The Project Gutenberg eBook of Der Skorpion. Band 1 This ebook is for the use of anyone anywhere in the United States and most other parts of the world at no cost and with almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included with this ebook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you will have to check the laws of the country where you are located before using this eBook. Title: Der Skorpion. Band 1 Author: Anna Elisabet Weirauch Release date: February 17, 2025 [eBook #75397] Language: German Original publication: Berlin: Askanischer Verlag, 1919 Credits: Jens Sadowski and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net *** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER SKORPION. BAND 1 *** Der Skorpion I Alle Rechte vorbehalten Copyright by Askanischer Verlag Berlin 1919 Druck von Herrosé & Ziemsen, G. m. b. H., Wittenberg Einband von C. Albert Kindle, Berlin SW Anna Elisabet Weirauch Der Skorpion Ein Roman Qui vivens laedit Morte medetur Erster Band Askanischer Verlag Berlin 1919 «Vous que dans votre enfer mon âme a poursuivies, Pauvres sœurs, je vous aime autant que je vous plains, Pour vos mornes douleurs, vos soifs inassouvies, Et les urnes d’amour dont vos grands cœurs sont pleins!» Baudelaire. Wenn ich ehrlich sein soll – daß ich durchaus Melitta Rudloffs Bekanntschaft machen wollte, geschah ihres schlechten Rufes wegen. Die geraden, gesunden und reinlichen Durchschnittsmenschen hatten für mich keine Bedeutung. Ich suchte die Kranken, die Verlorenen, die Ausgestoßenen. – Ich suchte sie mit geteiltem Gefühl, und – seltsam, wie wir Menschen nun einmal sind – ich bin stolz darauf, daß ich sie suchte mit der klaren und kalten Freude des Forschers, daß ich sie suchte, um sie zu vivisezieren, zu analysieren, sie in Systeme einzuschachteln – und ich schäme mich ein bißchen, zu gestehen, daß ich sie suchte in dem überheblichen Wahn, helfen zu können, bessern zu können – sie mit reinen und gütigen Händen hellere Wege zu führen. Es geschah durch Tante Antonie, daß ich zuerst von Melitta Rudloff erzählen hörte. Tante Antonie war eine sehr fromme und ehrenwerte Frau, und Lüge und Verleumdung lagen ihr fern. Sie sah die Dinge mit scharfen Augen, aber sie sah sie von ihrem unverrückbaren Standpunkt aus. Nach diesen Erzählungen hatte Melitta – oder Mette, wie sie genannt wurde – als Kind schon einen sonderbaren Hang zum Lügen und Stehlen gezeigt. Auf der Schule galt sie als dumm und faul. Als junges Mädchen lief sie einer merkwürdigen Frau nach, einer Hochstaplerin mit ausgesprochen männlichem Gebaren. Vielleicht verführt von dieser Freundin, von der sie nebenbei späterhin hinausgeworfen wurde – stahl sie im väterlichen Hause das Silberzeug und trug es aufs Leihamt. Nach einem Tobsuchtsanfall, bei dem sie ihre Tante, die treue Pflegerin ihrer mutterlosen Kindheit, erwürgen wollte, wurde sie zu ihrem Onkel nach einer kleinen Stadt gebracht. Dort stahl sie, was im Hause nicht niet- und nagelfest war, erbrach schließlich auf raffinierteste Weise den Schreibtisch, entwendete eine größere Summe Geldes und entfloh. Ihr Vater, eine feinsinnige Gelehrtennatur, überlebte die Nachricht von diesen Geschehnissen nicht lange – er wurde vom Schlage getroffen. Mettens Mutter war bei ihrer Geburt gestorben. Wie Jürgen von Seyblitz stets bitter zu sagen pflegte: „Zum Glück“. Mette war nicht dieser Meinung. Sie hatte eine phantastische Vorstellung von der Wesenheit einer Mutter und glaubte immer, daß der frühe Tod der ihren alles Unheil ihres Lebens verursacht hätte. Ich meinesteils weiß nicht, welcher Ansicht ich mich anschließen soll. Ganz sicher hätte Mette nicht eine so trübe und freudlose Kindheit gehabt, wie unter Tante Emiliens knochigen Fingern – aber selbst die weichste Mutterhand hätte die schwersten Kämpfe ihres Lebens nicht von ihr fernhalten können. Und wenn ich an diese Zeiten denke, begreife ich Onkel Jürgens „Zum Glück“ recht wohl. Vielleicht hatte er ein besseres Bild von seiner Schwester, als Mette es von ihrer Mutter haben konnte. Wenn ich nun versuchen will, zu erzählen, was ich von Mette Rudloff und von ihren Beziehungen zu Olga Radó weiß, so muß ich fürchten, falsch gedeutet zu werden. Ich habe keinerlei Ähnlichkeit mit Peterchen, unserem gemeinsamen kleinen Freund, den Olga Metten gegenüber in herzlichem Spott „Unser Baudelairechen“ zu nennen pflegte. Peterchen war bei allem, was seine Freunde betraf, mit überschwenglichem Gefühl beteiligt. Ich sehe ihn noch immer mit seinen aufgeregten Schrittchen durch sein Zimmer hin und her laufen und flammende Reden führen. Er machte Welt und Vorwelt verantwortlich für Olgas Tod und Mettens Leben. Wenn es nach ihm gegangen wäre – er hätte ein Gemälde entworfen, auf dem er Olga und Mette mit schimmernder Gloriole umgeben und Jürgen von Seyblitz und Tante Emilie und Frau Flesch und noch einige andere, die er nicht leiden konnte, an den Pranger gestellt hätte. Er hätte sich mit dem Stock des Ausrufers auf den Markt begeben und auf seine Heiligen gedeutet und geschrien: Seht her, so sind sie, die Verfemten, die Verworfenen, die ihr haßt und verachtet und fürchtet – und nicht kennt! Nach allem, was ich von Olga Radó weiß, hätte er ihr damit einen schlechten Dienst erwiesen. Was ihr die meiste und glühendste Feindschaft eingetragen hat, war nicht ihr lasterhaftes Leben, ihre Verschwendungssucht, ihre unnatürlichen Leidenschaften – nicht einmal ihr Geist oder ihre Schönheit – nein, es war ihr grenzenloser Hochmut. Sie haßte es, verallgemeinert zu werden. Und wir alle, die wir sie kannten, haben hundertmal aus ihrem Munde das Wort gehört – so oft, daß es zur scherzhaften Redensart bei uns wurde: „Bitte! Nix ihr, nix euch!“ Ich habe keine Ähnlichkeit mit Peterchen. Ich bin nicht dazu geschaffen, zu verteidigen oder anzuklagen. Ich verfolge keinen Zweck, wenn ich etwas erzähle. Ich habe keine Ziele und keine Absichten, nicht einmal eine Meinung oder ein Urteil, und kaum ein Gefühl. Keine andere Absicht, als Bilder und Worte, die unendlich flüchtig vorüberrauschen, mit allen Sinnen festzuhalten, und sie in Form zu bannen, und kein ander Gefühl, als die weltabgewandte, weltaufsaugende Hingabe, mit der der Zeichner den Silberstift über das Papier führt. Einmal war Mette einen Sommer lang bei ihren Großeltern auf dem Gut. Vielleicht war es dieser Sommer, der ihr den irrsinnigen Hang zum Leben ins Blut goß. Woher hätte sie sonst auch wissen sollen, daß das Leben mitunter schön sein konnte? Immer, wenn sie in späteren Jahren sich nach Glück sehnte, hatte sie die qualvoll-süße Vorstellung von einem Glücksgefühl, das sie ganz erfüllt hatte, als sie auf einer blühenden Wiese lag und das Blau des Himmels zwischen säulenhohen Grashalmen sah, als der heuduftende Wind über ihr sonneglühendes Gesicht blies, und Tausende von Bienen und Hummeln und Wespen in der Luft läuteten, wie tiefe und hohe, ferne und nahe Glockenstimmen. Wann hätte das sein können, wenn es nicht in jenem Sommer war? Oh, es war so viel Herrliches in jenem Sommer gewesen. Da war ein Gartenhäuschen gewesen, aus Birkenstämmen und borkebenagelten Brettern. Und von der Birkenrinde konnte man eine dünne, durchsichtige Haut abziehen. Sie zerriß leicht, und es war sehr schwer, aber auch sehr ehrenvoll, ein großes Stück unversehrt loszulösen. Dies Gartenhäuschen hatte Glasfenster nach allen Seiten. Und jedes Fenster hatte einen Rand, einen Rahmen gleichsam, von kleinen Vierecken aus Buntglas. Da konnte man die Welt in allen Farben sehen. Immer sah Mette zuerst durch das blaue Glas. Da lag alles in einem geheimnisvollen Dunkel, alles wurde still und weit, die Sonne stand strahlenlos am Himmel wie der Mond – es war wie eine Nacht aus dem Märchen, und über die blauen Wiesen, unter den blauen Bäumen, hätten Elfen mit wehenden Schleiern tanzen müssen. Dann kam das grüne. Da leuchteten die Bäume und Wiesen wie von innerem Licht. Aber die apfelgrüne Luft war voll Unheil geladen, und die schweren dunkelgrünen Wolken waren zum Bersten belastet mit furchtbaren Dingen. Dann war ein goldgelbes. Man muß nicht etwa denken, daß der Garten hell und heiter aussah im goldfarbenen Licht. Das Grün war fahl und wie verbrannt, die Luft schien gewitterig. Es war so, wie es ganz gewiß am jüngsten Tag aussehen mußte, wenn die Erzengel in die Posaune stießen, wenn Teufel mit Fledermausflügeln durch die Luft schwirrten, und die Gräber sich auftaten. Zuletzt kam das rote, weil es das schönste war. Es war so schön und so schrecklich, daß Mette jedesmal Herzklopfen bekam. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte die Welt ganz gewiß immer so ausgesehen. Die Bäume so dunkel wie Blutbuchen, und die Wiesen so glührot, der Himmel so brennend mit tiefpurpurnen Wolken. Wenn man dann wieder durch das klare Glas sah, war alles unsagbar fad und nüchtern und blaßfarbig. Trotzdem – man konnte erleichtert aufatmen. Alles Unheimliche war geschwunden – in einer Welt, die so hell und harmlos und ein bißchen langweilig aussah, wo es keine blauen Wiesen und keine purpurnen Bäume gab – da gab es auch keine Feen und Teufel, da gab es nichts, wovor man sich zu fürchten hatte. Manchmal, in späteren Jahren, dachte Mette darüber nach, ob sie dies alles damals schon in klar ausgesprochenen Gedanken gedacht hatte. Und dann rechnete sie nach, und es schien ihr, als wäre sie damals noch viel zu klein gewesen. Aber später hat sie ja nie mehr durch die bunten Glasscheiben in dem Birkenhäuschen sehen können; denn in dem Winter, der auf jenen Sommer folgte, starb der Großvater, das Majorat ging auf den Erben über, und die Großmutter zog zu ihrem Bruder nach Güstrow. Die Großmutter schwankte damals lange Zeit. Trotz ihrer Abneigung gegen die große Stadt wäre sie damals gern zu ihrem Schwiegersohn gezogen, um der kleinen Mette nahe zu sein. Aber sie wagte es nicht, den Kampf mit Tante Emilie aufzunehmen. Tante Emilie war viel zu musterhaft, als daß nicht jeder andere sich überflüssig gefühlt hätte. Und Tante Emilie von ihrem Posten vertreiben – um Gottes willen! Dazu gehörte eine kampflustigere Persönlichkeit als es Conrad von Seyblitz’ arme, kleine Witwe jemals war. Die Großmutter zog nach Güstrow, wo sie die paar Jahre bis zu ihrem Tode lebte – und Tante Emilie blieb – blieb unumschränkte Herrscherin des Hauses. Das heißt, daß Mette nicht in die Schule gehen sollte, das ordnete Franz Rudloff selber an. Er hatte eine fast krankhafte Scheu vor allem, was „Masse“ und „Gemeinschaft“ hieß. Es schien ihm, als müßten die kühlen, hohen Räume seiner Wohnung sich mit dem Dunst schlecht gelüfteter Klassenzimmer füllen, als müßten die stillen Wände hallen von hundert hohen Stimmen, von hundert trappelnden Füßen, wenn er sein Kind in eine Schule schickte. Und also kam das „Fräulein“ ins Haus. Tante Emilie war innerlich von vornherein dagegen. Sie selbst war in die Schule gegangen, und die Schule hatte ihr nicht geschadet. Im Gegenteil. Sie war absolut nicht dafür, daß irgend jemand auf der Welt es in irgend etwas besser haben sollte, als sie es selbst hatte oder gehabt hatte. Zu den wenigen Freuden, die sie im Leben hatte, gehörte die Freude an der „ausgleichenden Gerechtigkeit“, wie sie es nannte: Wenn nämlich jemand, dem es ganz ohne Würdigkeit sehr gut ging, sein unverdientes Glück durch einen schweren Schicksalsschlag abbüßen mußte. Andere Leute haben für diese Art Freude eine andere Bezeichnung. Tante Emilie war gegen das Fräulein. Aber Tante Emilie war viel zu musterhaft, um zu widersprechen, wenn der Herr des Hauses einen Wunsch äußerte. Sie wußte, daß sie sich in solchen Fällen schweigend zu fügen hatte. Nicht etwa, daß der arme Franz das von ihr verlangt hätte, o nein! Aber so war es vorbildlich und musterhaft. Und also kniff sie die Mundwinkel noch etwas fester zusammen und fügte sich schweigend. Das Fräulein hatte so krauses, widerspenstiges Haar, daß die braunen Löckchen sich in keinen Scheitel fügen wollten und ihr immer ums Gesicht tanzten. Sie hatte auch den Sinn, den das Sprichwort mit solchem Haar verbindet. Alle die Männer, die in ihrem Leben eine längere oder kürzere Rolle gespielt hatten, sagten, sie wäre eine entzückende Geliebte gewesen. Zur Erziehung eines kleinen Mädchens eignete sie sich weniger gut. Tante Emilie hatte sie nicht ausgesucht. Das hatten Franz Rudloff und Mette ganz allein besorgt. Eins hatten Vater und Tochter gemeinsam: all ihre Sinne dursteten nach Schönheit und Harmonie. Sie gaben was aufs Äußerliche, wie Tante Emilie das nannte. Das Fräulein hatte ein so liebliches Jung-Mädchengesicht, so weiche Bewegungen, eine so schöne klingende Stimme. Es war nicht die geringste persönliche Sympathie, die Franz Rudloff zu diesem Fräulein hinzog. Nur, wenn er schon einen fremden Menschen ins Haus nehmen mußte, so war ihm lieber, wenn es ein angenehmes Wesen war. Vielleicht hatte er – uneingestandenermaßen – an _einem_ unangenehmen genug. Bei Mette war es etwas anders. Sie hatte noch nie einen Menschen gesehen, der ihr so gefiel. Ihr ganzes sehnsüchtiges Kinderherz, das noch niemals Liebe oder Zärtlichkeit gefühlt hatte, flog dieser Fremden entgegen, dieser Fremden, die sie in den Arm nahm, ihr mit weichen Händen das Haar aus der Stirn strich, sie mit kosender Stimme „Mädi“ und „Herzblatt“ nannte. Die Aussicht, diesen Menschen immer um sich zu haben, erschien ihr wie ein unfaßbares, berauschendes Glück. Sie bat ihren Vater nicht. Sie konnte nicht bitten, Mette Rudloff, nie, und wenn es um ihr Leben ging, nicht. Aber als ihr Vater sie fragte, ob das Fräulein kommen sollte, sagte sie: „Ja.“ Und das Fräulein kam. Tante Emilie aber kniff die Mundwinkel zusammen und fügte sich schweigend. In den nun folgenden drei oder vier Jahren, die das Fräulein im Hause blieb, durchlebte Mette Rudloff das ganze Martyrium einer unglücklichen Liebe. Die ersten Monate ging alles herrlich. Das ist ja eben das Unglück einer unglücklichen Liebe, daß sie immer mit einem überschwenglichen Glück anfängt. Das Fräulein hatte Mette sehr lieb, und Mette hatte das Fräulein sehr lieb, und sie lernten miteinander und spielten miteinander und gingen miteinander spazieren. Es war eine wundervolle Zeit. Aber wie alle wundervollen Zeiten nur von kurzer Dauer. Es war sicher der Teufel, der den früheren Husarenleutnant von Hanstein plötzlich in den Weg warf; den Husarenleutnant, den das Fräulein glühend geliebt hatte, als sie noch kein Fräulein war, sondern Friedel Eggebrecht hieß und aufs Seminar ging und in ihrer Vaterstadt auf ihren ersten Jung-Mädchen-Bällen tanzte. Dieser frühere Husarenleutnant hatte keine ganz saubere Karriere hinter sich. Er hatte schuldenhalber den Dienst quittieren müssen, hatte sich in allen möglichen Berufen herumgetrieben und sprach sich über seine jeweilige Beschäftigung immer nur in sehr unklaren, aber hochtönenden Worten aus. Das hinderte nicht, daß in dem Fräulein sehr bald die alte, nicht rostende Liebe erwachte, und daß Mette, die kleine, süße, goldige Mette, jetzt überall lästig und im Wege war. Zuerst war Mette nur ärgerlich, wenn das Fräulein Besuch von ihrem „Bruder“ bekam und Mette ins Schlafzimmer geschickt wurde, weil das Fräulein Herrenbesuch nicht in einem Raum empfangen konnte, in dem ein Bett stand. (Späterhin wurde das anders.) Im Schlafzimmer war es kalt und langweilig. Mette stand am Fenster und sah den Spatzen zu, die auf dem kahlen Baum im Hofe lärmten. Nebenan waren ihre Bücher, ihre Puppen, ihre Spielsachen. Aber sie durfte nicht hinein, solange der Besuch da war, und der Besuch dachte nicht daran, wegzugehen. Es war recht ärgerlich. Und wenn es so weitergegangen wäre mit Besuchen und Eingesperrtwerden und dem kalten und unfreundlichen Ton, den das Fräulein jetzt meistens hatte, so wäre Mettes glühende Liebe vielleicht bald in Haß umgeschlagen – und es wäre alles gut gewesen. Aber mochte der Teufel wissen – derselbe Teufel, der den Herrn von Hanstein eines Vormittags auf den Viktoria-Luise-Platz warf – was diesem Herrn von Hanstein gerade über die Leber lief. Hatte er Sorgen oder Schulden oder irgendeine andere Liebelei – kurz – das Fräulein fing an, sich gekränkt zu fühlen, sich zu grämen, des Nachts zu weinen. Das war zuviel für Mette. Mette Rudloff weinte schwer. Sie begriff nicht, daß ein Mensch weinen konnte, ohne bis an die Grenzen des Wahnsinns zu leiden. Darum hätte sie sich das Herz aus der Brust herausreißen mögen, um einen Weinenden zu trösten. Wenn Friedel Eggebrecht um ihren Husarenleutnant weinte, so litt Mette alle Qualen der Hölle. Im Anfang, als das Fräulein das Kind nicht wecken wollte, weinte sie leise und weinte sich nach einer Viertelstunde in den Schlaf. Aber als sie merkte, daß Mette doch aufwachte oder vielleicht auch nicht einzuschlafen wagte, sich mühsam wach hielt, um auf jeden Atemzug zu lauschen, da war es ihr ganz bequem, sich einem lauten Schmerz hinzugeben und sich trösten zu lassen. Beim ersten Aufschluchzen sprang Mette aus dem Bettchen und kam auf bloßen Füßen über die Dielen gelaufen. Dann kauerte sie auf dem Bettrand und weinte und zitterte und tröstete mit ihrem süßen, zärtlichen Stimmchen, mit ihren weichen, guten Kinderhänden. Und das Fräulein ließ sich streicheln und trösten und stieß mit den Füßen gegen die Bettkante, warf den Kopf nach hinten, krallte die Nägel in die Kissen und schrie: „Der Hund! Der Schuft! Ich ertrage es nicht mehr. Ich sterbe! Er mordet mich!“ Zu der Zeit, als diese Szenen sich abspielten, wußte Mette schon längst, daß diese Ausbrüche dem Bruder galten, und daß dieser Bruder kein Bruder war. Sie empfand einen so wütenden, qualvollen Haß gegen diesen Mann, daß sie oft angestrengt darüber nachdachte, wie sie es bewerkstelligen könnte, ihn zu ermorden. Diese durchweinten, durchwachten Nächte waren schlimm. Aber sie waren nicht das Schlimmste. Das Schlimmste war, wenn am nächsten Tage der Herr Bruder wieder ankam und empfangen wurde zwischen Lachen und Weinen, mit offenen Vorwürfen und kaum verhehlter Zärtlichkeit, und Mette ins Schlafzimmer geschickt wurde. Dann rieb Mette die Zähne aufeinander und bohrte die Nägel in die Handflächen, und zerpeinte sich in schmerzlicher Wut. Bei solchen Anlässen konnte Mette auch sehr ungezogen werden. Es lag ihr nicht, Traurigkeit zu zeigen, wenn sie litt. Sie zog es vor, ungezogen zu werden. Es war mitunter ganz begreiflich, daß das Fräulein eine maßlose Wut auf sie hatte. Wenn Mette hätte zeigen können, wie es in ihr aussah, so hätte sie geweint und gesagt: „Ich liebe dich, und ich bin eifersüchtig, doppelt eifersüchtig, weil deine Liebe einem Mann gehört, der dich quält, und den zu verachten du vorgibst. Ich leide, daß ich einen Menschen lieben muß, der so wenig Stolz und Charakter besitzt.“ Wenn die kleine Mette ihre unklaren Gefühle in Worten hätte ausdrücken können, so würden diese Worte ungefähr so gelautet haben. Wer von uns, die wir reife und kluge Menschen sein wollen, die wir gelernt haben, die Worte zu wählen, zu wägen, zu setzen, vermag das auszusprechen, was er empfindet? Selten wollen wir es tun. Und die wenigen Male, die wir uns bemühen, können wir es nicht und werden mißverstanden. Mette wollte es nicht und konnte es nicht. Sie verlangte Liebe. Aber die konnte sie nicht erbetteln, da beanspruchte sie ihr Recht. Haben nicht ältere und vernünftigere Leute manchmal so gehandelt? Mette ging hinein in das Zimmer, in _ihr_ Zimmer, das sie nicht betreten durfte, solange der verhaßte „Kerl“ dasaß. (Mette nannte ihn so in Gedanken, und das war kein Wunder, sie hatte ihn zu oft so nennen hören, wenn das Fräulein in Wut war.) Sie ging hinein, ohne anzuklopfen, sie reckte den Kopf sehr hoch und setzte die schmalen Füße sehr fest auf. Sie legte die Bücher und Hefte auf den Tisch, klappte den Deckel vom Tintenfaß auf, tat, als ob sie nach der Uhr sähe (sie tat so; denn in Wirklichkeit wurde es ihr schwer, die richtige Zeit festzustellen, so klein war sie noch) und sagte: „Ich habe jetzt Stunde!“ Der „Kerl“ grinste höhnisch und empfahl sich. Das Fräulein fauchte sie an, wie sie sich unterstehen könne ...? Mette bemühte sich, etwas sehr Häßliches zu sagen. Und es gelang ihr. „Bloß, daß der ‚Kerl‘ hier immerfort sitzt, dafür bezahlt Sie mein Vater nicht!“ sagte sie. Das Fräulein wollte sie schlagen. Aber sie schrak zurück vor dem drohenden Ernst in dem blassen Kindergesicht. Niemals hat jemand gewagt, Mette Rudloff zu schlagen, obgleich vielleicht manch einer die Lust dazu verspürte. Das Fräulein packte sie am Arm und rüttelte sie. So fest packte sie, daß noch nach Tagen der Abdruck ihrer Finger in bläulichen Flecken auf der zarten Haut zu sehen war. Es geschah nicht einmal, es geschah hundertmal, daß Mette blaue Flecken am Arm hatte, oder Striemen über der Schulter, oder Kratzwunden an den Händen. Wenn sie sich hätte beklagen wollen, so wäre ihr Hilfe sicher gewesen. Wenn sie einmal Tante Emilien die Spuren einer solchen Szene gezeigt hätte, statt sie angstvoll zu verbergen, so wäre die „Person“ geflogen. Das wußte Mette, aber das wollte sie nicht. Darum mußte sie diesen Kampf ganz allein auskämpfen. Als die Eggebrecht einsah, daß das Kind ihr überlegen war, änderte sie ihre Taktik. Es ging nicht mehr an, Mette als Feindin zu behandeln, darum wurde sie zur Vertrauten gemacht. In Mettes kleines verschwiegenes Herz wurde alles ausgeschüttet, alle Freuden und Kümmernisse dieses Verhältnisses und eine ganze Masse Unrat dazu. Mette mußte Horchposten stehen, Mette mußte Briefe befördern und Telephongespräche führen, und Mette wurde mit Liebkosungen und Süßigkeiten überschüttet. Vielleicht hätte ein anderes Kind sich in diesem Zustand sehr wohl befunden. Mette fuhr fort zu leiden. Es lag wohl auch daran, daß ihr der Mann so widerwärtig war. Wenn es jemand gewesen wäre, der ihr gefallen hätte, hätte sie sich vielleicht eher in die Sachlage gefunden. Manchmal, wenn das Fräulein in der Laune war, ihren Liebsten zu beschimpfen, dann warf das Kind sich vor ihr auf die Knie und beschwor sie, von diesem schrecklichen Manne zu lassen. Dann wurde unter Tränen und Eiden alles versprochen. „... ja, mein Süßes, ja, mein Engel, er betritt mir die Schwelle nicht mehr, der verfluchte Hund, ich habe ja dich, mein Süßes, mein Trost, ich will nur noch für dich leben!“ Das waren für Mette Momente qualvoller Seligkeit. Aber es waren immer nur Momente; denn wenn das Telephon klingelte, oder wenn ein Brief kam, oder wenn man dem Herrn „zufällig“ im Tiergarten begegnete, dann war alles wieder vergessen. Mette begriff, daß da etwas war, wogegen sie nicht ankonnte. Sie begriff dunkel, daß sie nicht das Recht hatte, einen Menschen ganz für sich zu verlangen, weil sie noch ein Kind war. Und sie wünschte sich glühend, schnell, schnell erwachsen zu sein, um das, was sie liebte, ganz und ungeteilt zu besitzen. Es kam noch eins dazu, das Leben zu erschweren. Das Fräulein hatte nicht viel Zeit und Lust, mit Mette zu arbeiten. Es war so unendlich viel anderes zu tun. Das Fräulein mußte Briefe schreiben, oder spannende Bücher lesen – oder Handarbeiten machen. Das Fräulein machte gern Handarbeiten und hatte flinke und geschickte Hände. Sie nähte sich allerliebste Blusen und stickte sich zierliche Hemdpassen – oder sie häkelte Schlipse und stopfte seidene Herrensocken. Von alledem hatte Mette weiter keinen Nutzen. Sie war nicht böse, daß sie mit dem langweiligen Lernen ziemlich verschont blieb. Aber Tante Emilie kam bald dahinter. Es war ein so ernster Fall, daß der Vater zugezogen wurde. In solchen Dingen, und nur in solchen Dingen konnte man mit Franz Rudloffs Anteilnahme rechnen. Er stellte eine eingehende Prüfung mit seiner Tochter an. Das Ergebnis war derart, daß er allen Ernstes erschrak. Er rechnete nach, daß er im selben Alter ein fehlerfreies _Dicté_ geschrieben, _verba irregularia_ auswendig gelernt und Schillers Don Carlos mit Begeisterung verschlungen hatte. Mette las lateinische Druckschrift mühsam und stockend. Von dem Tage an ließ sich Franz Rudloff die schmerzliche Überzeugung nicht nehmen, daß sein armes Kind geistig zurückgeblieben sei. Damit zerbrach das letzte Brett, das zu einer Brücke zwischen ihnen hätte werden können. Er hörte nicht auf, seine Tochter mit Zartheit und Höflichkeit zu behandeln. Im Gegenteil. Aber sie war ihm so fremd, daß sie ihm mitunter beinah unheimlich erschien. Obgleich Tante Emilie Metten gern alle nur mögliche Trägheit und Unbegabung zugetraut hätte, wußte sie doch, daß sie nicht die Alleinschuldige sein konnte. Das Fräulein mußte verschiedentlich recht scharfe Bemerkungen hören, die sie veranlaßten, einige Tränen zu vergießen und Metten bitterliche Vorwürfe zu machen. „Ich gehe,“ das war der ständige Schluß ihrer Rede. Und das war das, was Metten jedesmal mit tödlichem Schrecken erfüllte. Sie fühlte zu gut, daß die Drohung Wahrheit werden konnte, Wahrheit werden mußte, wenn Tante Emilie bei einer nächsten Prüfung wieder auf so „krasse Unwissenheit“ stieß. Also fing Mette mit zähem und verbissenem Eifer an zu lernen. Das Fräulein half ihr nicht oft dabei, sie störte sie höchstens. Aber sie streichelte ihr manchmal das Haar, oder preßte sie an sich, oder küßte sie fast leidenschaftlich auf den Mund. Und um sich diese flüchtigen Liebkosungen zu erhalten, mußte Mette lernen. Sie war zu begabt, als daß sie nicht bald am Lernen und Lesen selbst Freude gehabt hätte. Aber das wußte sie nicht. Sie bildete sich ein, daß sie nur um des geliebten Fräuleins willen mit so fanatischer Inbrunst über den Büchern saß. Sie fing an zu lügen. Etwas, was sie in dieser Weise auch in späteren Jahren mit wahrer Leidenschaft tat. Wenn die Rede – dem Vater, der Tante oder Gästen gegenüber – einmal auf irgend etwas kam, was Mette in ihren Büchern gefunden hatte – in Büchern, in die das Fräulein niemals ihr hübsches Näschen steckte – und Mette ein wenig erstaunt gefragt wurde: „Wo hast du denn die Weisheit her?“ dann war sie sehr stolz darauf, zu antworten: „Von Fräulein!“ Und Fräulein widersprach nie. Mette glaubte, jedesmal zu sehen, daß sie rot wurde. Und sie liebte sie doppelt, weil sie ihr leid tat. Aber es war ein Irrtum. Sie wurde nicht rot. Sie hörte meistens gar nicht danach hin. Sie hatte so viel andere Gedanken im Kopf ... Und dann kam die merkwürdige Angelegenheit mit dem Silberzeug. Eines Nachts gab das Fräulein Metten die Schlüssel zum Silberschrank und einem flachen, lederbezogenen Kasten. Mette sollte den Kasten in den Schrank zurücktragen. Das Fräulein hatte ihn sich heimlich ausgeliehen, weil ihr Bräutigam das Silber gern einmal sehen wollte. Mette wollte auch gern einmal sehen. Sie drängelte so lange, bis das Fräulein den Kasten öffnete. Da lagen die dicken, blanken Löffel in Reih und Glied, jeder auf seinem Einschnitt im dunkelblauen Samt. Keiner fehlte. Es machte Metten ein unbändiges Vergnügen, unhörbar wie auf Katzenpfötchen durch den langen Korridor zu schleichen, sich im Speisezimmer zurechtzutasten, ohne Licht anzumachen, behutsam den Schrank aufzuschließen, ohne daß die Schlüssel klirrten oder die Tür knarrte, den Kasten an seinen Platz zu stellen, abzusperren – und dann mit mühsam unterdrücktem Jubel in Fräuleins Arm zu fliegen und sich beloben zu lassen. Dieses erste Mal war nur eine Einleitung. Mette lernte mit staunender Bewunderung die schätzenswerte Einrichtung eines Leihamtes kennen. Es war eine ganz fabelhafte Angelegenheit, daß man Silber oder Schmuckstücke nur zu verleihen brauchte, um eine Menge Geld dafür zu bekommen. Nach einiger Zeit bekam man seine Sachen unversehrt zurück. Ja, sie wurden nicht einmal benutzt in der Zeit, wie Fräulein auf Mettens Fragen lachend versicherte. Es war eine schöne, aber merkwürdige Einrichtung. Immerhin! Es gab so viele merkwürdige Einrichtungen. Zum Beispiel: daß man Geld auf eine Bank legte – daß es nicht irgendeine beliebige Gartenbank sein durfte, das hatte Mette unterdessen schon gelernt – daß man dann immerfort Geld geschickt bekam, von dem man leben konnte, und das Geld auf dieser seltsamen Bank doch niemals weniger wurde – das war auch so eine merkwürdige Tatsache. So ähnlich würde es sich wohl mit dem Leihamt auch verhalten. Es lohnte nicht, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Man begriff es doch nicht. Also wanderte das Silberzeug aufs Leihamt. Und bei Gelegenheit wanderte es wieder zurück in den Schrank. Es war so lustig, abends im Bett zu liegen und zu schwatzen und Konfekt zu knabbern. Aber das Konfekt kostete so rasend viel Geld. Darum wurde von Zeit zu Zeit das Silber „verliehen“. Es schadete ihm ja nichts. Und die Heimlichkeit, mit der es geholt und wieder zurückgebracht werden mußte, machte einen Heidenspaß. Aber einmal war der große Kasten fort und kam und kam nicht wieder. So ewig lange war er schon fort, es dachte kaum mehr ein Mensch an ihn. Da verfiel Tante Emilie eines Tages beim Reinmachen auf die Idee, das ganze Silber nachsehen und putzen zu lassen. Tante Emilie wußte ganz genau, wieviel Silber im Haushalt vorhanden war. Sie wußte sogar, von welcher Großmutter oder Schwiegermutter oder Tante jedes einzelne Stück stammte. Aber Tante Emilie war viel zu musterhaft, um sich in so wichtigen Dingen auf ihr Gedächtnis zu verlassen. Auf der Innenseite jeder Büfettür war mit vier Reißnägeln ein Papier befestigt, auf dem in Tante Emiliens sehr deutlicher und leserlicher Schrift stand: Inhalt: Ein Lederetui mit 12 Suppenlöffeln, gezeichnet L. R. Ein Holzkasten mit 12 Dessertlöffeln, gezeichnet G. v. S. Ein Kasten mit 12 Mokkalöffeln, vergoldet. Ein brauner Pappkarton mit 9 großen Gabeln, Alfenid. Usw. usw. Ja, und an der Hand dieses Zettels ließ es sich mit unfehlbarer Sicherheit feststellen, daß da ein Kasten fehlte. Mette erschrak gar nicht, als sie Tante Emiliens scharfe, empörte Stimme hörte und das Aufweinen des gekränkten Hausmädchens. Sie war nur froh, die Sache richtigstellen zu können. Gott sei Dank. Sonst wäre die arme Berta womöglich in den Verdacht des Diebstahls gekommen! Mette trat ins Zimmer und sagte sehr kühl und ein wenig hochmütig: „Du brauchst dich nicht aufregen, Tante. Das Silber ist da. Ich hab’ es nur verliehen!“ – Aus dem, was sich in den nächsten Tagen ereignete, wurde Metten allmählich klar, daß sie etwas getan hatte, wozu sie nach Ansicht der anderen nicht berechtigt war. Das Hausmädchen erzählte jedem, der es hören wollte, daß in diesem Hause ehrliche Leute verdächtigt würden, weil das „Quack“ das Silber „klaue“ und zum Juden trage. Die alte dicke Köchin weinte und schlug jammernd die Hände zusammen. Die Tante ging umher, als hätte das Entsetzen sie versteinert. Dem Vater traten die Tränen in die Augen, wenn er sein unseliges Kind ansah. Sogar ein Kinderarzt erschien auf der Bildfläche, der den grauenerregenden und unheimlichen Titel „Psychiater“ führte und ein langes Examen mit ihr anstellte. Und das Fräulein tobte und weinte und schrie und schimpfte sie „idiotisch“ und „blödsinnig“ und stieß und kratzte sie und fiel dann wieder vor ihr auf die Knie und nannte sie „kleine Heilige“ und flehte sie an, zu schweigen. Und Mette schwieg. Da sie aber nicht wußte, was sie verschweigen sollte, so schwieg sie auf alles. Sie ließ sich fragen, in Ruhe, im Zorn, in stundenlangem Verhör, sie ließ sich rütteln, sie ließ sich anflehen, sie ließ sich einsperren – und schwieg. Das Schweigen wuchs wie eine Mauer um sie herum. Sie hätte nun nicht mehr hindurch gekonnt, auch wenn sie gewollt hätte. Dennoch mußte das Fräulein aus dem Hause. Ob sie nun beteiligt war oder gänzlich ahnungslos – es war klar, daß ein Kind nicht so verwahrlosen konnte, wenn die Erziehung in den richtigen Händen lag. Das Fräulein ging. Und Mette litt alle Todesqualen der Trennung und Einsamkeit. Ich möchte über Friedel Eggebrecht kein Urteil sprechen. Wenn ich die Geschichte ihres Lebens schreiben sollte, würde ich versuchen, alles zu verstehen, was sie getan hat. Sie liebte – und immer ist Liebe gut und schön und edel. So liebte sie, daß sie fähig war, um ihrer Liebe willen ihre Pflichten zu vergessen und zu lügen, zu stehlen, zu betrügen. Wer von uns kann sich rühmen, dessen fähig zu sein? Immer, wo Liebe ist, ist Leid. Und fast immer, wo zwei sich lieben, leidet ein Dritter. Es wäre unsinnig, deswegen zu klagen oder anzuklagen. Nur Kinder sollten nicht darunter leiden müssen. Es ist genug, wenn man sie mit Frühaufstehen peinigt und mit Schularbeiten und mit langweiligen Sonntags-Spaziergängen. Aber von Haß und Liebe und Eifersucht, von solchen Dingen sollten Kinder nicht zu leiden haben. – – – * * * * * Mette wurde in die Schule geschickt. Dafür, daß man ihr das Fräulein genommen hatte, rächte sie sich nun, indem sie sich dagegen wehrte, irgend etwas zu lernen. Während der Schulstunden schickte sie ihre Gedanken auf Wanderschaft. Manchmal schlug irgend etwas an ihr Ohr, das ihr Interesse weckte. Dann war die Versuchung da, hinzuhören, und man mußte eine gewisse Kraftanstrengung anwenden, um an etwas anderes zu denken. Aber diese Versuchung kam nicht oft. Es dauerte über ein Jahr, bis dieser trotzige Widerstand nach und nach zerbröckelte. Da war es zu spät, nachzuholen. Sie wollte auch nicht. Gott bewahre! Sie wendete nicht die geringste Mühe an, um vorwärts zu kommen. Aber es lohnte auch nicht mehr, sich zur Wehr zu setzen. Sie tat, was man von ihr verlangte. Sie tat es darum, weil es weniger störend war, das unsagbar Geringfügige zu lernen, als immer lange Straf- und Ermahnpredigten stehend anzuhören. Sie wuchs unglaublich rasch in dieser Zeit und war immer müde. – – – * * * * * Als sie mit der Schule fertig war, saß sie ein paar Jahr im Hause herum und langweilte sich. Sie nahm den üblichen Klavierunterricht und übte die vorgeschriebene Zeit. Aber sie hatte keine anererbte musikalische Begabung, dagegen eine übertriebene Empfindsamkeit, so, daß sie litt unter der Unzulänglichkeit ihres eigenen Spiels, ohne die Fähigkeit oder auch nur das Streben zu haben, sich selbst Genüge zu tun. In diesen Jahren wechselten ihre Stimmungen wie Sonne und Regen im April. Sie sehnte sich danach, tot zu sein, oder mündig, in einem andern Jahrhundert zu leben, oder in einem andern Erdteil, Nonne zu werden, oder schön genug zu sein, um alle Menschen der Welt zu berücken. Es kamen Märztage, wo sie meinte, zerspringen zu müssen in ungeduldiger Erwartung des unendlichen Glücks, dem sie an der nächsten Straßenecke in die Arme laufen konnte – und es kamen Juninächte, wo sie aus dem Fenster springen wollte, um sich zu lösen von den schnürenden Fesseln einer quälenden Leiblichkeit, um aufzustrahlen gegen das sternhelle Firmament, um sich auszubreiten, zu zerfließen im unendlichen Äther, groß zu werden, gewaltig, grenzenlos, allumfassend. Es kamen Tage, an denen sie sich vornahm, wie ein Heiland durch die Welt zu gehen und alle Menschen zu lieben – an denen sie mit Tante Emilie in einem Ton so leidenschaftlicher Demut sprach, wie Griseldis zu ihrem Herrn – und es kamen Tage, da alle Menschen ihr so verhaßt waren, daß sie körperlich Qualen ausstand, wenn sie bei Tisch ihrem Vater gegenüber saß und ihn essen sah. An Ereignissen waren diese Jahre arm. So arm, daß Mette selten in ihrem Leben daran zurückdachte, und wenn die Rede auf etwas kam, was in diesen Jahren geschehen war – eine Reise, eine Geburt oder Trauerfall im Bekanntenkreis, ein öffentliches Begebnis – sie immer erst lange nachrechnen mußte, wann sich das zugetragen haben könne und wie alt sie gewesen sei, während sie sonst ein auffallendes Gedächtnis hatte für den Zeitpunkt, an dem Menschen oder Dinge flüchtig an ihr vorübergestreift waren, weil sie alles in Verbindung brachte mit den Tagen, die wie Denksteine in ihr aufgemauert waren – vor oder nach Olgas Tod – als sie mit Olga zusammen oder von ihr getrennt war. Es ist unwichtig, von diesen Jahren zu sprechen – es wäre auch nicht nötig gewesen, von Friedel Eggebrecht des Längeren und Breiteren zu reden, aber Mette sagte selbst so oft in späteren Jahren, wenn sie auf das „Fräulein“ zu sprechen kam, sagte es mit einem etwas bitteren Lächeln: „Es war der Auftakt zu meinem Leben!“ Als ihr Leben wirklich einsetzte, mit hundert brausenden Stimmen, mit einem vollen, klingenden und singenden Motiv, das nie wieder stumm wurde, das in Dur, in Moll, bald von allen Geigen und Celli, bald von einer einzigen klagenden Hoboe, in tausend Verschlingungen, aus tausend Verschleierungen immer wieder durchklang und durchklingen wird bis zum Schlußakkord – das war in derselben Minute, da bei Konsul Möbius die Tür aufging und Olga Radó ins Zimmer trat. Gegen Konsul Möbius war im allgemeinen nichts einzuwenden. Es war der Verkehr, den Tante Emilie selbst ausgesucht hatte. Die Familie stammte irgendwoher aus Lübeck oder Bremen, und sie sprachen ein spitzes „st“, was ihren ohnehin manierlichen Umgangsformen noch einen leisen besonderen Duft von kühler Vornehmheit verlieh. Es waren zwei Töchter da, Fanni und Emmi, beide jünger als Mette, beide rotblond und sehr ordentlich in Anzug und Haartracht, dabei beide so merkwürdig belanglos, daß man nach wochenlangem Umgang noch nicht wußte, ob sie eigentlich hübsch oder häßlich waren. Wie es sich mit der Verwandtschaft zu Olga Radó verhielt, wird sich wohl jetzt mit Sicherheit nicht mehr feststellen lassen. Als Olga damals in Berlin auftauchte und alle Welt von ihr begeistert war, hieß es immer: „Unsere Cousine.“ Später – zu der Zeit, als Jürgen von Seyblitz schon das Wort von der „kriminellen Hochstaplerin“ auf sie geprägt hatte – da war in Frau Konsul Möbius’ Gedächtnis jede Erinnerung an eine Verwandtschaft völlig erloschen. Ihr Schwager, der Mann ihrer verstorbenen Schwester, hatte eine Preßburgerin geheiratet, diese hatte einen Vetter in Budapest, der eine Schwester der Olga Radó zur Frau hatte ... oder so ähnlich. Olga selbst hat nebenbei von dieser „Verwandtschaft“ mit Konsul Möbius nie viel Gebrauch gemacht, weder in guten noch in schlechten Zeiten. Es ist nicht vorgekommen, daß sie das Haus betreten hat, wenn sie nicht dreimal darum gebeten wurde. Mette hatte mit den Möbiusschen Mädchen und Erika Hannemann ein Kränzchen. Einmal in der Woche kamen sie zusammen und machten Handarbeiten und lasen französische Theaterstücke mit verteilten Rollen. Mette langweilte sich wahnsinnig dabei, sie hörte nie danach hin, wenn die anderen lasen und versäumte immer, zur rechten Zeit einzufallen. Am schlimmsten aber war es, wenn sie selber einen langen Absatz zu lesen hatte. Dann mußte sie bei jeder Zeile ein Gähnen unterdrücken, so, daß sie nachher immer förmlich einen Kinnbackenkrampf hatte. Und an einem solchen Mittwochnachmittag im April, als die vier wieder in den weißlackierten Stühlen des zierlichen Mädchenzimmers saßen, an einem Nachmittag, an dem Fliegen nicht mehr herumschwirrten, sondern träge über die Kuchenschüsseln krochen, weil ihnen die Langeweile in der Luft wie ein Bleigewicht auf den Flügeln lastete, in dem Augenblick, da Fanni Möbius – sie war die einzige, die eine gewisse Leidenschaft für die Sache hatte und den Ehrgeiz besaß, immer die dankbarsten Rollen zu lesen – mit überschwenglichem Pathos und miserabler Aussprache die Worte las: „_Impitoyable honneur, mortel à mes plaisirs,_ _que tu me vas coûter de pleurs et de soupirs!_“ in dem Augenblick ging die Tür auf, und Olga Radó kam herein. Es mußte durch einen Zufall irgendwo eine Tür offenstehen – mit Olga zugleich kam ein Luftzug, frisch wie ein Windstoß, ins Zimmer. Das angelehnte Fenster sprang auf, die weiße Mullgardine blähte sich und flog in die Höhe, die Seiten der Bücher blätterten sich knisternd um, die Fliegen schwirrten aufgestört um die Lampe, eine Hand am Himmel riß einen Wolkenfetzen von der Sonne – blendende Helligkeit und wehende Luft füllte das Zimmer bis in seinen letzten Winkel. Dann schloß sich die Tür mit einem harten Krachen, die Fensterflügel bewegten sich knarrend, die Gardine fiel schwer wie ein Sack herunter, eine neue dunklere Wolke schob sich vor die Sonne – aber dies alles bemerkte Mette Rudloff nicht – denn sie hatte vollauf zu tun, Olga Radó zu betrachten und konnte ihre Sinne und ihre Gedanken nicht wieder von ihr abwenden – für lange Zeit nicht. Olga war sehr groß und sehr schlank. Ihr Gesicht war schön und kühn geschnitten. Das schlichte, dunkle, reiche Haar ließ viel von der hohen und wundervoll durchgebildeten Stirne frei, die schmalen, schwarzen Brauen flossen über der Nasenwurzel zusammen, was den scharfen, metallisch-grauschimmernden Augen einen fast drohenden Ausdruck gab. Ihre Sprache war scharf und hart. Aber ihre Stimme hatte einen tiefen, weichen Celloklang. Das gab einen sonderbaren Kontrast. Es war etwas in ihrer Art, sich zu kleiden, was Mette gefiel, ohne daß sie sagen konnte, warum. Man konnte es mit einem Wort wie „geschmackvoll“ oder gar „elegant“ oder „adrett“ nicht abtun. Mette empfand dunkel: so möchte ich angezogen gehen. Woran das lag, das wurde ihr erst viel später klar. Olga Radó hatte eine fast krankhafte Abneigung gegen alles, was billig war. Ein billiger Stoff, ein billiger Schneider waren ihr ein Greuel. Außerdem hatte sie – wie sie Mette viel später einmal mit ihrem bezauberndsten Lächeln sagte – „das sehr ehrenwerte Prinzip, lieber einem Millionär etwas schuldig zu bleiben, als einer armen kleinen, hungernden Schneiderin“ – also ließ sie nur in den teuersten Geschäften arbeiten. Als sie hineinkam, machte Emmi Möbius den mißglückten Versuch einer feierlichen Vorstellung, den Olga mit einem kurzen „Ja, ja, schon gut – und so weiter und so weiter –“ abschnitt, worauf sie jedem flüchtig ihre große, schmale, kühle Hand reichte, sich mit einem: „Bitte, laßt euch nicht stören“ – ein wenig abseits in den Schaukelstuhl setzte, Fannis kleinen, schwarzen dicken Hund, der sie wie unsinnig anblaffte und anwedelte, am Genick packte und auf ihre Knie setzte. Fanni fuhr fort zu lesen. Vielleicht dachte sie ihrer Cousine durch diese ernsten wissenschaftlichen Bestrebungen zu imponieren. Mette war gezwungen, ins Buch zu sehen und Olga den Rücken zuzuwenden. Sie hörte nur den Schaukelstuhl leise auf und ab gehen, ein leichtes Rauschen der Röcke und manchmal eine halblaute Bemerkung, die dem Hunde galt. Mette verspürte Trockenheit im Hals und rasendes Herzklopfen, als sie lesen sollte. Nie hatte sie sich in der Schule so geängstigt, und wenn sie noch so unpräpariert „drangekommen“ war. In jedem Wort schien ihr eine Fußangel versteckt. Sie würde alles falsch aussprechen und sich unrettbar blamieren. Es war wirklich ein Skandal, so wenig Französisch zu können. Morgen wollte sie zu Vater gehen und ihn um französische Konversationsstunden bitten. Er würde sich freuen, wenn sie ihm einmal mit solchem Anliegen kam. Sie war glücklich, als sie ihre paar Sätzchen hervorgewürgt hatte. Dann kam Erika, und dann las Fanni wieder mit allem ihr zu Gebote stehenden Pathos. Plötzlich flog der Schaukelstuhl mit einem hörbaren Ruck nach vorn, und eine tiefe, verwunderte Stimme fragte mitten in den Satz hinein: „Sagt mal, was lest ihr denn da eigentlich?“ „Den Cid!“ sagte Fanni in einem unendlich ausdrucksvollen Ton. Es sollte ganz leicht hingesagt werden, und doch zitterte die Ehrfurcht vor der eigenen Gelehrsamkeit darin. Es sollte ausdrücken: Das hört doch ein gebildeter Mensch beim ersten Wort, und zugleich: Freilich, dergleichen liest du ja nicht, das ist dir zu klassisch, zu langweilig. Olga schenkte diesem Ton gar keine Beachtung. Sie schien mit einer leichten ungeduldigen Handbewegung die Antwort als unzulänglich beiseite zu werfen. „Was für eine Sprache, meine ich?!“ Die Mädchen sahen sich an und lachten, halb erstaunt und halb verlegen. Nur Mette lachte nicht, sondern schämte sich qualvoll. Die Möbiussens kannten ihre Cousine zu gut, um zu antworten. Aber Erika Hannemann war wirklich der Meinung, Olga Radó wäre in fremden Sprachen nicht so bewandert wie sie und sagte mit der ganzen Herablassung der höheren Tochter: „Französisch!“ Der Schaukelstuhl glitt wieder zurück. Über Olgas Gesicht zuckte nicht der Schein eines Lächelns. Sie sagte mit so langgezogener Verwunderung, als hätte ihr jemand im Ernst eine überraschende Mitteilung gemacht: „Französisch soll das sein?!“ Nun wollte Emmi ihr das Buch aufdrängen. Ob es wirklich Bildungstrieb bei ihr war oder die Absicht, sich vor den anderen mit Olgas wunderschönem Französisch großzutun, sie quälte und quängelte: „Lies _du_ doch, ach bitte, bitte, nur eine halbe Seite, nur einen Satz!“ „Hältst du mich für verrückt?“ „Ach bitte, bitte!“ „Den Deibel auch! Ich bin doch nicht eure Gouvernante!“ Und da das Buch sich nicht von ihr entfernen wollte, knipste sie mit den Fingern dagegen, daß es mit einem schönen großen Bogen auf den Teppich hüpfte und mit zugeschlagenen Deckeln liegen blieb. Mette war sehr froh. Nun war die Leserei für heute beendet. Sie brauchte nicht die langen Sätze des Königs zu lesen, vor denen sie sich schon gefürchtet hatte. Sie brauchte sich nicht zu blamieren und nicht zu langweilen. Und vor allem – sie konnte ihren Stuhl herumdrehen und Olga Radó anstarren. Es war so interessant, ihren Bewegungen oder dem fortwährend wechselnden Ausdruck ihres Gesichtes zuzusehen. Mette war sich klar darüber, daß diese Frau ihr gefiel. Und doch spürte sie in ihrem Empfinden mehr Feindseligkeit als Zuneigung. Niemand von den andern schien beleidigt. Mette war es, als ob der scharfe Spott nur sie getroffen hätte, nur sie hätte treffen sollen. Sie hätte viel darum gegeben, wenn sie die Spitze hätte zurückwerfen können, oder sich wenigstens mit Trotz und Verachtung panzern. Aber sie fühlte sich wehrlos, hilflos preisgegeben und wünschte sich, unsichtbar zu sein, sich in ein Mauseloch zu verkriechen, um zu sehen, zu hören, zu beobachten, ohne bemerkt zu werden – um jeden Blick dieser Augen, jedes Wort dieser Stimme gierig in sich aufzunehmen, ohne davor zu zittern, daß ein scharfer Blick, ein scharfes Wort sie treffen, sie verletzen, sie demütigen konnte. Olga Radó schenkte ihr indessen keine Beachtung. Sie hatte auf dem Fußbrett eines Tischchens eine Zigarettenschachtel entdeckt und zog sie hervor. Daneben, in zierlichem Kästchen, lag ein Spiel Karten. „Da, schau her! Zigaretten haben die Mäderln auch hier! Ihr seid mir ja ein schöner Klub der Harmlosen! Offiziell wird der Cid gelesen, und wenn kein Erwachsener es merkt, dann wird hier geraucht und gepokert!“ Fanni Möbius wollte sich halbtot lachen, sowohl über die Zumutung, daß sie pokern sollte, als darüber, daß sie mit ihren achtzehn Jahren noch nicht zu den Erwachsenen gerechnet wurde. „Es sind Emmis Karten!“ „Nein!“ schrie Emmi. „Doch! Ich sag’s, Emmi, ich sag’s! Sie legt sich jeden Abend Patiencen – und fragt ...“ „Tu doch nicht so – du legst dir ja auch welche ...“ „... und fragt ...“ „... Sie lügt, sie lügt, sie lügt!“ „... und fragt ... soll ich’s sagen, Emmi? ...“ „... sei still! ...“ Zwischen den beiden Schwestern entspann sich ein Handgemenge, das Tischchen kam ins Schwanken. Olga rettete es mit einem raschen und kraftvollen Zugreifen. „Kinder, tobt nicht so!