The Project Gutenberg EBook of Alte Nester, by Wilhelm Raabe This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at www.gutenberg.org/license Title: Alte Nester Zwei Bücher Lebensgeschichten Author: Wilhelm Raabe Release Date: November 2, 2014 [EBook #47268] Language: German Character set encoding: ISO-8859-1 *** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ALTE NESTER *** Produced by Norbert H. Langkau, Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
Wilhelm Raabe
Alte Nester
Volksausgabe
Wilhelm Raabe
Zwei Bücher Lebensgeschichten
Ein Freund von mir begleitete einmal Goethen auf einem Spaziergange. Unterwegs stießen sie auf einen armen Knaben, der am Wege saß, den Kopf in den Händen und die Arme auf die Kniee stützend. Junge, was machst du da? worauf wartest du? rief Goethes Begleiter. — Worauf sollte er warten, mein Freund? nahm Goethe das Wort. Er wartet auf menschliche Schicksale. —
O. L. B. Wolff.
Allgemeine Geschichte des Romans, von
dessen Ursprung bis zur neuesten Zeit.
21.-25. Tausend der
Volksausgabe
Berlin-Grunewald
Verlagsanstalt Hermann Klemm A.-G.
Dieses Werk wurde gedruckt in der Offizin G. Kreysing in Leipzig.
Den Einband fertigte H. Fikentscher in Leipzig.
Eine Blume, die sich erschließt, macht keinen Lärm dabei; auch das, was man von der Aloe in dieser Beziehung behauptet, halte ich für eine Fabel. Auf leisen Sohlen wandeln die Schönheit, das wahre Glück und das echte Heldentum. Unbemerkt kommt alles, was Dauer haben wird in dieser wechselnden, lärmvollen Welt voll falschen Heldentums, falschen Glücks und unechter Schönheit; und es ist kein eitles, sich überhebendes Wort, was ich hier zu Anfang dieser Blätter hinsetze; denn es sind die Lebensgeschichten anderer Leute, die ich beschreiben will, nicht meine eigenen. Das Heldentum und die Schönheit der Rolle, die ich dabei abspiele, lassen sich wohl halten in der hohlen Hand. Aber eines ist auch wahr und darf gesagt werden: Glück, viel Glück habe ich wohl nicht gehabt, aber doch dann und wann mein Behagen, meine Belustigung und meine Ergötzlichkeiten; und das alles ist gleichfalls ganz natürlich und ziemlich unbemerkt gekommen und gegangen, — so daß es heute, in den gegenwärtigen stillen, nachdenklichen, überlegenden Stunden nichts Erstaunenswürdigeres für mich gibt als mein unleugbar vorhandenes Wohlgefallen nicht nur an der Welt, sondern auch immer noch an mir.
Mein erstes Aufblicken in dieser Welt fällt in die Zeit der Gründung des deutschen Zollvereins, also in den Anfang der vierziger Jahre dieses Säkulums. Wer eine Ahnung davon hatte, daß aus dieser anfangs etwas unbequemen und viel bestrittenen Institution einmal das einige Deutsche Reich aufwachsen könne, behielt dieselbe ruhig für sich, und eine kleine Ausnahme machte da vielleicht nur ein kleiner Mann im Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten in Paris, Mr. Louis Adolphe Thiers genannt. Das deutsche Volk ließ sich murrend, wenn auch nach seiner Art gutwillig, die ersten Lebensbedürfnisse und vor allem das Salz durch den segensreichen politischen Schachzug verteuern.
Da war nun so ein Stätlein (auf die Landkarte bitte ich dabei nicht zu sehen), das diesem „preußischen Verein“ beigetreten war, aber seine Planetenstelle nicht verändern konnte, sondern liegen bleiben mußte, wo es lag: nämlich ganz und gar umgeben von einem anderen Staat, der nicht „beigetreten“ war, und das junge Reichsvolk von heute hat gottlob keine Idee davon, was das seinerzeit bedeutete, obgleich es eigentlich noch gar so lange nicht her ist. Zog der eine deutsche Bruder seinen Grenzkordon, so zog ihn der andere ebenfalls. Daß wir im ganzen das deutsche Volk und der erlauchte deutsche Bund dabei blieben, konnte den Zeitungsleser nur mäßig erquicken und ihn höchstens ganz kosmopolitisch in seiner Selbstachtung über dem Wasser erhalten.
Die Hauptsache für mich, auch heute noch, ist, daß das, was damals von zivilversorgungsberechtigten Militärpersonen vorhanden war, fest darauf rechnen durfte, „unter die Steuer gesteckt zu werden“, und daß mein braver, seliger Vater mit dem Titel Herr Kontrolleur natürlich gleichfalls hineinfiel, und meine Mutter ebenso selbstverständlich mit ihm. Meine erste deutliche Lebenserinnerung aber ist, daß ich von einem Wagen gehoben und in ein Haus getragen wurde, das mir aus einem einzigen großmächtigen, kindlich ungeheuerlichen schwarzen Scheunenflur, einer Rauchwolke unter der Decke und zwei Reihen Kuhkrippen, nebst den dazugehörigen heraäugigen, hauptschüttelnden, kettenrasselnden gekrönten Herrschaften zu bestehen schien.
Dem war jedoch nicht ganz so. Es fanden sich in dem unteren Raume dieses Hauses noch zwei oder drei Gemächer, die den zu dem Feuerherde und den Haustieren gehörigen Menschen zu allerlei Gebrauche dienten; und eine leiterartige steile Stiege führte sogar in ein oberes Stockwerk, wenigstens in der Front des Gebäudes, empor, — in unsere Wohnung, die einzige, die meinen Eltern bei ihrer Versetzung in dieses Gebirgsstädtchen offen gestanden hatte. Dicht an unsere Wohnung stieß der Heuboden, und wir hatten deshalb mit Feuer und Licht sehr vorsichtig umzugehen, was wir denn auch taten, und vorzüglich ich, dem alles unnötige Spiel damit mehrfach in schlagender Weise verleidet wurde.
Mein Vater, der reitende Steuerkontrolleur Hermann Langreuter, trug einen Säbel und eine Uniform, die mir heute in der Erinnerung den Eindruck von Grünblau und Blau und vielen gelben Metallknöpfen mit dem Landeswappen macht. Was den Anzug meiner Mutter betrifft, so halte ich es hell in dem Gedächtnis fest, daß sie stets in hellen Kleidern ging, — bis zu dem Ereignis, das sie für immer in Schwarz und Grau warf.
Die Salzschmuggler haben mir nämlich meinen Vater erschossen. Um einen Sack voll Salz mußte er damals sein Leben im Walde auf der lächerlichen Grenze lassen. Ich aber habe wahrlich später keine Verlustliste, die um des deutschen Volkes Einheit ausgegeben wurde, gelesen, ohne an den alten Griesgram auf seinem Felde der Ehre wehmütig und kopfschüttelnd zu denken. Der Donner der tausend Kanonen in den großen Siegesschlachten der Gegenwart hat die Schüsse, die seinerzeit hinüber und herüber gewechselt wurden, nicht übertönen können. Gottlob ist es heute nur höchstens ein Drittel der Nation, das sich jenes brüderliche Nachbargeplänkel zurückwünscht, was in Anbetracht des Nationalcharakters merkwürdig wenig ist, zumal wenn man noch die sehr verschiedenartigen Gründe, aus denen jener Wunsch aufwächst, in Betracht und in Rechnung zieht.
Auch aus diesem letzten politisch-historischen Exkurs wird meinem Leser einleuchtend hervorgehen, daß der schöne Sommermorgen, an dem uns die schlimme Nachricht über den Vater gebracht wurde, ziemlich weit zurückliegt. So ist es; es ist viel mehr als ein Menschenalter seit dem Tage hingegangen, und ich kann dreist die objektivsten Bemerkungen an ihn anknüpfen.
Dessenungeachtet liegt jener Tag und alle seine Stimmungen heute schier klarer vor meiner Seele als der gestrige, an dem es mir zuerst einfiel, mir selbst einmal schriftlich von mir selber und dem, was dazu gehört, Rechenschaft zu geben.
Daß der Sommermorgen schön war, sage ich, weil ich heute noch sein Licht, seine Wärme, seinen Landstraßenstaub und seinen Waldduft in mir und um mich spüre. Wir aber, meine Mutter und ich, sind um Sonnenaufgang mit der schrecklichen Nachricht geweckt worden, kurz vor dem längsten Tage.
Ich saß aufrecht in meinem kleinen Bette, und meine Mutter hielt mich und hielt sich an mir. Da erscholl das ewige, jedenfalls Jahrhunderte alte Leibstücklein des Kuhhirten in der Gasse des Ackerstädtchens. Die Sonne schien mir auf die Bettdecke, unten im Hause brüllten die Kühe. Meine Mutter war in einem Weinkrampf, und die Hausgenossenschaft und ein paar Nachbarinnen und ein alter eisgrauer Kamerad und Steuerkollege meines Vaters waren auch in der Kammer, und die Stube nebenan war voll von Menschen. Unter den Leuten in der Stube aber befand sich ein Mann in einer fremden Uniform, wie es mir schien. Das war aber die Livree derer von Everstein, die ich nachher sehr genau kennen gelernt habe.
Der Herr Graf hatte den Diener mit dem Eberkopfe auf den Rockknöpfen an meine Mutter geschickt und seinen Wagen dazu. Mein toter Vater lag auf dem Hause Werden, dem Wohnsitze des Herrn Grafen, und ich hörte, wie der alte Kamerad des Vaters zu meiner Mutter sagte:
„Frau Steuerkontrolleurin, liebe Frau, Sie müssen es ja leider Gottes, also fassen Sie sich! Sehen Sie doch mal an, gefaßt mußten Sie ja immer im Grunde auf so was sein. Wie wäre es denn nun gewesen, wenn uns der liebe Herrgott während unserer Militärdienstzeit einen guten, braven Krieg beschert hätte? Eben vielleicht nicht anders als jetzt; nur wäre es vielleicht dann noch früher eingetroffen, und das wäre dann noch viel betrübter für Sie gewesen. Nicht wahr? Sie sind doch nun gottlob eine Soldatenfrau, und Ihren Jungen haben Sie ja da auch noch, und er nimmt sich gewiß in dieser ernsthaften Stunde ein Beispiel an seinem lieben Vater, und macht es ihm in allen Dingen nach. Nicht wahr, Fritz, das versprichst du uns?“
„Ja, ja!“ heulte ich, ohne im geringsten zu wissen, was alles ich hier versprach; aber ich fühlte, wie meine Mutter mich fester faßte und heftiger mich an sich drückte, als werde sie mich nie mehr aus ihren lieben, schützenden Armen loslassen:
„Fritz, du bleibst bei mir! du gehst nie von mir!“
„Ja, Mutter, ich fahre mit, ich darf mit ausfahren zum Vater! Nicht wahr, und ich darf auf des Vaters Braunen nach Hause reiten?“
„Der Wagen hält schon seit einer Stunde vor der Tür,“ sagte der alte Kamerad. „Und es ist doch auch recht freundlich von der Herrschaft auf Schloß Werden, daß sie ihre eigene Equipage schickt. Von Amts wegen sind wir schon längst zu Pferde hinaus; da wird nicht das geringste verabsäumt werden, was Ihnen zum Trost gereichen kann, Frau. Und jetzt kommen Sie; — die Nachbarinnen ziehen Ihnen den Jungen an, und dann fahren wir langsam nach. Es geht ja alles im menschlichen Leben hin, und eins in das andere. Erinnern Sie sich nur recht genau an alles, was Sie mir so gut und brav zum Troste sagten, als ich so bei meiner seligen Frau saß, und sie dalag. Sie wissen ja also alles Beste, was Ihnen einer jetzt sagen kann, schon von selber. Fritze, du kannst mitfahren.“
Was für eine Magie liegt selbst für die Erwachsenen in dem sich drehenden Rad! Fahren!… ausfahren! Fahren durch einen frischen, sonnigen Sommermorgen in die weite, weite Welt hinein. Gibt es ein glückseligeres Fieber als das, was bei diesem Worte und dieser Vorstellung das Kind ergreift und ihm in erwartungsvoller Wonne fast den Atem benimmt?
Ich war an jenem schrecklichen Morgen ungefähr fünf oder sechs Jahre alt; aber wie deutlich steht er mir noch vor der Seele! Mit allen seinen Einzelheiten! Da war das hastige Ankleiden, bei dem ein Dutzend aufgeregte Hände helfen wollten. Da war das Geflüster rundum, und dazwischen das stille Weinen und laute Schluchzen der Mutter, von Zeit zu Zeit ein neues Gesicht, das sich in die Tür schob und in einem Winkel sich „des Genaueren“ berichten ließ. Dazwischen immer wieder von neuem die braven, guten Worte des alten Kameraden und Kollegen und dann — das Peitschenknallen des Kutschers in der Gasse, das allmählich immer mehr von steigender Ungeduld zeugte.
Und dann waren wir auf der Treppe und dann in der Gasse, und die Gasse rund um die gräfliche Kutsche war auch voll Menschen, die sich verhältnismäßig still verhielten, aber desto mehr und dichter sich im Kreis herandrängten und, wie mir schien, sämtlich nur allzu gern mitgefahren wären in die Weite hinaus und nach Schloß Werden.
Und die Mutter bekümmerte sich nun gar nicht mehr um mich. Ich hielt mich an ihrem Rocke, sie aber ließ sich starr, stumm und willenlos führen, und ich fürchtete mich vor ihren Augen, mit denen sie gar nichts mehr sah, selbst mich nicht. Ich aber sah auch nur beiläufig auf sie; denn der hellblaue Kutscher sah auf mich, und er hatte zwei Braune vor seinem Wagen.
Das holperige Pflaster der einzigen Hauptstraße des Städtchens — aus dem Tor, an den Gärten hin auf die Landstraße; ich neben der Mutter im Rücksitz des Wagens, und des Vaters Kamerad und Kollege uns gegenüber! Da ist die Mühle, wo sich das Wasser aus ziemlicher Höhe auf das Rad stürzt und mir mit seinem ewigen Brausen und weißen Schäumen und eiligen Weitertosen im Bach immer einen so wonnigen Schauder einjagt. Da ist die Gänseweide, unser Hauptspielplatz; Schulkinder mit ihren Schiefertafeln und Abcbüchern stehen am Rande des Grabens und starren uns an, und sind im nächsten Augenblick zurückgeblieben, während ich weiterfahre. Auf der weißen Landstraße liegt die Sonne schon ziemlich heiß; — was wohl der Steinklopfer denkt, der uns auch nachsieht? Was er wohl denkt über unseren Kutscher in dem hellblauen Rock und mit dem Silberstreifen um den Hut? und über den anderen Mann vor uns auf dem Bocke, auch in Hellblau und Silber?! Ich sehe um die Schultern der beiden Leute von Schloß Werden auf die im Traben sich hebenden und senkenden Pferdeköpfe und die schwarzen Mähnen. Wer doch das alles immer so vor sich haben könnte und vorbeifahren immerzu an den Menschen und Bäumen, Zäunen und Hecken — immer, auch wenn die Sonne noch heißer scheinen sollte!… Ich stehe auf, um in die zurückbleibenden, weißen Staubwolken hineinzusehen. Meine Mutter zieht mich wieder auf den Sitz, und wir fahren in das Freie, Klare, Frische hinein.
„Bald sind wir glücklicherweise im Schatten,“ sagt der Kamerad. Seine Säbelscheide wird heiß; ich habe den Finger darauf gelegt, weil die Sonne auch auf ihr blitzt und blinkert; — zu verlockend, um nicht auch da von ihrem Glanze verlockt zu werden. Es ist acht Uhr am neuen Tage, — auch das bemerkt der Kamerad, seine Uhr hervorziehend.
„Nun sehen Sie einmal, liebe Frau, wie es doch immer viel später wird, als man denkt; wenn man es auch noch so eilig haben will. Da sind wir aber gottlob wenigstens endlich im Walde und im Schatten.“
Ja, wir fuhren jetzt im Walde, und es gab nichts Schöneres als ihn an diesem Morgen. Die Buchen streckten ihre Zweige zu einem grünen Dache über uns hin. Wasserläufe rieselten hervor und begleiteten uns stellenweise. Dann und wann sah man hinein in ein Tal, und dann wieder trat der rote Sandstein bis dicht an den Weg hinan, und die Grillen schrillten in dem Spalte des heißen Gesteines, und nie in ihrem glücklichen Dasein und Weitereilen gestörte Blumen — gelb und blau — sahen uns vorüberfahren.
Doch uns drohte nun in all der Pracht, Lieblichkeit und Schönheit ein Schreckliches.
Ein leises Klirren kam heran an einer Wendung der Chaussee und dazu Pferdehufschlag und eine andere Staubwolke. Zwei gefesselte Männer wurden inmitten dieser Staubwolke und zwischen den Pferden der begleitenden Landreiter geführt. Der Kamerad des toten Vaters zog seinen Säbel an sich und trat mit dem Fuß auf und sprach einen Fluch. Die Mutter aber richtete sich empor und bog sich vor und starrte auf die gebundenen zwei Männer aus ihren verweinten Augen:
„Die?“
„Da könnte man lernen, was es heißen muß, im Ernst einhauen!“ sagte leise der Kamerad, und er hatte die Hand auf den Wagenschlag gelegt und rüttelte daran. Die beiden Leute auf dem Bocke aber sahen auch zur Seite und dann auf meine Mutter und mich, und dann schlug der Kutscher plötzlich auf die Pferde, und vorüber ging das auch in Staubwolken, Sonnenlicht und Waldschatten. Im raschesten Trabe gingen die Gäule weiter, obgleich der Weg sich eben bergan zog.
Es ist ein sehr angenehmes Waldgebirge, durch welches damals die Grenze gegen den Nachbarstaat, der das deutsche Salz in anderer Weise als wir besteuerte, sich zog. Eine Grenze ist dort auch heute noch vorhanden, aber jener Staat nicht mehr; doch davon ist jetzt nicht die Rede, sondern von der Gegend — der Landschaft überhaupt. Forsten und Steinbrüche überwiegen; das Ackerland läßt manches zu wünschen übrig; doch ist es in den Händen der Bauern und Kleinbürger, und das ist immer viel wert. Nur einige große Landesdomänen bilden zusammenhängendere Komplexe, und zwei oder drei Rittergüter mit alten Geschlechtern darauf haben gleichfalls ihr größer Teil vom alten Erbe Adams festgehalten. Schloß Werden hatte in dieser Hinsicht den weitesten Besitz aufzuweisen, freilich aber auch, vom trefflichen Walde abgesehen, den steinigsten und unfruchtbarsten. Der Zweig der alten Familie, die es bewohnte, stammte von einem Bergschlosse, fünfzehn Meilen weiter nach Norden im Lande gelegen, und durch viele andere bunte Grenzpfähle von dem Absenker getrennt; dazu auch nur als Ruine, zu der es schon, wenn wir nicht irren, im Jahre der Entdeckung Amerikas mit Aufwendung aller damaligen kriegerischen Ingenieurkünste gemacht wurde.
In Wien sitzen Fürsten zu Everstein, in München Freiherren desselbigen Namens, und hier in diesem Waldgebirge, verschollen wie Amerika nach der Entdeckung durch die Chinesen oder die Norweger, oder wer es sonst zuerst aufgefunden haben soll, Herr Friedrich Graf Everstein mit einer einzigen Tochter, Komtesse Irene; und sonderbare Geschichten und Gerüchte gingen über den Herrn und seinen Haushalt im Lande herum. Je genauer man aber darauf hinhörte, desto weniger wirklich Genaues hat man darüber erfahren, außer daß, „von Anfang an wenig dort zu suchen und noch weniger zu finden“ war. Ein Verbrechen ist das gerade nicht, doch angenehm und behaglich ist’s auch nicht. So sagten wenigstens die Leute später.
Noch eine Stunde hatten wir durch den Buchenwald zu fahren, dann kamen wir an einen sumpfigen Graben voll Riedgras und Binsen. Ein altersgrauer Grenzstein stand, halb versunken, dicht an der Chaussee. Um ihn herum war das Gras niedergetreten wie von vielen Füßen. Unser grauschnauzbärtiger Begleiter schob die Schultern plötzlich hin und her und sah grimmig verlegen auf den Platz hin, und legte dann meiner Mutter die Hand auf das Knie und sah dann meine Mutter an, indem er sich mit den Knöcheln der anderen Hand die Stirn rieb.
„Ich weiß nicht, ob es recht von mir ist, Frau, aber ich — der Junge — mag sich wohl einmal daran erinnern wollen. Da!“
„Da hat man ihn gefunden!… Gemordet!… Mir und unserem armen Kinde in seinem Blute!“ schrie meine Mutter, und —
„Ja,“ sagte der alte Kamerad. „Zum Henker, Kutscher, fahr zu!“
Das kam wohl schroff und hart heraus, aber doch aus dem weichsten, teilnehmendsten Gemüte. Und es war auch in der Tat wohl sehr gut, daß der Kutscher wirklich rasch zufuhr. Es war wohl besser, die Frau sanft um den Leib zu fassen und sie zurückzuhalten, als sie blind nach dem Griff des Wagenschlages faßte, um sich hinaus und auf die schreckliche Stätte zu stürzen. Der Tau hing im Schatten noch überall an Gras, Blumen und Blättern; aber da — unterm Erlenbusch —, da, wo der Boden am meisten zerstampft war, mochte wohl noch ein anderer Tau an den Gräsern und dem niedergetretenen Gezweige hängen.
Beiläufig, es erregt ganz eigentümliche Gefühle, wenn man sich heute, nach so langen Jahren, erinnert, damals, wenn auch nicht auf der schweren Fahrt, ein Wort aufgeschnappt zu haben, dahin lautend, daß „der Alte in der Tat merkwürdig viel Blut verloren habe“!
Fünf Minuten weiter von der furchtbaren Stelle entfernt zweigte sich ein Fahrweg von der Landstraße ab, quer über Wiesen. Da bog auch unser Wagen ein. Jenseits der Wiesen, über dichte Lindenwipfel und andere parkähnliche Baum- und Buschgruppen, erhoben sich die blauschwarzen Schieferdächer und die beiden altersgrauen Ecktürme von Schloß Werden.
Ein Pfahl am Wege verbot hier das Fahren und Reiten.
„Sonst fährt hier nur die Herrschaft,“ erklärte der Kamerad und Steuerkollege; und es war freilich für uns eine bittere Ausnahmsweggelegenheit! ich hörte das Wort; aber nach dem Fahren hätte ich in diesem Augenblicke wenig gefragt, wenn ich zu allem anderen freie Verfügung über die sonnige, grüne Fläche gehabt hätte.
Die große Wiese stand in der vollsten, buntesten Pracht ihrer sommerlichen Schönheit. Es schrillte tausendstimmig über ihr; die Schmetterlinge, Käfer und Mücken flatterten und tanzten, es tanzte die heiße Luft über ihr. Wir aber, wir fuhren weiter diesmal, — die Kinderjagd nach den Farben und Tönen des Sommers sollte mir diesmal noch nicht erlaubt sein; — wir fuhren an einem Teil der hohen Hecke des Parkes entlang und dann an einer noch höheren Mauer hin, bis zu einem alten, aber immer noch festen und stattlichen Eingangstor, über dessen beiden Pfeilern zwei greifenartige Wappentiere auf Steinschilden in ihren Tatzen das Wappen mit dem Eberkopf der Morgensonne hinhielten.
Der Wagen rasselte auf einen weiten, stillen Hof an ein langgedehntes, graues Gebäude heran und dicht an eine breite Steintreppe, die hier zu einer großen, offenen Tür führte, sich aber an der ganzen Fronte dieses Hauptflügels des Schlosses Werden hinzog.
Der Diener sprang vom Bock und öffnete den Schlag, ein anderer älterer Mann in derselben Livree kam heran und nannte meine Mutter seltsamerweise „gnädige Frau“ und fügte ganz leise hinzu:
„Belieben auszusteigen.“
Auf den stummen Jammerblick und die hastige Frage der armen Frau aber hob er nur die Achseln und sagte:
„Da sind der Herr Graf schon selber … Ach ja, es geht — den Umständen nach!“
Das letztere Wort bezog sich wohl auf meinen Vater und hieß soviel als: „Noch lebt er wohl, Frau reitende Steuerkontrolleurin; aber — wie lange?!“
Es ist ein nicht mehr ganz junger Mann gewesen, der uns aus der Pforte und an der Auffahrt entgegentrat und den Namen Graf Friedrich Everstein führte. Er hat manches Auffällige in seiner Erscheinung an sich getragen, mir aber ist nichts, aus jener Stunde wenigstens, davon bewußt. Nur sprach er so leise, wie sonst niemand von allen anderen Menschen in meiner Umgebung.
Leise sagte er etwas zu meiner Mutter, und dann bot er ihr den Arm. Wir wurden durch die weite, kühle, mit Hirschkronen, alten Blumen-, Frucht- und Jagdstücken gezierte Halle geführt bis zu einer dunklen Tür. Der ältere Diener öffnete diese Tür, und wir standen in dem Sterbezimmer meines Vaters. Mich hatten der plötzliche Übergang aus dem heißen Sonnentage in diese Kühle, die ganz veränderte Umgebung, die fremden Gesichter vollständig betäubt. Ich ging, den Rock meiner Mutter haltend, wie zu unserem Platze in der Kirche — es waren ganz die nämlichen Gefühle, ein Bangen, Frösteln, Unbehagen und — Behagen.
Ich erinnere mich auch hier noch der Äußerlichkeiten: der braunen Täfelung dieses Gartensaales, des Grüns, das aus dem sonnigen Garten in die beiden hohen Bogenfenster hineinsah, der offenen Glastür, die zu den Gebüschen und Blumenbeeten führte, und des Pfaus, der wie neugierig in dieser Tür stand und seinen schönen Schweif gravitätisch langsam im Kreis über den feinen Kies zog. Wir haben nachher diesen Ort zu allen Jahreszeiten als Spielplatz gern gehabt, und es hat mich wenig gekümmert, daß man einst meinen sterbenden Vater dahin als in das nächst und bequemst gelegene Gemach bettete.
An jenem Morgen waren viele Leute darin, und wahrscheinlich darunter auch ein Arzt. Meine Mutter warf sich jammernd über das Lager, und ich stand einen Augenblick wie allein unter den vielen Fremden.
Es war der Herr Graf, der mich an der Hand nahm und mich gleichfalls zu dem Bette hinführte. Die Mutter lag da bewußtlos, und der Vater war tot.
Das letztere Wort wurde im Kreise umhergeflüstert; ich aber weiß nunmehr von jenem Tage nur noch, daß ich in ein anderes Zimmer geführt wurde und daselbst mit Irene, Komtesse Everstein, Milch trank und Weißbrot aß. Alles andere ist dämmerig, unbestimmt, dunkel — ist nichts. Es war mein Recht, durstig, hungrig und schläfrig zu sein von der Fahrt durch den heißen Sommermorgen; nachher sehe ich mich wieder um in meiner Umgebung und — sie ist eine andere geworden, als sie war. Und hier ist die Stelle, ein weniges mehr von meiner Mutter zu reden, und wie sie in eine hohe Verwandtschaft gehörte und das Recht dazu von Gottes Gnaden besaß und aufweisen konnte.
Den gottlob kaum erwähnenswerten Ansatz von Buckel, den mir das Schicksal zwischen die Schultern und, wie einige wissen wollen, in bedeutend höherem Grade auch auf die Seele gelegt hat, habe ich gewißlich nicht von ihr. Schlank, zart, scheu-mutig steht sie mir vor der Erinnerung, und ein Licht geht von ihr aus, das von keiner Dunkelheit und noch viel weniger von einem anderen Licht in der Welt überwältigt werden kann. Sie trägt ihre Freuden wie ihre bittersten, schwersten Schmerzen still und so, dem Schein nach, leicht. Ihr wurde alles zu einem Kranze, und woher sie ihre Bildung hatte, das bleibt ein Rätsel, und sie selber wußte vielleicht am allerwenigsten Rechenschaft darüber abzulegen. In der „Mädchenschule“ einer kleinen Provinzialstadt hatte sie im zweiten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts Lesen, Schreiben, Rechnen und — Singen gelernt, das war alles; aber wenn wo die ersten neun Worte, mit denen ich diesen meinen Lebensbericht eröffnet habe, zur Geltung kommen, so ist das bei ihr der Fall. Sie ist dagewesen wie das große Kunstwerk von Gottes Gnaden; sie ist vorübergegangen. Sie sind alle bei ihr wie bei ihresgleichen gewesen; sie haben keine Ahnung davon gehabt, daß dem nicht so war; ihr ist es nie in den Sinn gekommen, sie zu enttäuschen; denn sie hatte ja eigentlich auch keine Ahnung davon.
Ich bin fest überzeugt, sie hat einen argen Schrecken bekommen, als der Herr Graf sagte:
„Meine verehrte Frau, Sie sind die Dame, die mir für die Erziehung meines armen Kindes in seiner jetzigen Lebensepoche gefehlt hat, und die ich seit langem vergeblich gesucht habe. Bleiben Sie bei uns. Betrachten Sie sich als zu diesem Hause gehörig. Sie erziehen meine Tochter, und ich nehme die Erziehung Ihres Sohnes nach besten Kräften über mich. Wir haben einen recht gelehrten Pfarrer im Dorfe, der wird das Seinige dazu geben. Ist der Junge für das Gymnasium herangewachsen, so wird sich ja wohl auch das Weitere finden. Lassen Sie uns einander gegenseitig aushelfen, da uns das Schicksal in dieser Weise zusammengeführt hat. Sie wissen nicht, wie hülflos ich in hundert Beziehungen bin.“
Nun war auch meine Mutter, wie sich das ja eigentlich von selber verstand, fast nach allen Richtungen und in allen Beziehungen hülflos. Außerdem aber, wie es sich baldigst herausstellte, für ihren und meinen Unterhalt nach dem Tode des Vaters auf eine Pension von sechzig Talern angewiesen, sonst aber auf ihrer Hände Arbeit.
„Was soll ich Ihrem Kinde geben können?“ fragte sie in heftiger Aufregung; aber der Herr Graf hat gelächelt, wenn auch sehr melancholisch. Er hat es sehr genau gewußt, was die arme Frau aus ihrem Reichtum zu geben hatte.
Wir, das heißt meine Mutter und ich, siedelten im Laufe desselben Sommers nach Schloß Werden über. Der Herr Graf hatte sich aber nicht geirrt: wenn die Leute, die man in der Ferne aufsucht, sich stets in die Leute verwandeln, die man rundum in der nächsten Nachbarschaft wohnen hat, so ist das für seine Tochter und für ihn selber in Hinsicht auf die Witwe des reitenden Steuerkontrolleurs Langreuter nicht der Fall gewesen. Und ich — ich, wenn ich in die Sonne sehen will, so hebe ich nicht das Auge zu dem öden brennenden Stern auf, sondern denke mich in jene Tage und Jahre zurück, die da folgten.
Ich bin im Verlaufe der Tage in des Lebens Ernüchterungen wie andere tief genug hineingeraten, aber meine in Blau, Silber, Grün, Gold und Purpur schimmernden Märchenjahre habe ich auch gehabt. Hier beginnen sie und verwandeln mir auch den heutigen Tag in sein vollständiges Gegenteil. Daß ich ein poetisch Gemüt sei, das hat nachher wohl niemand von mir behauptet (ich habe wenigstens alles dahin Einschlägige vorsichtig und fest für mich selber behalten), aber damals war doch manches Gedicht — echte Naturdichtung — in mir und um mich, und alles Heimweh — die Quelle aller Poesie —, das ich in leereren Tagen gefühlt habe, stammt aus dieser Zeit und geht dahin.
Wir grübeln viel, wir gebildeten, klug, d. h. dumm gewordenen Menschen, über den Schein in dieser Welt, der sich den Anschein des Wesens gibt; ach, wenn er nur schön war, dieser Schein, wer möchte ihn missen wollen aus seinen Tagen? wer möchte nicht dumm, d. h. klug gewesen sein, wenn auch nur in den Tagen, da er noch jung war?!…
Ich bin natürlich zuerst nur mit in den Kauf genommen worden auf Schloß Werden. Ich kam als ein Appendix meiner Mutter dahin; und es war mir ganz recht so, und es war gut so; es war alles ganz vortrefflich. Die Welt am siebenten Schöpfungstage konnte unserem Herrgott nicht um das Mindeste besser gefallen; das Behagen des einen wäre hier freilich ohne die Seligkeit des anderen gar nicht möglich gewesen!
„Gib mir deine Hand, Junge; ich will dir alles zeigen, was ich habe,“ sagte Komtesse Irene Everstein. „Du kommst aus der weiten Welt, und ich bin hier immer bei Papa gewesen. Mach dich aber nicht mausig; Ewald wird dich sonst durchprügeln, wenn Eva nicht dabei ist.“
Ich habe es erst später, als wir „in das Griechische kamen“, erfahren, daß der Name Irene eigentlich Friede oder die Friedliche bedeutet; aber Namen und Sachen, Worte und Begriffe passen nicht zu jeder Zeit aufeinander. Es ginge so sonst ja wohl auch ein wenig zu glatt ab in dieser doch einmal auf das Rauhe gestellten Welt.
„Weißt du, Junge,“ sagte das Kind, „ich bin die Prinzessin aus dem Bilderbuche, ich bin die Fee, ich zaubere. Wenn du nicht artig bist, so verwandle ich dich in einen schnurrenden, buckligen Kater. Wenn du aber Ewald was davon sagst, so prügele ich selber dich, denn ich will nicht, daß Ewald über mich lacht. Mein Vater lacht niemals über mich, o, und ich will genau aufpassen, was deine Mutter tut, wenn sie aufgehört hat zu weinen. Aber deine Mutter ist gut, und so kannst du auch gut sein. Du kannst ja auch mit Eva gehen, wenn Ewald und ich dir nicht gefallen.“
Der trübe Tag vermag nichts dagegen; die Namen, die hier zum ersten Mal auftauchen, liegen doch im ewigen Sonnenschein, und andere werden dazu kommen; wartet es nur ab, daß die Nebel sinken: man sieht auch von der besten Aussichtsstelle nicht an jedwedem Tage, den Gott gibt, die Höhen über den Tälern leuchten vom Großglockner bis zum Monte Rosa.
Es sind die beiden Kinder des Försters Sixtus im Dorfe Werden, von denen die Rede ist. Von dem Papst Sixtus dem Fünften stammte der alte Herr in Grün nicht ab; aber der Zufall hatte ein altes Buch in seinen Besitz gebracht: Leben des berühmten Papstes Sixti V., geschrieben durch Gregorio Leti. Aus dem Italienischen übersetzt. Frankfurt, bei Thomas Fritschen, 1720; und darauf hat oft seine brave schwere Hand, zur Faust geballt, gelegen, und heute klingt mir noch der Brummseufzer in den Ohren:
„Das war ein Kerl, Fritze! Alle Hagel, der ist ja gerade so mit seiner Satansbande umgesprungen, wie der Doktor Luther hier bei uns mit uns, mit seiner, und wie ich mit euch umgehen werde, ihr Raubzeug und Teufelskinder, wenn ihr es mir zu bunt macht. Fritze, da sieht man’s wieder, daß der Herrgott mehr von einer Sorte im Sacke hat und nur hereinzugreifen braucht, um einen ’rauszulangen und hinzustellen, wo er zu brauchen ist. Aus dem Buch hat mir mein Junge vorlesen müssen und nachher mein Mädchen, und bei Gelegenheit kannst du auch an die Reihe kommen, aber die Hauptstellen lese ich doch lieber für mich allein, die passen für euch naseweises Geziefer jetzt noch nicht. So ’nen Papst lass’ ich mir gefallen, und es ist mir eine Ehre, daß er meinen Familiennamen sich angenommen hat.“
Ich habe später über manchem anderen, in der Menschen Kunde abschmeckend gewordenen Tröster mit beiden Armen aufgestützt gelegen, aber nie wieder über einem so wie über diesem. Das langweilige Buch in dem edlen Deutsch von Siebenzehnhundertzwanzig ist gottlob in meinen Besitz übergegangen und nimmt einen griffgerechten Ehrenplatz in meiner Bibliothek hier in Berlin ein. Ich brauche es nur wie ein richtiges Zauberbuch aufzuschlagen, um über seine vergilbten Blätter hinweg alles vor mir lebendig zu haben, was damals mein Leben nicht bloß bedeutete, sondern war. Treffe ich auf eine Daumenspur des Alten am Rande der Blattseite, so ist es noch besser und gibt die wärmere Farbe. Freilich eine wärmere Farbe! Ich ergreife hier mit beiden Händen die Gelegenheit, zu versichern, daß hier nichts, gar nichts allzu reinlich, zierlich und frisch lackiert aus dem Putz- und Schmuckkästchen der Romantik entnommen ist. Wir rochen um uns her alle Gerüche und sahen alle Dinge, wie sie die Menschen und die Natur im ewigen Hervorbringen vergänglich hinstellen. Alles war seit lange im Gebrauch gewesen und wurde weiter abgenutzt; und wenn ich vorhin von den Livreen des Schlosses Werden gesprochen habe, so stelle der Leser sich dieselben ja nicht zu farbenfrisch und tressenglitzernd, sondern ganz im Gegenteil vor. Wir trugen sämtlich unsere Kleider so lange als möglich und schämten uns eines Flickens an der rechten Stelle wenig. Wir trugen den Frühjahrsregenschmutz, jegliche Gewitterspur und alles, was Herbst und Winter da geben, überall hin, wo eine Tür offen war. Wir hatten alle Wünsche, die nur durch mehr irdische Güter, als wir besaßen, befriedigt werden konnten, und der Herr Graf war da durchaus nicht ausgenommen, sondern auch im Gegenteil. Das Schloß war kein pomphaft Epos und die Försterei keine geleckte Idylle. Sie trugen inwendig und auswendig gleichfalls ihr Flickwerk und ihre Erdgerüche an sich und um sich, und was die letzteren anbetraf, so hatten der Wald mit seinen Buchen- und Tannendüften und die Wiesen mit ihrem Heugeruch recht häufig das Beste dazu zu tun, um die Atmosphäre für fremde heikle Nasen zu verbessern.
Da ist so eine Daumenspur — hier auf S. 595:
„Wer unter dem itzigen Papste dem galgen entgehen will, der muß kein bedenken tragen, sich in ein kloster einzusperren, sollte es auch das allerunglückseligste seyn.“
und ein süßer Duft weht über die Stelle, aber ein ganz eigentümlicher. Es war ein braver Tabak, den der Alte bei seiner absonderlichen Lektüre verqualmte, und ich erkenne die Sorte heute noch mit innigstem Behagen wieder auf Spaziergängen und im Eisenbahnwagen dritter Klasse. Rauchte ich selber, so würde ich nur diese rauchen! Und nun, um es kurz zu machen und es mit dem treffendsten Idiotismus zu nennen: wir waren allesamt und auf Meilen in die Runde ein schmuddeliges Volk, ausgenommen vielleicht der Herr Graf, meine Mutter und Evchen Sixtus; Komtesse Irene Everstein dagegen nicht ausgenommen. — Wir waren ein ganz unromantisches Völklein; aber zu seinem Recht soll das hübsche Wort „romantisch“ doch auch hier gelangen, und wir hängen es wie gewöhnlich an ein Haar. Ach, es gibt sich leider nichts leichter, als in irgendein Handwerk hineinzupfuschen!
Irene war eine Goldblondine, die die Leute ansahen und für sanft hielten; Eva war dunkel und sanft, und Ewald hielt allen seinen Schulmeistern einen braunen Lockenkopf zum Dreingreifen und Zerzausen hin. Von dem, was der Herrgott auf meinem Schädel wachsen ließ, rede ich lieber nicht; aber stimmungsvoll war’s! es stimmte merkwürdig gut zu allem übrigen, und die gütige Vorsehung erhalte es mir solange als möglich, wenn nicht der Schönheit, so doch der Nützlichkeit wegen.
Es kam aber keinem von uns darauf an, wie er eigentlich aussah. Auch was die Mädchen angeht, so macht es mir heute den Eindruck in der Erinnerung, als ob sie sich wenig darum gekümmert hätten; wenn ich dieses auch nicht als feste Behauptung hinstellen darf.
Die Sonne lag uns auf den Köpfen bei jeglicher Witterung, und so trieben wir uns um in den Wäldern, auf den Wiesen und Feldern, in der Schulstube und in den Gängen und Sälen von Schloß Werden. Was jenseits der Berge war, davon wußten wir gar nichts; und wie das so häufig geht, haben wir alle später viel davon erfahren — mehr jedenfalls, als zu unserem Glücke nötig war. Andere freilich haben das vielleicht dann und wann unser Glück genannt; da ist eben mit der „anderen“ Anschauungen und Einbildungen nicht zu rechnen.
Das rechte Licht! War es das rechte Licht, das damals über unsere Köpfe und Tage fiel?
Darüber ließe sich viel sagen; und am Ende ist es gar nicht der einzelne Mensch mit seinen zwei Augen, der etwas darüber zu sagen hat. Nur die auserwähltesten Geister sind es, die hier und da in höchst seltenen Fällen ihre Meinung ausdrücken dürfen. Sie können dann wie der Maler der heiligen Nacht den Schein vom neugeborenen Erlöser in der Krippe ausgehen lassen; oder wie auf der Rubensschen Heuernte, die der alte Goethe seinem Eckermann entzückt vorweist, die Sonne von den Dingen zwei Schatten geradeweg einander entgegenwerfen lassen.
Auch die allerniedrigsten oder einfachsten Geister reden da oft das Richtige. Aber alle zwischen der Höhe und der Tiefe liegende Verständigkeit der Erde hält einfach am besten den Mund und läßt sich bescheinen, — schwitzt und ärgert sich, wenn es ihr zu heiß wird, und kriecht in die Sonne und lobt sie im Vorfrühling und Spätherbst oder im Winter, wenn die Knochen dürr werden, die Zähne wackeln oder ganz mangeln, und die romantischen Locken verwehen „gleich den Blättern der Bäume“, wie Vater Homer davon sang, nicht in einem seiner schläfrigen Augenblicke, sondern an einem der hellsten ionischen Sonnentage, wo er nicht schlief.
Bin ich von der Daumenspur in dem kurieusen Geschichtsschreiber Gregorius Leti zu weit abgekommen? Ich glaube nicht.
Da sitzt der Alte noch vor mir in seiner Amtswohnung am Ende des Dorfes. Alle Türen und Fenster des Hauses stehen offen, und alle Lichter, Töne und Düfte haben freiesten Zutritt; Vieh und Mensch, und also auch der Herr Graf. Da kommt er ein wenig schwerfällig auf seinen Stock sich stützend und seinen Weg mit den Fußspitzen vorsichtig vorausfühlend. Ein gewisser Lehnstuhl wird ihm hingerückt, und da sitzt er, und eines von beiden wird sofort geschlossen, entweder die Tür oder das Fenster, meistens aber beide.
„Wie steht das Befinden, alter Freund?“
„Danke, Herr. Ohne die verflixten Holzwrogen könnte man es vielleicht wohl zu einem hübschen Alter bringen; aber nun sehen Sie mal diese Schandliste von Frevlern! Und alle aus dem Dorf! und jeder Halunke mit einem Handbeil unter der Weste, und jedwedes Subjektum vom schönen Geschlecht mit einer Säge unterm Unterrock. Und die letzten sind die schlimmsten, denn sie ruinieren den Forst von unten auf. Kein junger Trieb ist da vor der ältesten Wackelliese sicher, und von den jungen Spitzbübinnen will ich gar nicht reden. Da möchte man doch lieber Papst in Rom sein; und meinen Namensahnherrn wünsche ich mir nur auf vier Wochen hierher an meine Stelle.“
Der Herr Graf lächelt matt und seufzt:
„Wäre es mein Wald, so würde ich sagen, sehen Sie durch die Finger, Sixtus. Jetzt sehen Sie allein zu, wie Sie Ihr gutes Herz und die Feuerungsbedürfnisse unserer braven Nachbarn mit Ihrer Amtspflicht in Harmonie bringen. Das Kind ist auch wieder den ganzen Morgen durch aus unserem Gesichtskreise verschwunden und hilft wahrscheinlich ebenfalls beim Holzstehlen. Frau Langreuter ist in Verzweiflung und kündigt mir sicherlich demnächst ihr Gouvernantentum. Was haben Sie von Ihren Sorgen zu Hause?“
„Nichts! Sie haben gesagt, sie seien in den Sommerferien, und sind auf und davon. Mein Evchen wollte eigentlich nicht; aber es mußte. Der Junge muß mir zu Michaelis sicher auf die Schule; der Pastor kommt nicht mehr mit ihm zu Rande. Das Fritzchen da hab’ ich nur allein noch am Hoftor erwischt und gesagt: hier; halt mal! und ihn mit an meine Rechnungen gesetzt. Da sitzt er, Herr Graf, und nun fragen Sie ihn selber einmal, wo die anderen stecken!“
Das „Fritzchen“, das war ich, — der Weltweisheit Doktor Friedrich Langreuter, und der Herr Graf dreht seine silberne Dose zwischen den Fingern, nimmt bedächtig eine Prise und wendet sich in der Tat an mich und fragt:
„Wo ist Irene, mein Sohn?“
Und bei dieser Frage öffnet es sich vor mir breit, weit, sonnig, grün, Berghügel und Berghügel, Tal und Tal, und dann einmal zwischen zwei Bergen das Glitzern einer Flußwindung, und dann auf der Ferne rundum ein blauer, lichter, magischer Dunstschleier, den man — wie Ewald behauptet — sich am besten zwischen seinen ausgespreizten Beinen durch besieht; da ist Eva Sixtus und ihr Bruder Ewald, und Irene Everstein und — ich auch, Friedrich Langreuter, der Weltweisheit Beflissener! Den unsterblichen Göttern sei Dank, daß dem so war! daß wir einmal so da waren! — — —
Wir wissen noch nichts von den Vermögens- und Familienverhältnissen des Herrn Grafen und von unseren eigenen noch weniger. Wir leben in den Tag hinein, und wie kann man besser oder vielmehr angenehmer leben? — Wenn die Frage: Wo ist Irene? wo sind Ewald und Eva? wo sind die anderen? von neuem gestellt werden wird, dann hat sich alles geändert und nicht zum Besseren. Wir leben dann nicht mehr in den Tag, in das Licht hinein: wir wissen dann leider ganz genau, mit welcher Regelmäßigkeit die Dämmerung und die Nacht kommen und wie es am hellsten Mittage dunkel werden kann über dem Menschen und seinem Zubehör.
Von dem gelehrten Herrn Pastor, den der Herr Graf gleich zu Anfang unserer Bekanntschaft meiner Mutter rühmte, habe ich wenig zu sagen. Der Herr Graf verstand es wohl nicht besser, aber die Gelehrtheit des guten Mannes war nicht weit her und sein Einfluß auf uns unbedeutend.
Hierüber aber erhält Ewald am besten das Wort. Er nahm mich seinerzeit beiseite, das heißt, indem er mich am Kragen faßte und, mich auf offener Dorfgasse abschüttelnd, bemerkte:
„Tust du dumme Stadtpflanze noch ein einzig Mal da (dieses war von einer Schulterbewegung dem Pfarrhause zu begleitet), als wüßtest du mehr als ich von all den Dummheiten, so paß auf! Wie die Engel im Himmel singen, das weißt du wohl noch nicht? Hör mal, so!“
Nun ist es durchaus nicht angenehm, seiner Wissenschaften wegen an den Ohren auf- und von den Füßen gehoben zu werden.
„Hörst du sie?! Nicht wahr, sie singen wirklich wie die Engel? Und nun tu’s nicht wieder und heb den Finger in die Höhe, wenn ich feststecke. Frag nur Irene, ob die alten Ritter das getan haben. In der Dorfschule beim Kantor tun sie es alle, und da tue ich es auch, und du kannst es auch tun; aber bei dem dummen Lateinischen und dem Herrn Pastor da probiere es mir nur noch ein einziges Mal und du sollst sehen, was du erlebst, und wenn du mir auch hundertmal deinen Robinson und deine Campes Eroberung von Mexiko geliehen hast.“
„Was soll ich aber denn tun, wenn ich was weiß?“ heulte ich, während Irene lachte und Eva ihren Bruder am Hosenbund nach rückwärts zog.
„Die dumme Schnauze halten! Der Alte sagt es schon ganz von selber her. Ich gehe doch schon lange genug bei ihm in die Privatstunde und muß es wissen, was er alles weiß! O, der weiß für uns beide noch lange genug!“
So war es; aber leider war das, was der gute geistliche Herr wußte, auch wenig genug, und was das Schlimmste war, seine Begabung zum Lehrer stand noch tief unter der Wasserhöhe seiner Wissenschaft. In der Hinsicht war es jedenfalls für uns sehr von Nutzen, daß die Jahre hingingen und wir ihm entwuchsen. Und der Herr Graf, der meiner Mutter wegen in der Tat allen Grund hatte, Wort zu halten, hielt es auch. Ich wurde mit Ewald auf das Gymnasium der größeren Provinzialstadt des anderen Staates jenseits des Flusses „getan“; und wir kamen von da an nur in den Ferien nach Hause, das heißt zurück nach Schloß Werden, in das Försterhaus, das Dorf und den Wald und zu den beiden Mädchen.
Die beiden Mädchen! Als wir zum ersten Mal abzogen, sagte Irene:
„Ihr habt es gut.“
Worauf Ewald mit einem bedenklichen Griff nach seinem Rücken erwiderte:
„Weißt du das? Erst probieren und nachher weise Redensarten. Na, was mich angeht, so ist die Hauptsache, daß ich endlich einmal aus dem dummen Dachsbau herauskomme. So’n langweiliges Volk als euch findet man ja immer, und nachher geht der Weg ja auch weiter, und deshalb haben wir zwei es sicher besser als ihr beiden dummen Frauenzimmer.“
„Und ich verbitte mir endlich diese ewigen dummen Dummheiten,“ rief Irene. „Das wird auch auf die Länge dumm und langweilig, du — dummer Junge. Laß sie stehen, Eva, und komm in die französische Stunde; so wie auf morgen, wo wir endlich mal Ruhe vor ihnen haben, habe ich mich noch auf keinen anderen Tag gefreut. Schafskopf!… Herr Gott, Fritz, da ist deine Mama! Ach, nun hat sie auch das wieder gehört! Komm rasch, Evchen! Adieu, messieurs, mademoiselle Martin nous attend. Ach Gott, ach Gott, ach Gott!“
Es war freilich meine Mutter, die um das Gartengebüsch trat und in der Tat das Wort „Schafskopf“ noch vernommen hatte. Und obgleich sie die richtige Adresse sicherlich ganz genau kannte, wendete sie sich dessenungeachtet an die falsche, nämlich an mich, und sagte nichts weiter als:
„Aber Fritz?!“
„Ich war es, mit dem sie sich gezankt haben,“ murmelte Ewald kleinlaut, aber ehrlich.
„Von deiner Schwester ist gar nicht die Rede, Kind,“ sagte meine Mutter, und ging weiter den sonnigen Kiesweg entlang, um als Frau Aja mit dem Strickstrumpf in einer Fensternische der französischen Stunde beizuwohnen und die Vokabeln leise mit nachzusprechen. Mademoiselle Martin aus Nanzig in Lothringen, die alte „Kammerfrau“ der verstorbenen Frau Gräfin, befleißigte sich der besten Aussprache des Idioms.
„Es ist zwar schauderhaft,“ seufzte der Herr Graf, „aber ich habe das meinige doch auch nur in Wien gelernt, und sie hat es wenigstens aus Büchern und ist mit der Grammatik in ihrem Geburtsort in die Schule gegangen. In Nizza hat meine selige Frau sie gefunden, und sie hat treu bei uns ausgehalten durch Gut und durch Böse. Durch das letztere meistens mehr als durch das erstere. Ihre Eltern hatten sie zur soeur ignorantine bestimmt; aber sie fand in sich keinen Beruf dazu, und mir ist es lieb, daß wir sie gefunden haben. Sie hat sehr treu bei mir ausgehalten, Madam Langreuter, und, wie gesagt, durch gute und durch böse Zeiten, und durch die letzteren mehr als durch die ersteren.“
Auch mein Französisch stammt in seinen Elementen aus der Schule der Mamsell Martin, und es ist danach geblieben. Irene und Ewald hatten Gelegenheit, das ihrige sehr zu verbessern, und Ewald spricht und schreibt es heute fast ebenso gut wie das Englische, das er mit einer spaßhaften Neigung ins Irische zu seiner zweiten Muttersprache gemacht hat.
Wir gingen ab nach dem Gymnasium und kamen von da nur in den Ferien nach Schloß Werden zurück. Wenn ich anfangen wollte, davon zu reden und zu schildern, so würde wohl nicht an ein Aufhören zu denken sein. So ist es aber hundert und aber hundert Autobiographen und Biographen ergangen, und sie sollen für mich mit gesprochen und geschrieben haben. Es wiederholt sich und bleibt sich vieles gleich in der Welt, was an und für sich den Eindruck der individuellsten Originalität macht.
Aber die großen italienischen Nußbüsche an der letzten Hecke des äußersten Gemüsegartens derer von Everstein und den Vetter Just hat nicht jedermann erlebt, und so machen wir die beiden zu unserer Spezialität, und den letzteren durch alle Blätter dieser Aufzeichnungen hindurch.
Sie haben eigentlich nichts miteinander zu schaffen; der Vetter hat nie in ihnen gesessen, in den Nußbüschen nämlich; aber doch kann ich nie an den einen ohne die anderen denken. Sie gehören in der grünsten, lichtesten, lachendsten und doch zugleich ernsthaftesten Weise zusammen in meiner Seele. Wie hundertmal in der Wirklichkeit besuche ich heute in der Erinnerung den einen von dem anderen aus, den Vetter Just auf seinem Hofe jenseits des Flusses von dem Gezweige unseres alten Wunderbaums herunter.
Es war eigentlich gar kein einzelner Baum, sondern ein Bündel dick- und hochstämmigen Gebüsches, das der liebe Gott aus einem halben Dutzend Kernen zu unserem Vergnügen auf einer Bodenerhöhung an der Hecke zu außergewöhnlicher Höhe und Pracht hatte aufschießen und sich ineinander weitästig verwirren lassen. In weit entlegene, uns ganz und gar vorgeschichtliche Zeit war das Aufsprießen gefallen, aber der Gipfel der Verwirrung nur allein für uns, wie wir glaubten, in die unserige, und das war das Schöne. Die Vorsehung hatte es auch in diesem Falle gewußt, was alles in dem Keime lag, den sie hier in seiner Hülse auf den Boden fallen ließ, den sie erst mit gelben Blättern, dann mit trefflicher Gartenerde bedeckte und ungestört Wurzeln nach unten in die Dunkelheit und zwei zarte grüne Blättchen nach oben in das Licht, in die Sonne treiben ließ! Der Mensch denkt nie daran, wenn er im großen Walde geht, was alles in zwei solchen grünen Keimblättchen zu seinen Füßen für ihn und seine Art auseinander klappt. Wo bliebe aber auch das Spazierengehen, wenn dem so wäre? Es würden manche dafür danken und unter diesen ich zuerst. Zu Hause, innerhalb seiner vier Wände, unter alle dem, was man sich selber allgemach zusammengetragen hat, würde es bei weitem behaglicher sein als draußen im Freien.
Es war natürlich Ewald Sixtus gewesen, der zuerst herausgefunden hatte, wozu dieses Baumgebüsch gut sei. Er hatte die Leiterstufen gezimmert, die an dem knorrigen Hauptstamm in die Höhe führten bis zu der ersten Gabelung, von wo dann Irenes Ruhe, Evas Höhe, Friedrichs Lust und Ewalds Heim mit mehr oder weniger Beschwerlichkeit und Gefahr des Hals-, Arm- und Beinbrechens zu erreichen waren. Die „Ruhe“ und das „Heim“ hingen selbstverständlich im schwanksten und luftigsten Gezweig; Evas Höhe saß ebenso selbstverständlich am tiefsten und sichersten, und ich — ich wäre mit und zu meiner Lust am liebsten unten am Baum auf festem Erdboden geblieben; aber hinauf mußte ich wie die anderen, und wenn ich einmal oben saß, so gab es freilich auch für mich keinen besseren Platz im Himmel und auf Erden als diesen zwischen Himmel und Erde.
Da waren es einzig und allein die Vögel, die es noch besser hatten als wir, und die wir dann und wann immer noch beneiden durften.
„Wer es wie die könnte!“ seufzte Irene, im äußersten Gezweig, schon jenseits der Hecke des Schloß-Küchengartens in ihrer gefahrvollen Ruhe, zwanzig Fuß hoch über der Wiese hängend. Und das war wieder einmal an einem Sommermorgen, gerade als die Sonne aufging, und alle Frische und aller Tau und alle Erwartungen vom Tage und sämtliche Pläne für die angenehmste Verwendung desselben noch vorhanden waren.
Es ist kaum zu glauben, aber es war doch so: wir, Ewald und ich, wir schmauchten frech hinein in die heilige Frühe und noch dazu Zigarren, von denen der Herr Pastor nie begreifen konnte (während unserer Ferien), wie sie ihm so rasch zu Ende gingen.
Der Herr Graf rauchte leider nicht; er würde sich sonst gewiß an eine bessere Sorte gehalten haben. Den Knaster, den Vater Sixtus aus seiner kurzen Jägerpfeife verdampfte, hatten sich die beiden Herrinnen von Evenshöhe und Irenensruhe in „ihrem Baum und so früh in der Natur“ ganz ernsthaft verbeten. Ich habe es schon gesagt, ich rauche heute auch nicht mehr; aber ich weiß das Blatt aus jener Zeit her noch zu würdigen und zöge es jetzt jedem anderen vor. Ewald hatte gewöhnlich alle Taschen voll davon und meinte: „Das nenne ich gar nicht einem was ausführen, sondern nur gerechte Sühne! Es ist einfach scheußlich, wie billig der Alte den himmlischen Äther (nicht wahr, so heißt’s, Fritz?) verstänkert. Es ist aber ganz sicher ganz dasselbe Kraut, was sich sein lieber Papst Sixtus der Fünfte hier im Walde verstattet haben würde; nicht wahr, Fritzchen? Du mußt es wissen.“
Weshalb mußte ich das wissen?… Weil ich den „Schlingel aus dem Försterhause“ um drei Eselsohrenlängen in der Gymnasialbildung hinter mir zurückgelassen hatte? Es hat sich nachher ausgewiesen, daß das ziemlich wenig zu bedeuten hatte.
Da sitzt Eva im Zweig und sagt vorwurfsvoll: „Aber Ewald, sprich doch nicht so vom Vater!“
„Wozu hat man denn sein Taschengeld von ihm?“ klingt es zurück; und — es ist immer noch der Sommer und der Sommermorgen, die Jugend und die Frage: was fangen wir heute mit dem unendlichen Tage bis Sonnenuntergang an? auf der Tagesordnung!
„Heute gehen wir ihnen einmal recht ordentlich durch. Nachher kriegen wir dann alles auf einmal über die Köpfe und sind für ein Vierteljahr hübsch reuig durch. Übermorgen geht ihr ja doch wieder ab, und wir haben Zeit für alle guten Ermahnungen und Weisheit und Tugend, nicht wahr, Evchen?“ ruft die Gräfin von Everstein von ihrem Aste und greift nach dem nächsten über ihr und steht aufrecht, in tollster Lust sich wiegend. Das ganze jetzt von der vollsten klarsten Morgensonne durchleuchtete grüne Haus schwankt bis in seine Grundfesten, das heißt bis in die äußersten Wurzelfasern.
„Nicht schütteln! O Irene!“ ruft Eva ängstlich; aber wohl rüttelt und schüttelt sich alles rundum, der Nußbaum und die weite wonnige Welt. Die blitzenden Tautropfen sprühen im buntesten Glanze um uns hernieder, und jenseits der Hecke von seinem Zweige hängt Ewald bereits wie ein Affe auf die freie, weite Wiese herunter, mit den Füßen in freier Luft, nach dem nächsten Aste unter ihm tastend. Daß er das Experiment nicht mit dem Kopfe nach unten hängend ausführt, ist ein schöner Zug seiner Nachgiebigkeit und Herzensgüte; versucht hat er’s selbstverständlich, aber Eva hat es sich für „unseren Baum“ verbeten, wie Irene eben dafür den Knaster aus der Schweinsblase seines Vaters.
Er kommt richtig auch diesmal wieder mit ungebrochenen Gliedmaßen im hohen Grase und unter den Sternblumen und Kuckucksblumen der Wiese an und schlägt zur Erholung von der Anstrengung noch ein Dutzend Mal Rad im Kreise. Schon kriecht die Komtesse durch die Hainbuchenhecke, und mehr als daß sie springt, fliegt sie über die hohen Kletten- und Brennesselbüsche im Graben. Aus dem Wunderbaum erschallt noch ein flehend klägliches Stimmchen:
„Ach Gott, Fritz?!“
Ich reiche beide Arme an der Leiter empor, um das ängstliche Vöglein aus dem Baum im Notfall im Fall auffangen zu können.
„Da rennen sie schon über die Wiese nach dem Walde! Mach rasch, Evchen!“
„Ach Gott, ja! Sie hören ja nun wieder nicht! Und ich ginge doch so gern erst hin und sagte es zu Hause, wo wir geblieben sind.“
„Wir sind ja zu Vier, Evchen! Und einer wird doch wohl übrig bleiben und Nachricht bringen, wenn drei von uns zu Schaden kommen.“
„Ja, und ihr wollt dann, daß ich das bin! Mein Vater ängstigt sich wohl nicht; der kommt vielleicht auch erst zum Abendessen heim. Aber deine Mutter!… Und Irenens Vater?!“
„Das ist nun zu spät. Sie rufen schon vom Walde her; hörst du?“
Sie rufen wirklich, und wir kommen. Wir folgen der glücklichen, seligen Spur durch den Tau der Wiese; und nun sind auch wir, Eva Sixtus und ich, in dem kühlen Schatten der Buchen, und — wunderbar! ein Gewissen hatten wir bis eben, aber nun ist es uns gleichfalls abhanden gekommen. Sie haben alle kein Gewissen in den Gebrüdern Grimm, und wir stecken nun eben ganz darin, in dem Märchen, in der Wonne des Abenteuers der Kinderwelt — ganz und gar darin wie die zwei anderen, Ewald Sixtus und Irene Everstein!
Was geht in der Menschheit Behagen über diese ganze volle Gewissenslosigkeit des Märchens oder noch besser der Jugendzeit? — Die „ewige Seligkeit“; denn die wird freilich in einem noch etwas höheren Grade gewissenslos sein.
Sie hatten vom Walde, dem großen Walde, her gerufen; und hinter dem Walde saß der Vetter — der Vetter Just Everstein; und wenn es für Namen kein besser Sieb gibt als ein Konversationslexikon in der Reihenfolge seiner Auflagen, so ist es sehr schade, daß der Vetter durch einen der gewöhnlichen Zufälle nicht hineingekommen ist. Er gehörte von Rechts wegen hinein, und von Gottes Gnaden darin zum eisernen Bestande irdischen guten Gerüchtes.
Jenseits unseres Waldes und jenseits des Flusses hatte sich da eine Seiten-Seitenlinie des Geschlechtes derer von Everstein allgemach von Generation zu Generation, von Glückswechsel zu Glückswechsel in den Bauernstand zurückverloren. Schon vor hundertundfünfzig Jahren, gerade als eben dem Bruchteil von Adams Geschlechte auf Schloß Werden das Grafentum als höhere Betitelung von oben zufiel, hatten die Vettern drüben den letzten Ring, der sie an den Adel des deutschen Volkes knüpfte, fallen lassen. Das Wörtlein Von war ihnen abhanden gekommen, wie ein Taler in die Stubenritze rollt. Sie wußten selber nicht recht anzugeben, wie es eigentlich zugegangen war.
„Das einzige, was ich gewiß darüber weiß, ist, daß wir damals scheußlich auf dem Hunde waren,“ sagte der Vetter Just. „Was will ein Kotsasse, dem der Siebenjährige Krieg die letzte Kuh aus dem Stalle holt, mit einem adligen Wappen über seiner Stalltür? Sich bei den anderen Bauern und alle Abend im Kruge lächerlich machen? Das kann er! Siehst du, Fritze, das ist eben die Sache beim Kriege, daß er den einen zum kaiserlichen Feldmarschall-Leutnant macht, wenn’s beim anderen um die letzte Kuh gilt. Studiere du deine mittelalterlichen Geschichtsquellen ruhig weiter; aber meine laß mir lieber doch unaufgerührt. Ich meine, der alte Brunnen kommt immer doch noch klar genug aus der Tiefe in die Höhe. Nur immer kühl und klar, das ist die Hauptsache; am Ende bleibt alles, was dem Menschen überhaupt auf dieser Erde passieren kann, in der Verwandtschaft, und das ist ein Trost; — nicht etwa?“
„Jawohl! jawohl!“ holte ich die Antwort tief aus der Seele herauf. Das war aber alles nicht an dem Morgen, an dem wir wieder einmal von dem Nußbaum zum Vetter Everstein jenseits des Flusses „durchgingen“, sondern lange, beschwerliche Jahre später. — Der Nußbaum oder die Nußbäume waren damals längst ebenso unmotiviert umgehauen worden wie die, welche den Legationssekretär Werther in solche Wut gegen die neue Frau Pfarrern zu St. brachten: — „wie kühn und wie herrlich die Äste waren!… Abgehauen! Ich möchte rasend werden, ich könnte den Hund ermorden, der den ersten Hieb dran tat!… Siehst du, ich komme nicht zu mir!… O, wenn ich Fürst wäre! Ich wollt’ die Pfarrern, den Schulzen und die Kammer — — —“
Eine neue Chaussee führt über die Stelle weg, wo meine Nußbäume standen, und wer weiß, wie bald auch über diesen Weg sich ein Eisenbahndamm hinlegt und wie bald die Personen- und Güterzüge vom und zum Rhein über die Stätte brausen und keuchen. Es ändern sich stets die äußerlichen Umstände, unter denen die Natur und der Mensch ihren Adel gewinnen oder verlieren!…
„Passierte es nur einmal, so wäre es freilich schlimm,“ sagte der Vetter Just. „Aber da es immerdar sich so ereignet hat und sich auch fernerhin nicht anders machen lassen will, so stelle ich mich auch hier auf den Fuß der Philosophie, nachdem ich mich geärgert habe.“ Das sagte er aber von den Nußbäumen.
Selbst auf die Vetternschaft mit dem vornehmen Schloß Werden erhuben die Mannen jenseits des Flusses ihrerseits nicht den geringsten Anspruch mehr. Der „Vetter“ war auch eigentlich nur dem gegenwärtigen letzten Sproß der Familie angehängt worden und zwar von der Gegend. Es war so etwas von der „Vetter-Michelschaft“ dabei, aber im besten und vergnüglichsten Sinne.
„Gestern abend war Vetter Just da!“ war ein Wort, das einen ungemein behaglichen Klang weit umher in jedem Hause hatte.
„Wenn ich nur wüßte, wie es mit dem Kerl zuletzt einmal zu Ende gehen wird!“ war dann freilich ein Nachklang von etwas bedenklicherer Tonfarbe; allein es waren immer nur die Urverständigsten im Lande, die sich also achselzuckend äußerten, und was überall in der Welt auf deren Bedenken und heimtückisch-wohlwollende Sorglichkeit für den lieben Nächsten zu geben ist, das weiß man; — ich wenigstens weiß es. Ist es nicht leider meistens der Verstand der Verständigen, bei dem sich am liebsten die Schadenfreude hinter dem freundschaftlichen, sorgenvollen Nachdenken und teilnehmenden, bedauernden Kopfschütteln versteckt?
Welch ein Glück ist es da, daß wir soeben erst aus unserem Nußbaum in den Sonnenschein auf der morgendlichen, glitzernden, grünenden, blühenden Kindheitswiese hinuntergepurzelt, geglitten und gehüpft sind und uns immer noch, unverständig und sorgenlos, mit dem allermöglichst wenigsten Nachdenken über uns selbst und den Vetter Just Everstein auf dem Wege zu diesem Vetter befinden!
Auf dem Wege? O ja, wenn nur nicht die Umwege gewesen wären! Wann sind wir damals unseren Angehörigen je anders als auf Umwegen zu dem Vetter durchgegangen? Gab es aber überhaupt noch eine andere Gegend, die „vier dumme Krabben“, wie der Vater Sixtus sich auszudrücken beliebte, — in gleicher Weise zu Dummheiten und auf Seiten- und Schleichpfade zu verlocken imstande war?
Für uns nicht; wenn mich gleich das Leben gelehrt hat, einem jeden das Recht unverkümmert zu lassen, das theatrum mundi seiner Jugend in gleicher Weise allen anderen Feldern und Wäldern, hier den Fichten und dort den Palmen, wehmütig und freudig vorzuziehen.
Nach rechts und links, im Schatten und Licht, im Trocknen und Feuchten lockte es, und natürlich da immer am verführerischsten, wo das Dickicht am verworrensten war, wo Berg und Fels am steilsten sich erhoben und wo der Bach am mutwilligsten durchs Tal schäumte. Wann hätte zur Zeit der Kibitzeier die Komtesse jemals eine Gelegenheit, bis an die Kniee im Sumpfe zu versinken, verabsäumt? Wann hätte Ewald Sixtus je ein heiles Knie einem zerschundenen, eine ganze Hose einer halben vorgezogen?
Und dann die Jahreszeiten, die wir zählten durch die Schneeglöckchen, die Maiblumen über die Erdbeeren weg bis in die Brombeeren und den Dohnenstieg! Auch ich habe damals mit den anderen gelacht, wenn die liebe Eva ein bitteres Tränchen über die armen erhängten Krammetsvögel vergoß und den Sack nie tragen wollte, der die gefiederte Jagdbeute enthielt.
„Wenn sie sie in der Schüssel auch nicht riechen könnte, so wollte ich gar nichts sagen,“ brummte Ewald. „Dich meine ich nicht, Irene; aber so seid ihr Frauenzimmer! Nicht wahr, Fritze, wir genieren uns nicht:
Was ich gebraten sehen kann,
Seh’ ich nie als ’ne Mordtat an!
Also ist die Reihe an dir, den Ranzen zu schleppen, Irene. Immer galant gegen die Damen! sagt Mamsell Martin; wenn es wieder bergan geht, nimmt ihn Fritzchen dir ab. Aber Riesenkreaturen haben wir diesmal, was?! Es ist wahrhaftig ein Spaß, was für eine Menge unschuldig Blut so’n paar rote Vogelbeeren an den Galgen bringen! Nicht wahr, Eva?“
„Famos!“ ruft die Komtesse hochrot, zerzaust und glühend vor Jagdlust; und der Herbstwind fegt und rasselt durch den Niederwald und treibt ihr die blonden Locken über das Gesicht und — treibt mich zurück in den Sommermorgen, den ich immer von neuem unter der Feder weg verliere, um mich immer wieder zu ihm zurückzufinden.
„So? haben sich die beiden Puppen noch herangefunden?“ fragt Ewald grinsend, als seine Schwester und ich ihn und die Gräfin unter den Bäumen des Waldes wieder einholen. „Das ist schön! Nun haben wir auch die Tugend und die Vorsicht in der Bande, und nun kann’s losgehen! Was an mir in Fetzen heute davonfliegt, das flickst du zusammen, Evchen. Für die schändlichen Redensarten, die heute abend über Irene losgelassen werden, bist du vorhanden, Fritzchen. Und nun rasch weiter; — deine Alte merkt wahrscheinlich jetzt schon Unrat, Fritz, und hängt schon an der Sturmglocke —“
„Und Papa kommt die Treppe herunter und schüttelt in dem Gartensaale den Kopf. Und deine Mama ringt die Hände, Fritz, und Papa ist zu allerletzt noch am wenigsten ärgerlich und in Sorgen. Ach, es soll aber heute auch das allerletzte Mal sein, daß wir so böse sind! Ich gehe ganz gewiß nicht wieder mit durch, ohne vorher um Erlaubnis gebeten zu haben.“
„Ich auch nicht,“ ruft Eva Sixtus mit Tränen in den Augen.
„Ich auch nicht!“ sage ich kleinlaut, und —
„Na, denn ich auch nicht; aber fürs erste stecke ich mir jetzt ’ne Pfeife an. Hier sind wir auf Staatsforstgrund, und die Grafen von Everstein können mir meinetwegen kommen. Übrigens könnt ihr ja alle noch umkehren; im Notfall laufe ich ganz gern allein, und dem Vetter Just ist es auch recht. Geh du dreist wieder nach Hause, Fritzchen, und nimm alles ruhig mit, was sonst noch von Teesimpeln da ist. Au!… alle Donner!“
Eine gute Handvoll Haare aus der Lockenfülle des „höhnischen Hanswurstes“ streut Irene Everstein in die Morgenlüfte, und fünf Minuten später sind wir allesamt so weit von dem Schlosse Werden fern, daß uns auch der lauteste Klage- oder Warnungsruf von dorther nicht mehr zu erreichen vermöchte. Wir sind gerettet aus aller Kultur in die schönste Wildnis, in die sich der gebildete, älter gewordene Mensch nur in seinen allerhöchsten Feierstunden zurückdenken kann, — in den Stunden oder Augenblicken, die wie ein leichter schöner Rausch kommen und schwinden und leider nicht jeden Tag auf der Tagesordnung stehen, was auch die Leute, die es so ausnehmend gut verstehen, „zur Sache!“ zu rufen, davon halten mögen.
In an indian file, wie Ewald, der damals mit größestem Eifer seine amerikanischen Abenteurerromane englisch las, sagte, schlüpften wir durch die Büsche; und wenn die beiden Mädchen alle Augenblicke aus der Bahn brachen und ins Blumenpflücken gerieten, so fand sich für uns zwei Jungens wieder mancherlei anderes, was uns auf dem Wege aufhielt. Gut zehn Uhr wird es in Bodenwerder geschlagen haben, wenn wir endlich eine halbe Stunde weiter stromaufwärts das Flußufer, den Vater Klaus und den Kahn desselbigen bei seiner Fischerhütte erreichen.
