The Project Gutenberg eBook of Geschwister Plüddekamp

This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook.

Title: Geschwister Plüddekamp

Roman

Author: Jesco von Puttkamer

Release date: April 9, 2025 [eBook #75824]

Language: German

Original publication: Reutlingen: Enßlin & Leiblins Verlagsbuchhandlung, 1910

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK GESCHWISTER PLÜDDEKAMP ***

Anmerkungen zur Transkription

Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden.
Worte in Antiquaschrift sind "kursiv" dargestellt.

Geschwister Plüddekamp.

Roman

von

Jesco von Puttkamer.


signet

Reutlingen.
Enßlin & Laiblins Verlagsbuchhandlung.



Nachdruck verboten.
Alle Rechte vorbehalten.
Übersetzungsrecht vorbehalten.
Vorgeschriebener Aufdruck für die Ausfuhr nach Amerika:
Printed in Germany.
Copyright 1910 by Carl Duncker, Berlin.



[S. 9]

I.

U

»Unser jahrelanges stilles Zusammenleben erfährt durch dein Vorhaben eine wesentliche Veränderung, Herta. Hast du es dir reiflich überlegt?« fragte Jürgen Plüddekamp und gab seiner Schwester die Photographie eines jungen Mädchens zurück, die er lange betrachtet hatte.

»Ich kann meiner Freundin die Bitte nicht abschlagen,« erwiderte Herta Plüddekamp. »Warum soll ihre Tochter nicht bei mir die Hauswirtschaft erlernen? Es schadet nicht, wenn ein junges Mädchen mehr Leben bei uns hineinbringt.«

»Du hast vollkommen recht, Herta,« fiel Wolf Plüddekamp, ihr jüngerer Bruder, eifrig ein. »Ich bin sehr dafür, Ilse Hergenbach aufzunehmen. Nach dem Bilde muß sie eine interessante Erscheinung sein.«

»Ilse war bereits in einem Dresdner Pensionat. Sie malt, spielt Klavier und hat überhaupt künstlerischen Sinn,« erklärte Herta weiter.

»Famos! So wird in unserer Unterhaltung über das ewige Kaufmannseinerlei endlich eine angenehme Abwechslung entstehen!« rief Wolf erfreut aus.

[S. 10]

Jürgen Plüddekamp, ein großer, breitschultriger Mann von etwa vierzig Jahren, dessen Haar und Vollbart einen rötlichblonden Schimmer zeigte, schüttelte unwillig den Kopf, ehe er begann:

»Die völlige Ruhe im Hause ist für mich eine Hauptbedingung. Darin erstarkt die Schaffenskraft. Natürlich wird dies sofort anders sein, wenn ein junges Mädchen hier herumtollt und unser tägliches Geleise stört.«

»Herumtollt? — Du drückst dich stark aus, Jürgen! Sei nicht so selbstsüchtig,« hielt ihm Herta vor. »Ich schlug um deinetwillen die Hand unseres Freundes Martens aus. Du weißt, welchen inneren Kampf es mich gekostet hat und wie ich frühzeitig zu ernst geworden bin. Verhindere jetzt, bitte, nicht, daß durch Ilse eine fröhlichere Lebensauffassung in unsern engen Kreis gelangen kann!«

»Wieso? Ist unser Wölfchen mit seinen sechsundzwanzig Jahren nicht genug junges Blut im Hause, Herta? Ich sollte meinen, deine schwesterliche Liebe hat sehr zu tun, um ihn etwas im Zaume zu halten.«

Jürgen stand von dem Mittagessen auf und brannte sich eine kräftig ausschauende Zigarre an. Beide großen, starken Hände in die Hosentaschen steckend, stellte er sich vor Herta hin, die den Nachmittagskaffee einschenkte. Die Geschwister tranken[S. 11] diesen sofort nach der Mahlzeit. Jürgen und Wolf zogen sich dann bis zum Abend in die im Parterre des alten Kaufherrnhauses gelegenen Kontorräume zurück, während Herta meistens eine energische Tätigkeit für Frauenvereine und deren Veranstaltungen entfaltete.

Alle drei liebten sich zärtlich, obwohl Jürgen nur ein Halbbruder war. Der verstorbene Geheime Kommerzienrat Plüddekamp hatte zwei Frauen gehabt. Die Mutter von Herta und Wolf ruhte ebenfalls seit Jahren in dem großen mit schwedischem Granit ausgelegten Erbbegräbnis der alten Kaufmannsfamilie.

»Laß doch Wolf seinen Jugendmut!« trat die Schwester jetzt für diesen ein. »Es gibt noch andere Lebensaufgaben, als nur Weizen, Roggen und Gerste zu prüfen und neue Grassorten aufzustöbern. Wir sollen nicht vergessen, die idealen Güter der Menschheit zu pflegen.«

Jürgen ließ als Antwort ein kurzes kräftiges Lachen ertönen.

»Das Korn hat uns groß und reich werden lassen, Herta. Haus Plüddekamp ist seit hundert Jahren das erste Getreidegeschäft in Stettin. Die vornehmen Standesherren rechnen es sich zur Ehre an, nach Abschluß des Geschäftes das Frühstück an[S. 12] unserem Tische einzunehmen. Wir unterstützen die Landwirtschaft mit beträchtlichen Summen. Mancher Großgrundbesitzer hätte ohne uns Haus und Hof verlassen müssen, wenn wir in schlechten Jahren nicht eingesprungen wären. Wolf kann eines Tages ruhig um eine Gräfin anhalten und wird im Ansehen nicht zurückstehen.«

»Ich gönne dir dein starkes Selbstbewußtsein, lieber Jürgen! Du erzogst auch mich dazu. — Unser Wölfchen aber soll bei der strengen Pflichterfüllung an deiner Seite nicht versauern und das Leben genießen.«

»Wahr gesprochen, Goldschwester! Du hast mich nicht für Kornkammern und kleine Komtessen bestimmt, und ich werde sicherlich einem ganz bürgerlichen Menschenkinde die Hand reichen. Es muß nur einen flotten Morgengalopp im Freien lieben, sich mit mir über die ›Dollarprinzessin‹ freuen, danach einer kalten Veuve Cliquot huldigen und mich über den neuesten Roman unterhalten können. Beileibe aber darf sie kein Wort über Ernteerträgnisse, Kornzölle und Grassamenbedarf fallen lassen! Dafür ist tagsüber Jürgen allein maßgebend.«

»Spotte nur, Wölfchen!« erwiderte Jürgen, und seine Augen ruhten dabei wohlwollend auf der schlanken, biegsamen Gestalt des jüngeren Bruders.[S. 13] »Wirst du erst mein Alter erreicht haben, so pfeifst du dein Lied etwas anders.«

»Nun, und — Ilse?« wandte sich Wolf hastig zu Herta, als er sah, daß diese die Photographie in den Umschlag des erhaltenen Briefes zurücksteckte.

»Sie wird in etwa acht Tagen eintreffen, wie mir Frau Hergenbach schreibt, und will nur ihren Geburtstag noch daheim verleben,« erwiderte die Schwester.

»Hm,« machte Jürgen gedehnt. »Sie ist also erst knapp achtzehn Jahre alt?« Er trank seine Tasse Kaffee stehend aus und wollte fortgehen, gab sich jedoch noch selbst vorher die Antwort auf seine Frage, indem er weitersprach: »Eine neue Generation — ein Kind der Jetztzeit! Das vorige Jahrhundert klebt ihm nicht mehr an. Es weiß nichts mehr von ihm, als daß damals rückständige Menschen lebten. Liebe Schwester Herta, wäre nicht Hergenbachs Brennerei in Nordhausen ein guter Kunde von uns, ich würde die Annahme dieser Gegenlieferung gern verweigern.«

Er schloß bei den letzten Worten die hohe dunkle Tür hinter sich, und seine starken Schritte hallten durch den großen Treppenflur des alten Hauses.

Wolf blieb noch einen Augenblick bei der Schwester zurück.

[S. 14]

»Jürgen ist nun einmal allen Neuerungen feind. Die Vaterstelle, die er an uns beiden vertreten, läßt ihn auch jetzt seine Fürsorge übertreiben.«

»Leider,« seufzte Herta leicht auf. »Ich habe mit ihm deshalb manchen hartnäckigen Streit durchfechten müssen. Er will keine andere Ansicht als die seine hören. Schließlich aber gibt er mir doch nach.«

»Zeig mir noch einmal das Bild von Ilse Hergenbach, Herta,« bat Wolf.

Die Schwester sah ihn einen Augenblick etwas erstaunt an. Sie zog alsdann die Photographie aus dem Briefumschlag hervor und reichte sie ihm.

Die lebhaften blauen Augen des jungen Mannes blieben eine Zeitlang darauf haften.

»Die Züge sind nicht regelmäßig, aber die Augen — — in ihnen liegt außerordentlich viel, Herta! Sie verlangen, daß man hineinschaut, und je länger man es tut, desto vertiefter wird ihr Ausdruck.«

»Ei, ei!« drohte die Schwester mit dem Finger, »gib schnell das Bild her, es verhext dich sonst.« Sie ließ es rasch wieder verschwinden und fuhr dann in ernstem Tone fort: »Du fängst wirklich etwas schnell Feuer, Wölfchen.«

»Ich denke nicht daran, Herta! Das flüchtige Interesse für eine Photographie will doch nichts bedeuten! Man kann wohl in manchen Augen Romane[S. 15] lesen, aber diese dort, die du schleunigst hast wieder verschwinden lassen, — sind noch ohne Geschichte —«

»Vielleicht liegt aber die Erwartung einer solchen in ihnen — und das darf nicht sein, Wolf. Ich trage die Verantwortung dafür, und du willst sie mir doch nicht erschweren? — Wir verplaudern uns aber — geh hinunter! Du weißt, Jürgen liebt es nicht, wenn du bei der Öffnung der eingegangenen Nachmittagspost fehlst.«

»Dieser ewige Zwang, Herta! Genau auf die Minute anfangen und — aufhören, wenn der letzte Laufbursche das Kontor verläßt. Ich dürste geradezu nach Erlösung von diesem Büroleben — nach der Freiheit im Fühlen, Denken und Handeln! Jürgen hätte mich nicht zwingen sollen, in dem alten Geleise mitzutraben. Ich bin kein Paßpferd für ihn. Nun ist es zu spät, etwas anderes zu ergreifen. — Heute nachmittag kommen Lieferungen für den Export, die erst in den Trieuren gereinigt werden müssen. Den Staub dabei zu schlucken — einfach schauderhaft! Der Lagerhausinspektor kann aber nicht überall zugegen sein — so heißt es: ›Wölfchen — du siehst natürlich nach — wir müssen absolut reine Ware haben.‹ — Adieu, Schwester —« endete der junge Mann die ernst begonnene Rede mit lautem Lachen[S. 16] und rief noch von der Tür zurück: »Für den Abend, an dem Ilse eintrifft, halte ich mich frei und gehe nicht ins Theater.«

Herta war allein. Sie ließ die elektrische Klingel ertönen, und sofort erschien ein sauber gekleidetes junges Mädchen mit einem weißen Häubchen auf dem Haar, das den Eßtisch abräumte.

Das letzte Stäubchen mußte entfernt sein, ehe Herta das Speisezimmer verließ. Sie waltete mit einer Sorgfalt ihres Amts, die von den Brüdern bewundert wurde.

Im Plüddekampschen Hause ging es musterhaft zu, und Frau Hergenbach, eine ältere Freundin Hertas, wollte darum, daß ihre Tochter gerade dort die Pflichten der Hausfrau erlernen sollte.

Dies Kapitel war nicht einfach. Heute verstehen die jungen Mädchen alles eher, als die Führung eines Haushaltes, — ›unmoderne Arbeit‹ lautet die Bezeichnung dafür. Wozu gibt es geschulte Stützen der Hausfrau, die alle Fächer erlernt haben? Es ist immer noch Zeit, sich diese Kenntnisse nebenbei anzueignen, inzwischen muß aber die Jugend genossen werden. Das überschäumende, prickelnde Dasein in der Werdezeit hat für ernste Dinge so wenig Raum.

Herta sann nach. Ob Ilse Hergenbach sich ihren Wünschen und Anforderungen unterziehen würde?[S. 17] Das junge Mädchen kam aus dem hochpulsierenden Leben Dresdens; würde es sich in den großen, dunklen Räumen des altertümlichen Hauses wohl fühlen?

Die vorgefaßte Meinung des älteren Bruders gegen Ilse Hergenbach, — und wiederum die lebhafte Art Wolfs, dessen Herz sogleich unruhig wurde, wenn ihn ein schönes Frauengesicht fesselte! Der arme Bursch, er fühlte alles stark und tief, immer sprach das innere Leben bei ihm mit, so viel er auch scherzte und sich harmlos in seiner Bahn bewegen wollte. Jürgen, der klare, einfache Verstandesmensch, war besser daran.

Herta befand sich plötzlich in ihrem Zimmer dem großen Wandspiegel gegenüber und warf einen Blick hinein. Sie war eine stolze, vornehme Erscheinung. Mit dem einfach gescheitelten Haar, den frischen Farben auf den Wangen und den klaren Augen konnte sie wohl noch gefallen und jene Sympathie dabei hervorrufen, die Frauenwürde beanspruchen darf. Nur um den feingeschnittenen Mund lag ein Hauch von Herbheit, etwas Fremdes, das zerstörend in die Gesichtslinien eingriff. — Der Verzicht auf eigenes Glück sprach daraus, — die Beendigung eines langen Seelenkampfes.

Sie kleidete sich jetzt rasch zum Ausgehen an, um ihre Pflichten im Frauenverein zu erfüllen.[S. 18] Ehe sie aber das Haus verließ, gab sie ihren Mädchen noch bestimmte Anweisungen.

Die hohen Wohnräume lagen in völliger Stille da. Von den holzgeschnitzten Decken herab, aus den heimlichen Winkeln und Ecken hervor ertönte ein kaum hörbares Flüstern und Raunen. Die kleinen Hausgeister hielten ihre Zwiesprache ab. Jahrhunderte stand Haus Plüddekamp fest in seinen Mauern und hatte allen Stürmen getrotzt. Es zeigte die altfränkische Einfachheit der Vorfahren, den ruhigen, lauterdenkenden Geist früherer Kaufherren. Die spöttelnden Blicke moderner Menschenkinder prallten von dieser Kraftfülle ab, oder sie flatterten scheu darüber hinweg, weil sie ein Verstehen alter, vornehmer Zeit nicht mehr in sich vorfanden.

Das stolze Haus mit seinem hohen Giebel nach der Straße, dem malerisch vorspringenden Erker, der mächtigen Toreinfahrt sprach deutlich zu jedem, der es vernehmen wollte. Der Erker gehörte zu Jürgens Schreibzimmer, dessen ganze innere Einrichtung schwer massiv und altertümlich war. Nur das elektrische Licht und das Telephon hatte sich den Eingang erzwungen. Schon Urahne, Großvater und Vater gaben sich hier nach den täglichen Geschäftssorgen der Muße hin. Die Hausgeister waren in diesem Zimmer am lautesten. Sie begannen in[S. 19] dem entstandenen tiefen Dunkel ein ungezogenes Lärmen.

»Jürgen! Jürgen! Jürgen!« summte es hin und her. Jürgen Großvater, Jürgen Vater, Jürgen Sohn — alle groß, stark, von festem, unbezwingbarem Willen getragen. Sie hingen in goldumrahmten Bildnissen an der Wand, und die Lichtwellen der Straßenbeleuchtung huschten zuweilen darüber hinweg.

Scharf umrissene Charakterköpfe, die nicht im Eisenpanzer gekämpft, aber mit rastloser Tatkraft gearbeitet hatten, um den Namen und Glanz der alten Firma zu begründen. Jürgen Plüddekamp, der Enkel, hing bereits dort, sich den Vorfahren in allen Eigenschaften des gediegenen, ehrenhaften Kaufmanns anreihend. Nur Wolf Plüddekamp fehlte noch, und als sein älterer Bruder ihn eines Tages bewegen wollte, einem Porträtmaler zu sitzen, sträubte er sich heftig dagegen.

»Ich bin noch zu jung, um abkonterfeit zu werden! Die Ölfarben für mich sind noch nicht gemischt!« erwiderte er lachend.

Jürgen schaute ihn nach diesen Worten lange an. Wolf hatte recht; seine sonnig-lächelnden, jugendlichen Züge paßten nicht in die Reihe der ernstblickenden Gesichter der Vorfahren hinein. Er aber, Jürgen, — warum hing er schon zehn Jahre dort?[S. 20] Die mächtige weiße Stirn, der kräftige Nasenrücken hatten ihm schon mit dreißig Jahren das Äußere eines vollgereiften Mannes gegeben. Seit jener Zeit veränderte er sich wenig. Der Geheime Kommerzienrat Jürgen Plüddekamp stellte seinen ältesten Sohn mit achtzehn Jahren in dem Geschäft an. Drei Jahre später wurde dieser bereits Teilhaber. Jürgen war also von Jugend auf mit der Firma verwachsen — und hatte für nichts anderes Gedanken gehabt. Diese zu hüten, zu fördern, wachte er am Morgen auf, legte er sich abends nieder.

»Jürgen! Jürgen! Jürgen!« summte es weiter an den Wänden. »Habt ihr nicht über Arbeit und Geldaufhäufen — das Leben vergessen? Nun ist ein Sproß des alten Hauses gekommen, der nach dem Sonnenlicht der Daseinsfreude Verlangen empfindet. Was kann daraus entstehen?«

Ein Lichtstrahl erhellte die alten Jürgengesichter — ihre Augen schauten streng in das sie umgebende Dunkel hinein. »Nicht die vorgezeichnete Bahn verlassen,« war in ihnen zu lesen.

Langsam verschwand das Licht. Leise erstarb das summende Geräusch. Totenstille ringsum. — —

[S. 21]

II.

»Jochen, — Jochen!« erscholl es aus der großen Toreinfahrt über den Hof hinweg. »Teufel, wo steckt der Jochen wieder!« setzte Wolf Plüddekamp halblaut hinzu.

Die große vierschrötige Gestalt des Aufsehers und Hausfaktotums stapfte jetzt über das Pflaster des Hofes heran. Der Mann mußte schon an sechzig Jahre zählen. Sein Rücken zeigte eine leichte Krümmung; das kam von der gehabten schweren Arbeit. Der mächtige Oberkörper des Riesen stak in einer dicken Flauschjacke, und an den Füßen trug er halbhohe Schaftstiefel, die einem Steindenkmal zur Ehre gereicht haben würden.

Er stand nun vor dem jungen Kaufherrn, der bei seinem Anblick ein schalkhaftes Lächeln nicht unterdrücken konnte. Jochen Hindorf war eine biedere, ehrliche Seele, die, seit mehr als einem Menschenalter im Hause Plüddekamp erprobt, deshalb eine Sonderstellung einnahm. —

»Jochen! Wo bleibst du denn? Du glaubst wohl, daß ich meine Lunge gestohlen habe?« fuhr Wolf ihn an.

[S. 22]

Jochen Hindorf wußte, daß die Worte nicht ernst gemeint waren.

»Jäh — Herr Wolf! Ich bin ja schon da!«

»Das sehe ich, Jochen! Du hast mich aber lange genug warten lassen. Ist das Transportauto von der Lastadie gekommen?«

»Jäh woll — Herr Wolf!«

»Wird abgeladen?«

»Jäh woll — Herr Wolf!«

»Jochen — du riechst mörderlich nach Schnabes — — du hast dich wohl schon vorzeitig gestärkt!«

»Näh — Herr Wolf! Nur 'nen kleinen Schnaps genommen.«

»Jochen, der wird drei Daumen breit an der Flasche zu messen gewesen sein — —«

»Hö, hö, hö!« lachte Jochen Hindor wohlgefällig. »Meine Daumen sind eklig breit, damit kann ich nicht beim Schluck hantieren. Ich mach's nach Gutdünken.«

»Dann bist du jeder Verantwortung in bezug auf das Quantum ledig, Jochen! Weiß schon —«

»Jäh, Herr Wolf! So 'ne alte Haut — hält keine Wärme mehr, — da muß ich gründlich einheizen.«

Wolf Plüddekamp lachte hell auf.

»Hast recht, alter Knabe! Wer lang trinkt, der lebt lang! Ich glaube, du hast dies zur Richtschnur genommen. — Muß ich noch auf den Speicher oder —?«

[S. 23]

»Hat der Chef es gesagt?« warf Jochen bedächtig ein. Er sprach manchmal Platt, dann aber wieder etwas Hochdeutsch dazwischen, je nachdem seine Stimmung war und der Pegel des Alkohols stand.

Jürgen Plüddekamp galt den Leuten gegenüber immer als der Hauptchef der Firma, obwohl Wolf Plüddekamp ebenfalls an dieser beteiligt war.

Herta und Wolf besaßen nicht das gleiche Vermögen wie Jürgen. Das mütterliche Erbe des ältesten Bruders war sehr bedeutend gewesen, während die zweite Frau des Geheimen Kommerzienrat Plüddekamp nur große Schönheit besaß, — um derentwillen der reiche Mann sie heiratete.

»Du kannst es dir doch denken, Jochen!« antwortete Wolf jetzt. »Aber hör mal, alte Schnapsseele! Wenn Jürgen fragt — bin ich oben. Rauf steigt er ja nicht. — Also verstanden! Ich habe etwas vor und da will ich — —«

»Ist auch gar nicht nötig — Herr Wolf! Ich besorge alles prompt, amüsieren Sie sich man gut. Und dann wollt ich nur man noch sagen — die Flasche mit dem alten Dänen ist rein zu Ende, an der muß aber gründlich gemaust sein.«

»Oder deine Daumen haben nicht ausgereicht, Jochen! Ich werde dir den Stoff wieder mitbringen!«

»Bei der Winterzeit — Herr Wolf! Kalte Füße.«

[S. 24]

»In deine Elefantenstiefel und die dicken Wollnen von Muttern dringt doch die Kälte nicht hinein, Jochen.«

»Das sagen Sie so, Herr Wolf. Aber stundenlang beim Aufladen zu stehen — nächstens —«

»Ich glaube dir alles, Jochen!«

»Jäh woll — Herr Wolf.«

Der Alte machte etwas schwerfällig kehrt und verschwand über den von hohen elektrischen Bogenlampen erleuchteten Hof nach den Speichern zu, denen sich ein tiefer Garten bis zur nächsten Straße anschloß.

Das alte Haus mit seinem Hinterland war für neue Verhältnisse von sehr großer Ausdehnung und hatte darum einen hohen Wert. In der Bilanz standen Gebäude und Areal noch ebenso zu Buch wie vor hundert Jahren. Es war nie ein Wertzuwachs hinzugefügt worden. Diese stille Reserve des Familienvermögens betrug viele Hunderttausende.

Jürgen Plüddekamp konnte alljährlich mit wohlberechtigtem Stolz auf die Zahlen hinschauen, die er Wolf nur flüchtig zeigte, um das Bilanzbuch sofort wieder in einem Sonderfach des Geldschrankes zu verschließen.

Im großen Speicher begann das geräuschvolle Rollen und Schütteln des Korns in den Trieuren. Eine dichte graue Staubwolke umzog die Maschinen, durchhellt von dem Schein des elektrischen Lichtes.

[S. 25]

Der Roggen wurde in breite Haufen aufgeschüttet. Die Ware stieg durch das Reinigen bedeutend im Werte und sollte exportiert werden.

Als das leere Transportauto durch die große Toreinfahrt wieder auf die Straße hinausrollte, sah Jürgen Plüddekamp im Kontor auf die Uhr. Er konnte nach der seit der Ankunft verflossenen Zeit genau kontrollieren, ob die Sackträger ihre Schuldigkeit getan hatten. Einen Augenblick schaute er auf den leeren Platz ihm gegenüber, den sonst sein Bruder Wolf einnahm, und nickte mit dem Kopfe, als ob er sich selbst eine Zustimmung gebe. — Dann langte er nach einer blauen Kapitänsmütze, die zu seinem täglichen Gebrauch in Haus und Hof an der Wand hing, setzte sie auf und ging durch das anstoßende große Kontor zur Torflur hinaus.

Die Buchhalter standen vor den mächtigen, stark gebundenen Büchern und machten ihre Eintragungen. In der Korrespondenzabteilung klapperten die Schreibmaschinen, sie wurden von jungen Leuten bedient. Jürgen Plüddekamp liebte keine Maschinenschreiberinnen.

»Junge Mädchen lassen ihre Augen zuviel spazieren gehen, Herta! Es beeinträchtigt die Arbeit meiner Angestellten. Vor mir fallen die Augenklappen ernst herunter, hinter mir blitzt es gleich wieder los. Eine Schwerenöterin ist stets darunter,[S. 26] und der Ärger bleibt nicht aus. — Danke dafür.« So lehnte er es seiner Schwester ab, einige ihrer Schützlinge unterzubringen.

Im Kontor des Hauses Plüddekamp mußte ohne Unterbrechung gearbeitet werden, dafür gab es eine pünktliche Arbeitseinteilung.

Jürgen war in der großen Toreinfahrt verschwunden, die jungen Leute im Kontor reckten ihre Köpfe in die Höhe. Die Schreibmaschinen standen einen Augenblick still und leises Gespräch wurde hörbar. Sowie es aber einen etwas lauteren Charakter annahm, ertönte die helle Stimme des Prokuristen Armin:

»Bitte, meine Herren, äußerste Ruhe! Sie wissen, der Chef liebt keine Unterhaltung.«

Einige hastig hingeworfene Worte ließen sich noch von den einzelnen Schreibtischen vernehmen, dann klapperten die Maschinen wieder mit dem raschen Aufschlag der Tasten.

»In einer halben Stunde muß sämtliche Korrespondenz von heute dem Chef vorgelegt werden!« Der Prokurist Armin sprach kurz und bündig, seine Anordnungen klangen darum wie militärische Befehle. Er hatte mit Jürgen zusammen bei einem Stettiner Regiment gedient. Von dort datierte bereits ihre Freundschaft, aus der ein gegenseitiges hohes geschäftliches[S. 27] Vertrauen entstanden war. Wolf selbst konnte es bei seinem Bruder in dem Maße nicht erreichen.

Jürgen tauchte aus der Dunkelheit auf und stand plötzlich vor dem alten Hindorf.

»Jochen, warum bringst du die Ladeliste nicht ins Kontor?«

Der Alte schrak zusammen und verbarg hastig etwas im Innern seiner dicken Flauschjacke. Jürgen hatte es aber bereits bemerkt.

»Du bist unverbesserlich, Jochen! Nächstens setze ich dich ganz zur Ruhe. Ich brauche Leute, die pünktlich auf die Minute ihren Dienst versehen. Gib mir jetzt die Liste.«

Der Alte holte diese aus einer vorderen Tasche der Jacke hervor und reichte sie Jürgen schweigend hin.

»Hat sich beim Abladen nichts herausgestellt?«

»Nä—h, Herr Plüddekamp!« Der Alte brachte es mit bitterer Betonung hervor.

»Desto besser! Ist mein Bruder auf dem Speicher — beim Kornreinigen?«

»Nä—h, Herr Plüddekamp!«

Jochen Hindorf hatte diese Antwort ohne Absicht in einem Anflug von verschlucktem Ärger und Bitterkeit hervorgestoßen. Er besann sich jedoch sofort und begann zu stottern: »Jäh — woll, Herr Plüddekamp! Er — ist oben!«

[S. 28]

»Du redest Unsinn, Jochen, und hast wieder zu tief in die Flasche gesehen! Es geht auf keinen Fall mit dir so weiter! Ich werde einmal selbst nachschauen!«

Ganz bestürzt, daß nun das Fehlen Wolfs herauskommen mußte, stellte sich Jochen Hindorf rasch in die Treppentür des Speichers. Sein mächtiger Körper füllte den großen Türrahmen beinahe aus, so daß niemand an ihm vorüber konnte.

»Es staubt ganz gewaltig, Herr Plüddekamp, und das ist der Lunge nicht gut!«

»Was fällt dir ein, Jochen! Mach sofort Platz! Ich will hinauf!« stieß Jürgen barsch hervor.

Jochen zögerte noch einen Augenblick, sein Liebling Wolf war in Gefahr. Lieber wollte er jetzt für den geschehenen Fehler alles auf sich nehmen.

»Ich will Herrn Wolf doch runter rufen, Herr Plüddekamp. Sie haben keinen Staubkittel an.«

»Es geht auch ohne diesen,« erwiderte Jürgen scharf, schob Jochen Hindorf trotz seiner Schwere schnell beiseite und sprang wuchtig die Stufen zu den Speicherräumen empor.

Als er einige Zeit darauf wieder herunterkam, schritt er an dem alten Aufseher vorüber, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.

»Dunnerlüchting!« fluchte dieser. »Wie haben die franzö'schen Gefangenen bei uns im Barackenlager[S. 29] immer gesagt: ›Grand malhör!‹ Hm — — — das ist nun da! Mein Herr Wolf ist reingefallen und der alte Däne ist für mich futsch.«

Jürgen Plüddekamp hing in seinem Privatkontor die Mütze an die Wand und ging einige Male stark auf und ab. Die Dielen knarrten unter seinen schweren Schritten.

»Wolf hat es doch nicht nötig, mir etwas vorzuflausen! Warum tut er es?« dachte er. »Er besitzt die völlige Freiheit, zu kommen und zu gehen, wie es ihm gefällt. Ist sein jetziges Verhalten eines echten Kaufmanns würdig? — Auf das einfache Wort eines Mannes soll man Häuser bauen können. Und Wolf! — Um sich zwei Stunden Aufsicht zu ersparen, zieht er selbst den alten Hindorf mit in Unwahrheiten hinein. — Ich habe es dir in die Hand gelobt, Vater, über ihn zu wachen. Je älter er aber wird, desto schwerer ist es für mich.«

Es klopfte. Ein Angestellter brachte die fertige Korrespondenz und sah sich erstaunt um, weil der Chef nicht den gewohnten Platz einnahm. — Jürgen atmete schwer auf. Er machte sich an die Arbeit, die Briefe zu unterzeichnen. Aus der breiten Goldfeder, deren er sich dazu bediente, floß es in markigen Buchstaben: »Jürgen Plüddekamp.«


[S. 30]

III.

Am nächsten Morgen hatten die Brüder eine längere Aussprache. Wolf hielt auf die Anschuldigungen Jürgens diesem sofort entgegen:

»Du zwingst mich durch dein fortgesetztes Überwachen zu törichten Ausreden, die mir selbst zuwider sind. Zieh aber keine krause Miene, wenn ich zuweilen den Tagesdienst für ein paar Stunden satt habe.«

»Wolf! Es ist doch unser Geschäft! Das deine — wie das meine. — Haben wir nicht die verdammte Pflicht, jeder unser Bestes dafür einzusetzen? Sollen deine Nachkommen einst sagen: ›Die Firma Plüddekamp hat früher besser dagestanden!‹ Wird der Konkurrenzkampf nicht täglich, ja sogar stündlich gewaltiger? Können doch bereits in Stunden Gewinne verloren gehen, sogar Verluste entstehen. Die Nichtbeachtung eines späten Telegramms kostet unter Umständen Tausende. Man muß daher in einem derartigen Geschäftsbetriebe fortgesetzt auf dem Posten sein! Nur durch energische Arbeit, gepaart mit scharfem kaufmännischem Verstande, ist heute noch[S. 31] ein Vorwärtskommen möglich — und vorwärts wollen wir!«

Wolf hatte die Worte des Bruders ruhig über sich ergehen lassen. Seine lebhaften blauen Augen irrten ein paar Sekunden an der gegenüberliegenden Wand ziellos umher.

»Du hast mir dies schon häufiger gesagt und bist in deinem Recht, Jürgen!« erwiderte er dann, und der Ton seiner Stimme vibrierte leise. »Ich besitze aber auch das meine, und es lautet etwas anders: das Leben ist nicht nur — Arbeit, nicht nur — Drang nach Kapitalbesitz! Das Leben verlangt auch gebieterisch, einer inneren Stimme zu genügen. Der eine Mensch drückt seinen Wert nur in Zahlen als Guthaben auf dem Bankkonto aus, er ist nach amerikanischem Muster bei seinen Mitmenschen — fein-fein. Den andern aber, dem nicht nach weiterem Vermögen verlangt, treibt es — das Schöne auf der Erde zu suchen und es an sich zu reißen, wo er es auch finden mag. Er ist ein Mensch, der sich noch ein Stück Idealismus bewahrt hat und Zahlen nicht schätzt, er ist in euren Augen ein — Abtrünniger —«

»Wolf — kein Wort weiter!« Jürgen hatte es heftig ausgerufen. Auf seiner Stirn schwoll die Zornesader der Plüddekamp dunkelblau an. »Unser Vater hat es gewünscht, daß ich dich ins Geschäft[S. 32] aufnehmen sollte. Er kannte meine Abneigung, eine Ehe einzugehen! Meine Familie waret ihr, — Herta und du! Habe ich je etwas in der Sorge für euer Wohl verabsäumt? Nun wuchern deine Vorwürfe wie schwarzes Mutterkorn in vollreifen Ähren. Das darf nicht sein, Wolf. Sonst —«

»Nun, sonst?« fragte Wolf gereizt.

Jürgen Plüddekamp richtete seine strengblickenden Augen fest auf den jungen Mann, aber sein Mund blieb geschlossen. Er sprach ein hartes Wort, das er gedacht hatte, nicht aus. Erst nach einer geraumen Weile, als die Frühpost hereingebracht wurde und Prokurist Armin die Anordnungen entgegennehmen wollte, sagte er plötzlich:

»Es ist heute ein schöner Herbsttag. Graf Thadden-Bützenbrück verlangt einige tausend Zentner bestgereinigten Roggen zur Aussaat! Willst du mit ihm verhandeln, Wolf? Er ist einer unserer guten Kunden. Bleibe nur zu Tisch dort, du erhältst sicher eine Einladung.«

Wolf schaute zur Straße hinaus. Die goldenen Sonnenstrahlen tummelten sich dort auf den Pflastersteinen umher, blitzten auch zuweilen auf den starken Stahlbändern des Lastautos auf, das soeben nach den Speichern auf der Lastadie abfahren sollte. Es[S. 33] zog ihn mächtig hinaus, — nur fort aus der dumpfen, ihn bedrückenden Kontorstube! —

»Gut! Ich werde hinausreiten!« erwiderte er dann, und auf seinem Gesicht begann ein freundliches Lächeln zu entstehen. »Ich habe also Urlaub für den ganzen Tag — sollte jedoch Graf Thadden nicht anwesend sein oder mich nicht einladen —«

»Ausgeschlossen, Wolf! Übrigens reite dann weiter zum Oberamtmann Wichers. Sage ihm einen Gruß von mir und — horche einmal, wie hoch die Lieferung ausfallen wird. Von seinem Boden kommt immer das vollste Korn. Wichers ist einer unserer besten Landwirte. — Wir können ihm ruhig etwas mehr zahlen. Wichers Roggen — schüttet Gold.«

»Ja, Jürgen! Zu Wichers reite ich noch auf alle Fälle. Wenn ich auch erst in der Nacht zurückkehren kann. Die Landstraße hat einen guten Sommerweg. — Herr Armin,« wandte er sich an den Prokuristen, »ich möchte die Proben für Graf Thadden mit der heutigen Preisnotierung haben.«

Der Prokurist verließ sofort das Privatkontor, um das Gewünschte zu holen.

»Jürgen — du bist doch ein guter Kerl,« fuhr Wolf fort, »und meine Worte von vorhin tun mir eigentlich leid. Du hast mich mit edler Waffe geschlagen. Ich bringe heute todsicher ein gutes Geschäft[S. 34] zustande. Am Abend spiele ich mit Lieschen Wichers vierhändig Klavier. — Du sagst es Herta bei Tisch, damit sie nicht mit dem Abendbrot auf mich wartet. Und dann — laß meine Flunkerei Jochen nicht entgelten. Ich hatte ihn gestempelt, — der brave Alte konnte nicht anders.«

Jürgen lachte aus vollem Halse.

»So will ich dich haben, mein Wölfchen! Nun gefällst du mir wieder, und ich werde von heute ab den bösen Mentor einengen, wo und wie ich es nur kann.« —

Eine halbe Stunde darauf schwang sich Wolf Plüddekamp in elegantem Reitanzug aufs Pferd. Man sah ihm dabei sofort den flotten Reiter an.

Jürgen ging zu Wolf hinaus und klopfte den schlanken Hals des prächtigen Fuchses mit seiner kräftigen Hand. Das Blutpferd wurde unruhig und trat hin und her.

»Verliere die Proben nicht, Wölfchen! Du hast sie nur lose in die Seitentasche gesteckt.« Der Fuchs wollte anspringen und kaute heftig auf dem Gebiß. — »Warte noch einen Augenblick, — ich knöpfe dir die Tasche zu,« und als dies geschehen, fuhr er fort: »Nun bist du sicher — und kannst so stark traben, wie du willst! Vergiß nicht, Wichers zu grüßen.«

[S. 35]

Der feurige Fuchs ließ sich nicht länger zurückhalten und machte einige kräftige Sprünge. Wolf saß fest im Sattel und hatte ihn sofort wieder am Zügel. Er grüßte mit der Reitpeitsche und trabte die Straße hinunter, um bald auf dem weichen Reitweg der nahen Anlagen zu verschwinden.

Jürgen schaute ihm eine Zeitlang nach.

»Allzu scharf macht schartig! Ich will ihm die Zügel etwas länger lassen. Er kommt schon allein wieder auf das Richtige zurück,« dachte er bei sich, als er in das Kontor ging, um noch einige Anordnungen zu erteilen.


Wolf ließ den Fuchs dahintraben. Das Gefühl von Jugend und Kraft, das ihn beseelte, brachte die glücklichste Stimmung in ihm hervor. Lieschen Wichers war ein liebes Mädchen, ein echtes zukünftiges Hausmütterchen, — gut erzogen, ein wenig musikalisch, und hatte oft lustige, schalkhafte Einfälle. Sobald sie vierhändig Klavier spielten, schaute sie ihn neckisch an. Der Oberamtmann konnte sich natürlich keinen besseren Schwiegersohn wünschen, seine Tochter keinen hübscheren Mann. Wolf Plüddekamp entflammte die Herzen aller jungen Mädchen in der Umgegend, mit deren Vätern seine Firma geschäftliche Beziehungen pflegen mußte.

[S. 36]

Sein Bruder sandte ihn deshalb gern zu neuen Abschlüssen. Jeder töchterreiche Vater hoffte im stillen auf Absichten dabei, und Kauf wie Verkauf wickelte sich schneller ab als sonst. Lieschen Wichers war Wolf bisher ganz sympathisch gewesen, er hatte sogar manchmal weiter gedacht und sich geprüft, ob sein Puls in ihrer Nähe schneller schlage. — Leider geschah es nicht, trotz der frischen Farben auf ihren Wangen. Wie dies nur zuging? Es fehlte etwas, das er sofort in den Augen auf Ilse Hergenbachs Bild erkannte. Ein unbewußt Anziehendes — ein tolles Aufjauchzen vor Lust, und doch dabei ein tiefes Insichgekehrtsein und Zurückbeben — miteinander streitende Gefühle, die jede Fiber des Körpers erregten. Wie kam dies alles nur in die Augen hinein? Es mußte sich ihm bald zeigen. Er wollte es ergründen, es kennen lernen. Würden Körper und Seele bei ihr schon soweit entwickelt sein, um alle Fragen beantworten zu können? — Er erwartete den Tag der Ankunft Ilse Hergenbachs mit größter Spannung — alles andere war ihm gleichgültig geworden. Klavierspiel, — wie alltäglich! Jetzt kam etwas Aufrüttelndes, er sehnte die Stunde herbei, in der er endlich anfangen würde, es zu erleben. — —

Jürgen und Herta saßen noch bei einer Partie Schach, als er spät in der Nacht heimkehrte.

[S. 37]

»Tee und Sandwiches stehen für dich bereit, Wölfchen,« sagte Herta freundlich. »Du wirst sicher noch einen verborgenen Hunger haben, trotz der kräftigen Hausmannskost bei Oberamtmann Wichers. Hat nicht Fräulein Lieschen ihre Gänsesülze besonders gelobt?«

»Erraten, Herta! Aufs Tüpfelchen erraten! — Spielt nur eure Partie zu Ende, — ich stärke mich einstweilen. Nach dem zweistundenlangen Trabe revoltiert der Magen wirklich noch einmal!«

»Nun — Wölfchen?« schaute Jürgen ihn fragend an, »Gutes erreicht?«

»Du wirst mit mir zufrieden sein, Jürgen. Ich bin genau deinem Rate gefolgt. Graf Thadden hat Sorte B gekauft, — längeres Ziel als sonst. Hm, darüber müssen wir noch reden. Sein Sohn hat etwas zu kräftig verbraucht. Komtesse Marie verriet es mir.«

Jürgen lächelte.

»Ein längeres Ziel macht nichts aus. Bützenbrück hat vortrefflichen Boden, der eine Scharte rasch wieder auswetzt. Der junge Graf schlägt über die Stränge. In Berlin verpulvert sich ein brauner Schein sehr schnell, wenn man Graf ist und den alten Namen glänzend vorstellen will.

Manchmal reicht kein Vermögen hin. Der alte Graf legte als vorsichtiger Mann die Mitgift für[S. 38] Komtesse Marie auf der Reichsbank fest; — der junge Graf sorgte dafür, daß sie wieder abgehoben wurde.«

»Bei Wichers war es gemütlich wie immer,« erzählte Wolf mit Unterbrechung, indem er einige Sandwiches verzehrte. »Er kann zehntausend Zentner mehr liefern, als er gedacht hat. Die Proben habe ich mit. Als die Preisfrage besprochen wurde, kam Lieschen Wichers dreimal ins Zimmer hinein, und dabei gelang es mir richtig, einige Prozent Skonto abzuhandeln. Es ist über tausend Mark, und der Oberamtmann zog ein Gesicht, als wir die Abschlußnotizen in unseren Büchern vornahmen. — — ›Sie sind schlimmer als Ihr Bruder,‹ meinte er. Beim Abendessen fuhr er aber ein paar alte Flaschen Rheinwein auf und lud mich ein, bald wieder herauszukommen.«

»Wirst du es tun, Wölfchen?« fragte Herta, vom Spiel aufsehend. Sie hatte soeben einen Springer günstig aufgestellt und hoffte Jürgen mit ein paar weiteren Zügen matt zu setzen.

»Vielleicht!« antwortete Wolf gleichgültig. »Wie's Wetter wird. Es ist immer ein starker Ritt für den Fuchs nach Wershagen. Der Gaul spürt es ein paar Tage in den Knochen.« — Der junge Mann ließ sich den Nachtimbiß weiter munden.

[S. 39]

Herta und Jürgen vertieften sich in ihre Partie, die anscheinend dem Ende zuging. Der Sieg schien sich, auf Hertas Seite zu neigen.

»Wölfchen — komm her! Jetzt kann Jürgens König nicht mehr entweichen — seit langer Zeit gewinne ich einmal —«

»Noch — nicht,« warf Jürgen gedehnt ein.

Er sann einige Minuten nach. Man sah förmlich, wie die Pläne in seinem Kopfe entstanden, so ausdrucksvoll gestalteten sich seine Züge. Dann ging das Spiel fort. Herta wurde in kurzem vollständig matt gesetzt.

»Bravo Jürgen! Es waren Meisterzüge! Der blinde Neid muß dir dies lassen!« rief Wolf ihm zu.

»Gräm dich nicht darum, liebe Herta,« lächelte Jürgen freundlich. »Wir sind nun einmal das stärkere Geschlecht.« —


[S. 40]

IV.

Die folgenden Tage brachten unfreundliches Wetter. Trübe, schwere Wolken zogen über die Stadt hinweg. Die kleinen Dampfer blieben im Hafen. Dieser war lange Zeit nicht mit so vielen Schiffen angefüllt gewesen. Die Steuerbeamten konnten kaum ihren Revisionen nachkommen. Zahlreiche nordische Dampfer warteten auf neue Ladung.

Die Möwen flatterten von der Odermündung bis in die Hafenanlagen hinein. Draußen auf der See und im Pommerschen Haff traten Böen auf; es gab kurze, heftige Stoßwellen, die alle Fischerboote zur Heimkehr zwangen. Sturm war in Sicht.

Es brauste auch bald aus Nordwest jäh und ungestüm heran. Die Wellen im Haff stürzten wild durcheinander, und selbst die größten Dampfer hatten schwere Fahrt. In der Stadt rüttelte der Sturm an den Dächern und Zäunen, entwurzelte in den Alleen große Bäume und trieb sein wildes, zügelloses Gebaren zum Verdruß der Einwohner.

Schwarzgraues Gewölk jagte tief über die Häuser hinweg. Es wurde am Nachmittag so dunkel, daß die Laternen eine Stunde früher angezündet werden mußten. Der Regen fuhr sturmgepeitscht[S. 41] hernieder, und auf den Gassen floß das Wasser stromweise zu den Abzugskanälen hin.

»Also heute abend,« sagte Wolf zu Herta. »Hast du den Wagen bestellt, oder kann ich Ilse Hergenbach von der Bahn abholen?«

»Nein, Wölfchen! Zügle deine Neugierde. Ich bin selbst zur Ankunft des Zuges auf dem Bahnhof! Laß deinen Abonnementsplatz im Theater nicht leer. Du siehst Ilse noch früh genug.«

»Sie ist doch die Tochter einer befreundeten Familie! Ich werde mir keine Unhöflichkeit zuschulden kommen lassen,« warf er hastig ein.

Herta schaute ihn darauf prüfend an, sie erwiderte aber nichts.

Zum Abendbrot war Ilse Hergenbach bereits eingetroffen. Wolf hatte sich sorgfältig umgekleidet, Jürgen erschien jedoch in seinem täglichen Kontoranzug.

Das erste Sehen gestaltet sich meist eigenartig. Herta saß mit dem jungen Mädchen in einer Sofanische. Als die Brüder eintraten, erhoben sie sich, und Ilse wurde erst Jürgen, dann Wolf vorgestellt. Der Ältere machte die erste Begegnung kurz ab.

»Seien Sie willkommen im Haus Plüddekamp, Fräulein Hergenbach. Lassen Sie es sich darin wohl sein.« Er dankte dann für die Grüße, die Ilse von ihren Eltern überbrachte. Die Augen des großen[S. 42] Mannes musterten kaum die schlanke Gestalt in dem einfachen grauen Reisekleide.

Wie anders Wolf! Er trat dicht an sie heran und gab ihr die Hand mit kräftigem Druck.

»Darf ich Fräulein Ilse sagen?« bat er sofort. »Wir beide sind jetzt die Jüngsten im Hause und werden hoffentlich gute Kameradschaft halten. Spielen Sie Lawn-Tennis? Wir haben im Garten einen Spielplatz. Morgen wird er allerdings durchweicht sein!«

»Nun frage Ilse auch gleich noch, ob sie Galopp reitet, ob sie an der Dollarprinzessin Geschmack findet und gern Sekt trinkt. So lautet doch dein Programm, Wölfchen?« neckte ihn Herta.

Wolf schien dies nicht ganz angenehm zu sein.

»Glauben Sie es nicht, Fräulein Ilse!« warf er hastig ein. »Meine Schwester versucht unsere notwendige Kameradschaft von vornherein zu untergraben. Ich bin wahrhaftig besser als mein Ruf.«

Ilse Hergenbach sah die leuchtenden blauen Augen dicht vor sich. Unwillkürlich weitete sich auch ihr Blick. Sie schaute ihn einen Augenblick hindurch etwas scheu an, dann flog ein leises Lächeln über die feinen, bleichen Züge. Wie seltsam ist solch ein erstes Begegnen! Impulsives Fragen und scheue, versteckte Antwort. Ilse und Wolf standen sich so gegenüber. Er mit freiem offenem Herzen, das sagte: »Ich freue[S. 43] mich, daß du zu uns gekommen bist! Ich finde dich interessant und will dich näher kennen lernen!« — Sie dagegen mit dem klugen Instinkt des Weibes ihre Gedanken zurückhaltend und darum nur mehr anreizend, diese zu ergründen.

»Tante Herta schrieb bereits, daß ich in Ihnen einen Freund der schönsten Künste finden würde. Ich soll freilich die Hauswirtschaft studieren, wie Mama es will. Nun, ein Stündchen am Tage werde ich doch musizieren oder malen dürfen, damit ich nicht alles verlerne.«

»Gewiß, Ilse!« sagte Herta bereitwillig. »Du kannst dich auch an meiner Arbeit für notleidende arme Geschöpfe beteiligen. Überhaupt solltest du an allem in unserem einfachen Leben teilnehmen.«

»Ich scheide dabei aus, Fräulein Hergenbach,« fiel Jürgen mit seiner starken Stimme ein. »Meine Domäne ist das Kontor, — das große Geschäftsgetriebe einer alten Firma, darin gibt es keinen Raum für ein junges Mädchen.«

»Warum nicht, Herr Plüddekamp? Ich habe bei meinem Vater oft aushelfen müssen. Ich stenographiere und bin auf der Schreibmaschine eingeübt. Ich habe kalkuliert und korrespondiert.«

»Dabei widmeten Sie sich der Musik und Malerei und trieben Kunststudien. Nun wollen Sie[S. 44] die Haushaltung erlernen. Ein wenig viel, um eins davon gründlich zu verstehen,« gab ihr Jürgen zur Antwort.

»Das moderne Mädchen soll doch in allen Sätteln gerecht sein, — die Welt verlangt es, um uns für vollwertig zu halten!« vertrat Ilse ihren Standpunkt.

»Entsetzlich!« fiel Wolf mit lächelndem Munde ein. »Welche Stunden bleiben dann für die Pflege der Schönheit übrig, — die Hauptaufgabe der Frau — dem Manne zu gefallen?«

»Muß es denn unser Lebenszweck sein, Herr Plüddekamp, den Männern zu gefallen? Vielleicht war es früher so, heute — wollen wir gleichberechtigt auftreten,« entgegnete Ilse. Keine Miene ihres Gesichtes verriet, ob ihre Gedanken und die ausgesprochenen Worte übereinstimmten.

»Sagen Sie bitte — Wolf, zum Unterschied von meinem Bruder, Fräulein Ilse,« ließ sich dieser nicht beirren. »Übrigens soll meine Ansicht nicht als allgemeine Regel gelten. Es gibt Ausnahmen — meine Schwester Herta gehört dazu. Und doch besitzt die Schönheit der Frau ein unbestrittenes Recht, zu gefallen, das sie sich nicht verkümmern lassen darf.«

»Wölfchen — du windest dich in der Schlinge, — du bist gefangen —« fiel Herta lachend ein. »Ilse hat ihre Sache tapfer verteidigt.«

[S. 45]

Der junge Mann versuchte wiederholt, Ilse Hergenbach in die Augen zu sehen. Sein Wunsch, darin zu lesen, war zu mächtig, um ihm widerstehen zu können. Sie mußte dies unwillkürlich fühlen, denn plötzlich traf ihr Blick voll den seinen. Er hatte dabei ein neues, ganz eigenartiges Empfinden, das seine Nerven heftig erregte. Das Blut quoll ihm heiß vom Herzen bis zu den Schläfen empor. Einen Augenblick war er wie berauscht, — das also konnten diese Augen, diese grauen, unergründlich tiefen Augen hervorrufen!

Welch eine wundersame Kraft strömte von ihr aus! Sie kam zu ihm, wohin würde sie ihn führen?

Herta mußte diesen Augenblick des Selbstvergessens bemerkt haben. Sie sah Ilse schärfer an und forderte sogleich auf, das Abendbrot einzunehmen. Jürgen ging an den Speisetisch, und während seine hohe, kräftige Gestalt fest auftrat, folgten ihm Ilses Blicke. — Sie zeigten Neugierde, aber auch eine Bewunderung der echt männlichen Erscheinung des ältesten Plüddekamp.

Während der Mahlzeit wurde wenig gesprochen, und Herta hob früh die Tafel auf, damit sich Ilse nach der anstrengenden Reise bald zurückziehen konnte. Wolf war dies nicht recht.

[S. 46]

»Was soll ich heute abend beginnen, Herta?« klagte er.

»Jürgen spielt Skat mit uns, du mußt dabei aufpassen, Wölfchen,« erwiderte die Schwester.

Er war aber derart zerstreut, nachdem Ilse das Zimmer verlassen hatte, daß er die einfachsten Spiele umwarf.

»Es geht heute wirklich nicht —« damit legte er unmutig die Karten hin. »Ihr müßt mich entschuldigen. Ich fahre nach dem ›Luftdichten‹, um mir die nötige Schlafschwere zu holen.«

Jürgen und Herta sahen sich schweigend an und begannen dann ihre allabendliche Partie Schach.


Seit Ilses Ankunft war Wolf wie ausgewechselt. Er verließ selten das Haus und schob das eingetretene schlechte Wetter vor. Jede freie Stunde des Tages brachte er bei Herta und ihrem Zögling zu, während Jürgen mehr denn je im Kontor arbeitete. Der Schimmer des elektrischen Lichtes fiel oft noch bis gegen Mitternacht auf die Straße hinaus. Spät begab er sich zur Ruhe.

Er hatte recht gehabt, wenn auch in anderer Weise. Ilse Hergenbach tollte nicht laut umher, — im Gegenteil, sie war äußerst ruhig, sprach wenig,[S. 47] glitt geräuschlos mit ihrer überschlanken Gestalt durch Zimmer und Gänge, aber sie zog dabei magnetisch an sich.

Wolf folgte ihr, wo er es nur konnte; er mußte einen Blick, einige Worte von ihr erhaschen.

