entzückte Blick. Rauschender Hochwald im ewigen Blau beginnend und allmählich sich senkend, stufenweise vom hellsten bis zum dunkelsten Grün schattiert in tropischer wechselnder Fülle; darunter der Wasserfall und tiefer im Thal das Städtchen von fester Kaimauer umzogen, mit friedlichem Hafen, mit Kirchen und hohen ragenden Bauten, versteckt im Laubgrün, geschmückt mit bunten Wimpeln wie mit großen, leuchtenden, weithin sichtbaren Blumen im Kranze. Allen voran wehte von hoher Stange an einem weißen Hause unweit des Hafens die hamburgische Flagge — rotweiß in heller Pracht glänzten die heimatlichen Farben den Augen der Näherkommenden entgegen; jetzt wurden am Kai auch Menschen sichtbar, der Kapitän begrüßte mit drei Kanonenschüssen die Kolonie seines Chefs, und von einem anderen im Hafen liegenden Dampfer schallte Antwort zurück. Auch das war ein Gottfriedsches Schiff, dessen Steuermann die „Hammonia“ erkannte und zur Bewillkommnung derselben ein Boot ausschickte.

Deutsche Worte schallten herauf; hier und da feierten zwei Matrosen ein Wiedersehen; am Strande hatten sich auf die erste Nachricht vom Eintreffen des Naturforscherschiffes auch schon mehrere Angestellte des Gottfriedschen Hauses eingefunden, und bald sahen sich die Weltumsegler von Bekannten umringt, hörten die jungen Leute Worte des Erstaunens wie: „Ist das Hans? Unmöglich! Nur seine Augen sind’s, der blasse Junge ist ja ein brauner Jüngling geworden!“ — oder: „Herr Franz, darf man noch du sagen? Sie sind wahrhaftig dem Herrn Papa über den Kopf gewachsen!“

„Und das ist der Hova mit dem unmöglichen Namen!“ rief ein dritter, dem verlegenen Malagaschen kräftig die Hand schüttelnd. „Willkommen, junger Herr, Sie werden finden, daß man in Hamburg bestens für Ihre Zukunft gesorgt hat. Bleiben Sie bei uns oder gehen Sie mit nach Europa?“

So schwirrte es durch einander, und während dessen waren die Reisenden ausgeschifft und ans Land gestiegen. Die Packhäuser, welche sich hier stattlich und gedehnt den Blicken zeigten, bildeten gleich einen Teil des Gottfriedschen Eigentums, und eine Menge von farbigen Arbeitern ließ den Umfang des Geschäftsbetriebes erkennen. In helle, leichte Stoffe gekleidet, Strohhüte auf den Köpfen und mit dem Wesen zivilisierter Menschen gingen hier mehr als hundert Polynesier aus und ein, Fässer und Ballen rollend, Wagen abladend oder an Neubauten arbeitend, kurz alles verriet das fröhliche Wachsen der Kultur, den Aufschwung, welchen die Verhältnisse der Insel, sämtlichen anderen voran, dauernd nahmen.

Man konnte glauben, sich in einer kleinen deutschen Stadt zu befinden. Überall Läden, hübsche Wohnhäuser, gut erhaltene Straßen und Fuhrwerke, nette Gasthöfe und größte Sauberkeit der Bewohner. Die jungen Leute bezogen Zimmer in dem großen Verwaltungsgebäude ihres Vaters und wurden von den Familien seiner Angestellten natürlich wie liebe Freunde aufgenommen. Einer derselben hatte sich vor Jahr und Tag eine junge Hamburgerin nach Opolu heimgeholt, und in eben dieser liebenswürdigen Wirtin erkannten die Gottfrieds eine ehemalige Schulgenossin von der Fibelzeit her; man feierte mit deutschem Wein und deutschem Händedruck das Wiedersehen, dem dann eine tüchtige, nach Hamburger Art bereitete Mahlzeit folgte; die Gäste kamen gar nicht zu sich, da doch auch so viele Briefe gelesen werden mußten, da hier und da ein deutscher Landsmann einsprach, um die Weitgewanderten, Langerwarteten zu begrüßen; kurz, der Tag hätte doppelt so lang sein können und wäre doch für alle diese verschiedenen angenehmen und erfreuenden Eindrücke noch nicht lang genug gewesen.

Erst am folgenden Morgen gewannen unsere Freunde Zeit, ein wenig Umschau zu halten. Sie hatten in einem mit allen Bequemlichkeiten des verfeinerten Daseins ausgestatteten Zimmer geschlafen, hatten Kaffee und frisches Brot gefrühstückt, auch die heutige Nummer des „Samoan-Reporter“ dazu erhalten, mit einem Wort, sie fühlten sich, wie Franz lachend behauptete, unterwegs zur fast eingebüßten Ordnung zivilisierter Menschen; sie wollten sogar nach jahrelanger Entsagung heute, als an einem Sonntag, die Kirche besuchen und standen am Fenster, um den Strom der Vorübergehenden zu beobachten.

„Alle Welt scheint diesem Gottesdienst beiwohnen zu wollen,“ sagte Franz. „Man sieht vornehm und gering in seinen besten Kleidern, — herrscht hier ein so religiöser Sinn, Herr Frank?“

Der Buchhalter schüttelte den Kopf. „Es ist sonst leider nicht immer so, Herr Gottfried, — aber heute, wissen Sie, da will im nationalen Gefühl kein Deutscher und aus Neugier kein Amerikaner oder Eingeborner gefehlt haben.“

Franz sah ihn an. „Heute? — Warum gerade heute mehr als sonst?“

Der Buchhalter schlug sich vor die Stirn. „Ja du lieber Gott, Sie kommen direkt aus der Wildnis und können daher nicht wissen, was inzwischen die zivilisierte Welt aller Länder in Abscheu und Entrüstung versetzt hat. So hören Sie denn, Herr Gottfried! Auf unseren ehrwürdigen, alten Kaiser ist kürzlich von zwei Verbrechern nach einander geschossen worden, während er wie gewöhnlich ohne Begleitung und im offenen Wagen in Berlin unter den Linden spazieren fuhr. Der erste Meuchelmörder, ein verkommenes Subjekt von Hause aus, traf glücklicherweise die Person Seiner Majestät gar nicht, der zweite aber verletzte den einundachtzigjährigen Greis durch nicht weniger als dreißig Schrotkörner, die an den verschiedensten Stellen des Körpers eindrangen, freilich ohne das Leben ernstlich zu gefährden. Für diese so überaus glückliche zweimalige Rettung des Monarchen ist in ganz Deutschland ein Dankgottesdienst abgehalten worden und wird jetzt auf Anregung mehrere hier lebender Deutscher auch in Apia abgehalten werden. Deshalb sehen Sie die ganze Bevölkerung unterwegs.“

Franz eilte in sprachloser Entrüstung zu den übrigen, die er schon unterrichtet fand, und die alle wie er selbst sich freuten, hier zur rechten Zeit eingetroffen zu sein, um an einer so tief empfundenen nationalen Feier teilzunehmen. Als die jungen Leute auf der Straße erschienen, wurde ein Flüstern und heimliches Bezeichnen bemerkbar; offenbar wußte schon jedermann, wer sie waren, und mancher Blick ruhte wohlgefällig auf den schlanken, hübschen Gestalten.

Der erste Gottesdienst nach jahrelanger Entbehrung erhielt für unsere Freunde noch seine besondere Weihe durch das Dankgebet für die glückliche Errettung des Kaisers, mit welchem heute der Geistliche seine Predigt eröffnete und dem sich die aus dem Herzen kommende Fürbitte unmittelbar anschloß. Das Vaterlandsgefühl der am anderen Ende der Erde lebenden Deutschen wurde so mächtig erregt, daß manches Auge in feuchtem Schimmer glänzte und daß sich jeder einzelne eben so sehr und eben so innig als Unterthan des beleidigten Heldenkaisers fühlte, wie dies nur immer in Berlin, in seiner nächsten Umgebung der Fall gewesen sein konnte. Auch auf der fernen Insel des Stillen Meeres waren und blieben sie Deutsche, auch unter fremden Völkern lebend bewahrten sie die Liebe zu Kaiser und Reich, das empfanden alle, das gestaltete sich während dieser erhebenden Feier in vielen Herzen zu einem Entschluß, dem die beiden Brüder Gottfried nach beendetem Gottesdienst zuerst Worte liehen. Aus Apia mußte eine Adresse an den Kaiser abgesandt werden und alle Deutschen mußten sie unterschreiben.

