The Project Gutenberg EBook of Ferien vom Ich by Paul Keller This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this eBook or online at http://www.gutenberg.org/license Title: Ferien vom Ich Author: Paul Keller Release Date: May 23, 2009 [Ebook #28938] Language: German Character set encoding: US-ASCII ***START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK FERIEN VOM ICH*** Paul Keller / Ferien vom Ich _PAUL KELLER_ Ferien vom Ich _ROMAN_ Deutsche Buch-Gemeinschaft _GMBH_ _BERLIN_ Einbandentwurf von Hanne Maria Rudert Alle Rechte, insbesondere das der Uebersetzung, der Verfilmung, der Dramatisierung, des Nachdrucks und der Wiedergabe durch den Rundfunk, vorbehalten _Copyright 1915_ _by Bergstadtverlag Wilh. Gottl. Korn / Breslau I_ _Printed in Germany_ INHALTSVERZEICHNIS Nach meiner Heimkehr 5 Die feindlichen Staedte 12 Das Modebad 28 Auf dem Weihnachtsberg 33 Luise 58 Samariterdienste 69 In den Tagen des Werdens 77 Das Kind 88 Vorarbeiten 95 Die "Neustaedter Umschau" 104 Joachim 116 Weihnachten 131 Fuegung 136 Bauernanwerbung 142 Der Journalist 161 Die ersten Kurgaeste 181 Sommerabend 197 Lorelei 220 Die "krummbeinige Medizin" 227 In der Genovevenklause 233 Die Schlacht bei Waltersburg 241 Herbst 248 Von der weiblichen Putzsucht 271 und Herrn Pieseckes Leiden Abschiedsabend 281 Gerichtliches 288 Aufklaerungen 302 Vom Bruder und seiner Frau 320 Freund Stefenson 343 Der Fuchs und die Sibylle 355 Advent 367 Hochzeit und Ende 375 NACH MEINER HEIMKEHR Der alte Johannisbrunnen rauscht wieder vor meinem Fenster. Hoch ragt das Bild des Taeufers; aus der ehernen Schale, die seine erhobene Hand haelt, plaetschert das Wasser hinab ins steinerne Becken. In alter Zeit soll ein heidnisches Heer an diesem Brunnen voruebergezogen sein; die Recken haben den rauhen Nacken gebeugt und sind hier getauft worden. Am naechsten Tage fielen alle in der Schlacht. Ihre Leichname blieben liegen unter den dunklen Baeumen der Waldschlucht, da die Krieger heimtueckisch erschlagen wurden; aber am Abend, als die Sonne rot am Himmel brannte, kamen weisse Schemen zum Stadttore herein, die hatten Kraenze um die Stirnen und laechelten wie Kinder. Als sie am Brunnen vorbeizogen, liess der heilige Baptista die eherne Taufschale fallen und faltete die Haende; denn diese reinen Seelen brauchten kein Wasser der Gnade mehr. Die Gekraenzten zogen langsam zum Stadttore hinaus, den Weihnachtsberg hinauf, und als sie auf der goldglaenzenden Hoehe standen, winkten sie noch einmal herab ins Tal und zogen dann fort, weit ueber die rote Sonne hinaus, und der Heilige am Brunnenplatz schaute ihnen nach. Erst als es Nacht war, bueckte er sich nach der verlorenen Taufschale, und nun haelt er sie wieder in erhobener Hand seit vielen Jahrhunderten. Das ist eine der vielen Sagen und Legenden von Waltersburg. Die Waltersburger haben ganz eigene Geschichten. Sie borgen nicht von fremden Gauen und Staedten; ihr romantisches Tal war immer so reich, dass sie Fremdes nicht noetig hatten. Der Johannisbrunnen! In seinem Becken liess ich als Kind meine Schifflein schwimmen. Sie schwammen nach Amerika, nach Jerusalem oder gar bis ins Riesengebirge. Mein Bruder Joachim, der mit auf dem Brunnenrande sass, laechelte oft veraechtlich ueber diese Reiserouten. Er war drei Jahre aelter als ich und schon Gymnasiast. Da verachtete er meine Abcschuetzen-Geographie. Mit Schifflein spielte er nicht mehr; er liebte nur wissenschaftliche Unterhaltung. So warf er Fische aus Blech, die ein eisernes Maul hatten, ins Wasser und angelte mit einem Magneten nach ihnen. Er hatte ein Senkblei, und wenn seine Fische nicht bissen, sagte er: es laege am Wetter oder ich staende mit meinem infam weissen Spitzenkragen zu nahe am Wasser und verscheuchte die Fische. Unterdes fuhren meine Schiffe nach Jerusalem oder ins Riesengebirge, und oben auf dem gruenen Balkon am Brunnenplatz sass unsere Mutter bei ihrer Handarbeit und schaute manchmal zu uns herunter. Wie kommt es doch, dass Menschen von einem solchen Brunnenrand fortziehen koennen, dass er ihnen nicht lieber und groesser ist als alle Kuesten des Ozeans? Mein Bruder und ich sind fortgezogen, und die gute Frau auf dem gruenen Balkon ist allein geblieben. Als Studenten kamen wir noch regelmaessig zu den Ferien. Joachim aber war kaum mit seinen Studien fertig, als er seine Ehe schloss mit jenem unselig schoenen Maedchen, dem die Schoenheit zum Fluche gegeben war. Nach einem Jahre wurde das Kind geboren, und nach nur wieder einem halben Jahre war ich dabei, als die Frau vor Gericht die Aussage machte, sie habe sich selbst mit einem Revolver in die Brust geschossen, weil ihr Mann sie nach einem furchtbaren Streit verlassen habe. Nur meine Mutter und ich wussten, dass sie log. Der Fluechtige aber kam nicht heim, auch dann nicht, als es uns endlich gelang, ihm mitzuteilen, dass er ausser gerichtlicher Verfolgung sei. Er floh nicht vor dem Gefaengnis; er floh vor dem Grauen, das ihm sein junges Weib bereitet hatte und das auch die Rettung, die ihm ihre Aussage brachte, nicht tilgen konnte. Der Bruder verscholl in weiter Fremde, und die Mutter lehnte am Balkonfenster und hoerte auf das Plaetschern des Johannisbrunnens. Sie traeumte von fernen Ufern, an denen ihr Herzenssohn weilen wuerde, von Gestaden, zu denen es keine andere Verbindung gab als die sehnsuechtig hin und her gehenden Gedanken. Als nun auch ich mein medizinisches Staatsexamen beendet hatte, sagte ich zur Mutter, ich wolle bei ihr in der Heimat bleiben und ihr Trost sein. Sie sah mich still an und schwieg, und es zuckte ein wenig um ihren Mund. Da bat ich sie, zu reden und mir ihren tiefsten Wunsch zu sagen, und sie sprach mit Worten, die sie sich aus dem Herzen riss: "Geh fort ... in die Welt ... suche Joachim ... bringe ihn wieder!" So bin ich fortgezogen, um meinen Bruder zu suchen. Und weil ich nicht Geld genug hatte, jahrelang um die Erde zu reisen, wurde ich Schiffsarzt, jetzt bei dieser, dann bei jener Gesellschaft, und kam fast in alle grossen Haefen der Welt. Ich fand ihn erst im fuenften Jahre meiner Wanderfahrt und waere bei fluechtiger Begegnung wohl an dem veraenderten harten Mann mit dem fremden Namen vorbeigegangen; aber ich traf ihn an Bord zwischen Rio und Montevideo, da das Schiff tagelang nicht anhaelt, und wurde meiner Sache gewiss, als der Fremdling sich ploetzlich scheu verbarg und weder an Bord noch bei den Mahlzeiten mehr sichtbar wurde. Da suchte ich ihn in seiner Kajuete auf. Er oeffnete auf mein Klopfen und bebte zusammen, als er mich sah. Ich draengte ihn ohne weiteres in die Kajuete und schloss die Tuer. "Ich will nur ein wenig mit dir reden, Joachim", sagte ich und wunderte mich ueber meine ruhige Stimme; "du wirst es mir nicht abschlagen koennen, da ich an die fuenf Jahre hinter dir her bin. Und dass ich auf dein Leben und deine Entschluesse keinen Einfluss habe, weiss ich von vornherein. Also versteck dich nicht!" "Was willst du?" fragte er muehsam heraus. "Ich will nicht viel. Ich will dich nur bitten, du moechtest von Zeit zu Zeit, so alle Jahre einmal um Weihnachten, an die Mutter schreiben." Da fiel er auf sein Bett und weinte rasend. Ich trat an das kleine runde Kajuetenfenster, an das die Wellen klatschten, und schaute hinaus auf die rollende See. * Vorgestern bin ich nun heimgekommen nach Waltersburg zu meinem und seinem silbernen Muetterchen. Ich muss schon "silbernes Muetterchen" sagen; denn nicht nur die Haare sind silbern, auch das Gesichtchen, auch die schmalen Haende. Alles ist kostbar, edel und weiss an ihr. Sie fragte mich nur das eine: "Ist er gesund?" Ich sagte ihr, was ich wusste, auch dass er ein braver Mensch geblieben sei, woran wir beide niemals gezweifelt hatten. Dann, dass er in einer geachteten Stellung und wohl ein reicher Mann sei oder es doch werde. Darauf hoerte sie kaum, sondern schlug die Haendchen zusammen und jammerte: "Warum? Warum?" Das war die schwere Frage, ueber deren richtige Beantwortung ich mir auf der Heimreise den Kopf zerbrochen hatte. Ganze Abhandlungen hatte ich in meinem Hirn ausgearbeitet, schlagende psychologische Begruendungen fuer eine Mutter, die fragt: Warum gibt mein Sohn keine Nachricht? Warum kommt er nicht zurueck? Warum laesst er mich in dieser furchtbaren Einsamkeit und Qual? Da sagte ich ihr nur die wichtigsten Saetze, die Joachim gesprochen: "Ich hab wohl hundertmal geschrieben und tausendmal schreiben wollen. Aber ich hab keinen Brief abgeschickt. Ich hatte eine schreckliche Angst, dann schreibt ihr wieder, und dann halte ich's nicht aus in der Fremde, dann muss ich zurueck in diese verfluchte Heimat." Sie war ein wenig betaeubt ueber diese Worte; aber dann glomm eine Hoffnung auf in ihren Augen, und sie sagte: "Aber jetzt wird er schreiben?" "Ja, jetzt wird er schreiben; das ist das einzige, was ich nach meinem langen Suchen erreicht habe." "Ich danke dir, lieber Fritz", sagte sie und drueckte mir schuechtern die Hand. * Nun bin ich beinahe eine Woche zu Hause und fange an, mich gluecklich zu fuehlen und zu freuen. Ich glaube, zu den Freuden, die schwer zu tragen sind, gehoert die Heimkehr aus fremden Landen. Und nicht bloss mir in meinem besonderen Falle wird es so gehen, nein, allen, die lange draussen waren und wieder nach Hause kommen. Es ist viel Scheu, viel Bangigkeit in der Seele, die Quellen der Lust und des Schmerzes fliessen zusammen wie in einen tiefen Bronnen, aus dem erst langsam, wenn sich der zitternde Spiegel beruhigt hat, das Himmelsgesicht des Gluecks auftauchen kann. Es gibt wohl keinen Heimkehrenden, der laut lachte, tanzte oder spraenge. Ich habe in fremden Laendern viele robuste Burschen gesehen, die in ihre Heimat zurueckkamen, und es war ganz gleich, welcher Farbe oder Rasse sie waren - sie waren schuechtern und verlegen, gingen alle ein wenig mit zusammengezogenen Schultern, sprachen seltsam leise und traten nicht fest auf, als ob sie der Heimaterde nicht weh tun wollten. Sie mussten sich alle in der Heimat erst wieder heimfinden. Es ist auch ganz natuerlich: der Star, der aus dem Sueden an den heimischen Kasten kommt, pfeift auch nicht am ersten Tage. Er schuettelt in der entwoehnten Luft erst sein Gefieder zurecht. * Die Mutter steht immer am Fenster und schaut nach dem Brieftraeger aus. Aber der Brief, auf den sie wartet, kommt nicht. Er koennte laengst da sein. Ich telegraphierte schon zweimal heimlich nach Rio. Es kam aber keine Antwort. Und die Mutter steht und wartet. Ich versuchte es mit der alten Ausrede, ein Brief koenne verlorengehen, zumal auf so langem Wege. Aber die Mutter schuettelte den Kopf und sagte: "Einen solchen Brief wuerde Gott behueten." DIE FEINDLICHEN STAeDTE Ich muss versuchen, wieder lustiger zu sein. Herrgott, ich bin doch ein junger Mensch, ich habe meine Aufgaben, und meine Kraft darf nicht in sehnsuechtigem Suchen, am Trotz des Bruders zerschellen. Also will ich heute gar nichts von ihm aufschreiben, sondern einmal die naerrische Geschichte von der Feindschaft der Waltersburger und der Neustaedter zu erzaehlen beginnen. Waltersburg ist eine in einem wunderschoenen Talkessel gelegene Stadt von 2967 Einwohnern. Solches besagte die letzte Zaehlung. Der Personenstand wies im letzten Jahrhundert immer ziemlich dieselbe Hoehe auf; auf runde 3000 kam er nie hinauf. Da machte unser Buergermeister, Herr Wilhelm Bunkert, eine bedeutsame Stiftung: der dreitausendste Einwohner, der Waltersburg Anno 1904 geschenkt wuerde, solle eine goldene Uhr bekommen, Herrenuhr oder Damenuhr, je nachdem es ein maennliches oder ein weibliches Wesen betraefe, und diese Ehrengabe wolle er, der Buergermeister, aus eigenen Mitteln bestreiten. Die Sache stand im Stadtblatt und wurde viel bewundert. Im naechsten Jahre kamen viele Kinder zur Welt; die Zaehlung wurde nicht bloss vom Magistrat, sondern auch von der Buergerschaft sehr eifrig betrieben, und da die Einwohnerschaft auf 2998 stieg, entstand in der zweiten Haelfte des Dezember zwischen der Frau Schneidermeister Lembke und der Frau Schuhmachermeister Abelt eine bittere Feindschaft, da beide hofften, noch vor Ablauf des Jahres eines Kindleins zu genesen. Am 30. Dezember gebar Frau Lembke eine Tochter. Ihr Mann, anstatt sich des bluehenden Toechterchens zu freuen, ging in die Schenke und betrank sich vor Aerger, wie er sein Lebtag sich nicht betrunken hatte. Dem Ehepaar Abelt aber klopfte das Herz. Am Silvesternachmittag gebar die Frau einen Sohn, und der entzueckte Vater stuerzte nach dem Rathause und schrie: "Der dreitausendste Einwohner! Der dreitausendste Einwohner!" Im Vorzimmer des Buergermeisters aber begegnete dem Siegestrunkenen eine schwarze Gestalt. Es war die Frau des Webers Michalke, die soeben den Tod ihres Mannes angemeldet hatte. Da waren es wieder nur 2999. Der arme Schuster torkelte gegen die Wand, und dumpf hallten die Silvesterglocken in die Nacht ueber diese so wenig vom Glueck beguenstigte Stadt. Der Buergermeister hielt sein Angebot auch fuer das kommende Jahr aufrecht, und einige werdende Muetter wiegten sich in goldenen Hoffnungen. Aber der Tod hielt reichere Ernte als sonst, auch zog der Barbier mit seiner siebenkoepfigen Familie nach Neustadt, und nun hielt der geizige erste Ratsmann, Baeckermeister Schiebulke, es fuer den richtigen Zeitpunkt, sich als einen Goenner der Stadt zu bezeigen und auch seinerseits fuer den dreitausendsten Einwohner eine Praemie auszusetzen, und zwar ein neues Fahrrad, je nachdem ein Herren- oder Damenrad. Die Sache kam ins Stadtblatt, und die Buerger lachten. Ob Schiebulke vielleicht meine, ein neugeborenes Kind koenne radeln, wurde der Stifter befragt. Ob die andern vielleicht meinten, ein neugeborenes Kind koenne von einer Uhr die Zeit ablesen, gab Schiebulke giftig zurueck. Da setzte der Wirt vom "Goldenen Loewen", der ein reicher Mann und ein wenig ruhmsuechtig ist, einen erschrecklich hohen Trumpf auf: "Goldene Uhr und Fahrrad", sagte er, "sind gute Dinge. Nur leider die Kinder wachsen langsam, und solche Dinge veralten schnell. Was allein nicht veraltet, ist das Geld. Ich will meiner Vaterstadt meine Liebe beweisen und lege 5000 Mark in die staedtische Sparkasse fuer den dreitausendsten Buerger, den Waltersburg in diesem Jahre erhaelt." So lautete die Stiftung, die im Stadtblatt publiziert wurde und ungeheure Aufregung hervorrief. Und da kam das Unerwartete, wie in solchen Faellen ueberhaupt meist etwas Unerwartetes geschieht. Die Einwohnerschaft von Waltersburg hatte die Hoehe von 2993 erreicht, als der vor kurzem nach Neustadt uebersiedelte Barbier Arthur Heilmann mit seiner Frau und seinen fuenf Kindern sich wieder in Waltersburg ansiedelte und glueckstrahlend die goldene Uhr, das Fahrrad und die fuenftausend Mark fuer sich in Anspruch nahm, da mit seinem Zuzug die Zahl dreitausend erreicht war. In Waltersburg brach eine Revolte aus. Man wollte den frechen Barbier samt Weib und Kindern lynchen. Man schrie, das sei Betrug, das gaelte nicht, das sei ja ganz anders gemeint gewesen. Der Barbier, der zuvor bei einem Rechtsanwalt in Neustadt gewesen war, bewahrte seine Ruhe, und Amtsrichter Knopf, der angesehenste Jurist in Waltersburg, erklaerte im Magistratskollegium, am Stammtisch und wo immer man es hoeren wollte, unter Hinweis auf verschiedene Gesetzesparagraphen: es handle sich hier um eine oeffentliche Auslobung, deren Inhalt durch den Barbier Heilmann erfuellt sei und dem daher unzweifelhaft die drei ausgesetzten Praemien zufielen. Aller Ingrimm der Welt haette an der Tatsache nichts geaendert: Heilmann bekam die Preise. O unglueckliches Waltersburg! In der Stadt war dumpfe Trauer, Zorn und Hass, und alle Maenner gelobten, bei diesem Barbier sich nie den Bart schaben oder die Haare schneiden zu lassen. Darauf rechnete aber der abgefeimte Schaumschlaeger gar nicht, sondern er zog schon nach Ablauf eines Vierteljahres wieder nach Neustadt zurueck und nahm die Preise mit. Waltersburg zaehlte nach diesem Abzug 2993 Bewohner. Die Auslobungen wurden nicht erneuert. Das ist nun einer der Faelle, aus denen das feindselige Verhaeltnis zwischen Waltersburg und dem benachbarten Neustadt schon einigermassen erhellt. * Die Zeit meiner Abwesenheit hat an dem feindlichen Verhalten der beiden Staedte Waltersburg und Neustadt nichts geaendert. Und doch ist Neustadt eine Tochterstadt von Waltersburg, die beiden Orte sind in der Luftlinie kaum drei Kilometer voneinander entfernt und nur durch den maessig hohen Weihnachtsberg getrennt. Nicht nur, dass die beiderseitigen Gemeindekollegien miteinander in Hader liegen und sich die zwei Stadtblaettchen staendig befehden, der Hass gegen die Nachbarstadt bringt auch noch heute die Koepfe der Waltersburger Stammtischphilister in Gluthitze und uebertraegt sich sogar auf die Frauen und Kinder. Bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hat sich Waltersburg eines geradezu paradiesischen Friedens erfreut. Die Hussiten sind an ihm vorbeigezogen, die Horden des Dreissigjaehrigen Krieges haben vergessen, die Stadt auszupluendern, so dass Waltersburg mit seinen damals 2000 Bewohnern nach dem Westfaelischen Frieden eine der volkreichsten Staedte Deutschlands war, ein Umstand, ueber den in der Stadtchronik des weiten und breiten geredet wird; von den Fritzeschen Regimentern hat nur eines einmal drei Tage lang in Waltersburg Station gemacht, was den Stoff fuer ein weiteres Viertel der Chronik bildet, und auch die Siegerscharen Napoleons haben keine besondere "_gloire_" darin erblickt, die Stadtmauern von Waltersburg zu berennen. So war das weisse Lamm in gruenem Felde ein sehr angebrachtes Wappentier fuer die friedfertige Stadt, und es gehoerte schon die ganze boshafte Niedertracht der Neustaedter dazu, zu behaupten, weiland der geistvolle Hohenstaufe Friedrich II. haette den Waltersburgern das Lamm fuer ihr Stadtwappen nur darum verliehen, weil er ihre ureigentuemliche und unausrottbare Schafkoepfigkeit wohl erkannt habe. Solch grobe Beleidigung strafen die Waltersburger mit eiskalter Verachtung; dagegen erhitzen sie sich noch heute sofort, wenn die Rede einmal auf den Bahnbau kommt. Als nach dem siebziger Kriege sich in Deutschland die Eisenbahnen mehrten wie nach einem fruchtbaren Regen im Garten die Wuermer, hatte die Regierung dem Rat angeboten, eine neue Hauptstrecke ueber Waltersburg zu fuehren, ja die Stadt zu einem Eisenbahnknotenpunkt zu machen. Dieses Anerbieten hatte die Buergerschaft in die allerschwerste Sorge gestuerzt. Sie sandten zum Kaiser nach Berlin eine Deputation mit der Bitte, der Landesvater moege das schwere Unheil, das den Frieden und die Ruhe der treuen Stadt Waltersburg bedrohe, allergnaedigst abwenden. Die Deputation wurde zwar nicht empfangen, brachte aber in aller Stille ein kraeftiges Wort mit heim, das ein Geheimer Rat im Eisenbahnministerium gesprochen hatte, und das nicht viel schmeichelhafter klang als die Neustaedter Auslegung des Waltersburger Wappentieres. Die Hauptsache war: die Bahn kam nicht nach Waltersburg. Sie wurde jenseits des Weihnachtsberges, etwa sechs Kilometer von der Stadt entfernt, vorbeigefuehrt. Daselbst wurde auch ein grosser Bahnhof angelegt, da sich in der Tat die Notwendigkeit herausgestellt hatte, an diesem Orte einen Kreuzungspunkt zu errichten, und die Station fuehrte, da sie doch benannt werden musste, den Namen "Waltersburg-Neustadt". Die Waltersburger lachten. Sie hatten jetzt eine Eisenbahnstation, aber diese Station konnte ihnen nichts anhaben. Spaeter hat ein Dichter in der "Neustaedter Umschau" ein Poem veroeffentlicht, in dem es hiess: _"Die Waltersburger, die sind gar pfiffige Leut,_ _Sie sind nicht nur pfiffig, sie sind grundgescheut,_ _Sie haben eine Bahn, die woanders 'rum geht,_ _Sie ham einen Geldschrank, der im Nachbarhaus steht;_ _Sie fuettern der Hasen und Rehe wohl viel,_ _Doch treiben sie alle dem Nachbar vors Ziel;_ _Sie sperr'n ihren Fluss, dass kein Fisch hineinschwimmt_ _Und zuviel von dem sehr guten Wasser wegnimmt;_ _Und waer' mal ein Maederle gerne gekuesst,_ _Da wartet's, bis auswaerts ein Kirmestanz ist."_ Fuer dieses Gedicht hat sein Verfasser von den Neustaedtern viel Lob und von den Waltersburgern gelegentlich recht ordentliche Pruegel geerntet. Neustadt verdankte seine Gruendung einem trutzigen Buerger von Waltersburg, dem Baumeister August Bunkert, der als einziger in der ganzen Stadt Waltersburg Tag und Nacht geredet hatte, die so guenstige Gelegenheit, einen grossen Bahnhof an die Stadt zu bekommen, nicht zu verpassen. Als er mit seinen Ideen nicht durchdrang, im Gegenteil viel Anfeindung erfuhr, die bis zu persoenlichen Feindschaften ausartete, und sich insonderheit mit seinem einzigen Bruder, Wilhelm Bunkert, der jetzt Buergermeister von Waltersburg ist und damals zu der Berliner Deputation gehoerte, in bitterem Hader entzweite, zog der Baurat aus dem Hause seiner Vaeter aus und baute jenseits des Berges dicht neben den neuen Bahnhof ein grosses Hotel, dem er den Namen "Zur guten Hoffnung" gab. Die "gute Hoffnung" erwies sich zunaechst als schlecht; denn da das Hotel auf blossem Felde stand, alle Eisenbahnpassagiere aber fanden, dass sie in der menschenleeren Wald- und Wiesengegend nichts zu suchen haetten und darum immer schleunigst weiterfuhren, stand das Hotel Jahr und Tag leer, die wenigen Bahnbeamten abgerechnet, die am Abend ihr Schoepplein tranken, und an August Bunkert kroch langsam die Pleite heran. Die Waltersburger meinten, dass der neuerungssuechtige Trotzkopf dieses Schicksal wohl verdient habe, aber zu ihrer Ehre muss gesagt werden, dass Bunkert vielen leid tat und dass man dem verlorenen Sohne gern verziehen und ihm auf die eine oder andere Art wieder auf die Beine geholfen haette, wenn es dem Ausreisser nur eingefallen waere, zurueckzukommen, seinen Irrtum einzugestehen und die vorsichtige Art der Waltersburger zu loben, die er ehedem so heftig angegriffen hatte. August Bunkert aber dachte nicht daran, den Reuigen zu spielen, und auf einen Brief seines buergermeisterlichen Bruders, worin dieser fragte, ob er denn auch den Rest seines schoenen vaeterlichen Erbes noch vollends verschleudern wolle, gab er keine Antwort. Da wurde er seinem Schicksal ueberlassen. Dieses Schicksal gestaltete sich guenstig. Die grosse Bahnhofswirtschaft, die August Bunkert uebertragen wurde, hielt ihn zunaechst ueber Wasser, und endlich gelang ihm der grosse Schlag. Er brachte eine Gesellschaft von bedeutenden Geldleuten der Grossstadt zusammen und kaufte als deren Funktionaer oder Generaldirektor, wie er sich lieber nannte, alles Waltersburger Gelaende auf, das jenseits des Weihnachtsberges gelegen war. Die Waltersburger schlugen die Haende ueber den Koepfen zusammen. Hundert Taler ueber den ortsueblichen Preis hinaus gab Bunkert fuer jeden Morgen Feld-, Wald- oder Wiesenland, und die Besitzer beeilten sich, ihre entlegenen Laendereien unter so glaenzenden Bedingungen loszuwerden. Innerhalb von eineinhalb Jahren besass kein Waltersburger mehr jenseits des Berges auch nur einen Halm. Die ganz Gewissenhaften aber schuettelten die Koepfe und sagten: Dieser Bunkert lockt seinen Auftraggebern das Geld aus der Tasche; er ist ein Hochstapler, und man sollte doch sehr ueberlegen, ob man den unangebrachten Preis annehmen duerfe, den die neuen Besitzer aus dem Wald- und Wiesenland nie und nimmer herauswirtschaften koennten. Doch auch diese ganz Gewissenhaften beruhigten sich und nahmen das Geld. O du grossmaechtige Verwundernis! In dem prachtvollen Hochwald, den August Bunkert erworben, an den gruenen Wiesen, am Flussufer, den Weihnachtsberg hinauf, entstand ein schmuckes Landhaus nach dem anderen, Einfamilienhaeuser, Sommerwohnungen, Baderaeume, ein Kurhaus, eine "Wandelhalle" bauten sich auf, ein Basar fuer Lebensmittel, ein anderer fuer "Bekleidungs- und Gebrauchsgegenstaende" wurde errichtet, Hunderte und aber Hunderte von Arbeitern waren das ganze Jahr beschaeftigt. Und alle Haeuser baute der Baumeister August Bunkert und wurde ein schwerreicher Mann. Noch staunten die Waltersburger, noch lachten einige spoettisch und veraechtlich, aber manch einer schwieg schon nachdenklich und dachte bei sich: Was tut sich? Da erschien in den grossen hauptstaedtischen Blaettern ein Inserat: "Waltersburg-Neustadt, entzueckend am Suedabhange des 450 Meter hohen Weihnachtsberges gelegen, mitten in prachtvollem Hochwald, in gruenes Wiesen- und Flussland gebettet, ein Paradies der Gesundheit und des Naturgenusses, bei vorlaeufig nur fuenf Mark pro Quadratmeter Bauland (Anzahlung von 3000 Mark an) fuer alle, die sich ein Eigenheim gruenden wollen, eine nie wiederkehrende Gelegenheit. Nur fuenfviertel Stunden von der Hauptstadt entfernt. Grosser Eisenbahnknotenpunkt. Haltestelle aller Schnellzuege. Taeglich zwoelfmal Verbindung mit der Hauptstadt. Anfragen an Generaldirektor Baumeister August Bunkert in Neustadt erbeten." Die Proklamation des Deutschen Reiches kann seinerzeit in Berlin keinen so grossen Eindruck gemacht haben wie dieses Inserat in Waltersburg. Die Leute lachten, wimmerten, fuchtelten mit den Armen und waren voll neidischer Beklommenheit. Am Abend sass ein ganzer Stammtisch im "Goldenen Loewen" mit der Kreide vor der Schiefertafel und wollte ausrechnen, wieviel ein Morgen Land koste, wenn das Quadratmeter auf fuenf Mark komme. Niemand kriegte es heraus, und alle schimpften auf die neumodische Rechnungsart. Selbst den Amtsrichter Knopf verliess seine akademische Bildung; er knurrte, er habe ja nicht Mathematik studiert, und solche Aufgaben koenne ueberhaupt immer nur ein Volksschullehrer herauskriegen. Also schickte man nach dem Lehrer Herder, und der erklaerte: "Ein Morgen altes Mass ist ungefaehr ein Viertel Hektar. Ein Hektar hat 10 000 Quadratmeter; ein Viertel Hektar ist also 2500 Quadratmeter gross. Kostet ein Quadratmeter fuenf Mark, so kostet ein Morgen 2500 mal soviel, also 12 500 Mark." Als der Lehrer Herder dieses Resultat nannte, schlugen die zehn Maenner, die noch mit am Tische sassen, heftig mit den Faeusten auf den Tisch, und zwar alle wie auf Kommando mit einem Hieb. Man schrie den Lehrer an, er muesse sich taeuschen. Der aber sass mit der Wuerde eines Mannes, der von der Unverletzlichkeit und Beweiskraft der Zahl ueberzeugt ist. Sein ganzes Wesen sagte: meine Rechnung stimmt. Da wurde zunaechst eine grosse Stille. Dann sagte einer: "Wenn das wahr ist, sind die Kerle grosse Gauner; 1000 Mark haben sie fuer den Morgen gegeben, 12 000 Mark verlangen sie." Schweigen. Nach fuenf Minuten griff Amtsrichter Knopf die letztgenannten Ziffern auf und sagte: "Sie arbeiten mit elf Prozent." "Elf Prozent gibt ja das Gesetz nicht zu", bemerkte der Erbscholtiseibesitzer Hirsemann mit einem Blick auf den Amtsrichter. Der schuettelte den Kopf, was in diesem Falle "ja" und "nein" heissen konnte. Da ergriff der Lehrer Herder wieder das Wort und sagte: "Entschuldigen die Herren, wenn man mit 1000 Mark kauft und mit 12 000 Mark verkauft, so sind das nicht elf Prozent, sondern elfhundert Prozent Gewinn." Sie starrten ihn alle an wie leblos. Nur Baeckermeister Schiebulke, der gerade trank, verschluckte sich. Der Amtsrichter geriet ins Gruebeln. Seine Seele wanderte zurueck bis etwa in die Tertianerzeit, und dann sagte er: "Ja, natuerlich, es sind nicht elf, sondern 1100 Prozent." Da hoben sich die Faeuste, um auf den Tisch zu donnern, aber diese Ueberraschung war zu gross und schwer; die Haende sanken still herab ... Was die allergroesste Hauptsache war: Neustadt, das den Namen Waltersburg zum grossen Ingrimm der Mutterstadt nach und nach ganz abgestreift hatte, war auf dem besten Wege, ein aufbluehender Badeort zu werden. Zwei "Quellen" waren entdeckt worden, von denen die eine "Kaisersprudel", die andere "Felsensprudel" hiess, und die beide nach dem Gutachten eines sachverstaendigen Professors aus der Hauptstadt "hervorragend radioaktiv" waren. Die Neustaedter feierten Siegesfeste, waehrend die Waltersburger vier Wochen lang brauchten, ehe sie das Wort "radioaktiv" richtig aussprechen konnten, und natuerlich auch dann noch nicht wussten, was das sei. Humbug sei es, meinte der Amtsgerichtsrat, und wenn man dieser Auslegung auch viel Beifall zollte, so verschafften sich doch einige Waltersburger heimlich je drei Flaschen von den neuen Sprudeln, und abends wurde im "Loewen" statt der sonst so beliebten Weinprobe eine Wasserprobe abgehalten. Der Pfropfen der ersten Flasche flog mit einem Knall gegen die Decke. "Wie - wie bei Champagner", stammelte Herr Hirsemann. "Bloedsinn", knurrte der Amtsgerichtsrat; "das is Kohlensaeure; die is dem Wasser eingepumpt; alles kuenstlich, nichts natuerlich; ich kenn doch die Wasserpfuetzen drueben - Betrug is es, glatter Betrug!" So wartete man, bis sich die Kohlensaeure verfluechtet hatte, dann trank der Baecker und sagte: "'s schmeckt 'n bissel salzig." "Weil Sie heut abend wieder Salzhering gegessen haben", grollte der Richter. "Salzig kann man nicht sagen", meinte der Getreidekaufmann Schneider, "sondern so mehr saeuerlich!" "Ja, weil Sie von gestern noch 'ne saure Schnauze haben", zuernte Herr Knopf. Unter solchen Umstaenden haette der Loewenwirt, der auch mit probierte, mit seiner Aeusserung, das Wasser scheine ihm aber stark nach Schwefel zu schmecken, zurueckhalten sollen; denn der schlecht gelaunte Richter fuhr ihn an: "Mensch, wenn Sie tagaus, tagein nischt anderes rauchen als Ihre eigenen Zigarren, muss Ihnen natuerlich alles nach Schwefel schmecken." Darauf einigte man sich endlich: dieses Wasser schmecke wie jedes andere gewoehnliche Brunnenwasser und sei keinen Pfifferling wert. Ganz kurze Zeit darauf gab es in Waltersburg eine neue Aufregung. Die Neustaedter hatten sich fuer ihr Bad einen Propagandachef engagiert. "Propagandachef!" - Dieses Wort war in Waltersburg seit Erschaffung der Welt noch nicht einmal ausgesprochen worden. Die Neustaedter aber wussten nicht bloss, dass es so etwas gaebe, sie engagierten es sogar. Und der Propagandachef war ein Jude. Als das bekannt wurde, sagte der Baecker abends im "Loewen": "Die Kerle in Neustadt verlieren den letzten Rest von Schamgefuehl." Aber da widersprach der Amtsgerichtsrat, hauptsaechlich deswegen, weil er immer widersprach: "Jude hin, Jude her! Es is 'n alter Witz, dass in den ganzen Antisemitismus nich eher 'n richtiger Schwung kommen wird, ehe ihn nicht die Juden selbst machen. Wenn die Neustaedter ihre faule Sache deichseln wollen, mussten sie 'n Juden nehmen, 'n Christ ist viel zu daemlich dazu." Der Baecker stand auf und ging. Wenn freigeistige Reden gehalten wurden, verliess er das Lokal. Nach etwa sechs Wochen erschien der erste Prospekt von dem Bade Neustadt. Es war ein entzueckend ausgestattetes Heftchen von Kunstdruckpapier, mit reizenden bunten und Lichtdruckbildern ausgestattet, und das Werkchen pries Neustadt in so berueckender Form, dass eigentlich jeder Mensch zu bemitleiden war, der nicht augenblicklich seine Koffer packte und nach Neustadt abreiste ... * Die feindlichen Staedte! Vielleicht, dass mir der lustige Hader die Zeit verkuerzt. Von Zeit zu Zeit will ich etwas von ihm im Tagebuch vermerken ... Joachim hat an die Mutter ein Telegramm gerichtet. "Ich kann nicht mehr schweigen; ich gruesse dich und Fritz. Aber schreibt mir keine Briefe, telegraphiert nur, ob ihr gesund seid." Mit diesem Telegramm sass die Mutter am Tisch, als ich heute abend nach Hause kam. Sie sprach nicht, sondern uebergab mir nur wortlos die Depesche; aber sie sah mich stolz und verklaert an, als wollte sie sagen: "Sieh, solch einen guten Sohn habe ich!" "Ich freue mich ueber Joachim", sagte ich und liess sie allein. Von meinem Zimmer sah ich nach dem Johannisbrunnen hinunter, dessen Wasser einfoermig rann. Die Seele des fernen Bruders war immer noch krank. Er vertrug keine Nachricht aus der Heimat. Heimat war ihm in Hoelle gewandeltes Paradies. Es gab einmal ein Weib, das er mehr liebte als alles, die Mutter mit einbegriffen; es war einmal ein Freund, der ihm naeher stand als der Bruder, und es war eine schoene Stadt, die ihm lieber war als der Geburtsort; das war Heidelberg. In Heidelberg hat ihn die Frau mit dem Freunde betrogen. Darueber kommt nun der Mann, der zwischen Rio und Montevideo hin und her faehrt, nicht mehr hinweg. DAS MODEBAD Dieser 5. April war ein sehr merkwuerdiger Tag. Ich war drueben in Neustadt und besah mir den neuen Badeort; denn ich war mir immer noch nicht ganz im klaren, ob ich Badearzt in Neustadt werden oder lieber die Praxis des alten Sanitaetsrats in Waltersburg uebernehmen solle. Der Alte will sich zur Ruhe setzen. Um die Wahrheit zu sagen, er sitzt eigentlich schon sein ganzes Leben lang zur Ruhe. Den Waltersburgern faellt es niemals ein, krank zu werden. Der alte Pfarrer hier, der etwas derber Art ist, sagt: "Wenn einer nicht gerade unverschuldet verunglueckt, ist es eine Schweinerei, krank zu werden. Denn wenn einer vernuenftig lebt, wird er eben nicht krank, ebenso wie keiner ins Zuchthaus kommt, der nicht was ausfrisst." So erschien dem Pfarrer der Sanitaetsrat immer hoechst ueberfluessig, wie andererseits dem Sanitaetsrat, der ein Freigeist ist, der Pfarrer ueberfluessig erscheint. Persoenlich aber vertragen sie sich recht gut, spielen auch manchmal Karten miteinander, was ihrer lebenslangen gegenseitigen Abneigung keinen Eintrag tut. Der Dritte im Bunde ist der Amtsrichter, den Pfarrer und Sanitaetsrat beide fuer ueberfluessig halten; denn ausser dem Schneider Hampel wird in Waltersburg niemals jemand eingesperrt, und bei Hampel kommen in mageren Jahren auch hoechstens drei Wochen heraus. Der Amtsrichter und der Schneider Hampel stehen auf dem "Gruessfuss", und der Sanitaetsrat behauptet, dass der Richter seinem einzigen "Kunden" immer zu Neujahr gratuliere. Es ist also fuer einen, der keine Sinekure sucht, nicht verlockend, Arzt oder Richter in Waltersburg zu werden. Im Herzen waere es mir aber immer noch lieber, mich in Waltersburg niederzulassen, als nach Neustadt zu gehen, dessen Wunderquellen ich nicht traue, und mich also dort gewissermassen mitschuldig zu machen, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Heute war ich drueben in Neustadt. Waehrend der fuenf Jahre meiner Abwesenheit ist der Ort um das Doppelte gewachsen. Er ist mit amerikanischer Rapiditaet emporgeschossen. Ich sah die Marmortempel ueber den "Sprudeln", die "Promenade" mit ihren unendlich gepflegten, unendlich bunten und unendlich langweiligen Blumenanlagen, die Kapelle, die das "Polnische Lied", den "Einzug der Gaeste in die Wartburg", das "Fruehlingslied" von Mendelssohn, den neuesten Wiener Walzer und ein unendlich albernes Potpourri spielte, das von allen Darbietungen dem Publikum am besten zu gefallen schien, sah auch, wie der erste Geiger und der Floetist an der Rampe des "Musikpavillons" wie ueberall mit den vorbeiflanierenden Maegdelein liebaeugelten; ich sah auf den Estraden leerer Restaurants Kellner lauern, die wie Braeutigame gekleidet waren oder wie Leichenbitter, fuenfunddreissig Gerichte auf ihrer Speisekarte, von denen sicherlich nicht eines halb so gut schmeckte wie das, was Mutters alte Koechin bereitet; ich sah eine "Wandelhalle" mit Schaulaeden, in denen die schoenen und ach so "preiswerten" Broschen prangen, die man den Dienstmaedchen als "Mitbringe" schenkt und deren Goldglanz mindestens anhaelt, bis das Maedchen am naechsten Quartal abzieht, sah schreiend bunte Glaeser mit der Aufschrift "Zum Andenken" oder "_Souvenir de Neustadt_", Holzarbeiten, vom geschnitzten Hirsch bis zu dem Kinderspielzeug, wo zwei Baeren auf einem Amboss pinken oder ein Affe am Reck turnt, und noch viele Kunstgegenstaende, bis ich zum Theater gelangte, wo ein Zettel verkuendete, dass ein vielversprechender Dichter (alle vielversprechenden Dichter debuetieren in Badetheatern) sein Erstlingswerk "Geheimnisse von Neustadt" zur Auffuehrung bringe und Herr Georgio Calzolaio (zu deutsch: Georg Schuster), der vielbeliebte erste Liebhaber der Buehne, die Hauptrolle kreieren werde, auch an diesem Abend sein Benefiz habe. Darauf ging ich in ein Cafe und trank zwei Kognaks. Ein Zeitungsjunge erschien und schrie mir das neueste Berliner Mittagsblatt ins Ohr; ein Herr am Nebentisch, der schon immerfort nervoes hin und her zappelte, knurrte den Kellner an, wie lange er zum Donnerwetter noch auf die telephonische Verbindung mit Breslau warten solle; ein Herr an einem anderen Tisch erzaehlte mit unertraeglicher Weitschweifigkeit seinem Nachbar alle Erscheinungen seiner Krankheit, wofuer sich dieser so interessierte, dass er waehrend der Zeit des Zuhoerens das ganze Mittagsblatt durchschmoekerte; drueben an der Wand stritten zwei rote Koepfe laut ueber Nietzsche; eine voruebergehende Mutter machte ihrer bleichsuechtigen Tochter Vorwuerfe, dass sie ihren Brunnen statt um fuenf erst um fuenfeinhalb Uhr getrunken habe, was natuerlich furchtbar schaden koenne; Gents und noch viel mehr Pseudogents taenzelten vorueber, und in der Kapelle drueben blies der Waldhornist zum Herz- und Steinerweichen: "Das Meer erglaenzte weit hinaus im lichten Abendscheine". "Auch Sie, Fraeulein Trude", hoerte ich einen vorbeiwandelnden Primaner zu seiner sechzehnjaehrigen Begleiterin sagen, "haben mein Herz vergiftet, zwar nicht durch Ihre Traenen, wohl aber durch Ihr Lachen." "Aber Herr Lempert", sagte sie, und sie waren vorbei ... Ich bekam Heimweh nach Waltersburg und ging. Draussen auf den Promenadengaengen das gewohnte Publikum; die galizische Juedin mit etwas schmierigen Spitzen am Halsausschnitt und den grossen Brillanten in den Ohren; der Herr in dem hocheleganten weissen Flanellanzug, der 23 Mark gekostet hat; der "Kuenstler", dessen Kraft wie bei Samson in der Fuelle der Locken sitzt und der sich vor dem Spiegel die wirkungsvollen Gerhart Hauptmannschen Mundwinkel eingeuebt hat; das knurrende Eheoberhaupt, das wo anders hinstrebt, weil man auf dem Kurplatz nicht rauchen darf (warum, weiss weder er noch sonst jemand; denn der Platz ist weit, und der Himmel ist hoch); die flirtende Strohwitwe; der melancholisch und langsam schreitende Einsame, der keinen Anschluss findet; das laute Maedchen, das immer zehn Verehrer um sich hat und nie einen Mann kriegt; die Geschaeftsfreunde, die auch hier ueber ihre Alltagssorgen nicht hinauskommen; fachsimpelnde Oberlehrer und lebenslustige Backfische, dazwischen die "Patienten", die gewissenhaft aus geschliffenen Glaesern das Neustaedter Wunderwasser schluerfen, als koennte es in vier Wochen gutmachen, was in vielen, vielen Jahren krank ward. Ich war im klaren: Ich wollte nicht Badearzt werden. So wollte ich nach Hause und waehlte als Heimweg den Pfad ueber den Weihnachtsberg, der als Grenzscheide zwischen Waltersburg und Neustadt liegt. AUF DEM WEIHNACHTSBERG Auf dem Weihnachtsberg steht ein altehrwuerdiges Gasthaus. Es sieht aus wie eine Burg, hat auch einen grauen verwitterten Turm, eine Zugbruecke, Butzenscheiben und was so dazu gehoert. Das echteste von dem ganzen romantischen Nest war der Wirt, der Eberhard hiess, weil er einen langen Bart hatte, oder der sich einen langen Bart hatte wachsen lassen, weil er Eberhard hiess. Die Waltersburger besuchten ihn an allen regenfreien Sonntagnachmittagen, und er lebte auf seiner luftigen Hoehe so gute Tage, dass ihm der Humor niemals ausging. Dieser Eberhard war fuer die Waltersburger Kinder der Knecht Ruprecht. Jeden Weihnachtsabend lugten sie aengstlich, sehnsuechtig und neugierig nach dem Gipfel des Weihnachtsberges hinauf, und wenn endlich die blaue Winternacht ihren Duftschleier um den Gipfel huellte, flammte da oben ein maechtiges Bergfeuer zum Himmel, und eine Trompete blies langsam und feierlich herab ins Tal: "Vom Himmel hoch, da komm ich her." "Er kommt, er kommt!" stiessen da die Kinder heraus, und die kleinsten zitterten in seliger Angst. Vom Berge herab aber kam mit silbernem Gelaeut der Knecht Ruprecht gefahren. Er thronte auf einem mit Tannenreis prachtvoll verzierten Schlitten, und andere Schlitten folgten ihm, die wurden von seinen Knechten gelenkt und waren mit Hunderten von Paketen und Paketchen beladen. Vom Stadttor an bildeten alle Kinder Spalier, die reichen wie die armen, die grossen wie die kleinen. Die Eltern, Tanten und Grossmuetter standen hinter ihnen, und wenn der Knecht Ruprecht ankam, winkten die Kinder mit den Haenden, die Vaeter nahmen die Muetzen ab, und die Tanten und Grossmuetter machten tiefe, ehrfuerchtige Knickse. Der Knecht Ruprecht aber sass da auf seinem tannenbekraenzten Thron wie ein Koenig und nickte nach rechts und nickte nach links, winkte mit der rechten Hand und winkte mit der linken Hand, verteilte seine Gaben an die Armen und Reichen, an die Gerechten und Ungerechten. Nach der Feier bestieg der Knecht Ruprecht seinen Schlitten. Die Fackeltraeger, die Ehrenjungfrauen und alles Volk begleitete ihn bis ans Tor. Mit lustigem Klingeling fuhren die Schlitten den Weihnachtsberg hinauf, und die Leute kehrten heim, alle im Herzen froh und reich. Das war der Weihnachtsberg bis vor acht Jahren. Da kamen die Neustaedter und kauften Herrn Eberhard, der damals gerade ein wenig in Sorgen war, sein Gasthaus fuer einen guten Preis ab. Die Neustaedter machten aus der alten edlen Burgherberge ein "Etablissement mit Burgruine, Aussichtsturm und im uebrigem allem Komfort". Es wurden hoelzerne Veranden mit grossen Fenstern an das alte Mauerwerk geklebt, der ganze schablonenhafte oede Hotelbetrieb eingerichtet, und die Badezeitung faselte vom Fortschritt der modernen Zeit. Dass schweres, reines Altgold in duennes Flitterblech gewalzt wurde, empfanden am meisten die Waltersburger Kinder, die am Weihnachtsabend vergebens ausspaehten nach dem leuchtenden Hoehenfeuer und der suessen, verheissungsvollen Melodie: "Vom Himmel hoch, da komm ich her." In Gedanken an alte, schoene Zeit stieg ich den Weihnachtsberg hinauf. So sentimental war ich aber nicht, um dem neuen "Etablissement" auszuweichen; dazu war ich denn doch zu weit in der Welt herumgekommen und hatte zu viel Schifflein scheitern sehen, um so eine Ungluecksstelle feig zu umsegeln. Ich kehrte in dem "Etablissement" ein. In der grossen Glasveranda waren drei Kellner und ein Gast anwesend. Dieser einzige Gast sass am Fenster und guckte nicht auf, als ich zur Tuer hereintrat. Daraus erkannte ich, dass er kein Deutscher war. Im uebrigen genuegte mir ein Blick zu meiner Orientierung. Ich erkenne den Nordamerikaner so leicht unter allen Nationen heraus wie den Star unter den bunten Finken. Soll ich hier das Bild wiederholen, das deutsche Karikaturisten malen, wenn es gilt, einen "Uncle Sam" zu zeichnen? Das kurzgeschorene Haar, den glattrasierten, rasiermesserduennen Mund, die etwas schlottrige Figur mit den langen Beinen und fuchtelnden mageren Armen, die Stummelpfeife, den karierten Anzug und diesen anderen Kram? Nein! Ich ging zweimal durch die Stube, stellte fest, dass achtzehn Tische unbesetzt und einer besetzt war, und setzte mich dann an den besetzten, dem Gaste gegenueber, ohne ihn zu gruessen. Der andere blickte auch jetzt nicht auf. Er sah gelangweilt ins Tal. Ich beachtete ihn auch nicht. Der Kellner kam, und ich machte meine Bestellung. Darauf war es ganz still. Endlich blickte der Mann mir gegenueber auf und sagte, indem er nach Neustadt hinunterwies: "Das ist ein sehr albernes Nest da unten!" Er sprach englisch; aber ich entgegnete deutsch: "So kann man schon sagen. Es gefaellt mir auch nicht." "Aber bei uns in Amerika werden Sie auch dumme Badeorte gefunden haben." "Woraus schliessen Sie, dass ich in Amerika war?" "Ich denke es mir." "So, so!" Darauf schwiegen wir. Erst nach einem Weilchen nahm "Uncle Sam" das Gespraech wieder auf: "Sie halten nichts von unseren modernen Kurorten?" "'Nichts' kann ich nicht sagen. Es gibt zehn gute Kurorte und neunzig unnuetze. Das sage ich." "Und wie denken Sie sich einen ganz guten Kurort?" Ich zuckte die Achseln. "Ich habe mir manchmal ein Bild ausgemalt, wenn ich als Schiffsarzt die noetige Musse zu solchen Traeumen hatte." "Sie sind Schiffsarzt?" "Ich war es." Ich fand es nun angemessen, mich vorzustellen. Darauf wippte auch er ein wenig vom Stuhle auf und sagte: "Mister Stefenson. Oel und Naphtha. Neuyork, Milwaukee, St. Louis und Trinidad. Nun, wie ist das mit Ihrem Kurort?" "Es ist gar nichts. Es ist ein Traum, eine verrueckte Idee!" "Verrueckte Idee ist schoen. Deutschland ist ein gutes Land, aber es leidet einen sehr grossen Mangel an verrueckten Ideen. Es ist zu brav, es macht zuviel nach. Den deutschen Unternehmungen fehlt die ueberraschende Pointe. Der Amerikanismus ist besser." "Das sagen Sie so!" "Es ist so." Ich war verstimmt und schwieg. "Nun?" fragte er ungeduldig. "Mister Stefenson, wenn ich Ihnen meine Idee entwickeln wollte, wuerden wir viel Zeit brauchen; am Schluss wuerden Sie mich doch nicht verstehen. So was liegt Ihnen nicht." "Wir haben Zeit, ich werde Sie verstehen, und es liegt mir", gab er zur Antwort. Da kam ich in Laune und sagte: "Ich will es Ihnen in ganz kurzen Linien umreissen. Ich will mal annehmen, meine Heilanstalt bestaende schon und Mister Stefenson kaeme zu mir als Kurgast." "Das ist gut! Das ist instruktiv!" rief er. "Wie heisst Ihr Sanatorium?" "Ferien vom Ich." "Wie?" "Ferien vom Ich." "Das ist kein guter Name. Dabei kann man sich nichts denken. Das zieht nicht." "Mister Stefenson, wenn Sie mir schon von vornherein widersprechen, werde ich Ihnen kein Wort ueber meine Heilanstalt sagen. Dass Sie den Namen nicht ohne weiteres begreifen, ist doch eben das Neue und Gute." "_Well_; ich sage nichts mehr. Ich hoere." "Also: Irgendwo auf der Welt, sagen wir auf dem Ostabhang dieses Weihnachtsberges bei Waltersburg, liegt die Heilanstalt 'Ferien vom Ich'. Auch Mister Stefenson, der schon in vielen Kuranstalten und nie ganz zufrieden gewesen war, hat von der Anstalt gehoert und hauptsaechlich darum, weil es etwas Neues war, beschlossen, sie aufzusuchen. Er reist nach Waltersburg. Mister Stefenson kommt mit sieben Koffern und zwei Dienern an." Mein Gegenueber nickt. "Stimmt. Sie sind ein Gedankenleser." "Der Ankoemmling findet in der Naehe von Waltersburg ein Gelaende von Wald, Huegeln, Gaerten, ganz von einer hohen Mauer umschlossen, ueber die kein Mensch hinwegsehen kann. Er merkt gleich: ah, an dieser Mauer ist die Welt alle, hier ist eine Welt fuer sich. Die Mauer hat nur ein einziges Tor. 'Ferien vom Ich' steht darueber. Mister Stefenson, der mit drei Wagen ankommt, zieht die Schelle an der Pforte. Eine tiefe Glocke schlaegt einmal an. Da kommt von drinnen her ein Diener, der oeffnet das Tor. Er ist nicht in der weltueblichen Tracht, er traegt Pluderhosen, Sandalen an den Fuessen, eine weite, am Hals ausgeschnittene Bluse und ist barhaeuptig. Vor Stefenson macht er keine Verneigung, sondern sagt: 'Lieber Freund, Sie sind wohl wenig unterrichtet, sonst kaemen Sie nicht mit solch unnoetigem Kram hier an. Seien Sie so gut, lassen Sie Ihre Diener und Ihr Gepaeck unten in Waltersburg oder sonstwo auf der Welt Unterkunft suchen und kommen Sie ganz allein, wie Sie hier stehen, mit mir.' Mister Stefenson aergert sich nicht wenig ueber diese Ansprache des dienstbaren Geistes, aber er will hinter den 'Trick' kommen, deshalb winkt er seinem Gefolge ab und geht in das grosse Ferienheim des Lebens. Die Pforte faellt hinter ihm zu. Sein Begleiter fuehrt ihn eine Lindenallee bergan. Rechts und links sind Wiesen und einige bebaute Ackerstuecke. Am Ende der Allee steht ein von Efeu umsponnenes Haus, so klein wie eine Einsiedlerhuette. Das Haeuschen hat nur ein einziges Zimmer, aber das ist bequem hergerichtet, hat ein gutes Bett, einen Schreibtisch, schlichte, aber geschmackvolle Moebel und gute Bilder an den Waenden. In dieses Zimmer fuehrt der Torwart den Mister Stefenson und sagt: 'Hier bleiben Sie, lieber Freund, zwei Tage und zwei Naechte. Lesen Sie die wenigen Blaetter, die auf dem Schreibtisch liegen, gut durch und schreiben Sie Ihre eigene Lebens- und Leidensgeschichte auf, schreiben Sie auf, was Ihnen an sich selbst nicht gefaellt und warum Sie hierhergekommen sind. Nach zwei Tagen wird der Arzt zu Ihnen kommen, wird lesen, was Sie geschrieben haben, und wird den ganzen guten Mannes- und Freundeswillen haben, Ihnen zu dienen und zu helfen. Das Essen wird Ihnen inzwischen durch mich gebracht werden. Finden Sie sich mit den Blaettern, die auf dem Schreibtisch liegen, nicht ab, koennen Sie nicht den Willen aufbringen, Ferien vom Leben zu machen, so haengt hier am Nagel an der Tuer ein Schluessel, der die Pforte unten an der Allee aufsperrt. Lassen Sie den Schluessel von innen stecken und schlagen Sie die Pforte von aussen zu. Zu bezahlen haben Sie fuer das, was Sie inzwischen genossen, nichts; wir freuen uns, dass Sie einmal dagewesen sind.' So sagt der Torwart, und dann laesst er den verwunderten Herrn Stefenson allein. Der setzt sich, noch im Reisemantel, an den Tisch und beginnt zu lesen. Ich kann hier nicht den ganzen Inhalt dieser Blaetter aufsagen, sondern nur einige wenige Saetze hervorheben. 'Betrachte dein Leben mit allem, was es gebracht hat: Arbeiten, Erholungen, Genuessen, Suenden, als eine Anstrengung, die dich muede gemacht hat und deine Kraefte zermuerben wird. Mache dich los von diesen Anstrengungen, spanne aus, mache Ferien. Loese dich zunaechst los von dem Goetzen, dem du alle Tage opferst, von deinem von dir so zaertlich geliebten Ich. Entkleide diesen Goetzen allen Tandes, den du ihm mit grossen Entbehrungen verschafft hast, seines wohlklingenden Namens, seiner Genusssucht, seiner Herrschsucht ueber Geld und andere Machtmittel.'" Hier unterbrach mich mein Zuhoerer. "Bitte, sagen Sie das nicht mit so phrasenhaften, abstrakten Worten; sagen Sie es einfacher und instruktiver!" "Schoen! Nehmen wir also an, dass jener Herr Stefenson die zwei Tage und zwei Naechte in dem Einsiedlerhaeuslein ausgehalten hat, ohne fortzulaufen. Nach zwei Tagen kommt der Arzt. Herr Stefenson wird ihm entgegenrennen und ohne jede Einleitung sagen: 'Ich habe Ihre Blaetter gelesen und muss Ihnen sagen, Herr Doktor, dass mir die Sache zum Teil sehr abenteuerlich, zum Teil sehr langweilig vorkommt. Warum soll ich zum Beispiel hier in dem Ferienheim nicht mehr Stefenson heissen, sondern einen anderen Namen haben?' 'Setzen Sie sich', wird der Arzt antworten und Herrn Stefenson auf die Bank neben der Haustuer druecken. 'Holen Sie Ihre Lebensbeschreibung.' Herr Stefenson gehorcht, und der Doktor beginnt zu lesen, was Herr Stefenson in den Tagen einsamer Einkehr in sich selbst ueber sein Leben niedergeschrieben hat. 'Ich werde die Blaetter mitnehmen', sagt der Doktor, 'und sie zu Haus noch einmal lesen, dann bekommen Sie Ihr Manuskript zurueck und koennen es selbst vernichten.' 'Das ist so aehnlich wie bei Lahmann', sagt Stefenson. 'Ja', nickte der Doktor, 'ich habe vieles von Lahmann, der wieder vieles von Priessnitz und anderen hat. Wenn einer hochkommen will, muss er immer auf die Schultern anderer steigen.' Der Arzt unterhaelt sich nun lange mit Mister Stefenson und erklaert ihm auch, warum er im Ferienheim des Lebens seinen Namen ablegen soll. 'Sie sind hier nicht Mister Stefenson, Sie sind irgendein Mensch, der - sagen wir - John heisst; dieser John hat mit Herrn Stefenson gar nichts zu tun. Herr Stefenson ist irgendwo in Neuyork, Milwaukee oder auf Trinidad, zermartert sich dort sein Hirn um neue Gewinne, wird gelobhudelt, befeindet, belogen, betrogen - arbeitet und amuesiert sich halb zu Tode, hat mancherlei Schwaechen, die sein Leben und vor allen Dingen seine Freude am Leben verkuerzen, kurz, ist trotz seiner Millionen ein armer, gehetzter Mensch, waehrend dieser John hier keinen liebedienernden Tross, keinen vorteilssuechtigen Freund, aber auch keinen Feind hat, froh und sicher unter seinesgleichen lebt und, wenn er mit einem Genossen im Garten arbeitet, nicht weiss, ob dieser Mann draussen in der Welt ein Fuerst oder Minister oder ein kleiner Beamter ist. Sehen Sie, John, das ist ein ganz koestlicher Humor, den wir hier betreiben. Wenn die Leute ihren Namen abgelegt haben und auch alle die gleiche Tracht haben, kennt man den Grossen vom Kleinen nicht mehr heraus. Der Geist verraet sie nicht. Dass der Patient waehrend der Dauer der Kur seinen Namen ablegt, ist fuer den Erfolg fuer uns eine grosse Hauptsache. Der Name ist meist die staerkste Kette, die mit der Last und Lust des Alltags verbindet, sie muss in Ferientagen geloest werden. Und waere der Name auch ein Schmuck, wie ja der Name eines guten Kaufmanns gewiss ein kostbarer, schwer erworbener Schmuck ist - wer richtig ruhen will, legt allen Schmuck ab. Weniger wichtig ist das Ablegen der gewohnten Tracht, aber doch wichtig genug, bei uns zur Bedingung gemacht zu werden. Und fuer uns hat es noch das eine Gute: Es haelt uns alle albernen Pfauen des Lebens vom Halse, vor allen Dingen eitles Weibervolk; wer zu uns kommt und bei uns bleibt, der meint es ernst mit sich selbst. Im uebrigen hoffe ich, dass Ihnen unsere bequeme, gesunde Tracht gefallen wird; auch unsere Damen sind sehr zufrieden mit ihr. Wovon Sie weiterhin erloest werden muessen, ist das Geld. Sie haben waehrend Ihres ganzen hiesigen Aufenthalts mit Geld nichts zu tun. Was Sie bei sich tragen, geben Sie an der Kasse ab, es wird Ihnen verwahrt und verzinst bis zu Ihrem Austritt, abzueglich des Betrages fuer Ihren Kuraufenthalt. John, der Feriengast, besitzt nicht einen Pfennig. Er braucht auch keinen Pfennig, und er ist schon nach kurzer Zeit gluecklich, nicht den ganzen Tag ueber sich Haende entgegenstrecken zu sehen, auf die er Geld legen soll, wie es Herrn Stefenson geschieht, bei dem die Bewegung nach der Brieftasche schon automatisch geworden ist. John hat nur eine Tasche fuers Taschentuch - Geld hat er nicht, Schluessel, Messer, Taschentoilette, Fuellfederhalter, Notizbuch, Brieftasche, Taschenapotheke und aller andere Ballast wird ueber Bord geworfen. Auch die Uhr! Es geht John gar nichts an, wie spaet es ist, es ist gaenzlich ohne Interesse fuer ihn, ob es dreizehn Uhr siebzehn oder vierzehn Uhr sechsundzwanzig ist, er braucht nicht zu hetzen, sich nicht zu aengstigen, er hat Zeit, er kommt immer zurecht. Nur die Mahlzeiten darf er nicht versaeumen; aber zu ihnen ruft eine Glocke. Oh, Mister Stefenson, Sie werden sehen, wie wohltuend das ist, wenn man nicht am Tage sechzigmal nach der Uhr sehen muss! Die Uhr, die ueber dem Herzen schlaegt, schlaegt schneller als das Herz, als wollte sie wie ein Schrittmacher zu immer groesserer Eile anspornen - und der Weg fuehrt doch ans Ende des Lebens. Warum sollen wir es so eilig haben, dorthin zu gelangen? Der Schrittmacher wird bei uns ausser Taetigkeit gesetzt. Da nun John mit Mister Stefenson rein gar nichts zu tun hat, geht es ihn auch rein gar nichts an, was diesen amerikanischen Grosskaufmann von Weltereignissen aufregt und interessiert. Es geht John nichts an, ob Stefensons Kurse fallen, was in den Parlamenten gekohlt wird oder was im 'Voelkerbund' fuer Schindluder getrieben wird, ja es geht ihn nicht einmal das mindeste an, wer Weltmeister im Boxkampf geworden ist - kurz, John liest keine Zeitungen. Auf dem Fragebogen, den Sie, Herr Stefenson, auszufuellen hatten, steht: 'Wie lange lesen Sie durchschnittlich taeglich ueber der Zeitung, wie lange also im Jahre?' Sie haben den taeglichen Zeitverbrauch auf dreiviertel Stunden, den jaehrlichen also auf 274 Stunden berechnet. Wenn man den Tag mit neun Arbeitsstunden annimmt, verwenden Sie aufs Zeitunglesen dreissig Tage, also einen ganzen Arbeitsmonat des Jahres. Und dann kam auf dem Fragebogen die Aufforderung: 'Schreiben Sie kurz nieder, was Sie von Ihrer Zeitungslektuere aus dem vorigen und aus dem vorvorigen Jahre noch wissen!' Was Sie vom vorigen Jahre noch wissen, steht auf fuenf kleinen Blaettern, und Sie geben es ehrlich an, dass es Ihnen schwere Muehe verursacht hat, diese fuenf Blaetter zu fuellen. Vom vorvorigen Jahre wussten Sie fast nichts mehr, nur ein paar ganz grosse Ereignisse standen noch im Gedaechtnis. Nun ist ja sicher, dass durch das Zeitunglesen viel latenter, nur im Augenblick nicht bereiter Besitz erworben wird. Aber Sie selbst muessen sich fragen, ob dieser Besitz die Aufwendung eines ganzen Arbeitsmonats des Jahres wert ist. Das Zeitoekonomische geht uns uebrigens hier nur in zweiter Linie an. Die Hauptsache ist uns: John darf sich nicht das Fruehstueck verderben lassen, weil Herr Stefenson in ebendemselben Augenblick aus der Zeitung einen giftigen Aerger ueber einen Deputierten saugen wuerde, der nach seiner Meinung eine idiotische Rede gehalten hat; John betrinkt sich nicht am Abend aus Freude darueber, dass einer Konkurrenz von Mister Stefenson die Butter vom Brote gefallen ist; John disputiert nicht eine Stunde lang darueber, ob das Buendnis zwischen den Staaten Soundso zustande kommen wird oder nicht; kurz: John verzichtet auf die Peitschenhiebe des Zeitungsstils. Er sagt sich so: Fuer Herrn Stefenson aus Amerika moegen die nervenanstrengenden Dinge, die taeglich in der Zeitung stehen, wichtig, ja unerlaesslich sein; denn Herr Stefenson steht in der harten Schule des Lebens und kann sich um sein Pensum nicht druecken; aber ich - o ich, John, ich habe Ferien, und die ganze Schule des Lebens geht mich rein gar nichts an. Es kommt noch eins hinzu - John erzieht sich. Herr Stefenson meint, ohne ihn ginge es nicht. Auch wenn er reist, auch wenn er in einem Bad ist, behaelt er die Hauptfaeden seiner geschaeftlichen Angelegenheiten immer in der Hand. Er laesst sich ellenlange Berichte schicken, er liest Zeitungen, er kabelt, er regt sich auf, freut sich, wettert und ist eigentlich auch auf Reisen immerfort zu Hause, immer im Joch. John pfeift sich eins. John sagt: Wenn Herr Stefenson tot waere, ginge es auch; folglich geht es auch, wenn Herr Stefenson verreist ist. Vielleicht geht es sogar besser, als wenn er zu Haus ist. Nur nicht zu eitel sein! Frisches Blut tut manchmal gut, und vielleicht kann John Herrn Stefenson zu guter Letzt an der Hand nehmen und sagen: Sei froh, dass du mal ausgeschieden warst, du hast inzwischen glaenzende Geschaefte gemacht, so wie ein Spieler meist gewinnt, wenn er einem Vertreter auf einige Minuten seine Karten ueberlaesst. Im Ferienheim gibt es taeglich einen Anschlag, auf dem in wenig Zeilen die Hauptereignisse des Tages mitgeteilt werden. Wer daraus schliesst, dass er ueber einen Punkt unbedingt weitere Auskunft haben muesse, der geht in die Kanzlei, dort liegen dreissig Zeitungen. Kann sich der Betreffende bald beruhigen, dann ist es gut; wenn das nicht der Fall ist, verlaesst er die Ferien und geht in die Lebensschule zurueck. Bis jetzt sind nur drei Prozent unserer Feriengaeste nach der Kanzlei gekommen, um Zeitungen zu lesen; die allermeisten lesen nicht einmal die Anschlaege. Sie sind zu ernst; sie sind wie auf einem fremden Stern; die Erdenereignisse gehen sie auf einige Zeit gar nichts an. Und so wie mit den Zeitungen, ist es mit der Privatkorrespondenz. Sehen Sie sich an, Herr Stefenson, wie es die Leute in den modernen Kurorten treiben. Eine der allergroessten Hauptpersonen ist der Brieftraeger. Man kann sein Erscheinen nicht erwarten. Vor jeder Ausgabe der Post zwanzig Minuten Nervenvibrieren, innere Unruhe, gespannte Erwartung. Und der Erfolg? Ein paar freuen sich; aber Herrn Mayer hat seine Frau geschrieben, dass sich der Hausmeister ruppig benommen habe, und Herr Mayer ist auf Stunden in menschenfresserischer Laune; das Toechterchen von Frau Ludwig ist vom Tisch gepurzelt, und die Mutter telegraphiert, man solle gleich den Arzt befragen, was ohnehin natuerlich schon geschehen ist; Baron Erwin zieht die Stirn in Falten, weil seine Isolde nicht geschrieben hat; der Schriftsteller Niessen kriegt ein Romanmanuskript zurueck und bricht fast in Traenen aus ueber die Idiotie der betreffenden Redaktion; im Herzen der blonden Else steckt eine Ansichtskarte ihres Referendars ein verzehrendes Feuer der Sehnsucht an; der Geheime Oberregierungsrat bekommt das Schreiben eines 'Freundes', das ihm suggeriert, seine Stellung sei erschuettert, und der Frau von Puttbus schreibt die Schneiderin ab. - Die Aerzte koennen sicher rechnen, dass das, was sie in einer Woche aufbauen, manchmal der Brieftraeger in zehn Minuten einreissen kann. Und deshalb wuenscht das Ferienheim sehnlichst den Brieftraeger zum Kuckuck, weil er die Ferienruhe stoert, weil in seiner schwarzen Tasche meist nichts anderes steckt, als ermuedende Aufgaben aus der Schule des Lebens. Deshalb bitten wir unsere Feriengaeste: Sagt euren Verwandten, gerade, weil wir uns lieb haben, wollen wir uns einmal auf einige Zeit trennen. Schreibt nur im Notfall an mich; alles Kleine lasst weg, erzaehlt es mir, wenn ich heimkomme. Es wird mir dann lieb sein; es wird sein, als ob wir uns neu gegeben waeren. Bedenkt, dass mir von der Leitung des Ferienheims, wenn ich in zwei Wochen mehr als einen Brief erhalte, nahegelegt werden wird, das Heim zu verlassen. Ich kann nicht Ferien machen, ich kann nicht ausspannen, wenn mir die papierene Last immer am Fuss sitzt. Das ist eine scheinbar harte Massregel des Ferienheims, die viele gehindert hat, zu uns zu kommen, alle zu Sentimentalen; aber wir haben die Anordnung als richtig erkannt und halten an ihr fest. Wer einen grossen Teil seines Erholungsaufenthaltes an ein Postbuero binden will, soll anderswo hingehen. Das ist, wenn ich so sagen darf, die negative Seite unseres Heilverfahrens, das, was wir ausscheiden: Namen, Rang, Titel, moderne Bekleidung, das Geld, die Uhr, die Zeitung, das unnuetze Briefschreiben oder, wenn Sie es krasser sagen wollen, Verwandtschafts- und Bekanntschaftsfesseln. Sie merken schon, Mister John, dass ich an alte Klosterideale angeknuepft habe. Nur, dass es sich eben nicht wie beim Kloster um die Lebenseinrichtung ueberhaupt, sondern nur um eine Ferienpause des Lebens handelt, und dass wir nicht aus religioesen, sondern aus sanitaeren Beweggruenden handeln. Zur Seelsorge sind wir weder befaehigt noch berufen. Aber - um auch diesen wichtigen Punkt zu beruehren - wir empfehlen allen denen, die noch eine religioese Anschauung haben, aus reinster Menschenfreundlichkeit, auf Grund dieser Anschauung einen recht tiefen Herzensfrieden mit ihrem Herrgott zu machen; das ist die allergroesste seelische und darum auch die allergroesste koerperliche Wohltat. Ein Arzt, der gehetzten Menschen Erquickung bieten wollte und diesen Punkt ausser acht liesse, waere ein Stuemper. Deshalb wird all unseren Feriengaesten Gelegenheit geboten sein, Gott zu dienen, wie sie es beduerfen. Dass wir uns dabei jeder Einmischung in dieses ureigenste Gebiet des Menschen enthalten, ist ganz selbstverstaendlich. Die aerztliche Behandlung wird natuerlich fuer jeden Feriengast individuell sein; fuer Schwerkranke ist das Ferienheim kaum, mehr fuer die Mueden, fuer die, die das Leben in seiner Hast und Hohlheit nicht mehr freut, fuer die, die gern noch einmal mit frischen Kraeften von vorn anfangen moechten. Fuer die Alkoholkranken, die Morphium- und Opiumsuechtigen hat man jetzt draussen Entziehungskuren, die grossen Segen bewirken; wir wollen hier allen denen Entziehungskuren gewaehren, die auf irgendeine Weise vom Leben vergiftet sind. Ganz generell werden alle erloest von allem Eitlen und Hohlen ihres bisherigen Daseins, von der drueckenden Last oeffentlichen und privaten Lebens, von unnuetzen Beduerfnissen; individuell sollen sie erloest werden von ihren Krankheiten, Lebenssuenden und Lebensschwaechen, von unfruchtbarer