Jürgen dagegen, sobald er sich dabei ertappte, daß er ihr unwillkürlich ein paar Schritte nachgegangen war, reckte sich plötzlich stolz empor und wandte sich kurz der Haupttreppe zu, um in sein Kontor zu eilen. Es ärgerte ihn, daß sein Auge auf den schlanken Linien ihres Körpers geruht hatte, und er ballte fest die Faust zusammen, — es sollte nicht wieder vorkommen. Seine Brust hob sich schwer dabei. Er hatte nicht gesehen, wie Ilse bei seiner schroffen Wendung sofort stehen blieb und die großen Augen ihm scheu und unwillig nachschauten.

Die Ruhe war aus dem alten Kaufherrnhause geschwunden. Das bisherige harmlose Zusammensein der Geschwister litt darunter, und Herta bereute schon, dem Wunsche ihrer Freundin nachgegeben zu haben.

Ilse Hergenbach, obwohl keine Schönheit im Sinne des Wortes, besaß etwas unheilvoll Bestrickendes für die Männer, dem nur eine große Willensstärke widerstehen konnte. Selbst Konsul Martens, der einstige Verehrer Hertas und Freund der Familie, kam[S. 48] jetzt häufiger und blieb einsilbig, wenn Ilse nicht erschien.

Herta sann darüber nach; ihr reiner, starker Sinn konnte sich lange keine Erklärung geben. Der Verkehr junger Männer wurde immer reger in ihrem Hause, und doch war Ilse nicht im mindesten kokett. Sie tat ruhig ihre Pflicht und plauderte nur zuweilen an den langen Winterabenden etwas angeregter mit Wolf. Auch Jürgen und Herta hörten gern zu, wenn sie von den erlebten Kunstgenüssen sprach und ihre tiefe, wohllautende Stimme die kleine Tafel beherrschte.

Sobald aber Ilse dies bemerkte, schwieg sie plötzlich still und war nicht wieder zum Reden zu bringen. Nur ihr Auge glitt von einem zum anderen, als wenn es sagen wollte: »Ich habe als Jüngste nicht das Recht, die Unterhaltung zu führen.«

Wolf konnte bitten, so viel er wollte, Ilse blieb stumm, — es prallte jedes Wort bei ihr ab, selbst Herta erhielt auf ihre Fragen nur einige rasch hervorgestoßene Silben zur Antwort. Das junge Mädchen konnte durch sein Schweigen geradezu ungezogen erscheinen und gab sich auch keine Mühe, es zu verdecken.

Herta ärgerte sich darüber; sie hielt dies Benehmen für einen Mangel an Erziehung. Einige Male sagte sie auch zu ihrem jüngeren Bruder:

[S. 49]

»Gib dir keine unnütze Mühe, Wölfchen! Wenn Ilse in ihre Stummheit versinkt, mag sie mit sich selbst fertig werden.«

Jürgen hatte nur sein kräftiges Lachen dafür, aber auch dies stockte manchmal; dann verließ er mit irgendeinem kurzen Wort den kleinen Kreis und ging in sein Schreibzimmer.

Nun kam das Seltsamste. Ilse fand plötzlich ihre Sprache wieder und war die Liebenswürdigkeit selbst zu den anderen.

»Ilse ist ein merkwürdiges Geschöpf — ich werde aus ihr nicht klug,« sagte Herta eines Tages zu Jürgen, »sie kommt mir zuweilen wie eine Sphinx vor — —«

»Nein, — wie eine Hexe —« erwiderte er kurz.

»Aber Jürgen! Wie kommst du darauf?« fragte Herta erschrocken.

»Durch den starken Einfluß, den sie ausübt, liebe Schwester! Wölfchen hat sie ganz umstrickt, und seine Freunde rennen uns jetzt das Haus ein —«

»Ilse ist aber peinlich in ihrer Arbeit und versäumt keine Pflicht. Sie erfüllt sofort jeden meiner Wünsche und kann eine tüchtige Hausfrau werden.«

»Niemals!« stieß Jürgen barsch aus.

»Sollte sich dies deiner Beurteilung nicht entziehen?« erwiderte Herta leicht gekränkt.

[S. 50]

Jürgen pfiff laut.

»Ihre Zerstreuungen in der freien Zeit sind allerdings sonderbar,« fuhr Herta fort. »Sie geben mir zu Bedenken Veranlassung. Gestern war sie zwei Stunden ausgegangen. — Bei ihrer Rückkehr antwortete sie auf meine Frage, daß sie sich die Schaufenster in der Breitenstraße angesehen habe. Später sprach ich zufällig Jochen Hindorf, und er erzählte mir, wie er Ilse bei den Kornträgern am Bollwerk fand. Sie sah dort den Männern zu, die schwere Säcke aufhoben und zum Transportauto trugen. Warum nun diese Unwahrheit von ihr, — die mir sehr mißfällt! — Wie kann überhaupt ein junges Mädchen an so grober Arbeit Gefallen finden, namentlich bei ihrem Kunstsinn —«

Jürgen hatte die Hände in beiden Hosentaschen stecken und zuckte mit den Achseln.

»Hm, — weibliche Neugierde, — es will weiter nichts sagen. Sie war noch in keiner Hafenstadt. Vielleicht erinnert es sie auch, an das väterliche Geschäft. Das ist wohl die einfachste Erklärung.« — —

Herta nahm sich vor, scharf aufzupassen. Sie war um Wolf besorgt.

Dieser spielte täglich, stündlich mit dem Feuer. Er erzwang es, daß Ilse ihm oft in die Augen sah. Trotzdem es den harmlosesten Anschein haben sollte,[S. 51] wurde sie sich bald ihrer Gewalt bewußt. Anfangs war sie selbst darüber erstaunt gewesen, nun legte sie langsam ihre Scheu dabei ab. Herta durfte es nur nicht bemerken.

Was lag in ihrem Blick? Jürgen hatte es rasch erkannt, aber er äußerte sich nicht darüber.

Wolf spielte an sonnig-kalten Tagen mit Ilse im Garten Ball, und sein Auge hing an den schnellen Bewegungen ihres Körpers, wie sie diesen aufhielt und zurückschlug.

Gewöhnlich gewann sie die Partie. Sobald sie zusammenstanden und er ihre Augen suchte, lachte sie ungezwungen auf, ein tiefes, melodisches Lachen, das er so gern von ihr hörte.

Nach der gemeinsamen Abendmahlzeit spielten sie vierhändig Klavier. Sie schaute ihn nicht an, wie Lieschen Wichers, sobald er aber ihre schlanken Hände zufällig berührte, schoß eine fliegende Hitze in ihm empor. Sein ganzes Nervensystem war fortwährend in Erregung.

Im Geschäft ließ seine Tätigkeit mehr und mehr nach. Seine Gedanken wanderten zu Ilse.

»Eine tolle Staupe,« dachte Jürgen, »aber er muß sie durchmachen, um frei zu werden.« —


[S. 52]

V.

Jürgen saß bereits kurz nach acht Uhr morgens vor seinem Schreibtisch im Privatkontor und sah die Korrespondenz, sowie die eingegangenen Aufträge durch. Prokurist Armin stand neben ihm und gab auf seine Fragen kurze Erläuterungen ab. Der gegenübersitzende Wolf hörte kaum zu und langweilte sich sterblich. Ein paarmal griff er nach den neuesten Zeitungen, las die Berichte von der Getreidebörse, hastete über die Theaterkritiken hinweg und legte das Blatt wieder aus der Hand.

Nun war die Post durchgesprochen. Jürgen hatte disponiert, und Wolf atmete schon freier auf, als Prokurist Armin von neuem begann:

»Wir haben noch die Angelegenheit mit Smider & Sohn zu besprechen, Plüddekamp. Sie wollten sich heute entscheiden.«

»Er kriegt keinen Pfennig mehr, als wir abgeschlossen haben,« erwiderte Jürgen ärgerlich. »Wie kommt der Mann überhaupt dazu, uns um eine Tariferhöhung anzugehen? Der Vertrag mit ihm ist klipp und klar.«

[S. 53]

»Die Frachtsätze sind im Steigen begriffen. Der Export verstärkt sich für das Frühjahr. Kein Wunder, wenn Smiders es probiert — er glaubt, mehr herausschlagen zu können, und zieht nun an der Strippe, um —«

»Einfach ausgeschlossen, Armin,« fiel ihm Jürgen ins Wort.

»Ich kann es nicht behaupten, Plüddekamp. Der Dampfer liegt noch im Schwimmdock.«

»Die Verlängerung ist aber gut vonstatten gegangen. Bei der Höhe unserer heutigen Technik im Schiffsbau bringen sie alles mit Eleganz fertig. Wie war's damals mit der ›Hohenzollern‹! Durchgeschnitten — ein ganzes Stück eingesetzt — und wieder Volldampf voraus.« Jürgen ließ sein breites Lachen hören.

»An Tonnengehalt wurde sie größer, an Geschwindigkeit und ruhigem Gang hat sie sich gerade nicht verbessert,« meinte Wolf, der jetzt aufhorchte, weil ihn diese Angelegenheit interessierte.

»Beim Frachtdampfer fragt man auch nicht danach,« brummte Jürgen. »Du willst immer auf den Sport hinaus.«

»Der ›Friedrich Barbarossa‹ war doch mit Eisenerzen überladen worden und blieb in der Kaiserfahrt stecken?« wandte sich Wolf an den Prokuristen.

[S. 54]

»Ja, — er hatte sich beim Aufrennen den Boden eingedrückt, darum wurde er umgebaut und gleich vergrößert, Herr Plüddekamp,« gab Armin zur Antwort.

»Die Eisenerze kamen wohl aus Vivero in Spanien?« frischte Wolf seine Erinnerungen auf. »Es konnte einen endlosen Prozeß geben — die Versicherungsgesellschaft einigte sich aber mit der Henckel-Donnersmarck-Hütte. Es mußte alles in Leichter umgeladen werden, und die Kaiserfahrt war eine Zeitlang schlecht zu passieren —«

»Stimmt,« unterbrach Jürgen seinen Bruder kurz. »Du bringst uns aber von der Sache ab — oder willst du auf einen Vorschlag hinaus?«

»Du hast mich damals den Vertrag mit Smider & Sohn lesen lassen — er ist nicht ohne Häkchen. Ein wenig Jus klebt mir von den Semestern in Greifswald und Berlin noch an, darum glaube ich — —«

»Nun und — —« forschte Jürgen.

»— — — daß der Passus ›bei rechtzeitiger Fertigstellung‹ uns auffliegen läßt, wenn Smider & Sohn den Vertrag nicht einhalten wollen.«

»Es wäre eine dumme Sache — unser Justizrat ist doch sonst immer vorsichtig gewesen! Holen Sie den Vertrag, Armin — ich will ihn daraufhin[S. 55] durchsehen,« wandte sich Jürgen an diesen. — »Kannst du nicht auf den jungen Smiders einwirken, Wolf?« fragte er seinen Bruder.

Dieser schüttelte mit dem Kopfe.

»Ich war wohl während der Schulzeit öfters mit ihm zusammen, — jetzt zählt er nicht mehr zu meinen Freunden.«

»Mir ist er höchst unsympathisch,« meinte Jürgen. »Eine zynische Natur, die am liebsten über Treu und Glauben hinwegschreitet. Hätte nicht sein Vater mit uns jahrzehntelang in Verbindung gestanden — ich würde den geschäftlichen Verkehr mit der Firma abbrechen.«

Der Prokurist brachte den Vertrag, und der ältere Plüddekamp vertiefte sich einige Minuten in diesen. Als er wieder aufsah, zeigte sein Gesicht eine unwillige Miene.

»Es ist so, — Wolf hat zwischen den Zeilen gelesen! Ich bin jetzt der Ansicht — Smiders kann unter gewissen Umständen aus seinen Abmachungen entschlüpfen. Er sucht darum seinen Vorteil wahrzunehmen. Zahlen wir die höheren Frachtsätze, fällt es ihm natürlich nicht ein, den Vertrag zu beanstanden. Unser Gewinn aber wird dann Null sein, nur das Risiko bleibt.«

[S. 56]

»Wir müssen bestimmt in der vorgesehenen Frist liefern,« betonte Armin. »Die spanischen Brennereien sind darauf angewiesen und warten nicht. Es wird uns sonst ein großes Geschäft für die Zukunft verloren gehen.«

»Gut — das ist feststehend! Also was tun? Sie haben selbst dazu geraten, den ›Friedrich Barbarossa‹ zu chartern, Armin!« sagte Jürgen.

»Weil er nach dem Umbau einen hohen Tonnengehalt aufweist und wir die Lieferung glatt fortbringen wollen. Die Tarife waren zudem sehr günstig,« erwiderte dieser.

»Alles eine schlaue Kalkulation von dem jungen Smiders. Wir legten uns lange vorher fest und mußten ihm in die Hände fallen, sobald die Lieferung drängt.« Jürgen schlug mit der Faust auf die Platte des Schreibtisches, daß es dröhnte. »Am liebsten möchte ich ihm mit gleicher Münze dienen. Ich habe bisher bei unseren Verträgen mit Smiders & Sohn nie an eine Übervorteilung von der anderen Seite gedacht. — Es muß auch so gehen,« fuhr er ruhiger fort. »Wir wollen rechtzeitig Maßnahmen treffen, Armin, und uns einige kleinere Dampfer sichern, die wir für andere Zwecke verwenden können, wenn die Frage nicht brennend wird.«

[S. 57]

»Die Stettiner Frachtdampfer sind für die Hauptfahrzeit belegt. Wir müssen in Hamburg, Bremen und Lübeck Umfrage halten. — Auf den Zufall, daß spanische Dampfer Rückfracht nehmen, können wir uns nicht verlassen,« hielt Armin entgegen.

»Teufel — eine unangenehme Klemme,« brummte Jürgen. »Smiders soll an mich denken. Es ist wirklich notwendig, daß du ihm beikommst, Wolf! Natürlich mit der größten Liebenswürdigkeit — lade ihn auch gelegentlich ein. — Wenn ich ihn aufsuche, wittert er sofort Morgenluft.« —

»Gern tue ich es nicht, Jürgen! Alfred Smiders verkehrt in keinem Kreise meiner Bekannten. Man trifft ihn höchstens in kleinen Weinstuben mit zweifelhafter Bedienung an. Ich muß mich ihm also nähern. In unser Haus möchte ich ihn lieber nicht einführen —« Wolf stockte plötzlich und dachte an Ilse. Sie brauchte diesen Menschen nicht kennen zu lernen.

»Richte es nur ein, Wölfchen! Es hängt zuviel davon ab,« wurde Jürgen freundlich. Der geschäftliche Nutzen war bei ihm hoch angeschrieben, solange er in regulären Bahnen ging. Hier stand Großes auf dem Spiel. Der Vertrag mußte aufrecht erhalten bleiben. Später durfte solche Lage nicht wieder vorkommen, er wollte im stillen mit einer auswärtigen Reederei sofort Vereinbarungen anbahnen.

[S. 58]

»Ich werde ihn aufsuchen und — lavieren,« sagte Wolf. »Schließlich kommt es darauf an, wer die besten Karten in der Hand hält, — ich fürchte —«

»Rufen Sie Smiders & Sohn telephonisch an, Armin. Mein Bruder würde die Angelegenheit mit Herrn Alfred Smiders in Kürze besprechen.«

Für Jürgen war damit die Unterredung beendet. Er nahm die neuen Aufträge zur Hand, ließ sich das Lagerbuch geben und begann zu rechnen. Der Prokurist ging in die Korrespondenzabteilung, und Wolf blieb eine Weile seinen Gedanken überlassen.

Im Grunde war ihm Alfred Smiders ein verhaßter Geselle. Dieser hatte sich während der Schulzeit in den oberen Klassen immer an ihn herangedrängt.

»Reeder und Exporteur müssen schlau zusammenhalten,« sagte Smiders zu ihm, »und das sind wir beide doch eines Tages. — Die Abnehmer — das konsumierende Volk muß mächtig berappen, damit wir schnell reich werden. Am besten schafft es sich bei einer Hungersnot — oder im Kriegsfall — da kann man Gold mit Scheffeln messen.«

»Solche Vorsätze hat mein Bruder nicht,« erwiderte Wolf darauf, »er läßt nichts auf die Ehre des alten Kaufmannsstandes kommen.«

»Nette Torheit,« suchte Alfred Smiders ihm zu beweisen. »Ich nehme mir die amerikanischen[S. 59] Grundsätze zur Richtschnur. Der beste Kaufmann ist, wer den höchsten Gewinn erzielt! Auf welche Weise, bleibt ganz gleichgültig.«

»Bei Jürgen Plüddekamp aber nicht,« trumpfte ihn Wolf ab.

»Du wirst sehen — das moderne Geschäft verlangt es — eines Tages bist du bekehrt! Wir wollen dann weiter darüber sprechen,« zog sich der andere zurück.

Alfred Smiders gab schon als Primaner viel Geld aus, trotzdem sein Vater in jener Zeit geschäftlich zu kämpfen hatte und große Verluste erlitt. Er verkehrte mit Steuerleuten und Matrosen in den dunkelsten Kneipen am Hafen. Dort lernte er das Grogtrinken und konnte bald unglaubliche Mengen Alkohol vertragen. Es erschien ihm dies für seine Laufbahn notwendig. Er wollte sich später von keinem Kapitän unter den Tisch trinken lassen.

Wolf hatte er ein paarmal mit verschleppt. Sie gerieten in eine wüste Gesellschaft von Matrosen hinein, die in den Hafenkneipen herumlungerten und mit einem Aushub von Mädchen das letzte Heuergeld vertaten. Während Smiders wie ein Fisch durch moderiges Wasser schlüpfte und Rede wie Antwort anzupassen wußte, konnte sich der junge[S. 60] Plüddekamp des Ekels über das wilde Gebaren nicht erwehren.

Er schlich spät nach Hause und verdankte es nur der Freundschaft des alten Jochen Hindorf, daß er durch den Garten und über den Hof unbemerkt ins Haus hineingelangte. Dieser hatte den Schlüssel zu der kleinen Torpforte in Verwahrung und drückte bei seinem jungen Herrn gern ein Auge zu. Am nächsten Morgen hielt er einen kräftig eingelegten sauren Hering mit einer knusprigen trockenen Semmel bereit, damit konnte Wolf seinen Katzenjammer dämpfen Ein kleines Glas Porter mit Ale jagte ihm das Blut wohltuend durch die Adern. Zur Mittagszeit war alles überwunden und die blauen Augen lachten wieder die Welt an. —

Wolf war eine gesunde, reine Natur, der nichts anhing, und in späteren Jahren mied er Smiders, wo er es nur konnte. Jetzt spielte dieser scheinbar eine große Rolle in der Stadt. Er hatte mehrere neue Dampfer bauen lassen und weite Fahrten eingerichtet. Die alten Schiffe liefen noch daneben und trugen hohe Versicherungen. Man munkelte allerlei, durfte sich aber nicht laut äußern. In den Kneipen einer Hafenstadt wird viel gesprochen.

Der junge Reeder war seinem Äußeren nach eine große, elegante Erscheinung. Dunkles Haar[S. 61] und ein schwarzer, wohlgepflegter Schnurrbart hoben seine an und für sich matten Züge stärker hervor. Die Augen flackerten etwas unstät umher, besaßen aber zuweilen einen tiefergehenden Ausdruck, den er im geeigneten Falle geschickt anzuwenden wußte.

Als Jürgen seinen Bruder aufforderte, die frühere Bekanntschaft mit Alfred Smiders zu erneuern, hatte er wichtige Gründe im Auge, diese überwogen bei ihm die persönliche Abneigung. Das spanische Geschäft mußte gepflegt werden, es bot sehr lohnende Aussicht und paßte stets mit den Rückfrachten. — Wolf war zur Abwicklung solcher Sachen recht geeignet. Seine anscheinende Gutmütigkeit verdeckte den eigentlichen Kern, den er zur passenden Zeit scharf herauszuschälen verstand. Jürgen hatte eine zu derbe Geradeausnatur, er liebte kein Wortgeplänkel.

»Ich gehe jetzt nach dem Speicher auf der Lastadie,« sagte Wolf zu seinem Bruder. »Die Stichproben von den neuen Roggenlieferungen sollen doch in meinem Beisein genommen werden.«

Jürgen sah von seinen Kalkulationen auf.

»Recht so, Wölfchen! Denk auch daran, daß die verschiedenen Grassamen bald umgestochen werden müssen. Es entsteht leicht ein dumpfiger Geruch, und bis zur Versandzeit sind noch einige Monate hin.«

[S. 62]

»Wird besorgt, Jürgen! Übrigens noch immer schauderhaftes Wetter,« sagte er, hinausschauend. »Ich laß mir einen Taxameter holen. Von nassen Füßen kriegt man bloß Katarrh. Davon bin ich kein Freund!«

Er sprang dann in wenigen Sätzen die Treppe zur Wohnung hinauf. Ein Glas Portwein konnte an dem naßkalten Tage nicht schaden. Vielleicht, daß Ilse — sie huschte gerade über den Korridor, als er die oberste Treppenstufe erreichte.

»Fräulein Ilse — nur einen Augenblick!«

Sie blieb zögernd stehen und sah den hellen Schimmer in seinen blauen Augen, als er auf sie zukam. Er griff nach ihrer Hand, die sie ihm schnell wieder entzog.

»Herr Wolf! Was haben Sie nur immer vor, wenn Tante Herta —«

Er lachte hell auf.

»Nichts — rein gar nichts will ich — als ein Stückchen Semmel mit Gänsebrust. Eine recht große saftige Scheibe — Fräulein Ilse! Sie verstehen es, diese so appetitlich herzurichten. Aber bringen Sie mir den Happen selbst, bitte! — Machen Sie sich nicht wieder unsichtbar —«

»Das kommt nur auf Sie an, Herr Wolf,« entgegnete sie lächelnd und sah sich hastig um.

[S. 63]

»Auf mich, Fräulein Ilse? Dann würden Sie mich den ganzen Tag nicht los,« rief er belustigt. »Nun noch eine kleine Bitte — schlagen Sie einmal schnell Ihre schönen Augen zu mir auf —«

»Nein, — Herr Wolf, — das gehört nicht zur Erlernung der Hauswirtschaft,« — ihr Blick aber traf ihn doch, ehe sie forteilte.

Warum er nur so oft danach verlangte? Die anderen Herren, die sie hier kennen lernte, sahen sie ebenfalls so seltsam an. Sie empfand nichts dabei, nur wurde es ihr peinlich. Wolf war wirklich ein hübscher junger Mann, aber auch nicht mehr für sie. Als sie zu den Wirtschaftsräumen eilte, wußte sie unwillkürlich, daß seine Augen ihr folgten.

»Schade, daß ich mich so in acht nehmen muß. Es verdirbt mir manchmal ganz die Laune,« dachte sie bei sich.

Die Semmel mit Gänsebrust ließ sie durch das Mädchen ins Eßzimmer tragen, weil Herta dazukam. Diese ging sofort zu ihrem Bruder und schenkte ihm ein Glas Portwein ein. Sie kannte seine kleinen Wünsche.

»Du willst auf die Lastadie, Wölfchen? Stärke dich nur zuvor.« Er hatte ihr sein Vorhaben rasch mitgeteilt.

[S. 64]

Sie bot ihm noch ein zweites Glas an, während er ihr von Alfred Smiders erzählte.

»Wenn es geschäftlich notwendig ist, soll er das feinste Frühstück Stettins haben,« sagte sie dann.

»Besser, es läßt sich vermeiden, Herta!« Damit ging Wolf fort. Ilse kam ja nicht wieder.


Die Lastadie hängt mit dem Freihafengebiet zusammen. Dort hatte die Firma Jürgen Plüddekamp erst in den letzten Jahren neue Speicher erbaut. Als Wolf vorfuhr und eilig in das Tor hinein wollte, stieß er auf Jochen Hindorf. —

»Hast du deine Kerle in Schuß, Jochen?«

»Jäh woll — Herr Wolf!«

»Das ist man gut, Jochen! Sonst steig ich dir auch aufs Dach!«

»Hm —« räusperte sich dieser.

»Bei dem Wetter wär's kein Wunder, wenn sie davonliefen. Ich wollt gerade nach Haus. Haben Sie noch was, Herr Wolf? Mit'm Chef ist in der letzten Zeit nicht zu spaßen. Er gibt mir den Laufpaß, wenn ich nochmal für Sie flunkere.«

»Kommt nicht wieder vor, alter Knabe —«

»Hm — hm — damals war auch Fräulein Ilse noch nicht hier — nu aber —«

[S. 65]

»Was nun aber! Denk keinen Unsinn, Jochen. Fräulein Ilse hat damit gar nichts zu tun.«

»Näh — näh, Herr Wolf, das weiß ich wohl! Sie ist aber ein verteufelt schlankes Ding, wie so'n Aal glitscht sie aus der Hand. Ich hab's gesehen!«

»Du bist ein alter Drönbartel, Jochen — mit dem, was du willst! Behalte man deine Speckschwarten für dich. Jetzt komm mal beiseite! Ich will dich etwas fragen.«

»Jäh woll — Herr Wolf!« Die Hünenfigur des Alten schob sich dicht an seinen jungen Herrn heran.

»Du kennst doch den alten Aufseher von Smider & Sohn?«

»Jäh woll — Herr Wolf!«

»Gut! — Pürsch dich mal gleich an ihn heran. Kann auch 'n paar Schnäpse kosten. Frag ihn genau aus, wo Alfred Smiders seinen Wechsel hat. Du weißt schon! — Ich muß nach ihm auf den Anstand raus.«

»Aber — Herr Wolf! Sie werden doch nich, 'ne kleine Auflage von damals —«

»Unsinn! — Ich muß ihn in einer günstigen Stunde antreffen, damit ich ihm geschäftlich langsam beikommen kann.«

[S. 66]

»Hm — das weiß ich schon! Er hat etwas in der ›Grünen Schanze‹, wo die gelben Gardinen vor sind. Ein paar leere Champagnerflaschen stehen im Fenster.«

»In der alten Weinspelunke sitzt er?« rief Wolf etwas betroffen aus. »Da kann ein anständiger Mann wahrhaftig nicht hineingehen.«

»I was! Da gehen feine Leut' hinein. Bei Tag woll nicht — aber abends sind alle Katers grau.«

»Es ist also ganz sicher?«

»Ich frag nach. In einer halben Stund bin ich wieder da. Wieviel Schnäpse — kann ich ihm geben?«

Wolf lachte und nahm Geld aus der Westentasche, das er Jochen Hindorf in die schwielige Hand drückte.

»Was nicht draufgeht, ist für dich — Alter!«

»Jäh woll — Herr Wolf!«

Jochen Hindorf zog die Flauschjacke fest zusammen und trottete ab. —

»Gibt's wohl eine ehrlichere alte Haut als diese dort?« dachte Wolf, ihm nachschauend. »Wenn's darauf ankäme, würde Jochen für mich das Tollste ausführen, aber eine Stärkung des inneren Menschen muß dabei sein.«


[S. 67]

VI.

Nach altem Brauch sah man im Plüddekampschen Hause Sonntags gern Tischgäste. Nähere Freunde sagten sich einfach an, zuweilen ergingen auch Einladungen. Konsul Martens kam jetzt häufiger als in den letzten Jahren.

»Alte Liebe rostet nicht,« scherzte Wolf mit seiner Schwester.

Herta entgegnete ihm darauf mit ernstem Blick:

»Ich habe Martens stets als lieben Freund betrachtet, seitdem ich meine einstige Neigung zu ihm unterdrückte. Er war mir wert. Ich achtete ihn hoch und hielt ihn für einen jener Männer, die nach dem Herzen der Frau schauen und sich nicht durch Äußerlichkeiten blenden lassen. Wie bitter bin ich enttäuscht worden! — Martens ist nicht viel mehr oder weniger, als es auch andere Dutzendmenschen sind.«

»Es freut mich, daß dir endlich diese Erkenntnis kommt, Herta,« warf Wolf lachend ein. »Nun wirst du mich doch gleichwertig einschätzen.«

»Dich, Wölfchen? Ich bedaure dich höchstens! Du hast mir zuviel — Herz!« entgegnete sie ihm.

[S. 68]

»Dafür empfinde ich auch mehr, als Jürgen und — du —«

»S—o—o—! — Weißt du dies ganz genau? Was Ilse dir und anderen einflößt, die ihr nachrennen, ist — keine Liebe. Höchstens der moderne Zug zum Weibe —«

»Herta!« stieß Wolf heftig aus. »Du urteilst mit Bitterkeit.«

»Ist es denn nicht wahr? Du, Martens, deine Freunde, — ihr sucht in Ilse etwas, das ich verabscheue! Sie tut mir wahrhaftig leid und gibt keinen Anlaß für euer Verhalten.«

»Ich sehe Ilse gern, leidenschaftlich gern! Es ist mir ein Lebensbedürfnis, in ihrer Nähe zu weilen. Ich habe ein tiefes Glücksgefühl dabei.«

»Unterdrücke mit aller Kraft diese Regung, ehe sie sich in dein Herz hineinfrißt, sonst erleidest du mein Schicksal. Ilse ist nicht für dich geschaffen, auch würde Jürgen nie eine Verbindung mit ihr zugeben. Oder willst du eine Frau besitzen, Wolf, der andere Männer fortwährend nachstellen?«

»Herta, du bist heute geradezu grausam. Du kränkst mich mit Absicht!« sagte dieser vorwurfsvoll.

»Gewiß nicht, Wolf! Aber ich muß dich vor einer Torheit behüten.«

[S. 69]

»Nein, Herta! Sag es lieber rund heraus: Du bist eifersüchtig auf Ilse, weil Martens sie interessant findet, wie dies alle meine Freunde zugeben, die sie kennen lernten.«

»Wolf! Das waren häßliche Worte! Ich bin sie von dir nicht gewohnt. Seit Ilse ins Haus gekommen, verstehen wir Geschwister uns nicht mehr.«

Sie ging an das reichgeschnitzte Büfett und legte Früchte auf den großen Silberaufsatz, der die Mittagstafel zieren sollte. Ilse trat in diesem Augenblick ins Zimmer und wollte Herta behilflich sein, wurde aber von ihr kurz abgewiesen.

»Bei Herta droht heute ein Wintergewitter, Fräulein Ilse! Kommen Sie schleunigst aus der gefahrdrohenden Nähe. Ich zeige Ihnen das neue Prachtwerk über die britische Nationalgalerie. Es ist noch Zeit, bis unsere Gäste eintreffen,« suchte Wolf ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

»Wie? — Sie haben das schöne Werk gekauft, von dem ich sprach!« rief das junge Mädchen freudig aus.

»Ja, Fräulein Ilse. Es liegt im kleinen Salon,« entgegnete er schnell und wartete, daß sie etwas darauf erwidern würde.

Sie sah Herta fragend an. Diese nahm aber keine Notiz von ihr, sondern ordnete weiter an den[S. 70] Früchten und legte goldgelbe, mit grünen Blättern abgepflückte Mandarinen obenauf.

Wolf schritt jetzt in den anschließenden Salon hinein. Ilse folgte ihm zögernd. Sie blieben vor einem Ebenholztisch stehen, auf dem die große Prachtmappe lag. Er schlug diese auf und zog einzelne der hervorragendsten Blätter in die richtige Beleuchtung zum Fenster hin.

Sie stieß einen Ruf des Entzückens aus. Ihre Augen leuchteten hell; ihre Mienen nahmen einen lebhaften Ausdruck an. Sie ging vollständig in der Betrachtung der Kunstwerke auf.

»Welcher Genuß, die alten berühmten englischen Meister Gainsborough, Reynolds, Lawrence mit Muße betrachten zu können! Wie dankbar bin ich Ihnen dafür, Herr Wolf. Ich werde meine freie Zeit oft damit verbringen.«

»Ich darf doch dabei sein, Fräulein Ilse? Die beste Gelegenheit ist in den Nachmittagsstunden, sobald Herta in ihre Frauenvereine geht. Dann können wir uns gemeinsam an dem Schönen in der alten Kunst erfreuen.«

»Sie müssen aber nachmittags im Kontor sein, Herr Wolf,« warf Ilse ein.

»Wer kann mich dazu zwingen! Das Kontor wird mir rein zum Ekel. Ich habe keine Ruhe, über[S. 71] Korrespondenzen und Büchern zu sitzen oder in den Speichern Kontrolle zu üben, wenn ich Sie hier oben allein weiß. Wie oft sagte ich Ihnen dies schon.«

»Ich darf Sie aber davon nicht abziehen! Herr Plüddekamp schaut mich schon streng genug an. Er ist wenig freundlich zu mir und wird es auch Sie fühlen lassen.«

»Jürgen — pah! Ich bin kein Kontorbeamter, sondern Teilhaber der Firma, und der ewigen Bevormundung längst überdrüssig. — Sehen Sie diese herrlichen Bilder von Tizian, Tintoretto. Ich liebe die italienischen Schulen.«

Er zog einige schöne Frauenbildnisse hervor.

Ilse beugte sich tief darüber und war ganz im Anschauen versunken. Wolf stand ein wenig zurück und sah auf die feinen Linien ihres schlanken Halses hin. Bei dem tiefen Ausschnitt des Kleides bot er sich blendend weiß und verlockend seinen Blicken dar. Es reizte ihn, sie dort zu küssen. Je mehr er hinschaute, desto unwiderstehlicher zog es ihn an. Plötzlich ergriff ihn ein Taumel, er wußte nicht mehr, was er tat.

Nun war es geschehen. —

Seine heißen Lippen hatten eine Sekunde lang auf ihrem kühlen weißen Nacken geruht.

[S. 72]

Sie kehrte sich blitzschnell um. Ihr Gesicht war wie in Blut getaucht, und die großen Augen flammten empört auf.

»Herr Plüddekamp! Was unterstehen Sie sich!« stieß sie beleidigt aus. »Bin ich ein Mädchen, dem gegenüber Sie es wagen dürfen —«

»Um Gottes willen — Ilse, sprechen Sie nicht so laut! Herta hört es sonst. Zürnen Sie mir nicht! Ich konnte wahrhaftig nicht widerstehen, — ich wurde einfach fortgerissen. Es war nur ein Tribut, den ich der Schönheit zollte, der herrlichen Form Ihres Nackens!« Er hielt ihr, um Versöhnung bittend, die Hand hin. Sie nahm diese nicht an, trotzdem er fortfuhr: »Ilse, bei Tag und Nacht erfüllen Sie mein ganzes Denken.«

»Ich weiß es, Herr Wolf!« unterbrach sie ihn, und ihre tiefe Stimme sank zum Flüsterton herab. »Sie zeigen es ja so deutlich, daß alle es sehen müssen! Sie werden mir dadurch den liebgewonnenen Aufenthalt hier sehr bald unmöglich machen.«

»Sagen Sie mir doch, was ich tun soll, Ilse,« sprach er hastig auf sie ein. »Ich will mich sehr in acht nehmen. Nur schenken Sie mir täglich einige Minuten der Aussprache, solange wir nicht Lawn-Tennis spielen können, dann —«

[S. 73]

»Nein, nein!« ließ sie ihn nicht ausreden. »Es ist unmöglich! Ihre Geschwister denken darüber sehr streng, und ich möchte nicht falsch beurteilt werden.«

»Ilse!« tönte es jetzt schroff vom Speisezimmer herüber.

Sie erschrak leicht und eilte sofort zu Herta. Wolf blieb allein zurück.

»Ich halte es nicht länger aus,« sagte er zu sich, »es muß zu einer Entscheidung kommen und Jürgen,« — er dachte nicht weiter. Ein Glockenton zeigte an, daß die Gäste kamen. —

Konsul Martens führte Herta zu Tisch. Er richtete aber seine Worte, so oft es ging, an Ilse. Der ältere Plüddekamp unterhielt sich mit Baron Berleburg, den er aus geschäftlichen Rücksichten zur Tafel zog. Das Konto des Schloßherrn im Hauptbuch zeigte eine ansehnliche Belastung. Berleburg war einmal früher Dragoneroffizier gewesen und hatte das von seinem Vater ererbte Gut ziemlich heruntergewirtschaftet. Er brauchte vielmal die Unterstützung des reichen Kaufmannes.

»Die Aussichten der Wintersaat sind ganz prächtig, Herr Plüddekamp. Sie ist kräftig in den Winter gekommen, und die starke Bodenfeuchtigkeit kann frühzeitig den Wuchs fördern. Berleburg wird lange Jahre keine solche Ernte gesehen haben,« sagte der Schloßherr.

[S. 74]

Jürgen lächelte höflich.

»Ich wünsche es Ihnen aufrichtig, Herr Baron. Es vergehen aber noch Monate bis zur Ernte, und der Landwirt ist leider von vielen Zufällen abhängig.« Er ahnte bereits, daß ein neuer Angriff auf seinen Kassenschrank bevorstand. Baron Berleburg wußte diesen stets mit großem Geschick einzuleiten. Seine geschäftliche Taktik ging gern durch gesellschaftliche Beziehungen auf das versteckte Ziel los.

»Ah — Herr Plüddekamp! Sie sind der vorsichtige Geschäftsmann! Bedenken Sie aber das Berleburgsche Glück, das mich noch nie verlassen hat,« fiel der Baron ein.

»Damit meint er meine Vorschüsse,« dachte Jürgen bei sich, und Wolf sah ihn von der anderen Seite der Tafel her verständnisvoll an.

»Sonnenschein und Regen kommen bestimmt zur rechten Zeit. Hagelwetter kennt Berleburg seit fünfzig Jahren nicht. Kraft ist im Boden — ganz richtig — —« fuhr Berleburg fort, »wie sollte es dabei an etwas fehlen!« Er sah triumphierend im Kreise umher. Sein hagerer Oberkörper und das lange Gesicht mit dem scharfkantigen Kopf deuteten auf ein reichlich genossenes Leben hin. Er blinzelte behaglich einen Augenblick, als er den guten alten Rotwein aus dem feingeschliffenen Kristallglas schlürfte. —[S. 75] »Ein Jahrgang, Herr Plüddekamp, — ganz riesig, — lagert sicher lange,« — wandte er sich an Jürgen.

»Mein verstorbener Vater kaufte das Oxhoft direkt in Bordeaux. Der Wein hat sich auf der Flasche gut entwickelt,« erwiderte dieser.

»Sie sind heute so nachdenklich, Fräulein Hergenbach,« redete Konsul Martens seine Nachbarin zur Linken an. »Unsere alte Pommernstadt läßt Sie das schöne Dresden nicht vergessen, und wir schwerblütigen Nordländer können nicht so gut unterhalten —«

»Sie offenbaren eine viel zu große Bescheidenheit, Konsul Martens,« fiel Wolf Plüddekamp ein. »Wollen Sie von Fräulein Ilse hören, daß Sie ein äußerst amüsanter Plauderer sind?«

»Danke verbindlichst, mein junger Freund,« suchte Martens seine joviale Seite hervorzukehren, »danach gelüstet mich nicht. Fräulein Hergenbach hat aber einen müden, verschleierten Ausdruck in ihren Mienen, den ich mit Bedauern sehe.«

»Ist das Leben nicht ernst genug, Herr Konsul?« erwiderte Ilse darauf.

»Die Jugend muß stets froh sein, Fräulein Hergenbach. Ein Lächeln auf den Zügen ist wie heller Sonnenschein am klaren Wintertag.«

»Heute regnet und schneit es aber durcheinander, Herr Konsul,« spottete Ilse leicht.

[S. 76]

»Um so mehr muß die Sonne jugendlicher Schönheit unter uns strahlen,« antwortete er galant.

»Herr Konsul —« stieß das junge Mädchen peinlich berührt hervor, denn Hertas hohe Stirn hatte sich plötzlich verdüstert.

»Von einem Manne in den Jahren unseres lieben Freundes kannst du dir eine solche Schmeichelei ruhig gefallen lassen, Ilse. Da ist sie aufrichtig gedacht,« betonte diese.

Martens fühlte, daß er etwas versehen hatte, und wollte dies wieder gutmachen.

»Schönheit ist nur sieghaft, wenn Gedankenreichtum sie begleitet,« wandte er sich an Herta.

»Nicht immer,« entgegnete sie, »die meisten Männer legen heute bei der Frau weniger Wert auf Gedanken, desto mehr aber auf äußere Vorzüge. Es ist ihnen leider ganz gleich, worin sie bestehen.«

Martens senkte den Blick, während er entgegnete:

»Sie urteilen zu scharf! So tief steht unser innerer Wert doch nicht. Ich könnte dagegenhalten: viele Frauen lenken absichtlich unsere Blicke nur auf ihr Äußeres hin.«

»Schalten Sie ein: viele schöne Frauen! Der größere Teil von uns strebt jetzt danach, sich mit gleichem Geisteswert und starker Tatkraft neben den Mann zu stellen.«

[S. 77]

»O armes drittes Geschlecht, das seine Lebensaufgabe vergißt!« rief Wolf dazwischen.

»Ich folge lieber der reinen Vernunft, als daß ich ohne Überlegung mit dem Gefühl davonstürme, Wölfchen,« erwiderte ihm Herta ruhig.

Baron Berleburg war auf die Unterhaltung aufmerksam geworden, kniff das linke Auge leicht zusammen und sah scharf zu Herta hinüber.

»Muß Ihnen beipflichten, gnädiges Fräulein. Habe es in meinem Regiment immer erlebt, daß Kameraden bei Attacke mehr Besonnenheit zeigten, als bei Eingehen der Ehe. Es gibt Beispiele, — ganz riesig! Bin darum bis jetzt ledig geblieben.« Er erhob das Glas gegen Herta und trank ihr zu.

Wolf ballte Brotkrumen mit den Fingern zusammen und versuchte, ernst zu bleiben, auch um Jürgens' Mund zog sich ein kräftiges Lachen zusammen, das er kaum zurückhalten konnte. Baron Berleburg besaß etwas von dem Ritter Don Quichote.

Es entstand plötzlich eine Stille, und Wolfs Blick streifte zu Ilse hinüber; er sah, wie ihre großen Augen erwartungsvoll an Jürgen hingen. Sie schien lachen zu wollen, wenn dieser lachen würde. Wolf wußte im ersten Augenblick nicht, wie es kam; ein häßliches Gefühl stieg heiß in ihm empor. War es Neid, der in ihm aufkeimte? Er gönnte Jürgen den[S. 78] Blick nicht und trank hastig ein Glas des schweren Bordeauxweines, um sich zu beruhigen.

Rechte, — er besaß keine und handelte immer auf Grund seines leidenschaftlichen Empfindens. Er war sich in keiner Hinsicht klar, was er eigentlich vorhatte. Nur eins sprach in ihm: der mächtige Drang, fortwährend Ilse nahe zu sein. Er faßte Jürgen, der oben an der Tafel saß, mehrmals länger ins Auge. Es quälte ihn beinahe, daß er keinen Blick von ihm bemerkte, der sie traf. Dann hätte er doch erkannt, — nein, er mochte nicht weiterdenken, — es war ja ausgeschlossen.

Martens sprach jetzt eifrig auf Herta ein, er hatte den leisen Vorwurf wohl verstanden. Baron Berleburg versuchte ebenfalls, bei ihr den Liebenswürdigen zu spielen. Es entstand ein belustigendes Rennen zwischen den beiden Herren.

Ilse hörte den Worten des Prokuristen Armin nur mit halbem Ohr zu. Das dunkelblonde, von einem Scheitel nach beiden Seiten liegende, reich gewellte Haar hob ihr Gesicht wirkungsvoll hervor. Der alte Rotwein hatte ihre Wangen leicht gefärbt; die Augen glänzten und verlangten nach Lebenslust.

Wolf, der still geworden und sie unausgesetzt betrachtete, wurde von einer nervösen Unruhe ergriffen. Er wünschte sehnlichst das Ende der Tafel[S. 79] herbei, um sich ihr nähern zu können. Warum hatte er Ilse nicht zur Tischnachbarin erhalten? Herta bestimmte für sie stets einen anderen Herrn. Für das nächstemal wollte er es unbedingt sein. Bruder und Schwester führten ihn noch am Gängelband. Er dankte für diese ewige Bevormundung, die ein- für allemal ihr Ende finden sollte.

Die große Kristallkrone über dem Eßtisch und die Deckenbeleuchtung flammten jetzt auf. Der durch die mattgeschliffenen Glasbirnen und opalfarbenen Deckengläser gedämpfte Schein des elektrischen Lichtes breitete sich geheimnisvoll über die Gesellschaft aus.

Martens schwieg und überließ Berleburg das Feld. Seine Blicke streiften Ilse, während er sich aus dem Silberaufsatz eine Mandarine nahm. Er mußte zu ihr hinsehen, es zwang ihn dazu. Wolf bemerkte es sofort. — Also auch Martens, der stets glattlächelnde vornehme Bankier, fing Feuer. Nur Jürgen sah nicht zu ihr hin. Keine Miene des starkknochigen Gesichts deutete an, daß er das geringste Interesse für das junge Mädchen hege. —


[S. 80]

VII.

Herta erhob sich, — ihre Brüder zogen sich mit den Gästen in das Rauchzimmer zurück, in dem der Kaffee gereicht wurde.

»Tante Herta,« bat Ilse herantretend, »laß mich das Silber in die Kästen einreihen. Ich habe darauf geachtet, wie du es fortlegst.«

Fräulein Plüddekamp war in der Behandlung des wertvollen alten, aus mehreren Generationen stammenden Familiensilbers sehr peinlich. Sie besorgte das Fortlegen in die hohen, mit dunklem Samt ausgeschlagenen Eichenkästen stets selbst. — Als sich Ilse nun mit der Bitte an sie wandte, ihr das Amt abzunehmen, war sie davon anfangs unangenehm berührt. Es schien ihr ein Eingriff in ihre Rechte zu sein. Sie sah deshalb das junge Mädchen einen Augenblick unfreundlich an. Dann besann sie sich aber rasch. Ilse sollte doch die Hausfrauenpflichten bei ihr erlernen. Dazu gehörte auch die Ordnung und Aufbewahrung des Silbers. Herta dachte und handelte in allen Dingen gerecht.

[S. 81]

»Ich will es dir überlassen, liebe Ilse. Ich erwarte aber die nötige Sorgfalt dabei,« erwiderte sie nach kurzer Überlegung.

Das junge Mädchen sagte einfach: »Ich danke dir, Tante Herta,« und machte sich sofort an die Arbeit.

»Wir können die große Kristallkrone ausdrehen, Ilse,« bemerkte Fräulein Plüddekamp, »die Deckenbeleuchtung genügt vollständig.«

Ilse ging sofort an den Ausschalter, der sich am Eingang in das Speisezimmer befand, und durch einen raschen Griff wurde die Krone dunkel gestellt. Jetzt fiel das elektrische Licht nur noch matt aus den milchichten Gläsern an der Decke herab und hüllte die schlanke Mädchengestalt in eigenartige Beleuchtung ein. Herta hatte sich in der Sofanische niedergelassen und ruhte dort aus. Sie hörte leise Schritte im anstoßenden Salon. Ihre blauen, scharfblickenden Augen sahen sofort dorthin, und sie erkannte Wolf, der Ilse bei ihrer Tätigkeit zuschaute, ohne sich bemerkt zu glauben.

»Er ist ihr ganz verfallen,« dachte Herta. »Was soll nur daraus werden? Schicke ich sie nach Nordhausen zurück, so muß ich einen Grund dafür angeben, und sie hat mir diesen bisher in keiner Weise geboten. Ich werde mit Jürgen reden; Wolf braucht eine Luftveränderung,[S. 82] um auf andere Gedanken zu kommen. Er liebt den Süden, mag er auf einige Zeit dorthin gehen.«

Martens war Wolf Plüddekamp gefolgt und stand plötzlich neben ihm.

»Als Nichtraucher ist es mir hier bei Ihnen angenehmer als dort drinnen, lieber Wolf,« sagte er plötzlich.

Dieser fuhr wie aus Träumen auf. Er hatte den Konsul auf dem weichen Smyrnateppich nicht kommen hören.

»Sie haben einen interessanten Ausblick hier!« fuhr Martens fort. »Fräulein Hergenbach waltet als Hausfrau. Eine brillante Erscheinung. Schlank wie eine Tanne und abgerundete Bewegungen. Sie treibt viel Sport — nicht wahr?«

»Wir spielen zuweilen Lawn-Tennis, — wenn die Witterung es erlaubt,« entgegnete Wolf kurz.

»Die junge Dame muß eine gute Figur zu Pferde haben. Sind Sie schon zusammen ausgeritten?« fragte Martens weiter.

»Nein,« stieß Wolf förmlich abwehrend hervor. »Mein Fuchs ist zu unruhig und Jürgens Brauner — ist ein grobknochiger Geselle, der unter dem Damensattel wie ein Elefant aussehen würde. Herta hat, wie Sie wohl wissen, ihr Reitpferd seit dem letzten[S. 83] Jahre abgeschafft. Sie hegt die Ansicht, bei ihrer Vereinstätigkeit keine Zeit mehr dafür erübrigen zu können.«

»Schade, sehr schade,« fiel der Konsul ein. »Wenn Fräulein Hergenbach ausreiten will, — ich habe eine ausgezeichnete lichtbraune Stute, die sehr gut zugeritten ist, und stelle sie gern der jungen Dame zur Verfügung.«

Wolf mochte nicht darauf eingehen.

»Ich glaube kaum, daß es Herta willkommen wäre, wenn Fräulein Ilse der Wirtschaft viel entführt wird.«

»O, ich werde bei meiner lieben Freundin ein gutes Wort einlegen. Was bietet Stettin sonst Fräulein Hergenbach?« Er wollte in das Speisezimmer gehen, in dem Herta noch in der Sofanische saß.

»Unterlassen Sie es, Konsul Martens,« sagte Wolf hastig und legte seine Hand fest auf den Arm des älteren Mannes. »Aus Ihrem Munde könnte es Herta leicht kränken.«

Der halb getane Schritt des Konsuls wurde sofort gehemmt. Er seufzte leicht auf. »Sie haben recht, lieber Wolf! Der freieste Mensch hat Rücksichten zu nehmen, die uns gute Sitte auferlegt. Kommen Sie, wir kehren in den Rauch der Exporten zurück.«

[S. 84]

Jürgen, Baron Berleburg und der Prokurist Armin hatten sich in das beliebte Geschäftsgespräch über die Kornkonjunktur verwickelt. Dies floß bei den drei Herren am leichtesten.

»Wäre Rußland nicht eine große Kornkammer,« betonte Armin, als Wolf Plüddekamp mit Konsul Martens eintrat, »es wäre um Europa schlecht bestellt.«

»Sie sind unser Gegner, Herr Armin,« ließ sich Baron Berleburg hören. »Schutzzölle, immer höhere Schutzzölle brauchen wir, um die einheimische Landwirtschaft zu kräftigen. Nur darin liegt die Quelle dauernden Wohlstandes, — die Industrie nimmt uns die Arbeiter fort, — schadet uns — ganz riesig.«

»Seit dem Aufschwung der Industrie ist Deutschland erst ein Weltstaat geworden. Seine jetzige Wohlhabenheit kommt von dem Gold, das uns aus anderen Ländern für die versandten Waren zufließt. Auch unser Getreideexport spricht mit,« erwiderte Armin fest.

Baron Berleburg wollte sich mit diesem nicht verfeinden, er brauchte ihn als Fürsprecher bei Jürgen Plüddekamp. Er versuchte darum, einzulenken.

»Sie müssen auf der Seite der Landwirte sein, Herr Armin. Wir machen Ihnen doch die Geschäfte![S. 85] Durch uns verdienen Sie die Goldbarren, die Haus Plüddekamp birgt —«

»Es war mal,« meinte Jürgen darauf, »heute fällt der Gewinn verteufelt mager aus. Ein paar Prozente nur — dafür riskiert man ein großes Kapital, das stets in der Schwebe hängt.«

»Aber von sicherer Hand gehalten wird, Freund Jürgen,« sprach Martens dazwischen. »Bisher bist du von größeren Verlusten stets verschont geblieben. In unserer Industrie geht es nicht so sicher zu. Ich besitze als Bankier manche Kenntnis davon. — Der Eisenmarkt zeigt zuweilen ein höhnisches Gesicht; wer konnte es ahnen, daß die Engländer und ihre Vettern über dem Wasser einen solchen bösen Fischfang vorhatten. Wunden, die ein ungeheurer Weltkrieg schlägt, bedürfen einer langen Heilung.«

»Erst langer Friede schafft neue Werte. Korn ist Volksnahrung, — Eisen dient zur Herstellung von Gebrauchsartikeln, wenn die Kriegsfurie es nicht fortsaugt, lieber Martens. Korn und Eisen hängt innig zusammen. Die eiserne Pflugschar schält den Boden und regt ihn an, neues Wachstum für die Einsaat hervorzubringen. Die eiserne Walze ebnet, und die eisernen Zinken der Egge lockern die harte Erdrinde auf, daß die Keime besser sprießen. So tut das Eisen seine Schuldigkeit. Ich meine, Industrie[S. 86] und Landwirtschaft ergänzen sich, wie zwei Schwestern, die gemeinsam den Haushalt führen, dabei sparsam und rationell wirtschaften.«

»Gefällt mir — ganz riesig,« rief Baron Berleburg begeistert aus. »Die Gelder müssen in einen Topp hinein und jeder den Vorteil davon haben.«

Wolf verbiß sich ein Lachen. Der reine Egoismus, der nur nach leichtem Gewinn trachtete, stand auf der Fahne Berleburgs zu deutlich geschrieben. —

Die Stunden verstrichen. Armin war ins Theater gegangen. Konsul Martens wollte ihm folgen.