Die Idee fand ungeteilten Beifall. Noch selbigen Tages entwarf Doktor Bolten das Schriftstück, von dem schon in der ganzen Stadt gesprochen wurde und das der Kontordiener allen Deutschen ins Haus tragen sollte. Franz war der Held des Tages geworden, ehe er selbst es wußte.

Nachmittags wurde der erste Spaziergang unternommen. Heute als am Sonntag arbeitete natürlich niemand, aber desto reger gestaltete sich das Treiben der Eingebornen, ihre Spiele, ihre Jagd, selbst die Art und Weise wie sie Vorräte für das Haus sammelten. Weiterhin im Rücken der deutschen Niederlassung lag ein Arbeiterdorf, dessen Hütten, kreisrund mit spitz zulaufendem Dache, eng an einander gedrängt, großen Bienenkörben glichen. Hier war alt und jung in Bewegung zum Strande hinab, es wurden Messer und Körbe, Kochtöpfe und große Stangen aus den Häusern hervorgeholt, die Männer trugen zu zweien ihre, einen halben Meter breiten und bis zu siebzehn Meter langen Kähne, an deren Seiten aus Zähnen sehr hübsche Verzierungen angebracht waren, kurz, alles schien einem besonderen Vergnügen, einer aufregenden Thätigkeit entgegenzugehen.

„Was haben die Leute?“ fragte Franz.

„Wahrscheinlich sind an der Küste Haifische gesehen worden,“ versetzte ihr Begleiter. „Sie gehen ins Wasser, um dieselben zu fangen.“

„Aber doch nicht die Frauen, die Kinder?“

„Ebensowohl diese. Wir werden es ja gleich sehen.“

Unsere Freunde folgten dem Zuge und so kamen alle hinab an den Strand, wo heute die Sonne auf sehr stille, regungslose Wasserfluten brannte, wo aber gerade aus diesem Grunde der Fischfang bestens bewerkstelligt werden konnte.

Doktor Bolten wandte sich an den Kommis, der als Führer die kleine Expedition leitete. „Aber sagen Sie mir, lieber Freund, woher kommen die vielen preußischen Infanterieuniformen hier auf der Südseeinsel? Jeden Augenblick taucht so ein zerschlissenes, zerfetztes Gewand aus den Büschen am Wege auf.“

Der junge Hamburger lächelte. „Das sind die Kleider, welche wir den ganz Wilden der Kingsmillinseln geben, wenn diese zuerst, nur mit einem Grasgürtel bekleidet, hierherkommen, um in unseren Faktoreien Arbeit zu suchen. Sie kennen weder den Begriff des geordneten Staatswesens, noch den des Anstandes, aber eben darum suchen wir sie zu gewinnen. Wer drei Jahre lang unter Christen als arbeitender und verdienender Mensch lebte, den gelüstet es nicht mehr, wieder in den Urzustand zurückzukehren.“

Franz sah mit stolzem Blick umher. „Und das alles schuf mein Vater!“ sagte er. „Tausende verdanken ihm Glück und Wohlstand.“

„Weil er ein so ganz ausgezeichneter Kaufmann ist, ja!“

Franz errötete. „Hm, hm,“ sagte er. „Wer weiß, was noch geschieht.“

Der Strand war jetzt erreicht und die Samoaner in ihren hellfarbigen Kleidern schoben die Boote ins tiefere Fahrwasser. Die hübschen, vielfach geschnitzten Ruder wurden eingelegt und nun fuhren mehrere Männer, zu drei in einem Kahne, etwas weiter hinaus bis in den Schatten der vorspringenden Klippen; hier banden sie ein Stück Fleisch an ein langes starkes Seil und ließen dann dasselbe ins Wasser sinken. Frauen und Kinder standen noch am Strande, die Fischer beobachteten gespannten Blickes das Geheimnis der dunkeln Tiefe da unten.

Plötzlich gab einer ein Zeichen. „Der Hai!“

Aber das große Tier, satt und im Halbschlummer des Verdauens begriffen, regte sich nicht, ob auch der verlockende Bissen gerade vor seiner Nase auf- und abhüpfte. Die Samoaner berührten sogar mit dem Fleische das sonst so gefräßige Maul, — umsonst, der Koloß blinzelte nicht einmal.

Einer der Fischer klatschte in die Hände und auf dieses Signal hin geschah etwas, das unsere Freunde im ersten Augenblick erschreckte. Wie von einem einzigen Gedanken erfüllt, sprangen alle zugleich in das Wasser, junge Bursche, Frauen mit Säuglingen auf den Armen, selbst Kinder in einem so jugendlichen Alter, daß sie kaum fähig schienen, auf festem Boden allein zu gehen und zu stehen, — jede Stimme schrie, sämtliche Hände klatschten, sämtliche Füße stampften und strampelten, das Wasser wurde aufgewühlt, Steine hineingeschleudert und alles Mögliche gethan, um es in immer größere Bewegung zu bringen. Die am weitesten vorgedrungenen Frauen schwammen bereits in der tieferen Flut; oft mit einem Arme rudernd, ballten sie die andere Hand zur Faust und von allen Lippen zugleich brach ein Strom solcher Laute, die sich dem Zuhörer, ob er der Sprache mächtig sei oder nicht, doch sogleich als Schimpfreden kennzeichnen. Die Frauen schrieen, schlugen mit der flachen Hand auf das Wasser, sprangen und hüpften, kurz, sie vollführten, während sich die Männer in den Booten ganz unthätig verhielten, einen wahren Höllenlärm.

Unsre Freunde lachten. „Das ist die Herausforderung für den Hai,“ meinte Holm. „Ob er den Kampf annimmt?“

Es schien nicht so. Nachdem der Spektakel etwa eine Viertelstunde lang angedauert hatte, veränderten die Fischer ihre Taktik. Jetzt mußten sich Frauen und Kinder auf das feste Land zurückziehen, wogegen einer der Männer, ein besonders kühnblickender, hochgewachsener Häuptling, im Boote stehend die Jacke abwarf und mit flach zusammengelegten Händen kopfüber in die Tiefe hinabschoß.

„Der will den Hai mit bloßen Fäusten angreifen!“ rief Franz.

„Er streichelt ihm die Schnauze. Sehen Sie, Herr Gottfried, dort verläßt noch ein zweiter den Kahn.“

„Und der hat vorher eine Schlinge geknotet!“

„Die er im gegebenen Augenblick um den Schwanz des Fisches legt!“

„Mein Gott, wie ist es möglich!“

Beide Taucher waren jetzt unsichtbar, die Handlung bewegte sich unter dem Spiegel des wieder ruhig gewordenen Wassers, ängstliche Spannung hatte alle Gemüter erfaßt, — was würde folgen?

Da erschien mit jähem Schwung der Häuptling wieder an der Oberfläche; etwas weiter hin rauschte das Wasser, als hebe ein Erdbeben die blauen beweglichen Fluten mit zwingender Gewalt hoch empor; auch der zweite Samoaner sprang in sein Boot, aber beide muskulöse Arme hielten dabei die Schlinge, er zog etwas Schweres nach sich, er arbeitete aus allen Kräften — —

„Der Hai! Der Hai!“

Zehn andere Fahrzeuge ruderten hinzu, ärger und ärger wurde unter dem Wasser das verzweifelte Ringen, zwanzig, fünfzig nackte Arme zogen und zogen, Frauen und Kinder jubelten laut, langsam näherten sich die Fahrzeuge dem Strande und als die tollkühnen Männer heraussprangen, da konnten sie den wehrlosen, überwältigten Gegner im Verein mit allem, was Hände hatte, an den armdicken Seilen aus Kokosfasern aufs Trockene ziehen.

