The Project Gutenberg eBook of Im Herzen von Asien. Erster Band.

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Title: Im Herzen von Asien. Erster Band.

Author: Sven Anders Hedin

Release date: June 25, 2022 [eBook #68402]

Language: German

Original publication: Germany: F. A. Brockhaus

Credits: Peter Becker, Reiner Ruf, and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This file was produced from images generously made available by The Internet Archive)

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK IM HERZEN VON ASIEN. ERSTER BAND. ***

Anmerkungen zur Transkription

Der vorliegende Text wurde anhand der 1919 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche und heute nicht mehr gebräuchliche Schreibweisen, Schreibvarianten sowie fremdsprachliche Passagen bleiben gegenüber dem Original unverändert.

Das Register wurde dem zweiten Band entnommen und am Ende des Textes eingefügt.

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Sven Hedin
Original-Umschlagbild

Im Herzen von Asien.

Erster Band.

Sven Hedin

Im Herzen von Asien.

Zehntausend Kilometer
auf unbekannten Pfaden.

Von

Sven v. Hedin.

Mit 341 einfarbigen und bunten Abbildungen und 5 Karten.

Autorisierte Ausgabe.

Vierte Auflage.

Erster Band.

Verlagssignet

Leipzig:

F. A. Brockhaus.


1919.

Meinen deutschen Studiengenossen
gewidmet.

[S. vii]

Vorwort zur ersten Auflage.

Das Buch, das ich hiermit den Freunden der geographischen Forschung auf Gnade und Ungnade übergebe, widme ich in der deutschen Ausgabe aus treuer Anhänglichkeit meinen deutschen Studiengenossen.

Es ist meine erste und teuerste Pflicht, unter denjenigen, welche bei vielen vorhergehenden Gelegenheiten meine Pläne mit verständnisvollem Interesse und mit Wärme erfaßt haben, Sr. Majestät König Oskar von Schweden und Norwegen, der mit gewohnter Freigebigkeit meine Reise ermöglichte, meine aufrichtigste Dankbarkeit zu bezeugen.

Auch Sr. Majestät dem Kaiser von Rußland bin ich zu großem Dank verpflichtet für die Unterstützung, die er die Gnade hatte mir zuteil werden zu lassen. Die Kosakeneskorte, die mir der Kaiser zur Verfügung stellte, war für mich von unschätzbarem Wert. Selten habe ich solche Treue und solchen Gehorsam gefunden wie in den Jahren, die ich mit diesen Kosaken zusammen verlebte. In Verbindung hiermit muß ich auch dem russischen Kriegsminister General Kuropatkin dafür danken, daß er mir infolge seiner hohen Stellung die Reise in mehr als einer Beziehung erleichterte.

Sehr zu Dank verpflichtet bin ich allen meinen Landsleuten, die in freigebiger Weise einen ansehnlichen Teil der notwendigen Mittel zur Reise beisteuerten, während ich aus Eigenem das Honorar meiner früheren Reisebeschreibung für meine neuen Forschungen auf asiatischem Boden verwendete.

Mein Buch erhebt nur den Anspruch, ein in großen Zügen angelegtes Tagebuch meiner Erfahrungen und Erlebnisse im Herzen von Asien und eine Beschreibung jener Gebiete zu sein, die ich auf einer Wanderung[S. viii] von über 10000 Kilometern durchquert habe. Diese Länder sind vor mir noch nie besucht und noch weniger beschrieben worden und verdienen daher Aufmerksamkeit. Ich habe versucht, einen Begriff davon zu geben, wie man in der großen Einsamkeit Asiens lebt und wie die Tage dort vergehen. Durch Asien wandelt man nicht auf Rosen. Die Mühe findet jedoch ihren Lohn in dem Bewußtsein, das Wissen der Menschheit vergrößert zu haben. Die wissenschaftlichen Resultate der Reise berühre ich in diesem Buche nur flüchtig, da sie einem besonderen Werke vorbehalten sind, dessen Herausgabe die Freigebigkeit des schwedischen Reichstags ermöglicht hat. Auf die hochverdienten Reisenden, die vor mir oder gleichzeitig mit mir Asien bereist haben, habe ich in meinem Werke selten Bezug genommen, um auf dem mir zur Verfügung stehenden Raume den Verlauf meiner eigenen Reise ausführlicher schildern zu können.

Die absoluten Höhen hat Herr Dr. Nils Ekholm ausgerechnet. Die beigegebenen Karten können nur als vorläufige betrachtet werden. Mit Benutzung meines großen Kartenmaterials hat Hauptmann Byström sie in sehr verdienstvoller Weise, die viele Mühe gekostet hat, ausgeführt. Schwedische Künstler haben durch naturgetreue, wohlgelungene Bilder zum Schmucke der Arbeit beigetragen. Allen diesen Herren sage ich meinen herzlichen Dank für ihre Mitarbeit.

Meine Mutter ist mir eine unermüdliche Korrekturleserin gewesen; sie hat meinen guten Namen vor vielen Schnitzern bewahrt!

Sven v. Hedin.

[S. ix]

Inhalt des ersten Bandes.

 
Seite
Vorwort
Einleitung
Erstes Kapitel. Über den ersten Paß des Kontinents
  8– 17
Zweites Kapitel. Vorbereitungen zur Wüstenfahrt
Drittes Kapitel. Die Schiffswerft in Lailik
Viertes Kapitel. Zweitausend Kilometer auf dem Tarim
Fünftes Kapitel. Der verzauberte Wald
Sechstes Kapitel. Vierzig Kilometer zu Fuß
Siebentes Kapitel. Friedliche Heiligengräber
Achtes Kapitel. Der große, einsame Tarim
Neuntes Kapitel. In schwindelnder Fahrt flußabwärts
Zehntes Kapitel. Der Jumalak-darja auf dem Wege durch die Sandwüste
Elftes Kapitel. Im Kampf mit dem Treibeise
Zwölftes Kapitel. Wir frieren fest und gehen ins Winterquartier
Dreizehntes Kapitel. Eine französische Visite
Vierzehntes Kapitel. Ins Herz der Wüste Takla-makan
Fünfzehntes Kapitel. Das endlose Wüstenmeer
Sechzehntes Kapitel. Dreihundertvierzig Kilometer in 30 Grad Kälte
Siebzehntes Kapitel. Zwischen vergessenen Gräbern und ausgetrockneten Flußbetten
Achtzehntes Kapitel. Die Ankunft der burjatischen Kosaken in Turasallgan-ui
Neunzehntes Kapitel. Der Kurruk-tag und der Kurruk-darja
Zwanzigstes Kapitel. Das gelobte Land des wilden Kamels
Einundzwanzigstes Kapitel. Der frühere See Lop-nor
Zweiundzwanzigstes Kapitel. Fünfundzwanzig Tage im Kahn
Dreiundzwanzigstes Kapitel. Gefährliche Wasserfahrten
Vierundzwanzigstes Kapitel. Die letzte Reise der Fähre
Fünfundzwanzigstes Kapitel. Poesie im innersten Asien
Sechsundzwanzigstes Kapitel. Aufbruch nach Tibet
Siebenundzwanzigstes Kapitel. Über den Tschimen-tag, Ara-tag und Kalta-alagan nach dem oberen Kum-köll
Achtundzwanzigstes Kapitel. Fünftausend Meter über dem Meere
Neunundzwanzigstes Kapitel. Eine lange Seefahrt
Dreißigstes Kapitel. Über stürmische Seen und himmelhohe Berge
Einunddreißigstes Kapitel. Aldats Tod
Zweiunddreißigstes Kapitel. Ein trügerisches Feuer
Dreiunddreißigstes Kapitel. Über sechs Pässe
Register.

[S. x]

Abbildungen.

   
Seite
 
Porträt des Verfassers (Titelbild)
 
Das englische Faltboot auf dem Panggong-tso in Westtibet. 2. Islam Bai. 3. Brücke oberhalb Gultscha
8
Meine erste Karawane
9
Meine Kamelkarawane. 6. Rast in der Oase Nagara-tschalldi
16
Oase Nagara-tschalldi
17
Durch die Furt des Kisil-su
24
Nikolai Fedorowitsch Petrowskij. 10. Die Kosaken Sirkin und Tschernoff
25
Ein Seiltänzer in Kaschgar
32
Aufbruch der ersten Karawane aus Kaschgar
33
Übergang über einen Kanalarm unterhalb Kaschgar
40
In der Wüste zwischen Terem und Lailik
41
Kurze Rast in der Wüste. 16. Das Zelt meiner Leute in Lailik. 17. Transport der Fähre nach dem rechten Flußufer
48
Bau der schwarzen Kajüte
49
Die Werft. 20. Tänzerinnen und Musikanten beim Abschiedsfest in Lailik. 21. Frauen und Kinder unserer Bootsleute auf dem Wege zur Fähre
56
Die Fähre aus dem Jarkent-darja
57
Der Verfasser an seinem Arbeitstisch an Bord der Fähre
64
Lager am Strand
65
Das Innere meines Zeltes auf der Fähre. 26. Hirtenhütte in der Nähe des Masar-tag. 27. Kasim beim Fischfang
72
Unser Lager bei Kurruk-aßte
73
Kasim mit seinem Fang. 30. Eingeborene am Ufer des Tarim. 31. Begräbnisplatz am Sai-tag
80
Der Jarkent-darja am Sai-tag. 33. Falkner mit Jagdadler. 34. Die Fähre an der Mündung des Aksu-darja
81
Landung an der Mündung des Aksu-darja
88
Unser Nachtlager bei Ala Kunglei Busrugvar
89
Kähne auf dem mittelsten Tarim. 38. Der See Koral-dungning-köll. 39. Der Jumalak-darja von Koral-dung aus gesehen
96
Besuch des Beks von Schah-jar in Tschimen
97
Frühstücksrast auf dem Jumalak-darja. 42. Rekognoszierender Kahn
104
Ördek und Palta als Lotsen
105
Drohender Schiffbruch
112
Kähne auf dem unteren Tarim. 46. Tokkus-kum. 47. Dorf Al-kattik-tschekke
113
Treibeis auf dem unteren Tarim. 49. Blick vom rechten Tarimufer flußaufwärts. 50. Die Fähre an der Mündung des Ugen-darja
120
Begrüßung Parpi Bais und Islam Bais
121
Kleine gebundene Dünen bei Karaul. 53. Verlassene Hütten am Seit-köll. 54. Unser Hauptquartier Tura-sallgan-ui
128
Winterquartier in Jangi-köll mit meinen Leuten
129
[S. xi]
Zusammentreffen mit dem Franzosen Bonin
136
Bonin im Hauptquartier. 58. Parpi, Palta und Islam auf den äußersten Dünen des Sandmeeres am Jangi-köll
137
Sandsturm in der Wüste
144
Abstieg über den steilen Abfall einer Sanddüne
145
Das endlose Wüstenmeer
152
Karawane auf dem Astin-joll. 63. Hirtenhütten in Schudang. 64. Das alte Bett des Tschertschen-darja
153
Eine alte Tograk am Tschertschen-darja. 66. Auf dem Eise des Tschertschen-darja. 67. Am Ufer des Tschertschen-darja
160
Sattma in Araltschi. 69. Tränken der Pferde. 70. Schilfhütten in Scheitlar
161
Meine Kosaken Tschernoff, Sirkin und Schagdur. 72. Meine burjatischen Kosaken Tscherdon und Schagdur (mit tibetischer Jagdbeute)
168
Basch-tograk. 74. Tamariskendickicht. 75. Der Teich bei Kurbantschik
169
Tal zwischen Kurbantschik und Budschentu-bulak. 77. Tograk-bulak. 78. Ruine bei Jing-pen
176
Tschernoffs wildes Kamel. 80. Eines unserer zahmen Kamele
177
Eisschollen in der Oase Altimisch-bulak
184
Abdu Rehims Beute
185
Gebäude auf Tonsockeln. 84. Tschernoff und Abdu Rehim bei einem Tora in der Wüste. 85. Aufrechtstehender Türpfosten
192
Der Platz von Ördeks Entdeckung. 87. Einige von Ördeks Trophäen
193
Ein Tschappgan auf dem Kara-koschun. 89. Im Schilf unterhalb Kum-tschappgan
200
Nordufer des Sees Kara-koschun
201
Transport der Kähne über Land
208
Hütten bei Jekken-öi. 93. Flußmessung bei Schirge-tschappgan. 94. Brücke über den Ilek
209
Unsere Kähne auf dem Ilek. 96. Pappeln am Ufer des Ilek. 97. Im Schilfe auf dem Suji-sarik-köll
216
Unsere Kähne bei einem Nachtlager. 99. Brücke bei Tikkenlik. 100. Der Kalmak-ottogo-Arm
217
Jugend am Ufer des Tarim. 102. Malenki und Maltschik. 103. Dünen auf dem rechten Tarimufer
224
Gewaltige Sanddünen am rechten Tarimufer
225
Sandsturm auf dem Beglik-köll
232
Die Fähre sitzt auf dem Tuwadaku-köll im Schilfe fest. 107. Frauen und Kinder in Tscheggelik-ui. 108. Stall in Tscheggelik-ui
233
Die umgebaute Fähre
240
Der Bau der Pontonfähren. 111. Sattma in Abdall. 112. Die Pontonfähren auf dem Wege nach Abdall
241
Bunte Tafel. In brennendem Schilfe. Von Ljungdahl
244
Tokta Ahun und seine Mutter. 114. Tamarisken bei Tattlik-bulak
248
Frauen und Kinder der Loplik. 116. Das Gerüst meiner Jurte
249
Hauptquartier bei Mandarlik (Blick talabwärts)
256
Lager bei Mandarlik (Blick talabwärts). 119. Landschaft oberhalb von Mandarlik. 120. Hauptkamm des Tschimen-tag, oberhalb von Mandarlik
257
Aufbruch ins tibetische Hochgebirge
264
[S. xii]
Zwei gefangene Kulanfüllen. 123. Die Kulanfüllen von vorn gesehen. 124. Ein Parallelkamm des Arka-tag, von Lager Nr. 19 aus gesehen. 125. Einige unserer Pferde im südlichen Quertale (3. August 1900)
265
Aussicht vom Passe nach Ost zu Nord (3. August 1900)
272
Aussicht vom Passe nach Norden (3. August 1900)
273
Rast der Karawane während Tscherdons Rekognoszierung (3. August 1900)
280
Auf der höchsten Bergkette der Erde
281
Allgemeines Trocknen an der Sonne
288
Gletschermassiv im Südwesten vom Lager Nr. 27
289
Aussicht nach Süden vom Lager Nr. 28 aus
296
Bugsierung eines Kamels über den Fluß. 134. Fester Boden unter den Füßen. 135. Ein glücklich über den Fluß gebrachtes Kamel
297
Salzsee bei Lager Nr. 35 (27. August 1900), Aussicht nach Nordosten
304
Salzsee bei Lager Nr. 35 (27. August 1900), Aussicht nach Südosten
305
Meine Jurte im Lager Nr. 35 (27. August 1900), Aussicht nach Norden
312
Der Fischberg. 140. Der Fischberg vom See aus
313
Blick vom See aus nach Westen. 142. Blick vom See aus nach Osten
320
In Todesgefahr
321
Lagerplatz im tibetischen Hochland. 145. Umbetten des kranken Aldat. 146. Ein im Schlamm versinkendes Kamel
328
Turdu Bai auf einem Berge in der Nähe des Lagers Nr. 54
329
Tscherdons Yak
336
Ein erbeuteter Yak. 150. Ein junger Kulan. 151. Kopf und Seitenfransen des Yaks
337
Blick nach Süden von Aldats Begräbnisplatz
344
Lager Nr. 60 in 5111 Meter Seehöhe
345
Unser Lager in Togri-sai am 8. Oktober. 155. Die Kamelkarawane. 156. Das Illwe-tschimen-Gebirge aus dem Tschimental
352
Obo beim Lager Nr. 71 im untern Togri-sai
353
Aus dem Hauptquartier in Temirlik
360
Das Hauptquartier bei Temirlik
361
Tscherdon und Schagdur mit ihrer Beute
368
Die Packpferde am Ufer des Ajag-kum-köll
369
Der Kalta-alagan von Süden (Lager am 15. und 16. November)
376
Der Kalta-alagan von Süden (Lager am 15. und 16. November)
377
Turdu Bai und Kutschuk mit dem zusammengelegten Faltboot
384
Der Verfasser im Faltboot auf dem Ajag-kum-köll
385
Islam Bai und Kutschuk stoßen vom Lande ab
392
Das nach dem Passe Gopur-alik hinaufführende Tal
393

Karten.

Höhenprofil der Reiseroute.

Tarim und Wüste Takla-makan. Maßstab 1 : 2000000.

Osttibet. Maßstab 1 : 2000000. Nebenkarte: Faksimile eines Originalblattes meiner Karte des Tarimflusses. Maßstab 1 : 35000.

[S. 1]

Einleitung.

Am Johannistage des Jahres 1899, als der nordische Sommer in seiner größten Schönheit prangte, brach ich zum vierten Male von Stockholm nach dem Herzen von Asien auf, zu neuen Forschungen und Abenteuern im fernen Osten. Die Schiffe im Hafen waren reich mit Flaggen geschmückt, sie feierten das Johannisfest. Nur meine Eltern, Geschwister und nächsten Freunde standen am Ufer, als der Dampfer „Uleåborg“ langsam den Stockholmer Strom hinabglitt. Welche Schicksale und Entbehrungen ich auch während der folgenden drei Wanderjahre zu erdulden gehabt, ich habe keinen schwereren Tag erlebt als diesen ersten; denn eine weit größere Entschlossenheit als nachher täglich erforderlich ist, gehört dazu, sich von der Umgebung loszureißen, mit der man von Kindheit an durch die heiligsten Bande des Lebens verknüpft ist.

Auf dieser Reise führte ich viel schwereres Gepäck mit als auf meinen früheren; es wog nicht weniger als 1130 Kilogramm und war in 23 Kisten verteilt, von denen die meisten eigens so angefertigt waren, daß sie von einem Pferde bequem paarweise transportiert werden konnten. Meine Ausrüstung war auch jetzt sehr vollständig. Damit der Leser einen Begriff davon hat, wie man für eine Asienreise ausgerüstet sein muß, will ich hier die wichtigsten Gegenstände aufzählen.

Um mit den astronomischen Instrumenten zu beginnen, so benutzte ich diesmal einen Universalreisetheodoliten und drei Chronometer. Diese Instrumente sind unter allen Umständen die empfindlichsten und erfordern die liebevollste Sorgfalt. Sie nahmen auf der Reise nicht den geringsten Schaden und kamen unversehrt wieder heim.

An topographischen Instrumenten war ich versehen mit: Nivellierfernrohr mit Meßstangen und anderem Zubehör, Nivellierspiegel, Bandmaßen, Kompassen, Diopterkompaß mit Prisma zur Ablesung der Winkel, Meßtisch mit Stativ und Diopter.

Ich nahm auch zwei Strommesser mit, vorzügliche Apparate, die bei unzähligen Gelegenheiten gebraucht wurden und sich auch beim Rudern für Distanzmessungen erfolgreich verwenden ließen.

[S. 2]

Die meteorologische Ausrüstung bestand aus einem Hypsometer mit 5 Kochthermometern, einem Aspirationspsychrometer, ein paar Aktinometern, einem Anemometer, einem Regenmesser und einer großen Anzahl gewöhnlicher Thermometer, Quellenthermometer, Maximum- und Minimumthermometer, Thermometer zur Untersuchung der Bodentemperatur usw. Das Kgl. Nautisch-Meteorologische Institut in Stockholm hatte mir einen Tiefseethermometer überlassen. Einen Barographen und einen Thermographen mit vierzehntägigem Gang hatte ich eigens herstellen lassen. Diese selbstregistrierenden Apparate waren mir zur Kontrolle von unschätzbarem Nutzen und arbeiteten vortrefflich. Ein großer Vorteil war, daß ihre Glasgehäuse so dicht schlossen, daß weder Sandstürme, noch atmosphärischer Staub ihren Gang im geringsten beeinflußten.

Drei Aräometer ließen nichts zu wünschen übrig, als daß die Skalen den sehr salzigen Seen Tibets hätten besser angepaßt sein müssen.

Nicht weniger als 58 Brillen hatte ich bestellt. Sehr wenige von ihnen kamen wieder ganz nach Hause. Besonders die Schneebrillen, grau und blau in verschiedenen Nuancen und mit ungeschliffenen Gläsern, fanden bei meinen Karawanenleuten und anderen Eingeborenen reißenden Absatz.

Dieselben Waffen, die mich 1893–97 begleitet hatten, leisteten mir auch jetzt Dienste. Ich hatte sie als Geschenk von dem Direktor der Waffenfabrik zu Husqvarna erhalten, der jetzt so gütig war, mich mit vier weiteren schwedischen Offiziersrevolvern und einer Menge kleinerer Revolver, die hauptsächlich zu Geschenken an die Eingeborenen bestimmt waren, sowie mit reichhaltiger Munition auszurüsten. Da die vier Kosaken, die mir Seine Majestät der Zar auf die Reise mitgab, mit den neuen russischen Magazingewehren versehen waren, besaßen wir ein ziemlich starkes Arsenal, 10 Gewehre und wenigstens 20 Revolver.

Daneben wurden natürlich unzählige Sachen mitgenommen, die ich hier nicht aufzählen kann. Ein paar verdienen jedoch besonders erwähnt zu werden: ein zusammenlegbares Bett, das mir im Sommer die behaglichste Ruhe verschaffte; im Winter und in Tibet schlief ich auf der Erde. Mit großer Zufriedenheit denke ich auch an „James’ Patent Folding Boat“ zurück (Abb. 1). Es bestand aus zwei Hälften, die beim Gebrauche zusammengesetzt wurden und eine sehr leichte Last für ein Pferd ausmachten; sogar ein Mann allein konnte es tragen. Sein Zubehör bestand aus zwei Rudern mit Klammern, Mast und Segel und zwei Rettungsbojen. Dieses kleine Fahrzeug war nicht nur von großem Nutzen, sondern bereitete mir auch eine sehr angenehme Abwechslung in der Einförmigkeit des Karawanenlebens. Dank ihm konnte ich in den tibetischen Seen Lotungen vornehmen, was vorher nie geschehen war; auch während der Flußreise leistete es mir[S. 3] große Dienste. Es erweiterte mein Arbeitsfeld und trug mich über Seen, die ich sonst nur vom Ufer aus hätte ansehen können. Einmal setzte dieses leichte, flinke Fahrzeug die ganze Karawane über einen tibetischen Fluß, dessen Umgehung uns großen Zeitverlust verursacht hätte.

Die photographische Ausrüstung erwies sich in jeder Hinsicht als vortrefflich. Dieselbe Watson-Camera, die fast ein Jahr im Flugsande der Wüste Takla-makan begraben gelegen, begleitete mich auch jetzt. Außerdem hatte ich eine kleine Veraskopcamera, ein ganz vorzügliches Instrument, einen Kodak Junior und einen Daylightkodak von Eastman. Es spielte keine Rolle, daß letzterer meinen Erwartungen nicht entsprach, da die drei anderen während der ganzen Reise vortrefflich funktionierten. Die Linsen waren die vorzüglichsten, die zu haben waren; als Glasplatten, die die schwerste Nummer meines Gepäcks ausmachten, benutzte ich Edwards „Antihalo“. Mit allem, was zum Entwickeln, Fixieren und Kopieren gehört, war ich ebenfalls ausgestattet und den größten Teil der aufgenommenen Platten (etwa 2500) entwickelte ich im Laufe der Reise selbst. Nur 700 Platten waren bei der Heimkehr noch nicht entwickelt. Sie wurden immer in verlöteten Blechkasten verwahrt. Allerdings kostete das Entwickeln der Bilder Zeit, aber ich fand, daß die Arbeit in hohem Grade an Interesse gewann, denn es versteht sich von selbst, daß es ein angenehmes Gefühl der Sicherheit gibt, wenn man weiß, daß die Platten gelingen und die Apparate dicht sind. Übrigens muß sich die Expositionszeit nach den Lichtverhältnissen richten, die in Ostturkestan und in Tibet sehr verschiedenartig sind. Da ich eine so vollständige photographische Ausrüstung hatte, kam ich selten dazu, Zeichnungen zu machen, und hatte auch selten Zeit dazu; meist sind ja auch Photographien infolge ihrer absoluten Treue wertvoller.

Hier sei auch erwähnt, daß eine Menge Kleinigkeiten, wie Messer, Dolche, Ketten, Uhren, Kompasse, Spieldosen usw. mitgenommen wurden, die zu Geschenken an die Eingeborenen bestimmt waren. Ein Eskilstuna-Messer erster Güte wird im innersten Asien weit höher geschätzt als ein viel wertvolleres Geldgeschenk. In vielen Fällen sind derartige Kleinigkeiten besser als Scheidemünze und selbstverständlich billiger.

Papier zum Kartenzeichnen, Tage- und Notizbücher, Schreibmaterial, Tintenpulver und dergleichen hatten ebenfalls ein achtunggebietendes Gewicht, aber ich bedurfte dieser Sachen für eine Karte von 1149 Blättern und für ein Tagebuch von 4500 Seiten!

Zur Verwahrung und Beförderung der empfindlicheren Sachen hatte ich sechs Koffer von Korbgeflecht mit wasserdichtem Futteral bestellt. Sie waren leicht und sehr stark und nahmen keinen Schaden, während Holz- oder Eisenkisten gründlich beschädigt wurden. Ferner wurde mir eine[S. 4] dauerhafte Kiste mit 300 Glasröhren für naturgeschichtliche Präparate geliefert.

Die Proviantfrage wurde außerordentlich befriedigend gelöst. Alle Waren (acht Kisten) hielten sich vorzüglich; besonders delikat waren die Schildkröten-, Kaiser- und Ochsenschwanzsuppe, die, fertig in Dosen, nur gewärmt zu werden brauchten. Um eine Schaf- oder Antilopenfleischsuppe schmackhaft und kräftig zu machen, war Liebigs Fleischextrakt unschätzbar und sehr praktisch, da er sich leicht mitnehmen ließ.

Alles war für eine Reise von zwei Jahren berechnet und reichte daher nicht aus. Aber bis in die Lop-nor-Gegend stand ich von Zeit zu Zeit mit Europa in Verbindung und konnte somit im Sommer 1901 Verstärkung erhalten, nicht nur an photographischem Material und Konserven, sondern auch für meine Kasse.

Meine Bibliothek war nicht groß; sie bestand aus: Bibel, Gesangbuch und einem Büchlein mit dem Titel „Parole für den Tag“, das ein Band zwischen mir und den Meinen in der Heimat bildete, ferner aus Supans „Grundzüge der physischen Erdkunde“, Geikies „The great Ice Age“ und Hanns „Handbuch der Klimatologie“, Kerns „Der Buddhismus und seine Geschichte in Indien“, Rhys Davids „Buddhism“, ein paar wissenschaftlichen Nachschlagebüchern, sowie aus Odhners schwedischer Geschichte und ein paar Werken schwedischer Dichtkunst. Alle Karten, welche Reisende über das innerste Asien veröffentlicht hatten, wurden in einer besonderen Mappe verwahrt. Ich konnte demnach ihre Routen sorgfältig vermeiden und Gegenden aufsuchen, wo ich der erste war.

Ein so bedeutendes Gepäck 5300 Kilometer weit auf der Eisenbahn als Passagiergut mitzunehmen, hätte natürlich große Kosten verursacht. Mich aber kostete es nicht eine Kopeke. Seine Majestät der Zar hatte meinem Reiseplane großes Interesse entgegengebracht und mir für Rußland freie Reise und für mein Gepäck Fracht- und Zollfreiheit bewilligt.

In Petersburg genoß ich vom 26.–30. Juni 1899 wieder die Gastfreundschaft unseres Gesandten Reuterskiöld. Wie leid tat es mir, als ich eine Woche später von seinem plötzlichen Hinscheiden hörte! Unserem neuen Gesandten in Rußland, dem Grafen Aug. Gyldenstolpe, bin ich für die große Bereitwilligkeit, mit der er sich sowohl damals als auch während der drei folgenden Jahre meiner Interessen liebevoll angenommen hat, größten Dank schuldig. Er hatte die Güte, es so einzurichten, daß ich, außer der freigebigen Unterstützung, die ich von meinem Freunde Emanuel Nobel erhalten hatte, auch das ganze Reisegeld auf bequeme Weise in Taschkent erheben konnte. In Petersburg hatte ich auch die Freude, täglich mit meinem alten Wohltäter und Freunde, dem berühmten Polarforscher[S. 5] Professor Freiherrn A. von Nordenskiöld zusammenzutreffen. Zu tiefer Trauer für alle, die ihn liebten und bewunderten, und zu unersetzlichem Verluste für die Wissenschaft und unser Vaterland wurde auch er während der Zeit, in der ich fern von der Heimat weilte, dahingerafft.

Ich werde den Leser nicht mit einer Beschreibung der Fahrt durch Rußland und Westasien ermüden. Dem Plane dieses Buches gemäß muß ich an bekannten Orten vorübereilen und den Leser so schnell wie möglich nach dem eigentlichen Schauplatze neuer Erfahrungen und geographischer Entdeckungen führen. Während der letzten Zeit, bevor ich Stockholm verließ, hatte ich angestrengt gearbeitet, und es war daher eine wahre Erholung, sich in dem bequemen Abteil ausstrecken zu können, ungestört durch Korrekturen, Telephon und Zeitungen und Tausende von Bagatellen, die in einem zivilisierten Staate unsere Zeit und unsere Gedanken in Anspruch nehmen. Es war schön, Träumen und Plänen freien Lauf lassen zu können und zu fühlen, daß man sich mit jeder Minute dem Ziele näherte.

Die Fahrt ging über Moskau, Woronesch und Rostow am majestätischen Don und weiter nach Wladikawkas, denselben Weg, den ich bei meiner ersten Reise 1885 zurückgelegt hatte. Von da führte der Weg über das langweilige Petrowsk und über die weite Fläche des Kaspischen Meeres nach Krasnowodsk, einem der trübseligsten Orte, die man sich denken kann.

Kriegsminister General Kuropatkin hatte die große Freundlichkeit gehabt, telegraphisch in Krasnowodsk Befehl zu erteilen, daß mir zur Reise nach Andischan ein ganzer Eisenbahnwagen zur Verfügung gestellt werde. In diesen wurde all mein Gepäck verstaut, und ich selbst hatte es so bequem wie in einem Hotel. Da mein Wagen der letzte im Zuge war, konnte ich von seiner hinteren Plattform aus den Blick über die öde Landschaft schweifen lassen. Ich hatte die Schlüssel zum Wagen und war von den übrigen Leuten im Zuge vollkommen isoliert. Daher konnte ich bei der drückenden Hitze so leicht gekleidet als nur denkbar umhergehen und mich ab und zu im Toilettezimmer an einer Dusche erfrischen.

Am 7. Juli verließen wir nachmittags 5 Uhr die Küste des Kaspischen Meeres, rollten in den asiatischen Kontinent und verloren uns in der öden Steppe. Um Mitternacht fiel die Temperatur, die mittags in Krasnowodsk 37 Grad im Schatten betragen hatte, auf 28 Grad, und die Lebensgeister, die in der Hitze eingeschlummert waren, wachten wieder auf. Am Nachmittag des 8. Juli erreichten wir Aschabad, wo ich Oberst Svinhufvud traf, den ich von meiner vorigen Reise her kannte und der hier Bahnhofsinspektor war.

[S. 6]

Ich muß eine kleine Episode von meinem neuen Zusammentreffen mit diesem sympathischen, heiteren Finnen einschalten. Ich bat ihn, nach Merw Auftrag zu geben, daß mein Wagen dort vom Zuge abgekoppelt und bei der ersten Gelegenheit an einen nach Kuschk bestimmten Zug angehängt werde. Auf der Reise durch Transkaspien war ich nämlich auf den Gedanken gekommen: warum sollte ich mir nicht das berühmte Kuschk und die Grenze gegen Herat ansehen, da auf meiner Fahrkarte doch klar und deutlich geschrieben stand: „Mit allerhöchster Erlaubnis wird Dr. Sven Hedin freie Reise und freie Gepäckbeförderung auf allen russischen Bahnen in Europa und Asien bewilligt“!

Oberst Svinhufvud lächelte freundlich, nahm aus seinem Taschenbuch ein Telegramm vom Kriegsministerium und las. „Im Falle, daß Dr. Sven Hedin beabsichtigt, sich nach Kuschk zu begeben, teilen Sie ihm mit, daß dieser Weg allen Reisenden verschlossen ist.“

Damit war die Sache entschieden. In meinem Herzen dachte ich, daß das russische Kriegsministerium sehr klug handelt, wenn es einen Punkt, der in strategischer Hinsicht von großer Bedeutung ist, so scharf bewacht. Ich erfuhr auch, daß diese Seitenbahn nicht einmal Russen offen steht; nur Militärpersonen, die nach der Festung Kuschk kommandiert sind, dürfen sie benutzen.

Am 9. Juli, um 2½ Uhr morgens, waren wir in Merw, von wo die neue Bahnlinie südwärts nach Kuschk abgeht. In der Oase Tschar-dschui mit ihrer lebhaften Station war die Ankunft unseres Zuges das große Ereignis des Tages. Gleich hinter der Station Amu-darja rollte der Zug auf der gewaltigen Holzbrücke über den gleichnamigen Fluß, was volle 26 Minuten dauerte. Als ich 1902 zurückkehrte, war die neue Eisenbrücke fertig.

Nach kurzer Fahrt war ich in Samarkand mit seinem reichen Vegetationsgebiete, das ich am Morgen des 10. Juli verließ. Hinter Dschisak hatten wir die einförmige, ebene Steppe zu kreuzen. Die Stationen heißen nach Generalen, die in der Geschichte des Landes eine Rolle gespielt haben, Tschernajewa, Wrewskaja usw. Schließlich rollt der Zug über den Sir-darja, und man ist in Taschkent, der Hauptstadt Turkestans, mit ihrem großen, lebhaften Bahnhofe, dessen Bedeutung noch größer wird, wenn in ein paar Jahren die Bahnstrecke Orenburg-Taschkent fertig ist.

Nach einem Besuche beim Generalgouverneur und bei alten Freunden und nachdem ich im Observatorium meine Chronometer verglichen hatte, verließ ich am Abend des 12. Juli Taschkent wieder.

Hinter Tschernajewa fährt der Zug das Ferganatal hinauf. Im Süden zeigte sich die turkestanische Bergkette, die bald in den Alai mit[S. 7] seinen schneebedeckten Kämmen und Gipfeln übergeht. In Dörfern oder wo Wege die Bahnstrecke kreuzen, haben sich manchmal Sarten versammelt; sie haben sich noch nicht ganz mit der seltsamen, schnellen „Maschina“, die auf dem „Temir-joll“ (Eisenbahn) dahinsaust, befreundet. Um 9 Uhr erreichten wir Andischan, den Endpunkt der zentralasiatischen Eisenbahn.