“ sagte sie ruhig. „Bist du so neugierig, deine Zukunft zu erfahren, Emmilein?“ Das „Emmilein“ gab Metten einen leisen Stich. Wie kam der alberne Backfisch dazu, von dieser Frau mit solcher Vertraulichkeit angeredet zu werden?! „Soll ich dir mal die Karten legen?“ „Kannst du das, Olga? Oh, fein!“ „Ja, mach, bitte, bitte, mir auch!“ „Wirklich, ja? Kannst du das?“ „Natürlich!“ sagte Olga ernsthaft. „Das ist doch das einzige, was ich kann. Das hab’ ich wenigstens gelernt von den Zigeunern. Wenn’s einmal schief mit mir geht, etablier ich mich als Kartenlegerin. Weißt du, mit Eule und Totenkopf und Kaffeegrund und allem Zubehör. Im Dutzend billiger. Nimmst du Abonnement bei mir?“ „Ehrensache!“ versprach Emmi. „Aber heut’ machst du’s noch umsonst!“ „Nein,“ sagte Olga, „für eine Zigarette.“ Sie nahm den Kasten auf und schob eine zwischen die Zähne. „Ich hab’ nämlich keine bei mir!“ Erika Hannemann beeilte sich, ihr ein brennendes Streichholz zu reichen. Sie sog ein paarmal an der Zigarette, bis sie aufflammte und schlug das Streichholz durch die Luft, daß es erlosch. „Danke!“ sagte sie dann erst. Mit einem flüchtigen Blick sah sie, daß Mette sich eine Zigarette genommen hatte. „O Verzeihung!“ sagte sie so bedauernd, als hätte sie ein wirkliches Unrecht abzubitten, während ein halber Blick die Aschenschale mit dem verglimmenden Streichholz streifte. Rasch, fast eilig nahm sie aus ihrer Tasche ein kleines goldenes Feuerzeug, strich es an und reichte Metten das Flämmchen hinüber. In ihren Bewegungen, die die einfachsten, die ungezwungensten von der Welt waren, lag ein eigener Ausdruck. Es war weit mehr als Höflichkeit, und doch lag keine Spur von Unterwürfigkeit darin. Es war eine Mischung von Zuvorkommenheit und Zurückhaltung, von Adel und Dienstbeflissenheit, die man nicht gut anders als mit dem Wort „chevaleresk“ bezeichnen konnte. Sie bot auch den andern Zigaretten und Feuer. „Raucht, Kinder, raucht! Wenn die Mutter nachher schimpft, bin ich’s gewesen.“ Sie hielt immer noch den kleinen schwarzen Hund auf den Knien und blies ihm den Zigarettenrauch um die Nase. Der Hund schnitt possierliche Grimassen, und sie bemühte sich, ihm nachzumachen. – Sie hatte überhaupt die Angewohnheit, ihr Gesicht zu verzerren, ohne im geringsten Rücksicht darauf zu nehmen, ob es sie kleidete oder entstellte, so daß man sich manchmal qualvoll danach sehnte, das allzu lebhafte Mienenspiel zu unterbrechen, um die regelmäßige Schönheit der Züge genießen zu können. Nur sagen durfte man ihr das nicht, sonst bekam sie es fertig, ohne Aufhören die greulichsten Fratzen zu schneiden. Der Hund rümpfte die Nase, drehte den Kopf und hustete und prustete in beleidigter Würde. „Ihr dürft eure Sophonisbe nicht so verfüttern, Kinder!“ sagte Olga. „Sie hat ja schon Asthma vor Fettsucht, das arme Viech!“ Die Mädchen lachten kreischend auf. „Sophonisbe! Wie kommst du nur auf Sophonisbe?“ „Er heißt doch Mäuschen.“ „Er?“ sagte Olga spöttisch und legte das zappelnde Tier mit einem festen Griff auf den Rücken. „Er ist ganz bestimmt eine Sie. Und sie sieht aus wie Sophonisbe!“ Die Mädchen erröteten bis über die Ohren und kicherten nur noch in gedämpften Tönen. „Nein, Olga, wie du aber auch bist!“ „_Warum_ sieht sie aus wie Sophonisbe?“ „Ich weiß nicht,“ sagte Olga plötzlich müde. Ihr Gesicht war einen Augenblick ganz ruhig, ihre Augen sahen irgendwohin, an den Mädchen vorüber, durch die Wände hindurch. „Danach dürft ihr mich doch nicht fragen. Auf die Frage: Wie? kann ich manchmal antworten, aber niemals auf die Frage: Warum?“ Sie zog den Hund wieder in die Höhe und versuchte, ihm die Zigarette in die Schnauze zu stecken. „Magst du rauchen, Sophonisbe? Da! Schmeckt’s, Alterchen?“ Der Hund drehte den Kopf und leckte mit der Zunge nach ihrer Hand, die ihn im Genick festhielt. Mit einer Gebärde des Widerwillens warf sie die Zigarette in die Aschenschale und ließ den Hund auf die Erde gleiten. „Du mußt dem Köter das Lecken abgewöhnen, Fanni,“ sagte sie. „Ich sehe dich ja doch noch am Hundewurm zugrunde gehen.“ „Ach, Unsinn!“ sagte Fanni und nahm den beleidigten Hund zärtlich in die Arme. „Mein Hund hat keine Würmer! Nicht wahr, Mäuschen, wo du doch so schön rein gehalten wirst?“ Der Hund schnupperte zärtlich nach ihrem Gesicht. Olga zog die Brauen zusammen und machte eine hastige Bewegung, als wollte sie ihr den Hund wegnehmen. Aber sie unterbrach sich und lehnte sich in den Schaukelstuhl zurück. „Meinetwegen,“ sagte sie, „der Mensch muß an dem zugrunde gehen, was er liebt. Mir wär ja so ein Köter das nicht wert. Aber wenn es dir Vergnügen macht. Schließlich, ob du nun am Echinokokkus krepierst, oder ob dich nachher ein Liebster oder kirchlich angetrauter Gatte mit Syphilis behaftet ...“ Die drei Mädchen kriegten glühendrote Köpfe und fingen an zu kichern. Auch Olga Radó wurde rot. Aber es war eine andere Art zu erröten. Die hellen Gesichter der blonden Mädchen waren wie gedunsen vom Blut und vom unterdrückten Lachen. Über Olgas Gesicht lief das tiefe Rot wie ein flüchtiger Schatten, wie eine Wolke, die für einen Herzschlag selbst die Augen verdunkelte. „Gänse!“ sagte sie zornig, „da ist doch, weiß Gott, nichts zu lachen.“ Die Mädchen wollten sich entschuldigen und konnten vor Prusten und Kichern nicht reden. Olga hob die Hand und ließ sie fallen – durch die abendliche Dämmerung leuchtete die lange, schmale Hand mit einem seltsamen Glanz wie Silber oder Perlmutter – mit einer Geste, die ganz deutlich „Ach, laßt doch!“ sagte, so deutlich, als stände es in der Luft geschrieben. Sie saß jetzt ganz vornübergebeugt. Ihre Hände lagen wie müde zwischen ihren Knien. Sie starrte hinaus in das blaue Dämmerlicht und das knospenbedeckte Gewirr der braunen Zweige. Sie schwiegen alle eine Weile. Dann fingen Emmi und Erika ein Gespräch an, im Flüsterton, als wagten sie kaum, sich bemerkbar zu machen. So plötzlich stand Olga auf, daß der Schaukelstuhl nach rückwärts flog. „Macht Licht an!“ sagte sie beinah herrisch. „Ich werd’ euch die Karten legen!“ – Sie saß am Tisch unter der Lampe. Das gelbe Licht fiel schimmernd auf ihr Haar und auf ihre hellen Hände, die mit raschen Bewegungen die Karten mischten und ausbreiteten. „Wem zuerst? Dir, Fanni? Dann mußt du abheben – dreimal – so! Muß ich nun auch erst Hokuspokus sagen, oder glaubt ihr mir so? – Die Karodame bist du – da liegt ein schwarzer Jüngling – da liegt eine Reise, in der Vergangenheit – ein heimlicher Brief – in der nächsten Woche – oh, Ärger im Haus – das hängt mit dem Brief zusammen – Trennung – viele Tränen – siehst du die Treffzehn? – Da liegt eine große Veränderung – eine neue Bekanntschaft – ein blonder Herr – Verlobung und Heirat – viel Glück ins Haus – aber der Schwarze liegt doch dazwischen – neben dem Blonden liegt Reichtum und große Ehre ...“ Die Mädchen horchten in fieberhafter Spannung, Fanni preßte die Hand mit dem Taschentuch vor die Zähne und kniff Emmi bei jedem Wort in den Arm, während Emmi und Erika mit mühsam unterdrücktem Gekreische in halb artikulierte Rufe ausbrachen, die man ganz gut als „Max“ und „Travemünde“ deuten konnte. „Ich glaube nicht an Kartenlegen,“ sagte Erika Hannemann überlegen, „aber aus der Hand wahrsagen, da ist schon eher was dran. Meinem Vetter hat mal eine Zigeunerin gewahrsagt ...“ „Kannst du aus der Hand wahrsagen?“ schrie Emmi. „Ach, bitte, bitte, Olga, kannst du nicht aus der Hand wahrsagen? Oder besser aus den Karten?“ „Ich kann auch aus der Hand wahrsagen,“ sagte Olga, „genau so gut wie aus den Karten.“ Sie nahm Emmis kleine, rundliche Hand und zog gedankenvoll die Linien nach. „Die Lebenslinie ist ganz, siehst du? Du wirst ein langes Leben haben – aber die Linie des Hirns ist zerschnitten – die Linie des Tisches hast du überhaupt nicht – – –“ „Was bedeutet die?“ forschte Emmi dringend. „Je nachdem – Güte oder Bosheit – du bist jenseits von gut und böse.“ Dabei zuckte es um ihre Mundwinkel. „Aber hier, Ordnung und Sparsamkeit, die sind sehr ausgeprägt bei dir – das scheinen deine Haupteigenschaften –“ Jetzt war die Reihe zu lachen an Fanni. „Aber nimm dich nur in acht, dir steht eine unglückliche Liebe bevor – in Verbindung mit einer Kunst – mit Musik, glaub’ ich ...“ Emmi wurde blutrot und Fanni tanzte auf einem Bein herum und schrie: „Wassermüller, Wassermüller!“ Das war der Klavierlehrer. Mette war befangen in einem sonderbaren Zwiespalt. Sie hätte so gern sich wahrsagen lassen – schon, um die schöne Frau anreden zu dürfen. Dabei schien es ihr aufdringlich, sie zu belästigen. Sie wollte auch nicht gern für abergläubisch gehalten werden. Olga Radó belustigte sich sicherlich über den Feuereifer, mit dem die Mädels bei der Sache waren. Und dann wieder hatte Mette eine Angst, die sie selbst kindisch schalt: so, als wäre doch vielleicht ein geheimnisvoller Zauber in dieser Spielerei, und es könnte klar und deutlich eine furchtbare Eigenschaft in ihrer Handfläche stehen, eine, die sie selbst nicht kannte, oder ein entsetzliches Schicksal. Vielleicht würde die schöne Zigeunerin vor Schreck erblassen und sagen: „Quälen Sie mich nicht, ich kann Ihnen die Wahrheit nicht sagen, die da zu lesen ist.“ Und plötzlich stand sie doch neben Emmi und streckte die Hand aus und sagte: „Ach, bitte, bitte, mir auch!“ Olga sah zu ihr auf, und zum erstenmal trafen sich ihre Augen und blieben für ein paar Sekunden ineinander haften. Olga lächelte. Und Metten wurde bewußt, daß sie dies Lächeln zum erstenmal sah. In dem fortwährend wechselnden Mienenspiel blieb das Gesicht fast immer ernst. Sie runzelte die Brauen, kniff die Augen zusammen, schob den Unterkiefer vor, legte die Zähne auf die Lippe, zuckte mit den Nasenflügeln, verzog die Mundwinkel in leichtem Spott, aber sie lächelte sehr selten. Jetzt zum erstenmal lächelte sie, lächelte Metten an, und es schien wirklich, als ob das ganze Gesicht seltsam erhellt wurde von einem plötzlich durchbrechenden Licht. „Aber, Mädelchen!“ sagte sie halblaut mit ihrer tiefen Stimme. „Von Ihnen weiß ich doch nix! ...“ Als sie nachher auf der Diele nebeneinander standen und vorm Spiegel die Hüte aufsetzten, sah Mette mit einer unerklärlichen Freude, daß sie fast ebenso groß war wie Olga Radó, viel größer als die drei blonden, rundlichen Mädels. Sie gingen zu dritt die Treppen hinunter und ein Stück die Straßen entlang. Erika Hannemann führte das Gespräch. „Nein, wie Sie das wissen konnten, Fräulein Radó, von Travemünde die Sache und von Wassermüller ... von Fannis Max weiß ich ja alles, weil ich es direkt miterlebt habe – ich war ja auch in Travemünde ... kennen Sie es? – Ach, Travemünde ist entzückend ... Ich möchte dies Jahr zu gern wieder hin, es hat so feines Publikum, soviel gute Hamburger und Lübecker Familien ... aber meine Eltern wollen ins Gebirge ... ins Salzkammergut, glaub’ ich ... wissen Sie da nicht irgendeinen hübschen Ort? Aber einen, wo ein bißchen was los ist?!“ Olga Radó sagte von Zeit zu Zeit: „Ja, nicht?“ – „nein!“ – „so!“ – „ach!“ – „nein!“ – Mette schwieg. An irgendeiner Ecke nahm Erika Hannemann Abschied und bog links um. Olga und Mette gingen eine Weile schweigend mit raschen Schritten nebeneinander her. Mette hätte längst abbiegen müssen, wenn sie auf dem nächsten Weg nach Hause wollte. Sie kam sich aufdringlich vor, daß sie immer noch nebenher lief, aber sie war viel zu froh, daß Erika endlich fort war – so, als sei nun die Luft reiner geworden und man könne freier ausschreiten – es war eine Freude, sich dem Takt dieser schönen und gleichmäßigen Schritte anzupassen, und sie tröstete sich damit, daß ja niemand wußte, wo sie wohnte, und daß sie ein Recht auf die Straße hatte, gerade so gut wie jeder andere auch. Mette sah jedem Haus mit einer gewissen Beklommenheit entgegen: War es nun dies oder das nächste, an dem Olga Radó stehenblieb, nach einem flüchtigen Gruß hineinging, eine schwere Tür hinter sich verschloß und die Straße sehr einsam und öde hinter sich zurückließ? Nach einem minutenlangen Schweigen sagte Olga plötzlich: „Es war nicht richtig, in Gegenwart dieser Kälber von Syphilis zu reden, gelt? – Sie werden sehr chokiert gewesen sein.“ „Ich?“ sagte Mette und bekam einen roten Kopf. „Nein, nein! Sie nicht! Sie – klein geschrieben – die Kälber.“ „Aber, gnädiges Fräulein! Machen Sie sich darüber Gedanken?“ Es schien Metten wirklich höchst lächerlich, sich über das Urteil der Kälber Gedanken zu machen. „Ja doch!“ Olga Radó wandte den Kopf und heftete die Augen einen Moment lang scharf und ernst auf ihr Gesicht. „Denken Sie, ich mache mir darüber Gedanken. So etwas kann mich direkt quälen. Ich verkehre nur mit so erwachsenen Menschen, daß ich ganz die Schätzung verloren habe, was man in einer solchen Gesellschaft sagen darf. Ich glaube, die jungen Mädchen aus guter Familie dürfen von Syphilis nicht eher etwas hören, als bis sie sie selber haben.“ Mette lachte mit geschlossenen Zähnen leise auf. „Es wäre schon zum Lachen,“ sagte Olga Radó, „wenn es nur nicht so furchtbar traurig wäre. Ich habe jetzt wieder so einen Fall erlebt. Darum komme ich mit den Gedanken nicht los davon ... Sagen Sie, war ich sehr unliebenswürdig zu dem kleinen Ekel?“ Jetzt lachte Mette hell auf. „Zu wem?“ „Ich weiß nicht, wie das heißt. Was hier neben uns herlief. Sie sind doch nicht befreundet, gell, nein? Verzeihen Sie, das war eine dumme Frage!“ Metten war, als hätte noch nie im Leben jemand ihr ein solches Lob gespendet. Sie war stolz und dankbar zu gleicher Zeit. „Ich bin mit keinem Menschen befreundet,“ sagte sie, ernster und schwerer, als es eigentlich ihre Absicht gewesen war. Nun war doch das Haus da, vor dem Olga Radó plötzlich stehenblieb. „Hier bin ich daheim,“ sagte sie, „wenn man ein Pensionszimmer ‚daheim‘ nennen darf. Aber – schließlich – was darf man so nennen? Kennen Sie die Pension Flesch?“ „Ich kenne überhaupt keine Pensionen.“ „Sie Glückliche! Sie wohnen bei Ihren Eltern!?“ „Bei meinem Vater.“ „Ach, die Pension ist ganz nett. Ich habe in schlimmeren gehaust. Kommen Sie doch gelegentlich mal hinauf zu mir und schaun’s sich meine Bude an!“ „Aber gern!“ – – – * * * * * Dies „gern“ war keine leicht hingesprochene Redensart. Mette dachte in der nächsten Zeit Tag und Nacht darüber nach, wie sie es anstellen sollte, dieser Aufforderung zu folgen und Olga Radó aufzusuchen. Sie war manchmal schon auf dem Wege, hinzugehen. Dann kehrte sie um, weil sie sich lieber vorher telephonisch anmelden wollte. Wieder schien es ihr unpassend, einen Menschen durch telephonischen Anruf zu stören. Sie wollte ihr schreiben. Aber das gab der Sache einen solchen Anstrich von Wichtigkeit und Förmlichkeit, nahm ihr alles Zufällige, Gelegentliche. Und dann – wenn sie eine höfliche Absage bekam, war ihr jede Möglichkeit genommen, einen weiteren Versuch zu machen. Wenn sie dagegen einfach hinging und sie nicht antraf, konnte sie ihre Karte mit ein paar Worten dalassen – und auf eine Nachricht warten. Sie ging – ging bis vors Haus und ging doch wieder nicht hinauf. Aber sie ging ein paarmal die Straße auf und ab und stand sehr lange und versunken vor einigen äußerst reizlosen Auslagen. Es hätte doch sein können, daß Olga Radó zufällig gerade um diese Zeit das Haus verließ, oder besser noch, heimkam, und sie aufforderte, mit hinaufzugehen. Außerdem pflegte Mette den Verkehr mit Möbiussens mit rührendem Eifer. Sie lud sie ein, sooft es Tante Emilie erlaubte, sie ging hin, sooft sie aufgefordert wurde; sie hatte zwischendurch hundertmal zu telephonieren, um irgendeine Verabredung festzustellen. Sie lieh sich Bücher aus, die sie holen und wiederbringen mußte und bemühte sich bei alledem, so liebenswürdig zu sein, daß Frau Konsul ganz entzückt von ihr war und Tante Emilien gegenüber nicht oft genug betonen konnte, wie Mette sich zu ihrem Vorteil verändere – was Tante Emilie meist mit einem stummen und fast beleidigten Achselzucken erwiderte. Das ging durch Wochen so. Aber Mette verlor die Geduld nicht. Es war genug, wenn von Zeit zu Zeit ein Wort fiel, „... wie Olga immer sagt“ oder „das hat Olga so gern“. Es war genug und fast zu viel, wenn Fanni sagte: „Gestern abend war Olga auf einen Sprung oben, ich finde, sie sieht schlecht aus!“ Oder, wenn Emmi, die sich in dieser Zeit so etwas wie eine Schwärmerei für Mette zurechtlegte, sagte: „Mette hat so wunderschöne Hände, beinah so schöne wie Olga ...“ Ach, es war genug, den kleinen schwarzen Hund auf den Knien zu halten und ihn lachend „Sophonisbe“ zu nennen. All das gab Hoffnung und Spannung für Tage. Mette fing in dieser Zeit an, das Leben schön zu finden. Aber sie wußte nicht, warum. – – – * * * * * Eines Abends – die Mädels saßen noch im Dämmer zusammen – weil es sich besser reden ließ als beim grellen Lampenlicht, und Mette ließ sich zum drittenmal die Geschichte von Max und Travemünde erzählen, und wie es „angefangen“ hatte – schrillte die Klingel, und ein paar Sekunden später klang im Nebenzimmer mit Frau Konsuls dünnem, sanftem Organ die tiefe, tönende Stimme, die Metten ein Erschrecken bis ins Herz jagte. Sie kannte diese Stimme so genau und fürchtete doch, daß sie sich täuschen könnte. Sie wollte fragen: „Ist das nicht Olga?“ und fürchtete, ein „Nein“ als Antwort zu bekommen. Und mehr als alles fürchtete sie, daß dies Gespräch nebenan verstummen könnte – daß die Türen gehen könnten und es nachher heißen würde: „Eben war Olga auf einen Moment hier“. Die Stimmen verstummten nicht. Sie wurden lauter, kamen näher, die Tür wurde rasch und weit aufgemacht, und im Rahmen stand Olgas hohe Erscheinung, abgehoben von dem gelben Licht, das das Nebenzimmer füllte, wie ein gedunkeltes Bild von goldenem Grund. „Kinder, wollt ihr morgen bei mir Tee trinken?“ rief sie in das dunkle Zimmer. „Ich habe ‚Kugler‘ geschickt bekommen.“ Die beiden Möbius-Mädchen juchten auf. Emmi rückte einen Stuhl und wollte Olga hineinziehen, aber die wehrte ab und ließ die Hand nicht von der Türklinke. „Nein, nein, Kinder, ich habe keine Minute Zeit. Aber kommt morgen zeitig, um vier, halb fünf spätestens, ich muß abends in die Oper.“ Mette rührte sich nicht. Als die Tür aufging, hatte sie ein halblautes „Guten Abend“ gesagt. Nun schien es ihr aufdringlich, sich irgendwie bemerkbar zu machen. Vielleicht hatte Olga sie in ihrer dämmerigen Ecke gar nicht gesehen. Vielleicht hatte sie sie aber auch nicht sehen wollen. Es wäre ja begreiflich gewesen. Aber irgend etwas tat weh dabei. „Wollen Sie nicht mitkommen, Fräulein Rudloff? Wenn Sie nix Besseres vorhaben – Sie sind herzlichst eingeladen ...“ „Gern!“ sagte Mette, und wurde blaß vor Freude. – – – * * * * * Am andern Tag brachte Mette so viel Zeit damit hin, sich anzuziehen und herzurichten, als ob sie zum Ball gehen wollte. Tante Emilie war für Ordnung und Sauberkeit in der Kleidung, soweit das eben zur Musterhaftigkeit gehörte, aber beileibe nicht für mehr. Ein Mensch, der mit aller Gewalt hübsch aussehen wollte, der war schon halb in den Krallen des Satans. (Ach, wie recht hatte doch Tante Emilie manchmal mit ihren Ansichten!) Mette wollte heute mit aller Gewalt hübsch aussehen. Sie schnitt und feilte und polierte eine Stunde an ihren Nägeln. Sie versuchte dreimal eine neue Haartracht. Sie überlegte, unter welchem Vorwand sie das blaue Taffetkleid anziehen sollte, es war das gute, das neue, das einzige, in dem sie, ihrer Meinung nach, erträglich aussah. Aber Tante Emilie würde es ihr ja für einen einfachen, kleinen Nachmittagstee nie gestatten. Tante Emilie ging _schon_ herum, als wollte sie durch fortdauernde Spionage die Bestätigung eines furchtbaren Verdachtes erbringen. Alle paar Minuten wurde die Tür zu Mettes Zimmer aufgerissen. „Herr Gott im Himmel! Du frisierst dich _noch_?“ Und nach fünf Minuten: „In _welcher_ Straße ist das, wo ihr nachmittag hingeht?“ Nach zwei Minuten: „... _noch_ dünnere Strümpfe konntest du wohl nicht anziehen?! Es ist heut absolut nicht so übermäßig warm. Ich weiß nicht, in _meiner_ Jugend war das überhaupt nicht Mode ...“ „Holen Möbiussens dich ab, oder holst du sie ab?“ „Ich würde mir doch an deiner Stelle eine Maniküre kommen lassen!“ „Wer ist denn da _noch_? _Bloß_ ihr drei?“ Angesichts dieser Inquisition beschloß Mette, lieber in Rock und Bluse zu gehen und des blauen Taffetkleides lieber gar nicht erst Erwähnung zu tun. – – – * * * * * Als Mette die Wohnung verlassen wollte, stand Tante Emilie mit Kapotthütchen und Regenschirm bereits an der Flurtür. Sie kam mit bis zu Möbiussens. Sie hatte schon längst die Absicht gehabt, Frau Konsul einmal aufzusuchen. Nun sei ja sehr gute Gelegenheit. Ihrer Nichte sei doch hoffentlich die Begleitung nicht unangenehm? Mette schwieg. Sie fühlte das lauernde Mißtrauen und glühte vor Zorn. Sie konnte keine liebenswürdige Antwort geben. Sie gingen wortlos nebeneinander her, und in beiden brannte der Haß mit schwelender Flamme. – – – * * * * * Mette hatte den Druck der Mißstimmung, der auf ihr lag, noch nicht abschütteln können, als sie schon längst mit den beiden schwatzenden Mädchen auf dem Weg war. Immer wieder verstärkte sich ihre Pein, wenn sie dachte: ... und ich hatte mich _so_ gefreut. Erst als sie das Haus wiedersah, als sie die Tür öffnete, die Treppen hinaufstieg, mit dem stolzen Gefühl, vollauf dazu berechtigt zu sein, da schlug die Freude wieder in ihr hoch, wie eine helle Flammenlohe durch Qualm und Rauch. Mette brannte vor Neugier, das Zimmer zu sehen. Als das zierliche Hausmädchen sie durch den Türgang führte, empfand sie ein Gefühl, dem ähnlich, mit dem sie als Kind im Theater vorm geschlossenen Vorhang gesessen hatte, wenn die Musiker anfingen, ihre Instrumente zu stimmen. Das Zimmer lag fast im Dunkel. Rolläden und Vorhänge waren so fest geschlossen, daß kaum ein Schimmer des regnerischen Tages die Fenstervierecke heller zeichnete. Direkt neben dem kleinen, niedrigen Teetisch stand eine hohe, buntbeschirmte Lampe, die ein blendendes Licht über das weiße Tuch, über das dünne, goldgeränderte Porzellan und über ein dunkelblaues, mit gelben Primeln angefülltes Jean-Beck-Glas warf. Von dem übrigen Zimmer konnte man auf den ersten Blick nicht viel erkennen. Die Möbel schienen schwer und dunkel, an einer Wand glänzten im ungewissen Licht lange Reihen von Bücherrücken, hie und da gleißte die Ecke eines Bilderrahmens auf oder ein Stückchen spiegelnden Glases. Olga empfing ihre Gäste mit einer Freude, die herzlich und aufrichtig schien. Metten erschien es unbegreiflich, daß diese Frau sich nicht in kalten Hochmut wie in einen Panzer hüllte. Die Mädchen konnten nicht aufhören, sich über die künstliche Dunkelheit zu belustigen. „Ja,“ sagte Olga, „ich wollte doch meine Bude im vorteilhaftesten Licht präsentieren. Und am vorteilhaftesten ist so wenig Licht wie möglich. Außerdem – wenn vor der entsetzlichen grauen Brandmauer da drüben noch der Regen in Strippen herunterläuft, dann ist das auch weiter kein erfreulicher Anblick. So kann man denken, da draußen liegt ein Tannenwald im Schnee, oder Terrassen, die nach dem Meer hinunterführen oder der Donau-Kai in einer Mainacht, wenn die Akazien blühen.“ Mette wurde in einen tiefen Sessel genötigt. „Ja, das müssen Sie sich schon gefallen lassen, Sie sind hier unser Ehrengast, Sie sind doch die Älteste! Jetzt sind Sie wahrscheinlich noch stolz darauf, wenn Sie erst so alt sind wie ich, dann hört es schon auf, eine Schmeichelei zu sein.“ Mette hatte sich in ihrem ganzen Leben noch nie so zu Hause gefühlt, wie in diesem Sessel. Ihr gegenüber hockte Olga auf einem niedrigen Taburett, hatte schon längst die unvermeidliche Zigarette zwischen den Fingern und hielt sie zwischen den Zähnen fest, wenn sie die Hände brauchte, um Tee einzugießen oder Kuchen herumzureichen. Sie war ersichtlich bemüht, ihre Gäste zu unterhalten, aber als Fanni und Emmi erst ins Schwatzen kamen und sich gegenseitig nicht mehr zu Wort kommen ließen, wurde sie still und hörte lächelnd zu – wie ein Erwachsener spielenden Kindern lauscht. Wenn eine Pause im Gespräch eintrat, holte sie einen Kasten mit Photographien hervor, die sie auf Reisen aufgenommen hatte, oder ein Buch mit Dulacillustrationen oder eine Zeitschrift mit den Porträts der neuesten Filmstars. In Metten wuchs schon wieder ein Gefühl der Pein auf. Sie bekam es kaum fertig, sich mit einem „Ja“ oder „Nein“ am Gespräch zu beteiligen. „Sie gibt sich so krampfhaft Mühe, uns zu unterhalten,“ dachte sie. „Und im Grunde sind wir ihr langweilig und lästig. Wenn die Tür nachher hinter uns zufällt, atmet sie auf und sagt: ‚Gott sei Dank‘! Ich kann es ihr ja auch nicht verdenken. Warum sie uns nur erst eingeladen hat!“ Sie hatte die größte Lust, zu gehen, nur um Olga Radó von diesem Besuch zu befreien. Dabei fühlte sie – wenn sie jetzt mit irgendeiner Ausrede aufbrechen wollte, und man würde sie fragen, sie bitten, die allgemeine Aufmerksamkeit würde sich auf sie lenken, dann würden ihr unhaltbar die Tränen aus den Augen stürzen, die ihr drohend und stechend hinter der Nasenwurzel saßen. Sie war fast froh und tief unglücklich, als Olga plötzlich auf die Uhr sah und sagte: „Kinder, ich muß euch hinauswerfen, so leid es mir tut. Ich muß mich umziehen, aber schleunigst – die Zeit ist so rasend schnell vergangen.“ Im tiefsten Innern litt Mette darunter, daß der ersehnte Nachmittag schon vorüber war. Aber ihre Gedanken sagten laut und deutlich: „Gott sei Dank!“ Und sie war erst recht erbittert, daß sie nun eigentlich froh sein mußte, statt unglücklich zu sein. – – – * * * * * Mette war leicht geneigt, sich zur Verantwortung zu ziehen. Sie ging am selben Abend noch scharf mit sich ins Gericht. Sie klagte sich an, dumm, faul, unwissend und ungewandt zu sein. Warum kannte sie die Bücher nicht, die Olga Radó in ihrem Besitz hatte und las und liebte? Vater hatte sie sicher alle vorn in seinem Studierzimmer, aber Mette war noch nie auf den Gedanken gekommen, sie zu lesen. Warum war es ihr nicht möglich, _einmal_ etwas Geistreiches zu sagen? Irgend etwas, das sie mit einem Schlage über das flache Gewimmel dieser Alltagsbackfische hinaushob. Olga Radó merkte sicher an einem Wort, wes Geistes Kind einer war. Vielleicht hatte sie etwas von ihr erwartet, weil sie ein bißchen anders aussah als die anderen. Mette stand prüfend vorm Spiegel. Sie war hochgewachsen, hatte eine kluge Stirn und ernste Augen. Und was war dahinter? Nichts, nichts, nichts! Mette schnitt ihrem Spiegelbild zornige Fratzen. Was hatte sie den ganzen Nachmittag geredet? „Ja,“ „nein“ und ein paar alberne Phrasen. Aber das kam davon, wenn man blind und taub durchs Leben ging. Dann wußte man selbst solche Dinge nicht, von denen die Möbius-Mädeln schwatzen konnten. Und an alledem war Tante Emilie schuld! Das schlimmste aber war – Mette drehte das Licht aus und verkroch sich unter die Bettdecke, weil das Blut ihr brennendheiß in die Stirn stieg – das schlimmste war, daß sie, als die anderen vom „Kammersänger von Wedekind“ gesprochen hatten, allen Ernstes gedacht hatte, es wäre ein adliger Hofopernsänger und gefragt: „Wie heißt er denn mit Vornamen?“ Aber das hatte Olga Radó hoffentlich nicht gehört. – – – * * * * * Eine Woche lang gab Mette ihre zwecklosen Spaziergänge auf und übte zu Hause Klavier und lernte französische Vokabeln, und wenn sie eine halbe Stunde geübt und gelernt hatte, warf sie sich auf den Diwan und starrte in das Stückchen Himmelblau, von silbrigen Telephondrähten durchschrägt, das sie von ihrem Platz aus sehen konnte. Und dann flogen ihre Gedanken – wie das herrlich wäre, alle Sprachen der Welt zu verstehen, oder ein Instrument vollkommen zu beherrschen, oder eine wundervolle Stimme zu haben, oder bezaubernd schön zu sein. Aber da man all so etwas doch nie erreichen konnte, so wäre es vielleicht am angenehmsten, tot zu sein. – – – * * * * * Dann kamen dringende Besorgungen, die einen gezwungenermaßen in die Motzstraße führten. Und wenn man an dem Haus vorüber mußte, war es natürlich, daß man ein wenig langsamer ging, zu den Fenstern hinaufsah, die Straße entlang spähte. Und wenn man in der Stadt war und nach Hause gehen wollte, konnte man genau so gut durch die Motzstraße gehen wie durch die Kleiststraße. Und wenn man ging, um ein wenig an der frischen Luft zu sein, war es das natürlichste von der Welt, daß man sich auf den Viktoria-Luise-Platz auf eine Bank setzte und den spielenden Kindern zusah. Jeden Tag stand Mette vor einem Geschäft mit Handschuhen, Bändern und Spitzen und starrte tiefsinnig auf die Auslagen – weil im Hintergrund des Glaskastens ein Spiegel war, und weil man in diesem Spiegel die Haustür gegenüber beobachten konnte. Jedesmal zuckte Mette zusammen, wenn die Haustür sich auftat. Und als einmal Olga Radó durch die Haustür trat, hätte Mette sie beinah nicht erkannt. Sie hatte einen losen Mantel an, beide Hände in den weiten Taschen vergraben und keinen Hut auf. Sie lief mehr als sie ging, zwei Häuser weiter nach dem Briefkasten und steckte einen Brief unter die Klappe. Mette ging rasch über den Damm, um ihr den Rückweg abzuschneiden. Dabei klopfte ihr Herz so, daß sie nach Atem ringen mußte. Sie faßte in flüchtigster Geschwindigkeit der Gedanken hundert Entschlüsse, die sie wieder verwarf. Sie wollte sie anreden – sie wollte mit stummem Gruß an ihr vorübergehen – aber vielleicht wurde sie gar nicht erkannt – sie wollte sie doch lieber anreden – aber wie? Als sie noch auf dem Damm war, hatte Olga sie gesehen und schwenkte ihr die Hand entgegen. „Hallo, Fräulein Mette! Wollten Sie mich besuchen?“ „Eigentlich nicht!“ sagte Mette und wurde blaß vor Aufregung. Vielleicht war es wieder eine Dummheit. Vielleicht hätte sie „ja“ sagen sollen ... „Aber uneigentlich ja“ – sagte Olga und schob ihre Hand in Mettens Arm. „Kommen Sie eine Stunde mit hinauf. Oder haben Sie etwas zu versäumen? Nein? Na also! Warten Sie – ich muß nur noch zu meinem Freund an der Ecke, mir Zigaretten holen – gehen Sie mit?“ Nie in ihrem Leben hatte Mette einen so reizenden kleinen Tabaksladen gesehen, wie dies Geschäft an der Ecke. Nie war ein Mensch so auf den ersten Blick gewinnend gewesen, wie dieses weißhaarige, schmunzelnde Männchen mit den dürren, zittrigen Händen, bei dem Olga Radó ihre Zigaretten kaufte – – – * * * * * Olga saß vor dem breiten Diplomatenschreibtisch aus schwarzgebeiztem Eichenholz im Lutherstuhl, die Beine übereinander geschlagen, ein wenig vorgebeugt, beide Ellenbogen auf den hohen Seitenlehnen. Mette saß ihr gegenüber im Sessel. Ihr war ein wenig zumute wie beim Examen. Irgend etwas in ihrem Innern straffte sich auf, biß gleichsam die Zähne zusammen und sagte: Ich will bestehen. Ich will bestehen. Eine Weile ging es ganz gut. Sie sprachen von den Möbius-Mädeln und von Erika Hannemann und Tante Konsul. Und Mette erzählte von zu Hause, von Tante Emilie und von den schönsten Tagen ihrer Kindheit – von dem Gut und dem Gartenhäuschen aus Birkenrinde und dem Brückchen aus Birkenstämmen, das über ein ganz kleines Wässerlein führte – und von den Perlhühnern, die immer auf die Veranda kamen, wenn gefrühstückt wurde ... Und dann sagte Olga plötzlich: „Sagen Sie mir bloß, wie kommen Sie eigentlich zu der Freundschaft mit meinen sogenannten Cousinen?“ „Ich weiß nicht,“ sagte Mette – „Tante Emilie ...“ „Ich will nichts gegen sie sagen,“ sagte Olga rasch, „es sind herzensgute Kinder. Aber langweilen Sie sich nicht zu Tode in diesem beständigen Verkehr?“ „Ja,“ gab Mette zu, „aber ich langweile mich eigentlich immer.“ „Hören Sie, das ist ja furchtbar!“ sagte Olga ernsthaft erschrocken. „Ich möchte lieber tot sein, als mich langweilen. Haben Sie denn keinen anderen Menschen als Fanni und Emmi und Tante Emilie?“ „Nein“ – sagte Mette zögernd. „Es liegt wohl an mir. Ich habe nie eine Freundin gefunden. Aber ich habe auch nie eine gemocht.“ „Es ist nicht leicht“ – sagte Olga nachdenklich. „An unseren besten Freunden gehen wir meist um ein paar Jahrhunderte vorüber. Von manchen wissen wir. Wenn wir von ihnen lesen oder ihre Bilder sehen. Aber das sind doch nur die wenigsten. Und von denen, die nach uns geboren werden, wissen wir gar nichts. Darum beneide ich die Schaffenden so. Sie können denen, die nach ihnen kommen, einen Gruß zuwinken. Sie können sich selbst festhalten in Worten, in Bildern, in Taten. Ja, in Taten auch. Das ist dann wie ein Schrei: So bin ich! So war ich! Habt mich lieb! Und wenn sie bei ihren Lebzeiten niemand gefunden haben, so wird vielleicht in hundert Jahren einer geboren, oder in zweihundert, der sie liebt, so wie sie geliebt sein wollten. Der sie versteht, so wie sie verstanden sein wollten. – Wir armen Hunde – wenn wir tot sind, werden wir ganz gewiß nicht mehr geliebt. Nicht in zehn Jahren mehr, ach, nicht in zehn Monaten. Ich möchte manchmal ...“ Ihre Augen standen tief dunkel und drohend unter den zusammengezogenen Brauen. Sie brach ab und setzte mit einer anderen Stimme wieder ein: „Wissen Sie, unter den Menschen der Renaissance sind sehr viel sympathische Leute. Man hätte doch wohl vier, fünf Jahrhunderte früher leben müssen. Ich wäre ganz sicher mit Margherita Sforza befreundet gewesen. Ich hab’ vorhin gerade so eine famose Geschichte von ihr gelesen, wie sie ihrem Bruder seine Besitzungen erhielt, als Julius Cäsar gegen sie abgeschickt wurde.“ In Mettens Kopf erhob sich ein Wirbel, der einem Schwindelgefühl nicht unähnlich war. Renaissance – das war ihr ein vertrauter Begriff. Mit dem Namen Sforza verband sie eine dämmernde Vorstellung. Aber – „Julius Cäsar?“ murmelte sie fassungslos. Olga lachte: „Nein, nein, nicht _der_! Julius Cäsar von Capua.“ Und dann setzte sie gleich wie begütigend hinzu: „Ein kleines, dummes Fürstchen! Sie brauchen ihn nicht zu kennen.“ „Ach,“ seufzte Mette aufrichtig, „ich kenne so viele nicht, die ich kennen müßte.“ „Na,“ sagte Olga, „es wird so schlimm nicht sein. Die Königin Johanna kennen Sie doch?“ „Welche?“ fragte Mette ratlos. „Ich kenne nur die Erzählungen der Königin von Navarra ...“ „Die kennen Sie hoffentlich nicht!“ sagte Olga belustigt. „Im übrigen war das eine Margarete. Aber die Sforza kennen Sie doch?“ Sie fragte so zart, so zuredend, als spräche sie zu einem Kinde, dem man nicht wehtun will. „Ich weiß nicht ... nein ... ja ...“ „Na, was wissen Sie von ihnen?“ „Nichts“ – sagte Mette verstört –, „nur das Bild von Rubens – das kleine Mädchen mit der Leberwurst ...“ Olga horchte einen Augenblick mit hochgezogenen Brauen, als dächte sie nach. Dann lachte sie laut und lustig, so lustig, wie Mette sie noch nie hatte lachen hören. Aber merkwürdigerweise tat diese Lustigkeit Metten nicht weh, obgleich sie sich über ihre eigene Unempfindlichkeit wunderte. Es war so hübsch, Olga Radó so herzlich lachen zu sehen. Auch dann, wenn man selber ausgelacht wurde. „Mädchen!“ rief Olga immer noch lachend. „Wie sieht das in deinem Gehirn aus! Ach! Da möcht ich einmal Ordnung schaffen!“ „Tun Sie das!“ sagte Mette glühend. „Bitte, bitte, tun Sie das!“ Olgas Gesicht wurde einen Augenblick ernst und nachdenklich. „Nein, nein,“ sagte Mette sofort erschrocken, „das war eine Unverschämtheit. Sie sind ja schließlich nicht unsere Gouvernante!“ „Kind!“ sagte Olga, und legte mit einem raschen Sichvorbeugen ihre Hand auf Mettens. „Sind Sie so empfindlich? Das galt doch gar nicht Ihnen! Wollen Sie lesen lernen bei mir? Weiter kann ich Ihnen ja auch nix beibringen! Kommen Sie, ja? Kommen Sie zu mir herauf, sooft Sie wollen, bis es Ihnen langweilig wird.“ „Nie!“ sagte Mette, als spräche sie einen heiligen Eid. „Aber wissen Sie, ehe wir uns irgendwo festhaken, müssen Sie erst mal einen Überblick haben. Sie müssen sich durch eine Weltgeschichte durcharbeiten. Soll ich Ihnen den Schlosser mitgeben? Es sind achtzehn Bände. Immer einen Band nach dem andern. Ja – Mädel, da hilft dir kein Gott! Wenn du weiter nix tust, kannst du gut hundert Seiten im Tag lesen – ach mehr – und wenn du fertig bist – alle drei, vier Tage – je nachdem – kommen Sie her und tauschen sich den Band ein und trinken hier Tee, und wir plaudern ein bissel. Gell, ja? Wollen wir’s so halten?“ So fing es an. – – – * * * * * Und so ging es eine ganze Weile. Mette las mit einem Feuereifer die Bücher, die Olga Radó ihr gab. Und wenn sie das Buch sinken ließ, mit brennendem Gesicht, dann war ihr, als ob Olga ihr gegenüber säße, und sie fing an, lange Gespräche mit ihr zu führen. Auf jeder Seite stand etwas, etwas Grauenhaftes oder Schönes, etwas Merkwürdiges oder Unverständliches, irgend etwas, was sie Olga erzählen, wonach sie Olga fragen mußte. Manchmal führte sie diese Gespräche auch in Wirklichkeit, manchmal sprach sie das aus, was sie sich in Gedanken zurechtgelegt hatte, sagte, was zu sagen sie sich vorgenommen hatte – aber nur selten. Es war das sonderbar Beglückende und Überraschende, was Mette wohl empfand, aber sich viel, viel später erst klarmachte: daß man Olga Radó nicht führen konnte. So stark waren ihre Gedanken, ihre Stimmungen, daß sie im ganzen Zimmer eine Atmosphäre schufen, in der es unmöglich schien, anderer Laune zu sein als sie. Und wer kein Gefühl dafür hatte und einen anderen Ton anschlug als den, in dem Holz und Glas und Luft und Seide leise zu schwingen schienen, der erweckte eine schreiende Dissonanz. Mette spürte das später manchesmal, wenn Fremde ins Zimmer kamen. Sie selbst rief nie, nicht in den ersten Tagen, einen Mißklang hervor, weil sie still war, weil sie sich selbst ausschaltete, um halb unbewußt und doch beinah ängstlich jede Schwingung aufzufangen, die in der Luft zitterte. Im Anfang war es halb unbewußt. Sie kam sich so bodenlos klein und dumm vor, daß sie kaum wagte, in Olgas Gegenwart einen Gedanken für sich zu haben. Später, als ihre gesunden Nerven längst fein und dünn bis zum Zerreißen ausgespannt waren, hatte sie es zu einer bewußten Meisterschaft gebracht. Sie pflegte manchmal scherzend zu sagen: „Heut mußt du in sehr schlechter Laune die Straße entlang gegangen sein. Die Häuser schneiden jetzt noch Fratzen hinter dir her!“ – – Es war das dritte- oder viertemal, daß Mette oben war. Olga lag auf dem Diwan und rauchte so ununterbrochen, daß die blauen Wolken Mühe hatten, sich zum Fenster hinauszuschieben. Mette saß im Sessel und las ihr Jean Paul vor: „Einen anderen freilich, wenigstens den Leser und mich, würde die durchsichtige Nacht, womit sich der April beschloß, die weite Stille, auf welche die Trommelstöcke schlugen, die Sehnsucht nach dem Geliebten, mit welchem der Morgen wieder das öde Herz und das zerstückte Leben ergänzte, alles dieses würde uns beide mit sanften Bebungen und Träumen erfüllt haben ...“ „Bitte, laß!“ sagte Olga gequält und preßte die Hand gegen die Schläfen. „Sei nicht böse, ich kann es heut’ nicht vertragen, sei lieb, Kind, da oben steht der Walt Whitman – im obersten Fach – weiter nach rechts – oder nein, laß – geh mal nebenan an meinen Toilettentisch, da liegt eine silberne Bürste – nein, die mit dem Stiel – die bring mal her.“ Mette brachte gehorsam die Bürste. Olga nahm sie ihr aus der Hand, ohne sich aufzurichten und schlug mit dem Rücken einen kräftigen Daktylus gegen die Wand, nach kurzer Pause noch einen und einen dritten. Mette lachte. „Muß dazu die Bürste sein?“ „Ja,“ sagte Olga. „Das ist mein Morseapparat. Nach langjähriger Erfahrung der beste. Was soll ich nehmen? Das Tintenfaß geht doch nicht gut. Ein Buch gibt keinen Schall, wär’ mir auch zu schade ...“ Währenddessen klopfte es an die Tür. „Ja, ja, ja!“ rief Olga. Die Tür wurde nur halb geöffnet, und ein blonder Männerkopf schob sich durch den Spalt. „Ah, Besuch?!“ sagte eine hohe, dünne, heisere und trotzdem nicht unangenehme Stimme. „Komm rein, Peterchen,“ sagte Olga, „es ist nur die Mette.“ Das Wort gab Metten ein großes Glücksgefühl. Es gab ihr eine gewisse Heimatsberechtigung in diesem Zimmer, wo nur _geduldet_ zu sein, schon Stolz und Freude war. Der kleine Mann, der seinen zarten und verwachsenen Körper durch die Tür schob, kannte sie, wußte ihren Vornamen, wußte, daß sie „nur“ die Mette war – das war keine Beleidigung in diesem Falle, sondern eine Erhöhung. „Nur die Mette“ – das hieß: kein Besuch, niemand Fremdes, jemand, der dazugehört, der nicht störend wirkt – es ist so gut, als ob ich allein bin. Mettens ganze Sympathien flogen dem kleinen Mann entgegen. Vielleicht, wenn es ein stattlicher, schöner Mensch gewesen wäre, hätte sie sich in einem Gefühl der Eifersucht gegen ihn gewehrt. Aber er war nichts weniger als schön, trotz seiner sanften blauen Augen und seiner feinen gepflegten Hände. Mette liebte ihn vom ersten Augenblick an, wie sie den Zigarrenhändler an der Ecke liebte, mit einer fast zärtlichen Liebe. Diese erste Begegnung war der Anfang einer treuen und langjährigen Freundschaft. Otto Petermann war im allgemeinen gewiß nicht geneigt, sich selbst oder Neigungen, die seiner Persönlichkeit galten, zu überschätzen – aber ob es nicht doch manchmal Momente gab, in denen er glaubte, Mettens Gefühle ihm gegenüber für etwas anderes als ihre Liebe für den kleinen Zigarrenhändler halten zu dürfen? „– Peterchen,“ sagte Olga, „hol’ die Geige und spiel’ uns was!“ „Ja, was?“ fragte Petermann. „Etwas Anständiges. Für das kleine Mädchen ist nichts zu schade.“ Und Petermann spielte. Spielte das, was sie beide am meisten liebten, Olga und er, und was er nicht spielen wollte und nicht spielen durfte, wenn ihn Leute hörten, für die es „zu schade“ war. Mette saß ganz still. Ihr war, als ob die Töne sie wie ein sanft flutender Strom dahintrügen, immer weiter, immer weiter, alles blieb zurück, die graue, schmutzige Stadt, ein Gemenge von keifenden und johlenden Leuten – blieb zurück, wurde kleiner, verschwand im Nebel, immer klarer wurde die Luft, immer reiner, immer tiefer das Wasser, immer lieblicher, immer freier die Ufer. Eine Insel tauchte auf, blühende Bäume ließen ihre tief herniederhängenden Zweige von den ziehenden Wellen tränken. „Das ist die selige Insel,“ dachte Mette. „Nur Könige wandeln auf dieser Insel. Nur Könige trägt unser Schiff. Aber ich werde mitgenommen. Ohne all mein Verdienst und Würdigkeit. Ich will dankbar sein. Mein ganzes Leben lang. Vielleicht werde ich über Bord geworfen, eh wir an Land gehen. Aber nun weiß ich den Weg. Dann will ich versuchen zu schwimmen oder will untergehen. Aber ich will nicht mehr zurück. Nie, nie, nie mehr zurück!“ – – – * * * * * Peterchens Geige sang noch durch die Dämmerung. An diesem Tage kam Mette das erstemal zu spät zum Abendessen nach Hause. Die lange, erregte und boshafte Rede, mit der Tante Emilie sie empfing, machte ihr den Eindruck, als ob schmutziges Wasser über sie ausgegossen würde. Sie schüttelte sich vor Ekel, aber sie empfand keinen Schmerz. – – – * * * * * Auf Olga Radós Schreibtisch stand ein schöner Kasten aus schwerem, kantigem Kristall mit einem glatten Silberdeckel. Er war fast immer leer; denn die Zigaretten wurden so schnell aufgeraucht, daß es nicht lohnte, sie aus der Originalpackung herauszunehmen. Eines Abends nahm Olga wieder einmal die letzte von fünfundzwanzig aus der Schachtel. „O weh – das ist bös – Mette, sieh mal auf dem Schreibtisch nach – da sind natürlich auch keine ... ich bin doch ein Schaf!“ „Ich spring’ schnell hinunter und hole welche!“ „Nein, laß, du sollst nicht darum die Treppen laufen – wart’, gib mir einmal die Handtasche ’rüber. In meinem Etui müssen noch welche sein!“ Olga lag wieder auf dem Diwan, richtete sich halb auf, kramte Schlüssel, Taschentücher, Briefe aus der Tasche heraus und öffnete schließlich das Etui. „Hurra! _Dieu soit loué!_ Bei weiser Einteilung können wir durchhalten bis morgen früh! Magst du?!“ Sie reichte das offene Etui hinüber. „Nein,“ sagte Mette, „ich verzichte liebend gern, sonst reichen sie am Ende doch nicht bis morgen.“ „Engel!“ sagte Olga und drückte das Schloß zu. „Mein einziger Trost ist, daß du dir nicht allzuviel daraus machst.“ „Darf ich einmal das Etui sehen?“ fragte Mette. „Da, mein Engel!“ Olga gab es ihr. „Ist es nicht schön?“ Mette drehte das glatte, spiegelnde Gold in behutsamen Händen. „Es ist unglaublich schön. Ich mag auch die breite, niedrige Fasson so schrecklich gern. Aber was soll der Krebs? Ist das ein Wappentier?“ „Mein Wappen!“ lachte Olga. „Das Wappen meiner Familie. Es bedeutet, daß es mit uns den Krebsgang geht.“ „Nein ...“ sagte Mette zögernd und wurde rot. „Nein? Woher weißt du? Aber nebenbei ist es leider kein so nützliches und angenehmes Tier. Es soll ein Skorpion sein.“ „Pfui!“ sagte Mette. „Und warum so ein Ungeheuer? Aus einer besonderen Vorliebe heraus?“ Sie vermied es, wo sie nur konnte, eine direkte Anrede zu gebrauchen. „Ja,“ sagte Olga. „Man hat dies Etui einmal für mich machen lassen, weil ich gesagt habe, der Skorpion ist das anständigste Tier von der Welt. Er ist mein Lieblingstier.“ „Das ist nicht Ihr Ernst!“ rief Mette erschrocken. „Doch, Fräulein Rudloff. Im übrigen möchte ich nur bemerken, daß das Dienstbotenniveau ist, sich von einem Menschen Du nennen zu lassen, ohne ihm ebenso zu erwidern.“ „Aber Sie sagen zu allen Menschen du,“ sagte Mette verlegen. „Ja, und ich unterscheide die Leute danach, ob sie sich das gefallen lassen und mich weiter begnädigen, oder ob sie selbstverständlich darauf eingehen. Wenn du denkst, ich mache deinetwegen eine offizielle Angelegenheit daraus mit Anstoßen und Bruderkuß, dann irrst du dich. Wenn du noch ein einziges Mal Sie sagst, muß ich annehmen, daß dir diese Familiarität lästig ist, und dann bleibt mir nichts übrig, als dich gnädiges Fräulein zu nennen oder dir einen harten Gegenstand an den Kopf zu werfen. Es ist nebenbei doch mein Ernst – mit dem Skorpion. Weißt du nicht, daß er der einzige Selbstmörder unter den Tieren ist? Er _läßt_ sich nicht von menschlicher Neugier und Grausamkeit langsam zu Tode quälen. Er kämpft wie ein Wahnsinniger – und wenn er weiß, daß keine Rettung mehr ist, bringt er sich um. Ist das nicht fabelhaft?“ Olga hatte sich aufgerichtet. Ihre Augen sahen groß und dunkel an Metten vorüber. Auf ihrem schönen, blassen Gesicht lag ein seltsamer, schmerzlich-heroischer Ausdruck. Mette erschrak. „Und du?!“ sagte sie und faßte mit einer unwillkürlichen Bewegung nach Olgas Hand. „Hast du es darum zu deinem Wappentier gemacht?“ Olga lächelte ein weiches, gutes Lächeln. „Schäfchen,“ sagte sie, „das hat einen ganz anderen Zusammenhang. Ich sollte ein Skorpion sein, weil ich einen giftigen Stachel hätte. Weil ‚mein Witz Skorpionstich‘ wäre. Ein Mensch, der mich liebte, hat das einmal behauptet. Und hat behauptet, wenn ich in die Enge getrieben würde, richtete ich den Giftstachel gegen mich selber und zerfleischte mich. Ich weiß nicht, ob das wahr ist. Es macht mir im Grunde keinen Spaß, über mich nachzudenken. Aber dieser Mensch sah mich so. Und darum ließ er mir das Etui machen. Schau“ – sie machte es auf. Die kleinen Rubinen, aus denen der Skorpion geformt war, waren _à jour_ gefaßt. Die Zeichnung war auch auf der Innenseite deutlich. Und direkt darunter war der Namenszug eingraviert: Olga Radó. Mette schalt sich selber töricht, aber sie konnte es nicht hindern: Ihr Herz war zum Springen voll von einer brennenden Eifersucht gegen diesen fremden Menschen, der Olga Radó liebte und ihr goldene Zigarettenetuis schenkte. „Eine schöne Handschrift!