Ein stattlicher Kerl mit wahrhaft furchtbaren Zähnen und weitgeöffnetem, schauderhaften Rachen, wohl der aufgewendeten Mühe wert. Aber jetzt wurde er auch gespalten, zerschnitten und zerhackt, daß bald die Küste einem blutbedeckten Schlachtfelde glich, Frauen und Männer schleppten eifrig ihre Beute in Körben und Töpfen davon, während das beste am ganzen Tier, das sogenannte „Beefsteak“ gleich an Ort und Stelle gebraten und mit den Früchten des Urubaumes als Festmahl verzehrt wurde.

Die Samoaner, gastfrei wie vielleicht kein anderes Volk, liebenswürdig und zuvorkommend, boten den Weißen sowohl die besten Bissen als auch die besten Plätze und so speisten denn unsre jungen Freunde zum erstenmale die zwischen zwei heißen Steinen gebackenen, in Scheiben zerschnittenen Früchte des Urubaumes, welche dem besten Weißbrot an Wohlgeschmack nichts nachgeben.

Überall fanden sich indessen bei den Eingebornen sowohl Messer, Gabeln und Löffel, als auch saubere Blechteller, sie waren keine Wilden mehr, diese hübschen, hellfarbigen Ozeanier, freilich noch Naturkinder im verwegensten Sinne des Wortes, aber doch gesittet und anständig. Auf den Häuptling, der in das Wasser gesprungen war, um einen Haifisch am Kopf zu packen, deutete der Begleiter der Reisenden ganz besonders. „Es ist einer unsrer tüchtigsten Aufseher, beliebt bei seinen Landsleuten und bei uns. Wir schicken gerade diesen Mann hinüber nach den Kingsmillinseln, wenn es gilt, Arbeiter zu werben. Furchtlos wie ein Löwe, geht er dort in die Wälder und hält förmliche Predigten, natürlich spricht er auf seine Weise auch deutsch, d. h. ohne unser R, von welchem die polynesische Mundart nichts weiß.“

„Johannes!“ rief er gleichzeitig dem herkulischen Manne zu: „Sag einmal: Preußen!“

Der Samoaner lächelte: „Polusia!“ antwortete er.

Unter den Kindern entstand ein Flüstern. Sie waren jedenfalls in der Kultur schon weit genug vorgeschritten, um den Begriff eines Trinkgeldes zu kennen, denn verschiedene der Kecksten drängten sich vor und erzählten, daß sie auch was könnten, Lesen, Beten, Schreiben und allerlei nützliche Dinge. „Ich weiß, wie dein Häuptling heißt“, sagte ein zierliches, kleines Mädchen von acht Jahren: „Kaisa o Simiani!“

Franz amüsierte sich köstlich. „Simiani?“ wiederholte er zweifelnd.

Germany!“ erläuterte der Buchhalter. „Komm einmal her, kleines Ding, zeige, daß du lesen kannst!“

Er zog ein Zeitungsblatt aus der Tasche und hielt es dem Kinde vor das Gesicht. Ganz wie ein deutsches Schulmädchen von gleichem Alter las die kleine Samoanerin den Satz, welchen ihr seine Finger bezeichneten. Daß dabei Kleidchen und Haar noch um die Wette trieften, kam weiter nicht in Betracht; Wasser und Luft und Wind, alles ist auf jenen glücklichen Inseln warm und schmeichelnd, — man genießt ohne Furcht vor der Zukunft, man ist gesund und daher froh.

Alles Geld aus den Taschen der Reisenden wanderte in die Hände der Kinder, welche den Fremden treuherzig das Geleite gaben. Franz war sehr still geworden, unterwegs winkte er seinem Bruder. „Du, Hans, mir kam vorhin ein Gedanke, über den ich mit dem Vetter doch noch sprechen möchte! — Wenn Deutschland auch in die Wälder von Ceylon seine Boten senden würde, wenn wir, ja, Hans, wir, mit dem Häuptling Tippoo eine Handelsverbindung anknüpfen könnten, die das Licht der Zivilisation zu den baumbewohnenden Singhalesen trüge und allgemach ihrem Schlangenkultus, ihren heiligen Feigenbäumen und den Skorpionen im Dache gründlich den Garaus machen müßte, — wie schön wäre das!“

„Und die Veddas ohne Kleider und Wohnungen, die armen vertierten Veddas könnten dann die Stelle der Kingsmillinsulaner einnehmen, könnten auch allmählich aus bloßen, lebenden Wesen wirkliche Menschen werden.“

„Nicht wahr? — Du, Hans, es ist doch schön, ein großer Kaufmann zu sein, ein Apostel der Kultur und Gesittung. Was hat unser Vater hier alles erschaffen! und für alle, alle Zeit, jedem Wechsel gegenüber!“

Sie drückten sich stumm die Hände und als später am Abend die ausgesuchte Gesellschaft von Apia sich in den großen Räumen der Gottfriedschen Faktorei gastlich zusammenfand, da konnten diese beiden, aus Hamburg als Knaben fortgegangenen jungen Leute die Honneurs ihres Hauses mit stolzer Freude machen. Daß das deutsche Element auf den Samoainseln so entschieden vorherrscht, daß deutsche Biederkeit und Treue aus den wilden, von Krankheit und beständigen Bruderkriegen zerrissnen Völkerschaften zufriedene, arbeitende Menschen erschuf, — ihr Vater hatte das alles ins Leben gerufen.

Franzosen, Engländer und Amerikaner fanden sich in den Sälen vereint, aber weitaus die meisten Gäste waren Deutsche, denen auch die Insel ihre Schulen, ihren Arzt und eine segensreich wirkende Krankenkasse verdankte. Der erste Toast galt wie immer dem erlauchten Kaiserlichen Hause, der zweite dem Vaterlande, dem teuren, geliebten.

Als die Sterne hell vom Himmel strahlten, entwickelte sich draußen unter den Fenstern im Mondschein ein reges Durcheinander. Die Arbeiter der Gottfriedschen Faktoreien, unter Führung des Häuptlings, den der Buchhalter Johannes nannte, vollführten zum Vergnügen der Fremden einen ihrer Nationaltänze, wie sie trotz Arbeit und Gesittung bei den harmlosen Naturkindern immer noch sehr beliebt sind. Es mochten etwa sechs Anführer beisammen sein, jeder begleitet von zwei Narren, die dort als unerläßliches Gefolge des vornehmen Häuptlings gelten. Diese beiden jungen Männer trugen Anzüge von allen erdenklichen Farben, bald mit Federn, bald mit Stroh, Fasern und Zahnreihen geschmückt, in den Händen hielten sie Stöcke, die Gesichter waren unter schauderhaften, grob angestrichenen Masken versteckt, sie gebärdeten sich absichtlich wie Tollhäusler. Was irgend einer der Tänzer unternahm, das suchten sie zu vereiteln; was er ausführte, das ahmten sie in possenhafter Weise nach, am meisten die Musik, welche lediglich aus einem ohrenzerreißenden Trommeln bestand. Ein zwei Meter langer Block war ausgehöhlt, darauf wurde sonder Takt oder auch nur Übereinstimmung der Musiker mit derben Stöcken geschlagen, erst langsam, während sich die Tänzer langsam drehten, dann toller und immer toller, bis die ganze Menge raste, daß der Schweiß von allen Stirnen troff.

Nach diesem Tanze kam das Kriegsspiel, bei dem unsere Reisenden eine Waffe kennen lernten, die ihnen vorher unter keiner wilden Völkerschaft begegnet war, Handschuhe nämlich, grobe, plumpe Fausthandschuhe aus Kokosfasern mit einer inwendig befestigten Doppelreihe von Haifischzähnen.

