Title: Sämtliche Werke 16: Das Gut Stepantschikowo und seine Bewohner
Author: Fyodor Dostoyevsky
Contributor: Dmitry Sergeyevich Merezhkovsky
Editor: Arthur Moeller van den Bruck
Translator: E. K. Rahsin
Release date: April 21, 2025 [eBook #75923]
Language: German
Original publication: Muenchen: Piper, 1920
Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net. This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.
F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke
Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski
herausgegeben von Moeller van den Bruck
Übertragen von E. K. Rahsin
Zweite Abteilung: Sechzehnter Band
F. M. Dostojewski
(Aufzeichnungen eines Unbekannten)
Humoristischer Roman
R. Piper & Co. Verlag, München, 1920
R. Piper & Co. Verlag, München, 1920
6. bis 10. Tausend
Copyright 1920 by R. Piper & Co., G. m. b. H.,
Verlag in München
Bayer. Hofbuchdruckerei Gebrüder Reichel, Augsburg.
Seite | |||
Humor in Rußland. Von Moeller van den Bruck | V | ||
Vorbemerkung. Von E. K. R. | XVI | ||
1. | Kapitel. | Stepantschikowo | 1 |
2. | „ | Herr Bachtschejeff | 37 |
3. | „ | Mein Onkel | 65 |
4. | „ | Beim Tee | 92 |
5. | „ | Jeshowikin | 111 |
6. | „ | Vom weißen Ochsen und der Kamarinskaja | 135 |
7. | „ | Foma Fomitsch | 148 |
8. | „ | Die Liebeserklärung | 176 |
9. | „ | „Ew. Exzellenz“ | 186 |
10. | „ | Misintschikoff | 211 |
11. | „ | Äußerste Verwunderungen | 236 |
12. | „ | Die Katastrophe | 259 |
13. | „ | Die Verfolgung | 270 |
14. | „ | Neuigkeiten | 296 |
15. | „ | Iljuschas Namenstag | 303 |
16. | „ | Die Vertreibung | 319 |
17. | „ | Foma Fomitsch als Schöpfer des allgemeinen Glücks | 338 |
18. | „ | Schluß | 367 |
Nachbemerkungen | 380 |
Der Humor ist früher als die Dichtung. Das Humoristische umgibt ein Volk mit einer zweiten Hautlichkeit, die schon lange an ihm bemerkt wird, bevor das Volk selbst sie bemerkt. Der Don Quichotte im Spanier war früher als die Figur, die Cervantes bildete. Das Figaronaturell der Franzosen saß ihnen schon vor der Revolution im Beaumarchaistemperament. Mit Eulenspiegeleien und Münchhausiaden, mit Streichen und Abenteuern in Sagen und Anekdoten, entschädigten die Deutschen sich für ihre verlorene Wirklichkeit, ehe ihnen Jean Paul mit der Laterne des gravitätischen Kleinstädters den Nachthimmel einer kosmischen Komik entzündete, in der Endlichkeit und Unendlichkeit durcheinanderrannen. Ebenso fand der Humor in der russischen Dichtung seine Probleme bereits im russischen Leben vor: in jener grotesken Unvereinbarkeit eines asiatischen und eines europäischen Daseins, die durch die petrinische Kultur von Staats wegen überwunden werden sollte, während sie gerade von dieser Kultur geschaffen wurde, und die nun aus dem einzelnen Massen, der von Hause aus ganz Natur war, durch Dressur eine Karikatur machte, deren Widersprüche sich nicht auf das Kostüm beschränkten, sondern in der Seele fortsetzten.
Es war ein Humor, der zunächst in der Wirkung auf uns liegt. Peter der Große selbst ist als Gestalt der Geschichte von dieser Wirkung nicht frei. Schon seine große Reise ins Ausland, die Rußland in Europa berüchtigt machte, hatte die bekannten komischen schahhaften Züge. Und wenn er dann später seinen Russen die Bärte scheren ließ, wenn er nur rasierten Adel an seinem europäisierten Hofe duldete, andererseits aber sich als russischer Selbstherrscher nicht scheute, nach gewonnener Schlacht aus Freude über den Sieg seinen Soldaten im Lager höchsteigenbeinig einen Kasatschak vorzutanzen, dann waren dies Gegensätze, deren Humor in ihrer Naivität lag. Aber schon ein Menschenalter nach Peter wurde dieser Humor zum Symbol in einem Manne, der nicht mehr den Ernst Peters besaß, der die Pioniertradition, die Peter für Rußland hatte schaffen wollen, durch eine Scharlatantradition unterbrach und den Russen das Beispiel eines Schwindels hinterließ, der sich in öffentlichen Angelegenheiten an alles Russische heftete und bei dem Rußland sich immer am wohlsten fühlte. Der Mann war Potemkin.
Auch Potemkin hat eine Reise berühmt gemacht. Aber schon dadurch unterschied sich die Reise der Katharina von derjenigen Peters, daß Peter nach Europa ging, um zu lernen, Nützliches zu sehen, Erfahrungen heimzubringen, Katharina dagegen nach dem Neurußland ihres Potemkin nur gefahren zu sein scheint, um dem Günstling und Liebhaber die Gelegenheit zu dem großen Betruge zu geben, der seinen Namen mit allem russischen und menschlichen Scheinwesen dauernd verbinden sollte. Die Kulissen, mit denen Potemkin damals seiner Kaiserin ein reichbesiedeltes wohlhabendes glückliches Land vortäuschte, sind in Rußland nie gefallen. Ganze Gouvernemente wurden zu den Blendzwecken dieser Reise entvölkert. Bauern, Herden, Mensch und Vieh wurden an die Fahrstraße getrieben, über die der Reisezug kommen sollte. Höchste Zufriedenheit der Kaiserin war der Lohn für Potemkin. Tiefstes Elend der Bevölkerung war die Folge für seine Provinz. Doch dies war immer gleichgültig in Rußland. Am wohlsten fühlte Potemkin sich später als Satrap der Krim, in fanariotischen Launen und bei echtrussischer Unmäßigkeit, im Kreise von Mätressen und Musikanten, Schauspielern und Ballettänzern, und bei Gelagen, wo man ihn, den ordengeschmückten Mann, wie ein französischer Bericht der Zeit über ihn erzählt, nacheinander einen Schinken, eine gesulzte Gans und drei Hühner, dazu durcheinander Met, Kwas und allerlei Wein vertilgen sehen konnte. Und doch war auch dieser slawische Gargantua nicht ohne die grübelnden und unberechenbaren Anwandlungen des echten Russen, war bei aller fetten Gewöhnlichkeit ein sehr zusammengesetzter Mensch. Wie ein orientalischer Großkönig konnte er fragen: Wer ist glücklicher als ich? Aber wie ein dekadenter Bojar erhob er sich gleich darauf, nahm ein köstliches Porzellan in die Hand, sah es hamletisch an und – warf es in Scherben, um eilends davonzugehen und für Stunden sich einzuschließen. Sein Hirn war unzufrieden vor Plänen, die sich nicht verwirklichen ließen. Er selbst war, ewig genießend zwar, aber auch ewig unternehmend. Als dann die politische Not herandrängte, wurde er freilich sehr klein. Im Türkenkriege wollte er die eben eroberte Krim gleich wieder herausgeben. Und während der Schlacht sah man ihn zagend und jammernd auf dem Erdboden hocken. König von Dakien ist er nie geworden. Er starb banal, an einem Schlagflusse.
Potemkins Seele jedoch flog über dieses ganze russische Volk, und als Gogols Held auf einer dritten russischen Reise, die in der Welt berühmt geworden ist, durch das weite Land fuhr, um tote Seelen zu kaufen, da stieß er überall auf Potemkin. Käufer und Verkäufer, Schwindler und Beschwindelte, Ausbeuter und Ausgebeutete: sie alle waren Potemkin. „Es gibt Menschen,“ sagt Gogol einmal, „die auf der Welt nicht als eigene Wesen vorhanden zu sein scheinen, sondern als Pünktchen oder Fleckchen auf anderen Wesen.“ Alle Russen, denen Gogol auf seiner Reise begegnete, alle die Büttel und Beamte der Autokratie und Bürokratie, alle die Verdorbenen durch Korruption, durch Betrügen und Betrogenwerden, schienen aus dem einen großen Kadaver Potemkins hervorgekrochen zu sein und sich wie Pünktchen und Fleckchen, die in jedes russische Dorf, in jede russische Kreisstadt getupft waren, über Rußland zu verstreuen. Ganz Rußland bekam Potemkincharakter. Und auch die russische Dichtung, der Humor, mit dem in ihr Rußland sich selbst erkannte, bekam diesen Potemkincharakter.
Puschkin besang freilich den Helden, den ritterlichen Jüngling. Doch Gogol meinte, daß es ein Gelächter gebe, welches sich würdig mit den höheren, den lyrischen Regungen des Menschen vergleichen lasse und weit entfernt von den Sprüngen eines gewöhnlichen Lustigmachers sei. Er fand es billig, Freskocharaktere und Romanzeronaturelle zu skizzieren, Heroen mit flammenden Augen, hängenden Brauen, einer gefurchten Stirn und einem über die Schulter geworfenen Mantel. Deshalb wählte er das Alltägliche, an dem ein gleichgültiger Blick vorüberzuschauen pflegt, und suchte es mit seinen feinen und verborgenen, fast unsichtbaren und doch so eigentümlichen Zügen zu erfassen. Er tat es gleichwohl mit Drastik, mit einer Bildkraft, die so sicher wie neu war, mit einer Handschrift, die das russische Land, in dem alles in größerem Maßstabe erscheint, die Wälder und Steppen wie die Gesichter, Lippen und Füße, in einem breiten und weiträumigen und doch wieder dichten und menschenerfüllten Bilderbogen zusammenfaßte, volklich, holzschnitthaft und handbemalt. Er sagte einmal: „Es gibt bekanntlich Gesichter, deren Verfertigung der Natur nicht viel Kopfzerbrechen gekostet und zu denen sie gar keine feineren Instrumente, als da sind Feilen, Bohrer und Zangen, gebraucht zu haben scheint, Gesichter vielmehr, die wie mit der Axt gehauen sind, so daß auf einen Schlag vielleicht die Nase entstand, auf einen anderen das Auge, der Mund usw.; ohne Hobel anzulegen, schickte die Natur sie dann in die Welt, indem sie ausrief: Gehet hin und lebt!“ Gogol tat wie die Natur, solange es den Umriß galt, aber er gebrauchte gar viele Feilen, Bohrer und Zangen, sobald er das Allzumenschliche hineinkerbte. Er hatte wohl die Mitleidlosigkeit, russische Bauern wie Klötze hinzustellen, mit Köpfen wie Brote, mit Bärten wie Holzkeile, oder auch die Liebenswürdigkeit, einmal ein slawisches Mädchenoval mit einem frischen Ei zu vergleichen, dessen durchsichtige Weiße die sorgfältige Wirtschafterin durch das Sonnenlicht betrachtet. Aber sein größerer Vorwurf war die russische Provinzgesellschaft potemkinischer Herkunft mit ihren zweifelhaften Zwischengestalten, die in unzähligen Exemplaren vorkommen und von denen eine jede ein Original ist. Hier verband sich im Leben die Einfalt mit der Geriebenheit. Und hier gehörte in der Dichtung zur Kontur die Nuance.
Um die russische Erbsünde am russischen Menschen zu strafen, wählte Gogol keinen Tugendhelden, sondern einen Spitzbuben. Er umgab ihn mit seinesgleichen und belebte den patriarchalischen Hintergrund Rußlands mit den fatalen Gestalten seines Realismus. Gogols Kenntnis des russischen Menschen wurde zur Erkenntnis des russischen Schicksals. Er sprach von den Eigenschaften der Rasse, sprach von seinen Landsleuten, die nie etwas erreichen, weil sie schon gleich, wenn sie anfangen, völlig befriedigt sind und daher alles getan glauben und sich fürder gehen lassen. Er sprach auch davon, daß der russische Erfindungsgeist, mochte innerlich jeder Russe noch so „nach Fortschritt lechzen“, immer nur durch Druck zur Tätigkeit angetrieben werden könne. Er machte sich lustig über die Reformer aller Art, zeigte in dem Versuch jeder Ordnung das Verhängnis ewiger Unordnung auf und gab an einer grimmigen Stelle in den „Toten Seelen“, an der er ein russisches Landgut schilderte, das nur aus Büros und Ressorts, Zentralen und Filialen, Plakaten und Avisen bestand, die Karikatur aller Organisationsversuche in Rußland. Den Grund dieser Leidigkeit aber fand er dort, wo der Russe die Ordnung und die Organisation, die das Gegenteil des Chaos sind, das er in sich trägt, in der Vollendung suchen zu können glaubt: in den Einflüssen des Westlertums, Europas. Er fragte, ob es nicht ärgerlich sei, so sehen zu müssen, wie der Charakter des Russen durch Bildung verstümmelt werde: „denn die sogenannte Humanität erzeugt, wenn sie zur Manie wird, doch nur Don Quichotte“. Organisiert erschien in Rußland lediglich die Korruption: sie ist die Gesamtfunktion des Staates, wie sie das Lebensmotiv des Einzelnen ist. Gogols letzter menschlicher Rat für Rußland war ein Lob des Landlebens, als der letzten Stätte russischer und menschlicher Reinheit: dort, auf dem Lande „gibt es im Leben des Menschen keinen leeren Raum, dort geht der Mensch eins und einig mit der Natur, mit den Jahreszeiten, und nimmt Anteil an allem, was sich in der Schöpfung vollzieht“. Sein letztes geistiges Wort an Rußland aber war ein Gebet zu Gott: „ergreift irgendeine Beschäftigung, ergreift sie so, als ob ihr das, was ihr tut, für Ihn und nicht für die Menschen tätet!“
Dostojewskis erstes und letztes Wort war dagegen der Mensch, war Gott um des Menschen willen, Gott und Mensch in Verbundenheit. Das unterscheidet ihn von Gogol, mit dem er als Russe den Konservativismus, das Leben aus der Urzelle teilte, und als Dichter das Problem Rußlands, die Korruption im Russentume, die Korrumpierung des russischen Menschen durch Bildung, durch Westlertum, durch das petrinische Phantom. Von der tragischen Schuld, die der Russe damit für Rußland auf sich geladen hatte, befreite er ihn in seinen großen Romanen, in der apokalyptischen Epik, die sich in den „Brüdern Karamasoff“ zum Berg der Läuterung türmte. Ein Inferno, eine Messe des schwarzen Terror, machte er daraus in den „Dämonen“, in denen der Politiker Dostojewski, der immer gegen das Zeitliche das Ewige setzte, die revolutionäre Ideologie in ihrer ethischen Untiefe und metaphysischen Verworrenheit bloßstellte. Und eine Groteske machte er daraus in einer so bizarren Erzählung wie dem „Gut Stepantschikowo“, in dem der Ironiker Dostojewski die russische Bildung, Unbildung, Halbbildung gleich einem Teufel austrieb.
Gogol blieb unversöhnt und unversöhnlich. Sein Lachen war wohl voll Verliebtheit in den Gegenstand, aber blieb voll Bitterkeit zum Leben, blieb, wie es boshaft war, böse zu den Menschen. Dostojewski dagegen legte in seinen Humor seine Liebe zu den Menschen, zu den Russen und Rußland. Der Humor war für ihn ein Mittler, um diese russischen Menschen, die im Leben vielleicht hassenswert genug erschienen, wieder liebenswert in der Dichtung zu machen. Die Komik hängte er ihnen nicht an, gleich einer Schelle, die immer und überall den Narren verrät, wie Gogol tat. Die Komik legte er in die Menschen nur hinein, als eine Versöhnung mit ihnen in jeder Lage, in die das Leben sie bringt. Gogol war mitleidlos, der unbarmherzige Charakterologe, der die Menschen in Typen hinstellt, und einem jeden, wie mit einem Zettel, einer Marke, einer Nummer, die er ihnen anheftet, seinen Steckbrief mitgibt. Der Psychologe Dostojewski dagegen löste noch eine Hülle mehr von den Menschen und legte ihre Seele bloß, die den Körper belebt, und selbst den Kadaver belebte, auch wenn er sie verdeckte.
Sogar der ewige Potemkin im russischen Leben war für ihn nicht nur Figur, sondern Mensch. Er kannte diesen Menschen mit allen seinen Schwachheiten, seinen sprunghaften europäischen Anstrengungen, seinen ewigen russischen Unzulänglichkeiten. Er sagte einmal: „Für mich ist die höchste Komik – eine Tätigkeit, die niemandem nützt.“ Das war russisch, das war in Rußland beobachtet, wo die einzige bemerkenswerte Tätigkeit seit langem die bürokratische des Staates und die dilettantische einer Bildung waren, die beide diesen russischen Menschen nur verdarben, der vor allem auf sich selbst beruhen will. Aber die Gestalt, die Dostojewski dann aus diesen verdorbenen russischen Menschen machte, aus den schuldigen und den unschuldigen, war die Gestalt der Güte, die er zu ihnen empfand. Er hetzte dazu die Menschen durch alle ihre Menschlichkeiten, aber er hetzte sie nur so lange, bis er sie dort hatte, wo er sie haben wollte, wo er ihre Komik herausbekam, und er sie durch ihre Menschlichkeit rechtfertigen konnte. Dostojewski kannte diesen Weg zum Humor, der auch noch immer schmerzlich ist, und dennoch erlösend für den, der den Humor besitzt, wie für den, den er betrifft: „Humor,“ sagte er ein anderes Mal, „ist die Spitzfindigkeit eines tiefen Gefühls.“
Hinter diesem Gefühl lag bei ihm der Glaube an Rußland, an die Kraft, Jugend und Urgesundheit des russischen Volkes, das unzerstörbar ist und alle Potemkinaden der Aufklärung, der bürokratischen wie der literarisch-westlerischen, in innerer Unversehrtheit überdauert. Auch sein Humor war eine Form seiner russischen Religiosität. Im Humor der Völker mischen sich immer ein Menschliches und ein Seeliges, ein Empirisches und ein Transzendentes. Humor ist von jener Welt und äußert sich doch in dieser. Eine Liebe fällt aus dem Himmel auf die Erde, ein Lachen auf das Leid. Ja, so tief im Seelischen, in der Herzlichkeit der Dinge, die sind, und des Menschen, der sie anschaut, ist der Humor der Russen verwurzelt, daß er selbst dort, wo er zur Satire wird, sich zu entschuldigen und mit allem, was Anlaß zur Satire gibt, zu versöhnen sucht. Was dieser Humor gibt, mittelbar bei Gogol, unmittelbar bei Dostojewski, das ist in der Form einer großen Versöhnung mit Rußland eine große Entschuldigung Rußlands. Auch Dostojewski, der große Leidende für den russischen Menschen in jedwedem Menschen, nahm nur die Überlieferung auf, die sich fast von den Reformen Peters an durch die Literatur Rußlands gezogen hatte. Damals war zum ersten Male die Schicksalsfrage des Russentums gestellt worden: Europäertum oder Asiatentum? Fremdkultur oder Eigenkultur? oder, wie sie später formuliert wurde, Anschluß an die Partei der Westler? oder an die der Slawophilen? Und nicht müde war man von da an geworden, von Kantemir bis Vonwisin und Gribojedoff, den Konflikt in dieser Frage in Satiren auszutragen. Dann wurde die Korruption das tragikomische Thema Gogols, des „Revisors“ und der „toten Seelen“. Die Korruption war das moralische Nebenproblem des geistigen Grundproblems: wie kommt Rußland wieder zu sich selbst, auf daß es von sich selbst erlöst werde? Diese Frage wurde das zentrale Lebensproblem, das Dostojewski in Rußland vorfand und das über die russische Gesellschaft hinaus den russischen Menschen anging. Um dieses Problemes willen zog Dostojewski aus, um lebende Seelen zu kaufen. Und niemals wurde es ihm klarer als damals, da er aus Sibirien heimkehrte, aus der Einsamkeit in die Gesellschaft zurücktrat. Da sah er seines Volkes große und kleine Laster, sah seine Häßlichkeiten, und in den Häßlichkeiten seine geheime Schönheit, aber auch seine offenbare Lächerlichkeit. Er, der ein Dichter war, weil er ein Dulder war, durchschaute mit einem Male die Halben und Leeren, die wandelnden Karikaturen der Literatur und der Politik, die Poeten und Nihilisten, die Emanzipierten und Bildungsphilister. Er wurde nicht wahnsinnig über dieser verrückten Welt, wie Gogol über seiner verdorbenen geworden war. Er fand in der Tragik die Schuld, und im Humor immer noch die Entschuldigung der Menschen: Rußlands.
M. v. d. B.
Die satirisch-humoristischen Dichtungen Dostojewskis: „Das Gut Stepantschikowo“ und „Onkelchens Traum“, sind die ersten, die er nach seiner Rückkehr aus Sibirien in den Jahren 1858 und 1859 geschrieben, bzw. vollendet hat.
E. K. R.
Mein Onkel, der Oberst Jegor Iljitsch Rostaneff, war, nachdem er seinen Abschied genommen, auf das ihm durch Erbschaft zugefallene Gut Stepantschikowo übergesiedelt und hatte sich daselbst alsbald in einer Weise eingelebt, daß man ihn für einen eingefleischten, einen geborenen Gutsherrn hätte halten und von ihm denken können, er sei in seinem ganzen Leben noch nie über die Grenze seines Besitztums hinausgekommen.
Es gibt Naturen, die tatsächlich mit allem zufrieden sind und sich an alles gewöhnen können. Von dieser Art war entschieden auch die Natur meines Onkels, des Obersten a. D. Es ist schwer, sich einen Menschen vorzustellen, der sanftmütiger und widerspruchsloser zu allem und jedem bereit gewesen wäre als er. Hätte jemand den Einfall gehabt, ihn etwa mit ernstestem Gesicht zu bitten, irgendeinen ihm ganz fremden Menschen zwei Werst weit auf seinen Schultern zu tragen, so würde er es wahrscheinlich auch getan haben. Er war dermaßen gut, daß er am liebsten gleich alles, was er besaß, auf die erste Bitte hin fortgegeben hätte – sein letztes Hemd dem ersten besten Bettler. Sein Äußeres war reckenhaft: er hatte eine hohe, straffe Gestalt, ein frisches Gesicht, wie Elfenbein weiße Zähne, einen langen, dunkelblonden Schnurrbart, eine klangvolle, laute Stimme und ein offenherziges, tiefklingendes Lachen. Er sprach schnell und in abgerissenen Sätzen. Damals, als er nach Stepantschikowo zog, war er noch nicht vierzig Jahre alt. Von seiner Geburt oder vielmehr von seinem sechzehnten Lebensjahre an war er Husar gewesen. Geheiratet hatte er sehr früh, hatte seine Frau abgöttisch geliebt, sie aber schon bald verloren. Eine unauslöschliche, tief zärtliche Erinnerung an sie bewahrte er in seinem Herzen. Als ihm dann eines Tages das Gut Stepantschikowo, das seinen Besitz um sechshundert Seelen vergrößerte, durch Erbschaft zugefallen war, da hatte er den Abschied genommen und sich, wie gesagt, auf dem Lande niedergelassen, zusammen mit seinen beiden Kindern: dem achtjährigen Iljuscha – dessen Geburt der Mutter das Leben gekostet hatte – und der älteren, etwa fünfzehnjährigen Tochter Alexandra, genannt Ssaschenjka oder auch Ssaschúrka, die nach dem Tode der Mutter in einer vornehmen Moskauer Pension erzogen worden war.
Leider nahm das Haus meines Onkels alsbald das Aussehen einer Arche Noah an, und das ging auf folgende Weise vor sich.
Zur selben Zeit, als mein Onkel das Gut erbte und seinen Abschied nahm, geschah es, daß seine Mutter, die Generalin Krachotkina, ihren zweiten Mann verlor. Sie hatte nämlich zum zweitenmal geheiratet – vor etwa sechzehn, siebzehn Jahren, als mein Onkel noch als Fähnrich in seinem Regiment stand, sich aber nichtsdestoweniger auch seinerseits bereits mit Heiratsgedanken trug. Seine „Mama“ hatte ihm damals lange ihren Segen zur Heirat vorenthalten, dafür aber mit bitteren Tränen nicht gekargt, ihm Eigennutz vorgeworfen, Undankbarkeit, Unehrerbietung ... Sie hatte ihm nachgewiesen, daß heißt, mehrfach auseinandergesetzt, daß seine Einkünfte – er besaß zweihundertundfünfzig Seelen – nicht einmal zum Unterhalt seiner „Familie“ ausreichten (zum Unterhalt seiner „Mama“ nämlich, mit deren ganzem Stabe von guten Freundinnen, die unentgeltlich bei ihr lebten, ihren Möpsen, Spitzen, chinesischen Katzen und ähnlichem Gezeug in Mengen), bis sie dann plötzlich, inmitten dieser Vorwürfe, Auseinandersetzungen und Tränen, ganz unerwartet, noch bevor der Sohn dazu gekommen war, selbst heiratete, – obgleich sie nicht weniger als zweiundvierzig Jahre zählte. Übrigens fand sie auch hierfür eine Erklärung, die selbstredend die Schuld meinem armen Onkel in die Schuhe schob: sie versicherte unter Tränen, daß sie einzig aus dem Grunde heirate, um in ihren alten Tagen eine Unterkunft zu haben; denn ihr unehrerbietiger, selbstsüchtiger Herr Sohn wolle sie ja für künftighin ihres Obdaches berauben, jetzt, da er die unverzeihliche „Eigenmächtigkeit“ habe, sich einen „eigenen Hausstand“ zu gründen.
Leider habe ich nie in Erfahrung bringen können, welcher entscheidende Grund einen anscheinend so vernünftigen Menschen wie den General Krachotkin zu dieser Heirat mit der zweiundvierzigjährigen Witwe bewogen hatte. So muß ich denn als einzige Wahrscheinlichkeit annehmen, daß er sie wohl für reich gehalten haben wird. Manche Leute meinten zwar, er hätte einfach einer Wärterin bedurft, da er schon damals jenen Schwarm von Krankheiten vorausgeahnt habe, der sich dann im Alter auch richtig auf ihn niederließ. Sicher ist nur eines: daß der General seine Frau während der ganzen Zeit seines Zusammenlebens mit ihr nichts weniger als geachtet oder gar geliebt, sondern sich bei jeder Gelegenheit mit beißendem Spott über sie lustig gemacht hat.
Er war ein eigentümlicher Mensch: war halbgebildet und durchaus nicht dumm, aber er verachtete entschieden alle und jeden, befolgte keinerlei Regeln, spottete über sämtliche Lebenserscheinungen, angefangen beim Menschen und so weiter bis ins Endlose, und wurde in seinen alten Tagen unter dem Einfluß all seiner Krankheiten – die eine gerechte Folge seines nicht ganz gerechten oder rechtschaffenen Lebens waren – böse, boshaft, reizbar und unbarmherzig. Im Dienst hatte er Glück gehabt; aber zu guter Letzt war er doch gezwungen gewesen, wegen irgendeiner „unangenehmen Geschichte“ etwas plötzlich seinen Abschied zu nehmen, wobei er nur mit genauer Not dem entging, daß man ihn vor ein Kriegsgericht stellte und um seine Pension brachte. Dieser Abschied erbitterte ihn endgültig. Und so legte er denn, fast mittellos, nur im Besitze eines Hunderts im Elend lebender Leibeigener, die Hände in den Schoß und erkundigte sich hinfort bis an das Ende seiner Tage, das noch zwölf Jahre auf sich warten ließ, kein einziges Mal weder nach den Kosten seines Unterhalts, noch danach, wer sie für ihn bestritt. Indessen schränkte er sich nicht im mindesten ein, hielt eine Equipage, Pferde und einen Kutscher und verlangte nach wie vor alle Lebensbequemlichkeiten. Bald darauf ward er noch des Gebrauches seiner Beine beraubt und saß zehn Jahre lang in einem triumphstuhlartigen Fauteuil, der, sobald er es nur wünschte, von zwei dazu bestimmten Dienern geschaukelt wurde, wofür diese ausschließlich die verschiedenartigsten Schimpfwörter von ihm zu hören bekamen. Die Equipage, die Pferde und den kostspieligen Fauteuil bezahlte sämtlich der unehrerbietige Herr Stiefsohn, der seiner Mutter das Letzte schickte, sein Gut doppelt und dreifach belastete, sich selbst das Notwendigste versagte und Schulden über Schulden auf sein armes Haupt lud, die er bei seinem damaligen Besitzstand nie zu tilgen vermocht hätte. Nichtsdestoweniger verblieb ihm unwandelbar die Bezeichnung des „Egoisten“ und „undankbaren Sohnes“. Mein Onkel war aber von Natur so veranlagt, daß er schließlich selbst glaubte, ein „Egoist“ zu sein, und so schickte er, erstens um sich dafür zu strafen, und zweitens, um sich den „Egoismus“ abzugewöhnen, immer noch mehr Geld. Die Generalin dagegen war vor ihrem zweiten Gatten die Andacht selbst. Wahrscheinlich gefiel ihr an ihm vor allem dies, daß der General und sie folglich Generalin war.
Im Hause bewohnte er die eine, sie die andere Hälfte. Und in dieser anderen Hälfte gedieh sie während der ganzen Zeit des halblebendigen Lebens ihres Mannes im Kreise von ihren daselbst wohnenden Freundinnen, Möpsen und den zum Kaffee sich einfindenden Stadthistorikerinnen. Sie war eine wichtige Persönlichkeit in ihrem Städtchen. Der Klatsch, die ergebensten Bitten, Kinder aus der Taufe zu heben, sowie die geliebte Kopekenpatience entschädigten sie vollauf für ihre häuslichen Unannehmlichkeiten. Alle Stadtelstern erschienen bei ihr mit ausgearbeiteten Berichten, ihr wurde überall der erste Platz eingeräumt, – mit einem Wort, sie wußte aus ihrem Generalstitel alles herauszuschlagen, was daraus nur herauszuschlagen war. Der General kümmerte sich um so etwas nicht. Dafür aber verspottete er seine Frau, und zwar mit Vorliebe in Gegenwart Fremder, fragte zum Beispiel ungeniert, weshalb er eigentlich „ein solches Weibsbild“ geheiratet habe – und niemand durfte dagegen Einspruch erheben. Mit der Zeit zogen sich alle Bekannten von ihm zurück, während gerade er ohne Gesellschaft nicht auskommen konnte: denn er wollte erzählen, schwatzen, streiten; kurz, er wollte, daß beständig ein Zuhörer vor ihm saß. Er war ein Freigeist und Atheist vom alten Schlage, und daher philosophierte er gern über höhere Dinge. Zum Unglück waren aber die Zuhörer des Städtchens nicht sehr begeistert für höhere Dinge, und so kamen sie immer seltener zu ihm. Dann versuchte man es mit einem Whist- oder Préférenceabend, aber auch daraus wurde nichts: das Spiel endete für den General gewöhnlich mit solchen Wutanfällen, daß die Generalin und ihr ganzer Stab von Freundinnen vor lauter Entsetzen vor den Heiligen Wachskerzen anzündeten, Messen lesen ließen, sich mit weißen Bohnen und französischen Karten im Wahrsagen übten, barmherzige Semmeln im Gefängnis austeilten und mit Hangen und Bangen der Stunde entgegensahen, in der sie wieder eine Partie Whist oder Préférence zustande bringen mußten, um für das geringste Versehen abermals Geschrei, Geschimpfe und fast sogar Prügel zum Dank zu erhalten. Wenn dem General etwas mißfiel, so tat er sich vor keinem einzigen Menschen Zwang an: er kreischte dann wie ein altes Weib, schimpfte wie ein Droschkenkutscher; zuweilen aber, wenn er alle seine Partner zum Teufel gejagt, die Karten zerrissen und ihnen an den Kopf geworfen hatte, weinte er vor Verdruß und Wut, was alles nur wegen eines armen Buben geschah, den man statt einer Neun ausgespielt hatte. Schließlich, als seine Sehkraft immer mehr abnahm, bedurfte er eines Vorlesers. Und da erschien denn Foma Fomitsch Opiskin!
Ich muß gestehen, daß ich mich mit einer gewissen Feierlichkeit anschicke, von dieser neuen Persönlichkeit zu berichten – einer der wichtigsten meiner Erzählung. Inwieweit er ein Recht auf die Aufmerksamkeit des Lesers hat, will ich nicht im voraus zu erklären versuchen; darüber zu entscheiden steht vielmehr weiterhin dem Leser selbst zu.
Als Foma Fomitsch sein Amt beim General Krachotkin antrat, erhielt er lediglich freie Kost – nichts mehr und nichts weniger. Woher er kam – ist unbekannt. Ich habe mich vergeblich bemüht, etwas Genaueres über das früheres Leben dieses merkwürdigen Menschen in Erfahrung zu bringen. Es hieß, daß er irgendeinmal irgendwo Beamter gewesen sei, daß man ihm dann ein „Unrecht“ getan und er – selbstverständlich! – „um der Wahrheit willen“ zum Märtyrer geworden sei. Auch verlautete von anderer Seite, daß er sich einmal in Moskau mit Literatur abgegeben habe, was ja weiter nicht erstaunlich gewesen wäre; die geradezu schmutzige Unwissenheit Foma Fomitschs konnte für seine literarische Laufbahn gewiß nicht als Hindernis in Frage kommen. Glaubwürdig ist jedoch fraglos nur das eine: daß er es in keinem Fach sehr weit gebracht hatte und schließlich gezwungen gewesen war, als Vorleser in den Dienst des Generals zu treten.
Es gibt keine Erniedrigung, die Foma nicht für einen satten Magen in den Kauf genommen hätte. Freilich versicherte er uns nach dem Tode seines Peinigers, als er plötzlich und ganz unerwartet zu einer wichtigen, überaus einflußreichen Person wurde, daß er sich mit seiner Bereitwilligkeit, den Narren zu spielen, nur großmütig dem Freunde, der Freundschaft geopfert habe, daß der General sein Wohltäter und ein großer, doch leider unverstandener Mann gewesen sei und nur ihm, Foma, die tiefsten Tiefen seiner Seele vertrauensvoll erschlossen habe, und wenn er, Foma, auf den Wunsch des Generals die verschiedensten Tiere nachgeahmt und lebende Bilder gestellt, so sei dieses von ihm aus einzig und allein zur Zerstreuung und Erheiterung des von Krankheiten aller Art heimgesuchten Dulders und Freundes geschehen. Nichtsdestoweniger sind die Versicherungen und nachträglichen Erklärungen Foma Fomitschs bezüglich jenes Sachverhaltes unbedingtem Zweifel unterworfen. Doch wie dem auch sei, jedenfalls spielte Foma Fomitsch bereits während seines Narrendienstes eine durchaus andere Rolle in der Damenabteilung des Hauses der Generalin. Wie er das fertiggebracht hat, kann sich jemand, der in solchen Dingen nicht Spezialist ist, schwer vorstellen. Die Generalin hegte für ihn eine gerader mystische Hochachtung, – aus welchem Grunde sie sie hegte, vermag ich nicht zu sagen. Mit der Zeit gewann er über alles Weibliche im Hause eine erstaunliche Macht, die in etwas an die Macht gewisser Iwan Jakowlewitschs erinnerte, oder ähnlich benannter Weisen und Propheten, die in Irrenhäusern von Damen, die für dergleichen empfänglich sind, besucht zu werden pflegen. Er las ihnen aus seelenrettenden Büchern vor, erklärte ihnen mit beredten Tränen den tieferen Sinn verschiedener christlicher Tugenden, schilderte auch sein eigenes Leben und seine Heldentaten, ging zum Gottesdienst (und sogar zum Frühgottesdienst), sagte außerdem die Zukunft voraus, verstand mit ganz besonderem Talent Träume zu deuten und meisterhaft den Nächsten zu verdammen. Der General ahnte bald, was in der anderen Hälfte seines Hauses geschah, und tyrannisierte seinen Krippenreiter noch erbarmungsloser. Doch siehe, das Martyrium Foma Fomitschs verlieh diesem in den Augen der Generalin und ihrer ganzen Suite eine um so glänzendere Aureole, an die sich natürlich entsprechend gesteigerte Hochachtung knüpfte.
Da starb der General, und die Situation änderte sich. Seine Sterbestunde soll übrigens ziemlich originell gewesen sein. Dem ehemaligen Freigeist und Atheisten war bis zur Unglaublichkeit bange geworden. Er weinte, bereute, küßte Heiligenbilder, rief Geistliche herbei, ließ Messen lesen und alle für sich beten; dazwischen schrie der arme Teufel, daß er nicht sterben wolle, und bat Foma Fomitsch unter Tränen um Verzeihung, was diesem in der Folge sehr zustatten kam. Doch kurz bevor sich die Seele des Generals von seinem Körper trennte, geschah noch folgendes: Die Tochter der Generalin, meine Tante Praskowja Iljinitschna, die unverheiratet im Hause ihrer Mutter lebte – eines der liebsten Opfer des Generals, da sie ihm während seiner zehnjährigen Beinlosigkeit zur beständigen Bedienung unentbehrlich war und ihm wegen ihrer Einfachheit und stummen Güte gefiel, – trat nun an sein Lager, bittere Tränen vergießend, um das Kopfkissen des armen Sterbenden zu rücken. Da aber packte sie der „arme Sterbende“ an den Haaren, und es gelang ihm noch, sie ungefähr dreimal, fast knirschend vor Wut, mit aller und letzter Kraft hin und her zu reißen. Nach zehn Minuten war er tot. Der Oberst, mein Onkel, wurde sofort von seinem Hinscheiden benachrichtigt, obgleich die Generalin hundertmal gesagt hatte, daß sie eher gleichfalls sterben werde, als daß der Sohn ihr in einer solchen Stunde vor die Augen kommen sollte. Die Beerdigung war großartig – selbstverständlich auf Kosten des unehrerbietigen Sohnes, der, nebenbei bemerkt, auch dann sich nicht unterstehen durfte, das Haus seiner Mutter zu betreten.
Auf dem verschuldeten Gut Knjäsewka, das mehreren Herren gemeinsam gehörte, und auf dem auch die hundert Leibeigenen des Generals lebten, steht jetzt ein Mausoleum aus weißem Marmor, besät mit Inschriften, die alle dem hohen Verstande, den mannigfachen Talenten, der Herzensgüte, dem Seelenadel und den trefflichen militärischen Eigenschaften des Entschlafenen das höchste Lob spenden. Bei der Zusammenstellung dieser Inschriften hat Foma Fomitsch stark mitgewirkt. Es dauerte lange, bis die Generalin ihrem unehrerbietigen Sohne Verzeihung gewährte. Schluchzend beteuerte sie, umringt von ihrem ganzen Gefolge, einschließlich der Möpse und Katzen, daß sie lieber trockenes Brot essen – welches sie natürlich mit ihren Tränen anfeuchten würde – oder mit einem Krückstock betteln gehen wolle, als daß sie der Bitte ihres „ungehorsamen“ Sohnes nachgäbe und zu ihm nach Stepantschikowo übersiedelte.
„Niemals, niemals werde ich meinen Fuß über seine Schwelle setzen!“ rief sie erregt aus, wobei das Wort „mein Fuß“, in dieser Verbindung gebraucht, ungewöhnlich effektvoll herausgebracht wurde. Sie sprach es wirklich meisterhaft, geradezu künstlerisch aus. Kurz, Reden wurden von ihr in unglaublichem Überfluß vergeudet. Nur muß ich hier bemerken, daß gleichzeitig mit diesen Versicherungen bereits die Koffer zur Übersiedelung nach Stepantschikowo gepackt wurden – allerdings heimlich.
Inzwischen jagte der Oberst alle seine Pferde zuschanden, da er täglich von seinem Gute in die vierzig Werst entfernte Stadt gefahren kam, bis er dann endlich, vierzehn Tage nach der Beerdigung des Generals, die Erlaubnis erhielt, bei seiner tiefgekränkten Frau Mutter zu erscheinen. Foma Fomitsch war in dieser Zeit als Unterhändler benutzt worden. Zwei Wochen lang warf er dem Ungehorsamen sein „unmenschliches“ Verhalten zur Mutter vor, brachte den Armen zu aufrichtigen Tränen und fast zur Verzweiflung. Von diesen Tagen an datiert der unbegreifliche, unmenschlich despotische Einfluß Foma Fomitschs auf meinen armen Onkel. Foma erriet sofort, was für einen Menschen er vor sich hatte und – daß seine Narrenrolle zu seinem Glück zu Ende gespielt war, folglich aber auch er, Foma, so etwas wie „Herr“ sein konnte. Und so entschädigte er sich denn.
„Wie würde Ihnen zumute sein,“ fragte Foma, „wenn Ihre leibliche Mutter, sozusagen die Urheberin Ihrer Tage, einen Krückstock nähme und, mit ihren zitternden, von Hunger abgemagerten Händen sich auf ihn stützend, tatsächlich betteln ginge? Wäre das nicht ungeheuerlich, erstens bei ihrem Rang als Generalin, und zweitens bei ihren Tugenden? Was würden Sie empfinden, wenn sie eines Tages unter den Fenstern Ihres Hauses erschiene (was natürlich nur aus Versehen geschehen könnte, aber es wäre doch immerhin möglich), und wenn sie ihre Hand um ein Almosen bittend ausstreckte, während Sie, ihr Sohn, gerade irgendwo in einem Daunenbett versinken und ... nun, in Luxus, kurz gesagt, schwelgen? ... So etwas wäre doch entsetzlich, ganz entsetzlich! Am entsetzlichsten ist aber – gestatten Sie, Oberst, daß ich Ihnen das ganz offen sage – ja, am entsetzlichsten hierbei ist, daß Sie jetzt wie ein gänzlich gefühlloser Pfosten vor mir stehen, den Mund halb aufsperren und nur die Augenlider von Zeit zu Zeit zusammenklappen, was gewissermaßen sogar unhöflich ist, während Sie bei dem bloßen Gedanken an eine solche Möglichkeit sich die Haare Ihres Hauptes mit der Wurzel ausraufen und Ihren Augen Ströme ... was sage ich! – Flüsse, Seen, Meere, Ozeane von Tränen entfließen müßten!“
Der übliche Ausgang seiner Reden war, daß er vor lauter Hingerissensein sich fortreißen ließ und die Übersicht über die Tragweite der eigenen Worte verlor.
So kam es denn, daß die Generalin samt ihrem ganzen Stabe – alles Vierbeinige inbegriffen – samt Foma Fomitsch und Fräulein Perepelizyna, ihrer größten Busenfreundin, endlich das Herrenhaus von Stepantschikowo mit ihrer Ankunft beglückte. Sie erklärte, daß sie vorläufig nur versuchen wolle, bei ihrem Sohn zu leben, und gleichzeitig käme sie, um seinen Gehorsam zu prüfen. Man kann sich wohl die Lage des Obersten in dieser Zeit der „Prüfung seines Gehorsams“ ungefähr vorstellen! Anfangs hielt es die Generalin, als jüngst verwitwete Frau, für ihre Pflicht, etwa zwei- oder dreimal wöchentlich in der Erinnerung an ihren unwiederbringlich verlorenen Gatten, in Verzweiflung zu geraten; und diese Verzweiflung hatte die Eigentümlichkeit, sich alsbald aus unbekannten Gründen in einem Gewitter über dem Haupte des armen Obersten zu entladen. Zuweilen, vornehmlich wenn Besuch zugegen war, rief sie ihre beiden Enkelkinder zu sich, den kleinen Iljuscha und die fünfzehnjährige Ssaschenjka, hieß sie sich ihr gegenüber hinsetzen, sah sie lange, lange, mit traurigem, kummervollem Blick an, eben wie Kinder, die bei einem „solchen Vater“ dem Untergang geweiht sind, seufzte tief und schwer und brach in wortlose, geheimnisvolle, weil unerklärliche Tränen aus, die dann mindestens eine geschlagene Stunde unaufhaltsam flossen. Wehe dem Obersten, wenn er diese Tränen nicht zu begreifen verstand! Er aber, der Arme, verstand nie, sie zu begreifen, geriet vielmehr in seiner Naivität wie mit Absicht gerade zu diesen gefährlichen Stunden in ihren Gesichtskreis und mußte daher, ob er wollte oder nicht, eine neue Prüfung bestehen. Nichtsdestoweniger verringerte sich seine Ehrerbietung nicht – im Gegenteil, sie wuchs noch ... bis sie schließlich die äußersten Grenzen erreichte. Die Generalin und Foma Fomitsch fühlten nun beide, daß das Gewitter, welches so lange Jahre in der Gestalt des Generals Krachotkin in unwandelbarer Beständigkeit über ihren Häuptern geschwebt hatte, endlich vorübergezogen war und nie mehr wiederkehren werde. Zuweilen kam es auch vor, daß die Generalin mir nichts dir nichts auf das Sofa sank und – „in Ohnmacht fiel“: alles lief dann und schrie, der Oberst war aufs äußerste erschrocken und zitterte wie ein Espenblatt.
„Du grausamer Sohn!“ kreischte dann die Generalin los, kaum daß sie das Bewußtsein wiedererlangt hatte, „du hast mich zerrissen, – oui, moi, ta mère, ta mère!“
„Ja aber – wann habe ich Sie denn zerrissen, Mama?“
„Das hast du, das hast du! Mich zerrissen hast du! Jetzt will er sich noch rechtfertigen! Er wird noch unehrerbietig! O du grausamer, unbarmherziger Sohn! Oh, ich sterbe!“
Der Oberst aber war zerknirscht.
Nur weiß ich nicht, wie es kam, daß die Generalin es mit dem Sterben nie wörtlich nahm.
Nach einer halben Stunde erklärte der Oberst wohl einem seiner „Hausgäste“, ihn am Rockknopf festhaltend, die Sache auf folgende Weise:
„Nun, ja, sie ist doch, Freund, Grandedame, Generalin! – das mußt du nicht vergessen. Sonst ist sie ja eine herzensgute, alte Frau, nur ist sie, weißt du, an diesen höheren Ton gewöhnt ... nun, und ich Tölpel verstehe eben so etwas nicht. Jetzt ärgert sie sich über mich. Es ist ja wahr, ich bin schuldig ... obschon mir, offen gestanden, immer noch nicht so recht klar ist, was ich denn eigentlich verschuldet habe, aber es wird wohl so sein, selbstverständlich! ...“
Mitunter glaubte sich in solchen Fällen wohl auch Fräulein Perepelizyna verpflichtet, ihm deswegen eine Moralpredigt zu halten. Sie war ein etwas überreifes Fräulein, ohne Augenbrauen, mit falschem Haar, kleinen, stechenden Äuglein, mit Lippen, die wie Bindfaden so schmal waren, und mit Händen, die sie in gesalzenem Gurkenwasser wusch.
„Das kommt daher, daß Sie unehrerbietig sind, und weil Sie egoistisch sind, weil Sie Ihre Frau Mutter kränken, Ihre Frau Mutter aber an eine solche Behandlung nicht gewöhnt ist ... denn sie ist doch Generalin ... Sie aber sind nur erst Oberst.“
„Nein, weißt du, Freund,“ sagte dann wohl der Oberst zu seinem Zuhörer, „Fräulein Perepelizyna ist doch im Grunde ein vorzügliches Mädchen, sie steht wie ein Mann für meine Mutter ein! Wirklich ein seltenes Mädchen! Glaub’ nur nicht, daß sie irgend so eine aus Gnade und Barmherzigkeit ernährte Klatschbase sei! Bewahre! Sie ist selbst die Tochter eines Majors. Tatsache!“
Doch das sind vorläufig nur so einige Beispiele. Dieselbe Generalin aber, die so verschiedenartige Anfälle bekam, zitterte ihrerseits wie eine Maus vor dem ehemaligen Narren ihres Gatten. Foma Fomitsch besaß förmlich Zaubermacht über diese Dame. Sie wagte nicht zu mucken, wenn er etwas befahl; sie hörte nur mit seinen Ohren, sah nur mit seinen Augen. Einer meiner Vettern zweiten Grades, gleichfalls ein Husarenoffizier a. D., ein noch junger Mensch, der aber nichtsdestoweniger sein ganzes Vermögen bereits doppelt durchgebracht hatte und sich seit einiger Zeit bei meinem Onkel aufhielt, erklärte mir kurz und bündig, ohne den geringsten Zweifel aufkommen zu lassen, daß die Generalin nach seiner felsenfesten Überzeugung in „unerlaubten Beziehungen“ zu Foma Fomitsch stünde. Ich ließ jedoch diese Deutung selbstverständlich nicht gelten. Nein, hier handelte es sich um etwas ganz anderes, viel Feineres – doch bleibt mir zur Erklärung dieses anderen nur eines übrig: den Charakter Foma Fomitschs so zu erklären, wie ich ihn mit der Zeit selbst beurteilen lernte.
Man denke sich einen der niedrigsten, kleinmütigsten Menschen, einen Auswurf der Gesellschaft, für den niemand eine Verwendung hat, einen vollkommen nutzlosen, erbärmlichen Wicht, der aber grenzenlos eitel, selbstgefällig und eigennützig ist und zum Überfluß von der Natur entschieden nichts erhalten hat, wodurch er auch nur annähernd eine solche krankhaft überspannte Eigenliebe und Eigensucht rechtfertigen könnte. Ich will hier eines gleich vorausschicken: Foma Fomitsch ist die Verkörperung jener ganz besonderen schrankenlosen Eigenliebe, die sich nur bei der größten Nichtigkeit entwickelt. Wie gewöhnlich in solchen Fällen, scheint diese Eigenliebe ständig beleidigt und durch frühere schwere Mißerfolge gezüchtet zu sein. Sie gärt seit vielen, vielen Jahren, Jahrzehnten, und zeugt nur noch Neid, Gift und Galle, gleichviel, ob es sich um einen fremden Erfolg handelt oder bloß um eine neue Bekanntschaft. Es ist vielleicht überflüssig, noch hinzuzufügen, daß dieser ganze Charakter von einer nahezu schändlichen unverschämten Empfindlichkeit, dem verrücktesten Argwohn und Mißtrauen beherrscht wird. Vielleicht wird man fragen: Woraus ist denn diese Eigenliebe entstanden? Wie kann sie bei einer so offenkundigen Wertlosigkeit des ganzen Menschen entstehen, bei einem so nichtigen Menschen, der doch allein seiner sozialen Stellung nach den ihm in Wirklichkeit zukommenden Platz kennen müßte? – Was soll man auf solche Fragen antworten? Vielleicht gibt es Ausnahmen, zu denen dann auch mein Held gehört; denn daß er eine Ausnahme von der Regel war, unterliegt keinem Zweifel, was sich bei näherer Bekanntschaft sonnenklar zeigen wird. Einstweilen erlaube man mir eine Gegenfrage: Sind Sie denn wirklich überzeugt, daß diese Menschen, die sich ganz und gar ergeben haben, die darin ihr Glück sehen und es sich zur Ehre anrechnen, daß sie jemandes Hausnarr und Gnadenbrotschlucker sein können – sind Sie wirklich überzeugt, daß diese Kreaturen sich von jedem Selbstgefühl, von jeder Eigenliebe losgesagt haben? Aber der Neid, der Klatsch, die Verleumdungen, die Ohrenbläserei und das geheimnisvolle Gezischel in den Winkeln Ihres eigenen Hauses, hinter Ihrem Rücken, oder die Seitenstiche an Ihrem eigenen Tisch?? Wer weiß, ob in einigen dieser vom Schicksal erniedrigten Gnadenbrotessern, Ihren Narren und Speichelleckern, die natürliche Eigenliebe durch die Erniedrigung nicht etwa vermindert oder erstickt, sondern gerade durch diese Erniedrigung, durch die Narrenrolle und die ewig erzwungene Unterwürfigkeit und Persönlichkeitslosigkeit noch zu einer weit größeren Eigenliebe aufgeschraubt wird? Wer weiß, vielleicht ist diese ins Ungeheuerliche entwickelte Eigenliebe nur ein falsches, entstelltes Empfinden der eigenen Menschenwürde, die zum erstenmal vielleicht schon in der Kindheit durch fremdes Joch, Armut, Schmutz oder Verachtung mit Füßen getreten worden ist. Oder vielleicht hat der Betreffende als kleines Kind seine Eltern so behandelt gesehen? Doch ich habe gesagt, daß Foma Fomitsch außerdem noch eine Ausnahme darstellte – er war in der Tat ein ganz besonderer Fall. Er hatte sich einmal für einen Literaten gehalten, war aber von den anderen nicht anerkannt und folglich zurückgesetzt, gekränkt, beleidigt worden. Die Literatur aber – d. h. jene, die er natürlich nicht anerkannte – kann sich wegen eines Foma Fomitsch nicht selbst aufgeben! Ich weiß es zwar nicht genau, aber es ist doch anzunehmen, daß Foma Fomitsch auch vor seinen literarischen Versuchen nicht gerade vom Erfolg verwöhnt worden war; vielleicht hatte er auch in jeder anderen von ihm versuchten Tätigkeit nur Nasenstüber anstatt einer Belohnung erhalten – oder vielleicht noch Schlimmeres. Doch darüber läßt sich nichts Genaues feststellen; erfahren habe ich nur nach vielfachen Erkundigungen, daß Foma Fomitsch in Moskau tatsächlich einmal einen kleinen Roman geschrieben hat, äußerst ähnlich jenen Werken der dreißiger Jahre, von denen jährlich ein Dutzend erschienen, in der Art der „Befreiungen Moskaus“ oder der „Söhne der Liebe oder der Russen im Jahre 1104“. Das war allerdings vor langer Zeit, aber der Schlangenbiß des literarischen Ehrgeizes verwundet oft tief und unheilbar, was namentlich von nichtigen und dummen Leuten gilt. Foma Fomitsch war sogleich nach seinem ersten literarischen Versuch, wie wir annehmen müssen, in seinem Ehrgeiz getroffen, und so schloß er sich ohne weiteres endgültig jener unzählbaren Schar der Zurückgesetzten an, aus der dann später alle diese Sonderlinge, Hampelmänner und gesellschaftlichen Vagabunden hervorgehen. Zu derselben Zeit begann, wie ich glaube, auch diese unglaubliche Prahlsucht sich in ihm zu entwickeln, dieses gierige Bedürfnis nach Lob und Auszeichnungen, Verehrung und Bewunderung. Selbst als Narr hatte er sich einen Kreis ihn andächtig anstaunender Idioten zu schaffen gewußt. Sein einziges Verlangen war: stets den Vorrang zu haben, sich zeigen zu können, gelobt zu werden. Lobten ihn die anderen nicht, so lobte er sich selbst. Ich habe seine Reden im Hause meines Onkels in Stepantschikowo, nachdem er dort unumschränkter Herrscher geworden war, selbst gehört. „Ich gehöre nicht in Ihren Kreis,“ pflegte er oft genug mit einer gewissen geheimnisvollen Feierlichkeit zu sagen.
„Ja, ich gehöre nicht hierher in Ihren Kreis! Ich werde wirken, werde Sie hier zuerst alle unterbringen und Ihr Leben einrichten, Sie zu leben lehren, dann aber – lebt wohl! Dann geht’s nach Moskau, und dort werde ich eine Zeitschrift herausgeben. Dreißigtausend Menschen werden sich monatlich zu ihrer Lektüre zusammenfinden. Ja, dann wird mein Name klingen ... und dann – wehe meinen Feinden!“
Inzwischen aber forderte das Genie die Belohnung im voraus. Es ist ja im allgemeinen sehr angenehm, im voraus belohnt zu werden, um wieviel mehr aber ist es das in einem solchen Fall. Wie ich genau weiß, hat er meinem Onkel in allem Ernst versichert, daß ihm eine große Tat bevorstehe, eine Tat, zu der er allein berufen und geboren sei, und zu deren Vollbringung ihn ein geflügeltes Wesen von Menschenart, das in der Nacht bei ihm erscheine, zwinge. Und diese Tat sei: ein tiefsinniges, die Seelen der Menschen errettendes Werk zu schreiben, von dem „ein allgemeines Erdbeben ausgehen“ und das „ganz Rußland erzittern machen“ werde. Doch wenn dann sein Name in aller Mund sei, dann werde er, Foma, den Ruhm und die Ehre verachtend, sich ins Kijewsche Höhlenkloster zurückziehen, um dort unter der Erde Tag und Nacht für das Glück des Vaterlandes zu beten ... So etwas aber rührte meinen Onkel.
Jetzt stelle man sich vor, zu was sich dieser Foma entwickeln konnte, dieser selbe Foma, der sein ganzes Leben lang geknechtet und vielleicht sogar tatsächlich geprügelt worden war, dieser selbe Foma, der im geheimen so genußgierig und so eigenliebig war wie kein zweiter, Foma, der enttäuschte, erbitterte Literat, Foma, der für das tägliche Brot den Narren gespielt, Foma, der im Grunde seiner Seele der größte Despot war, ungeachtet seiner ganzen vorhergehenden Niedrigkeit und Bedeutungslosigkeit, Foma, der Prahlhans und unverschämte Frechling (sobald er nur Gelegenheit hatte, es zu sein), dieser selbe Foma, der dann plötzlich zu Ruhm und Ehre gelangte, verhätschelt und gelobt und in den Himmel gehoben wurde, dank einer törichten, kindisch-dummen Beschützerin und einem ahnungslosen, von vornherein mit allem einverstandenen Beschützer, in dessen Hause er sich endlich nach langen Irrfahrten zur Ruhe setzen konnte! Freilich muß ich auch den Charakter meines Onkels eingehender erklären; denn sonst würde der Erfolg Foma Fomitschs immerhin nicht ganz verständlich sein. Auf Foma paßte vorzüglich das Sprichwort: läßt du den Ziegenbock in die Kirche hinein, so steigt er sofort auf die Kanzel. Ja, Foma verstand es wahrlich, sich für das Vergangene zu entschädigen! Ein niedriger Charakter wird, sobald er von seinem Bedrücker befreit ist, sofort andere bedrücken. Foma nun war tyrannisiert worden – und er empfand sofort das Bedürfnis, jetzt selbst zu tyrannisieren; man hatte ihn zum besten gehabt, – folglich wollte auch er jetzt andere zum besten haben; er war Narr gewesen, nun mußte auch er unbedingt Narren haben. Er prahlte bis zur Verrücktheit, war herrschsüchtig bis zur Unmenschlichkeit, war anspruchsvoll ohne jedes Maß, verlangte womöglich Vogelmilch – so daß Leute, die von ihm nur erzählen hörten, ihn aber nicht persönlich kannten, diese Geschichten aus Stepantschikowo für Märchen hielten oder für des Teufels Machwerk, sich bekreuzten und ausspien.
Ich sagte vorhin, daß ohne eine Erklärung des bemerkenswerten Charakters meines Onkels diese freche Herrschaft Foma Fomitschs in einem fremden Hause unbegreiflich erscheinen müsse, unbegreiflich diese Metamorphose aus einem Narren in eine große Persönlichkeit. Mein Onkel war nicht nur unsäglich gut, sondern trotz seiner ganzen militärischen Erscheinung auch ein selten zartfühlender Mensch, ein überaus edler, männlicher Charakter. Ich sage mit Absicht „männlich“ und betone dieses Wort. Wenn es für ihn hieß, eine Pflicht zu erfüllen, dann kannte er nie ein Hindernis, dann schrak er vor nichts zurück. Seine Seele war rein wie die eines Kindes. Man konnte ihn wirklich ein fast vierzigjähriges Kind nennen. Er war äußerst mitteilsam, stets heiter gestimmt, sah in jedem Menschen einen Engel, hielt alle fremden Mängel nur für Folgen seiner eigenen Fehler, vergrößerte die guten Eigenschaften der anderen unendlich und sah solche sogar dort, wo sie überhaupt nicht vorhanden sein konnten. Er war einer jener durch und durch edlen Menschen, die so keuschen Herzens sind, daß sie sich geradezu schämen, in einem anderen Menschen etwas Schlechtes zu vermuten, ja, daß sie sich beeilen, ihre Nächsten mit allen Tugenden auszuschmücken; einer jener Menschen, die sich über jeden Erfolg anderer freuen, auf diese Weise beständig in einer idealen Welt leben und bei einem Unglück immer sich zuerst, sich ganz allein beschuldigen. Sich selbst den Interessen anderer zu opfern, scheint ihre Lebensaufgabe zu sein. Manch einer hätte meinen Onkel vielleicht sogar kleinmütig, charakterlos, schwach genannt. Allerdings war er schwach bei seinem gar zu weichen Herzen; nur war er es nicht aus Mangel an Charakterfestigkeit, sondern aus Furcht, zu kränken, grausam zu sein, oder aus gar zu großer Hochachtung vor anderen – vor dem Menschen überhaupt. Und übrigens war er nur dann schwach und kleinmütig, wenn es sich um seine eigenen Interessen handelte, die er immer hintansetzte, wofür er sich sein Leben lang dem Gespött der Menschen aussetzte, und nicht selten dem Gespött gerade derjenigen, für die er sich opferte. Niemals hätte er geglaubt, daß er Feinde haben könnte, und dennoch hatte er sie – nur bemerkte er sie nicht. Zwist und Geschrei im Hause fürchtete er mehr als Feuer, und so gab er allen in allem sofort nach und ergab und beschied sich stets. Er tat es aus einer gewissen schüchternen Gutmütigkeit heraus, aus einem fast zärtlichen Zartgefühl, – „damit, weißt du,“ sagte er schnell, gewissermaßen, um sich gegen etwaige Vorwürfe zu verteidigen, – „damit, weißt du ... nun, damit alle zufrieden und glücklich sind!“ Es versteht sich von selbst, daß er jedem edlen Einfluß zugänglich war; ja, ein gewandter Spitzbube hätte sich seiner vollkommen bemächtigen und ihn sogar zu einer schlechten Tat verleiten können, d. h. wenn er diese schlechte Tat als edel hingestellt hätte. Mein Onkel ließ sich leicht von anderen lenken, besonders wenn er dem Betreffenden einmal sein ganzes Vertrauen geschenkt hatte; in dieser Beziehung war er also durchaus nicht fehlerfrei. Wenn er sich aber dann nach lange gezahltem schmerzlichen Lehrgeld endlich entschloß, daran zu glauben, daß der ihn Betrügende ein unehrlicher Mensch war, so beschuldigte er vor allen anderen sich selbst, und nicht selten nur sich allein. Nun denke man sich in seinem stillen Hause diese plötzlich die Herrschaft an sich reißende, launenhafte, verschrobene Idiotin von Mutter, zusammen mit einem anderen Idioten – ihrem Abgott –, eine Idiotin, die bis dahin nur ihren General gefürchtet hatte, jetzt aber nichts mehr fürchtete und sogar das Bedürfnis empfand, sich für die schlechten Lebensjahre zu entschädigen – eine Idiotin, der der Oberst frommen Gehorsam schuldig zu sein glaubte, und zwar einzig aus dem Grunde, weil sie seine Mutter war.
Man begann damit, daß man dem Oberst bewies, daß er ein roher Mensch sei, unduldsam, unwissend und vor allen Dingen ein „Egoist ersten Ranges“. Bemerkenswert war dabei, daß die blödsinnige Alte selbst vollkommen an das glaubte, was sie predigte. Ja, ich vermute sogar, auch Foma Fomitsch tat das, oder wenigstens zum Teil. Man überzeugte den Oberst, daß Foma von Gott selbst zur Rettung seiner, des Obersten, Seele vom Himmel herabgesandt sei, desgleichen zur Besänftigung seiner zügellosen Leidenschaften; daß er stolz sei, mit seinem Reichtum prahle und fähig wäre, Foma Fomitsch wegen des täglichen Brotes, das er von ihm empfing, Vorwürfe zu machen. Mein armer Onkel glaubte bald selbst an die Tiefe seiner sittlichen Gesunkenheit und war bereit, sich die Haare vor Reue auszuraufen und Foma um Verzeihung zu bitten ...
„Weißt du, Freund, ich bin selbst daran schuld,“ sagte er zuweilen einem seiner Hausgäste, mit dem er sich gerade unterhielt, „und zwar an allem! Man muß doppelt zartfühlend sein im Umgang mit einem Menschen, dem man Gutes tut ... Das heißt ... was sage ich! Was Gutes tut! Was schwatze ich da wieder! Durchaus nicht Gutes tut, sondern im Gegenteil – er ist es, der mir Gutes tut, indem er bei mir wohnt, aber nicht umgekehrt! ... Das heißt, ich habe ihm meines Wissens noch nie auch nur das Geringste vorgeworfen, aber ich muß es doch wohl getan haben ... wahrscheinlich ist mir wieder einmal so etwas entschlüpft, – mir entschlüpft oft etwas Unüberlegtes ... Nun, und schließlich – der Mensch hat gelitten, hat Großes vollbracht, hat zehn Jahre lang, ohne auf die Kränkungen zu achten, seinen kranken Freund gepflegt: so etwas muß belohnt werden! Ja, und dann die Wissenschaft ... Er ist doch Schriftsteller! Ungemein gebildet! Ein überaus edler Mensch, mit einem Wort! ...“
Ja, Foma, der Gebildete und Unglückliche, der bei einem launischen und grausamen Freunde den Narren hatte spielen müssen, erweckte in dem edlen Herzen meines Onkels das tiefste Mitleid. Alle Seltsamkeiten Fomas, sowie alle seine schändlichen Ausfälle dem Hausherrn gegenüber, wurden von diesem ohne weiteres mit seinen früheren Leiden, seiner Erniedrigung und Verbitterung entschuldigt. Er sagte sich in seiner gutmütigen, stets nachsichtigen Seele, daß man von einem Gemarterten nicht dasselbe verlangen könne wie von einem gewöhnlichen Menschen, daß man ihm nicht nur alles verzeihen, sondern mit Demut seine Wunden heilen, ihn aufrichten und mit der Menschheit wieder aussöhnen müsse. Nachdem er sich dieses einmal zum Ziel gesetzt hatte, begeisterte er sich geradezu für seine Aufgabe und verlor gänzlich die Fähigkeit, auch nur entfernt zu erraten, daß sein neuer Freund ein gieriger, eigennütziger Lump war, ein Egoist, Faulpelz und Aussauger – und weiter nichts. An das Wissen und die Genialität Fomas glaubte er einwandlos. Ich habe noch vergessen zu sagen, daß mein Onkel vor Worten wie „Wissenschaft“ oder „Literatur“ eine Hochachtung empfand, die von der größten Naivität war, um so mehr, als er selbst niemals etwas gelernt hatte. Das war nun einmal eine seiner wirklichen und unschuldigsten Schwächen.
„Pst! Er schreibt an seinem Werk!“ sagte er zuweilen zur Erklärung, wenn er schon in einem Zimmer, das noch ganz fern von Foma Fomitschs „Arbeitskabinett“ lag, nur auf den Fußspitzen zu gehen wagte. „Ich weiß nicht, was er da eigentlich schreibt,“ fügte er mit halbwegs stolzer und geheimnisvoller Miene hinzu; „aber sicherlich wird es, Freund, ein solches Durcheinander sein ... Das heißt selbstverständlich, was sage ich! – nur im guten Sinne ein Durcheinander! Für manch einen wird es ja klar wie Tinte sein, für unsereinen aber, Bruder, sind das solche Gedankenpurzelbäume, daß ... Ich glaube, er schreibt da von gewissen erzeugenden Kräften – so sagt er wenigstens selbst. Es ist wahrscheinlich etwas Politisches. Ja, ja, einmal wird sein Name einen großen Klang haben! Dann werden auch wir beide durch ihn berühmt werden! Das hat er mir, weißt du, selbst gesagt ...“
Wie ich aus sicherer Quelle weiß, hat sich mein Onkel auf Fomas Befehl seinen prächtigen dunkelblonden Backenbart abrasieren müssen, da jener gefunden hatte, daß er mit dem Backenbart wie ein Engländer aussehe und folglich „wenig Vaterlandsliebe“ habe. Mit der Zeit begann Foma sich auch in die Verwaltung des Gutes einzumischen und weise Ratschläge zu erteilen, die, nebenbei bemerkt, fürchterlich waren. Die Bauern errieten denn auch bald, wie es sich damit verhielt, und wer der wahre Herr auf dem Gute war – und sie kratzten sich bedenklich hinterm Ohr. Ich habe späterhin selbst Gelegenheit gehabt, einem Gespräch Foma Fomitschs mit den Bauern zuzuhören. Ich will gleich gestehen, daß ich heimlich gelauscht habe. Foma hatte oft genug gesagt, daß er gern mit einem klugen russischen Bauern rede. Eines Tages ging er zur Tenne. Er sprach mit den Bauern über die Feldarbeit, die Landwirtschaft – obgleich er selbst nicht Hafer von Weizen zu unterscheiden verstand, – sprach von den heiligen Pflichten des Bauern seinem Herrn gegenüber, berührte darauf Themen wie Industrialismus, Elektrizität und die Erleichterung der Arbeit – wovon er selbst natürlich kein Wort begriff, – erklärte seinen Zuhörern, in welcher Weise die Erde sich um die Sonne drehe, um dann schließlich, ganz gerührt von seinen eigenen Kenntnissen, auf die Minister zu sprechen zu kommen. Ich verstand ihn. Erzählt doch Puschkin von einem Vater, der seinem vierjährigen Söhnchen sagt, er, sein „Papachen“, sei so „brav und tapfer, daß der Kaiser ihn ganz besonders liebe“. Auch dieser Vater bedurfte eines Zuhörers, und wenn der Zuhörer auch erst vier Jahre zählte ... Die Bauern aber hörten Foma stets voll Ehrerbietung zu.
„Aber was, Väterchen, bekommst du auch viel kaiserliches Gehalt?“ fragte ihn plötzlich ein kleiner Alter, Archip Korotkij genannt, aus der Schar der vor ihm stehenden Bauern, mit der unverhohlenen Absicht, etwas Angenehmes zu fragen. Foma Fomitsch fand jedoch diese Frage zu „familiär“. „Familiarität“ aber konnte er nicht ertragen.
„Was geht das dich an, du Lümmel?“ antwortete er mit verächtlichem Blick auf das arme Bäuerlein. „Was steckst du hier deine Schnauze vor – soll ich sie etwa anspeien?“
Foma Fomitsch sprach nie in einem anderen Tone mit dem „verständigen russischen Bauern“.
„Ach, Väterchen, wir sind doch unwissende Leute,“ sagte ein anderes Bäuerlein. „Was wissen wir viel, vielleicht bist du Major, vielleicht Oberst, vielleicht sogar ganzer General – wir wissen ja nicht einmal, wie man dich betiteln muß.“
„Lümmel!“ wiederholte bloß Foma Fomitsch, war aber doch sogleich nachsichtiger gestimmt. „Zwischen Gehalt und Gehalt ist ein Unterschied, Dummkopf! Manch einer ist General und erhält überhaupt nichts; denn es ist kein Grund vorhanden, ihm etwas zu geben, weil er dem Kaiser keinen Nutzen bringt. Ich dagegen erhielt zwanzigtausend Rubel jährlich, als ich beim Minister angestellt war, und selbst dieses Geld nahm ich nicht; denn ich diente um der Ehre willen und hatte außerdem eigenes genug. Mein Gehalt aber stiftete ich für staatlichen Unterricht und für die niedergebrannten Einwohner der Stadt Kasanj.“
„Dann hast du ja halb Kasanj von neuem aufgebaut?“ fragte verwundert derselbe Bauer.
Überhaupt kann man sagen, daß alle Bauern sich nicht wenig über Foma Fomitsch wunderten ...
„Nun, ja, versteht sich, auch mein Teil ist dabei ...“ sagte Foma, gleichsam ungehalten über sich, daß er einen solchen Menschen eines solchen Gesprächs gewürdigt hatte.
Mit meinem Onkel dagegen waren seine Gespräche anderer Art.
„Was waren Sie früher für ein Mensch?“ fragte zum Beispiel Foma, sich nach dem opulenten Mittagsmahl im Lehnstuhl streckend – hinter dem ein Diener stehen und mit einem frischen Lindenzweig die Fliegen sanft fortwedeln mußte.
„Wem glichen Sie früher, bevor ich kam? Jetzt habe ich in Ihnen einen Funken jenes himmlischen Feuers entzündet, das seitdem in Ihrer Seele brennt. Habe ich das himmlische Feuer in Sie hineingelegt oder nicht? Antworten Sie: ja oder nein?“
Foma Fomitsch wußte, genau genommen, selbst nicht, weshalb er diese Frage stellte. Aber das Schweigen und die gewisse Betretenheit in der Miene meines Onkels reizten ihn sogleich. Er, der früher geduldig alles ertragen hatte, war jetzt zu wahrem Schießpulver geworden, das bei jedem, auch dem geringsten Widerspruch aufflammte. Da er das Schweigen des Obersten als Beleidigung auffaßte, bestand er mit doppeltem Eigensinn auf der Antwort.
„Antworten Sie: brennt in Ihnen dieses Feuer oder nicht?“
Der arme Oberst wand sich innerlich in seiner Ratlosigkeit: er wußte wirklich nicht, was er tun oder sagen sollte.
„Gestatten Sie, Sie daran zu erinnern, daß ich warte,“ bemerkte Foma mit gekränkter Stimme.
„Mais répondez donc, Jegóruschka!“ mischte sich auch die Generalin mit einem Achselzucken ein.
„Ich frage Sie: Glimmt in Ihnen noch dieser Funke oder nicht?“ wiederholte Foma mit nachsichtiger Herablassung und nahm einen Bonbon aus der Bonbonnière, die immer und überall vor ihn hingesetzt wurde. Das geschah auf Anordnung der Generalin.
„Bei Gott, ich weiß es nicht, Foma,“ antwortete der Oberst schließlich, Verzweiflung im Blick – „es muß doch wahrscheinlich etwas von der Art ... Nein wirklich, frag’ mich lieber nicht, sonst lüge ich noch irgend etwas zusammen ...“
„Gut! So bin ich denn Ihrer Meinung nach so wertlos, daß ich nicht einmal einer Antwort wert bin – das ist es doch, was Sie damit sagen wollten? Nun, mag es denn so sein; mag ich also nichts bedeuten!“
„Aber nein doch, Foma, um Gottes willen! Wann habe ich denn so etwas sagen wollen?“
„Sie haben gerade dieses und nichts anderes damit sagen wollen.“
„Aber ich schwöre dir, – nein!“
„Gut! Mag ich also ein Lügner sein! Mag ich also, nach Ihrer Anschuldigung, absichtlich einen Vorwand zum Streit suchen! Mag also zu allen anderen Beleidigungen auch diese noch hinzukommen – ich trage alles ...“
„Mais mon fils!“ rief erschrocken die Generalin aus.
„Aber Foma Fomitsch! Mama!“ beschwor der Oberst verzweifelt. „Bei Gott, ich bin doch nicht daran schuld! Es ist mir vielleicht nur wieder etwas, ohne zu wollen, entschlüpft! ... Sieh mich doch nicht so an, Foma: ich bin ja ein ungebildeter Mensch – ich fühle ja selbst, daß ich dumm bin, ich fühle ja selbst, daß etwas nicht stimmt ... Ich weiß es, Foma, glaub’ mir, ich weiß alles! Du brauchst es mir ja gar nicht erst zu sagen!“ wehrte er sich, immer verzweifelter. „Ich habe vierzig Jahre verlebt und die ganze Zeit, bis zu dem Augenblick, da ich dich kennen lernte, immer von mir geglaubt, daß ich ein Mensch sei ... Nun, und alles, was daraus folgt, mit einem Wort: eben ein Mensch! ... Und ich habe ja wirklich bis jetzt nicht gewußt, daß ich sündig bin wie nur einer, ein Egoist erster Sorte – und so viel Schlechtes in meinem Leben getan habe, daß man sich nur wundern kann, wie die Erde mich noch trägt!“
„Ja, Sie sind allerdings ein beispielloser Egoist, das muß ich sagen!“ bemerkte überzeugt Foma Fomitsch.
„Aber ich begreife es ja jetzt selbst, daß ich ein Egoist bin! Nein, Kreuzmillionen, ich muß mich bessern, und ich werde es!“
„Gott geb’s!“ schloß Foma Fomitsch mit einem frommen Aufseufzen und erhob sich aus seinem Lehnstuhl, um sich zu seinem Nachmittagsschläfchen zurückzuziehen. Foma Fomitsch pflegte jedesmal nach dem Essen zu schlafen.
Zum Schlusse dieses Kapitels muß ich noch einiges von meinen persönlichen Beziehungen zu meinem Onkel sagen und vor allem erklären, wie es kam, daß ich plötzlich Auge in Auge Foma Fomitsch gegenüberstand und ungewollt und unverhofft in den Strudel der größten Ereignisse hineingeriet, die sich jemals in dem gesegneten Herrenhause von Stepantschikowo zugetragen haben. Damit beabsichtige ich diese Einleitung zu schließen, um alsdann zur eigentlichen Erzählung überzugehen.
In meiner Kindheit, als ich verwaist und ohne Geld in der Welt zurückblieb, nahm sich mein Onkel meiner an, erzog mich auf seine Kosten und tat für mich, kurz gesagt, manches, was oft selbst ein leiblicher Vater nicht getan hätte. Schon am ersten Tage, an dem er mich zu sich nahm, hing ich mich mit ganzer Seele an ihn. Damals war ich zehn Jahre alt, und ich weiß noch, daß wir bald die besten Freunde waren und einander vorzüglich verstanden. Wir drehten beide Brummkreisel, stibitzten beide die Nachthaube einer alten, giftigen Jungfer, mit der wir entfernt verwandt waren. Die Nachthaube band ich übrigens an den Schweif meines Papierdrachens und ließ sie mit diesem in die Lüfte steigen. Darauf vergingen viele Jahre, und ich sah meinen Onkel erst in Petersburg wieder, wohin er auf ein paar Tage gekommen war, als ich – immer auf seine Kosten – das Gymnasium absolvierte. Während dieses Besuches hing ich mich wieder mit der ganzen Leidenschaft der Jugend an ihn: es war etwas Edles, Vornehmes, Aufrichtiges in seinem Charakter, und es war vor allem seine Heiterkeit und seine unglaubliche Naivität, die mich und jeden anderen anzogen. Nachdem ich dann mein Studium auf der Universität beendet hatte, lebte ich eine Zeitlang in Petersburg, ohne mit etwas beschäftigt zu sein, und war, wie so mancher Milchbart, fest überzeugt, daß ich in allernächster Zeit ungeheuer viel Bemerkenswertes und sogar Großes vollbringen werde. Petersburg verlassen wollte ich noch nicht. Meinem Onkel schrieb ich nicht allzuoft, eigentlich nur dann, wenn ich Geld brauchte, das er mir nie verweigerte. Da geschah es, daß ich von einem Hofbauern meines Onkels, der zufällig in Geschäften nach Petersburg gekommen war, hörte, daß bei ihnen in Stepantschikowo wunderliche Dinge vor sich gingen. Die betreffenden Mitteilungen setzten mich in Erstaunen und erweckten sogleich mein Interesse. Ich begann meinem Onkel öfter zu schreiben. Er antwortete mir immer etwas undeutlich und eigentümlich, und schien sich offenbar beim Schreiben eines jeden Briefes krampfhaft zu bemühen, nur von der Wissenschaft zu reden, da er von mir in Zukunft große Dinge erwartete, und auf meine etwaigen Erfolge bereits im voraus nicht wenig stolz war. Dann aber erhielt ich eines schönen Tages, nach längerem Schweigen, einen Brief von ihm, der allen vorhergehenden Briefen durchaus unähnlich war. Er setzte sich aus so seltsamen Andeutungen zusammen, aus so wunderlichen Widersprüchen, daß ich ihn anfangs überhaupt nicht verstand. Ich fühlte nur heraus, daß der Schreiber des Briefes sich in großer Aufregung befunden haben mußte. Nichtsdestoweniger ging aus dem ganzen Schreiben die Hauptsache ziemlich klar hervor: der Onkel bat mich in allem Ernst, ja, fast flehte er mich an, sobald wie möglich die Erzieherin seiner Kinder, die Tochter eines armen Provinzialbeamten Jeshowikin, die in Moskau, gleichfalls auf Kosten meines Onkels, in einer vorzüglichen Anstalt erzogen worden war, – zu heiraten. Er schrieb, sie sei unglücklich, ich aber könnte sie glücklich machen, ganz abgesehen davon, daß es eine großmütige Handlung meinerseits wäre. Er rief noch den Edelmut meines Herzens an und versprach gleichzeitig, dem jungen Mädchen eine gute Mitgift zu geben. Von der Mitgift schrieb er übrigens sehr ängstlich, wie von einer dummen Nebensache – wahrscheinlich in der Furcht, mich zu kränken – und schloß den Brief mit der flehenden Bitte, tiefstes Schweigen in dieser ganzen Angelegenheit zu wahren.
Dieser Brief stieß mich dermaßen vor den Kopf, daß mir förmlich schwindlig wurde. Aber auf welchen jungen Menschen, der wie ich kaum erst von der Schule und Universität kam, würde ein solches Anerbieten keinen tiefen Eindruck machen, und wär’s auch nur, sagen wir, von der romanhaften Seite? Zudem hatte ich schon gehört, daß diese junge Gouvernante – eine ganz reizende junge Dame sei. Indessen wußte ich wirklich nicht, was ich tun sollte, wenn ich auch meinem Onkel umgehend schrieb, daß ich mich unverzüglich nach Stepantschikowo begeben werde. Mein Onkel hatte mir gleichzeitig mit dem Brief auch das Reisegeld übersandt. Doch trotz alledem konnte ich mich nicht so schnell entschließen und zögerte noch ganze drei Wochen in Petersburg. Da traf ich plötzlich einen Freund meines Onkels, der mit ihm früher im selben Regiment gestanden und nun auf der Rückreise aus dem Kaukasus nach Petersburg ihn unterwegs in Stepantschikowo besucht hatte. Es war dies ein schon älterer, sonst vernünftig denkender Mensch, doch ein eingefleischter Junggeselle. Ganz empört erzählte er mir von Foma Fomitsch, und dann teilte er mir noch etwas mit, wovon ich bis dahin keine Ahnung gehabt hatte: daß Foma und die Generalin beschlossen hätten, den Obersten mit einem äußerst seltsamen alten Mädchen, das mindestens halbverrückt sei, eine außergewöhnliche Lebensgeschichte und wenigstens eine halbe Million Mitgift habe, zu verkuppeln. Die Generalin habe ihre zukünftige Schwiegertochter zu überzeugen gewußt, daß sie verwandt seien und sie folglich bei ihnen leben müsse; der Oberst sei natürlich verzweifelt, doch werde es aller Voraussicht nach damit enden, daß er die halbe Million heirate; und zum Schluß fügte der Betreffende noch hinzu, daß die beiden Diplomaten, Foma wie die Generalin, die arme, schutzlose Erzieherin der Kinder meines Onkels entsetzlich behandelten und sie mit aller Gewalt zum Hause hinaustreiben wollten, wahrscheinlich in der Angst, der Oberst könnte sich in sie verlieben, oder weil er sich vielleicht schon in sie verliebt hatte. Diese letzte Mitteilung machte mich stutzig. Doch auf alle meine Fragen, ob der Oberst sich inzwischen nicht tatsächlich in sie verliebt habe, konnte oder wollte er mir keine bestimmte Antwort geben – und überhaupt sprach er ziemlich einsilbig und ersichtlich ungern von der ganzen Angelegenheit, ja, er umging einfach alle näheren Erklärungen. Ich wurde nachdenklich: diese neuen Aufschlüsse widersprachen so auffallend dem Briefe meines Onkels und seinem Vorschlag! ... Aber wozu Zeit verlieren, dachte ich. Ich beschloß, sofort nach Stepantschikowo zu fahren, nicht nur, um meinen Onkel zu beruhigen und zur Vernunft zu bringen, sondern auch, um ihn zu retten, nämlich Foma vor die Tür zu setzen, zu verhindern, daß er mit der alten Jungfer verkuppelt wurde, und dann – da mir nach reiflicher Überlegung die Liebe meines Onkels zu der jungen Erzieherin als entschiedenes Hirngespinst Foma Fomitschs erschien – die Unglückliche zu beglücken, mit anderen Worten, um die Hand des interessanten jungen Mädchens anzuhalten usw. Allmählich begeisterte ich mich immer mehr für mein Vorhaben, so daß ich – wie das so in der Jugend zu geschehen pflegt – aus den stärksten Bedenken alsbald in das entgegengesetzte Extrem geriet. Mich verzehrte förmlich das Verlangen, möglichst schnell die größten Wunder und Heldentaten zu vollbringen. Es schien mir sogar, daß ich ungewöhnliche Großmut bekunde, mich edelmütig opfere, um ein unschuldiges, prachtvolles Geschöpf zu beglücken, – kurz, ich war während der ganzen Fahrt überaus zufrieden mit mir. Es war Juli; die Sonne schien strahlend hell; ringsum sah ich, soweit nur das Auge schweifen konnte, die unermeßliche Weite reifender Erntefelder. Ich aber hatte so lange in Petersburg eingeschlossen gelebt, daß ich, wie mir schien, zum erstenmal Gottes freie Welt erblickte.
Ich näherte mich bereits dem Ziele meiner Reise, als ich in dem kleinen Städtchen B., kaum zehn Werst von Stepantschikowo entfernt, an der Schmiede in der nächsten Nähe des Schlagbaums aussteigen mußte, um den gesprungenen Reifen des einen Vorderrades meiner kleinen Postkutsche ausbessern zu lassen. Für die Strecke von zehn Werst, die mir noch bevorstanden, ließ sich die Reparatur leicht machen; daher beschloß ich, so lange daselbst bei der Schmiede zu warten und mich nicht erst in das Städtchen zu begeben. Als ich ausstieg, bemerkte ich einen dicken Herrn, der gleichfalls eine Ausbesserung an seinem Gefährt, einer Landequipage, vornehmen ließ. Er stand, wie ich später erfuhr, schon seit einer Stunde im unerträglichen Sonnenbrand, schrie, schimpfte und trieb mit der ganzen Ungeduld eines Eigensinnigen und ewig Unzufriedenen die Schmiedegesellen, die an seinem prächtigen Wagen arbeiteten, zur Eile an. Ein Blick in das Gesicht dieses Herrn genügte, um in ihm den Typ eines Brummbären zu erkennen. Er war etwa fünfundvierzig Jahre alt, mittelgroß, sehr dick und pockennarbig. Sein Schmerbauch, das Doppelkinn, die aufgeblasenen, hängenden Wangen zeigten anschaulich, daß er ein bequemes Gutsherrnleben führte. Es war etwas Weibisches an ihm, das sofort ins Auge fiel. Seine Kleider waren sehr breit zugeschnitten, jedenfalls beengten sie ihn nicht, waren sauber und nicht billig, doch nicht gerade allzu modisch.
Ich weiß nicht, weshalb er sich sogleich über mich ärgerte, wozu er doch um so weniger Veranlassung hatte, als er mich zum erstenmal im Leben sah und noch kein Wort mit mir gesprochen hatte. Seinen Ärger aber bemerkte ich sofort an seinem unglaublich wütenden Blick, den er auf mich richtete, als ich kaum meinen Fuß auf die Landstraße gesetzt hatte. Gleichwohl wollte ich ihn ungeheuer gern näher kennen lernen. Aus dem Gespräch seiner Leute erriet ich, daß er aus Stepantschikowo kam, wahrscheinlich also von einem Besuch bei meinem Onkel nach Hause fuhr – so war’s denn doppelt begreiflich, daß ich ihn gern ein wenig ausgefragt hätte, um mir von dem, was mich erwartete, ein Bild machen zu können. Ich lüftete also den Hut und bemühte mich, möglichst liebenswürdig zu bemerken, wie unangenehm doch solch unfreiwilliger Aufenthalt unterwegs zu sein pflege – aber der dicke Herr maß mich nur mit einem unzufriedenen, mürrischen Blick vom Hut bis zu den Stiefeln, brummte darauf etwas Unverständliches in seinen Schnurrbart und drehte mir dann behäbig seine Rückseite zu. Wenn nun auch dieser Teil seiner Person für einen Beobachter ein sehr bemerkenswertes Objekt abgegeben hätte – eine angenehme Unterhaltung war von ihm nicht zu erwarten.
„Grischka! Was brummst du da wieder! Durchbleuen werde ich dich!“ schrie er plötzlich seinen Diener an, als hätte er meine Äußerung über die Unterbrechungen einer Reise überhaupt nicht gehört.
Dieser „Grischka“ war ein alter Kammerdiener mit langem, grauem Backenbart und in einem langschößigen Dienerrock. Nach einigen Anzeichen zu urteilen, war er gleichfalls sehr schlechter Laune. Er knurrte beständig etwas vor sich hin. So kam es denn zwischen dem Herrn und dem Diener alsbald zu einer Auseinandersetzung.