“ sagte sie gedankenlos. „Es ist nicht meine,“ sagte Olga. Sie schloß langsam das Etui und legte die glatte Fläche mit einer weichen Geste an die Wange. „Es ist so schön. Ich liebe es so. Und ich bin so froh, daß ich es lieben kann ... Es war ein Abschiedsgeschenk ... und es war ein so schöner Abschied.“ In Metten regte sich qualvoller Widerspruch. „Ein schöner Abschied!“ sagtet sie bitter. „Gibt es so etwas auch?“ Olga richtete sich hastig auf. „Ja, Mette,“ sagte sie voll Eifer. „Und es sollte es noch viel, viel öfter geben. Es ist ein Unglück, daß die Leute nicht verstehen, auseinanderzugehen. Lern’ es, Mette, lern’ es beizeiten.“ „Nein,“ sagte Mette verstockt, „ich werd’ es wohl niemals lernen. Leute, denen die Liebe nur ein Spiel ist, die können sich auch aus dem Abschied ein Spiel machen.“ „Mette,“ sagte Olga ernst, „du bist ein Kindskopf. Glaubst du, daß das ein Beweis großer Liebe ist, wenn ich mich an einen Menschen klammere, bis er meiner überdrüssig ist? Ich will lieber zehntausend Tode sterben, als einem Menschen lästig sein, den ich liebe. Es ist keine Kunst, einen Anfang zu finden. Ich glaube, daß jeder Mensch jeden Menschen erobern kann. Und immer wird der Anfang schön sein. Und immer das Ende scheußlich, bitter, qualvoll, ekelhaft. Es ist eine schwere Kunst, ein Ende zu machen. Zur rechten Zeit. Und auf die rechte Art. Lern’ es, Mette, lern’ es beizeiten!“ – – – * * * * * Die drei saßen zusammen: Peterchen, Mette und Olga. „Ich begreife dich nicht,“ sagte Peterchen mit seiner leisen, gebrochenen Stimme, „ich begreife dich nicht, Olga, daß du die Bettine nicht lieben kannst. Ich dachte _gerade_, das müßte ein Mensch für dich sein. Ein Mensch von so reicher Begabung, von fast unheimlicher Phantasie, von beinah wildem Temperament, dabei solche Anmut, solche Zartheit der Empfindung. Wenn man von der Frau weiter nichts wüßte, als die Geschichte ihrer Verheiratung, müßte sie einem doch schon sympathisch sein.“ „Ja,“ sagte Olga, „dann ja! Aber man weiß eben zu viel von ihr. Oh, sie ist so aufdringlich und so verlogen, so gemacht genialisch, so mit Koketterie unbändig, mit Vorsatz leidenschaftlich. Nichts auf der Welt ist mir so verhaßt. Denk dir – so sehr ich Klemens liebe – wenn ich manchmal glaube, die Verwandtschaft zu spüren, mag ich ihn nicht. Und dann – du weißt ja – verzeih ich ihm auch seine unglückliche Liebe zu Mariannen nicht.“ „Richtig, die kannst du ja auch nicht leiden!“ „Kann ich auch nicht, Peterchen, und wenn du mir den Kopf abreißt. Ich weiß nicht, woran es liegt. Irgend etwas an ihr macht auf mich immer den Eindruck von ‚Biederkeit‘. Und du weißt, das ist eine Eigenschaft, die ich in den Tod nicht ausstehen kann. Schon diese ewige Alte-Herren-Liebe. Nein, nein, geh mir mit ihr, ich mag sie nicht.“ „Olga, wie kannst du über diese Frau so leichtfertig urteilen?“ „_Diese_ Frau! Sag’ nur noch, diese vortreffliche Frau. Mit _dem_ Wort kannst du sie mir ganz gewiß verekeln. Und es paßt eben leider ein bißchen auf sie. Herrgott! Man kann doch seine Gefühle nicht zwingen. Sie hätte mich wahrscheinlich auch nicht leiden können. Und das fühl’ ich so.“ „Aber Bettine hätte dich wahrscheinlich glühend geliebt.“ „Vielleicht! Aber daß ich Bettinen so hasse, das hat ja auch noch eine besondere Bewandtnis.“ „Du bist eifersüchtig auf sie!“ sagte Petermann sehr leise. Olga fuhr mit einer fast heftigen Bewegung herum. Ihre Augen flackerten in dem weißen Gesicht. „Ja, ich bin auch eifersüchtig auf sie!“ „Wegen der Günderode!“ „Wegen der Günderode.“ – Petermann wurde ans Telephon gerufen. Es war so still im Zimmer, daß Mette eine ganze Weile nicht zu sprechen wagte. „Merkwürdig seid ihr,“ sagte sie endlich gepreßt, „wie ihr von diesen Leuten redet – als wären sie euer täglicher Umgang.“ „Das sind sie doch auch,“ sagte Olga fast verwundert. „Das ist doch die einzige Lebensmöglichkeit. Meinst du, ich möchte leben, wenn ich nur Verkehr mit den Menschen hätte, mit denen du mich so zurzeit verkehren siehst? Weißt du – es ist auch die einzige Art zu lesen, ich meine, wenn du zum erstenmal einen Briefwechsel oder einen Memoirenband vornimmst – einen, wo nicht hohe geistige Probleme behandelt werden, dann ist einem doch zumut, als wenn man in einer fremden Gesellschaft sitzt. Die Leute klatschen miteinander und erzählen sich was von Herrn Müller und Frau Schultze, und man sitzt dabei und langweilt sich zu Tode. Wenn man aber Herrn Müller und Frau Schultze _kennt_, ist’s schon wesentlich amüsanter. Und wenn man in einen _verliebt_ ist und wartet dann mit klopfendem Herzen, ob vielleicht sein Name genannt wird, und was nun der oder der über ihn sagen wird, dann wird’s spannend und aufregend. Peterchen versteht mich so darin. Er ist überhaupt ein feiner kleiner Kerl. Findest du nicht?“ „Ja,“ sagte Mette gleichgültig. „Er ist sehr nett.“ Olga lächelte. „Er ist direkt verliebt in Bettinen und begreift mich nicht.“ „Aber du,“ sagte Mette leise, fast widerwillig, „du liebst die Günderode.“ „Ja,“ sagte Olga mit großen, seltsam glänzenden Augen, „oh, ich liebe sie so! Du glaubst nicht, was ich für Qualen ihretwegen ausgestanden habe. Und ich konnte nichts tun für sie! Vielleicht hat sie Sehnsucht nach Ruhm gehabt – nach äußerlicher Unsterblichkeit – und sie ist so vergessen. Wer weiß denn von ihr? Ich habe mir so gewünscht, etwas Unerhörtes leisten zu können, um sie zu verewigen. Ich wollte Michelangelo sein oder Dante oder Homer – um ihr ein Denkmal zu setzen, und um unsere Namen für tausend Jahre unauflöslich miteinander zu verknüpfen. Oh, es war eine Zeitlang wie eine Krankheit in mir. Es marterte mich einfach, daß ich diese lumpigen hundert Jahre, die uns trennten, nicht überspringen konnte. Weißt du – so muß einem Gelähmten sein, oder einem Gefesselten, der im Nebenzimmer eine Stimme hört, die ihn in allen Nerven erzittern macht, und er kann sich nicht rühren. Manchmal hab’ ich gedacht, man muß es können. Man muß nur wollen. – Ich weiß noch, daß ich eine Nacht auf dem Balkon lag im Liegestuhl und zum Antares hinaufstarrte. Da war es mir wieder, als riefe sie mich. Ich wollte aus meinem Körper hinaussteigen, ich wollte. Und denke dir, ich hatte das Gefühl, als ob es mir gelänge. Ich schwebte über mir. Mein Körper war eiskalt, ich hätte kein Glied rühren können, und da faßte mich plötzlich eine rasende Angst. Ich wußte, ich würde mich verfliegen und nie mehr, nie mehr zurück können. Da kroch ich wieder in mich hinein und trieb mein Herz an und erwärmte mich durch meinen Willen, und nachher schalt ich mich feige und erbärmlich. – Es muß seltsam sein, wenn uns einmal diese Fesseln abgenommen werden. Manchmal freue ich mich direkt darauf.“ „Alles deswegen,“ sagte Mette ein wenig bitter. „So hast du sie geliebt?“ „Ja,“ sagte Olga, „jetzt ist es nicht mehr so schlimm. Ich hätte doch früher zu keinem anderen Menschen davon reden können. Ich habe Bettinens Bücher versteckt, damit kein Mensch sie bei mir findet. Ich wurde rot und blaß, wenn jemand ihren Namen nannte, oder mir etwas sagte, was mich an sie erinnerte. Du mußt nicht denken, daß ich jetzt darüber lache. Mein Gefühl ist genau dasselbe, ich fühle mich ihr so absolut verbunden – aber ich gehöre ihr nicht so ausschließlich, wie in der ersten Zeit, als ich sie fand.“ Sie schwiegen beide. Stille Dämmerung senkte sich langsam. „Ich habe nie ein Bild von ihr gesehen,“ sagte Olga. „Ich weiß auch gar nicht, ob es Bilder von ihr gibt. Ich möchte auch keins sehen. Ich habe eine so deutliche Vorstellung von ihr. Ich glaube, wenn ich ein Bild sähe, würde ich erschrecken. Ich würde sicher namenlos enttäuscht sein. Ich habe direkt Angst davor, einmal ganz unerwartet ein Bild von ihr zu finden.“ „Ich wollte, ich fände eins,“ sagte Mette, ohne Olga anzusehen, „ein recht häßliches!“ „Pfui!“ sagte Olga mit ihrer tiefen Stimmen. Kein Wort weiter. In Mette kämpften Scham und Schmerz. Sie haßte sich selbst. Sie kam sich vor wie ein ungezogenes Kind, dem man ein wunderfeines Gebilde aus venezianischem Glas zeigt, und das aus Bosheit und Rohheit mit dem Stock nach der Herrlichkeit schlägt. Aber zugleich regte sich ein dumpfer Trotz in ihr: warum quält sie mich? Ich will mich nicht quälen lassen! Sie hatte das Gefühl, daß sie um Verzeihung bitten müsse. Aber das konnte sie nicht. Wenn sie jetzt ging, dann würde Olga sie nie wieder rufen. Und ungerufen durfte sie nie mehr kommen. Sie würde nie mehr in diesem Sessel sitzen. Sie würde nie mehr den Duft von Lavendel und Zigaretten in diesem Zimmer atmen. Sie würde nie mehr diese Stimme hören. Das Schweigen dauerte so unheimlich lange. Ja, sie mußte nun wohl eigentlich aufstehen und gehen. Aber es war, als ob der Stuhl sie festhielte, oder die graue Wand drüben, an der ihre Augen hingen. Sie fühlte, im Moment, da sie aufstehen wollte, würden ihr die Tränen aus den Augen stürzen. Das durfte nicht sein. Sie bemühte sich, an irgend etwas anderes zu denken – an etwas ganz Fernliegendes. Nächste Woche wollte sie ins Theater gehen. Darauf hatte sie sich gefreut. Eigentlich war bei jedem Theater- oder Konzertbesuch doch das hübscheste, nachher hier zu sitzen und über das Gehörte und Gesehene zu sprechen. Das würde nun nicht sein. Nächste Woche nicht. Vielleicht nie wieder. Die Stille im Zimmer war atemraubend. Wenn Olga nur reden wollte. Irgend etwas, sie ausschelten, sie demütigen. Es war so grausam von ihr, zu schweigen. Mette machte den Versuch, aufzustehen. Sie machte eine Bewegung, die unsichtbar blieb, aber die sie inwendig in allen Muskeln spürte. Zugleich aber konnten die mühsam aufgehaltenen Lider das unaufhörlich quellende Wasser nicht mehr zurückdrängen, sie zitterten, schlossen sich, und die schweren Tropfen stürzten nieder. Mette schämte sich maßlos. Irgend etwas in ihr kroch ganz in sich zusammen. Sie hätte sich so gern äußerlich auch zusammengezogen, sich geduckt, das Gesicht versteckt. Aber sie wagte nicht, sich zu rühren. Sie wollte nicht durch eine Bewegung Aufmerksamkeit erregen. Vielleicht war Olga mit ihren Gedanken weit fort und achtete nicht auf sie. Die Tränen fielen ihr auf die Hände. Sie wagte nicht, sie abzutrocknen. Plötzlich schreckte sie zusammen. Sie hörte den Diwan knarren, ein leises Rauschen der Röcke. Olga war aufgestanden. Jetzt sagte eine unendlich weiche, leise Stimme neben ihr: „Mette, Kind! Warum weinst du eigentlich?“ Mette sah nicht auf, sondern senkte den Kopf noch tiefer. Da kniete Olga mit einer raschen Bewegung nieder, wie man vor einem weinenden Kinde kniet und versuchte von unten herauf ihr ins Gesicht zu sehen. „Warum weinst du eigentlich?“ Mette sah das schöne Gesicht vor sich durch einen Schleier von stürzendem Wasser. Sie lächelte. „Ich weiß nicht!“ sagte sie. Sie sah auf die weiße schlanke Hand, die auf ihren Knien lag, ihre beiden gefalteten Hände fest überspannend. Sie neigte sich langsam auf diese Hand und preßte den Mund, die heißen, tränenfeuchten Wangen dagegen. „Kind!“ sagte Olga beinah ungeduldig und versuchte mit der anderen Hand ihr die Stirn zu heben. „Wenn ich nur wüßte, warum du weinst!“ Mette schreckte vor diesem Ton zurück. Sie hob den Kopf und starrte wieder auf die graue Mauer jenseits des Hofes. Olga war aufgestanden. Ihre Hand lag immer noch auf Mettens Kopf. Die kühle, glatte Handfläche preßte sich fest und beinah schwer auf ihre Stirn und ihr Haar. Mette empfand diesen Druck als etwas unendlich Wohltuendes. So, als müßte sie zerspringen, wenn diese kräftige Hand aufhören würde, sie zu halten. „Ich weiß doch nicht,“ sagte sie leise, „ich möchte auch seit hundert Jahren tot sein. Vielleicht würdest du mich dann auch lieben.“ Da riß Olga Radó mit einer jähen Bewegung Mettens Kopf an ihre Schulter und preßte die Lippen hart und fast gewaltsam auf ihre Stirn. „Und so? Und jetzt?“ fragte sie kurz. In ihrer tiefen Stimme war ein seltsam vibrierender Klang, wie von mühsam gebändigtem Groll. Mette fühlte bis in die Schläfen, bis in die Fingerspitzen das rasende Hämmern eines Herzschlags. Aber sie wußte nicht, wessen Herz so schlug. Sie hatte das Gefühl, daß es nun ihre Pflicht sei, etwas unendlich Großes zu tun. Ihr war, als müsse Olga Radó jetzt in überirdischer Größe vor ihr aufstehen und eine ungeheure Tat von ihr verlangen. Mette fühlte sich heilig entschlossen, auf ein einziges Wort hin aus dem Fenster zu springen oder sich die Brust mit einem Dolch aufzureißen und ihr zuckendes Herz in beide Hände zu nehmen. Olga Radó verlangte nichts von alledem. Sie ließ sie plötzlich los und trat aus Fenster. Sie legte die Finger um den Fensterriegel und die Stirn gegen die Scheibe. Und so, ohne sich umzuwenden, ohne den Kopf zu drehen, sagte sie nach einer Weile in einem seltsam ruhigen, ja sachlichen Ton: „Geh nach Hause, Kind!“ „Warum?“ fragte Mette erschrocken. Sie stand auf, die Füße zitterten unter ihr. Das beklemmende Gefühl von etwas Rätselhaftem, Unheimlichem legte sich ihr schwer auf die Brust. Warum wurde sie fortgeschickt? Was hatte sie begangen? Sie wollte irgendeine Erklärung haben. Sie wollte die Hände auf Olgas Schultern legen und wollte sie mit Gewalt herumreißen und auf ihrem Gesicht nach einer Antwort suchen. „Ich habe ein Recht dazu“ – dachte sie mit aufsteigendem Zorn – „wahrhaftig, ich habe ein Recht dazu“. Wie sie den ersten Schritt nach dem Fenster zu machte, fuhr Olga mit einer heftigen Bewegung herum. Sie kreuzte die Arme über der Brust und umklammerte mit gespreizten Fingern die Ellbogen. In dem weißen Gesicht flackerten die Augen tiefdunkel und drohend. „Du sollst nach Hause gehen,“ sagte sie mit so gezwungener Ruhe, als bändige sie mühsam eine maßlose Wut. „Kannst du nicht hören? Bin ich nicht Herr mehr in meiner eigenen Wohnung? Nimm deinen Hut und geh. Geh, geh, geh, geh!“ Der aufflammende Zorn in Mette war erloschen. Nur noch Angst war in ihr und eine tiefe, tiefe Traurigkeit. Irgend etwas wollte sie wie mit Peitschenhieben zu Olga hintreiben. Sie wollte vor ihr auf die Erde fallen, sie wollte ihre Knie umklammern, sie wollte sie anflehen: „Weine doch, schreie, schlag’ mich, aber tu dir nicht so Gewalt an – sag mir, was du hast – ich will sterben für dich, aber schick mich nicht fort, wenn du leidest!“ Sie stand und rührte sich nicht. „Geh, geh, geh!“ sagte Olga. Da griff Mette Rudloff nach ihrem Hut und ging. Sie mühte sich, gerade und aufrecht zu gehen. Sie taumelte ein wenig, als sie die Tür hinter sich ins Schloß zog und mußte sich gegen die Wand lehnen. Sie stützte sich mit ihrer ganzen Schwere gegen das Geländer, weil die Treppe unter ihr wie ein rasender Strudel kreiste. Aber sie ging. – – – * * * * * Eine Handvoll Tage verlebte Mette in stumpfer Qual. Im dämmernden Erwachen fiel ihr ein, daß sie heute nicht den Weg nach der Motzstraße nehmen dürfe. Heute nicht, morgen nicht, vielleicht nie mehr. Sie war verbannt, verstoßen, ausgeschlossen von allen Freuden des Lebens. Lang, grau und öde dehnte sich der Tag vor ihr. Bleischwere Müdigkeit lag ihr in allen Gliedern. Wenn die Telephonklingel schrillte, fuhr sie mit rasendem Herzschlagen auf, wie aus tiefer Lethargie. Aber niemals galt es ihr. Es war schlechtes Wetter in diesen Tagen, kühl und regnerisch. In einer Sonntagnacht fegte der Wind den Himmel blank von Wolken und die Straßen trocken. Am Morgen funkelte ein blauer Sommerhimmel über der Stadt. Die Sonnenstrahlen, die auf einer Kante des Schrankspiegels tanzten, weckten Mette. Sie fühlte sich beim Erwachen so befreit, so voll unbändiger Lebenskraft, als sei mit einem Schlage alles Trübe hell, alles Schwere leicht geworden. Sie fühlte sich fähig, den Kampf mit allen Hemmungen und Hindernissen aufzunehmen. Ja, es schienen ihr gar keine Hemmungen und Hindernisse mehr vorhanden. Sie würde heut’ die Bücher hintragen, die sie von Olga Radó geliehen hatte. Und dann würde sie sie zur Rede stellen. Sie ganz frank und heiter fragen, was ihr eigentlich eingefallen wäre. Und ob sie die Absicht hätte, sie wieder hinauszuwerfen – dann solle sie diese Absicht nur ruhig aussprechen ... Aber sie würde es nicht tun. Es war eine Laune gewesen, eine Gereiztheit – aber im Grunde doch gar keine ernstliche Verstimmung, kein Streit zwischen ihnen. Und wenn sie irgend etwas begangen hatte in Olgas Augen, so wollte sie Aufklärung haben, und dann wollte sie – ach was, ihretwegen ja! – dann wollte sie sogar um Verzeihung bitten. Mette pfiff und summte vor sich hin, während sie sich anzog und ihr Haar aufsteckte. – – – * * * * * Als sie klingelte, schlug das dumme Herz wieder so atemraubend. Dass kam vom raschen Treppensteigen. Erna machte ihr auf. Mette war nicht mehr gewohnt, sich melden zu lassen. Sehr oft wußten die Mädchen gar nicht, ob die Gäste der Pension zu Hause waren. Sie wollte mit einem: „Guten Morgen, Erna!“ vorüber. Das Mädchen machte ein erstauntes Gesicht. „Fräulein Radó ist doch verreist,“ sagte sie zögernd. „Weiß das gnädiges Fräulein gar nicht?“ Im ersten Augenblick war die Scham dieses Nichtwissens in Metten größer als das Erschrecken. Sie fühlte sich vor dem Mädchen in lächerlichster Weise bloßgestellt. „Doch, doch,“ sagte sie hastig. „Ich wollte nur die Bücher ins Zimmer legen. Aber ich kann sie ja auch Ihnen geben. Sie sind so gut, Fräulein Erna, und tragen sie hinein. Dann brauch’ ich mich gar nicht damit aufzuhalten. Ich hab’s sehr eilig. Auf Wiederschauen!“ Die erste Treppe sprang sie hinunter, damit das Mädchen ihre Hast hören sollte. Erst als die Tür oben längst ins Schloß gefallen war, ging sie langsamer. Olga war fort. Ohne ihr ein Wort zu sagen, ohne sie noch einmal anzurufen, ohne ihr eine Zeile zu schreiben, ohne dem Mädchen eine Nachricht für sie zu hinterlassen. Sie war fort. Ohne zu sagen, wohin. Ohne zu sagen, auf wie lange. Mette senkte den Kopf sehr tief auf die Brust und ging ganz langsam, Stufe für Stufe. – – – * * * * * Einige Tage später hörte Mette das Telephon schrillen und das Mädchen im eiligen Trab den langen Türgang entlanglaufen. Mette macht ihre Zimmertür auf. „Für mich, Hedwig?“ „Ja, für Fräulein – ein Herr wünscht Fräulein zu sprechen – ein Herr Petersen oder Petermann, ich hab’ nicht ganz verstanden.“ Auf dem runden Gesicht des Mädchens stand unverhohlene Verwunderung. Es war das erstemal, daß eine Männerstimme das gnädige Fräulein verlangte. „Peterchen!“ rief Mette erregt in den Trichter, ohne die geringste Rücksicht darauf, daß Tante Emilie im Nebenzimmer saß. „Ja, hier ist Mette. Was ist los? Es ist doch nichts passiert?“ „Nein, nein, bewahre. Ich soll Ihnen nur einen schönen Gruß bestellen, ich habe heut’ eine Karte bekommen.“ „Woher denn?“ – „Von wem?“ brauchte sie nicht zu fragen. „Aus Kissingen. Ich mußte mir erst Ihre Adresse im Buch suchen. Ich wußte keine Telephonnummer, keine Straße, eigentlich ja nicht einmal Ihren Namen genau ...“ „Ach Gott, Sie Ärmster, kann ich Sie nicht einmal sehen, oder haben Sie keine Zeit für mich?“ „Aber natürlich, aber gerne ...“ „Wollen wir eine Stunde zusammen spazieren gehen? Ja? Bitte, bitte! Heute noch, wenn’s geht! Gleich? Ja? Herrlich! Und Sie bringen mir die Karte mit!“ – – – * * * * * Sie trafen sich. Nach zwei Worten der Begrüßung fragte Mette: „Haben Sie die Karte? Bitte, bitte, zeigen Sie!“ Neben der Adresse stand in einer festen, mühsam zusammengezwängten Schrift: „Bitte, Peterchen, sei so gut und gib die Bücher aus der Kgl. Bibl. zurück. Eins liegt auf meinem Schreibtisch, zwei stehen auf dem Regal links vom Fenster, 3. Fach v. o. ganz rechts. Und nimm meine Araukarie zu Dir hinüber, bei mir vergessen die Frauenzimmer sie doch, und ich möchte nicht, daß sie verkommt.“ Auf der anderen Seite war in den Himmel der Landschaft hineingeschrieben: „Klingele, bitte, das Mädelchen an und grüße sie von mir. Die Nummer mußt Du Dir im Buch suchen. Sie soll mir nicht böse sein. Euch allen alles Gute. O. R.“ Hunderte und Tausende von Ansichtskarten waren in Mettens Leben schon durch ihre Hände gegangen, und es war das erstemal, daß ihr der Gedanke kam: „Was ist das eigentlich für eine wunderhübsche Erfindung, daß man gleich ein Bild des Ortes schicken kann, wo man sich aufhält. So sieht es also da aus, wo Olga Radó jetzt ist. Diese Häuser sieht sie Tag für Tag, unter diesen Bäumen geht sie spazieren, diese Berge grüßen sie – jeden Morgen, jeden Abend – wirklich eine wunderhübsche Erfindung.“ Sie hätte die Karte gern behalten. Aber sie hatte den Mut nicht, Petermann darum zu bitten. – – – * * * * * „Es ging so schnell“ – sagte sie – „mit dieser Abreise.“ Es widerstrebte ihr, davon zu sprechen, daß sie nichts gewußt, nichts geahnt hatte. Es widerstrebte ihr auch, direkte Fragen an ihn zu richten. Halb unbewußt sprach sie in Worten, die alles unentschieden ließen, so gleichsam erst sondierend. „Ja,“ sagte Peterchen, „ganz merkwürdig schnell. Am Dienstag waren wir doch noch da – richtig, da saßen wir ja noch zusammen. Am Dienstagabend kommt Olga zu mir herüber: ‚Gib mir dein Kursbuch!‘ Und immer in dem Kursbuch hin und her geblättert und mich gefragt: ‚Kennst du den Schwarzwald – ist es schön da? – Was meinst du – soll ich an die Nordsee fahren?‘ Und so, wie es gar nicht ihre Art war – so unentschlossen – ich möchte beinah sagen: so ratlos ... und am Mittwoch wurden die Koffer gepackt und Mittwoch abend fuhr sie ab – sagte keinem Menschen wohin – mir nicht und Frau Flesch nicht. Ihnen ja auch nicht, nicht wahr? – Ich hatte ja eigentlich erst den Verdacht – den Gedanken, wollt’ ich sagen, die Idee,“ – Peterchen zögerte, und sein blasses Gesicht überflog eine leichte Röte – „Sie beide wären zusammen weggefahren.“ Mette antwortete nicht. Sie dachte nicht einen Augenblick daran, ob ihr tiefes Stillschweigen vielleicht einen verwunderlichen Eindruck machen könnte. Das Wort hatte wie ein erhellender Blitz in sie eingeschlagen, und nun stand sie in Flammen. Reisen! Mit Olga reisen! Der Gedanke an diese Möglichkeit hatte etwas unwahrscheinlich Beglückendes. Einige Sekunden durchlebte sie in ihrer Vorstellung das, was hätte sein können. Wenn sie am Dienstag zusammen diesen Entschluß gefaßt hätten! Wenn sie auch am Mittwoch ihren Koffer gepackt hätte! Sie fühlte sich neben Olga im Zug sitzen und hinausfahren in den warmen, blauen Sommerabend, in dem hier und da die ersten Lichter aufflammten. Sie sah sich in einem dieser weißen Häuser, auf der Terrasse, an einem gedeckten, blumengeschmückten Tisch, Olga gegenüber. Sie wanderte mit Olga diesen Bergen entgegen, deren schön geschwungene Linien verlockend auf dem blauen Himmel sich zeichneten. Jäh und schmerzlich kam es ihr zum Bewußtsein: Das war ein törichter, unerfüllter, vielleicht ewig unerfüllbarer Traum. Die Wirklichkeit war, daß sie hier war – allein – und daß Olga fort war – auch allein? Mit wem? Nichts in der Welt hatte ihr ein Recht gegeben, auch nur danach zu fragen. – – – * * * * * In diesen Wochen war es Mettens einzige Freude, mit Peterchen spazieren gehen. Sie machten Ausflüge miteinander, fuhren nach Wannsee, nach dem Grunewald, lagen halbe Tage am Wasser oder nahmen sich ein Ruderboot, tranken Kaffee in irgendeiner versteckten Gartenwirtschaft und sprachen von Büchern, von fremden Städten und fernen Bergen, von Tieren und Pflanzen, von längst verstorbenen Menschen – und von Olga. Manchmal, wenn sie zusammen waren, schrieben sie an Olga, schickten ihr eine Ansichtskarte oder machten ihr lange Gedichte in Knittelversen, und hin und wieder kam eine flüchtige Antwort von ihr und einmal die Nachricht, daß sie in drei Wochen wiederzukommen gedächte. Mette war ruhig und glücklich in dieser Zeit. Das Zusammensein mit Peterchen tat ihr wohl. – Wenn sie zu Hause war, so las und lernte sie nach seiner Anleitung und zählte die Tage bis zu Olgas Rückkehr. Sie hatte sich ein ganzes Verzeichnis gemacht von Büchern, die sie bis dahin gelesen, von Arbeiten, die sie bis dahin erledigt haben wollte. Sie wollte überraschen durch all die Kenntnisse, die sie in der Zwischenzeit erworben hatte, und mühte sich mit brennendem Eifer. Es wäre alles schön und gut gegangen, wenn Tante Emilie nicht gewesen wäre. Tante Emilie beobachtete und schwieg und speicherte Gift und Galle in sich auf. Und eines Tages brach es aus. Es war nach Tisch. Mette wollte mit einem kurzen „Mahlzeit“ aufstehen und sich aus ihrem Zimmer den Hut holen. Tante Emilie, die während des Essens schon in Positur gesessen hatte, fegte mit zierlichen Fingern ein paar Krümchen auf dem Tischtuch zusammen, und auf Mettens „Mahlzeit“ hin räusperte sie sich kurz und scharf und sagte betont: „Vielleicht hast du die Güte, sitzen zu bleiben, bis _ich_ vom Tisch aufstehe.“ Geduldig und gelangweilt setzte Mette sich wieder hin. Sie wußte nicht, daß es die Vorrede zu größeren Dingen sein sollte. Sie nahm es für eine der täglichen kleinen Schikanen, die einen am wenigsten Zeit und Kraft kosteten, wenn man sie mit größter Gelassenheit hinnahm. Mette warf einen heimlichen Blick nach der Uhr. „Sie wird jetzt natürlich noch fünf Minuten sitzen, ehe sie das Zeichen zum Aufstehen gibt,“ dachte sie. „Gut, komm’ ich also fünf Minuten zu spät. Peterchen wartet.“ Tante Emilie fegte Krümchen und räusperte sich. „Willst _du_ so gut sein, Franz,“ begann sie (man könnte vielleicht besser sagen: sie hub an) „und deine Tochter fragen, wohin sie heute nachmittag zu gehen beabsichtigt, und mit wem sie geht? Wenn _ich_ sie frage, so gibt sie mir zur Antwort ‚spazieren – mit Bekannten‘ oder ähnliche Geistreichigkeiten. Also bitte, frag’ du sie selbst. Vielleicht hat sie wenigstens vor dir noch so viel Achtung, daß sie dir die Wahrheit sagt.“ Franz Rudloff rollte seine Serviette zusammen und wieder auseinander, schob sie in den Ring und zog sie wieder heraus und saß in tödlichster Verlegenheit. „Du weißt doch, liebe Emilie,“ sagte er, ohne aufzusehen, „daß ich dir die Erziehung meiner Tochter übergeben habe, weil ich weiß, daß sie nirgend so gut aufgehoben wäre, als in deinen bewährten Händen. Mette ist dir so gut Gehorsam schuldig wie mir. Du bist im Vollbesitz aller erzieherischen Gewalt ...“ „Gewalt!“ sagte Tante Emilie hohnlachend. „Was soll ich denn machen? Man kann doch einen zwanzigjährigen Menschen nicht schlagen oder einsperren.“ „Nicht gut,“ sagte Mette ruhig, „Gott sei Dank! Aber vielleicht darf ich auch mal eine Frage stellen: Möchtest du vielleicht sagen, warum und wozu du solche Maßregeln anwenden möchtest?!“ „Wozu? Zu deinem besten!“ sagte Tante Emilie in einem Ton, der flammende Empörung ausdrücken sollte. Aber der Ton blieb spitz – es war nur eine Stichflamme. „Warum? Um zu verhindern, daß du vollständig verkommst.“ „Nanu?“ Mette war immer noch mehr belustigt als erregt. „Warum soll ich denn eigentlich total verkommen? Weil ich mit einem jungen Mann spazieren gehe? Ach Gott, der arme kleine Petermann. Hast du ihn vielleicht gesehen? Ich kann ihn dir ja mal vorführen, vielleicht bist du dann beruhigt!“ „Was ist denn das für ein Mann?“ fragte jetzt Franz Rudloff mit gerunzelten Brauen. Es sollte vielleicht energisch und streng klingen. Es klang eher schüchtern. Mette empfand für ihren Vater ein zärtliches Mitleid, das nicht frei von Verachtung war. „Ach Gott, Papa,“ sagte sie, „ein netter, intelligenter Mensch. Aber ein armes, krankes, verwachsenes Kerlchen. Wahrhaftig, kein Mann, der der Tugend oder dem Rufe eines jungen Mädchens gefährlich werden könnte.“ „Einem normalen jungen Mädchen vielleicht nicht,“ sagte Tante Emilie, zitternd vor Bosheit. „Leider weiß ich ja nicht, wie weit bei dir die Voraussetzung der Normalität zutrifft. Es gibt ja leider Frauen genug, die sich in krankhafter Geschmacksverirrung zu allem Abstoßenden und Ungesunden hingezogen fühlen. Gerade wie es leider Gottes Frauen gibt, die jedem Neger nachlaufen.“ Mette schob ihren Stuhl zurück, daß er hart den Boden schrammte. „Du bist ja total irrsinnig!“ sagte sie. Weiter nichts. Dann ging sie mit ihren großen, festen Schritten ins Nebenzimmer ans Telephon und stellte die Verbindung her. „Kann ich Herrn Petermann sprechen? ... Verzeihen Sie, Peterchen, ich muß Sie heut’ versetzen ... Meine Tante erlaubt nicht, daß ich mit Ihnen spazieren gehe ... ja, es tut mir auch leid – aber da kann man nix machen – meine Tante findet es unschicklich ... nein, nein, klingeln Sie lieber nicht an, das ist vielleicht auch unpassend. Grüß Sie Gott. Lassens sich’s gut gehen!“ Ohne sich umzuwenden, ohne nur einen Blick ins Nebenzimmer zurückzuwerfen, ging sie in ihre Stube und schloß und riegelte sich ein. Damit hatte der freundschaftliche Verkehr mit Petermann fürs erste ein Ende. – – – * * * * * Franz Rudloffs stille und empfindsame Natur litt schwer unter der gespannten Stimmung im Hause. Die Mahlzeiten verliefen in peinlichem Schweigen, jedes gemeinsame Unternehmen, ein Spaziergang, ein Theaterbesuch schien ausgeschlossen. Er beschloß, einen Frieden zu vermitteln und versuchte, seine Tochter zu einer Bitte um Verzeihung zu bewegen. Er suchte sie zu diesem Zweck, was er selten tat, sogar in ihrem Zimmer auf. Mette saß mit aufgestütztem Kopf über ihren Büchern. Als ihr Vater eintrat, sprang sie auf und empfing ihn wie einen verehrten Besuch. Sie rückte ihm den bequemsten Sessel zurecht und bot ihm eine Zigarette an. Er wußte nicht recht, wie er anfangen und einleiten sollte und war voller Verlegenheit. Mette versuchte, ihm die Lage zu erleichtern, weil es ihr peinlich war zu sehen, wie er sich quälte. Sie versprach die Bitte um Entschuldigung, sie versprach, bei Tisch Konversation zu machen, sie versprach ein freundliches Gesicht und einen sanften Ton von morgens bis abends. „Ich verspreche dir, mich zu beherrschen, Vater,“ sagte sie. Beherrschung! Das war es nicht, was Franz Rudloff verlangte. „Könntest du nicht versuchen,“ sagte er zaghaft, „innerlich in ein anderes Verhältnis zu Tante Emilie zu kommen? Sie hat wirklich so sehr schätzenswerte Eigenschaften. Es würde ein viel erquicklicheres Familienleben werden, wenn du – ich weiß, Gefühle lassen sich nicht zwingen – aber wenn du wenigstens den _Versuch_ machtest, sie lieb zu haben.“ „Liebhaben!“ wiederholte Mette. Sie sah mit steinern ruhigem Gesicht an ihm vorüber, aus dem Fenster, aber ihr Atem ging rascher. „Ich kann dir eins versprechen: ich habe mich Zeit meines Lebens nur auf das eine gefreut, habe nur auf das eine gewartet, daß sie sterben soll. Ich habe jeden Abend den lieben Gott gebeten, er soll sie bald, bald sterben lassen.“ Franz Rudloff wurde ganz blaß. „Mette!“ sagte er mit großen Augen. „Ich verspreche dir, das nicht mehr zu tun!“ sagte Mette mit einem leisen, trüben Lächeln. „Es wäre jetzt auch zu spät. Jetzt bitte ich Gott nur, daß er mich bald einundzwanzig werden läßt. Daß er dies unglückselige Jahr schnell, schnell vorübergehen läßt. Wenn ich mündig bin, wird sich ja irgendein Weg finden lassen. Wenn sie mir’s dann zu bunt treibt, geh’ ich eben aus dem Hause. Wenn’s sein muß, als Kindermädchen. Wenn ich nicht mehr mit ihr zusammen zu sein brauche, soll sie meinetwegen hundert Jahr alt werden. Früher, ich kann dir sagen, früher hätte ich sie manchmal mit Genuß mit eigenen Händen umgebracht.“ Vor Franz Rudloff taten sich klaffende Abgründe auf. Er klammerte sich an den Seitenlehnen des Stuhles fest, so gewaltsam und stoßweise ging sein armes schwächliches Herz. „Dann allerdings,“ sagte er mühsam, der Atem versagte ihm, „dann allerdings wird wohl meine Bitte auf unfruchtbaren Boden fallen. Dann, dann habe ich dir wohl auch nichts mehr zu sagen.“ Er erhob sich und ging hinaus, schwerfällig wie ein alter Mann. Mette fühlte einen Moment den Trieb, aufzuspringen, ihn zu halten, ihn wieder zu dem Sessel zurückzuführen. Ob es nicht doch irgendeinen Weg gab, sich zu erklären, eine Möglichkeit, sich verständlich zu machen!? „Er geht, weil er sich fürchtet,“ dachte sie, „er geht, weil er die Luft in meiner Nähe nicht mehr atmen kann, die Luft, die vergiftet ist mit dem Gift meiner bösen Gedanken. Er fragt sich jetzt verzweifelt, warum er so hart gestraft wird, daß er einer Mörderin das Leben gegeben hat. Wer weiß, womöglich geht er jetzt zu Tante Emilie und fragt sie um Rat, was er mit seiner verlorenen Tochter anfangen soll. Vielleicht konsultieren sie mal wieder einen Irrenarzt. Ich hätte die Absicht geäußert, meine Familie eigenhändig umzubringen. Nein, nein, es hat keinen Zweck, mit Erklärungen anzufangen. Vater versteht mich ja doch nicht.“ Er ging. Und sie ließ ihn gehen, ohne sich zu rühren. – – – * * * * * Es vergingen drei Wochen – vier Wochen, fünf Wochen – Olga Radó ließ nichts von sich sehen noch hören. In ihrer Verzweiflung nahm Mette den lange vernachlässigten Verkehr mit den Möbius-Mädeln wieder auf. Sie quälte sich durch ein paar langweilige Nachmittage hindurch und fand den Mut nicht, nach Olga zu fragen. Und als sie endlich fragte, wußte niemand von ihr. Aber eines Nachmittags stürmte Emmi ins Zimmer, gerade als Fanni Metten die höchst aufregende Geschichte erzählte, von einem Brief an sie, den ihre Mutter aufgemacht hätte. Mette wurde nicht klug aus der Sache, aber sie hatte es zu einer Art Meisterschaft darin gebracht, an passenden Stellen „Ja?“ „Ach!“ „Wirklich?“ zu sagen, ohne eine Ahnung zu haben, wovon die Rede war; also Emmi stürmte herein, warf ein paar Paketchen, die sie in der Hand trug, auf den Tisch, und rief: „Also, wißt ihr, Kinder, wen ich eben getroffen habe? Die Olga!“ In Metten kämpften Schmerz und Freude. Also sie war hier! Man hatte die Möglichkeit, sie zu treffen, ganz unvermutet ihr plötzlich gegenüber zu stehen – das war ihr erster Gedanke. Aber ihr zweiter war: „Sie ist hier und sagt es mir nicht. Sie will mich nicht sehen. Sie ist abgereist, ohne es mir zu sagen, sie ist wiedergekommen, ohne es mir zu sagen, sie ist meiner so überdrüssig, daß sie sich Mühe gibt, mich loszuwerden. Was soll ich nur tun? Was soll ich nur tun?“ Zwischen den Schwestern entspann sich ein langes Gespräch über Olga. „Sie hat Launen,“ sagte Fanni, „eine Zeitlang kommt sie jeden dritten Tag, und dann läßt sie sich ein Vierteljahr nicht sehen.“ „Sie will mich hier nicht treffen!“ dachte Mette bitter, „darum kommt sie nicht hierher.“ „Sie war doch so lange verreist,“ sagte Emmi entschuldigend. „Ach, und vorher?“ fragte Fanni. „Das Vierteljahr vor der Reise? Hat sie sich da vielleicht um uns gekümmert? Da hatte sie ja auch keine Zeit!“ „Aber für mich,“ dachte Mette mit schmerzlichem Stolz, „oh, für mich hatte sie Zeit – jeden Tag, jeden Tag –.“ „Du kommst mir vor wie Tante Sophie,“ sagte Emmi und bemühte sich, ihr Puppengesichtchen zu verrenken, um der Tante nachzumachen. „Diese Olga ist eine ganz gefährliche Person. Sie spielt mit Menschen wie mit Puppen. Wenn sie sie satt hat, wirft sie sie beiseite. Und dabei ist sie faszinierend, ich gebe es zu, sie ist faszinierend!“ „Ja,“ dachte Mette, „diese Tante Sophie mag sonst so idiotisch wie möglich sein. Aber sie hat recht. _Darin_ hat sie recht. Sie _ist_ faszinierend. Oh, so faszinierend! Und sie hat mich beiseite geworfen. Für immer! Für ewig! Was _soll_ ich nur tun? Was _kann_ ich nur tun?“ – – – * * * * * Mette grübelte Tage und Nächte nach einem Ausweg. Sie fühlte, daß sie es nicht aushalten würde, sich an ihren Stolz zu klammern und zu sagen: Sie mag mich nicht, also existiert sie nicht mehr für mich. Sie sagte es sich, gewiß, nicht einmal, hundertmal. Aber ein viel stärkeres Gefühl sagte ihr: es sind Mißverständnisse, die uns trennen, es sind Hindernisse, die sich mit einem offenen Wort beseitigen lassen. Ich _muß_ sie sprechen, ich _muß_ sie fragen. Sie hat Mut genug und Härte genug, um mir die Wahrheit zu sagen. Ich will es ihr leicht machen. Ich will sie so fragen, daß sie es mir sagen kann, daß sie es mir sagen muß. Und wenn sie sagt: geh und komm nie wieder, dann will ich gehen und nie wiederkommen, dann will ich versuchen, mein Leben irgendwie ohne sie einzurichten, dann will ich stolz sein, aber dann erst! Erst dann! Mette kaufte eine Handvoll weißer Rosen von eigentümlich steifer und schwermütiger Schönheit und ging hinauf zu Olga. Das Mädchen, das ihr aufmachte, empfing sie mit strahlender Freude. „Gnädiges Fräulein sind ja so lange nicht hier gewesen! Fräulein Radó ist hinten in ihrem Zimmer. Fräulein weiß ja Bescheid!“ Es erschien Metten unmöglich, sich durch das Mädchen melden zu lassen. Wenn Olga sich etwa verleugnen ließe, so konnte das eine unendlich peinvolle Situation herbeiführen. Wenn Olga nicht in der Laune war, sie zu sehen, so war es schon am besten, sich das ins Gesicht sagen zu lassen und nicht durch Vermittlung des Mädchens zu erfahren. Sie schritt sehr rasch und fest den endlosen Türgang hinunter. Aber das Herz klopfte ihr doch ein wenig schneller dabei. Sie pochte kurz an die Tür und drückte die Klinke nieder. Olga saß am Schreibtisch, wie sie immer zu sitzen pflegte: die eine Hand auf dem aufgeschlagenen Buch, die Schläfe gegen den Ballen der anderen gestützt, zwischen deren Fingern sie die Zigarette hielt. Als die Tür ging, wandte sie den Kopf ein wenig unwillig, mit zusammengezogenen Brauen. Das Erkennen lief wie ein heller Schein über ihr Gesicht. „Mette!“ sagte sie. „Bist du wieder da? Wo kommst du her? Was willst du hier?“ Mette riß das Papier von den Blumen, warf es in den Papierkorb und legte die Rosen auf den Schreibtisch. „Was ich will?“ sagte sie währenddessen, ohne die Augen von ihrer Beschäftigung aufzuheben. „Dich besuchen. Sehen, wie es dir geht. Aber wenn es dir nicht paßt, kann ich ja wieder gehen.“ „Nein!“ Olga streckte mit einer raschen und fast heftigen Bewegung die Hand nach ihr aus. Mette legte ihre Finger hinein, die Olga fest umschloß. „Aber – gerufen habe ich dich nicht!“ Sie sah zu Metten auf, mit dem seltsam zwingenden und fast drohenden Ausdruck in Stirn und Augen. „Ich weiß es,“ sagte Mette mit einem bitteren Lächeln. „Es wäre dir auch nicht eingefallen, mich zu rufen. Ich habe selber das Gefühl, daß ich aufdringlich bin. Du brauchst es mir gar nicht so deutlich zu sagen.“ Sie wollte ihre Hand zurückziehen, aber Olga hielt sie fest und lächelte. „Kind,“ sagte sie, „Mädelchen! Ich freue mich doch! Mehr als du annimmst. Ich glaube, wenn du wüßtest, wie ich mich freue – dann würdest du ganz eingebildet werden. Aber gerufen habe ich dich doch nicht.“ „Ja,“ sagte Mette beinah ungeduldig, „ich weiß nicht, warum du solches Gewicht auf diese Feststellung legst.“ „Aber ich weiß es,“ sagte Olga ruhig. „Du sollst mir niemals vorwerfen können, ich wäre egoistisch gewesen.“ „So,“ sagte Mette, „das ist ja heiter. Damit dich nicht irgendwann ein Vorwurf treffen kann – ich wüßte nebenbei nicht wann – darum läßt du mich sterben und verderben und kümmerst dich nicht um mich! Oh, bist du egoistisch!“ Olga lachte. „Ich geb’ es auf. Es kommt ja doch alles auf mich. So oder so. Also tragen wir, was wir tragen können, solange wir aufrecht gehen. Es ist herbstlich heut’ draußen.“ Sie schloß die Augen und zog fröstelnd die Schultern zusammen. „Es ist gut, daß du da bist. Steck den Samowar an und mach uns Tee, Mettulein. Und wir wollen Peterchen rufen, daß er kommt und uns was vorspielt.“ – – – * * * * * Als Mette ins Zimmer trat, saß Olga auf dem Diwan, die Ellbogen auf den Knien, das Gesicht in die Hände gelegt. „Gott, siehst du tiefsinnig aus!“ rief Mette. „Denkst du über die Unsterblichkeit der Maikäfer nach?“ „Ja!“ Olga hob mit einem Ruck den Kopf. „Und ich meine, daß das das einzige ist, was noch das Nachdenken lohnt! Sag’, hast du noch nie darüber nachgedacht?“ „Nein!“ lachte Mette. „Ganz gewiß nicht.“ „Dann ist es Zeit, daß du anfängst, darüber nachzudenken!“ sagte Olga sehr ernst. „Ausgerechnet über die Unsterblichkeit der Maikäfer?“ „Ja, ausgerechnet über die Unsterblichkeit der Maikäfer. Ich möchte wissen, von wem das Wort stammt. Man kann nämlich über nichts so tiefsinnig werden.“ „Als gerade über die Maikäfer?“ „Meinetwegen auch über die Stubenfliegen. Oder über die Skorpione. Oder über die Kellerasseln. Glaubst du, daß eine Stubenfliegenseele in einen Maikäfer fahren kann? Oder umgekehrt? Oder glaubst du, daß sie gleich in den Himmel kommt? Oder glaubst du, daß Elefanten auf einer höheren Stufe stehen als Menschen? Oder daß es mehr als sechzehnhundert Millionen Elefanten gibt?“ „Olga!“ rief Mette zwischen Lachen und Verzweiflung und hielt sich die Ohren zu. „Hör’ auf! Bist du denn verrückt geworden?“ „Nein, nein, nein!“ sagte Olga eigensinnig. „Ich denke fortgesetzt darüber nach.“ „Worüber eigentlich?“ „Über die Unsterblichkeit der Maikäfer. Glaubst du, daß sie eine unsterbliche Seele haben? Ich will dir sagen, wie ich darauf kam. Ich las da eben vom Regenerationsvermögen gewisser niederer Tiere. Weißt du, wenn man sie halbiert, wächst einfach jedem die fehlende Hälfte nach, und es sind nun zwei da. Der Mann macht da auch die tiefsinnige Bemerkung, in welcher Hälfte sitzt nun die unsterbliche Seele? Oder teilt sich die Seele? Oder hat der Mensch die Macht, durch das Seziermesser eine neue Seele zu schaffen? Oder herbeizulocken? Wenn man anfängt, kommt man in ein solches Labyrinth.“ „Glaubst du denn an die unsterbliche Seele?“ fragte Mette zweifelnd. „Bei niederen und niedersten Tieren? Gewiß! Aber wenn dich das Wort Seele stört, lassen wir’s fort. Ich möchte dir’s so gern klarmachen.“ Sie sah ein paar Sekunden zu Boden, hob dann die unbeschreiblich klaren und leuchtenden Augen auf und sagte betont: „Alles, was Leben hat, hat auch Unsterblichkeit. Leben an sich kann nicht sterblich sein. – Das klingt wie ein Sophismus, ist aber keiner. Es wechselt nur die Form. Nun möchte ich wissen, ob es nur die uns wahrnehmbare, die Erscheinungsform wechselt, das heißt, ob jede Maikäferseele ein in sich abgeschlossenes ist, das wieder nur dazu dient, einem neu entstehenden Maikäfer Leben zu geben, oder ob Sterben und Geborenwerden ist, wie Tropfen, die ins Meer zurückfließen und wieder aus dem Meer geschöpft werden. Die Tropfen bleiben nicht in sich zusammenhängend, verstehst du? Und viele Tropfen geben einen Eimer. Vielleicht ist nur die Quantität ausschlaggebend und nicht die Qualität ... Vielleicht hat ein Mensch Millionen Maikäferseelen in sich. Man müßte einmal die Maikäfer auf der ganzen Erde zählen. Wenn eine Maikäferseele sich in Ewigkeit gleich bliebe, so müßte immer die gleiche Anzahl von Maikäfern existieren. Wo sind aber dann die Seelen der Tiere, die positiv ausgestorben sind? Oder flutet das Leben von einem Stern zum andern ungehindert hinüber? – Aber ich glaube das alles nicht. Ich glaube eigentlich an eine Entwicklung, an einen Fortschritt. Man kommt von da ganz unten her – weißt du? – aus Abgründen viehischen Lebens – oh, ich weiß ganz genau, daß ich von da her komme – aber jedes Leben heißt ‚Aufwärtsentwicklung‘, jedes neue Leben fangen wir eine Stufe höher an.“ „Ach, Unsinn!“ sagte Mette ungläubig. „Woher willst du das wissen! Ich glaube nicht an unsterbliche Maikäferseelen. Ich glaube nicht einmal an meine eigene Unsterblichkeit. Alles Leben ist chemische Veränderung. Und das, was du Seele nennst, alle Eigenschaften des Geistes und des Charakters, das ist Blutzusammensetzung.“ „Mette!“ sagte Olga ganz erschrocken. „Und mit dem Gedanken kannst du leben? Und mit dem Gedanken willst du sterben? Ich würde mich fürchten vorm Tode, wenn ich nicht wüßte, daß ich unzerstörbar bin. Ich empfinde mich selbst so stark, viel stärker als den Tod. – Ich bin genau das, was ich als kleines Kind war. Nicht unverändert. Ich bin mehr geworden. Aber nicht ein Körnchen ist abgebröckelt. Und das, was ich jetzt bin, erhalt ich mir. Ich gebe nichts her davon. Das weiß ich. Aber ich nehme zu, ich wachse. Manchmal ist es wie ein Stillstand – dann geht es wieder ruckweise – manchmal eine ganze Strecke in rasendem Tempo, immer aufwärts –“ Sie schwieg, und sah mit weiten Augen geradeaus. „Und dann?“ fragte Mette, immer noch mit leisem Widerspruch im Ton. „Was wird dann? Kommst du in den Himmel und wirst ein Engel mit weißen Flügeln?“ „Ich weiß nicht,“ sagte Olga nachdenklich. „So wenig weiß ich, daß ich selbst das nicht abstreiten kann. Eigentlich bin ich überzeugt, daß ich zunächst ein Mann werde. Und danach ein Heiliger oder ein Genie. Das ist das Höchste, was wir kennen. Die andere höhere Form, die dann kommt – davon weiß ich nichts. Aber wir müssen die fragen, die ihr am nächsten stehen – die vielleicht schon ein Vorgefühl davon haben können – die Genies – oder die Heiligen.“ – – – * * * * * Einmal, als Mette ins Zimmer kam, sah sie, daß Olga etwas versteckte. Sie schob einen offenen Brief, den sie in der Hand hielt, rasch unter die Bücher auf dem Schreibtisch. Mette glaubte zu bemerken, daß sie während der Begrüßung irgendwie zerstreut, ärgerlich, verlegen war. „Was hast du?“ fragte sie, ohne ihre Hand loszulassen. „Hast du Ärger gehabt? Du kommst mir heut’ so komisch vor.“ „Ich?“ Olga errötete. Es lief wieder die rasche, dunkelnde Blutwelle über ihr Gesicht, die es im nächsten Augenblick um so weißer erscheinen ließ. „Was fällt dir ein? Warum soll ich Ärger gehabt haben? Im Gegenteil.“ „Im Gegenteil?“ sagte Mette mit etwas erzwungener Heiterkeit. „Du hast Freude gehabt, die dich so okkupiert? Dann wäre es allerdings indiskret, weiter zu fragen. Sprechen wir von etwas anderem. – Ich habe dir deinen Chamberlain wieder mitgebracht. Und habe dir auch gleich den Herz mitgebracht. Vater hatte ihn in der Bibliothek.“ Sie sprachen von dem und jenem. Aber Mette konnte den Brief nicht vergessen. Während sie redete, gingen ihre Gedanken immer andere Wege. „Was ist das nur?“ dachte sie. „Eifersucht? Hab’ ich denn ein Recht dazu? Wie komme ich eigentlich dazu, verletzt, mißtrauisch, ja _zornig_ zu sein, weil diese Frau einen Brief erhält, den sie mich nicht sehen lassen will? Herrgott im Himmel, sie ist doch durch nichts an mich gebunden, mir in Nichts verpflichtet. Sie kann heimlich verlobt sein, sie kann ein Dutzend Liebschaften haben – wie käme sie dazu, mir alles zu erzählen, mich zu ihrer Vertrauten zu machen? Was geht es mich überhaupt an, was sie für Briefe bekommt?“ Mette war böse auf sich selbst und schalt sich aus. Und dabei war sie gequält und traurig, kämpfte dagegen an und konnte es nicht überwinden. „Es _ist_ nicht Eifersucht,“ dachte sie, „es _ist_ nicht Besitzer-Wahnsinn. Es ist einfach die Erkenntnis, daß man das Leben nur ertragen kann, wenn man Hand in Hand geht. Es ist das Bewußtsein, daß ich nur weiterkomme, wenn Olga meine Hand hält und mich führt. Ich habe das Gefühl, daß sie meine Hand losgelassen hat, daß zwischen uns eine Tür ins Schloß gefallen ist, daß ich allein stehe, hilflos, im Dunkeln, und daß sie lachend weitergeht – ich weiß nicht, mit wem ...