Sorge, Angst und Reue, sollen Kraft im Frieden und die kostbare Faehigkeit zur Freude wiedergewinnen. Wir scheiden aus dem Ferienheim die ueblichen Vergnuegungen aus. Sie finden bei uns keine Rennen, Reunions, Tombolas, Frueh-, Mittags- und Abendkonzerte, keine Spielsaele, Taubenschiessen, Theater- und Varietevorstellungen, keine prunkhaften Umzuege und italienischen Naechte - denn das alles ist nichts als anstrengende hohe Schule des Lebens und betruegt alle die, die mit neuen Kraeften nach Hause kommen wollen. Wir suchen die Freude. Das ist die Freude an gesunder Beschaeftigung in frischer Luft. Sie, lieber John, werden wahrscheinlich einige Gartenbeete umgraben muessen, auch werden Sie sich gelegentlich am Faellen eines Baumes oder am Holzsaegen beteiligen muessen; es kann aber auch sein, dass Sie mal einen Hecht angeln oder ein paar Koerbe Aepfel pfluecken muessen. Da Sie, wie Ihre Niederschrift ausweist, seit zwanzig Jahren kein schoengeistiges Buch gelesen haben, werden Sie um das Quantum von drei Romanen, einem Epos und einem Baendchen Lyrik nicht herumkommen. Waehrend wir bei sogenannten Leseratten Entziehungskuren machen, muss bei Ihnen in diesem Falle eine Art Zwangsernaehrung einsetzen. Die koerperliche Kost wird ganz Ihrem Befinden angemessen und natuerlich gut und schmackhaft sein. Alle Woche zweimal werden Sie sich das Abendbrot selbst bereiten. Wie Sie das anstellen, ist Ihrer Phantasie ueberlassen. Im grossen Kuechen- und Vorratshause finden Sie alle Rohmaterialien. Wir haben gegenwaertig einen Feriengast, der draussen in der Welt eine Schar von Dienern hat. Auch er muss sich das Abendbrot zweimal in der Woche selbst bereiten. Anfangs wusste er nichts anderes, als dass er sich Brotstullen schnitt, die entsetzlich dick und krumm gerieten, die Stullen mit Butter beklebte und starke Wurstscheiben mit der Pelle darauf legte. Das naechste Mal hatte er schon erluchst, wie man Kartoffeln an einem kleinen Feldfeuerchen kocht, und hatte sich dazu einen Hering verschafft. Dann ergaenzte er seine Mahlzeit, indem er Radieschen aus der Erde zupfte, Nuesse und Fruechte von den Baeumen holte, und am vierten Abend, den er sich selbst bereitete, lud er einen Freund und eine Freundin ein, war sehr stolz auf sein Mahl und ass mit Genugtuung und Appetit. Das sind Kleinigkeiten, die vielleicht wie Spielerei aussehen, aber doch einen Sinn haben. So werden Sie sich z. B., wenn ein kuehler Tag ist, das Feuer in Ihrem Ofen selbst anzuenden und unterhalten muessen. Hobelspaene und Reisig koennen Sie sich leicht holen, das Holz muessen Sie selber hacken. Sie werden sehen, Mister John, wie warm und goldig solch ein selbstentzuendetes Feuer brennt, viel wohliger, als wenn es ein Diener angefacht haette. Ein volles Dutzend Mal werden Sie die Kacheln abfuehlen, wie sie nach und nach warm werden, mit einer heimlichen, stillen Freude im Herzen. Und wenn am Abend Sie ein paar andere Feriengaeste besuchen, Leute, von denen Sie nicht wissen, wie sie eigentlich heissen, wer und woher sie sind, von denen nichts anderes bekannt ist, als dass es eben auch ernsthafte Menschen sind, die sich zu einer Ferienpause des Lebens aufgerafft haben - wie schoen wird es sein, mit ihnen zu plaudern oder sich etwas zu erzaehlen und selbst auf das Feuer zu achten. Gute Kammermusik werden Sie manchmal zu hoeren bekommen; doch nicht oft und nicht viel. Aber zur Laute wird oefter gesungen werden, und manchmal wird irgendwo ein Blaeserchor stehen, und es wird sein, als ob Soldaten in der Ferne marschierten, oder ein Waldhorn wird ins Tal schallen wie in alten, romantischen Tagen. Sport duerfen Sie treiben: Reit- und Schwimmsport, Turnen im Luftbad, Tennis- und Kegelspielen. Auch Karten spielen duerfen Sie, aber ohne Geld; denn John hat keinen Pfennig in der Tasche, und wollte er sich mit seinen Gegnern verabreden, ein Kieselsteinchen bedeute zehn Mark und eine Eichel zwanzig, und wuerde alles hinterher in bare Muenze sauber umgerechnet, so wuerde es wohl doch herauskommen, und das Spielernest wuerde energisch ausgenommen werden. Tabak und Alkohol, worum Sie sich in Ihrem Selbstbericht zu bangen scheinen, ganz nach aerztlichem Befund. Wenn Sie mich nun fragen, wie lange ein solcher Ferienaufenthalt waehrt, so muss ich Ihnen sagen, dass die kuerzeste Frist sechs Wochen betraegt, dass es aber sehr viel guenstiger ist, wenn die Ferienpause drei Monate oder noch laenger dauert. Die ersten vierzehn Tage werden Sie ja doch innerlich gegen vieles revoltieren, vielleicht am Heimweh leiden nach der eben abgelegten alten Haut. Sie muessen erst heimisch werden, muessen das grosse Ferienglueck erst ganz fuehlen, muessen die unaussprechlich suesse Freude empfinden, wie Sie gesuender und froehlicher werden, dann erst kommt das Heil. Aber wenn Sie dann in die grosse, schwere Schule zurueckgehen, werden Sie mehr neue Kraefte, einen groesseren Mut zum Leben mitnehmen, als wenn Sie unterdes Mineralwasser getrunken, Reunions besucht und hundert Zeitungen gelesen haetten. Mit einem Wort: Sie werden an die Ferien denken wie ein Kind an die freie Spielwiese denkt, wenn es wieder in der Etagenwohnung der Grossstadt hinter seinen Aufgabenbuechern sitzt.' Mit diesen Worten endete der Arzt, der mit seinem neuen Patienten vor der Tuer des Einsiedlerhaeuschens sass, seine Belehrung, und damit ende auch ich, Mister Stefenson, den Aufschluss ueber das Ferienheim des Lebens, das nur in meiner Phantasie lebt und wohl auch immer nur dort leben wird." * Ich schwieg, und der Mann, der mir gegenueber am Gasthaustisch sass, schwieg auch. Er hatte die ganze Zeit, waehrend der ich sprach, mit halb abgewandtem Kopfe dagesessen und hinunter nach Neustadt gesehen. Endlich stand Stefenson auf, nickte kurz mit dem Kopf, sagte: "Danke sehr! Guten Abend!", nahm seinen Hut und ging aus der Stube, nachdem er den Kellner bezahlt hatte. Ich liess ihn gehen. * Am naechsten Tage liess sich Mister Stefenson bei mir in Waltersburg melden. "Guten Morgen", sagte er; "ich muss Ihnen sagen, dass mir das gar nicht passt, dass ich John heissen soll." "Wieso - wieso?" fragte ich verwundert. "Ja, das hat mich verdrossen. Ein Kerl namens John hat mich naemlich mal furchtbar geaergert. Er hat die Frau geheiratet, die ich heiraten wollte. Ich mag nicht John heissen. Ich habe mir ein Adressbuch geben lassen und nach einem einfachen, aber nicht zu haeufigen Namen gesucht. Ich will Zuschke heissen." "Sie wollen Zuschke heissen? Warum - wieso - wo wollen Sie Zuschke heissen?" "In Ihrem Sanatorium natuerlich - in Ihrem Ferienheim -" "Aber, Mister Stefenson, es existiert doch nicht, es ist doch ein Phantasiegebilde - eine Utopie -" Da sah er mich fest an. "Es wird existieren; denn wir werden es zusammen begruenden." Ich schlug die Haende zusammen. * Der seltsame Mann hat mich verlassen. Geschaeftsmaessig, trocken, sogar ein wenig muerrisch hat er mir auseinandergesetzt, wie er sich die Verwirklichung der Idee meines Ferienheims denke. Als ich ihm abriet, das viele Geld, vor dessen Summe ich erschrak, zu wagen, da vielleicht unsere Zeit, auch das Volk hierzulande nicht geeignet sei fuer romantische Sonderbarkeiten, wurde er zornig und sagte: "Wer eine Idee hat, soll an sie glauben, oder er soll gar nicht von ihr sprechen." Er nahm mich in den Bann der grossen Kuehnheit und Sicherheit seiner Seele, und ich willigte endlich ein. Zuletzt sagte Stefenson: "Einen Kontrakt wollen wir nicht machen. Ich gebe das Geld, Sie geben die Idee und Ihre Kraft. Erzielt unser Unternehmen einen Gewinn, so werden wir ihn gerechterweise teilen; wenn nicht, dann sind Sie ein schlechter Arzt, und ich bin ein schlechter Geschaeftsmann gewesen. Wir werden uns dann ohne gegenseitige Hochachtung, aber auch ohne feindselige Gesten voneinander trennen." Dann ging er. Ich sass an meinem Tisch, starrte die Platte an, lachte mal auf, trommelte mit den Haenden, lief durchs Zimmer, legte mich aufs Sofa, rauchte Zigaretten und tat endlich was Vernuenftiges - ich ging an die frische Luft. So mag einem Feldherrn zumute sein, der zur Fuehrung einer Kriegsarmee berufen wird, oder einem Dichter, dessen grosses Stueck ueber die Buehne gehen soll, oder einer jungen Mutter, die ihr erstes Kindlein geboren hat. Mit einemmal das verwirklicht zu sehen, was bisher nur ein schoener Traum war, mit einemmal vor die groesste und liebste Aufgabe des Lebens gestellt sein - wo waere ein berauschenderes Glueck? Mein trautes Waltersburg! Wie warm liegt der Sonnenschein ueber deinen schraegen Daechern und alten Giebeln, wie schoen singen die Spatzen am Johannisbrunnen, wie freundlich und gesund schauen die Kinder aus! Warte nur, mein altes Waltersburg, fuer dich kommt, wie fuer das Dornroeschen, ein selig Erwachen. Ich, dein Sohn, bin dein Ritter. Ich will dich kuessen mit einem heissen, so lebenspendenden Kuss, dass alle Starrheit von dir faellt und du mitten in wonnigem Leben stehst! Ich bin nicht August Bunkert; ich will dich, deutsche Maid, nicht zu einer weltmodisch aufgetakelten, kokottenhaften Dame machen - der Traeumerglanz soll in deinen Augen bleiben, der weisse Schimmer auf deiner Stirn, das schoene, stille Laecheln um deinen Mund, und du sollst doch in allen Landen beruehmt werden als eine Wohltaeterin der Menschen. Ja, das will ich, das verspreche ich, das verspreche ich dir! Das, was wertvoll in mir ist, habe ich ja von dir, du meine teure Heimat! Draussen in der Welt, drueben in Neustadt, kann ich nicht wirken. Ein Zuschauer nur, stehe ich vor der bunten Buehne, und weil ich so lange und so oft zuschaute, taeuscht mich keine Kulisse mehr; ich weiss, hinter den bemalten Waenden liegt unordentlich Geruempel und geht rauhe Zugluft durch schlecht schliessende Tueren. Langsam wanderte ich zum Eulentore hinaus. Es geht da keine Chaussee; eine alte Landstrasse fuehrt ins Gruene. Am Hasenhuegel setze ich mich auf einen Stein. Mir gegenueber lag der Ostabhang des Weihnachtsberges. Ueber den Fluss ging der Blick auf ein Hochplateau von Wiese, Feld und Wald und stieg dann den Berg hinan. Das waere der rechte Ort fuer mein Ferienheim. Nur in Waltersburg kann ich den rechten Ort fuer mein Ferienheim finden, in dieser freundlichen, naerrischen, gesunden Stadt! Wie Moses schaute ich in mein Gelobtes Land. LUISE Es ist ein Brief angekommen, der mir die ueberschaeumende Freude des Tages genommen hat. Die Pflegeeltern der Tochter Joachims haben geschrieben. Bei dem Scheidungsprozess wurde die kleine Luise dem Bruder zugesprochen. Da er aber weltfluechtig wurde, geschah dem Kinde das, was vielen solchen ueberzaehligen armen Wuermern geschieht - es kam "in Pflege". Ein "kinderloses, aber sehr kinderliebes, in durchaus geordneten Verhaeltnissen lebendes Ehepaar in Berlin sucht Kind von besserer Abkunft gegen einmalige Erziehungsbeihilfe als eigen anzunehmen". Ich wusste, was fuer Tragoedien sich hinter solchen Inseraten verbergen, wie oft sie der Deckmantel elendester Gaunerei, schamlosester Ausnutzung sind. Und damals war es das erstemal, dass ich meine Mutter nicht verstand. Sie weigerte sich auf das entschiedenste, das Kind zu sich zu nehmen und zu erziehen, und da ich immer wieder in sie drang und die Unschuld des Kindes nicht verderben, seinen kleinen Leib nicht frieren und darben lassen wollte in der Fremde, wurde die Mutter hart wie Eisen und sagte, ich entehre sie mit meinen Vorstellungen und Bitten. Sie war zu tief gekraenkt in ihrer Frauenseele, sie hasste das Weib, das dieses Unheil angerichtet, zu bitter, litt zu furchtbar unter dem Verlust des Lieblingssohnes, als dass ihre sonst so gute, freundliche Art auch diesmal den rechten Weg haette finden koennen. Ja, sie sagte mir, dass sie die Bitte vom Vergeben aus ihrem "Vaterunser" gestrichen habe. Der Bruder war gefluechtet, ich musste hinter ihm herziehen, ein abenteuerliches Leben beginnen, um ihn zu suchen und ihn schliesslich nach fuenf Jahren zu finden und zu einer ganz kurzen Aussprache zu bewegen. Ich konnte mich damals um die kleine Luise nicht weiter kuemmern, ich wusste nur, dass eine entfernte Verwandte das Maedchen zu dem "kinderlieben" Ehepaar nach Berlin gebracht, die geforderten fuenfzehntausend Mark "Erziehungsbeihilfe" als einmalige Abfindung bezahlt und berichtet hatte, es scheine sich um ausserordentlich honette und christliche Leute zu handeln. Als ich Joachim in der Schiffskajuete gegenueber sass, indes draussen die schwere See rollte, glaubte ich, der Augenblick sei so gewaltig, dass er an die tiefsten Tiefen des Maennerherzens ruehren, dass er eine der festverschlossenen Tueren oeffnen, und dass die Frage daraus hervortreten werde: "Lebt das Kind noch?" Joachim stellte die Frage nicht, und als ich nach Hause kam und nach etwa zehn Tagen es wagte, die Mutter zu fragen, ob die kleine Luise am Leben sei, wandte sie sich ab und sagte hart: "Das weiss ich nicht!" Da fiel mir auf, dass die Mutter und Joachim sich sehr aehnlich seien. Ich bin mehr nach dem Vater geschlagen. Der ist ein weicher Mann gewesen. Und ich selbst bin wohl auch als Mann viel zu weich, stosse mir ueberall leicht das Herz wund und werde wahrscheinlich einmal viel leichter unter die Raeder kommen, als es Joachim passieren koennte. Nun haben die Pflegeeltern der kleinen Luise an Mutter einen Brief geschrieben. Sie hat ihn aber nicht geoeffnet, wie sie zehn oder mehr andere Briefe, die von derselben Stelle schon gekommen sind, auch nicht geoeffnet, sondern ungelesen verbrannt hat. Diesen letzten Brief habe ich an mich genommen und ihn soeben gelesen. Mir graut. Schlechtes, fettfleckiges Papier, in elender Rechtschreibung und noch elenderem Stil die Enthuellung niederster Schakalinstinkte, Geldgier, Erpressungsversuche, Frechheiten. Was sich wohl sogenannte feinere Leute einbildeten - sie setzten Kinder in die Welt, kuemmerten sich aber nicht um sie, sondern liessen sie anderen Leuten zur Last. Ob sich die feine Gesellschaft je klar geworden sei, was es heisse, ein Kind aufzuziehen? Zehntausend durchwachte Naechte und bei Tag keine ruhige Stunde. Ob das mit solchem Lumpengeld wie fuenfzehntausend Mark bezahlt sei? Sie, die Pflegeeltern, seien brave, sehr christliche Leute, wie das ganze Stadtviertel bezeugen koennte, und niemand etwas schuldig, aber die anderen, die zehn Briefe nicht beantworten, was seien die? Das bisschen Geld, das bezahlt worden sei, sei laengst weg. Das haetten allein Doktor und Apotheke verzehrt; denn wer weiss, was die Luise von ihren Eltern alles fuer Krankheiten geerbt habe. Wenn sie, die Pflegeeltern, nicht so kinderliebe Menschen waeren, laege das Kind laengst auf der Strasse oder im Grabe. Sie muessten ihr Letztes zusetzen, um das Maedchen zu erhalten. Aber nun habe das ein Ende. Sie wuerden den ganzen Skandal in die Zeitung bringen und sich auch an das Vormundschaftsgericht in Waltersburg wenden. Im uebrigen seien sie bereit, gegen Zahlung von weiteren zehntausend Mark das Maedchen in Pflege zu behalten, obwohl Luise ein Kind sei, das nur Aerger bereite. Solches und noch Aergeres enthielt der Brief. Ich trug ihn zur Mutter. "Lies den Brief!" sagte ich. Sie schuettelte zornig den Kopf. "Du musst ihn lesen, Mutter", sagte ich todernst und in hartem Befehlston. Sie starrte mich an und wurde blass. Ich legte den Brief auf den Tisch und verliess das Zimmer. Nach einer Stunde suchte ich die Mutter wieder auf. Sie lag auf dem Sofa und zuckte wie in Kraempfen. "Liebe, gute Mutter", sagte ich und streichelte ihren fruehgebleichten Scheitel. "Aendere es, Fritz", sagte sie muehsam, "aendere es; tue, was du willst, aber aendere es - es ist entsetzlich!" Schmerz und Grauen schuettelten sie. Ich kuesste ihr die Hand und sagte: "Ich fahre mit dem naechsten Zuge nach Berlin." * Der Zug rollte sein einfoermiges Lied durch die ebene Landschaft. Es regnet fein, glitzernde Troepfchen zittern an den Fensterscheiben und rinnen schliesslich in schmalen Baechlein herab. Keiner meiner Fahrtgenossen spricht ein Wort. Mir ist das recht lieb. Ich bin in einer trostlosen Stimmung. Ferien vom Ich! Ein Erloesungswort fuer gequaelte Menschen, eine Zufluchtsstaette fuer muede Herzen, eine friedliche Insel im brandenden Ozean, und ich der Lotse, der halb zerschellte Schiffe nach dem Hafen geleitet. Bitterer Spott ueber mich selbst quillt mir im Herzen auf. Wenn nun einer meiner Kurgaeste mich einmal befragt: Wie bist du eigentlich dazu gekommen, solch ein Prophet des Friedens zu sein, wer lieh dir den Talar? Bist du selber so ein harmonischer Mensch, hast du gesiegt ueber die Unrast der Zeit und die Kaempfe deines eigenen Herzens? Hast du zunaechst alle diejenigen, die dir durch verwandtschaftliche Bande nahestehen, so in den Frieden gerettet, dass du nun ausgehen kannst, um fremdem Volk zu helfen? Oh, seht ihn nur an, den Propheten, den Friedensapostel! Seht nur, wie er im Eisenbahnwagen sitzt und endlich versuchen will, ein Kind, das ihm durch die Bande des Blutes ganz nahesteht, vor voelliger Verwahrlosung zu retten; fragt ihn nur nach seiner Mutter, die in Traenen zu Hause sitzt, fragt ihn nach dem einzigen Bruder, der in Gram und Hass verschollen ist - fragt ihn nach alldem und wundert euch dann, dass dieser Mann einer grossen Gemeinde freiwillig seine Bauhilfe anbieten will, waehrend ihm der Regen und der Wind durch die Loecher seiner eigenen Giebel dringen. Wie ein Geistlicher ist er, der gegen die Suende predigt und selbst ein arger Suender ist, wie ein Richter, der einen Verbrecher straft und den selber eine geheime Schuld drueckt, wie ein Arzt, der andere dem Tode entreissen will und der selber dem Tode geweiht ist! * Berlin N. Eine der Proletarierstrassen, von denen jede einzelne mehr Einwohner hat als ganz Waltersburg. Fuenfstoeckige Haeuser. Im Erdgeschoss Geschaefte mit billigen Waren, in jedem zweiten oder dritten Hause eine "Restauration", in deren Fenster Wuerste haengen und Schnapsflaschen stehen. Auf den Buergersteigen und dem Fahrdamm ein Gewuehl schreiender, blasser Kinder. Schlecht genaehrte Frauen, dicke Bierkutscher, schmale Schreiberlein, modisch, aber windig gekleidete junge Maedchen, schwatzende Weiber, mit Lastkarren daherkeuchende Maenner, hie und da ein Faulenzer, der zum Fenster herausliegt, die Arme auf ein Kissen stuetzt und den Stumpfsinn in Reinkultur zeigt, Koeter von unbestimmbarer Rasse, wie wahnwitzig schellende Strassenbahnen, Autos, Droschken, Lastwagen, Radler, dicke, stauberfuellte Luft, an jeder Strassenecke ein baerbeissiger Schutzmann - Berlin N. Das war das "Milieu", in dem meine Nichte Luise bisher aufgewachsen war. Ich ging vom Stettiner Bahnhof aus auf die Suche nach ihrer Wohnung. An einer Strassenecke bot mir ein Kind Schnuerbaender zum Kaufe an. Ein kleines, blasses Maedchen war es. Ich sah sie an und trat einen Schritt zurueck. "Wie heisst du denn?" Das Kind erschrak und sagte aengstlich: "Luise!" "Wie heisst du noch? Wie ist dein anderer Name?" Noch ein veraengstigter Blick, und das Maedchen rannte, so schnell es nur konnte, davon. Ich fuehlte es wie Laehmung in meinen Gliedern, aber ich eilte dem Kinde nach. Bei einer Tornische holte ich es ein und fasste es am Arm. "Fuerchte dich nicht, Luise. Ich tue dir nichts." Das Maedchen brach in Traenen aus. "Sperren Sie mich nicht ein!" "Warum soll ich dich denn einsperren?" "Weil ich - weil ich - die Schuhbaender - Sie sind ein Geheimer ..." Das Kind weinte noch lauter. "Hallo! Seht nur da! Was hat denn der mit dem Maedel? Warum weint denn det Maedel? Haut ihn! Das is so eener! Wird er gleich das Kind in Ruh' lassen!" Ich war im Nu von einer Rotte Menschen umstellt. Einige Rowdies nahmen eine drohende Haltung an, Maenner murrten, ein Weib kreischte mich an: "Pfui ueber so 'nen Spitzel - 'n armes Maechen, wat sich 'n paar Jroschen verdient, feste zu nehmen ..." "Is ja jar keen Jeheimer, is ja 'n solcher! Haut ihn!" Die kleine Luise entschluepfte mir, ein Schutzmann kam breit wie ein Hilfskreuzer auf die Gruppe zugesegelt, die alsbald um ihn und mich einen mehrfachen Belagerungsring schloss. "Was ist los?" fragte der Gesetzeshueter. "Er hat 'n kleines Joehr belaestigt - er hat 'n Kind jemisshandelt - er hat ihr blutig jeschlagen - er hat jesagt, er is 'n Jeheimer, aber er is 'n Lump." Der Schutzmann stand wie ein Fels. "Wer sind Sie?" Ich zog eine Legitimationskarte heraus. "Was ist geschehen, Herr Doktor?" fragte der Schutzmann, nachdem er die Karte gelesen. "Doktor - 'n Doktor is er - amputieren will er ihr - Versuchskarnickel braucht er, det Schwein ..." "Ruhe!" donnerte der Schutzmann. "Was ist geschehen?" "Ich will es gern sagen", antwortete ich, "aber nicht vor diesen Leuten, die die Sache nichts angeht." Ein wuestes Geschrei antwortete mir; immer mehr Volk sammelte sich an. "Kommen Sie in Ihrem eigenen Interesse mit mir", riet der Sicherheitsmann. "Jawohl!" sagte ich, und wir durchbrachen die Kette. Niemand konnte mich schuetzen, dass ich ein paar Pueffe und Stoesse erhielt. Ein Trupp johlte hinter uns her, wurde aber durch ein Pferd, das auf der Strasse gefallen, in seinem Interesse abgelenkt, und ich war mit dem Schutzmann allein. Wir traten in einen Hauseingang, und ich gab ihm eine kurze Aufklaerung. Als er den Namen der Pflegeeltern Luises gehoert hatte, sagte der Schutzmann: "Der Mann is 'n Tagedieb und die Frau 'ne Schlampe. Da sehen Sie man, dass Sie det Wurm da abkriejen." Ich dankte ihm, und wir trennten uns. Einen Augenblick ueberlegte ich noch, ob ich zuvor einen Rechtsanwalt zu Rate ziehen solle, aber dann ging ich direkt nach Luises Wohnung. Ein Hinterhaus von vielen Stockwerken. Auf dem Hofe spielten Kinder im Staub der Stubendecken, die geklopft wurden. Die Treppe war dunkel und schmutzig. Im dritten Stockwerk las ich den Namen von Luises Pflegeeltern. Ich laeutete zweimal, dann kam ein zaghafter Kindertritt, die Tuer wurde geoeffnet, ein entsetzter Schrei, die Tuer flog wieder zu. Ich laeutete abermals. Ein grosser, starker Mann erschien. Er trug einen Christusbart, ziemlich lange Haare und stak in einem schwarzen, wenig sauberen Rock. Spaeter erfuhr ich, dass der Mann "Prediger" bei irgendeiner neuen Sekte war. Er wollte mich erst mit einer hochmuetigen Miene mustern, aber ploetzlich wurde sein Gesicht scheinheilig freundlich, und mit oelglatter Stimme sagte er: "Ah, Herr Oberkommissar, ich hab schon gehoert - weiss schon - der Herr Polizeiinspektor haben meine Pflegetochter beim Handel erwischt - aber ich kann bei meiner Ehre versichern - Herr Inspektor ich bin unschuldig - ich verbiete dem Maedel aufs strengste - haben es ja auch gottlob nicht noetig - aber sehen Sie, Herr Inspektor, so'n hergelaufenes Kind von schlechter Abkunft, das man so aus purem Mitleid (ich bin Oberprediger bei der Gemeinde der Juenger von Kapernaum), das man so aus christlicher Barmherzigkeit aufzieht und das doch nicht geraet, weil der Feind sein Unkraut unter den Weizen saet, das stiehlt sich nun 'n Jroschen, kauft sich Schuhbaender oder Streichhoelzer oder was weiss ich und verkauft sie, um zu naschen - natuerlich nur, um zu naschen ..." Das Geschwafele erstarb an meiner wortlosen Ruhe. "Was wuenschen der Herr Inspektor - ich wuerde den Herrn Inspektor gern in die Wohnung bitten, aber meine Frau ist zufaellig heute noch nicht mit dem Aufraeumen fertig ..." Da sprach ich endlich. "Sie irren - ich bin kein Polizeimann - ich bin der Onkel der kleinen Luise." "Sie sind - Sie sind - ach so - ach so - der sind Sie ..." Er brach in ein meckeriges Lachen aus. "Ich will Sie zur Rechenschaft ziehen, Sie schlechter Kerl!" rief ich ausser mir. "Sie wollen mich - was wollen Sie?" Sein Gesicht veraenderte sich. Eine zynische Frechheit machte sich auf seinen Zuegen breit. "Was wollen Sie!" bruellte er. "So 'n Balg - so 'n unsauberer Balg - und Sie wollen noch - ah, wenn Sie mir was zu sagen haben, schreiben Sie es mir; ich bin fuer Sie nicht zu sprechen - verstehen Sie - fuer Sie nicht zu sprechen; denn ich bin ein anstaendiger Mensch!" Die Tuer fiel ins Schloss. Ich blieb allein stehen; ich fuerchtete, nun wuerde die kleine Luise drin zu schreien anfangen. Aber es blieb still. Nur eine Tuer krachte noch zu. Da eilte ich die schmutzige Stiege hinab. SAMARITERDIENSTE So lebte das einzige Kind meines Bruders! In einer Umgebung von Schmutz, Heuchelei, Armseligkeit, Roheit. Ein Glueck, dass dem Weltverbesserer doch noch das Kehren vor der eigenen Tuer einfiel, ehe er an die grosse Mission ging, anderen zu helfen. Fast in jeder Familie gibt es einen, auf den sich die anderen ganz besonders verlassen, zu dem sie in ihren Kuemmernissen und Noeten kommen, dem sie es ueberlassen, zu ordnen, was sie selbst schlecht gemacht haben, der Geld borgen muss, wenn die andern nichts haben, der immer schieben, immer unterstuetzen, immer aushelfen muss. Den Starken als Stuetze der Schwachen kann man ihn nennen, wenn man es ideal ausdruecken will; sonst kann man auch kurz sagen: der Lastesel. Nachgerade kam es mir vor, als ob ich in unserer Familie diesen Ehrenposten bekleidete. Ich kann nicht behaupten, dass ich mit Freundlichkeit an meinen Bruder dachte, als ich durch den Staub des Hofes nach der Strasse zurueckfluechtete. Was an diesem Kinde geschah, war jahrelange Suende. Auch an die Mutter dachte ich nicht ohne Bitterkeit. Sie war in diesem Augenblick nicht mein silbernes Muetterchen, sie war eine reine, aber selbstgerechte Frau, die nicht stark genug war, der Schuld mit Herzenstapferkeit ins Auge zu sehen und auf dem Schlachtfeld der Suende Samariterdienste zu tun, sondern eine, die sich aengstlich in ihrer wohlumhueteten Sauberkeit hielt, mehr bekuemmert um sich selbst als um das, was draussen zugrunde ging. Jawohl, ich hatte nicht Lust, das alles so hinzunehmen, ich wollte meine Meinung sagen. Was sollte ich denn tun, ich einzelnstehender Mann? Es wuerde schwer genug halten, das Kind loszubekommen. Der ekle Kerl von Pflegevater war zum gesetzlichen Vormund und Pfleger bestellt, die Erziehungsrechte waren an ihn abgetreten. Um ihm das Kind in Guete gewissermassen abzukaufen, dazu fehlte mir das Geld. Mit gesetzlichen Mitteln aber so einem abgefeimten Schuft an den Leib zu gehen, wuerde schwer genug sein. Das Naechste war, einen Anwalt zu befragen. * In meinem Hotel suchte ich das Lesezimmer auf, setzte mich in eine Ecke und gruebelte. Ich mochte wohl schon lange so gesessen haben, da tippte mich jemand auf die Schulter. "Sie sollten mal Ferien vom Ich machen, Sie haben es noetig!" Es war Mister Stefenson, der also zu mir sprach. Ich war ganz erstaunt, ihn so ploetzlich hier in Berlin zu sehen. "Ferien vom Ich sollten Sie machen!" wiederholte er. "Von wem erfuhren Sie denn, dass ich hier bin? Von meiner Mutter?" "Von wem anders sollte ich es wissen? Sie sind in Familienangelegenheiten hier - wegen einer kleinen Nichte - wollen sie in eine andere Pension bringen - ja, lieber Doktor, das gefaellt mir nicht!" "Was gefaellt Ihnen nicht?" "Dass Sie Ihre Zeit mit solchem Familienkrimskram vergeuden." "Erlauben Sie, das ist doch wohl meine Sache." "Ihre Sache und meine Sache. Sie haben jetzt keine Zeit fuer solche Dinge. Es passt nicht in unser Programm. Sie haben selber gesagt, zu unserem Ferienheim gehoere vor allen Dingen die Erloesung von drueckenden familiaeren Fesseln. Ist das keine Fessel, die Sie am Fuss schleppen? Jetzt, wo wir in der allerschwersten Gedankenarbeit stehen muessten, fahren Sie einem kleinen Maedel nach. Was liegt der Welt an dem kleinen Maedel? An Ihrem Ferienheim soll ihr etwas liegen." "Ich glaube, Herr Stefenson, so eng sind wir denn doch noch nicht miteinander verbunden, dass Sie in dieser Weise mit mir reden duerfen." "Ich darf", sagte er phlegmatisch. "Ich habe in Ihnen so etwas wie einen Propheten gesehen - die Propheten gehen aber in die Wueste, ehe sie oeffentlich auftreten, nicht nach Berlin - die Apostel verlassen Weib und Kind - der Soldat, der in den Krieg zieht, darf nicht rueckwaerts schauen, er sagt: Was schert mich Weib, was schert mich Kind? Der Familiensimpel bleibt immer ein mittelmaessiger Kerl." Ich erhob mich und wollte ihm grob kommen. Aber ich setzte mich wieder, sah auf einen Augenblick in seine ehrlichen, quellklaren Augen und sagte dann: "Sie haben vielleicht in manchem recht, Mister Stefenson, aber im ganzen sind Sie doch im Unrecht. Wenn ein Soldat in den Kampf ziehen soll und am Fuss eine Beule hat, wird er danach trachten, dass ihm erst ein Arzt die Beule oeffnet und die Wunde saeubert und verbindet, ehe er marschiert. Sonst bleibt er eben am Wege liegen. So geht es mir auch. Ich muss mir erst diese Angelegenheit mit meiner kleinen Nichte vom Halse schaffen, ehe ich an unsere Aufgabe gehen kann." "Gut, so schaffen Sie sich die Angelegenheit vom Halse - morgen vormittag zwischen neun und elf. Um elfeinhalb koennen wir dann unsere Beratung haben." "So rasch geht das nicht." "Wie lange kann es denn dauern?" "Wohl einige Wochen oder auch Monate." Herr Stefenson laechelte sanftmuetig. "Das ist sehr schoen! Ja, dann sind Sie wohl so freundlich, mich nach einigen Monaten gelegentlich wissen zu lassen, mit wem Sie schliesslich Ihr Sanatorium begruendet haben. Ich bin gar nicht abgeneigt, mir dann einen Prospekt schicken zu lassen. Fuer jetzt, guten Abend!" Er verliess mich. Ich sah ihm nach, als er aus dem Zimmer ging, und wusste, dass es aus war mit meinem Lebenstraume. Ich sass ganz still, und ich weiss jetzt nicht mehr, was ich damals alles dachte. Ich wusste in jener Stunde nur, es war aus, um eines kleinen Maedchens willen, das ich kaum auf zwei Minuten lang gesehen hatte - aus! Dieser Mann, der vor zwei Tagen so viel Geld auf eine Idee von mir setzen wollte, hielt mich nun fuer einen Schwachkopf. Aber auf so elende Weise durften wir uns nicht trennen. Rasch warf ich einige Zeilen auf eine Karte, ich muesse Herrn Stefenson noch einmal sprechen, nicht um ihn umzustimmen, daran daechte ich nicht, sondern um nicht ganz ungerechtfertigt zu scheiden. Ich schickte Stefenson durch einen Kellner die Karte, und er kam auch bald persoenlich. "Mister Stefenson - es ist nichts Geschaeftliches mehr, nur etwas rein Menschliches. Es ist darum, dass wir uns jetzt ohne gegenseitige Hochachtung, aber doch auch ohne beleidigende Gesten trennen wollen, wie Sie selbst einmal gesagt haben. Haben Sie noch zehn Minuten Zeit fuer mich?" Er nickte, und ich erzaehlte ihm ohne alle Umschweife die Tragoedie Joachims und seines Kindes, und wie ich das Maedchen heute draussen auf der Ackerstrasse getroffen hatte. Mir wurde das Herz warm beim Erzaehlen, aber Stefenson blieb ganz gleichgueltig. Zuletzt sagte er: "Es ist eine traurige Geschichte, die Sie da erzaehlt haben, aber sie kommt alle Tage vor. Es ist gar nichts Neues. Ich habe die Geschichte auch erlebt. Aber etwas Interessantes ist dabei: Sind Sie wirklich fuenf Jahre lang hinter Ihrem Bruder her gewesen?" "Ja, ich fand ihn nicht eher." "Hm! - Sagen Sie, wollen wir den Abend noch zusammenbleiben? Ich moechte den "Sommernachtstraum" in der deutschen Auffuehrung ansehen. Kommen Sie mit? Sie haben es doch wohl nicht so eilig nach Hause?" Ich wusste, dass ich bei diesem Manne verspielt hatte, aber ich nahm die Einladung an. Er sagte, er habe nun noch Geschaefte, wir wuerden uns im Theater treffen. Damit haendigte er mir eine Theaterkarte ein und verliess mich. - Mendelssohns Ouvertuere zum "Sommernachtstraum" huschte und zwitscherte an mir vorueber, Shakespeares unsterbliches Werk reinster Froehlichkeit tat sich in glaenzender Darstellung vor mir auf, aber ich sass wie ein Geistesabwesender auf meinem Platze. Der Stuhl neben mir war leer geblieben. Stefenson war nicht erschienen. Der Maerchenwald, durch den die Elfen huschten, blaute vor meinen Augen; aber ich dachte an den Wald an dem Abhang des Waltersburger Weihnachtsberges. Pyramus und Thisbe trieben ihren grotesken Spass. Da droehnte von meiner Logentuer her tiefes Gelaechter. Stefenson stand dort. Er beachtete mich nicht, er schaute nur vergnuegt nach der Buehne und lachte so laut, dass er die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich zog. Die naechste Pause kam. Da setzte sich Stefenson neben mich und sagte zur Entschuldigung seines spaeten Kommens: "Manche Geschaefte wickeln sich in Berlin sehr langsam ab." Nach dem Theater fuhren wir nach einem Restaurant. Nachdem wir gegessen hatten, sagte Stefenson ganz unvermittelt: "Die Luise habe ich flottgemacht. Zuviel Schwierigkeiten habe ich mit dem alten Gauner nicht gehabt. Der Hauswirt war gerade bei ihm und draengte um die Miete; da machte es der Kerl um dreihundert Mark. Er gab alles schriftlich, was ich wuenschte. Mit Anwaelten ist das nichts. Das ist teuer und umstaendlich. Mit dreihundert Mark war alles in zwanzig Minuten gemacht, und ich hatte das Kind. Dann war ich um eine Pflegeschwester aus. Das hat laenger gedauert. Das hat unsinnig lange gedauert. Die ganze schoene Eselsszene habe ich im Theater verpasst. Die Pflegeschwester ist nun mit der Luise in unserem Hotel. Nummer 187 wohnen sie. Bald fahren sie nach einem Erziehungsinstitut in Thueringen. Es ist mir empfohlen worden. Da wird ja wohl die Luise koerperlich und seelisch zurechtgestutzt werden." Ich schlug wieder einmal die Haende zusammen. "Guter Herr Stefenson, das haben Sie getan?" "Ich bitte, exaltieren Sie sich nicht! Eine Zeitlang wird die Luise in dem Institut bleiben, und dann kann sie zu uns in das Ferienheim kommen - so als eine Art - als eine Art Einweihungsengel." Mich wuergte es in der Kehle. "Sie wollen das Heim doch mit mir gruenden?" "Ja", sagte er ganz ruhig, "ich will. Es hat mir was an Ihrer Geschichte gefallen. Natuerlich nicht das Sentimentale, aber dass sie fuenf Jahre lang die Jagd machten, das zeugt doch von einer gewissen Ausdauer. Und Ausdauer ist zu gebrauchen." * Ich bin wieder im stillen Waltersburg. Berlin N liegt hinter mir wie ein wuester Traum. Welch Gegensatz! Die kleine Luise ist gut untergebracht. Stefenson hat mir gestern schriftlich mitgeteilt, dass er mich fuer keinen Philosophen halte, auch nicht fuer das, was man einen lebensklugen Menschen nenne, und was ich als Arzt tauge, koenne er nicht beurteilen. Er halte mich fuer einen Dichter. Meine ganze Idee sei weniger aerztliches Problem als vielmehr eine Dichtung. Aber Dichtung sei besser als Problem. Dichtung ist etwas Gezeugtes, Probleme sind etwas Konstruiertes, Dichtung ist Lebewesen, Problem ist Mechanik. Und so solle ich nur jetzt meine Dichtung ganz ausgestalten und ihm vertrauensvoll uebergeben. Was ausfuehrbar sei, werde ausgefuehrt werden, das andere werde als blauer Dampf in die Hoehe ziehen und auch als Woelklein am Himmel noch schoen sein. IN DEN TAGEN DES WERDENS Beschaulichen und nachdenksamen Charakters ist Herr Stefenson nicht. Es geht alles so verblueffend schnell bei ihm, dass er, wenn ein anderer noch bei den ersten Erwaegungen und Bedenken staende, schon am Ende ist. Freilich kommt dazu, dass er Glueck hat. Das Gelaende am Ostabhang des Weihnachtsberges steht zum Verkauf. Es gehoert einem Manne, der, wie Hans im Glueck, staendig seinen Besitz vertauschte. Dieses Gut hat er gegen grosse, sehr ertragreiche Steinbrueche umgetauscht, die Steinbrueche gegen eine Fabrik, die noch besser war, und so ist es langsam bergab gegangen, und Herr Stefenson mit seinem grossen Geldbeutel hat wenig Schwierigkeiten gefunden. Achtundvierzig Stunden haben die Verhandlungen gedauert, dann war das Gut, das mit Wiese und Wald 2500 Hektar gross ist, von Stefenson gekauft. Um einen Preis, bei dessen Nennung einem frueheren Schiffsarzt die Gaensehaut ankommt. "Nun ist das Gelaende da, nun muss die Gemeinde errichtet werden", sagte Stefenson sehr einfach. "In einem Jahre muessen saemtliche Haeuser stehen." "In einem Jahre?" "Ja! Die Deutschen brauchen, wenn sie einen Dom bauen wollen, vierhundert Jahre, der Amerikaner braucht, wenn er eine Stadt baut, sechs Monate." "Es ist dann aber auch danach." "Ob es danach ist oder nicht, ist gleich", erwiderte Stefenson verdrossen. "Jedenfalls habe ich fuer die ganze Chose nicht mehr Zeit. Ich muss nach Neuyork, nach Milwaukee, nach Trinidad. Sehen Sie sich das Gelaende an und machen Sie Ihren Plan. Ich werde auch einen Plan machen. Ich brauche drei Tage Zeit dazu." "Ich wuerde drei Jahre dazu brauchen, aber um Ihretwillen werde ich in sechs Wochen mit meinem Plane fertig sein." Er wandte sich finster ab. Drei Tage lang lief er auf dem erworbenen Gelaende umher, zeichnete, machte Notizen und ging mir aus dem Wege. Am vierten Tage teilte er mir auf einer Postkarte mit, er habe einen kleinen Abstecher nach Sizilien unternommen. Ich war froh darueber und ging nun daran, mein Ferienheim im Plane zu entwerfen. Das Gelaende kannte ich genau. Die meisten meiner Bubenstreiche hatten in jenem Walde gespielt; auf jenen Wiesenrainen war ich als Student tausendmal gegangen. Eines war zu vermeiden - alle Gleichfoermigkeit. Eine Villa neben die andere zu bauen, ein Logierhaus wie das andere, alles in zimperlich geordneten Gaerten, wo man kaum einen Fuss hineinzusetzen wagt wie in die gute Stube einer peinlichen, eitlen Hausfrau, das sollte uns gewiss nicht einfallen, ganz abgesehen von Basaren, Hotels, Restaurants, Plaetzen und Strassen grossstaedtischer Art. Im Mittelpunkt der Ferienheimat soll das Rathaus liegen. Es soll ein grosser, geraeumiger Bau altdeutschen Stils sein. Der Buergermeister wird darin wohnen; denn einen solchen wird uns wohl das Gesetz auferlegen; aber auch die Sprechzimmer der Aerzte sollen im Rathaus untergebracht sein, ebenso die Verwaltungsraeume, die Kasse, die Nachtwaechterstuben. Auch einen grossen ehrwuerdigen Saal soll das Rathaus haben, in dem die Feriengaeste manchmal zu einer Feierstunde nationaler, kuenstlerischer oder geselliger Art geladen werden. In diesem Rathaus wird auch das "verbotene Zimmer" mit den Zeitungen sein. Ein Posten wird davor Wache halten und nur diejenigen einlassen, die eine Karte vorzeigen, und eine solche Karte wird jedem waehrend der Dauer des Ferienaufenthaltes nur zweimal gewaehrt werden. Das Rathaus wird am Lindenplatz liegen, dort, wo die grosse Linde mitten auf der Wiese steht. So oft auch die Dichter vom Platz unter der Linde und vom Tanz mit dem schoenen Kinde und dem Traum im Abendwinde gesungen haben, mir ist die alte Weise nicht zu abgeleiert, ich will das froehliche Glueck vergangener Tage neu erstehen lassen. Am Lindenplatz, dem Rathaus gegenueber, soll die Lindenherberge liegen, unser groesstes Gasthaus. Das Modell muss man in schoenen deutschen Staedten suchen, etwa in Rothenburg, Goslar, Wernigerode oder Hildesheim, und dann ist es fuer unsere Zwecke auszugestalten. Eine Bauernschenke denke ich mir, ein Herrenstuebchen, einen Poetenwinkel mit Butzenscheiben, wo Lieder zur Laute gesungen werden. Oefter als einmal in der Woche darf sich niemand in einer der drei Stuben sehen lassen; denn dreimal in der Woche ins Gasthaus zu gehen, ist fuerwahr genug fuer einen Kurgast. Es darf sich auch keiner einbilden, dass er etwa nur Bauer oder ein Herr oder nur Saenger zur Klampfe sei - er muss alles sein wollen und sein koennen, und wenn er dreimal in der Woche "ausgehen" will, dann muss er eben jedesmal in eine andere Abteilung, und das Braunbier, das in der Bauernschenke ein biederer Wirt mit seiner Gattin ausschenkt, muss ihm ebenso munden wie der Wein, den ein schoenes Maedchen im Poetenwinkel kredenzt. Ein Kaffeehaus werden wir auch haben; denn sonst bekaemen wir keinen oesterreichischen Kurgast. In diesem Kaffeehaus wird alles zu haben sein, was ein Wiener Kaffeehaus auszeichnet, von der drangvollen Fuelle bis zum Zigarettendampf, nur keine Zeitungen. Vielleicht wird mir mancher ob meiner grossen Toleranz gegen Tabak und selbst gegen Alkohol zuernen, aber ich sorge dafuer, dass alles im Lot bleibt. Da in den Wirtschaftsraeumen umsonst nichts geschenkt wird, da aber auch keiner der Gaeste einen Pfennig Geld in der Tasche hat, sind alle genoetigt, ihre Zeche recht schoen und breit an die schwarze Tafel ankreiden zu lassen, und das gibt nicht nur eine gute Selbstkontrolle, sondern garantiert auch eine gewisse oeffentliche Aufsicht. Alle aber, denen der aerztliche Befund solche Genuesse verbietet, koennen sich unten am Fluss in der Fischerklause, dem zweiten Gasthaus, bei alkoholfreiem Getraenk des Lebens freuen, und es stehen auch verschiedene Selter- und Milchhaeuslein im Gelaende, alle bedient von dazu verordneten Damen aus der Kurgesellschaft. Denn das ist eine wesentliche Seite meines Gesundungsheims, dass alle Kurgaeste, soweit es ihr Zustand erlaubt und wuenschenswert erscheinen laesst, arbeiten muessen. Aus faulem Nichtstun spross noch in den allerseltensten Faellen ein Heil. Nein, es werden alle Mitglieder unserer Gemeinde taetig sein, und dadurch werden sich auch die Kosten vermindern, zu denen der einzelne beizutragen hat. Dass ein guter Bestand geuebten Personals immer dasein muss, ist selbstverstaendlich. Aber wenn ich z. B. fuer den Poetenwinkel drei Kellnerinnen brauche, wird eine, die aufsichtfuehrende und bestimmende, eine Berufskellnerin, die zwei Helferinnen werden Damen aus der Kurgesellschaft sein, und es wird mich gar nicht beirren, einer jungen Graefin solchen Schankdienst auf eine Woche aufzuerlegen. Wem es nicht passt, der geht! Wir werden alle unsere Gaeste mit Liebe und Hochachtung behandeln, aber keinen umdienern und keinen anzulocken oder zu halten suchen. Wir werden mit dem Phlegma der Starken allen Widerstaenden begegnen. Jeder Kurgast wird sich woechentlich mindestens einmal dem Arzt vorstellen und neben sonstiger Kurverordnung die Arbeit vorgeschrieben erhalten, die er in naechster Woche zu leisten hat. Die Verwaltung wird dem Aerztekollegium rechtzeitig etwa mitteilen: Wir brauchen fuer naechste Woche fuenfundvierzig landwirtschaftliche Arbeiter und Arbeiterinnen, sechzehn Forstarbeiter, neun Gaertnergehilfen, vier Angler, zwei Jaeger, neun Obstpfluecker, vierzehn Erbsenleser, sechzehn Mann fuer Wegebesserung, sieben Viehhueter, ein Streichquartett, vierzehn Kellnerinnen und Milchverschleisserinnen, sechs Kegelaufsetzer, zehn Hilfskutscher, zwoelf Waeschebleicherinnen, drei Nachtwaechter, acht Frauen zum Spielen mit Kindern von vier Jahren aufwaerts, _ad libitum_ Kuenstler und Artisten, Dichter, Rezitatoren, Musiker, Saenger, Schnellmaler, Turner, Zauberkuenstler und aehnliches, 168 Kuechengehilfen fuer je drei Stunden taeglich, zwanzig Mann fuer Haushaelterarbeiten (vier Stunden), fuenf Boten (Radler), einen Mann fuer die Festrede am Sonntag, dazu einen gemischten Festchorus von beliebiger Staerke, zwei Laternenanzuender, zehn Frauen oder Maenner fuer die Vorbereitung des naechsten Waldfestes, zehn Hilfsbrieftraeger, zwanzig Hilfsarbeiter und Hilfsarbeiterinnen fuer die Anlegung und Bepflanzung des neuen Philosophenplatzes, sechs Damen, die das Kuehemelken und Kaesebereiten erlernen wollen, einen Vorsitzenden und vier Beisitzer (zwei maennliche und zwei weibliche) fuer unser privates Friedensgericht. Solches etwa wird die Kurverwaltung beantragen. Was davon in Erfuellung geht, haengt natuerlich nicht von den Beduerfnissen der Kurverwaltung, sondern von dem Befund des Aerztekollegiums ab, und der schoenste Erfolg wird es sein, wenn alle Aufgaben durch freiwillige Meldung der Feriengaeste gedeckt werden. Dass die Arbeit immer nur im Rahmen der eigentlichen Kur, immer nur stundenweise geleistet werden darf, ist selbstverstaendlich. Das Ferienheim ist ein Arbeitshaus idealster Art, es macht die Arbeit zur Lust und Quelle der Genesung und wuergt den alten Drachen ab, dessen Pestatem die Welt vergiftet: dass koerperliche Arbeit das Mal der Minderwertigkeit trage. Das Ferienheim wird das Gegenteil lehren und beweisen, indem es gerade durch koerperliche Taetigkeit gesunde, glueckliche Menschen schafft. So wird alle Verwaltungs- und Bueroarbeit als viel zu anstrengend unseren Gaesten niemals zugemutet werden. Aber mit den Muskeln arbeiten, taetig sein, sichtbare Werte mit seinen zehn Fingern schaffen sollen alle, und selbst den Faulenzern und Drohnen des Lebens, die vielleicht nur durch die Romantik des Heims, durch die Neugier angelockt werden, soll, wenn sie guten Willens sind, ein besseres Bild der Menschenfreude ins Herz gepraegt werden. Hinter dem Rathause, von ihm durch einen kleinen Schlag schoener Tannen getrennt, beginnt die Baederstrasse. Es werden da in gesonderten Haeusern die Wannen- und Schwimmbaeder, die elektrischen und die Dampfbaeder eingerichtet; an sie reihen sich in dichtem Kiefernwald die Luft- und Sonnenbaeder und die Planschwiesen. Parallel mit der Baederstrasse geht der "Stille Weg". Es stehen da freundliche Haeuslein fuer solche Gaeste, die einer groesseren aerztlichen Beaufsichtigung und vermehrter Pflege beduerfen, die ihnen von Berufspflegerinnen zuteil wird. Alle anderen Gaeste wohnen "draussen". Es wird nicht zuviel auf Puelverlein und uebermaessiges Wassergepansch, auch nicht arg viel auf Hantelturnen und Massage gegeben werden, sondern auf tuechtige koerperliche Arbeit und frohen Sinn. Daher werden die meisten Kurgaeste in Bauernwirtschaften wohnen. Wenn wir von diesem Riesengelaende nur zwei Dritteile zur Feldbebauung anwenden, koennen wir sechzig grosse Bauernwirtschaften zu je hundert Morgen Land einrichten; auf jeder Besitzung koennen vier Pferde, dreissig Stueck Rindvieh, Huehner, Gaense, Enten, Tauben, Kaninchen, Hunde, Katzen, Bienen sein, und alle diese Tiere sollen von den Feriengaesten gepflegt werden, immer unter Leitung sachverstaendiger Personen. Denn der Herr und Koenig des ganzen Hofes wird der Bauer sein. Moege es uns gelingen, tuechtige Bauern zu finden, die nicht nur den Pflug zu fuehren wissen, sondern die kernige Menschen sind voll Biederkeit und froher Laune, derber Herzlichkeit und aufrechten Sinnes. Wer nicht anderweitig abkommandiert ist, arbeitet auf dem Hofe, wo er wohnt, nach Anweisung des Bauern oder der Baeuerin, immer nur pflichtmaessig zwei bis vier Stunden am Tage. Wer etwas darueber tun will und darf, soll es tun. Oh, wie werden die Leute am "Stillen Weg", die ihr Zustand vom Glueck der Arbeit ausschliesst, sich sehnen, "hinaus"zuziehen in die gesunde, frische, befreiende Taetigkeit; wie gluecklich werden sie sein, wenn ihnen der Arzt eines Tages sagt: Mein Lieber, du bist nun so weit, als schwacher Hilfskaempe mitzutun, darfst auf einen Bauernhof, darfst zunaechst mal die Tauben fuettern, den Huehnerstall nach Eiern absuchen und den Hund pruegeln, wenn er eine Wurst gestohlen hat, und wenn auch das zu schwer ist, aufpassen, ob in den Nistkaesten Sperlinge oder Stare wohnen. * An die Bauernhoefe knuepfe ich meine groesste Hoffnung. Ich moechte die in glitzernde, entnervende Ferne Gewanderten zum Erdduft und zur Einfachheit wenigstens in Ferienwochen heimfuehren. Es soll und es muss gelingen. Alle, die einmal Ferien vom Ich machen, die als neue, als ganz andere Menschen, losgeloest von allem, was sie drueckte und knickte, auf einige selige Wochen zum Ausgangspunkte, zum Mutterschoss unseres Kulturlebens zurueckkehrten, zum Bauern-, Hirten- und Fischerleben - sie muessen mit gesuenderem Herzblut in ihr Leben zurueckkehren, sie muessen mehr gewinnen als durch Mineralwasser und Baederzerstreuung. Die Hirten, Fischer und Jaeger vergesse ich neben den Bauern nicht. Wenn da einer kommt, der vor dem Revolver stand, weil er ueberreizt war, der soll oben an der Ginsterheide die Kuehe hueten. Den ganzen Tag wird er aufmerksam sein muessen, dass die Bullen sich nicht bekaempfen und dass gluecksduselige Muttertiere mit ihren mutwilligen Kaelbern nicht den nahen Klee zerstampfen, und abends wird der Mann einsam vor einem wohlig ausgestatteten Hirtenhaeuslein sitzen, die wiederkaeuenden Tiere werden um ihn sein, und die Sterne werden ueber ihm wandern und ewige Worte zu ihm reden; es wird aus Verlassenheit und Gram ganz maehlich Ruhe und Frieden werden, und in den Menschenhass wird sich die Sehnsucht einschleichen: "Naechsten Sonnabend, wenn ich Urlaub habe, gehe ich in die Lindenherberge und sehe lustigen Menschen zu!" Oh, wie ich nach guten Bauern, so werde ich nach guten Aerzten suchen muessen. Nicht ihr aerztliches Wissen ist fuer mich in der Hauptsache massgebend. Ob sie gute Psychologen, ob sie tiefe Menschenfreunde sind, danach werde ich fragen. Die Jaeger - ach, die Jaeger, wird es wohl heissen, sind sowieso gesund. Die zu uns kommen, sind es nicht. Nur die Stubenhocker werde ich auf die Puersche schicken und nur die Zappeligen und Unruhigen auf den Rehbock mit dem bestimmten Geheiss, einen zu erlegen. Wie sie da ruhig sitzen werden, heute drei, morgen fuenf Stunden lang. Immer vergebens. Und die Muecken werden stechen, und der Tau wird fallen. Und sie werden nicht schimpfen duerfen, wie sie es sonst tun. So auch mit den Fischern. Die Aufgeregten werden so lange angeln, bis sie befriedigende Beute bringen. Wessen Aufmerksamkeit wochenlang auf eine Federspule gerichtet gewesen ist, der hat sich ausgeruht und singt abends im Poetenwinkel sein Lied als einer der Andaechtigsten der Lebensfreude. Bauernhaeuser, Fischerhuetten, Jaeger- und Hirtenhaeuslein, das werden in der Hauptsache die Wohnstaetten meines Ferienheims sein. Das ist eigentlich mein ganzes Programm. Ich kann es keiner hochmoegenden Kommission einreichen, aber eben darum hoffe ich, dass es gut ist. Im uebrigen bekenne ich frei, dass ich mich auf Architektenkunststuecke nicht verstehe. Ich habe trotzdem auf einer grossen Karte unser ganzes Gelaende aufgezeichnet und ueberall vermerkt, wo ein Bauernhof stehen soll, auch die Grenzen seines Bezirks bestimmt; ich habe die Hirtenhaeuslein, die Milchstuben, die Fischerbuden angegeben, und zwischen all dem Hin und Her fuehren Stege und Landstrassen, alle krumm und winkelig, aber angemessen dem, was an Hebung und Senkung des Terrains und was an Baumschlaegen, Hecken, Baechlein, Wald und Wiesenland da ist. Eine Umwallung werden wir kaum brauchen, das Plateau hebt sich gen Waltersburg natuerlich ab, nur an der einen Stelle, wo das Gelaende nach der Stadt eben uebergeht, wollen wir eine Mauer und eine Pforte errichten. Neben der Pforte soll unser "Zeughaus" stehen. Dort wird der Ankoemmling, der sich entschlossen hat, unsere Ferien zu ueben, in seiner Zivilkleidung hineingehen, Kleider, Uhr, Geld, alles, was er bei sich traegt, auch seinen Namen, ablegen, als neuer Mensch, neugekleideter Feriengast ein neues Leben beginnen. Das ist mein Plan. Ich weiss nicht, ob er so ausgefuehrt werden kann, ich weiss nur, dass er so ausgefuehrt werden sollte. DAS KIND Mitten in der Arbeit taucht viel oefter, als mir lieb ist, das Bild der kleinen Luise vor mir auf. Am Morgen nach dem Theaterabend, als ich das Kind im Hotel fand, war es ganz veraengstigt, zitterte und weinte. Auf alle Fragen sagte es immer nur: "Ich will heim!" Zu den Schindern ins Elend wollte es zurueck, weil es dort zu Hause war. Vor Stefenson und mir fuerchtete sich die Kleine, und auch vor der fremden Schwester scheute sie sich. Ich wollte sie streicheln, aber sie wich mir aus und duckte sich. Das arme Ding hat wohl in seinem Leben schon viel Pruegel bekommen. Ich sagte freundlich zu ihr: "Luise, fuerchte dich doch nicht. Sieh mal, ich meine es gut mit dir, ich bin ja mit dir verwandt; ich bin dein Onkel." Sie sah scheu an dem fremden Manne empor, der ihr wohl zu vornehm erschien, um mit ihr verwandt zu sein. Ob sie einen Vater oder eine Mutter oder eine Grossmutter habe, wie andere Kinder, danach fragte sie nicht. Es war auch besser; denn ich haette ihr sagen muessen: "Nein, das hast du alles nicht; du hast nur einen Onkel." Waehrend ich mir noch vergeblich Muehe gab, ein klein wenig das Zutrauen von Luise zu gewinnen, erschien Stefenson mit einem Diener, der ein grosses Paket schleppte. Das Paket legte der Amerikaner vor dem Kinde auf den Tisch und sagte: "So, da habe ich dir ein bisschen Spielkram gekauft!" Es war eine kleine Weihnachtsausstellung von allerhand Spielzeug: Puppen, eine kleine Wiege, Hampelmaenner, Kreisel, Schachteln mit geschnitzten Tieren, Baukasten und viele Kleinigkeiten. Sogar eine Knallpistole war dabei. Dem Kinde entfuhr ein kleiner Schrei seligen Erschreckens, es erhob die Haendchen, tastete schuechtern nach einer Puppe, zuckte aber zurueck. Da fuhr sie Stefenson an: "Nun, du kleine Gans, so greif doch zu! Das ist alles dein. Das musst du nehmen. Damit musst du spielen, sonst setzt es was ab!" Auf diesen rauhen Ton war Luise offenbar gut eingerichtet. Sie fing gehorsam an zu spielen. Nach fuenf Minuten kam ein leises Lachen, das Gesichtchen erhellte sich, und ich sah noch deutlicher als gestern beim ersten schreckhaften Begegnen in Joachims Zuege, sah in Joachims Augen. Ich erinnere mich nicht, je ein kleines Maedchen gesehen zu haben, das so auffallend dem Bilde ihres Vaters glich, wie Luise meinem Bruder aehnlich ist. Wir hatten vielerlei in Berlin zu tun und blieben acht Tage dort. Am fuenften Tage kam Stefenson in mein Zimmer und sagte: "Jetzt hat mich das Balg gefragt, wenn Sie ihr Onkel waeren, ob ich vielleicht ihr Vater sei? Nu nee, du kleine Gans, das faellt mir gar nicht ein, dein Vater zu sein. Na, sie heulte gleich, und da hab ich denn gesagt, ich bin ihr Stiefvater. Damit war sie ganz zufrieden." Ich wusste schon, dass Luise in grosser Liebe und Dankbarkeit an Stefenson hing. Seine rauhe, kurze Art schreckte sie nicht, und seine Fuersorge tat ihr wohl. So war der Abschied nach acht Tagen, als Luise nach Thueringen fahren und wir nach Waltersburg zurueckkehren mussten, schmerzlich fuer das Kind. Nur der Abschied von Stefenson, nicht der von mir, obwohl sich Luise inzwischen auch zu mir ganz freundlich gestellt hatte. Als wir im Eisenbahnwagen sassen, sagte Stefenson: "Die Gefuehlsduselei mit dem Kinde hoert nun auf. Dazu haben wir keine Zeit." Ich nickte ihm zu und schwieg. Als ich nach Hause kam, trat mir die Mutter mit fragenden Augen entgegen. "Ich habe das Kind in saubere Verhaeltnisse gebracht", sagte ich ihr und ging in mein Zimmer. Die Mutter fragte nicht mehr, und ich erzaehlte nichts. Wir fuehlten beide, wie sich eine eiskalte Wand zwischen uns aufrichtete. Nach drei Tagen sagte die Mutter, Joachim habe geschrieben, es gehe ihm gut. Mir war dabei, als ob sie von einem fremden Menschen erzaehlte, dessen Schicksal mich nichts angehe. * Die Zeichnungen, der Aufbau meines grossen Ferienheims nahmen mich fortan ganz in Anspruch. Ich kann sagen, es waren reine Glueckstage, Tage voll Fruchtbarkeit, Hoffnung, Kraftgefuehl. Und doch stahl sich Luises Bild bei Tag und Nacht in meine Seele. So sagte ich mir eines Morgens, an drei verlorenen Arbeitstagen laege nicht viel, Stefenson saesse sicher weit unten in Palermo oder Syrakus, und sehr bald nach diesen Erwaegungen sass ich in einem Schnellzuge nach Thueringen. Ich hatte die Freude, dass mir Luise vertrauensvoll und dankbar entgegenkam, und dass sie sich schuechtern an mich schmiegte, als ich sie auf die Stirn kuesste. Die wuerdige Vorsteherin des Pensionats sagte, es sei ja wohl noch zu kurze Zeit, als dass das Kind sich schon in ihm voellig fremde Kultur ganz haette fuegen koennen; aber Luise zeige so gute koerperliche und geistige Anlagen, dass sie hoffe, das Kind wuerde mir recht bald Freude bereiten. Die Anstalt lag an der Promenade der huebschen thueringischen Stadt. Als ich das Haus verliess, sass gegenueber dem Eingang auf einer Ruhebank Mister Stefenson. Es blieb mir gar keine Zeit, mich gross zu erstaunen, sondern er trat mir gleich entgegen und sagte muerrisch: "Ich finde das sehr merkwuerdig von Ihnen, dass Sie auch jetzt noch Zeit zu solchen Exkursionen haben." "Ach, Mister Stefenson", entgegnete ich heiter, "ich dachte, Sie waeren Ihrerseits noch auf Ihrer Exkursion nach Sizilien." "Sticheln Sie nicht", entgegnete er finster; "ich bin nicht nach Sizilien gefahren zum Amuesement oder um einem kleinen Gaenschen nachzureisen, sondern um in aller Ruhe die Plaene fuer unser Ferienheim machen zu koennen. Wenn ich nun Pech gehabt habe mit den drei Plaenen, die ich gemacht habe, weil ich den ersten in Palermo zerrissen, den zweiten in Modena verbrannt und den dritten in Luzern ueberhaupt nicht erst angefangen habe, so hatte ich doch gehofft, Sie wuerden inzwischen Gewissen genug haben, zu Hause zu bleiben und zu arbeiten." "Hab ich auch, Mister Stefenson! Mein Plan ist fertig." "Ah - das ist gut. Wieviel kostet er? Wie balanciert er?" "Was er kostet, wie er balanciert, weiss ich nicht. Das ist nicht meine Sache. Ich bin kein Kaufmann. Wofuer sind Sie da?" "Fuers Geldgeben!" Er schuettelte melancholisch den Kopf. "Ihr Plan ist unrentabel", sagte er duester. "Mister Stefenson, ich will Ihnen einen alten deutschen Witz erzaehlen. Ein Schlaechter kam in eine kleine Wirtschaft, um eine Kuh zu kaufen. Der Bauer fuehrte ihn nach dem Stalle. Sie kamen in einen ganz dunklen Raum. Da sagte der Schlaechter: 'Aber Mensch, wie kann ich Ihnen fuer ein so elendes Tier so viel Geld geben, wie Sie verlangen?' - 'Sachte', sagte der Bauer, 'das hier ist nur der Ruebenraum, die Kuh steht erst hinter der naechsten Tuer.'" "Was gehen mich Ihre verdammten deutschen Witze an?" grollte Stefenson. "Fahren wir erst nach Hause", entgegnete ich. "Und vorher koennen Sie ja mal die kleine Luise besuchen. Sie macht sich heraus." "Das faellt mir nicht ein", sagte Stefenson kalt. "Ich hasse diese deutsche Sentimentalitaet." So fuhren wir nach Hause. Ich uebergab Stefenson meine Zeichnungen und schriftlichen Ausfuehrungen. Er nahm sie mit nach Neustadt, wo er immer noch in einem Hotel wohnte. Nach fuenf Tagen suchte ich ihn zu sprechen. Es hiess, Mister Stefenson sei verreist. Eine Viertelstunde etwa dachte ich darueber nach, wohin Stefenson wohl sein koenne. Dann telegraphierte ich an die Vorsteherin des Instituts in Thueringen: "Ist Mister Stefenson noch dort?" Am Abend kam die Antwort: "Stefenson war hier, ist aber eben zurueckgereist." Darauf machte ich mir das Vergnuegen, zum Neustaedter Bahnhof zu gehen und den Zug zu belauern, von dem ich vermutete, dass er Herrn Stefenson mitfuehren wuerde. Ich hatte den Zeitpunkt ganz richtig aus dem Kursbuch festgestellt. Als Stefenson die Bahnsperre passierte, trat ich ihm ploetzlich entgegen, und er war nicht weniger erschrocken als ich, da ich ihn ploetzlich auf der Promenadenbank in Thueringen traf. "Guten Abend, Mister Stefenson", sagte ich, "wie geht es der kleinen Luise?" "Wieso - wieso - Luise - was geht mich das Gaenschen an?" versuchte er sich herauszuluegen. Ich blickte ihn freundlich an und sagte: "Die Frau Vorsteherin, die ich telegraphisch anfragte, sagte mir, dass Sie dort waren." Da hustete er. "Wissen Sie was", sagte er zornig, "es ist nicht schoen, dass Sie mir nachspionieren. Was geht mich das Gaenschen an? Aber da Sie schon mal so ein Spion sind, will ich Ihnen sagen, ich kann fuer diese Schwaeche nichts. Meine Mutter war eine Deutsche." VORARBEITEN Es ist ein halbes Jahr her, seit ich die letzte Eintragung in mein Tagebuch machte. Im Mai war es, als Stefenson erschnoben hatte, dass ich ein Tagebuch fuehre und darin manches ueber den Ausbau unseres Ferienheims, aber auch ueber seine eigene Person niedergeschrieben habe. Seit der Zeit quaelte er mich, ihm das Tagebuch einmal zur Lektuere zu ueberlassen. Er war neugierig wie ein Backfisch, und es nuetzten mich alle Versuche nichts, ihm klarzumachen, dass es - gelinde gesagt - sehr indiskret sei, Einblick in ein fremdes Tagebuch zu verlangen. Es dauerte so lange, bis er die Aufzeichnungen in Haenden hatte. Dieser Mensch ist ein ganz wunderliches Gemisch von Kindlichkeit und halsstarriger Energie. Nach drei Tagen gab mir Stefenson das Tagebuch zurueck und sagte, indem er ein sauersuesses Laecheln zwischen seinen duennen Lippen zerquetschte: "Sie haben mich sehr schlecht charakterisiert." "Dieses Urteil sah ich voraus, Mister Stefenson; die Fortsetzung des Tagebuches werden Sie auch nicht zu sehen bekommen." Er machte eine Handbewegung, die bedeuten sollte, daran liege ihm auch nichts, und ging wieder nach seinem "Buero". Dieses besteht aus einer Holzbude, in der ein langer roher Tisch, einige Brettstuehle, ein Kleiderhaken und der Telephonapparat die ganze Ausruestung bilden. Der Tisch ist mit Papieren aller Art bedeckt. Hier liegen die kostbaren Plaene unserer Ferienhaeuser, sind Aktenstoesse, stehen Modelle. In einem Nebenraume klappern ein paar Schreibmaschinen. Stefenson sagte mir einmal, Schreibmaschinenklappern und Telephongeschelle sei ihm die schoenste Musik. In dem Buero sind unsere Beratungen. Dorthin muessen Architekten, Maurermeister, Lieferanten aller Art, Verwaltungsbeamte, Stellungsuchende zum Vortrag kommen. Anfangs hatte Stefenson die Absicht, mich von den Hauptkonferenzen mit den Bauleuten auszuschliessen oder mir doch eine rein zuhoerende Rolle zuzuweisen. Als ich ihm aber energisch sagte, er scheine vorzuhaben, ein schleudriges Klein-Chicago zu errichten, das sich ganz gut fuer Engros-Schweineschlaechterei, aber nicht fuer mein romantisches Ferienheim eignen moege, wurde er immer stiller und liess mich nach und nach mit den Architekten selbstaendig wirken. Nur das Tempo der Arbeit bestimmte er, und das stand immer auf Volldampf. Der Mann arbeitet selbst von morgens fuenf Uhr bis nachts um elf, ohne irgendwelche Ermuedung zu zeigen. Stefenson leitet seine Verhandlungen meisterhaft; keine Kleinigkeit entgeht ihm. Sobald ein Thema angeschlagen ist, wird es Schritt fuer Schritt erledigt. Kein Abweichen vom Wege ist erlaubt. Das Dazwischenwerfen einer aufblitzenden, abseits liegenden Idee ist streng verpoent, kein unfruchtbares Durcheinandergerede gestattet, sondern planmaessige, geordnete Arbeit wird geleistet, Fuer und Wider werden kurz beleuchtet, Nebensaechlichkeiten unter den Tisch fallen gelassen, der Beschluss knapp und fast immer schriftlich gefasst; dann wird aber auch im Verlauf der weiteren Verhandlungen auf den erledigten Punkt nie wieder zurueckgegriffen. So wusste man am Schluss solcher Verhandlungen immer: das stand zur Beratung, das ist beschlossen, so und so, dann und dann muss es ausgefuehrt werden. Stefensons Gehirn hat eine wohlgeordnete Registratur, und etwas schwaermerisch angelegte Leute wie ich, denen leicht die Gedanken durcheinander purzeln, koennen viel von solchem Manne lernen. Nur darf Stefenson meine romantische und philanthropische Idee nicht aus dem Auge lassen, und das tut er auch nicht. Stefenson und ich sind in vielen Dingen die reinsten Antipoden; aber ich schaetze es als Glueck, mit einem so klaren Kopf zusammen zu arbeiten, wenn ich auch manchmal einen wilden Zorn ueber seine Kaltschnaeuzigkeit habe. So ist der Mann. Wir vertragen uns und haben Haendel miteinander - je nachdem. Ich glaube, ich werde gut fahren, wenn ich mit Stefenson gleichen Kurs halte. Es gibt kaum ein groesseres Unglueck auf der Welt, als sich mit dummen oder schwachen Menschen zu verbinden, und kaum einen groesseren Vorteil, als einen klugen Freund. * Als unsere Idee bekannt wurde, war die Physiognomie der Waltersburger ungefaehr die eines Kalbes, das zum ersten Male donnern hoert. Die Leute wunderten sich rasend. Sie steckten die Koepfe zusammen, redeten viel auf den Bierbaenken und kamen doch, da sie immer nur Geruechtsbrocken sammeln konnten, zu keinem klaren Bilde. Den Ausschlag soll der Amtsrichter gegeben haben, der sich dahin geaeussert hat: es scheine sich um eine Art Verruecktenanstalt im grossen zu handeln; den noetigen Spleen scheine ich von der