Ehe er sich verabschiedete, gab er Jürgen einen Wink. Sie traten vor eine große japanische Bronze hin, die ein gewaltiges sagenhaftes Drachentier darstellte. Indem sie dies anscheinend betrachteten, flüsterte Martens Jürgen zu:

»Alfred Smiders war neulich bei mir. Er will schon wieder einen großen Dampfer bauen lassen, und der ›Friedrich Barbarossa‹ ist noch nicht einmal aus dem Dock heraus. Er gab an, daß seine Verbindung mit dir es dringend notwendig mache. Wie steht es damit, Jürgen?«

Dieser hatte aufgehorcht. Er erkannte sofort, daß Smiders ihn nur für seine Zwecke ausspielen wollte, und antwortete:

[S. 87]

»Der ›Friedrich Barbarossa‹ genügt mir vollständig, Charles. Ich glaube kaum, daß der Export nach Spanien mehr verlangen wird. Hoffentlich wird er rechtzeitig fertig. Weißt du etwas davon?«

»Nichts Genaues,« klang es leise zurück, »ich werde mich aber informieren. Du kennst doch Alfred Smiders!«

»Stimmt, Charles! Er versucht bereits, uns zu schnellen. Wolf soll ihn in die Schere nehmen.«

»Wolf?« fragte der Konsul zurück. »Ich kann mir's denken. Du bist für solche Nebensprünge in lichtscheue Lokale nicht geeicht. Smiders ist aber sonst nicht zu packen. Ich beneide deinen Bruder nicht um die erhaltene Aufgabe.«

»Geht nicht anders!« fiel Jürgen ein. »Aber Charles, ich bitte dich, — du schwebst doch über den Wassern, — warne mich rechtzeitig, falls es dir notwendig erscheint.«

»Natürlich, lieber Jürgen! Alfred Smiders segelt bei allen Banken umher. Ich bin nur insoweit für ihn interessiert, als er unsere Gesellschaft prompt bezahlen muß.«

Sie schüttelten sich die Hände, und Martens ging zu Herta in den Salon. Berleburg hielt noch stand, er wollte einen günstigen Augenblick für seinen Angriff auf Jürgen abpassen. Dieser hatte Wolf ein[S. 88] Zeichen gegeben, daß er bei ihm bleiben sollte. Der junge Mann begann aber bald zu gähnen. Die Unterhaltung der beiden wurde ihm langweilig. Berleburg tat sich wichtig mit alten Garnisongeschichten, die er schon oft genug gehört hatte.

»Martens ist fort und Herta allein im Salon,« sagte Wolf plötzlich. »Wollen wir ihr nicht Gesellschaft leisten?«

Er erhob sich und ging voran. Jürgen war dies recht, darum forderte er den Baron zur Übersiedelung auf. Kaum hatten sie sich aber bei Herta niedergelassen, als Wolf rasch hinauseilte. Ilse war nicht dort; er hoffte, diese irgendwo allein anzutreffen.

Berleburg saß wie auf Kohlen, die Umstände vereitelten sein Vorhaben, und er mußte dabei den Liebenswürdigen spielen. Fräulein Hergenbach erschien plötzlich im Speisezimmer und richtete den Teetisch vor. Das Stubenmädchen brachte auf silberner Platte ein Telegramm herein. Ilse nahm es ab und trat an die Salontür.

»Herr Plüddekamp, einen Augenblick!«

Jürgen erhob sich langsam und kam auf sie zu.

»Sie wünschen, Fräulein Hergenbach?« fragte er mit seiner metallen klingenden Stimme.

»Es ist ein Telegramm für Sie eingegangen.«

[S. 89]

Jürgen entzündete eine tief angebrachte elektrische Birne, riß das Telegramm auf und überflog es.

»Entschuldigen Sie mich bitte bei meiner Schwester, und Baron Berleburg, Fräulein Hergenbach. Ich muß sofort ins Kontor, um ein eiliges Schreiben zu erledigen.«

Schon war er hinaus und eilte die Treppe hinab. Ilse stand Minuten regungslos da. Die grauen Augen starrten auf die Tür, die Jürgen soeben rasch hinter sich geschlossen. Es war, als ob sie ein Traum umfing. Die Augenlider sanken ein wenig herab. Sie strich dann mit ihrer schmalen Hand langsam über die Stirn, als wolle sie dahinter eine Flut von Gedanken ordnen.

Dann ging sie zu Herta in den Salon und teilte ihr mit, daß Herr Plüddekamp geschäftlich verhindert sei und erst in einiger Zeit zurückkehren würde. Sie setzte noch hinzu:

»Der Tee wird gleich bereit sein, Tante Herta.« Darauf verschwand sie wieder.

Baron Berleburg streckte sich ein wenig in dem bequemen Polstersessel aus und wurde immer liebenswürdiger. Es schien ein Gedanke in ihm aufgetaucht zu sein, der ihm noch ersprießlicher vorkam, als eine Anbohrung neuen Kredites bei Jürgen Plüddekamp. Glückte es ihm, so war er für immer[S. 90] geborgen. Herta, diese stattliche, vornehme Erscheinung dabei in den Kauf zu nehmen, hielt er für keine üble Aussicht. Ihre erste Jugend mußte vorüber sein. Es schadete auch nichts, um so verständiger würde sie als Frau auftreten und eine Baronin Berleburg auf Schloß Berleburg tadellos darstellen. Teufel — es galt, nicht zu zögern! Er ging ans Werk.

Herta kam aus dem Erstaunen gar nicht heraus, als jetzt der einstige Dragoneroffizier den Gefühlvollen zeigte und von ganz riesig tiefer Leidenschaft sprach, die er schon jahrelang gehegt und nur verborgen gehalten habe.

»Wo bleibt nur Ilse?« dachte Herta. »Wolf kommt auch nicht wieder!« Sie glaubte anfangs, die lange Rede des Barons wäre eine seiner beliebten Tiraden, bis sie doch schließlich die direkte Absicht merkte und eine törichte Erklärung verhindern wollte.

Er wurde immer deutlicher, und sie stand plötzlich auf.

»Das Teewasser kocht bereits, Herr Baron! Verzeihen Sie — ich will nur Fräulein Hergenbach rufen! — Ilse — Ilse!« rief sie laut auf den Korridor hinaus.

Berleburg zog verdrießlich an seiner Krawatte. Er war so schön im Zuge gewesen, und die ältliche Patriziertochter mußte sich doch höchst geehrt fühlen,[S. 91] wenn er ihre Hand und die große Mitgift begehrte. Sein Konto im Hauptbuch Jürgen Plüddekamps würde dann ein sehr ansehnliches Guthaben aufweisen. Die Hypotheken von Rittergut Berleburg verminderten sich bis auf die Eintragungen der General-Landschaft. War das nicht eine sehr aussichtsvolle Lage? Herta machte sich aber recht lange am Teetisch zu schaffen und überließ den hageren Herrn seiner weiteren Gedankenmalerei. — — —

Im Kontor leuchtete das elektrische Licht auf. Jürgen setzte sich an seinen Schreibtisch. Vor ihm lag das offene Telegramm; er schaute darauf hin und begann bereits in Gedanken zu disponieren. Ärgerlich, daß niemand zugegen war, dem er einen Brief diktieren konnte! Das Selbstschreiben war ihm unbequem. Er hatte auch keinen Kopierapparat zur Hand, da alle Briefe auf den Schreibmaschinen durchgeschlagen wurden. Es betraf aber eine Sache von größter Wichtigkeit, und Eile war geboten.

Es klopfte leise an der Tür.

»Herein!« rief er mit starker Stimme.

Ilse Hergenbach trat ein und schlug die großen Augen bescheiden zu ihm auf.

»Sie brauchen eine Stenogrammaufnahme, Herr Plüddekamp, und haben niemand zur Verfügung. Darf ich es ausführen? Ich stelle den Brief auf der[S. 92] Schreibmaschine schnell her. Die letzte Post wird erst in einer Stunde aus dem Briefkasten abgeholt.«

Ihre Blicke trafen sich. Nur ein leises Zucken der harten Mundwinkel verriet, daß in dem überlegenen Geschäftsmann etwas vorging. Er zögerte noch.

»Ich werde meinem Worte untreu, Fräulein Hergenbach —«

»Warum nicht, Herr Plüddekamp! Es ist nur ein Ausnahmefall, und ich tue es gewiß gern für Sie.«

Wie die grauen Augen gefährlich aufleuchteten und nicht weichen wollten! Ein bescheidenes Bitten und doch trotziges Verlangen lag in ihnen. Warum widerstehst du so lange? Die anderen sind glücklich, wenn ich ihnen einen Blick schenke. Du bist so hartnäckig, abwehrend — ich will aber meine Kraft erproben, ich will wissen — jetzt zeigte sich die volle gefährliche Glut in dem Blicke.

Jürgen stand schweratmend von seinem Schreibsessel auf.

»Nehmen Sie bitte Wolfs Platz ein, Fräulein Hergenbach. Ich bin gewohnt, schnell zu diktieren. Werden Sie mir folgen können?«

»Ich werde es —«

Er ließ sich wieder nieder; schon saß sie ihm gegenüber und hatte Papier und Bleistift zur Hand genommen.

[S. 93]

Jetzt konnte er ruhig aufsehen; während er sprach, mußte sie den Blick auf den weißen Bogen vor sich heften.

Bei den ersten Worten zitterte seine Stimme ein wenig, dann gewann sie bald ihren festen Klang zurück. Das Diktat näherte sich bereits seinem Ende, als die Tür hastig geöffnet wurde und Wolf erschien.

»Hier finde ich Sie endlich, Fräulein Ilse!« rief er erregt aus. »Meine Schwester läßt Sie im ganzen Hause suchen. Der Tee hat zu lange gezogen —«

Ilse sah nicht auf, sie erwiderte auch nichts. Sie wußte, daß Jürgen antworten würde.

»Entschuldige Fräulein Hergenbach bei Herta. Sie hat ein eiliges Stenogramm von mir aufgenommen und muß es noch mit der Schreibmaschine übertragen. Wir sind in kurzer Zeit fertig und kommen dann nach oben —«

»Ausgezeichnet — wirklich ausgezeichnet! Die Erlernung des Haushaltes ist bis zum Kontor hinuntergedrungen. Sie sind in allem eine Meisterin — Fräulein Ilse! — Und du — Jürgen?« Es flammte etwas Unheilvolles in den blauen Augen auf, die sich fest auf den Bruder richteten.

»Kein Zeitverlust, Wolf!« erwiderte Jürgen kalt. — »Das Diktat ist noch nicht zu Ende — du störst uns — bitte —«

[S. 94]

Wolf pfiff zwischen den Zähnen hindurch, schloß aber die Tür wieder und stürmte, ohne ein weiteres Wort gesagt zu haben, die Treppe hinauf.

»Ilse macht bei Jürgen — dem Hasser alles Weiblichen im Kontor — das Tippfräulein! Was sagst du dazu, Herta?« rief er atemlos ins Speisezimmer hinein, in dem diese noch am Teetisch beschäftigt war.

Sie sah den jüngeren Bruder erstaunt an.

»Warum solche Scherze, Wolf!«

»Scherze? — — Teure Herta, vollkommener Ernst — eine unbestreitbare Tatsache. Geh hinunter und überzeuge dich. Die Männertollheit wird größer, immer größer, Herta — wundere dich über nichts mehr!«

Diese legte die Hand auf den Mund und deutete auf das Nebenzimmer; er sollte sich an die Gegenwart des Gastes erinnern. Sie trat dann dicht an ihn heran und flüsterte:

»Du bleibst bei mir, Wolf! Berleburg ist unausstehlich, er war nahe daran, mir in aller Form einen Antrag zu machen!«

Der junge Mann verzog das Gesicht zu einer tragikomischen Miene.

»Um Gottes willen — wenn es so fortgeht, ist Haus Plüddekamp eine offene Bühne für Irrungen[S. 95] und Wirrungen. — Ilse kommandiert den strengen Jürgen, und ich spiele den Anstands-Wauwau bei meinem geliebten Mütterlein —«

»Du bist ungezogen, Wolf; so alt bin ich noch nicht! Meine mütterliche Sorgfalt aber hat dir manchen Dienst erwiesen.«

»Nicht zürnen, Herta,« bat er lächelnd ab. »Kommen Sie, Herr von Berleburg,« rief er darauf in den Salon hinein. — »Eine Tasse Karawanentee von meiner lieben Schwester Hand ist tipp topp! Ich schenke Ihnen dazu einen Meukow ein, den Sie nirgends so alt getrunken haben. Mein Urahne hat ihn vermutlich 1812 aus der zurückgelassenen Bagage des großen Napoleon erstanden.«

Der hagere Herr schaute verständnislos um sich. Er war aus seinen Gedankenverbindungen und der Nachwirkung des alten Bordeaux jäh erwacht. Die Wirklichkeit trat wieder vor ihn her. Schwerfällig erhob er sich und ging steif nach dem Speisezimmer.

Als Jürgen und Ilse später an den Teetisch traten, sagte Fräulein Plüddekamp zwar kein Wort, aber ihre Blicke gaben deutlich ein Mißbehagen kund.

»Verzeih, Tante Herta, daß ich den Tee im Stich ließ,« bat Ilse, »aber dein Bruder mußte die Angelegenheit sofort brieflich erledigen. Ich kenne[S. 96] die Wichtigkeit der dringenden Telegramme von Papas Geschäft her.«

»Bekümmere dich in erster Linie um deine Obliegenheiten,« erwiderte Herta kurz. Es ärgerte sie, daß Ilse bei Jürgen mehr durchsetzte, als sie es je vermocht hatte. Die Kontorräume wurden nie von ihr betreten.

Berleburg war kein Freund von Tee, wenn ihn auch der alte Meukow etwas entschädigte. Er fühlte, daß sein Plan verunglückt war, und ließ den Wagen anspannen, der bald mit ihm davonrollte.

Als die Geschwister am späten Abend voneinander schieden, sagten sie sich kühl gute Nacht. Eins hegte gegen das andere Mißtrauen; Ilse stand dazwischen mit der siegreichen Macht, die von ihr auf die Brüder ausging. —

Wolf versuchte es auf alle erdenkliche Weise, sie in der nächsten Zeit allein zu sprechen, sie wich ihm aber geflissentlich aus. Er bemerkte deutlich, daß sie sich Jürgen durch kleine harmlose Dienstleistungen fortgesetzt zu nähern versuchte. Dieser wollte Junggeselle bleiben, er hatte es oft genug mit Bestimmtheit ausgesprochen und bereits seine Geschwister in einem Testament als Erben eingesetzt. — Welche Absicht verfolgte Ilse also? — —


[S. 97]

VIII.

Wolf ging durch die großen Räume des alten Speichers und kontrollierte die Arbeiter, ob sie das Umstechen des Getreides gut ausführten. Auf die Roggensorten, die bis zur Zeit der Sommersaat lagerten, war besondere Sorgfalt zu verwenden. Die Sackträger standen in einer Reihe und so weit voneinander entfernt, daß sie die große Wurfschaufel bequem handhaben konnten. Die Leute waren derartig eingearbeitet, daß das Schaufeln des Getreides fast im Takte vor sich ging.

Hell aufschimmernd flog der Roggen durch den Raum, sank schwer auf der anderen Seite nieder und türmte sich hoch auf. Der Luftzutritt, den er dadurch erhielt, gab ihm neue Frische.

Als sich Wolf den Leuten näherte, tönte es aus dem Munde der einzelnen Männer, kurz, wie es ihre Art war:

»Guten Tag, Herr Wolf.«

Keiner sagte Herr Plüddekamp. Es war nun einmal gang und gäbe unter den Leuten, nur Jürgen[S. 98] hieß ›Herr Plüddekamp‹. Die meisten hatten Wolf noch als Knaben gekannt, unter ihnen groß geworden, blieb er darum ›Herr Wolf‹.

Dieser trat zu dem Roggenhaufen, griff mit der Hand tief hinein und roch über die Probe hinweg. Er warf sie zurück und schritt zu dem umgeschaufelten Roggen. Hier nahm er die gleiche Probe vor und nickte dann befriedigt.

»Der Roggen ist recht trocken. Er scheint sich gut zu halten,« wandte er sich an einen der breitschultrigen Männer.

»Das will ich meinen, Herr Wolf,« erwiderte der angeredete Mann. »Der ist auch vom Oberamtmann Wichers aus Wershagen.«

»Ja,« nickte Wolf, »ich weiß wohl. Wershagener Roggen ist immer der beste!«

Seine Gedanken glitten in diesem Augenblicke unwillkürlich nach dem schön gelegenen Gute, auf dem er oft und gern geweilt. Das Bild von Lieschen Wichers, dem hübschen, rotwangigen Mädchen, trat vor ihn hin. Ob sie sich wohl wunderte, daß er so lange nicht dort gewesen? Warum darüber nachdenken! Er hatte kein Interesse mehr daran. Mit seinem Spazierstocke schrieb er den Namen Ilse in die glatten Seitenflächen des Roggenhaufens ein. Kaum hatte er aber die Buchstaben gezogen, so fiel[S. 99] das Korn langsam nach und füllte den Raum aus. Rasch, wie der Name geschrieben wurde, verschwand er auch wieder.

»Soll es ein Zeichen für dich sein?« sagte Wolf zu sich. »Entstehen und vergehen Leidenschaften so schnell? Warum müssen wir sie dann erst fühlen? Es wird mir förmlich zur Pein, überall an Ilse zu denken. Die stete Unruhe, das Verlangen nach ihr ist eine Folter.«

Ein polternder Schritt wurde hörbar. Jochen Hindorf keuchte mit der ganzen Schwere seines Körpers die Treppe hinauf. Der mächtige Kopf mit dem struppigen Bart schaute jetzt aus der Luke hervor, die den oberen Treppenraum abschloß, und gleich darauf kam die dicke Flauschjacke zum Vorschein.

»Willst du was von mir, Jochen?« rief ihm Wolf zu.

»Jäh — woll!« tönte es zurück, und der Alte machte mit der Hand eine Bewegung, daß er seinen jungen Herrn gern allein sprechen möchte.

»Was ist denn los, alter Knabe?« fragte Wolf, auf ihn zugehend.

Der Alte versuchte seinen tiefen Baß möglichst zu dämpfen.

»Smiders ist in der Weinstube. Er sitzt — fest. Als ich vorbeikam, rief mich die Mamsell heran —«

[S. 100]

»Na, ich will nur gleich hingehen,« erwiderte Wolf. »Nette Aussichten für den Abend. Es hilft aber einmal nichts.«

»Die Mamsell muß drei Mark kriegen, Herr Wolf. Ich hab ihr's versprochen.«

»Wie heißt sie denn?« fragte Wolf lächelnd.

»Das weiß ich nicht, Herr Wolf.«

»Ja, den Teufel auch, Jochen! Woher soll ich es denn wissen?«

»I, das macht sich von selbst, wenn Sie man erst dort sind.«

Wolf stieß einen leisen Seufzer aus. Ein unangenehmer Gang lag vor ihm. Er hatte es aber Jürgen versprochen und noch mehr — das Geschäft verlangte es.

»Du hast deine Sache brav gemacht, Jochen! Hoffentlich treffe ich Smiders in der richtigen Stimmung an.« Mit den Worten ging er zur Treppe.

Jochen Hindorf sah ihm zufrieden nach.

»Heut steht er seinen Mann, das weiß ich!« murmelte er vor sich hin.

Kurz darauf verließ Wolf durch den großen Torweg das Haus. Er sah sich noch einmal um, und sein Blick streifte die Fensterreihen. Wenn Ilse jetzt wüßte, wohin er ging! Würde sie darüber in Erregung geraten? Gleichgültig konnte es ihr[S. 101] doch nicht sein. Er hatte bisher noch keinen tieferen Einblick in ihren Charakter tun können, und doch besaß sie sicher ein starkes inneres Leben. —

Er eilte rasch durch die Große Wollweberstraße, durchquerte die Breitenstraße und kam an die ›Grüne Schanze‹. Die kleine Weinstube lag vor ihm. Sein Fuß zögerte, ehe er die Schwelle zu dieser überschritt. Er hatte die Tür noch nicht geöffnet, als ein junges Mädchen aus dem daneben befindlichen Hausflur hervortrat und ihn anredete:

»Ich habe Sie schon erwartet, Herr Plüddekamp. Ich bin die ›blonde Rieke‹. Der alte Hindorf wird es Ihnen wohl gesagt haben.«

»Ach so,« meinte Wolf, griff in die Tasche und zog ein Dreimarkstück hervor.

»Stimmt,« lachte sie auf. »Ich bringe Sie direkt in die Hinterstube, wo Herr Smiders sitzt. Er hält es mit der ›schwarzen Karli‹. Ich bin erst seit acht Tagen hier und — noch frei.«

In ihren Zügen zeigte sich ein entgegenkommendes Lächeln, das Wolf nur zu gut kannte. Ein offenes Angebot, das die Annahme erwartete.

»Ich werde mich Ihnen weiter erkenntlich zeigen, Fräulein Rieke,« erwiderte er darauf, »wenn Sie im geeigneten Zeitpunkte Ihre Kollegin Karli[S. 102] mit fortnehmen, damit ich Smiders allein sprechen kann.«

Die blonde Rieke ging jetzt voran und führte Wolf über den dunklen Hof. Dort gab es einen versteckt liegenden Eingang in die sogenannte Kavalierstube.

Als sich die Tür öffnete, sah Wolf über das Mädchen hinweg in den nur wenig erhellten Raum, aus dem der Dunst geleerter Weinflaschen hervordrang. Eine alte verräucherte rotgoldene Tapete bedeckte die Wände. Von der Decke herab hing eine einst vergoldete Gaskrone, die wohl auf einer Auktion erstanden wurde. In dem ganzen Raum befand sich nur ein länglicher Tisch vor einem zerschlissenen Polstersofa, dann einige hochlehnige Stühle, die mit starkem Leder überzogen waren.

Auf dem Sofa saß Alfred Smiders, der elegante junge Reeder, und hielt den Arm um ein derbes Mädchen geschlungen. Das tiefschwarze Haar und die stechend schwarzen Augen hatten ihr den Namen ›die schwarze Karli‹ eingetragen. Vor ihnen auf dem Tisch stand ein altmodischer Weinkühler mit einer Flasche Sekt.

»Du wirst den Hamburger ausfragen, Karli, sobald er da ist,« ertönte die scharfe Stimme von Smiders. »Sei entgegenkommend und geschickt, er darf nichts merken. Du bringst ihm dann bei —«

[S. 103]

Jetzt fiel sein Blick auf den eintretenden Wolf.

»Zum Teufel, Wolf! Wo kommst du her?« rief er lachend. »Ah, ich sehe schon, die blonde Rieke hat dich am Wickel! Ist auch erst seit acht Tagen hier. Frisch aus Danzig importiert. Hast keinen schlechten Geschmack.«

Der junge Plüddekamp trat näher an den Tisch und reichte Alfred Smiders mit anscheinender Vertraulichkeit die Hand. Es war ihm ganz erwünscht, daß die blonde Rieke als Grund seines Kommens galt. So konnte Smiders keinen Argwohn hegen.

»Setz dich, Wölfchen,« sagte er dann, »wir haben lange keinen Sekt zusammen getrunken. Die erste Flasche ist schon angefahren, du gibst die nächste!«

Er schenkte zwei neue Spitzgläser ein, die er Wolf und der blonden Weinkellnerin zuschob.

»Prost, mein Junge, es lebe das Leben! Nämlich, wie wir es haben wollen.« Er stieß mit ihm an. »Keine Duckmäuserei!« Dabei gab er der schwarzen Karli einen starken Schlag auf die Schultern. »Sieh mal, das ist ein prächtiges Mädchen, Wolf! Mit der kann man reden, wie man will, und braucht nicht erst jedes Wort auf die Goldwage zu legen. Du weißt, das war mir immer eklig.«

Wolf hatte seinen Stuhl neben Smiders gezogen, und die blonde Rieke setzte sich dicht neben ihn. Sie[S. 104] betrachtete ein paarmal den jungen Mann. Kein Wunder, daß er ihr gefiel. Wolf Plüddekamp bestach jedes Mädchen, dem er freundlich begegnete. Die blonde Rieke war noch kein Jahr von den Eltern fort und wußte vielleicht selbst nicht, wie sie dazu kam, Weinkellnerin in einer Animierstube zu sein. Nun hatte sie sich hineingefunden und wollte alle Minen springen lassen, um den jungen, reichen Mann in ihrer Weise zu erobern.

Wolf nahm sich vor, wenig zu trinken und scharf aufzupassen. Alles ging nach Wunsch. Es wurde eine Flasche Sekt nach der anderen geleert und Smiders immer redseliger. Plötzlich sprang die blonde Rieke auf und flüsterte der schwarzen Karli etwas zu. Dann wollten sie beide hinausgehen.

»Du, Karli!« rief Alfred Smiders, »bleib nicht lange fort. Hast wohl einen alten Freund im Vorderzimmer sitzen? Der wird abgeschüttelt!«

Die beiden jungen Männer befanden sich allein. Wolf begann vorsichtig einige Fragen zu stellen und kam dabei auf die Reederei von Smiders zu sprechen, als dieser schon einwarf:

»Wolf, ich habe ein feines Geschäft vor! Machst du mit?«

»Warum nicht, Alfred! Wenn es etwas einbringt!«

[S. 105]

»Läßt sich hören! Du redest heute anders wie früher. Brauchst wohl auch ab und zu einen braunen Lappen extra? Die blonde Rieke wird dir nicht teuer werden, ist noch nicht ausgetragen. Teufel, wenn ich die schwarze Karli nicht hätte! — Ich sage dir, Wolf, sie ist ein Staatsweib! Keine zweite gibt es so in Stettin. Ich habe lange gesucht, bis ich das richtige für mich fand. Man muß aber wie das Wetter dahinter sein. Alle laufen ihr nach, mir darf keiner in den Kram kommen, dafür bin ich Alfred Smiders.«

Der viele Alkohol begann bei dem Reeder zu wirken. Wolf ließ den Redeschwall ruhig über sich ergehen und wartete auf den richtigen Zeitpunkt zum Eingreifen.

»Also wie war es mit dem Geschäft?« brachte er ihn wieder aufs Thema zurück.

»Verdammt einfach, Wölfchen! Du schreibst mir einen Brief, daß ihr regelmäßig größere Ladungen ins Ausland vorhabt. Kannst ja vollgültig Jürgen Plüddekamp unterzeichnen. Ich kriege dann einen neuen Dampfer gebaut. Die Gesellschaft zögert noch, sie denkt, ich habe die Guinees nicht in Haufen liegen, wie ihr das Korn. Sobald Jürgen Plüddekamp aber mitmacht, sticht's Martens und den anderen Bonzen gleich in die Nase. Topp, mein Junge! Trinken wir darauf —«

[S. 106]

»Wie stellst du mich, Alfred?« fragte Wolf, darauf scheinbar eingehend.

»Na, zehn Mille fallen sicher für dich ab. — Ich habe einen reichen Hamburger geangelt, der will bei mir mitmachen. Meine alten Kasten aber genieren ihn noch. Die müssen weg, alle weg! Dann kann ich erst antreten und bin der erste Reeder Stettins.«

Er hatte sich in solche Erregung hineingeredet, daß Wolf gespannt aufhorchte.

»Wir wollen sehen, ob es sich machen läßt, Alfred,« erwiderte er. »Hast du noch den ›Friedrich Barbarossa‹ im Dock liegen?«

»Jotte ja! Der alte Kasten wird nur aufgemöbelt. — Wo bleibt aber Karli? Ob sie sich bei meinem Hamburger vor Anker gelegt hat? Er ist ganz verschossen in sie! Das kann mir nur nützen.«

Smiders erhob sich etwas schwer und ging auf die Verbindungstür zu, welche den allgemeinen Gastraum von der Kavalierstube trennte. Er schlug die vor dem Glasfenster angebrachte Gardine zurück und sah hindurch.

»Nee,« sagte er vor sich hin. »Einfach verduftet! Die Sache stimmt nicht!« Als er sich jedoch umdrehte, traten die beiden Mädchen von der Hofseite in die Stube ein. »Donnerwetter, da seid ihr ja endlich! Hat das lange mit euch gedauert! Wolf, du gibst noch[S. 107] 'ne Flasche! Ich habe einen Durst, sage ich dir, vollkommen göttlich.«

Wolf wurde der Aufenthalt in der kleinen, von Dunst und Rauch erfüllten Stube im hohen Maße lästig. Die fortgesetzten Annäherungsversuche des blonden Mädchens, die er aus Klugheit nicht zurückweisen durfte, behagten ihm ebenfalls nicht. »Ilse!« rief es in ihm, »Ilse! Was müßte sie von mir denken, wenn sie ahnte, wie ich hier —«

Die blonde Rieke schmiegte sich an ihn, und er flüsterte dem drallen Mädchen zu: »Trinken Sie Smiders tüchtig zu, damit ich verschont bleibe.«

»Für Sie alles, Herr Plüddekamp,« klang es leise zurück. Sie zupfte ihn leicht am Rockärmel, daß er den Kopf zu ihr niederbeugen sollte. »Darf ich Wolf sagen? Was habe ich nur für ein großes Glück, daß ich Sie kennen lernte. Wie Sie mir gut gefallen! Ich Ihnen auch? Ich möcht's gern hören.«

»Na, Kinder, ihr seid ja ganz einig,« sagte Smiders mit schwerwerdender Zunge. Der viele genossene Sekt begann bei ihm zu wirken. »By Jim! Es freut mich, daß wir wieder mal zusammen sind, Wölfchen! Geschäft und Liebe, das macht einem Freude im Leben! Davon kann man nie genug haben.«

[S. 108]

Wolf hielt jetzt den geeigneten Augenblick für gekommen. Er neigte sich zu Smiders hinüber und fragte halblaut:

»Mit dem ›Friedrich Barbarossa‹ machst du doch ein gutes Geschäft?«

»Na und ob!« erwiderte Smiders. »Bringt jede Woche zehntausend Emmchen Entschädigung, wenn er nicht fertig wird, und dafür ist gesorgt. Mein Kapitän ist ein verteufelter Kerl! Dreht alles, wie ich will. Eher fährt er nicht ab, als bis jeder vereinbarte Nagel eingeklopft ist.« —

Wolf wußte nun genug. Der Export nach Spanien war nach der langen Unterbrechung im höchsten Grade gefährdet. Der Dampfer ›Friedrich Barbarossa‹ fuhr nicht zur rechten Zeit ab, seine Indienststellung wurde hingehalten.

»Ich muß jetzt gehen, Alfred,« sagte er nach einer Weile, als dessen Augen einen glasigen Ausdruck zu zeigen begannen und die schwarze Karli schon die vollen Gläser in die Weinkühler entleerte, um neu einschenken zu können.

»Bist doch morgen pünktlich da, Wolf? Halt ihn nur fest am Bündel, Riekchen.« Die Worte kamen schwer über Smiders' Lippen.

Wolf war aufgestanden und legte ein paar Goldstücke für seinen Anteil an dem Sekt auf den Tisch.

[S. 109]

»Adieu!«

Er mußte Smiders und der schwarzen Karli noch die Hand geben. Dann war er glücklich dem üblen Dunst entronnen und trat auf den Hof hinaus. Die blonde Rieke kam ihm sofort nach.

»Seien Sie doch ein wenig gut zu mir!« bat sie, sich an ihn drängend. »Ich mag die anderen nicht und will für Sie tun, was Sie wollen.«

»Ich muß Smiders noch ein paarmal hier sprechen,« erwiderte er halblaut. »Geben Sie dem alten Hindorf Nachricht, wenn ein günstiger Augenblick dafür da ist. Ich komme dann sofort. Vor allen Dingen müssen Sie reinen Mund halten, es soll ihr Schade nicht sein.«

Er eilte durch den Hausflur nach dem Bürgersteig der ›Grünen Schanze‹. Wie angenehm die kühle Luft seine Stirn umwehte! Er winkte der nächsten herankommenden Droschke und rief dem Kutscher zu: »Haus Plüddekamp!« Es trieb ihn, so rasch wie möglich dorthin zu gelangen. Er wollte Jürgen berichten und die verflossenen Stunden in der reinen Luft seines väterlichen Hauses vergessen.


[S. 110]

IX.

Nach einem heftigen Sturm trat starke Kälte ein. Die Oder und das Haff froren fest zu, und die größten Eisbrecher hatten Mühe, eine Fahrtrinne herzustellen. Konsul Martens war Aufsichtsrat bei einer Schiffswerft. Er lud die Geschwister und Fräulein Hergenbach ein, eine Fahrt über das Haff nach Swinemünde auf dem Eisbrecher mitzumachen. Ein tiefgehender Amerikadampfer sollte danach auslaufen.

»Er will nur, daß Ilse bei der Partie ist,« sagte sich Wolf sofort. Es war ihm deshalb nicht viel daran gelegen. »Ich habe keine besondere Lust, man holt sich höchstens einen Katarrh bei dem kalten Wind,« erwiderte er Jürgen, als dieser ihm die telephonische Einladung mitteilte.

Herta mußte eine Sitzung im Frauenverein aufgeben und zögerte deshalb mit der Antwort. Ilse bat, ihr die Fahrt durch die prächtige Winterlandschaft zu gestatten. Nun war Wolf sofort dabei, und Herta ließ sich ebenfalls bestimmen.

[S. 111]

»Ich werde dich mit einem Pelzmantel versorgen, Ilse,« sagte sie. »Die Luft auf dem freien Haff ist eisig und du bist sie nicht gewohnt.«

»Sonst hätte ich Ihnen meinen Stadtpelz angeboten, Fräulein Ilse, der ist leicht und mollig,« scherzte Wolf.

»Das sieht dir wieder einmal ähnlich, Wölfchen,« rief Herta darauf. »Du willst Ilse nur in Verlegenheit bringen!«

»I wo,« erwiderte dieser, »was du immer von mir denkst. Ich bin wie ein Lamm —«

»— im Wolfskleide,« ergänzte Ilse plötzlich.

Herta sah sie erstaunt an. In dem jungen Mädchen ging eine Entwicklung vor sich. — —

Zur festgesetzten Stunde fanden sie sich beim Dampfer ›Odin‹ ein. Konsul Martens kam in seinem Dogcart an, er hatte sich etwas verspätet.

»Ein prächtiger Wintertag! Wir haben auf der Oder Schutz. Dann wird uns freilich der Wind aus Nord-Nord-Ost stark entgegenpfeifen,« rief er, nähertretend. »Es gibt rote Wangen, Fräulein Hergenbach,« wandte er sich an diese. »Hat Ihnen meine Idee gefallen?«

»Er hat sich richtig den langen Eisrutsch ihretwegen ausgeklügelt,« murmelte Wolf.

[S. 112]

»Ich freue mich sehr, die Winterlandschaft des Haffs kennen zu lernen. Der Frost ist ja ein großer Meister in der Kunst,« erwiderte Ilse.

»Gewiß! — Sie werden heute einen malerischen Anblick haben, Fräulein Hergenbach.«

»Und ich bin Ihnen dankbar dafür, Herr Konsul.«

Dieser betrat schon mit Herta die ausgelegte Schiffsbrücke. Jürgen ergriff Ilses Hand, um sie bei der Glätte der Planken zu führen. Sie sah mit einem raschen Blick zu ihm auf. Was für eine kraftvolle Erscheinung dieser Mann doch besaß! Ein echt germanischer Recke der Vorzeit, wie sie ihn liebte. —

Nun kamen sie an Deck. Auf der Kommandobrücke standen unter dem Schutz des Windfanges einige Sitze. Von dort war die beste Umschau.

Der Kapitän des ›Odin‹, ein älterer, wetterfester Mann, begrüßte die Gäste und sprach dann mit Konsul Martens.

»Wir werden mehr als die doppelte Fahrtzeit brauchen, Herr Konsul! Das Eis hat sich sehr verdickt und wir müssen stark dagegen anlaufen.«

Ilse hörte diese Worte. Es wurde also nacht, bevor sie Swinemünde erreichten. Etwas Ungewisses, Nervenerregendes lag vor ihr. Das gefiel ihr. Nur nicht immer das Alltägliche. Sie nahm sich so sehr zusammen, um Herta zu genügen. Zuweilen[S. 113] aber kam stürmisch das Verlangen, etwas zu erleben. Jetzt kannte sie ihren Wert, weil die Männer um ihre Gunst warben. Sie brauchte eigentlich nur die Hand auszustrecken. Nur war sie sich nicht klar, ob es Liebelei, ein Erhaschen von leidenschaftlichen Augenblicken oder rechtschaffene Bewerbung bedeutete.

»Du wirst mit deinen Blicken noch einmal Unheil anrichten,« warnte ihre Mutter schon, als sie noch jünger war.

Warum nur? Es sagte ihr's keiner! Woher sollte sie es also wissen?

Im Plüddekampschen Hause, in dem sie nun nach der Pensionszeit eine gewisse Stellung einnahm, begann sie viel selbstbewußter zu werden. Wolf Plüddekamp lag in ihrer Macht, sie fühlte es unwillkürlich. — Er war ein schöner junger Mann, liebenswürdig, feurig, aber er hing zu sehr an ihren Augen. Sie vermißte den Kampf, nach dem sie sich im Sinn der Gleichberechtigung der Geschlechter sehnte.

Kein Sichgehenlassen, — ein wildes Aufwallen, — ein gewaltsames Ringen und dann — ein rascher Sieg. Konsul Martens war ein älterer, vornehmer Mann — gewiß eine glänzende Partie — doch fehlte ihm alles, wonach sie unbewußt verlangte. Er besaß nicht die Kraftfülle, der sie unterliegen mußte.

[S. 114]

Aber Jürgen — dieser ernste Gewaltmensch, — mit den Fäusten wie ein Sackträger, dem unbeugsamen Willen, — der keine Frau an seiner Seite haben wollte, — das Weib nur als ein notwendiges Übel betrachtete, ihn zu erringen, war eine Aufgabe.

Sie hätte laut aufjauchzen mögen, als sich der Dampfer jetzt in Bewegung setzte, die Pleuelstangen im Maschinenraum dumpf anhoben, die Schraube schlug, die Dampfpfeife weithin heulte und das Eis am Bugspriet krachend brach. Die Schollen glitten knirschend und schlürfend an den Stahlplatten der Schiffswände entlang. Das Wasser rauschte über die Besiegten hinweg.

Der Hafen mit den vielen eingefrorenen Dreimastern, Schonern, Briggs und Fischerschaluppen lag hinter ihnen, sie kamen auf das breite Stromeis hinaus. Es ging vorüber an den verschiedenen Schiffswerften, am Vulkan, auf dessen Hellingen mächtige Dampfer der Vollendung harrten, den gewaltigen Hochöfen der Henckel-Donnersmarkwerke, den Brikett- und Sandsteinfabriken, den chemischen Werken, kurz der gesamten Großindustrie an der Odermündung. Noch sah man den tiefverschneiten Höhenrücken, der sich am linken Oderufer bis in die weite Ferne hinzog. Hie und da schaute ein Dorf mit seinem Kirchturm in der klaren Winterluft fast greifbar[S. 115] herüber. Das Bellen eines Hundes, laute menschliche Stimmen drangen zuweilen durch das stampfende Geräusch des Schiffes, das Bersten des Eises.

Die Wiesen zur Rechten waren eine große weißsamtne Fläche, die weiten Kiefernwaldungen dahinter von Schneemassen überlastet. Tief bogen sich die Äste herab und drohten abzubrechen. Die Kronen einzelner Tannen hingen schwer zur Seite.

Ilse stand neben dem Kapitän, während sich die anderen unter dem Schutz des Windfanges niedergelassen hatten und die Füße auf wollumwickelte Wärmflaschen setzten. Jürgen und Wolf staken in langen Bärenpelzen, die sie sonst für weite Schlittenfahrten brauchten. Konsul Martens hatte eine große Pelzdecke mitgenommen. Gut versorgt waren alle. — Nur Ilse trug weiter nichts als den von Herta erhaltenen Pelzmantel und Tuchstiefeletten.

Bis hierher war das Eis noch mürbe gewesen, die starke Schiffsmaschine brachte den Dampfer schnell vorwärts. Nun wurden die Ufer an beiden Seiten eintöniger. Zur Linken tauchte in der Ferne die kleine Stadt Pölitz auf, deren Schornsteine bläuliche Rauchwolken hoch emporsandten. Hier begann das breitere Papenwasser.

»Auf dem ›Friedrich Barbarossa‹ war heute alles still, Martens,« wandte sich Jürgen an den Freund.

[S. 116]

»Es ist für die meisten Arbeiten zu kalt, Jürgen. Die tragbaren kleinen Kohlenöfen reichen in den größeren inneren Räumen nicht aus.«

»Smiders ist auf keiner guten Bahn —«

»Na,« meinte Martens, »seine Lage wird anders, wenn er den reichen Hamburger in die Firma hineinbekommt, den er neuerdings an der Hand hat.«

»Wolf sagte mir schon davon. Er faßte Smiders in der ›Grünen Schanze‹ ab und horchte ihn aus.« Jürgen neigte sich zu dem Freund und flüsterte ihm etwas zu.

»Ah,« machte dieser, »und Smiders hat nichts gemerkt?«

»Nicht die Bohne! Wir lassen alle Minen springen. Du mußt mithelfen, daß der ›Friedrich Barbarossa‹ zur rechten Zeit fertig wird.«

»Wir haben Sichtwechsel — damit sitze ich ihm auf dem Nacken, wenn er falsches Spiel treibt.«

Sie verloren sich noch eine Zeitlang in dem Gespräch.

Wolf war mehrmals an Ilse herangetreten, die immer noch schweigsam mit großen glänzenden Augen in die Ferne schaute.

»Sie müssen sich erkälten, Fräulein Ilse,« bat er wiederholt, »setzen Sie sich doch zu uns unter den Schutz des Windfanges und machen Sie von den Fußwärmern Gebrauch.«

[S. 117]

»Ich friere nicht, Herr Wolf!«

Sie wollte nicht. Herta rief ihr zu: »Es ist deine Schuld nachher, Ilse, wenn du nicht hörst!«

»Ich sehe nur einmal diese Winterpracht, Tante Herta, sie ist zu schön!« war ihre Antwort.

Der Steward brachte jetzt heiße Bouillon und belegte Brötchen herauf. Er reichte das Tablett herum und trat auch zu Ilse heran. Nun mußte sie schon Platz nehmen, damit sie bequemer zugreifen konnte.

»Endlich gesellen Sie sich zu uns, Fräulein Hergenbach,« sagte Martens. »Sie waren ziemlich lange in eine stumme Bewunderung versunken.«

»Welcher Künstler vermöchte den Eindruck wiederzugeben, wie ich ihn in dieser Stunde gewonnen habe! Das Eisige, Starre der winterlichen Landschaft ist überwältigend schön, und da hinein dringt die Kraftfülle, mit der unser Dampfer spielend den Widerstand zerbricht,« antwortete sie nachdenklich.

»Sie haben etwas von der Schwermut der Norwegerin, Fräulein Hergenbach,« bemerkte Konsul Martens auf ihre Worte hin.

»Fräulein Ilse — Schwermut! Sie sind auf dem Holzwege, lieber Konsul!« lachte Wolf. »Ich behaupte das Gegenteil.«

»Jürgen mag zwischen uns entscheiden,« meinte Martens.

[S. 118]

Ilse hatte durch die kalte Luft leicht gerötete Wangen, die den sonst blassen Gesichtszügen eine anmutige Frische verliehen. Sie richtete jetzt ihre Augen erwartungsvoll auf Jürgen, was er sagen würde. Er sah sie einen flüchtigen Augenblick hindurch freundlicher als sonst an.

»Ich kann mir nicht denken, daß es Fräulein Hergenbach angenehm ist, von euch beiden umstritten und von mir begutachtet zu werden. Sie kennt jedenfalls ihren Charakter am besten selbst und bedarf keines salomonischen Urteils.«

»Ich danke Ihnen, Herr Plüddekamp,« fiel Ilse ein. »Anstatt mich geistig zu zerlegen, sprechen Sie mir das eigene Recht dafür zu.«

»Wir Frauen bedürfen es dringend,« begann Herta, »um den Launen der Männerwelt gegenüber gewachsen zu sein.«

»Um Gotteswillen, Schwester! Jetzt kommt dein Steckenpferdchen!« rief Wolf mit gutgespieltem Entsetzen aus. »Ich blase schleunigst Frieden.«

»Wie immer, Wölfchen,« scherzte Herta. »Du bist keine Kampfesnatur.«

»Nein!« Es klang ganz leise, kaum verständlich. Ilse mußte es vor sich hingesprochen haben.

Die Sonne war inzwischen emporgestiegen, und ihre Strahlen erwärmten etwas die Luft. Die Kälte[S. 119] ließ bis auf wenige Grade nach. Eine Strecke vor ihnen lag auf dem Eise ein Schwarm Graugänse. Als der Dampfer näher kam, flogen sie mit lautem Geschnatter auf. Sofort sprang Jürgen in die Höhe, legte die Hand über die Augen, um diese gegen das Sonnenlicht zu schützen, und schaute ihnen nach.

»Hätte ich nur meine Büchse mitgenommen, Charles!« rief er Martens zu.

»Auf hundertfünfzig Meter, Jürgen?«

»Ich habe wilde Schwäne noch in größerer Entfernung auf dem Eis getroffen, wenn der schlanke Hals und Kopf unter den Flügeln stak.«

Ilse schaute begeistert zu ihm auf und rief:

»Solch einen Schuß möchte ich sehen, Herr Plüddekamp. — Einen Wildschwan zu schießen —«

»Ich tue es nicht,« unterbrach sie Wolf. »Der Wildschwan ist ein herrlicher Vogel. Sein schneeweißes Gefieder, der wundervolle Hals, den er beim Fluge geradehin streckt, der weit hörbare hellklingende Ton, den er ausstößt! Warum ihn töten —?«

»Eine interessante Jagdtrophäe — lieber Wolf,« warf Martens ein. »Sie sind kein rechter Jäger, wie Ihr Bruder.«

»Das kommt darauf an,« erwiderte dieser. »Ich halte auf ein Raubtier, Reh, Karnickel oder Rebhuhn hin, — schädliche und schmackhafte Geschöpfe, — aber[S. 120] auf einen Schwan, — das schöne Geschöpf der sagenhaften Nordlandswelt — nein! Mir fällt dabei immer das Märchen von den drei Schwanenjungfrauen ein, das mir Herta in der Kinderzeit erzählte.«

»Auch für mich hat der Wildschwan etwas Sympathisches,« sagte diese. »Zu genießen ist er nicht, — nur die Schwanendaunen geben ein weiches Schlummerkissen ab.«

»Es herrscht ein alter Aberglaube,« begann Wolf und sah, wie Ilse aufhorchte, »daß ein toter Wildschwan Unglück ins Haus bringt. Jochen Hindorf sprach davon, daß unsere schöne Mutter kurz darauf gestorben sei, als mein Vater einen Schwan schoß und ihn heimsandte!«

»Unsinn!« brummte Jürgen. »Der alte Jochen will nur mit solchen Flausen bewirken, daß dir grault. Ich selbst war damals mit dem Vater auf der Jagd, dort vor uns über Stepenitz hinaus, am rechten Haffufer. Wir schlichen durch hohes Rohr, damit uns die Schwäne nicht bemerken konnten. Es gibt sonst keinen scheueren Vogel. Er läßt selten an sich herankommen. Damals glückte es. Als wir am Rande des Rohres anlangten, lagen die Schwäne in Büchsenschußweite vor uns auf dem blanken Eis. Mein Vater stand vorn, er hob rasch das Gewehr, der Schuß krachte und saß. Sechs Schwäne flogen mit schrillen Tönen auf, — der siebente blieb tot liegen.[S. 121] Ich selbst holte ihn heran und brachte ihn zum Schlitten. Deine Mutter aber, Wolf, war zu der Zeit schon ein Jahr vorher gestorben.«

»Sie werden bald einen Wildschwan schießen, Herr Plüddekamp,« unterbrach Ilse plötzlich die entstandene Stille. Ihre tiefe Altstimme klang dabei fast feierlich.

»Ich danke Ihnen für Ihre gute Meinung über meine Treffsicherheit, Fräulein Hergenbach. Aber so bestimmt ist es wirklich nicht. Vielen Jägern hier im Umkreis ist es während ihres ganzen Lebens nicht gelungen.«

»Vielleicht gerade deshalb, — sogar noch in diesem Winter, — ich möchte einmal das schöne weiße Gefieder streicheln.«

»Ilse!« Herta hatte es ausgerufen. »Was hast du für seltsame Wünsche!«

Das junge Mädchen schrak zusammen, stand dann auf, streifte Jürgen mit einem hellen Aufleuchten ihrer Augen und trat zum Kapitän. Sie schaute wieder auf die starre Fläche des Haffes, die sich jetzt weithin öffnete.

Das Eis wurde stärker, der Dampfer arbeitete keuchend dagegen an. Er hob sich vorn hoch empor, traf die hellglitzernde Masse und brach krachend hindurch. Ein paarmal mußte er auch zurückgehen und mit voller Wucht wieder anrennen, bis er eine starke Eiswand durchschnitten hatte. Sie kamen jetzt nur langsam vorwärts. —


[S. 122]

X.

In der Kajüte wurde eine wohlvorbereitete Mahlzeit aufgetragen. Konsul Martens war ein Feinschmecker, es gab die ersten Delikatessen der Jahreszeit und edle, feurige Weine. Er brachte nach dem zweiten Gericht einen Trinkspruch auf die Geschwister Plüddekamp aus, der in der seltenen, sie verbindenden Liebe und Treue gipfelte. Als er das Glas zuerst gegen Herta erhob, zeigten ihre blauen Augen einen wärmeren Ausdruck. Jürgen schüttelte ihm derb die Hand und sagte:

»Meine Erwiderung, Charles, nimm als geschehen an — ich bin kein Redner.«

»Ich trinke auf Ihr Wohl, Fräulein Ilse,« flüsterte Wolf.

Er saß an ihrer Seite und hob das Glas. Sie nickte nur leicht zum Dank, und die grauen leuchtenden Augen irrten über ihn hinweg, um einen flüchtigen Augenblick voll auf den markigen Zügen Jürgens haften zu bleiben. Dieser zuckte mit der Hand,[S. 123] als wolle er nach seinem Glas greifen. Martens kam ihm aber zuvor und stieß mit Ilse an.

Der Aufenthalt in dem stark geheizten Raum und die reichliche Mahlzeit brachten eine gewisse Müdigkeit hervor. Herta setzte sich in eine Diwanecke, um zu schlafen. Jürgen und der Konsul Martens hatten die gleiche Absicht, wollten aber vorher noch eine Flasche Pontak ausproben.

Der Dampfer stöhnte und keuchte, um die Eismassen zu bewältigen. Ilse eilte plötzlich die Treppe zum Deck hinauf, und Wolf folgte ihr sofort nach. Sie gingen ganz nach vorn ans Bugspriet. Dort hielt sich Ilse am Geländer an, weil der starke Anlauf des Dampfers gegen das Eis keinen festen Halt aufkommen ließ. Der Wind wehte schneidend aus Hoch-Nord. Nach der warmen Luft in der Kajüte traf er doppelt scharf das Gesicht und stach wie mit Nadeln in die Haut ein.

Die Sonne stand glutrot im Westen dicht über den fernen tiefverschneiten Forsten und war am Untergehen.

»Stellen Sie sich hinter mich, Fräulein Ilse,« bat Wolf, an sie herantretend. »Der eisige Wind trifft Sie alsdann nicht direkt.«

»Ich finde ihn manchmal wohltuend, Herr Wolf,« erwiderte sie kurz. »Die heiße Kajüte und der starke[S. 124] Wein, — ich kann Alkohol nicht vertragen, — das Blut jagt mir durch die Adern.«

Er sah sie an. Ihre Wangen zeigten rote Stellen, nicht eine gleichmäßige Röte. In den Augen, die sich einen flüchtigen Augenblick in die seinen tauchten, lag ein übernatürliches Glänzen.

»Sie dürfen hier nicht bleiben, Ilse,« sagte er mit aller Bestimmtheit. »Sie können sich den Tod in diesem Eiswind holen. Entweder Sie folgen mir nach dem Windfang, — dort können wir die Pelzdecke des Konsuls benutzen — oder wir gehen hinunter und setzen uns in eine weniger durchwärmte Kabine.«

»Nein ich will nicht!« rief sie aus. »Hier sehe ich unmittelbar, wie das Eis unter der Gewalt des Dampfers bricht.«

»Ilse!« stieß er heftig aus. »Warum verlangt Sie nach roher Kraftentfaltung? Ist das Ihrer würdig?«

»Ich kann mich nicht ändern! Lassen Sie mich, wie ich bin, Wolf!« entgegnete sie schroff.

»Warum fügen Sie sich stets bei Herta? Wenn ich Sie um etwas bitte, Sie warne, sind Sie gänzlich abwehrend! Sie zeigen zwei Gesichter, — geben Sie mir eine Erklärung dafür.«

»Nein!« Von nun an schwieg sie beharrlich.

Die Sonne sank hinab. Die Kälte nahm zu. Trotz seines Pelzes begann Wolf nach einiger Zeit[S. 125] zu frieren, er konnte selbst seine Füße durch Hin- und Hertreten nicht warm erhalten. Ilse, die leichter gekleidet war, mußte sich eine schwere Erkrankung zuziehen. Sie gab auf seine wiederholten Fragen keine Antwort. — Er faßte plötzlich einen raschen Entschluß, umschlang sie mit seinen Armen, fühlte, daß sie halb erstarrt war, und trug sie in eine Kabine hinunter. Dort legte er sie auf den Seitendiwan.

Er zog seinen Pelz aus und deckte sie damit zu. Sie ließ alles willenlos geschehen. Die Kälte hatte ihr die Kraft des Widerstandes geraubt. Als der Steward zufällig vorüberging, bestellte Wolf heißen Tee.

Schon nach einigen Minuten erholte sie sich wieder und wollte den schweren Reisepelz abstreifen.