Die beiden scheinbar feindlichen Parteien stellten sich einander gegenüber, während auch hier die seltsame Trommel mit Einzelschlägen das ganze Spiel begleitete und nun that jeder Mann ohne Verabredung das, was ihm als das Beleidigendste, als die ärgste Herausforderung erschien, zum Teil Dinge, wie wir sie nur bei kleinen Kindern zu bemerken gewohnt sind. Natürlich schrieen und kreischten alle ohne Ausnahme, dann aber warfen sich einige zu Boden, um wie die Katzen oder Füchse aus dem Hinterhalt den Feind zu beschleichen, andre streckten die Zungen hervor, ballten die Fäuste, schüttelten die schweren, geschnitzten Keulen oder schlugen geradeswegs Purzelbäume, während sich ihre Häuptlinge nur durch Worte herausforderten, ohne der Würde des höheren Standes das Geringste zu vergeben.

Nach Schluß dieser lärmenden Feierlichkeit folgte ein Schmaus, der indessen auf keine Weise in ein Trinkgelage ausartete.

„Und in Wirklichkeit kommt solcher Kampf, solche Herausforderung niemals vor?“ fragte Franz.

„Auf den Samoainseln wenigstens nicht. Es gibt hier in den fernen Gebirgsthälern allerdings noch einige hundert Eingeborne, die weder arbeiten noch zum Christentum bekehrt sind, aber diese bilden eine so kleine, in sich uneinige Gruppe, daß sie keinen Einfluß mehr besitzen. Europäische Waffen und europäisches Hausgerät findet sich auch bei ihnen.“

„Aber sie haben noch ihre eignen Gesetze und betreiben nach wie vor Götzendienst.“

„Dann wollen wir sie jedenfalls aufsuchen!“

Das war ohnehin beschlossene Sache und nach etwa vierzehn Tagen vollkommensten Ausruhens machte sich die kleine Karawane wieder auf den Weg, um auch die letzte Entdeckungsfahrt dieser Reise würdig zu beenden.

Meilenweit ins Innere hinein erstreckten sich freilich zunächst die Arbeitshöfe der Faktoreien, in denen Kokoskerne zerschnitten, getrocknet und dann als Kopra auf Wagen geladen und zum Ufer befördert wurden, um erst in Deutschland ihrer Verwandlung zu Palmöl, Schmiere und jenem wertvollen Viehfutter aus den Überresten entgegenzugehen. Tausend und abertausend Nüsse lagen in den weiten Räumen aufgestapelt, die eingebornen Arbeiter sangen und lachten, Scharen von Frauen sammelten die kostbaren Fasern und banden dieselbe in feste Packen, oder flochten gleich an Ort und Stelle Matten, Treppenläufer, Fußdecken, Körbe und Taue, die für den Handel nach Europa bestimmt waren, während selbst Kinder und Greise noch Gelegenheit fanden, sich in irgend einer Weise nützlich zu machen und immerhin einige Pfennige zu verdienen, die dann angeschrieben und bei dem Austausch der Arbeitslöhne gegen die Erzeugnisse deutscher Industrie verrechnet wurden.

Aus diesem heiteren, fast ganz unter dem blauen Himmelszelt sich entwickelnden Fabriktreiben führte der Weg in die eigentlichen Wälder, wo sich Plantage an Plantage aus dem Gewirre der tausendfältig wildwachsenden Farne, Orchideen und Bananen erhob. Immer eine junge Kokospalme und eine Baumwollenstaude standen friedlich bei einander, damit, wie der eingeborne Führer erklärte, die letztere so lange Ertrag gebe, bis erstere Frucht trägt, was erst nach sechs Jahren geschieht; dann stirbt die Baumwolle ab. Unabsehbar dehnten sich in jedem Alter der Anpflanzung die jungen Stämme, es folgten aber neben dieser Hauptsache auch Felder mit Kaffee, Vanille und sogar Thee, bis zuletzt die ursprüngliche Wildnis wieder aus jedem Fußbreit der Umgebung hervorsah.

Zwanzig Meter hoch über dem Boden trugen die Luftwurzeln der Bananen den schlanken Stamm mit seinen Riesenbündeln grüner und gelber Schotenfrüchte, die äußerlich unseren großen Bohnen nicht so ganz unähnlich erschienen, Melonen und Ananas wuchsen überall, Blumen sahen hervor aus jeder Spalte, zwischen allen Blättern, von allen Ästen; in den Bäumen gurrten die großen, prachtvollen Tauben, namentlich weiße mit violettem Kopf und roter Brust, ebenso kleinere Singvögel aller Arten und hier und dort sogar ein Papagei. — Das schönste der ganzen Landschaft aber blieben unstreitig die vielen, teils bedeutenden, teils zierlichen Wasserfälle, welche von den Felsen herab auf das verwitterte vulkanische Gestein stürzten, hier donnernd und brausend, dort in sanftem Plätschern, überall wie flüssiges, im Sonnenschein diamantengeschmücktes Silber glänzend und schillernd. Hier in diesem Teil der Insel lebten die wenigen Hunderte noch unzivilisierter Eingeborner, ein freundlicher, gastfreier und ehrlicher Menschenschlag, dem jedoch die Arbeit noch gleichbedeutend schien mit einem Schimpf.

Einzeln lagen die kleinen Dörfer im Schoß der Urwälder, sicher vor feindlichem Überfall durch die Achtung gebietende Nähe der Deutschen, reich selbst inmitten äußerer Armut, durch die Fülle der Gaben, welche gerade hier der Himmel in beständig fließenden Strömen seinen Erdenkindern geschenkt hat. Um die friedlichen, von allen Seiten offenen Hütten standen uralte Brotfruchtbäume, deren dreie einen Menschen während des ganzen Jahres zu ernähren vermögen, Kokosnüsse hingen auch hier von den Zweigen, der Papiermaulbeerbaum bot in seiner Rinde die Tapa, das faltige, luftige Gewand des Südseeinsulaners, die Riesenblätter der Palmen das Dach seines Hauses, der Bambus Stäbe, Geräte und tausend Kleinigkeiten des täglichen Bedarfes.

Hier lagen die Männer im Schatten und spielten das beliebte Lupespiel, indes die Frauen zwischen heißen Steinen kochten und backten, oder feine, dem schönsten Baumwollengewebe gleichende Matten verfertigten; der Grasgürtel an ganz nackten Gestalten kam wieder zum Vorschein und schließlich auch ein Tempel mit den beiden gekreuzten Bambusstäben über dem Eingang „Tabu“ d. i. „heilig“ — wer den Ort betritt, dessen Leben ist verwirkt.

Die Reisenden machten Halt. Ein andres Dorf war vor Einbruch der Nacht nicht mehr zu erreichen, also mußten die Hängematten hier aufgeschlagen werden, während sich die Eingebornen beobachtend und zurückhaltend in ihren Hütten hielten oder unbekümmert um das was vorging, dem Lupespiel nachhingen.

Früchte, Federn und besonders Muscheln gaben dabei den Einsatz. Die Häuptlinge lagen bequem im Gras, auf den linken Ellbogen gestützt, indes sich die Rechte wieder und wieder blitzschnell dem Gegner entgegenstreckte, einige Finger geschlossen, andre emporgehalten, ziemlich wie bei unserem deutschen Kinderspiel: „Vogel flieg auf!“ — Verfehlt es der andere, eine gleiche Anzahl von Fingern ebenso schnell vorzustrecken, dann hat er den Strich verloren. Zehn Striche entscheiden das Spiel.

„Merkwürdig, daß man wenige oder gar keine Kinder sieht!“ meinte Franz.