Weltreise mit heimgebracht zu haben, und was etwa fehle, habe Mister Stefenson aus seinem reichen Vorrat an Tollheit ergaenzt. Guenstig war uns von Anfang an die Stimmung der Waltersburger gar nicht. Zu dem neidischen und veraergerten Gefuehl, das einem unerwarteten Werk vom lieben Publikum immer gespendet wird, gesellte sich ein ganz besonderer Verdruss. Stefenson hatte erklaert, dass er eine ganz neue Gemeinde begruenden werde mit einem eigenen Buergermeister und einer Verwaltung, die alles im Umkreise Bekannte in den tiefsten Schatten stellen werde. Darueber waren die Waltersburger wuetend. Nachdem ihnen schon die Neustaedter untreu geworden und der Mutterstadt gewaltig ueber den Kopf gewachsen waren, sollte sich hier auf ehemaligem Waltersburger Grund und Boden abermals ein neues Gemeinwesen auftun, das den Bestand Waltersburgs verkuerzte und die eigene Stadt in immer kuemmerlichere Unberuehmtheit draengte. Waltersburg war wie eine Mutter von mittelmaessigen Anlagen, die sich aergert, wenn ihre Toechter in der Gesellschaft Glueck haben. Eitel waren die Waltersburger immer. In der Pfarrkirche ist ein Altarbild, das angeblich von Tintoretto stammt. Ein begueterter Graf, der ehemals hier residierte, soll es von einer Pilgerfahrt mitgebracht haben. Die Echtheit des Bildes ist zweifelhaft, nur nicht fuer die Waltersburger, die das Gemaelde zu den Meisterwerken Tintorettos rechnen. (Tintoretto, "das Faerberchen", hat bekanntlich neben ausgezeichneten Stuecken viel Mittelmaessiges, ja Schleudriges geleistet.) Als ein grosses neues Reisehandbuch erschien, waren die Waltersburger neugierig, ob ihr Tintoretto zwei Sterne oder nur einen haben werde. Die Enttaeuschung war gross; denn ganz Waltersburg mitsamt seinem Tintoretto wurde in dem Handbuche ueberhaupt nicht erwaehnt. Der Schrei der Empoerung, den damals der gebildete Teil der Stadt ausstiess, hat noch heute ein Echo in vielen Herzen. Fuer uns kam bald ein Umschwung. Stefenson berief eine Versammlung nach dem Saale des groessten Waltersburger Hotels, den "Drei Raben". Er lud zu dieser "freien Zusammenkunft, in der er Aufschluesse ueber seine Neugruendung geben werde", nicht nur den Magistrat und alle Honoratioren mit ihren Damen, sondern auch je einen Schuster, Schneider, Baecker, wie alle anderen Handwerkszweige mit ihren Frauen. "Es muss wie bei der Arche Noahs sein", sagte er gut gelaunt, "von jeder Art ein Paerchen." Der Erfolg war schwach. Einzelne zwar priesen Herrn Stefenson wegen seiner gerechten unparteiischen Art, aber andere ruempften ausserordentlich stark die Nasen, und als die Versammlung begann, zeigte es sich, dass fast gar keine Frauen da waren. Die Frau Provisor und die Frau Kanzleirat hatten entruestet erklaert, man koenne sich doch nicht mit Krethi und Plethi zusammensetzen, und fast alle anderen "Damen der Gesellschaft" hatten sich dieser Auffassung angeschlossen. Die Weiber der Handwerksleute aber hatten sich "geniert", zu kommen. Aber auch die Maenner waren nur in schwacher Anzahl erschienen. Der Magistrat liess sich durch einen Beisitzer vertreten. Am meisten freute es mich, dass der Lehrer Herder da war. Er wurde auch zum Leiter der Versammlung gewaehlt. Stefenson hielt eine Rede. Er spricht die deutsche Sprache ohne jeden fremden Akzent. Denn nicht nur seine Mutter ist eine Deutsche gewesen; ich habe unterdes herausgekriegt, dass Stefensons Vater zwar ein Stockamerikaner von reinster Monroedoktrin war, dass aber sein Grossvater bis zu seinem dreissigsten Lebensjahre in Hamburg gelebt hat und bis dahin Georg Stefan hiess. Stefenson hat rein deutsches Blut in sich. Der "Mister" sprach. Er sagte, ueber die Idee seiner geplanten Kuranstalt wolle er nicht reden; diese sei ein so unerhoertes, geniales Problem (dabei trat er mich grob auf den Fuss!), dass er es im Rahmen einer so kurzen Aussprache nicht erlaeutern koenne. Waltersburg habe zwar keine hervorragend guenstige Lage und werde von vielen anderen Orten auch durch den Reiz der Umgebung wesentlich uebertroffen (Gebrumm in der Versammlung), aber sein Freund und aerztlicher Beirat sei ja, wie alle wuessten, ein Waltersburger Kind, und so habe er dem Freund zuliebe dieses Gelaende fuer die Ausfuehrung seiner Idee gewaehlt. Er gehoere zu den Leuten, die sich eher das eigene Hemd ausziehen, als dass sie zugeben, dass der Freund friere. (Frau Postschaffner Hempel verliess entruestet das Lokal.) "Kommen Sie gut nach Hause, Frauchen!" ruft ihr Stefenson nach. (Abermaliges Gebrumm. Postschaffner Hempel erhebt sich, sagt in halblauter Entruestung: "Das ist ja kolossal!" und stampft seiner Ehehaelfte nach.) "Also", faehrt Stefenson ruhig fort, "was mir eine Hauptsache zu sein scheint: ich beabsichtige nicht, eine neue politische Gemeinde zu gruenden; ich werde meine Siedelung unter den amtlichen Schutz des Magistrats von Waltersburg stellen." (Freudige Verblueffung. Der Beisitzer horcht auf und trommelt erregt mit den Fingern auf den Tisch.) "Ja", geht Stefensons Rede weiter, "wir werden unserem Sanatorium, das seinesgleichen in der Welt nicht hat, den Namen 'Kuranstalt Waltersburg: Ferien vom Ich' geben, und der Schnickschnack vom sogenannten modernen Badeort, wie es Neustadt ist, wird in Dunst zerstieben vor der glorreichen Waltersburger Neugruendung. (Der Beisitzer springt auf, beurlaubt sich bei dem Vorsitzenden auf wenige Minuten und stuermt aus dem Saal.) Mitbuerger von Waltersburg! Damen und Herren! (Von den Damen ist nur noch die phlegmatische Gaertnersfrau Baechel anwesend.) Es macht mich gluecklich, dass Sie in solcher Anzahl erschienen sind. Etwas Erfreuliches kann ich Ihnen mitteilen. Ich erwarte, dass binnen zwei Jahren unsere Kuranstalt etwa zwei Dritteile Ihrer gesamten Gemeindesteuern tragen wird, so dass Ihre bisherigen hundertzwanzig Prozent auf vierzig Prozent herabsinken werden. (Erschrecktes Aufatmen, dann lautes Bravo. Baeckermeister Schiebulke und Klempner Geldermann stuerzen im Geschwindschritt von Siegesboten auf die Strasse.) Ja, aber, meine sehr teuren Mitbuerger, auch Opfer werde ich von Ihnen verlangen muessen. (Kunstpause des Redners. Bedruecktes Schweigen der Zuhoerer.) Wir haben nicht Zeit, der Verwirklichung unserer Idee sehr viel Zeit zu widmen; wir muessen die Aufgabe im Sturm nehmen. Binnen Jahresfrist muss alles fix und fertig sein. Sie werden begreifen, dass dafuer ein Heer von Architekten, Bauleitern, Maurern, Zimmerleuten, Tapezierern, Toepfern, Tischlern, Glasern, Klempnern, Schmieden, Schlossern, Stubenmalern, Gaertnern und Hilfsarbeitern aller Art noetig sein wird, nicht zu rechnen die Legion derer, die diese Schar versorgt mit Nahrungsmitteln, mit Kleidern, Schuhen, Muetzen und Waesche. Ja, liebe Waltersburger Mitbuerger, Ihre ganze praechtige Kaufmannschaft, alle Ihre Handwerkerkreise muss ich mobil machen, um meiner Aufgabe gerecht zu werden, alle werden ihren Betrieb verzehnfachen muessen ..." Der Redner hielt inne; denn die Zuhoererschaft keuchte zu laut. Die Erregung stieg aufs hoechste. Da kam die von Stefenson ganz leichthin gesagte, aber bis ins Mark treffende Schlussbemerkung: "Ich moechte mit Waltersburger Buergern Abkommen treffen. Was das Finanzielle anbelangt, so wird nichts auf Ziel entnommen, sondern alles immer sofort bar bezahlt werden." Da war es aus. Alles erhob sich; selbst die dicke Gaertnersfrau wappelte sich empor und wischte sich den Schweiss von der Stirn. Ein Handwerker stieg auf einen Stuhl. "Das ist gut!" rief er; "das ist famos! Herr Stefenson lebe hoch!" "Hoch!" schrien die paar Maennlein, die noch da waren. Im selben Augenblick stuerzte der Beisitzer in den Saal. "Der Herr Buergermeister", keuchte er, "der Herr Buergermeister, der bis jetzt leider verhindert war, kommt selbst." Stefenson nickte ihm laechelnd zu. Da wurde es lebhaft auf der Treppe, Maenner und Frauen aller Gesellschaftsschichten fuellten den Saal. Eine halbe Stunde lang stand Stefenson steif und still, und als alle da waren, auch der Buergermeister, sagte er: "Ich habe dem, was ich vor Ihnen, sehr geehrte Herrschaften, ueber meine Neugruendung heute ausgefuehrt habe, nun nichts mehr hinzuzufuegen." Worauf sich der Leiter der Versammlung, Lehrer Herder, erhob und in einer glaenzenden Erfassung der Situation sagte: "Ich schliesse die Sitzung!" DIE "NEUSTAeDTER UMSCHAU" In Neustadt erscheint ein Blaettchen, die "Neustaedter Umschau". Es kommt woechentlich zweimal heraus in einem Umfang, dass eine einzige Nummer genuegt, ein Butterbrot gut zu verpacken. Als der Verleger einen neuen Redakteur suchte, versprach er einen Monatsgehalt von sechzig Mark. Es meldeten sich drei Doktoren, sechs Referendare, zwanzig Studenten, sieben ehemalige Lehrer, ein "sehr gebildeter" Schlossermeister, davongejagte Seminaristen, freie Schriftsteller und ein paar schwankende Gestalten. Der Verleger waehlte von der ganzen Rotte den Unfaehigsten, einen herabgekommenen, versoffenen Kerl, der aber _Doctor juris_ war, was in der "Umschau" mit Fettdruck angezeigt wurde. Dieser Mensch macht die "Umschau" in der Art, dass er in seiner nuechternen Tagesstunde, die vormittags nach seinem jeweiligen Aufstehen liegt, im Lesesaal des Neustaedter Kurhauses den Stoff fuer die naechste Nummer aus grossstaedtischen Zeitungen abschreibt. Einen lokalen Teil hat die "Umschau" kaum; jedenfalls war er stets aeusserst jaemmerlich. Desto mehr fiel es auf, als das Blatt auf einmal recht flotte, wenn auch dreist geschriebene Artikel gegen unser Waltersburger Ferienheim brachte. Der erste Artikel beschaeftigte sich mit mir. Es wurde darin ausgefuehrt, dass ich nach meiner Promovierung (die, wie man erfahre, nicht ohne gewisse Schwierigkeiten vor sich gegangen sei) eiligst das Vaterland verlassen habe, um auf allen Meeren und unter allen Breitengraden der leidenden Menschheit meine aerztliche Kunst angedeihen zu lassen. Das einzige Leiden, mit dem ich zu tun gehabt haette, waere die Seekrankheit gewesen, und da sich gegen diese bekanntlich ueberhaupt nichts tun lasse, so sei ich ja sicher ganz am Platze gewesen. Mein Geist habe so ungeheuer viel Zeit zum Ausruhen gehabt, dass ich (wahrscheinlich unter dem verheerenden Einfluss der Tropensonne) auf die Idee meiner Anstalt "Ferien vom Ich" gekommen sei. Neustadt solle jubeln und mir eine Dankadresse schicken, mir auch sonst alle moegliche Foerderung angedeihen lassen; denn das moderne Weltbad spare sich durch meine Anstalt ein Hanswursttheater, und es waere nur zu bedauern, wenn sich die Neugruendung nicht bis zum naechsten Fasching hielte. In dem jederzeit reichhaltigen Vergnuegungsprogramm von Neustadt wuerde es sich jedenfalls ganz gut ausnehmen, wenn es um die Faschingszeit hiesse: Morgen Besichtigung der Waltersburger Kuranstalt "Ferien vom Ich". Aengstliche seien versichert, dass ein Ausbruch von Irrsinn nicht zu befuerchten ist, da sich dieser in der Waltersburger Anstalt nur ganz harmlos und kindlich aeussere. * Das war der Begruessungsartikel, der meiner Gruendung von dem freundnachbarlichen Neustadt zuteil wurde. Stefenson brachte ihn mir persoenlich. Er beobachtete mich, als ich ihn las. "Niedlich!" sagte ich; "ich haette das den Kerlen gar nicht zugetraut." "Na, sehen Sie", atmete Stefenson auf, "es freut mich, dass Sie nicht entruestet sind oder diesen braven Zeilenschinder etwa gar verklagen wollen. Der Artikel ist wirklich nett." Eine der naechsten Nummern der "Umschau" beschaeftigte sich mit Mister Stefenson. Es hiess darin, nach authentischen Auskuenften aus Amerika sei Mister Stefenson, der bekanntlich das Waltersburger Kuranstalts-Unternehmen finanziere, einer der merkwuerdigsten Geschaeftsleute aus dem Lande der unbegrenzten Moeglichkeiten. Seine geschaeftliche Laufbahn habe Stefenson als Kuechenboy in einem Hotel vierten Grades begonnen. Als aber der einzige silberne Loeffel, ueber den jenes Hotel verfuegte, eines Tages verschwand und ganz zufaellig in der Pappschachtel, die des jungen Stefenson Kleiderschrank darstellte, aufgefunden wurde, wohin er auf eine Herrn Stefenson auch jetzt noch ganz unerklaerliche Art gekommen waere, sei der vielversprechende junge Mann nach Texas ausgewandert. Aber auch dort sei er vom Unglueck verfolgt worden. Denn obwohl der Strick, an den die Bewohner einer Farm den Juengling wegen angeblichen Pferdediebstahls hingen, riss und also gewissermassen ein Zeichen vom Himmel fuer die Unschuld des Gerichteten vorlag, haetten die barbarischen Urwaldsgesellen den Gast aus dem Norden so fuerchterlich gepruegelt, dass Stefenson zwei kuenstliche Rippen als Andenken an jenes Abenteuer behalten habe. Das weitere Leben des Mannes, den die Waltersburger im Begriff staenden, zu ihrem Ehrenbuerger zu machen, sei ebenfalls recht bewegt und reich an Zwischenfaellen gewesen. Stefenson sei einmal als Kutscher bei einem grossen Petroleumtransport engagiert gewesen. Dieser Transport sei von Indianern ueberfallen, die ganze Begleitmannschaft tot- und saemtliche Petroleumfaesser entzweigeschlagen worden. Nur Stefenson sei am Leben geblieben, da er so vorsichtig war, bei der herannahenden Gefahr als erster zu fliehen. Es habe sich nun so gefuegt, dass Stefenson am naechsten Tage zwei abenteuernde, reiche, aber recht dumme Kerls in einer benachbarten Stadt getroffen und diese vertraulich auf ein Gelaende aufmerksam gemacht habe, wo ohne Zweifel starke Petroleumquellen vorhanden seien. Diese beiden Burschen habe Stefenson, nachdem er die Spuren des Ueberfalls gruendlich beseitigt hatte, auf das Gelaende gefuehrt, allwo noch ein penetranter Petroleumgeruch war, und die beiden Gimpelchen haetten sich bereit erklaert, an Stefenson zunaechst mal fuenfhundert Pfund zu zahlen, damit er alles Noetige fuer die Erschliessung der Quellen in die Wege leite. Als sich aber Stefenson die Sache weiter bei sich selbst ueberlegt habe, haette er sich gesagt, wenn er ehrlich sein wolle, muesse er an der Ergiebigkeit des Unternehmens zweifeln, er wolle also seinen Geldgebern lieber weitere unnoetige Kosten ersparen und, ohne sich erst durch "Good bye" und andere Abschiedsfoermlichkeiten aufzuhalten, sofort nach Chikago verschwinden. Die fuenfhundert Pfund (das seien nach deutschem Gelde zehntausend Mark), die Stefenson mitgenommen habe, haetten die Basis fuer seine weiteren geschaeftlichen Unternehmungen gebildet, fuer Unternehmungen, die nicht weniger originell als die Petroleumgeschichte gewesen seien. So sei Stefenson nach und nach zu einem gewissen Vermoegen gekommen. Da aber die engherzigen amerikanischen Richter oefters an Herrn Stefensons Geschaeftsusancen Anstoss genommen und es dem sonst ganz anspruchslosen Manne trotz der geradezu luxurioesen Ausstattung der amerikanischen Gefaengnisse in diesen gar nicht gefallen habe, so sei er auf den Einfall gekommen, sein Wirkungsfeld voruebergehend mal nach Deutschland zu verlegen, und seine Wahl sei auf Waltersburg gefallen, die Stadt, die das weisse Lamm im gruenen Felde in ihrem Wappen fuehre. Als ich diesen Artikel gelesen hatte, geriet ich in grosse Aufregung. Stefenson verstand mich nicht. "Es ist wahr", sagte er; "der Artikel koennte farbenreicher gehalten sein, die Geschehnisse sind etwas nuechtern gegeben, aber, mein Lieber, der heutige Geschmack verpoent das Allzukrasse. Ich finde den Artikel ausgezeichnet, viel, viel besser als den, der neulich ueber Sie in dieser Zeitung stand." "Stefenson!" schrie ich ihn an; "sehen Sie denn nicht ein, dass uns dieser Zeilenschmierer, dieser Sueffling unmoeglich macht? Jetzt bleibt nicht anderes mehr uebrig, jetzt muessen Sie den Mann verklagen." "Ja, glauben Sie, dass ich toll bin?" entgegnete Stefenson. Ich erzaehlte ihm, was schon der Artikel ueber mich fuer allerhand Unheil angerichtet habe. Nicht bloss, dass sich meine Mutter fast die Augen aus dem Kopfe geweint habe, ich haette gehoert, wie die Leute hinter mir zischelten. "Stefenson, unseren guten Ruf muessen wir behalten, sonst sind wir ruiniert." "Guten Ruf?" verwunderte er sich. "Wie kann man seinen guten Ruf behalten, wenn man Geschaefte macht? Das ist doch unmoeglich. Er wird einem doch selbstverstaendlich kaputt gemacht. Wenigstens aeusserlich - in der gegnerischen Presse - das ist ja unausbleiblich. Darueber regt man sich doch nicht auf!" Ein Bruellen toente von der Strasse herauf. "Der Pferdedieb! - Der Loeffelstehler! - Der Petroleumstaenker! Raus, raus!" Stefenson lugte durch die Gardine. "Sechs oder sieben junge Burschen. Sie benehmen sich ganz weltstaedtisch. Petroleumstaenker ist bei der Kuerze der Zeit schon ein ganz gut gepraegter Zuruf!" "Stefenson, es geht nicht - Sie werden sehen, es geht bei uns nicht. Sie sind hier nicht in Amerika. Die ganze Stadt wird uns boykottieren." "Desto besser." "Die Geschaeftsleute werden nicht mehr liefern." "Gegen bar werden sie bestimmt liefern." "Nein, unser ganzes Unternehmen wird scheitern, wenn Sie den infamen Artikel nicht Zeile fuer Zeile in oeffentlichem Gerichtsverfahren als Luege brandmarken." "Das soll mir gewiss nicht einfallen", lachte er. Es war in meiner Wohnung am Johannisplatz, wo diese Unterredung stattfand. Das Laermen auf der Strasse wurde indes lauter, die demonstrierende Schar wurde groesser. Da verliess mich Stefenson. Den Kopf mit seinem grauen Zylinderhut bedeckt, schritt er seelenruhig durch die Menge. Diese schwieg betroffen und gab eine Gasse frei, dann laermten die Leute hinter Stefenson her. Ich war so verbittert, dass ich wohl eine Stunde lang planlos vor der Stadt am Bache hin und her ging, ehe ich Stefensons Buero aufsuchte. "Wissen Sie, was unser erster Architekt gemacht hat?" fragte er gleich bei meinem Eintritt. "Seinen Kontrakt mit mir hat er geloest. Der Esel! Mir hat er einen grossen Gefallen getan; denn ich weiss einen tuechtigeren und billigeren Mann, als er ist, und bin froh, dass ich ihn loswurde. Glueck muss man haben!" Er rieb sich die Haende. "Mister Stefenson", sagte ich ernst; "wir werden wohl unsere Kontrakte alle loesen muessen. Denn obwohl ich natuerlich von dem Schundartikel eines verkommenen Subjekts nicht ein Wort glaube, so sehe ich doch ganz klar, dass unsere Situation hier unhaltbar wird, wenn Sie sich nicht von dem Schmutz, der auf Sie geworfen wurde, reinigen. Wir vermoegen nicht ohne die Achtung unserer Mitbuerger zu bestehen. Wir werden unmoeglich!" Stefenson ging mit grossen Schritten auf und ab. Er kaute an seiner pechschwarzen Zigarre. Ganz milde sagte er dann: "Ja, sehen Sie, lieber Freund, Ihr Volk in Ehren - meine Mutter war ja auch 'ne Deutsche ..." "Und Ihr Grossvater vaeterlicherseits war Georg Stefan aus Hamburg", wollte ich dazwischenwerfen, verschluckte es aber. "Ja, also die Deutschen", fuhr Stefenson fort, "bilden sich was ein auf den Humor, den sie haben, und den andere, z. B. die romanischen Voelker, gar nicht haben. Schoen - ich gebe zu, Sie haben Dichter, die ausgezeichneten Humor haben, und auch deutsche Geisteszivilisten sind vielfach mit einer betraechtlichen Dosis von Humor begabt. Aber das ist alles so - entschuldigen Sie - so sparsam, so auf Kleinbetrieb, auf Hausbedarf berechnet. Der Humor, der ins Grosse geht, der fehlt Ihren Leuten. Himmel, ist das nicht grandioser Humor, wenn ein anstaendiger Mann sein Geld und seine Zeit auf eine grosse, aber sehr wackelige Sache setzt, und es kommt so 'n Pressaeffchen und klaefft was von Pferdedieb und Petroleumstaenker? Das nenne ich Humor. Das liest sich doch nett. Da hat doch der Abonnent was von seinem Blatt. An die Geschichte glauben? Wenn der Leser nur ein bisschen Hirnschmalz hat, faellt's ihm nicht ein, ein Wort zu glauben. Aber er tut so, als ob er's glaubte, er mimt mit in der Maskerade und amuesiert sich dabei koeniglich. Und der, dem der Feldzug gilt, wird ein bekannter, ein beruehmter, ein reicher Mann. So sind alle zufrieden: die Zeitung, die den Schwindel aufgebracht hat, die Leser, die eine amuesante Fruehstueckslektuere gehabt haben, und der Mann, der angegriffen worden ist und seinen Profit hat. Ich sage Ihnen, in Amerika ist es leichter, zehn Verbrechen wirklich zu begehen als eines zu erfinden, das originell genug ist, einem Manne der Oeffentlichkeit angehangen zu werden. Und auch in Amerika lebt trotzdem jeder nur auf dem Grunde des Vertrauens seiner Mitbuerger. Aber der Humor, Mensch, der Humor darf nicht fehlen!" "Wir in Deutschland haben einen anderen Humor", sagte ich und war froh, dass es so ist. Da kam einer unserer Baufuehrer und meldete kleinlaut, dass wahrscheinlich fast alle unsere Arbeiter kuendigen wuerden. Als er gegangen war, sass Stefenson gesenkten Hauptes am Tisch. "Werden Sie nun begreifen", fragte ich, "dass Sie die gerichtliche Klage anstrengen _muessen_, dass es absolut Zwang fuer uns ist?" "Ich kann die Leute nicht verklagen", sagte Stefenson schwermuetig. "Sie koennen nicht?" fragte ich betroffen. "Warum koennen Sie nicht?" "Weil ich den Artikel ueber Sie und ueber mich selbst geschrieben habe." Ich sprang auf. Stefenson winkte sacht mit der Hand. "Ja, sehen Sie, das ist so gekommen: Ich dachte, wenn ich die Artikel in das Neustaedter Blatt lanciere, gibt es Aufsehen in der Gegend. Und es ist billig. Mit hundert Mark war der Redakteur zufrieden, mit dreihundert der Verleger, so dass sie mir die Erlaubnis gaben, mich und meine Sache in ihrem Blatte recht kraeftig zu beschimpfen. Na, ich wollte die Geschichte so durch zwei, drei Wochen fortsetzen, dann wollte ich das Waltersburger Stadtblatt ebenfalls gewinnen und darin Artikel gegen die Neustaedter "Umschau" loslassen. Das sollte so huebsch hinueber und herueber gehen, bis zuerst die Provinz- und dann die hauptstaedtische Presse davon Notiz nahm und im bunten Teil Auszuege braechte, etwa unter der Ueberschrift: 'Der Sturm im Wasserglase' oder 'Krieg der Zaunkoenige' oder 'Ein Mordsskandal in Dingsda' oder so aehnlich. Da haette nun das grosse Publikum auf einmal etwas von uns gehoert, haette die bittere Pille unserer Idee in der Verzuckerung sensationellen Humors geschluckt, und ueberall haette man von uns und unserer originellen Kuranstalt gesprochen, und wir waeren durchgewesen. Diese ganze schoene Propagandaidee haette mich etwa lumpige tausend Mark gekostet, und nun faellt sie durch die Humorlosigkeit dieser Leute zusammen." Ich kam aus der Verblueffung zuerst nicht heraus. Dann aber begriff ich, was zu tun sei. Es stellte sich heraus, dass Stefenson nach seiner Art mit dem schmierigen Zeitungsleiter von Neustadt alles schriftlich vereinbart hatte, dass also Beleg- und Beweismaterial da war. Das freute mich, und ich entwarf in Eile einen kurzen Artikel fuer unser "Waltersburger Tageblatt". Er lautete: "Einen fuerchterlichen Reinfall haben die Neustaedter erlebt. Ihre weitverbreitete 'Umschau' hat ihren sieben Lesern (bitte! sieben ist kein Druckfehler) Schauermaeren ueber die Unternehmer der in Waltersburg zu begruendenden grossen Kuranstalt aufgebunden, Geschichten von geradezu grotesker Dummheit. Waehrend das gebildete Waltersburger Publikum diese klatschfetten Zeitungsenten als solche natuerlich sofort erkannt hat, sollen sie gewissen Neustaedter Kreisen ueber die Massen gemundet haben. Denn der Hass gegen das aufbluehende Waltersburg ist zu gross, als dass nicht auch die eselhafteste Luege, wenn sie nur gegen die Nachbargemeinde gerichtet ist, in Neustadt Glauben faende. Wie schwer der Reinfall ist, moege folgender Aufschluss bekunden: Mister Stefenson hat der von ihm hochgeachteten Gemeinde Waltersburg, der vielgeschmaehten Stadt 'mit dem weissen Lamm als Wappentier', eine Genugtuung geben wollen, indem er die Neustaedter Bevoelkerung durch ihre eigene Zeitung aufsitzen liess. Mister Stefenson hat - wie vorliegende Dokumente beweisen - die beiden aufsehenerregenden Artikel, die natuerlich von A bis Z erfunden sind, naemlich selbst geschrieben und gegen Zahlung von hundert Mark an den Herrn Redakteur und Zahlung von dreihundert Mark an den Verleger in der 'Neustaedter Umschau' veroeffentlicht. So viel war ihm der Spass wert. Die Neustaedter aber moegen nun die Zoologie nach einem fuer sie passenden Wappentier gefaelligst selbst durchforschen." Als Stefenson dieses kleine Manuskript gelesen hatte, drueckte er mir die Hand. "Ich danke Ihnen", sagte er anerkennend; "Sie sind gar nicht so unamerikanisch." * Und ich bin doch ganz und gar unamerikanisch. Ich kann nicht einmal sagen, dass ich ein reines Glueck im Herzen fuehlte, als ich unser Ferienheim so fabelhaft schnell wachsen sah. Die Riesenscharen von Arbeitern bedrueckten mich oft, und wenn ich sie abends in ihren grossen Baracken lachen und laermen hoerte, dachte ich daran, wie schoen es war, als noch die stillen Raine durch gruene Felder liefen. Ueberall Ziegelfuhren, aufgerissene Wege, Kalk, Staub, Steine, Unordnung. Ich fuehlte mich auf diesen Bauplaetzen ausserordentlich unbehaglich, und wenn ein schoener Baum zum Opfer fallen muss, bereitet es mir Schmerz, als ob einem unschuldigen Freund ein grosses Unrecht geschaehe. Fuer den Architektenberuf bin ich verloren. Ich sehe nach dem Plane ein Haus immer ganz anders, als es vor mir steht, wenn es fertig ist. Ich glaube, ich sehe alles zu schoen; es kann in Wirklichkeit nicht so werden, wie ich es traeume. Ich sehe einen Bauplatz wie ein unordentliches Zimmer. Erst, wenn "aufgeraeumt" sein wird, wird es hoffentlich anfangen, mir zu gefallen. Die meisten Baulichkeiten sind unter Dach. Das Herbstwetter war heiter. Im Winter wird mit unverminderter Kraft an dem Innenausbau weitergeschafft werden. JOACHIM Anfang des Monats bekam ich folgende Depesche: "Treffe drei Uhr fuenfzig nachmittags Bahnhof Neustadt ein. Bruder Joachim." Das Telegramm war fruehmorgens in Berlin aufgegeben. Erst langsam begriff ich, dass da etwas Wunderliches geschah, dass mein verschollener Bruder ploetzlich heimkehrte. Da quoll es mir heiss durchs Herz, und ich wollte zur Mutter gehen und ihr das Wunder erzaehlen. Aber ich ging zuerst zu Stefenson. Er las das Telegramm und sagte gleichgueltig: "Na also, da holen Sie nur Ihren Bruder von der Bahn ab." "Ich weiss nicht, wie ich's mit der Mutter machen soll." "Der Mutter wuerde ich vorlaeufig nichts sagen. Sie wissen ja noch nicht, warum Ihr Bruder heimkommt. Also sprechen Sie erst mit ihm." Diesem Rate folgte ich. Schon kurz nach drei Uhr war ich auf dem Bahnhof. Ich verbrachte qualvolle Minuten des Wartens. Als aber der Zug einlief, war ich ganz ruhig. Ich sah Joachim an einem Fenster stehen und winkte ihm zu. Als er ausgestiegen war, sagte ich: "Willkommen, Joachim; ich freue mich, dass du gekommen bist." Sein Gesicht war bleich, und die Hand, die er mir gab, war feucht. "Weiss es die Mutter?" "Nein. Ich wollte erst mit dir sprechen." "Das ist gut. Ich kann wohl am besten hier in einem Hotel unterkommen. Ich heisse Harton, verstehst du, Doktor Harton aus Baltimore." Er sprach mit einem Gepaecktraeger; dann fuhren wir nach einem Hotel. Unterwegs fragte ich ihn: "Bist du gesund?" "Ja - oder auch nein - ach Gott, ich weiss es selbst nicht." Ich wollte Joachim erst Zeit lassen, sich zu waschen und ein wenig auszuruhen, aber er noetigte mich bald mit auf sein Zimmer. Auf seinem Reisekoffer sass er, den Mantel noch um die Schultern, und sprach mit gepresster, etwas stossender Stimme: "Da bin ich nun doch hierhergekommen. Ich haette es nie fuer moeglich gehalten. Aber als wir anfingen Briefe zu wechseln, verlor ich meine Sicherheit - das Heimweh - das quaelende Heimweh ..." Ich trat ans Fenster und sah auf die Strasse. "Fritz!" Ich wandte mich ihm wieder zu. "Fritz, warum habt ihr eigentlich dieses Attentat - nun ja, ich muss schon Attentat sagen, es hat mich ja ganz wehrlos gemacht - warum habt ihr eigentlich diese Geschichte mit dem Tagebuch gemacht?" "Was fuer eine Geschichte mit dem Tagebuch?" "Nun, dass du mir durch diesen Mister Stefenson, der ja wohl mit dir geschaeftlich verbunden ist, dein Tagebuch ueber Waltersburg hast schicken lassen." "Ich dir mein - hast du denn mein Tagebuch geschickt erhalten?" "Ja, natuerlich. Nicht das Original, aber eine Maschinenabschrift." "Oh, dieser Mensch - dieser Stefenson!" "Weisst du gar nichts darum?" "Nichts! Gar nichts! Stefenson hat sich zwar mal meine kleinen Aufzeichnungen entliehen; aber ich habe geglaubt, das geschehe nur aus purer Neugier. Nun hat er eine Abschrift machen lassen und sie dir geschickt." "Ja. Ich bekam die Blaetter im Juli. Ein Vierteljahr lang habe ich es ausgehalten, sie ungelesen in einer Schublade zu verwahren; ich habe sie manchmal verbrennen wollen, aber nicht den Mut dazu aufgebracht, und habe sie endlich doch gelesen, taeglich wieder gelesen, bis meine Kraft alle war, so dass ich notduerftig meine Angelegenheiten ordnete, und - und nun eben da bin." "Das haben meine wenigen Aufzeichnungen zuwege gebracht?" fragte ich verwundert. "Ja, du weisst nicht, was das heisst, keine Heimat mehr zu haben. Die anderen Auswanderer finden ja doch mehr oder weniger alle eine neue Heimat, neue Freunde, neue Kreise, in denen sie sich wohlfuehlen. Ich habe nichts von alledem gesucht und bin ganz losgeloest von aller Wurzelerde gewesen. Da ertrug ich dein Tagebuch nicht, nicht die Schilderungen von dem alten Nest Waltersburg, nicht die Berichte ueber die Mutter, selbst die Geschichten ueber das Spiessertum in der Heimat haben eine - nun ja, ich gestehe es - eine rasende Sehnsucht nach Hause in mir angefacht. Und dann auch das - auch das - aber lassen wir das!" Er hatte sagen wollen, das von dem Kinde, und brachte es nun nicht ueber die Lippen. Vielleicht war das Kind die Hauptsache gewesen. Aber ich sah, in wie schwerer Erregung der Mann schon war, und huetete mich, dieses ernsteste Thema nun zur Sprache zu bringen. Joachim stand auf, ging ein paarmal schweigend durch die Stube, riss dann ploetzlich den Mantel von den Schultern, warf ihn auf das Bett, dehnte sich mit hochemporgestreckten Armen und sagte tief aufatmend: "Ach Gott, ich bin doch froh, dass ich hier bin." Wir reichten uns stumm die Haende. Dann sagte ich: "Nun, Joachim, wollen wir uns aber freuen und als Maenner beraten, was zu tun ist." Er sah mich von der Seite an. "Du weisst wohl natuerlich auch nicht, dass mich Mister Stefenson als zweiten Arzt fuer dein Sanatorium berufen hat?" "Hat er das?" "Ja, allerdings nur unter der Bedingung, dass mir deine Idee von den Ferien vom Ich eingeht. Und sie geht mir ein, mein Junge; sie ist vernuenftig und fruchtbar; ich gratuliere dir dazu!" Eine rote Welle schlug mir ins Gesicht. "Schoenen Dank, Joachim. Du weisst, wie sehr ich dich immer mir fuer ueberlegen gehalten habe." Er winkte, schwermuetig den Kopf schuettelnd, ab. Dann setzte er sich mir gegenueber und ergriff wieder meine Hand. "Sieh mal, Junge, dass du mich nun fuenf Jahre lang gesucht hast - das - nun ja, es gibt eben Schulden, die sich nicht bezahlen lassen. Was nun aus mir wird, weiss ich nicht. Ich will allen Starrsinn ablegen; ich will mich mal ganz wieder von den Wellen der Heimat treiben lassen, ich will auch gutem Rat zugaenglich sein. Aber ich moechte nicht erkannt werden; ich moechte nicht, dass all der Schwatz und Klatsch - ach, lass uns die heilige Stunde nicht durch schmutzige Erinnerung verderben. Wenn es moeglich waere, dass ich als Doktor Harton aus Baltimore vor den Leuten gaelte, saehe ich mir gern auf einige Zeit das Leben in der Heimat an. Da kam mir der Vorschlag dieses kuriosen Mister Stefenson, als Arzt in eure Anstalt einzutreten, ganz gelegen. Jeder legt dort seinen Namen ab, jeder lebt unerkannt seinen Tag, jeder ist fern von dem gluecksfeindlichen Schwarm, der einem aus der Vergangenheit nachdringt, kurz, lieber Fritz, ich moechte der erste sein, der in deiner Zufluchtsstaette Ferien macht von seinem Ich." Beide Haende streckte ich dem Bruder entgegen. Wie ein offenbares Zeichen himmlischen Segens fuer meine Gruendung stand der langvermisste Bruder vor mir als erster und willkommenster Gast meines Ferienheims. Wie konnte sich ein Glueck herrlicher fuegen! In dem ueberstroemenden Gefuehl des Augenblicks sagte ich: "Joachim, du hast diese Stunde eine heilige genannt. Zuerne mir nicht, wenn ich dich nun noch bitte: sprich auch ein einziges gutes Wort von der kleinen Luise." Da wurde sein Gesicht finster. "Ich kann noch nicht - lass mir Zeit!" Und ich schwieg. Es wurde still in der Stube. Der Abend dunkelte durch die Fenster. Allmaehlich aber kam die Unterhaltung wieder auf. Wir entwarfen Plaene fuer die naechste Zukunft. * Als wir nach mehreren Stunden nach dem Speisesaal des Hotels kamen, sass dort Mister Stefenson. Ich ging sofort auf ihn zu und sagte: "Mister Stefenson, das ist sicher: Sie sind einer der groessten Prachtkerle der Welt. Da ist er - mein Bruder Joachim - den Sie heimgezaubert haben." Stefenson antwortete mir nicht, schuettelte aber dem Bruder herzlich die Hand. "Das ist schoen, dass Sie gekommen sind. Hergezaubert habe ich Sie zwar nicht; denn ein Mann wie Sie laesst sich nicht herzaubern. Aber dass Sie gekommen sind und uns bei unserem Bau helfen wollen, ist ein Glueck; denn Ihr Bruder hat zwar Phantasie und auch sonst brauchbare Eigenschaften, aber im ganzen ist er ein Schwaermer." "Danke, Mister Stefenson!" "O bitte!" Wir setzten uns zusammen. Stefenson kam sofort aufs Geschaeftliche. "Sehen Sie, Doktor Harton, den ganzen Bau, wo wir die elektrischen Baeder, ueberhaupt alle klinischen und medizinischen Einrichtungen unterbringen wollen, habe ich trotz des Widerspruchs meines geehrten Kompagnons bis jetzt nur in den Aussenumrissen fertiggestellt; die endgueltige innere Einrichtung sollte bleiben, bis Sie kaemen; denn Sie haben in solchen Dingen grosse Erfahrung, da Sie sich schon zweimal organisatorisch sehr bewaehrt haben." "Woher wissen Sie das?" "Na, ich habe mich doch selbstverstaendlich in mehreren guten Auskunftsbueros ueber Sie erkundigt. Wenn Sie nichts getaugt haetten, haette ich mich doch auch nicht um Sie bemueht. Aber wir brauchen Sie! Deshalb schickte ich Ihnen das Tagebuch." Veraergert fuhr ich den Kraemer an: "Sie haben also wieder nur ans Geschaeftliche gedacht?" "Na selbstverstaendlich, Sie verwundertes Unschuldslamm! Woran soll man denken als ans Geschaeftliche, wenn man ein nicht gar zu schlechter Kaufmann ist?" Joachim laechelte; mir aber stuerzte wieder einmal ein glaesernes Tempelchen ein, in das ich meinen Goetzen Stefenson gesetzt hatte. Stefenson nahm nun meinen Bruder ganz in Anspruch. Er fragte ueber tausend Dinge aus Amerika. Ich schwieg. Vielleicht war es ganz gut, dass der durch die Heimkehr aeusserst aufgeregte Bruder zunaechst durch die trostlos nuechternen Schwadronaden dieses Kaufmanns Stefenson abgelenkt wurde. Wir hatten schon Abendbrot gegessen, als sich Stefenson verabschiedete. Er erzaehlte, er habe einen kleinen Neffen. Der Vater sei tot, die Mutter an einen gefuehllosen Mann wieder verheiratet, der dem sechsjaehrigen Knaben ein Stiefvater sei. Der Junge sei jetzt bei entfernten Verwandten in Hamburg. Er wolle den Knaben, der Georg heisse, mal probeweise zu sich nehmen; vielleicht, dass etwas aus ihm wuerde. Die Gruendung einer so neuen Gemeinde mit allem ihrem Drum und Dran muesse ja auf einen Jungen einen tiefen Eindruck machen und ihm fuers ganze Leben einige staehlerne Geruestschienen in die Seele spannen. Nun wolle er also mit dem Nachtzug reisen, und er haette es gern, wenn ich ihn zum Bahnhof begleitete, da er wegen der Vertretung manches Geschaeftliche mit mir noch zu erledigen habe, womit er den Bruder nicht langweilen wolle. Als wir auf der Strasse waren, sagte Stefenson: "Nun will ich Ihnen was anvertrauen, damit Sie mir nicht hinterher wieder aus dem Haeuschen fallen und alles verderben. Also, mein kleiner Neffe, der Georg, ist naemlich gar kein Junge, sondern ein Maedchen - er ist die kleine Luise." "Stefenson, Sie sind toll!" "Nein. Ich bin vernuenftig. Die kleine Luise muss Ferien von ihrem Ich machen. Als Maedel ist es ihr hundsmiserabel gegangen, ausgenommen die letzten dreiviertel Jahr, wo sie in dem Institut war, aber auch dort mehr Strenge als Liebe, mehr Dressur als Erziehung genossen hat. Heraus soll sie aus ihrer Haut, ein Junge werden, Courage kriegen, dieses Ducken abgewoehnen, wenn eine Hand nach ihr fasst; nein, sich selbst 'rumhauen mit Buben und Strassenboesewichten und immer bei mir sein und da eine gerechte Behandlung haben." Ich ging neben dem sonderbaren Manne her, der so Seltsames und Grosses an meinem Leben getan hatte, und versuchte nur, ihn wenigstens zum Aufschieben seiner Idee zu bewegen. Er schlug es rund ab. Keine Gewalt der Erde, sagte er, werde ihn hindern, das Kind, das es in dem Thueringer Institut viel zu schlecht habe, von dort zu entfernen und es in der Tracht eines Knaben erst mal zur Lebensfreude und zum Bewusstsein seiner Kraft und seines eigenen Wertes zu erziehen. Ich wusste, dass Mister Stefenson in die kleine Luise vernarrter war, als je ein Vater oder Grossvater in ein Kind war. Allmonatlich war er unter irgendeinem Vorwand einmal nach Thueringen verschwunden; das Maedchen hatte sich an den Mann, den sie als ihren liebevollsten Freund erkannte, jedenfalls dankbar angeschlossen, und dem alten Seehund, den wahrscheinlich nie eine zaertliche Hand gestreichelt hatte, tat diese Kindesliebe so wohl, dass er diesmal auf allen kaufmaennischen Vorteil vergass und wie ein verliebter Narr handelte. Mochte er es tun! Stefenson reiste ab. ------------------------------------------------------- Wie hatte er gesagt? Keine Gewalt der Erde wird mich hindern, das Kind zunaechst mal in der Tracht eines Knaben zu erziehen. Drei Tage nach Stefensons Abreise bekam ich einen Brief von ihm. "Mein Lieber! Die Idee, Luise als Knaben zu kleiden, habe ich aufgegeben. Denn sie will nicht. Sie heult, dass sie ein Junge werden soll. Auch die Haare mag sie nicht abgeschnitten kriegen. Da ist nichts zu machen; Luise bleibt ein Maedel. Hier lasse ich sie aber nicht; sie hat es viel zu schlecht. Ich will mal sehen, dass ich das Kind zunaechst in Neustadt unterbringen kann. Ich weiss da eine gute Familie, die mir den Gefallen gegen Entschaedigung tun wird. Und ich kann dann die Erziehung taeglich beaufsichtigen. Diskretion Ehrensache, namentlich gegen Ihren Bruder, der mir fuer die Erziehung des nur ausserordentlich geschickt zu behandelnden Kindes nicht geeignet erscheint. Wir kommen Montag mit irgendeinem Zug. Am Bahnhof zu erwarten brauchen Sie uns nicht. Stefenson." * Am naechsten Tage sollte ich Joachim zum Heimweg abholen und hatte versprochen, vorher die Mutter zu unterrichten. Wir sassen beim Fruehstueck zusammen; ich versuchte ein paar Anlaeufe, brachte aber die Botschaft nicht heraus. Die Mutter verwunderte sich sehr. Dann machte ich einen Spaziergang durch die Stadt. Als ich zurueckkam, stand die Mutter am Fenster und schaute wie so oft dem Sprudeln des Johannisbrunnens zu. Die ersten Schneeflocken flogen durch die Luft und huellten den Platz in traulichen weissen Schimmer; aber die Sehnsucht dieser Frau ging wieder in die Weite, und sie sah nichts von der silbernen Pracht um sich her. Auch ich war jahrelang in der Fremde. Doch ich war ueberzeugt, die Mutter hatte kaum einmal an mich gedacht, wenn sie an Joachim siebenmal dachte. Ich ging an ihrer Tuer vorbei nach meinem Zimmer. Da sass ich, bis es hohe Zeit war, nach Neustadt aufzubrechen, um zur verabredeten Stunde dort zu sein. Endlich sagte ich mir, dass ich ein Geselle von kindischer Eifersucht sei, und ging in das Zimmer der Mutter. "Ich habe dir etwas mitzuteilen, Mutter; erschrick nicht!" sagte ich, und die nervoese Frau erschrak natuerlich aufs schwerste. "Es handelt sich um Joachim!" "Um Gottes willen - ist ihm etwas passiert - ist er in Not - willst du zu ihm fahren?" Ich musste laecheln. Zu ihm fahren! - Dass ich damit mein Lebenswerk aufgegeben haette, daran dachte die Mutter nicht. "Es ist nichts Schlimmes, Mutter; es ist etwas Gutes, was ich dir von Joachim zu sagen habe." "Sage es mir, Fritz, will er - will er nach Hause kommen?" "Ja, er kommt schon heute." Da stiess sie einen Schrei aus, dann weinte sie laut, schlug in die Haendchen, rannte durchs Zimmer und sprach laute Dankesworte zu Gott, der ihr das groesste Glueck beschieden habe, das es fuer sie gebe. Als sie etwas ruhiger wurde, fragte sie: "Und er ist ganz von selbst gekommen, oder hast du ihm noch einmal geschrieben, dass er kommen soll?" Ich schuettelte den Kopf. "Ganz von selbst gekommen", sagte sie selig; "der treue Sohn!" In trockenem Tone entgegnete ich: "Mutter, es wird lange dauern, ehe ich mit Joachim eintreffe, den ich in Neustadt abhole. Erst in der Daemmerung kommen wir. Inzwischen rege dich nicht allzusehr auf und vergiss nicht, deinen Baldriantee zu trinken." Das nahm sie ungnaedig auf. "Baldriantee - wie kannst du jetzt von so etwas reden. Ich werde natuerlich mit nach Neustadt fahren." "Nein, Mutter; Joachim wird nur unter der Bedingung hier leben, dass er von den Leuten nicht erkannt wird. Deshalb wird er als Arzt in meine Kuranstalt eintreten." "Und nicht bei mir wohnen?" "Nein, er wird im Ferienheim wohnen." "O - o du nimmst ihn mir?" "Ich nehme ihn dir nicht -", entgegnete ich unwillig; "mache mit Joachim selbst ab, wie ihr es halten wollt; ich werde mich da nicht einmischen." Ich ging verdrossen meines Weges. Aber draussen im Winterwalde wurde mein Herz wieder warm; ich war gluecklich. Immer, wenn ich mich gluecklich fuehle, habe ich Lust, etwas Gutes zu tun. Heute fiel mir nichts anderes ein, als dass ich bald eine Anzahl von Futterplaetzen und Nistkaesten fuer die Voegel in meinem Ferienheim anbringen wuerde, auch auf die Gefahr hin, als Gaeste lauter Sperlinge zu mir zu ziehen. Die Mutter! - Nun wuerde sie wohl das Haus von unterst zuoberst kehren und alle Leckerbissen bereiten, die sie auftreiben konnte. Wahrscheinlich wuerde sie meine beiden geraeumigen Zimmer fuer Joachim einrichten und mich nach der Giebelstube umquartieren. Ich war schon wieder eifersuechtig und voll haesslichen Misstrauens, und es fiel mir ein, dass es besser waere, sich auf Mutter und Bruder zu besinnen, wenn man was Gutes tun will, als auf die Spatzen ... Es lag dichter Nebel auf der Chaussee, als ich mit Joachim heimging. Nicht einmal die Kuppe des Weihnachtsberges war zu erkennen. Die Heimat hatte ihr Haupt verhuellt wie eine schmollende Frau. Und Joachim ging stumm und betreten neben mir her, fast wie ein Suender. Er war auch ein solcher; denn er hatte sein Herz verhaertet, und alle Herzensverhaertung ist Suende. "Ein Wanderbursch mit dem Stab in der Hand Kommt wieder heim aus fremdem Land. Sein Haar ist bestaubt, sein Antlitz verbrannt, Von wem wird der Bursch wohl zuerst erkannt?" Es war ganz, wie es Vogl in seinem alten, huebschen Gedichte schildert: die Leute kannten Joachim nicht mehr. Er war schon in seinen letzten Studentenjahren selten zu Hause gewesen, als verheirateter Mann fast gar nicht, und dann kamen die Auslandsjahre, da sein Kopfhaar duenn und sein Bart dicht wurde und die Zeit die grosse Retouche an seinem Gesicht vollzog - er war ein anderer geworden. In sieben Jahren soll sich der Koerper des Menschen ganz erneuern. So wanderte jetzt kein Atom dessen mehr nach der Heimat zurueck, was vor sieben Jahren auszog. Haette Joachim keine Seele gehabt, so waere wirklich ein ganz fremder, ein ganz anderer Mensch nach Hause gekommen. Dem Baecker Schiebulke begegneten wir. Er war Joachims Angelkamerad gewesen. Jetzt fuehlte er sich geehrt, dass ich ihn auf der Strasse anhielt, und eilte gewiss alsbald ins naechste Gasthaus mit der Kunde, dass ein Dr. Harton aus Neuyork angekommen sei als zweiter Arzt fuer das Ferienheim, und es muessten doch schon massenhaft Kurgaeste angemeldet sein, wenn man schon einen zweiten Arzt brauche. Auch der alte Sanitaetsrat lief uns in den Weg. Er war zwar nicht gut auf mich zu sprechen, aber er ging doch nicht an uns vorbei und begruesste den "Herrn Kollegen von drueben", den ich ihm vorstellte. Auch die Frau Provisor, von der erzaehlt wurde, sie haette, als sich Joachim verlobte, mit negativem Erfolg zwei Schachteln schwedische Streichhoelzer abgelutscht, um ihr gebrochenes Herz zum Schweigen zu bringen, sah den ehemals Heissbegehrten jetzt nur neugierig an und ging vorueber. So naeherten wir uns dem Johannisplatz. Joachims Schritte wurden kleiner und langsamer, sein Stock stampfte hart auf das Pflaster. Irgendwo stand wohl jetzt der Mond; denn der Nebel ueber dem Johannisplatz war durchsichtig und silberhell. "Der alte Brunnen!" sagte Joachim leise; "es ist merkwuerdig, dass meine Gedanken meist um den alten Brunnen gingen, wenn ich an die Heimat dachte." Nun naeherten wir uns dem Vaterhause und standen am Brunnenrand; da blickte wirklich wie in alten Kindertagen die Mutter auf uns herab. Joachim stuetzte sich auf das Gemaeuer, und weisse Tropfen aus der Schale Baptistas besprengten seine Hand wie mit einem Weihwasser, ehe er in das Heiligtum seines Vaterhauses eintrat. Ich stieg mit ihm die Treppe hinauf und oeffnete nach leisem Klopfen die Tuer zur Mutter. Ich sah noch, wie beide mit leisem Aufschluchzen die Arme ausbreiteten, schloss die Tuer und blieb draussen. WEIHNACHTEN Stefenson ist an dem von ihm angegebenen Tage nach Hause gekommen. Auf meine Frage nach der kleinen Luise entgegnete er grob, ich solle mich nicht in seine Privatangelegenheiten mischen; haette ich mich frueher nicht um das Kind gekuemmert, wo es das Maedel noetig gehabt haette, so sei meine Anteilnahme jetzt voellig ueberfluessig. Das gleiche koenne er auch nur mit Bezug auf meinen Bruder sagen; er haette sich jetzt schon Vorwuerfe ueber dessen Berufung gemacht. Da koennten bloss Schwierigkeiten entstehen. "Mister Stefenson", sagte ich, "Sie benehmen sich wie ein Drache, der die verwunschene Jungfrau behuetet." "Drache hin, Drache her; ich geb' sie nicht heraus", knurrte er. "Das sollen Sie ja gar nicht; wir ueberlassen Ihnen ja das Kind." "Wirklich?" "Wirklich!" "Na, dann ist es gut!" ------------------------------------------------------- Stefenson hat die Waltersburger zu einem Festabend im grossen Theatersaal des neuen Rathauses berufen (der Name Rathaus ist beibehalten worden, obwohl wir keinen eigenen Buergermeister haben werden). Dieser Theatersaal ist Hals ueber Kopf fertiggestellt worden. Er koennte schoener sein. Aber er ist geraeumig, und die Akustik ist gut. Auch ist eine huebsche Liebhaberbuehne da. Sonst sieht es im Rathaus noch sehr wild aus, und es gehoerte viel Tannenreisig dazu, um die unfertigen Waende, Kalkkuebel und Schutthaufen zu maskieren, die in der Naehe des Treppenhauses einen unschoenen Anblick bieten. Der Lehrer Herder hat ein Melodram geschaffen. Der Mann dichtet, komponiert und malt. Ueber braven Dilettantismus geht es bei Herder nirgends hinaus, aber er schafft fuer den Hausbedarf brauchbare, gefaellige Saechelchen. Die Einladung ist wieder an alle Volkskreise ergangen nach dem Noahrezept: "Von jeder Art zwei Paerchen." Dazu sind alle Kinder geladen, die zum grossen Teil bei dem Melodram mitspielen. Die Tatsache, dass die Kleinen auf Stefensons Kosten die Gewaender geliefert erhielten, die zu ihren Rollen gehoeren, hat dem Spender vollends die Sympathie der Stadt verschafft. Der Festsaal war denn auch beaengstigend voll - zugleich fuer Joachim die grosse Probe, ob er erkannt werden wuerde oder nicht. Er wurde nicht erkannt. Die Leute betrachteten ihn mit der Neugier, die dem ueberseeischen Arzt galt, von dessen Ankunft sie alsbald mit der glaeubigen deutschen Auslaenderverehrung gesagt hatten, nun muesse es wirklich eine gute Kuranstalt werden, da sogar ein amerikanischer Arzt mittue. Von der Zeit an schienen den Waltersburgern die Neustaedter geschlagen; denn Neustadt hatte nur deutsche Aerzte. Ich besuchte diese harmlose Weihnachtsfeier mit erregtem Herzen. Einige Tage vor dem Festabend war mir Herder begegnet und hatte mir mitgeteilt, dass nun in seinem Melodram sogar die eigene Nichte von Herrn Stefenson eine Hauptrolle uebernehmen und ein kleines Liedchen singen wuerde. Ich verbarg muehsam meinen Schrecken. Herder erzaehlte weiter: "Ich habe mit der Kleinen - die Leute sagen, es sei die Tochter des amerikanischen Petroleumkoenigs - eine Probe gemacht. Sie hat eine allerliebste Stimme, aber sie erscheint etwas schuechtern." Ich verabschiedete mich und ging sofort zu Mister Stefenson. "Es ist unerhoert ..." Er wusste augenblicklich, was ich meinte. "Gar nichts ist unerhoert", unterbrach er mich rauh. "Die Nichte von Mister Stefenson kann auftreten und singen, wo sie will. Sie muss auftreten, sie muss ihre Schuechternheit ueberwinden. He, Sie scheinen mir ein schoener Psychologe zu sein, wenn Sie solche Momente ausser acht lassen wollen." Was hatte es fuer Zweck, sich mit diesem Manne zu zanken? Nun musste eben durchgehalten werden ... Die Mutter sass mit Joachim, mir und Stefenson in einer Seitenloge, nahe an der Buehne. Ich sah und hoerte kaum etwas von dem Melodram, von dem Gewimmel von Zwergen, Kobolden, Nussknackern, Pfefferkuchenmaennlein, Tiergestalten, Besenbinderbuben und all den Mannschaften, die zum ueblichen Weihnachtsstueck gehoeren; ich wartete mit Herzklopfen auf den Weihnachtsengel, als dessen Darstellerin Miss Stefenson aus Chikago auf dem riesigen roten Theaterzettel angegeben war. Nun war nur noch das letzte "Bild" uebrig, nun musste Luise auftreten und damit die Entscheidung kommen. Der Vorhang hob sich. - Eine Bethlehemsgrotte. Die heilige Mutter mit ihrem Kind, Joseph, die Hirten, die drei Koenige; rings in Anbetung versunken knieten Zwerge, Besenbinder, Pfefferkuchenmaennlein. Es war alles in halber Nacht, nur von einem mattroten Schein erhellt. Da erschien ploetzlich ein Licht ueber der Grotte, ein wunderschoenes Engelein trat in den hellen Schein und sang mit zittrigem Silberstimmchen: "Vom Himmel hoch, da komm ich her Und bring euch allen frohe Maer: Geboren ist in Davids Stadt Er, der des Lebens Fuelle hat." Die Mutter sass wie starr. Einmal tastete ihre Hand nach der meinen und drueckte sie in kurzem, heftigem Erschrecken. Dann war sie regungslos. Die ganze Gemeinde sass in Andacht. Joachim war ganz gleichmuetig. Als der Vorhang gefallen war, sagte er: "Mister Stefenson, Ihre Nichte ist ein reizendes Kind!" ------------------------------------------------------- Die Mutter wollte sofort nach Hause. Ich begleitete sie. Wir gingen stumm in dem Menschenstrom. Erst als wir daheim angelangt waren und die Lampe angezuendet hatten, sah mich die Mutter voller Angst an. "Fritz - das Kind - dieses Kind ..." Ich sah ihr ernst in die Augen und schwieg. "Fritz - sage mir - ist es - ist es? ..." "Ja. Es ist Luise." Da sank sie auf das Sofa und verbarg den Kopf. Ich trat zu ihr. Nicht ohne Bitterkeit sagte ich: "Mutter, du brauchst dich nicht zu aengstigen, das Kind wird dir nie Ungelegenheiten machen; es ist in Mister Stefensons Pflege gut aufgehoben." So wollte ich gehen. Aber ich brachte es doch nicht fertig. Ich blieb am Tische sitzen. Nach langer Zeit, in der nichts zu hoeren war als das leise Singen der Lampe und der Schlag unserer Standuhr, stuetzte die Mutter den Kopf auf den Tisch und sagte muede: "Das Kind ist Joachim aehnlicher, als er sich jetzt selbst ist!" Nach einem Weilchen meinte sie: "Es wird wohl keine Moeglichkeit geben, dass ich das Kind zu mir nehme?" "Nein, Mutter, es gibt keine solche Moeglichkeit mehr!" Damit ging ich nach meinem Zimmer. FUeGUNG ...! Joachim wohnt jetzt in der Lindenherberge, wo schon einige Zimmer fertiggestellt sind und auch der Kuechenbetrieb schon im Gange ist. Im Rathaus gegenueber haust Stefenson. Er hat seine Arbeitstaetigkeit noch vermehrt und, wie er mir sagte, keine Zeit mehr, Luises willen taeglich nach Neustadt zu fahren und sich um das "Gaenschen" zu kuemmern. So wolle er das Maedel lieber zu sich nehmen. Das sei ihm zwar sehr stoerend, aber was wolle er machen? Er haette auch gefunden, dass die Pflegeeltern in Neustadt die Sache mit Luise nicht recht verstaenden. Ich grunzte. Sonst sagte ich nichts ... Die weitere Ausgestaltung unserer Riesenanstalt schritt mit groesster Schnelligkeit vor sich. Da sagte Mister Stefenson eines Tages zu mir: "Und nun, mein Lieber, ist es die allerhoechste Zeit, dass wir an die Bauernrequirierung gehen. Zehn Hoefe sind fast fertig, das Vieh ist rasch zu beschaffen, ebenso die Haus- und Ackergeraete, aber das Bauernvolk, das uns einpasst, das will gesucht sein. Ich hatte anfangs an Agenten gedacht, aber das ist nichts; die gehen bloss auf ihre Provision aus und schicken uns Schinder und Plunder auf den Hals. Haben Sie also die Freundlichkeit, sich in einen Vieh- oder Getreidehaendler oder, wenn Ihnen das besser liegt, in einen Guetermakler zu verwandeln und mich morgen auf der Bauernsuche zu begleiten." Nun, diese Aufgabe passte mir, zumal ich Stefenson bereit fand, unser Glueck zunaechst in Schlesien zu probieren. Ich bestimmte die Ausruestung. Schaftstiefel, englische Lederhosen, eine Joppe aus grauem Tuch mit Hirschhornknoepfen und gruener Tascheneinfassung, ein Vorhemd ohne Schlips, ein seidenes Tuechlein um den Hals, eine Lodenmuetze, das war meine Ausruestung. Solcher Kleidung bringen die Bauern Zutrauen entgegen, da vermuten sie keine verkniffenen Staedter, keine "Juden oder Winkeladvokaten", die sie uebers Ohr hauen wollen. Es waere alles gut gewesen, wenn nicht Stefenson am naechsten Morgen, als die Reise losgehen sollte, die kleine Luise mitgebracht haette. Ich schlug Skandal. Was er sich einbilde, ein so kleines Kind auf so lange Reise mitzuschleppen? Ob er denn nicht bedaechte, dass uns das Maedel nur stoeren und aufhalten wuerde? Es war alles umsonst; Luise fuhr mit. "Pappa hat mehr zu sagen als der Onkel", sagte die Kleine mit einem Anflug von schnippischem Ton. "Sie macht sich heraus; sie faengt an, Courage zu kriegen", sagte der "Pappa" anerkennend. ------------------------------------------------------- Auf einer groesseren Station stiegen wir waehrend des Zugaufenthaltes aus, um dem Kinde Orangen zu kaufen. Noch als wir am Stande des Obsthaendlers waren, naeherte sich uns eiligen Schrittes eine Frau. Sie starrte erst mich an, dann das Kind, fasste es blitzschnell an der Hand, riss es an sich und kuesste es wie rasend. Das Maedel schrie erschrocken auf, Stefenson sagte betroffen: "Aber Madame, was tun Sie?", und ich wand der Frau das Kind aus den Armen. Neugierige Leute eilten herbei; es gab gewaltiges Aufsehen. "Zurueck in den Wagen!" rief ich Stefenson zu, der mir verwirrt folgte. Bald sassen wir im Abteil, und die Tuer flog zu. Draussen schrie eine gellende Stimme: "Es ist mein Kind - es ist mein Kind - lasst mich zu meinem Kinde! Luise! Luise!" Die Leute hielten die Frau, die sich verzweifelt wehrte, an den Armen fest; der aufsichtfuehrende Beamte eilte an unser Abteil und begehrte Auskunft. Ich stieg aus, stellte mich vor und sprach einige aufklaerende Saetze. Zuletzt sagte ich: "Herr Vorsteher, fragen Sie die Frau, ob sie gesetzlichen Anspruch auf dieses Kind habe!" Er entfernte sich, ging zu der Frau, wies alle Leute beiseite und sprach leise auf sie ein. Sie stand tiefgesenkten Hauptes mit herabhaengenden Armen, heftig schluchzend vor ihm. Nun tat er wohl die Frage: "Haben Sie einen gesetzlichen Anspruch auf jenes Maedchen?" Da schuettelte sie den Kopf. Ein Blick voll Wehes traf noch unser Wagenfenster, dann verliess die Frau den Bahnhof. "Wer war die boese Frau?" fragte Luise veraengstigt. "Eine Verrueckte", sagte Stefenson rauh. "Wird sie nie wieder zu mir kommen?" "Nein, nie wieder!" Wie lange doch der Aufenthalt noch waehrte! Die Leute spazierten draussen und gafften neugierig nach unserem Fenster. Ich zog den Vorhang vor. Endlich setzte sich der Zug langsam wieder in Bewegung. Aber kaum hatte er den Bahnhof verlassen und fuhr noch nicht mit voller Geschwindigkeit, da gab es einen gewaltigen Ruck und Stoss, und der Zug stand. Ich riss das Fenster auf. Von der Lokomotive sprang der Heizer ab, Schaffner eilten den Bahnsteig entlang - ein Schaffner kam zurueck und gab uns Auskunft ... Ueber das Feld rannte jene Frau ... Das Weib hatte sich dicht hinter dem Bahnhof auf die Schienen geworfen, und der Lokomotivfuehrer hatte den Zug noch rechtzeitig zum Stehen gebracht. Luise war auf die Sitzbank geklettert und schaute durchs Fenster. "Da rennt sie - da rennt die boese Frau!" rief das Kind. "Lass das verrueckte Weib!" knirschte Stefenson. Wir fuhren weiter. Grauer Nebel zog ueber die Fluren, frierende Voegel sassen auf den Telegraphendraehten, alles, was draussen war, fror, die Baeume und die Berge, die Tiere und die Menschen. Die eine irrte nun allein mit dem aufgeschreckten Weh verschmaehter Mutterliebe im Herzen durch die kalte Flur, das Kind hatte sich vor ihr entsetzt, und selbst der Tod hatte sie verschmaeht. Stefenson sass finster in seiner Ecke. Das Kind begann wieder zu sprechen. "Alle verrueckten Menschen sind sehr boese." Da brummte sie Stefenson an: "Das kann man nicht sagen, du Gaenschen! Manche Menschen koennen nicht mal richtig dafuer, dass sie verrueckt sind." "Wieso nicht?" "Das verstehst du nicht. Das versteht selbst unter den grossen Menschen von Tausenden kaum einer richtig." "Du hast aber gesagt, sie ist verrueckt, und du hast es boese gesagt", verharrte das Kind. "Dann habe ich eben eine Dummheit gesagt. Denn ich kenne die Frau nicht und kann daher auch nicht wissen, ob sie verrueckt oder boese ist." "Boese ist sie", wiederholte Luise; "denn sie hat mich sehr gequetscht und mich auch in die Wange gebissen. Sie soll nicht wiederkommen." Grau rann der Regen ueber das Wagenfenster. All unsere frohe Laune war dahin. Schwache, gedrueckte Menschen, sassen wir da im Zuge, der uns schnell davonfuehrte und eine grosse Strecke zwischen uns und die Suenderin legte, die uns gestoert hatte in unserer Behaglichkeit, und die wir daher nicht rasch und rauh genug abschuetteln konnten. Der goettliche Freund Mariens von Magdala fiel mir ein. Wie haette er wohl gehandelt in meinem Falle? Haette er die Arme beiseitegestossen, sich einen Beamten kommen lassen und sich hinter "gesetzliches Recht" verschanzt? Waere er dann weitergefahren, fast hinweg ueber den zuckenden Leib, und haette er der Fliehenden nachgeschaut vom sicheren Fenster aus, mit hochmuetigem Abscheu in der Seele? Oder waere ihr der Meister nachgegangen, haette sie an der Hand genommen und ihr, wenn sie guten Willens war, ein Zweiglein vom verlorenen Mutterkranz wieder versprochen, ihr ein klein wenig goldene Kindesliebe fuer die Zukunft verheissen? Ferien vom Ich! Ich werde mich vor allen Dingen erloesen muessen von allem kalten Hochmut des Herzens und allem auch noch so "gesetzmaessigen" Zurueckstossen der Schwachen und Schuldigen ... BAUERNANWERBUNG In S. mieteten wir einen Wagen und ein Pferd und machten ein paar ergebnislose Besuche auf den umliegenden Doerfern. Wie die Werber fuer eine Freiwilligenlegion kamen wir uns vor. Auf der Landstrasse trafen wir aber eines Tages ein Baeuerlein, das in einem grossen bunten Taschentuch allerhand Waren eingepackt trug, die es wohl auf dem Markte erstanden hatte. Ich schaute den Bauern pruefend an. Er hatte ein offenes, nicht unkluges Gesicht. Und der Mann ging zu Fuss und trug sein kleines Paket. Das war einer fuer uns. An die reichen schlesischen Bauern konnten wir uns nicht wenden, die haetten uns ausgelacht mit unserem Pachtangebote. Kleine Landwirte mussten es sein, die auf ihrer engen Scholle ein kuemmerliches Leben fuehrten und froh waren, in eine gute Pachtung zu kommen. Stefenson hielt das Pferd an. "Wollen Sie mitfahren?" "Nee!" antwortete der Bauer. "Warum denn nicht?" Das Baeuerlein wies auf unseren lahmen Mietsgaul. "Der Schimmel zieht mich nich; ich wieg' 'n Zentner!" "Sie haben wohl schoenere Pferde?" "Nee, ich hab bloss drei Zugkuehe. Aber su schnell wie der Schimmel traben se ooch." "Hoeren Sie mal, Gevatter", sagte ich, "Sie foppen uns. Das Pferd hat viel Geld gekostet." Er meckerte. "Na, da musst ihr schoene tumme Kerle sein." Lachend ging er neben unserem Wagen her, und wir fragten ihn ein wenig ueber die Gegend aus. Bald kam ein Strassengasthaus, und ich lud den Bauern ein, mit uns einzukehren und ein Glas mit uns zu trinken. "Nu", sagte er, "das kann ich schon. Aber ich sag's Ihn' gleich ehrlich: zu holen is bei mir nischt. Wuerfeln tu ich nich, und billig zu verkoofen hab ich ooch nischt! Keene Kuh, kee Schwein, kee Getreide und ooch keene alten Schraenke und zinnernen Teller." "Warum vermuten Sie denn, dass wir Ihnen was abschachern wollen?" "Ja, da muesst man doch euch Stadtjuden nich kenn'. Umsunst gebt ihr doch eenem fremden Bauer keen Schnaps zum besten." "Da haben Sie ganz recht", sagte Stefenson; "wir wollen etwas von Ihnen. Wir wollen _alles_ von Ihnen: Ihre Wirtschaft, Ihre Kuehe, Schweine und Huehner und sogar Sie selber und Ihre Frau und Ihre Kinder." Der Bauer brach in helles Gelaechter aus. "Hatt' ich mir's doch gleich gedacht, dass Sie der Menschenfresser sind." "Also den nehmen wir bestimmt!" sagte Stefenson zu mir, wie wenn eine Ware zum Verkauf staende. "Mich nehmen Sie?" vergnuegte sich der Bauer. "Sie sein ja der ulkigste Kerle von der Welt." Stefenson zog die Stirne kraus. Drinnen setzte er sich dem Baeuerlein an dem rohen Tisch der Schankstube gegenueber, nahm ein Notizbuch heraus und sagte: "Wie heissen Sie?" "Ich? - Mit'm Familiennam' su wie mei Vater und mit'm Vornamen wie Napoleon." "Mensch, wie heissen Sie! Ich muss das wissen. Es handelt sich um eine Angelegenheit, die fuer Sie wichtiger ist als fuer uns. Sie werden schon alles erfahren. Also, wie heissen Sie?" "Wie heissen _Sie_ denn?" fragte der Bauer zurueck. Stefenson wurde ungeduldig. "Wenn Sie es denn wissen muessen - ich bin Mister Stefenson aus Amerika, ein sehr reicher Mann." "Da koenn' Se lachen! Deswegen haben Se wahrscheinlich ooch so'n scheenes Pferd." "Dummer Kerl!" sagte Stefenson verdrossen und stand auf. Der Bauer lachte. "Nu hat a sich erst richtig vorgestellt, und nu steht er auf." Es war Zeit, dass ich mich ins Mittel legte. Der Mann musste wissen, um was es sich handelte, sonst war mit ihm nicht zu reden. Freilich war es nicht leicht, so einer naiven Haut die Idee von den Ferien vom Ich klarzumachen. Ich versuchte das auf folgende Weise: "He, lieber Freund, haben Sie schon irgendmal einen Staedter kennengelernt, der richtig arbeitet?" "Nee. Die Staedter sein olles faule Luder. Se koenn' Heringe oder Leinwand oder Pillen verkoofen oder in a Stuben sitzen und kritzeln, aber arbeiten koenn' se nicht. Se schlafen ja olle bis um sieben." "Da haben Sie recht. Und glauben Sie, dass so ein Leben, wie es die Staedter fuehren, gesund ist?" "Miserablig ungesund is es! Se sehn ju olle aus wie Quargschnitten, und Kraefte ham se nich die Spur. Se verfauln reeneweg." "Bravo! Was Arbeit ist und was Gesundheit ist, weiss nur der Bauer. Nun wissen Sie aber, es gibt Badeorte, Kuranstalten." "Jawohl. Da gehn die allerfaulsten Ludersch hin; die Kranken pflegen sich lieber zu Hause." "Schoen. Sie sind ein heller Kopf. Sie begreifen mich vollstaendig. Wenn man nun aber einen Kurort machte, wo keine feinen Villen und Hotels sind, nein, wo lauter Bauernhoefe waeren und wo die Staedter, die eine Kur machen wollen, mal auf dem Hofe oder auf dem Felde feste zugreifen und arbeiten muessten, das wuerde doch den Schlingeln gesund sein - nicht wahr?" "Gesund schon! Aber das faule Kroppzeug wird sich schoen hueten und arbeiten. Wenn se aufs Dorf komm'n, saufen se einem bloss die gute Milch weg und fressen die scheensten Birn' von