„Durchbleuen! Schrei nur noch mehr!“ brummte Grischka, anscheinend nur vor sich hin – tat es aber doch so laut, daß alle es hörten – und wandte sich unwillig weg, um sich am Wagen zu schaffen zu machen.
„Was? Was sagst du? ‚Schrei nur noch mehr?‘ Willst du grob werden!“ schrie der Dicke, puterrot im Gesicht.
„Weshalb belieben der Herr über einen herzufallen? Man darf wohl kein Wort mehr sagen?“
„Wieso herzufallen? Hört ihr, Leute? Selbst knurrst du die ganze Zeit, und dann soll ich nicht einmal über dich herfallen!“
„Weshalb soll ich denn knurren, möcht’ ich wissen!“
„Weshalb! ... Als ob! ... Ich weiß ja ganz genau, weshalb du knurrst: weil ich vom Mittagsmahl weggefahren bin, – deshalb!“
„Was geht das mich an! Meinethalben brauchten der Herr überhaupt nicht zu essen! Ich knurre nicht des Essens wegen, ich habe hier nur den Schmiedegesellen ein Wort gesagt.“
„Den Schmiedegesellen ... Was hast du denn für einen Grund, die Schmiedegesellen anzuknurren?“
„Nu, wenn nicht sie, dann knurre ich eben die Equipage an.“
„Was hast du denn die Equipage anzuknurren?“
„So! – warum ist sie denn entzweigegangen? Hinfort hat sie zu gehorchen und heil zu bleiben!“
„Die Equipage ... Nein, du hast mich angeknurrt, nicht aber die Equipage! Selbst ist er der Schuldige, und dabei schimpft er noch auf mich!“
„Was wollen denn der Herr heute von mir? Kann man mich denn nicht in Ruhe lassen!“
„Weshalb hast du denn während der ganzen Fahrt wie ein Talglicht dagesessen und kein Wort mit mir gesprochen? Sonst bist du doch nicht stumm!“
„Eine Fliege war mir in den Mund geflogen, deshalb schwieg ich und saß wie ein Talglicht, wie der Herr sagen. Soll ich denn Märchen zu erzählen anfangen? So mögen der Herr doch die alte Malanja auf Reisen mitnehmen, wenn der Herr Märchen zu hören liebt.“
Der Dicke tat wohl den Mund auf, um heftig etwas zu erwidern, fand sich aber nicht zurecht und klappte den Mund wieder zu. Er schwieg. Der Diener aber wandte sich, zufrieden mit seiner Dialektik und seinem vor Zeugen bewiesenen Einfluß auf den Herrn, mit doppelter Wichtigkeit an die Schmiedegesellen, um ihnen etwas Besonderes zu erklären.
Mein Annäherungsversuch war also vergeblich gewesen – vielleicht nur wegen meiner Ungeschicklichkeit – doch plötzlich half mir ein unvorhergesehener Zufall.
Aus einer geschlossenen Kutsche, die offenbar seit undenklichen Zeiten ohne Räder vor der Schmiede stand und täglich, doch vergeblich ihre Ausbesserung erwartete, blickte plötzlich durch das Türfenster ein verschlafenes, ungewaschenes Mannsgesicht heraus, über dem die Haare verwühlt zu Berge standen. Kaum war diese Physiognomie im Fenster der Kutschentür erschienen, als plötzlich alle Schmiedegesellen in lautes Gelächter ausbrachen. Die Sache war nämlich die, daß der Betreffende in betrunkenem Zustande von den Schmiedegesellen in diese Kutsche eingeschlossen worden war und nun als Gefangener in ihr saß. Da er inzwischen seinen Rausch ausgeschlafen hatte, bat er nun flehentlich, man möge ihn doch wieder in Freiheit setzen, was natürlich niemand tat. Endlich verlangte er sein Werkzeug, das ihm jemand aus der Schmiede bringen sollte, doch dieses anmaßende Verlangen erheiterte die Zuschauer nur noch mehr.
Es gibt Naturen, denen Gott weiß was alles zur größten Erheiterung dient. Die Grimassen eines Betrunkenen, ein auf der Straße stolpernder oder hinfallender Mensch, ein paar streitende Weiber oder Ähnliches können bei manchen Menschen aus ganz unerklärlichen Gründen das größte Entzücken hervorrufen. Zu diesen Naturen gehörte nun offenbar auch der dicke Gutsbesitzer. Sein Gesicht, das noch vor wenigen Minuten wütend gewesen war, wurde jetzt immer freundlicher, bis schließlich das letzte Wölkchen seines Ärgers daraus verschwand.
„Aber das ist ja doch Wassiljeff?“ fragte er plötzlich sehr interessiert. „Wie ist er denn dorthin geraten?“
„Jawohl, Wassiljeff, Herr! Wassiljeff!“ rief man lachend von allen Seiten.
„Er hat wieder blauen Montag gemacht,“ sagte einer der Schmiedegesellen, ein älterer, langer, hagerer Mann mit pedantischem Gesichtsausdruck und dem offenbaren Bestreben, der erste unter seinen Genossen zu sein. „Er ist vor drei Tagen von seinem Herrn fortgegangen, ist uns auf den Hals gekommen und versteckt sich nun hier. Jetzt will er sein Stemmeisen haben. – Was willst du denn jetzt mit dem Stemmeisen anfangen, du Dummkopf! Willst wahrscheinlich noch dein letztes Werkzeug versetzen!“
„Ach, du, Archipuschka! Geld ist – wie Tauben: es kommt angeflogen und fliegt wieder weg! Laß mich doch um des himmlischen Vaters willen wieder heraus!“ bat Wassiljeff mit hohler, unsicherer Stimme, den Kopf zum Kutschenfenster hinaussteckend.
„Sitz jetzt, hast es verdient, wenn du hineingekommen bist!“ sagte Archip unerbittlich. „Seit drei Tagen bist du ja überhaupt kein Mensch mehr! Heute morgen hat man dich noch in aller Herrgottsfrühe von der Straße aufgelesen und hergeschleppt. Dank dem Schöpfer, daß wir dich versteckt haben. Und deinem Matwei Iljitsch sagten wir, du seist erkrankt: man habe bei dir Anzeichen von schleichendem Faulfieber entdeckt ...“
Alles lachte.
„Aber wo ist denn mein Stemmeisen?“
„Bei unserem Handlanger, – wo soll es denn sein! ... Das ist ein echter Saufbruder, Herr, dieser Wassiljeff.“
„He–he–he! So ein Schuft! Also das ist deine Arbeit in der Stadt: dein Werkzeug versetzen!“ rief der Dicke vollkommen zufrieden, in der angenehmsten Gemütsverfassung aus, und sein Schmerbauch schaukelte zu seinem gemächlichen Lachen.
„Und dabei ist der Kerl ein Tischler, wie man in ganz Moskau keinen findet! Aber da sieh nun einer, wie der Schuft sich aufführt!“ Mit diesen Worten wandte sich der Dicke plötzlich und ganz unerwarteterweise an mich. „Laß ihn heraus, Archip, vielleicht hat er irgend etwas nötig.“
Da der Herr es gesagt hatte, gehorchte man. Der Nagel, mit dem sie die Kutschentür unten zugenagelt hatten, – eigentlich nur um über Wassiljeff lachen zu können, wenn er wieder aufwachte – wurde herausgezogen, und Wassiljeff erschien zerlumpt, beschmutzt und nur halb ausgeschlafen im freien Sonnenlicht.
Er blinzelte, nieste und wankte auf den Beinen; dann legte er die Hand als Schirm über die Augen und sah sich die Umgebung an.
„Wieviel Volk ... wieviel Volk!“ sagte er kopfschüttelnd. „Und alle ... wie man sieht ... nü–üchtern,“ sagte er langsam, wie in traurigen Gedanken, geradezu vorwurfsvoll zu sich selbst. „Nun, guten Morgen, Freunde, zum anbrechenden Tage.“
Wieder lachten alle.
„Zum anbrechenden Tage! Mach doch die Augen auf und sieh, wieviel vom anbrechenden Tage noch übrig ist, du dummer Mensch!“
„Lüg nur, Jemelja, – jetzt ist’s deine Woche.“
„He–he–he! Der Junge ist wirklich nicht übel!“ meinte der Dicke lachend, wieder mit einem freundlichen Blick auf mich. „Aber schämst du dich denn nicht, Wassiljeff?“
„Ach, Herr, es ist doch nur aus Kummer!“ sagte Wassiljeff, schlug abwinkend mit der Hand zur Seite und war offenbar froh darüber, noch einmal von seinem Kummer reden zu können.
„Was ist denn das für ein Kummer, Esel?“
„Das ist nun so einer, wie man ihn bisher noch nie gesehen hat: man überschreibt uns auf Foma Fomitsch.“
„Auf – wen? Was? Wann?“ schrie der Dicke, im Augenblick außer sich geratend.
Ich trat gleichfalls einen Schritt vor: die Sache ging plötzlich auch mich etwas an.
„Jawohl, ganz Kapitonowka. Unser Herr, der Oberst – Gott erhalte ihn! – will ganz Kapitonowka, sein väterliches Erbgut, dem Foma Fomitsch opfern, ganze siebzig Seelen. ‚Da hast du es,‘ sagte er, ‚Foma! Sieh, jetzt gehört dir ja so gut wie nichts; du bist kein großer Gutsbesitzer: im ganzen arbeiten für dich zwei Stinten im Ladogasee – das ist alles, was dir dein Verstorbener Vater an Besitz hinterlassen hat; denn dein Vater war,‘“ fuhr Wassiljeff mit einem gewissen boshaften Vergnügen fort, als wolle er auf jedes Wort, das sich auf Foma Fomitsch bezog, gewissermaßen noch Pfeffer streuen; „‚denn dein Vater war ein Mann von altem Adel, unbekannt woher, unbekannt wer; und ebenso wie du hat er bei Herren das Gnadenbrot gegessen und hat sich dank ihrer Barmherzigkeit in den Küchen aufhalten dürfen. Nun aber, wenn ich dir Kapitonowka schenke, wirst auch du ein Gutsbesitzer sein, ein alter Adliger, und du wirst deine eigenen Leute haben, kannst selbst auf dem Ofen liegen, ein adliges Leben führen‘ ...“
Doch der Dicke hörte nicht mehr zu. Der Eindruck, den diese Erzählung des halbbetrunkenen Wassiljeff auf ihn machte, war unbeschreiblich: er war dermaßen empört und aufgeregt, daß sein Gesicht blaurot wurde. Sein Doppelkinn zitterte, seine Augen waren blutunterlaufen. Ich fürchtete schon, daß ihn der Schlag rühren werde.
„Das fehlte noch!!“ stieß er atemlos hervor. „Dieser Foma als Gutsbesitzer!! Pfui! Hol euch der Satan! He, ihr da! Schneller! Macht, daß ihr fertig werdet! Nach Haus!“
„Gestatten Sie mir eine Frage,“ begann ich und trat etwas unsicher einen Schritt vor, „Sie nannten soeben den Namen Foma Fomitsch; ich glaube, sein Familienname ist, wenn ich mich nicht täusche – Opiskin. Ich würde gern ... mit einem Wort, ich habe besondere Gründe, mich für diese Persönlichkeit zu interessieren, und würde daher gern wissen wollen, inwieweit man den Worten dieses Menschen da“ – ich wies auf Wassiljeff – „trauen kann, daß sein Gutsherr Jegor Iljitsch Rostaneff eines seiner kleineren Güter Foma Fomitsch schenken will. Das interessiert mich sehr, und ich ...“
„Aber gestatten Sie zuerst, daß ich Sie frage,“ unterbrach mich der Dicke, „von welcher Seite Sie sich für diese Persönlichkeit, wie Sie sagen, interessieren; denn meiner Ansicht nach müßte man ihn einen gottverfluchten Schurken nennen, aber nicht Persönlichkeit! Was kann denn dieser Grindkopf überhaupt für eine ‚Persönlichkeit‘ sein! Nichts als Schmach und Schande ist der ganze Kerl, aber nicht eine ‚Persönlichkeit‘!“
Ich erklärte ihm hierauf, daß ich mich bezüglich seiner Person vorläufig noch in völliger Ungewißheit befände, daß aber Jegor Iljitsch Rostaneff mein Onkel sei und ich – Ssergei Alexandrowitsch soundso heiße und sei.
„Was! Dann sind Sie also dieser Gelehrte aus Petersburg? Gott im Himmel, man erwartet Sie ja dort sehnsüchtig!“ rief der Dicke in unbegreiflicher Freude aus. „Ich komme ja doch soeben selbst aus Stepantschikowo, stand vom Mittagstisch auf und fuhr weg, gleich vom Pudding weg! Konnte nicht länger mit Foma an einem Tisch sitzen! Habe mich dort wegen dieses verfluchten Fomka mit allen herumgeschimpft und -gestritten! ... Doch das nenne ich mir mal eine Begegnung! Aber Sie, wissen Sie, Sie müssen mich schon entschuldigen. Ich bin Stepan Alexeïtsch Bachtschejeff und erinnere mich Ihrer, als Sie noch so ’n Stöpselchen waren ... Nun, wer hätte das gedacht! ... Aber so woll’n wir uns doch gleich ...“
Und der Dicke küßte mich ab.
Nach den ersten etwas erregten Minuten der neuen Bekanntschaft benutzte ich die günstige Gelegenheit, um ihn auszufragen.
„Aber wer ist denn dieser Foma nun eigentlich?“ fragte ich. „Wie hat er denn dort das ganze Haus erobern können? Warum jagt man ihn denn nicht mit der Peitsche hinaus? Ich muß gestehen ...“
„Wen? – ihn? hinausjagen? Sie sind wohl ganz ...? Jegor Iljitsch wagt ja doch kaum auf den Fußspitzen zu gehen, wenn Foma in der Nähe ist! Und einmal befahl Foma, daß es statt Donnerstag Mittwoch sein solle: und so haben sie denn dort alle bis auf den Letzten den Donnerstag für Mittwoch halten müssen. ‚Ich will nicht,‘ sagte er, ‚daß heute Donnerstag ist; ich will, daß heute Mittwoch ist!‘ Auf diese Weise hatten sie dann in einer Woche zweimal Mittwoch und keinen Donnerstag. Sie glauben vielleicht, daß ich aufschneide? Nicht so viel habe ich aufgeschnitten! Es ist einfach, um Reißaus zu nehmen!“
„Ich habe so manches gehört, aber ich muß gestehen ...“
„Ach Gott! Gestehen und gestehen, etwas anderes hört man von Ihnen nicht! Was gestehen Sie denn ewig? Fragen Sie mich doch rundweg, was Sie fragen wollen! ... Und Jegor Iljitschs Mamachen, na ja, Sie wissen schon, – ist ja sonst eine ganz würdige alte Dame, obendrein auch noch Generalin – ich aber kann nur sagen, daß ich sie total verrückt finde: sie wagt ja den Fomka, den Räuber, nicht einmal anzuhauchen! Und schließlich ist sie allein an allem schuld: sie hat ihn doch ins Haus gebracht! Er scheint sie vollkommen behext zu haben. Dumm geworden ist sie, wenn sie sich jetzt auch Exzellenz nennt ... Hat sie sich doch mit nahe fünfzig Jahren dem alten Krachotkin an den Hals geworfen! Von der Schwester Jegor Iljitschs, der Praskowja Iljinitschna, die schon das vierzigste Jahr als Mädchen dasitzt, will ich überhaupt nicht reden. Von der hört man nur ach und weh, wie von einer Henne, die ein Ei legen will – hab’s satt – na! Das einzige, was noch an ihr ist – ist, daß sie zum weiblichen Geschlecht gehört, das ist aber auch alles: jetzt acht’ einer sie dafür! – nur eben, weil sie Dame ist! Pfui! Aber was red’ ich da, das ist ja doch unanständig von mir: sie ist ja Ihre Tante. Nur die Alexandra Jegorowna, Ssaschenjka – die Tochter des Obersten, – ist ja noch ’n kleines Mädel, erst sechzehn Lenze, ist aber klüger als alle die anderen zusammengenommen: die verachtet den Fomka, wie es sich gehört! War sogar spaßig zu beobachten. Ein nettes, liebes Fräuleinchen, nja, nichts zu sagen ... Weswegen, sagen Sie doch selbst, soll man ihn denn achten? Er hat doch, dieser Fomka, beim verstorbenen General Krachotkin als Narr das Gnadenbrot gefressen! Er hat ja doch, wenn jener befahl, alle Tiere nachahmen müssen! Das ist ja – ‚früher hat Wanjka Erde gegraben, heute will Wanjka den Marschallstab haben!‘ Jetzt behandelt der Oberst, Ihr Onkel, diesen Narren a. D. wie seinen leiblichen Vater, setzt ihn unter Glas womöglich, macht noch Bücklinge vor diesem Schmarotzer, – oh, pfui!“
„Nun ... Armut ist doch keine Schande ... und ... ich muß gestehen ... Erlauben Sie, daß ich frage: ist er schön, klug?“
„Wer das? – Foma? ... Wie ein Bild! Wunderbar schön!“ antwortete Bachtschejeff mit einem ganz eigentümlichen Zittern in der Stimme, das deutlich seine Wut verriet. Meine Fragen reizten ihn offenbar, und er sah mich etwas mißtrauisch von der Seite an. „Schön? Hört doch, der hat jetzt einen Schönen entdeckt! Großer Gott, er ähnelt ja allen Tieren, wenn du nun einmal alles wissen willst! Ich würde ja nichts sagen, wenn er noch wenigstens geistreich wäre, wenn der Schuft es mit Geist und Verstand machen würde, – nun, dann würde ich’s noch hinnehmen, den Schmerz verbeißen, um des Geistes willen, ... Aber er hat ja überhaupt keinen! Ich kann nur sagen, er hat ihnen allen einen Trank zu trinken gegeben und ist einfach irgend so ein Schwarzkünstler. Pfui! ... Meine Zunge ist matt. Man kann nur einfach zur Seite speien und weggehen. Und schweigen. Sie haben mich mit Ihrem Gespräch nur wieder in Wut gebracht! He, ihr da! Seid ihr endlich fertig?“
„Der Schwarze muß noch neu beschlagen werden,“ brummte Grigorij mürrisch.
„Der Schwarze ... Ich werde dir zeigen, was ein Schwarzer ist! ... Ja, mein Bester, ich kann Ihnen Dinge erzählen, Dinge, sag’ ich Ihnen, daß Sie nur so den Mund aufsperren und bis zur Wiederkunft des Herrn mit offenem Munde stehen bleiben. Ich habe ihn doch anfangs gleichfalls geachtet! Was glauben Sie? Jetzt tue ich Buße und schwöre öffentlich: ich war ein Esel! Er hatte ja auch mich beschwindelt. Der Kerl wußte alles! Jedes letzte Tüttelchen wußte er, alle Wissenschaften hatte er im Kopf! Tropfen gab er mir: ich bin ja doch, Väterchen, ein kranker Mensch. Sie glauben es mir vielleicht nicht, aber ich bin wirklich krank, – wovon bin ich denn so dick? Nun, damals aber, von seinen Tropfen, wäre ich fast kopfüber in die Grube gefahren. Schweigen Sie nur und hören Sie zu: wenn Sie hinkommen, werden Sie mit eigenen Augen sehen. Er wird ja dem Obersten noch blutige Tränen herauspressen, jawohl! – blutige Tränen wird der Oberst weinen, aber dann wird es zu spät sein! Hat doch schon die ganze Umgegend wegen dieses vermaledeiten Fomka den Verkehr mit ihm abgebrochen! Beleidigt doch der Kerl ungestraft einen jeden, der über die Schwelle tritt! Von mir ganz zu schweigen: selbst die größten Potentaten würde er nicht verschonen. Einem jeden hält er seine Predigt; denn er hat sich jetzt auf die Moral gelegt, der Spitzbube! ‚Ich bin ein Weiser, ich bin der Klügste von allen, auf mich allein hast du zu hören!‘ Das sind so seine Worte. ‚Ich bin gelehrt,‘ und damit basta! Was geht das mich an, ob er gelehrt ist oder nicht! Also bloß weil man gelehrt ist, muß man den Ungelehrten unbedingt auspressen? ... Und wenn er dann einmal loslegt mit seiner Gelehrsamkeit, dann hat es keinen Anfang und kein Ende, nur ta-ta-ta, ta-ta-ta, ta-ta-ta schlägt ins Ohr. Das heißt, er hat eine solche Zunge, sag’ ich Ihnen, daß sie selbst dann, wenn man sie abschneiden und hinaus auf den Misthaufen werfen würde, – selbst dann würde sie noch endlos weitertattern wie eine Nähmaschine ... Jetzt nimmt er sich viel heraus, jetzt ist er wichtig wie eine Maus in der Grütze! Jetzt will er schon dorthin kriechen, wohin nicht einmal sein Kopf durchkriechen kann. Aber was soll man da reden! Ist es ihm doch jetzt eingefallen, das ganze Hofgesinde französische Vokabeln lernen zu lassen! Wenn Sie nicht wollen, brauchen Sie es mir ja nicht zu glauben. Das bringe ihnen, sagt er, großen Nutzen! Dem Landbauer also, dem Knecht! Pfui! So ein verfluchter Schandkerl! – mehr ist er wirklich nicht. Wozu braucht ein Leibeigener Französisch, was fängt er damit an? – ich bitt’ Sie! Und selbst wir, wozu braucht denn unsereiner Französisch, frage ich Sie bloß? Um jungen Damen bei der Mazurka den Kopf zu verdrehen und fremde Frauen zu verführen! Luxus, Luxus, und nichts weiter!! Meiner Meinung nach – trink eine Flasche Branntwein aus, und du sprichst von selbst alle Sprachen. Das ist alles, was ich an Hochachtung für die französische Sprache übrig habe. Na, auch Sie werden ja wohl gut französisch plappern, tatata, tatata, patati und patata!“ Bachtschejeff sah mich mit verachtendem Unwillen von der Seite an. „Sie, mein Lieber, sind doch auch ein Gelehrter – wie? Haben sich doch auch auf die Gelehrsamkeit gelegt?“
„Ja ... ich ... zum Teil interessiere ich mich ...“
„Da haben Sie denn vielleicht auch schon alle Wissenschaften in sich aufgenommen?“
„Ja ... das heißt, nein ... Ich muß gestehen, daß ich jetzt mehr für das Beobachten bin. Ich habe so lange in Petersburg gesessen und beeile mich nun, zu meinem Onkel zu kommen ...“
„Wer hat Sie denn darum gebeten? Wären Sie doch dort bei sich sitzen geblieben, wenn Sie etwas hatten, wo Sie sitzen konnten. Nein, mein Bester, hier, das sage ich Ihnen, werden Sie mit Gelehrsamkeit wenig ausrichten, und da wird Ihnen kein Onkel helfen – da haben Sie sogleich den Fangriemen um den Hals. Ich habe bei ihm an einem einzigen Tage bedeutend abgenommen. Jawohl! – Werden Sie es mir glauben, daß ich dort in vierundzwanzig Stunden magerer geworden bin? Nein, ich sehe schon, Sie glauben es mir nicht. Nun, dann, meinetwegen, Gott mit Ihnen, dann glauben Sie es eben nicht.“
„Aber wieso, ich glaube es Ihnen durchaus! Nur ist mir einiges noch etwas unverständlich ...“ beeilte ich mich zu versichern, geriet aber wieder in Verwirrung.
„Kennt man, dieses Glauben ... aber ich glaube Ihnen nicht! Alle seid ihr Springer – soviel es nur Gelehrte gibt. Ihr würdet am liebsten jeder auf einem Bein hopsen und euch bewundern lassen! Nein, mein Bester, diese Wissenschaften sind nicht mein Fall, ich kann sie nicht verdauen. Hab’ mich mit euch Petersburgern genug gerieben – unnützes Volk. Alles Freimaurer. Verbreiten nur Unglauben. Selbst ein Gläschen Branntwein hat er Angst auszutrinken, so’n Gelehrter, ganz als fürchtete er, daß es ihn beißen könnte – pfui! Nein, mein Bester, Sie haben mich jetzt geärgert, will mit Ihnen gar nicht mehr weiter sprechen. Und ich bin doch auch wirklich nicht dazu da, um hier Geschichten zu erzählen. Meine Zunge ist ohnehin schon müde. Alle, Väterchen, kann man ja doch nicht ausschimpfen, und es wäre auch Sünde ... Nun hat er bei Ihrem Onkel den Diener Widopljässoff buchstäblich um den Verstand gebracht, dein großer Gelehrter da! Jawohl, nur dank Foma Fomitsch ist Widopljässoff übergeschnappt ...“
„Ich aber würde den Widopljässoff,“ mischte sich plötzlich Grigorij ein, der bis dahin würdevoll und stumm unsere Unterhaltung verfolgt hatte, „ich aber würde diesen Widopljässoff unter den Ruten überhaupt nicht mehr aufstehen lassen! Käme er mir nur zwischen die Finger, so würde ich ihm diese deutschen Albernheiten ein für allemal ausbläuen! Würde ihm so viele aufzählen, daß er mit den Zahlen zu kurz käme!“
„Schweig!“ schrie ihn sein Herr an. „Halt deine Zunge hinter den Zähnen fest, nicht mit dir wird gesprochen!“
„Widopljässoff ...“ stotterte ich, nun ganz aus der Fassung gebracht – wenn ich nur gewußt hätte, was ich sagen sollte! „Widopljässoff ... sagen Sie doch, welch ein sonderbarer Name ...“
„Weshalb denn sonderbar? Da stimmen auch Sie dasselbe Lied an! Ach, Sie! Gelehrt natürlich, gelehrt!“
Doch jetzt riß meine Geduld.
„Entschuldigen Sie,“ sagte ich, „weshalb ärgern Sie sich denn über mich? Was habe ich denn mit all dem zu tun? Ich höre Ihnen nun schon seit einer halben Stunde zu und begreife nicht einmal, um was es sich handelt ...“
„Ja, aber weshalb ärgern Sie sich denn, mein Gutester?“ fragte der Dicke naiv. „Es ist doch nichts, was Sie kränken könnte! Ich habe doch in aller Liebe zu dir gesprochen, mein Lieber ... Beachten Sie es weiter nicht, daß ich ein solcher Schreihals bin und soeben noch meinen Diener angeschnauzt habe. Wenn er auch eine notorische Kanaille ist, mein Grischka, so liebe ich ihn ja doch gerade deswegen, den Schuft. Meine Herzensempfindsamkeit allein hat mich ins Unglück gebracht – ganz offen und ehrlich gesagt. Aber an dieser ganzen Geschichte ist doch nur Fomka schuld! Der bringt mich noch ins Grab, darauf kann ich schwören, der kriegt’s fertig! Dank seiner Gnaden muß ich hier die zweite Stunde in der Sonne braten. Wollte zuerst beim Oberpopen vorsprechen, solange wie diese Duselköpfe hier den Schaden wieder ausbessern. Ein guter Mensch, dieser Oberpope. Aber der Fomka hat mich dermaßen geärgert, daß ich auch den Oberpopen nicht mehr sehen wollte! Na, und überhaupt! Hier aber gibt es ja nicht einmal ein anständiges Frühstückslokal ... Alle sind Schufte, das sage ich Ihnen, alle bis auf den Letzten! ... Ich würde ja nichts sagen, wenn er ein großes Tier wäre,“ fuhr Herr Bachtschejeff fort, sich wieder dem Thema Foma Fomitsch zuwendend, von dem er sich offenbar nicht zu trennen vermochte, „dann würde es noch mit dem Titel, den er führte, halbwegs zu erklären sein; aber so! Er hat ja überhaupt keinen Rang, ich weiß es tödlich sicher, daß er nicht den geringsten Titel hat! Für Recht und Wahrheit, sagt er, soll er dort irgendwo ‚gelitten‘ haben, vor Olims Zeiten vielleicht: und so knie jetzt dafür gefälligst vor ihm nieder! Der Teufel ist doch nicht unser Bruder! Ist ihm nur etwas nicht ganz nach der Nase, so springt er auf, schreit: ‚Man beleidigt mich, patati! – weil ich arm bin, patata! – man hat keine Ehrfurcht vor mir!‘ Ohne Foma darfst du dich nicht an den Tisch setzen, er aber sitzt in seinem Zimmer und kommt nicht; denn ‚man hat mich beleidigt, ich bin ein Gottespilger, kann mich auch von schwarzem Brote nähren.‘ Kaum aber hat man sich zu Tisch gesetzt, da erscheint er wieder, und da fängt das Lied von neuem an: ‚Weshalb hat man sich ohne mich zu Tisch gesetzt? Also so gering achtet man mich!‘ Kurz – dieselbe Tonart! Ich, wissen Sie, ich habe lange geschwiegen. Er glaubte, daß auch ich wie ein dressiertes Hündchen auf den Hinterbeinen apportieren würde. Jawohl ja! Das fehlte noch! Nein, mein Lieber, spring du mal selbst auf den Kutschersitz, ich werde mich in den Wagen setzen! Ich bin doch Jegor Iljitschs Regimentskamerad! Ich trat als Junker aus, er aber kam vor einem Jahr als Oberst a. D. auf mein Stammgut und stattete mir seinen Besuch ab. Da sagte ich ihm gleich: ‚He, mein Bester, verwöhnen Sie den Foma nicht so sehr, Sie wissen nicht, was Sie tun, Sie werden es noch bereuen!‘ Er aber sagte: ‚Nein, er ist ein überaus guter Mensch‘ – das sagt er von Fomka! – ‚er ist mein Freund, er unterrichtet mich jetzt in der Moral.‘ Na, dachte ich da bei mir, gegen die Moral ist nichts zu machen! Wenn er bereits bei dieser angelangt ist, dann gib die letzte Hoffnung auf! Was glauben Sie wohl, weshalb er es heute zu dem Skandal gebracht hat? Morgen, an Sankt-Elias-Tag (Herr Bachtschejeff bekreuzte sich) ist Iljuschas, des kleinen Iljuschas Namensfest. Ich hatte eigentlich die Absicht, auch diesen Tag bei ihnen zu verbringen, zum Essen zu bleiben, und verschrieb mir aus der Residenz ein Spielzeug: ein Deutscher auf Sprungfedern küßt seiner Braut die Hand, und diese wischt sich mit dem Schnupftuch eine Träne ab – ein großartiges Ding! Jetzt aber werde ich es nicht mehr schenken, prost Mahlzeit! Sehen Sie, da liegt das Ding in meinem Wagen, dem Deutschen ist schon die Nase abgeschlagen. Bring’s zurück. Jegor Iljitsch feiert bei solcher Gelegenheit ganz gern ein Fest, nun aber kommt der Fomka dazwischen und verpfuscht ihm das Vergnügen. ‚Weshalb beschäftigt man sich denn jetzt mit Iljuscha so sehr? Man will wohl mich von nun an überhaupt nicht mehr beachten?‘ Nun, was sagen Sie dazu? Wie gefällt er Ihnen? Beneidet einen achtjährigen Knaben wegen dessen Namenstag! ‚Aber nein,‘ sagte er, ‚ich habe morgen gleichfalls meinen Namenstag!‘ Aber morgen ist doch Ilja und nicht Foma! ‚Nein,‘ sagt er, ‚ich feiere morgen gleichfalls meinen Namenstag!‘ Ich schweige, sage kein Wort, dulde stumm. Und was glauben Sie? Jetzt schleichen sie dort alle auf den Zehenspitzen umher und beraten sich tuschelnd, was sie nun tun sollen! Sollen sie ihm nun morgen, am Eliastage, zum Namensfest gratulieren oder sollen sie ihm nicht gratulieren? – Unterlassen sie es, so kann er sich wieder beleidigt fühlen – gratulieren sie ihm aber, so kann er sie alle verspotten. Pfui! Da setzten wir uns nun zu Tisch ... Aber du, mein Bester, hörst du mir denn überhaupt zu?“
„Aber gewiß! – sogar mit besonderem Vergnügen; denn durch Sie erst erfahre ich jetzt ... und ... ich gestehe ...“
„Jawohl, mit besonderem Vergnügen, das kennt man! Dieses Vergnügen ... Oder soll das etwa Ironie sein?“
„Aber ich bitte Sie, aus welchem Grunde denn Ironie? Ganz im Gegenteil. Und zudem ... drücken Sie sich so originell aus, daß ich schon bei mir beschlossen habe, Ihre Worte niederzuschreiben.“
„Was ... was heißt das, Väterchen, wieso niederzuschreiben?“ fragte Herr Bachtschejeff mit einem gelinden Schrecken im Gesicht und blickte mich mißtrauisch an.
„Übrigens, ich werde sie vielleicht auch nicht niederschreiben ... ich sagte es nur so ...“
„Du willst mich doch sicherlich irgendwie ausnutzen?“
„Wie meinen Sie das? Ich verstehe Sie nicht,“ sagte ich verwundert.
„Ja so. Ich erzähle dir jetzt alles wie ein gutmütiger Esel, und du schilderst mich dann plötzlich in irgendeinem Buch.“
Ich beeilte mich sogleich, Herrn Bachtschejeff zu versichern, daß ich nicht zu jenen Schriftstellern gehöre – er aber sah mich immer noch mißtrauisch an.
„Jawohl ja – nicht zu jenen! Wer kennt dich denn! Vielleicht bist du noch toller als jene. Da hat mir nun auch Fomka gedroht, mich zu beschreiben und das Geschriebene drucken zu lassen.“
„Gestatten Sie mir eine Frage,“ unterbrach ich ihn, da ich dem Gespräch eine andere Wendung geben wollte. „Sagen Sie, bitte, ist es wahr, daß mein Onkel heiraten will?“
„Was wäre denn dabei, wenn er’s will? Das wäre ja weiter noch nicht schlimm. Mag der Mensch doch heiraten, wenn es ihm so nahe geht! ... Schlimm aber ist das andere ...“ fügte Herr Bachtschejeff nachdenklich hinzu. „Hm! Aber hierüber, mein Bester, kann ich Ihnen keine bestimmte Auskunft geben. Es haben sich dort jetzt viel Weibsbilder versammelt, wie die Fliegen um den Honig; da wird kein Teufel daraus klug, wer von ihnen nun heiraten will, und wer nicht. Ich werde Ihnen, mein Lieber, in aller Freundschaft nur eines sagen: ich mag die ganze Weiberbande nicht! Das einzige ist noch, daß sie Menschen sind; aber sonst, auf Ehrenwort, ist es doch nichts als eine Schande mit den Weibern und kommt dem Heil unserer Seelen nicht zustatten. Daß aber Ihr Onkel verliebt ist wie ein sibirischer Kater, dessen kann ich Sie versichern. Aber auch darüber will ich jetzt schweigen, Sie werden es ja selbst sehen ... Dumm ist nur, daß er die Sache aufschiebt. Willst du heiraten, so heirate! Er aber fürchtet sich, es Fomka zu sagen, und fürchtet auch die Alte: die würde sofort für sieben losschreien und würde noch mit den Hinterbeinen ausschlagen. Die Alte steht natürlich auf Fomkas Seite; denn sieh, es würde Foma Fomitsch betrüben, wenn eine junge Herrin ins Haus käme, sintemal er dann keine Stunde mehr daselbst verweilen könnte. Die Hausfrau würde ihn womöglich eigenhändig am Kragen fassen und hinauswerfen, und wenn sie klug ist, auf eine solche Weise, daß er später schwerlich hier irgendwo eine Unterkunft auch nur als Schreiberlein finden würde. Deshalb intrigiert er ja auch jetzt zusammen mit der Alten, um ihn zu verkuppeln mit dieser ... Aber du, mein Gutester, warum hast du mich denn unterbrochen? Ich wollte dir vorhin gerade das Wichtigste erzählen, du aber unterbrachst mich! Ich bin älter als du, einen Älteren unterbrechen, das soll man nicht ...“
Ich machte meine Entschuldigung.
„Wozu entschuldigst du dich! Aber ich wollte dir, mein Lieber, als einem Gelehrten zur Entscheidung unterbreiten, wie er mich heute beleidigt hat. Nun, denk und sage selbst, wenn du ein guter Mensch bist. Wir setzten uns also zu Tisch: da hat er mich, sag’ ich dir, fast aufgefressen, der Verfluchte, während der Mahlzeit. Ich sah es ihm von vornherein an, was in ihm vorging: er sitzt und ärgert sich, daß seine ganze Seele knirscht. Würde mich auch in einem Löffel voll Wasser mit Freuden ersäufen, diese Giftblase! Dieser Mensch hat eine solche Eigenliebe, daß er sie kaum noch in sich selbst unterbringen kann! Und da fiel es ihm denn ein, auch mich zu schikanieren, wollte auch mir Moral beibringen. Weshalb – bitte, antworten Sie ihm darauf! – weshalb ich so dick sei?! Und das war nun sein Steckenpferd: weshalb bin ich nicht dünn, sondern dick! Nun, sagen Sie doch selbst, mein Lieber, was ist denn das für eine Frage? Ist denn das geistreich? Ich antworte ihm also: ‚Das hat Gott der Herr schon so eingerichtet: der eine ist dünn, der andere dick; gegen die allweise Vorsehung kann ein Sterblicher sich nicht auflehnen.‘ Das war doch ganz vernünftig geantwortet – finden Sie nicht? ‚Nun,‘ sagt er, ‚du hast fünfhundert Seelen, lebst von den Zinsen, bringst aber dem Vaterlande keinen Nutzen: dienen muß man, du aber sitzt zu Hause und spielst auf dem Harmonium.‘ Das ist nun wahr, ich spiele gern, wenn mir mal so traurig zumute ist, auf meinem Harmonium. Ich also antworte ihm wieder ganz vernünftig: ‚In welchen Dienst soll ich denn eintreten, Foma Fomitsch? In welch eine Uniform soll ich mich dicken Menschen denn hineinzwängen? Ziehe ich eine an – mit genauer Not geht’s vielleicht –, so ist es doch nicht ausgeschlossen, daß ich plötzlich niese und alle Knöpfe abspringen, was in Gegenwart der höchsten Vorgesetzten geschehen kann, und wenn man dann – Gott behüte! – das Unglück nur fürs eine Farce hält, was dann?‘ Nun, sagen Sie doch, mein Gutester, was habe ich denn damit Lachhaftes gesagt? Aber nein, er muß lachen, auf meine Kosten, versteht sich, und das Gekicher hört gar nicht mehr auf, hahaha und hihihi ... Schamgefühl hat er überhaupt nicht, das sage ich Ihnen, und da fiel es ihm noch ein, mich auf französisch zu beschimpfen: ‚Cochon,‘ sagte er. Na, was Cochon heißt, weiß auch ich. Wart, du verfluchter Schwarzkünstler, denke ich, du glaubst wohl, daß du in mir einen dummen Jungen vor dir hast? Ich schwieg aber, litt wortlos und schwieg, – dann aber hielt ich es nicht mehr aus, stand auf und sagte ihm in Gegenwart der ganzen Versammlung ins Gesicht: ‚Ich habe dir unrecht getan,‘ sage ich, ‚Foma Fomitsch, du Wohltäter der Menschheit; denn ich glaubte von dir, daß du ein wohlerzogener Mensch seiest, nun aber stellt es sich heraus, daß du ebenso ein Schwein bist wie wir alle,‘ – sagte es, stand auf und ging fort, ließ den Pudding stehen, wo er stand – der Pudding wurde gerade herumgereicht. Daß euch mitsamt dem ganzen Pudding ...! dachte ich und ging.“
„Entschuldigen Sie, bitte,“ sagte ich, nachdem ich die ganze Erzählung Herrn Bachtschejeffs angehört hatte, „ich bin natürlich gern bereit, Ihnen in allem zuzustimmen, zumal ich ja noch nichts Positives weiß ... Aber, wie soll ich Ihnen sagen, – es haben sich jetzt in mir gewisse Ideen bezüglich dieser Person gebildet ...“
„Was sind denn das für Ideen, Väterchen, die sich in dir gebildet haben?“ fragte Herr Bachtschejeff mißtrauisch.
„Sehen Sie,“ begann ich, ein wenig verwirrt, „es ist vielleicht zu etwas ungelegener Zeit ... aber, schließlich, ich werde Ihnen meine Gedanken gern mitteilen. Ich denke mir folgendes: vielleicht täuschen wir uns beide über Foma Fomitsch. Vielleicht verhüllen alle diese Eigenheiten eine besondere, vielleicht sogar sehr reiche Natur – wer kann das wissen? Vielleicht ist er ein verbitterter, durch Leiden vernichteter Mensch, der sich sozusagen an der ganzen Menschheit dafür rächt? Ich habe gehört, früher soll er so etwas ... so etwas wie ein Hausnarr gewesen sein: vielleicht hat ihn das gar zu sehr erniedrigt, beleidigt, vernichtet? Verstehen Sie mich recht: ein edler Mensch ... mit einem gewissen Selbstbewußtsein ... und der muß nun plötzlich den Narren spielen! ... Da ist er denn vielleicht der ganzen Menschheit gegenüber mißtrauisch geworden und ... und vielleicht, wenn man ihn mit der Menschheit aussöhnen würde ..., das heißt, mit den Menschen ... so würde sich in ihm vielleicht eine reichbegabte oder jedenfalls bemerkenswerte Natur offenbaren, und ... nein, es muß doch etwas Besonderes an ihm sein! Es muß doch seinen guten Grund haben, warum ihn dort alle anbeten!“
Ich fühlte, daß ich ganz aus dem Konzept gekommen war. Bei meiner Jugend war das ja noch verzeihlich, aber Herr Bachtschejeff verzieh es mir nicht. Ernst und streng blickte er mir in die Augen, und dann wurde er plötzlich blaurot im Gesicht, wie ein Truthahn.
„Und das alles soll dieser Fomka sein?“ stieß er kurz hervor.
„Entschuldigen Sie, ich glaube ja selbst nicht an das, was ich soeben gesagt habe ... Ich sagte es nur so ... es wäre doch möglich ...“
„Aber erlauben Sie mal, Sie eines zu fragen: haben Sie Philosophie studiert?“
„Daß heißt, in welchem Sinne?“ fragte ich verwundert.
„Nein, nicht in welchem Sinne, sondern antworten Sie mir offen und ohne alle Sinne auf meine Frage: haben Sie Philosophie studiert?“
„Ich muß gestehen, ich habe allerdings die Absicht, aber ...“
„Na ja, wußt’ ich’s doch!“ rief Herr Bachtschejeff aus, indem er seiner Empörung freien Lauf ließ. „Ich, wissen Sie, ich hatt’s ja schon erraten, noch bevor Sie den Mund aufgetan, daß Sie Philosophie studiert haben! Mir wird man kein X für ein U vormachen! Prost Mahlzeit! Auf drei Werst rieche ich den Philosophen heraus! Fahren Sie nur hin, Sie können Ihrem Foma in die Arme sinken und sich gegenseitig abküssen! Da hat er nun einen ‚besonderen‘ Menschen gefunden! Pfui!“ fauchte er wieder. „Ach, mag die ganze Welt versauern! Mag alles untergehen! Und ich glaubte schon, daß Sie ein vernünftiger Mensch seien, Sie aber ... Fahr vor!“ schrie er dem Kutscher zu, der inzwischen auf den Bock der ausgebesserten Equipage hinaufgeklettert war. „Nach Haus!“
Mit genauer Not komm ich ihm noch einige beruhigende Worte sagen. Endlich besänftigte er sich; aber es dauerte doch noch ziemlich lange, bis er sich entschloß, seinen Zorn wieder in Wohlwollen zu verwandeln. Mit Grigorijs und Archips Hilfe stieg er in seine Kutsche.
„Gestatten Sie, daß ich noch eines frage,“ sagte ich, an den Wagenschlag tretend, „werden Sie meinen Onkel nicht mehr besuchen?“
„Ihren Onkel? Nicht mehr besuchen? Wer das glaubt, dem geben Sie ... na, was Sie wollen! Sie denken wohl, daß ich ein Mensch von Charakter bin, daß ich’s durchhalten werde? Das ist ja doch mein ganzes Herzeleid, daß ich ein Lappen bin, aber kein Mensch! Es wird keine Woche vergehen, da kraufe ich wieder hin. Und warum ich’s tue? Sehen Sie, da weiß ich ja selber nicht, aber ich werde wieder hinfahren und werde mich dort wieder mit Foma Fomitsch herumschlagen. Diesen Foma hat mir Gott der Herr sicherlich zur Strafe für meine Sünden auf den Hals geschickt Das ist ja mein Leid, Väterchen, daß ich von Charakter ein Weib bin: von Beständigkeit keine Spur! Ein Hasenfuß bin ich, mein Lieber, ein echter ...“
Wir schieden recht freundschaftlich, er lud mich sogar zu sich ein.
„Komm mal, Väterchen, komm, besuch mich, dann wollen wir uns mal gütlich tun. Ich habe mir ein gewisses Wässerchen aus Kiew bestellt, das ist jetzt eingetroffen, und mein Koch ist in Paris gewesen, der wird dir solche Frikandeaus und Fischpasteten zubereiten, daß du dir nur so die Fingerchen ablecken und ihm, dem Schuft, noch einen Bückling machen wirst! Ist ein gebildeter Mann! Bloß hab’ ich ihn jetzt lange nicht mehr geprügelt, hab’ ihn etwas verwöhnt ... es ist gut, daß man mich wieder daran erinnert hat ... Also komm nur! Ich würde Sie auch heute zu mir auffordern, aber ich bin jetzt doch zu verstimmt, bin ganz sauer geworden, ganz und gar aller Hinterbeine beraubt. Ich bin ja doch ein kranker Mensch. Sie glauben es mir wohl nicht ... Nun, leben Sie wohl, mein Lieber! Es ist Zeit, daß auch mein Schiff in den Hafen einläuft. Da ist ja auch Ihr Vehikel repariert. Dem Fomka aber sagen Sie, daß er mir nicht mehr unter die Augen kommen soll, sonst wird es einen neuen Krach geben, daß er nur so ...“
Die letzten Worte hörte ich nicht mehr. Seine Equipage, die von vier starken Pferden mit einem Ruck angezogen wurde, verschwand hinter Staubwolken. Da fuhr auch meine Postkutsche vor, ich stieg ein, und wir hatten in wenigen Minuten das Städtchen hinter uns.
„Natürlich übertreibt der gute Mann,“ dachte ich, „er ist gar zu wütend, um unparteiisch zu urteilen. Aber andererseits ... was er da von meinem Onkel sagt, ist noch sehr bemerkenswert. Da stimmen nun schon zwei Aussagen überein. Nun, – aber daß mein Onkel die junge Dame liebt ... Hm! Werde ich nun heiraten oder werde ich es nicht tun?“
Und diesmal kamen mir denn doch Bedenken.
Ich gestehe offen, mir war etwas bänglich zumute. Meine romantischen Träume erschienen mir jetzt zum mindesten sonderbar, und kaum war ich in Stepantschikowo angelangt, da fand ich sie sogar dumm. Das erstere geschah ungefähr um fünf Uhr nachmittags. Die Landstraße führte nicht weit vom Herrenhause vorüber. Nun sah ich nach langen Jahren diesen großen Garten wieder, in dem ich einige glückliche Tage meiner Kindheit verbracht hatte, und den ich dann später so oft im Traum gesehen, wenn ich in den Schlafsälen der Schulen und Anstalten, die für meine Bildung sorgten, halbwach im Schlummer lag. Ich sprang vom Wagen und ging quer durch den Garten auf das Herrenhaus zu; denn ich wollte unbemerkt zuerst mit meinem Onkel sprechen und, wenn es ging, auch noch hier und da vorher ein wenig herumforschen und horchen. Meine Absicht gelang mir. Die Allee hundertjähriger Linden entlang schreitend, kam ich zur Terrasse, von der aus man durch eine Glastür unmittelbar in die Wohnzimmer trat. Diese Terrasse war von Blumenbeeten umgeben und mit Topfpflanzen geschmückt. Hier nun traf ich ganz unerwartet einen der „Eingeborenen“ an, den alten Gawrila, der mich einst als Kind auf dem Arm getragen hatte, jetzt aber der ehrwürdige Kammerdiener meines Onkels war. Der Alte hatte eine Brille auf der Nase und hielt ein Heft, in dem er mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit las, dicht vor den Augen. Ich hatte ihn zum letztenmal vor zwei Jahren in Petersburg gesehen, wohin er mit meinem Onkel gekommen war, und so erkannten wir uns sofort. Mit Freudentränen stürzte er die Stufen herab, um meine Hände zu küssen, ohne darauf zu achten, daß ihm bei der Gelegenheit seine Brille von der Nase flog. Diese Anhänglichkeit des Alten rührte mich tief. Doch ich stand noch unter dem Eindruck des Gespräches mit Herrn Bachtschejeff, und so wandte sich meine Aufmerksamkeit unverzüglich dem verdächtigen Heft zu, das Gawrila in der Hand hielt.
„Was ist das, Gawrila? Was, will man etwa auch dir Französisch beibringen?“ fragte ich den Alten.
„Jawohl, das will man, Väterchen, trotz meiner alten Jahre, als wäre ich ein Papagei,“ antwortete Gawrila niedergeschlagen.
„Und Foma selbst unterrichtet dich?“
„Er allein, Väterchen. Er muß doch wohl ein kluger Mann sein.“
„Ja, alle Achtung! Aber wie unterrichtet er dich denn? – Im Gespräch?“
„Mit dem Heft, Väterchen.“
„Du meinst dieses, das du in der Hand hast? Ah! Französische Worte mit russischen Buchstaben geschrieben – findig! Und von einem solchen Rüpel, einem solchen Dummkopf laßt ihr euch alle so behandeln – schämst du dich nicht, Gawrila?“ In einem Augenblick waren alle meine entschuldigenden Annahmen vergessen, durch die ich noch vor ein paar Stunden Herrn Bachtschejeff in so große Wut versetzt hatte.
„Wie denn, Väterchen, wie kann er denn ein Dummkopf sein, wenn er doch auch unsere Herrschaft so lenkt, wie er will?“
„Hm! Vielleicht hast du recht, Gawrila,“ brummte ich, durch seine Bemerkung zur Besinnung gebracht. „Führ’ mich zu meinem Onkel.“
„Großer Gott! Ich darf ja dem Herrn überhaupt nicht unter die Augen kommen, wage mich gar nicht mehr zu zeigen! Ja, ja, so weit ist es gekommen, daß ich auch ihn noch fürchten muß! Sitze hier in meiner Trübsal, und wenn Foma Fomitsch zu kommen geruhen, so gehe ich hinter die Blumenbeete.“
„Was fürchtest du denn?“
„Vorhin wußte ich die Aufgabe nicht gut: Foma Fomitsch wollten mich bestrafen und, wie er sagte, mich auf den Knien stehen lassen – ich aber kniete nicht nieder. Alt bin ich, Väterchen Ssergei Alexandrowitsch, viel zu alt, um noch solche Scherze mitzumachen. Der Herr aber geruhten darüber böse zu werden, daß ich Foma Fomitsch nicht gehorcht hatte. ‚Siehst du denn nicht ein,‘ sagte er, ‚alter Kerl, er müht sich doch um deine Bildung, will dich doch in der Aussprache des Französischen unterweisen ...‘ Und so gehe ich denn und lerne Vokabeln. Foma Fomitsch versprachen, am Abend noch einmal eine Prüfung vorzunehmen.“
Es schien mir, daß hier einiges nicht so ganz stimmte.
„Mit diesem französischen Unterricht wird es wohl eine besondere Bewandtnis haben,“ dachte ich, „die der Alte mir natürlich nicht erklären kann.“
„Nur eine Frage noch, Gawrila: wie sieht er aus? Stattlich, imponierend?“
„Wer das? Foma Fomitsch? Nein, Väterchen, das ist so ein gemausertes Menschlein ...“
„Hm! Hab’ nur etwas Geduld, Gawrila, es wird sich vielleicht noch einrenken lassen, oder vielmehr: sicherlich wird es das, ich verspreche es dir, es wird alles wieder gut werden! Aber ... wo ist denn nun mein Onkel?“
„Hinter dem Pferdestall reden der Herr mit den Abgesandten der Bauern. Aus Kapitonowka sind die Alten mit Verbeugungen und Bitten hergekommen. Dort hat man gesagt, daß der Herr sie Foma Fomitsch zu schenken beabsichtige, und daher wollen sie alle bitten, daß es nicht geschehe, wollen sich, wie man sagt, losbitten.“
„Aber warum empfängt er sie denn hinter den Pferdeställen?“
„Aus Vorsicht, Väterchen ...“
In der Tat fand ich meinen Onkel hinter den Pferdeställen. Dort stand er auf einem freien Platz vor einer ganzen Anzahl Bauern, die sich immer wieder vor ihm verneigten und inständig um etwas zu bitten schienen. Mein Onkel aber erklärte ihnen offenbar eine Sache. Ich näherte mich und rief ihn an. Er sah sich um und – wir lagen uns in den Armen.
Er freute sich unbeschreiblich über mein Kommen, er geriet förmlich in Begeisterung vor Freude. Er umarmte mich, drückte meine Hände ... als hätte man ihm seinen leiblichen Sohn wiedergegeben, der irgendeiner tödlichen Gefahr entgangen war, oder als hätte ich ihn mit meiner Ankunft von einer tödlichen Gefahr befreit oder von schweren Zweifeln erlöst, und als brächte ich Glück und Freude für sein ganzes Leben ihm und allen, die er lieb hatte; denn mein Onkel hätte nie eingewilligt, allein glücklich zu sein.
Nach dem ersten überschwenglichen Ausbruch wurde er so mitteilsam, daß er sich bald ganz verlor und wohl selbst nicht mehr wußte, wovon er schon gesprochen hatte. Er überschüttete mich mit Fragen, wollte mich sogleich seiner ganzen Familie vorstellen: wir begaben uns auch schon zum Hause – dann aber kehrte er doch wieder zurück ... um mich zuerst mit seinen Bauern aus Kapitonowka bekannt zu machen. Hierauf – dessen entsinne ich mich noch genau – kam er plötzlich aus unbekanntem Grunde auf einen Herrn Korowkin zu sprechen, einen jedenfalls außergewöhnlichen Menschen, den er vor drei Tagen unterwegs getroffen hatte, irgendwo auf der Reise, und den er mit der größten Ungeduld gerade jetzt als Gast bei sich erwartete. Von Korowkin sprang er auf etwas anderes über. Es war mir förmlich ein Genuß, ihn zu betrachten. Auf seine überstürzten Fragen nach meinen ferneren Absichten sagte ich, daß ich vorläufig keine Anstellung suchen, sondern fortfahren würde, mich mit der Wissenschaft zu beschäftigen. Doch kaum hatte ich das Wort „Wissenschaft“ ausgesprochen, als mein Onkel auch schon eine ungeheuer wichtige Miene aufsetzte. Als er dann erfuhr, daß ich mich in der letzten Zeit mit Mineralogie beschäftigt hatte, warf er den Kopf in den Nacken und blickte sich stolz im Kreise um, als hätte er ganz allein, ohne jede fremde Hilfe, die ganze Mineralogie entdeckt und alles allein niedergeschrieben. Ich habe ja schon gesagt, daß er vor dem Wort „Wissenschaft“ die größte Ehrfurcht empfand, eine Ehrfurcht, die ohne jeden persönlichen Ehrgeiz war, dessen sie um so mehr entbehrte, als er selbst fast nichts von diesen Dingen verstand.
„Ach, Freund, es gibt doch wirklich Menschen in der Welt, die alles wissen!“ sagte er mir einmal mit wahrem Entzücken in den leuchtenden Augen. „Da sitzt man unter ihnen, hört, und weiß doch selbst, daß man nichts davon versteht, aber dennoch freut sich das Herz. Und warum? Ganz einfach, weil hier eben Nutzen ist, hier ist Verstand, hier ist das Allgemeinwohl! Das begreife ich doch! Ich fahre jetzt schon mit der Eisenbahn, mein Iljuscha aber wird vielleicht schon durch die Luft fliegen ... Nun, ja, kurz und gut, und der Handel, die Industrie – diese, wie man sagt, Schlagadern ... das heißt, ich will nur sagen, von welcher Seite du es auch nimmst, es ist und bleibt doch nützlich für die Menschheit ... Das ist es doch, nicht wahr?“
Doch ich komme zurück auf unser Wiedersehen.
„Wart nur, Freund, wart,“ begann er in seiner schnellen Sprechweise, sich die Hände reibend, „du sollst einen Menschen kennen lernen! Es ist ein seltener Mensch, sag’ ich dir, gelehrt, gelehrt, ganz ein Mann der Wissenschaft! Der überlebt das Jahrhundert! Das ist doch gut gesagt: ‚er überlebt das Jahrhundert‘, nicht? Das hat mir Foma selbst erklärt ... Wart, ich werde dich mit ihm bekannt machen.“
„Meinen Sie Foma Fomitsch, Onkel?“
„Nein, nein, Freund, diesmal sprech’ ich von Korowkin. Das heißt, Foma ist ja gleichfalls ... er ... Aber diesmal sprach ich einfach nur von Korowkin,“ fügte er hinzu, während es mir auffiel, daß er, sobald die Rede auf Foma kam, zu erröten und sich zu verwirren schien.
„Mit welcher Wissenschaft beschäftigt er sich denn?“
„Mit allen Wissenschaften, Freund, oder kurz gesagt, mit der Wissenschaft überhaupt. Ich kann dir leider nicht so genau sagen, mit welcher eigentlich, ich weiß nur, daß es Wissenschaften sind. Oh, wie der über die Eisenbahnen redet! Und weißt du,“ – mein Onkel senkte die Stimme und zwinkerte mir bedeutsam mit dem linken Auge zu, – „ein wenig so, du weißt schon, – freie Ideen! Das habe ich sofort bemerkt, namentlich wenn er so von Familienglück spricht ... Schade, ich habe nicht alles ganz genau begriffen, was er da sprach, – hatte gerade wenig Zeit –, sonst könnte ich dir jetzt alles wiedergeben, ganz ausführlich. Und zudem ein Mensch von wirklich edlen Eigenschaften. Ich habe ihn zu mir zum Besuch eingeladen. Erwarte ihn stündlich.“
Währenddessen starrten mich die Bauern mit offenen Mündern und großen Augen wie ein Wunder an.
„Hören Sie, Onkel,“ unterbrach ich ihn, „ich habe, glaube ich, Ihr Gespräch mit den Bauern unterbrochen. Es handelt sich gewiß um Wichtiges. Was meinen Sie? Ich will ganz offen gestehen, daß ich so meine Vermutungen habe – und daher würde ich gern zuhören ...“
Mein Onkel wurde plötzlich sehr geschäftig und beinahe aufgeregt.
„Ach, richtig! Das hatte ich ganz vergessen! Ja, sieh mal ... was soll man mit ihnen tun? Sie haben sich in den Kopf gesetzt – ich möchte bloß wissen, wer es als erster getan hat –, daß ich sie und ganz Kapitonowka – du erinnerst dich doch noch, wie wir mit meiner seligen Katjä abends immer dorthin spazieren fuhren? – Nun ja, daß ich das ganze Kapitonowka mit seinen rund achtundsechzig Seelen Foma Fomitsch schenken wolle! Nun und jetzt heißt es: ‚Wir wollen nicht von dir fort, Väterchen!‘ und damit Punktum! ...“
„So ist es also nicht wahr, Onkel? Sie werden ihm Kapitonowka nicht schenken?!“ rief ich erfreut aus.
„Wie werd’ ich denn! Ist mir nie in den Sinn gekommen! Aber durch wen hast du es denn schon erfahren? Es war mir nur mal so entschlüpft – und da hat man gleich Häuser auf das eine Wort gebaut. Ich verstehe bloß nicht, weshalb sie den Foma so wenig mögen? Aber wart nur, Ssergei, ich werde dich mit ihm bekannt machen,“ sagte er mit schüchternem Blick auf mich, als ahne er auch in mir einen Feind Foma Fomitschs. „Freund, das ist ein solcher Mensch ...“
„Wir wollen keinen anderen Herrn, Väterchen, nur dich allein!“ riefen hier plötzlich im Chorus alle Bauern aus. „Ihr seid unser Vater, wir sind Eure Kinder!“
„Hören Sie mal, Onkel,“ sagte ich, „den Foma Fomitsch habe ich zwar noch nicht gesehen, aber ... sehen Sie ... ich habe so einiges gehört. Ich will es Ihnen nur gleich sagen, daß ich heute unterwegs Herrn Bachtschejeff getroffen habe. Übrigens hat sich in mir jetzt eine andere Auffassung gebildet, wenigstens vorläufig. Jedenfalls aber entlassen Sie nun die Bauern, dann können wir ungestört, ganz allein und ohne Zeugen, miteinander reden. Ich bin ja doch eigentlich nur deswegen hergekommen ...“
„Das ist es ja! Eben, eben!“ stimmte mein Onkel sofort eifrig bei. „Die Bauern entlassen wir und dann reden wir, weißt du, so – kameradschaftlich, freundschaftlich, verständig! – Nun,“ fuhr er, sich an die Bauern wendend, in seiner schnellen Sprechweise fort, „geht jetzt wieder nach Hause, Freunde! Und hinfort kommt immer zu mir, immer zu mir, wenn was nötig ist, kommt ganz einfach gleich zu mir, wenn was nötig ist –“
„Väterchen, du bist ja unser Vater! Gib uns nicht der Willkür Foma Fomitschs preis! Alle wir Armen bitten dich!“ riefen von neuem die Bauern einstimmig aus.
„Ach ihr Dummköpfe! Es wird euch doch nichts geschehen, das habe ich euch doch schon gesagt!“
„Sonst würde er uns ganz dumm machen mit dem Unterricht, Väterchen! Die Hiesigen, hört man, soll er ja alle schon ganz dumm gemacht haben ...“
„Was, will er denn auch euch die französische Sprache beibringen?“ fragte ich, beinahe erschrocken.
„Nein, Väterchen, vorläufig hat Gott der Herr uns noch verschont!“ antwortete einer der Bauern, ihr Sprecher und ein Schwätzer, wie es schien; er war rothaarig und hatte eine große Glatze, die ziemlich tief auf dem Hinterkopf lag, sowie ein spärliches, keilförmiges Bärtchen, das sich so schnell bewegte, wenn er sprach, als wäre es an sich lebendig gewesen. „Nein, Herr, bis jetzt noch nicht.“
„Aber worin unterrichtet er euch denn?“
„Ach, Euer Gnaden, in solchen Dingen, daß es nach unserem Verständnis so herauskommt: kauf’ einen goldenen Kasten, deine kupferne Münze gib aber hin.“
„Wieso, was bedeutet das, kupferne Münze ...?“
„Sserjosha! Du bist im Irrtum! Das ist eine Verleumdung!“ rief mein Onkel dazwischen, war aber dabei rot geworden und sah sehr betreten aus. „Diese Dummköpfe haben natürlich nicht begriffen, was er ihnen gesagt hat. Er hat nur so ... Was soll das mit der kupfernen Münze? ... Dir aber steht es nicht zu, über alles zu urteilen und das Maul aufzureißen,“ fuhr mein Onkel vorwurfsvoll, zu dem Bauern gewandt, fort; „man wollte dir doch, du Dummkopf, Gutes tun, du aber siehst das nicht ein – und schreist noch!“
„Aber um’s Himmels willen, Onkel, Sie vergessen, daß er ihnen Französisch beibringen will!“
„Aber doch nur wegen der Aussprache, Sserjosha, einzig wegen der Aussprache,“ beteuerte er mit geradezu flehender Stimme. „Er hat es mir selbst gesagt, daß er es einzig wegen der Schulung in der Aussprache tut, die dann auch ihrer Muttersprache zugute kommt ... Zudem ging der Sache noch ein besonderer Fall vorher, – du weißt das nicht und daher kannst du auch nicht urteilen. Zuerst, Freund, muß man begreifen, und dann erst kann man beschuldigen ... Beschuldigen ist leicht!“
„Aber ich verstehe euch nicht!“ sagte ich heftig, mich von neuem an die Bauern wendend, „so hättet ihr es ihm doch sofort offen sagen sollen. Ganz einfach: so geht es nicht, Foma Fomitsch, die Sache liegt so und so! Ihr habt doch einen Mund!“
„Wo ist die Maus, die der Katze die Schelle umbindet, Väterchen? ‚Ich bringe,‘ sagt er, ‚dir ungeschicktem Bauernkerl Sauberkeit und Ordnung bei. Warum ist dein Hemd nicht sauber?‘ – Weil es doch voll Schweiß ist, darum kann es doch auch nicht sauber sein! Wir können doch nicht jeden Tag das Hemd wechseln. Sauberkeit macht noch nicht auferstehen, und Armut ist noch nicht Tod.“
„Neulich kam er in die Tenne,“ fiel ein anderer Bauer ein, ein großer, hagerer Mann, dessen Kleider an vielen Stellen geflickt waren, und dessen Füße in den ältesten Bastschuhen staken. Er gehörte offenbar zu jenen, die ewig mit irgend etwas unzufrieden sind und stets ein gehässiges, scharfes Wort in Bereitschaft haben. Bis dahin hatte er hinter den anderen gestanden, in mißmutiger Schweigsamkeit zugehört und die ganze Zeit ein gewisses zweideutiges, bitteres und verschlagenes Spottlächeln nicht aus seinem Gesicht gebannt. – „Er kam in die Tenne. ‚Wißt ihr auch,‘ fragt er, ‚wieviel Werst es von hier bis zur Sonne sind?‘ Wer von uns kann denn so was wissen? Das steht doch nicht uns zu, das ist doch Herrschaftswissen. ‚Nein,‘ sagte er, ‚du bist ein Lümmel, wie ich sehe, begreifst nicht einmal deinen eigenen Nutzen. Ich aber,‘ sagt er, ‚bin ein Astrolog! Ich kenne alle Planeten Gottes!‘“
„Nun, hat er dir auch gesagt, wieviel Werst es bis zur Sonne sind?“ mischte sich mein Onkel ein, der plötzlich wieder wie neubelebt war und lustig mir zuzwinkerte, als wolle er mir sagen: „Paß nur auf, was du jetzt zu hören bekommen wirst!“
„Er nannte da wohl eine große Zahl,“ antwortete der Bauer gewissermaßen wider Willen, da er eine solche Frage offenbar nicht erwartet hatte.
„Nun, wieviel waren es denn doch, wieviel, was meinst du?“
„Ach, das wird doch Euer Gnaden besser wissen als wir ... wir sind unaufgeklärte Leute, leben im Dunkeln.“
„Ich weiß es ja, Bruder, aber du, hast du es auch behalten?“
„Es werden da immer soundso viel hundert oder auch tausend Werst sein, wie er sagte. Es war etwas viel. Die konnte man kaum auf drei Fuhren fortführen, diese Zahlen, die er sagte.“
„Aber das ist ja die Hauptsache, – daß man es behält nämlich! Du glaubtest wohl, was wird es denn viel mehr sein als eine Werst, da kann man ja mit der Hand hinlangen? Nein, Bruder, die Erde – das ist, siehst du, ein runder Ball – verstehst du?“ fuhr mein Onkel fort, indem er mit den Händen in der Luft einen Kreis beschrieb.
Der Bauer lächelte schmerzlich.
„Ja, wie ein Ball! Und so hält sie sich ganz von selbst in der Luft und kreist um die Sonne. Die Sonne aber steht auf einem Platz und rührt sich nicht; es scheint dir nur so, als bewege sie sich, in Wirklichkeit aber steht sie auf einem Fleck. Ja, siehst du, so ist es! Entdeckt aber hat das alles der Kapitän Cook, ein Weltumsegler ... Übrigens, weiß der Teufel, ob der es nun gerade war, oder wer es eigentlich entdeckt hat,“ fügte er halblaut, zu mir gewandt, hinzu. „Ich habe ja selbst, Freund, keine Ahnung davon ... Weißt du es, wieviel Werst es bis zur Sonne sind?“
„Gewiß, Onkel,“ antwortete ich, etwas verwundert über dieses ganze Gespräch, „nur denke ich folgendermaßen darüber: Unbildung ist natürlich Nachlässigkeit, dagegen Bauern in der Astronomie zu unterrichten ...“
„Das ist es ja! Eben, eben – gerade Nachlässigkeit!“ fiel mein Onkel dazwischen und griff begeistert meinen Ausdruck auf, der ihm wohl überaus treffend erschien. „Ein großartiger Gedanke! Gerade Nachlässigkeit! Das habe ich ja immer gesagt ... das heißt, ich habe es noch nie gesagt, aber ich habe es gefühlt. Hört ihr,“ rief er dann den Bauern zu, „Unbildung ist dasselbe wie Nachlässigkeit, ist genau dasselbe wie Schmutz! Und deshalb wollte euch Foma auch belehren. Er wollte euch das Gute lehren. Das ist gleichfalls ein Dienst, der dem Vaterlande geleistet wird, und des größten Lohnes wert. Seht ihr nun, wie es sich verhält! Das ist die Wissenschaft! Nun, gut, gut, meine Lieben! Geht mit Gott, ich freue mich, es freut mich ... jedenfalls beruhigt euch, ich werde euch nicht verlassen.“
„Beschütze du uns, Väterchen, bist doch immer wie ein leiblicher Vater zu uns gewesen!“
„Laß uns Freude erleben, Väterchen!“
Und die Bauern stürzten wie ein Mann auf die Knie nieder.
„Nun, nun, was soll das, welch ein Unsinn! Vor Gott und dem Kaiser sollt ihr niederknien, nicht aber vor mir ... Aber so steht doch endlich auf, geht jetzt, führt euch gut auf, verdient euch eine gute Behandlung ... nun, und alles andere, was noch nötig ist ... Weißt du,“ sagte er dann zu mir, sich plötzlich umwendend, und sein Gesicht schien vor Freude zu leuchten, „so ein armer Kerl hört doch gern ein gutes Wort, und auch ein Geschenk schadet nicht. Ich werde ihnen etwas schenken, was? Was meinst du? So, weil du angekommen bist ... Soll ich es tun oder nicht?“
„Onkel, Sie sind ja Ihren Bauern ein guter Herr, wie ich sehe, wahrscheinlich einer jener Gutsbesitzer, die immer nur Gutes tun wollen ... –“
„Aber es geht doch nicht, Freund, es geht doch nicht anders: das ist doch nichts. Ich wollte ihnen schon lange etwas schenken,“ sagte er wie zur Entschuldigung. „Aber fandest du es nicht lächerlich, daß ich den Bauern da einen wissenschaftlichen Vortrag hielt? Nein, Freund, das habe ich nur so ... nur so vor Freude, daß ich dich nun wiedersah, Sserjosha ... Ich wollte einfach, daß auch er, der Bauer, erführe, wie weit es bis zur Sonne ist, und, wenn er’s hört, den Mund aufsperrt. Es ist so lustig zu sehen, wie er ihn aufsperrt. Man freut sich geradezu für ihn. Nur weißt du, Freund, sag’ das nicht dort im Salon, daß ich hier mit den Bauern gesprochen habe. Ich habe es absichtlich hier hinter den Pferdeställen getan, damit man es von dort nicht sieht; denn sieh, Freund, es war nicht anders zu machen ... eine kitzlige Sache! Und sie waren ja auch nur heimlich gekommen. Ich habe es ja eigentlich auch nur ihretwegen getan ...“
„Ja, Onkel, jetzt bin ich also angekommen und bin hier!“ begann ich, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben und schneller auf die Hauptsache zu sprechen zu kommen. „Ihr Brief hat mich, offen gestanden, dermaßen überrascht und in Erstaunen gesetzt, daß ich ...“
„Mein Freund, kein Wort mehr darüber!“ unterbrach mich mein Onkel geradezu erschrocken und mit gesenkter Stimme. „Später, später wird sich das alles aufklären! Vielleicht bin ich nicht ganz schuldlos vor dir, vielleicht sogar sehr ...“
„Nicht ganz schuldlos vor mir, Onkel?“
„Später, später, mein Freund, davon später! Das wird sich später erklären! Alles, alles! Was du aber für ein prächtiger Bursche geworden bist! Mein lieber Junge! Und wie ich dich erwartet habe! Ich wollte dir alles, wollte dir mein ganzes Herz ausschütten, wie man sagt ... du bist gelehrt, du bist der einzige, den ich habe ... du und Korowkin. Im übrigen muß ich dich noch darauf aufmerksam machen, daß sich hier alle über dich ärgern. Nun sieh dich vor, sei vorsichtig, sei auf deiner Hut!“
„Sich über mich ärgern?“ fragte ich und blickte meinen Onkel verwundert an, da ich nicht begriff, wodurch ich Menschen, die ich noch gar nicht kannte, hätte ärgern können. „Über mich?“
„Über dich, Freund. Was ist da zu machen! Foma Fomitsch ist ein bißchen ... nun, und Mamachen natürlich gleichfalls. Überhaupt sei vorsichtig, ehrerbietig, widersprich nicht, aber vor allem, sei ehrerbietig ...“
„Und das etwa im Verkehr mit Foma Fomitsch, Onkel?“
„Was soll man tun, mein Freund, ich verteidige ihn ja nicht ... Er hat vielleicht wirklich so als Mensch seine Fehler, und sogar jetzt im Augenblick ... Ach, Freund Sserjosha, wenn du wüßtest, wie mich alles das beunruhigt! Wie könnte man das nur gutmachen, damit wir wieder alle glücklich und zufrieden wären? ... Aber wer ist denn ohne Mängel? Auch wir sind doch nicht vollkommen!“
„Aber, Onkel, so sehen Sie doch nur, was er tut ...“
„Ach, Freund! Das sind ja nur Klatschereien und weiter nichts! Zum Beispiel, ich werde dir erzählen: da ärgert er sich nun über mich, aber was glaubst du, weswegen? ... Übrigens, vielleicht bin ich auch selbst daran schuld. Ich werde es dir später erzählen ...“
„Wissen Sie, Onkel, in mir hat sich, was ihn anbetrifft, eine besondere Auffassung herausgebildet,“ unterbrach ich ihn, um ihm noch schnell meine Kombinationen mitzuteilen. Wir beeilten uns beide. „Erstens war er früher ein Hausnarr: das hat ihn erbittert, erniedrigt, ihn in seinem Innersten gekränkt und beleidigt, und so ist denn gehässig, unnatürlich, rachsüchtig geworden. Er will sich sozusagen an der ganzen Menschheit rächen ... Wenn man ihn aber mit dieser Menschheit wieder aussöhnen, ihn sich selbst wiedergeben würde ...“
„Das ist es ja! Eben, eben!“ rief mein Onkel begeistert aus. „Gerade das! Ein herrlicher Gedanke! Und es wäre doch eine Schande, es wäre niedrig von uns, wollten wir ihn jetzt ohne weiteres verurteilen! Das ist es ja! ... Ach, Freund, ich sehe schon, du verstehst mich, du bringst mir Trost! Wenn es sich dort nur einrenken ließe! Weißt du, ich habe wirklich Angst, dort zu erscheinen. Sieh, du bist nun angekommen, ich aber werde dafür büßen müssen!“
„Aber Onkel, wenn es so ist ...,“ begann ich, etwas verlegen durch dieses Geständnis.
„Nei-nei-nein! Um keinen Preis, auf keinen Fall!“ rief er heftig dazwischen, fest meine Hände drückend. „Du bist mein Gast, und ich will es so!“
Ich wunderte mich.
„Onkel, sagen Sie mir jetzt,“ begann ich nachdrücklich, „aus welchem Grunde oder zu welchem Zweck Sie mich hergerufen haben? Was erwarten Sie von mir, und vor allen Dingen, in welcher Beziehung sind Sie ‚nicht schuldlos‘ vor mir?“
„Weißt du, frage jetzt lieber nicht! Später, später! Alles das wird sich später aufklären! Ich habe vielleicht in vielem gefehlt, aber ich wollte wie ein ehrlicher Mensch handeln und ... und du wirst sie heiraten! Du wirst sie heiraten, wenn du nur einen Tropfen Edelmut besitzest!“ schloß er, in einer plötzlichen Gefühlsaufwallung über und über errötend, und drückte in diesem aufwallenden Gefühl schmerzhaft meine Hand. „Aber jetzt genug davon, kein Wort mehr! Du wirst ja selbst alles zeitig genug erfahren. Von dir wird es abhängen ... Die Hauptsache ist, daß du dort jetzt gefällst, daß du Eindruck machst. Laß dich nur nicht verwirren.“
„Aber sagen Sie doch, Onkel, wer ist denn eigentlich dort bei Ihnen? Ich muß gestehen, ich habe mich wenig in Gesellschaft bewegt, so daß ...“
„So daß dir jetzt etwas bange ist, wie?“ fragte der Onkel lächelnd. „Das hat nichts zu sagen! Verlier bloß nicht den Mut! Die Hauptsache ist, daß du dich nicht fürchtest. Wer dort bei uns ist, fragst du? Ja, wen haben wir denn da? ... Erstens natürlich meine Mutter,“ begann er geschäftig – „du erinnerst dich doch noch ihrer, oder nicht mehr? Eine herzensgute, durchaus edeldenkende, alte Frau, ohne alle Prätensionen, kann man sagen. Etwas altmodisch, aber das ist ja um so besser. Nun, und dann, weißt du, zuweilen hat sie so ... gewisse Einfälle, sie sagt manches so ... nun eben so in besonderem Ton. Augenblicklich ist sie mir böse, ärgert sich, aber es ist meine Schuld, und ich weiß es, daß es meine Schuld ist. Nun, und sie ist doch immerhin Grande Dame, Generalin ... ihr Mann war ein prächtiger Mensch, General, sehr gebildet, reich war er freilich nicht, aber vom Kriege her mit Narben bedeckt, – mit einem Wort: er hatte sich allgemeine Achtung verdient. Dann ist da Fräulein Perepelizyna. Nun, die ... ich weiß nicht ... in der letzten Zeit ist sie so etwas ... ihr Charakter, wie gesagt ... Aber man kann doch nicht alle verurteilen! ... Nun, Gott mit ihr ... du brauchst nicht zu glauben, daß sie so eine ist, die ... die anderen auf dem Halse sitzt. Sie ist, weißt du, die Tochter eines Majors. Mamas Busenfreundin, vergiß das nicht! Und dann, nun, meine liebe Schwester Praskowja Iljinitschna. Na, von der ist nicht viel zu sagen: eine einfache, gute Seele; ein wenig zu geschäftig, aber was für ein Herz! Du sieh nur aufs Herz, Freund, das ist die Hauptsache ... Ein bejahrtes Mädchen, aber, denk doch, dieser Sonderling Bachtschejeff macht ihr gewissermaßen den Hof und scheint anhalten zu wollen. Nur laß dir um Gottes willen nichts anmerken, kein Wort! Geheimnis! Na, und wen haben wir denn da noch? Von den Kindern rede ich weiter nicht: wirst sie selbst sehen. Morgen ist Iljuschas Namenstag ... Ja, richtig! Fast hätt’ ich’s vergessen: seit einem Monat, sieh mal, lebt bei uns Iwan Iwanytsch Misintschikoff, – du wirst mit ihm, denke ich, im dritten Grade verwandt sein ... ja genau: ein Vetter deines Vetters. Leutnant a. D. Er hat erst vor kurzem den Abschied genommen – stand in einem Husarenregiment. Ein noch junger Mensch. Ein wirklich guter Charakter. Aber, weißt du, er hat sich durch seine Verschwendung dermaßen – wie sag’ ich doch gleich? – na, abgerupft, daß ich gar nicht weiß, wie und wo er das in einem solchen Maße hat fertigbringen können. Übrigens hat er auch früher nichts gehabt, aber immerhin ... er hat viel Schulden gemacht ... Und jetzt ist er bei mir zu Besuch. Bisher kannte ich ihn überhaupt nicht – als er ankam, stellte er sich mir vor. So ein lieber, guter, ruhiger, bescheidener Mensch. Es hat hier, glaube ich, kein Mensch je ein Wort von ihm gehört. Er schweigt ununterbrochen. Foma hat ihn – zum Spott – den ‚schweigsamen Fremdling‘ genannt. Aber er macht sich nichts daraus, ärgert sich nicht. Foma ist jedenfalls mit ihm zufrieden, nur sagt er von ihm, dem Iwan, daß es nicht weit her mit ihm sei. Übrigens widerspricht Iwan ihm nie, er stimmt ihm immer bei. Hm! So ein stiller Junge ... Na, Gott mit ihm! Du wirst ja selbst sehen. Dann haben wir noch Gäste aus der Stadt: Pawel Ssemjonytsch Obnoskin mit seiner Mutter, ein junger Mann, ein ungeheuer kluger Mensch; etwas so Reifes, weißt du, ist in ihm, etwas Festes, Unerschütterliches ... Ich verstehe mich nur nicht auszudrücken! Hinzu kommt noch eine ungewöhnliche Sittlichkeit: strenge Moral! Nun, und dann schließlich lebt noch, sieh mal, eine Tatjana Iwanowna bei uns, mit der wir – je nachdem, wie man’s nimmt – auch noch verwandt sein sollen, natürlich nur sehr entfernt verwandt – du kennst sie nicht – ein nicht mehr ganz junges Mädchen – das muß man wohl sagen, aber immerhin ... sie hat auch ihre Vorzüge. Reich ist sie, weißt du, kann zwei Güter wie Stepantschikowo auf einmal kaufen. Sie hat erst vor kurzem geerbt, bis dahin war sie bettelarm. Aber du, Freund, du urteile nicht voreilig über sie: sie ist etwas kränklich ... ich wollte sagen, sie hat etwas ... etwas Phantasmagorisches in ihrem Charakter. Nun, du bist ein edeldenkender Mensch, du wirst es begreifen, sie hat doch sozusagen viel gelitten. Mit solchen Menschen, weißt du, die im Unglück gewesen sind, muß man doppelt nachsichtig sein! Aber du brauchst nicht gleich ... nun, so ... irgend etwas zu denken! Sie hat natürlich auch ihre Schwächen: so kommt sie zuweilen etwas aus dem Konzept, spricht manches zu schnell aus, wählt nicht immer das richtige Wort, das nötig ist ... das heißt, – nicht etwa, daß sie lügt, denk nur das nicht ... das kommt ja, Freund, aus edlem Herzen ... das heißt, wenn sie auch manches nicht ganz der Wahrheit gemäß sagen sollte, so geschieht das doch einzig sozusagen aus übergroßer Herzenseinfalt – du verstehst doch!“
Mein Onkel war offenbar sehr verwirrt und wurde immer verlegener.
„Hören Sie, Onkel,“ sagte ich, „ich habe Sie sehr lieb ... verzeihen Sie mir die offene Frage: werden Sie eine von den Damen heiraten oder nicht?“
„Wer ... wer hat dir das gesagt?“ fragte er, wie ein Kind errötend. „Sieh mal, Sserjosha, ich werde dir alles ganz genau erzählen. Erstens – ich heirate nicht. Meine Mutter, zum Teil auch meine Schwester und vor allen Dingen Foma Fomitsch, den Mama vergöttert – und mit Recht, mit Recht: er hat viel für sie getan – sie alle wollen, daß ich diese selbe Tatjana Iwanowna heirate, aus vernünftiger Überlegung, zum Wohl der ganzen Familie. Natürlich wollen sie ja nur mein Bestes – das begreife ich vollkommen. Aber ich werde um keinen Preis heiraten – ich habe mir schon das Wort gegeben. Nichtsdestoweniger verstand ich – ich weiß nicht, wie’s kam – nicht so recht zu antworten: ich habe weder ja noch nein gesagt. Das ist, weißt du, immer so mit mir. Und so glaubten sie denn, daß ich einwillige, und wollen jetzt unbedingt, daß ich mich morgen, zum Familienfest, erkläre ... ... Und da sitze ich nun und weiß nicht einmal, was ich tun soll! Hinzu kommt noch, daß Foma Fomitsch mir zürnt – weiß Gott aus welchem Grunde. Mama gleichfalls. Ich werde dir, weißt du, gestehen, daß ich nur dich erwartet habe, dich und Korowkin ... ich wollte sozusagen ausschütten, was ...“
„Aber womit kann denn Korowkin Ihnen helfen, Onkel?“
„Doch, doch, er kann mir helfen, du wirst sehen, – das ist, Freund, so ein Mensch ... Wie gesagt, ein Mann der Wissenschaft! Ich vertraue auf ihn, wie auf einen Fels! Ein besiegender, bestrickender Mensch! Wie er über Familienglück spricht! Weißt du, auch auf dich setzte ich meine Hoffnung, glaubte, du wirst sie zur Vernunft bringen. Sag’ doch selbst: nun, nehmen wir an, ich bin an allem Unglück schuld, ich allein! Das begreife ich doch, ich bin ja doch kein gefühlloser Holzklotz. Aber trotzdem konnte man doch auch mir einmal verzeihen! Himmel, wie wir dann alle leben könnten! ... Wenn du wüßtest, wie groß meine kleine Ssaschurka ist – sie könnte schon heiraten! Und wie Iljuscha sich entwickelt hat! Morgen ist sein Namenstag. Aber wegen Ssaschurka mache ich mir Sorgen ... sie ist ein kleiner Trotzkopf ...“
„Onkel! Wo ist mein Koffer? Ich werde mich umkleiden und dann sofort erscheinen, und dann ...“
„Im Fremdenzimmer oben, mein Freund, im Giebelzimmer. Ich hatte es im voraus so angeordnet, daß man dich, sobald du ankommst, sofort dorthin nach oben führen solle, damit dich niemand sieht. Ja, ja, kleide dich um! Das ist gut, vorzüglich, vorzüglich! Ich aber werde inzwischen die anderen dort ein wenig vorbereiten. Nun, mit Gott! Weißt du, Freund, man muß schlau sein. Hier wird man unfreiwillig zu einem Talleyrand. Nun, macht nichts! Jetzt trinken sie dort Tee. Wir haben immer ziemlich früh Teestunde. Foma Fomitsch liebt es, Tee zu trinken, sobald er von seinem Nachmittagsschläfchen aufgewacht ist. Es ist auch, weißt du, besser so ... Nun, ich gehe also, und du komme mir schnell nach, laß mich nicht lange allein: man ist, weißt du, wenn man allein ist, etwas befangen ... Ja! Wart! Was ich noch sagen wollte! Ich habe eine Bitte an dich: mach mir dort, bitte, keine Vorwürfe, wie du sie mir vorhin hier machtest – was? Wenn du was sagen willst, so tu’s später, hier unter vier Augen – nicht? Bis dahin aber bezwing dich und schieb es auf! Ich habe es dort, sieh mal, sowieso mit allen verdorben. Sie ärgern sich ...“
„Hören Sie, Onkel, nach allem, was ich gehört und gesehen habe, scheint es mir, daß Sie ...“
„Daß ich ein Lappen bin – nicht? Sprich es nur ruhig aus!“ unterbrach er mich ganz unvermutet. „Ja, Freund, was ist da zu machen! Ich weiß es ja selbst. Nun, dann kommst du also? Komm bitte, sobald wie möglich!“
Oben im Giebelzimmer angelangt, kramte ich eilig die notwendigen Sachen aus meinem Koffer, eingedenk der Bitte meines Onkels, ihm bald zu folgen. Während des Ankleidens dachte ich darüber nach, daß ich, trotz der langen Unterhaltung mit meinem Onkel, doch noch nichts von dem in Erfahrung gebracht hatte, was ich hauptsächlich wissen wollte. Ich wurde nachdenklich. Nur eines war mir einigermaßen klar: mein Onkel wünschte immer noch, daß ich sie heiratete, und folglich waren alle Gerüchte, die dem widersprachen, wie zum Beispiel, daß er selbst in das junge Mädchen verliebt sei, unbegründet. Ich weiß noch, daß ich mich in großer Aufregung befand. Unter anderem dachte ich auch darüber nach, daß ich durch meine Ankunft und mein Schweigen in der Hauptsache meinem Onkel gleichsam meine Zustimmung ausgedrückt, ihm mein Wort gegeben, mich auf ewig gebunden hatte.
„Es ist nicht schwer,“ dachte ich, „nicht schwer, ein Wort auszusprechen, das einen dann später an Händen und Füßen und auf ewig bindet. Und das Beste ist, daß ich die Braut noch nicht einmal gesehen habe!“
Und andererseits: woher diese Feindschaft der ganzen Familie gegen mich? Warum sollten sie über meine Ankunft, wie mein Onkel sagte, ungehalten sein? Und was für eine sonderbare Rolle spielte denn mein Onkel hier in seinem eigenen Hause? Aus welchem Grunde vermeidet er es, mir auf gewisse Fragen zu antworten? Aus welchem Grunde fürchtet und quält er sich so? Offen gesagt, der ganze Sachverhalt erschien mir plötzlich vollkommen unsinnig, unbegreiflich. Meine romantischen und heroischen Träume aber waren jetzt, nach dem ersten Zusammenstoß mit der Wirklichkeit, endgültig verflogen. Erst jetzt, nach der Unterredung mit meinem Onkel, begriff ich die ganze Ungereimtheit, den ganzen Wahnsinn seines Vorschlages, und ich sagte mir, daß unter solchen Umständen wahrlich nur er allein einen solchen Plan aushecken konnte. Desgleichen gestand ich mir, daß ich selbst, indem ich auf sein erstes Wort hin Hals über Kopf hergefahren kam, fast begeistert von seinem Vorschlag, einem Narren und Dummkopf sogar auffallend ähnlich gewesen war.