Holm schüttelte den Kopf. „Das ist sehr einfach, mein Bester, sie bringen die, welche ihnen lästig werden, um. Nur die christliche Mission hat, wohin sie kam, diesem Unwesen steuern können, sonst herrscht es noch auf sämtlichen Südseeinseln.“

„Was kommt da?“ rief plötzlich der Malagasche. „Ein Zauber!“

„Rua! — Rua!“

„Sieh hin, Herr, sieh hin!“

Auch die Spieler und die arbeitenden Frauen waren aufmerksam geworden, aber keines schien erschrocken oder erstaunt, vielmehr sammelten sich alle vor den Thüren und sahen gespannten Blickes einem Zuge entgegen, der die Dorfstraße heraufkam. Sechs Männer trugen den siebenten auf wahrhaft barbarische Weise des Weges; sie hatten ihn mit Bastschnüren an Händen und Füßen gebunden, einen dornigen, überall von langen Stacheln umwucherten Stamm hindurchgeschoben und nun das unglückliche Opfer wie ein Schlachttier aufgeladen. Der Kopf des noch jungen Mannes hing wie leblos herab, auf seinen Lippen stand Schaum, die Augen waren unnatürlich weit geöffnet und sahen mit völlig irrem Ausdruck gerade vor sich hin, während Hände und Füße heftig bluteten.

Aus allen Hütten stürzten die Eingebornen und folgten höhnend und schimpfend dem Zuge, immer stärker und stärker schwoll der Strom, dem ein Priester mit langem Stabe und einer riesenhaften Perücke unter allerlei Grimassen voranschritt, von rechts und links stürzten Weiber mit geballten Fäusten herbei, aber ohne doch das Opfer zu berühren, sie drohten und lärmten nur wie Tollhäusler.

Der alte Doktor ging schnellen Schrittes, von Entrüstung getrieben, den Ankommenden entgegen. „Was habt ihr da, Leute?“ rief er voll heiligen Zornes, „augenblicklich laßt den unglücklichen Menschen los!“

Die übrigen waren ihm eben so rasch gefolgt, sie stimmten jetzt sämtlich ein in die gestellte Forderung, ja, Franz und der Malagasche legten unverweilt Hand ans Werk, um die Faserschnüre zu durchschneiden und den Ohnmächtigen in Freiheit zu setzen. Er fiel schwer, wie leblos zu Boden.

„Was hattet ihr mit diesem Manne?“ fragte Holms ruhige Stimme.

„Er ist ein Dieb, wir bestrafen ihn nach unseren Gesetzen. Wenn du in einem unserer Häuser etwas stehlen solltest, dann geschieht dir das Gleiche, Fremder.“

Die Worte waren in drohendem Tone hervorgestoßen, ein allgemeines Murmeln zeigte die Entrüstung des Volkes; der Priester schien heimlich die Nächststehenden aufzuhetzen.

Da legte sich der Führer ins Mittel, eben jener Johannes, der in den Werkräumen als Aufseher fungierte. „Wißt ihr auch, Leute, vor wem ihr hier im Augenblick steht?“ fragte er.

Das Gerücht hatte seinen Weg über die Insel schon gefunden, man sah es. Die Leute knirschten, aber sie wagten keinen Widerspruch, selbst der vorlaute Sprecher verstummte und ließ es geschehen, daß die Weißen den bewußtlosen Mann wieder ins Leben zurückführten. Johannes reichte ihm die Hand. „Allolo,“ sagte er, „du hättest gestohlen? Kann das wahr sein?“

Der Unglückliche weinte. „Ja, ich habe es gethan, Johannes, — und auch nicht, wie man die Sache nehmen will. Du weißt dem Häuptling Bela gehört die Hütte, in der ich wohne, der Yams und Taro, den mein Weib pflanzt, die alten Urubäume. Meine Familie ist leibeigen, ich kann nie selbst Besitzer werden. Aber Bela trinkt den Branntwein der Weißen, er hat alle seine Ländereien verkauft, er ist arm, Johannes, und ich muß ihn ernähren. Er hatte verboten, von den Früchten zu nehmen, aber ich ließ mein Weib und die Kinder essen, — als keine Melonen mehr zu finden waren, haben sie Yams gegraben, dafür werde ich so unmenschlich bestraft.“

„Nach den alten Gesetzen der Samoaner!“ rief giftig der Zauberer.

Johannes übersetzte Wort für Wort, ohne etwas hinzuzufügen oder etwas wegzulassen. Als der blutende, zerschundene Mann schwieg, sagte er: „Und du willst trotzdem hier bleiben, Allolo, du willst den Yams und die anderen Früchte bauen, damit deine Kinder hungern, während der verworfene Säufer beansprucht, was dein ist?“

Der Wilde war aufgesprungen, er ballte die Faust. „Kann ich denn auch fort?“ keuchte er.

„Gewiß!“ riefen alle wie aus einem Munde. „Gewiß kannst du fort. Nie und nirgends ist nach dem Willen Gottes der eine Mensch das Eigentum des andern. Überlasse den elenden Bela seinem Schicksal und gehe mit uns, Allolo, dann bist du ein freier glücklicher Mann, dem der Hunger nie mehr nahe tritt.“

Der Zauberer schlich sich leise an den Gemarterten heran. „Du kennst doch die Zeichen, welche das weiße Volk malt und durch die alle einander verstehen? Willst du ihren schlimmen Künsten geopfert werden? Allolo, besinne dich! Sie nehmen dir deine Kinder weg!“

„Und schicken sie in die Schule!“ rief Johannes. „Meine beiden Buben haben schon ganze Stapel von Schreibebüchern verbraucht und werden täglich klüger dabei. Sie können dir auf der Weltkarte die Insel Upolu ganz genau zeigen, du Schelm, sie lesen alles vom Blatt.“

Allolos Augen blitzten. „Deine Knaben, Johannes? deine Knaben? Und das ist gewiß?“

„Das ist so gewiß, wie ich hier vor euch stehe!“

„Ach — und ihr würdet uns alle mit nach Apia nehmen, du? O ja, ja, ich will auch arbeiten, auch ein Christ und ein freier Mann werden.“

Der Zauberer sah, daß sein Spiel verloren war, er schlich sich heimlich grollend davon und die sechs andern Henkersknechte folgten ihm schweigend, während aus den Reihen der Umstehenden niemand wagte, sich zu ihren Gunsten hineinzumischen. Unsere Freunde bemühten sich, den geängstigten Mann aufzurichten und ihm Mut einzuflößen, ja Franz war so empört, daß er jetzt auch laut den Gedanken an eine Handelsverbindung mit dem Häuptling Tippoo zur Sprache brachte. „Ich möchte mir ebenso viele Segenswünsche erwerben, ebenso Großes erschaffen, wie mein Vater!“ rief er mit glühenden Wangen.

Holm lachte lustig. „Das nenne ich glänzende Erfolge!“ rief er. „Man schickt dich in die Weite, weil dir das Kontor zu dumpfig, das Rechnen zu langweilig ist, aber siehe da! just den Plan einer neuen großartigen Unternehmung bringst du mit nach Hause. Wahrhaftig, das soll allen Ernstes überlegt werden. Vielleicht sind es Feigen oder Zimt, mit denen sich im Innern von Ceylon bei den Baumbewohnern etwas anrichten ließe, jedenfalls aber freut mich dein Gedanke, von dem wir dem braven Tippoo möglichst rasch Mitteilung machen wollen.“

Während dieses zwischen den beiden jungen Leuten geführten Gespräches hatten sich Johannes und Allolo über die nächsten Vorgänge mit einander verständigt; die Zelte sollten nicht hier, sondern neben der Hütte des letzteren aufgeschlagen werden, was wohl im Interesse beider Teile gleich sehr geboten schien. Der Weg war kurz, schon vor Einbruch der Nacht lag das bescheidene Heim des armen Sklaven vor den Blicken der Reisenden, sie sahen sein Weib und seine Kinder, die vor Entzücken jubelten, als ihnen der Vater, wenn auch arg zerschunden, doch lebend und gesund entgegentrat. Nach Herzenslust durften jetzt in der schützenden Nähe der Weißen die armen verkümmerten Geschöpfe ihre eigenen Feldfrüchte pflücken und essen, ja, jeder einzelne der kleinen Schar schenkte ihnen, was sich eben im Augenblick entbehren ließ, Geld, Messer, Tücher und bunte Kleinigkeiten, die wie immer zu diesem Zweck in die Wildnis mitgenommen worden waren. Am lebhaftesten zeigte sich der Malagasche, er hätte wohl gern das Herz aus der Brust weggegeben und noch vor dem Einschlafen suchte er Gelegenheit, mit seinem jugendlichen Vertrauten unter vier Augen zu sprechen. „Franz, mein Bruder, mein Freund, wie lieb habe ich dich! Solche, gerade solche Verhältnisse waren es, aus denen du mich herauszogst! O die armen Sklaven, die Bethörten, den Weißen widerstreben sie und von ihren Landsleuten lassen sie sich langsam morden.“