Als der Zug in den Bahnhof einfuhr, war es mir eine große Freude, meinen alten treuen Diener Islam Bai (Abb. 2) dastehen zu sehen, ebenso ruhig und sicher wie sonst; im blauen Chalate mit der von König Oskar von Schweden verliehenen goldenen Medaille auf der Brust. Er war sich gleich geblieben, sah gesund und kräftig aus, war aber freilich älter geworden, und sein Bart war ergraut; er selbst meinte, er sei ein Greis geworden. Ich begrüßte ihn herzlich; dann unterhielten wir uns drei Stunden lang, teils über seine vier Monate lange Heimreise von Urga im Jahre 1897, teils über die bevorstehende Reise. Islam erfaßte meine Pläne mit dem lebhaftesten Interesse. Es war mir eine Beruhigung, ihm jetzt das ganze Gepäck anvertrauen zu können, das er auf Arben (Wagen) nach Osch führte. Von diesem Tage an wurde er wieder mein Karawan-baschi (Karawanenführer); er kannte von früher her genau meine Reisegewohnheiten und Wünsche und besorgte alles, was zur Karawanenausrüstung gehörte. — Armer Islam Bai! — Mit den schönsten Hoffnungen traten wir zusammen jene lange Reise an, die für ihn auf so beklagenswerte, unglückliche Weise enden sollte!

[S. 8]

Erstes Kapitel.
Über den ersten Paß des Kontinents.

In Osch verlebte ich zwei sehr angenehme Wochen bei Oberst Saizeff, meinem vortrefflichen Freunde aus Pamir, und im Kreise seiner liebenswürdigen Familie. Er war jetzt Ujäsdnij natschalnik (Distriktschef) über den Distrikt Osch, der 175000 Einwohner zählt, während seine Hauptstadt von 35000 Sarten, 150 Russen und 800 Mann Garnison bewohnt ist. Die einzige Unbequemlichkeit während meines Aufenthalts in Osch war eine heftige Augenentzündung. Doch ich verlor nicht viel durch diesen unfreiwilligen Arrest, denn Islam Bai ordnete unterdessen das Gepäck, stellte die Karawane zusammen, mietete Diener, ließ zwei Zelte anfertigen und besorgte die notwendigen Einkäufe. Einmal besuchten Saizeff und ich Islam in seinem Heim, einer einfachen, ärmlichen Lehmhütte in der Sartenstadt, wo er auf eigenem Grund und Boden mit seiner Frau und fünf Kindern wohnte, unter die ich Goldmünzen und andere Geschenke verteilte, um sie über die bevorstehende Trennung von dem Gatten und Vater zu trösten. Auf der vorigen Reise hatte Islam monatlich 25 Rubel erhalten; jetzt wurde sein Lohn auf 40 erhöht, was für einen Asiaten, der überdies ganz freie Station hat, eine bedeutende Summe ist. Der Lohn des ersten Jahres wurde als Vorschuß Oberst Saizeff eingehändigt, der davon monatlich 10 Rubel an Islams Familie auszahlte.

1. Das englische Faltboot auf dem Panggong-tso in Westtibet. (S. 2.)
2. Islam Bai. (S. 7.)
3. Brücke oberhalb Gultscha. (S. 10.)
4. Meine erste Karawane. (S. 10.)

GRÖSSERES BILD

Als ich mich ganz wiederhergestellt fühlte und alles bereit war, wurde die Abreise auf den 31. Juli 1899 festgesetzt. Die Karawane brach frühmorgens auf und lagerte im Dorfe Madi. Nach einem glänzenden Diner bei Oberst Saizeff verließ ich nachmittags Osch, begleitet von meinen Wirten und verschiedenen jungen Damen und Offizieren. In einem Haine bei Madi waren die Zelte aufgestellt, und der Min-baschi der Gegend hatte eine geräumige Jurte (Zelt) mit Stühlen und Tischen hergerichtet, die unter den Delikatessen des Dastarchans (Imbiß) beinahe brachen. In der Dämmerung kehrten meine russischen Freunde nach Osch zurück. Erst[S. 9] jetzt war ich von der Zivilisation abgeschnitten und fühlte, daß ich mich wieder auf der Reise befand. Als abends 9 Uhr die erste Reihe meteorologischer Ablesungen gemacht wurde, war ich wieder im alten Gleise und gedachte der 1001 Nächte, die ich vor nicht langer Zeit unter ähnlichen Verhältnissen im Herzen des großen, öden Asiens verlebt hatte! Jetzt aber bewohnte ich ein prächtiges Zelt aus doppeltem, wasserdichtem Segeltuch, das mit Teppichen geschmückt und mit dem Feldbett und meinen Instrumentkisten möbliert war. Gesund und herrlich war es, wieder im Freien im Zelte zu wohnen, vor mir ganz Asien und eine Welt von Hoffnungen auf neue, wichtige Entdeckungen!

Islam hatte zwei nette junge Hunde, die wirklich hübsch zu werden versprachen, angeschafft; der eine, ein Hühnerhund, hieß Dowlet (Reichtum), der andere, ein asiatischer Wilder von gemischtem Blute, hörte auf den Namen Jolldasch (Reisegefährte). Sie wurden an mein Zelt angebunden, um allmählich daran gewöhnt zu werden, daß sie dessen treue Wächter sein müßten, was nicht viele Tage dauerte. Ich hatte diese Hunde so lieb, daß mir später ihr Verlust den tiefsten Schmerz bereitete.

Die Karawane bestand aus Islam Bai als Führer, Kader Ahun und Musa, Dschigiten (Kuriere) aus Osch, die für 15 Rubel monatlich angeworben waren, und vier Karakeschen (Pferdewärtern), welche die 26 Pferde begleiteten, die ich für 8 Rubel pro Stück für die ganze Wegstrecke bis Kaschgar (450 Kilometer) gemietet hatte. Die Leute hatten zwei Zelte, um welche das Gepäck ganze Bastionen bildete. Die ersten Tagereisen, soweit die neuangelegte Fahrstraße reicht, zog ich es vor, im Wagen zu fahren.

Am Morgen des 1. August dauerte es ziemlich lange Zeit, bis die Karawane marschfertig war. Es handelte sich darum, die Kisten und sonstigen Lasten genau abzuwägen, so daß sie paarweise gleiches Gewicht hatten und bequem auf dem Packsattel des Pferdes lagen.

Gleich hinter Madi wird die Landschaft durch die ersten Aule (Zeltdörfer) von Ferganakirgisen inmitten großer Herden von Schafen, Ziegen, Rindern, Kamelen und Pferden belebt. Besonders die Frauen mit ihren roten Gewändern, ihren Schmucksachen und hohen, weißen Kopfbedeckungen erregen Aufmerksamkeit. In Bir-bulak mit seinen russischen Häusern und Aulen machten wir den ersten Halt.

Die nächste Tagereise führte uns über den kleinen Paß Tschiger-tschig. Kirgisische Reiter griffen in lange, an der Deichsel befestigte Seilschlingen vor den Pferden meines Phaethons, und munter ging es die Paßhöhe hinauf. Aber die Fahrt abwärts, wo es viel steiler ist und der Weg in unzähligen Zickzackkrümmungen hinläuft, ist recht waghalsig. Würde[S. 10] nicht das eine Hinterrad gebremst, so würde der Wagen schneller hinabrollen, als es für den Fahrenden gut wäre.

Das klare Wasser des Baches Ile-su rauscht herrlich zwischen Steinen und Büschen dahin und bildet oft schäumende Kaskaden. Das Tal öffnet sich, vor uns zeigt sich Gultscha mit seinen leicht zu zählenden russischen Häusern, dem Fort mit einer Sotnja (100 Mann), den Kasernen, der letzten Telegraphenstation und dem Basare, umgeben von schlanken Pappeln. Der kleine Ort liegt am rechten Ufer des Kurschab- oder Gultscha-darja, der ziemlich wasserreich ist, obgleich die Tiefe 80 Zentimeter nicht übersteigt.

Der am rechten Ufer des Gultscha-darja weiterführende Weg ist vortrefflich, obgleich er bergauf und bergab geht; er wird aber auch jährlich sorgfältig unterhalten und muß jeden Frühling ausgebessert werden, weil er, namentlich an den Pässen, durch Lawinen und durch die Schneeschmelze zerstört wird. Die Brücken sind aus Holz und befinden sich an schmalen Stellen, bei denen eine einzige Spannung genügt (Abb. 3). Welch ein Unterschied gegen die schlechten, schwankenden Stege, die für die Bedürfnisse der Kirgisen genügten und die ich während meines früheren Besuches kennen lernte. Seitdem hat der Weg strategische Bedeutung erhalten; er geht durch das Alaital nach Bordoba (Bor-teppe) und von da über den Kisil-art und Ak-baital nach Pamirskij Post. Man kann jetzt den ganzen Weg fahren und Proviant, Bauholz usw. auf Karren nach den Ufern des Murgab bringen; selbst mit Artillerie kann man nun das öde Gebiet von Pamir durchkreuzen. An mehreren Stellen, wie Bordoba und Kara-kul, hat man steinerne Stationsgebäude erbaut. Sie liegen im Terrain so maskiert, daß man ahnungslos daran vorbeireiten würde, wenn man ihre Lage nicht kennte. Sie enthalten heizbare Zimmer mit Proviant usw., wo Reisende und Dschigiten im Winter oder bei Schneestürmen eine erwünschte Freistatt finden sollen. Die kleinen Herbergen und Hütten, in denen ich im Februar 1894 übernachtete, waren eingegangen.

Hier und da steht noch eine Pappel (Terek). Der Artscha (Wacholder) beginnt an den Abhängen aufzutreten. Wir sehen viele, gar nicht scheue Rebhühner. Bei Kisil-kurgan (rote Festung) steht ein kleines Lehmfort, wo die Kirgisen uns Tee vorsetzten. Ein wenig davon entfernt rastete ich im Schatten eines herrlichen Pappelhains, um die Karawane zu erwarten, und erfreute mich im Wagen des schönsten Schlafes, den ich seit langem genossen. Er war mir auch nötig, denn des bewegten nächtlichen Lebens und des Lagerlärms war ich noch ungewohnt. Doch nach einer Stunde weckten mich Rufe und Pfiffe: unsere stattliche Karawane marschierte vorbei (Abb. 4, 5). An der Spitze ritt ein Mann auf einem Esel und führte die drei[S. 11] Pferde, welche meine kostbaren Instrumentkisten trugen. Die übrige Karawane ist in drei Abteilungen geteilt, jede von einem Dschigiten überwacht, während einige Männer zu Fuß gehen, um die Lasten, die herunterrutschen oder nicht im Gleichgewicht sind, zurechtzurücken. Kader Ahun reitet hinterdrein; ihn begleitet ein neuangeschaffter, noch angebundener Karawanenhund. Fröhlich klingen die Glocken und geben ein gellendes Echo. Der lange Zug verschwindet hinter einem Hügel, taucht wieder auf und entschwindet wieder meinen Blicken, indem er langsam einen steilen Hang hinabzieht. Aber bald hole ich ihn ein.

Der Weg wird steiniger und zieht sich große Strecken lang auf der Höhe steil abfallender Schuttkegel und Geröllhügel hin, deren Basis vom Flusse bespült wird. Wo Nebentäler einmünden, öffnen sich malerische Perspektiven in das Gebirge hinein. Immer noch kommen Pappeln und Sträucher vor, die Steigung nimmt ein wenig zu, immer häufiger zeigen sich Stromschnellen, und immer lauter rauscht der Fluß. Bei der Talweitung Kulenke-tokai sieht man am rechten Flußufer einen sehr schönen Pappelhain, wo die Kirgisen freundlicherweise eine Jurte für uns aufgeschlagen hatten, da sich hier gerade keine Nomaden befanden, in deren Zelten wir hätten rasten können. Ich zog jedoch vor, die Ankunft der Karawane abzuwarten, um in meinem eigenen „Hause“ zu wohnen.

An diesem Punkte brachten wir den ersten Ruhetag der Reise zu. Es war ein herrlicher stiller Platz, denn die Pferde waren nach Jeilaus (Weideplätzen) in der Nachbarschaft gebracht worden. Der Himmel war trüb, die Temperatur angenehm. Abwechselnd wehte es talaufwärts und talabwärts, und wie eine Einweihungshymne klang es, wenn der Wind in den Kronen der dicht belaubten Bäume rauschte. Man konnte träumen und diesen wohlbekannten Lauten lauschen, die an so manche Ereignisse von früheren Reisen erinnerten. Ich sah in Gedanken den kommenden Jahren entgegen, in deren Schoße so viele seltsame Ereignisse und Abenteuer, so viele harte Schicksale und Entbehrungen, Verluste, Siege und Entdeckungen schlummern sollten! Noch hatte ich das Gefühl der Einsamkeit nicht völlig überwunden, aber die Zeit stählt das Gemüt, und der Mechanismus des Karawanenlebens geht bald seinen vorgeschriebenen Gang. Der Unterschied gegen die zwei vorhergehenden Jahre war recht schroff. Nach dem Aufenthalte im Weltgetümmel und in zivilisierten Verhältnissen war es ein seltsames Gefühl, wieder fort und vergessen zu sein, von der eigenen Sehnsucht verurteilt, im innersten Asien zu verschwinden. Noch am Abend sang es melancholisch in den Pappeln, und in dem unermüdlichen Rauschen des Flusses glaubte ich die alte, wohlbekannte Mahnung zur Geduld, die schließlich zum sicheren Siege führe, wiederzuhören. Jetzt erschien das Ziel noch[S. 12] fern und dunkel, aber jeder Tag würde mich ihm einen Schritt näher führen, und kein Tag würde ohne neue Erfahrungen und Forschungsgewinne vergehen. Still und verlassen lag das Biwak da; kein Rauch deutete auf Feuer, keine Menschen zeigten sich, denn meine Leute gaben sich in der Jurte dem Schlafe hin, nur der Fluß und der Wind störten die feierliche Stille.

Kurz nach Mitternacht fiel Regen, der lustig auf die Zeltleinwand trommelte. Es klang gemütlich und führte gegen Morgen eine ziemlich fühlbare Abkühlung herbei. Die unerwartete Dusche brachte Leben ins Lager, und die Leute waren sofort auf den Beinen, um das draußen stehende Gepäck unter Dach zu bringen.

Gleich hinter dem Lager überschreiten wir ein paarmal den Fluß und halten uns dann meistens auf dem rechten Ufer. Bei Sufi-kurgan läßt man links das Terektal liegen, das nach dem Passe Terek-davan hinaufführt, über den ein näherer, aber schwerer passierbarer Weg nach Kaschgar geht. Oberhalb dieses Tales ist die Wassermenge des Hauptflusses geringer, doch wird das Tal wieder breit, und sein gleichmäßig abfallender Boden hebt sich grau ab gegen die roten Terrassen von Sand, Geröll und Ton, welche das Bett zwischen ihren lotrechten Wänden einschließen. Dann passieren wir am linken Ufer einen kleinen, sanften Bergrücken auf dem Passe Kisil-beles, wo wir im Schatten massiger Artschas rasten. Es ist recht frisch, es geht ein lebhafter Wind, und auf den Bergkämmen fällt leichter Regen. Das Lager dieses Tages wurde in dem offenen Tale Bosuga aufgeschlagen. Wie gestern legten wir 39 Werst zurück; noch sind Werstpfähle längs des Weges angebracht.

Meine Hündchen Dowlet und Jolldasch waren klassische Wesen; sie waren erst ein paar Monate alt und konnten so weite Strecken noch nicht laufen. Wir hatten sie daher in einem Weidenkorbe hinten an meinem Wagen festgebunden. Anfangs waren sie über diese Art zu reisen so erstaunt, daß sie sich ganz still verhielten; bald aber hatten sie sich daran gewöhnt, und Dowlet, der den besten Platz haben wollte, hielt Jolldasch im Zaume und schalt ihn aus, wenn er nicht gehorchte; der Ärmste winselte beständig ganz jämmerlich. Wenn sie im Lager aus ihrem Gefängnis herausgelassen wurden, waren sie überselig und liefen wie die besten Freunde miteinander, aller Beißereien im Korbe vergessend. Schon jetzt fühlten sie sich im Lager heimisch und schliefen nachts neben meinem Bette. Sie hielten recht gute Wacht und bellten wie toll bei dem geringsten verdächtigen Geräusch. Ihre Mahlzeiten nahmen sie stets bei mir ein und entwickelten dabei einen beängstigenden Appetit.

Die Nacht auf den 6. August war recht kalt, und die Minimaltemperatur fiel auf 1 Grad unter Null. Ich mußte Pelz, Filzdecken und Mütze auspacken[S. 13] Die Luftverdünnung dagegen belästigte mich nicht im geringsten, doch merkte man an der sich bei anstrengenden Bewegungen einstellenden Atemnot, daß hier das herrschte, was die Eingeborenen „Tutek“ nennen, das Gefühl, welches man auf Hochpässen empfindet. Der Weg folgt dem Talldikbache aufwärts, manchmal im Bachbette selbst, das man verläßt, um die Abhänge hinaufzuklettern. Nachdem wir verschiedene Nebentäler passiert, beginnt der eigentliche Anstieg, der nicht sehr steil ist, da der Weg in zahllosen Zickzackwindungen angelegt ist. Das Gestein ist schwarzer, stark gefalteter Schiefer. Auf der Höhe des Talldikpasses steht ein mit einem Geländer umgebener Pfahl; zwei gußeiserne Tafeln an demselben verkünden, daß der Paß 11800 Fuß (3617 Meter) hoch ist, 88 Werst von Gultscha liegt und daß der Weg angelegt worden ist, als A. B. Wrewskij Generalgouverneur und N. J. Korolkoff Gouverneur waren. Die Wegarbeiten begannen am 24. April 1893 und endeten am 1. Juli desselben Jahres unter Leitung des Majors Grombtschewskij. Auf der anderen Seite, nach dem Alaitale zu, ist der Abstieg weniger steil. Kein einziger Wacholder überschreitet den Paß; auf der Alaiseite sind die Abhänge ganz unbewaldet.

Am oberen Sarik-tasch verabschiedete ich meinen Arabatschi (Kutscher) und gab ihm ein anständiges Trinkgeld und einen Dolch; er hatte sich gut geführt und den Wagen wohlbehalten bis ins Alaital gebracht. Von jetzt an ritt ich und weihte einen ungarischen Feldsattel aus Budapest ein. Bald sind wir im eigentlichen Sarik-tasch, wo das Paßtal des Talldik in das große, breite Alaital einmündet; dann biegen wir nach Osten ab, die letzten Werstpfähle hinter uns zurücklassend. Im Süden dehnt sich das großartige Gebirgssystem des Transalai aus; die gewaltigen Bergriesen stehen in kreideweißem, hellblauschimmerndem Schneegewande da, und die meisten der höchsten Gipfel sind wolkenumkränzt. Besonders im Westen sind die Wolken zahlreich, und der Pik Kauffmann ist daher unseren Blicken verborgen. Das Alaital ist breit, offen und reich an Weiden, auf denen hier und dort zahlreiche große Agile (Hürden) mit gewaltigen Herden zu sehen sind. Im Osten wird das Tal von Bergen versperrt, über welche der flache Paß Tong-burun führt, der die Wasserscheide und die östliche Schwelle des Alaitales bildet. Alle Augenblicke kreuzen wir flache Ausläufer vom Alai, die sich nach Süden nach dem Zentrum des Tales hinziehen; ein solcher ist der Katta-sarik-tasch. Hinter diesem überschreiten wir den Fluß Schalwa mit einem großen, steinigen Bett, aber wenig Wasser. Vom Transalai mündet hier das ebenso steinige Tal Mäschallä. Diese Talwege und Flüsse vereinigen sich nach und nach, nehmen mehrere andere auf und bilden allmählich ein Haupttal, dessen Fluß Kisil-su heißt.

[S. 14]

Unser Rasttag in Äilämä, wo wir auf dem Wege nach Kaschgar die beste Weide für die Pferde finden sollten, war gerade nicht angenehm, denn es regnete in Strömen und der Herbst der Ferganaberge hatte sichtlich schon seinen Einzug gehalten; doch wir mußten uns damit trösten, daß man es bei solchem Wetter unter Dach besser hat als im Sattel.

Der 9. August war ein herrlicher Tag, und der Regenvorrat der Wolken schien jetzt für einige Zeit erschöpft zu sein. Wir stiegen langsam nach dem Tong-burun-Passe hinauf, einem breiten Bel (Paß), der nach Ansicht der Kirgisen kaum als ein Paß zu betrachten ist. Dennoch bezeichnet die kleine Steinpyramide auf der gleichmäßig abgerundeten, flachhügeligen Höhe eine sehr wichtige geographische Grenzmarke, indem sie den höchsten äußersten Ostrand des Alaitales bildet und die Wasserscheide zwischen dem Aralsee und dem Lop-nor, also eine wichtigere Grenze als selbst der Talldik ist, der nur das Gebiet des Sir-darja von dem des Amu-darja trennt. Von diesem Punkte an fällt das Terrain nach dem Lop-nor ab. Der Abstieg wurde den Pferden sauer, einige Lasten rutschten und verursachten Aufenthalt. Die Berge zur Rechten, die östliche Fortsetzung des Transalai, sind uns ganz nahe; sie sind in Schnee gehüllt und die Spitzen von Wolken bedeckt. Hier und da wachsen kleine Wacholder in den Spalten, und die Sor oder Steppenmurmeltiere (Arctomys bobac) sind unzählbar. Am Eingange ihrer Erdhöhlen auf den Hinterbeinen sitzend, betrachten sie die Karawane und verschwinden, sobald man sich ihnen nähert, mit größter Gewandtheit unter schrillem Pfeifen.

Von der Vereinigungsstelle des Kisil-su mit dem Kok-su gelangen wir über mehr oder weniger tiefe Rinnen zum breiten, tiefeingeschnittenen Tale des Nuraflusses, auf dessen linkem Ufer ein Begräbnisplatz liegt, der unter dem Namen Ak-gumbe bekannt ist. Der Nura war jetzt größer als der Kisil-su, sein Wasser ebenso rot wie das des „Roten Flusses“ und recht unangenehm zu durchreiten, da man die tückischen Rollsteine in dem trüben Wasser nicht sehen konnte und mein Pferd daher beinahe kopfüber in die wilde Flut gestürzt wäre. Nicht weit von hier vereinigen sich Nura und Kisil-su zu einem ansehnlichen Flusse, dessen Bekanntschaft wir bald machen werden. Der Pfad ist ein stetes Bergauf und Bergab, bis man von einem letzten Passe in der Tiefe die weißen Mauern der russischen Grenzfestung Irkeschtam mit ihren Türmen und Kasernen, in denen Kosaken Wacht halten, erblickt.

Irkeschtam ist nicht nur eine Grenzfestung gegen China, sondern auch eine Zollstation; der Vorsteher dieser, Herr Sagen, war ein alter Bekannter von mir von einem früheren Besuche in Kaschgar her. Er war[S. 15] ein großer Tierfreund und hielt eine Menagerie, bestehend aus einem Wolfe, einigen Füchsen und einem Bären, der in einer Hütte mitten auf dem Hofe angebunden war. Einige Zeit nach meinem Besuche war es dem Petz gelungen, sich von seinen Banden zu befreien; er machte einen Besuch im Zimmer der Dschigiten, zum großen Schrecken der Bewohner. Das Abenteuer hatte für Petz ein verhängnisvolles Ende, da die Männer ihre Zuflucht auf das Dach nahmen, von wo aus sie ihren Feind zu Tode bombardierten.

Eine halbe Stunde von Irkeschtam gelangen wir an den „Roten Fluß“, der sehr wasserreich und mehr als 80 Zentimeter tief war. Wir sind jetzt auf chinesischem Boden, und das „Himmlische Reich“ dehnt sich vor uns bis an den Stillen Ozean aus. Der Pfad führte nach dem Tor-pag-bel hinauf. Die ganze Landschaft ist eine öde Sand- und Kiesebene, von Bergen umschlossen, den Ausläufern des Pamirgebirges, die auf beiden Seiten immer niedriger werden und in Geröll- und Kiesrücken und Hügel übergehen. Doch kommt noch immer anstehendes Gestein vor. Wir steigen in das Jegintal hinab, das ein ziemlich wasserreicher Fluß durchströmt, an dessen linkem Ufer ein chinesisches Fort erbaut ist.

Unser Zug schreitet das Tal hinunter, das immer enger wird. Ein schmaler Vegetationsgürtel von Pappeln, Weiden, Sträuchern und Gras begleitet jedes Ufer; er verbreitert sich nach dem Vereinigungspunkte mit dem Kisil-su zu. Die Gegend heißt Nagara-tschalldi (Abb. 6, 7) und ist die herrlichste Oase auf dem ganzen Wege nach Kaschgar.

Unser Lager befand sich nur ein paar hundert Meter unterhalb des Zusammenflusses des Flusses von Nagara-tschalldi und des Kisil-su. Ohne Unfall zog unsere Karawane nach einem Rasttage am 12. August über den Fluß, der zwar wasserreich war, sich aber doch ohne Gefahr überschreiten ließ. Es freute mich, die Wassermenge noch groß zu finden, denn der Kisil-su ergießt sich in den Jarkent-darja, und selbst wenn nur ein geringer Teil des Wassers den Hauptfluß erreicht, würde schon dieser mit dazu beitragen, unsere Fähren nach der Lop-nor-Gegend hinab zu tragen, wohin ich mich auf diese bequeme Weise zu begeben gedachte.

In einer großen Talweitung liegt die viereckige Lehmfestung Ullug-tschat, der äußerste Vorposten der Chinesen gegen die russische Grenze. In Semis-chatun, wo ebenfalls ein kleiner Kurgan (Festung) lag, galt es, den Fluß zum letztenmal zu überschreiten. Doch dies ging nicht so leicht wie bisher. Er strömte in einem einzigen Bette dahin und war dazu im Laufe des Tages so gewachsen, daß die Wassermenge wohl 80–100 Kubikmeter in der Sekunde betrug. Dumpf und schwer wälzte sich die trübrote Wassermasse durch das Bett, tiefe Rinnen verbergend.

[S. 16]

Erst versuchte Islam Bai die Furt. Er kam ein gutes Stück vorwärts, geriet dann aber in tiefes Wasser und nahm ein gründliches Bad, ehe er sich nach dem anderen Ufer hinüberretten konnte. Kader, der es an einer anderen Stelle probierte, ging es noch schlechter; er kam in eine tückische Rinne, wo das Pferd nicht festen Fuß fassen konnte und in schwindelnder Fahrt von dem Strome, aus dem nur noch die Köpfe des Pferdes und des Mannes hervorguckten, fortgerissen wurde. Glücklicherweise hatte ich selbst den Transport des Kodaks, den sonst Kader zu tragen pflegte, übernommen. Nun bestieg einer von den Karawanenleuten nackt ein ungesatteltes Pferd, und indem er es suchen, tasten und ausprobieren ließ, gelang es ihm schließlich, eine gute Furtschwelle ausfindig zu machen. Auch die anderen Leute entkleideten sich nun und führten die Karawane in kleinen Abteilungen hinüber, zuletzt die Pferde, welche meine Instrumente und die photographische Ausrüstung trugen, wobei jedes Pferd einzeln geführt und von drei nackten Reitern begleitet wurde, die bereit waren, zuzugreifen, wenn das Pferd fallen sollte. Man empfindet natürlich große Unruhe, wenn man die Kisten schwanken und bald rechts, bald links ins Wasser tauchen sieht, während das Pferd gegen die unerhörte Kraft der gewaltigen Wassermasse ankämpft, die gegen dasselbe drückt und preßt; denn die Furt führt größtenteils aufwärts gegen die Strömung, die schäumend um die Brust des Pferdes wirbelt. Ist der Reiter ungeübt, so wird ihm schwindlig und es scheint ihm, als stürme das Pferd derart vorwärts, daß das Wasser wie um den Vordersteven eines Dampfers kocht, und unwillkürlich hält er die Zügel an, obwohl das Pferd ganz langsam geht (Abb. 8). Auf dem linken Ufer wurden die Lasten wieder in Ordnung gebracht und ein provisorisches Trocknen der nassen Sachen vorgenommen. Wir lagerten in der Nähe eines kirgisischen Auls bei Jas-kitschik und konnten nun dem Kisil-su, der von hier an südlich von unserer Straße fließt, ohne allzu großes Bedauern Lebewohl sagen.

Es war ein schöner, kühler Abend; in der stillen Nacht ertönte aus der Ferne gedämpftes Glockenklingen von der großen Kamelkarawane herüber. Es erweckt bei unseren Hunden einen Sturm der Entrüstung, aber es klingt herrlich und imposant und markiert den majestätischen, ruhigen Gang der Kamele. Immer heller ertönen die Glocken, immer deutlicher hören wir die Rufe und den Gesang der Karawanenleute. Sie ziehen im Dunkel der Nacht mit Lärm und Stimmengewirr an uns vorbei; dann erstirbt das Geräusch wieder langsam in den Bergen.

5. Meine Kamelkarawane. (S. 10.)
Kader Ahun. Islam Bai. Musa.
6. Rast in der Oase Nagara-tschalldi. (S. 15.)
7. Oase Nagara-tschalldi. (S. 15.)

GRÖSSERES BILD

Die letzten Tagereisen nach Kaschgar führen durch eine recht einförmige Landschaft; die Berge nehmen an Höhe ab, bis ihre äußersten Vorposten sich in der Ebene verlieren. Am 13. August überschritten wir den Mäschrabdavan,[S. 17] auf dessen Höhe sich eine kleine Festung und drei mit Lappen behängte Masare (Heiligengräber) erheben. Ehe wir Kandschugan erreichten, überfiel uns ein so heftiger Platzregen, daß wir Halt machen und so schnell wie möglich die Zelte aufschlagen mußten. Es nützte uns jedoch nichts, denn sowohl wir wie die Sachen wurden gründlich durchnäßt; es klatschte unter den Stiefeln in dem Lehmboden, und als ich endlich ins Zelt kam, wo die triefenden Kisten durcheinander standen, fühlte ich bei der Kälte eine große Unlust, und der Pelz war gar nicht überflüssig; 12,6 Grad um 5½ Uhr nachmittags ist hier in dieser Jahreszeit etwas ganz Abnormes.

Am 15. ritten wir bis an das Dorf Min-joll, und am 16. traten wir die letzte Tagereise bis Kaschgar an. Beim Dorfe Kalta kamen mir der Generalkonsul Petrowskij und einige andere in Kaschgar wohnende Russen, von einer Kosakeneskorte geleitet, entgegen.

[S. 18]

Zweites Kapitel.
Vorbereitungen zur Wüstenfahrt.

In Kaschgar blieb ich vom 17. August bis zum 5. September, um die Karawane, die mich durch die Wüsten des innersten Asiens begleiten sollte, endgültig auszurüsten. Ich brauche nicht zu erwähnen, daß mein alter vortrefflicher Freund Generalkonsul Petrowskij (Abb. 9) mir auch diesmal in jeder Weise behilflich war. Er stellte mir seine reiche Erfahrung und seinen in Ostturkestan beinahe allmächtigen Einfluß vollständig zur Verfügung, und ohne seinen Beistand wäre vieles kaum ausführbar gewesen.

Die erste Angelegenheit, die wir in Angriff nahmen, war die Einwechslung meiner Reisekasse (11500 Rubel) in chinesisches Silbergeld. Eine Jamba galt damals in den Basaren Kaschgars 71 Rubel, aber der Markt ist so wenig umfangreich, daß ein Einkauf von 161 Jamben sich so fühlbar machte, daß der Wert einer Jamba in ein paar Tagen auf 72 Rubel stieg. Eine Jamba hat 50 Sär zu 16 Tenge, von denen jeder in 50 Pul zerfällt. Ein Sär entspricht 37 Gramm Silber und hat einen Wert von 3,09 Mark; es zerfällt auch in 10 Miskal von je 10 Pung zu 10 Li. Der Kurs unterliegt großen Schwankungen, und die Jamba wiegt selten genau 50 Sär, und da man auf chinesisches Geld angewiesen ist, muß man stets eine chinesische Wage zur Hand haben. In Ostturkestan sind kürzlich runde Silbermünzen von höchstens 8 Tenge Wert eingeführt worden, die neben den gewöhnlichen chinesischen Silberklümpchen — einer sehr unbequemen Geldsorte — im Lande gangbar sind. Ein alter geriebener Makler, Isa Hadschi, besorgte die Umwechslung und schaffte das Silbergeld an, und als die ganze Transaktion fertig war, stellte es sich heraus, daß es ihm gelungen war, uns nur um 36 Rubel zu bemogeln. Für mich war es aber doch ein außerordentlich gutes Geschäft, denn der Wert der Jamba stieg bald darauf schnell. Sich mit einer Reisekasse, die 300 Kilogramm wiegt, zu schleppen, ist gerade nicht angenehm, aber es bleibt einem keine Wahl. Die Jambastücke wurden auf die Kisten, die nicht täglich geöffnet zu werden brauchten, verteilt, und so konnte man doch wenigstens sicher sein, daß nicht alles Geld auf einmal gestohlen werden[S. 19] würde. Der Betrag reichte jedoch kaum für die halbe Reise aus, und ich mußte nachher mehr Silbergeld beschaffen.

Die andere Angelegenheit, die Islam Bai besorgte, waren verschiedene Einkäufe für die Ausrüstung und den Proviant. Auch eine Menge Chalate, Zeugstoffe, Tücher und Mützen wurden angeschafft, die zu Geschenken an die Eingeborenen bestimmt waren. Islam kaufte auch 14 außergewöhnlich schöne und große Kamele und ein Dromedar. Mit Ausnahme von zweien, die alle Strapazen überstanden, waren die Tiere dem Untergange geweiht, aber die Dienste, die sie mir treu und geduldig geleistet, waren hundertmal den Preis wert, den sie gekostet. Führer der Kamelkarawane wurde Nias Hadschi, der sich trotz seiner Wallfahrt zum Grabe des Propheten als ein Erzschelm erwies. Unter den übrigen Dienern, die vorläufig angestellt wurden, will ich besonders Turdu Bai aus Osch nennen, einen alten Weißbart, der es an Ausdauer mit jedem der jüngeren Leute aufnehmen konnte und an Treue und Tüchtigkeit alle die anderen Mohammedaner, Islam inbegriffen, übertraf; er war der einzige, der die ganze Reise mitmachte. Faisullah, ebenfalls ein russischer Untertan, gab Turdu Bai in den genannten guten Eigenschaften nur wenig nach, konnte mich aber nur anderthalb Jahre begleiten. Beide waren Spezialisten in der Behandlung der Kamele und gehörten daher später immer zum „Stabe“ der Kamelkarawanen. Ein Kaschgarjunge, Kader, wurde mitgenommen, weil er der arabischen Schrift kundig war.