“ Olga wurde ans Telephon gerufen. Es dauerte lange, ehe sie wiederkam. Mette saß einen halben Meter vom Schreibtisch entfernt. Unter einem Bücherstoß ragte eine Ecke des weißen Briefblatts hervor. Wenn sie den Arm ausstreckte, konnte sie es berühren, konnte es hervorziehen, ohne von ihrem Platz aufzustehen. Es war ein qualvoller Kampf. Sie hätte sich ohrfeigen mögen, weil sie nur auf den Gedanken einer Möglichkeit kam. Es war ein Verbrechen, was sie begehen wollte – oh, es war schlimmer, es war unfein, taktlos, verächtlich. Aber sie fand tausend Gründe, sich zu entschuldigen: „Es ist ja nicht Neugier –“ schrie es innerlich in ihr, „wem tu ich damit weh? Wem tu ich ein Leid? Niemandem. Nicht ihr, nicht dem, der den Brief geschrieben hat. Und für mich ist es von so unendlicher Bedeutung. Ich klammere mich mit allen Fasern an diesen Menschen und weiß gar nicht, was es für ein Mensch ist. Warum _ist_ sie so verschlossen? Wenn ich mir eine Gewißheit verschaffen kann, die vielleicht mit einem Schlage mein ganzes Leben ändert, so tue ich das um jeden Preis – und wenn es um den Preis eines Verbrechens ist.“ Mit einem Ruck zog sie das Blatt hervor. Ihr Herz hämmerte wie rasend, vor ihren Augen war ein dichter Schleier, die Buchstaben flackerten auf dem Papier. Es war ein Bogen mit Firmenaufdruck, wenige Worte – Zahlen ... Mette hörte Olgas Stimme vor der Tür und schob das Blatt hastig in die Tasche. Olga würde es kaum vermissen. Und in Metten, obgleich sie kaum gelesen, kaum begriffen hatte, was da stand, war schon ein Plan fertig. Mette hatte es heut’ sonderbar eilig, nach Hause zu kommen. Sie war zerstreut und einsilbig, so, daß Olga einmal fragte: „Was hast du heut’? Ist dir was passiert? Bist du schlechter Laune?“ Mette erinnerte sich belustigt des Gespräches beim Kommen. „Im Gegenteil!“ sagte sie mit übertriebener Betonung, deren Ursache aber Olga nicht ins Gedächtnis kam – „Ich bin sogar sehr guter Laune!“ – Mette schloß sich daheim in ihrer Stube ein und studierte den Brief wie ein wichtiges Dokument – das also war das Liebesglück, das vor ihr geheim gehalten wurde. Die Firma ersuchte „nochmals“ um Zahlung von einigen Hundert Mark, „widrigenfalls wir die Sache zu unserem Bedauern unserem Rechtsanwalt überweisen müßten“. Mettens Herz war zum Überfließen voll von zärtlichem Mitleid. „Armes, Liebes!“ dachte sie, „so quälen sie dich!“ Sie hob das Blatt auf und war einen Augenblick in Versuchung, es an die Lippen zu führen. Dann fing sie an zu rechnen. Die paar Mark Ersparnisse, die sie von ihrem Taschengeld machen konnte – nein, das langte nicht. Sie hatte zu sehr verschwendet, namentlich mit den Blumen. – Aber hatte sie sonst nichts? Sie ließ wie suchend die Blicke durch den Raum gleiten. Bücher? Nein, die gab sie nur im letzten Notfall her. Aber Schmuck. Den ganzen Kram, aus dem sie sich so absolut nichts machte. Es würde niemand danach fragen, wo Armbänder und Ringe, Halskettchen und Vorstecknadeln geblieben waren. Sie trug ja doch dergleichen Dinge nie. Schlimmstenfalls konnte man vorgeben, etwas verloren zu haben. Oder man konnte am ersten, wenn es Taschengeld gab, diese oder jene Kleinigkeit wieder einlösen. Der ganze Inhalt der Schmucktruhe wurde in Seidenpapier gewickelt und in die Tiefe der Manteltaschen versenkt. Der Gang zum Leihamt war leicht. Mette entsann sich fast mit Vergnügen, daß sie bei einem solchen Unternehmen nicht ohne Übung war. Schlimmer war es, Geld und Rechnung in das Modeatelier zu bringen. Mette hatte dabei ein Gefühl, als ob sie einen schweren Betrug verüben sollte. Die Schmucksachen zu versetzen, die ihr geschenkt waren, dazu hatte sie ein gutes Recht. Aber für Olga Radó zu handeln, in Olga Radós Namen etwas zu tun, das schien ihr ein unerhörtes Wagnis. Und es war so schwer, den richtigen Ton zu treffen. Schulden zu haben, war nach allem, was Mette je gelernt und erfahren hatte, etwas sehr Entwürdigendes und beinah Schmutziges. Wenn man also kam, um Schulden zu bezahlen, endlich, nach langem Mahnen, so mußte man ganz demütig kommen und um Verzeihung bitten. Anders, wenn man von Olga Radó kam. Dann konnte man nur mit der Miene eines fürstlichen Abgesandten auftreten und mit hoheitsvoller Überlegenheit den vergessenen Bettel erledigen. Mette zog ihr bestes Kleid an und machte ihr hochmütigstes Gesicht. Es ging viel besser als sie erwartet hatte. Die Leute behandelten sie wirklich wie einen fürstlichen Abgesandten – sie war sehr stolz darauf, doppelt stolz, weil sie annahm, daß diese fast unterwürfige Liebenswürdigkeit Olga Radó galt. Ja, das war alles ganz leicht. Aber nun trug sie die quittierte Rechnung in der Tasche und hätte nicht um alles in der Welt den Mut gefunden, sie Olga zurückzugeben. Sie beruhigte sich damit, daß es ja auch wohl kaum nötig wäre. Die Leute würden nun nicht mehr mahnen, und Olga würde die ganze Angelegenheit vergessen. Nach acht Tagen triumphierte Mette schon heimlich und hielt jede Gefahr für glücklich vorübergegangen. Da wurde sie eines Tages von Olga mit eiskaltem Gesicht empfangen. „Was fällt dir eigentlich ein?!“ sagte Olga statt jeder Begrüßung, „wie _kommst_ du eigentlich dazu, mir so etwas zu machen.“ „Ich?“ sagte Mette und bemühte sich, ein harmloses Gesicht zu machen, „was hab’ ich denn gemacht?“ „Du weißt ganz genau, was du gemacht hast!“ sagte Olga streng. „Du hast dich unverantwortlich benommen. Unverantwortlich! Ich dulde es nicht, daß sich jemand in meine Angelegenheiten mengt. Und von dir dulde ich es am allerwenigsten. Siehst du nicht ein, was für eine unerhörte Anmaßung in deinem Benehmen liegt? Willst du mich unter Kuratel stellen? Oder willst du mich aushalten? Was denkst du dir denn eigentlich?“ Sie ging mit großen Schritten hin und her. Ihr Ton war immer hitziger und heftiger geworden. Jetzt blieb sie plötzlich, an den Schreibtisch gelehnt, stehen, kreuzte die Arme und sagte ganz ruhig, nur mit einer leisen Bewegung des Kopfes: „Wie bist du denn überhaupt zu der Rechnung gekommen?“ Mette schrak zusammen. Das war der Augenblick, den sie gefürchtet hatte. Alles andere war vielleicht Torheit, aber es war gutmütig, selbstlos gehandelt, sie konnte es mit einem Schein des Rechtes verteidigen, wenigstens vor sich selber. Aber auf diese Frage konnte sie keine Entschuldigung hervorbringen. Jetzt war doch alles aus. Mit keiner Lüge konnte sie sich mehr retten. Da beschloß sie in verzweifeltem Trotz die Wahrheit zu sagen. Sie warf den Kopf zurück und sah zu Olga auf, mit einem Gesicht, als wollte sie sagen: ich habe den Tod verdient, aber ich fürchte ihn nicht. „Ich habe sie gestohlen!“ sagte sie. „Von deinem Schreibtisch.“ Olga blieb ganz ruhig. Sie zog nur ein wenig die Brauen zusammen als müsse sie sich besinnen. „Sie war gekommen, während du da warst, nicht wahr?“ „Ja!“ „Aber ich habe sie doch nicht offen liegen lassen. Ich weiß jetzt ganz genau – ich hatte sie irgendwo unter die Bücher geschoben.“ „Ja,“ sagte Mette mit zusammengebissenen Zähnen, „aber ich habe sie da vorgezogen.“ „Wann?“ fragte Olga in höchstem Erstaunen. „Während du am Telephon warst.“ Olga antwortete nichts. Sie senkte den Kopf und sah schweigend auf den Boden. Mette sah, daß sie mit festgeschlossenem Mund mit den Zähnen an der Unterlippe nagte ... Das Schweigen war fürchterlicher als jedes harte Wort. Mette kam sich unglaublich verworfen vor. Und die Inquisition hatte noch kein Ende. Es kamen noch schlimmere Fragen, ganz gewiß, noch viel schrecklichere. Nach einer Weile hob Olga den Kopf. „Du konntest doch aber gar nicht wissen, was das war. Es konnte doch gerade so gut ein ganz persönlicher Brief an mich sein?!“ Mettes Stirn fing an zu brennen. „Jetzt müßte ich lügen“ – dachte sie einen Moment – „sagen, ich habe die Zahlen gesehen, oder den Firmenaufdruck.“ Aber sie konnte nicht lügen. Sie hatte etwas so Verächtliches getan, sie hatte kein Recht, sich Olgas Verzeihung durch eine Lüge zu erkaufen. Sie mußte eingestehen, abbitten – büßen. „Das _dachte_ ich ja!“ sagte sie mit fast heftiger Entschlossenheit. Aber dabei konnte sie nicht in Olgas Gesicht sehen. Sie sah an ihr vorüber aus dem Fenster. Aber ohne hinzusehen, sah sie, daß Olga eine hastig auffahrende und gleich wieder unterdrückte Bewegung machte. „Das hast du dir gedacht?“ sagte sie. Metten schien es, als ob sie mühsam, mit gewaltsamer Beherrschung so leise spräche, um nicht zu schreien. „Aber ich bitte dich, du mußt doch irgendeinen Grund gehabt haben. Ich kann doch nicht annehmen, daß du aus einer ganz dienstmädchenhaften Neugier in jedes fremden Menschen Briefen stöberst.“ „Nein,“ sagte Mette verstockt. „Ich hatte auch einen Grund, natürlich hatte ich einen Grund. Aber ich kann ihn nicht sagen.“ „Wenn du ihn nicht sagen kannst,“ sagte Olga mit einem sanften Lächeln, „dann will ich dich auch nicht danach fragen. Aber ob mit, ob ohne Grund – sag’ mal – findest du es eigentlich schön?“ „Nein!“ gestand Mette ehrlich. „Nicht wahr?“ sagte Olga rasch. „Ich finde es auch nicht schön.“ Und nach einer Pause fügte sie nachdenklich und fast schmerzlich hinzu: „Aber begreiflich. Trotzdem – laß’ es. Mißtrauen ist etwas so Häßliches. Wenn ich etwas geheim halten will, liebes Kind, dann mach’ ich das so raffiniert, daß man mir mit so törichten kleinen Streichen nicht dahinter kommt!“ Es war in ihrem Ton eine so hohnvolle Überlegenheit, daß Mette erschrak. Sie fühlte die Wahrheit dieser Worte, sie fühlte, daß Olga wie mit Mauern umgeben war, durch die sie – die dumme, kleine Mette – niemals zum Kern ihres Wesens gelangen konnte, auch wenn sie ihr nachspürte wie ein Verbrecher und heimlich ihre Briefe las. Es schien, als ob Olga Mettens wortloses Erschrecken gefühlt hätte. Sie sagte plötzlich mit ihrer tiefen, warmen Stimme: „Im übrigen verberge ich dir ja nichts. Nichts, was dich interessiert. Ich schreibe keine Liebesbriefe und kriege keine. Wenn’s dich aber einmal reizt, irgend etwas in Erfahrung zu bringen – frag’ mich – es ist der glätteste Weg.“ Der gute und herzliche Ton tat Metten unendlich wohl, zehnfach wohl nach der Angst, die sie ausgestanden hatte. Sie machte eine unwillkürliche Bewegung. Ein heiß aufwallendes Gefühl trieb sie zu Olga hin, um ihr in Dankbarkeit die Hände zu küssen. Olga sah oder fühlte diese Regung – sie wehrte sie ab. Es war nur ein kaum merkliches Zucken, das um ihre Brauen lief und das Metten zurückscheuchte und an ihren Platz bannte. „Ich möchte Arabisch lernen,“ sagte Olga rasch, beinah hastig, mit einem gewaltsamen Sprung der Gedanken. „Ich habe mir neulich die Schriftzeichen erklären lassen. Die Schrift ist wie die Erfindung eines klugen und unendlich sympathischen Mannes. Alles logisch, einfach und dabei von ästhetischem Reiz.“ „Olga!“ sagte Mette. „Wie kommst du _darauf_?! Wozu soll man Arabisch lernen, was man nie im Leben braucht?!“ „Brauchen?“ fragte Olga. „Lernt man Sprachen, um sie zu brauchen? Glaubst du, daß mir jemand imponiert, der in zweiundzwanzig Sprachen ein Zimmer mit zwei Betten bestellen kann? Das kann man doch auch praktischer mit _alba duo_ abmachen. Wenn ich Sprachen lerne, so ist das ein rein psychologisches Interesse. Wie ein Satz sich aus Zeichen aufbaut – darin spiegelt sich die Seele eines ganzen Volkes. Ähnlichkeit der Sprache, das macht Verwandtschaft, das _ist_ Verwandtschaft – aber nicht, ob der Haardurchschnitt dreikantig oder elliptisch ist“ – – – * * * * * Erst als Mette sich den Hut aufsetzte, um zu gehen, sagte Olga plötzlich: „Willst du mir einen Gefallen tun, Mette?“ „Jeden!“ sagte Mette mit Überzeugung. „Aber es ist keine leichte Aufgabe – ich“ ... „Desto besser!“ „Nein, nein, keine romantische Heldentat. Etwas ganz kleinlich Unangenehmes!“ Sie nagte die Lippen und zögerte. „Ich würde es gern anders machen, aber ich weiß wirklich nicht wie. Du sollst etwas tun, was du sicher in deinem ganzen Leben noch nicht getan hast. Du sollst für mich etwas aufs Leihamt tragen.“ Mette lachte hellauf. „Da unterschätzt du mich bedeutend. Das Leihhaus ist eine meiner vertrautesten Kindheitserinnerungen!“ „Aber Mette!“ „Das ist eine lange Geschichte. Das muß ich dir mal erzählen. Aber sag, was du jetzt wolltest!“ „Du sollst das da für mich zum Pfandleiher tragen!“ Olga nahm mit einer raschen Bewegung das Zigarettenetui vom Schreibtisch und reichte es hinüber. Mette hielt es erschrocken in beiden Händen. „Olga, das kannst du nicht tun!“ Olga sah aus dem Fenster. „Laß das, bitte!“ sagte sie hart, ohne den Kopf zu wenden. „Ich weiß allein, was ich tun kann, und was ich tun muß!“ Mette schwieg. Auf diesen Ton gab es keine Widerrede. Aber sie war nicht überzeugt. – – – * * * * * Mette sah immer noch die zärtliche Geste, mit der Olga das Etui an die Wange gepreßt hatte. Und dann sah sie die behaarte Hand des Pfandleihers mit den platten, schwarzgeränderten Nägeln. Nein, in diese Hände durfte sie den Skorpion nicht legen. Sie trug das Etui zum Goldarbeiter und ließ es schätzen. Sie hatte nicht so viel Geld in ihrem Besitz, um den frommen Betrug, den sie vorhatte, ausführen zu können. Aber sie wußte sich zu helfen. Sie war nicht umsonst Friedel Eggebrechts Schülerin gewesen. Sie wußte so gut, wie man an das Silberzeug herankonnte, und in welchem Kasten das wertvollste war. Während Mette heimlich an das Büfett ging, dachte sie ein Dutzend Jahre zurück und lächelte. Es war nicht mehr so aufregend wie damals. Obgleich, wenn Tante Emilie es entdeckte, würde es genau dieselben Unannehmlichkeiten geben. Sie war fähig, wieder einen Psychiater zu rufen. Was war es doch im Grunde für eine lächerliche Komödie! In einem Jahr war sie mündig und durfte über ihr großmütterliches Erbe frei verfügen, und heute mußte sie, um sich ein paar hundert Mark zu verschaffen, in ihres Vaters Hause stehlen gehen! – – – * * * * * „Willst du so gut sein und mir den Schein geben?“ fragte Olga das nächste Mal. „Den Schein?!“ Mette wurde ein wenig verlegen und kramte in ihrer Tasche. „Ja, sofort! Wo habe ich ihn denn? Du brauchst keine Angst zu haben, er ist da! Ich will dir nur erst das Geld aufzählen!“ „Das laß, bitte!“ sagte Olga bestimmt. „Das Geld ist da, wo es hingehört. Keine Szenen, bitte. Ich habe dir kein Recht gegeben, mich zu beleidigen.“ „Ich verstehe dich nicht,“ sagte Mette ratlos. „Was soll denn das heißen?“ „Das soll heißen, daß ich mich bedeutend lieber an eine Straßenecke setzen will und betteln, als daß ich dir Geld schuldig sein will. Ich hab’ auch nur deswegen dich zum Leihamt geschickt, damit du das Geld gleich in Händen hast. Sonst hätt’ ich dir’s aufdrängen müssen, und ich hasse solche Szenen. Und jetzt genug davon geredet, ich will kein Wort mehr hören!“ „Aber ...“ „Kein Wort – hab’ ich gesagt. Im übrigen kannst du den Schein behalten. Du kannst es mir wieder einlösen. Ich will lieber nicht sehen, in wessen Händen es war. Ich werde dir gelegentlich das Geld geben –“ sie lachte kurz auf. „Wann, mögen die Götter wissen! Komm, wir wollen eine Partie Schach spielen. Ich gebe dir einen Turm vor.“ – – – * * * * * Mette litt unter ihrer Unselbständigkeit. Sie spürte eine Art Neid gegen alle Frauen, die sie arbeiten sah. Nicht nur gegen die, die in der Öffentlichkeit standen, Reichtümer erwarben, laute Anerkennung fanden – sie hätte gern mit einer kleinen, blassen Lehrerin getauscht, die jeden Morgen an ihrem Fenster vorüber nach der Schule hastete. Oder mit ihrer Zahnärztin, die nach ihrer eigenen Aussage jeden Abend müde zum Umfallen war und die dabei doch immer brannte vor Arbeitseifer und Arbeitsfreude. Mette suchte ihren Vater in seinem Zimmer auf, in der Absicht, eine recht ernsthafte Unterredung mit ihm zu führen. Sie konnte nicht in Tante Emiliens Gegenwart die Rede auf das bringen, was sie beschäftigte. Mette holte weit aus, um sich ihrem Vater verständlich zu machen. „... siehst du, Papa, es ist doch heutzutage nicht mehr wie in deiner Jugend, daß die Mädchen aus gutem Hause hübsch still zu sitzen hatten und weiter nichts lernen durften, als Kochen, Plätten und Nähen. Heutzutage ist es eigentlich für ein Mädchen ebenso selbstverständlich wie für einen Jungen, daß er irgendeinen Beruf, irgendein Studium ergreift. Und außerdem, selbst, wenn ich Hausarbeit tun wollte. – Du weißt ja selber, daß ich hier überflüssig bin. Tante Emilie macht alles so musterhaft, nein, Papa, du brauchst nicht aufzufahren, das soll keine Ironie sein, sondern aufrichtige Anerkennung, auch kein Vorwurf; denn ich dränge mich gar nicht danach, die Wirtschaft selber zu besorgen. Nur – ich kann doch nicht mein Leben lang zu Hause sitzen und die Hände in den Schoß legen und warten, ob der Freiersmann kommt. Es würde mir so Freude machen, irgendeine wirkliche Arbeit zu verrichten.“ „Arbeit,“ sagte Franz Rudloff zögernd, „über den Begriff ‚Arbeit‘ gehen die Ansichten sehr weit auseinander. Die meisten Menschen pflegen nur das für Arbeit zu erklären, was ihnen unangenehm ist. Ein schwächlicher Mensch wird Steine tragen für eine Arbeit erklären und ein hartschädeliger: Vokabeln lernen. Es gibt Leute, die das, was ich treibe, für Arbeit erklären. Ich nenne es einen fortgesetzten, intensiven Genuß. Was verstehst du nun unter Arbeit?“ „Etwas, das bezahlt wird, Papa!“ sagte Mette ernsthaft. „Ich möchte gern Geld verdienen.“ „Geld!“ Franz Rudloff verzog leise das Gesicht wie in Schmerz und Ekel. „Merkwürdig! Wie kommt meine Tochter zu der Sehnsucht nach Geld?! Es schafft ungesunde Zustände, wenn durch Generationen Kapital auf Kapital aufgehäuft wird. Wer kein Geld hat, soll welches zu erwerben trachten, und wer es hat, soll es ausgeben. – Du hast doch nicht nötig, Geld zu verdienen. Versteh’ mich nicht falsch. Ich fände es nicht im mindesten unehrenhaft oder nicht standesgemäß, wenn meine Tochter gegen Bezahlung arbeitete, ich würde dir das gern zugestehen – wenn du es müßtest. Aber das Reizvollste, was das Leben bietet, sind doch nun einmal die brotlosen Künste. Wer soll sich ihnen widmen, wenn nicht der, der auskömmlich zu leben hat? Sollen sie alle vernachlässigt werden, weil auch der Wohlhabende kein anderes Streben hat, als Geld zu verdienen?“ „Du hast vollkommen recht, Papa,“ sagte Mette gequält. „Aber es ist für einen erwachsenen Menschen schrecklich, wenn er um jeden Pfennig bitten muß. Wenn ich ein Paar Handschuhe brauche, dann geht Tante Emilie mit mir und kauft sie. Und wenn ich graue haben möchte, nimmt sie braune. Und wenn ich welche für sechs Mark fünfzig haben möchte, nimmt sie welche für sechs Mark fünfundzwanzig. Und ich darf nichts sagen, weil ich ja tatsächlich nicht imstande bin, mir fünfundzwanzig Pfennige zu verdienen. Das ist doch ein schrecklich beschämendes Gefühl.“ „Aber du hast doch Geld,“ sagte Rudloff eigensinnig. „Wozu willst du etwas verdienen?“ „Ich habe es _nicht_,“ sagte Mette ungeduldig. „Ich höre immer, daß ich reich bin und habe _de facto_ nicht einen Pfennig zur Verfügung.“ „Sei doch froh,“ beharrte Rudloff. „Danke doch Gott, wenn alle deine Bedürfnisse befriedigt werden, ohne daß das Geld durch deine Finger geht. Deine Mutter hat sich immer geweigert, Geld anzufassen. Aber wenn du gern –“ er räusperte sich verlegen – „wenn du gern etwas nach deinem Geschmack auswählen möchtest, so verstehe ich das ja vollkommen.“ (Das verstand er wirklich.) „Du kannst ja dann in Geschäfte gehen, wo man mich kennt und kannst die Rechnungen ins Haus schicken lassen. Solange sich das in vernünftigen Grenzen hält, wird ja kein Mensch etwas dagegen haben.“ „Und was soll ich mit meiner freien Zeit anfangen?“ fragte Mette unüberzeugt. „Lernen, studieren! Nimm Unterricht in fremden Sprachen! Höre Vorträge über Literatur und Kunstgeschichte! Da bist du meiner Unterstützung immer sicher. Zu diesem Zweck kannst du auch meine Börse in Anspruch nehmen, soviel es dir beliebt. Das weißt du!“ – – – * * * * * Herbstlicher Regen prasselte auf das Blech der Fenstersimse. Olga hatte die Vorhänge zugezogen und zusammengesteckt. In dem sanften Lichtkreis der buntverschleierten Lampe schwebte und wallte der bläuliche Nebel der Zigaretten. Olga lag auf dem Diwan, bäuchlings, die Ellbogen in einen Berg zerdrückter Seidenkissen gestützt. Im Sessel kauerte Mette mit hochgezogenen Füßen, und auf dem Schreibtischstuhl hockte Peterchen. „Ja,“ sagte Mette trübselig. „Ich hatte so schöne Pläne und nun wird wieder nichts daraus. Ich wollte so gerne irgendeinen Beruf ergreifen und Geld verdienen. Aber mein Vater sagt, ich hätte genug.“ „Sei doch froh,“ sagte Olga. „Es gibt nichts Angenehmeres, als Geld zu haben und es auszugeben. Und nichts Widerlicheres, als es zu brauchen und nicht zu haben.“ „Ich hab’ es doch aber nicht!“ widersprach Mette. „Das ist’s ja eben! In der Theorie hab’ ich es! In der Praxis brauch’ ich es und hab’ es nicht!“ „Du brauchst es!“ sagte Olga entrüstet. „Lächerlich! Wozu denn? Um mir Orchideen mitzubringen. Wenn ich Tante Emilie wäre, ich würde dir ja dein Taschengeld entziehen. Wenn _ich_ noch auf solche phantastische Ideen käme. Geld zu verdienen, mein’ ich. Geld verdienen zu wollen, wenn wir uns korrekt ausdrücken wollen.“ „Du hättest es sicher leicht!“ sagte Peterchen. „Du mit deinen eminenten Begabungen!“ „Ja,“ sagte Olga ironisch. „Es fehlen mir bloß die Leute, die meine Begabung anerkennen. Ich könnte mich bei einem großen Modeatelier engagieren lassen und sagen: ‚Bitte, macht das so und macht das so!‘ Aber man darf mich nicht zwingen, jemals eine Nadel anzurühren. Ich könnte auch zu einem Bildhauer oder Maler gehen und ihm sagen, wie er’s machen müßte. Oder ich könnte Theaterkritiker werden.“ „Du könntest schreiben,“ sagte Peterchen. „Du hast sicher Talent dafür.“ „Weißt du, was ich schreiben möchte?“ Olga fuhr mit einem Ruck in die Höhe, „die Geschichte der Fürstin von Massa, die das Volk liebte; denn ich glaube nicht, daß sie aus feiger Angst den Fürsten bewog ... Kennst du sie? Es ist eine grauenhafte und wundervolle Geschichte: Masaniello war tot. Aber der Aufstand in Neapel tobte weiter. Von Madrid aus schickte man den Don Juan d’Austria mit einer Flotte ab. Das Volk war führerlos, ein Ungeheuer ohne Kopf. Die Massen brauchten einen Führer, sie schrien nach ihm – sie zogen vor den Palast des Fürsten von Massa und riefen nach ihm. Francesco Toraldo, der Fürst von Massa, war ein kühner und gerader und gerechter Mann. Er war sicher dem König und der Regierung ergeben; denn als die Unruhen anfingen, hatte er die Truppen des Vizekönigs angeführt, hatte Castelnuovo und Castel Sant Elmo verteidigt. Er liebte das Volk nicht. Aber er liebte seine schöne Frau. Und die Fürstin liebte das Volk. Sie bat ihren Gatten – ihren Gatten, den sie anbetete – die Führerschaft der Massen zu übernehmen. Sie liebte das Volk. Und sie fühlte sich von dem Volke geliebt. Wenn sie durch die Straßen fuhr, drängten sich die jauchzenden Kinder um ihren Wagen, und die Frauen hoben ihr die Säuglinge entgegen, und die Männer neigten sich tief und sahen ihr lächelnd nach. Aber sie liebte auch die Fürsten und Edlen – sie liebte Giuseppe Carafa, den sie ermordet hatten, und Diomede Carafa, der geflohen war, und dessen herrlicher Palast eine wüste Trümmerstätte war. Sie liebte alles und alle, glaube ich – weil sie Francesco Toraldo liebte, und weil sie glücklich war. Sie glaubte so unerschütterlich an Gott und an das Gute im Menschen. Sie hatte so unendliches Mitleid mit dem armen Volk, das von Gaunern und Wahnsinnigen in die Irre geführt wurde – sie hatte so felsenfestes Vertrauen auf die starken Hände Francescos, die die Zügel aufnehmen sollten, die am Boden schleiften, so felsenfestes Vertrauen, daß keinem, keinem mehr ein Unrecht geschehen könne, wenn nur Toraldo hinausträte unter die aufjauchzenden Massen und sagte: ‚Folget mir nach!‘ Francesco Toraldo übernimmt den Oberbefehl über die Aufständischen. Gezwungen, gegen sein innerstes Gefühl. Aber da er ihre Sache nun einmal zu seiner eigenen gemacht hat, setzt er sich auch mit ganzer Kraft für sie ein – wie es für seine gerade und ehrenhafte Natur selbstverständlich ist. Irgendeinem Schlächterburschen, der lieber morden will als Krieg führen, lieber plündern, als für geringen Sold arbeiten, ist Toraldo im Wege. Er beschuldigt ihn des geheimen Einverständnisses mit Don Juan und den königlichen Truppen. Der Pöbel, ohne ihm auch nur eine Stunde Zeit zu lassen, daß er sich rechtfertigen könnte, schleppt den vergötterten Führer auf den Fischmarkt, schlägt ihm auf einer Steinbank den Kopf ab, reißt ihm das Herz aus dem Leibe und trägt es auf silberner Schüssel nach dem Kloster, wo die Fürstin von Massa Zuflucht genommen hat. Die zitternden Nonnen verrammeln die Türen. Die rasenden Horden häufen Stroh und Holz um das Kloster und beginnen es anzuzünden. Da geht die schöne Fürstin von Massa durch die jammernden Nonnen hindurch und läßt sich die Tore aufriegeln und tritt hinaus und steht auf den Stufen und nimmt aus den Händen der Mörder auf silberner Schüssel das Herz des Francesco, noch dampfend von der Wärme seines Lebens. Und keiner wagt, sie anzurühren. Aber den Körper des Francesco Toraldo hängen sie an einen Galgen, und sein blutiges Haupt tragen sie auf einer Pike durch die Straßen der Stadt. Nach zwei Tagen wissen sie es alle, daß er niemals daran gedacht hat, sie zu verraten. Sie schneiden den Leichnam vom Galgen und waschen ihn und salben ihn und hüllen ihn in kostbare Seide. Mit schwarzen Floren bedecken sie die Trommeln, mit schwarzen Floren umwinden sie die Kerzen, sie schleifen die Fahnen und Standarten am Boden hin. Weinend und Gebete murmelnd, folgt das ganze Volk von Neapel dem Sarge, und über der ganzen Stadt hallen unablässig die klagenden Glocken.“ – Sie schwiegen alle drei. Nach einer ganzen Weile sagte Peterchen nachdenklich: „Weißt du, Olga, es wäre ein wundervoller Vorwurf für eine Tragödie. Die Szene im Palast zwischen dem Fürsten und der Fürstin, wenn die Menge draußen nach ihm schreit, und sie ihn überredet ... und die Szene mit den Nonnen ...“ „Schreib’ sie!“ sagte Olga kurz. „Nein, du sollst sie schreiben!“ wehrte sich Peterchen. „Ich kann doch nicht!“ „Ich kann auch nicht,“ sagte Olga schwermütig, „ich empfinde es als so stark, daß man kein Wort hinzuzusetzen braucht. Solche Dinge sind immer am schönsten, wie sie in jeder Chronik stehen. Ich bin nicht für die Kunst geboren. Ich könnte mich auch nicht hinsetzen und einen Wald abmalen, der nicht rauscht, oder eine Wiese, die nicht duftet. Ich glaube, Künstler sein, heißt: respektlos sein. Sich einbilden, daß man es besser machen könnte als das Schicksal oder die Natur oder die Geschichte. Wenn mir irgend etwas begegnet, was nach der Meinung anderer Leute wert wäre, beschrieben oder abgemalt oder sonst wie bearbeitet zu werden – ich weiß nicht – ich habe weder den Mut noch das Verlangen, da hineinzupfuschen. Es ist mir einfach zu schade dazu.“ – – – * * * * * „Weißt du?“ sagte Olga das nächstemal, „ich hab’ eine Idee! Meinst du nicht, Mette, ich könnte Sprachunterricht geben? Jeden Tag fünf Stunden à 2 Mark sind 10 Mark, davon müßte man doch eigentlich leben können, wenn man sich sehr einrichtet.“ „Eine reizende Idee!“ sagte Mette entrüstet. „Erstens sehe ich dich von zehn Mark täglich leben, und zweitens hab’ ich dann überhaupt gar nichts mehr von dir!“ „Darüber kannst du dich allerdings beklagen!“ sagte Olga lachend, „du bist ja auch nur jeden Tag, den Gott werden läßt, von morgens bis mittags und von nachmittags bis abends mit mir zusammen.“ „Wenn es dir zuviel ist,“ – Mette war ernstlich etwas gekränkt – „dann brauchst du es ja nur zu sagen.“ „Hab’ keine Angst,“ sagte Olga beruhigend, „ich kann mich wehren. Wenn ich einen Menschen los sein will, werd’ ich deutlich!“ „Gott sei Dank! Wenn ich mich darauf verlassen kann. Aber jetzt habe ich wirklich eine Idee: wir werden das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden. Du kannst _mir_ die fünf Stunden täglich Unterricht in fremden Sprachen erteilen, und ich werde mir von meinem Vater das Geld dafür geben lassen – auf seinen eigensten Wunsch.“ – – – * * * * * Es ging nicht ganz so glatt, wie Mette es sich gedacht hatte. Tante Emilie suchte die Sprachlehrer selber aus – ein paar sehr würdevolle ältere Damen – ein vierundsechzigjähriger Professor schien ihr schon bedenklich, weil er unverheiratet war, und sie ging selber mit Metten hin und meldete ihre Nichte an. Dadurch hatte Mette nachher die peinliche Aufgabe, den Unterricht wieder abzusagen. Wenigstens hatte sie es erreicht, daß der Vater ihr das Stundengeld übergab und nicht – wie er wollte – es per Postscheck zahlte oder durch die Bank überweisen ließ. Olga nahm es sehr genau mit den Stunden. Sie hielt sie mit gewissenhaftester Pünktlichkeit ein und gab sich streng und pedantisch als Lehrerin. Mette lernte mit Feuereifer, um ihre Ansprüche zu erfüllen. Soweit ging alles wie geplant, nur daß Olga nicht daran dachte, sich einzurichten und von dem Stundengeld zu leben. Es kamen so wundervolle, durchsonnte Oktobertage. Und es machte so unbändiges Vergnügen, im offenen Auto durch den flammenden Wald zu jagen, nach Wannsee oder die Heerstraße hinunter, irgendwo an die breite blaue Havel. Natürlich sahen sie ein, daß sie sich das eigentlich nicht leisten durften, das heißt, Olga sah es ein, und wenn sie wieder Waldsehnsucht hatten, fuhren sie mit dem Vorortzug dritter Klasse, um zu sparen, und ließen sich in der denkbar schlechtesten Luft geduldig schieben und drücken. Aber am anderen Tag hatten sie einen unbezwinglichen Hunger nach Musik, und in der Oper gab es „Tristan“ und natürlich nur noch die teuersten Plätze. Auf solche Weise ließen sich nicht gut Ersparnisse machen. – – – * * * * * Sie fuhren am frühen Nachmittag nach Wannsee. Weil es ja eigentlich „Stunde“ sein sollte, sprachen sie in der Bahn Italienisch miteinander, im gedämpften Ton. – Es war vielleicht deswegen, daß der Herr in dem braunen Überzieher ihnen gegenüber immer über den Rand seiner Zeitung schielte und sich augenscheinlich bemühte, ein Wort von ihrer Unterhaltung aufzufangen. Metten machte das Spaß. Sie empfand einen geradezu kindischen Stolz, wenn sie bemerkte – was oft geschah – daß Olga beobachtet wurde. Sie nahm es keinem Menschen übel, wenn er ihre schöne Freundin in der ungezogensten Weise anstarrte. Sie hätte manchmal direkt sagen mögen: „Ja, seht sie euch nur an! Ist sie nicht schön? Und das darf ich alle Tage sehen, alle Tage!“ Und dann betrachtete sie sie wieder, als sähe sie sie zum erstenmal, und die reinen edlen Linien ihres Profils, die lässig-anmutigen Bewegungen ihrer königlichen und doch geschmeidigen Gestalt, der bezaubernde Klang ihrer tiefen Stimme – alles erfüllte sie immer wieder mit einem Entzücken, das an Andacht und Rührung grenzte. – – – * * * * * Sie bummelten durch die Straßen, bewunderten die Gärten in ihren wunderbar leuchtenden Herbstfarben und suchten sich eine Villa aus. Das taten sie oft auf ihren Spaziergängen. Und wenn sie ein Haus gefunden hatten, das ihnen gefiel – aber auch der Garten mußte danach sein, und die Garage und die Spitzengardinen an den Fenstern – dann konnte es Olga plötzlich einfallen zu sagen, daß sie eigentlich noch eine Abendgesellschaft größeren Stils geben müßten – vor ihrer Abreise nach Kairo – und Mette sollte doch mit Schmidt telephonieren, der Blumen wegen, und dann kam eine lange Beratung, in welcher Farbe sie diesmal den Tafelschmuck nehmen sollten. – Und sie einigten sich auf blaßlila Treibhausflieder und Orchideen und was es sonst noch in der Farbe gab. Aber dann konnten sie nicht das Sèvres-Porzellan nehmen; denn das Kobaltblau vertrug sich nicht mit hellila – und ob sie das Essen bestellen oder alles im Hause machen ließen? Ob sie sich vom Grafen Oriola seinen französischen Koch ausleihen sollen? Dann wurde die Speisenfolge beraten und die Weine dazu. Aber das hübscheste war immer die Liste der Gäste aufzusetzen und Tischordnung zu machen. Gerhart Hauptmann sollte Julia Culp zu Tisch führen. „Nein, er muß _dich_ doch führen,“ bestimmte Mette. „Du bist doch die Hausfrau!“ „Ich?“ sagte Olga. „Nein, das bist du doch!“ Sie standen vor einem breiten schmiedeeisernen Portal und sahen in einen wunderschönen Garten. „Schade,“ sagte Olga mit einem bewundernden Blick auf die breite Terrasse, „es ist schon zu spät, um im Freien decken zu lassen. Aber nächstes Jahr müssen wir in einer Juninacht ein Gartenfest geben – hier auf der Terrasse essen – und plötzlich erscheinen auf dem Wasser lauter kleine Barken, ganz, ganz voll Rosen, jede mit einer bunten Lampe, und alle Gäste steigen in die Boote, immer zwei, und fahren hinaus, wohin sie wollen, auf das weite, dunkle Wasser ...“ „Und mit wem möchtest du mir davonfahren?“ fragte Mette mißtrauisch. Olga stampfte mit dem Fuß auf. „So seid ihr nun!“ sagte sie mit Empörung flammenden Augen. „Willst du dir jetzt vielleicht den Tag verderben, weil ich dir davonfahren könnte, wenn wir in dieser Villa ein Gartenfest geben. Wenn man sich schon etwas Unsinniges ausdenkt, dann muß es doch wenigstens etwas Schönes sein.“ Ein Herr in braunem Überzieher streifte sehr dicht an ihnen vorüber und sah sich in einiger Entfernung mit einer merkwürdig vorsichtigen Geste nach ihnen um. „Das war der Mann aus der Bahn,“ sagte Mette. „Der hält dich für eine schöne Römerin und möchte für sein Leben gern mit dir anbandeln. Ich glaube, ich werde diskret sein und mich zurückziehen.“ Olga fuhr bei Mettes ersten Worten zusammen. „Wir wollen umkehren!“ sagte sie hastig. „Trinken wir oben bei Schultheiß Kaffee. Der geht jetzt sicher nach dem schwedischen Pavillon, und ich habe keine Lust, ihm nachzulaufen.“ Mette lachte hell auf. „Meinetwegen kannst du! So hab’ ich mir den nicht vorgestellt, mit dem du mir davongehst! Einen so perversen Geschmack hätt’ ich dir nicht zugetraut! Aber da du so vor ihm fliehst, scheint es gefährlich.“ Olga antwortete mit keinem Wort, mit keinem Lächeln auf Mettens Neckereien. Sie preßte die Lippen aufeinander, zog die Brauen zusammen und ging so rasch, ein wenig vornüber geneigt, den Kopf gesenkt, die Schultern hochgezogen, als liefe sie vor einer unsichtbaren Peitsche. Sie saßen oben beim Schultheiß und tranken ihren Kaffee. Aber Olgas gute Laune schien verflogen. Sie saß da, beide Hände in den Jackentaschen vergraben, als ob sie fröre und war zerstreut und einsilbig. Sie hatte sich eben mit einem: „Du entschuldigst, ich _muß_ rauchen“, eine Zigarette angezündet, als Mette den Herrn im braunen Überzieher in den Garten treten sah. Er stand einen Augenblick still, ließ einen prüfenden Blick über alle Tische gleiten, ging dann in entgegengesetzter Richtung, um nach einem weiten Bogen plötzlich wieder in ihrer Nähe aufzutauchen und, zwei, drei Tische von ihnen entfernt, Platz zu nehmen. Metten erschien das sehr komisch. „Der Mann aus der Bahn!“ frohlockte sie laut. „Jetzt ist es klar, Olga, du hast es ihm angetan.“ „Schweig’!“ sagte Olga hart. Und dann, als sie Mettens bestürztes Gesicht sah – wie mühsam gebändigt, mit schwergehendem Atem: „Er kann dich ja hören, Kind!“ Sie nahm die eben angerauchte Zigarette mit einer zornigen Bewegung aus dem Mundwinkel, preßte die Brandfläche gegen den Teller und drehte und drückte so lange mit nervösen Fingern daran herum, bis der Tabak aus dem zerrissenen Papier rieselte. Mette fühlte, daß irgend etwas vorging, was sie nicht verstand. Eine dumpfe Beklommenheit schien plötzlich in der Luft zu liegen, teilte sich ihr mit und machte sie angstvoll und unsicher. Nach einer kleinen Weile stand Olga auf. Mette griff nach ihrem Hut, der neben ihr auf dem Stuhl lag. „Nein, laß!“ sagte Olga sehr bestimmt und lauter, als es sonst ihre Art war. Sie haßte es, in öffentlichen Lokalen, auf der Straße, in der Bahn so laut zu sprechen, daß auch nur der nächste Nachbar sie verstehen konnte. „Wir bleiben doch noch. Ich will nur eben telephonieren. Ich bin gleich wieder da.“ Mette wartete geduldig. Olga kam nicht wieder. Schließlich fing sie an, sich zu ängstigen. Wenn ihr schlecht geworden wäre? Sie sah sie schon irgendwo hilflos, ohnmächtig liegen. Sie lief ins Haus. Am Telephon war sie nicht. Wie sie sich suchend umsah, kam der Kellner, der sie bedient hatte, hinter ihr her. Sie suche wohl die andere Dame? Die hätte gezahlt und wäre gegangen – aber sie hätte einen Zettel am Büfett hinterlassen. Mette holte sich den Zettel. Ja, die Dame hätte telephoniert und hätte nach dem nächsten Zug gefragt und wäre sehr eilig fortgegangen. Sie hätte nur noch dies hier aufgeschrieben. Der Kellner hätte es hinausbringen wollen, aber sie hätte gesagt, es wäre nicht nötig, die Dame würde es sich schon holen. Mette dankte und lächelte und tat, als ob das alles die natürlichste Sache von der Welt wäre und wunderte sich, wie gut sie ihre Angst und Aufregung beherrschen konnte. Sie ging erst ein paar Schritte weiter, ehe sie die verschlossene Hülle aufriß. Auf dem Bogen standen nur wenige Worte. „Sei nicht bös, ich mußte fort. Wenn du kannst, komm abends zu mir. Aber nicht direkt, fahr erst nach Hause.“ Mette faltete das Blatt zusammen und schob es mechanisch in die Tasche. Sie ging langsam und mit schweren Füßen wieder durch den Garten und an ihren Platz. Sie versuchte, sich von ihren Gedanken und Empfindungen Rechenschaft zu geben. Sie wäre froh gewesen, wenn sie Olgas rätselvolles Betragen als Laune, als Rücksichtslosigkeit hätte nehmen können und sich einfach darüber ärgern und entrüsten. Aber sie fühlte, daß ein Mehr dahinter war. Irgend etwas Dunkles, Drohendes, wovon sie nichts wußte. Mit wem hatte Olga gesprochen? Wer hatte sie so dringend fortgerufen? Für sie war Olga Radó das Leben, das wußte Mette. Alles andere war eine dumpfe Qual oder Vorfreude auf die Stunden, die sie mit ihr zusammen sein durfte, oder Erinnerung an die Stunden, die sie mit ihr verbracht hatte. Aber was war sie für Olga? Irgendein Nebenher, ein beiläufiger Zeitvertreib, eine Episode eines reichen, bunten, starken Lebens, eine gehorsame kleine Sklavin, ein Haustierchen, das man verhätschelt, ein bequemes Etwas, das man rufen und fortschicken kann, und das noch nicht einmal fragen durfte, _warum_ es gerufen oder fortgeschickt wurde. Nichts wußte sie davon, nichts, was eigentlich dieses Leben erfüllte, was ihm Inhalt gab, nichts wußte sie von den Menschen, die für Olga Schicksal waren, die _ihr_ den Mut zum Leben gaben, den sie von ihr empfing – nichts wußte sie von dem, der sie jetzt fortgerufen hatte, dem sie folgte, ohne daran zu denken, daß sie der armen kleinen Mette den Tag zerstörte, auf den sie sich so gefreut. Mette konnte sich nicht zum Heimweg entschließen. Sie trug ihren Hut in der Hand und ging in tiefen und traurigen Gedanken an den Ufern des Sees entlang. Erst die plötzlich einfallende Dämmerung weckte sie auf und trieb sie nun in Hast dem Bahnhof zu. Im Moment, als sie im Begriff war, auf dem Bahnsteig eine Wagentür des einfahrenden Zuges zu öffnen, fühlte sie einen Blick, der sie zwang, sich umzuwenden. Sie sah in das völlig ausdruckslose Gesicht des Mannes in dem braunen Überzieher. Er öffnete die Tür zum Nebenabteil und stieg in den Zug. Mette erschrak tödlich und wußte nicht warum. Dieser Mann lief nicht hinter ihr her, weil er Gefallen an ihr fand. Das wußte sie deutlich. War es Zufall? Was in aller Welt konnte es sonst für einen Zweck haben? Plötzlich faßte sie ein unerklärliches Grauen. Er hatte so ein merkwürdig leeres Gesicht und einen starren und dabei doch scheuen Blick. Vielleicht war es ein Irrsinniger. Einer, der irgendwo entsprungen war. Am Bahnhof Zoo bemühte sie sich, unter der drängenden Menschenmenge sich zu verstecken. Aber sie fühlte den Fremden unentwegt hinter sich. Ihr schien es, als klammerte sich seine Hand in der Manteltasche um einen Revolver oder um ein Stilett. In jedem Augenblick konnte das blitzende Eisen oder die Kugel sie in den Rücken treffen. Sie fühlte schon den scharfen Schmerz zwischen den Schulterblättern und preßte unwillkürlich die Rückenmuskeln zusammen. Während sie die dämmerigen Straßen hinunterjagte, wagte sie nicht, sich umzusehen. Erst, als sie das Haus aufschloß, spähte sie die Straße hinunter. Er war natürlich nicht gefolgt. Es war alles eine lächerliche Einbildung. Als sie innen im Treppenflur stand, warf sie noch einen Blick durch die Glasscheibe der Tür. Auf der anderen Seite der Straße, das Haus von oben bis unten aufmerksam betrachtend, ging der Mann in dem braunen Überzieher. – – – * * * * * Die Tischunterhaltung quälte sich mühsam hin. Als Mette mit Essen fertig war, sagte sie (sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, sich mit allen Sachen ausdrücklich an ihren Vater zu wenden): „Du erlaubst doch, Papa, daß ich noch eine Stunde zu meiner Freundin gehe? Ich bin um zehn wieder hier.“ Da geschah etwas Seltsames. Franz Rudloff legte eine zur Faust geballte Hand auf den Tisch, richtete den Oberkörper ein wenig aus seiner zusammengesunkenen Haltung auf und sagte: „Mette!“ ... so, als wenn er zu einer längeren Rede ansetzen wollte. Da traf ihn ein Blick von Tante Emilie. Mette fühlte diesen Blick die Luft durchschneiden und fing ihn noch auf. Es war ein kurzer und scharfer Blick, befehlend und fast erschrocken, ein Blick, der unzweideutig hieß: „Schweig!“ Franz Rudloff fiel wieder in sich zusammen, schlug die Augen nieder, rollte seinen silbernen Serviettenring hin und her und sagte: „Gewiß, ... also ja ... wenn du meinst ... schön!“ Mette fühlte, daß auch hier irgendwas vorging, wovon sie nichts wußte. Das verursachte ihr weder Angst noch Schmerz – aber ein peinvolles Unbehagen. Die Welt war heute fremd und rätselhaft. Sie spürte plötzlich Moorboden unter den Füßen und wußte nicht, wie sie die Schritte setzen sollte. Olga hätte sie heute nicht verlassen dürfen, nicht heute, nicht an diesem Tage. Eine heiße, schmerzhafte Sehnsucht quoll in ihr auf, wie schon sooft, stark wie ein mühsam unterdrückter Schrei: „Mutter!“ – – – * * * * * Unterwegs waren ihre Gedanken nur noch bei Olga. Was da geschehen sein mochte? Ob sie das wenigstens erfahren würde? Vielleicht war jemand krank? Verunglückt? Jemand, der Olga nahestand. Vielleicht konnte sie sich irgendwie betätigen, helfen. Sie fühlte die Kraft, jede Anwandlung von Eifersucht zu unterdrücken, sich selbst zu vergessen und hintanzusetzen, wenn man sie nur teilnehmen ließ an dem, was geschah und nicht alle Türen vor ihr zuschlug. Das hatte sie nicht verdient, es gab so qualvolle Unrast – jeder schneidende Schmerz war zehnmal besser als dieses hilflose Im-Dunkeln-Tappen. Während Mette die Stufen hinaufstieg, fühlte sie sich irgendwie kampfgerüstet. Sie wollte es Olga sagen, daß sie das nicht mehr ertrug. Ertrug? Nein, daß sie es sich nicht mehr gefallen lassen wollte, daß sie kein dummes Kind sei, das man ohne ein Wort der Erklärung einfach sitzen lassen könne – daß alle diese Dinge sie nervös machten – oh, so nervös! Und daß ihr – bei Gott! – nächstens auch einmal die Galle überlaufen werde! Olga hatte noch einen Schleier über die Lampe gehängt, so daß eine matte, violette Dämmerung im Zimmer war. Sie lag auf dem Diwan, bis an die Schultern in ihre große Felldecke gewickelt. Als Mette sich zu ihr setzte, spürte sie, daß sie zitterte wie vor Frost. Da war all der Zorn und Trotz, der noch in dem kalten „Guten Abend“ gelegen hatte, verflogen. Sie legte die Hand auf ihre Stirn: „Hast du Fieber?“ fragte sie besorgt. Olga schüttelte nur den Kopf. Es schien, als ob ihr irgend etwas in der Kehle saß, was sie am Sprechen hinderte. Dann machte sie plötzlich mit einer ungeduldigen Bewegung beide Arme von der Decke frei und griff nach Mettens Händen. „Du bist mir böse, Kind!“ sagte sie hastig, wie gejagt. „Du hast ja auch allen Grund. Verachtest du mich? Du kannst mich ruhig verachten. Ich bin ja so feige, Mette, so erbärmlich feige! Ach, Kind, du kannst alles von mir verlangen, ich will dich aus einem brennenden Haus holen – dich?! Ach! Einen Hund, ein Spielzeug, an dem dir liegt – ich will durchgehende Pferde aufhalten, ich will – ach, ich weiß nicht, was ich will – aber darin bin ich feige. Ich kann es nicht noch einmal durchmachen in meinem Leben, ich kann es nicht. Du weißt nicht, was ich ausgestanden habe. Ich habe nächtelang dagesessen mit dem geladenen Revolver und habe gesagt: Tu’s, tu’s, damit nicht wieder so ein Tag kommt ... und dann war das Leben wieder so wahnsinnig schön, und ich hab’s nicht getan. Dann bin ich stundenlang in der Galerie herumgelaufen und habe vor allen Bildern gestanden und gestarrt und nichts gesehen. Und immer den Blick in meinem Rücken gefühlt. Dann bin ich nach Mödling hinausgefahren, wie ich eingestiegen bin, der Mann hinter mir, wie ich ausgestiegen bin, der Mann hinter mir – ach, ich weiß, einmal bin ich in meiner Verzweiflung in ein fremdes Haus hineingelaufen, alle Treppen hinauf, und hab’ immer gedacht, ich will klingeln und die Menschen bitten, sie sollen mich um Gottes und aller Heiligen willen eine Stunde in ihrer Wohnung behalten. Oder ich wollte ihnen etwas erzählen von irgendwelchen Leuten, die sie grüßen lassen – die mich hinschicken – und dann dacht ich, sie halten mich sicher für geisteskrank oder für eine Schwerverbrecherin und lassen mich erst recht festnehmen. Und dann bin ich bis auf den Boden gelaufen und bin da oben herumgeirrt und habe geheult wie ein kleines Kind. Und wie ich mich endlich hinuntergetraut habe, stand der Kerl immer noch da und starrte auf die Haustür. O Mette, in der Zeit hab’ ich immer die ganzen Nächte das Licht brennen lassen, weil ich im Dunkeln überall das Gesicht gesehen habe.“ Mette hielt Olgas eiskalte, unruhige Hände in den ihren fest. „Wessen Gesicht?“ fragte sie leise und verwirrt, als Olga schwieg. „Ich verstehe dich nicht, Liebes.“ „Das ist gut, Kind!“ sagte Olga. „Das ist ja so gut! Sonst hätt’ ich dich ja auch nicht allein gelassen. Aber dir konnte ja nichts geschehen. Dir konnte ja gar nichts geschehen! Bist du nach Hause gegangen? Ja? Wann? Gleich? War er noch da? Hat er dich nach Hause gehen sehen?“ Nun fiel Metten die Erinnerung an den Heimweg wieder wie eine Last aufs Herz. Die Erinnerung an den Heimweg, die Erinnerung an den verdorbenen Tag. Sie ließ Olgas Hände los. „Vielleicht darf ich auch mal fragen,“ sagte sie, „ich bin doch schließlich kein kleines Kind, das einfach alles hinnehmen muß und dem man sagen kann: das verstehst du nicht. Ich hab’ es bis _dahin_ satt, mich ewig von Geheimnissen umgeben zu fühlen. _Was_ hätte mir geschehen sollen? Was hat es für eine Bewandtnis mit diesem Mann? Kennst du ihn persönlich? Aus Wien? Und woher? Ich meine, was hast du für Beziehungen zu ihm?“ Mette wunderte sich selbst, woher sie die Kühnheit hatte, in einem so strengen und schulmeisterlichen Ton zu reden. „Unsinn!“ sagte Olga mit einem nervösen Lachen. „Doch nicht _den_! Das ist doch nicht derselbe!“ „Nicht derselbe?!“ sagte Mette beinah ärgerlich, mit hochgezogenen Brauen. „Was heißt das wieder? Wer nicht derselbe? Nicht derselbe was?“ „Laß mich doch in Ruh,“ sagte Olga böse, „ich laß mich nicht inquirieren! Du kannst mir ja gleich Daumenschrauben anlegen. Wenn du mich nicht mehr leiden magst, dann geh! Ich halt’ dich nicht! Ich halt’ keinen Menschen! Aber laß mich in Ruh!