Mit diesen unangenehmen Erwägungen beschäftigt, kleidete ich mich so eilig an, daß ich den mir behilflichen Diener zuerst gar nicht bemerkte.
„Werden der Herr die adelaidenfarbene Kravatte umlegen oder diese feinkarierte?“ fragte er plötzlich mit einer fast widerlich süßen Bescheidenheit.
Jetzt erst sah ich ihn an, und es schien mir auf den ersten Blick, daß seine Person ein gewisses Interesse verdiente. Er war ein noch junger Mensch, für einen Diener viel zu gut gekleidet, vielleicht nicht schlechter als manch ein Geck unserer Gouvernementsstädte. Er trug einen braunen Frack, weiße Beinkleider, eine strohfarbene Weste, Halbstiefel aus Lackleder und eine rosa Krawatte. Augenscheinlich war jedes Stück nicht ohne eine gewisse Absicht gewählt: diese ganze Ausstattung mußte sofort den feinen Geschmack des jungen Mannes verraten. Die Uhrkette war gleichfalls nicht zufällig so angebracht, daß sie einem in die Augen stach. Sein Gesicht war blaß und etwas grünlich; seine Nase war groß, gebogen, ungewöhnlich weiß, fast als wäre sie von Porzellan gewesen. Das Lächeln seiner schmalen Lippen drückte eine gewisse Melancholie aus, und zwar eine sehr zartfühlende Melancholie. Seine großen hervorquellenden Augen hatten etwas Gläsernes, ihr Blick war auffallend stumpf, aber dennoch drückten sie eine gewisse „Zartheit“ aus. In seinen dünnen, weichen Ohren trug er – wohl gleichfalls aus „Zartheit“ – je ein Flöckchen weiße Watte. Seine langen, weißblonden, spärlichen Haare waren zu Locken gedreht und pomadisiert. Seine Hände – oder vielmehr Händchen – waren weiß, sauber, wie in Rosenwasser gebadet. Seine Nägel waren geckenhaft lang und rosig. Kurz, alles an ihm sprach von Verzärtelung und Eitelkeit. Er lispelte vor lauter Vornehmheit und sprach nach neuester Mode das r fast gar nicht aus, er schlug die Augen auf und schlug sie nieder, seufzte und schmachtete bis zur Unglaublichkeit. Ja, er duftete sogar nach Parfüm. Er war nicht groß, war schwächlich und welk, und beim Gehen knickte er sehr absonderlich in den Beinen, so daß es aussah, als wolle er sich bei jedem Schritt setzen, worin er wahrscheinlich die vornehmste Zartheit sah. Mit einem Wort, der ganze Mensch war förmlich durchtränkt mit Zartheit, Subtilität und ungewöhnlich entwickeltem Empfinden der eigenen Würde. Besonderes letzteres mißfiel mir im ersten Augenblick sehr, ohne daß ich hierfür einen besonderen Grund angeben könnte.
„So ist diese Krawatte adelaidenfarben?“ fragte ich und sah den jungen Diener scharf an.
„Jawohl, genau adelaidenfarben,“ antwortete er mit „Zartsinn“.
„Und nicht agrafenenfarben?“
„Nein. Eine solche Farbe kann es überhaupt nicht geben.“
„So? Warum denn nicht?“
„Agrafena ist ein unanständiger Name.“
„Wieso unanständig? Warum?“
„Das weiß doch ein jeder: Adelaida ist wenigstens ein ausländischer Name, ein veradelter also; Agrafena aber kann hier jedes Bauernweib heißen.“
„Du bist wohl übergeschnappt?“
„Keineswegs, ich bin bei vollem Verstande. Es steht dem Herrn allerdings frei, mich wie beliebt zu benennen, doch sind mit meinem Worte viele Generäle und Herren aus der Hauptstadt zufrieden gewesen.“
„Widopljässoff.“
„Ah! Also du bist Widopljässoff!“
„So heiße ich.“
„Na, dich werde ich wohl noch näher kennen lernen.“
Bei mir aber dachte ich, als ich die Treppe hinabstieg: „Weiß Gott, das ist ja hier eine regelrechte Irrenanstalt!“
Der Teesalon war dasselbe Zimmer, aus dem eine Glastür auf jene Terrasse führte, auf der ich kurz vorher den Diener Gawrila angetroffen hatte. Die geheimnisvollen Warnungen meines Onkels bezüglich des Empfanges, der mich erwartete, beunruhigten mich nicht wenig. Um so unangenehmer war es mir, als ich, nachdem ich kaum über die Schwelle getreten war, plötzlich über einen Teppich stolperte und, indem ich zum Glück gerade noch das Gleichgewicht bewahrte, immerhin ganz unverhofft bis in die Mitte des Zimmers flog. So stand ich denn, betreten, als hätte ich im Augenblick meine ganze Lebenslaufbahn, Ehre und guten Ruf verspielt, regungslos, rot wie ein Krebs und mit verständnislosem Blick rings um mich schauend, geraume Zeit mitten im Zimmer auf einem Fleck. Ich erwähne diesen an sich ganz gleichgültigen Zwischenfall einzig aus dem Grunde, weil er von einem gewissen Einfluß auf meine Gemütsverfassung im Verlaufe des ganzen Tages war und somit auch auf mein Verhalten zu einigen der handelnden Personen meiner Erzählung. Ich versuchte, so etwas wie eine Verbeugung zu machen; doch noch bevor ich sie ausgeführt hatte, stürzte ich zu meinem Onkel und erfaßte seine beiden Hände.
„Guten Tag, Onkel,“ sagte ich atemlos, obgleich ich etwas ganz anderes, viel Geistreicheres hatte sagen wollen ... aber ohne es zu wollen, hatte ich schon dieses dumme „Guten Tag, Onkel“ gesagt!
„Guten Tag, guten Tag, mein lieber, junger Freund,“ antwortete mein Onkel, der sichtlich mit mir litt, „wir ... wir haben uns ja schon so oft gesehen. Sei doch nicht so verlegen,“ fuhr er leise fort, so daß nur ich es hörte, „das kann ja jedem Menschen passieren! Ich verstehe ja: zuweilen wäre man froh, wenn man sich unter die Erde verkriechen könnte ... Nun, jetzt aber ... erlauben Sie, Mama, daß ich Ihnen hier meinen Gast vorstelle ... Sie werden ihn sicherlich liebgewinnen. Mein Neffe, Ssergei Alexandrowitsch,“ sagte er zur Erläuterung, sich diesmal an alle Anwesenden wendend.
Doch bevor ich die folgenden Ereignisse wiedergebe, will ich diese ganze Gesellschaft, in die ich mich so plötzlich hineinversetzt sah, dem Leser etwas deutlicher vor Augen führen.
Sie bestand aus mehreren Damen und nur zwei Herren – mich und meinen Onkel nicht mitgerechnet. Foma Fomitsch, für den ich mich so überaus interessierte, und der – das fühlte ich bereits – der unumschränkte Herrscher des ganzen Hauses war, befand sich nicht im Zimmer: er glänzte durch Abwesenheit und hatte, wie es schien, das Sonnenlicht gleichzeitig mit sich fortgenommen; denn alle waren finster, sorgenvoll und bekümmert, was man unmöglich nicht herausfühlen konnte. Aber wie verwirrt und erregt ich in diesem Augenblick auch war, ich bemerkte doch, daß mein Onkel fast ebenso erregt und verwirrt war wie ich, wenn er auch alles tat, um seinen wahren Zustand und seine Sorgen hinter scheinbarer Ungezwungenheit zu verbergen. Es schien so etwas wie ein schwerer Stein auf seinem Herzen zu liegen.
Der eine der beiden anwesenden Herren, ein noch junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, war jener Obnoskin, dessen Verstand und strenge Moral mein Onkel noch kurz vorher gerühmt hatte. Leider gefiel er mir äußerst wenig: alles an ihm lief schließlich auf einen gewissen „Schick“ – jedoch schlechten Tones – hinaus; sein Anzug sah bei allem „Schick“ doch fadenscheinig und ärmlich aus, und selbst in seinem Gesicht schien etwas Fadenscheiniges zu sein. Sein hellblonder, spärlicher Schnurrbart und sein zerzaustes Bärtchen sollten an ihm offenbar einen selbständig denkenden Menschen und vielleicht sogar einen Freigeist kennzeichnen. Er schnitt die ganze Zeit Grimassen, lächelte mit einer ganz besonderen, gemachten Boshaftigkeit, saß keinen Augenblick ruhig auf seinem Stuhl und fixierte mich beständig durch ein Lorgnon – dessen er sich, wie jeder zeitgenössische Modenarr, bediente. Kehrte ich mich jedoch zu ihm um, so senkte er es mit einer neuen Grimasse sofort, ganz als wäre er zu feige gewesen, mich offen zu fixieren. Der andere Herr war auch noch jung, ungefähr so um achtundzwanzig: es war dies mein Vetter dritten Grades, Herr Misintschikoff. Er war allerdings auffallend schweigsam. Während der ganzen Teestunde sprach er kein einziges Wort, lachte er kein einziges Mal, auch dann nicht, wenn alle lachten; doch konnte ich keine Spur von jener Schüchternheit an ihm wahrnehmen, die mein Onkel an ihm bemerkt haben wollte; im Gegenteil, ich fand, daß der Blick seiner hellbraunen Augen Entschlossenheit und einen sehr bestimmten Charakter verriet. Er hatte eine dunkle Gesichtsfarbe, fast schwarzes Haar und war eigentlich recht hübsch; gekleidet war er tadellos – auf Rechnung meines Onkels, wie ich später erfuhr. Von den Damen fiel mir ganz zuerst Fräulein Perepelizyna dank ihres erschreckend bösen, blutleeren Gesichts auf. Sie saß neben der Generalin, – auf die ich später zu sprechen kommen werde –, jedoch stand ihr Stuhl nicht ganz in gleicher Reihe mit dem der alten Dame, sondern aus Ehrerbietung etwas zurück. Sie beugte sich jeden Augenblick vor, um ihrer Gönnerin etwas ins Ohr zu tuscheln. Drei andere bejahrte Gnadenbrotesserinnen saßen vollkommen wortlos, starr und steif an der Fensterwand und erwarteten ehrfürchtig ihre Tasse Tee, alle sechs Augen andächtig auf die Generalin gerichtet. Auch interessierte mich eine nicht allein dicke, sondern förmlich ausgeflossene Dame von rund fünfzig Jahren, die sehr geschmacklos und auffallend gekleidet und, wenn ich mich nicht täusche, sogar geschminkt war. Im Munde hatte sie statt der Zähne nur noch einige dunkle, abgebrochene Zahnstummeln, was sie jedoch nicht hinderte, in einem fort den Mund aufzureißen, schreiend laut zu sprechen, sich zu zieren und zu kokettieren. Sie war mit vielen Ketten und Kettchen behangen und richtete, ganz wie Monsieur Obnoskin, fortwährend ihr Lorgnon auf mich. Es war das seine Mutter. Meine Tante, die stille Praskowja Iljinitschna, goß den Tee ein. Man sah es ihr an, daß sie mich nach der langen Trennung am liebsten hätte umarmen, küssen, und daß sie bei der Gelegenheit selbstverständlich auch hätte weinen wollen – aber sie wagte es nicht. Alles schien hier gleichsam unter einem Verbot zu stehen. Neben ihr saß ein allerliebstes, dunkeläugiges, fünfzehnjähriges Mädchen, das mich aufmerksam mit kindlicher Neugier ansah – das war mein Kusinchen Ssaschenjka. Endlich bemerkte ich noch eine sehr sonderbare Dame, die vielleicht die auffallendste von allen war: reich und sehr jugendlich gekleidet, obschon sie längst nicht mehr jung zu sein schien: ich schätzte sie auf mindestens fünfunddreißig Jahre. Ihr Gesicht war sehr farblos, hager und geradezu ausgetrocknet, doch nichtsdestoweniger von ungewöhnlich lebhaftem Ausdruck. Fast bei jeder Bewegung, jeder Erregung erschien flammendes Rot auf ihren bleichen Wangen. Dabei regte sie sich ununterbrochen auf, drehte sich auf dem Stuhl hin und her und schien nicht eine Minute ruhig sitzen zu können. Sie betrachtete mich mit geradezu gieriger Neugier, beugte sich in jedem Augenblick zur Seite, um Ssaschenjka oder ihrer Nachbarin zur Linken etwas ins Ohr zu flüstern, worauf sie dann jedesmal in ein offenherziges, kindlich heiteres Lachen ausbrach. Doch dieses ganze auffallende Benehmen der Dame wurde zu meiner nicht geringen Verwunderung von keinem einzigen der Anwesenden bemerkt, oder wenigstens schien man es nicht bemerken zu wollen, ganz als hätte man schon früher ein vollkommenes Ignorieren verabredet. Ich erriet, daß dieses Geschöpf jene Tatjana Iwanowna war, die nach dem Ausdruck meines Onkels etwas „Phantasmagorisches“ an sich haben sollte, und die ihm fast mit Gewalt als Braut angehängt wurde. Wegen ihres Reichtums sahen ihr die alten Damen alles nach und waren überhaupt sehr liebenswürdig zu ihr. Übrigens gefielen mir ihre blauen Augen, die einen gewissen sanften Ausdruck hatten, und wenn man auch an den Schläfen kleine Runzeln wahrnehmen konnte, so war der Blick doch so offenherzig, so heiter und gut, daß es ganz eigenartig angenehm war, ihm zu begegnen. Von dieser Tatjana Iwanowna, einer der buchstäblichen „Heldinnen“ meiner Erzählung, werde ich späterhin noch ausführlicher sprechen – ihre Lebensgeschichte ist recht seltsam.
Fünf Minuten nach meinem Erscheinen im Teesalon kam aus dem Garten ein allerliebster kleiner Junge hereingelaufen; das war mein Vetter Iljuscha, dessen Namenstag am nächsten Tage gefeiert werden sollte, und dessen Taschen jetzt schon mit Kuchen vollgestopft waren. In der einen Hand hielt er eine Peitsche, in der anderen einen Brummkreisel. Gleich nach ihm trat ein junges, schlankes Mädchen ein: sie war ein wenig bleich und anscheinend etwas müde, aber dennoch sah sie reizend aus. Sie warf einen prüfenden, mißtrauischen und etwas scheuen Blick auf die Anwesenden, sah mich einmal kurz und aufmerksam an und setzte sich dann neben Tatjana Iwanowna hin. Ich weiß noch, daß mein Herz unwillkürlich zu klopfen begann: das war sie, die Erzieherin ... Auch entsinne ich mich noch, daß mein Onkel bei ihrem Eintritt mir einen schnellen Blick zuwarf und gleich darauf errötete, sich dann plötzlich niederbeugte, seinen Iljuscha auf den Arm hob und ihn zu mir brachte: ich sollte ihn begrüßen und küssen. Bei der Gelegenheit fiel es mir auf, daß Frau Obnoskin meinen Onkel durchdringend musterte, um dann mit einem sarkastischen Lächeln ihr Lorgnon auf die Erzieherin zu richten. Mein Onkel wußte nicht, was er tun sollte, und so rief er denn Ssaschenjka zu sich, um sie mir vorzustellen, doch diese stand nur auf und machte schweigend und mit aller Wohlerzogenheit einen Knicks vor mir. Das gefiel mir übrigens sehr; denn es paßte zu ihr. Da aber konnte sich meine gute Tante Praskowja Iljinitschna nicht mehr bezwingen: sie ließ ihre Teetassen stehen und stürzte auf mich zu, um mich zu umarmen – doch siehe, noch hatte ich nicht Zeit gehabt, ihr zwei Worte zu sagen, als schon die schrille Stimme der alten Jungfer Perepelizyna ertönte, die vorwurfsvoll und stellenweise förmlich kreischend bemerkte, daß Praskowja Iljinitschna ihr Mütterchen (die Generalin) ganz und gar vergesse, das Mütterchen aber habe doch Tee verlangt und müsse jetzt so lange warten! Und so eilte denn Praskowja Iljinitschna zu ihren Tassen und Pflichten zurück, ohne mit mir nur ein Wort gewechselt zu haben. Diese Generalin nun, die Hauptperson im Kreise ihrer Freundinnen, vor der alle sich wie auf Draht gezogen bewegten, und die ganz in Trauer gehüllt dasaß, war eine hagere, böse, alte Person – böse vornehmlich vor Alter und infolge der Einbuße ihrer letzten, auch früher niemals sehr reichen geistigen Fähigkeiten. Früher war sie einfach nur launisch gewesen, dann aber hatte sie der Titel „Exzellenz“ noch dümmer und noch eingebildeter gemacht. Wenn sie sich ärgerte, machte sie das Haus zur Hölle. Sie hatte zwei Arten, sich zu ärgern. Die eine Art war – Schweigen; dann tat die Alte ganze Tage lang kein einziges Mal den Mund auf und stieß alles, was man ihr vorsetzte, entweder wie aus Versehen um, oder warf es ganz offen und wütend auf den Fußboden. Die andere Art war dieser vollkommen entgegengesetzt: nämlich wortreich. Es begann gewöhnlich damit, daß meine verehrte Großmutter sich in ungewöhnliche Melancholie versenkte, das Ende der Welt und ihres Hauses erwartete, Armut und alles nur denkbare Elend voraussah, sich an ihren eigenen Vorgefühlen in Stimmung redete, die zukünftigen Leiden an den Fingern abzuzählen begann, während dieser Zählung in eine gewisse Begeisterung geriet und aus dieser Begeisterung schließlich in förmlichen Jähzorn. Bei der Gelegenheit stellte es sich dann natürlich immer heraus, daß sie alles inzwischen Eingetroffene vorausgesehen und nur aus dem einen Grunde geschwiegen hatte, weil sie doch mit Gewalt dazu gezwungen werde, „in diesem Hause“ zu schweigen. Wenn man doch „wenigstens ehrerbietig“ zu ihr sein und ihr „im voraus gehorchen“ wollte, so ... usw. Alle derartigen Reden wurden sogleich von dem ganzen Stabe ihrer Anhängerinnen, Fräulein Perepelizyna an der Spitze, als unerschütterliche, ewige Wahrheit anerkannt und zum Schluß noch von Foma Fomitsch feierlich begutachtet und gesegnet. In jenem Augenblick, als ich ihr vorgestellt wurde, ärgerte sie sich gerade entsetzlich, und zwar nach der ersten Methode, der schweigsamen – und furchtbarsten. Alle sahen sie angstvoll an. Nur Tatjana Iwanowna, der unbedingt alles verziehen wurde, befand sich in der besten Stimmung.
Da führte mich mein Onkel – fast sogar wie im Triumph – zu meiner Großmutter, doch diese machte nur eine äußerst saure Miene und schob heftig ihre Tasse zur Seite.
„Ist das jener Vol-ti-geur?“ fragte sie in singendem Nasalton, sich dabei an Fräulein Perepelizyna wendend.
Diese dumme Frage brachte mich gänzlich aus der Fassung. Ich begriff nicht, weshalb sie mich einen Voltigeur nannte. Doch solche Fragen waren noch nichts, im Vergleich zu anderen Beleidigungen, mit denen die alte Dame niemals kargte. Die Perepelizyna beugte sich vor und tuschelte ihr etwas ins Ohr, die Alte aber schlug nur einmal, unwillig abweisend, mit der Hand durch die Luft. Ich stand mit halb offenem Munde vor ihr und blickte fragend meinen Onkel an. Alle tauschten vielsagende Blicke aus, und Obnoskin lächelte sogar, was mir sehr wenig gefiel.
„Sie, weißt du, sie verspricht sich manchmal,“ raunte mir mein Onkel unauffällig zu; „aber das tut ja nichts, sie sagt es nur so, es kommt aus gutem Herzen. Sieh immer nur aufs Herz, immer aufs Herz, das ist die Hauptsache!“
„Ja, das Herz, das Herz!“ ertönte da plötzlich die helle Stimme Tatjana Iwanownas, die mich die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte und tatsächlich nicht ruhig auf ihrem Platz zu sitzen vermochte. Offenbar hatte sie die letzten mir zugeraunten Worte aufgefangen. Doch sie sprach ihren Gedanken nicht zu Ende, obgleich sie augenscheinlich etwas sagen wollte. Wurde sie nun verlegen, oder war es etwas anderes – jedenfalls verstummte sie, errötete heftig, beugte sich hastig zur Erzieherin, flüsterte ihr etwas ins Ohr und plötzlich warf sie sich, das Taschentuch an die Lippen pressend, an ihre Stuhllehne zurück und lachte, lachte, wie nur ein hysterischer Mensch lachen kann. Ich schaute mich höchst verwundert im Kreise um: und ich gewahrte zu meiner noch größeren Verwunderung, daß alle sehr ernst waren und so dreinschauten, als wäre nichts Besonderes geschehen. Da begriff ich, wer und was Tatjana Iwanowna war. Endlich erhielt auch ich meinen Tee und kam wieder ein wenig zur Besinnung. Doch weiß ich nicht, aus welchem Grunde ich plötzlich glaubte, ein überaus liebenswürdiges Gespräch mit den Damen anknüpfen zu müssen.
„Sie hatten vollkommen recht, Onkel,“ begann ich, „als Sie mich vorhin vor dem Verlegenwerden warnten. Ich muß offen gestehen – wozu sollte ich es verheimlichen?“ fuhr ich fort, mich mit dem einschmeichelndsten Lächeln an Frau Obnoskin wendend, „daß sich mich bis heute noch nie in Damengesellschaft befunden habe, und als mir jetzt beim Eintritt dieses Malheur passierte, da ... schien es mir, daß die Pose, die ich mitten im Zimmer so unbeabsichtigter Weise annahm, recht lächerlich war und in etwas an den ‚Bettelsack‘ erinnerte – nicht wahr? Sie haben doch den ‚Bettelsack‘ gelesen?“ Ich verstummte, denn meine Verwirrung hatte mit jedem Wort wieder zugenommen: ich schämte mich meines Einschmeichelungsversuchs und blickte wütend auf Herrn Obnoskin, der, die Zähne lächelnd entblößend, mich immer noch vom Kopf bis zu den Füßen musterte.
„Stimmt! Das ist es ja! Eben, eben!“ rief plötzlich mein Onkel aus, ungemein belebt und aufrichtig erfreut darüber, daß es wenigstens zu einem Gespräch kam und ich mich soweit gefaßt hatte. „Aber das, Freund, das ist noch nichts, was du da sagst von Verlegenwerden. Wird man verlegen, dann wird man verlegen, das ist weiter nicht schlimm! Ich aber, Freund, ich habe bei meinem Debüt sogar gelogen – wirst du’s mir glauben? Ja, bei Gott, Anfissa Petrowna! Und ich kann Ihnen nur sagen, es ist eine interessante Geschichte. Ich war kaum Fähnrich geworden, kam nach Moskau und begab mich zu einer hochgestellten Dame, mit einem Empfehlungsbrief, versteht sich – das heißt, sie war eine recht hochmütige Dame, aber im Grunde doch herzensgut, was man auch dagegen einwenden wollte. Ich trete also ein, gebe meine Karte ab – werde empfangen. Im Empfangssalon wimmelt es von Gästen – lauter Größen. Ich machte meine pflichtschuldige Verbeugung, setzte mich. Da wendet sie sich schon nach fünf Minuten zu mir und fragt mich: ‚Hast du auch ein Gut, mein Lieber?‘ Ich besaß damals kein Huhn – aber was sollte ich antworten? Verwirrt war ich, wie ein Brummkreisel. Alle sehen mich an – na was, Junkerlein! Nun, ich hätte doch einfach sagen können: nein, habe nichts, – und es wäre gut und anständig gewesen; denn ich hätte doch nur die Wahrheit gesagt. Hielt es aber nicht aus! ‚Jawohl,‘ sagte ich, ‚hundertundsiebzehn Seelen.‘ Weiß Gott, welch ein Teufel mich plagte, diese siebzehn da noch anzuhängen! Wenn du schon lügst, dann lüg doch eine runde Zahl – nicht wahr? Natürlich erfuhren sie gleich darauf aus dem Empfehlungsbrief, daß ich arm war wie eine Kirchenmaus – und zum Überfluß hatte ich jetzt auch noch gelogen! Na, was tun? Ich machte, daß ich fortkam, und ging seit der Zeit nie wieder hin! Ja, damals besaß ich noch nichts; denn das, was ich jetzt habe, das sind, wie ihr wißt, dreihundert Seelen von Onkel Afanassij Matwejitsch, und dann noch die zweihundert Seelen mit Kapitonowka, die ich vorher von meiner Großmutter Akulina Panfilowna erbte, also summa summarum fünfhundert plus Nachwuchs. Na ja. Nur habe ich mir damals geschworen, nie mehr zu lügen, und jetzt lüge ich auch tatsächlich nie mehr.“
„Hm, ich hätte mir das an Ihrer Stelle nicht geschworen. Wer weiß, was alles noch geschehen kann,“ bemerkte Obnoskin mit spöttischem Lächeln.
„Nun ja, das ist ja wahr; wer weiß, was alles noch geschehen kann!“ stimmte mein Onkel gutmütig bei.
Obnoskin brach in schallendes Gelächter aus und warf sich lachend an die Stuhllehne zurück. Fräulein Perepelizyna kicherte wieder ganz besonders widerlich. Auch Tatjana Iwanowna lachte auf, ohne selbst zu wissen, worüber, und schlug sogar in die Hände vor Vergnügen. Kurz, ich begriff, daß mein Onkel in seinem eigenen Hause als vollkommene Null betrachtet wurde. Ssaschenjka, deren dunkle Augen böse blitzten, sah unverwandt Obnoskin an. Die Erzieherin errötete und sah zu Boden. Mein Onkel wunderte sich.
„Ja, was denn? Was ist denn geschehen?“ fragte er, sich verständnislos im Kreise umblickend.
Während dieser ganzen Zeit fiel es mir auf, daß mein Vetter dritten Grades, Misintschikoff, der sich etwas abseits niedergelassen hatte, ruhig und stumm auf seinem Stuhle saß und selbst dann nicht einmal lächelte, als alle lachten. Er trank seinen Tee, blickte philosophisch auf das ganze Publikum und war mehr als einmal im Begriff – gleichsam in einem Anfall unerträglicher Langeweile – die Lippen zu spitzen und vor sich hinzupfeifen, wahrscheinlich aus alter Angewohnheit, doch besann er sich immer noch rechtzeitig. Gleichzeitig fiel mir auf, daß Obnoskin, der meinen Onkel zum besten hatte und sich auch über mich lustig machte, diesen Misintschikoff kaum anzusehen wagte. Auch bemerkte ich, daß dieser, mein schweigsamer Vetter dritten Grades, des öfteren zu mir herübersah und es sogar mit offenkundigem Interesse tat, als hätte er genau feststellen wollen, was für ein Mensch ich eigentlich sei.
„Ich bin überzeugt,“ ertönte da plötzlich die Stimme Frau Obnoskins, „ich bin fest überzeugt, monsieur Serge – so war’s doch, wenn ich mich nicht irre? – daß Sie in Ihrem Petersburg kein großer Damenfreund gewesen sind. Ich weiß, es gibt jetzt dort viele, sehr viele junge Leute, die sich vor jeder Damengesellschaft scheuen. Meiner Ansicht nach sind das aber nur Freigeister. Ich werde mich nie dazu verstehen, diese Tatsache anders aufzufassen: sie ist nichts als unverzeihliches Freigeistertum. Und darum will ich es Ihnen unverhohlen sagen: es wundert mich, es wundert mich, junger Mann, es wundert mich über alle Maßen! ...“
„Ich habe mich überhaupt nicht in Gesellschaft bewegt,“ antwortete ich eifrig. „Aber das hat ... wenigstens denke ich so, nichts zu sagen ... Ich lebte dort, das heißt, ich hatte mir dort ein Zimmer gemietet ... aber das hat nichts auf sich, ich versichere Sie. Ich werde mir alle Mühe geben, mit Damen bekannt zu werden; bis jetzt habe ich allerdings nur zu Hause gesessen.“
„Und hast dich mit der Wissenschaft beschäftigt,“ bemerkte mein Onkel, ersichtlich stolz darauf.
„Ach, Onkel, – Onkel mit seiner Wissenschaft ... Stellen Sie sich nur vor,“ fuhr ich sehr mitteilsam und mit liebenswürdigem Lächeln fort, mich wieder an Frau Obnoskin wendend, „mein lieber Onkel ist von der Wissenschaft dermaßen eingenommen, daß er irgendwo auf der Landstraße einen wundertätigen, praktizierenden Philosophen, einen gewissen Herrn Korowkin, entdeckt hat: und sein erstes Wort, das er mir heute nach so langen Jahren der Trennung sagte, war, daß er diesen phänomenalen Zauberer mit, man kann wohl sagen, krampfhafter Ungeduld erwarte ... selbstverständlich nur aus Liebe zur Wissenschaft ...“
Und ich lachte leise, in der Hoffnung, allgemeines Gelächter als Lob meiner geistreichen Mitteilung hervorzurufen.
„Wen? Von wem spricht er?“ fragte schroff die Generalin, die sich wieder nur an die Perepelizyna wandte.
„Jegor Iljitsch hat Gäste eingeladen, Gelehrte, Leute, die sich auf der großen Landstraße umhertreiben und von ihm aufgesammelt werden,“ berichtete schadenfroh die alte Jungfer.
Mein Onkel wußte zuerst nicht recht, was er dazu sagen sollte.
„Ach ja, richtig! Ich hatte es ganz vergessen!“ rief er aus – warf mir aber einen Blick zu, in dem doch ein gewisser Vorwurf lag. „Ich erwarte Herrn Korowkin. Ein Mann der Wissenschaft, einer, der unser Jahrhundert überleben wird ...“
Er brach ab und verstummte. Die Generalin hatte wieder einmal mit der Hand gewinkt (das bedeutete, daß sie ihn nicht mehr anhören wollte), und zwar diesmal so glücklich, daß sie die Tasse traf, die auf dem Fußboden klirrend zerschlug. Es folgte eine allgemeine Aufregung.
„Das tut sie immer, wenn sie sich ärgert,“ raunte mir mein Onkel zur Erklärung ins Ohr. „Aber nur wenn sie sich ärgert ... Du, Freund, sieh nicht hin, bemerke es nicht, sieh zur Seite ... Aber, warum hast du das von Korowkin gesagt? ...“
Doch ich blickte ohnehin schon zur Seite: ich hatte den Blick der Erzieherin aufgefangen, und es schien mir, daß in ihm mehr als ein Vorwurf, ja sogar etwas wie Verachtung lag. Röte des Unwillens brannte auf ihren blassen Wangen. Ich begriff ihren Blick. Ich erriet, daß ich durch meinen kleinmütigen, häßlichen Versuch, meinen Onkel lächerlich zu machen, um auf diese Weise wenigstens etwas von der eigenen Lächerlichkeit abzuwälzen, nicht gerade die Sympathie dieses Mädchens errungen hatte. Ich vermag nicht zu sagen, wie sehr ich mich schämte!
„Aber ich will mit Ihnen von Petersburg sprechen,“ begann Anfissa Petrowna Obnoskina von neuem, kaum daß sich die Aufregung, die von der zerschlagenen Tasse hervorgerufen worden war, etwas gelegt hatte. „Ich denke mit einem solchen Vergnügen, kann ich sagen, an unser Leben in dieser bezaubernden Residenz zurück ... Wir waren damals sehr nah bekannt mit einem Hause ... weißt du noch Paul?“ (Die Dame nannte ihren Sohn Pawel stets französisch „Poll“ und mich statt Ssergei Alexandrowitsch, „monsieur Serge“.) „General Polowizyn ... Ach, wenn Sie wüßten, was für ein bezauberndes, be–zau–berndes Wesen die Generalin war! Und sie können sich ja denken, dieser Aristokratismus, beau monde! ... Sagen Sie: Sie sind ihnen doch wahrscheinlich begegnet? ... Glauben Sie mir, ich habe Sie hier mit Ungeduld erwartet: ich hoffte, durch Sie hier vieles, vieles von unseren Petersburger Freunden zu erfahren ...“
„Es tut mir leid, aber ich bin nicht in der Lage ... entschuldigen Sie ... Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich nur sehr selten in Gesellschaft gewesen bin, und ich kann nur hinzufügen, daß ich einen General Polowizyn überhaupt nicht kenne, ich habe nicht einmal den Namen gehört,“ antwortete ich nervös, da meine ganze Liebenswürdigkeit plötzlich in eine sehr gereizte und ärgerliche Stimmung umgeschlagen war.
„Er hat sich mit Mineralogie beschäftigt!“ bemerkte wieder stolz mein unverbesserlicher Onkel. „Das ist doch, Freund, die Wissenschaft, die da so – verschiedene kleine Steinchen sammelt, nicht? Die Mineralogie?“
„Ja, Onkel, Steine ...“
„Hm ... Es gibt doch viele Wissenschaften, und alle sind sie nützlich! Ich aber, Freund, um die Wahrheit zu sagen, wußte nicht einmal, was das eigentlich ist, diese ganze Mineralogie! Habe nur so irgendwo die Glocken mal läuten gehört. Weißt du, in den anderen Dingen – da geht es noch zur Not; aber was die Wissenschaft anbetrifft, da bin ich dumm – gebe es ganz offen zu.“
„Sie geben es ganz offen zu?“ fragte ironisch Obnoskin.
„Papachen!“ rief Ssaschenjka dazwischen und sah vorwurfsvoll ihren Vater an.
„Was, Liebling? Ach, mein Gott, ich unterbreche Sie immer, Anfissa Petrowna,“ entschuldigte er sich, da er Ssaschenjkas Ausruf mißverstanden hatte, „verzeihen Sie mir, um Gottes willen!“
„Oh, beunruhigen Sie sich nicht!“ wehrte Anfissa Petrowna mit sauersüßem Lächeln ab. „Ich habe ja Ihrem Neffen auch schon alles gesagt und kann nur noch hinzufügen, monsieur Serge – so war’s doch, wenn ich mich nicht irre? –, daß Sie sich unbedingt bessern müssen. Ich bin überzeugt, daß die Wissenschaft, die Kunst ... die Bildhauerkunst zum Beispiel ... mit einem Wort, daß alle diese hohen Ideen ihre sozusagen be–rau–schende Seite haben, aber niemals werden sie die Damen ersetzen! ... Die Frauen, die Frauen, junger Mann, werden Sie bilden, und deshalb ist es ohne sie unmöglich, unmöglich, junger Mann, ganz un–möglich!“
„Unmöglich, unmöglich!“ ertönte schon wieder die etwas schreiende Stimme Tatjana Iwanownas. „Hören Sie,“ begann sie darauf in kindlicher Hast (natürlich errötete sie wieder), „hören Sie, ich will Sie etwas fragen ...“
„Wie beliebt?“ fragte ich und sah sie aufmerksam an.
„Ich wollte Sie fragen: werden Sie lange hier bleiben?“
„Ich weiß es nicht, – je nach den Verhältnissen.“
„Nach den Verhältnissen! Was können denn das für Verhältnisse sein? ... O, Sie Tor!“
Und Tatjana Iwanowna verbarg ihr heiß errötendes Gesicht hinter ihrem Fächer, beugte sich dann zur Erzieherin und begann sofort, ihr eifrig etwas zuzuflüstern. Plötzlich lachte sie auf und schlug vergnügt in die Hände.
„Warten Sie, warten Sie!“ rief sie mir zu, sich eilig von ihrer Vertrauten wieder abwendend, als hätte sie gefürchtet, ich könnte fortgehen, „hören Sie, wissen Sie, was ich Ihnen sagen werde? Sie ähneln auffallend, auffallend einem jungen Menschen, einem be–zau–bernden jungen Menschen! ... Ssaschenjka, Nastenjka, wißt ihr noch? Er gleicht doch auffallend jenem Toren – weißt du noch, Ssaschenjka? Wir fuhren spazieren und begegneten ihm ... zu Pferde, in einer weißen Weste ... er richtete noch sein Lorgnon auf mich, der Unverschämte! Wißt ihr noch, ich schlug meinen Schleier vors Gesicht, hielt es dann aber doch nicht aus, beugte mich aus dem Wagen und rief ihm ein ‚Sie Unverschämter!‘ nach. Und dann warf ich mein Bukett auf die Landstraße ... Entsinnen Sie sich dessen noch, Nastenjka?“
Und das halb geistesgestörte Mädchen, das von Männern nie gleichmütig sprechen konnte, bedeckte das Gesicht mit den Händen ... – Plötzlich sprang sie auf, lief zum Fenster, riß dort von einem Rosenstock eine Blüte ab, warf sie mir zu – die Blüte fiel in meiner Nähe hin – und lief aus dem Zimmer. Wir hatten das Nachsehen! Diesmal aber war man doch etwas aus dem Gleichgewicht gebracht, wenn auch die Generalin, ganz wie das erstemal, ihre Ruhe nicht verlor. Anfissa Petrowna war nicht erstaunt, aber sie sah jetzt besorgt aus und blickte kummervoll ihren Sohn an. Die übrigen Damen erröteten, und „Paul“ Obnoskin erhob sich von seinem Platz und trat, mit einem mir damals ganz unverständlichen geärgerten Ausdruck, ans Fenster. Mein Onkel versuchte, mir verstohlen einige Zeichen zu machen; doch in dem Augenblick trat ein fremder Mensch ins Zimmer und lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich.
„Ah! Da ist ja auch Jewgraf Larionytsch! Du kommst ja wie gerufen!“ rief ihm mein Onkel, unbeschreiblich erfreut, entgegen. „Nun, was, Freund, geradenwegs aus der Stadt?“
„Na, das sind mir mal eigenartige Wesen! Es scheint fast, daß sie alle mit Absicht hier versammelt worden sind!“ dachte ich bei mir im stillen, da ich noch nicht recht begriff, was ich sah und hörte, und – selbstverständlich – ohne zu ahnen, daß ich die Sammlung dieser Sonderlinge durch mein Erscheinen unter ihnen noch um ein Exemplar vermehrt hatte.
Ins Zimmer trat oder, richtiger gesagt, drehte sich durch die Tür (obgleich die Tür sehr breit war) eine Figur, die bereits auf der Schwelle Bücklinge machte, grüßte und lächelte, während die Augen mit ungeheuerem Interesse alle Anwesenden eilig musterten. Es war das ein kleiner, alter Mann, pockennarbig, mit einer großen Glatze, mit flinken, klugen Äuglein und mit einem unbestimmbaren, feinen Lächeln auf den ziemlich dicken Lippen. Er trug einen Frack, der recht abgetragen aussah und wahrscheinlich für einen anderen gemacht war. Ein Knopf baumelte nur noch an einem Faden, zwei oder drei Knöpfe fehlten ganz. Die zerrissenen Stiefel und die schmierige Mütze stimmten mit dem übrigen Anzug durchaus überein. In der rechten Hand hatte er ein baumwollenes, kariertes Schnupftuch, das er ersichtlich schon oft benutzt hatte, und mit dem er sich jetzt den Schweiß von Stirn und Schläfen wischte. Zufällig bemerkte ich, daß die Erzieherin ein wenig errötete und mich flüchtig ansah. Ja, es schien mir sogar, daß in diesem Blick gleichsam Stolz und eine gewisse Herausforderung lagen.
„Geradenwegs aus der Stadt, mein verehrter Wohltäter! Geradenwegs von dort, mein Vater! Werde alles erzählen, erlauben Sie nur, daß ich zuerst meine Ehrerbietung bezeuge,“ sagte das eingetretene alte Männlein und begab sich schnurstracks zur Generalin, blieb aber dann doch auf halbem Wege stehen und wandte sich von neuem an meinen Onkel.
„Sie geruhen ja doch meinen Hauptcharakterzug bereits zu kennen, verehrter Wohltäter: ein Lump bin ich, ein echter Lump! Pflege ich doch, sobald ich über die Schwelle trete, sofort die Hauptperson des Hauses aufzusuchen und zuerst meine Schritte zu ihr zu lenken, um mittels dieses Schrittes alsogleich Gnade und Gunst und Vorteil zu erlangen. Ein Lump, Väterchen, wie gesagt, ein Lump, mein Wohltäter! Gestatten Sie gnädigst, Exzellenz, den Saum Ihres Gewandes zu küssen; denn mit meinen Lippen würde ich Ihr goldenes Händchen, das hochwohlgeborene, nur entweihen.“
Die Generalin reichte ihm zu meinem Erstaunen ihre Hand – und tat es sogar noch ziemlich gnädig.
„Und auch Ihnen, unserer Schönheit, mache ich meinen Diener,“ fuhr er fort, indem er sich vor Fräulein Perepelizyna verneigte. „Nichts zu wollen, mein gnädiges Fräulein: bin ein Lump! Schon im Jahre 1841 war es ausgemacht, daß ich ein Lump sei, als ich aus dem Dienst ausgeschlossen wurde, gerade damals, als Valentin Ignatjitsch Tichonzeff zum Hochwohlgeborenen avancierte: den Assessor erhielt. Tatsächlich, er kam unter die Assessoren und ich unter die Lumpen. Aber ich bin nun einmal so aufrichtig geboren, daß ich alles eingestehe. Was soll man machen! Versuchte es, ehrlich zu leben, versuchte es, jawohl – jetzt aber muß man es anders anstellen. Alexandra Jegorowna, unser verzuckertes Äpfelchen,“ fuhr er fort und ging um den Tisch herum, um sich vor Ssaschenjka zu verbeugen, „erlauben Sie mir, einen Zipfel Ihres Kleidchens zu küssen, – Sie, Fräuleinchen, duften ja wie Äpfelchen und sämtliche Wohlgerüche der Welt. Dem Stammhalter, der morgen seinen Namenstag feiert, gleichfalls meine Reverenz. Pfeil und Bogen habe ich mitgebracht, habe selbst den ganzen Morgen daran geschnitzt ... meine Kinderchen haben mir geholfen ... jawohl, später können wir schießen. Zuerst aber muß man hübsch groß werden, dann kann man Offizier werden und dem Türken den Kopf abschlagen. Tatjana Iwanowna ... ach, nicht anwesend, wie ich sehe! Sonst würde ich den Saum auch ihres Kleides küssen. Praskowja Iljinitschna, unser Hausmütterchen, kann mich bloß nicht zu Ihnen durchzwängen, anderenfalls würde ich Ihnen nicht nur Ihre Händchen, sondern auch Ihre Füßchen küssen – jawohl! Anfissa Petrowna, bezeuge hiermit meine verschiedentlichste Achtung. Noch heute habe ich für Sie zu Gott gebetet, meine Wohltäterin, sogar kniend und tränenden Auges, und desgleichen für Ihren Herrn Sohn, damit Gott der Herr ihm alle notwendigen Titel und Talente beschere – namentlich Talente, wie gesagt! Bei der Gelegenheit entrichte ich auch Ihnen, Iwan Iwanytsch Misintschikoff, meinen untertänigsten Ehrensold. Möge der Herr Ihnen alles zukommen lassen, was Sie sich selbst wünschen; denn es dürfte schwierig sein, richtig zu erraten, was Sie sich selbst wünschen: schweigsam wie Sie sind und – aber das schadet nichts ... Guten Tag, Nastjä! alle Krabben lassen dich grüßen, reden jeden Tag von dir. Und jetzt dem Hausherrn meine tiefste Verbeugung. Komme aus der Stadt, Euer Gnaden, schnurstracks aus der Stadt. Und das da ist wahrscheinlich Ihr Neffe, der in der Gelehrtenschule erzogen worden ist, nicht wahr? Meinen ergebensten Gruß, junger Herr. Ihre Hand, wenn ich bitten darf.“
Man lachte. Es war klar, daß der Alte freiwillig die Rolle eines Spaßvogels spielte, über den ein jeder lachen durfte. Schon sein Erscheinen erheiterte die ganze Gesellschaft. Die meisten verstanden dabei seine Sarkasmen überhaupt nicht. Er aber verschonte fast keinen einzigen mit ihnen. Nur die Erzieherin, die er – ich wunderte mich nicht wenig darüber – kurzweg Nastjä nannte, errötete und blieb ernst.
Ich zog unwillkürlich meine Hand etwas zurück, doch darauf hatte der Alte offenbar nur gewartet.
„Ich will sie Ihnen ja nur drücken, mein Bester, vorausgesetzt, daß Sie es erlauben – nicht aber küssen. Oder glaubten Sie wirklich, daß ich sie küssen wollte? Nein, mein Lieber, vorläufig wollte ich sie nur drücken. Sie halten mich wohl für so einen herrschaftlichen Narren?“ fragte er mich plötzlich mit spöttischem Lächeln in den Augen.
„N–ein, wieso ... wie sollte ich ...“
„Doch, doch, Verehrtester! Wenn ich ein Narr bin, so ist es ein gewisser anderer hier auch. Sie aber können mich noch mit ruhigem Gewissen achten: ein solcher Lump, wie Sie glauben, bin ich denn doch noch nicht. Übrigens, genau genommen – warum soll ich kein Narr sein? Ich bin ein Sklave, meine Frau ist eine Sklavin. Schmeichle, schmeichle! Jawohl! Etwas gewinnt man dabei doch, und wenn’s auch nur zur Milch für die Kinderchen reicht. Zucker, Zucker streu nur überall aus, dann wird es besser gehen. Das sage ich Ihnen, Verehrtester, nur so unterm Siegel der Verschwiegenheit – vielleicht wird diese Methode auch Ihnen einmal zustatten kommen. Fortuna hat mich auf dem Gewissen, mein Bester, deshalb bin ich auch ein Narr.“
„Ha–ha–ha! Was dieser Alte doch für ein Spaßvogel ist! Immer bringt er einen zum Lachen!“ meinte, gut aufgelegt, Anfissa Petrowna Obnoskina.
„Meine gnädigste Wohltäterin, als Dummkopf kommt man besser durch die Welt! Hätte ich das früher gewußt, so hätte ich mich von Kindheit an unter die Dummen begeben – dann könnte ich jetzt klug sein. Da ich aber in der Jugend klug sein wollte, muß ich jetzt im Alter dumm sein.“
„Sagen Sie doch, bitte,“ mischte sich Obnoskin ein (dem wahrscheinlich die Bemerkung bezüglich der „Talente“ nicht gefallen hatte), nahm zugleich auf seinem Lehnstuhl eine sehr selbstbewußte Pose an und betrachtete den Alten durch sein Einglas, als hätte er ihn wie einen Bazillus unter der Lupe, „sagen Sie doch, bitte, ... ich vergesse immer Ihren Namen ... verdammt, wie war er doch?“
„Ach, mein Väterchen! Mein Familienname ist ja alles in allem Jeshowikin, aber was nützt das schließlich? Da bin ich nun schon das neunte Jahr ohne Anstellung – lebe nur noch dank dem ... Naturgesetz. Dabei habe ich Kinder, Kinder, mehr als nötig! Ganz nach dem Sprichwort: ‚der Reiche hat – Kälber, der Arme – Kinder‘ ...“
„Nun, ja, schön ... Kälber ... das gehört übrigens nicht hierher, davon später. Aber hören Sie, ich wollte Sie etwas fragen: warum sehen Sie, wenn Sie eintreten, immer – sozusagen – zurück? Das wirkt sehr komisch.“
„Warum ich zurücksehe? Weil es mir immer scheint, daß mich jemand hinter mir mit der flachen Hand platt schlagen will, wie eine Fliege, jawohl, und deshalb sehe ich mich immer nach rückwärts um. Bin allem Anschein nach monomanisch geworden, mein Bester.“
Wieder lachten alle. Nur die Erzieherin erhob sich und schien das Zimmer verlassen zu wollen, sank dann aber doch wieder auf ihren Platz zurück. In ihrem Gesicht war ein kranker, leidender Zug trotz der Röte, die auf ihren Wangen brannte.
„Weißt du auch, Freund, wer das ist?“ fragte mich mein Onkel heimlich. „Das ist ihr Vater.“
Ich sah ihn mit weit offenen Augen an. Den Namen Jeshowikin hatte ich ganz und gar vergessen. Ich hatte mich als Ritter gefühlt, hatte während der ganzen Reise nur an meine Zukünftige gedacht und großmütige Pläne geschmiedet, und dennoch ihren Familiennamen vergessen, oder richtiger, ihm von Anfang an überhaupt keine Beachtung geschenkt.
„Wieso, ihr Vater?“ fragte ich gleichfalls flüsternd. „Aber sie ist doch, denke ich, Waise?“
„Ihr Vater, Freund, ihr Vater. Und weißt du, der ehrlichste und anständigste Mensch der Welt – trinkt nicht mal. Nur spielt er freiwillig den Spaßvogel. Entsetzliche Armut, weißt du, acht Kinder! Leben nur von Nastenjkas Gehalt. Aus dem Dienst ist er wegen seiner scharfen Zunge entlassen worden. Er kommt in jeder Woche einmal her. Und stolz ist er, – für keinen Preis wird er etwas annehmen. Ich habe ihm oft geben wollen, – er nimmt aber nichts an. Ein verbitterter Mensch!“
„Na also, mein alter Jewgraf Larionytsch, was gibt es denn dort bei euch Neues?“ fragte mein Onkel und schlug ihm kameradschaftlich mit der Hand auf die Schulter, da er bemerkt hatte, daß dem mißtrauischen Alten unser heimliches Gespräch nicht entgangen war.
„Was soll es Neues geben, mein Wohltäter? Valentin Ignatjitsch hat gestern ein Schreiben eingereicht, in der Trischin-Affäre. Es hat sich herausgestellt, daß bei ihm nicht das volle Quantum Mehl zur Stelle war. Das ist, meine Gnädigste, jener selbe Trischin, der, wenn er einen ansieht, genau so aussieht, als bliese er einen Samowar an. Vielleicht geruhen Sie, sich seiner noch zu erinnern? Und so hat denn Valentin Ignatjitsch von diesem Trischin zu den Alten gegeben: ‚Wenn der oft genannte Trischin,‘ schreibt er, ‚nicht einmal die Ehre seiner leiblichen Nichte zu wahren gewußt hat – denn diese ist vor einem Jahr mit einem Offizier losgegangen, – wie sollte er dann,‘ schreibt er, ‚Kronseigentum aufzubewahren wissen?‘ Das hat er tatsächlich so in seinem Schreiben gesagt – bei Gott, ich lüge nicht.“
„Pfui, was Sie für Geschichten erzählen!“ rief Anfissa Petrowna Obnoskin verächtlich aus.
„Ja ja, diesmal hast du dich etwas verhauen, Freund Jewgraf!“ pflichtete ihr mein Onkel schnell bei. „Ei, ei, du wirst noch wegen deiner Zunge viel Ungemach erleben. Ich weiß, du bist ein offener, ehrlicher, edelmütiger Mensch – das kann ich bestätigen – aber deine Zunge ist gefährlich! Ich wundere mich, wie es kommt, daß du mit ihnen dort nicht in Frieden leben kannst. Sie sind doch, glaube ich, gute, einfache Menschen ...“
„Mein Vater und Wohltäter! Aber den einfachen Menschen – den fürchte ich ja gerade!“ rief der Alte mit einer ganz eigenartigen Leidenschaftlichkeit aus.
Die Antwort gefiel mir. Ich trat schnell entschlossen auf ihn zu und drückte ihm fest die Hand. Um die Wahrheit zu sagen, wollte ich nur mit irgend etwas gegen die allgemeine Meinung protestieren, indem ich dem Alten offen meine Zuneigung bewies. Vielleicht aber – wer weiß! – vielleicht wollte ich nur in der Meinung Nastassja Jewgrafownas, der Erzieherin, etwas gewinnen. Doch aus meiner plötzlichen Handlungsweise wurde, genau genommen, nichts allzu Gescheites.
„Gestatten Sie eine Frage,“ sagte ich, wie gewöhnlich errötend und mich überhastend, „haben Sie von den Jesuiten gehört?“
„Nein, mein Bester, nichts, oder nur so ein wenig, dies und jenes ... wo soll unsereiner was hören! ... Aber was ist mit ihnen?“
„Ich meinte nur so ... ich wollte, da das Gespräch darauf kam, nur erzählen ... Übrigens, erinnern Sie mich daran bei Gelegenheit. Jetzt aber ... seien Sie überzeugt, daß ich Sie verstehe und ... zu schätzen weiß ...“
In meiner hilflosen Verwirrung drückte ich ihm noch einmal die Hand.
„Unbedingt, mein Verehrtester, unbedingt werde ich Sie daran erinnern! Werde es mir mit goldenen Lettern ins Gedächtnis schreiben. Warten Sie, wenn Sie erlauben, werde ich mir noch schnell einen Knoten ins Schnupftuch binden, damit ich’s nicht vergesse.“
Und in der Tat suchte er an seinem schmutzigen Taschentuch ein trockenes Eckchen, das er dann eifrig zum Knoten schlang.
„Jewgraf Larionytsch, hier ist Ihr Tee,“ sagte Praskowja Iljinitschna.
„Sofort, meine schönste Dame, sofort, ... will sagen, Prinzessin, meine schönste Prinzessin ... nicht nur Dame! Das wäre für den Tee. Bin unterwegs Herrn Stepan Alexejewitsch Bachtschejeff begegnet, meine Gnädigste! Er war bei so guter Laune, daß Gott erbarm! Ich glaubte schon, daß er auf Freiersfüßen ging ... Schmeichle, schmeichle!“ sagte er dann halblaut zu mir, als er mit seiner Teetasse an mir vorüberging, mir zublinzelte und sein ganzes Gesicht verzog. „Aber woran liegt es denn, daß man den Hauptwohltäter, unseren Foma Fomitsch, heute nicht zu sehen bekommt? Wird er denn nicht zum Tee erscheinen?“
Mein Onkel zuckte zusammen, als wäre er gestochen worden, und warf einen scheuen Blick auf die Generalin.
„Ich ... ich weiß wirklich nicht,“ antwortete er unentschlossen und eigentümlich befangen. „Er ist gerufen worden, aber er ... Ich weiß es wirklich nicht, vielleicht fühlt er sich nicht aufgelegt ... Ich habe schon Widopljässoff geschickt ... und ... oder soll ich vielleicht selbst gehen?“
„Ich war soeben bei ihm,“ bemerkte Jeshowikin vielsagend.
„Wirklich?“ fragte mein Onkel erschrocken. „Nun, und?“
„Ging zuerst zu ihm, um ihm meine Ehrerbietung zu beweisen. Er sagte, daß er sich in der Einsamkeit am Tee laben würde, und dann fügte er noch hinzu, daß er sich auch von trockenen Brotrinden nähren könne, – genau so waren seine Worte!“
Diese Worte erfüllten meinen Onkel, wie es schien, mit wahrem Entsetzen.
„Aber so hättest du es ihm doch erklären sollen, Jewgraf Larionytsch! Hättest es ihm doch auseinandersetzen sollen!“ sagte er, indem er den Alten traurig und vorwurfsvoll zugleich ansah.
„Ich hab’ ihm ja auch gesagt, hab’ geredet ...“
„Nun?“
„Lange geruhte er mir nicht zu antworten. Er saß über einer mathematischen Aufgabe, berechnete etwas: offenbar eine Aufgabe zum Kopfzerbrechen. Zeichnete vor meinen Augen die Hosen des Pythagoras auf, sah es selbst ganz genau. Dreimal wiederholte er dasselbe, erst beim vierten geruhte er das Haupt zu erheben – und da war’s, als sähe er mich überhaupt zum erstenmal. ‚Ich werde nicht gehen,‘ sagte er, ‚dort ist ja jetzt ein Gelehrter angekommen, wie sollen wir noch neben einer solchen Leuchte Platz finden!‘ Genau so geruhte er sich auszudrücken: ‚neben einer solchen Leuchte‘.“
Und der Alte blickte mich von der Seite mit feinem Spott an.
„Das ahnte ich ja!“ rief mein Onkel verzweifelt aus, „das konnte ich mir ja denken! Das hat er von dir gesagt, Ssergei, dich hat er damit gemeint – mit dem ‚Gelehrten‘! Was nun?“
„Ich muß gestehen, Onkel,“ sagte ich mit einem Achselzucken und möglichst unbekümmert, „ich finde diese Begründung seiner Absage so lächerlich, daß sie es wirklich nicht wert ist, beachtet zu werden, und daher wundere ich mich, offen gestanden, über Ihre Bestürzung.“
„Aber ach, Freund, was weißt du davon, das kannst du nicht beurteilen!“ unterbrach mich mein Onkel und wehrte mit energischer Handbewegung jeden weiteren Einwand ab.
„Jetzt ist es zu spät, zu trauern,“ mischte sich plötzlich Fräulein Perepelizyna ein, „wenn alles Böse von Ihnen selbst, Jegor Iljitsch, ausgegangen ist. Wenn einem der Kopf abgeschlagen ist, so trauert man nicht mehr um die Haare. Hätten Sie Ihrem Mütterchen gehorcht, so würden Sie jetzt nicht weinen.“
„Aber um Gottes willen, wieso bin ich denn daran schuld? Haben Sie doch ein wenig Angst vor Gott, Anna Nilowna!“ bat mein Onkel mit so flehender Stimme, als wolle er sie bitten, sein Liebesgeständnis anzuhören.
„Ich fürchte Gott, Jegor Iljitsch; aber es kommt doch alles nur daher, daß Sie egoistisch sind und Ihre leibliche Mutter nicht lieben,“ antwortete Fräulein Perepelizyna würdevoll. „Was hatten Sie für einen Grund, gleich von vornherein ihren Willen zu mißachten? Sie ist doch Ihre Mutter. Und ich werde Ihnen nicht die Unwahrheit sagen. Ich bin selbst die Tochter eines Majors ... und nicht nur irgend so eine!“
Es schien mir, daß die Perepelizyna sich einzig zu dem Zweck in das Gespräch einmischte, um uns allen, und namentlich mir, dem Neuangekommenen, zu wissen zu geben, daß sie selbst die Tochter eines Majors sei und nicht nur „irgend so eine“.
„Ja, das kommt daher, daß er seine Mutter beleidigt!“ sagte endlich drohend die Generalin.
„Aber Mama, erbarmen Sie sich! Wann beleidige ich Sie denn? Und warum?“
„Weil du ein unverbesserlicher Egoist bist, Jegoruschka,“ fuhr die Generalin fort, die sich durch die eigenen Worte gleichsam hinreißen ließ.
„Mama, aber Mama! Wann bin ich denn ein solcher Egoist gewesen?“ rief mein Onkel verzweifelt aus. „Seit fünf Tagen, seit ganzen fünf Tagen sind Sie mir böse und wollen kein Wort mit mir sprechen! Und weshalb nicht? Was habe ich verbrochen? Möge man mich doch richten, mag die ganze Welt mich richten! Aber man soll doch auch meine Rechtfertigung anhören! Ich habe lange geschwiegen, Mama. Sie wollten mich nie anhören. Mögen nun fremde Menschen mich anhören. Anfissa Petrowna! Pawel Ssemjonytsch, mein bester Pawel Ssemjonytsch! Ssergei, du mein einziger Freund! Du bist hier ein Unbeteiligter, bist sozusagen nur ein Zuschauer, du kannst unvoreingenommen urteilen ...“
„Beruhigen Sie sich, Jegor Iljitsch, um Gottes willen beruhigen Sie sich,“ fiel Anfissa Petrowna Obnoskina energisch ein, „töten Sie nicht Ihre Mutter!“
„Ich töte nicht meine Mutter, Anfissa Petrowna, aber hier ist meine Brust, – zerreißen Sie sie!“ fuhr mein Onkel fort, aufs äußerste erregt, wie das zuweilen mit Menschen geschieht, die einen schwachen Charakter haben, wenn man die Grenze überschreitet und ihre letzte Geduld endlich einmal „reißt“, wie man zu sagen pflegt. Doch ihre Heftigkeit vergeht gewöhnlich ebenso schnell, wie ein Strohfeuer verbrennt. Und so war es auch hier. „Ich will nur sagen,“ fuhr mein Onkel fort, „ich will nur sagen, Anfissa Petrowna, daß ich keinen beleidige. Ich bin der erste, der da sagt, daß Foma Fomitsch der edelste, ehrlichste Mensch ist und zum Überfluß auch noch ein Mensch von höchster Begabung; aber ... aber in diesem Fall hat er – unrecht an mir gehandelt.“
„Hm!“ machte Pawel Obnoskin, wie um meinen Onkel noch mehr zu reizen.
„Pawel Ssemjonytsch, ums Himmels willen, Pawel Ssemjonytsch! Glauben Sie denn wirklich, daß ich sozusagen ein gefühlloser Pfosten bin? Sehe ich doch, begreife ich doch – mit wehem Herzen, kann man sagen, fühle ich es –, daß alle diese Mißverständnisse nur seiner übergroßen Liebe zu mir entspringen. Aber sagen Sie, was Sie wollen, diesmal ist er dennoch im Unrecht. Ich werde alles erzählen. Ich will jetzt, Anfissa Petrowna, den ganzen Sachverhalt klarlegen, ganz ausführlich, damit alle sehen, wie es gekommen ist, und ob meine Mutter recht tut, wenn sie mir deshalb böse ist, weil ich Foma Fomitschs Wunsch nicht erfüllt habe. Auch du hör mich an, Sserjosha,“ fügte er hinzu, sich zu mir wendend, was er übrigens während seiner ganzen Erzählung wiederholt tat, und zwar so, als hätte er die anderen Zuhörer gefürchtet oder wenigstens an ihrem Mitgefühl gezweifelt, – „hör auch du mich an und urteile dann, ob ich im Recht bin oder im Unrecht. Sieh, die Sache begann so: vor einer Woche – ja, genau vor einer Woche – fuhr hier durch unser Nachbarstädtchen mein früherer Regimentskommandeur, General Russapetoff, mit seiner Gemahlin und Schwägerin. Hielt sich eine Zeitlang auf. Ich war natürlich hocherfreut, benutzte die Gelegenheit, fuhr hin, stellte mich vor und lud sie zu mir zu einem Diner ein. Er sagte zu, er werde kommen, wenn es seine Zeit irgendwie erlaubte. Weißt du, ein durch und durch edler Charakter, das sage ich dir, Aristokrat, hoher Würdenträger! Und wieviel Gutes er getan hat! Zum Beispiel seiner Schwägerin! Außerdem hat er eine Waise mit einem vorzüglichen jungen Menschen verheiratet – jetzt ist derselbe Koch in Malinowo, ein noch junger Mensch, aber mit einer, fast könnte man sagen, Universitätsbildung! – Kurz, der Alte ist ein General unter den Generälen! Nun, bei uns, versteht sich, gab’s viel zu tun, Gepolter und Geklapper, Köche, Frikassees. Ich bestelle Musik. Nun, selbstverständlich bin ich guter Laune, freue mich und sehe aus wie ein Geburtstagskind. Das aber gefiel Foma Fomitsch nicht, daß ich wie ein Geburtstagskind aussah! Er saß bei Tisch – es wurde gerade sein Lieblingsgericht, eines mit Sahne, gereicht, das weiß ich noch ganz genau – er aber saß, schwieg, schwieg ... und plötzlich springt er auf: ‚Man beleidigt mich, man beleidigt mich!‘ schreit er. – ‚Aber wieso,‘ frage ich, ‚wieso beleidigt man dich denn, Foma Fomitsch?‘ – ‚Sie,‘ sagt er, ‚Sie vernachlässigen mich jetzt, Sie beschäftigen sich jetzt nur mit Generälen, Ihnen sind Generäle wertvoller und lieber als ich!‘ Ich gebe die Szene jetzt selbstverständlich nur in kurzen Worten wieder, sozusagen nur die springenden Punkte, nur das Wesen der Sache. Aber wenn du zu hören wünschest, was er damals noch alles sagte, so ... nun, mit einem Wort, er erschütterte meinen ganzen Menschen! Was soll man tun? Ich bin natürlich ganz niedergeschmettert. Es hatte mich doch gar zu sehr getroffen. Ich versinke wie ein nasser Hahn. Der feierliche Tag bricht an. Da schickt der General die Nachricht, daß er leider verhindert sei zu kommen: muß abreisen. Entschuldigt sich vielmals, – also: es gibt nichts! Ich sofort zu Foma: ‚Nun, Foma,‘ sage ich, ‚beruhige dich! Er kommt nicht!‘ Aber was glaubst du? Er verzeiht mir nicht. Mach, was du willst – er verzeiht nicht! ‚Man hat mich beleidigt!‘ sagte er und dabei bleibt er. Ich rede. So und so. ‚Nein,‘ sagt er, ‚gehen Sie zu Ihren Generälen. Ihnen liegen die Generäle näher am Herzen als ich – Sie haben die Bande der Freundschaft,‘ sagt er, ‚zerrissen!‘ Großer Gott! Ich begreife ja doch, weshalb er sich ärgert! Ich bin doch kein Holzklotz, kein Esel, kein Schaf! Er hat es doch nur aus übergroßer Liebe zu mir getan, sozusagen aus Eifersucht – er sagt es ja selbst, daß er auf den General eifersüchtig sei, meine Neigung zu verlieren fürchte, mich prüfen und wissen wolle, was ich für ihn zu opfern fähig und bereit wäre. ‚Nein,‘ sagt er, ‚ich bin für Sie gleichfalls ein General, bin gleichfalls – für Sie! – Exzellenz! Werde mich nicht früher mit Ihnen aussöhnen, als bis Sie mir die mir zukommende Ehre erweisen.‘ – ‚Womit,‘ frage ich, ‚womit soll ich dir denn meine Hochachtung – meine Höchstachtung ausdrücken, Foma Fomitsch?‘ – ‚Nun, nennen Sie mich,‘ sagt er, ‚einen ganzen Tag nur Ew. Exzellenz, damit werden Sie mir dann Ihre Hochachtung ausdrücken.‘ Ich fiel aus den Wolken! Man kann sich meine Verwunderung denken! ‚Ja,‘ sagt er, ‚das wird Ihnen als Lehre dienen, damit Sie sich hinfort nicht mehr für Generäle begeistern, wenn auch andere vielleicht noch würdiger sind, als alle Ihre Generäle zusammengenommen!‘ Na, da hielt ich es aber denn doch nicht mehr aus, das muß ich gestehen! Gestehe es sogar ganz offen! ‚Foma Fomitsch,‘ sagte ich, ‚ist denn das überhaupt möglich, was du verlangst? Wie kann ich denn auf so etwas eingehen? Wie kann ich denn ... und habe ich denn überhaupt das Recht, dich zum General, zur Exzellenz zu machen? Denk doch nur, in wessen Macht allein das gelegt ist! Das wäre doch sozusagen ein Attentat auf die Majestät des Gesetzes! Wie, wie soll ich dich denn Ew. Exzellenz betiteln? Ein General dient doch seinem Vaterlande: er gibt für dasselbe sein Leben im Kriege hin, er vergießt sein Blut auf dem Felde der Ehre, er kämpft mit dem Feinde seines Volkes! Und du verlangst nun, daß ich dir denselben Ehrentitel geben soll, der nur ihm mit Recht zukommt?‘ Foma aber gab nicht nach! ‚Ich werde dir alles zu Gefallen tun,‘ fuhr ich fort, ‚alles, was du nur willst. Da hast du gewünscht, daß ich meinen Backenbart abnehme, da er wenig patriotisch sei, – ich habe ihn abgenommen, habe zwar geseufzt, aber habe ihn trotzdem abgenommen. Und mehr noch: ich werde alles, alles tun, was du wünschst, nur verzichte auf diesen Generalstitel!‘ – ‚Nein,‘ sagte er, ‚so werde ich mich nicht eher mit dir versöhnen, als bis man mich Exzellenz nennt. Das wird,‘ sagte er, ‚Ihrer Moral zugute kommen: es wird Ihren hoffärtigen Geist demütigen!‘ sagt er. Und nun ist es schon eine Woche her, eine ganze Woche spricht er nicht mit mir, und über jeden Besuch, wer es auch sei, ärgert er sich. Als er von dir hörte, daß du gelehrt seist – es war meine Schuld: ich sagte es ganz zufällig, als das Gespräch auf dich kam, so im Eifer, weißt du – da sagte er, daß er nicht länger hier im Hause bleiben werde von dem Augenblick an, in dem du das Haus betrittst. ‚Also bin ich jetzt in euren Augen nicht mehr gelehrt!‘ sagt er. Und was wird es erst geben, wenn er von Korowkin erfährt! Erbarm dich doch, urteile doch selbst, was habe ich denn nun verbrochen? Soll ich mich denn wirklich entschließen, ihn ‚Exzellenz‘ zu nennen? Wie soll man es denn aushalten in einer solchen Lage? Und weshalb hat er denn heute den armen Bachtschejeff vom Tisch fortgejagt? Nun schön, Bachtschejeff hat nicht die Astronomie erfunden, aber auch ich hab es ja nicht und auch du hast es ja nicht getan ... Nun also, aus welchem Grunde, weshalb, weshalb?“
„Eben aus dem Grunde, weil du neidisch bist, Jegoruschka,“ stieß die Generalin durch die Zähne hervor.
„Mutter!“ rief mein Onkel in seiner Verzweiflung aus, „Sie bringen mich um meinen letzten Verstand! ... Sie sprechen ja nicht ihre eigenen Worte – Sie sprechen ja fremde Worte nach, Mama! Ich werde zu guter Letzt nur noch zu einem Balken, einem Laternenpfahl werden, aber nicht mehr Ihr Sohn sein!“
„Ich habe gehört, Onkel,“ begann ich, noch ganz benommen von dem Gehörten, „ich habe unterwegs von Herrn Bachtschejeff gehört – ich weiß allerdings nicht, ob es sich so verhält –, daß Foma Fomitsch Ihren Iljuscha um den bevorstehenden Namenstag beneide und nun behaupte, daß morgen auch sein Namenstag sei. Ich gestehe, daß dieser merkwürdige Charakterzug mich dermaßen in Erstaunen gesetzt hat, daß ich ...“
„Sein Geburtstag, Freund, sein Geburtstag ist morgen, nicht sein Namenstag, nur sein Geburtstag!“ unterbrach mich mein Onkel eifrig. „Er hat sich nur etwas anders ausgedrückt, aber er hat vollkommen recht: morgen ist sein Geburtstag. Zuerst, Freund, sagte er wohl ...“
„Durchaus nicht sein Geburtstag!“ rief plötzlich Ssaschenjka dazwischen.
„Wie denn nicht?“ fragte mein Onkel mit gesträubtem Haar.
„Gar nicht sein Geburtstag, Papa! Sie sagen einfach die Unwahrheit, um sich selbst zu betrügen und Foma Fomitsch herauszureißen! Sein Geburtstag war doch schon im März. – Sie wissen doch noch, wie wir am Tage vorher zum Gottesdienst ins Kloster fuhren, und er keinen in der Equipage in Frieden sitzen ließ: er schrie die ganze Zeit, daß das Kissen ihm die Seite eingedrückt habe, und kniff dabei die anderen. Tantchen hat er in seiner Wut zweimal gekniffen! Und dann, als wir am Geburtstage zu ihm gingen, um zu gratulieren, da wurde er wieder wütend, weil in unserem Bukett keine Kamelien waren. ‚Ihr wißt, daß ich Kamelien liebe,‘ sagte er; ‚denn ich habe den Geschmack der vornehmen Welt, euch aber ist es nicht der Mühe wert gewesen, für mich in der Orangerie welche abzuschneiden, sie sind wohl zu schade gewesen für mich.‘ Und den ganzen Tag war er eigensinnig und launisch wie ein ungezogener Bengel, und wollte mit keinem von uns ein Wort sprechen! ...“
Ich glaube, selbst wenn eine Bombe mitten im Zimmer explodiert wäre, hätte sie die Anwesenden doch nicht so erschreckt und aufgeregt, wie es diese offene Empörung tat – und die Empörung wessen? – eines kleinen Mädchens, dem sonst in der Anwesenheit der Großmutter nicht einmal laut zu sprechen gestattet wurde! Die Generalin erhob sich, stumm vor Verwunderung und Entrüstung zugleich, richtete sich kerzengerade auf und sah ihr Enkeltöchterchen an, als traue sie ihren Augen nicht. Mein Onkel wurde blaß.
„So ein verzogenes Ding! Man will hier wohl die Großmutter mit Gewalt umbringen!“ stieß die Perepelizyna wutzischend hervor.
„Ssaschenjka, Ssaschenjka, besinne dich! Was ist mit dir, Ssaschenjka?“ rief mein Onkel in höchster Erregung seiner Tochter zu, wußte aber nicht, was er tun sollte.
„Ich will nicht mehr schweigen, Papa!“ schrie Ssaschenjka, die plötzlich vom Stuhl aufsprang und mit den Füßen trampelte. Ihre hübschen Augen sprühten nur so vor Zorn. „Ich will nicht mehr schweigen! Wir haben alle lange genug unter diesem Foma Fomitsch gelitten, unter eurem schändlichem scheußlichen Foma Fomitsch! Denn Foma Fomitsch wird uns alle zugrunde richten. Ihm wird ja nichts anderes vorgesungen, als daß er brav und gut und edel und gelehrt und die Vereinigung aller Tugenden der Welt sei, ein wahres Potpourri von Tugenden! Foma Fomitsch aber glaubt wie ein Esel alles, was man ihm sagt! Es sind ihm so viel süße Schüsseln vorgesetzt worden, daß ein anderer sich schämen würde, Foma Fomitsch aber hat alles aufgegessen, was nur vor ihn hingesetzt worden ist, und will immer noch mehr haben! Ihr werdet sehen, er wird uns alle auffressen! Und schuld daran ist Papa! Schändlich, schändlich ist Foma Fomitsch, das sage ich dreist und fürchte nichts! Er ist dumm, eigensinnig, ein Schmutzfink ist er, ein niedriger, herzloser Mensch, ein Tyrann, eine Klatschbase, ein erbärmlicher Lügner ... Ach, ich würde ihn sofort, sofort hinausjagen, Papa aber vergöttert ihn, Papa ist ja ganz vernarrt in ihn!“
Da ertönte ein „Ach!“ und die Generalin fiel in Ohnmacht – d. h. behutsam auf das Sofa.
„Oh, mein Täubchen, Agafja Timofejewna, mein Engel!“ flötete sofort hilfsbereit Anfissa Petrowna Obnoskina, „nehmen Sie mein Flakon! Wasser, schnell Wasser!“
„Wasser, Wasser!“ schrie nun auch mein Onkel. „Mama, Mamachen, beruhigen Sie sich! Ich flehe Sie auf den Knien an, beruhigen Sie sich! ...“
„Man müßte Sie bei Brot und Wasser in ein dunkles Zimmer setzen ... diese Menschenmörderin!“ schrie die Perepelizyna zitternd vor Wut Ssaschenjka an.
„Gut, ich werde nur von Brot und Wasser leben, ich fürchte mich nicht davor!“ rief Ssaschenjka zur Antwort zurück, in heller Begeisterung. „Ich verteidige nur meinen Papa! Mein Papa versteht nicht, sich selbst zu verteidigen! Was ist euer Foma Fomitsch gegen meinen Papa, was ist er? Er ißt Papas Brot und wagt es, Papa zu erniedrigen! Dieser Unverschämte! Ich würde ihn in Stücke zerreißen, euren ganzen Foma Fomitsch! Ich würde ihn zum Duell fordern und ihn auf der Stelle aus zwei Pistolen mausetot schießen ...“
„Ssaschenjka, Ssaschenjka!“ flehte ihr Papa. „Noch ein Wort – und ich bin verloren, unwiderruflich verloren!“
„Papachen!“ Ssaschenjka lief zu ihm hin, umarmte krampfhaft seinen Hals und brach in Tränen aus. „Papachen! Sie guter, lieber, lustiger, kluger Papa, wie können Sie sich nur so erniedrigen lassen! Wie können Sie, Sie sich diesem schändlichen, undankbaren Menschen so unterordnen, wie können Sie sein Spielzeug sein und sich so lächerlich machen! Papachen, mein gutes, goldenes Papachen! ...“
Da schluchzte sie auf, bedeckte das Gesicht mit den Händen und lief aus dem Zimmer.
Die Aufregung war unbeschreiblich. Die Generalin lag in tiefer Ohnmacht. Ihr Sohn, der fast vierzigjährige Oberst, kniete vor dem Sofa und küßte ihre Hände. Fräulein Perepelizyna machte sich in der Nähe der Liegenden zu schaffen und warf böse, doch triumphierende Blicke auf uns. Anfissa Petrowna Obnoskina befeuchtete mit einem nassen Tuch die Schläfen der Generalin und hantierte mit ihrem Flakon. Praskowja Iljinitschna zitterte und weinte lautlos. Jeshowikin suchte einen Winkel, wo er sich hätte verstecken können, und die Erzieherin stand bleich und wie verloren vor ihrem Stuhl. Nur Misintschikoff, mein Vetter dritten Grades, blieb, wie er war: er stand bloß auf, trat schweigend ans Fenster und begann seelenruhig hinauszuschauen, ohne dem ganzen Vorgang auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken.
Da erhob sich plötzlich die Generalin aus der Ohnmacht, sie erhob sich auch vom Sofa, erhob sich und richtete sich sogar auf und maß mich mit drohendem Blick.
„Hinaus!“ rief sie plötzlich und stampfte mit dem Fuß auf.
Offen gestanden: ich hatte alles eher erwartet als das.
„Hinaus! Hinaus aus diesem Hause! Hinaus! Wozu ist er hergekommen? Daß sein Atem nicht mehr hier zu spüren sei! Hinaus!“
„Aber Mama! Wie kommen Sie darauf! Das ist doch Sserjosha!“ stotterte mein Onkel – wenn ich mich nicht täusche, zitterte er am ganzen Körper. „Aber er ist doch zu uns zu Besuch gekommen, Mama!“
„Was für ein Sserjosha? Unsinn! Ich will nichts hören – hinaus! Das ist Korowkin! Ich bin überzeugt, daß es Korowkin ist! Meine Ahnung täuscht mich nicht! Er ist hergekommen, um Foma Fomitsch zu verdrängen, nur zu diesem Zweck hat man ihn hergerufen! Mein Herz fühlt es ... Hinaus, Elender!“
„Lieber Onkel, wenn es so ist,“ begann ich mit einer Stimme, in der ehrlicher Unwille bebte, „wenn es so ist, dann werde ich ... entschuldigen Sie mich ...“ Und ich wollte mich nach meinem Hut umsehen.
„Ssergei, aber so hör doch, Ssergei, was tust du! ... Da ist nun dieser ... Mama! das ist doch Sserjosha! ... Ssergei, besinne dich!“ Er holte mich mit schnellen Schritten ein, um mich zurückzuhalten. „Du bist mein Gast, du wirst hierbleiben, ich will es! Sie sagt es ja nur so!“ fügte er halblaut hinzu, „das ist ja nur, weil sie sich ärgert ... Nur jetzt, in der ersten Zeit, wäre es vielleicht besser, wenn du dich etwas unsichtbar machtest ... nur eine Zeitlang – und alles wird wieder gut sein! Sie wird dir bestimmt verzeihen, – ich versichere dich! Sie ist ja doch ein guter Mensch ... Das war ja nur so ... sie hat sich versprochen ... Du hörst doch, sie hält dich für Korowkin, aber sie wird es vergessen und wird verzeihen, glaube mir! ... Was willst du?“ rief er plötzlich dem alten Gawrila zu, der in diesem Augenblick furchtzitternd ins Zimmer trat.
Gawrila kam nicht allein: ihm folgte ein etwa sechzehnjähriger Knabe vom Gesinde, der, wie ich später erfuhr, wegen seiner Schönheit ins Herrenhaus genommen worden war. Er hieß Falalei. Mir fiel sofort seine Kleidung auf: er trug eine rotseidene russische Bluse, die um den Hals herum ausgenäht war, einen Gürtel aus breiten Goldtressen, schwarze, weite Pluderhosen und bocklederne Stiefel mit roten saffianledernen Stulpen. Dieses Kostüm hatte die Generalin persönlich für ihn ausgedacht. Der Knabe weinte bitterlich, und die Tränen rollten eine nach der anderen aus seinen hübschen, blauen Augen über seine roten Backen.
„Was hat denn das zu bedeuten?“ rief mein Onkel. „Was ist geschehen? So sprich doch, Junge!“
„Foma Fomitsch haben geruht, uns herzubefehlen,“ antwortete betrübt Gawrila. „Mich zum Examen und ihn ...“
„Und ihn?“
„Er hat getanzt!“ war Gawrilas weinerliche Antwort.
„Getanzt!“ Entsetzen drückte sich auf dem Gesicht meines Onkels aus.
„Ge–e–e–tanz–t!“ brüllte Falalei schluchzend und schluckend.
„Die Kamarinskaja?“
„Die Kama–a–arinskaja!“
„Und Foma Fomitsch hat dich dabei ertappt?“
„Erta–appt!“
„Das hat gerade noch gefehlt!“ stöhnte mein Onkel. „Jetzt bin ich verloren!“ Und er faßte sich mit beiden Händen an den Kopf.
Da trat der Diener Widopljässoff ins Zimmer und meldete:
„Foma Fomitsch.“
Die Tür ging auf, und Foma Fomitsch erschien in eigener Person vor dem ratlosen Publikum.
Bevor ich die Ehre haben werde, das Äußere Foma Fomitschs dem Leser, so gut ich dies kann, vor Augen zu führen, halte ich es für durchaus notwendig, in Kürze von Falalei einiges zu erzählen und namentlich zu erklären, inwiefern es denn so ungeheuerlich war, daß er die Kamarinskaja getanzt und Foma Fomitsch ihn bei dieser fröhlichen und, man sollte meinen, harmlosen Zerstreuung überrascht hatte.
Falalei war als Sohn eines Hofbauern in Stepantschikowo zur Welt gekommen und hatte seine Eltern im ersten Lebensjahre verloren. Die verstorbene Frau meines Onkels war seine Taufmutter gewesen. Mein Onkel liebte ihn sehr. Dies genügte, um ihn Foma Fomitsch, als er aufs Gut übergesiedelt war und den Gutsherrn sich unterworfen hatte, verhaßt zu machen. Doch zu Fomas Pein geschah es, daß der Knabe auch der Generalin ganz besonders gefiel: und so blieb denn Falalei, trotz Foma Fomitschs ganzer Wut, nach wie vor bei der Herrschaft gut angeschrieben. Die Generalin bestand auf ihrer Neigung, und Foma mußte nachgeben, wenn er auch im Herzen die „Kränkung“ nicht vergaß – er hielt ja alles für eine „Kränkung“ seiner Person – und sich dafür an meinem armen Onkel, der in diesem Falle doch wirklich unschuldig war, bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit rächte.
Falalei war in seiner Art allerdings eine Schönheit. Eigentlich hatte er ein Mädchengesicht, das Gesicht einer Dorfschönheit. Die Generalin verwöhnte und beschützte ihn. Er war ihr teuer wie etwa ein nettes, seltenes Spielzeug, und man wußte nicht, wen sie mehr liebte: ihr kleines Schoßhündchen Ami oder diesen Falalei. Sein Kostüm habe ich bereits beschrieben. Die Damen gaben ihm obendrein noch Salben und Pomaden, und der Barbier und Friseur Kusjma mußte ihm zu den Feiertagen Locken brennen. Andererseits war dieser Knabe ein sonderbares Geschöpf: man konnte ihn nicht einen vollkommenen Idioten oder Geistesschwachen nennen; doch war er dermaßen naiv, in seiner Redeweise dermaßen wahrheitsgetreu und offenherzig, daß man ihn mitunter wirklich für einen großen Dummkopf halten konnte. Hatte er in der Nacht einmal einen Traum gehabt, so erzählte er ihn sofort der Herrschaft. Er mischte sich sogar in ihr Gespräch ein, unbekümmert darum, daß er ihnen ins Wort fiel. Er erzählte zuweilen Dinge, die man als Hofjunge der Gutsherrschaft ganz unmöglich erzählen kann. Er weinte die aufrichtigsten Tränen, wenn seine Herrin – die Generalin – in Ohnmacht fiel, oder wenn sein Herr gar zu sehr von Foma beschuldigt wurde. Er hatte für jedes Unglück ein mitfühlendes Herz. Zuweilen schlich er zur Generalin, küßte ihr die Hände und bat sie, nicht böse zu sein – und die Alte verzieh ihm gnädig alle Dreistigkeiten. Er hatte ein äußerst empfindsames Gemüt, war gut und friedfertig wie ein Lämmlein auf der Weide und heiter wie ein glückliches Kind. Bei Tisch wurde ihm immer etwas Süßes gegeben.
Bei jeder Mahlzeit stellte er sich regelmäßig hinter dem Stuhl der Generalin auf und wartete, bis er sein Naschwerk erhielt. Gab man ihm ein Stück Zucker, so zerknabberte er es unverzüglich mit seinen milchweißen Zähnen. Dann leuchtete in seinen lustigen Blauaugen wie in seinem ganzen hübschen Gesicht unbeschreibliche Zufriedenheit auf.
Lange zürnte Foma. Endlich überlegte er sich die Sache und sagte sich, daß er damit nichts ausrichten könne: so beschloß er dann, Falaleis Wohltäter zu werden. Nachdem er zuerst meinem Onkel die Leviten dafür gelesen hatte, daß dieser sich um die Bildung seines Hofgesindes gar nicht kümmere, nahm er sich vor, dem armen Knaben sofort Moral, gute Manieren und die französische Sprache beizubringen.
„Wie!“ rief er aus, als er seinen unsinnigen Einfall verteidigte, einem Bauernknaben Französisch beizubringen (einen Einfall, der übrigens nicht nur einem Foma Fomitsch gekommen ist, was der Aufzeichner dieser Erinnerungen selbst bezeugen kann) – „wie! er ist beständig hier im Herrenhause bei seiner Herrin: wenn sie nun einmal vergißt, daß er nicht Französisch versteht und zum Beispiel sagt ‚donneh mua mon muschuar‘, so muß er sich doch auch in einem solchen Fall zurechtfinden und sie sofort bedienen können!“
Leider zeigte es sich sehr bald, daß dem Falalei nicht nur die französische Sprache nicht beizubringen war, sondern daß auch der Koch Andron, sein Onkel, der sich, vollkommen uneigennützig, lange genug gemüht hatte, ihm das russische Alphabet beizubringen, schon längst die Hoffnung aufgegeben und die Fibel auf das Regal zurückgelegt hatte. Falalei war für geistige Belehrung so unzugänglich, daß nichts, aber auch nichts in seinem Gedächtnis haften blieb. Ja, dieser Belehrungsversuch sollte noch ein Nachspiel haben: das Hofgesinde begann alsbald, Falalei als „Franzosen“ zu necken – der alte Gawrila aber, der verdienstvolle Kammerdiener meines Onkels, unterstand sich, der Erlernung dieser fremden Sprache offen jeden Nutzen abzusprechen. Dieses Urteil des alten Dieners kam auch Foma Fomitsch zu Ohren, und da befahl dieser in seinem Zorn, daß der Opponent Gawrila von nun an selbst die französische Sprache erlernen müsse. Und das war der Anfang dieser ganzen „Französischen Marotte“, die Herrn Bachtschejeff in solche Wut versetzt hatte.
Mit den guten Manieren, die Foma dem Knaben beibringen wollte, machte er noch schlechtere Erfahrungen: es wollte ihm in keiner Beziehung gelingen, Falalei nach seinem Geschmack umzumodeln. Falalei kam trotz des Verbots jeden Morgen zur Generalin, um seine Träume zu erzählen, was Foma höchst unanständig, weil allzu „familiär“, fand. Falalei aber war und blieb Falalei. Es versteht sich wohl von selbst, daß für dieses ganze Mißgeschick am meisten und vor allen anderen wieder mein Onkel büßen mußte.
„Wissen Sie auch, wissen Sie auch, was er heute getan hat?“ schrie eines Tages Foma, wozu er um der größeren Wirkung willen die Zeit wählte, in der alle versammelt waren ... „Wissen Sie auch, Oberst, wie weit Sie es mit Ihrer systematischen Vernachlässigung bringen? Heute verschlang er ein Stück Fischpastete, das man ihm bei Tisch gegeben hatte, und wissen Sie, was er nachher sagte? Komm her, komm her, armselige Kreatur, komm her, du Idiot, du rote Fratze! ...“
Falalei näherte sich weinend und wischte sich mit beiden Fäusten die Tränen ab.
„Was hast du gesagt, als du die Pastete verschlungen hattest? Wiederhole es noch einmal!“
Falalei brach, statt zu antworten, in bittere Tränen aus.