a Baeumen. Sonst tun se nischt." "Doch, doch, Herr Nachbar! Es wird schon Leute geben, die das Leben in der Stadt mal satt haben und durch die Arbeit auf dem Felde gesuender werden wollen. Das ist eine gute Idee, die hat ein Doktor ausgeknobelt." "Die Doktors verstehn alle nischt, die Schaefer sind klueger." "Das mag wohl sein; aber der Doktor, der das ausgeknobelt hat, der versteht schon seine Sache. Sehn Sie, kurz heraus: es soll eine Kuranstalt gemacht werden, die hat vierzig Bauernhoefe, und auf allen Hoefen sollen die Kurgaeste arbeiten. Und der Mann, der jene Anstalt gruendet, ist eben jener Herr dort." "Der? - Vierzig Bauernhoefe? - Se sind wohl nicht recht bei sich?" "Doch - doch - ich werd' Sie doch nicht beluegen." "Wie heisst er? Mister? Mister - Ausmister!" Er lachte ueber seinen Witz. "Mister bedeutet 'Herr'. Weil er eben ein Amerikaner ist." Da erhob sich der Bauer. Er rief Stefenson an, der an einem anderen Tisch der kleinen Luise eine Schinkenstulle zerteilte. "Sie, Herr Mister, komm'n Se mal her! Zeigen Se mal Ihr Portemonnaie!" Ich zwinkerte Stefenson zu, den Wunsch zu erfuellen. Stefenson warf schweigend seine dicke Brieftasche auf den Tisch. "Bitte!" sagte er phlegmatisch. Der Bauer ruehrte sich nicht. "Na, nu kucken Sie mal nach, was drin ist!" ermunterte ich ihn. "Ich werd' mich schoen hueten; nachher sagen Se, es fehlt was!" Misstrauisch wie ein alter Fuchs vor der Falle, so sass der Bauer vor der Brieftasche. Da schlug ich die Tasche auf und entnahm ihr blaue und braune Schaetze. Der Bauer schaute wie in ein Wunderland von Reichtum. Aber er rueckte beiseite. "Wenn Se su reiche Herr'n sind, warum setzen Se sich da zu mir armen Schlucker? Zum Ausstoppen bin ich mir viel zu schade." Ich gab die Brieftasche an Stefenson zurueck und redete dem neuen Freunde gut zu. Ich erklaerte ihm genau, was wir mit ihm vorhaetten, wie er als Paechter auf einen unserer Hoefe ziehen solle, wie wir ihm die guenstigsten Bedingungen einraeumen und ihm seine eigene Wirtschaft zu gutem Preise abkaufen wuerden, falls er sie nicht anderweit guenstig los wuerde. Wie ein Koenig solle er auf seinem Gute hausen. Die Kurgaeste sollten unter seiner Leitung arbeiten und sich an seiner guten Laune erfreuen. Ich kriegte heraus, dass der Bauer Emil Barthel hiess, noch nicht ganz fuenfzig Jahre alt war, ein gesundes Eheweib, namens Susanne, sowie zwei kraeftige Soehne und zwei Toechter besass, dass von den vier Kindern aber drei auswaerts in Dienst standen, da er sie auf seiner kleinen Wirtschaft nicht beschaeftigen und ernaehren konnte. "Na, sehen Sie, Barthel, es waere doch schoen, wenn Sie alle Ihre Kinder bei sich haben und ganz fuer sich arbeiten koennten. Da waere doch auch was zurueckzulegen." Er sass nachdenklich da. "Stoppen Se mich wirklich nich aus?" "Ich denke nicht daran." "Wie kommen Se denn gerade auf mich?" "Na, wir haben Sie eben getroffen, und Sie gefallen uns." "Dabei bin ich doch dem Herrn Mister grob gekommen." "Das schadet nichts. Den Kurgaesten werden Sie auch manchmal grob kommen muessen. Das gehoert zur Kur." "Sind Sie auch so eener, der dort Bauer wird?" "Nein, ich bin der Doktor, der alles ausgetiftelt hat." "'n Doktor sind Se? So sehn Se aber nich aus!" "Hm! Nun, so ein Doktor wie die andern bin ich auch nicht. Mehr so 'n halber Schaefer." "Oh, das waer nich schlecht! Aber ich glaub's nich; ich kann's nich glauben!" Ich zog einen Umschlag mit Photographien aus der Tasche. "Jetzt werd' ich Ihnen mal Bilder von unseren Hoefen zeigen. Da - das ist ein Wohnhaus." "Das? - Das is ja 'n Schloss!" "Ja, wir haben schoene Wohnhaeuser. Sie sollen ja mit Ihrer Familie nicht allein in dem Hause wohnen; es sollen ja auch noch zwanzig Kurgaeste drin Platz haben." "Dunnerwetter!" "Und das ist die grosse Wohnstube, und so sieht der Kuhstall aus und so die Scheuer." Er atmete schwer. "Wie gross ist denn die Wirtschaft?" "Hundert Morgen." Da verduesterte sich seine Stirn. "Warum halten Sie mich denn zum Affen? So 'ne grosse Sache kann ich doch nich pachten; da gehoert doch Geld dazu." "Gar kein Geld! Nur, dass Sie fleissig sind und alles gut in Ordnung halten. Wir werden ebenso auf unsere Rechnung kommen wie Sie; denn, sehen Sie, die Aecker rentieren sich doch, und was die Wirtschaft nicht bringt, bringen die Kurgaeste." "Nu ja, die werd'n ja ueberall behumpst." Der Mann betrachtete mich wie einen Zauberer, der Maerchendinge vor ihm ausbreitete. Zuletzt erklaerte er sich bereit, mit uns nach seinem Dorfe zu fahren und mit seiner Susanne Ruecksprache zu nehmen. Unterwegs sprach ich noch viel auf Emil Barthel ein. Er antwortete fast nicht mehr. Vor seiner kleinen Wirtschaft hielten wir. Das Wohnhaus hatte nur ein Erdgeschoss mit hohem Dach; Stall und Scheuer waren klein, aber es war ein Blumengaertlein vor dem Hause und alles sauber und freundlich. Ein behaebiges Weib in blauer Schuerze trat vor die Tuer, als Barthel vom Wagen kletterte: "Nee, Emil", sagte sie, "da haste nu sugar Fuhrgelegenheit gehabt und kummst su spaet! Dabei sull a de Medizin fuers kranke Maedel hol'n." "Mutter", meinte Emil, "wenn du mit sulchen Kerlen faehrst, bleibste kleben. Sieh dir bluss den Schimmel an; der hat zwee eingeleimte Hulzbeene. Aber 's sind amerikanische Millionaere, die haben vierzig Pauergueter und lauter Schloesser." Susanne lachte gutmuetig. "A hat een' sitzen", meinte sie. "Na, kumm ock rein!" "Frau Barthel", rief ich ihr zu, "Ihr Mann wird Ihnen viel zu erzaehlen haben. Glauben Sie nur, es ist kein Spass, es ist Ernst. Wir fahren jetzt ins Gasthaus, und in etwa zwei Stunden werden wir mal zu Ihnen kommen. Wir muessen mit Ihnen ein ernstes Wort reden, und es wird Sie nicht reuen." Die Frau schuettelte verwundert den Kopf; ihr Gatte Emil aber tippte erst ihr, dann sich an den Kopf, nahm sie am Arme und zog sie ins Haus. ------------------------------------------------------- Im Dorfgasthause wurde uns ein schlichtes, aber schmackhaftes Mittagsmahl bereitet, und nach einiger Zeit brachen wir auf zu einem Besuch bei Emil Barthel. "Nee, komm'n Se wirklich?" fragte er; "ich hatte gedacht, 's waer alles bloss Ulk." Die Stube war niedrig, aber sauber, und ueber den Tisch war ein grosses buntes Tuch gebreitet. Emil Barthel bewirtete uns. Er bot uns in einer Papiertuete Zigarren an, von denen ich vermutete, dass sie aus dem Dorfkramladen zu fuenf Pfennig das Stueck gekauft seien. Mit Schadenfreude sah ich zu, wie Stefenson, der von frueh bis in die Nacht eine Havanna nach der andern schmauchte, sich mit Todesverachtung an dieses Rauchzeug heranmachte. "Nun, mein lieber Barthel, moechte ich zunaechst etwas feststellen: es handelt sich in unserer Angelegenheit weder um einen Spass, zu dem wir uns wahrhaftig nicht so viel Zeit nehmen wuerden, noch um einen Betrug." "Also ist es tatsaechlich wahr?" sagte Barthel und trommelte auf den Tisch. Sein Gesicht wurde ernst, und er holte aus zu einer Rede: "Sehn Sie, meine Herr'n, wenn Se nu wirklich so was Komisches vorhaben - man kann ja nie wissen, was den Stadtleuten einfaellt - nu, so muss ich Ihn'n ehrlich sagen: das Ding gefaellt mir nich. Denn warum! Die Stadtleute werd'n nich kommen. Die sind viel zu faul. Wenn se ins Bad machen woll'n - woll'n se sich amuesieren. Da woll'n se doch nich Kuehe melken und ackern. Meine Herr'n, Se haben keene Ahnung, was das fuer schwere Arbeit is. Vor solcher Arbeit haben sich die Stadtleute immer gedrueckt. Aber gesetzt den Fall, se kaemen doch - da waer's noch viel schlechter. Denn warum? Die Stadtleute verstehen nischt. Denken Se, dass die mir auf dem Hofe was helfen koennten? Die gragelten mir doch bloss im Wege 'rum. Die quatschten und quasselten doch bloss." "Die fielen einem ja in die Puttermilch!" lachte Frau Susanne. "Die taeten ja alles bloss mit Glacehandschuh'n machen woll'n", ergaenzte der Mann. "Donner!" schrie da Stefenson jaehzornig und hieb die Faust auf den Tisch, dass aus seiner Fuenfpfennigdampfrolle ein Feuerwerk stiebte, "nun ist's aber genug. Wer nicht will, will nicht! Haben Sie das Risiko zu tragen? Muessen Sie sich unsere Koepfe zerbrechen, ob unsere Gruendung eine Pleite ist oder nicht? Haben Sie nicht bloss zu gewinnen? Das allerbeste ist ..." "Das allerbeste is, Se gehn wieder!" sagte Barthel seelenruhig. Und nun waeren wirklich all unsere Beziehungen zu dem Hause Barthel abgebrochen worden, wenn es nicht im selben Augenblick an die Tuer geklopft haette und zwei Damen ueber die Schwelle getreten waeren. Eine kleine zartgliedrige Braune und eine grosse Blondine, beide mit feinen Gesichtern, so gut man das in dem Daemmerlichte der niederen Bauernstube feststellen konnte. Die Kleinere sagte, dass sie von der Erkrankung des Barthelschen Kindes gehoert habe und mal nachfragen wolle; sie sehe aber, dass gerade Besuch da sei, und wolle nicht stoeren. Ach, erwiderte die Frau, von Stoerung sei keine Rede; denn das seien zwei ganz fremde Herren, mit denen sie weiter nichts Ernsthaftes zu besprechen haetten und die auch gleich gingen. Trotzdem fuehlte sich die gute Mutter Barthel bemuessigt, uns die kleine Sprecherin vorzustellen. "Das ist naemlich unsere Lehrerin, Fraeulein Annelies von Grill." Anneliese von Grill! Ein pruefender Blick in die grossen braunen Augen, und ich hatte die Identitaet mit dem kleinen Majorstoechterlein festgestellt, das manchmal in Waltersburg zu Besuch gewesen war und das ich - da ich acht Jahre aelter war - immer etwas onkelhaft begoennert hatte. Nun stand ich ihr lachend gegenueber und fragte sie, ob sie nicht mehr wisse, wer ich sei. Da erkannte sie auch mich, und es gab ein froehliches Wiedersehen und grosse Verwunderung ueber die Umstaende, unter denen es geschah. Ihre Lebensgeschichte war kurz: der Vater frueh gestorben, die Mutter auf eine kleine Pension angewiesen und knapp imstande, aus ihr eine Lehrerin zu machen, die nun vertretungsweise in diesem Dorfe angestellt war. Auf einmal fragte die sehr wohllautende Altstimme der Blondine: "Das ist doch nicht etwa der Doktor von dem Waltersburger Sanatorium Ferien vom Ich?" "Allerdings, meine Gnaedigste, dieser Doktor bin ich." Das Maedchen brach in klingendes, lautes Gelaechter aus. "Also, das sag ich Ihnen, wenn mir die Wahl gelassen worden waere, wen ich sehen wolle, Sie oder den Kaiser von Hinterindien in all seiner Pracht und Herrlichkeit - ich haette mich fuer Sie entschieden." "Ich freue mich, dass ich Ihnen so interessant bin", sagte ich. "Oh, interessant ist gar kein Ausdruck. Wir stehen Kopf ueber Sie! Jetzt fehlte bloss noch, dass jener Herr dort der Mister Stefenson aus Amerika waere." "Das ist er!" mischte sich Emil Barthel ein, "es ist der Herr Mister aus Amerika." Stefenson verneigte sich phlegmatisch. "Also, Herrschaften, dann muessen Sie schon erlauben, dass wir uns etwas zusammensetzen und diese kostbare Begegnung geniessen." Dieses Maedchen hatte einen burschikosen Ton an sich, und ich bat Anneliese von Grill, uns zunaechst mal mit ihr bekannt zu machen. Die Blonde stellte sich aber selbst vor. "Ich bin eine nach meiner eigenen Meinung ausserordentlich begabte Opernsaengerin ohne Engagement, gegenwaertig zu Besuch bei meiner Freundin Anneliese, um in der paradiesischen Einsamkeit dieses winterlichen Dorfes Ferien vom Ich zu machen. Mit Kuenstlernamen bin ich Irmingard Schwarzeneck genannt, buergerlich hoere ich auf den Namen Eva Bunkert und bin die Tochter des Baumeisters August Bunkert in Neustadt." Wir sahen der Tochter unseres grimmigsten Konkurrenten aus der feindlichen Nachbarstadt verdutzt in das strahlende Gesicht, und das Maedchen brach wieder in froehliches Lachen aus. "Es scheint, dass wir Sie sehr belustigen, mein gnaediges Fraeulein." "Ausserordentlich! Ist es nicht immer lustig, wenn Waltersburg und Neustadt aufeinanderplatzen?" Wir nahmen Platz und sassen alle um den runden Bauerntisch. Emil Barthel sagte: "Siehste Mutter, du hast gesagt, es sind Schwinler, und ich hab gesagt, hoechstwahrscheinlich, aber man kann ja nich wissen, und da hab ich wieder mal recht gehabt." "Und nun, Herrschaften", rief Fraeulein Bunkert, "es mag so indiskret sein, wie es wolle, ich muss wissen, was Sie hier bei Vater und Mutter Barthel zu tun haben; ich sterbe sonst vor Neugier." Und Stefenson - ach, Stefenson betrachtete das Maedchen mit unverhohlenem Wohlgefallen. Er sagte mir hinterher, sie sei "sein Typ". Gross, schlank, blond, uebermuetig. Da gehe er halt auch mal aus sich 'raus. Er ging sehr aus sich heraus. Diese Eva Bunkert war eine Eva in des Wortes wahrster Bedeutung, mit allen Kuensten, Listen und Teufeleien des Weibervolks ausgestattet. Sie machte die tollsten Anstuerme auf den biederen Stefenson. Damals, sagte sie, als er die Neustaedter mit den Zeitungsartikeln hineingelegt habe, habe sie auf die Gefahr hin, in ihrer Vaterstadt gelyncht zu werden, gesagt: dieser Mann sei zum Kuessen. (Bei diesen Worten schlug Stefenson die Augen nieder und zog seinen duennen Mund gewaltig in die Breite.) Dass er, Stefenson, in einer so oeden Spiessergegend, wie Waltersburg und Neustadt, einen so grandiosen Ulk wie dieses Ferienheim inszeniere, sei vielleicht der beste Witz der Weltgeschichte. Sie denke sich unser Heim als eine immerwaehrende Maskerade, als einen Bauernball ohne Ende, als einen Fasching _ad infinitum_. Und diese schweren Beleidigungen unserer grossen erhabenen Idee liess Stefenson ueber sich ergehen, zuckte kaum manchmal die Schultern, und er laechelte ... der Verraeter. "Meine Gnaedige", warf ich dazwischen, "Sie duerften ueber unser Ferienheim denn doch nicht genug informiert sein. Wir meinen es ernst." "Ja, gerade, dass Sie es ernst meinen, ist ja das Gute", erwiderte sie. "Ein Witz, der nicht ernst gemeint ist, ist gar kein Witz." "Das ist eine sehr kluge Sentenz", stimmte der verraeterische Stefenson bei. Ich war empoert. So ein Mann, der pfiffiger war als der Pfiffigste, blieb an der Leimrute eines blonden Zopfes sofort kleben. Als der Herrgott das Weib erschuf, hat sich der Teufel sicher gefreut. Aber neben mir die kleine braune Anneliese gefiel mir doch sehr gut. Sie war freundlich, es lag viel Guete auf ihrem Gesicht, und es blinkerte auch in ihren grossen Augen das schoene Lichtlein harmlosen Schalks. Waehrend Stefenson und Eva Bunkert eine laermende, von vielem Gelaechter unterbrochene Unterhaltung fuehrten, sprach ich leise mit Anneliese von ihrem und meinem Leben, und es kam ein stilles Behagen ueber mich in der schlichten Bauernstube. "Sie meinen es wohl gut mit diesem Ehepaare Barthel?" fragte ich. "Es sind sehr ehrliche und auch ganz lustige Leute." "Glauben Sie, dass es recht waere, wenn wir sie fuer uns gewinnen?" "Ich werde ihnen gut zureden, dass sie Ihr Angebot annehmen. Es wird gewiss beide Teile nicht reuen." "Ich danke Ihnen!" "Also, hoeren Sie, Herr Mister Barthel", lachte unterdes Eva Bunkert; "wenn Sie das Angebot von Mister Stefenson abweisen wollten, waeren Sie, mit Respekt gesagt, ein Riesenochse. So ein Glueck schneit Ihnen nie wieder ins Haus." Emil Barthel zuckte verlegen die Schultern. "Ich moecht ja; aber die Mutter sagt ..." "Gar nischt sagt sie", fuhr Frau Barthel dazwischen, "aber er - er hat die Herren, ehe die Fraeuleins kamen, direkt 'rausschmeissen wollen." Emil Barthel schwur, dass das nie in seiner Absicht gelegen habe, und es gab einen ehelichen Streit. Mitten in den Auseinandersetzungen erschien ein altes Weib. "Jees, jees", jammerte es, "die Emma hat su viel Hitze und klagt immer mehr ueber a Hals." Emma war die zwoelfjaehrige Tochter Barthels. Ich erfuhr, dass das Kind ueber Halsschmerzen geklagt habe, und der Schaefer, ein heilkundiger Mann, Hoffmannstropfen, Heringslauge und Speckpflaster verordnet hatte. Die Hoffmannstropfen hatte Barthel heute aus der Stadt geholt. "Ich bitte Sie, sehen Sie mal nach dem Kinde", bat mich Anneliese, "es sind bereits drei Diphtheriefaelle im Dorfe vorgekommen, und einen Arzt haben wir hier nicht." So ging ich mit ihr und den Barthelleuten nach einem Oberstueblein, wo das Kind in hohem Fieber lag. Diphtherie! Keine Zeit mehr zu verlieren. Ich gab ein paar vorlaeufige Verhaltungsmassregeln und schrieb einige Worte an einen Kollegen im naechsten Orte, da ich die Behandlung ja nicht selbst uebernehmen konnte. Ein Radler fuhr mit der Botschaft los. Das Maedel ist dann auch gerettet worden, und Barthel hat nachtraeglich drei Mark Strafe zahlen muessen, weil er dem Schaefer, der die Heringslauge und das Speckpflaster verordnete, einige Ohrfeigen als Honorar ausgezahlt hat. Als wir damals nach der Barthelschen Wohnstube zurueckkehrten, fanden wir Stefenson und die schoene Eva in angeregtester Unterhaltung. Fuer das erkrankte Kind hatte sie einige bedauernde Worte, dann lachte sie schon wieder. Eva hatte mit Stefenson verabredet, dass sie mit Anneliese gleich nach der Eroeffnung unserer Kuranstalt im Mai als Feriengast bei uns einziehen wollte. Annelieses vertretungsweise Schulmeisterei, sagte sie, gehe bloss bis ersten April, und dass sie selbst kein Engagement an einer Oper kriege, sei vorlaeufig sicher, also koennten sie beide kommen. "Und Ihr Vater?" fragte ich. "Ach, mein Vater darf natuerlich davon nichts wissen, der ist ja wuetend auf Sie. Dem schicke ich durch Mittelspersonen Briefe von irgendwoher, dass er meint, ich sei wer weiss wo. Und bei Ihnen werde ich die Gruenzeugfrau Emilie Knautschke sein." Ich beschloss, dieses Maedchen, das in die ernste Maennerfreundschaft zwischen Stefenson und mir einen so lauten Lachton mischte und unsere grosse Idee zur Hanswurstiade herabstimmte, unschaedlich zu machen. Wie ich das tun sollte, wusste ich nicht. Aber ich hatte Glueck. Die Tuer oeffnete sich, und ein duennes Stimmchen zirpte herein: "Pappa, wie lange bleibst du denn? Ich muss immerfort allein in dem dummen Gasthaus sitzen." Luise war es, die wir im Wirtshaus zurueckgelassen hatten. Stefenson sprang auf und eilte nach der Tuer. "Kindchen, auf dich hatt' ich ja ganz vergessen. Aber geh hier hinaus! In diesem Haus ist Diphtherie." Er schob Luise besorgt auf die Strasse. Eva Bunkerts Gesicht wurde etwas ernster. "Ach, Herr Stefenson ist verheiratet?" Ich war so boshaft, zweimal mit dem Kopf zu nicken. Da raeusperte sich Eva Bunkert und sagte, es sei wohl jetzt Zeit, nach Hause zu gehen. Ich hielt sie nicht auf. Es kam zum allgemeinen Aufbruch. Draussen auf der Strasse schmiegte sich die kleine Luise dicht und zaertlich an Stefenson an und schmollte mit ihrem "lieben Pappa", der sie im Stiche gelassen hatte. Und Stefenson, ob er auch nach Eva Bunkert hinschielte, trat nicht zu ihr und sagte vor den Ohren des Kindes: "Ich bin nicht ihr Vater!" Nein, er hielt stand dem Vaternamen gegenueber, den er sich selbst gegeben hatte. Er verleugnete das Kind nicht. Da hatte ich ihn wieder gern. Als wir allein waren, sagte Stefenson: "Das haette nun alles so gut in unser Programm gepasst, und nun ist nichts zum Abschluss gekommen." Ich erwiderte: "Diese Eva Bunkert ist eine ganz gute Erscheinung; aber ich fuerchte, sie wuerde unserer Sache schaden." "Schaden?" fuhr er auf. "Nuetzen! Glauben Sie mit Sentimentalitaet, alten Rueckstaendigkeiten und mit Duckmaeusertum noch was auszurichten? Glauben Sie, dass ein schoenes Gesicht, eine gute Figur, ein beweglicher Geist des Deibels sind? Oh, ich sage Ihnen, wenn wir die moderne Welt und ihre Schaedlichkeiten besiegen wollen, muessen wir verflucht modern sein. Mit noch so ehrwuerdigen Armbrustpfeilen geht keiner mehr an gegen die Schnellfeuergeschuetze der neuen Zeit." Wir blieben noch einen Tag in diesem Dorfe und trafen die Maedchen wieder. Beide waren gleichmaessig freundlich. Stefenson widmete sich ganz der schoenen Eva und sprach mit mir oder Anneliese kaum ein Wort. DER JOURNALIST Nun ist's ein Jahr her, seit die Verwirklichung meiner Idee von dem grossen Ferienheim keimte und wuchs. Jetzt naehert sie sich der Reife. Anfang Februar gab es eine Sensation. Stefenson reiste nach Amerika zurueck. Da hoehnten die Neustaedter, dem sei wohl im letzten Augenblick doch angst und bange geworden vor seiner uebergenialen Neugruendung, und nun kaeme der Zusammenbruch. Ich blieb ganz ruhig; denn ich wusste, dass alles gut vorgesorgt war und Stefenson nur nach Hause fuhr, um seine dortigen dringendsten Geschaefte in Ordnung zu bringen. Die kleine Luise wollte der Amerikaner mit auf die Reise nehmen. Erst nach den ernstesten Vorhaltungen, die beinahe in Feindseligkeiten ausarteten, liess er das Kind zu Hause. Aber Neid und Zorn war in seinem Herzen, und zwar nicht nur wegen des Kindes. "Ich bin begierig, wie Sie sich gegen Fraeulein Eva Bunkert benehmen werden, wenn sie nun kommen wird, um unser Heim zu beschauen. Ich fuerchte, Sie werden den rechten Ton nicht treffen." Ich laechelte. "Fuerchten Sie, dass ich zu abweisend oder zu entgegenkommend sein koennte? Eva Bunkert ist ein sehr schoenes Maedchen." "Ich bitte Sie", sprach er herb, "dass Sie sich mit Fraeulein Bunkert weder in der einen noch in der anderen Art zuviel beschaeftigen, sondern mir diese ausgezeichnete Akquisition fuer unsere Kuranstalt persoenlich ueberlassen." "Ich ueberlasse Ihnen diese Akquisition", sagte ich grossmuetig und feierlich. Darauf knurrte er, vor Mitte Mai koenne er keinesfalls zurueck sein. Als ich ihn zum Zuge begleitete, wuenschte ich aufrichtig, er moege bald zurueckkommen ... ------------------------------------------------------- Vor drei Tagen ist nun unser Freund Emil Barthel mit seiner Susanne und seinen Kindern bei uns eingezogen. Er hat den Forellenhof dicht unten am Bach uebernommen. Des Staunens seiner Leute war gar kein Ende. Sie gingen bedrueckt durch die grossen, neuen, so behaglich ausgestatteten Raeume wie Fremde, die ein merkwuerdiges praechtiges Haus betrachten. Aber sie werden in diese Raeume hineinwachsen. Der Bauer hat uns schon wesentliche Dienste erwiesen. Er bezeichnete uns Kameraden und Bekannte, die sich als Paechter unserer Hoefe eignen wuerden, und ob wir auch kaum den dritten Teil davon gebrauchen konnten, so gaben uns die ausgewaehlten Leute wieder die Adressen neuer Kandidaten, so dass unsere zwanzig Hoefe besiedelt sind. Der andere Teil des Gelaendes wird von den alten frueheren Dominialgebaeuden aus bewirtschaftet. Es geht alles schnell, ruhig und sicher, wo ein zielbewusster Wille und wo - Geld da ist. Manche unserer Hoefe haben herkoemmliche poetische Namen, wie Forellenhof, Erlenhof, Grundhof, Hof am Hange, Berghof, Sonnenhof, aber es gibt auch eine Waldschoelzerei, eine Heimwehfluh, eine Steinmuehle, eine Genovevenklause, eine grosse und eine kleine Einsiedelei, ein Haus "ueber den sieben Bergen", ein "_Old Nigger home_" (nach Stefensons Wunsch), eine Heideheimat, eine Juxherberge, eine Meierei zum gelben Kakadu, ein Knusperhaeuschen, eine Kassubenhuette, ein Zigeunerlager und eine Raeuberhoehle. Mit Romantik ist nicht gespart. Tradition fehlt ja leider allen diesen Dingen, aber sie wird sich bald finden; wir haben pfiffiges Bauernvolk ausgewaehlt, und das dichtet in seiner kraeftigen Seele so viel zusammen, dass sich alsbald allerhand Geschichtlein um unsere Siedelungen spinnen werden, schneller als der Efeu waechst, den wir an mancher Wand einpflanzten, oder als das Moos wuchert, das wir auf schraege Daecher legten. Das groesste Glueck ist die Freude am gelungenen Werk, ein Abglanz des erschuetternden Titanenjubels, der Gottes Brust durchloht hat, als er im Glanz von Millionen Sonnen die Schoepfung vor sich sah. Auch ich bin nie so gluecklich gewesen wie in dieser Zeit der Gruendung unseres Heims, nie so selig, glaeubig und am Leben haengend, nicht einmal in der Kinderzeit, die doch alle Tage Schoepferjubel bringt, und sei die Veranlassung auch nur eine gelungene kleine Schanze im Bach oder die zum erstenmal geglueckte Schleife des Schuhbandes. ------------------------------------------------------- Die Maedchen sind gekommen. Gestern. Sie kamen am Vormittag und wollten schon mit dem ersten Abendzuge wieder abreisen trotz der Einladung, ein paar Tage dazubleiben und bei Frau Susanne im Forellenhof zu wohnen. Eva Bunkert war zurueckhaltender als bei unserer ersten Begegnung. Sie konnte es sich zwar nicht versagen, nach Betrachtung des Baches, der an Barthels Hof vorbeifliesst, zu behaupten, in diesem Gewaesser lebe keine einzige Forelle, weshalb der daranliegende Hof wahrscheinlich "Forellenhof" heisse, aber es sei ja bekannt, dass Namen fast immer taeuschen, wie zum Beispiel koerperlich etwas zurueckgebliebene Maennlein mit Vorliebe Siegfried hiessen oder oft keifende Xanthippen mit den holden Namen Mariechen oder Trautchen begabt seien. Nach dieser Abschweifung ins Schnippische wurde das Maedchen ernster. Sie betrachtete den grossen Forellenhof von innen und aussen und sagte mit einem Seufzer: "Es ist schoen hier. Ich glaube, man kann in einem solch einfachen Hofe gluecklicher sein als in einem prunkenden Hotel. Wenn ich es einrichten kann, werde ich wirklich einmal hier Ferien vom Ich machen." "Ich moechte es wohl auch", sagte die kleine Anneliese, "aber fuer mich ist so etwas viel zu teuer." "Du, meine Liebe", lachte Eva Bunkert, "du muesstest ganz andere Ferien vom Ich haben - Weltstadtleben, Theater, Baelle, Autofahrten - man muss das haben, was einem fehlt." "Mir wuerde nichts fehlen in solchem Frieden", sagte die kleine Braune. Ich ging mit den Maedchen durch unser Gelaende, fuehrte sie nach dem Rathaus, nach der Lindenherberge, den "Stillen Weg" hinab ueber die Genovevenklause, und als ich nach der Waldschoelzerei weiter wollte, passierten wir das Zeughaus und das grosse Eingangstor. Dort gab es eine Auseinandersetzung zwischen einem fremden Herrn und dem Tuerschliesser. Der Herr, der im Reiseanzug war und eine kleine Handtasche trug, verlangte in ungestuemer Weise mich zu sprechen, waehrend der Diener entgegnete, der Herr Doktor sei aufs dringendste und unabkoemmlichste beschaeftigt, und unsere Anstalt wuerde ueberhaupt erst am ersten Mai eroeffnet. Der Fremde liess sich nicht abweisen, und als er mich erblickte, rief er: "Ich moechte wetten, dass jener Herr der Doktor ist!" Damit schob er den Diener beiseite und kam auf mich zu. "Gestatten Sie, mein Herr, eine kurze Viertelstunde?" "Sie sehen, ich habe Besuch!" "Jawohl - es tut mir auch leid, Sie stoeren zu muessen, aber ich habe nur eine Viertelstunde Zeit. Wenn ich mich vorstellen darf: George Brown, Mitarbeiter der 'Staatsbuergerzeitung' in Neuyork. Ihr Geschaeftsfreund Mister Stefenson hat mich persoenlich gebeten, Sie zu besuchen und Ihnen dieses Schreiben zu ueberreichen." Er uebergab mir einen Brief, den ich mit Erlaubnis der Damen oeffnete und stellenweise vorlas: "Neuyork, den 25. Maerz. Mein Lieber! Sie wollen nie recht zugeben, dass ich Sie genau kenne, aber mein Spuersinn ist, was Sie anlangt, so gross, dass ich hier viel tausend Meilen von Ihnen prophezeie, ohne besorgt zu sein, einen Irrtum zu begehen: Wenn Sie diesen Brief durch Mister Brown erhalten werden, werden Sie gerade mit den Damen Eva Bunkert und Annelies von Grill einen sehr vergnuegten Spaziergang durch unser Heim machen. Ich beglueckwuensche Sie dazu und bitte, mich den Herrschaften zu empfehlen. Was Mister Brown anlangt, so empfehle ich Ihnen, diesen Herrn recht ruecksichtsvoll zu behandeln, ihm nicht etwa zu sagen, Sie haetten gerade Besuch und daher keine Zeit fuer ihn. Denn Mister Brown ist einer der einflussreichsten Journalisten in den Staaten, und wir werden den Zuzug aus Amerika fuer unsere nach deutschen Normalbegriffen immerhin etwas merkwuerdige Anstalt recht noetig haben. Gruessen Sie Luise von ihrem Pappa, der sich sehr nach seinem Gaenschen sehnt, aber noch nicht weiss, wann er zurueckkehren kann. Stefenson." Ich schaute verwundert auf Brown, den Ueberbringer dieser seltsamen Epistel. Brown war ein Fuenfziger, der Kotelettbart und der Schnurrbart sowie die gescheitelten Haare waren stark angegraut, der Anzug etwas geschniegelt modern, die Wangen, wie mir schien, wohl ein wenig geschminkt. Irgend etwas an dem Mann kam mir bekannt vor, auch in seiner heiser klingenden Stimme. Vielleicht war ich ihm mal drueben begegnet. Ich fragte ihn, ob er auf dem letzten grossen Pressekongress in Baltimore, den ich besucht hatte, gewesen sei, und er erwiderte, dass er daselbst eine Rede gehalten haette. Daher die matte Erinnerung. Die Maedchen verwunderten sich nicht weniger ueber die seltsame Prophezeiung in dem Stefensonschen Briefe als ich. Ich sagte, ich koenne mir das ueberraschende Eintreffen einer solchen Voraussage nur dadurch erklaeren, dass Stefenson vermutet habe, die Damen befaenden sich fuer laengere Zeit in unserem Heim, ich mache mir wahrscheinlich oefters das Vergnuegen, sie auszufuehren, und es koenne sich wohl so fuegen, dass uns Mister Brown zusammen antraefe. Daraufhin weissage ein Mann wie Stefenson eben darauflos. Treffe es nicht ein, schade es nicht, treffe es aber infolge seines Glueckes ein, sei es ein guter Bluff. Brown schuettelte den Kopf. "Mister Stefenson ist kein Bluffer, er weiss immer, was er sagt." "Sie kennen Mister Stefenson persoenlich?" fragte Eva Bunkert mit unverhohlenem Interesse. "Mein gnaediges Fraeulein", erwiderte Brown, "ich kenne alles, was man in Neuyork und den Staaten kennen muss." "Und Mister Stefenson gehoert zu dem, was man in Amerika kennen muss?" "Ja, er gehoert dazu." Der Journalist schloss sich unserem Rundgang an. Meist verhielt er sich schweigend, sprach ueber das, was er sah, weder Lob noch Tadel aus, bat nur, sich von Zeit zu Zeit eine Notiz machen zu duerfen, und stellte ausserordentlich sachverstaendige Fragen, Fragen, die ich, sobald sie sich in technische Einzelheiten verliefen, oft gar nicht beantworten konnte. Das _Nigger-Home_ gefiel dem Amerikaner. Es war duester in der niederen Stube; wir zuendeten ein paar matt brennende Petroleumlampen, die an den Waenden hingen, an, um die Illusion zu verbessern. "Nun muesste jemand einen Niggersang anstimmen", sagte Brown. Da stand auch schon Eva Bunkert, an die Wand gelehnt, schraenkte die Arme ueber der Brust und begann mit wohllautender Stimme zu singen: _"Way down upon Swaney ribber_ _Far far away ..._ _There's, where my heart is turning ebber,_ _There's, where the old folks stay ..."_ Sie sang dieses schwermuetigste aller Heimatlieder mit tiefer innerer Bewegung, und Mister Brown summte mit naeselndem Tone die Begleitung dazu, so wie es die Neger tun, wenn fern der Heimat einer der Ihrigen an der Wand lehnt und das innerste Weh der weltverschlagenen, geknechteten Seele im Liede ausstroemen laesst. Dann summen sie alle mit, die Koerper werden regungslos, und die grossen, heissen Augen starren ins gelbe Licht der matten Lampen ... Wir gingen weiter und kamen an den Hof am Hange. Dort steht eine grosse Buche, um die eine Bank laeuft. Von hier aus kann man unsere ganze Siedelung ueberschauen. Warmes Fruehlingslicht spielte durch laue Luft, die Zweige trugen alle die kurzen, gruenen Kinderkleidchen erster Jugend, die Voegel waren heimgekommen und uebten in abgerissenen Trillern und Laeufen das grosse Lebens- und Liebeslied des Maien ein. Da wurde mir das Herz weit. Unsere Siedelung war schoen, keine langweilige Linie in ihr, kein Steinkoloss, keine Erinnerung an geschniegeltes, oedes Geputztsein, sondern Heimatlichkeit, Waerme, Frieden. "Wenn man das sieht", sagte die kleine Anneliese, "meint man, hier werden immer nur gute Menschen wohnen koennen. Es ist alles rein und gut; schlechten Leuten wuerde hier das Herz springen." Ich war ihr dankbar und sagte: "Aber es soll doch eine Zufluchtstaette werden fuer solche, die nicht gluecklich sind, auch wenn sie durch eigene Schuld ungluecklich geworden sind." "Ich finde", sagte Eva Bunkert, "in dem Ganzen ist ungeheuer viel Kindliches." "Das ist ein hohes Lob, mein Fraeulein, was Sie da sprechen", meinte Mister Brown; "Genialitaet ist nie etwas anderes als das Urspruengliche, das Kindhafte. Sie glauben gar nicht, wie kindlich unsere guten amerikanischen Humoristen sind. Ganz im Ernst! Sehen Sie deren Tier- und Kinderbilder an, es ist alles geschaut mit den abgeklaerten Augen des ernsten Mannes und alles gefuehlt mit dem Herzen des kleinen Buben." "Stefenson ist ein Genie", sagte Eva Bunkert warm. "Das will ich nicht sagen", entgegnete Brown, "er ist nur das Werkzeug; der Schoepfer der ganzen Idee ist, wenn ich recht unterrichtet bin, der Herr Doktor, der mit uns auf dieser Bank sitzt." Ich wehrte das Lob ab, und Eva Bunkert sagte: "Wohl, der Doktor hatte die Idee, hatte den Traum in der Seele, aber Stefenson hatte den Mut, den Traum in Wirklichkeit zu verwandeln. Ich moechte sagen, der Doktor hat ein schoenes Motiv in die Welt gesungen, und Stefenson hat ein herrliches Lied daraus geschaffen." "Sie sprechen sehr gut und lieb von meinem Landsmann", sagte Mister Brown geruehrt. "Oh", rief Eva Bunkert, "ich schwaerme fuer Stefenson. Es hat mir noch nie ein Mann solchen Eindruck gemacht wie er, obwohl er der Konkurrent meines Vaters ist. Erst recht deshalb! Ich mag die Leute nicht leiden, die sich nur fuer die Freunde und Goenner ihrer eigenen Sippschaft begeistern koennen." Da wurde auch die kleine Braune munter. "Ja", seufzte sie, "es ist schade, dass Mister Stefenson verheiratet ist! Er waere der erste, der bei der stolzen Eva Bunkert wirklich Glueck haette!" "Du Plappermaul!" zuernte Eva, reckte aber den Kopf hoch. "Nun, ich leugne es nicht: der Mann gefaellt mir. Weil er eben ein so ganzer Mann ist. Vom Heiratenwollen aber ist gar keine Rede." "Er waere keine schlechte Partie", meinte ich. "Eben deshalb!" sagte Eva trotzig. "Ich will mal keine gute Partie, ich will einen Mann heiraten!" "Ich wusste gar nicht, dass Stefenson verheiratet ist", warf Mister Brown ein. "Wie? Und Sie wollen ihn so genau kennen?" "Oh - ich als anstaendiger Journalist kuemmere mich um das, was Stefenson fuer das Land und die Welt bedeutet, nicht um seine Privatverhaeltnisse. Ich habe nie gehoert, dass Stefenson verheiratet sei. Es ist mir auch ganz gleichgueltig." "Der Herr Doktor hat es uns gesagt", erwiderte das Maedchen. Da grunzte Mister Brown so tief und absonderlich, dass ich erschrocken aufschaute und ihn ansah. Und ich blickte - in Stefensons Augen. So klar, in so deutlichem Zorn blitzten diese Augen mich an, wie ich sie von hundert Gelegenheiten her kannte, wenn dem jaehzornigen Manne die Galle ueberlief, was oft genug geschah. Ein wuester Verdacht erwachte in mir. Dieser Mister Brown war gar kein amerikanischer Journalist, es war Stefenson selbst, der uns in einer vorzueglichen Maske getaeuscht hatte. Noch einmal blickte ich ihn an; ich sah wieder in ein fremdes Gesicht. Aber ich wurde den Verdacht nicht mehr los. Jedenfalls, alter Freund, so dachte ich, bist du es wirklich, so entlarve ich dich; bilde dir nicht ein, mit einem bisschen Detektivschlauheit deutsche Gimpel zu fangen. Ich fing an, auf Stefenson zu schimpfen. "Der Mann mag seine Vorzuege haben", sagte ich, "aber wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. So ist Stefenson - ich sage das ruhig, obwohl er mein Freund ist - ungeheuer eitel!" "Das ist kein Schade", fiel Eva ein; "viele grosse Maenner sind eitel: viele Staatsmaenner, viele Geistliche, alle Dichter - selbst solche, denen man es gar nicht zutraute, wie Kriegsleute, Flieger, Polizisten, sind eitel. Was heisst ueberhaupt eitel sein? Wer umzirkelt den Begriff? Auf sich halten, auch in kleinen Aeusserlichkeiten nicht verpowern, ist eine gesunde Eitelkeit. Eine andere kann Mister Stefenson gar nicht haben." Da lachte Mister Brown. "Oh!" sagte er, "was das anlangt, so ist Stefenson so eitel, dass er, wenn er sich im Rasierspiegel sieht, erst immer seinem schoenen Bild eine kleine Verneigung macht, ehe er sich einseift." "Ich denke, Sie kuemmern sich nicht um Herrn Stefensons Privatleben", rief Eva veraergert. "Gewiss nicht", sagte der Journalist, "aber manches fliegt einem halt so zu. Wenn es Spass macht: ich kenne noch ganz andere Schwaechen Ihres Geschaeftsfreundes." "Danke!" wehrte Eva ab, "es macht gar keinen Spass!" Ich dankte auch. Wenn dieser Mann wirklich Stefenson war, so war es das Duemmste, auf Stefenson zu schimpfen; denn er wuerde dann noch weit heftiger auf sich selbst schimpfen. Das musste ich doch von seinen Artikeln her wissen. Auf solche Weise konnte ich dem alten Fuchs den Bart sicher nicht scheren. Da kam mir eine Bemerkung von Anneliese zu Hilfe. "Damals hatte doch Herr Stefenson seine Tochter mit sich. Hiess sie nicht Luise?" Ich jubelte innerlich, und die Schlechtigkeit, einem Menschen aus einer seiner edlen Eigenschaften heraus eine Falle zu stellen, kam mir gar nicht zum Bewusstsein. Ja, ich beging eine neue Schlechtigkeit, ich schwindelte. So stark war das Verlangen, diesen Journalisten, wenn er wirklich Stefenson war, als Stefenson zu entlarven. "Allerdings", entgegnete ich meiner Nachbarin, "Stefensons Tochter heisst Luise. Das Kind haengt sehr am Vater und er an ihr. Er wollte sie durchaus mit auf die Reise nehmen, aber das gaben wir anderen nicht zu. Und es war auch sehr gut; denn das Kind ist nicht wohl." "Wieso nicht wohl?" fragte Mister Brown, und das in einer solch erschreckten Weise, dass ich jetzt meiner Sache voellig sicher war. "Ah, so - so ...", entgegnete ich gleichmuetig, "bei Kindern findet sich leicht mal etwas; das ist nicht so tragisch zu nehmen." "Ich finde", sagte Mister Brown scharf, "wenn ein Mann, wie Stefenson, ein einziges Kind hat, ist es Pflicht, ihm sofort telegraphisch Mitteilung zu machen, wenn dieses Kind ernstlich erkrankt." "Von ernstlicher Erkrankung habe ich nicht gesprochen", entgegnete ich ruhig, und diese Bemerkung war auch sehr angebracht; denn im selben Augenblick stuermte die kleine Luise mit zwei Bauernbengeln unter grossem Hallo aus dem nahen Walde. Das Maedel hat sich bei uns inzwischen voellig eingerichtet, und von Schuechternheit ist gar keine Rede mehr. Jetzt kam sie auf mich zugestuermt. "Ach, Onkel - ich wusste gar nicht, dass du hier oben bist. Wir spielen gerade Haschen." Anneliese liebkoste das Kind, und Eva Bunkert kniff es in die Wangen, dass es quiekte. Aufmerksam betrachtete Eva die Zuege Luisens. "Von ihrem Vater hat sie gar nichts", sagte sie, "sie muss ganz nach der Mutter sein." "Im Gegenteil", entgegnete ich, "das Kind ist das ganze Abbild des Vaters." "Dann habe ich auf ihn vergessen", sagte Eva mit fast trauriger Stimme. Mister Brown atmete schwer. Ein so schwefelgelb giftiger Blick schoss um den Buchenstamm herum auf mich zu, dass ich meiner Sache immer gewisser wurde. Und was hatte dieser Journalist gesagt? Er habe es sehr eilig, nur eine Viertelstunde Zeit zum Besuch. Jetzt war er schon ueber zwei Stunden da, und es wurde Abend. Wahrscheinlich wuerde dieser "Mister Brown" ploetzlich entdecken, dass er Zeit habe, einen ganzen Monat bei uns zu verweilen. Nun wandte er sich Luise zu. Aber es kam nicht so, wie ich dachte. Mister Brown legte ohne jede waermere Gefuehlsbewegung dem Kinde die Hand auf den Kopf und sagte mit der ueblichen Kinderfreundlichkeit: "Luise, ich kenne deinen Papa. Ich fahre wieder zu ihm, ich werde ihm von dir erzaehlen. Bist du sehr krank gewesen?" "Pappa soll bald wiederkommen", antwortete die Kleine. "Ja, ja! Aber ich frage, ob du sehr krank gewesen bist?" "Wieso? Ich bin nie krank!" "Aber hast wohl muessen im Bettchen liegen oder im Zimmer bleiben?" "Nein, ich bin alle Tage draussen herumgerannt; ich war gar nicht eine einzige Stunde krank." "Hm!" Mister Brown grunzte voll Behagens, und ich fuehlte mich in der Rolle des blamierten Europaeers nicht recht wohl. So mahnte ich zum Aufbruch. Die Maedchen schlenderten mit dem Kinde voraus, und ich folgte mit Mister Brown in einiger Entfernung. Jetzt wollte ich dem Fuchs an den Kragen. "Ich finde eine merkwuerdige Aehnlichkeit zwischen Ihnen, Mister Brown, und meinem Freunde Stefenson. Sie haben dieselben Augen, dieselbe Nase, dasselbe Kinn und dieselbe Sprache, ja sogar dieselbe Art, sich zu raeuspern. Ist das nicht merkwuerdig?" "Sehr merkwuerdig!" entgegnete Brown. "Ein Schnorrer drueben hat mir mal gesagt, ich saehe Kaiser Wilhelm aehnlich. Dem habe ich es noch halb und halb geglaubt und ihm fuenf Prozent dessen geschenkt, um was er mich anpumpen wollte, aber eine Aehnlichkeit zwischen mir und Stefenson hat noch niemand herausgefunden. Ich bin Ihnen uebrigens fuer die gute Absicht, mir etwas Angenehmes sagen zu wollen, sehr verbunden." Er schaute mich an, und ich blickte in ein stockfremdes Gesicht. Auch glaubte ich trotz des Abenddaemmerns genau feststellen zu koennen, dass dieser Bart nicht angeklebt, dass diese Haare keine Peruecke seien. So wurde ich an meiner Entdeckung irre, und da ich einen zweiten Hineinfall nicht erleben wollte, sagte ich: "Gott, man kann sich taeuschen!" Da blieb er stehen, sah mich an und sagte: "Sie haben mich wohl gar fuer Stefenson selbst gehalten, der Ihnen in einer Ferienmaske was vormimt? Dem alten Knaben waere ein solcher Streich zuzumuten, he?" "Aber nein - aber nein! So aehnlich sind Sie ihm nun doch nicht." "Nun, moeglich ist alles auf der Welt. Hauptsaechlich bei Ferien vom Ich!" sagte Brown vergnuegt. Und er lachte. Es war ein fremdes Lachen. Unterwegs begegnete uns ein Telegraphenbote. Er ueberreichte mir ein Kabeltelegramm, das aus Milwaukee kam und lautete: "Verbindung mit X-Bankverein geloest; weitere Zahlungen durch Dresdner Bank. Stefenson." Die Verhandlungen, von dem Bankverein, mit dem wir bis jetzt gearbeitet hatten, zur Dresdner Bank ueberzugehen, schwebten schon einige Zeit, und dieses Telegramm belehrte mich nun, dass Stefenson in Milwaukee und nicht in Waltersburg war. Meine Phantasie hatte mir wieder einmal einen Streich gespielt ... Waehrend ich den Telegraphenboten abfertigte und das Telegramm las, war Mister Brown den Maedchen nachgegangen, hatte die kleine Luise an den Haenden gefasst und tanzte mit ihr "Ringel-Ringel-Reihen". Die lange Schlottergestalt nahm sich dabei merkwuerdig genug aus, das Kind jauchzte, kam fast ausser Atem, schlug zum Schluss entzueckt in die Haendchen und sagte: "Er tanzt genau so schoen wie Pappa!" "Alle Amerikaner tanzen so schoen, mein Maeuschen", sagte Brown und kuesste das Kind auf die Stirn. Dann zog er die Uhr und sagte: "Der Zug, mit dem ich zurueckfahren wollte, ist ja nun laengst fort. Sie waren so liebenswuerdig, mich sehr lange dazubehalten. Den naechsten Zug aber darf ich nicht versaeumen. Ich muss morgen in Berlin und uebermorgen in Hamburg sein. Mein diesmaliges europaeisches Gastspiel ist aus." "Sie haben nur den kleinsten Teil unserer Siedelung gesehen, Mister Brown." "Oh - ich habe genug gesehen. Den Geist - den Kern! Ich bitte Sie, mir Ihren ausfuehrlichen Prospekt mitzugeben. Daraus werde ich mich informieren, und Sie werden sehen, dass ich am treffendsten das kritisieren werde, was ich nicht gesehen habe." Am Rathausplatz trennte er sich von uns. Ein Angestellter geleitete ihn zur Pforte, wo sein Wagen hielt. Eva Bunkert sah ihm lange nach. "Es ist merkwuerdig", sagte sie; "er hat mich ungeheuer an Stefenson erinnert." "O nein", meinte die kleine harmlose Anneliese, "Mister Stefenson ist doch ganz anders, viel juenger und auch viel huebscher." "Trotzdem! Was meinen Sie, Doktor?" Ich zuckte die Achseln. "Die Amerikaner haben alle dieselbe Art, sich zu geben." "Das trifft es nicht", sagte Eva nachdenklich. Und auch ich geriet wieder ins Gruebeln. "Ich glaube, es ist immer etwas unheimlich, wenn man nicht weiss, mit wem man spricht. Aber das wird ja in Ihrem Heim immer so sein, die Leute werden nie wissen, mit wem sie sprechen. Werden sie da nicht vorsichtig, aengstlich, unsicher werden?" "Gewiss nicht. Gesetzt den Fall, dieser Mister Brown sei der verkappte Mister Stefenson gewesen, wie es ja tatsaechlich den Anschein hatte ..." "Um Gottes willen, Sie glauben das doch nicht etwa?" rief Eva erschreckt. "Und ich haette dann so - so - von Stefenson gesprochen ..." "Aber nein! Stefenson ist in Milwaukee. Hier ist ein Telegramm, das er heute frueh dort an mich aufgab." "Gott sei Dank!" "Ich wollte nur unsere Idee des Unerkanntseins in unserem Ferienheim verteidigen. Sehen Sie, wenn Mister Brown der maskierte Stefenson gewesen waere, waere die Partie unehrlich gewesen. Wir haetten ihn nicht erkannt, wohl aber er uns. In unserem Heim wird das ganz anders sein. Keiner wird den andern kennen. Da wird keine Befangenheit, keine Aengstlichkeit, sondern ein Mut zur Offenherzigkeit sein, der unerhoert ist in der Welt. Die Menschen werden Wahrheiten hoeren, die sie niemals vernaehmen, wenn sie ihren Namen und Stand sagten, sie werden aber auch ihre Meinung sagen duerfen in einer Weise, die niemals moeglich waere, wenn sie ihre wirkliche Persoenlichkeit dafuer einsetzen muessten." "Ach ja", seufzte Eva Bunkert, "die groebsten und ruecksichtslosesten Rezensenten sind die anonymen oder pseudonymen." "Der Friede dieses Ortes wird alle Schaerfe mildern, wird aus der Ruecksichtslosigkeit wohltuende Offenheit, aus aetzender Grobheit klare Wahrheit werden lassen." "Sie meinen es gut mit den Menschen", sagte geruehrt die kleine Anneliese und sah mich mit ihren grossen, braunen Augen dankbar an. Ich aber - ich weiss nicht warum - schaute nach der schoenen Blonden hin. Ich glaube, ich erwartete eine neue Bemerkung von ihr. Aber sie schwieg. Die Maedchen blieben im Forellenhofe. Ich habe vor Monatsfrist im Rathaus Quartier bezogen. Lange schaute ich auf den Lindenplatz hinab. Der Mondschein spielte um den alten Baum. Ich dachte an vielerlei, viel an Eva Bunkert, aber noch mehr gruebelte ich ueber der Frage: War er's? War er's nicht? Am uebernaechsten Morgen erhielt ich zwei Briefe, die ganz dieselbe Handschrift aufwiesen. Der eine Brief war von Stefenson und kam aus Milwaukee; er enthielt allerhand geschaeftliche Weisungen sowie die Mitteilung, dass er, Stefenson, wahrscheinlich erst im Sommer nach Europa zurueckkehren koenne. Der andere Brief war von Mister Brown, trug den Poststempel Hamburg und meldete, dass der Journalist im Begriff stehe, nach Amerika zurueckzukehren, sich noch einmal fuer die freundliche Aufnahme bedanke und inzwischen unseren Prospekt mit Interesse gelesen habe. Ich verglich die beiden Briefe wieder und wieder. Die Schriftzeichen glichen sich ausserordentlich. Haette man je einen der grossen geschwungenen Buchstaben aus den Briefen ausgeschnitten, man haette eine Kongruenz feststellen koennen. Da sagte ich, der Erfinder der Idee von den Ferien vom Ich, zu mir selbst: "Ach, es ist doch gut, wenn man weiss, mit wem man es zu tun hat!" DIE ERSTEN KURGAeSTE Am 1. Mai ist unsere Heilanstalt eroeffnet worden. Die Feier war schlicht. Lehrer Herder hatte es sich nicht nehmen lassen, wieder ein Melodram zu dichten, zu komponieren und zu inszenieren. Das Publikum bestand aus Waltersburgern, unseren Bauern, deren Dienstleuten, unserem Personal und fuenfzehn Kurgaesten. Von diesen fuenfzehn Kurgaesten geniessen zehn Freikur, und von diesen zehn sind sieben Schauspieler ohne Sommerengagement. Stefenson sandte ein laengeres Glueckwunschtelegramm aus St. Louis. Fuenfzehn Kurgaeste! Das war ein magerer Anfang nach der starken Reklame, die wir gemacht hatten. Ich telegraphierte das klaegliche Ergebnis nach Amerika und erhielt von Stefenson die Antwort: "Hatte ich mir gedacht!" Wir beschlossen, die Leute nicht einzeln ueber die Hoefe zu verstreuen, sondern einen Teil in den Forellenhof, einen anderen in die Waldschoelzerei zu geben. Die Schauspieler aber schwaermten nicht fuer Feld- und Waldarbeit; sie wuenschten mehr dekorative Posten. Fuenf von den sieben wollten Nachtwaechter sein, einer bot sich als Hilfsbrieftraeger an, wobei seine Taetigkeit gleich Null gewesen waere, und einer sagte mit mildem Augenaufschlag, er koenne sich nur als Krankenpfleger gluecklich fuehlen. Wir hatten aber keine Kranken. Da stellte der Bauer Emil Barthel vom Forellenhof neben dem Grossknecht, den er bereits hatte, dem "langen Ignaz", noch einen zweiten Knecht ein und sagte zu mir: "Ich hab es Ihn'n gesagt, Herr Doktor, de Stadtleute sein olle faule Luder. Mit den is nischt anzufangen." "Geduld, Barthel, Geduld!" Der Anfang war wirklich klaeglich. Zwar sang Egin Harold, der als Nachtwaechter bestellt worden (und der in seinem Privatberuf Opernsaenger war), das "Hoert, ihr Herr'n, und lasst euch sagen, Die Uhr hat eben zehn geschlagen!" mit tremolierender Empfindsamkeit; aber um Mitternacht sang er noch viel empfindsamer vor dem Hofe des Sonnenbauern, der eine huebsche blonde Magd hatte: "Gute Nacht, du mein herziges Kindl", um 1 Uhr droben am Hange: "Ihr lichten Sterne habt gebracht so manchem Herzen schon hienieden ..."; um 2 Uhr: "Steh ich in finstrer Mitternacht", und von 3 Uhr an: "Morgenlicht leuchtend im rosigen Schein ..." Die benachbarten Hofhunde wurden ob dieser Gesaenge so tief ergriffen, dass sie alle mitsangen, und alsbald lag auf dem Rathaus eine Beschwerde ueber den Nachtwaechter wegen naechtlicher Ruhestoerung. Als nun Egin Harold von dem unmusikalischen Sonnenhofbauern noch gar angedroht bekam, er werde den Hofhund loslassen, wenn der Waechter sein Gesinge vor dem Kammerfenster der Magd nicht einstelle, quittierte der beleidigte Kuenstler seinen Posten und uebergab die Abzeichen seiner Wuerde an seinen Berufsgenossen, den Bassisten Hagen Korrundt, wobei er mit einiger Abaenderung des Lohengrintextes sang: "Den Spiess, dies Horn, den Pelz will ich dir geben. Das Horn soll in Gefahr dir Hilfe schenken, Der Spiess im wilden Kampf dir Mut verleiht, Doch in dem Pelze sollst du mein gedenken, Der jetzt auch dich aus Schmach und Not befreit." Die "Schmach und Not", aus der Hagen Korrundt befreit wurde, bestand darin, dass er, der ein starker Mann war, ein paar Stunden am Tag dem Waldschoelzer hatte helfen muessen, Baeume zu faellen. Jetzt war er als Nachtwaechter vom Tagesdienst befreit. Abends um zehn Uhr bestieg Hagen einen grossen Granitblock, den er den "Fafnerstein" getauft hatte, stand malerisch dort oben in seinem wilden Zottelpelz mit seinem langen Spiesse und seinem funkelnden Horn, sang mit droehnendem Bass die Stunde, kletterte dann vom Fafnerstein wieder herab und ging schlafen. Die Kur bekam Herrn Hagen Korrundt sehr gut. Er erzaehlte mir in der Sprechstunde, dass er frueher an einem chronischen Hungergefuehl, das wahrscheinlich auf nervoeser Grundlage beruhte, gelitten habe. Seit er aber bei uns sei, sei er aller Beschwerden ledig. Als ich daraufhin der Koechin in der Waldschoelzerei ein Lob erteilte, sagte das Weiblein nur zwei Worte: "Er frisst!" - Es ist ein Schauspieler da, der mit seinem wirklichen Namen Eduard Kaesenapf heisst. Als Kuenstler nennt er sich Guido Janello, bei uns aber, da er doch nicht erkannt sein darf, Knut Waterstream. Dieser Knut Waterstream ist duenner als ein Regengerinnsel. Ich schickte ihn zur Arbeit in die Gaertnerei. Einiges erzaehlte mir der Gaertner, einiges beobachtete ich selbst, wie Knut arbeitete. Er sollte duerres Laub zusammenrechen und fluesterte den braunen Blaettern zu: "So wie ein Blatt vom Wipfel faellt, So geht ein Leben aus der Welt, Die Voegel singen weiter!" Stuetzte sich auf den Rechenstiel und stand eine Viertelstunde lang in melancholischer Betrachtung ueber die Verwelkbarkeit des Laubes und anderer irdischer Dinge. Darauf uebergab er dem Gaertner den Rechen und sagte: "Tun _Sie_ dieses Totengraebergeschaeft; ich vermag es nicht!" Ein andermal sollte Knut ein Beet ausjaeten. Er ging siebenmal mit duesterem Antlitz um das Beet herum, spreizte dann alle zehn Finger ueber dies neue verruchte Arbeitsfeld und deklamierte: "Giftiges Kraut, gesaeet mitten unter den Weizen, O du teuflische Saat, wie bist du vom Feinde gestreut! Satanas hat sich dein Korn in hoellischen Scheuern gestapelt, Hat mit beklaueten Fingern diese Aussaat verrichtet, Dass du nun wucherst und waechst; dem gueldenen Weizen zum Schaden, Dass du die Sonne ihm stiehlst, den naechtlichen Tau der Gestirne. Weiche, du teuflische Brut, verkrieche dich tief in den Boden, Krieche zur Hoelle zurueck, zum Satan, von dem du gekommen, Nie mehr soll dich erblicken mein schwer beleidigtes Auge, Einzig soll es sich freuen am goldenen Schimmer des Weizens!" Daraufhin hat der Gaertner Herrn Knut Waterstream belehrt, dass das, was er als Weizen anspreche, in Wirklichkeit junger Kopfsalat sei und dass sich gegen das Unkraut mit Beschwoerungen nichts ausrichten lasse. Man muesse das Zeug Stueck fuer Stueck mit der Wurzel aus der Erde herausziehen; anders gehe es nicht. "Lieber Freund", hat da Knut Waterstream mit melancholischer Stimme erwidert, "wir verstehen uns nicht!" Dann ist er gesenkten Hauptes nach Hause gegangen. * Es soll der Saenger mit dem Koenig gehen. Saenger hatten wir von Anfang an genug; am 10. Mai kam der Koenig an. Ein wirklicher Koenig war es zwar nicht, aber immerhin der Bruder eines regierenden Fuersten, eine Hoheit. Um diese Zeit versandte unser Propagandachef, Herr Levisohn, folgende Notiz an dreihundert Zeitungen: "Der Andrang nach der Kuranstalt 'Ferien vom Ich' zu Waltersburg, der besten und originellsten Heilstaette der Welt, ist enorm. Die ermuedete Intelligenz fluechtet in unseren Frieden; die heimatlosen Kinder der Welt kommen auf ein Weilchen zurueck ins gruenbelaubte Mutterhaus der Natur. Kuenstler von Weltruf, Mitglieder europaeischer Regentenhaeuser sind bei uns eingekehrt. Wie romantisch, wenn ein Heldentenor, der vergoetterte Liebling allen Volkes, bei uns als schlichter Nachtwachtmann mit funkelndem Speer und silbernem Horn durch die im Sternenschein liegenden Gassen schreitet, die Stunden singend, wie es in alten Tagen geschah, oder wenn er einer heimlich geliebten schlummernden Dame sein Troubadourlied singt; wie ruehrend, wenn ein gefeierter Schauspieler voll Lust und mit nie ermuedender Emsigkeit seine Gaertnerarbeit verrichtet; wie ergreifend, wenn der Allerhoechstgeborene Herr, dessen Wink das ganze Land gehorcht, auf dessen Stimmungen die Welt achtet, im demuetigen Bauernkleide, von niemand erkannt, seiner laendlichen Taetigkeit nachgeht! Wahrlich, die Kuranstalt 'Ferien vom Ich' ist ein Triumph der Menschheit, ist der Sieg ueber das Unglueck, ist ein Paradies auf Erden!" Als ich diesen Erguss in den Zeitungen las, wusste ich: auch unser Levisohn war ein Dichter. Einer von bluehender Phantasie. Hoheit kam zu mir und fragte: "Sagen Sie mal, Doktor, ist denn unter den paar Maennchen, die hier bei Ihnen 'rumkrauchen, etwa der Koenig von England oder von Italien drunter?" "Gewiss nicht, Hoheit." "Ja, wer ist denn da mit dem Allerhoechstgeborenen Herrn gemeint, auf dessen Stimmungen die Welt achtet?" "Ew. Hoheit selbst." Hoheit prusteten los und kriegten einen Hustenanfall. Nachher sagten Hoheit: "Verfluchter Kerl, der Levisohn; er macht was aus einem!" - Der Erfolg der Levisohnschen Reklamenotiz war riesenhaft. Es wurden achtzigtausend Prospekte von uns eingefordert, und es meldeten sich ueber dreitausend Kurgaeste an. Ob der nachtwaechternde Heldentenor oder der ackerbauende Fuerst die groessere Anziehung ausuebte, war nicht zu entscheiden. Flugs erschien in Hunderten von Zeitungen folgende Notiz: "Kuranstalt 'Ferien vom Ich', Waltersburg. In einer Woche 83 000 Menschen, die an die Pforten unseres Heims anklopften!!! Auf absehbare Zeit koennen wir trotz unserer riesigen Anlagen neue Gaeste nicht aufnehmen, da jeder unserer Feriengaeste ganz individuell behandelt werden muss. Vornotierungen aber zulaessig." Diese hochmuetige Kuerze tat noch groessere Wunder. Unser Buero konnte die Berge von Zuschriften nicht im geringsten mehr bewaeltigen. Ich telegraphierte unsere fabelhaften Erfolge nach Amerika. Und wieder traf die Antwort ein: "Hatte ich mir gedacht!" * Hoheit ist ein recht liebenswuerdiger Kurgast. Hoheit ist ueberhaupt einer, der seiner zu grossen Nachsicht gegen sich selbst die Erschlaffung seiner Nerven verdankt. Wir Aerzte druecken das hoeflich aus: Er hat zu konzentriert gelebt. Es ist schoen, dass wir unsere fachmaennischen Ausdrucksformen haben; denn es wuerde sich stilistisch nicht gut ausnehmen, wenn man sagte: Hoheit ist vielleicht eine ganz gute Haut, aber ein bisschen Schweinekerl und Liederjan! Also, Hoheit haben zu konzentriert gelebt und sind vielleicht nur zu uns gekommen, weil sie hier ein Feld fuer originelle Extravaganzen wittert. Rares wittert. Alles andere liegt hinter diesem Mann, schwere Familienratsbeschluesse, unfreiwillige Reise um die Erde, zeitweilige Verwendung in den Kolonien, Aussoehnung mit dem Familienchef, abermaliges Fallen in Ungnade, morganatische Ehe, Scheidung, Schulden, Zeitungsskandale und was so zum Bilde des tollen Prinzen gehoert. Drei Tage hat Hoheit in der Besinnungseinsiedelei zugebracht und mir einen Lebensbericht eingereicht, ueber dem mir die Haare zu Berge gestanden haben, obwohl ich als Arzt und Weltumsegler ja gerade nicht unerfahren und pruede bin. Am Schluss stand: er habe sich eigentlich erschiessen wollen, aber er koenne ja noch mal diese "neue Chose" probieren, ob ihm noch ein bisschen Geschmack am Leben beizubringen sei. Das Leben komme ihm so eklig und wertlos vor wie ein alter schmutziger Kupferdreier, fuer den man keine Zwiebel mehr zu kaufen kriegt. Er gebe sich ganz in meine Hand, wolle alle Arbeit tun und bitte, mit ihm recht rauh zu verfahren; es sei ihm immer am wohlsten gewesen, wenn ihm gelegentlich mal sein hoher Bruder, Landesherr und Familienoberhaupt, ein paar Ohrfeigen angeboten habe. Dann habe er auf Sekunden das Gefuehl gehabt, dass er und sein Leben noch ernst genommen werden koennen. Heissen wolle er Max Piesecke. - "Also, lieber Piesecke", sagte ich in der Sprechstunde zu ihm; "dass Sie ein grosser Lumpenkerl sind, wissen Sie und brauche ich Ihnen nicht erst zu sagen. Hoechstwahrscheinlich laesst sich mit Ihnen nichts mehr anfangen. Erschiessen werden Sie sich nicht, dazu fehlt Ihnen die Courage. Aber miserabel zugrunde gehen werden Sie! Es wird weh tun, Piesecke; Sie werden die Waende auskratzen, ehe Sie hin sind! Aber, Piesecke, sehen Sie - ich glaube, ungefaellig sind Sie nicht. Sie haben auch noch Sinn fuer Humor. Nun, Piesecke, es waere doch ein kolossaler Witz, wenn aus Ihnen noch mal ein brauchbarer Kerl wuerde! He? Sie muessen selbst darueber lachen! Und fuer mich waere es gut - wegen Ihrer Familie. Also versuchen wir's halt. Gelingt's, freue ich mich; gelingt's nicht, schmeisse ich Sie 'raus!" "Wahrscheinlich werden Sie mich 'rausschmeissen!" sagte Piesecke nachdenklich. "Sie sind ein schlechter Pessimist, Piesecke! Sehen Sie, wenn Sie ein bisschen Philosophie im Leibe haetten, muessten sie wissen: es gibt keinen grimmigeren Spass, als ein Pessimist zu sein und ueber den Pessimismus zu lachen!" "Wie? Bitte, schreiben Sie mir den Satz auf!" "Gern!" Ich schrieb den Satz auf einen Zettel, uebergab ihn Piesecke und sagte: "Stecken Sie sich dieses Wertpapier in Ihre Jackentasche und verlieren Sie es nicht! Und nun werde ich Ihnen noch etwas sagen, Piesecke! Sie werden hoechstwahrscheinlich nach acht Tagen bei uns ausreissen wollen. Sie sind gar nicht imstande, bei uns zu bleiben und das Gesundungsleben durchzufuehren. Dazu fehlt Ihnen die Willenskraft. Und um nicht unnuetzerweise acht Tage lang meine Zeit mit Ihnen zu vergeuden, werden wir einen notariell aufgenommenen Kontrakt machen. Er wird kurz sein und lauten: Falls ich nicht ein Jahr lang im Waltersburger Kurheim 'Ferien vom Ich' aushalte oder mich den Anordnungen des dirigierenden Arztes nicht fuege, zahle ich eine Million Mark Reugeld." "Was?" schrie Max Piesecke. "Wenn ich so etwas tue und mein Bruder erfaehrt es, schlaegt er mich tot!" "Schoen! Dann habe ich nicht mehr noetig, Sie zu kurieren." Piesecke sank in sich zusammen. "Ich bin immer Erpressern in die Haende gefallen", jammerte er. "Morgen nachmittag 41/2 Uhr wird der Notar hier sein", entgegnete ich ruhig; "Sie werden dann entweder das von mir aufgesetzte Abkommen unterzeichnen oder Ihrer Wege gehen." "Ferien vom Ich!" stoehnte Piesecke; "ich habe gar keinen Willen mehr." Am naechsten Tage, um 4,35 Uhr, unterschrieb vor dem Notar, meinem Vertrauten, Max Piesecke das von mir gewuenschte Abkommen mit seinem hochfuerstlichen Namen. "Nun passen Sie mal auf, Piesecke", sagte ich, "jetzt wird noch was aus Ihnen!" ------------------------------------------------------- All unsere Hoefe sind mit Kurgaesten besetzt. Wir haben so viel Anmeldungen, dass wir die Wahl haetten, wen wir aufnehmen wollen, aber wir gehen der Reihenfolge der Anmeldungen nach. Ich habe von frueh bis spaet Arbeit, obwohl unser Aerztekollegium immer groesser wird. Es lastet zuviel Geschaeftliches auf mir. Das drueckt auf die Seele; denn ich bin kein Kaufmann. Was tut mir doch dieser Stefenson an, dass er gerade jetzt, wo er hier am noetigsten waere, in Amerika sitzenbleibt? Soviel ich auch schon an ihn schrieb und telegraphierte, er kommt nicht zurueck. Immer die gleiche Antwort: "Ich bin hier noch unabkoemmlich." Unser Direktor - ein frueherer Offizier - ist zum Glueck ein tuechtiger Mann. Es ist Schwung in seinen Gedanken, er hat Initiative und Spuersinn. Wie ein guter Jagdhund ist er, er hat's in der Nase, wenn er ueber das weite Gelaende unseres Arbeitsfeldes schnuppert, wo irgendwo in einer geheimen Furche ein verborgener Erfolg aufzustoebern ist. Er ist aus dem Holz, aus dem die guten Feldherren, Diplomaten, Kaufleute geschnitzt sind. Die leitet alle ein unfassbarer Instinkt, eine Art sechster Sinn, den andere Leute nicht haben. Der Direktor heisst von Bruesen und wird wegen seines wuerdevollen Auftretens von den Kurgaesten "der Herr Praesident", von den Angestellten aber "der Direks" genannt. Oft habe ich bei seinen Massnahmen das Gefuehl: genau so wuerde Stefenson gehandelt haben. Bruesen ist auch von Stefenson angestellt worden. Mein Geschaeftsfreund hat den Offizier a. D. mal irgendwo kennengelernt, sich mit ihm etwa zwei Stunden unterhalten, dabei - wie er schrieb - gefunden, "dass sich dieser Mann zwei verschiedene Dinge auf einmal vorstellen koenne, was nur sehr wenig Menschen vermoechten", dass er ferner "zu klug sei, um die Alltagsklugheit zu haben", dass er nicht in den Doppelsohlenstiefeln aengstlicher Vorsicht einherstampfe, in denen man von hundert Schnellfuesslern ueberholt werde, und dass er von guter, zaeher Geistesmuskulatur sei. So hat sich Stefenson die Adresse dieses Herrn gemerkt und ihn fuer uns nun an den Tag gezogen. Es ist ein Glueck, dass dieser Direktor da ist. Was taete ich ohne ihn? Einen Entscheid faellt er fast nie sofort. Er will, wenn es sich um wichtigere Angelegenheiten handelt, immer einen Tag oder doch einige Stunden Bedenkzeit. Dann steht aber auch seine Meinung felsenfest. Und er entscheidet immer so, wie ich annehmen moechte, dass Stefenson entschieden haben wuerde, auch manchmal in Dingen, die viel Geld kosten, so waghalsig, so wurstig, so ohne Skrupel, wie es eben nur ein reicher Mann kann, der so fest steht, dass er weiss: ich kann nicht fallen, komme, was wolle. Ein paarmal sah ich den Direktor scheu von der Seite an. War er etwa gar ... Das war krasser Unfug. Dieser kleine Schwarzbart mit dem runden Baeuchlein war bestimmt nicht der grosse, hagere Stefenson. Auch in dem Journalisten Brown haette ich nichts anderes vermuten sollen als eben den Mister Brown. Ich muss mich wahrhaftig erst in die Ausfuehrung meiner eigenen Idee von der Unpersoenlichkeit meiner Kurgaeste gewoehnen. Es wird mir schwer, in dem Nachtwaechter Korrundt nicht den