Für die nächste Zukunft wurde der Reiseplan so bestimmt, daß die ganze Karawane nach Lailik am Jarkent-darja ziehen sollte. Dort mußte eine Teilung stattfinden. Ich selbst wollte mich mit einigen der Leute und einem kleinen Teile des Gepäcks von der Strömung den Jarkent-darja oder Tarim hinabtragen lassen, während die Hauptmasse der Karawane auf der großen Straße über Maral-baschi, Aksu und Korla ziehen sollte, um mit mir irgendwo im Lop-nor-Gebiete zusammenzutreffen, wo sich nach Verabredung auch die beiden burjatischen Kosaken Ende Dezember einfinden sollten. Petrowskij hielt es für gewagt, die ganze große Karawane und die bedeutende Silbermenge ohne Bedeckung durch ganz Ostturkestan zu schicken, und stellte mir aus dem Konsulatskonvoi die zwei semirjetschenskischen Kosaken Sirkin und Tschernoff (Abb. 10) bis zum Zusammentreffen mit den burjatischen Kosaken zur Verfügung, welches Anerbieten ich dankbarst annahm. Während der folgenden Jahre gaben mir diese beiden Männer täglich Beweise von einer Treue und Tüchtigkeit, die alle Diener, die ich je gehabt, in den Schatten stellte.

Mit dem Konsul traf ich noch das Übereinkommen, daß meine im Herbst und Winter in Kaschgar eintreffende Post viermal von Dschigiten[S. 20] nach der Lop-nor-Gegend zu bringen sei, wo es von ihrer eigenen Klugheit abhängen würde, mich aufzufinden. Der Kurier sollte seinen Lohn erst dann von mir erhalten, nachdem er die Post abgeliefert und seinen Auftrag redlich ausgeführt hatte. Der Plan mißlang nie, und man kann sich denken, wie angenehm es für mich war, auf diese Weise mit den Meinen und der Außenwelt, wenn auch selten, in Verbindung zu stehen.

So verflossen die Tage unter allerlei Arbeit, die durch Besuche und Einladungen zum Mittagessen unterbrochen wurde. Ziemlich oft war ich bei meinem alten Freunde, dem englischen politischen Agenten Macartney, zu Gaste, dessen früher einsames Heim jetzt von einer jungen Gattin verschönt wurde. Es freute mich, den alten Eremiten Pater Hendriks, sowie Herrn und Frau Högberg wiederzusehen, die zur schwedischen Missionsstation zwei neue Mitglieder zugezogen hatten. Chan Dao Tai und Tsen Daloi gehörten zu meinen alten Bekannten, aber Tso Daloi war eine neue Erscheinung; er versah uns mit zwei Durgas, die dafür zu sorgen hatten, daß die Dorfbevölkerung der Karawane alles lieferte, was sie brauchte, natürlich gegen angemessene Vergütung. Auch einen „Kunstgenuß“ hatte ich, da auf dem Markte ein asiatischer „Blondin“ vor dem massenhaft herbeigeströmten Publikum seine Künste auf dem Seile zeigte (Abb. 11).

Ich war nicht der einzige Reisende, der sich in diesen Tagen in Chinas westlichster Stadt befand; am 21. August langte nämlich Oberst McSwiney dort an, in dessen Gesellschaft ich im Jahre 1895 bei der Pamirgrenzkommission so manchen frohen Tag verlebt hatte. Am Tage darauf trafen zwei französische Reisende ein, Herr St. Yves und ein junger Leutnant, die nach einigen Tagen über Pamir wieder heimkehrten.

Als alle Einkäufe besorgt waren, wurden die Lasten noch einmal geordnet, abgewogen und dann an einer Art Holzleitern befestigt, deren Oberenden paarweise aneinander gebunden waren, so daß sie leicht auf das liegende Kamel gehoben und ihm wieder abgenommen werden konnten.

Nachdem ich von meinen Freunden in Kaschgar Abschied genommen, brach ich am 5. September gegen 2 Uhr nachmittags auf (Abb. 12). Jetzt begann die eigentliche Reise und die große, lange Einsamkeit. Noch eine Umarmung, ein letztes Lebewohl, dann ziehen wir bei dem dumpfen, bedeutungsvollen Klange der Glocken, die gleich dem Ticken des Sekundenpendels den Gang der Zeit und die uns dem Ziele zuführenden Schritte angeben, an der westlichen Stadtmauer entlang nach Kum-därwase, wo ich von den Europäern Abschied nahm. Wir hatten gerade die Brücke erreicht, unter der sich das in Farbe und Dicke an eine Hagebuttensuppe erinnernde Wasser des Kisil-su hinwälzte, als der Himmel sich im Nordwesten verdunkelte und schwere, dichte Regenvorhänge sich von den Bergen an ausbreiteten;[S. 21] der Tag war heiß und schwül gewesen und hatte nichts Gutes verkündet. Da kamen die ersten heftigen Windstöße, und zugleich begann ein Platzregen von ungeheurer Gewalt. Auf dem sonst lebhaften Wege sah man nur ab und zu einen Wanderer, weil die Menschen schleunigst in den nächsten Gehöften und Serais Schutz gesucht hatten. Diese waren jedoch für unsere große Karawane zu klein, und es blieb uns also keine andere Wahl, als unseren Weg fortzusetzen. Das Unwetter hielt mit unverminderter Kraft anderthalb Stunden an; ein Blitz nach dem anderen durchzuckte den Himmel in grellem Zickzack von blendendem blauweißem Feuer, und die Donnerschläge krachten mit entsetzlichem Gepolter, stärker als ich es je zuvor gehört. Die Kamele und Pferde nahmen jedoch die Sache ruhig auf, und langsam schritten wir nach Süden zwischen den Weiden hin und trösteten uns damit, daß wir nicht nasser werden konnten, als wir schon waren.

War der Regen unangenehm gewesen, so waren seine Folgen noch schlimmer. Lange Strecken weit lag der Weg unter Wasser, und der lehmhaltige Boden von feinem Staube war so glatt, daß es den Kamelen mit ihren flachen, weichen Fußschwielen schwer wurde, sich auf den Beinen zu halten; sie glitten aus, stolperten, glitschten, und immer wieder wurde der Marsch dadurch aufgehalten, daß ein Kamel gefallen war. Oft fallen sie so nachdrücklich, daß sie alle viere von sich strecken, als hätte ihnen ein unsichtbarer Riese ein Bein gestellt, und dabei poltert die schwere Bürde zu Boden, daß der Schlamm hoch aufspritzt. Von allen Seiten hört man schreien und rufen, die Karawane macht Halt, die Männer eilen herbei, um das Kamel wieder aufzurichten oder es erst von der Last zu befreien und dann wieder zu beladen; die Folge davon ist, daß wir in dem heimtückischen Schlamme wie die Schnecken vorwärtskommen. Am schlimmsten ist es da, wo der Weg uneben ist oder kleine Hügel bildet; dort müssen mit Spaten Tritte in die Erde gegraben werden.

Die erste Tagereise von Kaschgar, die eigentlich eine Kleinigkeit hätte sein müssen, war also durchaus nicht leicht. Nie hatte ich diese Stadt unter ungünstigeren Umständen verlassen. Es war, als hätte eine höhere Macht unseren Aufbruch den unbekannten Gefahren entgegen mit himmlischen donnernden Kanonenschüssen salutieren und uns mit einem überwältigenden Knalleffekt daran erinnern wollen, daß man nicht ungestraft unter Ostturkestans Pappeln wandelt. Für die Zukunft aber sollte ich einen wirklichen Platzregen so bald nicht wiedersehen — als er das nächste Mal eintrat, war es in der Nähe von Lhasa, nach zwei Jahren!

Inzwischen wurde es dunkel, und in den Basargäßchen waren die Papierlaternen schon angezündet. Gleich hinter der chinesischen Stadt war[S. 22] die Straße beinahe eine Stunde weit vollständig überschwemmt, und wie in einem seichten Flußbette plätscherten wir zwischen Gärten, Feldern und Lehmmauern dahin. Die Alleen waren nur als schwarze Schattenrisse zu erkennen, aber der Regen hatte aufgehört, der Weg war jetzt besser, und die Kamele konnten festen Fuß fassen. Es war jedoch schon spät, als wir in unserem provisorischen Lager im Dorfe Musulman-natschuk zur Ruhe kamen, nachdem wir des Silbergeldes halber bei dem Gepäck Nachtwachen aufgestellt hatten.

Den Weg nach Lailik kannte ich zum größeren Teile von 1895 her und will ihn daher nur sehr kurz beschreiben. Der Tagemarsch am 6. September führte uns durch eine ziemlich spärlich bewohnte, aber recht gut angebaute Gegend. Von Chan-arik an war der Weg durch eine üppige Allee von Maulbeerbäumen, Weiden und Pappeln begrenzt, die dichten, tiefen Schatten spendeten. Die Pappeln werden geköpft, um nicht in die Höhe zu wachsen, und bilden am oberen Teile des Stammes ein massiges Bündel aufwärtsstrebender Zweige. Auf weite Strecken hin vermag kein Sonnenstrahl durch das dichte Grün zu dringen, unter dessen kühlem Gewölbe es sich außerordentlich angenehm reitet. Der Weg glich an solchen Stellen einem Tunnel, durch welchen die Kamele, an einen Zug von lauter Güterwagen erinnernd, mit ruhigem, gleichmäßigem Gange hinschreiten und sich von dem grünen Hintergrund malerisch abheben. Es liegt etwas Feierliches über dem Marsche einer solchen Karawane dem Tode entgegen, der die meisten Kamele mit Gewißheit irgendwo in den Wüsten des fernen Ostens oder in den Berggegenden Tibets erwartet. Die Glocken läuten ihre abgemessene melancholische Melodie, welche unwillkürlich an eine Beerdigung erinnert; doch mit philosophischem Blick und ruhiger Haltung messen die prächtigen Tiere den Weg mit langen, langsamen Schritten unter ihren im Verhältnis zu ihren Kräften nicht schweren Lasten. Die Silberkamele tragen die schwersten Lasten, besonders ein Matador, dem allein 40 Jamben zuerteilt worden sind. Die Lasten sind ausgeglichen, und Unterbrechungen des Marsches kommen nicht mehr vor; nur hin und wieder muß, ohne daß das Kamel deshalb stehen zu bleiben braucht, eine Leiter etwas nach der einen oder anderen Seite hinübergerückt werden. Die Kamele haben starken Appetit und brandschatzen Weiden und Pappeln im Vorbeigehen, oft auf Kosten des Nasenstrickes. Wenn dieser zu hart angespannt wird, reißt er in der Mitte an seinem schwachen Punkte, wo seine beiden Hälften mit einer dünneren Schnur zusammengebunden sind, welch letztere reißt, ehe die Nase des Tieres hat Schaden nehmen können.

Jeder Mann unserer Gesellschaft hat seinen bestimmten Platz im Zuge und seine bestimmte Aufgabe bei der Aufrechterhaltung der Ordnung. Voran[S. 23] reiten die beiden Durgas aus Kaschgar, dann kommt Faisullah auf dem ersten Kamele, an dessen Seite Nias Hadschi ein Pferd reitet; auf dem sechsten Kamele hockt der junge Kader, und hinter dem siebenten reitet Islam. Die zweite Abteilung wird von Turdu Bai geführt, in ihrem „Kielwasser“ reitet Musa. Die Kosaken decken die Flanken; ich reite gewöhnlich hinterdrein. So geht es vorwärts durch Gärten und Dörfer, zwischen Mais- und Weizenfeldern hindurch, über Kanäle mit oder ohne Brücken (Abb. 13), über öde Steppen und kleine Sandfelder, wo vereinzelte, gleichsam verirrte Dünenindividuen von ungefähr 3 Meter Höhe ihre steilen Abhänge nach Osten kehren (Abb. 14). Im Dorfe Jupoga, unserer nächsten Raststelle, suchte man in mehreren Bassins das kostbare Wasser des großen Kanals Chan-arik aufzufangen.

Am 8. September erhielten die Tiere ihren ersten Ruhetag; ihre Packsättel waren seit Kaschgar nicht abgenommen worden, und man muß genau nachsehen, damit auf dem Rücken oder an den Seiten der Höcker, wo der mit Stroh gestopfte Sattel oder ein Teil der Last dicht anliegen und drücken kann, keine Scheuerwunden entstehen.

Nach einer ganz sternenklaren Nacht erscheint die Morgenluft beinahe kalt; die Minimaltemperaturen sind in beständigem Fallen begriffen, aber die Tageswärme steigt allmählich, je mehr wir uns von den gut bewässerten Vegetationsgebieten und den Bergen entfernen. Unterwegs hatten die Dorfbewohner mehrmals Dastarchane aufgetischt in Gestalt von Zucker- und Wassermelonen, in der Hoffnung auf ein anständiges Trinkgeld, eine Artigkeit, die auf die Dauer recht lästig wird.

Das Dorf ist bald zu Ende; dann folgt die hügelige Steppe, wo wir zahlreichen Landleuten begegnen, die den Ertrag ihrer Äcker und Gärten auf Eseln, Kühen und Pferden nach dem Markte in Jupoga bringen. Dann und wann wird die Steppe von einer unfruchtbaren Dünenreihe durchkreuzt; dazwischen sieht man Schafherden, Mais- und Baumwollfelder, trockene, jämmerliche Kanäle, die nur selten von der letzten Flut aus dem Chan-arik noch am Boden feucht sind. Rechts vom Wege zieht sich ein Gürtel hübsch blühender Tamarisken hin, eine wehmütige Erinnerung an das Heidekraut unserer Wälder. Die staubige Landstraße geht allmählich in einen Pfad über und zeigt damit an, daß der Verkehr nach Osten hin abnimmt. Am Rande von Terem finden wir wieder den langen Bewässerungskanal Chan-arik mit 4 Meter breitem, gänzlich trockenem Sandboden und kleinen Brücken, die verraten, daß hier von Zeit zu Zeit auch Wasser fließt. Um den langen Wüstenmarsch des nächsten Tages, den ich schon von früher her kannte, abzukürzen, ritten wir durch das ganze Dorf und lagerten uns bei dem letzten nach der Wüste zu liegenden Gehöfte.

[S. 24]

Am 10. September machte ich, für eine Zeit von mehreren Monaten, die letzte Reise zu Lande. Die Temperatur fiel während der Nacht auf 8,3 Grad, was einem nach einem Tage von über 30 Grad im Schatten grimmig kalt vorkommt. Als ich aufstand, war der größere Teil der Karawane schon marschfertig. Der Tag war heiß, der Marsch lang und ermüdend, und die Wassermelonen, die wir mitgenommen hatten, fanden reißenden Absatz. Steppen- und Wüstengürtel wechseln ab, die Dünen sind bald schwach mit Tamarisken bewachsen, bald völlig nackt; die ersteren heißen „Kara-kum“, die letzteren „Ak-kum“, was schwarzer und weißer Sand bedeutet (Abb. 15). Die Nachbarschaft des Flusses macht sich schließlich bemerkbar, indem kleine Gruppen von Pappeln (Tograk) auftreten und nach und nach immer frischer und laubreicher werden, je mehr wir uns der großen Wasserstraße nähern.

Bei der Poststation Lenger wurden wir von einigen neugierigen Chinesen begafft und in der Dämmerung erreichten wir die breite mächtige Flut des Jarkent-darja. Der Fluß war hier in Arme geteilt, von denen der linke, an dessen Ufer wir hinzogen, viel zu seicht war. Wir zogen daher noch eine Weile in der Dunkelheit nach Norden weiter; von den Tritten der Kamele knisterte und krachte es in den trockenen Zweigen des Unterholzes und des Gesträuches. Das Terrain wurde jedoch nicht besser, und als sich das silberne Horn des Mondes im Walde versteckte, machten wir aufs Geratewohl Halt und schlugen, ziemlich müde von der dreizehnstündigen Reise, am Ufer unser Lager auf.

Endlich hatten wir den Fluß erreicht. Nun begann eine neue Abteilung der Reise und dazu eine Reisemethode, die ich bisher noch nicht erprobt hatte.

8. Durch die Furt des Kisil-su. (S. 16.)

GRÖSSERES BILD
9. Nikolai Fedorowitsch Petrowskij,
Wirklicher Staatsrat, kaiserlich russischer Generalkonsul in Kaschgar. (S. 18.)
10. Die beiden Kosaken Sirkin und Tschernoff. (S. 19.)

[S. 25]

Drittes Kapitel.
Die Schiffswerft in Lailik.

Jetzt folgte eine knappe Woche für die Vorbereitungen zu der langen Flußreise. Islam hatte in Merket eine längere Unterhandlung mit Beks und Kemitschi (Fährleuten). Ich hatte gefürchtet, daß die Chinesen Mißtrauen gegen mein Vorhaben hegen würden und daß die Erfahrungen der Wüstenreise des Jahres 1895, deren Ausgangspunkt Merket ebenfalls gewesen, die Dorfbewohner abschrecken würden, uns beim Aufbrechen zu helfen. Denn damals war der Bek zum Dao Tai gerufen, verhört und getadelt worden, weil er mir nicht einen zuverlässigen Führer mitgegeben. Nun aber hatte Merket einen neuen Bek erhalten, dem der Dao Tai Befehl erteilt hatte, uns weiterzuhelfen und uns wie vornehme Leute zu behandeln. Islam kehrte denn auch bald mit dem Bescheid zurück, daß ein Fährmann uns sein Fahrzeug für 1½ Jamba zu verkaufen bereit sei.

Mit dem Kosaken Sirkin unternahm ich eine Probefahrt in dem englischen Segeltuchboote auf dem kleinen, abgeschnürten Flußarme, an dessen Ufer unser Lager aufgeschlagen war. Auch von Mast und Segel machten wir Gebrauch. Bei der schwachen Brise kam die vortreffliche kleine Jolle gut vorwärts; sie schien ein ziemlich sicheres Boot zu sein. Bei einem kleinen Nebenarme führten wir das Boot nach dem Hauptflusse hinaus, wo es ruhig und elegant, aber ziemlich schnell dahinglitt. Nur unbedeutende, langsam tanzende Wasserringel waren auf der Oberfläche des Flusses zu sehen und von Stromschnellen war nichts zu hören. Es war ein Genuß, sich so forttragen zu lassen, ein Vorgefühl des Behagens, womit die Flußfahrt später auf Hunderte von Meilen hin verknüpft sein sollte. Die Vereinigungsstelle des Seitenarms mit dem Hauptflusse schien noch fern zu sein, und wir hielten es für an der Zeit umzukehren. So schleppten wir denn das Boot in dem weichen, zähen Lehm bis an unseren Seitenarm. Doch auch in diesem herrschte eine Strömung, die kräftig genug war, um das Flußaufwärtsrudern zu schwer zu machen. Sirkin[S. 26] ging daher an Land und holte einen Mann und zwei Pferde. Mitten im Wasser reitend, zog er das Boot an einem Stricke nach. Manchmal blieb das Pferd in dem zähen Lehme beinahe stecken, und die Tiefe war stellenweise bedenklich groß. Einmal erreichte das Pferd den Grund nicht mehr; es wurde von der Strömung fortgerissen und war nahe daran sich zu überschlagen; der Reiter sprang ab und schwamm auf das Boot zu, das ich ihm entgegensteuerte. Doch ihm erschwerte die Kleidung die Bewegungen, und gerade als er nach dem Ruder griff, das ich ihm hinhielt, versank er ganz im Wasser. Endlich gewann er jedoch Halt am Bootrande und hätte die kleine Jolle beinahe umgerissen, als er sich hineinschwang. Alles ging so schnell vor sich, daß ich kaum dazu kam, mich zu beunruhigen. Doch was hätte es für ein Unglück geben können, wenn mein Kosak einen Starrkrampf bekommen hätte oder des Schwimmens unkundig gewesen wäre! Am Ufer war das Pferd, das seinen eigenen Weg geschwommen war, nahe daran, in dem zähen Schlamme umzukommen, aber es arbeitete sich ebenfalls wieder heraus. Sirkin war nach dem Bade ganz matt und angegriffen, aber seine kleine Schwimmtour hatte so einladend ausgesehen, daß ich mich entkleidete und ein erfrischendes Bad nahm.

Unser Versuch, wieder nach dem Lager zu kommen, war also gescheitert; glücklicherweise waren aber einige unserer Leute am Ufer flußabwärts gegangen, um uns zu suchen. Sie mußten uns vom Ufer aus an einer langen Leine ziehen, während ich das Boot mit dem einen Ruder in der Stromrinne hielt.

Das Lager bot bei unserer Ankunft ein lebhaftes Bild dar. Die Zelte waren von einer ganzen Volksversammlung von Besuchern umgeben (Abb. 16). Ich fand dort viele alte Freunde von 1895 wieder, Lailiks On-baschi (Bezirkshauptmann, eigentlich Chef von 10 Mann) und Örtängtschis (Gastwirte), verschiedene Bewohner von Merket und Frauen in langen Hemden von dünnem, rotem Zeuge mit ihren Kindern auf dem Arme.

Nachdem die Unterhaltung sich eine gute Weile um jene unglückliche Wüstenreise gedreht, wurden die Flußreise und die Fährfrage Gegenstand einer Diskussion. Um die Sache abmachen zu können, ritt ich mit einem großen Gefolge nach der Fährstelle zwischen Lailik und Merket, wo die von Islam vorgeschlagene Fähre lag. Ich fand sie vorzüglich, von kernfesten, ungehobelten Planken, die von mächtigen eisernen Krampen zusammengehalten wurden, neu erbaut und ganz dicht. Sie kam mir nur ein bißchen groß und schwer vor, was hier oben gewiß vorteilhaft ist. Doch wer konnte wissen, ob der Fluß überall gleich tief und wasserreich wäre, und viel wahrscheinlicher war es, daß es schwierig sein könnte, diesen schweren Koloß wieder flott zu machen, wenn er mit Unterwasserbänken in allzu[S. 27] innige Berührung gekommen wäre. Die Frage wurde mit den Lailiker Fährleuten von allen Gesichtspunkten aus erörtert; die meisten rieten uns, das „Schiff“ zu nehmen, wie es war.

Der Beschluß, der gefaßt und schon am folgenden Morgen ins Werk gesetzt wurde, bestand darin, das Schiff nach einem Punkte am rechten Ufer, unserem Lager gerade gegenüber, zu bringen (Abb. 17). Wir mußten eine Schiffswerft anlegen, wo eine Ausrüstung und Rekonstruktion mit wirklichem Vorteil stattfinden konnte. Bei unserem Lager auf dem linken Ufer ließ sich dies nicht machen, denn dort floß nur ein Seitenarm, der vom Hauptflusse durch eine tiefliegende, feuchte Schlammzunge, hinter der das Wasser zunächst seicht war, getrennt war. Auch das rechte Ufer war insofern ungeeignet, als es infolge der Erosion des Flusses eine anderthalb Meter hohe steil abgeschnittene Wand bildete. Häkim Bek aus Merket bot neunzig Landleute auf, die mit ihren Spaten einen nicht allzusteilen Abhang herstellten, auf den Bretter gelegt wurden; auf dieser Unterlage wurde die Fähre unter Gesang und Geschrei mit vereinten Kräften aufs Trockene gezogen. Der Bek, dessen Adern reicher an chinesischem als an muhammedanischem Blute waren, stand die ganze Zeit über mitten auf der Fähre; sie wurde dadurch gerade nicht leichter, aber er imponierte durch seine hohe Gegenwart, hielt eine lange Rute in der Hand, klatschte und schlug nach allen Seiten und kommandierte wie ein Zirkusdirektor. Die Kinder des Wüstenrandes verdoppelten ihre Kräfte, und der schwere Prahm wurde ruckweise auf ebenen Boden gezogen, wo er zwischen den Hagedornbüschen auf einigen Querbalken ruhte.

Als wir soweit gekommen waren, überlegten wir eine Weile, denn jetzt sollte der Beschluß gefaßt werden, der für den Ausgang der ganzen Reise wichtig sein konnte. Ein Mann erzählte nämlich, daß der größere Teil der an Lailik vorüberströmenden Wassermasse sich in einem breiten, seichten Arme in die kleinen Seen von Maral-baschi ergieße, deren Wasser durch Kanäle auf die Felder dieser Oase geleitet werden. Das eigentliche Bett des Jarkent-darja dagegen habe einen östlicheren Lauf nach Tschahrbag zu und sollte nur wenig Wasser in einem schmalen Bette mit großem Gefälle haben. Infolge dieser Aufklärungen wurde für den Anfang beschlossen, die oberste Planke an den beiden Längsseiten und die entsprechenden Teile vorn und hinten zu entfernen, wo dann mittelst der eisernen Zapfen neue Querhölzer festgemacht werden sollten. Für den Fall, daß wir infolge zu geringer Wassermenge die große Fähre würden im Stiche lassen müssen, wurde eine kleine Reservefähre gebaut. Zu dieser wollten wir im Notfalle unsere Zuflucht nehmen, damit wir die Flußreise nach dem Lop-nor, die ich um jeden Preis ausführen wollte, nicht abzubrechen brauchten.

[S. 28]

Um jeden Augenblick vom Lager nach der Werft hinüberkommen zu können, mieteten wir eine der Fähren, die die Verbindung zwischen den Ufern auf dem Wege von Lailik nach Merket aufrechthalten. Ich befand mich meistens bei der Werft, um die Arbeit zu überwachen und die Fähre so zu bekommen, wie ich sie wünschte, bequem und gemütlich, wie mein schwimmendes Heim für lange Monate sein mußte.

Die Werft entwickelte sich allmählich zu einer Werkstatt, wo frisch gearbeitet wurde (Abb. 19). Schreiner aus Merket und sachverständige Leute aus Jarkent versammelten sich hier mit ihren Werkzeugen und verdienten so gut wie kaum je zuvor. Eine Schmiede mit einer kleinen, aus Ziegelsteinen aufgemauerten Esse und einem Blasebalge wurde zwischen den Büschen angelegt, und die Funken sprühten von den eisernen Krampen, die gerade gehämmert wurden. Der Bek war allgegenwärtig und führte mit milder Hand das Regiment über die, welche an der Arche zimmerten.

Aus dünnen Planken von trockenem, starkem Pappelholz sollte das Vorderdeck der Fähre gebaut werden, eine Plattform, auf der mein Zelt aufgeschlagen werden sollte und von deren vorderem Teile aus ich einen freien Ausblick auf den Fluß haben würde.

Hinter dem Vorderdeck wurde aus Stangen und Zweigen das Gerippe einer würfelförmigen Kajüte erbaut, die ich anfänglich zum Schlafzimmer für mich bestimmte; sie mußte in den kalten Herbstnächten leichter warm zu halten sein als das Zelt (Abb. 18). Sie erhielt jedoch schon während des Ganges der Arbeit eine ganz andere Aufgabe zu erfüllen, indem sie als photographische Dunkelkammer eingerichtet wurde. Drei kleine, mit Scheiben versehene längliche Fensterrahmen wurden in die Wände der Kajüte eingesetzt. In den einen Rahmen, mitten in der Wand, die an das Zelt grenzte, kamen dunkelrote Glasscheiben. Wenn ich nachts an diesem Fenster mit Entwickeln beschäftigt war, wurde draußen ein Stearinlicht davor, d. h. in das Zelt hinein, gestellt; vor Zug und Wind wurde die Flamme teils durch das Zelttuch, teils mittelst einer Holzkiste, die es wie ein Schilderhaus umgab, geschützt.

Die beiden anderen Fenster mit weißem Glase wurden an der Außenwand und an der Hinterwand angebracht; wenn man aufrecht stand, hatte man bei Tag durch sie die Aussicht auf den Fluß und das rechte Ufer; sie waren aber so eingerichtet, daß sie beim Entwickeln vollständig bedeckt werden konnten. An der Hinterwand lief eine niedrige Bank entlang, auf der vier ziemlich große, eigens zu photographischen Zwecken gekaufte Zuber mit reinem Wasser standen. Was das Waschen der Platten anbetraf, so wurde folgende praktische Einrichtung getroffen. Auf der vorderen Backbordecke des Kajütendaches wurde auf eine verstärkte Plattform ein Bottich gestellt,[S. 29] von dessen Boden ein Gummischlauch in die Kajüte hinabführte und in einen Samowar mündete, unter dessen Hahn ich die Platten bequem abspülen konnte. Wenn der Samowar gefüllt war, wurde der Zufluß mittelst einer Klemme am Schlauche abgesperrt, und wenn der Bottich leer wurde, brauchte ich nur der Wache zuzurufen, ihn wieder zu füllen. Das Flußwasser, das stets trübgrau von Schlamm und Staub ist, war natürlich für photographische Zwecke unbrauchbar, doch ganz kristallklares Wasser zu finden, war keine Kunst; es gab solches längs des ganzen Weges flußabwärts in kleinen, abgeschnürten Uferlagunen. Dagegen konnte das gebrauchte Waschwasser nicht entfernt werden; es überschwemmte nach meinen Arbeitsnächten den Boden der Fähre und machte am nächsten Morgen ein Ausschöpfen notwendig. Mich selbst belästigte der feuchte Boden der Kajüte gar nicht, denn ich hielt mich meistens im Zelte auf, dessen Fußboden einen Meter über dem Boden der Fähre schwebte.

Als das Holzgerippe der Kajüte fertig war, wurde es mit einer doppelten Schicht von schwarzen Filzmatten, die festgenagelt wurden, bekleidet; auch die Türöffnung konnte mit an ihrem oberen Teile befestigten Filzvorhängen verdeckt werden. Noch in der Mitte des September war die Hitze in der schwarzen Kajüte bei Tag unerträglich; es dauerte aber nicht lange, bis der Herbst dafür sorgte, daß dieser Unannehmlichkeit abgeholfen wurde. Bei Tage hatte ich dort selten zu tun, es sei denn, um zum Trocknen aufgestellte Platten zu überwachen oder Instrumente und andere im Laboratorium verwahrte Sachen zu holen.

In der Mitte des Schiffes, hinter der Kajüte, wurden etwas Proviant, ein paar Sättel und die Sachen der Leute aufgestapelt; für meine Diener war reichlich Platz im Achter der Fähre, wo eine kleine, runde Herdplatte von Lehm aufgemauert wurde, die Küche. Da es im Spätherbst und noch mehr im Anfang des Winters sehr kalt wurde, zündeten die Männer dort ordentliche Scheiterhaufen an.

So kleideten sich denn nach und nach meine Pläne in die Gestalt der Wirklichkeit, und schneller, als ich es zu hoffen gewagt, lag das stolze Drachenschiff fertig auf seinem Bette und sehnte sich, in sein Element zurückkehren zu dürfen. Während seiner Instandsetzung waren wir auf anderen Gebieten auch nicht untätig gewesen. In der Schmiede schmiedete Sirkin ein Paar fester Anker oder richtiger Dregganker mit sechs Armen, die uns später oft von großem Nutzen waren; namentlich war der kleinere Anker, der für die englische Jolle bestimmt war, jedesmal nötig, wenn die Geschwindigkeit des Wassers mitten im Flusse gemessen wurde und das Boot also still liegen mußte. Die kleinere Fähre wurde auch bald fertig. Ziemlich beunruhigend war es, zu sehen, wie der Wasserstand mit jedem[S. 30] Tage, der dahinging, ein paar Finger breit fiel; wir beeilten uns aber desto mehr und hofften, daß, wenn es uns nur gelänge, glücklich an den schmalen Stellen bei Maral-baschi vorbeizukommen, wir auch bis ans Ende des Flusses gelangen würden.

Während der letzten zwei Tage in Lailik wurden alle Vorbereitungen abgeschlossen. Das Gepäck wurde geordnet, und es handelte sich jetzt darum, nur das Allernotwendigste mitzunehmen, das jedoch drei große Kisten füllte. Als alles fertig war, erhielten die Schmiede und Schreiner, die uns behilflich gewesen, reichlichen Lohn; der Bek aber war zugegen und sah zu, daß keine unberechtigten Forderungen gestellt wurden. Am 15. September liefen beide Fähren von Stapel; mit der größeren machte ich eine kleine Probefahrt, die in jeder Hinsicht befriedigend ausfiel. Es war ein Festtag für die Dörfler der ganzen Gegend, die sich bei der Werft massenweise versammelten, um dem feierlichen Stapellaufe beizuwohnen. Alle brachten „Geschenke“ in natura mit, Schafe, Hühner, Eier und Brot, Melonen, Trauben und Aprikosen; auf diese Weise wurden wir auf mehrere Tage verproviantiert. Abends veranstaltete ich den Vornehmeren des Dorfes und unseren Arbeitern ein Gastmahl; es gab Reispudding und Schaffleisch, Tee und Obst, und während der Mahlzeit hatten wir Tafelmusik von unserem großen Symphonion. In der Dunkelheit wurden zwischen den Zelten Papierlaternen aufgehängt, und nun ertönten die bizarren Töne der Nagara (Trommel), Dutar (zweisaitige Gitarre) und anderer Saitenspiele schwermütig durch die klare, stille Nacht und riefen meine alten Erinnerungen aus dieser Gegend wieder ins Leben. Auch 1895 hatte ich eine bedeutungsvolle Reise mit Lailik und Merket als Ausgangspunkt angetreten. Doch wie verschieden waren die beiden Reisen. Damals waren wir nach dem unheimlichen, mörderischen Wüstenmeere aufgebrochen, jetzt schlugen wir eine Richtung ein, wo wir wenigstens nicht an Wasser Mangel leiden würden. Und dieselben Spielleute weihten auch die neue Reise ein, und Tänzerinnen in langen weißen Hemden, die dicken schwarzen Zöpfe über den Rücken herabhängend, mit kleinen Zipfelmützen und nackten Füßen tanzten zum Takte der Musik ihren stoßweisen, langsamen Kreistanz. Sie wurden am Tage darauf photographiert, nahmen sich aber im Tageslicht weniger vorteilhaft aus als bei dem verschönernden Lichte der Lampions (Abb. 20).

Noch ein Tag wurde Lailik geopfert wegen verschiedener Messungen und zur Feststellung einiger Werte, die uns späterhin von Nutzen sein konnten. Mit Bandmaßen wurde längs des rechten Ufers, dessen scharf abgeschnittener Rand 2½ Meter über der Wasserfläche lag, eine Basislinie von 1250 Meter Länge abgesteckt. Um diese Strecke zu treiben, brauchte die Fähre 26 Minuten, die kleine Jolle 22 Minuten 17 Sekunden;[S. 31] der Unterschied beruhte darauf, daß sich die Fähre nicht während der ganzen Zeit in der stärksten Strömung halten ließ, in deren Sauggebiete man jedoch die kleine Jolle leicht festhalten konnte. Die Strömung betrug also auf dieser Strecke zirka 50 Meter in der Minute oder etwas über 80 Zentimeter in der Sekunde. Um die gemessene Wegstrecke in gewöhnlichem Marschtempo zurückzulegen, brauchte ich 13 Minuten 45 Sekunden und machte im Durchschnitt 1613 Schritte; also waren 64 von meinen Schritten 50 Meter. Die Wassermenge des Flusses betrug hier bis zu 98,2 Kubikmeter in der Sekunde, die Maximaltiefe war 2,74 Meter (ganz dicht am rechten Ufer), das Bett war 134,70 Meter breit, und die größte Stromgeschwindigkeit betrug 0,893 Meter in der Sekunde. Für die Karte nahm ich als Norm an, daß 1 Minute Drift 50 Meter Weglänge und 1 Millimeter auf der Karte entspräche; es versteht sich aber von selbst, daß die Drift später bedeutend variierte, was auf die berechneten Entfernungen jedoch nicht einwirkte, da ich auf der ganzen Fahrt täglich mehrmals die Stromgeschwindigkeit maß.