„Dann werde ich es für dich tun. Du sagtest, indem du auf deinen vollgestopften Bauch klopftest: ‚Habe mich mit Pasteten vollgeschlagen wie Martyn mit Seife!‘ – Bedenken Sie, Oberst, – kann man denn so etwas in einer gebildeten Gesellschaft sagen, und dazu noch in der höheren Gesellschaft? Hast du das gesagt? Sprich!“
„Ha–ab gesa–agt! ...“ bestätigte Falalei schluckend, und erneute Tränenströme rannen herab.
„So. Dann sag mir jetzt: ißt denn Martyn Seife? Wo hast du einen solchen Martyn gesehen, der Seife ißt? Sag doch, gib mir eine Vorstellung von diesem phänomenalen Martyn!“
Schweigen.
„Ich frage dich, wer war dieser Martyn?“ bestand Foma auf seiner Frage. „Ich will ihn sehen, will seine Bekanntschaft machen. Nun, wer ist er? Ein Registrator, ein Astronom, ein Erfinder, ein Dichter, ein Captaine d’armes, ein Leibeigener – irgend jemand muß er doch sein! Antworte!“
„Ein Lei–eibeigener!“ antwortete schließlich Falalei und weinte.
Hierauf wußte Falalei nichts zu antworten. Natürlich endete die Sache schließlich damit, daß Foma wutentbrannt aus dem Zimmer stürzte und schrie und klagte, daß man ihn beleidigt habe. Die Generalin fiel daraufhin in Ohnmacht, mein Onkel verwünschte die Stunde seiner Geburt, bat alle um Verzeihung und ging während des ganzen übrigen Tages in seinem eigenen Hause nur noch auf den Fußspitzen umher.
Nun aber sollte es auch noch geschehen, daß am nächsten Tage – nach dem Seifenvorfall – Falalei, als er am Morgen Foma Fomitsch den Tee brachte, und sein ganzes gestriges Leid schon längst vergessen hatte, vollkommen unschuldig und harmlos erzählte, daß ihm in der Nacht von einem weißen Ochsen geträumt habe. Ja – wahrlich – das hatte gerade noch gefehlt! Foma Fomitsch geriet in einen wahren Wutanfall, ließ sofort den Oberst rufen und begann dann unverzüglich, diesem für den Traum eine Strafpredigt zu halten, den sein, des Obersten, Falalei gehabt hatte. Diesmal griff man denn auch zu den strengsten Maßregeln: Falalei wurde bestraft – er mußte im Winkel knien. Außerdem wurde ihm noch einmal strengstens und nachdrücklich untersagt, so „rohe“, so „bäuerische“ Träume zu haben.
„Begreifen Sie auch, weshalb ich darüber so ungehalten bin?“ fragte Foma Fomitsch. „Ganz abgesehen davon, daß er es sich nicht einfallen lassen, daß er es überhaupt nicht wagen dürfte, mir mit seinen Träumen zu kommen, und noch dazu solchen weißen Ochsenträumen ... ganz abgesehen davon, sage ich – und Sie müssen es doch selbst zugeben, Oberst – was ist denn dieser weiße Ochse anderes als ein Beweis der Roheit, Unwissenheit und bäuerischen Empfindungsart Ihres unbehauenen Falalei? Wie die Gedanken, so die Träume. Habe ich nicht gleich gesagt, daß aus dem Burschen nichts werden wird und man ihn folglich nicht im Herrenhause behalten sollte? Niemals, niemals werden Sie diesen sinnlosen, einfachen Volksgeist zu etwas Höherem, Poetischem entwickeln! Kannst du denn nicht,“ fuhr er zu Falalei fort, „kannst du denn nicht etwas anderes im Traum sehen, etwas Vornehmes, Zartes, Veredeltes, eine Szene aus der guten Gesellschaft, sagen wir zum Beispiel Herren bei einer Kartenpartie oder Damen, die in einem schönen Garten lustwandeln?“
Als Falalei an jenem Tage zu Bett ging, bat er den lieben Gott unter Tränen um einen schönen Traum und dachte lange darüber nach, wie er es anstellen sollte, daß er nicht mehr diesen verwünschten weißen Ochsen sähe. Doch die Hoffnungen der Menschen pflegen trügerisch zu sein. Als er am nächsten Morgen erwachte, da ward er sich mit Schrecken bewußt, daß ihm die ganze liebe Nacht wieder nur von dem verhaßten weißen Ochsen geträumt hatte – und von keiner einzigen im Garten lustwandelnden schönen Dame. Diesmal aber waren die Folgen besonderer Art. Foma Fomitsch erklärte unerschütterlich, daß er an die Möglichkeit einer ähnlichen Wiederholung nicht glaube, daß Falalei vielmehr lüge und womöglich von einem der Bewohner des Herrenhauses, vielleicht sogar vom Obersten selbst, absichtlich dazu verleitet worden sei, um ihn, Foma Fomitsch, zu ärgern. Es kam wiederum zu viel Geschrei, Vorwürfen und Tränen. Am Abend erkrankte die Generalin. Die ganze Einwohnerschaft von Stepantschikowo ließ die Köpfe hängen. Und es blieb nur noch die eine schwache Hoffnung, daß Falalei in der nächsten Nacht, in der dritten, etwas aus der höheren Gesellschaft träumen werde. Wie groß aber war der allgemeine Unwille, als Falalei eine ganze Woche in jeder Herrgottsnacht regelmäßig den weißen Ochsen sah, einzig und allein immer nur den weißen Ochsen! An die höhere Gesellschaft war gar nicht zu denken!!
Das merkwürdigste war aber, daß Falalei kein einziges Mal darauf kam, zu lügen: einfach zu sagen, er habe im Traum nicht einen weißen Ochsen, sondern, zum Beispiel, eine Equipage gesehen, in der schöne Damen und Foma Fomitsch vorübergefahren wären, – um so mehr, als in einem solchen Notfall das Lügen doch keine gar so große Sünde hätte sein können. Aber Falalei war dermaßen wahrheitsliebend, daß er zu lügen entschieden nicht verstand, – selbst wenn er es gewollt hätte. So kam es, daß man ihn nicht einmal auf diesen Gedanken zu bringen suchte; denn alle wußten, daß Falalei sich sofort verraten und Foma Fomitsch ihn auf der Lüge ertappen werde. Was sollte man also tun? Die Lage, in der sich mein armer Onkel befand, wurde nahezu verzweifelt. Falalei war unverbesserlich. Der arme Junge wurde sogar merklich magerer. Die Haushälterin Malanja behauptete, daß er behext worden sei, und besprengte ihn, nach altem Aberglauben, von einem Winkel aus mit kaltem Wasser. An dieser zweckmäßigen Behandlung beteiligte sich auch die mitleidige Praskowja Iljinitschna. Aber auch das sonst so wohltätige kalte Wasser verweigerte diesmal seine Wirkung. Es half alles nicht!
„Daß ihn doch! ... den verfluchten Ochsen!“ sagte Falalei seinerseits, „in jeder Nacht träumt mir von ihm! Jeden Abend bete ich: ‚Traum, komm’ mir nicht mit dem weißen Ochsen, Traum, komm’ mir nicht mit dem weißen Ochsen!‘ – Er aber ist da, der verfluchte, steht vor mir, so groß, mit Hörnern, mit so ’ner stumpfen Schnauze, hu–u–u!“
Mein Onkel geriet schließlich wirklich in Verzweiflung. Doch siehe, zum Glück vergaß Foma Fomitsch, wie es schien, plötzlich den weißen Ochsen. Natürlich glaubte niemand, daß Foma Fomitsch im Ernst etwas so Wichtiges vergessen könnte, und so sagten sich alle mit angstvollem Herzen, daß er diese unerledigte Geschichte mit dem weißen Ochsen gleichsam für den Bedarfsfall aufheben wolle, um sie dann bei der ersten sich bietenden Gelegenheit wieder vorzuführen. In der Folge stellte es sich aber heraus, daß es Foma Fomitsch in dieser Zwischenzeit tatsächlich nicht um den weißen Ochsen zu tun gewesen war: er hatte andere Sorgen, andere Pläne waren in seinem emsigen und vieldenkenden Kopfe entstanden. Nur darauf war es zurückzuführen, daß er Falalei endlich aufatmen ließ. Gleichzeitig mit Falalei atmeten auch die anderen auf. Ja, der Junge vergaß sogar bald das Vorgefallene, und selbst der weiße Ochse erschien ihm immer seltener im Traum, obschon er ihn hin und wieder doch noch an seine phantastische Existenz erinnerte. Kurz, es wäre alles gut gewesen, wenn es in der Welt nicht einen Tanz gegeben hätte, der die Kamarinskaja heißt.
Ich muß hier vorausschicken, daß Falalei vorzüglich tanzte. Die Tanzkunst war seine größte Begabung, sie war ihm gewissermaßen als innerer Trieb angeboren. Er tanzte mit Energie und unermüdlicher Lust, und von allen Tänzen liebte er am meisten den „Kamarinskij-Mushick“ zu tanzen. Nicht, daß ihm etwa die leichtsinnigen und jedenfalls unverständlichen Handlungen dieses flatterhaften Bauern gar so sehr gefallen hätten – nein, er liebte diesen Tanz einzig deshalb, weil es für ihn, wenn er die Kamarinskaja spielen hörte, vollkommen unmöglich war, nicht zu tanzen. Es kam vor, daß zuweilen abends zwei oder drei Diener, die Kutscher, der Gärtner und einige Hofmädchen sich versammelten, natürlich irgendwo auf einem möglichst entfernten Wiesenplan hinter den Ställen des Herrenhofes, möglichst weit von Foma Fomitsch. Dann ertönte alsbald Musik, und das Tanzen begann, bis schließlich auch die Kamarinskaja in ihr Recht trat. Die Musikkapelle bestand aus zwei Balalaiken, einer Gitarre, einer Geige und einer Handtrommel, die der Vorreiter Mitjuschka vorzüglich zu bearbeiten verstand. Dann hätte man sehen sollen, was schon beim ersten Takt mit Falalei geschah: er sprang in den Kreis und tanzte, tanzte bis zu völliger Bewußtlosigkeit, bis zur Erschöpfung seiner letzten Kräfte, angefeuert noch durch die Zurufe und das Lachen seiner Zuschauer; er jauchzte, lachte, schlug in die Hände und tanzte, als risse ihn eine fremde, unerfaßliche Kraft, gegen die er nicht anzukämpfen vermochte, mit sich fort, und tat sich Gewalt an, um das immer schneller werdende Tempo des temperamentvollen Motivs einzuhalten, während er im Rhythmus mit den Stiefelabsätzen aufstampfte. Das waren Augenblicke seiner höchsten Begeisterung. Und es wäre auch hier alles gut gewesen, wenn das Gerücht von seiner Kamarinskaja nicht auch Foma Fomitsch zu Ohren gekommen wäre.
Foma Fomitsch – erstarrte, und als er zu sich kam, schickte er sofort nach dem Oberst.
„Ich wollte mich von Ihnen nur über eines aufklären lassen, Oberst,“ begann Foma. „Haben Sie sich geschworen, diesen unglücklichen Idioten vollständig zu verderben, oder nicht? Ist das erstere der Fall, so ziehe ich mich selbstverständlich sofort zurück; falls aber nicht, so werde ich ...“
„Ja, was ist denn los? Was ist geschehen?“ fragte der Oberst, der aus den Wolken fiel.
„Wie? Sie fragen, was geschehen ist? Wissen Sie denn nicht, daß er die Kamarinskaja tanzt?“
„Nun, – nun, und?“
„Wie – nun, und?!“ schrie Foma auf. „Und das sagen Sie – Sie, sein Herr und in gewissem Sinne sein Vater! Ja, haben Sie denn nach alledem überhaupt eine annähernd richtige Vorstellung davon, was dieser Tanz überhaupt ist? Wissen Sie denn nicht, daß dieses Lied einen verkommenen Kerl besingt, der es in der Trunkenheit auf das allerunsittlichste Vergehen abgesehen hat? Wissen Sie denn nicht, was dieser verderbte Knecht im Schilde führt? Er hat die wertvollsten, die heiligsten Bande zerrissen und unter die Füße getreten, hat sie mit seinen klobigen Bauernstiefeln, die sonst nur den Fußboden der Schenke zu stampfen pflegen, – zertreten! Begreifen Sie denn nicht, daß Sie mit dieser Antwort meine edelsten Gefühle beleidigt haben? Begreifen Sie denn nicht, daß Ihre Antwort eine persönliche Beleidigung meiner Person ist? Begreifen Sie das, oder begreifen Sie das nicht?“
„Aber, Foma ... es ist doch nur ein Lied, Foma ...“
„Was, nur ein Lied? Und Sie schämen sich nicht, mir zu gestehen, daß Sie, Sie selbst dieses Lied kennen, – Sie, der Sie zur Gesellschaft gehören, Sie, der Sie der Vater vornehmer und unschuldiger Kinder und, zum Überfluß, noch Oberst sind! Nur ein Lied! Ich bin aber überzeugt, daß dieses Lied nach einer wirklichen Begebenheit entstanden ist! Nur ein Lied! Aber welcher anständige Mensch kann denn zugeben, ohne vor Scham zu vergehen, daß er dieses Lied kenne, daß er es jemals auch nur gehört habe? Welch ein Mensch, frage ich Sie, welch einer?“
„Nun, aber du, Foma, du kennst es doch offenbar, wenn du so fragst,“ antwortete in seiner Herzenseinfalt und völlig harmlos mein verwirrter Onkel.
„Was! Ich kenne es? ... Ich ... ich ... das heißt! ... Man hat mich beleidigt!“ schrie plötzlich Foma, sprang vom Stuhl auf und brüllte vor Wut.
Alles hatte er eher erwartet, als eine solche geradezu vernichtende Antwort.
Doch wozu Foma Fomitschs Zorn beschreiben! Der Oberst wurde mit Schmach und Schande wegen der „Unschicklichkeit“ und „Ungeschicktheit“ seiner Antwort aus dem Gesichtskreise dieses „Wahrers der Sittlichkeit“ verbannt. Foma Fomitsch selbst aber hatte sich seit diesem Tage geschworen, Falalei einmal in flagranti zu ertappen – wenn dieser wieder das Verbrechen begehen sollte, die Kamarinskaja zu tanzen, und so schlich er sich abends, wenn alle ihn mit irgend etwas Literarischem beschäftigt glaubten, heimlich in den Park, ging im Bogen um den Gemüsegarten herum und schlug sich dann in ein Gebüsch, von wo aus man deutlich jene kleine Wiese sehen konnte, auf der gewöhnlich getanzt wurde. So stellte er dem Falalei nach, wie der Jäger dem armen Wild, und malte sich inzwischen mit Wonne aus, was für einen Skandal er im Fall eines Erfolges seiner Bemühungen machen könne, und wie alle, und namentlich der Oberst ihm dafür würden „büßen müssen“! Der Lohn für seine Mühe blieb denn auch nicht aus. Der Augenblick kam, in dem er „ihn hatte“. Endlich, endlich! Und das geschah – gerade heute!!
Nun wird es verständlich sein, weshalb mein Onkel sich das Haar raufte, als er den weinenden Falalei sah und vernehmen mußte, was geschehen war, und als dann noch Widopljässoff eintrat, um Foma Fomitschs Erscheinen anzumelden, und Foma Fomitsch so plötzlich und in einem so peinlichen Augenblick in eigener Person vor unseren sündigen Augen erschien.
Mit unendlicher Neugier sah ich diesem Herrn entgegen. Gawrila hatte recht, wenn er ihn ein gemausertes Menschlein nannte. Foma war klein von Wuchs, mit weißblondem, kaum merklich grau untermischtem Haar, weißen Augenbrauen und Wimpern, mit einer gebogenen Nase und vielen kleinen Runzeln im ganzen Gesicht. Am Kinn hatte er eine große Warze. Er war ungefähr fünfzig Jahre alt. Leise trat er ein, mit gleichmäßigen Schritten, die Augen zu Boden gesenkt. Aber das unverschämteste Selbstbewußtsein drückte sich in seinem Gesicht und in seiner ganzen, überaus pedantischen Erscheinung aus. Zu meiner Verwunderung erschien er im Schlafrock – freilich von ausländischem Schnitt, aber es war immerhin ein Schlafrock – und obendrein in Hausschuhen. Eine Krawatte trug er nicht. Der Kragen seines Hemdes war à l’enfant zurückgeschlagen, was der ganzen Erscheinung Fomas etwas überaus Dummes verlieh. Er schritt zu einem Lehnstuhl, rückte ihn ein wenig näher zum Tisch und setzte sich, ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben. Im Augenblick war alles still geworden, von der Aufregung und dem Spektakel, die noch vor einer Minute hier geherrscht hatten, war nichts mehr zu sehen und zu hören. Es war so still, daß man das Summen der kleinsten Fliege hätte hören können. Die Generalin saß sanft und fromm wie ein Lamm auf dem Sofa. Die ganze sklavische Ergebenheit dieser Törin ihrem Idol Foma gegenüber trat jetzt so recht klar zutage. Sie schien sich an ihrem Liebling gar nicht satt sehen zu können, sie hing unverwandt mit den Blicken an ihm, sie verschlang ihn förmlich mit den Augen.
Fräulein Perepelizyna entblößte lächelnd ihre alten Zähne und rieb sich die Hände, die arme Praskowja Iljinitschna aber zitterte merklich vor Furcht. Mein Onkel fand als erster die Sprache wieder.
„Tee, Schwesterchen, bitte, Tee! Nur etwas süßer, Schwesterchen. Foma Fomitsch trinkt ihn nach dem Schläfchen gern etwas süßer. Nicht wahr, Foma, du liebst den Tee nachmittags doch etwas süßer?“
„Mir ist es jetzt nicht um Tee zu tun!“ begann Foma langsam und würdevoll, und mit bekümmerter Miene machte er eine wegwerfende Handbewegung. „Sie dagegen scheinen sich ja nur darum zu sorgen, daß alles süßer sei!“
Diese ersten Worte und der in seiner pedantischen Wichtigkeit unbeschreiblich lächerliche Eintritt Fomas interessierten mich natürlich außerordentlich. Es interessierte mich vor allem, bis zu welch einer Gewissenlosigkeit die Unverschämtheit dieses von sich so eingenommenen Menschen gehen konnte.
„Foma!“ begann mein Onkel von neuem. „Hier stelle ich dir jemand vor: meinen Neffen Ssergei Alexandrowitsch! Er ist erst vor kurzem angekommen.“
Foma Fomitsch maß meinen Onkel vom Kopf bis zu den Füßen.
„Es wundert mich, daß Sie mich mit Vorliebe immer so systematisch unterbrechen, Oberst,“ sagte er endlich nach bedeutsamem Schweigen und ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. „Man redet mit Ihnen über eine ernste Sache, Sie aber ... schwatzen ... weiß Gott was ... Haben Sie Falalei gesehen?“
„Ja, Foma ...“
„Ah, also Sie haben ihn gesehen! Nun, dann werde ich Ihnen denselben noch einmal zeigen, wenn Sie ihn schon gesehen haben. Dann können Sie sich ergötzen an Ihrem Produkt ... ich meine, in sittlicher Beziehung. Komm her, Bursche! Komm her, du holländische Fratze! Nun, hörst du nicht? – komm her! Fürchte dich nicht!“
Falalei näherte sich ihm, schluchzend, mit halboffenem Munde, und schluckte seine Tränen. Foma Fomitsch betrachtete ihn mit augenscheinlichem Vergnügen.
„Ich habe ihn mit Absicht ‚holländische Fratze‘ genannt, Pawel Ssemjonytsch,“ bemerkte er, indem er es sich ungeniert in seinem Lehnstuhl bequem machte, mit einer leichten Wendung seines Kopfes zu Obnoskin, der als Nächster links von ihm saß. „Und überhaupt, wissen Sie, halte ich es nicht für nötig, daß man seine Ausdrücke mildert, gleichviel in welchem Fall. Die Wahrheit muß immer Wahrheit bleiben. Und andererseits: womit man auch Schmutz bedecken wollte, es bleibt immer Schmutz. Wozu also die Mühe, eine Sache noch zu beschönigen? Um sich und die Menschen zu betrügen! Nur in dem dummen Kopf eines Menschen aus der sogenannten höheren Gesellschaft konnte das Verlangen nach so sinnlosen Anstandsregeln entstehen. Sagen Sie doch – ich bitte um Ihr Urteil – können Sie in dieser Fratze etwas Schönes finden? Ich meine: etwas Höheres, Erhabenes, Wunderbares – und nicht, wie gesagt, nur eine schöne Fratze?“
Foma Fomitsch sprach ziemlich leise, ruhig, jedes Wort abmessend und mit einem fast erhabenen Gleichmut.
„Schönes?“ fragte Obnoskin mit einer geradezu frechen Nachlässigkeit. „Mir scheint, es ist nur ein gutes Stück Roastbeef und nichts weiter ...“
„Trat heute zum Spiegel und besah mich in ihm,“ fuhr Foma ruhig fort, würdevoll das Wörtlein „ich“ auslassend. „Halte mich längst nicht für eine Musterschönheit, kam aber unwillkürlich zu der Überzeugung, daß doch etwas in diesem grauen Auge liegt, das mich von einem Falalei unterscheidet. Das ist der Gedanke, das ist das Leben, das ist der Verstand in diesem Auge! Will mich nicht damit loben. Rede nur so im allgemeinen von meinem Ich. Jetzt, was meinen Sie? Kann es überhaupt auch nur ein Stückchen, auch nur ein Atom von einer Seele in diesem lebenden Beefsteak geben? Nein, in der Tat, beobachten Sie es doch, Pawel Ssemjonytsch, wie diese Menschen, die jedes Gedankens, jedes Ideals vollkommen bar sind, und die nur Rindfleisch essen, wie bei diesen Menschen die Gesichtsfarbe immer so widerlich frisch ist, von einer so rohen und dummen Frische! Wünschen Sie, den Grad seiner Denkfähigkeit zu erkennen? He, du, Kasus! Komm mal näher, gönn uns, daß wir uns an deinem Anblick berauschen! Warum sperrst du den Mund auf? Willst du etwa einen Walfisch verschlingen? Bist du schön? Antworte: bist du schön?“
„Ich ... bin ... schön!“ antwortete Falalei mit ersticktem Schluchzen.
Obnoskin wälzte sich vor Lachen. Ich fühlte, wie ich vor Wut zu zittern begann.
„Haben Sie gehört?“ fuhr Foma fort, mit einem gewissen Triumph sich wieder an Obnoskin wendend. „Aber Sie werden noch ganz andere Dinge von ihm hören! Ich kam nur, um ihn zu examinieren. Sehen Sie, Pawel Ssemjonytsch, es gibt Menschen, deren Wunsch es zu sein scheint, diesen armseligen Idioten endgültig zu verderben. Vielleicht urteile ich zu streng, kann mich ja täuschen, aber ich rede und tue alles nur aus Liebe zur Menschheit. Er hat den unanständigsten aller Tänze getanzt. Hier scheint das keinen Menschen etwas anzugehen. Aber ... nun, Sie können es hier mit eigenen Ohren hören ... Antworte: was hast du vorhin getan? Antworte, antworte sofort! – hörst du?“
„I ... ich ... habe ... getanzt ...“ sagte Falalei, der nur mit Mühe das Schluchzen unterdrückte.
„Was hast du denn getanzt? Welch einen Tanz? So sprich doch!“
„Die Kamarinskaja ...“
„Die Kamarinskaja! Aber wer ist diese Kamarinskaja? Was ist das für ein Name? Wie soll ich denn deine Antwort verstehen? Nun, so gib mir doch wenigstens eine Vorstellung davon: wer ist denn diese deine Kamarinskaja?“
„Ein ... Bauer ...“
„Ein Bauer! Nur ein Bauer? Ich wundere mich! Das muß doch ein ganz hervorragender Bauer sein! Dann ist er wohl irgendein berühmter Mann, wenn man ihn in Liedern besingt und in Tänzen verherrlicht? Nun, so antworte doch!“
Es schien Foma ein Bedürfnis zu sein, Menschen zu foltern. Er spielte mit seinem Opfer wie die Katze mit der Maus. Doch Falalei schwieg, schluchzte und begriff die Frage nicht.
„So antworte doch! Du wirst gefragt, was das für ein Bauer ist. So sprich doch ...! Ein Gutsbauer oder ein Kronsbauer, ein freier oder ein leibeigener oder vielleicht ein Ökonomiebauer[1]? Es gibt viele Bauern ...“
„E–e–ein ... Ö–ko–nomiebauer ...“
„Ah, also ein Ökonomiebauer! Haben Sie gehört, Pawel Ssemjonytsch? Ein neues historisches Faktum: die Kamarinskaja ist ein – Ökonomiebauer. Hm! Nun, aber was hat denn dieser Ökonomiebauer getan? Für welche Taten wird er denn besungen und ... wird ihm zu Ehren getanzt?“
Die Frage war nicht wenig kitzlig, und da er sie an Falalei richtete, auch sehr gefährlich.
„Nun – aber Sie ... einstweilen ...“ versuchte Obnoskin einzulenken, nach einem flüchtigen Blick auf seine Mutter, die sich so eigentümlich auf ihrem Sofa hin und her zu bewegen begann.
Was sollte man tun? Die Launen Foma Fomitschs wurden als Gesetz betrachtet.
„Aber, lieber Onkel, wenn Sie diesen Esel nicht ablenken, so kann er ja ... Sie begreifen doch, auf was er es abgesehen hat – Falalei wird vielleicht irgendeine Dummheit sagen, sogar bestimmt, ich versichere Sie ...“ flüsterte ich unbemerkt meinem Onkel zu, der selbst nicht wußte, wozu er sich entschließen oder was er sagen sollte.
„Wenn du, Foma ...“ begann er etwas unsicher. „Hier stelle ich dir meinen Neffen vor, Foma: mein junger Freund, der sich mit Mineralogie beschäftigt ...“
„Ich bitte Sie inständig, Oberst, unterbrechen Sie mich nicht mit Ihrer Mineralogie, von der Sie, soviel mir bekannt ist, keine Ahnung haben, und andere vielleicht ebensowenig. Ich bin kein Kind. Er wird mir antworten, daß dieser Bauer, anstatt für das Wohlergehen seiner Familie zu arbeiten, in der Schenke seinen Halbpelz vertrunken hat und betrunken auf die Straße hinausgelaufen ist. Das ist bekanntlich der Inhalt dieses Liedes, das die Trunkenheit verherrlicht. Beunruhigen Sie sich nicht, jetzt weiß er, was er zu antworten hat. – Nun, so antworte doch: was hat dieser Bauer denn getan? Ich habe es dir doch schon vorgesagt, habe es dir in den Mund gelegt. Ich will nur von dir, von dir selbst hören, was er getan hat, wodurch er berühmt geworden ist, wodurch er einen so unsterblichen Ruhm verdient hat, daß er sogar besungen wird? Nun?“
Der arme Falalei blickte sich hilflos im Kreise um, und da er nicht wußte, was er sagen sollte, machte er nur den Mund auf und ratlos wieder zu, wie eine Karausche, die aus dem Wasser auf den Sand gezogen ist.
„Ich schäm’ mich, es zu sagen!“ brachte er schließlich in seiner Hilflosigkeit mit langen Lippen ziemlich undeutlich hervor.
„Ah! du schämst dich, es zu sagen!“ Foma triumphierte. „Nur diese Antwort erwartete ich, Oberst! Man schämt sich, es zu sagen; aber es zu tun, schämt man sich nicht! Das ist die Sittlichkeit, die Sie hier gesät haben, die jetzt aufgegangen ist, und die Sie noch ... begießen! Doch wozu so viel Worte verlieren! Geh in die Küche, Falalei. Im Augenblick sage ich dir nichts – aus Achtung vor den Anwesenden; aber heute noch, heute noch wirst du unbarmherzig und schmerzhaft bestraft werden. Geschieht es aber nicht, zieht man auch diesmal dich – mir – vor, so bleibe du hier und tröste deine Herren mit der Kamarinskaja, ich aber werde dann heute noch dieses Haus verlassen! Genug! Ich habe gesprochen. Geh!“
„Nun, das war, glaube ich, denn doch etwas ... streng ...“ brummte Obnoskin.
„Eben, eben ...!“ griff sofort mein Onkel auf und wollte ihm beipflichten, brach aber ab und verstummte. Foma warf ihm einen finsteren Blick zu.
„Ich wundere mich, Pawel Ssemjonytsch,“ fuhr er fort, „ich wundere mich nur über eines: was tun denn eigentlich unsere zeitgenössischen Literaten, die Dichter, die Gelehrten, die Denker? Wie kommt es, daß sie gar nicht darüber nachdenken, welche Lieder das russische Volk singt, und zu welchen Liedern das russische Volk tanzt? Was haben denn bis jetzt alle unsere Puschkin, Lermontoff, Borosdin getan? Ich wundere mich. Das Volk tanzt die Kamarinskaja, diese Apotheose der Trunkenheit und der Ausschweifung; sie aber besingen da irgendwelche Vergißmeinnicht! Warum schreiben sie nicht einige sittliche Lieder für den Volksgebrauch? Was nützen diese Gedichte an die Vergißmeinnicht und Gänseblümchen? Hier handelt es sich doch um eine soziale Frage! Mögen sie mir meinetwegen einen Bauern schildern, aber einen veredelten Bauern, einen Landmann, der eigentlich nichts mehr mit dem rohen Bauern gemein hat. Mögen sie doch einen solchen Dorfweisen womöglich in seiner ganzen Einfachheit uns zeigen, meinetwegen sogar in Bastschuhen – ich bin auch damit noch einverstanden –, aber es muß ein Mann sein, der alle Tugenden besitzt, Tugenden, um die ihn – das sage ich kühn – selbst irgend so ein berühmter Alexander von Mazedonien beneiden müßte. Ich kenne Rußland und Rußland kennt mich: darum rede ich so. Mögen sie uns diesen Mann darstellen, der, sagen wir, bei grauem Haar noch eine große Familie zu ernähren hat, meinetwegen sogar in einer stickigen Hütte lebt, vielleicht sogar hungern muß, der aber dennoch zufrieden ist und nicht murrt, sondern seine Armut preist, und den alles Gold des Reichen gleichgültig läßt. Mag ihm der Reiche schließlich gerührt sein ganzes Gold bringen ... bei dieser Gelegenheit kann sogar eine Vereinigung der Tugend des Bauern mit der Tugend des Reichen, seines Herrn und, sagen wir, geborenen Aristokraten sich vollziehen. Der Landmann und der Reiche, die auf den Stufen der Gesellschaft so weit voneinander getrennt sind, – mögen sie dann in der Tugend sich vereinigen, – das wäre ein edler Grundgedanke! Aber sonst – was haben wir jetzt in unserer Literatur? Einerseits Vergißmeinnicht und andererseits – einen Bauern, der aus der Schenke herausstürzt und in betrunkenem Zustande durch die Straßen läuft! Nun, was ist denn hier, sagen Sie doch selbst: Was ist denn hier Poetisches? Woran soll man sich erbauen? Wo ist hier Verstand? Wo Grazie? Wo Moral? ... Ich wundere mich!“
„Hundert Rubel schulde ich Ihnen, Foma Fomitsch, für solche Worte!“ sagte Jeshowikin anscheinend begeistert. – „Würde ihm keinen grindigen Deubel jemals geben!“ rannte er mir dabei leise zu, fast ohne die Lippen zu bewegen. „Schmeichle, schmeichle!“
„Nun ja ... das haben Sie gut gesagt,“ brummte Obnoskin.
„Eben, eben! Vortrefflich!“ rief mein Onkel aus, der die ganze Zeit mit angestrengter Aufmerksamkeit zugehört hatte und mich jetzt triumphierend ansah. – „Was für ein Thema!“ flüsterte er mir unbemerkt ins Ohr und rieb sich vor Vergnügen die Hände. „Vielseitig, weiß der Teufel! – Foma Fomitsch, hier ist mein Neffe,“ fuhr er laut im Überschwang seiner Gefühle fort. „Er hat sich gleichfalls mit der Literatur beschäftigt – hier stelle ich ihn dir vor.“
Foma Fomitsch schenkte wiederum nicht die geringste Beachtung weder mir, noch meinem Onkel.
„Um Gottes willen, stellen Sie mich doch nicht nochmals vor! Ich bitte Sie darum!“ flüsterte ich in sehr bestimmtem Ton meinem Onkel zu.
„Iwan Iwanytsch!“ hub plötzlich Foma Fomitsch an, sich mit aufmerksam betrachtendem Blick an Misintschikoff wendend, „da haben wir nun gesprochen – welcher Meinung aber sind Sie?“
„Ich? Sie fragen mich?“ erkundigte sich verwundert Misintschikoff, mit einem Gesichtsausdruck, als hätte man ihn soeben erst aus dem Schlaf geweckt.
„Ja, gerade Sie. Ich frage Sie aus dem Grunde, weil mir die Meinung wirklich kluger Menschen immer wertvoll ist, nicht aber diejenige – weiß Gott was für welcher – problematischer kluger Köpfe, die nur deshalb klug sind, weil sie einem beständig als klug vorgestellt werden, als sogenannte Gelehrte, und die man sich mitunter sogar absichtlich verschreibt, um sie in einer Jahrmarktsbude auszustellen oder an einem ähnlichen Ort.“
Dieser Stein war natürlich in meinen Garten geworfen. Es konnte überhaupt kein Zweifel darüber bestehen, daß Foma Fomitsch, der mich scheinbar gar nicht beachtete, dieses ganze Gespräch über die Literatur einzig und allein meinetwegen begonnen hatte, um mich, den „Klugen“, den „Petersburger Gelehrten“, von vornherein zu besiegen, zu vernichten. Ich wenigstens zweifelte nicht daran.
„Wenn Sie meine Meinung wissen wollen, so ... bin ich ... so bin ich ganz Ihrer Meinung,“ antwortete Misintschikoff träge und gleichsam wider Willen.
„Sie sind stets ganz meiner Meinung! Es könnte einem sogar übel davon werden,“ bemerkte Foma. „Werde Ihnen ganz aufrichtig sagen, Pawel Ssemjonytsch,“ wandte er sich nach kurzem Schweigen wieder an Obnoskin, „wenn ich unseren unsterblichen Karamsin für etwas hochachte, so tue ich es nicht wegen seiner ‚Statthalterin Marfa‘, nicht wegen seiner ‚Russischen Geschichte‘, auch nicht wegen seines Werkes über das ‚Alte und neue Rußland‘, sondern einzig deshalb, weil er ‚Froll Ssilin‘ geschrieben hat: Das ist ein großes Epos! Es ist ein rein volkliches Werk und wird alle Ewigkeiten überleben! Ein großes Epos!“
„Eben, das ist es! Stimmt! Ein großes Epos! Froll Ssilin ist ein tugendhafter Mensch! Ich weiß, habe ihn gelesen; er kaufte noch zwei Mädchen aus, und dann sah er zum Himmel empor und weinte. Ein erhabener Zug!“ bestätigte mein Onkel, strahlend vor Zufriedenheit.
Mein armer Onkel! Er konnte es doch auf keine Weise unterlassen, sich in „gelehrte“ Gespräche einzumischen! Foma lächelte boshaft, schwieg aber.
„Es wird auch jetzt Interessantes geschrieben,“ mischte sich vorsichtig Anfissa Petrowna Obnoskina ein. „Zum Beispiel: die ‚Geheimnisse von Brüssel‘!“
„Ich enthalte mich eines Urteils,“ sagte Foma, gleichsam mitleidig. „Ich habe vor nicht langer Zeit einen von den neueren Dichtern gelesen ... Was soll man sagen? ‚Vergißmeinnicht‘! Aber wenn ich Ihnen die Wahrheit sagen soll, so gefällt mir von den Modernsten am besten der ‚Kopist‘, – wie er sich unterzeichnet – eine leichte Feder!“
„Der Kopist!“ schrie förmlich Anfissa Petrowna auf, „das ist doch dieser, der an die Zeitung Briefe schreibt? Ach, wie ist er doch entzückend! Welch ein Spiel mit Worten!“
„Ganz recht, ein Spiel mit Worten. Er spielt, wie man sagt, mit der Feder. Eine ungewöhnliche Leichtigkeit im Satzbau!“
„Ja, aber er ist ein Pedant,“ bemerkte Obnoskin nachlässig.
„Pedant! gewiß ein Pedant – das bestreite ich nicht. Aber er ist ein sympathischer Pedant, ein graziöser Pedant! Natürlich, keine einzige seiner Ideen hält einer ernsten Kritik stand, aber man läßt sich unwillkürlich von seiner Leichtigkeit fortreißen! Schön, es sind leere Worte – ich will es gern zugeben; aber es sind sympathische, es sind graziöse Worte! Entsinnen Sie sich vielleicht, wie er in einem literarischen Artikel erklärte, daß er seine eigenen Güter habe?“
„Güter?“ griff sofort mein Onkel auf. „Das ist nicht übel. In welchem Gouvernement?“
Foma blieb stumm, richtete nur einen aufmerksamen Blick auf den Hausherrn und fuhr dann im selben Ton fort:
„Nun sagen Sie mir doch um der gesunden Vernunft willen: wozu brauche ich, der Leser, zu wissen, daß er Güter hat? Hat er sie – dann gratuliere ich! Aber wie lieblich, wie spaßhaft ist es beschrieben! Er sprüht von Geist, er wirft ihn verschwenderisch um sich! Er ist ein unerschöpflicher Quell von sprudelndem Geist! Ja, so muß man schreiben! Ich glaube, daß ich gerade in dieser Art schreiben würde, wenn ich mich entschließen wollte, für Zeitschriften zu schreiben ...“
„Sicherlich sogar noch besser!“ bemerkte ehrerbietig Jeshowikin.
„Es ist sogar etwas Melodisches im Stil!“ bestätigte mein Onkel.
Nun aber hielt es Foma nicht mehr aus.
„Oberst,“ hub er an, „dürfte man Sie vielleicht bitten – natürlich mit aller nur möglichen Rücksicht – sich nicht einzumischen und uns in Ruhe unser Gespräch beenden zu lassen? Sie können über unsere Gespräche nicht urteilen, die Themata sind nicht für Sie geschaffen! So haben Sie doch die Güte, unsere angenehme literarische Unterhaltung nicht zu unterbrechen. Beschäftigen Sie sich mit Ihrer Landwirtschaft, trinken Sie Tee, aber ... kümmern Sie sich nicht um die Literatur ... sie wird dadurch nicht verlieren, dessen kann ich Sie versichern!“
Das war denn doch der Gipfel aller Frechheit! Ich wußte nicht, wie ich mich beherrschen sollte.
„Aber du hast doch selbst gesagt, Foma, daß sogar etwas Melodisches im Stil sei,“ versuchte sich mein Onkel, peinlich berührt, zu verteidigen.
„Gewiß. Ich aber habe es mit Kenntnis der Sache gesagt, als es angebracht war – und Sie?“
„Jawohl, wir haben es mit Verständnis und Verstand gesagt,“ griff Jeshowikin auf, der Foma Fomitsch auffällig umschmeichelte. „Verstand haben wir nur so ein wenig, man muß ihn sich zuweilen leihen; denn zur Not reicht er noch zu zwei Ministerien, und wenn’s darauf ankommt, dann werden wir auch noch mit dem dritten fertig, – jawohl, so steht’s mit uns!“
„Nun, dann habe ich also wieder etwas Unrichtiges gesagt!“ sagte mein Onkel und lächelte sein gutmütiges Lächeln.
„Zum Glück sehen Sie es wenigstens ein,“ bemerkte Foma.
„Tut nichts, Foma, ich ärgere mich nicht. Ich weiß, daß du mich wie ein Freund lenken und leiten willst, wie ein Verwandter, ein Bruder ... Das habe ich dir selbst erlaubt, ich habe dich sogar darum gebeten ... Das ist ganz recht, ganz recht von dir. Du tust es ja nur zu meinem Besten! Also hab Dank, ich werde es mir merken.“
Meine Geduld war zu Ende. Alles, was ich von Foma Fomitsch gehört hatte, war mir übertrieben erschienen. Als ich nun aber selbst alles sah und hörte, fand meine Verwunderung keine Grenzen. Ich glaubte mir selbst nicht mehr; eine solche Frechheit, eine so unverschämte Anmaßung einerseits, und eine so freiwillige Knechtschaft und so arglose Gutmütigkeit andererseits begriff ich einfach nicht. Übrigens war mein Onkel durch diese Dreistigkeit doch auch verwirrt. Das sah man ihm an, obschon er es zu verbergen suchte. Ich brannte vor Begier, mit Foma irgendwie aneinander zu geraten, mit ihm einen Zweikampf auszufechten, ihm hageldicht die Wahrheit zu sagen – aber mit Überlegenheit und Temperament, so daß sie ihren Ohren nicht trauen sollten – und dann möge kommen, was da kommen wolle! Dieser Gedanke begeisterte mich. Ich wartete krampfhaft auf eine Gelegenheit, und in der Erwartung verbog ich gänzlich den Rand meines Hutes, den ich in der Hand behalten hatte. Die Gelegenheit aber bot sich nicht: Foma geruhte überhaupt nicht, mich zu bemerken.
„Es ist wahr, es ist wahr, was du sagst, Foma,“ fuhr mein Onkel fort, aus allen Kräften bemüht, das Unangenehme des vorhergegangenen Gespräches wenigstens durch irgend etwas ein wenig gutzumachen. „Du trittst damit für die Wahrheit ein, Foma. Ich danke dir. Zuerst muß man eine Sache kennen, und nur dann kann man urteilen. Ich bereue es. Aber ich bin ja schon mehr als einmal in eine solche Patsche geraten. Stell dir vor, Ssergei, ich habe einmal sogar examiniert. Ihr lacht! Nun ja! Bei Gott, ich habe faktisch examiniert! Das war so: man forderte mich einmal auf, in irgendeiner Lehranstalt einem Examen beizuwohnen, und man setzte mich zusammen mit den Examinatoren an den großen Tisch, nur so, als Ehrenbezeugung, es war dort ein überflüssiger Platz. Aber weißt du, ich sage dir, ich bekam ordentlich Angst, – nein wirklich: regelrechte Angst erfaßte mich. Wie sollte ich nicht – denk doch nur: habe doch von keiner einzigen Wissenschaft auch nur einen Schimmer! Was tun also? Gott im Himmel, denke ich, jetzt wirst du selbst auch noch an die Tafel gerufen werden! Nun, dann aber – ging alles gut vonstatten: ich stellte sogar selbst noch Fragen, fragte: Wer war Noah? Überhaupt, es wurde vorzüglich geantwortet. Nachher frühstückten wir noch und tranken auf das Gedeihen der Anstalt Champagner. Eine vortreffliche Lehranstalt war’s!“
Foma Fomitsch und Obnoskin brachen in schallendes Gelächter aus.
„Aber ich habe ja später auch gelacht!“ rief mein Onkel dazwischen, lachte selbst mit in seiner Gutmütigkeit und freute sich, daß er andere erheitert hatte. „Nein, Foma, wart, ich werde euch alle noch mehr zum Lachen bringen – ich werde euch erzählen, wie ich einmal hereingefallen bin ... Stell dir vor, Ssergei, wir standen damals in Krasnogorsk ...“
„Gestatten Sie eine Frage, Oberst: Wird Ihre Geschichte lang werden?“ unterbrach ihn Foma.
„Ach, Foma! Aber das ist doch eine wundervolle Geschichte, einfach zum Kranklachen! Hör doch nur zu! Sie ist gut, bei Gott, sie ist gut!“
„Ich höre Ihre Geschichten, wenn sie von dieser Art sind, stets mit Vergnügen an,“ sagte Obnoskin, indem er sich absichtlich kaum die Mühe gab, ein Gähnen zu verbergen.
„Tja, man wird also wohl zuhören müssen,“ meinte Foma resigniert.
„Aber es lohnt sich, bei Gott, Foma! Ich werde Ihnen erzählen, wie ich einmal hereinfiel, Anfissa Petrowna. Hör auch du zu, Ssergei: es ist zugleich lehrreich. Unser Regiment stand damals in Krasnogorsk,“ begann mein Onkel, strahlend vor Freude, schnell und eilig, mit unzähligen einleitenden Sätzen, wie es nun einmal seine Art war, wenn er etwas zur Unterhaltung seiner Gäste erzählte. „Kaum waren wir angekommen, da ging’s auch schon am selben Abend ins Theater. Die Primadonna, Fräulein Kuropatkina, war berückend schön. Später entfloh sie mit dem Rittmeister Swerkoff, noch bevor sie das Stück zu Ende gespielt hatte. Der Vorhang mußte fallen ... Das heißt, dieser Swerkoff war eine Bestie, trank und spielte; aber eigentlich war er doch kein Trunkenbold, sondern nur so, – immer bereit, mit den Kameraden gemütlich zu sein. Wenn er dann aber einmal ins Trinken kam, dann vergaß er alles: wo er lebte, in welchem Reich, wie er hieß – kurz: alles! Im Grunde aber war er ein prächtiger Junge ... Nun, ich sitze also im Theater. In der Pause gehe ich hinaus ins Foyer, und da treffe ich zufällig meinen früheren Regimentskameraden, Kornuchoff ... Ein prachtvoller Mensch! Wir hatten uns seit sechs Jahren nicht mehr gesehen. Nun, er war im Feuer gewesen, mit Kreuzen behängt – jetzt ist er, wie ich vor kurzem hörte, schon Wirklicher Staatsrat: er ist nämlich in den Staatsdienst übergetreten und wird es noch zu hohem Ansehen bringen ... Nun, versteht sich, wir freuten uns. Reden dies und das. Neben uns aber in der Loge sitzen drei Damen: die eine, die links sitzt, hat ein Gesicht, wie die Welt kein fürchterlicheres hervorbringen kann ... Später erfuhr ich, daß sie eine treffliche Dame war, Familienmutter – was will man mehr – hat den Mann glücklich gemacht ... Nun, und ich Dummkopf frage Kornuchoff: ‚Sag mal, Freund, weißt du nicht, was ist denn das da für eine Vogelscheuche?‘ – ‚Wer?‘ – ‚Na, diese dort links!‘ – ‚Ja so ... das ist meine Cousine.‘ – Pfui Teufel! Man denke sich meine Situation! Ich will’s natürlich sofort gutmachen: – ‚Nein doch, nicht diese,‘ sage ich, ‚was du doch für Augen hast! Diese, die rechts sitzt: wer ist das?‘ – ‚Das ist meine Schwester.‘ – Verdammte Zucht! denke ich. Seine Schwester aber war, wie zum Trotz, eine wahre Rosenknospe, ganz allerliebst, und dazu angekleidet: Kettchen und Armbänder und Spitzen, – mit einem Wort, wie so’n Engelchen. Späterhin heiratete sie einen prächtigen jungen Menschen, einen gewissen Pychtin; sie war zuerst mit ihm losgezogen und hatte sich ungefragt trauen lassen; jetzt aber ist alles, wie es sich gehört, leben gut, die Eltern haben ihre Freude an ihnen ... Na also –: ‚Nein doch!‘ sage ich unwillig, weiß aber selbst nicht, wo ich mich verkriechen soll, ‚nicht diese! Ich meine jene, die in der Mitte sitzt, – wer ist das?‘ – ‚Tja, in der Mitte – nun, Freund, das ist meine Frau ...‘ Unter uns: ein wahrer Leckerbissen, aber kein Mensch: ihr Anblick allein war schon ein solches Vergnügen, daß man sie am liebsten heil verschluckt hätte ... – ‚Nun,‘ sage ich, ‚hast du jemals einen Dummkopf gesehen? Dann sieh ihn dir jetzt an; hier ist er, und sein Kopf steht dir gleichfalls zur Verfügung: köpfe nur zu, brauchst nichts zu bedauern!‘ Er lachte. Nach der Aufführung machte er mich mit seinen Damen bekannt, und wahrscheinlich hatte der Schlingel ihnen schon alles erzählt. Es wurde etwas viel gelacht! Aber ich muß sagen, ich habe noch nie so lustig die Zeit verbracht. Nun siehst du, Foma, wie man zuweilen hereinfallen kann! Ha–ha–ha–ha!“
Doch vergeblich lachte mein armer Onkel, vergeblich blickten seine heiteren treuen Augen im Kreise umher: Schweigen war die Antwort auf seine „lustige“ Geschichte. Foma Fomitsch saß in finsterer Stummheit da, und seinem Beispiel folgten pflichtschuldig alle anderen – nur Obnoskin lächelte kaum merklich, da er die Philippika voraussah, die meinem armen Onkel bevorstand. Dieser wurde etwas verlegen und errötete. Das war es, was Foma gewünscht hatte.
„Sind Sie nun fertig?“ fragte er endlich feierlich.
„Ja, ich bin fertig, Foma.“
„Und Sie freuen sich?“
„Das heißt ... wieso, Foma? – wie meinst du das?“ fragte gleichsam schmerzlich mein Onkel.
„Ist Ihnen jetzt leichter? Sind Sie jetzt zufrieden, da es Ihnen doch gelungen ist, die angenehme literarische Unterhaltung der Freunde zu stören, indem Sie sie unterbrachen und so Ihrem kleinlichen Ehrgeiz Genüge tun konnten?“
„Aber hör doch auf, Foma! Ich wollte euch alle ja nur erheitern, du aber ...“
„Erheitern!“ schrie Foma auf, plötzlich sehr belebt. „Sie sind ja nur fähig, einen schwermütig zu machen, aber nicht zu erheitern! Zu erheitern! Begreifen Sie denn nicht, daß Ihre Erzählung fast unsittlich war? Ich sage nicht einmal: unanständig – das versteht sich von selbst ... Sie erklärten soeben mit seltener Gefühlsroheit, daß Sie über eine Unschuldige gelacht haben, über eine geborene Aristokratin, und zwar nur deshalb, weil diese nicht die Ehre hatte, Ihnen zu gefallen! Und uns, uns wollen Sie veranlassen zu lachen, mit anderen Worten: uns wollten Sie verleiten, einer rohen und unanständigen Tat Beifall zu spenden, und das alles nur deshalb, weil Sie hier der Hausherr sind! Tun Sie, was Sie wollen, Oberst, Sie können sich Schmarotzer, Speichellecker und Partner jeder Art zusammensuchen, Sie können sie sogar aus fernen Landen verschreiben und auf diese Weise Ihre Suite vergrößern, zum Nachteil der Gesinnungstüchtigkeit und des Edelsinnes aller noch reinen Herzen. Niemals aber wird Foma Opiskin weder ein Schmeichler, noch ein Speichellecker, noch Ihr Gnadenbrotesser sein! Wenn auch sonst nichts, dieses aber können Sie mir glauben: dessen versichere ich Sie ...!“
„Ach, Foma, du hast mich ja gar nicht verstanden, Foma!“
„Nein, Oberst, ich bin schon lange hinter Ihr wahres Wesen gekommen, ich durchschaue Sie vollkommen. An Ihnen nagt grenzenlose Eigenliebe: Sie machen Ansprüche auf unübertrefflichen Witz, und Sie vergessen, daß Ansprüche den Geist stumpf machen – Sie ...“
„Um Gottes willen, Foma, laß es doch gut sein! Schäm dich doch wenigstens vor den anderen ...!“
„Aber es ist doch traurig, so etwas mit ansehen zu müssen, Oberst, und wenn man es sieht, kann man nicht schweigen. Ich bin arm, ich lebe bei Ihrer Frau Mutter. Da könnte man ja glauben, daß ich durch mein Schweigen mich bei Ihnen einschmeicheln wollte. Ich aber will nicht, daß mich der erste beste Grünschnabel für Ihren Gnadenbrotesser hält! Vielleicht habe ich vorhin, als ich hier eintrat, absichtlich meine wahrheitsliebende Offenheit betont und unterstrichen, ich war gezwungen, sie bis zur Grobheit zu treiben, eben weil Sie selbst belieben, mich in eine solche Lage zu bringen. Sie gehen gar zu anmaßend mit mir um, Oberst. So kann man mich ja für Ihren Sklaven, Ihren Schmarotzer, Ihren Speichellecker halten! Es scheint Ihnen Vergnügen zu bereiten, mich vor Unbekannten zu erniedrigen, während ich Ihnen gleichstehe – hören Sie? – in jeder Beziehung gleichstehe! Vielleicht bin sogar ich es, der Ihnen damit einen Dienst erweist, daß ich bei Ihnen lebe ... und es ist nicht so, daß Sie mir einen erweisen. Man erniedrigt mich, folglich muß ich mich vor Ihnen loben – das ist nur natürlich! Ich darf nicht schweigen, ich muß sprechen, ich muß unverzüglich protestieren; denn ich erkläre Ihnen offen und einfach, daß Sie phänomenal neidisch sind! Sie sehen, zum Beispiel, daß ein Mensch in einem einfachen, freundschaftlichen Gespräch unwillkürlich sein Wissen, seine Belesenheit, seinen guten Geschmack bewiesen hat: und schon ärgern Sie sich, Sie ertragen es nicht: ‚Wart, jetzt werde auch ich schnell meine Kenntnisse, meinen guten Geschmack zeigen!‘ denken Sie sogleich. Aber was haben Sie denn für einen Geschmack, mit Erlaubnis zu fragen? Vom Geschmack verstehen Sie ebensoviel wie – verzeihen Sie, Oberst – wie zum Beispiel, sagen wir, ein Ochs von Rindfleisch! Das ist schroff und grob ausgedrückt – ich gebe es selbst zu ... aber es ist wenigstens offenherzig und gerecht. So etwas würden Sie von Ihren Schmeichlern nicht hören, Oberst.“
„Ach, Foma ...!“
„Das ist’s ja: ‚Ach, Foma!‘ Man sieht, die Wahrheit ist kein Daunenkissen. Nun gut. Wir werden darauf noch später zu sprechen kommen, jetzt aber erlauben Sie auch mir einmal, das Publikum zu erheitern. Sie können sich doch nicht immer nur allein auszeichnen. Pawel Ssemjonytsch! Haben Sie dieses Meerungeheuer in Menschengestalt schon gesehen? Ich beobachte ihn schon geraume Zeit. Sehen Sie ihn sich nur aufmerksam an: er würde mich mit Vergnügen verschlingen, lebendig, mit Haut und Haaren!“
Er sprach von Gawrila. Der alte Diener stand an der Tür und hörte allerdings mit tiefem Herzeleid zu, wie seinem Herrn „der Kopf gewaschen“ wurde.
„Auch ich will Sie mit einem Schaustück belustigen, Pawel Ssemjonytsch. – He, du, Krähe, komm her! Aber so geruhen Sie doch, sich hierherzubemühen, Gawrila Ignatjitsch! Das ist, wie Sie sehen, Gawrila, der zur Strafe für seine Grobheit Französisch lernt. Ich mildere wie Orpheus die hiesigen Sitten, nur tue ich es nicht mit Liedern, sondern mittels der französischen Sprache. Nun, mein Franzose, mßjö Schematon – er kann es nicht leiden, wenn man mßö Schematon zu ihm sagt – hast du deine Aufgabe gelernt?“
„Habe sie gelernt,“ antwortete Gawrila mit gesenktem Kopf.
„Nun, parleh-wu-franßeh?“
„Wui mßö, shö-lö-parl-ön-pö ...“
Ich weiß nicht, war die traurige Miene Gawrilas beim Aussprechen der französischen Phrase die Ursache, oder hatten alle den Wunsch Fomas erraten – jedenfalls ertönte eine schallende Lachsalve, kaum daß Gawrila den Mund aufgetan hatte. Sogar die Generalin geruhte zu lachen. Anfissa Petrowna Obnoskina warf sich an die Sofalehne zurück und wieherte geradezu, das Gesicht mit dem Fächer bedeckt. Gawrila aber, als er sah, welche Wendung das Examen nahm, riß die Geduld, er spie plötzlich aus und sagte:
„Daß ich in meinen alten Jahren eine solche Schande erleben muß!“
Foma Fomitsch fuhr auf:
„Was? Was hast du gesagt? Du läßt es dir einfallen, frech zu werden?“
„Nein, Foma Fomitsch,“ antwortete Gawrila ernst, „meine Worte sind keine Frechheit, und mir, dem Leibeigenen, steht es nicht zu, gegen Euch, der Ihr als Freier geboren seid, unehrerbietig zu sein. Aber jeder Mensch trägt Gottes Geist in sich und ist sein Ebenbild. Ich stehe im dreiundsechzigsten Lebensjahr. Mein Vater erinnert sich noch Pugatschoffs[2], und mein Großvater ist mit Matwei Nikititsch – Gott hab ihn selig! – also zusammen mit seinem gnädigen Herrn von Pugatschoff an ein und demselben Galgen erhängt worden, wofür mein Vater vom seligen Herrn Afanassij Matwejitsch mehr als alle anderen ausgezeichnet wurde: er diente als Kammerdiener und starb als freier Hofbauer. Ich aber, Herr, bin wohl nur ein herrschaftlicher Leibeigener, aber eine solche Schande, wie jetzt, habe ich bis heute noch nicht erlebt!“
Bei den letzten Worten führte Gawrila seine herabhängenden Hände auseinander und senkte den Kopf. Mein Onkel sah ihn unruhig an.
„Schon gut, schon gut, Gawrila!“ rief er ihm zu, „wozu so viel reden! Schon gut!“
„Tut nichts, tut nichts,“ sagte Foma, der ein wenig erbleicht war und sich zu einem Lächeln zwang. „Mag er nur reden: das sind ja doch nur Ihre Früchte ...“
„Ich werde jetzt einmal alles sagen,“ fuhr Gawrila fort, in den plötzlich irgendein Geist gefahren zu sein schien, – „alles sagen und nichts beschönigen! Und wenn man mir auch die Hände binden wird – meine Zunge kann man mir doch nicht binden. Ich weiß, Foma Fomitsch, daß ich vor Euch nur ein niedriger Mensch bin, ein Knecht, aber auch ich hab mein Ehrgefühl! Zu Dienstbarkeit bin ich Euch für alle Zeit verpflichtet, da ich als Unfreier geboren bin und jede Pflicht in Furcht gewissenhaft erfüllen muß. Wenn Ihr Euch einschließt, um ein Buch zu schreiben, so ist es meine Pflicht, daß ich Wache stehe und keinen zu Euch lasse, weil Ihr mir das so angesagt und befohlen habt. Und wenn Ihr Bedienung verlangt – ich tue alles gern. Nicht aber, daß ich in meinen alten Tagen noch wie ein Ausländer bellen und vor den Menschen mir solche Schmach und Schande antun lassen muß! Wage ich es doch jetzt nicht mehr, in die Gesindestube zu gehen: ein Franzose bist du, sagen sie mir alle, guten Tag, Herr Franzose! Nein, Foma Fomitsch, nicht ich Dummkopf allein, sondern alle guten Leute sagen dasselbe: daß Ihr jetzt wahrhaftig ein böser Mensch geworden seid, und daß unser Herr so gut wie ein kleines Kind zu Euch sind, und daß Ihr, wenn Ihr auch von Geburt so viel wie ein Generalssohn seid und es vielleicht selbst nicht viel weniger weit als bis zum General gebracht habt, so doch ebendasselbe seid, was man eine Furie nennt.“
Gawrila hatte zu Ende geredet. Ich war außer mir vor Entzücken. Foma Fomitsch saß bleich und vor Wut regungslos da, inmitten der allgemeinen Bestürzung, und schien nach diesem unerwarteten Angriff noch nicht zur Besinnung kommen zu können. Es war, als überlegte er, in welchem Maße er sich ärgern sollte, bis zu welchem Grade es richtig wäre, sich zu ärgern. Endlich erfolgte der erste Aufschrei.
„Wie!“ kreischte er auf. „Er hat es gewagt, mich zu beschimpfen! – mich! Aber das ist doch Rebellion!“ schrie Foma, vom Stuhl emporschnellend, mit der Stimme eines alten Weibes.
Seinem Beispiel folgte sogleich die Generalin: sie schlug sogar die Hände zusammen. Mein Onkel bemühte sich, den verbrecherischen Gawrila aus dem Gesichtskreise zu schaffen.
„Fesselt ihn, fesselt ihn! Legt ihn in Ketten!“ schrie die Generalin. „Laß ihn sofort in die Stadt bringen und gib ihn unter die Soldaten, Jegoruschka! Sonst versage ich dir meinen Muttersegen! Laß ihm sofort Fußfesseln anlegen – und dann unter die Soldaten!“
„Wie!“ schrie Foma, „dieser Knecht! dieser Chaldäer! dieser Hamlet! Er hat sich unterstanden, mich zu beschimpfen! Er, er, mein Schuhputzlappen! Er hat es gewagt, mich eine Furie zu nennen!“
Da trat ich plötzlich entschlossen vor.
„Ich muß gestehen, in diesem Fall bin ich vollkommen derselben Meinung wie Gawrila,“ sagte ich, zitternd vor Aufregung, und blickte Foma offen in die Augen.
Dieses Auftreten meinerseits machte ihn so bestürzt, daß er im ersten Augenblick, glaube ich, seinen Ohren nicht traute.
„Was soll denn das bedeuten!“ brachte er endlich hervor, stürzte wie rasend ein paar Schritte vor und durchbohrte mich gerader mit seinen kleinen, blutunterlaufenen Augen. „Was bist du denn für einer?!“
„Foma Fomitsch ...“ wollte mein Onkel, der selbst nicht wußte, wo sein Kopf stand, einlenken, „Foma Fomitsch, das ist Sserjosha, mein Neffe ...“
„Der Gelehrte!“ brüllte Foma auf, „das ist also jener Gelehrte! Liberté – Egalité – Fraternité! Journal des Débats! Nein, du lügst! Hier ist nicht Petersburg, hier kannst du nicht betrügen! Hol der Teufel deine Débats! Bei dir heißt es Débats, bei uns aber Kabbala! Gelehrter! Ich habe siebenmal mehr vergessen, als du überhaupt weißt! Was weißt du denn überhaupt?“ ...
Wenn man ihn nicht gehalten hätte, so würde er sich wahrscheinlich mit den Fäusten auf mich gestürzt haben.
„Aber er ist ja betrunken!“ sagte ich, mich im Kreise umblickend.
„Wer? Ich?!“ schrie Foma mit einer noch nie gehörten Stimme.
„Ja, Sie!“
„Betrunken?“
„Gewiß: betrunken!“
Das war zu viel für ihn. Er stieß einen Schrei aus, als wenn er aufgespießt worden wäre, und stürzte aus dem Zimmer. Die Generalin wollte, wie es schien, in Ohnmacht fallen, sagte sich aber, daß es besser wäre, Foma Fomitsch nachzueilen. Ihr folgten alle anderen, – und allen anderen folgte auch mein Onkel. Als ich wieder zu mir kam und mich umsah, fand ich im Zimmer außer mir nur noch Jeshowikin. Er lächelte und rieb sich die Hände.
„Von den Jesuiten versprachen Sie mir zu erzählen,“ sagte er mit einschmeichelnder Stimme.
„Was?“ fragte ich, da ich nicht begriff, wovon er sprach.
„Von den Jesuiten versprachen Sie vorhin zu erzählen ... eine Anekdote ...“
Ich ließ ihn stehen und eilte hinaus auf die Terrasse und von dort in den Garten. In meinem Kopf drehte sich alles durcheinander ...
Wohl über eine Viertelstunde irrte ich, aufgebracht und äußerst unzufrieden mit mir, im Garten umher. Was sollte ich tun? Die Sonne stand schon tief im Westen ... Ich bog in eine dunkle Allee ein – und plötzlich stand Nastenjka vor mir. In ihren Augen blitzten Tränen. In der Hand zusammengeballt hielt sie ein Taschentuch.
„Ich habe Sie gesucht,“ sagte sie.
„Und ich Sie,“ antwortete ich. „Sagen Sie, ich bitte Sie: bin ich hier in einer Irrenanstalt?“
„Durchaus nicht!“ war die Antwort. Sie schien gekränkt zu sein und sah mich streng an.
„Aber wenn es nicht der Fall ist, warum geschieht dann das alles? Geben Sie mir doch um Gottes willen eine Erklärung, einen Rat! Wohin ist mein Onkel jetzt gegangen? Kann ich nicht zu ihm gehen? Es freut mich sehr, daß ich Sie getroffen habe, vielleicht werden Sie mich wenigstens über einiges aufklären.“
„Nein, gehen Sie jetzt nicht hin. Ich bin selbst fortgegangen ...“
„Aber wo sind sie denn jetzt alle?“
„Weiß ich es!? Vielleicht sind sie wieder in den Gemüsegarten gelaufen,“ sagte sie gereizt.
„In welch einen Gemüsegarten?“
„In der vergangenen Woche schrie Foma Fomitsch, daß er nicht mehr in diesem Hause bleiben wolle, und plötzlich lief er in den Gemüsegarten, fand im Schuppen glücklich einen Spaten und begann Beete zu graben. Wir wunderten uns alle und glaubten schon, daß er verrückt geworden sei. ‚Ich werde Erde schaufeln,‘ sagte er, ‚damit man mir später nicht vorwerfen kann, daß ich umsonst hier gelebt und gegessen habe. Wenn ich aber das gegessene Brot mit meiner Hände Arbeit bezahlt haben werde, dann werde ich mich aufmachen und fortgehen. So weit hat man mich gebracht!‘ Da aber weinten alle, und viel fehlte nicht, so wären sie vor ihm niedergekniet. Den Spaten wollten sie ihm mit Gewalt fortnehmen. Er aber grub und grub drauflos. Alle Rüben hat er umgegraben. Ist man ihm damals so begegnet, so wird er, denke ich, jetzt vielleicht dasselbe tun. Von ihm ist alles zu erwarten.“
„Und Sie ... Sie erzählen das so kaltblütig!“ rief ich in heftigem Unwillen aus.
Da sah sie mich mit aufblitzenden Augen von der Seite an.
„Verzeihen Sie mir: ich weiß eigentlich gar nicht mehr, was ich rede! ... Wissen Sie, weshalb ich hergekommen bin?“
„N–ein,“ antwortete sie errötend, und ein gewisses peinliches Gefühl spiegelte sich auf ihrem lieblichen Gesicht wider.
„Verzeihen Sie mir;“ fuhr ich fort, „ich bin jetzt ganz aus dem Konzept gebracht, und ich fühle, daß ich nicht in dieser Weise hätte anfangen sollen, davon zu sprechen ... namentlich mit Ihnen nicht ... Aber, gleichviel! Ich glaube, Offenheit ist in solchen Dingen immer das beste. Ich gestehe ... das heißt, ich wollte sagen ... Sie kennen doch die Absicht meines Onkels? Er wünscht, daß ich um Ihre Hand anhalte ...“
„Ach, welch ein Unsinn! Sprechen Sie nicht davon, ich bitte Sie!“ unterbrach sie mich heftig, während sie heiß errötete.
Ich war baff.
„Wieso: – Unsinn? Aber er hat es mir doch geschrieben!“
„Hat er es Ihnen wirklich so ohne weiteres geschrieben?“ fragte sie lebhaft. „Ach, er ist doch! ... Wie hat er mir dann versprechen können, daß er es nicht schreiben werde! ... Welch ein Unsinn! Gott, welch ein Unsinn!“
„Verzeihen Sie,“ stotterte ich, da ich nicht wußte, was ich sagen sollte. „Vielleicht war es unvorsichtig von mir, vielleicht sogar roh ... Aber wer kann denn hier, nach diesen Erlebnissen ... Denken Sie doch nur, von ... weiß Gott was für Menschen und Plänen wir umringt sind ...“
„Ach, um Gottes willen, entschuldigen Sie sich doch nicht! Glauben Sie mir, daß es mir ohnehin schwer ist, davon reden zu hören; aber ich habe Sie gesucht, um von Ihnen etwas zu erfahren ... Ach, wie ärgerlich! So hat er es Ihnen also wirklich geschrieben? Das fürchtete ich ja am meisten! Mein Gott, was ist denn das für ein Mann! ... Und Sie glaubten natürlich sofort alles und kamen stehenden Fußes hergefahren? Das war gerade noch nötig!“
Sie verbarg ihren Ärger nicht im geringsten. Meine Lage war nichts weniger als beneidenswert.
„Offen gestanden, ich hatte nicht erwartet ...“ brachte ich in größter Verwirrung hervor. „Eine solche Wendung ... ich glaubte, im Gegenteil ...“
„Ah, also Sie glaubten?“ fragte sie mit leichter Ironie und biß sich die Lippe. „Wissen Sie – zeigen Sie mir den Brief, den er an Sie geschrieben hat?“
„Wie Sie wünschen.“
„Aber bitte seien Sie mir nicht böse, nehmen Sie es mir nicht übel! Es gibt ja auch ohnehin schon Leid genug!“ fuhr sie mit bittender Stimme fort, doch erschien schon wieder ein spöttisches Lächeln flüchtig auf ihren reizenden Lippen.
„Ach, halten Sie mich bitte nicht für so dumm!“ rief ich leidenschaftlich aus. „Sie sind vielleicht voreingenommen gegen mich? Vielleicht hat Ihnen jemand Schlechtes von mir erzählt? – Oder vielleicht – weil ich dort heute so schlecht abgeschnitten habe? Aber das ist ja nichts, – ich versichere Sie! Ich begreife sehr gut, für wie dumm Sie mich jetzt halten müssen. Aber lachen Sie, bitte, nicht über mich! Ich weiß nicht, was ich rede ... Aber das kommt ja alles nur daher, daß ich in diesem verwünschten Alter von zweiundzwanzig Jahren stehe!“
„Oh, mein Gott, was hat das damit zu tun?“
„Wie, was das damit zu tun hat? Aber wer zweiundzwanzig Jahre alt ist, dem steht ja die Jugend noch auf der Stirn geschrieben! Zum Beispiel wie mir, als ich vorhin so wider Willen in die Mitte des Zimmers flog, oder wie jetzt ... hier vor Ihnen ... Oh, dieses verwünschte Alter!“
„Oh, nein, nein!“ beteuerte Nastenjka, die sich kaum das Lachen verbeißen konnte. „Ich bin überzeugt, daß Sie ein guter, lieber und kluger Mensch sind. – Sie können mir glauben, daß ich es aufrichtig meine! Aber ... Sie sind nur sehr ... ehrgeizig, sehr ... eigenliebig. Doch das kann man sich ja noch abgewöhnen.“
„Ich glaube, daß ich nicht ehrgeiziger als nötig bin!“
„N ... das doch wohl nicht. Was war es denn vorhin, als Sie so verlegen wurden – und weshalb? Weil Sie beim Eintritt gestolpert waren! ... Welches Recht hatten Sie da, Ihren guten Onkel, der so viel für Sie getan hat, lächerlich zu machen? Warum wollten Sie das Lächerliche auf ihn abwälzen, während Sie selbst lächerlich waren? Das war schlecht, das war häßlich von Ihnen! Das machte Ihnen wahrlich keine Ehre und – ich sage es Ihnen ganz offen – Sie waren mir in jenem Augenblick sehr unsympathisch – jawohl, damit Sie’s wissen!“
„Sie haben recht! Ich war ein großer Esel! Sogar mehr als das: ich beging einfach eine Gemeinheit! Meine Strafe dafür ist – daß Sie es bemerkt haben! Schelten Sie mich, lachen Sie über mich, aber hören Sie mich an: vielleicht werden Sie Ihre Meinung von mir doch einmal ändern,“ fuhr ich fort, beherrscht von einem ganz eigenartigen Gefühl; „Sie kennen mich noch so wenig, daß Sie später, wenn Sie mich näher kennen gelernt haben werden, vielleicht ...“
„Um Gottes willen, lassen wir dieses Gespräch!“ unterbrach mich Nastenjka mit sichtlicher Ungeduld.
„Gut, gut, lassen wir es! Aber ... wo kann ich Sie wiedersehen?“
„Wie das – wo wiedersehen?“
„Aber es kann doch nicht sein, daß wir jetzt hier das letzte Wort miteinander gesprochen haben sollen, Nastassja Jewgrafowna! Ich flehe Sie an, mir zu sagen, wo und wann ich Sie wiedersehen kann, wenn möglich heute noch! Übrigens nein, es dunkelt ja schon. Nun, dann also, wenn es irgend geht, morgen früh, so früh wie möglich ... Ich werde mich früher wecken lassen. Wissen Sie, dort am Weiher ist eine Laube. Ich entsinne mich ihrer noch sehr gut und ich werde auch schon den Weg dorthin finden. Ich habe ja als kleiner Junge hier gelebt.“
„Aber wozu dieses Rendezvous? Wir sprechen doch schon miteinander!“
„Aber ich weiß ja vorläufig noch nichts, Nastassja Jewgrafowna! Ich muß vorher noch mit meinem Onkel reden. Er muß mir doch endlich alles erzählen, und dann werde ich Ihnen vielleicht etwas sehr Wichtiges sagen ...“
„Nein, nein! Das ist nicht nötig, gar nicht nötig!“ rief Nastenjka aus. „Lassen Sie es uns jetzt zu einem Ende bringen, aber so, daß wir später kein Wort mehr darüber zu verlieren brauchen. In jene Laube aber bemühen Sie sich nicht. Ich versichere Sie, daß ich nicht kommen werde. Bitte, schlagen Sie sich doch diesen ganzen Unsinn aus dem Kopf – ich bitte Sie allen Ernstes darum ...“
„Dann ist ja mein Onkel verrückt gewesen, als er jenen Brief schrieb!“ rief ich in unerträglichem Ärger aus. „Warum hat er mich denn hergerufen? Doch – Hören Sie? – Was ist das für ein Geschrei?“
Wir waren nicht weit vom Hause stehen geblieben. Aus den offenen Fenstern drangen Gekreisch und ganz absonderliche Schreie in den Garten.
„Mein Gott!“ sagte sie erbleichend, „schon wieder! Ich ahnte es ja!“
„Sie ahnten es? Gestatten Sie mir noch eine Frage, Nastassja Jewgrafowna? Ich habe allerdings nicht das geringste Recht, sie zu stellen, aber des allgemeinen Wohles wegen entschließe ich mich dazu. Sagen Sie – es soll in mir begraben sein – sagen Sie mir ganz offen: ist mein Onkel in Sie verliebt?“
„Ach glauben Sie doch, bitte, nicht an solchen Unsinn!“ rief sie heftig aus und errötete vor Unwillen. „Nun fangen auch Sie damit an! Wenn er mich lieben würde, so hätte er mich doch nicht Ihnen angeboten,“ fügte sie mit bitterem Lächeln hinzu. „Und wie kommen Sie überhaupt darauf? Begreifen Sie denn wirklich nicht, um was es sich hier handelt? Hören Sie dieses Geschrei?“
„Aber ... das ist ja Foma Fomitsch ...“
„Natürlich Foma Fomitsch! Jetzt streiten sie sich dort um meinetwillen; denn sie sagen ja dasselbe, was Sie soeben sagten, denselben Unsinn: sie argwöhnen, daß er in mich verliebt sei! Und da ich arm und gering bin, und es folglich nichts kostet, mich mit Schmutz zu bewerfen, so wollen sie ihn mit einer anderen verheiraten – und daher verlangen sie, daß er mich zur Sicherheit nach Haus, zu meinem Vater schicke. Wenn man ihm aber damit kommt, so gerät er sofort außer sich – ich glaube, er wäre sogar fähig, Foma Fomitsch zu zerreißen. Und nun streiten sie sich wieder darum! Ich fühle es, daß es sich wieder um mich handelt.“
„So ist also alles wahr? Dann wird er diese Tatjana heiraten?“
„Nun, dieses verrückte Frauenzimmer.“
„Ich bitte Sie, Tatjana Iwanowna ist durchaus nicht verrückt! Sie ist ein sehr guter Mensch. Und Sie haben kein Recht, so von ihr zu sprechen! Sie hat ein edles Herz, ein edleres, als es manch einer hat. Sie ist nicht schuld daran, daß sie unglücklich ist.“
„Verzeihen Sie. Nehmen wir an, daß Sie hierin vollkommen recht haben; aber täuschen Sie sich dann nicht in der Hauptsache? Wie kommt es denn, sagen Sie doch, – daß zum Beispiel Ihr Herr Vater, wie ich bemerkt habe, so freundlich von ihnen empfangen wird! Denn – wenn sie sich wirklich dermaßen über Sie ärgerten, wie Sie versichern, und wenn man Sie sogar aus dem Hause schicken wollte, dann würde man sich doch auch über ihn ärgern und ihn schlecht empfangen.“
„Aber haben Sie denn nicht gesehen, was mein Vater für mich tut? Er erniedrigt sich doch bis zum Narren vor ihnen! Er wird nur deshalb empfangen, weil er Foma Fomitsch schmeichelt; da dieser Foma Fomitsch selbst eine Narrenrolle gespielt hat, so freut es ihn, wenn nun auch er seine Narren hat. Was glauben Sie denn, warum mein Vater es tut? – Nur um meinetwillen, einzig und allein für mich tut er es! Er hat es nicht nötig, seinetwegen wird er keinem einen unnützen Bückling machen. Vielleicht erscheint er manchem sehr lächerlich; ich weiß aber, daß er der ehrenhafteste und edelste Mensch ist. Er glaubt, weiß Gott aus welchem Grunde – jedenfalls aber nicht deshalb, weil ich hier ein gutes Gehalt bekomme – das schwöre ich Ihnen ...! er glaubt, daß es für mich besser sei, wenn ich in diesem Hause bleibe. Aber jetzt habe ich ihn vom Gegenteil überzeugt. Ich hatte ihm in sehr bestimmtem Ton geschrieben; und deshalb ist er heute hergekommen, um mich mitzunehmen. Und wenn es darauf ankommt, so fahre ich morgen fort. Ich bin ja doch schon zum Äußersten getrieben. Die da – die würden froh sein, wenn sie mich verschlingen könnten. Ich weiß, daß ich die Ursache ihres Streites bin. Sie zermalmen ihn nur deswegen, und nur weil ich hier bin, werden sie ihn unglücklich machen! Er aber ist mir ein zweiter Vater, hören Sie! – sogar mehr als mein leiblicher Vater! Ich will es nicht so weit kommen lassen. Ich sehe weiter voraus als andere; denn ich weiß mehr. Nein, morgen, morgen noch werde ich fortfahren! Vielleicht werden sie dann wenigstens seine Hochzeit mit Tatjana Iwanowna auf einige Zeit noch hinausschieben ... Jetzt habe ich Ihnen alles gesagt. Und nun sagen Sie ihm das wieder; denn ich kann jetzt nicht mehr mit ihm sprechen: wir werden beobachtet ... von der Perepelizyna. Sagen Sie ihm, daß er sich nicht beunruhigen soll, daß ich lieber schwarzes Brot essen und in der Hütte meines Vaters leben, als die Ursache seiner Folter sein will. Ich bin arm und folglich muß ich auch so leben wie Arme. Aber, Gott, welch ein Geschrei! Was mag dort wieder vor sich gehen? ... Nein, was daraus auch entstehen mag, ich gehe hin! Ich werde ihnen alles offen ins Gesicht sagen, gleichviel, was dann geschieht! Ich muß es tun! Leben Sie wohl.“
Sie lief fort. Ich stand immer noch auf demselben Fleck, war mir vollkommen der Lächerlichkeit der Rolle, die ich soeben gespielt hatte, bewußt und konnte mir nicht denken, wie sich der Knoten lösen sollte. Das arme Mädchen tat mir aufrichtig leid, und ich fürchtete für meinen Onkel. Da bemerkte ich plötzlich, daß Gawrila vor mir stand. Er hielt immer noch sein Vokabelheft in der Hand.
„Jegor Iljitsch lassen bitten,“ sagte er mit wehmütiger Stimme.
Da kam ich wieder zur Besinnung.
„Wie – ich soll zu meinem Onkel? Wo ist er jetzt? Was ist mit ihm geschehen? Wo ist er?“
„Im Teezimmer.“
„Und wer ist bei ihm?“
„Sie sind allein und warten.“
„Auf wen? Auf mich?“
„Sie haben nach Foma Fomitsch geschickt ... Ach ja! unsere guten Tage sind jetzt gewesen!“ fügte er tief aufseufzend hinzu.
„Nach Foma Fomitsch? Hm! Aber wo sind die anderen? Wo ist die Gnädige?“
„Sie sind in ihrer Hälfte. Sie geruhten, in Ohnmacht zu fallen, und jetzt liegen sie bewußtlos da und weinen.“
Inzwischen hatten wir die Terrasse erreicht. Es war fast schon ganz dunkel. Mein Onkel war tatsächlich ganz allein im Teesalon und ging in ihm mit großen Schritten auf und ab. Auf dem Tisch brannten Lichter. Als er mich erblickte, eilte er mir entgegen und erfaßte meine Hände. Er war bleich und atmete schwer. Seine Hände bebten. Von Zeit zu Zeit lief ein nervöses Zucken über seinen ganzen Körper.
„Mein Freund! Alles ist zu Ende, alles ist zu Ende!“ sagte mein Onkel halblaut mit einer fast tragischen Stimme.
„Onkel ... ich hörte vorhin eigentümliche Schreie.“
„Gewiß, Freund, eigentümliche Schreie, – hier hat es alle möglichen Schreie gegeben! Mama ist in Ohnmacht gefallen, und dort steht jetzt alles auf dem Kopf. Aber ich habe mich entschlossen und bestehe auf dem meinen. Jetzt fürchte ich nichts mehr, Ssergei. Ich will ihnen beweisen, daß auch ich Charakter habe, und ich werde es beweisen! Darum habe ich absichtlich nach dir geschickt, damit du mir hilfst, es ihnen zu beweisen ... Mein Herz ist wund, mein junger Freund ... aber ich muß! Es ist geradezu meine Pflicht, mit aller Strenge vorzugehen! Gerechtigkeit ist unerbittlich!“
„Aber was ist denn vorgefallen, Onkel?“
„Ich trenne mich von Foma,“ antwortete mein Onkel mit entschlossener Stimme.
„Onkel!“ rief ich begeistert aus, „auf etwas Besseres hätten Sie ja überhaupt nicht verfallen können! Und wenn ich nur irgendwie zur Ausführung Ihres Entschlusses beitragen kann, so ... verfügen Sie ewig über mich!“
„Ich danke dir, Freund, ich danke dir! Aber jetzt ist alles beschlossen. Ich erwarte Foma. Ich habe schon nach ihm geschickt. Entweder er oder ich! Wir müssen auseinandergehen. Entweder verläßt Foma morgen das Haus, oder – ich schwöre es – ich verlasse hier alles und trete wieder in mein Husarenregiment ein! Mich wird man schon nehmen. Man wird mir schon einen Platz geben! Zum Teufel mit diesem ganzen System! Jetzt geht es nach neuen Grundsätzen! ... Wozu hältst du da noch immer dein französisches Heft in der Hand?“ schrie er plötzlich heftig den alten Gawrila an. „Fort damit! Verbrenn es, zerstampf es, zerreiß es! Ich bin dein Herr, und ich befehle dir, französisch nicht zu lernen! Mir mußt du gehorchen; denn ich bin dein Herr und nicht Foma Fomitsch!“
„Gott sei gelobt und gedankt!“ murmelte Gawrila vor sich hin.
Die Sache schien wirklich ernst zu werden.
„Mein Freund!“ fuhr mein Onkel mit tiefem Gefühl fort, „sie verlangen Unmögliches von mir! Du sollst mich richten, du sollst jetzt zwischen ihnen und mir wie ein unparteiischer Richter stehen ... Du weißt nicht, du weißt nicht, was sie von mir wollten, und was sie schließlich ganz ausdrücklich bereits von mir verlangten! Jetzt haben sie alles offen ausgesprochen! Aber das ist wider die Nächstenliebe, wider Anstand und Ehre ... Ich werde dir alles erzählen, aber zuerst ...“
„Ich weiß bereits alles, Onkel,“ unterbrach ich ihn, „oder ich errate es wenigstens ... Ich habe soeben mit Nastassja Jewgrafowna gesprochen.“
„Freund, kein Wort, jetzt kein Wort davon!“ unterbrach er mich eilig, als hätte ich ihn erschreckt. „Ich werde dir später alles selbst erzählen, aber vorläufig ... Nun was?“ rief er den eingetretenen Widopljässoff an, „wo ist Foma Fomitsch?“
Widopljässoff meldete, daß Foma Fomitsch „nicht zu kommen wünschten und die Forderung, zu erscheinen, unerhört beleidigend fänden, so daß sie, Foma Fomitsch, sich sehr gekränkt zu fühlen geruhten“.
„Bring ihn her! Schlepp ihn an! Her mit ihm! Mit Gewalt schleif ihn her!“ schrie mein Onkel, und er stampfte mit dem Fuß auf.
Widopljässoff, der seinen Herrn noch nie in einem solchen Zorn gesehen hatte, zog sich erschreckt zurück. Ich wunderte mich.
„Dann muß es sich doch um etwas sehr Wichtiges handeln,“ dachte ich, „wenn ein Mensch mit einem so weichen Charakter in eine solche Wut geraten kann und so energisch seinen Entschluß durchsetzen will.“
Schweigend ging mein Onkel eine Weile auf und ab, als kämpfe er innerlich mit sich selbst.
„Du, zerreiß übrigens nicht das Heft,“ sagte er schließlich zu Gawrila. „Wart noch etwas und bleibe auch hier: du wirst vielleicht nötig sein. Freund!“ fuhr er fort, sich wieder an mich wendend, „ich bin, glaube ich, doch etwas zu laut gewesen. Jede Sache muß man würdig und männlich tun, und ohne zu schreien, ohne Beleidigungen. Ja, so muß man’s tun. Weißt du, Ssergei: würde es nicht besser sein, wenn du so lange fortgingst? Dir kann es doch gleichgültig sein, nicht? – denn ich werde dir später ja doch alles erzählen – was? Was meinst du? tu es mir zuliebe, bitte!“
„Sie fürchten sich, Onkel? Sie bereuen es?“ fragte ich und sah ihn aufmerksam an.
„Nein, nein, mein Freund, ich bereue nichts!“ rief er mit doppelter Lebhaftigkeit aus. „Jetzt fürchte ich nichts mehr. Ich habe entscheidende Maßregeln getroffen, die entscheidendsten! Du weißt nicht, du kannst es dir nicht vorstellen, was sie von mir verlangt haben! Hätte ich denn wirklich einwilligen sollen? Nein, ich werde es beweisen! Ich habe mich frei gemacht und werde es beweisen! Irgendeinmal hätte ich es doch beweisen müssen! Aber, weißt du, Freund, ich bereue es, daß ich dich habe rufen lassen: es könnte Foma sehr schwer werden ... wenn auch du zugegen bist ... sozusagen als Zeuge seiner Erniedrigung. Sieh mal, ich will ihm in einer anständigen Form meine Gastfreundschaft kündigen, aber ohne jede Beleidigung oder Erniedrigung. Aber, sieh, das kann ich doch nur so sagen, bloß sagen, daß ich es ohne Beleidigung tun will; denn die Sache an sich, Freund, ist und bleibt doch derart, daß sie, auch wenn du sie mit noch so honigsüßen Worten ausschmückst, immerhin kränkt. Und dazu bin ich noch ein roher, ungebildeter Mensch; da kann es denn geschehen, daß ich aus Dummheit irgend etwas sage, worüber ich mein Lebtag nicht wieder froh sein werde. Er hat doch immerhin viel für mich getan ... Geh, Freund, bitte! ... Da kommt er schon, da bringt man ihn schon! Ssergei, ich bitte dich, geh fort! Ich werde dir später alles erzählen. Geh, um Christi willen, geh!“
Und mein Onkel schob mich auf die Terrasse hinaus – fast im selben Augenblick, als Foma ins Zimmer trat.
Doch nun muß ich eines gestehen: Ich ging nicht fort: ich beschloß, auf der Terrasse zu bleiben, wo man mich in der Dunkelheit, vom Zimmer aus, kaum sehen konnte: ich nahm mir vor, zu lauschen!
Ich will meine Handlungsweise nicht weiter zu rechtfertigen suchen; aber ich darf wohl sagen, daß ich, indem ich diese halbe Stunde dort auf der Terrasse aushielt, ohne die Geduld zu verlieren und ins Zimmer zu stürzen – die Heldentat eines Märtyrers vollbrachte. Von meinem Versteck aus konnte ich nicht nur gut hören, ich konnte auch das ganze Zimmer übersehen: ich war ja nur durch eine Glastür von ihnen getrennt.
Jetzt bitte ich nur, sich einen Foma Fomitsch vorzustellen, dem befohlen worden war, zu erscheinen – und das noch mit der Androhung sofortiger Gewaltanwendung, falls er nicht freiwillig kommen wollte.