»Noch nicht,« befahl er. »Sie müssen erst Tee trinken und tüchtig heiß werden, damit das Blut im Körper stärker kreist, sonst sind Sie morgen krank.«

Diesmal folgte sie. Er ließ ihren Gegenwillen nicht aufkommen.

Der Steward brachte den Tee, den er ihr erst löffelweise einflößte, dann mußte sie den Rest auf einmal austrinken.

»Mir ist wirklich ganz wohl, Herr Wolf!« bat sie, »nehmen Sie mir doch das Ungetüm von Pelz fort. Ich ersticke fast darunter.«

[S. 126]

Er fühlte mit der Hand an ihre Stirn. Es perlten helle Tropfen darauf.

»So ist es gut! Nur noch zehn Minuten, dann haben Sie es überwunden, Ilse. Herta darf nichts erfahren, sonst wird sie bitterböse über Ihre Hartnäckigkeit.«

»Sie sind eigentlich ein guter Mensch, Herr Wolf, und geben einen vortrefflichen Ehemann ab,« sagte sie mit dem tiefen Wohllaut, den ihre Stimme zuweilen besaß.

»Finden Sie es wirklich, Ilse? Seien Sie endlich offen zu mir! Sie haben oft ein so seltsames Wesen. Nie weiß ich, woran ich bei Ihnen bin.« Er sah in ihre fieberhaft glänzenden Augen und war plötzlich wie verwandelt. Er neigte sich tief zu ihr herab.

»Nein — nein, Wolf! Ich liege hier wehrlos,« hielt sie sein Gesicht mit beiden Händen zurück. »Erst pflegen Sie mich — und nun — ich dulde es nicht, — wie Sie mich wieder behandeln.«

»Ilse!« brachte er schweratmend hervor. »Ich finde nicht den richtigen Weg zu Ihnen — daran sind Sie aber schuld, nur Sie selbst. Wenn Ihre Augen mir so leidenschaftlich entgegenschauen, dann vergesse ich alles, — ein blindes Verlangen kommt über mich, Sie wild an mich zu reißen. Ich leide qualvoll durch Sie, — Ilse, und ich ertrage es nicht länger!«

[S. 127]

Sie zog den rechten Arm unter dem Pelz hervor und reichte ihm die Hand.

»Sie sollen es auch nicht, Wolf! — Wahrhaftig nicht! — Nehmen Sie mir doch den schweren Pelz ab, wir wollen ruhig miteinander sprechen.«

Er warf diesen in eine Ecke, und sie richtete sich schnell auf.

»Endlich zeigen Sie ein wenig Herzensgüte, Ilse. Lassen Sie mich einen Einblick in Ihr Inneres tun.«

»Es schreckt Sie nur ab, Wolf. Fragen Sie meine Geschwister, sie nannten mich ›Ilse — die Hexe‹!«

»Ohne Grund, Sie haben nur noch nicht Ihr eigenes Herz gefunden. Es irrt umher, schenken Sie es mir, ich werde es treu bewahren.«

Bei dem matten Licht der Deckenlampe sah sie ihn lange schmerzlich an.

»Jetzt liegt in Ihren Augen das Klagen des Rehes, wenn es schwer verwundet ist,« flüsterte er, »es gibt mir die Ruhe zurück, — so liebe ich — dich — Ilse!«

»Nein, nein, es geht nicht!« fuhr sie plötzlich auf, als er sie innig an sich ziehen wollte. »Wissen Sie, Wolf, woher die Ilse stammt? Hoch am Brocken — in der rauhen Schlucht des Schneelochs fangen sich die Wasser aus dem Hexenbrunnen auf — dann[S. 128] stürzen sie gewaltsam über Rollsteine und Felsblöcke abwärts, bis sie tief unten branden und schäumen. — Wollen Sie das durchkosten? — Nein, — es geht nicht! — Ich weiß nicht — wen ich liebe. Sie alle stehen vor mir und krallen mich mit Blicken an, als ob ich mein Blut hergeben sollte. Was habe ich nur an mir, daß man mich so verlangt?« — Ihr Körper zitterte heftig, sie schluchzte krampfhaft auf. »Ich will nicht mehr mit Ihnen allein sein, Wolf, — ich komme in Verdacht. Ihre Schwester sucht mich gewiß.« —

»Ilse, ich lasse dich noch nicht gehen, — erst ein Wort, — nur ein einziges liebes Wort —«

Sie sprang auf, drängte ihn zurück und hatte plötzlich ihre Ruhe wiedergefunden, — der innere Sturm war vorübergebraust.

Er ließ sie aber nicht von der Stelle. Der Dampfer hob und senkte sich gewaltig. Die Maschine trieb ihn mit voller Dampfkraft gegen die mächtigen Blöcke. — Ein Krachen und Bersten der Eiswand erfolgte — dann kam ein erneuter starker Stoß — Ilse sank, den Halt verlierend, in Wolfs Arme.

Sie lag an seiner Brust, er küßte sie heiß, verlangend. Ein wildes Stöhnen entrang sich ihr — sie war widerstandslos, — hingebend. —

Auf Deck ertönte lautes Gepolter, dazwischen drang ein starkes Zischen des Dampfers hervor, dem[S. 129] hastige Kommandorufe des Kapitäns folgten. Noch schlugen die Pleuelstangen, — auf einmal ließen sie nach, — der Dampfer stand still. Die Eisschollen rieben sich knirschend an den stählernen Seitenwänden. Unter dem Kiel gurgelte dumpf das Wasser des Haffes. —

Herta, die fest geschlafen, erwachte und sah Ilse ganz verstört vor sich stehen. Jürgen und Konsul Martens sprangen die Treppe hinauf an Deck. Der Kapitän kam sofort auf sie zu.

»Ein scheußliches Pech, Herr Konsul. Wir haben durch die starken Eiswände vor uns schweren Maschinendefekt und Rohrbrüche erlitten. Die Reparatur wird längere Zeit in Anspruch nehmen. Wir sind noch gut zwei Stunden von Swinemünde entfernt. In der Nähe ist kein Dorf oder Flecken. Das Eis hält wohl bis zum Ufer, aber in der Dunkelheit sind die eingehauenen Fischwaken nicht zu sehen. Am besten bleiben Sie mit Ihren Gästen an Bord, bis der Morgen anbricht. — Vielleicht können Sie dann bis zu der allerdings entfernten Bahnstation gelangen.«

»Fatal, — höchst fatal!« stieß Martens aus. »Ich muß morgen vormittag zu einer wichtigen Besprechung in meiner Bank sein.« —

»Ich kann unmöglich im Kontor fehlen,« setzte Jürgen nachdrücklich hinzu.

[S. 130]

Nur Wolf, der ihnen gefolgt war, frohlockte, — er hoffte auf ein Wiederaufflammen des kurzen Rausches, auf ein Glücksgefühl, das er in seiner Größe kaum erfaßte. — Er sann über die Möglichkeit nach, wie er mit Ilse allein sein konnte, ohne daß es den anderen auffallen würde.


Eine Nacht an Bord. — Die Maschine des Dampfers stand. Dieser lag still in der Fahrtrinne des Haffs und fror ein. Die Kälte drang durch alle Fugen. Das Eis hob und preßte die stählernen Platten, daß ein Stöhnen durch den ganzen Schiffsraum ging. Die sternenklare Nacht wurde bitterkalt. Der dichte Reif setzte sich überall fest und wob seine kristallnen Fäden um Maste, Schornstein, Planken und alle Gegenstände an Deck. Das Schlickwasser gefror, es bildeten sich lange Eiszapfen — langsam entstand ein Märchenbild.

Gegen zehn Uhr kam die bleiche Sichel des zunehmenden Mondes hervor. Nun lag das Eis des Haffes in dem mildfunkelnden Licht hell aufglitzernd da.

Eine wunderbare Stimmung breitete sich über die weite, öde Fläche aus. Kein Laut wurde hörbar, als das Schieben und Pressen der Eisschollen an den Schiffswänden.

[S. 131]

Die kleine Gesellschaft ging trotz der Kälte eine Zeitlang auf dem Deck umher, um die unendliche Schönheit der Natur zu genießen. Der Wind hatte sich gelegt, die Kälte war trotz der zehn bis zwölf Grad nicht empfindlich.

Ilse war an Hertas Seite, als sich aber Wolf zu ihnen gesellte, kam sie plötzlich bei einer Wendung neben Jürgen zu stehen und sprach ihn an, dann ging sie mit diesem und Konsul Martens weiter.

Wolf stampfte mit dem Fuße auf.

»Was ist dir, Wölfchen?« fragte Herta und schob ihren Arm unter den seinen.

»Nichts besonderes, Herta! Ich wünschte nur manchmal, daß man nicht so töricht wäre, ein Herz unter den Rippen zu besitzen. Wenn es sich fühlbar macht —«

»Du bist in deinen Gedanken bei Ilse, armer Kerl!« sagte diese tröstend. »Weise sie von dir —«

»Wenn ich es nur könnte, Herta! Es zerreißt mir bald Leib und Seele. — Sie ist nicht zu verstehen, — glaub es mir, Schwester. — Ich bin schon einfach verrückt und sie — sie wurde von ihren Geschwistern ›Ilse — die Hexe‹ genannt!«

»Ilse — die Hexe!« wiederholte Herta langsam. »Merkwürdig, — Jürgen sagte mir das gleiche.«

[S. 132]

»Und jetzt geht sie wieder neben ihm, — wie sie ihn anschaut, — ich kann es nicht ertragen, — Herta, es reizt mich maßlos!«

»Wölfchen — sei gut,« bat Herta. »Denk an mich und Martens, — so viel Leidenschaft, wie bei dir, war wohl bei uns nicht dabei, — aber es saß tief genug! — Heute bin ich sehr froh, daß es so gekommen ist! — Du wirst Ilse auch erst erkennen, wenn du deinen Rausch überwunden hast.«

»Ich kann mich nicht zur Ruhe zwingen, wie du es fertig brachtest, Herta! Willst du nicht einmal mit Ilse sprechen?«

»Nein!« Herta stieß es kurz aus. »Es würde nur zu deinem Elend gereichen. Denke daran, sie ist — die Hexe Ilse! Dafür bist du mir zu lieb, Wölfchen! Du mußt uns Geschwistern erhalten bleiben. Ihr Charakter ist unergründlich, — sie kann dich vernichten, — vielleicht ohne daß sie es will.« —


[S. 133]

XI.

Nach Mitternacht, als alle in tiefem Schlafe lagen, Herta hatte Ilse mit in ihre Kabine genommen, überwölkte sich der Himmel, und mächtige Schneeflocken fielen langsam rieselnd nieder. Gegen Morgen wurde das Schneetreiben so dicht, daß man vom Dampfer aus keine zehn Schritt weit sehen konnte.

Jürgen kam sehr früh an Deck. Als er die Lage überschaute und mit dem Kapitän in dessen Kajüte Rücksprache genommen hatte, grollte es gewaltig in ihm. Nirgends zeigte sich ein Ausweg aus der mißlichen Lage. Der Maschinendefekt ließ sich im besten Falle erst bis gegen Abend einigermaßen beheben. Ein weiteres Durchbrechen des Eises war unmöglich, der Dampfer mußte nach Stettin zurück. Die Rückfahrt würde schon schwierig genug sein und nur langsam vonstatten gehen.

Bei dem dichten Schneetreiben konnte es niemand wagen, über das Eis ans Land zu gelangen. Also ausharren! Während Jürgen und der Kapitän noch sprachen, kam Konsul Martens hinzu, dem die Unruhe den Schlaf verkürzt hatte. Anstatt des Morgenkaffees wurde gleich ein heißer Tee mit Arrak gebraut. Die Schiffsräume waren stark durchkältet,[S. 134] denn die Dampfheizung war nicht in Ordnung. — Als die Schiffsmaschine bei dem gewaltigen Anlauf gegen die starken Eiswände versagte, strömte der Dampf zurück. Durch die entstandene hohe Spannung wurden die Rohre undicht und erlitten mehrere Brüche. Die Feuerung mußte aufhören, weil der Dampf an vielen Stellen der Leitung gefahrdrohend herauszischte. Die Maschinisten hatten die ganze Nacht durchgearbeitet, um die Schäden auszubessern, und ermüdeten sichtlich.

»Wann können wir bestimmt darauf rechnen, Fahrt zu haben?« fragte Martens den Kapitän.

»Es kommt darauf an, wie lange die Kraft der Leute aushält, Herr Konsul.«

»Gehen wir in den Maschinenraum hinunter, Charles,« warf Jürgen ein. »Vielleicht lassen sich die Leute durch eine Prämie anfeuern.«

»Die Maschinisten geben ihr Bestes von selbst her,« erwiderte der Kapitän, »es bedarf keiner besonderen Belohnung. Sie können sich davon überzeugen, meine Herren!«

In den unteren Schiffsräumen brannten Lampen, weil die elektrische Leitung durch den Stillstand der Dynamos versagte. Eine Anzahl Männer arbeiteten mit größtem Eifer bei spärlichem Lichte in der kleinen Werkstätte. Es wurde Eisen auf offenem[S. 135] Kohlenfeuer geglüht, das ein Blasebalg anfachte, und dann mit Hämmern bearbeitet. Andere waren dabei, auf einer Drehbank Gewinde zu ziehen und auf Schraubstöcken Eisenstangen passend zu feilen.

Der Schiffsingenieur und der Obermaschinist griffen zu und besserten die Schäden an den Rohren aus. Die gesamte Leitung mußte untersucht werden. Die Männer im unteren Schiffsraum erstarrten fast vor Kälte und mußten fortgesetzt heiße Getränke erhalten.

Die Tatsache lag klar — unter weiteren zehn bis zwölf Stunden konnte an ein neues Arbeiten der Maschinen nicht gedacht werden, vorausgesetzt, daß die Mannschaften diese Überanstrengung aushielten. —

»Unser Mißgeschick ist mir höchst unangenehm, lieber Jürgen,« sagte Konsul Martens zu dem Freunde. »Namentlich der Damen wegen. Auf dem ›Odin‹, unserem stärksten Eisbrecher, kam noch nie etwas derartiges vor und lag außer der Berechnung. Nun heißt es aushalten.«

An Deck begann jetzt die Schiffsglocke unausgesetzt zu läuten. Der Steuermann trat zum Kapitän und sagte: »Ich habe drei Mann ausgesucht, die sich halbstündlich ablösen!«

»Es können Dampfer ausgelaufen sein. In den Zeitungen stand, daß der ›Odin‹ nach Swinemünde[S. 136] ging. Die Fahrtrinne wird für offen gehalten. Die Dampfsignale gehen nicht, daher muß die Glocke in Bewegung bleiben,« erklärte der Kapitän den Herren die erhaltene Meldung.

Jürgen sah darauf seinen Freund fragend an:

»Ist das Aufrennen eines anderen Dampfers möglich?« fragte er langsam, jedes Wort abwägend.

Martens wechselte mit dem Kapitän einen Blick.

»Ausgeschlossen ist es nicht,« erwiderte dieser zögernd.

Mit einem Ruck straffte sich Jürgens Gestalt.

»Es muß ausgeschlossen sein, Charles! Meine Geschwister sind an Bord.«

»Wir wollen überlegen, was zu tun ist, Jürgen.« Konsul Martens wurde jetzt die große Verantwortung fühlbar, die ihn traf.

Sie kehrten in die obere Kajüte zurück. Herta, Wolf und Ilse hatten sich ebenfalls dort eingefunden. Das junge Mädchen sah bleich und übernächtig aus, sie mußte wenig geschlafen haben. Die gestrige gute Stimmung war verschwunden. Es fröstelte alle trotz der Pelzkleidung.

Konsul Martens versuchte, den Damen die Lage im besten Lichte zu schildern, und machte Aussicht auf ein recht langes Frühstück und bald darauffolgendes Mittagessen.

[S. 137]

»Essen und Trinken erhält uns warm, und darin tritt in den nächsten vierundzwanzig Stunden kein Mangel ein,« schloß er.

»Aber die Langeweile, lieber Freund,« sagte Herta, leicht gähnend. »Die Kälte macht uns müde und ungemütlich.«

»Ich weiß eine Abwechslung, Ilse,« flüsterte Wolf dieser zu, als sie in der Kajüte auf und ab ging. »Der einzig warme Raum im Schiff ist die kleine Kambüse. Wir beide wollen uns dorthin flüchten und helfen dem Küchenchef bei der Zubereitung der Speisen, — für die anderen gehen wir auf Deck.«

Sie gab ihm kein Zeichen des Einverständnisses, sondern stellte sofort ihre Wanderung ein und blieb in Hertas Nähe stehen. Wolf trat heftig mit dem Fuße auf. Was war nun wieder in sie gefahren? Sie wollte anscheinend nichts von ihm wissen, und Herta unterstützte sie dabei.

Konsul Martens ließ seine Pelzdecke holen und hüllte die Damen darin ein, obwohl sich Ilse anfangs gegen das Stillsitzen sträuben wollte. Auf Hertas Wunsch folgte sie jedoch sofort. —

Draußen wurde es etwas heller, nur das Schneegestöber ließ nicht nach. Jürgen, Martens und der Kapitän standen an dem einen Kajütenfenster und beratschlagten.

[S. 138]

»In zwei bis drei Stunden kann der Amerikadampfer hier sein,« hörten die anderen des Kapitäns Stimme, »er ist sicher zur festgesetzten Zeit ausgelaufen. Bei langsamer Fahrt wird er unsere Glocke hoffentlich hören. Er versperrt aber die Fahrtrinne — die Schwierigkeit, fortzukommen, wird bedeutend größer.«

Wolf und Herta sahen sich bei diesen Worten an. Es gab also Gefahren; davon war ihnen bisher noch nichts bewußt gewesen.

Jürgen Plüddekamp zog seine Uhr hervor.

»Ich gehe ans Land, Charles,« sagte er dann kurz.

»Du — Jürgen?« stieß Martens erschrocken aus.

»Die Gegend kenne ich, und mein Taschenkompaß gibt mir die Richtung an,« antwortete er.

»Bedenke die offenen oder mit Schnee bedeckten Waken. Die Gefahr ist zu groß, Jürgen,« versuchte der Konsul ihm sein Vorhaben auszureden.

»Ich nehme eine Stange mit, Charles! Weiteres Reden hat keinen Zweck — ich gehe!« Man sah es der mächtigen Mannesgestalt an, daß sie von dem einmal gefaßten Entschluß nicht mehr abwich.

»So laß wenigstens einen Matrosen folgen und dich anseilen, Jürgen,« bat der Konsul.

»Warum? Dadurch kann höchstens Gefahr entstehen, die ich allein vermeide!« erwiderte dieser. »Steward!« rief er diesem zu, der soeben einen neuen[S. 139] Aufguß heißen Tees brachte. »Füllen Sie mir sofort eine Feldflasche mit Rum und Ingwer!«

»Mir auch, Steward!« ertönte es aus Wolfs Munde. »Ich begleite dich, Jürgen!«

»Auf keinen Fall — mein Junge! Ausgeschlossen. — Du mußt mit Charles bei Herta und Fräulein Hergenbach bleiben.« Das Gebot Jürgens klang fast schroff, er duldete in solcher Lage keinen Widerspruch.

Kurz darauf verabschiedete er sich und reichte den Geschwistern, sowie Martens die Hand. Herta bat ihn noch: »Jürgen — denk an uns — sei vorsichtig!«

»Ich bin es immer, liebe Herta! Soweit es allerdings möglich ist,« setzte er scherzend hinzu.

Er zögerte einen Augenblick, ehe er Ilse die Hand gab. Sie mußte darauf gewartet haben; nun schlossen sich ihre schlanken Finger mit festem Druck um die seinen, als wollten sie ihn nicht fortlassen.

Es war eine heftige Bewegung, mit der sich Jürgen alsdann abwandte und auf Deck eilte, wohin ihm Konsul Martens und Wolf folgten. Nach weiteren zwei Minuten hatte er sich eine kräftige Stange mit Eisenspitze ausgesucht und schwang sich über Bord.

»Achtung!« rief Martens ihm nach. »Es ist noch junges Eis in der Fahrtrinne!«

Die starken Schollen hatten sich aber am Dampfer dicht übereinandergeschoben und waren während der[S. 140] Nacht zusammengefroren, so daß Jürgen auf festem Eisboden dahinschritt. Er sah sich noch einmal um, winkte Bruder und Freund zu und verschwand dann in dem dichten Schneegestöber. Es kam ihm dabei im letzten Augenblick noch so vor, als wenn eine schlanke Frauengestalt auf Deck erschiene. Es mußte wohl Herta sein, die ihm besorgt nachschaute.

Als jedoch Wolf und Konsul Martens in die Kajüte zurückkehrten, saß Herta auf ihrem alten Platz. Ilse war fortgegangen und kam erst nach einer geraumen Zeit wieder.

»War es nicht angenehm in der Kambüse, Ilse?«

»Nein, Tante Herta! Ich habe mich genug erwärmt.«

Dabei strömte ihre Kleidung die frische Kälte vom Deck aus. — — —

Jürgen schritt trotz seines schweren Pelzes rasch vorwärts. Er hatte seine Pelzkappe tief über die Ohren herabgezogen, so daß nur sein Gesicht hervorsah. An seinem Bart bildeten sich durch den ausgestoßenen Atem Eiszapfen, doch achtete er nicht darauf. Von Zeit zu Zeit holte er den kleinen Kompaß hervor, um die Richtung zu kontrollieren, in der er ging.

Vom Dampfer mußte er schon ein ganzes Stück fort sein. Das Läuten der Schiffsglocke tönte nur noch schwach zu ihm herüber. In der zurückgelegten Strecke waren keine Waken zu erwarten gewesen. Jetzt aber[S. 141] näherte er sich mehr und mehr dem Ufer, und die Gefahr, in ein Loch zu geraten, das zum Fischen ins Eis geschlagen wurde, trat unmittelbar auf.

Er schob seinen Stock vor sich hin; stieß dieser an eine kranzartige Erhöhung, so blieb er stehen und untersuchte den Umkreis. Mehrmals entdeckte er noch im letzten Augenblick eine Wake. Die Zeit verrann, er strengte sich stärker an. Der Amerikadampfer mußte auf jeden Fall aufgehalten werden, bevor er das Papenwasser verließ und durch Signale schwer erreichbar wurde. Mit Mühe zog er seine Uhr hervor. Über eine halbe Stunde befand er sich unterwegs, und noch spürte er nichts von den Eisschollen, die sich gegen das Ufer zu auftürmten.

Er wollte immer schneller vorwärts kommen, aber der tiefe Schnee, der unaufhörlich weiter fiel, hemmte den Fuß. Schweißperlen traten auf seine Stirn; es war eine außerordentliche Leistung, selbst für den besten Fußgänger.

Wo blieb nur das Ufer? Er mußte es der Zeit nach schon lange erreicht haben. Er stand jetzt still und versuchte, um sich zu schauen. Nichts war zu sehen.

Jürgen lief es kalt über den Rücken. — Wo befand er sich? War er irre gegangen? Er hatte doch genau auf seinen Kompaß geachtet. Wenn er an anderer Stelle in die Nähe der Fahrtrinne zurückkam[S. 142] und einbrach? Bei dem starken Schneetreiben konnte alles möglich sein.

Warum setzte er sich diesen Gefahren aus? Es gab nur eine Richtschnur in seinem Leben — Sorge für seine Familie, die aus den Geschwistern bestand. Von dem Tode seines Vaters an hatte er diese Pflicht übernommen und treu erfüllt. Wenn er sich die Abrechnung vorlegte, befand sich kein Fehler darin. Er handelte stets nach Ehre und Gewissen. Einmal ließ er in der Härte seiner Bestimmungen nach, als Ilse Hergenbach vor Monaten aufgenommen wurde.

Ihre Gegenwart wirkte störend auf die Harmonie im alten Plüddekampschen Hause ein. Wolf war gänzlich verändert — er selbst mußte dagegen ankämpfen, um ihr nicht ein größeres Interesse zu zeigen. Er sah deutlich, wie sie ihm entgegenkam, sich ihm immer mehr nähern wollte. So kalt war seine Natur nicht, aber seine Rauheit half ihm, und seine Charakterstärke schüttelte jede aufflammende Regung ab.

Einige Augenblicke hatte er auf den Kompaß gestarrt, dabei flogen ihm diese Gedanken rasch durch den Kopf. Nun trieb es ihn wieder vorwärts, der Amerikadampfer mußte um jeden Preis ein Signal erhalten. Plötzlich hörte er zur Linken Laute; waren es menschliche Stimmen oder lag dort ein Schwarm[S. 143] Taucherenten? Er horchte aufmerksam hin. Jetzt klang es wie der dumpfe Hufschlag eines Pferdes. Es mußten also Leute aus einem naheliegenden Dorf sein, bei denen er sich Auskunft holen konnte.

Eilig schritt er auf sie zu, und schon nach wenigen Minuten tauchte dicht vor ihm ein Kufenschlitten mit zwei Männern auf.

»Holla!« rief er ihnen entgegen. »Wo seid ihr her? Ich komme von der Swinemünder Fahrt und will rasch ans Ufer.«

Die Leute hielten das Pferd an. Auf dem Schlitten lag ein mächtiges Schleppnetz, wie es unter dem Eis von einer Wake zur anderen gezogen wird. Ein großer mit Fischen angefüllter Kasten stand daneben.

»Wir sind aus Swantewitz,« sagte der eine, »und fahren nach Haus!«

»Aus Swantewitz!« rief Jürgen erstaunt. »Das liegt ja am östlichen Ufer! So weit seid ihr fort.«

»Nein, Herr! Das liegt ja dicht dabei. Wir sind gleich da!«

»Es ist rein unmöglich! Ich habe vor etwa einer Stunde den Eisbrecher ›Odin‹ verlassen und ging in der Richtung auf Neuwarp zu.«

Die Fischer sahen sich verdutzt an.

»Neuwarp? Das liegt ja zwei Meilen von hier, Herr!«

[S. 144]

Jürgen faßte sich an die Stirn.

»Sollte ich — rein unerklärlich! Alle Teufel — ich werde doch in der Eile nicht steuerbords anstatt Backbord abgesprungen sein! — Aber der Kompaß?«

Er hatte doch Norden rechts und nicht an der linken Seite gehabt. Freilich war es nur ein kleiner Taschenkompaß, der sonst an seiner Uhrkette hing. Er schaute schnell noch einmal darauf — die Nadel spielte richtig ein.

»Das ist ja, um verrückt zu werden,« fluchte er ingrimmig. »Der Kompaß lügt nicht — die Leute lügen nicht! Wer hat nun recht?«

Er hielt den Kompaß mit dem linken Arm vor sich. Plötzlich fiel sein Auge auf das Magnetarmband, das er noch zufällig um das Handgelenk trug. Es diente zur Prüfung von Grassamen, der mit Eisenfeile beschwert schien.

Nun wurde ihm der Vorgang sofort klar. Die Nadel spielte auf den starken Magnet ein und zeigte darum entgegengesetzt. Aus der Richtung des Papenwassers heulte jetzt dumpf ein Signal herüber. Jürgen erschrak.

»Der Dampfer!« rief er aus. »Es ist zu spät, ihn aufzuhalten! Was wird daraus entstehen?«

Die Sorge um die Seinen erfaßte ihn. —


[S. 145]

XII.

Alfred Smiders verfolgte einen bestimmten Plan. Nachdem sich sein gelähmter Vater jeder Verfügung begeben hatte, ergriff ihn die Großmannssucht. Er wollte um jeden Preis rasch vorwärtskommen. Das der Firma Smiders & Sohn gehörende Kapital reichte jedoch nicht im entferntesten aus, die sofort in Angriff genommenen Dampferbauten auszugleichen. So blieb er eine große Summe schuldig. Um wieder freie Bewegung zu bekommen, suchte er nach einem Großkapitalisten, der sein Geld zu mäßigem Zinsfuß bei ihm anlegen sollte.

Durch seine Agenten war er auf den reichen Kaufmann Kneis in Hamburg aufmerksam geworden, dem er sich sofort vorstellte. Der Hamburger hatte sein überseeisches Geschäft günstig verkauft und befand sich im Besitz großer flüssiger Mittel, mit denen er sich wieder beteiligen wollte. Das also war sein Mann. Er bewog ihn, mit nach Stettin zu reisen.

Nach Vorlage der letzten Bilanzen verlangte dieser in erster Linie die Dampfer der Reederei Smiders & Sohn zu besichtigen. Die alten Kasten[S. 146] waren glücklicherweise unterwegs, er konnte dafür nur die Angaben, aus dem Schiffsregister erhalten. Dagegen lag einer der neuen Dampfer im Eis des Swinemünder Hafens fest. Die beiden Herren fuhren von Stettin mit dem Schnellzug dorthin und waren eben im Begriff, den ›Triton‹ in Augenschein zu nehmen.

Das starke Schneegestöber hatte aufgehört; die klare, helle Wintersonne schien leuchtend über Stadt und Hafen, sowie die vereisten Schiffe. Überall funkelte und glitzerte es in farbenprächtigem Schimmer.

»Sehen Sie, mir lacht stets die Sonne, Herr Kneis,« sagte Alfred Smiders, als sie über das Deck des Dampfers ›Triton‹ gingen. »Nun kann es Sie nicht gereuen, trotz des Schneefalles von heute morgen, die Fahrt nach Swinemünde angetreten zu haben.«

Der lange bedächtige Hamburger lächelte verbindlich.

»Ich bin sehr zufrieden, Herr Smiders! Wenn es weiterschneien würde, wäre ich auch zufrieden. Wir blieben dann in Swinemünde. Es gibt hier gute Hotels.«

»Gewiß, Herr Kneis! Aber Sie müssen heute abend wieder in Stettin sein« — der Reeder machte eine bezeichnende Geste. »Sie haben doch fest versprochen —«

[S. 147]

Der Überseer lachte gemütlich auf.

»Hm! Eine ganz lustige Bude. Wir gehen zusammen —«

»Aber natürlich, Herr Kneis! Ich möchte nur nicht im Wege sein.«

»Macht mir nichts aus, Herr Smiders. War jahrelang in Buenos Aires mit meinen Freunden stets einig, wenn's eine kleine Sache gab. Denke, es wird hier in Deutschland auch so sein.«

Hätte er den Blick gesehen, der in Smiders' dunklen Augen aufflammte, so würde er wohl eine andere Meinung gehabt haben. Es lag darin so viel Hohn und Gehässigkeit, wie sie nur das Innere des jungen Reeders erfüllte.

Nun ging es auf treppauf und treppab bis in die untersten Schiffsräume, und überall ließ der vorsichtige Hamburger seine Blicke hinschweifen. In aller Ruhe sah er sich um, nichts blieb seinem scharfen Auge verborgen.

»Sehr gutes Schiff, Herr Smiders, sehr gutes Schiff,« wiederholte er alsdann, »wenn die anderen ebenso sind, bin ich bereit, den Vertrag mit Ihnen einzugehen.«

Smiders streckte ihm sofort seine Hand entgegen:

»Topp! Sie schlagen also ein?«

»Noch nicht!« bewahrte der Hamburger eine gewisse Zurückhaltung, »es wäre verfrüht. Ich lasse[S. 148] mich nie vom Augenblick überrumpeln. Eine gute Portion Überlegung ist im Geschäftsleben alles. Dann handle ich aber rasch.«

Alfred Smiders zog seine Hand ärgerlich zurück, als er die gemessene Miene des Hamburgers sah, der in diesem Augenblick zu einem Weitergehen nicht geneigt schien. Sie stiegen jetzt die Schiffstreppe wieder hinauf und wollten ans Land gehen, um in dem nahegelegenen Hotel ›Drei Kronen‹ ein bestelltes Essen einzunehmen. Smiders hatte wohlweislich alles vorbereitet.

Plötzlich erscholl der dumpfe Ton einer Dampfpfeife über die weite Eisfläche des Haffes hinweg.

»Holla, Kapitän! Was gibt's?« rief der Reeder diesem zu.

»Die Eisbrecher kommen herein, Herr Smiders,« tönte es zurück. »Der ›Fritjof‹ ist voran und schleppt den ›Odin‹ an der Stahltrosse.«

»Dann muß dem ›Odin‹ etwas passiert sein,« meinte Smiders. »Er hat doch die stärksten Maschinen.«

Anstatt, daß sich die Herren direkt aufs Bollwerk begaben, stiegen sie zur Kommandobrücke hinauf und wollten warten, bis die Eisbrecher landen würden. Das Eis krachte und barst in langen Spalten vor der Gewalt, mit der der ›Fritjof‹ vorwärtsdrang. Es dauerte nicht lange, so waren die Dampfer mit[S. 149] dem ›Triton‹ in gleicher Höhe, doch ließen sich die Gestalten auf Deck nicht genau erkennen.

»Der ›Odin‹ schwankt wie eine lahme Ente! Er ist nicht unter Dampf, und der›Fritjof‹ bugsiert ihn zur Anlegestelle,« rief Smiders. »Wir sehen es besser vom Lande aus.«

Er schritt, gefolgt von dem Hamburger, zum Bollwerk hinüber und ging auf diesem entlang. Es dauerte noch einige Zeit, bis der ›Fritjof‹ den ›Odin‹ herangebracht hatte und die Stahltrosse löste. Allem Anschein nach wollte er sofort die Rückkehr nach Stettin antreten.

Zwei Herren und zwei Damen kamen über die Schiffsbrücke, die der ›Odin‹ auswarf, ans Land.

Alfred Smiders schaute genauer hin, aber die Sonne blendete ihn. Er hielt deshalb die Hand über die Augen und sagte halblaut:

»Den Teufel auch! Wenn ich recht sehe, ist es Konsul Martens, Wolf und Herta Plüddekamp und noch eine Dame, die ich nicht kenne. Eine vorzügliche Gelegenheit für mich, anzuschwirren!« Er entschuldigte sich rasch bei Kneis und eilte voran, um die Ankommenden zu begrüßen. »Direkt von Stettin, Herr Konsul?« rief er ihm schon von weitem zu. »Nette Spazierfahrt! Wie? Hat der ›Odin‹ Pech gehabt?« Als sie zusammentrafen, schüttelte er den[S. 150] beiden Herren die Hand und verbeugte sich, seinen Hut tief ziehend, vor den Damen. Er blickte erstaunt auf Ilse. Dann sagte er zu Herta: »Wollen Sie mich vorstellen, Fräulein Plüddekamp?«

»Herr Smiders, von Smiders & Sohn — Fräulein Hergenbach aus Nordhausen,« erledigte diese den Wunsch des Reeders.

Abermals lüftete Smiders seinen Hut, und als sich Ilse leicht verneigte, begegneten sich ihre Blicke. Die dunklen Augen Smiders' ruhten mit einem prüfenden Ausdruck auf den Gesichtszügen des jungen Mädchens. Er warf dann einige nebensächliche Fragen hin, wie die Damen die Fahrt überstanden hätten, und hörte von Konsul Martens, welches Mißgeschick ihnen am verflossenen Tage mitten auf dem Haff begegnete.

»In Gesellschaft so reizender Damen, — riesig nett,« meinte er mit einem vielsagenden Blick zu Wolf hinüber. »Da aber die Dampfheizung nicht in Ordnung war — zum mindesten unangenehm kalt.«

»Es war noch ein Glück, daß der amerikanische Dampfer die Vorsicht brauchte, den ›Fritjof‹ vorauszuschicken. Rückte er selbst uns aufs Fell, so war die Durchfahrt versperrt und wir lägen noch im Eise,« flocht Konsul Martens ein.

[S. 151]

»Wenn wir nur erst wüßten, was aus Jürgen geworden ist,« sagte Herta mit besorgter Miene. »Sie waren wohl schon im Hotel, Herr Smiders! Haben Sie vielleicht dort etwas gehört?«

»Keinen Ton, Fräulein Plüddekamp,« erwiderte dieser.

Wolf erzählte darauf, wie Jürgen am Morgen in dem tollsten Schneetreiben über Bord aufs Eis gesprungen sei, um nach dem Ufer vorzudringen.

»Na — ein solcher Bär! — Verzeihen Sie den Ausdruck, Fräulein Plüddekamp,« unterbrach sich Smiders. »Ihr Herr Bruder hat aber wirklich eine Bärennatur und sitzt jedenfalls in einem Dorfgasthause beim Glase Grog. Wir können ja von den ›Drei Kronen‹ aus — Sie gehen doch gewiß mit dorthin — nach allen Richtungen telephonieren.« —

Der Ofen in dem großen Speisezimmer der ›Drei Kronen‹ strahlte eine gemütliche Wärme aus. Man legte Pelze und Mäntel ab und freute sich, wieder in einem behaglichen Raume zu sein. Der Überseer, der vorausgegangen war, wurde von Smiders vorgestellt. Er befand sich alsbald in regem Gespräch mit Konsul Martens, der die Gelegenheit benutzte, den Großkapitalisten näher kennen zu lernen.

»Sie sind überzeugt, Herr Konsul, daß der ›Friedrich Barbarossa‹ zur Frühjahrszeit rechtzeitig ausläuft?«

[S. 152]

Wolf, der etwas entfernter stand, horchte bei diesen Worten auf. Es war naheliegend, daß ihn das Gespräch interessierte.

»Ich werde den Dampfer besichtigen,« fuhr Herr Kneis fort, »es liegt mir außerdem viel daran, zu erfahren, ob sich die älteren Dampfer der Reederei in gleicher Weise umbauen lassen.«

»Selbstverständlich,« fiel Smiders jetzt ein. »Sie eignen sich ebenso gut dazu wie der ›Friedrich Barbarossa‹. Herr Konsul Martens kennt ja unsere Dampfer. Er wird es Ihnen sicher bestätigen.« Dabei sah er Martens scharf an.

Dieser war vor eine sehr peinliche Frage gestellt. Natürlich lag es in seinem Interesse, dem Geldmann gegenüber die Reederei Smiders & Sohn so hoch als möglich zu bewerten. Auf der anderen Seite kannte er das Alter der laufenden Schiffe und mußte daraus folgern, daß ein Umbau weggeworfenes Geld bedeuten würde. Er zögerte deshalb mit der Antwort, während ihn der Überseer anscheinend gleichgültig ansah.

Aus den kleinen, scharfen Augen des Herrn Kneis sprach bei aller Ruhe eine hohe Intelligenz, und er schloß aus dem Zögern des Konsuls sofort auf dessen zurückgehaltene Ansicht.

[S. 153]

»Ich glaube wohl, Herr Kneis,« antwortete Martens jetzt, »aber bedenken Sie dabei, daß ich Bankier und nicht Schiffsbauer bin.«

Smiders war von der Antwort des Konsuls Martens wenig befriedigt; er hatte sie bestimmter erhofft und fiel darum ein:

»Wir werden morgen den ›Friedrich Barbarossa‹ anlaufen, Herr Kneis. Sie treffen dort seinen Kapitän an. Dieser hat bereits zwei meiner anderen Dampfer gefahren und ist ein anerkannter Fachmann.«

»Es scheint Smiders auf den Nägeln zu brennen,« dachte Wolf bei sich. »Ich werde den Weg nach der ›Grünen Schanze‹ bald wieder einschlagen müssen, um auf dem Laufenden zu bleiben.«

Der Oberkellner kam und forderte die beiden Herren auf, an dem bestellten Tisch Platz zu nehmen. Martens hatte für seine Gäste an der großen Tafel, die mitten im Speisezimmer stand, eine genügende Anzahl Gedecke auflegen lassen. Die Speisen wurden gebracht.

Ilse Hergenbach saß in schräger Richtung von Smiders und bemerkte sehr bald, wie sie von ihm anhaltend beobachtet wurde. Sie wollte nicht hinübersehen. Trotzdem trat aber das Verlangen in ihr auf, die siegreiche Kraft ihres Blickes zu erproben.

Sie hatte keine besondere Absicht dabei. Es war nur ein leichtes Spiel, das ihr Unterhaltung[S. 154] bieten sollte. Was aber alsdann vorging, wußte sie selbst kaum. Nicht ihr Blick siegte, sondern der, der sie jetzt traf. Sie erzitterte darunter, und rasch senkten sich ihre Lider. — Dabei zwang sie eine unerklärliche Kraft, noch einmal hinüberzuschauen. Es wiederholte sich der gleiche Vorgang.

Smiders trat kurze Zeit darauf, ein volles Weinglas in der Hand haltend, an die große Tafel heran. Er trank auf das angenehme Zusammentreffen in Swinemünde. Sich zu Ilse wendend, sagte er leichthin:

»Ich muß Sie schon einmal gesehen haben. Helfen Sie meiner Erinnerung nach, Fräulein Hergenbach!«

Er wollte nur, daß sie die Augen zu ihm aufschlug. Sie tat es aber nicht und gab kurz zur Antwort:

»Ich wüßte nicht, Herr Smiders!«

»Doch, doch, mein Fräulein,« wiederholte er. »Hoffentlich habe ich bald Gelegenheit, mit Ihnen darüber weiter plaudern zu können.«

Wolf, der vor einiger Zeit ans Telephon gegangen war, kam jetzt zurück. Seine Züge verrieten großen Ernst.

»Jürgen ist noch nirgends aufgetaucht, weder in den Ortschaften an der linken Haffseite, noch zu Hause. Ich habe Armin beauftragt, unausgesetzt nachzuforschen.«

[S. 155]

Herta legte sofort Messer und Gabel beiseite.

»Um Gottes willen, Wolf,« sagte sie, »wenn Jürgen ein Unglück zugestoßen wäre! Wie schrecklich! Ich mag es nicht ausdenken.«

»Aber verehrte Freundin,« fiel Martens ein, »unserem Riesen Jürgen geschieht so leicht nichts. Er wird sich in irgendeinem kleinen Dorf aufhalten und kein Telephon zur Verfügung haben. — Mein Gott, wie bleich Sie plötzlich aussehen, Fräulein Hergenbach,« fuhr er, zu dieser gewandt, fort. »Ist Ihnen etwas?«

Ilse schüttelte mit dem Kopf, brachte aber kein Wort heraus. Es schnürte ihr förmlich die Kehle zu. Wenn Jürgen in eine Fischwake geraten und tot wäre! Sie malte sich in diesem Augenblick das Entsetzlichste aus. Eine fieberhafte Unruhe bemächtigte sich ihrer. Es drängte sie, überall selbst nachzufragen. Nur nicht die Ungewißheit länger ertragen, was mit ihm geschehen sein konnte. Sie kam zu einem Entschluß.

»Tante Herta, der Anruf von Stettin kann jeden Augenblick erfolgen! Dein Bruder hat noch nicht gegessen. Ich gehe ans Telephon!« Sie sprang auf und eilte hinaus, ohne eine Antwort von Fräulein Plüddekamp abzuwarten.

Konsul Martens sah ihr erstaunt nach, während Wolf eine hastige Bewegung machte, als ob er ihr folgen wollte.

[S. 156]

»Es ist höchst unnötig, daß sich Fräulein Ilse in dem kalten Telephonraum aufhält,« stieß er dann ärgerlich aus. »Sowie der Anruf kommt, holt mich doch der Kellner.«

Konsul Martens lächelte fein.

»Fräulein Hergenbach tritt in letzter Zeit viel selbständiger auf,« sagte er zu dem Geschwisterpaar. »Es scheint, als ob ihr Charakter ein ganz anderer ist, als sie anfangs zeigte.«

»Sie hat bald mehr Interesse für Jürgen, als wir selbst,« murmelte Wolf vor sich hin. Der Braten, den er sich bestellt hatte, war durch seine Abwesenheit kalt geworden und schmeckte ihm nicht mehr. Er stand plötzlich auf, in der Absicht, Ilse Gesellschaft zu leisten.

»Bleib, Wölfchen,« sagte Herta, »es hat doch wirklich keinen Zweck, wenn ihr zu zweit dort draußen aufpaßt. Laß Ilse ihren Willen und unterhalte dich lieber mit uns.«

»Hast wohl noch keine Nachricht von deinem Bruder, Wolf?« rief Smiders auf einmal herüber.

»Nein!« klang es zurück. »Unser Prokurist telephoniert überallhin.«

»Ich will meinem Büro auch den Auftrag geben,« bemerkte Smiders darauf und erhob sich lässig. »Entschuldigen Sie, Herr Kneis, ich komme sofort wieder.«

[S. 157]

Wolf trat ihm aber in den Weg und sagte: »Laß dies, bitte! Es hat wirklich keinen Zweck, wenn du deine Leute noch bemühst. Unser Prokurist traf bereits die umfassendsten Maßnahmen.«

»Aber es geht doch schneller, wenn von zwei Seiten angefragt wird,« wehrte Smiders ihn ruhig ab und schritt weiter der Tür zu.

In Wolfs Gesicht kämpfte jetzt Ärger und Unwille. Er kannte die Zudringlichkeit von Smiders und wollte nicht dulden, daß dieser mit Ilse allein war.

Konsul Martens sah der kleinen Szene interessiert zu.

»Merkwürdig,« sagte er, sich zu Herta wendend, »das Telephon muß heute eine besondere Anziehungskraft haben. Jetzt wollen sie sich schon zu dritt dort aufhalten. Unser braver Jürgen wird sich sicher bald melden, denn er steht gewiß mehr Sorge um uns aus, als wir seinetwegen zu haben brauchen.«

Diese Worte sollten sich bewahrheiten, noch ehe die beiden Herren das Speisezimmer verlassen hatten, öffnete sich die Tür, und Ilse kam mit freudestrahlender Miene herein. Sie rief schon von weitem:

»Welch ein Glück, Tante Herta! Dein Bruder ist wieder zu Hause! Ich habe soeben mit ihm selbst telephonisch gesprochen.« Ihr ganzes Wesen atmete eine Leidenschaftlichkeit aus, die allen auffallen mußte. Sie schien wie von einem Rausch erfaßt zu sein.

[S. 158]

»Erzähle nur ruhig, Ilse, wie es ihm ergangen ist,« erwiderte Herta.

Diese nahm sich sofort zusammen. »Dein Bruder hat unterwegs ein paar Fischer angetroffen und sich nach Stepenitz bringen lassen. Von dort ist er mit dem nächsten Zuge direkt nach Stettin gefahren, weil er hörte, daß der Amerikadampfer nicht ausgelaufen wäre.«

Wolf und Smiders traten ebenfalls an den Tisch heran, als Ilse weiter fortfuhr:

»Herr Plüddekamp fragte mich sofort über alles aus, und ich habe kurz berichtet, daß uns der ›Fritjof‹ hierherschleppte. Wir werden mit dem Abendzug von ihm erwartet.«

»Ich bin recht froh,« sagte Herta in herzlichem Tone, »daß wir nun beruhigt sein können!«

»Du glaubst nicht, Tante Herta, wie mir zumute wurde, als ich deines Bruders Stimme durch das Telephon vernahm. Er war doch wieder da und ihm nichts zugestoßen.«

Sie brachte diese Worte mit einer solchen Wärme des Ausdrucks hervor, daß Konsul Martens leicht den Kopf schüttelte und vor sich hinsprach:

»Sonderbar, ich hätte doch gedacht —! Aber man lernt im Leben nie aus.« —

Während der gemeinsamen Fahrt nach Stettin sagte Smiders zu Wolf:

[S. 159]

»Hätte nicht geglaubt, daß ich in Swinemünde so famose Stunden verleben würde. Gefällt mir riesig, mit euch zusammen zu sein. Du hast doch nichts dagegen, wenn ich euch in den nächsten Tagen meinen Besuch mache?«

Wolf hatte schon auf der Zunge, zu antworten: »Es ist mir viel angenehmer, wenn du wegbleibst,« war aber gezwungen, ihm gerade das Gegenteil auszudrücken.

Als der Zug in den Bahnhof einlief, stand die mächtige Gestalt Jürgens auf dem Perron. Er erwartete seine Geschwister. Herta stieg zuerst aus; er schloß sie in seine Arme und küßte sie auf die Stirn. Hierin lag der Ausdruck einer hohen Freude, sie wieder glücklich bei sich zu haben. Wolf und Martens schüttelte er derb die Hand. Dann stand plötzlich Ilse vor ihm, und er mußte ihr ebenfalls ein paar Worte sagen. Ihre Blicke strahlten ihm derartig entgegen, daß er davon peinlich berührt wurde.

»Ich sandte Ihnen einen Wunsch nach, als Sie den gefahrvollen Weg über das Eis antraten, Herr Plüddekamp,« sagte sie mit ihrer tiefen Altstimme, »und er ist mir in Erfüllung gegangen.«

Jürgen wurde seiner Antwort enthoben, da Martens, Smiders und der lange Hamburger dazwischen kamen.


[S. 160]

XIII.

Die Unruhe kehrte im Plüddekampschen Hause ein. Nach einer kurzen Nachtmahlzeit waren die Geschwister und Ilse auf ihre Zimmer gegangen. Wolf lief in dem seinen aufgeregt hin und her.

Er verstand Ilses Verhalten nicht. Es war kein leichter Flirt, den sie trieb, oder ein unbewußter Drang erwachender Leidenschaft. Einen Augenblick hindurch fühlte er Liebe und Hingebung bei ihr, blitzschnell ging es vorüber. Martens lächelte sie verheißungsvoll an, dem fatalen Smiders schenkte sie Aufmerksamkeit, und Jürgen — sie sorgte sich um ihn, als ob er ihr nahestände. Sie fesselte jeden, der ihr in den Weg trat, und wehrte dann durch plötzliche Stummheit von sich ab. Was ging in ihr vor? Hatte sie überhaupt kein Herz — die Hexe Ilse? Eine wirkliche Hexennatur will niemand beglücken, — es gelüstet sie nach Vernichtung, wie Herta sagte.

Die Gedanken marterten ihn. Er versuchte zu schlafen und fand keinen Schlaf.

Sollte er sie zu seiner Frau machen? Wie kam es, daß er erst jetzt daran dachte! Jürgen und Herta würden sich dagegen stellen. Aber Ilse, — bei einem solchen Entschluß mußte sie ihm Rede stehen. — —

[S. 161]

Ilses Zimmer lag im zweiten Stockwerk. Sie war langsam die Treppe hinaufgestiegen und hatte sich flüchtig umgesehen, da die zwei Brüder noch einen Augenblick auf dem Korridor stehen blieben. Jürgen, der große, kräftige Mann, — daneben die schlanke, biegsame Gestalt des jüngeren Wolf, — beide konnten wohl einem jungen Mädchen gefallen.

In ihrem Zimmer angekommen, entkleidete sie sich langsam, und ihr Blick streifte dabei ein paarmal den hohen Pfeilerspiegel. Ein bleiches Gesicht sah ihr entgegen, aus dem die Augen mit stark leidenschaftlichem Ausdruck hervortraten. — War sie das selbst — Ilse Hergenbach? Sie mußte es wohl sein! Und doch kam ihr das Spiegelbild vollständig fremd vor. Hatte sie sich so verändert? Das Blut rollte ihr heiß durch die Adern — in ihrem ganzen Wesen ging eine seltsame Wandlung vor. — Sie wollte die Arme ausbreiten, um ein Schemen an sich zu ziehen. Ihr ganzer Körper dehnte und streckte sich, und sie empfand ein Verlangen, über das sie sich selbst keine Rechenschaft geben mochte. Wolfs Neigung erwiderte sie nicht. Sie fühlte, daß die von Jürgen ausströmende Kraft ihr Fühlen immer stärker beherrschte. Wie lange hatte sie das Leidenschaftliche ihres Wesen schon zurückdämmen müssen! Würde es jetzt jede Schranke hinwegreißen?

[S. 162]

»Jürgen! Jürgen!« stieß sie laut aus.

Was konnte sie ihm sein? Würde er sie verstehen? Ein Mann, der für die Liebe zur Frau keine Zeit fand, mußte doch beglückt sein, wenn sie sich ihm rückhaltslos darbot. Aber — kannte sie sich selbst? Jener Augenblick in Swinemünde trat plötzlich mit erschreckender Deutlichkeit vor sie hin. Sie zuckte darunter wie unter einem Peitschenhiebe zusammen. Ein heißer Blick — ein überlegenes Lächeln tauchte vor ihr auf. Wer war dieser Mann, der es wagte, ihr so zu begegnen? Das Blut floß ihr wild durch die Adern, es prickelte in allen Nerven ihres Körpers. Sie mußte daran denken, ob sie es auch von sich abschütteln wollte.

»Jürgen! Jürgen!« stöhnte sie leidenschaftlich auf.

Welche widerstreitenden Gefühle regen sich im Menschen! Was ist Liebe? Was ist Leidenschaft? Wie wirr geht beides durcheinander, und keins vermag die Oberhand zu erringen!

Es dauerte eine geraume Zeit, ehe das Licht in Ilses Zimmer erlosch. Über dem alten Kaufherrnhause ging in der klaren Winternacht der Mond mit hellem Schimmer auf. Sein milder Schein glitzerte auf den Fensterscheiben, er drang aber nicht durch die dichten Vorhänge, um ruhelose Seelen friedvoll zu stimmen. — — —

[S. 163]

In den Straßen der Stadt war durch den starken Schneefall eine gute Schlittenbahn entstanden. Die in der Wintersonne aufleuchtende weiße Decke warf ihren Glanz in die Kontorstube, in der jetzt Jürgen und Wolf die Lagerbücher einer Prüfung unterzogen.

»Es fehlen noch eine Anzahl Lieferungen,« bemerkte der erstere, »sobald das Eis taut und die Schiffahrt beginnt, müssen wir für den Export gerüstet sein.«

»Wie steht es mit Oberamtmann Wichers?« fragte alsdann Wolf. »Er wollte doch über zehntausend Zentner mehr liefern.«

Jürgen nahm das Haustelephon zur Hand, drückte auf den Knopf und sprach zum Prokuristen Armin hinüber.