Der Orientierung halber teile ich auch die wichtigsten Dimensionen der Fähre mit. Sie war 11,51 Meter lang, 2,37 Meter breit und 0,83 Meter hoch, wovon 0,23 Meter unter der Wasserlinie lagen, wenn das Schiff volle Last hatte und bemannt war. Bei 20 Zentimeter Wassertiefe mußten wir also festfahren, was auch täglich geschah. Die Reservefähre war 6 Meter lang und 1 Meter breit. —

Der 17. September war der große Tag der Abreise, und in früher Morgenstunde wurde die Karawane beladen. Die Kosaken und Nias Hadschi erhielten Auftrag, sie über Aksu und Korla nach Argan am untersten Laufe des Tarim zu führen, wo sie nach dritthalb Monaten eintreffen mußten und wo es uns nicht schwer werden konnte, durch Kuriere voneinander Nachrichten zu erhalten. Sie hatten Empfehlungsbriefe von Generalkonsul Petrowskij an die Aksakale (Konsularagenten) der beiden genannten Städte und ein paar gewaltige Pässe vom Dao Tai mit und wurden von ein paar chinesischen Untertanen, gewöhnlich muhammedanischen Beks oder Gendarmen, von Stadt zu Stadt eskortiert. Sirkin erhielt den Auftrag, ein kurzgefaßtes Tagebuch zu führen; er und Tschernoff bekamen ein Geldgeschenk und sollten, solange sie die Karawane eskortierten, ganz freie Station haben, so daß sie bei der Rückkehr nach Kaschgar ihren stehengebliebenen Lohn ohne Abzug einstreichen konnten.

Die Kamele befanden sich in bestem Wohlsein und hatten sich in dem jungen Walde fettgegrast. Auf dem Wege nach Lop sollten sie mit der größten Sorgfalt gepflegt und nicht überanstrengt werden; wir waren der Ansicht, daß sie beim Eintreten des Winters in wenigstens ebenso guter[S. 32] Verfassung wie jetzt sein und den Feldzügen in den Sandwüsten ohne Schwierigkeit entgegengehen könnten. Nias Hadschi erhielt 4½ Jamben zum Unterhalt der ganzen Karawane und zum Einkaufen großer Vorräte an Reis, Mehl und anderen Dingen, deren wir später bedürfen würden. Sirkin sollte über die Ausgaben der Karawane Buch führen. Als alles fertig war, nahmen sie Abschied, schwangen sich auf den Sattel und verschwanden langsam im Unterholz, bis das Glockengeläute nach einer Weile in der Ferne erstarb.

Mich begleiteten nur Islam, Koch, Bedienter und Faktotum in einer Person, und Kader, der eigentlich ein muhammedanischer Schreiber war, meistens aber als Islams Laufbursche fungierte. Die Besatzung der Flottille bestand aus vier mit langen, starken Stangen bewaffneten Männern (Sutschi, Wassermännern oder Kemitschi, Boots- oder Fährmänner). Einer hatte seinen Platz im Vorderschiffe, zwei im Achter der großen Fähre. Von ihnen wurde ununterbrochenes Aufpassen verlangt, denn an Stellen mit starker Strömung und scharfen Ecken zeigte die Fähre Neigung, gegen den stark unterwaschenen Uferwall zu stoßen, und dann mußte rechtzeitig von den Stangen Gebrauch gemacht werden. Der vierte Kemitschi führte die kleine Fähre und ging an der Spitze der Flottille, um die Tiefe zu untersuchen und uns vor seichten Stellen zu warnen; diese Fähre war vollgeladen mit Proviant, Mehl, Reissäcken und Früchten. Die Fährleute, die sich die ganze Zeit über vortrefflich führten, hatten 10 Sär (30 Mark) im Monat und alles frei, doch war es nicht leicht, sie zu überreden, mit nach Lop zu kommen; sie hegten eine kindische Furcht vor diesen fernen Gegenden, von denen sie noch nie hatten reden hören.

11. Ein Seiltänzer in Kaschgar. (S. 20.)

GRÖSSERES BILD
12. Aufbruch der ersten Karawane aus Kaschgar. (S. 20.)
Von links nach rechts: die beiden Kosaken Tschernoff und Sirkin, der junge Kader, der Verfasser und Islam Bai.

GRÖSSERES BILD

Nun wurde die letzte Hand an die Ausrüstung und Möblierung der Fähre gelegt, das Gepäck an Bord gebracht und das Küchengeschirr in der Nähe des Herdes auf dem Achterdeck geordnet. Das Zelt wurde auf der Plattform aufgeschlagen, seine herabhängenden Säume an den Außenrändern des Bretterfußbodens festgenagelt und im Inneren ein in munteren Farben gehaltener Teppich ausgebreitet. Das Möblement wurde so eingerichtet, daß das Feldbett an die Backbordlängsseite gestellt wurde und an seinem Fußende eine der Kisten stand; die beiden anderen standen auf der Steuerbordseite und dienten auch als Tische, auf denen stets eine Menge Instrumente, Karten und andere Dinge in malerischer Unordnung umherlagen. Am vorderen Rande der Plattform, in der Zeltöffnung selbst, hatte ich meinen aus der Proberöhrenkiste bestehenden Arbeitstisch, dessen Untergestell ein Koffer mit Winterkleidern bildete. Das Futteral des großen photographischen Apparates diente mir als Arbeitsstuhl. Öffnete ich die hintere Zelttür, so hatte ich freien Zutritt zum Kajütendach, auf dem allerlei[S. 33] Sachen, die nicht vom Wind fortgeweht werden konnten, wie Segel und Ruder, Strommesser u. dgl., aufbewahrt wurden. Hier war auch das Wetterhäuschen aufgestellt. Es umschloß den Baro- und Thermographen, die Maximal- und Minimalthermometer, das Psychrometer und drei Aneroide. Der Windmesser stand obendrauf; doch was er während der Flußreise mitzuteilen hatte, war von geringer Bedeutung, denn das Flußtal war durch Wälder und hohe Ufer geschützt, die den Wind zum großen Vorteile für den ungestörten Gang des Schiffes abhielten. Was Baro- und Thermograph auf vierzehntägigen Streifen aufzeichneten, war von größerem Interesse: man sah deutlich, wie das Barogramm das langsame Abfallen des Flusses nach Osten angab, während die gezähnte Linie des Thermogrammes immer niedriger wurde, je weiter der Herbst vorschritt und je mehr der Winter herannahte.

Die Fähre lag dem linken Ufer so nahe, als es die hier angehäufte Sandbank erlaubte. Doch um dorthin zu gelangen, mußte man eine ziemliche Strecke in dem seichten Wasser waten. Mit aufgekrempelten Kleidern zog eine ganze Karawane von Dörflern und Kindern zum letzten Lebewohl hinaus und bestürmte uns noch einmal mit Geschenken, die eiligst bezahlt wurden (Abb. 21).

Das Bild, das sich dem Blicke an Bord darbot, war so ansprechend und urgemütlich, daß ich die, welche im Wasser stehen blieben und uns lautlos die große Wasserstraße hinunterziehen sahen, beinahe bedauerte. Sie hatten den Vorbereitungen mit skeptischer Miene zugesehen und waren erstaunt darüber, wie gut sich schließlich alles gestaltet hatte. Es war Punkt 2 Uhr, als ich Befehl zum Aufbruch gab. Die Fährleute stießen das Schiff mit ihren langen Stangen in die Stromrinne hinaus, die Ufer glitten vorbei, und nach der ersten Biegung verschwanden die erinnerungsreichen Gegenden von Lailik und Merket.

Ich ließ mich sofort am Schreibtische nieder, wo ich monatelang wie festgenietet sitzen sollte; hier hatte ich meine Kommandobrücke und meinen Observationsplatz (Abb. 23). Ein Stück weißes Papier lag bereit; das erste Kartenblatt, Kompaß, Uhr, Diopter, Zirkel, Feder, Messer, Gummi, Fernglas usw., alles war zur Hand, und der Tisch stand so weit vor in der Zeltöffnung, daß ich sowohl nach vorn wie nach den Seiten freie Aussicht auf die Landschaft hatte. Jolldasch und Dowlet fühlten sich vom ersten Augenblick an völlig heimisch; während der heißen Stunden des Tages lagen sie keuchend unter Deck, in der Dämmerung aber kamen sie hervor und leisteten mir im Zelte Gesellschaft.

Wenn der Leser sich wundert, weshalb ich eigentlich diese Flußreise unternahm, und fragt, welchen Gewinn in geographischer Hinsicht ich von[S. 34] ihr erwartete, so antworte ich, daß dies erstens der einzige Weg durch ganz Ostturkestan war, den ich noch nicht kannte, und daß zweitens bisher noch nie eine Karte vom Laufe des Tarim aufgenommen worden war. Von Maral-baschi bis Jarkent waren Pjewzoff, ich und noch ein paar andere Reisende auf dem Karawanenwege am Flusse hingezogen, zwischen Schah-jar und Karaul waren Carey und Dalgleish und später auch ich durch die Uferwälder gegangen, und längs des untersten Teiles des Laufes war zuerst Prschewalskij, dann Prinz Heinrich von Orléans und Bonvalot, Pjewzoff, Littledale und zuletzt ich entlang gewandert. Aber die Wege und Stege, die dem Flusse folgen, berühren nur hin und wieder seine Krümmungen: die Wege sind, als wären sie zwischen den äußersten Kurven der Flußbiegungen auf einem der Ufer gezogen worden. Durch sie erhält man keinen Begriff von dem Verlaufe, dem Aussehen und den sonstigen Eigentümlichkeiten des Flusses. Unsere Kenntnis des Tarim war bisher auf derartige flüchtige Beobachtungen von geringem Werte gegründet gewesen. Als ich schließlich meine große Karte vom Tarim fertig hatte, fand ich, wie unähnlich ihr das bisherige Bild des Flusses war. Es war dies eine geographische Eroberung, die der Monate, die ihr geopfert worden, wohl wert war. Nie ist die Karte eines außereuropäischen Flusses so genau aufgenommen worden. Und wie interessant war es, das ganze Leben des Flusses so eingehend zu studieren, sein Steigen und Fallen, sein von verschiedenen Ursachen herrührendes Pulsieren, seine launenhaften Formationen und sein wechselndes Aussehen in verschiedenem Terrain! Nicht allein, daß ich so in täglicher, ununterbrochener Arbeit Material zu einer außerordentlich eingehenden Monographie über den größten Fluß des innersten Asien sammelte und einen Weg wählte, dem bisher noch nie jemand gefolgt war, sondern ich machte auch eine so idyllische, so angenehme Reise wie noch nie. Wenn man gewohnt ist, zu Pferd zu reisen oder die Gegenden von dem Rücken eines sich wiegenden Kameles aus zu betrachten, ist es ein Genuß sondergleichen, sich von der Strömung eines ruhigen, friedlichen Flusses befördern zu lassen, die ganze Zeit an seinem Arbeitstische im Schatten zu sitzen und sich die Landschaft entgegenkommen zu lassen, die sich selbst aufrollt wie ein ständig wechselndes Panorama, dem man wie von seiner abonnierten Theaterloge aus folgt und zusieht. Und es war ein großer Genuß, die ganze Zeit zu Hause zu sein, sein Arbeitszimmer, seine Schlafstube und seine Instrumente Tag und Nacht bei sich zu haben und sein Haus wie eine Schnecke durch das ganze innerste Asien mitzunehmen.

Meiner Ansicht nach hatte ich es weit besser und gemütlicher als auf einem europäischen oder amerikanischen Flußdampfer. Denn erstens war ich allein und brauchte mich vor niemand zu genieren. Wenn es[S. 35] mir zu heiß wurde, konnte ich mich entkleiden und vom Schreibtische direkt ins Wasser springen, was auf einem europäischen Dampfer nicht üblich ist, und ich konnte bleiben, wo und wie lange ich wollte, wenn wir an einer Stelle vorbeiglitten, die in irgendeiner Beziehung einladend aussah. Meine Mahlzeiten wurden mir am Schreibtische serviert, wann es mir paßte, und wenn sie auch weniger lukullisch waren als die europäischen, so haben mir diese dagegen selten so gut geschmeckt wie die an Bord meiner eigenen Fähre. Frisches Wasser und eine Luft, die der balsamische Duft der Pappeln alle Augenblicke erfüllte, hatten wir reichlich zur Verfügung. Ich hatte Bilder von denen, welche ich liebte und für die ich betete, in meiner Nähe aufgestellt und begegnete täglich ihren Blicken, die mich auf meiner einsamen Wanderung mit ihrer Liebe und guten Wünschen begleiteten, und es war herrlich, sich außer Hörweite der Verleumdung und der eingebildeten Klugheit zu wissen, welche der Unternehmungslust ebenso treu und sicher folgen wie die Delphine im Kielwasser eines Schiffes. Auf den provisorischen Tischen, die jedoch ihren Zweck vollständig erfüllten, lagen Bücher; ich hatte aber selten Zeit, darin zu lesen, denn jede Minute war von Arbeiten, die getan werden mußten, in Anspruch genommen. Und diese Arbeiten interessierten mich in solchem Grade, daß der Fluß doppelt so lang hätte sein können.

[S. 36]

Viertes Kapitel.
Zweitausend Kilometer auf dem Tarim.

Unwiderstehlich trug die langsam und schwer dahingleitende Wassermasse unser Schiff auf ihrem breiten Rücken vorwärts; daß wir ebenso schnell wie die Strömung trieben, sah man leicht an den Treibholzstücken auf dem Flusse, die uns stundenlang begleiteten. Es war warm und still. Nur dann und wann ertönte das Gurgeln eines Wasserwirbels oder das Rauschen des Wassers gegen einen an einer Sandbank hängengebliebenen Baumzweig; ab und zu wurde die Stille von den Stangen unterbrochen, wenn die Fährleute, vom Avisomann Kasim gewarnt, sie ins Wasser stießen, um einer Untiefe auszuweichen.

Wir waren noch nicht lange unterwegs, als auch schon Gruppen von Landleuten und Frauen mit ihren Melonen, Schafen und anderen Dingen die Ufer garnierten. Aber dies lockte uns nicht mehr; wir wollten nicht bleiben und brauchten keine Verstärkung unserer mehr als reichlichen Verproviantierung. Der Tarim macht die tollsten Krümmungen; nacheinander treiben wir nach Nordwesten, Südosten, Norden, Nordwesten und Nordosten. Schon lange Strecken vorher sieht man an den Grenzlinien des Waldes, wo sich der Flußlauf seinen Weg im Terrain gesucht hat. Bei Kalmak-jilgasi hatten sich eine Menge Leute versammelt. Da wir auch hier nicht hielten, liefen sie uns mit ihren Gaben nach, wateten schließlich an einer seichten Stelle in den Fluß (Abb. 22), kletterten auf die Fähre und legten ihre Waren auf dem Vorderdeck neben meinem Arbeitstische nieder. Es stellte sich heraus, daß es Frauen, Kinder und Verwandte unserer Bootsleute waren, die uns so überlistet hatten. Es gab keinen anderen Ausweg als anzunehmen, sich zu bedanken und zu bezahlen, was ich um so freigebiger tat, als ich es war, der die vier Männer ihren Familien entrissen hatte.

Nach halbstündiger Fahrt saßen wir zum ersten Male fest, aber der Stoß war so schwach, daß man das Stillstehen der Fähre kaum bemerkt haben würde, wenn man nicht gesehen hätte, wie das Wasser auf beiden[S. 37] Seiten an uns vorbeiströmte. Die Leute sprangen ins Wasser und machten die Fähre ohne Schwierigkeit durch Schieben wieder flott. Bei jedem Festsitzen benutzte ich die Gelegenheit zum Messen der Stromgeschwindigkeit. In den konkaven Kurven ist die Uferterrasse bis zu 3 Meter hoch, und oft fallen große Lehm- und Sandklumpen plumpsend herunter. Noch bedurfte es keines Führers; die Fährleute kannten mehrere Tagereisen stromab den Namen jeder Uferstrecke und jeder Waldpartie. Die Namen sind stets in einer oder der anderen Beziehung bezeichnend und lehrreich. So heißt eine von einer scharfen Biegung gebildete Halbinsel Araltschi, weil sie beinahe einer Insel gleicht; eine Waldgegend Tonkuslik, weil dort Wildschweine vorkommen; ein schmaler Teil des Flusses Kalmak-jilgasi (Mongolenpassage), weil in alten Zeiten Mongolen an den Ufern gewohnt haben sollen. Bei einer nach ihrem Erbauer Muhammed Ili-lenger genannten Poststation an dem großen Karawanenwege, der uns hier bei einer Biegung nach links nahe ist, hat der Fluß vor zwei Jahren auf eine kurze Strecke seinen Lauf verändert; das alte Bette heißt Eski-darja (der alte Fluß). Solche Launenhaftigkeiten des Flußbettes wurden oft beobachtet und stets auf der Karte eingetragen. In den verlassenen Betten bleiben gewöhnlich kleine, klare Wasseransammlungen (Köll = See) stehen.

Abends wurde man von dem starken Sonnenlicht in den westlichen Biegungen und der glänzenden Straße, die auf der Wasserfläche zitterte, etwas belästigt, ging es aber nach Norden oder Osten, so war die Beleuchtung herrlich.

Die Proviantfähre gewährte mit all ihrem Gemüse und ihren Melonen einen ländlichen Anblick; dort gackerten Hühner und krähte ein Hahn — ihre Aufgabe war, mich mit frischen Eiern zum Frühstück zu versehen. Einige Schafe hatten ihre Freistatt auf der großen Fähre in einem kleinen Gehege auf dem Achterdeck, wo sie in schönster Ruhe ihr Futter verzehrten. Doch ihre Tage waren gezählt; das erste wurde in Gasanglik geschlachtet, wo wir die Nacht blieben.

Wenn die Tagereise zu Ende ist, muß zuerst die Fähre festgemacht werden, damit sie während der Nacht nicht ins Treiben gerät (Abb. 24). Die Leute bringen am Ufer ihr Lager in Ordnung, um ein Feuer herum, auf dem bald die Teekannen summen und das Abendessen bereitet wird. Ihre Betten bestehen aus einer Unterlage von Filzmatten (Kigis) und das Deckbett bildet der Schafpelz (Pustun). Ich saß lange an meinem Schreibtisch und arbeitete in der stillen Nacht. Die Ruhe wurde nur unterbrochen durch Sandrutsche an den Biegungen, wo die Erosion ihre Minierarbeit ausführt. Manchmal klatscht es auf, als wäre ein Krokodil ins Wasser gegangen, doch solche Tiere gibt es im Tarim glücklicherweise nicht. Die Mücken[S. 38] waren lästig, bald aber würde ihnen die Nachtluft zu kalt für ihr Spiel. Der Mond goß sein Silberlicht über die breite Wasserstraße aus, die sich im Norden wie eine Gasse öffnete.

18. September. Der erste Morgen an Bord war frisch und kühl. Ich schlief stets in meinem Zelte, und es war schön, nicht vor Skorpionen, die an den Ufern ziemlich häufig sind, auf der Hut sein zu müssen. Eine Folge der Strömungsverhältnisse am Lagerplatze war, daß sich im Laufe der Nacht eine Menge Sand und Schlamm um die Fähre herum anhäufte und die Männer eine gute Weile arbeiten mußten, um sie loszumachen. Währenddessen trank ich meinen Morgentee; erst um 9 Uhr waren wir flott und glitten wieder den großen Fluß hinab, der hier jedoch noch recht einförmig war. Nur wenn man an den steilen Ufern (Jar oder Kasch = Strandterrasse, vgl. Jarkent, Kaschgar) vorbeistreicht, die mit jungen Pappeln, Gesträuch und jungen Hagedornhecken bekleidet sind, deren Wurzeln aus dem Uferwalle herauswachsen und ins Wasser hinabhängen, kann man manchmal recht hübsche Partien passieren.

Unsere Kemitschi sind ausgezeichnete Leute, die sich vorzüglich anlassen. Sie heißen Kasim Ahun, Naser Ahun, Alim Ahun und Palta; ein fünfter Mann, Kasim-on-baschi, begleitete uns nur die ersten Tage, um im Anfang mitzuhelfen. Alle sind ebenso mit dem Manövrieren der Fähre wie mit den Eigentümlichkeiten des Flusses vertraut und können es in den meisten Fällen schon der Form der Ufer und dem Kochen und Ringeln des Wassers auf der Oberfläche ansehen, wo es tief oder seicht ist. Oft werden die Sandbänke mitten im Flusse durch Treibholz, Pappelstämme, Reisigbündel und Schilfgarben, die in Drift geraten und hängengeblieben sind, angegeben. Liegt eine tückische Sandbank dicht unter der Oberfläche, so verrät sie sich doch gewöhnlich dadurch, daß das Wasser über ihr ruhig ist und dann gleich unterhalb der Bank eine Stromgasse bildet.

Ich unterscheide in der Folge zwischen konkavem und konvexem Ufer; das konkave ist dasjenige, welches direkt der von der Zentrifugalkraft bestimmten Erosionskraft der Wassermasse ausgesetzt ist und wo die 2 oder 3 Meter hohe Uferwand da lotrecht abgeschnitten ist, wo die Hauptmasse des Wassers strömt, wo wir also die größte Tiefe und die stärkste Geschwindigkeit finden. Das konvexe Ufer hingegen tritt in einer Biegung auf, sei es nach rechts oder nach links, und wird von den Eingeborenen fälschlich „Aral“ oder „Araltschi“ (Insel) genannt. Es ist eine flache, halbmondförmige, scharf markierte oder stumpfe Anhäufung von Schlamm, den seichtes, langsamfließendes Wasser hier während der Hochwasserperiode abgesetzt hat. Hätten wir die Reise anderthalb Monate früher angetreten, so wären diese Schlamminseln überschwemmt gewesen, der Weg wäre etwas[S. 39] kürzer und die Geschwindigkeit größer geworden. Schon jetzt war der Fluß so bedeutend gefallen, daß die noch vorhandene Wassermenge nur die eigentliche Erosionsfurche des Flusses füllte, die überall dicht an den konkaven Ufern hinläuft, d. h. zu alleräußerst in allen Krümmungen nach rechts und links, wodurch die Länge des Weges größer wird und das Abschneiden der äußersten Biegungen unmöglich gemacht ist. Für eine genaue Kartenaufnahme des Tarim war jedoch dieser Umstand ein Vorteil, denn die seichten Stellen lagen nun offen da, und man bekam einen deutlichen Begriff von der Plastik des Bettes.

In den Gegenden, wo wir uns jetzt befanden, war der Lauf des Flusses noch einigermaßen gerade, und ich machte in 25 Minuten nur eine Peilung. Aber bald änderten sich die Verhältnisse, und die Pausen zwischen den Peilungen überstiegen selten 3 oder 4 Minuten. Ich konnte kaum die Aufzeichnungen abschließen, bis wieder eine Peilung gemacht werden mußte, und die Kompaßnadel schwankte von einer Zahl zur anderen.

Der Fluß fällt nicht regelmäßig, sondern ruckweise, so daß um die Schlamminseln und die Halbinseln herum scharf markierte Erosionsränder entstehen. Doch sowie der Schlamm getrocknet ist, fällt er ab und man hört ihn überall ins Wasser plumpsen.

Eine vorspringende Landspitze heißt „Tumschuk“. Unterhalb einer solchen entsteht gewöhnlich eine Unterwasserbank, die bei noch niedrigerem Wasserstande freigelegt ist. Für uns waren solche Stellen die schlimmsten. Fuhren wir trotz aller Anstrengungen der Leute fest, so sprangen sie sofort ins Wasser und schoben uns flott. Das Aufgrundstoßen war bei dem weichen Boden so unmerkbar, daß ich gewöhnlich erst dann etwas davon gewahr wurde, wenn die Männer riefen „Laiga tegdi“ (ist auf den Lehm geraten), „Toktadi“ (ist stehengeblieben) oder „Turdi“ (hat sich festgefahren), „Tüschdi“ (ist abgeglitten, eigentlich fiel). „Mangdi“ oder „Mangadi“ (es geht) sind Ausrufe, welche verkünden, daß wir die Fahrt wieder aufgenommen haben. Stieß das Vorderteil auf, so drehte sich die Fähre im Kreise herum und der Kopf wurde einem so schwindlig wie in einem Karussell. Die Landschaft veränderte ihr Aussehen in einem Augenblick, und die Sonne schien verrückt geworden zu sein; eben hatten wir sie im Rücken, und nun stand sie vor dem Vorderschiffe.

Die Erscheinungen im Flusse, welche ständig wiederkehren, bezeichnen die Eingeborenen mit besonderen Namen. Kleine Strömungsanzeichen über einer Untiefe heißen „Kainagan-su“ (kochendes Wasser) oder „Kainagan-lai“ (kochender Schlamm). Wenn der Fluß sich teilt, spricht man einfach von dem linken und rechten Flußarme; ist der eine kleiner, heißt er „Kitschik-darja“ (kleiner Flußarm) oder „Partscha-darja“ (Flußteil); eine Sackgasse[S. 40] heißt „Bikar-darja“ und ein verlassener Arm „Eski“- oder „Kona-darja“, und wenn er eine isolierte Wasseransammlung enthält, „Köll“. Wenn der Fluß sich teilte, schwebten wir gewöhnlich in der größten Ungewißheit darüber, welchen Arm wir wählen sollten, und wir machten dann nicht selten Halt, um die Stelle mit der Jolle genauer zu untersuchen und zu peilen.

Im Vorderschiff hat mein Freund Palta (Abb. 25) seinen Platz; mit nackten Beinen und bereitgehaltener Stange saß er da, beobachtete aufmerksam den Fluß und folgte genau der von Kasim im Avisoboot angegebenen Richtung. Gewöhnlich sang er in schwermütigen Rhythmen ein Lied von den Abenteuern eines Königs, interessierte sich aber, ebenso wie seine Kameraden, stets sehr für das Navigieren und das Leben an Bord.

In einer Linksbiegung berührten wir die Landstraße nach Maral-baschi und sahen von fern die Pappeln an dem Stationshause Meinet. Ein Mann saß auf einer Landspitze und erwartete uns, um Grüße von der Karawane auszurichten. Die Kosaken hatten ihn gebeten, uns einen Napf Milch zu bringen, den wir im Vorbeifahren auffingen; er muß aber lange auf uns gewartet haben, denn die Milch war schon sauer.

Bei Besch-köll (die fünf Seen) wurde eine Flußmessung vorgenommen. Das Bett war 86,4 Meter breit und hatte 2,22 Meter größte Tiefe, die Geschwindigkeit betrug 42,4 Meter in der Minute, und die Wassermenge belief sich auf 84,7 Kubikmeter in der Sekunde.

Am 19. September wurden neue Erfahrungen in der Flußschiffahrt gemacht. Von frühmorgens an wehte eine lebhafte, frische Nordwestbrise, und wir fanden bald, daß sie die Fahrt der Fähre nicht nur in hohem Grade hemmte, sondern sie an breiten Passagen mit langsamer Strömung und Gegenwind auch gänzlich zum Stillstehen brachte. Das Zelt und die schwarze Kajüte gaben einen Windfang ab, und die kleine Proviantfähre, der jeglicher Oberbau fehlte, hatte jetzt stärkere Fahrt.

Der Lauf des Flusses ging eine gute Weile nach Norden, und der Nordwestwind, der 3,71 Meter Geschwindigkeit in der Sekunde hatte, war uns hinderlich. Die Männer mußten unaufhörlich auf der Steuerbordseite stoßen und schieben, um einen Anprall an das rechte Ufer zu verhindern. Ein heftiger Windstoß entführte mein schönes Kartenblatt, das aber weit davon mit der Jolle wieder aufgefischt wurde; es war zu kostbar, um den Göttern des Flusses geopfert werden zu können.

13. Übergang über einen Kanalarm unterhalb Kaschgar. (S. 23.)

GRÖSSERES BILD
14. In der Wüste zwischen Terem und Lailik. (S. 23.)

GRÖSSERES BILD

Als wir später nach Osten und Südosten umbogen, hatten wir den Wind mit uns, und die Fähre ging 21 Meter schneller als die Strömung, die heute 38,4 Meter in der Minute betrug. Bei der nächsten Biegung nach Nordwesten war der Wind so heftig, daß wir halten mußten. Es ist[S. 41] klar, daß die Karte ein falsches Bild von dem Flusse geben würde, wenn man nicht stets den Einfluß des Windes auf den Gang der Fähre berücksichtigte. Doch dies ließ sich sehr leicht dadurch erreichen, daß während der Fahrt der Unterschied zwischen der Geschwindigkeit der Strömung und der des Schiffes gemessen wurde.

Bei Schäschkak, wo wir lagerten, hatte das Ufer eine Höhe von 2,3 Meter. Wir mußten eine kleine Treppe in seine Wand graben, um eine bequeme Verbindung zwischen der Fähre und dem Lande zu haben. Hier wohnen vier Hirtenfamilien, die 200 Schafe, sowie Ziegen und Kühe besitzen. Sie sind auch Ackerbauer und bauen Mais und Weizen bei den Hütten; die Felder bewässert ein gegrabener Kanal. Daß selbst diese schmalen Bewässerungskanäle den Fluß brandschatzen, versteht sich von selbst. Die Hirten mußten uns alles, was sie über den Fluß wußten, mitteilen und erzählten uns auch, daß ihre Waldgegend Hirschen, Antilopen, Wildschweinen, Wölfen, Füchsen, Luchsen, Hasen und Fasanen als Aufenthaltsort diene; Tiger gebe es dagegen hier nicht.

Bei diesem Lager betrug die Breite des Flusses nur 42,6 Meter und die Wassermenge 67,16 Kubikmeter, was ein bedenkliches Fallen in einem Tage verriet. An den jetzt herannahenden Herbst denkend, begann ich zu fürchten, daß wir noch nicht bis ans Ende des Flusses gelangt sein würden, wenn uns der Winter in seine Eisbande schlüge, und es kam sehr darauf an, in Zukunft möglichst viel aus jedem Tage zu machen. Die Hirten sagten, es sei beinahe zwei Monate her, daß das Wasser seinen höchsten Stand gehabt habe, und der Fluß friere in dieser Gegend nun wohl in 75 bis 80 Tagen zu. Das Eis bleibe 2½ bis 3 Monate liegen und im Frühling könne man an mehreren Stellen zu Fuß durch das Bett waten.

Als ich am folgenden Morgen erwachte, sah der Himmel unheilverkündend aus. Die Nacht war die kälteste gewesen, die wir bisher gehabt (+2,9 Grad), und die Luft war mit den Vorboten des Herbstes beladen, die das Gelbwerden des Laubes verursachen. Es lag wie eine Dämmerung über der Erde. Doch dies waren weder Wolken noch Nebel, sondern feiner Flugsand, der von einem Sarik-buran (gelber Sturm) über den Boden hingeführt wurde, von welchem Sturme man aber an Bord nichts merkte, weil die Fähre im Windschutz unter der Uferwand lag. Die Landschaft sah düster aus, und die Tamarisken und Schilfdickichte der Ufer verschwanden schon auf eine Entfernung von nur 200 Meter im Nebel. Die Fährleute glaubten mit Recht, daß es schwer sein würde, bei diesem Winde zu treiben, und wir beschlossen abzuwarten, wie das Wetter sich gestalten würde.

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Jetzt und später oft benutzte ich die unfreiwillige Ruhe zum Segeln mit der englischen Jolle, die jedoch für diesen Sport eigentlich nicht bestimmt war, da sie weder Kiel noch Steuer hatte. Sie konnte also nur bei günstigem Wind benutzt werden; ein im Achter festgebundenes Ruder diente als Steuer. Bei dem starken Winde flog sie fast wie eine Ente über das Wasser, und das Wasser zischte förmlich um den Vordersteven. Ich segelte flußaufwärts und hielt mich außerhalb der Strömung; die Ufer eilten an mir vorüber, ich wurde wie über große, offene Seen zwischen den niedrigen Schlamminseln hingetragen, das Wasser kochte um das Boot herum, und der Wald verschwand im Windstaube. Nach mehrstündiger, herrlicher Fahrt meinte ich, es sei nun Zeit, umzukehren. Ich nahm Mast und Segel ab und suchte die Strömung auf, um mich von ihr heimtreiben zu lassen. Dies ging jedoch nicht so leicht, wie ich gehofft; der Wind war so heftig, daß die Oberströmung gehemmt wurde und daher äußerst langsam war. Doch auch hiergegen gab es guten Rat; nur einen Fuß unter der Oberfläche war die Strömung ebenso stark wie gewöhnlich, und als ich die Ruder so festband, daß die Blätter vertikal ins Wasser herabhingen, trieb das Boot mit der Schnelligkeit der Unterströmung flußabwärts.

An einer Stelle, wo ich zu landen beabsichtigte, war der Boden außerordentlich tückisch; er gab nach, und ich versank bis zu den Hüften und wäre noch tiefer eingesunken, wenn ich mich nicht rechtzeitig am Bootrande festgehalten hätte. Endlich tauchte das weiße Zelt der Fähre aus dem Staubnebel auf, und ich legte an ihrer Seite an. Um schnell zur Hand zu sein, wenn sie gebraucht würde, lag die Jolle stets am Achter angebunden im Schlepptau der Fähre. Man konnte mit ihr jeden Augenblick an Land gehen, ohne mit der großen Fähre anlegen zu müssen. Islam Bai pflegte sich in ihr ans Ufer rudern zu lassen, wo er dann stundenlang den Wald durchwanderte und oft mit Fasanen und Wildenten zurückkehrte. Für ihn war die Flußreise recht einförmig, und er ergötzte sich daher oft an kleinen Jagdausflügen.

Am 21. September war das Wetter andauernd herbstlich und so unfreundlich und kalt, daß man die Winterkleider hervorholen mußte. Der Himmel war so finster und staubtrübe, als wäre er mit Regenwolken bedeckt. Es war, wie gewöhnlich, der östliche Wind, der den Staub mitführte; der Westwind ist stets klar und rein. Den ganzen Tag hielt der Ostwind an. Der Karawane war er sicher willkommen, uns aber war er es nicht, denn er wirkte sehr nachteilig auf den Gang der Fähre ein: hatten wir ihn mit uns, so ging es zu schnell, und hatten wir ihn entgegen, zu langsam, und sobald sich der Fluß schlängelt, hat man den Wind von allen möglichen Seiten. Die stauberfüllte Luft beschränkt den Umfang[S. 43] der Aussicht. Wo der Fluß für eine Weile gerade ist, verschwindet seine breite Wasserfläche wie in weiter Ferne, und man kann nicht, wie bei klarem Wetter, von den dunkeln, waldigen Landspitzen darauf schließen, nach welcher Seite die nächste Kurve abbiegt.