„War es für meine Ohren bestimmt, diese Drohung zu vernehmen, Oberst?“ brüllte Foma, als er ins Zimmer trat. „Habe ich recht gehört?“
„Für deine, für deine Ohren, Foma, beruhige dich,“ antwortete mein Onkel mutig. „Setz dich, laß uns einmal ernst, freundschaftlich, brüderlich miteinander reden. Setz dich doch, Foma.“
Foma Fomitsch ließ sich feierlich auf einen Lehnstuhl nieder. Mein Onkel ging mit schnellen, ungleichen Schritten im Zimmer auf und ab, offenbar wußte er nicht, wie er anfangen sollte.
„Eben brüderlich,“ wiederholte er. „Du wirst mich verstehen, Foma, du bist kein Kind. Ich bin auch kein Kind – mit einem Wort, wir sind beide in den Jahren ... Hm! Sieh, Foma, wir stimmen in manchen Punkten nicht ganz überein ... ja, eben in manchen Punkten, und darum, Foma – sollte es da nicht besser sein, Freund, wenn wir auseinandergingen? Ich bin überzeugt, daß du edelmütig bist, daß du mein Bestes willst, und darum ... Aber wozu soviel Worte! Foma, ich werde ewig dein Freund sein, ich schwöre es dir bei allem, was mir heilig ist! Hier sind fünfzehntausend Rubel, das ist alles, Freund, was ich habe flüssig machen können, habe das Letzte zusammengescharrt und noch den Meinen abgenommen. Nimm es ruhig! Ich muß, ich bin verpflichtet, dich sicherzustellen! Hier ist der Betrag, fast nur in Kassenscheinen. Nimm es ruhig! Du wirst mir deshalb nichts schulden; denn ich werde dir ja sowieso niemals all das entgelten können, was du für mich getan hast. Ja, ja, eben, ich fühle es, wenn wir auch jetzt im Hauptpunkte auseinandergehen. Morgen oder übermorgen ... oder wann es dir recht ist ... gehen wir auseinander. Fahr in unser Städtchen, Foma, es ist ja nicht weit von hier, einige zehn Werst nur. Dort ist ein Häuschen neben der Kirche, gleich in der ersten Querstraße, mit grünen Läden und weißen Fensterrahmen, ein allerliebstes Häuschen. Es gehört der Witwe des früheren Geistlichen, es ist für dich wie geschaffen. Sie will es verkaufen. Ich werde es für dich erstehen, natürlich nicht von diesem Gelde. Richte dich dort gemütlich ein, nicht weit von uns. Beschäftige dich mit der Literatur, mit der Wissenschaft: du wirst berühmt werden ... Die Beamten sind dort im Städtchen ohne Ausnahme ehrenwerte, freundliche, uneigennützige Leute. Der Geistliche ist ein gelehrter Mann. Zu den Feiertagen kommst du zu uns gefahren, zum Besuch – und wir leben wie im Paradiese! Bist du einverstanden?“
„Also unter solchen Zugeständnissen wird Foma aus dem Hause geschafft!“ dachte ich. „Vom Gelde hat er mir nichts gesagt.“
Lange Zeit herrschte tiefe Stille. Foma saß wie betäubt im Lehnstuhl und blickte unverwandt meinen Onkel an, der sich unter diesem Schweigen und diesem Blick augenscheinlich sehr unbehaglich fühlte.
„Geld!“ hauchte schließlich Foma mit einer gemacht schwachen Stimme. „Wo ist es denn, wo ist denn dieses Geld? Geben Sie es her, geben Sie es nur schneller her!“
„Hier ist es, Foma: alles, was ich in bar habe, rund fünfzehntausend, alles, was ich habe auftreiben können. In Banknoten und Wertpapieren – du wirst schon selbst sehen ... hier!“
„Gawrila! Nimm dieses Geld,“ sagte Foma demütig, „es kann dir, Alter, einmal zustatten kommen. – Doch nein!“ rief er plötzlich mit einer Stimme aus, in der noch ein ganz besonderer kreischender Ton mitklang, und er sprang auf – „nein! Gib es mir zurück, Gawrila! Gib es mir, dieses Geld! Gib es mir! Gib mir diese Millionen, damit ich sie mit meinen Füßen in den Staub trete, gib sie mir, damit ich sie zerreiße, bespeie, in alle Winde zerstreue, beschmutze, schände! ... Mir, mir bietet man Geld an! Man will mich – bestechen, damit ich dieses Haus verlasse! Habe ich recht gehört? Darf ich meinen Ohren trauen? Warum mußte ich noch diese Schmach erleben! Hier, hier sind sie, Ihre Millionen! Sehen Sie: hier, hier, hier und hier! Sehen Sie: so handelt Foma Opiskin, wenn Sie es bis jetzt noch nicht gewußt haben, Oberst!“
Und Foma streute das ganze Geld auf dem Fußboden aus. Bemerkenswert war nur, daß er keine einzige Banknote weder zerriß noch bespie, wie er es zuerst angekündigt hatte, er verknitterte sie nur ein wenig, und auch das tat er ersichtlich ziemlich vorsichtig. Gawrila stürzte sofort hinzu, um das Geld aufzusammeln, das er dann später, nach Fomas Fortgang, seinem Herrn wieder einhändigte.
Diese Handlungsweise Fomas machte meinem Onkel buchstäblich starr vor Verwunderung. Er stand unbeweglich, verständnislos, mit halboffenem Munde vor Foma. Dieser hatte sich inzwischen wieder auf seinen Lehnstuhl niedergelassen und atmete keuchend, ganz als befände er sich in unbeschreiblicher Aufregung.
„Du bist ein erhabener Mensch, Foma!“ rief endlich mein Onkel aus, wie aus einem Traum erwachend. „Du bist der edelste Mensch der Welt!“
„Das weiß ich,“ antwortete Foma mit ergebener Stimme, doch mit unendlicher Würde.
„Foma, vergib mir! Ich bin ein Schuft vor dir, Foma!“
„Ja, vor mir,“ bestätigte Foma.
„Hör, Foma, nicht über deinen Edelmut wundere ich mich,“ fuhr mein Onkel begeistert fort, „sondern darüber, daß ich dermaßen roh, blind und niedrig sein konnte, dir Geld unter solchen Bedingungen anzubieten. Aber, Foma, nur in einem täuschst du dich: ich habe dich nicht bestechen wollen, nicht dir dafür zahlen wollen, wenn du das Haus verließest, sondern ich wollte nur, daß du Geld hättest, daß du nicht Not zu leiden brauchtest, wenn du von mir fortgingst. Das schwöre ich dir! Auf den Knien, auf den Knien bin ich bereit, dich um Verzeihung zu bitten, Foma, und wenn du willst, werde ich sogleich vor dir niederknien ... wenn du nur willst ...“
„Ich brauche Ihr Knien nicht, Oberst! ...“
„Aber, mein Gott! ... Foma, du mußt doch verstehen: ich war doch aufgebracht, war von Sinnen, war außer mir ... Aber so sage mir, womit ich diese Kränkung wieder gutmachen könnte? Belehre mich, sag es doch ...“
„Mit nichts, mit nichts Oberst! Und seien Sie überzeugt, daß ich morgen noch, auf der Schwelle dieses Hauses, den Staub von meinen Füßen schütteln werde.“
Und Foma begann sich langsam aus dem tiefen Lehnstuhl zu erheben. Als mein Onkel das sah, stürzte er entsetzt zu ihm und versuchte ihn wieder zum Sitzen zu bringen.
„Nein, Foma, du wirst nicht fortgehen, ich flehe dich an! Was redest du da von Staub und Füßen, Foma! Du wirst nicht fortgehen, oder ich folge dir bis ans Ende der Welt und werde dir so lange folgen, bis du mir endlich verzeihst ... Ich schwör dir, Foma, daß es so sein wird!“
„Ihnen verzeihen?“ fragte Foma, „aber begreifen Sie denn noch immer nicht Ihre ganze Schuld vor mir? Begreifen Sie denn nicht, daß Sie mit jedem Stück Brot, daß Sie mir hier gegeben haben, schuldig vor mir geworden sind? Begreifen Sie denn nicht, daß Sie in dieser einen Minute alle jene Brotstücke, die ich früher hier in diesem Hause gegessen habe, nachträglich mit Gift vergiftet haben? Sie haben mir soeben einen Vorwurf wegen dieser Brotstücke gemacht, wegen jedes Bissens, den ich hier zu mir genommen! Sie haben mir soeben gezeigt, daß ich hier in Ihrem Hause wie ein Knecht, wie ein Diener, wie ein Putzlappen Ihrer Lackstiefel gelebt habe! Währenddessen habe ich in meiner Herzensreinheit bis jetzt geglaubt, daß ich in Ihrem Hause als Freund, als Bruder lebte! Haben Sie mich nicht selbst, nicht selbst mit Ihren Schlangenreden tausendmal dieser Brüderschaft versichert? Warum haben Sie denn heimlich hinter meinem Rücken diese Netze gestrickt, in denen ich nun wie ein Tölpel gefangen bin? Warum haben Sie mir in der Dunkelheit diese Wolfsgruben gegraben, in die Sie mich jetzt noch eigenhändig hineinstoßen? Warum haben Sie mich nicht mit einem einzigen, kurzen Schlage niedergestreckt, mit einem Schlage dieser Keule? Warum haben Sie mir nicht gleich zu Anfang den Kopf umgedreht, wie einem Hahn, zur Strafe dafür, daß er ... nun, sagen wir, keine Eier legt? Ja, gerade so verhält es sich! Ich bestehe auf diesem Vergleich, Oberst, wenn er auch dem Provinzleben entnommen ist und durch seinen trivialen Ton an die zeitgenössische Literatur erinnert: ich bestehe deshalb auf ihm, weil er so anschaulich die ganze Sinnlosigkeit Ihrer Beschuldigungen zeigt; denn ich bin vor Ihnen genau so wenig schuldig wie dieser Hahn, der durch seine Unfähigkeit zum Eierlegen den Unwillen seines leichtsinnigen Besitzers erregt. Ich bitte Sie, Oberst! – zahlt man denn einem Freunde, einem Bruder Geld – und wofür noch? Die Hauptsache ist doch dieses: wofür! ‚Hier, nimm, mein geliebter Bruder, ich schulde dir viel: du hast sogar mein Leben gerettet; hier hast du ein paar Judassilberlinge, aber pack dich jetzt aus meinem Hause!‘ Wie naiv! Wie roh Sie mich behandelt haben! Sie glaubten, daß ich nach Ihrem Golde trachtete, während ich nur paradiesische Gefühle nährte und mich um Ihr Wohlergehen sorgte. Oh, wenn Sie wüßten, wie Sie mein Herz verwundet haben! Mit meinen edelsten Gefühlen haben Sie gespielt wie ein Knabe mit einem Käfer, den er durchbohrt! Schon lange, schon lange, Oberst, habe ich das jetzt Eingetroffene vorausgesehen. Das war auch der Grund, warum ich schon lange an Ihrem Brot zu ersticken meinte, warum dieses Brot mir innere Pein verursachte! Das ist auch der Grund, warum Ihre Daunenkissen mich drückten, ja, mich drückten, statt mir ein weiches Lager zu sein! Das war der Grund, weshalb Ihr Zucker, Ihre Konfitüren mir wie Pfeffer schmeckten, nicht aber wie Süßigkeiten! Nein, Oberst! Leben Sie hinfort allein, seien Sie allein selig und lassen Sie Foma einsam seinen traurigen Weg gehen, mit einem kleinen Kleiderbündel auf dem Rücken. So wird es sein, Oberst!“
„Nein, Foma, nein! So wird es nicht sein, so kann es nicht sein!“ stöhnte mein unglücklicher Onkel.
„Doch, Oberst, doch! Gerade so wird es sein; denn so muß es sein. Morgen noch werde ich Sie verlassen. Breiten Sie alle Ihre Millionen aus, bedecken Sie die ganze Landstraße bis Moskau mit Banknoten – ich werde stolz und verachtend über Ihr Geld dahinschreiten! Hier, dieser selbe Fuß, Oberst, wird diese Banknoten zertreten, in den Schmutz treten, und Foma Opiskin wird einzig von seinem Seelenadel satt sein! Ich habe es gesagt und – bewiesen! Leben Sie wohl, Oberst! Le–ben – Sie wohl, Oberst!“
Und Foma begann von neuem sich zu erheben.
„Verzeih mir, Foma, vergib mir! Vergiß, was ich getan!“ bat mein Onkel mit flehender Stimme.
„‚Vergib!‘ Was liegt Ihnen an meiner Vergebung? Nun gut, nehmen wir an, ich vergebe Ihnen: ich bin Christ, ich kann Ihnen schlechterdings meine Vergebung nicht vorenthalten, – ich habe Ihnen ja auch jetzt schon fast verziehen. Aber urteilen Sie selbst: wäre es denn auch nur irgendwie mit der gesunden Vernunft und dem Seelenadel vereinbar, wenn ich jetzt noch eine Minute in Ihrem Hause bliebe? Sie haben mich doch aus dem Hause fortgetrieben!“
„Ach, gewiß ist es vereinbar, Foma, gewiß ist es vereinbar! Ich versichere dir, daß es vereinbar ist!“
„Vereinbar? Aber sind wir denn jetzt noch Gleichstehende? Begreifen Sie denn wirklich nicht, daß ich Sie mit meinem Edelmut sozusagen vernichtet habe – und daß Sie sich selbst durch Ihre niedrige Handlung erniedrigt haben? Sie sind in den Staub geworfen und ich bin erhoben worden. Wo kann hier jetzt noch von Gleichheit die Rede sein? Wie aber kann es ohne diese Gleichheit eine Freundschaft geben? Ich frage es mit einem Schmerzensschrei, nicht aber triumphierend, wie Sie vielleicht wähnen.“
„Aber ich stoße ja selbst einen Schmerzensschrei aus, Foma, ich versichere dich! ...“
„Und das ist derselbe Mensch,“ fuhr Foma fort, den strengen Ton in einen andächtig-frommen verwandelnd, „derselbe Mensch, um dessentwillen ich so viele Nächte nicht geschlafen habe! Wie oft, wie oft habe ich mich in meinen schlaflosen Nächten von meinem Lager erhoben, das Nachtlicht angezündet und zu mir gesagt: ‚Jetzt schläft er ruhig und verläßt sich auf dich. So schlafe denn nicht, Foma, und wache du für ihn, vielleicht wirst du noch etwas zu seinem Wohle ersinnen.‘ So dachte Foma Opiskin in seinen schlaflosen Nächten, Oberst! Und so wird er dafür von diesem selben Obersten belohnt! Doch genug, genug! ...“
„Aber ich werde, Foma, ich werde mir deine Freundschaft wieder verdienen, das schwör’ ich dir!“
„Verdienen? Sie wollen sie wieder verdienen? Welche Gewähr können Sie mir geben? Als Christ, der ich bin, verzeihe ich Ihnen und werde Sie sogar lieben – als Mensch aber, und als edler Mensch, werde ich Sie unwillkürlich verachten. Ich muß es, es ist meine Pflicht, um der Sittlichkeit willen; denn – ich wiederhole es – Sie haben sich selbst in den Schmutz getreten, und ich habe die edelste Tat vollbracht. Wer von den Ihrigen würde eine ähnliche Tat je vollbringen können? Wer von ihnen würde auf eine so ungeheure Summe Geldes freiwillig verzichten, auf eine Summe, auf die der bettelarme, von allen verachtete Foma Opiskin aus Liebe zu seiner Seelengröße indessen verzichtet hat? Nein, Oberst, um sich als Gleichstehender mit mir messen zu können, müßten Sie jetzt eine ganze Reihe von großen Taten, von Heldentaten vollbringen. Zu welch einer Heldentat aber sind Sie fähig, wenn Sie nicht einmal in der Anrede ‚Sie‘ zu mir sagen können, wie zu einem Gleichstehenden, sondern stets ‚du‘ zu mir sagen, wie zu einem Diener?“
„Aber Foma, ich habe doch nur aus Freundschaft du zu dir gesagt!“ rief mein Onkel aus. „Ich ahnte es nicht, daß es dir unangenehm sein könnte ... Mein Gott! Wenn ich es nur geahnt hätte ...“
„Sie,“ fuhr Foma unerschütterlich fort, „Sie, der Sie nicht einmal die geringste, die geringfügigste Bitte erfüllen konnten oder richtiger – nicht erfüllen wollten, als ich Sie bat, mich wie einen General ‚Eure Exzellenz‘ zu nennen ...“
„Aber, Foma, das wäre doch sozusagen schon ein höherer Eingriff ...“
„Ein höherer Eingriff! Da haben Sie nun irgendeine Bücherphrase auswendig gelernt und behalten: und die wiederholen Sie jetzt wie ein Papagei! Wissen Sie denn nicht, daß Sie mich beschimpft, entehrt haben mit Ihrer Weigerung, mich ‚Exzellenz‘ zu nennen, jawohl: entehrt! Denn indem Sie meine Gründe nicht begriffen, stellten Sie mich als launischen Dummkopf bloß, der es verdient hat, in die Irrenanstalt zu kommen! Glauben Sie denn, ich begriffe nicht, daß ich lächerlich wäre, wenn ich mich Exzellenz betiteln ließe, ich, der ich alle diese Titel und irdischen Auszeichnungen verachte, alle diese Ehrungen, die an sich vollkommen wertlos und nichtig sind, wenn sie nicht durch die Tugend geheiligt werden? Für keine Million würde ich den Adel eines Generals ohne diese Tugend annehmen! Und Sie, Sie hielten mich für einen Wahnsinnigen! Nur zu Ihrem Vorteil opferte ich meine Eigenliebe und ließ es zu, daß Sie, Sie mich für einen Wahnsinnigen halten konnten, Sie und Ihre Gelehrten! Einzig zu dem Zweck, um Ihren Verstand zu erleuchten, Ihre Sittlichkeit zu entwickeln und Sie mit dem Strahlenlicht neuer Ideen zu überschütten, entschloß ich mich, von Ihnen die Anrede ‚Exzellenz‘ zu fordern. Ich wollte nur, daß Sie hinfort nicht mehr die Generäle für die höchsten Koryphäen oder Gestirne unseres Erdballes hielten; ich wollte Ihnen beweisen, daß der Titel ohne Größe – nichts ist, und daß kein Grund vorhanden war, sich dermaßen über den Besuch Ihres Generals zu freuen, wenn neben Ihnen Menschen leben, die im Glanze der Tugend leuchten! Aber Sie haben sich ja stets so gebrüstet vor mir mit Ihrem Oberstentitel, daß es Ihnen gar zu schwer fiel, ‚Ew. Exzellenz‘ zu mir zu sagen. Das war der Grund Ihrer Weigerung! Hierin muß man den wahren Grund suchen, nicht aber in irgendwelchen Eingriffen in das heilige Reglement! Der ganze Grund war der, daß Sie Oberst sind, ich aber nur Foma Opiskin bin ...“
„Nein, Foma, nein! Ich versichere dich, daß es sich nicht so verhielt. Du bist ein Gelehrter, du bist nicht ein gewöhnlicher Foma ... ich achte dich ...“
„Achten, mich? Nun gut! Dann sagen Sie mir doch, wenn Sie mich so achten, Ihre volle Meinung: bin ich des Generalstitel wert, bin ich seiner würdig oder unwürdig? Antworten Sie mir bestimmt und ohne zu zögern: ja oder nein? Ich will bei der Gelegenheit Ihren Verstand, Ihre geistige Entwicklung prüfen.“
„Für deine Ehrlichkeit, deine Uneigennützigkeit, deinen Verstand, deinen unvergleichlichen Edelmut – gewiß!“ antwortete mein Onkel stolz.
„Und wenn ich ihn verdient habe, weshalb sagen Sie dann nicht ‚Ew. Exzellenz‘ zu mir?“
„Foma, wenn du willst ... werde ich alles sagen ...“
„Ich verlange es! Jetzt verlange ich es, Oberst, ich bestehe darauf und fordere es von Ihnen! Ich sehe, daß es Ihnen schwerfällt, und deshalb verlange ich es. Dieses Opfer Ihrerseits wird der erste Schritt zu einer großen Tat sein; denn – vergessen Sie das nicht! – Sie werden eine ganze Reihe von großen Taten vollbringen müssen, um sich mit mir messen zu können. Sie müssen sich selbst überwinden, dann erst werde ich an Ihre Aufrichtigkeit glauben ...“
„Morgen, Foma, werde ich ‚Exzellenz‘ zu dir sagen!“
„Nein, nicht morgen, Oberst, morgen versteht es sich von selbst. Ich fordere von Ihnen, daß Sie hier, jetzt gleich, hier auf der Stelle, ‚Ew. Exzellenz‘ zu mir sagen.“
„Wie du willst, Foma, ich bin bereit ... Nur ... wie soll ich denn das, Foma? So ... ohne weiteres ... jetzt gleich?“
„Weshalb denn nicht jetzt? Oder schämen Sie sich etwa? In dem Falle ist es eine neue Kränkung, wenn Sie sich schämen.“
„Nun, dann ... gut, Foma, ich bin bereit ... ich bin sogar stolz darauf ... Nur ... wie soll ich denn, Foma, so ohne weiteres? Ich kann doch nicht sagen: ‚Guten Tag, Exzellenz‘, – das geht doch nicht ...“
„Nein, nicht ‚guten Tag, Exzellenz‘, das ist wieder ein beleidigender Ton. Das erinnert an einen Scherz, an eine Farce. Ich erlaube aber nicht, daß man mit mir scherzt. Besinnen Sie sich, Oberst, besinnen Sie sich sofort! Ändern Sie Ihren Ton!“
„Du willst doch nicht, Foma –?“
„Erstens bitte ich, mich nicht zu duzen, Jegor Iljitsch, – Sie haben mich mit ‚Sie‘ anzureden, vergessen Sie das nicht. Und nicht Foma, sondern Foma Fomitsch.“
„Aber, bei Gott, ich freue mich, Foma Fomitsch! Ich freue mich ... aus allen Kräften ... Nur – was soll ich denn sagen?“
„Es macht Ihnen offenbar große Schwierigkeiten, Ihren Worten ‚Exzellenz‘ hinzuzufügen – das sehe ich. Das ist einerseits sogar verzeihlich, namentlich wenn der Mensch ... kein Schriftsteller ist – höflich ausgedrückt. Nun, ich werde Ihnen helfen, weil Sie kein Schriftsteller sind. Sprechen Sie mir jetzt nach: ‚Eure Exzellenz‘ ...“
„Nun, ‚Eure Exzellenz‘.“
„Nein, nicht: ‚nun, Eure Exzellenz‘, sondern einfach: ‚Eure Exzellenz!‘ Ich sage Ihnen nochmals, Oberst, ändern Sie Ihren Ton! Auch hoffe ich, daß Sie sich nicht beleidigt fühlen werden, wenn ich Sie auffordere, sich bei dieser Gelegenheit leicht zu verbeugen und gleichzeitig den Körper ein wenig nach vorn zu neigen, um auf diese Weise Ihre Ehrerbietung auszudrücken und sozusagen Ihre Bereitschaft, auf den leisesten Wink hin, gleichsam zu fliegen, um meinen Befehl auszuführen. Ich habe selbst in Generalskreisen verkehrt und kenne das ... Nun also: ‚Eure Exzellenz‘.“
„Eure Exzellenz.“
„‚Wie unsäglich freut es mich, endlich Gelegenheit zu haben und um Entschuldigung dafür bitten zu können, daß ich nicht sogleich den wahren Seelenrang Eurer Exzellenz erkannt habe. Ich erlaube mir, zu versichern, daß ich hinfort meine schwachen Kräfte zum allgemeinen Nutzen nicht schonen werde ...‘ So, das mag vorläufig genügen!“
Mein armer Onkel! Er mußte tatsächlich und wortwörtlich diese ganze Tirade Satz für Satz, Wort für Wort nachsprechen! Ich stand und errötete wie ein Schuldiger. Die Wut schnürte mir die Kehle zu.
„Nun, fühlen Sie jetzt nicht,“ fuhr der Henker fort, „daß es Ihnen plötzlich leichter ums Herz geworden ist, als ob in Ihrer Seele ein Engel sich niedergelassen hätte? ... Fühlen Sie diese Gegenwart eines Engels? Antworten Sie mir!“
„Ja, Foma, es scheint mir jetzt wirklich leichter zumute zu sein,“ antwortete mein Onkel.
„Als wäre Ihr Herz, nachdem Sie sich selbst überwunden haben, gleichsam in Öl untergetaucht!“
„Ja, Foma, es ist wirklich wie mit Butter bestrichen.“
„Wie mit Butter? Hm! ... Ich habe Ihnen von Butter nichts gesagt, sondern von Öl ... Nun, gleichviel! Sehen Sie jetzt, was das bedeutet, Oberst – erfüllte Pflicht! Überwinden, besiegen Sie sich nur! Sie sind eigenliebig, unendlich eigenliebig!“
„Ich weiß es, Foma, ich sehe es vollkommen ein,“ sagte mein Onkel aufseufzend.
„Sie sind ein Egoist und sogar ein großer, ein grausamer Egoist ...“
„Ich weiß es, Foma, auch das sehe ich ein; seitdem ich dich kenne, habe ich auch das eingesehen.“
„Und jetzt sage ich Ihnen, wie ein Vater, wie eine zärtliche Mutter ... Sie scheuchen alle von sich und vergessen, daß ein liebenswürdiges Kalb an zwei Kühen saugt.“
„Auch das ist wahr, Foma.“
„Sie sind roh. Sie drängen sich so roh in das Herz anderer Menschen, Sie drängen sich so eigenliebig der Aufmerksamkeit anderer auf, daß ein anständiger Mensch am liebsten auf dreißig Meilen von Ihnen fortlaufen würde.“
Mein Onkel seufzte noch einmal tief auf.
„Seien Sie also zärtlicher, aufmerksamer, liebenswürdiger gegen andere. Vergessen Sie sich für andere – sehen Sie, das ist meine Regel! Duldend mühe dich, bete und hoffe – das sind Wahrheiten, die ich gerne der ganzen Menschheit einprägen möchte! Eifern Sie ihnen nach, und dann werde ich Ihnen als erster mein Herz öffnen, werde an Ihrer Brust weinen ... falls es nötig sein sollte ... Denn sonst heißt es bei Ihnen nur ‚ich‘ und ‚ich‘ und ‚meine Gnade‘! Aber diese Ihre Gnade bekommt man doch schließlich satt, mit Erlaubnis zu sagen!“
„Welch ein Mensch!“ murmelte Gawrila, der an der Tür stand, voll Andacht.
„Das ist wahr, Foma, ich fühle es selbst,“ bestätigte mein Onkel gerührt. „Aber schließlich ist doch nicht alles nur meine Schuld! Ich bin so erzogen worden, habe unter Soldaten gelebt. Aber ich schwöre dir, Foma, auch ich verstand zu fühlen und zu empfinden. Als ich aus meinem Regiment trat und von der Truppe Abschied nahm, da hatten alle meine braven Husaren Tränen in den Augen, mein ganzes Regiment weinte fast, und sie sagten, einen solchen Vorgesetzten würden sie wohl nie wieder bekommen! ... Und so dachte ich damals, daß auch ich vielleicht dennoch kein ganz verlorener Mensch sei.“
„Wieder ein egoistischer Zug! Wieder ertappe ich Sie auf einem Beweise Ihrer Eigenliebe, Sie brüsten sich, und bei der Gelegenheit machen Sie mir noch wegen der Tränen Ihrer Husaren einen Vorwurf. Wie kommt es, daß ich mich niemals mit Tränen anderer brüste? Und doch, und doch – ich hätte so manchen guten Grund dazu.“
„Weißt du, das ist mir nur so entschlüpft, Foma, ich erinnerte mich der alten, guten Zeit – da hielt ich’s denn nicht aus und erzählte es dir jetzt.“
„Die gute Zeit fällt nicht vom Himmel, sondern wir selbst schaffen sie uns: sie ist in unserem Herzen enthalten, Jegor Iljitsch. Weshalb bin ich denn immer glücklich und trotz meiner Leiden zufrieden? Weshalb bin ich ruhig und werde niemandes überdrüssig, ausgenommen vielleicht der Dummköpfe und der sogenannten Gelehrten, die ich nicht schone und nie schonen werde. Ich liebe die Dummköpfe nicht. Und was sind denn diese Gelehrten? ‚Ein Mann der Wissenschaft!‘ Seine ganze ‚Wissenschaft‘ besteht ja nur in seiner ‚Gewissenshaft‘! Nun, was hat er denn vorhin gesprochen? Laßt ihn herkommen! Ihn und alle Gelehrten! Ich kann alles widerlegen! Ich werde alle ihre aufgestellten Gesetze widerlegen! Und vom Seelenadel, von allem Edlen – rede ich schon gar nicht!“
„Natürlich, Foma, ich glaube es dir! Wer zweifelt denn überhaupt daran?“
„Vorhin zum Beispiel bewies ich Verstand, Begabung, große Belesenheit, Kenntnisse des Menschenherzens, Kenntnis der zeitgenössischen Literatur, ich zeigte und bewies glänzend, wie ein talentvoller Mensch sogar aus irgendeiner Kamarinskaja ein hohes und interessantes Gespräch entwickeln kann. Und nun frage ich: Hat auch nur einer von ihnen allen das Ganze würdig zu schätzen verstanden? Nein, und nicht genug damit – sie wandten sich obendrein ab! Ich bin ja überzeugt, daß sie Ihnen schon gesagt haben, ich ‚wüßte nichts‘. Dabei hat aber in Wirklichkeit ein zweiter Machiavelli vor ihnen gesessen und ist nur deshalb von ihnen nicht als solcher erkannt worden, weil er noch arm und unbekannt war ... Nein, das soll ihnen nicht durchgehen! ... Ferner habe ich da noch von einem Korowkin gehört. – Was ist das nun wieder für ein Gänserich?“
„O, das ist, weißt du, ein kluger Mensch, ein Mann der Wissenschaft ... Ich erwarte ihn. Der wird dir aber sicherlich gefallen, Foma!“
„Hm! das bezweifle ich. Wahrscheinlich irgend so ein moderner Esel, der mit Bücherweisheit vollgepfropft ist. Die haben keine Seele, Oberst, die haben auch kein Herz! Was aber ist selbst Gelehrtheit, wenn sie keine Tugend hat?“
„Nein, Foma, nein! Wie er über Familienglück redet! – ich sage dir, das Herz begreift es ganz von selbst, Foma!“
„Hm! Warten wir ab; wir können ja auch den Korowkin noch examinieren. Doch jetzt genug,“ schloß Foma, sich erhebend. „Noch kann ich Ihnen nicht ganz verzeihen, Oberst; Sie haben mich bis aufs Blut gekränkt. Aber ich werde beten, vielleicht wird Gott dann meinem gekränkten Herzen Frieden senden. Wir werden morgen noch darüber reden, jetzt aber erlauben Sie, daß ich mich zurückziehe. Ich bin ermüdet und entkräftet ...“
„Ach, Foma!“ rief mein Onkel erschrocken aus, „nun habe ich dich auch noch ermüdet! Weißt du was, – willst du dich nicht etwas stärken, einen kleinen Imbiß nehmen? Ich werde ihn sofort bestellen.“
„Einen Imbiß nehmen! Hahaha! Einen Imbiß nehmen!“ war Fomas Antwort mit verächtlichem Lachen. „Zuerst wird man mit Gift getränkt, und dann wird man gefragt, ob man nicht einen Imbiß nehmen wolle! Die Wunden, die dem Herzen geschlagen sind, wollen Sie mit irgendwelchen gedämpften Pilzen oder eingemachten Früchten heilen! Was für ein armseliger Materialist Sie doch sind, Oberst!“
„Ach, Foma, ich wollte es doch, bei Gott, nur aus gutem Herzen ...“
„Schon gut. Genug davon. Ich gehe. Sie aber, gehen Sie unverzüglich zu Ihrer Mutter, knien Sie vor ihr nieder, schluchzen Sie, weinen Sie, erflehen Sie ihre Verzeihung, – das ist Ihre Pflicht, das müssen Sie!“
„Ach, Foma, ich habe ja die ganze Zeit nur daran gedacht. Sogar jetzt, als ich mit dir sprach, dachte ich die ganze Zeit daran. Ich bin bereit, bis zum Morgen vor ihr auf den Knien zu liegen. Aber bedenk doch auch, Foma, was man von mir verlangt! Das ist doch ungerecht, das ist doch grausam, Foma! Sei doch großmütig, mach mich vollkommen glücklich, denk doch nur nach, erlöse mich, und dann ... dann ... ich schwöre dir ...“
„Jegor Iljitsch, das ist nicht meine Sache,“ antwortete Foma. „Sie wissen, daß ich mich in diese Angelegenheit überhaupt nicht hineinmische. Das heißt, Sie sind ja, sagen wir, überzeugt, daß ich die Ursache sei; aber ich versichere Ihnen, daß ich mich von Anfang an vollkommen davon zurückgezogen und nichts damit zu tun habe und haben will. Hier handelt es sich einzig und allein um den Willen Ihrer Frau Mutter, sie aber will natürlich nur Ihr Bestes ... So gehen Sie denn hin, eilen Sie, und machen Sie Ihre Schuld durch vollkommenen Gehorsam wenigstens teilweise wieder gut ... Lasset nicht die Sonne über eurem Zorne untergehen! Ich aber ... ich werde die ganze Nacht für Sie beten. Schon seit langem weiß ich nicht mehr, was Schlaf ist, Jegor Iljitsch. Leben Sie wohl! Auch dir verzeihe ich, Alter,“ sagte er, zu Gawrila gewandt. „Ich weiß, daß du nicht aus eigenem Antriebe Böses getan hast. Vergib also auch du mir, wenn ich dir etwas zuleide getan haben sollte ... Lebt wohl, lebt alle wohl, und der Herr segne euch! ...“
Foma entfernte sich. Ich trat ins Zimmer.
„Du hast gelauscht!“ rief mein Onkel aus.
„Ja, Onkel, ich habe gelauscht! Und Sie, Sie konnten ‚Exzellenz‘ zu ihm sagen! ...“
„Was sollte ich tun, Freund! Ich bin sogar stolz darauf, daß ich es getan habe ... Das ist ja noch nichts im Vergleich zu seiner großen Heldentat! Welch ein edler, uneigennütziger, erhabener Mensch! Ssergei – du hast ja zugehört – so sag du mir doch, wie konnte ich da nur mit dem Gelde kommen! Ich begreife mich selbst nicht! Aber ich war nicht bei klarer Vernunft, ich war aufgebracht, ich verstand ihn nicht, ich beargwöhnte ihn, beschuldigte ihn ... Doch nein! – er konnte nicht mein Gegner sein – das begreife ich jetzt vollkommen ... Aber weißt du, hast du gesehen, welch einen edlen Ausdruck sein Gesicht hatte, als er das Geld zurückwies?“
„Gut, Onkel, seien Sie so stolz, wie Sie nur wollen, ich aber reise morgen: meine Geduld ist zu Ende! Zum letzten Male frage ich Sie: was verlangen Sie von mir? Wozu haben Sie mich hergerufen, und was erwarten Sie von mir? Und wenn nun alles zu Ende und besiegelt ist und ich Ihnen zu nichts mehr nütze bin – dann fahre ich eben. Ich ertrage solche Schaustücke nicht! Heute noch reise ich ab!“
„Freund,“ sagte mein Onkel eifrig, wie es so seine Art war, „wart nur noch zwei Minuten: ich werde jetzt zu meiner Mutter gehen ... ich muß dort zuerst ins reine kommen ... es ist eine wichtige, große, eine entscheidende Sache! ... Du aber geh in dein Zimmer und erwarte mich dort. Hier, Gawrila wird dich ins Sommerhaus führen. Du erinnerst dich doch noch? Es liegt dort mitten im Garten. Ich habe schon alles angeordnet, auch dein Koffer ist hingeschafft worden. Ich werde jetzt schnell zu meiner Mutter gehen, nur ihre Verzeihung erwirken, mich rasch entschließen – jetzt weiß ich, wie ich es anfassen muß –, und dann komme ich sofort zu dir und erzähle dir alles, alles, alles bis aufs Letzte, werde meine ganze Seele vor dir ausschütten! Und ... und auch wir werden noch einmal glückliche Tage erleben! ... Zwei Minuten, nur zwei Minuten, Ssergei!“
Er drückte meine Hand und verließ eilig das Zimmer. Mir blieb nichts anderes übrig, als mich von Gawrila ins Sommerhaus führen zu lassen.
Das Sommerhaus, in dem man für mich ein Zimmer eingeräumt hatte, wurde aus alter Gewohnheit noch immer „das neue Haus“ genannt, obgleich es schon vor langen Jahren, noch von den früheren Besitzern des Gutes Stepantschikowo erbaut worden war. Es war dies ein nettes, einstöckiges Holzgebäude, das nicht weit vom Herrenhause im Garten lag. Von drei Seiten umstanden das Sommerhäuschen alte, hohe Lindenbäume, deren Äste das Dach überragten. Alle vier Zimmer dieses Sommerhauses waren gut möbliert und ausschließlich für etwaigen Besuch bestimmt. Als ich mich in dem mir zugewiesenen Gemach umsah, bemerkte ich zuerst meinen Koffer und dann auf dem Nachttisch neben dem Bett einen Bogen Postpapier, das von einem wahren Meister in der Schönschreibekunst beschrieben und mit Girlanden und Schnörkeln überreich verziert war. Die Anfangsbuchstaben und die Blumengewinde leuchteten sogar in bunten Farben. Alles in allem war es eine bewundernswerte kalligraphische Arbeit. Schon aus den ersten Zeilen ersah ich, daß es ein an mich gerichteter Bittbrief war, in dem ich ein „aufgeklärter Wohltäter“ genannt wurde. Als Überschrift stand: „Widopljässoffs Wehklagen.“ Wie sehr ich aber auch meine Aufmerksamkeit anstrengte, um wenigstens etwas von dem ganzen Schreiben zu begreifen, so waren doch alle meine Bemühungen umsonst: es war der reinste Blödsinn in hochtrabendem Dienerstil. Ich erriet nur ungefähr, daß Widopljässoff sich in einer bedauernswerten Lage befand, meine Hilfe erbat und in irgendwelchen Dingen große Hoffnungen auf mich setzte – „von wegen Eurer Bildung ...“ Zum Schluß bat er mich dann noch, zu seinen Gunsten auf meinen Onkel einzuwirken, und zwar – „kraft Eurer Maschine“, wie es buchstäblich in der letzten Zeile dieses Handschreibens geschrieben stand. Ich war noch in die Lektüre vertieft, als die Tür aufging und Iwan Iwanytsch Misintschikoff, mein Vetter dritten Grades, in das Zimmer trat.
„Ich hoffe, Sie werden mir gestatten, Ihre Bekanntschaft zu machen,“ sagte er ungezwungen, doch äußerst höflich, und er reichte mir die Hand. „Vorhin habe ich Ihnen keine zwei Worte sagen können, und doch empfand ich schon im ersten Augenblick den Wunsch, Sie näher kennen zu lernen.“
Ich antwortete ihm sogleich, daß auch ich mich freue usw., obschon ich mich in der miserabelsten Laune befand.
Wir setzten uns.
„Was haben Sie denn da?“ fragte er, nach einem Blick auf das Blatt, das ich noch in der Hand hielt. „Etwa ‚Widopljässoffs Wehklagen‘? Na, natürlich! Ich war ja überzeugt, daß Widopljässoff unfehlbar auch Sie attackieren würde. Mir hat er gleichfalls so ein wunderbar bemaltes Blatt mit denselben ‚Wehklagen‘ überreicht. Sie sind von ihm wohl schon lange sehnsüchtig erwartet worden, so daß er Zeit genug gehabt hat, inzwischen dieses Gemälde herzustellen. Doch können Sie sich die Mühe sparen, sich darüber zu wundern: hier gibt es viel Sonderbares, und wenn man Lust zum Lachen hat, fände sich eine Unmenge Stoff dazu.“
„Nur zum Lachen?“
„Na, doch nicht etwa zum Weinen? Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen Widopljässoffs Leben erzählen, und ich wette, daß Sie lachen werden.“
„Offen gestanden, es ist mir jetzt nicht um Widopljässoff zu tun,“ antwortete ich etwas ungehalten.
Es war mir vollkommen klar, daß der Besuch Herrn Misintschikoffs und sein liebenswürdiges Gespräch – einen besonderen Zweck verfolgten und mein Herr Vetter dritten Grades sehr einfach meiner bedurfte. Im Teesalon hatte er finster und ernst ausgesehen, und nun war er plötzlich so aufgeräumt und sogar bereit, lange Geschichten zu erzählen. Man sah es ihm sofort an, daß er sich vorzüglich zu beherrschen verstand und, wie mir schien, ein Menschenkenner war.
„Dieser verdammte Foma!“ knirschte ich wütend und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich bin überzeugt, daß nur er allein die Quelle alles Übels hier ist, und daß jede Verrücktheit sich auf ihn zurückführen läßt! Dieser verfluchte Spitzbube!“
„Sie haben sich ja, wie es scheint, sehr über ihn geärgert,“ bemerkte Misintschikoff.
„Sehr über ihn geärgert!“ Ich geriet plötzlich in Wut. „Ich weiß, ich habe mich heute nachmittag hinreißen lassen und somit jedem das Recht gegeben, mich abfällig zu beurteilen. Ich sehe es jetzt sehr wohl ein, daß ich unnützerweise aus mir herausgegangen bin und in jeder Beziehung schlecht abgeschnitten habe; aber ich denke, es ist zum mindesten überflüssig, mir das obendrein noch zu verstehen zu geben! ... Auch begreife ich vollkommen, daß man so etwas in guter Gesellschaft nicht tut; aber, sagen Sie doch selbst, war es denn überhaupt möglich, nicht aus der Haut zu fahren? Das ist ja hier eine Irrenanstalt, genau genommen! und ... und ... schließlich ... Ach was! Ich fahre einfach fort und damit basta!“
„Rauchen Sie?“ fragte Misintschikoff ruhig.
„Ja.“
„Dann werden Sie hoffentlich nichts dagegen haben, wenn auch ich rauche. Dort wird es nicht gestattet. Ich bin schon auf dem besten Wege, darüber melancholisch zu werden. Ich gebe gern zu,“ fuhr er fort, nachdem er sich eine Zigarette angesteckt hatte, „daß hier manches stark an eine Irrenanstalt erinnert; doch seien Sie versichert, daß ich mir nicht erlauben werde, Sie oder Ihr Auftreten zu verurteilen, und zwar deshalb nicht, weil ich an Ihrer Stelle vielleicht noch dreimal mehr in Wut geraten oder aus der Haut gefahren wäre als Sie vorhin.“
„Aber warum taten Sie es dann nicht, wenn Sie wirklich so ungehalten waren? Ich entsinne mich, im Gegenteil, noch ganz genau, daß Sie sehr kaltblütig waren. Ich will Ihnen sogar ganz offen sagen – es wunderte mich, daß Sie für meinen armen Onkel nicht eintraten, ihn nicht verteidigten, da er doch soviel Gutes ... allen und jedem erweist!“
„Sie haben recht: er hat vielen Gutes getan. Doch für ihn einzutreten, das halte ich in diesem Fall für vollkommen nutzlos: erstens würde es ihm nichts helfen und hätte gewissermaßen sogar etwas Erniedrigendes für ihn – und zweitens würde man mich dann am nächsten Tage vor die Tür setzen. Und nun will auch ich Ihnen etwas ganz offen gestehen: nämlich, daß meine Verhältnisse augenblicklich derart sind, daß ich die Gastfreundschaft, die ich hier genieße, sehr hoch einschätzen muß.“
„Ich verlange von Ihnen durchaus keine Aufschlüsse über Ihre Verhältnisse ... Aber übrigens, ich würde Sie gern etwas fragen wollen, da Sie ja doch schon einen ganzen Monat hier leben ...“
„Haben Sie die Güte, fragen Sie nur: ich stehe Ihnen jederzeit zu Diensten,“ antwortete Misintschikoff bereitwillig und rückte seinen Stuhl näher zu mir.
„Erklären Sie mir, bitte, eines: soeben hat Foma Fomitsch fünfzehntausend Rubel, die er bereits in der Hand hielt, verschmäht – ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“
„Wie das? Ist’s möglich!“ Misintschikoff war erstaunt. „Erzählen Sie doch, bitte!“
Ich erzählte, was ich gesehen und gehört hatte, verschwieg aber alles, was sich auf „Eure Exzellenz“ bezog. Misintschikoff hörte mir mit lebhafter Neugier zu; sein ganzes Gesicht schien sich zu verändern, als ich auf die Einhändigung der fünfzehn Tausend zu sprechen kam.
„Raffiniert!“ sagte er, als ich meine Erzählung beendet hatte. „Das hätte ich eigentlich von Foma gar nicht erwartet.“
„Jedenfalls – er hat das Geld zurückgewiesen! Wie soll man sich das erklären? Doch nicht mit seinem Seelenadel?“
„Er hat fünfzehn Tausend zurückgewiesen, um später dreißig Tausend zu nehmen. Übrigens – wissen Sie!“ fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu, „ich bezweifle es, daß Foma eine bestimmte Berechnung gehabt habe. Er ist doch ein unpraktischer Mensch – er ist in seiner Art gleichfalls so etwas wie ein Dichter. Fünfzehn Tausend ... hm! Sehen Sie: er hätte das Geld sicherlich genommen und behalten, nur: er widerstand nicht der Versuchung, Theater zu spielen, sich zu verstellen, sich in schönem Lichte zu zeigen. Ich sage Ihnen, er ist nichts als ein unendlich saurer, tränenreicher Schwamm bei unbegrenzter Eigenliebe!“
Misintschikoff geriet beinahe in Wut. Man sah es ihm an, daß er sich aufrichtig ärgerte; ja, es schien mir sogar, als beneide er Foma wegen der angebotenen fünfzehn Tausend. Ich beobachtete ihn genau.
„Hm! Dann muß man großer Veränderungen gewärtig sein,“ meinte er nachdenklich. „Jegor Iljitsch ist ja bereit, Foma anzubeten. Was kann man wissen ... vielleicht wird er sie noch heiraten – einfach aus Herzensrührung,“ sprach er durch die Zähne vor sich hin.
„So glauben Sie, daß diese schändliche, diese widernatürliche Ehe mit diesem übergeschnappten, verdrehten Frauenzimmer wirklich zustande kommen wird?“
Misintschikoff warf mir einen forschenden Blick zu.
„Diese Schurken!“ rief ich heftig aus. Er schwieg.
„Übrigens haben sie es verstanden, ihre Idee recht gut zu begründen,“ bemerkte Misintschikoff. „Sie behaupten nämlich, daß er doch irgend etwas für die Familie tun müsse.“
„Als ob er noch zu wenig für sie getan hätte!“ Ich war empört. „Und auch Sie, auch Sie wagen noch zu sagen, daß es eine vernünftige Idee sei – eine dumme Gans zu heiraten!“
„O, ich stimme mit Ihnen darin vollkommen überein, daß sie eine dumme Gans ist ... Hm! Es freut mich, daß Sie Ihren Onkel so lieben ... auch ich kann es nachfühlen ... obschon man mit ihrem Gelde das Gut prächtig vergrößern könnte. Aber sie haben außerdem noch andere Gründe: sie fürchten, daß Jegor Iljitsch die Erzieherin seiner Kinder heiraten könnte – Sie entsinnen sich doch noch des interessanten jungen Mädchens, das nach Iljuscha eintrat?“
„Aber ... aber ist denn das möglich? Ist denn das anzunehmen?“ fragte ich erregt. „Es scheint mir vielmehr eine Verleumdung zu sein. Sagen Sie doch, um Gottes willen, es interessiert mich über alle Maßen ...“
„O, er ist bis über die Ohren verliebt! Nur verbirgt er es selbstredend.“
„Verbirgt es! Sie glauben, er will es verbergen? Nun, aber sie? Liebt auch sie ihn?“
„Sehr leicht möglich, daß auch sie ihn liebt. Und zudem sind ja alle Vorteile auf ihrer Seite: sie ist sehr arm.“
„Aber welche Anhaltspunkte haben Sie, um hier eine gegenseitige Liebe zu vermuten?“
„Da müßte man ja blind sein, wenn man das nicht sehen wollte. Hinzu kommt, daß sie, glaube ich, sich heimlich treffen. Es ist sogar behauptet worden, daß sie unerlaubte Beziehungen unterhielten. Aber erzählen Sie das, ich bitte Sie, nicht weiter. Ich sage es Ihnen nur unterm Siegel der strengsten Verschwiegenheit.“
„Wie kann man nur an so etwas glauben!“ rief ich unwillig aus. „Und Sie geben zu, daß Sie diesem Märchen Glauben schenken?“
„Selbstverständlich glaube ich es nicht ganz, ich bin nicht dabei gewesen. Aber es kann sehr leicht möglich sein.“
„Was! es kann möglich sein! Denken Sie doch nur an die Ehrenhaftigkeit, an die Ehre meines Onkels!“
„Einverstanden. Aber man kann sich doch vergessen – kann sich damit beruhigen, daß man später mit der Heirat unfehlbar alles wieder gutmachen wird. Das kommt ja häufig vor ... so läßt man sich denn hinreißen. Doch ich sage nochmals, daß ich durchaus nicht für die vollkommene Glaubwürdigkeit dieser Gerüchte einstehe, um so weniger, als man das Mädchen hier schon zur Genüge in den Schmutz zu ziehen versucht hat. So wurde zum Beispiel auch erzählt, daß sie mit Widopljässoff ein Verhältnis habe.“
„Mit Widopljässoff! – Da sehen Sie es ja! Ist das überhaupt denkbar? Ist es denn nicht ekelhaft, so etwas auch nur zu hören? Und Sie glauben es?“
„Ich sage Ihnen doch, daß ich es nicht glaube,“ antwortete Misintschikoff ruhig, „aber schließlich – hätte es ja auch vorkommen können. In der Welt kann alles vorkommen. Ich aber bin nicht zugegen gewesen, und überdies finde ich, daß es mich nichts angeht. Da Sie aber, wie ich sehe, an allen Dingen, die mit Ihrem Onkel zu schaffen haben, so lebhaften Anteil nehmen, so halte ich es für meine Pflicht, ausdrücklich hinzuzufügen, daß dieses Verhältnis mit Widopljässoff allerdings sehr wenig Wahrscheinliches für sich hat. Das ganze Gerücht scheint vielmehr nur ein Machwerk Anna Nilownas zu sein – der Perepelizyna. Sie hat natürlich nur aus Neid diesen ganzen Klatsch verbreitet, da sie früher selbst davon geträumt hat, Jegor Iljitsch zu heiraten – bei Gott! – und zwar, wie ich glaube, hauptsächlich deshalb, weil sie selbst die Tochter eines Majors ist. Jetzt hat sie ihre Hoffnung aufgeben müssen, und so ist auch ihre Wut danach. Doch, ich glaube – ich habe Ihnen bereits alles erzählt und dieses Thema erschöpft, und – offen gestanden – ich bin nichts weniger als ein Freund von solchen Klatschgeschichten. Außerdem verlieren wir über diesem Geschwätz die kostbare Zeit. Ich bin, sehen Sie mal, ich bin mit einer kleinen Bitte zu Ihnen gekommen.“
„Mit einer Bitte? O, ich bin gern zu allem bereit, was ich für Sie tun kann ...“
„Besten Dank; ich hoffe sogar, Sie gewissermaßen mit meinem Anliegen zu interessieren; denn wie ich sehe, lieben Sie Ihren Onkel und nehmen großen Anteil an seinem Schicksal, namentlich bezüglich seiner zukünftigen Ehe. Doch, vor dieser Bitte habe ich noch eine andere Bitte an Sie.“
„Und das wäre?“
„Folgendes. Vielleicht werden Sie einwilligen, meine Hauptbitte zu erfüllen, vielleicht aber auch nicht. Daher würden Sie mir einen großen Gefallen erweisen, wenn Sie die Güte hätten, mir vorher Ihr Ehrenwort als Edelmann und Ehrenmann zu geben, daß alles, was Sie von mir hören werden, zwischen uns bleibt, als größtes Geheimnis, und daß Sie in keinem Fall und mit Ausnahme keiner einzigen Person dieses Geheimnis verraten werden, sowie ferner, daß Sie die betreffende Idee nicht für sich benutzen werden, diese Idee, die ich jetzt notwendigerweise Ihnen mitteilen muß. Sind Sie damit einverstanden?“
Die Einleitung war recht feierlich. Ich erklärte mich mit seinen Bedingungen einverstanden.
„Nun, und?“ fragte ich dann.
„Die Sache ist im Grunde sehr einfach,“ begann Misintschikoff. „Ich will, sehen Sie mal ... ich will Tatjana Iwanowna entführen und sie dann heiraten. Kurz, es soll etwas in der Art eines spanischen Romans werden – Sie verstehen mich doch?“
Ich blickte Herrn Misintschikoff unverwandt in die Augen, und es dauerte etwas, bis ich die ersten Worte fand.
„Ich ... ich begreife nicht ...“ sagte ich endlich; „und außerdem,“ fuhr ich fort, „außerdem, da ich es mit einem vernünftigen Menschen zu tun zu haben glaubte ... habe ich keineswegs erwartet ...“
„Erwartet oder nicht erwartet,“ unterbrach mich Misintschikoff, „ins Unverblümte übersetzt, heißt das ungefähr soviel wie: daß sowohl ich wie mein Vorhaben dumm ist, nicht wahr?“
„Aber durchaus nicht ... nur ...“
„O, bitte sehr, tun Sie sich in Ihren Ausdrücken keinen Zwang an. Beunruhigen Sie sich nicht. Sie erweisen mir damit sogar ein großes Entgegenkommen; denn so gelangen wir schneller zum Ziel. Ich gebe übrigens gern zu, daß mein ganzer Plan so auf den ersten Blick etwas sonderbar erscheinen muß. Doch ganz abgesehen davon, versichere ich Sie, daß meine Absicht nicht nur keineswegs dumm, sondern sogar höchst vernünftig ist. Und wenn Sie so freundlich sein wollen, zuerst die Klarlegung der Verhältnisse anzuhören, so ...“
„O, bitte – ich bin sehr gespannt.“
„Übrigens ist hier fast nichts zu erzählen. Sehen Sie mal: ich habe augenblicklich nur Schulden und dementsprechend keine Kopeke in der Tasche. Außerdem habe ich noch eine Schwester, ein Mädchen von ungefähr neunzehn Jahren. Sie ist Waise, wissen Sie, gänzlich mittellos und verdient sich selbst ihr Brot. Das ist zum Teil auch meine Schuld. Wir erbten vierzig Seelen. Da mußte ich wie verhext gerade damals zum Fähnrich avancieren! Nun, zuerst natürlich verpfändete ich die vierzig Seelen, dann brachte ich sie durch. Ich führte ein törichtes Leben, gab den Ton an, spielte den Lebemann, spielte auch am grünen Tisch, trank – mit einem Wort: töricht war’s, man schämt sich geradezu, daran zu denken. Jetzt bin ich zur Besinnung gekommen, habe mich anders bedacht: ich will nun ein ganz neues Leben beginnen. Zu diesem Zweck aber brauche ich unumgänglich eine Summe von hunderttausend Rubeln in bar. Da ich jedoch mit dem Offiziersdienst nichts verdienen würde, zu irgendeinem Beruf nicht begabt bin und fast gar keine wissenschaftliche Bildung habe, so bleiben mir nur zwei Möglichkeiten: entweder zu stehlen oder eine reiche Dame zu heiraten. Hergekommen bin ich so gut wie ohne Stiefel, und, wohl verstanden: ich bin zu Fuß gekommen, nicht mit Postpferden. Meine Schwester gab mir ihre letzten drei Rubel, als ich mich aus Moskau fortbegab. Hier lernte ich diese Tatjana Iwanowna kennen, und mir kam sofort ein Gedanke. Ich beschloß, mich zu opfern und sie zu heiraten. Sie müssen mir doch zugeben, daß das nichts anderes ist als – Vernünftigkeit. Zudem tue ich es ja mehr für meine Schwester ... das heißt, in erster Linie selbstredend für mich ...“
„Aber erlauben Sie, Sie wollen doch formell bei Tatjana Iwanowna anhalten?“
„Gott soll mich davor bewahren! Dann wäre ich ja am längsten hier gewesen, und auch sie würde nicht wollen. Schlage ich ihr dagegen eine Entführung vor, eine Flucht, so wird sie sofort einwilligen. Das ist die Hauptsache: es muß etwas Romantisches, etwas Effektvolles sein. Versteht sich, wir werden dann in kürzester Zeit gesetzmäßig getraut werden. Wenn man sie nur erst einmal herausgelockt hätte!“
„Aber wie können Sie so fest überzeugt sein, daß sie mit Ihnen entfliehen wird?“
„O, machen Sie sich deshalb keine Sorgen! Davon bin ich vollkommen überzeugt. Das ist ja gerade mein Grundgedanke, wenn ich so sagen darf, daß Tatjana Iwanowna tatsächlich fähig ist, mit jedem ersten besten eine Liebesgeschichte anzufangen, buchstäblich mit jedem, dem es nur einfällt, darauf einzugehen. Deswegen habe ich auch Ihnen zuerst das Ehrenwort abgenommen, diese Idee nicht zu Ihren eigenen Gunsten auszunutzen. Jetzt werden Sie, denke ich, begreifen, daß es von mir einfach Sünde wäre, wenn ich diese Gelegenheit nicht benutzen wollte, und noch dazu bei meinen Verhältnissen.“
„So ist sie denn also ganz und gar verrückt ... Ach! verzeihen Sie,“ unterbrach ich mich, plötzlich mich besinnend, „da Sie jetzt diese Absicht haben, so ...“
„Bitte, genieren Sie sich nicht, ich habe Sie darum schon einmal gebeten. Sie fragen, ob Tatjana Iwanowna total verrückt sei? Was soll ich Ihnen darauf antworten? Natürlich ist sie nicht verrückt; denn noch sitzt sie nicht in einer Irrenanstalt. Zudem vermag ich in dieser Manie für Liebesdinge eigentlich keinen besonderen Irrsinn zu sehen. Sie aber ist trotz allem ein ehrenhaftes Mädchen. Sehen Sie mal: vor einem Jahre war sie noch entsetzlich arm, hatte seit ihrer Geburt bei ihren Wohltäterinnen wie im Joch gelebt. Sie hat ein sehr gefühlvolles Herz, um ihre Hand hat niemand sie jemals gebeten ... Nun, Sie verstehen: Träume, Wünsche, Hoffnungen, die Leidenschaften, die sie beständig hat unterdrücken müssen, die ewigen Schikanen der sogenannten Wohltäterinnen – alles das zusammen konnte seinen empfindsamen Menschen sehr wohl aufreiben. Und dann plötzlich dieser Reichtum! Sie werden doch zugeben, daß so etwas nicht nur eine Tatjana Iwanowna aus dem Gleichgewicht bringen kann. Nun, und jetzt sind natürlich alle hinter ihr her, alle machen ihr den Hof, umschwärmen sie – und alle ihre Hoffnungen sind auferstanden. Was sie zum Beispiel beim Tee von dem Geck in der weißen Weste erzählte, – Tatsache, es ist wirklich buchstäblich alles so geschehen, wie Sie es gehört haben. Nach dieser Begebenheit können Sie sich auch das übrige denken. Mit Seufzern, Billets-doux, Gedichten können Sie sie sofort erobern, und wenn Sie dann noch heimliche Zusammenkünfte, spanische Serenaden und diesen ganzen Humbug hinzufügen, so können Sie sie zu allem bewegen. Ich habe auch schon einmal einen Versuch gemacht und sogleich ein nächtliches Stelldichein erreicht. Vorläufig habe ich mich aber bis zu günstigerer Zeit auf neutralen Boden zurückgezogen. Doch spätestens binnen vier Tagen wird man sie entführen müssen. Am Tage vor der Entführung fange ich mit dem Mumpitz an: Augendrehen, Seufzer und so weiter ... ich spiele nicht schlecht Gitarre und singe sogar. In der Nacht ein Stelldichein in der Laube und – beim Morgengrauen ist der Wagen bereit: ich locke sie hinaus, wir steigen ein und fahren los. Wie Sie sehen, ist hierbei nichts zu riskieren: sie ist mündig – und ganz abgesehen davon, wird es doch ihr freier Wille sein. Und wenn sie erst einmal mit mir entflohen ist, so heißt das natürlich, daß ... wir uns gegenseitig verpflichtet haben. Ich werde sie in eine gute, aber arme Familie bringen – ich kenne hier eine, vierzig Werst von hier – wo man sie bis zur Hochzeit auf den Händen tragen, doch keinen Menschen zu ihr lassen wird. Und ich werde inzwischen auch nicht unnütz die Zeit verlieren: nach spätestens drei Tagen müssen wir getraut sein – das läßt sich machen. Natürlich gehört dazu vor allen Dingen Geld. Aber ich habe schon berechnet: ich brauche nicht mehr als fünfhundert Rubel für das ganze Intermezzo, und zwar hoffe ich in der Beziehung auf Jegor Iljitsch: er wird sie mir geben, natürlich ohne zu wissen, um was es sich handelt. Haben Sie mich jetzt vollkommen verstanden?“
„Ja,“ sagte ich, da ich ihn allerdings nur zu gut verstanden hatte. „Aber sagen Sie doch, bitte, inwiefern ich Ihnen hierbei behilflich sein könnte?“
„O, in sehr vielem, ich bitte Sie! Sonst hätte ich Sie doch wahrlich nicht eingeweiht. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich sie in eine arme, aber sehr ehrenwerte Familie zu bringen beabsichtige. Sie nun können mir sowohl hier wie dort aushelfen, außerdem mein Trauzeuge sein. Ohne Ihren Beistand stehe ich gleichsam mit gebundenen Händen da.“
„Noch eine Frage: Warum haben Sie gerade mich Ihres Vertrauens gewürdigt? Sie kennen mich doch gar nicht, ich bin doch erst vor ein paar Stunden hier eingetroffen.“
„Ihre Frage,“ antwortete Misintschikoff mit dem liebenswürdigsten Lächeln, „Ihre Frage bereitet mir, offen gestanden, ein großes Vergnügen; denn sie bietet mir Gelegenheit, Sie meiner ganz besonderen Hochachtung zu versichern.“
„O, zuviel Ehre!“
„Nein, sehen Sie mal, ich habe Sie vorhin, beim Tee, ein wenig studiert. Sie sind, nun ja, Sie sind heftig und ... und ... nun ja, und noch jung. Aber von einem bin ich durchaus überzeugt: Wenn Sie mir einmal Ihr Wort gegeben haben, keinem Menschen etwas davon zu erzählen, so werden Sie es auch halten. Sie sind kein Obnoskin – dies wäre Punkt eins. Punkt zwei: Sie sind ehrlich und werden mir meine Idee nicht stehlen, nicht wahr – natürlich ausgenommen den Fall, daß Sie etwa mit mir in aller Freundschaft einen entsprechenden Vergleich abschließen wollten. In dem Fall wäre ich vielleicht einverstanden, Ihnen meine Idee abzutreten, oder vielmehr: Tatjana Iwanowna. Und ich würde sogar bereit sein, Ihnen bei der Entführung eifrig beizustehen, nur mit der Bedingung, daß Sie mir einen Monat nach der Trauung eine Summe von fünfzigtausend Rubel bar zahlen, selbstredend nach einer vorhergehenden Sicherstellung durch eine Schuldverschreibung ... doch ohne Prozente.“
„Wie! Sie bieten die Dame jetzt bereits mir an?“
„Selbstverständlich kann ich sie abtreten ... wenn Sie es sich überlegen sollten und zulangen wollen. Freilich verliere ich dabei, aber ... Doch die Idee gehört nun einmal mir, und für Ideen nimmt man doch Geld. Und schließlich, drittens, habe ich Sie gewählt, weil mir keine andere Wahl übrigbleibt. Lange zu zögern aber erscheint mir, nachdem ich mir über die hier herrschenden Zustände klar geworden bin, mehr als gefährlich. Hinzu kommt, daß bald die Fastenzeit vor Mariä Himmelfahrt beginnt und dann nicht getraut wird. So, jetzt haben Sie mich hoffentlich ganz verstanden?“
„Vollkommen, und ich verspreche Ihnen nochmals, Ihr Geheimnis heilig zu halten. Ihr Helfershelfer kann ich aber in dieser Angelegenheit nicht sein, was Ihnen unverzüglich mitzuteilen ich für meine Pflicht halte.“
„Wieso, weshalb nicht?“
„Sie fragen noch?“ rief ich heftig aus, endlich den Gefühlen, die sich in mir angesammelt hatten, freien Lauf lassend. „Sehen Sie denn nicht ein, daß eine solche Handlung schuftig, unehrenhaft ist? Gut, nehmen wir an, Sie rechneten ganz richtig, wenn Sie sich auf die Unklugheit und die unglückliche Manie dieses Mädchens stützen, aber – ebendies müßte Sie doch als Ehrenmann davon abhalten! Sie sagen ja selbst, daß Tatjana Iwanowna ein ehrenwertes Mädchen sei, wenn sie auch lächerlich ist. Und nun plötzlich wollen Sie ihr Unglück benutzen, um ihr hunderttausend Rubel abzuzapfen! Sie werden doch gewiß nicht ihr wirklicher Mann sein, der seine Pflicht in jeder Beziehung erfüllt. Sie werden sie unfehlbar verlassen ... Das ist aber so wenig ehrenhaft, daß ich, verzeihen Sie, eigentlich nicht begreife, wie Sie sich haben entschließen können mir die Rolle eines Helfershelfers zuzumuten!“
„Donnerwetter, das ist mir mal eine Romantik!“ rief Misintschikoff aus, während er mich mit ehrlicher Verwunderung ansah. „Übrigens handelt es sich hier wohl nicht so sehr um Romantik, sondern – Sie scheinen einfach nicht zu begreifen, um was es sich handelt. Sie sagen, es sei unehrenhaft, vergessen aber, daß alle Vorteile nicht auf meiner, sondern auf ihrer Seite sind ... Bedenken Sie doch nur ...“
„Ja, natürlich, wenn man von Ihrem Standpunkt aus urteilt, dann ergibt sich womöglich noch, daß Sie die großmütigste Tat begehen, wenn Sie Tatjana Iwanowna heiraten,“ antwortete ich mit sarkastischem Lächeln.
„Ja, wie denn nicht? Aber das ist es doch! Es ist doch tatsächlich eine großmütige Tat!“ rief Misintschikoff aus, der nun seinerseits in Hitze geriet. „Überlegen Sie es sich doch nur: erstens opfere ich mich und willige ein, ihr Mann zu sein – das kostet doch wohl etwas? Zweitens: ungeachtet dessen, daß sie blank und bar mehrere hunderttausend Rubel besitzt, werde ich nur einhunderttausend Rubel von ihr nehmen. Ich habe mir bereits mein Wort gegeben, daß ich, solange ich lebe, keine Kopeke mehr von ihr nehmen werde, obgleich ich es doch könnte: das aber kostet doch wiederum etwas – denken Sie nur nach: kann sie denn so ihr Leben ruhig verbringen? Damit sie ruhig leben kann, muß man ihr unbedingt das Geld abnehmen und ... müßte sie eigentlich in eine Irrenanstalt einsperren; denn sonst kann man sich darauf gefaßt machen, daß in jeder Minute irgendein Tagedieb, ein Schwindler oder Spekulant auftaucht, irgend so einer mit einem Spitzbart und Schnurrbart, mit einer Gitarre und mit Serenaden – wie etwa Obnoskin – der sie verführt, sie heiratet, ihr alles abnimmt und sie dann auf der Landstraße sitzen läßt. Hier, zum Beispiel, befinden wir uns in einem ehrenwertesten Hause – und dennoch hat man sie auch hier nur deshalb aufgenommen, weil man auf ihr Geld spekuliert. Vor diesen zweifelhaften Chancen muß man sie bewahren, beschützen, retten. Nun aber, begreifen Sie doch, sobald sie mich geheiratet hat, hört diese Berechnung sofort auf. Ich werde schon dafür Sorge tragen, daß kein Unglück sie wird treffen können. Nach der Trauung bringe ich sie zuerst nach Moskau in eine ehrenwerte, doch mittellose Familie – ich meine jetzt nicht jene, von der ich vorhin sprach –, nein, in eine andere Familie. Meine Schwester wird beständig bei ihr sein. Man wird sie nicht aus den Augen lassen. An Geld behält sie etwa zweihundertfünfzigtausend Rubel, vielleicht sogar dreihunderttausend: damit kann man, wissen Sie, doch leben! Alle Vergnügungen sollen ihr geboten werden, alle Zerstreuungen, Bälle, Maskeraden, Konzerte. Sie kann sogar von Liebesabenteuern träumen – wenn ich mich auch in der Beziehung natürlich sicherstellen werde: träume soviel du willst, in Wirklichkeit aber – nie und nimmer! Jetzt kann ein jeder sie beleidigen, dann aber kann das keiner mehr tun: sie ist meine Frau, Madame Misintschikoff, und meinen Namen gebe ich nicht zum Gespött hin! Denken Sie doch nur, was das allein wert ist – das kostet doch etwas! Selbstredend werde ich nicht mit ihr zusammen leben: sie in Moskau und ich irgendwo in Petersburg. Diese meine Absicht teile ich Ihnen gleichfalls im voraus mit; denn Ihnen gegenüber will ich ehrlich sein. Aber was hat denn das auf sich, daß wir getrennt leben? Überlegen Sie es sich doch nur, denken Sie an ihren Charakter und sagen Sie selbst: Ist sie denn überhaupt fähig, Frau zu sein und mit ihrem Mann zusammen zu leben? Kann man denn auch nur irgendeine Beständigkeit von ihr erwarten? Sie ist doch das leichtsinnigste Geschöpf der Welt! Sie bedarf ewig der Veränderung. Sie ist fähig, am nächsten Tage zu vergessen, daß sie vor vierundzwanzig Stunden mir angetraut worden ist. Ja, ich würde sie schließlich nur unglücklich machen, wenn ich mit ihr zusammen leben und strenge Erfüllung ihrer ehelichen Pflichten verlangen wollte! Natürlich werde ich sie von Zeit zu Zeit besuchen, etwa einmal im Jahr oder auch öfter, aber nicht, um dann Geld von ihr zu verlangen – ich versichere Sie, daß ich nichts von ihr verlangen werde. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich mehr als hunderttausend Rubel nicht nehmen werde, bestimmt nicht! Im Geldpunkt werde ich mehr als verständig sein. Wenn ich auf zwei, drei Tage zum Besuch komme, werde ich ihr sogar Vergnügen und nicht etwa Langeweile bereiten: ich werde mit ihr scherzen, werde ihr Geschichten erzählen, werde mit ihr Bälle besuchen, flirten, ihr Andenken schenken, Romanzen singen und einen Liebesbriefwechsel mit ihr eingehen. Sie wird doch einfach entzückt sein – von einem so romantischen, verliebten und liebenswürdigen Ehemann! Meiner Meinung nach ist es sogar sehr rationell: alle Männer sollten so verfahren. Den Frauen sind sie ja nur dann wertvoll, wenn sie abwesend sind, und wenn ich mein System durchhalte, werde ich gewiß in der süßesten Weise Tatjana Iwanownas Herz für ihr ganzes Leben einnehmen. Was könnte man ihr noch Besseres wünschen? Sagen Sie doch! Das ist ja ein Paradies, aber keine Erdenwirklichkeit!“
Ich hörte schweigend und mit wachsender Verwunderung zu. Ich sagte mir, daß man Herrn Misintschikoff nicht gut widerlegen konnte. Er war von der Rechtlichkeit und Genialität seines Projektes fanatisch überzeugt und sprach von ihm mit der ganzen Begeisterung eines Erfinders. Es blieb nur noch ein peinlicher Punkt übrig, über den man sich unbedingt aussprechen mußte.
„Aber denken Sie denn gar nicht daran,“ fragte ich, „daß sie schon so gut wie die Braut meines Onkels ist? Wenn Sie sie nun entführen, dann nehmen Sie ihm die Braut fast am Tage vor der öffentlichen Verlobung fort und tun es außerdem noch mit seinem Gelde, das Sie von ihm zur Ausführung der gewagten Tat borgen wollen und werden.“
„Warten Sie, damit fange ich Sie gerade!“ rief Misintschikoff eifrig aus. „Ich habe diese Ihre Einwendung vorausgesehen. Aber erstens – und das ist die Hauptsache: Ihr Onkel hat ja noch nicht bei ihr angehalten, folglich brauche ich doch gar nicht zu wissen, daß man ihn mit ihr verkuppeln will. Zudem bitte ich, nicht zu vergessen, daß ich bereits vor drei Wochen meinen Entschluß gefaßt habe, also zu einer Zeit, als ich von allen Absichten der Generalin und Foma Fomitschs nichts ahnte. Folglich bin ich in moralischer Hinsicht durchaus im Recht, und genau genommen, mache nicht ich ihm, sondern macht er mir die Braut abspenstig, mit der ich – nicht zu vergessen! – inzwischen schon ein nächtliches Stelldichein in der Laube gehabt habe. Und dann erlauben Sie mal: Waren Sie nicht selbst außer sich darüber, daß man Ihren lieben Onkel mit dieser Tatjana Iwanowna verheiraten will? Und nun treten Sie plötzlich für diese Ehe ein, reden von Familienbeleidigung und Ehre! Im Gegenteil: ich verpflichte mir Ihren Onkel ganz außerordentlich, ich rette ihn gewissermaßen – das müssen Sie doch einsehen! Er denkt mit Ekel an diese Heirat – und hinzu kommt noch, daß er ein anderes Mädchen liebt. Und was wäre denn Tatjana Iwanowna für eine Frau für ihn? Und auch sie würde doch mit ihm nur unglücklich werden; denn – sagen Sie, was Sie wollen – man wird sie dann doch zum mindesten im Zaume halten müssen, damit sie wenigstens jungen Herren keine Rosen zuwirft! Und wenn ich sie in der Nacht entführe, so kann doch weder die Generalin noch ein Foma Fomitsch als Hindernis in den Weg treten. Ein einmal entführtes Mädchen aber zu heiraten, das ist auch gerade keine Ehre. Also – verpflichte ich mir Jegor Iljitsch nicht zu ewigem Dank? Wende ich nicht ein großes Unglück von ihm ab?“
Dieses letzte Argument machte allerdings einen sehr starken Eindruck auf mich.
„Aber wenn er morgen bei ihr anhält?“ fragte ich. „Dann würde es doch zu spät sein – wenn sie seine offizielle Braut ist.“
„Selbstverständlich wäre es dann zu spät. Deshalb muß man auch schnell handeln, um dies zu verhüten. Weshalb und wozu habe ich Sie denn um Ihren Beistand gebeten? Allein würde es mir schwerfallen, vereint aber könnten wir alles gut einleiten und durchführen, können wir vor allem verhindern, daß Jegor Iljitsch bei ihr anhält. Man muß alles daransetzen, um das, wie gesagt, zu verhindern, muß im äußersten Fall – wenn’s nicht anders geht – Foma Fomitsch verprügeln und damit die allgemeine Aufmerksamkeit so ablenken, daß dann niemand mehr an Hochzeiten denkt. Selbstredend käme dieses Mittel nur für den äußersten Fall in Frage; wie gesagt, ich nahm es nur als Beispiel. Nun sehen Sie: In all diesen Beziehungen hoffe ich auf Sie.“
„Noch eine Frage, die letzte: Haben Sie außer mir niemandem etwas von Ihrem Plan gesagt?“
Misintschikoff kratzte sich ein wenig hinterm Ohr und schnitt eine überaus saure Grimasse.
„Ich will Ihnen gestehen,“ antwortete er, „daß diese Frage für mich schlimmer ist als die bitterste Pille. Das ist ja der Haken, daß ich meinen Plan schon einem anderen mitgeteilt habe ... Ich habe ... ich habe ... ich habe mir da einen verteufelten Brei eingebrockt! Und was glauben Sie wohl, wem ich ihn mitgeteilt habe? – Obnoskin! Ich begreife es selbst nicht, ich kann es mir selber gar nicht glauben! ... Ja, ich weiß nicht einmal, wie es eigentlich kam! Er scharwenzelte hier herum ... ich kannte ihn noch nicht näher, und als die Eingebung mich beglückte, da war ich natürlich wie im Fieber – ... und da ich mir gleichzeitig sagte, daß ich ohne einen Helfershelfer nicht auskommen würde, so wandte ich mich eben an Obnoskin. ... Unverzeihlich von mir, unverzeihlich!“
„Nun, und Obnoskin?“
„O, er war mit Begeisterung zu allem bereit, aber am nächsten Morgen verschwand er. Nach drei Tagen erschien er wieder – diesmal aber mit seiner Frau Mutter. Mit mir spricht er seitdem kein Wort und er meidet mich sogar auffallend: er scheint mich geradezu zu fürchten. Ich begriff natürlich sofort, um was es sich handelte. Seine Mutter ist ein so abgefeimtes, durchtriebenes Frauenzimmer, wie man ein zweites schwerlich finden könnte. Ich habe sie schon früher gekannt. Er hat ihr natürlich alles erzählt. Ich schweige vorläufig und warte ab. Sie spionieren hier jetzt eifrig herum, und die Situation ist sehr gespannt ... Deshalb beeile ich mich auch.“
„Was befürchten Sie denn von ihnen?“
„Großes werden sie freilich nicht ausrichten; daß sie aber Unfug anstiften werden, davon bin ich überzeugt. Wahrscheinlich werden sie fürs Schweigen und vielleicht auch für ihren Beistand Geld fordern – darauf bin ich schon gefaßt. Aber mehr als dreitausend bar – kann ich unmöglich. Urteilen Sie selbst: Dreitausend den Obnoskins, fünfhundert blank und bar für die Trauung und Entführung; denn dem Onkel muß unverzüglich die ganze Summe zurückgegeben werden. Dann noch alte Schulden. Nun, meiner Schwester noch eine kleine Summe, nicht viel, aber immerhin etwas. Was bleibt dann von hunderttausend noch übrig? Das ist doch der reine Bankrott! ... Die Obnoskins sind übrigens heute fortgefahren.“
„Fortgefahren?“ fragte ich interessiert.
„Sogleich nach dem Tee. Ach, zum Teufel mit ihnen! Morgen aber, das werden sie sehen, werden Mutter und Sohn wieder erscheinen. Nun, wie ist’s denn, sind Sie einverstanden?“
„Ich ... verzeihen Sie,“ begann ich zögernd in dieser etwas peinlichen Lage, „ich weiß nicht recht, was ich sagen soll. Die Sache ist etwas kitzlig ... Ich werde das Geheimnis natürlich heilig halten – ich bin nicht Obnoskin ... aber, ich glaube ... Sie können sich nicht auf meinen Beistand verlassen.“
„Ich sehe,“ sagte Misintschikoff ruhig und erhob sich vom Stuhl, „ich sehe, daß Foma Fomitsch und die Großmama Ihre Geduld noch nicht erschöpft haben, und daß Sie, wenn Sie Ihren guten, durch und durch edlen Onkel auch lieben mögen, dennoch nicht genügend begriffen haben, wie sehr er gequält wird. Sie sind hier noch Neuling ... Aber nur ein wenig Geduld! Wenn Sie nur den morgigen Tag noch miterleben, werden Sie schon am Abend einwilligen; denn sonst ist doch Ihr Onkel rettungslos verloren – Sie verstehen mich? Man wird ihn unfehlbar zwingen, Tatjana Iwanowna zu heiraten. Und vergessen Sie nicht, daß er vielleicht morgen schon anhalten wird. Dann werden wir zu spät kommen – man müßte sich also eigentlich schon heute entschließen.“
„Glauben Sie mir, ich wünsche Ihnen den besten Erfolg, aber helfen ... ich weiß nicht recht ...“
„Schon gut. Warten wir bis morgen,“ entschied Misintschikoff mit etwas spöttischem Lächeln. „La nuit porte conseil. Auf Wiedersehen! Ich werde morgen etwas früher zu Ihnen kommen, und Sie überlegen es sich inzwischen ...“
Er ging, irgend etwas vor sich hinpfeifend.
Ich trat fast unmittelbar nach ihm hinaus in den Garten, um mich zu erfrischen. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Die Nacht war dunkel, die Luft warm und schwül. Die Blätter der Bäume regten sich nicht. Ungeachtet meiner entsetzlichen Müdigkeit wollte ich etwas gehen, mich zerstreuen und doch wieder meine Gedanken sammeln. Ich war aber noch keine zehn Schritte gegangen, als ich die Stimme meines Onkels vernahm. Er stieg mit einem anderen die Treppenstufen zum Sommerhaus hinan und sprach lebhaft. Ich kehrte sofort zurück und rief ihn. Der andere war Widopljässoff.
„Onkel!“ rief ich, „da sind Sie ja endlich!“
„Freund, ich wollte mich die ganze Zeit losmachen, um zu dir zu kommen. Laß mich jetzt noch den Widopljässoff abfertigen, dann können wir uns ruhig aussprechen. Ich habe dir viel zu erzählen.“
„Wie, Sie wollen sich noch mit Widopljässoff abgeben! Schicken Sie ihn doch zum Teufel, Onkel!“
„Nur noch fünf, höchstens zehn Minuten, und ich gehöre dir allein, Ssergei. Sieh: es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit.“
„Ach, der Kerl kommt doch sicherlich nur mit Dummheiten!“ meinte ich ärgerlich.
„Ja, was soll ich dir nun sagen, mein Bester? Hättest du dir nicht eine andere Zeit wählen können, um mir mit diesen Kleinigkeiten zu kommen! Hast du denn wirklich keine andere Zeit, um deine Klagen vorzubringen, Grigorij? Nun, was kann ich denn für dich tun? Hab doch du wenigstens Mitleid mit mir! Ich werde ja doch von euch sozusagen wie eine Zitrone ausgepreßt, werde lebendig verzehrt, gierig verschlungen! Meine Kraft ist erschöpft, Ssergei!“
Und mein Onkel streckte die Arme auseinander, wie in aussichtsloser Verzweiflung.
„Was ist denn das für eine so wichtige Sache, daß sie sich nicht bis morgen früh aufschieben läßt? Ich hätte es dagegen so dringend nötig, mit Ihnen, Onkel, über Wichtiges zu reden ...“
„Ach Freund, es wird ja ohnehin schon laut genug geklagt und geschrien, daß ich mich um die Sittlichkeit meiner Leute nicht kümmere! Da könnte er sich ja morgen über mich beschweren, daß ich ihn nicht angehört hätte, und dann ...“
Und mein Onkel machte wieder seine bezeichnende Armbewegung.
„Na, dann fertigen Sie ihn schnell ab! Kann ich Ihnen nicht helfen? Gehen wir hinein. Was will er denn eigentlich?“ fragte ich, als wir ins Zimmer traten.
„Ja, sieh mal, Freund, sein Familienname gefällt ihm nicht, er bittet mich, ihm einen anderen zu verschaffen. Was sagst du dazu?“
„Sein Familienname gefällt ihm nicht? Wie das? ... Wissen Sie, Onkel, bevor ich ihn selbst anhöre, erlauben Sie, Ihnen zu sagen, daß nur in Ihrem Hause solche Wunderlichkeiten vorkommen können!“ Und vor lauter Nichtverstehenkönnen breitete ich kopfschüttelnd die Arme aus.
„Ach, Freund! Glaub mir, auch ich verstehe es, so die Arme auszubreiten, aber damit ist keinem geholfen!“ sagte mein Onkel etwas ärgerlich. „Versuch es doch, mit ihm zu reden, versuch’s nur. Schon ganze zwei Monate quält er mich damit ...“
„Es ist ein unbegründeter Familienname,“ bemerkte Widopljässoff von der Tür her.
„Warum denn ein unbegründeter?“ fragte ich ihn erstaunt.
„So. Ich meine, er stellt jede Abscheulichkeit dar, die man sich nur ausdenken kann.“
„Wieso – jede Abscheulichkeit? Und wie soll man ihn denn ändern? Wer tut denn so etwas überhaupt?“
„Ich bitte Euch, welcher Mensch hat denn einen solchen Familiennamen?“
„Ich gebe ja zu, daß dein Familienname zum Teil etwas eigenartig ist,“ fuhr ich in wachsender Verwunderung fort, „aber was läßt sich denn jetzt noch daran ändern? Dein Vater hat doch denselben Namen geführt?“
„Das ist durchaus wahr: daß ich durch meinen Vater dieserhalb zu ewigem Leiden verurteilt bin, da es mir beschieden ist, dank meinem Namen viel Spott und Schimpf ertragen zu müssen,“ antwortete Widopljässoff.
„Ich könnte wetten, Onkel, daß hinter dieser Idee Foma Fomitsch steckt!“ rief ich geärgert aus.
„Nein, nein, Freund, nein, da täuschst du dich! Es ist allerdings wahr, Foma tut ihm viel Gutes. Er hat ihn zu seinem Sekretär ernannt. In Sekretärobliegenheiten besteht jetzt seine ganze Beschäftigung. Nun und außerdem hat Foma selbstverständlich für seine geistige Entwicklung gesorgt, hat ihn zu wahrem Seelenadel erhoben, so daß ihm in gewisser Beziehung sogar ein Licht aufgegangen ist ... Hör, ich werde dir alles erzählen ...“
„Das stimmt genau,“ unterbrach Widopljässoff, „daß Foma Fomitsch mein wahrhaftiger Wohltäter sind, und da sie mein wahrhaftiger Wohltäter sind, haben sie mir auch meine ganze irdische Nichtigkeit mehrfach bewiesen, wie ich beispielsweise hier auf Erden nur ein Wurm bin, so daß ich nur dank ihrer Unterweisungen zum erstenmal mein Schicksal erkannt und vorausgesehen habe.“
„Hör mich an, Sserjosha, ich werde dir erzählen, um was es sich hier handelt,“ wandte sich mein Onkel eilig, wie es seine Art war, an mich wie an einen Schiedsrichter. „Er lebte zuerst, fast seit seiner Kindheit, in Moskau bei einem Schönschreiblehrer als – nun, so als dienstbarer Geist. Du müßtest sehen, wie er bei ihm die Schönschreibekunst erlernt hat: mit Farben und Gold ... und ... rund herum, weißt du, malt er dir noch Kupidos – mit einem Wort, ein Künstler! Iljuscha lernt jetzt bei ihm Schönschreiben. Zahle ihm anderthalb Rubel für die Stunde. Foma hat selbst den Preis bestimmt, anderthalb Rubel, wie gesagt. Er fährt außerdem zu drei benachbarten Gutsbesitzern ins Haus – die zahlen gleichfalls. Und sieh, wie er sich kleidet! Außerdem schreibt er Gedichte.“
„Gedichte! Das fehlte gerade noch!“
„Jawohl, Gedichte, Freund, glaub mir, Gedichte! Und denke nicht, daß ich scherze: wirkliche Gedichte, sag ich dir, Versifikationen, oder wie man es nennt, mit Reimen am Ende. Er behandelt alle Gegenstände, nimmt irgendein x-beliebiges Ding und beschreibt’s dir sofort in Versen. Ein richtiges Talent, sozusagen. Zum Namenstage meiner Mutter hatte er eine Epistel verfaßt, daß wir nur so die Münder aufsperrten: sogar aus der Mythologie hatte er was genommen, und die Musen schwebten in der Luft, so daß sogar, weißt du, diese ... wie heißt das Ding doch gleich? – na ja, diese Vollendung der Form zu sehen war, – mit einem Wort, jede Zeile klappte und reimte sich immer mit einer vorhergehenden. Foma hatte es korrigiert ... Nun, ich, natürlich – was sollte ich sagen? freute mich auch meinerseits. Mag er doch dichten, wenn er es nur nicht zu bunt treibt! Ich, weißt du, Grigorij,“ wandte er sich an Widopljässoff, „ich sage dir das ja nur wie ein Vater. Foma hörte davon, ließ sich das Gedicht bringen, munterte ihn noch auf und ernannte ihn sogleich zu seinem Vorleser und Schreiber, – mit einem Wort, er sorgte für seine Bildung. Das ist also durchaus wahr, was er da sagte: daß Foma sein Wohltäter sei. Nun und so, weißt du, hat sich so ein bißchen edle Romantik in seinem Kopf entwickelt und so ein Gefühl der Unabhängigkeit – das hat mir alles Foma erklärt; leider habe ich die Einzelheiten, Hand aufs Herz, wieder vergessen. Nun wollte ich – Ehrenwort! – ich wollte ihn ohnehin befreien, noch bevor Foma davon zu reden anfing. Es ist, weißt du, doch immer irgendwie ... man schämt sich gewissermaßen ... Ja, aber Foma war dagegen, er braucht ihn, er hat ihn liebgewonnen. Und dann sagt er: mir, seinem Herrn, gereiche es zur größeren Ehre, wenn ich unter meinen Leibeigenen Dichter habe, – es habe irgendwo mal solche Barone gegeben oder Ritter, na, kurz und gut – das sei en grand. Nun, soll’s einmal en grand sein, dann meinetwegen en grand! Ich habe ihn, den Grigorij, schon achten gelernt – verstehst du das? ... Aber Gott weiß, wie er sich aufführt. Am schlimmsten ist, daß er, nachdem er sein Gedicht verfaßt hat, vor dem ganzen übrigen Gesinde die Nase in die Höhe zieht und mit den anderen nicht einmal mehr sprechen will. Doch fühl dich nicht gekränkt, Grigorij, ich sage es nur wie ein Vater von dir. Im letzten Winter wollte er heiraten: es ist hier ein junges Mädchen, vom Hofgesinde, Matrjona, und, weißt du, so ein nettes, ehrliches, arbeitsames, lustiges Mädel. Na, und nun will er sie plötzlich nicht, sagt ab. Ist er jetzt so hoher Meinung von sich oder beabsichtigt er, zuerst berühmt zu werden und dann bei einer anderen anzuhalten ...“
„Mehr auf den Rat Foma Fomitschs hin,“ bemerkte Widopljässoff, „da Sie mein wahrhaftiger Wohltäter sind ...“
„Aber natürlich! Wie wäre denn hier etwas ohne Foma Fomitsch möglich!“ rief ich unwillkürlich aus.