Opernsaenger zu sehen, ja, es wird mir sogar schwer, unsere verbummelte Hoheit mit Piesecke anzureden. Dabei ist doch der Mann wirklich mehr Piesecke als Hoheit. Ich bekuemmere mich absichtlich nicht um die Personalien der Kurgaeste, die ich nicht selbst behandle, sehe keine unserer Geheimlisten ein, soweit ich es nicht als leitender Arzt tun muss. So begegne ich Menschen auf unseren Wegen, sehe Leute in unseren Gaerten und auf unseren Feldern arbeiten, von denen ich nicht weiss, wer sie sind, woher sie kommen, wohin sie gehen, von denen mir nur bekannt ist, dass sie aus einer drueckenden Enge entflohen sind in das Reich unserer gruenen Gesundheit. Der Sekretaer, der unsere Statistik macht, sagte mir, dass neunzig Prozent unserer Kurgaeste aus Grossstaedten kommen. Ich glaube das gern. Die Grossstadt ist keine gute Mutter. Dazu sind ihre Arme und Haende zu steinern hart, ist ihre Sprache zu laut und liebeleer, sind ihre Sinne zu flunkerig, sind ihre Wuensche ohne Heimlichkeitssinn zu sehr auf den Engrosramsch der Genuesse gerichtet, ist ihr Aufputz zu sehr abgespart den wahren Beduerfnissen ihrer Kinder. Von den Palastraeumen ihrer Verwaltung aus regiert diese Stiefmutter Grossstadt ihre Familie, die zum groessten Teil in dumpfen Winkeln hockt und in engen Kammern schlaeft; in ihren glaenzenden Parkanlagen duerfen barfuessige Jungen und zerlumpte Maedchen spazierengehen. Wie die niedertraechtigste Amme, die ihren unruhigen Zoegling mit Schnaps betaeubt, errichtet sie in all ihren Vorstaedten Destille neben Destille. Und wenn die Kinder gar zuviel darben und zu murren beginnen, schenkt ihnen diese "Mutter" Grossstadt einige Bonbons "oeffentlicher Fuersorge" oder billiger Lustbarkeit, Bonbons, die nicht satt, stark und gesund machen koennen, sondern nur den Magen ansaeuern und die Zaehne des Willens und Charakters verderben. Wann endlich wird die Menschheit des truegerischen Schimmers muede sein, in Scharen ausziehen aus dem ungesunden Hause der Stiefmutter Grossstadt und im grossen Ferien machen von diesem jammervollen Ich? ------------------------------------------------------- Heut ist ein Unglueck passiert. Annelies von Grill und Eva Bunkert wollten als Kurgaeste zu uns kommen und beim Forellenbauer wohnen. Der Bauer hatte seinen Spazierwagen nach dem Bahnhof geschickt zur Abholung. Sein Knecht, der lange Ignaz, spielte den Kutscher. Aber auch Piesecke fuhr mit. Hoheit will sich in die Geheimnisse der Kunst einweihen lassen, ein Bauerngefaehrt auf einem etwas holperigen Feldweg mit Geschick zu leiten. Auf dem Rueckwege ist dann das Unheil geschehen. Piesecke hat kutschiert und gerade dort, wo der Weg eine steile Boeschung hat, umgeworfen. Die Damen sind den Abhang hinuntergekugelt, die beiden Kutscher desgleichen, und die scheu gewordenen Pferde haben den umgekippten Wagen hinter sich hergeschleift und greulich zugerichtet. Von den vier abgepurzelten Personen hat sich der Knecht Ignaz zuerst erhoben. Er hat sich erst die Glieder zurechtgeschlenkert, dann die Wahlstatt ueberschaut und darauf zunaechst mal dem ungluecklichen Piesecke ein paar ungeheure Ohrfeigen versetzt. Darauf ist Ignaz den Pferden nachgerannt, hat sie zum Stehen gebracht, sich ueberzeugt, dass mit dem Wagen nicht weiterzufahren sei, und ist dann zu den Damen zurueckgekehrt. Annelies ist ausser dem Schreck nichts passiert, die schoene Eva hat sich einen Fuss verstaucht. Ignaz hat die holde Blonde auf seinen kraeftigen Buckel laden und nach Hause tragen wollen, doch das hat sie abgelehnt. Piesecke hat nichts zu sagen gewusst als: "Pardon, pardon, es ist mir dieses alles sehr fatal." Schliesslich hat Eva dem Knechte befohlen, ein Pferd auszuspannen, sie hinaufzuheben, und ist so halb lachend, halb weinend bei uns eingeritten. Am selben Tage noch kam Hoheit zu mir, um wegen der erhaltenen Ohrfeigen Beschwerde zu fuehren. Er sei - so sagte er - immerhin ein Kurgast, und Ignaz sei ein gemieteter Knecht. Er muesse gegen solche Behandlung Protest einlegen. Ich aber sagte: "Piesecke, ich habe so viel Wichtiges zu tun, dass ich mich wirklich nicht darum kuemmern kann, wenn sich mal zwei unserer Kutscher pruegeln." Darauf erhellte sich Pieseckes Gesicht, und er sagte: "Jawohl, ich sehe es ein! Wenn ich mich koerperlich werde gekraeftigt haben, werde ich ihm die Ohrfeigen zurueckgeben." "Das muessen Sie", erwiderte ich; "das gebe ich Ihnen auf; das werde ich Ihnen direkt in die Kurverordnung schreiben, lieber Piesecke!" SOMMERABEND Die Arbeit war getan; ich war frei. Eigentlich wollte ich ja hinauf zum Hirtenhaus, aber ehe ich mich's versah, schlenderte ich doch wieder zum Forellenbauer hinab. Ich redete mir ein, ich muesse mich um mein Sorgenkind Piesecke bekuemmern, und so nebenbei koenne ich ja nach Eva fragen, deren kranker Fuss allerdings von einem Kollegen behandelt wird. Das Maedchen sass vor der Haustuer auf der gruengestrichenen Bank und putzte Gemuese. Sie heisst hier einfach "Hanne". Einen Familiennamen fuehrt sie nicht, ebensowenig wie Anneliese, die sich in "Baerbel" umgetauft hat. Am Hoftor blieb ich stehen. Ein liebliches Bild! Abendsonne bestrahlte das schoene Maedchen, eine weisse Taube sass auf der Rueckenlehne der Bank, ein goldgefiederter Hahn blinzelte mit seinen Aeuglein zu dem Maedchen empor, wartend, ob fuer ihn etwas abfalle. Dann kam der grosse Zottelhund, wedelte mit seinem buschigen Schwanz den Hahn gutmuetig, aber bestimmt zur Seite, nahm dessen Platz ein und sass in stummer Bewunderung vor der schoenen Frau. Und noch ein anderer schaute verliebt zu dem Maedchen hin, das war Piesecke, der an der Stalltuer lehnte und eine Sense in der Hand hielt. Oh, den armen Piesecke scheint es ganz arg erwischt zu haben. Er verdrehte die Augen und seufzte einmal so laut, dass man es ueber den Hof hinweg hoerte. Ich aergerte mich ueber den Menschen. Gleich wurde mir eine Genugtuung. Eine derbe Faust kam aus der Stalltuer heraus, gab dem traeumenden Piesecke einen Stoss in den Ruecken, dass er samt seiner Sense in den Hof taumelte, und eine rauhe Stimme rief: "Schlaf nicht, du Doeskopp! Mach, dass du aufs Kleefeld kommst!" Die schoene Hanne blickte auf und lachte, Piesecke geriet in Wut, fuchtelte mit seiner Sense ein wenig vor der inzwischen geschlossenen Stalltuer herum und ging dann niedergeschlagen ueber den Hof. Am Tor traf er mich. "Das ist eine Gemeinheit", sagte er und hatte Traenen in den Augen. "Piesecke", troestete ich ihn, "ich bin Zeuge dessen gewesen, was jetzt vorfiel. Das ist gegen jede Ordnung, ist gegen den Sinn unseres Ferienheims. Der Knecht Ignaz hat sich gegen einen Kurgast solche Frechheiten nicht herauszunehmen. Ich werde energisch mit dem Bauern reden. Oder soll ich Sie auf einem anderen Hofe unterbringen?" "Um Gottes willen nicht", rief Piesecke erschrocken; "ich - ich - da hielte ich's ja gar nicht aus auf einem anderen Hofe ... ich - ich hab mich ja schon so - so - an den Grobian gewoehnt." Und er ging gesenkten Hauptes mit seiner Sense davon. Ich begruesste eben die blonde "Hanne", da trat auch schon der Bauer Barthel aus der Haustuer. Das war mir nicht lieb, und so sagte ich ein bisschen unwirsch: "Barthel, das geht aber nicht, dass Sie Knechte mieten, die unsere Kurgaeste verpruegeln. Denken Sie mal, wenn das in der Oeffentlichkeit bekannt wuerde! Da kaeme niemand mehr zu uns. Den langen Ignaz muessen Sie entlassen." "Ich kann nich, Herr Dukter", erwiderte Barthel achselzuckend. "Ma kriegt so schwer 'n gutten Knecht. Kurgaeste kriegt ma zehnmal leichter wie 'n Knecht. Und a Ignaz, den kenn ich vu Jugend uff, das is a ganzer Kerle. Der schofft's! Wos sull ich machen, jetzt, wu die Ernte kummt? Ich kann doch nich die Ernte mit 'm Piesecke machen! Se sullten mal zusehn, Herr Dukter, wenn der Piesecke Gras haut. Bluss die Spitzen schneid't a ab, de Sense fuchtelt immer in der Luft 'rum. Oder sie bleibt in eem Maulwurfhaufen stecken. Es ist jaemmerlich!" "Wie lange wird denn Herr Piesecke hierbleiben?" fragte Hanne. "Das duerfte ich eigentlich nicht sagen", erwiderte ich, "aber ich glaube ein ganzes Jahr!" "Um Gott's willen!" stoehnte Barthel. "A Jahr lang! Da hat mir der Kerl 'n ganzen Hof ruiniert. Was soll ooch so'n Sargfabrikant von der Bauernwirtschaft verstehen." "Wieso - Sargfabrikant?" Barthel laechelte ueberlegen. "Eener vom Grundhofe kennt ihn. Piesecke is Sargfabrikant in Hannover und heesst eegentlich Robert Ebbing. Ich hab das vom Sargfabrikanten gleich geglaubt; denn 'n sehr traurigen Eindruck macht a doch. Aber ich hab mir gesagt, a muss doch da was von der Tischlerei verstehn. Da sollt a mir vorgestern 'ne Kiste zunageln. Das haetten Se sehn muessen! Olle Naegel krumm oder in die Luft gekloppt. Das weess ich: in een Sarg, den der Piesecke gemacht hat, leg ich mich amal nich! Eh da die Saenger mit 'Es ist bestimmt in Gottes Rat' fertig waeren, braech der Boden und ich laeg draussen!" "Also, das alles glaub ich nicht", warf die blonde Hanne lachend ein; "Piesecke stammt aus einer besseren Familie; das merkt man ihm schon an." Ich zuckte die Achseln. "Es darf hier ein jeder vermuten, was er will." "Meinetwegen mag er sein, was er Lust hat", sagte Barthel brummig; "Hauptsache, ich waer ihn los." "Geduld, Barthel, Geduld!" "Geduld braucht ma maechtig viel mit den Staedtern. Also fuenfundzwanzig Stueck Kurgaeste hab ich jetzt. Ausser mit der kleen'n Baerbel hab ich mit allen Schererei. Na, ich brumm nicht etwa, Herr Dukter; fuer die Aergerei mit a Staedtern bin ich ja da und hab ich mein feines Auskumm'. Ich sag bloss: Aerger machen se alle." "Aber doch nicht ich!" rief Hanne. "Sie ooch", sagte Barthel melancholisch; "meine Alte is uff Sie eifersuechtig." "Barthel!" Dem Maedchen blieb der huebsche Mund offenstehen. "Ja, ja, ich hab ihr zwar gutt zugeredt und gesagt: Alte Schraube, es passt sich nich, dass du uff deine alten Tage eifersuechtig wirst. Aber se sagt, es passt sich nich, dass ich su oft mit Ihn'n plaudere, und ich taet Augen machen." "Was taeten Sie machen?" "Augen! Nu ja, ich kann doch nich als Blindekuh vor Ihn'n stehn!" Das Maedchen machte ein erheuchelt ernstes Gesicht. "Also, Barthel, diese Augen lasse ich nicht auf mir sitzen. Ich werde Ihre Frau Gemahlin zur Rechenschaft ziehen." "Um Gottes willen nich! Wenn das 'rumkummt, schrei'n ja die Leute Feuer!" Da trat Frau Susanne Barthel aus der Haustuer. "Hatt' ich mir's nich geducht? Steht a nich schon wieder?" sagte sie. "Ja, Frau Barthel", rief Eva, "und er macht Augen auf mich!" "Nich wahr, Fraeulein Hanne, Sie haben ooch Ihren Spass an dem alten Esel?" Das Weiblein fing an zu lachen, dass ihr die Augen traenten. "Also, wenn der Augen macht", schluchzte sie unter Lachen, "da kommt keen gestoch'nes Kalb dagegen auf." "Weib", schrie Barthel erbost; "du bist eifersuechtig. Du hast keen'n Grund dazu!" "Nee, nee", schlenkerte die dicke Susanne prustend mit den Haenden; "du kannst um de ganze Welt 'rum Augen machen, 's faellt keener druff 'rein!" Und sie ging vergnuegt ins Haus zurueck. Barthel stopfte ob des vernichtenden Urteils ueber seine maennliche Anziehungskraft die Haende in die Hosentaschen und sagte: "Das is eene Gemeinheit! Immer lacht se, schon wie se noch meine Braut war, lacht se mich immer aus." "Seien Sie doch froh, Barthel, dass Sie eine so lustige Frau haben." "Nee, nee, Herr Dukter, olles mit Respekt gesagt, aber das verstehen Se nich! Sie sind nicht verheirat't. Sehn Se, wenn a Weib schimpft, oder wenn se flennt, oder wenn se mit Tellern schmeisst, oder wenn sie furtlooft, koenn'n Se sich immer noch Ihren Kopp ufsetzen; aber wenn se lacht, sind Se geliefert." Nach dieser Bemerkung hob der Philosoph aus dem Volke den Kopf und lachte selber. Und ich benutzte die Gelegenheit und bat Barthel, mir seine Meinung ueber seine Kurgaeste mitzuteilen. Sowenig ich mich sonst um den Stand der von mir persoenlich nicht behandelten Kurgaeste kuemmere - wer auf dem Forellenhof lebt, weiss ich. Ach, ich wollte es mir ja immer noch nicht zugestehn, aber ich glaube oft, dass ich selbst "Augen" auf die schoene Eva Bunkert mache, die hier "Hanne" heisst. Und wenn ich ehrlich sein will, ist das auch der Grund, warum ich gerade die Besucherliste des Forellenhofes kenne. Jetzt sagte ich gutgelaunt: "Also, Barthel, schiessen Sie mal los mit Ihrem Aerger ueber unsere Kurgaeste." Ich hatte mich inzwischen zu Hanne auf die Bank gesetzt, Barthel hockte auf einem umgekehrten Kartoffelkorbe uns gegenueber. Er machte sein philosophisches Gesicht und sagte: "Aerger kann man's eigentlich nich nennen, man muss mehr sagen, keen richtigen Respekt nich. Also, vom Piesecke will ich nich reden, der aergert mich wirklich. Das is 'n Huhn! Wahrscheinlich hat a zuviel Saerge gemacht, zuviel Geld eingenummen, und da is es halt su geworden. Aber zum Beispiel der Lempert. Also, in dessen Kurverordnung, die er mir als 'm Hausherrn doch abgeben muss, steht: Aufstehn halb sechs. Um halb sechs geht der Ignaz wecken. Lempert brummt nich amal. Um dreiviertel weckt Ignaz wieder. Lempert schreit: a sull die Schnauze halten! Um sechse geh ich selber und hau an die Tuer. Lempert schmeisst seine Stiefel dagegen und schreit, ich sull mich zum Teufel scheren. Um viertel sieben trommeln wir beide so an die Tuer, dass 's ganze Haus wackelt, 's ruehrt sich nischt. Um halb sieben droh'n wir, die Tuer einzuhauen. Da kummt Lempert hinter uns die Treppe 'rauf und fragt seelenvergnuegt, warum wir eigentlich vor seiner Tuer so eenen Skandal machen; a waer doch schon lange munter. Is der Kerl heimlich uffgestanden und hat die Tuer von aussen verschlossen. Naechsten Tag dieselbe Chose. Um halb sechs Ignaz (Lempert brummt), um dreiviertel sechs Ignaz (Schnauze halten!), um sechs ich (er schmeisst mit Stiefeln). 'Jetzt, Ignaz', sag ich, 'is Schluss, jetzt steht er heimlich uff.' Um neune is 'n Bote vom Rathaus bei mir, warum der Lempert nich zur Kur gekommen sei? Schlaeft der Vagabund noch! Da soll ma sich nich aergern!" Lempert war ein Rechtsanwalt aus Leipzig. "Fahren Sie fort, Barthel. Schildern Sie mir noch einige Ihrer Kurgaeste." "Also, da ist der Emmerich, der komponiert mir 'n ganzen Hof voll. Auf'm neubehobelten Kartoffelwagen hat a 'n ganzes Brett vollkomponiert, er komponiert die Hausflurwaende voll, er komponiert ans Butterfass, er komponiert auf die Tischtuecher, er hat sogar (entschuldigen, Fraeulein Hanne!) auf den Klosettdeckel einen Rundgesang komponiert. So ein verruecktes Huhn is das! Ich hab'n gefragt, ob er Kapellmeister oder Kantor war, da hat er gesagt: Nee, er waer Gesanglehrer in eener Taubstummenanstalt. Von sein'n Schuelern liesse er seine Kompositionen auffuehren. Das nennte sich primitive Kunst. Und gerade so 'n Schmierfinke wie der Emmerich is der Maler Methusalem. Das is erst eine Nummer! Der behauptet, er waere 998 Jahre alt. In zwei Jahren zu Pfingsten feiert a seinen tausendsten Geburtstag. Da will er uns alle einladen. Den naechsten Tag taet er dann sterben, da koennten wir gleich zum Begraebnis dableiben. Die Sache haette sich so zugetragen, dass er vor etwa tausend Jahren 'n maechtiger Koenig gewesen waer; aber er haett' 'n Verbrechen begangen, und da haett' 'n een sehr kraeftiger Fluch getroffen, und da haett' er gleich nach seinem Tode sich immer wieder aus 'm Grabe 'rausbuddeln und in anderer Gestalt 'n neues Leben beginnen muessen, und es sei immer sehr bergab gegangen mit sein'n diversen Leben, bis er zuletzt haette als deutscher Maler auf die Welt gemusst. Da sei das Mass seiner Busse voll geworden, und er duerft jetzt definitiv sterben. Also - was hat dieser Methusalem gemacht? Ich hab ein neues Schaff gekauft. 's erstemal kommt's in Gebrauch. Schneeweisses Buchenholz. Da schuettet meine Frau Rueben in das Schaff, pfeift 'm Methusalem und sagt: 'Methusalem, stampfen Se mal die Rueben huebsch klein!' Was macht er? Er beguckt sich das schoene weisse Schaff, dreht's um, schuettet die Rueben aufs Pflaster und malt auf 'n auswendigen Boden vom Schaff meine Alte. Die is nu immer wieder hergelaufen gekommen, hat gelacht und geschimpft auf den Methusalem, und er hat sie immer angeguckt und drauflos gestrichelt. Da is se ausgerueckt und er 's Schaff sich ueber'n Kopf gestuelpt und immer hinter der Susanne her. Und wo er sie erwischte, schnell ihr ins Gesicht geguckt und 'n paar Striche gemacht. Und dann ging die Jagd von neuem an. Das nennt sich nu landwirtschaftlicher Betrieb bei uns!" "Hat denn der Methusalem die Zeichnung fertiggestellt?" "Freilich! Fuenf Tage lang is a mit sein'm Schaff auf 'm Kopp hinter der Susanne wie wahnsinnig hergewest. Se is ganz ausser Atem gekommen und hat gesagt, a muesst wirklich 'n sehr schwerer Verbrecher sein. Aber das Bild is nu fertig. Ich sag Ihn'n, su 'ne alte Eule haben Se Ihrer Lebtage noch nicht gesehen." "Kann man das Bild nicht mal sehn? Sie haben dieses Schaff hoffentlich nicht wieder als Schaff benutzt?" "Nee! Meine Alte hat das Bild abscheuern woll'n, aber da haben alle Kurgaeste Laerm gemacht." "Die Zeichnung ist koestlich!" warf Eva ein. "Wo ist denn das Schaff?" "Oben in seiner Stube hat's der Methusalem eingeschlossen. Aber ich hab ja 'n zweiten Schluessel." "Holen Sie's mal!" "Wenn mich die Susanne erwischt, kommt sie gleich mit der Schmierseife und der Scheuerbuerste hinter mir hergesaust." "Holen Sie es. Wir stehen Posten." Ich wusste, dass dieser Methusalem ein bekannter ausgezeichneter Karikaturist war. Als Barthel mit dem Schaff ankam und ich die Zeichnung sah, war ich entzueckt. Ich sah ein Meisterwerk! Diese ganze pfiffige, durchtriebene, lachlustige, dicke Susanne lebte, atmete, schimpfte, lachte, kommandierte, pfiff auf der Zeichnung. "Es ist herrlich", rief ich; "es ist zum Kuessen schoen!" "Weib!" schrie da Barthel begeistert, "Weib, komm 'raus, der Doktor will dir 'n Kuss geben." Susanne kam heraus, sah das Schaff, kreischte, versuchte einen wilden Angriff auf ihr Bildnis und erstarrte, als ich ihr sagte, wenn Herr Stefenson die Zeichnung saehe, wuerde er wahrscheinlich ein- oder zweitausend Mark dafuer zahlen. Die erblasste Susanne rief: "Ich kann doch keene so scheussliche alte Schachtel sein wie die da!" "Das ist keine scheussliche alte Schachtel", sagte Eva freundlich; "das ist eine sehr liebe, lustige Muttel!" "Siehste, Alte", hoehnte Barthel, "wenn du um die ganze Welt reistest, 's koennte dich keen Maler schoener uffmalen, als du eben bist. Aber ich bin nich eifersuechtig, wenn ooch der Methusalem fuenf Tage hinter dir hergerast is wie verrueckt." Mit dieser rachsuechtigen Bemerkung schlug Barthel seine Gattin aus dem Felde. "Holdrioho hoho!" jodelte einer draussen vor dem Tore. "Um Himmels willen", rief Barthel, "das is der Methusalem. Wenn der spuert, dass ich in seiner Stube gewest bin! Der tausendjaehrige Kerl hat Kraefte wie 'n Baer." Und Barthel nahm das Schaff auf den Kopf und verschwand eilends im Hause. Eva-Hanne sagte: "Ich hab immer gern in meinem Leben gelacht, aber so viel wie in den drei Wochen, da ich hier bin, noch nie." "Lachen ist gesund." "Ganz gewiss. Ich sehe, wie alle um mich her taeglich gesuender und heiterer werden. Heiter kann man es zwar nicht nennen, mehr ausgelassen." "Ja, sehen Sie, Eva, die Ausgelassenheit ist nur ein ansteigender Talweg zu dem Berge der Gesundheit und des Glueckes, die Heiterkeit ist der letzte, klare Gipfel. Zu ihm gelangen wir spaet, erst, wenn wir lange und muehevoll gestiegen sind, erst, wenn es still und einsam um uns geworden ist, erst, wenn unsere Augen weithin sehen koennen, ueber alle Tiefen, die unter uns, und alle Hoehen, die ueber uns waren." "Sind Sie selbst schon auf der Hoehe?" "Ich gewiss nicht. Ich bin nichts als ein Wegzeiger, der im Tale steht, die Hand ausstreckt und sagt: Da geht es hinauf!" "Vielleicht ist's gut so", meinte Eva nachdenklich; "wenn Sie selbst schon oben staenden, koennten Sie nichts anderes als winken. Und da wuerde sich mancher sagen: was will der winkende Mann auf dem steilen Gipfel; er ist wohl in Not und fuerchtet sich allein dort oben?" "Ich finde, Fraeulein Eva, dass wir uns gut verstehn!" Ich sah ihr heiss in die Augen. Ihr Blick begegnete mir freundlich, aber kuehl. Dann senkte sie das Haupt und sah vor sich hin. Der lange Ignaz schlurfte vorbei. Er brummte einen Gruss und rueckte kaum am Hut. "Ein unfreundlicher Mensch", sagte ich, nur um etwas zu reden. "Wenn er nur nicht mal Unheil anrichtet!" "Der Bauer braucht ihn. Aber er ist mir auch manchmal unheimlich." "Holdrioho hoho!" jodelte es nun dicht vor dem Tore. Ein starker Kerl erschien, der brachte eine dicke Weibsperson auf einem Schiebkarren gefahren. "Das ist Methusalem", belehrte mich Eva; "er bringt die dicke Cenzi vom Felde heim." Cenzi war - wie ich wusste - die Gattin eines Berliner Bankiers. In ihrem Dirndlkostuem sah sie ein wenig schnurrig aus. Methusalem fuhr seine holde Last bis in die Mitte des Hofes, kommandierte "Alles aussteigen!" und kippte den Schubkarren um. Cenzi quiekte, ueberkugelte sich zweimal, kam dann jauchzend auf uns zu in einer merkwuerdigen Gangart, die etwa so aussah, wie wenn eine Ente den Trippelschritt einer Taube versucht, und sagte: "Denken Sie, der schlechte Mensch; auf dem Schubkarren faehrt er mich, aber zeichnen mag er mich nicht!" Methusalem schnitt ein Gesicht hinter ihr, das deutlich ausdrueckte: "Lohnt nicht den Fassboden!" Dann sagte er: "Ich bin kein Zeichner; ich bin ein Feldarbeiter. Und das Schubkarrenfahren ist wichtiger fuer Sie, Cenzi, als das Geportraetiertwerden. Sie haben drei Heukappen auf einen Platz zusammengetragen und waren daher mit Recht so erschoepft, dass Sie per Achse nach Hause gebracht werden mussten." "Er ist ueber so viele Steine hinweggefahren", klagte Cenzi; "ich bin buchstaeblich wie geraedert." "Das wird besser werden, Cenzi", troestete Methusalem, "wenn unser Vater Barthel erst einen Schubkarren mit Federung und Gummirad angeschafft hat. Es ist ein Skandal, dass er noch keinen solchen besitzt. Er ist ein rueckstaendiger Landwirt." "Oh, Sie Spoetter!" floetete Cenzi; "aber passen Sie auf, morgen habe ich wieder drei Pfund abgenommen. Denken Sie, Herr Doktor, neun Pfund habe ich bei Ihnen in zwei Wochen abgenommen, und das ohne jede Medizin." Sie setzte sich zu mir und wollte mich in den Zauber eines Gespraechs ueber ihren Gesundheitszustand verwickeln; ich aber sagte, sie moege das alles ihrem Arzt in der Sprechstunde mitteilen. Da war sie denn auch zufrieden. Ein Hilfsbrieftraeger erschien. Er uebergab Eva einen Brief. Den Brief hatte die Reichspost mit der richtigen Adresse im Rathaus abgegeben. Dort war der Brief in einen neuen Umschlag gesteckt und mit "Hanne - Forellenhof" adressiert worden. So hatte ihn der Hilfsbrieftraeger ueberbracht. Er blieb nach dieser Amtshandlung wartend stehen. "Nanu, Brieftraeger", sagte Methusalem, "Sie warten wohl auf 'n Trinkgeld? Sie wissen doch, dass wir alle in diesen gesegneten Landen nicht 'n roten Heller in der Tasche haben." "Eine Zigarre moecht ich gern", sagte der Brieftraeger. "Gibt's nicht", schimpfte Barthel aus der Haustuer heraus. "Drei Stueck sull a bloss am Tage roochen, und die kriegt a ooch taeglich geliefert. Nu is a extra Brieftraeger geworden, dass a in a Hoefen um Tabak rumschnorr'n kann." Der Brieftraeger (er war im Zivilleben Fabrikbesitzer im westfaelischen Industriebezirk) machte einen niedergeschlagenen Eindruck. "Drei Stueck so leichte Zigarrchen ist ja nichts fuer einen, der ein starker Raucher gewesen ist", sagte er. "Die drei Dingerchen hole ich mir frueh um sieben ab und verrauch sie alle drei nach dem Fruehstueck. Und dann habe ich den ganzen Tag nichts." "Troesten Sie sich", sagte Barthel grob, "vielleicht werden Sie ooch noch gescheidt um 'n Kopp!" Nur die dicke Cenzi war mitleidig. Sie hatte sich eben eine Zigarette angesteckt und sagte: "Brieftraeger, ich krieg bloss zwei Stueck am Tag. Aber Sie duerfen einmal dran ziehen." Sie steckte dem Brieftraeger ihre Zigarette in den Mund, und der sog sich gierig daran fest, blies den Rauch durch die Nase, sog so fest, dass er binnen Sekunden die ganze Zigarette aufgefressen haette, wenn Cenzi sie ihm nicht entrissen haette. "Den lass ich nie wieder ziehen!" sagte sie empoert. Eva hielt ihren Brief in der Hand. Sie war ein wenig unruhig geworden. "Er ist von meinem Vater", sagte sie leise zu mir. "Begleiten Sie mich bis zum Tor!" "Also", fuhr sie fort, waehrend wir langsam gingen und sie sich auf mich stuetzte, "hat er meinen Aufenthaltsort erfahren. Ich mag den Brief jetzt nicht lesen. Ich weiss, dass er nichts Erfreuliches enthaelt, und ich will mir den schoenen Abend nicht verderben." So war der alte Streit zwischen Waltersburg und Neustadt in einer ganz neuen Form wieder ausgebrochen. Die Tochter des Konkurrenten war bei uns zur Kur, und der Vater protestierte. Anders konnte es nicht sein. "Es waere sehr, sehr schade, wenn Sie unser Heim verlassen muessten", sagte ich und fuehlte, dass eine heisse Angst in mir aufstieg. Sie sah finster zu Boden. Dann riss sie den Brief auf. "Ich will nicht feig sein!" Sie las - las - staunte. Dann reichte sie mir den Brief. "Oh! Das haette ich nicht gedacht! Lesen Sie!" "Liebes Kind! Es ist ja nicht nett von Dir, dass Du hinter meinem Ruecken ins Lager unseres sogenannten Feindes uebergegangen bist. Aber die Sache kann sich noch gut zurechtschieben. Die Neustaedter, deren ganzer Sache ich auf die Beine geholfen habe, machen mir schon seit langem das Leben sauer und moechten mich nach und nach uebrig machen. Nun erhielt ich gestern von Mister Stefenson aus Amerika einen Brief, in dem er mich anfragt, ob ich geneigt sei, den Bau der noch fehlenden zwanzig Hoefe in der Waltersburger Kuranstalt zu uebernehmen und auch fernerhin die baulichen Unternehmungen dort zu leiten. In diesem Falle moege ich mit der Waltersburger Direktion, die verstaendigt sei, in Verbindung treten. Ich bin nach Lage der Verhaeltnisse gar nicht abgeneigt, der Sache naeherzutreten, und freue mich jetzt, dass Du bereits Dein Interesse fuer das jedenfalls sehr aussichtsreiche Waltersburger Unternehmen bekundet hast. In den naechsten Tagen werden wir uns sehen." Ich gab Eva den Brief zurueck. "Sie werden nicht glauben, dass ich eine Ahnung von diesen geschaeftlichen Dingen gehabt habe", sagte sie aengstlich. "Gewiss nicht; ich habe selbst auch davon nichts gewusst." Ihre Stirn war finster. "Es ist schwer fuer mich, das zu sagen - aber Sie sollen mich nicht falsch beurteilen; es gefaellt mir nicht von meinem Vater, dass er von den Neustaedtern zu den Waltersburgern uebergeht. Er haette drueben Stange halten muessen - jetzt erst recht!" "Braves, liebes Maedel!" dachte ich; doch ich sagte, um sie zu beruhigen: "Sie sind ja auch zu uns gekommen!" "Das ist etwas anderes. Ich bin nicht Eva Bunkert, ich bin Hanne vom Forellenhof. Ich schade den Neustaedtern nichts. Aber mein Vater - der Gruender von allem! Wenn der uebertritt!" "Fraeulein Eva, Ihr Vater ist wohl laengst da drueben nicht mehr ganz mit dem Herzen dabei. Seine urspruenglichen Waldheime sind dem oeden Hotelbetrieb gewichen. Ich glaube, er mag darunter gelitten haben. Kaltherziger Geschaeftskonzern spricht allein in Neustadt. Wenn sich nun Ihrem Vater ein Feld neuer Taetigkeit bietet, das ihn mehr befriedigt, ist es recht von ihm, wenn er zusagt." "Sie sind ein lieber Mensch", sagte sie dankbar, und meine Augen flammten auf, und auf einen Augenblick war es mir, als floege meine Seele einem seligen Lande zu. Das Herz stockte, der Atem setzte auf Sekunden aus, ein seliger Taumel fasste mich ... Draussen an der Tuer erhob sich ein Singen: "Abend wird es wieder; Ueber Wald und Feld Saeuselt Frieden nieder, Und es ruht die Welt." Das alte Abendlied wurde von vierstimmigem Chor gesungen. Da oeffnete der lange Ignaz das Tor. Er hatte in der Nische gelehnt, und ich hatte ihn vorher gar nicht gesehen. Vielleicht hatte er alles gehoert, was wir gesprochen hatten. Jetzt blickte er mich mit finsterem Gesicht an. Aber ich beachtete ihn gar nicht. Ich sah auf die Saenger, die durchs Tor zogen. Sensen und Rechen trugen sie ueber die Schultern, alle mit Feldblumen geschmueckt, voran schritt Emmerich, der Chormeister, mit einem mit Kornblumen geschmueckten Taktstock: "Nur der Bach ergiesset Sich am Felsen dort, Und er braust und fliesset Immer, immerfort. So in deinem Streben Bist, mein Herz, auch du, Gott nur kann dir geben Wahre Abendruh!" Als letzte in der Reihe kamen die kleine Luise und eine Frau, die das Kind an der Hand fuehrte. Diese Frau war wohl noch jung; sie war von hoher, schoener Figur. Das Gesicht konnte ich nicht sehen, weil das bunte Kopftuch, das sie trug, weit vorgeschoben war. Luise, die jetzt sehr haeufig auf dem Forellenhofe war, schmiegte sich dicht an ihre Begleiterin. "Wie heisst die Frau, mit der Luise geht?" fragte ich Eva. "Sie nennt sich Magdalena, ist sehr still und bleibt fast immer fuer sich allein. Aber das Kind haengt an ihr." Behutsam zog ich mein Notizbuch. Dort hatte ich die Kurgaeste des Forellenhofes verzeichnet. "Magdalena ..., geschiedene Frau Kaufmann Agnes Blassing aus Aachen, behandelnder Arzt Dr. Michael", stand dort verzeichnet. Das Abendlied verklang; die Leute zerstreuten sich an der Brunnenroehre oder am Bach; die meisten aber zogen doch vor, ihre Abendtoilette auf dem Zimmer zu besorgen. Draussen auf der Strasse knarrte noch ein Wagen. Trotzdem schloss der lange Ignaz das Tor. Das war eine neue Heimtuecke von ihm; denn vor dem Tor stand Piesecke mit einem Fuder Klee und wusste nicht, wie er es anstellen solle, die Zuegel der Pferde, von denen eines sehr unruhig war, nicht loszulassen und doch an das Tor zu klopfen. So schrie er: "Es ist zu! Es ist zu! Bitte, machen Sie gefaelligst auf!" und es klang wie ein jammernder Hilferuf. Die Leute, die noch im Hofe waren, lachten, und niemand dachte daran, Piesecke in seiner Not beizustehen. Da eilte die kleine braune Anneliese ueber den Hof und versuchte das schwere Tor zu oeffnen. Ich half ihr dabei, und ich sah zum erstenmal, wie reizend dieses Maedchen war. Wie eine suesse, junge, rote Rose! Ihre Sternenaugen gruessten mich wieder so freundlich, und ich glaubte, zu ihrem Herzen wuerde ich den Weg wohl leichter finden als zum Herzen dieser stolzen Eva. Und sah doch wieder zu dieser Eva hin. Nun sollte zur Abendmahlzeit gerufen werden. In anderen Hoefen geschah das durch eine Glocke. Hier im Forellenhof trat Emmerich mit seiner Leibgarde auf. Vier Mann, zwei mit Becken, einer mit einer Trommel, einer mit einer Pauke. Dieser Tischruf war so gewaltig, dass die Leute drunten in Waltersburg wussten, wann im Forellenhof gegessen wurde. Damit aber auch der lyrische Teil dieser Emmerichschen Kunstleistung nicht fehle, wurde ein Kanon gesungen, den Emmerich gedichtet und komponiert hatte: "Lobt den Herrn, hat's zu bedeuten, Wenn zur Ruh die Glocken laeuten, Doch dabei nicht zu vergessen, Kommt zum Essen! Kommt! Kommt!" Die vier Saenger sangen diesen Kanon mit tiefem Gefuehl. Bald sammelten sich die Abendgaeste an der grossen Tafel im Garten. Emil Barthel sass an der Spitze und praesidierte. Es gab Bratkartoffeln, Milch, Weisskaese, Butter und Brot, gruenen Salat, frische Kirschen und Haselnuesse. Dieses Abend-"Menu" habe ich glatt von Lahmann im "Weissen Hirsch" uebernommen, weil es kein besseres gibt. Piesecke behauptete, wenn er Milch, Kirschen, gruenen Kopfsalat und Weisskaese zusammen aesse, bekaeme er auch zusammen die Ruhr, den Typhus und die Cholera. Er war deshalb mit noch einem anderen Kurgast an einen Extratisch gesetzt und bekam besondere Kost. Nach vierzehn Tagen, als Piesecke sah, dass die Gaeste am "Normaltisch" sich sehr wohl fuehlten, wurde er seiner Einsamkeit ueberdruessig und verlangte zu den anderen. Ich ass an diesem Abend mit im Forellenhof, und ich hatte grosse Freude, zu sehen, wie herrlich es den Leuten schmeckte. Auch die Tischgespraeche, die gefuehrt wurden, gefielen mir. Weit weg war alles gespreizte, verlogene Getue, weit weg aller Phrasenkluengel, alles aesthetisierende Jongleurtum, alle pseudophilosophische Geistreichelei, jede auch noch so versteckte Prahlerei mit wirklichen oder vermeintlichen Werten aus dem frueheren Leben. Der dicke Franzel erzaehlte dem duerren Heinrich (einem Zoologen aus Muenchen), dass er drei Maulwuerfe erlegt habe, worauf Heinrich entruestet erklaerte, das sei eine ungeheure Dummheit, da der Maulwurf als Insektenvertilger und nachweislicher Nichtpflanzenfresser niemals ein Wuerzelchen der Wiese, dagegen aber taeglich so viel schaedliche Engerlinge verspeise, wie er selbst schwer sei. Vater Barthel, zum Schiedsrichter angerufen, entschied: "Den Buechern nach ist der Maulwurf sehr nuetzlich, aber dem Bauernverstande nach schlagen wir ihn tot. Von wegen seiner Haufen!" Heinrich zuckte die Schultern und sagte, es werde wohl auch in diesen finsteren Aberglauben noch einmal Licht kommen. Vom Ausroden zweier Weiden erzaehlte einer, vom Pflanzen von Sellerie ein Maedchen, von der Aussaat von Winterrettich und Wirsing eine andere. Die meisten sprachen von der lustigen Heuernte, von dem rotbluehenden Kleefeld oder von dem Wiesenwaesserlein, ueber das eine neue schmale Bruecke mit einem birkenen Gelaender gelegt worden war. Baeuerliche Themen, manchmal mehr altklug behandelt, wie Kinder schwaetzen, als wirklich erfahren, wie Vater Barthel war, der aber sehr wohlwollend alles anhoerte. Weil es an St. Barnabas geregnet habe, erklaerte ein Rheinlaender, wuerden die Trauben dieses Jahr von selbst ins Fass schwimmen, und wie das Wetter am Johannistag sei, so wuerde es bis Michaeli sein, behauptete ein anderer. Ich sah mir die Leute an, die so sprachen. Sie gehoerten alle zu den gebildeten Schichten der Bevoelkerung. Wuerden sie je in ihrem eigenen Leben solche Unterhaltung fuehren, so waeren sie Sonderlinge, als komische Kaeuze, vielleicht als albern gebrandmarkt. Hier waeren sie laecherlich, wenn sie von hoher Politik, von gesellschaftlichen Ereignissen und Beziehungen, von kuenstlerischen oder philosophischen Streitfragen zu reden begaennen. Diese Leute haben wirklich alle Ferien vom Ich gemacht. Und ich sehe, dass ich meine Idee nicht bis in die Einzelheiten selber auszudenken brauche; hier dichten alle mit an dem grossen Sturmlied, das wir gegen den Jammer unseres modernen Lebens anstimmen wollen; hier hilft jeder bauen an der Bruecke, die ueber den Strudel der Zeit zu dem stillen Eiland des Friedens fuehrt, hier stuetzt einer den andern. Betrachtet den Soldaten, der schwer beladen sein junges Leben in taeglich vielstuendigem muehseligem Marsch gegen die Feuerschluende der Feinde schleppt - er wuerde auf seiner furchtbaren Reise erlahmen, liegenbleiben, verzweifeln nach der dritten oder vierten Stunde, wenn er allein waere. Aber der Rhythmus der Masse haelt seine Glieder im Gang; am klingenden Bewusstsein der Gegenwart von tausend anderen haelt er sich aufrecht. So ist es hier auch. Nimm den einzelnen Kulturmenschen, setze ihn in eine Bauernstube, heisse ihn leben und arbeiten, wie es ein Bauer tut, und das Heimweh packt ihn am achten Tage und treibt ihn davon. Mit Hunderten, ja mit Tausenden seinesgleichen aber ist er gluecklich, legt er alle Tage Strecken auf dem Wege der Gesundheit zurueck, deren er sonst nie faehig waere, kommt er trotz aller Anfeindung durch sein bequemes, verzaerteltes, tyrannisches Ich zum Siege. LORELEI Mein Bruder Joachim guckte ueber den Gartenzaun. Und als sich die Gesellschaft aufloeste zum Abendspaziergang, fuegte es sich leicht, dass Eva und Annelies, Joachim und ich uns zusammenschlossen. Im Poetenwinkel der Lindenherberge standen die Fenster offen, da sangen zwei junge Maenner zur Laute: "Rosenbusch holderblueh, Wenn i mei Maedle g'sieh -" Wir blieben stehen und hoerten zu. Die Saenger reichten zwei volle Glaeser zum Fenster heraus, und unsere Maedchen nippten daran und lachten. Annelies hatte meinem Bruder zugetrunken, und es war mir schon aufgefallen, wie seine sonst so ernsten Augen aufleuchteten. Dann, als der froehliche Singsang ueberging in "Drauss' ist alles so praechtig, und es ist mir so wohl", bemerkte ich, dass Joachim heimlich nach Annelieses Hand fasste, die ihm das Maedchen traumverloren ueberliess. Eva stand ans Fenster gelehnt. Der Duft der Wiese schlug mir schwer in die Sinne. Gluehwuermchen funkelten durchs Gras. Droben im einsamen Hirtenhaus blies auf seinem Waldhorn der freiwillig Verbannte, dessen Liebesleiden ich kenne, Eichendorffs traurige Weise: "Sie hat einen andern genommen, Ich war draussen in Schlacht und Sieg, Nun ist alles anders gekommen, Ich wollt', es waer' wieder Krieg!" Ueber die Wiese gingen zwei langsam dahin. Die Frau vom Forellenhof, die sich Magdalena nannte, und die kleine Luise. Das Kind erkannte mich und eilte auf mich zu. Die Frau blieb abgewandt stehen. Da rief die Kleine: "Magdalena, Magdalena, kommen Sie doch her! Hier wird so schoen gesungen!" Die Frau schuettelte den Kopf, wandte sich aber doch langsam um. Und ob es auch schon daemmrig war, der Abend hatte mich scharf sehend gemacht; ich sah, dass das Weib, das dort einsam auf der Wiese stand, Joachims erste Frau, Luises Mutter, war. Der Bruder aber sah sie nicht, und seine Augen waren gehalten, und er erkannte auch sein Kind noch immer nicht. Langsam tastete wieder seine weltmuede und doch immer noch gluecksuchende Rechte nach der kleinen Anneliese keuscher Hand. "Magdalena, kommen Sie hierher!" rief das Kind abermals und dringend. Die aber schuettelte den Kopf und ging davon. Das Kind schmiegte sich an mich; vom Berge her klang noch immer die Melodie des Eichendorffliedes, und ich sah den Bruder an und hoerte aus dem Klange des Hornes die Worte: "Ich aber war weit schon gegangen, Jetzt sieht sie mich nimmermehr." ------------------------------------------------------- Die Nacht war schwueler als der Abend. Es war, als ob von irgendwoher heisse Gewitterluft ueber unsere Haeupter getragen wuerde. Ich sass wach am Fenster. Als ich heimgekommen war, hatte ich einen Brief von Stefenson gefunden. Er machte mir Mitteilung, dass er an den Baumeister Bunkert geschrieben habe und ihm die Leitung unserer ferneren baulichen Unternehmungen uebertragen wolle. Dann kam der inhaltsschwere Satz des Briefes: "Ich verhehle Ihnen nicht, lieber Freund, dass meine tiefe Neigung fuer Fraeulein Eva Bunkert, deren ich mir inzwischen ganz klar geworden bin, mich zu dem Angebot an ihren Vater geleitet hat. Dieser Neigung werden Sie - dessen versichert mich Ihre ehrliche Freundschaft - immer Rechnung tragen." Wie schwuel die Nacht war, wie unruhevoll die Seele, schmerzlicher Wuensche, heisser Angst, tiefer Niedergeschlagenheit voll, da das schoene Traumbild von Liebe und Glueck von drohendem Wetterleuchten ueberstrahlt an meinem Himmel stand. Da baeumte sich der Wille im jungen Herzen auf, und ich sagte mir: Oho, mein Freund, wie kommst du dazu, mir den Verzicht auf meine junge Liebe zu befehlen? Steht dieses Recht in unserem Kontrakt? Ist Liebe ein Schacher, in dem du mich ueberbieten kannst? Bist du mein Herr und ich dein Sklave, dem du befehlen kannst: Lass ab von jenem Maedchen, das ich fuer mich will! Oder, wenn du es auf die Freundschaft hinausspielen willst: wo war je in der Welt Freundschaft staerker als Liebe, wo waere sie im Kampfe mit ihr nicht unterlegen? Komm nur zurueck, alter Geschaeftemacher, und kaempfe um die Braut! Wenn du zu lange ausbleibst, wirst du sie als die Meine finden und sie mir gewiss nicht mehr entreissen. So wollte ich das Recht auf mein Lebensglueck wahren. Aber neben dem Willen sass der Zweifel. Ich wusste, dass Evas Herz viel mehr zu Stefenson neigte als zu mir. Ich war wohl fuer das Glueck der Liebe nicht bestimmt. Niemals im Leben hatte es mir ernsthaft gewinkt. Vielleicht war ich zu scheu, zu vertraeumt meinen Lebenspfad gegangen. Auch die kleine Anneliese, die junge, rote Rose, hatte ich uebersehen. Nun streckte der Bruder die Hand nach ihr, und auf der Wiese stand des Bruders Weib und sah mit verlorenen Augen nach ihm hin. Auch da fuehlte ich ein boeses Wetter aufsteigen. ------------------------------------------------------- Das ist doch ein kostbares Geschenk, das der Herrgott seinen Erdenkindern machte: die Arbeit. Hast du ein Leid im Herzen, das nicht heilen will, das dir den Tag grau faerbt und deine Naechte qualvoll macht, geh zur Arbeit, zu der herben, tuechtigen Frau, sie wird dich mit so klaren Augen anschauen, mit so morgenheller Stimme zu dir sprechen, dass du das Haupt hochheben und tief atmend einen frischen Luftstrom des Lebens einsaugen wirst; bist du einem Irrlicht nachgegangen und auf sumpfigem Pfad von Schlingpflanzen tiefer Verzagtheit umschlungen worden, rufe die Arbeit, die tuechtige Frau, sie wird dich mit derber Hand herausziehen aus deiner Bedraengnis und dich wieder auf eine feste Strasse stellen; hast du Gueter verloren, welcher Art es immer sei, wende dich an die Arbeit, die reiche Frau, die leere Taschen und leere Herzen immer neu zu fuellen vermag; sind dir alle Unterhalterinnen des Lebens ueberdruessig geworden, lass die Arbeit an deinem Tisch sitzen bis zum letzten Tage deiner Kraft! Denn sie ist deine beste Freundin; sie schuetzt deine Gesundheit, sie staerkt deine Muskeln; sie wuerzt dir das Mahl und salzt es, dass es nicht faule; sie spricht dir alle Tage aufmunternde Worte ueber deinen Wert ins Ohr und huetet dich doch vor Uebermut durch kleine oder grosse Misserfolge; sie gibt dir fuer deine Feste das rechte Lachen mit, sie schenkt dir zu deinem Becher den rechten Durst und schliesst dir alle Abende mit leisem Finger die Lider! ------------------------------------------------------- So bin ich durch die Arbeit ueber meine Zweifel und Leiden hinweggekommen, so sind meine Eigenwuensche still geworden und wie kleine Heimatbaechlein hineingerieselt in den grossen Strom des Willens zum Dienst der Allgemeinheit. Von dem lasse ich mich tragen. Manchmal gluckst noch ein silbernes Stimmlein alter Sehnsucht auf; aber es verklingt, und ich freue mich der starken Alltagswelle, die mein Schiff traegt. Von den Patienten, die zu mir kommen und ihre Lebensberichte vor mir ausbreiten, haben die meisten an der Liebe gelitten. Maenner wie Frauen. Denn nicht immer sitzt auf dem Felsen am Fluss die Lorelei und in dem scheiternden Kahn unten der Mann; oft schwimmt die Lore unten, und der Mann sitzt oben, wenn er sich auch nicht sein "golden Haar" kaemmt, sondern vielleicht nur einen schwarzen Bart streicht. Die Tragik ist immer die gleiche: der Kahn kippt um. Steht man dann als Leibes- und Seelenarzt am Ufer und wirft seinen Rettungsring aus, so ist das ein aufregendes, aber schoenes Geschaeft, und ich denke, nach und nach wird sich bei mir die Aufregung in eine milde Seelenheiterkeit umwandeln. Habe ich so ein pudelnasses Menschenkind, das im romantischen Rheinstrom der Liebe verunglueckte, ans Land gezogen, so lasse ich es erst ein wenig zu Atem kommen, und dann forsche ich es langsam aus, ob die (oder der), so auf dem Felsen gedudelt hat, nicht auch mancherlei Schwaechen haben moege, und wird die Frage ein wenig zaehneklappernd bejaht, so frage ich langsam weiter, bis sich ergibt, dass die (oder der), so auf dem Felsen gedudelt hat, eigentlich minderwertig, hingegen der (oder die), so in dem Kahn umkippte, wesentlich wertvoller sei, weshalb die ganze Ungluecksfahrt eine Torheit gewesen, nach welcher man klueger geworden und gottlob ans feste Land und in trockene Kleider gekommen sei. In den meisten Faellen hilft meine Methode; sie fuehrt durch das Tuerlein: "Er ist es nicht wert, dass ich mich opfere", in den Garten der Gesundung. Einige Faelle sind hoffnungslos oder doch so schwerer Art, dass immer nur auf die Zeit gerechnet werden kann, die ihren langen Geduldfaden spinnt. Die stehen dann wie verloren und verzuernt in dem lustigen Ferienheim vom Ich, werden zuerst auf einsame Posten geschickt, wo ihnen kein lauter Ton wehe tut, aber wo eine kleine feste Pflicht sie aufrecht haelt, und steigen, wenn die Lebenssehnsucht wieder erwacht, Stufe um Stufe ins Tal zurueck. DIE "KRUMMBEINIGE MEDIZIN" Meine Kurmittel sind nicht ganz gewoehnlicher Art. Es gibt Aerzte, die den Sitz alles Uebels im Magen suchen; andere begeistern sich fuer die Leber; wieder andere schwoeren auf warme Fuesse; ganz alte, bequeme Knaben geben immer zum Schwitzen ein oder verordnen Laxiermittel; wieder andere sagen, ausser mit Chinin, Digitalis und Quecksilber sei ueberhaupt nichts anzufangen; diese werden von den Wasserdoktoren "Giftmischer" genannt, und alle werden von den Homoeopathen verachtet. Ich misch mich da nicht ein; ich sage: ihr habt alle recht, und der, der am wenigsten tut, tut am meisten. Meine Kuranstalt Ferien vom Ich ist etwas Neues, und es sind auch meine Kurverordnungen teilweise sehr neu. So habe ich in der kurzen Zeit meiner hiesigen Praxis meinen Patienten in einundfuenfzig Faellen die Anschaffung eines Dackels verordnet. Der Dackelhund als Heilmittel ist in der medizinischen Wissenschaft gewisslich ein Novum, aber er ist gleicherzeit - das kuehne Bild ist in Tagebuchaufzeichnungen erlaubt - nichts anderes als ein Ei des Kolumbus. Ich habe selbst seit Jahren einen Dackelhund (in Amerika drueben nennen sie ihn _german __dog_), er heisst "Spezi", weil er mir in der Tat ein Spezialfreund geworden ist, und ich kenne die gesundheitsfoerdernden und erziehlichen Werte seiner Gegenwart zu gut, als dass ich in meiner Naechstenliebe nicht auch anderen das Glueck eines solchen Besitzes goennen sollte. Eine wissenschaftliche Arbeit schreibe ich ja hier nicht; nur eine Tagebuchplauderei. Aber ich will eine erweiterte Abschrift dieses Kapitels meinen Kollegen geben, die ein wenig die Nase ueber den "Chef" ruempfen, der so viele "krummbeinige Medizin" verordnet, dass neulich sechsundzwanzig Dackel auf dem Lindenplatze eine Art Generalversammlung abhielten und greulichen Unfug veruebten. (Dr. Fristen hat mir damals gekuendigt mit der Begruendung, dass er ein ernst zu nehmender Arzt sei, und ich habe ihn ohne Trauer ziehen lassen. Hol der Fuchs alle Spiesser, die nur ihr Schuleinmaleins ableiern koennen!) Einen Dackel verordne ich zunaechst demjenigen, bei dem ich als Pfahlwurzel seiner Leiden zu grosse Eigenliebe erkenne. Die gewoehnt ihm der Hund alsbald gruendlich ab. Kein noch so eingefleischter Nietzschianer behauptet auf die Dauer seinem Dackel gegenueber die "Herrchen"-Natur. Das "Herrchen" ist der Dackel; da kann einer dagegen tun, was er will; es nutzt alles nichts. Zum Beispiel: Der Philosoph, in schwere Gedanken versunken, strebt auf seinem Abendspaziergang gen Westen. Der begleitende Dackel - einen Igel erschnuppernd - biegt gen Sueden ab. Der Philosoph wird sich anfangs um den klaeffenden Koeter ganz und gar nicht kuemmern; aber dann wird er pfeifen - einmal, zweimal, dreimal leise - dann laut, immer lauter rufen, drohen, die Faeuste ballen, toben, aus seiner schweren Gedankenbahn geschleudert werden, umkehren, gen Sueden wallen und Betrachtungen darueber anstellen, ob nun ein Dachshund oder ein Igel das widerborstigere Tier sei. Der notgedrungene Gleitflug aus der luftarmen Hoehe eisigen Denkens ist durch einen Dackel ertrotzt. Gut so - in den Ferien vom Ich! Oder ein Misanthrop. Sitzt der da in dem ganzen Katzenjammer seines elenden Weltschmerzes, und sein Dachshund setzt sich ihm gegenueber mit der ungeheuerlichen Leidensmiene seiner durchtriebenen Viehvisage: die Stirn in hundert Runzeln, die Ohren haengend, den Schwanz melancholisch eingeklemmt, die Augen verdreht und die Stimme leise jaulend, wimmernd, stoehnend, so wird der Misanthrop dieses Jammerbild nicht lange ertragen, mit dem Vieh auf die Strasse fluechten und sich nicht schlecht wundern, dass der scheinheilige Jaemmerling ploetzlich wie ein Berserker der Lebenslust umherrast. Etwas abfaerben wird es schon. Das naechste Mal, wenn er und der Dachs so truebselig einander gegenuebersitzen, wird sich der Misanthrop selbst nicht recht trauen und auf die Strasse gehen. Der alten Jungfer, die sich ihr Leben lang nach einem Manne gesehnt und keinen bekommen hat, verordne ich einen Dackel. Dann hat sie endlich den ersehnten Tyrannen, den sie pflegen und fuettern kann. Die kleinliche, ordnungswuetige Hausfrau, die ihrem Mann wegen eines Zigarrenstaeubchens eine Szene machte und Kinder und Dienstboten teufelte, bis sie zu uns abgeschoben wurde, bekommt einen Dackel und erhaelt als Antwort auf ihre entruestete Klage, dass ihr das "entsetzliche Vieh" die Hausschuhe verschleppe und in eine gute gestickte Decke ein Loch geknabbert habe, die Antwort, die Welt sei weit, der Himmel sei hoch, die Hausschuhe und gestickten Decken seien im Universum von nur nebensaechlicher Bedeutung, und ohne Dackel koenne sie nicht gesund werden. Die ganz unheilbar musikalische Donna Eleonora, von der mir ihr Hausarzt im verschlossenen Briefe mitteilte, sie braechte ihre Nachbarschaft durch ihr ewiges Klavierspielen zur Verzweiflung, erhielt ein Klavier und einen Dachshund verordnet. Das Klavier hat sie aufgegeben; der Dackel hat es so verbellt und verheult, dass ihr die Drahtkommode zur Unmoeglichkeit wurde. Allen den sehr nervoesen Herren, die zu mir kommen und von denen ich weiss, dass sie trotz ihrer krankhaften Gereiztheit draussen in der Welt als Richter oder Examinatoren auf arme Opferlaemmer losgelassen werden, verordne ich einen Dackel und bitte sie, sich seiner kuenftighin auch vor ihren Amtshandlungen zu bedienen. Ich denke dabei an die Wirkung milde ableitender Mittel. Einer, der einen Hund gestreichelt hat, kann keinen Menschen ohne aeusserste Not zu Boden schlagen, auch wenn seine Nerven noch so ruiniert sind. Ferien vom Ich! Das ist so die fieberstillende Wirkung der "krummbeinigen Medizin". Aber der Dachs wirkt auch staerkend und aufbauend. Einer, der an keine Treue auf der Welt mehr glaubte, bekam einen Dachshund. Nach acht Tagen sagte er mir, der Dackel sei, wie alle Kreaturen, ein "untreues Luder". Er gehe ihm stets durch die Lappen, immer seinem tierischen Instinkt nach, geradeso, wie es die Menschen taeten! Vier Wochen darauf war der Mann bekehrt. Er sagte mir: "Bis ich am Hang am Berge bin, ist der Dackel in alle Winde. Aber wenn ich zwei Stunden dort oben gesessen habe, kommt der Hund zu mir mit schmutzigen Pfoten und lehmiger Schnauze. Und es ist mir, als ob er treuherzig sagte: Liebes Herrchen, es gibt zwar noch tausend Mauseloecher, in die ich schnuppern moechte, aber es ist doch am schoensten bei dir! Das ist immerhin eine gewisse Treue!" Endlich verordne ich einen Dackel allen denen, die ein gespreiztes, hoffaertiges Gebaren haben, denen, die "sich tun", wie die Leute sagen. Es sind ihrer sehr viele. Wer "tut sich" heutzutage nicht? Der Dichterling, der reiche Kaufmann, der Herr Beamte, das ganze Weibsvolk. Bindet ihnen nur einen Dackel ans Bein, der sie an den Hosen oder am Humpelrock zerrt, gleich ist ihre Hoheit dahin. Man kann nicht geziert, nicht unnatuerlich tun und sein, wenn man mit einem Dackel geht. Das rustikale Viehzeug verdirbt allen aufgeblasenen Stil, zerrt einen widerwillig in die Natuerlichkeit zurueck. Gewiss, der Dackel ist ein stobiger Philister, ein taeppischer Biedermeier, ein Kleinbuerger, aber auch ein Nihilist gegen alle Gespreiztheit, ein genialer Spoetter. Ich wuesste nicht, warum ich ihn nicht als ein Heilmittel gegen mancherlei Gebrechen unserer Zeit in unseren Kurplan einsetzen sollte! IN DER GENOVEVENKLAUSE Die Genovevenklause ist frei geworden. Den Sommer ueber wohnte eine Witwe mit ihrem Soehnchen darin. Eine vornehme Dame, die nach dem Untergang ihres Ehegluecks aus ihrer bunten Gesellschaft in die Einsamkeit der Klause fluechtete. Das Haeuslein ist halb in den Berg hineingebaut, ein Kreuz ist ueber dem Felsen, der Bach fliesst vorbei, ein zahmes Reh grast vor seiner Tuer. Es vertritt die Hirschkuh der Legende. Dort bei der Genovevenklause ist meist tiefe Stille; nur ein schmaler Fussweg fuehrt zu ihr hin, und es ist dort recht einsam. Nur die Heimwehfluh mit dem Hirtenhaus ist ebenso still. Nun ist die Frau fortgezogen. Sie musste in die Welt zurueck und hatte Traenen in den Augen, als sie Abschied nahm. "Wenn das Grab meines Gatten hier waere, moechte ich nie mehr ausziehen aus der lieben Klause", sagte sie. "Sie muessen es wegen Ihres Sohnes", entgegnete ich ihr; "Sie duerfen keinen Schmerzensreich, keinen Parsival aus ihm machen; Sie muessen ihn vorbereiten fuer das Leben." "Mir graut vor dem Leben", sagte Frau Herzeleide und zog davon! ... Heute war ich in der Direktion. Der Direktor war nicht anwesend, und ich musste ein wenig warten. Da kam sie zur Tuer herein - Magdalena vom Forellenhof -, die Frau meines Bruders Joachim. Als sie mich sah, erschrak sie und strebte zur Tuer wieder hinaus. Ich hielt sie zurueck. "Was wuenschen Sie, Magdalena? Der Herr Direktor wird gleich hier sein. Warten Sie nur einige Minuten!" Sie war aeusserst verwirrt. "Ich wollte - ich moechte - ich wollte nur anfragen, ob es vielleicht moeglich sei, dass ich in die Genovevenklause ziehen koennte, da sie frei geworden ist." "Gefaellt es Ihnen nicht mehr auf dem Forellenhof?" Sie wich aus. "Ich moechte sehr gern in tiefere Einsamkeit." "Ist Ihr Arzt damit einverstanden?" "Ja." Irgendein Angestellter kam und meldete, der Direktor sei zur Bahn gefahren. "Nun, dann warten wir jetzt vergebens auf ihn, Magdalena. Wenn es Ihnen recht ist, gehen wir zusammen nach der Klause und sehen, wie es dort steht. Ich werde schon dafuer sorgen, dass Sie die Klause bekommen." "Ich bin Ihnen sehr dankbar, Herr Doktor, aber ich moechte Ihnen meinetwegen den Weg nicht zumuten." "Nicht der Rede wert; ich gehe jetzt sowieso spazieren. Kommen Sie!" Ich merkte, wie ungern sie mir folgte. Ihr Gesicht war sehr blass, und ihre Lippen zuckten. Das ehemals so prachtvolle rotblonde Haar war schwarz gefaerbt; das veraenderte sie am meisten. Aber auch der frueher so rosige Teint war verloren; die Haut schimmerte blass und feucht; die Kinderaugen, die so uebermuetig blitzen und lachen konnten, hatten wohl ihre wunderbare Schoenheit noch, aber sie blickten muede und traurig. Waehrend wir so gingen, sprach ich ueber harmlose Dinge, ueber die Ernte, ueber Vater Barthel. Sie gab kurze Antworten, blieb immer einen Schritt hinter mir und vermied es, mir ins Gesicht zu schauen. Als wir an den schmalen Pfad kamen, atmete sie ersichtlich auf. Jetzt konnten wir nicht mehr nebeneinander gehen. Sie bestand darauf, dass ich voranschritt. So kamen wir zur Klause. Hoch ragte das Bild des Erloesers, und ich dachte an jenen kalten Wintertag, da ich grausam zu dieser Frau gewesen war und mir nachher der milde Freund Mariens von Magdala einfiel. Heute wollte ich nicht grausam sein. Diese Frau war so muede, so geschlagen; sie brauchte keine Strafe mehr. "Magdalena", sagte ich, "ich habe gehoert, dass Sie gern mit unserer kleinen Luise gespielt haben. Das Kind ist viel auf dem Forellenhof. Wird es Ihnen hier nicht fehlen?" Sie seufzte schwer. "Ja, es wird mir fehlen. Aber auf dem Forellenhof nimmt es jetzt meist das junge Fraeulein, die Baerbel, und mir hat Luise versprochen, dass sie mich alle Tage besuchen will. Sie spielt gern mit dem Reh." "Und Sie haben dem Kinde auch viele Geschichten erzaehlt?" "Ja, sie hoert gerne Maerchen." "Haben Sie auch mit ihr gelesen, geschrieben und gerechnet?" "Ja, ich tue das sehr gern." "Hm." Ich machte eine Pause. Dann sagte ich: "Das Kind ist ja bald hier, bald dort, und es soll sich auch weiterhin austoben. Aber als staendiges Unterkommen haette ich fuer die Kleine gern ein stilles Heim. Wenn es Ihnen recht ist, Magdalena, gebe ich Luise zu Ihnen in Pflege." Da schrie sie kurz und jaeh auf. "Herr Doktor, wenn Sie das tun, erweisen Sie mir eine grosse Gnade!" Ich sah ihr in die flammenden Augen und sagte: "Ich werde es tun." Nun fasste sie mich an den Haenden; ihr ganzer Koerper bebte. "Eine Gnade!" wiederholte sie. "Ich bin so verlassen, und ich habe das Kind so lieb!" Sie liess mich los, legte einen Arm ueber die Augen, trat ein wenig zurueck und stand so ein Weilchen still da. Ploetzlich begann sie bitterlich zu weinen. "Was ist Ihnen, Magdalena?" "Es geht nicht; es geht nicht!" schluchzte sie; "wenn Sie - wenn Sie wuessten, wer ich bin, wuerden Sie mir das Kind nicht uebergeben. Ich bin eine - eine schlechte Frau!" Ich ging zu der Ungluecklichen, legte einen Arm um ihre Schultern und sagte erschuettert: "Du bekommst das Kind doch, obwohl ich weiss, wer du bist!" Sie prallte zurueck. "Sie wissen - wer ich ..." "Ja, Kaethe, ich hab dich erkannt!" Da warf sie die Arme in die Luft, stiess einen Schrei aus und verschwand um den Felsen in den Wald. Ich eilte ihr nach und holte sie mit Muehe ein. "Wenn Joachim mich erkennt, schlaegt er mich tot!" wimmerte sie. "Er erkennt dich nicht. Niemand kennt dich ausser mir. Und ich werde dich schuetzen!" Sie musste sich an mir festhalten, als ich sie zur Klause zurueckfuehrte. Dort setzte ich sie auf die Bank vor der Haustuer und streichelte ihren Scheitel. "Jetzt sind Sie wieder Magdalena, und ich bin wieder der Herr Doktor. Wir kennen uns nicht. Das, was jetzt hier geschah, ist nicht gewesen! Morgen frueh bringe ich das Kind. Beruhigen Sie sich, Magdalena, fuerchten Sie nichts, aengstigen Sie sich nicht. Das Kind darf sich ja nicht wundern. Es soll ja eine heitere, zufriedene Pflegerin haben. Auf Wiedersehen!" Ich liess sie allein. ------------------------------------------------------- Meine Mutter hat sich um Luise wenig mehr gekuemmert. Sie hat wohl sicher Tag und Nacht an das Kind gedacht, aber nicht nach ihm gefragt. Sie hat keine Freude an dem Maedchen, sie liebt es nicht; sein Dasein aber regt sie auf, laesst sie leiden. Die Mutter kommt kaum alle zwei oder drei Wochen einmal zu mir heraus. Ich glaube nicht, dass sie an meiner Schoepfung viel Freude hat. Sie ist von stockkonservativer Natur; alles Neue erscheint ihr verdaechtig. Ein- oder zweimal hat die Mutter aber doch Luise fluechtig wiedergesehen. Sie ist dann in schwere Aufregung geraten. Und eines Septembertags, kurz nachdem das Kind in der Genovevenklause untergebracht worden war, sagte die Mutter zu mir: "Ich quaele mich mit dem Gedanken, ob es nicht unrecht ist, Joachim die Anwesenheit seines Kindes zu verheimlichen." "Quaele dich nicht, Mutter! Joachim hat bis jetzt dem Kinde seine Anwesenheit auch verheimlicht, ja das Kind nicht einmal wissen lassen, dass er ueberhaupt existiert." "Du sprichst immer recht lieblos von deinem Bruder!" "Ich spreche so, wie ich nach seinem Verhalten sprechen muss!" Sie wandte sich beiseite, und ihre feine Gestalt zitterte in Zorn und Trotz. "Ich werde Joachim aufklaeren!" sagte sie bestimmt. "Das wirst du nicht tun, liebe Mutter! Du wirst mit mir warten, bis Joachim menschlich wieder so weit ist, sich von ferne wenigstens seiner Vaterpflicht zu erinnern und sich einmal zu erkundigen, was aus seiner Tochter geworden ist. Lass ihn! Er macht jetzt Ferien von seinem voellig verfehlten Ichleben." "Er ist schuldlos an seinem Unglueck!" "Nein! Er ist nicht ohne Schuld." "Fritz!" "Er ist nicht ohne Schuld gegen sich selbst; denn er hat sich durch seinen masslosen Hass viel tiefer ins Unglueck gebracht, als ein kluger Mensch, der sich beherrschen kann, noetig hatte, und er hat sich gegen sein Kind schaebig benommen." "Das ist unerhoert, was du zu behaupten wagst. Nun werde ich Joachim bestimmt aufklaeren." "Tue es nicht, Mutter, ich rate dir gut. Joachim wird jetzt noch nicht mit dem Kinde zusammenleben wollen." "Nun, so muesste man eben das Maedchen vorlaeufig noch nach einer guten Pension bringen." "Das wuerde nicht geschehen; sondern wenn eine Trennung noetig waere, wuerde Luise hierbleiben, und Joachim wuerde von mir entlassen werden." "Entlassen?" "Ja, es hat sich so gefuegt, dass Joachim gegenwaertig mein Angestellter ist. Er hat einen sehr kurzfristigen Vertrag." "Du bist masslos hochmuetig und lieblos!" "Ich handle so, wie es mir mein Herz und meine Vernunft vorschreiben." "Berufe dich nicht auf dein Herz", sagte sie, "du hast keines!" Und sie ging. Ich habe in den folgenden Tagen seelisch gelitten. Nicht nur der Mutter wegen, die ich liebe und mit der ich mich so wenig verstehe, sondern auch, weil ich rundum Leute sehe, die sich von der Last ihres Alltagslebens befreit in Ferienruhe des Daseins erfreuen und ich selbst mittendrin stehe im Ichleben, im Familienjammer. Und da daemmerte mir, dass es gut sei, wenn ich selbst der Liebe fernbliebe, dass ich in freiem, ungestoertem Zoelibat meiner grossen Idee am besten dienen koenne, Herz und Sinne zwar leer von manchem Glueck bleiben wuerden, aber Arm und Fuss frei von jeder auch noch so goldenen Kette, frei zum Vorwaertsschreiten und Handeln. Zur Mutter ging ich nach drei Tagen. Ich sprach freundlich zu ihr und sagte ihr, dass ich ihre Natur und ihr Handeln ja begriffe und verstaende. Sie schuettelte zwar das schoene Koepfchen, aber sie liess sich von mir kuessen, und ich stieg froehlich den Berg wieder hinan. Ich kann nicht lange traurig sein; mein Herz wendet sich ab vom Kummer, wie eine Pflanze sich abwendet vom sonnenleeren Nordhimmel. DIE SCHLACHT BEI WALTERSBURG Jeder deutsche Kurort hat seine "Sensation der Saison", so wie jedes Affentheater seine "groesste Attraktion der Gegenwart" hat. Auch unser Ferienheim hatte seine Sensation. Anton, der aelteste Sohn des Waldschulzen, will Pauline, die aelteste Tochter des Forellenbauern, heiraten, und es hat sich darum eine heisse Schlacht entsponnen. Die Sache hat eine romantische Vorgeschichte gehabt. Das jungfraeuliche Herz Paulinens pendelte. Es pendelte zwischen unserem Schulzensohne und einem jungen Gastwirt aus Neustadt hin und her, und so gerieten die beiden Kavaliere in die uebliche Rivalenwut und vergerbten sich bei guter Gelegenheit die beiderseitigen Felle. Bis dahin waere alles in Ordnung gewesen; aber nun mischte sich Piesecke ein und brachte romantischen Schwung in die Geschichte. Piesecke war eines Sommertags in Neustadt gewesen und hatte sein Roesslein in der kleinen Ausspannung des dortigen Paulinenverehrers untergestellt. Von ungefaehr hatte er dann von der Sommerlaube im Gaertchen aus das Gespraech zweier Neustaedter Burschen belauscht, die sich verschworen, mit ihrem Freund, dem Gastwirt, und noch zwei anderen am naechsten Mittwoch gen Waltersburg zu ziehen, und falls sie in der Daemmerung am Gartenzaun des Forellenbauern den Schulzensohn im traulichen Gespraech mit Pauline erwischten, diesen greulich zu verbleuen, auch sonst an umherschweifendem Burschenvolk des verhassten Waltersburg ihr Muetchen zu kuehlen. Als Piesecke solches hoerte, kam sein fuerstliches Blut in Wallung. (Piesecke stammt aus einer Heldenfamilie. Sein Urgrossvater hatte als General in fuenf Treffen gegen Napoleon I. nicht gesiegt!) Waehrend er nun gen Waltersburg heimfuhr, entwarf Piesecke einen Feldzugsplan, wie dem Anschlag der Neustaedter siegreich zu begegnen und die Ehre Waltersburgs zu retten sei. Er warb zunaechst ein Heer. In dasselbe traten mit grosser Begeisterung ausser dem Schulzensohn der Komponist Emmerich sowie der Maler Methusalem vom Forellenhof, auch der Saenger Hagen Korrundt, der immer noch bei uns nachtwaechterte, und die gegenwaertigen Insassen unserer Raeuberhoehle. Diese letzteren waren vier fragwuerdige Gestalten, die sich Schinderhannes, Karaseck, Jaromir und Moor nannten, ein faules, unordentliches Leben fuehrten und nun froh waren, dass sie einmal etwas Rechtes zu tun