“ Sie sprach zornig, aber mit einer seltsam vibrierenden Stimme und suchte unter dem Berg von Kissen nach ihrem Taschentuch. Als sie es gefunden hatte, riß es ihr Mette mit einer halb unwillkürlichen Bewegung aus den Fingern. Der kleine weiße Ballen war fest zusammengedrückt und ganz feucht. „Hast du geweint?“ fragte Mette in grenzenlosem Erstaunen. „Darf ich das nicht?“ fragte Olga trotzig zurück, und über ihr Gesicht, das von Blässe fahl schien, flog wieder das dunkle Rot. „Nein, ich weiß, ich darf mir das nicht leisten. Ich bin hysterisch. Ich bin überspannt. Es ist mir ja _so_ egal, wofür du mich hältst. Wenn mir danach zumute ist, dann wein’ ich eben!“ Sie versuchte umsonst, die zitternden Lippen aufeinander zu pressen. Aus den Augen, deren übergroße Pupille schwarz die ganze Iris überdeckte, stürzten die Tränen und fluteten über die weißen Wangen. Sie versuchte, den Kopf nach der Wand zu drehen. Aber Mette hielt sie fest. Sie wußte selbst nicht, woher ihr der Mut kam. Nie war Olga ihr gegenüber zärtlich gewesen. Nie hatte Mette es gewagt, zärtlich zu sein. Aber als sie das schöne blasse Gesicht jetzt vor sich sah, tränenüberströmt, zerwühlt von einem fremden Schmerz, mit den großen, tiefen Augen, die schrien von einer mühsam verborgenen Qual, da quoll das heiße Mitleid in Mettens Herzen über, sie preßte die Lippen auf diese nassen Wangen, die nassen Augen, den armen zitternden Mund. „Nicht weinen, Süßes,“ bat sie leise, selbst mit den Tränen kämpfend. „Nicht weinen, Liebes, ich frag’ ja nicht mehr, ich will ja nichts wissen. Nur nicht mehr traurig sein. Tu mir an, was du willst, aber weine nicht so! Ich kann dich nicht weinen sehen. Hör’ auf, Liebes, ich bitt’ dich, weine nicht mehr!“ Olga ließ sich zur Ruhe schmeicheln wie ein unglückliches Kind. Sie schloß die zitternden Augenlider und lächelte, während noch die Tropfen über ihr Gesicht rollten. Sie legte den Kopf müde in die Kissen zurück. Durch den ganzen schlanken Körper ging eine Bewegung wie ein erlöstes Sichstrecken. Sie nahm Mettens Hand und legte sie auf ihre heiße Stirn. „Gutes!“ sagte sie leise und dankbar. „Mein Gutes!“ Und dann immer noch mit geschlossenen Augen hob sie Mettens willenlose Hand von der Stirn und legte die Innenfläche der kühlen Finger auf ihren Mund. Und hielt sie da mit beiden Händen fest, lange, lange. Und Mette saß ganz still und fühlte seltsam wehe Lust und süße Traurigkeit und horchte, wie in einem Traum befangen, auf das harte Pochen ihres Blutes. – – – * * * * * Die fremden und seltsamen Begebenheiten mehrten sich. Eines Tages tauchte plötzlich Onkel Jürgen in Berlin auf. Mette hatte für Onkel Jürgen immer eine besondere Vorliebe gehabt. Es war eigentlich der einzige unter ihren Verwandten, der durch seine stattliche und vornehme Erscheinung, seine betont männliche Haltung und einen gewissen sachlichen Ernst ihr gefiel, und ihr sogar Achtung abnötigte. Er begrüßte Mette auf eine merkwürdige Art, mit einer gewollten Liebenswürdigkeit, die zu sagen schien: ich tue ganz harmlos, du brauchst ja nicht gleich zu merken, weshalb ich hier bin, und was ich gegen dich habe. In Mettens feinem Gefühl wurde sofort ein Mißtrauen rege. Es steigerte sich, als sie das Knacken des Schlüssels vernahm, nachdem die drei – Vater, Tante Emilie und Onkel Jürgen – sich in das Studierzimmer zurückgezogen hatten. Sie schlossen sich ein? Was hatte das zu bedeuten? Galt das den Dienstboten oder galt das ihr? Sie hatte noch nie Interesse für die Verhandlungen ihrer Familie gehabt. Aber das leise Geräusch des Schließens hatte eine unbehagliche Neugier in ihr erweckt. Sie streifte ein paarmal dicht an der Tür vorüber. Aber sie hörte nur ein undeutliches Gemurmel. Es war kein Zweifel, sie flüsterten darin. Mette sehnte sich danach, aus der bedrückenden und unfreundlichen Luft des Hauses fortzukommen. Nach dem Essen – bei welchem nur Onkel Jürgen sprach, und in lauten und wohlgesetzten Worten die Schönheiten der kleinen Stadt und die Tugenden seiner Kinder pries – wagte Mette endlich die Frage: „Ihr legt euch doch nach Tisch alle schlafen, nicht wahr? Dann möchte ich vorm Kaffee noch eine Stunde zu meiner Freundin gehen.“ Es entstand eine allgemeine Stille. Die drei sahen einander an, niemand sah Metten an, niemand antwortete. Vater sah mit einem unruhigen und fast hilfeflehenden Blick von einem zum andern, Onkel Jürgen trommelte auf den Tisch und sah erwartungsvoll aus, Tante Emilie räusperte sich und verzog die Winkel des zusammengekniffenen Mundes zu einer süßlichen Grimasse, die ein freundliches Lächeln vorstellen sollte. Niemand sprach. Tante Emilie wollte sich nicht vordrängen. Sie hielt mit der Antwort zurück und wartete, ob nicht einer der beiden Herren das Wort ergreifen wollte. Aber sie schwiegen und sahen nicht aus, als ob sie gedächten, in der nächsten Minute die peinliche Stille zu unterbrechen. Also war es an ihr, also durfte sie reden. Sie reckte sich auf und legte das Gesicht in Falten, die inniges Mitleid und eine ernste Besorgnis ausdrücken sollten. Aber Metten schien es, als ob die kleinen scharfen Äuglein funkelten, als ob der steif gestreckte magere Oberkörper zitterte in einer bösen Freude. „Das wirst du wohl ausnahmsweise heute unterlassen müssen, mein liebes Kind!“ sagte sie mit sanftem Tonfall und messerscharfer Stimme. „Wir erwarten Nachmittag einen Besuch, der dich aufs dringendste angeht.“ „Mich?“ fragte Mette, und sah dabei ihren Vater an. Aber Rudloff deckte die Augen mit den Lidern und bemühte sich, ein nervöses Zucken seines Mundes zu unterdrücken. Er antwortete nicht. „Ja, dich!“ sagte Tante Emilie so liebenswürdig, als wollte sie ihr eine große Freude verkünden. Mette fühlte in diesem Moment, daß irgend etwas Furchtbares sie bedrohte. Ihr war, als sähe sie sich von einem engmaschigen Netz umgeben, das in der nächsten Minute durch einen leisen Ruck von Tante Emiliens knochigen Fingern über ihrem Kopf zusammengezogen werden konnte. Sie hatte die Empfindung, als ob alle Türen verschlossen, durch Wachen verstellt seien, und als ob nichts sie mehr retten könne, als im selben Augenblick, ohne Zögern, ohne Überlegung aus dem Fenster zu springen – und, was die Lunge hergab – durch die Straßen zu laufen, zu rasen, in wildester Flucht, zu Olga. Sie wurde blaß und machte eine halbe Bewegung. Es war nicht einmal eine halbe, es war nur der Ansatz, es war nur der Wille zu einer Bewegung, der durch ihre Muskeln lief. Onkel Jürgen mußte es trotzdem bemerkt haben. „Na, Mette!“ sagte er in einem etwas gezwungen gütigen und zuversichtlichen Ton, „nur ruhig Blut, mein Deern. Es will dir kein Mensch an den Kragen. Du mußt nur Vertrauen zu uns haben und mußt dir sagen, daß alles, was geschieht, ausschließlich zu deinem Besten geschieht. Und mußt dich bemühen, uns ein bißchen zu unterstützen in unseren Bestrebungen, die nur auf dein Wohl gerichtet sind und nicht etwa durch kindischen Trotz uns unsere Aufgabe erschweren. Dann werden wir auch in gemeinsamer Arbeit über diese Zeit wegkommen, und du wirst uns später sehr dankbar sein, daß wir dich mit liebevoller Gewalt auf den richtigen Weg geführt haben. Und wirst an diese Zeit jetzt zurückdenken, wie an einen schweren Traum, der gar keine Bedeutung hat für dein späteres Leben.“ Diese feierliche Ansprache steigerte Mettens dumpfes Unbehagen zu einem beinah irrsinnigen Angstgefühl. Das alles war fremd und unverständlich. Sie wußte, daß Tante Emilie jetzt nur auf eine Frage wartete, um mit einem Wortschwall loszubrechen. Darum fragte sie nicht: Was ist denn geschehen? Was wird denn geschehen? „Aus dem Fenster! Aus dem Fenster!“ war das einzige, was sie dachte. Und im Moment, als sie draußen die Flurklingel schrillen hörte, zuckte sie zusammen und wußte: „Jetzt ist es zu spät!“ Das Hausmädchen kam hereingeschlichen, als käme sie in ein Krankenzimmer und brachte Franz Rudloff eine Karte. Seine Hand zitterte, als er sie von dem kleinen silbernen Tablett nahm. Er mußte sich auf den Tisch stützen, um aufzustehen. Sein Gesicht sah verzerrt und verfallen aus. „Haben Sie den Herrn Professor in mein Zimmer geführt? Ich komme!“ Er goß sich schnell noch einen Schluck Wasser in sein Glas. Die hartgestärkte Manschette rasselte gegen die Flasche. Er ging hinaus mit einem sichtlichen Bemühen, gerade und aufrecht zu schreiten. Die drei blieben schweigend zurück. Mette hielt es nicht aus, am Tisch sitzen zu bleiben. Als sie aufstand, machte Onkel Jürgen eine hastige Bewegung, als wollte er sie zurückhalten. Aber sie ging nicht nach der Tür, sie machte gar nicht mehr den Versuch, zu entkommen. Sie ging an das Fenster und sah durch den geschlossenen Spitzenvorhang hindurch auf die Straße. Die eintönigen Rufe spielender Kinder drangen herauf. Ein Geschäftswagen rollte heran, hielt vor dem Haus drüben. Der Mitfahrer sprang herunter, schloß auf, belud sich mit Paketen und schlug die Tür mit scharfem Knall wieder zu. Jede Bewegung, jedes Geräusch prägte sich mit ungewohnter Deutlichkeit in Mettens Gehirn. Es ging nichts in ihr vor, als die scharfe Beobachtung dieser alltäglichen Dinge. Hinter ihrem Rücken tat die Tür sich auf. Sie hörte des Vaters gedrückte und etwas heisere Stimme: „Emilie, willst du bitte so gut sein?“ Mette hörte das Stuhlrücken und das Rauschen der Röcke, ohne sich umzudrehen. Die Tür schloß sich wieder. Jetzt war sie mit Onkel Jürgen allein. Jetzt hätte sie ihn um irgendeine Erklärung fragen sollen. Er war ja doch von diesen drei Menschen immer noch der vernünftigste. Ach, aber trotzdem, es war zwecklos. Er war ihr ja doch fremd, unendlich fremd. „Mutter!“ dachte sie, und etwas wie ein krampfhaftes Schluchzen quoll in ihrem Halse auf. „Liebe, gute Mutter, warum hast du mich allein gelassen, ganz allein auf der Welt?“ „Allein!?“ Ihr war, als hörte sie stark und deutlich dies Wort von Olgas Stimme. Und sie sah die ernsten Augen forschend und beinah drohend auf sich gerichtet. Eine heiße Welle flutete über ihr Herz. Sie krampfte die verschlungenen Hände ineinander und lächelte, während ihr die Tränen in die Augen traten. „Nein, ich bin nicht allein,“ dachte sie mit einem so andächtigen Gefühl, als spräche sie ein Gebet, „ich habe dich, Liebes, Schönes, Großes. _Dich_ kann mir das alte böse Weib nicht nehmen, dich nicht! Und wenn sie mich foltern und mich in Stücke reißen – mir kann nichts geschehen – ich hab’ ja dich!“ Eine große Ruhe und Zuversicht kam über sie. Ihr war, als hätte sie einen schlimmen und gefährlichen Weg vor sich. Sie mußte über Moorboden gehen und durch Schmutz und Schlamm waten und reißende Wasser durchschwimmen – aber drüben stand Olga Radó und streckte beide Hände nach ihr und sagte: „Komm!“ Und da wurde der Weg leicht und beinah lockend. Als jetzt die Tür ging und Vater erschien und zaghaft sagte: „Mette, komm bitte einmal her!“ hatte sie fast ein Gefühl von Freude. So wie einer, der gut gelernt hat, sich aufs Examen freut oder ein Mutiger sich auf den Kampf. Sie ging sehr gerade und fest durch das Zimmer und lächelte ein überlegenes und fast höhnisches Lächeln. Bei ihrem Eintritt erhob sich aus Vaters Studierstuhl ein schmächtiger Mann mit scharfen Zügen und durchdringenden Augen, in dessen wohlgepflegtem schwarzen Spitzbart sich einige frühe weiße Fäden zeigten. Da niemand Miene machte, ihn vorzustellen, murmelte er selbst mit leichter Verbeugung seinen Namen und warf dann den anderen einen Blick zu, der einem Befehl zu schleunigem Rückzug gleichkam. Rudloff atmete sichtlich auf, während Tante Emilie zögerte und sich ungern trennte. Sie warf noch in der Tür einen langen, neugierigen Blick zurück; aber der Professor sprach kein Wort, machte keine Geste, ehe sich nicht die Tür geschlossen hatte. Dann rückte er einen Sessel: „Wollen Sie bitte Platz nehmen.“ Mette setzte sich gehorsam. Der Mann ihr gegenüber beugte sich ein wenig vor und sagte mit einer sanften und fast einschmeichelnden Stimme: „Und nun sagen Sie mir erst mal, mein liebes Kind, daß Sie Vertrauen zu mir haben wollen.“ Mette richtete sich steif auf. „Oh – durchaus nicht, Herr Professor!“ sagte sie ruhig. Der Mann fuhr etwas zurück. „Was heißt das?“ fragte er befremdet. „Das heißt,“ sagte Mette kühl, während ihr das Herz zum Zerspringen klopfte, „daß meine Tante Sie hergerufen hat, und daß ich allem mißtraue, was mir von dieser Seite kommt. Wahrscheinlich hat sie die Absicht, mich in ein Irrenhaus zu sperren, und Sie sollen konstatieren, daß ich geistig defekt bin. Sie hat mir so was Ähnliches schon einmal angestellt, als ich noch ein kleines Kind war. Aber wenn Sie Psychiater sind, so werden Sie wissen, daß das Gefühl, auf den Geisteszustand beobachtet zu werden, in den normalsten Menschen etwas Irrsinnähnliches auslösen kann. Und Sie werden mir das in Anrechnung bringen.“ Der Arzt lächelte – ein feines Lächeln. „Ich habe nicht die geringste Veranlassung, an Ihren außerordentlichen geistigen Fähigkeiten zu zweifeln – im Gegenteil – kein Mensch zweifelt daran. Und kein Mensch denkt daran, Sie in ein Irrenhaus sperren zu wollen. Ich bin hergekommen, um mich ein wenig mit Ihnen zu unterhalten – aus wissenschaftlichem und menschlichem Interesse. Darf ich ein paar Fragen an Sie richten?“ „Gewiß!“ sagte Mette. „Aber ich würde wahrscheinlich imstande sein, präziser auf diese Fragen zu antworten, wenn Sie mir gestatteten, dabei eine Zigarette zu rauchen.“ „Gern!“ sagte der Professor zuvorkommend. Mette nahm den Zigarettenkasten vom Schreibtisch und bot ihm an. Er nahm, und während er sein Feuerzeug aufknipste und ihr das Flämmchen hinüber reichte, fragte er in beiläufigem Ton: „Sie sind passionierte Raucherin?“ „Ich habe es mir beim Lernen angewöhnt,“ sagte sie. „Es hilft mir, die Gedanken zusammen zu halten. Und da ich doch den Verdacht noch nicht ganz los bin, daß Sie mir aus irgendeiner dummen Antwort einen Schwachsinn konstruieren ...“ Der Professor lachte: „Das sollte mir schwer fallen – aber Sie haben recht, es plaudert sich viel gemütlicher bei der Zigarette. Nun erzählen Sie mir doch erst mal, was war das eigentlich für eine Angelegenheit, die Sie mir vorher andeuteten? Was hat Ihre Frau Tante für böse Absichten gehabt, als Sie noch ein kleines Kind waren?“ „Ach,“ sagte Mette, „sie hat mir einen Kinderpsychiater kommen lassen, weil ich Silberzeug aus dem Büfett genommen hatte.“ „Ach,“ sagte der Professor interessiert mit einem belustigten Lächeln. „Und warum taten Sie das? Hatten Sie Freude am Silber?“ „Nein, ich hab’ es versetzt!“ „Versetzt!“ Der Professor lachte hell auf. „Wie sind Sie als kleines Kind auf diese Idee gekommen?“ „Nicht aus mir selbst!“ sagte Mette ernsthaft. Aus Nebeln der Vergangenheit stieg plötzlich klar und deutlich Friedel Eggebrechts Bild auf. „Mein Kinderfräulein hat mich dazu verleitet. Ich stand vollständig unter ihrem Einfluß – der nicht gerade sehr günstig war.“ „Ach!“ sagte der Professor mit leichtem Erstaunen. „Sind Sie beeinflußbar? Das sieht man Ihnen nicht an! Jetzt würde Sie wahrscheinlich keine Macht der Welt mehr zu solchen Dingen bringen!“ „Ach, verflucht!“ sagte Mette mit einem plötzlichen Erschrecken, „jetzt hab’ ich ja das blöde Silber verfallen lassen!“ Der Professor amüsierte sich köstlich, oder er tat wenigstens so. „Welches?“ fragte er. „Das, was Sie vor zehn Jahren versetzt haben? Das wird nun wohl allerdings verfallen sein!“ „Nein,“ sagte Mette unbefangen, „das, was ich jetzt versetzt habe. Das hatt’ ich ja in den Tod vergessen!“ „Sie brauchen sich darum nicht zu ängstigen,“ sagte der Professor liebenswürdig, „es ist eingelöst worden.“ Mette faßte im Moment nicht ganz. „Wieso? Es hat doch niemand davon gewußt.“ „Man hat den Schein bei Ihnen gefunden.“ „Gefunden!“ Mette sprang auf. „Gefunden?! Das heißt, daß diese schamlose Person heimlich über meine Sachen geht und darin herumwühlt. Oh, schade, daß ich sie nicht dabei ertappt habe – ich hätte sie mit meinen eigenen Händen erwürgt, glaube ich!“ „Bitte, setzen Sie sich!“ sagte der Professor, noch ohne Schärfe, aber so zwingend, daß Mette gehorchte. „Wenn Sie mit dieser Person Ihre Frau Tante meinen, so muß ich ihr als Mensch und als Arzt das Recht zugestehen, Sie als ihre Pflegebefohlene ein wenig intensiver zu beaufsichtigen, als es sonst zwischen erwachsenen Menschen üblich ist.“ „Ich _bin_ ein erwachsener Mensch!“ sagte Mette zornig. „Sie sind ein Kind,“ sagte der Arzt sehr milde, „ein Kind, das gar nicht weiß, in welcher Gefahr es schwebt – und das uns allen sehr dankbar sein wird, wenn es einmal erwachsen sein wird und einsehen lernt, wovor wir es behütet haben.“ „Ich glaube, Sie sind im Irrtum!“ sagte Mette eiskalt. „Ich bin in keiner Gefahr. Und wenn, dann behüte ich mich selber.“ „Solange Sie nicht mündig sind, werden Sie schon unsere helfende Hand nicht zurückweisen dürfen.“ Das klang gütig, aber sehr bestimmt. „Ich zweifle, daß Sie aus eigener Kraft den Entschluß aufbringen werden, sich von Ihrer Freundin zu trennen, unter deren Einfluß Sie stehen.“ Metten strömte das Blut jäh zum Herzen. Sie fühlte, daß sie weiß wurde wie Leinen. „Was wissen Sie von meiner Freundin?“ fragte sie schroff. Der Atem drohte ihr zu versagen. Der Arzt lächelte überlegen. „Jedenfalls mehr als Sie.“ „Das bezweifle ich,“ unterbrach ihn Mette in einem harten und spöttischen Ton. Er war nicht aus seiner Ruhe zu bringen. „Ich weiß,“ sagte er in gelassenem, aber festem Ton, „daß Sie unter dem Einfluß einer Frau stehen, der für Sie höchst verderblich ist. Ich begreife Sie ja. Sie _sind_ ein Kind. Ich will dieser Frau Geist und Liebenswürdigkeit gewiß nicht absprechen. Sie sind stolz auf diese Freundschaft und würden ihr alles zum Opfer bringen. Sie lassen sich durch diese Freundschaft auf die Bahn des Verbrechens treiben ...“ „Ach, Unsinn!“ sagte Mette. „Ich verstehe, daß Sie mir widersprechen. Aber nehmen Sie einmal Ihren klaren Verstand zu Hilfe, und denken Sie logisch nach. Sie entwenden das Silberzeug aus dem Büfett Ihrer Eltern. Sie lassen sich von Ihrem Vater Stundengeld geben und legen das Geld dafür an, mit Ihrer Freundin Auto zu fahren, Sekt zu trinken, die Oper zu besuchen. Sie bezahlen die Schneiderrechnungen dieser Freundin mit Geld, welches Sie sich auf unrechtmäßige Weise verschafft haben. Ja, Kind, sehen Sie denn nicht selbst, auf welchen Abgrund Sie zusteuern?“ Woher wußten sie das alles? Wie durch einen aufflammenden Blitz erleuchtet, lagen die Zusammenhänge klar vor Metten. Man hatte sie durch einen Detektiv beobachten lassen, auf Schritt und Tritt. Wo sie ging und stand, hatten fremde Augen an ihr geklebt, fremde Augen und Tante Emiliens Gedanken. Der Mann in Wannsee ... und da vielleicht ... und dort auch. Das war es, was Olga so geängstigt hatte. Sie hatte es gewußt, gekannt, schon einmal durchgemacht. Arme Olla ... Mette saß ganz still und rührte sich nicht. Ihr war, als ob erbarmungslose Hände ihr Stück für Stück der Kleidung vom Leibe rissen. Es waren nicht die Hände dieses fremden Mannes, es waren Tante Emiliens Hände, die das taten, es war Tante Emiliens Gesicht, das sie vor sich sah, hohngrinsend, geifernd vor böser Lust – langsam, langsam krampften sich Mettens Finger zu Fäusten zusammen – sie reckte den Hals vor, senkte die Stirn, verzerrte die Mundwinkel und schluckte gewaltsam. Die Stimme des Professors wurde wieder ganz sanft und begütigend: „Denken Sie doch einmal zurück an Ihre Kinderzeit! Haben Sie dieses Kinderfräulein, unter deren Einfluß Sie damals standen, nicht auch geliebt? Und sind Sie jetzt nicht froh und dankbar, daß man Sie von ihr getrennt hat? Genau so dankbar werden Sie uns später sein, wenn Sie erst zur Einsicht gekommen sind. Wenn Sie nachdenken, so wissen Sie ja jetzt schon in Ihrem tiefsten Innern Bescheid. _Sie_ sind die treue Freundin. _Sie_ lieben, _Sie_ opfern sich auf. Und Sie werden ausgenutzt, als Spielzeug behandelt, bei Gelegenheit verleugnet und über kurz oder lang beiseite geworfen. Denken Sie denn, das wäre der erste Fall, der uns vor Augen kommt? Dann sind Sie fürs Leben verdorben, körperlich und seelisch krank, jeder Glücksmöglichkeit beraubt – was bleibt Ihnen dann? – Je nach Ihrer Veranlagung: Mord oder Selbstmord! Ich habe furchtbare Tragödien auf diese Art entstehen sehen ...“ Mette kämpfte vergeblich gegen den Eindruck an, den diese Worte auf sie machten. Ihre gereizten Nerven spürten einen eiskalten Hauch, der sie bis in das innerste Herz erschauern machte. Es schien ihr wie ein mahnender Gruß aus einer dunkel verhüllten Zukunft. Tod – Ende! Ein grauenhaftes Etwas schritt unbeirrbar auf sie zu und warf seinen kühlen Schatten voraus. Sie fröstelte. Sie mußte sich anstrengen, um eine äußerliche Ruhe zu erzwingen. Sie krallte die Finger um die Sessellehnen und schluckte ein paarmal. „Das alles tut ja nichts zur Sache,“ sagte sie endlich mühsam. „Vielleicht sind Sie so gut und teilen mir mit, weshalb man Sie eigentlich gerufen hat, und was man über mich beschlossen hat. Denn es _ist_ doch irgend etwas über mich beschlossen. Wenn nicht in ein Irrenhaus – will man mich dann in ein Kloster sperren, oder in eine Besserungsanstalt, oder nach Amerika verschicken?“ Der Arzt lächelte. „Aber nichts von alledem. Sie werden auf einige Zeit mit Ihrem Onkel, mit Herrn von Seyblitz, zu seiner Familie fahren. – Sie werden in guter Luft und einem ruhigen Leben Ihre Nerven kräftigen und werden dann selbständig zu gesunden und willensstarken Entschlüssen kommen.“ „Wann soll ich fahren?“ stieß Mette kurz hervor. „Heute noch!“ „Ich muß doch erst einen Koffer packen!“ „Der wird jetzt während unserer Unterredung schon gepackt!“ Das war das, was sie gefürchtet hatte. Mette fühlte die Mauern, die Handfesseln. Sie warf einen Blick um sich wie ein gehetztes, in die Enge getriebenes Tier. Nirgends ein Ausweg, nirgends eine Möglichkeit zur Flucht. Man trennte sie von Olga. Das war schlimm, aber nicht das Schlimmste. Man tat ihr Gewalt an. Man hätte diese Reise von ihr erbitten sollen, man hätte ihr Zeit lassen sollen, Zeit zu einem Abschied, zu einer Erklärung, Zeit, ihre Sachen selber einzupacken, ihre Bücher ... jetzt war Tante Emilie an ihrer Kommode und packte ihre Sachen ein, wühlte darin herum ... in einer Stunde saß sie vielleicht schon im Zug, ohne Olga Nachricht geben zu können ... und Onkel Jürgen saß ihr gegenüber als Gefangenenwärter ... und was würde unterdessen hier geschehen? mit ihrem Schreibtisch ... mit ihren Büchern ... mit Olga ...? Sie spürte Lust, irgend etwas zu zerreißen, zu zerschlagen, mit dem Kopf gegen die Wände anzurennen. Sie tat nichts. Sie stand von ihrem Stuhl auf, sehr blaß, sehr ruhig und sagte: „Also ... ist das nun alles?“ „Es freut mich,“ sagte der Professor, ebenfalls sich aus seinem Sessel erhebend, „daß Sie sich mit dieser Reise einverstanden erklären.“ „Einverstanden?“ sagte Mette mit einem verächtlichen Zucken der Lippen. „Ich füge mich dem Zwang, weil ich weiß, daß jeder Widerstand nutzlos ist. Wenn meine Tante mich hier forthaben will, läßt sie mich in Ketten wegschleifen, und mein Vater sieht zu, und alle Gerichte der Welt geben ihr recht.“ Der Professor ging an ihr vorüber und machte die Tür auf. „Fräulein Melitta und ich sind uns ganz einig!“ rief er heiter. „Ich habe ihr eine kleine Luftveränderung verschrieben, und sie freut sich sehr, ein paar Wochen in Ihrem gastlichen Hause zu verbringen, Herr von Seyblitz!“ Onkel Jürgen rieb sich die kräftigen Hände, Franz Rudloff versuchte ein farbloses Lächeln, und Tante Emilie machte ein überraschtes und – wie es Metten schien – sichtlich enttäuschtes Gesicht. Sie schoß auf den Professor los und zischte halblaut, aber doch laut genug, daß alle es hören konnten: „Sie sagten mir doch, Herr Professor, daß Sie eine Untersuchung vornehmen wollten, um möglicherweise irgendwelche körperlichen Anomalien festzustellen ... ich glaube bestimmt ...“ Der Professor versuchte umsonst, sie durch eine leichte Geste der Hand und der Augenlider zum Schweigen zu bringen. Es war zu spät. Mette hatte schon begriffen. Ganz jäh und mit einem Schlage alles begriffen. Sie spürte nur die eine brennende Sehnsucht, dies widerliche Geschöpf da unter ihren Händen verenden zu sehen. Sie wußte nicht, daß sie eine Bewegung machte. Der Boden wich unter ihren Füßen zurück. Sie hörte ein Röcheln, das fremd und grauenhaft war, und das doch aus ihrer eigenen Kehle kam. Sie spürte, daß ihre Finger sich um einen dürren, faltigen Hals krallten und spürte im selben Moment, daß eisenfeste Hände ihre Gelenke umklammerten, so fest umklammerten, daß das Blut ihr in den Adern zu stocken schien, und ihr war, als müßte sie ersticken. Sie fühlte, daß sie diese Folter nicht einen Herzschlag länger ertragen konnte. „Loslassen!“ knirschte sie. „Loslassen!“ Der Arzt gab sofort ihren rechten Arm frei. Eine Sekunde später Onkel Jürgen den linken. Jetzt fing die Haut über den Gelenken an zu schmerzen. Sie rieb sie ganz mechanisch. Sie fühlte sich müde, ruhig, zerschlagen. Der Gedanke tat ihr fast wohl, daß sie fort sollte, aus diesem Haus, von diesen Leuten fort, jetzt gleich, in dieser Stunde noch. Sie wandte sich mit ihren Fragen nur noch an den Arzt: „Wann geht der Zug? Wird es nicht Zeit, daß ich mich fertig mache?“ – Als das Auto vor der Tür stand, fragte der Professor beiläufig: „Wir haben, glaube ich, denselben Weg. Haben Sie nicht einen Platz im Wagen frei?“ Mette sah ihn groß an und lächelte ein wenig spöttisch: „Sie brauchen gar keine Ausrede, Herr Professor, wenn Sie mich an die Bahn bringen wollen. Meine Familie wird auf das Vergnügen verzichten. Es ist besser für alle Beteiligten.“ Sie reichte ihrem Vater die Fingerspitzen, die dieser mit beiden Händen umschloß. „Adieu, Papa, laß dir’s gut gehen.“ Tante Emilie zog sich mit gespielter Ängstlichkeit an die Wand zurück, als befürchtete sie einen neuen Anschlag auf ihr Leben. Mette streifte sie nur mit einem verächtlichen Blick. – Die Bahnfahrt war doch länger, als sie gedacht hatte. Mette sah angespannt aus dem Fenster und bemühte sich, die Namen der Stationen, jedes Dorf und jedes Bahnwärterhäuschen ihrem Gedächtnis einzuprägen. Es wäre doch möglich, daß sie zu Fuß zurück müßte. Sie hatte kein Geld – ob sie Gelegenheit hatte, Wertsachen zu versetzen oder zu verkaufen, war fraglich. Sie sah nach den Kilometerschildern, 87 Kilometer bis Berlin. Fünf Kilometer in der Stunde schaffte sie glatt. Es war nur schade, daß nicht Sommer war. Bei zwei Grad unter Null ließ sich’s nicht gut im Freien nächtigen. – – – * * * * * Mette saß in der hellen und freundlichen Mansardenstube auf dem Fenstertritt, rauchte eine Zigarette und polierte ihre Nägel. Auf der weißen Decke des Nähtisches, den Mette zum Toilettentisch degradiert oder befördert hatte, lag aufgeschlagen ein kleines, dickes, schwarzes Buch: das Neue Testament. Die Tür wurde aufgemacht, und ihr Vetter Hermann schob sich durch den Spalt. Er blieb in der offenen Tür stehen und spielte mit der Klinke. „Ob du zum Abendbrot runterkommst, oder ob du noch Kopfschmerzen hast?“ fragte er lakonisch. „Mach’ die Tür zu, Junge!“ herrschte Mette gedämpft. Sie wollte nicht, daß der Zigarettenrauch auf den Treppenflur und in Tante Antoniens feine Nase zöge. Der Junge machte die Tür zu, aber ließ die Klinke nicht los. „Warum klebst du eigentlich an der Türe?“ fragte Mette belustigt. „Bitte, tritt näher. Nimm Platz!“ Der Junge zögerte. „Wir sollen eigentlich nicht zu dir hinein,“ meinte er. „Aber wenn deine Kopfschmerzen besser sind, dann wirst du ja auch nicht mehr so krank sein ...“ „Krank?“ sagte Mette verwundert. „Sollt ihr nicht zu mir hereinkommen, weil ich krank bin?“ „Ja!“ sagte der Zwölfjährige altklug. „Wegen der Ansteckungsgefahr!“ „Ach, Männe!“ Mette lachte kurz auf. „Die Krankheit, die ich habe, steckt ganz gewiß nicht an.“ „Was hast du denn für eine Krankheit?“ Der Junge kam neugierig näher. Mette zögerte mit der Antwort. Der Junge warf einen begehrlichen Blick auf die Zigaretten. „Schenk’ mir eine!“ bettelte er plötzlich. „Ja,“ sagte Mette rasch. „So viel du willst. Aber du mußt mir einen Brief auf die Post bringen, ganz heimlich, so, daß es keiner sieht. Kann man sich auf dich verlassen?“ Mette sah ihn scharf und prüfend an. Der Ehrgeiz des Jungen war geweckt. „Aber!“ sagte er überzeugt, „meinst du, daß ich mich erwischen lasse? Ich bin doch nicht dämlich.“ Er bekam den Brief und die Zigaretten und verstaute beides so kunstgerecht in der Bluse, daß Mette lächelnd dachte: „Es ist nicht das erstemal, daß er da etwas vor Mutters scharfen Augen versteckt.“ Er zögerte noch zu gehen. Er druckste ein bißchen und platzte dann heraus: „Sag’ mir doch, was du für eine Krankheit hast?!“ Mette dachte nach, was sie ihm antworten sollte. Ihr Blick fiel auf das Zigarettenetui. „Weißt du, Männe,“ sagte sie nach einer Weile, „mich hat ein Skorpion gestochen. Nun ist mein ganzes Blut vergiftet. Und du weißt doch: gegen Skorpionengift hilft nur Skorpionengift. Und hier gibt es keinen Skorpion. Aber daß es ansteckt, das ist ein Aberglaube. Das sind die Phalangien, die so giftig sind, daß man sich ansteckt, wenn man sich im Waschwasser eines Gestochenen wäscht. Das hat deine Mutter verwechselt.“ „Es ist nicht ansteckend?“ fragte der Junge und wagte sich noch ein Schrittchen näher. „Nein!“ Mette schüttelte den Kopf mit einem wehen Lächeln. „Ich glaube wohl, daß es _tödlich_ sein kann – aber ansteckend ist es nicht.“ – – – * * * * * Der kleine Hermann, der den Brief mit viel Heimlichkeit und Wichtigtuerei nach der Post besorgte, war fest überzeugt, daß es ein Liebesbrief sein müsse, den man ihm anvertraut hatte. Er wäre sehr erstaunt gewesen, wenn er erfahren hätte, daß in dem Brief mehr von ihm, von dem kleinen Hermann selbst, die Rede war, als von Liebe. „... Ich habe die Kinder meines Onkels früher gehaßt“ ... das schrieb sie, nachdem sie von den Begebenheiten der letzten Tage eine sachliche Schilderung gegeben hatte. „... Ich hatte keinen Grund, sie zu hassen, als daß sie so abstehende Ohren hatten. Sag’ mir, Liebes, wodurch bin ich ein so ganz anderer Mensch geworden? Ich sehe jetzt Charaktere in jedem kindischen Benehmen, und ich sehe Schicksale, die an diese Charaktere unlöslich festgekettet sind. Ich sehe, daß die kleine Annemie einmal ein schweres Leben haben wird – nicht nur, weil sie abstehende Ohren hat – und darum habe ich immer das Gefühl, ich möchte ihr helfen, ich möchte ihr schenken, um die paar glücklichen Stunden in ihrem Leben zu vermehren ... Ich habe eine Entdeckung gemacht, Olla. Du wirst mich auslachen. Meine Tante Antonie hat den Bücherschrank vor mir verschlossen und hat mir das Neue Testament aufs Zimmer gelegt. Ich habe sie in Verdacht, sie wollte mich damit strafen. Vor einem Jahr hätt’ ich es voll Empörung an die Wand geworfen und wäre gar nicht auf den Gedanken gekommen, daß man es lesen könnte. Und jetzt habe ich mich so damit befreundet! Was ist das doch für ein herrliches Buch! Aber ich mache mich lächerlich vor Dir mit meiner Entdeckung. Gibt es wohl etwas Schönes auf der Welt, was Du nicht kennst und liebst?“ – – – * * * * * Onkel Jürgen und Tante Antonie waren aufs angenehmste überrascht von Mettens Betragen. Sie hatten ein widerspenstiges Kind erwartet, das sie nötigenfalls unter Anwendung von Gewalt zähmen mußten und fanden eine junge Dame von formvollendeter Liebenswürdigkeit. So wirkte es peinlich, sie überall zu beschränken und zu beaufsichtigen, und man gewährte ihr eine Freiheit nach der anderen. Mette nutzte diese Freiheiten aus und traf Vorbereitungen zur Flucht. Sie hatte Tag und Nacht keinen anderen Gedanken, und die dauernde Beschäftigung mit diesen Plänen stimmte sie zu fast ausgelassen-heiterer Erregung. Es handelte sich vor allem darum, sich Geld zu verschaffen. Mette verkaufte von ihren Sachen, was ihr irgend entbehrlich schien. Aber das brachte nicht genug. Sie fing an, Sachen aus dem Haushalt zu verschleudern. Es war schwierig und unpraktisch. Erstens konnte es herauskommen, ehe sie fort war, dann war alles verloren, und zweitens lohnte es nicht die aufgewendete Mühe, und es tat ihr auch leid, wertvolle Dinge um einen Spottpreis wegzugeben. Eines Tages empfing Onkel Jürgen mit der Post eine größere Summe, die er in Mettens Gegenwart in den Schreibtisch einschloß. Mette starrte wie hypnotisiert auf den verschlossenen Kasten. Da war alles, was sie brauchte, aber wie dazugelangen? Sie lag eine ganze Nacht, ohne Schlaf zu finden, oder auch nur zu suchen. Ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft. Nachts den Schreibtisch gewaltsam erbrechen. Es ging kein Zug mehr, der sie dann vor Tagesanbruch in Sicherheit brachte. Einen Wachsabdruck des Schlosses nehmen. Der Schlosser würde Verdacht schöpfen, wenn sie sich einen Schlüssel danach machen ließ. Das Schlüsselbund stehlen? Man würde es sofort vermissen und das ganze Haus durchsuchen. Den Schreibtischschlüssel vom Bund lösen? Man würde auch das Fehlen dieses einen wichtigsten Schlüssels sofort bemerken. Am anderen Tag holte sich Mette vom Schlosser ein halb Dutzend Schlüssel. Sie erzählte eine Geschichte von einem verlorenen Schrankschlüssel und freute sich fast darüber, wie sicher und unbefangen sie ihre Märchen vortrug. In der Nacht schlich sie hinunter und probierte die gekauften Schlüssel. Sie hatte die Form und Größe des Schlüssels sich gut gemerkt. Fast alle ließen sich ins Schloß schieben. Aber keiner schloß. Am anderen Tag erbat sie die Schlüssel, um ein Buch aus der Bibliothek zu nehmen. Während sie vor dem Bücherschrank kniete, löste sie den Schreibtischschlüssel vom Bund. Einen bereitgehaltenen, der ihm äußerlich gleich sah, fügte sie an seine Stelle. Sie nahm ein Buch aus dem Schrank, ohne zu wissen, welches. In dem Augenblick, in dem sie Onkel Jürgen das Schlüsselbund zurückgab, glaubte sie, er müsse das rasende Schlagen ihres Herzens spüren. Sie fühlte, daß ihr Gesicht weiß aussehen mußte wie Kalk und bemühte sich, mit steifgefrorenen Lippen zu lächeln. Der Onkel nahm ihr die Schlüssel ab, ohne von seiner Zeitung aufzusehen und ließ sie mit einem flüchtigen „Danke!“ in die Hosentasche gleiten. Mette packte ihren Handkoffer und gab eine Depesche auf. In der Dämmerung schaffte sie den Handkoffer nach der Bahn. Um halb acht wurde zu Abend gegessen. Um halb neun ging der Zug. Mette klagte während des Essens über Kopfschmerzen. Der Onkel gab ihr auf ihre Bitte ein Pyramidon und empfahl ihr, sich gleich hinzulegen. Mette sagte: „Gute Nacht!“ während die anderen noch bei Tisch saßen. Um vom Eßzimmer nach dem Treppenflur zu kommen, mußte sie durch das dunkle Wohnzimmer. Während sie aus dem Nebenzimmer die Stimmen hörte und jeden Augenblick das Stuhlrücken der Aufstehenden zu hören glaubte, schloß sie das Schreibtischfach auf und stopfte eine Handvoll Scheine in ihre Bluse. Im Treppenflur hing ihr Mantel schon vorsorglich bereit. Sie schlüpfte hinein und öffnete die kleine Hintertür, die an der Küche vorbei in den Garten führte. Vorne an den Fenstern des Speisezimmers vorbeizugehen, wagte sie nicht. Über das niedrige Gartenstaket sich zu schwingen, war keine Schwierigkeit. Noch einmal sah sie sich um. Von dieser Seite war das Haus ganz dunkel. Sie horchte. Keine Tür ging, kein Fenster klirrte. Dann wandte sie sich und lief wie gejagt querfeldein – dem Bahnhof zu. – – – * * * * * Während der Bahnfahrt kämpfte sie manchmal mit einer qualvollen Bangigkeit. Sie sah sich verfolgt, gefesselt – der Zug schien unerträglich langsam zu fahren, auf allen Stationen über Gebühr zu halten. Sie hatte mitunter das Gefühl, daß es besser wäre, auszusteigen und zu laufen, vorwärtszujagen, bis Atem und Muskelkraft versagten, als so in untätiger Unrast gefangen zu sein und zu warten, bis die träge Maschine sie ans Ziel brachte. Mit einem plötzlichen Erschrecken dachte sie an die Möglichkeit, daß ihr Telegramm nicht zur Zeit angekommen sein könne oder Olga nicht zu Hause getroffen habe. Was sollte sie nur um Gottes willen anfangen, wenn Olga nicht an der Bahn war! Nach Hause zu fahren, war eine Unmöglichkeit. Sie glaubte schon Zwangsjacke und Handschellen zu spüren. In der Nacht zu Olga? An einem fremden Haus klingeln, die Leute in der Pension wecken? Mit welchem Recht? Ihr blieb nichts übrig, als sich für die Nacht in einem Hotel einzumieten. Aber wo war sie sicher? Morgen früh würde man überall nach ihr suchen. Ihr graute vor dem, was ihr dann bevorstand. Und ihr graute vor der einsamen Nacht in einem fremden Zimmer. Es kamen Augenblicke, wo sie verwundert ihrem eigenen Tun gegenübersaß und erschrak vor ihrer eigenen Kühnheit. Wo sie bei einer Bewegung plötzlich das Knittern der Scheine in ihrer Bluse fühlte und voll Staunen und fast voll Bewunderung sich fragte: „Herrgott, wie hab’ ich das eigentlich fertiggebracht?“ – – – * * * * * Um elf Uhr zwanzig lief der Zug in den Bahnhof ein. Licht und Lärm in der dröhnenden Halle, deren weite Wölbung sich im Dunkeln verlor, waren fast noch beängstigender als die schweigende Nacht auf den Feldern. Aber da war Olga Radó. Zwischen hastenden, suchenden, hin und her wimmelnden Menschen stand sie ganz ruhig, noch ein wenig höher gereckt als sonst. Zwischen dummen, stumpfen, mißgeformten, vor Aufregung verzerrten Gesichtern leuchtete ihr weißes, klares Gesicht. Unter den dunklen, wie drohend zusammengezogenen Brauen hervor schimmerten die scharfen Augen und flogen prüfend an der Wagenreihe entlang. Mette stieß die Tür auf, ehe noch der Zug hielt. Sie bahnte sich rücksichtslos einen Weg, stieß ihren Handkoffer den Leuten in die Kniekehlen, streckte ihr die Hand entgegen, nein, griff nach ihr, wie ein Fallender nach einem Halt und rief zwischen Lachen und Weinen: „Olga!“ Olgas Gesicht, das sich erst jetzt mit jäher Wendung ihr zudrehte, blieb ernst. Nicht der Schimmer eines Lächelns flog über die gespannten Züge. „Mette!“ sagte sie mit ihrer tiefen Stimme. „Kind! Was machst du für Dummheiten!“ Mette erschrak ein wenig. Nicht sehr. Ein anderer Empfang wäre ihr lieber gewesen – aber was taten ihr diese Worte oder der Ton der Worte. Olga war da. Sie sah ihr Gesicht, sie hielt ihre Hand, sie hörte ihre Stimme. Nun war alles gut. „Bist du böse?“ fragte Mette mit lachenden Augen, ohne Olgas Hand loszulassen. „Wenn du jetzt schon böse bist, alter Philister, dann wag’ ich gar nicht zu erzählen, was ich alles ausgefressen habe!“ „Ich bin nicht böse,“ sagte Olga ernsthaft, „ich lehne nur jede Verantwortung ab. Wenn du durchgehst, ist das deine Sache. Ich habe dich nicht mit einem Wort, mit einem Blick dazu verleitet. Ich habe nichts davon gewußt. Das möchte ich nur von vornherein konstatieren.“ „Ja,“ sagte Mette, „aber nachdem du das nun konstatiert hast, kannst du mir vielleicht sagen, ob es dir persönlich angenehm oder unangenehm ist, daß ich hier bin.“ „Wenn ich ehrlich sein soll,“ sagte Olga mit einem halben Lächeln und ohne Metten anzusehen, „so ist es mir nicht unangenehm; aber ich bin eigentlich ein bißchen verzweifelt. Hast du vielleicht darüber nachgedacht, was nun mit dir werden soll?“ Mette hatte daran gedacht. Darüber nachgedacht? – Nein, das war wohl nicht das richtige Wort. Sie hatte die Vorstellung gehabt, daß sie zu Olga käme, um bei Olga zu sein, um bei Olga zu bleiben. Sie hatte sich in Olgas behaglichem Zimmer gesehen – in dem einzigen Zimmer, in dem sie je glückliche Stunden verlebt hatte – hatte sich da verbergen wollen, nie auf die Straße gehen, nie nach Hause gehen – nun fühlte sie das Unsinnige dieser Gedanken und wagte sie den klugen Augen gegenüber nicht auszusprechen. „Ich weiß nicht,“ sagte sie kleinlaut. „Ich weiß nur, daß ich nicht nach Hause kann, nie, nie, nie, nie! Ich kann mir ja eine Stellung suchen als Kindermädchen, als Kellnerin – was weiß ich!“ „Dazu hättest du eigentlich ebensogut bleiben können, wo du warst. Sie werden dich ja nicht gerade geprügelt haben oder Hunger leiden lassen. Oder glaubst du, daß du als Kindermädchen sehr viel mehr Freiheit haben wirst?“ „Ja,“ sagte Mette trotzig, „dann hab’ ich wenigstens meinen freien Sonntag, wo mir kein Mensch verbieten kann, mit dir zusammen zu sein!“ „Meinetwegen!“ Olga blieb stehen und schloß einen Moment wie in tödlichem Erschrecken die Augen. „Du bist geradezu grausam, Mette. Fühlst du denn nicht, wie ungeheuer du mich damit belastest? Ich kann diese Verantwortung nicht tragen, ich kann nicht!“ Sie standen immer noch auf dem Bahnsteig, der jetzt von den wimmelnden Menschenmassen fast geleert war. Nur ein paar Nachzügler strebten noch nach dem Ausgang. Mette fühlte sich müde und zerschlagen und empfand den leichten Handkoffer wie eine Zentnerlast. Die kühle Zugluft in der weiten Halle machte sie frösteln. „Wollen wir nicht zehn Minuten in den Wartesaal gehen?“ fragte sie bedrückt. „Vielleicht fällt mir bei ruhiger Überlegung irgend etwas ein, was ich tun könnte. Aber wenn du zu müde bist, kannst du ja auch ruhig nach Hause gehen!“ „Ja,“ sagte Olga kurz, „und dich hier die Nacht allein auf dem Bahnhof sitzen lassen! Du bist wohl ganz verrückt, mein liebes Kind?“ – – – * * * * * Sie saßen in dem leeren Wartesaal und wärmten sich die kalten Finger an den heißen Teegläsern. Mette erzählte die Geschichte ihrer Flucht. Sie nahm die zerknitterten Geldscheine aus ihrer Bluse und stopfte sie in die Tasche. Mette hatte fast erwartet, daß Olga lachen würde. Während sie erzählte, kam ihr selber die Sache ungeheuer komisch und abenteuerlich vor. Aber Olgas Gesicht blieb tiefernst. „Und nun?“ fragte sie. „Ich gehe in ein Hotel!“ sagte Mette eigensinnig. „Und ich?“ „Du gehst in deine Pension!“ „Ich lasse dich nicht allein.“ „Komm mit,“ sagte Mette mit dem Aufblitzen einer Hoffnung. „Ja,“ sagte Olga bitter, „und morgen früh kommt die Polizei und bringt uns in Gewahrsam. Ich danke. Dann hab’ ich dich womöglich zu schwerem Einbruchsdiebstahl verführt.“ „Weißt du,“ sagte Mette, nach einer Pause des Nachdenkens, „dann müssen wir’s schon machen wie richtige Defraudanten. Uns in den nächsten Zug setzen und weiterfahren. Einfach auf irgendeiner Station aussteigen und in ein Hotel gehen. Von da aus schreib ich dann an meinen Vater und bitte ihn vor allen Dingen, die Geldangelegenheit in Ordnung zu bringen. Vielleicht ist er auch sonst vernünftig, und ich kann mich irgendwie mit ihm einigen. In einem halben Jahr bekomme ich ja mein Vermögen ausgezahlt, von meiner Großmutter her. Wenn mir mein Vater bis dahin nichts gibt, mache ich eben Schulden daraufhin, das muß doch irgendwie gehen. Also“ – Mette sah nach der großen Abfahrtstafel – „um zwölf Uhr vier geht der nächste Zug!“ Olgas Gesicht verlor den strengen Ausdruck. Eine große Freude lachte aus ihren Augen. Aber sie zögerte noch. „Du bist doch ganz verrückt!“ sagte sie. „Ohne Nachthemd und ohne Zahnbürste!“ „Wäsche habe ich genug,“ sagte Mette eifrig. „Eine Zahnbürste können wir in Buxtehude auch kaufen!“ „Was du für Ideen hast!“ sagte Olga langsam. Mette sah, daß sie schon halb überwunden war. „Großartige Ideen!“ sagte sie strahlend. „Äußerst reizvolle Ideen. Findest du etwa nicht?“ „Ja, aber ich wäre nie darauf gekommen,“ sagte Olga betont. „Du hast mich überredet. Es ist ausschließlich deine Idee!“ „Selbstverständlich! Ich bin viel zu stolz darauf, um mir die Autorschaft von irgend jemand streitig machen zu lassen.“ – – – * * * * * Der Zug zwölf Uhr vier war ein Personenzug. Sie saßen allein in einem Nichtraucherabteil, das dämmerig erhellt war durch die zur Hälfte blau verdeckte Glaskugel an der Decke. Sie bemühten sich vergebens, diesen Lichtschirm zurückzustoßen, um die Leuchtkraft des Gasflämmchens voll zu entfachen. „Laß nur gut sein,“ scherzte Mette. „Es ist gut, wenn wir im dunklen Coupé sitzen, dann können uns unsere Verfolger nicht gleich von draußen erkennen.“ Mette war so voll übermütiger Freude, daß sie diesen Gedanken zu einer lustigen Komödie ausspann und auch Olga mit fortriß. Sie spielten Flucht. Sie duckten sich, wenn draußen einer vorbeiging. Sie atmeten erlöst auf, als der Zug abfuhr. Mette veränderte ihre Haartracht, um nicht erkannt zu werden. Sie „bestach“ den Schaffner mit der „Summe“ von drei Mark, damit er niemand hineinlassen sollte. Und ängstigte sich nachher, daß die Höhe des Trinkgeldes sie unzweifelhaft als Defraudanten verdächtig machen würde. „Weißt du,“ sagte Mette geheimnisvoll, „wir dürfen natürlich nicht da aussteigen, wohin wir Karten genommen haben. Dann sind sie uns ja sofort auf der Spur. Wir steigen einfach bei irgendeiner Station aus.“ „Ja,“ sagte Olga, „bei der siebenten. Sieben ist eine heilige Zahl!“ Mette glühte vor Begeisterung. „Ist das schön! Ist das wundervoll! Wir fahren – und wissen nicht wohin! Wir steigen aus – und wissen nicht wo! Wir wachen morgen früh in einer fremden Stadt auf – und wissen nicht, wie sie heißt.“ „Wie das klingt!“ sagte Olga und machte ihr nach. „Wie eine ganz tiefsinnige Angelegenheit. Wir leben – und wissen nicht wie! Wir lieben – und wissen nicht warum! Wir sterben und wissen nicht wann!“ „Nein,“ sagte Mette, „dein ‚wann‘ weiß ich nicht. Gott sei Dank! Aber das ‚warum‘ weiß ich. Gott sei Dank!“ Es flog ein leichter Schatten über Olgas Gesicht, als ob sie nicht hören wollte, was Mette sagte. „Ich habe mir früher immer so glühend gewünscht zu wissen, wann ich sterbe,“ sagte sie nachsinnend. „Ich finde es so ungerecht, daß man absolut nicht weiß, wieviel Zeit einem zur Verfügung steht. Man müßte doch die Möglichkeit haben, sich einzurichten. Ich habe meine Freundin beneidet, die an der Schwindsucht gestorben ist. Sie wußte genau: So viel ist jetzt noch von meiner Lunge vorhanden – so lange kann ich noch leben, wenn ich geize, wenn ich mich schone – ich kann aber auch verschwenden und den Rest auf einmal wegwerfen. Schön muß das sein. Du weißt ja: Ich kann nie aus meinem Zimmer fortgehen, ehe es nicht aufgeräumt ist, weil ich doch immer die fixe Idee habe, wer weiß, ob ich wiederkomme. Mir ist der Gedanke schrecklich, daß ich einmal aus dem Leben fort muß und alles in Unordnung hinterlasse.“ Metten waren die Tränen nahe. Sie wollte die Traurigkeit, die sie quälte, verbergen und verscheuchen und sagte mit erzwungener Derbheit: „Du bist wohl ganz verrückt, ja? Vielleicht suchst du dir zu dieser melancholischen Nachtfahrt ein anderes Gesprächsthema aus?! Sonst setz’ ich mich so lange ins Nebencoupé, bis du mit deinen Meditationen fertig bist!“ „Kind!“ sagte Olga lächelnd und griff nach ihrer Hand. „Du hast ganz recht. Schimpf nur tüchtig. Das kommt von dem blöden Orakeln.“ „Orakeln?“ fragte Mette erstaunt. „Kennst du das noch nicht an mir? Ich mach’s doch wie die alten Bauernweiber, die in allen schwierigen Lebenslagen mit der Stricknadel in die Bibel stechen und sich dann irgendeinen Rat herausdeuten.“ „Du hast ja gar keine Stricknadeln!“ sagte Mette lachend. „Nein – eine Bibel nebenbei auch nicht. Eine Bibel muß etwas Ererbtes sein. Eine zu kaufen, hat gar keinen Wert. Aber es muß ja zu diesem Zweck keine Bibel sein – ich nehme einfach irgendein Buch und schlage es auf. Es ist merkwürdig, was für klare Antworten man manchmal bekommt. Ich habe heut’ auch gefragt ... als deine Depesche kam ... ob ich nach der Bahn gehen sollte ...“ „Na, und?