In gewaltigen Krümmungen ging es weiter den Tarim hinunter. In einer scharfen Biegung unterhalb von Scheitlik, wo der Fluß nach Süden umschwenkt, wurden 6 Meter Tiefe gemessen, und die Strömung war trostlos langsam. Hätte ich nicht die Karte vor mir gehabt, so hätte ich aus dem Flusse gar nicht mehr klug werden können, denn er fließt nach allen Himmelsrichtungen. Im großen ganzen geht er nach Nordosten, doch nicht selten treiben wir eine Weile nach Südwesten.

Dowlet leistet mir treu Gesellschaft, Jolldasch aber bleibt unter Deck. Er hat Schläge bekommen, weil er einen unverschämten Besuch bei der Proviantniederlage gemacht hat, und schämt sich jetzt. Wenn sich aber Männer und Herden und besonders Hunde an den Ufern zeigen, kommt er wie ein Pfeil hervorgeschossen, um Dowlet vom Vorderdecke aus bellen zu helfen. Mir machten die Gesellschaft der Hunde und auch ihre Streiche an Bord großes Vergnügen; sie hatten sich vollständig an unsere Art zu reisen gewöhnt und streiften wie kleine Hausgeister umher. Wenn ihnen die Ufer verdächtig erschienen, standen sie ganz vorn auf dem Vorderdeck und verübten entsetzlichen Lärm, und sobald wir uns für die Nacht lagerten, warteten sie nicht, bis die Landebrücke, eine Planke, ausgelegt worden, sondern sprangen an Land, um einander spielend im Walde zu jagen. Beim Abendessen leisteten sie mir Gesellschaft und schliefen stets im Zelte.

Das Wasser war jetzt so kalt, daß die Männer nicht unnötigerweise hineinsprangen. In ruhigen Krümmungen (Bulung) und im Walde waren die Mücken schrecklich lästig und zudringlich. Es ist eine Art kleiner grauer Mücken, die man nicht eher sieht, als bis sie einem zu Leibe gehen und stechen; sobald es aber ein bißchen weht, sind sie fort. So hat selbst die Windstille ihre Schattenseiten.

Am Ufer sahen wir eine große Schar Männer mit ihren Pferden; sie waren abgestiegen und schienen uns zu erwarten. Es stellte sich heraus, daß es der Bek von Aksak-maral war, der sich auf dem Wege nach Merket befand und die Gelegenheit benutzte, einen Dastarchan aufzutischen, den wir uns aus Höflichkeit gefallen lassen mußten.

Auch an diesem Abend wurde der Fluß gemessen. Wir machen gewöhnlich etwas vor Sonnenuntergang Halt, damit wir fertig werden, ehe die Dämmerung in Dunkelheit übergeht, und der Lagerplatz wird stets so gewählt, daß alles Wasser in einem schmalen Bette von großem Gefälle, an dessen Ufer es Brennholz gibt, vereinigt ist.

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Zur Messung ist das kleine Boot mit seinen Rudern nötig, ferner der Anker mit seinem Tau, eine lange Stange, Strommesser, Bandmaß, Uhr und Notizbuch; Islam oder einer der Fährleute helfen dabei. Die Breite wird direkt mit dem 50 Meter langen Bandmaße gemessen; ist der Fluß breiter, so wird in den Grund eine Stange als Merkzeichen gestoßen. Nachher wird auf einer Reihe von in gerader Linie liegenden Punkten die Tiefe gemessen, und an denselben Punkten in zwei oder mehreren verschiedenen Tiefen die Geschwindigkeit des Wassers festgestellt. Beim Lager von Att-pangtsa betrug die Wassermenge 59,1 Kubikmeter in der Sekunde. Der Fluß nimmt also immerzu ab, was jedoch für das Auge nicht sichtbar ist; jeder Teil des Bettes enthält ungefähr ebensoviel Wasser wie bisher, aber die Geschwindigkeit nimmt ab.

Am Morgen des 22. September flog eine Anzahl Gänse in wohlgeordneter Phalanx nach Südwesten; wahrscheinlich ist Indien ihr Ziel. Am rechten Ufer geht vom Flusse ein schmaler Kanalarm ab, der eine in der Nähe liegende Mühle treibt. Er zeigt das eigentümliche Verhältnis, daß das Land hier niedriger ist als die Oberfläche des Flusses, selbst bei dessen gegenwärtig niedrigem Wasserstande.

Zwischen den Bäumen des linken Ufers erblickten wir einige Wanderer; sie schienen auf uns zu warten. Bald erkannten wir Sirkin, Nias Hadschi und den On-baschi von Ala-aigir. Sie wurden aufgefordert, uns nach diesem Orte, wo die Karawane seit ein paar Tagen der Ruhe pflegte, zu begleiten. Da sie an Wasserreisen nicht gewöhnt waren, machte ihnen die Abwechslung viel Vergnügen.

Der Tograkwald war bedeutend größer als bisher, und manchmal glitten wir unter schattigen Gewölben so still und feierlich wie eine Prozession hin. Der Wald stand am üppigsten auf dem konkaven Ufer der scharfen Krümmungen, wo das Wasser sich das ganze Jahr hindurch den Wurzeln nähert.

Als wir vor Ala-aigir vorbeifuhren, mußten unsere Männer wieder an Land gesetzt werden; nun erst waren wir endgültig von der Karawane abgeschnitten. Sie erhielten Auftrag, Parpi Bai, meinen alten treuen Diener von meiner ersten Reise durch Asien, der jetzt in Kutschar wohnte, nach Karaul zu schicken, um dort unsere Ankunft zu erwarten.

In der Togluk (Verdämmung) genannten Gegend blieben wir die Nacht. Sobald ich den Lagerplatz ausgewählt und „Halt“ gerufen habe, stößt Palta seine lange Stange in den Grund, stemmt den Fuß gegen einen Querbalken und zwingt mit seiner ganzen Schwere das Achter der Fähre, sich in einem Bogen nach dem Ufer hinzudrehen, wo einer der Leute mit dem Tau in der Hand an Land springt.

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In einer scharfen Biegung gerieten wir in den Wirbel der Gegenströmung und hatten alle Mühe wieder herauszukommen; die 5 Meter langen Stangen erreichen nicht den Grund, und der Wirbel versucht uns festzuhalten. Es bleibt uns kein anderer Ausweg, als mit einem Tau an Land zu rudern und dann die Fähre so weit zurückschleppen, bis sie wieder in der Strömung ist.

Darauf erreichen wir den Punkt, wo sich der Fluß in zwei Arme teilt. Der linke, kleinere heißt Kona-darja; durch ihn strömt Wasser nach Maral-baschi; der rechte, Jangi-darja, ist das Hauptbett des Flusses und soll sich erst vor vier Jahren gebildet haben. Aksak-maral gerade gegenüber vereinigen sich beide Betten wieder. Der Jarkent-darja hat also auch hier einen Schritt nach rechts getan, und wir sollten bald finden, daß das Flußbett immer veränderlicher wurde, je weiter wir flußabwärts kamen. Diese Veränderlichkeit erreicht ihr Maximum im Lopgebiete, wo das Flußbett periodenweise wie ein Pendel hin und her schwankt, was mit Veranlassung zu der wechselnden Lage des Lop-nor gibt.

Gleich unterhalb des Hauptarmes, der auch Kötteklik heißt, weil an seinen Sandbänken Treibholz und Stücke von verdorrten Pappeln in großer Menge hängengeblieben sind, rasteten wir eine Weile. Die Fährleute erklärten, wir seien einer gefährlichen Stelle, von der wir in der letzten Zeit viel reden gehört, ganz nahe. Schon in Lailik hatte man uns gesagt, daß im Kötteklik ein etwa 10 Meter hoher Wasserfall sei; jetzt schrumpfte er freilich auf einen Meter zusammen, wir würden aber doch, um glücklich hinüberzukommen, 30–40 Mann zur Hilfe brauchen. Die einzig mögliche Art weiterzukommen sei, das ganze Gepäck an Land zu bringen und die Fähre über den Fall zu ziehen. Der On-baschi von Ala-aigir wurde daher beauftragt, etwa 20 Mann aufzutreiben und sich am nächsten Morgen in aller Frühe mit ihnen einzustellen.

Der ruhige, klare Tag war noch nicht weit vorgeschritten, und ich beschloß daher, mit der Fähre bis an den Wasserfall zu gehen, um die Stelle genauer in Augenschein zu nehmen. Wir glitten flußabwärts, zwischen Holmen von Treibholz hindurch, wo die Strömung stark und der Durchgang oft so eng war, daß die Fähre nur eben hindurchkam. Einen großen Teil des Weges mußten die Männer, im Wasser gehend, die Fähre schleppen, damit sie sich nicht festklemmte, und dennoch fuhr sie nicht selten an einem gesunkenen Pappelstamme fest. Blieb sie mit irgendeinem Punkte des Vorderteiles hängen, so drehte sie sich ganz herum. Es veranlaßte allgemeine Heiterkeit und eifriges Rufen, wenn die vordersten Männer ganz unvermutet in tiefes Wasser gerieten und ein gründliches Bad nahmen, ehe sie den Rand der Fähre ergreifen und über die Reling klettern konnten.

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So erreichten wir eine Stelle, wo das Wasser mit beunruhigendem Getöse brauste und rauschte. Die Männer erklärten, dies sei der erste Katarakt (Scha-kurun). Er sah sehr unschuldig aus, und seine Schwelle war nicht höher als 10 Zentimeter. Die Fähre glitt leicht hinüber, ohne sich im mindesten auf die Seite zu legen. Zwei folgende Fälle waren ebenso unbedeutend. Einer hatte freilich tiefes Wasser, aber ein paar Meter weiter unten war er wieder sehr seicht, weil das Wasser den Boden unter dem Wasserfalle aushöhlt und dann gleich wieder ablagert.

Nachdem wir über diese „gefährliche“ Stelle hinweg waren, nahm der Fluß sein altes Aussehen wieder an, war jetzt aber schmal und tief. Die Fähre hatte die ganze Zeit über vortreffliche Fahrt. In einer scharfen Krümmung ging es so schnell und das Schiff steuerte so energisch dem konkaven Ufer zu, daß wir es nicht aufhalten konnten, sondern gegen das Ufer prallten und sofort stehenblieben. Meine obere Tischkiste wäre über Bord geschleudert worden, wenn Palta sie nicht noch rechtzeitig festgehalten hätte.

Als wir bei einer einsamen Pappel in der Gegend von Kötteklik-ajagi lagerten, langte unser On-baschi mit 20 Reitern an. Sie waren ganz verdutzt, daß wir ohne ihre Hilfe über die Fälle gekommen, und mußten nun wieder nach Hause zurückkehren.

Der Bek von Aksak-maral kam auf Besuch und wurde, da er in der Gegend gut Bescheid wußte, eingeladen, uns ein paar Tage zu begleiten. Unsere Art zu reisen interessierte ihn außerordentlich, er glaubte jedoch, daß es während der Hochwasserperiode mit großen Schwierigkeiten verbunden gewesen wäre, die Flußreise zu machen. Man hätte dann keine Stangen finden können, die bis auf den Grund reichten, und die Fähre wäre steuerlos mit der heftigen Strömung getrieben und in den Biegungen mit solcher Wucht angeprallt, daß die Kisten vom Deck herabgeglitten wären. Ein anderer Nachteil während einer früheren Jahreszeit wäre die Hitze gewesen, und vor allem die Mücken, die noch im Herbst sehr lästig waren. Wir hatten also die günstigste Jahreszeit gewählt.

Der Jangi-darja oder Kötteklik-Arm hatte bloß noch 36,9 Kubikmeter Wasser in der Sekunde; 22,7 Kubikmeter, die durch den Kona-darja nach Maral-baschi gehen, hatten wir verloren. Sollte es uns gelingen, mit der Fähre weiterzukommen, wenn sich der Fluß noch einmal teilte?

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Fünftes Kapitel.
Der verzauberte Wald.

Am 24. September machten wir eine lange, interessante Fahrt auf einem neugebildeten Arme des Jarkent-darja. Wir brachen früh auf, nachdem wir Abschied von Kasim-on-baschi genommen hatten, der jetzt nach Lailik zurückkehrte und einen Teil des Lohnes der übrigen Leute mitnehmen mußte. Diese Vorschüsse sollten an die Familien oder Eltern der Männer abgeliefert werden.

Schon am Anfang ist der Fluß sehr tief und schmal, kaum 20 Meter breit, und die Breite verringert sich später noch mehr. Nun führte uns das Wasser in einen schwierigen, ungemütlich schmalen Durchgang, der mit Treibholz überfüllt war. Oft war der fahrbare Kanal so eng, daß die Fähre beide Seiten streifte und mit größter Behutsamkeit manövriert werden mußte, um ihr Anprallen zu verhüten, was bei der hier herrschenden starken Strömung, die sehr oft schäumende Strudel bildete, hätte kritisch werden können. Auf jeder Ecke stand ein Mann mit einer langen Stange und hielt das Schiff von den Gestrüpphaufen ab, und Kasim diente mit der kleinen Fähre als Lotse. Die Jolle hatten wir an Bord, da sonst ein verräterisch lauerndes Treibholzstück ihr dünnes, sprödes Segeltuchgewebe hätte zerfetzen können. Am schlimmsten war es, wenn wir im schnellen Fahren zwischen zwei Treibholzhaufen sitzenblieben, ohne daß wir die Katastrophe verhindern konnten. Da mußten wieder alle Mann ins Wasser und schieben, brechen und beim gemeinschaftlichen Anfassen singen und das vor uns liegende Fahrwasser untersuchen.

Der Strom war zu einem unbedeutenden Flüßchen zusammengeschrumpft, und es war Gefahr vorhanden, daß es uns nicht gelingen würde, alle Hindernisse zu besiegen, die unserer sicher noch warteten, ehe wir den Aksu-darja und den eigentlichen Tarim erreichten. An einigen Stellen teilt sich der Fluß um wirkliche, bewachsene Inseln, und man zerbricht sich den Kopf, ob einer der Arme trägt oder ob wir steckenbleiben und die Fähre werden zurückschleppen müssen.

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Schließlich erweiterte sich der Fluß, und man hat eine ausgedehnte Aussicht nach Nordosten, wo sich eine einsame hohe Düne, Karaul-dung (Wachthügel), erhebt. Vor sich hat man ein großes Haff oder seeartige Erweiterung des Flusses, der jedoch bald wieder schmal wird. Wir wählen einen Arm rechts herum, waren aber noch nicht weit gekommen, als wir uns auch schon oberhalb einer Stromschnelle mit nur 6 Zentimeter Wasser gehörig festfuhren.

Wir versuchten die Fähre zu schieben und zu schleppen, aber vergebens; sie stand wie auf dem Grunde festgesogen. Alles schwere Gepäck wurde an Land gebracht und Kisten und Proviant am Ufer aufgetürmt; dann schoben wir mit vereinten Kräften, doch nur, um die Fähre noch tiefer in den Lehm hineinzuschieben. Nun wurde der Bek beauftragt, aus dem in der Nähe liegenden Aksak-maral Leute herbeizuschaffen. Einige seiner Diener hatten uns den ganzen Tag am Ufer reitend begleitet, und der Bek konnte sich also zu Pferd schleunigst nach dem Dorfe begeben. Er kam nach ein paar Stunden mit 30 Leuten zurück, die aus allen Kräften zugriffen. Ich ging mit gutem Beispiel voran, und unsere Bemühungen waren von Erfolg gekrönt: die Fähre glitt ruckweise über die Stromschnellen, aber nur, um eine Strecke weiter unten wieder unverbesserlich festzusitzen.

Da standen wir nun wieder, und ich überlegte schon, ob dies der gefürchtete Punkt wäre, an dem wir von unserem Heim Abschied nehmen müßten. Was sollten wir dann anfangen? Die kleine Fähre reichte nicht entfernt für das Gepäck aus, und von der Karawane waren wir abgeschnitten. Es wäre uns wohl nichts weiter übriggeblieben, als eine neue Schiffswerft anzulegen, Schreiner und Schmiede aus Aksak-maral kommen zu lassen und eine neue, kleinere und leichtere Fähre zu bauen. Doch ich zitterte vor dem Zeitverluste, da ich wußte, daß das Wasser tagtäglich fiel, und der Gedanke, daß die stolze Tarimfahrt schon hier vielleicht unterbrochen werden müßte, schmerzte mich.

Nein! Wir mußten über diese seichten Stellen hinweg, wo es keine tieferen Stromfurchen gibt, wo das Wasser vielmehr über die ganze Breite auf seichtem Grunde brodelt. Wir drehten die Fähre ein paarmal im Kreise herum; hierdurch wurde der Tonboden so aufgelockert, daß wir weiterschieben konnten und endlich über die Schnellen hinauskamen.

15. Kurze Rast in der Wüste. (S. 24.)
16. Das Zelt meiner Leute in Lailik. (S. 26.)
17. Transport der Fähre nach dem rechten Flußufer. (S. 27.)
18. Bau der schwarzen Kajüte. (S. 28.)

GRÖSSERES BILD

Unterhalb dieser war es wenigstens so tief, daß die Fähre eine gute Strecke weit trieb, bis wir die letzten und größten Schnellen erreichten, deren Schwelle 20 Zentimeter hoch war und wo das Wasser einen geradlinigen Katarakt von Ufer zu Ufer bildete. Hier betrug die Tiefe überall wenigstens ½ Meter, und die Strömung war so reißend, daß die Männer[S. 49] ein Kentern der Fähre befürchteten. Der Sicherheit wegen wurde wieder das ganze Gepäck an Land getragen; ich blieb allein an Bord, um mit in den schäumenden Wasserfall hinunterzugehen, was die Leute für sehr bedenklich hielten, da sie glaubten, daß das Schiff in den kochenden Wirbeln unterhalb des Falles umschlagen würde. Sie zogen die Fähre bis an den Punkt, wo die Wassermasse sich über die Schwelle wälzte, und ließen sie los, nachdem sie ihr die rechte Richtung gegeben; sie glitt so artig wie nur möglich über die Schwelle. Als sie mitten darüber schwebte, fiel die vordere Hälfte klatschend auf das Wasser, während die hintere von dem nachdrückenden Wasser emporgehoben wurde. Gleich unterhalb des Falles wurde Halt gemacht.

Die Mücken waren am Abend eine schreckliche Plage. Sie traten in ungeheuren Mengen auf, und vergebens versuchte man, sie sich vom Leibe zu halten. Sie sind widerwärtige Quälgeister, besonders wenn man die Hände voll Arbeit hat und halbnackt sein muß, um jeden Augenblick in den Fluß springen zu können. Es scheint, als warteten sie nur darauf, daß man komme, und man wundert sich, wovon sie leben, wenn man nicht da ist.

Am anderen Tage fing der Ostwind wieder an. Der Wind und die Mücken sind unsere schlimmsten Feinde. Allen beiden konnten wir nicht entgehen, denn wenn es abends still ist, so wird man von den Mücken gepeinigt, und bleiben diese aus, so geschieht es, weil es windig ist. Weht es aber, so wird die Drift der Fähre gehemmt, und wird es gar zu toll, so müssen wir lange Zeit stilliegen und auf Windstille warten. Wir sehnen uns jetzt nur nach dem Punkte hin, wo unser Flußarm sich wieder mit dem Kona-darja vereinigt, wo wir mehr Wasser unter die Fähren zu bekommen hoffen und Hirten an den Ufern wohnen. Längs des neuen Armes fehlen die Menschen, denn er hat sich sein Bett durch frühere Einöden gegraben.

Schließlich wurde der Wind zu unangenehm, und wir wollten nicht länger auf diese Weise mit uns scherzen lassen. In einer einladenden Gegend auf dem rechten Ufer, wo einige alte Pappeln im Sande wuchsen, lagerten wir, und ich beschloß, nicht eher weiterzugehen, als bis der gräßliche Wind aufgehört hätte. Der Ort hieß Kum-atschal und lag in der Wildnis. Doch wir hatten genügende Vorräte, darunter vier Schafe, Hühner, Gemüse usw., und Brot wurde jeden Morgen am Lande auf dem Lagerfeuer gebacken.

Eine Gans, die ursprünglich zum Proviant gehörte und bei Kasim auf der Avisofähre hauste, machte allmählich Karriere und wurde ihres tadellosen Betragens halber zur Schiffsgans ernannt. Sie war eine[S. 50] klassische Erscheinung und watschelte frei auf der großen Fähre umher; sie besuchte mich häufig im Zelte und war so zahm, daß sie kam, wenn man sie rief. Nie machte sie einen Versuch, uns durchzubrennen, obwohl sie eine gefangene Wildgans war, der man allerdings die Flügel beschnitten hatte; bei den Lagerplätzen schwamm sie auf dem Flusse umher, kehrte aber stets von selbst wieder nach ihrer Schlafstelle an Bord zurück. Sie war lange bei uns; ich kann mich im Augenblick nicht darauf besinnen, wo wir sie verloren, aber wir werden ihr im Laufe der Erzählung wohl wieder begegnen. Vielleicht träumte sie dann und wann von den Palmen und den Mangobäumen an den Ufern des Ganges, wenn sie ihre freien Kameraden auf der Reise nach Indien über den Wald hinsausen hörte.

Als die Dämmerung kam, wurde die schwarze Kajüte eingeweiht und der Abend dem Entwickeln der Platten gewidmet. Alle die kleinen Löcher, durch die schwaches Licht eindrang, wurden verstopft und die Fenster mit schwarzen Filzmatten verhängt. Zuber und Bottiche wurden mit klarem Wasser aus einem See in der Nähe gefüllt und ein Licht im Zelte dicht vor dem roten Fenster angezündet. Das Atelier war auf diese Weise ausgezeichnet, und es gefiel mir darin so wohl, um so mehr als die Platten gut ausfielen, daß ich beschloß, noch den folgenden Tag zu bleiben und mit der Arbeit fortzufahren; wir konnten den Tag mit gutem Gewissen opfern, denn der Wind wehte noch ebenso eigensinnig.

Ich arbeitete bis 3 Uhr früh und war daher ein wenig verdrießlich, als Islam mich am 27. September um 7 Uhr weckte. Als er mir aber mitteilte, daß das Wetter ruhig und schön sei, sprang ich pfeilschnell auf und gab Befehl, den Anker zu lichten.

Hier wurde der Bek entlassen und zog mit seinen Leuten, die nun nicht länger gebraucht wurden, sondern nur am Proviantvorrate zehren halfen, wieder heim. Nur einer von ihnen, Muhammed Ahun, der ein Jäger (Pavan) war und die Gegend gut kannte, fuhr mit uns weiter.

In einer Kurve mit gewaltiger Strömung wurde die Fähre dicht an das rechte Ufer getrieben, wo ein paar Meter davon im Flusse eine absterbende Pappel stand und dem Brodeln des Wassers um ihren Stamm herum lauschte. Wir wurden sie zu spät gewahr, und die Leute konnten das Schiff nicht rechtzeitig abbringen; es rieb sich knirschend an dem Stamme entlang, und die mächtigen Zweige hätten beinahe das Zelt heruntergefegt, begnügten sich aber damit, nur ein Stück davon abzureißen. Das meteorologische Häuschen schwebte einen Augenblick in der größten Gefahr, doch gelang es mir noch, es zu retten.

Endlich mündet von links das breite, jetzt trockene Bett des Kona-darja ein, der von Maral-baschi kommt, aber nur im Hochsommer Wasser führt.

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Ist es windstill, so kann man an dem Muster und der Zeichnung der Wasserringel sehen, wo die Strömung geht; doch wenn es wie heute weht, so verschwindet diese wegweisende Zeichnung unter der leichten Kräuselung der kleinen Wellen. Man fühlt sich ordentlich erleichtert, wenn die Wassermasse des Flusses in einer einzigen Biegung strömt, man ungehindert und ohne Anstrengung auf tiefem Wasser an der Jar(Ufer)wand entlang gleitet und von Ufer und Wald geschützt wird.

Im großen betrachtet geht der Jarkent-darja hier nach Nordosten, bisweilen richtet sich sein Lauf aber nach Norden, Ostnordost oder sogar nach Ostsüdost. Diese Strecken bilden die phantastische krumme Linie von Biegungen und Windungen; in diesen Krümmungen schlängelt sich noch dazu die Strömung von einem Ufer zum anderen, und alle diese Verhältnisse tragen dazu bei, unseren Weg zu verlängern.

Heute war keine Spur von Menschen oder Vieh an den Ufern zu sehen. Ein Adler und einige Raben waren die einzigen Geschöpfe, die Leben in die feierliche Stille des Waldes brachten. Dagegen sah man im Ufersande frische Spuren von Wildschweinen und Rehen, die zum Trinken an den Fluß gekommen waren. Die Hunde kamen heute auf die revolutionäre Idee, ohne weiteres ins Wasser zu springen und an Land zu schwimmen. Sie folgten dann aber der Fähre, indem sie treu am Ufer nebenherliefen und gelegentlich Wildschweine oder andere Bewohner des Dschungels wütend anbellten. Als sie dessen müde wurden, schwammen sie wieder nach der Fähre zurück und wurden auf das Achterdeck hinaufgezogen. Dieses Manöver, das der Besatzung viel Spaß machte, wiederholte sich von nun an täglich. Anfänglich konnten die Hunde abgestorbene Pappelstämme mitten im Flusse oder im Grunde steckengebliebene Treibholzstücke durchaus nicht leiden. Sie legten den wütendsten Unwillen gegen diese an den Tag und bellten sie unerbittlich an. Nach und nach gewöhnten sie sich aber daran und ließen das Treibholz in Frieden.

Die Mücken waren derart lästig, daß wir an einem bewaldeten Ufer nicht lagern konnten, sondern Ufer mit Ak-kum (weißer Sand) aufsuchen mußten, wo die Leute das Holz zum Lagerfeuer von weither zu holen hatten. Um mich ein wenig vor den blutdürstigen Insekten zu schützen, rauchte ich wie eine Lokomotive und schmierte mir das Gesicht mit Baumöl ein.

Abends saß die ganze Besatzung auf dem flachen Ufer um ein Feuer von Treibholz und debattierte lebhaft darüber, ob wir noch das Lop-Gebiet erreichen würden, ehe der Fluß zufröre. Auch ich hätte dies gar zu gern wissen mögen, doch ich hatte keine Zeit, mich darüber zu beunruhigen. Wir mußten möglichst gleichen Schritt mit der jetzigen Wassermenge des Flusses halten, so daß deren Abnahme während der Nächte[S. 52] und Rasttage nicht zu großen Vorsprung gewann und uns das Wasser schließlich ganz im Stiche ließ. Ich rechnete hauptsächlich auf den Wasserzuschuß des Aksu-darja; kämen wir nur so weit, so würden wir uns schon weiter helfen.

28. September. So glitten wir denn Tag für Tag auf dem großen, ruhigen Flusse dahin, und die Karte entwickelte sich nach und nach unter meinen Augen. Die Wassertiefe wird an jedem Lagerplatze gemessen, und zwar der Sicherheit halber nach zwei verschiedenen Methoden. Einerseits wurde an einer geschützten ruhigen Stelle ohne Strömung eine Meßstange in den Grund gestoßen, andererseits wurde eine solche in die lotrechte Uferwand eingerammt, an deren äußerstem Ende ein Lot an einer mit Teilung versehenen Leine, von der ich das Steigen oder Fallen des Wassers direkt ablesen konnte, in den Fluß hinabhing.

Noch waren die Ufer unbewohnt und still; doch sahen wir ein paar Hirtenhütten (Söre), die gewöhnlich nur aus einem Dache auf vier Stangen bestehen und mit Reisig und Zweigen bedeckt sind. Sie ließen darauf schließen, daß die Gegend doch zu gewissen Zeiten von Menschen aufgesucht wird, die wieder fortziehen, sobald die Weide knapp wird.

Der Fluß verändert heute sein Aussehen nicht. Stattlich fließt er in dem majestätischen Schweigen des Waldes in unbedeutendem Gefälle dahin und hält sich meistens in einem einzigen Bette mit Tiefen, die bis zu 7 Meter betragen. Wir wurden daher nicht durch Festsitzen aufgehalten, und lautlos und mit guter Geschwindigkeit glitt die Fähre auf ihrer langen Reise durch Ostturkestan weiter.

Schon vom vorigen Lagerplatze an sind die Ufer mit einem dichten, prachtvollen Walde von alten, ehrwürdigen, knorrigen Pappeln besetzt, deren grüne, verschlungene Kronen jetzt ins Rote und Gelbe zu spielen beginnen; es ist, als kleideten sie sich zu einem lustigen Herbstkarneval in bunte Gewänder. Die Leute von Lailik hatten nie einen solchen Wald gesehen und machten ihrem Erstaunen und Entzücken in lebhaften Ausrufen Luft. Sie nannten den Wald „Östäng-bag“, den „Baumgarten am Kanale“, wie die bewässerten Parke und Haine der Oasen gewöhnlich genannt werden. Sie hatten recht; es war ein Genuß für das Auge, diesem farbenprächtigen Uferschmucke zu begegnen, und in dem lautlosen Schweigen, das den ganzen Tag herrschte, konnte man glauben, in einem Triumphwagen von unsichtbaren Nixen und Elfen auf einer Straße von Saphiren und Kristall durch einen verzauberten Wald gezogen zu werden. Es war so still, daß man kaum zu sprechen wagte, um nicht den Zauberbann zu brechen. Feierlich standen die Pappeln in zahlreichen Reihen, wie sie in vielen hundert Jahren die Ufer bekränzt; aufrecht standen sie da wie Könige[S. 53] und spiegelten ihre Kronen aus falbem Herbstgold in dem lebenspendenden Flusse, der Nährmutter der Wälder, der Herden und Hirsche und des Königstigers, dem größten Gegensatze des Wüstenmeeres. Da stehen sie in einer dunkeln Mauer, würdevoll und still, als lauschten sie einer Hymne, die zwischen den Ufern zum Lobe des Allmächtigen leise erklingt, einer Hymne, die auch Wanderer und Reisende vernehmen können, wenn nur ihr Gemüt für die Größe der Natur empfänglich ist. Die Pappeln stehen da, als hätten sie sich nur deshalb hier aufgepflanzt, um dem merkwürdigen Flusse zu huldigen, ohne den ganz Ostturkestan eine einzige ununterbrochene Wüste sein würde. Sie huldigen dem Tarim in andächtiger Ehrfurcht, wie dem Ganges die Brahminen und die altersschwachen Pilger huldigen, die nach Benares eilen, nur um an den Ufern des heiligen Stromes zu sterben.

Der Wald dehnt sich bis dicht an den Uferrand aus, aber den Erdwall bedeckt dichtes gelbes Kamisch (Schilf) und über demselben bildet das Buschholz ein ganz undurchdringliches Dickicht, wo nur Wildschweine durch dunkle Gänge, in die nie ein Sonnenstrahl fällt, hindurchkommen können. Zu oberst bildet der Wald eine grünende Mauer, die oft so dicht ist, daß die Stämme nur selten durch das Laubwerk schimmern. Die Kronen sind wie mit Sepia gepudert in Farbentönen, die schreiend wären, wenn die unklare Luft sie nicht dämpfte. Doch so wie es jetzt ist, bilden sie einen dem Auge angenehmen Farbenübergang zu dem blaugrauen Gewölbe des Himmels. All diese Pracht der Natur und der Farben wiederholt sich auf beiden Seiten und spiegelt sich im Wasser wider, und dennoch kann man sich nicht satt daran sehen.

Nur an den konvexen Ufern, wo das Hochwasser flache Sand- und Schlammanschwemmungen abgelagert hat, tritt der Wald zurück; an dem konkaven Ufer streichen wir unter den Pappeln hin, die sich nicht selten über den Fluß lehnen, und wie in einem Parke gleitet die Fähre unter laubreichen Gewölben in kühlem Schatten vorwärts. Es ist, als streckten die Waldgötter Friedenszweige über unser Schiff aus und segneten seine wunderbare Reise — denn eine Reise auf dem Wasser quer durch Ostturkestans Sandwüsten ist ohne Zweifel wunderbar; niemand hätte wohl geglaubt, daß man das innerste Asien zu Schiff durchkreuzen könnte.

So gleiten wir Stunde um Stunde auf dem Spiegel des dunkeln Flusses weiter durch den schlafenden Wald, auf einer venezianischen Straße, wo die Paläste in Bäume verwandelt sind und die Kais aus goldig glänzendem Schilfe bestehen. Der Ruder bedarf es hier nicht; die Strömung selbst sorgt für unser Weiterkommen, und die Gondoliere schlafen der Reihe nach auf ihrem Posten, doch stets die Stange fest in der Hand. Alles[S. 54] ist so still, und unbewußt wird man von der Märchenstimmung beeinflußt. Man erwartet beinahe, Waldnymphen den ungestörten Frieden benutzen zu sehen, um, auf Pappelzweigen schaukelnd, ihren Spiegelbildern im Wasser zuzunicken, und man würde sich nicht wundern, wenn tief im Walde plötzlich ein Hirtengott auf der Flöte zu blasen anheben würde.

Doch wie schweigend wir auch dahingetragen werden, wir überraschen doch keine Gestalten aus der Märchenwelt. Nur dann und wann werden von einem leichten Windhauch vertrocknete Blätter von einer überhängenden Pappel losgerissen, um vom Wasser nach Osten weitergetragen und vernichtet zu werden. Es sind die Waldgötter, die unseren Weg bestreuen, wie die Hindus dem Ganges Opfergaben von gelben Blumen darbieten; es sind die Pappeln, die bald sterbend im Winterschlafe erstarren und vorher dem Tarim, der ihnen die Nahrung für ihr Sommerleben geschenkt, einen Teil des Geschenkes zurückgeben wollen; man muß dabei an die verachtete Kaste der Leichenverbrenner denken, welche die Asche der Toten in den heiligen Ganges streut.

Unsere Wasserstraße war unglaublich krumm. In einer Biegung mußten wir, um 180 Meter in unserer Hauptrichtung nach Nordosten zurückzulegen, einen Weg von 1450 Meter machen, wobei wir einen Kreis beschrieben, an dessen Vollständigkeit nur ein Neuntel der Peripherie fehlte. Bald gehen wir nach Nordosten, bald nach Südwesten und verlieren wieder, was wir eben gewonnen haben. Nur äußerst selten streckt sich der Fluß eine kleine Strecke weit gerade aus, meistens windet er sich wie eine Schlange im Grase. Diese zahlreichen Krümmungen machen, daß ich unausgesetzt die Angaben des Kompasses aufzeichnen und die Tausende von kleinen Stückchen des Laufes auf der Karte eintragen muß, damit diese absolut zuverlässig werde.

Gegen Abend hatten die Mücken, wie gewöhnlich, Ball und Souper; ich wehrte mich, so gut ich konnte, mit dem Baumöle, die Besatzung aber, die stets nacktbeinig ging, wurde arg gepeinigt. Unaufhörlich ertönten Klatsche, die anzeigten, daß eine Mücke auf irgendeinem nackten Teile des Körpers plattgeschlagen wurde, und man konnte die Ausrufe „Annangnißke“, „Kissingnißke“ oder „Kaper“ hören, alles Worte, die durch Nichtübersetzung bedeutend gewinnen.