Es führt eine Schiffbrücke bei Bodenwerder über den Fluß. Das weiß ein jeder, so gut als ein jeder den Freiherrn von Münchhausen aus Bodenwerder kennt. Was wäre aber unsere Fahrt zu dem Vetter Just Everstein ohne den Vater Klaus und seinen Kahn inmitten des Weges? Unbedingt nur das halbe Vergnügen.
Wenn wer mit in die Lust des wolkenlosen Tages hineingehörte, so war’s der alte Fischer Klaus, obgleich Ewald jedesmal bemerkte:
„Wären die Mädchen nicht dabei, so sparte ich sicher meinen Groschen dem Alten am Leibe ab. Wer schwimmen kann, braucht auf dem Lumpenwasser noch lange keine Bretter unter sich.“
„O du Renommist!“ ruft Irene, die, wenn sie sich ganz allein zwischen den Buchen und Weiden hüben und drüben gewußt hätte, wahrscheinlich gleichfalls keine Bretter und Balken zwischen sich und das sonnenbeglänzte, weich hingleitende Element gelegt haben würde.
Schon zupft mich Eva Sixtus scheu und erschreckt am Rockärmel.
„Sei nur ruhig, Evchen! Sie renommieren beide furchtbar. Das Großmaul da mit seinen Händen in den Hosentaschen und Irene — innerlich! Komm nicht ins Rutschen den Abhang herunter. Da liegt der Vater Klaus bei seinen Reusen, und da steigt sein Rauch auf von seinem Herde. Irene kann ja gar nicht schwimmen!“
Dieser Rauch von dem Feldsteinherde des Alten am Wasser ist wahrscheinlicherweise die Rettung meiner Nase vor zwei Fäusten, die von rechts und links her dicht unter sie gehalten werden.
„Hurra, der Vater Klaus!“ schreit Ewald und rutscht bereits auf seines Vaters erst vor einem halben Jahre an den Dorfschneider abgegebenen Hochzeitshosen über das Steingeröll in die Tiefe, als ob er den Stoff gleichfalls für „absolut unverwüstlich“ erachte.
Die Komtesse wirft mir noch ein „Ach, so’n gutes Fritzchen!“ zu und folgt dem Kameraden bergunter gleichfalls in sitzender Stellung und nur um ein Weniges mehr als er um den äußerlichen Anstand besorgt.
„Na, na, wat kummt mi da? Ach, Herrje, i seh’n Sie mal!“ meint Vadder Klaus, und wir sind alle bei ihm angelangt, — alle mit heiler Haut, bis auf den Meister Ewald, der sich etwas nachdenklich die Posteriora reibt und mehrfach den vergeblichen Versuch macht, sich dieselben über die Schulter genauer zu betrachten und seinen Schaden zu besehen.
Nach dem Walde das Wasser! Es ist sehr heiß an dem Ufer; aber keiner merkt es. Der Fluß ist breit genug, um alles, was in der jungen Brust noch gebunden lag, frei zu machen. Eilig drängen sich und lautlos die Wirbel vorbei und nehmen uns geheimnisvoll verführerisch in der Phantasie mit sich in das Hellste, Kühlste, Grenzenloseste — immer weiter und weiter durch alle geographischen Schulstubenerinnerungen bis hin auf das große Meer. Juan Fernandez und Salas y Gomez liegen im magischen Blau als einzige feste Punkte, an denen die Erfahrung mit wonnigem Herzpochen haften kann; darüber hinaus in wiederum undenklicher Ferne spült und sprüht’s nur in die Buchten und Palmenwälder von Traumland hinein! selbst für Ewald Sixtus, der schon ganz genau weiß, daß die Weser einfach bei Bremerhaven in die Nordsee mündet, daß vor Neuyork Long Island liegt und daß Staat und Stadt Neuyork zu den Vereinigten Staaten von Nordamerika gehören. Auch für mich, der ich in der neueren Geographie ziemlich und in der alten recht gut Bescheid weiß, der ich den Weg des Königs Alexander zum Indus und nachher die unvereinigten Staaten von Asia minor ganz genau auf der Karte zeigen kann.
Während nun Vater Klaus seinen langgedienten Kahn zur Überfahrt bereit macht, durchstöbern die zwei Mädchen „zum wer weiß wievielten Male“ sein einsiedlerisch halbwildes Hauswesen.
„Eines steht fest,“ ruft Irene, den blonden Lockenkopf aus der Pforte der Hütte vorstreckend; „das nächste Mal bitten wir zu Hause um die Erlaubnis, und dann bleiben wir eine Nacht hier. Da liegen wir hier am Feuerherde und braten uns unsere Fische selber, und der Mond muß scheinen und wir singen dazu und rufen die Kähne und Flößer an —“
„Und kriegen dumme Redensarten zurück,“ grinst Ewald.
„Und dumme Jungen werden draußen mit dem Kopf ins Nasse untergeduckt —“
„Und ich bin dabei!“ schreit Ewald mit einem Sprunge und die Mütze schwingend. „Das ist eine ganz rasend heitere Idee! Das nächste Mal gehen wir ihnen sicherlich erst bei Sonnenuntergang durch!“
Und der Alte am Wasser, bedenklich seine Kappe von einem Ohr aufs andere schiebend, meint:
„Ich wäre wohl schon dabei, und zu Schaden sollten die jungen Herrschaften bei mir auch wohl nicht kommen; aber — schriftlich muß ich die Erlaubnis doch wohl vor mir haben; denn nachher kenne ich sonst die Herren beim Amte gut genug, wenn ich wieder von wegen meiner Berechtigung allhier vor sie muß. In alten Zeiten, allwo man noch gar keine Papiere nötig hatte, soll das alles viel besser gewesen sein, und da hätte auch ich nichts Schriftliches verlangt, sondern im Gegenteil.“
„Dies ist doch großartig!“ meint Irene Everstein, eine der gewohntesten Redensarten ihres Freundes Ewald sich aneignend.
Nun fahren wir über.
„Nicht schaukeln! bitte, bitte, nicht schaukeln, Irene!“ fleht Eva, wie sie vorhin „Nicht schütteln!“ ängstlich gerufen hat.
Die Strömung ist ziemlich heftig und das „Schaukeln“ in der Tat durchaus nicht notwendig.
„Ja, lassen Sie es lieber, junge Herrschaft,“ meint der Vater Klaus. „Erst vor acht Tagen habe ich da ein bißchen weiter unten eine herausgeholt. Die mußte ziemlich weit von oben her zugereist sein; hier herum und soweit unsere Gerichtsherren hinreichen, hat sie niemand gekannt. In Bodenwerder haben wir sie denn auch unbekannterweise beerdigt, und ich bin auch der einzigste gewesen, der mit ihr gegangen ist; und das ist nicht das erste Mal in meinem Leben gewesen. So’n alter Fischersmann will doch nicht so ganz als ein Vieh an seinem Wasser sitzen, sondern sie geben sich, mit Respekt zu sagen, gegenseitig alle Ehren. Ja, so ’nen Wasserlauf soll man nur recht kennen durch die Jahre und Tage und Nächte und alle Witterungen — das ist wohl was Nachdenkliches, junge Herrschaften!“
Wir sahen alle nach dem Weidenbusch hinüber, wo die unbekannte Fremde anlandete nach ihrer langen Reise. Irene schaukelte nicht mehr; aber nun sind wir mitten im Strom, und wo ist der Sonnenschein heller als mitten auf den Wassern? Die Wellen flimmern, silberne Flossen schnellen rundum auf, um blitzschnell wieder in die Tiefe zu verschwinden. Wir lassen alle eine Hand in die laue Flut herniederhängen und sie um die erhitzten Pulse spülen.
„Na, aber Fritze, dein zarter Teint!“ grinst Ewald. „Nun guckt nur, ob seine liebe Nase bei der Temperatur nicht schon abblättert wie eine Zwiebel. Von euch zwei Backfischen sage ich gar nichts; denn ihr seid ja ganz in eurem Elemente, und übrigens wird es euch auch Fritzchens Mama heute abend schon sagen, und morgen früh noch einmal.“
Die beiden Mädchen unter ihren breiten Sommerstrohhüten glühen freilich wie die Pfingstrosen; aber von der unbekannten Leiche, welcher neulich unser alter Fährmann in Bodenwerder allein das letzte Ehrengeleit zu Ehren seines Flusses gab, ist nicht weiter die Rede. Wir landen auf dem anderen Ufer, der Vater Klaus bekommt seinen Fährlohn und ruft uns nach:
„Also auf das schriftliche Attestat verlasse ich mich. Nachher wünsche ich mir nichts Besseres als die junge Herrschaft bei mir zu Gaste, wenn mal der Mond voll im Kalender steht und der Fisch zutunlich gewesen ist. Und mitsingen tu’ ich auch. In meinen jungen Jahren habe ich immer über der Bratpfanne alle hübschen jungen Mädchens hüben und drüben in den schönsten Liedern vom Jahrmarkt mit besungen.“
Es schlägt eben in der Ferne, in Bodenwerder, elf Uhr, als wir lachend, die Mützen und die Taschentücher schwenkend, unseren Weg auf dem Schifferpfade durch Weiden, Röhricht, über die harten Kiesel und Flußmuscheln fortsetzen stromabwärts.
Unser grauer Charon bleibt noch eine ziemliche Weile auf seine Ruderstange gelehnt stehen und sieht uns nach — lächelnd, kopfschüttelnd und eine Prise nehmend. Er hat zu allen diesen drei Äußerungen seiner Meinung und Ansichten über uns vollkommen die Berechtigung und braucht sich nicht im geringsten auf irgend etwas Schriftliches einzulassen.
Es ist, als schwände der Vetter in immer unbestimmtere, idealere Ferne. Aber wir erreichen ihn und das Seinige doch; und wenn wir ihn haben werden, so wird er hoffentlich um so näher zu Sinn und Herzen wirken und also in der einzig wahren Weise ganz realistisch da sein. Mein Wort darauf, wir wissen Bescheid und stehen mit den echten Wirklichkeiten oder Realien in dieser Welt auf ganz gutem Fuße und verkehren miteinander nicht bloß in Schlafrock und Pantoffeln — denn das will nicht viel bedeuten! — sondern auch dann und wann im Fest- und Feiertagskleide, und das will viel sagen!
Nun quer landein durch die Sommerglut! Wir haben jedoch glücklicherweise nur noch eine kleine halbe Stunde zu marschieren, bis wir den Steinhof erreichen, und wir legen den Weg nunmehr rasch genug zurück, denn jetzt hält uns nichts mehr auf demselbigen auf. Die Mädchen wollen zwar anfangen, ihre Füße nachzuziehen; aber Ewald, im kurzen Trabe sich zu mir wendend, meint grinsend:
„Jetzt ist es ein wahres Glück, daß sie ihren Magen gerade so gut als wir spüren, sie drehten sonst richtig noch um und gingen nach Hause. — Alle Donner, Rührei und Schinken, Kinder, ich sage euch, so fressig wie jetzt ist’s mir — seit gestern mittag noch nicht im Leibe zumute gewesen! Ho, jetzt will ich nur wünschen, daß dem Vetter diese letzte Nacht recht lebendig von mir geträumt hat und er sich wenigstens annähernd anständig auf die Visite eingerichtet hat. Nun, Leute, im Notfall steigen wir ihm selber in die Rauchkammer und brechen ihm wie Schillers ganze Bande in seine Würste ein. Die anderen Stücke von ihm, ich meine Schillern — kann er ja dann derweilen mit euch herdeklamieren. Von mir weiß ich Bescheid und sage, erst essen, und zwar ordentlich, und dann meinetwegen soviel Poesie und Geschichte und Philosophie und Ästhetik, als ihr wollt und leisten könnt. Was sagst du, Fräulein Gräfin?“
„Nach dem Essen! In dem Grasgarten im Grase und im Schatten. Laß aber jetzt nur das lange Reden, die Sonne sticht zu arg. Evchen, ach Gott, am besten ist’s, man macht die Augen zu und läuft zu und denkt sich lang hin in das Gras in dem Grasgarten unter den großen Birnbaum.“
„Siehst du! Und heute abend müssen wir auch wieder nach Haus. O, ihr habt ja nicht auf mich hören wollen!“
„Mit einer Mamsell wie du drei Schritte über die Gartenhecke hinaus spazieren zu gehen, ist wirklich ein Pläsier,“ brummt Ewald halb höhnisch, halb verdrießlich.
Wäre der Weg noch eine Viertelstunde länger, so ist nicht abzusehen, wie tief unsere Stimmung noch sinken könnte. Das ist die gewichtige Viertelstunde, auf die es in so vielen Erdenlagen und Stimmungen ankommt zu unserem Behagen oder Elend. Wir haben diesmal glücklicherweise nur noch fünf Minuten in einem steinigen, holprichten, ausgefahrenen Feld- und Hohlwege zurückzulegen, um wieder auf allen Höhen unseres jungen, taufeuchten Sommer- und Sonnenrausches festen Fuß zu fassen.
„Hurra, der Steinhof!… Vivat der Vetter Just Everstein!“ — — —
„I, i, wat kümmt mi denn da?“ sagte der Vetter. „Das ist aber schön! I, siehst du wohl, hier sitze ich nun schon den halben geschlagenen Morgen und warte auf Trost. Da kommt er mir vierspännig, gerade als ich denke: Just, jetzt gehst du zum Essen, ohne daß sie Dich suchen, sonst gibt es noch mehr Spektakel und Unfrieden auf dem Hofe, und du hast gerade genug für heute davon.“
Er saß wirklich auf einem Stein am Wege unter einem Dornbusch, außerhalb seines Erbsitzes, dieser kuriose Vetter; und als er damals aufsteht und gähnt und grinst und sich reckt und dehnt, ist er ein lang aufgeschossener Junge von nicht ganz zwanzig Jahren. Ein vollkommener, aber aus allem rund um ihn und an ihm herausgewachsener Junge. Daß also alles, was aus ihm noch werden kann, augenblicklich noch in ihm steckt, ist sicherlich etwas, was nur sehr wenige meiner fraglichen Leser vermuteten. So einer, der etwas selber erlebt und erfahren hat, ist immer klüger als derjenige, welchem er nachher davon erzählt.
„Holla, was schiebst du in die Tasche, Vetter? Richtig, da sitzt er in der Sonne und verstudiert sich weiter! Zeig gutwillig oder ich ziehe dir mit der Jacke das Fell vom Leibe!“ ruft Ewald. „Kinder, jetzt macht er auch Verse!… Gedankenspiele beim Pflügen!… Als Hannchen in die Flachsrotte fiel!… Und da hat er den alten Urlateiner, Vater Broeder, auf dem Feldsteine warm gesessen. Ei, guck mal, Fritze, gerade wie wir auf dem dummen Gymnasium! Was nicht von oben in den Kopf will, dem kommt man viel bequemer mit einem anderen Körperteile bei. Hat jemals jemand so einen verrückten Kerl erlebt? Es ist doch reinewegs nicht zu glauben, was die Menschheit alles leisten kann. Und dann möchte man sich da nicht die Haare darüber ausraufen, daß man nicht die Häute mit seinem Nebenmenschen austauschen kann? O ihr gottverdammten Götter von Rom und Griechenland, was gäbe ich dafür, wenn ich der Bauer auf dem Steinhofe wäre und dieses urverbohrte Monstrum mit seiner lateinischen Grammatik hier ich!“
„Jetzt höre auf, oder du wirst langweilig, Ewald!“ rief Irene Everstein. „Kommen Sie, Vetter Just, und hören Sie nicht auf den albernen Bengel —“
„Und du bist doch nicht böse, daß wir schon wieder da sind, lieber Just?“ fragt Eva. „Die beiden Jungen sind schuld daran, ich wollte eigentlich nicht mit —“
„Und wenn sie alle im Grasgarten im Grase liegen und schnarchen, dann sitzen wir beide wach zusammen, Just!“ sage ich; und der Vetter, blöde, freundlich, seelenvergnügt und nicht „urverbohrt“, sondern urverschämt sein glänzend Gebiß im Kreise herum zeigend, steht in unserer Mitte; und es hat gewiß selten einen anderen Menschen gegeben, der sich so wenig wie er um diese Lebenszeit gegen Güte und Bosheit der Welt zu wehren wußte.
Gottlob kommt ihm auch jetzt ein Trost und eine Hülfe aus der Ferne her, nämlich vom Zaun des Steinhofes.
„Da ruft sie zum Essen! und wir haben gestern ein Rind — ich will lieber nicht sagen gegen meinen Willen, sondern wegen Futtermangel, wie sie sagt, geschlachtet. Und jetzt kommt nur rasch; ihr kennt sie ja!“
In Bodenwerder wird es wahrscheinlich gerade zwölf Uhr schlagen. — — —
Es ist ein schlechter Boden, sagten die Leute, die sich darauf verstanden, von dem Steinhofe und der dazu gehörigen Länderei, und sie konnten nichts dafür, wenn sie es nicht ahnten, was für Prachtgewächse dieser schlechte Boden hervorzubringen vermochte. Es war Jule Grote, die über den Zaun rief, und zwar mit einer Stimme, in die der Himmel alles Gift, was er eben vorrätig hatte gegen die irdischen Zustände, hineingelegt zu haben schien.
Ich kenne es heute viel besser als damals, das gute alte Mädchen nämlich, und weiß, was der Vetter an ihr hatte. Er weiß es ebenfalls heute besser als damals. Damals, das heißt an jenem Tage, schob er uns sich voran auf dem Feldwege durch den kärglichen Haferacker und brummte:
„Ich komme mit; aber, Kinder, ich sage euch, gerne wäre ich heute allein nicht nach Hause gegangen! Es ist alles mal wieder vom frühen Morgen an kopfüber kopfunter gegangen, und ich bin an allem schuld gewesen. Ach Gott, ach Gott, wo ich meine Hände habe, soll ich meinen Kopf haben, und wo ich meinen Kopf habe, da will sie meine Hände sehen. Und dann soll ich meine fünf gesunden Sinne zusammennehmen und bedenken, wozu mich der liebe Herrgott in die Welt und hier auf den Steinhof hingesetzt hat. Und wenn sie nur wüßte, wer ihr all das Elend mit mir eingebrockt hat, sagt sie. Es muß wohl von weit her kommen, meint sie, und das ist das einzige, was sie darüber weiß; und ich, Fritz, ich weiß auch nicht mehr. Sie hat doch meinen Vater gekannt, und meinen Großvater dunkel: von den Zwei habe ich es wohl auch etwas, aber nicht ganz, sagt sie, wenn ihr die Hände anfangen vor Ärger zu zittern, und sie mit der Schürze vor den Augen abgeht und ich auch und ihr doch nichts in der Wirtschaft in den Weg lege, sondern sie mit der Vormundschaft ruhig regieren lasse hier auf dem Steinhofe. Und denn werde ich doch auch erst nächste Ostern übers Jahr mündig und mein eigener Herr!“
Mit einer uns an ihr ganz fremden Grazie schiebt Irene Everstein ihren Arm in den des armen Teufels und sagt:
„Bitte, Herr Just!“
Das war ganz und gar meine Mutter in ihrem Verkehr mit ihrer Umgebung; aber bei meiner Mutter hatte ich noch nie darauf geachtet, wie vornehm sie mit den Leuten umzugehen wußte.
In diesem Moment aber war es natürlich Herr Ewald Sixtus, Untersekundaner usw., der’s bewies, wieweit man mit einer guten Lunge und mit zärtlich tuender Unverschämtheit in der Welt reicht. Mit der ersten erschütterte er durch einen Jubelschrei die Lüfte auf eine Viertelstunde im Umkreis, mit der zweiten sprang er über den Zaun des Steinhofes und hing sich der braven Jungfer Grote an den Hals:
„Da sind wir wieder, Jule! Sehen Sie, so wird die Sehnsucht endlich doch belohnt! Wie lange stehen Sie denn schon hier und gucken nach mir aus über die Planken, Mamsell Grote? Komm her, Fritz, und gib Pfötchen. Gibt sie dir aber auch einen Kuß, so morde ich dich heute abend auf dem Rückwege. Lebendig kommst du dann nicht wieder auf Schloß Werden an. Und nun rasch, Jule, Sie wissen es, daß Sie für mich zum Fressen sind! Rasch — jeder holt sich Messer und Gabel und seinen Teller selber aus der Küche.“
„O herrje, herrje — und die jungen Damens auch wieder!“ rief die wackere Haushälterin und Vormünderin auf dem Steinhofe, ächzend sich aus den Armen ihres stürmischen Verehrers und zweiten Lieblings frei machend. „Ich habe es seiner Mutter im Kindbett und Totenbett versprochen, daß ich solange bei ihm aushalte, als er mich bei sich behält!“ sagte sie von ihrem ersten Liebling — dem Vetter Just Everstein.
Nun bekommt Eva Sixtus eine bewillkommnende Hand und dann Irene auch; letztere aber erst, nachdem diese Hand vorher noch einmal in der blauen Kattunschürze unnötigerweise abgetrocknet und abgewischt worden ist.
„Aber das ist mal schön! Nehmen Sie es nur nicht übel; aber es ist mein Schicksal! jedesmal, wenn wir die Ehre haben, haben wir gemistet auf dem Steinhofe, und ist der Herr Just den ganzen Morgen durch nicht aufzufinden und abzurufen gewesen. Ich brauche nur am Abend zu sagen: Just, jetzt paßt du mir aber auf die Gottesgabe morgen früh, so geht er durch mit seinen Lateinbüchern, und ich sitze allein mitten drin in der Wirtschaft und den Tagelöhnern. Was daraus werden soll, weiß ich nicht; na, aber Essenszeit ist’s freilich jetzo längst, und nächste Ostern übers Jahr wird er einundzwanzig alt und sein eigener Herr. Ach Gott, gnädigstes Fräulein Gräfin, Ihr Herr Vater sollte nur einmal einen einzigsten Tag lang an meiner Stelle sein! Und — Ihre Mutter auch, Herr Langreuter, aber davon will ich weniger sagen, denn die ist ja auch ein Frauenzimmer und hat das Ihrige durchgemacht in ihrem eigenen Haushalt und bei anderen Leuten.“
Wie viele schöne, geistreiche, vornehme Menschen habe ich auf meinem Lebenswege kennen gelernt!
Auf die körperliche Schönheit am Menschen achte ich sehr genau und mit größester Teilnahme und bin noch heute imstande, einen ziemlichen Umweg zu machen, um ihr in den Gassen und Häusern begegnen zu können. So bin ich zu der festen Überzeugung gelangt, daß ihrer nicht weniger wird in der Welt.
Geist ist im Überfluß vorhanden. Dies weiß ja ein jeder selbst am besten. Wer glaubt nicht, von seinem Überfluß an Tausend und aber Tausend reichlich abgeben zu können?
Von der Vornehmheit brauche ich eigentlich gar nicht zu reden. Ich habe da nur sehr wenige kennen gelernt, die sich in ihrem innersten Herzen nicht zum allerhöchsten Adel der Schöpfung rechneten und jedwede Vernachlässigung, ein jeglich Übersehenwerden dieser schmeichelhaften, aber wahren Tatsache nicht mit den grimmigsten Zügen in das goldene Buch ihrer Selbstschätzung eintrugen. Und je kälter sie dabei lächelten, desto schlimmer war’s für den schnöden, mehr oder weniger unbewußten Gleichmacher. Er sank jedenfalls sehr tief in ihren Augen und sofort unbedingt aus allem Anrecht auf irgendwelche Berücksichtigung ihrerseits vollständig heraus. Und das war recht — ist recht und — wird recht bleiben; denn es ist allzu angenehm und kitzelt zu süß um das Zwerchfell herum, um jemals von uns als Recht aufgegeben zu werden.
Nun hinke ich hier durch den kümmerlichen Hafer seines Feldes hinter dem Vetter Just her. Hübsch ist er nicht, schön noch weniger. Geistreich hat ihn noch niemand genannt, und was seine Vornehmheit anbetrifft — nun, so hat er es ja selber gesagt, daß er mit dem etwas recht fraglich gewordenen Wappen seiner Ahnen über seiner Stalltür nicht das mindeste mehr anzufangen wußte.
Was ist es nun, das diesen lang aufgeschlodderten, wehleidig-verblüfft um sich stierenden großen Jungen uns als ein Ideal alles dessen, was die Jugend lieb hat an der Sonne, der Erde, den Weibern, den Professoren und den Königen, hinstellte?
Eine ganz einfache Sache; nämlich, daß er von allen diesen schönen und herrlichen und großartigen Dingen und Wesen etwas an sich hatte, und zwar das, was die Jugend am ersten und mit der glücklichsten Bewunderung aus ihnen herausfühlt. Die, welchen das zu hoch klingt, haben nie zwischen dem vierzehnten und fünfzehnten Lebensjahre an einem Julitage auf der Erde lang ausgestreckt gelegen und, die Hände unter dem Hinterkopfe, sich — die Sonne ins Maul scheinen lassen, wie die Redensart lautet. Sie haben nie die Großmutter am Winterofen erzählen hören und sie nachher auf dem Sterbebette gesehen; sie haben nie die Wellen rauschen hören, die Aphrodite gebaren; und auf das Rauschen und Leuchten der hellen Sommerkleider im Walde hinter ihnen haben sie auch wenig geachtet. Ihnen hat es, was die Gelehrten anbetrifft, nie imponiert, was die verrückten Kerle im Laufe der Jahrtausende alles möglich gemacht haben. Ganz umsonst für sie ist Alexander von Macedonien bis zum Indus vorgedrungen und hat sich von dem König Porus durch Heldenhaftigkeit gutwillig besiegen lassen. Heldenhaftigkeit ist nicht in ihnen; sie haben nie die Lebensbeschreibungen des Plutarch unter das Kopfkissen gelegt oder die Kirschblüten im Garten auf sie niederfallen lassen.
Heldenhaftigkeit, und somit die Sonne, das Geheimnis und Wunder der Erde, das Weib und die Wissenschaft steckten in dem Vetter Just Everstein:
„Das ist ein ganz drolliger Patron!“ sagten diejenigen, welche es immerhin noch ganz gut mit ihm meinten und ihre wahre Meinung über ihn nicht zu schroff äußern wollten.
„Kennen Sie diesen schnurrigen Kauz, den sogenannten Vetter Just noch nicht?“ fragte sich die Gegend weit umher und fügte, ohne die Antwort abzuwarten, hinzu: „O, dann lernen Sie ihn doch ja recht bald kennen; es wird Sie nicht gereuen.“
„Düt is ’nen ganz verrückten Minschen,“ meinte der zum Steinhofe gehörige Teil der in diesem Augenblicke in diesen Memorabilien um den Eßtisch auf dem Steinhofe versammelten Tafelrunde. Die das sagten — die Knechte, Mägde und Tagelöhner des Steinhofes —, hatten recht, vollkommen, zweifellos recht: der Vetter Just Everstein war ein ganz und gar verrückter, das heißt ihnen und noch vielen anderen gänzlich ins namenlose Weite entrückter Mensch.
Es war eine Bauernstube der alten, rechten Art, in der wir uns jetzt mit zu Tische setzen. Und es ist der richtige alte Tisch mit den richtigen Näpfen und Schüsseln darauf. Es hat seit dem Jahre 1838, in welchem Jahre der Freiherr von Münchhausen seinen Gastfreund, den Baron Schnuck-Puckelig-Erbsenscheucher, in der Boccage zum Warzentrost als Syndikus bei seiner Luftverdichtungs-Aktienkompanie anstellte, manch liebes Mal mehr Voll, ein Viertel, Halb und Dreiviertel auf dem Kirchturme von Bodenwerder geschlagen. Der Fortschritt ist wieder ungeheuer gewesen; unsere Bauern sind die „Herren Ökonomen“ geworden und gründen längst selber Zuckerfabriken und Luftverdichtungs-Aktiengesellschaften. Ihre Jungfern haben sich „mamsellen“ lassen und werden Fräuleins genannt. Fräulein Emerentia von Schnuck-Puckelig ist eine Wahrheit geblieben; aber die Tochter vom Oberhofe ist zu einem schönen Phantasiebild geworden: der treue Eckart — diesmal Karl Leberecht Immermann genannt — hat wieder einmal vergeblich am Wege gestanden und warnend die Hand erhoben. Wir haben uns ein Unterhaltungsstücklein aus seinem weisen, bitterernsten Buche zurecht gemacht; — kehren wir rasch auf den Steinhof zurück. Was bleibt auch mir anderes übrig, als mir heute aus den Zuständen der Vergangenheit eine angenehme Gegenwartsunterhaltung künstlerisch-chemisch abzuziehen und das Caput mortuum in den frischesten Wind zu streuen, der augenblicklich vor dem Fenster weht?!
Sie saß schon um den Tisch, die Hausgenossenschaft des Steinhofes, als wir dran und drüber hinfielen. Und da Jule Grote vollständig recht hatte und der Meister bis jetzt noch fehlte, so ging es um ein Beträchtliches weniger lehrhaft an der Tafelrunde zu als damals auf dem Oberhofe, als der Jäger zum ersten Male der Unterhaltung zwischen dem Hofschulzen und seinen Leuten zuhörte.
Große Bohnen und gekochten Schinken gab es heute auch hier wie damals auf dem Oberhofe, als der Jäger dort zum ersten Male seinen Platz am Tische einnahm.
Auf des Meisters Stuhl, obgleich er kein Meister war, saß der Vetter. Ihm zur Rechten Jule Grote, ihm zur Linken Irene Everstein. Der zur Seite saß Eva Sixtus und ihr gegenüber ich, neben der grimmig-klugäugigen Haushälterin und unbestrittenen Herrin des Steinhofes. Dem Freund Ewald gegenüber lag schwer auf den Tisch hin der Oberknecht, ihm zur Seite saß die Großmagd, und die anderen bis zum Hofjungen schlossen sich in bunter Reihe an. Millionen von Fliegen waren gleichfalls vorhanden, auch Bienen und anderes Flügelgesindel kamen aus dem Garten und der übrigen freien Natur, gerade wie wir von Schloß Werden, ohne vorher um Erlaubnis anzufragen. Die Temperatur in der niedrigen Stube war sehr hochgradig; die Balken der geweißten Decke drückten schwer herab, und es half gar nichts zur Kühle, daß die schmalen, niedrigen Fenster geöffnet standen. Über die Schwelle der offenen Stubentür traten Hahn und Hühner mit erhobenen Füßen ungeniert und ließen auch ihre Naturlaute nicht etwa blöde auf dem Hofe zurück. Hund und Katze konnten frei ein und aus gehen, hielten sich aber so dicht als möglich an uns; und da sie nicht auf dem Tische geduldet wurden, so trieben sie sich wenigstens unter ihm herum und warteten mit nervöser Ungeduld auf alles, was von ihm für sie abfiel. Von der Wand hinter dem Vetter Just mahnten die zehn Gebote, sehr bunt unter Glas und Rahmen, zu ihrer Beobachtung. Hinter dem kleinen Spiegel zwischen den Fenstern fehlten die Pfauenfedern und neben ihm der Kalender des laufenden Jahres nicht. Seltsam berührte (ich darf diese kitzelnd zugespitzte, moderne Redensart an dieser Stelle wohl anwenden) nur der Ofen hinter mir, und nicht als solcher, sondern durch das, was auf ihm stand. Auf ihm stand nicht etwa der alte Fritz in Gips mit seinem Krückstock oder der Kaiser Napoleon mit untergeschlagenen Armen (beides hätte durchaus nicht seltsam berührt!), sondern es stand da in einem hübschen Miniaturgipsabguß, wenngleich ziemlich gelb angeschmaucht, — die mediceische Venus der gesamten Tafelrunde des Steinhofes gegenüber.
„Und da ich sie mir einmal von so ’nem wandernden Italiener mit seinem Brett auf dem Kopfe angeschafft habe, so bleibt sie da auch stehen, Fritz!“ hatte mir der Vetter gesagt. „Es braucht ja keiner ’s anzugucken, wenn er nicht mag; — ich habe mein Geld dafür gegeben, Fritz. Sieh mal, ihr anderen und dann alle berühmten Menschen in der Welt habt nur das vor uns voraus, daß ihr euch vor dergleichen nicht fürchtet und schämt. Guck mal, mir geht es noch schwer ab, daß ich darüber rede, und ich täte es auch ganz gewiß nicht, wenn du nicht auch mit den anderen deine schlechten Witze darüber gemacht hättest. Laß mir aber nur mal einer einen mit dem Besenstiel dran rühren! Dafür hat die weiße Gipsmadam doch zuviel gekostet!“
Dieses letzte Wort bringt mich auf die wenigstens auf dem Papier noch gegenwärtige Stunde zurück.
„Anderwärts als hier auf dem Steinhofe esse ich sie nicht, und wenn der Tod darauf stünde,“ sagt Ewald, schmatzend wie eines jener unwählerischen Tiere, für welche der Schöpfer die wackere Hülsenfrucht Vicia faba hauptsächlich erschaffen haben soll. „Evchen mag sie nur ihres Geruches in der Blüte wegen, und Irene ißt sie nur, weil sie schauderhaft hungrig ist und meinetwegen; nämlich weil sie im Heroismus nicht hinter mir bleiben will. Fritze frißt natürlich alles herunter, ohne darüber nachzudenken; und Sie, Jungfer Grote, bitte, noch ’n Stück aus dem Fetten. Schad’t nichts, wenn auch ein bißchen nah vom Knochen. Die Würmer sind ja mit im Kessel gewesen, Jungfer Jule —“
„I, so höre einer! Ein ganz nichtsnutziger Junge bist du,“ stammelt die Wirtschafterin des Steinhofes, „und —“
„Und beißen einen Sekundaner, den seine Herren Lehrer längst schon Sie anreden müssen, nicht mehr.“
Ein breites, glänzendes, zähnefletschendes Grinsen geht um den ganzen Tisch. Die Knechte stoßen ihre Nachbarn mit dem Knie an, die Mägde kichern, und nur der Hofjunge schlingt ungerührt weiter.
„I, so soll mich doch!… Nun höre einer!… Ach, herrje, bist du auch schon so lateinisch? Du?… Was kosten denn jetzt die Rohrstöcke bei euch auf Schulen? Sind wohl höllisch dies Jahr mißraten in Hinterpommern oder wo sie wachsen, weil du mir hier Glocke Zwölf am Tage so kommst wie ein Maikäfer, wenn’s Abend wird?! Herr Langreuter, Sie verdirbt er auch noch in Grund und Boden; und er ist es auch allein, der alle Augenblicke mit Ihnen hierher nach dem Steinhofe her vagabundiert, daß Sie, Fritzchen, mir meinen Jungen da, meinen Just, noch mehr aus seinem Menschenverstande heraus verführen, was eine Sünde ist, mehr als ich sagen kann, und was seine Schwester auch wohl weiß, und wenn ich nur nicht die lieben Gesichterchen so gern auf dem Steinhofe hätte, so wollte ich schon noch mehr sagen; aber die gnädige Frölen Gräfin darf’s mir dreiste glauben, ich nehme es keinem übel, wenn er es anders gewohnt ist bei Tische, und große Bohnen sind freilich nicht jedermanns Sache, da hat der Junge recht.“
„Wenn Sie den hier meinen, Jungfer Grote,“ lachte Irene Everstein, mit ihrer Gabel auf Freund Ewald deutend, „so sollte ich nur mal ’nen Augenblick lang Ihren großen Löffel da in der Hand haben! Ach, herrje, ich würde ihm Deutsch auf sein Lateinisch geantwortet haben. Und übrigens haben sie ihn auch nur deshalb mit nach Sekunda genommen, weil er ihnen für Tertia zu lang geworden ist. Wachsen kann jeder, und wir auch; nicht wahr, Eva?“
Sie stand auf, und da alle sie darauf ansahen, sagte sie:
„Ich will mir nur ein Glas Wasser vom Brunnen holen.“
„Bleib sitzen, das will ich dir besorgen,“ sagte der Vetter Just, gleichfalls aufstehend. „Du weißt doch, Irene, daß dir die Winde zu schwer ist. Es springt hier nicht so bequem aus einem Löwenmaul wie bei euch auf Schloß Werden.“
Er erhob sich tölpisch genug von seinem Stuhl; aber Ewald Sixtus und ich, wir waren ruhig sitzen geblieben; und es ist auch heute erst, in der Erinnerung der fernen Vergangenheit, daß mir das bemerkenswert erscheint. Ich schätze es übrigens jetzt für ein Glück, daß die Feinfühligkeit nicht bei allen Menschen mit den Jahren wächst. Wer würde es aushalten können in einer Welt, in welcher dieses die Regel wäre und die Leute ohne das in keiner Achtung stehen und es auch nicht zu Vermögen bringen könnten?
Jule Grote sah ihrem vierschrötigen, langen, unmündigen Mündel mit einem Ausdruck von verdrießlichem Jammer nach, der sich gar nicht beschreiben läßt. Sie hob den Löffel zum Munde; aber sie ließ ihn wieder auf den Teller sinken und brummte:
„Da danke einmal einer dem lieben Herrgott für die gute Gottesgabe!“ und dann grimmig sich zu Ewald Sixtus wendend, rief sie:
„Dich sollte dein Vater aus alter Freundschaft von Schulen abtun und hierher auf ein halb Jahr zur Probe in die Wirtschaft geben. Vielleicht brächtest du ihn noch aus der Unvernunft heraus und zu ordentlichem Sinn und Gedanken. Von euch anderen aber ist es mir eine große Ehre und Pläsier; aber besser ist’s doch, ihr bleibt mir soweit als möglich weg vom Steinhofe. Was nutzt der Kuh Muskate? Und was haltet ihr mir den Bauer auf dem Steinhofe noch mehr von der Arbeit ab? Soweit meine Besinnung reicht, haben sie zwarst alle, vom Vater zum Sohn, hier auf dem Hofe ’nen Vogel im Kopfe mit in die Welt gebracht; aber solch ein nichtsnutzig ganzes Nest wie dieser doch keiner! Du lieber Himmel, was daraus werden wird, weiß ich; und doch liege ich Nacht für Nacht wach und bitte, daß einer kommt und es mir sagt; gerade als ob ich es wie das höchste Glück nie genug hören könnte! O ihr junges Volk sollt es nur auch erst einmal erfahren haben, wie es dem Menschen zumute ist, wenn er sich so an seine Sorge anklammern muß und um seinen Willen gar nicht gefragt wird dabei!“
Das war gerufen und doch nur über den Tisch geächzt — „der Leute wegen“; — als ob die nicht schon längst Bescheid und den Vetter Just zu nehmen gewußt hätten, wie sie ihn gebrauchen konnten. Ihnen war es ganz bequem so, wie er war; und Jule Grote hatte recht, vollkommen recht in ihrem Jammer und Ingrimm: der Steinhof mußte zugrunde gehen unter einem Bauer wie der Vetter Just Everstein.
Doch der Vetter Just ist eben mit dem Glase klaren Wassers aus seinem Ziehbrunnen für die Komtesse Irene zurückgekommen. Er hat fein ein Klettenblatt darunter gelegt, und ein Bär könnte es nicht zierlicher präsentieren. Endlich sind wir alle satt, — sogar der Junge vom Hofe ist satt und äußert es durch einen klagevollen Laut, der aber nicht allein Seufzer ist und auch nicht bloß aus der Tiefe seines Busens sich emporringt. Ein jeder geht, mehr oder weniger gutwillig, wieder an seine Arbeit; nur der Vetter Just nicht, der doch am gutwilligsten gehen sollte. Und wir nicht; denn dazu sind wir wahrhaftig nicht vom Schloß Werden durchgebrannt!
Wir liegen, wie wir es uns auf jeder schattenlosen Stelle unseres Weges lockend ausgemalt haben, im hohen Grase, im Grasgarten des Steinhofes unter dem großen Kirschbaum; der Vetter Just Everstein aber sitzt in unserer Mitte am Stamm des Kirschbaumes und hält die Knie mit den langen Armen umschlungen. In der Küche hält Jule Grote die Kaffeemühle im Schoße und schüttelt die Haube und wirft bedenkliche Blicke durch das kleine Fenster nach ihren Gästen und ihrem in aller Welt nichts nützen jungen Herrn und Meister. Dieses aber gehört besser in ein ander Kapitel, und ich beginne das sofort.
Es war nicht der erste Everstein mit einem Nagel oder Vogel im Kopf, den der Steinhof erzeugte. Es hatten schon mehrere des Namens die Umgegend in Erstaunen gesetzt; und dieser Freund Just war auch nicht der erste, den die Gegend „Vetter“ nannte und von dem sie nach jedem Nachbarschaftsbesuche mit der Hand im Haar oder mit dem Knöchel des Zeigefingers vor der Stirn Abschied nahm und sich auf dem Heimwege fragte:
„Ist denn das ’ne Möglichkeit?“
Der Vetter Just mußte es aber doch wohl in der Absonderlichkeit allen seinen Ahnen zuvortun; und was zu viel ist, das ist zu viel! „Vieles hat er von seinem Großvater und seinem Vater, aber nicht alles,“ sagte Jule Grote.
„Der verfluchte Junge. Totschlagen könnte ich ihn alle Tage ein paar Male!“ pflegte sein seliger Vater zu seufzen. „Und totgeschlagen hätte ich ihn auch schon längst, wenn mir da nicht immer sein Großvater in das Gedächtnis käme, Nachbar, und ich mir denken müßte, was kann er denn eigentlich dafür, wenn’s ihm einmal im Blut steckt?! Mich hat’s wohl gottlob übersprungen! aber seinen Großvater hättet Ihr kennen sollen, Nachbar. Na, richtig, Ihr habt ihn ja gekannt, und so müßt Ihr doch auch sagen, daß so ’ne Weisheit, als der prästierte, auch nicht allenthalben und immer für Geld und gute Worte zu haben ist. — So nehme ich ihn denn am Kragen und schüttele ihn in der hellen Wut, und er sieht mich dumm an und sagt nichts, oder sagt: Ja, Vater! und dann muß ich ihn wieder laufen lassen; — denn, Herr Amtmann, Sie sagen wohl, das müssen Sie eben nicht tun, Everstein, sondern Sie müssen sich und dem Bengel einen Zwang antun! aber nun ist denn dieses wieder nicht in meiner Natur. Ich kann leider Gottes den Grimm und die Wut über den Nichtsnutz nicht festhalten über dem Nachdenken über ihn. Es ist eben unsere Natur! Was für die anderen Bauern der Mist ist, das sind für uns hier auf dem Steinhofe die Hirngespinste und Spintisierereien; und seit Olims Zeiten ist das so mit uns gewesen. — Ja, Sie haben recht, Base, daß das nicht so weiter gehen kann, wenn der Steinhof nicht zugrunde gehen soll, wenn ich mal die Augen zutue; aber Sie sind ein verständig Frauenzimmer, Base, und so will ich Ihnen denn meinen letzten Trost nicht vorenthalten. Sehen Sie mal, was hat uns auf dem Steinhofe seit mehr denn hundert Jahren immer wieder ’rausgerissen? Die gütige Vorsehung! So ist das bei meinem Vater gewesen und bei dem seinen und so weiter fort rückwärts. Und so hat sich noch, wenn die Not am größten war, — immer noch ein vernünftig Weibsbild gefunden, dem das Elend jammerte und das also ein gut Werk an uns tat und — uns nahm. Von Meiner will ich nicht reden; aber seit sie auf dem Kirchhofe liegt, vermisse ich sie doch auch recht sehr! Aber meine Mutter, als was Justs Großmutter nun ist, das war eine Frau! Wenn ich da an meinen seligen Vater denke, so kann ich nur die Hände zusammenlegen und sagen: Uh jemine!… Und sehen Sie, Base, auf so eine hoffe ich denn auch zum Besten von meinem Strick von Jungen da, und bei allem, was nach uns kommt auf dem Steinhofe. Die Weibsleute haben uns noch immer aus dem blauen Nebel und allen Dummheiten herausgeholt. Denn was Sie auch sagen mögen, Base, angewiesen seid ihr ja doch allesamt mit eurem ganzen Interesse auf uns, wenn ihr uns mal genommen habt, eure uneigennützlichen Gefühle beim Jasagen ganz unbesehen. Sie brauchen da nur an den Ihrigen und sich selber zu denken, wenn Sie es mir erlauben, Frau Base.“
Für die richtige war es wohl noch ein wenig zu früh am Tage.
„Wenn die Zeit kommt, werde ich mich nach ihr schon auf die Lauer legen, wie es mein Vater für mich getan hat und den sein Vater für ihn,“ pflegte der Alte einer jeden solchen sorgenvollen Erörterung als Schluß anzuhängen. Leider erging es ihm wie den meisten Erdenbewohnern: er starb an einer Erkältung in der Heuernte, ehe er sich nach der Rechten auf die Lauer gelegt hatte; und der Junge hatte dann auch nicht weiter nach ihr gesucht, sondern die Tage und sein Wachstum in ihnen hingenommen, wie’s ihm kam, unter staatlicher Obervormundschaft und unter der Pflege und Vormundschaft von Jule Grote.
Die Sommersonne scheint auf den dichtbelaubten Kirschbaum, und Licht und Schatten halten ihren flimmernden Tanz auf dem weichen Grase unter ihm. Irene hat ihren blonden Kopf in Evas Schoß gelegt und ist dem Schlafe näher als dem Wachen. Ewald liegt lang ausgestreckt auf dem Bauche, hält seinen Kopf auf beide Fäuste gestützt und starr blinzelnd auf den Vetter und zuckt mit den Ellenbogen, als ob er die ganze Welt in die Seite stoßen und sie gleichfalls auf ihn aufmerksam machen möchte. Auch ich halte in der grünen Kühle die Augen nur mit Mühe offen, aber annähernd horche ich doch auf alles, was hin und wieder gesagt wird, und gebe auch wohl mein Wort mit drein.
„Wenn du lange genug nachgedacht hast, so darfst du meinetwegen dreist sagen, was du denkst, Just. Wenn ich satt bin und weich liege, kann ich allen Unsinn ruhig anhören, Vetter Just,“ spricht Ewald mit einer Miene, als ob er noch nie während seiner gelehrten Laufbahn vom Klassenlehrer einer unverschämten Redensart wegen zur Tür hinausbefördert worden sei.
„Ich denke ja an gar nichts!“ antwortet der Vetter Just. „Was sollte ich denn denken?“
Irene von Everstein, ihre Augen halb öffnend, murmelt:
„Solch einem dummen Jungen antwortete ich auch das nicht einmal, Just. Er soll drei Bäume weiter gehen und uns hier unter unserem jetzt ungeschoren lassen. Das ist meine Meinung.“
„Und meine auch!“ ruft Evchen Sixtus mit ganz ungewöhnlicher Energie.
„I sieh’ einmal, Jungfer Naseweis! bist du auch noch da? In deiner Stelle wäre ich längst in der Küche, um Donna Julia Cichoria beim Kaffeekochen und in ihrem Kummer um ihren dummen Jungen zu unterstützen. Was ist deine Ansicht von der Sache, Fritzchen?“
„Halt’s Maul und laß mich wenigstens in Ruhe, Ungeheuer.“
„Und dies soll nun nicht grob sein?“ brummt das „belebende Prinzip“ in unserer Gesellschaft, dreht sich auf die Seite und grinst: „Bist du mir böse, Just?“
„Seit dem schönen Wetter zu Anfange voriger Woche habe ich euch hierher schon voraufgerochen. Jetzt ist es nett von euch, daß ihr mal wieder da seid. Ne, böse bin ich dir gerade nicht; denn Fritz und deine Schwester und Fräulein Irene wissen es, daß man auf keinen gern wartet, auf den man nicht jeden Morgen nach der Witterung ausguckt.“
„Sehr schön gesagt!“ brummt Ewald, jetzt wirklich sich abseits und unter einen etwas entfernten Stachelbeerbusch wälzend. „Gute Nacht, alle miteinander! Wenn wieder mal was Interessantes vorkommt, so weckt mich freundlichst. In Gehörweite für euren Unsinn bleibe ich euch zuliebe. Na, das Blech!“
Die Sonne liegt auf allen Bäumen des Grasgartens des Steinhofes; aber die Vögel in den Bäumen haben bereits ihre Siesta beendigt und fangen von neuem an, munter zu werden, um den trotz seiner Länge so kurzen schönen Tag so vergnügt und glücklich als möglich auszunutzen, — gerade wie wir. Die Komtesse sitzt wieder aufrecht und sehr helläugig da. Ihre Augen glänzen vor mädchenhaft lustiger Mutwilligkeit, als sie sagt:
„Hört nur, er schnarcht schon, der Unmensch! Jetzt sind wir unter uns. Rückt alle zusammen; — und nun sagen Sie, Vetter Just — es hört keiner zu als ich und Eva, Fritz und die Spatzen im Baum, und wir meinen es alle ganz ernst — haben Sie es hübsch weiter gebracht, seit wir zum letzten Mal hier auf Besuch waren?“
Mit seinem tölpischsten Lächeln sieht der Vetter in die Ferne:
„Wieso soll ich es denn weiter bringen, wenn ich nicht mal weiß worin?“
„Ach, verstellen Sie sich nur nicht, Vetter! Bitte, sehen Sie nicht so dumm aus! Damit machen Sie anderen Leuten was weiß, aber uns nicht. Sie studieren sich immer weiter hinein, bis zum Klügsten von uns allen, und das sind Sie auch von Natur schon lange; und nun werden Sie nur nicht rot, denn das nützt Ihnen noch viel weniger als das Dummaussehen. Sie studieren ja alles rundum verrückt, sagt Jule Grote; — sich selber — sie — den ganzen Steinhof. Und wo das enden will, weiß sie nicht, sagt sie.“
„Es ist auch nur Ewalds Neid, weil er für das, was einem anderen soviel Vergnügen macht, soviel Prügel von seinen Herrn Lehrern gekriegt hat,“ meint Evchen Sixtus schüchtern, und: „Unsinniges Volk!“ klingt es von dem Stachelbeerbusch faul und schlaftrunken her.
„Ja, es ist ein Spaß!“ sagt der lange, im nächsten Jahre mündige Vetter Just Everstein und verzieht den Mund wie ein ausgelachtes Kind, und — heute weiß ich genauer als damals, was das Auslachen und Ausgelachtwerden unter den Menschen bedeutet seit den Tagen des Urvaters Noah. Ich lache viel seltener als damals aus eigenem Antrieb, und noch viel seltener lache ich mit.
Damals lachte ich mit, und zwar in die grinsende Bemerkung von dem Stachelbeerbusche her:
„Hu, der alte Broeder! Schlag ihn doch mit unserem Zumpt auf den Kopf, Fritze! Uh; na, mein Junge soll’s besser haben als ich.“
Wir achten, was unsere Unterhaltung unter dem Kirschbaum anbetrifft, von jetzt an nicht im mindesten mehr auf die Stimme vom Stachelbeerbusch her.
„Es ist die lateinische Grammatik gar nicht,“ stottert der Vetter.
„Sondern deines Großvaters ganzer Bücherschrank, den du mit dem Steinhofe von deinem Vater geerbt hast, Just. Funkes Naturgeschichte, Blanks Geographie, der ganze Schiller, Goethes Götz von Berlichingen und Werthers Leiden, Engels Philosoph für die Welt, Nathan der Weise, Minna von Barnhelm, Emilia Galotti, das Mildheimische Not- und Hülfsbuch, das Mildheimische Liederbuch, Beckers Weltgeschichte und die Geschichte von dem Schweizer Schullehrer Pestalozzi —“
„Hat der Kerl auch ein Buch geschrieben?“ fragt der Stachelbeerbusch. „Bis jetzt habe ich gemeint, daß der nur den General Wallenstein nicht mit ermordet hat.“
„Ach, das war ja ein ganz anderer!“ ruft Eva Sixtus noch einmal gutmütig, und:
„Halt’ endlich deinen Mund, Sixtus!“ rufe ich auch noch einmal, aber gutmütig gerade nicht, und:
„Wer spricht denn eigentlich mit euch?“ klingt es unverschämt zurück. „Nicht einmal träumen darf man wohl mehr von euch verrücktem Volk? Natürlich, der Herr Vetter darf ruhig am hellen lichten Tage nachtwandeln gehen, ohne daß es einem anderen auffällt als höchstens der Jungfer Jule. Schön also — und noch einmal gute Nacht!“
Er trifft mit seinen nichtsnutzigen Redensarten dann und wann sonderbarerweise den Nagel auf den Kopf, der gute Freund unter dem Stachelbeerbusch. Wir betrachten uns alle von neuem den Vetter Just Everstein unter seinem Kirschbaum und sehen ihn uns auf das Wort von dem Nachtwandeln hin an.
Er läßt die Knie fahren, reibt sich die langen Beine eine Weile sehr nachdenklich, windet sich sozusagen an sich selber langsam und mühselig in die Höhe, hat mich dabei, ohne daß ich den geringsten Widerstand zu leisten imstande bin, mit emporgezogen und sagt:
„Komm’ du mal mit, Fritz. Ihr anderen könnt uns rufen, wenn der Kaffee fertig ist.“
Er hält mich mit eisernem Griffe am Oberarm, tritt über den Kameraden unter dem Stachelbeerbusche weitbeinig hinweg und nimmt mich mit sich, und ich weiß schon wohin; denn es ist nicht das erste Mal, daß er mich in dieser oder doch einer ganz ähnlichen Weise abseits führt. Und ich weiß auch schon wozu; denn es ist nicht das erste Mal, daß er sich an mich hält, wenn die anderen und die Welt ihm und er selber sich zuviel werden. Damals lachte ich ebenfalls; heute sehe ich sehr ernsthaft aus, wenn Leute Vertrauen in mich setzen, Rat von mir haben wollen und sich auf mich mehr als auf andere verlassen zu dürfen glauben. Ich habe im Laufe der Zeiten allzuviel von meinem Grundvermögen an Selbstvertrauen ausgegeben und eingebüßt, um das Ding jetzt noch bequem, leicht und vergnüglich nehmen zu können: — ach, armer Vetter Just, und wie fest und angsthaft verließest du dich an jenem Sommertage auf meine Schülerweisheit und wolltest Licht daraus für deinen ganzen tapferen, guten, großen Lebensweg! Mein bester Trost ist da heute, daß dir damals noch viel weniger damit geholfen gewesen wäre, wenn ich dir mit der vollen Summe meiner jetzigen Weisheit hätte aufwarten und zu Hülfe springen können!
Es befindet sich in einem Erker im Dache des Wohngebäudes auf dem Steinhofe ein einfenstriges Gemach, von dem aus man eine weite Aussicht hat über Wälder und Felder, ferne und nahe Hügel und Berge, eine Aussicht, so gut sie eben ein Blick dem Lande Westfalen zu liefern mag. Die Wände sind vor fünfzig Jahren vielleicht zum letzten Mal geweißt worden. Der Gipsfußboden ist in den kuriosesten Mustern nach allen Richtungen hin gesprungen und senkt sich ziemlich schräg von dem Fenster der Tür zu. Urväterhausrat ist der Ofen, der Tisch und die zwei Stühle. Urväterhausrat ist der Schrank, der des Großvaters Bücherei enthält. Ein gut Drittel alles Raumes nimmt des Vetter Justs Bettsponde ein, in welcher der Vetter, ganz entgegen der landesüblichen Gewohnheit, auf Stroh schläft und auch nicht unter dem gewohnten Federgebirge und kugelartigen Deckbett.
„Er ist ein Monster in allem, was er tut und läßt!“ stöhnt Jule Grote jedesmal, wenn sie den Schlüssel in der Tür steckend findet oder ihn sich mit Gewalt erobert.
Der Vetter, der meinen Arm auch auf der Treppe nicht losgelassen hat, befördert mich mit einem plötzlichen Schub und Stoß in die Mitte seines Heiligtums. Hastig verschließt und verriegelt er die Pforte von innen, dann wendet er mir ein von verschämtem, aber glückseligstem Lächeln verklärtes Gesicht zu und seufzt aus tiefster Brust:
„So! Nun laß sie kommen!… Willst du eine Zigarre, Fritz?“
Ich weiß, obgleich ich selber nichts weiter als ein „dummer Junge“ bin, womit ich dem alten wundervollen Jungen in diesem Raume zu Gefallen sein kann, wie niemand sonst in der Welt. Und die Luft in diesen engen vier Wänden muß von sonderbaren Sporen und Keimen erfüllt sein: Dschinnistan ist für uns beide da; die träge Verdauungsstunde unter den Bäumen des Grasgartens, aus dem wir eben die Treppe heraufgekommen sind, ist wie in ein fern vergangenes Jahrhundert entrückt. Ich sitze auf dem Bette des Vetters, und er hält mir das brennende Schwefelholz an den dargebotenen Glimmstengel und flüstert glänzenden Auges:
„Langreuter, ich habe ihn heraus!“
Es ist ein süßes Blatt, das ich da verqualme; aber ins Husten gerate ich doch darüber und zwischen dem Husten frage ich:
Ein Schlag auf die Schulter wirft mich zurück auf den Strohsack und mit dem Hinterkopf an die Wand.
„Den Magister matheseos!… Es ist, weiß Gott, richtig! Das Quadrat der Hypotenuse ist wahrhaftig so groß wie die Summe der Quadrate der beiden Katheten am rechtwinkeligen Dreieck!“
Ich reibe mir wohl den Hinterkopf ein wenig; aber so betäubt haben mich der körperliche Puff und die geistige Überraschung doch nicht, daß ich nicht mit Herz und Seele, mit Armen und Beinen und vor allem mit einem Hurra aus gesunder Lunge an der wissenschaftlichen Errungenschaft des Vetters teilnehmen könnte.
„Das ist famos! das ist brillant! Just, das ist großartig!… Und ganz allein aus dir selber; — das ist riesig —“
„Ich habe dich auch bloß dazu mit hier heraufgenommen. Jetzt brauchst du nur noch zu brüllen: das ist borstig! das ist haarig! — und wir können wieder zu Ewald und den Mädchen in den Garten hinuntergehen, Fritz!“
Es kommt einem gewöhnlich erst lange, nachdem man alle seine Examina hinter sich hat, wie schwer es ist, mit den wirklichen großen Herren aus Dschinnistan umzugehen, und — den meisten kommt es gar nicht. Die lobwürdigsten Examina in sämtlichen Brotfächern tun da nicht das geringste zur Sache. Mit wahrer Subtilität will nur immer das behandelt sein, was hinter dem berühmten Kanzler Oxenstierna steckt, nicht der wenige Verstand in ihm — nach seinem eigenen Wort —, der dazu gehört, um die Welt militärisch und ziviliter zu verwalten.
„Du hast recht, Vetter,“ sage ich kleinlaut zurück; „vergib mir nur noch mal das Dumme-Jungen-Betragen. Na, alter Kerl, gib mir die Hand. Daß ich mich riesenhaft freue, wenn es dir gut geht, weißt du ja. Und daß du ein nobler Kerl bist und zwanzigmal mehr wert als wir anderen alle miteinander, das weiß ich. Und jetzt komm’ hierher an den Tisch und beweise mir das nichtsnutzige Untier von Lehrsatz gleichfalls. Was die verdammte Bestie mich an Schweiß und Blut gekostet hat, das wissen die Götter. Und frage nur Ewald. Mathematik ist seine Force, aber drei Glatzköpfe könnten sich Perücken aus den Haaren machen lassen, die er sich darüber ausgerauft hat, und vom Oberlehrer Dr. Grimme weiß ich es fest: er trägt eine aus dem Busche, der auf Ewalds Kopfe gewachsen ist, und hat sich das Material selber mit den Wurzeln ausgezogen.“
„Den Witz habe ich schon einmal anderswo in Büchern gelesen, Fritz,“ meint der Vetter.
„Dann kannst du dich fest darauf verlassen, daß es gar kein Witz ist, sondern eine richtige, schreckliche Wahrheit, Just. Frage nur Ewald danach.“
Nun hängen wir über dem Tische, und der Vetter Just Everstein beweist mir den Magister. Es müßt ein gut Stück vom einstürzenden Himmel dem Erben und Meister des Steinhofes auf den Kopf fallen, um ihn zum Aufgucken zu veranlassen. Er verwickelt sich und gerät auf falsche Fährten und gerät auch sich mit der Faust in den blonden Haarwulst. Er findet sich wieder zurecht, und es wird licht und immer lichter vor und in seinen Augen. Endlich ist er siegreich durch und sein autodidaktischer Triumph vollständig.
„Hurra!… Weiß Gott, er hat den Pythagoras unter sich und kniet ihm auf der Brust!… Vetter, du bist ein Riese! Und auch dies hast du alles aus dir selber?…“
„Und aus Büchern!“ sagt der Vetter Just Everstein viel verschämter als ein junges Mädchen, dem man zum ersten Mal sagt, daß es hübsch sei. Die junge Dame auf dem Ball erfährt da natürlich nichts, als was sie sich schon längst selber mitgeteilt hat; der Vetter Just aber weiß von nichts, was ihn selber angeht, und glaubt am meisten noch der Mamsell Jule Grote, die ihm jeden Tag von neuem zu hören gibt, daß er der größte Nichtsnutz, Unverstand und Tagedieb sei, den der liebe Herrgott in seinem Zorn zu ihrem Elend in die Welt und auf den Steinhof habe hinsetzen können.
Von den „Büchern“ kommen wir natürlich auf des Großvaters Bücherschrank. Dschinnistan — Genieland, Geisterland öffnet seine Pforten immer weiter. Wir haben längst alle Berechnung darüber verloren, was es in Bodenwerder geschlagen haben mag auf dem Kirchenturme. Wir kümmern uns nicht im geringsten darum, daß es auch auf dem Steinhofe eine Uhr gibt, die ziemlich richtig die Zeit anzeigt und von Jule Grote gewissenhaft immer von neuem aufgezogen wird.
Wir sind zum Kaffee gerufen worden und haben nur geantwortet:
„Ja, gleich. Im Augenblick!“
Irene hatte Freund Ewald die Augen mit ihrem Taschentuch verbunden, und er hat den Blinden im Blindekuhspiel recht gut zu spielen gewußt. Wir haben das helle Lachen und Kreischen wohl vernommen und dabei aufgeguckt und gefühlt, daß es in dieser engen Kammer unter dem Dache an diesem Julinachmittage ziemlich schwül sei trotz dem offenen Fenster; aber wir haben auch diesen Lockungen nicht Folge geleistet, sondern nur wiederholt:
„Ja, gleich! Wir kommen ja schon!“
Damals brummte mir der Kopf, als Ewald Sixtus zuletzt eine Leiter mit Hülfe des Hofjungen vom Schafstall herüberschleppte, sie am Hause emporrichtete und plötzlich durch jaches Erscheinen in der Fensterbank und unbändig Geschrei uns mit roten Köpfen und offenen Mäulern aus Traumland und der Literatur vom Ende des achtzehnten und Anfang des neunzehnten Jahrhunderts in die Welt der Wirklichkeit und in die Gegenwart zurückriß. Heute weiß ich ganz genau, wie das Schicksal, wahrscheinlich mit dem Finger an der Nase, über den Vetter Just Everstein dachte, nämlich:
„Höre, lieber Sohn, Dich kenne ich wie alles übrige gut genug, um dich wie alles übrige auswendig zu wissen. Du würdest mir ein netter Hahn geworden sein, wenn ich dich von deinen Eierschalen an auf den Mist gesetzt hätte, der dir heute dein Ideal ist. Dich hätte ich wohl verbrauchen sollen als dyspeptischen Professor der Philologie und dysoptischen Doktor der Philosophie, — nicht wahr?! Ne, ne, nicht rühran! Hier wächst du mir mit deinen Spinnen im Kopfe auf deinem angeerbten höchst realen väterlichen Dünger und in der Gesellschaft von Jule Grotes Ferkeln und Küken auf. Nachher werden wir weiter sehen und den Kerlen mit ihren Systemen beweisen, daß doch auch in unserem Durcheinander und Kopfüber Kopfunter ein gewisses System vorhanden ist! Bitte, geniere dich ja nicht, du Tropf! rede mir nur drein und zappele dich ab, um dir und mir meine Widersinnigkeit zu beweisen. Es haben mich schon ganz andere Völkerschaften und Herrschaften für absolut ungereimt erklärt und das mir sogar auch schriftlich gegeben; ich habe aber zuletzt immer doch noch einen ziemlich passenden Reim auf sie zu finden gewußt. Nur schade, daß ich nicht wie ihr sagen kann: Wer zuletzt lacht, lacht am besten.“
„Wie süß das Mondlicht auf dem Hügel schläft!“
Es schläft auf allen Hügeln in der Ferne der Erinnerung für den rechten Menschen: die Sonne mag ihm noch so häufig hell und scharf aufgegangen sein im Leben.
Und Porzia sagt:
„Das Licht, das wir da sehen, brennt im Saal:
Wie weit die kleine Kerze Schimmer wirft!“
Und Porzia sagt:
„Horch, Musik!“
„Es sind die Musikanten Eures Hauses,“ antwortete Nerissa; und — one touch of nature makes the whole world kin: wer möchte nicht immer so nach Hause kommen bei Mondenlicht und wenn der Schein der heimatlichen Lampe durch die Bäume flimmert und des Hauses Musik dem Heimkehrenden, der den heißen Tag mit seinen Freuden, Nichtigkeiten und Widerwärtigkeiten durchwanderte, leise und wehmütig, aber süßer und herzlösender als alles, was der Tag zu bieten hatte, von fernher entgegenklingt?
Das ist nicht bloß in Belmont so gewesen, das war lange vorher so, ehe Venedig existierte, und wird hoffentlich auch wohl noch so sein, wenn es längst wieder in dem Sumpfe, aus dem es emporstieg, versunken ist.
Wie oft sind wir so heimgekommen, wir glücklichen Kinder damals?! Aus den grünen Wäldern und aus den bereiften Wäldern. Aus der Maiblumenzeit und aus dem Herbststurm. Von der Johanniswürmerjagd und vom Eislauf. Sie behaupteten dann jedesmal, daß sie sich recht sehr um uns geängstigt hätten; aber dieses gehörte ja ganz und gar zu der Musik, mit der uns die Heimat empfing, und wer möchte in späteren Jahren einen Ton der besorgten Liebe, die früher auf ihn achtete, in der Erinnerung vermissen?
Sie haben es uns nicht merken lassen, oder aber wir haben auch wohl nicht darauf geachtet, daß viel grimmigere Sorgen als unser spätes Nachhausekommen das Schloß Werden ängstigten. Der Herr Graf hat es seiner Tochter nicht mitgeteilt, welch einem schlimmen Shylock mit Messer und Wagschale seine Existenz verpfändet war. Er hat seine Lebensnot für sich behalten, wie meine Mutter ihre Ahnungen davon gleichfalls nicht laut werden ließ. Selbstverständlich haben doch viele Leute darum gewußt; wir aber nicht, denn zu den „Leuten“ gehörten wir eben damals noch nicht. Es gehört erst das richtige Alter dazu, ehe man zu seinem eigenen Schaden von der Welt unter jenes Sammelwort mit einbegriffen wird.
Daß es schlecht um den Steinhof stand, wußten wir; denn Jule Grote tat ihrer Zunge keinen Zwang an in ihren Warnungen und Vorwürfen, mit denen sie ihn (den Vetter Just einbegriffen) immer noch zu retten oder, wie sie sich ausdrückte, „herauszureißen“ hoffte; — aber wie schlimm es um Schloß Werden stand, das haben wir erst erfahren, als nichts mehr herauszureißen war. Die Leute hatten eben viel zu viel Respekt vor dem Herrn Grafen, um ihm mit ihren Warnungen, Redensarten, gutem Rat und Vorwürfen zu kommen.
Aber aus Kindern werden Leute. Die Zeit steht nicht still; — weder in dem grünen Walde noch im entblätterten, weder über der Weizensaat noch über dem Stoppelfelde, nicht auf dem Flusse noch diesseits und jenseits desselben, weder in Bodenwerder noch auf dem Steinhofe und auf Schloß Werden.
Wir sind vier oder fünf Jahre älter geworden und, was uns Knaben anbetrifft, eben dem Gymnasium entwachsen. Ich habe mich der Philologie gewidmet und treibe die dahin einschläglichen Studien in der großen Stadt Berlin; was daraus werden wird, ist mir augenblicklich noch recht dunkel; ich habe eigentlich nicht gerade viel Lust, später einmal den gelehrten Schulmeister zu spielen und meinesgleichen wiederum heranzubilden und groß zu ziehen. Ewald Sixtus befindet sich auf einem süddeutschen Polytechnikum. Er hat die Absicht, Baumeister, Ingenieur oder dergleichen zu werden und kostet vor der Hand seinem „Alten“ in dem „billigen“ Süden ein Erkleckliches.
„Unser römischer Namensvetter würde wohl andere Saiten gegen seinen Jungen aufgezogen haben, wenn die Wechsel nie reichen wollten,“ brummte der Alte in dem Försterhause. „Aber der Wildkater weiß es einem immer so plausibel zu machen, Herr Graf; — und dann ist da jedesmal, wenn die Ferien kommen, seine Schwester für ihn da, Frau Langreuter, und geht einem um den Bart; und so ein gutes Kind wie das Mädchen, Frau Langreuter, das hat die Gegend hier herum noch nicht weiter aufgezogen; die gnädige Komtesse ist natürlich ganz anders, ein nettes, vornehmes Frauenzimmer. — Ei, sieh mal, Fritze, bist du auch mal wieder da? Ja, ja, der alte Kessel! Nicht wahr, es rudelt sich doch immer wieder ganz gut daselbsten? Na, morgen kommt auch mein Junge; da werden ja denn wohl das stille Leben und die Friedlichkeit für anderthalb Monate ihr Ende haben.“
Ich sollte nun auch wie der Papa Sixtus von den zwei jungen Damen oder den beiden Mädchen, Irene und Eva, in zwei Worten ein Charakterbild geben. Und dies wunderbare Thema läßt sich im Grunde auch wirklich so abmachen. Sie waren Fräulein, die eben zu Jungfräulein geworden waren; und sie übersahen uns weit.
„Sie können einen verrückt machen mit ihrer klassisch großartigen Süffisance,“ sagte Meister Ewald und meinte hauptsächlich die Komtesse Irene. „Ho, ich glaube wahrhaftig, man muß sie erst geheiratet haben, um ganz genau zu erfahren, was eigentlich hinter ihnen steckt!“
Großartige Selbstgenügsamkeit hatte ich Even in ihrem Verkehr mit mir nicht vorzuwerfen; aber es kam ziemlich auf dasselbe hinaus, wenn ich dann und wann ihr Betragen für höchst sonderbar und sie für ein merkwürdig unberechenbares Frauenzimmer erklärte. Daß man ein „Frauenzimmer“ heiraten könne, war mir in dem Kreise meiner Vorstellungen als etwas Mögliches und vielleicht auch zu Erstrebendes noch nicht deutlich und faßlich. Die geniale Äußerung Ewalds in dieser Beziehung überhörte ich zuerst ganz, dachte dann am nächsten Tage zufällig wieder daran und schrieb sie mir erst in der folgenden Nacht als eine kolossale Frechheit und als — etwas ungemein Interessantes fest ins Gedächtnis.
Gewachsen sind unsere Nußbüsche an der Gartenhecke nicht mehr; sie sind aber noch mehr ins Breite gegangen mit ihren Zweigen und überschatten einen weiteren Kreis. Unsere alten Kindernester hängen noch in diesen Zweigen; aber es sind ausflogene Nester. Die jungen Damen klimmen nicht mehr zu ihnen empor, und nur Freund Ewald ruft noch dann und wann hoch in einem Wipfel das Gedächtnis früherer seliger fauler Stunden in seinem Busen wach und läßt seine langen Beine mit alter Grazie uns auf die Köpfe niederbaumeln; denn unser Lieblingsplatz sind die Bänke in diesem lieblichen Schatten doch geblieben, trotzdem daß wir so sehr erwachsen und verständig und anständig geworden sind.
Es ist aber einerlei; auf dem Grunde unserer Seele schlafen doch alle alten fröhlichen Neigungen. Wir gehen noch von dem „großen Nußbaum“ aus den Unserigen durch; der einzige Unterschied ist, daß die Mädchen (auch Irene) noch ein wenig mehr Einwendungen zu machen haben, und daß wir es zu Hause mitteilen, daß wir „ausgehen“, und uns die Erlaubnis nicht ohne weiteres selbst nehmen. Früher freilich ließen wir alle unsere Sorge den lieben Angehörigen, heute nehmen wir schon ein gut Teil unserer eigenen Sorgen auf alle unsere Wege, auch auf die lustigsten, mit uns.
Und da sind wir wieder auf dem Wege, von dem wir erst im Anfange dieses Kapitels beim süßen Licht des Mondes und beim Lampenschimmer der Heimat zurückkehrten. Es ist wieder Sommer, und wieder steht Mondschein im Kalender. Wir gehen wieder auf Besuch zu dem Vetter Just nach dem Steinhofe; aber nicht nur, wenn zwei dasselbe tun, ist es nicht dasselbe: auch wenn man zweimal dasselbe tut, ist es gleichfalls nicht mehr dasselbige. Die Namen, die Adam den Dingen gab, bleiben wohl, und die Menschheit darf sie dreist dabei nennen; aber flüchtig sind des Menschen Auffassungen und Begriffe: was er heute so nennt wie gestern, ist heute nicht mehr das, was er gestern darunter verstand. Wir gehen tausendmal den nämlichen Weg, aber nimmer wieder denselben; —
Ach, und in demselben Flusse
Schwimmst du nicht zum zweiten Mal.
Gottlob, das Echo in unseren Bergen und Wäldern wachzurufen, haben wir noch nicht verlernt — Ewald und ich nämlich.
„Holla, der Steinhof: Heda, he, Vetter! Vetter Just Everstein!“
„Holla, holla, hier!“ klingt es zurück, und der Vetter, nunmehr fünfundzwanzig Jahre alt, kommt langsam und langbeinig, unbeholfen, fett und äußerlich unsagbar vertiert, die kurze Pfeife im Munde, über seinen Hof uns entgegen, nach dem Hause zurückrufend:
„Jule, da sind sie.“
Und wieder erscheint Jule Grote auf der Haustürtreppe, um fünf Jahre hexenhafter von außen und weichmütiger von innen geworden.