»Wieviel Zentner Roggen haben wir aus Wershagen herein? Hm, hm,« machte er gedehnt. »Es hat in der letzten Zeit gestockt,« wandte er sich an seinen Bruder. »Armin gibt an, daß erst die ungefähre Hälfte gesandt ist.« Er legte das Hörrohr wieder fort. »Du wirst nachhelfen müssen, Wolf, — bist auch recht lange nicht in Wershagen gewesen.«

»Wie soll ich jetzt hinauskommen, Jürgen?« erwiderte dieser. »Zum Reiten ist es mir zu kalt. Auch liegt der Schnee sehr hoch.«

[S. 164]

»Bist du auf einmal schwerfällig!« meinte Jürgen. »Es ist doch die schönste Schlittenbahn von der Welt! Du wirst warm eingepackt und landest in zwei bis zweieinhalb Stunden in Wershagen.«

Wolf zog ein gelangweiltes Gesicht. »Eine endlose Fahrt, Jürgen! In Gesellschaft lasse ich sie mir gefallen, aber stundenlang allein im Schlitten zu sitzen, kannst du mir wirklich nicht zumuten.«

»Du hast es doch früher getan!« entgegnete Jürgen erstaunt. »Ich wundere mich überhaupt, daß du nicht mehr nach Wershagen hinausfährst. Was soll Oberamtmann Wichers von uns denken? Dir fiel es immer zu, den gesellschaftlichen Verkehr aufrechtzuerhalten.«

»Fahr du doch hinaus, Jürgen!«

»Ich bin hier nicht abkömmlich! Dann machst du auch deine Sache in Wershagen besser als ich.«

»Ich will aber in Lieschen Wichers keine Hoffnung erwecken,« brummte der junge Mann, »was soll schließlich daraus werden?«

»Soooo,« dehnte Jürgen das Wort aus, »Mieze Thadden siegt also im Rennen —«

»Ich denke nicht daran, Jürgen!« sagte Wolf.

»Holla, mein Junge! Was ist auf einmal mit dir los? Du pendelst doch schon lange zwischen den beiden hin und her.«

[S. 165]

»Ich höre damit auf, Jürgen!«

»Du bist heute recht ungemütlich, Wolf,« lachte Jürgen auf. »Das kommt von deinem Junggesellentum. Du darfst es mir nicht nachmachen. Es wird Zeit, daß du dich entscheidest. Haus Plüddekamp braucht einen Erben. Das ist doch klar!«

»Gewiß, Jürgen! Aber ich habe keine Lust, mir eine Frau zu nehmen, die nicht zu mir paßt. Vielleicht stellt sich über Nacht ein guter Gedanke ein, dann bin ich sofort dabei.«

»Vorsicht, Wölfchen! Doppelte Vorsicht! Ein kluger Geschäftsmann wägt erst und dann wagt er. Hast du es getan?«

»Ich denke noch nicht daran,« brachte Wolf unwillig hervor. »Warum fragst du mich so aus? Du willst mir meine Freiheit lassen und legst jetzt Daumenschrauben an.«

»Kalt Blut,« sagte Jürgen begütigend, »es ist nicht so einfach damit. Die Herrin für Haus Plüddekamp muß vollwertig sein, sonst gibt Herta das Zepter nicht ab. Schaffe uns keine schwierige Lage. Von vornherein soll volle Klarheit herrschen.«

»Du bist ein schrecklicher Mentor, Jürgen, und wirst es noch dahin bringen, daß ich aus dem alten Nest flügge werde.«

»Auf keinen Fall, Wolf!«

[S. 166]

»Wieso, Jürgen? Du und Herta seid hier genug! Du versorgst vortrefflich das Geschäft, Herta ebenso das Haus. Außerdem hast du noch Armin zur Seite. Wenn ich die Zinsen von meinem Vermögen nehme, kann ich überall bequem auskommen. Ich halte es Herta gegenüber für ausgeschlossen, bei einer Verheiratung hier zu bleiben.«

»Junge! Wolf! Das geht ja über die Hutschnur und Pappelbäume! Du, mein Bruder, ein Plüddekamp, und aus dem Plüddekampschen Hause fort — das leide ich einfach nicht! — Deine Söhne brauchen mich doch! Ich muß sie zu tüchtigen Kaufleuten erziehen, die unserer Firma einst Ehre machen!«

»Du bist wirklich großartig, Jürgen! Deine Sorge um mich — in allen Ehren. Daß du aber schon so weit gehst, meine Söhne, die noch gar nicht auf der Welt sind, unter deine Fuchtel nehmen zu wollen —«

»Na, ja,« unterbrach ihn Jürgen lachend, »hör nur auf! Ich will dir wirklich dein Recht nicht rauben, Wölfchen! — Jetzt bestelle ich den Schlitten, damit du noch zur Tischzeit in Wershagen eintriffst.«

»Nein!« Wolf hatte es kurz ausgestoßen. »Ich kann heute nicht. Ich habe auch keine Laune dazu.«

»Ja, zum Teufel, was ist eigentlich mit dir los!« wurde Jürgen aufgebracht.

[S. 167]

»Vorläufig noch gar nichts, aber es kann noch werden.«

»Du sprichst in Rätseln, Wolf.«

»Die Lösung sollst du bald erfahren!«

Jürgen ahnte bereits, wohin dies zielte. Er wollte aber nicht gewaltsam auf seinen Bruder einwirken und überlegte einen Augenblick, wie er die Angelegenheit mit Wershagen am besten regeln konnte.

Inzwischen ertönte auf der Straße helles Schellengeläut. Ein großer Jagdschlitten mit prächtigen Rappen, die von der schnellen Fahrt dampften, hielt vor dem Toreingang.

»Das klappt geradezu wunderbar!« rief Jürgen aus. »Sieh nur hinaus, Wölfchen! Die Wershagener sind da! Was für ein rosiges Gesicht dort aus der Pelzkappe hervorschaut und neugierig zu unseren Fenstern herüberlugt, ob nicht ein gewisser junger Herr zugegen ist! Erkennst du Lieschen Wichers nicht?«

»Ja, ich sehe wohl,« murrte Wolf, »nun haben wir sie auf dem Halse.«

»Das war kein schönes Wort von dir, Wolf! Wichers sind prächtige Menschen, und ich freue mich, wenn sie zu uns kommen. Ein Beweis, na — ich schweige —«

Er griff hastig nach seiner blauen Mütze und eilte zum Toreingang, um den Oberamtmann und seine[S. 168] Tochter zu begrüßen. Ehe er an den Schlitten trat, drückte er auf den Kopf der elektrischen Leitung, die nach dem Stall führte. Die Pferde vor dem Wershagener Schlitten sollten ausgespannt werden.

Oberamtmann Wichers war ein untersetzter rundlicher Herr mit roten Backen und einem starken blonden Vollbart. Er stieg aus dem Schlitten und reichte seinem Kutscher die Zügel hin. Dann half er seinem Töchterchen, die dem großen Pelzfußsack entrinnen wollte. Er wurde dabei sofort von Jürgen unterstützt, nachdem sie sich mit biederem Handschlag begrüßt hatten.

»Muß doch selbst einmal hersehen, lieber Herr Plüddekamp,« meinte der Oberamtmann. »Wir haben Ihren Herrn Bruder fast täglich erwartet. Er ist hoffentlich nicht krank! Mein Lieschen verlangt nach ihrem Partner im Klavierspiel. Ich habe sie darum gleich mitgebracht.«

Lieschen Wichers, die in dem gesunden, frischen Aussehen ganz ihrem Vater glich, legte jetzt ihre kleine Hand in die mächtige Rechte Jürgens hinein.

»Guten Tag, Herr Plüddekamp! Ich will wirklich nicht stören und habe vieles in der Stadt zu besorgen. Der Schlitten soll mich weiterfahren. Vater hat ja mit Ihnen geschäftlich zu sprechen.«

»I wo,« sagte Wichers, »du wolltest doch —«

[S. 169]

»Aber Papa! Das war nur so nebenbei —«

Jürgen lächelte verständnisvoll. Er sah dem kleinen Landfräulein ganz deutlich an, daß ihr Herz nach dem hübschen Wolf Sehnsucht empfand. Dieser war inzwischen langsam nachgekommen. Er schüttelte dem Oberamtmann kräftig die Hand und begrüßte dann Lieschen Wichers, die ihn mit ihren blauen Augen freundlich anlächelte.

»Wenn der Prophet nicht zum Berge kommt, muß der Berg wohl zum Propheten kommen,« meinte der Oberamtmann mit wohlgefälligem Lachen, »da sind wir nun! Immer eine kleine Weltreise nach Stettin herein, aber bei der prächtigen Schlittenfahrt ganz wunderbar. Sie hätten nur sehen sollen, wie meine Rappen auf der Landstraße dahinstoben! Solche glatte Bahn gab es lange nicht.«

»Wir wollen aber nicht in der Kälte stehen bleiben!« sagte Jürgen. »Wolf, du begleitest wohl Fräulein Wichers zu Herta. — Lieber Oberamtmann,« wandte er sich an diesen, »wir haben das Geschäftliche mit zwei Worten abgemacht und setzen uns dann an den Frühstückstisch.«

»Ist mir nur angenehm,« erwiderte Wichers. »Ich habe zwar heute morgen tüchtig vorgelegt, aber nach der Fahrt bekomme ich immer einen Mordshunger.«

[S. 170]

»Um so besser,« fiel Jürgen ein, »es geht nichts über eine gemütlich lange Frühstückssitzung, die liebt jeder gute Pommer.«

Die beiden Herren gingen in das Kontor, während Lieschen Wichers und Wolf die große Treppe emporstiegen. Als dieser ihr dann behilflich war, die äußeren warmen Hüllen abzunehmen, eilte Ilse sofort herbei. Wolf stellte kurz vor: »Fräulein Ilse Hergenbach, die Tochter einer Freundin Hertas — Fräulein Lieschen Wichers aus Wershagen.«

Die schlanke Figur Ilses überragte das junge Mädchen bedeutend. Sie standen jetzt nebeneinander, und Wolfs Augen konnten über beide prüfend hinweggleiten. Ein Blick sagte ihm, daß das einfache Äußere von Lieschen Wichers niemals Ilse die Wage halten konnte. Was verkörperte sich alles in diesem seltsamen Geschöpf!

Herta, die jetzt gekommen war, drückte Lieschen freundlich die Hand und zog sie mit sich in den kleinen Damensalon hinein. Ilse und Wolf blieben einen Augenblick allein zurück.

»Ilse,« flüsterte er, und ein Zittern lief dabei durch seinen Körper, »seitdem ich dich im Arm gehalten, bin ich vollständig ruhelos. Ich habe mich die Nacht zu einem Entschluß durchgerungen und ich muß dich unbedingt sprechen.«

[S. 171]

Sie gab ihm keine Antwort darauf.

»So rede doch!« wurde er aufgeregter. »In einem Augenblick sind wir wieder mit den anderen zusammen.«

Sie schwieg jedoch beharrlich, und als sein Auge leidenschaftlich das ihre suchte, sah sie über ihn hinweg in das Dunkel des langen Korridors hinein.

»Ilse, du bringst mich noch zur Verzweiflung! Sprich endlich! Du hast doch an meiner Brust gelegen! Dein Mund duldete meine Küsse, und nun —«

Sie trat schnell in das Speisezimmer. Wolf stampfte mit dem Fuße auf, und ihr hastig nacheilend, flüsterte er im Vorbeigehen: »Es muß anders werden, Ilse, sonst hast du mich auf dem Gewissen!«

Lieschen Wichers schaute sich schon ein paarmal um, wo Wolf blieb. Als er jetzt, kaum Herr seiner Erregung, in den Salon trat, sah sie erstaunt zu ihm auf. Das war Wolf Plüddekamp nicht mehr, er schien ein ganz anderer geworden zu sein. Seine Blicke irrten unruhig umher, als er sie fragte:

»Wie schaut es in Wershagen aus! Wohl alles verschneit?«

»Ach — reizend!« erwiderte sie. »Sie sollten es nur sehen, Herr Plüddekamp! Auf den Dächern und Bäumen die großen Schneelasten, neben den Fahrwegen hohe weiße Mauern, und auf dem Futterplatz[S. 172] die lieben Tauben, Hühner und viele kleine, arme Wintervögel. Ich verschaffe ihnen reichliches Futter. Papa muß es schon herausrücken.«

Herta nickte ihr freundlich zu.

»So ist es recht, Fräulein Wichers! Nur für die armen Tierchen sorgen, wenn der Winter hart und kalt ist. Hier in der Stadt liest man immer in den Zeitungen: Sorgt für die Vögel! Sorgt für die Zughunde! und wie die schönen Aufrufe alle heißen. Ich bin im Tierschutzverein und suche namentlich die kleinen Hundewagen auf, die Milch, Gemüse und Kartoffeln von draußen hereinschaffen. Bauersleute und Händler haben nicht immer ein warmes Herz für die armen Tiere.«

Wolf nahm einen Platz, von dem aus er in das Speisezimmer sehen konnte. Lieschen Wichers plauderte in ihrer harmlosen Weise weiter. Er hörte es kaum. Seine Blicke bohrten sich förmlich in das andere Zimmer, ob sich Ilse nicht zeigen würde. Er bemerkte dann, wie sie mit den großen grauen Augen vorsichtig herüberlugte. Sie suchte ihn nicht, sie sah Lieschen Wichers an. War dies Neugierde, oder war es mehr? Zeigte sie Eifersucht — dann stand ja alles gut für ihn.


[S. 173]

XIV.

Rittergut Wershagen war Jahrhunderte im Besitz einer alten adligen Familie gewesen. Der letzte Herr von Wershagen verlor beide Söhne kurz nacheinander, und er selbst wurde bei seinem hohen Alter müde, den großen Gutsbetrieb weiter zu leiten. Ohne Nachkommen, beschloß er endlich schweren Herzens, das Rittergut zu verkaufen. Oberamtmann Wichers, der lange Jahre Domänenpächter gewesen war, hatte Wershagen preiswert erstanden. Als hochbegabter Landwirt brachte er den schönen Besitz zu außerordentlicher Ertragsfähigkeit. Wershagen wurde ein Mustergut, das seiner Kornerträgnisse wegen in den landwirtschaftlichen Jahrbüchern die größte Anerkennung fand. Wichers hatte keinen Sohn, der Wershagen einst übernehmen konnte. Die ganze Zärtlichkeit richtete sich deshalb auf seine Tochter Lieschen. Mehrere Freier aus der Nachbarschaft pochten an, die das hübsche Oberamtmannstöchterlein mit der Aussicht auf die wertvolle Besitzung Wershagen gern heimführen wollten. Aber Lieschen[S. 174] Wichers schaute nur nach einem aus, den ihr Herz ersehnte — Wolf Plüddekamp.

Schon im verflossenen Jahre hoffte sie, daß er um sie anhalten würde. Er blieb aber stets gleichmäßig vertraulich, obwohl ihr Auge zuweilen recht offen zu ihm sprach. Sie standen wie ein Paar gute Freunde zueinander.

Bei Lieschen Wichers ging in der letzten Zeit eine bedeutende Veränderung vor sich. Durch die lange Abwesenheit von Wolf empfand sie eine derartige Sehnsucht nach ihm, daß sie ihren Vater zu Plüddekamps begleitete. Oberamtmann Wichers wußte recht gut, wie es mit seinem Töchterchen bestellt war, und wollte sie gern glücklich sehen. —

Nach dem Frühstück im Plüddekampschen Hause machten sie noch einige Besorgungen und fuhren dann heimwärts. Das kleine Landfräulein verhielt sich an der Seite ihres Vaters recht einsilbig.

»Was hast du nur, Mädel?« fragte der Oberamtmann. »Du sitzt da wie eine verirrte Hoftaube.«

»Mir ist nichts, Vater,« erwiderte sie ernst.

»Du freutest dich doch so sehr auf die Fahrt, Lieschen!«

»Gewiß, Vater! Es war aber alles anders, wie ich es mir dachte.«

[S. 175]

»Hm,« machte dieser und zog die Zügel der Rappen fester an, daß sie in scharfen Trab fielen. »Es ist mir bei Plüddekamps aufgefallen, daß sich Wolf völlig verändert hat. Er kommt mir hochgradig nervös vor. In seinem Alter müssen die Nerven wie Schiffstaue sein. Mir scheint, daß das Fräulein aus Nordhausen keinen guten Einfluß auf die Geschwister ausübt.«

»Ich denke es auch, Vater,« erwiderte Lieschen. »Es trat leider sehr deutlich für mich hervor.«

»Ja, ja,« knurrte der Alte vor sich hin, während der Schlitten auf der glatten Bahn und bei der raschen Fahrt leicht zu schlenkern begann.

»Du wolltest schon lange Plüddekamps zu uns einladen,« setzte Lieschen das Gespräch nach einer Weile fort; »jetzt ist die beste Gelegenheit dazu.«

»Hast recht, Kind,« sagte der Oberamtmann. »Die Wildgänse und Wildenten fallen seit Tagen scharenweise ein. Jürgen ist unser bester Jäger. Wir bitten seine Geschwister, mit nach Wershagen herauszukommen, und geben ein Jagdessen — natürlich tipp-topp.«

»Das ist reizend, Vater! Wie gern bin ich damit einverstanden! Unsere Wildkammer ist noch reichlich gefüllt. Aber Fräulein Hergenbach ladest du doch nicht mit ein?«

[S. 176]

»Kind!« Wichers wandte sich um und sah sie erstaunt an. »Es geht kaum anders! Sie ist in der Familie Plüddekamp aufgenommen. Wir begingen einen Verstoß, wenn wir sie bei der Einladung ausschließen würden.«

Lieschen Wichers senkte den Kopf.

»Sie gefällt mir aber ganz und gar nicht, Vater,« stieß sie plötzlich aus.

»Mir auch nicht,« brummte der Oberamtmann. »Hat ein Paar Augen im Kopfe wie eine Katze, die auf Raub lüstern ist. Läßt sich aber nichts dran ändern, Lieschen, muß mit in den Kauf genommen werden.«


Die Schlittenbahn blieb gut. An Plüddekamps ging eine Einladung zur Jagd mit anschließendem Jagddiner in Wershagen sofort ab. Der Tag kam heran.

Lieschen Wichers hatte ein pelzbesetztes grünes Jagdkostüm angelegt, das sie allerliebst kleidete. Herta gab ihrem jüngeren Bruder einen leichten Rippenstoß.

»Wölfchen,« flüsterte sie, »sieh einmal Lieschen an! Was ist sie doch für ein prächtiges, frisches Mädchen.«

Wolf ließ den Blick flüchtig über sie hinweggleiten.

»Ja, ja,« erwiderte er eintönig. Gleichzeitig schaute er schon nach Ilse aus, die soeben zu Lieschen[S. 177] Wichers trat und sich bei ihrer großen, schlanken Figur leicht vornüberneigte, um mit ihr zu sprechen.

Nach einem kurzen Imbiß wurden die Schlittensitze eingeteilt. Es ging nach den Seen hinaus, auf denen die wilden Gänse in großer Anzahl einfielen. Oberamtmann Wichers trug für seine Frühjahrssaat Sorge. Es sollte deshalb unter den Eindringlingen tüchtig aufgeräumt werden.

Eine ganze Reihe tadellos bespannter Schlitten hielt vor dem Wohnhause. Die Gäste stiegen ein. Voran fuhr Oberamtmann Wichers mit Herta Plüddekamp, dann folgte Jürgen mit Ilse Hergenbach und Wolf mit Lieschen Wichers. Ein leerer Schlitten für die bereits draußen befindlichen Jäger beschloß den Zug.

Wolfs Schlitten wurde von ein paar flotten, jungen Pferden gezogen, die das schönste Schellengeläute trugen. Nun ging es hinaus in die prächtige Winterlandschaft nach den zusammenhängenden kleinen Seen. Förster und Inspektor von Wershagen sollten dort die Jagdgäste empfangen und ihnen den besten Stand anweisen.

Lieschen Wichers plauderte munter drauflos. Wolf hatte vorläufig genügend mit seinem jungen Gespann zu schaffen. Die beiden Lichtbraunen tänzelten vor dem Schlitten hin und her und waren nicht gewillt, in der Reihe zu bleiben. Ihrem Lenker, der[S. 178] sehr viel Sinn für allen Sport besaß, machte dies viel Vergnügen.

»Ein Paar tolle Racker,« sagte er zu Lieschen Wichers. »Ihr Papa scheint ein großes Vertrauen in meine Fahrkunst zu setzen.«

»Gewiß,« erwiderte Lieschen Wichers stolz, »sonst hätte er Ihnen nicht die beiden jüngsten und besten Pferde aus dem Stall gegeben.«

»Alle Hochachtung über die mir zugedachte Ehre, Fräulein Wichers! Sie kommen aber schlecht dabei weg.«

»Wieso?« fragte Lieschen erstaunt.

»Ich muß auf die Pferde aufpassen und kann mich nicht Ihnen widmen, wie ich es möchte.«

»O, dann lassen Sie mich fahren! Sie wissen doch, ich bin ein geschulter Kutscher. Papa hat mir von klein auf die Fahrleine in die Hand gegeben.«

Wolf mußte sie lachend abwehren, da sie bereits Anstalten traf, um seinen Platz einzunehmen.

»Ich darf doch die Zügel nicht aus der Hand geben! Was würden die anderen dazu sagen,« meinte er scheinbar vorwurfsvoll. »Es kommt dem Manne zu —«

»Zuweilen ist es ganz angebracht, Herr Plüddekamp, wenn die Frau den Mann ablöst,« fiel sie ein, und in ihren blauen Augen glänzte es wie klarer Wintersonnenschein.

[S. 179]

Wolfs Schlitten war dicht an den seines Bruders herangekommen. Die Pferde begannen zu galoppieren und wollten vorbei.

»Kein Rennfahren, Wolf!« ließ Jürgen seine starke Stimme erschallen.

Die Lichtbraunen ließen sich aber nicht halten, und Lieschen Wichers griff plötzlich in die Zügel hinein.

»Das Sattelpferd kürzer fassen, den Hals links abbiegen, Herr Plüddekamp, dann stoppt das Handpferd von selbst,« und wirklich — der Ratschlag war gut. Der Schlitten kam wieder in die Reihe hinein.

»Sehen Sie,« lachte das junge Mädchen. »Ein wenig verstehe ich von der Fahrkunst meines Vaters.«


Auf den Wershagener Seen war das Rohr bereits geschnitten. Von niedrigem Erlengebüsch umgeben, lag die weite weiße Fläche anscheinend still und eintönig da. Eine ganze Strecke vorher blieben die Schlitten halten und ihre Insassen stiegen aus. Die vorausgeschickten Stalleute hüllten die dampfenden Pferde in wollene Decken ein. Nun stapften alle tüchtig durch den Schnee, die Flinten im Arm. Der Förster und Inspektor kamen ihnen entgegen.

»Auf dem oberen See liegt ein ganzer Schwarm wilder Gänse, Herr Oberamtmann,« meldete der[S. 180] Förster. »Wir müssen aber vorsichtig heranschleichen, sonst fliegen sie auf. Es sind ein paar große Schneewehen davor, die uns einigermaßen decken.«

Jürgen richtete sich auf. Seine ganze Gestalt schien zu wachsen. Die Pelzmütze etwas von der Stirn zurückschiebend, schauten seine scharfen Augen zu den Seen hinüber. Die Jagdlust erwachte in ihm. Es war die einzige Leidenschaft, die er außer seinem Geschäft besaß. Ilse betrachtete ihn mit leuchtenden Blicken. Sie hätte laut aufjauchzen mögen, so schlug ihr plötzlich das Herz.

Er hatte während der Fahrt mit ihr freundlich geplaudert. Der sonst so schweigsame und ernste Geschäftsmann konnte zuweilen dem Leben auch frohe Seiten abgewinnen. Jürgen kannte Nordhausen und ihr Elternhaus. Er war in früheren Jahren mehrmals dort gewesen, um die geschäftlichen Beziehungen fester zu gestalten.

»Was macht ihr zwei nun?« fragte Jürgen, sich an Herta und Ilse wendend, die nicht jagdmäßig ausgerüstet waren.

»Wir tragen die Beute heim,« erwiderte Ilse.

»So,« stieß Jürgen gedehnt aus, »sind Sie ihrer schon gewiß?«

»Ich hoffe es bestimmt.« Dabei schaute sie ihn bedeutungsvoll an.

[S. 181]

Die Jagd begann. Vorsichtig schlichen alle hinter den mächtigen Schneewehen auf den oberen See zu. Jürgen und der Oberamtmann kamen schneller vorwärts. Wolf und Lieschen Wichers bogen etwas nach links ab, während der Förster und der Inspektor weit voraus mit hochgehaltener Hand die Richtung angaben.

»Wir stehen im zweiten Treffen,« sagte Lieschen zu ihrem Begleiter. »Der Schwarm steigt also in die Höhe, ehe wir zum Schuß kommen. Wir wollen aber den anderen ein Schnippchen schlagen und gehen jetzt ganz nach links auf das Erlengebüsch zu. Es bietet uns gute Deckung. Die Wildgänse müssen, nach dem Stand der anderen Schützen zu schließen, bei uns vorüberfliegen. Wir haben die besten Aussichten, ein paar herunterzuholen.«

»Ganz mein Fall!« meinte Wolf, der jetzt Lust bekam, das Jagdglück zu erproben. »Sie sind wirklich eine gute Beraterin, Fräulein Lieschen!«

Eine breite Schneewehe lag vor ihnen, sie mußten diese durchschreiten.

»Oho,« lachte Lieschen Wichers laut auf und war tief in den Schnee eingesunken. Es schien ihr das größte Vergnügen zu bereiten.

Sofort sprang Wolf an ihre Seite, faßte sie leicht um die Taille und hob sie heraus. Er trug hohe Jagdstiefel, es machte ihm nichts aus, weit hinein zu geraten.

[S. 182]

»Sie haben ja staunenswerte Kräfte, Herr Plüddekamp!« rief Lieschen belustigt. »Sie heben mich wie eine Daunenfeder hoch.«

Wolf erwiderte in der gleichen Tonart:

»So leicht sind Sie wirklich nicht, Fräulein Lieschen. Ich habe mich ganz gehörig plagen müssen,« und er schaute dabei auf ihre rundlichen Formen hin.

Sie sah schelmisch zurück.

»Ich habe neue vierhändige Stücke in Stettin gekauft. Kommen Sie bald wieder heraus, Herr Plüddekamp. Heute wird doch nichts aus unserem Spiel.«

»Warum nicht, Fräulein Lieschen? Nach dem Essen!«

»Ach, das wird endlos bei Papas Flaschenbatterien! Dann fahren Sie bald zurück. Ich erwarte Sie also bestimmt in den nächsten Tagen, aber als Solokrebs.«

Ihr Auge ruhte mit voller Innigkeit auf ihm, als sie seine zusagende Antwort erwartete.

»Ich kann jetzt schwer abkommen, Fräulein Lieschen,« erwiderte er zögernd. »Das Frühjahrsgeschäft muß vorbereitet werden. Jürgen läßt mich nicht aus dem Kontor fort.«

»Ich sage es ihm selbst, dann tut er es,« fiel sie energisch ein. »Seine Anwesenheit reicht aus. Sie kommen mir gar nicht wie ein Kaufmann vor, Herr Plüddekamp, und eignen sich viel mehr zum Rittergutsbesitzer![S. 183] Warum haben Sie überhaupt nicht die Landwirtschaft erlernt?«

»Daran dachte ich früher nicht,« zuckte Wolf mit den Achseln. »Ich wäre am liebsten Offizier geworden. Freilich — der Kaufmannsstand paßt mir sehr wenig.«

»Machen Sie es wie die Raupen im Frühjahr, die entpuppen sich.«

»Nein,« schüttelte er mit dem Kopf. »Das Plüddekampsche Hausgesetz schreibt mir vor, in den Bahnen meiner Väter zu wandeln.«

»Dann durchbrechen Sie die Regel,« lachte Lieschen hell auf, »wenn auch die alten Herren auf ihren Bildern die Köpfe verwundert schütteln werden.«

In diesem Augenblick fielen am oberen See eine Anzahl Schüsse schnell hintereinander.

»Jetzt wird's die höchste Zeit,« rief Lieschen aus. »Wir müssen an die Erlen heran. Laufen wir, Herr Plüddekamp!« Flink wie ein Wiesel rannte sie vorwärts.

Sie sah so zierlich und nett dabei aus, daß Wolf seine helle Freude hatte und mit langen Sätzen neben ihr hereilte.

»Wir machen es wie unsere Lichtbraunen!« rief Lieschen weiter, »aber nicht durchgehen, Herr Plüddekamp!«

Von weitem ertönte schon das starke Geschnatter der Wildgänse.

[S. 184]

»Sie steigen auf! Achtung!« stieß sie hastig aus.

Sie blieben mitten im tiefen Schnee stehen, die Flinte im Anschlag. Ein Schwarm wilder Gänse kam verwirrt heran. Man sah, wie sie bestrebt waren, sich zu ordnen.

»Halten Sie auf die Spitze des Zuges,« rief Lieschen im Jagdeifer, »noch ist er nicht hoch und zu erreichen! — Jetzt — Schuß!«

Ein Doppelknall erfolgte. Oben in der Luft schlug eine Wildgans gewaltig mit den Flügeln. Der ganze Schwarm stieg rasch höher, während die Getroffene immer noch flatternd zurückblieb, langsam niedersank und, sich plötzlich überschlagend, tief in die weiche Schneedecke herabschoß.

»Was sagen Sie nun, Herr Plüddekamp? Wir zwei haben eine Gans geschossen!«

»Ich nicht,« meinte Wolf bedächtig, »ich glaube — ich habe das blaue Himmelszelt getroffen.«

»Merken Sie sich die Stelle, an der die Wildgans heruntergegangen ist. Es wird nicht lange dauern, dann kommt die zweite Auflage.« Sie schob neue Patronen in den Doppellauf des Gewehres hinein.

Wolf setzte seine Büchse ab.

»Ich habe heute kein Jagdglück,« sagte er.

»Doch, Herr Plüddekamp,« fiel Lieschen ein. »Ein Mann wie Sie hat immer Glück.«

[S. 185]

Es kam dies so offen und ehrlich heraus und ihre Augen richteten sich so verheißungsvoll auf Wolf, daß er darin hätte leicht lesen können: das größte Glück steht an deiner Seite.

Trotz der warmen Strahlen der Sonne flog Wolf ein kalter Schauer über den Rücken. Auf einem weiter unterhalb der Seen gelegenen Hügel waren Herta und Ilse plötzlich aufgetaucht. Unwillkürlich wandte sich sein Blick dorthin. Er seufzte tief auf.

»Was haben Sie?« fragte Lieschen Wichers erstaunt.

»Nichts,« erwiderte er kurz. Er wußte aber wohl, was in ihm vorging.

Ein zweiter Schwarm wilder Gänse und vereinzelte Wildenten zogen vorüber, aber in solcher Höhe, daß ein Treffen unmöglich wurde.

»Holen Sie unsere Beute,« bat Lieschen, zu Wolf gewandt. »Ich gehe inzwischen zu Ihrer Schwester, und Sie kommen mir dorthin nach.«

Wolf mußte über das Eis des Sees schreiten, die Wildgans war in schräger Richtung am jenseitigen Ufer niedergegangen. Lieschen winkte ihm noch von weitem mit der Hand. Er kam in dem tiefen Schnee nur langsam vorwärts, dabei fröstelte ihn. —

Nach einiger Zeit versammelten sich alle bei den Schlitten. Die jungen Lichtbraunen waren recht unruhig, und Jürgen rief seinem Bruder zu:

[S. 186]

»Gib gut acht, Wölfchen!«

»Seien Sie ohne Sorge, Herr Plüddekamp!« lachte Lieschen hell auf. »Ich bin doch da, um aufzupassen.«

Der erste Schlitten ging im schnellen Trabe voran. Die anderen drei folgten. Die Pferde griffen nach dem langen Stehen mutig aus, zumal es nach dem Stall ging. Namentlich die Lichtbraunen gallopierten fortgesetzt und waren kaum zu bändigen.

»Fahr zu, Wolf!« rief Jürgen laut, »wenn die Braunen voran sind, werden sie ruhiger gehen!«

Dieser hatte in dem kurzen Augenblick, während er im Schlitten vorbeisauste, einen Blick auf Ilse geworfen. Jürgen hielt seine Pferde fest in den Zügeln, sie sah mit den großen Augen stolz zu ihm auf. Wolf vergaß vor Ärger die Führung seiner Pferde; der Schlitten ging über eine Schneewehe und kam vollständig schräg zu stehen.

»Oho, Wolf!« rief Jürgen ihm nach. »Beinahe hättest du eine Kippe gemacht!«

Die Lichtbraunen aber jagten schon eine ganze Strecke voraus, und Jürgen wurde besorgt.

»Sein Temperament reißt ihn wieder einmal fort,« brummte er vor sich hin. »Hätte Wolf nur mehr Ruhe in sich,« sagte er dann halblaut.

Ilse hatte es gehört und erwiderte:

»Herr Wolf ist manchmal recht ungestüm.«

[S. 187]

»Sooo,« meinte Jürgen gedehnt, »haben auch Sie dies an ihm bemerkt?«

»Ja,« brachte sie ganz leise hervor, sah ihn aber durchdringend dabei an. »Ich habe es über mich ergehen lassen müssen.«

»Müssen!« wiederholte Jürgen scharf. »Nein, Fräulein Hergenbach, Sie haben es nicht nötig! Wolf ist noch eine stürmische, nicht abgeklärte Natur. Weisen Sie ihn in seine Schranken zurück.«

»Ich werde es tun, Herr Plüddekamp! Aber —« sie stockte.

»Nun und?« fragte Jürgen.

»Wenn Sie, Herr Plüddekamp —«

»Ja, was soll ich dabei,« entgegnete er barsch, »ich stehe doch nicht immer neben Ihnen!«

»Sie können viel tun, Herr Plüddekamp. Ihre Worte fallen schwer in die Wagschale. Herr Wolf ist manchmal ganz eigenartig zu mir — ich weiß selbst nicht, was ich davon halten soll. Ich fühle mich glücklich in Ihrem Hause, und doch wird es mir zuweilen schwer, das richtige Verhalten in allen Dingen zu finden. Darum bitte ich Sie — Herr Plüddekamp — mir beizustehen.«

Er sah sie an. Ihre Augen strahlten in voller Leidenschaft. Es wurde einen Augenblick hindurch siedendheiß in ihm. Was für eine Frau saß an seiner[S. 188] Seite? Welche Gewalt übte dieses Geschöpf selbst über ihn, den ruhigen Mann, aus! Es lag eine große Gefahr in ihr. — Sollte er? — Nein, nein, und dreimal nein! — Sein Lebensweg war vorgezeichnet. Zurück mit solchen Gedanken! — Er hob die Peitsche und hieb auf die Pferde ein, daß sie zum Galopp ansprangen und der Schlitten vorwärtsflog. — Er hatte überwunden, und seine eiserne Ruhe kehrte zurück.

»Es wäre besser gewesen, Sie kamen nie zu uns,« erwiderte er kalt. »Ich habe es auch nicht gewollt. Hätte ich gewußt, welchen Einfluß Sie auf Wolf ausüben würden, so wäre ich Herta schärfer gegenübergetreten.«

»Herr Plüddekamp!« schrie sie gequält auf. »Sie nehmen mir durch Ihre Worte das Recht, länger in Ihrem Hause zu bleiben.«

»Gewiß nicht, Fräulein Hergenbach! Ich habe meinen ersten Standpunkt aufgegeben. Herta sagte mir, daß Sie sehr tüchtig in der Hauswirtschaft sind. Ich bitte Sie nur um eins, lassen Sie Wolf ganz aus dem Spiele!«

»Ich tue ja alles, daß er mir nicht nahe kommt, Herr Plüddekamp!« stieß sie erregt aus. »Ich beeinflusse sein Wesen in keiner Weise. Aber wie soll ich mich schützen, wenn er auf mich einstürmt —«

»Kalt bleiben,« sagte Jürgen kurz, »das genügt!«

[S. 189]

In diesem Augenblick sah er, wie ein Schwarm Krähen, der eine Strecke voraus auf der Schneedecke lagerte, plötzlich mit lautem Gekrächze aufflog.

Die Pferde Wolfs scheuten vor dieser schwarzen aufsteigenden Wolke und jagten in starkem Galopp davon. Lieschen Wichers griff mit beiden Händen in die Zügel. Dabei mußte sie zu sehr nach rechts gezogen haben, die Pferde bogen vom Wege ab, durchquerten eine Schneewehe und kamen aufs freie Feld hinaus. Dort rasten sie im weiten Bogen umher. Wolf strengte seine ganze Kraft an, um sie wieder an die Zügel zu bringen.

Sie sausten jetzt in vollem Galopp auf den Weg zu. Der Schlitten von Jürgen befand sich in gleicher Höhe.

»Weiter rechts, Wolf!« rief Jürgen.

Es war bereits zu spät. Krachend stießen sie zusammen.

Jürgens Schlitten wurde zur Seite geschleudert. Ilse flog heraus und schlug mit dem Kopf gegen einen am Wege stehenden Weidenstamm. Die Lichtbraunen rannten weiter. Nur mit Mühe konnte Jürgen seine ebenfalls aufgeregten Pferde zum Stehen bringen. Die Leine in der rechten Hand haltend, stieg er aus und beugte sich zu Ilse hernieder, um sie mit seinem freien linken Arm aufzuheben.

[S. 190]

Sie mußte einige Minuten bewußtlos gewesen sein. Als aber Jürgen ihren Körper berührte, schlug sie, wie aus einem Traum erwachend, die Augen groß zu ihm auf, ihre Arme umschlangen plötzlich seinen Hals, sie preßte sich fest an ihn, und »Jürgen, Jürgen!« klang es von ihren Lippen.

»Sie vergessen sich, Fräulein Hergenbach,« sagte er ernst und löste seinen Arm von ihr. »Für Sie bin ich auch in einem solchen Augenblick — Herr Plüddekamp.«

Sie ließ von ihm ab, taumelte zurück und sank in sich zusammen.

»Was ist mit mir geschehen?«

»Haben Sie sich verletzt?« fragte Jürgen kalt.

»Nein!« Sie stöhnte auf, als ob sie eine schwere Wunde empfangen hätte. »Es wird vorübergehen.« Dabei versuchte sie, sich aufzurichten.

Mit gewaltiger Kraftanstrengung brachte Jürgen den Schlitten aus dem tiefen Schnee wieder auf die Bahn zurück.

»Steigen Sie ein, Fräulein Hergenbach! Herta und Oberamtmann Wichers kommen schon heran.«

Ohne ein Wort weiter zu wechseln, fuhren sie nach dem Gutshofe.


[S. 191]

XV.

Über dem Jagdessen hatte eine düstere Stimmung gelegen, die selbst Oberamtmann Wichers in seiner jovialen Weise nicht bannen konnte. Ilse saß bei Tisch wie eine leblose Statue an Jürgens Seite. Es wirkte dies lähmend auf die übrigen Gäste. Selbst Lieschen Wichers, das frohsinnige Geschöpf, wurde davon angesteckt. Wolfs Augen waren fortwährend auf Ilse gerichtet. Nach Aufhebung der Tafel fuhren Plüddekamps sofort nach Stettin zurück.

»Nun brat mir einer eine Gans, aber recht knusprig,« sagte Oberamtmann Wichers, als die Geschwister fort waren. »Die Sache hat keinen guten Anstrich.«

Lieschen Wichers war auf ihr Zimmer gegangen und weinte bitterlich.


Jürgen und Wolf befanden sich am anderen Tage im Kontor stumm gegenüber. Keiner von beiden mochte das Gespräch anfangen. Es lag wie eine gefüllte Mine zwischen ihnen, die nicht entzündet[S. 192] werden sollte. Prokurist Armin kam wie täglich herein, um von Jürgen die Anordnungen entgegenzunehmen. Wolf erhob sich.

»Du mußt mich heute entschuldigen, Jürgen! Ich habe starke Kopfschmerzen und will einen Spaziergang machen.« Er stand auf und ging hinaus.

Jürgen stützte seinen Kopf schwer auf die Hand. Er besprach dann langsam die schwebenden Angelegenheiten.

»Gestern war Herr Konsul Martens hier,« sagte Armin, »er wollte Herrn Wolf Plüddekamp fragen, ob Smiders & Sohn den Hamburger Herrn als stillen Teilhaber aufgenommen haben.«

Jürgen zuckte mit den Achseln.

»So viel ich weiß, ist es noch nicht so weit. Mein Bruder hat wenigstens nichts davon erwähnt.«


Es war Tauwetter eingetreten. Die Straßen waren naß und schlüpfrig, von den Dächern tropfte der schmelzende Schnee herab.

Wolf Plüddekamp ging durch die Anlagen, und der sonst so lebenslustige junge Mann schien ganz in Gedanken versunken zu sein. Er achtete kaum darauf, wer ihm begegnete.

»Holla, junger Freund,« weckte ihn plötzlich die Stimme des Konsul Martens, der seinem Geschäft zueilte, aus dem tiefen Sinnen auf. »Wohin wollen Sie?«

[S. 193]

»Ziellos in die Welt!« erwiderte Wolf.

»Das darf man nie, Freundchen,« erwiderte der Bankier. »Man muß stets ein Ziel vor Augen haben.« Er sah darauf den jungen Mann schärfer an. »Haben Sie gestern eine starke Sitzung gehabt?« fragte er weiter.

»Nein, Herr Konsul! Wir waren in Wershagen zur Jagd.«

»Natürlich hat Jürgen wieder die größte Strecke gehabt.«

»Stimmt auffällig! Er erlegte eine stattliche Reihe Wildgänse.«

»Und Sie?«

»Eine — dabei nur gemeinschaftlich mit Fräulein Lieschen Wichers. Wer sie eigentlich getroffen, wußten wir selbst nicht.«

»Macht nichts, lieber Freund! Mit Lieschen Wichers können Sie sich ruhig in das Jagdglück teilen. Überhaupt — das Fräulein ist eine Partie für Sie! Ich habe schon immer etwas munkeln hören. Greifen Sie doch zu! Neulich war der Oberamtmann mit seinem Töchterlein bei mir. Ich darf zwar nicht ausplaudern, aber das kann ich Ihnen doch sagen, die Staatspapiere, die er auf der Bank liegen hat, werden außer Wershagen eine stattliche Mitgift für die einzige Tochter sein. Sie können sich dann später den Roggen gleich selbst bauen, den Sie im Geschäft brauchen.«

[S. 194]

Wolf hatte den alten Freund der Familie ruhig sprechen lassen. Er seufzte jetzt tief auf.

»Es ist richtig, was Sie sagen, Konsul Martens! Ich würde mich vielleicht auch eines Tages dazu entschließen, wenn nicht —«

»Nanu,« meinte Martens verdutzt, »haben Sie noch mehr Ernsthaftes im Sinne?«

»Ja!« fuhr es Wolf heraus. »Sind Sie eilig, in Ihre Bank zu kommen, oder können Sie noch mit mir ein wenig spazieren gehen?«

»Gern,« erwiderte der Konsul. Sie schritten langsam auf den nassen Wegen dahin. Hie und da war der Schnee zu einer großen Wasserlache geworden, die sie in weitem Bogen umschreiten mußten.

»Sie waren als junger Mann in Berlin?« begann Wolf plötzlich zu fragen.

»Allerdings,« nickte der Konsul.

»Sie erlebten dort manches?«

»Natürlich,« erwiderte der Konsul lächelnd, »man muß sich doch in seiner Jugend die Hörner abstoßen, wie man so zu sagen pflegt —«

»Und sind dann Junggeselle geblieben!«

»Leider!« stieß Martens aus. »Sie wissen ja auch, warum.«

»Gut! Sagen Sie mir jetzt, Konsul Martens: gibt es Frauen, die einen Mann so fesseln können,[S. 195] daß die Leidenschaft, die man für sie fühlt, ein Leben hindurch aushält?«

Der Bankier schaute erstaunt auf.

»Ei, ei, lieber Freund Wolf, das ist eine heikle Frage! Wie soll ich Ihnen diese beantworten! — Es kommt ganz auf Charakter und Temperament an. Zum Guten führt es wohl selten. Für eine Ehe braucht man mehr. Dazu gehört vor allen Dingen eine beiderseitige Herzensbildung, gleiche Neigungen und ein alles umfassendes Wohlwollen, das man sich täglich und stündlich angedeihen lassen muß. Eine Ehe soll nicht Sturm auf dem Meere bedeuten, sondern Frieden und Ruhe im Hafen an einem sicheren Anker.«

»Und wenn man dies nun nicht kann!« fuhr Wolf plötzlich auf. »Wenn es nicht möglich ist, daß man sich in ein solches Los hineinfindet? Wenn man sich mit allen Gedanken an ein Geschöpf kettet, das jeden Nerv in einem erregt! Dieses Geschöpf aber herumflattert, wie eine angeschossene Weihe, die noch im letzten Augenblick mit ihren Fängen zuschlagen will, — was soll man dann tun?«

»Brr!« schüttelte sich Konsul Martens, »was malen Sie für Bilder, lieber Wolf! Mit Raubvögeln mag ich nichts zu schaffen haben. Die läßt man hübsch beiseite. Das Interesse ist höchstens für einige flüchtige Minuten, — aber nicht für das Leben. Ich weiß[S. 196] wohl, wen Sie meinen! Übrigens, Sie stehen damit nicht allein da. Es ging mir gerade so. Ilse Hergenbach, diese meinen Sie doch, hat auf uns alle eine merkwürdige Anziehungskraft ausgeübt. Wissen Sie, Freundchen, — sie ist ein Weib, das uns eine Zeitlang berauschen, aber nie beglücken wird.« Er setzte dann ernst hinzu: »Lassen Sie die Hand davon, Wolf Plüddekamp!«

»Ich kann es nicht mehr! Ich kann es wirklich nicht mehr,« sagte der junge Mann mit ganz verstörtem Gesichtsausdruck. »Ich erliege fast unter den seelischen Qualen, die ich in den letzten Monaten erduldet habe. Wenn Sie wüßten, was alles unter uns vorgefallen ist, und dabei bin ich heute noch keinen Schritt weiter wie am ersten Tage! Es packt mich zuweilen eine Eifersucht, wenn sie andere Männer ansieht, daß ich rein toll werden könnte. Mit dem ersten Blick aus ihren grauen, rätselhaften Augen hat sie meinen ganzen Gemütszustand in eine wilde Erregung gebracht. Sie muß mein werden!«

»Pah, pah! Lieber junger Freund,« erwiderte Konsul Martens. »Verstehe, verstehe! Ich bin gut zwei Dutzend Jahre älter als Sie, da denkt man ruhiger über solche Leidenschaft. Ich habe Fräulein Hergenbach mehrfach beobachtet! Ich glaube, wir erleben noch etwas an ihr —«

[S. 197]

»Dann bin ich dabei,« sagte Wolf kurz. »Ich ändere nichts mehr daran.«

»Holla, mein Herr Wolf! Ehe Sie einen törichten Schritt vornehmen, vertrauen Sie sich erst vor allen Dingen Ihrem Bruder Jürgen an.«

»Das kann ich nicht, Konsul Martens! Jürgen versteht mich nun einmal nicht!«

Sie waren bis zu der Straße gekommen, bei der Konsul Martens abbiegen mußte, um in sein Geschäft zu gelangen.

»Na, Gott befohlen! Wenn Sie eine Aussprache brauchen, so stehe ich gern zur Verfügung, schon um meiner Freundin Herta willen, die tief betrübt sein würde, wenn sich das Leben ihres Lieblingsbruders nicht glücklich gestaltete.« —

Wolf trieb es noch eine Zeitlang ruhelos umher. Als er dann endlich den Schritt heimwärts wandte und die große Haustreppe emporstieg, vernahm er plötzlich die Stimme von Alfred Smiders. Er kannte diesen nachlässigen, halb vornehm sein sollenden, halb vertraulichen Ton.

»Fragte schon Fräulein Plüddekamp nach Ihnen, Schönste. Ich freue mich, unter den breiten wohlbehäbigen pommerschen Gesichtern so interessante Züge zu sehen, wie die Ihrigen. Zum Teufel! Ich war ganz entzückt, als ich mich Ihnen in Swinemünde[S. 198] nähern konnte. Hatte Sie schon früher beobachtet. Sie waren auf der Lastadie. Solche Prachtaugen vergißt man nicht leicht.«

Wolf war mit ein paar hastigen Sprüngen oben. Er sah, wie Ilse stumm, mit gesenkten Blicken vor Smiders stand.

»Morgen, Alfred!« rief er so laut, daß sich dieser rasch umdrehte.

»Ah — Wölfchen!« Der anfangs überraschte Reeder faßte sich sofort wieder. »Freut mich, daß ich dich noch antreffe, habe deiner Schwester die schuldige Ehrfurcht bezeigt.« Er reichte Wolf die Hand hin, die dieser nur widerstrebend nahm.

Ilse war wie vom Erdboden verschwunden.

»Wie steht es mit dem Brief?« fragte Smiders darauf hastig. »Warum bist du nicht nach der ›Grünen Schanze‹ gekommen? Riekchen weint sich bald die Augen aus. Wir wollen uns doch heute nachmittag dort treffen. Komm um sechs Uhr, und jetzt — Leb wohl! Ich habe noch einen eiligen Gang vor.«

Die ganze Szene ging so blitzschnell an Wolf vorüber, daß er Smiders verwundert nachschaute, als dieser bereits die Treppe hinunterstieg.

»Ein miserabler Bursche!« Er trat heftig mit dem Fuß auf. »Mit welchen faden Schmeicheleien er sich an Ilse herandrängen wollte! Er glaubt in ihren[S. 199] Augen zu lesen, wonach sein Wunsch steht. Ich dulde es nicht länger, daß sie derart umflattert wird.« —

Jürgen Plüddekamp war sehr ernst gestimmt. Beim Mittagessen sprach er kein Wort, und es fiel Herta auf, daß er Ilse Hergenbach gar nicht beachtete. Auch diese zeigte ihm gegenüber eine große Zurückhaltung. Ihr Antlitz war bleicher als sonst. Sobald sie die Augenlider aufhob, schoß ein düsterer Blick hervor, der von gewaltigen inneren Kämpfen sprach. Jürgen hatte Ilse Hergenbach, wie er es bei seinen Geschwistern tat, nach der Mahlzeit stets die Hand gereicht. Dies fiel heute fort. Beide wandten sich stumm von einander ab.

Wolf hatte die Speisen kaum angerührt. Auf Hertas Frage gab er zur Antwort, daß er sich nicht wohl befinde.

»Ich habe ein gutes Mittel in der Hausapotheke, Wölfchen. Soll ich es dir holen?«

»Danke, nein!« entgegnete Wolf kurz, »mir helfen jetzt keine Pulver.«

»Was ist nur mit euch Männern los? Es ist kaum auszuhalten! Jürgen beträgt sich wie ein alter Brummbär, du machst eine jämmerliche Miene. Wohin soll dies führen?«

»Ich hoffe, es wird bald anders sein, Schwester,« erwiderte Wolf ernst; damit ging er nach seinem Zimmer hinauf.

[S. 200]

Am Nachmittag arbeitete Jürgen wie immer im Kontor. Herta war ausgegangen, und die oberen Räume des Hauses lagen in tiefster Ruhe. Wolf befand sich auf seinem Zimmer. Er stand lauschend an der Tür und hoffte jeden Augenblick, den flüchtigen Tritt von Ilse zu vernehmen. Er wollte und mußte sie heute allein sprechen. Plötzlich kam es ihm vor, als ob jemand leise nach dem kleinen Salon zuschritte. Dies konnte nur Ilse sein. Sofort war er hinaus und schlich sich auf den Zehenspitzen bis zum Speisezimmer hin. Hier trat er ein und ging lautlos über den dicken Teppich bis zum Nebenzimmer.

Ilse hatte sich vor dem kleinen Ebenholztisch auf einen Polstersessel niedergelassen und war im Begriff, die Mappe mit den großen Kunstblättern zu öffnen. Ehe sie dies ausführen konnte, stand Wolf schon hinter ihr.

Sie sah sich scheinbar erschrocken um, und doch hatte sie ihn erwartet. Sie wußte, daß er jede Gelegenheit aufspürte, um ihrer habhaft zu werden, und erinnerte sich dabei an seine früheren Worte.

Seit dem gestrigen Tage war in ihr ein Haß aufgestiegen, wie er nur aus einer abgewiesenen heißen Liebe entstehen kann. In Jürgen hatte sich alles für sie verkörpert, was sie ersehnte. Nun wollte sie sich an ihm durch den Bruder rächen.

[S. 201]

»Ilse! Endlich treffe ich dich allein!« Wolf legte seine Hand auf ihre Schulter und fühlte, wie ihr ganzer Körper unter diesem Druck zu zittern begann. »Warum gingst du mir aus dem Wege? Hast du keine Liebe für mich?«

Sie wandte ihm das Gesicht zu. Ein heißer Blick aus ihren Augen traf ihn.

»Was kann ich Ihnen sein!« erwiderte sie mit zuckenden Lippen. »Ich — das arme Brennermädel — die Hexe Ilse!«

»Was du mir sein kannst!« jubelte er laut. »Alles! Alles! Meine innig Geliebte — mein Weib! Ich kann mir nichts Schöneres denken, als an deiner Seite zu leben! Ich will nur dich — dich — Ilse und weiter nichts! — Mögen Herta und Jürgen mir gram sein, ich bin fest entschlossen, dich zu heiraten.«

Sie senkte den Kopf und schluchzte krampfhaft auf.

»Nein, nein, Wolf! Ihre Geschwister wollen es nicht! Sie behandeln mich nicht danach! Ich muß fort! Sie werden nur unglücklich durch mich.«

»Ich unglücklich?« jauchzte er auf. »Toll vor Glück werde ich!« Er riß sie empor und preßte sie gewaltsam an sich. »Sieh mich an — deine Augen haben so Wunderbares für mich.«

Sie schaute zu ihm auf. Ihre Blicke ruhten in den seinen.