bekamen. Acht Mann und er, Piesecke, als Anfuehrer gegen fuenf Neustaedter - mit dieser betraechtlichen Uebermacht, hauptsaechlich aber durch seine ueberlegene Strategie, hoffte der Nachkomme des Napoleonbekaempfers den Sieg zu erringen. In der Raeuberhoehle hat Piesecke seinen Plan entwickelt. Die Schlacht sollte nicht am Gartenzaune stattfinden; denn erstens ueberlasse ein guter Feldherr die Wahl des Schlachtfeldes nie seinem Gegner, sondern bestimme selbst, wo er sich schlagen wolle, und zweitens koennte am Gartenzaun Vater Barthel oder Frau Susanne dazukommen, und dann gaebe es ein Malheur. Anton sollte vielmehr im Abendscheine mit seiner Braut weiter den Wiesenweg gen Waltersburg hinabwandeln bis zweihundert Schritt hinter die naechste Waldecke und daselbst dicht am Bach abwarten, bis er von den lauernden Neustaedtern angefallen wuerde. Alsbald wuerde er ihm mit noch sechs Mann zu Hilfe eilen, die ueberraschten Neustaedter wuerden - die Uebermacht erkennend und bedrueckt durch ihr schlechtes Gewissen - die Flucht hinab gen Waltersburg ergreifen wollen, aber da wuerden Moor und Schinderhannes, die weiter unten in den Hinterhalt gelegt wuerden, hervorbrechen, den Neustaedtern den Weg verlegen und - die ganze Rasselbande sei gefangen. Er wolle ein fuer die Neustaedter sehr demuetigendes Dokument aufsetzen, das die Gefangenen unterzeichnen und in dem sie ihre voellige Niederlage zugeben muessten, und dieses Dokument solle in der Raeuberhoehle unter Glas und Rahmen aufbewahrt werden als ein Zeichen, dass der langjaehrige Kampf zwischen Waltersburg und Neustadt mit dem endgueltigen Sieg der Waltersburger geendet habe. Dem unbequemen Mitbewerber um Pauline aber werde man zu einem unfreiwilligen Bad im Bach verhelfen, wodurch alle waermeren Gefuehle, die die Jungfrau etwa in ihrem Herzen noch fuer den Gastwirt hegen sollte, abgekuehlt werden wuerden; denn er, Piesecke, wisse aus seinem eigenen bewegten Leben aus vielen Faellen, dass nichts so sicher die Liebe des Weibes ertoetet, als wenn der Geliebte vor ihr laecherlich wird. Waehrend dieser Ausfuehrungen hatte Emmerich bereits auf dem Tisch einen Siegesmarsch komponiert und Methusalem auf der einen weissgetuenchten Wand die Umrisse zu einem Triptychon grossen Umfangs entworfen. Die Seitenteile des Bildes sollten die "Tuecke" und der "Kampf" heissen, das Mittelstueck aber "Der Sieg". Die "Tuecke" wuerde Anton und Pauline im Daemmerlicht dahinwandelnd und von den Neustaedter Unholden belauert zeigen, der "Kampf" eine besonders dramatische Szene aus der Waldschlacht darstellen und das Mittelstueck den Sieg Waltersburgs in grosser Apotheose feiern. Das Mittelstueck war schon etwas ausgefuehrt. Im Hintergrund der Forellenhof, auf einem Ross Piesecke als Triumphator voranreitend, ihm folgend Anton und Pauline mit Kraenzen im Haar; als naechstes Paar die Vertreter der Kuenste, Emmerich mit der Harfe und Methusalem selbst mit einem Farbentopf und Pinsel, zuletzt die baerenhaeutigen Kriegsgenossen. Und nun musste die ganze Kriegsgenossenschaft stundenlang stillsitzen, da der Maler sie zeichnete. Emmerich benutzte die Zeit, ihnen seinen Siegesmarsch, zu dem er rasch eine Textunterlage geschaffen hatte, einzuueben. "So", sagte nach einer Stunde Methusalem, "der Sieg ist ganz und die Tuecke teilweise gesichert; fehlt bloss der Kampf." "Der wird gigantisch!" rief Piesecke. Die Sache verlief nicht ganz programmaessig. Zwar gingen die Neustaedter wirklich in die Falle und ueberfielen Anton zweihundert Meter jenseits der Waldecke, aber die Kerle rissen nicht - wie vorausgesehen - durch die Uebermacht erschreckt und ihr boeses Gewissen beunruhigt aus, sondern blieben da, und da sie sehr handfeste Burschen waren, verhieben sie die Waltersburger jaemmerlich. Das kam aber daher, dass sich die in Anrechnung gebrachte Uebermacht Waltersburgs alsbald in eine faktische Minoritaet verwandelte; denn der Feldherr Piesecke wurde gleich bei Beginn der Schlacht dadurch kampfunfaehig gemacht, dass ihn ein riesenhafter Neustaedter Braeuknecht in die Hoehe hob und in den Bach warf; Methusalem konnte sich an dem Ringen auch nicht beteiligen, da er etwas abseits stehen und die Szene mit dem Bleistift in rasender Geschwindigkeit in seinem Skizzenbuch verewigen musste, und der Musiker Emmerich fuehlte sich dazu berufen, ebenfalls abseits zu stehen und den Mut seiner Kameraden durch Absingung seiner Siegeshymne anzufeuern. So kaempften nur der Saenger Hagen Korrundt, der Braeutigam Anton und die Raubgesellen Karaseck und Jaromir, die aber - da sie in ihrem Privatberuf Wiener Gigerls waren - gegen die rohe Gewalt der Neustaedter Raufer nicht aufkamen. Es gab fuerchterliche Pruegel, und der Maler Methusalem rettete Waltersburgs Ruhm nur dadurch, dass er nachtraeglich seine Schlachtskizze umkehrte, wodurch alle, die unten lagen, nach oben kamen, und umgekehrt. Moor und Schinderhannes, die hundert Meter weiter unten im Hinterhalt lagen, um den Neustaedtern den Rueckzug abzuschneiden, hoerten den Skandal, lugten um die Baumstaemme, kamen aber nicht zu Hilfe, da sie doch eben im Hinterhalt zu liegen hatten. Wer weiss, wie schrecklich diese Schlacht bei Waltersburg noch ausgelaufen waere, wenn nicht eine starke auswaertige Macht sich eingemischt haette. Durch den Wald erscholl ploetzlich eine scharfe Stimme: "Pauline! Pauline!" Pauline hatte bis jetzt an einer Birke gelehnt und zu einem Vierteil mit Entsetzen, zu drei Vierteilen aber mit Stolz zugesehen, welch grauses Maennerwerk da fuer sie und um sie getan wurde. Als sie nun aber die rufende Stimme hoerte, schrie sie: "Um Himmels willen, die Mutter! Macht, dass ihr fortkommt!" Drauf rissen erst die beiden Braeutigame aus, und mit ihnen verlor sich rasch ihr Anhang. Pauline eilte nach Hause zu und bekam von ihrer energischen Mama ein paar Ohrfeigen, weil sie sich "herumgetrieben" habe; alles Mannesvolk aber fluechtete gen Waltersburg. Und da hat es sich begeben, dass der Neustaedter Gastwirt, der den Rueckzug der anderen deckte, als er sich ausser Frau Susannes Ruf- und Sehweite fuehlte, doch noch in die Haende der Waltersburger fiel. Sechs Mann haben ihn gefangengenommen und ihn nochmals verpruegeln wollen. Aber Methusalem hat gesagt: "Pst! Man darf sich an einem geschlagenen tapferen Feinde nicht versuendigen! Man soll ihn vielmehr ehren. Deshalb werde ich dem Feinde jetzt mit der schoenen gruenen Farbe, die ich in diesem Flaeschchen habe, einen Lorbeerzweig auf die Stirn malen." Der Gastwirt hat mit Haenden und Fuessen geschlagen, aber sechs Kerle haben ihn gehalten, und Methusalem hat ihm einen Lorbeerzweig auf die Stirn gemalt. Mit Oelfarbe! Der Gastwirt hat sich in Neustadt nicht mehr sehen lassen koennen und nach drei Tagen Selbstmordgedanken gehabt. Da hat ihm Methusalem ein Mittel geschickt, durch das er die unerwuenschte Ehrung abwaschen konnte. Aus dem Triptychon ist nichts geworden. Nur eine schoene Bleistiftskizze von Methusalem, auf der alle Waltersburger oben liegen, ist unseren Sammlungen einverleibt und zeugt von der Schlacht auf unseren Gemarkungen, die sich gegen den Erbfeind Neustadt abgespielt hat. Piesecke hat an jenem Abend grollend am Bachrand gesessen, triefend vor Naesse, und alle Schwachheit und Feigheit der Kaempfenden sowie die Niedertracht der nicht in den Kampf eingreifenden Teile seines Heeres mit einem einzigen, aus seinem hochfuerstlichen Mund hervorzischenden Wort charakterisiert: "Plebs!" HERBST Das erste Halbjahr, da das Ferienheim in Betrieb ist, geht zu Ende. Wenn ich es ueberschaue, erfuellt mein Herz rechte Befriedigung. Nicht nur der aeusseren Erfolge wegen. Unser Unternehmen steht glaenzend da. Wir haben lange nicht alle aufnehmen koennen, die zu uns kommen wollten. Die Ernte auf den Feldern und in den Gaerten war gut, unsere Bauern sind zufrieden, und unsere Kassen und Kasten sind gefuellt. Vieles, ja das meiste, verdankt dieser aeussere Erfolg der glaenzenden Organisation, die Stefenson dem Ganzen gegeben hat und die er von Amerika aus geleitet und weiter ausgebaut hat, wenn auch der Sonderling noch immer nicht nach Europa zurueckgekehrt ist. Was mich als Arzt und Mensch am meisten freut, ist der Umstand, dass kaum einer unserer Kurgaeste ohne grossen gesundheitlichen Gewinn von uns fortgezogen ist. Das bestaetigt meine eigene Erfahrung, das bestaetigen meine Kollegen, das sagen vor allem unsere Kurgaeste selbst, die schweren Herzens Abschied nehmen, wenn ihre Zeit abgelaufen ist. Wenn sie nach dem Rathaus kommen, ihre Uhr, ihr Geld zurueckerhalten, liegen diese Dinge kalt und fremd in ihren Haenden, und wenn sie im "Zeughaus" ihre eigenen Kleider wieder anlegen und, ohne noch einmal umkehren zu duerfen, durch die grosse Hinterpforte auf die Strasse gelassen werden, wo der Wagen wartet, stehen die meisten befangen da wie aengstliches Volk, das zum ersten Male in die Welt zieht. So sicher, geborgen und heimisch haben sie sich in ihren Ferien vom Ich gefuehlt. Sie schreiben alle freundliche Briefe des Dankes und guten Erinnerns und sagen, dass sie draussen unsere Anstalt preisen, und wenn sie dem oft gehoerten Einwand begegnen, es sei wohl doch eine etwas kindliche, theatralische Sache, so beklagten sie alle diejenigen, die nicht wuessten, wie herzstaerkend und verjuengend die Rueckkehr zu kindlicher Schlichtheit sei und wie sie gerade vom Theatralischen erloese, von der boesen, so raffiniert eingeuebten und so schwer zu spielenden, immer aber im tiefsten Grunde erfolglosen Theaterei unseres Lebens ... Auch diejenigen, die organisch leidend waren, haben durch gewissenhafte aerztliche Kunst sowie durch die Gemuetsruhe und Herzensheiterkeit, die sie umfing, die besten Erfolge gehabt. Der Sommer war gut; es mag Herbst werden. Die Froehlichkeit stirbt deswegen nicht aus. Diese grossen Kinder der Welt fuehlen hier alle die tiefe Schoenheit des Herbstes, von dem sie frueher nichts wussten, als dass mit seiner Ankunft "Neuanschaffungen" noetig seien, die Gasrechnungen hoeher wurden und die Theater- und Konzertsaison beginne. ------------------------------------------------------- Nach Andeutungen und Schilderungen eines unserer Kurgaeste will ich schildern, wie ein Herbstmorgen im Ferienheim verlaeuft. Der Herbstwind hat gesungen die ganze Nacht. Und wie er an den Fenstern ruettelt und welkes Laub und duerre Zweige an die Scheiben warf, hat sich das Menschlein fest in die Decke gehuellt und mit grossen Augen ins Dunkle gestarrt. Langsam ist seine Phantasie an Bord eines schwarzen Wolkenschiffes gegangen, das durch das kalte Meer des Himmels fuhr zu einem unbekannten Ziele. Ein schwarzer Mann stand am Steuer des Schiffes; muede, schweigende Seelen lehnten oder sassen an seinen Bordwaenden. Lautlos glitt das Schiff. Nur der Sturm sang seine Melodie, und wilde Gaense schrien ihr Sehnsuchtslied in den Wind. Sie folgten dem Schiff wie grosse Moewen, und ihr weisses Gefieder zuckte gespenstisch durch die Nacht. Unter dem Wolkenschiff war der grosse Ozean der Luft. Menschenhaeuser lagen wie Muscheln auf dem Meeresgrund, die Waelder standen wie seltsames wirres Gewaechs wilder Schlingpflanzen, manchmal ragte ein Berg auf wie eine Insel, um die das Wolkenschiff herumschwimmen musste. Von der Insel glimmte das Licht einer Berghuette her wie der Schimmer einer Lampe aus einsamem Strandhaus. Ein Felsen ragte auf wie eine Klippe, an der ein unvorsichtiges Schiff zerschellen kann. Das Luftmeer rollte, grollte, stampfte, es schleuderte die schwarze Flotte der Nacht hin und her. Die wilde Fahrt war voll Grausen, aber auch voll Schoenheit. Immerzu, immerzu ging es vorwaerts. Da drang ein Laeuten aus der Tiefe. Irgendein Vineta lag drunten auf dem Grund, da gingen die Glocken. Nun wurde ein lichter Schimmer am Horizont sichtbar. Dort lagen die weissen Berge des Morgens. Und im Morgenlande lag die Heimat. Da fielen dem Traeumer die Augen zu - er stieg herab von dem dunklen Schiff -, stieg ans lichte Land und war zu Hause. Weib und Kind waren bei ihm, und die guten Freunde kamen und schuettelten ihm die Haende. Er erzaehlte ihnen, wo er gewesen sei. Da klopfte es an die Tuer. "Gottfried, stehen Sie auf, es ist halb sieben Uhr!" Gottfried rieb sich die Augen und besann sich. Richtig, er war nicht auf einem Wolkenschiffe, er war auch nicht zu Hause, er war Kurgast im Ferienheim, richtiger gesagt Bauernknecht auf dem Forellenhofe. Sechseinhalb! Es war noch ganz dunkel in der Stube. Und kalt war es. Ein feiner Regen spritzte ans Fenster. Jetzt waere es wohlig, noch eine oder zwei Stunden zu schlafen. Ach, bloss noch ein paar Minuten! Sacht beginnt "Gottfried" wieder einzuschlafen. Aber in dem Augenblick, da sich das Bewusstsein vom letzten Faden loesen will, schrickt er auf und springt mit beiden Beinen aus dem Bett. Er wird sich doch nicht von dem Barthel - dem Bauern - einen Meldezettel an den Arzt schreiben lassen wie ein Schuljunge, der was "pexiert" hat, von seinem Lehrer. Dieser Barthel ist ein ganz netter Kerl, aber er "klemmt" einen sofort, falls man ueber die Hausordnung hinweggeht. Und es ist so bloed, sich dann beim Doktor entschuldigen zu muessen. Unglaublich, wie leicht ein Mensch in die alten Pennaeleraengste zuruecksinken kann. Also aufstehen! Beim Anziehen haelt man sich hier nicht lange auf, es ist zu kalt in der Bude. Auch das Waschwasser ist kalt. Warmes muesste extra verordnet werden. Und man schaemt sich hier unglaublich, wenn man so etwas wie verfeinerte Beduerfnisse erkennen lassen will. Es passt nicht zu einem, wenn man Gottfried Stumpe heisst. Eigentlich war's doch schoen im Traume, so ploetzlich zu Hause zu sein. Wie sie alle zaertlich und besorgt waren und nach den Augen schauten, ob da ein Wunsch abzulesen sei. Hier war das anders, hier hiess es nicht wuenschen, sondern gehorchen. Ein Wunder war's ja nicht, wenn man manchmal ein bisschen Heimweh hatte, zumal man fast gar nichts von Hause erfuhr. Gestern war eine Postkarte gekommen, nach sechs Wochen die erste Nachricht. "Lieber Mann! Bei uns sind alle wohl, und es ist alles in guter Ordnung. Wir denken Deiner in Liebe und haben nur den einen Wunsch, dass Du Dich voellig erholst. Mit treuen Gruessen Dein Weib und Deine Kinder." Das war alles. Es war ja eigentlich genug, es war ganz nach dem Herzen der Kurdirektion; aber Details fehlten gaenzlich. Ob nun Fritzchen im Griechischen auf das volle "Genuegend" gekommen war, ob Lenchen waehrend der Ferien zum Grossvater reiste, ob der Kollege Neumann sich wirklich den Adlerorden erschlichen hatte, wer Stadtverordnetenvorsteher geworden war, wie die Elektrizitaetsaktien standen - ah, kein Wort! Das ging ihn wahrscheinlich nichts an, ihn, den Knecht Gottfried Stumpe. Auf die gewohnte Anrede "Herr Amtsgerichtsrat" hatte er beinahe voellig vergessen. Sie war ihm wie ein Klang aus sagenhafter Zeit. Er war einfach Gottfried. "Gottfried", hatte gestern die dicke Susanne gesagt, "helfen Se mir mal meine Brille suchen; ich hab mir se verlegt und muss die Butterrechnung schreiben." So wurde man sogar zu persoenlichen Dienstleistungen herangezogen. "Man", der Herr Amtsgerichtsrat! Wie oft ueberhaupt dieses Weib, die Susanne, die Brille verlegt, ist unglaublich. Methusalem hat ihr jetzt eine Art Soldatengurt gestiftet, daran haengt wie eine kleine Saebelscheide das Brillenfutteral. Da soll sie ihre Augenwaffe immer bei sich haben. Aber sie traegt das Koppel nicht, sie hat es dem Methusalem um die Ohren schlagen wollen. Dieser Methusalem ist ein ganz netter Kerl; nur, er erlaubt sich zuviel Frechheiten. Ihn, den Amtsgerichtsrat, hat er gezeichnet. Aber nur von hinten. Er sagt, er haette einen interessanten Ruecken. Das Waschwasser ist abscheulich kalt. Und der Spiegel ist klein. Von ordentlichem Frisieren ist keine Rede. Den Nackenscheitel hat er laengst aufgegeben. Richtig, jetzt kommt noch das Schandvieh, der vom Doktor verordnete Dackel, verbeisst sich in die herabhaengenden Hosentraeger und zieht und zerrt daran. "Man" macht eine Bewegung, wie Pferde, die nach hinten ausschlagen wollen, verliert dabei seinen Pantoffel und bemerkt, dass der Dackel die Hosentraeger jaehlings loslaesst, sich auf den Pantoffel stuerzt und mit ihm unter dem Bett verschwindet. Mag er. Mag er ihn zerfressen! Der Pantoffel gehoert der Kurverwaltung. Und der Dackel ist ihm oktroyiert. Einfach oktroyiert! Er hat Hunde nie leiden moegen. Schon gar nicht als Schlafkumpane. Er hat sie immer als wandelnde Flohfabriken verabscheut. Methusalem hat neulich einen "wissenschaftlichen" Vortrag im Rathaussaal gehalten und vorher durch oeffentlichen Anschlag angekuendigt. Das Thema lautete: "Kann der Mensch (_homo sapiens_) von dem Hunde (_canis familiaris_) einen Floh (_pulex irretans_) erhalten?" Er - Amtsgerichtsrat _Dr._ - nein, Gottfried Stumpe, hat den Bloedsinn nicht mitmachen wollen. Zuletzt hat er gerade an dem Vortragsabend rein gar nichts vorgehabt und - um die Zeit totzuschlagen - hingehen wollen. Aber da hat es geheissen: Der Saal sei ueberfuellt, die Polizei lasse niemand mehr zu. Tags darauf hat am Rathaus eine "Rezension" des Methusalemschen Vortrags ausgehangen. Isidor Karfunkelstein vom Grundhof hat sie geschrieben. Natuerlich Blech! Am Schluss hat es da geheissen: "So wies der Vortragende in seiner lichtvollen, hinreissenden Art aufs ueberzeugendste nach, dass Hunde- und Menschenfloh zwei ganz verschiedene Spezien sind, dass es einem Hundefloh niemals einfalle, die schoen behaarten Jagdgruende seiner tierischen Pfruende freiwillig zu verlassen, um auf dem glatten Parkett der Menschenhaut ungluecklich zu debutieren; dass dem Hundefloh das tierische Blut viel besser munde als das menschliche; dass ein bei einem Menschen gefundener Hundefloh eine ausserordentliche Ausnahme, einen armen Verirrten darstelle, der hoellisch an Heimweh leide, kurz, dass wohl ein Dackel von einem Menschen einen Floh bekommen koenne, aber nicht umgekehrt. Eine Resolution, die darauf hinausging: die Mitglieder der Versammlung als Angehoerige der Kulturwelt seien fest entschlossen, den alten Aberglauben, dass ein _pulex irretans_ vom _canis familiaris_ freiwillig zum _homo sapiens_ uebergehe, auszurotten, wurde mit ueberwaeltigender Mehrheit angenommen. Die ohnmaechtige geringe Opposition wurde ausgelacht." Das war also ein "wissenschaftlicher Vortrag" in diesen Ferien vom Ich. Verrueckt! Aber alles Volk lief hin, Herren und Damen! Rauften um die Plaetze! Nun hat das Beest, der Dackel, den Pantoffel wirklich zerfetzt. Er guckt - mit elenden Plueschueberresten in der Schnauze - hoechst durchtrieben unter dem Bett hervor, und seine weit aufgerissenen Augen fragten: Gibt es nun Keile oder nicht? Er schlaegt ihn nicht. Mag Vater Barthel neue Pantoffeln besorgen. Er regt sich nicht auf. Dazu ist er nicht da. Frueher wuerde er gekollert haben. Jetzt nicht mehr. Er ist Gottfried Stumpe, dem solche Kleinigkeiten sehr egal sind. Der Dackel versteckt inzwischen die Zeichen seiner Schandtat weit unter dem Bett, dann kommt er naeher, macht ein aeusserst treuherziges Gesicht, wedelt mit dem Schwanze und bietet das Bild unverdaechtigster Harmlosigkeit. Gottfried sieht ihn an, beschliesst, die abscheuliche Heuchelei zu uebersehen und sagt einfach und gelassen: "Du bist ein Schweinekerl!" Der Dackel blinzelt nach dem Fusse, auf dem sein "Herrchen" in blossen Socken steht, nimmt den "Schweinekerl" als etwas ganz Selbstverstaendliches hin und springt dann zaertlich an dem von ihm liebreich geneckten Manne in die Hoehe. Und der schabt ihm freundlich den Nacken, dort, wo das Fell so lose sitzt wie ein viel zu weiter Anzug. "Gottfried, maehren Sie nicht wieder so lange beim Anziehen! Sie erkaelten sich!" Das war Vater Barthel. "Maehren" hatte er gesagt. Der Mann war nicht satisfaktionsfaehig. Wenn ihm frueher mal einer "Maehren Sie nicht so lange" gesagt haette! Zum Beispiel, als er in Sachen Pimpel _contra_ Karsubke wegen eines Objektes von drei Mark und fuenfzig Pfennig neun Termine ansetzte, von dem der letzte drei Stunden dauerte! Tja - Ferien vom Ich! Der Treppenflur ist durch den gelbroten Schein von Petroleumlampen erleuchtet. Petroleum ist ein Licht, das aus der Erde gequollen ist. Darum ist es wahrscheinlich so warm. Leute, die um eine Petroleumlampe sitzen, sehen alle aus wie Bergvolk, das im Innern der Erde haust - halbbeleuchtete Hoehlengesichter, die sich an den dunkel bleibenden Waenden doch hell abheben. Alles im Zauberschein stillen, trauten Zusammenhockens, ein Wissen und Bekennen: draussen ist Nacht. Alles andere grellere Licht luegt den Tag vor. Im Hausflur unten sagt die huebsche Magd Emilie: "Hoppla!", weil Herr Gottfried an ihre Milchkanne stoesst. Und dann tritt er in die grosse Bauernstube. Da umfaengt ihn das ganze grosse Behagen des zu frueh Erwachten, der in eine warme Stube tritt. Alle Glieder dehnen sich in Wohligkeit. Um den Tisch sitzen schon die Genossen und Genossinnen. Viele trinken Kakao, andere loeffeln Milchsuppe. Er suppt. Susanne muss ihm den huebschen, wahrhaft kuenstlerisch geformten Napf zweimal fuellen. Die Fruehstuecksunterhaltung ist spaerlich und nuechtern wie ueberall. Zu Hause wuerde er jetzt Kaffee trinken und die Zeitung dazu lesen. Das bisschen Koffein wuerde ihm wahrscheinlich nichts schaden; aber dass er die Zeitung wieder mal auf den Tisch hauen oder zerknuellt an die Wand schmeissen wuerde - das waere schlimmer. Hier gibt's keine Zeitung. Es geht auch so. Sollten Amerika und Japan inzwischen Krieg bekommen haben, ist's ihm voellig egal, wer dabei zugrunde geht, gleichgueltiger als der vom Dackel zernagte Latschen. Der Regen spritzt noch immer an die Scheiben. Ein "Sauwetter" wuerde er zu Hause sagen, die Gummischuhe anziehen, den Mantelkragen hochschlagen und auf dem schnellsten Wege zur Strassenbahn trachten, um zum Gericht zu fahren. Hier - Gottfried Stumpe - oh weh! Gestern war das Wetter nicht viel besser, und er hat Duenger fahren muessen. Die Arbeit verteilt Vater Barthel. Gottfried glaubt, der Bauer habe etwas gegen ihn. Jedenfalls - das steht fest - dieser Methusalem wird immer bevorzugt. Ist's schoen und warm, dass er auf dem Kartoffelfelde Allotria mit dem Weibsvolk treiben kann, geht er hinaus; regnet es und blaest der Wind, wird er zu haeuslichen Arbeiten verwandt. Alles Protektion auf der Welt! Herr Amtsgerichtsrat Dr. - nein, Gottfried Stumpe, haette nie gedacht, es noetig zu haben, sich um das besondere Wohlwollen eines Bauern Barthel oder einer Frau Susanne bemuehen zu muessen. Er verschmaeht auch alle Liebedienerei, um sich Verguenstigungen zu verschaffen. Dieser Methusalem - er ist ja sonst ein netter Kerl - ist schon fuenf Monate hier, aber eigentlich ein Kriecher; denn er soll Frau Susanne auf einem Schaffboden in einer fabelhaft geschmeichelten Weise portraetiert haben, dass er, trotz gelegentlicher Anrempelung, lieb Kind im Hause ist und bleibt. Denn Susannes Bild haengt jetzt in einer Muenchener Ausstellung; das schmeichelt natuerlich solch alter Schachtel gewaltig. Die dicke Lene drueben am Nachbartisch - Gottfried muesste sich furchtbar taeuschen, wenn er in ihr nicht die Gattin des Juweliers Rosenbaum erkannt haette - sagt eben Vater Barthel eine plumpe Schmeichelei ueber seine Uhrkette, die ein klobiges Ding ist und vielleicht einen Taler gekostet hat. Aber Barthel, der ein geriebener Patron ist, merkt den Braten und sagt: "Ja, ja, Lene, meine Uhrkette is zwar sehr schoen; aber Rueben abkloppen muessen Sie heute trotzdem." "Es ist so furchtbar kalt!" stoehnt die Dicke. "Lene", belehrte sie Vater Barthel wohlwollend; "es is kalt, das is wahr. Aber Sie sind hier, um duenner zu werden, und Kaelte zieht die Koerper zusammen." Saemtliche Fruehstuecksleute grinsen. Auch Gottfried freut sich. Gestern, als er Duenger fahren musste, hat er sich bloss damit getroestet, dass es die Arbeiter auf dem Ruebenstande noch schlimmer hatten als er. Die Rueben aus dem nasskalten, manschigen Acker zu nehmen, sie aneinander zu "klopfen", damit ueberfluessige Erde abfaellt, und sie fuer den Wagen zu sammeln, ist an solchen Regentagen keine schoene Arbeit und nichts weniger als Manikure. Die Finger werden blaurot. Nur Pulswaermer helfen etwas. Scheusslich. Er - Gottfried - freut sich auf seine Duengerfuhre. Da pendelt er so langsam neben seinen beiden nachdenklichen Roesslein einher, und der Ammoniakgeruch, den seine Ladung ausstroemt, stoert ihn nicht. Der soll sogar ausgezeichnet gesund fuer die Lungen sein. "Methusalem, Sie werden heute Holz hacken!" hoert er Vater Barthel weiter reden. Richtig! Es regnete - folglich blieb Methusalem im Trockenen. Gottfried hasste in diesem Augenblick den Methusalem, wie er zu Hause den Kollegen gehasst hatte, der den Adlerorden erschleichen wollte. Solche Leute verstehen es eben, immer "nach oben" zu schielen. "Oben" - das waren hier Vater Barthel und Frau Susanne. Barthel tat so, als ob er unparteiisch sei. "Das sage ich Ihnen aber, Methusalem, gravieren Sie mir heute wieder ein Bild auf die Axt, haben Sie das letztemal Holz gehackt!" Methusalem gelobte, keine Barthelsche Holzaxt mehr zu verunzieren, sondern fleissig Holz zu hacken. In diesem Augenblick trat der Brieftraeger in die Stube. Er hatte eine riesige Tasche umgehaengt, und in dieser Tasche steckte ein einziger Brief. "Herrn Methusalem auf dem Forellenhof." Methusalem oeffnete den Brief, las und sank mit einem Seufzer wie ohnmaechtig auf die Ofenbank. Die Weiber quiekten, am lautesten Susanne. Barthel hob den auf den Fussboden gefallenen Brief auf und las ihn ohne weiteres vor: "Sehr geehrter Herr! Ihre von der gesamten Fachkritik glaenzend beurteilte Zeichnung 'Baeuerin auf dem Schaffboden' ist heute fuer den Preis von fuenftausend Mark verkauft worden. Die Ausstellungsleitung." Grosse allgemeine Verwundernis. Frau Susanne wurde knallrot. Dann hielt sie sich die Leinwandschuerze vors Gesicht. Barthel aber klopfte sie auf die Schulter und sagte: "Mutter, schaem dich nich! Was kannst du dafuer, dass du so 'ne interessante Frau bist!" Methusalem erholte sich, stand auf und bot ein Bild des Jammers. "Kinder", sprach er mit zerknirschter Stimme, "ihr alle kennt mich und werdet daher Mitleid mit mir haben. Neunhundertachtundneunzigeinhalbes Jahr bin ich alt; eineinhalb Jahr habe ich bloss noch zu leben. Und nun werd' ich ploetzlich ein Kroesus. Dass ich in der kurzen Spanne Zeit meines irdischen Wallens nicht die Riesensumme von fuenftausend Mark ausgeben kann, werdet ihr einsehen. Und doch muss sie mangels jeglicher Leibeserben weggeschafft werden. Ihr koennt glauben, dass dieser Fall mein Gemuet hart bedrueckt. Doch werden wir Mittel und Wege finden, hier so lange Feste zu feiern, bis ich von dem Alp des Geldes erloest bin." Gegen diese Auffassung hielt nun Barthel eine zornspruehende Rede ueber Sparsamkeit, Maessigkeit und Unvernunft. Manche stimmten ihm zu, andere widersprachen ihm, es gab ein erhebliches Durcheinander. Inzwischen ging Frau Susanne immerfort mit roten Wangen und schaemig flimmernden Augen hin und her. "Denken Sie doch, Frau Susanne - fuenftausend Mark - in Muenchen auf der Ausstellung! Fuer Ihr Bild!" "Ruhe!" kommandierte Barthel. "Wir muessen wieder an ernste Dinge denken. Ekkehard, Sie nehmen einen Schubkarren, fahr'n 'runter nach Waltersburg zum Kaufmann Scholz und hol'n das Faesschen Heringe ab, das ich bestellt hab. Lassen Sie sich's aber recht festbinden, dass es nicht 'runterkugelt!" "Jawohl!" "Thusnelda, Emilie-Karlotti, Strunzel und Eva helfen beim Buttermachen." Vierstimmiger piepsiger Frauenchor: "Jawohl!" "Knusperhase, Friedrich Schiller, Li-hung-tschang, Mussolini und Fuhrmann Henschel werden Aeppel pfluecken. Baerbel und die Lustige Witwe werden die Aeppel nach der Aeppelkammer tragen." Septett: "Jawohl!" "Der Alte Dessauer hat Jagdurlaub bis zum Abendbrot; das Veilchen im Winkel wird helfen, die Heringe einmarinieren, die Ekkehard bringt; Piesecke kommt zwei Stunden lang an die Jauchenpumpe; Andreas Hofer, Moritz Arndt, Fitzlibutzli, der Knecht Elieser, Ali-Baba und Jeremias Gotthelf gehen zum Ackern aufs Feld. Lene und Joachim Hans von Ziethen helfen beim Ruebenabkloppen. Fehlt noch jemand?" Herr Amtsgerichtsrat Dr. - nein Gottfried Stumpe, erhob sich. "Ich!" "Ach so - Sie, Gottfried! Nu, Sie helfen auch beim Ruebenabkloppen." Gottfried erblasste. Zu widersprechen wagte er nicht. Er hoerte nur noch mit beissendem Ingrimm, dass Barthel den Methusalem aus Anlass seines Briefes einen Tag beurlauben wollte. Methusalem aber wies die Ehre zurueck. "Nimmermehr!" rief er pathetisch, "denn sehen Sie, Vater Barthel, eine ungeheure Lebenslust, ein Kraftueberschuss durchstroemt ploetzlich meinen fast tausendjaehrigen Leib. Ich komme mir vor wie ein Fuenfunddreissiger. Wo soll ich hin mit der Freud? Austoben muss ich mich. Und das kann ich nur, wenn ich Holz hacke. Ich will keinen Urlaub, ich hacke Holz!" Punkt ein Viertel nach sieben Uhr erklaerte Barthel das Fruehstueck fuer aufgehoben. Nun gingen alle ihre Wege, die meisten hinauf nach den Badehaeusern, um ihre "Anwendungen" zu machen. Auch Gottfried Stumpe schritt hinaus in den fein spruehenden Regen. Er war sehr schlechter Laune. Auf seinem Kurzettel stand heute ein zehn Minuten langes Bedampfen des Magens (er litt an Magennerven), dann ein Buerstbad mit nachfolgendem kuehlen Abguss. Was so die Nervoesen bekommen! Frueher war er auch massiert worden und hatte im Gymnastiksaale turnen muessen. Jetzt fiel das weg. Wahrscheinlich war er schon zu gesund zu solch anstaendiger Behandlung. Jetzt musste er einfach arbeiten. Rueben abkloppen. Mit Maegden und alten Weibern zusammen. Scheusslich! Es war ein reines Wunder, wie man sich das als Kulturmensch gefallen liess. Dass man nicht einfach sagte: Rutscht mir den Buckel lang; ich reise ab! Solche Schweinerei, wie Rueben, die im Dreck liegen, abzukloppen, mache ich nicht mit! Man reiste aber nicht ab. Man wusste, dass sich die Kurverwaltung aus einer Abreise rein gar nichts machte, weil schon immer Hunderte darauf warteten, neu eingereiht zu werden. Alle Widerstandskraft verliert man bei dem Gedanken: sie brauchen dich nicht, du aber brauchst sie. Denn es war nicht zu leugnen, dass man hier absolut von Grund auf gesuender wurde. Also bis acht Uhr war er mit seinen Anwendungen fertig; dann musste er sich nach der kuehlen Abgiessung eine halbe Stunde lang warm laufen; dann durfte er eine halbe Stunde lang in irgendeinem bequemen Lehnstuhl des Kurhauses verpusten. Dann aber musste er unwiderruflich aufs Feld. Rueben abkloppen! Wenn nur inzwischen der elende Spruehregen aufhoerte. Ein einziger Trost war, dass bei solchem Wetter das Aepfelpfluecken vom nassen Baum auch kein Heidenspass war. Wie kaemen sonst gerade Friedrich Schiller, Mussolini und Fuhrmann Henschel dazu, dass sie ... Neid und Missgunst plagten ihn immer noch etwas; auch war er noch reichlich oft schlechter Laune. Das kam wahrscheinlich vom Magen. Aber es war doch schon zehnmal besser mit ihm als zu Hause. Wie hatte er da oft getobt und gekollert, mit dem Gerichtsdiener, mit den Angeklagten, mit den Zeugen, ja mit Weib und Kind. Die Fliege an der Wand aergerte ihn, das Klopfen des Regens ans Fenster regte ihn auf. Jetzt - wer diesen Dackel und diesen Vater Barthel vertrug, ohne tobsuechtig zu werden, musste schon sehr gesund sein. Bei seinem Spaziergange traf Gottfried seinen Freund Emanuel Geibel vom Sonnenhof. Das war der Mann, mit dem er sich am besten verstand, mit dem er wirklich befreundet war. Sie hatten sich eines Tages beim Pilzesuchen an einem Waldrande getroffen, jeder mit einem Koerbchen und einem Messer bewaffnet, hatten einander gegenuebergestanden und gelacht. Dann hatten sie sich einander vorbestellt: "Emanuel Geibel vom Sonnenhof - Gottfried Stumpe vom Forellenhof. Freut mich! Freut mich!" Und am sonnigen Waldrande gesessen und geschwatzt. Allmaehlich aber waren sie in zivilisiertes Gespraech gekommen, auf Hygiene im allgemeinen, auf Volkswirtschaftliches, auf hohe, schliesslich auf ganz hohe Politik, dann noch hoeher hinauf auf die Kunst, haben sogar einen etwas torkeligen Aufstieg in metaphysische Gebiete versucht, sich in die Firnenzonen der Philosophie und Religion verklettert und sind dann mit einem waghalsigen Sprung auf die letzte Gipfelhoehe der Menschheit gesetzt - auf den im Blauschnee glitzernden, aller gewoehnlichen Sterblichkeit ewig unerreichbaren Gaurisankar der heiligen Jurisprudenz. Da ist dem Amtsgerichtsrat etwas schwindelig geworden. Emanuel Geibel entpuppte sich als ein hervorragender Jurist, als eiskalter Verstandesmensch, als einer, der nicht nur ueber den Hanswurst, den jetzigen Justizminister, spottete, der mit seinem geistigen Zwergenmass die Riesenschleppe des Ministertalars gar zu possierlich schleifte, sondern der auch an die Dogmen der anerkanntesten juristischen Groessen mit geradezu souveraener Ueberlegenheit die Sonde legte. Wie er allein ueber Liszt urteilte. Dem Amtsgerichtsrat war klar, dass der Mann, der sich unter dem Namen Emanuel Geibel versteckte, eine eminente Groesse der Rechtswissenschaft war, hoffentlich der kuenftige Minister. Dann wuerde vieles an den unhaltbaren verrotteten Zustaenden der heutigen Rechtspflege gebessert werden. So beschloss der Amtsrichter dreierlei: erstens lieber gar keine, als eine dumme Bemerkung zu machen, sondern zumeist den andern reden zu lassen und ihm zuzustimmen; zweitens ganz leise durchschimmern zu lassen, dass er durch ein ungerechtes Schicksal, vielmehr durch widrige Gegenstroemungen ins Dunkle gestellt worden sei und gewissermassen auch etwas mit der Jurisprudenz zu tun habe; drittens privatim sich als Gottfried Stumpe treuherzig die Sympathie Emanuel Geibels zu erwerben. Das alles ist gelungen. Eines Tages hat Geibel sogar mit ihm Bruederschaft gemacht. Denn Emanuel hatte bei allem messerscharfen Verstand ein poetisches Gemuet, und der Mann, der eben noch Worte gesprochen hatte, von denen jedes mit Schwefelsaeure getraenkt war, konnte ploetzlich traumversunken stehenbleiben und seufzen: "Oh, darum ist der Lenz so schoen Mit Duft und Strahl und Lied, Weil singend ueber Tal und Hoeh'n So bald er weiterzieht." Oder, weil ihm eben einfiel, dass gar nicht Fruehlingszeit sei: "Herbstlich sonnige Tage, Mir beschieden zur Lust, Euch mit leiserem Schlage Gruesst die atmende Brust. Oh, wie waltet die Stunde Nun in seliger Ruh; Jede schmerzende Wunde Schliesset leise sich zu." Der eiskalt schliessende Jurist hatte sich ganz in die suessen, goldenen Melodien Geibelscher Lyrik eingesponnen. Und darum wohl hatte er des Dichters Namen fuer seine Ferien vom Ich gewaehlt. Die Gegensaetze beruehrten sich auch hier. Diesem Emanuel Geibel begegnete nun Gottfried Stumpe, als er sich an jenem feuchtkalten Herbstmorgen nach der Abgiessung "trocken lief". Die Begegnung war nicht ganz zufaellig. Gottfried wusste, dass Emanuel abreiste. Er habe nur sechs Wochen Urlaub, hatte Geibel ihm gesagt, er koenne nicht laenger abkommen. Natuerlich, es gab eben im Justizdienst unersetzliche Kraefte. Wortkarg stiegen die beiden Freunde miteinander zum "Zeughaus" hinunter. "Nun gehe ich da hinein", sagte Emanuel traurig, "und komme nicht mehr durch diese Tuer in unser liebes Heim zurueck, sondern trete auf der anderen Seite in meinem Weltanzug auf die Strasse hinaus, die ins kalte Leben zurueckfuehrt. Ach, mein Freund, mir ist sehr schwer ums Herz. Ich wollte, wir waeren jetzt oben im Walde und suchten Pilze. Ich hab dich gern gehabt." Gottfried Stumpe wandte sich zur Seite. Emanuels Seele aber wurde wieder vom Geiste seines Meisters umfangen, und er sagte mit leisem Beben: "Wenn sich zwei Herzen scheiden, Die sich dereinst geliebt, Das ist ein grosses Leiden, Wie's groess'res nimmer gibt; Es klingt das Wort so traurig gar: Fahr wohl, fahr wohl auf immerdar! Wenn sich zwei Herzen scheiden, Die sich dereinst geliebt." Wohl verwunderte sich Gottfried ueber diese grosse Zartheit, aber sie packte ihn, und die Augen wurden ihm feucht. Der Freund ging hinein ins Zeughaus. Auf der anderen Seite wuerde er nun hinaus auf die Strasse treten, die aus diesen friedlichen Ferien zurueckfuehrt in die harte Schule des Lebens. Gottfried ging um das Zeughaus herum und gelangte durch ein Seitenpfoertlein ebenfalls hinaus auf die Strasse. Er wollte den Freund noch einmal sehen. Mochte er zu spaet auf Barthels Feld kommen, es war ihm einerlei. Nach einer Viertelstunde kam Emanuel. Fast haette ihn Gottfried in dem nuechternen Reiseanzug nicht erkannt. "Ah, da bist du noch!" "Ja, ich wollte dich noch einmal sehen." "Das ist lieb von dir!" Emanuel zog die Uhr - eine einfache silberne Taschenuhr. "Ganz fremd mutet mich das Ding an. Es ist so grausam pedantisch. Es zaehlt Minuten und Sekunden. Drinnen in der Heimat ist es besser, da duerfen einem nur eine Glocke oder der Grossknecht oder Mond und Sterne sagen, wie spaet es ist. Und dann das Geld, das bedrueckt mich am meisten. Was soll ich mit den paar Kroeten tun? Mir eine Burg des Gluecks davon bauen? Lieber Gott!" "Du wirst noch hoch hinauf kommen!" troestete ihn Gottfried. "Nein!" sagte Emanuel bitter. "Da drinnen, da ist es ja geboten, ueber das eigene Ich zu schweigen. Aber hier draussen auf der Landstrasse will ich mich dir gegenueber nicht verbergen. Ich hab Pech gehabt. Haett' gern studiert. Aber wie ich in der Unterprima war, starb der Vater. Da musste ich abgehen von der Schule. Wurde ein Subalternbeamter. Ich bin Sekretaer am Amtsgericht zu H." "Emanuel!" Gottfried rang die Haende ineinander. Ein Subalternbeamter! Dieser Ministerstuerzer! Dieser Liszt-Kritiker! Dieser gewaltige Umstuerzler von oben! Ein Sub - sein Duzbruder! Wenn das sein akademischer Stammtisch wuesste! "Emanuel!" Gottfried stand so verdattert da, dass in die weichen Zuege Emanuel Geibels wieder die essigsaure Schaerfe trat, die aber doch nur zu den resignierten Worten fuehrte: "Gottfried! Sie waren da drinnen Gottfried und ich Emanuel - wer wir draussen sind, braucht uns nicht mehr zu kuemmern, braucht Sie nicht zu genieren." "Ich bin Amtsgerichtsrat Dr. Stein", sagte Gottfried noch ganz benommen. "Dann erlaube ich mir, dem Herrn Amtsgerichtsrat eine weitere erfolgreiche Kur zu wuenschen", sagte Emanuel hoeflich, verneigte sich, ergriff seine kleine Handtasche und wollte gehen. Da aber hatte ihn Gottfried am Arm. "Nein, lieber Emanuel, wir bleiben Freunde - auch draussen -, verstehst du? Von dem bloedsinnigen Kastengeist bin ich im Ferienheim befreit worden." Emanuel setzte die Handtasche auf die Strasse. "Ich danke dir!" sagte er schlicht, aber in tiefer Freude. Sie schieden voneinander. Der Amtsgerichtsrat ging mit beklommenem Herzen, das jeder hat, der von einem Freunde Abschied nahm, nach dem Ruebenfelde. Da waren die Leute fleissig an der Arbeit. Nur Joachim Hans von Ziethen, der auch zum Rueben "abkloppen" kommandiert war, sprang in kuehnen Husarenspruengen ueber ein lustig brennendes Feldfeuerchen hinweg, um sich warm zu machen, in Wirklichkeit aber - wie der Amtsgerichtsrat mit neidischem Grimm bei sich feststellte -, um sich von der Arbeit zu druecken. Zehn Minuten spaeter sprang er mit ueber das Feuer, bis von ferne die Gestalt Barthels auftauchte. Da begaben sich die beiden Drueckeberger schleunigst an die Arbeit. VON DER WEIBLICHEN PUTZSUCHT UND HERRN PIESECKES LEIDEN Gestern vormittag traf ich die kleine Luise, die sich eben von einem Haufen spielender Kinder trennte. "Willst du schon aufhoeren zu spielen, Luise? Die Sonne scheint doch so schoen." "Ich will zu meiner Mamma." "Zu deiner Mamma?" "Ja, nach Hause!" "Sagst du zu Magdalena jetzt Mamma?" "Ja. Alle Kinder haben eine Mamma. Ich will auch eine haben. Meine Mamma soll Magdalena sein." "Hast du deine Mamma lieb?" "Lieber wie dich!" Das klang nicht frech, nur tief ueberzeugt. "So. Hm. Lieber wie mich! Das glaube ich gern. Ihr spielt wohl schoen zusammen?" "Nein, wir schneidern. Wir machen ein Kleid fuer mich. Aber es passt immer nicht richtig, weil Mamma das Schneidern nicht gelernt hat, und da will uns jetzt die Selma kein neues Zeug mehr geben." Selma ist die Beherrscherin unserer weiblichen Schneiderei, eine etwas schwierige Alte. Das Maedchen ging neben mir her. Mit grosser Munterkeit sagte sie: "Wenn Pappa Stefenson da waere, wuerde er die Selma maechtig ausschimpfen, weil sie sagt, es ist zu teuer, wenn man fuer ein Kinderkleid vierzig Mark verbuttert und nichts zustande kriegt. Ach, es wird doch so schoen! Wir naehen alle Tage neue Schleifen dran." "Ich werde mit der Selma sprechen." "Ja? Wirst du wirklich? Fuerchtest du dich nicht? Dann sage ihr, wir muessen ein Meter schottische Seide haben und unten ein bisschen Pelzbesatz. Ich hab mir's so ausgedacht: oben an dem Kleid will ich einen Matrosenkragen, in der Mitte will ich schottische Seide und unten Pelzbesatz. Das wird sehr fein!" "Ja, das glaube ich. Will das deine Mamma auch so?" "Mamma will so, wie ich will." Das war das Maedel, das vor einem Jahr in der Berliner Ackerstrasse Schnuerbaender verkaufte! Die Erinnerung an diese elende Vergangenheit ist in ihr voellig erloschen. Gut so! Und auch ihre Kleiderwuensche verstand ich. Die Kinder hupfen bei uns alle in einer gesunden, einfachen Tracht umher. Aber ein Maedchen hatte geprahlt, es haette zu Hause ein Matrosenkleid, ein anderes hatte sich mit einem Kleide mit schottischer Seide grossgetan, ein drittes sogar von Pelzbesatz gefabelt. So war in Luise der Wunsch entstanden, alle diese Herrlichkeit in einem einzigen Kleid zu vereinigen. Die Weibermode setzt ueber die hoechsten Mauern, die man um ein Ferienheim ziehen kann. Dagegen laesst sich nichts tun. Auch unsere weibliche Ferienkleidung wird mit tausend Spitzfindigkeiten "modernisiert" und "stilisiert". Was man allein mit einer heimlich angebrachten Sicherheitsnadel alles "raffen" kann, wieviel "Schick" man durch solch einfache Mittel in die vorgeschriebene Gewandung bringen kann, grenzt ans Wunderbare. Wenn in meinem Ferienheim ueberhaupt mal ein Aufstand entstehen sollte, wird es eine Frauenrevolution sein. Anfangs wollte ich fuer alle weiblichen Feriengaeste ein und dieselbe Tracht. Aber selbst Selma, die, eine Aszetin an Einfachheit und an Grobheit, einem preussischen Kammerunteroffizier, der Helme und Stiefel "anprobiert", weit ueberlegen ist, kam mir schliesslich mit dem Vorschlag, vier verschiedene "Modelle" muessten eingefuehrt werden, eines fuer die Dicken, eines fuer die Duennen, eines fuer die Langen, eines fuer die Kleinen. Damit habe ich mich einverstanden erklaert; inzwischen ist bereits noch durchgesetzt worden, dass die Blonden blaue, die Schwarzen rote Blusen bekommen. Fuer die kuehlen Abende werden farbige Umschlagtuecher geliefert. Oh, wie gross sind die Wunder der Schoepfung! Manche unserer Damen drapieren das Tuch vom Guertel abwaerts um den Kleiderrock, die meisten tragen das Tuch rechts oder links ueber die Schulter malerisch geworfen, andere machen sich eine "ungarische Schuerze" daraus, wieder andere eine Muff; Turbane um den Kopf werden ebenso geschickt aus dem Tuch hergestellt wie schlichte Nonnenschleier; einige tragen das zusammengelegte Tuch nur ueber dem Arm, und einige wenige greifen auf den urspruenglichen Zweck zurueck, die schlagen das Tuch um die Schultern. Dr. Michael hat die Putzsucht der Frauen fuer eine unheilbare Krankheit erklaert. Ich bin nicht seiner Meinung. Diese Putzsucht ist keine Krankheit, sondern eine Naturnotwendigkeit; das Weib muss sich putzen, so wie sich das Kaetzchen beschlecken muss. ------------------------------------------------------- Neulich kam Piesecke zu mir, ausserhalb der Sprechstunde. Er war noch erregter, als er sonst oft ist, und sprach zunaechst eine Menge wirres Zeug durcheinander, aus dem hervorgehen sollte, dass er der ungluecklichste Mensch der Welt sei. Ich unterbrach ihn. "Piesecke, ich glaube jedes Wort, was Sie sagen, aber sprechen Sie langsamer! Sprechen Sie recht gelassen! Sagen Sie mir ohne alle Umschweife, was los ist." Er rang die Haende ineinander und jammerte: "Ach Gott, ich liebe sie, ich liebe sie!" "Wen? Mich?" "Ach, doch nicht Sie, sondern sie!" "Also Hanne vom Forellenhof." "Woher wissen Sie ...?" "Ich weiss es. Sie haben sich oft genug auffaellig benommen." "Und wissen Sie auch, dass sie fortzieht?" "Ja, morgen nachmittag. Sie hat ein gutes Engagement an ein Stadttheater bekommen." "Ich ertrag es nicht; oh, ich ertrag es nicht. Sehen Sie, Herr Doktor, Sie koennen machen mit mir, was Sie wollen, Sie koennen der beste Arzt der Welt sein, Sie koennen hundert Sanatorien fuer mich bauen, wenn mich dieses Maedchen verlaesst, bin ich verloren." "Gruselig!" "Was sagten Sie?" "Gruselig!" "Herr Doktor, spotten Sie nicht! Diesen Verlust ertrage ich wirklich nicht; er bedeutet mein Ende." "Dann wird in Ihrer Landeszeitung ein schoener Nekrolog ueber Sie erscheinen." Er war empoert. "Sie haben kein Herz fuer mich. Aber es ist gut, dass Sie von unserer Landeszeitung gesprochen haben. Schliesslich bin ich doch ein Prinz!" "Hier nicht! Hier sind Sie Piesecke." "Das weiss ich; aber ich vergesse nicht, was ich draussen bin. O nein! Sehen Sie, und das habe ich ihr gesagt." "Was? Wem?" "Der Hanne habe ich gesagt, dass ich ein Prinz bin." "Sie sind wohl verrueckt geworden, Piesecke. Auf solche Indiskretionen steht die Strafe der Entlassung aus unserer Anstalt." "Schimpfen Sie nicht, Herr Doktor; ich bin heute schon genug ausgeschimpft worden." "Was hat denn Fraeulein Hanne zu Ihrer Quasselei gesagt?" "Ausgelacht hat sie mich. Sie haelt mich fuer einen Sargfabrikanten aus Hannover. Stellen Sie sich vor, Herr Doktor, ausgerechnet fuer einen Sargfabrikanten haelt sie mich." "Das Geschaeft eines Sargfabrikanten ist ein sehr ehrbares." "Ach Gott, nun sind Sie auch noch gegen mich. Und ich hatte meine ganze Hoffnung auf Sie gesetzt. Sie sollten ja Fraeulein Hanne sagen, dass ich wirklich ein Prinz bin und dass sie ein Engagement an unserer Hofoper annehmen soll." "Was haetten denn Sie davon, wenn Fraeulein Hanne in Ihrer Residenzstadt saenge und Sie inzwischen hier bei uns Duenger fahren muessten?" "Ich hatte gehofft, Sie wuerden mich fuer ein paar Wintermonate beurlauben." "Daran denke ich nicht im Traume. Bis zum Mai bleiben Sie laut unserer Abmachung hier. Das entspricht auch ganz den Intentionen Ihres Herrn Bruders, des regierenden Fuersten." Piesecke sass gebrochen vor mir. "Mit mir ist's alle", sagte er tonlos. "Mit Ihnen war es alle, mein Lieber, als Sie zu uns kamen. Inzwischen haben Sie sich aber bei uns einen ganz netten Fonds neuer Lebenskraft gesammelt." Er schuettelte trostlos den Kopf. "Wohl bin ich gesundheitlich vorwaerts gekommen; aber das nuetzt mir alles nichts mehr - ich muss sterben. Es gibt Dinge, die ein Mensch nicht verwinden kann." Ich stand auf. "Entschuldigen Sie, Piesecke, aber das Mittagessen wartet auf mich. Ich hab Hunger. Wenn Sie also aus dem Leben scheiden wollen, gehaben Sie sich wohl! Es freut mich, Sie mal kennengelernt zu haben. Mahlzeit!" Da fasste ihn der Zorn. "O nein, Herr Doktor, so entkommen Sie mir nicht! So mit einfach 'Mahlzeit', wenn es um mein Leben geht! Ich bin nicht mehr der willenlose Mensch, der ich im Mai war. Ich wehre mich meiner Haut. Und da muss ich Ihnen sagen, dass Ihr Sanatorium eine Moerdergrube ist." "I, der Dauz!" "Jawohl, Dauz! Ich werde Sie schon bedauzen! Wissen Sie, wer der neue Kurgast auf dem Forellenhof ist, der sich Fritz Steiner nennt?" "Nein!" "Ein Geheimpolizist aus meiner Vaterstadt ist er. Ich habe ihn wiedererkannt; denn ich hatte frueher mal mit ihm zu tun. Nun habe ich gedacht, er sei hergeschickt, um mich zu ueberwachen. Denn er hat mich frueher schon mal ueberwacht. Aber nein, wie ich ihn gestellt habe, hat er mir gesagt, dass er auf den langen Ignaz auf dem Forellenhof abzielt. Er wird den Beweis erbringen, dass Ignaz ein langgesuchter Raubmoerder ist, ein frueherer Fleischergeselle." Ich setzte mich wieder. "Also, Piesecke, ist das wahr?" "Habe ich Sie je belogen, Herr Doktor?" "Nein, Piesecke, belogen haben Sie mich nie. Aber taeuscht sich auch Herr Steiner nicht?" "Das weiss ich nicht. Er wartet noch etwas vom Gericht ab - ich glaube, Fingerabdruecke oder so etwas - und dann will er zur Verhaftung schreiten." Mir wurde unbehaglich. "Haben Sie auch eine Auseinandersetzung mit dem langen Ignaz gehabt?" "Jawohl. Er will mich umbringen." "Bitte, erzaehlen Sie!" "Er hat mich schon immer verfolgt und gemisshandelt; er ist ein sehr roher Kerl. Wie ich nun Fraeulein Hanne das gesagt hab, dass - nun, dass ich eben doch ein Prinz bin, glaubte ich, ich sei mit ihr und mit Vater Barthel allein in der grossen Stube. Auf einmal kommt der lange Ignaz hinter dem Ofen hervor, hat gruengelbe Augen und packt mich an der Kehle. Ich habe mich gewehrt; aber wenn Vater Barthel und Fraeulein Eva mir nicht geholfen haetten, haette mich der Kerl erwuergt. Wir haben dann den Mordgesellen zur Tuer hinausgeworfen, aber er hat gedroht, er werde mich schon erwischen." "Hm. Also, lieber Piesecke, ich gebe Ihnen gern zu, dass mir dieser Knecht Ignaz auch in hohem Grade unheimlich und widerlich ist. Ist er ein Schuft, der sich in mein ehrliches, sauberes Heim eingeschlichen hat, dann werde ich der erste sein, ihn den Behoerden ausliefern zu helfen. Aber auch wenn er nicht der von den Gerichten Gesuchte ist, wird der brutale Mensch entfernt werden. Das verspreche ich Ihnen." Piesecke sank schon wieder in sich zusammen. "Ach, selbst dieser Raubgesell ist in die blonde Eva verliebt. Und ich soll sie verlieren! Mag mich doch der Ignaz umbringen. Dann ist es wenigstens alle mit mir. Ich habe niemand, niemand, der mich gern hat, nicht einmal einen guten Freund!" Da tat er mir leid. "Piesecke", sagte ich, "das duerfen Sie nicht sagen. Sie haben einen guten Freund. Und das bin ich. Ich will Ihnen das dadurch beweisen, dass ich Ihnen etwas sage, was noch niemand von mir gehoert hat. Auch ich, Piesecke, habe die schoene Eva sehr liebgehabt und mir nichts sehnlicher gewuenscht, als dass sie meine Frau werde." Er starrte mich an. "Auch Sie, Herr Doktor? Und warum haben Sie die Eva nicht genommen?" "Weil sie mich nicht will." "Sie nicht will?" wiederholte er verwundert. "Sie will nicht mal Sie, und da soll sie mich wollen?" Es lag eine ruehrende Demut in dem Ton, in dem er das sagte. "Sehen Sie, Piesecke, wenn man jemand wirklich liebhat, darf man nicht an sich selbst denken, soll man nur denken: Werde du gluecklich! Es ist etwas Grosses und Schoenes um das Verzichten! Wir werden es zusammen tragen. Es gibt Frauen, die das Glueck oder vielmehr das Unglueck haben, dass alle Maenner sich in sie verlieben, und gerade das Leben solcher Frauen bleibt oftmals ganz leer. Wir wollen unserer Eva wuenschen, dass sie gluecklich wird, und wir zwei wollen zusammenhalten." Seine leichtsinnigen und doch so grundgutmuetigen Augen schauten mich feucht an. "Ich glaube, dass Sie es gut mit mir meinen, Herr Doktor!" "Ich habe Sie gern, Piesecke", sagte ich und legte ihm fest die Hand auf die Schulter. ABSCHIEDSABEND Am Abend ging ich nach dem Forellenhofe. Die schoene "Hanne" nahm Abschied von uns. Von Mai an war das Maedchen bei uns, und jetzt, da es gehen wollte, war mir's, als schwaenden Sommer und Sonne dahin, und es koenne nun nichts mehr geben als graue Tage. Ich litt wie Piesecke; ich jammerte nur nicht so. Aber auch vielen anderen Leuten ging Evas Abschied nahe; ich hoerte, dass die dicke Susanne schon tagelang mit rot verquollenen Augen herumlaufe. Wenn der November kam, wuerden sich wahrscheinlich unsere Kurgaeste an Zahl vermindern; dann wollte ich auch mal ausspannen, wollte fuer ein paar Wochen Ferien machen. Ich erwischte mich bei dem Gedanken, dass ich dann wahrscheinlich nach einer grossen Stadt reisen wuerde, nach Berlin oder Wien. Ich bin nun schon so lange in dieser Einfachheit und in diesem ruhigen Frieden, dass ich mich wahrhaftig manchmal sehne, in einer elektrischen Strassenbahn zu fahren, ein gutes Theater zu besuchen, mal in einem vornehmen Restaurant zu speisen. Es kann gar nicht anders sein: wenn der Doktor aus dem Friedensidyll einmal Ferien vom Ich machen will, muss er in Glanz und Laerm hinein. _Variatio delectat._ Ich nehme es unseren Bauern nicht uebel, dass sie sich zuweilen Sonntags nach Neustadt hinueberschleichen, um dort ins Kino zu gehen, und die haemischen Bemerkungen der "Neustaedter Umschau" ueber diesen Fall beweisen nur, dass das Blatt keine Ahnung von dem Abwechselungsbeduerfnis des Menschen hat. Wer immer im Laerm sitzt, wird stumpf, wer immer in der Stille ist, auch; nur die wechselnde Welle traegt des Menschen Schiff. Dass mich neben diesen Erwaegungen auch der Gedanke leitete, ich koenne meine Ferienreise vorteilhaft ueber die Stadt verlegen, wo Eva diesen Winter singen wuerde, wollte ich mir kaum zugestehen. Denn ich hatte doch ein Ende gemacht mit meiner Liebe; ich wusste doch recht gut, dass ich nicht eher ein idealer Leiter dieses Ferienheims sein wuerde, als ich nicht selbst von allen persoenlichen Banden und Sorgen befreit war, dass ich immer noch selbst zu sehr in der alten Haut steckte ... Die grosse Stube im Forellenhof war dicht besetzt mit Menschen. Viel alte Freunde kamen, um sich von Eva zu verabschieden. Ein paar Kraenze von Astern hingen an den Waenden, die letzten Rosen des Gartens bluehten auf dem Tisch. Wenn ein Kurgast von uns Abschied nimmt, erhaelt er als Andenken ein Album ueberreicht, in dem einige gute Bilder nach Radierungen, Heliogravueren, Aquarellen und Zeichnungen von unserem Heim enthalten sind, ausserdem aber eine Anzahl Photographien, auf denen der betreffende Gast in irgendeiner Situation, die er miterlebt hat, verewigt ist. Denn photographiert wird bei uns viel. Bei der Arbeit, vor dem Bauernhaus, beim Feldfeuerchen, bei irgendeinem Ulk, beim Waldfest, beim Kirchgang, bei tausend anderen Gelegenheiten wird von unseren Kurgaesten photographiert. Und jeder, der auf einem Bilde freiwillig oder unfreiwillig mit aufgenommen ist, bekommt einen Abzug in sein Album geklebt. Eva bekam ein Album in vier Baenden. Sie war sehr lange bei uns, und es hatten gar zu viele Amateure nachgesucht, wenigstens eine ihrer Aufnahmen in Evas Album zu bringen. Methusalem hatte einige reizende Bleistiftskizzen beigesteuert. Die letzte war ein Stimmungsbild von der Landstrasse, die unten am Zeughaus vorbeifuehrt, zeigte einen im Abendschein entschwindenden Wagen und hatte die Unterschrift: "Die Sonne geht unter." Auch du, mein Sohn Brutus? - Es fiel mir auf, wie lustig Methusalem sein wollte, wie zerstreut er war, wie gemacht heute sein Lachen klang. - Eva sass im Scheine der grossen Haengelampe und durchblaetterte das Album. Sie sagte nicht viel, aber mit einem Male rannen grosse Traenen ueber ihre Wangen. Dann wischte sie sich energisch das Gesicht ab und sagte: "Nein, ich darf mich wohl nicht allzusehr unterkriegen lassen. Aber diese Buecher sind herrlich. Sie werden mein liebstes Besitztum sein. Alle, alle sind drin - nur einer fehlt. Ignaz, warum sind Sie nicht auf einem einzigen Bilde? Mir ist das aufgefallen." Ignaz, der am Ofen lehnte, wandte sich weg und drueckte die Wange gegen die Kacheln des Ofens. "So ein ekliger Kerl, wie ich, ist nicht fuer Bilder", sagte er mit seiner knurrenden Stimme. Aber es klang wie ein Schluchzen darin. "Es tut mir leid, Ignaz", sagte Eva freundlich; "Sie waren gut und treu zu mir!" Da ging der Knecht stumm zur Tuer hinaus. Ich sah, wie der Kurgast "Steiner", von dem ich nun wusste, dass er ein Detektiv war, dem langen Ignaz mit einem messerscharfen Blick nachschaute. Barthel hatte zu Ehren des Abends ein Faesschen Moselwein angezapft und hielt eine Rede: "Meine Damens und Herr'n! Der heutige Abend is nich so wie sonst, sondern anders. Es is ein ernster Abend, weil Fraeul'n Hanne fortzieht, und deshalb hab ich Sie zu einem Glaeschen Wein eingeladen, und ich wuensche, dass er Ihnen allen recht wohl bekommen moege. Wir sind alle sehr traurig; denn wir verlieren Fraeul'n Hanne sehr, sehr ungern." Der Redner wurde unterbrochen. Frau Susanne weinte und prustete so heftig, dass sie sich zur Tuer hinaus retten musste. Auch Barthel fuhr mit der Hand nach den Augenwinkeln. "Sehen Sie, meine Herr'n, meiner Alten geht es auch nahe. Eine Zeitlang - ich kann das wohl jetzt ruhig sagen - is sie wegen Fraeul'n Hanne und mir eifersuechtig gewesen. Aber es war bloss blinder Laerm; ich weiss doch, was ich mir schuldig bin!" Wieder eine Unterbrechung. Zwei Herren und eine Dame hielten sich das Taschentuch vor den Mund. "Sehen Sie, meine Damens und Herr'n, mit einem Hausvater, wie ich, ist das ein reines Elend, obwohl es mir gut geht. Denn sehen Sie, die Leute, die hierherkommen, verstehen alle rein gar nichts, und die meisten sind sehr faul und haben das Arbeiten nich gelernt. Ich muss sie erst alle muehsam zurechtstutzen. Und wenn man dann mal so 'ne Perle bekommt wie die Hanne, die so famos Butter machen kann, und sie zieht wieder fort, dann ..." Mit Barthels Fassung war es aus. Er weinte in sein rot gebluemtes Taschentuch und konnte schliesslich nur noch sagen: "Nun trinken wir halt auf Fraeul'n Hannes ihre Gesundheit!" Das Maedchen war sehr bewegt. Es wurden noch einige kurze Ansprachen von Gaesten gehalten, die Hanne feierten und in denen auch Vater Barthel unmaessig viel Weihrauch gestreut wurde, und schliesslich musste Hanne singen. Sie war ruhiger geworden, stimmte ihre Laute und sang mit ihrer zarten, lieblichen Stimme das Lied, das aller Abschiedslieder Krone ist und bleiben wird: "Morgen muss ich fort von hier Und muss Abschied nehmen -" Waehrend des Liedes oeffnete sich leise die Tuer. Der lange Ignaz schlich sich herein, lehnte den Kopf an die Wand und presste die Haende an die weisse Mauer. Die Lampe flackerte; die Spaetherbstrosen bluehten auf dem Tisch. Als Eva das Lied beendet hatte, stuerzte ploetzlich einer vor, warf sich dem Maedchen zu Fuessen und rief: "Gehen Sie nicht fort - gehen Sie nicht fort, Fraeulein Hanne; ich muss sonst sterben!" Es war Piesecke. Und da sah ich auch schon, wie sich der lange Ignaz umdrehte, wie ein wilder, giftiger Blick ueber Piesecke und das erschreckte Maedchen hinfuhr, und im naechsten Augenblick hatte Ignaz den zarten Piesecke erfasst, schleuderte ihn sich wie einen Sack ueber die Schulter und verschwand mit ihm durch die Tuer. "Dass kein Unglueck geschieht!" rief ich und eilte nach. In aufgeschreckter Unordnung draengte alles nach dem Hofe. Dort hatte der starke Ignaz den zappelnden Piesecke bereits mit gewaltiger Wucht auf den grossen Duengerhaufen geworfen. Es war dem so schmaehlich Behandelten weiter kein koerperliches Unheil zugestossen; aber ich war doch so erzuernt ob der neuen Gewalttat des Knechtes und der Stoerung unserer schoenen Stimmung, dass ich sagte: "Ignaz, Sie gehen jetzt schlafen! Und morgen frueh werden Sie Ihr Buendel schnueren. Dafuer werde ich sorgen!" Er wandte sich trotzig zur Seite. Ich ging aufgeregt nach der Stube zurueck und traf daselbst den Detektiv Steiner, der allein zurueckgeblieben war und ein Blaettchen Papier, auf dem Fingerabdruecke zu sehen waren, sorgsam mit den schwachen Spuren verglich, die des Knechtes Ignaz Arbeitsfaeuste an der weissen Mauer hinterlassen hatten. Ohne auf mich zu achten, ging der Beamte in den Hausflur hinaus, in den eben der lange Ignaz eingetreten war, trat auf den Knecht zu und sagte: "Josef Wiczorek, ich verhafte Sie im Namen des Gesetzes!" Die Umstehenden starrten den Sprecher an. "Was wollen Sie, Herr Steiner?" fragte der Bauer Barthel erschrocken. "Ich heisse nicht Steiner, ich bin Geheimpolizist und habe meine Legitimation in der Tasche. Ich bitte, dass mir Gelegenheit gegeben wird, den verhafteten Josef Wiczorek, der sich hier unter dem Namen Ignaz Scholz aufgehalten hat, sofort nach dem Amtsgerichtsgefaengnis in Waltersburg zu transportieren." Josef Wiczoreks Augen verglasten sich. Ein kurzes Grunzen - und ploetzlich schlug er mit beiden Faeusten um sich, machte sich Platz und verschwand blitzschnell im dunklen Hofe. "Haltet ihn!" rief der Polizeimann; "er ist ein lange gesuchter Raubmoerder!" Wir schrien alle, wir rannten. Ich stiess mit Barthel zusammen und machte meinem Grimme Luft. "Barthel, das haben wir Ihnen zu verdanken, Sie haben den mir laengst unheimlichen Gesellen gehalten; Sie haben behauptet, Sie kennten ihn von Jugend auf als ehrlichen Kerl. Nun kommt diese Schande ueber uns." "Herr Doktor, lieber Herr Doktor, verzeihen Sie mir", wimmerte Barthel, "ich konnte nicht anders!" Er verlor sich von meiner Seite ins Dunkel. GERICHTLICHES Wie wenn ein Marder in einen Taubenschlag eingebrochen ist, so war es. Alles flatterte wirr durcheinander in Aufregung und Angst. Alle Hoefe oeffneten sich, von Mund zu Mund flog die Kunde, auf dem Forellenhof sei ein Raubmoerder ertappt worden, aber entwichen. Der lange Ignaz! Die Weiber kreischten und schauten neugierig aus Fenstern und Tueren, die Maenner wagten sich mit Stoecken bewaffnet fuenfzig Meter vors Haus, ihre Frauen jammerten von der Haustuer aus ueber diese Tollkuehnheit und riefen die Maenner zurueck - es war abscheulich! Der Loew' ist los, und alles verliert den Verstand. Nur einige Mutige stuermten hinaus, den Unhold zu fangen, taten sich zu Gruppen zusammen, bewaffneten sich in der Eile, so gut sie konnten. Ich schuettelte in der nebligen Abendluft erst meine Gedanken zurecht, sagte mir, dass die Verfolgung bei dieser Rabenfinsternis ganz aussichtslos sei, und ging nach der Direktion, um den Direktor zu sprechen. Er war nicht zu finden. Dafuer traf ich den Geheimpolizisten an. Er stand am Telephon. Nach Waltersburg telephonierte er, nach dem Neustaedter Bahnhof, nach zehn anderen Stationen im Umkreis, nach der Provinzialhauptstadt. Immer dasselbe: "Im Ferienheim Waltersburg hat sich unter dem falschen Namen Ignaz Scholz, genannt der lange Ignaz, der Raubmoerder Fleischergeselle Josef Wiczorek aufgehalten. Ist soeben nach erfolgter Verhaftung entwichen." Darauf folgte genaue Beschreibung und Aufforderung zur abermaligen Verhaftung. Ich sass ganz zerschlagen auf dem Schreibtischstuhl unseres Direktors, der immer noch nicht aufzufinden war, und hoerte zu, wie "Herr Steiner" telephonierte. Er schnarrte mit seiner scharfen Polizeistimme die Schande meines lieben Ferienheims in alle Winde. Endlich war er fertig. Er wandte sich an mich. "Herr Doktor, Sie sind der verantwortliche Leiter dieses Sanatoriums?" "Nur vom aerztlichen Standpunkt aus verantwortlich." "Und wer traegt die Verantwortung fuer die gesetzliche Ordnung?" "Mister Stefenson und in seiner Vertretung Direktor von Bruening." "Wo ist der Direktor?" "Ich weiss es nicht." "Wo ist Mister Stefenson?" "In Amerika." Der Polizeimann notierte alles in seinem Buch. "Was ist Ihnen von diesem angeblichen Knecht Ignaz Scholz bekannt, Herr Doktor?" Ich sagte ihm, dass mir dieser Knecht Ignaz allerdings persoenlich stark unsympathisch gewesen sei, dass ich aber - ausser einigen Grobheiten oder auch Roheiten, die er begangen - keine Veranlassung gehabt habe, den Menschen fuer einen Verbrecher zu halten, zumal mir der Bauer Barthel, dem ich vertraue, erklaert habe, er kenne Ignaz von Jugend auf als ehrlichen Menschen. "Dieser sogenannte Ignaz hiess laut Anmeldung Scholz?" "Jawohl, Ignaz Scholz." "Hm! Wenn einer schon Scholz heisst! Jeder Scholz verkruemelt sich unter der Masse der Scholze wie ein Koernlein im Sand des Meeres. Ich moechte Sie bitten, Herr Doktor, mich vorlaeufig nicht zu verlassen." "Das soll doch nicht