„O mein Je, die jungen Herrschaften! Die Ehre und das Vergnügen werden ja jedesmal größer; denn so wie die jungen Leute, mit Erlaubnis zu sagen, heranwachsen, das glaubt gar keiner, der es nicht immer von neuem mit ansieht.“
„Und du hast uns wieder voraufgeahnt, Vetter Just?“ lacht Ewald.
„Natürlich! Und sowohl von wegen der Seelenkunde, als der Witterungskunde. Nach wem habt ihr euch denn wohl am meisten während des vierzehntägigen Landregens hingesehnt als nach mir. Meteorologie nennt man dieses, wenn man seine Freunde genau kennt und zu gleicher Zeit mit der Landwirtschaft zu schaffen hat.“
„Wahrlich, so ist es, Herr Vetter!“ lacht auch Irene, die Hände zusammenschlagend, und Eva lacht auch, und der Vetter gibt der letzteren zuerst die Hand; denn sie macht sich immer noch von allen am wenigsten über ihn lustig, das heißt gar nicht; und er weiß das um so mehr zu schätzen, je „gelehrter“ er geworden ist und weiter wird. Der Ernst und die ernsthafte Teilnahme seiner Umgebung und guten Bekannten hält selbstverständlich nicht Schritt mit seinen Fortschritten in Bildung und Wissenschaften. Im Gegenteil, sie bleibt sehr zurück dahinter, und die gute Bekanntschaft nimmt ihn immer vergnügter, was man ihr schon hätte hingehen lassen können, wenn nicht leider bereits Leute darunter gewesen wären, die auf seine „Verrücktheit“ spekuliert hätten und eigene Bestrebungen darauf bauten. Die lachen nur hinter seinem Rücken, und er hat keine Ahnung von ihnen, trotzdem daß Jule Grote ihn tagtäglich auch auf das aufmerksam macht und mit der Nase darauf hinstößt.
Die Lacher nimmt er in gewohnter Weise leicht.
„Das ist mir ganz einerlei,“ meint er. „Ich denke sie mir allesamt rückwärts, wie sie alle an ihrer Mutter Brust gesogen oder eine Amme gehabt haben oder mit Brei aufgefüttert sind, und wie keiner was für seine Natur kann und ich auch nicht. Wenn ich da muffig werden wollte, so hätte ich wohl manche andere bessere Gelegenheit zur Wut. Ich habe doch alles versucht. Ich habe mir eine Kanarienvögelhecke angelegt, und ich habe mich auf die Bienenzucht geworfen — oben stehen die Bücher über beides, und es ist eine ganze Reihe geworden. Ich habe es mit der wissenschaftlichen Verbesserung der hiesigen Ackerstelle in ökonomischer Hinsicht probiert und — oben stehen die Bücher auch, und da habe ich nicht den tausendsten Teil von dem, was darüber erschienen ist, aber eine schöne Reihe ist es doch. So wahr ich hier stehe, es ist mir bitterer Ernst um meiner Väter Erbe, obgleich ich noch nicht einmal wie sie verheiratet bin und Nachkommenschaft habe. Der liebe Gott weiß es, wie oft ich mich schon dem Teufel vor Angst und Verdruß hätte übergeben mögen!“
Dieses pflegte er zu sagen; augenblicklich aber brummt er im höchsten Behagen:
„Wir sind eben beim Frühstück. Kommt nur rasch herein. Jule!“
„Ich weiß ja schon, Just,“ ruft die Alte, die harte treue Hand im Kreise herumreichend. „Alles, wie es sich schickt. Vorliebnehmen ist auch was, was der liebe Gott gern hat.“
Da ist nun die alte gute Bauernstube des Steinhofes zum zweiten Mal. Wieder voll Augustfliegen und mit all dem übrigen Zubehör, — auch den Hühnern.
„Alles immer noch so wie sonst,“ grinst der Vetter. „Tretet mir nur die Küken nicht tot. Aber ein Skandal ist es eigentlich und schickt sich gar nicht, Fräulein Eva. Wenn ich mir die Mastviehzucht — ich will mal sagen, die Schweine — aus dem Salon entfernt halte, so komme ich damit an die Grenzen des Menschenmöglichen, Fräulein Irene. Das Gedicht von Goethe, Grenzen der Menschheit, ist da ganz auf meinen Fall und meine Umstände gemacht.“
„Weil wir alle wissen, daß wir hier jederzeit so, wie wir erschaffen wurden, willkommen sind, deshalb sind wir alle Augenblicke bei Ihnen, Vetter,“ lacht die Komtesse. „O, kümmern Sie sich Evas und meinetwegen gar nicht um die Grenzen der Menschheit. Lassen Sie dreist alles herein, was von Rechts wegen zum Steinhofe gehört.“
„Und dies ist wieder Schinken!“ stottert der Vetter blöde glückselig. „Und zu empfehlen, Fräulein. Sehen Sie, ein Barbar bin ich auch gegen diese lieben Borstentiere nicht. Ein jeder muß doch nach seinem Nutzen in der Welt taxiert werden, — auch das Porcus! Nicht wahr, Ewald? nicht wahr, Fritz? Jule, mehr Milch für die Damen!“
Wir tun ihm den Gefallen und lachen über seinen Witz herzlich; nur Ewald bemerkt dazu:
„Drehe mal den Schlüssel dort im Schrank und rücke mit einem Nordhäuser auf den Schrecken heraus!“
Wir sind diesmal mehr unter uns. Die Leute sind draußen im Felde oder sonst in Adams Berufe tätig. Die alte Jule geht ab und zu.
Wenn der Vetter eben noch behauptete, bereits gefrühstückt zu haben, so könnte ihm ein magenkranker Millionär dreist zwei Drittel von seiner Million für den Appetit bieten, mit dem er in unserer liebenswürdigen Gesellschaft frisch von neuem ans Werk geht. Sein Hang in das Geistige hinein und sein Sehnen nach den weniger materiellen Interessen der Menschheit haben ihm da gottlob bis jetzt noch keinen Abbruch getan.
Wir holen ihn natürlich mehr oder weniger harmlos aus über seine gegenwärtigen Studien. Vierschrötig sitzt er heute vor mir da, mit beiden Ellenbogen auf dem Tische das mecklenburgische Wappen zur Darstellung bringend, und — verschämt wie irgend eine Jungfer im durchlauchtigsten deutschen Bunde. Und doch ziert er sich nicht. In seinem Kauen, Schlingen und Schlucken gibt er ganz naiv und auch etwas geschmeichelt Nachricht von sich. Eva findet ihn im geheimen rührend, Irene von Everstein rührend-komisch, Herr Ewald Sixtus „einfach zum Wälzen!“ und ich — ich finde, daß sie alle recht haben in ihren Meinungen von ihm; denn ich bin leider am festesten davon überzeugt, ihn längst herausgefunden zu haben, und zwar als einer von den ersten. Gütiger Himmel!
Gütiger Himmel! O du lieber Gott!… Das ist auch so ein Ausruf, durch den sich der Mensch Luft macht, ohne dabei viel an das zweite Gebot zu denken.
Ich stütze den Kopf auf die Hand, und die Rechte, die ihre Federzüge weiterführt, ist nicht mehr imstande, auf jedes Komma und jeden Punkt zu achten. Ist es möglich, daß die Sonne so hell und der Mensch so sorgenlos sein kann? Wir haben es an unserem eigenen Leibe und in unserer eigenen Seele erlebt; also möglich muß es doch wohl sein! Ich habe bis jetzt meistens im Präsens geschrieben; in den Zeitformen der Vergangenheit fahre ich von jetzt an fort zu schreiben.
Unser Behagen an dem guten Tage, an der guten Stunde war wieder einmal auf das Höchste gestiegen, als Jule Grote den Kopf in die Tür steckte und uns benachrichtigte:
„Es steht ein Mann draußen, der will die jungen Herrschaften sprechen; und hier ist ein Brief für dich, Just. Der Landbriefträger von Bodenwerder hat ihn auch eben gebracht; aber er hatte es eilig, und was darin steht, wußte er nicht.“
„Hurra!“ riefen Just, Ewald und ich, die Mädchen sahen lächelnd auf und nach der Tür. Daß uns da etwas Unangenehmes oder gar noch etwas viel Schlimmeres kommen könne, fiel uns nicht in den Sinn. Die ganze Welt: die Erde, dieser treffliche Bau, dieser herrliche Baldachin, die Luft; dies wackere umwölbende Firmament, dies majestätische Dach, mit goldenem Feuer ausgelegt — war alles in zu guter Ordnung, als daß wir uns auch nur den allergeringsten Riß durch es hätten vorstellen können.
„Man hat doch keinen Augenblick vor ihnen Ruhe!“ hatte Ewald gerufen und war aufgesprungen, um den Boten von Schloß Werden hereinzuholen oder draußen auszufragen nach dem, was man von uns wünsche. Der Vetter hatte seinen Brief ruhig neben seinen Teller gelegt und nur gesagt:
„Er ist von Stakemann in Bodenwerder. Weshalb kommt der alte Junge nicht selber, wenn er mir was zu sagen hat. Na ja, es ist eben keine Jagdzeit.“
Er wischte langsam und behaglich die fettglänzenden Finger an seiner Lederhose ab, ehe er das Schreiben von neuem aufnahm und es erbrach. Als Gelehrter wußte er natürlich, daß man jedwedes Schriftstück mit dem gehörigen Respekt (selbst wenn es nur vom Freund Stakemann in Bodenwerder war) und vor allen Dingen mit Reinlichkeit zu handhaben habe.
„Komm doch mal heraus, Fritz,“ sagte Ewald Sixtus dann von der Schwelle und auf seinem Gesicht war keine Spur mehr von der Lust der Minute vorhanden.
„Was ist es denn?“ fragten die beiden Mädchen immer noch lachend; doch schon im nächsten Augenblick hatten sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Vetter Just Everstein zu richten, der mit seinem jetzt geöffneten Briefe in der Hand wortlos und mit offenem Munde dasaß, dann sich über die Stirn strich wie einer, dem der kalte Angstschweiß ausbricht, wieder das Geschreibsel ansah, aber doch nur, als ob er den Inhalt desselben träume, dann die Hand schwer auf den Tisch und auf seinen Teller fallen ließ, daß die Scherben davon nach allen Richtungen hin auseinander flogen, und zuletzt aufstand und starr dastand und in jenen Riß blickte, der einem jeden zu irgendeiner Stunde mehr oder weniger durch sein Universum gegangen ist. Die Wand und die Stubendecke fällt wohl nicht so leicht ein, wohl aber das mit goldenem Feuer ausgelegte Firmament — die ganze Welt wie wir sie uns dachten in unserer Unerfahrenheit von ihr.
Den Boten hatte uns meine Mutter eine Stunde nach unserem Weggange von Schloß Werden nachgejagt. Der Herr Graf war in einem Gartenweg vom Schlage gerührt, gelähmt und bewußtlos aufgefunden worden. Als der Bote sich aufs Pferd warf, lebte der arme Herr zwar noch; aber es stand schlimm mit ihm, und — „die Frau Langreuter wäre am liebsten selber gekommen, um die gnädige Komtesse nach Haus zu holen,“ sagte der Bote. „Was ich sonst vernommen habe, ist, daß kurz vor dem Unglück ein Brief von dem Herrn Doktor Schleimer in Bodenwerder angekommen war.“
Das war ein jäher Schrecken, der an dieser Stelle kurz abgemacht werden muß.
Den Brief hatte der gute Freund des Vetters aus Bodenwerder geschrieben, und er lautete:
„Paß auf, Vetter Just! Seit vorgestern fehlt der Doktor Schleimer, und seit heute morgen ist es sicher, daß er, wenn er es irgend möglich machen kann, fürs erste nicht nach Hause kommen wird. Du solltest das Aufsehen hier sehen; aber natürlich hat’s jetzt jeder längst vorausgewußt. Ob ihn die Gerichte durch ihre Steckbriefe und Signalements wieder einholen werden, ist die Frage. Aber eine andere Frage ist’s, wie Du eigentlich mit ihm stehst. Du weißt, er hatte einen sicheren Schuß, das muß man ihm lassen; aber daß er auch zu anderen Dingen als bloß zur Jagd nach dem Steinhof hinaufgekommen ist, glaubt mehr als einer, der manchmal nach euch hingehorcht und seine Augen offen gehabt hat, z. B. ich. Kannst du ihm ruhig nachsehen, so ist’s mir sehr lieb, und ich bitte dich, gib baldigst Nachricht, daß ich aus der Sorge komme. Hast du da Dreck am Stecken, so bin ich Dein Freund und habe Dich hiermit verwarnet. Du bist dann aber zu Deinem Trost der einzigste nicht, der sich vor Gift die Haare auszuraufen hat. Hier sind Dutzende, die dem Notar den Kalk von den Wänden herunter nachfluchen, und darunter am meisten die, welche mit dem urfidelen Kerl (und das war er!) auf der Kegelbahn und an unserem runden Tisch beim Posthalter Brüderschaft gemacht oder ihn zum Gevatter gebeten haben. Aber das will noch gar nichts sagen; meine feste Überzeugung ist, daß der Gegend das richtige Licht erst dann aufgesteckt wird, wenn es jeder von euch biederen Landleuten zu den Akten gegeben hat, wie er unter euch gewirtschaftet hat. Wahrhaftig, mir sollte es recht leid tun, Vetter, wenn Du auch in diesem Falle mit zu seinen besten Bekannten gehörst, und ich kann nur wünschen, daß Dir Dein verrücktes Latein und sonstige unsinnige Liebhabereien zum ersten Mal was genützt und zu dem richtigen Mißtrauen in Geldsachen und Unterschriften gegen die Menschheit verholfen haben. Dieses alles habe ich Dir als Freund geschrieben; denn daß es mir recht käme, wenn dem Steinhofe durch solchen abgefeimten, nichtswürdigen Spitzbuben und Durchgänger ein Malheur passierte, wirst Du wohl aus alter Bekanntschaft und von wegen der vielen vergnügten Stunden daselbst nicht meinen,“ usw.
Der Vetter Just stand auf, setzte sich wieder, ließ die Hände matt und flach auf die Knie fallen und stöhnte:
„Kinder, das ist freilich wohl für uns alle die letzte vergnügte Stunde auf dem Steinhofe gewesen. O Fräulein Irene — sehen Sie nicht so stier hin! vielleicht und hoffentlich steht es wohl noch nicht so schlimm mit dem Herrn Papa. Medizinisch kann der Mensch mehr als einen Schlag aushalten, ehe er für immer zu Boden liegt. O Jule, liebe alte, arme, alte, liebe Jule, ich wollte gleich für alle Ewigkeit nicht wieder von der Erde aufstehen, wenn ich dir dieses erspart hätte. Ja, ich habe dem Doktor Schleimer den Steinhof auf lateinisch in die Tasche gesteckt, und er nimmt ihn mit hinüber nach Amerika!“
Die alte Jule Grote fiel aus dem Weinekrampf in den Lachkrampf —
„O Just, Just, Just, sprich doch nicht von mir!“
Was wir anderen sagten, läßt sich nicht genau durch Wort und Schrift ausdrücken; es war auch nicht von Bedeutung. Auch von unserem Heimwege durch den heißen, glühenden Tag ist wenig zu reden. Weiße schwere Wolken wälzten sich, als wir in dem morschen Kahne des Vaters Klaus wieder auf dem Flusse schwammen, über die Berge empor und in das lichte Blaue hinein; Irene lag auf der Bank, mit dem Kopfe an Evas Brust; Ewald hatte eine Ruderstange ergriffen, blickte von Zeit zu Zeit auf die beiden Mädchen und nahm ingrimmig unserem Charon den schwersten Teil seiner Arbeit ab. Ich ließ mir wieder die Flut des Stromes über die heiße Hand spülen; aber Kühle war nicht in dem Wasser.
„Ich weiß es wohl, daß es da nicht gut steht,“ flüsterte mir der weißhaarige Schiffs- und Fischersmann beim Aussteigen zu, indem er verstohlen mit dem Daumen nach den heimatlichen Bergwäldern deutete. „Ja, ja, junger Herr, es fließt alles hin wie das da!“ und er deutete auf seinen Fluß.
Das war kein neues Bild; ich aber sah doch auf die eiligen Wasser zurück und fand den Vergleich von neuem tiefsinnig und einzig zutreffend. Wie kommt es, daß wir den Eindruck der höchsten Weltweisheit nie aus dem Verkehr mit den Herren vom Metier, wohl aber gar nicht selten aus der Bekanntschaft und dem Umgange mit dem Vater Klaus in seiner Fischerhütte, mit der alten Tante in ihrem Erkerstübchen und mit dem Unbekannten, dem wir seit vier Wochen täglich in der Gasse begegnen und mit dem wir noch nie ein Wort gesprochen haben, — ziehen?! Weil es die Gemeinplätze, d. h. die höchsten Wahrheiten sind, auf denen unser Leben sprießt, wächst und wuchert, und nicht die hohen Offenbarungen des Menschen im einzelnen. In ruhiger Stimmung bereiten wir uns durch die letzteren wohl auf die entgegengesetzte vor, aber doch mehr, um die gute Stunde noch behaglicher zu machen: die böse Stunde hat noch keiner behaglicher dadurch gemacht.
Es donnerte hinter den Bergen, — ein langgezogenes feierliches Rollen dann und wann den ganzen Nachmittag über. Wir kamen nach Hause, und der Herr Graf konnte mit seiner Tochter nichts mehr sprechen. Er starb in der Nacht. Wir anderen von Schloß Werden durchwachten sie, und wir hörten den heftigen Sommerregen in den Blättern rauschen.
Ich war dreißig Jahre alt geworden und, wie es in den Sternen geschrieben stand, ein Schulmeister. Ich war Doktor der Philosophie und hatte die venia docendi an der Universität Berlin. Wenn sie nur gekommen wären, um das von mir abzuholen, was ich selber gelernt hatte! Aber sie blieben aus; sie schienen der Sache nicht im mindesten zu trauen.
Zuerst versuchte ich es, mein philologisches Wissen auf einem rheinländischen Gymnasium an die Jugend zu bringen; jedoch bekam ich bald von maßgebender Stelle herunter den Rat, diesen Versuch aufzugeben. Man verwies mich zwar nicht offiziell dabei auf meine wirklich etwas hohe Schulter; aber man zuckte doch nur die Achseln, wenn die Jungen lachten und meine Autorität gleich Null blieb.
Die Kirche, die immer den Nagel auf den Kopf trifft, hat auch darin recht, daß sie keinen mit irgendeiner auffälligen Gebrechlichkeit Behafteten unter ihren öffentlichen Dienern leiden will. Sie hat selbstverständlich ihre Würde zu bewahren, selbst auf Kosten ihrer besseren Überzeugung. Hat sie der Schadenfreude und der Lust am Lachen unter ihren Lämmern ein testimonium divitiarum auszustellen, so tut sie es und fühlt nachher nicht das geringste Bedürfnis, sich die Hände zu waschen, wie weiland der römische Prokurator Pontius Pilatus.
Ich ging und überließ es besser gewachsenen Oberlehrern und Kollaboratoren, die blonde und blauäugige Jugend der Germanen zum Einjährig-Freiwilligendienst und auf das Abiturienexamen vorzubereiten.
Was ich dann trieb? Ich war stark im Griechischen und Lateinischen. Einer Lieblingsneigung wegen hatte ich mich auf das Auffinden und Nutzbarmachen mittelalterlicher Geschichtsquellen geworfen, und man hat mich draußen eine Zeitlang schändlicherweise im Verdacht gehabt, Doktordissertationen aus vielerlei Fächern im Vorrat anzufertigen, auf Lager zu halten und sie bei sich bietender Gelegenheit gegen jedes Honorar unter dem Siegel der Verschwiegenheit (Diskretion selbstverständlich) zu verschleißen.
Dies ist eine schnöde Verleumdung! Ich habe nur einem Menschen zum „Doktor“ verholfen, und der bin ich selber; und, um eine Redensart der Πόλις anzuwenden: was ich mir dafür kaufen konnte, war unbedeutend.
Aber es nennen sich manche Menschen Geschichtsforscher und edieren Monographien, Volks- und Völkerhistorien und haben seltsamerweise vor den Quellen gerade eine so große Scheu, wie vielleicht in ihrer Jugend vor dem Quellwasser, wenn es am Sonnabend abend zu einer gründlichen Reinigung ihrer Person verwendet werden sollte. Für diese und ähnliche Herren war und bin ich der rechte Mann. Als wirklich geheimer Mitarbeiter bin ich denn auch für mehr als einen Parlamentarier schätzbar, und manches „Hört, hört!“ und manches „allgemeine Beifallsgemurmel“ wäre eigentlich auf meine Rechnung und nicht die des „verehrten Vorredners“ und weit und tief blickenden Realpolitikers auf der Tribüne der gegenwärtig tagenden hohen politischen Körperschaft zu setzen.
Was ich mir hierfür kaufen konnte, war etwas, wenngleich nicht viel mehr als das, was mir die Sprachen der Griechen und Römer zu Utilitäts- und Luxuszwecken und Ausgaben abwarfen.
So ging es mir denn erträglich nach Wunsch, und sogar was den Luxus anbetrifft; das jedoch erst seit dem schlimmen schwarzen Tage, an dem ich meine gute Mutter verlor und leider nicht mehr für ihr Behagen in ihren Greisenjahren zu sorgen hatte. Ich saß im Winter warm zu Hause, ich speiste in einer der Restaurationen mittleren Ranges der Stadt, und ich konnte mir dann und wann ein Buch, wenn auch nur antiquarisch, anschaffen: auf dem hohen Standpunkte wohlangewendeter Lehrjahre, der sich in dem französischen Worte: je ne lis plus, je relis seulement! darlegt, bin ich auch bis heute noch nicht angelangt, hoffe ihn aber dermaleinst zu erklimmen.
Mein „Zu Hause“ bestand in einer bescheidenen Junggesellenwohnung im vierten Stockwerk eines Hauses in der Mittelstraße. Ich besaß wohl eine eigene Bibliothek, aber keine eigenen Möbel.
Ich hatte harte, steinige Pfade gehen und meine Wege häufig recht heftigem Winde, argen Staubwirbeln und unbehaglichem Regenschauer abkämpfen müssen. Selbst in den äußerst seltenen Momenten, wo ich mich für einen äußerst gescheiten Menschen dabei hielt, zog ich wenig Genuß und Befriedigung daraus; nämlich aus dem, was die Nebenmenschen gewöhnlich etwas spitzig eine äußerst glückliche Selbstüberzeugtheit zu nennen pflegen. Und nun genug hiervon. Wie kurz und abbrüchig ich dieses alles hingeschrieben habe, so habe ich es doch nur wie jeder andere gemacht und zuerst einzig und allein von mir selber als der wichtigsten Angelegenheit dieser und jeder zukünftigen Welt gesprochen. Es soll dafür aber auch bei mir nicht mehr als bei jedem anderen zu bedeuten haben — eine harmlose, eben der Menschheit anklebende Schwäche und das gleichfalls ganz allgemeine Bedürfnis, wenigstens etwas in der eigenen Persönlichkeit im Laufe der Zeiten aufrecht und unberührt zu erhalten.
Die anderen!… Wo waren die anderen im Strom der Zeit geblieben? Was war aus den anderen geworden, die vor ein paar Seiten noch mit mir jung, gesund, dumm und glücklich waren?
Wenn ich es nun mit schönen Redensarten zudecken würde, wie wenig ich mich im Grunde um diese anderen bekümmert hatte, so würde mir das leicht genug werden. Ich könnte aber auch den nächsten guten Bekannten oder den ersten besten Unbekannten in der Gasse anrufen, um es mir von ihnen bestätigen zu lassen, wieviel der Mensch mit sich selber zu tun hat und wie wenig Zeit und Nachdenken ihm für den liebsten Freund übrig bleibt, wenn sich eine Wand, eine Stunde, ein Tag oder gar ein Jahr zwischen ihn und uns gelegt hat.
Ich habe Jahre lang nur gewußt, daß Eva Sixtus in der alten Heimat dem alten Vater immer noch Haus halte, daß Ewald in seinem Beruf als Ingenieur in Irland tätig sei und daß Irene von Everstein verheiratet in Wien lebe. Von dem Vetter Just habe ich gar nichts gewußt. Ich erlebte es noch als Student, daß der Steinhof subhastiert wurde und weit unter seinem Wert an einen Landsmann fiel, der schon längst ein freundlich-begehrliches Auge darauf geworfen hatte und einst ebenfalls zu den fröhlichsten und behaglichsten Gastfreunden und Jagdgenossen des Vetters gehörte.
Daß Schloß Werden gleichfalls unter den Hammer kam und unter dem Wert einen Liebhaber fand, erfuhr ich brieflich durch meine Mutter, die dann zu mir ins Rheinland zog, und daselbst, wie gesagt, in meiner Kollaboratorwohnung nach längerem schweren Leiden sanft gestorben ist.
Jule Grote sollte immer noch in Bodenwerder wohnen, doch das war ein Gerücht, von dem ich nicht einmal angeben kann, wie es zu mir gelangte. Ich hatte viel zu viel mit meinem Griechischen und Lateinischen, meinen mittelalterlichen Geschichtsquellen, modernen Geschichtsschreibern und parlamentarischen Tagesgrößen zu schaffen, um mich viel um Jule Grote kümmern, mich bei ihr aufhalten zu können. Es ist ja eben kein Aufenthalt in dieser Welt bei den besten Dingen, — und bei den besten Freunden auch nicht; und wenn alle Lebenskunst am Ende nur darauf hinausläuft, sich unabhängig von den mitlebenden Menschen und Dingen zu machen, so ist das eigentlich gar keine Kunst, sondern uns allen höchst natürlich.
Nun nahm ich seit verhältnismäßig langer Zeit alles als etwas, was sein konnte, jedoch nicht zu sein brauchte. Es gewährte mir häufig das bekannte egoistisch-kitzelnde Behagen, daß die Tage, an denen auch ich dann und wann grimmig und selbstüberzeugt rief: Nun soll es sein! hinter mir lagen.
Die süße und sonnige, wälderrauschende, ewige Frühlings- und Erntefeste feiernde Zeit von Schloß Werden lag auch hinter mir, und man hat es mir im Lesezimmer der königlichen Bibliothek nie angemerkt, daß mir bei meiner närrischen Kompilationsarbeit die Erinnerung daran irgendwie hinderlich in den Weg trat und mich vielleicht geduldig stimmte, wenn ein mir augenblicklich nötiges Werk ausgeliehen war und bei einem, wie Freund Ewald seinerzeit sich ausgedrückt haben würde, „dummen und langweiligen Kerl“ lag, der doch nichts damit anzufangen wußte.
Mir wird bedenklich flau zumute, wie ich alles dieses hier niederschreibe, und ich denke, offen gestanden, mit einigem Grauen an die möglicherweise doch eintretende Stunde, in der ich diese Seiten mit ihren liebenswürdigen Selbstbekenntnissen wieder überlesen werde. Es ist immer eine sonderbare, heikle Sache um das Wiederlesen im eigenen Lebensbuche! An welche Leser ich mich aber mit dem eben Niedergeschriebenen wende, weiß ich, Gott sei Dank, nicht. Mündlich hätten mich wohl nicht sehr viele aussprechen lassen, sondern das meiste von sich aus anders und besser zu berichten gewußt. Und es ist gut so, denn es ist die gute Meinung, die die Welt von sich hat und lebhaft geltend macht, die diese sonderbare Universitas aufrecht und im Gange erhält. Was sollte aus ihr, der Welt, werden, wenn jeder es vermöchte, den anderen ruhig aussprechen zu lassen? Eine recht objektive Welt, aber eine vielleicht doch etwas zu ruhige; — so etwas wie ein Universalkirchhof vielleicht, voll sehr weise im Lapidarstil redender Leichensteine. Der Herr erhalte uns also im recht fröhlichen Kriege gegeneinander, solange es ihm gefällt, uns überhaupt zu erhalten!
Ob er wirklich so existiert, wie wir ihn aus tausendfachem Zusammentreffen mit ihm kennen lernen, lassen wir eine offene Frage bleiben. Wie wir ihn in unsere philosophischen Systeme einzureihen belieben: im praktischen Dasein bleibt er verteufelt mehr als ein bloßes Wort oder ein Begriff. Er ist und bleibt der Herr und Gebieter. Und im Gegensatz zu den übrigen Erdenherren und Erdengebietern läßt er sein Kommen vorher durchaus nicht ankündigen, weder durch die drei Stöße mit dem Marschallstabe auf den Parkettfußboden, noch durch Posaunenstöße, durch das Hervorrufen der Wachen, den obligaten Trommelwirbel, das Präsentieren der Gewehre und das Senken der Fahnen. Die Erdenherren vor allen übrigen Sterblichen wissen es am genauesten, daß er auch dazu — viel zu vornehm ist: er, der Zufall nämlich.
Von der Suppe aufsehend bei meinem altgewohnten alltäglichen Speisewirt, fand ich ihn mir plötzlich wieder einmal gegenüber, und der Löffel entfiel meiner Hand. Der Löffel ist der Hand viel größerer Philosophen, Geschichtskenner und dergleichen Leute bei derartigen Gelegenheiten entsunken, und sie haben es hoffentlich stets für eine Gnade gehalten, wenn ihnen der Appetit nicht für längere Zeit oder gar für immer verdorben wurde.
Gottlob war das letztere bei dieser Gelegenheit bei mir nicht der Fall; aber die Erstarrung blieb dessenungeachtet für längere Zeit die nämliche, bis sich das sie in ihr Gegenteil, die höchste Bewegung, auflösende Wort fand:
„Vetter!… Der Vetter Just!“
Je unmöglicher es erschien, desto bedingungsloser drängte sich die Gewißheit auf, daß er es war. Ja, er war es! Er war es unbedingt!… Ausgeweitet nach allen Dimensionen; mit einem Ansatz zwar zu einer hohen Stirn, sonst jedoch in keiner Weise infolge seines landwirtschaftlichen Bankerottes verfallen und zu einer selbstgelehrten Ruine geworden, sondern auch — ganz im Gegenteil.
Er war es ganz gewiß! und zwar mit einem gewissen, völlig undefinierbaren Anstrich vom Exotischen, einem ihm ganz sonderbar gut passenden Anflug von Amerikanertum. Wäre einer von den Göttinger Sieben seinerzeit nach Amerika ausgewandert; so hätte er so zurückkommen können; Professor Gervinus vielleicht ausgenommen. Es war wundervoll!
„Just Everstein!“ stammelte ich noch einmal, mehr gegen mich selber als gegen diese unvermutete Erscheinung am Berliner Wirtstische gewendet; und nun legte auch sie, die Erscheinung, oder er, der Vetter Just, Messer und Gabel nieder, legte dann gleichfalls erstaunt einen Augenblick lang beide Hände auf den Tisch, erhob sich dann langsam, bog sich über, warf das Salzfaß um, was beiläufig diesmal ausnahmsweise kein übel Omen war, und rief ganz mit der alten unveränderten Stimme vom Zaun oder der Haustürtreppe des Steinhofes her:
„Now?… Jetzt aber erst mal alle stille! Fritzchen!! Nun nur nicht alles auf einmal!… Fritz? der kleine Fritze Langreuter!… Also zuletzt doch wieder!… Ich bin es; aber — jetzt laß auch du dich einmal anfühlen! Mensch, so reiche doch endlich deine Hand (your fist, sagte er) her. O mein lieber Junge, das ist doch zu gut!“ …
Es war ein sehr gefülltes Restaurationslokal, in dem unser Wiedersehen stattfand, und die verschmauchten Räume füllten sich eben immer noch mehr mit hungrigen Menschen. Sämtliche Professoren der vier Fakultäten, die Bauakademie und verschiedene andere Akademien schütteten ihre Zuhörer über diese behaglicheren Tische und Subsellien aus. Privatdozenten von allen Sorten schoben sich ein; dazwischen großstädtisches Volk von jeglicher Art. Mir schwindelte, ich glaubte zu träumen, wenn ich an den Steinhof und unser trostloses Abschiedsfrühstück daselbst dachte. Und ich dachte in dieser aufgeregten Minute wirklich daran, so sonderbar das erscheinen mag, vorzüglich dem mit mehr Muskeln als Nerven von der wohlmeinenden Natur ausgestatteten Erdenbürger.
Ich ergriff die Hand, die mir über den Tisch zugereicht wurde; breit war sie immer noch, aber ich hatte auch den harten biederen Griff vom Steinhofe in der Erinnerung und nahm die weichen Finger jetzt ebenfalls als etwas ganz sonderbar Unstatthaftes.
„O Vetter Just!“
„Jawohl! Und ich freue mich merkwürdig, lieber Junge. Viel ins Gerade gewachsen ist er nicht mehr in den Jahren! Aber das ist auch schön; da findet man doch auch hier etwas wieder, was so ist, wie es war —“
„Und wie lange bist du in der Stadt, Just?“
„Davon nachher! Ich glaube wahrhaftig, der Kerl ist imstande und meint, daß ich schon seit acht Wochen Wand an Wand mit ihm wohne, ohne ihn aufgefunden zu haben! Ist es denn möglich, daß ein alter Freund so schlecht von dem anderen denken kann!“
„Wie kannst du verlangen, Vetter, daß ich in diesem Moment genau überlege, was ich sage und frage? Wo kommst du her?“
„Auch das noch!… Well, aus Amerika natürlich, wo die Leute in jedem Momente ganz genau wissen, was sie sagen und was sie fragen. Und nun, weißt du was, Fritz? Nun tun wir fürs erste, als ob keinem von uns beiden etwas besonders Merkwürdiges passiert sei. Jetzt essen wir mit möglichster Ruhe zu Mittag und besehen uns stillschweigend währenddem. Keiner nimmt es dem anderen übel, wenn er bei dem Studium auch einmal den Kopf schüttelt. What will you drink? Alter Kerl, wenn ich weiter nichts mit über das Wasser zu euch zurückgebracht hätte als den alten guten Magen vom Steinhofe (Fritze, nachher stoßen wir darauf an!), so wäre auch das schon gar nicht zu verachten. Wie sagt Cicero in diesem Falle?… Na?!… Kellner, die Weinkarte! Ach ja, die schöne Zeit, wo man alles Gute, was kam, als etwas sich ganz von selbst Verstehendes nahm!“
Das war nun alles so hingesagt, als ob der Mann erwarte, daß man mit dem sonnigsten Lachen darauf Antwort gebe; und ich lachte auch, wie man hie und da über etwas ganz Neues lacht, dem man eben noch auf keine Weise beikommen kann. Es war mir nie im Leben etwas so neu erschienen als der Vetter Just Everstein, dieser alte gute Bekannte. Ratlos, wie und wo er am richtigsten anzufassen sei, fing ich mechanisch an, meine Suppe herunterzulöffeln, aber ohne ihn für den kürzesten Augenblick aus den Augen zu lassen. Ihm aber schien das großen Spaß zu machen, ihm, der so viele Jahre hindurch so oft unser Ergötzen auf dem Steinhofe gewesen war.
„Dir ist es gottlob gut gegangen,“ stammelte ich, und:
„Besser, als ich’s verdiente,“ erwiderte der Vetter Just. „Cicero hat sich jedesmal nach einer längeren Reise für das heimatliche Gewächs erklärt, und wenn es noch so verfälscht war; und sie haben den Falerner damals sicherlich schon gerade so vermanscht wie heute hier diesen Rüdesheimer. Dessenungeachtet also: Auf dein Wohl, Fritz!“
„Auf dein Wohl, Vetter Just,“ stotterte ich und sah wieder stumm hin nach dem alten wackeren Freunde.
Das überraschende Wiedersehen hinderte ihn in der Tat nicht, sich gerade so durch die Speisekarte des Berliner Restaurants durchzuarbeiten wie vordem durch das Gute, was unsere Jule Grote auf den Tisch setzte, und nachher verstohlen und „vermittelst eines zweiten Schlüssels“ durch seine Schinken-, Speck- und Wurstkammer.
„Noch einmal auf dein Wohl, Fritz Langreuter!“
„Und auf deines so oft du willst, Just, und — die alte Jule soll leben!“
Da war das lösende Wort, das ich bis jetzt so vergeblich zu finden gesucht hatte.
„Hurra, das soll sie!“ rief der Vetter, auf den Tisch schlagend daß alles Tafelzeug emporhüpfte und man von sämtlichen übrigen Tischen sich nach uns umdrehte.
„Sie lebt doch hoffentlich noch und befindet sich wohl? Sie muß freilich jetzt wohl —“
Der Vetter hatte seine Serviette neben dem Teller niedergelegt, den Teller von sich abgeschoben und die Hände auf die Knie fallen lassen.
„Old boy, wenn du in die Fremde hinaus gemußt hättest und ich zu Hause geblieben wäre, so wäre ich dir, wie ich mich kenne, hoffentlich mit dieser Frage vom Leibe geblieben. Nimm es mir nicht übel, Fritze, aber von Rechts wegen müßtest du doch eigentlich wissen, daß sie noch lebt. Nimm es nur nicht übel, daß sie auch die ganzen Jahre, in welchen wir uns nicht gesehen haben, noch gelebt hat. Übrigens danke ich für gütige Nachfrage, Fritzchen! sie sitzt wieder ganz gut und, ihr Alter und Temperament abgerechnet, recht vergnügt auf dem Steinhofe.“
„Auf dem Steinhofe?… Sie hat — du hast — den Steinhof wieder, Just?“
„Natürlich!“ sagte der Vetter Just Everstein, als ob das das Natürlichste von der Welt gewesen wäre. Kein römischer Kaiser, der je eine verlorengegangene Provinz zum deutschen Reiche zurückbrachte, hätte das selbstverständlicher finden können; das wenigstens mußte ich aus meinen Geschichtsforschungen und meinem mittelalterlichen Quellenstudium wissen; und der Vetter Just hatte vollkommen recht: es war erbärmlich wenig, was ich von der Welt durch mein Quellenstudium in Erfahrung gebracht und darin behalten hatte.
Nun hätte ich dreist auch mein stummes Studium der jetzigen äußeren Erscheinung des Jugendfreundes von neuem über den Wirtstisch weg beginnen können. Aber je nötiger es war, desto unmöglicher war es gleichfalls. Nie war mir das Getöse, das Geklapper und Geklirr, das Kommen und Gehen rund umher so widerwärtig und unbehaglich gewesen als jetzt. Ich sah nur wie hülflos in das gute Gesicht mir gegenüber, und der Vetter Just nickte nur lächelnd und brummte:
„Ja, ja, es ist wohl nicht der richtige Ort hier zu dem, was wir einander vielleicht doch etwas weitläufiger zu erzählen haben. Das Getränk paßt auch nicht recht zu der Feierlichkeit der Stunde; es macht seinem Schuft von Verfertiger wohl alle Ehre, aber melancholisch stimmt es doch. Weißt du was, Alter? Jetzt nimmst du mich mit nach Hause. Da hocken wir einmal wieder zusammen wie in meinem Erker auf dem Steinhofe — weißt du noch? Ach Gott, wie habe ich mir da drüben so oft nach dem Erker und des Großvaters Wissenschaftsschranke das Herz abgesehnt!… Alter Kerl, und ich wohne jetzt wieder darin, — den Schrank hat freilich damals der Auktionator geholt. Daß Irene Everstein augenblicklich hier auch in der Stadt wohnt, wirst du ja wohl wissen, obgleich du nicht gewußt hast, daß meine alte Jule noch lebt. Und — Menschenkind, in Bodenwerder halten sie mich immer noch für einen gerade so großen Narren wie vor Jahren. Zum Exempel dieses Schrankes wegen, für den ich fünfzig Dollars geboten habe, wenn ihn mir einer noch irgendwo auftreibt. Aber imponieren tue ich ihnen jetzt doch riesig; denn dazu braucht man nur einen hübschen Sack voll Taler, und es ist also leicht genug. Sobald du hier von deinen Geschäften abkommen kannst, mußt du mich auf dem Steinhofe besuchen, um das Gaudium mit zu erleben. Und nun komm, deinen Kaffee braust du dir hoffentlich selber.“
Ich kam, das heißt, ich ging einfach mit, und ich sagte es auf dem Wege nach meiner Wohnung nicht, daß ich auch nicht gewußt hatte, wo Irene von Everstein augenblicklich lebte. Es war ein Wunder, daß ich meinen Weg nach Hause in meiner jetzigen Stimmung zu finden wußte.
Und dann kam wieder eine Stunde, in der ich wieder auf meiner Stube allein saß, und zwar tief in der Nacht oder vielmehr früh am Morgen. Draußen tobte das schlechteste Wetter der Jahreszeit, und von den Wänden sahen mich durch den Tabaksqualm des Vetters meine Bücher an, und zwar ebenfalls wie etwas, das mich nur zu oft abgehalten hatte, die besten Lebensstunden, wie es sich gehörte, auszunutzen, und mein Teil von der Sonne, der frischen Luft und der freien Welt mit allen fünf Sinnen und vor allem mit Händen, Füßen und Lungen einzuholen.
Der Vetter Just hatte mir ein Privatissimum vorgetragen, wie ich es nie gelesen habe und leider auch nie lesen werde. Er hatte mir über seinen Lebensgang Bericht gegeben, von jenem Morgen an, wo der Bodenwerdersche Landpostbote auf dem Steinhofe unseren jungen guten Kreis sprengte, bis auf die eben abgelaufene wunderliche Stunde.
Nun konnte ich wohl sitzen, mir den Kopf mit beiden Händen halten und Gewissensbisse der schlimmsten Art haben, nämlich die der vielbeschäftigten, selbstgenügsamen Indolenz, die plötzlich zu dem Bewußtsein kommt, wie wenig auf Erden durch sie zum Guten, Wirklichen und Wahren ausgerichtet wird! Ich hatte selten kläglicher geseufzt und jämmerlicher nach Luft geschnappt als in jener Nacht; und des Vetters Knastergewölk war wahrlich nicht schuld an der erbärmlichen Atemnot.
Mittelalterliches Quellenstudium hatte ich zur Genüge für mich und andere getrieben und konnte genaue Auskunft geben, zum Exempel über die Annalen von Brauweiler, die sich so sehr darüber beklagten, daß die Ketzer so viele Wunder täten, und die natürlich das Nahen des Antichrists, des allgemeinen Durcheinanders daraus vordeuteten (o dieser Ketzer von Vetter!), aber die Quellen des lebendigen Daseins, die neben mir aus dem Boden aufsprudelten, jede nach ihrer Art trübe oder klar, mit ihren Kristallblasen und überhängendem Grün, mit ihrem Treiben von Kindermühlwerken und Fabrikrädern, mit ihrem Rauschen über Stock und Stein, die waren mir nur zu sehr aus dem Gesicht und Gehör fern geblieben! In meinem Kopfe war in jener Nacht, nachdem der Vetter Just Everstein Farewell oder Good night gesagt hatte, das große Durcheinander unbedingt momentan vorhanden, und es kostete keine geringe Mühe, nur die allernötigste Ordnung wieder in das Chaos zu bringen.
Ach, Vetter Just, was hatte ich dir auf deine Erzählung als Gegengabe meinerseits zu bieten? Wie wenig fühlte ich mich persönlich in den Enthusiasmus einbegriffen, mit dem du die Titel auf den Bücherbrettern an diesen nichtsnutzigen vier Wänden herlasest und buchstabiertest!… Aber das Ärgste war doch, Vetter, als du so ganz beiläufig und gutmütig bemerktest:
„Das ist der ganze Steinhof und meine Erkerstube und meine Gefühle — wie’s leibt und lebt! O Fritz, du hast es gut gehabt und bist immer mitten in allen deinen Anlagen und Wünschen geblieben, und keiner hat dich gestört: glaub nur ja nicht, daß ich dir nochmals einen Vorwurf daraus mache, daß du heute mittag bei Tische so gar nichts von uns anderen gewußt hast. Ich hätte sicherlich ebenso wenig davon gewußt, wenn ich du gewesen wäre! Du bist ja freilich ein ganz famoser Kerl! Ein Riese bist du!“ …
So fühlte ich mich freilich in jener Nacht, — ach, du liebster Himmel! und jetzt lasse ich die Arme sinken und lasse den Vetter Just Everstein erzählen.
„Daß man die größten Wunder zu Hause erlebt,“ sagte er, „das lernt man erst in der Fremde erkennen. Man braucht sich überall nur fest hinzustellen mit dem, was man von seinem eigenen Grund und Boden mitgebracht hat, um dem Auslande verdammt merkwürdig vorzukommen. Das ist meine Erfahrung, und so habe ich selbst als Deutscher den lieben Leuten da drüben ganz devilish imponiert. Mit den lieben Leuten aber meine ich sämtliche Bürger der Vereinigten Staaten von Nordamerika, von den großen Seen bis an den äußersten Zipfel der Halbinsel Florida und von einem Ozean bis zum anderen. Ich freute mich auch da schon auf das Wiedersehen mit unserem guten Ewald, bloß um ihn fragen zu können, wie es ihm in dieser Hinsicht außerhalb der deutschen Nation ergangen sei. Nun, ihm natürlich, wenigstens in dieser Beziehung, noch um manches Prozent besser als mir; das steht fest, ich glaube nicht, daß es mir bloß so scheint! Du weißt, unter welchen schauderhaften und unangenehmen Umständen ich von euch und dem Steinhofe überhaupt Abschied zu nehmen hatte. Ein blöderer Hanstoffel als ich ist wohl selten aus seinem Traumwinkel und von der Ofenbank an die freie Luft hinausbefördert worden. Alles, was ihr nachher erlebt haben könnt (Fräulein Irene nehme ich aus!) ist gar nichts gegen das, was ich an jenem schönen Sommertage und dann bei der Auktion ausgestanden habe. Und wie die Welt ist, nimm mir das nicht übel, Fritze, so ließ sich keiner von euch auf dem Hofe mir zum Troste und der alten Jule zur Aufrichtung blicken; und so waren wir denn einzig und allein auf uns selber angewiesen in dem Verdruß und Elend, ich und Jule Grote. Ich mache dir übrigens durchaus keinen Vorwurf, Fritzchen, denn ich weiß es wohl, daß ihr euch damals gleichfalls durch schlimme Tage durchzufressen hattet. Aber uh, die alte Jule! Da habe ich das Meinige zu hören gekriegt vom Morgen bis zum Abend. Und, was das Schlimmste war, durchaus nicht mehr mit Gift und Galle und spitzen Reden, sondern alles in Wehmut und Herzeleid, und — mein armer, lieber Just hier — mein armer, armer Junge da! — Zum Heulen war’s! Die Haare stehen mir heute noch darüber zu Berge. Ganz unerträglich! — — ‚Dich hätte ich gar nicht aus deinen Windeln herauswickeln sollen, Just‘ — winselte die Alte fort und fort, als ob ich an dem tagtäglichen Exekutor nicht schon genug zu tragen gehabt hätte. Gottlob, daß das alles damals war und nicht heute noch mal ganz von vorn an durchgemacht werden muß! — Und ein Glück war es in allem Unglück, daß ich für die gute alte Seele am wenigsten zu sorgen hatte. Ich kam ihr einmal mit dem Wort und der schweren Herzensangst; aber da hättest du Jule Grote in ihrer Glorie sehen und hören können, Fritz Langreuter! Keine Katze konnte giftiger aufprusten. Da ging es los wie die Kastanien in der Asche, und die Asche flog mir arg genug in das Gesicht. — ‚O du dummer Bengel, willst du dich auch da noch zum Narren machen? Mich willst du unglückselig geschoren Schaflamm bemuttern? Du hülflose, übergeschnappte Kreatur, du? Du hast doch sonst immer mit deinem dummen Maul warten können, bis du gefragt wurdest! Ach, Gott, nun auch das noch!… Um mich macht sich das Kind zu guter Letzt auch noch seine Gedanken. Da ist es denn freilich wohl mit uns zum Schlimmsten gekommen! Zu glauben steht es freilich nicht, du — Töffel!‘
„Das war das richtige Wort, Fritz. Für sie bin ich mein Lebtage der kleine Töffel gewesen, und ich kann dir gar nicht sagen, Fritze, wie wohl es mir jedesmal ums Herz wird, wenn ich daran denke, daß ich es auch heute noch für sie sein kann und bin.
„Sie hatte vollständig recht. Die Gedanken, die ich mir in meinem Leben gemacht habe, sind nie viel wert gewesen, und die über sie am wenigsten. Da könnte ich mich noch eher mit meinen Gefühlen sehen lassen! Ich sage dir, Fritz, wenn ich noch lebe und jetzt, in dieser Nacht, hier dir so fett und rund gegenübersitze, so ist das einzig und allein ihr Verdienst. Sie nahm es mir denn auch ganz unchristlich schriftlich übel, als ich ihr die ersten hundert Dollars über die See nach Bodenwerder schickte. So’n dummes Zeug verbat sie sich ausdrücklich fürs künftige; ich muß dich aber da mal unsere gegenseitige Korrespondenz lesen lassen: so kurzweg erzählen läßt sich dies nicht; das ist wie mit allem Schönsten, Liebsten und Großartigsten in der Welt. Zum allerwenigsten muß ich die Dokumente dabei auf dem Tische haben.
„Sieh mal, Fritz, du bist nur eine vaterlose Waise gewesen, ich dagegen eine mutterlose von Kindesbeinen an; also kalkuliere dir mal unser gegenseitiges Verhältnis, ich meine zwischen mir und meiner Alten, selber zurechte. Ach, Gott, was hat sie von meinen Gedanken ausstehen müssen! und was das Ärgste war, das Allerärgste war noch zurück und ging ihr über alles übrige hinaus, bis sie sich auch in es, wie in alle meine anderen Unsinnigkeiten, mir zuliebe, gefunden hatte. Auf den Gedanken, nach Amerika auszuwandern, verfiel ich auf dem Wege nach Bodenwerder am letzten Auktionstage, und es war ein richtiger Kreuzweg. Nach ihr, meiner Jule, hatten sich die Hände, die sie gebrauchen konnten, dutzendweise ausgestreckt; aber nach mir nicht ein einziges Paar. Wer konnte mich gebrauchen? Sie war auf jedem Bauernhofe, auf jedem Gutshofe hochwillkommen; denn sie wußten alle weit ins Land hinein, was für eine Perle von Ökonomie und Molkenwesen, Schweinezucht, Viehzucht und Menschenzucht überhaupt der Steinhof an ihr gehabt hatte. Mir verhalf weder der große noch der kleine Broeder zu einer Unterkunft; — im Gegenteil, sie waren schuld daran, daß ich überall, wo ich anklopfte, mit einem manchmal gar nicht höflichen Kompliment weiter geschickt wurde. Niemand wollte von dem ‚gelehrten Bauer‘ etwas wissen, und am allerwenigsten seine besten Freunde. So bitter ist wohl selten einem Menschenkinde der Geschmack vom Lateinischen auf der Zunge geworden wie mir damals.“ …
„Armer Teufel!“ sagte ich, Friedrich Langreuter, Doktor der Philosophie, Privatdozent an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin usw. usw., und fügte hinzu: „Was weißt du denn von dem Geschmack auf den Zungen anderer Leute, Vetter Just? Ach, Vetter, du bist der größte Doktor, der mir je bekannt geworden ist — wie gern zeige ich dir die meinige körperlich und geistig und lasse mir ein Rezept gegen die Bitterkeit darauf verschreiben!“
„Zweihundertfünfzig Taler hatte sich die Alte übergespart,“ fuhr der Vetter fort, „das übrige hatte sie alles immer wieder so bei kleinem in den Steinhof hineingesteckt, und noch dazu meistens wohl in mich, und ohne daß ich es in meinem faulen Behagen leider Gottes im geringsten gemerkt habe und ihr dankbar dafür gewesen bin, wie es sich von Gottes und Rechts wegen gehörte. Nun kam sie mit ihren Sparkassenbüchern und ihrem Strumpfe voll blanker Achtgroschenstücke zum Vorschein und mit einem Gesichte dazu, was mir bis an mein Lebensende im Gedächtnis bleiben wird. Denke dir nur um ihr Gesicht einen Heiligenschein, wie ihn die Maler um ihre himmlischen Jungfrauen malen; — beschreiben läßt sich aber der Kontrast nicht, sondern nur mit tränenvollem Herzbeben nachfühlen. Nicht einmal für ihr standesgemäßes Begräbnis, wovon sie immer gern sprach wie die Alte in dem Gedichte, wollte sie wenigstens die fünfzig Taler zurückbehalten, und — gottlob — bis heute hat sie sie auch noch nicht nötig gehabt; aber ich habe sie ihr damals doch zurückgelassen, und dabei erlebte ich denn of course ihren letzten Wutanfall über mich vor meiner Abreise. Die zweihundert Taler habe ich genommen, und ich will keinem anderen von meiner Natur wünschen, daß ihm auch einmal so schweres Geld in die Tasche gesteckt wird! Glaub nur ja nicht, daß sich das so an einem Tage machte; ebensowenig wie der Abschied! Aber eines Morgens waren wir doch so weit, nämlich bis zu dem: ‚Ja, Just, denn Adjes, und ich hätte nimmer gedacht, daß ich auch das noch an dir erleben sollte!‘ — gekommen. Fahre du einmal so wie ich damals von Bodenwerder nach Bremen und probier’s, wie dir dabei zumute ist. Was wir Gelehrten die Logik nennen, das ist wie Philosophie auf dem Wege zum Zahndoktor; beides kommt einem erst wieder, wenn alles — Herz, Hirn und auch die Kinnbacken — wieder in verhältnismäßiger Ordnung sind. Du siehst es mir heute, Gott sei Dank, nicht mehr an, wie ich damals aussah inwendig und auswendig. Wenn wir Gelehrten aber wissen, daß der Mensch in seiner Natur immer derselbe bleibt, so ist es doch ebenso wahr, daß sich manches auf den Charakter hängt und dazu gerechnet wird wie die Mistel zum Apfelbaum. Kannst du das Schmarotzergewächs nicht zu Vogelleim gebrauchen oder ist dir das Geniste sonst widerlich und hinderlich, so sei nur dreist ein guter Gärtner und richtiger Mensch, — reute es aus, reiß es ab und mach ein Feldfeuer aus dem Gestrünk und Gestrüpp. Für mich, den Vetter Just vom Steinhofe, ist da diese glorreiche Republik der Vereinigten Staaten von Nordamerika eine unbezahlbare Schulmeisterin gewesen. Hier bin ich wieder, und — ein Schulmeister bin ich drüben gewesen: ich habe mich doch nicht ganz umsonst von euch hier zu Lande auslachen lassen wollen! alter Junge, und ein Buch könnte ich wohl auch jetzo zustande bringen, wenn auch nur eines — meine Lebensgeschichte. Ich gebe dir mein Wort darauf, eine ganz sonderbare Historia ist das; und so in manchem stillen Augenblicke komme ich mir wirklich merkwürdig kurios und interessant vor und als etwas, was ganz außer mir steht und sich von den verschiedensten Seiten her betrachten läßt. Nicht wahr, Objektivität nennen wir dieses? Glaube nur aber ja nicht, daß ich dir das Gesicht, welches du mir hier eben zuschneidest, übel anrechne.“
„O Vetter,“ habe ich damals, mit beiden Händen nach der Hand des teuren Mannes greifend, gerufen, „Vetter, lieber Vetter, was ich für ein Gesicht dir mache, weiß ich nicht; aber wie ich jetzt, in dieser Nacht, mit diesem Winde vor dem Fenster in deiner Schule sitze, das weiß ich ganz genau. Und nun tue mir die Liebe an und verführe mich nicht wieder, dich zu unterbrechen! Erzähle weiter — weiter; o erzähle weiter —“
„Herr Urian! Jawohl; — wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen, singt der Wandsbecker Bote. Und freilich, eine Reise habe ich getan, und sie war noch lange nicht zu Ende, als ich drüben am anderen Ufer angekommen war, daselbst auf der Werft im Kreise meiner Zwischendecksgenossen stand (einige saßen auch noch ratloser als ich auf ihren Kisten und Kasten) und diesen Neuyorkischen Nordamerikanern meine ersten frisch importierten Maulaffen feilbot. Großer Gott, damit mochte man dort so frisch als möglich ankommen, eine neue Ware war es da am Platz wahrhaftig nicht! Es ist nicht in einer Sitzung, wie wir sie jetzt abhalten, zu berichten, was ich im Handel damit ausgestanden habe! Und dann nimm nur auch mal die Konkurrenz an! ganz abgesehen von den Weibern, Kindern und den Alten, die dazu ihre Tränen, Seufzer, Jammergesichter und Gebresten auf den fremden Markt bringen. Daran darf ich gar nicht denken, ohne meine eigene Historie auf der Stelle abzubrechen und anzufangen, die eines anderen, und zwar eines anderen von Hunderten und Tausenden, zu erzählen. Der Mensch ist aber und bleibt ein Egoist, und so bleibe auch ich in der Furche und pflüge mein eigen Feld nach der allgemeinen Regel dir vor wie bei dem ersten besten Preispflügen. Das mit der großen Konkurrenz war denn sicherlich für mich kein eitler Wahn. Es geht außer den ordentlichen Bauern auch eine Menge wirklicher Schulmeister über das Wasser, weil ihnen der vaterländische Grund und Boden nicht genug Balken mehr unter sich hat — gelehrte Leute, Professoren, Doktoren, Oberlehrer und Seminaristen — Philologen und Philosophen von jeder Sorte, und kommen sämtlich beim Steinklopfen, Ziegeltragen und im deutschen Auswandererspital an. Mit mir ist es glücklicherweise umgekehrt gegangen. Ich habe da freilich nur meine eigene persönliche Erfahrung und kann nur sagen, was ich persönlich weiß. Und nun, Fritz Langreuter, lasse ich mich darauf totschlagen, daß von allem, was man drüben am besten gebrauchen kann, ein lateinischer Bauer das allererste ist. Von ihren großen Städten und dergleichen rede ich natürlich nicht, sondern von ihren Wildnissen und Einsamkeiten. Und merken lassen darf man es ihnen, auch im Hinterwalde oder auf der Prärie, auch nicht, was man außer seinen zwei groben Fäusten mitgebracht hat, sondern sie müssen es nach und nach ganz von selber merken. Nun stelle dir den Vetter Just vor in einem Lande, wo jedes Kind, sowie es das Licht der Welt erblickt hat, sofort sich auf das Praktische legt und mit seinen Eltern über seine ersten natürlichen Geschäfte an zu handeln fängt. Nicht wahr, da brauchte der bankerotte Bauer vom Steinhofe nicht erst eine Glatze zu kriegen, um zum Kinderspott zu werden? Es war der erste Vorteil, den ich aus meiner heimischen Dummheit zog, daß ich dieses einsehen und mich darauf einrichten konnte. — Ach, Fritz, es ist manchmal dem Menschen nichts dienlicher, als daß er mal so recht vollständig umgekehrt wird! wenn das Allerinnerste nach außen kommt, dann erfährt er erst, was eigentlich alles in ihm gesteckt hat und was ihm nur angeflogen war. Jetzt kehrst du zuerst den Bauer heraus, Just! denke ich mir, mit der Faust vor der Stirn; — den Urbauer, den deutschen Bauer aus der Zeit, wo er sich noch nicht einen Ökonomen schimpfen ließ. Dreidrähtig, Just! schon um der alten Jule willen. Ebenso dick als lang, und wäre es auch nur der Ehre des deutschen Vaterlandes wegen. Mist bleibt überall Mist und hat überall dieselbe Wirkung in der schönen Natur, einerlei ob in dem alten Europa oder in dem jungen Amerika. Und dann — muß man denn immer in seinem eigenen Bette schlafen und den Schlüssel zu seiner eigenen Rauchkammer in der Tasche herumtragen? Uh, das Fleisch ist mir da wirklich von den Knochen gefallen; aber gereckt habe ich mich auch. Du glaubst es wahrscheinlich nicht; aber einen guten Zoll bin ich ganz gegen die Natur in Amerika noch gewachsen. Das Land hat das wirklich naturgeschichtlich so an sich, daß es seine Leute wie zähes Leder auseinander zieht. Ist dir mein Hals nicht aufgefallen? Na ja, auf dem Steinhofe steckte er mir ganz anders zwischen den Schultern! Nimm es mir nicht übel, das sollte kein Stich auf dich sein; denn bei dir ist das ganz was anderes, du bist ein glorreicher deutscher Gelehrter und passest mit deiner dünnen Nase ganz nach der Regel zu deiner übrigen Figur. Aber wir — das deutsche Volk im großen und ganzen; wie lange müssen wir noch selbst dem Unteroffizier dankbar sein, der uns zum Geradestehen animiert und uns das Kinn mit der Faust in die Höhe stößt, um uns auf das stolze Blau über uns aufmerksam zu machen?! Das war eine Abschweifung, rechne ich; und da bin ich also auf einer Farm mitten im Staate Wisconsin — auf einer Farm — zahle mein Lehrgeld als Ackersmann auf Erden nachträglich und hole vieles nach, was ich auf dem Steinhofe aus Faulheit und Dummheit versäumt habe; — mein einziger Verlaß die Muskeln, die mir Jule Grote angefüttert hatte. Ein bißchen klimatisches Fieber abgerechnet, ging es auch so ziemlich. Aber das Geräte! damit habe ich Jahre lang meine liebe Not gehabt, bis ich es mir handgerecht einstudiert hatte. Nimm nur mal solch eine Yankee-Axt an. Und dann ihre Verbesserungen an ihren Pflügen zwischen ihren Baumstumpfen. Selbst das Älteste, was Adam schon kannte, kommt einem da neu vor. Bis auf den Griff am Spaten mußt du dort als deutscher Ackerknecht von frischem in die Lehre gehen. Aber in der Not frißt der Teufel Fliegen, und by degrees machte sich die Sache ganz gut. Wir Gelehrten nennen das ja wohl eine felix culpa, wenn sich einer zu seinem Glück und besserem Verständnis blamiert und sich elend und lächerlich macht? Wir hatten einmal einen thüringischen verunglückten Pfarrer in Liedlohn genommen, der sprach viel hiervon. Einerlei; ich sage dir, Fritze, man muß so einen wackeren Erbsitz und Urvätereigentum wie den Steinhof wie im Traum von der Hand weggeblasen haben, um es im vollen einzusehen, was für ein glorreich Handwerk Adams Handwerk ist! So ist es aber mit allen guten Dingen, die uns in die Hand wachsen, in die Windel eingebunden oder auf dem Präsentierteller gebracht werden. Erst verdudele du sie, dann lernst du sie nach ihrem ganzen Wert und Behagen abschätzen! Wenn ich es heute nicht noch zu allem übrigen hier bei euch zum Titel Ökonomierat bringe, so — na, ich will lieber nicht sagen, was Karl Heinzen drüben dann in diesem Falle sagen würde! — Herzensjunge, es ist jammerschade, daß du in jener Zeit nicht bei mir warst, um dein Pläsier gerade so an mir zu haben wie im grünen Grase unter meines Vaters alten Kirschenbäumen oder in meiner ganz verrückten Erkerstube. O, hätte ich nur manchmal die alte Jule, dich, Ewald und die beiden Mädchen nach Neu-Minden hexen können! Wenn man absolut einmal zu renommieren wünscht, so renommiert man am liebsten vor seinen nächsten Bekannten, Verwandten und besten Freunden, wahrscheinlich eben weil die doch nie an einen glauben. Neu-Minden hieß unsere Ansiedelung, und alles in allem gerechnet, jung und alt zueinander, waren wir so zirka fünfzig bis sechzig Köpfe stark. Immer ein hübscher Kern! Der General Varus auf seinem Marsche durch Deutschland hat wahrscheinlich erst bei Detmold einen bunteren Haufen von uns, und zwar zu seinem Schaden, auf einer Stelle zusammen erblickt. Neu-Minden! ein netter Name und ein absonderlich Sammelsurium deutschen Volkes! — von jeder Sorte a G’schmäckle, wie die drei oder vier Schwaben unter uns sagten. Drei bis vier Dutzend Kinderflachsköpfe wuchsen uns zwischen den Beinen, Schweinen, Baumstumpfen und Fenzen auf, und das war die Hauptsache, und wer auch Präsident sein mochte — dieses machte ihm keine grauen Haare; einen Kultusminister schickte er uns nicht, um Ordnung zu stiften, nach Neu-Minden. Ihm war es in seinem weißen Hause in Washington vollständig einerlei, auf welche Weise sich seine Bürger die Fähigkeit, seine Nachfolger in diesem weißen Hause zu werden, erwarben. Nun, da freue ich mich, daß ich dreist beschwören kann, daß es immer noch etwas auf sich hat mit dem deutschen Gewissen, nämlich soweit es sich um Vaterpflichten und Muttersorgen handelt; einerlei, ob es ihm absolut gleichgültig ist, wer Präsident wird, und wer nicht. — ‚Sie wachsen auf wie die Schweine!‘ brummten kopfschüttelnd die Grauköpfe von beiden Geschlechtern in der neuen Gemeinde. ‚Ein Vergnügen ist es, es mit anzusehen, aber eine Schande ist es auch, wie das Zeug ins Kraut schießt. Es geht nicht länger so; für den nächsten Winter müssen wir für einen Schulmeister zusammenlegen, koste er, was er wolle. Aber mit Rat, Gevattern! es verläuft sich mancher von der Sorte hierher, dem man kein Ferkel zum Waschen anvertrauen möchte, wenn man ihn selber und seine Vorgeschichte im alten Lande genau kennte.‘ — Na, Fritze, du kennst mich und meine Vorgeschichte im alten Lande! was meinst du zu mir und diesen Reden und Beratungen in der Waldwirtschaft rund um mich her? Nicht wahr, du siehst es jetzt schon ziemlich klar vor dir liegen, wie es sich nachher alles gemacht und passend ineinander gefunden hat? Schwerenot, wollte ich dir jetzo eine Pfeife vom schwersten Lobtabak vorrauchen, so könnte ich es, daß du Fenster und Türen des Wohlduftes halber aufsperren müßtest. Neu-Minden aber existiert glücklicherweise noch; also reise du nur selber hinüber und höre dir, wenn dir daran liegt, an, wie die anderen von mir reden. Ich, der ich auf dem Steinhofe nicht der Herr und Bauer sein mochte, ich bin hoffentlich ein guter Bauer und Knecht in dem amerikanischen Walde gewesen. Aber ich bin auch durch des Großvaters Schrank — weißt du noch! — im Laufe der Zeit wieder mein eigener Meister geworden, wie wir Deutschen das Wort nehmen; ich habe eine Farm in die Wildnis hineingesetzt, die sich sehen lassen konnte und bald ihren Wert und Preis hatte. Weiß der liebe Gott, den Vetter nannten sie mich auch drüben bald auf zwanzig Meilen in die Runde, ohne daß ich dir sagen kann, wie es zuging. Von den Kindern ging es nicht aus. Die habe ich schon der Autorität wegen bei ihrem Mister Everstein erhalten. Bitte, reise wirklich morgen schon ab; — bloß um zu hören, wie sie hundert und mehr Meilen nordwestlich von Milwaukee von dem Mister Everstein sprechen, wenn sie zu ihren Buchstabierspielen aus allen Himmelsrichtungen her auf eine halbe Tagereise weit zu Pferde und zu Wagen zusammenkommen! Und ich habe es nicht bei dem bloßen Buchstabieren gelassen nach getaner Tagesarbeit mit Axt, Pflug und Spaten. Ein Exemplar vom alten Broeder war freilich nicht aufzutreiben, weder in Neu-Minden noch in Neuyork; aber da liegt schon in Minnesota am Mississippi ein Ding, das heißt Sankt Paul, und da hat mir wirklich und wahrhaftig einer einen Ellendt aufgetrieben, und wenn heute ein eingeborener Neu-Mindener einen Begriff oder eine Ahnung von mensa und amare hat, das heißt in der Römersprache, so bin ich der Mann, der schuld daran ist. O, und der pythagoreische Lehrsatz! Erinnerst du dich wohl noch an den Magister matheseos, Fritze Langreuter? und an meine Seelenseligkeit, als ich ihn heraus hatte und ihn dir als etwas, was unumstößlich seine Richtigkeit hatte, beweisen konnte? Du hättest die Tafelrunde von alten und jungen Neu-Mindenern sehen sollen, denen ich ihn gleichfalls bewies, mit Kreide auf der Tischplatte, am Winterabend mitten in der amerikanischen Wildnis und viel näher dem Lake superior als der Weser und dem Flecken Bodenwerder und dem Dorfe Kemnade! Siehst du, liebster Freund, so habe ich wenigstens einmal in der Fremde für voll gegolten in dem, was ich zu Hause für das höchste Ideal hielt. Jetzt bin ich mit Ruhe ein Bauer auf meinem alten braven Hofe. Alle Nachbarn sind mir wiederum willkommen wie vor Jahren in meiner Narrenzeit. Ich bin auch mit Vergnügen für jedermann wieder der Vetter Just, und manchmal denke ich wie mit einigem geheimen Vergnügen: hast du auch weiter nichts vor dich gebracht, Just, als daß sie nicht mehr hinter deinem Rücken über dich lachen, so ist auch das schon bei deiner angeborenen Dummheit und Faulheit etwas ganz Hübsches.“
„O Vetter Just,“ rief ich im hellen Enthusiasmus und, wahrhaftig mit Tränen in den Augen und einem heißen Kitzel in der Gurgel, „der Vetter Just bist du und bleibst du, und — bei den unsterblichen Göttern — höher als das kann es kein sterblicher Mensch auf dieser Erde bringen! O Vetter, wie freue ich mich, daß ich dich wieder im Lande weiß und von neuem dich auf dem Steinhofe besuchen und bei dir in die Schule gehen kann!“
Soweit waren wir vor Mitternacht gekommen. Nach Mitternacht erzählte der Vetter weiter, wie er durch harte Arbeit, klugen Sinn und treuherziges Beharren in jeglichem wackeren Vornehmen durch gute und böse, durch harte und linde Zeiten, durch schlimme Tage und schlimmere Nächte seinen Weg als ein fester, wirklicher und wahrhaftiger Mann sich in das Vaterland und zu dem alten Erbsitz zurückgebahnt hatte. Wenn nichts in der Welt feststehen bleibt als ein wirkliches und wahrhaftiges Kunstwerk, wenn alles andere vorbeigehend ist, so hatte dieser Mensch in seinem Leben ein echtes und gerechtes Kunstwerk fest hingestellt, zum Trost und zur Nachahmung für alle, die das Glück hatten, ihn kennen zu lernen. Das war old German-text-writing in der vollsten Bedeutung des Wortes! eine leserliche, dauerhafte Schrift mit allen ihren kuriosen Schnörkeln und Verzierungen! Wer darin seine Autobiographie niedersetzte, der konnte gewiß sein, daß sie manchem kommenden Geschlecht von Kindern und Enkeln merkwürdig, rührend und ermutigend sich in das Gedächtnis prägte. Und das deutsche Volk hat wahrlich dergleichen monumenta germanica recht sehr nötig; denn wenn unsere großen Leute dann und wann vielleicht weitherziger als die irgendeines anderen Volkes sind, so sind dagegen unsere kleinen häufig in eben dem Grade kläglicher, kleinlicher, engherziger, mürrischer und unzufriedener als irgendeine Menge, die eine andere Planetenstelle bewohnt; und — ach, wie oft hatte ich mich in den letzten Stunden im ganz geheimen an die Brust geschlagen und geseufzt: Gott sei mir Sünder gnädig! Ich seufzte es aber auf Griechisch: Ὁ θεὸς, ἱλάσθητί μοι τῷ ἁμαρτωλῷ. Wahrscheinlich, wie es mir jetzt vorkommt, um in der Befähigung dazu einen Trost zu finden; denn Griechisch konnte der Vetter wenigstens doch nicht!
Aber er erzählte nun davon, wie er seine alte Jule aus Bodenwerder abgeholt und im Triumph nach dem Steinhofe zurückgebracht habe, und das war wiederum mehr als Griechisch und Sanskrit.