„Ach, Freund, nicht darum handelt es sich!“ unterbrach mich mein Onkel eilig, „sieh mal: jetzt lassen sie ihm keine Seelenruh. Jenes Mädchen, ein gewandtes und gescheites Ding, hat jetzt alle gegen ihn aufgehetzt: sie necken und foppen ihn beständig – und sogar die kleinen Hofjungen behandeln ihn wie einen Narren ...“
„Was mehr auf Matrjona zurückzuführen ist,“ bemerkte wieder Widopljässoff; „denn sie ist eine echte dumme Gans, und da sie eine echte dumme Gans ist, ist sie, was ihren Charakter angeht, ein unbeflügeltes Weibsbild. Auf diese Weise bin ich zu ewigem Leiden in meinem Leben verdammt.“
„Ach, Grigorij, ich habe es dir doch gesagt,“ fuhr mein Onkel fort, nach einem vorwurfsvollen Blick auf Widopljässoff. „Sieh mal, Ssergei, die Hofleute haben nun glücklich ein schmutziges Wort gefunden, das sich auf seinen Namen reimt. Und jetzt kommt er zu mir, beklagt sich und bittet, ihm einen anderen Familiennamen zu geben, sagt, daß er schon lange unter dem Mißklang desselben gelitten habe ...“
„Es ist kein veredelter Name,“ bemerkte wieder Widopljässoff.
„Na, du schweige mal jetzt, wenn ich rede, Grigorij! Foma hat ihn darin natürlich bestärkt ... das heißt ... nicht gerade, daß er den Einfall gutgeheißen hätte; aber sieh, es handelt sich um folgende Erwägung: wenn nun, nehmen wir an, seine Gedichte gedruckt werden, was Foma projektiert, so kann ein solcher Familienname ihm doch geradezu schaden – nicht wahr?“
„So will er seine Gedichte drucken lassen, Onkel?“
„Drucken, drucken, Freund. Das ist schon beschlossene Sache – auf meine Rechnung, – und auf dem Titelblatt wird stehen, daß sie von einem Leibeigenen Soundso verfaßt sind, und im Vorwort, das Foma schreiben wird, soll der Dank des Autors für die ihm gebotene Bildung ausgesprochen werden. Das Ganze ist Foma gewidmet. Foma wird, wie gesagt, selbst eine Einleitung schreiben. Und nun denke dir, wenn auf dem Titelblatt steht: ‚Widopljässoffs Gedichte‘ ...“
„‚Widopljässoffs Wehklagen‘,“ korrigierte Widopljässoff.
„Nun, sieh – dazu noch Wehklagen! Was ist denn Widopljässoff für ein Name? Er verletzt ja geradezu unser Zartgefühl. Das sagt auch Foma. Die Kritiker aber sollen, wie es heißt, alle sehr unangenehme Spötter sein. Zum Beispiel unser großer Kritiker der ‚Moskauer Nachrichten‘ ... Die nehmen auf nichts Rücksicht. Sie können ihn ja einzig wegen seines Familiennamens unmöglich machen – nicht wahr? Nun, ich meine: mag er doch gleichviel welch einen Namen auf seinen Buchdeckel schreiben – wie nennt man das doch gleich ... Pseudonym, glaube ich, oder so ungefähr, jedenfalls etwas mit ‚nym‘. Aber nein, damit ist er nicht einverstanden; er will, daß ich dem ganzen Hofgesinde anbefehle, ihn sein Leben lang nur bei einem ganz neuen Namen zu nennen, damit er, seinem Talent entsprechend, wie gesagt, einen ‚veredelten Namen‘ habe ...“
„Ich könnte wetten, daß Sie es ihm auch versprochen haben, Onkel.“
„Ich ... weißt du, Freund Sserjosha, nur um mit ihnen nicht wieder in Streit zu geraten ... Laß gut sein! Es war damals zwischen uns, Foma und mir, hm! ... so ein Mißverständnis – du verstehst schon. Nun, und seit der Zeit gibt es in jeder Woche einen anderen Familiennamen, und immer wählt er sich so zarte Bedeutungen aus: Oleandroff, Tulpenoff ... Sag doch selbst, Grigorij, denk doch nach: Zuerst batest du, daß man dich Wernyj[3] nenne, ‚Grogorij Wernyj‘. Dann aber gefiel dir der Name nicht mehr, weil irgendein Hofbengel einen Reim gefunden hatte und dich ‚Skwernyj‘[4] nannte. Du beklagtest dich: der Bengel wurde bestraft. Zwei Wochen lang dachtest du dir einen anderen Namen aus. Endlich hattest du dich entschlossen: Kamst, batest, man solle dich ‚Ulanoff‘ nennen. Aber sag doch selbst, kann es denn einen dümmeren Namen als ‚Ulanoff‘ überhaupt geben? Doch ich war auch damit einverstanden: befahl von neuem, dich nur noch ‚Ulanoff‘ zu nennen. Ich tat es nur, Freund“ – mein Onkel wandte sich wieder an mich – „um die Sache vom Halse zu haben. Drei Tage lang hießest du ‚Ulanoff‘. Du hast alle Wände, alle Fensterbretter im Pavillon verdorben; denn, weißt du, Sserjosha, er hat überall seinen Namenszug angebracht: ‚Grogorij Ulanoff‘. Später mußte dann alles mit weißer Farbe übergestrichen werden. Du hast ein ganzes Buch holländisches Papier zur Übung deiner Unterschrift verbraucht: ‚Ulanoff – Schriftprobe – Ulanoff – Schriftprobe‘. Na, dann war ihm auch Ulanoff nicht recht: auf Ulanoff reimt sich zum Unglück ‚Bolwanoff‘[5]. ‚Ich will vom Gesinde nicht Bolwanoff genannt werden,‘ sagte er – und wieder mußte der Name geändert werden! Wie hießest du dann noch, ich habe es vergessen.“
„‚Tanzeff‘,“ antwortete Widopljässoff. „Wenn es mir durch meinen Namen Widopljässoff auferlegt ist, einen Hampelmann darzustellen, dann möge es doch wenigstens eine veredelte, eine ausländische Benennung sein: Tanzeff.“
„Richtig: ‚Tanzeff‘. Nun, Freund, weißt du, ich war auch damit einverstanden. Aber die Hofbengel sind dann auf einen solchen Reim verfallen, daß man ihn überhaupt nicht aussprechen darf. Heute kommt er wieder, will wieder einen neuen Namen haben. Ich wette, daß du ihn schon in Bereitschaft hast. Nun, hab’ ich nicht recht, Grigorij, heraus mit der Sprache!“
„Ich habe dieserhalb schon seit langem die Absicht, Euch meinen neuen Namen zu Füßen zu breiten: einen neuen veredelten.“
„Und wie lautet er denn?“
„Esbuketoff.“
„Was? Und du schämst dich nicht, Grigorij? Ein Name, von der Pomadenbüchse genommen! Du willst doch ein vernünftiger Mensch sein! Und wie lange du darüber gebrütet haben wirst! Nicht wahr, den hast du auf der Parfümflasche gelesen?“
„Erbarmen Sie sich, Onkel,“ sagte ich halblaut zu ihm, „der Kerl ist doch ein Esel, ein ausgesprochener Narr!“
„Was soll ich denn tun, Freund?“ fragte mein Onkel gleichfalls halblaut zurück. „Rund herum versichern alle, daß er klug und so begabt sei, und daß dies nur die edlen Gefühle seien, die sich in ihm regten ...“
„So schicken Sie ihn doch um Christi willen zum Teufel, machen Sie sich doch endlich von ihm los!“
„Hör mal, Grigorij! Sieh, mein Lieber, ich habe doch bei Gott keine Zeit!“ begann mein Onkel mit einer geradezu bittenden Stimme, als fürchte er sogar seinen eigenen Diener. „Nun, sag doch selbst, wie kann ich mich denn jetzt mit deinen Klagen befassen! Du sagst, man hätte dich wieder gekränkt? Nun gut, also höre: ich gebe dir hiermit mein Ehrenwort, daß ich morgen die ganze Angelegenheit erledigen werde, jetzt aber geh mit Gott ... Wart! Was macht Foma Fomitsch?“
„Haben sich zur Ruhe begeben. Geruhten nur zu befehlen, falls jemand nach ihnen fragen sollte, dann zu sagen, daß sie diese Nacht im Gebet kniend zu verbringen gedächten.“
„Hm! Nun, geh mal, geh! – Sieh, Sserjosha, er ist beständig bei Foma, so daß ich ihn ordentlich fürchte. Und das Hofgesinde liebt ihn ja auch nur deshalb nicht, weil er Foma alles hinterbringt. Jetzt ist er gegangen, aber wer weiß, ob er nicht morgen irgend etwas klatschen wird. Aber jetzt habe ich alles gut gemacht, Freund. Ich bin jetzt ganz ruhig ... Es drängte mich nur zu dir ... Gott sei Dank, jetzt habe ich dich endlich wieder!“ sagte er mit innigem Gefühl, und er drückte fest meine Hand. „Weißt du, ich glaubte und fürchtete schon, daß du ernstlich böse seist und mir entschlüpfen würdest. Ich habe sogar auf dich aufpassen lassen, damit du mir nicht entwischst! Nun, Gott sei Dank! Jetzt ist’s überstanden! Aber vorhin – was? – der alte Gawrila? – was er ihm da sagte! Und auch Falalei, und du! – eins zum anderen! Nun, Gott sei Dank, Gott sei Dank! Endlich kann ich mich mit dir aussprechen. Werde dir mein ganzes Herz ausschütten. Du, Ssergei, fahre mir nur nicht fort: du bist der einzige, den ich habe, du und Korowkin ...“
„Aber, erlauben Sie, Onkel, was haben Sie denn dort ‚gut gemacht‘, und worauf soll ich denn hier noch warten, nach dem, was vorgefallen ist? Offen gestanden, mir dreht sich der Kopf im Kreise!“
„Ach – steht mein Kopf etwa still? Der tanzt schon seit einem halben Jahre Walzer! Aber Gott sei Dank! jetzt ist alles wieder gut. Man hat mir vor allen Dingen verziehen, vollkommen verziehen, unter verschiedenen Bedingungen natürlich: aber dafür bin ich jetzt ganz ruhig und brauche nichts mehr zu fürchten. Meiner Ssaschenjka haben sie gleichfalls alles verziehen. Aber die war doch vorhin, die war doch! – was? ... heißes Herzchen! Ließ sich bißchen hinreißen ... Aber hat doch ein goldenes Herzchen! Weißt du, ich bin sehr stolz auf mein kleines Mädchen, Sserjosha. Möge Gott sie immer behüten. Dir wurde gleichfalls verziehen, und weißt du, sogar wie! – Du kannst alles tun, was du willst, kannst durch alle Zimmer gehen und auch im Garten spazieren, und sogar dann, wenn Gäste da sind – mit einem Wort, alles, was du willst; aber nur unter einer Bedingung, daß du morgen in Foma Fomitschs oder meiner Mutter Gegenwart nicht sprichst, nur unter der Bedingung! Also buchstäblich keine Silbe – ich habe es auch schon in deinem Namen feierlich versprochen, – und du wirst nur zuhören, was die Älteren ... Das heißt, ich wollte sagen, was die anderen sprechen. Sie sagten, du seist noch zu jung. Du, Ssergei, nimm es nicht übel; denn schließlich bist du ja auch wirklich noch jung ... Auch Anna Nilowna sagt es ...“
Allerdings war ich damals noch sehr jung, was ich sofort dadurch bewies, daß ich ob solcher beleidigenden Bedingungen in helle Empörung geriet.
„Hören Sie, Onkel!“ rief ich heftig aus, „sagen Sie mir bitte nur eines, und beruhigen Sie mich wenigstens in dieser Hinsicht: Befinde ich mich hier tatsächlich in einer Irrenanstalt, oder –?“
„Da haben wir’s, Freund, du willst gleich Kritik üben! Konntest du denn das auf keine Weise unterdrücken?“ sagte er betrübt. „Durchaus nicht in einer Irrenanstalt! Wir sind nur so von beiden Seiten ein wenig in Eifer geraten. Aber du mußt doch zugeben, Freund, daß auch du dich nicht ganz comme il faut benommen hast. Du entsinnst dich doch noch dessen, was du ihm an den Kopf warfst, – einem Manne, der doch immerhin in ehrwürdigem Alter steht!“
„Solche Leute wie er haben kein ehrwürdiges Alter, Onkel.“
„Na, Freund, das ist denn doch etwas über die Schnur gehauen! Das ist mehr als Freidenkertum. Ich habe ja selbst nichts gegen ein vernünftiges Freidenkertum, aber das ist denn doch etwas zu stark – das heißt ... ich meine ... ich – du hast mich eigentlich überrascht, Ssergei.“
„Seien Sie mir nicht böse, Onkel, ich sehe meine Schuld vollkommen ein, meine Schuld vor Ihnen. Was aber Ihren Foma Fomitsch betrifft ...“
„Da haben wir’s! Nun auch noch ‚Ihren‘ Foma Fomitsch! Ach, Freund, beurteile ihn nicht gar zu streng: er ist etwas misanthropisch veranlagt – und das ist alles ... und ein bißchen kränklich. Man darf ihn nicht so streng beurteilen. Dafür aber ist er ein edler Mensch, der edelste, kann man sagen, von allen! Du warst ja doch vorhin selbst Zeuge – er leuchtete förmlich! Und daß er zuweilen so seine kleinen Eigenheiten hat und uns ein Stückchen spielt – lohnt es sich denn, das zu beachten? Bei wem kommt denn so etwas nicht vor?“
„Im Gegenteil, Onkel, bei wem kommt denn so etwas überhaupt vor?“
„Ach, da kommst du wieder damit! Gutmütig bist du gerade nicht, Sserjosha; zu verzeihen verstehst du nicht! ...“
„Nun gut, Onkel, gut, lassen wir das. Sagen Sie, haben Sie Nastassja Jewgrafowna gesehen?“
„Ach, Freund, um sie allein handelte sich ja alles. Sieh, Sserjosha, erstens – und das ist das wichtigste –: wir haben beschlossen, ihn morgen alle zum Geburtstage zu beglückwünschen, – Foma, meine ich – weil nämlich morgen wirklich sein Geburtstag ist. Ssaschenjka ist ein gutes Kind, aber hierin täuschte sie sich. Wir werden also alle, die ganze Karawane, zu ihm gehen, noch vor dem Frühgottesdienst. Iljuschka wird ein Gedicht vortragen, so daß er sich sehr geschmeichelt fühlen wird. Wenn doch auch du ihn, Sserjosha, zusammen mit uns beglückwünschen würdest! Er würde dir dann vielleicht alles verzeihen. Und wie gut das doch wäre, wenn ihr euch aussöhnen würdet! Vergiß, Freund, die Kränkung, du hast ihn ja doch auch gekränkt, Sserjosha ... Er ist ein so ehrenwerter Mensch ...“
„Onkel, um’s Himmels willen, ich habe von so wichtigen Dingen mit Ihnen zu reden, Sie aber ... Wissen Sie denn,“ fragte ich nochmals, „wissen Sie denn, was mit Nastassja Jewgrafowna geschehen ist?“
„Was, Freund, wie? Was fehlt dir? Weshalb bist du so heftig? Aber ihretwegen hat doch die ganze Geschichte vorhin angefangen! Übrigens hat sie nicht erst vorhin, sondern schon vor langer Zeit angefangen. Ich wollte dir davon nur jetzt noch nichts sagen, um dich nicht zu erschrecken ... Man wollte sie einfach hinausjagen, nun, und von mir verlangt man, daß ich sie nach Hause schicke. Du kannst dir meine Lage vorstellen ... Nun, Gott sei Dank! Jetzt ist alles wieder gut. Sie dachten nämlich, sieh mal, – ich werde dir lieber schon alles sagen – sie glaubten, daß ich selbst in sie verliebt sei und sie heiraten wollte, kurz und gut, daß ich sie in mein eigenes Unglück hineinzureißen beabsichtigte – denn das wäre es wirklich. So haben sie mir auch alles erklärt ... und daher, um mich zu retten, hatten sie beschlossen, sie hinauszujagen. Vor allem meine Mutter, aber hauptsächlich Anna Nilowna. Foma schweigt vorläufig noch. Aber jetzt habe ich sie alle beruhigt, und ich will dir sogleich gestehen: Ich habe dort gesagt, du seist bereits mit Nastenjka verlobt – und nur deshalb hergekommen. Nun, das beruhigte sie zum Teil, und sie kann jetzt hierbleiben. Und auch du bist jetzt in ihrer Meinung sehr gestiegen, nachdem ich erklärt habe, daß du als Freier hier auftrittst. Wenigstens hat sich meine Mutter allem Anschein nach beruhigt. Nur Anna Nilowna Perepelizyna hat immer noch etwas auszusetzen. Ich weiß wirklich nicht, was ich noch tun soll, um es ihr recht zu machen. Ja, was die nur wollen mag, wirklich, diese Anna Nilowna?“
„Onkel, lieber Onkel, Sie sind ja auf ganz falschem Wege, Sie täuschen sich vollkommen! So hören Sie denn, daß Nastassja Jewgrafowna morgen von hier fortfahren wird, wenn sie inzwischen nicht schon fortgefahren sein sollte! Wissen Sie denn nicht, daß ihr Vater heute nur deshalb hergekommen ist, um sie mitzunehmen? – daß schon alles beschlossen ist, daß sie es mir heute selbst gesagt und mir zum Schluß aufgetragen hat, Sie zu grüßen – wissen Sie das oder wissen Sie das nicht?“
Mein Onkel blieb so, wie er vor mir stand, wie erstarrt stehen und vergaß sogar, den Mund zu schließen. Es schien mir, daß sich alles zusammenkrampfte in ihm, und ein Stöhnen rang sich aus seiner Brust.
Ohne jetzt noch zu zögern, erzählte ich ihm mein ganzes Gespräch mit Nastenjka, meinen Antrag, ihre entschiedene Absage, ihren Ärger über ihn, meinen Onkel, weil er mich brieflich hergerufen hatte. Ich sagte, daß sie mit ihrer Abreise ihn vor der Ehe mit Tatjana Iwanowna bewahren wolle – kurz, ich verschwieg nichts; ja, ich übertrieb noch, was es an Unangenehmem in diesen Nachrichten gab. Ich wollte ihn schmerzhaft treffen, wollte ihn endlich zu entschlossenem Eingreifen zwingen – und es gelang mir wirklich, ihn wenigstens zu erschrecken. Er schrie plötzlich auf und griff sich an den Kopf.
„Wo ist sie jetzt, weißt du das? Wo ist sie jetzt?“ fragte er endlich, bleich vor Angst. „Und ich, ich war bereits ruhig, glaubte, alles sei jetzt wieder gut!“ rief er verzweifelt aus.
„Ich weiß nicht, wo sie augenblicklich ist; nur ging sie vorhin, als sich dort im Zimmer das Geschrei erhob, zu Ihnen: sie wollte alles, was ich Ihnen soeben erzählt habe, denen da selbst sagen. Wahrscheinlich ist sie nicht zugelassen worden.“
„Das fehlte noch, daß man sie zugelassen hätte! Gott, was hätte sie dann angerichtet! Ach Gott, was sie sich da wieder in ihr stolzes Köpfchen gesetzt haben mag! Und wohin will sie denn gehen, wohin? Wohin? Aber du, du bist auch gut! Warum hat sie dir denn abgesagt? Unsinn! Du mußt ihr gefallen! Weshalb hast du ihr denn nicht gefallen? So antworte doch, um Gottes willen, was stehst du denn da und schweigst!“
„Aber – Onkel! Wie kann man nur solche Fragen stellen?“
„Es ist doch unmöglich! Du mußt, du mußt sie heiraten! Wozu habe ich dich denn aus Petersburg hergebeten? Du mußt sie glücklich machen! Jetzt will man sie von hier fortschicken, wenn sie aber deine Frau und meine Nichte ist – dann wird man sie nicht mehr fortjagen können. Und wohin will sie denn gehen? Was soll aus ihr werden? Eine Gouvernantenstelle? Aber das ist doch Unsinn – Gouvernante! Und bis sie eine Stelle findet – wovon sollen die Ihrigen so lange leben? Der Vater hat ja ganze neun zu ernähren! Die haben selbst nichts zu beißen! Sie wird ja doch keine Kopeke von mir annehmen, wenn sie wegen dieser schmutzigen Verleumdungen fortgeht, weder sie noch ihr Vater. Und wie soll sie dann in dieser Weise mein Haus verlassen? Entsetzlich! Und ohne Skandal ist es ganz undenkbar – das weiß ich. Und ihr Gehalt ist schon vorausbezahlt, sie hatten es für den Lebensunterhalt nötig ... sie allein ernährt sie doch. Nun, sagen wir, ich empfehle sie, finde für sie eine ehrliche und ehrenwerte Familie ... aber Teufel noch eins! – woher nimmst du sie denn, diese ehrenwerten, wirklich ehrlichen Menschen? Na, gut, sagen wir, es gibt sogar sehr viele solcher, – wozu Gott erzürnen! – aber es ist doch, Freund, immerhin gefährlich: kann man sich denn auf die Menschen verlassen? Zudem ist doch ein armer Mensch immer mißtrauisch: es scheint ihm unwillkürlich, daß man ihn das Brot und die Freundlichkeit mit seiner Erniedrigung bezahlen läßt! Man wird sie sicherlich kränken, sie aber ist stolz, und dann ... ja, und was dann? Und was dann, wenn schließlich noch so ein elender Verführer hinzukommt? ... Sie wird ihn ohrfeigen, – ich weiß, daß sie ihn ohrfeigen wird – aber er wird sie doch beleidigen, der Schurke! Und sie kann dann doch immer in üblen Leumund geraten, ein Schatten, ein Verdacht kann auf sie fallen – was dann? ... Mein Kopf, mein Kopf droht mir zu zerspringen! Großer Gott!“
„Onkel! Verzeihen Sie mir, wenn ich eine Frage an Sie richte,“ sagte ich plötzlich feierlich. „Seien Sie mir nicht böse und vergessen Sie nicht, daß Ihre Antwort auf diese Frage vieles entscheiden kann. Ich habe zum Teil sogar das Recht, von Ihnen eine Antwort zu verlangen, Onkel.“
„Was, was meinst du? Was für eine Frage?“
„Sagen Sie mir wie vor Gott, offen und ohne Umschweife: Empfinden Sie nicht, daß Sie selbst in Nastassja Jewgrafowna ein wenig verliebt sind und sie gern selbst heiraten würden? Bedenken Sie doch nur: einzig wegen dieser Befürchtung will man sie doch aus dem Hause entfernen.“
Mein Onkel machte eine energische Geste wie in heftigster Ungeduld.
„Ich? Verliebt? In sie? Ihr seid wohl alle nicht recht bei Troste oder habt euch gegen mich verschworen! Wozu habe ich denn dich herbestellt, wenn nicht, um ihnen allen endlich zu beweisen, daß sie nicht recht gescheit sind? Weshalb will ich denn dich mit ihr verheiraten? Ich? In sie? Ver... Verliebt? Ihr seid wohl wirklich alle ...!“
„Wenn es sich so verhält, Onkel, dann erlauben Sie mir, alles auszusprechen. Ich erkläre Ihnen hiermit feierlich, daß ich in dieser Annahme entschieden nichts Schlechtes finden kann. Im Gegenteil, Sie würden sie überaus glücklich machen, wenn Sie sie nun einmal so lieben, und – und Gott gebe es! Möge Gott Ihnen Liebe und Rat schenken!“
„Aber, um’s Himmels willen, was redest du da!“ rief mein Onkel fast entsetzt aus. „Ich wundere mich nur, wie du das so kaltblütig aussprechen kannst ... und ... überhaupt, Freund, eilst du immer irgendwohin – diesen Zug habe ich schon an dir bemerkt! Ist denn das nicht einfach sinnlos, was du da sagst? Wie, sag doch selbst, wie soll ich sie denn heiraten, wenn ich sie gewissermaßen als meine Tochter betrachte? Ja, eben nur wie ein Vater seine Tochter und nicht anders! Es wäre sogar eine Schande und eine Sünde, wenn ich anders auf sie blicken würde! Ich – ein Greis, und sie – ein kleines Mädchen! Sogar Foma hat es mir genau so in diesen Ausdrücken erklärt. Ich empfinde nur väterliche Liebe für sie in meinem Herzen, und da kommst du nun mit Eheschließung! Sie würde ja vielleicht aus Dankbarkeit nicht absagen, aber dann müßte sie mich doch ewig verachten, wenn ich ihre Dankbarkeit in dieser Weise ausnutzte. Ich würde sie nur unglücklich machen und ... und würde ihre Anhänglichkeit verlieren! Ach, ich würde ihr ja meine ganze Seele hingeben, mein kleines Mädchen, das heißt ... Sie ... sie ... Ich liebe sie ebenso wie Ssaschenjka, sogar mehr, aber das will ich nur dir allein gestehen; denn Ssaschenjka ist, siehst du, sowieso meine Tochter, nach dem Gesetz und mit Recht, diese aber habe ich durch meine Liebe zu meiner Tochter gemacht. Ich habe sie aus armen Verhältnissen zu mir genommen. Auch Katjä, mein toter Liebling, hat die Kleine geliebt und hat sie mir als Tochter hinterlassen. Ich habe sie gut erziehen lassen: französische Stunden und Klavierstunden und Literaturstunden – kurz und gut, alles was dazu gehört. Was für ein Lächeln sie hat! Hast du es nicht bemerkt, Sserjosha? Man glaubt, sie lache über einen, indessen lacht sie gar nicht, sondern, im Gegenteil, liebt dich ... Ich ... sieh, ich glaubte, du würdest kommen, bei ihr anhalten – dann würden sie sich alle überzeugen, daß ich keine ... Absichten auf sie habe, und würden dann endlich aufhören, alle diese dummen, schmutzigen Geschichten über sie zu verbreiten. Sie würde dann hier bei uns in Ruhe und Frieden leben: und wie würden wir alle glücklich sein! Ihr seid ja beide meine Kinder, beide gewissermaßen Waisen, beide seid ihr unter meiner Vormundschaft aufgewachsen ... ich würde euch beide so lieben, so lieben! Ich würde euch mein ganzes Leben hingeben, niemals mich von euch trennen, überall würde ich bei euch sein! Ach, wie glücklich wir doch sein könnten! Und warum nur ärgern sich die Menschen, warum sind sie alle so böse, warum hassen sie einander? Ich ... ich würde sie alle einmal so fest in meine Arme nehmen und es ihnen so recht von Herzensgrund erklären wollen! Würde ihnen so die ganze Herzenswahrheit zeigen! Ach, du, Grundgütiger!“
„Onkel, Sie haben in allem vollkommen recht, nur ändert das an der Tatsache nichts, daß sie mir einen Korb gegeben hat.“
„Einen Korb! ...? ... Hm! ... Aber weißt du, es ist mir doch, als hätte ich es vorausgefühlt, daß sie dir absagen würde,“ sagte er nachdenklich. „Aber nein!“ rief er aus, „ich glaube es nicht! Das ist unmöglich. In dem Falle würde ja nichts zustande kommen! Sicherlich hast du es irgendwie ungeschickt angefangen, hast sie vielleicht sogar gekränkt oder ihr womöglich Komplimente zu machen versucht ... Erzähle mir noch einmal, wie es war, Ssergei!“
Ich wiederholte alles noch einmal ganz ausführlich. Als ich sagte, daß Nastenjka mit ihrer Entfernung ihn, meinen Onkel, vor der Ehe mit Tatjana Iwanowna bewahren wolle, lächelte er bitter.
„Bewahren!“ sagte er. „Bewahren bis morgen!“
„Sie wollen doch damit nicht sagen, daß Sie Tatjana Iwanowna heiraten werden?“ rief ich erschrocken aus.
„Womit habe ich es denn erkauft, daß Nastjä morgen nicht hinausgeworfen wird? Morgen noch werde ich anhalten – ich habe es versprochen.“
„Wie, Sie haben sich dazu entschließen können, Onkel?“
„Was sollte ich tun, Freund, es war nichts zu wollen! Es zerreißt mir ja das Herz, aber ich habe mich entschlossen. Morgen halte ich um sie an ... die Hochzeit soll still gefeiert werden, nur im Familienkreise. Es ist auch besser so, Freund. Du wirst natürlich mein Ehrenmarschall sein ... bei der Trauung. Das habe ich auch drüben schon angedeutet, so daß sie dich bis dahin bestimmt nicht vor die Tür setzen werden. Was soll man denn tun, Freund? Sie sagen: ‚Du machst deine Kinder steinreich!‘ Natürlich, was ist man für seine Kinder nicht zu tun bereit! Selbst auf den Kopf stellt man sich ... um so mehr, als es ja auch im Grunde ganz richtig so ist. Und ich muß doch etwas für meine Familie tun! Ich kann doch nicht immer dieser Egoist bleiben!“
„Aber, Onkel, sie ist doch verrückt!“ rief ich aus, ohne im Augenblick daran zu denken, daß sie ja doch schon so gut wie seine Braut war. Mein Herz krampfte sich zusammen vor Schmerz.
„Na, jetzt erklärst du sie sogar schon für verrückt! Sie ist durchaus nicht verrückt, Freund, sondern ... nur so, weißt du, sie hat viel Schweres durchgemacht ... Was soll man denn tun, Freund, ich wäre ja auch froh, eine mit vollem Verstande ... Aber übrigens, was für welche gibt es nicht auch unter denen, die geistig normal sind! Und wenn du wüßtest, wie gut sie ist, wie edelmütig ...“
„Großer Gott! Er söhnt sich mit dem Gedanken bereits aus!“ Ich war im Begriff, zu verzweifeln.
„Aber was soll ich denn tun, wenn ich mich nicht aussöhne? Und sie wollen das alles doch nur zu meinem Besten, und ... und schließlich sah ich ein, daß ich früher oder später doch daran werde glauben müssen, davor wird mich keiner retten: sie werden mich zu zwingen verstehen, sie zu heiraten. Deshalb ist es doch besser, sich sogleich zu entschließen, als erst noch lange herumzustreiten. Ich werde dir, Freund, alles ganz offen sagen: weißt du, ich bin zum Teil sogar ganz froh darüber. Hat man sich entschlossen, so hat man sich entschlossen – dann ist es wenigstens erledigt, und man hat es hinter sich. Man fühlt sich auch ruhiger, weißt du. Ich, siehst du, ich kam ja auch schon ganz ruhig hierher. Aber so will es wahrscheinlich mein Stern! Und die Hauptsache, unser Gewinn sozusagen, ist doch, daß Nastjä bei uns bleibt. Ich habe doch nur unter dieser Bedingung eingewilligt. Und nun will sie selbst fortgehen! Das darf nicht sein!“ Mein Onkel stampfte mit dem Fuß auf. „Hör, Ssergei,“ fuhr er plötzlich entschlossen fort, „erwarte mich hier, bleibe hier im Zimmer, ich werde im Augenblick wieder hier sein.“
„Wohin, wohin gehen Sie, Onkel?“
„Vielleicht treffe ich sie, Ssergei. Dann wird sich alles aufklären, glaube mir, alles wird sich aufklären und ... und ... du wirst sie heiraten – ich gebe dir mein Ehrenwort!“
Mein Onkel verließ das Zimmer, schlug aber, wie ich sah, nicht den Weg zum Hause ein, sondern ging noch tiefer in den Garten, in der Richtung auf den Weiher. Ich blickte ihm durch das Fenster nach.
Ich war allein. Die Lage, in der ich mich befand, war unerträglich: Ich hatte einen Korb erhalten, und mein Onkel wollte mich ungeachtet dessen mit Gewalt verheiraten. Meine Gedanken schweiften unruhig umher, doch ich konnte keinen ruhig zu Ende denken. Misintschikoff und sein Vorschlag wollten mir nicht aus dem Sinn. Es galt, was es auch koste, meinen Onkel zu retten. Ich dachte sogar daran, Misintschikoff unverzüglich aufzusuchen und ihm alles zu erzählen ... Aber wohin war mein Onkel gegangen? Er hatte gesagt, daß er Nastenjka sprechen wolle, und hatte doch den Weg in den Garten eingeschlagen. Einen Augenblick dachte ich an heimliche Zusammenkünfte, und ein unangenehmes Gefühl regte sich in meinem Herzen. Mir fielen Misintschikoffs Worte ein: daß sie heimliche Beziehungen zueinander hätten ... Ich sann nach – wies dann aber jeden Verdacht unwillig von mir. Nein, mein Onkel konnte nicht betrügen, das lag ja auf der Hand. Doch meine Unruhe wuchs mit jeder Minute. Fast unbewußt trat ich hinaus auf die Treppe und ging dann in Gedanken versunken dieselbe Allee entlang, die mein Onkel verfolgt hatte. Der große Sommermond stand rot und noch niedrig über dem Horizont. Ich kannte den Garten gut und brauchte nicht zu fürchten, irrezugehen. Als ich mich der alten Laube näherte, die einsam am Ufer des schlammigen, schilfbewachsenen Weihers stand, blieb ich plötzlich wie angewurzelt stehen: ich vernahm deutlich Stimmengeflüster, das aus der Laube kam. Ich kann nicht sagen, welch ein eigenartig ärgerliches Gefühl mich erfaßte! Ich war überzeugt, daß mein Onkel und Nastenjka dort saßen, und ich ging geradeaus weiter, indem ich auf alle Fälle mein Gewissen wenigstens damit beruhigte, daß ich denselben Schritt beibehielt und mich nicht etwa unbemerkt heranzuschleichen suchte. Da vernahm ich plötzlich, daß zwei sich küßten, und darauf folgte eine Menge begeisterter Worte und dann – ein durchdringender weiblicher Schrei! Fast im selben Augenblick aber lief oder flog auch schon eine weißgekleidete Dame wie eine Schwalbe an mir vorüber. Es schien mir, daß sie das Gesicht mit den Händen bedeckt hatte, um nicht erkannt zu werden. Man hatte mich also aus der Laube bemerkt. Wie groß aber war meine Verwunderung, als ich in dem Herrn, der nach der aufgescheuchten Dame aus der Laube trat, – Obnoskin erkannte, Obnoskin, der nach Misintschikoffs Behauptung Stepantschikowo bereits verlassen hatte! Auch Obnoskin war nicht wenig verwirrt: seine sonst so anmaßende Haltung war völlig verschwunden.
„Entschuldigen Sie, aber ... ich hatte nicht erwartet, mit Ihnen hier zusammenzutreffen,“ brachte er stotternd und mit verlegenem Lächeln hervor.
„Dasselbe kann ich auch von mir sagen,“ entgegnete ich spöttisch, „um so mehr, als ich gehört habe, daß Sie bereits fortgefahren seien.“
„Nein ... das war nur so ... ich begleitete nur meine Mutter ... eine Strecke ... Aber darf ich mich an Sie mit einer Bitte wenden; denn ich weiß, daß Sie ein ehrenwerter Mensch sind ...“
„Und diese Bitte wäre?“
„Es gibt Fälle – und Sie werden mir darin zustimmen – in denen ein wirklich edler Mensch gezwungen ist, an den ganzen Edelmut eines anderen, gleichfalls edlen Menschen zu appellieren ... Ich hoffe, Sie verstehen mich ...“
„Hoffen Sie das nicht; denn ich verstehe Sie tatsächlich nicht.“
„Sie haben doch die Dame gesehen, die hier mit mir in der Laube war?“
„Gesehen – ja, aber nicht erkannt.“
„Ah, nicht erkannt ... Diese Dame werde ich alsbald meine Frau nennen.“
„Gratuliere. Aber womit kann ich Ihnen dienen?“
„Nur mit einem: es als tiefstes Geheimnis zu bewahren, daß Sie mich mit dieser Dame hier gesehen haben ...“
„Wer mag das gewesen sein?“ dachte ich, „doch nicht ...?“
„Wirklich, ich weiß nicht ...“ sagte ich. „Sie werden entschuldigen, daß ich Ihnen mein Wort nicht geben kann ...“
„Um’s Himmels willen, ich bitte Sie doch darum!“ flehte Obnoskin. „Begreifen Sie doch meine Situation! Es ist noch ein Geheimnis. Sie können gleichfalls einmal Bräutigam sein: dann werde auch ich meinerseits ...“
„Pst! Jemand kommt!“
„Wo?“
In der Tat bemerkten wir kaum dreißig Schritt von uns den Schatten eines Menschen vorübergleiten.
„Das ... das war Foma Fomitsch!“ flüsterte Obnoskin, am ganzen Leibe zitternd. „Ich erkannte ihn am Gang. Mein Gott! da kommen wieder Schritte! Von der anderen Seite! Hören Sie ... Leben Sie wohl! Ich danke Ihnen und ... flehe Sie an ...“
Obnoskin verschwand. Nach einer Minute stand mein Onkel vor mir, wie aus der Erde gewachsen.
„Bist du es?“ fragte er hastig. „Alles ist verloren, Ssergei, jetzt ist alles verloren!“
Ich bemerkte, daß auch er am ganzen Körper zitterte.
„Was ist verloren, Onkel?“
„Gehen wir!“ Er erfaßte krampfhaft meine Hand und zog mich nach sich. Während des ganzen Weges bis zum Sommerhaus sprach er kein Wort und ließ auch mich nicht sprechen. Ich erwartete etwas Außergewöhnliches und kann sagen, daß ich in meiner Erwartung auch nicht enttäuscht wurde. Als wir mein Zimmer betraten, schwindelte ihm und er wankte. Er war bleich wie ein Toter. Ich spritzte ihm sofort Wasser ins Gesicht. „Es muß etwas Furchtbares geschehen sein,“ dachte ich, „wenn ein Mann wie er – in dieser Weise ... fast ohnmächtig wird.“
„Onkel, was haben Sie nur?“ fragte ich schließlich.
„Alles ist verloren, Ssergei! Foma überraschte mich und Nastenjka im Garten ... gerade in dem Augenblick, als ich sie küßte ...“
„Als Sie sie küßten? Im Garten?“ Ich sah ihn verständnislos an.
„Im Garten, Freund, Gott wollte es so! Ich ging, um sie unverzüglich zu sprechen ... Ich wollte ihr alles sagen, wollte ihr zureden, sie zur Vernunft bringen ... in bezug auf dich, weißt du. Sie aber hatte schon seit einer ganzen Stunde auf mich gewartet, dort, bei der zerbrochenen Bank ... hinter dem Weiher ... Sie kommt oft dorthin, wenn ich mit ihr sprechen muß.“
„Oft?“
„Oft, oft, Freund! In der letzten Zeit haben wir uns dort fast in jeder Nacht getroffen. Nun haben sie uns wahrscheinlich aufgelauert – ich weiß es genau, daß sie spioniert haben, und ich weiß auch, daß Anna Nilowna die Hauptbeteiligte ist. So stellten wir denn unsere Zusammenkünfte ein: seit vier Tagen hatten wir uns nicht gesehen ... aber heute ging es doch nicht anders ... Du weißt doch selbst, wie notwendig es war ... Und wie und wo hätte ich sonst ein Wort mit ihr reden können? Ich ging also in der Hoffnung hin, sie dort anzutreffen ... Und sie saß auch schon seit einer Stunde da ... und hatte auf mich gewartet: sie hatte mir gleichfalls Wichtiges zu sagen ...“
„Wie kann man nur so unvorsichtig sein! Sie wußten doch, daß man Sie beide beobachtet!“
„Aber es war doch ein kritischer Augenblick, Ssergei! Wir mußten uns doch über so vieles aussprechen! Am Tage wage ich ja nicht einmal, sie anzusehen: sie sieht in den einen Winkel und ich absichtlich in den anderen, als wenn ich überhaupt nicht bemerkte, daß sie auf der Welt ist. In der Nacht aber treffen wir uns und können uns dann aussprechen ...“
„Und was geschah nun heute, Onkel?“
„Oh! Kaum hatte ich ihr zwei Worte gesagt, weißt du – da fing mein Herz zu hämmern an, und die Tränen traten mir in die Augen. Ich wollte sie bereden, dich doch zu heiraten – sie aber sagte mir ohne weiteres: ‚Dann lieben Sie mich offenbar überhaupt nicht, dann sehen Sie ja gar nichts!‘ Und plötzlich wirft sie sich an meine Brust, umarmt mich krampfhaft, weint und schluchzt: ‚Ich liebe nur Sie allein,‘ sagte sie, ‚ich werde keinen anderen heiraten! Ich liebe Sie schon lange, nur werde ich auch Sie nicht heiraten, sondern morgen noch fortfahren und ins Kloster gehen.‘“
„Donnerwetter! Hat sie das wirklich so gesagt? Und was geschah dann weiter – weiter, Onkel?“
„Da – ich blickte auf: vor uns steht Foma! Woher er nur gekommen sein mag? Er kann doch unmöglich hinter dem Gebüsch gehockt haben, um nur auf diesen Sündenaugenblick zu warten?“
„Der Schuft!“
„Ich erstarrte, Nastenjka lief fort, und Foma Fomitsch ging schweigend an uns vorüber und drohte mir nur einmal so mit dem Finger. – Begreifst du jetzt, Ssergei, was es morgen geben wird?“
„Wie sollte ich nicht!“
„Begreifst du?“ rief er verzweifelt aus und sprang vom Stuhl auf. „Begreifst du, daß sie sie verderben, verleumden, entehren wollen? Sie suchen einen Vorwand, um ihr eine Schande anhängen und sie dann aus dem Hause treiben zu können! Und jetzt haben sie ihn glücklich gefunden! Haben sie doch schon gesagt, sie hätte ein ehrloses Verhältnis mit mir! Ja, diese Schurken haben sogar gesagt, sie hätte auch eins mit Widopljässoff gehabt! Und das hat alles diese Anna Nilowna verbreitet! Was wird jetzt werden? Was wird morgen sein? Sollte Foma es wirklich erzählen?“
„Unbedingt wird er es erzählen, Onkel.“
„Wenn er es aber erzählt, wenn er es wagt ...“ Mein Onkel biß sich die Lippen und ballte die Fäuste. „Nein, nein! Ich glaube es nicht! Er wird es nicht sagen, er wird begreifen ... er ist ein Mensch mit edler Gesinnung! Er wird sie schonen ...“
„Schonen oder nicht schonen,“ unterbrach ich ihn entschlossen; „jedenfalls aber ist es jetzt Ihre Pflicht, morgen um Nastassja Jewgrafownas Hand anzuhalten.“
Mein Onkel blickte mich unbeweglich an.
„Sehen Sie denn nicht ein, Onkel, daß Sie dem Mädchen die Ehre nehmen, wenn Sie die Sache an die große Glocke hängen lassen? Sehen Sie denn nicht ein, daß Sie allem Gerede so schnell wie möglich die Spitze abbrechen müssen? Sie müssen jedem furchtlos und stolz in die Augen blicken können, Ihre Verlobung sofort veröffentlichen, alle Ihre Vernunftgründe zum Teufel schicken und Foma, wenn er dagegen auch nur zu mucken wagt, einfach zu Pulver zerstäuben! ...“
„Ssergei, Freund, ich dachte daran, als wir herkamen!“
„Und zu was haben Sie sich entschlossen?“
„Mein Entschluß steht fest! Ich hatte mich bereits entschlossen, noch bevor ich dir zu erzählen begann!“
„Bravo, Onkel!“
Ich fiel ihm um den Hals vor Freude.
Lange noch sprachen wir. Ich hielt ihm alle die unerbittlichen Gründe vor, die ihn zwangen, Nastenjka zu heiraten, und die er übrigens selbst noch viel besser begriff als ich. Aber ich kam nun einmal ins Reden. Ich freute mich unsäglich für ihn. Jetzt zwang ihn die Pflicht, anderenfalls hätte er sich wohl nie entschlossen. Vor der Pflicht aber, und noch dazu einer Ehrenpflicht, war er machtlos.
Doch ungeachtet alles dessen wußte ich entschieden nicht, wie das Vorhaben ausgeführt werden sollte. Ich wußte und glaubte ohne den geringsten Zweifel, daß mein Onkel um keinen Preis von dem ablassen werde, was er einmal als seine Pflicht erkannt hatte. Aber im Grunde fürchtete ich doch, daß er nicht rücksichtslos genug sein könne, um sich gegen die Herrscher in seinem Hause aufzulehnen. Nur deshalb bemühte ich mich so hartnäckig, ihn anzutreiben und in dieser Richtung vorwärtszustoßen: und so legte ich mich denn mit dem ganzen Eifer der Jugend ins Zeug.
„... Um so mehr, um so mehr müssen Sie es,“ wiederholte ich, „als jetzt bereits alles beschlossen ist und Ihre letzten Zweifel aufgehoben sind! Es ist etwas geschehen, was Sie nicht erwartet haben, obgleich es alle seit langer Zeit wissen: Nastassja Jewgrafowna liebt Sie! Wollen Sie es denn wirklich zulassen!“ rief ich heftig aus, „daß diese reine Liebe sich für sie in Schmach und Schande verwandle?“
„Niemals will ich das! Aber, Freund, ist es denn überhaupt möglich, daß ich so glücklich werden könnte? Und wie kann sie mich nur lieben, und wofür eigentlich? wofür? Ich glaube, es ist doch so gar nichts an mir ... Ich bin ein Greis im Vergleich zu ihr. Nein, das hätte ich nie erwartet! Liebling, mein Liebling! ... Höre, Sserjosha, vorhin fragtest du mich, ob ich nicht in sie verliebt sei: hattest du irgendeine ... Idee vielleicht?“
„Ich sah nur, Onkel, daß Sie sie so liebten, wie man noch mehr einen Menschen überhaupt nicht lieben kann; und daß Sie sie liebten, ohne es selbst zu wissen. Denken Sie doch einmal nach: Sie rufen mich aus Petersburg her und wollen mich mit ihr verheiraten, einzig damit sie Ihre Nichte werde und Sie, Onkel, uns dann ewig bei sich haben können ...“
„Und du ... du verzeihst mir, Ssergei?“
„Ach, Onkel ...“
Er preßte mich an sein Herz.
„Aber jetzt seien Sie auf der Hut; denn es haben sich ja dort alle gegen Sie verschworen. Sie müssen sich erheben und gegen alle kämpfen, und zwar gleich morgen!“
„Ja ... ja, morgen!“ wiederholte er etwas nachdenklich, „und weißt du, wir wollen die Sache männlich und vollkommen überzeugt von unserem Recht anfassen, mit wirklicher Charakterstärke ... ja eben mit Charakterstärke!“
„Lassen Sie den Mut nicht sinken, Onkel!“
„Nein, ich werde den Mut nicht sinken lassen, Ssergei! Nur eines: ich weiß nicht, welch einen Schlachtplan ich wählen soll!“
„Denken Sie jetzt nicht daran, Onkel. Morgen wird alles seine Lösung finden. Für heute beruhigen Sie sich. Je mehr man jetzt grübelt, um so schlimmer ist es. Und falls Foma den Mund auftut – dann entweder: ihn unverzüglich vor die Tür setzen, oder: ihn zu Staub zermalmen!“
„Geht es denn nicht auch ohne das? Freund, ich habe so beschlossen: morgen gehe ich in aller Frühe zu ihm und erzähle ihm den ganzen Sachverhalt, so wie ich ihn dir erzählt habe. Er kann mich doch unmöglich nicht verstehen wollen! Er ist doch ein edler Mensch, der edelste von allen! Aber sieh, was mich beunruhigt: was dann, wenn er meine Mutter und Tatjana Iwanowna heute schon von der bevorstehenden Werbung benachrichtigt hat? Das wäre doch furchtbar?“
„Tatjana Iwanownas wegen brauchen Sie sich nicht zu beunruhigen, Onkel.“ Und ich erzählte ihm meine Begegnung mit Obnoskin vor der Laube. Mein Onkel war maßlos erstaunt. Misintschikoff erwähnte ich mit keinem Wort.
„Eine phantasmagorische Person, in der Tat! Wirklich, eine phantasmagorische Person!“ rief er aus. „Die Arme! Man will ihre Naivität ausnutzen! Und war es wirklich Obnoskin? Aber er fuhr doch nach dem Tee fort? Sonderbar, höchst sonderbar! Ich bin wirklich betroffen, Sserjosha ... Das muß man morgen noch untersuchen, um gegebenenfalls Maßregeln ergreifen zu können ... Aber bist du auch überzeugt, daß es Tatjana Iwanowna war?“
Ich sagte, daß ich ihr Gesicht zwar nicht gesehen hätte, aber aus gewissen Gründen fest überzeugt sei, daß es Tatjana Iwanowna gewesen war.
„Hm! Oder sollte es nicht doch ein kleines Techtelmechtel mit einem der Hofmädchen gewesen sein, und dir hat es vielleicht nur so geschienen, daß es Tatjana Iwanowna war? War es nicht Dascha, die Gärtnerstochter? Das ist ein durchtriebenes Mädchen! Man hat sie bereits öfter bemerkt ... Nur deshalb sage ich es ja, weil man sie wirklich schon gesehen hat. Anna Nilowna hat sie ertappt! ... Aber nein, das ist auch unwahrscheinlich! Und er hat dir gesagt, daß er sie heiraten wolle? Sonderbar, sehr sonderbar ...“
Endlich trennten wir uns. Ich umarmte ihn zum Abschied.
„Morgen, morgen wird sich alles entscheiden,“ sagte er lebhaft, „noch bevor du aufstehst! Ich werde zu Foma gehen und ihm ritterlich alles aufdecken, wie meinem leiblichen Bruder, alles, was ich auf meinem Herzen habe, meine ganze Seele. Leb wohl, Sserjosha. Leg dich jetzt hin, du wirst müde sein. Na, und ich – ich werde in der ganzen Nacht wohl kein Auge schließen.“
Er ging. Ich legte mich unverzüglich schlafen; denn ich war in der Tat todmüde. Das war ein schwerer Tag gewesen! Meine Nerven waren überreizt, und bevor ich endlich einschlief, zuckte ich noch mehrmals zusammen und wachte immer wieder aus dem Halbschlaf auf.
Aber wie seltsam meine Eindrücke auch während des Einschlafens waren, so war ihre Seltsamkeit doch noch nichts im Vergleich mit der Seltsamkeit meines Erwachens am nächsten Morgen.
Ich schlief traumlos und ungewöhnlich fest. Plötzlich fühlte ich, wie ein Gewicht von etwa vierhundert Pfund sich auf meine Beine legte: ich schrie auf und erwachte.
Es war schon hell: durch die Fenster flutete gelbes Sommermorgenlicht ins Zimmer. Auf meinem Bett, oder richtiger, auf meinen Beinen saß – Herr Bachtschejeff.
Ein Zweifel war ausgeschlossen: er war es. Nachdem ich meine Füße mit genauer Not von dieser Last befreit hatte, setzte ich mich im Bett auf und sah ihn mit der stumpfen Verständnislosigkeit eines kaum erwachten Menschen an.
„Er glotzt noch!“ rief der Dicke empört aus. „Was staunst du mich denn an? Steh auf, Alter, steh auf! Wecke dich hier schon seit einer halben Stunde. Reib dir endlich den Schlaf aus den Augen!“
„Was ist geschehen? Wieviel ist die Uhr?“
„Die Uhr ist noch nicht viel, aber unsere Fewronja hat nicht einmal den Tag erwartet, um loszuziehen. Steh mal auf, fix, wir setzen ihr nach!“
„Was für eine Fewronja?“
„Na, die unserige doch, die Holde, wer denn sonst! Ist schon über alle Berge! Bereits vor Sonnenaufgang ausgekniffen! Ich aber bin ja, mein Bester, nur auf einen Augenblick zu Ihnen gekommen, bloß um Sie auf die Beine zu bringen – und da vertrödele ich nun mit ihm geschlagene zwei Stunden! Stehen Sie auf, mein Lieber, Ihr Onkel erwartet Sie schon ... Da hat man nun die Bescherung!“ knurrte er zum Schluß, mit einer gewissen schadenfrohen Gereiztheit in der Stimme.
„Aber von wem ... wovon reden Sie?“ fragte ich erregt; denn ich begann bereits zu ahnen, „... doch nicht ... Tatjana Iwanowna?“
„Von wem denn sonst? Natürlich von ihr! Habe ich nicht gesagt, gewarnt – keiner wollte auf mich hören! Da habt ihr jetzt die Bescherung ... zum Feiertage! Kupido hat ihr den Kopf verdreht, nur deswegen ist sie verrückt! Pfui! Aber jener, jener – was? Da habt ihr jetzt den Spitzbart!“
„Doch nicht mit Misintschikoff?“
„Hör nur einer so was! Nun reib dir aber den Schlaf aus den Augen und werde wenigstens dem großen Feiertage zu Ehren nüchtern! Bist wohl gestern bis untern Tisch gekommen, wenn dir der Schädel jetzt noch brummt! Was: Misintschikoff! – Mit Obnoskin, aber nicht mit Misintschikoff! Iwan Iwanowitsch Misintschikoff ist ein anständiger Mensch und macht sich mit uns auf die Verfolgung.“
„Was Sie sagen!“ rief ich erschrocken aus und machte, noch halb sitzend, einen Sprung aus dem Bett, „tatsächlich mit Obnoskin?“
„Pfui, du langweiliger Mensch!“ Der Dicke erhob sich fauchend von meinem Bett. „Ich komme zu ihm wie zu einem gebildeten Menschen, um ihm das Unglück mitzuteilen, er aber zweifelt noch! Du, mein Lieber, wenn du mit willst, so erheb dich schleunigst und zieh dir deine Höschen an; ich aber hab’s satt, hier mit meiner Lunge für dich zu arbeiten: habe sowieso schon meine Zeit an dich verschwendet!“
Und er verließ äußerst ungehalten mein Zimmer.
Noch ganz bestürzt von der Nachricht, sprang ich aus dem Bett, kleidete mich schnell an und eilte ins Herrenhaus.
Dort schien noch alles zu schlafen: und so trat ich denn vorsichtig durch die Paradetür ein, um unbemerkt zu meinem Onkel zu kommen. Kaum war ich eingetreten, als plötzlich Nastenjka vor mir stand: sie mußte soeben erst aufgestanden sein und sich in aller Eile angezogen haben. Ihr Haar war in Unordnung, und sie trug eine Art Morgenkleid oder Umwurf. Wahrscheinlich hatte sie im Flur auf jemanden gewartet.
„Sagen Sie, bitte, ist es wahr, daß Tatjana Iwanowna mit Obnoskin fortgefahren ist?“ fragte sie mich erregt mit zitternder Stimme, bleich und sichtlich erschrocken.
„Es soll wahr sein. Ich suche meinen Onkel ... Wir wollen ihr nachfahren ...“
„Oh, bringen Sie sie, bringen Sie sie schnell zurück! Wenn Sie es nicht tun, ist sie verloren!“
„Aber wo ist denn mein Onkel?“
„Wahrscheinlich bei den Pferdeställen. Die Pferde werden schon angeschirrt. Ich habe hier auf ihn gewartet. Hören Sie, sagen Sie ihm von mir, daß ich unbedingt heute noch fortfahren will: ich bin fest entschlossen. Mein Vater nimmt mich zu sich. Am liebsten würde ich sofort fahren, wenn es sich nur machen ließe! Jetzt ist alles verloren! Jetzt ist alles zu Ende!“
Während sie das sagte sah sie mich selbst wie eine Verlorene an – und plötzlich brach sie in Tränen aus. Es schien ein nervöser Anfall zu sein.
„Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich!“ bat ich sie. „Das ist doch nur eine günstige Wendung – Sie werden sehen ... Was haben Sie nur, Nastassja Jewgrafowna?“
„Ich ... ich weiß nicht ... was mit mir ist,“ sagte sie erregt und preßte unbewußt meine Hände krampfhaft zusammen. „Sagen Sie ihm ...“
Da hörten wir hinter der nächsten Tür ein Geräusch.
Sie zog erschrocken ihre Hände zurück und eilte die Treppe hinauf.
Ich fand sie alle – d. h. meinen Onkel, Herrn Bachtschejeff und Misintschikoff – auf dem hinteren Hof bei den Ställen. Vor Herrn Bachtschejeffs Wagen wurden frische Pferde angeschirrt. Alles war zur Abfahrt bereit: man hatte nur noch auf mich gewartet.
„Da ist er!“ rief mein Onkel aus, als er mich erblickte. „Hast du es schon gehört, Freund?“ fragte er leiser mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck. Schreck, Zerstreutheit und doch so etwas wie eine neue Hoffnung lagen in seinem Blick, in seiner Stimme und selbst in seinen Bewegungen. Offenbar fühlte er, daß in seinem Schicksal eine Wendung eingetreten war.
Ich wurde sogleich in die Einzelheiten eingeweiht.
Herr Bachtschejeff war nach einer qualvollen Nacht beim ersten Morgengrauen von Hause aufgebrochen, um rechtzeitig zum Frühgottesdienst im Kloster einzutreffen, das einige fünf Werst von seinem Gut entfernt lag. Als er gerade von der Landstraße in den Nebenweg zur Einsiedelei einbiegen wollte, hatte er mit einemmal einen offenen Wagen in rasender Schnelligkeit daherkommen sehen und in den Insassen Tatjana Iwanowna und Obnoskin erkannt. Tatjana Iwanowna sei verweint gewesen und habe, als sie Herrn Bachtschejeff erblickt, vor Schreck aufgeschrien und ihm dann die Hände wie hilfesuchend entgegengestreckt – so wenigstens ging es aus seiner Erzählung hervor. „Jener aber, der Schuft mit dem Spitzbart, wollte sich vor mir verstecken, jawohl, ja! – vor mir aber versteckst du dich nicht!“
Ohne lange zu zögern, hatte Stepan Alexejewitsch (Herr Bachtschejeff) dem Kutscher wieder auf die Landstraße zurückzukehren befohlen und war schnurstracks nach Stepantschikowo gefahren, hatte hier ohne weiteres meinen Onkel geweckt, ferner Misintschikoff und schließlich auch mich. Es war beschlossen worden, ihnen sogleich nachzufahren.
„Aber Obnoskin, was sagst du zu Obnoskin?“ fragte mein Onkel und sah mich unverwandt an, als wolle er mir gleichzeitig noch sagen: „Wer hätte das gedacht!“
„Von diesem niedrigen Menschen war jede Gemeinheit zu erwarten!“ bemerkte Misintschikoff in sehr scharfem Ton, wandte sich aber im selben Augenblick ab, um meinen Blick zu vermeiden.
„Na, was nun: fahren wir oder fahren wir nicht? Oder werden wir bis zum Abend hier stehen und uns Märchen erzählen?“ erinnerte Herr Bachtschejeff an unser Vorhaben und schob sich als erster in den Wagen.
„Fahren wir, fahren wir!“ rief sogleich eilig mein Onkel.
„Es wendet sich alles zum guten, Onkel,“ raunte ich ihm noch schnell zu. „Dieser Punkt ist jetzt besser erledigt, als wir es uns hätten träumen können!“
„Schon gut, Freund, lästere nicht ... Aber jetzt wird man sie ja einfach hinauswerfen, zur Strafe dafür, daß das andere mißglückt ist, aus Rache – du verstehst doch? Entsetzlich, Freund, was ich jetzt kommen sehe!“
„Zum Donner, Jegor Iljitsch, wollen Sie Geheimnisse tuscheln – oder wollen Sie fahren?“ schrie Herr Bachtschejeff zum zweitenmal. „Sollte man nicht lieber die Pferdchen vorläufig wieder ausschirren lassen und erst noch einen Imbiß einnehmen – was meinen Sie? – und womöglich noch ein paar Gläschen sich hinter die Binde gießen?“
Diese Worte waren mit einem so grimmigen Sarkasmus gesagt, daß es ganz ausgeschlossen war, Herrn Bachtschejeff nicht unverzüglich zu befriedigen. Wir stiegen eilig ein, und die Pferde zogen an.
Eine Zeitlang schwiegen alle. Mein Onkel streifte mich ab und zu mit einem bedeutungsvollen Blick, schien aber in Gegenwart der anderen nicht sprechen zu wollen. Mitunter versank er in Gedanken, um dann nach einer Weile zusammenzuzucken, plötzlich gleichsam zur Besinnung zu kommen und sich erregt umzublicken. Misintschikoff war scheinbar ruhig, rauchte seine Zigarette und schaute mit dem Selbstbewußtsein eines ungerechterweise gekränkten Menschen drein. Dafür ereiferte sich Herr Bachtschejeff für drei. Er brummte die ganze Zeit vor sich hin, blickte auf alle und alles mit entschiedener Mißbilligung, wurde rot, fauchte, spie fortwährend seitwärts auf die Landstraße und konnte sich auf keine Art und Weise beruhigen.
„Bist du denn auch wirklich überzeugt, Stepan, daß die beiden nach Mischino gefahren sind?“ erkundigte sich plötzlich mein Onkel. „Das ist, mußt du wissen, zwanzig Werst von hier,“ fügte er, zu mir gewandt, erklärend hinzu, „ein kleines Gut mit dreißig Seelen. Es ist vor kurzem von einem ehemaligen Gouvernementsbeamten den früheren Besitzern abgekauft worden. Ein Schikaneur, sagt man, wie die Welt keinen zweiten aufzuweisen hat! Wenigstens wird es ihm nachgesagt. Stepan Alexejewitsch behauptet, Obnoskin sei dorthin gefahren, und dieser Beamte helfe ihm.“
„Du zweifelst wohl noch?“ fuhr Herr Bachtschejeff sofort auf. „Ich sage es und bleibe dabei: sie sind nach Mischino gefahren. Nur hat man ihn in Mischino wahrscheinlich schon längst wieder vergessen, den Obnoskin. Warum auch nicht! Haben doch drei Stunden auf dem Hof verschwatzt!“
„Beunruhigen Sie sich nicht,“ bemerkte Misintschikoff, „wir werden sie dort noch antreffen.“
„Jawohl, ja! Antreffen! Der will gerade dort noch Wiedersehen mit dir feiern! Er hat doch die Schatulle in den Fingern, worauf soll er jetzt noch warten?“
„Beruhige dich, Stepan, beruhige dich nur,“ redete ihm mein Onkel gütig zu. „Sie haben ja noch zu nichts Zeit gehabt – du wirst sehen, daß es so ist.“
„Zu nichts Zeit gehabt!“ wiederholte Herr Bachtschejeff boshaft. „Zu was hat diese nicht Zeit, wenn sie auch noch so bescheiden ist! ‚Ach ja, sie ist so bescheiden, ein so bescheidenes Kind!‘“ flötete er plötzlich aus der Fistel, als wolle er jemand nachäffen. „‚Sie hat so viel Unglück erfahren!‘ – Jawohl, ja! Da hat sie uns jetzt ihre Absätze gezeigt, die bescheidene Unglückliche! Da rast man ihr nun auf der großen Landstraße nach, mit der Zunge aus dem Halse womöglich, und sucht sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang! Läßt einen nicht einmal an Gottes heiligem Feiertage beten, wie es sich gehört! Pfui!“
„Aber sie ist doch mündig,“ bemerkte ich, „sie steht doch nicht unter Vormundschaft. Wir können sie doch nicht zwingen, zurückzukehren, wenn sie es nicht selbst will. Was werden wir dann tun?“
„Sie wird gewiß zurückkehren wollen, ich versichere dich,“ sagte mein Onkel. „Das hat sie jetzt nur so ... Sobald sie uns nur erblickt, wird sie zurück wollen – dafür garantiere ich. Und außerdem – es geht doch nicht anders, Freund, man kann sie doch nicht so dem Zufall überlassen, dem Schicksal als Opfer ... es ist doch gewissermaßen eine Pflicht ...“
„Steht nicht unter Vormundschaft!“ rief Herr Bachtschejeff aufgebracht aus und sah mich mit bösen Augen an. „‚Ist mündig!‘ – Eine Gans ist sie, mein Lieber, eine echte Gans! – So muß man es nennen, aber nicht, daß sie mündig ist! Gestern wollte ich mit dir überhaupt nicht von ihr sprechen; denn ein paar Stunden vorher hatte ich aus Versehen die Tür zu ihrem Zimmer aufgemacht – und was sehe ich: sie ist allein im Zimmer vor dem Spiegel, die Hände in die Seiten gestemmt und tanzt so was wie ’ne Ecossaise! Und wie aufgeputzt! Ein Journal, sag ich, einfach ein Modejournal! Ich spie nur aus und ging. Und damals schon sah ich voraus, sah ich alles so kommen, wie es jetzt gekommen ist – buchstäblich, genau so!“
„Wozu soll man sie so hart beurteilen,“ wagte ich etwas eingeschüchtert einzuwenden, „wir wissen doch, daß Tatjana Iwanowna ... sich nicht ihrer vollen Gesundheit erfreut ... oder richtiger, daß sie eine gewisse Manie ... Ich glaube, daß man nur Obnoskin beschuldigen darf und nicht sie.“
„Sich nicht ihrer vollen Gesundheit erfreut! Da werde einer mit ihm fertig!“ griff der Dicke wieder meinen Ausdruck auf, das Gesicht rot vor Zorn. „Er hat sich ja wahrhaftig geschworen, einen aus der Haut zu bringen! Schon gestern hat er den Schwur abgelegt! Eine Gans ist sie, hörst du mich, Väterchen, ich sage es dir nochmals: eine kapitale Gans! So heißt’s, nicht aber, daß sie sich ‚nicht ihrer vollen Gesundheit erfreut‘! Sie ist von Kindesbeinen in puncto Liebe übergeschnappt, das laß dir gesagt sein! Und jetzt hat der Kupido sie glücklich bis zum Letzten gebracht! Von jenem aber mit dem Spitzbart – von dem lohnt es sich gar nicht zu reden! Der wird jetzt für dreie leben, da sei du unbesorgt, und das Geld springen lassen und sich ins Fäustchen lachen.“
„Glauben Sie denn wirklich, daß er sie verlassen wird?“
„Was denn sonst? Soll er denn einen solchen Schatz noch mit sich herumschleppen? Was soll er mit ihr anfangen? Er wird ihr das Geld abrupfen und sie dann an der Landstraße unter einen Busch setzen – und Lebewohl sagen –, sie aber kann dann dort unterm Busch sitzen und Blümchen riechen, wenn sie will.“
„Nein, Stepan, da hast du dich denn doch etwas fortreißen lassen, so wird es nicht sein!“ sagte mein Onkel. „Und weshalb ärgerst du dich so? Wirklich, ich wundere mich über dich, Stepan! Was hast du davon?“
„Soo? Bin ich denn kein Mensch? Da kann man doch auch wütend werden! Ganz unwillkürlich! Und vielleicht rede ich nur aus mitleidigem Herzen ... Ach, mag die ganze Welt versauern! Sagt mir doch, wozu bin ich eigentlich hergefahren? Weshalb bin ich nicht ruhig weitergefahren? Was geht denn das mich an? Was schert das mich, Schockschwerenot!“
So haderte Herr Bachtschejeff mit dem Schicksal, doch ich hörte ihm nicht lange zu und beschäftigte mich in Gedanken mit derjenigen, der wir nachfuhren – mit Tatjana Iwanowna. Ihre Lebensgeschichte, über die ich mich in der Folge habe unterrichten lassen, und die als Erklärung ihres Abenteuers interessieren dürfte, ist kurz folgende:
Als armes Waisenkind, das in einem fremden, ungastlichen Hause aufgewachsen war, dann als armes, junges Mädchen und mit der Zeit als armes, altes Mädchen hatte Tatjana Iwanowna in ihrem ganzen kärglichen Leben alles Leid, das Verwaistheit, Erniedrigung, Vorwürfe und ungern gegebenes Gnadenbrot verursachen, zur Genüge ausgekostet. Von Natur mit einem heiteren, sehr empfänglichen und wohl auch leichtsinnigen Charakter begabt, hatte sie ihr bitteres Los anfangs noch leicht genommen und mitunter sogar fröhlich und sorglos wie ein Kind lachen können. Mit den Jahren tat aber die Zeit das Ihre: Tatjana Iwanowna wurde gelb und mager, wurde reizbar, krankhaft empfänglich und überschwenglich und träumte immer phantastischer von allem Schönen der Erde, träumte einen Traum, der nur von hysterischen Tränen oder plötzlichem, krampfartigem Schluchzen unterbrochen wurde. Je weniger irdische Güter die Wirklichkeit ihr verlieh, um so mehr tröstete sie sich mit ihrer Phantasie: je unwiederbringlicher und unaufhaltsamer ihre letzten Berechtigungen zu irgendwelchen Hoffnungen dahinschwanden, um so berauschender wurden ihre Illusionen, die sich doch niemals verwirklichen konnten. Unermeßliche Reichtümer, unverwelkbare Schönheit, elegante, reiche, vornehme Kavaliere, wenn nicht gar Großfürsten, die ihr den Hof machten, die für sie allein ihr Herz in jungfräulicher Reinheit erhalten hatten, und zu ihren Füßen vor lauter Liebe starben, und schließlich er – er, das Schönheitsideal, ein Mann, der alle Vollkommenheiten in sich vereinigte, sie leidenschaftlich liebte, dazu Künstler, Dichter, General war – alles zusammen oder abwechselnd – alles das sah und erlebte sie bald nicht nur in ihrer Phantasie, sondern fast wie in Wirklichkeit. Ihre Vernunft widerstand nicht lange dem Gift dieser heimlichen, ununterbrochenen Träume ... Und nun plötzlich – griff das Schicksal in ihr Leben ein und hatte sie zum besten. In der letzten Erniedrigung, inmitten der traurigsten, das Herz bedrückenden Wirklichkeit, als Gesellschafterin einer alten, zahnlosen, launischen Dame – die sie beständig beschuldigte, die ihr wegen jedes Brotstücks und jedes Kleides Vorwürfe machte –, fast als Dienstmagd, die ein jeder kränken durfte, und die von niemand beschützt wurde, die durch ihr armseliges Leben um ihre Vernunft gebracht war und im geheimen nur im Zauber der sinnlosesten und glühendsten Phantasiegebilde lebte – erhielt sie eines Tages die Nachricht vom Tode eines ihrer entfernten Verwandten, dessen Angehörige alle vor ihm gestorben waren, wovon sie in ihrem Leichtsinn keine Ahnung gehabt hatte. Dieser entfernte Verwandte war ein Sonderling gewesen, hatte wie ein Einsiedler gelebt, irgendwo weit in einem Provinznest, mürrisch, einsam und mit der Welt zerfallen, sich nur mit Kraniologie beschäftigt und sein Geld auf Wucherzinsen geliehen. Und so war denn plötzlich wie durch ein Wunder dieser Tatjana Iwanowna ein ganzes großes Vermögen in den Schoß gefallen: sie war die einzige noch lebende Verwandte und folglich die einzige gesetzmäßige Erbin des Alten. Hunderttausend Rubel erhielt sie sofort blank und bar ausgezahlt. Dieser Hohn des Lebens aber brachte sie alsbald um den Rest ihres Verstandes. Wie sollte nun ihre ohnehin schon geschwächte Vernunft nicht an die Erfüllung aller ihrer Träume glauben, wenn solche Wunder geschehen konnten? Und so kam es, daß sie, fast betäubt vom Glück, unrettbar in ihre bezaubernde Welt unmöglicher Phantasien und verführerischer Illusionen versank. Verschwunden waren alle Zweifel, alle Grenzen der Wirklichkeit und deren Gesetze. Fünfunddreißig Jahre und blendende Schönheit, traurig stimmende Herbstkälte und die ganze Wonne unendlicher Liebesseligkeit lebten in ihrem Wesen nebeneinander, ohne miteinander auch nur einmal in Konflikt zu geraten. War doch ein Traum Wirklichkeit geworden – weshalb sollten es nicht auch die anderen werden? Weshalb sollte nicht auch er erscheinen? Tatjana Iwanowna dachte nicht – sie glaubte. Und während sie ihn noch erwartete, das Ideal – sah sie jetzt Tag und Nacht nur noch Werbende vor sich, Offiziere und Zivilpersonen, Infanteristen und Gardekavalleristen, Millionäre und Dichter, die in Paris gewesen waren, und auch solche, die nur Moskau gesehen hatten, solche mit spanischen Spitzbärten und solche ohne Spitzbärte, Spanier und Nichtspanier (größtenteils aber doch Spanier) – jedenfalls sah sie dieselben in erschreckend großer Anzahl, so daß sie in ihrer Umgebung ernstliche Befürchtungen erregte. Es fehlte nicht viel, und man hätte sie in eine Irrenanstalt schaffen müssen. Alle ihre schönen Illusionen umgaben sie wie eine glänzende Kette, und im wirklichen Leben sah sie alles im selben phantastischen Licht: wen sie nur sah, der schien ihr in sie verliebt zu sein; wer nur an ihr vorüberging, der war in ihren Augen ein Spanier, wer starb – der starb unfehlbar aus Liebe zu ihr. Und in diesen Einbildungen wurde sie noch dadurch bestärkt, daß ihr jetzt tatsächlich viele Herren, wie zum Beispiel ein Obnoskin, mit demselben Ziel, das auch Misintschikoff verfolgte, den Hof machten. Plötzlich wurde sie von allen umschmeichelt, verwöhnt und „geliebt“. Die Arme konnte und wollte nicht einmal argwöhnen, daß es nur um ihres Geldes willen geschah. Sie war vollkommen überzeugt, daß alle Menschen, von denen sie früher so schlecht behandelt worden war, sich plötzlich wie auf irgend jemandes Befehl gebessert hatten, heiter, lieb, freundlich und gut geworden seien. Er erschien zwar vorläufig noch nicht, und wenn es auch nicht dem geringsten Zweifel unterlag, daß er einmal kommen werde, so war doch das Leben auch so nicht schlecht, es war sogar sehr angenehm, so voll Zerstreuungen und netter Erlebnisse, daß man sehr gut noch warten konnte! Tatjana Iwanowna naschte Konfekt, pflückte die Blumen des Vergnügens und las Romane. Diese Romane regten ihre Phantasie noch mehr an; doch las sie keinen einzigen zu Ende, sondern legte das Buch gewöhnlich schon nach den ersten Seiten aus der Hand. Sie hielt die Lektüre nicht länger aus, da schon die gleichgültigste Andeutung einer Liebe oder auch nur die Beschreibung des Ortes, eines Zimmers etwa, ihre Gedanken gänzlich gefangen nahm. Fortwährend wurden ihr neue Kleider, Spitzen, Hüte, Bänder, Musterbogen und Schnittmuster, Stickereien, Konfekt, Blumen und Schoßhündchen zugesandt. In der Mädchenstube waren drei Mädchen ganze Tage lang nur mit dem Nähen ihrer Kleider beschäftigt, sie aber drehte sich fast vom Morgen bis zum Abend und sogar in der Nacht vor dem Spiegel und hatte eine Anprobe nach der anderen. Sie schien dabei nach der Erbschaft jünger und hübscher geworden zu sein. Ich habe bis jetzt leider noch nicht in Erfahrung bringen können, wie sie mit dem verstorbenen General Krachotkin verwandt war. Im Grunde war ich von Anfang an überzeugt, daß diese ganze Verwandtschaft nur eine Erfindung der Generalin sein konnte, die sich Tatjana Iwanownas bemächtigen wollte, um sie dann, was es auch koste, mit meinem Onkel zu verheiraten. Herr Bachtschejeff hatte recht, wenn er sagte, Kupido hätte sie um die letzte Vernunft gebracht. Andererseits war der Entschluß meines Onkels, als er von ihrer Flucht mit Obnoskin erfahren hatte, ihr sogleich nachzufahren und sie zurückzubringen, das Vernünftigste, was er tun konnte. Die Arme war gar nicht fähig, ohne Bevormundung zu leben, und sie würde unfehlbar ihrem Verderben entgegengegangen sein, wenn sie unter schlechte Menschen geraten wäre.
Es war über neun, als wir in Mischino anlangten. Das Gut lag drei Werst abseits von der großen Landstraße. Es war dort nur ein kleines Gutshaus mit ein paar ärmlichen Nebengebäuden, die alle gleichsam in einer Grube lagen. Sechs oder sieben Bauernhütten, die schief und verräuchert, nur spärlich mit schwarz gewordenem Stroh bedeckt am Wege standen, machten einen traurigen Eindruck auf den Vorüberfahrenden. Kein Garten, kein Strauch war rings im Umkreise von einer Viertelwerst zu sehen. Nur ein alter Weidenbaum stand einsam an einem grünen Tümpel, der „Teich“ genannt wurde. Ein solcher Ort konnte auf Tatjana Iwanowna unmöglich einen freundlichen Eindruck machen. Das Wohngebäude des Besitzers war ein langgestreckter, schmaler Neubau mit sechs Fenstern in einer Reihe und einem vorderhand nur mit Stroh gedeckten Dach. Der Besitzer – ein ehemaliger Beamter – hatte das Gut erst kürzlich übernommen. Selbst der Hof war noch nicht einmal mit einem Zaun umgeben: nur an einer Seite war ein Stück von einem neuen Flechtzaun zu sehen, von dem die trockenen Nußbaumblätter noch nicht abgefallen waren. Dort am Zaun stand auch Obnoskins offener Wagen. Aus einem geöffneten Fenster hörten wir Geschrei und Weinen.
Im Flur trafen wir nur einen barfüßigen Knaben an, der Hals über Kopf davonlief. Im ersten Zimmer, das wir betraten, saß auf einem langen, kattunüberzogenen „türkischen“ Diwan ohne Lehne – Tatjana Iwanowna, die ganz verweint war. Als sie uns erblickte, schrie sie auf und verbarg das Gesicht in den Händen. Neben ihr stand Obnoskin – mitleiderregend verwirrt und erschrocken. Er verlor dermaßen den Kopf, daß er uns entgegenstürzte, um uns die Hände zu drücken, ganz als hätte ihn unsere Ankunft unsäglich gefreut. Durch die halboffene Tür sah man den Zipfel eines Frauenkleides: jemand schien dort durch einen Spalt zu lauern und zu lauschen. Weder war der Hausherr noch war die Hausfrau zu sehen: sie schienen überhaupt nicht im Hause zu sein – oder sie hatten sich irgendwo versteckt.
„Da ist sie ja, unsere Ausflüglerin! Will sich jetzt noch hinter den Händen verstecken!“ rief Herr Bachtschejeff aus, der hinter uns als letzter in das Zimmer gerollt kam.
„Mäßigen Sie Ihr Entzücken, Stepan Alexejewitsch! Das ist hier durchaus nicht angebracht. Das Recht zu sprechen hat jetzt nur Jegor Iljitsch, wir aber sind hier vollkommen Nebenpersonen!“ bemerkte Misintschikoff scharf.
Mein Onkel, der dem Dicken nur einen strengen Blick zugeworfen hatte, ging, ohne Obnoskin und seine ausgestreckten Hände auch nur zu beachten, auf Tatjana Iwanowna zu, die ihr Gesicht immer noch verbarg, und sagte mit ungeheuchelter Teilnahme in seiner sympathischen Stimme:
„Tatjana Iwanowna, wir alle lieben und achten Sie so, daß wir selbst hergekommen sind, um Ihre Absichten zu erfahren. Wollen Sie nicht mit uns nach Stepantschikowo zurückkehren? Heute ist doch Iljuschas Namenstag. Meine Mutter erwartet Sie ungeduldig, und Ssaschenjka und Nastenjka werden sicherlich den ganzen Morgen vor Sehnsucht nach Ihnen geweint haben ...“
Tatjana Iwanowna erhob schüchtern den Kopf, sah, ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen, vorsichtig durch die Finger zu ihm auf, und plötzlich warf sie sich aufschluchzend an seinen Hals.
„Ach, bringen Sie mich, bringen Sie mich schnell von hier fort!“ flehte sie unter Tränen, „schnell, schnell, so schnell wie möglich!“
„Hat das Durchbrennen schon satt!“ tuschelte mir Bachtschejeff mit einem gleichzeitigen Rippenstoß zu.
„Dann wäre also die Angelegenheit erledigt,“ sagte mein Onkel trocken, sich an Obnoskin wendend; doch vermied er es, ihn anzusehen. „Tatjana Iwanowna, Ihren Arm, wenn ich bitten darf. Fahren wir!“
Im Nebenzimmer hinter der Tür hörte man Kleiderrascheln. Die Tür kreischte ein wenig und der Spalt wurde größer.
„Einstweilen aber ... wenn man von einem anderen Standpunkt aus urteilt ...“ bemerkte Obnoskin mit unruhigem Blick nach der offenen Tür, „so müßten Sie sich doch selbst sagen, Jegor Iljitsch ... Ihre Handlungsweise in meinem Hause ... und schließlich – ich begrüße Sie, und Sie erwidern nicht einmal meinen Gruß, Jegor Iljitsch ...“
„Ihre Handlungsweise in meinem Hause, mein Herr, war ehrlos,“ sagte mein Onkel und sah Obnoskin mit strengem Blick offen an, „– und das hier ist nicht Ihr Haus. Sie haben es soeben selbst gehört: Tatjana Iwanowna will keinen Augenblick mehr hier verweilen. Was wollen Sie denn noch? Kein Wort – hören Sie, kein Wort mehr, ich bitte Sie darum! Ich würde gern weitere Erklärungen vermeiden, und das – wäre wohl auch vorteilhafter für Sie.“
Obnoskin verlor so sehr den Kopf, daß er den größten Unsinn zusammenschwatzte.
„Verachten Sie mich nicht, Jegor Iljitsch,“ begann er halblaut, vor Beschämung, wie es schien, den Tränen nahe, wobei er sich fortwährend nach der Tür umsah – wahrscheinlich in der Furcht, daß man ihn dort hören könnte. „Ich habe ja eigentlich nichts getan, das war doch nur Mama ... Ich habe es nicht in meinem Interesse getan, Jegor Iljitsch ... ich habe es nur so getan ... natürlich habe ich es zum Teil auch in meinem Interesse getan, Jegor Iljitsch ... aber ich habe es mit einem edlen Ziel vor Augen getan, Jegor Iljitsch ... Ich hätte das Kapital nutzbringend angewandt ... ich hätte den Armen geholfen. Ich wollte ferner zum Fortschritt der gegenwärtigen Aufklärung etwas beitragen ... ich beabsichtigte sogar, ein Stipendium an der Universität zu stiften ... Sehen Sie, in welcher Weise und zu welchen Zwecken ich meinen Reichtum angewandt hätte, Jegor Iljitsch ... und nicht, daß ich sonst etwas, Jegor Iljitsch ...“
Wir alle schämten uns mit einem Male ganz entsetzlich. Misintschikoff wurde rot und wandte sich ab, mein Onkel aber wurde so verlegen, daß er nicht wußte, was er sagen sollte.
„Schon gut, schon gut!“ sagte er endlich. „Beruhigen Sie sich nur, Pawel Ssemjonytsch. Was soll man hier viel sagen ... Es kann jedem passieren ... Wenn Sie wollen, besuchen Sie uns ... ich aber freue mich ... es freut mich, daß ...“
Doch nicht ganz so zartfühlend verfuhr Herr Bachtschejeff.
„Stipendium stiften!“ schrie er plötzlich jähzornig. „Der ist mir der Rechte zum Stiften! Du würdest gern selbst einem jeden das Letzte abrupfen! ... Hat sich im Leben noch kein Paar Hosen verdient, kräht aber schon wie die anderen von Stipendienstiften! So ein Lumpenkerl! Und hat jetzt noch ein zärtliches Herz besiegt! Aber wo ist denn die Hauptperson, die verehrte Frau Mutter? Oder hat sie sich versteckt? Ich will nicht Bachtschejeff heißen, wenn sie nicht dort irgendwo sitzt, sich hinter einem Bettschirm verborgen hält oder vor Schreck sich unters Bett verkrochen hat ...“
„Stepan, Stepan!“ unterbrach ihn mein Onkel geärgert.
Obnoskin wurde feuerrot und schien protestieren zu wollen. Doch noch bevor er den Mund aufmachen konnte, wurde die Tür schon aufgerissen, und Anfissa Petrowna Obnoskina stürzte mit blitzenden Augen empört und zornbebend ins Zimmer.
„Was soll das bedeuten?“ kreischte sie laut. „Was geht hier vor? Sie, Jegor Iljitsch, dringen mit einer ganzen Kohorte in ein ehrenwertes Haus, erschrecken Damen, treffen eigenmächtig Anordnungen! ... Das ist doch unerhört! Ich bin zum Glück noch meiner Sinne mächtig, Jegor Iljitsch! ... Du Tölpel!“ fuhr sie in ihrem Redeschwall fort, sich auf ihren Sohn stürzend, „du scheinst ja hier vor ihnen noch weinen zu wollen! Deiner Mutter wird in ihrem Hause eine Beleidigung zugefügt, und du stehst da und schweigst! Was bist du? ein ehrenwerter junger Mann und Sohn? Ein Lappen bist du, aber kein Mann!“
Vergessen waren alle Ziererei und die ganze lächerliche Koketterie, die mir am Tage zuvor an ihr aufgefallen waren – auch keine Spur war mehr davon sichtbar: man sah nur noch eine Furie vor sich, eine Furie, der man die Maske vom Gesicht gerissen hatte.
Kaum hatte sie ihren ersten Redeschwall beendet, als mein Onkel auch schon Tatjana Iwanowna seinen Arm bot und sie zur Tür hinausgeleiten wollte. Anfissa Petrowna jedoch versperrte ihm sogleich den Weg.
„Sie werden so nicht fortgehen, Jegor Iljitsch!“ begann sie von neuem ihr Geschrei. „Mit welchem Recht wollen Sie Tatjana Iwanowna gewaltsam entführen? Es macht Ihnen einen Strich durch die Rechnung, daß der Goldfisch den erbärmlichen Netzen entschlüpft ist, mit denen Sie sie in Gemeinschaft mit Ihrer Mutter und dem Esel Foma Fomitsch einzufangen gedachten! Sie würden sie gern selbst aus niedriger Geldgier heiraten. Verzeihen Sie, aber hier ist man edler gesinnt! Da Tatjana Iwanowna sah, was man dort gegen sie plante, vertraute sie sich meinem Sohn Pawluscha an. Sie hat ihn selbst gebeten, sie vor Ihnen zu retten und sie zu beschützen: Sie war gezwungen, in der Nacht aus Stepantschikowo zu fliehen – sehen Sie, so verhält sich die Sache! So weit haben Sie sie gebracht! Nicht wahr, so ist es doch, Tatjana Iwanowna? Wenn es sich aber so verhält, wie können Sie es dann wagen, mit einer solchen Bande, wie dieser, in ein angesehenes Haus einzudringen und mit Gewalt ein ehrenwertes Mädchen zu entführen, trotz der Tränen desselben? Das erlaube ich nicht! Das erlaube ich nicht! Ich bin ein vernünftiger Mensch, kein verrückter! ... Tatjana Iwanowna wird hierbleiben; denn das ist ihr Wunsch und ihr Wille! Gehen wir, Tatjana Iwanowna, es lohnt sich nicht, diese Menschen anzuhören: das sind unsere Feinde und nicht unsere Freunde! Ich werde sie schon hinausbringen, die – ...“
„Nein, nein!“ rief Tatjana Iwanowna erschrocken aus, „ich will nicht, ich will nicht! Was ist er für ein Mann? Ich will Ihren Sohn nicht heiraten! Was ist er denn für ein Mann?“
„Sie wollen nicht!“ schrie Anfissa Petrowna wutschnaubend, „Sie wollen nicht? Erst sind Sie hergekommen und jetzt wollen Sie nicht? Wie haben Sie uns denn so betrügen können? Wie haben Sie ihm dann Ihre Zusage geben können? Sie sind in der Nacht mit ihm entflohen, haben sich ihm selbst an den Hals geworfen, haben uns in Ausgaben gestürzt! Mein Sohn hat Ihretwegen vielleicht eine gute Partie verloren, die er hätte machen können ... Er hat vielleicht zehntausend Rubel Mitgift verloren durch Sie! ... Nein! Sie werden es bezahlen, Sie müssen es bezahlen! Wir haben Beweise in der Hand ... Sie sind in der Nacht mit ihm entflohen ...“
Doch wir hatten genug von ihrem Geschrei: wie auf Kommando scharten wir uns alle dicht um meinen Onkel und drängten zur Tür hinaus, rücksichtslos auf Anfissa Petrowna zu, die uns den Weg versperren wollte, und gelangten auch glücklich ins Freie. Unser Wagen fuhr vor.