heissen ..." "Das soll nur heissen, dass ich Ihrer in jedem Augenblick beduerfen koennte." Der Ton, den der Polizist anschlug, verletzte mich, aber ich fuehlte mich ganz wehrlos, als der Mann seine amtlichen Vollmachten vor mir ausbreitete. "Ich moechte nur bemerken, Herr Doktor, dass ein Kurort wie der Ihrige, wo niemand unter seinem wahren Namen auftreten darf, ein geradezu grossartiger Schlupfwinkel fuer verfolgte Verbrecher ist." Was sollte ich erwidern? Dass in jedem Kurort, in Zoppot, Ostende, Abbazia sich jeder Mensch ohne Legitimation unter irgendeinem Namen niederlassen koenne? Ich unterliess es. "Kommen Sie!" Das war Befehlston. Ich blieb sitzen. Der Gewaltige wollte wohl eben ein strenges Wort sagen, da wurde die Tuer aufgerissen, und Piesecke trat ein. Flugs stand der "Geheime" stramm und schlug die Hacken zusammen. Piesecke sah schlimm aus. Er hatte ein verschwollenes Auge, und sein Anzug war schmutzig und zerrissen. Trotzdem nahm er dem Polizeimann gegenueber eine echte Herrenhaltung an und sprach in einem so voellig veraenderten Ton, dass ich seine Stimme nicht wiedererkannte: "Mann, wie kommen Sie dazu, den Knecht im Forellenhof zu verhaften?" "Melde Euer Hoheit untertaenigst, der Knecht Ignaz ist identisch mit dem Fleischergesellen Josef Wiczorek, der am 17. Februar dieses Jahres seinen Meister ermordet und beraubt hat." "Woher wissen Sie das?" "Die Verdachtsgruende haeuften sich: das Signalement des Steckbriefes stimmt, eine Pruefung der Fingerabdruecke gab die Gewissheit." Piesecke sah den Mann durchdringend an. "Ich kenne Sie! Als Kriminalbeamter haben Sie nicht allzuviel getaugt; da sind Sie dazu auserlesen worden, Spaeherdienste am Hofe zu leisten. Auch jetzt sind Sie hierhergekommen, um mich zu beobachten. Ich habe Sie gestellt; Sie sagten mir, Sie seien nur des Knechtes wegen da. Aber das ist Schwindel. Sie sind meinetwegen da. Ja oder nein? Diese Geschichte mit dem Knecht ist nur Ausrede." "Ich darf Euer Hoheit darueber keine Auskunft erteilen." Piesecke lachte veraechtlich. "Unser Hausminister hat patente Leute. Am dritten Tage, als Sie da waren, habe ich Sie erkannt trotz Ihres falschen Namens und Ihrer Maske. Also berichten Sie nach Hause, es sei mir voellig egal, ob Sie hier seien oder nicht; falls Sie mir zu laestig fielen, so koennte ich mich vergessen und Ihnen gelegentlich die Peitsche um die Ohren knallen." Der Polizeimann wurde dunkelrot. "Haben Sie verstanden, was Sie dem Minister berichten sollen?" "Zu Befehl, Hoheit!" "Wenn Sie nun dazu ausersehen sind, mich zu belauern, wie kommen Sie dazu, hier eine ausserhalb Ihrer Bestimmungen liegende polizeiliche Handlung, wie die Verhaftung dieses Knechtes, vorzunehmen?" "Ich berichtete meinen Verdacht an den Ersten Staatsanwalt und erhielt die noetigen Vollmachten." "Dagegen laesst sich wohl nichts tun?" Diese Frage war an mich gerichtet. "Nein - nichts!" "Wie urteilen Sie ueber diesen Fall, Herr Doktor?" "Es ist ein Unglueck fuer unsere junge Anstalt. Aber es liegt uns natuerlich fern, der Festnahme eines Verbrechers irgendwelche Hindernisse zu bereiten." "Selbstverstaendlich! Ich begreife nur den Bauern Barthel nicht. Er ist doch ein ehrlicher Mann, und er hat doch versichert, den langen Ignaz von Jugend auf zu kennen. Haben Sie dafuer eine Erklaerung, Herr Doktor?" "Nein! Ich bin um so bestuerzter, als Barthel mir nach der Verhaftung eben sagte: ich moege ihm nicht zuernen, er habe nicht anders gekonnt. Ich sage das ganz offen vor Ihnen, Herr Kommissar, damit Sie sehen, dass von hier aus nichts verschleiert wird." Der Kommissar verneigte sich. "Hoheit" presste die Lippen aufeinander. "Hm! Ich will nicht wuenschen, dass dem guten Barthel da eine Tragik erwachse, dass dieser sogenannte Ignaz vielleicht ein Freund oder gar ein naher Verwandter von ihm ist, den er in seiner Gutmuetigkeit versteckt hat. Und Sie, Kommissar, Sie brauchen mir das von vorhin nicht uebermaessig uebelzunehmen. Schreiben Sie also dem Minister: Se. Hoheit ist bei besserer Gesundheit und hat daher einen Aufpasser nicht mehr noetig. Jetzt will ich Sie nicht mehr aufhalten. Wohin wollen Sie zunaechst?" "Nach dem Forellenhof zurueck, den Bauer Barthel zu vernehmen oder eventuell ebenfalls zu verhaften." "Schoen, wir werden Sie begleiten, wenn Ihnen das zulaessig erscheint." "Ich bitte untertaenigst um die Begleitung, Hoheit." Der Kommissar oeffnete die Tuer, stand stramm, und "Hoheit" ging in laessig vornehmer Haltung an ihm vorbei. Ein kleiner Anlass von draussen aus der alten Welt, und durch die Bauernjacke schimmerte der hochgeborene Herr. Ich aber als Arzt freute mich trotz meiner gedrueckten Stimmung, als ich sah, dass durch seine Gesundung langsam aus dem Piesecke wieder ein Prinz wurde, ja, ich haette das Wort "Piesecke" jetzt nicht zu sagen, nicht einmal zu denken gewagt. Im Forellenhof war schwerste Bestuerzung. Die dicke Susanne lag kurz und krampfhaft weinend in einem Korbstuhl; die Frauen bemuehten sich um sie. Barthel war nicht zu Hause. Auf dem Tisch standen noch die Rosen, an den Waenden hingen die Asternkraenze. "Welch ein entsetzlicher Abschluss!" klagte Eva. Ich betrachtete die Fingerabdruecke an der Wand. Sie waren deutlich. Der lange Ignaz hatte, ehe er sich an die Wand lehnte, das Kohlenfeuer besorgt. Der Kommissar trat zu mir und dem Prinzen und sagte: "Es tut mir leid; aber ich muss zurueck zur Direktion und von den Behoerden telephonisch auch die Verhaftung des der Beguenstigung dringend verdaechtigen und verschwundenen Bauern Barthel fordern." Der Prinz kniff den Mund zusammen. Dann sagte er: "Tun Sie das! Wenn ich mich auch hier getaeuscht habe, glaube ich an nichts mehr auf der Welt. Dann soll alles zum Deibel gehen!" Er schaute mich mit halbem Blick an. Da sagte ich: "Ich werde morgen frueh mit Einverstaendnis unseres bevollmaechtigten Direktors den von Ew. Hoheit unterzeichneten, bis Mai verpflichtenden Revers vernichten, und Ew. Hoheit steht ohne alle Weiterungen frei, die Anstalt zu verlassen." Er antwortete nicht. Ich dachte daran, dass er durch seinen Kniefall vor der schoenen Hanne, durch eine ganz direktionslose Tat, den Anlass zu all diesen Scherereien geschaffen hatte. Und er dachte wahrscheinlich selbst daran; denn er sagte: "Ich weiss, dass ich noch lange nicht geheilt bin; aber ich kann wohl ueberhaupt keine Heilung finden. Weil ich keine Treue finde!" Ich wandte mich ab, trat zum Tisch und zerpflueckte gedankenlos eine Rose. Da tat sich die Tuer auf. Barthel erschien. Verstoert. Als er den Kommissar sah, wollte er zurueck, aber der Polizist war bereits an seiner Seite. Susanne begann zu schreien, und ich war froh, als sie und alle Frauen das Zimmer verlassen mussten. Als wir allein waren, wurde Barthel verhaftet. Er sank ganz gebrochen auf die Bank am Ofen. "Die Schande! Die Schande! Ach, haett' ich es nicht getan!" Der Kommissar schritt zum sofortigen Verhoer. "Barthel, Sie haben behauptet, den Knecht Ignaz von Jugend auf zu kennen. Ist das wahr?" Barthel ruehrte sich nicht. "Heisst dieser Knecht in Wahrheit Ignaz Scholz?" In Barthels Gesicht kam ein verstockter Ausdruck. Er schwieg. "Wollen Sie mir nicht Rede stehen, Barthel?" Keine Antwort. "Sie machen sich ungluecklich. Warum antworten Sie nicht?" "Ich kann nicht!" Nun wandte ich mich an Barthel. "Lieber Barthel, denken Sie nicht ein ganz klein wenig an den guten Ruf unserer Kuranstalt? Habe ich es nicht immer gut mit Ihnen gemeint? Warum bereiten Sie mir diese schwere Ungelegenheit?" Da begann er zu weinen. "Ich kann es nicht mehr aendern. Verzeihen Sie mir ...!" Ein Knecht wurde aufgefordert, ein Pferd vor einen Wagen zu schirren. Darauf fuhr der Kommissar mit Barthel nach dem Waltersburger Amtsgerichtsgefaengnis. Frau Susanne lag in Schreikraempfen, auch die anderen Frauen weinten laut. Ich verliess den Forellenhof. In allen Stuben unserer Ferienanstalt brannte Licht. Ich wusste, in den meisten eroerterte man die sofortige Abreise. Ich ging nach der Direktion. Der Direktor war noch immer nicht aufzufinden. So setzte ich mich in seinen Schreibtischstuhl und starrte ohne eigentlich klare Gedanken ins Licht der Lampe. Draussen kehrten kleine Trupps von Verfolgern zurueck. Sie hatten von dem Fluechtling nichts entdeckt, wie zu erwarten gewesen war. Kurz nach zehn Uhr laeutete das Telephon. Verbindung von Neustadt. "Der polizeilich gesuchte Josef Wiczorek, _alias_ Ignaz Scholz, ist soeben, als er in einen Wagen vierter Klasse des neun Uhr siebenundvierzig Minuten hier abgehenden Personenzuges steigen wollte, verhaftet worden ..." Ich sandte nach dem Prinzen, bestellte einen Wagen, und wir fuhren nach Neustadt. Auf der Polizei wurde uns weiter keine Auskunft erteilt, als dass Wiczorek eingesperrt sei und wir alles Weitere abzuwarten haetten. Wir blieben in Neustadt ueber Nacht. Am naechsten Morgen stand in der "Neustaedter Umschau" ein Artikel mit der zentimetergross gedruckten Ueberschrift "Kuranstalt Waltersburg ein Hehlernest???" Mit der ganzen Niedertraechtigkeit, deren der vertrottelte Redakteur dieses Blaettchens faehig war, hetzte er gegen unsere Anstalt. Alle Spiesserinstinkte, alle Philisterbedenken, alles Kopfschuetteln beschraenkter, phantasieloser Koepfe wurde gegen die Grundidee unserer Kuranstalt wieder lebendig; die Schimpferei begann wieder, der alte lendenlahme Spott humpelte neu auf den Plan. Der Artikel endete schliesslich mit einer schamlosen Denunziation: "Das Gesetz, das bei uns in Neustadt heilig gehalten wird, verbietet uns, zu behaupten, dass sich die 'Kuranstalt Waltersburg Ferien vom Ich' infolge ihrer mehr als eigentuemlichen Einrichtungen, wie Verbot, den eigenen Namen zu fuehren, die eigene Kleidung zu tragen usw., zu einem Zufluchtsort lichtscheuen Gesindels auswaechst. Immerhin wird der aufsehenerregende Fall, dass sich ein Raubmoerder auf einem der besuchtesten 'Hoefe' des 'Ferienheims' mit Wissen des Bauern monatelang verstecken und daselbst allerhand Roheiten ausueben konnte, zu schwersten Bedenken Anlass geben, denen sich auch die Behoerden nicht werden verschliessen koennen." Ich sah unser Heim aufs schwerste bedroht, sah eine fuerchterliche Waffe in der Hand unserer Feinde. Eben wollte ich den Fall an Stefenson kabeln, da wurden wir zur Polizei beschieden. Es handelte sich, wie uns eroeffnet wurde, um eine Konfrontation mit dem gestern Verhafteten, der ploetzlich behaupte, weder der gesuchte Raubmoerder Josef Wiczorek noch der Knecht Ignaz Scholz zu sein. Da mich der Polizeibeamte persoenlich kannte, hatte ich nicht notwendig, mich zu legitimieren, wurde aber aufgefordert, Herrn Pieseckes Persoenlichkeit festzustellen, und zwar nach seinem wahren Namen und Stand, nicht nach dem Pseudonym, das er bei uns fuehrte. So sagte ich: "Se. Hoheit Prinz Ernst Friedrich von ..." "Ist das - ist das Ihr Ernst, Herr Doktor?" fragte der Beamte nicht ohne Bewegung. "Nicht nur sein Ernst, sondern sogar sein Ernst Friedrich", sagte Piesecke hohnvoll und hielt dem Beamten seinen Siegelring hin. "Kennen Sie dieses Wappen?" Der Beamte sah auf das Wappen mit der Krone, stand auf und verneigte sich tief. Da erschienen zwei Gerichtsdiener mit dem Verhafteten. ------------------------------------------------------- Ich fasste mir an den Kopf: ich glaubte eine Wahnvorstellung zu haben. Der da eintrat, war - Mister Stefenson. "Stefenson", rief ich, "Stefenson, wie kommen Sie ..." "Melde gehorsamst, Herr Rat", sagte der eine der Gerichtsdiener, "der Gefangene hat eine Peruecke und den Bart abgenommen, hat sich gewaschen und sieht jetzt auf einmal ganz anders aus als gestern abend." "Wer ist dieser Mann?" fragte der Beamte mit einem Blick auf mich. "Es ist Mister Stefenson, mein Kompagnon, der Begruender unseres Ferienheims", brachte ich heraus. Ich musste mich setzen. "Und wer behaupten Sie selbst zu sein, Verhafteter?" "Ich behaupte dasselbe wie der Herr Doktor", sagte dieser gelassen; "allerdings mit einer kleinen Einschraenkung. Ich war und gelte noch als Mister John Stefenson, Kaufmann aus Neuyork, Chikago, Trinidad; aber ich habe mich unterdessen auf meine rein deutsche Abstammung besonnen und heisse mit Genehmigung der hohen deutschen Behoerden seit etwa vierzehn Tagen Johannes Stefan - Stefan, wie meine hanseatischen Vorfahren seit etwa vierhundert Jahren geheissen haben." Der Beamte fing an, an den Fingern abzuzaehlen: "Josef Wiczorek - Ignaz Scholz - John Stefenson - Johannes Stefan - und hier Prinz Ernst Friedrich - ich moechte die Herren ernsthaft darauf aufmerksam machen, dass das Gericht von Neustadt keine Waltersburger Spielerei, sondern eine staatliche Behoerde ist, die nicht mit sich spassen laesst." Der Beamte hatte ja ganz recht. Ich beteuerte ihm nochmals, dass ich in dem Manne, wenn er auch wirklich mit dem gestern verhafteten angeblichen Josef Wiczorek, _alias_ Ignaz Scholz, identisch sei, zweifelsfrei meinen Kompagnon John Stefenson wiedererkenne. "Und Sie wollen in der ganzen Zeit, da sich dieser Mann bei Ihnen aufhielt, keine Ahnung gehabt haben, wer er eigentlich ist?" "Ich habe in der Tat von Stefensons Anwesenheit in Waltersburg nicht das mindeste gewusst, sondern waehrend all der Monate mit Stefenson nach Amerika telegraphisch und brieflich verhandelt." "Sie kennen doch aber die Schrift Ihres Kompagnons?" fragte der Beamte weiter. "Waren die amerikanischen Briefe in dieser Schrift geschrieben?" "Jawohl!" "Wie ist das moeglich?" wurde der Verhaftete gefragt. Der zuckte die Achseln und sagte verbindlich: "Das ist Geschaeftsgeheimnis!" "Wir werden der Sache auf den Grund gehen", entgegnete der Beamte ernst, "und Ihnen zeigen, dass hier kein Ort fuer Maskeraden ist." Da wurde zum Glueck "Herr Steiner", unser Geheimpolizist, gemeldet. Der Kommissar verneigte sich tief vor Piesecke und darauf mit etwa zehn Prozent dieser Verneigung vor uns anderen insgesamt und sagte: "Herr Rat, es ist mir soeben auf meine gestrige Meldung von der zustaendigen Staatsanwaltschaft der telegraphische Bescheid zugegangen, dass der gesuchte Wiczorek vorgestern in Braunschweig verhaftet worden, dass seine Identitaet festgestellt ist und auch bereits ein Gestaendnis vorliegt. Ich bitte also, den Knecht Ignaz Scholz aus der Haft zu entlassen, da sich der Verdacht, der zu seiner Verhaftung fuehrte, als unbegruendet erwiesen hat." Stefenson laechelte freundlich. Der Richter machte ein enttaeuschtes Gesicht. Es gab noch allerlei Formelkram zu erledigen, dann wurden wir alle, Stefenson eingeschlossen, entlassen. AUFKLAeRUNGEN Auf der Strasse trat der Kommissar an den Prinzen heran und sagte: "Ich bitte Ew. Hoheit untertaenigst um Verzeihung wegen der Behelligung." Hoheit legte dem Manne huldvoll die Hand auf die Schulter. "Mein Lieber, ich hab gar nischt gegen Sie. Aber tun Sie mir 'nen Gefallen: reisen Sie ab. Sie sind hier uebrig. Lenken Sie mal die Aufmerksamkeit des Ministers auf den Prinzen Emanuel. Der scheint mir ein lockeres Huhn und der Beaufsichtigung sehr beduerftig zu sein. Er ist gegenwaertig in Syrakus. Sie haben keine Ahnung, Mann, wie schoen es in Syrakus ist. Da machen Sie sich mal nuetzlich! Glueckliche Reise und viel Vergnuegen!" Der Kommissar reiste ab ... Mich ging das alles kaum etwas an. Ich dachte nur an Stefenson. Er war zunaechst nach seiner Zelle zurueckgegangen und hatte uns durch einen Gerichtsdiener sagen lassen, wir moechten im "Hotel Bristol" auf ihn warten. Nach einer reichlichen Stunde kam er. In mir war inzwischen das Gefuehlsbarometer hinaufgeschnellt und heruntergestuerzt, vom Glutwetter der Bewunderung bis zum Regensturm der Wut - hin und her, her und hin. Ich konnte diesem unberechenbaren Manne gegenueber niemals zu ruhiger Beurteilung kommen. Schliesslich beschloss ich, ihm offene Feindschaft anzusagen. Als er kam und sein Glas Sherry bestellt hatte, sagte er so ruhig, als ob er eine eben abgebrochene Unterhaltung wieder aufnehme: "Dieser Redakteur von der 'Neustaedter Umschau' ist ein schwerfaelliger Kopf. Nicht mal richtig stenographisch aufnehmen kann der Pinsel. In meinem Artikel von gestern abend waren mehrere Dummheiten." "Ah - Sie haben den Artikel ueber Ihre Verhaftung in der Umschau selbst geschrieben?" "Na, selbstverstaendlich. Der Trunkenbold kann's doch nicht. Als ich so unerwartet verhaftet werden sollte, bin ich zunaechst nach der Redaktion des feindlichen Blattes gegangen, hab dort einen Artikel diktiert (und natuerlich auch bezahlt) und bin dann nach dem Bahnhof hinaus und hab mich da festnehmen lassen. Der Artikel ueber die Verhaftung war eher fertig als die Verhaftung selbst. Das ist man doch in solchem Fall seinem Unternehmen schuldig." Das Barometer stieg wieder. Aber es lag noch eine schwere Depression ueber mir, und ich sagte: "Ich glaube nicht gerade begriffsstutzig zu sein; aber Ihre Art, sich zu geben und zu handeln, ist so ueberaus merkwuerdig, dass ich nicht mehr mitkann, sondern Ihnen aufs ernsthafteste erklaeren muss ..." "Ein Extrablatt!" Ein Bote stuermte ins Zimmer. "Bitte, lesen Sie!" sagte Stefenson ruhig. Die "Neustaedter Umschau" vertrieb ein Extrablatt. Es war ungefaehr ein halbes Quadratmeter gross und enthielt in Fettdruck die Nachricht: "_Ehrenerklaerung._ Die 'Neustaedter Umschau', immer bemueht, ohne nach rechts oder links zu schauen, lediglich der Wahrheit die Ehre zu geben, erklaert: Die gestrige Verhaftung des Waltersburger Knechts ist zu Unrecht erfolgt. Der als 'Raubmoerder Wiczorek' von einem uebereifrigen Beamten (dessen amtliche Massregelung bevorsteht!!) hier auf dem Bahnhof verhaftete Mann war kein anderer als der geniale Gruender der Kuranstalt 'Ferien vom Ich' selbst, Herr John Stefenson - oder, wie er in Begeisterung fuer sein angestammtes reines Deutschtum sich jetzt mit Bewilligung unserer Behoerden nennt, Herr Stefan! Dieser Multimillionaer, dessen Einfluss in Amerika unbegrenzt ist, hat in der demuetigen Gestalt eines Bauernknechts (nicht als Kurgast) den ganzen Sommer ueber in Waltersburg gelebt, alle Lasten, Muehen und Zuruecksetzungen des von ihm gewaehlten geringen Standes getragen, um unerkannt die Probe auf sein gigantisches Exempel zu machen, um als Fremdling, selbst von seinem naechsten Freunde unerkannt, von unten her sein Werk zu pruefen. Diese Pruefung ist so gluecklich ausgefallen, dass Stefan mit Freuden in die irrtuemlich verhaengte Haft ging. Den Neustaedter Behoerden zollt er fuer ihre Gewissenhaftigkeit alle verdiente Anerkennung. Heute morgen neuneinhalb Uhr stellte sich bei den Behoerden der unbegruendete Verdacht heraus. Der wahre Josef Wiczorek sitzt - laut amtlicher Depesche - in Braunschweig in Untersuchung; der bei uns Verhaftete wurde nicht nur von dem leitenden Arzt von Waltersburg, sondern auch von Sr. Hoheit dem Prinzen Ernst Friedrich von ... als Herr Stefenson identifiziert. Die 'Neustaedter Umschau', deren Devise 'Ehre und Wahrheit' ist, scheut sich nicht - _errare humanum est_ - ihren gestrigen Artikel Wort fuer Wort zurueckzunehmen." "Diesen Artikel haben Sie wohl auch diktiert?" fragte der Prinz. Stefenson nickte. "Ja, direkt dem Setzer. Ich hab noch die Korrektur gelesen, ehe ich hierherkam." "Sie sind ein smarter Kerl!" sagte Hoheit voll Anerkennung. "Nu sagen Sie mir bloss, was haben Sie gegen mich gehabt? Warum haben Sie mich immer so miserabel behandelt? Noch gestern haben Sie mich auf den Mist geworfen, direkt auf den Mist. Ist das anstaendig?" Stefenson zuckte die Schultern. Dann sagte er mit aufrichtiger Waerme: "Sehen Sie mal, lieber Piesecke - ich moechte Sie der Einfachheit halber noch mal so nennen -, ich hab gar nichts gegen Sie gehabt! Im Gegenteil! Sie haben mir besser gefallen und mehr imponiert als die meisten anderen. Nur, dass Sie so hinter meiner Braut her waren, das konnte ich mir nicht gefallen lassen." "Hinter Ihrer Braut?" "Ja, also sagen wir: hinter der Forellenhof-Hanne! Mit der werde ich mich heute oder morgen verloben." Piesecke prustete los und sagte lachend: "Also Ignaz oder Stefan oder Wiczorek oder Stefenson oder wie Sie sonst heissen moegen - mir ist ja das ganz egal -, da werden Sie kein Glueck haben! Die Hanne mag keinen; nicht mal den Herrn Doktor da hat sie gemocht." "Also haben Sie doch -?" fragte Stefenson mit einem Blick auf mich. "Gar nichts habe ich", sagte ich zornig. "Gar nichts! Im uebrigen moechte ich um einige kurze Aufschluesse bitten, von denen es abhaengen wird, ob ich noch laenger an diesem Tisch sitzenbleibe oder nicht." "Oho - oho! Also, was ist aufzuschliessen?" "Waren Sie der Journalist Brown, der im Mai zu uns kam?" "Ja, natuerlich war ich der! Aber Sie haetten mich doch damals beinahe erkannt. Deshalb habe ich ja meine Maske geaendert und bin als Knecht Ignaz wiedergekommen." "Wie kamen Sie damals dazu, mir den seltsamen Brief zu geben?" "Na, den hatte ich doch selbst geschrieben, in der Annahme, Sie mit den beiden Maedchen zu treffen. Waere meine Voraussetzung nicht zugetroffen, so haette ich eben den Brief in der Tasche behalten. Das war doch nur Bluff." "Wie konnten Sie aber in der ganzen Zeit Briefe aus Amerika an mich schreiben, da Sie doch bei uns waren?" "Es gibt Kabel, lieber Freund, durch die man anordnen kann, was zu schreiben ist." "Und Ihre Handschrift? Ich bekam fast alle Briefe handschriftlich, nur wenige in Maschinenschrift." "Ja, da habe ich in einem meiner Bueros einen Spezialisten, der meine Handschrift so taeuschend nachmachen kann, dass ich selbst nicht zu unterscheiden vermag, was von mir oder von ihm geschrieben ist. Ein goldehrlicher Mann, einem anderen duerfte man die Ausuebung der aeusserst gefaehrlichen Kunst nicht gestatten. Na, sehen Sie, es gibt fuer einen Grosskaufmann wie mich taeglich mindestens zwei Dutzend Anlaesse, wo er handschriftlich schreiben muss: an Verwandte und gute Freunde, wo Maschinenschrift zu kalt wirkt; an Geschaeftsgenossen, mit denen man intime Dinge verhandeln will, die kein Angestellter wissen darf; an alle Leute, die etwas darauf geben, wenn ein vielbeschaeftigter Mann sich die Muehe und Zeit nimmt, einen handschriftlichen Brief zu senden; schliesslich an alle offenen und verkappten Autographenjaeger - fuer sie alle ist Mister Jenkins da, und er machte seine Sache fuer zweitausend Dollar im Jahre geschickt und reell. Er hat auch in Ihrem Falle sehr brav gearbeitet." "Grossartig! Grossartig!" klatschte der Prinz in die Haende. Mein Barometer aber fiel auf Sturm. "Ihr Verhaeltnis zu Bauer Barthel", sagte ich kalt, "brauchen Sie mir nun nicht mehr zu erklaeren. Er hat gewusst, wer Sie waren, deshalb hielt er Sie, deshalb log er, er kenne Sie von Jugend auf; deshalb hat er Sie sogar gestern nicht verraten." "Stimmt! Aber das duerfen Sie dem Barthel nicht uebelnehmen. Wir haben ein schriftliches Abkommen, laut dessen er fuenfhundert Mark an mich haette zahlen muessen, falls er mich je verraten haette. Denken Sie mal - fuenfhundert Mark! Es ist klar, dass sich da Barthel lieber einsperren laesst." "Hat sonst noch jemand auf dem Forellenhof Sie gekannt?" "Nein. Auch Susanne nicht." "Das ist mir lieb. Aber der Direktor Bruening hat Sie gekannt und sich wahrscheinlich stets heimlich mit Ihnen besprochen. Deshalb erschienen mir alle seine Anordnungen immer so von Ihrem Geiste diktiert." "Auch das ist richtig. Ich war nur der lange Ignaz, aber in Wirklichkeit leitete ich die ganze Anstalt durch den Direktor. Wir hatten alle Tage eine kleine Konferenz. Ich war immer von allem unterrichtet. Ausser Barthel und dem Direktor hat aber niemand gewusst, wer ich war, nicht mal die kleine Luise, und das ist mir schwer geworden." Seine Augen schimmerten warm bei dem Gedenken des Kindes, und das Wort, das ich ueber seine Abgefeimtheit sprechen wollte, unterblieb. So sagte ich nur kuehl und gemessen: "Wollen Sie mir sagen, Herr Stefenson, warum Sie diese ganze Komoedie mit uns gespielt haben?" "Komoedie?" verwunderte er sich; "wieso Komoedie? Darf in den Ferien vom Ich nicht jeder auftreten, wie er will? Ist das nicht Ihre eigene Idee? Und was meinen Sie, was ich selbst von dieser Idee, die mir gefiel und fuer die ich viel Geld gewagt habe, gehabt haette, wenn ich als Mister Stefenson dageblieben waere? Der Direktor waere ich gewesen, einen langweiligen Verwaltungsposten haette ich gehabt, nichts von dem Zauber trauten Geborgenseins, den unsere Anstalt spendet, haette ich geniessen koennen. Nein, am eigenen Leibe wollte ich ausprobieren, wie es tut, wenn man Ferien macht vom Ich. Deshalb wurde ich Bauernknecht. Ich habe mich wohlgefuehlt als 'langer Ignaz', ich habe beobachtet, erlauscht, geprueft von unten her, was an unserer Sache ist, ob sie absurd, phantastisch, unfruchtbar, oder ob sie im Kern echt und gut ist, und ich hatte das Glueck zu sehen, dass wir auf dem richtigen Wege sind. Nicht nur die gute geschaeftliche Bilanz, die ich erwartet hatte, hat mich belehrt, dass ich mich unserer Gruendung freuen darf, sondern das, was ich sah und hoerte, als ich unerkannt mitten unter den Feriengaesten war." "Sie haben auch mich pruefen wollen?" sagte ich. "Ja, auch Sie! Ganz natuerlich. Ich werde wieder nach Amerika zurueck muessen, weil leider meine Ferien aus sind, und ich will wissen, wem ich das Werk hier, ich kann sagen den Liebling unter all meinen Unternehmungen, den einzigen Ausflug ins Romantische, den ich je gemacht habe, hinterlasse. Ich kann ruhig scheiden. Ich werde jetzt wirklich hinuebergehen. Weil ich muss! Weil mich die Pflicht ruft. Ich weiss, das Heim ist in guten Haenden. Und eines, lieber Freund, vergesse ich Ihnen mein Lebtag nicht. Es gab einen Sommerabend, an dem Sie die Haende ausstreckten nach der schoenen Hanne. An diesem Abend fanden Sie meinen Brief, in dem ich Ihnen sagte, dass ich Fraeulein Eva Bunkert, die Forellenhof-Hanne, als meine Braut betrachte. Und seit diesem Abend sind Sie dem Maedchen aus dem Wege gegangen. Sehen Sie, das habe ich auch nur als Knecht Ignaz erfahren koennen, dass ich an Ihnen so einen treuen Freund habe. Das allein lohnt ein halbes Jahr Bauernarbeit." Er sprach mit grosser, ehrlicher Waerme. Ich aber sagte: "Sie taeuschen sich. Ich haette das Maedel zu gewinnen gesucht; aber ich wusste, dass sie immer nur an Sie dachte, dass Ihnen ihr Herz gehoert." "Ist das moeglich? Ist das moeglich? Fraeulein Hanne will wirklich ..." Der Prinz sank in sich zusammen. Er war ploetzlich wieder vollstaendig Piesecke. ------------------------------------------------------- Es ist noch viel geredet worden; ich weiss nicht mehr, was alles. Schliesslich habe ich Stefenson recht geben muessen, dass er sich unerkannt unter unser kurioses Voelklein mischte. Was sollte er sich nicht ueberzeugen, wie seine Gruendung wirkte? Ich ueberwand meinen Unmut, so gut ich konnte, aber ein Stachel blieb, dass Barthel und der Direktor mehr gewusst hatten als ich. Eine Freundschaft zwischen Stefenson und mir wollte ich nicht mehr gelten lassen. Piesecke schlich sich ins Heim zurueck, ohne uns. Er wollte weiterhin Piesecke sein, und vergebens zerbrachen sich unsere Kurgaeste die Koepfe, wer der in der "Neustaedter Umschau" genannte Prinz sein moege. Der "Verdacht" blieb schliesslich auf einem Referendar sitzen, der im Grundhof wohnte und sich die Rolle des heimlichen Herzogs wohlgefallen liess. Dieser Referendar lehnte alle grobe Arbeit von nun an ab. Die Damen waren entzueckt ueber seine hocharistokratischen Haende. Sie ruehmten die edle Zurueckhaltung in Ton und Gebaerde, die Guete, die nie zur Vertraulichkeit wird, sondern immer Guete bleibt, die Sprache, die trotz ihres leise verschleierten Timbers und ihrer entgegenkommenden Art doch unabweisbare Befehle gibt, die Augen, die so wissend, so durch den Hoehenblick von Jugend auf geschaerft zu blicken wussten; sie ruehmten selbst kleine Nonchalancen, die sich eben nur der unter dem Kronenhimmel Geborene gestattet. Dieser Mann lachte und laechelte nicht; er zuckte nur mit den Mundwinkeln. Er sagte nicht "nein" zu irgendeinem Verlangen, sondern dieses Verlangen erstarb von selbst vor einem einzigen Faltenwoelkchen, das sich auf der Stirn des Hohen bildete; er konnte aber auch durch ein einziges freundliches Lidersenken gewaehren, "ja" sagen, wie kein anderer Mensch "ja" zu sagen vermag. Keine Erziehung fuehrt zu solcher Haltung. Kein Emporkoemmling kann sie erlernen. Rasse! Vererbung von Herreninstinkten durch Jahrhunderte! Das ist's! Und der heimliche Herzog ging in schlichter, leutseliger Wuerde durch das Gewimmel aller derer, die ihm taeglich in den Weg zu laufen wussten. Er empfing keine Besuche - er erteilte Audienzen; er plauderte nicht - er hielt Cercle. Mir machte alles dies so viel Spass, dass ich den Direktor ersuchte, dem heimlichen Herzog noch auf weitere zwei Wochen die wesentlich erleichterten Zahlungsbedingungen zu gewaehren; denn der Referendar hatte bisher nur gelegentlich geringe Remunerationen genossen, und sein Vater, der ein biederer Sattlermeister war, hatte auch nicht viel Geld uebrig. Das alles hatte mit ihrem Artikel die "Neustaedter Umschau" getan. An Piesecke dachte kein Mensch ... Barthel, der Heimtuecker, war inzwischen auch aus der Haft entlassen worden. Er liess sich bei mir melden, aber es wurde ihm gesagt, ich sei nicht zu sprechen. Da kam er nach einer Stunde mit seiner Susanne wieder. "Herr Doktor", sagte Susanne mit kirschrotem Kopf, "dass er ein Lump ist, weiss ich. Unsern guten Herrn Doktor so zu beschwindeln wegen lumpiger tausend Taler, die er jetzt von Ignaz, der ja Stefenson gewesen ist, Schweigegeld kriegt. Was soll uns das Geld? Was geht uns Herr Stefenson an? Wir halten uns an unseren guten Herrn Doktor. Aber was das schlimmste ist, mich hat er auch beschwindelt mit dem langen Ignaz. So ein Lump! Sein eigenes Weib beluegt er. Ich hab ihm nie getraut, nie im Leben! Nicht ueber den Weg! Aber jetzt lass ich mich scheiden; er hat gesessen, und mit einem Zuchthaeusler hat eine anstaendige Frau nichts zu tun." Was blieb mir uebrig, als fuer den in erbaermlichem Zustand dastehenden Barthel Partei zu ergreifen und der empoerten Susanne gut und mild zuzureden? Sie wollte aber auf keinen Zuspruch hoeren. Sie blieb dabei, sie muesse sich scheiden lassen, da er "gesessen" habe. Schliesslich weinte sie. "Und was er fuer ein Liedrian ist, Herr Doktor!" schluchzte die brave Frau. "Fuer die tausend Taler, die er jetzt von Stefenson kriegt, will er sich eine Dreschmaschine kaufen, wo ich ihm doch sage, dass er das Geld lieber in die Sparkasse tragen soll." Da erkannte ich, dass das Barthelsche Eheglueck noch nicht hoffnungslos verloren war, und ich entliess die beiden, indem ich sie meines Wohlwollens versicherte. ------------------------------------------------------- Ich sass allein in meiner Klause. Ich war in einer Stimmung, die ich nicht kannte. Wie war das, was ich in den letzten vierundzwanzig Stunden erlebte - war das traurig, war es komisch, war es erbaermlich? Sollte ich lachen, sollte ich zuernen? Sollte mir das Herz weh tun, weil die blonde Hanne fortzog? Sollte ich grollen, weil Stefenson dem Direktor und einem Bauern mehr Vertrauen geschenkt hatte als mir, den er seinen Freund nannte? Sollte ich mich aergern ueber den Barthel, weil er profitsuechtig gewesen war? Es blieb ganz still in mir. Wahrscheinlich waren das alles ganz gute, liebe Leute. Nur das Leben schuettelte die Menschen durcheinander, wie ein Kind die Steinchen schuettelt, die es in ein Saecklein gesammelt hat. Wenn es eine Reibung gibt, was schadet es? Ein Kruemlein alter, weicher Heimaterde broeckelt ab, und der Stein schimmert durch, hart und widerstandslustig. Dem Stein aber kann keine Reibung mehr schaden, kann ihn nur glaetten. Alte, weiche Heimaterde, wie du mich umsponnen hattest! Jedes Kaeferwuermlein konnte an dir zehren! Ich moechte dich ja halten, denn du bist gut und weich, aber das Leben schuettelt zu hart. Doch ich bin getrost, ein gut Teil Kruemlein werden mir bleiben, darauf will ich mich heimlich betten, und die glatte Flaeche wird nur nach aussen sein ... Als am naechsten Morgen die blonde Hanne in mein Zimmer trat, pochte mein Herz nicht rascher, als kaeme eine Patientin. Wohl war das Maedchen blasser, als ich es je gesehen. "Sie kommen sich verabschieden, Eva?" "Ja. In zwei Stunden faehrt drueben in Neustadt mein Zug ab." Wir schwiegen beide. Ploetzlich begann Eva laut und heftig zu weinen. Ich haette hingehen moegen, um ueber ihre Stirn zu streichen; aber ich tat es nicht. "Eva, Sie wissen, dass Stefenson hier ist - dass er die ganze Zeit hier war?" Sie nickte. "Er hat wohl mit Ihnen gesprochen?" Da stand sie auf. Traenenlos, zornig sagte sie: "Ja, er hat mit mir gesprochen. Er war so dreist, mich um meine Hand zu bitten. Ein halbes Jahr lang hat er neben mir gewohnt, ohne dass ich ihn kannte, hat mich beobachtet, belauert, geprueft, ob ich wohl - der hohen Ehre wuerdig sei, seine Gattin zu werden, ob ich nicht am Ende ein kokettes, leichtfertiges Weib sei, das heut dem, morgen jenem zulaechelt; er hat diese Pruefung angestellt, weil ich beim Theater bin, weil ich keine der unter hermetischem Verschluss stehenden Misses von Neuyork bin, die heimlich oft liederlich genug sind; er hat mich, ohne dass ich es wusste, geprueft, und ist nun so gnaedig, mir zu sagen: du hast deine Pruefung bestanden. Aber ich - ich werfe ihm sein Diplom vor die Fuesse! Was ist denn die Liebe? Liebe ist doch blindes Vertrauen. Welcher Mann hat denn eine Garantie? Das Maedchen, der Vater, die Mutter, alle Muhmen und Vettern koennen ihn beluegen, wenn sie wollen, er ist machtlos dagegen. Der Mann muss das Maedchen sehen, er muss wie von einer himmlischen Erleuchtung gefuehrt sagen: Du bist rein, ich lege meine Ehre und mein Glueck in deine Haende. Sonst ..." Sie sank weinend auf den Stuhl zurueck. Hochauf loderte der glimmende Funke meiner Liebe wieder zu diesem schoenen Maedchen, als ich so sein ehrliches weibliches Empfinden sah. In ploetzlicher Muedigkeit stuetzte ich den Kopf in die Haende. Ich zwang die Welle in meinem Herzen. Es wurde ganz still in mir. Eine unheimliche, aber grosse Stille. Wie in der Wueste. Nur von ferne hoerte ich die Traenen rinnen, wie Wasser einer fremden Oase. Ich haette lange so mit dem aufgestuetzten Haupt sitzen moegen. Wieviel Zeit verging, weiss ich nicht. Da hoerte ich Evas Stimme. "Haben Sie keinen guten Rat fuer mich, lieber Freund?" "Lieber Freund!" Unter allen Gestirnen, die an unserem Himmel flimmern, ist dieses Wort wohl eines der hellsten. Aber wenn es ein Weib sagt, das man liebt, bekommt dieser Stern ein ueberweisses Licht, ist wie ein Schimmer aus einer Welt, die in Eiseskaelte untergeht. "Warum sagen Sie nichts? Wissen Sie nicht einmal als Arzt etwas zu sagen?" Da erhob ich mich. "Wohl, liebe Eva! Ich glaube, ich kann Ihnen die Sache richtig auseinandersetzen." Ich war ueber mich selbst verwundert. Wie ein trockener, etwas pedantischer Magister sprach ich: "Sehen Sie, Eva, Sie stecken zu tief in der Romantik! Sie denken sich den Freiersmann so wie Lohengrin, der als Fremdling ans Ufer steigt, die Holde, die von aller Welt geaechtet wird, an der Hand nimmt und sagt: Frei aller Schuld ist Elsa von Brabant. Und drei Minuten spaeter: Elsa, ich liebe dich! Unser Stefenson ist nicht von dieser Schwanenritterart, er faehrt auf dem Passagierdampfer, ist hausbacken, nuechtern, verfaehrt vorsichtig." "Verstellen Sie sich doch nicht, lieber Freund! Das ist doch nicht Ihre Art, so zu sprechen!" "Doch, doch! Es ist ganz meine Art, so zu sprechen! Eva, ich will Ihnen ehrlich folgendes sagen: Stefenson hat nicht nur Sie pruefen wollen, sondern auch mich, auch unsere ganze Anstalt. Er schaetzt wahrscheinlich drei Dinge: Erstens das Geld, das er fuer ein Unternehmen anlegt (und das ist ihm als Kaufmann durchaus nicht uebelzunehmen), zweitens seine Geschaeftsfreunde, unter denen er keine unfaehigen Gesellen haben will (auch das ist ohne weiteres zu billigen), und drittens die Liebe oder die Ehe, in welcher Richtung er durchaus klar sehen will. Die Beurteilung dieses dritten Punktes wage ich nicht, da ich von Liebe nichts verstehe." In diesem Augenblick wurde die Tuer geoeffnet. Stefenson erschien. "Ich bitte um Entschuldigung", sagte er, "und versichere, dass ich an der Tuer nicht gehorcht habe. Ich entlasse Dienstmaedchen ob solch schmaehlicher Schwaeche. Aber der Herr Doktor hat so deutlich gepredigt, dass jedermann, der den anstossenden Korridor entlang ging, Wort fuer Wort verstehen musste. Darf ich mir zu der Sache das Wort erlauben?" "Bitte!" "Erstens mal das Geld. Schoen! Ich schaetze es! Ich halte es fuer einen sehr guten Freund. Fuer einen, der nicht nur die Stube ausmoebliert und das Essen schafft, sondern auch fuer einen, der einem eine vernuenftige Koerperpflege goennt, der die Theater und Museen aufschliesst, einen in der Welt herumfuehrt, der gestattet, sich gegen aermere Mitmenschen anstaendig zu benehmen, der den Doktor ruft, wenn man krank ist, und der einem schliesslich ein Denkmal setzt, wenn sich kein Mensch um den Grabhuegel bekuemmert, ja, fuer den einzigen Freund, der einem, wenn man zum Beispiel in der Wut eine Gewalttat begangen hat und ins Zuchthaus oder sonst ins Elend gekommen ist, hinterher wieder die Hand reicht und zu einem ordentlichen Leben zurueckverhilft. Ein gutes Bankdepot ist wirklich ein ausserordentlich reeller Freund. Nur dumme Kerle und veraergerte arme Schlucker koennen es leugnen. Zweitens: Geschaeftsfreunde duerfen noch eher in maessigen Grenzen unreell als dumm, rueckstaendig, faul oder sonstwie borniert sein. Drittens: Jeder Mensch, der ein Pferd kauft, das er uebermorgen weiterverkaufen oder schlachten lassen kann, ueberlegt es nach zwanzig Ruecksichten. Einer, der eine Frau nimmt, die er zeit seines Lebens auf dem Halse behaelt, und der weniger vorsichtig verfaehrt, ist ein Dummian." Stefenson brachte diese Saetze ohne alle Gemuetsbewegung vor, wie einer, der unwiderlegbare Behauptungen aufstellt. Die blonde Eva hatte ihn bisher nicht angesehen. Jetzt stand sie auf, blickte ihm voll in die Augen und sagte kuehl: "Alles, was Sie da sagen, ist nach Ihrer Meinung klug und richtig. Aber ich - ich mag das nicht! Ich mag das alles ganz und gar nicht!" Sie verliess das Zimmer. Wir riefen ihr beide nach. Sie gab keine Antwort mehr. Stefenson ging langsam durch das Zimmer, zuendete sich eine Zigarre an und sagte nach einer Weile: "Das ist daneben gegangen!" "Ja, ganz daneben!" "Sie freuen sich wohl?" "Ach, ich kann nicht sagen, dass ich veraergert bin." "Das kann ich mir denken!" Darauf zuendete auch ich mir eine Zigarre an, und wir setzten uns gegenueber und rauchten dicke Wolken. "Was war denn eigentlich los?" fragte Stefenson. "Nun", sagte ich, "Sie sind ein Mann, und sie ist ein Weib." VOM BRUDER UND SEINER FRAU Mit Eva Bunkert verliess uns auch die kleine Anneliese. Am Abschiedsabend hatte sie sich nicht beteiligt. Es hiess, "Baerbel" sei nicht wohl und habe sich zeitig zur Ruhe gelegt. Wie mein Bruder mit dem Maedchen stand, wusste ich nicht. Joachim war verschlossener als je. Am Abend des Tages aber, da die Maedchen abgereist waren, kam er zu mir. Ganz unvermittelt sagte er: "Fritz, ich moechte fort. Morgen oder uebermorgen." "Fort? Wohin?" "Wieder hinueber." "Nach Amerika?" "Ja." Ich sah ihn schweigend an. Da sagte er: "Du hast wohl bemerkt, dass ich eine Neigung fuer Fraeulein Anneliese hatte. Ich hoffte, es koennte mir ein neues Glueck in der Heimat erbluehen. Diese Hoffnung hat mich betrogen - wie alle anderen." "Ist es aus zwischen euch?" "Ja. Das Maedchen hing an mir, und es war alles verabredet fuer baldige Hochzeit. Da hielt ich mich gestern fuer verpflichtet, ihr mein Leben zu schildern. Droben am Hange sind wir gewesen. Da habe ich ihr das Schwere gesagt. Sie hat sehr geweint und sich schwer von mir losgerissen; aber sie bleibt dabei, dass sie den geschiedenen Mann einer noch lebenden Frau nicht heiraten duerfe. Du weisst wohl warum?" "Ja. Ihre katholische Religion verbietet Anneliese solche Ehe." Er fing an zu toben, an den Ketten zu zerren - ich liess ihn reden und toben. Zuletzt sagte er: "Und ich weiss nicht einmal, ob dieses - dieses Weib noch lebt." Ich blieb still. "Weisst du etwas von ihr? Weisst du, ob sie noch lebt?" "Sie lebt." Er stoehnte. Ich merkte, wie sehnsuechtig er auf den Tod seiner Frau gehofft hatte. "Und - das Kind, wo ist es?" "Es ist bei seiner Mutter." "Das habt ihr zugegeben? So gewissenlos seid ihr gewesen?" "Das Kind ist wohl aufgehoben bei ihr." Er lachte rauh und ergoss eine Flut schwerster Schimpfworte ueber seine Frau. Wieder liess ich ihn reden und toben. Zuletzt stiess er hervor: "Wo haelt sich das Scheusal auf?" "Deine Frau? Das sage ich dir nicht." "Das _musst_ du mir sagen!" "Nein, Joachim, ich sage es dir nicht!" Er ballte die Faeuste und trat mit dem Fuss auf. Dann liess er die Arme schlaff haengen und sagte in feindseligem Ton: "Gut! Was ich wissen will, werde ich auch ohne dich erfahren." Ohne Gruss verliess er mich. Ich trat ans Fenster und sah ihn unten ueber die Wiese gehen. Das war der Mann, dem ich fuenf Jahre lang um die ganze Welt nachgereist war. Weil er der Sohn meiner Mutter war. Nun wuerde ich eine solche Familienaufgabe nicht mehr uebernehmen. Ich oeffnete nicht einmal das Fenster, um ihm nachzurufen. Ich setzte mich an den Schreibtisch und begann zu arbeiten. Es ging schwer. Ich war von der Aufregung der letzten Nacht und des Tages ganz benommen. Es fiel mir ein, Joachim werde nun wohl zur Mutter gehen. Aber die wusste ja auch nichts von Katharina, die bei uns Magdalena hiess, hatte keine Ahnung von ihrer Anwesenheit hier im Heim. Es wurde spaet. Ich wollte nur noch meine letzte Zigarre ausrauchen, dann schlafen gehen. Wie gleichmuetig mich der Abschied des Bruders liess! Freilich, die Mutter wuerde wieder sehr mit mir zuernen. Aber ich konnte das nicht aendern. Ich war aller Familiensimpelei muede geworden. Wie ich noch so still dasass, hoerte ich auf einmal jemand den Korridor entlang eilen. Die Tuer wurde aufgerissen. Magdalena stand vor mir. Mit wirrem Haar, in unordentlicher Kleidung. Entsetzt. Verstoert. "Helfen Sie - helfen Sie - sie haben mir das Kind genommen." "Was? Was sagst du, Kaethe?" "Das Kind haben sie mir genommen - Luise - o Gott!" "Wer hat es genommen?" "Er - Joachim - er ist mit einem fremden Mann gekommen - sie haben das Kind fortgeschleppt - meine Luise - meine Luise!" Ich wollte die zitternde Frau auf einen Stuhl noetigen. "Nein, kommen Sie bald - sie haben mich ja in die Kammer eingeschlossen gehabt - eine Stunde ist es wohl schon her, dass sie mit dem Kinde fort sind - ich habe die Kammertuer nicht aufgekriegt - kommen Sie schnell - schnell!" Die Frau schluchzte und zuckte in namenlosem Schmerz. Ich sah alles wie durch einen Schleier. Wie kam Joachim nach der Genovevenklause? Wer hatte ihm den Weg gewiesen? Ploetzlich wurde mir alles klar. Ich war unvorsichtig gewesen, Joachim zu verraten, dass Luise bei ihrer Mutter sei, und da unsere Mutter wusste, wo das Kind war, fanden sie auch die Frau. Oh, ich Tor! Ich sah, dass Kaethe am Halse rote Striemen hatte. "Hat er dir etwas getan, Kaethe? Hat er dich etwa gar geschlagen?" "Ich weiss es nicht. Aber das Kind ist fort, das Kind ist fort!" Sie hatte wohl mit dem Manne gerungen, und er hatte sie mit irgendeinem Helfershelfer in die Kammer gesperrt und das Kind entfuehrt. Der brutale Kerl! Ein wuetender Hass gegen ihn schlug in mir auf. "Erbarmen Sie sich, Herr Doktor, helfen Sie mir!" "Nenn mich nicht Herr Doktor, Kaethe, nenne mich Fritz! Wir sind Verwandte. Ich werde dir helfen, so gut ich irgend kann." Demuetig und furchtsam wie ein gepruegelter Hund stand sie vor mir. Ich zog mir den Mantel an. "Ich bitte dich, Kaethe, geh nach Hause. Du kannst nichts tun. Ich werde mich sofort auf die Suche machen." "Ich kann nicht nach Hause gehen; ich muss Luise suchen -" Mit irrsinnig flimmernden Augen sah sie mich an. "Du kannst nichts tun, Kaethe. Ich werde sofort hinab zu meiner Mutter gehen, dort werde ich wahrscheinlich Joachim treffen und mit ihm abrechnen." "Ich will mit. Ich fuerchte mich nicht, wenn sie mich auch schlagen." "Du musst mir jetzt gehorchen, Kaethe! Sonst verdirbst du alles; sonst kann ich dir nicht helfen!" Da senkte sie stumm den Kopf. Wir eilten auf einem Nebenpfade gen Waltersburg hin. Als der Weg nach der Genovevenklause abbog, gebot ich der Frau, nach Hause zu gehen und zu warten, bis ich ihr Nachricht braechte. Sie schlich davon. Aber als ich den Berg hinabeilte, merkte ich, dass mir von ferne ein Schatten folgte. Das Haus der Mutter war hell erleuchtet. Die Haustuer stand offen. Ich eilte nach dem ersten Stock, nach dem Zimmer der Mutter, und trat ein, ohne anzuklopfen. Mitten in der Stube stand Joachim; er war allein. In offener Feindseligkeit blickten wir uns an. "Wo ist das Kind? Wo ist Luise?" "Nicht hier." "Wo ist die Mutter?" "Auch nicht hier." "Willst du mir sagen, wo beide sind?" "Nein! Aber ich will dir sagen, dass ich das Maedchen der Obhut des Frauenzimmers, dem du es uebergeben, entrissen und in eigene Erziehung genommen habe. Morgen frueh geht die Reise los. Ich nehme das Kind mit. Das ist mein Recht. Das Kind gehoert mir." Ich konnte vor Zorn kaum sprechen. "Ah - und es ist wohl auch dein Recht, in eines unserer Haeuser einzubrechen und ein wehrloses Weib seiner Freiheit zu berauben?" "Das tat ich nur, um sie zu hindern, hinter uns herzuschreien und Skandal zu erregen. Um allen Skandal zu vermeiden, bringt Mutter das Kind schon jetzt nach auswaerts." "Oh, wie bist du ruecksichtsvoll! Du willst keinen Skandal. Du vergissest nur das eine: dass es ein grosser Skandal ist, wenn man sich benimmt wie ein Bandit!" "Huete dich nur!" "Ich fuerchte mich nicht vor deiner Brutalitaet. Ich kann dich - wenn es mir beliebt - wegen der Schandtat eines Einbruchs in eines unserer verschlossenen Haeuser jeden Augenblick einsperren lassen. Ich werde es hoechstwahrscheinlich auch tun und mich um keinerlei Skandal kuemmern." "Du nimmst in sehr merkwuerdiger Weise Partei fuer jenes Weib." "Ja, sie steht trotz ihres Fehltritts gerechtfertigter, ich will ruhig sagen, viel anstaendiger vor meinen Augen als du!" "Das bitte ich mir zu beweisen", sagte er heiser vor Wut. Er setzte sich auf eine Tischkante; ich lehnte an einem Schrank ihm gegenueber. "Ich erinnere dich daran, Joachim, dass das schoene Maedchen, das Katharina hiess, damals zwar deine blinde, wahnsinnige Leidenschaft erregt, aber dass sie dich niemals geliebt hat, dass sie so ehrlich war, es dir zu sagen." "Hoer auf damit!" "Nein, da liegt die Wurzel zu allem Unheil, das kam. Als du von dem Maedchen abgewiesen warst, tatest du das, was du immer tatest, wenn du einen Wunsch durchaus durchsetzen wolltest, du hingst dich an die Kleiderrockfalten der Mutter." Er sprang herunter vom Tisch und trat drohend vor mich. "Benimm dich immerhin auch in dieser Stunde noch mit einigem Anstand, Joachim! Du hast mir so viel von meinem Leben genommen, fuenf volle bluehende Jahre, dass ich ein Recht habe, dich als meinen Schuldner zu betrachten und endlich mit dir abzurechnen." Er wich zurueck, lachte veraechtlich und trat ans Fenster. "Ich habe dich nicht aufgefordert, mir zu folgen." "Nein, aber die Mutter hat es getan, die dich von Kind auf zu einem jaemmerlichen Egoisten erzogen hat." "Sag noch ein Wort gegen die Mutter, und ich halte mich nicht laenger!" "Du sprichst wie ein Raufbold, Joachim, und ich schaeme mich fuer dich. Wie ich innerlich zur Mutter stehe, geht daraus hervor, dass ich auf ihren stillen Wunsch hin, dich wiederzuhaben, meine Jugend opferte. Aber nicht davon wollte ich sprechen, sondern von deinem Verhaeltnis zu Katharina. Das Maedchen sagte dir damals, dass seine Liebe einem anderen gehoere, deinem Freunde ..." "Hoer auf - ich ertrage das nicht!" "Ich weiss, trotz deiner Brutalitaet anderen gegenueber bist du, was die eigene werte Person anlangt, sehr feinfuehlig; nicht einmal eine wahrheitsgemaesse Aussprache ertraegst du. Aber ich erspare sie dir nicht. Ich halte dir den Spiegel vor, damit du weisst, wenn du von hier fortziehst, dass es jemand auf der Welt gibt, der keine Spur von Mitleid, ja nicht einmal von Achtung mehr fuer dich hat, und das ist dein Bruder, der dich unter allen Menschen auf der Welt am besten kennt." Er erwiderte nichts mehr; er starrte mich nur an. Ich setzte kaltbluetig die Abrechnung fort. "Du wandtest dich damals an die Mutter, und die Mutter setzte bei den Eltern des Maedchens alle Hebel fuer dich ein. Die Leute hatten sechs Toechter. Eine von ihnen versorgt zu sehen, war ihr sehnlichster Wunsch. Du warst approbierter Arzt, der andere, dein Freund, ein vermoegens- und aussichtsloser Kandidat. Da wurde dem Maedel Tag und Nacht zugesetzt, bis sie dich nahm. Das war in diesem Falle die Grundlage fuer die schwere Ja-Frage am Altar nach dem 'freien, ungezwungenen, selbst ungenoetigten Willen'." Joachim war in einen Sofawinkel gesunken. Mir war das Herz so kalt und leicht wie einem Staatsanwalt, der auf "schuldig" plaediert. "Waehrend du die Flitterwochen hieltest, ging dein Freund beinahe zugrunde. Nach einem Jahre hiess es, er habe sich beruhigt. Er kam zu euch. Die alte Sehnsucht trieb ihn. Und da geschah Katharinas Unglueck. Du warst natuerlich in deiner Ehre sehr tief verletzt. Ich sah das ein. Erst jetzt begreife ich, dass in jener Ehe deine Gattenehre nicht von Gottes, sondern von Mutters und Geldsacks Gnaden war. Das Weib hat gefehlt, ohne Zweifel. Zweimal. Nicht nur, als sie dir die Ehe brach, sondern schon, als sie die Ehe mit dir einging. Aber du und die Mutter - und wir alle, die wir schuerend oder doch stillschweigend mitgewirkt haben, sind wir Gerechte? Leute, die Steine aufheben duerfen? Oder Pharisaeer, die verdienen, die Geissel des Messias ins Gesicht zu bekommen? Katharina hat ihre Schuld gebuesst. Nicht durch deinen rohen Revolverschuss, nicht dadurch, wie sie dich vor Gericht reinwusch, indem sie aussagte, sie habe sich die Wunde selbst zugefuegt. Nein, mit aber tausend Traenen. Erst jetzt weiss ich, wie ihr Mutterherz gehungert hat, wie sie durch all die Jahre nach dem Kinde gesucht hat. Dieses Weib hat vielleicht an einem Tag und in einer Nacht mehr gelitten und heisser zum Himmel gerufen als du in der ganzen Zeit. Jetzt auf einmal erscheinst du wieder in der ganzen Pracht und Herrlichkeit deines gesetzmaessigen Richtertums und beginnst deine Brutalitaeten aufs neue. Und deshalb, sage ich, ist deine Frau ein hundertmal anstaendigerer Mensch, als du bist!" Er stand auf, zuckte ein wenig mit den Armen durch die Luft, als ob er reden wolle, setzte sich aber wieder. Ich behielt ihn scharf im Blick und fuhr fort: "Das ist die Abrechnung, die deine Frau betrifft. Da kommst du immer noch gut dabei weg, weil nicht nur dein eigenes, sondern auch das andere Konto belastet ist. Nun komme ich auf dein Verhaeltnis zu deinem Kinde zu sprechen. Und da - nichts fuer ungut, lieber Bruder - hast du dich glattweg benommen wie ein Lump. Das Tier bekuemmert sich um sein Junges, traegt ihm die besten Bissen zu, sorgt fuer seine Sicherheit. Du hast fuer deine eigene Sicherheit gesorgt, die besten Bissen selbst gegessen, dem Kinde nicht einen Pfennig, nicht ein armseliges Spielzeug, nicht ein Wort oder einen Blick gegoennt. Der verkommenste Proletarier, der von zehn Mark, die er verdient, neun versaeuft und eine Mark seiner Familie gibt, ist ein besserer Vater, als du bist, denn du hast auch die zehnte Mark fuer dich genommen." "Die Mutter ...", aechzte Joachim. "Ja, die Mutter hat die sogenannten Erziehungsgelder gezahlt. Nebenbei gesagt, nicht nur von deinem, auch von meinem Erbteil. Ich wundere mich, dass ich so etwas sagen kann; aber alle Sentimentalitaet ist mir wahrscheinlich abhanden gekommen. Wir alle haben gefehlt, auch ich! Ich haette dir nicht nachlaufen, ich haette mich lieber um das Kind kuemmern sollen. Aber ich war ein unerfahrener, wehleidiger Geselle. Ich bin erst jetzt, da ich ein grosses Werk angefangen habe, dazu gekommen, die Dinge, die um mich her sind, klar und leidenschaftslos zu sehen und zu beurteilen. Wenn ich nun, Joachim, alles zusammenfasse, so bist du weder deiner Frau noch deinem Kinde gegenueber im Recht. Du hast dich bis jetzt unbarmherzig zurueckgehalten und bist ploetzlich brutal hervorgetreten, als deine neue Liebe scheiterte, als dich das von dir herbeigefuehrte Band, das Priesterhand schlang, hinderte, nach deinem Wohlgefallen jetzt ein neues zu schlingen. Was dich jetzt leitet, ist nicht Moral, sondern ist Wut, ist enttaeuschte Selbstsucht! Du kannst die Lage deines bis heute verleugneten Kindes nicht bessern; denn einen unfaehigeren Erzieher, als du bist, kann es nicht geben!" Joachim erhob sich. "Meinst du, dass ich mir diese Grobheiten gefallen lasse?" "Es sind nicht Grobheiten, es sind Wahrheiten, Joachim." "Willst du jetzt dieses Zimmer und dieses Haus verlassen?" "Nein, ich werde warten, bis die Mutter kommt." "So werde ich gehen; ich verschmaehe es, weiter mit dir zusammen zu sein." "Ganz in meinem Sinne. Ich verbiete dir aber, unser Ferienheim noch einmal zu betreten. Ausserdem ist es nach deinem brutalen Verhalten selbstverstaendlich, dass du als Arzt von uns entlassen bist." Er antwortete nicht mehr; er nahm Mantel und Hut und tappte die Treppe hinab. Ich konnte mir zunaechst ueber das, was ich gesprochen hatte, keine klare Rechenschaft geben. Ich hatte nur ein Gefuehl der Erleichterung, hatte mir einmal das Herz abraeumen gekonnt. Jetzt fiel unten die Haustuer zu. Ich sah Joachim vom Fenster aus, obwohl eine mondscheinlose Nacht und die Strassenbeleuchtung sehr kuemmerlich war. Joachim ging auf den Johannisbrunnen zu. Mit einem Male loeste sich dort ein Schatten los. Ich erschrak. Katharina! Sie hielt den Bruder jedenfalls fuer meine Person. Ich sah, wie die beiden aufeinander zugingen, aufeinander einsprachen, wie das Weib entsetzt die Arme hoch hielt, sich dann vor dem Bruder auf die Knie warf, wie er sie emporriss. Sie klammerte sich fest an seinen Arm; er versuchte sich loszuloesen; sie rangen miteinander. Ich riss das Fenster auf. "Katharina", rief ich hinunter, "sei vernuenftig!" Sie hoerte nicht, liess nicht los, schliesslich rang sie weiter mit ihm, und ich hoerte sie um das Kind bitten. Sie standen dicht am Brunnenrand. Da gab Joachim dem Weibe einen gewaltigen Stoss, sie taumelte zurueck und fiel ueber den niederen Brunnenrand ins Wasser. Joachim blieb still stehen, wohl im Schreck, zwei, drei Sekunden lang; dann beugte er sich ueber das Becken. Da sprang das Weib aus dem Wasser heraus und rannte davon. Ich hatte all diesen sich schnell abspielenden Vorgaengen sprachlos zugesehen, dann war ich mit einigen Saetzen unten auf dem Markte. Joachim stand noch am alten Fleck. "Ah", lachte er, "du hast zugesehen - da wirst du wohl jetzt behaupten, ich haette das Weib ertraenken wollen." "Das werde ich nicht behaupten. Du hast sie nur zurueckgestossen, und sie ist ungluecklich gefallen." "Na also! Ich lasse mich auf der Strasse nicht anfallen, verstehst du? Eure Komoedien verfangen nicht bei mir!" "Joachim, wir muessen ihr nach, wir muessen sie suchen." "Suchen? Ich denke nicht daran. Was geht sie mich an?" "Joachim, sie muss voellig durchnaesst sein, es ist eine kalte Nacht; sie ist halb irrsinnig vor Aufregung wegen des Kindes. Es kann ein Unglueck passieren!" Er antwortete nicht, wandte sich um und ging nach Mutters Haus zurueck. Ich sah ihm nach, hoerte, wie er von innen den Haustuerschluessel umdrehte. Dann eilte ich die Strasse hinunter, in der ich Katharina hatte verschwinden sehen. Ich rannte durch die ganze Stadt, auch teilweise hinaus auf die Landstrassen. Es verging wohl eine Stunde und mehr Zeit; ich fand nichts. Es hatte angefangen zu regnen, und es blies ein rauher Wind. Endlich sah ich ein, dass ich allein nichts ausrichten koenne. Ich eilte hinauf nach unserem Heim, ueberzeugte mich, wie ich schon angenommen hatte, dass die Genovevenklause leer sei, weckte dann Stefenson, Barthel, Piesecke und noch einige andere verlaessliche Leute, und wir gingen nach verschiedenen Richtungen auf die Suche. Morgens drei Uhr kehrte ich todmuede nach Hause zurueck. Die anderen waren auch noch nicht lange da. Niemand hatte eine Spur von Katharina entdeckt ... Noch ehe aber der spaete Morgen graute, wurde die unglueckliche Frau gebracht. Ein Waltersburger Bauer, der zeitig nach Neustadt fahren wollte, hatte am Chausseerand ein bewusstloses Weib gefunden und an ihrer Kleidung erkannt, dass sie zu uns gehoerte. Er hatte die voellig durchnaesste Frau auf das Stroh seines Waegelchens gebettet und sie mit einer Pferdedecke zugedeckt. Ich liess die Bewusstlose nach einem unserer Krankenzimmer am "Stillen Weg" schaffen und Dr. Michael rufen. Ihn verstaendigte ich ueber das Vorgefallene, und wir begannen sofort unsere aerztlichen Massnahmen. Wir verhehlten uns beide nicht, dass wir vor einer sehr ernsten Aufgabe standen. Saemtliche Maenner, die um das traurige Vorkommnis wussten, auch der Bauer, gelobten Stillschweigen. Ich blieb fast den ganzen Vormittag bei der Kranken. Gegen zehn Uhr schlug sie die Augen auf. Sie laechelte mich an, ohne dass sie bei klarer Besinnung war, und sagte: "Der heilige Johannes hat mich getauft; nun bin ich rein von Suenden!" Die Augen fielen wieder zu, oeffneten sich aber bald aufs neue. "Ich habe Luise gefunden. Als ich ganz muede war und auf die Strasse fiel, ist sie zu mir gekommen." Dann wieder tiefe Bewusstlosigkeit. Gegen Mittag liess sich meine Mutter bei mir melden. Sie war sehr blass und rang die Haendchen ineinander. "Um Gottes willen, wie konnte das geschehen?" Ich sah sie streng an. "Es konnte geschehen, weil ihr so unbarmherzig waret, dieser Frau ihr Kind zu entreissen. Sag mir das eine, Mutter, hast du darum gewusst, dass Joachim in die Klause eindringen wollte?" "Nein, ich habe ihm bloss gesagt, wo das Kind ist, und dann nichts erfahren, bis er Luise brachte." "Das ist mir lieb. Und wo ist Luise jetzt?" "Ich - ich habe sie nach Neustadt gebracht zu einer Freundin von mir. Wir wollten keinen Skandal in Waltersburg oder bei dir hier oben. Joachim wollte auch bald am Morgen fort." Ich dachte daran, wie sicher der muetterliche Instinkt die unglueckliche Katharina geleitet hatte. Auf dem Wege nach Neustadt war sie zusammengebrochen. "Was wird nun werden?" fragte die Mutter. "Wie steht es?" "Es steht sehr schlecht. Du kannst deinem Sohne Joachim sagen oder schreiben, dass sein sehnlichster Wunsch, diese Frau moege sterben, wahrscheinlich in Erfuellung gehen wird. Er mag sich einstweilen freuen." Die Mutter weinte. "Fritz, du musst nicht so von ihm denken. Er hat doch auch viel gelitten. Gestern hat er unrecht gehandelt. Er ist dann die ganze Nacht wach geblieben, und ich glaube, wenn die Frau jetzt stirbt, wird es sein Gewissen sehr bedruecken. Er ist ja deswegen auch noch nicht abgereist." Ich lachte. "Hab keine Sorge, Mutter, Joachims Gewissen ist recht robust." "Ihr werdet euch nie verstehen." "Nein. Niemals! Mit solch einem Kerl niemals!" Sie sass noch ein Weilchen da. Ich fand kein gutes Wort fuer Joachim, auch nicht fuer sie, fragte auch nicht, was die beiden wohl nun mit Luise vorhaetten, und so ging sie ... Unsere Patientin war schwer krank, und eine heftig einsetzende Lungenentzuendung nahm uns bei der schlechten Beschaffenheit des Herzens fast alle Hoffnung. Am zweiten Tage abends wurde von Waltersburg aus wieder nach Katharinas Befinden gefragt. Ich schrieb auf einem Zettel: "Joachim mag sich noch etwas gedulden; es ist bald aus." Am selben Abend hoerte ich draussen vor den Fenstern ein helles Kinderlachen. Da sah ich Luise draussen. Stefenson hatte das Maedel um den Hals gefasst und fuehrte sie die Strasse herauf. Ich ging hinaus. Das Kind stuerzte auf mich zu. "Onkel, lieber Onkel", rief es selig; "denke dir, Pappa ist wieder da." Stefenson strahlte ueber das ganze Gesicht. Er fluesterte mir zu: "Es ist nicht so gegangen, wie ich wollte. Ich hatte mir einen genialen Plan zurechtgelegt, dem Kerl das Maedel zu nehmen; da gab er es leider freiwillig her." Das Kind klammerte sich an mich. "Onkel, lieber Onkel, lass doch nicht mehr den boesen Mann zu mir kommen. Ich hab so schreckliche Angst vor ihm!" Ich sagte ihr nicht, dass der "boese Mann" ihr Vater sei. Es gibt Hunderttausende von Kindern, fuer die der eigene Vater der "boese Mann" ist. Die maennlichen Schweine fressen zuweilen den eigenen Nachwuchs auf; ich schaetze menschliche Vaeter, die ihrer Kinder Jugendglueck vergiften, noch um einige Grade niedriger ein als die selbstsuechtigen Borstentiere. Denn im Schweinekoben ist der Schmerz kurz, bei lieblosen Menschenerziehern dehnt er sich Jahr fuer Jahr. "Kommt der boese Mann wieder?" "Nein, Luise, er kommt nicht mehr!" "Dann musst du der Magdalena sagen, dass wir nicht mehr in der Genovevenklause wohnen wollen; wir wollen lieber wieder in den Forellenhof ziehen." "Hast du Magdalena lieb, Luise?" "Ja, ich will wieder zu ihr. Wo ist sie?" "Sie ist jetzt krank; aber vielleicht wird sie wieder gesund." "Sie wird doch nicht sterben?" fragte das Kind weinerlich. "Nein, Herzchen", sagte ich mit unsicherer Stimme. Langsam gingen Stefenson und ich mit dem Kinde den "Stillen Weg" entlang ... Keinem unter allen Suendern hat Christus so streng die Verdammnis angedroht wie den Unbarmherzigen. Was er fuer sie hat, ist die "ewige Finsternis, wo Heulen und Zaehneknirschen ist". Diese Hoellenstrafe trifft die Unbarmherzigen schon auf dieser Welt. Denn Unbarmherzigkeit ist Finsternis, und Hass heult und knirscht mit den Zaehnen und ist verbannt von allem Frieden und allem Glueck. In diesem Lichte sah ich meinen Bruder. Und als ich wieder einmal bei der roechelnden, fiebernden Frau war, als ich ihre heissen Haende sich die Wand hinaufkrallen sah, ihren qualvollen Husten hoerte, schickte ich auf neue Anfrage aus Waltersburg einen Zettel an Joachim: "Du bist als Amerikafahrer mit indianischen Gebraeuchen vertraut. Freue dich, deine Frau haengt am Marterpfahl!" Daraufhin liess er sich bei mir melden, aber ich empfing ihn nicht ... In ihren Fiebertraeumen schrie die Frau immer wieder: "Taufe mich, heiliger Johannes, taufe mich!" Und sie jammerte nach dem Kinde. Als sie das erstemal bei klarem Bewusstsein war, als sich der Fieberblick in Angst und Todestraurigkeit verlor, wusste sie nichts zu sagen als: "Luise ist fort!" Da sah ich sie laechelnd an. "Nein, liebe Kaethe, Luise ist hier. Du bist nur jetzt noch krank; du bildest dir bloss ein, dass Luise fort ist." "Ich - ich bilde es mir bloss ein?" Ein kleines, halb irres Lachen flog um ihren Mund. "Ich bilde es mir bloss ein!" "Ja, liebe Kaethe - du denkst das bloss so ..." "Ich denke es bloss so? Wo ist denn Luise? Warum ist sie denn nicht bei mir?" "Sieh nur, Kaethe, du bist krank; das Kind laermt zu sehr. Du weisst doch, wie es laermt." "Es ist so schoen, wenn es laermt!" Und sie laechelte lieb und seltsam und schlief ein. ------------------------------------------------------- Es ging auf die Krisis zu. Wie das so ist in solchen Faellen: das Befinden schwankte; einmal ging es der Kranken etwas besser, ein anderes Mal wieder war es ganz zum Verzweifeln. Immer der eine Satz: "Wenn das Herz aushaelt, dann ..." Ja, wenn! Am siebenten Tage liessen wir Luise zu der Kranken. Wir hatten Luise wohl vorbereitet. "Du darfst nicht schreien oder weinen oder laermen. Du darfst nur ganz leise auf den Zehen ans Bett gehen, der Magdalena die Hand kuessen und sagen: 'Mamma, ich hab dich lieb!'" So hat es das