Franz drückte ihm die Hand. Er war an diesem Abend stumm, aber glücklich. Wie viele arme Seelen hatte das kaufmännische Talent seines Vaters aus unerträglichen Verhältnissen emporgehoben zur Freiheit und zu dem Glücke des Lebens! —

Die Nacht verging ungestört, oder doch ohne Schaden, da Holm das Herannahen eines blutgierigen Vampirs früh genug bemerkte, um die wenig nachbarlichen Absichten desselben mittels einer Gewehrkugel zu durchkreuzen. Neue prächtige Beute für das Museum daheim in Hamburg, ebenso die Schätze, welche sich im Innern der Bambushütte fanden, ein vollkommen hieb- und stichfester Panzer aus Kokosfasern, die Handschuhe mit Haifischzähnen, um den Gegner wie an einem Angelhaken zu fangen und ihm das Rückgrat zu brechen, ferner den Hausgötzen, einen kleinen plumpen wohlgenährten Holzkerl von ganz brauner Farbe, und mehrere hübsche Körbchen. Allolo schenkte alles freiwillig den Weißen, unter deren Schutz dann die ganze kleine Familie so lange reiste, bis sie, mit einem Brief des Führers versehen, unbehelligt die Faktoreien erreichen konnte, während unsere Freunde die Pferde unter Bedeckung im Thale zurückließen und dafür zu Fuß das Gebirge erkletterten. Ihr nächstes Ziel war der Krater Lanuto; siebenhundert Meter über dem Erdboden belegen!

Das gleichmäßige, terassenförmige Abfallen der Felsen erleichterte freilich diese Mühe; überall wuchsen Bäume, überall sprudelte reichlich klares Wasser und fand der Fuß in Moos und Flechten einen festen Halt, der Kopf Schatten unter rauschendem Gezweig. Da oben lag hinter dreißig Meter hohem Klippenkranze ein stiller, kreisrunder See, dessen Bild von erhabener Schönheit sich der Erinnerung unverwischlich einprägte. Auch den Krater Tafna bestieg die kleine Gesellschaft und dann führte sie Johannes zu dem bedeutendsten Punkte der Insel, einem unterirdischen Gange, der meilenweit durch das Gebirge dahinlief und endlich am Ufer des Ozeans ausmündete. Stellenweise fanden sich Zugänge, so daß unsere Freunde nur etwa eine halbe Stunde durch den gewölbten, von weißen und gelben Inkrustationen bedeckten Tunnel dahinzugehen brauchten, um dann am Endpunkte desselben ein ebenso schönes als großartiges Schauspiel zu genießen. Vor ihren Füßen brandete gegen das Korallenriff die ewig bewegliche See und dehnte sich links der Hafen mit seiner stattlichen Reihe von Schiffen aus aller Herren Länder, während rechts der Wasserfall donnernd und gewaltig aus schwindelnder Höhe herabfiel und gerade über den Köpfen der Schauenden die Stadt selbst am sanft aufsteigenden Berggelände sich erhob. Holm sammelte Stücke des verschiedenen Gesteines, brach auch etliche verirrte Muscheln von der äußeren Kante los und arretierte ungeheure Frösche und Spinnen, die hier in großer Anzahl hausten, dann kehrten alle durch den kalten, hallenden, fast schauerlichen Gang zurück zum Walde, wo sich Pferde und Gepäck glücklich wieder vorfanden. Noch vor Abend war Apia erreicht.

Neue Feste, neue Gesellschaften nahmen hier in angenehmem Wechsel mit den Arbeiten unter Holms Leitung die nächsten Wochen ein, dann wurde alle diese Gastfreundschaft erwidert durch ein glänzendes Diner an Bord der „Hammonia“. Aus so vielen Aufmerksamkeiten konnten die beiden jungen Leute ersehen, welch hohe Achtung der Name ihres Vaters sich unter der dortigen Bevölkerung erworben. Franz war geheilt von seinen knabenhaften Plänen und Ideen, er hatte hier inmitten der Schöpfungen kaufmännischen Talentes und der regen, energischen bürgerlichen Thätigkeit vollauf erkannt, zu welch segensreichem Wirken gerade der Handel berufen ist, wie er in seiner höheren Entwickelung zur Basis wird, auf der Kultur und Sitte ihre festen, weltumschlingenden, welterziehenden Bauwerke aufführen.

Franz hatte aber auch aus eigner Erfahrung gelernt, daß vorwiegend die gemäßigte Zone berufen ist, alle Blüten der Kultur und höchsten Vollendung zu erzielen. Nur wo der Mensch ein Heim, ein Vaterland besitzt, das in Klima und Produkten der industriellen Thätigkeit, dem Ackerbau und der Gesundheit als Förderungsmittel dient, da kann er über das einfach Unerläßliche, über die tierischen Bedürfnisse hinaus, an mehr und Höheres denken, da kann er schmücken und aufbauen, während in heißen und kalten Ländern alle Sorgfalt der bloßen Erhaltung im Kampfe mit verheerenden Naturkräften zugewendet bleiben muß und einerseits die üppige Fülle des Südens in seinen Bewohnern jenen sittlichen Ernst des schaffenden, arbeitsstarken Nordens niemals aufkommen läßt, anderseits die erstarrende Kälte der Polarzone notwendig jeden freieren Trieb lähmt. — —

Das Schiff nahm Palmöl und Kopra ein; während dessen erhielt der Malagasche, wohl vorbereitet durch seinen würdigen Erzieher, Doktor Bolten, als Rudolf Harms die christliche Taufe, bei welcher Gelegenheit ihm im Namen der Firma Gottfried ein ansehnliches Geldgeschenk und ein Brief des Chefs überreicht wurden, in welch letzterem Herr Gottfried den jungen Mann aufforderte, als Lehrling bei ihm einzutreten und in seinem Geschäft zu bleiben, nach freier Wahl auf dem Kontor in Hamburg oder in Apia.

Holm und Herr Frank versahen Patenstelle, viele hübsche Geschenke wurden dem ehemaligen Sklaven gespendet und allerseits geraten, lieber vorerst hier in Apia zu bleiben. Rudolf — wie wir ihn nun nennen müssen — hatte das auch heimlich längst schon erkannt und sprach es zuletzt offen aus. „Ein halber Wilder bin ich ja doch noch,“ sagte er lächelnd, „also laßt mich einstweilen bleiben, wo — außer mir auch andere Wilde leben.“

Holm und die übrigen gaben ihm im Herzen recht, als aber endlich der Tag des Abschieds herankam, da that doch die Trennung sehr weh. Franz konnte nicht glauben, daß ihm „Rua“ fortan fehlen solle, er konnte ihn nicht lassen, als seine Hand zum letztenmale in der des Freundes lag. Immer wieder umarmten sich die beiden, immer wieder erneuten sie das Gelübde jenes Abends, als einer das Blut des anderen getrunken, jenen Schwur, der sie unzertrennlich als Brüder verband. Sie sollten nun beide von Weltumseglern zu fleißigen Lehrlingen werden, der eine in Apia, der andere in Hamburg; aber dennoch wollten sie sich dereinst wiedersehen, dennoch mußte ihre Zukunft eine gemeinsame bleiben, das gelobten sie sich fest.

Und als der letzte Händedruck gewechselt, als das Schiff zur Heimfahrt die Schraube in Bewegung setzte, da wiederholten die Herzen, was früher die Lippen ausgesprochen. „Auf Wiedersehn! Auf Wiedersehn!“ — —

Sechzehntes Kapitel.