Als wir bei Jallgus-jiggde lagerten, wurde am Ufer um das Feuer herum Kriegsrat gehalten. Muhammed Ahun, der Jäger, der allein von uns die Gegend kannte, meinte, der Fluß werde in zwei Monaten zufrieren. Wir beschlossen, um noch mehr Zeit zu ersparen, morgens, sobald es hell würde, aufzubrechen, alle Mahlzeiten, das Abendessen ausgenommen, an Bord einzunehmen und auch das Brot morgens auf dem[S. 55] Achterdeckherde zu backen. Die Männer von Lailik waren mit warmen Tschapanen, Pelzen und Stiefeln schlecht versehen; daher wollten wir ihnen in Masar-alldi oder Awwat besorgen, was sie noch brauchten.

Der Jäger teilte uns mit, daß 3 oder 4 Kilometer rechts vom Jarkent-darja das trockene Flußbett Chorem liege, dasselbe, in welchem ich 1895 Süßwassertümpel gefunden hatte. Im Südosten dieses Bettes dehnt sich das unabsehbare Wüstenmeer aus.

Die Flußmessung ergab 28,6 Kubikmeter Wasser; wir können mit der Wassermasse nicht gleichen Schritt halten, sie überholt uns nachts, und wir bleiben hinter ihr zurück. Führen wir ununterbrochen Tag und Nacht, so würden wir theoretisch stets dieselbe Wassermenge haben, wenn nicht die Verdunstung und das Einsickern in den Boden für das Verlorengehen eines guten Teiles derselben sorgten.

29. September. Jetzt gab es nachts viel Tau; schon gleich nach Sonnenuntergang begann er zu fallen, und morgens war das Vorderdeck so naß wie nach einem Regen.

Der Morgen sah vielversprechend aus; der Fluß machte nicht so tolle Krümmungen wie gewöhnlich, und die Luft war ganz still. Aber diese vorteilhaften Umstände veränderten sich um die Mittagszeit völlig, da eine frische Brise einsetzte und der Flußlauf sich wieder außerordentlich schlängelte. In Biegungen, wo die Erosion des Wassers am größten ist, betrug die Tiefe mehrmals bis zu 9 Meter, und da hier an der Oberfläche Gegenströmung herrscht, kam es ein paarmal vor, daß wir ganz einfach in diesen Föll oder Bulung liegen blieben. Unter gewöhnlichen Verhältnissen geht die Fähre infolge ihrer Geschwindigkeit darüber hinweg, bei Gegenwind aber kann sie es nicht, und dann bleibt weiter nichts übrig, als einige Leute an Land zu schicken, um uns mit einem Tau loszuschleppen oder uns mit der Jolle zu bugsieren.

Bei Tusluk-kasch passierten wir ein Hirtenlager und erstanden für 48 Tenge (9 Mark) ein Schaf. Diese Hirten wohnen wie auf einer Insel, die von einer gewaltigen Krümmung gebildet wird, der zu einem vollständigen Kreise nur ein Zwölftel Peripherie fehlt. Die Flußwindungen sind schuld daran, daß der von uns zurückgelegte Weg über doppelt so lang wird als die Luftlinie. Heute rückten wir nur 8,36 Kilometer vor, trieben aber 19,38 Kilometer bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 38 Meter in der Minute.

Infolge der verminderten Schnelligkeit und der größeren Tiefen nimmt das Wasser an Klarheit zu. Um die Durchsichtigkeit zu bestimmen, konstruierte ich ein sehr einfaches Instrument, das aus einer runden, glänzenden Metallscheibe und einem senkrecht daran befestigten, mit Teilung versehenen[S. 56] Arme bestand. Die Tiefe, in welcher die Scheibe unter dem Wasser noch deutlich unterschieden wurde, ließ sich an dem Arme direkt ablesen.

Wie langsam es auch ging, stets war es ein großer Genuß, wie auf der Veranda einer Sommerfrische vom größten Komfort umgeben zu sitzen und sich die Landschaft entgegenkommen zu lassen. Doch nicht einen Augenblick durfte ich meinen Posten verlassen, um mir die Beine zu vertreten. Selten dauerte eine Richtung länger als 10 Minuten; die gewöhnliche Pause zwischen den Kursänderungen betrug 2 oder 3 Minuten, und man mußte immer mit dem Kompasse folgen. Ich war in diesem Teile des Jarkent-darja so an den Beobachtungstisch gefesselt, daß wir um 1 Uhr, wenn die meteorologische Ablesungsreihe aufgezeichnet werden sollte, eine Weile am Ufer anlegen mußten. Neben mir lag eine Kladde, worin die Aufzeichnungen des Tages mit Bleistift notiert wurden, um abends, nachdem wir Lager geschlagen, mit Tinte in das Tagebuch eingetragen zu werden. In den ärgsten Krümmungen folgten die Peilungen so dicht aufeinander, daß ich mir kaum dazwischen eine Zigarette anzünden oder sie, wenn sie ausgegangen, wieder anstecken konnte, und das Teegeschirr, das Islam eben gebracht, mußte auf seiner Kiste so lange auf mich warten, bis das erquickende Getränk kalt geworden war.

Die Karte aber wurde hübsch, und es machte mir großes Vergnügen, daran zu arbeiten. Sie ist in so großem Maßstabe angelegt, daß alle Einzelheiten hervortreten: die Linie, welche die Drift der Fähre bezeichnet, ist in den Wasserweg eingetragen, so daß man sieht, wo wir am rechten oder linken Ufer entlang gefahren sind, wo wir mitten auf dem Flusse getrieben und wo wir ihn gekreuzt haben. Die markierten Jarufer, die der größten Erosion (die Grunderosion ist gleich Null oder wird von der Sedimentablagerung ausgeglichen) ausgesetzt sind, sind mit scharfgezeichneten schwarzen Linien angegeben, die Alluvialhalbinseln treten als weiße Halbmonde hervor, Holme, Bänke und kleine Wasserarme, alles ist angegeben. Pappelwald wird mit kleinen Kreisen bezeichnet, Kamisch mit kleinen Pfeilspitzen, Gebüsche und Dickichte mit Punkten, Tamarisken mit Widerhaken, Sanddünen mit schrägen Schraffen. Wo die Ufer, wie heute, lichten Wald tragen, ist jede Pappel auf der Karte eingetragen; ich würde bei einem neuen Besuche jeden einzelnen Baum wie einen alten Bekannten, einen Freund aus einer glücklichen, angenehmen Zeit, wiedererkennen können!

Das heutige Lager hieß Kijik-tele-tschöll (Einöde des Antilopen-Weidenbaumes). Hier gab es keine Hirten, doch schwaches Hundegebell verkündete, daß sie nicht besonders weit sein können. Die Wassermenge betrug 27,8 Kubikmeter.

19. Die Werft. (S. 28.)
20. Tänzerinnen und Musikanten beim Abschiedsfest in Lailik. (S. 30.)
21. Frauen und Kinder unserer Bootsleute auf dem Wege zur Fähre. (S. 33.)
22. Die Fähre auf dem Jarkent-darja. (S. 36.)

GRÖSSERES BILD

[S. 57]

Während der Nacht auf den 30. September fiel das Wasser wieder um 2,1 Zentimeter; daher los vom Ufer in der kalten Morgenluft und weiter den Fluß hinunter, nach Osten hin! Heute trat endlich unser alter Masar-tag aus der ein wenig klarer werdenden Luft hervor und war leicht erkennbar; sein höchster Gipfel war in ungefähr Nordosten zu sehen. Der Berg trat nur in schwachen Umrissen hervor, die jedoch im Laufe des Tages deutlicher wurden, so daß man schließlich Schluchten und Vorsprünge und die braunrote Farbe unterschied. Nachdem der Masar-tag seinen Platz in der Landschaft eingenommen, brachte er auch einige Abwechslung hinein und bildete das Thema des Tagesgesprächs. Man zerbrach sich den Kopf darüber, wie weit es bis dahin sein könnte, ob wir ihn noch vor Abend oder, wie ich vermutete, erst in ein paar Tagen erreichen würden. Eine lange Strecke hatten wir den Berg gerade vor uns, darauf rechts und dann links von der Fähre; am tollsten aber war es, als wir ihn hinter dem Achter hatten und uns wieder von ihm entfernten. Erst wenn man eine derartige Landmarke hat, die alles andere überragt, wird einem ganz klar, wie sich der Fluß schlängelt.

Das Terrain wird öder; der Wald hat aufgehört, und auf beiden Seiten des Flusses dehnt sich Gras- und Kamischsteppe aus, wo nur selten eine junge Pappel ihre Krone über verschmähten Weideplätzen erhebt. Unsere Jäger nehmen Spuren von Hirschen und anderen wilden Tieren wahr. Islam Bai brandschatzte selten anderes Wild als wilde Gänse und Enten; es war zwar sein Ehrgeiz, einmal einen Hirsch zu schießen, doch gelang es ihm nie. Er war alt geworden; auf der vorigen Reise hatte er besseres Jagdglück gehabt. Was mich betrifft, so habe ich nicht einmal das Leben einer Krähe auf meinem Gewissen. Ich feuerte auf der ganzen Reise keinen Schuß ab, und der geladene Revolver, den ich für einen etwaigen Überfall immer bei der Hand hatte haben wollen, lag tief unten in einer meiner Kisten verpackt; in welcher, wußte ich gewöhnlich nicht.

Der Kasim der Avisofähre entdeckte auf einem öden Ufer ein verlassenes, verirrtes Lamm, das wir an Bord nahmen, um es dem ersten besten Hirten zu übergeben; es hätte sonst gewiß nicht lange auf den Wolf zu warten brauchen.

Der Ostwind tat uns gelegentlich großen Abbruch, aber die Krümmungen waren nicht ganz so unberechenbar wie gestern. Ein eigentümlicher Zug an dem Bau des Flußbettes war, daß die Jarwände des Ufers viel auffallender waren als bisher und sich 4 und 5 Meter über die Wasserfläche erhoben. Sechs Meter lange Stangen erreichten meistens den Grund nicht, und um die Tiefe zu messen, mußten wir zwei[S. 58] zusammenbinden. Bisweilen waren beide Ufer gleich hoch, ohne eine Spur von Anschwemmungen; dies war natürlich nur an geraden Stellen der Fall. Wir glitten dann wie in einem Korridor dahin, vor dem Winde geschützt, aber ohne viel von der umgebenden Landschaft zu sehen.

Die mittlere Geschwindigkeit dieses Tages war 35 Meter in der Minute und bei dem in namenloser Gegend gelegenen Lager Nr. 12 betrug die Wassermenge genau 25 Kubikmeter, 2,8 Kubikmeter weniger als zuletzt. In der Luftlinie hatten wir 11,2 Kilometer, in Wirklichkeit 18,2 Kilometer zurückgelegt, ein viel günstigeres Verhältnis als gestern.

Mit jedem Tage wuchs die Spannung, ob wir, ehe der Fluß sich mit Eis bedeckte und uns in seinen unerbittlichen Banden finge, ans Ziel gelangen würden oder nicht.

[S. 59]

Sechstes Kapitel.
Vierzig Kilometer zu Fuß.

In der Nacht auf den 1. Oktober fiel das Wasser noch um 1,7 Zentimeter. Im Norden zeigten sich schwache Umrisse, die man für aufsteigenden Nebel hätte halten können, wenn ihr gezähnter Rand nicht die Bergkette des Tien-schan angekündigt hätte. Der Masar-tag stand immer deutlicher vor uns; seine Lichter und Schatten und sein ganzer Bau zeichneten sich mit jeder Stunde schärfer ab. Ich saß bequem an meinem Schreibtische und trug den Gebirgsstock auf der Karte ein, wobei die kulminierenden, leicht erkennbaren Spitzen mit römischen Ziffern bezeichnet wurden.

Jetzt sind wir dicht bei dem nächsten Ausläufer des Berges, der auf dem Ufer selbst steht, so daß sein Fuß vom Wasser bespült wird. Dieser ungewöhnliche Anblick brachte eine angenehme Abwechslung in die Landschaft. Man hätte erwarten sollen, hier am Fuße der Felsen Schnellen und Fälle zu finden, doch es gab hier keine; der Fluß floß ebenso ruhig wie gewöhnlich dahin und machte nur einen Bogen nach Südosten, um dem Berge auszuweichen und dessen südliche Basis zu umgehen.

Wir biegen längs des Berges um. Am Ufer erscheinen Hütten und Menschen, auf einem Abhange vier Gumbes (Mausoleen), ein alter Guristan (Begräbnisplatz). Bei den Hütten von Kurruk-asste machten wir Halt (Abb. 28).

Der Begräbnisplatz, der auch ein heiliger Masar war, hieß Hasrett Ali Masar, welcher Name auch zur Bezeichnung des ganzen Berges dient. Der trockene Flußarm, der unmittelbar unter dem Masar hinläuft, ist derselbe Kodai-darja, den ich 1895 besuchte. Seit zehn Tagen lag das Bett trocken, raubte uns also kein Wasser mehr; doch von Mitte Juli bis zum 20. September hat es als Abfluß für einen Teil des Wassers des Jarkent-darja gedient, welches aber zum großen Schaden mehrerer Dörfer am Wege nach Aksu, die von diesem Arme ihr Berieselungswasser erhalten, viel weniger war als sonst.

[S. 60]

Der Fluß zeigt also hier, wie sehr oft während seines Laufes, eine Tendenz, nach rechts überzufließen. Um diesem für das nächste Jahr vorzubeugen und die Ernte zu retten, hatte der chinesische Amban (Distriktsvorsteher) von Maral-baschi befohlen, quer über das Bett des Jarkent-darja einen Damm zu bauen, um das Wasser in den Kodai-darja abzuleiten. Fünf Mann lagen nun in Kurruk-asste, um ein Depot von 1000 Balken und Stämmen, die aus dem nächsten Walde auf Arben hierher gebracht worden waren, zu bewachen, und sobald der Fluß genügend gefallen war, sollten Leute aus der ganzen Gegend aufgeboten und der Damm gebaut werden. Zu unserem Glücke konnte die Arbeit erst nach einem Monat beginnen. Es mußte uns also gelingen können, einen so großen Vorsprung zu gewinnen, daß die Absperrung des Jarkent-darja auf unsere Reise nicht mehr einwirken konnte.

Wir beschlossen, in Kurruk-asste wenigstens einen Tag zu bleiben und der On-baschi des Ortes wurde beauftragt, sich sofort nach dem Basar von Tumschuk zu begeben, um dort Pelze und Stiefel für die Leute aus Lailik zu kaufen. Er sollte uns auch einen Vorrat von Reis, Mehl und Gemüse besorgen und am Abend des nächsten Tages wieder hier sein. Leider konnte keiner der Unseren ihn begleiten, da es in der ganzen Gegend nur ein Pferd gab, ich verließ mich aber auf den Mann und gab ihm Geld zu den Einkäufen.

Nachdem ich bis morgens 3 Uhr Platten entwickelt und dann ordentlich ausgeschlafen hatte, wurde der Tag zu dem sehr notwendigen Ausruhen bestimmt. Im allgemeinen hatte ich während der Flußreise einen sechzehnstündigen Arbeitstag, und von dem ständigen Stillsitzen am Tische tat mir oft der Rücken weh. Schön war es daher, während des Rasttages eine Fußwanderung zu machen (Abb. 26) und das Hasrett-Ali-Masar-Gebirge zu ersteigen, um von einer seiner Höhen herab die Gegend ringsumher zu betrachten: die unendliche Steppe, die gelbe Wüste mit ihren hohen, unheimlichen Dünenwellen, die auch hier Takla-makan genannt wird, den sich schlängelnden Fluß, der von meinem hohen Aussichtspunkte aussah wie ein Graben oder ein feines blaues glänzendes Band durch die Steppe.

In der Dämmerung wurde eine Flußmessung vorgenommen, die das glänzende Resultat ergab, daß wir jetzt 53,7 Kubikmeter Wasser in der Sekunde unter unserer Flottille hatten, also mehr als doppelt soviel wie bei der letzten Messung. Wir verdankten diesen reichlichen Zuschuß den beiden Armen des Jarkent-darja oberhalb Kurruk-asste, die aus einigen von dem Überschußwasser von Maral-baschi gespeisten Seen kommen.

Auch spät am Abend ließ der On-baschi nichts von sich hören, und uns begann der Gedanke aufzusteigen, ob er am Ende nicht mit dem Gelde[S. 61] durchgebrannt wäre; wir konnten ihn in diesem Falle nicht verfolgen, da wir keine Pferde hatten. Er kam auch am nächsten Tage nicht wieder, und wir mußten warten. Die aufgezwungene Ruhe hatte den Vorteil, daß ich noch einen Ausflug machen konnte, diesmal nach Nordwesten auf dem linken Ufer des Flusses.

Ich begab mich nach den obenerwähnten Armen, um zu sehen, wie unser Kasim Fische fing. Am Fangplatze vereinigen sich drei Abflüsse des unmittelbar oberhalb der Stelle liegenden Sees Schor-köll, den ebenfalls der Überschuß des Wassers von Maral-baschi speist. Der Schor-köll ist ein Steppensee oder, wenn man so will, ein Sumpfgewässer; man kann nicht an seine Ufer gelangen, denn in dem weichen, nassen Boden, in dem Kamisch und Gras üppig gedeihen, würde man versinken. In diesem zersplitterten, unregelmäßigen See mit seinen Tausenden von Ausläufern, Buchten, Inseln und Landzungen bleibt das Wasser stehen und klärt sich; daher ist es in den beiden Armen kristallklar und blau.

Die Fische, Asmane, stehen hauptsächlich in dem Strudel unterhalb des Falles, in welchem sich das Wasser des östlichsten Armes am Fischplatze hinabstürzt, zeigen sich aber oft über dem Wasser, wo sie sich mit einer geschickten, elastischen Bewegung den Fall hinaufzuschnellen versuchen, gerade wie der Lachs bei uns. Sie werden mit einem Geräte gefangen, das einer Fischgabel gleicht und aus einem 5 Meter langen, feinen, geschmeidigen Speere oder einer Gerte (Sapp) besteht, die unten von zähem Tamarisken-, oben von biegsamem Weidenholz ist. Da, wo der untere Teil endet, sitzen die beiden Haken (Satschkak) mit nach unten gerichteten Spitzen und nach aufwärts gekehrten Widerhaken so am Schaft, daß sie leicht von ihm abspringen können, wenn sie treffen. Doch hängen sie noch mittelst einer 50 Zentimeter langen, starken Schnur an dem oberen Teile der Gerte.

Kasim fing innerhalb einer Minute zwei gewaltige Asmane und dann noch eine ganze Menge. Er stand am Rande des Wassers, hielt das Fanggerät wie ein Speerwerfer und schnellte, sobald er einen Fisch erblickte, die Fischgabel, daß sie durch das Wasser pfiff (Abb. 27). Man sah den Speerschaft zittern, es spritzte und wirbelte im Schaume, und im nächsten Augenblick zog er einen zappelnden Asman ans Ufer, ein großes Ding, das am Ende der Gerte baumelte, als wäre es dorthin gezaubert (Abb. 29).

Wir besuchten dann eine in der Nähe liegende Sattma (Hirtenhütte), die aus Stangen und Kamisch erbaut war und ein luftiges Zimmer mit offener Veranda bildete. Hier wohnten zwei Frauen mit sechs Kindern. Sie empfingen uns ohne Furcht und setzten uns ganz vorzügliche saure[S. 62] Milch vor. Im Sommer wohnen sie hier, um Vieh, das mehreren Leuten aus der Gegend gehört, zu hüten; im Winter halten sie sich auf dem rechten Ufer auf, wo sie besser gebaute Häuser und Höfe haben.

Spät am Abend kam endlich der On-baschi angeritten und brachte alle ihm aufgetragenen Sachen mit. Er besorgte uns auch einen neuen Führer, einen Jäger, der sein Gewehr mitbrachte.

4. Oktober. Während der Nacht herrschte heftiger Wind; es knackte in den Zeltstangen, und das Tauwerk schlug gegen das Deck. Der Tag wurde auch unangenehm durch den hemmenden Ostnordostwind, der so stark war, daß sich die Oberfläche des Flusses zu weißschäumenden Wellen kräuselte, die da, wo sie die Strömung trafen, kurz und abgeschnitten waren. Hierdurch wurde das Lotsen erschwert, da man nicht sehen konnte, wo die Strömung ging. Die Wellen plätschern und schlagen melodisch an den Vordersteven der Fähre; aber ihr klangvoller Gesang ist verräterisch und hält uns zurück; sie sind feindlich gesinnt und wollen unser Vorwärtskommen hindern. Das Zelt wirkte wie ein Segel, das die Fähre unaufhörlich nach der Leeseite hinüberdrängte, und wurde daher abgenommen, nachdem alle losen Gegenstände, die bei mir umherlagen, eingepackt worden waren. Nur im Schutze der Ufer war die Fahrt normal; sonst ging es nur langsam, was unsere Geduld sehr auf die Probe stellte. Wenn es wenigstens einmal einen Tag aus Westen wehen wollte, daß wir günstigen Wind hätten; aber immer hatten wir Gegenwind!

Auch heute wurde ein Bogen gemacht, der sich einem Kreise näherte. Wir hörten im Walde unweit des Ufers hellen, wohlklingenden Hirtengesang; doch als wir nach Norden abbogen, verhallte der Gesang in der Ferne. Dann machte der Fluß einen neuen Bogen, der Gesang wurde wieder deutlicher und ertönte schließlich ganz dicht bei uns. Der Hirt hatte seinen Platz nicht verlassen; er saß im Walde und hütete seine Schafe, die zwischen den Bäumen weideten, aber der Fluß hatte eine Schlinge beschrieben, um uns noch einmal dem lebensfrohen Sange lauschen zu lassen.

Im Osten tauchen jetzt neue, isolierte Berge über dem Horizont auf: der Tschokka-tag und der Tusluk-tag, von denen aus ich 1895 die unglückliche Wüstenreise angetreten hatte. Der See, an dem wir damals rasteten, trägt den Namen Jugan-balik-köll (der große Fischsee) und erhält sein Wasser von Armen, die vom rechten Ufer des Jarkent-darja ausgehen. Der See ist, wie der Name angibt, reich an Fischen, und im Frühling begeben sich daher Männer aus Tscharwak und Masar-alldi dorthin, um an dem Fange zu verdienen. Sie benutzen aus Pappelstämmen ausgehöhlte Kanus, die, wenn sie nicht gebraucht werden, im Schilfe versteckt liegen. Andere Dorfleute treiben Handel mit Steinsalz vom Tusluk-tag (Salzberg). Die Salzstücke[S. 63] werden auf Arben befördert, doch nur im Winter, wenn das Eis eine bequeme Brücke über den Fluß schlägt.

Bei Jugan-balik kommt der Königstiger häufig vor und hat in den letzten Jahren an Zahl zugenommen. Dieses Jahr hatte er fünf Pferde und viele Schafe geraubt, doch scheut er die Menschen und wagt deshalb nicht, in die Hürden einzubrechen.

Der Abend war windstill und schön, und wir segelten weiter, bis die einbrechende Dunkelheit es unmöglich machte, die Konturen der Ufer noch länger zu unterscheiden. Die Luft war außerordentlich mild infolge des feinen Staubes, den der Wind mitgeführt und der nun wie ein Schleier über der Erde ruhte, die Ausstrahlung abschwächend und sogar im Zenith alle Sterne verdeckend.

Am 5. Oktober näherten wir uns dem Tschokka-tag, aber sehr langsam, denn der Fluß machte wieder die eigentümlichsten Krümmungen. Zartes Jungholz begleitet in schmalen Gürteln beide Ufer, sonst dehnen sich, soweit das Auge reicht, überall gelbwerdende Kamischfelder aus. Der Wind, der die Weglänge gewöhnlich um ein Drittel verkürzt, fuhr unermüdlich fort, durch das Schilf zu sausen, aber auf meiner Kommandobrücke, wo er beinahe einer frischen Seebrise glich, war es herrlich.

An unserem Rastorte in Sorun trösteten uns einige Hirten (Abb. 30) damit, daß der nächste Neumond Windstille bringen werde, denn dies pflege alljährlich der Fall zu sein. Da jedoch der Wind bis spät abends anhielt, beschloß ich, zu bleiben, wo wir waren und einen Ausflug nach dem Tschokka-tag und dem Sorunsee, der sein Wasser vom Jarkent-darja erhält, zu machen. Wenn der Spiegel des Flusses höher als die Seen liegt, so strömt diesen Wasser zu; ist der Fluß aber auf ein bestimmtes Niveau gefallen, dann kehrt das Wasser aus den Seen wieder in den Fluß zurück; in beiden Fällen geht es durch dieselben Kanäle. Noch war der Jarkent-darja so hoch, daß er bedenklich gebrandschatzt wurde, und er hatte von den 53,7 Kubikmetern, die uns bei Kurruk-asste so willkommen gewesen waren, jetzt nur noch 28 Kubikmeter behalten.

Es war klug, daß wir blieben, denn am 6. Oktober herrschte ein wirklicher Sarik-buran, und die Luft war so mit Staub gesättigt, daß der ganz nahegelegene Tschokka-tag sich nur noch eben wie eine graue Scheibe mit überall gleichem Farbentone abzeichnete. Ich machte eine Fußwanderung nach dem Tusluk-tag und erklomm ein paar seiner Gipfel, um mich zu orientieren. Es ist derselbe Gebirgsstock, an dessen nördlichem Fuße wir 1895 entlang zogen, ohne den Sorun-köll zu sehen, der sich jetzt wie eine Karte unter mir ausbreitete.

Die Aussicht über Berge und Seen war so einladend und verlockend,[S. 64] daß ich diese für mich so erinnerungsreiche Gegend, die ich wohl nie wiedersehen würde, gründlicher zu erforschen beschloß. Ich entschied mich deshalb dafür, auch noch den 7. Oktober zu bleiben. Und dabei sollten wir uns doch beeilen, um nicht festzufrieren.

Es wehte auch vormittags gerade genug, um die Flußreise schwer, eine Segelfahrt in der kleinen Jolle über die Seen aber herrlich zu machen. Da es jedoch zum Zurückrudern zu weit werden würde, schickte ich morgens einen Mann mit Ochsen und Arba nach dem Ostufer des Sees, um aufzupassen, wo wir landen würden, und das Boot nach Hause zu befördern. Auf dieselbe Weise wurde das Boot nach dem Seeufer transportiert, doch da das Fahrzeug länglich rund war und der Seeboden aus Morast bestand, mußte es, um ungehindert schwimmen zu können, ein gutes Ende ins Wasser hinausgetragen werden. Als dies geschehen, kam die Reihe an mich, der von Naser Ahun getragen wurde; hinterdrein patschte Islam barfuß, indem er beinahe im Schlamme steckenblieb; er sollte auch mit. Nun wurde das Boot getakelt und alles Mitgenommene geordnet. Ich hatte auf dieser Fahrt mit gar vielem zu tun: zunächst mit Segel und Steuerruder, dann mit dem Kompasse, dem Kartenblatte und der Uhr, vom Fernrohr, dem Thermometer, der Pfeife und dem Tabaksbeutel gar nicht zu reden, alles Dinge, die einigermaßen freie Hände erfordern. Es ging gut; der Wind war so günstig und gleichmäßig, daß wir das Segel festmachen konnten und das Steuerruder nur hin und wieder einen Puff zu erhalten brauchte. Die für die Kartenarbeit nötigen Instrumente lagen auf einem improvisierten Tische vor meinem Sitze, und als wir einmal in Fahrt gekommen waren, hatte ich reichlich Zeit, die Pfeife zu stopfen, wenn es nötig war. Islam, der vorn seinen Platz hatte, besorgte das Loten und den Geschwindigkeitsmesser, den ich jedoch jedesmal selbst ablesen mußte. Die Tiefen waren so unbedeutend, daß das zweite, 2,1 Meter lange, mit Einteilung versehene Ruder überall ausreichte. Um von den Ansprüchen des Magens unabhängig zu sein, hatten wir eine gebratene Gans, Brot und Eier mitgenommen.

Als alles bereit war, wurde das Boot losgelassen und glitt, von der frischen Brise geführt, gemächlich durch das sich allmählich lichtende Schilf, bis wir bald offene Wasserflächen erreichten. Es ging genügend rasch über diesen von Norden nach Süden gezogenen, seichten, schilfreichen See. Wir kamen überall bequem vorwärts; die Wasserflächen hingen in einer Kette zusammen, und es war eine Freude, so am Schilf vorbeizustreichen, daß das Boot nur die äußersten Stengel streifte. Das Seewasser ist ganz süß und so klar, daß der Grund mit seinen Algen und verrottenden Kamischstengeln überall sichtbar ist. Die größte Tiefe war genau 2 Meter; tiefere[S. 65] Stellen gab es wahrscheinlich nicht, denn wir hielten uns meistens in der Mitte des Sees. Die seichtesten Stellen waren leicht an dem gelben Farbenspiele der Wasserfläche erkennbar, und oft dienten uns absterbende, überschwemmte Tamarisken als Baken.

23. Der Verfasser an seinem Arbeitstisch an Bord der Fähre. (S. 33.)

GRÖSSERES BILD
24. Lager am Strand. (S. 37.)

GRÖSSERES BILD

Einen schönen Anblick gewährte eine Schar von vierzehn schneeweißen Schwänen. Sie schwammen stolz und graziös beiseite; doch als wir ihnen allzu nahe kamen, erhoben sie sich mit schweren Flügelschlägen und ließen sich in größerer Entfernung wieder nieder.

Dann und wann schimmerte das lehmige Ufer durch das Schilf, und kleine Holme mit Tamarisken oder ganz niedrigen, bewachsenen Sanddünen waren nicht selten. Wir kreuzten den See in beinahe gerader Linie. Sein südlicher Teil bildete eine große, offene Erweiterung, wo nur die Ufer mit dichtem Schilf umkränzt waren. Ein Fremder mußte glauben, hier sei der See zu Ende, aber einige Leute aus Sorun waren uns zu Pferde am Ostufer gefolgt und zeigten uns einen Arm oder natürlichen Kanal im Schilfe, der den Sorun-köll mit dem südlich gelegenen Tschöll-köll (Wüstensee) verband.

In diesen glitten wir vom Winde getrieben hinein, und das Boot teilte die in dichten Büscheln stehenden Schilfstengel wie Gardinen. Es war ein höchst eigentümlicher Kanal mit einer nur 2 oder 3 Meter breiten, offenen Rinne in der Mitte, sonst aber voll hohen, üppigen Schilfes, das sich auf beiden Seiten wie eine Mauer oder ein Staket erhob. Fester Boden war jedoch nahe, so daß wir die ganze Zeit über mit den Reitern am Ufer reden konnten, wenn wir sie auch nicht sahen. Der Luftzug wehte ziemlich frisch in dem engen, malerischen Wasserkorridore, und das Boot glitt wie ein Schwan; die Stengel bogen sich unter dem ausgespannten Segel, wichen pfeifend beiseite oder zerknickten unter dem Vordersteven. Der Kanal war ziemlich gerade, aber die kleinen Bogen, die vorkamen, genügten doch, uns die Aussicht nach vorn zu nehmen, und auf den Seiten sah man nicht einmal die Bergkämme über den nickenden Schilfbüscheln. Oft glaubten wir, in eine Sackgasse geraten zu sein, doch stets öffnete sich eine Fortsetzung der Wasserstraße.

Die Tiefen waren hier bedeutender als im See; die größte betrug 3,65 Meter. Die Breite nahm allmählich zu, betrug nirgends weniger als 10 Meter, stieg aber manchmal auf 50 Meter. Der Kanal sah wie von Menschenhand gegraben oder wie der Rest eines alten Flußbettes aus, doch war es augenscheinlich nur die von dem verschiedenen Wasserstande des Jarkent-darja abhängige Wasserverbindung von oder nach dem Tschöll-köll, welche die Passage offengehalten hat.

Massen von Enten hielten sich hier auf; sie schwammen und tauchten vor uns, flogen bei unserem Herannahen auf, so daß das Wasser hinter[S. 66] ihnen schäumte und spritzte, schlugen wieder nieder wie ein Hagelschauer und tauchten und schnatterten.

Islam konnte seinen Jagdeifer nicht bezähmen, als Tausende von Enten, die unser weißes Segel aufgescheucht, Wolken gleich über dem See kreisten. Daher erhielt er die Erlaubnis, nach dem Lager zurückzukehren, die vergessene Flinte zu holen und dann mit dem Boote in den Kanal hineinzurudern, der sich dicht bei dem Punkte, wo wir am Ostufer anlegten, trompetenförmig nach dem See öffnete.

Ich dagegen verfiel auf die etwas abenteuerliche Idee, eine Fußwanderung über den Tschokka-tag nach Osten zu machen und dann nordwärts nach dem Lager zurückzukehren. Palta und ein Hirt sollten mich begleiten; der letztere versicherte, daß, obwohl die Bergkette ganz nahe erscheine, die Entfernung doch sehr groß sei und daß wir, wenn wir über dem Berge wären, noch einen ebenso langen Weg, wie wir eben in 4½ Stunden gesegelt, bis nach dem Lager zurückzulegen hätten. Seine Einwendungen waren vergeblich; ich hatte einmal den Entschluß gefaßt, und er sollte unter allen Umständen ausgeführt werden. Ich wollte mir die gute Gelegenheit, meine Karte von dieser Gegend zu vervollständigen, nicht entschlüpfen lassen. Es war 3½ Uhr, und die Sonne näherte sich dem Gipfel des Tusluk-tag; ein Kind hätte einsehen können, daß wir vor Mitternacht das Lager nicht erreichen würden; zurück aber mußten wir, sonst wären die Chronometer stehengeblieben.

So brachen wir denn nach Ostsüdost in der Richtung auf eine Einsenkung in dem Kamme der langen Kette auf. Mit raschen Schritten gingen wir auf den Paß zu. Die erste Stunde verrann, und die Kette erschien uns kaum näher gerückt; wieder eine Stunde, und wir erreichten die ersten Vorberge, die, vom See gesehen, mit der Kette scheinbar zusammengehangen hatten; jetzt aber sahen wir, daß eine tüchtige Strecke ansteigenden Terrains sie von der Hauptkette trennte.

Zwischen dem See und den Bergen veränderte der Boden nach und nach sein Aussehen. Er bildete konzentrische Ringe von ungleichen Eigenschaften und verschiedenem Charakter. Dem Seeufer zunächst breitet sich ein niedriger, unfruchtbarer Gürtel aus, der während der Hochwasserperiode des Jarkent-darja überschwemmt ist, jetzt aber mit einem schwachen Anfluge von Salz bekleidet war, was verrät, daß dieser abflußlose See nicht ganz süß ist. Darauf folgt ein Gürtel dünnbestandener Kamischsteppe und dann wieder ein Ring von älteren, vertrockneten Salzkristallisationen (Schor), die spröde, unter den Füßen mit leisem Klang zerspringende Blasen bilden. Schließlich steigen wir den Schuttkegel am Westfuße des Gebirges hinan; er fällt nur 3 Grad nach dem See ab, ist voll Kies und auch von zahllosen,[S. 67] kleinen, unbedeutenden, ausgetrockneten Erosionsfurchen durchschnitten, welche sich nach dem Ufer hin wie Deltaarme teilen und zersplittern. Je mehr wir uns dem Gebirge nähern, desto größer wurden diese Rinnen und schließlich hatten sie meterhohe Ränder, die wir oft umgehen mußten.