„Ich hatte ihr natürlich,“ berichtete er, „auch von Amerika aus von allem Guten, was mir zuteil wurde, das ihr Gehörige zukommen lassen; aber der Tag, an dem ich selber heimkam, war doch das Beste, sowohl für sie wie auch für mich. Schade, daß ich euch — dich, Irene und Ewald — nicht von Schloß Werden dazu herüberholen konnte! Gottlob, Eva Sixtus und ihr Vater sind wenigstens dabei gewesen und mit von neuem auf dem Steinhofe eingezogen. Daß die ganze Umgegend auf den Beinen war, kannst du dir wohl vorstellen. Freilich bei mehr als einem guten Freunde, mit dem ich von meinem jammerhaften Abschiede her einen Schinken im Salze hatte, habe ich wohl ein Auge zudrücken müssen, wenn er mir am liebsten als mein allerbester Freund um den Hals gefallen wäre; aber ich habe es gern getan. Je mehr man sich den Wind draußen in der wilden Welt um die Nase hat wehen lassen, desto bescheidener wird man in seinen Ansprüchen an den Charakter der Menschheit und nimmt am guten Tage still mit in den Kauf, worüber man am schlimmen vor Wut und Ärger aus der Haut fahren möchte. Zwischen der alten Jule und manchem früheren guten Haus- und Hof- und Jagdfreunde ging es freilich nicht ganz so glatt ab, und manch einer bleibt heute noch ihretwegen weg vom Hofe, der meinetwegen wieder ganz behaglich seine Beine unter unserem Tische ausstrecken könnte. Die Weiber sind in diesen Dingen nämlich von einem viel besseren Gedächtnis als wir Männer, Fritze; und Gnade Gott manchem armen Sünder, wenn sie es durchsetzen und am Jüngsten Gerichte Sitz und Stimme kriegen. Gnade für Recht ergeht da gewißlich nicht; — selbst bei unseren deutschen Frauenzimmern nicht, welche immer noch die besten sind und die harmlosesten, was gleichfalls eine von meinen amerikanischen Erfahrungen ist, und die ich auch dir jungem Menschen, Fritzchen, mitgebracht haben will. Und es soll mich recht freuen, wenn du noch Gebrauch davon machen willst. Aber das ist ja alles nur beiläufig, nimm’s nicht übel; ich sage dir, Doktor, den Weg von Bodenwerder nach dem Steinhofe hättest du an dem Tage sehen sollen! Und dann unsere Ankunft auf dem alten ausgemergelten, nichtsnutzigen Haferacker — weißt du, an der Fenz — nein, Gott sei Dank, an der echten, richtigen Weißdornhecke und dem Plankenzaun, über den ihr mich so oft angecheer’t habt. Wenn es in meiner Erzählung hiervon etwas kraus durcheinander geht, so gehört auch das zu dem Spaß, denn es kommt einzig und allein daraus her. Sonst kann ich jetzt unter Umständen recht gut bei der Stange bleiben. Ich hatte selbstverständlich mich schon ein paar Wochen vor unserem Haupteinzuge auf dem Hofe installiert. Junge, und ich habe die ersten Nächte in meinem Erker auf Stroh geschlafen; und — o! — so hat lange keiner in dieser Welt der Plagen und schweren Sorgen und Arbeiten die Beine von sich gestreckt und die Arme unter dem Hinterkopfe zusammengelegt, mit dem Blicke an den alten kahlen Wänden herum und durch das Fenster in die Nacht hinein und dann in den dämmernden Morgen! Ich habe da wie ein König geschlafen, denn ich habe den größten Teil der Nächte verwacht; aber dagegen waren es sehr angenehme schlaflose Nächte. Ihr waret alle darin eingeschlossen, wie ich selber von meinem frühesten Aufmerken an. So liegend, müßte der Mensch eigentlich alle zehn Jahre sein Dasein sich zurückdenken können; dann könnte man sich auch alles Schlimme, Traurige und Wehmütige viel leichter mit Ruhe gefallen lassen und es erleben! Well, auf jede solche vergnügte Nacht kam dann der frische Morgen mit seinem hemdärmeligen Wirtschaften in dem verlorenen und wiedergewonnenen Väterreich. Was mir mein Vorgänger an lebendigem und totem Inventar mit in den Kauf gab, wollte nicht viel bedeuten, und für mich, der ich noch meine alte Inventur im Kopfe hatte, gar nichts. Da mußten mir neue Gäule, Kühe, Schweine und Ziegen in die Ställe; — ihren Hühnerbestand mußte Jule Grote wiederfinden, wie sie ihn aufgegeben hatte, und die Gips-Venus mußte auch auf den Ofen wieder hin, sonst war die ganze Geschichte nicht das halbe Pläsier. Und Tische und Bänke hatten sie mir in meiner Abwesenheit gleichfalls derartig verrückt, daß ich mit vier Fäusten und acht Beinen hätte greifen und laufen mögen, um nur die allernötigste Ordnung wieder hereinzubringen. An Karl Ebeling erinnerst du dich wohl nicht mehr? Das war ja unser Junge zu unserer Zeit auf dem Hofe! Na, siehst du, es freut mich, daß dir der Lümmel doch wieder frisch in der Erinnerung aufgeht! Er hat damals manchen Wurf mit dem Pantoffel und manchen Schlag mit dem Küchenbesen, der moralisch mir gehörte, aushalten müssen; und nun male dir meine Genugtuung, daß ich das Ungetier (einen anderen Namen hatte Jule Grote ja nicht dafür!), voll ausgewachsen, mannbar und mit einem Schatz versehen, und dazu als Reserve-Unteroffizier, wieder habe, und zwar als unseren Oberknecht! Er sitzt jetzt mit Anstand zu meiner Linken an unserem Tische in der alten Stube, weißt du; aber ein anderes Exemplar von ihm in seiner lieben Jugend und Gefräßigkeit und Flegelhaftigkeit habe ich, Gott sei Dank, dazu wieder mir gegenüber am anderen Ende des Tisches. Karl Eggeling heißt der Schlingel heute; na, und ich muß mir doch manchmal in den Ärmel lachen, wenn ich wieder einmal zu erfahren habe, daß die alte Jule immer noch nicht milder und sanfter gegen diese Spezies von der männlichen Gesellschaft gestimmt ist. — Die alte Jule! da sind wir wieder bei ihr und ihrem Einzuge auf dem Steinhofe. So in Tränen gebadet habe ich noch kein Frauenzimmer bei keinem irdischen Zufall und weder in Amerika noch in Europa erblickt! Du hättest ihr das größeste Unrecht antun können, und es hätte diese Flut nicht aus dem Schütt gelassen. So weich wie das Glück hatte das Unglück sie längst nicht gemacht. Freund Stakemann, der auch noch lebt, Fritz, — du weißt, Stakemann, der mich damals so treu brieflich warnte, als es längst zu spät war! — Stakemann, der immer der alte vergnügte Kerl geblieben ist, kam leider auch hier mit seinem Witz post festum. Die spaßhafte Bemerkung, daß der Weg von Bodenwerder her wohl nächstens unter Wasser stehen, und daß man sich demnächst in Bremen über das große Wasser wundern würde, hatte ich bereits gemacht, geradeso wie damals, das heißt, die Jahre vorher, meine Geschäfte mit dem Doktor Schleimer, dem ich, wieder beiläufig, leider nicht in den Vereinigten Staaten begegnet bin, um ihm offenherzig meine Meinung sagen zu können. — Sonst war mir übrigens selber eigentlich auch gar nicht spaßhaft zumute, sondern sehr im Gegenteil. Ich saß da auf dem Leiterwagen und hielt den Arm um die Alte und tröstete sie und mich nach besten Kräften in unserem Glück. Es ist keine Kleinigkeit, selbst im glücklichsten Fall, sich um soviel älter — alt — und in diesem auch als Greisin zu sehen und zu fühlen, daß man noch einmal eine glückliche Minute herausgefischt hat! Ich weiß nicht, Langreuter, ob ich dir das nach der Syntax vortrage, aber eine Wahrheit ist es, verlaß dich drauf. Nicht wahr, alter Freund, wenn einer den anderen so recht verstehen soll, dann braucht der nur recht unverständlich zu sprechen, wenn er seine Meinung nur recht tief aus dem Grunde heraufholt?! Daher, wo man gar nicht mehr weiß, ob man aus seiner eigenen Seele spricht oder der des anderen!… Nun spricht man häufig davon, daß es sehr süß ist, eine junge Geliebte vom Wagen zu heben, um sie in die neugegründete Heimat einzuführen. Ich glaube dieses herzlich gern, obgleich ich es leider noch nicht selber an mir und an einem guten Mädchen probiert habe; aber sozusagen etwas Bräutliches hatte auch Jule Grote an sich, als sie mit ihrem Anverlobten, dem Steinhofe, wieder zusammenkam nach so langer Trennung und hoffentlich jetzt auf immer. Während des Zwischenreichs und der Fremdherrschaft hatte sie natürlich keinen Fuß in die Gegend gesetzt: ‚Zehn Pferde hätten mich nicht in das Hoftor gezogen, Just!‘ rief sie einmal über das andere, während sie jetzt durch alle Stuben und Kammern, treppauf und treppab, durch Stall und Garten humpelte und mich mit seligen Tränen in den Augen auf alles aufmerksam machte, was das ‚fremde Volk während seiner Herrschaft nach seinem Gusto verändert oder gar ganz schandbar verrungeniert hatte‘. Wir gingen alle mit ihr, und weißt du, Fritz, was nach meinem Vergnügen an der Alten mir das Lieblichste war? Das war unsere liebe Eva Sixtus, die ihren alten Papa führte und, immer verstohlen mit ihrem weißen Taschentuche an den Augen, wie ein weinender Frühlingsmorgen aussah. Es war ein wahres Glück, daß Stakemann fortwährend seine schlechten Witze und altbekannten nichtsnutzigen Bodenwerderschen Redensarten und Anekdoten uns dabei zum Besten gab; die Sache hätte sich sonst wirklich für einen Bürger der Vereinigten Staaten von Nordamerika zu sehr ins Gerührte verlaufen. Du hast unsere liebe Eva wohl lange nicht gesehen, Fritz? Das ist sehr schade. So jung wie vor zehn oder zwölf Jahren ist sie heute nicht mehr; aber das muß ein heikler Patron sein, für den sie nicht in die Länge und in die Breite in die allersüßeste Frauenfreundlichkeit sich ausgewachsen hat! Und dann solltest du den Förster über sie hören! Hast du selber einen Speech auf der Seele, so laß ihn um Gottes willen nicht zum Worte über sie kommen. Da redet er kopfwackelnd das allervolkreichste Meeting vom Stump zu Tode. Freilich, was mich betrifft, so bringe ich ihn immer mit dem größesten Vergnügen auf seine Tochter, sein liebes Mädchen, und dir, Fritze Langreuter, würde es wohl ebenso gehen, wenn du dir unter deinen jetzigen großartigen und weltgelehrten Verhältnissen noch das alte bescheidene Herz und Vergnügen an allen diesen unseren alten Dingen und Leuten von Schloß Werden, dem Steinhofe und der Umgebung hättest bewahren können. Daß das freilich nicht gut möglich ist, sehe ich aber recht gut ein, mein Junge!“ ……
Ich hatte mir geschworen, den Menschen nicht zu unterbrechen, und ich unterbrach ihn auch jetzt nicht; aber ich sprang auf vom Stuhl, knöpfte mir die Weste auf und trat auf längere Minuten an das Fenster, um die brennende Stirn an die Scheiben zu drücken und auf das dem Morgen hastig zutreibende Gewölk zu sehen und auf den Wind zu horchen. Als ich an den Tisch zurückkam, hatte sich der Vetter Just eine frische Pfeife gestopft und hielt eben das brennende Zündholz darauf. So gleichmütig und phlegmatisch, als ob er mir nicht das geringste gesagt habe, was einen Privatdozenten ohne Zuhörer und einen Doktor der Philosophie ohne Philosophie aufregen könnte. Und jetzt sagte er noch dazu:
„Wahrhaftig, wenn man so ins Schwatzen kommt!… zwei Uhr am Morgen! Bei uns auf dem Steinhofe fangen da schon die Hähne an zu krähen. Und ich sitze hier und rede und rede und bedenke gar nicht, wie ich dich von der nächtlichen Ruhe abhalte, und wie kostbar gerade deine frischen Morgenstunden für die gelehrte Welt und die Wissenschaften sind. Aber guck, Fritz, so bleibt ein Deutscher immer ein Deutscher! Ein echt eingeborener Nordamerikaner hätte dir einfach gesagt: Ich habe den Steinhof wieder; wenn du Lust hast, male dir alles übrige dazu oder laß es bleiben. — Ich dagegen sitze hier und möchte dir auf jeder Faser und Fiber in mir meine Gefühle und Erlebnisse in der alten Heimat nach der Heimkunft vorspielen und frage den Teufel danach, ob das dir noch interessant ist oder nicht. Aber jetzt auch kein Wort mehr! Wo ist mein Überrock? Hier. Und hier ist mein Hut. Jetzo setze deiner Güte und Geduld die Krone auf und leuchte mir die Treppe hinunter. Den Weg nach meinem Wirtshause finde ich schon; hoffentlich aber kehren mehr Leute von meiner Art da ein, die sich leicht festschwatzen nämlich, wenn sie nach Jahrhunderte langer Abwesenheit und Trennung einen guten alten Freund und Bekannten zufällig wieder getroffen haben und ihn in ihrer Zufriedenheit mit der Welt in den Schlaf oder über den Schlaf weg, aber sicher halb tot reden. Allein möchte ich auch in diesem Falle nicht in der Welt stehen.“
Nach jahrhundertelanger Trennung und Abwesenheit! Das letzte Wort war das richtige; ich aber war Pedant genug, daß ich mir auch in diesem Augenblicke, das heißt, nachdem ich dem Vetter die Treppe hinunter mit dem Lichte vorangegangen war, durch jenes Worts sprachliche und begriffliche Zergliederung meine Stimmungen und Gefühle klarer machte. Wer diese langen Jahre hindurch abwesend gewesen war, das war nicht der Vetter Just Everstein, sondern ich, — ich, der ich so hübsch ordentlich zu Hause geblieben war.
Ich schlief in dieser Nacht nicht mehr, obgleich ich ziemlich rasch zu Bette ging. Da lag ich und versuchte es, hundert zerrissene Fäden wieder anzuknüpfen, was stets ein bedenklich Geschäft ist und nicht immer gelingt, jedenfalls aber ungemein selten das Gewebe des Lebens haltbarer und glatter macht. Nun war es sonderbar, wie gerade die letzten Exkurse des wackeren Freundes mir die heftigste Unruhe in das Geblüt geworfen hatten. Was erzählte mir auch der Mann von dem „weinenden Frühlingsmorgen“ Eva Sixtus? Wir waren doch alle — ohne Ausnahme — in den Sommer des Daseins hineingeraten. Was sollten mir die hübschesten Bilder aus Tagen, die, wie der Vetter ganz richtig sich ausdrückte, ein Jahrhundert weit hinter uns lagen?
Ich wendete mein Kopfkissen darob fortwährend um, ohne Ruhe darauf zu finden. Baß ergrimmt (nein, das war nicht das richtige Wort!) entstieg ich, als der trübe Morgen gekommen war, dem ruhelosen Lager mit den Gefühlen eines Mannes, der eine weite Reise unternommen hat, um alte Schulden einzukassieren, überall aber leere Taschen gefunden hat und nun selber mit leerer Tasche in einem öden Gasthofszimmer sitzt. Mit einer wahren Wut blickte ich von einem meiner Büchergestelle auf das andere. Die weisesten Autoren, denen ich in diesen schönen Momenten mit meiner Lebensrechnung unter die Nase zu rücken versuchte, waren nur imstande, mir die Gegenforderung und Frage zu stellen:
„Wer soll uns denn mit Noten versehen, wenn nicht ihr Lebenden? Dummes Zeug: Trost und Beruhigung! — Bestätigung unserer Lebensangst, Unruhe und Not wollen wir von euch Atemholenden! Weiter im Texte!“
Von den Schuldnern zu den Gläubigern — den Gespenstern, die mich in der Nacht geplagt hatten! Der Mensch hat eigentlich gar keine Ahnung davon, wie er die Wörter seiner Sprache mißbraucht. Die Abgeschiedenen lassen einen wohl schon in Ruhe: es sind die lebendigen Wesen in Fleisch und Blut, die mitatmenden, leidenden, sich freuenden Genossen der Erdenlaufbahn, die da gewöhnlich durch unsere Träume spuken gehen! Sind sie gar noch gute alte Freunde und Bekannte und haben sie dazu muntere Füße, wackere Hände, helle Augen und rote Backen und wissen sie mit kräftiger, sanfter oder gar freundlicher und liebevoller Stimme ihre Fragen zu stellen in der Geisterstunde, so ist das sehr häufig am allerbedenklichsten für unsere nächtliche Ruhe.
Wie mit einem Zauberstabe hatte dieser Mensch und Vetter Just, dazu Bürger der nüchternen Vereinigten Staaten von Nordamerika, an die dürre Wand geschlagen und das klaräugige Spukgesindel über mich her beschworen. Als ich gegen elf Uhr meinen Weg durch die belebten Gassen zu seinem Hotel suchte, um ihm, dem Vetter Just, meinen Gegenbesuch zu machen, sah ich unwillkürlich gespannter als seit langer Zeit den Begegnenden in die Gesichter und mit einem gewissen ängstlichen Suchen und Erwarten in das Getümmel überhaupt. Was ich seit langem teilnahmlos hatte an mir vorbeistreifen lassen, das gewann nach dieser Nacht plötzlich ein sozusagen angsthaftes Interesse für mich. Andere Leute mochten es vielleicht anders nennen; ich nannte es Gedanken, was mich auf meinen Wegen bis heute durchgängig gehindert hatte, auf die Bewegung um mich her viel zu achten. Höchstens ärgerlich hatte ich dann und wann auf- und um mich gesehen, wenn ein unvermuteter Puff und Knuff von Menschenkindern, die es stets eiliger als ich hatten, mich in meiner Neigung, mit gesenkter Nase hinzuschlendern und, offen gestanden, an sehr wenig zu denken, störte. Nun hatte sich dieses mit einem Male geändert, wenigstens für diesen Morgen. Ich ging mit geradeaus gerichteter Nase und mit Augen, die nach rechts und links und manchmal sogar einem auffälligeren Individuum nachguckten.
Weißt du, wer da mit dir geht oder dir entgegenkommt? Hast du es schriftlich, daß niemand darunter ist, dessen Erkennung im Haufen dir wichtiger sein kann als das träumerische Gespinste, in welches du deine fünf Sinne eingewickelt umherträgst. Würdest du dich über kein zweites unvermutetes Begegnen an der Straßenecke wundern oder freuen? Bist du wirklich so ganz allein und — auf dich allein angewiesen unter den Hunderttausenden? Und — da stand ich schon und starrte und brachte im jähen Anhalten meinerseits diesmal eine Hemmung in den Strom der Bevölkerung und auf dem Gesichte des Nächsten hinter mir, auf dessen Zehen ich mich mit meinem Hacken niederließ, einigen Verdruß hervor. — — —
Mademoiselle Martin!
Das war nicht das Gesicht, auf welches ich in dem großen Strome gepaßt hatte; — Eva Sixtus sah anders aus! — aber das Wunder und die Verwunderung blieben die nämlichen. Ich mußte doch noch Mademoiselle Martin, unsere alte französische Sprachmeisterin von Schloß Werden, kennen! Sie war es! sie war es unbedingt, und wenn auch nur um das alte Wort zu bewahrheiten: Wenn es kommt, so kommt es in Haufen!
Ein greisenhaft, verschrumpfelt und verrunzelt, etwas phantastisch aufgeputztes Mütterchen wackelte sie daher, und ich stand mit dem Hute in der Hand:
„O Mademoiselle!… o Mademoiselle Martin, welches ungemein erfreuliche —“
„Monsieur?!“
Es lag eine Welt von Fragen in dem einen Wort; und ich war imstande zu stottern:
„O, ich bitte — Doktor Langreuter ist mein Name.“
Da ging es gottlob wie ein Lächeln über das sorgenvolle Altfrauengesichtchen der ci-devant soeur ignorantine.
„Je, Fritz?! Monsieur Frédéric Langreuter! Ei, der Herr Doktor Langreuter! Aber, en vérité, das nenne ich freilich ein recht erfreuliches Zusammentreffen. Haben Sie mich wiedererkannt, Fritz — Herr Doktor? O dieses unvermutete Wiederfinden freut mich ebenfalls sehr.“
„Und Sie kennen mich auch noch, Mademoiselle? Und gestern mittag — o Mademoiselle, welche Wunder können doch noch in dieser Welt geschehen!… Gestern der Vetter Just und nun Sie, Fräulein Martin! Und Sie haben sich so wenig verändert, daß auch das ein neues Wunder ist, Mademoiselle.“
„Geben Sie mir Ihren Arm, monsieur. Durch ein paar Straßen müssen wir sans condition miteinander gehen. Schmeicheln will ich Ihnen nicht: Sie haben sich sehr verändert, Mr. Langreuter, und hätten Sie mich nicht angerufen, so würde ich Sie wahrscheinlich nicht wiedererkannt haben.“
Wir paßten ganz zueinander: ich der mittelalterliche Quellenforscher und das melancholisch geputzte Mütterchen an meiner Seite. Durch ein heiteres Wesen hatte sich Mamsell Martin wohl nie hervorgetan; aber nun hatten die Jahre und die Erlebnisse wie immer dichter sich übereinander schiebendes Gewölk das letzte Licht in ihren Altjungferzügen ausgelöscht. Ich hatte sie vorsichtig zu führen, denn ihr Schritt gehörte nicht mehr zu den festesten. Wir gingen langsam, und auch das war sehr nötig.
„Ich habe es gestern von einem guten, alten Freunde vernommen, daß Gräfin Irene jetzt hier ihren Aufenthaltsort genommen hat, Mademoiselle. Ich habe viel erfahren seit gestern, Mademoiselle, und vieles, was ich eigentlich ebenso gut, wo nicht besser als jener treue, wackere Freund wissen müßte. Nun gehe ich plötzlich auch mit Ihnen hier —“
„Ja, wir wohnen seit einigen Wochen in Berlin, Herr Fritz — Herr Doktor. Durch wen aber wissen Sie das auch — seit gestern?“
„Durch den Vetter Just.“
Nun sah man wieder einmal recht deutlich, daß sowohl der Dichter des Textes zum Freischütz sowie der Komponist und alle weisen und melodischen und poetischen Männer, die das Nämliche vor ihnen in Versen und Prosa oder Noten angemerkt, das Richtige getroffen hatten.
Ob auch die Wolke sie verhülle, die Sonne bleibt am Himmelszelt! Wie ein Sonnenstrahl ging es über die gelbe faltenreiche Stirn, wie freudiges Leuchten zuckte es aus den schwarzen Augen der alten soeur ignorantine.
„Oh monsieur, monsieur! Der Vetter Just! O wohl, monsieur Just Everstein! Ja, der hat uns gefunden und hat uns eine Visite gemacht, und wir waren so glücklich, ihn zu sehen! Und er hat bei uns gesessen stundenlang und von der alten Zeit gesprochen! Und er hat unser Kind in seinen guten Armen in den Schlaf getragen! Die Komtesse hat geweint, als er weggegangen ist, aber diesmal vor Freuden. Nicht weil er gegangen ist, sondern weil er versprochen hat, immer wieder zu uns zu kommen, zu uns und unserem armen Kinde. Und er ist wieder gekommen, und hat wieder mit uns von der alten Zeit und dem Herrn Grafen und dem lieben, armen château de Werden geredet. O — er hat uns gesucht in dem pêle-mêle, der Vetter Herr Just, und er hat uns gefunden und nicht bloß durch einen Zufall. Le bon dieu hat ihm das in sein Herz gegeben, daß er es nicht anders konnte, sondern suchen und finden und kommen und da sitzen mußte, um uns zum Troste zu sein in dieser argen, schlimmen, schlimmen Welt! Wie ein Gesandter von dem guten Gott ist er uns gewesen, der Vetter Herr Just, der mir soviel aversion und répugnance hat bereitet in der glücklichen alten Zeit, wenn ich euch rief zu der Lektion — savez-vous? hoch oben aus den Bäumen und ihr nicht antwortet, weil ihr alle waret echappiert und — eh, eh, hattet euch durchgeschlüpft — glissés par la haie — wie die Vagabonden in die weite Welt und nach dem Steinhof. Oh mon dieu, damals habe ich geweint, weil das war, nun weine ich, weil das nicht mehr sein kann. Aber madame la baronne, meine Komtesse kann noch lächeln, wenn sie spricht mit dem Vetter Just davon und von euch anderen bösen Kindern; und so bin ich auch glücklich, daß ich einst mich so sehr habe geärgert.“
Vergebens war es, meinerseits ein Wort in diesen Redefluß der alten Dame zu werfen. Und sie redete das alles zu mir in einer der belebtesten Straßen der großen Stadt Berlin, gänzlich unbekümmert darum, daß wir nicht allein darin gingen wie vordem wohl in der großen Lindenallee im Garten von Schloß Werden. Wir gingen ihnen allen zu langsam und nahmen ihnen allen zuviel Platz auf dem Wege in Anspruch; aber alle hatten sie es auch nicht darum so eilig, um rascher zu einem Vergnügen zu gelangen, und so war nichts gegen dies Geschobenwerden und Gedrängtwerden einzuwenden.
Daß sich Irene von Everstein in Wien mit einem Freiherrn Gaston von Rehlen verheiratet hatte, wußte ich, ebenso daß diese Ehe nicht glücklich ausgefallen war. Nun wohnte die Frau Baronin seit einigen Wochen als Witwe in Berlin, mit einem kranken Kinde und mit ihrer alten französischen Sprachmeisterin. Ich hatte hundert Fragen zu stellen und brachte doch keine einzige über die Lippen. Jeder Blick in das melancholische graue Gesichtchen mir zur Seite wurde mir hier zu einem Hindernis und trieb mir das Wort von der Zunge zurück; die soeur ignorantine aber schwatzte trübselig weiter von der guten alten Zeit, „als der Herr Graf noch lebte und niemand eine Ahnung, ein pressentiment, davon hatte, wie die Verhältnisse für uns alle sich nach seinem Tode gestalten würden“. Des Ausdrucks changer de face bediente sich Mademoiselle Martin, und es war der ganz richtige Ausdruck: ein ganz anderes Gesicht als damals, wo nur der Herr Graf genau wußte, wie schwankend unsere Stellung im Leben sei, machte uns heute die Welt!
„Monsieur Ewald ist immer noch in England oder Irland; doch er will nächstens nach Deutschland zurückkehren, hat uns neulich mademoiselle Eva geschrieben,“ sagte Mademoiselle. „Der Herr Vetter Just hat ihn in der Stadt Belfast par hasard getroffen. Ich hätte mir gern von ihm erzählen lassen, aber der Herr Vetter hat nicht viel von ihm erzählt. Das Kind war sehr unruhig, und da nahm er es auf den Arm. Hélas, es ist ein sehr schwächliches Kind, monsieur Frédéric, und auch ein wenig verwachsen — ah, pardon.“
Die Gute hatte nicht nötig gehabt, um Verzeihung zu bitten. Erst durch ihren letzten halb erschrockenen Ausruf wurde ich auf die unwillkürliche Bezugnahme auf meine eigene gleichgültige Person lächelnd aufmerksam. Ich hatte nur an Ewald Sixtus in Belfast gedacht und an die Gründe, die den Vetter Just abhalten konnten, von ihm der Gräfin Irene ausführlich zu erzählen. Mir mußte der Vetter hierüber Rede stehen, das stand mir unumstößlich fest.
Wir hatten nun die größere Verkehrspulsader der Stadt verlassen und schritten durch stillere Straßen.
„Nun ich Sie wiedergefunden habe, — auch par hasard, Herr Fritz Langreuter! — so müssen Sie uns doch nun auch wohl eine Visite machen,“ meinte Mademoiselle. „Ich werde Ihnen zeigen unsere Wohnung; doch können Sie nicht gleich mit mir gehen, denn madame la baronne — meine Irene ist nicht wohl heute. Sie müssen kommen mit dem Vetter; ich aber werde sagen, daß ich Sie jetzt getroffen habe, und daß Sie aus alter Freundschaft zu uns kommen werden. Darf ich das, monsieur Fritz? Dort wohnen wir, im dritten Stockwerk; — der Herr Vetter Just kennt aber den Weg, und Irene wird sich sehr freuen.“
Ich sah an dem Hause empor und hielt beide Hände der alten, so bittersüßen Dame, konnte aber nichts weiter hervorbringen als:
„O Mademoiselle!“
„Adieu, monsieur,“ rief sie. „Und — au revoir! nicht wahr, monsieur?“
Die Haustür hatte sich hinter ihr geschlossen, und ich lief eiligst meinen Weg zurück und nach dem Hotel, in dem der Vetter Just Everstein abgestiegen war und hoffentlich noch auf mich wartete mit dem Frühstück, zu dem er mich eingeladen hatte.
Gewartet hatte er in seinem Hôtel garni nicht mit dem Frühstück; auch dazu war er zu sehr der Vetter Just vom Steinhofe geblieben. Aber er hatte doch noch viele schöne Reste auf dem Tische übergelassen; und mit mir von neuem herzlich und herzhaft daran zu Werke zu gehen und sich zu erbauen, dazu war der Vetter immer noch der Mann. Aber ich hatte durchaus keinen Appetit mehr; selbst der sehr mäßige, den ich vom Hause mitgenommen hatte, war mir auf dem Wege unter der Begegnung mit der weiland soeur ignorantine, Mademoiselle Martin, vollständig vergangen.
Nun war es aber trotz dieser Begegnung immer noch ein Mirakel, den Vetter Just vom Steinhof in einer solchen modernen Karawanserei aufsuchen zu müssen und ihn daselbst sogar auf dem bekannten trostlosen Sofa hinter dem bekannten, schäbig rotbehängten Tische hemdärmelig zu finden. Welch ein Segen und Glück ist es, daß ein richtiger Haspel immer ein Haspel bleibt, selbst wenn er einem in einer gläsernen Flasche als eine Kuriosität vorgewiesen wird!
„Du bist lange ausgeblieben, Fritz! Aber so seid ihr einmal hier, und man muß euch nehmen, wie ihr seid!“ rief er mir entgegen. „Jetzt komm her und setz dich und greif zu. Einen Klingelzug habe ich schon verruiniert; aber brauchst du noch etwas, so sag’s nur dreist, ich gehe dann lieber selber danach. Alter Junge, ich freue mich unbändig. Öffnete sich jetzt dort die Schranktür und Jule Grote träte hervor, um, mit der Faust auf den Tisch gestemmt, dir und mir die Wahrheit zu sagen, so wäre meine Behaglichkeit vollkommen. Aber wie siehst du denn eigentlich aus? Ist dir etwas Unangenehmes auf dem Wege hierher begegnet, oder haben wir für deine Kräfte etwas zu lange in die Nacht hineingesessen und von den alten Tagen gesprochen?“
Ich fuhr so rasch als möglich damit heraus, was mir eben begegnet war, und der Vetter fuhr mit der Hand über den Hinterkopf und sprach sehr gedehnt:
„Ach so!… ja freilich!“ …
„O Just,“ rief ich, „du bist natürlich sofort da wieder der liebste Gast und beste Freund und Berater! Ich soll womöglich nur in deiner Begleitung dort einen Besuch machen; — ich bitte dich um des Himmels willen, was ist das? Sind die Zustände dort wirklich so trostlos, daß —“
„Hast du wirklich gefrühstückt? Auf Ehre, Fritz, bist du satt und magst du wahrhaftig nichts mehr von dem öden Zeug hier auf dem Tische?“ fragte der Vetter kläglich. „Ich frage dich dieses aus Gründen. Nämlich mir ist der Appetit auf längere Zeit vergangen, nachdem ich dort aus alter Freundschaft an die Tür geklopft hatte und von Mamsell Martin hereingelassen worden war. Ach, Fritz, was will das alles sagen, was die Männer erleben können, gegen das, was die Weiber dann und wann erleben müssen. Ich bringe dich natürlich hin, damit du selber siehst, was der Schuft, dem sie in die Hände gefallen ist, aus unserer lieben Irene gemacht hat. O, wäre sie tausendmal lieber mit mir über das Wasser und dann, hie und da ohne einen Cent in der Tasche, durch die Straßen von Neuyork und durch alles Sauere und Bittere bis in die Wildnis von Neu-Minden gezogen, als daß sie so dumm war und als bankerottes hochadeliges und reichsgräfliches Fräulein und junges Mädchen unter ihren Leuten blieb.“
„Davon habe ich eigentlich zu erzählen, nicht du, Vetter Just,“ seufzte ich. „Das waren trostlose Zeiten auf Schloß Werden, die nach dem Tode des Herrn Grafen kamen. Wir erfuhren es beide damals, Vetter, wie dem Menschen zumute wird, wenn plötzlich hundert fremde Hände und Fäuste das Recht gewinnen, in unser Dasein hineinzugreifen und alles, was wir für unser ewig Eigentum hielten, als das ihrige in Anspruch nehmen. Da wird das Geräte des Lebens verschoben, das uns für alle Zeit an seinem Platze fest zu stehen schien. Da klingt fremdes Gelächter in Räumen, in denen wir nur zu flüstern wagten. Du hast nicht die Macht, dich gegen die roheste Rede, gegen den erbärmlichsten Witz zu wehren. Und wenn die grünen vertrauten Bäume von draußen in gewohnter Weise dazu in die Fenster sehen und rauschen, so ist das kein Trost, sondern ganz das Gegenteil. Wir auf Schloß Werden hatten gerade so wie du auf deinem Steinhofe von allem Abschied zu nehmen. Und wir erfuhren jetzt erst in herzzerbrechender Deutlichkeit, wie uns alles ans Herz gewachsen war. Ach, du hättest meine Mutter und ihr armes Kind, ihre Irene, in jenem Sommer und Herbst sehen sollen, wie sie in den immer leerer werdenden Räumen in den Winkel gedrückt saßen und alles über sich ergehen ließen; die stolze Irene am stillsten und geduldigsten! Wohl hätte die Komtesse auf dem Försterhofe ein anderes heimatliches Dach finden können, wohl hätte sie mit uns — meiner Mutter und mir — gehen können und unser Schicksal teilen, wenn nur nicht jeder Mensch sein eigen Schicksal hätte, das durch keine Liebe und Aufopferung, keinen Haß und Zorn eines anderen geändert werden kann —“
„Jawohl, da hast du recht,“ seufzte der Vetter Just. „Man macht sich hier immer entweder zu viel oder zu wenig Illusionen von der Macht, dem guten oder bösen Willen seiner nächsten Umgebung und liebsten Freundschaft. Gegen das Schicksal, was einem angeboren ist, können sie nichts ausrichten, das steht fest — that is a fact, sagen wir drüben.“
„So kam denn die Vormundschaft und sprach uns drein, und dann der Brief aus Graz, und dann die Tante aus Graz persönlich. Da war es denn mit uns anderen allen aus, und wie von dem Steinhofe, so ging von Schloß Werden ein jeder seinen eigenen Weg in die Fremde hinein. Wenn dem nicht so wäre, wo bliebe dann nachher wohl die Verwunderung, wenn man sich wieder trifft, wie zum Beispiel wir jetzt, und seine Erfahrungen gegenseitig austauscht?“
„Da hast du wieder recht,“ sagte der Vetter Just Everstein, als ob ich ihm wirklich eben die höchste Weisheit und zwar als etwas ganz neu Entdecktes mitgeteilt hätte. „Und jetzt sei nur still,“ fuhr er dann um so überraschender fort, „du erzählst mir da gar nichts Neues; und so melancholisch, wie du das da herleierst, so trübselig habe ich es alles selber mit durchgemacht von Bodenwerder aus. Großer Gott, wie bald vergessen doch die Leute, wie nahe sie vor ein paar Jahren beieinander gewohnt haben! Von Irenes Ehestand spreche ich dir meinerseits nicht. Da mußt du dich lieber an Mamsell Martin wenden; die war, Gott sei Dank, von Anfang an bis zum Ende dabei und hat dazu heißeres Blut in den Adern als ich und kann dir also die jämmerliche Geschichte mit allem dazu gehörigen Nachdruck und Gestus erzählen. Nur tu mir die Liebe, Fritz, und frage nicht die Komtesse danach aus. Freilich, du wirst das wahrscheinlich wohl schon von selber unterwegs lassen, wenn du die alte wilde Hummel und Spielkameradin nach den ihr von der gütigen Vorsehung zudiktierten Lebensschicksalen wieder zu Gesicht gekriegt hast. Kurios aber bleibt es einem immer doch, wie diese nichtswürdigen Schicksale so durcheinander spielen, daß selbst der Gleichgültigste nie genau weiß, wie sehr ihn die Sache angeht. Daß ich von neuem hier drinstecke, und zwar tief, das weiß ich; nun soll es mich nur wundern, was dir, mein guter Fritze Langreuter, hierbei zu deiner Behaglichkeit und Unbequemlichkeit aufgehoben ist! Well, noch steht es aber bei dir, ob du die arme Frau durch mich nur grüßen lassen willst?“
Wenn es mir bis jetzt noch irgendwie unklar gewesen wäre, wie es möglich war, daß der Vetter Just den Amerikanern imponierte und den Steinhof wiedererlangte, so hätten mir seine letzten Worte unbedingt darüber Aufklärung geben müssen.
Und diesem Vetter hatte ich vordem die Brosamen, die vom Tische meiner Schülerweisheit abfielen, mit dem bekannten Dummen-Jungen-Humor grinsend zukommen lassen?! Und dieser Vetter Just Everstein hatte es einst für eine Glorie gehalten, mir den pythagoreischen Lehrsatz „vordemonstrieren“ zu können! Die alten Kirschbäume im Grasgarten auf dem Steinhofe, die jetzt wieder samt dem Grasgarten sein Eigentum waren, schnitten mir aus der Ferne der Erinnerung sehr ironische Gesichter. Der ganze Steinhof lachte; mir aber war durchaus nicht lächerlich zumute: wenn ich ein alberner Schulbube gewesen wäre, so hätte ich dreist meine Stimmung weinerlich nennen dürfen. Um mich daraus zu retten, brachte ich nach althergebrachter Menschenweise die Rede auf etwas anderes, das heißt auf den nächsten besten Bekannten oder Freund. Ich erkundigte mich nach Ewald Sixtus und wünschte etwas Genaueres über das Zusammentreffen des Vetters mit ihm in Belfast zu erfahren.
„Der Mann gefiel mir eigentlich nicht,“ sagte der Vetter Just kurz und deutlich. „Ein tüchtiger Ingenieur scheint er geworden zu sein; aber sonst hat die Fremde gerade nicht nach meinem Geschmack auf ihn eingewirkt. Von uns zu Hause mit ihm zu reden, habe ich bald aufgegeben, da er selber stets gleich wieder abbrach. Aber über Wasserbauten und Brückenanlagen haben wir viel miteinander gehandelt. Wie dieser Mensch in dem Försterhause hatte flügge werden können, ist auch eines von den vielen unbegreiflichen Wundern dieser Erde. Was mich anbetraf, so schien er sich übrigens auch ein wenig zu wundern, daß ich nicht ganz der Alte geblieben war. Gewissermaßen habe ich ihm sogar, wie es scheint, gefallen, aber er hielt mich jedenfalls für einen größeren Kapitalisten, als ich bin; und daß ich auf dem Wege nach der Heimat war, um mir den Steinhof zurückzukaufen, hielt er für eine von meinen alten Dummheiten, und dabei kam auch sein altes lustiges Lachen (weißt du noch, Fritz?) zum erstenmal annähernd wieder zum Vorschein. Ich lachte aber nicht mehr mit wie vor Jahren auf dem Steinhofe, wenn ihr euren Spaß an mir hattet und ich das euch gern gönnte. Um Irene Everstein hatte er sich so wenig — wie du — nimm’s mir nicht übel, Doktor! bekümmert. Das hätte ich meinerseits ihm nun nicht allzu übel genommen, wenn es mir gleich etwas sonderbar nach ihrer so netten Jugendfreundschaft und Liebschaft erschien. Aber auch von seinem alten Vater und von seiner Schwester wußte er wenig. Sie schrieben an ihn wohl, er aber schrieb nur dann zurück, wenn er Zeit hatte, und die hatte er wenig. Ein bißchen Heimweh dann und wann in der Fremde schadet keinem Menschen. Man kann auch trotzdem Geld machen und ein tüchtiger Arbeits- und Geschäftsmann sein. Ich habe es furchtbar gehabt, das Heimweh nämlich, und für eine Million nicht wäre ich auf seinen, unseres Ewalds Vorschlag eingegangen und wäre noch ein halb Jahr lang bei ihm in England geblieben und hätte Bodenwerder Bodenwerder sein lassen. Übrigens läßt er dich doch grüßen, der alte Junge. Und als ich ihm sagte, daß ich dich jedenfalls aufzufinden suchen würde, fand er das uncommon obliging für dich.“
„Ich danke dir, und — ihm,“ sagte ich, ziemlich gedehnt das letzte Wort betonend. „Von dir, Vetter Just, war das freilich ungewöhnlich zuvorkommend und freundlich!“
„Ärgere dich nur nicht zu sehr, Fritzchen,“ lächelte gutmütig der gelehrte Bauer vom Steinhofe. „In früheren Zeiten ist lange genug ununterbrochen an mir die Reihe gewesen, mich über die Leute und Dinge zu verwundern. Jetzt bin ich gottlob wenigstens ein wenig dahintergekommen, daß man mit seinem Erstaunen haushalten muß, und daß es schade ist, es an das unrichtige Individuum oder den unrechten Gegenstand wegzuwerfen. Morgen früh aber gehen wir beide zu Irene Everstein oder Frau von Rehlen. Weißt du, ich nenne sie am liebsten immer noch bei ihrem Vaternamen, noch dazu da es auch der meinige ist. Wenn es dir paßt, so werde ich dich gegen elf Uhr abholen. Du kannst es mir aber aufrichtig sagen, wenn du andere wichtige Abhaltungen hast.“
Ich hatte dergleichen nicht.
Wenn der Vetter Just sein Wort gegeben hatte, so konnte man sich darauf verlassen, daß er es pünktlich hielt. Dieses war selbst in seinen Traumjahren auf dem Steinhofe der Fall, und sein Aufenthalt in Amerika hatte nichts daran geändert. Fünf Minuten vor elf Uhr am folgenden Tage vernahm ich seinen langsamen, soliden Schritt auf der Treppe.
„So, da bin ich, und wir können gehen,“ sagte er. „Irene wird sich gewiß recht freuen; aber ein Vergnügungsweg ist es nicht, das versichere ich dich.“
Dieses brauchte er nun mir gerade nicht immer zu wiederholen, ich wußte es bereits. Die Zeiten, wo wir uns in dem Blättergrün und Sonnengold unserer Nußbaumnester an der Hecke von Schloß Werden schaukelten und uns daraus wild, frei und fröhlich in alle grenzenlose Jugendlust der Erde niedergleiten ließen — auf die „Vergnügungswege nach dem Steinhofe“, wie der Vetter sich ausdrückte, — die Zeiten waren nicht mehr vorhanden. Aber aus dem Sonnengold und Blättergrün stieg ich an diesem Morgen doch hernieder in den Straßenschmutz der Stadt Berlin. Wie du die Jugendfreundin auch finden magst, hiervon werdet ihr auch reden, Fritz Langreuter! sagte ich mir wehmütig-bänglich; und dazu war es schon sehr viel und ein großer Segen, am Arme des Vetters Just Everstein diese Straßen durchwandern zu dürfen, vorüber an den Anschlagssäulen mit den hundert bunten, zu den heutigen Lustbarkeiten einladenden Zetteln, ganz abgesehen von den anderen öffentlichen privaten oder amtlichen Ankündigungen und Aufforderungen.
„Guck, da steht die Gesellschaft und der Staatsanwalt wieder einmal einem durchgeschnittenen Halse gegenüber perplex! Diese dreihundert Taler, die dem Denunzianten des Täters angeboten werden, sind für mich das kurioseste Preisgeld, was der Menschheit, das heißt dir, mir und den übrigen, hingehalten werden kann,“ brummte der Vetter. „Was will es dagegen heißen, die beste Komödie zu schreiben oder das beste Bild zu malen und einen Preis dafür zu kriegen? Beiläufig, ich habe es damals in der Neuyorker Staatszeitung gelesen, daß du auch einen Preis für eine wissenschaftliche Abhandlung bekommen hast. Das muß dich doch sehr gefreut haben, Fritz; — als ich es las, war ich natürlich aus Rand und Band. Hast du noch ein Exemplar von der Abhandlung für mich und kann ich sie verstehen?“
„Makulatur, alter Freund!“ sagte ich, besaß jedoch in einem staubigen Winkel ein hübsch Bündel von mir und der Welt höchst überflüssigen Abdrücken. Wir gingen weiter und sprachen auf dem ferneren Wege wenig mehr miteinander und nichts von irgend welcher Bedeutung; aber unter der Tür des Hauses, in dem Irene von Everstein jetzt wohnte, hatten wir eine Begegnung, von der kurz erzählt werden muß und zwar mit einer kleinen Abschweifung.
Es ist eine der volksläufigen Vorstellungen, daß die höheren Klassen unserer heutigen Gesellschaft den ideelleren Bestrebungen des Menschen immer noch vollkommen fremd gegenüber ständen und teils mit Verachtung darauf herabsähen, teils drolligerweise Furcht davor hätten. Dem ist nach meiner Erfahrung nicht so, nicht einmal im großen ganzen. Daß man hier wie auch in anderen Kreisen ein tüchtig Quantum von Dilettantismus oder von beschäftigungsloser Neugier oder von leerem Vorwitz im Verkehr der Welt zu verdauen hat, ist freilich nicht zu leugnen; doch wo hat man das denn nicht?
Ich meinesteils habe mich in meinem engen Reiche nie über eine aristokratische Mißachtung zu beklagen gehabt, wohl aber ziemlich häufig über des edlen deutschen Philistertums verzogene Schnauze ein vergnügtes Lächeln mit einiger Mühe unterdrückt. Wir deutschen Gelehrten usw. haben wahrlich keinen Grund, das: Krieg den Palästen! durch unseren Tabaksdampf nachzubrummen. Wahrlich, wenn es uns Spaß macht, so dürfen wir unsere Fehdebriefe da dreist an ganz andere Türen als die unserer früheren Reichsunmittelbaren usw. anheften.
Einer von den letzteren und zwar ein sehr guter Bekannter aus den Hörsälen der Universität und von manchem „wissenschaftlichen Abend“ her war es, der uns über die Schwelle, die wir eben überschreiten wollten, entgegentrat.
„Sieh da, Doktor! Was für ein guter, närrischer oder gar böswilliger Geist führt denn Sie in dieses Haus, wenn ich fragen darf?“
„Ich komme jedenfalls unter dem Geleit eines guten, treumeinenden Führers, mon prince,“ erwiderte ich. „Ich wünsche eine Jugendbekanntschaft zu erneuern, Durchlaucht.“
Die Durchlaucht oder Erlaucht hatte den Vetter höflichst gegrüßt und dieser den Gruß ebenso zurückgegeben.
„Eine Jugendbekanntschaft? Darf ich fragen, mit wem, lieber Freund und gelehrter Gönner?“
Ich stellte zuerst die beiden Herren einander vor, und sie begrüßten sich noch einmal. Dann beantwortete ich die an mich gestellte Frage, indem ich Irenes jetzigen Namen nannte, aber auch ihren Mädchennamen hinzufügte. Der Fürst ** sah mich einen Augenblick betroffen an, dann ergriff er meine Hand und rief:
„Die?! Die Herren sind Bekannte — Freunde der armen Frau? Ach, es ist ja richtig, Doktor, Sie stammen mit ihr aus einer Gegend her. O, meine Herren, ich habe in Wien diese Ehestandstragödie mit durchgemacht und auch eine Rolle darin gespielt. Ich war ein Zeuge bei dem Duell, in dem endlich zu allgemeiner Befriedigung in unserem gesellschaftlichen Verkehr ein schwarzer Strich über den Namen Gaston von Rehlen gezogen wurde. Die Rehlen sind von fernher mit uns verwandt, und nach meinen schwachen Kräften habe ich das meinige getan, die unglückselige Frau da oben in ihrem trostlosen Leben aufrecht zu erhalten. Mein Vater ist ein Jugendfreund des alten Herrn auf Schloß Werden gewesen; — so laufen die Bezüge zwischen uns durcheinander. Ach, meine Herren, ich wollte, Sie wären etwas früher gekommen. Vielleicht hätten Sie einen frischen Hauch in die schwüle Stunde mitgebracht, in der ich eben dort oben auf Kohlen gesessen habe. Sie treffen übrigens auch den Arzt dort an. Das Kind ist seit der vergangenen Nacht wieder recht krank; der Medizinalrat macht mit der Uhr in der Hand am Bette der Kleinen das bekannte Gesicht und ist mir auch bis vor die Tür nachgegangen und hat mir als einem Familienfreunde seine Meinung nicht vorenthalten. Das kleine Mädchen liegt bereits im Sterben, und als wirklicher Familienfreund halte ich das bei dem geistigen und körperlichen Zustande des armen Geschöpfes für ein Glück!“
Der Vetter Just stieß einen Laut hervor, der ein Seufzer war, aber auch eine grimmige Verwünschung bedeuten konnte.
„Meine Herren,“ fuhr der Fürst fort, „ist es nicht recht bizarr, daß wir uns von all diesen Angelegenheiten hier so zwischen Tür und Angel unterhalten? Bester Doktor, demnächst muß ich mich unbedingt einmal wieder zu einer Tasse Tee bei Ihnen einladen, und dann müssen wir mehr über die Frau da oben reden. Sie interessiert uns alle in dem weitesten und in dem engsten Kreise; ich spreche aber hier nur von dem letzteren als dem meinigen.“
„Sie wissen, daß Sie mir immer willkommen sind, Durchlaucht,“ erwiderte ich.
„Also, Adieu, mein Bester, und auf Wiedersehen!“
Wir schüttelten uns noch einmal die Hände, während der Vetter Just bereits die Treppe hinaufstieg.
Das war im ersten Stockwerk eine breite, vornehme, mit Teppichen belegte Treppe, die zu einer auf dem Eckständer der Brüstung eine Glaskugel haltenden Bronzefigur emporführte. Aber die Teppiche waren auf dem nächsten Absatze verschwunden, und auch die Stufen waren steiler geworden. Der Kommissionsrat, der die Beletage des Hauses innehatte, wohnte bedeutend eleganter als die Freifrau Irene von Rehlen, die wir in dem glückseligen Nußbaum, auf den Wiesen, in den Parkalleen und in den Wäldern von Schloß Werden einst in ihrer fröhlichen Wildheit, blondlockig und blauäugig, als unseren besten Kameraden und nur, wenn sie uns zu sehr durch einen ganz unvermuteten Schabernack aus der Fassung gebracht hatte, als dies „Fräulein Gräfin“ oder (nach Ewalds Ausdruck) als „diese ganz abgefeimte Haupthexe, diese Irene“ gekannt hatten.
Ich stieg hastig dem Vetter nach, der vor der Glastür mit dem jetzigen Namen unserer Jugendfreundin einen Augenblick lang sich schwer auf das Geländer stützte und, unverständlich mit sich selber sprechend, sich mit dem Taschentuch über die Stirn fuhr.
„Das sollte nun wohl ein Trost sein, daß uns dieser Mann da eben an der Tür begegnete?!“ brummte er mir zu. „O, diese Hand würde ich darum hergeben, wenn ich dadurch jetzt meine Eva Sixtus hierherschaffen könnte, Fritz Langreuter!“
Weshalb gab mir nun dieser Name Eva Sixtus auch in dieser Stunde, in dieser Umgebung und unter diesen Umständen, von ihm ausgesprochen und gleichsam zur Hülfe herbeigerufen, in tiefster Seele einen Moment bittersten Unbehagens, — wie das Volk sagt: einen Stich durch das Herz?! Ich hatte wiederum keine Zeit, darüber nachzudenken; die Glastür war nicht verschlossen, und der Vetter hatte sich „besonnen“, wie er sagte, und „die nötige Selbstbeherrschung wiedergewonnen.“
Als wir auf den etwas dunkeln Vorplatz traten, öffnete sich gegenüber eine Tür, und der Doktor kam heraus, geleitet von Mademoiselle Martin, deren runzeliges Gesichtchen verkniffener denn je erschien.
„Ah messieurs!“
Ich kannte auch den Arzt persönlich und wußte, daß er als einer der besten Kinderärzte der Stadt galt. Er gab mir etwas verwundert die Hand; aber dem Vetter Just schüttelte er sie ganz vertraulich.
„Ich freue mich, daß ich Ihnen augenblicklich den Platz räume, Herr Everstein,“ sagte er leise. „Sprechen Sie in Ihrer gewohnten Weise zu der Gnädigen; es wird ihr wohl tun —“
„Und das Kind?“ flüsterte der Vetter; und der glückliche Kinderarzt, der sie zu Tausenden hatte sterben sehen, nickte unmerklich und schüttelte sodann sehr merklich den Kopf:
„Ich habe leider dem Fräulein hier die Wahrheit nicht verhehlen dürfen. Ich denke — so — gegen Abend!… Werde jedenfalls im Laufe des Nachmittags noch einmal vorsehen. Mein Fräulein, ich bitte Sie, ferner so ruhig zu bleiben wie bisher. Meine Herren, ich empfehle mich Ihnen.“
Er ging, und Mademoiselle, die so ruhig bleiben konnte, erfaßte mit zitterndster Erregung unsere Hände, und die Tränen brachen ihr unaufhaltsam hervor.
„O, es ist gut! — nur einen Moment, messieurs! ich bin auch gleich wieder still. Herr Fritz, madame wird sich sehr freuen — freuen. Ich habe ihr gleich erzählt von Ihnen, und daß ich Sie habe gesehen in der Straße. Herr Just, Sie verlassen uns nicht heute abend! Sie bleiben bei meinem Kind und bei unserem Kinde, wenn kommt die schlimme — terrible — Stunde. Wir brauchen einen guten Mann dann bei uns, Herr Vetter Everstein! Und nun warten Sie, daß ich es ankündige, daß Sie da sind.“
Sie führte uns in ein Nebengemach, und wir hatten nicht lange zu warten, bis man uns winkte. O über die goldengrünen Zweige, in denen wir uns wiegten, unsere Nester bauten und von der Welt träumten und auch als Kinder, nicht als ausgewachsene Leute und große Philosophen die Welt für ein Spiel nahmen, in welchem wir mitspielen durften!…
Am Sterbebette ihres Kindes! Sie saß in dem verdüsterten Raume und hatte den Arm auf das Gitter des kleinen Lagers gestützt, und sie stand auch nicht auf, als wir leise in die Tür traten, sondern reichte uns nur die Hand und hob ihre gleichfalls fieberhaft glänzenden Augen zu uns empor.
„O Just,“ sagte sie, und dann zu mir gewendet, mit einem ganz anderen Ausdruck: „Schau, auch du, Fritz! ich sollte dich eigentlich jetzt wohl Sie nennen, denn wir haben uns so lange nicht gesehen und haben soviel erlebt in der Zeit, daß wir uns nicht gesehen haben. Aber ich hätte dich doch gleich wiedererkannt, Fritz, und ich habe auch keine Zeit, jetzt über das Schickliche nachzudenken. Lassen wir es also beim Alten, wenn es dir recht ist, Fritz.“
Es war noch die alte Stimme und doch auch eine ganz andere. Mit eisernem Griff drückte mir die Stunde die Kehle zusammen.
„O liebe Irene —“
Der Vetter Just hatte sich über das kranke Kind gebeugt.
„Deine gute Mutter ist auch gestorben,“ sagte die Jugendfreundin. „Ich habe mich sehr betrübt, als du mir das schriebest. Sie hat auch viel erlebt. Weißt du wohl noch, wie ihr zuerst nach Schloß Werden kamt? Aber wir haben nachher doch noch eine glückliche Zeit für uns gehabt. Setze dich doch, Fritz — du mußt nicht gleich wieder fortgehen; — aus alter Freundschaft, lieber Fritz! Mein Vater ist gestorben, — mein — Mann ist tot — nun stirbt mein Kind, mein armes, kleines, krankes Mädchen! O Vetter Just, Vetter Just!“
Sie hatte sich mit einem Male rasch erhoben und dem Vetter laut weinend die Arme um den Hals gelegt. Sie schluchzte an seiner breiten, braven Schulter, als könne sie sich nimmer wieder beruhigen.
„Das ist gut; lassen Sie sie so!“ murmelte Mademoiselle Martin, ihr Taschentuch zwischen den Händen zerringend. Da fing das Kind leise an zu wimmern, und der Vetter, die Mutter aufrecht haltend, legte eine Hand auf die kleine Stirn auf dem weißen Kopfkissen.
„Vetter Ju! — weh, weh!“ winselte das Kind.
„Herz, mein Herz,“ rief Irene. „Wir sind ja alle bei dir! Mama ist da, und wir bleiben alle bei dir — o großer Gott!“
„So weh, weh!… auf Arm, Vetter Ju!“ klagte das Kind von neuem und bat mit herzzerreißenden Schmerzenslauten. Der Vetter Just warf einen fragenden Blick auf Mademoiselle Martin, und sie nickte. Da nahm der Bauer vom Steinhofe sanft die Kleine aus ihrem Bettchen und setzte sich und hielt sie auf einem Kissen und in ihren Decken in seinen guten Armen, und sie wurde allgemach wieder ruhig und schlummerte schmerzloser der letzten ernsten Stunde zu. O über den Sonnenschein und die goldengrünen Zweige, in denen wir uns wiegten, als wir Kinder waren!
Der Medizinalrat sah seinem Versprechen gemäß gegen Abend noch einmal vor. Er blieb sehr ernsthaft wieder mit seiner Uhr in der Hand eine Viertelstunde und sprach gemessen schickliche und beruhigende Worte zu der Mutter. Aber er war ein „glücklicher“ Arzt, ein vielbeschäftigter, und hatte keine Zeit, hier das Ende abzuwarten, denn er hatte noch an verschiedenen anderen Orten dieselben geziemlichen und beruhigenden Worte zu sprechen. Wir aber hatten Zeit dazu: der Vetter Just Everstein und — gottlob! — ich auch!
Ich habe es wohl vergessen, zu sagen, daß wir damals im März des laufenden Jahres waren. Der Tag war hell und trocken, wenn auch noch immer windig. Auf den verhängten Fenstern lag ein gut Teil des Tages hindurch die Vorfrühlingssonne, und in das Nebenzimmer schien sie voll hinein, bis sie hinter die gegenüberliegenden hohen Häuser hinabglitt.
Wir verlebten diesen Tag vom Mittag an in diesen zwei Zimmern, dem verdunkelten und dem hellen; der Vetter Just und ich. Mademoiselle Martin deckte uns sogar in dem hellen Raume ein Tischchen und legte vier Kuverts auf und stellte vier Stühle daran. Wir aßen daran zu Mittage, Mademoiselle, der Vetter und ich; und auch Irene setzte sich einmal zu uns. Da aber hatte der Vetter ihren Platz an dem kleinen Bette eingenommen. Wir gingen ruhelos ab und zu, aus der hellen Stube in die dunkle. Es wurde auch eine Zeitung gebracht, und Mademoiselle Martin reichte mir dieselbe. Ich nahm sie und habe sie bis in die Dämmerung hinein wohl hundertmal hingelegt und von neuem aufgenommen. Wer diese Weise, eine Zeitung, ein Buch oder sonst einen beliebigen Gegenstand in Angst, Herzensweh und — langer Weile, — ja, langer Weile, hin- und herzuwenden durch die kriechenden Stunden, nicht kennt, der preise das Geschick, das ihm solchen Zeitvertreib ersparte, und bitte, daß es ihn auch fernerhin davor bewahre, sich daran halten, im vollsten Sinne des Wortes sich daran halten zu müssen, bis das schlimme, öde, tödliche Warten sein Ende gefunden hat, einerlei welches.
So warteten wir an jenem Nachmittage.
Das kranke Kind wimmerte und schlief und wimmerte wieder und schlief wieder.
Die Mutter sang ihm mit leisester Stimme und kam zu uns und weinte und erzählte auch abgebrochen aus ihrem Leben und fragte nach dem meinigen. Wenn der Vetter Just irgend etwas sagte, so horchten wir alle mit momentan leichterem Atemholen; aber auch er schwieg oft viel zu lange und wußte nichts zu sagen. Mademoiselle ging ab und zu; — die war noch am besten dran, denn sie hatte den Haushalt für den kommenden Tag zu besorgen und von uns allen also das meiste um die Hand. Manchmal aber stand auch sie beschäftigungslos am Fenster, und ich bin fest überzeugt, dann haben sich Leute an den Fenstern drüben auf der anderen Seite der Gasse einander heiter auf sie aufmerksam gemacht:
„Guck nur die Alte! wie in einem Bilde!… Die möchte ich mir freilich nicht am frühen Morgen über den Weg laufen lassen!“
„Die könnte Geschichten aus ihrer Seele erzählen, gegen die wir beide, Fritz, alle unsere Erlebnisse still zusammenpacken könnten,“ flüsterte mir einmal der Vetter zu, mit dem Daumen über die Schulter auf die soeur ignorantine an dem Fenster hindeutend. „Was meinst du, wenn die am Jüngsten Gericht ihre auf Erden verschluckten Tränen auf einmal fließen läßt?!“
„Ja, Just,“ sagte ich, „aber es läuft alles in einen Strom. Ich kann es dir nicht sagen, was für einen Damm das letzte Tribunal dagegen aufbauen wird, um nicht mit Sessel, Bank und grünem Tisch weggeschwemmt zu werden.“
„Darf ich Ihnen noch eine Tasse Kaffee einschenken?“ fragte im Augenblick darauf Mademoiselle Martin. „Sie trinken ihn noch immer recht süß?“
Und ich sah in demselben Augenblick wieder vollständig genau die grünlackierte Zuckerdose von Schloß Werden vor mir und fühlte auf meinen Knöcheln den Schlag, mit welchem Mademoiselle meinen verstohlenen Griff in dieselbe zu verhindern gewohnt war, und hörte dazu das vorwurfsvolle Wort meiner Mutter: „Aber Fritz?!“ und dabei das mutwillig glückselige Kichern der Komtesse Irene, der währenddem der Griff unbeachtet gelungen war.
Die schwersten Tage, Stunden und Minuten erzeugen ihre geschwindesten, wunderlichsten und buntesten Phantasmagorien.
Wenn wir zusammen sprachen, so sprachen wir sehr häufig von Eva Sixtus. Das Wort des Vetters: „Ach, wenn wir sie doch hier hätten!“ kam zur vollsten Geltung. Jede heller auftauchende Erinnerung an sie, jedes Geschichtchen von ihr aus der Kinderzeit war uns wie ein Trunk aus einer kühlen klaren Quelle an einem schwülen Tage und unter schwerer Mühe. Wir konnten sie uns auch heute noch nicht anders vorstellen, als immer noch umgeben von dem alten Zauberreich der Erde, weiter lebend still und freundlich in dem süßen Licht, den Tönen und Düften des von uns verlorenen oder aufgegebenen Paradieses.
Der Vetter Just, der natürlich am genauesten über sie Bescheid wußte und sie vor vierzehn Tagen noch gesprochen hatte, sagte:
„Das ist auch so mit dem guten Mädchen, und sie verdient es wirklich. Schon die Art, anzusehen, wie sie mit ihrem alten Papa und seinen Hunden und seinem kuriosen Papstbuche umgeht, ist ein wahres Vergnügen. Beiläufig, wenn ich an das Papstbuch denke, so fällt mir dabei jetzt immer Freund Ewald in England ein. Seit ich den braven Jungen dort besucht habe, meine ich in plain terms, daß ein gut Stück mehr als genug aus dem Schmöker an ihm hängen geblieben ist. Das hat sich der Papst Sixtus der Fünfte wohl auch nicht träumen lassen, daß man einmal im Königreich Großbritannien und Irland Ingenieurkunst und dergleichen nach seinen Maximen treiben würde. Ich wollte nur, er schriebe häufiger an unser Evchen und den Alten — den Mr. Ewald und nicht Seine Heiligkeit meine ich selbstverständlich. — Ja, das liebe, alte Försterhaus von Werden! Daß die Regierung was daran gewendet habe, kann keiner behaupten; aber ungemütlicher ist es darum doch nicht geworden. Im Gegenteil, nur noch gemütlicher hat es sich zwischen seine Lindenbäume, Büsche und Gartenkultur eingenistet — ihr wißt, angenuselt nennen wir das bei uns zu Hause. Über Bodenwerder hinaus ist, während wir anderen sämtliche Münchhausens Abenteuer in der Welt erlebten, weder Eva noch der Förster gekommen. O Irene, wie werden sie demnächst einmal Ohren, Nase und Mund aufsperren, wenn wir ihnen unsere Allerweltshistorien heimbringen! Das steht fest, diesen Sommer treffen wir uns alle auf dem Steinhofe bei dem Vetter Just! Wozu bin ich denn der Vetter Just, wenn ich das nicht ganz genau wüßte, und dazu, daß es immer wieder Sommer wird, wenn es Winter gewesen ist?! Das steht fest wie der Magister matheseos, Fritz Langreuter: ja, ja, Miß Martin, man kann es zu einer ungeheuren Gelehrtheit und Weisheit in der Welt bringen, wenn man nur seinerzeit an nichts denkt und die Leute reden und lachen läßt. Ein Verdienst war das damals aber bei mir nicht, sondern nur Blödigkeit und Schüchternheit, und dazu Angst und Verwunderung, weil ich nur der dumme Junge auf dem Steinhofe war und die Welt und der Himmel umher so weit und voll und allmächtig; — liebe Irene, bleib sitzen, ich sehe schon nach dem Kinde!“
Sie wußte es, daß er ihren Platz an dem kleinen Schmerzenslager ebenso gut ausfüllte als sie selber; sie lief ihm doch vorauf in das verdunkelte Zimmer. Er ging aber dennoch mit ihr; und Mademoiselle Martin und ich blieben uns an dem Kaffeetische allein gegenüber.
„Haben Sie nicht vorhin gesagt, daß Sie an unserer Haustür mit Mr. le prince de ** zusammengetroffen seien, Mr. Fritz?“ fragte Mademoiselle.
Ich bestätigte das noch einmal.
„Sie wissen gar nichts von uns, Frédéric, und wenn Sie etwas sehr verwundert, so behalten Sie auch das für sich. Dies war immer Ihre manière so; schon als Sie noch so groß waren.“
Sie zeigte es durch eine Handbewegung, wie hoch ich war, als ich bereits alle meine Verwunderungen für mich selber behielt.
„Es tut mir leid, Mademoiselle Martin —“
„O, es tut Ihnen gar nichts leid, monsieur le docteur, denn sonst hätten Sie sich schon nach vielen Dingen erkundigt. Par exemple, wie kommen Sie nach Berlin, Mademoiselle?… Mais c’est navrant, — ces gémissements de la petite! bleiben Sie sitzen, Fritz, wir können doch nichts helfen dort, und der Vetter hilft der Komtesse. — Es ist der Fürst und seine Familie, die uns haben weggeholt von Wien und uns haben leben lassen hier. Das sind sehr gute Leute, und die Väter und Großväter haben sich auch schon geholfen gegenseitig depuis les siècles, und vorzüglich, als der Kaiser Napoleon war in Deutschland der Herr. Damals ist es monsieur le comte d’Everstein-Werden gewesen, der helfen konnte; aber das Glücksrad geht herum toujours, toujours, toujours! Und Seine Durchlaucht ist gekommen und hat gesagt: Sie können nicht bleiben in Wien, madame la baronne. Je suis garçon, sonst sollten Sie wohnen in meinem Hotel in Berlin; aber ich muß sein Ihr Vormund, das ist mir eine Pflicht. Sie sollen still leben in Berlin und die Vergangenheit vergessen, ich werde alles besorgen. — Bien, was wäre aus uns geworden ohne ihn? La grande mer hätte uns übergeschlungen. Voyez par exemple madame de ** und madame de ** und so viele andere arme Frauen dans la rafale de la vie! So haben wir gelebt hier durch seine Herzensgüte und auf seine Kosten, bis neulich gekommen ist monsieur Just, der Herr Vetter von dem Steinhofe — o, der Vetter Just, o, und es ist sehr gut, daß Sie an unserer Tür haben einander vorgestellt den Herrn Fürsten und den Herrn Vetter. Wir hatten noch keine Gelegenheit dazu gehabt, denn Seine Durchlaucht waren verreist bis gestern.“
In dem Nebengemache war das leise, klagende Gewimmer wieder still geworden, und der Vetter Just setzte sich wieder zu uns. Es war gegen sechs Uhr am Nachmittage und die Sonne eben dem Untergange nahe. Der Vetter seufzte schwer und gab wortlos der alten soeur ignorantine die Hand. Mademoiselle ließ die Schuhe von den Füßen fallen und ging auf den Strümpfen zu der Tür des Nebenzimmers, kam zurück und fragte:
„Schläft sie auch? Sie hat den Kopf mit auf das Kissen gelegt.“
„Weiß nicht,“ sagte der Vetter kaum hörbar. „Ich wollte es wohl, aber ich glaube es nicht. Sie horcht nur.“
Wir horchten alle; dann ging Mademoiselle mit ihren Pantoffeln in der Hand von neuem ihren Haushaltungsgeschäften nach, und in der immer mehr über uns hinsinkenden Dämmerung waren jetzt Just Everstein und ich wieder für eine Zeit allein einander gegenüber gelassen.
„Es kann noch Stunden dauern. Ich kenne das leider nur zu genau aus mancher Ansiedlerhütte drüben, jenseits des Atlantic. Wir hatten dort immer nur Calomel und wieder Calomel; aber es ist egal, denn es bleibt immer dasselbe, hier und im Hinterwalde. Die Mütter legen dann immer ihren Kopf mit auf das Kissen,“ sagte der gelehrte Bauer vom Steinhofe. „Sie machen auch die Augen zu, und wer sonst dabei sitzt, kann nichts tun, als stille sein. Wolltest du etwas sagen, Fritz?“
Ich hatte nur einen etwas tieferen Atemzug getan, und so fuhr gottlob der Vetter fort.
„Man sitzt da still, wenn das Kind sterben will und die Mutter weiter lebt, und hat doch Zeit, an allerlei anderes zu denken. Von den größten und wirklichsten Wundern spricht, schreibt und druckt kein Mensch und kein Evangelium! Dies ist nun so eine Stunde, in der man mancher Angelegenheit, welche man sonst nicht so leicht anrühren würde, freimütiger auf den Grund geht, weil alles rundum ernst genug dazu aussieht und selbst der Mißtrauischste nicht an pure Neugier oder albernen überflüssigen Vorwitz denkt. Fritz Langreuter, unsere Eva Sixtus hatte dich einmal sehr gern. Weshalb hast du das nicht merken wollen?“
Es schwamm mir vor den Augen, die heißesten Blutwellen drängten sich nach dem Herzen und Hirn, es hämmerte sinnbetäubend; der Boden schwankte unter mir.
„Mich?… Ich?!“ stammelte ich, und der Vetter Just ergriff meine Hand und hielt sie während des folgenden in der seinigen fest.
„Natürlich!“ murmelte er. „Er fragt! Er weiß gar nichts! O, wenn ich nur wüßte, wo ihr Menschenkinder in der besten Zeit eures Lebens eure Augen und Ohren hattet!… Dich hatte sie lieb!“ …
„Mich?“ wiederholte ich durch eine See von Wonne und — Angst, nach einem unbekannten, noch unsichtbaren Ufer mich durchringend.
„Wen denn anders?“ fragte der gelehrte Bauer vom Steinhofe, und ich fühlte, wie seine Hand dabei erzitterte; und meine Angst, die tödliche Angst in mir, hatte darin ihren Grund, daß ich wußte, was dieses Zittern bedeutete.
O Vetter Just! Vetter Just!
Als ob er mit einem anderen spräche, den Blick in die Weite gerichtet, fuhr Just Everstein fort:
„Da saß ich, der dumme, übergeschnappte Bauerjunge, um so manches Jahr älter als ihr, unter der Obhut und Vormundschaft von Jule Grote, zwischen meinen Düngerhaufen und Ackerfeldern, Wiese und Wald, und sah alles wie im Traume und doch ganz klar. Ich will nicht behaupten, daß ich der Gescheiteste von der Gesellschaft war, denn der ist und bleibt Freund Ewald, der ohne allen Traum und Duselei ebenfalls ganz klar sah und ganz genau wußte, wie er zu der Komtesse Irene stand und sie zu ihm. Er ist nicht ohne seine stichhaltenden Gründe in die Welt und nach Irland gegangen und schreibt wenig nach Hause. Wie Vieles möchten wir anders haben in der Welt, was doch nicht sein kann! Da sitzt sie; — horch, und ihr Kind ist wieder wach, und sie spricht zu ihm, zu ihrem sterbenden Kinde; und niemand darf sie fragen, ob es nicht doch möglich gewesen wäre, daß dies alles hätte anders sein können!… Von ihr und Ewald rede ich auch gar nicht; da wird noch lange Zeit hingehen, ehe die Menschen es für etwas Selbstverständliches halten werden, auf der Erde zu ihrem Behagen unter dem rechten Dache zu Schauer zu kriechen. Nach deinen Versäumnissen möchte ich dich fragen, Fritz! nimm es mir nicht übel; — es findet sich aber vielleicht keine bessere Stunde dazu in unserem Leben als diese gegenwärtige sehr melancholische und sehr — ich weiß nicht, wie ich mich darüber ausdrücken soll!“
Er sagte es wirklich, daß er nicht wisse, wie er sich über diese Stunde ausdrücken solle. Hätte er ein Wort dafür gefunden, so würde er freilich die deutsche Sprache für all ihre Zeit dadurch bereichert haben. Was mich anbetraf, so war es nicht nötig, daß er noch ein Wort fand oder erfand für sich. Ich wußte bis in die tiefste Tiefe seiner und meiner Seele hinein, was er mir deutlich zu machen gewünscht hatte.
Aber ich?!……
In diesem Augenblick rief Irene aus dem Nebenzimmer angstvoll und laut unsere Namen. Der Vetter Just und ich, kamen an diesem Abend nicht mehr dazu, unsere Privatangelegenheiten weiter zu erörtern. Gegen Mitternacht starb das Kind.
Es ist nichts leichter, aber auch nichts schwerer, als eine gute Grabrede zu halten. Ich für mein Teil aber bleibe unter allen Umständen gern davon und lasse jedem beliebigen anderen das Wort. In dem vorliegenden Fall sprach der Vetter Just am Grabe, und er hielt seine Rede mit dem Regenschirm als Kanzeldach über sich, und der Regen fiel, während er so vor sich hinbrummte, fein und leise nieder auf den kleinen, frischen Hügel zu unseren Füßen.
Wir beide, der Vetter Just Everstein und ich, standen noch allein neben diesem Hügel. Die übrigen Trauergäste hatten bereits wieder ihre Kutschen bestiegen und waren abgefahren — Durchlaucht, der Herr Vetter **, unter ihnen. Der gutmütige Mann hatte es sich nicht nehmen lassen, gleichfalls, wenn auch etwas incognito, seiner kleinen Verwandten das letzte Geleit zu geben. Er und der Vetter Just hatten in dem ersten Wagen den winzigen Sarg auf dem Rücksitz vor sich gehabt, und der Vetter Just konnte späterhin die Bemerkungen, die der andere Vetter während der Fahrt gemacht hatte, nur loben. Das leichte aristokratische Unbehagen darüber, daß die Leiche nicht in dem Erbbegräbnisse zu Dorf Werden beigesetzt werde, hatte der Bauer vom Steinhof ebenso leicht dem illustren Herrn hingehen lassen, und das feste Versprechen desselben, auch fernerhin der armen Mutter nach seinen „beschränkten Verhältnissen“ ein treuer Freund bleiben zu wollen, durch die Bemerkung, daß man der guten Freunde nie genug haben könne, entschieden gewürdigt. Aber ebenso entschieden hatte er dann seine Meinung dahin ausgesprochen, das Beste werde sein, er, der Vetter Just, nehme fürs erste die Frau Baronin mal mit sich nach dem Steinhofe:
„Und wenn auch nur, um den Nerven in der Nähe der alten Heimat Zeit zu gönnen, sich zu beruhigen.“ — — — — —
Doch nun zu der Grabpredigt, die der Vetter Just der Kleinen hielt.