[S. 202]

»Ilse!« schrie er dann, »das Blut tobt in mir! Ich weiß kaum, wie ich es ertragen soll; du mußt mein sein — mein für immer!«

»Sie wollen meinetwegen den Kampf mit Ihren Geschwistern aufnehmen, Wolf?«

»Sage du, du!« rief er glückstrahlend aus.

Da bebte es von ihren Lippen:

»Wolf — du — ich will dir ja — folgen —« Ilse war wie verwandelt. Sie schlang die Arme um seinen Hals und zog ihn wild an sich. Ein Rausch umfing beide, aus dem sie sich kaum wiederzufinden vermochten.

»Ich werde noch heute Jürgen und Herta sagen, daß wir uns verlobt haben,« suchte sich Wolf zu fassen.

»Nein, nein,« bat sie, »laß uns noch die Heimlichkeit. Ich fliehe dich jetzt nicht mehr, — ich gehöre dir an! Wir wollen recht oft zusammen sein. Ach, — die Stunden, — die nun kommen werden —«. Wieder und immer wieder schlang sie die Arme um ihn. Sie atmete eine glühende Leidenschaft aus. Das Feuer, das in ihren Augen aufflammte, sprach mehr, als Worte zu sagen vermögen ...

»Ich werde es doch lieber meinen Geschwistern mitteilen, Ilse!« wiederholte er hastig.

»Dann kann ich nicht länger hier bleiben und muß nach Nordhausen zu meinen Eltern zurück. Es geht nicht anders, ich bitte dich darum, Wolf —«

[S. 203]

Seine Gedanken ordneten sich.

»Ja, ja! Du hast recht, Ilse! Leider hat die Welt so sonderbare Ansichten. Wenn wir uns offen als Verlobte bekennen, müssen wir uns sofort trennen. Ich kann dich aber nicht fortlassen —«

»So bleibt uns nur die Heimlichkeit, Wolf!«

Er preßte ihre Hand.

»Ich verspreche es dir, Ilse —«

Nach einer geraumen Weile fragte er sie:

»Was hast du nur mit Jürgen? Die schroffe Art, mit der ihr euch seit gestern gegenübersteht, ist doch nicht allein durch den Unfall hervorgerufen! Er konnte doch nichts dafür! Meine schlechte Fahrerei war daran schuld. Du würdest sonst nicht aus dem Schlitten gestürzt sein. — Vertrau es mir an, Ilse.«

Eine Weile blieb es stumm, dann kam es zögernd heraus:

»Jürgen verlangte von mir, daß ich mich kalt und abwehrend gegen dich verhalten solle. Er will keine Annäherung zwischen uns dulden.«

Wolf brauste heftig auf.

»Nun sehe ich endlich klar, wohin der Chef des Hauses Plüddekamp zielt! Mein Wille steht aber aufrecht neben dem seinen! Wir werden dies alte Heim verlassen und uns ein neues gründen.«


[S. 204]

XVI.

Die ersten Frühlingsboten kamen ins Land. Oder und Haff waren schon längere Zeit eisfrei. Die Schiffahrt hatte begonnen. Die meisten Dampfer befanden sich auf ihren regelmäßigen Fahrten. Nur der verflossene harte Winter rief eine sonst selten eintretende Pause im Dampferdienst hervor.

Das Leben im Plüddekampschen Hause lief wie früher eintönig dahin. Wolf war merkwürdig ruhig geworden, es stand sogar öfters ein glückliches Lächeln in seinem Gesicht. Herta und Jürgen konnten sich nicht vorstellen, woher diese Veränderung in seinem Wesen stammte. Weder Ilse noch Wolf verrieten das Geringste, aus dem die Geschwister auf irgendeine Annäherung der beiden zu schließen vermochten.

Wolf war eifrig im Geschäft tätig, so daß Jürgen zuweilen ganz verwundert zu seinem Bruder hinüberschaute, wenn er für verwickelte Geschäftssachen bereits alles vorgearbeitet fand. Nur mit Smiders mochte Wolf nicht mehr zusammentreffen, um mit dessen Maßnahmen vertraut zu bleiben.

»Ich wünschte, Jürgen, ich brauchte es nicht,« sagte er zu diesem, und es zuckte dabei eigenartig über[S. 205] die Züge des jungen Mannes. Schließlich mußte er sich doch der Angelegenheit unterziehen. Es war ihm höchst unangenehm, daß er dabei mit der blonden Rieke in einem gewissen Einvernehmen stand. Je öfter er gezwungenermaßen dorthin ging, desto vertraulicher wurde sie zu ihm. Sie sandte ihm sogar Briefe und machte darin auf manches aufmerksam. Zum Schluß kamen auch persönliche sehnsüchtige Wünsche hervor. Wolf verbrannte jedes dieser Schreiben.

Der Hamburger Kapitalist, Herr Kneis, zögerte immer noch, Smiders seine Zusage zu erteilen. Er wartete auf das Einlaufen der anderen Dampfer.

»Unsere spanische Lieferung wird außerordentlich dringend,« hatte Armin zu Jürgen gesagt. »Die Briefe von den Brennereien lassen keinen Zweifel aufkommen, daß die ganze Ladung zur abgeschlossenen Zeit verfrachtet sein muß. Es könnten uns große Verluste entstehen.«

Jürgen, der sonst so ruhige und überlegene Kaufmann, kam in eine gewisse Erregung hinein. Ganz gegen seine Gewohnheit ging er bereits am Vormittag fort und suchte seinen Freund, Konsul Martens, in dessen Bankgeschäft auf.

»Tue mir den Gefallen, Charles, und rufe die Direktion der Werft an, wie es mit dem ›Friedrich[S. 206] Barbarossa‹ steht. Ich habe trotz aller Bemühungen keinen genügenden Ersatz finden können und bin also unbedingt auf den Dampfer angewiesen.«

»Lieber Freund,« zögerte Martens etwas, »ganz einfach ist die Sache nicht. Ich muß dir bereits im voraus sagen, daß Smiders die fälligen Raten nicht abgeführt hat und unsere Direktion sehr vorsichtig geworden ist. Sie wartet jetzt ab, ob die Reederei neues Kapital erhält. Der Überseer scheint ein sehr genau abwägender Kaufmann zu sein und es ist deshalb augenblicklich eine unangenehme Stockung eingetreten. Du kannst dich selbst davon überzeugen, — ich komme deinem Wunsch jetzt nach.«

Er nahm den Hörer vom Tischtelephon und ließ sich mit der Werft in Verbindung bringen. Nachdem er das Gespräch einige Zeit geführt, rief er Jürgen heran.

»Du kannst jetzt mit dem Direktor sprechen, er wird dir bestätigen, was ich schon sagte.«

Jürgen Plüddekamp machte eine sehr ernste Miene, als er die Auskunft von der Werft erhielt.

»Die Mitteilung deiner Direktion heißt auf Deutsch: wir stellen die Arbeit an dem ›Friedrich Barbarossa‹ ein, wenn Smiders nicht zahlt! Ist dies auch richtig gehandelt?«

»Sein Vertrag mit uns ist hinfällig geworden, Jürgen. Wir sind von der Konventionalstrafe befreit.[S. 207] Nun wird er wohl bald andere Saiten aufziehen müssen und sich beeilen, seine Sachen zu ordnen, wenn er nicht in große Schwierigkeiten geraten will.«

Jürgen schüttelte mit dem Kopf.

»Ich muß immer wieder betonen, Charles: bleibt ihr dabei stehen, so fällt die Firma um. Ich weiß aus anderer Quelle, welche hohen Summen auf sie laufen.«

»Stimmt,« meinte der Bankier ruhig. »Smiders gibt sich alle Mühe, seine Papiere von der Reichsbank fernzuhalten, damit die Höhe seiner Verbindlichkeiten nicht genau beurteilt werden kann. Er sucht deshalb in Berlin fragwürdige Diskontstellen auf.«

»Also Akzeptaustausch,« fiel Jürgen ein.

»Mag sein,« erwiderte Martens. »Ich kann es nicht bestimmt behaupten.«

»Smiders senior hat sein ganzes Vermögen im Geschäft stecken,« fuhr Jürgen fort. »Ein braver alter Herr, mit dem mein Vater und ich lange Zeit hindurch in angenehmer Verbindung standen. Wohin hat der Sohn die Reederei nun gebracht!«

Martens zuckte mit den Achseln.

»Wer von alten bewährten Geschäftsgrundsätzen abgeht und schnell groß werden will, begibt sich auf eine gefahrvolle Bahn. Glückt die Spekulation, dann preist man den Unternehmer. Im anderen Fall ist er abgetan.«

[S. 208]

»Das hilft mir aber nicht, Charles! Ich muß wirklich sagen, ich komme jetzt durch euch in eine häßliche Lage hinein.«

»Ich bin dir gern in allen Dingen gefällig, hier hat meine Macht ein Ende. Ich will dir aber einen anderen Vorschlag machen. Du bist ein reicher Mann: wie wäre es, wenn du Smiders unter die Arme griffest? Ich würde mich dann ebenfalls dazu bereit erklären.«

»Alle Wetter!« fuhr Jürgen auf, »du bist ein weißer Rabe, Charles, der bekanntlich als der Klügste unter den Klugen gilt. Nimm es mir nicht übel, ich denke nicht daran, diesem Manne mein Geld zu geben.«

»Dann wirst du dich wohl gedulden müssen, was aus der Sache wird,« bemerkte der Bankier.

»Wolf trifft heute mit Smiders zusammen, um zu erfahren, was dieser zu tun gedenkt. Er beehrte uns in letzter Zeit schon ein paarmal in unserer Häuslichkeit. Ich habe mich wegen Arbeit und Jagd entschuldigen lassen und bin ferngeblieben.«

»Aha!« machte Martens. »Er ist ein lockerer Vogel und interessiert sich wohl für Fräulein Hergenbach?«

In Jürgens Gesicht zog sich eine drohende Falte zusammen.

»Charles, sage mir kein Wort davon! Ich bin froh, daß Wolf in der letzten Zeit ein anderes Gesicht zeigt. Er scheint die Krankheit hinter sich zu haben.[S. 209] Übrigens wird Herta Sorge tragen, daß Ilse Hergenbach mit Smiders nicht weiter in Berührung kommt.«

Konsul Martens machte eine ziemlich überlegene Miene.

»Du bist zwar das Oberhaupt der Familie, Jürgen, ob du aber in allem unterrichtet sein kannst, erscheint mir fraglich.«

»Wieso, Charles?«

»Hast du die volle Überzeugung von deinem Bruder, daß er sich nicht mehr um Ilse Hergenbach bekümmert?«

»Ja,« antwortete Jürgen mit Nachdruck. »Es steckt kein Falsch in Wolf. Er ist ein offener, aufrichtiger Mensch.«

»Soll mich freuen, wenn du recht hast, Jürgen! Die Leidenschaft spielt aber Männern manchmal arg mit, und namentlich bei einem so frischen jungen Menschen, wie deinem Bruder. — Doch dies nur nebenbei. — Wie steht es nun mit Smiders, bist du nicht bereit dazu?«

»Nein,« antwortete Jürgen kurz. »Für Alfred Smiders habe ich keinen Groschen übrig. Ich muß mir auf andere Weise helfen.«

Jürgen ging. Konsul Martens schüttelte den Kopf.

»Wie sich doch zuweilen der tüchtigste Geschäftsmann verleiten läßt, durch Antipathien einen falschen Entschluß zu fassen. Wir würden zusammen das[S. 210] beste Geschäft machen, und Plüddekamp wäre aller Sorge ledig. Der ›Friedrich Barbarossa‹ wird so gut wie ein neues Schiff, darin liegt viel Aussicht.« —

»Es wäre das erstemal, daß unsere Firma eine Ladung nicht prompt absenden würde,« sagte Jürgen mürrisch, als er in das Kontor zurückkehrte. »Ich mußte aber das Vertrauen in die Reederei setzen. Nun ist zum Überfluß noch durch den langandauernden Winter keine Schaluppe zu bekommen.«

»Wir wollen uns doch mit den spanischen Brennereien einigen, Jürgen,« warf Wolf ein. »Etwas anderes wird kaum übrig bleiben.«

»Du hast gut reden, Wolf!« erwiderte dieser. »Lies die letzten Antworten. Sie bestehen unbedingt auf den festen Abmachungen.« Er nahm auf seinem Schreibsessel Platz und legte die breite Hand auf die hohe Stirn. Sein ganzes Denken drängte auf die eine Sache hin. »Ich hab's!« rief er plötzlich aus. »Unser Vater stand vor langen Jahren mit einigen spanischen Getreidefirmen in Verbindung. Es muß einer von uns sofort dorthin fahren, die erste Lieferung Roggen aufkaufen und mit der Bahn verfrachten. Alsdann werden die Brennereien wohl mit sich reden lassen und wir gewinnen Zeit.«

Wolf sah seinen Bruder erstaunt an. War diese Lösung das Ergebnis kurzen Nachdenkens, oder hatte[S. 211] sich Jürgen mit dem Gedanken schon länger vertraut gemacht?

»So einfach ist es nicht,« erwiderte er dann. »Der Roggenbau Spaniens ist nicht bedeutend. Die mit den dortigen Getreidefirmen gepflogenen früheren Beziehungen sind eingeschlafen. Es wird schwer halten, deinen Gedanken auszuführen, wenn es überhaupt möglich ist!«

»Möglich!« lachte Jürgen in seiner beliebten breiten Art. »Es ist alles möglich, sobald man mit einer Brieftasche voller Banknoten kommt, — jedenfalls der einzige gescheite Gedanke. Ich bin überzeugt, daß du die Sache glatt erledigen wirst.«

»Ich soll nach Spanien reisen!« sprang Wolf von seinem Sitz auf. »Ich denke nicht daran, Jürgen.«

»Wieso?« fragte dieser verblüfft. »Du bist nun einmal der Minister des Auswärtigen. Übrigens ist es nicht allein eine interessante Aufgabe, sondern auch eine schöne Reise. Hierbei kannst du dein ganzes Können zeigen. Es muß dir eine Freude sein, unserer Firma einen solchen Dienst zu erweisen. Du hast Gewandtheit im Verkehr und sprichst gut französisch, die Spanier werden es sicherlich ebenfalls verstehen. Neben dem Geschäftlichen wirst du Vergnügen in Hülle und Fülle finden. Also woran hapert es noch, Wölfchen?«

[S. 212]

Dieser trat unruhig hin und her.

»Ich kann mich nicht dazu verstehen, Jürgen. Die Reise nimmt mehrere Wochen in Anspruch. Die Sache ist von heute auf morgen nicht zu erledigen.«

»Es schadet auch nichts! Wenn sie wirklich länger dauert! Ich gebe dir volle Freiheit des Handelns, und nun sage — ja!«

»Ich muß es dir leider abschlagen, Jürgen! Ich habe keine Lust dazu.«

»Keine Lust!« fuhr Jürgen auf. »Einen solchen Grund darf ein ernster Geschäftsmann überhaupt nicht äußern.«

»Ich bitte dich, Jürgen, wir wollen das Thema fallen lassen! Es hat keinen Zweck. Ich wiederhole dir nochmals, die Reise liegt mir nicht. Ich kann sie also nicht unternehmen. Es ist richtiger, wir treiben Smiders in die Enge und drohen ihm die Entziehung aller Frachten an, wenn er nicht für den ›Friedrich Barbarossa‹ Ersatz schafft.«

»Donner und Doria!« fluchte Jürgen, »das hat doch gar keinen Zweck. Smiders sitzt schon fest genug. Packen wir auch zu, dann fällt er noch schneller als es so bereits kommen wird. Du willst heute mit ihm in der ›Grünen Schanze‹ verhandeln. Glaubst du, daß noch etwas dabei herauskommt? Er hält[S. 213] dich hin. Du mußt also fahren, Wolf! Es bleibt gar keine andere Wahl.«

Wolf antwortete nicht, sondern zuckte mit den Achseln und schritt im Kontor unruhig auf und ab.

»Herta sagte mir übrigens vor längerer Zeit, daß du eine Reise nach dem Süden machen wollest,« begann Jürgen wieder.

»Ich habe kein Wort davon erwähnt,« erwiderte Wolf, »und weiß nicht, wie Herta darauf kommt.«

Jürgen rief durchs Haustelephon Prokurist Armin herein und erklärte ihm seine Absichten.

»In diesem Falle unbedingt das einzig Richtige,« bestätigte Armin, »ich rate dringend dazu.«

»Du hörst es, Wölfchen,« sagte Jürgen, »Armin ist der gleichen Meinung wie ich. Sehen Sie doch einmal nach, mit welchen Firmen wir seinerzeit in Verbindung standen. Es mögen allerdings fünfzehn bis zwanzig Jahre her sein,« wandte er sich an diesen.

Nachdem der Prokurist das Privatkontor verlassen hatte, stand Jürgen auf und trat an seinen Bruder heran. Ihm die schwere Hand auf die Schulter legend, bat er: »Sei gut, Wölfchen, und stimme zu. Du kannst dabei Lieschen Wichers einen Herzenswunsch erfüllen, indem du ihr die schönsten Ansichtskarten schickst.«

[S. 214]

»Es geht auf keinen Fall, Jürgen,« lehnte dieser kurz ab.

»Dahinter steckt etwas,« wurde Jürgen nun ärgerlich, »gib mir wenigstens rundheraus an, warum du nicht fahren willst.«

Wolf trat heftig mit dem Fuß auf.

»Ich bin dir darüber keine Rechenschaft schuldig! Meine Ablehnung ist doch genug.«

»In diesem Falle nicht,« entgegnete Jürgen sehr ernsten Tones. »Es handelt sich um derart wichtige Geschäftsinteressen, daß alle anderen Sachen, die dir vielleicht vorschweben, dahinter zurücktreten müssen.«

»So — — müssen? Nein!« Es zuckte in Wolfs Zügen unruhig hin und her. Er wollte etwas sagen und hielt es wieder zurück.

»Sprich dich endlich aus, Wolf,« wiederholte Jürgen, »wir sind doch Brüder und werden wohl keine Geheimnisse voreinander haben.«

Wolf richtete sich auf und brachte abgerissen hervor:

»Natürlich mußt du es erfahren! Es war auch meine Absicht, aber Ilse wollte nicht!«

»Wie — was!« rief Jürgen heftig aus, »Fräulein Hergenbach hat doch mit unserer Angelegenheit nichts zu tun?«

»Doch — in diesem Falle wohl, Jürgen! Ich habe mich mit Ilse Hergenbach verlobt —!«

[S. 215]

Es war, als ob ein plötzlicher Blitz über Jürgens Gesicht fuhr. In seinen Worten wetterleuchtete es weiter.

»Ich glaube — ich höre nicht recht! Du hast dich mit Fräulein Hergenbach verlobt — und kein Wort mit Herta und mir vorher gesprochen! Das ist doch unerhört! Bei der wichtigsten Frage des Lebens geht man doch mit sich zu Rate, ehe man so töricht handelt! Ilse Hergenbach? — Nie und nimmer können wir das zugeben! Sie muß sofort aus dem Hause.« Die Zornesader der Plüddekamps schwoll auf seiner Stirn drohend an. Er hatte in letzter Zeit geglaubt, daß Wolf zur Vernunft zurückgekehrt war, und nun sah er sich vor eine noch schlimmere Tatsache gestellt. Es empörte ihn aufs äußerste.

Dieser war bei den Worten seines Bruders vor Aufregung bleich geworden. Seine sonst so freundlich dreinblickenden Augen funkelten zornig.

»Ihr wollt mir also das Recht nehmen, mein Glück zu suchen, wo es mir gefällt! Ich soll nun einmal keinen eigenen Willen haben! Aber ihr sollt sehen, Jürgen, daß ich ihn habe! — Ich will gar nicht im Plüddekampschen Hause bleiben. Ich gründe mir mein eigenes Heim und lasse mir keine Vorschriften mehr machen.«

»Wolf! Wolf!« rief Jürgen warnend, »ist das der Dank, den du für mich übrig hast? Kein Vater[S. 216] kann mehr gesorgt haben, wie ich es als Bruder für dich tat, und nun kommst du mir mit einer solchen Torheit, mit einem solchen kindischen Trotz! Ilse Hergenbach, — ich könnte dir etwas sagen, — aber ich will es nicht! Verstehst du, — ich will es nicht und ich werde es nicht tun! Bei deiner Auffassung würdest du mir sonst noch selbstsüchtige Gründe unterschieben. Ich sehe das Unheil über dich hereinbrechen, wenn du an ihr festhältst! Sie ist keine Mutter für unsere nächste Generation! Dazu gehört Biederkeit und lautere Gesinnung, aber nicht verstecktes Wesen.«

»Genug, Jürgen!« trat ihm Wolf in voller Aufregung entgegen, »sage kein Wort weiter! Ilse Hergenbach — ist meine Braut und ich trenne mich von euch, wenn ihr sie schmäht!«

Die beiden Brüder sahen sich lange und durchdringend an, dann ließ Jürgen unwillig den hochgehobenen Arm sinken.

»Ich will dich wegen einer Frau nicht verlieren, und ich sehe, du bist schon zu weit von uns abgeirrt, — so magst du denn selbst über dein Los entscheiden! Ich will es dir nicht verwehren!«

Man sah Jürgen an, wie schwer es ihm wurde, sich diese Worte abzuringen.

»Ich werde dir nichts in den Weg legen, wenn du jetzt für unsere Firma die Reise ausführst, die auch[S. 217] für dich von größter Tragweite ist,« fuhr er fort. »Sie mag der Prüfstein für dich selbst sein. Bist du nach deiner Rückkehr noch derselben Anschauung wie heute, dann werde ich dich an deinem Vorhaben nicht mehr hindern. — Natürlich kann Fräulein Hergenbach unter diesen Umständen hier im Hause nicht bleiben, sondern muß zu ihren Eltern nach Nordhausen zurückkehren.«

Wolf schaute prüfend seinen älteren Bruder an.

»Du willst wirklich nachgeben, Jürgen? Wirst du auch Herta dazu bestimmen?«

»Zweifelst du an meinem Wort, Wolf?«

»Nein, Jürgen! Was du einmal gesagt hast, hältst du. Ich bin damit einverstanden und will die Reise nach Spanien antreten. Du mußt mir aber noch einen Gefallen erweisen. Ilse soll bis zu meiner Rückkehr unter der Obhut von Herta bleiben, dann mag sie nach Nordhausen gehen, und ich werde mir von ihren Eltern das Jawort holen.«

Die beiden Brüder sahen sich noch einmal ernst an. Dann streckte der ältere dem jüngeren die Hand entgegen.

»Ich verspreche es dir, Wolf! Welche Folgen auch aus allem entstehen mögen, wir wollen sie gemeinsam tragen, wie es einem Paar echter Brüder geziemt!«


[S. 218]

XVII.

Wolf traf seine Vorbereitungen zur Abreise. Die Geschwister hatten vorher noch eine lange Unterredung. Herta wollte sich durchaus nicht mit der Nachgiebigkeit Jürgens einverstanden erklären und blieb auch taub gegen alle Vorstellungen des jüngeren Bruders.

»Es scheint mir, als ob ich Ilse nur hierhergeholt habe, um euch Brüder zu verlieren, dich und Wolf!« sagte sie zu Jürgen.

Als sie dann das Unabänderliche vor sich sah, mußte sie unter dem Zwang der Verhältnisse einlenken.

»Ich habe es ihr versprochen,« bat Wolf seine Schwester, »euch erst später Kenntnis zu geben. Ich möchte nun nicht wortbrüchig erscheinen. Darum bitte ich euch herzlich, schweigt davon und wacht über sie. Ich werde der Firma gegenüber meine Pflicht redlich erfüllen.«

Ilse sollte also bleiben, ohne daß man sie merken ließ, ihre Verlobung mit Wolf zu kennen.

Der Abschied von ihr wurde Wolf sehr schwer. Sie sprachen sich noch einmal allein, und er schloß sie immer wieder in seine Arme.

[S. 219]

»Die Zeit wird rasch verstreichen,« tröstete er sich selbst mit. Seine Hand glitt über ihre Wangen und strich die üppig dunkelblonden Haare von ihrer Stirn zurück, die leicht darüber hinwegfielen. »Ich werde dir meiner Geschwister wegen nicht schreiben. Du erhältst aber meine Grüße durch sie. Noch einen langen Blick von dir, Ilse —«

Sie legte ihre Arme auf seine Schulter, und ihre großen grauen Augen weiteten sich übernatürlich auf, als sie ihn dann anschaute.

»Ich kann dich nicht von mir lassen, Wolf!« klagte sie. »Ein unbestimmtes Angstgefühl ist in mir. Ich möchte lieber mit dir gehen! Heute — morgen — kann es auf mich hereinstürmen, — wie soll ich dann allein Widerstand leisten! Es wäre viel besser, wenn wir gleich zusammenreisten. Du willst mich doch zur Frau nehmen, Wolf! Was frage ich viel nach der Welt, — ich bleibe bei dir, — wir kehren nicht hierher zurück —«

»Nein, Ilse!« erwiderte er fest, »solche Gedanken dürfen wir nicht fassen! Wenn ich meine Geschwister für dich gewinnen will, so muß es auf dem Wege sein, den uns Sitten und Gebräuche vorschreiben. Herta ist gütig, Jürgen — ihr sprecht ja selten miteinander — ist ein Ehrenmann vom Scheitel bis zur Sohle. Andere Menschen kannst du meiden, was sollte dir also im Plüddekampschen Hause begegnen?«

[S. 220]

Trotzdem vermochte sie nicht, sich von ihm zu trennen. Immer wieder klammerte sie sich an ihn und bat:

»Laß doch alle denken, was sie wollen, und trenne uns nicht, Wolf! Es ringt in den letzten Tagen und Wochen so unendlich viel in mir, das mir jede ruhige Überlegung raubt. — Wenn ich aus deinen Armen gleite, so sehne ich mich in demselben Augenblick wieder hinein. Ein wildes Verlangen tobt in mir, das ich kaum zu bezwingen vermag. — Denke an das Bild vom Ilsefluß, das ich dir beschrieb! So bin ich auch. — Du mußt mich festhalten — damit ich mich nicht selbst fortreiße.«

Wolf versuchte sie zu beruhigen. Alles was sie sagte, erschien ihm dunkel und verwirrt. Er verstand sie nicht und sagte sich immer nur das eine, daß sie im Plüddekampschen Hause gut aufgehoben sei. Er konnte sie unter keinem besseren Schutz als bei seinen Geschwistern zurücklassen.

»Es muß sein, Ilse,« blieb er fest. »Sogleich nach meiner Rückkehr gebe ich unsere Verlobung bekannt.« —

Als Wolf abreisen wollte, hielt schon in aller Frühe der Wagen des Barons von Berleburg vor dem Plüddekampschen Hause. Dieser stieg herunter, warf dem hinter ihm sitzenden Kutscher die Zügel zu und hatte dann mit dem Prokuristen Armin ein kurzes, aber inhaltvolles Gespräch.

[S. 221]

»Besuchen Sie mich, Herr Armin, Sie werden selbst sehen —« bekräftigte er seine Vorstellungen.

Der Prokurist unterbrach ihn mit feinem Lächeln:

»Gedulden Sie sich nur einen Augenblick, Herr Baron! Ich werde mit Herrn Plüddekamp sprechen.«

Baron Berleburg hatte den günstigsten Tag erwischt, um sein Anliegen erfüllt zu sehen.

Jürgen Plüddekamp befand sich noch mit seinem Bruder in einer Unterredung und war über dessen klares Vorhaben sichtlich erfreut.

»Sobald es darauf ankommt, bist du der Mann auf dem richtigen Posten, Wölfchen! Viel Glück auf die Reise und kehre frohen Sinnes wieder.«

Armin hatte noch einen Augenblick gewartet, nun trug er Berleburgs Anliegen Jürgen vor. Dieser bestimmte kurz:

»Zahlen Sie Berleburg das Gewünschte aus!«

So kam es, daß der Baron von Berleburg wieder flott gemacht wurde. — — —

Eine eigene Stimmung zeigte sich im Plüddekampschen Hause. Jürgen blieb schweigsam, kalt. Herta übte eine gewisse Zurückhaltung gegen Ilse und beobachtete sie unwillkürlich mehr als vorher.

»Seitdem Wolf fort ist, zeigt Ilse stark wechselnde Stimmungen,« sagte Herta eines Tages zu Jürgen. »Zuweilen stürzt sie sich auf die Arbeit, und ich muß[S. 222] sie davon zurückhalten, daß sie sich nicht überanstrengt. Dann wieder sitzt sie stundenlang im kleinen Salon und starrt die Kunstblätter an. Sie erkennt aber nicht das Bild, sondern schaut nur in das Leere hinein. — Sollte sie Wolf so sehr lieben, daß sie die Trennung nicht zu ertragen vermag?«

Jürgen schüttelte den Kopf.

»Nein, Herta! Du verstehst sie nicht, weil du ganz anders geartet bist als die meisten deines Geschlechts. Bei dir weiß man sofort, woran man ist. Aber Ilse Hergenbach, — in der steckt etwas Vulkanisches! Es wäre schlimm, käme es jetzt zum Ausbruch. Jedem Geschäftsbriefe Wolfs liegt ein einfacher Zettel bei: ›Schreibt mir, wie es Ilse geht,‹ und wohl oder übel muß ich ihm die Antwort darauf geben.«

»Der arme Junge, er ist blind wie die Motte ins Licht gerannt,« fiel Herta ein. »Und doch, sobald ich Ilse seine Grüße bestelle, zeigt sich etwas in ihren Zügen, das meine Ansicht wankend machen könnte. Es zieht ein glücklicher Schimmer über sie hin, wie er nur bei tieferen Naturen in Erscheinung tritt.«

»Ich sagte es dir bereits vor Monaten, Herta, — Ilse ist ein echtes Kind der Neuzeit, sie fühlt, denkt und handelt in anderer Weise als wir.«

Ilse war von einer fortgesetzten Unruhe erfüllt. Befand sie sich allein in ihrem Zimmer, so streckte[S. 223] sie die Arme weit aus und suchte sich vorzustellen, daß Wolf jetzt hereintreten müßte und sie ihm jubelnd an die Brust flog. Sie krankte an dieser Sehnsucht, und doch kamen Augenblicke, in denen sie sich fragte, ob sie ihn wirklich liebe. Dann hielt sie sich vor, daß Jürgen sie von sich gewiesen. Ein glühender Haß gegen diesen Mann beseelte sie, und sie flog aus einer Übertreibung in die andere. Bei jeder Begegnung mit ihm nahm sie sich zusammen, um die äußere Form einzuhalten und ihn nicht sichtlich zu verletzen. Sie wünschte aber nur, daß Wolf heimkehrte und sie an seinem Arm dem Bruder gegenübertreten könnte. An diesem Schlag, den sie zurückgab, wollte sie gesunden.

»Wolf, Wolf!« flüsterte sie vor sich hin.

Warum konnte sie ihn nicht so lieben, wie es das starke Gefühl in ihr verlangte? — Nun hatte er sie in Stunden gewaltiger Seelenqualen allein gelassen, wo sie sonst zu ihm geflüchtet wäre. — Es war eine Leidenschaftlichkeit in ihrem Wesen entstanden, die sich nicht mehr zügeln ließ, die allen Überlegungen Trotz bot.

Sie hielt es nicht länger in ihrem Zimmer aus, es trieb sie in eine andere Umgebung, die durch neue Eindrücke ablenken und ihr Ruhe gewähren sollte. —

In dem großen Garten hinter dem Speicher zeigten sich die ersten Frühlingsblumen. Unter den[S. 224] heißen Strahlen der höherstehenden Sonne kamen Krokusse, blaue Lederblumen und frühzeitige Hyazinthen hervor. Ilse liebte den Duft der Hyazinthen und beugte sich tief herab, um ihn voll einzusaugen. Als sie wieder aufsah, fiel ihr Blick auf Alfred Smiders, der sie von der Straße her grüßte.

Sie neigte leicht den Kopf und wollte weiter in den Garten hineinschreiten, er rief sie aber an.

»Fräulein Hergenbach! Nur auf ein Wort!«

Sie blieb stehen.

»Darf ich in den Garten eintreten? Die Pforte ist verschlossen. Oder kommen Sie lieber einen Augenblick näher zu mir.«

Ein widerstrebendes Gefühl hielt sie noch zurück. Er ging aber nicht fort, und schließlich überwand sie sich und schritt an den niedrigen Zaun heran. Smiders streckte ihr die Hand entgegen, die sie nur leicht berührte.

»Schade, daß ich Sie so selten sehen kann, Fräulein Hergenbach,« sagte er und suchte sie dabei fest ins Auge zu fassen. »Ich möchte gern mit Ihnen plaudern. Wenn ich aber Plüddekamps aufsuche, wie neulich, so erscheinen Sie nicht.«

»Ich bin immer beschäftigt, Herr Smiders.«

»Die dumme Hauswirtschaft! Für ein schönes junges Mädchen wie Sie gibt es doch interessantere Dinge, um sich das Leben reizvoll zu machen.«

[S. 225]

Sein auf ihr ruhender Blick wurde immer dreister, und plötzlich trat ein glühendes Rot in ihre Wangen.

»Wahrhaftig, ich bin ganz bezaubert von Ihnen, Fräulein Hergenbach! Wie entzückend Sie mit den geröteten Wangen ausschauen.« Ilse wurde immer unruhiger. »Ich möchte gern einmal mit Ihnen allein plaudern,« flüsterte er, »gehen Sie gar nicht spazieren? Ich versuche schon einige Zeit, Sie irgendwo zu treffen.«

Sie schwieg immer noch.

»Ich wollte meinen Freund Wolf danach ausfragen, aber ich hörte, er ist auf längere Zeit verreist.«

Sie nickte nur mit dem Kopfe.

»Es stimmt also,« sprach er weiter. »Dann muß es doch schrecklich langweilig für Sie im Plüddekampschen Hause sein. Jürgen und Herta sind altbackene Menschen. Ich habe es Ihnen sofort angemerkt, daß Sie sich nach einer anderen Unterhaltung sehnen. Sie wollen etwas von dem lustigen Treiben in der Welt sehen und hören. Hier sitzen Sie wie hinter Klostermauern. Springen Sie flott darüber hinweg! Ich helfe Ihnen dabei. Geben Sie mir nur bald Gelegenheit, daß wir zusammenkommen.«

Ilse schüttelte den Kopf.

»Ich bedaure, Herr Smiders. Wenn ich wohl nichts dabei finde, Plüddekamps denken anders darüber. Ich bin auch mit Wolf nicht allein ausgegangen.«

[S. 226]

»Mit Wolf?« Ein zynisches Lächeln flog über seine scharfen Züge. »Ah — das Wölfchen ist nicht so dumm und hat bemerkt, welch leidenschaftlich schöne Augen hier die beste Zeit vertrauern.«

»Herr Smiders, ich bitte! — Brechen wir die Unterhaltung ab!« Sie schickte sich an, fortzugehen.

»Auf Wiedersehen!« rief er ihr noch nach. »Ich treffe Sie bald wieder und erzähle Ihnen dann recht Interessantes von Ihrem Freund Wolf!« Er lüftete den Hut und ging weiter.

Unwillkürlich war Ilse Hergenbach einen Augenblick stehen geblieben und sah Smiders verstohlen nach.

»Von Wolf?« wiederholte sie leise, »was will er damit sagen!« Sie erregte sich über diese hingeworfenen Worte. Wenn Smiders sie jetzt noch einmal gefragt hätte, ob er sie wiedersehen könne, würde sie zugestimmt haben, nur um zu erfahren, was er von Wolf wußte. Sollte dieser —? Nein! Es war unmöglich, — Wolfs blaue Augen konnten nicht lügen. Trotzdem saß der Stachel der gefallenen Worte in ihr fest. —

Von Wolf war in den letzten Tagen keine Nachricht eingetroffen. Er reiste im Norden Spaniens umher. Jürgen erzählte, daß es außerordentlich schwer hielt, die verlangten Lieferungen Roggen aufzukaufen. —

[S. 227]

Wie die Tage langweilig und öde dahinschlichen! Ilse überwand sich nur mit aller Kraft, ihren Verpflichtungen im Haushalte nachzukommen. Diese ewige Unruhe, dieses fortwährende Sehnen — nichts konnte sie befriedigen! Selbst die Briefe an ihre jüngere Schwester Helene, an der sie am meisten hing, flossen ihr nicht aus der Feder, und sie zerriß mit ihren schlanken Fingern das Papier in kleine Stücke.

»Ich vermag nichts zu erreichen und habe so viele Wünsche! Ich will so vieles und darf nicht handeln!« rief es in ihr. »Es ist nicht mehr auszuhalten! Immer nur in diesen düsteren hohen Räumen sein, in denen alle Lebenslust erstirbt! Das altjüngferliche Wesen von Herta, der überlegene Blick Jürgens, der mich streift, als wenn ich nichts wert wäre. Ich kann es nicht länger ertragen! Ich bedarf einer Abwechslung! Etwas, was mich aus diesem tötenden Einerlei herausreißt und mir irgendeine Befriedigung gewährt. Wenn nur Wolf zurückkäme! Wie lange läßt er mich allein, — ich möchte ihm nachreisen! Könnte ich ihn nur auffinden und mit ihm in die Welt hineintollen. Alles wäre mir dann recht. — Ich mag nicht hier bleiben, auch nicht nach Nordhausen zurück, und weiß selbst nicht — wonach ich mich sehne!«

Sie schrie laut vor sich hin: »Wolf! Wolf!« Dann glaubte sie das höhnische Lächeln in den Zügen[S. 228] von Alfred Smiders zu sehen. Was tat Wolf? Warum sagte es jener ihr nicht gleich? Es entstand ein heißer Drang in ihr, dies unbedingt zu erkunden. —

Alfred Smiders war direkt nach seinem Kontor gegangen. Er fand dort den Hamburger vor und staunte nicht wenig, diesen in den Schiffslisten studieren zu sehen. »Mor'n Herr Kneis!« streckte er ihm die Hand entgegen. »Ich glaubte Sie in Berlin. Sie wollten doch geschäftliche Sachen dort erledigen.«

»Kam mir was anderes in den Sinn,« erwiderte der lange Hamburger. »Bin heute morgen mit dem ersten Dampfer zum ›Friedrich Barbarossa‹ hinaus. Das Schwimmdock steht noch hoch, müßte aber mit Wasserfüllung gesenkt sein. Auf dem Dampfer selbst Totenstille, kein einziger Hammerschlag zu hören. Auf dem Deck waren ein paar Männer. Der eine rief etwas herunter, konnte es aber nicht verstehen.«

Die Züge des Reeders drückten in dem Augenblick eine unverkennbare Verlegenheit aus. Er hatte nicht erwartet, daß Kneis gerade in diesen Tagen zum ›Friedrich Barbarossa‹, den er schon vor längerer Zeit besichtigt hatte, wieder hinausfahren würde. Sonst hätte er alles getan, um dies zu verhindern. Der Hamburger durfte nicht dahinter kommen, daß die Werft die Arbeit einstellte, weil die fälligen Raten nicht abgeführt worden waren.

[S. 229]

»Ich werde nachher die Direktion anrufen, Herr Kneis,« erwiderte er dann. »Vielleicht streiken die Arbeiter und wollen Lohnerhöhung haben. Wer kann immer wissen, was vorliegt. Übrigens — mir kann's recht sein! Die Konventionalstrafe entschädigt mich doppelt und dreifach. Ich lasse mir keine grauen Haare darum wachsen!«

»So, so,« meinte Kneis. »Sie haben aber doch Ladeverpflichtungen! Der Dampfer kann nicht rechtzeitig für Jürgen Plüddekamp auslaufen! Ich bin vollständig unterrichtet, Herr Smiders.«

»Nun ja,« erwiderte dieser lässig, »mit dem Getreidehaus Jürgen Plüddekamp werde ich schon fertig. Solche uralten Kunden nehmen Rücksicht bei Zwischenfällen, wie sie alle Tage vorkommen können. — Sie wollten doch heute in Berlin den Betrag für die vorläufige erste Einzahlung erheben? Wir hatten es so besprochen.«

»Nein, nein,« wehrte der Hamburger ab, »wir waren noch nicht so weit. Habe darum die Schiffslisten durchgesehen, ob Dampfer von Ihnen eingelaufen sind. Kann mir keiner verdenken, wenn ich die Katze nicht im Sack kaufen will.«

Unter den starken schwarzen Augenbrauen von Smiders schoß ein giftiger Blick hervor. Von Tag zu Tag wurde er bereits hingehalten. Er hatte eine[S. 230] vorläufige Einzahlung verlangt, um die Werft zu befriedigen. Dies war in seiner Lage das Dringendste. — Dann kam noch hinzu, daß in einiger Zeit große Wechselsummen fällig wurden. Dazu brauchte er auf jeden Fall weitere Beträge. — Er mußte also, trotzdem der Ingrimm in ihm saß, gute Miene zum bösen Spiel machen.

»Es war doch ein schöner Abend neulich,« klopfte er Kneis auf die Schulter. »Hm — was sagen Sie dazu? Kann man sich in Stettin nicht gut amüsieren? Wir gehen bald wieder nach der ›Grünen Schanze‹.«

Der Überseer schmunzelte über das ganze Gesicht.

»Warum nicht! Denke aber, daß Sie jetzt genug Arbeit im Kontor haben. Der Grundsatz aller Überseer ist das Richtige: dreimal Arbeit — einmal Vergnügen! Man kommt dann vorwärts! Rate Ihnen auch zu dem Muster, Herr Smiders.«

»Ich opferte manche Nachtruhe, Herr Kneis, wenn es darauf ankam, eilig zu verfrachten. Ihr Grundsatz ist mir daher nicht neu. Übrigens, wenn ich zu tun habe, können Sie doch allein nach der ›Grünen Schanze‹ gehen. Mit Karli und Riekchen unterhalten Sie sich famos.«

»Wie mir's gerade einfällt,« erwiderte dieser. »Wünschte, ich hätte mehr zu tun, als nur Kurszettel[S. 231] zu studieren. Ist gar nicht angenehm, auf der Bärenhaut zu liegen. Bin nicht abgeneigt, mitzuarbeiten.«

Smiders horchte auf. Diese Idee war das Schlimmste, was kommen konnte. Er wollte nur das Geld von Kneis, dann konnte dieser ruhig nach Hamburg abdampfen. Bei einem tätigen Teilhaber geriet er in eine peinliche Lage. Es ging manches in seinem Geschäft vor, was er zu verbergen hatte. Der Wechselaustausch, die Schulden bei der Werft und vieles andere lief nicht durch die Bücher. Er hatte zu lauter Verschleierungen gegriffen.

»Sie sagen nichts dazu, Herr Smiders,« stellte Kneis erneut seine Anfrage. »Sollte meinen, Sie könnten einen tätigen Kompagnon gebrauchen. Spielt sich alles dann viel rascher ab!«

Es brannte hinter Smiders Stirn, als wenn ihm glühendes Eisen darangehalten würde. Er befand sich in einer derart zugespitzten Lage, daß er sich kaum noch länger halten konnte, wenn nicht bares Geld in die Reederei hineinkam. — Auf der anderen Seite konnte er keinen Teilhaber aufnehmen, der Einsicht in den Betrieb erhielt. Jedenfalls jetzt noch nicht. Plötzlich schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf.

»Ich bin nicht abgeneigt, Herr Kneis, aber erst später! Sagen wir in einem Jahre, — nach Abschluß der nächsten Bilanz.«

[S. 232]

»O, nein,« meinte der Hamburger, »wenn ich eintrete, dann gleich! Ich brenne auf Arbeit. Es ist mir das Leben sonst zu langweilig. Habe auch bereits mit Ihrem Vater gesprochen, der doch Mitinhaber ist, und sein ganzes Geld bei Ihnen stehen hat. Ist sofort dazu bereit, hält's sogar für außerordentlich notwendig. Fahre dann nach Berlin und hole Geld!«

Smiders war nahe daran, vor Wut laut zu fluchen. Jetzt hatte sich Kneis hinter seinen Vater gesteckt. Der alte Mann lag im Lehnstuhl und konnte sich kaum rühren. Er war aber immer noch geistig rege und stellte zuweilen Fragen, deren Beantwortung in hohem Maße peinlich wurde.

Dem Vater gegenüber hatte Smiders die schwere Lage der Reederei fortgesetzt verhüllt, und doch mußte der alte Herr davon Wind bekommen haben. Vor allen Dingen hieß es nun, den Hamburger noch hinzuhalten. Erst mußten die Wechsel eingelöst sein, ehe dieser in das Geheimbuch der Firma Einsicht nehmen konnte.

»Würde nicht zögern,« meinte der Hamburger und hielt ihm die Hand hin, »ist dann gleich alles bis auf Einzelheiten im Vertrage abgemacht.«

Smiders kämpfte schwer mit sich. Sollte er? Sollte er nicht? Da er doch nicht sofort einschlug,[S. 233] zog der Hamburger seine Hand zurück. Der einzige Augenblick, der ihn noch retten konnte, war verpaßt.

»Sie haben Zeit zur Überlegung, Herr Smiders. Sprechen Sie mit Ihrem Vater und folgen Sie seinem Rat. Ich kann warten!« Kneis nahm seinen Hut, wünschte guten Morgen und ging hinaus.

Smiders sank auf seinen Schreibstuhl zurück. Seine Stirn zog sich in tiefe Falten.

»Himmel und Hölle,« fluchte er vor sich hin, »als ob jetzt alles versessen ist, mich in den Dreck hineinzurennen! Es gelingt mir nichts mehr! Alles schlägt fehl — so gut ich's auch eingefädelt hatte! Dieser Protz von Überseer! Dieser ekelhafte Kerl! Seine Fratze täglich vor mir sehen zu sollen! Das kann ich schon lange nicht. Es widert mich an. Überhaupt — alle meine Maßnahmen kritisieren zu lassen — alle meine feinen Mittelchen, mit denen ich so manches nebenbei verdiene, fortzulassen — fällt mir gar nicht ein. Das Geld mag er einzahlen und dann weg mit ihm, so rasch als möglich! Ich habe es gründlich satt, mit dem Kerl alle Tage schön zu tun.«

Er hatte sich in eine helle Wut hineingeredet. Aus einem Fach seines Schreibtisches zog er ein langes schmales Buch hervor, in dem er seine Privatnotizen zu machen pflegte. Er blätterte eine Weile darin herum und schlug dann gewaltsam auf den Tisch.

[S. 234]

»Bald kann ich nicht mehr! Was diese Werft von mir schluckt, ist geradezu hundemiserabel! Das ganze Betriebskapital hat sie mir weggeholt. Es läuft nun auf Wechsel. Ich kann hinkommen, wo ich will, überall sieht man die Dinger mit Mißtrauen an. Ob ich Jürgen Plüddekamp anpumpe? — Das wäre noch ein Gedanke! Er könnte mir mit einem Federstrich helfen. Teufel, wenn ich es nun dem Alten sage, der holt das Geld leichter heraus! Sie hielten immer dicke Freundschaft miteinander. Aber der drüben weiß ja von allem nichts. Ich muß bei ihm zu Kreuze kriechen.«

Er nahm das Buch und warf es wieder ins Fach zurück, das er verschloß. Dann stieß er zwischen den Zähnen einen langen Pfiff hervor, und auf sein Gesicht trat plötzlich ein zynisches Lächeln.

»Bei den Frauen glückt es mir immer! Ich weiß nicht, was sie an mir haben? Wenn es nur so im Geschäft ginge! Jetzt die Ilse Hergenbach, — das ist mein Geschmack. Es schlummert noch viel in ihr, aber ich will es wecken. Ja, mein Wölfchen, bis du zurückkommst, dauert es noch ein Weilchen! Ich habe mich genau erkundigt. Ilse Hergenbach soll mir den miserablen Ärger versüßen.« —


[S. 235]

XVIII.

Die Verhältnisse bei Smiders & Sohn spitzten sich immer mehr zu. Trotzdem fand der junge Reeder noch Zeit, auf Ilse Obacht zu geben. Schon nach einigen Tagen sah er sie ausgehen. Sie wollte noch gegen Abend einige Besorgungen erledigen und war auf dem Wege nach der Breitenstraße, als Alfred Smiders aus einem Nebengäßchen auftauchte und ihr plötzlich entgegentrat. Er führte diese Begegnung mit Absicht herbei.

»Endlich habe ich das Glück, Sie zu treffen, Fräulein Hergenbach!« zog er den Hut.

Sie verneigte sich nur wenig.

»Ich wartete jeden Tag auf Sie,« sagte er dann.

»Warum, Herr Smiders? Es ist doch zwecklos —« entgegnete sie hastig.

Als er sie aber nach diesen Worten scharf ansah, begann sie stark zu erröten. Sie bemerkte es und war darüber auf sich selbst ärgerlich. Warum geschah es gerade unter seinen Blicken? Ihre Pulse klopften fühlbar, als er jetzt neben ihr herging, und doch vermochte sie seine Begleitung nicht abzulehnen.

»Sie wollten von Wolf hören, Fräulein Hergenbach! Es hat Sie aus dem alten Haus getrieben.[S. 236] Habe ich nicht recht?« fragte er überlegen. »Ich weiß es auch ohne Ihre Antwort. Wolf genügt Ihnen nicht. Er lebt in so törichter Abhängigkeit von seinen Geschwistern. Bei mir ist es anders. Einer solchen Partnerin wie Sie böte ich jeden Reiz des Lebens.«

Warum erzitterte nur Ilse Hergenbach unter diesen Worten? Das war es, was in ihr gärte. Eingeengt in den alten Brauch des Plüddekampschen Hauses, drängte alles in ihr gewaltsam nach Lebensgenuß. Alfred Smiders durchschaute sie sofort, und sie fühlte dies Erkennen vom ersten Augenblick an. Obwohl sie kein Interesse für ihn hatte, zwang er sie doch in seinen Bann hinein. Und nun dieses direkte Hindeuten auf Wolf! Was konnte er von ihm sagen! Wußte er um alles? Es quälte sie seit Tagen, und sie wollte es heute bestimmt ergründen.

»Ich habe in diesem Laden etwas zu besorgen, Herr Smiders,« blieb sie plötzlich stehen.

»Ich warte gern draußen, Fräulein Hergenbach,« erwiderte er zuvorkommend, »denn mit hineinnehmen wollen Sie mich wohl nicht.«

»Nein,« erwiderte sie mit eigentümlichem Lächeln, »man denkt hier zu kleinstädtisch!«

Sie trat in das Geschäft ein und kam nach kurzer Zeit mit den eingekauften Sachen wieder heraus. »Ich gehe jetzt heim, Herr Smiders,« sagte sie leichthin.

[S. 237]

Er bemerkte sogleich, daß es ihr damit nicht ernst war, und faßte sie scharf ins Auge.

»Ich möchte gern mit Ihnen eine Stunde zusammen sein, so viel Zeit haben Sie, Fräulein Hergenbach.«

Sie suchte hastig nach Worten, durch die sie dies ablehnen konnte, aber die Neugierde, über Wolf etwas zu erfahren, hielt sie davon zurück.

»Sie müssen mir aber erzählen, was Sie von Wolf wissen, Herr Smiders,« gab sie nun zur Antwort.

Dieser, der sie dabei beobachtete, frohlockte. Der abgesandte Pfeil hatte getroffen. Ilse mußte an Wolf stark interessiert sein, wahrscheinlich noch mehr — die beiden hatten ein Liebesverhältnis miteinander! Es war nach seiner Meinung leicht zu durchbrechen.

»Ich kann Ihnen viel von meinem Freunde Wolf erzählen. Wenn Sie mir auf ein halbes Stündchen folgen, — sollen Sie sogar — seine Liebesirrung kennen lernen —«

»Seine Liebesirrung, Herr Smiders? —« Ilses Herz zog sich krampfhaft zusammen.

»Na und ob,« meinte Smiders höhnisch. »Ist ein hübsches junges Mädchen. Natürlich nichts Besonderes! Aber Herr Jürgen und Fräulein Herta würden sich wundern, wenn sie wüßten, in wessen Armen Wölfchen seine freien Stunden verbringt.«

[S. 238]

Ilse zitterte am ganzen Körper vor Wut. Wolf Plüddekamp hatte ein Verhältnis. Die Frau in ihr war tief beleidigt.

»Aha!« dachte Smiders, der den Seelenzustand in ihrem Gesicht las, »Wölfchen scheint recht weit mit ihr zu sein. Die Sache ist nicht so schwierig, wie sie aussah. — Kommen Sie, Fräulein Ilse,« er nahm einfach ihren Arm, »das blonde Riekchen haust ganz in der Nähe. Wir trinken dort eine Flasche Wein zusammen.«

Ilse zog den Arm rasch zurück. Einen Augenblick wollte es in ihr über diese Zumutung zornig aufwallen. Noch stärker wirkte aber die angetane Kränkung. Jürgen Plüddekamp hatte ihre Liebe verschmäht. Wolf Plüddekamp, der sie zur Frau verlangte — betrog sie mit einer andern! Der Ingrimm packte sie mit voller Gewalt.

»Nun?« fragte der Reeder, »ist die Kenntnis nicht wertvoll für Sie?« Er zog abermals ihren Arm unter den seinen, und jetzt ging sie mit.

Es waren nur wenige Schritte bis zur ›Grünen Schanze.‹ Es schauderte ihr kalt über den Rücken, als sie mit Alfred Smiders den dunklen Hausflur durchschritt und in den Hof kam. Wohin führte er sie? — Eine innere Stimme rief: »Zurück! Zurück!« Ihr Fuß ging aber vorwärts. Smiders riß die Tür[S. 239] auf, und sie traten in das alte räucherige Zimmer ein. Von dem Sofa erhob sich gähnend eine weibliche Person.