Die Steigung fing an fühlbar zu werden, und ab und zu mußten wir stehenbleiben, um Atem zu schöpfen. Von dem oberen Teile des Schuttkegels hatten wir eine herrliche Aussicht über den See, der breiter war, als ich 1895 geglaubt hatte. Feierliche, wehmütige Gedanken bemächtigten sich meiner, als ich diese Gegend wiedersah, wo wir am 22. April 1895 gelagert hatten. Die Steppe, wo das Zelt an jenem denkwürdigen traurigen Tage stand, war von unserem Aussichtspunkte aus klar und deutlich zu sehen, und im Süden dehnte sich das mörderische Wüstenmeer aus, in dem unsere Karawane untergegangen war. Vor mir zog sich in philosophischer Ruhe dieser volle See hin, der sowohl den Leuten wie den Kamelen das Leben hätte retten können, wenn wir nur vorsichtig genug gewesen wären, genügenden Vorrat von seinem Wasser, das nutzlos in der trockenen Wüste verdunstete, mitzunehmen!

In Purpur und Rot getaucht, glichen die hohen Dünenkämme jetzt in dem grellen Lichte der untergehenden Sonne glühenden Vulkanen. Sie erhoben sich wie Grabhügel über den Toten. Mit unwiderstehlicher Beklemmung folgten die Gedanken dem Blicke über den Wüstensand hin, wo ich meine Diener und Kamele in ihrem langen, ungestörten Todesschlafe ruhen wußte. Sie schliefen ruhig, und ihre Gräber waren längst von dem rastlos wandernden Zuge neuer Dünen eingeebnet. Können sie mir verzeihen, der ich, einer der drei Überlebenden von jener unglücklichen Reise, jetzt in aller Bequemlichkeit auf ihren Begräbnisplatz hinausblickte? Klagt er mich vielleicht noch an, der alte, redliche Muhammed Schah, während er seine vertrocknete Kehle unter den Palmen im Bihescht, im Paradiese, netzt? Denn ich trug die Verantwortung dafür, daß ich zum Aufbruche durch diesen verfluchtesten, mörderischsten Teil der ganzen Erdrinde Befehl erteilt hatte. Ich glaubte, aus der Tiefe der Wüste ein Grablied tönen zu hören, und erwartete nur noch, die gespenstischen Schatten der unter unsäglichen Qualen zusammengebrochenen Kamele zwischen den Dünenkämmen einherschleichen zu sehen, jenen suchend, der sie hinterlistig in diesen wahnsinnigen, verzweifelten, hoffnungslosen Kampf mit dem Tode gelockt hatte! Als wäre es gestern gewesen, erinnerte ich mich ihres fruchtlosen Spähens nach Wasser, um ihren brennenden Durst zu lindern. Wenn sie jetzt auf den saftigen Matten des Paradieses wandern, werden sie mir verziehen haben, daß ich sie einem so qualvollen Untergange entgegengeführt?

[S. 68]

Mit denselben Gefühlen, die einen Menschen beschleichen, der das Grab eines Freundes besucht, gegen den er im Leben, absichtlich oder unabsichtlich, unrecht gehandelt hat, und der dann seine Reue durch seine Wallfahrt zum Grabe und durch Streuen von Rosen zum Schweigen zu bringen und dem Toten gegenüber Buße zu tun sucht, riß ich den Blick von dem Schauplatze jener düsteren Erinnerungen los und wanderte, von meinen beiden Gefährten begleitet, schweren Schrittes bergauf. Der Schuttkegel war jetzt kupiert und spärlich mit Steppentamarisken bewachsen, deren lange, steife Nadeln an die der Kiefern des Nordens erinnern. Leicht wie ein Traum flüchteten zwei Rehe mit großen, elastischen Sprüngen, scheinbar kaum den Boden berührend, nach dem Tschokka-tag hinauf.

Wir überschritten einen kleinen Kamm nach dem anderen, bis uns endlich ein Jilga (Erosionstal) nach dem Hauptkamme hinaufführte, auf dem wir wieder eine kurze Rast hielten, um uns zu orientieren und zu sehen, nach welcher Seite wir die Schritte lenken müßten. Von dem Passe, dessen Höhe über dem See zirka 200 Meter beträgt, fällt auf der Ostseite eine steile Kluft nach einem Tieflande ab, das sich nach Ostnordosten bis ins Unendliche erstreckt.

Die Sonne war hinter dem Tusluk-tag versunken, und die Dämmerung begann. Dunkle Schatten, die wie ein Nebel aus der Erde aufzusteigen schienen, hüllten die schweigende Gegend ein, und die schwarze Sargdecke der Nacht breitete sich wieder über die Wüste und über diese Berge und Seen, die je wiederzuerblicken ich zu Anfang Mai des Jahres 1895 so wenig Aussicht gehabt hatte.

Dann galt es, in der Dämmerung einigermaßen heil von dem Kamme herunterzukommen; denn die Halde ist hier sehr steil, und die Männer wußten nicht recht, ob es gehen würde. Doch es ging; hinunter mußten wir auf irgendeine Weise; wir glitten, schleppten uns und rutschten auf unebenen Felsenplatten hinab, wobei mir der Geologenhammer, der mich auf derartigen Ausflügen stets begleitete, gute Hilfe leistete. Bald wurde das Gefälle weniger steil; wir kamen in das östliche Tal hinunter und erreichten mit eilfertigen Schritten seinen linken Bergvorsprung. Von hier sahen wir in der Ferne nach Norden zu dunkel einen neuen Ausläufer, an dem wir vorüber mußten, ehe wir den Sai-tag, einen kleinen einzelnen Berg in der Nähe des Lagers, erblicken konnten; auf ihm sollte, wie wir es mit den Unseren verabredet, heute abend ein Feuer brennen.

Wir querten die Basis des Schuttkegels und erreichten ganz ebenen Sandboden, auf dem es sich in der Dunkelheit leichter ging. Da ich an so weite Fußtouren nicht gewöhnt war, fühlte ich mich sehr ermüdet, und nach je zweitausend Schritten streckten wir uns fünf Minuten auf dem[S. 69] nachtfrischen Sande zum Ausruhen aus. Ich zählte die Schritte, um die Entfernungen zuverlässiger zu bestimmen und den Kreis, dessen Ausgangs- und Endpunkt das Lager war, zu schließen.

Links hatten wir den schwarzen Schattenriß der Bergkette, rechts den Sand, der auch hier so ansehnlich war, daß man seine unfruchtbaren Dünen für einen kleinen Ausläufer des Gebirges hätte halten können. Endlich erblickten wir in der Ferne den Widerschein eines Feuers, dessen Kern ein Hügel verdeckte. Weiß jemand, was es heißt, in dunkler Nacht einem Feuerscheine entgegenzugehen? Er ermutigt den Müden wie ein Leuchtturm, aber stundenlang kann man gehen, ohne daß sich der Abstand verkürzt. Nach Tausenden von Schritten passierten wir den davorliegenden Landrücken und sahen nun das Feuer und seine flackernden Flammen. Wenn aber das Feuer nicht gleichmäßig unterhalten und schwächer wird, scheint die Entfernung wieder zu wachsen. Und wenn dann wieder trockenes Brennholz und Reisig auf die Kohlen geworfen werden, flammt es von neuem auf, und wir glauben, nicht mehr weit von den hellen, deutlich erkennbaren Flammen zu sein. Wir blieben manchmal stehen und riefen, aber es kam keine Antwort. Schließlich erreichten wir doch die Grenze, bis zu der die äußersten Ringe der Schallwellen dringen, und vernahmen nun in der Ferne schwache Rufe.

Als die Männer am Feuer uns erblickten, steckten sie eine ganze Reihe dürrer Pappeln an, und nach einer Stunde hielten wir unseren Einzug in den festlich erleuchteten Wald. Auch zwei Pferde erwarteten uns, und nie hat es mir so gut gefallen, im Sattel zu sitzen! Islam und die anderen, die unruhig geworden waren, kamen uns sogar mit Laternen entgegen und lotsten uns über Sümpfe und kleine Wasserarme.

Vierzig Kilometer zu Fuß ist ziemlich viel, wenn man nicht daran gewöhnt ist. Erst um Mitternacht saß ich wieder in meinem schönen Zelte, erhielt mein Abendessen, trug meine Aufzeichnungen ein und ging dann zu Bett. Es war der erste strapaziöse Tag auf der Reise im Herzen von Asien, — aber es werden ihrer wohl noch mehrere kommen!

[S. 70]

Siebentes Kapitel.
Friedliche Heiligengräber.

Der 8. Oktober brachte einen herrlichen, absolut windstillen Morgen mit so vollkommen klarer Luft, daß die Berge wieder in den kleinsten Einzelheiten hervortraten. Der Fluß liegt blank wie ein Spiegel vor uns und sucht in weiten Bogen zwischen scharf ausgemeißelten Ufern, auf denen lachender, jetzt gelber junger Wald und üppige Kamischfelder stehen, seinen weiten Weg nach dem Lop-nor (Abb. 30).

Die Leute hatten also nicht viel zu tun; die Fähre glitt artig und ruhig stromabwärts, und nur bei den Biegungen mußte gelegentlich zu den Stangen gegriffen werden. Palta schläft langausgestreckt im Sonnenbrande auf dem Vorderdeck, während der junge Ibrahim, der Sohn unseres neuen Führers, der sich schlechtweg Mollah nennt, die Stange führen muß.

Der Fluß liebkost den Fuß des kleinen, alleinstehenden Berges Sai-tag, der in einem Winkel von 34 Grad nach dem Wasserspiegel abfällt und nur einigen jungen Pappeln und einem Hirtenpfade Raum gewährt (Abb. 32). Der Sai-tag setzt sich nach Norden in einigen kleinen Bodenerhebungen fort, die ebenfalls auf dem rechten Ufer des Flusses liegen. Auf einem dieser kleinen Rücken finden wir einen kleinen, von Stille und feierlichem Frieden umgebenen Begräbnisplatz (Abb. 31), wo unser Mollah, ein des Korans kundiger Mann, einige Gebete sprach, während welcher die anderen niederknieten. Über einem vornehmen Manne, der vielleicht ein berühmter Hirt oder Jäger gewesen, hatte man ein Mausoleum in Würfelform mit Kuppeln (Gumbes) auf dem Dache aus an der Sonne getrocknetem Lehm erbaut; um dieses herum sah man mehrere kleinere Grabdenkmäler. Auf dem eigentlichen Kamme des Landrückens lagen noch zwei Gräber, aber ohne jegliche Überdachung, nur durch einige Balken und Steine geschützt und nach Norden ganz offen, so daß man die Schädel der darin liegenden Gerippe sehen konnte. In dem einen Grabe teilten sich zwei Tote in den Raum. Diese Leichenstätten sahen nicht besonders alt aus.

[S. 71]

Mittags wehte ein schwacher Südwest, und da wir nach Nordosten gingen, hatten wir eine vortreffliche Fahrt. Ein Reh schwamm in einer Entfernung von zwei Flintenschüssen über den Fluß. Die Schützen, Islam und Mollah, lagen auf dem Vorderdeck mit ihren Waffen im Anschlag, doch das Tier schwamm schnell, war mit einem Satze am Ufer und verschwand wie der Wind im Schilfe. Bei More, wo wir in der Dämmerung auf dem linken Ufer lagerten, führte der Fluß 25,1 Kubikmeter Wasser in der Sekunde.

An diesem Lagerplatze traf mich ein großer Kummer. Mein Lieblingshund Dowlet war in den letzten Tagen melancholisch gewesen; er hatte weder fressen noch spielen wollen, und sein Puls war gestern abend auf 150 Schläge gestiegen. Er hatte, gegen seine Gewohnheit, nicht an der Exkursion teilnehmen wollen, und nachts schlief er nicht neben meinem Bette, sondern lief unruhig umher. Während des Tages streifte er mit herabhängendem Kopfe und eingeklemmtem Schwanze immer wieder vom Vorschiffe nach dem Achter und zurück. Als wir in More landeten, verließ er die Fähre für immer, lief heiser bellend im Gebüsche herum, als suche er etwas, versuchte zu beißen, wenn man sich ihm näherte, wurde immer unsicherer auf den Beinen und taumelte schließlich von der Jarwand in den Fluß, wurde aber von Alim gerettet. Wir legten ihn ans Feuer; sein Puls war auf 42 Schläge heruntergegangen, und er starrte jetzt ganz ohne Bewußtsein ins Leere. Alle meine Bemühungen waren fruchtlos; er fing schon an zu erkalten, und ich wachte bei ihm und streichelte ihn, solange noch ein Funke von Leben in ihm war.

Der Verlust dieses Hundes schmerzte mich tief. Er hatte mir stets treu Gesellschaft geleistet, war lustig und freundlich, voll drolliger Streiche, und ich spielte abends immer eine Weile mit ihm. Er war ein mageres, häßliches Hündchen, als wir Osch verließen, unter meiner Pflege hatte er sich aber zu einem wirklich schönen Hunde entwickelt. Und nun entriß ihn mir diese heimtückische Krankheit!

Am folgenden Morgen grub Mollah ein Grab, legte Dowlet, in ein Schaffell gehüllt, hinein und murmelte halblaut ein Gebet. Es tat mir sehr leid, als ich die feinen, seidenweichen Ohren in der Erde verschwinden sah. So seltsam es klingen mag, die Stimmung an Bord war den ganzen Tag so gedrückt wie nach einer wirklichen Beerdigung, und die Männer redeten nur im Flüstertone miteinander. Mir erschien es auf der Fähre öde und leer, seit Dowlet fort war, und erst nach mehreren Tagen kam ich wieder ins Gleichgewicht.

Als wir am 9. Oktober frühmorgens More verließen, suchte Jolldasch vergeblich seinen Kameraden und wunderte sich, daß er nicht mitkam.[S. 72] Der Fluß machte auf dieser Tagereise ziemlich phantastische Krümmungen, die aber so ausgedehnt waren, daß ich oft lange Peilungen ausführen konnte, mehr freie Zeit als sonst hatte und mich mit Nacharbeiten, Aufzeichnungen und dergleichen beschäftigen konnte. Die Leute hatten nicht viel zu tun, sie schliefen abwechselnd. Ibrahim erhielt den Auftrag, sich nach dem Basare von Tschiggan-tschöll zu begeben und dort Schnupftabak (Nas) für die anderen, die an dieser unentbehrlichen Ware Mangel litten, zu kaufen. Er hatte bis dorthin 6 Potai (etwa 20 Kilometer) und sollte nach zwei Tagen wieder zu uns stoßen.

10. Oktober. Der Morgen war kalt, um 6 Uhr zeigte das Thermometer nur +3 Grad; es war still wie im Grabe, als wir aufbrachen, nur einige Krähen sangen ihr wenig melodisches Morgenlied. Die Ufer waren öde; bisweilen aber verkündeten rauchgeschwärzte Stämme und Zweige, daß hier Hirten ihre Lagerplätze gehabt. Die gelbe Farbe herrschte jetzt im Walde vor, und die grünen Partien wurden immer weniger.

Der Mollah war für uns ein wirklicher Schatz und diente mir als geographisches Lexikon über diese wenig oder gar nicht bekannte Gegend. Die Brille auf der Nase und ein großes Blatt Papier vor sich, zeichnete er eine Karte des Gebietes, auf der alle Namen und Wege angegeben waren, und zeigte uns, bei welchen Flußkrümmungen die Wüste uns am nächsten war. Ich konnte diese Karte später bei mehreren Gelegenheiten kontrollieren und fand sie sehr korrekt. Er hatte diese Wälder auf der Jagd vielfach durchstreift und war dreimal in Schah-jar gewesen. Auch von unserer Besatzung war er gern gesehen, denn er unterhielt sie in den langen, einsamen Stunden an Bord mit Vorlesen.

Bei einer Bucht am Ufer vor uns überraschten wir eine Wildschweinherde. Ganz erstaunt über das große Ungetüm, das den Fluß hinuntergetrieben kam, betrachteten die Tiere uns einen Augenblick, setzten sich dann aber in raschen Trab und stoben in geschlossener Schar in das Dickicht hinein. Gegen Abend erreichten wir Ak-sattma, wo Kurban Bai sich am Fuße einer Sanddüne in der Nähe einiger einsamen Pappeln zwei Hütten erbaut hatte. Er ist Besitzer von 2000 Schafen und einer Anzahl Hornvieh und zieht Weizen und Melonen; wir konnten daher bei ihm unseren Proviant verstärken.

25. Das Innere meines Zeltes auf der Fähre;
rechts der Schreibtisch, links das Bett und der Fährmann Palta. (S. 40.)
26. Hirtenhütte in der Nähe des Masar-tag. (S. 60.)
27. Kasim beim Fischfang. (S. 61.)
28. Unser Lager bei Kurruk-asste. (S. 59.)

GRÖSSERES BILD

Obwohl es spät war, beschlossen wir noch einen Tschugulup (Flußbogen) zurückzulegen. Die Dämmerung senkte sich auf den spiegelblanken Fluß herab, dessen Oberfläche die Ringel der Strömung nur schwach zeichneten, und die Gegend war so still, daß man sein eigenes Herz klopfen hören konnte. Um die Leute aufzuheitern, holte ich unser Symphonion[S. 73] und ließ Islam Bai für Musik sorgen. Die Männer hatten ihre Freude daran und hörten andächtig zu, und Kasim hielt sich mit der Avisofähre uns möglichst nahe. Die hellen Töne des Instruments klangen wehmütig und melancholisch, als die Cavalleria von Stapel ging, sie klangen voll und festlich, als Carmen durch den Wald hinzitterte; feierlich klang es, als die Töne der schwedischen Nationalhymne über dem schweigenden Wasser des Jarkent-darja erschollen, und als ein Parademarsch abschnurrte, war es, als glitte die Fähre im Siegeszuge langsam, aber sicher, von Fanfaren und Militärmusik begrüßt, gerade auf ihr Ziel zu. Es war ein entzückender, friedlicher Abend. Die Luft war von Waldgeruch und den Düften der Wiesen und Kamischfelder erfüllt, und in der Luft herrschte eine feierliche Stille wie in einer Kirche. Das kleinste Geräusch, das dieses großartige, einsame Schweigen unterbrach, machte sich geltend, Sandkörner, die vom Uferrande ins Wasser fielen, eine Ente, die in einer geschützten Bucht schwamm, ein Fisch, der in dem rabenschwarzen Schatten unter der Uferwand plätscherte, ein Fuchs, der im Schilfe raschelte. Während die Dunkelheit schnell hereinbrach, trug uns die Strömung immer tiefer in die geheimnisvolle Landschaft hinein, gleich Geistern und Schatten einer anderen Welt, und die Bewohner des Waldes lauschten den Tönen unserer Spieldose gewiß voller Erstaunen. Es war nicht die beste Musik, die man hören kann, aber in der Umgebung, in der sie ertönte, wirkte sie wunderbar und mit einschmeichelndem Zauber, während die große Stille zu kühnen Träumen einlud.

Die Wassermassen, die uns im Laufe des Tages Gesellschaft geleistet hatten, sollten wieder eine Nacht Vorsprung gewinnen, als wir am linken Ufer unter herbstlich gelben Pappeln rasteten. Spät abends wurde eine Flußmessung vorgenommen, die 26,7 Kubikmeter in der Sekunde ergab. Nichts hindert den Fluß, an einem Tage wasserreicher als am vorhergehenden zu sein; teils kann der Zufluß aus dem Gebirge wechseln, teils können durch Verteilung des Luftdruckes und durch den Wind zufällige, natürliche Verdämmungen entstehen, die das nachdrängende Wasser für einige Zeit in seinem Fließen hindern oder aufhalten.

11. Oktober. Leichter, feuchter Nebel lag über dem Jarkent-darja, als wir um 7 Uhr das Ufer verließen. Als wir durch diesen Nebel nach Süden gingen, fiel der Widerschein der Strahlen der aufgehenden Sonne verschleiert auf die Wasserfläche, und die kleine Fähre und die Jolle zeichneten sich mit den darinstehenden Männern und deren langen Stangen wie schwarze Schattenrisse auf dem mit Licht gesättigten Hintergrunde ab. In einer geschützten Bucht lag auf dem Wasser eine einsame Ente, die das sich ihr bietende, ungewöhnliche Schauspiel ruhig betrachtete, als unsere[S. 74] kleine Flottille an ihr vorbeitrieb. Sie mußte aber ihre Neugierde teuer bezahlen und schmeckte uns zu Mittag vorzüglich.

Der Fluß verändert seine Eigenschaften nicht, er ist noch ebenso krumm, und da es obendrein heftig wehte, kamen wir nicht weit. Der Kopf kann einem bei diesen Windungen schwindeln; Sonnenschein und Schatten, Wind und Lee wechseln unaufhörlich ab; bald friert man, bald wird man gebraten, bald geht es verzweifelt langsam, bald mit schwindelnder Fahrt. In scharfen Biegungen verliert die Wassermasse durch die Reibung und den Druck gegen das Jarufer einen guten Teil ihrer Geschwindigkeit, welche Kraft in eine andere Arbeit, die Auswaschung des Ufers, umgesetzt wird. Auf diese Weise werden die Windungen im Laufe der Jahre immer größer. Man findet auch gewöhnlich, daß die Fahrgeschwindigkeit hinter den schärfsten Biegungen abnimmt.

Bei Duga-dschaji-masar stieß Ibrahim wieder zu uns. Außer einem ganzen Armvoll Melonen, Möhren, roten Rüben, Zwiebeln und Brot brachte er auch seine Mutter und seinen jüngeren Bruder mit, so daß wir neue Passagiere an Bord hatten.

Die Uferterrasse beim Lager lag 2,1 Meter über dem Wasserspiegel, und trotzdem war der Waldboden noch vom Hochwasser des Sommers feucht. Der Fluß ist also seitdem an diesem Punkte über 2 Meter gefallen. Je weiter wir kamen, desto schmäler, tiefer und langsamer wurde er, und nicht selten betrug seine Breite nur 15 Meter. Wir sehnten uns nach dem Aksu-darja, wo Mollah uns dreimal soviel Wasser versprach, und wir fuhren jetzt gewöhnlich täglich 11 Stunden. Mir wurde der Rücken ganz steif, wenn ich den ganzen Tag am Schreibtisch saß, und ich ersann daher eine neue Methode, die wenigstens einige Abwechslung brachte. Ich setzte mich in die kleine Jolle, machte mir dort von Filzdecken und Kissen ein Ruhebett zurecht und hatte alles Zeichenmaterial und die nötigen Instrumente bei mir. Um wirklich ungestört zu sein, hielt ich mich weit vor der Fähre und glitt nun ruhig und friedlich den Fluß hinunter. Die Pfeife im Munde, die Feder in der Hand und die Karte auf den Knien, freute ich mich der großen Stille; bequemer kann man durch ein unbekanntes Land wirklich nicht reisen.

Am 13. Oktober hatten wir die gewundenste Fahrt, die wir bis jetzt gemacht hatten. Man sitzt mit der Karte vor sich und fürchtet beinahe, eine Schleife einzeichnen zu müssen, dann aber biegt der Fluß im letzten Augenblick nach der entgegengesetzten Richtung ab. Die zweite Windung war noch toller; nach vierthalbstündiger Drift kamen wir wieder bei denselben Pappeln an, an denen wir vorübergefahren waren.

[S. 75]

Der Tag war naßkalt und unfreundlich, und wir müssen uns ordentlich in Pelze hüllen. Die Fährleute sitzen in ihre Tschapane eingewickelt da und geben acht, daß wir nicht auf Grund stoßen und sie ins Wasser springen müssen. Islam und Mollah zogen vor, auf kürzeren Wegen, welche die Flußbiegungen berührten, durch den Wald zu gehen. Sie waren sieben Stunden fortgewesen, als wir sie am Ufer, wo sie an einem Feuer schliefen, wieder auffischten. Sie hatten nur zwei Stunden gebraucht, um diesen Punkt zu erreichen, und hätten wir nicht ihr Feuer erblickt, sie würden uns nicht bemerkt, sondern dort ruhig weitergeschlafen haben.

Die ersten Frostnächte prägten dem Walde, der jetzt überall gelb ist, ihren Stempel auf. Nach einer frischen Brise trieben wir auf einer wahren Laubstraße. Der Wind hatte Massen gelben Laubes in den Fluß gefegt, dessen Fläche eine lange Strecke weit gelbgetüpfelt war. Man braucht nur einen Blick auf die nächste Umgebung zu werfen, um zu sehen, daß der geringste Windhauch auf die Fähre einwirkt: bald treiben die Blätter an uns vorbei, bald sind wir die schnelleren; ist es aber völlig windstill, so haben wir gleiche Fahrt mit ihnen.

Am 14. Oktober lagerten wir in der Jiggdelik genannten Gegend. Am rechten Ufer erhebt sich im Walde eine mit Tamarisken bewachsene Düne, auf welcher eine Stange aufgerichtet ist, die anzeigt, daß sich in der Nähe ein Masar oder Heiligengrab befindet. Unser Mollah war wiederholt dort gewesen, um Rubine zu suchen, die in dem vom Sande abgeschliffenen Feuersteinschutte, der eine ausgedehnte offene Ebene zwischen der Grenze des Wüstenmeeres und dem Walde bedeckt, zu finden sein sollen. Er hatte in der Nähe des Grabes übernachtet und eine bleiche, flackernde Flamme über der Kuppel schweben sehen. Rubine scheint er aber nicht gefunden zu haben.

Am 15. Oktober erinnerte der Fluß anfangs an eine verfitzte Schnur, nachher aber wurde er wieder ganz ordentlich. Es gilt als Regel, daß der Fluß da, wo er Bogen macht, auch schmal, tief und langsam ist, da aber, wo er eine gerade Richtung einhält, seicht, schnell und breit wird; das Gefälle ist hier größer. Manchmal sieht es aus, als sei das Wasser unschlüssig, nach welcher Seite es fließen solle; es scheint stillzustehen und zu überlegen, wohin der Boden sich neige.

Die Lailiker fingen an, mutlos zu werden, als sie Tag für Tag immer weiter von Haus und Heim fort- und immer tiefer in unbekannte Einöden und Wälder hineingetragen wurden. Es belebte sie jedoch ein wenig, daß wir bei Kuiluschning-baschi auf einen braven Mann stießen, der Jussup Do Bek hieß, hier in der Gegend seine Schafherden hütete[S. 76] und meine Leute damit beruhigte, daß es für sie die einfachste Sache auf der Welt sei, auf der großen Karawanenstraße über Aksu nach Hause zurückzukehren. Der erste Dschigit aus Kaschgar, der meine Post nach Dural bringen sollte, mußte schon unterwegs sein und sollte mit Jussups Hilfe in Aksu angehalten und an den Fluß hinuntergeschickt werden, welches Arrangement denn auch vortrefflich gelang.

Am 17. passierten wir einen der Mündungsarme des Kodai-darja, der uns aber nur wenig Wasser zuführte. Der Jarkent-darja läuft jetzt eine Strecke weit gerade nach Norden; die Windungen rauben uns nicht so viel Zeit wie bisher, doch wurde eine zurückgelegt, die sich einem vollständigen Kreise näherte und deren Landzunge nur zwanzig Klafter breit war. Ohne Zweifel wird das nächste Hochwasser diese Landzunge durchbrechen. Das Ufer ist 3½–4 Meter hoch, und seine Wand wird von beiden Seiten unterwaschen, so daß die Landzunge immer schmäler wird, bis sie schließlich einstürzt und der Fluß dann die Windung verläßt, die wie ein toter Schmarotzer liegen bleibt. Derartige tote Krümmungen oder Altwasser (Boldschemal) kamen in diesem Teile des Flußlaufes besonders häufig vor. In ihrem Bogen steht beinahe stets ein kleiner halbmondförmiger Köll mit klarem Wasser.

Von einem an Reisig und verdorrten Bäumen reichen Punkte am rechten Ufer sahen wir Rauchwolken aufsteigen, und bald flackerten Feuerzungen zwischen den Bäumen. Der Mollah erklärte, es seien Hirten, die auf diese Weise Tiger und Wölfe zu verscheuchen suchen. Tigerspuren hatten wir in den letzten Tagen wiederholt auf den Ufern gesehen. Als wir gerade vor dem Platze waren, sahen wir denn auch richtig ein paar Hirten am Ufer. Doch sowie diese die Fähre, das gespenstische weiße Zelt und die rabenschwarze Hütte erblickten, ergriffen sie die Flucht und liefen, was das Zeug halten wollte, Schafe, Hunde und Feuer ihrem Schicksal überlassend. Soviel wir auch riefen und ihrer durch Späher habhaft zu werden suchten, sie waren und blieben verschwunden, und wir mußten also auf Aufklärung über diese Gegend verzichten. Was sollten diese einfachen, redlichen, halbwilden Waldmenschen übrigens auch beim Anblick der Fähre denken, die wie ein Riesenschwan am Waldrande entlang geschwommen kam! Sie konnten doch nur denken, es sei ein böser Geist aus der Tiefe der Wüste, der auf der Streife sei und suche, wen er verschlingen könne.

Die Tendenz des Flusses, hier in der Gegend seine Windungen oft auszugleichen, ist in der Beschaffenheit des Bodens begründet. Dieser besteht aus Sand, und in dem losen, leicht niederstürzenden Material führt das Wasser ohne sonderlichen Widerstand seine Unterminierungsarbeit aus.[S. 77] Auf die Veränderlichkeit des Flusses gründet sich wieder der Umstand, daß der Wald spärlich ist und an den Ufern nicht alt werden kann. Die äußersten Pappeln stehen wie wartend da, bis die Reihe zu fallen an sie kommt, wenn die Jarwand unter ihnen abrutscht.

Am 18. Oktober hatten wir wieder Pech mit dem Winde. Als wir nach Norden kamen, herrschte nördlicher Wind, als aber der Flußlauf sich nach Nordosten wendete, kam der Wind auch aus dieser Richtung, und schließlich sprang er sogar nach Osten um. Das Bett war ziemlich offen und flach, und wir hatten von den Ufern und ihrer Vegetation wenig Nutzen. Die Luvseite des Zeltes war wie ein Trommelfell nach innen gekehrt, und faßte man das Zelttuch an, so fühlte man sofort, mit welcher Kraft dieser saugende Wind die Fähre nach Lee hinüberpressen mußte. Die Leute hatten den ganzen Tag vollauf damit zu tun, uns vor Kollisionen mit den Ufern zu bewahren, und hatten kaum Zeit, ihr einfaches, aus Brot und Melonen bestehendes Frühstück zu verzehren.

Auch am folgenden Tage tat uns der Wind großen Abbruch, und jetzt bereitete sich ein kleiner Sturm vor. Die Luft war mit Flugsand gesättigt, und die Sonnenscheibe zeichnete sich im Zenith nur wie ein schwach sichtbarer, gelbroter Schild ab. Man sah nicht, wohin es ging; die Ufer verschwammen in der dicken Luft, es sauste und pfiff in dem jungen Walde, und überall flogen gelbe, harte Blätter prasselnd umher. In scharfen Biegungen, wo die Gegenströmung einen Strudel bildet, sammeln sich diese Laubmassen zu kleinen Sargassoseen an; ein großer Laubkuchen dreht sich im Wirbel, und von seiner Peripherie sondert sich ein langer, schmaler Laubstreifen ab, der nach und nach wieder ins Treiben gerät, um dem nächsten Strudel zuzueilen.

Wir mühten uns einige Stunden gegen den starken Wind ab und wollten gerade Halt machen, als der Mollah erklärte, der Fluß werde bald einen Bogen nach Süden machen. Er hatte recht, und bei reißendem, günstigem Winde sauste die Fähre an den Ufern vorbei, so daß das Wasser um den Vordersteven brauste. Es dauerte jedoch nicht lange, so machte der Fluß wieder einen Bogen und setzte seinen Weg nach Nordosten fort. Wir rasteten nun einige Stunden in einer ruhigen Bucht.

Als der Wind sich etwas gelegt, ging es weiter. In der Dämmerung trat wieder völlige Ruhe in der Atmosphäre ein, und wir beschlossen, im Mondschein weiterzufahren. Die Route wurde beim Lichte der photographischen Laterne aufgezeichnet, die den Kompaß, die Uhr und die Karte schwach beleuchtete, aber nicht die freie Aussicht auf die mondbeglänzte Landschaft vor mir störte. Von hinten schwach von dem roten, von vorn grell von dem bläulichen Lichte beleuchtet, sahen die Männer phantastisch[S. 78] aus, und ihre sonst dunkeln Silhouetten hoben sich scharf gegen das glitzernde Spiel der Mondstraße auf dem Flusse ab.

Spät abends legten wir am Ufer von Jekkenlik-köll an, wo es vorzügliches Brennholz in Menge gab. Als wir am 20. Oktober früh vom Ufer abstießen, war von den mächtigen Stämmen, die wir zu unserm Feuer benutzt hatten, nur noch ein grauer, rauchender Aschenhaufen übrig. Das Bett des Jarkent-darja war heute außerordentlich regelmäßig gebaut, und dieselben Formationen, dieselben Krümmungen kamen abwechselnd immer wieder. Sie waren wie nach ein und demselben Muster gezogen.

Beim Masar Chodscham, der ein Ende vom rechten Ufer liegt, wurde Rast gemacht, und wir alle, außer Kader, der die Fahrzeuge bewachen sollte, wanderten durch den lichten Wald dorthin. Der Masar ist über dem Grabe von Hasrett-i-Achtam Resi Allahu Anhu errichtet worden, eines Heiligen, der zur Zeit des Propheten diese Gegenden durchwandert haben soll. Man findet hier einige trockene, graugelbe Lehmhaufen, die wimpelgeschmückte Stangen und Antilopenschädel trugen und mit einem Reisiggehege umgeben waren, um Schafen und Rindern das Entweihen des Ortes unmöglich zu machen. Auf der Südseite erhob sich ein sehr einfaches Chaneka (Bethaus) aus lotrecht in die Erde geschlagenen Pfählen und Stangen mit einem Dache darüber.

Die Muselmänner brachten dem Heiligen ihre Huldigung dar und hielten eine längere Andacht; hell erklang des Mollah „Allahu ekbär“ durch die tiefe Stille des Waldes. Es liegt wirklich etwas Feierliches in solchem Gottesdienst. Wir waren von dem tiefsten Schweigen umgeben; nur die schlummernden Blätter, die noch an ihren dünnen Stielen saßen, zitterten leicht in einem hier im Walde kaum merkbaren Winde. Ein Heiligtum kann keinen friedlicheren Platz finden als hier, fern von allen Fahrstraßen an einem Flusse, der jetzt zum erstenmal von Menschen befahren wird. Nicht das geringste Geräusch störte die Ruhe des Waldes, nur ein Hase war bei unserem Herannahen entflohen. „La illaha il allah“ verkündete die tiefe Stimme des Mollah voller Überzeugung, und die Worte verhallten in der Ferne zwischen den Pappeln.