“ fragte Mette erwartungsvoll. „Ach ... es ist ja alles Unsinn ...“ sagte Olga mit einem gequälten Lächeln. Sie drehte den Kopf und sah angelegentlich aus dem Fenster in die schwarze Nacht, die draußen vorbeiflog. „Sicher ist es Unsinn,“ sagte Mette herzlich. „Aber es quält dich doch. Wenn du es aussprichst, wirst du erst einsehen, _wie_ unsinnig es ist. Sag’ es mir doch – dann lachen wir beide darüber.“ Olga wandte ihr das Gesicht wieder zu. Sie mühte sich, ein unsicheres Lächeln festzuhalten. „Als Radomonte Gozaga in Genua einzog – in irgendeinem Rachefeldzug – ich weiß nicht, in welchem – da trug er ein Wams, auf dem ein Skorpion gestickt war und darunter sein Spruch: _Qui vivens laedit, morte medetur._ Ist das noch keine Antwort?“ Mette faßte nach Olgas Hand. Sie mußte erst einen Schleier zerreißen, den die schwer gesprochenen Worte über sie gebreitet hatten. „Du bist ja verrückt!“ sagte sie. Aber ihre Stimme klang nicht klar. Sie mußte eine plötzliche Heiserkeit wegräuspern. – – – * * * * * Das Knirschen der Bremse lief unter den Wagen durch. „Die sechste Station!“ sagte Mette geheimnisvoll mit großen Augen. „Die nächste ist unser Schicksal. Gebe Gott, daß es keine große Stadt ist!“ Als der Zug sich wieder in Bewegung setzte, fingen sie an, sich zum Aussteigen fertigzumachen. Die nächste Haltestelle konnte in zehn Minuten oder in einer Stunde erreicht sein. Sie wußten es nicht. Sie hatten den Handkoffer auf den Sitz heruntergehoben und standen nebeneinander an der Tür, die Stirn an die Scheibe gelegt, bemüht, mit den scharfen Augen das vorübersausende Dunkel zu durchdringen. „Es ist viel Wald in der Gegend,“ sagte Olga. „Nadelwald.“ „Ja,“ frohlockte Mette, „darin gehen wir morgen spazieren.“ Der Wald hörte auf. Schiefergrauer, wolkiger Himmel schied sich von weit hingebreiteten, sanft gehügelten dunklen Feldern. Wieder Bäume, erst vereinzelt, dann dichter schwarzer Wald, der bis an den Bahndamm herantrat und nicht ein Streifchen Himmel mehr über den Gipfeln sehen ließ. Wieder wurden die Bäume spärlicher, verschwanden. Wieder breiteten sich Felder in breiten Flächen. Aber in einer Entfernung, die man nicht schätzen konnte, wie eingebettet zwischen den sanft geschwungenen Linien, blinkte ein winziges Licht. Noch eins ... und noch eins ... „Da ... da! Da!“ rief Mette entzückt. „Ob wir das sind?“ „Seltsam,“ sagte Olga, „vielleicht ist eins von diesen Lichtern morgen unser helles Fenster. Und vielleicht hat man nach zehn Jahren ein Heimatsgefühl, wenn man an diesen Lichtlein vorüberfährt. Und jetzt hat man keine Ahnung, wie der Ort da heißt!“ Ein Bahnwärterhäuschen glitt vorüber. Hier und da gleißte ein Stück der blanken Schienen im Lichtschein einer Laterne auf. Wieder traten Baumbestände bis dicht an den Zug, aber gelichteter, von vielen Wegen durchzogen. Dann lief eine Hecke ein Stück mit. Dann vor der beschnittenen Hecke ein hellgestrichenes Holzstaket. Dahinter, ganz nah, dunkelten schon die Umrisse einzelner Häuser. Nun kamen trüb brennende Laternen, eine Barriere, die eine dunkle, baumbestandene Chaussee abschloß. Wieder ein Stückchen Wald oder Garten, im Hintergrund aufblinkend ein Lichtlein nach dem anderen – schon fuhr der Zug langsam, knirschte, puffte – hölzerne Säulen schoben sich heran, die ein schmales Schutzdach trugen ... er hielt. Olga griff nach dem Handkoffer, drückte die Klinke auf und sprang die hohen Stufen hinunter. Mette folgte ihr in einem seltsamen Traumzustand befangen. Sie war durch die beiden schlaflosen Nächte überwach, und ihre Sinne schienen, tausendfach geschärft, jeden Eindruck aufzunehmen. Der dünne Hauch von Reif, der den Boden, die Holzstangen überzog, die groben Gesichter von zwei bäuerlich gekleideten Frauen, die an ihnen vorüberhasteten, der langgezogene Ruf des Schaffners, das gemächliche Zuschlagen der Türen, die roten Hände des Mannes an der Sperre, die aus gestrickten Pulswärmern herauswuchsen, der kleine dämmerige Raum mit papierbeklebten Wänden und abgescheuerten Holzbänken, durch den sie hindurch mußten, das Pfeifen des abfahrenden Zuges in ihrem Rücken – das alles prägte sich ihrem Gehirn mit unauslöschlicher Deutlichkeit ein. Olga stieß eine Tür auf, trat ein paar steinerne Stufen hinunter, und sie standen auf dem holperigen Steinpflaster eines großen Platzes, der von dem Licht des Bahnhofs schwach erhellt war. Rechts und links war tiefes Dunkel. Soviel man unterscheiden konnte, kahle zerzauste Laubbäume, ungepflasterte, aufgeweichte, leicht überfrorene Wege. Geradeaus sah man in einiger Entfernung etwas, das aussah wie der Anfang einer Straße. Olga blieb stehen und sah Metten lächelnd an. „Nun,“ sagte sie, „graust’s dich schon? Was gäbst du darum, wenn du jetzt zu Hause unter der Daunendecke lägst und das elektrische Licht anknipsen könntest?“ „Gar nichts!“ sagte Mette trotzig. „Im Gegenteil, ich finde es hier äußerst gemütlich. Und wenn wir kein Unterkommen finden, so wäre es mir doch nur deinetwegen schlimm. Ich hab’ dich ja zu dieser Exkursion verleitet!“ „Ach, meinetwegen!“ sagte Olga wegwerfend. „Meinetwegen können wir die Nacht im Bahnhof auf den Holzbänken zubringen. Aber wenn du ängstlich bist, kehren wir um und fragen den Mann an der Sperre nach einem Gasthaus.“ „Nein,“ drängte Mette. „Nicht fragen! Komm vorwärts.“ Nach ein paar hundert Schritten fingen die Häuser an. Dunkel, verschlafen, ohne ein helles Fenster. Und ein wenig vereinzelt noch, von Gärten und Ackerstreifen umgeben. Aber der Weg war mit Katzenköpfen gepflastert, und nach einer Biegung rückten die Häuser näher zusammen, schlossen sich zur Straße, die von flackernden Laternen beleuchtet wurde. Die Straße erweiterte sich zu einer Art Marktplatz. Es war ein nüchternes Vieleck, ohne jedes malerische Gepräge, ohne Linden und ohne rieselnden Brunnen. An einer Seite fand sich ein langgestreckter, niedriger, grauer Kasten mit breit herunterreichendem Dach und vielen Mansardenfenstern. Über der breitgewölbten dunkeln Toreinfahrt schaukelte ein blecherner Stern, einem Barbierbecken nicht unähnlich, und darüber ließ eine große blaue, am schön geschwungenen Arm schwebende Laterne die aufgenagelten Buchstaben über dem Rundbogen erkennen. „Hotel zum blauen Sternen. Gasthaus und Ausspann.“ „Sogar Hotel,“ sagte Olga, „sieh mal an!“ Sie suchten nach einer Nachtglocke. Aber sie fanden noch nicht einmal eine Tür. Neben der Einfahrt war ein Handgriff, der an einer verrosteten Eisenstange eine große Glocke in Bewegung setzte. Aber er war in kaum erreichbarer Höhe. Mette bemühte sich. „Laß nur,“ sagte Olga, „der ist nicht für armselige Fußgänger wie wir. Außerdem wecken wir die ganze Stadt. Laß uns lieber einmal von der Innenseite versuchen.“ Sie wagten sich in die dunkle Höhlung des Tors. Aber sie kamen nicht weit. Noch ehe der Gang sich zum Hof öffnete, versperrte ein riesiger Leiterwagen den Weg. Aber neben dem Wagen fanden sich ein paar Stufen und eine kleine hölzerne Tür in der Wand. Sie ertasteten einen Metallknopf, zogen an ihm und lösten damit ein kräftig schepperndes Geklingel aus, das sie fast zusammenschrecken ließ, so jäh zerschnitt es die tiefe Stille. Schritte, Stimmen, ein Lichtschein. Ein verschlafener Mensch erschien in der offenen Tür, Pantoffeln an den nackten Füßen, in Unterhosen von graugelber Wolle, über die er höchst merkwürdigerweise einen Frack gezogen hatte, den er mit der linken Hand unterm Kinn zusammenhielt, während er in der erhobenen Rechten einen brennenden Wachsstock trug. Olga übernahm die Führung der Verhandlung. Sie erzählte dem schlaftrunkenen Mann eine lange Geschichte von dem Zug, mit dem sie eben eingetroffen, und daß ihr das Hotel zum blauen Sternen schon in Berlin empfohlen, sie bedauerte, ihn in seinem Schlaf gestört zu haben, aber der Zug käme zu so ungünstiger Zeit hier an, und sie hätten doch nicht auf der Straße bleiben können, und am Bahnhof hätte man sie natürlich auch hierher gewiesen. Der Mann ermunterte sich so weit, daß er „Einen Augenblick, bitte!“ sagte, verschwand und sie stehen ließ. Sie sahen sich lachend an und warteten geduldig. Nach einer Weile wurde oben auf der Treppe eine in offener Schale brennende Gasflamme entzündet, und der Mann erschien wieder, jetzt mit schwarzen Hosen angetan. Daß er ein kragenloses Wollhemd und weder Weste noch Strümpfe anhatte, hinderte ihn nicht, eine gewisse Gewandtheit der Bewegungen zu zeigen, die ihn sofort als den „Ober“ verriet. Er führte sie in ein großes dunkles und kaltes Zimmer, schwang sich auf einen Polstersessel und entzündete eine Gasflamme. Es war entschieden das Fürstenzimmer des blauen Sternen. Die hohen und breiten Betten, das wuchtige Plüschsofa verschwanden fast in dem weiten Raum. Zwischen den Fenstern prangte ein großer goldgerahmter Spiegel, auf dessen Konsole ein Makartstrauß unter einer Glasglocke stand, und die Wände zierten zahlreiche Buntdrucke, die meisten in dicken Goldrahmen. Der „Ober“ bückte sich und steckte einen Gasofen an. Eine ganze Reihe spitzer blauer Flämmchen puffte auf, spiegelte sich in einer Nische aus gerieftem Kupfer und warf einen warmen rötlichen Schein auf den abgeschabten Teppich. „Herrlich!“ sagte Olga und warf ihre Handschuhe auf den großen, runden, plüschüberdeckten Tisch. „Jetzt wird es auch noch warm hier, dann ist es einfach ideal. Nein, Herr Ober, wir brauchen weiter nichts. Danke schön, wenn wir morgen früh vielleicht auf dem Zimmer frühstücken können? – Hier ist die Klingel – ja, herrlich. Danke schön! Gute Nacht!“ Die Tür schloß sich hinter ihm. „Wundervoll!“ sagte Olga und reckte übermütig die Arme. „Ist das dein Ernst?“ fragte Mette zaghaft. „Ich denke immer, dein Schönheitssinn muß Qualen leiden! Diese Bilder ... und das Makartbukett und die Plüschgarnitur ...“ „Prachtvoll!“ sagte Olga. „Das _muß_ doch überhaupt so sein. Ich wäre geradezu enttäuscht, wenn diese kämpfenden Hirsche nicht hier wären, oder die duftigen Empiremädchen unter dem blühenden Apfelbaum. Glaubst du, ich möchte im Hotel zum blauen Sternen Chippendale-Möbel finden oder einen Kokoschka? Gott soll mich bewahren! Ich finde es einfach himmlisch!“ Mette packte den Handkoffer aus, breitete Nachthemden über die Betten, stellte Flaschen und Dosen auf den Waschtisch. Olga ging mit unhörbaren Schritten im Zimmer hin und her, pfiff mit leisen, süßen Flötentönen vor sich hin, blieb vor jedem Bild stehen, betrachtete es mit kindischem Entzücken und erzählte eine lange romantische Geschichte dazu. „Hier!“ sagte Mette und legte ihren seidenen Kimono über einen Stuhl, „den kannst du anziehen.“ „Und du?“ „Ich hab’ noch einen Frisiermantel, der genügt mir.“ Olga legte Rock und Bluse ab und wickelte sich in den Kimono. „Wundervoll,“ sagte sie, „nun müßte ich nur noch warme Füße haben und die Haarnadeln aus dem Kopf. Dann bin ich wunschlos glücklich.“ Sie rollte einen Sessel vor den Gasofen und fing an, sich die hohen Stiefel aufzuschnüren. „Soll ich dir helfen?“ fragte Mette dienstbereit. „Das fehlte noch!“ sagte Olga empört. „Nicht einem Dienstmädchen würd’ ich das zumuten!“ „Das ist auch etwas anderes,“ sagte Mette lächelnd. „Es ist eine Auszeichnung, die man einem Dienstmädchen nicht gönnen darf.“ „Du bist ja verrückt!“ Über Olgas Gesicht schoß wieder das dunkle flüchtige Rot. Sie hatte jetzt auch die dünnen seidenen Strümpfe abgestreift und hielt die nackten Füße gegen die Flammen. Sie hob die Arme und zog langsam Nadel auf Nadel aus dem Haar, bis die schweren schwarzen Strähnen ihr über den Rücken stürzten. Mette sprang auf einen Stuhl und drehte die Gasflamme aus. „So!“ sagte sie lachend, „nun kannst du dich malen lassen oder gleich öldrucken und dich goldgerahmt an die Wand hier hängen. Unterschrift: _Au coin du feu_, oder die Hexe, oder Feuersgluten, oder sonst was Gutes. Wie kann ein Mensch so unverschämt schön sein?!“ „So!“ sagte Olga trocken. „Das hast du hübsch gemacht. Jetzt haben wir keine Streichhölzer.“ „Erstens genügt mir die Beleuchtung,“ sagte Mette und setzte sich auf die Erde in den rötlichen Feuerschein, „und zweitens können wir uns hier immer einen Fidibus anstecken. Wenn wir nichts anderes finden, nehmen wir einen Hundertmarkschein. Davon haben wir ja genug ... Kind, was hast du für märchenhafte Füße ... aber kalt sind sie immer noch wie Eis!“ Sie legte beide Hände um Olgas Fuß. Er war so edel geformt, so schön in Linie und Farbe, als hätte eine Meisterhand ihn aus Marmor gebildet, aber er war auch so kalt und schwer wie Stein. Mette versuchte, ihn in ihren Händen zu wärmen, sie hauchte darauf, und dann konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, sie legte die Lippen auf die kühle, glatte, weiße Haut. Olga machte sich los, sprang auf und lief durch das dunkle Zimmer bis nach dem Fenster. „Olla,“ sagte Mette erschrocken und stand zögernd auf. „Was ist dir denn? Was hast du denn?“ Es kam keine Antwort. Mette ging ihr nach. Aber als sie ans Fenster kam und die Hand nach ihr streckte, lief Olga wie gejagt nach der Wand. Sie stand in die Ecke gedrückt und Mette vertrat ihr den Weg. Das schöne blasse Gesicht schimmerte unheimlich durch das Dunkel. In den angespannten Zügen lag Angst und Drohung zugleich, wie bei einem angeschossenen Tier, das sich umstellt sieht und sich verzweiflungsvoll zur Wehr setzt. Mette erschrak vor dem Ausdruck des gepreßten Mundes, der dunkel lohenden Augen. Sie legte zaghaft die Hand auf Olgas über der Brust gekreuzte Arme. Olga zuckte zusammen und drückte sich tiefer in die Ecke. „Geh doch!“ sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. „Laß mich doch in Ruh!“ „Du sollst nicht mit den nackten Füßen auf der bloßen Diele stehen,“ bat Mette, den Tränen nahe. „Du erkältest dich zu Tode. Ich will ja nichts, als daß du dich an den Ofen setzest. Dann kann ich mich ja auf den Korridor vor die Tür schlafen legen, oder ich kann mir ein anderes Zimmer geben lassen, oder ich kann aus dem Fenster springen. Aber komm aus der Ecke heraus, ich kann es nicht mehr mit ansehen.“ Sie faßte sie an beiden Schultern, aber Olga schüttelte ihre Hände von sich ab. „Laß mich doch!“ sagte sie böse. „Siehst du denn nicht, daß du mich zu Tode marterst? Wie kann ein Mensch so wahnsinnig grausam sein?“ Die Stimme brach ihr, und ganz jählings stürzten die Tränen über ihr Gesicht. Jetzt konnte sich Mette nicht mehr beherrschen. Auch ihre Augen liefen über. „Ich verstehe dich nicht!“ sagte sie mit zitternden Lippen. „Wenn ich dir so zuwider bin, daß du mich nicht erträgst, warum bist du dann hier? Warum gibst du dich dann überhaupt mit mir ab? Man kann nicht einen Menschen gern haben, dessen Nähe einen derart quält! Ich weiß ja aber auch, warum du mich nicht leiden kannst!“ „Warum?“ fragte Olga erstaunt. Mette schüttelte stumm den Kopf und kämpfte die Tränen hinunter. „Warum soll ich dich nicht leiden können?“ forschte Olga drängender. „Antworte! Ich will das jetzt wissen.“ Mette vermied es immer noch, sie anzusehen. „Weil ich dich zu sehr liebe!“ sagte sie bitter und traurig. „Es muß furchtbar sein, von einem Menschen geliebt zu werden, den man nicht liebt! Beinah ekelhaft!“ „Du Schaf,“ sagte Olga und strich ganz weich mit der Hand über Mettens Haar. „Ach, laß,“ sagte Mette und entzog sich der streichelnden Hand. „Man muß sich nicht zwingen.“ Olga ließ den Arm schwer herabsinken. „Man muß sich doch zwingen,“ sagte sie leise und mühsam atmend. „Wenn ich mich jetzt nicht zwingen würde, würd’ ich dich so mit Zärtlichkeiten ersticken, daß du zu Tod erschrecken tätst und davonlaufen.“ Mette fühlte die Adern in ihrem Hals schlagen, daß sie kaum atmen konnte. Sie versuchte zu lächeln, während noch die Tränen von ihren Lidern rollten. „Tu es nicht,“ sagte sie, „ich würde ganz bestimmt nicht davonlaufen. Aber vielleicht würde ich wahnsinnig vor Glück!“ Da hob Olga langsam die beiden weißen, schlanken Arme und legte sie um Mettens Schultern. Mette fühlte den wohltuend kraftvollen Druck fester und fester werden. Jetzt, da Olga auf bloßen Füßen stand, waren ihre Gesichter fast in gleicher Höhe. Sie bohrten die Augen ineinander, ernsthaft und unverwandt und spürten in allen Adern das rasende Hämmern ihrer Herzen. Dann neigten sie sich gegeneinander wie zwei Verdurstende und legten Mund auf Mund. Sie ließen einander nicht mehr los. Sie küßten sich nur immer durstiger eins am anderen. Sie gingen durch das Zimmer aneinandergeschmiegt, sie saßen auf dem Bettrand ineinander verschlungen. Die Kleider glitten von ihnen nieder, achtlos, blieben auf der Erde liegen. Die groben und feuchten Laken atmeten Schauer der Kühle. Sie spürten es kaum, so brannte das Blut in ihren jungen Leibern. Sie drängten sich aneinander, als wollten sie ineinander übergehen, verschmelzen, eins werden. Ihre schlanken, geschmeidigen Glieder flochten sich ineinander, wie Bäume des Urwalds unlöslich sich ineinander verschlingen. Sie sprachen nichts. Aber wie rauschende Musik hörte eines des anderen dröhnenden Herzschlag und das rasche und raschere Atmen. Ihre Leiber bäumten sich gegeneinander wie wilde Tiere, wenn sie an Käfiggittern rütteln. Sie gruben einander die Nägel in die Glätte der Haut und schlugen einander die Zähne in die geschwellten Muskeln. Und sie lagen aneinandergeschmiegt wie müde gespielte Kinder, und ihre Lippen berührten des anderen Lider und Wangen so sanft, so leise, wie Schmetterlingsflügel schwankende Blüten. „Kleines,“ sagte Olga, und alle Glocken schwangen in ihrer Stimme. „Mein Schönes, mein Gutes!“ „Oh, du!“ sagte Mette. „Du Wunder des Himmels. Was bist du nur? Bist du ein wildes Tier ... oder ein Gott ... oder der Geist einer weißen Orchidee?“ „Ich weiß nicht,“ sagte Olga. „Ich glaube, daß ich ein Gott bin. Aber vor einer Stunde war ich ein armes gepeinigtes Tier. Bist du nicht stolz, kleines Mädchen, daß du solche Wunder tun kannst?“ „Ich wollte, ich könnte Wunder tun,“ sagte Mette sehnsüchtig. Ein hartes Lächeln flog um Olgas Mund. „Dann würdest du mich in einen Mann verwandeln!“ sagte sie. „Um Gottes willen!“ rief Mette und schlang erschrocken beide Arme um sie. „Nie, nie, nie! ... Aber wenn ich Wunder tun könnte, so würde ich diese Nacht niemals aufhören lassen. Ich würde sie dauern lassen in alle Ewigkeit!“ Der rote Schein des Kupfers hinter den Gasflämmchen erhellte das ganze Zimmer mit warmem Dämmerlicht. Die spitzen Flämmchen zitterten leicht, und der helle Fleck auf dem bunten abgetretenen Teppich zitterte mit. Olga richtete sich auf den Ellbogen auf und stützte den Kopf in die Hand. Zwischen den weißen Fingern hindurch rieselten die Strähnen des schwarzen Haares. Aus dem blassen Gesicht leuchteten die helldunklen Augen in unendlicher Hoheit und Klarheit wie zwei Sterne. „Ewig!“ sagte sie leise. „Alles, was Gottes ist, ist ewig. Fühlst du nicht, daß diese Nacht Gott gehört? Zeit ist eine Erfindung des Teufels. Der Satan hat die Vergänglichkeit erfunden, um die Menschen von Gott abtrünnig zu machen. Aber Gott blieb ewig, und Gottes Herrlichkeit bleibt ewig. Da hat Satan alles mögliche andere erfunden: Krankheit, Schmerz, Ungeziefer und Geld ... vor allem das Geld. Aber nun war Zeit da und Vergänglichkeit da. Und ließ sich nicht wieder ungeschaffen machen. Und haftet nun an allen Erfindungen des Teufels. Aber, was Gottes ist, ist ewig. Immer verlöscht neues Glück die alte Qual, als wäre sie nie gewesen. Aber das Glück bleibt. Und keine Qual kann es ungeschehen machen. – Ich würde sterben vor Scham, wenn ich dächte, daß nur die Nervenenden unserer Haut unter unseren Händen vibrieren. Spürst du nicht, daß deiner Seele etwas geschehen ist, was ihr bleiben muß über allen Tod hinaus? Spürst du nicht, daß diese Stunde dich weit mehr verändert hat, als dich das bißchen Sterben verändern kann?“ „Ja,“ sagte Mette. „Und mehr als das bißchen Geborenwerden auch. Heut’ bin ich geboren worden und nicht vor zwanzig Jahren. Jetzt kann ich zum erstenmal mit Bewußtsein sagen: Ich lebe!“ „Wir leben!“ sagte Olga, sie an sich reißend, mit einem Aufjauchzen in der Stimme, das klang wie der frohlockende Ruf eines auffliegenden Wildvogels. „Wir leben, Süßes. Ewig, ewig, ewig leben wir!“ – – – * * * * * Als Mette am anderen Morgen aufwachte, schien eine helle, fröhliche Wintersonne ins Zimmer. Ihr erster Gedanke suchte Olga. Sie war nicht da. Auch ihr Mantel hing nicht mehr am Haken. Ein jähes Erschrecken schlug sie. Sie war fort, für immer, kam nicht wieder, war unwiederbringlich verloren. Mette sprang aus dem Bett, mit einemmal hellwach. Da sah sie Olgas Hut und Handschuhe. Sie nahm die Handschuhe vom Tisch, streichelte sie und preßte sie an die Wange. Von dem weichen grauen Leder schien ein Strom von Freude und Beruhigung auszugehen. Es war kein Traum und kein Zauberspuk. Sie war dagewesen, sie würde wiederkommen – noch zeigten die Handschuhe die Form ihrer schönen schlanken Hände, waren noch wie erfüllt von ihrem Leben ... Von unten herauf drang ein wohlbekanntes knirschendes und schrapendes Geräusch. Mette lief auf bloßen Füßen zum Fenster und zog den dicken weißen Köpervorhang ein wenig zur Seite. Auf den Fensterbrettern lag ein dickes Polster von weißem Schnee. Die niedrigen Häuser drüben hatten Dächer von blendendem Weiß und darüber funkelte ein Himmel von reinstem Blau. Vorm Hotel kratzte der Hausknecht mit dem Schneeschieber einen dunklen Weg in den weißen Teppich, und neben ihm stand Olga, den Mantel offen, beide Hände in den Taschen vergraben, den Kopf ein wenig vorgeneigt und führte eine angelegentliche Unterredung mit dem alten Mann. Mette sah eine Weile hinunter und freute sich an jeder Linie ihrer Gestalt. Sie sah sie sprechen und glaubte den Ton ihrer Stimme zu hören. Sie dachte darüber nach, was sie sich mit dem Hausknecht wohl zu erzählen haben könne. Sie bewunderte die Gabe an ihr, mit allen Leuten ein Gespräch anzuknüpfen und jedem gegenüber den richtigen Ton zu treffen. Mette kannte das an ihr. Wenn sie bei Laune war, wirkte sie so unwiderstehlich, daß der brummigste Kellner oder Schaffner sie anstrahlte. Nach ein paar Sekunden sah Olga plötzlich hinauf, sie mußte Mettens Blick gefühlt haben. Sie sah Metten am Fenster stehen oder sah vielleicht auch nur die verschobene Gardine, winkte mit der Hand und lief ins Haus. Sie brachte einen Hauch von frischer Schneeluft ins Zimmer. Ihre Augen waren hell und durchsichtig wie Eis und hoben sich scharf ab von der schwarzen Pupille, und auf ihrem weißen Gesicht lag ein ganz leichter Schimmer von rosiger Farbe. „Wo kommst du her, du Rumtreiber?“ fragte Mette. „Ausgeschlafen, mein Deern?“ fragte Olga zur Antwort. „Ich war schon spazieren. Ich war in der Stadt. Ich wollte dir Blumen auf den Frühstückstisch stellen. Aber Blumen im Winter – so sündhafte Dinge kennt man hier nicht. Herr Thielemann hat nur Stechapfelkränze mit Wachsrosen. Aber eine Konditorei ist da drüben, so mit einer Geländertreppe vor der Tür, weißt du? Und einem goldenen Kringel in der Luft! Und es roch nach frischem Brot. Mach dich schnell fertig, Mettulein, ich habe einen wahnsinnigen Hunger.“ Sie frühstückten auf dem Zimmer. Dann drängte Mette zum Spazierengehen. Schnee und Sonne lockten sie hinaus. „Du mußt erst an deinen Vater schreiben,“ sagte Olga ernsthaft. „Ja,“ sagte Mette und schnitt eine Grimasse. „Du willst keine Verantwortung übernehmen – ich weiß schon.“ Sie setzte sich hin und schrieb einen langen und wohlüberlegten Brief. Sie bat um Verzeihung. Sie schilderte die Vorgänge bei Onkel Jürgen mit viel Humor. Sie nannte ihren Aufenthalt, bat ihren Vater herzlich, sie hier zu lassen, wo sie sich wohl fühle und niemandem im Wege sei. Bat ihn, ihr zu glauben, daß sie ein reifer und klarer Mensch sei und genau wisse, was zu ihrem Besten wäre. Bat ihn, das Geld, das Onkel Jürgen ihr unfreiwillig geliehen, zurückzuzahlen – die kurze Zeit bis zu ihrer Mündigkeit sie zu unterstützen oder ihr einen Vorschuß auf das großmütterliche Erbe auszahlen zu lassen. – Aber davon, daß sie nicht allein sei, schrieb sie kein Wort. Sie trugen den Brief zusammen nach der Post. Olga wußte schon den Weg dahin. Als der Umschlag in den blauen Kasten versenkt war, atmete sie auf und nahm Mettens Arm. „Komm,“ sagte sie, „was zu tun war, ist getan. In drei Tagen kann die Antwort da sein. Aber die drei Tage wollen wir genießen.“ „Glaubst du,“ sagte Mette mit finsterer Stirn, „daß eine Macht der Welt mich zwingen kann, nach Hause zurückzugehen? Wenn sie mir kein Geld schicken, geh ich als Waschfrau oder als Nähmädchen, oder ich mache Schulden.“ „Ich weiß nicht,“ sagte Olga. „Ich weiß nur, solange dieser Brief noch unterwegs ist, sind wir sicher. Kein Mensch weiß, wo wir sind – das ist ein herrliches Gefühl – als ob man hinter Mauern und Gräben säße. Wenn der Brief erst angekommen ist, dann ist die Zugbrücke heruntergelassen – was dann geschieht, das weiß ich nicht. Nichts weiß ich, nichts, nichts, nichts! Aber es ist immerhin möglich, daß wir in Stücke gerissen werden.“ „Warum haben wir die Zugbrücke heruntergelassen?“ fragte Mette stehenbleibend. „Warum hast du mich gezwungen zu schreiben?“ Olga lächelte schwermütig. „_Weil ich die Verantwortung nicht übernehmen will!_“ sagte sie, mit einem Versuch zu scherzen. – – – * * * * * Sie gingen durch die breiten Straßen mit den kleinen, niedrigen Häusern. Einen besonderen Reiz hatte es, die Schaufenster zu betrachten. Wo ein kleiner Laden sichtbar wurde, mußten sie über den Damm laufen und die Auslagen mustern. Da war ein Korbflechter und Bürstenmacher. Da war ein Schuhmacher, der einen halbmeterlangen Filzschuh in seinem Fenster hatte und daneben einen winzigen nadelspitzen Ballschuh aus verstaubtem perlgestickten Rosaatlas. „Ein Märchen!“ sagte Olga begeistert. „Sieh nur, ein Schuhmacher, der Märchen dichtet. Und er weiß es. Ganz sicher, er weiß es!“ Da war ein Geschäftchen mit Kurz-, Weiß- und Wollwaren. Girlanden von Handschuhen und Kinderjäckchen hingen im Fenster. Wasserfälle von Maschinenspitzen stürzten hernieder. Nähgarne und Häkelwolle legten sich zu symmetrischen Figuren. Und überall dazwischen hingen weiße Pappschildchen: „Hier werden Puppen zu Weihnachten angezogen.“ „Hier werden Gardinen kunstgestopft.“ „Unterricht in allen weiblichen Handarbeiten.“ „Hier wird Klavierunterricht erteilt, gründlich und gewissenhaft, für Anfänger und Fortgeschrittene.“ „Hier werden Strümpfe mit der Maschine angestrickt.“ „Geschwister Basch,“ sagte Olga und sah zu dem Firmenschild auf. „Sicher sind es zwei alte Schwestern. Die eine hat einen Mops und die andere einen Kanarienvogel. Oh, in solchen Städten gibt es noch Möpse! Die eine, die den Klavierunterricht erteilt, das ist eine schönheitsdurstige Seele. Sie hat sicher einmal von Ruhm und Beifall geträumt, als sie mit fünfzehn ‚_La prière d’une vierge_‘ spielte. Und die andere, die praktische, vielleicht von einem Mann und sieben Kindern. Und nun sitzen sie hier und trösten sich miteinander. Vielleicht hat die praktische ein aufopferungsfreudiges Gemüt und hat den einzigen in Betracht kommenden Mann ausgeschlagen, nur um ihre Schwester nicht zu verlassen. Die mit dem Klavierunterricht, das ist sicher auch die, die die Puppen anzieht. Aber die andere strickt die Strümpfe an. Weißt du, ich möchte in einer Novelle den Tag beschreiben, da die Strickmaschine ins Haus kam. Wahrscheinlich haben sie zehn Jahre daraufhin gespart – und dann haben sie sie gefürchtet und geliebt – so ein bißchen wie Teufelsspuk und Feenzauber – ach, vielleicht wäre es gut, ein solcher Mensch zu sein ... oder ob sie ganz klein und neidisch und giftig sind?“ Da war ein Kaufmannsladen, ein „Kolonialwarenhändler“, es war erstaunlich, was sein Fenster für eine prunkvolle Ausstattung aufwies. Getrocknete Aprikosen bildeten Sterne auf weißem Reis. Grotten aus Zuckerkand türmten sich auf, mystisch erhellt durch Fenster aus roter Gelatine. Da war ein See aus Stanniol, auf dem ein kleiner hohler Schwan mit aufgeplatztem Rücken schwamm. Da waren tausend bunte Dinge, und wie um die Farbenpracht zu mildern, lag über allem eine gleichmäßige graue Staubschicht – eingefressener, unverwüstlicher, wohlberechtigter Staub. Und dann, ganz am Ende der Stadt, wo die Häuser vereinzelt standen und das Pflaster aufhörte und die Hühner gackernd über den Weg liefen, da war ein ganz kleiner Laden, der hatte in seinem schmalen Fensterchen alles – alles, was das Herz nur begehren konnte. Hohe Gläser mit bunten Bonbons und blaue Glanzpapiertafeln mit Zwirnknöpfen, Kränze von getrockneten Feigen und Postkarten, auf denen liebende Paare in flammenden oder blumenumkränzten Herzen sich küßten. Schnürsenkel und saure Gurken, Schuhwichse und Backpulver und irdene Töpfchen und Kämme und ... „Abziehbilder!“ sagte Olga mit andächtigem Entzücken. „Sieh nur, Mette, veritable Abziehbilder! Ganz richtig mit dem blauen Hauch darüber, mit dem mystischen Schleier, daß man nur ahnen kann, was daraus wird, wenn sie abgezogen sind. Oh, es war kein Kachelofen vor meinen Abziehbildern sicher! Wer sie immer nur hübsch auf einem Tisch verarbeitet hat, ahnt gar nicht, wie schwer es ist, sie auf einer senkrechten Fläche anzubringen. Sie waren immer durcheinander gerutscht. Ich glaube, ich hatte keine ruhige Hand. Ob ich es jetzt besser könnte? Ich bitte dich, Mette, um aller Heiligen willen, geh hinein und kauf mir für einen Groschen Abziehbilder – aber ein Bogen mit Schiffen muß dabei sein.“ – – – * * * * * Hinter den letzten Häusern fing die Landstraße an: Breit, gerade, mit kahlen Bäumen bestanden, schneebedeckte Felder rechts und links, am Horizont ein Streifen dunkelblauen Waldes. Sie schritten scharf aus. Der Schnee knirschte unter ihren Schuhen. Bei jedem Schritt flogen krächzende Krähen vor ihnen auf, der Wind rauschte in den Telegraphendrähten und blies manchmal eine Schneelast von einem Zweiggewirr auf sie herab. Der unberührte, unbetretene Schnee war weich wie Watte und blitzte in der Sonne wie zerstoßenes Glas. Der Wald, der so fern erschienen war, schien ihnen entgegenzulaufen. Hundert Schritte davor bog die Landstraße ab. Aber ein breiter Weg führte hinein. Das Stückchen über das freie Feld war kaum als Weg zu erkennen, so schneeverweht war es. Aber drüben tat sich in den hohen schneebedeckten Tannen eine Öffnung auf, wie der Eingang zu einem Tunnel. Da strebten sie hin. Als der Wald sie umfing, wurde es mit einem Male still und warm – so warm, daß ihre windgepeitschten Gesichter anfingen zu brennen. Hoch über ihnen in den Wipfeln rauschte der Wind und schüttelte zuweilen silberne Sterne auf den dunklen Boden. Aber sein kalter Atem traf sie nicht. Sie wanderten in versunkenem Schweigen. Nur wenn bunte Meisen vor ihnen herflatterten oder ein Eichhörnchen an einem Stamm hinaufflitzte, machte eines das andere durch ein Flüstern, durch eine Bewegung aufmerksam. Und wenn dann ihre Blicke sich trafen, dann blieben sie ineinander hängen, bis sie lächelten und die Augen schlossen – – – * * * * * „Aha! Da ist es!“ sagte Olga nach einer guten Weile. „Was? Wo?“ fragte Mette erstaunt. Olga wies mit der Hand vorwärts. Zwischen den Stämmen wurde plötzlich eine rote Backsteinmauer sichtbar. „Hast du denn gewußt, wo wir hingehen?“ wunderte sich Mette. „Natürlich, Kind! Ich werde dich doch nicht aufs Geratewohl in der Irre herumführen. Dieses muß nach menschlichem Ermessen der Waldkater sein. Im Sommer gibt’s hier Kaffeekochen, Musik und Tanzvergnügen. Im Winter kriegen wir vielleicht was zu essen – wenn wir Glück haben. Das hat mir alles unser Hausknecht heute früh erzählt. Außer seiner Lebensgeschichte – – es gibt so ein schönes Märchen – – Bechstein, glaub’ ich – – von der verwunschenen Mühle, wo nur der Esel, die Katz und die Taube sind. Und noch irgendein Tier. Siehst du, da fliegt die Taube auf, und da ist die Katz. Aber kein Mensch zu erblicken. Graust dir’s schon, Mette? Ganz sicher, die Katze will uns was sagen!“ Sie durchschritten eine Art Wirtschaftshof und rüttelten an ein paar verschlossenen Türen. „Es kann nicht ausgestorben sein,“ sagte Olga und deutete auf ein Rauchwölkchen, das aus dem Schornstein aufstieg. „Oder die Katz hat Feuer angemacht. Aber wenn sie das kann, kann sie uns auch was zu essen kochen.“ Sie fanden eine Tür offen. Durch einen leeren und kalten Saal, von dessen Decke zerfetzte und verstaubte Papiergirlanden herunterhingen, kamen sie an eine andere Tür, die einem Druck auf die Klinke nachgab. Dieser nächste Raum war erfüllt von behaglicher Wärme und durchdringendem Kohlgeruch. Ein eiserner Ofen fauchte glühende Luft und auf ihm brodelte ein blauer Emailletopf mit einem dampfenden Inhalt. An einem der Tische, breit aufgestützt, saß eine grobknochige Magd und messerte ihr Kohlgericht aus einem blechernen Napf. „Guten Tag, Fräulein Anna,“ sagte Olga strahlend liebenswürdig. „Na, wie geht’s Ihnen denn? Schmeckt’s?“ Das Mädchen stand langsam auf und grinste. „Ich heiß’ nicht Anna,“ sagte sie, „die vorvorige war die Anna. Ich heiß’ Berta.“ „Schön warm haben Sie’s hier, Fräulein Berta.“ Olga zog die Handschuhe aus und hielt die Finger vor die Ofenglut. „Und herrlich riecht’s hier nach Kraut. Wollen Sie uns nicht was abgeben von Ihrem Mittagbrot?“ Das grinsende Mädchen wischte mit der Schürze über einen Tisch. „Wenn die Damen was zu essen haben möchten, kann ich ja mal die Frau fragen.“ „Herrlich, Fräulein Berta! Und wenn wir was zu trinken kriegen könnten – einen Grog oder Glühwein oder sonst so was Gutes.“ Olga blinzte dem Mädchen zu, als hätte sie ihr ein Geheimnis anvertraut. „Wir sind nämlich mächtig durchgefroren.“ Sie stemmte die Füße gegen den heißen Ofen, daß die nassen Sohlen anfingen zu zischen. „Sagen Sie, was ist eigentlich aus der Anna geworden? Daß ich Sie verwechselt habe! Die war ja viel kleiner als Sie!“ „Ja,“ sagte Berta, „die war man schwächlich. Sie hat geheirat’t.“ „Geheiratet?“ sagte Olga überrascht. „Sieh mal an! Dabei war sie doch gar nicht mal so hübsch.“ „Ne,“ sagte Berta, „hübsch war sie nich. Un schwächlich war sie auch man. Aber sie hatte ’n Mundwerk, ’n Mundwerk hatte sie. Un das sticht manch einen ins Auge.“ Olga blieb ganz ernst. „Na, lassen Sie man, Berta,“ sagte sie begütigend, „Sie werden ja auch bald heiraten. Es ist doch immer das beste. Man will ja gerne schuften. Aber es ist doch immer was anderes, wenn man für die eigene Wirtschaft schuftet.“ „Ja,“ sagte Berta überzeugt und blieb eine Weile gedankenvoll mit offenem Munde stehen, „nun will ich aber mal nach was zu essen fragen.“ Damit machte sie kehrt und schoß hinaus. „Herrlich,“ sagte Olga und witterte wie ein Jagdhund mit erhobener Nase. „Es riecht so gut nach Kraut und Hammelfleisch.“ Mette schüttelte den Kopf. „Ein komischer Kerl bist du,“ sagte sie lachend. „Hier findest du das herrlich, und wenn’s in der Motzstraße nach Kohl riecht, kriegst du Ohnmachten und Tobsuchtsanfälle.“ „Erlaube mal, das ist vielleicht ein Unterschied, wenn’s in einem Berliner Zimmer mit Jugendstilmöbeln und einem Prismenkronleuchter halb nach Kohl riecht und halb nach billigem Heliotropparfüm, so erzeugt das einen Nervenzustand, der einen direkt zum Selbstmord treiben kann. Hier muß es einfach ein bißchen nach Ofendunst riechen und ein bißchen nach Schweinestall und kräftig nach Kümmelkohl – das ist gerade das Richtige. Wenn meine Freundin Berta hier mit dem Messer ißt, stört mich das gar nicht. Aber wenn ich’s im Schweizer Hof in Luzern sehe, könnt’ ich aus der Haut fahren.“ – – – * * * * * Die schwarzweiß gefleckte Katze kam ins Zimmer geschlichen. „Da hast du den Waldkater!“ sagte Olga. „Komm her, Mies! Komm zu mir!“ Die Katze ließ sich greifen und halten. Olga streichelte sie, drückte sie an sich, erzählte ihr im Flüsterton lange Geschichten und richtete teilnehmende Fragen an sie. „Daß du Katzen so liebst und Hunde nicht leiden kannst,“ sagte Mette ein wenig mißbilligend, „das ist eigentlich bezeichnend für dich!“ Olga hob rasch den Kopf und zog die Brauen hoch. „Bezeichnend? Wieso?“ „Weil du die Grazie mehr schätzt als die Treue,“ sagte Mette mit einem wehmütigen Lächeln. „Weil dir das lieber ist, was heimlich kratzt, als das, was sich schlagen läßt und die Hand leckt. Ich glaube, ich muß mich in acht nehmen, daß ich dir nicht verächtlich werde.“ Olga schüttelte die Katze von ihrem Schoß herunter. „Nein, Mette,“ sagte sie mit großen ernsten Augen, „da verkennst du mich vollständig. Ich habe eine Antipathie gegen Hunde, aber nicht, weil sie treu sind, sondern weil sie schamlos sind. Weil sie ihr Liebesleben auf die Straße tragen.“ Der rote Schatten flog wieder über ihr Gesicht. „Katzen haben darin mehr Kultur – um dies oft mißbrauchte Wort zu mißbrauchen. Es gibt Kerfe, die sich nur in tiefster Nacht, nur in den verstecktesten Winkeln paaren – so daß es noch keinem Forscher gelungen ist, diesen Prozeß zu beobachten. Ich denke immer, es wird einmal eine Zeit kommen, da wird man von den barbarischen Gebräuchen dieser Jahrhunderte oder Jahrtausende wie von Märchen erzählen. Denke dir nur, wie unendlich komisch das einen feinfühligen Menschen berühren muß: Wenn zwei Menschen Sehnsucht haben, miteinander in einem Bett zu liegen, so setzen sie einen bestimmten Tag dafür fest. Sie setzen öffentliche Institutionen, den Staat und die Kirche, davon in Kenntnis. Sie benachrichtigen Freunde und Verwandte, ihre eigenen Eltern, ihre eigenen Geschwister! An dem Tag, der dieser Nacht vorangeht, versammeln sie alle Leute um sich, die sie nur irgend kennen, sitzen Hand in Hand und lassen sich betrachten, umgeben sich mit Leuten, die gefüttert und getränkt werden, bis ihnen übel wird, lassen sich anzügliche Lieder vorsingen und anzügliche Reden halten – und fühlen sich vielleicht sogar wohl dabei. – Ich habe immer das Gefühl gehabt, Hochzeit zu halten auf die Art, wie man das jetzt handhabt, müßte eine Strafe für Schwerverbrecher sein. Es ist eine so grausame Quälerei, eine so ausgesuchte Folter ... Mette, Kind, tu mir den Gefallen, wenn du dich einmal einem Manne hingeben willst, den du liebst, tu’s, wenn dir danach zumute ist und nicht an einem vorher festgesetzten Tag – tu’s ganz heimlich, daß keine lebende Seele die Möglichkeit eines solchen Geschehens ahnt ...“ „Ich?“ sagte Mette mit Augen voll traumverlorenen Entsetzens. „Ich?“ „Ja, du!“ sagte Olga lächelnd. „Ach, Kind – meinst du, du hast eine Ahnung, was in deinem Leben noch alles geschehen kann?!“ – – – * * * * * Am anderen Tag saßen sie in der Konditorei von Ferdinand Brausewetter am Roßmarkt. Sie hatten einen weiten Spaziergang gemacht und waren hungrig und durchfroren. Nun saßen sie auf dem roten Samtsofa, das mit Häkeldeckchen belegt war, als ob es in der guten Stube stünde. Olga hatte eine – wie sie sagte – „prähistorische“ Nummer der „Meggendorfer“ entdeckt und belustigte sich königlich an den harmlosen Witzen. Eine dicke behagliche Frau mit glatten grauen Scheiteln und einer gutgestärkten weißen Schürze, die noch vom Wäscheschrank her die scharfen Kniffe zeigte, brachte ihnen dampfenden Kaffee in einer braunen Bunzlauer Kanne und duftenden frisch gebackenen Kuchen. Dann, als die frühe Dämmerung fiel, steckte sie eine Gasflamme an. Da die Lampe zu hoch war und sie sich einen Stuhl herbeiholte, sprang Olga auf, um ihr zu helfen. Sie kamen in ein Gespräch, und die freundliche Frau blieb an ihrem Tisch stehen, um ein wenig zu schwatzen. Olga lobte den Kuchen, sprach vom Wetter, von der Stadt – dann rückte sie einen Stuhl. „Aber Frau Brausewetter, setzen Sie sich doch ein bissel zu uns, wenn’s Ihre Zeit erlaubt. – Sie wissen so gut Bescheid hier, ich hätt’ mich gern noch nach Verschiedenem erkundigt.“ Mette folgte mit stummer Verwunderung der Unterhaltung, die sich entspann. Olga erkundigte sich angelegentlich nach dem Papiergeschäft an der anderen Seite des Marktes. Eine Tafel zeigte an, daß das Grundstück samt gutgehendem Geschäft zu verkaufen sei. Sie hatten es schon in der Zeitung inseriert gelesen ... „Im Kreisanzeiger wohl?“ „Ja, natürlich im Kreisanzeiger,“ ... und sie wären hergekommen, um es sich anzusehen und sich erst mal unter der Hand zu erkundigen ... ob denn das Geschäft ginge? Und warum es eigentlich zu verkaufen sei? Ein Garten wäre wohl nicht bei dem Haus? Doch, ein kleiner Garten mit alten Birnbäumen und einer Fliederlaube – durch den Treppenflur könne man ihn sehen. Und sie möchten eine Leihbibliothek mit dem Geschäft verbinden – ob das wohl lohne? Frau Brausewetter war Feuer und Flamme für diesen Plan. Das hätte sie den Kilians schon immer gesagt. Aber sie hätten nie was reinstecken wollen ins Geschäft. Und hätten gemeint, die Anschaffung der Bücher rentiere sich nicht. Aber es würde sich ganz gewiß rentieren; denn den ewigen Journallesezirkel hätten sie alle schon über. Und die Frau Bürgermeisterin hätte neulich schon gesagt ... „Denke dir!“ sagte Olga, als sie über den dämmerigen Marktplatz nach dem Hotel hinüber schritten. „Alte Birnbäume und eine Fliederlaube. Und nichts zu sehen von der Straße aus! Ein altes häßliches graues Häuschen. Ich habe in solchen Städten im Sommer in alle Haustüren geguckt. Dann sieht man so oft jenseits der Treppe eine zweite Tür und wenn die offen steht, so ein Stückchen Hof oder Garten mit blühendem Flieder. Dann hab’ ich immer so ein ganz starkes Gefühl von Neid oder Sehnsucht gehabt. Vielleicht hab’ ich gewußt, daß ich noch mal in so einem Haus ende. Oder daß ich ihm ganz nahe komme und daran vorüber muß.“ „Aber Olga!“ sagte Mette und blieb vor Erstaunen mitten auf dem Platz stehen. „Möchtest du denn da enden? Ich habe immer das Gefühl, du machst dich lustig über mich und meine Ideale. Wie du der guten Frau Brausewetter da die Komödie vorgespielt hast – mir hat sich das Herz zusammengezogen vor Sehnsucht, daß das Wahrheit wäre. Ach, wenn ich hier bleiben könnte, ein Häuschen mit einem Garten haben und so ein puppiges kleines Geschäft mit Schulheften und Ansichtskarten und Bibelsprüchen und eine Leihbibliothek – und dich, dich, dich! Von morgens bis abends und von abends bis morgens ... aber nach drei Wochen wärst du mir durchgegangen und ich säße allein hier ...“ „Glaubst du?“ sagte Olga ohne Spott. „Wie du mich kennst!“ „Ich kenne dich!“ beharrte Mette lächelnd. „Vielleicht kenn’ ich dich besser als du dich kennst.“ „Kein Mensch kennt einen anderen,“ sagte Olga in einem müden und gleichgültigen Ton und heftete die Augen unter den zusammengezogenen Brauen unverwandt auf die blaue Laterne über dem Torweg. „Aber es läßt sich so wenig dagegen tun ...“ – – – * * * * * Sie hatten nach dem Abendessen noch in dem überheizten Gastzimmer eine Partie Schach gespielt und dabei mit viel heimlichem Entzücken den Unterhaltungen gelauscht, die die Honoratioren nebenan an ihrem Stammtisch führten. Als sie, die Mäntel überm Arm, an der Treppe anlangten, bat Olga: „Komm, laß uns noch eine halbe Stunde an die Luft gehen, daß wir nicht den ganzen Rauch in Haaren und Kleidern mit hinauf schleppen – das heißt, wenn du nicht etwa müd’ bist, natürlich.“ Der häßliche Platz, die nüchternen Straßen lagen in Schnee und Mondlicht wie verzaubert da. Der Himmel war hoch, blauschwarz und so klar, daß er wie erfüllt erschien von dem unabsehbaren Gewimmel funkelnder Sterne. Olga hatte den Kopf tief in den Nacken gelegt. Der Nachthimmel und die Gestirne schienen sich in ihren Augen zu spiegeln. „Unendlichkeit!“ sagte sie leise. „Du glaubst nicht, wie ich dieses Wort liebe. Es ist mein Vaterunser und mein Evangelium. Kein Anfang, kein Ende. Unendlichkeit der Zeit, Ewigkeit des Raumes. Ich glaube, wenn ich ganz klein und verzweifelt wäre, braucht ich nur zu denken: Unendlichkeit! Und es wäre wie ein Orgelton, der alles von mir abspült. Wird man nicht ganz fromm, wenn man dies Unbegreifliche fühlt? Darum lieb’ ich den Sternenhimmel so. Darum lieb’ ich die Nacht so.“ „Mich hat nichts so gequält,“ sagte Mette, „als deine Unendlichkeit. Als kleines Kind schon. Ich wollte sie immer begreifen. Ich wollte. Ich lag im Bett und stellte mir den Raum vor. Und dann schloß ich einen Kreis wie eine Mauer um ihn. Und was war dahinter? Wieder Raum. Ich zog einen größeren Kreis. Ringsum war wieder Raum. Ich dachte manchmal, ich müßte verrückt werden, wenn all der Raum in mein armes kleines Gehirn hineinstürzen wollte.“ „Das ist ja das Schöne, daß es etwas gibt, was wir nicht begreifen können. Nicht der Gelehrteste und nicht der Gefühlvollste. Das eine Unbegreifliche ist Bürgschaft für tausend Möglichkeiten. Wenn es Ewigkeit gibt, warum nicht Unsterblichkeit, Seligkeit, Göttlichkeit? Warum nicht eine Liebe über aller irdischen? Alles wissen sie, alles erklären sie. Wie die Spermatozoen ins Ei dringen, beobachten sie, und Sterne machen sie ausfindig, von denen das Licht achtzig Millionen Jahre braucht, um zu uns zu gelangen, und Theorien stellen sie auf, worin sie Liebe durch Fortpflanzungswillen und Sympathie durch Geruchsnerven begründen. Von allem reißen sie den Schleier des Mysteriums. Sie wissen, wie wir entstehen und wie wir vergehen und warum wir lieben. Aber wenn sie dich quälen und du ihnen nicht glauben willst, dann sag’ dir ganz leise: Unendlichkeit! Und fühle, daß es Dinge gibt, die über aller Vernunft sind. Kein Lebender kann sie erfassen ... Aber die Toten vielleicht. Oder die Sterbenden schon. Darum lächeln die Toten alle. Sie lächeln alle so erlöst und überlegen, als wollten sie sagen: ‚Herrgott, ist das lächerlich einfach‘ ... Ich freue mich manchmal auf den Moment, wo man die Stufe hinaufsteigt, daß man endlich über die Mauer sehen kann.“ „Freu’ dich nicht zu sehr,“ sagte Mette und griff wie in Angst nach ihrer Hand, „ertrag nur die Mauer noch eine Weile.“ „Kind,“ sagte Olga weich, „ich sehe ja die Mauer nicht. Sie ist ganz und gar von Rosen überhangen.“ – – – * * * * * Auch am anderen Morgen war noch kein Brief aus Berlin da. „Gesegnete Post!“ sagte Olga. „Sie kommt hier nur einmal am Tage.“ Mette schüttelte den Kopf. „Ich versteh’ dich nicht. Ich hab’ erst die richtige Ruhe, wenn Antwort da ist. So sitzt man ja doch immer auf dem _qui vive_ oder dem Pulverfaß oder ähnlichem! Wenn wir wissen, woran wir sind, können wir uns danach richten. Ich muß dann eventuell an den Rechtsanwalt schreiben, der der Testamentsvollstrecker meiner Großmutter war. Der wird mir sicher eine Summe vorschießen, von der wir das halbe Jahr leben können, bis ich mündig bin. Aber ich wollte, ich hätte alle diese Dinge schon hinter mir.“ Olga spielte mit den Fransen der Tischdecke und lächelte. „Warum lächelst du so?“ fragte Mette. „Weil du so weitgehende Pläne machst. Dein Vater wird schreiben: ‚Komm!‘ Und dann wirst du kommen.“ „Du weißt ganz genau, daß das ausgeschlossen ist!“ sagte Mette fast zornig. Olga stand mit einem Ruck auf und ging ans Fenster. „Vielleicht schick’ ich dich auch!