„Müde zu Bette gebracht,“ murmelte er. „Keine Mama kann doch die Decke wärmer überlegen als Mutter Erde. Von dir gesagt, Fritz, klänge das gar nicht neu; aber für mich als Landwirt ist hier das Allerälteste immerdar das Neueste und klingt auch so. Meinst du nicht? — Nun sagt die Mama: schlaf wohl und träume einen hübschen Traum, mein Herze; oder noch besser, träume gar nicht, denn das letztere soll das Gesundeste sein. — Hast du etwas weiteres bei dieser traurigen Gelegenheit zu bemerken, Doktor? Wenn die Kinder zu Bette gegangen sind, pflegen doch gewöhnlich die Erwachsenen von ihren wichtigen Geschäften und Angelegenheiten zu reden, oder holen die besten Ratschläge für den nächsten Morgen hervor.“
„Sage du nur, was du zu sagen hast, Just, — sowohl über die Schlafenden wie über die Wachenden.“
„Zu sagen habe ich eigentlich nichts,“ meinte der Vetter, mehr zu sich selber als zu mir gewendet. „Ich habe nur immer gefunden, daß solch ein Kinderbegräbnis ein eigen Ding ist. Du hast wohl weniger Gelegenheit als ich gehabt, dabei anwesend zu sein; auf den Zwischenstationen zwischen der alten und der neuen Welt, in den jungen Ansiedelungen im Walde und dann und wann auch ein bißchen im Sumpfe hat man freilich mehr dergleichen. Der Mensch muß überall wie jedes andere Gewächs aus dem Boden herauswachsen, um ihn mit der dazu passenden Luft und dem Witterungswechsel von Anfang an gleich vertragen zu können und behaglich darauf zu leben und alt darauf zu werden. Ich habe den Steinhof auch nur deshalb zurückgekauft, und ich nehme unsere Irene einzig und allein aus demselben Grunde mit mir dahin zurück, und — du bist auch auf dem alten Stammgrund willkommen, alter Eingeborener, — natürlich wenn es dir deine Zeit erlaubt und du dich noch nicht bis zum Ekel an unseren früheren Verhältnissen hier akklimatisiert hast.“
Da hätten wir denn wohl hiermit eine Grabrede für die Mehrzahl der Erdenbewohner; denn für wie lange ist es dem Menschen gestattet, in dem Boden zu wurzeln, aus dem er aufwuchs, dachte ich. „Ach, nicht nur um die Kinderbegräbnisse ist es ein eigen Ding, sondern um die Begräbnisse und Grabstätten der Menschheit überhaupt! Und inmitten der Gespräche, die geführt werden von den Erwachsenen, wenn die Kinder zu Bette gegangen sind, sind wir hiermit auch bereits, Vetter Just.“
„So ein armes, geplagtes kleines Wesen!“ brummte Just Everstein kopfschüttelnd. „Es sieht uns in seinen Schmerzen fragend an und sagt: bitte, bitte! — ist das nicht wunderbar und schrecklich? Da stehen wir denn nachher, und wir beide hier jetzt, und holen aus tiefster Brust Atem, und niemand kann uns das verdenken! Ich habe solche schlimmen, tiefen Atemzüge wohl hundertmal in Neu-Minden getan, und es war auf dem Nachhausewege doch nur ein leidiger Trost, daß immer noch so viele von ihnen da waren und übrig blieben, daß wir uns sogar wegen eines Schulmeisters für sie Sorgen machen mußten. Und dabei die Mütter, die übrig geblieben sind und bei der leeren Wiege sitzen, oder das verlassene Spielzeug und die Schreibbücher in ihrer Schürze zusammentragen! Sieh, da habe ich es uns denn so zurecht gelegt, daß Frau Irene ihren hiesigen Hausstand ganz aufgibt. Ich habe, wie du weißt, die Kleine in ihren Schmerzen, wenn es niemand anders, und auch die Mutter nicht, vermochte, zur Ruhe gebracht, und ich meine, wenn mir nur Zeit gelassen wird, bringe ich das auch mit der Mutter fertig. Ob ich einmal zu der Familie gehört habe, weiß ich nicht und kümmere mich auch nicht darum; aber für den letzten männlichen Stammhalter der Eversteins halte ich mich in dieser Zeit doch! Ein bißchen enge zusammenschachteln werden wir uns auf dem Steinhofe wohl müssen; aber viel Gepäck nehmen wir ja nicht mit, und jedenfalls halten wir vorher Auktion, und im Notfall baue ich an. Ich bin gottlob drüben oft genug mein eigener Baumeister gewesen, um einen Kostenanschlag aufstellen zu können und mit Wenigem einen hinreichenden Unterschlupf herzustellen. Es sind ja auch nur zwei Köpfe mehr, wenngleich freilich zwei Frauenzimmerköpfe. Aber da wollen wir uns dem anderen Geschlechte gegenüber doch auch nicht zuviel auf unsere Praktik zugute tun. Du hast keinen Begriff davon, Fritz, wie es gerade die Weiber sind, die sich in der Not zusammenzudrücken wissen, wenn sie auch sonst noch so viele überflüssige Kisten, Kasten und Hutschachteln mit sich herumschleppen und die Räumlichkeit auf dem Schiff, im Postwagen und auf der Eisenbahn beengen. Mit uns Mannsvolk ist’s genau das Umgekehrte. Geht es uns gut, so haben wir in einem Winkel mit einer Zigarre genug; aber geht es uns schlimm, so brauchen wir in unserer Phantasie zum mindesten das halbe Weltall, um Ellbogenraum für neue Dummheiten zu gewinnen. Im Grunde aber ist’s für alle ein und dasselbige; einerlei ob wir als Mann oder Weib durch die Welt laufen. Und, Gott sei Dank, die Phantasie ist auch in Irene Everstein noch hell auf, — nicht ganz und gar nach der dunkeln Seite hin! Du, liebster Fritz, kennst die Frau noch nicht lange genug wieder, um dieses beurteilen zu können, denn dazu gehört mehr als ein erster Blick und zwei und drei Besuche im Hause. Und dann — unsere liebe Eva! Wie wird die mir helfen und beistehen! Und hätte ich wohl ohne das Zutrauen zu ihr den Mut gehabt, bloß so auf meine eigene Verantwortung in solch ein betrübtes Menschenschicksal mit Rat und mit Tat einzugreifen? Sie und — daß wir den Winter so ziemlich hinter uns haben, das sind die Kerne, aus denen mein Trost aufwächst. Säße das gute Mädchen nicht im Dorfe Werden und würden nicht demnächst die Wälder wieder grün, so hätte die Sache freilich eine ganz andere Farbe. Aber nun geht die Sonne jeden Morgen früher wieder auf und am Abend später unter; und — ich sehe es kommen! Fritz, es ist mir eine wahre Beruhigung, daß ich es kommen sehe und zwar im ganz natürlichen Verlaufe der Tage, von den Wochen und Monaten bis zum Eintritt des nächsten kürzesten Tages gar nicht zu reden! Die Stunde kitzelt mich schon im Voraus, wo Mamsell Martin die erste vergnügte Katzbalgerei mit Jule Grote anfängt; — natürlich unter der gehörigen Oberaufsicht, auf daß die feinen und bissigen Anspiegelungen der beiden lieben alten Damen nicht in die reguläre Beißerei ausarten. So ein bißchen kribbelndes Gewürz in die Suppe ist den langen lieben Tag über gar nicht zu verachten. Meinst du nicht, Doktor? — Der Grasgarten bleibt selbstverständlich so, wie er ist; aber für meinen Bauern-Kohlgarten nehme ich aus einer eurer Buchhandlungen hier ein Exemplar von Wredows Gartenfreund mit. Wir treiben Adams Gewerbe im Ernst und zum Spaß, denn nichts anderes in der Welt zieht die abgeplagte Seele so ins Gleichmütige hin als das stille Aufmerken auf das Keimen, Blühen und Vergehen des Vegetabilischen, und wär’s auch nur am Unkraut unter der Hecke. Zeit muß man freilich dazu haben, und die soll sie haben, Irene meine ich; — fürs erste soll niemand vom Steinhofe zu sehr auf die Suche nach ihr gehen, wenn sie mal nicht gleich auf den ersten Ruf zum Essen kommt. Solange ich das hindern kann, wird sie nicht zu Tische gerufen, wenn sie keinen Appetit hat; — den Verdruß kenne ich aus eigener Erfahrung! Die Menschen fordern nur zu gern gerade die zum Tanze auf, welche der Schuh drückt. Der Teufel mag es wissen, was für ein Vergnügen das ihnen macht! Davon weiß ich, der übergeschnappte dumme Junge vom Steinhofe, gleichfalls das Meinige zu Protokoll zu geben, wenn’s verlangt wird; aber auch hierin will ich nicht ganz umsonst zwischen meinen Misthaufen gesessen und auf der Leiter in der Rauchkammer mit dem Messer zwischen Jules Würsten und Speckseiten gewirtschaftet haben — wütend vor Überdruß! Hoffentlich verstehst du mich recht, Fritze, und weißt auch hierin, was ich sagen will.“
Er bediente sich mit Vorliebe alle Augenblicke dieser sehr unnötigen Anfrage bei meiner Begriffsfähigkeit. Alte Gewohnheiten legt man eben nicht so leicht ab.
Doch nun beugte er sich nieder zu dem winzigen Grabhügel der kleinen Leonie von Rehlen und hob eine Handvoll des feuchten Sandes auf, ließ sie wieder, wie verstohlen, fallen und sah mich einen Moment lang, wie verlegen, von der Seite an.
„Nun guck einmal,“ brummte er, „der liebe Gott weiß es, wie fest einem seine Gewohnheiten ankleben, und er wird auch wohl hierauf bei der letzten Abrechnung ein wenig Rücksicht nehmen. Selbst auf dem Kirchhofe kann’s unsereiner nicht lassen, den Boden nach seiner Frucht, Güte oder Nichtsnutzigkeit zu studieren. Dies hier ist eigentlich purer Sand; aber — nicht nur für den sachverständigen Landwirt, sondern auch für den Pastor, einerlei ob er Ökonomie treibt oder nicht, bleibt es doch immer, wie Schiller sagt, der dunkle Schoß der heiligen Erde! Und nun — schlafe sanft darin, mein liebes, kleines Mädchen!… Mit deinen armen krummen Füßchen hätten dich wohl wenige zum Tanze aufgezogen, und du verlierst auch wenig dabei. Es kommt für alle Menschen eine Zeit, wo sie sich vor nichts mehr fürchten als vor dem, was man in der Welt Vergnügen zu nennen pflegt. — Man hat viel um dich geweint, mein kleines Kind; aber gelacht hat keiner über dich. Auch du hast viel geweint; — nun liege im Frieden; — gelacht hast du über niemand. — Ich schwatze wohl in die Kreuz und Quer, Doktor Fritz? Nimm es nur nicht übel, alter Freund. Wer weiß, was uns nachgeredet wird in puncto des Weinens und Lachens, wenn auch wir zu Bette gegangen sind, und wir gleichfalls als stille Leute liegen und jeglicher Wind frei über uns hinblasen darf. Komm, wir wollen den anderen nach, Doktor; das nützlichste und fruchtbarste Wetter ist ziemlich häufig das unangenehmste, macht einen trotz Regenschirm und Überrock naß bis auf die Knochen und bringt einen bis auf das Knochenmark hinein zum Frösteln.“
Nun waren sie fort. Zur Zeit der Holunderblüte waren sie abgereist, und der Vetter Just Everstein hatte sich, wie das nicht anders zu erwarten stand, auch hierbei als einer der praktischsten Menschen erwiesen, die jemals aus der deutschen Erde hervorgewachsen und von ihren guten Freunden und Bekannten zuerst, das heißt eine erkleckliche Reihe von Jahren hindurch, für gänzlich unzurechnungsfähig taxiert worden waren. Wahrlich, mancherlei gab es auf- und abzuwickeln, ehe der Brave sein wohltätiges, barmherziges Werk zu einem vorläufigen Schluß und Ruhepunkt führen konnte.
Sachen und Menschen aller Art waren mehr oder weniger geschäftsmäßig aus dem Wege nach dem Steinhofe hin zu räumen, ehe er mit einem erleichternden Seufzer sagen konnte:
„Gott sei Dank, morgen fahren wir! Was jetzt noch in den Winkeln umherliegt, steckt oder vergessen ist, kann nicht viel zu bedeuten haben. Und nun, alter Kerl, jetzt gib uns die Hand darauf und versprich uns feierlich, daß du dich im Laufe des Sommers in der alten Heimat bei uns sehen läßt.“
Ich hatte ihm wenig bei seinem Liebeswerke behülflich sein können; — im Grunde hatte ich nur ihn, Irene und Mademoiselle Martin nach dem Bahnhofe begleitet. Wie hülflos die Mehrheit der Menschen eigentlich den Lebensgeschäften gegenübersteht, erfährt sie dann und wann auch, wenn sie’s mal versucht, anderen zu helfen. Das ist die ungemütliche Wahrheit, die einem jeden, der von sich selber schreibt, ganz von selber aus der Feder läuft, wenn er sich nicht recht zusammennimmt, das heißt mit gehaltenem Nachdruck lügt. Dachstuben-Philosophen und Wüsten-Anachoreten sollen aber nichtsdestoweniger auch in Zukunft berechtigt sein, über die tägliche Witterung und deren Einfluß auf ihre Konstitution zum allgemeinen Besten so genau als möglich Buch zu führen, um heikeln persönlichen Kriminationen dadurch schlau aus dem Wege zu schleichen.
So kam ich denn vom Bahnhofe zurück in meine vier Pfähle, um den neuen Frühling wenig genossen mir unter den Händen weggleiten zu lassen. Davon, daß nach der Bauernregel im Mai der gesundeste Tau fällt, verspürte ich auch nichts; aber dagegen tat ich etwas, was ich eigentlich nur mit einer gewissen komischen Verlegenheit berichte. Ich nahm für das Vierteljahr, in welchem die Bäume blühen und der Vollmondschein nach einer anderen Regel der Baumblüte schädlich sein soll, nicht etwa eine Brunnenkur vor, sondern — ein Abonnement in einer Leihbibliothek. Ich nahm an jedem Abend nach meiner Rückkehr vom Spaziergange einen Roman mit nach Hause und zwar stets einen der vergessensten — am liebsten einen aus den zwanziger Jahren dieses Säkulums. Ich, der ich hier keinen Roman schreibe, würde es gern sehen, wenn mir die besten der gegenwärtig vorhandenen Psychologen mein damaliges Bedürfnis gelten ließen.
Es war mir nämlich während dieser Epoche meines Lebens meine bisherige Tätigkeit sehr zum Überdruß geworden, und ich hatte niemals in meinem Dasein über so viele leere, beschäftigungslose Stunden bei Tage und bei Nacht zu verfügen als wie jetzt. Und merkwürdig! was in den Klassikern sämtlicher Nationen, sowohl der alten wie der neuen, über das Schloß Werden, den Steinhof, den Vetter Just und — Eva Sixtus stand, konnte ich durchaus nicht gebrauchen! Es stand wohl manches darüber drin; aber dann bezog sich dieses doch wieder so deutlich auf andere ganz bestimmte Leute und Verhältnisse, daß mir nicht im geringsten dadurch über eine melancholische Stunde hinweggeholfen wurde.
Sie sprachen wohl wahr, diese großen Poeten, in gebundener und ungebundener Rede; aber sie redeten doch allesamt nur in ihren Tag hinein und nicht in den meinigen. Dicht neben meinen mittelalterlichen Geschichtsquellen waren sie’s — die Quellen reinster Erdenschönheit und Wahrheit, denen ich am vorsichtigsten aus dem Wege zu gehen hatte, weil — — ich finde eigentlich keinen richtigen Ausdruck für das, was sie mir antaten. Jedenfalls sprachen sie mich nicht zur Ruhe, wenn sie mich nicht langweilten. Eine Bilderfibel aus meinen Kinderjahren hätte sie mir doppelt und dreifach aufgewogen. Für das fabulose Haupt- und Lieblingsbuch des Vaters Sixtus, für des Signors Gregorii Leti Leben des Papstes Sixtus des Fünften, hätte ich in jenen Tagen ganze Schatzkammern voll wirklicher literarischer Schätze unbesehen hingegeben. Es mußte freilich aber das Exemplar aus dem Försterhause im Dorfe Werden sein.
Da half ich mir denn auf eine andere Art. Der hat noch nie gelesen, der nie in solchen Stimmungen das wieder las, was ihm in seiner seligen Jugend, wenn es in seinen Händen ertappt wurde, als „das dümmste Zeug auf Gottes Erdboden“ um die Ohren geschlagen wurde!
Gottes Segen über das Lesefutter der großen Menge und der Jugend! Heil und Segen denen Lieferanten, die heute in dieser Hinsicht für jene sorgen, welche nach einem Menschenalter alt, enttäuscht, krank und verdrossen sein werden!
Verdrossen in sehr hohem Maße griff ich jetzt von neuem nach dem, was ich mit so unendlichem Vergnügen verschlungen hatte, als ich noch jung war und noch nichts wußte von aller Welt Verständigkeit und Kritik. Die gewöhnlichsten Produkte jener Art, die das Bekannteste, aber auch ewig Gültige in der abgeschmacktesten Verzerrung bringt — die alten, drolligen, pathetisch-lächerlichen Geschichten von Eduard und Kunigunde, in all ihren kuriosen Variationen, das war jetzt etwas für den Doktor Friedrich Langreuter! Diese schlecht gedruckte und noch schlechter stilisierte Abenteuerlichkeit in Original und Übersetzung, der süße, haarsträubende, heitere, tränenreiche Unsinn, in den die Fliederlaube hineingerauscht und geduftet hatte, über den voreinst der Baum seine roten und weißen Blüten schüttelte, den die Vögel mit ihren Stimmchen akkompagnierten, über den die weißen Sommerwolken im Himmelblau hinsegelten, von dem einen der Schulmeister aufscheuchte und in die lateinische Stunde trieb: Das ließ sich jetzt wieder in den halbvermoderten, abgegriffenen, übelduftenden, durch tausend und abertausend Hände gelaufenen Bänden nach seinem unveränderlichen Verdienst würdigen von dem oben genannten Doktor der Philosophie Friedrich Langreuter!
Da saß der alte Bursche und las wieder, wenn man das überhaupt lesen nennen konnte. Es genügte eigentlich schon, die guten alten Bekannten in Pappband mit Lederrücken und Ecken in der Tasche nach Hause getragen und das Titelblatt aufgeschlagen zu haben. Was war alle klassische Plastik und ästhetische Wahrheit gegen die Lebendigkeit, mit der sich hier die Karikatur bei der bloßen Berührung in der Erinnerung füllte? Ach, es waren ja eben nicht bloß Kunigunde und Eduard mit all ihrer Verwandtschaft in auf- und absteigender Linie, was hier wieder zu etwas wurde, was lachen, jauchzen, weinen, sich hinter dem Ohre kratzen, vor Wut außer sich geraten und vor Bekümmernis und Reue sich in den Winkel verkriechen konnte!
Was hatten Schloß Werden und der Steinhof und die Gärten, Wiesen, Felder und Wälder ringsum mit den unmöglichen Schlössern, Bauersitzen, Försterhäusern, Wäldern, Feldern, Wiesen und Gärten dieser närrischen Bücher gemein? was der gelbe ehrliche Fluß, der durch unsere Jugendwelt rauschte, mit den so absonderlich prachtvoll blitzenden Wassern, in denen sich dann und wann die lustig-tragischen und trübselig-komischen Gestalten und Bilder dieser wundervollen Autoren spiegelten?
Alles! —
Es ist immer eines und dasselbe, dieses unergründliche Meer der Phantasie, auf das der bedrückte Mensch stets von neuem von dem nüchternen, grämlichen Ufer der Wirklichkeit hinaussteuert! Es ist immer derselbe Wind in den Segeln!
Wehe dem, der niemals die grauen vier Wände um sich her mit diesem flimmernden, über die Stunde wegtäuschenden, segensreichen Lichtglanz überkleiden konnte!
Was ist die nichtige dumme Phrase: Mein Haus ist meine Burg! gegen die so sehr unpolitische, so selten ausgesprochene, und doch so tief und fest, ja manchmal mit der Angst der Verzweiflung im Herzen festgehaltene Überzeugung:
Mein Luftschloß ist mein Haus!
So saß ich damals, nachdem wir das kleine Mädchen der Frau Irene begraben hatten und der Vetter Just ganz beiläufig mir den Namen und die Gestalt und die Stimme der lieben Eva Sixtus in die Erinnerung zurückgerufen hatte; und da ich nicht mehr neue Luftschlösser in die ziehenden weißen und rosigen Wolken, in das Himmelblau, in den Regenhimmel zu bauen vermochte, so — kramte ich unter den Trümmern der versunkenen und paßte aneinander, was auseinander gefallen war, und richtete wieder auf — gerade so in der Einbildung wie vor Jahren, doch leider nicht mehr so fest wie damals. Es war schon lange die Zeit für mich da, wo der Mensch einzig und allein auf den Riegel an seiner Tür als den besten Wächter vor seinen guten Augenblicken, Stunden und Tagen angewiesen ist. Tagen?!… Wer kann, wenn er diese Epoche seines Daseins erreicht hat, den Riegel einen Tag lang vorgeschoben halten, um versunkene Luftschlösser wieder aufzubauen?
Die Juniuswinde hatten bereits das Korn in das Land hineingeweht, als „Thomas Thyrnau“ oder vielleicht auch „St. Roche“ oder „Jakob van der Nees“ das Buch hieß, das auf meinem Tische unaufgeschlagen lag. Jedenfalls aber war es ein Produkt der Verfasserin von „Godwie Castle“, und die Mädchen, Irene von Everstein und Eva Sixtus, hatten einst in dem Gartensaale von Schloß Werden die heißen Köpfe darüber zusammengesteckt und die tränenvollen Augen verstohlen darüber getrocknet. Und ich hatte das Ding dann auch in meiner Kammer verschlungen, und Freund Ewald hatte sich in gewohnter Unverschämtheit nicht nur über das Buch, sondern auch über uns drei ins altromantische Land Entrückte lustig gemacht. Es war nicht der Band, vor welchem die wirklich fein, vornehm und gut aussehende Verfasserin und Lieblingsschriftstellerin Friedrich Wilhelms des Vierten in Stahlstich abgebildet ist; aber das war auch die einzige Enttäuschung für mich, als ich ihn zu Hause nach so langen Jahren wieder auf- und sogleich wieder zuschlug. Sonst hielt er alles, was ich mir davon versprochen hatte, als mir der Zufall den Titel in dem Leihbibliothekskatalog in die Augen spielte.
Gottlob!
Dieser Ausruf bezog sich auf den Riegel an der Tür, den ich vorgeschoben hatte, nachdem ich den Schlüssel im Schlosse umgedreht hatte gegen einen wieder einmal für mich nicht ganz geheuren Tag, der nunmehr in die sommerliche Abenddämmerung überging. Und es war durchaus kein in ärgerlicher oder geistig-beschwerlicher und überhasteter Arbeit hingebrachter Tag, sondern einer von den faulen, trägen, apathischen, die, wenn sie einer hinter dem anderen hinschleichen, auf die Länge noch unerträglicher werden als die erste Art. O über diese langen, schleppenden Stunden, die bei dem Regsten, Lebendigsten nach zurückgelegtem dreißigsten Lebensjahre sich einzuschleichen beginnen und sogar durch den Kampf mit ihnen dann und wann nur vervielfältigt werden! Das sind die Tage, in denen man sich selber wie ein Charakter in einem schlechten Romane vorkommen kann, ein unmögliches Geschöpf, mit dem der Autor eben auch nichts anzufangen wußte. Öde Makulaturstimmung! das ist das richtige Wort; und — ein Lachen oder Weinen über und um einen scheint es nie in der Welt gegeben zu haben in dieser Stimmung!
Und nun, wie kam es, daß ich mich plötzlich über die Verfasserin von Godwie Castle weg auf einer stillen Berglehne, unter der fußhohen Tannenanpflanzung und im Thymiansduft und der brütenden Abendsonne der Jugendzeit wiederfand?
Es ist schwierig zu sagen, wie gerade in diesen Fällen seelischer Bedrücktheit aus Dunkelheit Licht wird; und ich hüte mich auch wohl, die Lösung mit zu großer Anstrengung zu suchen. Der vorgeschobene Riegel aber tut unbedingt viel dazu, und um so mehr, je hastiger und verworrener das Leben jenseits der Tür sich bewegt und vor dem Fenster rauscht……
„Ich bin’s, Herr Doktor!“
„Wer? in aller Plagegeister Namen!“
„Ich, Herr Doktor. Die Witwe Maier. Und dann der fremde Herr wieder, der heute morgen schon einmal da war und seinen Namen nur Ihnen selber sagen wollte.“
Ich hatte die Stimme meiner Frau Hauswirtin bereits erkannt.
„I, so wollt’ ich doch!“ Und der sonnige Bergrücken mit seiner Tannenanpflanzung und seinem Thymiansduft, die Hügel mit ihren Wäldern, Wiesen und Ackerstreifen nah und fern, der ferne Fluß und die Kirchtürme der Heimatsdörfer waren versunken: der fremde Herr, der am Morgen während meiner Abwesenheit bereits einmal dagewesen war und seinen Namen nicht hatte kundgeben wollen, stand vor mir — stattlich, braunbärtig, breitschulterig und in einem wohlsitzenden kleidsamen Sommerkostüm. Und anstatt jetzt zuerst mir seinen Namen zu nennen, reichte er mir die Hand entgegen und sagte mit dem Ausdruck verzwicktest gelassener Bonhommie:
„Guten Abend, Langreuter.“
Ich aber stand dem langen, festen Menschen gegenüber auf ziemlich unsicheren Füßen:
„Das ist — ich bin — aber ist denn das?… Ewald?!… mein Gott, Ewald Sixtus!… Ist es denn möglich?… Ewald Sixtus! Bei allem, was lebt, das bist du?“
„Und du bist das auch!“ sprach der Freund. „Ich habe dich sofort wiedererkannt, und jetzt sei so gut und nimm meine Hand; ihr braven, übersinnlichen Zweifler habt gewöhnlich am innigsten das Bedürfnis, euch durch Befühlen von der Wirklichkeit der Dinge zu überzeugen. Alter Freund Thomas, ich freue mich unendlich, dich endlich mal wiederzusehen!“
Ich setzte mich, rede aber von den Lauten und Gesten der Überraschung nicht weiter, sie wiederholen sich wie alles übrige auf Erden. Aber alles, was mir der Vetter Just neulich von seinem Besuche in Belfast und von diesem Manne erzählt hatte, glitt jetzt blitzschnell durch mein Gehirn. Der irische Ingenieur aus Belfast, Herr Ewald Sixtus aus Werden, nahm auch einen Stuhl und setzte sich gleichfalls und — sah mich von der Seite an.
Eines hatte ich in meiner Einsamkeit zu einer gewissen Vollkommenheit gebracht: die große Kunst, auf Blicke zu achten, und dieser hob mir nur den Vorhang von einer uralten Lehre weg:
„Nun, dies ist aber großartig! Er ist ganz der Alte geblieben, und er hat den Vetter Just und uns alle jetzt nur gerade so zum Narren gehalten wie vor zehn, fünfzehn oder zwanzig Jahren!“ ……
Wie ein Schleier sank es abermals nieder vor der Zeit, die vor zehn, zwanzig und noch mehr Jahren war. Schloß und Dorf Werden, die Weser und der Steinhof lagen abermals im Sonnenlichte; aber durch das Sonnenlicht lief’s wie ein sonniges, mutwilliges Grinsen, und — Ewald Sixtus hieß einer der Hauptzüge der schönen Gegend!
„O Ewald!… Willkommen! sei mir herzlich willkommen zu Hause!… Der Vetter Just — unser Just Everstein hat mich neulich schon von dir gegrüßt!“
„Unmöglich!“ sprach dieser vollkommen irländische Land- und Wasserbaukünstler trocken. „Och honey, ich erinnere mich nicht, irgend jemand einen Gruß an Euch mitgegeben zu haben.“
Eine solche Mischung von grünem Erin und den grünsten Wald- und Wiesengehegen rund um Schloß und Dorf Werden war seit Anfang der Dinge noch nicht dagewesen und kam vielleicht auch bis zum Ende derselbigen nicht wieder! Bei allem, was je die Schule schwänzte, den biedersten Nachbar zum besten hatte und je in die weite Welt auf Abenteuer durchging, was war denn dies?
Und der Vetter Just war doch ein Mann, der auch allmählich allerlei Menschen gesehen hatte, und auf dessen Beobachtungsgabe und Urteilskraft man sich jetzt doch so ziemlich verlassen konnte! Sollte der Vetter Just, der sich so lange unter den schlauen Amerikanern aufgehalten hatte, dieser Vetter, der es durch mehr als eine Tat bewiesen hatte, daß man seinen Erfahrungen so ziemlich trauen durfte — sich so sehr geirrt haben? Sollte er wirklich von dem lustigen Werdener Vogel aus den alten Nestern im Baum an der Gartenhecke so ganz in der alten Weise an der Nase herumgezogen worden sein?
„Der?!“ fragte der deutsch-irländische Engineer, jetzt um so verschmitzter grinsend, als er im Moment vorher trocken getan hatte. „Alter Junge, dich hätte ich doch wenigstens für um ein Atom klüger gehalten. Menschen, ihr seid doch zu göttlich!… Oh, oh, ah, der Vetter Just! der Vetter Just vom Steinhofe? — Da lasse ich ihn, als ich, aus der süßen Heimat halb weggejagt, durchgehe, mir vorangehen, um in der öden Fremde wenigstens einen süßen Trost an etwas aus dem alten Neste zu haben — und was passiert? Habe ich ihn darum auf seinem Steinhofe in seiner ganzen absonderlichen Glorie gelten lassen und mich meine ganzen heimatlichen Flegeljahre hindurch himmlisch über ihn amüsiert, daß er auf einmal in Belfast wie ein Pastor, der die Tischglocke überhört hat, vor mir steht und mir Moral, Tugend, heimatliche Gefühle und wer weiß was sonst noch predigt — durch sein Beispiel? — Kommt man Paddy so?… Ganz gewiß nicht! Der Vagabondenkönig von Ithaka — wie heißt er doch, Langreuter? — ist gar nichts gegen ihn, den Vetter Just, sowohl was seine Abenteuer, wie seine unmenschliche Weisheit, Klugheit und Philosophie anbetrifft. O, und so herzensgut ist der Kerl — geblieben! Und den Steinhof hat er auch wieder! By Jingo, lassen muß man es ihm, ein Prachtbursche ist er, und seinen Ruhm für alle seine famosen Leistungen soll er bedingungslos behalten, wenn er nur — für mich immer der Vetter — der Vetter Just bleibt. Für mich, der der einzige war, welcher von Kindesbeinen an euch übrige alle nach allen euren Verdiensten unparteiisch zu würdigen wußte. Im Ernst, Fritze, es hat mir Mühe genug gekostet, ihm nicht um den Hals zu fallen und eine spaßhafte Träne ihm auf die Schulter hin zu weinen. Aber ich sagte dreimal leise: Komtesse Irene von Everstein! und blieb kühl wie eine saure Gurke. Cool as a cucumber, sagt drüben auf der Smaragdinsel Blarney O’Shaughnessy, wenn er Tim O’Connor mit dem Knüppel zu Leibe gehen will, weil der ihn an Großartigkeit und Heroentum übertroffen hat. Och, faix, it’s a long story, und es wäre viel davon zu sagen, weshalb ich diesen dummen Mädchennamen dreimal hersagte, um mir meinen Gleichmut wenigstens äußerlich gegen diesen heillos gemütlichen Neu-Mindener aufrecht zu erhalten; — nicht wahr, Fritzchen Langreuter?“
„Das wäre es wohl!“ murmelte ich unwillkürlich, und in demselben Augenblick packte mein Gast meinen Arm mit einem Griff wie aus Stahl und Eisen und rief:
„Und was ist es denn, was er mehr ausgerichtet hat als ich? Er sitzt von neuem auf seinem Steinhofe; ich aber — habe Schloß Werden wieder!“ …
Ich sagte nichts, denn ich hatte nichts zu sagen. Die Wunder, die mich der Herr sehen ließ, ohne daß ich über das Wasser gefahren war, betäubten mich zu sehr.
„Und hier sitze ich,“ fuhr Ewald Sixtus fort, „um dich aufzufordern, übermorgen mit mir hinüberzufahren, um that old sheebeen, die alte Herberge von neuem für — uns in Besitz zu nehmen. Dringende Abhaltung hast du ja wohl nicht?“
Es war mir zwischen meinem mühseligen Sich-wieder-auf-sich-besinnen durch dunkel so, als ob auch der Vetter Just neulich einige Male eine ganz ähnliche Aufforderung zur Reise mit ganz den nämlichen Worten beschlossen habe, wie der irische Ingenieur.
Mr. Sixtus legte mir zutraulich schmeichelnd die Hand auf die Schulter:
„Es bleibt dabei, du begleitest mich nach Schloß Werden?!“
Ich aber kam in diesem Augenblick nicht einmal dazu, ihn zu fragen, weshalb er denn, wenn sich alles übrige so verhalte, die Korrespondenz auch mit seinen nächsten Angehörigen so schmählich vernachlässigt habe?
Davon sprachen wir auf der Reise; denn wir reisten wirklich. Wie ein Kind im Sack wurde ich von diesem wilden Irländer aus dem Försterhause zu Dorf Werden mitgenommen. Er kam und half mir beim Packen, er packte für mich, und er packte mich selber und ließ nicht los. Hals über Kopf wurde auch ich wie in einen Reisesack hineingestopft und in eine Droschke geworfen; wie ich es dann und wann bereute, daß ich mich nicht schon von dem Vetter Just Everstein hatte mitnehmen lassen, kann ich gar nicht sagen.
„Nach dem Potsdamer Bahnhofe, Kutscher, und rasch! Viele Zeit haben wir nicht übrig.“
Mit dem Gefühle, meine Türen, meine sämtlichen Schubladen, Kisten und Kasten unverschlossen und jeglicher Durchstöberung offen hinter mir zurückgelassen zu haben, kam ich auf dem Bahnhofe an. Wir hatten in der Tat nur noch fünf Minuten vor dem Abgang des Zuges übrig, und das Schicksal benutzte dieselben, um mir einen rettenden Finger in den Wirbeln des aufregungsvollen Tages hinzuhalten.
„Siehe da! Reisen wir in der Tat zusammen, Herr Doktor?“ fragt eine Stimme mir gegenüber in dem Coupé, in das ich von dem raschen Freunde mehr gehoben als geschoben worden war, und ein einige fünfzig Jahre alter korpulenter Herr hob mit wohlwollendem Lächeln den Strohhut von einer ungemein glänzenden Stirn, grüßte auch meinen Irländer und meinte mit etwas asthmatischem Keuchen, das auf eine vielleicht etwas zu gute Ernährung und zu wenig körperliche Bewegung hindeutete:
„Ja? Dies freut mich wirklich. So bleiben wir so ziemlich bis zum Ende der Fahrt beisammen und hoffentlich möglichst unter uns. Bitte, mein Herr, lassen Sie mich bis zum Abgang des Zuges aus dem Fenster blicken. Ich bin der Dickste und schrecke am meisten ab.“
Mr. Sixtus sah sich den Fremden an, aber — bereits von hinten. Breit, schwitzend und blasend lag derselbige schon im Wagenfenster, sich ganz und gar für jetzt — dem Publikum unter der Bahnhofshalle widmend, und Ewald ließ von den weit auseinanderklaffenden Rockschößen des Reisegenossen den Blick fragend zu mir hinübergleiten.
„Kennst du ihn nicht mehr?… Bösenberg! — Stadtrat Bösenberg aus Finkenrode,“ flüsterte ich.
„Ich werde mich sofort selber Ihnen wieder vorstellen, Sixtus,“ sprach der Stadtrat, halb über die Schulter zurück sich wendend, ins Coupé hinein. „Da gehen wir ab und bleiben fürs erste wenigstens als Provinzgenossen unter uns. So.“
Er setzte sich, nachdem sich der Zug in Bewegung gesetzt hatte, breit und behaglich, wischte nochmals die Stirn mit dem ziemlich provinzhaft aussehenden Sacktuch und sagte:
„Lieber Herr, ich bin in der Tat der Stadtrat Bösenberg aus Finkenrode. Habe hier in dem ungemütlichen Großnest die letzten Wochen hindurch meine alljährliche, von verschiedenen Leuten sogenannte Auffrischungskur glücklich abgemacht; — Sie kennen das ja, Langreuter; — sehne mich unendlich nach meinem Schlafrock und meinen Pantoffeln und — Sie habe ich auf der Stelle wiedererkannt, Sixtus, obgleich ich seit einer erklecklichen Reihe von Jahren nicht das Vergnügen hatte, Sie zu sehen. Wo haben Sie denn eigentlich gesteckt, junger Mann?“
Der „junge Mann“ gab willig in der Kürze die gewünschte Auskunft, und der Finkenrodener Stadtrat sagte:
Mir, der ich ihn, abgesehen von allem übrigen, auch aus der Literaturgeschichte kannte, war das Zusammentreffen mit ihm und seine Reisegenossenschaft keineswegs zuwider. Und da wir von dem gewöhnlichen Reisetumult und Gedränge in unserem Wagen ziemlich ungestört blieben, hinderte uns nichts oder doch nur wenig, so vertrauensvoll und mitteilsam gegeneinander zu sein, als das unter verständigen oder verständig gewordenen Leuten nur irgend der Fall sein kann. Was den Freund Ewald anbetraf, den der Vetter Just als einen vollständig ausgewechselten Werdener, als einen stocktauben und stockstummen Engländer in Belfast wiedergefunden zu haben glaubte, so war der auch jetzt derjenige, welcher das kleinste oder vielmehr gar kein Blatt in irgendeiner Beziehung vor den Mund nahm, so daß dies mir, wenigstens im Anfang, dem uns doch ziemlich fremden Stadtrat gegenüber ein wenig peinlich war. Alle seine und unsere Geschichten kramte er mit einer Unbefangenheit aus, die ganz und gar Schloß und Dorf Werden, Bodenwerder und der Steinhof war. Wie der Poet aus dem Sumpfe der Alltäglichkeit die Perle des Interesses für seine Zuhörer herausfischt, so ging dieser irländische Ingenieur, wenigstens zu Anfang unserer Reise, auf den Fang aus im Bereiche der größten Trivialität unserer Jugenderlebnisse, und die Fragen: Weißt du noch, Fritz? Erinnerst du dich noch, Langreuter? Alter Kerl, das kannst du doch unmöglich vergessen haben? — schienen nimmer ein Ende nehmen zu wollen. Poetisch aber gebärdete er sich durchaus nicht bei dieser Fischerei und wurde, wie ich nicht umhin kann zu bemerken, von dem Finkenrodener städtischen Würdenträger und früheren lyrischen Subredakteur des freilich auch schon ziemlich lange selig in allen seinen Sünden entschlafenen „Chamäleons“ nach dieser Richtung hin nicht im mindesten entmutigt, sondern im Gegenteil: der Verfasser der „Heiratsgedanken“, der Dichter der „frommen Liebeslieder“ gab nur da zum ersten Mal seine abweichende Ansicht durch ein asthmatisch Gegrunze zu erkennen, wo mein Jugendfreund zwischen zwei abgeschmackten Schnurren mit einem Seufzer sagte:
„Meine Herren, achten Sie dann und wann nicht auf mich! Ich sitze hier immer doch mit einem merkwürdigen Gemisch von Gefühlen; und Rührung und Beängstigung sind die vorherrschenden. Sie, Herr Bösenberg, haben ja aber auch einmal Ähnliches auf dieser selben Bahnstrecke durchgemacht, darüber geschrieben und das Geschriebene sogar drucken lassen.“
Der Stadtrat gab einen Ton von sich, der ungefähr wie: „Whu!“ klang. Dann brummte er:
„Jawohl. Das Vergnügen habe ich mir und einigen anderen gemacht. Ich danke Ihnen für die gütige Erinnerung, lieber Sixtus. Es ist mir freilich so, als ob ich das alles in Ihnen und dem anderen Herrn da in der anderen Ecke jetzt zum zweiten Mal erlebe; aber Gott sei gelobt und gepriesen! zu schreiben brauche ich heute nicht mehr darüber! also — erzählen Sie nur ruhig weiter von sich und dem Herrn Vetter Everstein und dem Herrn Doktor da; — von Schloß Werden, dem Försterhause und dem Steinhofe. Die Hauptsache denke ich mir selber dann wohl schon dazu. Ja, ich habe es mit vielem Interesse schon auf dem letzten Ostermarkt gehört, daß Frau von Rehlen, die frühere Komtesse Everstein, nunmehr ihren Aufenthalt bei dem Vetter Just auf dem Steinhofe genommen hat. Fräulein Schwester befindet sich, unberufen, immer noch recht wohl, pflegt den alten guten Papa und verkehrt dann und wann recht freundschaftlich mit meiner alten Freundin, Frau Sidonie Mietze in Bodenwerder. Sie wissen doch, daß der Spiritusfabrikant schon vor fünfzehn Jahren nach der Heimat des Freiherrn von Münchhausen übersiedelte?“
Ich wußte das letztere nicht, da es mich im Grunde auch wenig interessierte; aber seltsamerweise wußte es der Ingenieur und interessierte sich auch sehr dafür. Seine Kenntnis der heimischen Zustände war in der Tat überraschend, und, was mir als das Auffallendste erschien, nichts von allem hatte sich ihm irgendwie ins Phantastische gezogen, wie das leider bei mir heute der Fall war und im Jahre Achtzehnhundertachtundfünfzig bei dem heutigen alten, fett und Stadtrat gewordenen Junggesellen Dr. Max Bösenberg.
Es waren dieselben Geleise, auf denen wir mit dem Eilzuge dahinglitten: ich, der Biograph der Leute von Schloß Werden, heute, und der Doktor Bösenberg, der Biograph der Kinder von Finkenrode, damals. Ganz wunderlich sprach der irisch-deutsche Baukünstler aus seiner Wagenecke darein; nämlich so hell, unbefangen und vernünftig, daß ich kaum ein Wort dazwischen zu reden wagte und dem Stadtrat dankbar war, wenn er das mit schwitzender Gemütlichkeit tat.
„Weshalb ich nicht häufiger an die lieben Angehörigen — das gute Evchen und den alten Papa schrieb? Weshalb ich ihnen nicht von Tag zu Tag über mich Nachricht und Rechenschaft gab?“ fragte der Ingenieur und jetzige Besitzer von Schloß Werden. „Einfach aus dem nämlichen Grunde, aus welchem die zärtlichsten Leute es verabsäumen, die gewöhnlichsten Pflichten der Höflichkeit zu erfüllen, gentlemen. Heute haben sie keine Zeit, und morgen haben sie keine Lust. Gewissensbisse lassen sich in dieser Hinsicht weit leichter verdauen als die Ärgernisse, die an allem hängen, was in der Ferne vordem unsere Behaglichkeit, unser Pläsier und — unsere Hoffnung war. Es quält einen in der Fremde nichts mehr als das Schönste und Liebste, was man in der Heimat gehabt hat und hat aufgeben müssen! Habe ich nicht recht, Herr Bösenberg?“
„Natürlich! Von Ihrem Standpunkte aus!“ brummte der Stadtrat und summte dabei aus Zampa: Wenn ein Mädchen mir gefällt!… „Bitte um etwas Feuer, wenn Ihre Zigarre noch brennt. Ich habe so ein Liedchen von den Zuständen und Verhältnissen zu Werden singen hören. Bis in unsere Magistratssitzungen drang es herüber nach dem Tode des Alten — ich meine des alten Biedermanns und bankerotten Dynasten von Schloß Werden. Man wächst dann und wann nicht ungestraft zusammen auf als Jüngling und Jungfrau, wenn man nicht zufällig Bruder und Schwester ist. Kenne das! Also deshalb haben Sie nicht häufiger nach Hause geschrieben? Aber fahren Sie nur fort! Das andere interessiert einen nach den eigensten persönlichen Erlebnissen immer noch, selbst wenn man mehr oder weniger durch Gunst der Götter zu den Höchstbesteuerten in seiner Kommune gehört und es — zu einer Stellung gebracht hat wie ich.“
Wir waren diesmal mit dem Abendzuge von Berlin abgefahren und fuhren also auch in die beginnende Nacht hinein wie der Feuilleton-Redakteur des Chamäleons im Jahre Achtundfünfzig. Der einzige Unterschied bestand darin, daß es Sommer war und nicht der dreißigste November wie damals. Jenes Buch von den Kindern von Finkenrode hatte aber seinerzeit, wenigstens in unserer Gegend, und dieses selbstverständlich, ein gewisses drolliges, mit Erstaunen vermischtes Aufsehen gemacht, und die Figuren und Situationen hafteten mir auch heute noch deutlich genug im Gedächtnisse, um mich ihnen, sowie dem — gegenwärtigen Stadtrat Dr. Max Bösenberg mit vollstem Verständnis hingeben zu können. Was ich dann und wann aus dem Buche zitiere, schreibe ich freilich, wie das nicht anders sein kann, nachträglich ab. Auswendig wußte ich es nicht.
„Zu Hause! Jeder aufblitzende Lichtstrahl aus einem Hüttenfenster auf der nebeligen Heide erfüllte mich mit einem Gefühl der Verödung, der Vereinsamung. Zu Hause! Wo ist mein Haus? Wo ist meine Heimat?… Mein Blick verlor sich in dem dichter gewordenen Nebel draußen. Der Zug flog in diesem Augenblick über ein altes Schlachtfeld, wo vor langen Jahren um Langvergessenes Tausende und Abertausende geblutet hatten. Es schien mir, als ob die wogenden, wallenden Dunstmassen sich in kämpfende Männer und Rosse verwandelten, zum Kampfe um ein zerfließendes Nichts. Im wilden, geisterhaften Getümmel drängte sich ein Chaos phantastischer Gestalten auf beiden Seiten des dahinschießenden Dampfrosses, zerschellte an den Rädern, ballte sich von neuem, wirbelte von neuem gespensterhaft durcheinander. Auch ich kam ja aus einer Schlacht, wilder als je eine mit Waffen von Stahl und Eisen gekämpft wurde. Wie manchen hatte ich an meiner Seite fallen sehen, wie manchen hatte ich auf dem Schild mit heraustragen helfen aus dem Getümmel:
— at socii multo gemitu lacrimisque
Impositum scuto referunt —“
„Sie schnupfen wirklich nicht, Doktor?“ fragte der Stadtrat, mir von neuem die silberne Dose, die jedenfalls auch aus der von ihm beschriebenen Erbschaft des weiland Onkels Bösenberg zu Finkenrode stammte, anbietend. „Sie sollten sich allgemach das doch auch angewöhnen. Ein jeglicher befindet sich auf einmal, ganz ohne es vorher bemerkt zu haben, in den Jahren, wo er dieses beinahe zu seinen ästhetischen Genüssen zählt. Sie sollten sich wirklich bald gleichfalls eine Dose zulegen, Doktor Langreuter.“
Nachher holte er, während ich — sehr gestört durch ihn! — immer noch den Wegen, Geschicken, Erleuchtungen und Verdunkelungen des Lebens nachzusinnen versuchte, aus einem eleganten und sehr praktischen Reisefutteral verschiedenes Trinkbare und Eßbare hervor, von dem er uns höflich anbot, an welchem jedoch nur der Ingenieur mit unverhohlenem Wohlbehagen und unverkennbarem Durste sich beteiligte.
Nachher sprach er, der Stadtrat:
„Weiß der Teufel, ich werde immer sofort schläfrig im Eisenbahnwagen!“ und als der Schaffner die Lampe in unserem Coupé anzündete, tönte bereits sein sehr gesundes und regelmäßiges Schnarchen in meine Erinnerungen an sein liebenswürdiges Buch hinein. Ich gab es auf, mich mit ihm und seinen jugendlichen schriftstellerischen Leistungen (als noch nicht er, sondern höchstens Weitenweber schnupfte!) für jetzt weiter zu beschäftigen, und wendete mich wieder dem Jugendfreunde zu.
Dieser saß wach in seiner Ecke, hatte das Gesicht gegen das offene Fenster geneigt, und nur von Zeit zu Zeit fiel der Schein der trüben Laterne unter der Decke darauf hin. Dann gefiel es mir jedesmal sehr und immer besser. Ich hatte mich nun schon nach und nach in das Wesen des Mannes mit mehr Verständnis hineingefunden. An die „Türme der versunkenen Julin“, wie der schnarchende Stadtrat voreinst in seinem Buche, dachte er unbedingt nicht: er lächelte zu heiter und hell dazu in die vorbeifliegende Sommernachtslandschaft hinein; aber es war doch auch ein lebendiger Ernst in diesem Werdener Irländer. Er glaubte sich unbeachtet genug in der Dämmerung, um längere Zeit auch einmal ein sehr ernstes Gesicht machen zu dürfen, und nimmer hatte ich ein vertrackt unleserlich Pergament-Manuskript mit größerem Interesse zu enträtseln gesucht wie jetzt im rötlichen Schein der Wagenlaterne die männlich schönen Züge meines Jugendfreundes.
Eine Erbschaft wie die des Onkels Bösenberg dem Redakteur des Chamäleons, war ihm nicht in den Schoß gefallen; Ewald Sixtus kam nicht heim wie der Bauer vom Steinhofe, der Vetter Just Everstein; aber was wir auch an ihm noch in der nächsten Zeit auf Schloß Werden, im Dorfe, in Bodenwerder, auf dem Steinhofe und in der Umgegend erleben mochten, ich hatte für ihn keine Sorge mehr.
Wissen kann man es ja nicht, was die nächste Stunde bringen wird, und nur die Narren pflegen das ganz genau vorauszusagen; aber für diesen gefesteten, hellen, heiteren Menschen brachte sie nichts, was er nicht im Guten wie im Schlimmen mit in seine Rechnung gezogen hatte, und das ist immer viel und bedeutet im Bösen wie im Guten die Hauptsache und Hauptwaffe im bitteren Kampfe der Verwirrungen dieses verzwickten Daseins auf der Erde.
Da war die berühmte Festungsstadt, die wir auch diesmal wie einst der Doktor Bösenberg, ruhig seitwärts liegen ließen. Keine Jungfrau ließ den gehobenen Schleier wieder sinken in unserem Coupé und schlüpfte zierlich aus dem Wagen. Kein alter zu einem Taugenichts von Sohne reisender Herr sagte grimmig: Der wird sich wundern! Wir hatten keine Kinder zärtlich harrenden Vätern aus dem Wagen zuzureichen.
„Wahrhaftig, wieder mal das verdammte Nest!“ schnurrte der Finkenrodener Stadtrat, aus dem Schlummer aufgerüttelt und verdrießlich sich dehnend und die Augen reibend. „Jedes Mal, wenn ich hier halte, schwöre ich mir zu, daß es das letzte mal gewesen sein soll, — und weiß der Henker, da sind wir doch wieder, und natürlich nicht eine Idee von einem Kellner am ganzen Zuge!“ …
Wir fuhren weiter, und es war kurz vor Sonnenaufgang, als der Schaffner, von neuem die Tür aufreißend, „Station Sauingen!“ schrie. Statt einer an einer langen Stange schwankenden Laterne glimmte eine ganze Reihe dergleichen den breiten „Bahnsteig“ und die stattlichen Bahnhofsgebäude entlang und in die rosige Eos hinein. Der Ort hatte sich in den letzten zwanzig Jahren fast nicht weniger als der Dr. Max Bösenberg verändert. Wenn dieser Stadtrat, so war jener ein lebendigster Eisenbahnknotenpunkt geworden; und die Bahn nach Finkenrode war seit mehr denn zehn Jahren ebenfalls weiter gebaut worden. Wir erlebten diesmal nicht die geringsten tragischen und heiteren Abenteuer zum Besten eines erstaunten Leserkreises in Sauingen als vielleicht das Wort des Biographen der Kinder von Finkenrode:
„Sollten Sie es für möglich halten, meine Herren, daß ich mich noch immer nicht anders als mit aufgeklapptem Rockkragen und dem Taschentuche vor der Physiognomie durch den Ort schleichen darf? Vor einem Jahre hatte man hier eine Provinzial-Viehausstellung mit Preisverteilung arrangiert, und ich war als Vertreter unseres Gemeinwesens hergeschickt worden. Ich sage Ihnen, das nächste Mal lasse ich sicherlich einem anderen die Ehre und das Vergnügen. Sie hatten nichts vergessen! Wohl verkorkt hatten sie ihre ganze Ranküne, wie auf Flaschen gezogen, zur Hand, ein jeglicher von ihnen die seinige bei seinem Teller; und was das Vergessen meinerseits anbetrifft, so ist es durchaus keine Kunst, den vergnügten Tag, welchen ich damals unter ihnen hinzubringen hatte, in alle Ewigkeit nicht zu vergessen. Gott sei Dank, diesmal fahren wir mit einem Aufenthalt von fünf Minuten durch. In einer Stunde sind wir in Finkenrode; ein wenig übernächtig fühlen wir uns doch alle; ich lade Sie hiermit freundschaftlichst zum Frühstück. Nachher schlafe ich aus, und nichts hindert Sie, dasselbe zu tun oder das Dampfschiff stromabwärts nach Münchhausenburg zu benutzen. Von Bodenwerder werden Sie ja dann wohl schon ohne Führer die alte Heimat erreichen, und wünsche ich viel Pläsier dazu. Sollte Ihnen zufällig daselbst mein guter alter Freund Alexander begegnen, so bitte ich, ihn recht schön von mir zu grüßen.“
Die Sonne ging auf. Wir erreichten Finkenrode und frühstückten wirklich daselbst in dem Hause des weiland Onkels Bösenberg. Mir roch es recht moderig und unbehaglich drin. Mit welchen modernen Gefühlen, Stimmungen und „Meliorationsintentionen“ der heutige Inhaber vor zwanzig Jahren hineingezogen sein mochte und, seinem Buche nach, hineingezogen war: er hatte sich allgemach geradeso darin verpuppt wie der alte Herr, und er war noch dazu ein recht alter Junggesell darin geworden. Das Bild der Frau mit dem Kinde auf dem Arme sah jedoch auf einen ungemein verständnisreich besetzten Tisch herab. Der Stadtrat war fett geworden in dem alten Hause und wurde noch immer fetter drin; dies schien mir so ziemlich der einzige Unterschied gegen die Tage der Vergangenheit zu sein.
Daß aber ein wohlgemeintes Wort häufig viel mehr Verdruß anrichtet als die überlegteste Bosheit in Wort und Tat, das sollte ich auch jetzt einmal wieder erfahren.
Ganz harmlos erkundigte ich mich des näheren nach Weitenweber, und sofort legte unser gastfreundlicher Wirt Messer und Gabel nieder, blies eine Menge überflüssigen Atems über die breit vorgesteckte Serviette fort und keuchte:
„Uh, der alte Sünder! Außerdem daß er behauptete, längst vor der Entdeckung des Doktors Schopenhauer durch das deutsche Publikum den Schopenhauerianismus gründlich weg gehabt zu haben, hat er noch viel gründlicher meinen gesamten Vorrat von Lebensidealismus mit sich hinüber nach Berlin in das alte Leben genommen. Jawohl, das sind die Kerle, die in ihrer Säure und Knochentrockenheit hundert Jahre lang sich konservieren und dann sich ins Jenseits hinübergrinsen, während unsereiner in seiner — Liebenswürdigkeit — Weichheit — Lyrik — kurz, wie Sie das nennen wollen — — — na, verderben wir uns den Appetit nicht; und Sie, lieber Sixtus, sehen Sie nur nicht nach der Uhr, — Sie kommen noch früh genug aufs Schiff. Der Kapitän wartet mit Vergnügen auf jeden, der mit will, und Hannchen trägt Ihnen die Reisetaschen an den Fluß hinunter.“
Hannchen war ein sehr hübsches und ungemein freundliches Hausmädchen des alten Hauses Bösenberg, und nicht ungerechtfertigter Weise, wie es schien, ein großer Liebling des einstigen Feuilleton-Redakteurs des einstigen regnante Manteuffelio berühmten, oft konfiszierten und weit verbreiteten Blattes:
Das Chamäleon.
Wir fuhren in einen recht heißen Tag hinein, und mir war es wunderlich, gar wunderlich, so auf einmal wieder auf diesen Wassern zu schwimmen, die ich so lange nicht zu Gesicht bekommen hatte.
„Der Mann — dieser Herr Stadtrat Bösenberg, hat mir recht gut gefallen,“ meinte mein Begleiter oder vielmehr Führer. „Er besitzt recht gesunde Ansichten nicht nur über Nationalökonomie, sondern auch die des Privatmannes. Daß er wie manche andere ein wenig in den Tag hineinschwatzt, muß man ihm hingehen lassen. Übrigens kennt er die Gegend aus dem Grunde, und ich werde unbedingt diese Bekanntschaft nicht kalt werden lassen; sobald ich daheim nur einigermaßen in Ruhe bin, werde ich ihm nochmals meinen Besuch machen. Und sein Buch muß ich doch auch mal wieder lesen.“
„Hoffentlich findest du noch ein Exemplar in einer Leihbibliothek, lieber Ewald; und wahrscheinlich werden seine Provinzgenossen dasselbe seit dem Jahre Achtzehnhundertneunundfünfzig durch ihre Randglossen und Fußbemerkungen noch um ein Bedeutendes lesenswerter gemacht haben.“
„Man trifft doch überall in diesem närrischen Deutschland — auch wo man es nicht vermutet — auf recht verständige, achtungswerte und spaßhafte Menschen,“ schloß der jetzige Besitzer von Schloß Werden diesen Abschnitt unserer Reiseunterhaltung. Der Doppelkirchturm von Finkenrode verschwand bei einer Biegung des Flusses hinter einem bewaldeten Höhenzuge; ich aber steckte nun einmal in den Kindern von Finkenrode und ich blieb darin stecken, und es erschien mir doch fast unbegreiflich, daß der Verfasser heute so wenig Verständnis mehr für die Wahrheit und Wirklichkeit dessen hatte, was er vordem niederschrieb. Im Halbtraum mußte er geschrieben haben: wie wach und munter er dann auch späterhin das Ding in den Druck geben mochte!…
Es ist kein ander Näherkommen, wenn es sich um die langentbehrte, halbvergessene Heimaterde handelt, dem zu Schiffe zu vergleichen. Nicht die Fußwanderung und noch viel weniger der Wagen bieten dies freie, leichte Getragenwerden. Wir wollen uns keine Illusionen machen über unsere Stärke in der Welt: es ist bei allen Dingen die Mühelosigkeit, die wir zuerst wollen, und die im Großen wie im Kleinen bei jeglicher Erhebung über den dahinschleichenden Tag und die dahingeschlichenen Tage das Willkommenste ist. An einen Schiffsrand gelehnt stehend, einst so vertraute und seit Jahren wie versunkene Bergesgipfel von neuem auftauchen, wachsen und sie immer deutlicher und immer bekannter sich in den Gesichtskreis schieben zu sehen: was geht darüber?! Und wenn ich vorhin gesagt habe, daß wir erst auf der Reise von unseren Verhältnissen zu der Heimat und vor allem von denen des Freundes Ewald Sixtus gesprochen hätten, so war das im vollen Sinne des Wortes erst auf diesem Schiffe und nachher auf dem Fußwege nach Schloß Werden der Fall.
„Lache mich nicht aus, Fritz,“ murmelte der Irländer, „ich wollte, wir wären erst acht Tage älter! Du kannst da gleichmütig genug sitzen und die liebe Gegend näher kommen sehen; aber ich — och faix, woran es eigentlich liegt, kann ich nicht sagen; aber ich versichere dich, ich fange allmählich an, Angst zu kriegen wie ein Schuljunge, der erst die Schule geschwänzt hat und dann noch zu spät zum Essen kommt. Ich wollte, by Jove, wir hätten noch den Stadtrat bei uns, ich fange an, einzusehen, daß er noch etwas mehr war als eine bloße Reisezerstreuung. An diese Stimmung habe ich, weiß Gott, in der Fremde nicht gedacht, und ich glaube, es wäre besser gewesen, wenn ich sie mir vom Leibe und aus der Seele fern gehalten hätte! Fritz, ich weiß nicht, wie’s zugeht, aber ich gäbe jetzt viel für einen tüchtigen Landregen mit obligatem Verkriechen in der Kajüte. Das Wetter ist mir heute zu schön und die alten Berge dort in der Ferne viel zu blau!… Da ist der Pastor von Dölme! und da der Kirchturm von Pegestorff! — der Werder hier im Fluß war vor fünfzehn Jahren auch schon vorhanden. O Langreuter, Langreuter, der Pastor von Dölme! er schneidet noch dieselbe Sandsteinfratze wie — zu unserer Zeit; was ich aber jetzt für ein Gesicht ziehe, das weiß ich nicht und verlange auch nach keinem Spiegel. Langreuter, ich wollte, die Gegend wäre nicht ganz so sehr dieselbige geblieben! Wie alt mag wohl der Alte geworden sein?… und die Eva? und — — — na ja, und ich habe es auch nicht gewußt bis jetzt, um wieviel ich selber älter geworden bin!… da sollte man sich doch wirklich in den grauesten Sumpf vom grünen Erin hineinwünschen bis an den Hals. O Fritz, Fritze, o — Fritz Langreuter, der Tag ist mir heute zu schön, und die Nachtfahrt und die angenehme Unterhaltung, das Frühstück des Stadtrats Bösenberg sind wahrhaftig nicht allein schuld daran. O, der Vetter Just vom Steinhofe! Du brauchst es ihm weiter nicht auf die Nase zu binden, Fritz; aber ich wollte —“
Er brach ab, schüttelte den Kopf und sagte es nicht, was er in betreff des Vetters Just und seiner selbst jetzt lieber anders gewünscht hätte. Nur mit Mühe gewann er das alte drollige Zucken um die Mundwinkel noch einmal wieder, als ich ihn fragte: „Sie wissen es doch wenigstens, daß du in diesen Tagen nach Hause zurückkehrst?“ und er mir die Antwort schuldig bleiben zu wollen schien.
„Sie wissen es nicht, Ewald? Und sie wissen auch nicht, daß du heute der Herr von Schloß Werden bist?!“ …
Alle alte Knabenkomik und Verschmitztheit verschwand aus den wirklich hübschen und doch zugleich mannhaften Zügen des Ingenieurs:
„Weiß Gott, da ist Rühle und sieht auch noch gerade so aus als damals, wo wir hier die Welt allein zu haben glaubten! Ja, es ist ein dummer Jugendstreich! meine Flegeljahre haben sich aber nur ein paar Lustren weiter erstreckt als die anderer Leute, und ich habe das nur bis in diese Stunde hinein nicht gewußt. Bis heute bin ich wie diese nette Gegend der nämliche geblieben, und nun kommt es mir auf einmal vor, als ob von heute an meine Buße darüber recht nachdrücklich ihren Anfang nehmen könne. O Fritz, ich glaube, daß ich trotzdem, daß ich Schloß Werden für — euch alle wiedergewonnen habe, doch nur wenig Dank dafür zu erwarten habe und — ganz mit Recht!… Ob sie zu Hause — ob — ob Irene — ob sie alle über alles genau Bescheid wissen, ist wohl gleichgültig. Ganz mit Recht werden sie verschnupft sein, und ich wollte jetzt, ich hätte etwas Besseres und anderes getan, als die alten Jugendwitze noch einmal und im vergrößerten Maßstabe zu wiederholen! Ja, und du hast es selbstverständlich sofort herausgerochen, alter Verstandesmensch! Es gehörte meiner Meinung nach in Belfast dazu, daß ich nur mit meinem Advokaten in Bodenwerder und niemand sonst über das Geschäft korrespondierte. Wieviel von der Affäre dessenungeachtet unter die Leute durchgesickert ist, kann ich natürlich nicht wissen, aber ich ahne jetzt, es ist genug gewesen, um mir den Empfang nach allen Seiten hin zu gesegnen. Och honey, wie sieht sich das alles von der Fremde aus so ganz anders an! Da hatten wir mal in Dublin einen verrückten jungen Kerl aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie, der führte seinen Papa, um ihm eine Geburtstagsfreude zu machen, eines Morgens ans Fenster und sagte: ‚Sieh mal, lieber Vater, da habe ich dir einen Elefanten gekauft!‘ Och, Freddy, Freddy, das Gesicht des alten Baumwollenimporteurs Mr. Maloney senior paßt ganz und gar in meine dermalige gemütliche Stimmung. Ich bin auch in diesem Moment durchaus nicht mehr darüber im klaren, was ich eigentlich gekauft habe, um meinen Angehörigen und — Irene — Everstein — eine — Freude zu machen! Was sollen sie auf dem Försterhofe mit meinem Elefanten anfangen, und wie — wie wird — Irene Everstein darüber denken?“
Da war es freilich schwer, das rechte Wort der Lösung für diese nur dem alleräußersten Anschein nach sehr einfachen Lebenswirren zu finden und dreinzugeben. Was ich erwidern konnte, war alles nichts weiter als guter Rat, der vorher hätte gegeben werden müssen und dann sicherlich nicht angenommen worden wäre. So überließ ich es denn den kühlen Wassern, die uns trugen, und den kochenden, welche die Räder, Hebel und Schaufeln in Bewegung erhielten, uns der Lösung, das heißt der Heimat und den Gesichtern, die die Leute dort über uns machten, näher zu führen. An das Müheloseste wendet sich der Mensch auch in allen großen und kleinen Krisen seines Daseins am liebsten, also nicht bloß im Glück und auf der Fahrt durch die Sommertage des Lebens.
Und jeder Augenblick brachte uns tiefer in die uns so bekannte und so sehr aus dem Gedächtnis geratene Jugendwelt hinein. Bei jeder Biegung des Flusses verflüchtigte sich der Schleier, den die Jahre uns über die Augen gelegt hatten, mehr und mehr. Gewinn und Verlust des Lebens wurden von Minute zu Minute deutlicher, aber stiller und friedlicher wurde es leider nicht darum in uns.
„Ich wollte, ich hieße von Münchhausen oder liefe schon gedruckt in der Welt herum wie der Stadtrat Bösenberg aus Finkenrode!“ brummte der jetzige Herr von Schloß Werden. „Aber bis nach Bodenwerder bleiben wir nicht auf diesem verdammten Teekesselkahn, Fritz Langreuter. Das wäre die Höhe, wenn ich daselbst zuerst auf meinen Rechtsmandatar stieße und an seiner Hand in das alte, brave Vaterhaus zurückzuwandeln hätte. Bei der nächsten Haltestelle steigen wir aus und schlagen uns zu Fuße über die Berge und durch den Wald. Uh, hätte ich mir doch dies heutige Einschleichen hinter den Büschen weg vor drei Jahren schon so deutlich ausgemalt wie jetzt, so wäre es mir sicherlich besser zumute. Säße das Mädchen — ich meine die gnädige Frau — o Gott, säße die Irene nicht bei dem Vetter Just — — — bei den unsterblichen Göttern, ich schliche mich zuerst zu dem Vetter Just Everstein und ließe ihn einen Boten mit der Meldung nach Werden schicken, daß — ich — wieder da — sei! Der Peter in der Fremde mit seinen Dachkammer- und Taubenschlaggefühlen ist in diesem Moment ein wahrer Weltumsegler gegen mich! Deine Gefühle sind aber natürlich ja ganz andere, also geniere dich nur nicht meinetwegen, Bruder. Fahre du dreist weiter nach Bodenwerder, grüße daselbst, nimm einen Wagen und komm ruhig und behaglich nach Werden. Ich aber gehe.“
Ich ging auch.
Es war ein eigentümliches Gefühl, wieder den Kies des Flußufers unter den Füßen zu spüren. Das Dampfschiff drehte sich ab, und wir nahmen unseren Weg rechts in die Berge hinein. Zwei gute Stunden hatten wir vor uns, ehe wir Schloß Werden erreichen konnten; aber niemals sind mir zwei ziemlich beschwerliche Wegestunden so kurz vorgekommen wie diese. Und wir redeten wenig miteinander auf dieser Wanderung.
„Das ist eine kuriose Melodie, welche du da pfeifst, Ewald.“
„Rocky Road to Dublin! Jeder illegante blinde Fiedler greift sie im Schlafe bei uns, und sie paßt mir ganz für diesen Marsch, Fritz. Melancholisch und spaßhaft! was? Wer zuerst von uns die alten Türme aus dem Busch aufragen sieht, hält das Maul, aber stößt dem Gevatter die Ellenbogen in die Rippen… Und sie sitzt also heute bei dem Vetter Just auf dem Steinhofe. Hoffentlich im kühlen Schatten! Und wir — wir schwitzen hier!… O Fritz, ich will es nur gestehen, ich habe an mehr als einem heißen Tage in der Fremde an das böse liebe Mädchen gedacht und mir dies Nach-Hause-Kommen zur Kühlung ausgemalt. Der Teufel hole alle solche Malereien! Der ist selber ein Pinsel, der da meint, nur guter Wille gehöre dazu, den rechten Ton zu treffen.“
„Die arme Frau!“ murmelte ich, und der Herr von Schloß Werden sagte grimmig vor sich hin:
„Jawohl, die arme Frau! Und ich wollte nochmal, daß es erst heute übers Jahr wäre und wir alle möglichst in Ruhe!“
Ich will von dem Wege nichts weiter sagen. Wir erlebten alle Abenteuer darauf in unserer Seele. Gegen Abend, als jedoch die Sonne immer noch ziemlich hoch über den Hügeln im Westen, dem Steinhofe zu, stand, sahen wir die grauen Ecktürme unseres verzauberten, das heißt uns angezauberten Schlosses über die Linden und Kastanien aufragen. Und zehn Minuten oder eine Viertelstunde später standen wir — vor einer Mauer, die wir nicht kannten; vor einer hohen, nüchternen Mauer, die zu unserer Zeit noch nicht vorhanden gewesen war.
„Bin ich im Traum, oder haben wir uns verlaufen, und sind das dort gar nicht unser Dach und unsere Giebel?“ murmelte der Ingenieur, mich ansehend.
„Schloß Werden ist es wohl noch,“ seufzte ich, „aber, Ewald, andere Leute sind doch recht lange Herren hier gewesen und haben sich nach ihrem Gefallen eingerichtet. Wer hätte es überhaupt vorausgesehen, daß wir noch einmal wiederkommen würden?“
„Alle Wetter, und die verdammte Landstraße!“ rief der Irländer erbost. „O die Schufte! Hier lief ja der Graben an der grünen Hecke! Und dort hingen unsere Nester in der blauen Luft und in den grünen Zweigen! Alles ruiniert! Alles glatt gestampft… Und wie wird es erst jenseits dieser Mauer aussehen? O Fritz, Fritz, wäre es nicht wiederum zu dumm, so täte ich nochmal, als ginge mich die ganze Geschichte nicht das geringste an. O meine — arme Irene! das ist mehr als ein Symbol, diese gottverfluchte, nichtswürdige Mauer! Das ist die Wirklichkeit! das ist, wie es ist, und ich habe es mir in meiner Albernheit und in der Fremde nur etwas anders zurechtphantasiert. So ist es, wie es ist, und ich wollte, — ich säße in diesem angenehmen Moment auf Bloody Farland Point und spuckte in den Atlantischen Ozean, statt hier an dieser Mauer mit dir zu stehen und Maulaffen feil zuhalten!“
Das war so herausgestoßen und für jeden anderen Menschen als für mich und vielleicht Irene von Everstein völlig unverständlich; ich aber verstand diesen, in diesem Augenblick des vollkommensten Gelingens seiner hartnäckigen Lebensarbeit über sich so zornigen Mann und die energische Falte zwischen seinen Brauen vollkommen. Zu sagen wußte ich jedoch jetzt auch weiter nichts als mit einem Stoßseufzer:
„O Sixtus, weshalb sind wir nicht in Korrespondenz miteinander geblieben?“
„Ich habe mein Leben auf die Lust am Leben gestellt, — auf den Spaß, — du weißt es ja, Fritz. Hätte ich mich auch schriftlich oder gar durch den Druck als ein Esel manifestieren können, so gebe ich dir hiermit mein Wort darauf, daß ich es sicherlich getan hätte. Wieviel Ernst hinter dem Narrentum im Versteck lag, das magst du dir nunmehr selber zusammenkalkulieren. Und — Irene ist auch schuld daran gewesen. Fritz Langreuter, wir, das heißt sie und ich, haben vielleicht nur zu gut zueinander gepaßt! Ein wenig weniger gut wäre wahrscheinlich besser gewesen, und ich stände dann nicht so da vor — dieser gottverdammten Mauer und — hätte so große Angst vor ihr; nämlich vor ihr — der Frau auf dem Steinhofe unter der Obhut des Vetters Just Everstein! Alle Wetter, wenn es dem Burschen so ausgezeichnet gut drüben in Amerika erging, so hätte er meinetwegen ruhig dort bleiben können. Du meinst, daß ihm dazu zuviel an seinem Steinhofe gelegen gewesen sei? O Fritz, ich weiß es, — mir ist an diesem vertrackten Schloß Werden hinter dieser heillosen Mauer doch noch mehr gelegen gewesen, und ich habe auch darum gearbeitet und — der Kerl imponiert mir gar nicht, und ich wollte, Irene — die Frau Baronin säße im Pfefferlande, aber nicht bei ihm! Und jetzt, alter Freund, laß uns versuchen, um diese Mauer herum ein Loch zum Durchschlüpfen nach Schloß Werden zu gewinnen. Ich ziehe nicht ein in das alte Nest wie der liebe Vetter Just auf dem Steinhofe. Das ist eine Tatsache, daß das, was man erreicht hat, es nie tut!“ — — —
„Wahrlich, ich hatte meine Vaterstadt Finkenrode erreicht; nicht mit den Gefühlen eines Olympiasiegers, nicht mit den Gefühlen eines Heimwehkranken, aber doch mit recht anständigen, stichhaltigen, naturgemäßen Gefühlen, welche von einem nicht allzu verhärteten und gleichgültig gewordenen Gemüte zeugten,“ lautet eine Stelle in dem Buche des Finkenrodener Stadtrats, Dr. Max Bösenberg, und es ist mir nicht unlieb, daß ich mich ihrer erinnere, um sie an dieser Stelle zitieren zu können.