„So etwas tun nur Schufte, nur Schurken!“ schrie uns in rasender Wut Anfissa Petrowna von der Treppe noch nach.
„Ich werde die Rechnung schicken! Sie werden sie bezahlen! Sie fahren in ein ehrloses Haus, Tatjana Iwanowna! Sie können Jegor Iljitsch nicht heiraten, er hält sich ja vor Ihrer Nase seine Gouvernante als Mätresse im Hause! ...“
Mein Onkel fuhr zusammen, erbebte, erbleichte, biß sich auf die Lippe und half eifrig Tatjana Iwanowna beim Einsteigen. Ich ging um den Wagen herum und wartete, bis an mich die Reihe kam, einzusteigen, als plötzlich Obnoskin neben mir stand und meine Hand erfaßte.
„Wenigstens müssen Sie mir erlauben, Sie um Ihre Freundschaft zu bitten!“ flüsterte er mir mit einem ganz verzweifelten Ausdruck zu und drückte krampfhaft meine Hand.
„Wie das – Freundschaft?“ fragte ich verwundert und setzte schnell den Fuß auf das Trittbrett.
„Ja! Ich habe gestern in Ihnen einen überaus gebildeten Menschen erkannt. Verurteilen Sie mich nicht ... Mich hat eigentlich nur meine Mutter verleitet, ich aber bin in dieser Angelegenheit ganz à part. Ich neige mehr zur Literatur – versichere Sie! Dies hier aber hat alles nur meine Mutter ...“
„Ich glaube es, glaube es,“ sagte ich, „leben Sie wohl!“
Wir setzten uns und fuhren fort. Das Geschrei und die Verwünschungen Anfissa Petrownas schallten uns noch lange nach. Und nun tauchten auch in allen Fenstern des Hauses unbekannte Gesichter auf, die uns mit unbeschreiblicher Neugier nachstarrten.
Wir saßen jetzt zu fünfen im Wagen. Misintschikoff hatte sich neben den Kutscher gesetzt und seinen Platz auf dem Rücksitz Herrn Bachtschejeff abgetreten, der nun Tatjana Iwanowna gegenübersaß. Tatjana Iwanowna war sehr zufrieden damit, daß wir sie wieder zurückbrachten, weinte aber immer noch. Mein Onkel tröstete sie, so gut er es konnte. Er selbst war dabei niedergedrückt und nachdenklich: man sah es ihm an, daß die schändlichen Worte über Nastenjka, die Anfissa Petrowna in ihrer Wut uns nachgeschrien hatte, schmerzlich in seinem Herzen widerhallten. Übrigens – unsere Rückfahrt wäre ohne jeden Zwischenfall sehr glücklich verlaufen, wenn Herr Bachtschejeff nicht mit uns gewesen wäre.
Kaum hatte er Tatjana Iwanowna gegenüber Platz genommen, als er plötzlich ein ganz anderer wurde: er konnte nicht mehr gleichmütig dreinblicken und noch weniger ruhig auf seinem Platz sitzen, er drehte sich vielmehr hin und her, wurde rot wie ein gekochter Krebs und rollte beängstigend die Augen. Namentlich als mein Onkel Tatjana Iwanowna zu trösten suchte, schien der Dicke förmlich aus der Haut fahren zu wollen und brummte und knurrte wie eine aufs äußerste gereizte Bulldogge, die man zum Überfluß noch neckt. Mein Onkel blickte ihn mehrmals etwas ängstlich an und schien einige Befürchtungen zu hegen. Schließlich fiel auch Tatjana Iwanowna die eigentümliche Gemütsstimmung ihres Gegenübers auf, und sie begann ihn aufmerksam zu betrachten. Dann blickte sie uns an, lächelte, und plötzlich nahm sie ihren kleinen Sonnenschirm und schlug mit einer graziösen Bewegung Herrn Bachtschejeff leicht auf die Schulter.
„Sie Tor!“ sagte sie mit der bezauberndsten Koketterie und verbarg ihr Gesicht hinter ihrem Fächer.
Das war der Tropfen, der den Becher überlaufen machte.
„Wa–a–as!“ brüllte der Dicke, „wa–as sagten Sie, Madame? Also jetzt hast du’s schon auf mich abgesehen!“
„Sie Tor! Sie Tor!“ rief Tatjana Iwanowna und brach in heiteres Lachen aus, wozu sie in die Hände klatschte.
„Halt an!“ schrie Bachtschejeff dem Kutscher zu, „halt an!“
Die Pferde blieben stehen. Bachtschejeff öffnete den Wagenschlag und machte sich eilig daran, auszusteigen.
„Was fällt dir ein, Stepan? Wohin willst du?“ fragte mein Onkel verwundert und erschrocken.
„Nein, das ist mir zu stark!“ antwortete der Dicke zitternd vor Unwillen, „mag die ganze Welt verderben! Ich bin zu alt, Madame, um mich noch auf Amouren einlassen zu können. Ich, meine Beste, ich sterbe lieber allein! Adieu, Madame, kommang wu porteh-wu!“
Und er begann in der Tat zu Fuß zu marschieren. Der Wagen fuhr im Schritt hinter ihm her.
„Stepan!“ rief ihm mein Onkel ärgerlich zu, da er endlich die Geduld verlor. „Mach doch keine Dummheiten, steig ein! Es ist doch die höchste Zeit, nach Haus zu kommen!“
„Fällt mir ein!“ rief Herr Bachtschejeff zwar empört, aber es klang doch schon etwas atemlos vom Gehen; denn infolge seiner Dicke hatte er das Gehen fast ganz verlernt.
„Fahr zu, so schnell die Pferde können!“ befahl plötzlich Misintschikoff ganz unerwartet dem Kutscher.
„Was tust du, was tust du?“ rief zwar mein Onkel gerade noch erschrocken aus, aber der Wagen flog schon dahin. Misintschikoff hatte sich nicht getäuscht: die gewünschten Folgen ließen nicht lange auf sich warten.
„Halt an! Halt an!“ ertönte alsbald hinter uns ein verzweifeltes Gegröl, „halt an, du Räuber! Halt an, du Seelenverführer, der du bist! ...“
Der Dicke kam schließlich müde und halberstickt, mit Schweißtropfen auf der Stirn, mit aufgebundener Krawatte und in Hemdsärmeln wieder bei uns an. Stumm und finster kletterte er mühsam in den Wagen, doch diesmal mußte ich ihm meinen Platz abtreten. So brauchte er wenigstens nicht Tatjana Iwanowna gegenüberzusitzen, die unaufhörlich lachte, vor Vergnügen in die Hände schlug und während der ganzen Fahrt nicht mehr gleichmütig den Dicken ansehen konnte. Er aber sprach bis zur Ankunft kein einziges Wort und schien sich die ganze Zeit grundsätzlich nur noch dafür zu interessieren, wie sich das eine Hinterrad das Wagens drehte.
Die Sonne stand im Zenith, als wir in Stepantschikowo ankamen. Ich begab mich sogleich in das Sommerhaus, wohin mir der alte Gawrila mit dem Tee folgte. Als ich mich, kaum dort angelangt, zu ihm wandte, um ihn einiges zu fragen, trat mein Onkel ein und schickte ihn fort.
„Mein Freund, ich bin nur auf einen Augenblick zu dir gekommen,“ sagte er eilig. „Ich wollte dir nur mitteilen ... Ich habe mich nach allem erkundigt. Es ist niemand von ihnen zum Gottesdienst gefahren, außer Iljuschka, Ssaschenjka und Nastenjka. Meine Mutter soll in Krämpfen gelegen haben. Man hat sie nur mit Mühe wieder zu sich gebracht. Jetzt hat man beschlossen, daß alle sich bei Foma versammeln sollen, und auch mich hat man hingebeten. Nur weiß ich nicht, ob ich Foma zum Geburtstag gratulieren soll oder nicht – das ist die Frage! Und dann – wie werden sie überhaupt diesen ganzen Zwischenfall auffassen? Entsetzlich, Ssergei, wenn ich daran denke, was ich jetzt alles kommen sehe ...“
„Im Gegenteil, Onkel,“ beeilte ich mich, ihn zu beruhigen, „es wird jetzt alles vorzüglich werden. Jetzt können Sie doch unmöglich Tatjana Iwanowna heiraten – bedenken Sie doch nur, was das allein wert ist! Ich wollte Ihnen das schon unterwegs sagen ...“
„Ich weiß, ich weiß, Freund. Aber das ist es ja nicht! Das ist natürlich ein Fingerzeig Gottes, wie du sagst, aber nicht davon wollte ich sprechen ... Die arme Tatjana Iwanowna! Was sie für Anfälle hat! ... Ein Schuft, ein Schuft ist dieser Obnoskin! Doch – was sage ich ‚Schuft‘! Hätte ich nicht dasselbe getan, wenn ich sie geheiratet hätte? ... Aber ich wollte doch nicht davon reden ... Hast du gehört, was vorhin diese schändliche Anfissa von Nastjä uns nachrief?“ fragte er leise.
„Ich habe es gehört, Onkel. Sehen Sie jetzt ein, daß Sie sich beeilen müssen?“
„Unbedingt! Und was es auch koste, um jeden Preis!“ antwortete mein Onkel. „Der Augenblick ist gekommen. Nur haben wir beide, Freund, gestern an eines nicht gedacht; später aber habe ich mir die ganze Nacht den Kopf darüber zerbrochen: wird sie mich denn auch nehmen – sieh, das ist die Frage!“
„Aber hören Sie ...! Wenn sie Ihnen doch selbst gesagt hat, daß sie Sie liebt ...“
„Aber, mein Freund, sie hat doch gleich darauf hinzugefügt, daß sie mich niemals heiraten werde!“
„Ach, Onkel! Das wird doch nur so gesagt worden sein, und zudem liegen ja auch die Verhältnisse heute ganz anders.“
„Glaubst du? Nein, Freund Ssergei, das ist eine delikate Sache, hier muß man unendlich zartfühlend sein! Hm! ... Aber weißt du, ich war ja wohl traurig darüber, aber im Herzen verspürte ich doch die ganze Nacht so etwas wie – ein großes Glück ... Nun, leb wohl, ich eile. Sie erwarten mich, ich komme sowieso zu spät. Ich wollte überhaupt nur einen Augenblick bei dir vorsprechen, bloß um zwei Worte mit dir zu wechseln. Ach, mein Gott!“ rief er plötzlich aus und kehrte von der Tür zurück, „und die Hauptsache habe ich doch noch vergessen! Weißt du: ich habe ihm ja doch geschrieben, dem Foma!“
„Wann?“
„In der Nacht. Am Morgen aber, als es kaum dämmerte, schickte ich ihm den Brief durch Widopljässoff zu. Ich habe, weißt du, ihm alles klargelegt, zwei ganze Briefbogen lang, habe ihm alles wahrheitsgetreu und aufrichtig geschrieben – kurz, daß es, wie gesagt, meine Pflicht ist, das heißt, unbedingt meine Pflicht – du verstehst doch? – um Nastenjkas Hand in aller Form anzuhalten. Ich habe ihn gebeten, von unserer Begegnung im Garten nichts verlauten zu lassen, und ich habe mich an den ganzen Edelmut seiner Seele gewandt, mit der Bitte, mir bei meiner Mutter zu helfen. Ich habe mich natürlich – ich weiß es, mein Freund – schlecht ausgedrückt, aber ich habe jedes Wort von ganzem Herzen geschrieben, mit Tränen geschrieben, kann ich wohl sagen ...“
„Und? Er hat nichts geantwortet?“
„Vorläufig noch nicht. Nur am Morgen, als wir zur Fahrt aufbrachen, begegnete ich ihm im Flur – er war noch im Nachtkostüm, in Pantoffeln und Zipfelmütze – er schläft immer mit einer Zipfelmütze – er ging gerade irgendwohin. Er sagte kein Wort, sah mich nicht einmal an. Ich sah ihm, weißt du, ins Gesicht, aber das verriet nichts!“
„Onkel, hoffen Sie nicht auf ihn: er wird Ihnen noch was Schönes einbrocken!“
„Nein, nein, Freund, sprich nicht so!“ unterbrach mich mein Onkel eilig, „ich bin überzeugt! Und dann – es ist dies ja auch meine letzte Hoffnung. Er wird einsehen, er wird es verstehen ... Er ist launisch, eigensinnig – ich gebe es zu. Wenn es sich aber um etwas Großes handelt, um, sozusagen, um höheren Edelmut, dann steht Foma in seinem vollen Glanze da – ja, in seinem vollen Glanze ... Das sagst du nur deshalb, Ssergei, weil du ihn noch nicht in einem solchen Augenblick gesehen hast ... Aber, Herrgott! Wenn er ... wenn er wirklich das Geheimnis nicht als solches wahrt, so ... ich weiß nicht, Ssergei, was dann geschehen wird! An was in der Welt kann man dann noch glauben? Doch nein, er kann nicht so schlecht sein. Ich bin ja nicht einmal seinen kleinen Finger wert! Du brauchst nicht den Kopf zu schütteln, Freund: es ist wahr – ich bin ihn nicht wert.“
„Jegor Iljitsch! Ihre Exzellenz beunruhigen sich um Sie!“ ertönte da plötzlich die Stimme der Perepelizyna unter dem offenen Fenster. Wahrscheinlich hatte die alte Jungfer unser ganzes Gespräch belauscht. „Sie werden im ganzen Hause gesucht, und niemand kann Sie finden.“
„Herrgott, ich habe mich verspätet!“ rief mein Onkel entsetzt aus. „Freund, um Christi willen, zieh dich schnell an und komm hin! Ich bin ja eigentlich auch nur deshalb hergekommen, um dich abzuholen ... Ich komme, Anna Nilowna, ich komme ...“
Ich blieb allein zurück. Ich dachte an meine Begegnung mit Nastenjka und war froh darüber, daß ich meinem Onkel nichts davon gesagt hatte: ich hätte ihn nur noch unentschlossener gemacht. Ich sah voraus, daß ein großer Sturm bevorstand, und konnte eigentlich nicht begreifen, wie mein Onkel die Sache zu Ende bringen und um Nastenjkas Hand anhalten würde. Ich wiederhole und gestehe es: trotz meines ganzen Glaubens an seine Ritterlichkeit, zweifelte ich doch unwillkürlich am Erfolge.
Einstweilen hieß es jedoch: sich schnellstens ankleiden! Ich hielt es für meine Pflicht, ihm zu helfen, und beeilte mich mit dem Umziehen. Aber wie sehr ich mich auch beeilte, es dauerte doch länger – wie es gewöhnlich geschieht, wenn man sich etwas sorgfältiger ankleiden und dabei beeilen will. Und während ich mich noch ankleidete, trat Misintschikoff ein.
„Ich bin gekommen, um Sie abzuholen,“ sagte er. „Jegor Iljitsch läßt Sie bitten, schnell zu kommen.“
„Gehen wir!“
Ich war jetzt fertig. Wir gingen.
„Was gibt es Neues?“ fragte ich ihn unterwegs.
„Alle sind bei Foma versammelt,“ antwortete Misintschikoff, „Foma ist diesmal nicht launenhaft, scheint nachdenklich zu sein und spricht wenig, knurrt nur durch die Zähne. Er hat sogar Iljuscha geküßt, was Jegor Iljitsch selbstredend in wahre Begeisterung versetzte. Er hat kurz vorher durch die Perepelizyna der Generalin sagen lassen, daß man ihn nicht zum Namensfest beglückwünschen solle, er habe ‚nur prüfen wollen‘ ... Die Alte riecht zwar den Braten, hat sich aber beruhigt; denn auch Foma ist ruhig. Von der Flucht wird mit keiner Silbe gesprochen – als wäre überhaupt nichts vorgefallen. Man schweigt; denn auch Foma geruht zu schweigen. Er hat den ganzen Morgen keinen Menschen zu sich gelassen, die Alte aber hat ihn bei allen Heiligen angefleht, zu einer Beratung zu ihr zu kommen. Sie hat sogar selbst und eigenhändig an seiner Tür gerüttelt. Er aber hatte sich eingeschlossen und soll gesagt haben, er bete ‚für die Menschheit‘ – oder Ähnliches. Er scheint irgend etwas im Schilde zu führen: das sieht man seinem Gesicht sofort an. Da aber Jegor Iljitsch nicht fähig ist, aus einem Gesicht etwas zu erraten, so ist er jetzt durch Fomas Frömmigkeit, wie gesagt, völlig bezaubert: ein richtiges Kind! Iljuscha hat ein Gedicht gelernt, das er jetzt vortragen soll. Deshalb hat man mich auch nach Ihnen geschickt.“
„Und Tatjana Iwanowna?“
„Was?“
„Wo ist sie? Dort bei den anderen?“
„Nein, sie ist in ihrem Zimmer,“ antwortete Misintschikoff trocken. „Sie erholt sich und weint. Vielleicht schämt sie sich auch. Bei ihr befindet sich, glaube ich, diese ... Erzieherin. Aber was ist denn das? Ein Gewitter zieht auf, wie es scheint. Sehen Sie doch, dort – den Himmel!“
„Ja, wahrscheinlich ein Gewitter,“ sagte ich nach einem Blick auf die dunklen Wolken am Horizont.
In dem Augenblick stiegen wir zur Terrasse hinauf.
„Doch – Obnoskin? – was sagen Sie zu dem?“ fragte ich, da ich es nicht verbeißen konnte, Misintschikoff ein bißchen auf den Zahn zu fühlen.
„Sprechen Sie nicht von ihm! Erinnern Sie mich überhaupt nicht an diesen Schurken!“ rief er aus und blieb plötzlich stehen. Er wurde rot und stampfte mit dem Fuß auf. „Dieser Esel! Dieser Esel! einen so sicheren Plan, einen so glänzenden Gedanken zu verpfuschen! Hören Sie, ich bin natürlich auch ein Esel, da ich seine Schliche nicht bemerkt und nicht erraten habe – das gestehe ich vollkommen ehrlich und feierlich selbst ein, und vielleicht wünschten Sie nur diese Selbstbeschuldigung zu hören. Aber ich schwöre Ihnen: Hätte der Kerl die Sache nach allen Regeln der Kunst durchgeführt, so würde ich ihm vielleicht noch verzeihen. Der Esel, o, der Esel! Wie kann man nur solche Leute in der Gesellschaft überhaupt dulden? Weshalb verschickt man sie nicht nach Sibirien, in die Zwangsarbeit, als Kolonisten! Aber was da! Die sollen mich nicht überlisten! Jetzt habe ich wenigstens Erfahrungen gesammelt, ich habe ein Beispiel vor Augen – und wir werden uns noch einmal messen! Ich überlege jetzt – einen neuen Plan ... Sie werden mir zugeben: soll man denn die Früchte seiner Ideen wirklich nur deshalb verlieren, weil irgendein Esel die Idee gestohlen, doch die Sache nicht richtig auszuführen verstanden hat? Das wäre doch töricht! Und schließlich – diese Tatjana muß unbedingt heiraten: das ist nun einmal ihre Bestimmung. Und wenn bis jetzt noch niemand sie in eine Irrenanstalt gesteckt hat, so ist das doch nur deshalb nicht geschehen, weil man sie immer noch heiraten konnte. Ich werde Ihnen meinen neuen Plan auseinandersetzen ...“
„Aber doch wohl später,“ unterbrach ich ihn, „denn jetzt sind wir ja angelangt.“
„Gut, gut, später!“ sagte Misintschikoff – sein Mund verzog sich zu einem kurzen Lächeln. „Jetzt aber ... Wohin gehen Sie denn? Ich sagte Ihnen doch: direkt zu Foma Fomitsch! Folgen Sie mir. Sie sind noch nie dort gewesen. Jetzt werden Sie eine neue Komödie erleben ... Da nun einmal die Komödien hier Mode sind ...“
Foma bewohnte zwei große, prachtvolle Räume: sie waren besser möbliert als alle anderen in Stepantschikowo. Der größte Komfort umgab den großen Mann. Neue, teure Tapeten an den Wänden, seidene, gemusterte Vorhänge an den Fenstern, Teppiche, Trumeaus, ein Kamin und weiche, elegante Polstersessel – alles sprach von der zarten, liebevollen Aufmerksamkeit des gastfreundlichen Hausherrn, der es Foma Fomitsch nicht gut genug machen konnte. Vor den Fenstern standen auf runden Marmortischen schöne Blumen. Mitten im „Arbeitskabinett“ stand ein großer Tisch, der mit einer schweren roten Tuchdecke bedeckt war, und auf dem viele Bücher und Manuskriptbogen lagen; ferner stand auf ihm ein kostbares, in Bronze gearbeitetes Tintenfaß – daneben ein ganzer Stoß von Gänsefedern, für die Widopljässoff zu sorgen hatte. Alles das sollte ersichtlich von der schweren geistigen Arbeit Foma Fomitschs zeugen. Nebenbei bemerkt: Foma, der runde acht Jahre hier lebte, hat eigentlich überhaupt nichts verfaßt. Späterhin, als er das Zeitliche gesegnet hatte, durchsuchten wir seine hinterlassenen Manuskripte, die, wie es sich dann zeigte, in nichts als bekritzeltem Papier bestanden. Das von ihm Geschriebne war barer Unsinn, einfach Blödsinn. So fanden wir zum Beispiel den Anfang eines historischen Romans, der in Nowgorod spielte, und zwar im siebenten Jahrhundert! – als Nowgorod überhaupt noch nicht vorhanden war. Dann noch ein ungeheuerliches Gedicht: „Anachoret auf dem Friedhof“, das er in reimlosen Versen geschrieben hatte; ferner eine sinnlose Abhandlung über die Bedeutung und die Eigenschaften des russischen Bauern, sowie darüber, wie man mit ihm umgehen müsse; und schließlich noch eine Novelle: „Gräfin Wlonskaja“, aus der eleganten Welt, gleichfalls sinnlos und unbeendet. Das war alles, was wir fanden. Indes hatte Foma Fomitsch meinen Onkel jährlich große Summen für Bücher und Zeitschriften zahlen lassen. Die meisten von ihnen blieben jedoch unaufgeschnitten liegen. Dagegen habe ich Foma später nicht selten bei der Lektüre eines Romans von Paul de Kock überrascht, den er vor anderen Sterblichen natürlich möglichst verbarg.
An der einen Seite des Zimmers war eine Glastür, durch die man über ein paar Stufen auf den Hof gelangte.
Wir wurden erwartet. Foma Fomitsch saß in seinem Philosophenstuhl und trug einen eigentümlich langen Rock, der fast bis zu den Fersen herabreichte, doch hatte er sich keine Krawatte umgebunden. Er war auffallend wortkarg und nachdenklich. Als wir eintraten, hob er nur ein wenig die Brauen in die Höhe und richtete einen prüfenden Blick auf mich. Ich machte ihm meine Verbeugung, und er dankte mir mit einem nur leichten Kopfnicken, das aber doch ziemlich höflich ausfiel. Als die Generalin sah, daß Foma Fomitsch mir gnädig gesinnt war, nickte auch sie mir lächelnd zu. Die Arme! – sie hatte am Morgen alles eher erwartet, als daß ihr Liebling die Nachricht von dem „Zwischenfall“ ruhig aufnehmen werde! Daher war sie jetzt sehr gut aufgelegt, – ungeachtet dessen, daß sie noch vor wenigen Stunden in Krämpfen und Ohnmachtsanfällen gelegen hatte. Hinter ihrem Stuhl stand wie gewöhnlich Fräulein Perepelizyna, die ihre Lippen zu einem schmalen Streifen zusammenpreßte, bitter und boshaft lächelte und ihre mageren Hände, an denen alle Gelenke hervorstanden, unaufhörlich rieb. Neben der Generalin hatten sich ihre zwei Freundinnen niedergelassen, zwei alte adlige Damen, die beständig bei ihr lebten und fast nie ein Wort sprachen. Dann saßen dort noch eine am Morgen angekommene Nonne und eine Gutsbesitzerin aus der Nachbarschaft, die zum Morgengottesdienst ins Kloster gefahren und auf dem Rückwege in Stepantschikowo ausgestiegen war, um die alte Generalin zum Fest zu beglückwünschen. Meine Tante Praskowja Iljinitschna zog sich ängstlich in einen Winkel zurück und blickte unruhig bald auf Foma Fomitsch, bald auf ihre Mutter, die Generalin. Mein Onkel saß in einem Lehnstuhl, und ungetrübte Freude leuchtete aus seinen Augen. Vor ihm stand Iljuscha, festlich angezogen – in einem rotgestickten russischen Kittelchen – und war mit seinem Lockenkopf reizend wie ein kleiner Engel anzusehen. Ssaschenjka und Nastenjka hatten ihm heimlich ein Gedicht beigebracht, damit er den Vater an diesem Tage durch seine Fortschritte erfreue. Mein Onkel war vor lauter Freude fast den Tränen nahe: die unerwartete Sanftmut Fomas, die freundliche Stimmung seiner Mutter, dazu Iljuschas Namenstag, und dazu das Gedicht – kurz, alles zusammen wirkte geradezu begeisternd auf ihn, und er hatte feierlich Misintschikoff gebeten, mich zu rufen, damit auch ich schneller des allgemeinen Glücks teilhaftig würde und das Gedicht mit anhören könne.
Ssaschenjka und Nastenjka, die kurz vor uns eingetreten waren, standen nicht weit von Iljuscha. Ssaschenjka brach immer wieder in helles Lachen aus und war in diesem Augenblick glücklich wie ein Kind. Nastenjka mußte beim Anblick meines fröhlichen Kusinchens gleichfalls lächeln, doch eingetreten war sie bleich und ernst. Sie allein hatte Tatjana Iwanowna empfangen und getröstet und war die ganze Zeit bei ihr gewesen. Der kleine Schlingel Iljuscha konnte auch nicht ernst bleiben, wenn er seine Lehrerinnen ansah. Wie es schien, hatten die drei einen Scherz vorbereitet, der sehr zum Lachen anregte ...
Herrn Bachtschejeff habe ich noch vergessen. Er saß etwas abseits auf einem kleinen Stuhl, war immer noch wütend und rot, schwieg, maulte, schnaubte sich und spielte überhaupt eine recht finstere Rolle auf dem Familienfest. Neben ihm scharwenzelte Jeshowikin umher, übrigens nicht nur bei ihm allein, sondern so ziemlich überall: bald küßte er der Generalin die Hand, bald der fremden Gutsbesitzerin, bald flüsterte er Fräulein Perepelizyna etwas ins Ohr, oder er machte Foma Fomitsch den Hof. Er erwartete gleichfalls mit großem Mitgefühl Iljuschas Vortrag. Bei meinem Eintritt erschien er mit seinen üblichen Bücklingen sofort an meiner Seite, um mir seine große Hochachtung und Ergebenheit zu bezeugen. Es war ihm durchaus nicht anzusehen, daß er hergekommen war, um seine Tochter zu verteidigen und sie wieder zu sich nach Haus zu bringen.
„Da ist er!“ rief mein Onkel freudig aus, als er mich erblickte. „Freund, Iljuscha hat ein Gedicht auswendig gelernt – auswendig – das ist doch eine Überraschung – nicht? Ich fiel aus den Wolken! Ich ließ dich rufen, damit du es mit anhören kannst ... Also setz dich her! Hören wir zu! Aber, Foma, gesteh es nur, du hast sie sicherlich auf die Idee gebracht, um mir eine Freude zu bereiten? Ich wette meinen Kopf darauf!“
Wenn mein Onkel in Fomas Gemach in diesem Ton und mit einer solchen Stimme zu sprechen wagte, so hätte man glauben dürfen, daß alles sich in der größten Ordnung befände. Aber das war ja das Unglück, daß mein Onkel nichts aus einem Gesicht zu erraten verstand, wie Misintschikoff sich ausgedrückt hatte. Als ich jetzt Fomas Miene sah, mußte ich zugeben, daß allerdings etwas Besonderes bevorstand ...
„Beunruhigen Sie sich nicht um mich,“ antwortete Foma mit schwacher Stimme – mit der Stimme eines Menschen, der seinen Feinden vergibt. „Die Überraschung lobe ich natürlich: sie spricht von der Anhänglichkeit und Wohlerzogenheit Ihrer Kinder. Gedichte sind gleichfalls nützlich, schon wegen der Aussprache, die sie bilden ... Doch ich war an diesem Morgen nicht mit Gedichten beschäftigt, Jegor Iljitsch: ich habe gebetet ... Sie wissen es ... Aber ich bin schließlich bereit, auch Gedichte anzuhören.“
Inzwischen hatte ich Iljuscha gratuliert und auf beide Bäckchen geküßt.
„Ich weiß, Foma, verzeih! Ich hatte es vergessen ... wenn ich auch von deiner Freundschaft überzeugt bin, Foma!“ fügte er unvermittelt hinzu. „Küß ihn noch einmal, Ssergei! Sieh mal, was für ein Bengel! Nun, fang an, Iljuscha! Wovon handelt es denn? Wohl eine feierliche Ode ... von Lomonossoff gar? Hm?“
Und mein Onkel nahm eine wichtige Miene an. Er konnte dabei kaum ruhig bleiben vor Freude und Ungeduld.
„Nein, Papachen, nicht von Lomonossoff,“ mischte sich Ssaschenjka ein, die nur mit Mühe ihr Lachen unterdrückte, „da Sie Soldat waren und sogar im Kriege gewesen sind, so hat Iljuscha etwas Kriegerisches gelernt ... ‚Die Belagerung von Pamba‘ heißt es, Papachen.“
„‚Die Belagerung von Pamba‘? ah! Entsinne mich bloß nicht ... Was ist das für ein Pamba, weißt du es nicht, Ssergei? ... Sicherlich etwas Historisches.“
Und mein Onkel setzte von neuem eine wichtige Miene auf.
„Fang an, Iljuscha!“ kommandierte Ssaschenjka.
„Seit neun Jahren liegt Don Pedro“
begann Iljuscha mit seinem kleinen, hellen, gleichmäßigen Stimmchen, ohne Kommata und Punkte zu beachten, wie kleine Kinder gewöhnlich auswendig gelernte Gedichte aufsagen –
„Wie! Was? Was ist das für eine Milch!“ unterbrach ihn mein Onkel und sah mich verwundert an.
„Weiter, Iljuscha!“ kommandierte wieder Ssaschenjka.
„Täglich trauert Pedro Gomez,
Denn es schwinden seine Kräfte,
Und das zehnte Jahr bricht an.
Doch die Mauren triumphieren:
Denn vom stolzen Heer Don Pedros
Sind im ganzen ihm geblieben
Nicht mehr als nur neunzehn Mann.“
„Aber das ist ja Unsinn!“ unterbrach hier mein Onkel wieder. „Das ist ja doch unmöglich! Neunzehn Mann bleiben von einem Heer übrig, das zu Anfang der Belagerung so groß und mächtig gewesen ist! Was soll denn das heißen?“
Hier aber konnte Ssaschenjka ihr Lachen nicht mehr zurückhalten: sie lachte schallend auf, wie nur Kinder lachen können. Und wenn auch gerade kein besonderer Grund zum Lachen vorhanden war, so war es doch unmöglich, bei ihrem Anblick ernst zu bleiben.
„Ach, Papachen, das ist doch nur ein Scherzgedicht!“ rief sie aus, königlich erfreut über ihren Einfall. „Das ist doch mit Absicht so gemacht, vom Verfasser, damit es um so spaßiger ist, Papachen.“
„Ah so! Ein Scherzgedicht also!“ Meines Onkels Gesicht hellte sich auf. „Das heißt, ein satirisches! ... Deshalb, ich höre ... Eben, eben, ein Scherzgedicht, wie du sagst! Und es ist ja auch zum Lachen: Mit Milch will er ein ganzes Heer ernähren! – nach irgend so einem Gelübde! Als ob das zu geloben gerade nötig gewesen wäre! Sehr geistreich – nicht wahr, Foma? Sehen Sie, Mama, das ist so ein Scherzgedicht, wie es die Dichter zuweilen schreiben – nicht wahr, Ssergei, Sie schreiben doch mitunter auch so etwas? Vorzüglich! Nun, Iljuscha, wie geht es weiter?“
„Nicht mehr als nur neunzehn Mann!
Sie nun rief Don Pedro zu sich.
Und er sprach hierauf wie folgt:
‚Freunde!‘ sagt er, ‚laßt uns heute
Unsre Fahnen hoch erheben,
In die Felddrommete stoßen
Und von Pamba uns zurückzieh’n.
Wenn wir diese stolze Festung
Auch nicht eingenommen haben –
Können wir doch allenthalben
Dreist auf Ehre und Gewissen
Jedem schwören, daß wir niemals
Das Gelübde übertreten,
Wie wir’s einst geschworen haben:
Nichts zu trinken als nur Milch!‘“
„Dieser Dummkopf! Womit er sich tröstet!“ unterbrach ihn wieder mein Onkel. „Daß er neun Jahre nichts als Milch genossen hat! ... Was ist denn das für eine besondere Tugend? Hätt’ er doch lieber täglich einen ganzen Ochsen gegessen und seine Leute nicht umkommen lassen! Aber das Gedicht – vorzüglich, ganz vorzüglich ist das Gedicht! Ich sehe jetzt: das ist so eine Satire oder ... wie nennt man das doch – eine Allegorie, nicht wahr? Und vielleicht sogar auf irgendeinen ausländischen General gemünzt – Wie?“ fragte mein Onkel plötzlich, erhob bedeutsam die Brauen und blinzelte mir zu – „was? Was meinst du dazu? Aber nur, versteht sich, eine ganz unschuldige Satire, ohne Spitze, so daß sie keinen verletzen kann. Vorzüglich, ganz vorzüglich! Und – die Hauptsache – belehrend! Nun, Iljuscha, fahre fort! Ach ihr unartigen Mädel!“ fügte er hinzu, mit dem Finger drohend, und sah dabei lächelnd Ssaschenjka an, während er Nastenjka nur verstohlen mit einem flüchtigen Blick zu streifen wagte – was jedoch genügte, sie erröten zu machen. Sie lächelte gleichfalls.
„Neue Kraft gab diese Rede
Seinen neunzehn tapfren Kriegern,
Die, in ihren Sätteln wankend,
Mit erschöpfter Stimme riefen:
‚Sancto Jago Compostello!
Ehr’ und Ruhm Don Pedro Gomez,
Unsrem Löwen von Kastilien!‘
Sein Kaplan jedoch, Diego,
Brummte unwirsch vor sich hin:
‚Wäre ich der Feldherr hier,
Hätt’ ich nur noch Fleisch zu essen
Und nur edlen Wein zu trinken
Als Gelübde abgelegt!‘“
„Da hört ihr’s! Sagt’ ich nicht dasselbe?“ rief mein Onkel höchst erfreut dazwischen. „In dem ganzen Heer gibt es nur einen einzigen vernünftigen Menschen, und sogar der ist noch weiß Gott was für ein – Kaplan! Was ist das eigentlich, ein Kaplan, Ssergei? Ein Hauptmann?“
„Ein Mönch, Onkel, ein Geistlicher.“
„Ach, ja ja, richtig! Kaplan, Kapellan? Ich weiß schon, jetzt entsinne ich mich! Habe es schon in einem Roman gelesen, im Radcliff war’s, glaube ich. Dort im Auslande gibt es doch verschiedene Orden ... wart mal – Benediktiner heißen auch welche ... Nicht wahr, es gibt noch immer solch einen Orden?“
„Ja, Onkel.“
„Hm! ... Das meinte ich eben auch. Nun, Iljuscha, wie geht es weiter? Vorzüglich, ganz vorzüglich!“
„Da sprach hell mit lautem Lachen
Pedro Gomez zu den neunzehn:
‚Gebt ihm schnell doch einen Ochsen!
Denn, fürwahr, der Mann hat recht!‘“
„Das war wohl die richtige Zeit zum Lachen!? Ist das aber ein Dummkopf! Zu guter Letzt ist es also auch ihm lächerlich vorgekommen, was er sich da selbst zusammengelübdet hat! Außerdem: Ochsen hat es doch gegeben – weshalb hat er denn da seine Soldaten nicht Rindfleisch essen lassen? und selbst auch welches gegessen? Nun, Iljuscha, weiter! Es ist wirklich ganz vorzüglich! Ungemein geistreich!“
„Aber es ist ja schon zu Ende, Papachen!“
„Ach? Schon zu Ende? Ja, in der Tat, was blieb ihm denn auch anderes übrig – nicht wahr, Ssergei? Vortrefflich, Iljuscha! ganz wundervoll hast du es vorgetragen! Küsse mich, mein Liebling! Ach, du, mein kleiner Junge! Aber wer hat es ihm denn beigebracht: du, Ssaschenjka?“
„Nein, das hat Nastenjka getan. Vor einigen Tagen lasen wir beide das Gedicht. Sie las es und sagte: ‚Was für ein komisches Gedicht! Bald ist Iljuschas Namenstag – wollen wir es ihn lernen lassen, dann kann er es vortragen. Es paßt wie geschaffen!‘“
„Dann also Nastenjka? Ich danke, herzlichen Dank!“ brachte mein Onkel nicht gerade sehr sicher hervor, während er zugleich wie ein Kind über und über errötete. „Küß mich noch einmal, Iljuscha! Küß auch du mich, Unart du!“ sagte er scherzend zu Ssaschenjka, indem er sie zu sich zog und ihr zärtlich in die Augen sah.
„Wart nur, Ssaschurka, auch du wirst bald deinen Namenstag feiern!“ fügte er hinzu, als wüßte er nicht, was er vor lauter Freude sagen sollte.
Ich wandte mich an Nastenjka und fragte sie, von wem das Gedicht sei.
„Ja, richtig, wer hat es denn gedichtet?“ fragte sogleich auch mein Onkel. „Es muß sicherlich ein kluger Dichter gewesen sein – was meinst du, Foma?“
„Hm!“ brummte Foma vor sich hin.
Während des ganzen Vortrags war ein beißend spöttisches Lächeln nicht von seinen Lippen gewichen.
„Ich ... habe es im Augenblick vergessen,“ antwortete Nastenjka mit scheuem Blick auf Foma.
„Das hat Kusjma Prutkoff gedichtet, Papachen, und im ‚Zeitgenossen‘ ist es erschienen,“ sagte Ssaschenjka eifrig.
„Kusjma Prutkoff? Kenne ich nicht,“ sagte mein Onkel. „Nur Puschkin, den kenne ich! ... Doch man sieht sofort, das es ein talentvoller Dichter ist. Habe ich nicht recht, Ssergei? Und außerdem ein Mensch mit wirklich edlen Eigenschaften – das ist klar! Vielleicht ist er sogar ein Offizier ... Ja, das lobe ich mir! Wirklich ein gutes Blatt, der ‚Zeitgenosse‘! Wir müssen unbedingt darauf abonnieren, wenn solche Dichter in ihm schreiben ... Ich liebe die Dichter! Prächtige Jungen! Alles sagen sie in Versen! Weißt du noch, Ssergei, ich habe ja bei dir in Petersburg auch einen Literaten kennen gelernt. Er hatte noch so eine ganz besondere Nase ... in der Tat! ... Was sagtest du, Foma?“
Foma Fomitsch, dessen Ärger inzwischen bedeutend gewachsen war, kicherte vor sich hin. Dieses Kichern war eine nur ihm eigentümliche Art zu lachen.
„Nichts, ich lache nur so ... es hat nichts auf sich ...“ sagte er mit einer Miene, als unterdrücke er nur mit Mühe ein ganz gewaltiges Lachen. „Fahren Sie fort, Jegor Iljitsch, fahren Sie nur fort! Ich werde später mein Wort sagen ... Auch Stepan Alexejewitsch hört Sie mit großem Interesse von Ihren Petersburger Literatenbekanntschaften erzählen ...“
Stepan Alexejewitsch Bachtschejeff, der die ganze Zeit etwas weiter ab in Gedanken verloren auf einem Stuhl gesessen hatte, wurde plötzlich rot, erhob den Kopf und sagte ziemlich scharf mit halber Wendung zu Foma:
„Du, Foma, fang gefälligst nicht wieder an, sondern laß mich in Ruh!“ Seine kleinen, sogleich rot anlaufenden Augen sahen den Gegner zornig an. „Was schiert mich deine Literatur? Wenn Gott mir nur Gesundheit gibt,“ brummte er halblaut, „das übrige kann mir ... Und diese Schriftsteller ... lauter Voltairianer und nichts weiter!“
„Die Schriftsteller – lauter Voltairianer?“ fragte Jeshowikin, der im Augenblick neben Bachtschejeff auftauchte. „Da haben Sie die reinste Wahrheit gesagt. Genau so hat sich kürzlich auch Valentin Ignatjitsch auszudrücken geruht, und zwar hat er mich selbst einen Voltairianer genannt – bei Gott! Ich aber habe doch bekanntlich nichts geschrieben. Man redet bloß manchmal so ein wenig literarischer. Aber auch daran soll nun wieder Voltaire schuld sein. So ist es immer bei uns!“
„Nein, so doch nicht!“ meinte mein Onkel gewichtig, „das ist doch wohl ein Irrtum! Voltaire war nur ein mokanter Schriftsteller, er machte sich über die Vorurteile lustig. Ein ‚Voltairianer‘ aber ist er selber nie gewesen! Seine Feinde haben ihn verleumdet. Aber weshalb hacken sie jetzt immer so auf den Armen los? Das begreife ich wirklich nicht!“
Wieder ertönte das häßliche Kichern Foma Fomitschs. Mein Onkel blickte sofort beunruhigt zu ihm hinüber und wurde augenscheinlich verlegen.
„Nein, sieh, Foma, ich rede ja nur von unseren Zeitschriften,“ sagte er verwirrt, um das Gesagte wieder gutzumachen. „Du hattest vollkommen recht, Foma, als du sagtest, daß wir das Blatt halten müßten. Ich bin jetzt auch der Meinung, daß wir es müssen! ... Denn ... warum auch nicht, es verbreitet doch Aufklärung! Und schließlich, was wäre man sonst für ein Sohn des Vaterlandes, wenn man eine solche Zeitschrift nicht hält? Habe ich nicht recht, Ssergei? Hm! ... Ja! ... Da haben wir nun diesen ‚Zeitgenossen‘ ... Aber weißt du, Ssergei, die größten Wissenschaften sind meiner Meinung nach doch in der dicken Revue – wie heißt sie doch gleich? Im gelben Umschlag ...“
„‚Vaterländische Aufzeichnungen‘, Papachen.“
„Ja, richtig – ‚Vaterländische Aufzeichnungen‘ – ein vorzüglicher Titel – nicht wahr, Ssergei? Das ganze Vaterland sitzt sozusagen und zeichnet auf ... Und dabei verfolgen sie ein edles Ziel! Ein äußerst nützliches Blatt! Und wie dick! Geh mal, versuch du, eine solche Diligence herauszugeben! Und Wissenschaften, sag’ ich dir, daß einem fast die Augen übergehn! ... Vor ein paar Tagen ging ich dort durch das Zimmer, sehe – das Heft liegt auf dem Tisch ... nahm es aus Neugier in die Hand, schlug es auf und las in einem Strich ganze drei Seiten. Glaub mir, Freund, ich vergaß den Mund zu schließen! Weißt du, es gibt dort über alles Abhandlungen, so zum Beispiel, was bedeutet das Wort Besen, Spaten, Kochlöffel, Henkel? Ich glaubte, ein Besen sei nichts als ein Besen, ein Henkel eben ein Henkel. Aber nein, Freund, wart! Ein Besen ist nach der Wissenschaft nicht nur ein Besen, sondern ein Sinnbild, ein Emblem, oder gar etwas aus der Mythologie, ich weiß nicht mehr, was er da eigentlich war; aber jedenfalls kam schließlich etwas Ähnliches heraus ... Ja, sieh mal, so verhält es sich, Freund! Man kommt eben hinter alles!“
Ich weiß nicht, was Foma nach diesem neuen Erguß meines Onkels zu tun oder zu sagen beabsichtigte; denn das Gespräch wurde durch Gawrila unterbrochen, der plötzlich eintrat und mit gesenktem Haupt auf der Schwelle stehenblieb.
Foma Fomitsch blickte ihn bedeutsam an.
„Ist alles bereit, Gawrila?“ fragte er mit schwacher, jedoch entschlossener Stimme.
„Alles ist bereit,“ antwortete Gawrila traurig und seufzte.
„Und auch mein Reisebündel hast du im Wagen untergebracht?“
„Jawohl.“
„Nun, dann bin auch ich bereit!“ sagte Foma und begann, sich langsam zu erheben. Mein Onkel blickte ihn verwundert an. Die Generalin erhob sich plötzlich gleichfalls und blickte sich unruhig im Kreise um.
„Erlauben Sie mir jetzt, Oberst,“ hub Foma würdevoll an, „Sie zu bitten, das interessante Gespräch über die literarischen Besen für eine kurze Zeit zu unterbrechen. Sie können es ohne mich fortsetzen. Ich aber will, indem ich mich auf ewig von Ihnen verabschiede, gerade Ihnen noch ein paar letzte Worte sagen ...“
Schreck und Verwunderung lähmten alle Anwesenden.
„Foma! ... Foma! Was fällt dir ein? Wohin willst du?“ rief endlich mein Onkel aus.
„Ich will Ihr Haus verlassen, Oberst,“ fuhr Foma mit der ruhigsten Stimme fort. „Ich habe beschlossen, zu gehen, wohin der Weg mich führt, und deshalb habe ich mir für mein Geld einen einfachen, ganz gewöhnlichen Bauernwagen gemietet. In ihm liegt bereits mein Reisebündel. Es ist nicht groß: ein paar Bücher, die mir lieb sind, Wäsche, um zu wechseln: das ist alles! Ich bin arm, Jegor Iljitsch, werde aber um keinen Preis Ihr Geld annehmen, das ich ja auch gestern schon verschmäht habe!“
„Aber um Gottes willen, Foma! Was bedeutet das?“ rief mein Onkel bestürzt aus, bleich wie ein Tuch.
Die Generalin stieß einen Schrei aus und streckte mit verzweifeltem Blick Foma Fomitsch beide Hände entgegen. Fräulein Perepelizyna stürzte zu ihr, um sie nötigenfalls aufzufangen. Die übrigen Schmarotzerinnen erstarrten auf ihren Plätzen. Nur Herr Bachtschejeff erhob sich schwerfällig.
„Jetzt geht es los!“ raunte mir Misintschikoff zu, der neben mir stand.
Und im selben Augenblick hörte man fern den ersten Donner grollen.
„Sie fragten, glaube ich, was das zu bedeuten habe, Oberst?“ hub Foma feierlich an, indem er die allgemeine Bestürzung förmlich zu genießen schien. „Die Frage wundert mich! Erklären Sie mir doch Ihrerseits, wie Sie es fertigbringen, mir jetzt noch offen in die Augen zu sehen? Erklären Sie mir dieses größte Beispiel menschlicher Unverschämtheit, und ich werde von dannen ziehen, wenigstens um eine neue Erkenntnis der Verderbtheit des Menschengeschlechts bereichert.“
Mein Onkel war nicht fähig zu einer Antwort. Erschrocken und ratlos, wie er war, blickte er nur starr Foma Fomitsch an.
„Jesus Christ! Welche Leidenschaften!“ stöhnte Fräulein Perepelizyna.
„Begreifen Sie denn nicht, Oberst,“ fuhr Foma fort, „daß Sie mich jetzt einwandlos und ohne Fragen meines Weges ziehen lassen müssen? In Ihrem Hause muß selbst ich, der ich doch ein denkender Mensch und schon in reifen Jahren bin, ernstlich für meine Sittlichkeit fürchten und auf der Hut sein. Glauben Sie mir, daß Ihre Fragen zu nichts anderem führen würden, als nur zur Aufdeckung Ihrer Schmach ...“
„Foma! Aber Foma!“ unterbrach ihn mein Onkel, auf dessen Stirn kalter Schweiß hervortrat.
„So erlauben Sie mir denn, Ihnen ohne weitere Erklärungen zum Abschied nur noch einige Geleitworte zu sagen: meine letzten Worte in Ihrem Hause. Es ist geschehen, und das Geschehene kann man nicht mehr ungeschehen machen! Ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine. Aber ich flehe Sie auf den Knien an: Wenn in Ihrem Herzen noch ein Funken von Sittlichkeit übriggeblieben ist, so zügeln Sie den Lauf Ihrer Leidenschaften! Und wenn das Gift der Verwesung noch nicht das ganze Gebäude Ihrer Seele erfaßt hat, so löschen Sie nach Möglichkeit die Feuersbrunst!“
„Foma! Glaube mir, du bist im Irrtum!“ rief mein Onkel aus, der allmählich zur Besinnung kam und mit Entsetzen begriff, worauf es hinauslief.
„Mäßigen Sie Ihre Leidenschaften,“ fuhr Foma mit derselben Feierlichkeit fort – als hätte er den Ausruf meines Onkels gar nicht gehört, „besiegen Sie sich! ‚Willst du die ganze Welt erobern – besiege dich selbst!‘ Das ist meine Lebensregel. Sie sind Gutsherr. Sie müßten wie ein Brillant in höchster Tugend strahlen, statt dessen – was für ein schmachvolles Beispiel der Zügellosigkeit geben Sie hier allen Ihren Gästen sowie allen Ihren Untergebenen! Ich habe ganze Nächte für Sie gebetet und um Sie gezittert, habe gerungen um Ihr Glück. Ich habe es nicht gefunden; denn Glück ist nur in der Tugend enthalten ...“
„Aber das ist doch unmöglich, Foma!“ unterbrach ihn wieder mein Onkel, „du hast es falsch verstanden, du hast es ganz anders aufgefaßt! ...“
„Und so vergessen Sie denn nicht, daß Sie Gutsherr sind,“ fuhr Foma, wieder ohne die Worte des anderen zu beachten, in seiner Rede fort. „Geben Sie sich nicht dem verderblichen Glauben hin, daß Nichtstun und seiner Wollust frönen die Bestimmung des Gutsherrenstandes seien. Dieser Glaube bringt Sie ins Verderben! Nicht das Nichtstun ist es, sondern die Verantwortung vor Gott, vor dem Zaren und dem Vaterlande! Arbeiten, arbeiten muß der Gutsherr, und zwar arbeiten wie der Letzte seiner Bauern!“
„Was, ich soll also hinfort für meine Leibeigenen arbeiten?“ brummte Herr Bachtschejeff, „ich bin doch auch Gutsbesitzer ...“
„Jetzt wende ich mich an euch, Dienstboten,“ fuhr Foma fort, sich an Gawrila und Falalei, der in der Tür erschien, wendend. „Liebet eure Herrschaft und erfüllet deren Gebote in Ehrfurcht und Bescheidenheit. Dafür werdet ihr von euren Herren wiedergeliebet werden. Sie aber, Oberst, seien Sie gerecht und barmherzig zu ihnen. Der Dienstbote ist derselbe Mensch – das Ebenbild Gottes, wie es in der Heiligen Schrift geschrieben steht, der minderjährig vom Zaren und vom Vaterlande Ihrer Obhut anvertraut ist. Groß ist die Pflicht, aber groß wird auch Ihr Verdienst sein!“
„Foma Fomitsch! Täubchen! Was hast du vor?“ rief in ihrer Verzweiflung die Generalin aus, bereit, jeden Augenblick wieder in Ohnmacht zu fallen.
„Doch ... das dürfte genügen, denke ich?“ schloß Foma, der Generalin weiter gar keine Beachtung schenkend. „Jetzt noch einige Einzelheiten, die freilich nur geringfügig, aber doch notwendig sind, Jegor Iljitsch. Auf der Waldwiese bei Harinskoje ist Ihr Heu noch nicht gemäht. Lassen Sie es nicht zu spät werden, Oberst, lassen Sie es mähen, möglichst bald mähen. Dies wäre mein Rat ...“
„Aber, Foma ...“
„Sie hatten die Absicht, ich weiß es, einen Teil des Syrjänower Waldes fällen zu lassen: lassen Sie ihn nicht fällen – dies wäre mein zweiter Rat. Erhalten Sie Ihre Wälder; denn die Wälder erhalten die Feuchtigkeit auf der Erdoberfläche ... Schade, daß Sie so spät das Sommerkorn gesät haben, – wirklich erstaunlich, wie spät Sie es gesät haben! ...“
„Aber, Foma ...“
„Doch genug! Alles kann man ja doch nicht sagen, und es ist auch nicht die Zeit dazu! Ich werde Sie schriftlich vom Nötigen unterrichten ... ich werde Ihnen ein ganzes Heft schicken. Jetzt aber – leben Sie wohl! Lebt alle wohl! Gott sei mit euch, mag der Herr euch segnen! Ich segne auch dich, mein Kind,“ sagte er zu Iljuscha, „der Herr beschütze dich vor dem Verwesungsgifte deiner zukünftigen Leidenschaften! Auch dich, Falalei, segne ich. Vergiß die Kamarinskaja! Und euch, euch alle! ... Denkt an Foma! ... Aber gehen wir, Gawrila! Hilf mir in den Wagen, guter Alter!“
Und Foma schritt langsam zur Tür. Die Generalin schrie auf und stürzte ihm nach.
„Nein, Foma! So lasse ich dich nicht fort!“ rief mein Onkel aus, holte ihn mit drei Schritten ein und erfaßte seine Hand.
„Heißt das, daß Sie Gewalt anwenden wollen?“ fragte Foma hochmütig.
„Ja, Foma ... auch Gewalt, wenn es darauf ankommt.“ Mein Onkel zitterte vor Erregung. „Du hast zuviel gesagt, du mußt deine Worte erklären! Du hast meinen Brief falsch verstanden, Foma! ...“
„Ihren Brief!“ kreischte Foma plötzlich wie rasend, im Augenblick lichterloh, als hätte er nur auf dieses Wort gewartet, um zu explodieren. „Ihren Brief! Hier ist er, Ihr Brief! Hier ist er! Ich zerreiße diesen Brief, ich speie ihn an! Ich zerstampfe Ihren Brief mit meinen Füßen und erfülle damit die heiligste Pflicht der Menschheit! Sehen Sie, was ich tue, wenn Sie mich mit Gewalt zu Erklärungen zwingen! Sehen Sie! Sehen Sie! Sehen Sie! ...“
Und die Papierfetzen flogen auf den Fußboden.
„Ich wiederhole es, Foma, du hast ihn falsch verstanden!“ beteuerte mein Onkel, der immer bleicher wurde, „ich halte um ihre Hand an, Foma, ich suche mein Glück ...“
„Um ihre Hand! Sie haben dieses Mädchen verführt, und jetzt wollen Sie mich mit einem Heiratsantrag betrügen; denn ich habe Sie gestern nacht mit ihr im Garten unter den Büschen gesehen!“
Die Generalin stieß einen Schrei aus und sank kraftlos auf ihren Lehnstuhl. Ihre ganze Suite verlor den Kopf. Die arme Nastenjka saß bleich wie eine Tote und rührte sich nicht. Ssaschenjka umklammerte vor Schreck Iljuscha und zitterte am ganzen Körper.
„Foma!“ rief mein Onkel außer sich. „Wenn du dieses Geheimnis verrätst, so tust du die schändlichste Tat der Welt!“
„Ja, ich will dieses Geheimnis verraten,“ kreischte Foma, „und damit die edelste aller Taten vollbringen! Dazu bin ich von Gott selbst gesandt, um die ganze Welt in ihrem Schmutz zu entlarven! Ich bin bereit, auf eines armen Bauern elendes Strohdach zu steigen und von dort aus allen Gutsbesitzern in der Runde und jedem Vorüberfahrenden die Kunde von Ihrer Schandtat zuzuschreien! ... Ja, hört es alle, wißt, daß ich gestern, mitten in der Nacht ihn mit diesem Mädchen, das die Maske der Unschuld zur Schau trägt, im Garten unter dichtem Gebüsch überrascht habe!“
„Ach, Jesus, welche Schande!“ kam es fast zischend über die schmalen Lippen der Perepelizyna.
„Foma! Setz nicht dein Leben aufs Spiel!“ schrie ihm mein Onkel mit blitzenden Augen zu und ballte die Fäuste.
„... Er aber,“ kreischte Foma, „er aber hat es gewagt, – nach dem ersten Schreck darüber, daß ich ihn sah – hat es gewagt, mich mit einem Brief betrügen und bestechen zu wollen, mich, mich, den Ehrlichen, Ehrenhaften und Offenherzigen, um mich zu überzeugen, daß er kein Verbrechen begangen habe – ja, Verbrechen, sage ich! ... denn aus dem bis jetzt unschuldigsten Mädchen der Welt haben Sie ...“
„Noch ein einziges Wort, das sie beleidigt, – und ich schlage dich tot, Foma, das schwöre ich dir!! ...“
„Und ich spreche dieses Wort aus; denn aus dem bis jetzt unschuldigsten Mädchen der Welt haben Sie eines der verderbtesten gemacht!“
Kaum jedoch war das letzte Wort über Fomas Lippen gekommen, als mein Onkel ihn auch schon gepackt hatte, ihn wie einen Strohhalm zusammenknickte und gegen die Glastür schleuderte, die auf den Hof führte. Der Anprall war so stark, daß die Tür krachend aufflog und Foma wie ein Brummkreisel über die sieben Stufen der steinernen Treppe kollerte und sich unten in seiner ganzen Länge auf dem Hof ausstreckte. Klirrend flogen die Glasscherben der zerschlagenen Scheiben auf die weißen Steine der Treppe.
„Gawrila, heb ihn auf!“ schrie mein Onkel totenbleich dem Diener zu, „setz ihn in den Wagen! und daß mir nach zwei Minuten sein Fuß nicht mehr in Stepantschikowo ist!“
Was Foma Fomitsch nun auch beabsichtigt haben mochte – diese Lösung wird er in seiner Berechnung jedenfalls nicht vorausgesehen haben.
Ich will es lieber gar nicht versuchen, die ersten hierauf folgenden Minuten zu schildern: Das kreischende Geschrei der Generalin, die sich in ihrem Lehnstuhl wand; den Starrkrampf der Perepelizyna infolge der unerwarteten Handlungsweise meines sonst stets so sanften und gehorsamen Onkels; das Ach und Weh der übrigen „Freundinnen“; die vor Schreck fast ohnmächtige Nastenjka, neben der Jeshowikin, ihr Vater, auftauchte; die vor Angst zähneklappernde Ssaschenjka; meinen Onkel, der in unbeschreiblicher Erregung im Zimmer auf und ab ging und wartete, bis die Mutter wieder zu sich käme; schließlich das laute Geheul Falaleis, der seine Herrschaft beklagte und bejammerte – alles das stellte ein lebendes Bild dar, wie man es mit Worten nicht zu beschreiben vermag. Hierzu denke man sich noch, daß sich gerade jetzt, im selben Augenblick, ein starkes Gewitter entlud. Die Donnerschläge wurden immer lauter und unheimlicher, und plötzlich peitschte der Regen in Strömen an die Fensterscheiben.
„Da habt ihr jetzt ’nen Feiertag!“ brummte Herr Bachtschejeff grollend, senkte den Kopf und schlug sich auf den Schenkel.
„Die Sache ist gefährlich!“ flüsterte ich ihm zu – gleichfalls zitternd vor Aufregung. „Aber wenigstens ist Foma hinausgeworfen und wird wohl nicht mehr zurückgebracht werden!“
„Mama! Sind Sie zu sich gekommen? Fühlen Sie sich etwas besser? Könnten Sie mich jetzt anhören?“ fragte mein Onkel, der vor seiner Mutter stehengeblieben war.
Diese erhob den Kopf, faltete die Hände und blickte flehend zu ihrem Sohn empor, den sie in ihrem ganzen Leben noch nie in solchem Zorn gesehen hatte.
„Mama!“ begann der Oberst, „das Maß ist voll – Sie haben es selbst gesehen. Nicht in dieser Weise wollte ich mein Vorhaben ausführen, aber die Stunde hat geschlagen, und jetzt duldet es keinen Aufschub. Sie haben die Verleumdung gehört, so hören Sie denn jetzt auch die Rechtfertigung. Mama, ich liebe dieses edle und ehrenwerte Mädchen, ich liebe sie schon lange und werde nie, niemals aufhören, sie zu lieben. Sie wird meine Kinder glücklich machen und wird Ihnen eine ehrerbietige Tochter sein, und deshalb spreche ich jetzt hier in Ihrer, meiner Verwandten und Freunde Gegenwart meine innige Bitte aus, Nastassja Jewgrafowna, mir die unendliche Ehre zu erweisen und einzuwilligen, meine Frau zu werden.“
Nastenjka zuckte zusammen, errötete heiß und erhob sich erschrocken. Die Generalin starrte ihren Sohn eine Zeitlang an, als begreife sie nicht, wovon er sprach, und plötzlich stürzte sie mit einem gellenden Schrei vor ihm auf die Knie nieder.
„Jegoruschka, du mein Täubchen, bring Foma Fomitsch zurück!“ schrie sie, „bring ihn sofort zurück! Ohne ihn sterbe ich noch vor dem Abend!“
Mein Onkel erstarrte, als er seine alte Mutter, die stets launische und eigensinnige Frau, vor sich auf den Knien sah. Ein schmerzliches Gefühl spiegelte sich auf seinem Antlitz wider. Endlich besann er sich, beugte sich nieder, hob sie auf und setzte sie wieder in ihren Lehnstuhl.
„Bring Foma Fomitsch zurück, Jegoruschka!“ fuhr die Alte in ihrem Geheul fort, „bring ihn mir zurück, Täubchen! Ohne ihn kann ich nicht leben!“
„Mama!“ rief mein Onkel bekümmert aus, „– dann haben Sie ja überhaupt nicht verstanden, was ich Ihnen gesagt habe? Ich kann Foma Fomitsch nicht zurückrufen – begreifen Sie das doch! Ich kann es nicht, und ich habe auch kein Recht dazu nach seiner niedrigen, schändlichen, schmutzigen Verleumdung dieses Mädchens, das mir heilig ist! Sehen Sie denn nicht ein, Mama, daß es meine Pflicht ist, daß meine Ehre es mir befiehlt, für ihren guten Ruf, für ihre Ehre einzustehen! Sie haben es doch gehört: ich halte um die Hand dieses Mädchens an und bitte Sie, wie ein Sohn seine Mutter bittet, unseren Bund zu segnen.“
Doch die Generalin erhob sich, ehe er sich dessen versah, wieder von ihrem Platz und stürzte vor Nastenjka auf die Knie nieder.
„Ich flehe dich an! Sei ein Engel!“ schrie die Alte in ihrer Verzweiflung, „heirate ihn nicht! Heirate ihn nicht, sondern bitte ihn, daß er Foma Fomitsch zurückbringt! Sei mein Täubchen, Nastassja Jewgrafowna! Ich gebe dir alles hin, ich opfere dir alles, wenn du ihn nicht heiratest! Ich habe noch nicht alles aufgezehrt, ich habe noch einen Sparpfennig von meinem Seligen. Alles ist dein, mein Engel, werde dich mit allem beschenken, und auch Jegoruschka wird dich beschenken, nur bringe mich nicht lebendig ins Grab; bitte ihn, daß er mir Foma Fomitsch zurückbringt! ...“
Lange noch hätte die Alte geschrien und gefleht, wenn nicht alle ihre Busenfreundinnen, voran die Perepelizyna, mit Gekreisch und Klagegeschrei zu ihr gestürzt wären und sie mit vereinten Kräften emporgehoben hätten – empört darüber, daß sie vor der „Gouvernante“ ihrer Enkelkinder auf den Knien lag. Nastenjka konnte sich kaum noch auf den Füßen halten vor Schreck. Die Perepelizyna aber weinte fast vor Wut.
„Töten wollen Sie Ihre Mutter!“ schrie sie meinen Onkel an, „umbringen wollen Sie sie! Sie aber, Nastassja Jewgrafowna, hätten nicht die Mutter mit ihrem leiblichen Sohne entzweien sollen! So etwas wird auch Gott der Herr nicht verzeihen ...“
„Anna Nilowna, nehmen Sie sich mit Ihrer Zunge in acht!“ rief ihr mein Onkel zornig zu. „Ich habe genug ertragen! ...“
„Und auch ich habe genug von Ihnen ertragen! Was werfen Sie mir meine Verwaistheit vor? Werden Sie mich noch lange – mich Waise – beleidigen? Ich bin doch nicht Ihre Sklavin! Ich bin selbst die Tochter eines Majors! Mein Fuß soll nicht mehr hier in diesem Hause weilen! ... Heute noch – ...“
Doch mein Onkel hörte sie nicht an: er trat zu Nastenjka und ergriff schüchtern ihre Hand.
„Nastassja Jewgrafowna ... haben Sie gehört, um was ich Sie gebeten habe?“ fragte er langsam, während sein Blick kummervoll auf ihrem lieben Gesicht ruhte.
„Nein, Jegor Iljitsch, nein! Lassen wir es lieber,“ antwortete Nastenjka, die allen Mut verloren hatte. „Das ist es ja nicht,“ fuhr sie fort und preßte unbewußt wie im Krampf seine Hand, während Tränen ihr in die Augen traten. „Das sagen Sie jetzt, nach dem – Gestrigen ... Aber es kann ja nichts daraus werden, Sie sehen es doch selbst ... Wir haben uns getäuscht, Jegor Iljitsch ... Ich aber werde ewig an Sie als an meinen Wohltäter denken und ... und werde ewig, ewig für Sie beten! ...“
Tränen erstickten ihre Stimme. Mein armer Onkel hatte offenbar keine andere Antwort erwartet; er verfiel nicht einmal darauf, etwas einzuwenden, sie zu bitten ... Er hörte, den Kopf zu ihr hinabgeneigt, ohne ihre Hand freizugeben, stumm und wie geschlagen an, was sie sagte. Seine Augen schimmerten feucht.
„Ich habe Ihnen schon gestern gesagt,“ fuhr Nastenjka fort, „daß ich nicht Ihre Frau werden kann. Sie sehen doch: man will mich hier nicht ... und das habe ich schon lange vorausgefühlt. Ihre Mutter wird Ihnen nicht ihren Segen geben ... andere auch nicht. Und Sie selbst, wenn Sie es auch nicht bereuen werden – denn Sie sind der großmütigste Mensch – so würden Sie doch um meinetwillen unglücklich sein ... bei Ihrem Charakter, bei Ihrer Güte ...“
„Ganz recht – bei Ihrer Güte! – bei Ihrem Charakter! Du hast recht, Nastenjka!“ griff ihr alter Vater auf, der an der anderen Seite neben ihrem Stuhl stand. „Gerade dieses eine Wort sagt alles.“
„Ich will nicht Unfrieden in Ihr Haus bringen,“ fuhr Nastenjka fort. „Um mich aber machen Sie sich keine Sorgen, Jegor Iljitsch: mich rührt niemand an, niemand wird mich beleidigen ... ich gehe zu meinem Vater ... heute noch ... Es ist besser, wir nehmen Abschied voneinander, Jegor Iljitsch ...“
Tränen rollten ihr über die Wangen.
„Nastassja Jewgrafowna, – ist das wirklich Ihr letztes Wort?“ fragte mein Onkel, Verzweiflung im Blick. „Sagen Sie nur ein Wort, nur ein Wort, und ich opfere Ihnen alles! ...“
„Es war das letzte, das letzte, Jegor Iljitsch,“ sagte Jeshowikin, „und sie hat es Ihnen so gut erklärt, wie ich es nicht einmal erwartet hätte. Sie sind der gütigste Mensch, Jegor Iljitsch, gerade der gütigste, und Sie haben uns eine große Ehre erwiesen! Große Ehre, große Ehre! ... Aber immerhin passen wir nicht zu Ihnen, Jegor Iljitsch. Sie müssen sich eine andere Braut aussuchen, eine, die sowohl reich, als vornehm und schön und auch mit einer lauten Stimme begabt ist, und die nur in Brillanten und Straußenfedern durch Ihre Säle rauscht ... Dann wird vielleicht auch Foma Fomitsch etwas nachgiebiger sein ... und den Ehebund segnen! Den Foma Fomitsch aber bringen Sie nur wieder zurück! Umsonst, ganz umsonst haben Sie ihn so beleidigt! Er hat ja nur aus Tugendeifer, aus übermäßiger Moralität so gesprochen ... Sie werden es selbst später zugeben, daß er es nur deshalb getan hat – Sie selbst werden es selbst sagen! Er ist der ehrwürdigste Mensch der Welt. Jetzt aber wird er in dem Regen ganz naß werden. Wäre es daher nicht besser, ihn sogleich zurückzurufen? ... denn einmal wird man es doch tun müssen ...“
„Bring ihn! Bring ihn zurück!“ schrie wieder die Generalin. „Täubchen, er sagt dir ja nur die Wahrheit ...“
„Jawohl,“ fuhr Jeshowikin fort, „da sehen Sie, daß auch Ihre Frau Mutter sich tot zu ängstigen geruht – und zwar ganz umsonst ... Bringen Sie ihn nur zurück! Wir aber, Nastenjka und ich, wir werden uns mittlerweile aufmachen ...“
„Wart, Jewgraf Larionytsch!“ unterbrach ihn mein Onkel, „ich bitte dich! Noch ein Wort, Jewgraf, nur ein Wort habe ich noch zu sagen!“
Er ging mit schnellen Schritten in eine Ecke, setzte sich in einen Lehnstuhl, stützte den Kopf in die Hände, mit denen er seine Augen bedeckte, – es war, als wolle er für einen Augenblick seine Gedanken sammeln.
Da ertönte ein ungeheuerlicher Donnerschlag fast gerade über dem Hause. Das ganze Gebäude erzitterte. Die Generalin schrie auf, die Perepelizyna gleichfalls, die „Freundinnen“, dumm geworden vor Angst, bekreuzten sich, was übrigens gleichzeitig mit ihnen auch Herr Bachtschejeff tat.
„Heiliger Vater, steh uns bei!“ flüsterten fünf oder sechs Stimmen wie auf ein Kommando.
Unmittelbar nach dem Donnerschlage folgte ein Platzregen, als wenn ein ganzer See auf Stepantschikowo herabstürzen wollte.
„Und Foma Fomitsch, was wird jetzt mit ihm dort auf dem freien Felde?“ kreischte die Perepelizyna.
„Jegoruschka, bring ihn zurück!“ schrie die Generalin mit Verzweiflung in der Stimme, und sie stürzte wie eine Wahnsinnige zur Tür. Doch sie wurde von ihrer Suite zurückgehalten: die ganze Weiberbande umringte sie, weinte, tröstete, kreischte und schrie. Sodom war einst sicherlich nichts dagegen!
„Nur im leichten Rock ist er gegangen! Wenn er doch wenigstens sein Mäntelchen mitgenommen hätte!“ jammerte die Perepelizyna. „Und einen Regenschirm hat er auch nicht! Der Blitz wird ihn erschlagen! ...“
„Unbedingt!“ stimmte Herr Bachtschejeff bei. „Und der Regen wird ihn dann auch noch durchnässen!“
„Schweigen Sie doch!“ flüsterte ich ihm ungehalten zu.
„Ja, aber ist er denn kein Mensch?“ fragte mich der Dicke aufgebracht. „Er ist doch kein Hund. Du würdest jetzt auch nicht hinausgehen. Oder geh, versuch’s doch, nimm ein Bad, bloß zum Vergnügen!“
Da ich die drohende Gefahr erkannte, ging ich zu meinem Onkel, der wie erstarrt in seinem Lehnstuhl saß.
„Onkel,“ sagte ich, mich zu seinem Ohr beugend, „werden Sie denn wirklich einwilligen, Foma Fomitsch zurückzurufen? Begreifen Sie denn nicht, daß es die größte Charakterlosigkeit wäre und eine Schändlichkeit von Ihrer Seite, wenigstens so lange wie Nastassja Jewgrafowna hier ist ...“
„Freund,“ sagte mein Onkel, indem er den Kopf erhob und mir mit entschlossenem Blick in die Augen sah, „ich habe hier über mich selbst Gericht gehalten, und jetzt weiß ich, was ich tun muß. Beunruhige dich nicht, ihr soll keine Kränkung widerfahren – ich werde es so einrichten ...“
Er erhob sich und trat zur Mutter.
„Mama!“ sagte er, „beruhigen Sie sich: ich werde Foma Fomitsch zurückbringen, ich werde ihm nachfahren, ihn einholen; er kann noch nicht weit sein. Aber eines schwöre ich: nur unter der Bedingung wird er zurückkehren, daß er hier im Kreise aller Zeugen der Beleidigung seine Schuld eingesteht und dieses ehrenwerteste Mädchen feierlich um Verzeihung bittet. Das werde ich durchsetzen! Ich werde ihn dazu zwingen! Anderenfalls wird er nie die Schwelle meines Hauses überschreiten! Auch schwöre ich Ihnen feierlich, Mutter: wenn er es freiwillig tut, so bin ich bereit, ihn auch meinerseits um Entschuldigung zu bitten, und ich werde ihm alles hingeben, alles, was ich nur geben kann, ohne meine Kinder zu berauben! Ich selbst aber werde mich von allem zurückziehen. Der Stern meines Glückes ist untergegangen ... Ich verlasse Stepantschikowo. Dann könnt ihr hier alle ruhig und glücklich leben. Ich werde wieder in mein Regiment eintreten und auf dem Schlachtfelde, im Kaukasus oder in Asien mein Leben beschließen ... Doch wozu soviel Worte! Ich fahre!“
Da tat sich die Tür auf, und Gawrila erschien, triefend und bis zur Unkenntlichkeit beschmutzt, vor der sprachlosen Versammlung.
„Was fehlt dir? Woher kommst du? Wo ist Foma?“ fragte erschrocken mein Onkel, der ihn als erster erblickte.
Aller Augen wandten sich zur Tür, alle stürzten zu Gawrila und umringten mit geradezu gieriger Neugier den alten Diener, von dessen Kleidern das schmutzige Wasser buchstäblich in Strömen herabfloß. Ausrufe, Schreie, Gekreisch begleiteten jedes Wort Gawrilas.
„Foma Fomitsch sind beim Birkenwäldchen geblieben, anderthalb Werst von hier,“ begann er mit weinerlicher Stimme. „Das Pferd erschrak vor einem Blitz und lief in den Graben ...“
„Und? ...“ rief mein Onkel aus.
„Der Wagen fiel um ...“
„Und ... und Foma?“
„Geruhten, in den Graben zu fallen ...“
„Aber so erzähl doch, Mensch!“
„Sie geruhten sich die Seite zu beschädigen und hierauf begannen sie zu weinen. Da schirrte ich das Pferd aus und kam reitend her, um zu melden ...“
„Und Foma blieb dort liegen?“
„Sie erhoben sich und gingen mit dem Stöckchen weiter,“ schloß Gawrila, seufzte hierauf und senkte den Kopf.
Das Weinen und Schluchzen der Damen war unbeschreiblich.
„Sofort den Polkan!“ befahl der Oberst und stürzte aus dem Zimmer. Das Pferd wurde im Augenblick vorgeführt. Mein Onkel schwang sich, wie es nur ein Husar fertigbringt, auf das ungesattelte Pferd und sprengte davon – ohne Mütze, so wie er war. Der verhallende Hufschlag zeigte uns die Richtung an, in der er ritt.
Die Damen eilten zu den Fenstern. Zwischen Gestöhn und Wehklagen wurden weise Ratschläge erteilt. Es wurde von den Vorzügen eines heißen Bades gesprochen und von denen einer Einreibung mit Spiritus. Ferner sprach man von mildem Brusttee und davon, daß Foma seit dem frühen Morgen noch keinen Bissen zu sich genommen habe und folglich noch nüchtern sei. Die Perepelizyna fand seine vergessene Brille im Futteral, und dieser Fund machte einen ungewöhnlichen Eindruck: die Generalin stieß einen Schrei aus, entriß der Finderin das Andenken, um dann nach neuen Tränenströmen und ohne das Ding aus der Hand zu legen, wieder ans Fenster zu eilen und hinauszuspähen, ob der Entschwundene nicht schon zurückkehrte. Die Erwartung erreichte schließlich den höchsten Grad der Spannung ... In einer anderen Ecke versuchte Ssaschenjka Nastjä zu trösten: beide hatten sich eng umschlungen und weinten still. Nastenjka hielt Iljuschas Händchen umklammert und küßte zum Abschied immer wieder ihren kleinen Schüler. Iljuscha weinte mit offenem Mäulchen, ohne zu wissen, weshalb. Jeshowikin und Misintschikoff redeten etwas abseits sehr eifrig miteinander. Mir schien, daß Bachtschejeff beim Anblick der weinenden Damen gleichfalls den Tränen beängstigend nahe war. Ich trat an ihn heran.
„Nein, mein Lieber,“ sagte er, „Foma Fomitsch hätte sich vielleicht auch ohnedem von hier fortgemacht, nur war der rechte Augenblick offenbar noch nicht gekommen: noch hatte man ihm keine Ochsen mit goldenen Hörnern vor seine Equipage geschirrt! Keine Sorge, mein Lieber, der wird noch die Besitzer aus dem Hause jagen und selber hier bleiben!“
Das Gewitter war nämlich schon weitergezogen, weshalb Herr Bachtschejeff seine Meinung inzwischen geändert hatte.
Plötzlich erhob sich ein Geschrei: „Sie kommen, sie kommen! Sie bringen ihn!“ Und die Damen eilten mit Gekreisch zur Tür. Es waren kaum zehn Minuten nach dem Aufbruch meines Onkels vergangen. Aber wie war es denn möglich gewesen, Foma Fomitsch so schnell einzuholen? Das Rätsel sollte später sehr einfach gelöst werden: Foma war allerdings, nachdem er Gawrila zurückgeschickt hatte, mit seinem „Stöckchen“ weitergegangen. Als er sich dann aber so verlassen in der Einsamkeit bei Sturm, Donner, Blitz und Regen gesehen hatte, da hatte ihn der Mut gar schmählich im Stich gelassen, und er war unverzüglich Gawrila nachgelaufen. Jedenfalls hatte mein Onkel ihn schon in nächster Nähe des Gutshofes angetroffen. Sofort war ein Mann, der gerade vorüberfuhr, angerufen worden, und mit Hilfe von ein paar Bauern hatte man den ganz zahm gewordenen Foma in den Wagen gehoben. Und so wurde er denn glücklich in die offenen Arme der Generalin zurückgeführt, die fast den Verstand – ihren letzten – verlor, als sie sah, in welchem Zustande ihr Abgott sich befand. Er war nämlich noch bedeutend nasser und schmutziger als Gawrila. Ein entsetzliches Durcheinander war die erste Folge: die einen wollten ihn sogleich ins Schlafzimmer schaffen, damit er die Wäsche wechsele, die anderen sprachen von Holundertee und ähnlichen Stärkungsmitteln. Alles lief hin und her. Die Kopflosigkeit war allgemein. Alle sprachen zu gleicher Zeit, so daß man kein Wort verstehen konnte ... Doch Foma schien nichts zu sehen und nichts zu hören. Er wurde unter den Armen gestützt und langsam zu seinem Philosophenstuhl geführt, in den er sich erschöpft niedersinken ließ, um sogleich die Augen zu schließen. Jemand schrie, daß Foma Fomitsch sterbe. Darauf erhob sich ein entsetzliches Geheul. Am lautesten aber von allen heulte Falalei, der sich krampfhaft bemühte, durch die Mauer der Damen zu Foma vorzudringen, um ihm, wie er sagte, „die Händchen zu küssen“.
„Wohin hat man mich gebracht?“ fragte Foma endlich mit der Stimme eines Sterbenden – eines für die Wahrheit den Märtyrertod Sterbenden.
„Verd...!“ fluchte Misintschikoff halblaut neben mir, „als ob er nicht sähe, wo er ist! Jetzt wird er uns wieder Theater vorspielen!“
„Du bist bei uns, Foma, du bist im Kreise deiner Freunde!“ rief ihm mein Onkel zu. „Faß dich, beruhige dich! Weißt du, es wäre wirklich gut, wenn du jetzt deine Kleider wechseln wolltest, Foma, so kannst du dich noch erkälten ... Und willst du dich nicht etwas stärken – was meinst du? So, weißt du ... ein Gläschen, um dich zu erwärmen.“
„Malaga ... würde ich vielleicht trinken,“ stöhnte Foma und schloß wieder die Augen.
„Malaga? Ich weiß nicht, ob wir den gerade vorrätig haben ...“ sagte mein Onkel, mit unruhigem Blick sich nach Praskowja Iljinitschna umsehend.
„Aber natürlich doch!“ Praskowja Iljinitschna schien ordentlich gekränkt zu sein. „Ganze vier Flaschen haben wir noch!“ Und schlüsselklirrend eilte sie nach dem Wein, begleitet vom Geschrei aller Damen, die ihren Foma, ungefähr wie Fliegen einen Honigteller, belagerten. Dafür geriet freilich Herr Bachtschejeff so ziemlich in das letzte Stadium des Unwillens.
„Malaga! Malaga will er!“ fauchte er. „Na natürlich! Es muß doch unbedingt ein Wein sein, den sonst kein Mensch trinkt! Wer trinkt denn jetzt noch Malaga, außer vielleicht so ’m Schuft wie er! Pfui! ... Pfui! ... Aber was stehe ich denn hier? Was habe ich denn hier zu suchen? Worauf warte ich denn noch?“
„Foma,“ hub mein Onkel an, verwirrte sich aber bei jedem Satz, „jetzt wäre es ... wenn du dich erholt hast und wieder mit uns zusammen ... Ich meine, ich will nur sagen, Foma, wie du vorhin, nachdem du das unschuldige Mädchen beleidigt hattest ...“
„Wo, wo ist sie, meine Unschuld?“ griff Foma sofort das Wort auf, als phantasiere er im Fieber. „Wo sind die goldenen Tage meiner Unschuld? Wo bist du, meine goldene Kindheit, als ich noch schuldlos und schön über die Wiesen dem ersten Frühlingsschmetterling nachlief? Wo, wo ist diese Zeit? Gebt mir meine Unschuld wieder, gebt sie mir wieder zurück ...“
Und Foma wandte sich mit ausgestreckten Armen der Reihe nach an alle Anwesenden, als hätte jemand von uns seine Unschuld in der Tasche gehabt. Bachtschejeff schien platzen zu wollen vor Wut.
„Hört doch, was der Mensch will!“ fauchte er empört. „Gebt ihm seine Unschuld wieder! Will er sie etwa abküssen? Vielleicht war er auch als Knabe schon so ein Räuber, wie jetzt! Könnte schwören, daß er’s war!“
„Foma!“ ... hub mein Onkel wieder an.
„Wo, wo sind sie, jene Tage, als ich noch an die Liebe glaubte und den Menschen liebte?“ phantasierte Foma, „als ich den Nächsten umarmte und an seiner Brust Tränen vergoß? Jetzt aber – wo bin ich? Wo bin ich?“
„Du bist bei uns, Foma, beruhige dich!“ rief ihm mein Onkel zu. „Ich aber will dir jetzt folgendes sagen, Foma ...“
„Wenn Sie doch jetzt wenigstens schweigen wollten!“ keuchte haßerfüllt die Perepelizyna, deren kleine Schlangenaugen meinen Onkel böse anblitzten.
„Wo bin ich?“ fuhr Foma fort, „wer umgibt mich hier? Das sind ja Büffel und Stiere, die ihre Hörner gegen mich senken! Leben, was bist du? Ach, lebe, lebe, sei entehrt, geschmäht, gegeißelt, geschlagen, und wenn dann dein Grab zugeschüttet ist, dann erst kommen die Menschen zur Besinnung, und deine armen Knochen werden von einem Monument zerdrückt!“
„Himmlischer Vater, jetzt kommt er noch auf sein Monument zu sprechen!“ flüsterte Jeshowikin und schlug die Hände zusammen.
„Oh, errichtet mir kein Monument!“ phantasierte Foma ohne Unterlaß weiter, „errichtet mir keines! Ich brauche keine Monumente! Errichtet mir in Eurem Herzen Monumente ... das ist alles ... sonst aber verlange ich nichts, nichts, nichts!“
„Foma!“ unterbrach ihn mein Onkel, „so hör doch jetzt auf! Beruhige dich! Es ist kein Grund vorhanden, von Monumenten zu reden. Hör mich jetzt an ... Sieh, Foma, ich begreife, daß du vielleicht ... sagen wir, in edlem Feuer branntest, als du mir vorhin ... diese Vorwürfe machtest; aber du ließest dich zu weit fortreißen, Foma, du überschrittest jede Grenze – ich versichere dich, du hast dich geirrt, Foma ...“
„Werden Sie denn nicht endlich aufhören!“ schrie wieder die Perepelizyna, „wollen Sie denn den Unglücklichen ganz und gar töten, bloß weil er jetzt in Ihren Händen ist? ...“
Nach dem Beispiel der Perepelizyna fuhr auch die Generalin sofort auf, und mit ihr das ganze Gefolge: alle winkten sie meinem Onkel wie besessen mit den Händen zu, damit er nur endlich schweige.
„Anna Nilowna, halten Sie gefälligst selbst den Mund; ich weiß, was ich sage!“ fuhr mein Onkel mit entschlossener Stimme fort. „Es handelt sich um eine heilige Sache der Ehre und Gerechtigkeit ... Foma, ich weiß, du bist vernünftig. Du mußt unverzüglich das edelste Mädchen, das du beleidigt hast, um Verzeihung bitten.“
„Welches Mädchen? Welches Mädchen habe ich beleidigt?“ fragte Foma und sah sich mit verständnislosem Blick im Kreise um, als hätte er alles vergessen, was geschehen war, und als begreife er nicht, wovon man sprach.
„Ja, Foma, und wenn du jetzt freiwillig deine Schuld eingestehst, so werde ich, das schwöre ich, dir hier meinetwegen zu Füßen fallen und ...“
„Aber wen habe ich denn beleidigt?“ rief Foma leidenschaftlich. „Welches Mädchen? Wo ist sie? Wo ist sie? Wo ist dieses Mädchen? Erinnert mich doch, helft mir, sagt mir doch nur mit einem Wort, wer dieses Mädchen ist! ...“
Da trat Nastenjka verwirrt und geängstigt zu meinem Onkel und berührte ihn zaghaft am Ärmel.
„Jegor Iljitsch, lassen Sie ihn, es ist nicht nötig, daß er sich entschuldigt! Wozu das alles?“ sagte sie mit bittender, gequälter Stimme. „Lassen Sie doch!“
„Ah! Jetzt besinne ich mich!“ rief plötzlich Foma aus. „Gott! Ich besinne mich! Oh, helft mir, helft mir, mich zu erinnern!“ flehte er, scheinbar in unbeschreiblicher Aufregung. „Sagt mir, ist es wahr, daß man mich von hier wie den räudigsten aller Hunde hinausgejagt hat? Ist es wahr, daß ich vom Blitz getroffen wurde? Ist es wahr, daß ich von hier auf die Treppe hinausgeworfen worden bin? Ist das wahr? Ist das alles wahr?“
Das Weinen und Gejammer der Damen war eine beredte Antwort auf seine Frage.
„Richtig, richtig!“ fuhr er fort, „ich entsinne mich jetzt, daß ich nach dem Blitz und nach meinem Sturz hergelaufen kam, verfolgt vom Donner, um hier meine Pflicht zu erfüllen und um dann auf ewig zu verschwinden! Erhebt mich! Wie erschöpft ich jetzt auch bin, ich muß sie erfüllen – meine letzte Pflicht!“
Man faßte ihn stützend unter die Arme und hob ihn aus dem Ruhestuhl. Er selbst nahm hierauf die Pose eines klassischen Redners an und streckte beschwörend seine Hand aus.
„Oberst!“ begann er, „jetzt bin ich wieder erwacht! Der Donner hat meine geistigen Kräfte nicht gänzlich vernichtet: es ist zwar noch eine gewisse Taubheit in meinem rechten Ohr vorhanden, aber die ist vielleicht nicht so sehr auf den Donner als auf den Sturz von der Treppe zurückzuführen ... Doch was hat das zu sagen! Und wen geht hier das rechte Ohr Foma Opiskins etwas an!“
Den letzten Worten verlieh Foma so viel traurige Ironie und begleitete sie mit einem so wehmütigen Lächeln, daß das Gestöhn der gerührten Damen unwillkürlich von neuem ertönte. Alle sahen sie mit bitterem Vorwurf, einige aber mit wahrem Haß auf meinen armen Onkel, der sich allmählich, beim Anblick eines so einmütigen Urteils, wie vernichtet zu fühlen begann. Misintschikoff spie heimlich aus vor Wut und trat ans Fenster. Bachtschejeff versetzte mir immer stärker werdende Rippenstöße: er konnte sich wirklich nicht mehr ruhig verhalten, der arme Dicke!