“ sagte sie hart. – – – * * * * * Am Nachmittag machten sie wieder einen weiten Spaziergang über die Felder. Der frühe Abend überraschte sie, und sie kamen erst in der Dunkelheit heim. Sie gingen auf der Landstraße, hart ankämpfend gegen den Wind und sahen vor sich im blauen Dämmern die aufblitzenden Lichter der Stadt. „Seltsam,“ sagte Olga, „wir gehen nach Hause. Da liegt eine Stadt vor uns, deren Namen ich vor drei Tagen noch nicht gekannt habe, und da bin ich zu Hause. Da liegt ein Hotelzimmer, in dem vor drei Tagen vielleicht noch irgendein Kommis nächtigte, ein Zimmer, in dem nicht ein Möbelstück nach meinem Geschmack ist, in dem nicht ein Bild und nicht ein Buch mich lockt – und da bin ich zu Hause. Wenn ich an unseren Gasofen denke und an den Feuerschein auf dem schäbigen Teppich, dann wird mir so warm, daß ich den Wind nicht spüre. Wie muß einem Menschen zumute sein, der wirklich ein eigenes Heim hat. Wo er jeden Sessel liebt und die Farbe des Teppichs und das Licht der Lampe und jedes Kissen und jedes Bild und jede Tasse.“ „Das könntest du doch haben,“ sagte Mette. „Ich?! – Nie, nie, nie!“ „Doch!“ sagte Mette etwas zaghaft. „Wenn du Geduld hättest ... in einem halben Jahr.“ Olga lachte kurz auf. „Kind!“ rief sie und drückte Mettens Arm fester an sich. „Liebes, süßes, wundervolles, kleines Geschöpf! In einem halben Jahr! Wo bist du da und wo bin ich da? Vielleicht bist du verheiratet – und ich bin tot.“ – – – * * * * * Als sie in das Zimmer traten, leuchtete von der dunklen Tischdecke etwas Weißes ihnen entgegen. Mette nahm es auf und lief damit ans Fenster. Der Schein einer Laterne draußen gab ein schwaches Licht. Es war ein dringendes Telegramm. „Mach hell, bitte!“ bat sie mit ein wenig unsicherer Stimme. Sie riß das Papier auseinander. Sie las es in dem Dämmerlicht am Fenster. Sie las es noch einmal bei der aufflammenden Gaslampe. Es änderte sich nicht. „Dein Vater vom Schlage getroffen. Sein Ableben stündlich zu erwarten.“ Sie reichte das offene Telegramm, ohne ein Wort zu sagen, Olga hinüber und ging an ihr vorbei nach dem Ofen. Sie hielt die Hände vor die Glut und war erfüllt von der seltsam peinlichen Empfindung, nicht zu wissen, wie sie sich benehmen sollte. Kein Gefühl quoll unwiderstehlich, jeden Gedanken verdunkelnd, aus ihrer Tiefe: weder Schmerz, noch Angst, noch Liebe. Nur häßliche, quälende Gedanken: „Ich werde hinfahren und zu spät kommen,“ dachte sie. „Es wird also ganz unnütz sein, daß ich fahre. Wenn er wirklich sterben muß – warum hab’ ich dann nicht lieber die Nachricht bekommen, daß er tot ist. Dann würde keine Macht der Welt mich hier wegbekommen.“ Sie warf einen verstohlenen Blick auf Olga, die ihr noch immer den Rücken zudrehte. „Sie wird erwarten, daß ich irgend etwas tue,“ dachte sie. „Ich muß mich doch irgendwie äußern. Ich glaube, das Natürlichste wäre, wenn ich jetzt weinte. Aber ich kann doch nicht. Ich finde es schrecklich, gewiß. Aber es ist nichts, was mir die Tränen in die Augen treibt. Was würde Olga in meiner Lage tun? Seltsam, wie wenig wir uns eigentlich kennen. Ich weiß nicht, was sie tun würde. Und ich weiß auch nicht, was sie von mir erwartet.“ Endlich drehte Olga sich um und legte mit einer schönen und merkwürdig behutsamen Bewegung das Papier auf den Tisch. Ihr Gesicht war ruhig, aber ganz weiß. „Ich will nach den Zügen fragen!“ sagte sie und schritt still hinaus. Mette war fast froh, noch einen Augenblick allein zu sein. Sie konnte nun in Ruhe überlegen, was zu tun sei. Wenn Olga ging, um nach den Zügen zu fragen, so nahm sie als selbstverständlich an, daß Mette mit dem nächsten Zug nach Hause fuhr. Es war ja auch wohl selbstverständlich, freilich, das war es. Sie stand seufzend von ihrem Sessel am Kamin auf, stellte den offenen Handkoffer zurecht und fing an einzupacken. Dabei flogen ihre Gedanken hin und her. Vielleicht war es gar nicht wahr! Vielleicht hatte Tante Emilie sich das ausgedacht, um sie nach Hause zu locken! Sie ins Gefängnis zurückzulocken! Wenn doch jetzt eine Depesche von Vater käme, die die erste Nachricht widerriefe! Oder, wenn es doch wahr war – wenn jetzt eine Depesche von Tante Emilie käme, daß alles vorbei wäre. Dann brauchte sie nicht zu fahren. Oder ob Olga es von ihr verlangen würde? Wenn doch Olga jetzt heraufkäme und sagte: Es geht kein Zug, heute nicht, morgen nicht, nie mehr. Die Züge bleiben im Schnee stecken – oder der Bahndamm ist eingestürzt ... Oder wenn Olga jetzt käme und sagte: Fahr’ nicht! Verlaß mich nicht! Laß uns weiterfahren, irgendwohin, wo sie uns nicht finden. Beweise mir, wie du mich liebst, gib alles auf. Was ist dir der fremde Mann, der da im Sterben liegt? Nichts! Zu mir gehörst du, mein bist du! Ich verlange von dir, daß du bei mir bleibst, ich will mich nicht von dir trennen, nicht auf eine Stunde mehr. Ja, das wäre das Schönste. Aber von allem Unmöglichen war es das Unmöglichste. Olga machte die Tür auf. Ihre Bewegungen, obgleich rasch, waren so leise, als beträte sie ein Krankenzimmer. „Um drei Viertel zehn,“ sagte sie und warf einen Blick auf die Armbanduhr. „Wir haben also noch reichlich Zeit, einzupacken und etwas zu essen.“ In Mette zuckte etwas wie Empörung auf. Sie mußte fahren. Sie wurde einfach geschickt. Vielleicht wäre Olga selber an ihrer Stelle nicht gefahren. Olga durfte frei handeln und entgegen allem, was Sitte und Gebrauch war – aber für Mette galt das Normale, das Alltägliche, das Schickliche. Um drei Viertel zehn ging der Zug – sie wurde gar nicht gefragt, ob sie ihn benutzen wollte. Es war der nächste Zug, und also hatte sie damit zu fahren. Sie packte mit verbissenem Gesicht ihren Koffer weiter. „Darf ich dir helfen?“ fragte Olga ernst und sanft. „Danke!“ sagte Mette kurz. Der rücksichtsvolle Ton quälte sie. Sie hätte so gern ganz brutal die Wahrheit gesagt: „Du brauchst mich nicht zu behandeln, als wäre ich schwer krank. Das Schlimmste an dieser Sache ist für mich, daß wir uns trennen sollen, daß ich hier fort soll, daß unser Märchen hier ein Ende hat“ – aber sie hatte den Mut nicht, es auszusprechen. Und sie fühlte doch, daß Olga sich beinah scheu zurückhielt, so, als hätte sie kein Recht, Metten in ihrem heiligen, kindlichen Schmerz zu stören. Mettens Hände stießen beim Packen zufällig auf einen sorgfältig in Seidenpapier gehüllten Gegenstand unten am Boden des Handkoffers. Sie riß das Seidenpapier ab, daß die Fetzen zur Erde flatterten und hielt das goldene Etui in der Hand. „O Mette!“ rief Olga mit einem leisen, überraschten Aufschrei. „Da ist es ja wieder! Seit wann?“ „Es ist nie woanders gewesen,“ sagte Mette mit einem etwas bedrückten Lächeln. „Ich konnte mich nicht entschließen, es in fremde schmutzige Hände zu geben. Ich wollte dir eigentlich nichts davon sagen – ich wollte es dir zu Weihnachten schenken – aber es ist ja Unsinn – ich will es dir lieber gleich geben.“ Mette ging hinüber und legte es in Olgas Hände, die ihr nicht entgegenkamen. Olga hielt es ganz still auf den Flächen der Finger, ohne es zu umschließen und sah es mit gedankenschwerem Lächeln an. „Seltsam,“ sagte sie, ohne die Augen aufzuheben. „Warum jetzt? Warum heute? Man sollte nicht abergläubisch sein, aber manchmal ist es schwer ...“ Mette verstand den Sinn dieser Worte nicht, aber sie fragte auch nicht danach. Sie spürte mit zorniger Eifersucht, daß Olgas Gedanken in einer Vergangenheit waren, die ihr fern, fremd und verschlossen blieb. Aber sie spürte keinerlei Beziehung auf sich selbst. Es war eine schweigsame Fahrt durch die kalte, dunkle und unfreundliche Nacht. Mette lehnte mit halbgeschlossenen Augen in einer Ecke und sehnte sich danach, mit viel Zärtlichkeit getröstet zu werden – aber sie hätte nicht gewagt, diese Sehnsucht auszusprechen, auch wenn nicht fremde Menschen mit dumm verschlafenen, glotzenden Gesichtern im Wagen gesessen hätten. Als Mette fröstelte, zog Olga wortlos ihren Mantel aus und legte ihn ihr über die Knie. Aber Mette wies ihn fast schroff zurück. „Laß das, bitte! Ich möchte nicht, daß du dich erkältest!“ Olga nahm den Mantel fort. Aber sie zog ihn nicht an. Sie legte ihn neben sich auf das Polster, mit einer so achtlosen Bewegung, als sei er zu nichts mehr nütze. – – – * * * * * In der Wohnung roch es nach Krankheit und Tod. Die Mädchen saßen schlaftrunken mit verschwollenen Augen und stumpfen Gesichtern herum. Überall brannte Licht. Aber nicht helles, heiteres, strahlendes Licht, nur immer eine einzelne Lampe, die ein oder zwei Räume dämmerig erhellte. Die Türen standen offen oder waren angelehnt – man sah, daß nicht Nacht war in dieser Wohnung. Daß niemand schlief, daß unablässig hin und her gelaufen wurde. Und durch die offenen Türen drang das gleichmäßige röchelnde Atmen des Sterbenden in alle Räume, erfüllte alle Räume. Tante Emilie, mit wachen Eulenaugen in dem zerkniffenen Gesicht, geisterte gespenstig hin und her. „Du kommst zu spät!“ sagte sie mit eisigem Triumph, als sie Mettens ansichtig wurde. „Wir haben keine Hoffnung mehr.“ Mette fühlte, daß ihr etwas Böses zugefügt werden sollte. Und das plötzliche Bewußtsein, so verworfen, so gefühlsroh zu sein, daß dies Böse sie nicht traf, daß selbst diese Frau in ihrem maßlosen Haß sie noch überschätzte, trieb ihr, müde und überreizt wie sie war, die Tränen in die Augen. Tante Emilie ahnte nichts von diesen Vorgängen. „Auch diese Tränen kommen zu spät!“ sagte sie geringschätzig. Von den zwanzig Stunden, die nun kamen, hatte jede Stunde tausend Minuten. Mette ging hin und her, saß hier und dort und fühlte sich überall am falschen Platz, im Wege, von bösen Augen beobachtet. Sie war zerschlagen an allen Gliedern und hatte das Bedürfnis, nur für eine Stunde sich in ihrem Zimmer einzuschließen und sich aufs Bett zu werfen. Aber sie fand den Mut nicht dazu. Sie wußte, man erwartete von ihr, daß sie, in Reuetränen zerfließend, am Sterbebette ihres Vaters saß oder womöglich auf den Knien lag. Sie versuchte das Grauen, das sie schüttelte, zu überwinden und ging hinein, immer wieder. Die dumpfe Luft roch nach Verwesung und Medikamenten. In den vielen weißen Kissen lag ein kleiner, sonderbar knöcherner Schädel, ein fremdes, schief gezerrtes Gesicht mit geschlossenen Augen, dem der röchelnde Atem leise die gelblichen Lippen bewegte. Mette saß eine Weile still neben dem Bett und ängstigte sich davor, daß dieses schreckliche Röcheln mit einem Male aufhören könne. – Und ängstigte sich fast noch mehr davor, daß dies fremde Etwas plötzlich die Augen auftun und reden könne. Ärzte kamen, sprachen miteinander in gedämpftem Ton, maßen sie mit mitleidigen Blicken und gingen wieder. Das Mädchen deckte den Tisch zur gewohnten Zeit und bat im Flüsterton zum Essen. Tante Emilie ließ alle Verbindungstüren offen und horchte mit gespannter Aufmerksamkeit, während sie ihre Suppe löffelte, ob in dem gleichmäßigen Röcheln eine Veränderung einträte. Mette vermochte kaum einen Bissen hinunterzuwürgen. Die frühe Dämmerung kam, und die Lampen wurden wieder angemacht. Mette wollte ein Buch in die Hand nehmen, aber ein so empörter Blick von Tante Emilie traf sie, daß sie es wieder wegstellte und mutlos die Hände in den Schoß legte. Gegen Abend wurde das Röcheln schwächer. Der Nasenrücken trat messerscharf aus dem winzigen versunkenen Gesicht. Der Arzt, der am Abend kam, ging nicht wieder fort. Nun saß noch einer herum und schritt lautlos über die dicken Teppiche auf und ab und wartete. Das Röcheln wurde schwächer und schwächer. Dann kam noch ein paarmal in kurzen Pausen ein stärkeres knarrendes Ausatmen, und mit einem Male wurde es still. Man hörte plötzlich, als setzten sie eben ein, alle Uhren im Hause ticken. Der Arzt beugte sich über das Bett, richtete sich dann wieder auf und ging auf Metten zu, um ihr die Hand zu geben. Tante Emilie wischte sich über die trockenen Augen, die Mädchen draußen schluchzten auf. Mette sah und hörte alles wie durch dichte Schleier. Sie hatte Angst, ohnmächtig zu werden. Der Arzt bemerkte wohl ihr grünlich fahles Aussehen und legte ihr die Hand aufs Haar. „Legen Sie sich hin, Kind!“ sagte er sanft. „Sie können nichts mehr nützen hier. Sie haben schwere Tage hinter sich und vor sich. Jugend braucht Schlaf.“ – – – * * * * * Mette war froh, in ihrem Zimmer zu sein. Aber sie dachte nicht daran, sich hinzulegen. Als sie nach einer Weile den Arzt gehen hörte, faßte sie eine namenlose Angst. Sie war so sterbensmüde und fürchtete sich davor, einzuschlafen, so, als müßten gräßliche Träume sie peinigen, wenn sie die Herrschaft über die Gedanken verlöre. Wenn sie nur für einen Moment die schweren Augenlider schloß, sah sie die verzerrten Züge des Sterbenden, oder Tante Emilie reckte die Krallen nach ihr aus, um sie zu erwürgen, oder Onkel Jürgen holte mit einem riesigen Schlüsselbund zu einem Hieb aus, der ihr den schmerzenden Schädel zerschmettern sollte. Mette streckte die Hand sehnsüchtig in die Luft nach einer anderen Hand, die die ihre fest und warm umschließen sollte. Aber ihre kalten Finger blieben leer. Sie ertrug die angstvolle Unruhe nicht mehr. Sie schlüpfte in ihren Mantel und schlich über die Hintertreppe hinunter aus dem Haus. Die kalte Nachtluft weckte sie wie aus schwerem Traum. Sie lief mehr als sie ging durch die Straßen bis zu Olgas Haus. Das Haus war verschlossen. Mette stand eine Weile unschlüssig. Vielleicht kam irgendein Hausbewohner heim, oder der Mann von der Wach- und Schließgesellschaft machte ihr gegen ein Trinkgeld die Tür auf. Sie wartete eine ganze Weile. Die Kälte schüttelte sie. Schließlich klingelte sie den Portier heraus. Aber oben vor der Tür zögerte sie wieder, eh’ sie wagte zu klingeln. Sie setzte sich auf die Treppe und lehnte die Stirn an die hölzernen Pfosten der Tür. Sie versuchte, durch angestrengte Gedanken, durch inbrünstiges Flehen, durch gesteigertes Wollen Olga zu wecken, sie herbeizurufen. Sie glaubte immer, ihren leisen Schritt sich der Tür nähern zu hören und lauschte atemlos und merkte, daß sie sich getäuscht hatte. Sie mußte sich endlich doch entschließen zu klingeln. Es dauerte eine ganze Weile, bis ein schlaftrunkenes, halb angezogenes Mädchen ihr öffnete. Sie erzählte eine Geschichte, daß sie eben von der Bahn komme und zu Hause nicht hinein könne, weil sie ihre Schlüssel bei Fräulein Radó gelassen habe. Sie lachte dazwischen und hatte das Gefühl, vollkommen idiotisch zu wirken. Als sie sich durch den wohlbekannten Türgang entlang tastete – sie fürchtete sich, aus irgendeinem unbegreiflichen Grunde davor, Licht zu machen – vielleicht hatte sie die Vorstellung, das Geräusch oder der Schein könne jemanden wecken, oder vielleicht hatte sie unbewußte Angst, gesehen zu werden und fühlte sich sicherer im Dunkel. Als sie schon vor Olgas Tür stand, hatte sie mit jähem Erschrecken das qualvolle Empfinden – so stark, daß sie es für Ahnung nahm – als wäre Olga nicht allein. Als stände diesem furchtbaren Tag noch ein furchtbarster Abschluß bevor. Sie stand an die Wand gelehnt und wagte nicht zu klopfen, nicht die Klinke zu berühren. Eine Stimme, die sie deutlich außer sich zu hören glaubte, sagte: „Was suchst du hier? Mit welchem Recht dringst du hier ein? Wie kommst du zu der maßlosen Kühnheit, dich hier zu Hause zu fühlen?“ Die Tür ging geräuschlos auf, und ein matter Lichtschein fiel heraus. In dem Lichtschein stand Olga Radó, groß und schlank, in einem dunkelbunten Kimono, eine Hand auf der Klinke und spähte unter zusammengezogenen Brauen scharf hinaus. Sie sah und erkannte Metten sofort. „Mette!“ rief sie leise und schloß einen Moment, wie erschrocken, die Augen. „Ich hab’ es doch gewußt! Was ist geschehen, Kind? Wie bist du heraufgekommen?“ Mette taumelte mehr als sie ging. Sie kam ins Zimmer, sah das sanfte Licht der verschleierten Lampe auf den Papieren des Schreibtisches, auf den Bücherrücken, auf den Bildern, auf den seidenen Kissen – Farben und Formen stürzten wie ein Gefühl unendlichen trunkenen Glücks in sie hinein – sie ließ sich auf die Erde niedergleiten, legte die Stirn gegen den Sessel und sagte zwischen Lachen und Weinen, zwischen Wachen und Schlaf: „Laß mich hier, es ist so gut.“ Olga hob sie auf, zog sie aus wie ein kleines Kind und legte sie ins Bett. Als die Kühle der Laken ihre Glieder berührte, fingen Kälte und Grauen wieder an, sie zu schütteln. Sie war mit einem Schlage wieder hellwach, saß steif aufgerichtet im Bett und bemühte sich vergebens, das gewaltsame Aufeinanderschlagen der Zähne zu unterdrücken. „Leg’ dich zu mir,“ bat sie flehentlich, „ich muß spüren, daß ich nicht allein bin. Ich hab’ so gräßliche Angst.“ Olga antwortete nicht. Sie verriegelte die Tür, sie stellte die Lampe hinter das Bett, breitete noch einen Seidenschleier über das Licht, ließ den Kimono von den Schultern gleiten – alles mit einem wehen Lächeln und schweren langsamen Bewegungen, als rüste sie sich zu einem Opfergang. Sie schob den Arm unter Mettens Nacken, breitete die Decke fester über sie, strich ihr das verwirrte Haar aus der Stirn. Und da Mette die Wärme dieses geliebten Lebens, den starken Schlag dieses Herzens spürte, brach sie in ein leises qualerlöstes Weinen aus. Über diesem Weinen schlief sie ein. Nach einer Zeit, von der sie nicht wußte, ob es Stunden oder Minuten waren, wachte sie wieder auf. Das Licht brannte immer noch. Olga lag reglos neben ihr, mit weit offenen Augen. Mette richtete sich auf und gab ihren Arm frei. „Warum weckst du mich nicht?“ sagte sie vorwurfsvoll. „Armes, ich habe dir sicher den ganzen Arm zerbrochen, und darum konntest du nicht schlafen.“ Olga drehte ein wenig den Kopf. „Ich hätte auch sonst nicht schlafen können. Ich bin so wach.“ „Woran hast du gedacht?“ fragte Mette und versuchte, in ihren Augen zu forschen. Olga lächelte ein wenig mühsam. „Daran, daß deine Leute dich jetzt vielleicht im ganzen Haus suchen. Ich möchte wissen – oder ich möchte lieber nicht wissen, was jetzt in Tante Emiliens Gehirn vorgeht. Sie muß doch rein denken, du bist von der Tarantel gestochen!“ Mette lachte leise auf und schlang ihren Arm um Olga. „Vom Skorpion!“ sagte sie zärtlich. „Und es gibt kein Gegengift als sein eigenes Gift. Das weißt du doch!“ Olga richtete sich auf und faltete die Hände über den hochgezogenen Knien. Die beiden schwarzen Flechten lagen wie zwei breite schwere Bänder auf dem weißen Hemd. Ihre Augen starrten geradeaus, und die weitgeöffnete Pupille überdunkelte die ganze Iris. „O wunderliches Schicksal über mir!“ sagte sie mit einer leisen, tiefen, wie ein Cello klingenden Stimme. „Als wär’ ich von dem Skorpion gestochen Und hoffte Heilung durch dasselbe Tier. – _Qui vivens laedit – morte medetur._“ Ein Ausdruck gewaltsamer, schmerzlicher und fast unheimlicher Energie trat in das weiße schöne Gesicht. Mette erschrak, daß ihr der Herzschlag stockte. Sie hatte den Mut nicht, sie anzurühren, sie an sich zu reißen. „Olla!“ rief sie mit einem leisen Klagelaut und streckte die Hände nach ihr. Da trat wieder das mühevolle Lächeln um den blassen Mund. Sie schlang mit einer jähen Bewegung beide Arme um Metten und preßte sie an sich, als wollte sie sie in dieser Umarmung ersticken, vernichten, zerstören. „Ach, Mettulein,“ sagte sie mit einem zersprungenen Lachen, „es hilft ja alles nichts ... du mußt mich erst in sanftem Öl verenden lassen – dann wird vielleicht noch alles gut!“ – – – * * * * * Mette hörte im Traum heftiges Klingeln. Dann wachte sie auf von Türengehen, näher kommenden Schritten, vielen und erregten Stimmen. Sie machte die Augen auf und sah Olga vor dem Bett stehen, schon fertig angekleidet. Sie war sehr blaß, hatte dunkelflammende Augen und herrschte sie an in einem Ton, der wie atemlos klang vor Erregung. „Steh auf, Mette, ich bitte dich um Gottes und aller Heiligen willen, zieh dich schnell an.“ Mette schlüpfte in wahnsinniger Hast in ihre Sachen. Unterdessen wurde schon heftig an die Tür geklopft. Olga ging sofort hin, riegelte auf und öffnete die Tür zur Hälfte. „Wer ist denn da?“ Draußen wurden erregte Stimmen laut, erregte Gesichter drängten sich in den Spalt. „Ich bedauere, Sie können momentan nicht in mein Zimmer,“ sagte Olga mit eiskalter Höflichkeit. Die Stimmen draußen überschrien sich. Das war Tante Emilie. Das war Onkel Jürgen. Das war Frau Flesch. Das war das Mädchen, das ihr die Nacht geöffnet hatte. Mettens Hände zitterten wie in einem Angsttraum. Sie konnte mit keinem Knopf zustande kommen. Sie hatte den brennenden Wunsch, unsichtbar zu sein oder aus dem Fenster zu springen oder in tiefe Bewußtlosigkeit zu fallen. Olgas Stimme überklang den Tumult, tief und ruhig, aber kalt und scharf wie geschliffenes Eisen. „_Muß_ diese Unterhaltung auf dem Flur stattfinden?“ Dann klang plötzlich eine sanfte, zarte Stimme: „Darf ich den Herrschaften mein Zimmer anbieten? Ich mache gern Platz.“ Die Stimmen verzogen sich nach nebenan, und ein paar Augenblicke später – Mette hatte schon das Kleid übergeworfen – schlüpfte Peterchen ins Zimmer. „Kann ich dir helfen, Mette?“ flüsterte er mit verstörten Augen. Im selben Augenblick klang es von nebenan, als ob ein Stock auf den Tisch geschmettert würde. „Ich werde Sie ins Gefängnis bringen!“ donnerte Onkel Jürgens Stimme. Mette wollte hinüberstürzen. Peterchen hielt sie mit flehender Gewalt zurück. „Nicht so!“ bat er. „Mach dir schnell das Haar! Zieh dir Schuh an!“ Während sie die Haare glatt strich und aufsteckte, kniete er vor ihr und schnürte ihr die Stiefel zu. Sie gab ihm recht. Sie konnte nicht auf Strümpfen, mit gelöstem Haar hinüberlaufen, zum Gaudium aller Leute, die hinter den Türritzen lauschten. Als Mette über den Flur nach dem anderen Zimmer ging, ganz ruhig und aufrecht ging, war sie voll einer starken, kühnen, heißen und beinah frohen Entschlossenheit. Im Hintergrund des Flurs stand ein fremder Herr in Hut und Überzieher, der sie mit einem durchdringenden Blick musterte. „Von der Leiche des Vaters weg!“ wimmerte Tante Emilie mit hohem Pathos. „Die Kriminalpolizei in meinem ehrlichen Hause!“ kreischte Frau Flesch. „Noch nie in meinem Leben hab’ ich was mit der Polizei zu tun gehabt!“ Mette klinkte die Tür mit hartem Griff auf. Das Herz schlug ihr bis an den Hals. Einen Augenblick durchzuckte sie der Gedanke: Vielleicht war alles gut so. Vielleicht war es gut, daß sie jetzt den Mut haben mußte, neben Olga hinzutreten und zu sagen: „Ich gehöre zu diesem Menschen und verlasse ihn nicht und wenn ihr mich und euch in Stücke reißt. Wenn ihr den Mut und das Recht habt, so wendet Gewalt an, freiwillig gehe ich nicht einen Schritt mit euch.“ Olga stand gegen den Tisch gelehnt, die Arme über der Brust gekreuzt, die Ellbogen mit den Fingern umklammert. Als die Tür aufging, stürzte Tante Emilie mit dem fast geschluchzten Ausruf: „Da ist das unglückliche Kind!“ auf Metten zu. Mette stand einen Augenblick wie erstarrt. Sie hatte einen Moment das Gefühl, unter Irrsinnige zu kommen oder selber irrsinnig zu sein. Mit einem flüchtigen Blick erfaßte sie, daß Jürgen von Seyblitz mit seiner straffen Haltung, mit den blitzblauen Augen und dem eisgrauen Schnurrbart in dem zornroten Gesicht sehr gut aussah. Er kam auf sie zu und sagte mit einer tiefen, rauhen Stimme, in der etwas wie Rührung zitterte: „Mette, Kind, was tust du hier? Morgen begraben sie deinen armen Vater, und du bist hier?!“ Er legte ihr schwer die Hand auf die Schulter. Mette sah ihn nicht an. Sie sah Olga an. „Ich bin hier zu Hause –“ sagte sie. Ihre Stimme sollte eine strahlende Festigkeit haben, aber sie konnte sie nicht zwingen, sie klang leise und bebend. „Wenn ihr glaubt, das Recht zu haben, so wendet Gewalt an, freiwillig gehe ich nicht einen Schritt mit euch.“ Es war schwer, sehr schwer, das auszusprechen. Sehr schwer, das auszusprechen vor Onkel Jürgens ehrlichem, wut- und schmerzverzerrtem Gesicht, vor Tante Emiliens blinzelnden Vogelaugen, vor dem schwammigen Gesicht der Frau Flesch, das in einem widerlich-gierigen Grinsen wie erstarrt schien, vor dem fremden Mann, vor den Mädchen, die hinter den Türen lauschten. Aber nun war es ausgesprochen. Und damit mußte alles gut sein. Nun mußte Olga kommen und sie in die Arme nehmen, mußte Mettens Kopf so an ihre Brust drücken, daß sie nichts mehr zu sehen und zu hören brauchte, mußte mit einer ihrer unglaublich stolzen und herrischen Bewegungen all diesen fremden und peinigenden Gesichtern die Tür weisen, mußte einen Revolver diesen Eindringlingen entgegenrecken und sie hinausjagen mit einem einzigen Wort ... Olga wandte den Kopf, ohne ihre Haltung zu verändern und sah Metten an. Alle glaubten, daß sie Metten ansah und machten eine unwillkürliche Geste der Spannung, der Erwartung. In Wahrheit lagen ihre Augen auf Mettens Stirn oder auf ihren Brauen oder auf ihren Haaren. Mette wollte ihren Blick treffen, sie bohrte ihre Augen in Olgas Gesicht, aber sie konnte ihren Blick nicht zwingen. Er lag unverändert auf ihrer Stirn oder ihren Brauen oder ihren Haaren – eine Linie über ihren Augen. „Mein liebes Kind,“ sagte Olga mit einer eisig kühlen Sanftmut, „Ihre Anhänglichkeit an mich ist rührend, aber ich habe sie durch nichts verdient. Wenn Sie mir wirklich soviel Sympathien entgegenbringen, so gehen Sie jetzt mit Ihren Angehörigen und betragen sich wie ein vernünftiger Mensch und verschonen mich künftig mit Ihren Besuchen. Sie sehen doch, daß Sie mir nichts als Ungelegenheiten bereiten!“ Mette zögerte noch einen Augenblick. „Es muß doch irgend etwas geschehen,“ dachte sie, „sie muß mich doch ansehen, sie muß mir durch einen Blick, durch eine Geste ein Zeichen geben, daß dies Verstellung ist, Komödie, daß ich ihr vertrauen soll, an sie glauben, auf Nachricht warten ...“ Es geschah nichts. Mette suchte in ihren Gedanken irgend etwas Unerhörtes, womit sie diese steinerne Maske zerschmettern könnte. Konnte sie nicht sagen: „Du hast mich gerufen, gelockt, gezwungen und jetzt verleugnest du mich?“ Nein – sie hatte kein Recht dazu. Fiel ihr denn nichts ein, irgendein Schmähwort, ein treffendes, verletzendes, grausames? Sie wälzte dumme, kindische Schimpfwörter, schwer wie Steinblöcke, in ihrem Gehirn hin und her. „Du Kanaille!“ dachte sie. „Du Dirne!“ Das war nicht das, was sie suchte. Ihr war, als müsse sie in fieberhaftem Suchen die polternden Steinblöcke hin und her schieben, um irgend etwas zu finden, ein scharfes Wort, das sich schleudern ließe. Plötzlich schien es ihr, als ob sie schon eine unendliche Zeit so dagestanden hätte, mit hängenden Armen, mit blöden Augen und offenem Mund. Sie richtete sich auf und machte den Versuch zu einem Lächeln, das hochmütig und liebenswürdig sein sollte. Aber sie hatte das Gefühl dabei, als ob der Irrsinn in ihren verzerrten Muskeln tanze. „Willst du um einen Wagen telephonieren, Onkel Jürgen?“ sagte sie. „Seltsam,“ dachte sie dabei, „das ‚um‘ habe ich mir auch von Olga angewöhnt – hier sagt man ‚nach‘, glaube ich.“ „Ich bin zu müde zum Laufen.“ Dann ging sie nach der Tür. „Ich will mir nur meine Sachen holen – einen Augenblick!“ Sie ging in das Nebenzimmer, setzte sich vorm Spiegel den Hut auf, sehr sorgfältig, zog den Mantel an, suchte ihre Handtasche. Sie beeilte sich nicht. Sie hatte immer noch das törichte Gefühl, als müßte Olga jetzt hereinschlüpfen und ihr irgend etwas zuflüstern ... wo sie sich treffen wollten, wo sie hinschreiben sollte, wann sie ihr alles erklären wollte. Es kam niemand. Als Mette ihre Handtasche aufmachte, fand sie ein Päckchen zusammengedrückter Geldscheine darin. Die waren noch von der Reise. Sie nahm sie heraus und lachte bitter auf. Nun würde sie wohl nie mehr in die Versuchung kommen zu stehlen. Nun würde sie wohl nie in ihrem Leben mehr Geld brauchen. Sie hob die Hand und öffnete sie und ließ die Scheine über das zerwühlte Bett flattern. Dann ging sie hinaus, an dem fremden Mann vorbei, an den Mädchen vorbei, die Treppe hinunter und aus dem Haus, ohne sich umzusehen. Auf der Straße holte der Wagen mit ihren Leuten sie ein. – – – * * * * * Onkel Jürgen blieb noch eine Zeit lang in Berlin. Er benahm sich recht merkwürdig. Er war still und gütig und richtete auf Metten immer ein paar ehrliche, angstvolle, blaue Augen und sprach zu ihr immer in einem leicht gerührten Ton. Von dem Geld und der Flucht war nie mehr die Rede. Wenn Mette zuweilen – oft geschah es ja nicht – über dieses Benehmen nachdachte, meinte sie, es nur auf _eine_ Weise erklären zu können. Sie glaubte nicht, daß es Reue war, weil sein heftiger Brief ihres armen Vaters Tod verschuldet hatte. Sie kam auch nicht auf den Gedanken, daß er versuchte, sie durch Liebe und Güte zu gewinnen. Nein, wahrscheinlich tat sie ihm leid. Er hatte Olga Radó gesehen. Er hatte ihre Stimme gehört. Er hatte einen Hauch ihrer Macht gespürt. Wenn Mette das dachte, liebte sie ihn fast. Und er hatte es gehört, wie Olga sie verleugnet und verraten und gedemütigt hatte. Nun hatte er Mitleid mit ihr. – Wenn Mette das dachte, so haßte sie ihn. Auch Tante Emilie war von einer sonderbaren Sanftmut. Mette dachte später manchmal, daß es besser gewesen wäre, wenn die Leute in dieser Zeit sie gequält und gepeinigt hätten und sie stark gemacht hätten in stählendem Haß. – – – * * * * * Tante Emilie und die ganze Familie war sehr dafür, die Tiefe der Trauer durch die Länge der Schleier auszusprechen. Es sollte niemand sagen können, daß Mette, die verlorene Tochter, das ungeratene Kind nicht über den Tod ihres Vaters trauere. Als Mette sich zum erstenmal im Spiegel sah, von Kopf zu Füßen in schwarzem Krepp, schmal und blaß, mit erloschenen Augen und schmerzgezeichnetem Mund, dachte sie: „Wie eine Witwe“, und ihr Herz zog sich qualvoll zusammen. Als sie zur Beerdigung fuhren und nebeneinander saßen, hielt Tante Emilie mit der schwarz behandschuhten Rechten das weiße Taschentuch an die zitternden Lippen und mit der Linken hielt sie Mettens Hand. Und Onkel Jürgen sah aus dem Fenster, und von Zeit zu Zeit rollte eine Träne aus seinen blauen Augen bis in den Schnurrbart. Metten war zumut, als sei sie ein Berg gewesen, an dessen steinerner Unverletzlichkeit jedes Geschoß abgeprallt war – nun war durch eine Explosion ein Trichter in sie hineingesprengt, in ihr war Leere, in ihr war ein tiefer, dunkler, zerklüfteter Abgrund. Die wild zerrissene Wunde lag offen am Tage und alles fiel ungehindert in sie hinein, blieb schwer wie Steine in ihr liegen, erfüllte sie mit Qual – alles, Blicke, Worte, Tränen, Bewegungen. „Weh über den, der mich zersprengt hat!“ dachte sie bitter. Dann schloß sie ihre Finger einen Augenblick fester um Tante Emiliens Hand. „Wir gehören zusammen,“ dachte sie, „Verlassene und Ungeliebte, bitter- und hartgewordene Unglückliche – wir gehören zusammen. Zwei große Familien gibt es auf der Welt, Reiche und Arme, Gesunde und Kranke, Lachende und Weinende ... Olga Radó gehört zu den Frohen, sie hat triumphiert, sie hat sich gerechtfertigt, sie hat sich von mir befreit – nun geht sie lachend einem neuen Abenteuer entgegen.“ Nicht immer dachte Mette so. Die widerstreitendsten Empfindungen schüttelten sie durcheinander. Es kamen wache Nächte, in denen sie glaubte, daß alles gut werden mußte, wenn sie Olgas Hand hielt und fragte: „Kind, wie ist das nur gekommen? Wie konnte das nur geschehen? Was hast du dir nur dabei gedacht?“ Dann lief sie am Tage die Motzstraße auf und ab und starrte zu der Haustür hinüber – aber immer vergebens. Dann kamen Tage, an denen Tante Emilie ein widerlich-freundliches Bedauern zur Schau trug und sich in Anspielungen erging, über die Undankbarkeit der Welt im allgemeinen und im besonderen, und wie Mette nun vereinsamt sei, weil sie ihre ganze Zeit und ihr ganzes Gefühl an eine solche Person verschleudert habe. Dann haßte Mette mit glühendem Haß alle beide, Tante Emilien und Olga. Aber mehr noch Olga – Olga, die sie zu Boden geworfen hatte, damit Tante Emilie auf ihr herumtreten konnte, Olga, die ihr die Wunde gerissen hatte, in der Tante Emilie mit schmutzigen Fingern wühlte. Manchmal beschloß sie zu sterben. Viel öfter aber noch zu fliehen. Ein Bündel zu packen und die Landstraßen entlang zu laufen, auf Wiesen, in Gräben zu nächtigen, den ewigen Sternenhimmel als Decke über sich. Der Gedanke an fremde Erdteile war das einzige, was ihr in dieser Zeit zuweilen wohl tat. Mit diesem Gefühl der Gleichgültigkeit gegen Tod und Leben mußte es schön sein, irgendwo im Dschungel mit gespannter Büchse zu liegen und im kaum schwankenden Rohr die Augen eines Tigers auf sich gerichtet zu sehen. Oder an einem Wachtfeuer zu liegen, um das nackte, schwarze Gestalten zu eintöniger Musik sich verrenkten. Oder von den leise schaukelnden, kissenweichen Tritten eines Kamels durch unermeßliche, flirrende, weiße Glut getragen zu werden. Dann wieder schien es ihr, als ob ein solches Leben – auch ein _solches_ Leben nur unablässige Qual wäre ohne Olga – unendlicher Reichtum, unausdenkbares Glück mit Olga. Sie versuchte, sich in den Gedanken zu fügen, daß Olga sie nicht liebte. Aber es konnte nicht sein, daß sie sie haßte. Sie hatte sie geopfert, leichten Herzens aufgegeben, um ihren Ruf zu wahren, um sich Unannehmlichkeiten abzuwehren. Sie liebte sie nicht. Aber darum waren ihre Worte doch Lüge gewesen. Sie hatte sich gefreut, wenn sie kam. Immer. Sie würde sich wieder freuen, wenn sie wieder kommen würde. Sie wollten ein Leben zusammen führen, ein herrliches, freies Leben, in allen Städten der Welt, auf Dörfern, im Walde, in Indien, auf Madagaskar. Dazu kam, daß Metten jetzt tagtäglich klargemacht wurde, wie reich sie war. Franz Rudloff war kein Geizhals gewesen, aber er wußte nicht, wie und wofür man Geld ausgeben sollte. Und Tante Emilie war viel zu musterhaft, um auch nur in der kleinsten Kleinigkeit verschwenderisch zu sein. Mette hatte keine allzu genaue Kenntnis von Geld und Geldeswert. Aber das wußte sie doch: Die Summen, die man ihr jetzt nannte, die verbürgten Freiheit, volle Freiheit, die versprachen ihr: in wenig Monaten kannst du ein Leben führen, wo du willst und wie du willst ... Ein Leben ohne Olga ...? Mette faßte den Entschluß, an Olga zu schreiben. Nicht, wie es in ihr aussah, nichts von Sehnsucht und Liebe, oh, um Gottes willen nicht. Aber ein paar ganz kühle, sozusagen geschäftsmäßige Zeilen, die nur den Versuch machen sollten, eine Aussprache herbeizuführen. Sie verfaßte mit vieler Mühe einen Brief, den sie aufsetzte, verbesserte, abschrieb und war mit ihrem Machwerk sehr zufrieden. Kein Mensch konnte darin einen Hauch von Herzlichkeit oder gar Demut wahrnehmen. Eher einen scharfen, spöttischen, ein wenig herausfordernden Ton. Sie schickte den Brief ab und wartete auf Antwort. Es kam keine. – – – * * * * * Unterdessen bemühte sich Tante Emilie, an Mettens Aufklärung zu arbeiten. Und zwar auf eine merkwürdige Art. Sie war viel zu vorbildlich, um mit einem jungen Mädchen über sittlich anstößige Dinge zu reden. Außerdem hatte sie wohl auch Angst vor Mettens Wutausbrüchen. (Obgleich Feigheit eigentlich sonst ihre Sache nicht war.) Mette hatte die Gewohnheit angenommen, in ihres Vaters Studierzimmer zu sitzen. Sie las und las den ganzen Tag die schwierigsten, die unverständlichsten Dinge, nur um ihre Gedanken zu knebeln. Hier hatte sie alle Bücher zur Hand. Es war bequemer, sich gleich damit am Schreibtisch niederzulassen, als die manchmal schweren Folianten erst in einen anderen Raum zu schleppen. Außerdem war ihr hübsches, helles Mädchenzimmer ihr verhaßt. Wenn sie an dem schweren schwarzen Diplomatenschreibtisch saß, mit müde hängenden Schultern über die Bücher gebeugt, war es ihr manchmal, als hätte man Metten da draußen begraben, ein junges, lebensgieriges, heißblütiges Mädel – und hier säße nun ein alter, stiller, einsamer Mann. Sie fühlte fast mit Grauen, daß etwas von dem Toten – seine halben, scheuen und schwerfälligen Bewegungen, seine gebückte Haltung, sein abwesendes, um Verzeihung bittendes Lächeln auf sie übergegangen war. Auf diesem Schreibtischplatz nun fand sie von Zeit zu Zeit Bücher, Hefte, Broschüren, scheinbar ganz verschiedenen Inhalts – Romane, medizinische Werke, angestrichene Tageszeitungen – aber alle behandelten dasselbe Thema. Da waren seltsame und unheimliche Geschichten von Gräfinnen, die sich in Männerkleidung in Kaschemmen herumtrieben, bis sie in irgendeinen Hinterhalt gelockt und gräßlich ermordet wurden. Oder Berichte von widerlichen Orgien in großen Klubs, wo Hunderte von Weibern sich als Männer anzogen und gebärdeten, oder Männer, geschminkt, mit Lockenperücken und in durchbrochenen Seidenstrümpfen und nackten gepuderten Armen und Schultern herumliefen. Da waren statistische Feststellungen aller der unglücklichen Opfer, die infolge widernatürlicher Unzucht an Gehirnerweichung, Rückenmarksschwindsucht und ähnlichem zugrunde gegangen oder in Wahnsinn verfallen waren. Oder Schilderungen aus dem Seelenleben Konträr-Sexualer, die vermuten ließen, daß diese Tausende von Menschen alle miteinander eine große Gemeinde bildeten, eine Gemeinde, die durch nichts verbrüdert wurde, durch keine gemeinsamen Interessen, keine Gleichheit der Bildung, der Familie, des Geschmacks, der Weltanschauung, durch keine Liebe, durch nichts als den Trieb zur gleichen Ausschweifung. Da war die Biographie eines großen Mannes, der elend ermordet war durch einen erpresserischen Kellner, einen Kellner, mit dem er in intimen Beziehungen gestanden – den er _geliebt_ hatte! Mette schauderte, wenn sie das Wort Liebe in diesem Zusammenhange nur dachte. Manchmal war ihr, als müsse sie ersticken in Kot und Unflat. Ihr wurde körperlich übel, wenn sie die Bücher nur anrührte. Sie las sie nicht mehr – eine Weile lang. Sie las geschichtliche, philosophische, naturwissenschaftliche Werke. Aber sie wußte oft seitenlang nicht, was sie las. Ihre Augen gingen über die Zeilen und spiegelten die Worte. Und ihre Gedanken wälzten die furchtbaren Dinge, die wie Steinblöcke auf sie geschleudert wurden, um sie zu erschlagen. Dann nahm sie wieder die anderen Bücher vor, die schlimmen, und suchte nach Erklärungen und zog Schlüsse und stellte Vergleiche an. Wenn von männlich veranlagten Frauen gesprochen wurde, war viel von ihrem überlegenen Geist, von ihrem Wissensdurst und Bildungsdrang die Rede. Auch von einer krankhaften Verschwendungssucht mitunter, von einem leidenschaftlichen Hang zum Luxus, von einer unnatürlichen Vorliebe für schöne Stiefel. Oder auch von unheimlichen Don-Juan-Naturen, die mit unersättlicher Genußgier von Abenteuer zu Abenteuer rasten. Mette geriet vor solchen Dingen in die qualvollste Verwirrung. Diese Bücher sollten sie den Menschen verstehen lehren, der ihr auf der Welt am nächsten gewesen war. Hundertmal in den letzten Monaten hatte sie sich gesagt: diese Frau ist ein unlösliches Rätsel, ein unergründliches Geheimnis, mir ewig fremd und fern, nie zu erfassen und nie zu begreifen. Und ebensooft hatte sie in jedem Nerv gespürt: Dies ist die Lösung, nun ist alles klar, alles gut, nie wieder kann ein Mißverstehen uns trennen. Und jetzt? Und nun? Mitunter spürte Mette das quälende Bedürfnis, diese Schriften zusammenzupacken und damit zu Olga Radó zu gehen: erklär mir das. Gibt es solche Menschen? Bist du so? Bin ich so? Was weißt du darüber und wie denkst du darüber? Über alles, was sie im letzten Jahr gehört oder gelesen hatte, hatte Olga Radó ihre Meinung äußern müssen. Und fast immer war Olgas Meinung auch die ihre gewesen, oder aber eine andere Meinung in ihr wurde geweckt, gekräftigt, klargestellt. Nun zum erstenmal sollte sie mit so Ungeheuerlichem allein fertig werden und tappte völlig hilflos im Dunkel. Wo sie Licht, wo sie einen Ausweg zu finden glaubte, kam sie nur auf neue Irrwege. Sie gelangte nicht um einen Schritt vorwärts, nicht zurück. In dieser Wirrnis konnte nur Olga Radó helfen. Olga Radó mußte klar und deutlich ihre Meinung über Olga Radó äußern. Und diese Meinung galt. Da schrieb Mette zum zweitenmal. Auch in diesem Brief stand kein Wort von Liebe oder Sehnsucht – nur eine dringende Bitte um Hilfe, viel Klage über das, was jetzt in ihr geschah und auch ein wenig Anklage: Du hast mich so weit gebracht, du mußt mir jetzt die Hand geben und mich aus diesem Sumpfland hinausführen. Es kam keine Antwort. – – – * * * * * Aber der Frühling kam über alle diesem. Warme, schmeichelnde Lüfte kamen und breite, glitzernde Sonnenstreifen und Knospenschleier auf allem Gesträuch und Schneeglöckchen und Krokus, die sich mühsam ihren Weg bahnten durch schwarzviolettes fauliges Laub. Mette konnte die weiche schwere Luft nicht vertragen. Sie schlief nicht mehr und hatte Kopfschmerzen Tag und Nacht. Das Lesen hielt ihre Gedanken nicht mehr fest. Sie saß über die Bücher gebeugt und starrte aus dem Fenster. Stundenlang lag dieselbe Seite vor ihr und wurde nicht umgeschlagen. Sie fing an, Romane zu lesen. Man konnte darüber nicht so hinauslesen wie über eine trockene wissenschaftliche Darstellung, weil sie die Phantasie anregten und Bilder wachriefen. Aber diese Bilder wurden zur Qual. Immer waren da Menschen, die sich liebten, sich sehnten, um einander, miteinander kämpften, sich fanden, vereinten oder sich trennten, aneinander zugrunde gingen, starben, sich verließen. Von Liebe zu lesen tat weh. Oder es war vom Meer die Rede, von Bergen und Wäldern, vom Frühling oder Sommer. Und Mette dachte: „Nie waren wir am Meer zusammen, nie in den Bergen, nie in einem Juniwald, nie zwischen reifenden Kornfeldern. Wenn wir in dem engen Zimmer da oben saßen und auf die graue, regennasse Wand sahen, war ich so glücklich, weil ich fühlte, daß alle Schönheit der Welt uns bevorstand. Olga Radó wird am Meer liegen oder durch reifende Felder gehen oder durch die Domgewölbe smaragdener Buchenwälder – aber nie mehr mit mir. Mit wem nur? Mit wem?“ „Ich bin verdammt dazu, blind und taub durch die Welt zu gehen oder mit ewig schmerzenden Sinnen. Alle Schönheit wird mir zur Marter werden und jeder Genuß zur Qual.“ Sie las von Reichtum und Luxus – von Autos, die über die Landstraße jagten, von weißen Hotels an blauen Wassern, von Bällen und Festen und Segeljachten und Schlittenfahrten – dann fing sie an, ihr Vermögen zu berechnen und dachte: „So ein Leben hätte Olga Radó führen können, wenn sie bei mir geblieben wäre.“ Oder sie las von Armut und Schmutz und Not, von Verbrechen, die der ewige Druck der Sorge erpreßte, von Elend und Krankheit und schauriger Einsamkeit. Dann schnitt ihr die Angst wie mit Messern ins Herz: „Dahin wird Olga Radó kommen, wenn ich sie nicht halte. So wird sie enden, wenn ich sie verlasse.“ Die Kirschbäume blühten. Nun fuhr Olga Radó sicher mit einer schönen Frau auf einem weißen Dampfer über die blauen Wasser der Havel. Und die Welt um sie war voll Schönheit und Sonne und Glanz. Und Metten faßte eine irrsinnige Sehnsucht, dabei zu sein, Olgas Leben zu führen. Aller Stolz fiel von ihr ab wie verbrannte Fetzen. Sie stand nackt vor sich und schrie vor Weh. Da schrieb sie zum drittenmal an Olga Radó. Sie schrieb, daß sie nicht mehr leben und nicht mehr atmen könne ohne sie. Daß sie nichts von ihr wolle, keine Liebe, keine Zärtlichkeit, keine Freundschaft. Daß sie nur um sie sein wolle, wie eine Magd, wie ein Hund, daß sie nichts wolle, als ihr aus allen Kräften dienen und zum Lohn dafür sich schlagen und treten lassen. Daß sie keine Eifersucht kenne oder gar Herrschsucht oder Besitzerwahn. Daß sie jedem dienen wolle, Mann oder Weib, den Olga liebte, und daß sie ihre Liebe so tief in sich anketten und einmauern wolle, daß nie, nie, nie ein Mensch davon ahnen solle, auch Olga nicht. Und sie wartete auf Antwort. Aber es kam keine. Plötzlich kam sie auf den Gedanken, daß Olga vielleicht ihre Briefe nicht erhalten hätte ... ganz gewiß nicht erhalten hätte. Sie ging nach der Motzstraße und jeder Schritt war ihr, als wenn sie auf Nadeln träte. Das Mädchen machte ihr auf, das ihr damals in der Nacht aufgemacht hatte. Da bekam sie den Namen nicht über die Lippen und fragte nach Petermann. Der war verzogen, unbekannt wohin. Sie quälte sich wieder durch zehn Tage hindurch. Dann ging sie zum zweiten Male hin. Ein fremdes Mädchen öffnete ihr die Tür. „Ich habe Glück,“ dachte Mette, und einen Augenblick lang wurde ihr schwindlig bei dem flüchtigen Gedanken an die Möglichkeit, daß Olga hier sein könne, daß Mette vielleicht in der nächsten Minute in ihrem Zimmer ihr gegenüberstünde. Was nachher geschah, das war ja im Grunde einerlei. Fräulein Radó war verzogen – unbekannt wohin. Mette ging aufs Einwohnermeldeamt. Sie füllte den vorschriftsmäßigen Zettel aus und gab ihn mit rasendem Herzklopfen dem grauköpfigen Beamten. Der freundliche alte Herr ging und suchte und kam wieder und fragte, ob die Dame eigene Wohnung hätte. Nein – Leute, die in Pensionen wohnten, führten sie nicht. Da ging Mette den letzten und schwersten Gang. Sie ging zu Möbiussens. Die Mädchen grinsten ihr frech ins Gesicht, als sie nach Olga Radó fragte. Nein, sie wüßten nichts von ihr. Sie hatte sich natürlich nicht mehr sehen lassen, Vater hätte sie ja auch wohl höflichst an die Luft gesetzt. Sie hatten auch plötzlich keine Erinnerung mehr an eine Verwandtschaft. Sie wußten den Namen des Preßburger Onkels nicht mehr oder des Budapester Schwagers. Aber sie _wollten_ gern wissen. Glühend vor Neugier und Lüsternheit fingen sie an, Fragen zu stellen, ob es denn wahr wäre, daß ... Mette wurde rot und blaß und heiß und kalt. Sie hätte einen Mord begehen können, wenn sie nicht viel zu müde dazu gewesen wäre. Sie sagte: „Ich weiß nicht!“ Auf alle Fragen immer nur: „Ich weiß nicht.“ Vielleicht hätte sie sich entrüsten sollen und Olga Radó verteidigen. Vielleicht hätte sie sie verlästern sollen und geheimnisvolle Andeutungen machen. Vielleicht hätte sie lachen sollen und die Mädchen an der Nase herumführen. Sie hielt sich mit beiden Händen am Stuhl fest und sagte: „Ich weiß nicht!