Wie wir diese heiße Mauer entlang gingen, die sich jetzt da hinzog, wo früher unsere grüne Hecke unser Märchenreich umschloß, ohne die unermeßliche übrige Welt auszuschließen, kam mir ein Gedanke. Nämlich, daß es Leute, die in allen Dingen, großen und kleinen, auf der Stelle Partei nehmen, die Hülle und Fülle gibt, daß aber der Leute, die im wahren Sinne des Wortes neutral zu bleiben vermögen, sehr wenige sind, und daß drittens die Namen und Adressen der letzteren überall, mit goldenen Lettern in ein besonderes Buch eingetragen, zum eiligsten öffentlichen Nachschlagen aufzulegen seien. Ich, der ich im Grunde heute so sehr Partei war, gewann aus dieser Mauer melancholisch die nicht mehr umzustoßende Überzeugung, daß mir sowohl im Schloß und Dorf Werden wie auch vor allen Dingen auf dem Steinhof nichts mehr übrig geblieben sei, als mich — vollkommen neutral zu verhalten.
Das hatte ich gewonnen! Ich, dem die Mühe, etwas Verlorenes wiederzugewinnen, erspart worden war; oder besser, der selber sie sich erspart hatte.
„Am sichersten wäre es vielleicht doch gewesen, wenn wir unseren Advokaten von Bodenwerder abgeholt hätten, um mit seiner Hülfe den Eingang in Schloß Werden zu finden,“ brummte Ewald. „Nun, gottlob, hier haben sie wenigstens ein Loch gelassen, und sind wir somit drin und — zu Hause angekommen. Begorra, eine schöne Wirtschaft scheint das gewesen zu sein! Meiner Treu, als ich von der Fremde aus die Katze im Sacke kaufte, habe ich doch keine Ahnung davon gehabt, wie ruppig das Vieh sich bei der Okularinspektion ausweisen würde. Sieh nur hin, Langreuter, wie die Halunken gehaust haben! Und ich gebe dir mein Wort darauf, Fritz, daß ich längere Zeit hindurch in der festen Überzeugung gelebt habe, ich hätte das alte Haus und seinen Zubehör zu billig erstanden! oh, oh, oh!“
Ich konnte auch nichts weiter tun, als in die Seufzer des Freundes betrübt einstimmen. Kahl und verwildert lag der früher so stattlich schöne Park innerhalb der neuen Mauer vor uns da. Die Alleen waren niedergeschlagen worden, die Gebüsche ausgereutet. Nur um das Schloß selbst standen noch einige der ältesten Bäume aufrecht und hatten uns von Ferne die Täuschung gegeben, daß das alte adelige Haus Werden noch aus dem alten vollen Grün aufrage. Es war nichts als eine Fata Morgana gewesen, die aus der fernen Jugendzeit in die schwüle Gegenwart herüberfiel. Die jüngsten Besitzer hatten auf Schloß Werden nur einen Raubbau in jeglicher Hinsicht betrieben und waren zugrunde darauf gegangen in der Sonne wie — der Herr Graf in dem vornehmen Schatten seiner hundertjährigen Linden und Kastanien.
„Da stehen wir!“ sagte der irländische Ingenieur grimmig. „Wenn es dir beliebt, so können wir auch weiter gehen oder — umkehren. Das Letztere wäre mir vielleicht in diesem Augenblick das liebste.“
„Du willst doch wohl nicht jetzt den Mut verlieren?“
„Den Mut wohl nicht, lieber Freund, wohl aber die Lust, meine Rolle weiter zu spielen. Momentan ist mir meine Devil-may-care-Stimmung gründlich ausgetrieben, und ich sehe nach keiner Weltgegend mehr hin die Gelegenheit, mir durch einen mehr oder weniger fragwürdigen Witz aus der Patsche zu helfen. Ich sage dir, ich fühle mich in dieser Minute mindestens um ein Jahrhundert älter als der alte Kasten dort hinter den Kartoffelfeldern, das Haus Werden mit seinen sicherlich zersprungenen und eingeschlagenen Fensterscheiben, seinem Schwamm im Parterre und seinem Wurmfraß im oberen Stock. Ach Fritz, es ist doch wohl gut, daß Irene Everstein auf dem Steinhofe wohl aufgehoben ist; und ich — ich hätte besser getan, wenn ich fürs erste Schloß Werden hätte links oder rechts liegen lassen und den alten Mann in dem Dorfe und dem Försterhause um seine Ansicht von der Sache gefragt hätte! Was dich anbetrifft, liebster Langreuter, so wird es mir immer klarer, daß du mir kaum von Nutzen bei dieser mißlichen Geschichte sein wirst. Nimm mir das nicht übel.“
Ich hatte wahrlich keine Ursache, hier irgend etwas übel zu nehmen. Der Freund hatte nur zu sehr recht. Mehr sogar, als er selber zu ahnen imstande war.
Ein altes Weib, das mit einer Sichel in der Hand einige Schritte weiter vorwärts sich aus dem Kraut und Unkraut aufrichtete, und dem wir, wie es schien, einen gelinden Schrecken einjagten, gab unseren trübsinnigen Gedankenläufen, wenigstens für einen Augenblick, eine gelegene Ablenkung. Es war sicherlich eine gute Bekannte unserer Jugendjahre; aber wir waren allesamt älter geworden und kannten uns nicht mehr.
Das kümmerliche Mütterchen zog rasch und ängstlich eine hoch mit Grünfutter vollgestopfte Kiepe zu sich heran und hatte unbedingt die größte Lust, ohne sich weiter auf Gruß, Gegengruß und freundschaftliche Unterhaltung einzulassen, Reißaus zu nehmen; aber —
„Halt, Mutter! Hier geblieben, Mrs. Ragtail! Nur auf ein Wort, Mütterchen!“ rief der Herr von Schloß Werden. „Gehören wir zu dem Dorfe oder dort in das graue Haus — Schloß Wackelburg, oder wie es heißt!?“
„Schloß Werden, liebster Herr! das ist das Schloß. Ach, Jeses, liebste, beste Herren, nur ein bißchen Grünes für die Ziege und fünf lebendige Enkelkinder; es wächst ja alles hier rundum doch nur dem armen Volke und lieben Herrgott in die Hand —“
„Richtig, Mutter! Mich aber soll der Teufel holen, wenn ich Ihr nicht alles gönne,“ brummte Ewald Sixtus, und fügte gegen mich gerichtet hinzu: „Hätte ich nur dasselbe Recht an den Nachlaß und die Erbschaft hier!“ Und wieder der alten Frau sich zuwendend: „Es kommen wohl manche aus dem Dorfe, um da herum das, was dem lieben Herrgott in und aus der Hand wächst, und was auch in Hof und Stall nicht zu niet- und nagelfest ist, abzuholen, he?“
„O du guter Himmel, liebster Herr, ich habe ja gar nichts gesagt,“ winselte die Alte. „Fünf lebendige Enkelkinder, und mein Junge, der Vater dazu, ist zu Schaden und Tode gekommen in Koldeweys Steinbruche, und die Mutter hat die Lungensucht mitgenommen, und ich bin mit den fünf Würmern allein übrig. Nur ein bißchen Kraut für die Ziege; denn das Jüngste ist erst dreiviertel Jahr alt, und ich bin an die Sechzig nahe heran. Und sie kommen alle, denn es ist ja kein Herr und Meister da seit Jahren, und der Herr Notar in Bodenwerder, der die Verwaltung hat, kann doch nicht immer da sein und nach dem Rechten sehen. Und wenn Sie auch zu den Herren Advokaten aus Bodenwerder gehören und mich vor Gericht ziehen wollen, so habe ich doch nichts gesagt, und den hochseligen Herrn Grafen habe ich auch noch gekannt und das war ein guter Mensch, so vornehm er war; und ich habe auch zu seinen Zeiten schon das Gras an den Hecken schneiden dürfen, und aus dem vornehmen Schloß hab’ ich mir keinen Nagel aus der Wand geholt. Und die gnädige Gräfin, die jetzt bei dem — dem Herrn Vetter Just — dem Herrn Everstein auf dem Steinhofe wohnt und der es auch so schlimm in der bösen Welt ergangen ist, wie man sagt, ja, die habe ich, als ich noch eine junge Frau war, aus dem Dorfbache aufgehoben und naß wie eine Katze auf meinem Arme nach Hause getragen, und da war damals die Madam — die gute Frau — die Frau Steuerkontrolleurin auf dem Schloß, die hat das Kind mir abgenommen und mir zehn Groschen gegeben. Der Junge aus dem Försterhause — unserm Förster Sixtus sein Junge hatte die gnädigste junge Komtesse in den Bach gestoßen. Sie sagen, dem soll jetzt das ganze Schloß und alles gehören; aber es will keiner im Dorfe so recht daran glauben. Wenn er aber heute wiederkäme, und alles hätte sich ungelogen so geschickt, wie die Leute lügen, und er wäre der Herr, so brauchte er auch mit der Witwe Warneke nicht um eine Kiepe voll Ziegenfutter aus der Wüstenei hier herum ins Gerichte zu gehen; denn dazu ist er viel zu gut Freund mit meinem alten Seligen gewesen, und der hätte oft klüger sein sollen als der dumme tolle Junge aus der Försterei. Da ist der lieben Frau Langreuter ihrer ganz anders gewesen und sittsamer; aber sie sagen, der hat es auch dicke hinter den Ohren gehabt und ist ein Professor geworden und wohnt jetzt, was man nennt in Berlin. Ja, so werden aus Kindern Leute, und ich habe es als junge Frau auch nicht gedacht, daß ich als alte Frau mal fünf Enkelkinder mit Tagelöhnerarbeit und Hunger und Kummer großziehen müßte. Aber die Herren lassen mich da schwatzen, und ich stehe da auch und schwatze, als wäre ich wie von oben her und vom Pfänder drangekriegt, und — — o du meine Güte — o liebster Himmel — jetzt falle ich um! Das sind Sie!… das sind Sie ja selber! der kleine Fritz und der — Herr Ewald! Und so gewachsen! Solche Herren! Und wirklich noch im lebendigen Leben! Und wie wird sich der alte Herr Vater und die Schwester freuen, Herr Sixtus. Und die Schwester — ich meine Fräulein Eva, hat noch immer nicht gefreit. Jedermann im Dorfe wundert sich darüber —“
Der Ingenieur hielt die Alte am Oberarm und fing an, sie zu schütteln, um dem Übermaß der Gefühlsäußerungen ein Ende zu machen. Das Hereinsprechen in den Schrecken, die Verwunderung und die zitternde Hast, sich angenehm zu machen, half zu gar nichts weiter, als daß sich gar noch das helle Schluchzen und Schlucken in den Redeschwall mischte —
„Herr, mach ein Ende!“ stöhnte fast ebenso erregt wie das graue Weiblein der Werdener Irländer. „Alle Hagel, da ist ja ganz das Ende weg! Witwe Warneke, honey, liebstes, bestes, altes Mädchen, ja wir sind wieder da, und es ist mir im höchsten Grade erfreulich, daß Sie die erste ist, die mir hier auf meinem Grund und Boden — weiß Sie was? Sie kriegt einen Taler von mir, wenn Sie jetzt auch mich und den Herrn Doktor Langreuter hier auf eine halbe Minute zu Worte kommen läßt!“
Die Alte duckte sich. Sie saß nieder neben ihrer Tragkiepe im Kraut und Unkraut des Parkes von Schloß Werden. Sie starrte zu uns empor von einem zum anderen:
„Ach Gott, ach Gott, ist das eine Freude! Und wie werden sich der Herr Vater und Fräulein Eva und die gnädigste Gräfin auf dem Steinhofe freuen! Das Futter aber haben sie sich alle im Dorfe hier im Schloßgarten geholt, seit keine Herrschaft dagewesen ist. Und der Herr Graf soll sich nur des Nachts ums Schloß herum und da in dem Gange, wo zu seiner Zeit die dicken Lindenbäume standen, haben sehen lassen!“
„Wohnt denn niemand mehr in dem Hause da?“ fragte ich zögernd und beklommen.
„Wer sollte denn da wohnen? Seit fünf Jahren hat es ja keinen richtigen Herrn mehr gehabt, sondern ist nur immer auf dem Papier weiter gegeben. Aber vor vierzehn Tagen ist die alte französische Mamsell — von des Herrn Grafen Seligen Zeiten her — die Mamsell Martin mal vom Steinhofe ’rübergekommen und ist drumherumgegangen und hat in die Fenster gesehen — bei Tage, nicht zur Nacht- und zur Spukezeit — und hat geweint.“
„Und meine Schwester?“ fragte Ewald Sixtus, und die Witwe Warneke sah sehr verwundert von neuem scheu ihn an.
„Jawohl, Fräulein Eva ist mit ihr gewesen und hat mit ihr nachher lange auf einer der Steinbänke gesessen. Das halbe Dorf aber hat nur von ferne zugesehen; wir haben das französische Parlieren der alten französischen Mamsell ja doch niemalen recht verstanden.“
„In meinem ganzen Leben ist mir die rote Abendsonne, wie sie jetzt hier rundum auf allem und vor allem dort auf den Mauern und Fenstern liegt, nicht so spukhaft und gespensterhaft öde und schwül vorgekommen wie jetzt, Fritz,“ sagte der neue Herr von Schloß Werden, jetzt meinen Arm fassend und mich schüttelnd. „Es ist mir wie ein Traum, daß ich den Besitztitel vermittelst der Mathematik und der Arithmetik bei hellem, nüchternem Mittage und klar und kühl nächtlicherweile über dem Reißbrett und dazu vermittelst des Londoner Patentamtes erworben habe. Witwe Warneke, wer hat den Schlüssel von Schloß Werden?“
„Genau kann ich das wohl nicht sagen; aber der Vorsteher wird es ja wissen, Herr E — ach, ich weiß ja auch gar nicht einmal, wie ich Sie jetzt anreden und betitulieren soll, und bitte, es nicht übel zu nehmen. Aber im Gartensaale ist ein Fensterflügel herausgefallen und mit Latten vernagelt. Aber die haben die Jungens und der Wind bald wieder lose gemacht, und —“
„So ist eigentlich eine Tür und ein Schlüssel dazu die letzten Jahre hindurch für das Dorf Werden ziemlich überflüssig gewesen,“ brummte der Ingenieur. „Viel besser als hier herum im Garten sieht es drinnen im Hause wohl nicht aus, old girl?“
Die Alte hob nur stöhnend und ängstlich die Hände:
„Herre, Herr, für mein Teil will ich es vor jedem Gerichte beschwören —“
„Was meinst du, Fritz, sollen wir gleichfalls durch das Saalfenster Besitz von dem nehmen, was noch brauchbar von Schloß Werden ist? Zu dem Dorfe gehöre ich doch auch und taxiere mich um kein Haar breit besser als das übrige saubere Gesindel! O Irene, Irene, meine schöne, stolze, wilde Irene!… Und der Herr Graf hat sich um Mitternacht dort auf der Vortreppe blicken lassen! Mademoiselle Martin hatte es verhältnismäßig noch gut. Sie konnte sich dreist hinsetzen und ihre Tränen fließen lassen, ohne sich lächerlich zu machen. Das ist ja rein zum Verrücktwerden! Sage es dreist heraus, Langreuter, wenn dir zur Stunde mein Eigentumsrecht hier beneidenswert, wünschenswert und solcher bitterschweren Lebensarbeit wert erscheint. Ich überlasse dir mit Vergnügen Kaufbrief, Gefühle, Stimmungen und — wollte — wollte — ja, was wollte ich denn?! Witwe Warneke, sehe Sie mich mal ganz genau an, wenn Sie einen richtigen Spuk sehen will. Ich komme als verhexter Mann aus der Fremde und gehe am hellen Tage um Schloß Werden und durch Dorf Werden als Gespenst um. Frage Sie nur die Leute im Försterhause und die — Frau auf dem Steinhofe und — den Vetter Just.“
„Ach Jeses, Herr Ewald, ich kann Sie ja wirklich nicht so sprechen hören; und die anderen werden es auch nicht können!“ sagte das alte Weibchen mit zitternd gefalteten Händen und sprach damit ein braves, aber wenig tröstliches Wort.
Ohne den Schlüssel vom Vorsteher zu holen, gingen wir jetzt im letzten Scheine der Abendsonne um das Schloß Werden herum. Ewald Sixtus, ich und die Witwe Warneke. Letztere mit ihrer hochbepackten Kiepe auf dem vom Alter gekrümmten Buckel. Wir zwei anderen aber trugen freilich die schwerere Last.
Das schöne, rote Sonnenuntergangslicht spiegelte sich doch noch auf der westlichen Seite des alten, einst so stattlichen Herrensitzes in den erblindeten, zersprungenen Scheiben des Oberstockes. Und wir sahen ebenso scheu zu den Fenstern von Schloß Werden empor wie das Volk aus dem Dorfe, wenn es seine verstohlenen Wege hierher führten, und ehe es in die mit losen Latten verschlagene Öffnung stieg und Furcht hatte — vor dem seligen Herrn Grafen.
Wie hieß doch der sonderbare alte Herr in dem sonderbaren Buche des Stadtrats Bösenberg in Finkenrode — der verrückte Musikant der in eben dem Finkenrode, wo der Doktor Max Stadtrat geworden war, das Ideal, seine verzauberte Prinzessin, suchte? Mir fehlte die Lust und die Zeit, in dem Buche nachzuschlagen, der Name tut auch wohl nichts zur Sache; aber die Sache selber wirft mir jetzt einen melancholischen, in seiner Wahrheit wehmütigen Schimmer über meine Geschichtserzählung: wir täuschen uns nur, wenn wir glauben, andere Pfade zu gehen und zu anderen Zielen zu gelangen als andere Menschenkinder.
Der starke Mann mit dem schönen männlichen Gesicht und den klugen Augen, aber auch mit den Zähnen auf der Unterlippe und der Falte zwischen den Augenbrauen, mein armer Jugendfreund stand in diesem Moment vor seinem schwer errungenen Besitz und wußte seine verzauberte Prinzessin ebensowenig zu finden wie der närrische Geiger die seinige unter den Spießbürgern, wohlmeinenden guten Bekannten und den Zigeunern der wackeren Stadt Finkenrode. Die erblindeten Scheiben des Schlosses Werden konnten ihm nur seine eigenen grimmig-ratlosen Mienen widerspiegeln, und er wendete sich, zuckte die Achseln und sagte:
„Dieses nützt zu nichts, lieber Freund. Da hat Sie einen Taler, Witwe Warneke, alte Freundin, damit doch ein Mensch aus der gegenwärtigen Minute sein Vergnügen zieht. Und nun schere Sie sich nach Hause und breite es mit möglichster Raschheit im Dorfe aus: der tolle dumme Junge, der Monsieur Ewald aus der Försterei sei aus der Fremde heute heimgekommen, sei der Herr von Schloß Werden und habe sich soeben sein Besitztum — von außen besehen. Was uns beide anbetrifft, Fritz, so gehen wir auch wohl weiter, aber etwas langsamer. Was würde ich darum geben, wenn ich jetzt eine bekannte haarige, braune, brave Faust am Kragen fühlte und dazu das alte bekannte Wort vernähme: Auf der Stelle scherst du dich jetzo nach Hause, du Lümmel; dir werde ich sofort wieder mal zeigen, wie der Papst Sixtus der Fünfte an dir gehandelt hätte, wenn du sein Junge gewesen wärest, du heilloser Herumtreiber und Taugenichts, du!“
War auf der einen Seite eine neue Mauer um den früheren Park des Schlosses gezogen, so fanden sich an anderen Stellen niedergetretene und durchbrochene Hecken genug, durch welche man den Ausgang nehmen mochte.
Noch zog sich ziemlich in der alten Weise der Weg gegen das Dorf und die am Eingang desselben gelegene Försterei hin.
Die Witwe hatte sich das Wort Ewalds nicht zum zweiten Mal sagen lassen. Sie bog auf einem Seitenpfade zur Linken ab und war trotz ihres Alters in einem kurzen, keuchenden Trabe uns bald entschwunden, um die Nachricht von einem ihrer hauptsächlichsten Lebenserlebnisse im Dorfe zu verbreiten und ihren Taler als Wahrzeichen im Kreise herumzuweisen. Wir beide standen vor den Hoftorpfosten des Försterhauses, und der Besitzer von Schloß Werden nahm den Hut ab, fuhr mit dem Taschentuche über die Stirn und sagte:
„Es ist doch ein merkwürdig schwüler Sommer.“
Da lag in der Abenddämmerung und der Dämmerung der weitästigen Rüstern das gute Heimathaus. Nur die Bäume wachsen, nicht aber das, was der Mensch erbaut. Letzteres scheint stets niedriger, enger geworden zu sein, wenn man es nach längerer Abwesenheit wieder erblickt. Und man braucht dazu es gar nicht als Kind verlassen zu haben. Auch der Erwachsene geht fort und läßt genau bekannte Stätten hinter sich, und wenn er wiederkehrt, so wundert er sich. Er berührt noch wie früher mit ausgestreckter Hand die Decke über seinem Kopfe; aber die Balken haben sich doch gesenkt, die Wände haben sich doch zusammengezogen. Aber der Wert der Dinge steigt und dehnt sich für den wahren Menschen gerade dann im umgekehrten Verhältnis. Welcher melodische Lärm geht über das klimpernde Getön, welches das alte Klavier in seiner Ecke aus seinem eschenen Gehäuse von sich gibt? Wir dachten auf dem Heimwege über Land und See daran und hatten Lust, uns in alter Weise lustig darüber zu machen, und wir hatten in keinem Konzertsaale der Welt Laute vernommen, die uns so an das Herz griffen wie das schrille Klingen dieser Saiten, über die wir endlich, endlich wieder einmal mit den zitternden Fingern greifen dürfen.
Von Verfall, Moder und Ruin soll hier aber nicht die Rede sein. Wie ein behaglicher Greis im Großvaterstuhl rutscht so ein Haus in sich zusammen und läßt allem jungen Pfosten-, Sparren- und Balkenwerk, allem neumodischen Zement und Asphalt rundum gern sein Wesen. Es kündigt keinem Heimchen unter der Schwelle, hinter dem Kachelofen und am Küchenherde oder setzt ihm die Miete in die Höhe. Die Heimchen wohnen sicher bei ihm und warm und wissen’s auch und singen sein Lob, und — ihr Gesang verändert sich uns nie, wir mögen nach Hause kommen, wann wir wollen, früh oder spät, nach einem Tage oder nach einem halben Jahrhundert. Der wächst nicht wie die Bäume, er rüttelt sich nicht in sich zusammen wie die Dächer und die Mauern: er ist derselbe immerdar — Gott sei Dank!
Wir standen und hörten durch die Abendstille die Heimchen von dem braunen, im Schatten versunkenen Hause her. Sonst war alles still; ein krähender Hahn im Dorfe, ein bellender Hund in der Ferne und ein erster Froschlaut vom nahen Mühlenteiche her störten den Frieden durchaus nicht. Wie immer standen alle Fenster und die Tür der Försterei weit offen, und in der einen Fensterbank zwischen den Blumentöpfen die Hauskatze im Halbschlaf und die Hunde auf der Schwelle der Haustür! Aber ein weißes, würdiges Haupt neben, hinter den Rosenstöcken und dem Kater — ein leichtes blaues Rauchwölkchen zwischen dem Weinlaub durch ins Freie hinausziehend! Ich hatte den Geruch jahrelang vergessen, aber ich erkannte ihn beim ersten Blick wieder! wahrlich nicht bloß mit der Nase! Da hebt der braune Hühnerhund den Kopf und der Teckel schlägt an — eine weibliche Gestalt tritt in die Tür des Werdener Försterhauses — die liebe, gute Eva des Vetters Just Everstein! Eva Sixtus in ihrem achtundzwanzigsten Lebensjahre — herzig, voll und reif; und ich — ich ziehe mechanisch ebenfalls den Hut und grüße; eine Bemerkung über die Temperatur mache ich dabei nicht, aber es wird mir ganz seltsam vor den Augen, und ich wundere mich, wie ich eigentlich auf einmal hierher komme; ach, zu der Frage, was ich eigentlich auf einmal hier will, gehören viel klarere Sinne und bedeutend mehr ruhige Überlegungskraft, als ich augenblicklich beisammen habe! Klar ist mir nichts, als daß ich eine weite, weite Reise getan habe, daß hundert Räder unter mir rasselten, daß unheimlich rastlose Schaufeln in ärgerliche Wellen schlugen, daß die Gegend und die Welt und das Leben vorbeigeflogen waren, daß die Plage und die Unlust an Körper und Seele groß waren und der Gewinn und die Befriedigung gering, und — daß es keine größere und erstaunlichere Offenbarung gibt als die der Stille im Lärm, des Schweigens im Geschrei und der Ruhe in der Unruhe. Stadtrat in Finkenrode braucht man darum gerade nicht zu werden.
„Sie habe ich auf den ersten Blick wiedererkannt,“ ist mir sehr häufig im Leben gesagt worden, und so hatte es eigentlich nichts Überraschendes, daß die Gute, die Liebe auf der Schwelle der Försterei in Werden zuerst mich erkannte und, wie es schien, mit einem leisen Erschrecken zuerst:
„Fritz!“ rief.
Und ich blieb stehen, wo ich stand; aber der Bruder lief vorwärts, und mit einem ebenso leisen Schrei erhob die Schwester die Hände:
„Ewald!… o Ewald, Ewald!“
Sie trat wohl auch einen Schritt vor, als wollte sie sich auf uns zustürzen; aber dann blieb sie doch stehen und ließ uns zu sich herankommen. Wie von einem Schwindel ergriffen, hielt sie sich an den treuen, schützenden Pfosten der Tür ihres Vaterhauses, und einen Augenblick hindurch hielt sie auch die Augen fest geschlossen; dann aber sah sie wieder auf, und wie im hellen, schluchzenden, wortlosen Jubel hing sie an der Schulter des so landfremd durch eigene Schuld und Grille gewordenen Bruders, und zitternd legte der Mann, der so selbstbewußt, stolz und sozusagen mutwillig hatte wiederkommen wollen, seinen Arm um sie:
„O, das ist gut! Mädchen, Mädchen, altes liebes Mädchen, du willst es mich nicht entgelten lassen? Wirklich nicht? Ich habe es ja gewußt, aber sagen mußt du es mir dennoch und — dem da auch! Wir haben uns so sehr gefürchtet, und ich für mein Teil, ich will noch vierzig Jahre älter werden, von dieser Stunde an gerechnet, bloß um vierzig Jahre lang von dir zu hören, was für ein Esel von Kindesbeinen an in mir gesteckt hat, und daß meine einzige Entschuldigung ist, daß — ich es nur zu gern getan habe und also nichts dafür kann!“
„Der Vater …!“ stammelte sie. „Ist es denn wahr, Bruder?… Es war wohl ein Gerücht seit einiger Zeit, doch — — O, der Vater, der Vater; er sitzt da am Fenster — er ist so alt geworden und immer noch so sehr gut; — o Ewald, lieber Ewald, aber er hat es mir nicht glauben wollen, daß du wieder zu uns kommen würdest, und es hat ihm keiner mehr von dem Gerücht reden dürfen.“
„Eva,“ klang es jetzt von dem Fenster her, „wen hast du denn da, Kind?“
Der alte Mann schob neugierig den Kopf hervor; aber die einst so scharfen Weidmannsaugen reichten nicht mehr soweit in die Abenddämmerung hinein, um die Fremden zu erkennen, die mit seiner Tochter sprachen. Der Irländer hielt meinen Arm so fest, daß es mich schmerzte. Eva Sixtus trat näher an das Fenster heran; sie trocknete ihre Augen und versuchte ruhig und fröhlich zu sprechen, es gelang ihr jedoch schlecht.
„O Vater,“ schluchzte sie, „wir haben Besuch bekommen —“
„Das freut mich, Kind; — wenn er mit einem alten Mann vorlieb nehmen will. Aber wie sprichst du denn? was hast du mit dem Tuch?“
„Vater, Besuch aus — vom — Schloß Werden — aus Berlin — aus — England. Lieber Vater, ich freue mich so, und du wirst dich auch freuen. Denke dir, Fritz — der Herr Doktor Langreuter aus Berlin — Herr — Fritz Langreuter —“
„Alle Wetter!“ rief der Alte, und der Kater neben ihm tat vor Schrecken einen Satz durch das Fenster und fuhr uns dicht an den Köpfen vorbei über den Hof, um sich, eine Stalleiter aufwärts, mit möglichster Eile in Sicherheit zu bringen. Mr. Ewald und ich hatten zu bleiben und das Weitere abzuwarten.
„Was ist das?“ fragte glücklicherweise noch eine Stimme aus der Tiefe der Stube. Wir hörten den Alten sich aufrappeln, und — da stand er auf der Schwelle seiner Amtswohnung, weißhaarig, die einst so scharfen Augen suchend auf uns richtend, auf seinen Stock gestützt, und — über die Schulter sah ihm zu unserem, das heißt zu Ewald Sixtus’ Glück der Vetter Just Everstein, der, wie sich auswies, sehr häufig vom Steinhofe zu seiner Unterhaltung herüberritt, und dessen Gaul auch an diesem merkwürdigen Abend wieder einmal im Stall einträchtiglich neben den zwei Kühen des Försterhauses stand.
Er war wieder der einzige, der Vetter Just nämlich, der ganz richtig und zur rechten Zeit an Ort und Stelle war. Er allein war schuld daran, daß eine Viertelstunde später — eine schlimme Viertelstunde! — der alte Mann mit dem guten Gesicht und der immer noch bitterbösen Falte zwischen den zusammengezogenen weißen, buschigen Brauen die Faust auf einen abgegriffenen Schweinslederband auf dem alten braunen, so teuern Klapptische zwischen den beiden Fenstern fallen ließ und murrte:
„Dieser hier hätte dich kurzab hängen lassen, Ewald, wenn du sein Junge gewesen wärest. Und wäre ich jünger und noch besser bei Kräften und Gedanken, so kämest du mir heute abend nicht so leicht weg, mein Sohn, das sage ich dir. Da wollte ich das Leben dieses Papstes doch nicht so lange studiert haben, um nicht zu wissen, was ich zu tun hätte!“
„O, lieber Vater,“ rief aber Ewald Sixtus, „ist denn nicht das verdammte Buch an der ganzen Geschichte schuld? Kann ich denn dafür, daß du mich alle Augenblicke mit der Nase darauf geduckt hast? Da frage nur den Just und den Doktor da, was sonst leichter im Menschen hängen bleibt als solche gute Lehren und Beispiele! Um auch meinen Willen durchzusetzen, habe ich gleichfalls jahrelang das Maul gehalten. Viel Reden hilft nicht und viel Schreiben macht dumm — frage dreist nur den Doktor hier danach, der kennt aus seiner Praxis genug Leute, die sich in beiderlei nie genug tun konnten und auch nach Hause kamen wie ich und doch noch weniger das Rechte getroffen hatten. Und ich bin doch auch nur darum wieder da, um mich von jetzt an von euch allen — ja allen! lenken zu lassen wie an einem seidenen Faden, und das ist noch mehr, als du von deinem Papst und unserem allerheiligsten Herrn Namensvetter, Sixtus dem Fünften, behaupten kannst, lieber Papa!“
Der Greis schüttelte den Kopf.
„Ich bin eben zu alt, um mich noch in allen euren Finessen zurechtfinden zu können, habe es auch nie recht gekonnt. Wenn dich dein Gewissen freispricht, so will ich es dir gönnen, mein Sohn, helfen täte es mir ja doch nichts, wenn ich mich auch noch mal abmühte, über die Verschiedenheit der Menschen auf Erden nachzusimulieren und mich über ihr Wesen gegeneinander zu ärgern. Also — lassen wir es gut sein; du bist wieder da und sagst, du habest es zu was gebracht, und das kann mir ja nur lieb sein. Was du unterwegs verloren hast, kann ich nicht taxieren; aber ein reicher Mann bist du geworden, sagen sie im Dorfe und sagt der Vetter Just; und Schloß Werden ist nun auch dein Eigentum; meine Sache ist das nicht, also sieh selber zu, was du mit deinen Ausrichtungen zu deinem Glücke weiter anfängst. Unter diesem, meinem Dache will ich dich als einen Gast ansehen, wenn es deine Zeit und Umstände zulassen und du deiner Schwester und mir die Ehre schenken willst. Auch der Fritz — der Herr Doktor Langreuter, ist mir willkommen, und das Kind soll auch ihm seinen Stuhl am Tische wieder zurücken. Wie ist es, Just Everstein; kann ich und soll ich noch mehr sagen und tun?“
Der Vetter Just faßte nur die Hand des Greises; Eva trocknete sich die Augen mit dem Schürzenzipfel; wir zwei anderen standen mit den Hüten in den Händen, in Wahrheit kläglich genug da — wirklich zwei dumme Buben, die zu spät zum Essen nach Hause gekommen waren, und zwar vom Fischfang in den Bächen dieser Welt, mit der Angelrute über der Schulter und ein paar Gründlingen in einem zerborstenen Henkeltopfe.
Dies Gefühl verstärkte sich noch um ein Bedeutendes, als wir nunmehr endlich einmal wieder in der niedrigen Stube standen, deren Decke der Förster Sixtus, so gebeugt ihn das Alter haben mochte, immer noch mit ausgestreckter Hand abreichte. Aber Eva hielt den Bruder von neuem fest in den Armen und schluchzte an seiner Brust; und dann reichte sie dem Vetter Just die Hand und sagte leise:
„O, wir danken dir!“
Und dann gab sie auch mir die Hand und versuchte es, durch ihre Tränen zu lächeln, und sie sagte:
„Und Ihnen danke ich auch recht schön und aus vollem Herzen. Es ist so sehr freundlich von Ihnen, daß Sie mit meinem Bruder heim- und hergekommen sind. Nicht wahr, es hat sich wenig bei uns verändert? Wenn Sie es nur noch so behaglich wie in früheren guten Jahren finden!“
Ich griff mit der Hand nach der Kehle, weil eine andere — eine sehr heiße Geisterhand sie mir bedenklich zusammendrückte.
„Ach, Eva — Fräulein Eva —“
Glücklicherweise sprach der alte Herr, der seinen Platz in dem Lehnstuhl am Fenster wiederum eingenommen hatte, dazwischen.
„Weshalb nennst du denn den alten Jungen auf einmal Sie, Mädchen?“ fragte er. „Komm doch mal heran, Fritz! Wenn du auch zu uns gehörtest, so bist du doch nicht mein Fleisch und Blut gewesen, und so konntest du für dein Teil tun und lassen, was du wolltest, ohne dich viel um uns zu kümmern. Hättest dich aber doch wohl einmal wieder bei uns sehen lassen können, und wenn es auch nur schriftlich gewesen wäre! Schon unserer Freundschaft mit deiner seligen Mutter wegen!… So eine wie die ist mir nachher auch nicht wieder begegnet, und wenn ich manchmal hier in meinem Winkel vermeine, es sei nur, weil meine Augen stumpfer geworden seien und meine Sinne und Gedanken dazu, so kommt es mir bei besserer Überlegung als das Wahre, daß die wahren Menschen und Weibsleute doch immer das Seltenste in der Welt sind und bleiben. Was zur hohen Jagd gehört, das läuft nicht wie die Hasen im Felde. Übrigens hat mir der Vetter Just da nur Gutes von dir erzählt, Fritzchen Langreuter, und das hat mich wirklich recht gefreut, und wir sprechen wohl noch weiter darüber. Als du hier auf dem Boden mir zwischen den Beinen herumkrochest, deinem Ball und sonstigem Spielwerk nach, da hätte dir keiner an der Nase angesehen, daß wahrhaftig ein Doktor und noch dazu nicht ein bloßer medizinischer, die ich mir doch gottlob niemalen habe an den Leib kommen lassen, in dir steckte. Und nun sage mal, Fritz, ich hoffe doch, du nimmst hier mit uns vorlieb und Quartier; auf eines da bei dem vornehmen Herrn von Schloß Werden würde ich in dieser Nacht lieber doch nicht allzu feste rechnen. He, oder Er will wohl gar auch noch einmal sich in dem alten Bau verklüften, Musjeh Ewald Sixtus? Von Rechts wegen gehört er freilich nicht mehr hinein; aber da fährt das dumme Mädchen schon wieder mit dem Schürzenzipfel nach den Augen, und so will ich denn lieber weiter nichts gesagt haben als: na, Evchen, denn schütte den beiden dummen Jungen eine Streu auf, und vor allen Dingen sorge für’n anständig Abendbrot. Der Vetter Just kann bei Mondschein reiten, den Narren von Engländer da mag ich immer noch nicht recht ansehen, aber der gelehrte Doktor kommt mir selbst bei dieser zunehmenden Dämmerung sozusagen recht abgehungert vor, woran denn wohl hoffentlich nur alle seine Gelehrsamkeit und seine lange Abwesenheit in Berlin schuld ist.“
In diesem Augenblick schüttelte sich der „Narr von Engländer“, das richtige Werdener Kind, der irländische Brückenbauer und Tunnelwühler Ewald Sixtus wie ein — unbotmäßig gewesener Pudel, der seine Prügel weg hat und sich wieder in alter Behaglichkeit und im früheren gemütlich-drolligen Verhältnis zu seiner Umgebung fühlt. Aber es kam noch besser. Wie es zuging, konnte nachher wohl keiner uns genau angeben; aber das Faktum stand fest: mit einem Male hielt der Sohn den Vater im Arme wie eine Braut — ja besser, herzerfreulicher, zärtlicher und weicher und fester als wie solch ein weichliches, hübsches, zärtliches Ding von Mädchen!
Und was das allerbeste war, der alte Waldmensch ließ es sich gefallen und wurde nicht grob oder zierte sich.
„Ewald! mein Junge!“ stotterte er leise, „o du Allerweltsschlingel, bist du es denn wirklich und wahrhaftig?… Na, na, schon gut, schon gut! Willst du mich nun auch noch zu einem alten Weibe machen?… zu allem übrigen?!… So sprich doch du ein Wort dazu, Just Everstein. So sagt ihm doch, ihr anderen alle, daß es mir recht sein soll, wenn er gehandelt hat, wie er es verstand!… Mein Junge, mein lieber Junge — so bring doch Licht herein, Eva, Mädchen, auf daß man — wir — ich ihn endlich mal wieder voll zu Gesichte kriege!… Von dem alten Kasten, dem Schloß Werden, und von der lieben Gräfin müssen wir ja auch noch bei Lichte reden!… Also ein Sixtus bist du gewesen und geblieben, weil du nichts dafür gekonnt hast?… Mein Junge, mein nichtsnutziger Galgenstrick bist du immer geblieben?… Und Schloß Werden hast du wirklich, und es ist kein dummes Zeug, sondern die reine volle Wahrheit? Was würde der Herr Graf sagen, wenn er in diesem Augenblick dort wieder auf seinem Platze sitzen würde? Und die Gräfin — Fräulein — Frau Irene? Ewald, sie sitzt ja auf dem Steinhofe bei dem Vetter Just Everstein, was wird sie dazu sagen, daß der Spielkamerad aus der Werdener Försterei die vier leeren Mauern ihres Vaterhauses der letzten Ruinierung abgewonnen hat?“
Der Freund hatte, wie der späteste Leser merken wird, immerfort in die Worte des Greises hineingesprochen; doch Papierverschwendung würde es gewesen sein, wenn ich auch seine bruchstückhaften Eräußerungen hier hätte wiedergeben wollen.
Nun brachte Eva die Lampe, und der Klapptisch wurde nach ewiger Gewohnheit vom Fenster in die Mitte der Stube geschoben, und ein jeder von uns beiden, d. h. Meister Ewald Sixtus und ich, Friedrich Langreuter, saß wieder einmal vor seinem Namen, den er vor zwanzig Jahren in die Platte eingeschnitten hatte. Wir waren allesamt beträchtlich in die Jahre hineingeraten, seit wir zuletzt an diesem Tische so zusammengesessen; aber ein schöneres, frischeres Bild als diesen weißhaarigen Vater Sixtus zwischen seinen beiden Kindern gab es nicht. Neun Uhr schlug die Wanduhr, und bei ihrem Schlag sahen sowohl der irländische Ingenieur wie auch der Berliner Doktor der Weltweisheit auf und atemlos sich um. Wir hatten wahrlich nicht nötig, einander anzustoßen und zum Stillsein aufzufordern, bis die neun schrillen Schläge verhallt waren und das Ding sein Ticktack weiter in die Zeit hinein fortsetzte.
„Es ist reinewegs wunderbar!“ seufzte Ewald.
„In diesem Frühjahr hat sie einmal gerade so wie ich auf ihre Pensionierung angetragen,“ sagte der Vater Sixtus. „Es ist der Tausendkünstler da, der Vetter Just, der sich ihrer Altersschwäche erbarmt und sie in die Kur genommen hat. Nicht wahr, Just, es hat dich mehr als einen sauren Schweiß- und Angsttropfen gekostet, sie noch einmal auf die Beine zu bringen? Ach, tagelang ist er jeden Tag herübergeritten und hat den Uhrendoktor gespielt, und daß er wiederum ein Meisterstück gemacht hat, das habt ihr beiden anderen soeben mit eigenen Ohren vernommen.“
„Ich habe nichts lieber getan,“ meinte der Vetter leise und mit einem scheuen, zärtlichen Seitenblick auf Eva. „Es war ja meine eigene bittere Erfahrung, als ich von der Vagabondage nach Hause, nach dem Steinhofe heimkam und sie mir alles vertragen und verschleppt hatten. Und wenn alles übrige doch nur was Totes ist, dem wir selber unsere Stimme geben müssen, wenn es sprechen soll, so ist es mit so einer Uhr ganz und gar ein anderes, was in alles, was dir passiert von der Wiege an, mit hereinredet. Ich will mit keinem Menschen etwas zu tun haben, der die Stubenuhr aus seines Vaters Hause aus Not verkauft, wenn er vorher noch etwas anderes zu verschleudern hatte. Und wäre ich nicht der Bauer vom Steinhofe, so möchte ich nur ein Uhrmacher sein; aber ein wandernder, der von Dorf zu Dorfe seiner Kunst nachgeht. Mein seliger Vater war ein verschwiegener Mann — Sie wissen das, Herr Oberförster — aber wenn er den Uhrmacher auf dem Hofe hatte, kam er immer ins Erzählen, und es war immer ein Wunder, wieviel die Familie erlebt hatte, ohne daß weder meine Mutter noch sonst irgendein Mensch auf dem Steinhofe eine Ahnung davon gehabt hatte.“
Der alte Förster kratzte sich lächelnd hinter dem Ohre:
„Und was haben wir getan, Just, während der Tage, wo du neulich den wandernden Uhrmacher hier bei uns gespielt hast? Hier, Evchen, Mädchen, wie haben wir beide hier auf der Försterei uns bei ebenso bewandten Umständen, will sagen, als wir den Uhrmacher im Hause hatten, verhalten?“
Es schien mir, als ob der Vetter Just jetzt verstohlen zu mir herüberschaue; über Evas liebes Gesicht flog es wie ein Erröten, doch verlegen wurde sie nicht. Sie reichte dem Vetter vom Steinhofe unbefangen die Hand über den Tisch und sagte:
„Ei, wir haben wohl auch von allerlei Familiengeschichten geschwatzt. Gehörte Just nicht so ganz und gar dazu, so möchte es ihm wohl manchmal recht langweilig geworden sein. Nun aber lasse ich euch Männer und Herren für eine halbe Stunde allein — da kommt der Bruder aus der weiten Welt nach Hause und sein — der Freund Fritz aus der Stadt Berlin, und wir schwatzen, als ob wir erst gestern abend uns hier gute Nacht gesagt hätten. Jetzt sorge ich fürs Abendbrot; aber ich lasse die Tür offen und horche auf alles — ich meine, ein Jahr wird nicht ausreichen, um uns gegenseitig mit unserem Leben wieder aufs Laufende zu bringen, einerlei ob wir den Uhrmacher im Hause haben oder nicht.“
„Fürs erste gehe ich einmal mit in die Küche!“ rief der Besitzer von Schloß Werden aufspringend. „Endlich will ich doch mal wieder da die Funken im Schlot aufwirbeln sehen.“
Nach fünf weiteren Minuten schlich auch ich mich den beiden nach; aber ich blickte nur durch die Türspalte. Sie standen Arm in Arm an dem alten väterlichen Herde, und die Schwester hatte dem Bruder wieder den Kopf auf die Schulter gelehnt, und sie sahen stumm in die hüpfenden Funken des Heimatherdes. Als ich in die Stube zurückkam, sagte der Vater Sixtus:
„Recht hat das Kind, Fritze. Wir werden wohl eine ziemliche Zeit brauchen, um mit allen unseren Erlebnissen ins klare zu kommen. Da frage nur den Vetter Just, der ist jetzt doch schon über ein Jahr aus seinem Amerika zurück; aber wir sind immer noch nicht mit ihm fertig. Manchmal ist es mein Wunder, wie viel das Mädchen aufs Tapet zu bringen hat, sobald er die Nase in die Tür steckt. Die Zwei kann man schon einen ganzen Sommertag beieinander sitzen lassen, ohne daß ihnen der Unterhaltungsfaden abbricht. Na, ihr seid recht gute Freunde geworden, nicht wahr, Just Everstein?“
Ich aber, der ich hier sitze und schreibe, dachte wunders, wieviel ich von jenem inhaltreichen Abend zu Papier zu bringen haben würde, und wundere mich doch nun gar nicht, daß ein so kurzes Kapitel daraus geworden ist.
„Wie süß das Mondlicht auf den Hügeln schläft!“
Gegen elf Uhr abends ging er auf, der Mond, und in der längst aufgegangenen Sommersonne am Morgen unter. Um elf Uhr hatte uns der Alte gute Nacht gewünscht und sich von seinem heimgekehrten Sohne in seine Kammer führen lassen. Erst nach einer geraumen Weile hörten wir Ewalds Schritt wieder auf der Treppe. Sehr schweigsam und nachdenklich nahm der Herr von Schloß Werden wieder an unserem Tische Platz und sprach wenig mehr. Auch Eva wurde schweigsamer, rückte aber näher zu dem Bruder und hielt von neuem fortwährend seine Hand zwischen der ihrigen. Es war, als ob für diesen Abend nunmehr jedes Wort zwischen uns vier ausgesprochen worden sei. Nur die Uhr im Winkel redete weiter; als sie aber Mitternacht schlug und der weiße Schein des Mondes plötzlich voll in die Fenster fiel, da erschraken wir alle, und der Vetter Just stand auf und sagte:
„Nun wird’s doch wohl Zeit, daß ich reite! Was werden sie auf dem Hofe sagen, wenn ich ihnen fast das Morgenrot heimbringe?“
„Sie liegen wohl alle in einem guten Schlafe und kümmern sich wenig darum, wieweit es an der Zeit ist,“ meinte Eva.
„Frau Irene nicht,“ sagte der Vetter; Ewald Sixtus aber sah rasch aus seinem trüben Sinnen empor, tat jedoch keine Frage.
„Ich habe alles versucht, sie darin zur Vernunft zu bringen,“ fuhr der Bauer vom Steinhofe fort, „aber was hat es mir geholfen? Nichts!… Und wenn ich es um sie verdient hätte, so wäre dies zu gut, zu lieb, zu sorglich und zu dankbar. Was habe ich ihr denn viel helfen können in ihrer schlimmen Lebensnot und Angst? Du, Fritz, bist ja auch dabei gewesen und kannst bezeugen, daß ich nichts als den guten Willen gehabt habe. Und das Kind haben wir ja doch auch begraben müssen, und hätte ich auch mein Herzblut hergegeben, — sage selbst, Fritze, daß keine Hülfe dafür war! Jetzt aber sitzt sie gottlob auf dem Steinhofe in Ruhe und Sicherheit, soweit beides hienieden möglich ist; aber nun ist es fast, als sei ich ein krankes Kind und müsse gepflegt werden und süß behandelt werden wie ein solches. Die alte Jule war darin schon arg genug, nachdem wir von neuem auf dem Hofe beisammen waren; aber Frau Irene gibt ihr nicht das geringste nach. Geraten sich die beiden Guten einmal in die Haare, so könnt ihr sicher sein, daß es über mich geschieht. Sie sehen aus nach mir, sie erwarten mich bei dem schlechtesten Wetter draußen vor der Tür. Sie rücken mir den Stuhl zurecht, und ihr einziger Jammer ist, daß ich keinen Schlafrock trage und sie mir also mit dem nicht entgegenkommen können. Die Alte ist wohl zu alt, um bis nach Mitternacht auf mich warten zu können; aber die beiden anderen lieben Augen wachen, und in Irenes Stube brennt in dieser Nacht die Lampe bis in den Morgen hinein. Ich habe es natürlich versucht, böse darüber zu werden, aber geholfen hat es gar nichts! O, und es geht doch auch nichts über solch ein liebes Licht aus dem Fenster des alten Heimatnestes. Wie wird sich die Frau Irene wundern und von ihrem Buche aufsehen, wenn ich diesmal heimkomme und ihr zur Entschuldigung die Nachricht mitbringe, wer heute hier in der Försterei das alte Nest wiedererreicht hat. Jetzt aber im Galopp und im Mondschein gen Bodenwerder! Nur selten hat mir der Mond so ganz zur rechten Zeit am Himmel gestanden wie in dieser Nacht.“
Ewald Sixtus stützte den Kopf mit der Hand und beschattete die Augen mit der Hand.
„Durch das Dorf führst du doch noch deinen Gaul am Zaum, Just,“ sagte ich. „Durch das Dorf Werden begleite ich dich bis auf die Straße nach Bodenwerder. Es ist freilich eine helle Nacht, und ein segensreicher Zauber liegt hoffentlich über uns allen. Ich begleite dich noch ein Stück Weges, Vetter Just. Es ist lange her, seit ich zum letzten Mal die Heimat im Mondenschein liegen sah.“
Im Mondenschein sattelte der Vetter auf dem Hofe der Försterei seinen Fuchs. An den hohen Ulmen des Hofes, denen es so viel besser geworden war als den stolzen Bäumen um Schloß Werden, regt sich kein Blatt. Schatten und Licht lagen still auf dem Boden. An dem Hoftor gaben Ewald und Eva noch einmal dem Bauer vom Steinhofe die Hand, — die des lieben Mädchens hielt er eine geraume Weile fest und sagte dann nur zögernd:
„Nun, so komm, Fritz Langreuter. Nach einer Reise wie die deinige solltest du freilich schon längst im Bett liegen —“
„Und recht angenehm von euch hier und euren Zuständen träumen! O, du Egoist, und du willst wachend hoch zu Roß währenddem durch die Mondnacht jagen und mit kitzelndem Behagen deinen Spaß über den Berliner Doktor haben?“
„Ganz gewiß nicht, Fritze“ meinte der Vetter ehrlichst. „Solange du willst, führe ich den Gaul am Zügel hier an deiner Seite. Vielleicht wäre es sogar recht gut, du gingest den ganzen Weg mit mir und erzähltest an meiner statt der Frau Irene, wen du heute nach Schloß Werden begleitet hast. Ach, Fritz, du weißt zu sprechen und deine Worte zu stellen, ich aber nicht! Mir muß alles abgefragt werden, und mir ist dann stets, als wäre alles, was dann herauskommt, als sei es durch Zufall gekommen. Sieh, alter Kerl, das Gegenteil hiervon ist’s eben, was ihr Gelehrten alle Zeit vor uns voraus habt, die wir zum Nachdenken kommen so wie ich, heute bei Regen, morgen bei Sonnenschein, heute hinter dem Pfluge und morgen auf dem Stoppelfelde bei den letzten Erntegarben. Es ist gar keine Logik darin, und dann am wenigsten, wenn man sie am nötigsten braucht. Und daß man fast zehn Jahre lang in den Vereinigten Staaten den Schulmeister gespielt hat, hilft gar nichts dazu. Und Fritz, Fritz, lieber Fritz, da wir jetzt wieder zwischen uns beiden allein sind — ich habe das Schwabenalter längst hinter mir und — und Eva Sixtus will meine Frau werden! Du hast es wohl schon lange gemerkt, aber — gottlob — jetzt habe auch ich es dir gesagt!“ …
„Und ich wünsche dir von ganzem Herzen Glück dazu,“ sagte ich, des Mannes brave, starke Hand nehmend und drückend. Er aber sah mich im Mondlicht noch einmal einen kürzesten Augenblick so an, als ob er ganz und gar das Gegenteil von diesem meinem Wunsche zu hören erwartet habe, und dann tat er einen Seufzer wie aus befreiter Brust und rief:
„Und das ist mir das Liebste, was mir nach ihrem Jawort begegnen konnte, daß auch du mir Glück wünschest. Ich bin nun leider schon so ein zerzauster alter Kerl, und sie ist immer noch jung, und du bist auch noch jung, Fritzchen — wenigstens — wenigstens recht viel jünger als ich; und wenn ich in meiner jetzigen Ruhe und meinem Glück und Behagen an die alten Tage denke, wo ihr junges Volk zum Besuch nach dem Steinhofe kamt, so — — ach, Fritz, Fritz Langreuter, du mußt es doch wohl dir selber sagen, was ich in diesem Moment dir sagen möchte! Aber die Frau Irene weiß es auch und hat Eva geküßt und — mich auch, wirklich und wahrhaftig! Wenn du sie gleichfalls fragen willst: sie billigt auch unser Vorhaben, unsere alten Tage in Friede und Glück und in der alten Freundschaft mit der ganzen alten Heimat zu verleben. Sie hat nicht gemeint, daß es zu spät sei; — sie, die soviel mehr als wir alle übrigen zusammen in der boshaften, stürmischen Welt erlebt hat, und es also auch wohl am besten verstehen muß.“
„Sie hat vollständig recht, Just! Aber von uns allen bist auch du nur der einzige, der nie etwas zur unrichtigen Zeit erleben kann, dem alles recht und richtig gekommen ist im Leben, Segen wie Ungemach. Ja, so gnädig waren dir, und dir von uns allen allein, die Götter, als sie dir deine Wiege auf den Steinhof stellten und dich nachher an den Weg setzten —“
„Mit offenem Munde und um Maulaffen feil zu halten! Ei ja, es wundert mich freilich heute noch, wieviel Abenteuer der Mensch erleben kann, ohne daß er etwas dazu tut. Manchmal ist das gar mein Kummer und Gewissensbiß sozusagen; dann fühle ich es, wie als ob ich eine Stelle in mir hätte, wo ich im größten Tumult wie ein Stück Holz werde, während die anderen sich weiter abängsten.“
Das stille Licht des Mondes lag über uns und um uns, und der Vetter Just sprach, ohne es zu wissen, von dem Unterschied zwischen den vornehmen Naturen innerhalb der Menschheit und den gewöhnlichen. Er drückte sich eben nur schlecht aus, wenn er da von einem ton- und klanglosen Stück Holz sprach, wo er von der Stelle in seiner Seele hätte erzählen sollen, wohin keine Welle des vorbeifließenden Tages schlagen konnte.
„Ihr werdet ein schönes Leben haben, und mich laßt ihr — alle dann und wann an eurem Herde als euren Historiographen niedersitzen,“ sagte ich leise und tief gerührt. „Für Kinder, wie wir waren, als wir zu dir auf den Steinhof zu Besuche kamen, werdet ihr freilich nicht erzählen und werde ich nicht wieder erzählen.“
In und an dem Dorfe Werden hatte sich in den Jahren, während ich es nicht sah, nichts verändert. Es dehnte sich genügend weit in die Länge aus, daß wir vollkommen Zeit hatten, während wir es durchwanderten, uns alles das mitzuteilen, was ich eben hier niedergeschrieben habe. Von den Bewohnern störte uns auch niemand dabei; sie lagen sämtlich im tiefen Schlafe. Es saß keiner bei der Lampe wach, — selbst der Pastor und der Kantor nicht. Der Mondenschein hatte das Reich für sich allein, und das war gut; für mich sowohl wie auch für den Vetter Just Everstein. Wären wir bei hellem Tage und unter dem Zudrängen alter Bekanntschaft durch das alte Nest im Grünen gewandelt, so würden wir sicherlich mehr Mühe und Plage gehabt haben, mit unseren Gefühlen und Stimmungen ins Reine gegeneinander zu kommen. Sonderbarerweise aber dachte ich in dieser hellen, schönen Nacht, auf dieser Wanderung durch das friedliche vergessene Heimatdorf, nicht ohne ein Gefühl stiller Sicherheit an die große Stadt Berlin, meine kleine Stube und meine Tätigkeit, kurz an das Dasein, das mir dort zuteil geworden war. Es lag ein Gefühl von Wehmut darin, aber doch zugleich eine innerlichste Beruhigung: sie, die anderen alle konnten und durften heimkehren in das alte Leben, wann sie wollten, sie waren da zu Hause; ich aber nicht oder doch nie mehr so, wie sie noch zu jeder Zeit sein konnten. Resignation nennt man das mit einem Fremdwort, das wir wohl nicht so leicht aus dem deutschen Sprachgebrauch loswerden. Die deutsche Welt darf manchmal noch so süß in Mondenlicht und in weiche Redensarten gebettet liegen: wir wollen das scharfe, aber gesunde Wort festhalten und es uns durch kein anderes zu ersetzen suchen.
Am Ausgange des Dorfes nahmen der Vetter und ich für diesmal von neuem Abschied voneinander und trennten uns gottlob im besten Einvernehmen. Er schwang sich ein wenig schwerfällig auf seinen Fuchs und ritt gen Bodenwerder; ich wandelte langsamen Schrittes und unter einigem Selbstgespräch nach der Försterei zurück.
Hier saßen Ewald und Eva wieder bei der Lampe am Tische und hatten wohl das Ihrige gesprochen während meiner Abwesenheit. Das gute Mädchen mochte auch wohl wieder einige Tränen vergossen haben, doch schmerzhafte waren es nicht gewesen. Ein wenig befangen lächelnd sah sie aus ihren lieben Augen zu mir auf; doch ich reichte ihr schnell die Hand und sagte:
„Ich habe dem Vetter Just schon Glück gewünscht, Eva, nun laß du es auch dir von mir wünschen. Du weißt es auch schon, Freund Ewald, was für eine neue Freude dem Steinhofe von unserem Geschick zugedacht ist?“
„Ja, sie hat es mir so ruhig gesagt, wie sie uns immer alles ruhig sagte. Darin hat sich an ihr nicht das mindeste geändert. Aber sie passen nur desto besser zueinander, und die Jahre, die sie gebraucht haben, sich zu finden, sind ihnen ja ebenfalls nur etwas ganz Selbstverständliches gewesen. Nicht wahr, mein Herz, mein Herzensmädchen, um ein Glück, das aus den Wolken fiele, würdet ihr eine geraume Zeit herumgehen, ehe ihr es vom Boden aufhöbet. Doch ob ihr nicht darum gerade die Glücklichen seid, gewesen seid und sein werdet, das ist an dem heutigen Abend für mich eine Frage, die einen sein wüstes, wirres Lebenswerk noch einmal wie im Fluge von neuem tun läßt. Och arrah, arrah, komme ich noch einmal auf die Welt, so tue ich vielleicht auch meine Arbeit, ohne auf das Glück zu zählen, das aus den Wolken fällt! Selbst auf die Gefahr hin, daß man in Bodenwerder und Dorf Werden samt Umgegend selbstverständlich sagen wird: Auf das Glück, das aus den Wolken fällt, hat der Schlingel immer einzig und allein gerechnet, — ja, da sieht man’s nun!“
„Mir ist das Herz so voll, daß ich gar nichts zu sagen weiß,“ flüsterte Eva. „Lieber Friedrich, — lieber Bruder Ewald, wir müssen alle, alle glücklich und zufrieden sein. Das Schicksal kann es ja nicht böse mit uns meinen, es hätte uns sonst wohl nicht diesen Abend geschenkt. Wir sind wieder alle zu Hause, und das ist doch die Hauptsache! Morgen wollen wir von dem Schloß Werden und von Irene sprechen — wir haben ja eigentlich noch von nichts vernünftig geredet. Nimm es nur nicht übel, Fritz: im Grunde bist du doch der einzige von uns gewesen, der alle seine fünf Sinne ordentlich beieinander halten konnte!“
„Und da kräht wirklich und wahrhaftig der erste Werdener Hahn den Morgen an,“ sagte ich, um doch etwas zu erwidern. „Glück auf in der Heimat, Freund Ewald!“
Ich hatte ihn durch einen Schlag auf die Schulter von neuem aus seinem nachdenklichen Hinbrüten zu wecken.
„Was hast du gesagt?“ fragte er zerstreut.
„Wir wollen doch noch den Versuch machen, vor Sonnenaufgang unter dem alten Heimatsdache einen glücklichen Traum zu träumen.“
„Ich habe alles oben in Ordnung für euch gebracht; aber geht leise auf der Treppe, daß ihr den Vater nicht stört,“ bat Eva Sixtus.
Als ich am anderen Morgen erwachte, fand es sich, daß ich länger in den Tag hinein geschlafen hatte als irgendein anderer im Hause; und sie hatten mich ruhig schlafen lassen, und zwar mit vollem Recht, denn auf meine tätige Teilnahme an dem, was jetzt die Zeit in der alten Heimat brachte, kam leider am wenigsten an. Ich durfte ausschlafen und brachte dadurch höchstens die Hausordnung ein wenig in Unordnung; aber dafür war ich ja jetzt der Historiograph von Schloß und Dorf Werden sowie vom Steinhofe und hatte, wie der Vater Sixtus sich ausdrückte, „von allen immer am meisten Tinte an den Fingern gehabt“.
Und seltsam und — wie schon gesagt! es ging darob eine gewisse Umwandlung meiner Stimmungen ins Heitere und Zufriedene in mir vor. Ich merkte es, daß meine einsamen Lehrjahre doch ihre Frucht getragen hatten: es verstand keiner von ihnen es so gut wie ich, sich seine Stimmungen „zurecht zu machen“. Zurecht machen! ich finde kein besseres Wort dafür, und sämtliche philosophische Systeme sind gleichfalls darauf erbaut.
So sah ich, hörte und schreibe ich jetzt nieder, und allesamt meinten sie ganz verwundert:
„Nein, dieser Fritz! Nein, dieser Langreuter! Nein, dieser Herr Doktor! Dieser Herr Doktor Langreuter! Wacht er jetzt erst so auf, oder ist er immer so gewesen? Im Grunde ist das ja der Gemütlichste, Heiterste und Gleichmütigste von uns allen! Wie sich doch der Mensch verändern kann!“
Lassen wir auch dieses und vorzüglich das letztere mit Gelassenheit auf sich beruhen. Es hat noch kein Mensch wirklich ausfindig gemacht, wie weit und wie sehr sein Nachbar im Raum und in der Zeit sich verändert habe, während man selbst glaubte, ganz derselbe geblieben zu sein.
„Wo steckt Ewald?“ fragte ich, als ich endlich zum Kaffee herniederstieg und nur die Sonne, die Hunde, den Förster und seine Tochter in der Wohnstube fand.
„Er ist zum Vorsteher und holt sich die Schlüssel zu seinem Schloß,“ sagte Eva.
„Sage nur dreist: zu seinem bezauberten Schloß, Kind,“ meinte der alte Herr, ein wenig schadenfroh lachend. „Nun laß ihn die Nuß knacken, die er sich vom Busch heruntergeholt hat! Mein Junge Herr von Schloß Werden? ’s ist die Möglichkeit! Kein Mensch begreift, was das heißen soll, und ich am allerwenigsten. ‚Sind Sie ganz fest überzeugt, daß er nicht verrückt ist, Herr Förster?‘ hat mich der Doktor Spindler, der Advokat aus Bodenwerder, erst vor acht Tagen noch gefragt.“
„Und was haben Sie dem Doktor geantwortet, Herr Oberförster?“
„Du, was habe ich ihm denn eigentlich geantwortet?“ wendete sich der Alte an seine Tochter.
„Darf ich dir noch eine Tasse Kaffee einschenken, lieber Fritz?“ fragte Eva. „Ach, es war ja noch vor eurer Heimkehr, daß der Herr Notar Spindler neulich bei uns vorsprach.“
„Wie die Gräfin sich zu der Geschichte stellen wird, soll mich am meisten wundern,“ brummte der Alte, eine gewaltige Rauchwolke in die wundervolle Sommermorgenluft hineinblasend und einen Kohlweißling, der sich eben in das Fenster verirrte, halb dadurch erstickend. In demselben Augenblick trat der Sohn des Hauses, hochrot vom raschen Gange und sonstiger Aufregung und sich bereits so früh bei seinem Tagewerk den Schweiß von der Stirn trocknend, wieder ein.
„Sieh da bist du ja auch, Langreuter! Guten Morgen, old boy. Hoffentlich hast du gut geschlafen und angenehm geträumt in der ersten Nacht zu Hause.“
„Ich habe erst ziemlich gegen Morgen zu den Versuch gemacht, lieber Freund,“ erwiderte ich lächelnd. „Zum wenigsten freue ich mich gegenwärtig unendlich, endlich einmal wieder hier zu sein und solche Versuche, wie du sagst, zu Hause anstellen zu können.“
Der Freund setzte sich zu uns; er versuchte es, gleichmütig auszusehen und heiter in das Gespräch mit dreinzureden, doch es gelang ihm schlecht. Man sah wohl, daß der erste schöne Morgen in der Heimat nicht leicht auf ihm lag. Von Zeit zu Zeit schüttelte er leise den Kopf, kaute an dem Schnurrbart und summte eine seiner lustig-melancholischen irischen Weisen vor sich hin. Es arbeitete etwas in ihm, dem er noch auf keine Weise eine rechte Handhabe abzugewinnen vermochte. Jetzt sprang er, von innerlicher Unruhe getrieben, von neuem auf, schritt einige Male durch das Gemach, kam zu uns zurück, stützte beide Hände auf den Tisch, sah uns der Reihe nach an, als wolle er für ein schwer abgehendes Geständnis vor allen Dingen sich unserer gutmütigen Teilnahme versichern, klopfte sodann mit dem Zeigefinger der Rechten scharf auf, um unsere ganze Aufmerksamkeit noch mehr wachzurufen, und ächzte:
„So dumm — so verloren, verraten und verkauft wie in diesem Moment bin ich mir in meinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen! Hätte ich in meiner Jugend mehr Prügel bekommen, so wär’s mir jetzt vielleicht wohler, Herr Vater. Ob der Katzenjammer vorübergehend oder von Dauer ist, beste Schwester, kann ich gegenwärtig natürlich noch nicht wissen; aber für den Augenblick bin ich fest überzeugt, daß ich mich — gründlich verspekuliert und all meine Trümpfe vergeblich ausgespielt habe. Herrgott, da kommt das Dorf, um uns zu begrüßen zu unserer Heimkehr, Fritze! Evchen, ich bitte dich um alles in der Welt, geh hin und sag ihnen, wir wären schon wieder abgereist und ließen sämtliche gute Nachbarn und liebe Freunde herzlichst grüßen.“
„Was sich wohl schwer tun lassen möchte,“ meinte der Vater Sixtus aufstehend und seinem Sohne jetzt ganz zärtlich auf die Schulter klopfend. „Ja, ja, mein Söhnchen, es ist mancher Papst geworden, dem der heilige Stuhl nachher ziemlich heiß geworden ist. Kommt nur ’rein, Gevatter Timme! ja, ’s ist richtig, hier sind die jungen Leute aus der Fremde zurück, und mein Junge da ist Herr von Schloß Werden, … soviel noch davon übrig ist. Und da ist ja auch der Vorsteher! Alle herein, herein! Wir haben eben noch nach allen vier Wänden hin nach gutem Rat gewittert. Räume die Kaffeekanne ab und die Tassen, Mädchen; der Doktor ist item fertig. Jetzt nehmen wir einen Jägerschluck auf die vergnügte Gelegenheit, nicht wahr, Kantor Dröneberg? Dem Pastor warten die Insel Irland und die allmächtige gelehrte Stadt Berlin nachher freundlich und persönlich auf. Kannst auch auf die Rauchkammer steigen, Evchen, wenn du aus dem Keller glücklich wieder herauf bist. Wir hatten eben allesamt doch eine kleine Stärkung der Seele und des Leibes notwendig; nicht wahr, Ewald? nicht wahr, Fritze Langreuter? Vivat Dorf Werden und das Schloß dazu! Nur schade, daß wir den Vetter Just aus Neu-Minden jetzo nicht bei uns in unserer angenehmen Mitte haben. Setzt euch, Nachbarn und liebe Freunde, wenn ihr mit dem Händeschütteln endlich zu Rande seid und euch die zwei — Herren da genug und andächtig beguckt habt. Ei ja freilich, liebe Freunde, so was kommt wahrhaftig nicht alle Tage nach Hause, und es verlohnt sich wohl, daß man darum ausnahmsweise mal seine eigene Arbeit hinlegt, um das bei einem guten Stück Schinken und einem echten alten Korn sich genauer zu betrachten. Verwechselt sie nur nicht! Dies hier ist der Berliner Doktor, und das da — na, das ist denn wirklich mein Junge, der Ewald Sixtus, der sich als ausländischer Baumeister kurioserweise wirklich ein Vermögen gemacht hat und sich nachher doch noch kuriosererweise an seinen alten Vater erinnert hat und gestern abend angekommen ist, um hier bei uns, wie er eben sagt, seinen höchsten Trumpf auszuspielen. So dumm von wegen dessen, was die nächste Zeit hier bei uns passieren wird, bin ich auch noch niemals in meinem Leben gewesen. Da sitzt der Junge, und ich denke immer, ich sehe noch unseren seligen Herrn Grafen da sitzen und nach seiner Gewohnheit seine Schnupftabaksdose auf dem Tische hin und her drehen.“
„No, so’n alter Spuk!“ meinte der Vorsteher, der auch noch ein Junge gewesen war, als den Herrn Grafen der Schlag rührte und mit ihm das alte adelige Haus Everstein so tief zu Falle kam. „Da vermeine ich doch, daß wir jetzo einen neuen Hahn auf den alten Mist gekriegt haben. Zeit ist Zeit, und was paßt, paßt, und was nicht paßt, paßt nicht; wenn das Dorf den alten Kasten hätte brauchen können, so hätte ihn einer von uns längst um ein Butterbrot; aber wir haben dem Herrn — Ewald, dem Herrn Ingenieur Sixtus, am Ende gern die Vorhand gelassen. Was er herausschlägt, soll gerne ihm gehören; es wird keiner in der Gemeinde sein, der es ihm mißgönnt. Als er heute morgen die Schlüssel bei mir abholte, habe ich sie ruhig hergegeben; denn ich weiß ja, daß das Schriftliche darüber ebenso ruhig in Bodenwerder beim Notar Spindler liegt. Da brauchte ich keine weitere Sicherheit. Herrje, nun guck aber einer, jetzt haben wir bald das halbe Dorf, als ob es der Hirte zusammengetutet hätte, hier auf dem Försterhofe zur Gratulation versammelt.“
Dem war in der Tat so. Was in der Stube keinen Platz mehr fand, das drängte sich wenigstens vor der Haustür und versuchte in die Fenster zu sehen. Alte und Ältere erneuerten frühere gute Bekanntschaft. Was wir als hübsche junge Werdener Schulmädchen gekannt hatten, das wurde uns als mehr oder weniger wohlgediehene Hausfrauen zugeschoben.
„Na, ziere dich nur nicht, Hanne; bist ja früher ganz vertraulich mit den Herren gewesen!“
Kinder, die während unserer Abwesenheit das Licht der Welt erblickt hatten, wurden uns zu Dutzenden vorgeführt, oder auf den Armen hingehalten. Wir vernahmen von ortseingeborenen Taugenichtsen beiderlei Geschlechts, die gleich wie wir in die Fremde gegangen waren, aber sich „Gott sei Dank bis anjetzt noch nicht wieder im Dorfe hatten blicken lassen“. Zutunlich, — verschämt-zutraulich waren sie allesamt; das Reichlichste aber, was wir von ihnen bekamen, das war guter Rat; — freilich, wenn ich hier sage wir, so ist das wohl nicht ganz richtig. Da lief ich nur so beiläufig mit, und die Hauptperson war selbstverständlich Freund Ewald Sixtus, und der hatte bald alle seine Geduld und Liebenswürdigkeit zusammenzusuchen, um nicht mit den Ellenbogen sich Raum zu machen durch die Freundschaft und Bekanntschaft der Mannen von Dorf Werden.