»Ach — Sie sind's, Herr Smiders!« sagte diese. Es war das blonde Riekchen. »Karli hat heute ihren Ausgehtag — der Hamburger sitzt vorn. Ist der schöne Wolf noch nicht zurück?« Sie brachte alles in einem Atem vor.

Smiders ließ Ilse stehen und flüsterte Riekchen rasch einige Worte zu.

»Ah — so,« meinte die dralle Person darauf, »wird bestens besorgt.« Sie sah dann neugierig auf die junge Dame, die unbeweglich inmitten des Raumes stand.

»Der Hamburger braucht nicht zu wissen, daß ich hier bin, Rieke!« Der Reeder wiederholte dies anscheinend laut.

»Schon gut, Herr Smiders.«

Riekchen drehte das Gas mehr auf, es wurde heller. Smiders schritt auf Ilse zu, nahm ihren Mantel ab und führte sie mit überlegenem Lächeln zum Sofa.

»Dort setze ich mich nicht, Herr Smiders,« ihre tiefe Stimme hatte einen unsicheren Klang, »ich werde diesen Stuhl nehmen.«

Die blonde Rieke ging hinaus, um Sekt zu holen.

[S. 240]

»Also das ist das Mädchen, mit dem Wolf Plüddekamp ein Verhältnis hat?« brachte Ilse mühsam hervor.

»Ja, — meine schöne Ilse, — das ist das Mädchen! Eine nette Weinkellnerin, wie?«

Ilse war leichenblaß geworden.

»Was halten Sie nun von Wölfchen? Lockrer Zeisig — he? Und Sie, schöne Ilse? Sie haben doch geglaubt, ihn ganz allein zu besitzen!«

»Herr Smiders,« rang es sich von ihren Lippen, »Sie sind brutal mit mir, — Wolf ist mein Verlobter.«

»Na, — so im geheimen, — damit meint er's nicht so genau! Sie gehören doch zu den Modernen! Hab es gleich gewußt. Die kennen keine Engherzigkeit. Ärgern — Unsinn, schöne Ilse! Wir trinken jetzt ein Glas Champagner zusammen.«

Die blonde Rieke trat ein und brachte Sekt. Smiders schenkte einige Gläser ein, dann reichte er Ilse und der Kellnerin davon hin.

»Auf Schönheit und Leidenschaft — Prost!«

Ilse hielt krampfhaft das Glas in der Hand. Ihre Augen hatten einen wilden Ausdruck angenommen, — die Wangen brannten ihr wie Feuer, — seine Blicke ließen nicht von ihr ab. Zwar noch widerstrebend, dann aber von einem plötzlichen Entschluß erfaßt, stieß sie mit ihm an. Die blonde Rieke[S. 241] hob ebenfalls das Sektglas gegen Ilse. Sofort setzte diese das ihre nieder.

»Sie kennen Wolf Plüddekamp?« rief sie aus.

»Ja,« meinte Rieke ganz verwundert. »Natürlich kenne ich ihn. Ein bildschöner Herr! Er ist schon oft hier gewesen.«

»Und Sie, — Sie lieben Wolf Plüddekamp?«

»Lieben?« meinte die blonde Rieke ironisch. »Bei unserem Handwerk muß man ein weites Herz haben. Freilich, — ihn kann man schon lieben.«

Ilse Hergenbach war innerlich wütend. Sie goß das volle Glas Champagner auf einmal hinunter, und Smiders schenkte ihr rasch wieder ein. Es war rein zum Tollwerden! Wolf — und diese Person, die für jeden Gast das gleiche Entgegenkommen übrig hatte. Alle Leidenschaft wallte auf einmal in ihr empor. Sie hätte rasen können vor Zorn. War sie so wenig wert, galt sie nur etwas für männliche Launen? Woran sollte sie noch glauben, sich anklammern? Der feste Boden schwand unter ihr. Die Liebe war in ihr niedergerungen, der Haß entstanden — Manneswort — leerer Schall. Ihre ganze Natur bäumte sich wild auf, — dann lieber toll genießen, — alles in die Schanze schlagen! Kein Heute — kein Morgen! Mehr war das Leben nicht wert. Sie goß ein Glas Champagner nach dem anderen hinunter. Schon[S. 242] begannen sich ihre Sinne vollständig zu verwirren. Alfred Smiders schaute immer begehrlicher auf sie hin. Jetzt konnte sie ihm nicht mehr entrinnen.

Ilse sah den Kopf der blonden Rieke nur noch wie im Nebel, sie hörte nicht, wie Smiders dieser sagte, sie allein zu lassen.

»Halt Karli zurück, wenn sie kommen sollte,« flüsterte er. »Steck sie zu Kneis — das ist notwendig. — Diese da,« er deutete rückwärts auf Ilse, »spioniert bloß! Sie lernt bei Plüddekamps die Wirtschaft, — will dir meinen Freund Wolf wegkapern. Ich leid's aber nicht — deinetwegen, Riekchen!«

»Wolf laß ich mir nicht nehmen,« ereiferte sich diese. »Nach einem Reichen angeln sie alle, — aber daraus wird nichts!«

Smiders gab ihr einen Wink, vorsichtig zu sein.

»Ich gehe schon —«

Er schenkte Ilse Hergenbach immer von neuem ein. Sie konnte schon keinen klaren Gedanken mehr fassen. Plötzlich fuhr sie aus ihrer wilden Träumerei auf. »Ich muß nach Hause, — Tante Herta —«

»Sie haben Zeit,« beruhigte er sie, »es ist noch lange keine Stunde um.«

»Wolf! Wolf!« schrie sie plötzlich auf.

»Lassen Sie ihn laufen,« flüsterte Smiders, sich Ilse mehr und mehr nähernd. »Ich will Ihnen ein[S. 243] glänzendes Leben bieten. Ich liebe Sie verzehrend — Ilse.«

»Nein, nein,« wehrte sie ihn mechanisch ab.

Die großen grauen Augen starrten wie geistesabwesend vor sich hin. Ihre Lippen zuckten, — ihre Züge nahmen einen verzerrten Ausdruck an. Sie suchte nach Worten:

»Leben — ist alles, was bleibt — leben — nicht tot sein —«

Die ungeheure seelische Erregung — der hastig genossene Champagner ließen sie wie betäubt zurücksinken. —

Die Tür von der vorderen Weinstube wurde aufgerissen. Karli stand plötzlich mitten im Zimmer.

»Du bist hier!« schrie sie Smiders an, »wen hast du da mitgebracht! Das ist arg! Du willst mir vorreden, — na warte, — das sollst du mir büßen!« — Sie warf die Verbindungstür schmetternd zu.

Ilse erhob sich taumelnd. Sie war leichenblaß. Wo war sie hingeraten? Der Gedankengang setzte wieder bei ihr ein.

»Ich will fort — fort!« rief sie aus.

In diesem Augenblick stand sie schon an der Tür.

»Ilse!« Er wollte sie zurückhalten. Sie war aber hinausgeeilt. Die blonde Rieke kam jetzt, und Smiders bezahlte.

[S. 244]

»Rede Karli ins Gewissen,« raunte er ihr hastig zu, »daß sie bei dem Hamburger keine Dummheiten macht. Warum hast du sie auch hereingelassen?«

»Ich konnte sie nicht zurückhalten, Herr Smiders. Sie hatte Wind bekommen, daß Sie da sind. Sie durften das Fräulein nicht hierher mitnehmen! Das war nicht schön von Ihnen.«

»Ach was, dummes Mädel! Kümmere dich nicht um meine Sachen! Ich setze keinen Schritt mehr in die Bude, wenn Karli nicht vernünftig ist. Sage ihr das!« Es drängte Smiders hinaus, um Ilse Hergenbach nachzueilen. — — —

Diese stürmte durch die Straßen vorwärts. In wilder Hast bog sie in Nebengassen ab, um den Weg nach dem Plüddekampschen Hause abzukürzen. Ein kalter Regen, der niederging, schlug ihr ins Gesicht, durchnäßte ihre Kleider und Haare und kühlte die brennende Stirn. Wenn ihr nur niemand im Hause begegnete, ehe sie das Zimmer erreichte! Es wäre ihr unmöglich gewesen, Worte zu wechseln oder einen forschenden Blick zu ertragen.

Sie flog die Stufen der großen Treppe hinauf und wollte sofort weiter zum zweiten Stockwerk, als Herta auf den Korridor trat.

Ilse erschrak heftig. Ihr Fuß zögerte, ihr Atem stockte.

[S. 245]

»Ich wartete auf dich, Ilse! Du bist lange fortgeblieben.«

»Entschuldige, Tante Herta! Ich bin vollständig durchnäßt!«

Bei diesen Worten eilte sie bereits weiter. Trotz des Halbdunkels, das im Korridor herrschte, hatte Herta mit einem Blick die verstörten Züge Ilses gesehen.

»Sie ist doch ein merkwürdiges Geschöpf,« schoß es ihr durch den Sinn. »Von einem Regenschauer sieht man doch nicht so verstört aus.«

Ilse war inzwischen auf dem Zimmer angelangt. Sie riß den Hut vom Kopfe und warf sich schluchzend auf ihr Lager hin. Die Gedanken rasten noch in ihr. Unaufhaltsam erschienen wirre Bilder vor ihren Augen. Das ganze Nervensystem schien aufs äußerste erschüttert zu sein. Sie vermochte sich keine klare Rechenschaft über die letzten Stunden zu geben. Ein unbeschreibliches Angstgefühl trieb sie wieder empor und ließ sie das elektrische Licht aufdrehen.

Nur erst wieder einen einzigen vernünftigen Gedanken fassen, — richtig überlegen können, was sie tun mußte, um aus den Irrungen herauszukommen.

Wolf hatte sie betrogen, — ein neuer Tränenstrom brach aus ihren Augen hervor.

[S. 246]

»Alles in der Welt ist Lüge, erbärmliche Lüge!« rief es verzweifelt in ihr. »Ich selbst — bin die Lüge und Alfred Smiders verfallen. Ich kann hier nicht bleiben, bis Wolf zurückkehrt! Ich kann auch nicht nach Nordhausen zurück!« —

Die Kleidung wurde ihr über der Brust zu eng. Sie riß mit beiden Händen das Mieder auf, um leichter zu atmen.

Wenn nur diese entsetzlich quälenden Gedanken erst nachließen! Zum ersten Male sah sie in das Leben hinein. Wie hatte sie sich nach seinen Freuden gesehnt! Und nun empfand sie anstatt des erhofften Glücksgefühls — eine gänzliche Vernichtung ihrer selbst.

Ein paarmal raste sie durch das Zimmer. Dann warf sie sich wieder hin und schluchzte wild auf.

Fort von hier, fort! Damit sie die prüfenden Blicke im Hause nicht zu ertragen brauchte! Ihr Kopf schmerzte entsetzlich. Ein Schwindel ergriff sie. —

Es klopfte an der Tür. Das Mädchen öffnete und fragte, ob Fräulein Hergenbach nicht zum Abendbrot kommen wolle. Sie antwortete hastig:

»Ich leide an starkem Kopfweh. Entschuldigen Sie mich bitte!«

Die Tür schloß sich wieder, und Ilse Hergenbach war mit sich und ihren wilden Gedanken allein.


[S. 247]

XIX.

Es waren unangenehme Nachrichten eingegangen. Die Reederei befand sich in einer gefahrdrohenden Lage. Trotz der klugen Machenschaften von Alfred Smiders war eine Anzahl Papiere, die er in Akzeptaustausch nach Berlin gegeben hatte, auf der Reichsbank zusammengekommen. Ein Bankhaus, mit dem er noch nicht lange verkehrte, ersuchte plötzlich um genaue Auskunft über die hereingegebenen Wechsel und wollte sofort jeden weiteren Verkehr abbrechen, wenn kein genügender Ausweis vorhanden war. Was sollte er tun? Gestern abend kehrte er noch in der rosigsten Laune heim. Er fühlte etwas von einem verteufelten Kerl in sich, dem alles gelingen mußte. Und nun?

»Verdammt! Immer nur die Frauen!« zischte er zwischen den Zähnen hervor, als er den Brief von der Bank wütend auf den Schreibtisch warf. »Im Geschäft wird es täglich toller! Es darf aber nicht zusammenbrechen. Ich bin gezwungen, heute mit dem Hamburger fertig zu werden. Nur eine große Barsumme, mit der ich alles glatt machen kann, bringt mich wieder in das richtige Fahrwasser hinein.«

Er stützte sein Haupt schwer auf und sann einige Augenblicke nach.

[S. 248]

»Es bleibt mir kein anderer Weg, ich muß zu dem Alten hinüberlaufen und ihm die Sache langsam beibringen.«

Trotz der frühen Stunde ging er sofort zu seinem Vater. Smiders senior bewohnte einen Teil des Parterres. Der alte, vollständig gelähmte Herr lag auf dem Krankenstuhl und ließ sich vom Diener das Frühstück reichen. Alfred Smiders trat mit lächelnder Miene an ihn heran.

»Guten Morgen, Papa! Schon auf? Es geht dir heute wohl gut?«

»Nicht besser und schlechter als jeden anderen Tag, mein Sohn. Nur die Untätigkeit, zu der ich verdammt bin, ist mir schrecklich.« Der Diener verließ inzwischen das Zimmer. »Ich sehe dich wenig, — du bist mit Arbeit überhäuft. Könnte ich dir doch helfen!«

»Leider läßt sich daran nichts ändern, Papa. Ich komme wegen Herrn Kneis. Er war bei dir und hat mit dir gesprochen.«

»Ja, ja,« nickte der alte Smiders mit dem Kopfe. »Ein tüchtiger Mann! Du kannst keinen besseren Teilhaber erlangen, als diesen gewiegten Überseer. Er besitzt bedeutende geschäftliche Kenntnisse und großes Vermögen. Ich bin dafür, wir nehmen ihn als tätigen Kompagnon auf. Du wirst dann entlastet, und wir erhalten noch viele neue Verbindungen.«

[S. 249]

»Das ist alles gut und schön, Papa! Ich bin der Sache auch nicht abgeneigt, obwohl es wenig angenehm ist, bei jeder größeren geschäftlichen Verfügung erst eine Rücksprache nehmen zu müssen. Das Ding hat aber noch einen Haken.«

»Wieso?« fragte der alte Herr.

»Na, — du weißt doch, Papa! Die alten Kasten wollten nicht mehr ziehen. Wir sind immerhin ziemliche Verbindlichkeiten bei der Schiffswerft eingegangen, um unseren Dampferbestand zu erneuern. Die Rechnungen laufen noch ein, und die Ratenzahlungen folgen dicht aufeinander. Ich möchte nicht, daß Kneis darin Einblick bekommt. Er gewinnt dann sofort Oberwasser bei uns.«

Der alte Smiders sah mit den matten Augen erschrocken zu seinem Sohne auf.

»In dieser Form hast du es mir noch nie gesagt, Alfred. Bisher war deine Ansicht stets, mit unseren Mitteln alles glatt bestreiten zu können. Nun geht es auf einmal nicht mehr! — Ich habe dir doch deswegen mein ganzes Barvermögen gegeben, das ich noch besaß. Wir stehen jetzt also vor neuem Bedarf, den du nicht decken kannst. Sage es nur gerade heraus! Wir müssen dann Kredit bei unserer Bank nehmen. Bei dem langen Verkehr mit uns wird sie ihn sicherlich einräumen.«

[S. 250]

Alfred Smiders kam bei diesen Worten in eine höchst unangenehme Lage. Er überlegte schnell, wie weit er seinen Vater über den schlechten Geldstand der Firma einweihen sollte.

»Ich möchte es nicht, Papa! Sobald man erst bei den Banken Kredit braucht, ziehen sie gleich die Bedingungen an. Bei unseren großen Umsätzen kostet dies viel Zinsen und Provisionen. Offen gestanden, — ich will nicht in diese Abhängigkeit geraten.«

»Es ist schon richtig,« fiel sein Vater ein. »Aber was dann? Der ›Friedrich Barbarossa‹ muß bald aus dem Dock heraus sein. Geh doch zu Jürgen Plüddekamp. Er wird dir gewiß helfen und eine größere Summe über das Konto vorweg geben.«

Alfred Smiders pfiff leise durch die Zähne.

»Ich stehe mit Jürgen nicht sehr gut, und Wolf ist auf längere Zeit verreist. Am besten wäre es, du sprächst selbst mit ihm, Papa. Dir schlägt er es sicherlich nicht ab, und zwar muß es noch heute geschehen. Wir nehmen dann Kneis sofort herein, und alles ist wieder in bester Ordnung.«

»Alfred! Wie soll ich zu Jürgen Plüddekamp hinkommen? Ich fühle mich viel zu schwach dazu.«

»Nein, nein, Papa! Es ist unbedingt notwendig, daß du es tust. Ich werde dich gleich telephonisch anmelden, und du läßt dich in deinem Wagen hinfahren.«

[S. 251]

»Ja, wenn es sein muß!« stöhnte der alte Smiders leise auf. »Ich mache es deinetwegen, mein Sohn. Meine Lebenstage sind doch gezählt.«

Der junge Smiders reichte seinem Vater mit freundlichem Drucke die Hand.

»Gut, Papa! Wir sind jetzt vollkommen einig. Ich rufe dir deinen Diener und gehe gleich nach dem Kontor hinüber.«

Er befand sich wieder in bester Laune. Ein Stein war ihm vom Herzen gefallen. So mußte es gehen. Nun schwamm er wieder oben. —

Jürgen Plüddekamp erstaunte nicht wenig, als ihm telephonisch gemeldet wurde, daß der alte gelähmte Herr Smiders ihn aufsuchen würde. Eine Stunde darauf brachte der Diener diesen bereits angefahren. Mit einigen Umständen wurde der Wagen bis an das Privatkontor von Jürgen Plüddekamp gebracht. Der alte Mann kam schon in einem ziemlich erschöpften Zustande an, und Jürgen suchte ihm die Aussprache in jeder Weise zu erleichtern.

Er ließ sofort ein stärkendes Glas Wein für ihn holen und fragte dann teilnehmend, wie sein Befinden wäre. Da er ihn lange nicht gesehen habe, freue er sich, daß es ihm anscheinend gut ginge.

»— und nun — was führt Sie zu mir, Herr Smiders?«

[S. 252]

»Lieber Herr Plüddekamp,« begann dieser. »Ich komme heute als alter Freund Ihrer Firma zu Ihnen, dem schon Ihr Herr Vater volles Vertrauen schenkte. Es handelt sich um einen Vorschlag. Die Erweiterung unserer Dampferlinien, um der wachsenden Konkurrenz zu begegnen, stellte große Anforderungen an die Reederei. Wir haben uns deshalb entschlossen, einen tätigen Teilhaber mit größerem Kapital hereinzunehmen. Es ist Herr Kneis aus Hamburg. Vorher aber möchte Alfred vollständig reinen Tisch haben. Wir wollen uns nicht der Bank in die Hand geben, und ich bitte Sie, uns dabei entgegenzukommen. Die Summe für den gecharterten ›Friedrich Barbarossa‹ ist allerdings erst später zu zahlen. Es wird Ihnen nichts ausmachen, uns diese — natürlich mit Abzug eines Skontos — schon jetzt zu überweisen. Sie werden uns zu gleichen Diensten stets bereit finden.«

Jürgen war dieses Ansinnen sehr peinlich. Der alte gebrechliche Herr tat ihm außerordentlich leid. Sollte er ihm die bittere Wahrheit ins Gesicht sagen?

Herr Smiders senior sah ihn fragend an. Warum erfolgte nicht gleich die Antwort? Es war doch nur eine kleine Gefälligkeit, um die er die reiche Firma anging.

»So leid es mir tut, Herr Smiders, und so gern ich Ihnen gefällig sein möchte, — in diesem Falle[S. 253] geht es nicht,« brachte Jürgen leicht stockend hervor. »Die Fracht für den ›Friedrich Barbarossa‹ hängt vollständig in der Luft, und unser Vertrag ist hinfällig. Der Dampfer liegt noch im Dock, und es ist nicht abzusehen, wann er auslaufen kann. Ich hörte, die Werft hat die Arbeit eingestellt!«

»Die Werft hat die Arbeit eingestellt, Herr Plüddekamp! Großer Gott, davon weiß ich gar nichts!« erwiderte der alte Smiders zitternd. »Ich glaubte, der Dampfer sei zum Auslaufen bereit. Darauf begründete sich mein Plan. Nun tut es mir leid, daß ich Sie behelligt habe. — Ich muß sofort mit Alfred sprechen. Ich verstehe alles nicht mehr — ich bin — ganz verstört darüber.«

Jürgen Plüddekamp sah ihn mit bedauernden Blicken an. Er hätte ihm wohl noch manches sagen können, wovon er nichts wußte. Aber dazu lag kein Grund vor, und er wollte dem alten Herrn nicht die letzten Lebenstage verbittern. —

Smiders senior fuhr unverrichteter Sache ab. Gleich darauf rief Jürgen den Prokuristen Armin herein und teilte ihm alles mit.

»Was sagen Sie dazu, Armin? Ich habe das Gefühl, daß Smiders & Sohn vor dem gänzlichen Zusammenbruch stehen. Ein wahres Glück, daß wir Wolf nach Spanien sandten. Hoffentlich erhalten[S. 254] wir recht bald gute Nachrichten von ihm. Unsere sonstigen Beziehungen zu der Reederei sind doch vollständig geregelt, so daß wir mit ihr in gar keiner Berührung mehr stehen.«

»Es liegen noch ein paar kleinere Frachten vor, Plüddekamp,« erwiderte Armin, »aber diese machen uns keine Umstände. Ich kann sie auch einer anderen Reederei überschreiben.«

»Tun Sie das, Armin! Es ist besser, wir brechen alle Verbindungen mit der Firma ab.« — — —

Alfred Smiders saß an seinem Schreibtisch. Er hatte einen weißen Bogen vor sich hingelegt und rechnete. Nach einer Weile nickte er befriedigt. So mußte es gehen! Ein Angestellter brachte ihm die Mittagspost herein. Bei flüchtigem Durchsehen erkannte er auf einem Kuvert die Handschrift von Kneis. Sofort riß er dies zuerst auf und überflog hastig die darin enthaltenen Zeilen. Ein wilder Ausruf entfuhr seinem Munde. Er schlug mit beiden Händen auf den Tisch und wurde dann fahlbleich.

»Es ist ja nicht möglich!« rief er laut aus. »Was ist in den Mann gefahren! So lasse ich mich nicht abspeisen! — Bis zum Abgang des Schnellzuges nach Hamburg ist noch eine Stunde. — Er darf nicht fahren!« Und schon hatte er seinen Hut ergriffen und eilte fort. —

[S. 255]

Inzwischen kehrte der Wagen mit dem gelähmten alten Smiders zurück. Er ließ seinen Sohn sofort zu sich bitten und erhielt zur Antwort, daß dieser ausgegangen sei. Nach einer halben Stunde kam Alfred Smiders jedoch zurück. Sein sonst elastischer Gang war unsicher, seine Züge gefurcht, als ob er um Jahre gealtert sei. Er suchte sofort seinen Vater auf und war völlig niedergeschmettert, als er die Ablehnung von Jürgen Plüddekamp erfuhr.

»Was nun?« rief es in ihm.

»Sprich sofort mit Herrn Kneis!« sagte ihm der Vater. »Du mußt mit ihm einig werden! Es ist der einzige Ausweg! Geh, mein Sohn, versäume keine Zeit.«

Alfred Smiders wankte nach seinem Kontor hinaus. Er konnte seinem Vater nicht sagen, daß bei dem Hamburger alles verloren sei. Mit der gewohnten Ruhe hatte ihm der Überseer ins Gesicht gesagt, daß er dafür danke, mit der Firma Smiders & Sohn in irgendeine Verbindung zu treten. Als Alfred Smiders nach der Ursache seines plötzlichen Verhaltens forschte, erwiderte er kaltlächelnd:

»Fragen Sie die schwarze Karli in der ›Grünen Schanze‹, die Sie mir so warm empfohlen haben, warum ich mit Ihnen nichts mehr zu tun haben will.« Damit verbeugte er sich kurz, und Alfred Smiders war abgewiesen.

[S. 256]

Die letzte Hoffnung hatte er noch auf die Unterredung seines Vaters mit Jürgen Plüddekamp gesetzt. Auch diese schlug fehl.

Wohin er auch blickte, kein Ausweg mehr. Alle Fäden, die er gehalten, waren abgeschnitten. Schon in den nächsten Tagen mußte die Firma zusammenbrechen. Einen Konkurs konnte er nicht machen. Seine Bücher waren nicht in Ordnung. Er hatte eine Anzahl Posten nicht buchen lassen. Der ganze Akzeptaustausch, durch den er sich Geld verschaffte, stand nur auf einem Blatt Papier verzeichnet. Er wußte genau, der Staatsanwalt würde sich mit ihm befassen. Das verzweifelte Spiel, das er aus wilder Sucht nach Reichtum begonnen, war verloren! Er wollte noch so viel als möglich zusammenraffen und damit fliehen. Weiter blieb ihm nichts übrig. — Einen Augenblick dachte er an seinen alten Vater, er schüttelte aber den Gedanken mit aller Kraft wieder von sich ab. Mochten sich andere seiner annehmen, er wollte den Sturz nicht erleben. Es war nicht hohe — nein, es war die höchste Zeit, daß er fortging. — Es ergriff ihn eine Wut auf die schwarze Karli, die ihn an den Hamburger verriet. Warum vertraute er sich ihr auch an! Er suchte bei diesen Gedanken nach dem Grunde, und die Gestalt Ilse Hergenbachs trat plötzlich vor ihn hin. Durch diese Torheit[S. 257] entstand jetzt sein ganzes Unglück. Sie hatte ihm gefallen, wie ihm jedes andere Mädchen gefiel, nach dem er siegesgewiß seine Hand ausstreckte. Aber der Einsatz kam ihm teuer zu stehen. Nun galt es, keine Sekunde mehr zu zögern.

Er rief seinen vertrauten Buchhalter herein und ließ sich das Kontokorrentbuch vorlegen. Mit fiebernden Pulsen blätterte er darin herum, machte sich Notizen und bestellte dann einen Wagen. Die Leute konnten ihm nachreden, was sie wollten, er würde drüben in der Neuen Welt untertauchen. Gewaltsam zwang er sich zur Ruhe, und es gelang ihm, einen geeigneten Plan zu schmieden. Inzwischen fuhr der Wagen vor. Er war schon im Begriff, hinauszueilen, als einer der Kommis ihm meldete, daß ihn eine junge Dame zu sprechen wünsche.

»Ich habe keine Zeit!« schrie er diesen an, »sagen Sie ihr dies.«

Der Kommis kehrte aber nochmals zurück. »Sie läßt sich nicht abweisen, Herr Smiders, und hat ihren Namen genannt — Fräulein Ilse Hergenbach!«

Smiders warf das Hauptbuch dröhnend auf die Schreibtischplatte.

»Es ist rein wie verhext! Gut,« rief er dem Kommis zu, »das Fräulein soll eintreten.«


[S. 258]

XX.

Herta Plüddekamp sah Ilse fragend an, als sie am nächsten Morgen ihre Tätigkeit im Haushalt wieder aufnahm.

»Dein Gesicht kommt mir so verändert vor, Ilse. Hast du eine schlechte Nachricht erhalten?«

»Nein!« erwiderte diese zögernd. »Ich fühle mich nicht ganz wohl und muß mir eine starke Kopferkältung zugezogen haben. Eine Schwere liegt mir in allen Gliedern, daß ich mich kaum aufrecht erhalte.«

»So bleibe doch in deinem Zimmer! Ich sende dir die Mahlzeiten hinauf,« sagte Herta in gütigem Tone.

»Ich danke dir, Tante Herta.«

Ilse war recht froh, dem Wirtschaftsgetriebe fernbleiben zu können, und zog sich sofort auf ihr Zimmer zurück. Nach einer schlaflos verbrachten Nacht fühlte sie eine starke Ermattung in ihren Gliedern. Aus dem Gewirr der Gedanken hatte sie sich zu einem Entschluß durchgerungen. Sie wollte das Plüddekampsche Haus verlassen, um Wolf nie[S. 259] wiederzusehen. Alfred Smiders mußte ihr dazu die Hand bieten. Sie würde ihn schon zu zwingen wissen. — Es konnte ihr niemand verdenken, wenn sie eine Stunde ausging, um frische Luft zu schöpfen. Der Weg aber, sollte sie zu Alfred Smiders führen. —

Jochen Hindorf war an dem Vormittag zufällig fortgeschickt worden. Als er bei der ›Grünen Schanze‹ vorbeikam, stand die blonde Rieke vor der Tür.

»Morjen, Mamsell!« rief er ihr zu.

»Guten Tag, Herr Hindorf! Kommen Sie ein bißchen herein. Ich will Ihnen ein Glas Wein geben.«

Damit erklärte sich Jochen sofort einverstanden. Er setzte sich in die Vorderstube und trank mit Behagen einen Schnitt ›Weißen‹ vom Faß, den ihm das junge Mädchen hinstellte.

»Wann kommt Herr Wolf Plüddekamp zurück?« fragte sie ihn aus.

»Jäh — das weiß ich nicht! So was ist Geschäftsgeheimnis,« meinte der Alte ernst.

»Ich habe ihm aber sehr Wichtiges zu erzählen,« fuhr Riekchen fort.

»So, was Wichtiges! Das können Sie mir auch gleich sagen.«

»Nein, nein!« schüttelte Rieke den Kopf, »es geht nicht ohne weiteres.«

[S. 260]

Jochen Hindorf war aber ein alter Pfiffikus. Wenn er etwas erfahren wollte, so ließ er nicht nach, und in seiner gemütlichen, halb dummdreisten Art brachte er schließlich alles heraus.

»Dunnerlüchting!« rief er plötzlich aus, »das ist keine andere, als Fräulein Ilse gewesen. Herrgott und die Welt — nun möcht' ich bloß wissen, wie das zugegangen ist. Ich hab keine Zeit mehr, mein kleines Fräulein, sonst krieg ich was ab.«

»Sobald Herr Plüddekamp wieder hier ist, geben Sie mir sofort Nachricht,« bat Rieke, »und sagen Sie keinem Menschen ein Wort davon, was ich Ihnen anvertraute.«

»I Gott du bewahre! Ich bin doch keine Plapperlott!« gab der Alte zur Antwort.

Jochen Hindorf ging trotz der Schwere seiner Beine viel schneller, als es ihn sonst zur Arbeit trieb. Er machte ein finsteres Gesicht. Es würgte etwas in ihm herum, und er mußte doch zu einem Entschlusse kommen, bevor er Haus Plüddekamp erreichte. Wie sollte er es aber nur andrehen? Eine ganz tolle Sache, die er da erfahren hatte, und sein junger Herr stak dazwischen.

Er befand sich schon dicht vor dem Hause, als Ilse aus dem Torweg scheu hervorhuschte und ihm entgegenkam. Sie wollte schnell an ihm vorüber.

[S. 261]

»Guten Morgen, Fräulein! Sie haben aber Eil!« sagte er mit seiner tiefen Brummstimme und machte dabei ein listiges Gesicht. Er glaubte, daß Ilse stehen bleiben und ihm antworten würde. Er hatte sich aber getäuscht. Sie gab kaum den Gruß zurück und ging hastig weiter.

»I, sieh einmal,« meinte der Alte, »sie beachtet mich gar nicht, na man zu, ich bin ihr nichts schuldig.«

Er schritt in den Torweg hinein und gab seine Besorgungen im Kontor ab. Als er dann nach dem Hof ging, stand Herta an der Gartenpforte und winkte ihn heran.

»Jochen, du sollst mir etwas helfen!« rief sie. »Es fehlen ein paar Bretter auf den Warmbeeten, du könntest sie mir wohl aussuchen und zurechtschneiden.«

»Jäh woll, gnädiges Fräulein, das werde ich tun,« Er wollte sich gleich auf den Weg machen.

»Jochen, warte noch einen Augenblick,« sagte Herta, »hast du noch immer starkes Kopfreißen?«

»Jäh woll, gnädiges Fräulein,« erwiderte Jochen, und sein breites Gesicht verzog sich zu einem versteckten Lächeln. Er hatte sich mit seinem angeblichen Kopfreißen manche alkoholische Vorteile verschafft.

»Du hast doch ein gutes Mittel dafür und kannst es mir besorgen. Fräulein Ilse leidet gleichfalls daran.«

[S. 262]

»I was!« rief der Alte aus, »sie ist doch eben ausgegangen!«

»Ilse ist ausgegangen?« wiederholte Herta fragend. »Hast du sie angetroffen?«

»Jäh woll, gnädiges Fräulein.«

»Dann möchte ich nur noch sagen —«

»Ja, was denn, Jochen?«

Der Alte stand plötzlich eine Weile stumm da; die Worte wollten nicht über seine Lippen. Herta kannte ihn aber zu gut, als daß sie nicht weiter nachgeforscht hätte. Sie ließ ihm erst einen Augenblick Zeit, dann fragte sie:

»Du willst mir etwas anvertrauen, Jochen? Ich sehe es dir an. Du kannst es ruhig tun. Es ist wohl wegen meines Bruders Wolf?«

»Näh, gnädiges Fräulein, es ist nicht wegen Herrn Wolf! Aber wegen der da —« er zeigte auf den Torweg hin, durch den Ilse vorher hinausgegangen war — »und wegen Herrn Smiders.«

»Wie, Jochen?« Herta wurde jetzt gespannt. »Komm — wir gehen einen Augenblick in den Garten, da hört uns niemand.« Sie schritt voran, und der Alte stapfte ihr nach.

Als Herta einige Zeit darauf in das Haus zurückkehrte, lag ein düsterer Ernst auf ihrem Gesicht. Das Erfahrene war geradezu unerhört. Sie fühlte[S. 263] sich gewissermaßen verantwortlich, weil sie Ilse Hergenbach in ihrem Hause aufgenommen hatte. — Wie sollte sie nun Jürgen mit diesen Tatsachen unter die Augen treten, — wie würde der arme Wolf unter der Wucht der Ereignisse leiden? Sie suchte nach einem Ausweg in diesem Wirrnis und mußte erst mit sich zu Rate gehen, um das drohende Unheil abzuwenden. — Was sie gefürchtet, war zum Ereignis geworden.

Wolf durfte Ilse bei seiner Rückkehr nicht mehr vorfinden; noch wußte niemand etwas von der Verlobung — die Ehre konnte gewahrt bleiben. Sie schritt zum Haustelephon und rief Jürgen in seinem Privatkontor an.

»Hallo!« sagte dieser, »du wünschst, liebe Herta?«

»Ich bitte dich, sogleich zu mir heraufzukommen.«

»Es muß etwas ganz Außergewöhnliches sein,« tönte es zurück, »wenn du mich von der Arbeit wegholst.«

»Sogar sehr Dringendes!«

»Gut! Ich bin sogleich bei dir.«

Wenige Minuten später saßen die beiden Geschwister in Hertas Zimmer zusammen. Jürgen hörte alles mit an, ehe er ruhig erwiderte:

»Wir waren auf falschem Wege, Herta, als wir Ilse in unsern engen Familienkreis aufnahmen.[S. 264] Wohin wir gekommen sind, liegt heute klar vor uns. Ich glaube vorläufig noch nicht alles, was Jochen Hindorf dir erzählte. Er kann in seinem ewigen Tran manches durcheinandergebracht haben. Es bleibt mir daher nichts anderes übrig, als mich an Ort und Stelle selbst zu erkundigen. Es gibt natürlich nur einen Entschluß: Ilse Hergenbach packt sofort ihre Koffer und fährt nach Nordhausen zurück. Wir brechen jede Beziehung mit ihr für immer ab. Gut, daß Wolf dadurch von ihr lassen wird. Ich sehe jetzt noch viel klarer. Vorhin war der alte Smiders bei mir. Ein erbarmungsvoller Anblick — der alte gelähmte Mann bittend für den auf Abwege geratenen Sohn. Dann Smiders und Ilse — es ist wahrhaftig nicht zu glauben!«

»Sie hat erst Krankheit vorgeschützt, darauf ist sie ausgegangen. Wahrscheinlich wird sie bei ihm sein. Die Ereignisse überstürzen sich. Zürne mir nicht, Jürgen, daß ich dir so viel Unangenehmes bereitet habe.«

»Nicht doch — liebe Herta! Wir Geschwister tragen alles gemeinschaftlich — Freude und Leid! Ich gehe jetzt, um mich zu vergewissern.«

Jürgen kam alles so ungeheuerlich vor, daß er es kaum zu glauben vermochte. Es kostete ihm einen starken Entschluß, sich in die Weinstube auf[S. 265] der ›Grünen Schanze‹ zu begeben — jedoch es mußte sein. Er wollte niemand Unrecht tun.

Als er eine halbe Stunde darauf sein Haus wieder betrat, hielt der starke Mann den Kopf gebeugt. Das Erfahrene überstieg alles, was er für möglich gehalten hatte. Wie konnte sich ein Mädchen, das bei ihnen lebte, so weit vergessen! Smiders war ein gewöhnlicher Schurke, er hatte dies schon lange erkannt. Der Zusammenbruch von Smiders & Sohn erschien unvermeidlich. Aber Ilse Hergenbach! — Wie konnte sich dieser Bursche ihrer nur so bemeistern?

Herta wartete auf ihrem Zimmer mit Bangen die Rückkehr von Jürgen ab. Als er die Tür öffnete, stand die Antwort auf seinen Zügen geschrieben. Er brauchte ihr nichts zu sagen. Es lag noch schlimmer, als Jochen bereits mitgeteilt hatte.

»Ist das — modernes Menschentum?« endete Jürgen seine Rede mit Bitterkeit. »Sind das die Früchte unserer jetzigen Erziehung? Besteht darin die Gleichberechtigung der Frau, daß alle vornehme Gesinnung und gute Sitte bei ihr schwindet? Es gibt nur noch den Drang, zu leben — ohne Rücksicht auf andere. Ich fürchte für Wolf! Sein reiches Gemüt wird diesen Schlag kaum verwinden. Besser, er bleibt noch lange fort, damit die Spuren des Vorganges sich verwischen. Es ist keine heilsame Lehre[S. 266] für ihn, sondern das Bild einer Vernichtung von Treu und Glauben.«

Die Geschwister schwiegen darauf eine ganze Zeit, bis plötzlich Herta die Stille unterbrach:

»Sobald Ilse heimkehrt, werde ich mit ihr sprechen. Es ist ein schweres Amt für mich. Darf ich ihren Eltern das Geschehene verschweigen? Wenn sie alsdann von ihnen verstoßen wird? Ich kann nur handeln, wie es mir Frauengesetz und Recht vorschreibt. Welch schwere Augenblicke gibt es doch, in denen von wenigen Worten ein Lebensschicksal abhängt!«

Jürgen mußte seiner Tätigkeit weiter nachgehen. Herta aber versank in tiefes Nachdenken. Wie sollte sie es nur anfangen, Ilse Hergenbach wieder auf den rechten Weg zu bringen? Die Schuld traf diese nicht allein. Sie war von allen — außer Jürgen — mit schönen Worten und Schmeicheleien genug umgarnt worden.

»Das ist der Fluch, der auf uns Frauen lastet! Woher sollen diese stets den starken Charakter haben, wenn sie nicht dazu erzogen werden! Ist Ilse Hergenbach wirklich so schlecht, wie wir glauben?«

Je mehr sie alles durchdachte, desto mehr suchte sie nach Gründen, die ihr Verhalten entschuldigen konnten. Es drang immer wieder ein: »Nein — nein!« hervor. »Niemand ist gezwungen, die abschüssige Bahn zu betreten. Die Frau muß den Halt[S. 267] in der Reinheit der Seele und der Gedanken finden — in dem Stolz, gleichberechtigt neben dem Manne zu stehen. Sie darf nicht zu Handlungen schreiten, die ihrer unwürdig sind.«

Wie war es nur möglich, daß Ilse mit einem Mann, den sie kaum kannte, in ein solch verrufenes Lokal ging? Dachte sie nicht an die Folgerungen? Sie wurde doch genug von ihr behütet. — Was gibt es doch für Rätsel der Menschenseele, die unauflöslich sind! —

Die Mittagszeit kam heran, ohne daß Ilse wieder eintraf. In Herta stieg der Gedanke auf, daß sie zu verzweifelten Schritten gelangt sein könne.

Die sonst so ruhige, abgeklärte Herta befand sich in großer Aufregung. Sie berührte kaum die zum Mittagessen aufgetragenen Speisen, und sagte zu Jürgen:

»Wenn Ilse bis zum Abend nicht wieder hier ist, bleibt uns nichts anderes übrig, als sie suchen zu lassen.«

»Dann haben wir den öffentlichen Skandal, Herta!« erwiderte dieser. »Bedenke — ein solcher Fall im Hause Plüddekamp!«

»Es kann aber nichts helfen! Wir wollen nur hoffen, daß er vermieden bleibt.«

Am späten Nachmittag stand Ilse jedoch vor Herta. Ihre Wangen waren bleich, eine hektische[S. 268] Röte erschien auf ihnen und schwand wieder; die Augen zeigten ein fieberhaftes Glänzen.

»Ich habe eine Bitte an dich, Tante Herta,« sagte sie mit zu Boden gesenkten Blicken. »Ich fürchte, krank zu werden, und möchte euch nicht zur Last fallen. Ich will mit dem Abendschnellzug über Berlin nach Nordhausen fahren.«

»Es steht dir vollständig frei,« erwiderte Herta in kaltem Ton. »Du denkst wohl nicht an eine Rückkehr?«

»Nein, Tante Herta!«

»So ordne deine Sachen. Unser Wagen wird dich mit dem Gepäck an die Bahn bringen. Bestelle deiner Mutter Grüße von mir.«

Einen Augenblick war Herta der Ansicht, jede Auseinandersetzung mit Ilse zu vermeiden. Sie wollte auch den Eltern keine Mitteilung zugehen lassen, um nicht die Zukunft des jungen Mädchens dadurch zu untergraben. Dann fragte sie sich aber in ihrem Innern: Ist es recht, sie ohne Aussprache von mir gehen zu lassen? Sie mußte sich doch von ihrem Seelenzustand überzeugen.

»Du siehst krank aus, Ilse,« begann sie. »Es erscheint mir aber nicht, als ob ein körperliches Leiden die Ursache davon ist. Hast du mir nicht noch etwas zu sagen?«

Das junge Mädchen starrte vor sich hin. Sie konnte den Blick zu der Freundin ihrer Mutter nicht[S. 269] erheben. Ihr Mund blieb geschlossen. Sie zeigte wieder die alte trotzige Stummheit.

»Dein Schweigen deutet mir viel,« fuhr Herta fort. »Du willst deine Seele nicht entlasten. Was richtiger wäre, mußt du dir selbst sagen. Ich könnte dir noch einen Rat auf deinen späteren Lebensweg mitgeben, wie du ihn wohl so uneigennützig nicht wieder erhalten wirst. Das Wohl jeder meiner Mitschwestern liegt mir am Herzen. Ich will mich aber nicht gewaltsam in dein Gemüt eindrängen, — du selbst mußt das Bedürfnis haben, mir anzuvertrauen, was vielleicht andere Zungen geschwätzig herumtragen werden. Ich habe den Zorn, der über dein Verhalten in mir entstand, bekämpft. An seine Stelle ist aufrichtiges Mitleid getreten, und dies erfüllt mich jedem weiblichen Wesen gegenüber, das vom richtigen Weg abweicht. Such das rechte Wort zu mir, Ilse!«

Herta sah, wie die blassen Lippen der Gegenüberstehenden zuckten. Sie schien in diesen Stunden um Jahre älter geworden zu sein. Ihr Mund blieb aber stumm.

»So geh, Ilse, wenn du kein Vertrauen finden kannst,« sagte Herta kalt. »Nun haben wir nichts mehr miteinander zu sprechen. Jürgen entbindet dich des Abschiednehmens.« Sie reichte ihr nicht mehr die Hand. Ilse verließ das Zimmer.


[S. 270]

XXI.

Der Wagen war vorgefahren. Ilse stieg ein. Die Sachen wurden aufgeladen. Niemand begleitete sie — niemand bot ihr den Abschiedsgruß. Nur der alte Jochen Hindorf kam und machte den Wagenschlag zu. Ein breites Lächeln glitt über sein Gesicht, als die Pferde anzogen.

»Sie hat nicht einmal schön Dank gesagt, und das Portemonnaie saß ihr verteufelt fest in der Tasche. Na — es ist gut, daß sie weg ist. Nun wird mein lieber Wolf wohl wieder vernünftig sein,« brummte er und ging an seine Arbeit. —

Auf dem Bahnhof angelangt, übergab Ilse ihre Koffer einem Gepäckträger und trat an den Billettschalter. Sie sah sich scheu um. Vielleicht fürchtete sie, beobachtet zu werden. Sie nahm ein Billett bis zur nächsten Station und begab sich dann nach dem großen Wartesaal. Hier hielt sie sich eine Zeitlang auf, um anscheinend den Schnellzug abzuwarten.

Als er donnernd in die Halle fuhr, hatte sie einen Augenblick das Gefühl, daß es für sie besser wäre, mit einzusteigen. Dann kam aber der Gedanke wieder: »Es ist unmöglich! Ich darf Smiders[S. 271] nicht freigeben! Für mich ist kein Raum mehr daheim, — ich will in die Welt hinaus. Der Kampf mit ihm war nicht leicht. Nur gut, daß er gerade auf längere Zeit nach London gehen muß, dort ist eine Verbindung ohne Schwierigkeit zu bewerkstelligen.« —

In später Nachtstunde löste sich ein kleiner Dampfkutter von der Landungsstelle in Bredow ab und fuhr die Oder hinunter. Sowie sich gegen Morgen der Landwind stärker erhob, schaukelte das kleine Fahrzeug heftig auf den kurzen Stoßwellen des Haffes. Außer dem Maschinisten und dem Heizer waren nur noch ein Herr in langem dunklem Mantel und eine dichtverschleierte junge Dame an Bord.

»Ich tue es um deinetwillen, Ilse,« sagte Alfred Smiders, »es braucht niemand zu wissen, daß du mit mir fortgegangen bist. Am Bollwerk gibt es beim Einsteigen hundert neugierige Menschen, die jedes Vorkommnis beobachten und weitertragen.«

»Was mache ich mir jetzt daraus,« antwortete Ilse, »für mich ist alles vorbei! Du hast mich doch besitzen wollen, — nun bin ich bei dir, und du mußt für mich sorgen.«

Das Gesicht von Alfred Smiders zeigte bei ihren Worten ein höhnisches Lächeln.

»Ich werde es auch tun,« erwiderte er. »Du verstehst es ja meisterhaft, deinen Willen durchzusetzen.«

[S. 272]

Die Wellen im Haff wurden immer höher, und ihr weißer Gischt schlug zuweilen über die Spitze des kleinen Kutters hinweg. Er lag hart an der Swinemünder Fahrt. Alfred Smiders hatte den Auftrag gegeben, den dänischen Dampfer ›Klampenborg‹, der am frühen Morgen von Stettin abging, anzulaufen.

Ilse, die das Seefahren nicht gewohnt war, befand sich in schlechter Stimmung. Das fortgesetzte Schaukeln des kleinen Kutters verursachte ihr das größte Unbehagen.

»Wenn nur erst der Dampfer kommen möchte,« sagte sie, »ich fühle mich grenzenlos elend!«

Smiders erwiderte nichts darauf. Er starrte in die Wellenberge hinein, die sich gegen das kleine Fahrzeug auftürmten. Würde nicht jetzt das Leben ebenso auf ihn hereinbrausen? Viel hatte er aus dem Zusammenbruch, der ihm nachfolgen mußte, nicht retten können, und nun hängte sich dieses Geschöpf noch an ihn. —

Es war bereits heller Tag, als endlich die Signalmasten und das Bugspriet des großen dänischen Schiffes sichtbar wurden.

»Geschickt anfahren!« befahl Smiders.

Der Dampfer kam rasch näher. Der Maschinist des Kutters gab mit der Dampfpfeife ein Zeichen, daß er Passagiere abgeben wollte. Der Kapitän des[S. 273] Dänen, der oben auf der Kommandobrücke stand, winkte ab. Die Wellen gingen zu hoch, so daß ein sicheres Anlaufen während der Fahrt nicht möglich war. Der kleine Kutter legte sich aber beharrlich in den Weg, und trotz der Warnungszeichen vom Schiff schoß er im nächsten Augenblick hart an dieses heran. Der Heizer griff nach einem vom Steuerbord herabhängenden Tau, und nun flog das kleine Fahrzeug äußerst gefährdet neben dem großen Dampfer hin.

Die Weilen schlugen darüber hinweg. Die Mannschaft des Dampfers kam auf Deck zusammen und schaute hinunter.

»Laßt ab!« donnerte der Kapitän oben. Der Kutter hielt aber stand. Seine Insassen schwebten in größter Lebensgefahr. Schlugen die Wellen in die Maschine hinein, so war eine Explosion des Kessels sehr leicht möglich.

Die Aufnahme wurde gewaltsam erzwungen. Es öffnete sich die tiefgelegene Schiffsluke, eine Strickleiter wurde hinuntergeworfen. Alfred Smiders brachte im nächsten Augenblick die vor Aufregung und Angst halb bewußtlose Ilse hinauf. Der Heizer gab rasch das Gepäck nach, dann löste sich der Kutter ab und blieb mit den starken Wellen kämpfend zurück.

Ilse Hergenbach stand gänzlich durchnäßt und fröstelnd auf dem Deck. Der Kapitän, der herangekommen[S. 274] war, geriet mit Alfred Smiders in heftigen Wortwechsel. Sie sprachen dänisch miteinander. Dann mußten sie sich aber geeinigt haben. Es wurde kurz darauf den beiden Passagieren eine Kabine zur Überfahrt nach Kopenhagen eingeräumt. Der Dampfer ›Klampenborg‹, der des Kutters wegen leicht gestoppt hatte, nahm jetzt wieder volle Fahrt auf und ging mit nördlichem Kurs in die See hinaus.


Wochen waren verstrichen. Herta hatte es vermieden, an Frau Hergenbach zu schreiben. Sie erwartete deshalb auch keine Nachricht aus Nordhausen. Die beiden Geschwister hatten sich beraten, was sie Wolfs wegen tun wollten.

»Ich kann ihn bloß noch mit vieler Mühe fernhalten,« meinte Jürgen. »Wenn er nur mit anderer Anschauung zurückkäme, als er fortgegangen ist!«

»Nein, Jürgen,« erwiderte seine Schwester, »du hältst Wolf für oberflächlicher, als er es in der Tat ist. Ich fürchte nach den Briefen an mich, daß sich die starke Neigung zu Ilse nicht vermindert, sondern durch seine Abwesenheit sogar noch vertieft hat. Der Schlag wird so gewaltig für ihn sein, daß wir das Schlimmste dabei befürchten können. Was sollen wir ihm nur bei seiner Rückkehr sagen?«

[S. 275]

»Weiß nicht,« brummte Jürgen, »Wolf ist nun einmal aus anderem Holz, als wir Plüddekamps sonst geschnitzt wurden. Wir rütteln und schütteln uns Gutes und Böses ab. Einen Augenblick mag es uns im Innern stark erfassen, dann aber sind wir wieder gefestigt und lassen uns nicht mehr beirren.«

»Wolf ist das Bild meiner lieben Mutter, dieser schönen, gütigen und lebenslustigen Frau. Auf ihn haben sich alle ihre herrlichen Eigenschaften vererbt,« erwiderte Herta.

Jürgen nickte mit dem Kopf.

»Es wäre besser, er gliche unserem Vater, wie du, Herta. Sein Weg in der Welt würde ihm leichter werden.«

Beide Geschwister waren schwer bedrückt. Sie liebten Wolf zärtlich und empfanden, welcher Schmerz ihn bei der bevorstehenden Eröffnung treffen mußte. Jürgen versuchte Wolfs Aufenthalt in Spanien durch Depeschen zu verlängern. Er bat ihn in einem Schreiben, sich durch die Schönheiten und den Reiz der alten Städte Südspaniens festhalten zu lassen. Es sei doch zweifelhaft, ob er noch einmal dorthin käme. Wolfs Briefe lauteten aber entgegengesetzt.

So eifrig er alles Geschäftliche erledigte, die Sehnsucht nach Ilse sprach aus den Schlußzeilen im erhöhten Maße hervor. In Spanien trat bereits[S. 276] die wärmere Jahreszeit ein, und Wolf liebte als guter Pommer die starke kühle Seebrise seiner Heimat.

»Du meinst es gut mit mir, Jürgen,« schrieb er in seiner Antwort. »Es nutzt dir aber nichts, lieber Bruder, die Sehnsucht nach Hause ist stärker in mir, als der Drang, alte arabische Kunst und spanische Schönheit näher kennen zu lernen. Es wird mir im Leben schon noch einmal vergönnt sein, diese mit Ilse zusammen anschauen zu können.«

Jürgen sandte wieder Depesche auf Depesche. Er fürchtete geradezu die Stunde der Heimkehr Wolfs. In einem folgenden Briefe schien es sogar, als wenn sich dieser noch zur Reise nach Südspanien entschließen wolle. —

Eines Tages jedoch gegen Mittag hielt plötzlich eine Droschke vor dem Plüddekampschen Hause an. Wolf sprang heraus und eilte ins Kontor.

Als Jürgen ihn so frisch und lebenslustig, voll glücklicher Erwartung in den Zügen kommen sah, breitete er unwillkürlich seine Arme aus und drückte den Bruder an seine breite Brust.