“ Als sie das Haus verließ, wußte sie, daß sie es nie wieder betreten würde. Ein sinnloses Wort ging ihr wie im Fieber immer wieder durch den Kopf: In der Leute Mäuler sein ... Sie hatte sich noch nie etwas dabei gedacht. Nun war ihr ganz körperlich so zumute, als hätte man sie durchgekaut und aufs Pflaster gespien. Der Ekel schüttelte sie. – – – * * * * * Von Zeit zu Zeit – in immer kürzeren Zwischenräumen – trat an die Oberfläche ihrer Empfindungen ein dumpfer, peinigender Haß gegen Olga Radó. Alles, was sie jetzt litt, hatte diese Frau verschuldet. Leichtsinnig und kaltherzig und ganz gewissenlos verschuldet. In dieser Zeit war Mette sehr ungerecht gegen Olga Radó. Denn es schien ihr, als wäre sie aus einer glücklichen, wohlbehüteten Jugend herausgerissen, als wäre ein tiefer, heiterer Frieden in ihr zerstört, ein wundervolles Gleichgewicht in ihr erschüttert worden. Und es erschien ihr als das Endziel aller Wünsche, daß es wieder so werden solle, wie es vorher gewesen war. Sie hatte nur die eine Sehnsucht, das letzte Jahr aus ihrem Leben zu streichen, zu löschen, zu vergessen. Dann nahm sie wieder die schlimmen Bücher vor und las absichtlich das, was sie am meisten angewidert hatte. Sie steigerte sich künstlich in Haß und Zorn und Angst hinein. Es kamen Tage, wo sie sich sagte: Nun bin ich frei! Ich bin wie aus schwerer Krankheit genesen, ich fühle, daß mein Blut wieder rein ist – ich werde leben können wie alle die anderen Menschen auch, ein Leben ohne Qual und Freude, ohne Sehnsucht und ohne Erfüllung. Und es kamen Nächte, wo sie glaubte, daß ein brennendes Gift in all ihren Adern fräße. Wo die Angst vor einer unnennbar grauenhaften Zukunft sie schüttelte. Wo sie glaubte, den eigenen zügellosen Begierden erliegen zu müssen, wehrlos jeder Dirne ausgeliefert zu sein, die aus verbrecherischen Gründen ihre Leidenschaft weckte, wo sie sich von Erpressern gehetzt, von Kriminalbeamten verfolgt, siech, irrsinnig, eingekerkert oder ermordet sah. In einer solchen Periode grenzenlosester Verzweiflung verlobte sie sich. Irgendein anständiger und solider Mann bewarb sich um sie. Sie wußte nichts von ihm. Sie wußte nicht, wann und wo sie ihn zum erstenmal gesehen hatte, sie wußte nicht, wie er aussah, wußte kaum etwas von seinem Charakter oder seinen Neigungen – sie fühlte nur eines Tages, seit einiger Zeit war immer ein Mensch neben ihr, der sich bemühte, gut zu ihr zu sein. Jemand, der ihr sehr sorgfältig den Mantel um die Schultern legte, sich bückte, wenn ihr etwas hinfiel, ihr Blumen brachte, sich bemühte, ihr irgend etwas Heiteres zu erzählen, um ihr Gesicht ein wenig zu erhellen. Dieser Mann wußte so angenehm wenig von ihr. Und Tante Emilie überfloß in seiner Gegenwart von sanfter mütterlicher Freundlichkeit. Es wäre ihr geradeso gut zuzutrauen gewesen, daß sie vor ihm bissige Bemerkungen oder vielsagende Andeutungen gemacht hätte. Aber er paßte ihr wohl in ihr Programm. Er bedauerte Metten so unendlich, weil sie Waise war. Er schrieb all das Weh auf ihrem blassen Gesicht der Trauer um den geliebten Vater zu. Manchmal wagte er es, ihre kalten Finger in seinen beiden Händen zu halten oder sie sanft zu streicheln. Dann schloß Mette die Augen und prüfte in Angst ihr Gefühl. Es ging Wärme und wohltuende Ruhe von seinen großen starken Händen aus. Seine weiche Zärtlichkeit war eher angenehm als widerwärtig. Dann sagte sie sich mit einer aufschimmernden Hoffnung: „Vielleicht wird noch alles gut. Vielleicht gewinne ich es über mich, ihn zu heiraten. Ich werde immer einen Menschen um mich haben, der gut zu mir ist, ich werde Kinder haben, ich werde ein Heim haben, ich werde immerfort zu tun haben – vielleicht kann man das Leben auf solche Weise noch am ehesten ertragen.“ Und dann stachelte sie der unbändige Wunsch nach Rache. Es würde Olga Radós Eitelkeit vielleicht doch verletzen, wenn sie erfuhr, daß sie so schnell vergessen worden war. Der Mann war reich. Das paßte Tante Emilien, und es paßte mitunter sogar Metten. Sie sah sich zuweilen in der Loge der Oper brillantenblitzend neben diesem Mann – einem sehr hübschen, stattlichen Mann – sie sah ihn manchmal aus solchen Gedanken heraus daraufhin an – niemand würde auf den Gedanken kommen, daß sie ihn nicht aus Liebe geheiratet hätte – und sah dann plötzlich Olga Radó irgendwo auftauchen. Oder sie sah sich in einer Equipage an Olga Radó vorüberjagen – oder – am liebsten dachte sie, sie zu treffen, wenn sie mit ihren süßen kleinen, blondlockigen, weiß angezogenen Kindern spazieren ginge. Dann würde sie die Kinder vor ihr zurückreißen wie vor einem giftigen Tier. Damit, ja, damit würde sie sie am schmerzlichsten verletzen. Als der Mann anhielt, sagte Mette ja. Sie hatte Zeit genug gehabt, sich an diesen Gedanken zu gewöhnen. Sie setzte selbst die Verlobungsanzeigen auf und sorgte dafür, daß sie in verschiedene Zeitungen kamen. An ihrem einundzwanzigsten Geburtstag war ein kleines Gartenfest in der Villa ihrer Schwiegereltern. Es war ein sehr heißer Sommertag, der neunzehnte Juni, und auf Tante Emiliens Zureden zog Mette zum erstenmal wieder ein weißes, schwarzgesticktes Kleid an. Alls sie draußen in der fremden Wohnung unter vielen fremden Menschen an einem Spiegel vorüberstreifte, erkannte sie sich nicht. Sie erschrak und wurde den Gedanken nicht wieder los, daß sie nicht das hübsche, weiß gekleidete Mädchen sei, was am Arm eines fremden Mannes ihr aus dem Spiegel entgegenlächelte. Sie suchte sich selbst und konnte sich nicht darauf besinnen, wo sie wohl sein könne. Aber ihr war, als sähe sie sich selbst, schmal und schwarz wie ein Gespenst, durch große, dunkle, leere Räume wandern. Dann war es ihr wieder, als sei sie doch dieses hier, und die andere Mette, die so deutlich ihre Züge trug, sei eine Fremde. Traum und Wirklichkeit begannen, sich heillos ineinander zu verschlingen, alle ihre Nerven schienen ihr zu klirren wie losgerissene Saiten, sie sehnte sich in Todesangst nach völliger Bewußtlosigkeit oder plötzlich hereinbrechender Klarheit – es war wie Nebel, die vorbeizogen oder ein vorübergehender Schwindel – eine Minute später konnte sie sich nicht besinnen, was es eigentlich gewesen war, und konnte ihrem Verlobten, der besorgt nach der Ursache ihrer Blässe fragte, keine Antwort geben. Nur das seltsame Gefühl blieb ihr den ganzen Abend, als sei dies alles nur ein Traum oder ein Spiel. Die ganze Verlobung eine scherzhafte Komödie, und jeden Moment könne, wie ein gestrenger Regisseur, ein Schicksal hervortreten und sagen: „Genug! Die Wirklichkeit fängt wieder an!“ – – – * * * * * Am zwanzigsten Juni morgens wurde Mette ans Telephon gerufen. Eine dünne Männerstimme sprach aus dem Hörer, seltsam verhalten und zögernd. „Ist das gnädige Fräulein selbst am Apparat? – Mette, sind Sie es? Verzeihung, wenn ich störe – ich hätte dich gern gesprochen!“ Mette fühlte, wie ihr Herz sich losriß und in einen unermeßlichen dunklen Abgrund stürzte. „Peterchen?“ sagte sie und erquälte ein Lächeln, ohne daran zu denken, daß niemand ihr Gesicht sehen konnte. Und keiner hätte dem bebenden Ton ihrer Stimme dies Lächeln anhören können. „Ja ... könnte ich dich sprechen, Mette? Das heißt ...“ Wieder war dies scheue Zögern in der Stimme. „Wenn du willst, natürlich ... ich weiß ja nicht, wie weit du noch Interesse hast für deine alten Freunde.“ „Selbstverständlich,“ sagte Mette fest, „jederzeit kannst du mich sprechen ... wann und wo du willst.“ Sie fragte nicht, was geschehen sei. Sie wollte nicht fragen. „Ich kann doch nicht gut kommen ...“ Wieder dieser zaghafte Ton. „Und ich möchte auch nicht gern auf der Straße ... oder im Kaffeehaus ... es geht wirklich nicht ...“ „Ich komme zu dir,“ sagte Mette rasch. „Sag’ mir nur, wo du wohnst!“ „... ja ... aber ... geht denn das? ... Schließlich ... wenn du nachher Unannehmlichkeiten hast ... du bist verlobt ...“ „Blödsinn!“ sagte Mette schroff. – – – * * * * * Während sie über die Straße lief, dachte sie mit keinem Wort an das, was geschehen war. Sie wollte es vor sich selber nicht aussprechen. „Vielleicht ist Olga krank und hat Sehnsucht nach mir,“ dachte sie. „Vielleicht weiß sie auch nichts davon, und Peterchen ruft mich aus eigenem Antrieb.“ Sie malte sich aus, daß sie Olga sehen würde, daß sie ihre Hand halten würde – und sie sagte sich dabei: „Das erzähle ich mir vor, wie man einem fiebernden Kinde Märchen erzählt. Ich male es mir mit den schönsten Farben aus und glaube so wenig daran, wie man an Feen und Zauberer glaubt.“ Aber es war besser, Märchen zu erzählen, Wiegenlieder zu singen, als nach der Stimme zu hören, die ganz tief in ihr die Wahrheit schrie. Es war seltsam, daß sie – ohne sich umzusehen – die Straße und das Haus fand, so, als wäre sie hundertmal dagewesen. Als sie klingelte, stand Petermann schon auf der Diele. Das ersparte ihr jede Fragerei. Sie spürte auch jetzt, dem Dienstmädchen gegenüber, dem ersten Menschengesicht, das sie bemerkte, daß sie dazu kaum imstande gewesen wäre. Er nahm sie bei der Hand und zog sie wortlos, an dem erstaunten Mädchen vorüber, in eine offene Zimmertür. Er schloß die Tür und sagte währenddessen, ohne sie anzusehen: „Setz dich doch, Mette!“ Das erste, was Mette in dem Zimmer sah, war auf der dunklen Platte des Schreibtisches die goldene Zigarettendose. Ein Sonnenstrahl blitzte darauf. Sie wollte sich beherrschen. Es war, als ob sie beide Hände um die Zügel krampfte, um sich zu halten. Aber als Petermann sich ihr zuwandte und sie sah, wie seine Hände hilflos waren, wie sein kleines, weißes Gesicht zitterte, wie mühsam er um Fassung kämpfte – da zerbrach die ihre. Sie fing an zu weinen. Peterchen setzte sich neben sie und streichelte eine Weile schweigend ihre Hände. „Weine nur,“ sagte er schließlich mit zitterndem Kinn, während die Tränen aus seinen Augen stürzten. „Weine nur, sie war es wert, daß um sie geweint wird, das kannst du mir glauben ...“ „Dir glauben?“ sagte Mette mit herzzerreißender Bitterkeit. Sie legte das Tuch über die Augen und stützte den Kopf in die Hand. Ihre andere Hand streichelte zuckend über die seine. „Und nun sag’ mir alles, Peterchen – du siehst, ja, daß ich ganz ruhig bin – ganz, ganz ruhig. Wann geschah es? ... und wie ... und warum? ... Sag’ mir alles, alles, was du weißt ...“ „Du solltest es nicht wissen, Mette. Nicht vor deinem einundzwanzigsten Geburtstag. Der war gestern, nicht wahr? Ich habe ihn hier auf dem Kalender vermerkt – aus einem anderen Grunde ... das muß ich dir alles noch erzählen ... ich hatte einen Auftrag an dich ... aber ich hatte natürlich keine Ahnung ... man ist ja manchmal wie mit Blindheit geschlagen.“ Mette hob einen Augenblick den Kopf: „Sie hat es selbst getan.“ Es lag keine Frage in dem Ton. „Ja.“ „Erschossen.“ „Ja.“ Sie deckte das Tuch wieder über die Augen. „Weiter.“ „Sie war einmal krank im Frühjahr, es war eine leichte Influenza. Sie fieberte ein bißchen, da saß ich drüben bei ihr, und sie sprach in einemfort von Tod und Begräbnis, ganz heiter und ausgelassen, wie es ihre Art war. Du weißt ja, man wußte nie, ob es Scherz oder Ernst bei ihr war. Da sagte sie noch: Peterchen, wenn ich jetzt sterbe, dann sorge dafür, daß es geheim bleibt. Es soll in keine Zeitung, kein Mensch soll es wissen. Auch die Mette nicht. Am liebsten wär’ es mir, du streutest meine Asche ins Meer oder wenigstens in den Wannsee. Aber das erlaubt der Staat, glaub’ ich, nicht. Nur mach schnell, daß der Rest verbrannt wird. Ich will kein Gfrett haben mit meinem Leichnam, ich will’s nicht. Ich bin nicht drin, merkt’s euch. Nicht eine Minute länger, als unbedingt nötig, halt ich mich in dem Kadaver auf.“ Metten war, als höre sie Olga reden. So deutlich hörte sie ihre Stimme, daß ihr Herz sich mit einer innigen Freude füllte und sie lächelte. „Ich hab’ damals auch gelacht,“ sagte Peterchen wehmütig, „da wurde sie ganz ernst und richtete sich auf und sah mich an. Du weißt ja, wie sie einen ansehen konnte mit so gewaltsamen Augen und sagte: ‚Es ist mein heiliger Ernst. Versprich es mir, gib mir dein Ehrenwort!‘ Ich versprach es ihr auch, aber ich sagte noch: ‚Du bist ja verrückt, in drei Tagen bist du doch wieder gesund.‘ Sie _war_ ja auch in drei Tagen wieder gesund.“ Er schwieg. Irgendwo tickte eine Uhr und Fliegen stießen surrend gegen das Fensterglas. Irgend etwas erfüllte Metten ein paar Sekunden lang mit Beruhigung und Freude. Eine unklare Empfindung: wie gut, daß Olga in ein paar Tagen gesund geworden war. Es steckte so viel kraftvolles Leben in diesem schönen Körper. Dann schlug ihr das Jetzt wie eine geballte Faust aufs Herz. Und jetzt? Und jetzt? Sie mußte ein paarmal ansetzen, um das furchtbare Wort auszusprechen. „Habt ihr sie schon begraben?“ fragte sie ganz leise. „Sie ist verbrannt worden. Die Urne ist nach Wien gekommen. Ihre Schwester lebt jetzt da.“ – „Hat sie hier gewohnt zuletzt?“ „Um die Ecke, zwei Häuser von hier.“ „Und da ist es auch geschehen?“ „Ja.“ „Kann man ...“ Mette schluckte ein paarmal, „kann man nicht das Zimmer sehen?“ Petermann hob zögernd die Achseln: „Wozu? Es ist alles umgestellt. Nichts von ihren Sachen mehr da. Es ist auch schon wieder vermietet.“ Mette sank in sich zusammen. „Es ist gut so,“ sagte sie leise, „es ist auch ganz gut so.“ Sie hatte ein eigenartiges Empfinden. Es war wie eine Wohltat, daß jede Form zerstört war, die dieser Geist geschaffen hatte. Nicht einmal ein Zimmer war mehr auf der Welt, das diese Hände, dieser Sinn geordnet hatten und in das ein Teil ihres Wesens gebannt geblieben wäre. Metten war halb unbewußt so zumute, als hätte man durch das Umrücken von Möbelstücken Steine aus einer Kerkerwand gebrochen. Nun war Olga Radó ganz frei. Ein leiser Windhauch bewegte den offenen Fensterflügel und hob die Gardine. Eine süße weiche Kühle strich über Mettens brennende Augen. Sie lächelte. „Es ist gut so!“ sagte sie noch einmal. Sie wußte plötzlich, daß Olga ihre Briefe nicht erhalten hatte. Sie hätte nicht danach zu fragen brauchen. Aber Peterchen wär schließlich der einzige Mensch, an dessen Meinung ihr noch ein wenig gelegen war. Sie hatte das Gefühl, sich vor ihm rechtfertigen zu müssen. „Ich habe dreimal an Olga geschrieben!“ sagte sie. „Ich habe es mir beinah gedacht,“ sagte Peterchen mit trübem Lächeln. „Sie hat nie eine Zeile erhalten.“ „Du wüßtest es sonst?“ „Selbstverständlich. Wir haben doch oft genug über dich gesprochen.“ „Habt ihr? Was?“ Während Petermann sprach, hatte Mette die seltsame Empfindung, als durchlebe sie in diesen wenigen Minuten mit stärkster Intensität das letzte halbe Jahr ihres Lebens. So, als wäre damals, an jenem unglückseligen Morgen der Faden des Gewebes abgerissen und mühsam, Tag um Tag, ein Muster, das nicht passen wollte, angestückelt. Nun trennte das falsche Gewebe sich, rückwärts laufend, blitzschnell von selber auf – ein Knoten wurde geknüpft, wo der Faden abgerissen war, und die wirkliche Zeichnung lief weiter, ein wenig verkürzt, ein wenig matt in den Farben – aber sie lief weiter und gab eine Brücke zum heutigen Tag und den Tagen, die kommen sollten. „Was habt ihr von mir gesprochen?“ „O viel ... Ich habe ihr sooft zugeredet, an dich zu schreiben, irgendwie eine Verbindung mit dir zu suchen. Sie hatte die Überzeugung, es nicht tun zu dürfen. Du weißt ja, wie halsstarrig sie war. Manchmal hatte ich die Absicht: ich telephoniere dir oder ich lauere dir irgendwo auf – gegen ihren Willen. Einmal hab’ ich ihr das auch gesagt. Da hat sie mich angefunkelt mit ihren großen Augen: ‚Wenn du dich das unterstehst, ist es aus mit unserer Freundschaft, für ewige Zeiten aus. Willst du das arme Kind auch noch zugrunde richten?‘ Sie glaubte immer, du wärest glücklich, und es ginge dir gut. Ich war der Meinung, du müßtest erfahren, was vorgeht. Ich hab’ so gekämpft, du glaubst es nicht. Einmal hab’ ich dir eine Stunde lang Fensterpromenade gemacht. Ich dachte immer, wenn ich dich sprechen würde, wir würden irgendeinen Ausweg finden. Ich dachte immer, es würde noch alles gut. Dann hast du dich ja verlobt. Ja, da mußte ich ihr ja schließlich recht geben.“ „Oh, du Idiot!“ sagte Mette und lachte unter hervorstürzenden Tränen. „Ich weiß den Tag noch so genau. Olga kam zu mir herüber, am frühen Morgen schon. Sie hockte hier neben mir auf dem Sessel und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Eine halbe Stunde lang sprach sie kein Wort. Ich saß hier am Schreibtisch und tat so, als ob ich arbeitete. Ich hatte die Zeitung weggeschoben, als ich sie kommen hörte. Aber wie sie so dasaß, da wußte ich: sie weiß es schon. Und sie wußte, daß ich es wußte, aber keiner wollte anfangen, davon zu sprechen. Wie sie dann schließlich anfing, sagte sie immerfort: ‚Ich bin so glücklich. Ich bin ja so froh.‘ Und sie verlangte von mir, daß ich mich freuen sollte. Wir gingen am Abend eine Flasche Wein zusammen trinken. Sie zwang mich direkt dazu. Wir müßten doch auf deine Zukunft trinken. Ich seh’ sie noch immer am Tisch sitzen und das Weinglas drehen. Sie hatte so ein merkwürdiges Lächeln den ganzen Tag. Und dann sagte sie immer wieder: ‚Die kleine Mette wird heiraten. So gut ist das. So gut. Unsere kleine Mette wird Kinder haben, lauter Jungens, denen geht’s immer gut.‘ – Dann wollte sie immer wieder von mir hören, daß ich es gut fände, daß ich mich freute. Und ich muß sagen – wie die Dinge lagen – es war ja auch wohl das Beste ... aber von dem Tage an hatte sie eine nervöse Angst, dir irgendwo zu begegnen. Manchmal, wenn sie etwas zu besorgen hatte, bat sie mich darum. Manchmal saß sie vor mir, blaß und mit gefalteten Händen: ‚Bitte, bitte, Peterchen, ich kann nicht nach dem Kaufhaus gehen.‘ Die letzten acht bis zehn Tage hat sie überhaupt ihr Zimmer kaum mehr verlassen. Sie telephonierte mich an, ich sollte rüberkommen, sie wollte nicht auf die Straße. Aber das hatte wohl auch noch einen anderen Grund ...“ „Was für einen?“ fragte Mette, nachdem er eine ganze Weile schweigend aus dem Fenster gesehen hatte. Er warf einen raschen und gleichsam prüfenden Blick auf sie. „Du weißt es nicht?“ sagte er wie erleichtert. „Nicht wahr, du weißt nichts davon ... ich hab’ es auch eigentlich nie anders angenommen ... Sie haben sie beobachten lassen ... deine Leute. Wo sie ging und stand war ein Detektiv hinter ihr her. Oh, und sie litt so wahnsinnig darunter.“ „Warum nur?“ fragte Mette mit verlorenen Augen, „warum haben sie denn das getan? Sie hatten mich doch in der Hand. Sie wußten doch, wo ich jede Stunde des Tages zubrachte.“ „Sie fürchteten wohl ... vielleicht dachten sie, wenigstens damals ... im Anfang, vor deiner Verlobung, du könntest in deinen Entschlüssen wankend werden ... oder sie könnte versuchen, dich wieder zu beeinflussen, sie wollten ihr irgend etwas nachsagen können, um sie als lästige Ausländerin ausweisen zu lassen. Herr von Seyblitz hat ihre ganzen Schulden aufgekauft. Das wußtest du auch nicht, nicht wahr? Sie haben sie so in die Enge getrieben ... täglich kamen Briefe von Rechtsanwälten, vom Gericht ... Sie hat sie nachher nicht mehr aufgemacht ... Sie ließ sie auf dem Schreibtisch sich anhäufen. Ich sagte manchmal: Kind, das geht nicht, du mußt antworten, du mußt hingehen, du mußt Entschlüsse fassen ... Dann lächelte sie so unendlich melancholisch: ‚Ich habe meinen Humor nicht mehr, Peterchen, ich bin alt und müde. Mir ist das gar ka’ Hetz mehr.‘ Und sie zeigt so mit einer Handbewegung auf die Papiere. Es kamen auch Drohbriefe – so gemein – sag’ ich dir. Mit Ausdrücken, die man nicht wiederholen kann. Von deiner Tante Emilie, glaub’ ich. Aber so, als wären sie in deinem Sinne geschrieben. Du wüßtest nun, wes Geistes Kind sie wäre, und sie sollte jeden Annäherungsversuch unterlassen und nicht versuchen, ihre Erpressungen an dir fortzusetzen. Es wäre ja genug, daß sie dich zu Diebstahl und Einbruch verführt hätte, daß sie deine Gesundheit untergraben hätte, daß sie den Tod deines Vaters verschuldet hätte – ach, und was weiß ich. Und dann Dinge, die du über sie gesagt haben solltest ... es muß Furchtbares gewesen sein; denn sie wollte es selbst mir nicht sagen oder zeigen. Sie saß mir gegenüber, ganz weiß im Gesicht und mit glühenden Augen und hielt mich am Handgelenk gepackt, daß ich dachte, sie zerbricht mir die Knochen und sagte immer wieder: ‚Davon weiß die Mette nichts, nicht wahr, Peterchen? Davon weiß die Mette nichts?‘ Und dann ein andermal wieder sagte sie: ‚Wie können Menschen nur so wahnsinnig grausam sein. Sie haben doch direkt ihren Spaß daran, mich langsam zu Tode zu quälen. Sie machen einen Kranz von glühender Kohle um mich her – wo ich mich nach einem Ausweg wende, sperren sie zu, bloß um zu beobachten, wie ich mich gebärde, wenn sie mich glücklich bis zur Raserei gebracht haben.‘ Ich weiß noch, dabei rannte sie hier im Zimmer auf und ab und ich dachte wirklich, die Wände werden ihr zu enge, sie ist wie ein gefangenes wildes Tier. Ich sagte noch: Du kannst doch dem allen entgehen. Du kannst doch nach Hause reisen. Da wurde sie ganz ruhig und sagte: ‚Ja, ich kann dem allen entgehen. Ich kann abreisen. Ich kann nach Hause reisen!‘ Damals fiel mir ihr Ton nicht auf. Jetzt, wenn er mir wieder im Ohr klingt, begreife ich nicht, daß ich sie nicht verstanden habe. Von der Zeit an sprach sie oft von der Reise. ‚Am zweiundzwanzigsten Juni fahre ich nach Hause.‘ Das war ihre ständige Rede. Ich fragte sie einmal, warum sie gerade diesen Tag festgesetzt hätte. Da lachte sie und sagte: ‚Weil es drei Tage nach dem neunzehnten ist.‘ Ich dachte wohl darüber nach. Aber der Zusammenhang wurde mir damals nicht klar ... Aber dann nach deiner Verlobung wurde das anders. Sie sagte plötzlich: wenn ich reise – nächste Woche ... oder übermorgen. Ich neckte sie noch und sagte: Nanu? Bist du deinen Vorsätzen untreu geworden? Ich denke, du fährst erst drei Tage nach dem neunzehnten Juni?! Da sieht sie mich so rätselvoll an und schüttelt den Kopf und sagt: ‚Ach nein, Peterchen, _darauf_ brauche ich nun nicht mehr zu warten!‘ Am Abend des ... an einem Montagabend, kam sie plötzlich her, wie es mir vorkam, in einer gewissen heiteren Erregung. Sie legte das Zigarettenetui hier auf den Schreibtisch, hier, wo es noch liegt – und sagte zu mir, ich solle ihr den Gefallen tun und es in deine Hände gelangen lassen. Sie wollte reisen und wäre schon am Packen. Wenn sie es dir schickte, würde man es wahrscheinlich als Erpressungsversuch deuten. Ich sollt’ es dir geben, wenn sie fort wäre. Erst an deinem Geburtstag. Und sie verlangte, ich sollte mir den Tag im Kalender ankreuzen. Ich sagte, ich behalt es so. Aber sie schlug das Datum in meinem Kalender auf und zeichnete es selbst ein.“ Er schlug mit einer fast andächtigen Bewegung das letzte Blatt zurück und schob Metten den Kalender hin. Auf dem weißen Blatt stand unter den neunzehnten Juni in Olgas großer schöner Handschrift langsam, sorgfältig hingezirkelt: Mettes Geburtstag. Nicht vergessen, Peterchen! – Und darunter waren drei Kreuze hingemalt, kleine, schwarze, spielerische Tintenkreuze. Mette sagte nichts. Sie legte die flache Hand auf das Blatt und nahm sie nicht wieder herunter. Peterchen räusperte sich ein paarmal, dann sprach er weiter: „Eh’ sie hinüberging, verabredeten wir alles für den andern Tag. Wir wollten uns vormittags nach den Zügen erkundigen, abends wollte ich sie an die Bahn bringen. Wie sie fort war, wurde ich so unruhig. Irgend etwas schien mir nicht zu stimmen, ich wußte nicht was. Ich versuchte, hinüber zu telephonieren, bekam keine Verbindung. Ich saß hier am Schreibtisch in einer ganz unbeschreiblichen Nervosität. Das Ding lag vor mir,“ er nahm das Etui in die Hand, „ich nehm’ es auf, ganz in Gedanken. Plötzlich fiel mir ein – verzeih’ mir, Mette, wenn es indiskret war, aber ich war in einer so peinigenden Unruhe, plötzlich fiel mir ein, es aufzumachen. Es war halb Spielerei und halb die Ahnung, daß ich irgend etwas finden könnte, irgend etwas Aufklärendes. Wie ich das Ding aufknipse,“ er tat es, „find’ ich diesen Zettel darin.“ Er gab es Metten in die Hand. Unter die Bänder, die die Zigaretten auf der goldenen Fläche festhalten sollten, war ein Blatt Papier geschoben, darauf stand in Olgas unverkennbarer Handschrift: „_Qui vivens laedit, morte medetur!_“ „_Qui vivens laedit, morte medetur!_“ wiederholte Petermann. „Ein paarmal las ich das wie ein Blödsinniger, ohne etwas zu begreifen, dann stürzte ich hinunter. Ohne Hut, ohne Schlüssel. Unten war das Haus verschlossen. Ich klingelte dem Portier. Er kam nicht sofort. Ich raste die Treppen wieder hinauf, um mir die Schlüssel zu holen. Ehe ich das Haus aufschloß, eh’ ich über die Straße kam, eh’ ich drüben den Portier rausklingelte – das dauerte alles Ewigkeiten. Auf der Treppe begegnete mir das Mädchen, das mich holen sollte. Schreiend und schluchzend. Da war es schon geschehen.“ Mette legte die Stirn auf die Kante des Schreibtisches. Es wurde kein Laut hörbar. Petermann strich ein paarmal mit zitternden Fingern über Mettens Haar. „Ich muß dir noch etwas erzählen,“ sagte er leise, „Sie hat ganz in deinen Blumen gelegen – vielleicht tut dir der Gedanke wohl. Du weißt doch, damals – als ihr euch trenntet – du liefst weg und deine Leute dir nach, ich hatte den Wortwechsel ja von draußen so halb und halb mit angehört – ich ging nach einer ganzen Weile in mein Zimmer – da stand Olga noch immer mitten im Zimmer, an den Tisch gelehnt. Und wie ich hereinkomme, sieht sie mich an, als wecke ich sie aus dem Schlaf. Ich nehme sie an beiden Armen und rüttle sie. Was ist denn geschehen, Olga? Was hast du denn der Mette getan? Sie sieht mich ganz verstört an und sagt immer wieder: Ich habe etwas Furchtbares getan, oh, Gott, Peterchen, ich habe etwas Furchtbares getan. Sie hatte dich ganz formell fortgeschickt, nicht wahr? Hatte gesagt, du solltest sie nicht mehr belästigen oder so etwas, nicht wahr? Dann sagte sie wieder: es wäre zu deinem Besten, sie hätte dich fortschicken müssen, es wäre verbrecherischer Egoismus, dich zu halten. Ich sah, wie aufgeregt sie war und stimmte ihr zu, wenigstens halb und halb. Ich war ja doch im Grunde etwas erbittert auf sie. Ich sagte, glaub’ ich, Tante Emilie hätte alle Ursache, ihr dankbar zu sein. Da nahm sie mich plötzlich bei der Hand und sagte ganz ruhig: ‚Ich lüge ja, Peterchen, ich lüge ja. Es war ja nichts wie hundserbärmliche Feigheit. Aber Mette mußte das wissen, sie kannte mich doch. Ich hätt’ mich auf die Schienen gelegt, oder ich wär’ aus dem Fenster gesprungen, aber ich kann mir nicht von solchen Leuten die Kleider vom Leibe reißen lassen, ich kann es nicht, ich kann es nicht. Ich weiß, ich bin erbärmlich und verächtlich, aber ich kann es nicht, ich kann es nicht.‘ Und immer wieder: ‚Ich kann es nicht!‘ Ich fragte sie, was du geantwortet hättest. Da wurde sie ganz blaß und sagte: ‚Nichts hat sie geantwortet. Nicht ein Wort. Das ist ja das Furchtbare. Sie stand meiner Gemeinheit so wehrlos gegenüber.‘ Sie hatte dann noch eine Auseinandersetzung mit der Flesch. Die Flesch hat sich nebenbei noch unglaublich benommen. Olga wollte keine Stunde länger in dem Hause bleiben. Was ich ihr auch gar nicht verdenken konnte. Sie ging dann hinüber, um ihre Sachen zu packen. Nach einer Weile kommt sie und packt mich am Handgelenk und zieht mich in ihr Zimmer. ‚Da hast du ihre Antwort,‘ sagt sie und zeigt mir das ausgestreute Geld. ‚Sie kann antworten. Wir haben sie unterschätzt.‘ Oh, Mette, warum hast du das nur getan? Wenn ich ehrlich sein soll – ich war damals furchtbar böse auf dich! Sie sagte immer: ‚Was tue ich nur? was tue ich nur?‘ Ich sagte: du packst das Geld in ein Kuvert und schickst es hin, ohne ein Wort dazu. Aber sie schüttelte nur den Kopf. ‚_Die_ Ohrfeige hab’ ich verdient, Peterchen,‘ sagte sie schließlich, ‚die muß ich ganz ruhig hinnehmen.‘ Sie suchte die Scheine zusammen, beinahe liebevoll, möcht’ ich sagen, und sagte ein paarmal ganz leise: ‚Der Kindskopf! sie hat ja nicht gewußt, was sie tut! sie hat ja nicht gewußt, was sie tut!‘ Dann gab sie mir das Bündel Scheine. ‚Heb’ mir das auf, Peterchen. Vielleicht kommt einmal eine Zeit, wo ich es nötig brauche, und vielleicht ist es mir dann eine Freude zu wissen, daß es von Metten kommt.‘ Ich habe sie in der letzten Zeit so oft daran erinnert, wenn sie vor Sorgen buchstäblich nicht mehr aus noch ein wußte. Aber sie schüttelte nur immer den Kopf und sagte: ‚Noch nicht, noch nicht!‘ Als sie ... tot war,“ die Stimme brach ihm, „da hab’ ich weiße Orchideen gekauft, für das ganze Geld und hab’ sie überschüttet damit. Das sah aus wie ein Märchen.“ Er kam nicht weiter. Die Lippen zitterten ihm, die Tränen stürzten über sein Gesicht. Nach einer langen, langen Stille richtete Mette sich ruhig auf, mit trockenen Augen. Neben dem Etui auf dem Schreibtisch lag eine Waffe. „Das ist der Revolver?“ fragte Mette und griff danach. „Ja.“ „Gib ihn mir,“ sagte sie und legte die Hand fest um den Griff. Petermann machte eine erschrockene Bewegung. Mette schüttelte langsam den Kopf. Petermann sah ihr in die Augen, dann zog er zögernd die ausgestreckte Hand zurück. „Ich will ihn nicht behalten,“ sagte er, „er liegt da wie eine ständige Versuchung. Und nicht jeder hat eine so sichere Hand wie Olga Radó. Du hast ein Recht darauf. Natürlich. Aber ich möchte nicht, daß du ihn behältst. Versprich mir etwas, Mette – gib ihn dem Mann, den du liebst. Dann ist er in den besten Händen.“ Sie war aufgestanden. „Ich verspreche es dir,“ sagte sie fast feierlich, „ich will ihn dem Manne geben, den ich liebe.“ „Schwöre mir, daß du keine Dummheiten machen wirst ... auch nicht leichtsinnig oder fahrlässig damit umgehen.“ „Ich schwöre es dir,“ sagte Mette. „Wobei nur? Ich kann dir doch nicht bei meinem Leben schwören, daß ich mich nicht erschieße. Ich schwöre es dir bei meiner ewigen Seligkeit. Und bei Olga Radós zehntausendfach geheiligtem Gedächtnis.“ Irgend etwas in ihrem Ton machte ihn betroffen. Er stand langsam von seinem Stuhl auf, wie um seine forschenden Augen den ihren zu nähern. „Sag mir, Mette,“ sagte er zögernd, „ich möchte nicht, daß ich mir Vorwürfe machen müßte. Ich möchte nicht, daß das, was ich dir erzählt habe, dich in deinen Entschließungen beeinflußt.“ Mette umschloß seine ausgestreckten Finger mit einem kurzen festen Druck. In der leichten Bewegung, mit der sie die Brust hochreckte und mit der Hand über die Hüfte strich, lag eine aufs äußerste gespannte Kraft. „Ich schwöre dir,“ sagte sie, „daß von dieser Stunde an nichts und niemand mehr mich in meinen Entschließungen beeinflussen kann.“ – – – * * * * * Mette ging nicht direkt nach Hause. In wenigen Sekunden tauchten Pläne in ihr auf, formten sich zu Entschließungen. Nichts schwankte hin und her, eh’ es Gestalt annahm, alles trat mit einem Schritt aus der Verborgenheit ans Licht und stand unumstößlich fest. Sie ging zu einer Speditionsfirma und zu dem Wirt des Hauses, in dem sie lange Jahre gewohnt hatten. Es gab eine Zeit, wo sie sich vor solchen Gängen gefürchtet hätte. Jetzt fühlte sie, daß nie im Leben jemand ihr derlei Unannehmlichkeiten abnehmen würde. Es tat fast wohl, sich solche winzigen Lasten aufzuladen und die eigene Kraft zu spüren, wenn man sie spielend trug. Es tat wohl, entschlossen zu sein, mit Umsicht Anordnungen zu treffen, mit Überlegung Unterhandlungen zu führen. Als sie in ihrem Zimmer den Hut in den Schrank legte, streifte ihre Hand das schwarze Kleid, das sie zu ihres Vaters Begräbnis getragen hatte. Einen Augenblick fühlte sie den Wunsch, es anzuziehen, das stumpfe Düster des Krepps an sich zu sehen, an sich zu fühlen. Aber sie straffte sich auf. „Unsinn!“ sagte sie halblaut, biß die Zähne aufeinander und schloß den Schrank. Sie ging in ihres Vaters Studierzimmer, setzte sich an den Schreibtisch und schrieb verschiedene Briefe, an den Rechtsanwalt, an die Bank. Nach einer Weile kam das Mädchen herein: „Das gnädige Fräulein läßt Fräulein Mette zu Tisch bitten.“ Mette hob den Kopf nicht. „Sagen Sie dem gnädigen Fräulein, ich käme nicht zu Tisch, ich hätte schon gegessen. Aber ich lasse das gnädige Fräulein bitten, nach dem Essen herzukommen.“ Das Mädchen stand eine Weile mit offenem Mund in der Tür. Aber als Mette sich nicht rührte, nichts hinzufügte, nichts widerrief, nur weiter die Feder eilig über das Papier rascheln ließ, trollte sie davon. Nach einer Weile erschien Tante Emilie, sichtlich unentschlossen, ob sie empört oder liebenswürdig sein sollte. Mette legte die Feder aus der Hand und gab ihrem Stuhl eine leichte Wendung. „Bitte nimm Platz,“ sagte sie in einem Ton, so geschäftlich, eilig, fest und undurchdringlich höflich, daß dieser Ton allein schon Tante Emilien in einen Abgrund von Verwirrung stürzte und ihr jede Redemöglichkeit nahm. „Verzeih, wenn ich dir deinen Nachmittagsschlaf kürze, aber ich habe mit dir zu reden, und zwar Dringliches.“ Mette nahm das Falzbein, drehte es, bog es, schlug damit auf die ausgestreckten Finger und sah diesem Spiel angelegentlich zu, während sie sprach. „Du wirst dich rasch entscheiden müssen, wo du hinzugehen gedenkst, ich reise ...“ „Du?“ „Ich reise. Der Haushalt wird aufgelöst. Die Wohnung wird vermietet. Newes entbindet mich vom Vertrag. Ich habe schon mit ihm gesprochen. Die Sachen kommen auf den Speicher. In den nächsten Tagen schon. Ich fange heut’ schon an. Morgen kommen die Packer. Du wirst der Kramerei sicher gern aus dem Wege gehen wollen. Ich empfehle dir, in ein Hotel oder in eine Pension zu gehen, bis du dich endgültig entschieden hast. Wenn du heut’ nachmittag die Mädchen brauchst zum Packen deiner Sachen, sie stehen zu deiner Verfügung. Ja, und – ich möchte nicht, daß dir durch meine Entschließungen ein pekuniärer Nachteil entsteht. Am liebsten wäre es mir, wenn du deine Wünsche schriftlich formulierst und an Rosenbaum gibst. Ich habe ihm schon diesbezüglich geschrieben.“ Mette legte das Falzbein hin. „Ja, das wäre wohl alles!“ Sie stand auf und stützte beide Hände hinter sich auf den Schreibtischrand. „Also, wenn wir uns nicht mehr sehen sollten, Gott befohlen, und laß es dir recht gut gehen.“ Tante Emilie stand auf mit zitternden Knien, und ihr Gesicht spielte in allen Farbentönen vom Zitronengelben ins Aschgraue. „Und ... und Alfred?“ fragte sie, mit vergeblichem Bemühen, eine süße rührende Weichheit in ihren scharfen Ton zu legen. „Wie? Wer?“ Mette kniff die Augen zusammen, als müsse sie sich besinnen. „Ja so, nein, danke. Da brauchst du keinerlei Mitteilung zu machen. Ich werde alles Erforderliche selbst besorgen.“ „Mette!“ sagte Tante Emilie feierlich. „Wenn das dein seliger Vater wüßte! Ich habe dich von deinem ersten Tag an behütet und gepflegt, und zum Dank wird man so vor die Tür gesetzt ...“ Mette griff wieder nach dem Falzbein. „Ich habe schon an Rosenbaum geschrieben, daß von meinem Vermögen fünfzigtausend Mark an dich übergehen. Mit dem, was du hast und mit dem, was dir von Vater kommt, kannst du dann ganz deiner Bequemlichkeit leben. Ich will morgen vormittag hingehen und ihm die nötigen Vollmachten geben.“ „Mette,“ sagte Tante Emilie mit gesteigertem Pathos. „Ich habe dich vor einem entsetzlichen Schicksal behütet. Das solltest du mir auf Knien danken!“ „Gewiß, gewiß,“ sagte Mette und verzerrte ein wenig den Mund. „Ich werde Rosenbaum schreiben: Hunderttausend.“ Da wandte sich Tante Emilie und rauschte hinaus. Mette packte die Sachen in fieberhafter Eile, wie auf der Flucht. Sie arbeitete Tag und Nacht und ließ sich von niemandem helfen, auch von Peterchen nicht und von mir nicht. Aber am Abend, als sie reiste, holten wir beide sie aus der Wohnung ab und brachten sie an die Bahn. Die Wohnung war leer und dunkel. Alle Möbel fort. Die Kronen abgenommen, die Fenster ohne Gardinen. Hie und da starrte ein Spiegelhaken trostlos aus der nackten Wand oder ein Fleck der Tapete zeigte die Form eines Bildes, das lange Jahre da gehangen hatte. Ein großer Koffer, ein wenig Handgepäck standen mitten in dem leeren Raum. Mette hatte eine brennende Kerze auf dem Fensterbrett festgeklebt. Das gab ein seltsames flackerndes Halblicht. Unsere Schatten glitten groß und verbogen an Wand und Decke entlang. Peterchen sah immerfort nach der Uhr. „Ist es nicht Zeit, daß ich nach einem Wagen gehe?“ fragte er unruhig. Mette hob die Hand. „Laß doch! Wir haben noch endlos Zeit. Was sollen wir auf dem Bahnsteig? Und was schadet es, wenn ich den Zug versäume? Ich lauf’ ja niemandem nach. Und mir läuft niemand nach. Dann fahr’ ich eben morgen früh.“ „Ach ja,“ sagte Peterchen erleichtert, „das wäre mir überhaupt viel lieber. Ich verstehe gar nicht, wie man so in die Nacht hineinfahren kann.“ „Ich fahre ja in den Morgen hinein,“ sagte Mette mit leisem Lächeln. „In ein paar Stunden kommt die Dämmerung. Außerdem lieb’ ich die Nacht. Wer die Sterne liebt, muß auch die Nacht lieben. Sag, Peterchen, hast du eigentlich schon einmal daran gedacht, daß sie am Tage auch da sind? Genau so fern und so nah wie des Nachts. Manchmal such’ ich sie am sonnenhellen Himmel – ich fühle ganz genau – da steht der, und da steht der, und dann kann ich in der Dämmerung ganz ungeduldig werden, bis sie endlich sichtbar sind.“ „Das hast du auch von ihr,“ sagte Peterchen wehmütig, „diese verrückte Sternenliebe.“ „Ja,“ sagte Mette, und ihre tiefe Stimme klang wie eine Glocke, „was hab’ ich _nicht_ von ihr? Alles. Und alle Liebe ganz gewiß. Himmel und Erde sind voll von Dingen, an denen ihre Liebe hängt. Und von all diesen Dingen strömt ihre Liebe wieder auf mich zurück. Herrgott, was liebte sie alles! Berge und Meer und Blumen und Spinnen und kleine Kinder und Leder und Seide und Kristall und die Günderode und den heiligen Franziskus von Assisi – und – mich. Wahrhaftig, sie hat mich die Liebe gelehrt. O Gott! Wenn Tante Emilie das hörte, würde sie es sicherlich falsch auffassen. Einmal hat sie zu mir gesagt, Olga, ich glaube, es war auf der Reise, und wir sprachen wohl von unserer Zukunft, und ich sagte, daß ich mich nicht von ihr trennen lassen wollte, bis zu meiner Mündigkeit. Da wurde sie ganz ungeduldig und sagte: ‚Herrgott, was ist das für ein jämmerlicher Standpunkt, immer nur das lieben zu können, was man an der Hand hält!‘ Hat sie nicht recht? Warum soll man nicht die Toten lieben und die Kommenden und die ganz Fernen, deren Sein wir nur ahnen oder deren Schaffen uns einen Hauch von ihrer Seele gibt? Und warum nur einen, warum nicht Tausende – die, nach denen wir uns sehnen und die, die sich nach uns sehnen – die, die in unerfüllter Sehnsucht nach uns gestorben sind, und die, die mit unerfüllter Sehnsucht nach uns leben werden, wenn wir lange tot sind. Mir ist manchmal, als sollt ich meine beiden Hände in die Weite strecken und rufen: ich liebe euch, ich liebe euch, ich liebe euch!“ „Es ist merkwürdig,“ sagte Peterchen scheu und sah kopfschüttelnd zu Metten empor, die unheimlich groß und schlank aufgereckt in dem gespenstischen Licht stand, „es ist merkwürdig, wie ähnlich du ihr manchmal bist.“ „Es ist viel merkwürdiger,“ sagte Mette lächelnd, „wie unähnlich ich ihr _war_. Fern, fremd, unverwandt. So entsetzlich unähnlich, daß ich sie eigentlich nie verstanden habe. Ich glaube, ich hätte sie mit Eifersucht und Mißtrauen zu Tode gequält.“ „Und jetzt?“ fragte Peterchen. „Würdest du nicht eifersüchtig und mißtrauisch sein? Wer weiß, wenn ihr zusammen geblieben wäret, vielleicht hättest du in ein paar Monaten Ursache dazu gehabt.“ Mette schüttelte langsam den Kopf. „Das soll ein Trost für mich sein, Peterchen. Aber es ist keiner. Ich hatte so unbändige Freude an ihr. Und wenn tausendmal nur die Form zerstört ist. Auch um die Form ist es ein Jammer. _Die_ Freude hätt’ ich immer an ihr haben können. Und so wie ich sie jetzt sehe – ich hätte eben einsehen müssen, daß ich nicht aus Geiz Himmel und Erde ihrer Liebe hätte berauben dürfen. Aber belogen hätte Olga Radó mich nie. Nie, nie, nie!“ „Der Zug, Mette!“ mahnte Peterchen. Mette warf einen Blick auf ihr Handgelenk. „Ja, wir müssen gehen.“ Peterchen ging, einen Wagen zu holen. Der Kutscher trug das Gepäck hinunter. Ich wollte die Kerze löschen, als wir gingen. „Nein, laß!“ sagte Mette. Sie lief ein paarmal hin und her und brachte Wasser in den hohlen Händen, das sie um die Kerze träufelte, bis sich ein kleiner See bildete. „Nun kann es kein Feuer geben,“ sagte sie. „Seltsam, wenn ich schon im Zug sitze, brennt vielleicht hier in der leeren Wohnung noch das Licht. Ich muß immer an die arme Johanna denken, schon den ganzen Abend, als das Licht so im Fenster brannte.“ „Wer ist das?“ fragte ich. „Die arme Johanna? Das war eine Frau, die Olga liebte. Sie ist an der Schwindsucht gestorben. Und Olga konnte nicht um sie sein, als sie im Sterben lag. Aber die Schwester, die sie pflegte, stellte nachts immer eine brennende Kerze ans Fenster. Das hatte die arme Johanna alles selber so verabredet und bestimmt. Solange sie lebte, solange sollte die Kerze brennen. Und da ist Olga manchmal drei-, viermal in der Nacht, wenn sie es vor Unruhe nicht mehr aushalten konnte, nach dem Haus gelaufen und hat auf der Straße gestanden, um nur die Kerze brennen zu sehen.“ – „Schau,“ Mette wandte sich um, während wir in den Wagen stiegen, „da oben brennt meine Kerze und leuchtet mir nach!“ Sie winkte mit den Handschuhen einen Gruß zurück. „Und da, schau,“ sie richtete sich auf, mit einem seltsamen Entzücken im Gesicht und wies nach dem Sternenhimmel, „da ist der Antares! Das Herz des Skorpions. Dem zieh’ ich jetzt nach, immer weiter nach Süden. Wir können zusammen bleiben, oder ich kann auf ihn warten, bis er wieder kommt, mit der unbedingtesten Zuverlässigkeit, wie der treueste Freund.“ „Trotzdem,“ sagte Peterchen, „ich habe das Gefühl, daß es doch ein bißchen wenig Schutz und Freundschaft für dich ist. Wenn ich denke, daß du in der nächsten Nacht in einer fremden Stadt, in einem fremden Hotelbett schlafen sollst ...“ „Schön!“ sagte Mette. „Das ist ja das, was mir Ruhe geben kann. Ein Raum, den ich noch nie gesehen habe. Trotzdem ist dieser Raum jetzt schon da. Ein anderer Mensch bewohnt ihn und erfüllt ihn ganz mit seinen Leiden und Freuden und Sorgen und Gedanken. Muß man sich denn immer nur mit einem peinlichen Gefühl des Ekels in ein fremdes Bett legen? In einem frisch bezogenen Hotelbett sind keine fremden Mikroben und Bakterien – aber auf den Tapeten liegen noch Schatten und Lichter fremder Schicksale. Und die tönen das eigene zum Schweigen. Man soll nicht in den Wänden bleiben, wo einen der eigene Schmerz immer von den Tapeten anschreit. Das fremde Bett wird mir morgen erzählen, was es alles erlebt hat. Weißt du, auch das ist Feengabe. Ich bin nicht mehr bange, weil die Dinge anfangen, mit mir zu reden. Das sind immer die Glückskinder in den Märchen oder die Weisen in den Sagen – König Salomo, vogelsprachekund – denen die Dinge und die Tiere und die Bäume ihre Geheimnisse erzählen. Du glaubst nicht, was das bedeutet. Die ganze Welt war so entsetzlich stumm. Und nun höre ich überall so liebe, vertraute, unhörbare Stimmen. Ihr ahnt gar nicht, mit was für einem Entzücken und einem Stolz das einen erfüllt. Siehst du, Peterchen – das ist _auch_ etwas, was ich von Olga habe.“ „Ja,“ sagte Peterchen nachdenklich, „ich fühle deine Kraft – fast mit Neid. Sie hat dir unendlich viel gegeben. Ich kann nicht los von dem Gedanken ... vielleicht hatte sie doch recht: ‚_Qui vivens laedit, morte medetur_‘ – was lebend verwundet, heilet im Tod.“ „Nein, nein, sag das nicht!“ sagte Mette mit einer fast flehenden Bewegung. „Ich will es nicht hören, weil es nicht wahr ist. Aber ich habe die heilige Überzeugung – und _das_ dank ich ihr tausendfach mehr als alles andere – daß der Satz _umgekehrt_ wahr ist – hilf mir, Peterchen, mit meinem Latein ist es schwach bestellt: _Qui vivens laeditur, morte_ ... nein, es geht nicht ... _medetur_ ... das sind die verflixten Deponentia, davon kann ich keine Passivform bilden. Aber du weißt ja, was ich meine: Was lebend verwundet wird, wird im Tode geheilt ... das heilt der Tod ... _mors medetur_, nicht wahr, das kann man sagen? Und siehst du, das ist das größte: die Stunde Lust, die ich auf diesem Maskenball des Lebens vielleicht noch finden kann, die dank ich ihr – aber wenn mir das Treiben zuwider wird, dann dank ich ihr den Schlüssel zur Ausgangstür.“ „Ja,“ sagte Peterchen ein wenig bitter, „einen sechsläufigen Revolver!“ „Oh,“ sagte Mette, „mehr als das: damit allein ist es nicht getan. Weißt du nicht, was die kleine Seejungfer sich wünschte, um was sie sich die Zunge herausschneiden ließ, um was sie bei jedem Schritt tausendfältige Schmerzen litt, was nur eine große, große Liebe ihr geben konnte? Mir hat es Olga gegeben. Mir hat Olga alles gegeben, was man braucht, um allen Möglichkeiten der verhüllten Zukunft mit unzerstörbarer Ruhe entgegenzugehen: einen sechsläufigen Revolver ... _und_ eine unsterbliche Seele!“ Askanischer Verlag Berlin SW In unserem Verlage erschien von Anna Elisabet Weirauch Der Tag der Artemis Drei Novellen „Der Tag der Artemis“ – das ist der Tag, der Knaben zu Männern macht, der Tag, an dem im jungen Menschenkinde unerkannt, gebieterisch, erschreckend oder beglückend zum erstenmal das Geschlecht sich regt. Die erste der Novellen ist eine Institutsgeschichte. Schwärmerische Neigung, ehrliche Kameradschaft, Eifersucht, Haß, gekränkter Ehrgeiz – alle Leidenschaften toben und gären in diesen unreifen Knabenseelen, bis sie in einer Katastrophe explodieren. „Gere“ ist die Geschichte eines Schülerselbstmordes. Der Gequälte, der in dem unverstandenen natürlichen Trieb nur Schmutz und Laster sieht, verliert seinen letzten Halt, den Glauben an die Heiligkeit der Mutter, und greift zum Revolver. „Der Statist“ variiert das Thema des erwachenden Liebesgefühls in heiterer Form. Einen armseligen Drogistenlehrling bringt ein Zufall als Statisten ans Theater. Die schwärmerische Leidenschaft für die Heldin des Hoftheaterchens macht einen Menschen aus ihm und führt ihn auf einen Weg, den er weitergehen wird, auch wenn die Leidenschaft längst verlodert ist. Erzählungen aus jenen Lebensjahren, wo die Erotik noch schlummert, wo sie aber im geheimen heftiger wühlt als wir ahnen und ahnen wollen. 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Der Hund drehte den Kopf und leckte mit der Zunge ... [S. 99]: ... Herr mehr in meiner eigenen Wohnung. Nimm ... ... Herr mehr in meiner eigenen Wohnung? Nimm ... [S. 228]: ... kam nicht wieder, war unwiderbringlich verloren. ... ... kam nicht wieder, war unwiederbringlich verloren. ... *** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER SKORPION. BAND 1 *** Updated editions will replace the previous one—the old editions will be renamed. Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright law means that no one owns a United States copyright in these works, so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United States without permission and without paying copyright royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to copying and distributing Project Gutenberg™ electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG™ concept and trademark. 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It exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from people in all walks of life. Volunteers and financial support to provide volunteers with the assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg™’s goals and ensuring that the Project Gutenberg™ collection will remain freely available for generations to come. In 2001, the Project Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure and permanent future for Project Gutenberg™ and future generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 and the Foundation information page at www.gutenberg.org. Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non-profit 501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal Revenue Service. The Foundation’s EIN or federal tax identification number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by U.S. federal laws and your state’s laws. The Foundation’s business office is located at 809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to date contact information can be found at the Foundation’s website and official page at www.gutenberg.org/contact Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation Project Gutenberg™ depends upon and cannot survive without widespread public support and donations to carry out its mission of increasing the number of public domain and licensed works that can be freely distributed in machine-readable form accessible by the widest array of equipment including outdated equipment. 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