Ich muß ihn aber loben, den Herrn von Schloß Werden. Er hielt all dieser Weisheit, Klugheit und Schlauheit gegenüber so sanft und sanftmütig still, daß er jedweder anderen kochenden Ungeduld als ein wahres Muster von Selbstbeherrschung und Ergebung hingestellt werden durfte. Jedwedem einzelnen, der ihn mehr oder weniger vertraut am Knopf nahm und ihm verblümt auseinandersetzte, wie dumm er gewesen sei, und was er eigentlich an Schloß Werden erhandelt habe, versprach er aufs glaubwürdigste, ihn sobald als möglich auf seinem Kothofe in der Abenddämmerung zu besuchen, um das Genauere über die Sache zu vernehmen. Der Vater Sixtus schenkte mit immer unverhohlenerem Wohlbehagen fortwährend im Kreise am Tische ein und sah immer mehr aus, als kitzele ihn jemand. Der Tabaksqualm wurde ungeachtet der offenen Fenster und Tür immer dichter, und Eva Sixtus — zog mich auf einmal in den Winkel dicht an die alte Wanduhr, die der Vetter Just so vortrefflich wieder in Gang gebracht hatte, und flüsterte:
„Fritz, es ist auch aus meinem Bruder — aus Ewald ein guter und vornehmer Mann geworden. O, wie es auch kommen wird, lieber Fritz; wir kommen alle noch zurecht im Dorfe und auf dem Steinhofe und mit dem verzauberten Schloß da drüben. Ich muß gleich wieder die Treppe hinauf, um noch ein paar Würste aus dem Rauche zu holen; aber es ist doch wie ein Märchen, und ich sehe klar wie in einem Spiegel mich und uns alle! O, es ist schön, daß ihr nach Hause gekommen seid, und vor allem, daß mein Bruder seinen Herzenswillen durchgesetzt hat (wenn er sich derweile auch nicht um uns kümmern konnte!), und daß Irenes Heimatshaus keinem Fremden mehr gehört. Sie kann nun darüber entscheiden, und ich könnte wohl sagen, wie ich es mir denke, wie es kommen wird; aber du siehst selber, ich habe wirklich in diesem Tumult keine Zeit dazu, und was ich dir da eben gesagt habe, weiß ich selber kaum; aber du kannst dir wohl denken, daß ich den Bruder seit gestern abend keinen Augenblick aus den Gedanken frei gegeben habe, und ich bin so sehr glücklich über ihn, und ich bin fest überzeugt, der Vater freut sich auch!“
Nach und nach verlief sich der freundschaftliche Schwarm der Dörfler wieder, und nur ein paar gänzlich beschäftigungslose Leibzüchter blieben fest sitzen, da sie einmal saßen; aber die Unterhaltung zwischen ihnen und dem Förster geriet doch wieder in das gewohnte Geleise. Der Tabaksqualm verzog sich ein wenig, Eva räumte den Tisch ab, und Ewald seufzte, reckte und dehnte sich, packte mich plötzlich stumm am Arme, führte mich vor die Haustür, wo ich auch seufzte und mehr als einen befreienden Atemzug tat, und wo er sagte:
„Komm mit, honey! Was haben wir denn heute eigentlich für ein Wetter?“
Ich sah den wunderlichen Freund ziemlich erstaunt ob dieser Frage an; er aber meinte:
„Mir tanzen alle Farben vor den Augen. Rot, grün und gelb schwimmt es mir vor dem Gesichte; und ich habe eine bittere Ahnung, daß ein recht trübseliges Grau aus alle dem bunten Wirrwarr werden wird. O Doktor, wie einfach blau sah ich einmal das alles — nämlich dieses alles hier um uns herum! Ach, Fritz, ich fürchte, ich fürchte, es war eine Täuschung, es war eine Dummheit von mir! Sie wird sich nicht hinsetzen wollen an dem Herde, den ich ihr in ihres Vaters Hause wieder aufbauen wollte! Dammy, Langreuter, wie ganz anders sieht sich so was aus der Ferne an als in nächster Nähe! Komm mit nach dem alten Neste! Den Schlüssel habe ich im Schlosse stecken lassen.“
Das Wetter, nach dem sich der irländische Freund soeben zu meiner zweifelnden Überraschung erkundigt hatte, ließ wirklich nichts zu wünschen übrig auf unserem Wege nach dem „verzauberten“ Schloß und während unseres Aufenthalts daselbst an diesem bewegten Morgen. Still, blau und wolkenlos spannte sich der Äther, soweit er zu erblicken war, über die unruhige Welt. Es war eben schon ziemlich heiß; mir aber kam es wunderbar treu von neuem in die Seele auf dem Wege, wie und unter welchen Umständen und bei welcher Temperatur ich zum ersten Mal das einst so stattliche feste Haus des alten Geschlechtes derer von Everstein erblickt hatte.
Jetzt betraten wir den Hof wieder durch das Haupttor, durch welches am Todestage des Vaters der Wagen, der den guten Kameraden, die Mutter und mich trug, eingefahren war. Zu dieser Tür hatte der jetzige Besitzer und Herr keinen Schlüssel nötig, sie stand weit genug offen. Die eisernen Gitter waren ausgehoben, die Wappen mit dem Eberkopfe abgemeißelt, und was die letzteren anbetraf, so hatte der vorletzte Eigentümer sicherlich nicht gewußt, „warum er sich auf seinem Grundstücke durch die fremde Firma ärgern lassen sollte“. — Über wohlerhaltene Pflasterung war vordem unsere Kutsche gerasselt, die Steine waren nunmehr meistens verschwunden und machten wahrscheinlich im Dorfe jetzt allerlei bedenkliche Pfade den Bauern bei Regen und Tauwetter gangbar. Aber schöne Brennesseln wuchsen überall, auch Kletten und Disteln hatten nicht eingesehen, weshalb gerade sie draußen bleiben sollten, da doch alles übrige, was Lust hatte, frei kommen durfte.
Noch führte die breite Treppe zu der Rampe empor, die sich, wie ich zu Eingange dieser Geschichten von den alten Nestern beschrieben habe, an dem Gebäude entlang zog. Wir traten da auch heute noch in den kühlen Schatten, den das graue Steinhaus auf den sonst so sonnigen Hof warf.
Da war die hohe, gewölbte Tür, die in das Schloß führte, und Ewald Sixtus hatte nicht bloß seinen Schlüssel darin stecken lassen, sondern die beiden Flügel weit aufgeworfen; und da sie gleichfalls nicht mehr ganz fest in den Angeln hingen, so hatten sie ihrerseits jetzt die günstige Gelegenheit benutzt, die Verbindung mit denselben so ziemlich zu lösen.
Haus Werden stand weit offen, und sein jetziger Herr lud mich mit einem Achselzucken, einer höflichen Handbewegung, einem neuen tiefen Seufzer und mit etwas gezwungenem Lächeln zum Eintritt ein, indem er brummte:
„Du bist gelehrt, sprich du mit ihm, Horatio.“
Um doch etwas zu sprechen, meinte ich:
„Wie mir scheint, mein Bester, wird es wohl weniger auf die Gelehrtheit als auf das Kapital ankommen, um hier von neuem Ordnung zu stiften, die Eulen, Fledermäuse und sonstigen Nachtgespenster zu verjagen und gebildet menschlich Behagen wieder möglich zu machen.“
„Für deutsche Verhältnisse bin ich ein reicher Mann,“ sagte der Freund kläglich. „Meine Meinung aber ist, daß Maurer, Zimmerleute, Maler und Tapezierer es nicht in diesem Falle tun werden. In der Hinsicht weiß ich freilich schon selber, was ich zu tun habe, und brauche deinen Rat nicht, um den Bann und Zauber vermittelst eines vernünftigen Kostenüberschlags und mit Hammer, Säge und Mauerkelle zurechtzurücken. Wir hatten aber voreinst unsere Nester in das grüne Gezweig und den Sonnenschein gehängt, und du hast, als wir gestern nach Hause kamen, gesehen, wie die Racker ihren nichtswürdigen Kommunalweg über die Stätte hingelegt haben; — Fritz, Fritz, wir sind eben als alte Leute nach Hause gekommen, und die Landstraße geht auch über Schloß Werden weg. Fritz, ich richte es nicht wieder auf für uns und — Irene Everstein. Ich kann nur etwas anderes an die Stelle setzen, und sie wird höchstens kommen und sagen: „Ich danke, es war wohlgemeint, aber das Rechte ist es leider nicht!“ — Und wenn sie wirklich sagt ‚leider‘, so muß ich das Wort schon für etwas nehmen, worauf ich kaum einen Anspruch habe. Nun, der Glücklichste hat am Ende nichts weiter als die Illusionen, die er sich bei seiner Arbeit und auf dem Wege macht. Sieh dich um, Langreuter! Du bist aus Bequemlichkeit zu Hause nicht mein Schwager geworden, und ich war ein Tor, als ich mir einbildete, durch Hartnäckigkeit, grimmiges Zugreifen und Maulhalten in der Fremde meinen Willen durchzusetzen. Faix — och arrah, in die Kölnische Zeitung werde ich demnächst Schloß Werden setzen, und es wird sich hoffentlich ja wohl wieder ein Liebhaber dazu finden. An der gehörigen Reklame soll’s nicht fehlen.“
Ich sah mich um. Es war nicht nötig, daß der Freund mich noch dazu einlud; wir hatten die große Halle durchschritten und standen in dem Gartensaale, in welchem mein Vater gestorben war, und ich so kindlich-betroffen, verwirrt-verwundert, so müde, durstig und betäubt von der langen Fahrt durch den heißen Sommermorgen meine Mutter sich über die Leiche hinwerfen sah. Mit voller Deutlichkeit stand alles, wie es damals war, von neuem vor meiner Seele; aber es war kühl, kellerartig kühl in dem lange verschlossen gewesenen Raume, und die Bilder der Vergangenheit konnten mir das Frösteln nicht verjagen. Das Sonnenlicht fiel nur durch die Spalten der Läden in den Saal; Haufen Gerümpel aller Art füllten die Winkel. Die Tür, die in den Park führte, war gleichfalls mit Brettern vernagelt; ich aber hatte selbst den Vogel Pfau nicht vergessen, der damals so vornehm auf die Schwelle trat und mir seine Schönheit zeigte. Es war der Herr Graf, der meine heiße Hand mit seiner kalten ergriff und mich näher an das Sterbelager meines Vaters heranführte. Er berührte leise die Schulter meiner Mutter, sie aber zuckte nur zusammen, aber richtete sich nicht empor, sah sich nicht um. Der Spuk, der den Stadtrat Bösenberg beim Antritt seiner Erbschaft in dem Hause seines Onkels in Finkenrode bewillkommnete, war nur — anerkennenswert literarisch verwendet und nichts weiter!…
„Meine Tochter, Komtesse Irene!“ … Die Stimme kam herüber wie aus einem fernen Jahrhundert, und dann fühlte ich eine andere Hand in der meinigen, doch diesmal eine Kinderhand. Auf der sonnigen Gartenschwelle stand Irene Everstein — es flimmerte mir vor den Augen wie von einem hellen Mädchenkleide und einer Fülle blonder Locken. Der Wundervogel stieß einen gellenden, krächzenden Schrei aus und schlug sein Rad herrlicher. Sie aber verscheuchte ihn mit einer Handbewegung und stand plötzlich neben mir; — wir waren zum ersten Mal zusammen unter den vielen Erwachsenen um uns her.
Vielleicht hatte der Freund doch nicht so ganz Unrecht mit seinem seltsamen Zitat: ich war gelehrt und ich konnte vielleicht auch sprechen mit dem Schloß Werden! Jedenfalls verstand ich recht wohl, was es selber von sich erzählte. Wir hatten lange genug dazu auf einem vertrauten Fuße gelebt, und Gründe, uns gegenseitig die Wahrheit vorzuenthalten, waren auch nicht vorhanden; und gelassener als der Freund, der irländische Ingenieur, konnte ich von Rechts wegen die Gestalten und Bilder der Vergangenheit an den Wänden hinhuschen sehen. Ich hatte mir in der Fremde nicht vorgenommen, diese ruinierten Wände mit neuen Tapeten zu bekleben und neue Bilder daran aufzuhängen. Er, der Freund, der so weit von Hause und so lange Jahre hindurch still und hartnäckig seinen Schweiß und sein Herzblut darangesetzt hatte, den Bann, der auf dieser Stätte lag, zu lösen, hatte jetzt freilich große Angst und viel Unruhe, und zwar mit vollem Rechte: ich saß nur in melancholischem Nachdenken auf der Stelle nieder, wo wir vordem unsere jugendliche Spiele getrieben hatten, und sah die Schatten an den Wänden bald heiter, bald traurig vorbeigleiten.
Kopfschüttelnd sagte Ewald:
„Es ist ein gar nicht angenehmes Gefühl, und einen rechten Ausdruck weiß ich eigentlich nicht dafür. Ich komme mir mit einem Male alt — alt — merkwürdig alt vor. Ich habe keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken, wie die Jahre hingehen; aber in diesem Augenblicke ist es mir zum ersten Male klar, daß sie hingegangen sind und uns mitgenommen haben. O, den ganzen Kauf für einen Spiegel in Schloß Werden!… Es ist unbehaglich kalt hier nach dem Gange durch die heiße Sonne. Was meinst du, Fritz; sollen wir weiter steigen, da wir einmal drin sind, und die Spinnen, Fledermäuse und Ratten in Erstaunen setzen? Grau, grau! Och honey, es ist manch ein schwarzer Schatten in meinem Leben auf mich gefallen, aber dieser hier, den Schloß Werden wirft, ist grau und macht grau. Weißt du noch — der große Spiegel im Zimmer der seligen Gräfin — es ist doch ein wahrer Segen, daß wir den nicht mehr an seinem Platze finden werden! Das könnte freilich dem Gespenstertum die Krone aufsetzen. Und wie glücklich waren die beiden Mädchen vor ihm! Und wie glücklich waren wir, wenn wir sie dabei in ihrem Spaß an sich stören konnten. Und dann — Mademoiselle Martin, und — deine Mutter! Fritz, sollen wir umkehren? Wenn wir weiter gehen, müssen wir durch alle Räume, und es sieht überall aus wie hier! Du gehst unbedingt voran, du hast studiert, und ich fasse deinen Rockschoß. Das hätte mir aber vor acht Tagen noch jemand sagen sollen, daß ich je einen anderen auf einem Wege mir voranschieben würde! O Fritz, hinter einer Tür sitzt sie noch in ihrer ganzen jungen Lieblichkeit, und — ich — ich störe die Fledermäuse und die Spinnen um sie auf. Verdammt! so komm endlich! hier haben wir doch wohl jetzt den Moder und Wurmfraß lange genug angegafft! So grimmig feige und schwachmütig habe ich mich noch nie gefühlt. Wahrhaftig, die Schlacht, die durch pure Heldenhaftigkeit gewonnen ist, sollt ihr Historiker noch ausfindig machen.“
„Aber es ist doch manche Schlacht gewonnen worden!“ meinte ich, und dann — durchwanderten wir Haus Werden, und ich hatte studiert und war ungemein gelehrt geworden im Laufe der Jahre; daß ich aber das Leblose sprechen hörte, das hatte doch seine anderen Gründe. Die lagen tiefer als die Bücher; und die allergrößesten und bekanntesten Geschichtsschreiber haben dahin zurückfühlen und -tasten müssen, um sich selber und den Leuten erträglich wahr vorzukommen.
„Ich bin vorhin nur bis hierher in den Gartensaal gekommen,“ sagte Ewald. „Wie ein Kind hatte ich nicht die geringste Lust, mich in die Öde und Dunkelheit allein weiter hineinzuwagen. Nun vorwärts zu Zweien, ich habe die Schlüssel zu jeder Tür, und hier — sind wir in — den Gemächern des alten Herrn! Puh, was für eine Luft!“
Wir standen in dem Zimmer des Grafen und warfen einen Blick in sein Schlafgemach. Das waren voreinst ziemlich unnahbare, unbetretbare Räume für uns gewesen, aber wir hatten doch als Knaben dann und wann hineingeguckt; heute guckte mir der jetzige Herr des Schlosses scheu über die Schulter, und wir fühlten uns beide nicht sicherer in unserem Fürwitz als vor Jahren.
„Wir hätten jedenfalls besser getan, zuerst in den oberen Stock hinaufzusteigen, Ewald. Dort haben wir wenigstens die Sonne der Gegenwart für uns und nicht diese unheimlichen Laden vor den Fenstern!“ flüsterte ich.
„Nicht wahr, es spukt? es geht um?“
„Ja, es geht um! Die Witwe Warneke hatte recht.“
Die kahlen Räume, die Dämmerung, der Staub und der Schimmel sprachen zu deutlich, als daß ein tröstlicheres Wort mir möglich gewesen wäre. Es war kein Wunder, wenn die Leute aus dem Dorfe dann und wann den letzten Grafen Everstein im Zwielicht oder in der Mitternacht um sein verlorenes, verwildertes Schloß wandern sahen. Daß seine Tochter auf dem Steinhofe bei dem Vetter Just eine Unterkunft in ihrer Not gefunden hatte, machte den Spuk nur noch glaubwürdiger; aber — es war in der Tat so: das war auch mir in diesem Augenblicke das Gespenstischste, daß der lebendige starke, tapfere Freund diese Mauern wieder beleben, diese Räume wieder zu einem Sitz der Ruhe und des Glückes für das letzte Kind des Hauses zu machen sich vorgenommen hatte.
Wo war das Geräte, das dazu gehörte? Das hatte er nicht mitbringen können aus Irland. Verstoben in alle vier Winde war’s während seiner Abwesenheit im Lebenskampfe. Neu konnte er das Schloß Werden bauen; aber das alte wieder aufzurichten, das war unmöglich, und der Vetter Just auf seinem Steinhofe war kein Beispiel dafür, daß es doch wohl anginge. Der hatte etwas Lebendiges wiedergefunden, als er von seinen Weltfahrten nach Hause und auf den Steinhof zurückkehrte; aber Schloß Werden war tot! Die Fliesen und das Getäfel unter den Füßen, die zerbröckelnden Plafonds über unseren Köpfen, alle Mauern rundum erzählten davon, wie man von und in einem Märchen erzählt: Es war einmal!
Ohne noch weiter miteinander zu reden, stiegen wir jetzt die breite steinerne Treppe mit dem stattlichen Geländer aus künstlich geschnitztem Eichenholz empor zu dem oberen Stockwerk des Hauses. Die Dämmerung, die Dunkelheit, den feuchten Moder ließen wir zwar hinter uns, das Licht, die Sonne fanden wir hier in den Gemächern; aber geirrt hatten wir uns doch, wenn wir geglaubt hatten, daß das uns zu einem leichteren Atemholen verhelfen könnte.
Sie kann sehr grausam sein, die Sonne! viel grausamer als die Nacht! Und daß sie lacht, ist nur allzu häufig nicht das Liebenswürdigste an ihr. Daß Hoffnungen getäuscht, Täuschungen zunichte gemacht werden, daß die Vergänglichkeit alles Irdischen dem Menschen klar gemacht werden muß, ist zwar eine recht löbliche und vernunftgemäße Aufgabe; aber ist es denn unbedingt notwendig, daß dabei gelacht wird?
Die Dämmerung, die Nacht tun das auch nicht; aber die Sonne tut es, und dem armen, hülflosen Erdbewohner kommt es vielleicht nicht ohne Grund dann und wann in den Sinn, daß sie sich doch wohl auch einmal zu sehr in ihrem Rechte seinen Schmerzen, Hoffnungen und Täuschungen gegenüber fühlen könne.
Wenn die Sonne, der helle Tag sagt: Es war einmal! so ist das ein ganz ander Ding, als wenn die Nacht, die gute alte Mutter, mit tonloser, aber doch mitleidiger Stimme das melancholische Wort ausspricht. Sie, die Nacht, stemmt nie die Arme in die Seite und kreischt und kräht und will’s nie von allen Ecken und Enden her hören, daß sie recht hat; aber der Tag tut das und will das nur zu gern. Ach, und der Mensch könnte recht häufig etwas Besseres tun, als sich darauf berufen und von einem Rechte zu sprechen, das so klar sei wie der helle Tag!
In dem Erdgeschoß von Schloß Werden hatten die unberufenen Gäste und Besuche aus der Umgegend hier und da auch wohl eine Fensterscheibe und einige Male hinter den Läden auch einen ganzen Fensterflügel des Mitnehmens wert gehalten, und so vermochte doch noch immer ein frischerer Hauch von außen in die verriegelten, verschlossenen Räume zu dringen: in dem Oberstock fanden wir nicht nur alle Türen verschlossen und unerbrochen, sondern auch alle Scheiben ganz. Das Licht teilte sich da mit dem Staube allein in die Herrschaft. Der Staub wirbelte uns unter den Füßen auf; die Luft wurde durch unser Eindringen seit Jahren zum ersten Mal wieder bewegt, und die Sonne, die durch die schmutzigen, trüben, mit Spinnweb verhängten hohen Bogenfenster drang, kreischte auch hier und lachte gell: Macht euch keine Illusionen! — Und hier — hier war das Reich der Frauen des Hauses Werden gewesen, und hier war das Kind aufgewachsen, das jetzt als kummervolle Frau, für welche der tapfere Mann an meiner Seite das Alte neu machen wollte, auf dem Steinhofe saß!… Ach, für wie ehrlich hielten wir die Sonne, als wir selber in unserer Kindheit und Jugend in diesen Räumen lachten oder unser junges Leben zuweilen so drollig ernsthaft nahmen!
„Ich hätte schon im vorigen Winter den Handel abschließen und nach Hause kommen können,“ seufzte der Freund. „Fritz, ich wollte, ich hätte es getan. Wie ein Maikäfer habe ich aber in meiner Dummheit gezählt, eh ich aufflog. Uh, wenn der Mensch nur nicht immerfort ebenso schlau sein wollte, als er dumm ist! Langreuter, ich habe mich noch nie nach Landregen, Schneegestöber und dem erbärmlichsten Hundewetter so sehr gesehnt als an diesem verruchten, nichtswürdigen Sonnentage. Übrigens wollen wir wenigstens doch die Fenster aufmachen oder einstoßen — schon deinetwegen, armer Kerl. Was mich anbetrifft, so kommt es ja wohl auf ein bißchen mehr oder weniger Erstickungsgefühl weiter nicht an! Ich habe mein frei Atmen schon drüben jenseits des Kanals diskontiert; — geh du wieder voran, Fritz, — dies hier war ihr Mädchenstübchen, und ich habe mir — drüben in Irland eingebildet — daß sie und es und ich und wir alle geblieben wären, was wir waren!“
Einst hatte sich die Tür lautlos in ihren Angeln gedreht, jetzt gab sie nur mit Widerstreben und mit einem schrillen, ärgerlichen Ton nach. Mit angestemmtem Knie hatte ich nachzuhelfen und dachte dabei daran, wie es gewesen war, wenn sich die Mädchen hier in ihrem geheimsten Neste verriegelt hatten und wir gegen ihren Mutwillen, ihr Lachen und Kichern momentan nichts weiter aufzubieten vermochten als durch das Schlüsselloch das alte tröstliche Wort:
„Na, wartet nur! Morgen ist auch noch ein Tag, ihr Mamsellen, und ihr sollt euch ganz gehörig wundern, wenn das Lachen wieder an uns ist! Wer zuletzt lacht, lacht am besten.“
Nun blickten wir aus dem Vorgemach in die geöffnete Tür —
„Da kommt deine Mutter, Fritz!“ rief der jetzige Herr von Schloß Werden nicht mehr, und ich fühlte nicht mehr Mademoiselle Martins knöcherne Soeur-ignorantine-Finger am Ohrläppchen oder am Rockkragen: die heiße, helle Sonne des gegenwärtigen Tages hatte mehr als von irgendeinem anderen Raume des Hauses in dieser Stunde von diesem kleinen Eckzimmer Besitz ergriffen; — fern im Dorfe schlug es zwölf Uhr am Mittage, und Ewald Sixtus sagte:
„Es ist einerlei — ich habe meinen Kauf in Besitz genommen und weiß wenigstens, was ich erhandelt habe. Auch das ist etwas wert! Hat es wirklich eben zwölf geschlagen? Da kommen wir ja richtig wieder einmal wie sonst zu spät zu Tische — weißt du noch, Doktor?!… Es ist einerlei, — die Fenster wollen wir auch hier wenigstens aufsperren und die frische Luft hereinlassen. Wer war es denn, der neulich in Belfast mir vorrenommierte, daß er in einem jungfräulichen Urwalde Ordnung gestiftet und für Ästhetika gesorgt habe? Ich habe ihn damals schon ziemlich kühl ablaufen lassen, den Vetter Just; aber — jetzt soll er mir nur noch mal kommen mit seinem — Neu-Minden!“
Wir traten nun doch auch hier einen Augenblick über die Schwelle und sahen uns um und auch von hier aus noch einmal hinunter in den verwüsteten, ins Unkraut geschossenen Park. Ich war auch hier der Unbeteiligtere, der nur als guter Freund und allenfalls als Ratgeber mitgenommene Privatgelehrte aus Berlin; aber, ich kann’s nicht leugnen, es kam in dieser Stunde doch auch mir sehr seltsam vor, daß das Grün draußen noch immer die Oberhand behielt, daß die Vögel lustig nach alter Sommerweise weiter zwitscherten, daß um das wuchernde Gebüsch und die Baumstumpfen dieselben Schmetterlinge wie zu unserer Zeit flatterten, kurz, daß sich alle Hauptlieblichkeiten der Erde weder um Schloß Werden noch um unsere gegenwärtigen Privatgefühle und Stimmungen im mindesten kümmerten. Und in diesem Augenblick trat es mir zum ersten Mal ganz klar und ohne Schatten auf der lichten Vorstellung vor die Seele, zu was für einem Segen der Vetter Just auf seinem Steinhofe auch für diesen Ewald Sixtus und jene Irene Everstein wieder angekommen war, um daselbst von neuem „auf menschliche Schicksale zu warten“.
Man hatte aus dem einen Fenster dieses Eckstübchens einen Blick nach jener Gegend. Der Freund stand mit untergeschlagenen Armen und zusammengepreßten Lippen und sah dorthin. Der einzige kühlende Hauch in dieser schwülen Mittagsstunde kam über Berge und Wälder, über den Fluß, wieder über die Wälder und Wiesen und über den verwilderten Garten, der zu dem Handel und Kauf des irländischen Ingenieurs gehörte, aus jener Richtung.
„Es wird wohl eine ziemliche Weile dauern, ehe du alle deine Arbeitsleute hier am Werke hast,“ meinte ich leise. „Da haben wir dann Zeit, alle möglichen Besuche in der Umgegend zu machen. Meinst du nicht?“
Der irische Glücksbaumeister drehte sich rasch von dem Fenster und der im Mittagssonnenschein flimmernden Ferne weg und mir zu:
„Wir kommen unbedingt zu spät zu Tisch. Das wenigstens ist uns aus der alten vergnügten Zeit geblieben. Deinen Rat habe ich nun auch. Schloß Werden haben wir gesehen; wenn du nicht noch eine Privatgespensterkammer in dem alten Kasten weißt, die ich dir aufschließen kann, so wird es wohl das beste sein, wir gehen so leise, wie wir gekommen sind. Ach, lieber Alter, mein Geschäft hat mich freilich hauptsächlich auf Erdarbeiter, Maurer und Zimmerleute angewiesen. Ich habe mancherlei durch das Volk ausgerichtet, und so ist es nicht ganz meine Schuld, wenn ich in der Ferne mir einbildete, meine Luftschlösser zu Hause mit ihrer Beihülfe wieder aufbauen zu können.“
„Es ist nicht das erste Mal, daß du mir dieses sagst, seit du mich aus meiner Dachstube abgeholt hast. Ein jeder bleibt unwillkürlich in seinen Handwerksausdrücken und was sonst zu den Künsten gehört, durch welche er durchs Leben kommt. Sonst aber gibt es eine Redensart: Du sprichst über dein Herz weg; und so ist es außer dem guten Rat, den ich dir gegeben haben soll, meine Meinung, daß wir gegenwärtig Schloß Werden auf sich beruhen lassen, wie es ist, und deinen Vater und — deine Schwester nicht gleich am ersten Tage von neuem über die Zeit mit der Suppe warten lassen. Schloß Werden haben wir gesehen, sehen wir uns also morgen den Steinhof an. Der Mensch, in seinem Gemäuer gefangen, besinnt sich lange nicht oft genug darauf, daß er lebt, Leben ist und es mit dem Lebendigen zu tun hat, solange er lebt.“
„Das solltest du drucken lassen, Fritze; das klingt ja ganz famos!“ sagte der Irländer, und dann gingen wir in der Tat endlich nach Hause und kamen wieder einmal nicht ganz zur rechten Zeit. Es ließ sich aber nicht ändern, und was wir diesmal zur Entschuldigung vorzubringen hatten, konnte leider nur zu sehr als rechtsgültig angenommen werden. Wir logen diesmal nicht, wenn wir zu unserer Entschuldigung anführten, daß es uns unmöglich gewesen sei, früher zu kommen. — —
Den langen Sommernachmittag durch saß ich an einer anderen Stätte der Erinnerung, neben dem Stein nämlich, welchen die Kameraden meinem Vater auf der Stelle, wo er von den Schmugglern zu Tode verwundet worden war, errichtet hatten. Wenn die Bäume um das Schloß zum größten Teil verschwunden waren und dem Gestrüpp und Unkraut Platz gemacht hatten, so war hier der Wald beträchtlich emporgeschossen, und ein schöner kühler Schatten lag auf dem bösen Ort. Da der Boden, wie ich geschrieben habe, ein wenig sumpfig war, so war der Stein auch bereits so ziemlich darin versunken und die Inschrift und Widmung darauf des Mooses und der Flechten wegen kaum noch zu entziffern: er predigte mir wirklich auch noch die Vergänglichkeit aller Dinge, die Nichtigkeit aller Sorgen, Wünsche und Hoffnungen, das Vorbeigleiten der Erscheinung, gerade — als ob das noch unbedingt notwendig gewesen wäre. Ich aber hielt ihm im Halbtraum nach der schwülen Wanderung durch Schloß Werden und nach dem Mittagsessen eine Gegenrede, und die Waldfrische tat wohl das meiste dazu, daß wir ruhig voneinander schieden. Es spukt immer viel mehr in altem Gemäuer als im jungen Laubwalde. Als ich nach dem Försterhofe zurückkam, war der Vetter natürlich längst daselbst vom Gaul gestiegen, und ich sah ihm sofort an, daß er im Vorbeigleiten der Erscheinung etwas zu bemerken hatte, was er lieber mir zu sagen wünschte als dem Freunde. Ich sah es jedoch auch der — Freundin — ich sah es Eva Sixtus an, daß er mit der bereits darüber gesprochen hatte. Also begleitete ich ihn zum zweiten Male durch die Mondscheinnacht und das Dorf Werden auf den Weg nach Hause; er aber sagte:
„Es ist auch Evas Meinung, daß du zuerst allein zu uns kommst und nachher erst unseren Freund mitbringst. Ich meinesteils habe doch den Schulmeister nicht lange genug gespielt, um ganz genau und deutlich in Worten ausdrücken zu können, wie ich die Sachlage ansehe. Wie ich dir es voraussagte, so war’s; ich fand Irene noch wach, als ich gestern oder vielmehr heute morgen nach Hause kam; — gefragt hat sie nicht, aber gewußt hat sie gleich, daß ich ihr eine Neuigkeit mitbrachte; — ‚Fritz und Ewald sind da, Irene!‘ habe ich gesagt, weil ich immer gefunden habe, daß das Einfachste stets das Beste ist; — erwidert hat sie eigentlich nichts, aber sie ist wach geblieben und nicht mehr zu Bette gegangen. Die Magd hat mich gefragt, weshalb die gnädige Frau in dieser Nacht gar nicht zu Bette gegangen sei? — Du sagst, Doktor, daß ihr auf Schloß Werden es heute mittag mit allerhand Gespensterspuk zu tun gehabt habt; aber meine Meinung ist, auf dem Steinhofe sind auch allerlei Geister und zwar nicht von der besten Sorte umgegangen! Wieviel ruhiger lebten wir in der Welt, wenn wir uns nicht immer aus unserem Schicksal unsere Reue und unsere Gewissensbisse zurechtschnitten — stets in dem Gefühl, uns selber nie das geringste vergeben zu dürfen. Fritz, du weißt, ich habe von frühesten Jahren an immer zu dir aufgesehen, du bist der einzige von uns, der es zu etwas gebracht hat, — du würdest mir nicht bloß einen Gefallen, sondern eine große Liebe antun, wenn du zuerst mit ihr sprechen wolltest.“
Das hatte ich denn aus meinem Leben in das alte Nest glücklich mitgebracht: sie durften mir alle in der wohlmeinendsten Weise ungestraft Sottisen meiner Brauchbarkeit wegen sagen. Fremden gegenüber würde ich mit Grund die bloße Ironie hinter der sehr ernsthaften Miene vermutet und gesucht haben; die Freunde durfte ich wenigstens für ehrlich und wirklich vertrauensvoll in ihrem Glauben an mein Studium in Wittenberg halten. Jedenfalls hatte ich genug studiert, um mir die Sache zurechtlegen zu können. Es gibt nämlich in gewissen Krisen des Lebens eine Feigheit, die nur ein anderer Name oder besser die Folge einer kurz zuvor bewiesenen Herzhaftigkeit ist. Wofür tapfere Männer alles gewagt und gelitten haben, wagen sie dann zuletzt nicht einen Gang über die Straße, nicht ein Anklopfen an eine Tür, sondern sie schicken einen andern oder möchten ihn doch am liebsten schicken, und deshalb — hatte ich für Ewald Sixtus mit Schloß Werden sprechen sollen, und darum — erschien es wünschenswert, daß zuerst ich mit Irene Everstein rede. Von meiner Gelehrtheit sprachen sie; aber, ihnen selber unbewußt, meinten sie: das, was uns bewegt, kümmert ihn am wenigsten, also was kümmert’s ihn? Wenn Einer uns sagen kann, was wir hören wollen oder hören müssen, so ist er’s. Er ist objektiv in dieser Sache; Steine und Menschen werden also ihm gegenüber unbefangen sich gehen lassen, und — Ihm werden sie nichts tun. Wir aber, die wir Tag für Tag mit ihnen zu tun gehabt haben, wir fürchten uns!
Ich hatte mich aus der Mitte der Gevattern- und Vettern-Besuche in der Försterei von dem Freunde wegholen lassen, um mit ihm Schloß Werden zu besichtigen; ich ging am anderen Morgen dem Freunde vorauf nach dem Steinhofe, um die letzte Herrin von Schloß Werden, um Irene Everstein darüber sprechen zu hören. Es ist stets in solchen Fällen viel leichter Ja als Nein zu sagen. Man will eben doch nicht umsonst an seiner Ehre gefaßt und für einen erfahrenen Mann gehalten worden sein.
Der Fluß hatte es eilig wie immer; aber er, der mir in meiner Kindheit den einzigen klaren Eindruck von dem Vorbeigleiten der Erscheinung gegeben hatte, dessen schnelle Wasser mich in der Phantasie stets unwiderstehlich mit sich in die Ferne gerissen hatten, er war von allen Dingen in der Heimatgegend allein derselbe geblieben. Unsere Nester in den großen Nußbüschen waren verschwunden, die Wiese, über die sonst der Weg nach dem Walde führte, zerstückelt und zum Teil zu Ackerfeldern gemacht. Auch die Wälder selbst waren nicht mehr die nämlichen wie sonst. Den Hochwald hatte man teilweise gelichtet, teilweise ganz niedergeschlagen; das Unterholz war aufgeschossen, und Heidestrecken hatten sich mit dichtem Gebüsch bedeckt. Wo man sonst von einem Berggipfel die freieste Aussicht in die Ferne gehabt hatte, suchte man nun nach einem Blick auf den Sommerhimmel zwischen dem dicht verschlungenen Gezweig. Nicht alle Pfade liefen noch wie in unserer Jugendzeit durch den Forst, aber der Fluß — der Fluß ging noch seinen alten Weg; ich aber ging diesmal über die Brücke bei Bodenwerder und verließ mich nicht mehr auf den Kahn, welchen vordem der Vater Klaus stets so mürrisch-wohlgefällig zu unserem Dienst aus dem Uferschilf und Röhricht hervorzog. Auch das war sehr fraglich, ob ich den guten Alten, seine Fischerhütte, sein lustig romantisch Herdfeuerchen und sein morsches Fahrzeug noch am Rande der Weser finden würde. Über sechzig Jahre war er schon zu unserer Zeit alt gewesen, aber unterwegs tat es mir doch leid, daß ich mich nicht nach ihm erkundigt hatte, und fast wäre ich noch umgekehrt.
Wie andere gelassene Leute gelangte ich über die Brücke bei Bodenwerder von einem Ufer auf das andere und auf den Weg nach dem Steinhofe.
Der zog sich noch durch die Felder wie sonst. Mir war es, als müsse ich jeden Dornbusch an seinem Rande wiedererkennen und dürfe ruhig auf seine Identität schwören; doch dies war wohl ein Irrtum. Ich habe es beschrieben, wie wir als Kinder auf diesem Pfade an heißen Sommertagen müde wurden und uns nach dem Baumschatten, dem kühlen Grase im Grasgarten und nach der guten Verpflegung des Hofes sehnten; ich habe es geschildert, wie wir den Vetter auf einem Steine am Wege auf Menschenschicksale wartend fanden, und — auf den Stein durfte ich dreist schwören: es saß wiederum jemand darauf, in seine Träume verloren, auf Menschenschicksale wartend und die Schritte, die sich auf dem heißen, sonnigen, steinigen Wege näherten, überhörend.
Auf dem Feldquarz, unter den Disteln und Nesseln, zwischen die einst der Vetter Just Everstein verlegen greinend seine lateinische Grammatik versteckt hatte, als wir ihn nach unserer Art jubelnd anschrien, saß unter dem wolkenlosen blauen Sommerhimmel, ihr schönes müdes Haupt mit der Hand stützend, der Gast des Vetters Just, Irene von Everstein.
Ich sah sie niedergleiten am frühen frischen Morgen aus unseren schwankenden Märchennestern im Grün, hinab auf die tauige, blitzende Wiese; ich sah sie elfenhaft uns vorangleiten durch das Waldesdunkel; ich hörte sie lachen auf dem Fluß und sah sie ihre Hand in die rinnenden Wellen tauchen: erzählte uns nicht einmal vor langen Jahren der Vater Klaus auf der Überfahrt von einer, die wohl weit von oben her zugereist sein mußte, weil sie, nachdem er sie aus dem Schilf ans Land geholt hatte, niemand kannte im Lande?
„Lassen Sie das Schaukeln lieber auf dem Wasser, junge Herrschaften! Die alten Bretter unter uns sind doch wohl allgemach ’n bißchen brüchig geworden, und das dreht sich gerade hier in Wirbeln, und der Untiefe ist nicht gut zu trauen. Ich möchte um alles nicht, daß die Herrschaft zu Hause es mir zuschieben könnte, wenn ich die jungen Herrschaften nicht heil ans Land brächte.“
Ich sprach sie leise an:
„Guten Tag, liebe Irene.“
Sie fuhr zusammen und empor; doch als sie mich erkannt hatte, stand sie nicht auf, sondern blieb sitzen auf dem Stein am Wege und reichte mir mit einem traurigen Lächeln die Hand in die Höhe.
„Du bist es, Fritz? Wie kann man die Leute so erschrecken!… Aber es ist wohl nicht deine Schuld, sondern meine und meine Torheit. Wie kann man sich so ins freie Feld setzen und sich die blendende Sommersonne auf den Scheitel und in die Augen scheinen lassen, ohne für seine besten Freunde blind und taub zu werden? Das ist aber gut von dir, daß du gekommen bist, der Vetter wird sich sehr freuen; — er kam gleich in der Nacht mit glänzenden Augen, um es zu verkünden, daß — du wieder im Lande seist.“
Sie sprach die letzten Worte nur zögernd; ich hielt ihre Hand noch fest und sagte:
„Ich bin aber nicht allein in die alte Heimat zurückgekommen, Irene.“
Da zog sie mir die Hand weg, erhob sich nun und erwiderte erst nach einer geraumen Weile:
„Ich weiß durch den Vetter Just Bescheid über alles.“
„Über alles?… Über alles doch wohl nicht!“
„Doch!“ sagte sie, und das Wort kam kurz und hart heraus. „Wir stehen hier jetzt in der hellen heißen Sonne des Mittags, und es ist mir lieb so und ganz recht. Wir wollen nicht den Schatten und das freundliche Dach des Freundes suchen, um uns behaglicher und langatmiger über Schicksal und Schuld auszulassen —“
„Ich höre gern einmal wieder meinen Namen mit so freundlicher besorgter Stimme auch von dir rufen, Friedrich; — o, ich weiß es wohl, ihr alle meint es sehr gut mit mir und habt so viel Geduld; ich aber habe nichts für euch, als daß ich euch sage, wie es mir zumute ist; und — um das Herz ist’s mir, als hätte ich weiter nichts in der Welt, als daß ich mich gegen euch wehre, … gegen euch alle!“ …
Wie verstohlen hatte der Vetter Just den alten Broeder, die Grammatik, in der er alle Weisheit der Welt vermutete, einst unter dem Stein da und zwischen den Disteln und dem Wegelattich versteckt; — wie hatten Ewald und Irene gelacht, als sie das zerlesene Buch doch hervorzogen: nun hielt mir heute Irene Everstein das Blatt für Blatt mit Tränen getränkte Buch, über welchem ich sie jetzt überrascht hatte, offen hin.
Ganz nahe beugte sie sich zu mir und flüsterte mehr, als daß sie sprach:
„Sage ihm, daß ich alles weiß, was er für mich getan hat, um mich getan hat! Er hat sein Leben daran gesetzt, und er hat nicht nach rechts und nach links gesehen, sondern nur rückwärts nach der Stunde, in der wir, ich und er, Abschied voneinander nahmen. Ich bin das Weib eines anderen Mannes geworden, und er hat seinen Willen durchgesetzt, um mich zu demütigen und zu dem Geständnis meiner Schuld gegen ihn zu bringen …“
„Nein, nein! Das ist nicht so! Irene Everstein, das ist wahrhaftig nicht so!“ rief ich.
„Das ist doch so!“ antwortete sie kopfschüttelnd, aber ganz sanft. „Sieh, Freund, er und ich haben uns immer zu gut gekannt, um nicht besser als all ihr übrigen zu wissen, wie es um uns steht. Es ist auch ganz das Richtige, was er getan hat, und ich gönne ihm seinen Sieg und seinen Triumph; — ich freue mich, daß er so stark und so tapfer gewesen ist und im Stillschweigen! wäre ich seine Schwester, wie unsere liebe Eva, so wäre mein Glück vollkommen! Aber ich bin nicht seine Schwester — ich bin nicht sein Weib geworden — sieh, Fritz Langreuter, die Sonne steht uns klar und hell über den Köpfen, und in ihrem Scheine spreche ich zu dir klar und hell, und eine alberne frauenzimmerliche Närrin bin ich nie gewesen: ich gehörte ihm zu, und er gehörte zu mir von Gottes und Rechts wegen, seit wir unseren Kinderhaushalt im Spiel in den grünen Büschen von Schloß Werden aufschlugen! Er aber weiß das, und jetzt, da meine Jugend dahin ist, und da ich als Bettlerin bei dem guten, barmherzigen, weisen Mann, dem Vetter Just, hier auf dem Steinhofe sitze, da ich bin, was ich bin, kommt er — der Unbarmherzige, und ich fühle seine tapfere treue Hand wie mit einem bösen zornigen Griff und Schütteln an meiner Schulter! Mir gehört heute deines Vaters Haus, deinetwegen gehört es mir; ich habe in der Fremde, im Stillschweigen, in der Arbeit, die lange, lange Zeit durch, dich keinen Augenblick aus meinen Sinnen und Gedanken freigelassen, nun nimm deine Kraft zusammen und vergiß und sei glücklich; wir wollen uns von neuem einrichten in den Ruinen, mit keinem Wort und keinem Blick will ich dich je daran erinnern, daß wir in Ruinen wohnen! Und nun — rede du mir dagegen, Fritz, und sage, es hat keinen Sinn, was du sprichst, Irene, du sprichst nur aus deinem kranken, verwirrten Gemüte in den hellen, gesunden, lichten, stillen Tag hinein, weil du in deiner Unruhe und Angst eine Stimme — deine Stimme hören möchtest.“
Sie hatte recht; es war recht schwer, ihr etwas zu erwidern. Während ich nach Formeln, Phrasen suchte und für hundertfältiges Ja und Nein ein erlösendes Wort suchte, schritt ich wieder mit Ewald Sixtus durch die Gänge, Stuben und Kammern von Schloß Werden, rüttelte an verrosteten Türgriffen, drückte mit dem Knie die verquollenen, widerspenstigen Türen auf und sah scheu auf die Fußtapfen, die wir hinter uns zurückließen in dem Staube, der den Boden bedeckte.
Er hatte recht, der Freund: es war nicht dasselbe, wenn er Schloß Werden gewann und Just Everstein den Steinhof wiedergewann! Schlafendes Leben läßt sich wieder aufwecken, aber Totes läßt sich nicht lebendig machen; und Schloß Werden war tot, war tot auch für das Kind des Hauses und für den, der sein Herzblut darum gegeben hätte und seinen ganzen Willen gegeben hatte, das Rad zurückzudrehen und der Frau auf dem Steinhofe zu sagen:
„Komm und sieh, was ich für dich und mich habe tun können“ …
Das war nichts; aber in dieser heißen, blendenden Mittagsstunde, nach dem letzten Worte Irenes zuckte es mir eben durch Hirn und Herz: „Aber das ist ja auch nichts, und die Hauptsache ist es ja einzig und allein, daß sie es wissen und es deutlich sagen können, wie es ihnen zumute ist. Alles andere bedeutet nichts, und die Nester, die sie in die Zweige der Nußbüsche an der Hecke bauten, gelten ebensoviel wie die Mauern von Schloß Werden. Auf schwankendem Gezweige, zwischen Himmel und Erde schaukeln wir alle; aber am meisten dann, wenn wir am tiefsten in die Erde graben, um einen festen Grundstein für die Burg zu legen, in der wir mit unserem Glück zu wohnen wünschen.“ Irene kämpfte mühsam mit ihren Tränen; mich aber überkam allgemach immer mehr die Gewißheit, daß hier doch noch nicht alles aus und zu Ende sei; wie es aber sich zuletzt schicken mochte zwischen diesen zwei stolzen, widerspenstigen Seelen, wer konnte das sagen?!
Wie aber schickte es sich, daß die Jugendfreundin gerade in diesem Augenblick meine Hand fester nahm und mir zuflüsterte:
„Nicht wahr, Fritz, es ist doch auch gut so, wie sich das Verhältnis zwischen dem Vetter Just und unserer Eva gestaltet hat?“
„Ja!“ sagte ich, und ich sprach keine Unwahrheit, wenn ich hinzufügte, daß ich meinesteils vollkommen damit einverstanden sei. Habe ich es nicht schon gesagt, daß ich der größte Egoist von allen diesen Menschenkindern geworden war und mir am meisten die Fähigkeit gewonnen hatte, allein zu bleiben und — dann und wann auf Verlangen ruhig den anderen ihre Ansicht zu bestätigen oder gar sogenannten guten Rat zu geben?…
Vielleicht hätte ich aber doch nicht so klar und gelassen bejahend auf diese zwischen Tränen hervorspringende Frage geantwortet, wenn es nicht die Hauptperson in diesen Lebensgeschichten gewesen wäre, welcher gegenüber ich mein Recht, nein zu sagen, aufgegeben hatte.
Ihre Augen hastig trocknend, rief Irene:
„Da kommt der Vetter!“ und wir wendeten beide uns ihm rasch zu, beide froh, daß er dieser kurzen, bitteren, schmerzensreichen Unterhaltung auf dem schattenlosen Feldwege ein Ende machte.
Er kam von seinem Gehöft, von seinem in so ganz anderer Weise als Schloß Werden wiedergewonnenen Erbsitz auf dieser Erde. Auch ihn sah ich jetzt zum ersten Mal in der hellen Mittagssonne der Heimat, und sie änderte nichts daran, sie stellte es nur in ein helleres, freudigeres und sozusagen verständigeres Licht: in seinen gemütsruhigen, gesunden Jahren paßte und gehörte er ganz und gar zu Eva Sixtus, und ich änderte nichts an dem Faktum!
Es lag in jedem seiner Schritte etwas wie eine Bürgschaft für den ferneren guten, stillen, hülfswilligen Lebensweg der beiden Leute. Mit den buntfarbigen Phantasmagorien, mit den Schmerzen und Tränen der Jugend hatte die lächelnde Sonne, die auf seiner Stirn und seinem Hausdache lag, freilich schon längst nichts mehr zu schaffen; aber nichtsdestoweniger ist und bleibt sie etwas sehr Gutes und Wünschenswertes in dieser Welt der Verwirrung, des Nebels und des Landregens.
„Das ist gut, daß du wenigstens da bist,“ sagte der Vetter Just Everstein.
„Und das Quadrat der Hypotenuse ist immer noch so groß wie die Summe der Quadrate der beiden Katheten,“ rief ich; es ging nicht anders. Wie einer der grünen Zweige, auf denen sich unsere Kindheitsnester wiegten, hing der Magister matheseos aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein; ich mußte danach greifen und nicht bloß nach ihm, sondern nach allem, was an Blüten und Früchten sonst dran hing.
Und es war wohlgetan. Zum ersten Male glitt etwas gleich einem Lächeln über Irenes Gesicht.
„Wie wunderlich,“ sagte sie, „daß wir einst kamen, um dich auszulachen, Just, und uns heute noch daran als an unsere glücklichsten Minuten erinnern. Auch an Eva haben wir mit unserer Kinderlustigkeit wohl arg gesündigt; aber das war wohl vor hundert Jahren —“
„Nicht ganz so lange ist es her!“ meinte der Vetter Just; doch Irene Everstein, seinen Arm nehmend, rief:
„Für dich und — deine Braut wahrhaftig nicht, aber für uns andere. Sieh nur den Fritz Langreuter an, wie er mir recht gibt und was für ein verrunzelt ernsthaft urväterlich Gesicht er zu seinem Seufzer macht. Gewiß und wahrhaftig, ihr allein seid jung geblieben, Just und Eva; — kreischend lachen und jauchzen wie wir konntet ihr nie; nun dürft ihr heute lächeln, und wir dürfen das jetzt so wenig für eine Beleidigung nehmen als ihr damals unser Lachen. Nun komm aber, Just, wir wollen dem Berliner Doktor hier endlich einmal wieder den Steinhof zeigen; es ist doch hundert Jahre her — mehr als hundert Jahre, seit er durch sein gastfreundlich-freudiges Tor einging. Wie oft er das freilich im Schlafen und Wachen im Traum tat, kann ich nicht wissen.“
Ja, da lag der alte Hof, der echte, rechte Bauernsitz, die deutsche Heimstätte des gelehrten Bauern Just Everstein vom Steinhofe im vollsten Glanze der Sommersonne, das heißt, soviel augenblicklich, nachdem wir den altbekannten Weg bis zu dem altbekannten Zaune zurückgelegt hatten, von ihm zu sehen war. Es war die Zeit der Heuernte, und bis ans Dach, schier bis hinauf an das Fenster der Giebelstube des Vetters lagen die duftenden Haufen aufgetürmt, und der Zufuhr von allen Seiten schien kein Ende zu sein.
„Auf unserem steinigen Ackerlande bauen wir wie sonst, was darauf passen will,“ seufzte der gelehrte Bauer, um sodann behaglich hinzuzufügen: „Ja, da ist der Steinhof wieder, Fritz Langreuter, und ich glaube, ich habe nunmehr wirklich daraus gemacht, was zu machen war. Man will sich eben immer von seinen liebsten Freunden am liebsten loben lassen, sei es wegen seines Lateins, seiner Mathematik oder seiner Landwirtschaft. Also lobe mich nur dreist heraus! Mit meiner Vorfahren Ackerboden habe ich auch mit allen meinen amerikanischen Erfahrungen wenig anzufangen gewußt; aber an eine rationelle Ausnutzung unseres Wiesenlandes hatte vor mir keiner gedacht; ich aber habe manchen guten Morgen zugekauft, und es trägt sich aus.“
Lächelnd stieß er mich in die Seite:
„Du weißt es ja wohl, daß ich immer eine Vorliebe für das grüne Gras und das weiche Heu gehabt habe, nämlich für das Langhin-drein-sich-legen. So kommt man denn stets zu seinen Lieblingsneigungen zurück; — lache nur, Horaz hat’s: Naturam expellas furca und so weiter, soviel Latein weiß ich noch! Das war ein Satz bei Römern und Griechen und ist es auch bei uns neuen geblieben. Klettre über, wühle dich durch; — die Haustür findest du hinter dem Haufen an der alten Stelle, und — hör nur — da sind sie in gewohnter Weise scharf in der Unterhaltung — gegeneinander. Taub sind sie alle beide ein bißchen, und zu sagen haben sie sich natürlich immer was, — Jule Grote und Mamsell Martin meine ich! Na, auf das Gesicht freue ich mich, was meine Alte über dich machen wird. Weißt du noch, für das liebe Fritzchen drüben von Werden hielt sie immer eine Extrapartie von Pfeffer, Salz und Essig in ihrer Natur bereit; denn darauf ließ sie sich jeden Tag totschlagen: wenn ein Mensch und nichtsnutziger studierter Taugenichts von Jungen den dummen Jungen, ihren Just, auf dem Gewissen hatte, so warst — du das.“
„Ist das wahr, Irene?“ fragte ich, mich zurückwendend, doch die Freundin war uns im Rücken abhanden gekommen, ohne daß ich es gemerkt hatte.
„Das ist jetzt ihre Art so,“ sagte der Vetter Just, „sie wird sich schon wiederfinden lassen. Hättest du es wohl für möglich gehalten, daß die Gute, Wilde so lärm- und menschenscheu hätte werden können? Aber sie hatte verweinte Augen! Ihr habt wohl schon die paar Augenblicke der Unterhaltung am Wege nach Möglichkeit ausgenutzt? Das ist recht, denn im Grunde habe ich dich dazu hergerufen; aber nun komm fürs erste ins Haus und sieh zu, ob du die alte Herberge am Wege noch wiedererkennst. Glaube nicht, daß mir das etwas Natürliches und Selbstverständliches ist. Einen um den anderen Morgen wache ich auf und wundere mich, mich so wieder zu Hause zu finden. Naturgeschichtlich besteht es ganz und gar nicht zu recht, daß jeder Vogel wieder in dasselbe Nest fällt, in welchem er flügge geworden ist, sondern ganz im Gegenteil.“
„O Vetter, da sprichst du ein trostreiches Wort aus!“ rief ich. „Und das beste für uns andere ist, daß du, du das sagst! Was kümmert uns denn da noch Schloß Werden? Wie sehr es da spukt, das glaubte ich gestern erfahren zu haben, als man mich bat, als Gelehrter mit dem Gespenst zu reden; aber in Wahrheit erfahre ich es erst jetzt. Mit Geistern soll sich der Mensch herumschlagen, aber die Gespenster mag er sich selber überlassen. Was geht uns Schloß Werden an; denn wie würden wir an jeglichem Morgen erwachen und uns wundern, uns daselbst wieder zu Hause zu finden?!“
„Irene auch, und das ist das allerbeste!“ sprach der Vetter Just, und wir stiegen durch das Heu, die durch die Sommersonne in Wohlduft und Nutzen verwandelte Wiesenschönheit des Jahres. Noch einmal dachte ich an den gestrigen Weg über den verwilderten, verwüsteten Schloßhof zu der Tür von Schloß Werden, dann aber nicht mehr; der Steinhof nahm mich ganz gefangen.
„Mit Fräulein Martin bist du ja erst neulich zusammengetroffen und ihr kennt euch also noch; aber mit dir ist es etwas anderes, Jule. Komm her, Alte, und betrachte dir den Gast genauer. Wer ist das? Wer kann es sein?“
Die Greisin hielt die Hand über die blöden Augen; doch schon platzte der Vetter heraus:
„Das Fritzchen ist’s! Der kleine Fritz Langreuter von Werden! Wer könnte es denn sonst anders sein?“
„I du meine Güte!“ schrillte der verrunzelte, graugelbe, weißhaarige Schutzgeist des Steinhofes, und mit dem Ton wachte auch der Rest von dem auf, was an Jugenderinnerungen auf dieser Erdstelle bis jetzt für mich noch im Schlafe gelegen hatte. Was waren alle Heimchen an dem sonnigen Feldwege von Bodenwerder herauf gegen diese aus der Vergangenheit hervorzirpende Alt-Weiber-Stimme? Aus allen Winkeln und Ecken nicht nur des Hausflurs, sondern des ganzen Hauses hallte es wieder bis auf das Klatschen der Ohrfeige, wie sie Freund Ewald Sixtus in Empfang nahm, wenn er mit dem gesamten Eiersegen aus den Hühnerställen des Steinhofes in den Taschen sich harmlos, aber dreist auf den Heimweg machte und noch unter der Pforte von der Hüterin des umfriedeten Bezirkes ertappt wurde. Wer je einen erhitzten Gemütes abgezogenen Holzpantoffel gegen eine verriegelte Tür pochen hörte, dem lebt der Hall auch wieder auf, wenn er die Klopferin nach Jahren wiedererblickt, und die nämliche Fußbekleidung griffgerecht an ihren Füßen. „Es hilft uns nichts, Fritze, sie trommelt uns heraus,“ pflegte der Vetter Just in der Giebelstube zu sagen. — Ja, da stand sie, Gott sei Dank, noch in ihren Schuhen, und nun schlug sie die Hände vor dem Leibe zusammen, daß es gleichfalls den alten trockenen, knöchernen Hall gab, und seufzte herzzerbrechend, aber doch, wie es mir schien, mit einem gewissen Behagen:
„Ach, du liebster Gott, also das ist er wirklich? Ach, und ist wirklich aus einem so überstudierten Jungen ein so gelehrter Herr und Herr Doktor geworden? Ach, und du liebste Barmherzigkeit, Herr Fritz, und — so dünn! — Nehmen Sie es nur nicht übel, Herr Doktor Fritz; je ja — je ja, es ist mir ja wirklich eine rechte Herzensfreude, aber recht schlecht und kümmerlich muß es Ihnen doch wohl da draußen in der Welt ergangen sein? Je ja, das ist so, wenn der Mensche dem lieben Herrgott zu genau in die Karten gucken will; da vernachlässigt er denn seine Leibesnahrung, zumal wenn ihn auch keiner daran erinnert, daß es Klokke Zwölfe am Mittage ist, wie ich meinen Just da, der sonst auch wohl als Faden sich durch’n Stopfnadelöhr ziehen lassen könnte. Das habe ich ja immer gesagt, wenn Sie sonst hier auf den Steinhof kamen, und mein Just jedesmal das Fieber nach Ihnen kriegte. Just, habe ich gesagt, wie kann so ’nem Jungen was anschlagen? Den setze du in’n Fettpott, und er bleibt, was er ist; an den kommt nie in seinem ganzen Leben was Rechtes. Wenn ich dem seine Mutter wäre, so schliefe ich keine Nacht aus Angst um ihn. Also, wenn du denn gar nicht von ihm lassen kannst, Just, so nimm dir zum wenigsten ein Exempel an ihm! Ja, je ja, so habe ich dunnemalen in den Wind gesprochen, und daß ich jetzo wiederum darauf komme, das tue ich nur, weil dem Menschen in seinem Vergnügen manches hingeht, was man sonst wohl krumm nimmt, wenn einer kein Blatt vor den Mund nimmt. Und das ist meine Rede, Herr Fritze, Herr Doktor Fritze, ich freue mich gewiß und sehr, daß ich Sie endlich doch noch mal erblicke; und wie es Ihnen auch draußen in der Fremde ergangen sein mag, auf dem Steinhofe sind Sie immer willkommen, und nun kommen Sie nur wie sonst recht oft nach dem Steinhofe; meinen Jungen, den Just da, verführen Sie mir jetzt nicht mehr; wir aber wollen es mit Pläsier versuchen, ob sich denn gar nichts an Sie heranfuttern läßt! Ihre Frau Mutter habe ich doch auch gut genug gekannt und gern gehabt, nach Ehren strebe ich nicht, aber das wäre mir doch was wert, wenn sie mir dermaleinst da oben die Hand gäbe und sagte: Jule Grote, Sie hat an allem, was mit Ihrem Just gut Freund gewesen ist, getan, was sie konnte, selbst wenn sie es nicht verdient haben wie viele aus Bodenwerder und sonst hier aus der Umgegend, die ich jetzt hier nicht in den Mund nehmen mag; aber an meinem Jungen, dem Fritz, da hat Sie Ihr Allermöglichstes getan, und jetzt komme Sie nur her, dafür will ich Sie jetzt hier bekannt machen; denn die Besten, die von unten heraufkommen, sind zuerst immer ein bißchen fremd — das ist überall so.“
Nicht das kleinste Wörtchen, kaum ein zustimmender Gestus war in diese Begrüßungsrede einzuschieben gewesen. Wie der gelbe Heimatsfluß beim Eisgange rollte her, was Jule Grote zu meiner Bewillkommnung auf dem Steinhofe vorzutragen hatte.
Der Vetter Just stieß mir nur bei jedem Komma und Atemholen den Ellenbogen in die Seite, was nichts weiter hieß als: Siehst du wohl? Ganz die Alte! — Was wäre das alte Nest, der Steinhof, ohne die Alte! — Ich aber hätte die Alte bei jeder neuen Wendung und vorzüglich da, wo sich die Schollen aufeinander zu schieben drohten, beim Kopf und Kragen nehmen mögen, um sie abzuküssen, wie keine Jüngere im Lande.
Und dazu brotzelte es vom Küchenherde her, und alles war voll Heuduft; und Frau Irene und ich waren die einzigen, die nicht in Hemdärmeln auf dem Steinhofe herumwirtschafteten. Es war ein heißer Sonnentag mitten im Sommer und in unserem Leben; aber die Sonne war doch das Beste in der Welt, und wer sie nicht ertragen mag, der mag sich einfach vor der Zeit begraben lassen. Es sind aber auch nur diejenigen, welche auch hier unten „fremd“ bleiben, wie Jule Grote sich ausdrückt, die die Sonne nicht vertragen können.
Aber ein drittes Wesen, das gleichfalls nicht in Hemdärmeln einherging, hatte ich eben doch vergessen aufzuzählen. Zugeknöpft bis an den Hals, sowohl was das Kostüm als was die Gemütsstimmung anbetraf, setzte mir jetzt Mademoiselle Martin aus Nanzig einen Knix hin — vor der Welt, um mich sodann mit zupackendstem, nicht den geringsten Aufschub zulassendem Interesse in den Winkel zwischen Stubentür und Wand zu ziehen und zu flüstern:
„Et l’autre?! Der andere?! Wo ist der andere? was denkt sich der andere? was tut der andere?“
„Der andere? Ewald? Ewald Sixtus?“
Die alte Dame hielt meinen Arm und schüttelte mich, wie sie mich nie in meiner Jugend auf Schloß Werden geschüttelt hatte:
„Ah — oui — ich werde wie gebraten hier auf heißen Kohlen, und da kommt dieser, und ich halte ihn, und er sieht mich dans mon angoisse, und ich schüttele ihn und er — fragt!“ …
„Ach Mademoiselle,“ seufzte ich, „der andere fragt ebenfalls. Vor allen übrigen fragt er auch Sie, was er mit Schloß Werden anfangen soll? Wir haben gestern um diese Tagesstunde alle Türen dort aufgeschlossen; aber einen Eingang haben wir darum doch nicht gefunden. Am hellen Mittage haben wir große Furcht gehabt —“
„Und ich weiß schon, was ich ihm sagen werde; aber der vaurien, der Taugenichts, muß selber zu mir kommen. Was schickt er einen anderen hierher, wenn der gute Gott ihm auch zwei Beine hat anwachsen lassen! Aber es war immer so! nur wo er einen Unsinn konnte ausüben, kam er selber; — wo es galt, nach der raison zu handeln, mußte man ihn immer suchen.“
Selten war mir zwischen Tür und Angel ein nur annähernd gleich trostreiches Wort gesprochen worden wie dieses letzte der atemlosen, vor Hast und Erregung zuckenden soeur ignorantine, die gottlob so genau Bescheid wußte. Aber unsere Privatunterhaltung war jetzt zu Ende für den Augenblick; — es war wieder einmal Essenszeit auf dem Steinhofe, und alles Hofvolk stieg durch das Heu und kam, seinen Platz an dem Tische einzunehmen, den der Vetter Just Everstein durch die alte Stube auf feste Eichenfüße von neuem hingestellt hatte: zwei Bänke von Tannenholz die Langseiten entlang, ein Schemel für den Hofjungen und ein Holzstuhl mit einer Lehne für den Herrn. Es konnte in ganz Germanien keine vornehmere Hoftafel abgehalten werden!
Die Nacht war still, und ich überdachte den ersten Tag, den ich wieder auf dem Steinhofe zugebracht hatte. Die Nacht war ungemein still, und, Gott sei Dank, auch in mir ging’s nicht außergewöhnlich lebhaft und lärmhaft zu. Was übrigens in dem gewohnten Laufe der Dinge und Stimmungen in der Welt durchaus nicht so hätte sein dürfen, denn ich befand mich in dem Hause meines außerordentlich glücklichen Freundes, und der Vetter Just hatte mir wiederum viel von der Vortrefflichkeit des Preises, der mir entgangen ist, gesprochen. Ich aber kann darüber nur sagen, was ich schon gesagt habe, und da es eine Nacht der Wiederholungen war, so will ich es auch an dieser Stelle noch einmal zu Papiere bringen: Ich gönnte dem Vetter aus vollstem Herzen alles Gute, Liebe und Schöne, das er, weil er’s verdient hatte, sich gewonnen hatte — so kurz noch vor Torschluß! Von alten Nestern handeln diese Lebenshistorien: die Zeiten, wo wir sie jung ins Grüne bauten, die waren für uns alle lange, lange vorüber; aber Just Everstein und Eva Sixtus wurden ein stilles, solides Paar, auch ein stattlich Paar und eine Krone der Gegend. Eine Herrin gehörte noch an die fürstliche Tafel, die der Bauer vom Steinhofe Punkt zwölf Uhr mittags öffentlich, d. h. bei offenen Türen hielt, und wer hätte den Platz währschafter und freundlicher auszufüllen vermocht als die jetzt so stattliche Jungfrau vom Försterhofe zu Werden — meine rehhafte, leichtfüßige, liebliche Jugendliebe?!…
Ich war aber auch dem Stadtrat Bösenberg aus Finkenrode nicht umsonst unterwegs begegnet; ich hatte nicht umsonst mit ihm gefrühstückt in Finkenrode: Stadtrat zu Bodenwerder wurde ich mein Lebtage nicht und noch viel weniger Bürgermeister daselbst. Die den Ort sonst betreffenden historischen Studien hatten mir der Justizamtmann Bürger zu Göttingen und der Obergerichtsrat Immermann in Düsseldorf schon längst vor der Nase weggefischt. Um es mit ein paar kurzen Worten auszudrücken: mein Name war Dr. Langreuter, der irische Baukünstler Ewald Sixtus hatte mich nur für einige Wochen aus einem mir völlig angemessenen Lebensberuf weggeholt, und ich gehörte einfach nach Berlin und nicht nach Dorf Werden; letzteres ebensowenig wie der internationale Ingenieur Ewald Sixtus nach dem dort noch befindlichen, aber sehr zur Ruine gewordenen Herrensitz der Grafen von Everstein.
Ich lag lange in dieser Nacht im offenen Fenster auf dem Steinhofe, und die Kühle war sehr erfrischend, und die Monddämmerung sehr wohltätig nach dem heißen, blendenden Heumondstage. Sie hatten ihr Heu wohl meistens glücklich unter Dach gebracht, aber der Duft davon durchzog noch immer angenehm, wenngleich etwas betäubend die Nacht; ich aber konnte zu keiner besseren und günstigeren Zeit als zur Zeit der Heuernte auf dem Steinhofe wieder zu Gaste sein. Es ist immer ein anderes, wenn die Wiesen in voller Pracht und Blüte stehen, mit seinen Illusionen und Herzensneigungen abzuschließen, und ein anderes ist’s, zur Zeit des Heumachens anderer seine Lebensruhe sicher und trocken unter Dach zu bringen. Was dabei meine Gemütsstimmung nicht verschlechterte, war die im Verlauf des Tages gewonnene feste Überzeugung, daß auch zwei anderen Leuten und lieben Freunden sich der Pfad sanft abwärts führend viel leichter glätten werde, als sie augenblicklich noch beide für möglich hielten.
Ich hatte dem jetzigen Herrn von Schloß Werden mein Wort gegeben, ihm in dieser Nacht sofort zu schreiben; ich wußte, daß der Mann und wilde Irländer in der Försterei zu Werden ebenfalls wenig schlief in dieser Nacht, hatte mir auch gewissenhaft einen Briefbogen zurechtgelegt und dem Vetter Just sein Tintenfaß mir aus seiner Giebelstube geholt; aber — wozu eigentlich immer selber stets Wort halten in einer Welt, in der es einem selber so häufig nicht gehalten wird, sowohl vom Wetter wie vom Schicksal?… Ihrem Schicksal entgingen sie — Ewald und Irene — darum doch nicht; was ich aber brieflich mitteilen konnte an den Freund, war wenig und hatte in der Tat vollkommen Zeit bis morgen. Wie sich das stolze Herz der Frau noch sperrte und flatterte und mit den Flügeln schlug, das ließ sich doch nur schwer mit des Vetters schlechter Tinte und noch schlechterer Feder hinschreiben, und dazu hatte der Vetter selbst mich vom Schreiben abgehalten. Er war ganz meiner Meinung gewesen; aber bis über die Mitternacht hinaus hatte er bei mir gesessen und die Sache immer wieder von einer anderen Seite her beleuchtet und geredet wie der außerordentlichste Professor der Psychologie.
Der irländische Baumeister Ewald Sixtus hatte manche Nacht durchwacht, um Schloß Werden sich zu gewinnen, weshalb sollte er nicht die eine und die andere Nacht durchwachen, um zu dem Entschluß zu kommen, es wieder aufzugeben?
„Gute Nacht, Just. Dein Schreibzeug läßt du mir wohl bis morgen früh?“
„Ist denn noch Tinte drin? Wohl mehr tote Fliegen und dergleichen?“ fragte der Vetter, lächelnd sich hinter dem Ohre kratzend. „Lieber Bruder, die Zeiten haben sich ganz besonders in dieser Hinsicht sehr geändert. Ich habe schon mehrmals einen reitenden Boten nach Bodenwerder schicken müssen, um mir den notwendigen Tropfen zu einer Namensunterschrift holen zu lassen.“
Ich stieß den Federstumpf durch den Schimmelüberzug und fand noch genügendes schwarzes Naß, um aller Welt Glück und Leid dreintauchen zu können, und meine Ansicht, Meinung, Weisheit und guten Ratschläge dazu; der Vetter war gegangen, und ich hatte — die Feder neben den Briefbogen gelegt und mich in das Fenster.
Was konnte ich eigentlich dem Freunde in Werden schreiben?
Daß ich sie in der heißen Sonne am Wege sitzend fand, daß sie in der Abenddämmerung an meinem Arm durch die Felder wandelte, daß sie viel und hastig aufgeregt und verworren sprach, und ganz und gar nicht wie ein Professor der Psychologie? Daß wir bis spät in die Nacht hinein in der Gesellschaft des Vetters Just im Baumgarten saßen und zwar sehr still? Daß ich noch eine Viertelstunde zwischen Jule Grote und Mamsell Martin auf der Bank vor dem Hause hockte, und daß ich die beiden guten Alten reden ließ, ohne sie nur ein einziges Mal zu unterbrechen? Daß alles in der Welt von den verschiedensten Seiten angesehen werden kann? Daß aber, gerade weil dem so ist, alles auf Erden viel offener und sozusagen wehrloser daliegt, als der Mensch in seiner täglichen Verwirrung sich einzubilden pflegt? Daß der Mensch viel zu häufig Furcht hat? Daß es im Grunde keine Gespenster gibt — auch in und um Schloß Werden nicht? Daß die Nacht wundervoll klar und lieblich war, und daß die Nachtkühle außerordentlich beruhigend auf den Menschen wirkte, und daß es trotz alle, alle dem sehr leicht sei, über mittelalterliche Geschichten, und sehr schwer, über das lebendige Leben der Gegenwart zu schreiben?
Mit der letzteren Bemerkung begann ich selbstverständlich am folgenden Morgen meinen Brief und schloß ihn mit einer ganz ähnlichen.