Die Südsee und der Indische Ozean waren durchlaufen, das Schiff befand sich im Roten Meer, wo widriger Wind und schwere Stürme die Reise zu einer äußerst anstrengenden und gefahrvollen machten. Das einzig Neue dieser Fahrt bestand in langen Zügen einer mikroskopischen Alge, die stundenweit treibend das Wasser mit tiefem, gesättigten Purpurrot färbte, und der das Meer seinen Namen verdankt, — später erst bei dem Eintritt in den Meerbusen von Suez gewann die Tour wieder für alle Teilnehmer lebhafteres Interesse.

Als sie beim Eintritt in diesen zipfelartigen Ausläufer des Roten Meeres an der gebirgigen Küste Arabiens entlang fuhren, da war es, wo der Doktor seine jungen Gefährten auf die heilige Bedeutung des Ortes hinwies.

„Seht ihr den Berg da im Nebel?“ fragte er, auf die vom blauen Duft verhüllte, imposante Masse in der Ferne hindeutend. „Das ist der Sinai, von dessen Gipfel der Menschheit erstes Gesetz verkündet wurde. Es ist heiliger, klassischer Boden, den wir berühren, — zum erstenmale seit unsrer Abreise von Hamburg.“

Mittlerweile hatte der Dampfer Suez erreicht, den Anfangspunkt des berühmten Kanals.

Eine fünfzehn Meilen breite Landenge, das Rote und das Mittelländische Meer trennend, hatte sich hier unter Menschenhand in eine Wasserstraße verwandelt und nur gegen eine hohe Abgabe — 10 Frank die Tonne und ebensoviel der Kopf — war die Durchfahrt gestattet.

Zwischen bebauten Ufern wie auf einem stillen Strom des Binnenlandes glitt der Dampfer dahin. Der Kanal besaß nur sieben Meter Tiefe und achtundfünfzig bis hundert Meter Breite und war durch Zementdämme eingefaßt, während mehrere Seen, die er passierte, immer von schmalen Bodenschwellen unterbrochen, von Zeit zu Zeit eine höchst interessante Abwechselung darboten. An Ismailia, der Wunderstadt des Khediven von Ägypten vorbei, durch brakige Seen verfolgte der Dampfer langsam und vorsichtig seine Bahn, bis er endlich bei Port Said den engen Kanal verließ.

Vor den Blicken aller dehnte sich das Mittelmeer, — sie waren jetzt wieder in Europa, konnten die Tage zählen, bis das Schiff seine letzte Bahn durchmessen; kein Wunder also, daß namentlich an dieser hochinteressanten Stelle, an der Schwelle zweier Welten, ihre Stimmung eine ernste, gesammelte war. Drei lange Jahre des Genießens, des reichen Ertrages lagen hinter ihnen, aber auch drei Jahre der schwersten Anstrengungen und des Entbehrens; aus den spielenden, ahnungslosen Knaben waren denkende Menschen geworden; das Leben hatte ihnen seinen Ernst, seine Anforderungen aus nächster Nähe gezeigt; sie hatten zwei Genossen der Reise, zwei junge Leute, die fröhlich mit ihnen das Wanderlos geteilt, im fernen tropischen Süden dem Grabe überliefern müssen und hatten erst vor zwei Tagen den altehrwürdigen Punkt gestreift, von welchem aus dereinst das Licht der Kultur und Religion hellstrahlend aufging über alle Welt und alle Zeit, — der tiefe Eindruck wurde erst verwischt, als das weite Meer wieder unabsehbar den Dampfer umgab und andere Schiffe vielfach vorüberglitten, Grüßen aus der Heimat gleich, Boten, die vom Wiedersehn kündeten, von entzückendem, seligen Ausruhn nach langer, sturmvoller Fahrt.

Am zweiten Tage sahen die Reisenden ein Schiff, das bei stillem, sonnigen Juliwetter zwei Boote aussetzte und selbst back lag, d. h. Segel nach beiden Seiten gestellt hatte, so daß es die Luftströmung, anstatt zu treiben, auf seiner Stelle festhalten mußte. Jedenfalls arbeiteten hier Taucher; der Kapitän begrüßte daher in seemännischer Weise mittels der Flagge seinen Kollegen und ließ den Dampfer seitlängs von dem stillliegenden Segelschiff beidrehen. Hier war vor einigen Wochen ein französisches Dampfschiff durch Explosion zu Grunde gegangen, weshalb jetzt Taucherversuche gemacht werden sollten, um womöglich den Eisenrumpf aus dem Wasser zu heben, wenigstens aber doch das Wertvollste der verunglückten Ladung zu bergen.

Die beiderseitige Bekanntschaft war bald gemacht; auch die „Hammonia“ setzte ihr großes Boot aus, und sämtliche junge Leute fuhren bis zu der Stelle, wo auf dem sehr seichten Grunde einzelne Teile des Wracks deutlich erkennbar dalagen. Es sollte zuerst festgestellt werden, ob sich das gesunkene Schiff in heilem oder geborstenem Zustand befinde, daher wurden zwei Taucher zu beiden Seiten desselben langsam herabgelassen, ganz in wasserdichte Stoffe gekleidet mit dem Helm, der nach dem System Rouquonvil den selbstthätigen Apparat zur Luftbereitung und Luftzuführung in sich schloß, die Nase verklemmt, was ihnen ein teuflisches Aussehen gab, und im Mund das Rohr der einfachen aber vortrefflichen Vorrichtung. Die Leute konnten bei gänzlich freiem Gebrauch ihrer Glieder fast eine volle Stunde unter Wasser bleiben, sie begannen daher das Wrack zu erklettern, als plötzlich ein halb komischer, halb ernster Zwischenfall den weiteren Verfolg der Arbeit hinderte und auf der Oberfläche des Wassers die im Boot Sitzenden mit lebhaftestem Interesse erfüllte.

Dem einen Taucher hatten sich zwei riesige Schwertfische genähert, von wenigstens fünf Meter Länge mit sägenartig gezahnten Ausläufern des Oberkiefers, anderthalb Meter langen, furchtbaren schneidenden Schnäbeln oder Schwertern, die aber auch, vorn spitz wie ein Degen, als Stoßwaffe dienen konnten. Die walzenförmigen, glatten, nur mit einer einzigen Rückenflosse versehenen Körper schossen pfeilschnell heran und versuchten beide irrtümlich zuerst den Eisenleib des Wrackes zu durchbohren, richteten dann aber ihre ganze Aufmerksamkeit gegen den unvorsichtigerweise ihrem Treiben zusehenden Taucher und warfen diesen so schnell zu Boden, daß oben in freier Luft die Leitungsröhren von dem heftigen Anprall erzitterten.

Und nun entstand ein belustigender Kampf. Die Fische schwammen in höchster Wut hin und her über dem Körper ihres besiegten Gegners, ohne ihm jedoch mit Erfolg beikommen zu können. Stießen die furchtbaren Schwerter gegen den Helm, so prallten sie ab, kehrte sich jedoch ihre Wucht gegen den in Kautschuk steckenden Mann, so wich dieser dem ohnehin unsicheren Stoße mit leichter Mühe aus, wodurch der Zorn der gewaltigen Tiere nur immer lebhafter erregt wurde. Da ihr Gegner unter ihnen lag, anstatt wie gewöhnlich über ihnen zu schweben, so konnte die gewohnte Taktik des Unterlaufens nicht befolgt werden, weshalb beide Ungeheuer ratlos tobend, daß die Boote schaukelten, durch das Wasser hin und her jagten, jedesmal aber, wenn von oben an der Maschinerie gewunden wurde, um den Bedrohten heraufzuziehen, den Fluchtversuch desselben durch erneute Stöße sogleich verhinderten. Die Lage des Mannes wurde ernst und immer ernster! Wenn sich unter allen diesen ruckartigen Bewegungen der Helm löste, so war er unrettbar verloren.