Maedchen getan. Die Kranke lag mit verklaertem Gesicht, und in ihren Augen war ein Strahlen, als ob ihr der Himmel offenstaende. Als das Kind das Zimmer verlassen hatte, ging ein Froesteln ueber den Koerper des Weibes: "Es ist alles nicht wahr gewesen - ich hab das Furchtbare nur getraeumt - Luise ist wirklich da ...!" ------------------------------------------------------- Am zehnten Tage wussten wir, dass Katharina am Leben bleiben wuerde. Freilich wuerde sie nie mehr ganz gesunden. Das Herz war schon vor der Erkrankung nicht in Ordnung gewesen und hatte nun schwer gelitten. Es wuerde ein sehr stilles Leben sein, was Katharina fortan fuehren muesste. Am hellen Mittag trat mir auf dem "Stillen Weg" der Bruder entgegen. Er gesellte sich zu mir, ohne dass wir uns die Haende reichten. "Lebt sie noch? Ist die Krise vorbei?" fragte er mit offener Furcht in den Augen. "Ja, es ist ueberwunden!" Da atmete er auf. "Ich habe schwere Tage und Naechte hinter mir", sagte er etwas stockend; "deine Worte lagen mir immer in den Ohren, und du hast es mir auch durch deine Botschaften nicht leicht gemacht. Aber ich hatte es wohl verdient." Ich antwortete nicht. Er fuhr fort: "Ich werde nun abreisen. Ich bitte dich, Kaethe zu einer Zeit, wo du es fuer angemessen halten wirst, einen Brief von mir zu uebergeben. Er ist offen; du sollst ihn vorher lesen. Der Brief enthaelt nichts als einen kurzen Abschied, und dass wir jetzt, durch Land und Meer fuer immer getrennt, ohne Feindschaft aneinander denken wollen." Ich wandte den Kopf zur Seite. "Und Luise?" "Luise werde ich ihr lassen." Wir gingen schweigend nebeneinander hin. Dann sagte er: "Dass ich von dem Kinde ohne Abschied fortgehen muss, faellt mir sehr schwer. Du wirst es nicht glauben; aber es ist wahr. Das Kind wuerde sich fuerchten, wenn es mich wiedersaehe. Ich bitte, dass du dich weiter des Maedchens annimmst. Mit einem Kapital werde ich es ausstatten. Willst du die Sache uebernehmen?" "Ja." "Ich danke dir!" Wieder gingen wir ein Stueckchen wortlos weiter. "Ich koennte nun gehen, Fritz; aber das Schwerste habe ich noch zu sagen." Ich sah ihn fragend an. Da brachte er heraus: "Die Mutter will mit mir nach Amerika." Ich blieb stehen. "Du musst nicht glauben, Fritz, dass ich Mutter dazu ueberredet habe. Sie hat es von selbst gewollt." "Ja, ich kann es mir denken." Etwas unendlich Bitteres quoll mir durch die Seele. "Wann wollt ihr denn fort?" "Morgen. Die Mutter laesst dich fragen, wann sie sich von dir verabschieden kann. Willst du am Nachmittag zu ihr hinunterkommen?" Ich musste erst ein paarmal Atem holen, dann sagte ich: "Ja, ich werde kommen." Joachim blieb stehen. "So habe ich dir alles gesagt, Fritz. Nun kann ich mich von dir verabschieden. Wenn du zu Mutter kommst, werde ich euch nicht stoeren, werde ich schon fort sein." Es wurde ihm schwer. "Leb wohl, Fritz; hab keinen Groll mehr gegen mich. Ich danke dir fuer alles Gute - auch, dass du mich fuenf Jahre lang gesucht hast - auch, dass du neulich so mit mir gesprochen hast." Die Stimme stockte ihm, und auch ich brachte es kaum heraus, als ich sagte: "Behuete dich Gott, Joachim!" Als er sich schon abgewandt und die ersten Schritte gemacht hatte, erscholl jenseits eines kleinen Gebuesches das selige Kinderlachen Luises. Joachim wandte sich noch einmal um. "Ist sie das?" Ich nickte mit dem Kopf. Da legte er die Hand ueber die Augen und ging schwer und langsam den Berg hinab. Und noch einmal erscholl das Lachen des spielenden Kindes hinter ihm her. FREUND STEFENSON Nun war es vorbei. Ich stieg von Neustadt aus den Weihnachtsberg hinauf. Der Zug, der meine Mutter in die weite Welt davongefuehrt hatte, war laengst nicht mehr zu sehen. Der Bruder war schon gestern bis zur Provinzialhauptstadt vorangereist; ich hatte ihn nicht mehr getroffen. Die Bitterkeit war aus meiner Seele gewichen und hatte einer stillen Trauer Platz gemacht. Die letzten Stunden, die ich mit meiner Mutter verlebt hatte, waren voll reinster Liebe gewesen, ohne Eifersucht, ohne Neid, ohne Groll auf den Bruder, um dessentwillen sie mich und die alte Heimat verliess. Joachim sollte nicht wieder einsam und verbittert durch die Welt irren; die Mutter wollte nicht wieder Tag fuer Tag sehnsuechtig am Fenster stehen und auf das schwermuetige Plaetschern des Johannesbrunnens lauschen. Mich wusste sie in Sicherheit, mit einer grossen Aufgabe betraut, die mein Herz ausfuellen wuerde. So ging sie mit dem anderen, dem Einsamen. Es war weiblich, es war muetterlich; es konnte wohl nicht anders sein. Aber wie ich auf die andere Seite des Weihnachtsberges kam und mein altes Waltersburg liegen sah, den Marktplatz mit dem Brunnen und mein verlassenes Vaterhaus, da setzte ich mich todmuede an den Wegrand ins welke Gras. Ich barg das Gesicht in den Haenden und sass lange so. Als ich endlich aufblickte, sah ich mir gegenueber auf dem anderen Wegrande Stefenson sitzen. Ich war unwillig, dass er sich so angeschlichen hatte, aber er kam mir mit teilnehmendem Gesicht, ganz ohne seine sonstige spoettische Art, entgegen, so dass mein Aerger verflog. Stefenson setzte sich neben mich und legte mir die Hand aufs Knie: "Sehen Sie, alter Junge, so was tut weh. Das begreife ich. Aber da muessen Sie auch begreifen, dass ich Sie nicht allein lassen kann, dass ich mich um Sie kuemmern muss. Ich bitte Sie, dass Sie mir einige Minuten zuhoeren. Sie brauchen mir gar nicht zu sagen, was fuer Gefuehle Sie bewegen, aber ich bitte Sie, mir zu erlauben, dass ich als Ihr Freund zu diesen Gefuehlen Stellung nehme. Zunaechst mal, ob Ihrer Mutter der Aufenthaltswechsel auch bekommen wird. Daran denken Sie ja wohl an erster Stelle. Nun, ich meine, sie ist von guter Natur; Rio ist ein ganz gesunder Wohnort; Ihr Bruder ist Arzt, der sie staendig ueberwachen kann; ausserdem ist er in der Lage, ihr das Leben so angenehm wie moeglich zu gestalten, dann, Ihre Mutter sieht einmal die Welt. Nicht mehr mit der Aufnahmefaehigkeit, der Spannkraft, dem Ueberschwang der Jugend, aber mit dem ganzen Hochgenuss, mit dem ein reifer, feiner Kopf die Schoenheiten dieser alten Erde betrachten kann. Und gar Rio de Janeiro! Dort hoeren die Tauben die Voegel singen, dort sehen die Blinden die Blumen bluehen; das wissen Sie ja selbst, Ihre Mutter wird leben wie im Paradies. Aber das wird freilich alles nicht hindern, dass sie das Heimweh bekommen wird - nach dem alten Nest da unten - nach dem Hause am Brunnen - auch nach Ihnen. Schuetteln Sie nur nicht den Kopf, lieber Freund; eine Mutter liebt immer am meisten das ihrer Kinder, das nicht bei ihr ist. Und da denken Sie nur daran, dass sie eines schoenen Tages wieder dasein wird. Inzwischen lassen Sie unten in dem Hause am Markt alles, wie es ist; lassen Sie alle Tage die Moebel wischen, alle sechs Wochen frische Gardinen aufstecken, im Winter die Stuben heizen, im Sommer die Polster einmotten, auch Kupfer und Zinn in der Kueche putzen und den Kanari gut im Futter halten, damit Ihre Mutter alles in Ordnung findet, wenn sie wiederkommt." "Stefenson", sagte ich dankbar, "Sie sind ein seelenguter Mensch." Das verdross ihn. Er sagte zunaechst gar nichts, spuckte dann mit grossem Geschick bis zum gegenueberliegenden Wegrand und meinte endlich in gaenzlich veraendertem Tone: "Sie verstehen mich immer noch nicht. Das muessen Sie doch wissen, dass so 'n alter Fuchs wie ich immer seine Hintergedanken hat, wenn er mal 'nen Abstecher ins Gefuehlsmaessige macht. Zum Beispiel jetzt habe ich gerade ein wichtiges Geschaeft, bei dem Sie unbedingt mitwirken oder dem Sie wenigstens zustimmen muessen, und da ist es mir natuerlich verdriesslich, wenn Sie in verkaterter Stimmung sind." "Und deswegen suchten Sie mich zu troesten?" "Ja, nur deswegen!" Ich laechelte. Er sah es und wurde erbost. "Mensch, lachen Sie nicht! Was gehen mich denn Ihre Familienangelegenheiten an? Glauben Sie, dass ich mich bei meinen tausend Geschaeftsfreunden darum kuemmern kann, ob sie mal Krach mit einem Bruder haben, ob mal ihre Mutter verreist, ob die Motten in ihre Moebel kommen oder ihr Kanarienvogel verhungert? Haett' ich viel zu tun. Aber wenn zwei Feldherren miteinander in den Krieg ziehen und der eine von ihnen Zahnschmerzen hat, hat der andere dafuer zu sorgen, dass der Zahn gezogen oder wenigstens plombiert wird. Sonst wird nichts aus ihrer Chose." Ich laechelte nicht mehr, aber ich erwiderte auch nichts. Da sagte Stefenson fast niedergeschlagen: "Wenn Sie etwas Geschaeftssinn haetten, haetten Sie mich laengst gefragt, um was fuer ein Geschaeft es sich handelt." "So sagen Sie es mir - bitte!" Er war verstimmt. "Nun, ich kann ja den Weihnachtsberg auch ohne Sie von den Neustaedtern zurueckkaufen." "Den Weihnachtsberg wollen Sie zurueckkaufen?" "Ich sagte es Ihnen eben. Wir muessen unser Heim bis zum Gipfel des Berges ausdehnen, sonst spucken uns die Neustaedter auf den Kopf." "Sie werden den wichtigsten Aussichtspunkt nie hergeben." "Troesten Sie sich. Wozu habe ich in der 'Neustaedter Umschau' seit drei Wochen Artikel gegen den Weihnachtsberg veroeffentlicht? Zum Beispiel, dass sein Besuch von Neustadt aus ausserordentlich zu wuenschen uebrig lasse, weil der viel bequemer zu erreichende Ochsenkopf eine viel bessere Aussicht bietet, dass die Rentabilitaet ausserordentlich gering sei, die Paechter nichts zu leisten vermoechten und solchen Kram mehr. Die Neustaedter sind bereits muerbe. Denn sie sind wieder mal im Dalles. Nun habe ich vorgestern einen Artikel gebracht, man solle den Weihnachtsberg, wenn sich eine gute Gelegenheit boete, an irgendeine neutrale Person je eher je besser verkaufen, damit er ja nicht mal in Waltersburger Haende fiele, was die Konkurrenz drueben staerken wuerde." "Was bezwecken Sie damit?" "Dass mein Vertrauensmann, der sich als Privater um den Kauf der Weihnachtsbergkuppe bemueht, die Sache billig bekommt. In vierzehn Tagen, denke ich, koennen wir oben einziehen." Wir waren inzwischen aufgestanden und stiegen langsam den Berg hinab. Stefenson sprach immerfort von seinen Plaenen und brachte es wirklich zuwege, dass meine Bangigkeit nachliess und ich ihm wenigstens mit halber Aufmerksamkeit zuhoerte. Er begleitete mich bis in mein Arbeitszimmer. Dort sagte Stefenson: "Nun gestehen Sie es sich mal selber, lieber Freund: die ganze Zeit, da unser Heim besteht, haben Sie, der die Lehre von den Ferien vom Ich erfunden und gepredigt hat, selbst mit Haut und Haaren mitten im dicksten Ichleben gesteckt. Hauptsaechlich wegen Ihrer Familienangelegenheiten. Jetzt erst, wo sich alles in Frieden loest, werden Sie Ihrer Idee ganz und mit Freuden dienen koennen. Sie lehren selbst: in den Ferien vom Ich los von der Familie! Deshalb habe ich auch von Anfang an gemeint, wenigstens einer von uns beiden muesse ganz ohne Familie sein." "Und welcher von uns beiden soll das sein?" "Sie!" Fast haette ich ueber den alten Egoisten lachen muessen. "Sie waeren aber doch viel geeigneter, Stefenson; denn Sie sind doch schon ohne Familie." "Sie vergessen, dass ich eine Braut habe." "Eva Bunkert? Ich meine, dieser Verlobtenstand ist einseitig." Er lachte. "Bah - wegen der Auskneiferei - wegen dieser Marotte? Ich habe an Eva einen vernuenftigen Brief geschrieben, habe ihr gesagt, ich wuerde ihr gern nachreisen, wenn es nicht zu dumm waere, und wenn ich Zeit dazu haette. Sie solle ja nicht annehmen, dass ich jetzt ploetzlich an ihrem Theater als Coiffeur, Portier, Kulissenschieber oder dergleichen auftauchen wuerde, um sie weiter zu beobachten. Das wuerde abgeschmackt sein; denn ich mache keinen Witz zweimal. Im uebrigen liebte ich sie unveraendert weiter und ueberliesse ihr, zu bestimmen, wann unsere Hochzeit sein solle. Diesen Brief habe ich vor acht Tagen geschrieben und noch keine Antwort. Das ist doch ein sehr guenstiges Zeichen." "Ich wuerde dieses Zeichen anders auslegen." "Nein. Sie graemt sich. Sie kann gar nicht schreiben. Waere ich ihr egal, haette sie mir einen schnippischen, und waere sie ein oberflaechliches Weib, sofort einen freundlichen Verzeihungsbrief geschrieben. So ist sie ein braves Maedel, das mich liebt, und schreibt gar nicht." "Es kann schon so sein", sagte ich muede; "ich hoffe, dass es Eva gut geht!" "Nun, so ... so ... Vor fuenf Tagen hat sie das erstemal auf der Oper gesungen. Zwei Kritiker haben sie bestehen lassen; einer hat sie etwas mitgenommen. Mit dem habe ich mich telephonisch verbinden lassen. Ich habe den Mann aufgeklaert, um was es sich handelt - so in grossen Zuegen natuerlich -, und ihm gesagt, dass er mir einen Riesengefallen tun wuerde, wenn er Fraeulein Eva Bunkert nach Strich und Faden verrisse und an der Oper unmoeglich mache. Meine eventuelle Erkenntlichkeit fuer ihn habe ich dem Kritiker wirklich nur ganz diskret und delikat angedeutet. Trotzdem hat mir der Grobian gesagt, es sei schade, dass sich telephonisch keine Ohrfeigen austeilen liessen; im uebrigen sei Fraeulein Bunkert ein ausserordentlich hoffnungsvolles Talent. Das habe ich davon. Nun wird sie auch dieser Kerl loben. Ach, du lieber Gott, die deutschen Zeitungsschreiber sind sehr verschiedener Art." "Und Sie fuerchten gar nicht, dass Eva Bunkert Ihnen verlorengehen koennte?" "Nicht eine Minute. Sie hat gebissen. Ich halte sie fest. Wenn sie noch ein wenig herumzappeln will, kann ich ihr den Spass ja goennen." So purzelte Stefensons draufgaengerische, frische Art durch den bangsten Tag meines Lebens. Und als ich am naechsten Morgen nach tiefem Schlaf erwachte, fuehlte ich mich gesund und munter, stark genug, dem Leben ins Auge zu schauen und mit Lust und Freude an meinem schoenen Werke weiter zu schaffen. ------------------------------------------------------- Etwa drei Wochen spaeter besuchte mich Stefenson wieder in meinem Arbeitszimmer. Auf dem Tische lag die neueste Nummer der "Neustaedter Umschau". "Ich habe diesmal nichts drin", sagte Stefenson und wies auf die Zeitung. Trotzdem schlug er sie auf. Und mit einem Male riss er die Augen auf, trat ans Fenster. "Haben Sie schon - haben Sie schon gelesen?" fragte er aufgeregt. "Was denn? Was steht denn wieder in dem Schundblatt? Ich habe noch gar nicht hineingeschaut." "Da - da ..." Er wies auf eine kleine Notiz. Ich las: "Verlobung. Die Opernsaengerin Eva Bunkert, Tochter unseres verflossenen Baurats August Bunkert, hat sich mit dem Grafen Hanns von Simmern, Sohn des herzoglichen Kammerherrn Grafen Eugen von Simmern, verlobt. - Eine rasche Kuenstlerkarriere!" "Da haben wir's", sagte ich. "Die Sache ist in der Tat sehr rasch gegangen." "Rasch gegangen! Ist das alles, was Sie zu dieser Schandtat zu sagen wissen?" bruellte Stefenson. "Ja, was soll ich in meiner Ueberraschung dazu sagen? Es tut mir natuerlich leid um Sie!" "Leid! Ich brauche Ihnen nicht leid zu tun. Niemand brauche ich leid zu tun. Ich verbitte mir das! Denn ich kann froh sein, dass ich diese Gans los bin. Ich bin auch ganz kolossal froh. Nach kaum vier Wochen ist dieses flatterige Ding mit ihrer Lebenswahl fertig. Von einem zum andern. Immer zu, immer zu! Was verliere ich dabei? Weil er ein Graf ist, weil sie sich bei ihm in Taschentuecher mit einer neunzackigen Krone die Nase schneuzen kann, deshalb gibt sie mich auf. Einen Mann wie mich, der diese bankerotte Bauratstochter gegen alle Vernunftgruende geliebt hat und sie heiraten wollte, gibt sie auf!" Er sank in einen Stuhl. Sein Schmerz war masslos. Aber ich blieb kuehl. "Lieber Freund", sagte ich, "es ist sicher fuer unsere Gruendung ganz gut, wenn Sie familienlos bleiben, wenn Sie Ihre Selbstaendigkeit, den ruhigen, klaren Blick ..." "Halten Sie den Mund! Kommen Sie mir nicht mit solchem Bloedsinn. Satt hab ich's, satt. Meinetwegen mag die ganze Geschichte hier zum Teufel gehen. Mir liegt an nichts mehr etwas, an gar nichts mehr!" Er wand sich in dem Lehnstuhl, in dem er sass, wie in Kraempfen. Ich stellte mich ans Fenster und zuendete mir eine Zigarre an. Da knirschte er: "Sprechen Sie wenigstens; sagen Sie etwas zu mir. Das kann ich doch wohl verlangen." "Sie lassen mich ja nicht zu Worte kommen, Stefenson. Und dann, ich weiss selbst nicht, was ich zu der Sache sagen soll." "Jawohl, Sie machen sich eben nichts aus mir. Sonst koennten Sie sich jetzt nicht so pomadig eine Zigarre anzuenden. Schoener Freund! Glauben Sie denn, dass sie mit dem Grafen, diesem neunmal gehoernten Kerl, gluecklich sein wird?" "Das kann ich nicht beurteilen." "Das muessen Sie beurteilen koennen! Sie muessen wissen, dass solche sogenannten Mesalliancen nie zum Glueck fuehren, dass dieses Weib im Hause ihres graeflichen Gatten als Eindringling entweder gar nicht zugelassen oder _sub_ Luder behandelt werden wird, dass der Mann ihrer ueberdruessig sein wird, wenn ihre Schoenheit verblueht, dass sie dann im Elend sitzen wird." "Das kann schon alles so kommen, es kann aber auch anders sein. Es kommt ganz auf den Mann an. Prophezeien kann niemand, hoechstens unsere alte Wahrsagerin unten in Waltersburg." "Wollen Sie mich verspotten? Sich ueber mich lustig machen? Ist das Ihre Freundschaft?" Er war wuetend. "Lieber Stefenson, Sie sind jetzt sehr aufgeregt. Was immer ich auch jetzt sagen moechte, wuerde Ihnen nicht gefallen. Warten wir also ab, bis Sie sich etwas beruhigt haben, und dass Sie dann ganz auf mich rechnen koennen, wissen Sie ja doch!" "Ich werde mich nie beruhigen", sagte er. "Ueber das komme ich nicht weg!" Wohl zehn Minuten vergingen, waehrend deren Stefenson im Zimmer auf und ab schritt. Manchmal blieb er stehen, sprach leise mit sich selbst oder fuchtelte mit seinen langen Armen durch die Luft. Endlich fragte er: "Was ist das mit der Wahrsagerin in Waltersburg, die Sie erwaehnten?" "Ah, Stefenson, das war doch nur Scherz. Es wohnt da unten im alten Zollhaus, kaum dreihundert Meter unter unserem Grundhof am Waltersburger Weg, ein Weib, das schon uralt war, als ich noch in kurzen Hosen ging. Sie nennt sich nach ihrem Beruf Sibylle. Wie sie eigentlich heisst, wie alt sie ist, weiss kein Mensch. Fuer fuenfundzwanzig Pfennig prophezeit sie den Buergern, Bauern und Koechinnen die Zukunft." "Und stimmt es, was sie sagt?" "Ja, das weiss ich nicht. Ich hab mich um das alte Fernrohr in die Zukunft nicht gekuemmert. Als Jungen haben mal Joachim und ich fuenfundzwanzig Pfennig zusammengeschossen und uns weissagen lassen. Da hat sie gesagt, wir wuerden bald eine maechtige Tracht Pruegel bekommen. Und das ist auch eingetroffen. Es kam naemlich heraus, dass wir die fuenfundzwanzig Pfennig zur Sibylle getragen hatten, und wir bekamen Pruegel dafuer." Ich wusste, dass Stefenson aberglaeubisch war. Viele sonst sehr kluge Menschen sind es. Stefenson fing an einem Freitag kein Geschaeft an, es beunruhigte ihn, wenn eine Katze ueber seinen Weg lief, und er hatte immer ein altes Hufeisen auf seinem Schreibtische liegen. Er stammte ja auch aus Amerika, wo der Aberglaube zu Hause ist. Jetzt fuehlte er das Beduerfnis, sich ein wenig zu rechtfertigen, und sagte: "Es ist durchaus falsch, alle Hellseherei von vornherein als Unsinn zu erklaeren. Es koennen da Naturkraefte wirken, die wir nicht kennen." "Gewiss - gewiss!" Er versank wieder in tiefe Traurigkeit. "Vor vier Tagen habe ich ihr einen Brief geschrieben, habe sie gebeten, sie moege doch von ihrem Groll ablassen. Wenn sie es schon nicht einsehen wolle, dass ein Mann, der sein ganzes Lebensschicksal an eine Frau ketten wolle, zu deren gruendlichster Pruefung berechtigt sei, so solle sie halt denken, dass es mir doch auch Spass gemacht habe, mal in den Ferien vom Ich eine unerkannte Rolle zu spielen, und dass ich doch eigentlich als Knecht Ignaz um sie gedient habe wie Jakob um die geliebte Rahel. Sehen Sie, von diesem Brief glaubte ich, er sei eigentlich zu deutsch, zu sentimental. Aber es war mir so ums Herz, und so schickte ich ihn ab. Der Brief wird gerade zu ihrer Verlobung zurechtgekommen sein." Es schuettelte ihn vor Schmerz und Zorn. DER FUCHS UND DIE SIBYLLE Es war Abend, als ich am Grundhof vorbeischlich und mich an der Reihe windbruechiger Weiden, die am alten Waltersburger Weg stehen, hinab zum Hause der Sibylle schlaengelte. Das kleine Anwesen sah schaebig und unordentlich aus. Die Tuer stiess einen graemlichen Quieker aus, als ich eintrat. Der Hausflur war finster, aber in dem daranstossenden Zimmer, dessen Fenster mit buntem Kattun verhaengt waren, brannte eine kleine Lampe. Die "Sibylle" erhob sich und kam mir entgegen. Mit krummem Ruecken, auf einen Stock gestuetzt, hob sie ihr verrunzeltes Gesicht, das in dem trueben Lichte der kleinen Lampe ganz gespenstisch aussah, zu mir empor. "Wird er kommen?" fragte sie. "Ich weiss es nicht. Aber ich hoffe es; denn ich habe es ihm kraeftig eingeredet. Ich gehe einstweilen in die Nebenstube und passe auf. Halten Sie sich genau an unsere Abmachungen." "Jawohl!" nickte das Weib. Ich musste eine Stunde lang warten und gab den Plan, den ich gefasst hatte, beinahe auf. Noch zweimal hatte Stefenson heute von der Wahrsagerin angefangen, und ich hatte ihm einige sehr merkwuerdige Faelle erzaehlt, in denen die Voraussagungen der Sibylle in verblueffender Weise eingetroffen waren. Nun kam er doch nicht. Schon wollte ich meinen Lauscherposten verlassen, da sah ich den alten Fuchs um die Wegkruemmung treten und vorsichtig umherspaehen. "Er kommt!" sagte ich zu der Sibylle durch die Tuer. "Nun machen Sie Ihre Sache gut." Fuenf Minuten spaeter hoerte ich nebenan Stefenson eintreten. "Guten Abend", sagte er etwas verlegen. "Ich komme mal zu Ihnen. Sie brauchen sich deswegen nicht etwa einzubilden, dass ich auf Ihren Quatsch etwas gebe; aber ich habe von Ihnen gehoert, und da will ich mal einen Versuch machen - der Wissenschaft halber, verstehen Sie?" Die Sibylle ruehrte sich nicht. Sie sah greulich aus. Die Gestalt war in ein geflicktes Umschlagetuch gehuellt, vor Stirn und Augen hatte sie einen gruenen Lichtschirm, ueber dem der graue Scheitel struppig herausragte. Das alte Weib betrachtete ihre ausgebreiteten schmutzigen Karten und sagte kein Wort. "Nun?" mahnte Stefenson ungeduldig. Keine Antwort. "Ja, wollen Sie nun gefaelligst mit mir sprechen?" brauste der Amerikaner auf. "Scheren Sie sich hinaus!" kraechzte die Alte. "Wa-as?" "Hinausscheren sollen Sie sich!" wiederholte der haessliche Rabe. "Das ist stark!" sagte Stefenson verbluefft. "Nun bleibe ich natuerlich hier!" Er schob sich den wackligen Stuhl, der an der Wand lehnte, zurecht und sah mit stoischer Ruhe zu, wie das alte Weib ihre Karten mischte und legte, ohne ihn auch nur im geringsten zu beachten. Ich vergnuegte mich an meinem Guckloche koeniglich. Endlich stand Stefenson auf, legte auf die Tischkante eine Muenze und sagte mit erzwungener Hoeflichkeit: "Madame, ich moechte gern durch Ihre Kunst meine Zukunft erfahren." "Warten Sie!" schnarrte der Rabe. Und Stefenson wartete. Sibylle betrachtete indes unverwandt ihre Karten. Endlich schien sie fertig zu sein. Sie warf einen Blick auf das Geldstueck und sagte: "Auf zwanzig Mark kann ich nicht herausgeben. Es kostet fuenfundzwanzig Pfennig." "Behalten Sie nur das Goldstueck", erwiderte Stefenson. Da schnipste sie mit dem Finger die Muenze vom Tische hinab auf den Fussboden und kreischte wuetend: "Fuenfundzwanzig Pfennig kostet es!" Stefenson kramte in einer Westentasche und legte fuenfundzwanzig Pfennig auf den Tisch. "Stecken Sie das Goldstueck ein!" befahl die Alte. Stefenson leuchtete mit Streichhoelzern gehorsam den Fussboden ab, bis er die Goldmuenze fand, und steckte sie ein. Darauf mischte Sibylle die Karten, liess Stefenson dreimal abheben und sagte: "Sie sind neunundvierzig Jahre alt!" Stefenson lachte aergerlich. "Neununddreissig bin ich." "So sehen Sie nicht aus!" Darauf wurden die Karten auf den Tisch gebreitet. "Richtig - erst neununddreissig", sagte die Wahrsagerin. "Am 14. April geboren." "Das stimmt!" rief Stefenson verbluefft. "Es stimmt alles, was ich sage", knurrte die Alte. "Sie haben weder Vater noch Mutter, Bruder noch Schwester. Sie sind nicht aus diesem Lande, Sie sind ueber das Wasser gekommen." Stefenson setzte sich staunend auf den Stuhl. "Sie sind sehr reich", fuhr die Alte fort, "und werden immer reicher werden; aber Sie haben Unglueck in der Liebe." "Ja", murmelte Stefenson. "Ihre Braut heiratet einen anderen." "Ist das wahr?" "Ja. Aber Sie sind selbst schuld; Sie haben Ihre Braut schlecht behandelt und sie betrogen." Stefenson stoehnte leise. Die Alte fuhr fort: "Wenn Sie sich mit dem neuen Braeutigam Ihrer Braut duellieren, werden Sie ihn toeten." "A-ah!" "Ja, aber es wird Ihnen schlimm ergehen, weil er ein vornehmer Herr ist, und das Maedchen wird doch einen anderen nehmen." "Wird sie gluecklich werden?" fragte Stefenson. "Sie wird mit jedem Manne gluecklich werden, den sie nimmt. Nur mit Ihnen waere sie ungluecklich geworden." "Das ist nicht wahr!" rief Stefenson. "Das ist ebenso wahr, als dass Sie nach einem Jahre eine reiche Amerikanerin heiraten werden." "Schwindel!" rief Stefenson erbost. "Ich werde nie eine andere heiraten. Sie schwafeln da einen ungeheuren Bloedsinn zusammen!" "Scheren Sie sich hinaus!" kreischte der Rabe wuetend und klappte die Karten zusammen. "Ich bitte, dass Sie weitersprechen", beruhigte sich Stefenson gewaltsam. Die Alte aber erhob sich und humpelte der Nachbartuer zu. "Bleiben Sie da", rief Stefenson; "ich habe doch fuenfundzwanzig Pfennig bezahlt." Sie gab keine Antwort, verschwand hinter der Tuer und schob den Riegel vor. In diesem Augenblick sprang ich im Nebenzimmer aus dem Fenster hinaus in den Garten, ging ums Haus herum und trat durch den Flur in die Vorderstube. Als Stefenson und ich uns sahen, prallten wir voreinander zurueck. "Sie - Doktor?" "Sie - Stefenson?" Er lachte ausserordentlich verlegen. Leise sagte er: "Aber wissen Sie - nur der Wissenschaft halber ..." "Ja - ich natuerlich auch nur der Wissenschaft halber. Waren Sie schon dran?" "Ja. Und es hat merkwuerdig gestimmt. Jetzt ist die Alte da hinein und hat sich abgeriegelt. Aber ich warte, bis sie herauskommt; ich will noch mehr erfahren." "Wenn es Sie nicht stoert, warte ich mit." Ich sah, dass ihm mein Erscheinen gar nicht recht war, aber ich setzte mich auf den Tisch und liess die Beine herabbaumeln. Eine halbe Stunde verging; es wurde langweilig. Ein paarmal hatte Stefenson an die Tuer der anderen Stube geklopft, aber keine Antwort erhalten. Endlich hoerten wir drin ein Gekrabbele. "Sind Sie noch da?" kraechzte die Sibylle. "Jawohl!" antwortete Stefenson. Ein Scharren kam von nebenan, dann sagte die Alte: "Ich werde Ihnen fuer Ihre fuenfundzwanzig Pfennig jetzt noch zeigen, wie Ihre kuenftige Frau aussieht, und dann scheren Sie sich endlich fort." "Ich will nichts wissen von einer kuenftigen Frau, ich bleibe ledig!" widersprach Stefenson. "Kommen Sie lieber heraus und geben Sie mir noch auf einige Fragen Auskunft." "Nein!" brummte der Rabe. "Sie werden nur noch Ihre kuenftige Frau sehen!" Die Tuer sprang auf, und in ihrer Oeffnung stand Eva Bunkert in ihrer ganzen strahlenden Schoenheit. Stefenson fasste sich an den Kopf. "Eva!" "Ja, ich bin's!" sagte das Maedchen, blieb stehen und lachte. "Wie ist das moeglich? Wie ist das nur moeglich?" Stefenson machte den Eindruck verdattertster Hilflosigkeit. Da sprang ich vom Tisch herunter, brach in Gelaechter aus und schrie jubelnd: "Wir haben einen alten, sehr alten Fuchs gefangen. Horrido!" Eva hatte gluehrote Wangen. Sie trat auf den wie angewurzelt dastehenden, staunenden Stefenson zu, reichte ihm die Hand und sagte mit warmem Ton in der Stimme: "Mein Lieber, Sie werden mir wegen dieser Komoedie nicht zuernen. Eine kleine Strafe wenigstens hatten Sie fuer Ihre Ignazmaskerade doch wohl verdient." "Ich verstehe nichts - nichts von allem", stammelte Stefenson. Da griff ich ein. "Also, lieber, alter Fuchs, ich will Ihnen alles kurz erklaeren, was jetzt Ihr in eine Wolfsgrube gefallener Verstand doch nicht von selber findet! Die Sibylle, die Sie befragt haben, war niemand anders als Fraeulein Eva selbst." "Oh - oh - und die wirkliche Sibylle?" "Sitzt in der Dachkammer und hat uns gegen Geld und gute Worte ihr Amtslokal mal voruebergehend ueberlassen. Ist das nicht gut?" Er sagte nicht, dass das "gut" sei. Ganz foermlich wandte er sich an Eva. "Mein gnaediges Fraeulein, es ist ja recht, recht liebenswuerdig, dass Sie mit mir zu scherzen belieben; aber ich darf wohl einigermassen erstaunt sein, da ich erst heute morgen in der Zeitung -" Ich griff wieder ein. "Die 'Neustaedter Umschau' war die zweite Wolfsgrube, in die Sie glitten, verehrter Fuchs, oder vielmehr die erste. Denn die Notiz habe ich geschrieben, habe sie in die 'Umschau' lanciert, aber nicht etwa in die ganze Auflage, sondern nur in die beiden Exemplare, die bei Ihnen und bei mir abgegeben werden. Da ist eben fuer diese zwei Nummern im Satzspiegel eine kleine Aenderung gemacht worden." "So ist wohl alles gar nicht wahr?" "Nein, es ist nicht wahr", sagte Eva und wurde in dem Masse roeter, als Stefenson bleicher wurde. Ich fuerchtete mit einem Male, der Scherz koenne noch schief ausgehen, und sagte deshalb: "Nanu, Stefenson, spielen Sie bitte nicht etwa die gekraenkte Unschuld. Da waeren Sie gerade der Rechte dazu. Was haben Sie uns genarrt! Mit der Ignazgeschichte und mit Ihren Umschau-Artikeln, auch als Journalist Brown. Ihr Suendenregister ist in dieser Hinsicht so gross, dass unsere kleine List eine aeusserst gelinde Strafe ist." "Und - und der Graf Simmern - und der herzogliche Kammerherr?" "Himmel, Stefenson, sind Sie heute schwer von Begriffen, diese Simmerns existieren doch gar nicht." "Ah - so ist das gewesen? Die Anzeige war gefaelscht, und die Wahrsagerin waren Sie selbst. - Es - es ist ja sehr witzig! Gnaediges Fraeulein, Sie haben die alte Sibylle ausgezeichnet gemimt. Ich glaube, Sie sind eine grosse Schauspielerin." Es war mir, als ob in Evas Augen eine geheime Angst traete. Ich sagte: "Nun sehen Sie, ob ein Mister Stefenson in den Ferien vom Ich in die Tracht eines Bauernknechtes kriecht oder ob eine Opernsaengerin mal in das Habit einer Wahrsagerin schluepft, bleibt sich ganz gleich. Das ist doch selbstverstaendlich." Seine Augen irrten umher. "Ich fuerchte, die wirkliche Sibylle wird sich in der Bodenkammer erkaelten. Man sollte sie jetzt herunterrufen." Die Stimmung wurde frostig. Ich sah, dass Evas rote Wangen verblichen. In diesem Augenblick humpelte die wirkliche Sibylle ins Zimmer. Sie lachte albern und blinzelte verlangend mit den Augen. "Na, Sibylle", sagte Stefenson, "Sie werden ja von den Herrschaften schon bezahlt sein; da haben Sie auch von mir noch ein Trinkgeld." Er legte ein Fuenfzigpfennigstueck auf den Tisch. Die Alte fauchte unzufrieden; mir ging die Laune aus. "Gehen wir hinaus!" sagte ich. Ich half Eva den Mantel umlegen und fuehlte, wie das Maedchen erregt war. Schweigend stiegen wir den Berg hinauf. Ich hatte einen maechtigen Groll auf Stefenson. Er selber haenselte alle Welt, aber einen Scherz gegen seine eigene hohe Person vertrug er nicht. Da hatte mir nun in all den Wochen die schoene Eva brieflich ihren Liebeskummer geklagt, ich hatte ihr langsam den Zorn gegen Stefenson, den sie der Ignazmaskerade wegen hegte, ausgeredet, sie hatte endlich den Brief mit der Stelle von Jakob, der um Rahel dient, erhalten, war dadurch geruehrt, heimlich in Waltersburg angekommen und hatte sich in der Wohnung ihres Vaters, unseres jetzigen Baurats, versteckt. Liebesselig und voller Sehnsucht. Ich, der das Maedchen selbst geliebt hatte, war mit mir fertig geworden, guter Laune zu sein und ihr zu einem unschuldigen Racheplan gegen den Geliebten zu helfen. Nun scheiterte alles am Hochmut dieses Hansnarren. ------------------------------------------------------- Wir waren kurz vor dem Grundhof, da blieb Stefenson ploetzlich stehen und fing unbaendig an zu lachen. Es war schon gar kein Lachen mehr, es war ein Kollern. "Also", sagte er, "nun haben sie den Fuchs gefangen, und da sie ihn in der Falle haben, machen sie beleidigte Gesichter, weil der Gefangene knurrt, was doch selbstverstaendlich ist. Lieber Doktor, Freund und Menschenkenner, bitte, gehen Sie mal freundlichst voran bis zur Lindenherberge und erwarten Sie uns im Poetenwinkel. Wir kommen langsam nach." Ich ging voran, und als die beiden anderen im Poetenwinkel eintrafen, sah ich in ihnen ein glueckliches Paar. ------------------------------------------------------- Es war noch nicht spaet, wir waren im Poetenwinkel allein, die Feriengaeste noch alle beim Abendbrot. Als wir mit dem allerbesten Wein, den der Herbergsvater besass, angestossen hatten, sagte Stefenson so ganz nebenher zu mir: "Dass der Kerl von der 'Umschau' zwei Mark fuer die Zeile der gefaelschten Verlobungsnotiz von Ihnen genommen hat, war unverschaemt. Eine Mark waere auch genug gewesen." "Woher wissen Sie den Preis?" "Na, ich war doch drueben in der Redaktion." "In der Zeitung? Wann? Heute nachmittag?" "Ja, natuerlich! Ich witterte etwas und wollte wissen, woher die 'Umschau' die grosse Neuigkeit habe, und da kriegte ich mit Hilfe einiger Ueberredungskunst und einigen Papiergeldes den ganzen schoenen Schwindel heraus." "Das ist infam!" rief ich. "Er hat alles gewusst", sagte fassungslos die schoene Eva. "Jawohl, alles!" schmunzelte Stefenson. "Dann, als ich von Neustadt zurueckkam, ging ich gleich wieder zu unserem Herrn Doktor, und als mir der so ganz geschickt und ganz und gar unauffaellig suggerierte, ich solle doch durchaus mal zu der alten Sibylle gehen, da sagte ich mir: Hm, da ist was dahinter! Da werden die Schlauberger mit dir wohl noch was vorhaben. Und ich ging zu der alten Sibylle." "Er hat mich sofort erkannt", klagte Eva. "So schlecht habe ich gespielt." "Du hast herrlich gespielt!" rief Stefenson. "Du bist eine grosse Kuenstlerin. Die Sprache - zum Fuerchten; das Aeussere - zum Schlechtwerden. Zum Beispiel diese borstigen Warzen an Kinn und Hals. Ich habe nie eine schrecklichere Theaterhexe gesehen." "Es ist aus mit meiner Buehnenlaufbahn", sagte Eva. "Das ist die furchtbarste Kritik, die ich bekommen konnte. Ich kann ihm nie, nie was vormachen!" "Nein", sagte Stefenson mit grosser Befriedigung, "und weil ich jetzt weiss, dass du mir nie etwas vormachen kannst, heirate ich dich. Ich heirate dich mit grosser innerer Ruhe und mit sehr grossem Vergnuegen!" Dass uns aber auch diesmal der alte Fuchs uebertoelpelt hatte, aergerte mich so, dass mir der gute Wein nicht mehr schmeckte. ADVENT Es ist nun still geworden bei uns. Stefenson ist nach Amerika hinueber, um in Eile seiner kuenftigen Frau ein Heim zu bereiten. Diesmal ist er wirklich abgereist; ein Vertrauensmann von mir hat ihn in Hamburg an Bord gehen sehen. Eva wohnt zwar bei ihrem Vater, haelt sich aber allermeist im Forellenhof auf, der ihre zweite Heimat geworden ist. Der Bauer Barthel hat seit dem Abenteuer seiner Verhaftung an Reputation etwas eingebuesst und steht jetzt ganz unter dem Regiment der dicken Susanne; aber der alte Friede ist wiedergekehrt. Nur ein wenig still ist es. Methusalem und Emmerich, die lustigen Burschen, haben auch laengst schweren Herzens von uns Abschied nehmen muessen, um in ihr buergerliches Leben zurueckzukehren, und Piesecke ist vom Forellenhof fortgezogen. Er wohnt jetzt in der Waldschoelzerei. Er sagte mir, "er habe an Barthel und Susanne mit der Zeit ein Haar gefunden" und wolle auch Eva aus dem Wege gehen. In Wirklichkeit hegt sein leichtbewegliches Herz bereits eine neue Sehnsucht, und diese Sehnsucht wohnt in der Waldschoelzerei. Sie heisst Agathe. "Lieber Herr Doktor", sagte er dieser Tage zu mir, "wenn mich die kleine Agathe will, dann moechte ich sie heiraten und mit ihr immer hier bei Ihnen im Heim bleiben. Vielleicht kann ich mich mit etwas Kapital beteiligen und eine kleine Stellung, so als Subdirektor oder aehnlich, bekommen. Ich moechte nicht wieder fort von hier; die grosse Welt hat allen Reiz fuer mich verloren." "Wir wollen abwarten und ueberlegen, lieber Piesecke." "Ich soll immer abwarten, nie handeln", sagte er betruebt. "Sie haben eben in Ihrem frueheren Leben etwas zu viel gehandelt, lieber Freund. Deshalb sind Sie ja jetzt in den Ferien." Da fuegte er sich. - Mit dem schweizerischen Namen "Heimwehfluh" ist eines unserer kleinen Anwesen benannt, das in einer Waldecke so abseits vom Wege liegt wie die Genovevenklause. Auf der Heimwehfluh wohnt jetzt Kaethe mit ihrem Kinde. Die Frau ist blass und von zartester Gesundheit; aber ich habe nur mit Muehe durchsetzen koennen, dass sie eine Bedienerin annahm. Sie wollte mit Luise ganz allein sein. Das Maedchen ist viel ruhiger geworden. Wohl hindert es die Mutter nicht, zu anderen Kindern zum Spielen zu laufen, ja sie draengt es oft dazu, aber das Kind bleibt am liebsten daheim. Dort ist es in einem ewig sonnigen Paradies der Mutterliebe. Die Mutter dichtet Geschichten um Geschichten, die Mutter spielt so schoen, wie niemand spielen kann, die Mutter macht selbst das Lernen zur Lust. Kaethe und das Kind sind noch die einzigen Kameraden, die ich hier habe. Sie stoeren mich nicht. Ich weiss, dass sie im Frieden sind und dass sie mir, wenn ich frage, wie es ihnen geht, immer nur die eine Antwort geben werden: "Es geht uns gut!" Es ist schoen, Menschen zu begegnen, die sagen, dass es ihnen gut gehe; es ist wie ein herzstaerkender Blick auf ein heiteres Gelaende, der sich bei einer so lieben Antwort auftut. Im Forellenhof wird jetzt viel geschneidert, gestrickt, gebastelt. Eva schafft an ihrer Ausstattung, und alles Weibsvolk ist ganz naerrisch, ihr dabei zu helfen. Es ist sehr heimlich in der grossen Bauernstube. Der Wind zieht um die Giebel oder pfeift auf dem Schornstein wie auf einer grossen Floete, der Regen knistert am Fenster, das Feuer flackert im Herd, die alte Uhr geht freundlich ihren Weg hin und her mit ihrem Schlenkerbein. Manchmal erzaehlt eine der Frauen eine Geschichte, manchmal rattert eine Naehmaschine, manchmal spielt Vater Barthel auf der Ziehharmonika, oft kommt einer von den "Mannsvoelkern" in die Stube, schuettelt sich wie ein Pudel, waermt sich am Ofen und sagt etwas Nettes oder etwas Dummes, ueber das gelacht werden kann. Was bei der Hausarbeit herauskommt, kann ich nicht beurteilen. Eva wird eine sehr reiche Frau sein, aber vielleicht sind ihr einmal diese mit recht verschiedenartigem Talent im Ferienheim gestickten Monogramme und Schneidereien lieb und wert ... Ich bekam eben einen Eilbrief von Methusalem aus Muenchen: "Lieber Doktor! Unser Freund Stefenson (wo haette ich den Heimtuecker in dem langen Ignaz vermutet!) hat mich von Amerika aus mit der ehrenvollen Aufgabe betraut, die aeusseren Feierlichkeiten seines Hochzeitsfestes in Regie zu nehmen. Trotz meines hohen Alters will ich die Aufgabe uebernehmen. (Notabene: Was sagen Sie als Mediziner dazu, dass ich mit neunhundertachtundneunzig und dreiviertel Jahren noch einen Weisheitszahn kriege?) Also uebernehmen! Die bewilligten Mittel sind generoes. Man koennte damit alle Einwohner eines deutschen Herzogtums drei Tage lang freihalten. Ich werde mit einem Bruchteil des Geldes auskommen, und das Fest wird dennoch glaenzend sein. Mein Freund Emmerich, bekanntlich Gesanglehrer an einer Taubstummenanstalt und auch sonst ein beruehmter Musiker, uebernimmt den musikalischen Teil. Das Fest soll am ersten Weihnachtsfeiertag im Rahmen eines grossen deutschen Weihnachts- und Weihespieles stattfinden. Es ist allerhoechste Zeit, mit den Vorbereitungen zu beginnen. Erwarten Sie mich also schon morgen; sagen Sie Frau Susanne, dass ich vor Sehnsucht nach ihr brenne, durch welch schoene Redewendung sie erinnert sein soll, mein Zimmer gut zu heizen, und bewegen Sie Freund Piesecke, in den intimeren Festausschuss einzutreten. Ihr getreuer Methusalem. Nachschrift! Ich habe heute aus Freude, so bald nach dem geliebten Waltersburg zurueckkehren zu koennen, bereits fuenf Purzelbaeume in meinem Bett geschlagen. Ich finde das zwar unpatriarchalisch, aber es musste sein! Methusalem." Frau Susanne strahlte, als ich ihr Methusalems baldige Ankunft verkuendigte, und rannte spornstreichs nach dem Kohlenkasten. Sie kann ihren aeltesten Sohn nicht lieber haben als diesen Maler, der sie doch staendig aergert und ueber den sie staendig schimpft. Mit Piesecke dagegen hatte ich Schwierigkeiten. "Ich lehne ab, dem Festausschuss beizutreten", sagte er kalt, als ich ihm Methusalems Brief vorgelesen hatte. "Denn erstens, dieser Stefenson, der mich als Knecht Ignaz gemisshandelt hat, verdient von mir keine Gefaelligkeit, und diese Eva auch nicht. Was aber Methusalem und Emmerich anbelangt, so habe ich mich einmal mit ihnen eingelassen und die traurigsten Erfahrungen mit ihnen gemacht." "Lieber Piesecke", sagte ich, "Sie werden sich das noch ueberlegen. Was Stefenson anlangt, so sind Sie eine viel zu grosse Natur, um nachtraegerisch zu sein. Und mit Methusalem und Emmerich duerfen Sie sich ruhig verbinden. Ich gebe zu, dass sich die beiden in der Waltersburger Schlacht feig und schaebig benommen haben. Waehrend Sie kaempften, hat der eine gezeichnet, der andere seine Hymne gesungen. In den Kampf eingegriffen haben sie beide nicht, obwohl es ihre Pflicht war. Sie sind eben keine Helden. Ein Fest aber ist keine Schlacht; da werden die zwei ihren Mann stellen. Im uebrigen gebe ich Ihnen zu bedenken, dass, falls Sie sich fernhielten, Fraeulein Agathe aus der Waldschoelzerei den schweren Verdacht schoepfen koennte, Sie haetten Ihren Gram um die verlorene Eva immer noch nicht verwunden." "Oh", rief da Piesecke, "den hab ich gruendlich verwunden. Aber Sie haben recht, der Verdacht laege nahe. Also mache ich mit!" Schon am naechsten Morgen kehrten unter ungeheurem Hallo Methusalem und Emmerich nach dem Ferienheim zurueck. Eine Stunde spaeter fand die erste "Geheime Sitzung des intimeren Festausschusses", bestehend aus Methusalem, Emmerich und Piesecke, statt. Ich hatte bescheiden angefragt, ob ich eine beratende Stimme im Ausschuss haben duerfte, dieses war aber abgelehnt worden. ------------------------------------------------------- Was hatten wir fuer einen schoenen Heiligen Abend! Auch ueber die Festtage war unsere Anstalt mit Gaesten gut besetzt, aber die Leute waren alle kurz vor dem Christabend etwas stiller geworden. Ich merkte, wie viele an Heimweh litten. Durch einen besonderen Anschlag war rechtzeitig bekanntgegeben worden, dass jeder Feriengast ein Paket nach Hause senden und ein solches von Hause erbitten solle. In den letzten Tagen trafen viele solche Liebesgaben bei uns ein. Sie wurden in der Direktion aufgestapelt. Wie nun der Abend kam am 24. Dezember, dieser heilig-suesse Abend, an dem alle Herzen anders gehen als sonst, ritt auf schneeweissem Ross Knecht Ruprecht von Haus zu Haus. Hinter ihm fuhren in einem mit Silber, Gold und Tannengruen geschmueckten Schlitten vier Engelein, von denen eines die kleine Luise war, dann kam ein Blaeserchor, zuletzt stampften Zwerge und Waldgeister durch den Schnee, die schleppten alle Pakete auf den Schultern und taten, als ob sie schwer daran zu tragen haetten. Vor jedem Bauernhof wurde haltgemacht. In der grossen Stube brannte der Christbaum; Knecht Ruprecht trat ins Zimmer und sagte seinen Weihnachtsgruss, die Engelchen sangen ein Lied, der Blaeserchor blies vor dem Hause einen Choral, und die Zwerge und Waldgeister schleppten Pakete herbei - Gruesse aus der Heimat. Da hat keinem von unseren Feriengaesten die Weihnachtsstimmung gefehlt. Auch ich hatte meine Weihnachtsfreude. Am Nachmittag erhielt ich ein Kabeltelegramm von der Mutter aus Rio: "Sehne mich nach dir. Gruesse von Joachim und mir an dich, Luise, Kaethe und die Heimat. Eure Mutter." Frieden auf Erden! Ich ging nach der Heimwehfluh. Kaethe sass am Fenster, spaehte nach dem Lichtschein der Fackeln, die den Schlitten begleiteten, darin ihr Kind sass, und hoerte auf die alten Weihnachtslieder, die aus dem Tale klangen. Ich gab ihr das Telegramm. Sie las es und wurde zum ersten Male wieder ein wenig rot im Gesicht. "Schenke es mir zu Weihnachten", bat sie. "Ich habe es dir ja gebracht." Ich blieb bei ihr, wollte Luises Rueckkehr abwarten. Da sagte sie im Laufe des Abends: "Ich weiss wohl, dass es nicht mehr allzu lange mit mir dauern kann. Aber sage mir, ob ich uebers Jahr zu Weihnachten noch leben werde." "Bestimmt, Kaethe." Da trat ein Laecheln auf ihre Zuege. "Das ist noch eine lange Zeit zum Gluecklichsein!" HOCHZEIT UND ENDE Stefensons Hochzeit fand am spaeten Nachmittag des ersten Christfeiertages in aller Stille in der Waltersburger Kirche statt. Nur Evas Vater und ich waren als Trauzeugen gegenwaertig. Wir waren nicht ueber den Marktplatz, sondern auf einem Umweg nach der Kirche gefahren. So war das von Methusalem angeordnet worden. Auf demselben Wege, den wir gekommen, mussten wir auch wieder nach Hause fahren. Ich merkte, dass Stefenson verwundert war. Die heilige Handlung in der Kirche hatte ihn geruehrt, und er hatte wohl erwartet, dass es von der Kirche direkt nach dem Marktplatz zu einer stimmungsvollen grossen Weihnachts- und Hochzeitsapotheose gehen wuerde. Wir fuhren aber nach dem Heim zurueck, und zwar nach dem "Rathaus", und wurden dort im grossen Saal von zahlreichen Feriengaesten erwartet. Das Brautpaar wurde mit Heilrufen empfangen und zu seinen Ehrensitzen geleitet. Ein schoenes Maedchen mit roten Rosen im Haar ueberreichte den zwei Gluecklichen einen goldenen, mit Wein gefuellten Pokal, das Hochzeitsgeschenk des Heimes, und sprach dazu Verse, die ein im Heim anwesender Dichter geschaffen hatte: "Alles Wuenschen geht zur Ruh: Du bist ich, und ich bin du! All dein Schmerz und Leid ist mein, All mein Gut und Glueck sind dein! Wo dein Fuss geht, ist mein Ziel, Was zum Dienst dir, ist mein Spiel; Deine Blumen pflanze ich, Deine Taenze tanze ich; Ich will deinen Kummer klagen, Du sollst meine Kraenze tragen; Ich kann nimmer muede sein, Ehe du nicht schlummerst ein; Ja, mein Gott gruesst mich von fern, Strahlt auf dich ein goldner Stern." So sprach der Dichter in den Ferien vom Ich zu dem Brautpaar. Schoene Lieder wurden gesungen, die Musikmeister Emmerich eingeuebt hatte. Ansprachen wurden gehalten von unserem Direktor, von je einem Vertreter der Kurgaeste wie der Angestellten, schliesslich sprach auch ich ein paar Freundesworte. Stefenson war bewegt, als er fuer die Liebe, die er erfuhr, dankte, als er sagte, er habe in diesem deutschen Tale den Frieden gefunden, den er drueben im Lande der ruecksichtslosen Dollarjagd niemals gekannt hatte. Hier habe er nach einem Leben voll Aufregung, Ueberarbeit und gelegentlichen wilden Genuessen nicht nur Ferien, sondern Feierabend gemacht. Er wisse jetzt, da er die Frau seines Herzens gefunden habe, dass ein hoeheres Glueck ihm Gott nicht mehr geben koenne, und so wolle er drueben in Amerika seine Beziehungen klug und vorsichtig zu loesen suchen und dann ganz nach Deutschland ziehen, das ja doch seine wahre Heimat sei. * "Und nun", kommandierte Methusalem, "grosser Festkorso auf den Weihnachtsberg." Draussen war es stockdunkel; die Strassenbeleuchtung war ausgeschaltet; aber Fackeln und Laternen leuchteten phantastisch, und der Schnee schimmerte. Wohl fuenfzig Schlitten hielten da. Dem Zuge voran leuchtete eine riesige, ballonartige Laterne, die an hohen Stangen getragen wurde. Auf der einen Seite zeigte die Ballonhuelle das liebliche Bild der "Hanne vom Forellenhof", auf der anderen eine scheusslich anzusehende, aber genial gezeichnete Karikatur Stefensons. Ein Meisterstueck Methusalems. Vom Berg herab kam uns viel Volk entgegen; die Leute trugen Laternen mit transparenten Bildern: Methusalem hatte sich selbst verewigt, als tausendjaehrigen Greis voller Guete und Abgeklaertheit, Emmerich war von einem Mueckenschwarm fliegender Noten, Violinschluessel, Kreuzen, Aufloesungszeichen und Fermaten umgeben, die dicke Susanne strahlte in zinnoberrotem Licht und schimpfte fuerchterlich, als sie ihr Konterfei sah, Barthel als gefesselter Verbrecher war zu sehen, Levisohn mit einer riesigen Reklametrompete, Piesecke als Gott Mars in furchtbarer Ruestung, schliesslich auch mein etwas ins Sentimentale karikierter Kopf, den ein Kranz von heulenden, bellenden, hochnaesigen, sich Floehe schabenden Dackeln lieblich umrahmte. Lauter Meisterwerke des liebenswuerdigen Greises und Vergnuegungsleiters Methusalem. Als wir der Weihnachtsburg naeher kamen, erstrahlte sie in farbigen Lichtern, Boellerschuesse hallten ueber Berg und Tal, und ein Chor blies vom grauen Turme herab: "O du froehliche, o du selige, Gnadenbringende Weihnachtszeit." Gleich hinterher aber: "Wenn Weihnachten ist, Wenn Weihnachten ist, Dann kommt zu uns der heil'ge Christ; Bringt jedem eine Muh, Bringt jedem eine Maeh, Bringt jedem eine wunderschoene Schnaetteraettaettae!" Unter den Klaengen dieser grossen Hymne der Froehlichkeit zogen wir in die Weihnachtsburg ein. Der grosse mit Tannenreis ausgeschmueckte Saal der Weihnachtsburg fuellte sich mit Menschen; Braeutigam und Braut waren zunaechst nicht zu sehen. Nach etwa einer halben Stunde aber erschienen beide auf einer kleinen Empore. Sie hatten ihre hochzeitlichen Kleider abgetan und waren in phantastischen Kostuemen, er als Winterkoenig, sie als Koenigin. Regie Methusalem! Mit donnerstimmigem Heilruf wurde das Brautpaar begruesst. Holdselig laechelnd gruesste die Braut in den Saal; steif und ungelenk verneigte sich Stefenson. Er fuehlte sich als Winterkoenig sichtlich unbehaglich. Der Thron stand auf einer amphitheatralisch ansteigenden Buehne. Ich selbst war als "Kammerherr" neben Stefenson plaziert. Scheinwerfer warfen auf uns wechselnde Lichter. Atemlos stand das schlichte Bergvolk. Alle Maerchen- und Himmelstraeume schienen vor ihm erfuellt. Feierliche Weisen erklangen, und dann sprach nicht der Winterkoenig Stefenson, wie alle vermutet hatten, sondern Herr Methusalem sprach, der die Tracht eines mittelalterlichen Notarius angelegt hatte. Er entfaltete ein Pergament und verkuendete: "Edles Gefolge des Koenigs und der Frau Koenigin! Ich als Kanzellarius Seiner Majestaet Koenig Stefensons des Ganzgrossen und Hochdero majestaetischer Gemahlin Hanne der Einzigen verkuende, damit es maenniglich erfahre, feierlich, oeffentlich und unwiderruflich folgendes: Wir, Stefenson der Ganzgrosse und Hoechstmeine erlauchte Gemahlin Hanne, wollen, dass dieser glueckliche Tag ein Andenken hinterlasse. Darum machen wir fuer Waltersburg eine Stiftung von hunderttausend Mark mit der Bestimmung, dass alljaehrlich ein Drittel der Stiftungszinsen alten beduerftigen Eheleuten, ein zweites Drittel den Waltersburger Schulkindern zugute komme; das dritte und letzte Drittel aber ist zu Hochzeitsgeschenken fuer die in jedem Jahr Heiratenden bestimmt, von welcher Stiftung sich keines, auch nicht das wohlhabendste Brautpaar ausschliessen soll, auch wenn es nur ein Blumenstraeusschen annimmt; den aermeren aber soll ein guter Happen fuer den Nestbau gegeben werden." Eine brausende Welle des Beifalls donnerte durch den Saal. Ich sah verwundert auf Stefenson und fluesterte ihm zu: "Wissen Sie etwas von dieser Stiftung?" "Kein Wort! Der Kerl verschenkt mein Vermoegen." Mir wurde doch etwas schwuel. Oh, dieser Methusalem - dieser Regisseur! Methusalem fuhr fort: "Stefenson fragt nicht nach Ehre und Ruhm, nicht nach Beifall und Dank. Nur Liebe und Vertrauen will er. Auf diesem goldenen Untergrunde will er mit euch leben und schaffen fuer das Gedeihen seiner Gruendung, fuer den Ruhm Waltersburgs, fuer das Heil der Menschheit. Nun wisst ihr vielleicht alle, dass unter den vielen Geplagten, die in der harten Schule des Lebens muede und krank geworden, hier in dieses schoene Tal kommen, um Ferien zu machen, einer daherhumpelte, von langer, langer Reise, auf der er Arbeit und Muehe in ertraeglichem Masse, Verkennung und Not in Ueberfuelle, echtes Glueck und wahre Freude aber wenig fand. Dieses Mannes Leben war lang, er war Methusalem. Hier in Waltersburg aber fand Methusalem Freude und Friede. Methusalem ist der Leiter dieses Festes, Methusalem ist aller Weltweisheit und Welterfahrung voll, darum soll auch die Stiftung, die Stefenson heute macht, nicht Stefenson-Stiftung, sondern Methusalem-Stiftung heissen." Das Volk staunte. "Auch das noch!" sagte Stefenson neben mir. "Ja, es ist frech; ausser den fuenftausend Mark, die Methusalem neulich fuer Susannes Bild erhielt, hat er sicher nicht einen roten Heller. Und macht eine Methusalem-Stiftung von hunderttausend Mark!" Da erhob sich Stefenson zur Rede. Tiefe Stille. "Meine lieben Waltersburger, von allem, was Methusalem an meiner Statt hier gesagt hat, muss ich nur einem widersprechen, das betrifft die Stiftung." Bestuerzung. Schweigen. "Methusalem, mein bevollmaechtigter Hochzeitskanzler, hat sich in einem Irrtum befunden, den ich berichtige. Die Stiftungssumme betraegt naemlich nicht einhunderttausend Mark, sondern dreihunderttausend Mark!" Erst Stille. Dann knallartig losbrechender, rasender Tumult. Die Braut stand auf, der Braeutigam sprach auf sie ein, waehrend die Leute laermten; die Augen der glueckseligen Braut glaenzten, sie schmiegte sich fest an den Arm des starken Mannes. Methusalem stand mit eigentuemlichem, fast weinerlichem Laecheln daneben. Stefenson verschaffte sich wieder Gehoer. "Buerger von Waltersburg! Nur die Stiftungssumme hatte ich zu berichtigen, alles andere bleibt, wie es der weise Methusalem angeordnet hat, die Verteilung der Zinsen wie auch der Name: Methusalem-Stiftung." Da fing Methusalem, der durchtriebene Methusalem, der aussah, als sei er fuenfunddreissig Jahre, und doch nach seiner eigenen Angabe neunhundertneunundneunzig war, an richtig zu heulen. Und zwar nicht so wie ein tausendjaehriger Mummelgreis, sondern wie ein Mann der Dreissiger gelegentlich mal heult. ------------------------------------------------------- Nach meiner Mutter Haus hatte Methusalem, der Leiter des Festes, die Koffer des Brautpaares schaffen lassen. Dort kleidete sich das Paar, als sich der Trubel verlaufen hatte, zur Reise an. Dann fahren sie noch heute mit dem Nachtzuge davon. Wir waren in der Wohnstube der Mutter. Ein paar nahestehende Freunde waren da. Zum Abschied sagte Stefenson zu mir: "Es gibt kein besseres Band, das Freundschaft bindet, als das gemeinsame Schaffen an einem erfolgreichen Werke. So werden wir zwei immer gute Freunde sein. Wir wollen 'du' zueinander sagen wie Brueder!" Ich schlug in die dargereichte Hand. "Wann kommst du wieder?" "Ich weiss es noch nicht; ich weiss nicht, wie und wann ich drueben loskomme. Aber loskommen werde ich. Was ich dann tue, kann ich noch nicht sagen. Vielleicht tauchen eines Tages zwei Feriengaeste bei euch auf, irgendein Herr Schulze mit Frau, und vielleicht kommen dir diese Gaeste bekannt vor. Ich werde nie anders denn als Gast im Ferienheim einkehren; ich will diese meine Lieblingsschoepfung mir nicht zum Verwaltungsbezirke, nicht zum Arbeitsgebiete werden lassen, sondern hier soll mir eine Ferienzuflucht, eine glueckliche Heimat fuer immer bewahrt sein." Eva hoerte ihm zu und war ihm dankbar fuer diese Worte. O ja, diese beiden passten zu einer Ehe, der starke Mann und das schoene, froehliche Weib. "Du freilich, lieber Freund, du hast hier keine Ferien; du hast hier deine Arbeitsstaette. Und wenn du einmal ausspannen willst, dann kommst du zu uns, dann fahren wir mit dir, der dann der Stille entronnen ist, dorthin, wo die Welt laut und bunt ist. Dort machst du dann Ferien von deinem stillen Ich, und wenn du nach Hause zurueckkehrst, wird dir das alltaegliche Leben wieder schmackhaft sein." "Ja, so wollen wir es halten!" "Nun denn, so waeren wir wohl fuer diesmal hier fertig." Stefenson zog ein Notizbuch heraus und blaetterte darin. Sein Gesicht bekam wieder die alte Geschaeftsmiene. "Halt, da ist noch etwas zu erledigen. Ich habe mir mal als Knecht Ignaz von dem Schuhmacher Roehricht die Stiefel besohlen lassen. Er hat auf die Rechnung geschrieben: Sohlen und zwei Absaetze zwei Mark und fuenfundachtzig Pfennig, hat aber nur einen Absatz zu machen gehabt. Ich habe ihm daher fuenfundzwanzig Pfennig abziehen wollen, und wir haben so lange gestritten, bis ich inzwischen verhaftet wurde und dann alles das andere kam. So steht der Posten noch offen. Ich bitte, erledige das, lieber Freund! Aber nicht zwei Mark und fuenfundachtzig Pfennig, sondern nur zwei Mark und sechzig Pfennige, hoerst du wohl? Ein Knecht kann nicht fuenfundzwanzig Pfennig umsonst hergeben. Vergiss es nicht! Roehricht heisst der Mann, Hintermarkt 15, drei Stiegen." Ein vergnuegtes Lachen toente aus der Ecke von meiner Mutter Sofa. "Was lachen Sie denn, Piesecke?" "Ja, Pardon, Herr Stefenson, aber erst dreihunderttausend Mark verschenken und dann wegen fuenfundzwanzig Pfennig - so in der Abschiedsstunde - das - das ist - Pardon - merkwuerdig!" "Gar nicht merkwuerdig, lieber Piesecke. Weil ich immer die Rechnungen auf die Fuenfundzwanzig-Pfennig-Bilanz geprueft habe, kann ich mal gelegentlich dreihunderttausend Mark verschenken." "Sehr - sehr kaufmaennisch! Sehr lehrreich!" "Jawohl! Aber nicht fuer Sie! Fuer Sie waere das zu unfuerstlich." Wenig fehlte, so waeren auch in letzter Stunde die alten Gegner, der rechnende Kaufmann und der leichtfertige Fuerstensohn, noch aneinander geraten. Die dicke Susanne waelzte sich zwischen beide und loeschte mit einer Flut von Abschiedstraenen den entstehenden Brand. ------------------------------------------------------- Sie sind alle fort. In tiefer Stille liegt der Marktplatz. Ich oeffne das Fenster. Die Luft ist milder geworden. Am hocherhobenen Arm des heiligen Baptista haengt ein glitzernder schwerer Eiszapfen wie ein Schwert. Am Himmel stehen zwischen dem Gewoelk ein paar freundliche Sterne. Im Schneemantel schaut der Heilige herueber zu mir. Suchen seine Augen die kleine, feine Frau, die sonst so oft zu ihm hinuebertraeumte? Sie ist in weiter Ferne, bei dem, den ihre Sehnsucht suchte in all den alten Tagen. Das Haus ist leer. Ich sehe mich in der grossen Stube um, und es ist mir auf einmal bange zumute wie einem Kinde, das nach Hause gekommen ist, wenn Vater und Mutter nicht da sind. So schliesse ich das Fenster. Unschluessig bleibe ich noch ein Weilchen stehen, dann ziehe ich die Uhr auf, fuehle noch einmal an den Ofen. Endlich loesche ich die Lampe aus und tappe die Treppe hinab ... Ich habe jetzt grosse Ferien vom Ich. Mutter und Bruder sind fort, der Freund mit der Frau fort, die ich geliebt habe, auch Methusalem und die anderen lustigen Kaeuze verschwinden bald wieder. Ich stehe ganz frei und ganz allein auf dem Marktplatz von Waltersburg. Schliesslich ist der alte Baptista jetzt noch mein einziger, staendiger Freund hierzulande. Ob die anderen wiederkehren werden? Wer kann es wissen? Wie lange die stille Frau auf der Heimwehfluh sich noch ihres Kindes freuen wird, ein, zwei, drei Jahre ...? Ob dann, wenn sie Ferien macht fuer immer, die kleine Anneliese, die jetzt als Schullehrerin in einem verlassenen Gebirgsdorfe lebt, doch noch Joachims Frau werden und uebers Meer zu ihm ziehen wird? Und ob dann die Mutter heimkehren wird in ihre schoene alte Stube? Lauter Fragen ohne Antwort. Das Leben bringt nichts so leichthin zum Abschluss wie ein Theaterstueck oder ein Buch; es ist nie am Ende, es beginnt immer von neuem. So gehe ich von diesem Marktplatze hinweg, steige den Berg hinauf zu meinem Werk. Eine koestliche Siedlung ist da entstanden auf leeren Halden, im oeden Walde. Hundert Fenster blitzen in goldigem Lampenlicht, Singen und Lachen kommt aus den Bauernhoefen. Alle Leute, die mir begegnen, gruessen mich oder rufen mir freundlich zu. Hier bin ich nicht allein. Bei meiner Arbeit bin ich zu Hause. In der Wueste sah ich einmal einen Mann mit gefuellten Wasserschlaeuchen am Brunnen der Oase stehen, als sich unsere halbverschmachtete Karawane fiebergluehend auf sie zuschleppte. Da dachte ich, es muesse schoen sein, mit gefuellten Wasserschlaeuchen Verdurstenden entgegenzusehen. Ich will so sein wie jener Mann. Alle, die zu mir kommen von der heissen Strasse des Alltags, will ich laben aus dem kuehlen Brunnen, den ich grub. Dann wird es mir so gut ergehen, dass ich nichts anderes vom Leben mehr verlangen will; denn es ist die groesste Lust des Lebens, anderen die Last des Lebens zu erleichtern. BEMERKUNGEN ZUR TEXTGESTALT Das Inhaltsverzeichnis wurde von der letzten Seite an den Beginn versetzt. Die Originalausgabe ist in Fraktur gesetzt. Einzelne Woerter in Antiqua (bis auf den Titel "Dr." und roemische Zahlen) und gesperrte Woerter sind durch Unterstrich ("_") gekennzeichnet. Korrektur offensichtlicher Druckfehler: Seite 27: doppeltes "freue" entfernt. Seite 43: "Stefensohn" in "Stefenson" geaendert. Seite 75: fehlendes Anfuehrungszeichen ergaenzt (vor "Die Luise habe ich flottgemacht."). Seite 91: "mit" in "mir" geaendert. Seite 97: "philantropische" in "philanthropische" geaendert. Seite 101: fehlendes Anfuehrungszeichen ergaenzt (nach "des Magistrats von Waltersburg stellen") Seite 103: doppeltes "und" entfernt (vor "in einer glaenzenden Erfassung") Seite 118: fehlendes Anfuehrungszeichen ergaenzt (vor "Das haben"). Seite 128: "umqartieren" in "umquartieren" geaendert. Seite 145: fehlendes Anfuehrungszeichen ergaenzt (nach "bis um sieben.") Seite 164: "Xantippen" in "Xanthippen" geaendert. Seite 170: "reckt" in "reckte" geaendert. Seite 238: "Widersehen" in "Wiedersehen" geaendert. Seite 243: "Rauberhoehle" in "Raeuberhoehle" geaendert. Seite 244: "Apothese" in "Apotheose" und "den" in "der" (nach "Vertreter") geaendert. Seite 254: "ueberzeugenste" in "ueberzeugendste" geaendert. Seite 261: "Hentschel" in "Henschel" geaendert. Seite 309: fehlendes Anfuehrungszeichen ergaenzt (vor "Wieso Komoedie?") Seite 347: fehlendes Anfuehrungszeichen ergaenzt (nach "staerken wuerde.") Seite 377: "Lewinsohn" in "Levisohn" geaendert. Nicht korrigiert wurden Varianten wie "Chicago"/"Chikago", "debutieren"/"debuetieren", "Annelies"/"Anneliese" oder "anderen"/"andern". ***END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK FERIEN VOM ICH*** CREDITS May 23, 2009 Project Gutenberg TEI edition 1 Norbert H. Langkau, Stefan Cramme and the Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net A WORD FROM PROJECT GUTENBERG This file should be named 28938.txt or 28938.zip. This and all associated files of various formats will be found in: http://www.gutenberg.org/dirs/2/8/9/3/28938/ Updated editions will replace the previous one -- the old editions will be renamed. Creating the works from public domain print editions means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic works to protect the Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you do not charge anything for copies of this eBook, complying with the rules is very easy. 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By reading or using any part of this Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to and accept all the terms of this license and intellectual property (trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy all copies of Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic works in your possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project Gutenberg{~TRADE MARK SIGN~} electronic work and you do not agree to be bound by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8. 1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be used on or associated in any way with an electronic work by people who agree to be bound by the terms of this agreement. 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