„Ich reite wie gewöhnlich erst diesen Abend hinüber,“ sagte der Vetter Just, dem ich die Lektüre gern gestattet hatte. „Offen gestanden, Fritz, ich glaube, einen expressen Boten brauchen wir nicht damit hinzuschicken. Recht hübsch, Fritze!… und daß euch euer Abendspaziergang, ganz ohne daß ihr es merktet, dem Flusse zuführte, und daß ihr erst auf den letzten Hügeln umdrehtet, nachdem ihr längere Zeit nach den Bergen gegenüber ausgeguckt hattet — ist auch — recht hübsch, Doktor. Wenn du meinst, daß die Sendung Zeit hat bis zum Abend, so kannst du dich darauf verlassen, daß ich deine Schilderungen dem armen Teufel drüben getreulich überliefern werde. Übrigens — wenn ein Mensch auf eine prompte Korrespondenz gar keinen Anspruch hat, so ist das unser braver Freund Ewald auf Schloß Werden. Jetzt entschuldige mich freundlichst bis Mittag. Wir haben gerade heute einen ziemlich scharfen Arbeitstag vor uns. Bekümmere du dich um nichts als die Frau Irene und laß dir soviel als möglich von ihr Gesellschaft leisten. Über mittelalterliche Geschichten läßt sich wohl besser und leichter schreiben; aber in dem lebendigen Leben der Gegenwart stecken wir eben drin und haben uns durchzufühlen. Ich drücke mich wohl schlecht aus?… Aber — nimm es mir nicht übel, ich spreche nur nach, was du geschrieben hast, und in deinem Briefe an Ewald steht wirklich wenig von dem, was wir augenblicklich an uns und in uns und in der allmächtigen Schicksalswelt um uns erfahren. Dein Brief ist sehr nett und sehr freundschaftlich und sehr ausführlich — du hast den gestrigen Tag gut geschildert, und daß er zwischen den Zeilen wird lesen können, das ist noch besser; aber das beste und einfachste wäre meiner Meinung nach, — sie ginge einfach zu ihm.“
Das Wort kam wie etwas so Selbstverständliches heraus, so ruhig und sozusagen gemütlich, daß ich im Anfange glaubte, mich verhört zu haben:
„Was sagtest du, Vetter?“
„Ich bin bei eurer ersten Unterhaltung gestern auf dem Feldwege nicht gegenwärtig gewesen; aber das war auch gar nicht notwendig. Wenn einer weiß, wie dem anderen in seiner Verwirrung zumute ist, dann weiß er auch, welche Worte er gebraucht, um sich Luft zu machen; vorzüglich wenn er ihm ein jedes an den rotgeweinten Augen absieht. Bei einem lachenden Gesicht ist es freilich schon schwieriger, und daß ein Menschenelend wahr ist, erkennst du viel leichter, als wie ob ein Glück und Jubel dir nur als Komödie aufgeführt werde. Lache nicht über den Bauer vom Steinhofe, der ein Gelehrter werden wollte und es wirklich einmal für eine Zeit zum Schulmeister gebracht hat. An sich selber muß der Mensch in Erfahrung bringen, wie es dem anderen zumute ist, und in dieser Hinsicht glaube ich das Meinige gelernt zu haben.“
Es war nicht das erste Mal, daß der Mann es sich ausbat, daß man nicht über ihn lache. Es lohnte sich also nicht der Mühe, ihm noch einmal hierauf die gehörige Antwort zu geben. Wir saßen in seiner Giebelstube am Tisch; die Wände und die schräge Decke waren dieselbe geblieben. Ich war wieder ein Knabe, ein Kind; im Grasgarten unter den Kirschbäumen trieben die anderen als Kinder ihr Spiel, und ihr helles Lachen und Jauchzen drang zu uns her; und — es war geblieben, wie es schon damals war: nur der Vetter Just achtete darauf in sich selber nach der richtigen Weise, wie ihm und der Welt ums Herz war.
„Verlaß dich drauf, Fritz, sie will zu ihm, und weil sie Angst hat, daß es zu spät sei, schiebt sie die Schuld auf die Ruinen, die zwischen ihm und ihr liegen. Auf das alte brave Nest, Schloß Werden, gebe ich dabei gar nichts; aber ihr kommt es zupaß. Sie möchte es in ihrer heutigen Ratlosigkeit um alles in der Welt nicht anders haben, als wie es jetzt da liegt. Das kommt ihr gerade recht! Das ist der Nagel, an dem sie ihren Weiberstolz am bequemsten aufhängen kann, um ihn zu — schonen! Und Kinder sind sie alle beide, soweit sie in den Jahren vorangekommen sein mögen. Wie sie heute in sich hineingraben, ist ihnen keines der goldenen Schlösser, die sie (und du auch, Fritz Langreuter!) in die berühmten italienischen Nußbüsche in Werden hingen, so lieb wie der Zorn und die verhaltene Reue von heute. Du willst wissen, was sie dir gestern gesagt hat?… Hat sie dir nicht in einem Atem von ihrem Alter, ihrer Armut und ihrem Stolze gesprochen? Sie, welche die Jüngste von uns allen ist, und soviel zu verschenken hat, und alles so gern hergäbe, wenn nur das Schicksal sie wie ein verweintes Kind an der Hand nehmen und führen wollte. — Hat sie nicht gesagt, daß sie alles begreift und würdigt, was ihr Freund nur in dem Gedanken an sie erarbeitet und getan hat? Daß sie mit klopfendem Herzen ihm dafür dankbar ist, hat sie wohl nicht gestanden, — das umschreiben die Weiber immer am liebsten oder drücken es anders aus, zum Exempel durchs Gegenteil, und das letztere hat auch sie getan. Nämlich, daß sie um keinen Preis der Welt sich durch ihn demütigen lassen könne, hat sie gesagt. — Wenn es nicht schade wäre um jeden Tag, den sie unnützerweise dadurch verlieren, so könnte man wirklich einfach darüber lachen … und sich ärgern! Sag mal, Fritz, glaubst du nicht auch, daß der Ärger die einzige wirklich konservierende Zutat in unserem irdischen Zustand ist? Ich habe darüber nachgedacht; im höchsten Schmerz, im edelsten Zorn und Kummer schmeckt man ihn durch. Er ist wie das Salz das Gemeine oder Allgemeine, aber doch das, was unter allen Umständen dazu gehört. Schicksal kann man nicht spielen; ohne Ärger kommt man nicht aus, — in seinen Einbildungen lebt man, — warten, warten muß man — heute wie morgen — auf das, was mit einem geschieht: in das Glück kann sich kein Mensch unterwegs retten; so fallen die Besten und Edelsten in die Entsagung, um nicht dem Verdruß zu verfallen, und das ist der Fall heute mit Ewald und Irene. Wenn aber einer von uns zweien hier am Tisch sagt: Es schmerzt mich! so könnte er dreist ebenso gut sagen: Ärgert mich nicht! — Und jetzt siegele ruhig deinen Brief zu, du hast es wirklich sehr hübsch ausgedrückt, wie dir zumute war, als du nach längerer Abwesenheit zum ersten Mal wieder den Steinhof besuchtest.“
„Just!“ klang es vom Hofe her in unser offenes Fenster.
„Hier sitzt er, Jule! Was soll er?“
Neben dem Brunnen stand die Alte in der Sonne, blinzte unter übergehaltener Hand vor und zu uns empor und brummte:
„Jawohl sitzt er da! Als ob ich das nicht wüßte? Sowie der — andere wieder im Lande ist, geht richtig das alte Elend augenblicks wieder von frischem an; — na, ich weiß schon, Herr Langreuter, und will auch nichts Despektierliches gesagt haben. Aber Just, im Lämmerkampe weiß kein Mensch mehr, wo er mit sich hin soll, und so haben sie sich lieber allesamt unter die Bäume gelegt und warten, daß der Meister kommt und nach ihnen sieht. Und mit der Steinfuhre für den neuen Schweinekoben sind sie am Tillenbrinke vermalhört. Da liegt die ganze Prostemahlzeit, Schiff und Geschirr im Graben, wie der Junge sagt, und bis jetzt haben sie nur die Pferde ausgespannt und sitzen und besehen sich die Angelegenheit, sagt der Junge. Nach dem Herrn Doktor aus Berlin aber sucht sich Mamsell Martin schon stundenlang die Augen aus dem Kopfe; mir flackert das Feuer in der Küche unter den Händen weg und brennt mir auf den Nägeln; und so geht denn alles wie gewöhnlich ja recht hübsch kopfunter kopfüber.“
„Da hast du es, Fritz!“ meinte der Vetter ein wenig kläglich lächelnd. „Der Mensch mag sich noch so sehr abarbeiten, um ein anderer zu werden, das Durcheinander um ihn her bleibt immer dasselbe, und alle Erfahrung und der beste Wille richtet wenig dabei aus. Wieviel Zeit von seinem eigenen Tage behält man übrig für die Bedrängnisse der anderen? Jetzt geh du nur hin und erhalte der treuen Seele, der Mamsell Martin, ihre guten ängstlichen Augen, mich ruft das Schicksal zuerst nach dem Tillenbrink und dann nach dem Lämmerkamp. Das ist ganz richtig, weg läuft mir niemand dort. Sie liegen allesamt ganz behaglich und warten, bis ich komme.“
„Und durch die Abendkühle reitest du nach Werden. Das ist dein Trost, und zwar ein recht behaglicher.“
„Ja!“ sagte der Vetter Just leise und innig und faßte meine Hand. „Es ist so. Und wenn mir manchmal in allem Behagen etwas melancholisch zumute wird, daß ich in meinem und meiner Eva Glück doch eigentlich nur auf die beginnende Dämmerung und Kühle des Abends angewiesen worden bin, so tröste ich mich: Wir bleiben eben länger jünger als die anderen!… Und nun, alter Freund, hänge doch ein Postskript und guten Rat über das Jung-Bleiben an deinen Brief. Ich trage ihn dann noch einmal so gern hinüber heute am Abend. Wenn nachher wieder die Rede auf Schloß Werden kommt, weiß man dann doch etwas genauer, was man sagen kann. Daß es mir immer lieb gewesen ist, wenn ein Wort das andere gab, das weißt du ja.“
Ich sah ihm von dem Fenster der Giebelstube aus nach, wie er über den Hof stieg. Vom Tor aus winkte er mir noch einmal zu, und ich sah ihm nach auf dem Wege nach dem Tillenbrink und seufzte:
„Der hat wohl gut reden von seiner Jugend! Sind es bloß die großen Künstler mit Stift, Feder und Meißel, die die Welt festhalten, während sie allen übrigen entgleitet? Ich meine, solch ein Lebenskünstler, solch ein Mann des Lebens wie der da, hat auch einen guten Griff. Was er faßt, läßt er so leicht nicht los, und was er weiter gibt, das reicht er weit in die Zeiten hinein. Welch ein Kunstwerk hat dieser Mann aus seinem Leben gemacht — treuherzig! Und ist nicht Treuherzigkeit das erste und letzte Zeichen eines wahren Kunstwerks? Was haben wir ihm alles aufgebunden, wenn wir aus unseren Nestern im Grün zu ihm kamen. Und er glaubte alles! o, welch ein weiser Mensch steckte in jenem Jungen, der da am Wege über dem alten Broeder saß und Glauben hatte, und sich wie von Schloß Werden so von Bodenwerder zum besten halten ließ und gelassen auf menschliche Schicksale wartete. Aber Glück hat er auch gehabt, und — das ist und bleibt gleichfalls in alle Zeit hinein der Trost und die Entschuldigung derer, die wie die Fliegen und der gegenwärtige Doktor der Philosophie Friedrich Langreuter aus Berlin an der geschlossenen Fensterscheibe kriechen.“
Es fand sich in dem mit Fliegen, Staub und Schimmel mehr als gebührlich gefüllten Tintenfasse des Vetters Just auch der schwarze Tropfen noch, mit dem ich das angeratene Postskriptum an meinen Brief an den Freund in Werden hängen konnte. Ich tat’s, faltete das Blatt und ließ es ungesiegelt; — Geheimnisse meinerseits standen nicht drin, und der gute Rat, den der Vetter gab, lag wie alles Echte und Rechte auf der Hand.
Im Gemüsegarten fand ich dann Mamsell Martin, Raupen vom Kohl suchend. Sie stellte diese Beschäftigung natürlich sofort ein, um sich einer ganz ähnlichen an mir zu widmen:
„Oh monsieur, wenn ich es nicht tagtäglich mir vorsagte, daß auch ihr Männer durch die sehr böse Welt kommen müßt, und daß ihr es dann und wann a peu près drin ebenso schlimm habt als wir anderen armen Frauen, so wäre es wohl manchmal nicht auszuhalten mit euch. Sind Sie nur deshalb nach diesem Steinhof gekommen, um meinem armen Kinde das Herz noch schwerer zu machen, monsieur Frédéric?“
„O, bestes Fräulein —“
„Ich bin keines Menschen bestes Fräulein! Wir leben hier nicht auf diesem Steinhofe aux bains. Wir sind hier nicht in Baden-Baden, Homburg oder Aix-la-Chapelle! Wir wohnen hier nicht, um uns zu erholen de nos études, und um hineinzuschlafen in den Tag und um Ökonomie zu treiben mit dem Cousin Just. Wir sind hier in großer Angst des Lebens, mein armes Kind mit mir, wie auf einem Steinfelsen im Meer, und um uns her ist nur, wie Mr. Victor Hugo sagt in den Orientales: das Meer und stets das Meer, die Welle, stets die Welle! Und wo Länderei — nein, Land ist, da sind für uns nur Ruinen, und es kann kein Mensch und auch nicht Mademoiselle Julie verlangen, daß ich soll haben ein Interesse für die Ökonomie auf diesem Steinhof. Eh!“
Sie hatte sich nochmal gebückt und aus einem ganzen Nest ein fett, grün, sich ringelnd Geziefer von einem westfälischen Kohlblatt abgenommen.
„V’là une du paquet!“ rief sie mit ihrem unnachahmlichsten Nanziger Klosterakzent; nämlich wenn die jungen Schulschwestern sich vollkommen unter sich allein wußten. Mit spitzigen, dürren Fingern hielt sie das unselige Insekt, und wenn sie einen Basilisken gefangen hätte, so hätte sie mir denselbigen nicht mit stärkerem Grimm, Ekel und Widerwillen, aber auch nicht mit größerer Energie unter die Nase halten können.
„Nur der ganz gewöhnliche, sehr gemeine Kohlweißling Pieris brassicae, Mademoiselle.“
„Ja, monsieur, nichts weiter als das!“
Das Gewürm flog zu Boden, und wurde, fast ehe es daselbst anlangte, vermittelst der Schuhsohle aus der Reihe der Lebendigen weggewischt. Die soeur ignorantine trat mit böse aufgerafften Röcken über die nächsten Kohlköpfe hinweg und hinein in den Gartenweg. Wie eben die Raupe hielt sie jetzt mich, doch glücklicherweise nur am Arm.
„Da war auch die Altesse, — die Durchlaucht, — o diese Durchlaucht, die auch unser Cousin war und uns besuchte und sehr gut zu uns sprach und auch mit für uns sorgen wollte, und — sous cape — unser armes, liebes Kind mit in sein armes, kleines, kleines Grab brachte, welches sehr leicht war und sehr wenig kostete, weil schon der gute Vetter Just, monsieur Just Everstein, das kleine Kind in seinen kleinen Sarg gelegt hatte. Was hat monsieur le prince weiter von sich hören lassen? Nichts hat er von sich hören lassen. Was hat er für uns getan? Nichts hat er für uns getan!“
„Was sollte er auch für uns tun?“ fragte eine ruhig traurige Stimme hinter uns. Irene hatte sich uns unbemerkt genähert; es kam nichts weiter von dem, was Mademoiselle Martin auf der guten, gequälten Seele hatte, zum Vorschein, sie ließ auch meinen Arm frei und seufzte nur noch:
„Oh, mon dieu! Nun hab’ ich mir wieder einmal die Zunge angebrannt!“
Aber Irene hielt nur meine Hand fest; sie stand mit gesenktem Haupt, ohne weiter etwas zu bemerken. Sie hatte keine Heimat, aber sie wußte, wo sie zu Hause war; und (der Vetter Just hatte vollständig recht!) das einfachste war, daß sie hinging, wohin sie gehörte oder — geführt wurde. Sonderbar ist es und bleibt es, daß wir Menschen immer nur im höchsten Notfall auf unser Schicksal zurückgreifen, d. h. davon reden. Wir schämen uns unseres Schicksals, und in das große Geheimnis hinein hängen alle Wurzeln unseres Daseins.
Ich sitze da am Fenster in meiner Stube in der großen Stadt Berlin. Über meine Gasse hinweg habe ich die Aussicht in eine andere. Hunderten, ja Tausenden von Menschen, welche die letztere passieren, kann ich ins Gesicht sehen, wenn ihr Weg so führt, und wenn es mir Vergnügen macht. Ein Vergnügen macht es mir jedoch selten. Aber eine gewisse Regelmäßigkeit des Verkehrs macht sich auch hier geltend. Es kommt immer zur gegebenen Stunde alles wieder, wie es von seinem Geschick geleitet wird, einerlei ob es sich der Abhängigkeit von demselben schämt oder nicht. So sind mir denn allgemach viele Gestalten und Gesichter vertraut und sozusagen zu unbekannten guten Bekannten geworden; aber nur ein einziges immer heiteres, lachendes, glückliches Gesicht kenne ich darunter, und das ist das eines blinden Knaben, der am Arme seiner Mutter täglich gegen zehn Uhr morgens die Straße hinunterkommt oder geführt wird, um bei einem Musiklehrer in meiner Nachbarschaft eine Unterrichtsstunde im Geigenspiel zu nehmen. An diesen Knaben mußte ich an diesem sehr unruhevollen Tage auf dem Steinhofe fortwährend denken, und ich sprach auch zu Irene von ihm im Schatten der Obstbäume des Grasgartens.
„Das Kind ist allmählich ein alter Bekannter von mir geworden. Ich sehe es wachsen und allgemach zum Mann werden. Es wächst jedes Jahr einmal aus seinem Rock und seinen Hosen heraus, aber es schämt sich keines Zustandes. Es läßt sich wachsen.“
„Und bleibt auch als Mann und Greis ein blindes Kind. Das einzige glückliche Gesicht unter Hunderttausenden! Armer Freund, weshalb redest du mir davon? Zum guten Exempel ist solche Heiterkeit doch wohl nicht in die Welt gesetzt! willst du mir gar zu allen anderen übeln Eigenschaften auch noch den Neid rege machen? Worüber lachst du nun?“
„Nie über dich, arme Freundin; höchstens über dich und meinen braven tapferen Freund und Gespensterseher, den Herrn Ingenieur Sixtus auf Schloß Werden. Übrigens kommt ihr beiden Helden schon einmal vor, und zwar in der Geschichte vom hörnernen Siegfried in den deutschen Volksbüchern. Man kennt auch eure Namen und gibt sie seit tausend Jahren von Jahrmarkt zu Jahrmarkt weiter. Jorcus und Zivilles heißt ihr da. Mich nennt man einen Gelehrten, und hier nehme ich den Titel an, denn dies ist etwas, was ich in der Tat allgemach aus den Quellen studiert haben muß, und (es ist keine Tautologie, liebe Irene!) was ich wirklich weiß. Willst du wissen, wie der Vetter Just, der kein Gelehrter, aber dafür ein weiser Mann ist, sich ausdrückt?“
„Was sagt der?“
„Hasen sind sie alle beide; aber der feigste von beiden ist doch unser guter Freund Ewald Sixtus — auf Schloß Werden.“
„Das ist nicht wahr!“ rief die Frau Irene, und aus ihren Augen funkelten alle die alten Blitze, die uns in den Mauern und Gärten zu Werden so oft heimgeleuchtet hatten, wenn wir zwei Jungen es den beiden Mädchen wieder einmal zu toll gemacht hatten. Da sprangen die Neigung, die Liebe, ja die Zärtlichkeit wie gewappnet hervor, und zornig flüsterte Irene Everstein: „Es weiß kein anderer als ich, wie stark Ewald Sixtus ist, und welch eine Tapferkeit dazu gehört und welch ein Edelmut, daß er nicht kommt und sein Recht verlangt und sagt: du mußt, armes Weib! Du bist in meiner Schuld, Irene, und du gehörst mir, wie — Schloß Werden mir gehört. — Ich habe dir das aber schon gestern auf dem Stein am Wege gesagt, und du — du handelst wahrlich nicht edelmütig an mir, Fritz Langreuter!“
Die Frau weinte und ließ mich stehen. Als sie rasch von mir fortlief, war auch das ganz wie in unserer Kinderzeit, als unsere Nester noch im Grün, im Sonnenschein und Himmelsblau hingen; aber damals weinte sie nie, sie drohte lieber über die Schulter zurück, und es war immer Ewald Sixtus, dem die erhobene Kinderfaust galt. Ich aber wußte jetzt, daß es nicht nur das beste war, daß sie zu dem Freunde ging, sondern daß sie sich schon auf dem Wege zu ihm befand. Aber es war mir dazu auch von neuem bestätigt worden, daß der irländische Ingenieur nicht nur ein sehr tapferer und starker Mann, sondern auch ein sehr schlauer Mensch war, und alles dies in der rechten Weise, nämlich ohne daß er selber von seinen Vorzügen im gegebenen Moment irgendwie genau Rechenschaft ablegen konnte. Er war klug, ohne es zu wissen, und so ging er um Schloß Werden herum; er war fest überzeugt, sich zu fürchten, und auf dem Steinhofe wurde man sofort sehr böse und fing an zu weinen, wenn irgend jemand nur im mindesten an seine Herzhaftigkeit rührte und den leisesten Zweifel darob kundgab.
Lose hängen alle Kränze und Gewinnste in dieser Welt über den Häuptern der Menschen; auf wohlbedächtig gezimmerten Leitern aber steigt man nicht zu ihnen empor, und die, welche die schönsten Kränze tragen, rühmen nie ihre eigene Kunstfertigkeit und Ausdauer deswegen. Im Gewinn erkennen sie erst recht, welcher linde Hauch, welche aura coelestis ihnen das Glück oder die Erfüllung ihres Wunsches oder das große wirkliche Kunstwerk zuwarf.
Etwas spät fielen die goldenen Äpfel in diesem Falle, aber sie fielen doch noch; und abermals erwies es sich, daß wir in einer Welt unser Dasein führen, in der es ebensowohl der Hauch des Todes wie des Lebens sein kann, der die Zweige bewegt und schüttelt.
Erst am Mittage, nachdem der Vetter seine Steinfuhre am Tillenbrink wieder aufgerichtet und im Lämmerkampe unter seinem Arbeitsvolk Ordnung gestiftet hatte, bekam ich Irene von neuem zu Gesichte. Dies wird noch einmal ein Kapitel der Wiederholung; ich aber kann wahrhaftig auch diesmal nichts dafür.
Wieder die alte gute Bauernstube des Steinhofes! wieder der lange nahrhafte Tisch von dem einen Ende derselben bis zum anderen; und wir allesamt daran vor den Tellern und Schüsseln: der Meister, die Knechte, die Mägde und die Gäste!
Und wieder wurde der Vetter herausgerufen, ging mit dem guten behaglichen Lächeln auf dem schweißglänzenden Gesicht und kam nach einer ziemlichen Weile sehr erregt wieder herein. Still setzte er sich von neuem hin, nahm auch den Löffel wieder zur Hand, aber legte ihn doch abermals nieder.
Da jedermann ihn darauf ansah, sagte er zu den Leuten:
„Eßt weiter, Kinder!“
„Was ist das denn, Just?“ fragte Jungfer Jule Grote angsthaft. „Es war ein Bote von drüben. Um Gott und Jesu willen: es geht doch wohl nicht wiederum den Steinhof an?“
„Nachher, liebe Alte!… Den Steinhof geht es freilich wohl an; aber es läßt ihn diesmal doch aufrecht stehen.“
Da dem Vetter Just der Hunger gänzlich vergangen zu sein schien, so verging er auch seinen Gästen so ziemlich. Doch erst, nachdem das Hofgesinde in Ruhe abgegessen und die Stube verlassen hatte, teilte uns Just Everstein mit, was ihm und uns das Schicksal durch den eiligen Boten von „drüben“ hatte wissen lassen.
„Hattest recht, Jule; es war ein Bote aus Werden, und er hatte es sehr eilig. Die Leute ging es aber nichts an, sondern nur mich und — euch. Sie haben heute noch einen heißen Arbeitstag vor sich, und so schickte es sich nicht, sogleich damit herauszufahren. Für mich — für uns ist es wieder einmal ein schwerer Tag geworden. O, es ist schade, schade! ich hatte noch für so lange, lange auf ihn mitgerechnet zu meinem — zu unserem Glück!“
Bleich und bebend hatte Irene sich erhoben.
„Welch Unglück ist wieder geschehen?… Ewald! Ewald!“ rief sie; und der Vetter nahm sanft ihre Hand von seiner Schulter.
„Nein, Liebe!… es denkt jeder nur immer an das Seinige!… Ewald und Eva haben geschickt; — es ist nur der alte Herr, der Abschied nehmen will. Ach, ich denke auch nur an mich! es ist schade, schade; — zu seinem und Evas und zu meinem Glück und Behagen hatte ich noch so lange, lange auf ihn mitgezählt! Da ist der Zettel, welchen der Bote gebracht hat.“
Das von Ewald flüchtig gekritzelte, von dem Vetter im ersten Schreck und der zusammengehaltenen Aufregung arg zusammengeknitterte Blatt ging von Hand zu Hand. Es lautete:
„Den Vater hat heute morgen, während er seine Holzfäller beaufsichtigte, ein Unfall betroffen. Ein Ast eines stürzenden Baumes hat ihn im Rücken beschädigt und von den Hüften abwärts gelähmt. Er ist bei voller Besinnung und nur zornig auf sich selber. Von mir kann leider nicht die Rede sein. Der Alte sagt nur: ‚Daß ich so dumm auch gerade während Deines Besuchs sein mußte, das ärgert mich noch am meisten!‘ — Jetzt erst weiß ich es, wie fremd ich zu Hause geworden bin. Eva hat Dich nötig, Just; also komm zu ihr. Dem alten Herrn wirst du gleichfalls zum besten Trost gereichen.“
Irene hielt jetzt den zerknitterten Zettel; Jule Grote wiegte den Oberkörper hin und her und stöhnte: „O Je! o du mein Je; nun geht auch der weg!“ Mademoiselle sah, über den Tisch vorgebeugt, mit angehaltenem Atem auf ihre Herrin, Schülerin und Schutzbefohlene; der Vetter blickte zu mir herüber, seufzte nochmals tief und schwer, strich sich mit der Hand über Stirn und Augen und fragte:
„Was ist deine Meinung, Fritz? So rasch als möglich müssen wir hinüber; aber du weißt, die Pferde sind augenblicklich alle vom Hofe. Das eine Paar wird erst gegen Abend heimkommen, das andere kann ich zwar vom Tillenbrink holen lassen, aber es gehen doch gut anderthalb Stunden drüber hin. Mein Rat ist, wir gehen nach Bodenwerder und nehmen dort eine Extrapost.“
„Fremd zu Hause!“ murmelte Irene, aus ihrer Betäubung erwachend. „Wir wollen gleich gehen und den alten Weg nehmen — wie damals, als mein Vater gestorben war.“
Wie in diesem Worte so vieles zu einem Abschluß kam, entging uns in diesem Augenblick vollständig. Wir haben aber alle nachher daran gedacht.
„Ja,“ sagte der Vetter Just, „das ist immer noch der Richteweg nach Werden. Der Vater Klaus würde sich auch nicht wundern, wenn du ihm noch einmal in seinen Kahn stiegest.“
„Finden wir denn den noch?“ rief ich.
„Es zog ein schlimmes Gewitter damals über den Steinhof, als ihr ihn zuletzt über den Fluß anriefet,“ sagte der Vetter. „Ihr bekamet nur die letzten Tropfen auf dem Wege nach Schloß Werden. Es ist wunderlich; aber auch das kann heute wieder gerade so geschehen. Nun, der alte Charon wird uns wohl sicher übers Wasser schaffen. Es hat sich vieles hier bei uns verändert, Doktor; aber diesen Schiffer findest du auch heute noch an seiner Stelle.“
Eine halbe Stunde später befanden wir uns bereits auf dem Richtewege nach Werden, Irene, der Vetter Just Everstein und ich; — ganz wie damals klares, tiefblaues Himmelsgewölbe über uns, doch weißes Sommergewittergewölk hinter uns im Westen. Nun war es, wie der Vetter am Morgen es als das Beste und Wünschenswerteste und dazu als das Einfachste hingestellt hatte, nämlich, daß sie zu ihm gehe. Und einfach und ganz selbstverständlich erschien es auch jedem; es verlor niemand noch ein Wort darüber. Der Tod ist ein mächtiger Rufer und ebnet Wege und macht Pfade glatt, die eben noch durch berghohe Trümmer der Vergangenheit und unüberwindlich heil Gemäuer der gegenwärtigen Stunde versperrt schienen. Aber so hatte der Vetter Just sich den Weg der Frau Irene zu dem Freunde doch wohl nicht vorgestellt, als er sein ruhiges Wort aussprach!
Rasch und schweigend gingen wir drei unter dem heißen Tage; der erste Schatten auf dem Wege wartete erst jenseits des Flusses in den Wäldern der Heimat, und der Tod hielt dazu seine schwarzen Flügel über alle sonnigen Hügel, Täler und Halden ausgebreitet. Wie damals sahen wir uns nicht einmal nach dem Dunkel um, das in unserem Rücken emporstieg; — noch einmal ein Gewitter auf diesem Pfade! Wo aber führen die Wege der Menschen auf dieser Erde, wo das dumpfe Grollen und Murren von fern her nicht ins Ohr klingt und uns nicht zwingt, rückwärts, zur Seite oder nach dem Ziel vor uns hinzuhorchen?…
„Hol über!“
An dieser Stelle noch alles so wie sonst! Dieselben Wasser, dasselbe Ufergebüsch, dieselben heißen, knirschenden Kiesel unter den Füßen. Und drüben aus dem Buschwerk das leichte Rauchwölkchen aus der Hütte des alten Freundes, und sein Kahn an dem nämlichen Weidenstrunk. Und nur die Wellen rauschten, sonst kein Ton, kein Laut rings umher. Wir hatten unseren Ruf mehrmals zu wiederholen.
„Ein wenig taub ist der Alte allmählich wohl geworden,“ meinte der Vetter, „aber seine Augen sind für seine Jahre noch merkwürdig scharf. Er ist sicherlich nahe an die Achtzig. Guck, Irenes Tuch bringt ihn uns her.“
Wir sahen den Vater Klaus in der Tat jetzt drüben den Uferhang herabkommen. Einen Augenblick stand er zweifelnd und sah zu uns herüber.
„Hol über!“
Wir sahen ihn seinen Nachen ablösen —
„Achtzig Jahre!“
„Und er zwingt die Strömung immer noch,“ sagte der Vetter. „Manch ein starker, jüngerer Mann würde bei dieser Arbeit bald müde werden.“
Da war der Kahn und schob sich scharrend mit dem Vorderteil auf den Kies, und —
„Wat kümmt mi denn da?“ fragte der Vater Klaus, und auch an dem Wort und heiseren Laut hatte sich im Laufe der Jahre gar nichts verändert. „I, da seh’ einer, der ganze Steinhof! Ach ja, ich weiß ja schon! Ach ja, der Herr Förster. Der Bote heute morgen hatte es wieder mal recht eilig — es tut mir recht leid um den Herrn Oberförster. Ja, ja, da hilft es weiter nichts: steigt ein, gnädige Herrschaft, Frau Gräfin, und der Herr Vetter auch. Ja, aber, aber, wie ist mir denn? den anderen Herrn da sollte ich doch auch schon kennen?“
„Ein alter und hoffentlich auch heute noch guter Bekannter, Vater,“ rief ich, beide harte Hände des greisen Fährmanns ergreifend. „Fritz Langreuter!“
„Richtig!“ rief der Alte. „I, das wußte ich doch auch wohl! Dazu habe ich Sie doch wohl oft genug mit dem anderen kleinen Fräulein über die Weser befördert. I, sehen Sie mal! und nun müssen Sie, mit Erlaubnis, gerade heute zu dieser traurigen Gelegenheit zum ersten Mal wieder in mein Schiff kommen! Ja, wo haben Sie denn die ganzen lieben, langen Jahre gesteckt, wenn ich so frei sein darf?! Daß Sie ein grausamer Gelehrter bei der Weile geworden sind, das habe ich wohl gehört, und ansehen tue ich es Ihnen jetzo auch. Na, das freut mich aber bei allem Leidwesen. Ja, dann steigen Sie auch mal wieder ein, Herr — Fritze, mit Erlaubnis zu sagen. Es wundert Sie wohl ein bißchen, daß Sie mich und die Weser immer noch zwischen Werden und dem Steinhofe an Ort und Stelle finden? Ja, so hat jedes seinen Lauf und sein Bestehen!“
Nun schwammen wir wieder auf dem Wasser, und ich ließ noch einmal die warme Sommerflut des Stromes über die Hand fließen. Und ganz wie damals flüsterte mir der alte Schiffs- und Fischersmann zu:
„Ja, ja, ich weiß es wohl, daß es in Werden nicht gut steht, Herr Langreuter. Aber der Herr Förster hat ja, Gott sei Dank, ein reinlich Blut und gut Gewissen, und wenn er, gegen mich gehalten, auch noch ein ziemlich junger Mensche ist, so ist er doch auch ziemlich bei Jahren, und da ist es immer das beste für die Angehörigen, Vernunft anzunehmen und sich und dem anderen den Abschied nicht schwerer zu machen, als notwendig ist. Wisset ihr, Herr Vetter Everstein und die gnädige junge Frau dazu, wüßte ich nur ganz gewiß, daß mir während meiner Abwesenheit allhier an dieser Stelle kein Schaden und Spitzbubenstreich passierte, so ginge ich wahrhaftig gern mit euch, um mir für demnächst ein gutes Exempel an dem Förster zu nehmen.“
„Da kommt nur dreist mit, Vater Klaus,“ meinte Just, „ich stehe für allen Schaden. Wer weiß, welch ein gut Beispiel Ihr uns auf dem Stuhl am Bette geben könnt.“
Aber der Greis schüttelte den Kopf:
„Es geht nicht, und es schickt sich nicht. Seit ich denken kann, ist dies mein Ort, wo ich die Weser, die Schiffe, die Jahreszeit, die Menschen und das Gewölke passieren und bleiben sehe. Es ist nur eine Kabache da im Röhricht, aber doch mein altes festes Nest, und jeder Schritt davon weg ist mir aus der Gewohnheit. Ein alter Kerl bin ich hier geworden, aber als ein ganz anderer Kerl käme ich heute nacht von Werden nach Hause; aber — holla — seht einmal das Gewölk! Das kommt diesmal doch schneller herauf, als ich gedacht habe! Und hör’ einer! da probiert der Herr Kantor auch schon seine große Orgel. Na, na, nun rate ich lieber den Herrschaften, daß sie wieder mal ein Stündchen bei mir unterkriechen und das Schlimmste vorüberlassen.“
Es hatte keiner von uns anderen sich umgesehen, doch jetzt taten wir’s, wie angerufen von dem ersten dumpfen Donnerton von Westen her. Was wir für ein langsam zögernd Schleichen genommen hatten, das war raschester, rasendster Flug gewesen. Das Gewitter war da wie das Schicksal, welches uns auf diesen Weg geführt hatte, und wir standen unter dem Druck des einen nicht anders als unter dem des anderen.
„Ihr Mannesvolk kommt mit der Frau nicht weit in den Wald hinein, und dann müßt ihr doch unter der ersten dicken Eiche zu Schauer gehen,“ rief der Vater Klaus. „Die gnädigste Gräfin oder Frau Baronin muß es mir nicht übel nehmen, sie ist mir, je länger ich sie ansehe, immer noch wie das Kind und junge Fräulein Komtesse von Schloß Werden, und das alte Kesselchen singt noch auf dem alten Herde, Fräulein Gräfin, und ein frisch Paket Zichorien hab’ ich auch von Bodenwerder. Sie haben doch sonst schon vorlieb bei mir genommen, — ach ja, ein bißchen mehr Kinder waren wir dazumalen wohl noch, und die beiden jungen Leute aus dem Försterhause waren dann auch immer dabei. Ich habe es wohl gehört, daß sie alle währenddem mancherlei erlebt haben in der Welt, aber denken kann ich mir’s eigentlich nicht; denn ich selber habe ja nichts erlebt, von welchem ich viel wüßte; außer daß ich ein bißchen älter geworden bin. Der Regen ist schon da; — nun kommen Sie nur noch mal herein zum Vater Klaus — lange anhalten wird’s ja wohl nicht.“
„Ich ginge am liebsten weiter,“ sagte Irene. „Ich möchte so schnell als möglich zu Eva.“
Das ging nun wohl nicht an. Das Unwetter war da, und schon fegte der Regen in Stößen vom jenseitigen Ufer her über den Fluß. Alle lichten Farben wurden zu einem trüben Grau ausgewischt, das Ufergebüsch und Schilf wie von tausend ärgerlichen Fäusten geschüttelt und nach Osten hin zu Boden gedrückt. Auf das Dach der Fischerhütte rauschte und rasselte es nieder, und wir saßen an dem Tage eine gute Stunde an dem Feuerherde des Vaters Klaus, horchten auf den Donner über unseren Köpfen, „warteten das Gewitter ab“ und ließen unserem grauen Fährmann und Gastfreund das Wort. Wie er es führte, hätte wohl keiner von uns etwas Besseres, Unterhaltenderes und Zweckdienlicheres zutage fördern können.
„Ich weiß eigentlich gar nicht, wie ich Sie jetzt nennen muß,“ wendete er sich an unsere Begleiterin. „Am liebsten hieße ich Sie wie sonst: liebes Fräulein Gräfin oder Komtesse; aber das ist es ja wohl nicht mehr?“
„Liebe Frau Irene, Vater Klaus!“ und ganz leise fügte sie hinzu: „Arme Irene! — Ich habe von dem mancherlei, was ich in der Welt erlebte, nichts weiter nach Hause — nach dem Steinhofe gebracht als meinen spottenden Taufnamen. Wer es noch gut mit mir meint, der nennt mich bloß bei diesem. Ich bin eine arme Frau Irene geworden, Vater Klaus!“
Der Alte schüttelte das Haupt:
„Hm, hm, es ist doch sonderbar! Da wo Sie jetzo sitzen, Fräulein Gräfin, da saß gestern gegen Abend mein bester Freund, seit ich denken kann, auch mal wieder! Nämlich der ganze Nichtsnutz von dem Försterhofe in Werden; und ich dachte wirklich zuerst, er sei meinetwegen da; aber er nahm gar kein Blatt vor den Mund, sondern wollte einfach nur von hier aus über die Weser gucken, und als ich ihn dann fragte, wie ich ihn jetzo betitulieren müßte, meinte er gerade so, sein Taufname wäre ihm das Liebste, und weiter hätte er für die hiesige Gegend hoffentlich auch nichts mit aus der Fremde gebracht. Und als ich darauf nicht einging, sondern ihn darauf anredete, daß er ja kurioserweise Schloß Werden käuflich an sich gebracht habe, wurde er auf einmal aus aller Wehmut heraus ganz der Alte und sagte: Klaus, Vater Klaus, zwei Esel haben eigentlich nicht Platz hier im Fischkasten! — Na, das freute mich denn recht, obgleich er eigentlich gleich wieder in seine Trübseligkeit hineinfiel; aber auf dem richtigen Fuß waren wir wieder, und ich habe ihn kurzweg wieder bei seinem Taufnamen geheißen, und dann haben wir, weil eben nicht so ’n Unwetter wie jetzo war, unter unserem alten Strunk gesessen und zusammen über mein Wasser geguckt und wirklich recht vielerlei von — der lieben Frau Irene zusammen gesprochen.“
„Wann war denn dies wohl, Meister Klaus?“ fragte ich mit einem verstohlenen Blick auf die von uns weg in die Tür tretende und die Hand in den jetzt schon leiser rauschenden Regen streckende Frau.
„Nun, ich meine so zwischen sechs und sieben Uhr. Herr Ewald wird wohl erst ziemlich spät in der Nacht nach Hause gekommen sein. Er hatte vor, auf dem Heimwege noch mehr als einen Umweg zu machen. Es sind da eine Menge Örter, die ich noch einmal wiedersehen muß, ehe ich mich wieder auf die Wanderschaft mache, Vater Klaus! sagte er. — Ja, er sprach ein Langes und Breites darüber, wie schlecht es ihm zu Hause gefiele. Und ich denke doch, mein lieber Gott, daß es doch nicht jedermann alle Tage passiert, daß er mit soviel Glück in der Tasche aus der Fremde in das alte Nest fällt wie der. Aber ein aparter Mensch war der immer und schon von Jungensbeinen an. Den Herrn Ewald Sixtus meine ich. Uh, wer so manche Nacht wie der hier bei mir in der Köte gelegen hat und in das Feuer da von all seinen unsinnigen Gedanken und kuriosen Hirngespinsten hineingesprochen hat, den soll der Vater Klaus doch wohl kennen, wenn er als ausgewachsener Mann ebenso wieder daliegt und mit den Funken und Flammen auf meinem Herde mehr spricht als mit mir altem dummen Kerl. Nicht wahr, Herr Vetter Just?“
„Das meine ich auch, alter Freund!“ rief der Vetter mit außergewöhnlicher Energie. „Nun, wie sieht es draußen aus — liebe Frau Irene? Gestern abend, als du mit dem Berliner Doktor da durch die Felder zogest, seid ihr ja wohl auch ziemlich bis hier in die Gegend gekommen? Erzähltest du mir nicht davon, Fritz, als wir heute morgen deinen Schreibebrief nach Werden beredeten? Und von allerhand unsinnigen Gedanken und kuriosen Hirngespinsten hast du mir auch geschwatzt. Und da war doch bloß die Weser zwischen euch und dem alten guten Freunde, dem Vater Klaus. Wenn ich je in der Welt einem so guten Freunde wieder so nahe gekommen bin, dann habe ich ihm immer auch einen Besuch abgestattet!“ …
Die Frau Irene stand noch immer, den Ellenbogen an den Türpfosten der Hütte lehnend. Über den Herd des Vater Klaus sich beugend, flüsterte mir der Vetter Just zu:
„Tausend Schritte weiter und — Hol über!… Deinen Brief behalte ich zum Andenken an diese Tage!“ — — Laut, fast fröhlich rief er dann:
„Du hast noch nicht geantwortet, Irene. Was macht das Wetter auf Erden, und wie guckt der Himmel drein? Ich meine, der Regen läßt doch immer merklicher nach.“
Die Frau wendete sich, und ein Fremder hätte ihr nicht angemerkt, wie schwer jedes Wort, das in dieser Fischerhütte gesprochen worden war, auf ihrer Seele wog, und daß ihr mit Ausnahme dessen, was der Vetter Just leise mir ins Ohr gerufen hatte, keines entgangen war.
„Der Vater Klaus ist ein guter Wetterprophet und hat sich auch diesmal wieder so bewährt,“ sagte sie. „Es war ein rascher Übergang. Vom Steinhof her scheint wirklich schon die Sonne in die Tropfen, und es ist alles gegen Schloß Werden gezogen.“
„Und auch dort wird’s ein Übergang sein,“ meinte der Greis. „Die Berge da machen keine Wetterscheide aus. Was über die Weser ’rüber ist, hat freie Bahn vor sich und mag gehen oder sich verlaufen, wie und wo es will. Da ist weiter kein Aufenthalt mehr. Geschickt wird ja jedes Gewölke, aber dorthinzu ist das denn doch wieder, als ob alles Wetter frei seinem Schicksal überlassen worden wäre, und so weiß nie einer genau, was er davon halten und sagen soll. Es ist eben alles Witterung.“
„Und wir haben unser Teil davon auf uns zu nehmen,“ sagte Irene, dem Fischer die Hand reichend. „So nehmt denn auch heute unseren schönsten Dank für freundlichen Schutz, gute Bewirtung und jedes gute Wort, was Ihr uns gesagt habt, Vater Klaus. Fast ist es doch, als hätten wir ganz vergessen, was uns eigentlich auf diesen Weg getrieben hat. Nun wollen wir aber nur noch an dieses denken und rasch weiter; nicht wahr, meine Herren?! Ich muß zu meiner armen Eva, und es soll mich keine Erdenwitterung mehr aufhalten. Ade, Vater Klaus. Wenn ich zurückkomme, gehe ich nicht über Bodenwerder — Ihr nehmt mich wieder auf in Euren Kahn.“
„Allein oder in Gesellschaft — wie es sich schickt,“ brummte der greise treue Schiffsmann, die kleine zarte Hand zwischen seinen uralten, knochigen Tatzen haltend. „Herrschaften, findet ihr den Förster noch, so grüßt ihn von mir; — auf einen Hasen legt da dem lieben Gott sein Jägersmann nicht an; also sprecht’s ihm nur dreiste heraus, daß ich fest auf ihn rechne, was das Quartiermachen anbetrifft. Finden Sie ihn nicht mehr, Herr Vetter Just, und Sie, Berliner, na so brauchen Sie auch nichts an ihn bestellen, sondern nur gut mit den zwei jungen Leuten umzugehen. Ich finde meinen Weg schon. Adjes alle! Es ist mir, abgesehen von dem schlimmen Malheur, eine große Freude gewesen.“
Wir traten heraus aus der Hütte in das letzte, jetzt auch schon auf diesem Ufer der Weser von der Sonne durchflimmerte Gesprühe des Sommergewitters und atmeten aus tiefster Brust wohlig auf; ich aber vernahm noch, wie der Meister Klaus, den sehr schlimmen Tabak in seiner kurzen Holzpfeife niederdrückend, brummte:
„Jawohl, am Ende läßt sich doch niemand recht Zeit, als solch ein alter Fischersmann, der da weiß, daß die Fische nicht zu jeder Stunde beißen, und der mit den Reusen umzugehen weiß, und weiß, daß alles erst zu seiner Zeit kommt; aber dann auch ganz richtig und auf den Punkt. Ja, ja, lauft nur zu; — ich hab’ euch ja schon gefahren, als ihr noch in euren Kinderschuhen liefet.“
Ich winkte ihm darob noch einmal lächelnd zu:
„Und es ist Eure feste Meinung, daß wir noch immer darin laufen, Vater Klaus?“
„Das werde ich mir doch wohl nicht herausnehmen,“ rief der Alte grinsend mir nach. „Aber eine hübsche Luft wird es immer nach solch einem Gewitter, Herr Langreuter; und die paar Tropfen, die Sie jetzo unterwegs noch auf den Pelz kriegen, die können Sie sich darum schon gefallen lassen; und, lieber Herr Fritz, bei Gelegenheit fragen Sie nur ganz dreist den Herrn Ewald danach, was gestern meine Meinung gewesen ist.“
Nun glänzte und rauschte auf Stunden Weges um uns und über uns der erfrischte Hochwald. Die großen gelben und schwarzen Schnecken krochen auf allen Pfaden; Menschen begegneten uns nicht. Wir gingen stumm zu, und nur wenn wir an einer außergewöhnlich schlüpfrigen und steilen Stelle unserer Begleiterin die Hand boten, sprach sie ein leises Dankeswort. Und wieder einmal lag, als wir endlich aus dem Walde hervortraten, Schloß Werden zu unserer Rechten im Sonnenuntergangsglanze da, und das scheidende Licht blitzte rot aus den hohen Fenstern des Oberstockes uns entgegen. Ich sah mit einigem Bangen auf die bleiche Frau mir zur Seite und fing einen ganz ähnlichen Blick des Vetters Just auf. Doch Irene Everstein sah nur einmal ganz fest und kurz nach den Giebeln des väterlichen Hauses und schritt dann gesenkten Hauptes rascher zu auf dem Wege gegen das Dorf. An dem ersten Hofe schon erfuhren wir von einem Kinde, daß der Herr Oberförster tot sei; und ein junges Mädchen, das am Gartentor strickte, bestätigte die Nachricht und fügte hinzu: „Gerade, als das Unwetter anging.“
Wir gingen nun durchs Dorf. Alle Leute vor den Türen grüßten uns herzlich, aber still. Auf Irene sahen sie scheu und steckten nachher die Köpfe zusammen und flüsterten miteinander. An den Vetter Just trat hier und da einer heran und gab ihm die Hand: „Also Sie haben es auch schon vernommen?“ — Jeder aber sprach viel leiser, als es sonst dort die Gewohnheit des Ortes ist.
„Und der junge Herr Sixtus? und Fräulein Eva, Gevatter Reitemeyer?“
„Die sitzen ganz still auf der Bank vor der Försterei. Sie haben sich ja wohl gottlob ganz gut in das Geschick gefunden. Sein Alter hatte der alte Herr, vor Krankheit hat er immer sein Grauen gehabt und seinen Spaß darüber gemacht. Hier im Dorfe bei uns ist niemand, der ihm nicht das Beste wünscht, und solange man denken kann, kann man Werden nicht ohne ihn sich denken. Auf dem Wege zu seinem Unfall ist er mir heute morgen noch begegnet. Das mußte ja wohl so sein sollen, denn er hatte es kurios eilig und war doch sonst ein recht ruhiger, langsamer und sedater Herr. Gehen Sie nur ruhig hin! Das Unwetter hat Sie wohl ein bißchen unterwegs aufgehalten? Es ist aber wirklich recht angenehm danach geworden. Sie haben Ihr Heu wohl auch schon trocken herein auf dem Steinhofe, Herr Just?“
Wir blieben dieser Unterhaltung wegen nicht stehen, und so kamen wir zu dem Försterhause und fanden, wie die Leute es uns berichtet hatten, Bruder und Schwester auf der Bank vor der Haustür im dämmerigen Ulmenschatten beieinander sitzend. Hinter ihnen standen die Stubenfenster wie immer weit offen und ließen den Regenduft und die Frische des nahenden Abends frei ein; der alte Herr aber saß nicht mehr am Fenster, sondern lag ausgestreckt, „ruhig und sedate“ auf seinem Lager. Auch alle Türen standen in gewohnter Weise geöffnet; die Hunde des alten Herrn lagen zu den Füßen des Geschwisterpaares, und nur von Zeit zu Zeit stand einer von ihnen auf, ging hinein und legte den Kopf auf das so schnell dort bereitete Bett und kam wieder heraus und legte den Kopf auf Evas Knie und sah wie fragend sie an.
Das schreibe ich aber hier, weil es den ganzen Abend so blieb, nachdem wir uns zu den Geschwistern gesetzt hatten.
Als wir in das Hoftor traten, schlug einer der Hunde leise an. Ewald und Eva standen auf, und der Ingenieur aus Irland legte die Hand auf die Fensterbrüstung hinter sich, wie um sich zu halten. Doch Irene verließ den Arm des Vetters Just, ging rasch hin und hielt die Jugendfreundin im Arm und küßte sie und sagte:
„Da bin ich… Nun sei nur still… Du sollst mir alles erzählen!“
Eva Sixtus weinte heftig, und Ewald gab uns Männern stumm die Hand.
„Er sieht aus, als ob er schliefe!… O, er sieht zu gut und schön aus für den Tod!“ schluchzte Eva; und dann gingen wir alle, von den Hunden begleitet, in die Stube, und er sah freilich schön und gut aus in seinem weißen Haar, und gottlob nicht anders, als ob er schliefe!…
„O Just, o lieber Just!“ schluchzte Eva Sixtus, und nun war sie mit ihm und war bei ihm gut aufgehoben in diesen tränenreichen Stunden und Tagen. Sie konnte auch das Haus verlassen, in welchem sie geboren worden war.
Und Ewald und Irene? Was sagten und taten die denn? Das ward nun eine Nacht, in der viele Geister umgingen in Werden — Schloß und Dorf; doch über miracula et portenta, von großen Wundern und „Wunderzeychen“ am Himmel und auf Erden und auch in den Herzen der Menschen habe ich nicht das geringste zu berichten.
Jene beiden Leute begrüßten sich zuerst, wie es sich nach der langen Trennung und bei der ersten Gelegenheit schickte, ernst und freundlich. Zu dem, was die Welt eine Auseinandersetzung nennt, kam es fürs erste noch nicht, denn teilnehmende Nachbarn sprachen immer noch ab und zu vor, und auch der jetzige Pastor des Ortes kam noch einmal und saß eine geraume Weile. Er beging vielleicht die einzige Indiskretion an diesem Abend, indem er den irischen Ingenieur recht lobte und seine Heimkehr „so gerade zur rechten Zeit leider!“ mit allen ihren Umständen als etwas sehr Löbliches und Verdienstliches pries, und sich dabei stets mit seiner Rede an die Frau Irene wendete.
Doch lauter als der beste Redner in der Welt gab der stille alte Herr hinter uns in der Stube mit den offenen Fenstern sein stummes Wort darein und half uns auch hierüber hinweg.
Auf den Spielplätzen des Dorfes verklang allgemach der Lärm der Dorfkinder. Es wurde Nacht, und auch der gutmütige, wohlmeinende geistliche Herr ging nach Hause, höflich von dem Vetter Just bis zum Hoftor begleitet.
„Wir haben uns lange nicht gesehen, liebe Irene,“ sagte jetzt der Irländer leise; doch die Frau antwortete mit merkwürdig fester und klarer Stimme:
„Ja, lieber Ewald; es ist sehr lange her, und nun führt uns eine so traurige Gelegenheit wieder zusammen! Dir ist es aber gottlob gut ergangen auf deinem Lebenswege, du hast vieles ausgerichtet; ich habe den Vetter Just und hier den Doktor Fritz gern davon erzählen hören —“
Hier räusperte sich der Vetter Just ziemlich vernehmlich und brummte:
„Hm, hm, hm.“
„Mein Bruder —“ wollte Eva einfallen, doch ich faßte rasch nach ihrer Hand, und die Frau Irene fuhr fort, und der energische Wille, sich nichts vergeben zu haben, kämpfte bedenklich mit noch unterdrückten Tränen:
„Du hattest es aber auch viel leichter in der Welt als ich.“
„Ja, liebe Irene!“ sagte der Freund. „Ich weiß das nur zu genau. Ja, ich habe es leicht gehabt und viel Glück!“ — Seine Stimme aber wurde rauh und hart, als er hinzufügte: „Ich habe jahrelang keine Zeit gehabt, an meines Vaters Haus zu denken, um dir das deinige wiederzugewinnen!“
„Aus Zorn und Mitleid, Ewald Sixtus!… O Eva, Eva, liebe, liebe Schwester, behalte mich bei dir unter deines Vaters Dache diese Nacht!… Nein, nein!… Just, o lieber Just, wie bin ich nur hierher gekommen? wo soll ich bleiben?“
Zum ersten Mal in dieser treuen, wahren Lebensgeschichte klang die Stimme des Vetters ärgerlich, ja fast böse, als er sich erhob und sagte:
„Bei mir — Just Everstein! Eine Nacht geht bald vorüber. Auf Schloß Werden, Gräfin Irene Everstein! Ich schaffe dir in dem alten Spuknest als alter amerikanischer Hinterwäldler und Baumfäller ein Strohlager und ein Bund Heu unter den wilden Kopf. Kommt herein zu dem Vater; Eva hat zwei Lichter neben sein Bett gestellt, wir wollen dabei den Kauf richtig machen, Ewald! Ich, Just Everstein vom Steinhofe, bin hiermit Eigentümer und Herr von Schloß Werden!“ …
Es ist nicht die Kraft, es ist die Angst des gefangenen Edelfalken, die das Schreckliche ist und das Publikum vor den Gittern des Käfichts am meisten interessiert; ich aber verspüre an dieser Stelle am allerwenigsten das Bedürfnis, die Frau Baronin Rehlen interessant zu machen durch ihr Flattern und Flügelschlagen. Habe auch kein Recht dazu.
Wir gingen wohl zu dem toten Vater hinein, aber nicht um einen Handelskontrakt neben den zwei Lichtern, die sein stilles, friedliches, freundliches Greisengesicht beleuchteten, abzuschließen. Irene stand an Ewalds Schulter gelehnt, von seinem Arm umschlungen, und weinte leise und flüsterte:
„Kannst du mich denn noch lieb haben?“
Er war unverbesserlich, der brave Freund Ewald Sixtus! er hätte wirklich schon von Geburt aus als Irländer in diese nüchtern-tragische Welt hineingesetzt werden sollen.
Dem Weinen war er gleichfalls näher als dem Lachen, und seine Stimme zitterte gleichfalls, als er an dem Sterbelager seines Vaters seine Liebe fester an sein Herz zog; aber doch mußte es heraus und kam ganz in der alten Dummen-Jungen-Weise:
„Ich kriege dich ja nur in den Handel, altes Mädchen! Aber — bei den ewigen Göttern, die mir wahrhaftig den Weg bis zu dir schwer genug gemacht haben — den Vetter Just halte ich bei seinem Worte! Wir beide, mein Herz, mein liebes, liebes Herz, wir sehen uns nicht mehr um nach Schloß Werden; aber der Vetter da, — der Vetter Just Everstein, der war von Gottes Gnaden allewege der Gescheiteste von uns und hat mit unserer Schwester da allein die Gabe, alles ruhig abzumachen. Du und ich, mein Herz, wir haben nur einmal den Versuch gemacht. Die beiden müssen für uns mit wissen, was mit Schloß Werden anzufangen ist!“
Von Schloß Werden wurde nun nicht mehr gesprochen bis zum anderen Morgen, und dann zwischen dem Vetter Just und mir. Wir verbrachten alle diese Nacht unter dem nämlichen Dache; doch wohl keiner von uns in einem sehr festen Schlaf. Auch ich nicht, der ich in jedem Augenblick vorgeben konnte daß wichtigste, unaufschiebbare Geschäfte mich augenblicklich nach Berlin zurückriefen und meine Gegenwart bei dem Begräbnis — bei dem Schmerz und dem Trost der alten Heimat unmöglich machten.
Zwei Stunden nach Sonnenaufgang schon trieb es mich heraus. Wahrscheinlich weil irgend etwas — was, kann ich nicht sagen — meinte: So mag er doch wenigstens den Historiographen festhalten! — Im Unterstock des Hauses traf ich nur die bleiche, traurige Eva an der Tür der Wohnstube. Sie hatte jetzt ein weißes Laken über den toten Vater gelegt, und ich erhob das Tuch nicht mehr. Ich wollte mir die Erinnerung an das schöne, ruhige Greisengesicht von gestern abend unversehrt erhalten, und ich wußte es, wie der alte Maulwurf, das Leben, in dem an der Arbeit bleibt, was der Mensch einen Leichnam nennt.
Als ich mich nach den anderen erkundigte, erfuhr ich, daß Ewald zum Meister Dröge, dem Dorftischler, gegangen sei, und daß Irene ihn begleitet habe.
„Und Vetter Just?“
„Just wirst du wohl im Garten finden. Ich habe den Kaffeetisch dort hergerichtet. O Gott, es ist ein so schöner Morgen — o Fritz, ich kann es mir noch immer nicht denken!… Er war so vergnügt und gut, als er gestern in diese nämliche Morgensonne hinein wegging! Er holte sich noch bei mir in der Küche Feuer für seine liebe alte Pfeife, und ich sah ihm nicht einmal nach und gab ihm das Geleit wie sonst bis ans Hoftor, und nun muß ich ihn in alle Ewigkeit mit seinem weißen Haar und seinem guten freundlichen Gesicht bei mir am Herde stehen sehen!… Ein paar Stunden später, in denen ich nicht einmal an ihn dachte, brachten sie ihn zurück!“ …
Ich fand den Vetter Just nicht an dem Kaffeetische im Garten, und ich hielt es auch nicht lange allein daran aus, in dem schönen Licht und Schatten, unter den Sommerblumen ringsum, dem Bienensummen, Käfer- und Schmetterlingsflug.
„Der Herr Vetter Just spaziert auf der Chaussee,“ sagte ein Dorfkind, das in die kleine Pforte in der grünen Hecke guckte; und auch ich trat aus diesem Gartentürchen auf die Landstraße.
„Er ist nach dem Schlosse zu,“ meinte die kleine barfüßige, flachshaarige Ostfalin, und ich kannte den Weg, der auch von hier aus quer über die Landstraße nach Schloß Werden führte, und so ging ich dem Vetter Just Everstein nach, — wohl tief in Gedanken wie er, und in ähnlichen, wenn auch nicht ganz in den gleichen.
In dem letzten Hause des Dorfes nach dieser Seite hin, wohnte der Meister Dröge, der Tischler. Die helle, staubige Landstraße führte an seinem Eigentum und dem Wiesenfleck, auf dem er seinen Vorrat von glatten Brettern und Balken aufgeschichtet hatte, vorüber und ließ es zur Linken. Rechts aber führte ohne Steg durch den mit Gras, Sternblumen und Kletten, Brennesseln und Thymian ausgefüllten Chausseegraben der Schlupfweg durch jetzt noch im Tau funkelndes, wirres Gestrüpp und Gebüsch, untermischt mit einzelnen höheren Bäumen, nach dem verwünschten Schloß, dem alten, teuren Nest, in dem auch ich flügge geworden war.
In seiner Werkstatt war der Meister Tischler an der Arbeit; ich hörte seinen Hammer laut und deutlich genug. Eines seiner Kinder war’s gewesen, das mir den Weg angedeutet hatte, auf dem ich den Vetter Just finden konnte.
Aber ich zögerte, ehe ich ihm folgte. Auf dem sonnigen Wiesenflecke, auf einer Lage jener glatten, weißen Tannenbretter, von denen der Meister Schreiner eines oder zwei zu seiner Arbeit die halbe Nacht hindurch verwendet hatte und an denen jetzt sein Hammer zur Vollendung des Werkes klang, saßen Ewald und Irene, dem Dorfe Werden und mir den Rücken zuwendend.
Sie saßen Hand in Hand, doch nicht dicht beisammen. Tief niedergebeugt, das Haupt in der Hand, saß der Freund; und ob sie auch miteinander gesprochen hatten, jetzt redeten sie nicht miteinander. Sie saßen still und horchten auf den Hammer, der die Nägel scharf und hell und doch auch wieder melodisch in das weiche Holz trieb. Kein Glockengeläut konnte feierlicher in einen Brautmorgen hineinklingen, und ich wagte es wahrlich nicht, diese zwei Verlobten anzureden. — — —
Der Pfad durch das taufunkelnde Gebüsch nahm mich auf und hinter mir verhallte dieser ernste, bedeutungsvolle Hammerschlag. Durch hohes, gelbes Kornfeld zog sich der enge Weg, die Lerchen hingen unsichtbar — fröhlich darüber; und — seltsam! gerade in diesem Augenblick drängten sich die Bilder und Gewohnheiten meines so lange gewohnten Daseins — die bekannte Umgebung meines ruhigen Einsiedlerlebens durch mein Gedächtnis. Meine vier Wände in Berlin, die Bücher an den Wänden und der Blick durchs Fenster in die bunte lärmende Gasse. — Du träumst, Friedrich Langreuter? Was aber ist nun ein Traum?… Besinne dich! — —
„Wo bist du eigentlich, Fritz?“ fragte der Vetter Just. „Du stiegest über den Hof weg wie ein Nachtwandler. Wie siehst du denn aus, Doktor? Wie stolperst du her?… Freilich, Steine des Anstoßes liegen hier genug im Wege!“
Da stand ich wieder in dem verwahrlosten Schloßhofe von Werden, und der Vetter nickte mir von der mehrfach beschriebenen Steintreppe und Rampe zu.
„Es ist mir übrigens lieb, daß du kommst,“ brummte er. „Komm nur dreist herauf, ich werde dich nicht mehr auslachen, wenn du behauptest, daß es hier umgehe. Jedenfalls gehe ich nun seit einer Viertelstunde um dies alte Gemäuer herum, und immer ist’s mir, als schleiche etwas hinter mir drein oder sehe gar aus dem Fenster auf mich herunter. Die Sache ist mir nun doch außer allem Spaß!… Der Vetter Just Everstein vom Steinhofe Herr von Schloß Werden!… Den Irländer kenne ich. Der Strick hält mich am Wort, wenn ich es selber nicht zurücknehme. Und er hat auch recht! Was will er mit seinem Weibe hier?… In die Försterei setzt die Regierung einen neuen Mann in Grün; — alles für uns ausgeflogene Nester!… Mein Weib nehme ich mit nach dem Steinhofe; das wäre mir wirklich eine Burgfrau hier, die Bäuerin vom Steinhofe, mit Jule Grote als Stewardess!… Sahst du auch die beiden — ich meine Ewald und Irene — auf der Wiese des Meisters Dröge? Das ist mir nun ganz klar und deutlich, als flösse schon das Weltmeer zwischen ihnen und Schloß Werden. Es weiß keiner etwas anzufangen mit Schloß Werden und — ich auch nicht! Doktor, was meinst du, wenn du es von mir in Pacht nähmest?“
Ich glaube fest, daß ich damals den Vetter ziemlich starr und mit etwas weitgeöffnetem Munde angesehen habe; es war aber nur eine Schulmeister-Reminiszenz aus Neu-Minden von ihm, wie sich gleich auswies.
„Ländereien nicht vorhanden,“ sagte er, „aber genügend Gartenland zu Spielplätzen und Turnanstalten und was sonst dazu gehört. Ausgezeichnetes Trinkwasser — gesunde Lage, frische Luft. Wald ringsum. Fritz, so ’ne Erziehungsanstalt für unverbesserliche Jungen aus den besten Familien!… Mit der Miete würde ich dich nicht drängen, zum Inventar würde ich zuschießen; wir behielten dich hier in der Nähe, gut zahlende junge Engländer schickte Ewald, deine Berliner brächtest du dir selber mit. Gekommen ist mir diese Idee freilich eben erst, seit du hier bei mir stehst: aber — überlege dir mal die Sache!“
Von diesem Vorschlage hatte ich mir wahrlich nichts träumen lassen, als ich mich eben auf dem Wege nach der alten Jugendheimat aus den bewegten, wunderlichen, traurigen und doch so von der Sonne überglänzten und vom Grün umrauschten gegenwärtigen Tagen plötzlich und ohne daß ich es wußte, wie es zuging, in mein einsames großstädtisches Gelehrtendasein zurückverloren hatte. Es war seltsam, aber wegleugnen ließ es sich nicht; ein gewisses leises, unbestimmtes Heimwehgefühl hatte sich bemerkbar gemacht: Wohin gehst du, Friedrich Langreuter, wenn sich nun in der allernächsten Zeit dieser Kreis, der sich hier so schicksalsvoll geschlossen hatte, wieder auflöst? Sie sind nun am Ende doch alle geborgen. Aber du, Fritz Langreuter, wenn du nun morgen mitgegangen bist zu der letzten friedlichen Ruhestätte des guten, alten, treuen Freundes? Wohin gehst du, wenn ihr morgen vom Kirchhofe zurückgekommen seid und für die übrigen das Lebensrad mit erneutem Schwunge sich wieder aufwärts drehen wird? Was bleibt dir in den Händen als Gewinn von dieser melancholisch-süßen Reise nach Schloß und Dorf Werden — der Fahrt in die Jugend zurück?
Fast drollig klang nun in alle diese Fragen an das eigene Geschick der treffliche Rat des Freundes, aus Schloß Werden ein Erziehungsinstitut zu machen, hinein. Ich mußte auch lachen, aber heiter kam das gerade nicht heraus; und dabei stand der Vetter Just mit seinem heitersten Lächeln auf dem ehrlichen, breiten Gesicht weitbeinig, die Hände auf dem Rücken, vor mir:
„Na?! Was sagst du zu meinem Vorschlag?“
„Daß dies ganz der richtige Just Everstein ist. Neu-Minden, wie es leibt und lebt. Ja, wenn nur ein jeder am Wege gesessen hätte wie dieser Mensch hier, und Weisheit aus dem Wind und den Wolken wie aus dem alten Broeder gezogen hätte! Ich danke dir herzlich, Vetter Just; aber — für mich wäre das wirklich das letzte.“
„Dann ist mir Schloß Werden nur auf den Abbruch hin auf den Hals geladen worden,“ seufzte Just Everstein vom Steinhofe und legte die Hand auf eines der Bretter, mit denen die hohen Fenster des Unterstocks des Gebäudes teilweise vernagelt waren. „Es wird wieder mal allerlei von einer festen Brücke bei Bodenwerder geschwatzt und geschrieben. Da könnte ich vielleicht einen Teil der Steine los werden. Schade, daß unser Landsmann, der Freiherr von Münchhausen, sein Wort bei den maßgebenden Behörden nicht mehr dazu geben kann! Über das Gartenland wollte ich mich schon mit den Bauern von Werden verständigen, Gewissensbisse mache ich mir nicht darüber, wenn du auch nicht gerade jetzt mit Irene Everstein darüber zu sprechen brauchst. — Everstein? Everstein? Was würde der Herr Graf dazu sagen? und was mein seliger Vater — von meinem Großvater gar nicht zu reden?!“
„Es geht alles in der Welt mit rechten Dingen zu, Vetter Just,“ erwiderte ich. „Freilich die große, trostvolle Wahrheit, daß hinter jedem Ding als solches eben die Welt als solche steht, wird einem meistens nur bei einer solchen Gelegenheit wie diese klar. Das ist ein Gedanke: aus Schloß Werden eine Brücke zu bauen! Ein trefflicher Gedanke, der einen selbst in der Vorstellung schon mit Kindern und Kindeskindern sicher und fest in die Zukunft hineinführt!“
„Ein kurioses Ende vom Liede, würden die Werdenschen Bauern sagen,“ brummte der Vetter kopfschüttelnd.
„Aber die Quadern würden sie dir doch herzlich gern abfahren zu dem Werk.“
„Das würden sie! Und das Fell würden sie mir dabei über die Ohren ziehen, wie es kein Everstein auf seinem alten Raubnest dort weiter ins Land hinein seinerzeit besser verstand. Ja, auch das Lied hat kein Ende! Na ja, und wenn ein Stern zerspringt, so werden die Planetoiden daraus; — verwerten kann ich das Material schon. Der Herr Graf! der Herr Graf! was würde der Herr Graf dazu sagen, wenn er den Bauer vom Steinhofe sagen hörte: Das hat ja aber Zeit, ich aber habe heute keine mehr, mich um das alte leere Nest zu kümmern! —?— Über Jahr und Tag kannst du mir immer noch deinen guten Rat schriftlich geben, Fritz; oder du bringst mir ihn mündlich, oder ich hole mir ihn und zeige meiner Eva dabei zu gleicher Zeit die Stadt Berlin. — Dann werden Ewald und Irene jenseits des Kanals sitzen, und wir können doch noch ein wenig unbefangener über Schloß Werden und sein letztes Schicksal zu Rate sitzen. Jetzt habe ich schon allzu lange um das öde Gemäuer mein armes, betrübtes Mädchen bei dem toten Vater allein gelassen. Komm nach Hause, Doktor!“
Wir gingen, und — nun sind wir im letzten Akt, und da ich noch ganz und gar zur alten Komödie gehöre, so hätte ich nunmehr das vollkommenste Recht, meinen Oberrock aufzuknöpfen, meinen Stern und — mich als Serenissimus zu zeigen. Als der Serenste, der Heiterste?… Wenn ich sagen wollte, als derjenige, welchem doch von allen das bequemlichste Los zuteil geworden sei, so würde ich damit wohl das richtigere treffen. Ich habe Zeit, wie ich es hier tue, den Geschichtsschreiber von Dorf und Schloß Werden, den Biographen des Steinhofes zu spielen. Habe ich meine Sache erträglich gemacht, so ist’s gut; ist das Ding unter aller Kritik ausgefallen, so habe ich im Grunde ja doch nur für den alten Vetter Just Everstein vom Steinhofe geschrieben, und der wird gottlob nur lächelnd sagen:
„Ja, unser Berliner Doktor! Lesen mußt du’s, Evchen; mir ist mehr als einmal die Pfeife drüber ausgegangen, und auf dein Gesicht dazu bin ich auch nicht wenig gespannt. Mittelalterliche Geschichtsquellen hat der alte Junge auch in unserem Falle gut studiert — na, laß ihn; während der Universitätsferien rückt er wieder ein auf dem Hofe, und dann hoffe ich mündlich von ihm zu erfahren, ob er mir in seiner Chronik mehr Schmeicheleien oder mehr Grobheiten gesagt haben will. Nach England muß jedenfalls eine Kopie hinüber; denn das sehe ich doch gar nicht ein, weshalb Ewald und Irene nicht gerade so gut wie wir über diesen wunderbaren Historien den Kopf zwischen beide Hände nehmen sollen! Es ist wirklich die Möglichkeit, was ein Mensch in der Einbildung des anderen an Glück und Geschick und dem Gegenteil davon befahren kann! Ja, ja, mein Herz, von Rechts wegen müßten wir nun, ich und du und Freund Ewald und Frau Irene, uns hinsetzen und zu Papiere bringen, wie wir dies alles angesehen haben, als wir es erlebten. Sollen wir, Herz?“
„Mir bleib damit vom Leibe,“ wird dann Frau Eva Everstein sagen. „Irene wird auch keine Zeit dazu haben. Die ist froh, wenn sie meines Bruders Korrespondenz besorgt hat. Also fällt es einzig und allein auf dich, Just, wenn wirklich in dem dicken Bündel Schriften (und was für eine Hand schreibt das Menschenkind dazu!) was drin steht, was von einem von uns beantwortet werden muß.“
„Ja, wenn man nur nicht zu behaglich in dem alten Neste säße, und wenn einem nur der Tag Ruhe ließe!“ wird der Vetter Just die Unterredung mit seinem Weibe über das Manuskriptum des „Doktors in Berlin“ fürs erste zu einem behaglichen Ende bringen. — — —
Nun wird es natürlich wieder Leute geben, die nie zufrieden sind, wo es sich um den Schluß einer Geschichte, die man ihnen erzählt, handelt; die alles immer noch genauer und ausführlicher zu wissen wünschen, als der Erzähler es vortragen kann oder — will. Wo es sich um eine Hochzeit handelt, wollen sie die Zahl der Musikanten kennen, wo eine Taufe das Ende ist, soll ihnen nicht ein einziger Gevatter unterschlagen werden, und im vorliegenden Falle (o, ich kenne sie!) möchten sie mit „zur Leiche“ gehen, das heißt den guten alten Vater Sixtus mit begraben, und dann ganz genau in Erfahrung bringen, ob Schloß Werden wirklich ebenso vom Erdboden verschwunden sei wie die Nester, die wir aus dem Schlosse einst in die Luft und das grüne Gezweig hingen, oder was eigentlich zu allerletzt der Vetter Just Everstein damit angefangen habe. Ich für mein Teil hätte nun wohl noch mancherlei von Ewald und Irene zu berichten; aber sonderbarerweise würde ich dafür die wenigsten aufmerksamen Ohren finden, denn „Das kann sich ja ein jeder leicht denken“.
Und so sage ich nur, daß Irene mir die Instandhaltung eines Kindergrabes auf einem Berliner Kirchhofe anvertraut hat, und daß es mir, unberufen, sonst nach Wunsch geht. Was das übrige anbelangt, z. B. auch Jule Grote und Mademoiselle Martin (Schloß Werden nie zu vergessen!), so weiß nur der Vetter Just Everstein das Allergenaueste. Wer also noch eine Frage auf dem Herzen hat, der wende sich an ihn. Von Bodenwerder, wo der Freiherr von Münchhausen geboren wurde, führt der Feldweg nach dem Steinhofe an jenem Steine vorbei, auf welchem er — der Vetter Just — den Kopf in den Händen und die Arme auf die Kniee stützend und so in das Blaue hineinstarrend — einst saß und wartete auf menschliche Schicksale.
Anmerkungen zur Transkription
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