»Wölfchen, du bist ein Prachtkerl!« rief er aus. »Wie dunkelgebräunt du von Spaniens Sonne ausschaust! Hast deine Sache wacker gemacht, mein Junge. Komm, setz dich auf deinen alten Platz und erzähle uns.«

[S. 277]

Der Prokurist war ebenfalls hinzugetreten und hatte seinem zweiten Chef kräftig die Hand geschüttelt. Wolf war so erregt von dem augenblicklichen Gefühl des Glückes, wieder in der Heimat zu sein, daß er seine Erlebnisse fast übersprudelnd hervorbrachte. Er hatte vorzüglich abgeschnitten. Die spanischen Firmen waren ihm in der liebenswürdigsten Weise entgegengekommen und verhalfen ihm trotz der Schwierigkeiten zum Ankauf von Korn. Ebenso fand er die größte Bereitwilligkeit bei den Leitern der spanischen Brennereien, ihre Anforderungen zu ermäßigen. Er brachte sogar noch bedeutende Aufträge mit. Die Verbindungen waren durch sein persönliches Eingreifen stark gefestigt worden.

»Du bist ein famoser Minister des Auswärtigen,« lobte ihn Jürgen, »nur schade, daß du so wenig an dich selbst gedacht hast. Du konntest dir viel mehr Zeit gönnen und brauchtest dich nicht abzuhetzen. Hier ist es geschäftlich glatt gegangen.«

Der Prokurist lächelte fein. Unter Jürgen Plüddekamps Leitung war stets ein ruhiger, sicherer Betrieb.

»Was sagst du zu Alfred Smiders?« fuhr Jürgen jetzt fort. »Ein netter Bursche! Er hat sich stark hineingebuddelt und auf alle mögliche Weise Geld verschafft. Der Sturz mußte endlich kommen. Er war schon vorher verschwunden.«

[S. 278]

»Es ist ein betrügerischer Bankrott,« setzte Armin hinzu. »Alfred Smiders wird steckbrieflich verfolgt.«

»So weit ist es mit ihm gekommen?« rief Wolf erstaunt aus und sah zu seinem Bruder fragend hinüber.

Jürgen vermied den Blick und schaute zur Seite. Die Hand des sonst so ruhigen Mannes zuckte nervös.

»Ich bedaure den alten Herrn Smiders. Er wird aus dem Zusammenbruch kaum etwas retten. Die Werft hat die Dampfer mit Beschlag belegt und baut den ›Friedrich Barbarossa‹ auf eigene Rechnung fertig. Es sind eine ganze Anzahl Banken stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Alfred Smiders hat in unglaublicher Höhe Wechselreiterei getrieben. Er muß im Auslande sein. Bis jetzt hat man ihn noch nicht erwischen können.«

»Der Hamburger Großkapitalist, den Smiders hereinhaben wollte, sprang im letzten Augenblick ab,« fügte der Prokurist hinzu. »Man spricht alles mögliche. Die Ursache soll auf die Weinstube an der ›Grünen Schanze‹ zurückzuführen sein, in der sich beide Herren für eines der Mädchen interessierten.«

Jürgen wurde unruhig.

»Schon gut, Armin,« sagte er, um jedes weitere Wort abzuschneiden. »Bei solchen Vorfällen wird in der Stadt viel geklatscht.«

[S. 279]

Armin schaute betroffen zu Jürgen auf. Warum wies der Freund ihn so schroff zurück? Lagen noch tiefere Gründe vor? Sein Blick überflog beide Brüder. Merkwürdig, die Freude des Wiedersehens schien bei Jürgen in eine stetig wachsende Unruhe übergegangen zu sein, die ihm bei diesem noch nie aufgefallen war. Zu feinfühlend aber, um nach der Ursache zu forschen, gab er einen Vorwand an und ging in sein Arbeitszimmer.

»Jürgen!« rief Wolf sofort aus, als sich die Tür hinter Armin geschlossen hatte, »mein erster Weg war zu dir! Jetzt aber will ich hinauf, ich muß Herta und — Ilse begrüßen. Das eine kann ich dir sagen, es war gut, daß du mich fortschicktest. Während der Zeit konnte ich mich prüfen, ob mein Herz Ilse wirklich gehört. Heute gestehe ich dir offen: ich habe sie mehr denn je lieb, und ich kann den Augenblick nicht erwarten, sie wiederzusehen!«

Es zuckte gewaltig in den Gesichtszügen des sonst so eisenfesten Kaufmannes, als er entgegnete:

»Wolf, mein lieber Wolf! Wir wollen zusammen zu Herta gehen!« Der Ton seiner Stimme mußte diesem aufgefallen sein. Er sah plötzlich scharf auf den Bruder hin.

»Jürgen, du sprichst so eigenartig zu mir! Ist etwas vorgefallen? Sage es mir, ehe ich hinaufgehe.«

[S. 280]

Jürgen vermochte aber nicht weiter zu sprechen. Er hatte bereits die Tür geöffnet. Die beiden Brüder stiegen die Treppen nach dem ersten Stockwerk empor. Bei jeder Stufe, die Jürgen betrat, zögerte sein Fuß. Es war immer, als ob er Wolf etwas sagen wolle, und doch preßte es ihm die Kehle zusammen. Er konnte es nicht. Nur in seinem Innern wurde das Wehgefühl stärker, daß seinem Bruder, den er von Herzen liebte, eine so schwere Eröffnung bevorstand.

Herta hatte schon erfahren, daß Wolf zurückgekehrt war. Sie erwartete ihn auf dem oberen Korridor.

»Wölfchen! Gott sei Dank, daß du wieder bei uns bist!« rief sie ihm entgegen und faßte seine beiden Hände, »ich habe dir schnell ein paar Brötchen zurechtgemacht, und dein Glas Portwein findest du auch vor.«

Als sie dann in das Speisezimmer eintraten, schlang sie plötzlich den Arm um seinen Hals und küßte ihn auf beide Wangen. »Wie gut du aussiehst, Wölfchen!« sagte sie. »Nun setz dich aber und iß in aller Ruhe.«

Jürgen legte Wolf, der vor einem der hohen Lehnstühle stand, seine Hand leicht auf die Schulter, damit er sich niederlassen solle. Dieser sah sich unruhig um.

[S. 281]

»Ich freue mich herzlich, wieder bei euch zu sein,« sprach er hastig, »aber seid mir nicht böse, ich muß — zu Ilse! Wo ist sie, Herta?«

»In Nordhausen, Wolf!« gab Jürgen anstatt Herta zur Antwort.

»In Nordhausen? Was ist denn geschehen? Ihr habt mir doch versprochen, sie bei euch zu behalten! Jürgen — Herta — habt ihr euch mit ihr erzürnt? Ist sie freiwillig fortgegangen?«

Seine Fragen überstürzten sich.

»Nichts von alledem,« erwiderte jetzt Herta. »Ich bitte dich noch einmal, Wolf, nimm zuerst etwas zu dir. Wir werden dann in Ruhe alles erzählen.«

»Nein, nein! Ich kann keinen Bissen essen!« faßte sich Wolf an die Stirn. »Das Schönste, das ich mir bei meiner Rückkehr ausmalte, war — Ilse in die Arme schließen zu können. Und nun —?«

Die beiden Geschwister kämpften mit sich, und keins von ihnen vermochte das erste Wort herauszubringen, um Wolf die schlimme Botschaft mitzuteilen.

»Es war sehr unrecht von mir, daß ich Ilses Wunsch erfüllte!« rief er aus. »Hätte ich nur in voller Offenheit gehandelt, dann konnte ich mit ihr in Briefwechsel bleiben. — Sagt mir nur endlich: was ist geschehen? Haben die Eltern sie zurückgerufen?«

[S. 282]

»Nein, Wölfchen! Sie ist schon seit Wochen fort! Wir mußten es dir verschweigen, damit du nicht unruhig wurdest,« antwortete seine Schwester.

»Schon seit Wochen!« fuhr Wolf auf. »Ihr habt mir in euren Briefen doch noch Grüße von ihr bestellt,« und seine blauen Augen richteten sich drohend auf Herta. »Du — die Wahrheit selbst! Warum machst du solche Ausflüchte?«

»Es mußte sein, Wolf! Ich habe es nicht gern getan! Es ist aber um deiner selbst willen geschehen!«

»Um meinetwillen? Jetzt weiß ich, daß etwas vorgefallen ist. Also heraus damit! Euer Zögern peinigt mich.«

»Ilse ging aus eigenem Antriebe fort,« erwiderte Herta. »Sie glaubte erkrankt zu sein und wollte deshalb schnell nach Hause.«

»Sie hat dir aber Nachricht gegeben, Herta, wie es ihr jetzt geht?«

»Nein, Wolf!« entgegnete Herta aufrichtig, »ich habe keine Zeile aus Nordhausen erhalten.«

»Unmöglich!« rief Wolf erregt aus. »Seit Wochen keine Zeile? Ihr verbergt mir etwas! — Ich fühle es! Krankheit kann nicht der Grund sein, warum sie fortgegangen ist. Erkrankt reist man ohne Not nicht eine solche Strecke!«

[S. 283]

»Es nützt nichts, Herta,« fiel jetzt Jürgen ein, »ich will es Wolf sagen. Ilse ist abgereist, weil sie von uns fort — mußte! Es hing dies mit Alfred Smiders zusammen.«

»Wie? — Alfred Smiders!« Wolf wurde dunkelrot im Gesicht. »Ich habe es oft gefürchtet! Er sah sie vom ersten Augenblick so sonderbar an, und ihr habt sie nicht vor ihm beschützt!«

Er war in solche Erregung geraten, daß er nicht mehr stehen bleiben konnte, sondern im Zimmer hin und her lief.

»Herta, du vertratest die Stelle der Mutter an ihr! Du hast doch über sie gewacht! Ist es denn so schlimm, daß ihr mir nicht anvertrauen könnt, was vorliegt?«

»Komm, Wolf,« sagte Jürgen traurig, »wir wollen in mein Schreibzimmer gehen. Die Plüddekamps haben dort alle ernsten Sachen überdacht und sich stets einen neuen festen Boden geschaffen. Wir beide müssen über Ilse Hergenbach sprechen.«


[S. 284]

XXII.

Schwere Tage kamen über das Plüddekampsche Haus. Wolf war unter der Wucht der auf ihn hereindrängenden Tatsachen gänzlich zusammengesunken. Seine Liebe und Sehnsucht nach Ilse war durch die wochenlange Abwesenheit so gewaltig geworden, daß er die nackte Wahrheit, die ihm Jürgen eröffnete, nicht zu ertragen vermochte. Eine Zeitlang ging er wie geistesabwesend einher. Er konnte seine Gedanken von dem Geschehnis nicht ablenken und vermied es, sich mit Herta und Jürgen in ein Gespräch einzulassen.

Tagsüber hielt er sich meistens im Garten auf, pflückte dort Blumen und zerblätterte sie. Wenn der alte Jochen Hindorf ihm in den Weg kam, gab er kaum dessen Gruß zurück. Durch seinen Verrat hatten die Geschwister alles erfahren. Warum hatte er Ilse nicht mitgenommen? Dann wäre sie für ihn gerettet gewesen. Zuweilen wollte er alles nicht glauben und versuchte, es sich auszureden. Die Wucht der Gedanken aber brach danach doppelt stark auf ihn herein.

[S. 285]

Eines Tages kam ein Brief aus Nordhausen für Herta an, den ihm der Briefträger zufällig übergab. Er war von Ilses Mutter. In der Aufregung, etwas über sie zu erfahren, wartete er nicht, bis er die Schwester fand, sondern riß das Schreiben auf. Seine Augen überflogen die Zeilen, dann ballte er mit der Hand das Papier zusammen.

»Sie ist nicht dort!« rief er die Treppe hinaufeilend seiner Schwester zu. »Ilse ist nicht in Nordhausen! Ihr habt mir doch gesagt, sie sei bei ihren Eltern! Ich mag nicht ausdenken, wo sie sein kann! Das Blut tobt in mir! Es zermalmt mir das Gehirn! Ich will Smiders suchen, ich muß ihn zur Rechenschaft ziehen! Der Bube soll seine Strafe erhalten!« —

Von dieser Stunde an war Wolf fieberhaft bemüht, etwas über Smiders' Verbleib zu erfahren. Der Staatsanwalt, der die Anklage gegen den Reeder erhoben und hinter ihm einen Steckbrief erlassen hatte, fand keinen willigeren Helfer, als Wolf Plüddekamp. Dieser sah nur noch ein Ziel vor sich: Smiders aufzufinden.

Er unterstützte die Bemühungen der Kriminalbeamten. Jeder Schritt, den der Reeder noch in Stettin gemacht, wurde verfolgt. Man konnte nachweisen, welche Summen er schnell eingezogen und wo er sich bis zum Abend des Fluchttages aufgehalten[S. 286] hatte, dann aber war jede Spur verwischt. Ebenso forschte Wolf Ilse nach. Der Kutscher sah noch deutlich, wie sie die Fahrkarte löste und in den Wartesaal ging. Von hier ab lag alles weitere im Dunkel.

Tag für Tag blieb Wolf unermüdlich tätig, Klarheit in die Dinge zu schaffen. Es hatte sich bei ihm zur fanatischen Idee ausgebildet, daß Smiders Ilse bewogen, mit ihm zu fliehen. Der sonst so lebensfrohe junge Mann war vollständig verwandelt. Ein verbissener, ingrimmiger Zug lag in seinem Gesicht. Mit wilder Glut wühlte es täglich in seinem Herzen: »Ilse ist für dich verloren, — Smiders aber erwürge ich mit eigener Hand!«

In dieser fortgesetzten Aufregung untergruben sich seine Körperkräfte. Das Ausbleiben von Resultaten ließ eine derartige Nervenüberspannung entstehen, daß er zusammenbrach. Ein heftiges Nervenfieber warf ihn aufs Krankenlager hin. Herta pflegte ihn mit Aufopferung.

Im Hause Plüddekamp wurde es unheimlich still. Niemand wagte fest aufzutreten, aus Furcht, den Schwerleidenden zu stören. In wilden Fieberphantasien wälzte sich Wolf auf seinem Lager. Die Ausbrüche von Sehnsucht nach Ilse waren für Herta kaum zu ertragen. Als nach Wochen noch keine Besserung eintrat und sie selbst von der Pflege derartig[S. 287] angegriffen wurde, daß ihre Kräfte nachließen, sollte Wolf bereits in eine Anstalt überführt werden. —

Die Kunde von seiner schweren Erkrankung war auch nach Wershagen gedrungen. Lieschen Wichers schrieb mehrmals an Herta. Da diese nicht gleich antworten konnte, kam sie selbst. Das liebenswürdige, heitere Geschöpf brach in Tränen aus, als es von dem schweren Leiden Wolfs erfuhr, und offenbarte dabei ihre ganze tiefe Liebe zu ihm.

»Lassen Sie mich ihn pflegen,« bat Lieschen die Geschwister, »ich stehe an Ihrer Seite, um ihn für das Leben zu erhalten.« Sie mußten einwilligen, daß das junge Mädchen im Plüddekampschen Hause blieb.

Lieschen waltete wie ein guter, freundlicher Geist in der Krankenstube. Wolf erkannte sie zuweilen, und ein Lächeln glitt dann über seine schlaff gewordenen Züge. Sobald aber das hohe Fieber auftrat, schien sein Denken vollständig umnachtet zu sein.

Die Geschwister zogen Lieschen vollständig in ihr Vertrauen; sie vernahm so vieles aus seinen wirren Reden, da mußte eine Aufklärung stattfinden.

Endlich kam die Krisis.

Es waren Stunden der reinsten Verzweiflung, in denen alle verharrten. Die gute Natur Wolfs siegte. Nach einem tagelangen, wenig unterbrochenen[S. 288] tiefen Schlaf kam langsam die Genesung. Das Fieber hörte auf. Nun galt es, die alten Erinnerungen in ihm durch eine andere Umgebung zu verdrängen. Nur dadurch konnte sein Gemüt zur Ruhe gelangen und sein Körper genesen.

Lieschen Wichers bat flehentlich, ihn mit nach Wershagen nehmen zu dürfen. Was konnte den Geschwistern lieber sein, als den Bruder in der herrlichen gesunden Luft von Wershagen, der freundlichen Landschaft, dem gemütlichen Heim des Oberamtmanns zu wissen! Dort konnte er sich von dem schweren körperlichen Leiden wie der starken Erschütterung seines Innern am besten erholen.

Während seiner Krankheit liefen von vielen Seiten täglich Anfragen ein. Es zeigte sich recht, welche Freundschaft er sich überall erworben hatte. Graf Thadden-Bützenbrück war gekommen, um sich nach Wolf zu erkundigen. Der Berleburger Schloßherr fehlte natürlich nicht und so viele andere.

Die Übersiedlung nach Wershagen ging vor sich. Lieschen Wichers, die von der Pflege etwas bleich geworden, saß strahlend an der Seite Wolfs, als sie auf dem Gut eintrafen. Zusammengefallen und kraftlos wurde er aus dem Wagen gehoben, nur in seinen Augen lag trotz des matten Schimmers eine Hoffnung auf baldige Genesung. —

[S. 289]

Jürgen Plüddekamp war in der letzten Zeit recht gealtert. Starke Falten hatten sich auf seiner Stirn eingegraben. Das wochenlange Schweben seines Bruders zwischen Leben und Tod rüttelte gewaltig an diesem eisernen Mann. Sobald die Hoffnung in ihm zurückkehrte, daß Wolf den Geschwistern erhalten blieb, belebte sich sein Blick wieder, und er sah zuversichtlicher aus. Jetzt mußte sich noch alles zum Guten wenden. Warum nur war Ilse Hergenbach in die glückliche Harmonie des Plüddekampschen Hauses eingedrungen? Die Geschwister selbst trugen die Schuld daran. Sie durften kein fremdes Wesen bei sich aufnehmen. So war es ein Jahrhundert lang gehalten worden. Der Durchbruch dieser alten Überlieferung beschwor die Gefahr herauf.

Während Jürgen Plüddekamp über die eingegangene Korrespondenz gebeugt saß und an den Rand der Briefe Bemerkungen schrieb, läutete plötzlich der neben ihm befindliche Telephonapparat. Er nahm den Hörer in die Hand.

»Hallo! Hier Jürgen Plüddekamp!«

»Hier Charles Martens! Ich möchte dich heute sprechen, Jürgen!«

»Du bist mir jederzeit willkommen, Charles! Hast du irgend etwas Wichtiges? Es handelt sich wohl um Smiders?«

[S. 290]

»Ja und nein, Jürgen! Ich bin in einer Viertelstunde bei dir.«

Jürgen arbeitete ruhig weiter. Prokurist Armin kam herein und legte Abschlüsse vor, die unterzeichnet werden mußten.

»Wird Berleburg in diesem Jahre viel liefern können?« fragte Jürgen und sah zu seinem Prokuristen auf.

»Das Berleburgsche Glück hat sich bewahrheitet,« erwiderte Armin. »Er läßt bereits auf dem Felde dreschen. Die landwirtschaftliche Genossenschaft seines Bezirks hat eine große fahrbare Dampfdreschmaschine angeschafft, die überallhin verliehen wird. Dadurch läßt sich die Lieferung des ersten Roggens sehr beschleunigen.«

»Seine Schuld wird wohl herunterkommen, Armin?«

»Der Baron hofft sogar auf einen vollständigen Ausgleich seines Kontos bei uns, Plüddekamp! Es soll sogar noch eine Badereise für ihn übrigbleiben. Er will dabei, wie seit Jahren, nach einer reichen Frau suchen.«

»Bei ihm wird der Anschluß wohl verpaßt sein, Armin, und Berleburg einst dem Schicksal der Aufteilung nicht entgehen. Schade um diese alten Besitzungen! Sie fallen eine nach der anderen den Anforderungen der Neuzeit zum Opfer.«

[S. 291]

»Uns erschwert es nur das Geschäft,« warf der Prokurist ein. »In großen Posten kaufen wir viel günstiger, als wenn wir uns im Kleinbetrieb verzetteln müssen.«

»Die Aufkäufer wollen immer mehr Prozente haben,« erwiderte Jürgen. »Was bleibt schließlich noch für uns übrig! Ich sehe manchmal mit Bitterkeit in die Zukunft. Würden wir nicht in früheren Jahren so groß geworden sein, heute gehörte es zur Unmöglichkeit!«

»Leider!« stimmte Armin ihm bei. »Wie bei den Gütern, so wird auch im alten ehrenwerten Kaufmannsstand manche Bresche geschlagen. Der Weltbetrieb läuft zu rasch vorwärts und überhastet sich.«

In diesem Augenblick wurden sie durch die Anmeldung von Konsul Martens unterbrochen, der auch gleich darauf eintrat. Armin verließ das Zimmer, und die beiden Freunde waren allein.

»Setz dich auf Wolfs Platz, Charles,« bat Jürgen, »was bringst du uns?«

»Wie geht es ihm vor allen Dingen?« fragte Konsul Martens dazwischen.

»Von Tag zu Tag langsam besser, Charles! Der Aufenthalt in Wershagen scheint ihm gut zu bekommen. Er ist schon ein paarmal im Park gewesen. Wichers und seine Tochter sind wahrhaft liebe Menschen,[S. 292] bei denen man in dem Gedanken wieder erstarken kann, daß Treue und Aufopferung noch nicht ganz aus der Welt geschwunden sind.«

Konsul Martens nickte mit dem Kopf.

»Auf der anderen Seite breitet sich Lug und Trug in immer größerem Maße aus. Mit der wachsenden Menschenzahl nimmt auch die Schlechtigkeit erschreckend überhand. Hier ist wieder ein Beispiel davon.«

Er zog einen Brief aus seiner Tasche und setzte sich das Augenglas auf.

»Ich komme deshalb heute zu dir, Jürgen. Dieses Schreiben an mich kommt aus Amsterdam und ist — von Ilse Hergenbach.«

»Ilse Hergenbach!« fuhr Jürgen auf. »Nenne mir nicht den Namen, Charles! Sie kostet uns beinahe den Bruder.«

»Trotzdem mußt du mich anhören, Jürgen! Da du mich als besten Freund der Familie in alles einweihtest, bin ich auch verpflichtet, dir von diesem Schreiben Kenntnis zu geben. Ich will vorausschicken: mag das junge Mädchen auch gefehlt haben, das Los, das sie jetzt betroffen hat, ist erbarmungsvoll!«

»Wieso?« unterbrach ihn Jürgen in barschem Ton. »Wer bei Nacht und Nebel davonläuft, kann es nicht anders erwarten!«

[S. 293]

»Sie ist vor Monaten mit Smiders nach Amsterdam gefahren. Er ging dann bald auf und davon und hat sie dem Elend überlassen. Wahrscheinlich fürchtete er, daß seine Spur entdeckt werden würde. Der Schrei einer Verzweifelten ist heute an mich gelangt. Sie will nicht weiter sinken, und doch steht ihr das Furchtbarste bevor.«

Jürgen, der sonst so gelassene und ruhige Geschäftsmann, stand plötzlich auf und schritt erregt im Zimmer hin und her.

»Was ist zu tun, Charles?« blieb er einen Augenblick stehen.

»Dies wollte ich mit dir besprechen, Jürgen! Ich halte es für richtig, wenn jemand sofort nach Amsterdam fährt und sie abholt, ehe sie in einen Abgrund versinkt. Ich kam hierher, um dich darum zu bitten.«

»Charles! Was fällt dir ein! Ich soll nach Amsterdam fahren?«

»Allerdings!« erwiderte der Konsul ruhig, »du bist der einzige, der dafür geeignet ist. Irgend einen Fremden können wir nicht einweihen. Mir selbst traue ich, offen gestanden, die Erledigung dieser Angelegenheit nicht recht zu. Du bist allein der geeignete Mann dafür.«

»So? Es wird immer schöner!« rief Jürgen aufgeregt. »Dafür, daß sie mir Frieden und Ruhe im[S. 294] Hause zerstörte, soll ich auch noch nach Amsterdam fahren, um sie vor weiterer Schmach zu behüten!«

»Ja,« sprach Martens bestimmt, »du wirst es tun, Jürgen! Ich bitte dich bei unserer Freundschaft darum. Man soll eine Frau, die noch einen Funken von guter Gesinnung in sich hat, in einer fremden Stadt nicht dem Menschenpöbel überlassen. Hast du nicht auch das Bewußtsein?«

Einen Augenblick hindurch bäumte sich der ganze Stolz Jürgens gegen diese Zumutung auf. Seine Augen sandten förmliche Blitze, als er jetzt ausrief:

»Sage es einem anderen, Charles, aber nicht mir! Ich bin dabei der Letzte, der berufen ist, zu helfen!«

»Nein, Jürgen,« entgegnete der Konsul energisch, »du bist der Erste dazu! Ich will jetzt nicht weiter in dich dringen. Überlege es dir eine Stunde! Um zwei Uhr geht der Schnellzug, du kannst in Tag und Nacht dort sein. Brauchst auch niemand etwas davon wissen zu lassen. Bei euch sind ja geschäftliche Reisen an der Tagesordnung. Wolf ist nicht hier, und Herta wird nicht erfahren, was du tust. Hier ist der Brief, — die Adresse von Ilse Hergenbach steht darin.«

Jürgen kämpfte noch mit sich. Die Adern an seiner Stirn waren stark angeschwollen, ein Zeichen der inneren Erregung. Als Martens darauf fortgehen wollte, hielt er ihn zurück.

[S. 295]

»Warte, Charles,« sagte er kurz, »es fällt schwer, mich selbst zu überwinden. Doch hier ist meine Hand, — ich fahre nach Amsterdam!«

Konsul Martens zeigte ein feines Lächeln.

»Ich war davon überzeugt, Jürgen, du konntest nicht anders handeln! An den Kosten darf ich mich doch beteiligen?«

»Nein, Charles, das darfst du nicht! Was ich will — tue ich auch ganz!«

Prokurist Armin trat herein. Er hielt ein Zeitungsblatt in der Hand.

»Sie haben Alfred Smiders gefaßt, Plüddekamp,« rief er befriedigt aus, »hier, lesen Sie das Telegramm. Er ist bei seiner Ankunft in Rio de Janeiro von einem Angestellten des deutschen Konsuls erkannt und verhaftet worden. Seine Auslieferung steht bevor.«

»Ich gönne es dem Burschen,« fiel Jürgen ein, »die wohlverdiente Strafe muß ihn treffen.«

»Solche Verhandlungen wirbeln nur Staub auf, säen Mißtrauen und verderben das gute Geschäft,« meinte Konsul Martens.

»Mir tut der alte Vater leid. Besser für ihn, der Sohn wäre tot, als daß er jetzt vor den Richter gezogen wird.«

»Er wird das Urteil nicht mehr erfahren,« erwiderte der Bankier. »Du hast ja beigesteuert, daß[S. 296] wir ihn im Johanniterhospital unterbringen konnten. Seine letzten Tage stehen bevor.«

Konsul Martens war schon an der Tür, als er sich noch einmal umwandte.

»Der ›Friedrich Barbarossa‹ ist glücklich aus dem Dock heraus! Ist ein schmuckes Schiff geworden. Die Werft rechnet stark darauf, daß du ihn chartern wirst! Vielleicht kauft ihn auch die neue Reederei, die die Dampferlinien von Smiders & Sohn übernommen hat. Kneis aus Hamburg soll dahinter stecken und sich mit großem Kapital beteiligt haben. Sicher tritt er auch an dich heran. Dabei kannst du ein paar Worte für unsern Dampfer mit einfließen lassen.«

»Wird geschehen, Martens! Für ein solides Geschäft bin ich stets zu haben. Kneis kann vorzügliche Referenzen aufweisen und versteht als alter Überseer sein Handwerk.«

»Lebe wohl, Jürgen! Gib mir Nachricht, wenn du zurück bist. Wir wollen dann die Sache weiter besprechen.«

Dieser war in seinem Zimmer allein; er sah eine geraume Zeit vor sich in das Leere.

»Menschen und Schicksale,« murmelte er dann, »ich hätte wahrhaftig nie geglaubt, daß ich Ilse Hergenbach im Leben noch einmal wiedersehen müßte.«


[S. 297]

XXIII.

Herta war erstaunt, als Jürgen ihr mitteilte, daß er auf einige Zeit ins Ausland verreisen wollte.

»So plötzlich?« fragte sie.

»Du kennst doch unser Geschäft, Herta. Solange Wolf ausfällt, muß ich jeden Augenblick reisefertig sein. Armin hat bereits die nötigen Instruktionen.« Damit war er gegangen.

Am nächsten Abend traf er in Amsterdam auf dem Bahnhof ein und ging direkt nach dem nahegelegenen Viktoriahotel. Von hier aus konnte er leicht überall hingelangen. Das interessante Leben in den Gesellschaftsräumen des bekannten Hotels regte ihn unwillkürlich an. Viele fremde Nationen waren vertreten. Ein Gewirr von mehreren Sprachen drang an sein Ohr. So mancher Roman spielte sich hier täglich ab. Er selbst sollte jetzt das Ende eines solchen erleben.

Er faßte den Entschluß, Ilse Hergenbach bereits am frühen Morgen aufzusuchen, ohne daß er ihr vorher eine Mitteilung davon machte. Als kluger Geschäftsmann wollte er sich überzeugen, wie weit die Wahrheit ihrer Worte zutraf.

[S. 298]

Er hatte sich vorgenommen, die Angelegenheit als einen Geschäftsfall aufzufassen. Während er aber in dem geräuschvollen Treiben des Saales saß und die volle Lebenslust froher Menschen ihn umbrandete, entstand ein seltsames Gefühl in ihm — wie er Ilse Hergenbach morgen auffinden würde. Mußte er sie mit einem anderen Maßstab messen, wie sonst Durchschnittsgeschöpfe? Er entsann sich seiner eigenen Worte, die er zu Herta gesprochen: »Ein Kind der Jetztzeit! Das vorige Jahrhundert klebt ihm nicht mehr an! Es weiß nichts mehr von ihm, als daß damals rückständige Menschen lebten!«

War er nicht selbst solch ein rückständiger Mensch? Hatte nicht die heraufkommende Zeit gewaltsam an ihm gerüttelt? Er fühlte, wie die jetzt herrschende Auffassung eine ganz andere wurde. Sprach man nicht allerorten von der Gleichberechtigung der Frauen? Die Frau strebte aus ihrer Einengung gewaltsam heraus, sie wollte die persönliche Freiheit des Mannes erreichen. Würde sie nicht mit dem erlangten Recht auch in alle Fehler des Mannes verfallen?

Ilse Hergenbach hatte zu ihm von der Gleichberechtigung der Frau gesprochen. Das Ergebnis lag nun vor. Was Herta mit ihrem hohen ernsten Sittlichkeitsgefühl erreichte, daran war Ilse bei dem[S. 299] ersten Schritt aus dem Elternhaus und in die Freiheit gescheitert. —

Jürgen erfreute sich eines gesunden Schlafes und hatte eine ruhige Nacht verbracht. Sein Leben lag wie immer im Gleichgewicht.

In aller Frühe bestellte er eine Autodroschke und gab Straße und Nummer an, wohin er fahren wollte. Der Chauffeur sah den stattlichen, fremden Herrn erstaunt an, als dieser einen armseligen Bezirk angab.

Das Auto hielt vor einer riesigen düsteren Mietskaserne. Schon das ganze Äußere des Hauses deutete darauf hin, daß hier die Armut ihre Stätte aufgeschlagen hatte. In diesem Haus mit den vielen kleinen Wohnungen lebten zusammengedrängt Hunderte von Menschen.

Jürgen erstieg die Treppen bis zum obersten Stockwerk. Ein häßlicher Geruch drang ihm überall entgegen; schmutzige, seit Jahrzehnten nicht mehr im Anstrich erneuerte Wände starrten ihn an. Endlich hatte er die Wohnung erreicht. Er las: Friedrich Kern. Der Name eines deutschen eingewanderten Arbeiters, bei dem sich Ilse Hergenbach aufhalten sollte.

Ein Klingelzug war nicht vorhanden, — er klopfte. Nach einer ganzen Weile wurde erst die[S. 300] Tür geöffnet. Eine ärmlich aussehende ältere Frau kam heraus und schaute verwundert auf den elegant gekleideten Herrn hin, der zu so früher Stunde hier erschien.

»Ist Fräulein Hergenbach zugegen?«

»Sie meinen die Ilse! Ich werde sie gleich rufen.«

»Unterlassen Sie es bitte!« fiel Jürgen ein. »Ich will sie in ihrem Zimmer aufsuchen.«

Die Frau zeigte ein mattes Lächeln.

»Die Ilse hat kein Zimmer, Herr! Die hilft mir beim Kochen und der groben Arbeit und schläft in der Küche.«

Jürgen Plüddekamp wurde von dieser Antwort stark berührt. Er hatte noch bis zu diesem Augenblick nicht geglaubt, in welch grauenvoller Lage sich Ilse Hergenbach befand, nun überzeugte er sich davon.

»Ich gehe zu ihr,« schob er die vor ihm Stehende beiseite. Er schritt hastig in den kleinen dunklen Korridor hinein, von dem drei Türen abgingen.

»Rechts wohnt ein Genosse von meinem Mann, dann kommt unsere Kammer, und diese Tür links ist die Küche,« erklärte die nachfolgende Frau.

Jürgen Plüddekamp faßte nach dem Türdrücker und trat dann ein. Ein düsterer, von Rauch geschwärzter kleiner Raum, dessen schmales Fenster nach dem Hof hinausführte, lag vor ihm. Ein alter[S. 301] Kochherd, weniges Küchengerät und eine schmale eiserne Bettstelle befanden sich darin. Ilse reinigte das Geschirr in einer Blechwanne. Sie hörte den starken Männertritt und wandte sich rasch um. Vielleicht glaubte sie, daß der Arbeiter zurückkehre; im gleichen Augenblick aber erkannte sie Jürgen Plüddekamp.

Sie unterdrückte einen Schrei. Ihre Gestalt begann zu schwanken, so daß sie sich mit einer Hand schwer gegen die Wand stützen mußte, um nicht zusammenzubrechen.

»Sie kommen — zu mir, Herr Plüddekamp!« brachte sie tonlos über die Lippen, — »das ist — entsetzlich!«

»Lassen wir alles Unnötige, Fräulein Hergenbach,« erwiderte Jürgen kurz. »Ich bin hier, um Sie aus einer unwürdigen Lage zu befreien! Sind Sie den Leuten noch etwas schuldig? Bitte sagen Sie es mir! Ihre Sachen mag die Frau hinunterschaffen. Sie folgen mir sofort!«

»Nein, nein!« stieß sie heftig aus. »Lassen Sie mich in meinem Unglück! Von Ihnen kann und will ich keine Hilfe annehmen.«

»Das ist Torheit, Fräulein Hergenbach!« fiel er scharf ein. »In einem solchen Augenblick dürfen Sie keiner falschen Empfindung Raum geben.«

[S. 302]

Sie sah erschreckend bleich aus. Tiefe Furchen lagerten sich um den kleinen Mund. Die Augen lagen glanzlos in ihren Höhlen. Ihre Kleidung war ordentlich gehalten, aber vollständig abgetragen. Ihren schmalen Händen sah man die grobe Arbeit an, die sie zu verrichten hatten.

Jürgen wandte sich an die Arbeiterfrau, die nach einer kurzen Rücksprache den Raum verließ.

»Gehen Sie jetzt mit mir,« trat Jürgen auf Ilse zu. »Sie haben an Konsul Martens geschrieben, um wieder in geordnete Verhältnisse zu kommen. Er verständigte sich mit mir. Ich bin sofort hierhergeeilt, — zögern Sie nun nicht länger —«

Sie hielt ihm abwehrend beide Hände entgegen.

»Ich kann es nicht!« flammte es plötzlich in ihr auf. »Jedem anderen würde ich folgen — Ihnen aber nicht! — Hätte ich Sie doch nie gesehen! Daraus entstanden meine Vergehungen —«

»Denken Sie ruhiger, Fräulein Hergenbach,« unterbrach er sie ernst. »Sie haben kein Recht, mir Vorwürfe entgegenzuschleudern!«

Ilses Augen blickten ihn wild an.

»Recht, — Herr Plüddekamp? Nein! — Kennt Liebe aber etwas anderes als ein Naturgesetz, — und wenn dies verhöhnt wird —« Sie wandte sich ab und suchte ihr Schluchzen zu verbergen. »Ich ertrage[S. 303] mein Los nicht länger — jetzt bleibt mir nur — die Amstel!«

»Das wäre ein leichtes Mittel — um Torheit auszulöschen. Wem der innere Halt fehlt — der greift gern danach — aber Kraft zeigen, — sich aufrichten, — ein Leben neu aufbauen — wenn die Hand dazu geboten wird —.«

»Halten Sie ein!« schrie sie gequält auf. »Wie könnte ich mich wieder hineinfinden —«

»Sie werden es — Sie müssen es! Sie haben die Pflicht, Ihren Charakter zu stählen — es ist nicht so schwer — als es Ihnen erscheinen mag.«

Sie hörte zu weinen auf. Was waren dies für Worte? Durfte sie wirklich noch hoffen, konnte sie sich selbst überwinden?

Er merkte sofort den Eindruck, den sie erhalten, und suchte diesen rasch auszunutzen.

»Vor allen Dingen kommen Sie hier fort. Sie sollen sich dann in Ruhe mit mir aussprechen, — wir werden Ihre Zukunft überlegen, — schenken Sie mir endlich doch Vertrauen!«

Es kämpfte noch eine geraume Zeit gewaltig in ihr, — dann rang sie sich aber zu einem plötzlichen Entschluß durch.

»Ein Felsen kann nicht härter sein, als Sie zu mir waren, Herr Plüddekamp, ich zerbrach daran! Nun[S. 304] wollen Sie mich wieder aufrichten, — ich fühle Ihren kalten Stolz, — aber auch das Stark-Ehrenhafte in Ihnen, — und will den Haß im mir niederdrücken, — der mich ins Elend brachte. — Ich — folge Ihnen.«

Frau Kern brachte die Sachen Ilses. Sie wurden in eine kleine Handtasche getan. Jürgen gab der Frau ein Goldstück. Dann schritt Ilse vor ihm die Treppe hinunter und stieg mit in das Auto ein.

»Wir fahren zuerst nach einem Magazin. Sie müssen entsprechend gekleidet sein, ehe Sie das Hotel betreten.«

Sie wollte dagegen aufbegehren. Ein Blick aus den großen, grauen Augen traf ihn, der zu fragen schien: »Was denkst du von mir?!« Jürgen mußte ihn verstanden haben.

»Seien Sie beruhigt, Fräulein Hergenbach! Ich traf Sie heute lieber in dieser elenden Behausung an, als elegant gekleidet in bequem möblierter Wohnung!«

Sie holte tief Atem und erwiderte dann:

»Sie handeln ohne Eigennutz an mir, Herr Plüddekamp! Ich füge mich Ihren Anordnungen.«

Obwohl sich Jürgen mit weiblicher Ausstattung nie befaßt hatte, sprach er doch ganz gewandt über diese Dinge. Kurz darauf hielten sie vor einem großen Modemagazin. Er mußte dort einige Zeit geduldig warten, damit sie sich eine neue Kleidung[S. 305] auswählen konnte. Als sie dann vor ihn trat, war sie eine ganz andere geworden. Nach deutschem Muster, einfach aber geschmackvoll angezogen, machte sie mit ihrer schlanken Gestalt wieder einen angenehmen Eindruck. Nur in ihren bleichen Zügen war noch das Elend der letzten Zeit zu erkennen. Jürgen sah sie prüfend an.

»So,« sagte er darauf kurz, »jetzt können wir in das Hotel fahren.«

In den vornehmen Restaurationsräumen des Hotels stand das zweite Frühstück bereit. Jürgen forderte Ilse auf, daran teilzunehmen.

Wie seltsam sich doch ihr Geschick gestaltete? Hätte nicht alles anders sein können? Jetzt saß sie ihm an dem kleinen gedeckten Tisch gegenüber, und es wurden ihnen die ausgewähltesten Speisen aufgetragen.

»So schön wie auf einer Hochzeitsreise,« dachte sie. Wohin aber hatte sie das Schicksal geführt! — Der ungeheure Unterschied von gestern und heute drang zu gewaltig auf sie ein. Sie berührte kaum die Speisen.

»Essen Sie doch, Fräulein Hergenbach, Sie werden wohl in der letzten Zeit keine genügende Kost gehabt haben!«

Sie versuchte ein leises Lächeln.

[S. 306]

»Gewiß, Herr Plüddekamp, ich habe manchen Tag sogar gehungert. Der Arbeiter Kern nahm mich auf, als ich in den Straßen umherirrte und aus Schwäche von einer Ohnmacht befallen wurde. Ich vermochte mich niemand in meiner Not anzuvertrauen; auch jetzt gab ich die Hoffnung auf, daß Konsul Martens mir helfen würde. — Heute drang alles so unerwartet auf mich ein, daß ich kaum daran glauben mag. Ich sitze hier wie in einem schönen Traum. Aus dem düsteren Raum heraus — in diesen Glanz der Welt hinein! — Der Gegensatz ist zu schroff. Lassen Sie mir Zeit, daß ich mich wiederfinde!«

»Das sollen Sie, Fräulein Hergenbach! Ich bin kein Unmensch und will, daß Sie sich Ihre Stellung in der Welt zurückerobern. Noch können Sie es.«

Sie richtete ihr Auge fragend auf ihn. In dem Blick war nicht mehr das Überwältigen der Sinne des Mannes geboten, etwas Demütiges, Unterordnendes lag in ihm. Jürgen erkannte daraus, daß sie eine furchtbare Lehre empfangen hatte, die sie läuterte. Schade, daß manche Menschen erst irren müssen, um dann auf den rechten Weg zu gelangen.

»Trinken Sie doch ein Glas Wein!« forderte er sie auf. Sie ließ aber das Glas unberührt, das er ihr reichte.

[S. 307]

»Ich bin es nicht gewohnt, Herr Plüddekamp. Der Alkohol würde mir zu Kopf steigen.«

Er nahm ein auf dem Tisch stehendes größeres Glas, goß Wasser hinein und vermischte dies mit dem Wein.

»So kann es Ihnen nicht schaden!«

»Es schmerzt mich, Herr Plüddekamp, daß Sie jetzt gütig zu mir sind. Ihre Schroffheit war mir verständlicher.«

»Warum? Mir hat Mitleid nie ferngelegen,« erwiderte er kurz. »Es ist jetzt meine Pflicht, daß es es Ihnen zuteil wird.«

Das Frühstück war vorüber. Jürgen wandte sich zu Ilse.

»Ehe Sie Ihr Zimmer aufsuchen, Fräulein Hergenbach, wollen wir ein Programm entwerfen. In einem der kleinen Konferenzzimmer sind wir ungestört. Ich muß meine Zigarre dabei rauchen.«

Es standen nur ein Tisch mit grüner Tuchplatte, ein paar hochlehnige Stühle und einige Klubsessel in dem kleinen Raum, den sie nun betraten. Jürgen ließ sich bequem nieder, langte eine kräftige Importe heraus, die er nach jeder Mahlzeit rauchte, schnitt behutsam die Spitze ab und brannte sie an. Ilse nahm auf einem Stuhl Platz.

[S. 308]

»Hier sind wir besser aufgehoben, als vor Stunden in der Küche, Fräulein Hergenbach. Sie können sich offen aussprechen. Es wird niemand etwas davon erfahren. Ich bin nicht neugierig, muß aber klar sehen, damit ich handeln kann.« Er reichte ihr freundschaftlich seine Hand, in die sie die ihre zögernd legte. Er drückte diese kräftig. »So, — unser Pakt ist geschlossen — nun reden Sie!«

Ilse atmete tief.

»Es wird mir schwer, die Worte zu finden, um Ihnen das Erlebte zu schildern, Herr Plüddekamp.«

»Na, — ohne Worte geht es schon nicht ab, Fräulein Hergenbach! Sie liebten früher in solchem Falle — stumm zu bleiben. Diesen Zug Ihres Charakters haben Sie wahrscheinlich fallen lassen.«

Ihr Gesicht überflog eine schnelle Röte.

»Ich möchte reden — und kann es nicht, Herr Plüddekamp! Sie würden mich doch nicht verstehen! Ich erniedrige mich nur noch mehr, als es schon geschah.«

»Unsinn! Es fällt kein Mensch so tief, daß er nicht wieder aufsteht. Übrigens — es macht mir besondere Freude, Sie — die Moderne — wieder auf die gute alte verstoßene Bahn zu heben —.« Er ließ wohlgefällig sein breites Lachen ertönen.

[S. 309]

Ilse fühlte die Herzensgüte, die sich unter den derben Worten Jürgens offenbarte; dadurch kam ein sicheres Gefühl über sie. Wie ein gewaltiger, lange zurückgedämmter Strom drang es jetzt hervor:

»Ja, — Sie sollen es hören, Herr Plüddekamp, und dann mögen Sie mich richten! — Ich wurde hinausgesandt, ohne mich selbst zu kennen. Meinen Eltern und Geschwistern glaubte ich nicht, — warum sollte ich auch anders geartet sein? Es lag aber ein wilder Drang in mir, den ich den Blicken fremder Menschen verschließen mußte. Ich blieb stumm, wenn ich am liebsten hinausgeschrien hätte: ›Laßt mich ausleben!‹ — In der Pension erfuhr ich nur Überflüssiges, — was einfache Mädchen belastet. Eine Sucht nach der Schönheit im Leben, — künstlerische Neigungen wurden in mir erweckt, — ich konnte stundenlang in den Galerien die Bilder betrachten.«

»Die meisten Mädchen waren aus der Großstadt und mir in allem voraus. Sie schürten mich täglich an — die Kraft der Frau den Männern gegenüber zu erproben — Siegerin zu werden. Was war dies? Ich verstand es nicht!«

»Kurz darauf kam ich in Ihr Haus. Der Ernst, der darin waltete, erdrückte mich anfangs, — ich sah mißmutig in eine andere Welt hinein. Bald fühlte[S. 310] ich aber die siegreiche Macht der Frau. Sie haschten alle nach mir. Ihr Bruder Wolf voran —«

»Leider,« warf Jürgen ein.

»Nur einer nicht —«

»Lassen Sie diesen einen beiseite, Fräulein Hergenbach. — Es ist kein Verdienst, — nur eine Verstandeseigenschaft, die heute vielen verkehrt erscheint.«

»Nein, es muß heraus, Herr Plüddekamp!« fuhr sie in leidenschaftlichem Ton fort, und auf ihren Wangen entstanden scharf umrissene rote Kreise. »Ich haßte Sie, und um mich zu rächen, gab ich Wolf mein Wort. Ich wußte, daß Sie dies nicht wollten und ich Sie nicht tiefer treffen konnte. Es war schlecht gehandelt —«

»Allerdings! Sie haben Wolf bis an den Rand des Todes gebracht,« fiel er bitter ein.

Sie stand zitternd auf.

»Wolf — Ihren Bruder — unmöglich!«

»Es ist jetzt noch kaum genesen — von Ihnen allerdings geheilt.«

»Wie soll ich dies verstehen, — er hat mich betrogen, — die blonde Person in der Weinkneipe, — in die mich Smiders lockte, — stand ihm näher —«

»Smiders fing Sie durch eine lächerliche Komödie. Er benutzte die weibliche Eitelkeit. — Sie sollen jetzt von mir die Wahrheit hören —«

[S. 311]

Wort für Wort drang auf Ilse ein. Sie sah ihn starr an, — jeder Blutstropfen ihres Gesichts wich zurück.

»Mein Gott — Herr Plüddekamp,« stöhnte sie auf, »was kann ich tun, um Wolfs Verzeihung zu erlangen!«

»Nichts, Fräulein Hergenbach,« erwiderte er ernst, »als daß Sie nie mehr vor ihn hintreten. — Er hat Ruhe und Frieden wiedergefunden.« — —

Sie hörte von diesem Augenblick geduldig an, was er ihr vorschlug.

»Ich werde Sie nach Nordhausen in Ihr Elternhaus zurückbringen. Herta war gezwungen, auf einen Brief Ihrer Mutter zu antworten, daß Sie uns verlassen hatten. Trotzdem können Sie ruhig sein, — ich spreche für Sie. —«


[S. 312]

XXIV.

Wolf blieb wochenlang in Wershagen. Er sah die Halme gelb werden und die Ähren reifen. Die Ernte ging vorüber. Der Weizen und Roggen füllte die Scheunen. Das frische Korn breitete sich nach und nach zu mächtigen Haufen in den Speichern aus.

Wolf Plüddekamp war in dem einfachen, ruhigen Landleben an Körper und Seele wieder gesundet. Er ritt täglich mit Oberamtmann Wichers auf die Felder hinaus, und die launige Art des Landwirtes wirkte wohltuend auf sein Gemüt ein. An den Abenden spielte er mit Lieschen vierhändig Klavier. Die blauen Augen des jungen Mädchens schauten froh und schelmisch drein, als wollten sie sagen: »Bin ich nicht ein lustiger Kamerad?« Wenn sich Wolf auch noch nicht ausgesprochen hatte, Lieschen wußte genau, daß mit seiner Krankheit alle törichte Leidenschaft in ihm geschwunden war. Sie hatte sich den zukünftigen Gatten durch Liebe und Aufopferung erkämpft. Was zwischen ihnen lag, war kein wildes Empfinden, das sie gewaltsam zusammenband, sondern[S. 313] die milde, wohltuende Flamme einer reinen Neigung, die am häuslichen Herd wärmend und beglückend ausdauert.

Wolf Plüddekamp wollte nach Stettin zurück. Er nahm keinen Abschied von Wershagen; ein kräftiger Händedruck, den er Oberamtmann Wichers und Lieschen gab, offenbarte die Tiefe seines Gefühls. Der Händedruck sprach aus: »Wir sind einig fürs Leben!«


Im alten Kaufherrnhause herrschte ungewohntes Leben und Treiben. Die freudige Erregung ging von Jürgen Plüddekamp selbst aus. Schon am frühen Morgen rief er seinen Freund und Prokuristen Armin herein.

»Die Kontore werden heute nachmittag geschlossen. Die jungen Leute sollen den schönen Herbsttag benutzen und einen Ausflug machen. Sie vertreten mich dabei, Armin! Ich will mich meinem Bruder widmen und die Freude empfinden, daß er uns Geschwistern nach der langen, schweren Krankheit gesund wieder geschenkt wurde.« —

Jochen war damit beschäftigt, eine mächtige Girlande über dem Treppenaufgang anzubringen.

»Heute kommt mein Wolf,« schmunzelte er vor sich hin, »es wird auch man Zeit. Das alte Haus[S. 314] schläft sonst noch ganz ein. Er pfeift doch manchmal eins!«

Kurz vor Beginn der Mittagszeit traf Wolf Plüddekamp ein. Jürgen stand vor dem Toreingang. Als sein Bruder aus dem Wagen sprang, sagte ihm ein einziger Blick, daß dieser im Vollbesitz seiner Kraft wiederkam.

Der alte Hüne, Jochen Hindorf, hatte mit abgezogener Kappe neben seiner Girlande Aufstellung genommen. Wolf gab ihm einen tüchtigen Schlag auf die Schulter.

»Ich danke dir, Alter,« sagte er, ihm die Hand reichend, »und morgen komm zu mir, dann sollst du deinen Dänen haben, der dir wohl schon lange gefehlt hat.«

»Es muß ja nicht sein, Herr Wolf,« lachte Jochen über das ganze Gesicht. »Die größte Freude habe ich, daß Sie wieder vergnügt sein können.«

Die Geschwister zogen sich nach dem Mittagessen in die gemütliche Ecke des Speisezimmers zurück.

»Ihr waret mit euren Briefen recht karg,« meinte Wolf lachend. »Es kam mir auch ganz erwünscht. Ich mochte nichts mehr von dem Vergangenen hören und selbst keine Feder zum Schreiben ansetzen. Dafür lief ich den ganzen Tag in Feld und Wald herum.[S. 315] Du siehst, Jürgen, welche starke Einwirkung die Natur auf mich ausübte. Ich habe die Empfindung, daß ein ganz neues Leben in mir erwacht ist.«

»Du verspürst also keine Lust, Wölfchen, auf deinen Kontorsitz zurückzukehren?«

»Offen gestanden, nein, Jürgen! Ich habe großes Gefallen an der Tätigkeit eines Landwirtes gefunden, daß ich diese gern ausüben möchte.«

Herta lächelte fein.

»Natürlich unter Mitwirkung einer hübschen kleinen Frau, Wölfchen!«

»Ja, Herta, du hast das Richtige getroffen! Als ich heute von Wershagen fortfuhr, um euch im alten Plüddekampschen Hause aufzusuchen, hatte ich dabei im stillen die Empfindung, bald aufs Land zurückzukehren. Ich will mir ein eigenes Nest bauen, und Wichers hilft mir dazu. Jürgen und du, ihr werdet noch lange unter Aufrechterhaltung alten Herkommens eure Pflicht hier erfüllen. Mich aber soll nichts mehr daran erinnern — was einmal war. Ich habe Lieschen Wichers und Wershagen herzlich lieb gewonnen.«

Jürgen blickte seinen Bruder ernst, aber mit größtem Wohlwollen an.

»Ich habe deinen Entschluß geahnt, und er wird für dich der richtige sein. Das alte Haus vereint uns[S. 316] noch einmal — dann werden wir dich freigeben müssen. Das Leben verlangt das Schaffen von neuen Werten. Wir wollen es hier und dort redlich tun. In deinen Söhnen wird uns eine neue Generation erstehen. Land und Stadt sollen sich ergänzen, dann kann ein kerniges Geschlecht neue Erfolge zeitigen.«

Herta hatte diesen Worten still zugehört. Sie seufzte tief auf und setzte dann leise hinzu:

»Wenn ich euch Männer so sprechen höre, ist es mir wie ein vergessenes Klingen und Singen einstiger Jahre. — Ein Zeichen, daß ich dem wahren Glück des Lebens aus dem Wege gegangen bin.«


deko