„Jetzt hören Sie alle meine Beichte!“ hub Foma mit erhöhter Stimme an und ließ stolz und entschlossen seinen Blick über die ganze Versammlung schweifen, „und gleichzeitig entscheiden Sie, Jegor Iljitsch, über das Schicksal des unglücklichen Foma Opiskin! Schon lange habe ich Sie beobachtet, habe ich Sie bangen Herzens beobachtet und alles bemerkt, alles, während Sie noch nicht einmal ahnten, daß ich Sie beobachtete. Oberst! Ich habe mich vielleicht geirrt, aber ich kannte Ihren Egoismus, Ihre unbegrenzte Eigenliebe, Ihre schreckliche Wollüstigkeit, und – wer wird mich deshalb verdammen können, daß ich unwillkürlich für die Ehre des unschuldigsten Wesens erzitterte?“
„Foma! ... Foma! ...“ fiel ihm mein Onkel ins Wort, da er mit Unruhe den gequälten Ausdruck in Nastenjkas Gesicht gewahrte.
„Nicht so sehr die Unschuld und die Vertrauenswürdigkeit dieses Mädchens ängstigten mich als gerade ihre Unerfahrenheit,“ fuhr Foma fort, als hätte er die Warnung meines Onkels überhaupt nicht gehört. „Ich sah, wie ein zärtliches Gefühl in ihrem Herzen erwachte und erblühte, gleich der Frühlingsrose, und ich dachte unwillkürlich an Petrarca, der da sagt: ‚Die Unschuld ist so oft nur um Haaresbreite vom Untergang entfernt.‘ Ich seufzte und litt, und wenn ich auch für dieses Mädchen, das rein wie eine Perle, wie ein kostbarer Edelstein ist, mein ganzes Blut als Bürgschaft hingegeben hätte – wer aber hätte mir für Sie gebürgt, Jegor Iljitsch? Da ich das zügellose Streben Ihrer Leidenschaften kannte, da ich wußte, daß Sie für deren kurze Befriedigung alles zu opfern bereit sind, – so versenkte ich mich plötzlich in einen Abgrund des Entsetzens und der Befürchtungen bezüglich des Schicksals dieses edelsten aller Mädchen ...“
„Foma! Wie hast du das nur denken können!“ rief mein Onkel erregt aus.
„Mit schmerzendem Herzen habe ich Sie beobachtet. Wenn Sie wissen wollen, wie ich gelitten habe, fragen Sie Shakespeare: er wird Ihnen in seinem ‚Hamlet‘ von meinem Seelenzustande erzählen. Ich wurde argwöhnisch und unerträglich. In meiner Unruhe, in meinem Unwillen sah ich alles schwarz, aber, das war nicht dieses ‚Schwarz‘, von dem in der bekannten Romanze die Rede ist, das können Sie mir glauben. Deshalb hegte ich auch den Wunsch, sie aus diesem Hause zu entfernen: ich wollte sie retten. Dies war der eigentliche Grund, weshalb Sie mich in der letzten Zeit so gereizt und mit der ganzen Menschheit zerfallen gesehen haben. Oh! wer wird mich jetzt mit dieser Menschheit wieder aussöhnen? Ich fühle, daß ich vielleicht anmaßend und ungerecht zu Ihren Gästen, zu Ihrem Neffen, zu Herrn Bachtschejeff gewesen bin, indem ich von ihm Kenntnis der Astronomie verlangte; aber wer kann mich wegen meines damaligen Seelenzustandes tadeln? Ich berufe mich nochmals auf Shakespeare und sage, daß die Zukunft mir wie ein finsterer Abgrund von unbekannter Tiefe erschien, auf dessen Grunde ein Krokodil lag. Ich fühlte, daß es meine Pflicht war, das Unglück zu verhüten, daß ich dazu berufen, daß ich dazu gesandt war, – doch was geschah? Sie begriffen die edelsten Beweggründe meiner Seele nicht und zahlten mir in dieser ganzen Zeit mit Bosheit, Undankbarkeit, Spott, Erniedrigungen ...“
„Foma! Wenn es so ist ... ich fühle ...“ unterbrach ihn mein Onkel in unsäglicher Erregung.
„Wenn Sie tatsächlich etwas fühlen, Oberst, so seien Sie so gut und lassen Sie mich zu Ende sprechen, ohne mich zu unterbrechen. Ich fahre fort: meine ganze Schuld bestand folglich darin, daß ich mich gar zu sehr um das Schicksal und das Glück dieses Kindes sorgte, – denn sie ist ja noch ein Kind im Vergleich zu Ihnen. Die höchste Liebe zur Menschheit machte mich in dieser Zeit fast zu einem Dämon des Argwohns und Zornes. Ich wäre fähig gewesen, mich auf die Menschen zu stürzen und sie zu zerreißen. Und wissen Sie auch, Jegor Iljitsch, daß ein jeder Ihrer Schritte meinen Argwohn noch bestärkte und mich von der Richtigkeit aller meiner Befürchtungen überzeugte? Wissen Sie auch, daß ich gestern, als Sie mich mit Ihrem Golde überschütteten, um mich auf diese Weise los zu werden, bei mir im stillen dachte: ‚Er will in mir, in meiner Person sein eigenes Gewissen entfernen, um dann bequemer das Verbrechen begehen zu können ...‘“
„Foma! Aber Foma ... Hast du das wirklich gestern gedacht?“ rief mein Onkel entsetzt aus. „Gott, und ich habe nichts geahnt!“
„Der Himmel selber flößte mir diesen Argwohn ein,“ fuhr Foma fort. „Und sagen Sie doch: was mußte ich denken, als der blinde Zufall mich noch am selben Abend zu jener Bank im Garten führte, was mußte ich fühlen, – o Gott! – als ich endlich mit eigenen Augen sah, daß alle meine Befürchtungen sich plötzlich bewahrheiteten und mir in der glänzendsten Weise recht gaben? Mir blieb nur noch eine Hoffnung, eine schwache, allerdings, aber es war doch immerhin eine Hoffnung! Und was mußte ich erleben?! Heute morgen zerstörten Sie sie selbst zu Schutt und Trümmer! Sie sandten mir Ihren Brief. Sie sprachen von der Absicht, sie zu heiraten, und Sie flehten mich an, von dem Gesehenen nichts verlauten zu lassen ... ‚Aber weshalb,‘ dachte ich, ‚weshalb hat er mir denn gerade jetzt geschrieben, nachdem ich ihn bereits überrascht habe, warum nicht früher? Weshalb ist er nicht früher eilends zu mir gekommen, glücklich und schön – denn die Liebe verschönt das Gesicht –, weshalb hat er sich nicht in meine Arme geworfen, warum ist er nicht an meiner Brust in Tränen grenzenlosen Glücks ausgebrochen, und weshalb hat er mir nicht alles, alles gestanden?‘ Oder bin ich ein Krokodil, das Sie nur verschlungen, nicht aber Ihnen einen klugen Rat gegeben haben würde? Oder bin ich irgendein widerliches Insekt, das Sie nur gebissen, nicht aber Ihnen zu Ihrem Glück verholfen haben würde? ‚Bin ich sein Freund, oder bin ich ein ekelhaftes Gewürm?‘ Das war die Frage, die ich heute morgen an mich stellte! ‚Und wozu schließlich,‘ dachte ich, ‚wozu hat er aus der Hauptstadt einen Neffen hergerufen und mit diesem Mädchen verlobt, wenn nicht, um sowohl uns wie den leichtsinnigen Neffen zu betrügen und inzwischen heimlich die verbrecherischste aller Absichten auszuführen?‘ Nein, Oberst, wenn jemand mich in dem Gedanken bestärkt hat, daß Ihre Liebe verbrecherisch ist, so sind Sie es selbst, und nur Sie allein! Ja, Sie sind auch vor diesem Mädchen ein Verbrecher; denn durch Ihre Ungeschicklichkeit und Ihr eigensüchtiges Mißtrauen haben Sie sie der Verleumdung und häßlichem Argwohn preisgegeben!“
Mein Onkel schwieg, den Kopf gesenkt. Die Beredsamkeit Fomas behielt offenbar die Oberhand; denn mein Onkel wagte nichts mehr zu entgegnen und gab damit eigentlich schon zu, daß er der „große Verbrecher“ sei. Die Generalin und ihre Freundinnen hatten stumm und andächtig Fomas Rede angehört; die Perepelizyna blickte mit schadenfrohem Triumph auf die arme Nastenjka.
„Bestürzt, erregt, halbtot,“ fuhr Foma fort, „schloß ich mich heute ein und betete, daß Gott mich erleuchte! Endlich beschloß ich, Sie zum letzten Male und öffentlich zu prüfen. Vielleicht habe ich mich mit gar zu großem Eifer darangemacht, vielleicht habe ich mich gar zu sehr meinem Unwillen hingegeben! Doch für meine edelsten Absichten warfen Sie mich zur Tür hinaus! Noch als ich aus der Türe flog, dachte ich bei mir: ‚Sieh, so wird in der Welt die Tugend belohnt!‘ Hieran schlug ich auf die Erde, und was weiter mit mir geschah – dessen entsinne ich mich kaum noch.“
Gestöhn und Wehklagen unterbrachen Foma bei dieser tragischen Erinnerung. Die Generalin stürzte mit der Flasche Malaga, die sie vor einer Minute der zurückgekehrten Praskowja Iljinitschna aus der Hand gerissen hatte, zu Foma; dieser jedoch wies mit majestätischer Handbewegung die Flasche samt der Generalin zurück.
„Unterbrechen Sie mich nicht. Ich muß beenden. – Was nach meinem Sturz geschah – ich weiß es nicht. Ich weiß nur eines, daß ich jetzt, durchnäßt und der Gefahr einer Influenza ausgesetzt, hier stehe, um Ihr beiderseitiges Glück zu schaffen. Oberst! Aus vielen Anzeichen, die ich jetzt nicht weiter erklären will, habe ich schließlich die Überzeugung gewonnen, daß Ihre Liebe rein und sogar erhaben ist. Und wenn auch gleichzeitig von einem geradezu verbrecherischen Mißtrauen gemartert, erniedrigt, der Beleidigung eines ehrenhaften Mädchens verdächtigt, desselben Mädchens, für das ich wie ein mittelalterlicher Ritter mein Blut bis auf den letzten Tropfen hingegeben hätte, entschließe ich mich nunmehr, Ihnen zu zeigen, wie Foma Opiskin sich für ihm zugefügte Beleidigungen rächt. Geben Sie mir Ihre Hand, Oberst!“
„Mit Vergnügen, Foma!“ rief mein Onkel aus. „Und da du dich jetzt deutlich über die Ehre des ehrenwertesten Mädchens ausgesprochen hast, so ... hier ist meine Hand, Foma, und gleichzeitig gestehe ich dir meine aufrichtige Reue ...“
Und mein Onkel reichte ihm von ganzem Herzen die Hand, ohne zu ahnen, was daraus entstehen sollte.
„Geben Sie mir auch Ihre Hand,“ fuhr Foma mit milder Stimme fort, indem er sich durch den Kreis der ihn umgebenden Damen an Nastenjka wandte.
Nastenjka erschrak, verwirrte sich und blickte schüchtern zu Foma hinüber.
„Kommen Sie, kommen Sie, mein liebes Kind! Das ist unbedingt notwendig zu Ihrem Glück,“ fuhr Foma freundlich fort, während er immer noch die Hand meines Onkels in der seinen hielt.
„Was mag er wollen?“ fragte Misintschikoff leise.
Nastjä näherte sich schließlich, noch immer erschrocken und ängstlich, Foma Fomitsch und reichte ihm zaghaft ihr Händchen.
Foma nahm dieses Händchen und legte es in die Hand meines Onkels.
„Ich vereinige und segne euch!“ sagte er mit der feierlichsten Stimme. „Und wenn der Segen eines vom Leid erdrückten Märtyrers euch Nutzen bringen kann, so seid glücklich! Nun seht ihr, wie sich Foma Opiskin rächt! Hurra!“
Wir waren sprachlos. Diese Lösung kam so unerwartet, daß niemand sie verstand. Die Generalin glich einer Salzsäule mit einer Flasche Malaga in der Hand. Die Perepelizyna erbleichte und erzitterte vor Wut. Das übrige Gefolge schlug die Hände über dem Kopf zusammen und erstarrte in dieser Stellung. Mein Onkel fuhr zusammen und wollte etwas sagen, brachte aber kein Wort hervor. Nastjä war blaß wie eine Tote und stammelte zwar ein „aber das geht doch nicht ...“ – aber jetzt war es zu spät. Bachtschejeff war der erste – man muß ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen –, der in Fomas Hurra einstimmte, nach ihm ich, nach mir Ssaschenjka mit allem Jubel ihrer hellen Kinderstimme. Zugleich eilte sie zum Vater und umarmte und küßte ihn –, dann Iljuscha, dann Jeshowikin, und zum Schluß auch Misintschikoff.
„Hurra!“ schrie noch einmal Foma, „hurra! Und jetzt auf die Knie, meine Herzenskinder, auf die Knie vor der zärtlichsten der Mütter! Bittet um ihren Segen, und wenn es nötig ist, werde ich selbst mit euch vor ihr niederknien ...“
Mein Onkel und Nastjä, die einander noch nicht angesehen hatten und im ersten Schreck wahrscheinlich noch gar nicht begriffen, was mit ihnen geschah, knieten sogleich vor der Generalin nieder: die übrigen gruppierten sich um sie herum. Die Generalin stand wie betäubt, rührte sich nicht und schien nicht begreifen zu können, was sie tun sollte. Doch da half Foma: er kniete in eigener Person vor seiner Gönnerin nieder, was diese im Augenblick zur Besinnung brachte. Sie brach in Tränen aus und sagte, daß sie einverstanden sei. Der Oberst sprang auf und preßte Foma an seine Brust.
„Foma! ... Foma!“ rief er aus, doch seine Stimme versagte.
„Champagner!“ rief Herr Bachtschejeff. „Hurra!“
„Nein, nicht Champagner,“ unterbrach ihn die Perepelizyna, die inzwischen schon Zeit gehabt hatte, sich zu besinnen, sich die Sachlage zu überlegen und gleichzeitig auch die Folgen zu berechnen, – „jetzt muß man Gott ein Licht anzünden, vor dem Heiligenbilde beten und mit dem Heiligenbilde das Brautpaar segnen, wie alle Gottesfürchtigen es tun ...“
Sofort beeilten sich alle, den vernünftigen Rat zu befolgen. Alles lief kreuz und quer. Zuerst mußte das Licht angezündet werden. Herr Bachtschejeff zog einen Stuhl herbei, stellte ihn vor das Heiligenbild und kletterte höchst eigen hinauf, um das Licht einzusetzen. Der Stuhl jedoch war nicht für eine solche Last gedacht: er krachte in allen Fugen, und Herr Bachtschejeff rettete nur mit Mühe und Not sein Gleichgewicht. Doch ohne sich im geringsten über seinen Mißerfolg zu ärgern, trat er den Platz sofort höflich der Perepelizyna ab. Die dünne Jungfer erledigte die Sache denn auch im Augenblick: das Licht brannte. Und wie die Perepelizyna, so bekreuzte sich und verneigte sich das ganze Gefolge bis zur Erde. Hierauf wurde das Heiligenbild der Generalin gereicht. Der Oberst und Nastenjka knieten nochmals vor ihr nieder, und die Zeremonie vollzog sich unter gottesfürchtigen Vorhaltungen der Perepelizyna, die zu jedem ihrer Worte Unterweisungen hinzufügte: „Knien Sie jetzt nieder, küssen Sie jetzt das Heiligenbild, küssen Sie der Mutter die Hand!“ Nach den Verlobten hielt es auch Herr Bachtschejeff für seine Pflicht, das Heiligenbild zu küssen, worauf er die Hand der Generalin an die Lippen führte. Er befand sich mit einem Male in unbeschreiblicher Begeisterung.
„Hurra!“ schrie er immer von neuem. „Aber jetzt Champagner!“
Übrigens waren alle begeistert. Die Generalin weinte, doch waren es diesmal Tränen der Freude: die Verbindung, die Foma gesegnet hatte, wurde in ihren Augen ohne weiteres sowohl heilig wie auch möglich, und vor allen Dingen fühlte sie, daß Foma Fomitsch sich ausgezeichnet hatte und jetzt ganz sicher wieder bei ihr bleiben werde. Auch ihr Gefolge teilte – wenigstens äußerlich – die allgemeine Begeisterung. Mein Onkel ging bald zu seiner Mutter, um ihre Hände zu küssen; bald umarmte er mich, Bachtschejeff, Misintschikoff und Jeshowikin. Seinen Iljuscha hätte er um ein Haar erdrückt in seinen Armen. Ssaschenjka hing sich an Nastenjka und küßte sie unaufhörlich. Praskowja Iljinitschna weinte still. Als Herr Bachtschejeff das bemerkte, ging er zu ihr hin und küßte ihr die Hand. Der alte Jeshowikin wischte sich, in die entfernteste Ecke zurückgezogen, mit einem Zipfel seines karierten Schnupftuches gleichfalls Tränen aus den Augen. In der anderen Ecke schluchzte Gawrila und sah andächtig zu Foma Fomitsch auf. Falalei aber brüllte herzbrechend vor lauter Rührung, trat zu jedem Anwesenden und küßte ihm die Hand. Alle flossen über vor lauter Gefühl. Niemand vermochte zu sprechen. Niemand dachte an Erklärungen. Es schien alles schon gesagt zu sein. Nur freudige Ausrufe wurden laut. Im Grunde begriff zwar noch keiner so recht, was und wie es eigentlich geschehen war. Man wußte nur das eine: daß Foma Fomitsch alles getan und geordnet hatte, und daß eine unwiderrufliche Tatsache vor einem stand.
Noch waren keine fünf Minuten des allgemeinen Glücks vergangen, als plötzlich auch Tatjana Iwanowna erschien. Durch wen, durch welchen Spürsinn mochte sie oben in ihrem Zimmer Kunde von der Verlobung erhalten haben? Mit strahlendem Gesicht, mit Freudentränen in den Augen und in bezaubernd eleganter Toilette – sie hatte inzwischen doch Zeit und Lust dazu gehabt, sich umzukleiden – erschien sie in der Tür und flatterte wie eine Schwalbe zu Nastenjka, die sie krampfhaft in ihre Arme schloß.
„Nastenjka, Nastenjka! Du hast ihn geliebt, ich aber habe es nicht einmal gewußt!“ rief sie aus. „O Gott! Sie haben sich geliebt, sie haben heimlich gelitten, ohne daß jemand es gewußt hätte! Man hat sie verfolgt! Welch ein Roman! Nastjä, mein Täubchen, sag mir die ganze Wahrheit: liebst du denn wirklich diesen – Toren?“
Statt einer Antwort umarmte Nastjä sie und küßte sie auf den Mund.
„O Gott, welch ein entzückender Roman!“ Tatjana Iwanowna klatschte in die Hände vor Freude. Hör, Nastjä, hör, mein Engel: alle diese Männer, alle bis auf den letzten sind sie undankbare Unmenschen, Ungeheuer und unserer Liebe nicht wert. Er aber ist vielleicht noch der beste von ihnen. „Komm her zu mir, du Tor!“ rief sie plötzlich meinem Onkel zu, sich an ihn wendend, und sie erfaßte seine Hand, um ihn zu sich zu ziehen. „Bist du wirklich verliebt? Bist du wirklich fähig zu lieben? Sieh mich an: ich will dir in die Augen sehen, ich will sehen, ob diese Augen lügen ... Nein, nein, sie lügen nicht – in ihnen leuchtet wahre Liebe. Oh, wie glücklich ich bin! Nastenjka, meine Freundin, hör mich an: du bist nicht reich – ich schenke dir dreißig Tausend. Nimm sie, um Christi willen! – ich bitte dich! Ich brauche sie nicht, ich habe sie nicht nötig! Es bleibt mir ja noch genug! Nein, nein, nein!“ wehrte sie heftig, als sie sah, daß Nastjä das Geschenk nicht annehmen wollte. „Schweigen Sie, Jegor Iljitsch, das geht Sie nichts an. Nein, Nastjä, ich habe es so beschlossen – sie dir zu schenken. Ich wollte dir immer schon ein Geschenk machen, aber ich wartete auf deine erste Liebe ... Und nun werde ich euer Glück sehen und mich mitfreuen. Du wirst mich kränken, wenn du es nicht annimmst, ich werde weinen, Nastjä ... Nein, nein, nein und nein, du darfst mir die Bitte nicht abschlagen!“
Tatjana Iwanowna war so glücklich, daß man ihr – wenigstens in diesem Augenblick – unmöglich ihre Bitte und ihr Geschenk abschlagen konnte: sie hätte einem zu leid getan. So tat man es denn auch vorläufig nicht ... man schob es auf. Darauf fiel sie der alten Generalin um den Hals, küßte sie, küßte die Perepelizyna – küßte alle. Bachtschejeff drängte sich in der höflichsten Weise zu ihr durch und bat sie, ihr die Hand küssen zu dürfen.
„Du mein Mütterchen, mein Täubchen! Verzeih mir altem Dummkopf, was auf der Rückfahrt geschah – ich kannte doch dein goldenes Herz noch nicht!“
„Ach, Sie Tor! Ich aber kenne Sie schon lange!“ sagte Tatjana Iwanowna mit schelmischer Koketterie, schlug Stepan Alexejewitsch mit dem Batisttüchelchen auf die Nase und flatterte wie eine Nixe davon, während ihr prächtiges Kleid ihn streifte.
Der Dicke trat ehrerbietig zurück.
„Ein vortreffliches Mädchen!“ sagte er gerührt. „Aber dem Deutschen ist ja die Nase wieder angeklebt worden!“ flüsterte er mir vertrauensvoll zu und sah mir froh in die Augen.
„Was für eine Nase? Welch einem Deutschen?“ fragte ich verständnislos.
„Na, dem verschriebenen doch, der seiner Dame das Händchen küßt, während diese sich eine Träne mit dem Schnupftuch aus dem Auge wischt. Mein Jewdokim hat sie ihm noch gestern zu Haus angeleimt. Als wir aber vorhin von der Jagd zurückkamen, schickte ich einen reitenden Boten ... Bald wird er hier sein. Ein großartiges Ding, sag’ ich Ihnen!“
„Foma!“ rief mein Onkel in fassungsloser Begeisterung aus, „du bist der Urheber meines Glücks! Womit kann ich es dir vergelten?“
„Mit nichts, Oberst,“ sagte Foma mit einer Asketenmiene. „Fahren Sie fort, mir keine Beachtung zu schenken, und seien Sie glücklich ohne Foma.“
Er fühlte sich offenbar verletzt – während des großen Gefühlsüberschwanges schien man ihn, und wenn auch nur einen Augenblick, beinahe vergessen zu haben.
„Das war ja nur die übergroße Seligkeit, Foma!“ rief mein Onkel aus. „Ich ... weiß kaum noch, wo ich bin, Freund! Höre, Foma: ich habe dich beleidigt. Mein ganzes Leben, all mein Blut würde nicht ausreichen, um diese Beleidigung wieder gutzumachen, und deshalb schweige ich lieber und versuche gar nicht, meine Tat zu entschuldigen. Wenn du aber jemals meines Kopfes, meines Lebens bedarfst, wenn jemand sich für dich in einen Abgrund stürzen muß, so befiehl nur, und du wirst sehen ... Ich sage nichts weiter, Foma!“
Und mein Onkel machte nur eine Handbewegung, da er die Unmöglichkeiten, in Worten noch etwas hinzuzufügen, das seinen Gedanken stärker ausdrücken könnte, vollkommen einsah. Dann blickte er Foma mit dankbaren, feucht schimmernden Augen an.
„Jetzt sieht man erst, was für ein Engel er ist!“ flötete honigsüß die Perepelizyna – bereit, Foma anzubeten.
„Ja, ja!“ stimmte ihr Ssaschenjka bei. „Ich wußte gar nicht, daß Sie ein so guter Mensch sind, Foma Fomitsch – und ich war so ungezogen zu Ihnen. Verzeihen Sie mir, Foma Fomitsch, und glauben Sie mir, daß ich Sie von ganzem Herzen lieben werde. Wenn Sie wüßten, wie ich Sie jetzt achte!“
„Foma!“ sagte Herr Bachtschejeff, „verzeih auch mir. Ich war dumm. Ich kannte dich nicht, ich kannte dich wahrhaftig nicht! Du, Foma Fomitsch, du bist nicht nur ein Gelehrter, sondern einfach – ein Held! Mein ganzes Haus steht dir zur Verfügung. Komm nur. Am besten aber, weißt du, komm gleich übermorgen zu mir; aber selbstverständlich lade ich auch die Braut und den Bräutigam ein ... Jawohl! – das ganze Haus zu mir! Dann wollen wir mal speisen – ich will nichts vorher loben, nur eines schicke ich voraus: bloß Vogelmilch kann ich euch nicht vorsetzen! Darauf gebe ich mein Wort!“
Währenddessen war Nastenjka zu Foma Fomitsch getreten und hatte ihn, ohne viel zu reden, umarmt und herzlich geküßt.
„Foma Fomitsch,“ sagte sie, „Sie sind unser Wohltäter, Sie haben so viel für uns getan, daß ich nicht weiß, wie ich es Ihnen entgelten soll ... Ich weiß nur, daß ich Ihnen die liebevollste und ehrerbietigste Schwester sein will ...“
Tränen erstickten ihre Stimme. Foma küßte sie auf die Stirn und war sehr gerührt.
„Meine Kinder, Kinder meines Herzens!“ sagte er. „Lebt, blüht, und in den Stunden des Glücks gedenkt bisweilen auch des armen Ausgestoßenen! Von mir aber sage ich, daß Unglück vielleicht die Mutter der Tugend ist. Das hat, glaube ich, Gogol gesagt, ein sonst leichtfertiger Schriftsteller, der aber mitunter gute Gedanken hat. Ausgestoßen werden – ist Unglück! Als unsteter Wanderer werde ich jetzt mit meinem Wanderstabe des Weges ziehen und – wer weiß? – durch mein Unglück vielleicht immer noch tugendreicher werden! Dieser Gedanke ist der einzige mir noch verbliebene Trost!“
„Aber ... wohin willst du denn gehen, Foma?“ fragte mein Onkel erschrocken.
Alle zuckten zusammen und richteten ihre Blicke auf Foma.
„Kann ich denn nach der mir zugefügten Kränkung noch in diesem Hause bleiben, Oberst?“ fragte Foma mit ungeheurer Würde.
Man ließ ihn nicht weitersprechen: ein wahrer Tumult erhob sich und verschlang jedes gesprochene Wort. Er wurde wieder in seinen Sessel gesetzt, wurde angefleht und beweint, und ich weiß nicht, was noch alles mit ihm getan wurde. Natürlich hatte er diesmal ebensowenig die Absicht, „dieses Haus“ zu verlassen, wie vor seinem Flug durch die Glastür oder wie am Abend vorher oder wie damals, als er im Gemüsegarten alle Rüben umgrub. Er wußte genau, daß man sich jetzt erst recht an ihn klammern werde, – gerade jetzt, nachdem er alle glücklich gemacht hatte, alle von neuem an ihn glaubten und bereit waren, ihn auf den Händen zu tragen und sich das noch zur Ehre anzurechnen. Wahrscheinlich war es seine feige Rückkehr – die sehr aus eigenem Antriebe geschehen war, als das Gewitter ihn erschreckt hatte – die nun seinen Ehrgeiz anstachelte und ihn trieb, den Helden zu spielen. In der Hauptsache aber war es natürlich die Versuchung, einen erhabenen Menschen darzustellen, – die war denn doch zu groß! Man konnte so schön reden, das eigene Unglück ausmalen, sich selbst erheben und loben – wie sollte man da der Versuchung widerstehen? Und so widerstand er ihr denn auch nicht: er wollte sich aus den Armen der ihn Zurückhaltenden reißen, verlangte einen Wanderstab, bat sogar, ihm seine Freiheit wiederzugeben, ihn seines Weges ziehen zu lassen: in „diesem Hause“ sei er entehrt und geschlagen worden, er sei nur aus dem Grunde zurückgekehrt, um erst noch das Glück der Zurückgebliebenen zu schaffen – wie könne er „im Hause der Undankbarkeit“ bleiben? Wie könne er „am selben Tische mit ihnen Kohl – wenn auch fettgekochten – zu essen fortfahren“? Kohl, der „mit Schlägen gewürzt“ war? Endlich ließ er sich besänftigen. Er wurde wieder in seinen Ruhestuhl gesetzt – doch seine Beredsamkeit hatte, wie sich zeigte, auch jetzt noch nicht ihr Ende erreicht.
„Hat man mich denn hier nicht beleidigt?“ rief er aus. „Hat man mir hier nicht die Zunge gezeigt? Haben denn nicht Sie, Sie selbst, Oberst, wie die ungezogenen Kinder in den Vorstadtstraßen mir täglich, stündlich die Faust gezeigt? Ja, Oberst! Ich bestehe auf diesem Vergleich, weil Sie mir diese Faust, wenn auch nicht physisch, so doch moralisch gezeigt haben. Eine moralische Faust ist aber in manchen Fällen sogar kränkender als eine physische. Von den Schlägen ganz zu schweigen ...“
„Foma! ... Foma!“ unterbrach ihn mein Onkel. „Martere mich nicht mit dieser Erinnerung! Ich habe dir gesagt, daß all mein Blut nicht genügen würde, um die Tat vergessen zu machen. Sei doch großmütig! Vergiß, vergib, bleibe hier und freue dich an unserem Glück! Es ist dein Werk, Foma ...“
„... Ich will lieben, ich will den Menschen lieben,“ redete Foma unaufhaltsam weiter; „man gibt ihn mir aber nicht, man verbietet mir, ihn zu lieben, man nimmt ihn mir fort, den Menschen! Gebt mir, gebt mir den Menschen, damit ich ihn lieben kann! Wo ist dieser Mensch? Wo hat er sich versteckt dieser Mensch? Wie Diogenes suche ich ihn mit der Laterne, suche ihn mein ganzes Leben lang und kann ihn nicht finden ... und kann doch keinen anderen lieben, bevor ich nicht diesen Menschen gefunden habe. Wehe dem, der mich zum Menschenhasser gemacht hat! Da rufe ich nun: Gebt mir den Menschen, auf daß ich ihn lieben kann, und man schiebt mir Falalei zu! Werde ich denn einen Falalei jemals lieben können? Will ich denn Falalei lieben? Kann ich denn Falalei überhaupt lieben, selbst wenn ich es wollte? Nein!! Und warum nicht? Weil er Falalei ist. Warum liebe ich nicht die ganze Menschheit? Weil alles, was es auf der Welt gibt – Falalei ist oder Falalei ähnlich ist. Ich will keinen Falalei, ich hasse Falalei, ich speie auf Falalei, ich werde Falalei erwürgen, und wenn ich wählen soll, so werde ich eher Asmodei lieben als Falalei! Komm, komm her, du mein ewiger Peiniger, komm her!“ rief er plötzlich dem armen Falalei zu, der sich mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt hinter der Foma umgebenden Schar auf die Fußspitzen erhob und mit langgerecktem Hals über die Schultern der anderen lauerte. „Komm her! Ich werde Ihnen beweisen, Oberst,“ eiferte Foma und zog den vor Schreck fast bewußtlosen Falalei an der Hand zu sich heran, „ich werde Ihnen die Wahrheit meiner Worte über den ewigen Spott und die Beleidigungen beweisen! Sprich, Falalei, und sage die Wahrheit: wovon hat dir heute nacht geträumt? Sie werden sehen, Oberst, Sie werden Ihre Früchte sehen! Nun, Falalei, sprich!“
Der arme Knabe blickte sich zitternd vor Angst im Kreise um und suchte einen Retter in einem von uns, doch alle zitterten nur gleich ihm und harrten mit Bangen der Antwort.
„Sprich, Falalei, ich warte!“
Statt einer Antwort zog Falalei das Gesicht kraus, sperrte langsam den Mund auf und brüllte dann los wie ein junges Kalb.
„Oberst! Sehen Sie diesen Eigensinn? Halten Sie ihn wirklich für natürlich? Zum letztenmal wende ich mich an dich, Falalei, – antworte: wovon hat dir heute nacht geträumt?“
„Von ...“
„Sag von mir!“ raunte ihm Bachtschejeff ins eine Ohr.
„Von Euren Tugenden!“ raunte ihm Jeshowikin ins andere Ohr.
Falalei sah sich bloß um.
„Von ... von einer Ku– ... von einer weißen K ... u ... h“ brüllte er schließlich, und ein Strom von Tränen ergoß sich über seine roten Backen.
Alles stöhnte auf.
Foma Fomitsch jedoch war diesmal von ganz ungewöhnlicher Großmut.
„Wenigstens sehe ich deine Aufrichtigkeit, Falalei,“ sagte er, „eine Aufrichtigkeit, die ich bei den anderen nicht wahrzunehmen vermag. Gott mit dir! Wenn du mich absichtlich mit diesem Traum verspottest, auf Grund der Einflüsterung anderer, so wird Gott sowohl dich wie diese anderen dafür heimsuchen. Wenn du mich jedoch nicht verspotten willst, dann achte ich wenigstens deine Aufrichtigkeit; denn selbst in der niedrigsten aller Kreaturen, selbst in dir bin ich Gottes Ebenbild zu sehen gewohnt ... Ich verzeihe dir, Falalei! Meine Kinder, umarmt mich! Ich bleibe! ...“
„Er bleibt!“ rief alles begeistert aus.
„Ich bleibe und verzeihe! Oberst, belohnen Sie Falalei mit Zucker. Mag auch er an einem solchen Freudentage nicht traurig sein!“
Eine solche Großmut erschien geradezu wunderbar! So sich zu sorgen und das noch dazu in einer solchen Stunde, und um wen? – um Falalei!
Mein Onkel beeilte sich, dem Befehl sofort nachzukommen. Und schon erschien eine Zuckerdose in Praskowja Iljinitschnas Händen. Mein Onkel nahm zuerst zwei Stücke, dann drei, ließ sie in der Aufregung fallen, und da er schließlich einsah, daß er mit seinen zitternden Händen nichts machen konnte, so nahm er einfach die Dose und schüttete den ganzen Inhalt Falalei in die Bluse.
„Ach! Zur Feier eines solchen Tages! Halt fest, Falalei ... Das ist für deine Aufrichtigkeit,“ fügte er noch als „Moral“ hinzu.
Da erschien plötzlich Widopljässoff in der Tür und meldete: „Herr Korowkin!“
Alle waren überrascht. Der Besuch Korowkins kam gerade in diesem Augenblick äußerst ungelegen. Alle sahen fragend meinen Onkel an.
„Korowkin!“ rief er etwas bestürzt aus. „Natürlich, es freut mich ...“ fügte er mit scheuem Blick auf Foma hinzu; „nur weiß ich nicht, soll ich ihn jetzt, in diesem Augenblick herbitten lassen ...? Was meinst du, Foma?“
„Oh, nichts!“ sagte Foma gnädig, „fordern Sie den Korowkin nur auf, einzutreten, mag er an dem allgemeinen Glück teilnehmen.“
Kurz, Foma Fomitsch war die Güte selbst.
„Wage untertänigst zu melden,“ bemerkte Widopljässoff, „daß Herr Korowkin sich nicht in Ihrem gewöhnlichen Zustande zu befinden geruhen.“
„Was? Was faselst du da?“ fuhr mein Onkel erschrocken auf.
„Zu Befehl: der Herr befinden sich nicht in nüchternem Zustande ...“
Doch noch bevor mein Onkel den Mund auftun, erröten, erschrecken und sich besinnen konnte, fand das Rätsel schon seine Lösung: in der Tür erschien Herr Korowkin in höchsteigener Person, schob den Diener mit der Hand zur Seite und trat vor das verwunderte Publikum.
Es war ein mittelgroßer, dicker Herr von vierzig Jahren, mit dunklem, über den Kamm geschnittenem, grau untermischtem Haar, mit kleinen, geröteten Augen, einem roten, runden Gesicht, einer billigen Krawatte, die hinten mit einer Gummistrippe schloß, und in einem ungewöhnlich abgetragenen Frack, mit dem er im Heu und auf der Erde gelegen zu haben schien, und der unter den Armen bereits Risse hatte. Dazu denke man sich ein unmögliches Beinkleid und eine Mütze, die bis zur Unglaublichkeit fettig glänzte, und die er noch obendrein wie einen Chapeau claque mit gebogenem Arm weit von sich hielt. Dieser Herr nun war tatsächlich vollkommen betrunken. Er trat bis in die Mitte des Zimmers vor, blieb dann stehen und schwankte, die Nase gesenkt, wie in tiefem Nachdenken. Schließlich weiteten sich langsam seine Mundwinkel, und er lächelte übers ganze Gesicht.
„Verzeihen Sie, meine Verehrtesten,“ sagte er, „ich ... habe ... etwas (er knipste sich an den Kragen) hier hinabgegossen!“
Die Generalin setzte sofort die Miene beleidigter Würde auf. Foma, der in seinem Ruhestuhl lehnte, maß den exzentrischen Gast mit ironischem Blick. Bachtschejeff sah ihn verständnislos an, doch blickte durch diese Verständnislosigkeit ein gewisses Mitgefühl. Die Verwirrung meines Onkels war unbeschreiblich: er litt mit ganzer Seele für Korowkin.
„Korowkin!“ begann er zwar, „hören Sie! ...“
„Attendez gefälligst!“ unterbrach ihn Korowkin. „Habe die Ehre, mich vorzustellen: ein Kind der Natur ... Aber was sehe ich? Hier sind ja Damen ... Aber warum hast du mir nicht gesagt, du Schuft, daß du hier Damen hast?“ fragte er, sich mit verschlagenem Lächeln an meinen Onkel wendend. „Tut nichts! Habe keine Angst! ... Stellen wir uns also auch dem schönen Geschlechte vor ... Vereh...ehrungswürdige Damen!“ begann er, während er nur mit Mühe die Zunge bewegte und bei jeder Silbe stecken blieb, „Sie sehen einen Unglücklichen vor sich, der ... nun ja, und dann so weiter ... Das übrige wird nicht ausgesprochen ... Musikkapelle! Eine Polka!“
„Wäre es Ihnen nicht recht, zunächst ein wenig zu schlafen?“ fragte Misintschikoff, der ruhig zu ihm trat.
„Schlafen? Fragen Sie das in beleidigendem Sinne?“
„Durchaus nicht. Wissen Sie, es ist manchmal gut nach der Reise ...“
„Niemals!“ antwortete Korowkin voll Unwillen. „Du glaubst, ich sei betrunken? – nicht im geringsten! ... Aber übrigens, wo schläft man denn hier bei euch?“
„Gehen wir, ich werde Sie hinführen.“
„Wohin? In den Schuppen? Nein, Freund, mich betrügst du nicht! Dort habe ich schon übernachtet ... Aber übrigens, führ mich mal zu ... Warum soll man nicht gehen – mit einem guten Menschen? ... Ein Kissen ist nicht nötig ... ein Soldat braucht kein Kissen. Du könntest mir aber, Freund, einen Diwan, einen Diwan, weißt du, einen Diwan zusammenstellen ... Aber hör (er blieb stehen), du bist, wie ich sehe, ein witziger Bruder ... Komponier mir mal so etwas ... verstehst du? Etwas, um eine Fliege hinabzuspülen ... einzig, um eine Fliege hinabzuspülen, ein ... das heißt, ein Gläschen!“
„Schön, schön!“ sagte Misintschikoff.
„Schön ... Aber du, wart doch, man muß sich erst verabschieden ... Also: Adieu, mesdames und mesdemoiselles! ... Sie haben mich, wie man sagt, durchbohrt ... Aber was! Werden uns später aussprechen ... nur wecken Sie mich, wenn es anfängt ... oder sogar fünf Minuten vor dem Beginn ... ohne mich aber bitte – nicht zu beginnen! Hören Sie? Nicht zu beginnen!“
Und der lustige Herr verschwand hinter Misintschikoff.
Alles schwieg. Niemand begriff, was geschehen war. Da begann plötzlich Foma leise, zunächst kaum hörbar zu kichern. Dann wurde dieses Kichern immer lauter, bis es schließlich in helles Lachen überging. Als die Generalin das sah, wurde sie sanftmütiger, wenn auch der Ausdruck gekränkter Würde immer noch in ihrem Gesicht verblieb. Allmählich erhob sich auf allen Seiten unwillkürlich Lachen und Fröhlichkeit. Mein Onkel stand wie betäubt auf einem Fleck, errötete fast bis zu Tränen und war eine Zeitlang zu keinem Wort fähig.
„Großer Gott!“ stieß er endlich hervor, „wer hätte das ahnen können! Aber ... aber das kann ja doch einem jeden passieren, Foma, glaube mir, er ist der ehrlichste, der edelste Mensch und außerordentlich belesen, Foma ... du wirst es selbst sehen! ...“
„Sehe schon, sehe schon,“ antwortete Foma, atemlos vor Lachen, „ungewöhnlich belesen ... belesen!“
„Und wie er spricht!“ bemerkte Jeshowikin halblaut.
„Foma! ...“ rief mein Onkel aus, doch das allgemeine Lachen verschlang seine Worte. Foma Fomitsch wälzte sich geradezu. Als mein Onkel diese Heiterkeit sah, stimmte auch er ein.
„Weiß Gott, ihr habt recht!“ sagte er lachend. „Du bist großmütig, Foma, du hast ein gutes Herz: du hast mich glücklich gemacht ... du wirst auch Korowkin verzeihen!“
Nur Nastenjka lachte nicht. Sie sah nur mit liebeleuchtenden Blicken zu ihrem Verlobten auf, als hätte sie ihm sagen wollen:
„Wie lieb du bist, wie gut, und wie lieb ich dich habe!“
Fomas Sieg war unwiderruflich – war größer noch, als man sich denken kann. Es ist ja wahr: ohne ihn wäre es nie zu dieser Verlobung gekommen – die Tatsache, vor der man mit einem Male stand, hob jeden Einwand auf. Die Dankbarkeit der Glücklichen war denn auch grenzenlos. Als ich eine kleine Anspielung zu machen versuchte, auf welche Weise man Fomas Einwilligung erlangt hatte, winkten mir Nastenjka und mein Onkel nur flehend mit den Händen ab: nichts davon! nichts davon! Ssaschenjka war gleichfalls begeistert für den Ehebundstifter: „Der gute, gute Foma Fomitsch! Ich werde ihm ein Kissen dafür sticken!“ sagte sie und tadelte mich ernstlich, weil ich „so hartherzig“ sein konnte. Stepan Alexejewitsch Bachtschejeff war geradezu verwandelt und hätte mich wahrscheinlich erwürgt, wenn es mir nur eingefallen wäre, in seiner Gegenwart etwas Schlechtes über Foma zu sagen. Er hing jetzt wie ein Schoßhündchen an ihm und sagte zu allem, was dieser sprach: „Ein edler Mensch bist du, Foma, der Gelehrteste von allen!“ Was Jeshowikin anbetrifft, nun – so hatte seine Freude einfach die letzte Grenze erreicht. Der Alte hatte es schon lange geahnt, daß Jegor Iljitsch in seine Tochter verliebt war, und seit der Zeit hatte er Tag und Nacht nur daran gedacht, wie er die beiden zusammenbringen und glücklich machen könnte. Er hatte die Sache so lange hingezogen, wie es nur noch irgend ging, und erst dann abgesagt, als ihm nichts anderes mehr übrigblieb. Da hatte – Foma ganz unerwarteterweise eingegriffen! Natürlich durchschaute der Alte trotz seiner ehrlichen Freude den Schmarotzer Foma nur zu gut. Nun war es klar, daß Foma Fomitsch sich für sein ganzes Leben in diesem Hause festgesetzt hatte und seine Tyrannei hinfort keine Schranken mehr kennen werde. Bekanntlich sagt man sogar von den unangenehmsten, den launischsten Menschen, daß sie sich wenigstens für einige Zeit besänftigen, wenn man alle ihre Wünsche erfüllt. Foma Fomitsch aber – das konnte man schon damals voraussehen – wurde im Gegenteil nur noch hochmütiger, nur noch anspruchsvoller und hob die Nase immer noch höher. Kurz vor dem Essen, nachdem er sich vollkommen umgekleidet hatte, setzte er sich wieder in seinen Ruhestuhl, rief meinen Onkel zu sich und begann hierauf in Gegenwart der ganzen Versammlung ihm eine neue Predigt zu halten.
„Oberst!“ hub er an, „Sie wollen eine rechtmäßige Ehe schließen. Sind Sie sich auch klar ... Sind Sie sich auch jener Pflichten bewußt, die ...“ usw.
Man denke sich zehn Seiten im Format des „Journal des Débats“, ganze zehn Seiten, in denen so gut wie überhaupt nicht von Pflichten die Rede ist, sondern nur von dem Verstande, der Frömmigkeit, der Großmut, dem männlichen Charakter und der allgemein menschlichen Uneigennützigkeit – Foma Fomitschs. Alle waren hungrig, alle wollten essen. Nichtsdestoweniger wagte niemand, ihn zu unterbrechen. Alle hörten andächtig den ganzen Blödsinn bis zu Ende an. Sogar Bachtschejeff saß mit seinem ganzen quälenden Hunger da, ohne sich zu rühren, saß mit der größten Ehrfurcht auf einem kleinen Stuhl. Nachdem sich dann Foma Fomitsch endlich, endlich genügend an seiner Redekunst erfreut hatte, ward auch er sehr guter Laune und trank bei Tisch sogar ziemlich viel zu seinen unvermeidlichen Toasten. Darauf machte er verschiedene Witzchen über die Verlobten, und alle lachten und spendeten Beifall. Schließlich wurden die Witzchen aber dermaßen schlüpfrig und unzweideutig, daß selbst Herr Bachtschejeff nicht wußte, wohin er blicken sollte – und daß Nastenjka es schließlich nicht mehr aushielt und fortlief. Das war für Foma denn ein unbeschreibliches Gaudium. Übrigens wußte er sich sogleich zu fassen: in kurzen, beredten Worten schilderte er alle ihre Tugenden und brachte zum Schluß ein Hoch auf die Abwesenden aus. Mein Onkel, der noch vor einer Minute Höllenqualen ausgestanden hatte, war jetzt sofort wieder bereit, Foma Fomitsch zu umarmen. Es war mir überhaupt aufgefallen, daß die beiden Verlobten sich ihres Glücks gewissermaßen zu schämen schienen; ich hatte bemerkt, daß sie seit dem Augenblick ihrer Verlobung noch so gut wie kein Wort untereinander gewechselt hatten. Als die Tafel aufgehoben wurde, verschwand mein Onkel plötzlich – niemand wußte, wohin. Auf der Suche nach ihm war es dann, daß ich zufällig auch auf die Terrasse kam. Dort redete Foma im Triumphstuhl und bei einer Tasse Kaffee, ersichtlich stark „ermutigt“. Bei ihm saßen Jeshowikin, Bachtschejeff und Misintschikoff. Ich gesellte mich zu ihnen, um ein wenig zuzuhören.
„Warum,“ rief Foma aus, „warum bin ich sofort bereit, für meine Überzeugungen auf den Scheiterhaufen zu gehen? Und warum ist von euch kein einziger fähig, den Scheiterhaufen zu besteigen? Warum, warum?“
„Aber das würde ja doch ganz überflüssig sein, Foma Fomitsch, sich einen Scheiterhaufen zu leisten!“ meinte Jeshowikin, der sich natürlich über Foma lustig machte. „Was hätte denn das für einen Sinn? Erstens ist es doch schmerzhaft und zweitens: verbrennt man dich – was bleibt dann noch von dir übrig?“
„Was von mir übrigbleibt? Edelste Asche bleibt übrig! Aber wie solltest du das verstehen! – wie solltest du mich richtig zu schätzen verstehen! Für euch gibt es keine großen Menschen, außer irgendeinem Cäsar oder Alexander von Mazedonien. Doch was hat denn dein Cäsar Großes vollbracht? Wen hat er glücklich gemacht? Was hat dein gerühmter Alexander der Große getan? Die ganze Welt erobert? Aber gib mir nur ein solches Heer, wie er es hatte, und ich werde gleichfalls erobern, und auch du wirst erobern, und auch jeder Dritte, Vierte wird erobern ... Dafür aber hat er den tugendhaften Kleitos erstochen, ich aber habe den tugendhaften Kleitos nicht erstochen! ... Dieser Schuft! Dieser Prahlhans! Ruten müßte man ihm geben, aber nicht ihn in der Weltgeschichte unsterblich machen ... Und ebenso Cäsar!“
„Aber den Cäsar verschonen Sie doch wenigstens, Foma Fomitsch!“
„Fällt mir nicht ein, den Rüpel! ...“ schrie Foma.
„Und ’s ist recht so: schone ihn auch nicht!“ griff mit Eifer Herr Bachtschejeff auf, der gleichfalls mehr als nötig getrunken hatte. „Wozu soll man ihn schonen? Alle sind sie Hampelmänner, alle würden sie sich am liebsten nur auf einem Fuß um sich selber drehen! Diese Wurstmacher! Da wollte vorhin einer von ihnen noch ein Stipendium stiften. Was ist denn so ein Stipendium? Der Teufel weiß, was es eigentlich bedeutet! Könnte wetten, daß es wieder irgend so ’ne neue Schweinerei ist. Und jener andere, dort, vorhin, schwankt auf den Beinen, schwatzt allen Unsinn zusammen, will aber noch Rum trinken! Ich aber denke so: Warum soll der Mensch nicht trinken? Trink doch, trink, aber dann mußt du auch zu stoppen verstehen ... und dann, nach einem Weilchen trink meinethalben wieder ... Wozu soll man sie schonen? Alle sind Spitzbuben! Nur du allein bist gelehrt und groß, Foma!“
Wenn Herr Bachtschejeff sich jemandem hingab, so gab er sich ihm restlos hin, einwandlos und ohne jede Kritik.
Endlich fand ich meinen Onkel im Garten – im entlegensten Teil: hinter dem Weiher. Er war nicht allein, sondern mit Nastenjka. Als sie mich erblickte, verschwand sie im Augenblick hinter dem Gebüsch, als hätte ich sie bei etwas Unrechtem ertappt. Mein Onkel kam mir mit strahlendem Gesicht entgegen. In seinen Augen standen, glaube ich, Tränen. Er nahm meine beiden Hände und drückte sie krampfhaft.
„Mein Freund!“ sagte er, „ich vermag noch immer nicht, an mein Glück zu glauben ... Nastjä kann es auch noch nicht fassen. Wir wundern uns nur und danken dem Höchsten ... Sie weinte soeben ... Wirst du mir glauben – ich bin noch nicht zur Besinnung gekommen: ich glaube es und glaube es auch wieder nicht! Und womit habe ich das nur verdient? Wofür dieses Glück? Was habe ich getan? Womit habe ich es verdient?“
„Wenn jemand Glück verdient hat, so sind Sie es, Onkel,“ sagte ich herzlich. „Ich habe noch niemals einen so ehrlichen, so guten, so prächtigen Menschen gesehen, wie Sie ...“
„Nein, Ssergei, nein, das ist zuviel,“ antwortete er gleichsam betrübt. „Das ist ja das schlimmste, daß wir nur dann gut sind – ich rede natürlich nur von mir allein – wenn wir es selbst gut haben; wenn wir es aber schlecht haben, dann kommt uns nicht zu nahe! Darüber sprachen wir soeben noch, Nastjä und ich. Wie erhaben Foma sich auch zeigte, ich habe vielleicht doch – wirst du es mir glauben? – bis auf den heutigen Tag nicht ganz an ihn geglaubt, wenn ich mir auch immer wieder seine Vollkommenheit vorhielt! Selbst gestern glaubte ich nicht, nachdem er doch ein solches Geschenk zurückgewiesen hatte! Ich muß es zu meiner Schande gestehen! Mein Herz zittert, wenn ich daran denke, was ich vorhin getan habe! Aber ich war meiner nicht mehr mächtig ... Als er das von Nastjä sagte, da war es mir, als hätte mich etwas bis ins Herz verwundet. Ich verstand ihn nicht und handelte wie ein Tiger ...“
„Ach, Onkel! – das war sogar sehr richtig –“
Mein Onkel winkte wieder nur ab.
„Nein, nein, Freund, sprich nicht so! – das kommt alles ganz einfach nur von der Verderbtheit meiner Natur, weil ich ein grausamer und wollüstiger Egoist bin und mich rücksichtslos meinen Leidenschaften hingebe. Das sagt auch Foma.“ (Was sollte ich darauf erwidern?) „Du weißt nicht, Ssergei,“ fuhr er mit tiefem Gefühl fort, „wie oft ich gereizt, unnachsichtig, ungerecht, anmaßend gewesen bin – und nicht nur Foma gegenüber. Und jetzt habe ich mich alles dessen wieder erinnert, es ist mir zum Bewußtsein gekommen, und ich schäme mich, daß ich bis jetzt noch nichts getan habe, um dieses Glückes würdig zu sein. Nastjä sagte soeben Ähnliches von sich, wenn ich auch nicht weiß, was sie für Sünden haben könnte; denn sie ist doch ein Engel – kein Mensch! Sie sagte mir, daß wir Gott unendlich viel schuldig sind, und daß wir uns jetzt bemühen müssen, besser zu sein und Gutes zu tun ... Wenn du gehört hättest, wie begeistert, wie schön sie sprach! Himmlischer Vater, was das für ein Mädchen ist!“
Er verstummte erregt. Nach einer Weile fuhr er fort:
„Wir haben beschlossen, Freund, vor allem zu Foma gut zu sein, zu meiner Mutter und zu Tatjana Iwanowna. Aber Tatjana Iwanowna! Was sagst du dazu! Was für ein guter Mensch sie ist! Oh, wieviel ich allen abzubitten habe! Auch dir, mein Freund ... Aber wenn jetzt jemand wagen sollte, Tatjana Iwanowna zu beleidigen, oh! dann ... Ach, was rede ich da viel! ... Für Misintschikoff muß man auch etwas tun.“
„Ja, Onkel, ich habe jetzt meine Meinung über Tatjana Iwanowna geändert. Man muß sie hochachten und Mitleid mit ihr haben.“
„Eben, eben!“ bestätigte mein Onkel eifrig. „Man muß sie achten! Und da, zum Beispiel, Korowkin ... Du wirst im stillen gewiß über ihn gelacht haben,“ meinte er mit zaghaftem Seitenblick auf mich, „und wir alle haben ja über ihn gelacht ... Aber das war doch vielleicht unverzeihlich von uns ... Er kann doch der beste, der prächtigste Mensch sein ... Im übrigen aber – das Schicksal ... Er hat vielleicht viel Unglück gehabt ... Du glaubst es nicht, aber es kann doch wirklich so sein.“
„Wieso, Onkel, warum sollte ich es nicht glauben?“
Und ich begann ihm auseinanderzusetzen, daß selbst in dem gesunkensten Geschöpf sich noch die höchsten menschlichen Gefühle erhalten können, daß die Tiefe der Menschenseele unergründlich sei, daß man die Gefallenen nicht verachten dürfe, sondern im Gegenteil versuchen müsse, sie wieder aufzurichten – daß das allgemein angenommene Maß des Guten und Bösen und des sittlichen Wertes nicht richtig sei, usw. Mit einem Wort, ich geriet in Begeisterung und erzählte meinem Onkel sogar von der Schule der Materialisten und Skeptiker. Zum Schluß zitierte ich noch ein Gedicht von Puschkin – „Wenn aus dem Dunkel der Verirrung“ ... – kurz, mein Onkel war schließlich auch in vollständiger Begeisterung.
„Mein Freund, mein Freund!“ sagte er, bis ins Herz gerührt, „du verstehst mich vollkommen, du hast alles, was ich selbst sagen wollte, viel besser ausgedrückt, als ich es verstanden hätte. So, so ist es, genau so! Herrgott! Weshalb ist der Mensch böse? Weshalb bin ich so oft böse, wenn es doch so wunderschön ist, gut zu sein? Dasselbe hat auch Nastjä soeben gesagt ... Aber sieh doch nur, wie schön es hier am Weiher ist,“ sagte er plötzlich, sich umschauend, „sieh doch diese ganze Natur! Welch ein Bild! Sieh mal dort diesen Baum. Den Stamm kann kein Mann umfassen! Welche Kraft, welch ein Saft, was für Blätter! Und sieh nur die Sonne! Wie sauber jetzt alles nach dem Regen ist, wie frisch! ... Man könnte ja glauben, daß auch die Bäume etwas begreifen, fühlen und das Leben genießen ... Oder sollten sie es wirklich nicht tun – was? Was meinst du?“
„Warum nicht, Onkel, das ist sehr leicht möglich. Auf ihre Art natürlich.“
„Eben, natürlich auf ihre Art ... Wunderbarer, wundervoller Schöpfer! ... Aber du mußt dich doch noch gut dieses Gartens entsinnen, Sserjosha? – Wie du hier spieltest und umherliefst, als du klein warst! Ich erinnere mich noch so gut, wie du klein warst,“ sagte er plötzlich und blickte mich mit einem Ausdruck von so grenzenloser Liebe und so unfaßlichem Glück an. „Nur hierher zum Weiher durftest du nicht allein gehen. Und weißt du noch, wie einmal am Abend die selige Katjä dich zu sich rief und dich streichelte ... Du warst im Garten umhergelaufen, vorher, und deine Bäckchen waren ganz rot; dein Haar war noch ganz hellblond und ringelte sich zu Löckchen ... Sie spielte mit deinen Locken und dann sagte sie: ‚Es ist gut, daß du das Waisenkind zu uns genommen hast.‘ Entsinnst du dich dessen noch, oder nicht mehr?“
„Kaum, kaum, lieber Onkel.“
„Es war damals Abend, und die Sonne schien auf euch beide, und ich saß in der Ecke, rauchte meine Pfeife und sah zu euch hinüber ... Ich ... weißt du, Sserjosha, ich fahre in jedem Monat einmal zu ihr, zu ihrem Grabe, in die Stadt,“ fügte er mit gesenkter Stimme hinzu, deren leises Beben aufsteigende, unterdrückte Tränen verriet. „Ich habe auch mit Nastjä vorhin davon gesprochen; sie sagte, daß wir jetzt beide zusammen zu ihr fahren werden ...“
Mein Onkel verstummte, um seine Erregung niederzuringen.
In dem Augenblick näherte sich uns Widopljässoff.
„Widopljässoff!“ rief mein Onkel erschrocken aus, als er ihn erblickte. „Schickt dich Foma Fomitsch?“
„Nein, Herr, ich bin mehr in eigener Angelegenheit gekommen.“
„Ah! nun gut! Dann können wir gleich Näheres über Korowkin erfahren ... Ich wollte schon vorhin nachfragen ... Ich hatte ihm, weißt du, anbefohlen, Korowkin zu bewachen. Nun, was ist es, Widopljässoff?“
„Erlaube mir, zu erinnern,“ sagte der Diener, „daß der Herr gestern hinsichtlich meiner Bitte Hilfe zu versprechen geruhten, sowie Schutz vor den mir alltäglich zugefügten Beleidigungen ...“
„Du kommst wieder mit deinem Familiennamen?“ fragte mein Onkel wahrhaft entsetzt.
„... Die alltäglich und allstündlich mir zugefügten Beleidigungen ...“
„Ach, Widopljässoff, Widopljässoff! Was soll ich nur mit dir tun?“ fragte mein Onkel ratlos. „Was können denn das für Beleidigungen sein? Wenn das so weitergeht, wirst du ja einfach wahnsinnig werden und in der Irrenanstalt dein Leben beschließen!“
„Ich glaube, daß ich mit meinem Verstande ...“ begann Widopljässoff.
„Ach, das ist es doch nicht!“ unterbrach ihn mein Onkel. „Ich sage es nur so, nicht um dich zu kränken, sondern um dir Vernunft zuzureden. Nun, was können denn das für Beleidigungen sein? Es ist doch wahrscheinlich nur ein dummer Scherz!“
„Sie lassen mich nicht ruhig vorübergehen.“
„Wer das?“
„Sowohl alle wie vornehmlich diese Matrjona. Durch sie muß ich fortan mein ganzes Leben lang leiden. Wie bekannt, haben alle vornehmen Menschen, welche mich von Kindesbeinen an gesehen haben, gesagt, daß ich ganz wie ein Ausländer aussehe, vornehmlich in meinem Gesicht. Und deswegen muß ich jetzt dulden! Sobald ich nur vorübergehe, schreien mir alle häßliche Worte nach – sogar kleine Kinder, die man zu allererst durchprügeln müßte, selbst die schreien mir nach ... Auch jetzt, als ich herkam, schrien sie wieder ... Und das ist zuviel! Wenn der Herr mich zu verteidigen geruhen wollten, mit Ihrem Schirm und Schutz – denn ich – ... kann ... nicht mehr!“
„Ach, Widopljässoff! ... Was schreien sie dir denn nach? Es wird doch bestimmt nur irgendeine Dummheit sein, die man überhaupt nicht beachten sollte!“
„Es läßt sich nicht sagen.“
„Weshalb nicht?“
„Es ist ekelhaft auszusprechen.“
„Ach was, sag es nur!“
„Sie rufen: Grischka der Franzose – hat eine rote Hose.“
„Nun? Und? Ach, Gott, und ich dachte, daß es weiß der Himmel was sei! So spei doch einfach aus und geh deines Weges!“
„Habe gespien: sie schreien dann noch mehr.“
„Hören Sie, Onkel,“ sagte ich, „er beklagt sich darüber, daß er hier kein Leben habe. So schicken Sie ihn doch nach Moskau zu jenem Schönschreiber. Sie sagten doch, daß er dort einmal bei einem solchen gewesen sei.“
„Ach, Freund, der hat gleichfalls tragisch geendet!“
„Wieso?“
„Sie hatten das Unglück,“ sagte Widopljässoff, „sich fremdes Eigentum anzueignen, wofür sie, ungeachtet ihres ganzen Talents, ins Gefängnis gebracht wurden, woselbst sie jetzt unrettbar verloren sind.“
„Gut, gut, Widopljässoff: beruhige dich nur. Ich werde alles das untersuchen und erledigen,“ sagte mein Onkel, „ich verspreche es dir! Nun, aber was macht Korowkin? Schläft er?“
„Mit nichten. Sie haben geruht fortzufahren. Ich bin aus diesem Grunde auch gekommen, um seine Abreise zu melden.“
„Wie das – fortgefahren? Was sprichst du? Wie hast du ihn denn fortgelassen?“
„Aus reinem Mitleid. Es war traurig anzusehen. Als sie erwachten und sich des Vorgefallenen erinnerten, da schlugen sie sich vor den Kopf und schrien herzzerreißend ...“
„Herzzerreißend? ...“
„Ehrerbietiger gesagt: sie gaben verschiedene Schreie von sich. Sie schrien: wie könnten sie sich jetzt noch dem schönen Geschlecht zeigen? Und dann sagten sie: ‚Ich bin des Menschengeschlechts unwürdig!‘ Und so sprachen sie die ganze Zeit mitleiderregend und nur in gewählten Worten.“
„Habe ich dir nicht gesagt, Ssergei, daß er ein überaus zartfühlender Mensch ist? ... Aber wie konntest du ihn denn fortfahren lassen, Widopljässoff, wenn ich dir doch anbefohlen hatte, ihn zu bewachen? Ach Gott, ach Gott!“
„Mehr infolge meines Mitleids. Sie baten mich himmelhoch, nichts zu erzählen. Der Postknecht, mit dem sie gekommen waren, hatte die Pferde inzwischen gefüttert und schirrte sie dann wieder an. Und für die vor drei Tagen eingehändigte Summe befahlen sie, ihren höflichsten Dank zu übermitteln und zu sagen, daß sie die Schuld mit der ersten Post zurücksenden würden.“
„Was ist das für eine Summe, Onkel?“
„Sie nannten fünfundzwanzig Rubel,“ sagte Widopljässoff.
„Ach, das habe ich ihm, weißt du, auf der Station geliehen: sein Geld reichte nicht ganz. Er wird es mir selbstverständlich mit der nächsten Post zurücksenden, wie er gesagt hat ... Ach, mein Gott, wie schade, daß er fortgefahren ist! Soll ich ihm nicht nachschicken? Was meinst du, Ssergei?“
„Nein, Onkel, schicken Sie ihm lieber nicht nach.“
„Das denke ich auch. Sieh, Ssergei, ich bin natürlich kein Philosoph, aber ich glaube, daß in jedem Menschen doch viel mehr Gutes ist, als es äußerlich scheint. So ist es auch mit Korowkin: er hat die Schande nicht ertragen ... Aber gehen wir jetzt zu Foma! Wir haben uns sowieso zu lange hier aufgehalten. Er kann sich gekränkt fühlen, er kann es als Undankbarkeit, als Unaufmerksamkeit auffassen ... Gehen wir also! Nein, dieser Korowkin, dieser Korowkin!“
Der Roman ist zu Ende. Die Liebenden sind vereint, und der Genius der Güte hat sich in der Person Foma Fomitschs endgültig im Herrenhause von Stepantschikowo niedergelassen. Zwar könnte man noch eine Menge Erklärungen, Erläuterungen usw. hinzufügen, doch im Grunde sind diese jetzt ganz überflüssig. Wenigstens meiner Meinung nach. An Stelle aller Ergänzungen und Zusätze werde ich nur ein paar Worte über das fernere Schicksal meiner Helden sagen. Ohne das geht es ja bekanntlich nicht! Die Kunst selbst will es so! Also –
Die Trauung des glücklichen Brautpaares fand in der sechsten Woche nach ihrer Verlobung statt. Die Hochzeit wurde sehr still gefeiert, nur im Familienkreise, ohne jeden Pomp und vor allem ohne überflüssige Gäste. Misintschikoff und ich waren die Brautführer: ich geleitete Nastenjka, er meinen Onkel. Übrigens waren doch einige Gäste zugegen. Die erste und wichtigste Person war natürlich Foma Fomitsch. Ihm wurde alles zu Willen getan – wie auf den Händen wurde er getragen. Leider aber sollte es geschehen, daß man einmal vergaß, ihm Champagner zu reichen, und sofort – hub das alte Lied von neuem an: Foma sprang auf, weinte, grölte, lief in sein Zimmer, schloß die Tür zu, schrie, daß man ihn jetzt nicht mehr achte, daß jetzt „neue Menschen“ in die Familie kämen und folglich er, Foma, nichts mehr sei oder nur soviel wie ein Holzspan, den man zum Fenster hinauswerfen könne. Mein Onkel war verzweifelt, Nastenjka weinte und die Generalin fiel nach alter Gewohnheit in Ohnmacht ... Das Hochzeitsmahl glich alsbald einem Totenschmaus. Und ein solches Zusammenleben mit dem Wohltäter Foma Fomitsch stand meinem armen Onkel und der armen Nastenjka noch ganze sieben Jahre bevor! Bis zu seinem Tode (Foma Fomitsch ist vor einem Jahr gestorben) war er eigensinnig, launisch, ärgerte sich täglich und hielt allen Moralpredigten. Doch die Ehrfurcht vor ihm verminderte sich bei den von ihm Beglückten nicht etwa, sondern wuchs noch täglich, stündlich, in genauem Verhältnis zur Zunahme seiner Launenhaftigkeit. Jegor Iljitsch und Nastenjka waren nämlich so glücklich miteinander, daß sie für ihr Glück fürchteten: sie glaubten, es sei zu groß, sei von ihnen nicht verdient, Gott gäbe ihnen zuviel Glück, und späterhin würden sie es vielleicht mit Leid und Kummer bezahlen müssen. So konnte Foma Fomitsch in diesem friedlichen Hause buchstäblich alles tun, was er nur wollte. Und was tat er nicht alles in diesen sieben Jahren! Es ist schwer, ja, es ist unmöglich, sich vorzustellen, bis zu welchen zügellosen Phantasien sich seine übersättigte, müßige Seele in der Erfindung der raffiniertesten Launen einer wahrhaft lukullischen Moralität verstieg. Im dritten Jahre nach der Heirat meines Onkels starb meine Großtante, die Generalin. Der verwaiste Foma war die Verzweiflung selbst. Sogar jetzt wird in Stepantschikowo mit wahrem Entsetzen von seinem Zustande in diesen Tagen gesprochen. Als die Gruft zugeschüttet wurde, wollte er sich mit aller Gewalt von den anderen, die ihn krampfhaft festhielten, losreißen: in einem fort schrie er, daß man ihn zusammen mit ihr beerdigen solle! Einen ganzen Monat gab man ihm weder eine Gabel noch ein Messer in die Hand, und einmal hatten ganze vier Menschen ihm mit Gewalt den Mund öffnen müssen, um eine Stecknadel, die er hatte verschlucken wollen, wieder herauszunehmen. Jemand von den gleichgültigeren Zeugen des Kampfes hat zwar gemeint, daß Foma Fomitsch, wenn ihm im Ernst darum zu tun gewesen wäre, diese Stecknadel während des Kampfes schon tausendmal hätte verschlucken können. Doch diese Behauptung war von allen mit entschiedenem Unwillen zurückgewiesen worden, und man hatte dem Betreffenden sogleich Herzensroheit vorgeworfen. Nur Nastenjka schwieg darüber und lächelte kaum merklich, während mein Onkel stets ein wenig unruhig wurde, wenn er dieses Lächeln sah. Ich muß hier bemerken, daß Foma zwar wie ehedem im Hause meines Onkels sich vieles herausnehmen und nach Herzenslust launisch sein konnte; doch die anmaßenden, die geradezu unverschämten Moralpredigten, die er früher meinem Onkel hielt, die gab es jetzt nicht mehr. Foma beklagte sich, weinte, machte Vorwürfe, tadelte; aber er durfte nicht mehr frech werden, – solche Szenen, wie z. B. die wegen des Titels Exzellenz, waren jetzt nicht mehr denkbar. Es war das, glaube ich, auf Nastenjkas Einfluß zurückzuführen. Fast unmerklich zwang sie Foma, in manchem nachzugeben und sich in manches zu fügen. Sie duldete es nicht, daß ihr Mann beleidigt wurde, und sie setzte ihren Willen auch durch. Foma erkannte bald, daß sie ihn fast durchschaute. Ich sage: fast; denn andererseits verwöhnte Nastenjka ihn gleichfalls und stimmte ihrem Mann jedesmal bei, wenn dieser begeistert seinen Weisen in den Himmel hob. Sie wollte offenbar die Zuhörer zwingen, alles an ihrem Mann zu achten, und so suchte sie auch seine Anhänglichkeit an Foma Fomitsch vor anderen stets gutzuheißen. Ich bin überzeugt, daß ihr gutes Herz alles Leid, das ihr früher von ihm zugefügt worden war, verziehen und vergessen hatte, wahrscheinlich schon in demselben Augenblick, als er sie mit meinem Onkel vereinigte. Außerdem hatte sie sich, glaube ich, im Ernst und mit ganzem Herzen dem Gedanken hingegeben, daß man von einem „Märtyrer“, einem ehemaligen Narren, nicht viel verlangen dürfe, sondern ihn pflegen und ihn die „Wunden“ vergessen machen müsse. Die arme Nastenjka hatte selbst zu den Erniedrigten gehört, sie hatte selbst gelitten und daher wußte sie, wie Erniedrigtsein ist. Schon nach einem Monat wurde Foma kleinlauter, wurde sogar freundlich und bescheiden; dafür aber kamen jetzt neue, überaus unerwartete Anfälle: er verfiel nämlich bisweilen in einen sogenannten magnetischen Schlaf, der alle zuerst heftig erschreckte. Der Arme sprach zum Beispiel etwas ganz Gleichgültiges, oder er lachte – und plötzlich war er dann erstarrt, und zwar genau in der Stellung, in der er sich im letzten Augenblick vor dem Anfall befunden hatte: wenn er zum Beispiel gelacht hatte, so erstarrte er mit einem lachenden Gesicht; hatte er etwas in der Hand gehalten, eine Gabel vielleicht, einen Löffel, so blieb die Gabel in der erhobenen Hand. Später sank die Hand natürlich nieder, doch Foma Fomitsch fühlte nichts und entsann sich auch später nicht, daß sie niedergesunken sei. Er saß, sah, blinzelte sogar, sprach jedoch nichts, hörte nichts und begriff nichts. Und das dauerte mitunter eine ganze Stunde an. Natürlich verging dann das ganze Haus fast vor Angst; alle hielten den Atem an, schlichen nur auf den Fußspitzen, weinten ... bis Foma endlich zu erwachen geruhte. Dann fühlte er sich unsäglich erschöpft und versicherte, während der ganzen Zeit seines Starrkrampfes nichts gesehen und nichts gehört zu haben. Das hatte nämlich wirklich noch gefehlt, daß dieser Mensch ganze Stunden lang sich freiwillig Qualen auferlegte, einzig zu dem Zweck, um dann sagen zu können: „Seht auf mich, seht, um wieviel ich mehr empfinde als ihr!“ Einmal geschah es auch, daß Foma Fomitsch ganz unvermittelt meinen Onkel wegen dessen „Unehrerbietung und fortwährender Beleidigungen“ anzeterte und zu Herrn Bachtschejeff fuhr, bei dem er fortan leben wollte. Stepan Alexejewitsch Bachtschejeff, der nach meines Onkel Verlobung und Hochzeit sich noch oft mit Foma gestritten, ihn jedoch zu guter Letzt jedesmal wieder um Verzeihung gebeten hatte, entschloß sich diesmal mit ungewöhnlichem Eifer, energisch in die Sache einzugreifen: er empfing Foma mit wahrem Enthusiasmus, fütterte ihn bis zum Platzen und beschloß hierauf, sich formell von der Freundschaft meines Onkels loszusagen und sogar gerichtlich eine Klage gegen ihn einzureichen. Es gab dort irgendwo ein strittiges Stück Land, um das sie aber eigentlich nie gestritten hatten, da es ihm von meinem Onkel ohne jeden Streit freiwillig abgetreten worden war. Ohne Foma ein Wort davon zu sagen, ließ Herr Bachtschejeff die Pferde anschirren und fuhr in die Stadt, setzte dort die Klage auf und reichte sie ein, mit dem Ersuchen, ihm formell das Stück Land zuzusprechen, mit Vergütung der Zinsen und Erstattung der Gerichtskosten, um auf diese Weise die „Räuberei und das eigenmächtige Verfahren“ zu bestrafen. Inzwischen aber war es Foma langweilig geworden, und so hatte er schon am nächsten Tage meinem Onkel – der ihm nachgefahren war und um Verzeihung gebeten hatte –, wieder verziehen und war dann mit ihm nach Stepantschikowo zurückgekehrt. Der Zorn des Herrn Bachtschejeff, der, als er zu Hause ankam, Foma nicht mehr vorfand, soll fürchterlich gewesen sein. Nach drei Tagen aber erschien auch er mit dem Eingeständnis seiner Schuld in Stepantschikowo, bat meinen Onkel unter Tränen um Verzeihung und zog seine Klage zurück. Mein Onkel versöhnte ihn noch am selben Tage auch mit Foma Fomitsch, worauf Stepan Alexejewitsch diesem wieder wie ein Hündchen ergeben war und zu jedem Wort hinzufügte: „Du bist ein kluger und großer Mensch, Foma, du bist wirklich mit einem Wort ein Genie!“
Foma Fomitsch ruht jetzt neben der Generalin. Über seinem Grabe erhebt sich ein kostbares Monument aus weißem Marmor, das mit Trauerzitaten und Lobpreisungen seiner Person von oben bis unten bedeckt ist. Zuweilen gehen Jegor Iljitsch und Nastenjka, wenn sie einen Spaziergang machen, auch auf den Friedhof, um an Fomas Grab zu beten. Auch jetzt noch können sie nicht gleichgültig von ihm sprechen, sie erinnern sich jedes Wortes, das er gesprochen, aller Speisen, die er gern gegessen, und alles dessen, was er geliebt hat. Seine Sachen werden wie Kostbarkeiten aufbewahrt. Mein Onkel und Nastjä, die sich nach seinem Tode zuerst ganz verwaist fühlten, haben sich jetzt noch mehr aneinandergeschlossen. Kinder hat Gott ihnen nicht geschenkt – sie sind sehr traurig darüber, wagen aber nie zu klagen. Ssaschenjka hat schon vor langer Zeit einen prächtigen jungen Mann geheiratet. Iljuscha studiert in Moskau. So leben denn mein Onkel und Nastjä ganz allein in Stepantschikowo und sind immer noch genau so verliebt ineinander. Die Sorge des einen um den anderen ist geradezu rührend. Wenn einer von ihnen früher sterben sollte, was doch wohl einmal geschehen wird, so wird ihn der andere, denke ich, kaum eine Woche überleben. Doch gebe ihnen Gott noch ein langes Leben! Sie empfangen jeden Gast mit unendlicher Herzlichkeit und sind bereit, mit einem Unglücklichen alles zu teilen, was sie nur haben. Nastenjka liest oft die Lebensgeschichten der Heiligen und sagt gerührt, daß bloß „bei Gelegenheit Gutes tun“ zu wenig sei, man müsse alles, was man hat, den Armen hingeben und in freiwilliger Armut glücklich sein. Hätten sie nicht Iljuscha und Ssaschenjka, so würde mein Onkel wohl schon längst alles unter die Armen verteilt haben; denn er ist in allem vollkommen einverstanden mit seiner Frau. Praskowja Iljinitschna lebt bei ihnen und tut ihnen mit Freuden alles zu Willen. Sie führt vor allem die Wirtschaft. Herr Bachtschejeff hat ihr zwar bald nach der Hochzeit meines Onkels einen Heiratsantrag gemacht, sie aber hat ihn rund abgeschlagen. Daraus schloß man zunächst, daß sie wohl ins Kloster gehen wolle und werde, aber auch das geschah nicht. Sie hat von Natur die bemerkenswerte Eigenschaft, sich vollkommen denen zu opfern, die sie liebhat, sich zu jeder Zeit ihnen unterzuordnen, ihnen die Wünsche von den Augen abzulesen, allen ihren Launen nachzugehen, sie zu warten und zu pflegen und zu bedienen. Jetzt, nach dem Tode ihrer Mutter, der Generalin, hält sie es für ihre Pflicht, bei ihrem Bruder und Nastenjka zu bleiben und sich diesen unterzuordnen. Der alte Jeshowikin lebt noch, und in der letzten Zeit besucht er seine Tochter immer häufiger. Anfangs brachte er meinen Onkel zur Verzweiflung damit, daß er sich und seine Krabben (so nennt er seine Kinder) mit erklärter Absichtlichkeit von Stepantschikowo fernhielt. Alle Aufforderungen seines Schwiegersohnes waren fruchtlos: Das geschah jedoch von ihm nicht so sehr aus Stolz als aus Empfindlichkeit und Argwohn. Der Gedanke, daß man ihn, den Armen, aus Barmherzigkeit im reichen Hause empfangen, daß man ihn im Herzen aufdringlich und lästig finden könnte – dieser Gedanke lastete schwer auf ihm. Er wies sogar Nastenjkas Hilfe zurück und nahm nur im äußersten Notfall etwas an. Von meinem Onkel wollte er unter keiner Bedingung etwas annehmen. Nastenjka hatte sich sehr geirrt, als sie mir seinerzeit sagte, ihr Vater spiele nur deshalb den Narren, weil er damit ihr, seiner Tochter, Nutzen zu bringen hoffe. Freilich wollte er sie damals gerne mit dem Oberst verheiraten, aber den Narren spielte er doch wohl mehr aus innerem Bedürfnis: um der in ihm angesammelten Wut einen Ausgang zu verschaffen. Das Bedürfnis, zu spotten und seine scharfe Zunge zu üben, war ihm angeboren. So machte er aus sich den niedrigsten Schmeichler, um gleichzeitig mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit zeigen zu können, daß er es nur zum Schein tat. Und je mehr er schmeichelte, um so beißender und unverhohlener schaute dann aus der Schmeichelei sein Spott hervor. Das lag ihm nun einmal im Blut. Schließlich gelang es doch, seine „Krabben“ in den besten Lehranstalten Moskaus und Petersburgs unterzubringen, aber erst dann, als Nastenjka ihm schwarz auf weiß bewiesen hatte, daß sie es nicht mit dem Gelde ihres Gatten tue, vielmehr mit den Dreißigtausend, die Tatjana Iwanowna ihr zur Verlobung geschenkt hatte. Diese dreißigtausend Rubel waren in Wirklichkeit natürlich niemals von Tatjana Iwanowna angenommen worden; damit diese sich nicht gekränkt fühlte, hatte man ihr einfach gesagt, daß man sich sogleich an sie wenden werde, sobald man einmal in Verlegenheit geraten sollte. Und so tat man denn schließlich auch und lieh von ihr „scheinbar“ größere Summen. Doch Tatjana Iwanowna starb vor drei Jahren, und da fielen Nastjä ihre Dreißigtausend von selbst zu. Der Tod Tatjana Iwanownas kam ganz unerwartet. Die ganze Familie war von einem benachbarten Gutsbesitzer zum Ball eingeladen worden, Tatjana Iwanowna hatte sich bereits ihr Ballkleid angezogen und einen wundervollen Kranz weißer Rosen ins Haar gesteckt, als ihr plötzlich schlecht wurde: sie setzte sich auf den nächsten Stuhl und – starb. Mit diesem Kranz weißer Rosen wurde sie auch begraben. Nastjä war untröstlich. Tatjana Iwanowna war von allen wie ein Kind geliebt und verwöhnt worden. Nach ihrem Tode setzte sie noch alle durch ihr vernünftiges Testament in Erstaunen: außer Nastjäs Dreißigtausend hatte sie alles übrige, an dreihunderttausend Rubel, zur Erziehung armer Waisenmädchen vermacht, denen bei Verlassen der Erziehungsanstalt auch noch eine gewisse Summe ausgezahlt werden sollte. Noch vor Tatjana Iwanownas Hinscheiden heiratete Fräulein Perepelizyna, die nach dem Tode der Generalin ruhig in Stepantschikowo verblieben war, wahrscheinlich in der Absicht, sich bei Tatjana Iwanowna einzuschmeicheln. Inzwischen war aber der Besitzer von Mischino, jenem selben kleinen Gut, wohin Obnoskin mit seiner Mutter und später mit Tatjana Iwanowna gefahren war, Witwer geworden. Dieser ehemalige Beamte war ein entsetzlicher Schikaneur. Er hatte von der ersten Frau sechs Kinder. Da er bei der Perepelizyna Geld vermutete, so machte er gelegentlich einige Andeutungen, die auf eine Heirat anspielten. Sie aber warf sich ihm sofort an den Hals. Leider war die Perepelizyna arm wie eine Kirchenmaus: alles, was sie in die Ehe brachte, waren dreihundert Rubel, die Nastenjka ihr zur Hochzeit geschenkt hatte. Jetzt führt das Ehepaar vom Morgen bis zum Abend Krieg miteinander: sie zieht seine Kinder an den Haaren und verabreicht ihnen Ohrfeigen; ihm zerkratzt sie das Gesicht (wenigstens erzählt man es in der ganzen Umgegend) und hält ihm beständig vor, daß sie die Tochter eines Majors sei. – Misintschikoff hat sein Leben gleichfalls einzurichten gewußt. Er gab vernünftigerweise alle seine Hoffnungen auf Tatjana Iwanowna auf und machte sich allmählich daran, die Landwirtschaft zu erlernen. Mein Onkel empfahl ihn einem reichen Grafen, einem Gutsbesitzer, der etwa achtzig Werst von Stepantschikowo dreitausend Seelen besaß, doch nur sehr selten sein Gut besuchte. Da der Graf in Misintschikoff einige Fähigkeiten entdeckt zu haben glaubte und sich im übrigen auf die Empfehlung meines Onkels verließ, bot er ihm die Stelle eines Verwalters seiner Güter an, nachdem er seinen früheren Verwalter fortgejagt hatte – einen Deutschen, der aber trotz der berühmten deutschen Ehrlichkeit seinen Grafen gründlich bestohlen hatte. Nach fünf Jahren war das Gut nicht wiederzuerkennen: die Bauern lebten im Wohlstande; Misintschikoff hatte Verwaltungsbücher eingeführt und führte sie fehlerlos – was niemand von ihm erwartet hätte; die Einnahmen hatten sich verdoppelt – mit einem Wort: Der neue Verwalter hatte sich trefflich eingeführt, und sein Ruhm ertönte bereits durch das ganze Gouvernement. Wie groß aber war die Überraschung und der Kummer des Grafen, als Misintschikoff nach fünf Jahren, ungeachtet aller Bitten und Gehaltserhöhungen, sein Amt niederlegte! Der Graf glaubte, daß ihn die Nachbargutsbesitzer fortgelockt hätten oder vielleicht sogar jemand aus einem anderen Gouvernement. Um wieviel größer war aber das Erstaunen aller, als plötzlich, im zweiten Monat nach seinem Austritt, Iwan Iwanytsch Misintschikoff ein schönes Gut von hundert Seelen besaß, das nur vierzig Werst von dem des Grafen entfernt war, und das er von einem verschuldeten Husarenoffizier, seinem früheren Regimentskameraden, gekauft hatte! Diese hundert Seelen verpfändete er sogleich, und nach einem Jahr war er im Besitz von noch weiteren sechzig Seelen! Jetzt ist er selbst Gutsherr, und seine Wirtschaft ist mustergültig. Alle wundern sich und fragen, woher er wohl das Geld dazu erhalten haben mag. Einige aber schütteln nur das Haupt und schweigen. Iwan Iwanytsch jedoch ist vollkommen ruhig und fühlt sich durchaus in seinem Recht. Jetzt hat er aus Moskau seine Schwester zu sich gerufen, dieselbe, die ihm einst ihre letzten drei Rubel zur Wanderung nach Stepantschikowo gegeben hatte – ein sehr nettes Mädchen, nicht mehr ganz jung, bescheiden, zärtlich, gebildet, nur etwas eingeschüchtert. Vorher hatte sie in Moskau als Gesellschafterin bei einer „Wohltäterin“ gelebt; jetzt hängt sie mit aller Liebe am Bruder, führt in seinem Hause die Wirtschaft, hält jeden seiner Wünsche für ein Gesetz und sich selbst für vollkommen glücklich. Ihr Bruder verwöhnt sie nicht gerade und hält sie, wie man zu sagen pflegt, etwas „unter dem Daumen“, was sie aber gar nicht zu merken scheint. In Stepantschikowo hat man sie sehr liebgewonnen, und es heißt, Herr Bachtschejeff sei nicht abgeneigt – ... und er würde wohl auch bei ihr anhalten, fürchte aber eine Absage. Doch von Herrn Bachtschejeff hoffe ich noch ein anderes Mal zu erzählen, in einer neuen Erzählung, und dann ausführlicher.
Das waren, denke ich, alle ... Ja! richtig! fast hätte ich vergessen: Gawrila ist sehr gealtert und hat sein Französisch ganz und gar verlernt. Aus Falalei ist ein guter Kutscher geworden. Der arme Widopljässoff aber mußte tatsächlich schon sehr bald in einer Irrenanstalt untergebracht werden: er ist dort, wenn ich mich nicht täusche, auch schon gestorben ... In den nächsten Tagen muß ich nach Stepantschikowo fahren – dann werde ich mich bei meinem Onkel nach ihm erkundigen.
[1] Bauern, die zur Zelt der Leibeigenschaft den Kirchen und Klöstern gehörten. E. K. R.
[2] Führer des Kosakenaufstandes von 1773, gab sich für den ermordeten Peter III. aus, wurde 1775 hingerichtet. E. K. R.
[3] Treu. E. K. R.
[4] Schändlich. E. K. R.
[5] Von „Bolwann“ – Schafskopf. E. K. R.
Anmerkungen zur Transkription
Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert nach:
F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
Zweite Abteilung: Sechzehnter Band
R. Piper & Co. Verlag, München, 1920.
6. bis 10. Tausend
Das Cover wurde von den Bearbeitern den ursprünglichen Bucheinbänden nachempfunden und der public domain zur Verfügung gestellt.
Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt nach der Titelseite eingefügt.
Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.
Das Inhaltsverzeichnis wurde an den Anfang des Bandes verschoben. Inhaltsverzeichnis und Überschriften im Text wurden harmonisiert.
Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.
Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):
Matwejitsch (Matvejitsch)
Widopljässoff (Widapljässoff)
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