Die Aufmerksamkeit unserer Freunde, ihr lebhaftes Interesse verdoppelten sich von Augenblick zu Augenblick. Sie sahen, wie der Taucher langsam am Boden gegen das Wrack hin fortkroch und begriffen sofort, was er wollte, — sich durch schnelles Erklettern desselben den Unholden entziehen. Diese schwammen fortwährend über ihm her, peitschten das Wasser mit ihren Schwänzen und stießen blindlings nach allen Richtungen, meistens ellenhoch über den Bedrohten dahin.

Franz erhob sich plötzlich vom Sitz. „Eine wollene Decke und ein Tau, Steuermann!“ rief er mit lauter Stimme. „Schnell! schnell!“

Der Alte hatte schon den gleichen Gedanken gehabt; er konnte daher die Bitte seines jungen Freundes um so schleuniger erfüllen, und nun ließen Holm und die beiden Brüder langsam das große, mit einem Gewicht beschwerte Bündel in die Tiefe hinab, um dadurch das Interesse der Fische von ihrem bedrohten Opfer abzulenken. Der Taucher sah alles; seine Handbewegungen schienen um Eile zu bitten; er schob und drehte an dem Helm, als drohe dieser, sich zu lösen.

Aller Pulse klopften in fieberhafter Spannung. Wenn nicht bald Hilfe kam, so war der geängstigte Matrose seinen Peinigern verfallen.

Die Fische sahen das Bündel und stutzten, dann warfen sie sich mit vereinter Kraft auf diesen neuen Gegner, der vor ihren Augen hüpfend erhalten wurde, und suchten den weichenden, tanzenden mit furchtbaren Stößen zu durchbohren. Gottlob! die List gelang. Der Taucher hatte sich in das Innere des Wrackes gerettet und gab das Zeichen, ihn heraufzuziehen. Schon schwebte sein Körper wenige Fuß tief unter der Oberfläche, da entdeckten ihn die beiden Ungeheuer und konnten nun von unten her ihre toddrohenden Waffen zur Anwendung bringen. Der Kautschuk riß, Blut überströmte die Glieder des Tauchers, und nur einem kräftigen Schlag mit dem Ruder aus Holms Hand verdankte er es, nicht bei lebendigem Leibe gespießt zu werden. Als er im Boot anlangte, hatte sich sein Helm zum Teil gelöst, so daß Wasser eingedrungen war, er blutete fürchterlich und mußte bewußtlos unter Deck geschafft werden. Auch der andere wurde heraufgezogen, um nicht dem gleichen Schicksal zu verfallen.

S. 461.

Der Taucher und die Schwertfische.
„Die Fische sahen das Bündel und stutzten, dann warfen sie sich mit vereinter Kraft auf diesen neuen Gegner ...“

Jetzt konnten unsere Freunde mit erleichtertem Herzen die Jagd wieder aufnehmen. Im Wasser schwammen, nachdem auch das Bündel entfernt worden, die großen Fische in toller Eile um einander herum, als wolle einer den andern für die Flucht der Beute verantwortlich machen. Zuerst stießen sie sich wie zufällig, spielend, dann aber immer heftiger, bis endlich die beiderseitigen Waffen zum vollständigen Gebrauch kamen und sich die Kämpfenden in einander so verflochten und festrannten, daß sie schlagend, drehend und tobend nur eine große, unlösliche Masse bildeten.

„Die haben wir!“ jubelte Holm, „die haben wir! schnell, Papa Witt, geben Sie uns einen Mann mit einer Harpune.“

Auch das geschah. Ein Matrose warf vom Schiff aus mit großer Geschicklichkeit den mörderischen Haken einem der Schwertfische in den Körper, und dann wurden Anstalten getroffen, um die an die Oberfläche gezogenen auf das Schiff zu bringen, wobei man natürlich den Booten sorgfältig aus dem Wege ging. Beide Tiere lebten noch; sie schlugen mit den Schwänzen und glotzten halb wütend, halb dumm die Menschen an, während von dem französischen Schiff aus, jetzt wo die gefährlichen Feinde besiegt waren, neue Taucher ihre unterbrochene Arbeit wieder aufnahmen. Man verabschiedete sich, des unverhofften Fanges froh; dem unverletzten Schwertfisch wurde behufs Ausstopfung das dicke Fell abgezogen und beide Schnäbel als wertvolle Beiträge für das Museum gereinigt und verwahrt. Noch lange besprachen die jungen Leute diesen glücklich verlaufenen Zwischenfall, und dabei geschah es, daß Franz zufällig sagte: „Unser letztes Abenteuer!“

Hans warf ein: „Für diesmal vielleicht, aber wie lange wirst du es zu Hause aushalten, nächstes Jahr strebst du vielleicht nach Amerika.“

Aber Franz schüttelte den Kopf. „Nun nicht wieder. Was mein Vater jetzt ist, der Ernährer und Versorger von Tausenden, das will ich dereinst auch werden, — wir beide, nicht wahr, Hans?“

Und der jüngere Bruder lächelte. „Ich wollte es immer, Franz.“

Das Schiff verfolgte seinen Lauf durch das blaue Mittelmeer, sah Kreta und Sizilien, und trat durch die Säulen des Herkules in den Atlantischen Ozean. Bald lag auch der böse biskayische Meerbusen hinter ihm. Glücklich durcheilte es den Kanal und kam in die Elbe, wo es von dem Lotsenkutter mit lautem Hurra begrüßt wurde. „Alles wohl zu Hause!“ — Der Mann konnte es behaupten, denn er hatte mit Herrn Gottfried gestern noch gesprochen. „Die „Hammonia“ wird von ganz Hamburg erwartet.“

Und weiter und weiter verfolgte der Eisenbau seine Bahn. Vorüber an der Küste von Holstein, an den Elbinseln, an Altona und dann langsam bis zum Hamburger Hafen. Wo wart ihr, drei lange lange Jahre, seit das Schiff von dieser Stelle hinauszog in die unermeßliche Weite? —

Niemand sprach, aber es war ihnen wie einst Robinson, dem wiederkehrenden Robinson, sie hätten den Boden der Heimat küssen mögen.

— — — — — — — — — —

Und dann standen im Kontor die Söhne dem Vater gegenüber, er erkannte sie kaum; der laute Jubel brach erst los nach langem, innigen Umarmen und Begrüßen. Für heute hatte alle Arbeit ein Ende; Mann für Mann, vom Kapitän bis zum Kajüttsjungen, mußten die Gefährten der Weltreise ihren Chef besuchen; alle erhielten eine bedeutende Extrazulage, und für die Hinterbliebenen der beiden Verunglückten sollte reichlich gesorgt werden; dann aber, nachdem der Mannschaft Freiheit gegeben, sich in der Stadt nach Belieben zu bewegen, nachdem die Weltumsegler ihrem Reeder ein donnerndes Hoch gebracht, — dann sah Herr Gottfried freudestrahlenden Blickes von einem seiner beiden Söhne zum anderen und sagte mit erstickter Stimme: „Jetzt kommt zur Mutter nach Dockenhuden!“

Wir folgen ihnen nicht. Solche Augenblicke kann niemand schildern, niemand aus der Schilderung kennen lernen, — man muß sie erleben, um zu wissen, daß sie des Daseins seltene, selige Höhepunkte bilden.

Anmerkungen zur Transkription

Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Im Original g e s p e r r t hervorgehobener Text wurde in einem anderen Schriftstil markiert. Textstellen, die im Original in Antiqua gesetzt sind, wurden in einer anderen Schriftart markiert.

Die variierende und inkonsistente Schreibweise des Originals wurde weitgehend beibehalten. Lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korigiert wie hier aufgeführt (vorher/nachher):






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additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
Defect you cause.

Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
from people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
www.gutenberg.org



Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
volunteers and employees are scattered throughout numerous
locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
date contact information can be found at the Foundation's web site and
official page at www.gutenberg.org/contact

For additional contact information:

    Dr. Gregory B. Newby
    Chief Executive and Director
    gbnewby@pglaf.org

Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements. We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
state visit www.gutenberg.org/donate

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations. To
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate

Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.

Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
volunteer support.

Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
edition.

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facility: www.gutenberg.org

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including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
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