Ende November wird der Tag des Heiligen von den Einwohnern von Awwat gefeiert, die sich dann in ziemlich großer Zahl hierher begeben und drei Tage im Walde bleiben. Der Scheik, der Wächter des Heiligengrabes, hält sich um diese Zeit in einer benachbarten Hütte auf, wohnt aber sonst in Awwat.

Als wir nach den Schiffen zurückkehrten, tat es uns leid um den jungen Kader, der nichts von der Herrlichkeit zu sehen bekommen hatte, und er erhielt daher Erlaubnis, sich in unserer Spur allein nach dem[S. 79] Masar zu begeben und dann in der nächsten Flußbiegung mit der Fähre zusammenzutreffen. Doch wir waren noch nicht weit gelangt, als er schon angelaufen kam, als gälte es, sein Leben zu retten. Die düstere Waldeinsamkeit und die gespensterhaft wehenden Wimpel hatten ihn so erschreckt, daß er jede Lust verloren hatte, den Heiligen mit seinem Besuche zu beehren. Den jungen Helden erfüllte Angst, als Reiser unter seinen eigenen Tritten knackten, er hielt jeden Busch für einen Räuber und glaubte, lebende Wesen winkten mit den Lumpen der Grabstangen.

Der Name des heutigen Rastortes, Kalmak-kum, zeugte wieder davon, daß in längst entschwundenen Zeiten einmal Mongolen an diesem Flusse gewohnt haben. Hier lebten drei Hirtenfamilien mit 300 Schafen. Sie hatten ein „Tor“, eine Art Falle, um Raubvögel zu fangen, aufgestellt, die aus vier, in der Erde quadratisch befestigten, elastischen Gerten bestand, deren Spitzen sich einander zukehren und die ein sackförmiges Netz ausgespannt halten. Oben entsteht also eine Öffnung, durch welche der Falke auf das unten im Netz festgebundene Huhn oder die Taube stößt. Wenn er sich mit seiner Beute aufschwingen will, drehen sich die elastischen Gerten, wodurch sich die Öffnung des Netzsackes schließt und das Netz über den Falken fällt, der nun darin verwickelt und gefangen ist.

Während der folgenden Tagereise war der Fluß ungewöhnlich gerade. Im großen und ganzen waren jedoch die Tage einander ziemlich gleich. Man glaube aber nicht, daß ich die Reise einförmig gefunden und den Tag herbeigesehnt hätte, an welchem unsere Fähre im Eise einfrieren würde, welcher Tag früher oder später kommen mußte. Mir war jeder Tag, der hinging, von immer größerem Interesse. Ich lebte das Leben des Flusses mit und beobachtete gespannt seine ersterbenden Pulsschläge und seinen launenhaften Lauf durch Innerasiens innerstes Tiefland. Es machte mir Vergnügen, den Gang der Instrumente zu verfolgen, die das Herannahen des Winters, das Abnehmen der Wärme und das Kürzerwerden der Tage anzeigten, und die Karte des unendlichen Flusses entwickelte sich Blatt um Blatt.

Obgleich meine Leute nicht aus demselben Grunde wie ich an der Drift der Flottille Gefallen finden konnten, folgten sie ihr doch mit großem Interesse. Immer lebhafter wurde abends am Lagerfeuer die Unterhaltung, und man rechnete die Tage bis zur Ankunft an den großen Stationen Awwat und den Mündungen des Aksu-darja und des Chotan-darja aus; Schah-jar war noch so weit entfernt, daß es noch nicht in Frage kam. Doch vergingen ihnen die Tage jedenfalls oft recht langsam. Es bedurfte indessen nur z. B. des Einfangens einer Wildente, um Leben in die Gesellschaft zu bringen und ihnen ein wenig Zerstreuung[S. 80] zu gewähren. Ein solches Kerlchen plätscherte heute im Schutze eines gestrandeten Reisigbündels, als die mit Kasim und Nasar bemannte Avisofähre vorbeitrieb. Letzterer hatte seinen Platz im Achter der großen Fähre verlassen müssen, weil er von dem ewigen Inswassersteigen wunde Füße bekommen hatte. Die Ente muß krank oder verängstigt gewesen sein, denn sie ließ sich mit den Händen greifen und wurde in mein Zelt gesetzt. Dort aber kam sie bald auf andere Gedanken, entwischte uns wieder und schwamm dann zwischen den Fähren, bis sie von neuem eingefangen und auf der Proviantfähre angebunden wurde, deren Menagerie sich so um ein neues Mitglied vergrößerte.

Wir hatten jetzt nur noch 16,8 Kubikmeter Wasser unter der Flottille, und die Aussichten für die Fortsetzung der Fahrt begannen wieder bedenklich auszusehen.

29. Kasim mit seinem Fang. (S. 61.)
30. Eingeborene am Ufer des Tarim. (S. 63.)
31. Begräbnisplatz am Sai-tag. (S. 70.)
32. Der Jarkent-darja am Sai-tag. (S. 70.)
33. Falkner mit Jagdadler. (S. 82.)
34. Die Fähre an der Mündung des Aksu-darja. (S. 83.)

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Achtes Kapitel.
Der große, einsame Tarim.

Am 22. Oktober legten wir den geradesten Teil des ganzen Flusses zurück. Nur eine einzige Stelle war insofern kritisch, als das Wasser sich dort in zwei Arme teilte, von denen wir den kürzesten wählten. Ich untersuchte vorher mit der Jolle die Tiefen und fand den Arm passierbar. Die Wassertemperatur war jetzt bis auf +10 Grad heruntergegangen; ich hatte daher keine Lust zum Baden. Kasim dagegen hatte entschieden andere Ansichten von der Nützlichkeit eines Bades. Er stand wie gewöhnlich im Achter der Proviantfähre und schob sie mit der Stange vorwärts, wendete aber dabei zu große Kraft an und fiel rücklings in den Fluß, zur riesigen Freude der anderen.

Gerade vor uns verschwindet die breite Straße des Flusses in unendlicher Ferne; es ist eine Serie horizontaler Striche, weißer und schwarzer; die ersteren sind in Verkürzung gesehene Wasserflächen, die letzteren aber Sandbänke und Anschwemmungen.

So kurz die folgende Tagereise auch war, gewährte sie doch viel Abwechslung, und die Männer mußten die ganze Zeit die Augen offen halten. Je mehr wir uns Awwat nähern, desto zahlreicher treten Hirten auf, und ihre Hütten werden auf beiden Ufern immer häufiger. Auf dieser Tagereise passierten wir den Punkt, wo der Kaschgar-darja, unser alter Bekannter Kisil-su, sich in zwei engen, größtenteils von Sand, Schlamm und Vegetation verstopften Armen in den Jarkent-darja ergießt, wobei er ihm nur einen geringen Zuschuß von Wasser zuführt.

Wir waren noch nicht weit gelangt, als ein Reiter am Ufer erschien. Doch sowie er uns erblickt hatte, verschwand er wieder zwischen den Büschen; wir entnahmen daraus, daß es ein Kundschafter gewesen. Nach einer Weile sprengte denn auch richtig ein ganzer Reitertrupp auf das Ufer zu; sie stiegen von den Pferden, breiteten Teppiche auf der Erde aus und luden uns zu einem aus Trauben, Melonen und Brot bestehenden Dastarchan ein. Es war der Joll-begi (Weginspektor) von Jangi-Awwat, der hierher geschickt worden war, um uns willkommen zu heißen. Nach kurzer Rast[S. 82] fuhren wir mit dem Weginspektor als Gast an Bord weiter, während seine Schar uns am linken Ufer begleitete.

Bald darauf tauchte noch eine Schar Reiter in feinen, farbenprächtigen Chalaten und teilweise von ungewöhnlich distinguiertem Aussehen auf. Auch jetzt mußten wir Halt machen und wieder einen Dastarchan annehmen. Es war der Vornehmste der Andischaner Kaufleute in Awwat; auch er wurde an Bord genommen; seine Reiter ritten auf dem rechten Ufer. Wir hatten jetzt also auf beiden Ufern Gefolge.

Noch eine Strecke weiter wurde unsere Ankunft von etwa 30 Reitern an einem Ufervorsprunge erwartet, der mit Früchten, Brot, Eiern und ganzen geschlachteten Schafen vollständig übersät war. Diesmal war es der Bek von Awwat, der in höchsteigener Person uns bewillkommnen wollte; auch er gesellte sich zu den übrigen Gästen auf dem Achterdeck, das jetzt reicher bevölkert war als je zuvor. An den Ufern folgten unserem Zuge ganze Reiterschwadronen. Eine so festliche, stattliche Prozession hatte der Jarkent-darja wohl noch nie gesehen. Acht Falkner zu Pferd waren mit; zwei trugen Adler (Abb. 33), die anderen Jagdfalken, deren wilde Augen unter Kappen verborgen waren; sie gehören bei Galaaufzügen mit zum Staate. Später gaben uns die Raubvögel und ihre Pfleger eine Tamascha (Vorstellung, Schauspiel), die vier Hasen und ein Reh einbrachte.

Beim Dorfe Mattan blieben wir einen Tag, der jedoch nicht unbenutzt geopfert wurde. Ich entwickelte Platten, machte eine astronomische Bestimmung, maß die Wassermenge und sammelte wichtige Aufklärungen über die Gegend und den Fluß bis zur Mündung des Aksu-darja. Die Leute wußten von keinem Hindernisse auf dem Wege dorthin zu erzählen und versicherten, daß wir dann so viel Wasser im Flußbette haben würden, daß es mit rascher Fahrt vorwärtsgehen würde.

Nachdem alle für ihre Dienste entschädigt worden waren und der Bek uns einen neuen, in der Gegend heimischen Jäger und einen neuen Hund besorgt hatte, der den Namen „Hamra“ (Reisegefährte) erhielt, fuhren wir am 25. Oktober tiefer in die Einöden hinein. Die Wassermenge war auf 14,3 Kubikmeter gesunken.

Eine Tatsache, die uns sehr zustatten kam und über deren Dasein und Erklärung man uns in Mattan Bescheid gab, war, daß der Fluß im Oktober wieder ein wenig zu steigen anfängt. Dies würde als Anomalie erscheinen, wenn man nicht eine befriedigende Erklärung dafür erhielte. Der Grund liegt darin, daß das Wasser vieler Bewässerungskanäle, das in dieser Jahreszeit nicht länger für die Äcker gebraucht wird, in Gestalt von Quellen in den Fluß zurückkehrt. Am 26. Oktober fanden wir 17 Kubikmeter, fast 3 Kubikmeter mehr als gestern.

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Der 27. war ein interessanter Tag, denn wir wußten, daß wir am Abend an die Mündung des Aksu-darja gelangen würden. Es war ein stiller, herrlicher Herbstmorgen; der Fluß war blank wie ein Spiegel, in dem sich die Ufer so scharf widerspiegelten, daß man genau aufpassen mußte, um zwischen Spiegelbild und Wirklichkeit unterscheiden zu können.

Alten Wald gibt es hier nirgends, nur junge Pappeln, dagegen aber Tamarisken und anderes Gesträuch in Menge. An einem Punkte, wo wir an Land gingen, ergriff Hamra die Flucht, und erst nachdem eine richtige Treibjagd auf ihn angestellt worden war, gelang es uns, ihn wieder einzufangen. Er war ein Wilder, der lange nicht heimisch wurde, und vergeblich versuchte Jolldasch, ihn zum Spielen zu bringen.

Mit steigender Spannung spähten wir nach dem Erscheinen des großen Flusses aus, der für die Männer von Lailik ein Fremdling war, von dessen Dasein sie nur hatten erzählen hören und dem sie sich nun mit einem gewissen Respekt nahten. „Hinter jener Pappel dort,“ erklärte Mollah, „wird er erscheinen.“ Als er sich hierin irrte, versuchte er es mit der nächsten Biegung und verriet damit bloß, daß er hier weniger gut Bescheid wußte als bisher.

Mittlerweile nahm die Stromgeschwindigkeit ab, und schließlich ging es so langsam, daß die Fähre mit den Stangen weitergestoßen werden mußte. Die Leute stießen, schoben und sangen im Takte, denn unser Ziel mußten wir zum Abend erreichen. Bei einer Gelegenheit blieb Alims Stange im Schlamme stecken, während die Fähre weitertrieb; er aber wußte guten Rat, er entledigte sich der Kleider, schwamm zu seiner Stange hin, machte sie los und kehrte dann schwimmend mit ihr nach der Fähre zurück.

Mittags hatten wir in der absoluten Windstille echte Sommerhitze, und ich saß in Hemdärmeln und sog den Duft von Aprikosen, Trauben und Birnen ein, die in einer Schüssel auf dem Teppiche lagen.

Nach ein paar letzten Krümmungen schien sich die Landschaft vor uns aufgetan zu haben, und jetzt trat der mächtige Aksu-darja in all seiner Herrlichkeit hervor (Abb. 34). Mit gespannter Aufmerksamkeit betrachteten die Männer von Lailik diesen Riesenfluß und fragten: „Sollen wir uns auf seine unruhige Fläche hinauswagen?“

Merkwürdigerweise biegt der Jarkent-darja gerade beim Zusammenflusse nach Nordwesten ab. Der Aksu-darja kommt von Nordnordwest, und der vereinigte Fluß, der von da an meistens Tarim genannt wird, obwohl bis in die Lop-nor-Gegend noch hin und wieder der Name Jarkent-darja vorkommt, wendet sich nachher nach Osten. Der Aksu-darja ist hinsichtlich der Richtung der bestimmende und, nach Aussage der Eingeborenen, auch zu allen Jahreszeiten der wasserreichere der beiden Flüsse.

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Wir verließen den letzten Vorsprung des rechten Ufers und gingen nach dem linken Ufer hinüber. In dem untersten Teile hatte die Strömung nicht nur aufgehört, sondern kehrte unter dem mächtigen Drucke des Wassers des Aksu sogar um. Es hing an einem Haare, so wäre unser Fahrzeug in den nächsten Wasserwirbel hineingezogen worden. Es gelang uns aber noch im letzten Augenblick, am Ufer festen Fuß zu fassen und die Fähre zu vertäuen, sonst wären wir unfehlbar mit fortgerissen worden, und das hätte uns nicht gepaßt, da wir beabsichtigten, an der Stelle des Zusammenflusses selbst, Jarkent-darjaning-kuilüschi, Rast zu machen, um das Fahrwasser genauer zu untersuchen, bevor wir die Reise fortsetzten (Abb. 35).

Der Ruhetag wurde zu allerlei Arbeiten benutzt; ich machte eine astronomische Bestimmung, entwickelte und kopierte Platten, photographierte, machte einen Ausflug mit der Jolle, um das geeignetste Fahrwasser zu sondieren, und kam erst lange nach Mitternacht zur Ruhe. In dem großen Flusse war das Wasser im Gegensatze zu dem des Jarkent-darja, das sich infolge des langsamen Fließens klären kann, sehr trübe. Massen von Wildgänsen flogen über das Lager weg in herrlicher, bewundernswert geordneter, pfeilspitzenförmiger Phalanx, zwischen deren Flügeln sich oft ein paar einzelne Vögel befinden. Ich habe die weiten Reisen dieser klugen Vögel stets bewundert und angestaunt; sie kommen vom Lop-nor und gehen über Jarkent nach Indien. Sie flogen etwa 200 Meter hoch und schrien die ganze Zeit, und ehe noch die eine Schar wie ein Punkt am Horizont verschwunden war, kam schon die zweite mit demselben ängstlichen Geschrei von Osten herangesaust. Diese eilfertigen Pilger finden ihren Weg durch die Luft so sicher, wie die Bächlein der schmelzenden Schneefelder und der Gletscher den Weg nach dem Lop-nor finden. Vielleicht sind sie, gleich den Wassertropfen, willenlose Sklaven einer ihnen innewohnenden Naturkraft. Ich ziehe indessen vor zu glauben, daß sie sich, wenn sie oben in der Luft schreien, über den Weg, den nächsten Rastort oder die ihnen drohenden Gefahren beraten. Gewiß ist, daß man der Phalanx, wenn sie auf unermüdlichen Flügeln über die Erdenmisere hinwegjagt, mit sehnsüchtigen Blicken folgt.

Als wir am Morgen des 29. vom Lande abstießen, klang das „Bißmillah“ der Muselmänner nachdrücklicher als gewöhnlich, und sie standen auf ihren Posten mit gespannten Muskeln und faßten die Stangen mit so festem Griffe, daß die Knöchel der Hände weiß aussahen. Es war jedoch nicht so gefährlich, als sie geglaubt hatten. Die Fähre wurde allerdings von einem ziemlich heftigen Wirbel erfaßt und drehte sich einmal rund herum, glitt dann aber ebenso sicher wie sonst weiter.

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Wir hatten nicht weit bis zu dem Punkte, wo der Weg zwischen Chotan und Aksu den Tarim kreuzt; dort gibt es eine Fähre, die sechs Kamele auf einmal überzusetzen vermag.

30. Oktober. Der Fluß war heute wunderbar gerade; keine einzige Biegung betrug 60 Grad, alle waren stumpf und langgestreckt. Der Flußweg war daher nicht viel länger als der Pfad, der längs des linken Ufers nach der Gegend von Schah-jar geht. Die letzte Strecke vor der Dämmerung spähte ich gespannt nach rechts, nach Süden, um mir die Mündung des Chotan-darja nicht entgehen zu lassen. Endlich zeigte sich in dem jungen Walde eine breite Gasse, ein flaches, ein paar Meter über dem Spiegel des Aksu-darja liegendes Bett, das jetzt ganz trocken und leer war. Während der kurzen Zeit, in welcher der Chotan-darja Wasser führt, soll er ein gewaltiger Fluß sein, und tatsächlich wird der Aksu-darja unterhalb dieser Einmündung viel breiter und reich an Anschwemmungen. Doch die Richtung des Hauptflusses wird durch den Nebenfluß nicht im geringsten beeinflußt. Wieder wurde ich an die verhängnisvolle Wüstenreise von 1895 erinnert, doch ich sah in dem Chotan-darja einen treuen Freund wieder, der mir einst das Leben gerettet.

Die Landschaft ist in dieser Gegend einförmig, offen und flach; alles ist groß angelegt: die Wasserflächen sind ausgedehnt, das Schwemmland endlos, die Ufer etwa einen Kilometer auseinander und der Wald so weit entfernt, daß man die Pappeln kaum in der Mittagsbrise rauschen hört.

An Bord herrscht eine heitere Stimmung, und die Männer von Lailik betrachten mit größter Spannung die neue Welt, die sich vor ihren Augen aufrollt. Der Joll-begi ist noch bei uns; er sitzt vor meinem Zelte und gibt mir wertvolle Auskunft über die Gegend, die Namen der Ufer, Hirten und Dörfer und das Wechseln der Wassermenge im Laufe des Jahres. Der neue Hund Hamra fängt allmählich an, sich in sein Schicksal zu finden und sich umzugewöhnen. Er sieht Jolldasch beim Mittagessen sehr auf die Finger, läßt sich aber noch nicht herab, mit ihm zu spielen. Einer unserer Hähne pflegt auf dem First des Zeltes zu sitzen und zu krähen, und die Hühner, die jetzt auf der großen Fähre frei umherlaufen und picken dürfen, machen mir nicht selten eine Visite.

Die Fähre glitt mit außergewöhnlicher Schnelligkeit den endlosen Fluß hinab, und es war schon tief in der Nacht, als wir nicht ohne Schwierigkeit an einem abschüssigen Ufer anlegten. Die ausgelassene, laute Unterhaltung der Leute am Lagerfeuer wurde von dem Bellen einiger verirrter Füchslein, die nach ihrer Mutter schrien, begleitet; so deutete ich mir wenigstens die eigentümlichen Töne, die aus dem Walde erschallten.

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Am Morgen des 31. Oktober hatten wir uns noch nicht weit vom Ufer entfernt, als der Wind aufsprang und in kurzer Zeit zu ungewöhnlicher Stärke anschwoll. Ich war winterlich angezogen, im Pelze, mit einer Reisedecke und in Filzstiefeln; trotzdem erfror ich beinahe in diesem heimtückischen Winde, der gerade ins Zelt hineinfuhr und dessen Leinwand wie einen Ballon zu zersprengen drohte. Die Finger erstarren vor Kälte, und man kann nicht so fein wie gewöhnlich zeichnen; man muß dann und wann aufstehen, sich die Hände reiben und die Füße warmstampfen. Das Flußbett ist so breit und flach, daß der Sturm ungehindert über das Land und die Wasserfläche hinfahren kann, welch letztere gestern noch ruhig wie ein Spiegel lag und jetzt zu schaumgekrönten Wellen aufgerührt ist, die so gegen den Vordersteven der Fähre schlagen, daß das ganze Schiff bebt. Da das Zelt fortzufliegen drohte und nicht einmal die Strömung länger gegen den Gegenwind ankonnte, ließ ich halten, obwohl wir nur ein paar Stunden unterwegs waren.

Sobald wir am Lande angelegt, ein Feuer angezündet und uns etwas gewärmt hatten, ließ ich die Jolle auftakeln und eilte, zur großen Bewunderung der Männer, die das Segelboot bei solchem Wetter noch nicht fahren gesehen, auf dem Wege, den wir gekommen waren, wieder zurück. Das leichte Boot flog buchstäblich über das Wasser; die heftigsten Windstöße schienen es so zu heben, daß sein Boden die Wasserfläche nur streifte. Über einen Sandgrund glitt ich wie über ein Nichts hinweg; es knackte im Maste, und das Steuerruder wurde sehr angestrengt, aber es war herrlich in dieser wilden, großartigen Einsamkeit, und bald war die Fähre hinter einer Landspitze verschwunden.

Nun war ich wieder ganz allein im Herzen von Asien; nur die schäumenden Schlagwellen, die herbstlich gelben Schonungen und der in ungezügelter Raserei dahinjagende Wind leisteten mir Gesellschaft, und ein Gefühl des Wohlbehagens erfüllte meine Seele, als gehörten diese unendlichen Strecken mir, und als könnte ich, unabhängig von Mandarinen und Häuptlingen, hier im Lande herrschen, wie ich wollte. Der Wind flüsterte mir ins Ohr, daß dieser gewaltige Fluß hier viele tausend Jahre auf mein Kommen gewartet habe und daß der Tarim, dem Gebote eines höheren Willens gehorchend, seine blanke Bahn nur deshalb durch die Wüste ziehe, damit er mir die beste Fahrstraße nach dem Herzen des Kontinents bieten könne. Wer konnte mir das Eigentumsrecht auf diesen Wasserweg streitig machen? Vielleicht die Hirten, die mit ihren Herden an den Ufern wanderten und wie erschreckte Antilopen entflohen, sobald wir lautlos hinter den Landspitzen auftauchten? Wer konnte uns anhalten, uns Zoll und Paß abfordern? Vielleicht die Tiger, deren smaragdgrüne Augen abends[S. 87] zwischen den Nadeln der finsteren Tamariskendickichte funkelten? Niemand kannte diesen Fluß besser als ich. Die Jäger, diese Kinder wilder Wälder, die wir tagelang mitnahmen und die wir verabschiedeten, sobald ihr Wissen erschöpft war, kannten nur die Gegend, innerhalb deren Grenzen sie der Spur des flüchtigen Hirsches zu folgen pflegten, aber jenseits dieser Grenzen verloren sie sich in Mutmaßungen über das für sie Geheimnisvolle und wußten weder, woher der Fluß kam, noch wohin seine unerschöpflichen Wassermassen eilten. Ich dagegen sammelte in meinen Tagebüchern alles, was die Söhne des Landes wußten; ich lebte Stück für Stück mit diesem rastlosen Flusse, ich fühlte ihm jeden Abend den Puls und maß seine Wassermenge genau, und ich wußte, daß, wenn der Fluß auch Jahrtausende hindurch derselbe geblieben war, er doch sein Bett veränderte, während sein Wasser seinem Untergange in dem fernen Lop-nor entgegeneilte, wo es in anderer Gestalt wieder auferstehen und seinen Kreislauf zwischen Himmel und Erde fortsetzen würde. Die Geschichte und der Lebenslauf des Tarim lagen bei mir in Wort, Bild und Karte wie in einem Archive verwahrt, und kein Tag verging, ohne daß sich das Material vermehrte und zu einer Monographie anwuchs, von der ich in dieser Arbeit nur einen ganz geringen Teil, ohne die ermüdenden Einzelheiten, mitteile.

Auf einer solchen Eilfahrt bei günstigem Winde gedenkt man gar nicht der zunehmenden Entfernungen. Endlich aber erwachte ich aus meinen Träumen, steuerte nach dem nächsten Ufer, zog das Boot hinauf und vertäute es und ging dann in den jungen Wald hinein, um ein Feuer anzuzünden und mein mitgebrachtes Frühstück zu verzehren.

Auf der Rückfahrt dachte ich an die nächste Zukunft und sah sie in den lichtesten Farben glänzen. Was sie in ihrem Schoße tragen konnte, wußte ich nicht, aber ich wußte, daß alle Pläne, um gut zu gelingen, klug ersonnen sein mußten, und deshalb drängten sich mir eine Menge Fragen auf: Würden wir mit dem ganzen Flusse vor Eintreten der Winterkälte fertig werden? Wo sollte das Hauptquartier, von dem die großen Exkursionen ausgehen sollten, aufgeschlagen werden? Würden die Dschigiten mich finden und mir gute Nachrichten aus der Heimat bringen? — Zu rechter Zeit war ich wieder an Bord und kopierte Negative. Ich wollte der Sicherheit wegen von allem zwei Exemplare haben. So wurden z. B. die täglichen Aufzeichnungen erst mit Bleistift in kleine Bücher geschrieben und dann abends mit Tinte in das große Tagebuch eingetragen. Dies verursachte viel Extraarbeit, verlieh aber auch ein Gefühl der Sicherheit; ein Exemplar wenigstens mußte doch glücklich mit heimgebracht werden können.

Das einzige, was meine Geduld sehr auf die Probe stellte, war der Wind oder vielmehr, daß wir meistens Gegenwind hatten. Am 1. November[S. 88] machte der Fluß eine Biegung nach Norden, und der Wind kam aus derselben Richtung. Vorn im Zelte hatte ich den ganzen Tag Schatten, obwohl die Sonne gerade jetzt ein willkommener Gast gewesen wäre. Die Minimaltemperatur war auf −8,8 Grad heruntergegangen, das Wasser in dem auf meinem Nachttische stehenden Glase und die Tinte waren gefroren, und ich schauderte, wenn ich in die eiskalten Kleider kroch. Es wäre einfach gewesen, ein Kohlenbecken in das Zelt zu stellen, aber ich wollte dies so lange wie möglich vermeiden, um den Gang der selbstregistrierenden Instrumente nicht zu stören.

Von Kara-tograk an ist der Fluß so gerade wie noch nie. Er erstreckt sich unendlich weit nach Nordnordosten und vor uns, am Horizont, schien die Wasserfläche direkt in den Himmel überzugehen; es ist, als verließe sie die Erde und ergösse sich in den grenzenlosen Weltenraum.

Während der letzten Tage hatten wir beobachtet, daß der Fluß ein wenig stieg, was davon kam, daß die Kanäle für dieses Jahr gesperrt worden waren und nun dem Flusse den Rest der Anleihe zurückzahlten. Die gewaltige Wassermasse arbeitete mit großer Energie in dem Bette, und an ein paar Stellen, wo die Sanddünen unmittelbar nach dem Ufer abfielen, sah man, wie sie an der Basis unterminiert wurden, so daß allmählich immer neuer Sand nachrutschte.

Wo die Uferwand aus Lehm besteht, ist sie oft nicht nur lotrecht, sondern hängt sogar über. Gerade als wir an solch einem vorspringenden Tische vorbeistrichen, stürzte dieser ins Wasser, überschüttete die Steuerbordseite mit einer kalten Dusche und verursachte solchen Seegang, daß die schwere Fähre stark schaukelte. Ziemlich oft ertönen dumpfe Schüsse wie von einer fernen Festung, wenn Blöcke, die ihr Gewicht nicht mehr zu tragen vermögen, ins Wasser stürzen.

Eine Strecke weiter unten tauchte eine einsame Wanderin aus dem Schilfe auf. Sie rief uns an und sagte, sie wolle uns zehn Eier schenken. Die Fähre wurde nur so nahe ans Ufer geschoben, daß ihr Achter das Schiff berührte, Islam nahm das Bündel mit den Eiern in Empfang und gab der Frau einige Münzen. Wir brauchten nicht einmal anzuhalten, um das Geschäft abzuschließen. Doch keiner an Bord konnte sagen, wer die Wanderin sei. Es ging uns mit ihr wie mit dem Winde, wir wußten nicht, woher sie kam, noch wohin sie ging.

35. Landung an der Mündung des Aksu-tarja. (S. 84.)

GRÖSSERES BILD
36. Unser Nachtlager bei Ala Kunglei Busrugvar. (S. 92.)

GRÖSSERES BILD

An dem Lagerplatze dieses Abends, der Leschlik hieß, führten die Fährleute zur Belustigung der anderen ein komisches Schauspiel auf. Zwei Männer tragen je einen Kameraden wie einen Mehlsack auf dem Rücken. Dieser wird, ohne den Zweck zu ahnen, an Händen und Füßen gebunden, jene haben sich mit Stöcken bewaffnet und prügeln aus Leibeskräften auf[S. 89] einander los. Die Schläge treffen die unglücklichen Mehlsäcke, die in Wut geraten und einander ausschimpfen. Wenn es dem einen Träger gelungen ist, dem Sacke seines Gegners einen Hieb zu versetzen, so sucht sich der Gegner zu rächen und prügelt den Sack des ersten Trägers so, daß der Stock pfeift. Das Opfer treibt dann seinen Träger an, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, und dieser schlägt nun wieder — nicht den, der die Prügel ausgeteilt hat, sondern seinen gefesselten Reiter. Palta und Naser waren es, die schlugen, und Kasim und Alim diejenigen, welche die Schläge erhielten. Palta und Naser lachten, daß ihnen Tränen in die Augen traten, während Kasim und Alim vor Wut heulten und die Zuschauer, zu denen auch ich gehörte, vor Lachen beinahe erstickten. Um Gelegenheit zur Rache zu erhalten, schlugen Kasim und Alim vor, sie wollten nun auch eine Weile die Rolle der Träger spielen, wogegen aber die beiden anderen protestierten; sie hatten zu nachdrücklich drauflosgeschlagen und hatten nun ein schlechtes Gewissen. Diese Posse hatte den Vorteil, daß beide Parteien in der Abendkälte erwärmt wurden.

[S. 90]

Neuntes Kapitel.
In schwindelnder Fahrt flußabwärts.

Die Temperatur der Luft und des Wassers war in langsamem, aber stetigem Sinken begriffen, und es war klar, daß der Tag, an welchem das Treibeis seine größten Dimensionen annehmen würde, nicht mehr lange auf sich warten lassen konnte. Die Achterdeckspassagiere ließen sich von der Kälte nicht anfechten. Jetzt hatten sie immer ein größeres Feuer auf dem Herde und hockten in ihren Pelzen um die Glut herum, plaudernd, Märchen erzählend, Kader als Vorleser zuhörend oder Brot backend. Auch die Fährleute wärmten sich dort der Reihe nach ein bißchen, ich aber konnte meinen Schreibtisch nur zwischen langen Kompaßpeilungen verlassen, um ihrem Beispiele zu folgen.

Der Joll-begi versäumte nie, mir alle Namen oder Flußbettveränderungen mitzuteilen, doch heute, 2. November, war er unpäßlich. Er bekam eine Dosis Chinin und hatte sie kaum hinuntergeschluckt, als er auch schon versicherte, er fühle sich bedeutend besser. Die Einbildung tut viel hier auf Erden. Der gute Mann war gewiß ganz einfach seekrank infolge der rasenden Geschwindigkeit unserer heutigen Fahrt.

In der kalten, ruhigen Morgenluft, in welcher der Schall scharf und deutlich weithin über die Wasserflächen getragen wird, hörte es sich an, als würden in der Gegend eine Masse Häuser niedergerissen, denn unausgesetzt stürzten Sandmassen und Erdblöcke, die über Nacht gefroren, in der Sonne aber wieder aufgetaut waren, in den Fluß. Es ging prächtig. Nur einmal fuhren wir fest; es sah eigentümlich aus, als das Wasser plötzlich um die Fähre, die eben noch so schön mit dem Strome trieb, zu kochen und zu schäumen anfing. Es brauchte aber keiner hineinzuspringen, denn da das Vorderende aufgerannt war, drehte sich das ganze Fahrzeug im Kreise und wurde dadurch wieder flott.

Kasim geht wie gewöhnlich voran und unaufhörlich ruft er und warnt vor Untiefen, steckengebliebenem Treibholz, abgestürzten Uferwällen oder anderen kritischen Punkten. Palta führt das Kommando auf der großen Fähre;[S. 91] er ist stets kaltblütig und guter Laune, brüllt aber die Männer im Achter fürchterlich an, wenn ein schnelles Manöver ausgeführt werden muß, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Die anderen setzen blindes Vertrauen in seine Seetüchtigkeit; er hat aber auch mehrere Jahre die Fähre zwischen Lailik und Merket geführt.

Heute durfte keiner schlafen; alle standen mit festgefaßten Stangen spähend da, als ob sie eine Katastrophe erwarteten. Die Strömung ließ ihnen keine Ruhe, und immer schneller ging es den Tarim hinunter.

Ein einziges Mal, in einer scharfen Biegung, in der die Strömung die Fähre mit wilder Hast gegen das Ufer drängte, konnten sie nicht ausweichen. Das schwere Fahrzeug trieb gerade auf das steile Ufer los, und nun galt es, rechtzeitig mit den längsten Stangen das Vorderschiff abzustoßen, die Fähre in einen spitzen Winkel mit dem Ufer zu bringen und sie so zu drehen, daß sie wieder mit der Strömung parallel lag. Doch die Leute kamen nicht mehr dazu; es ging zu schnell, das Vorderende stieß mit aller Kraft auf, und ein paar Purzelbäume waren die Folge. Weiter geschah kein Unglück, nur ein paar Schaufeln Erde fielen auf das Deck. Wir legten jetzt 78 Meter in der Minute zurück.

Von der Walddüne Balik-ölldi (der tote Fisch) an wird die Stromgeschwindigkeit noch größer. Hier hat sich der Fluß auf einer Strecke von zwei Tagereisen seit drei Jahren ein neues Bett gegraben. Das alte, Kona-darja, bleibt trocken und verlassen zur Linken liegen, mit ihm auch der Wald.

In dem neuen Stromlaufe veränderte sich auf einmal der Charakter des Flusses. Er wurde schmal und gerade, und man sah alle Kennzeichen dafür, daß er von der Erosion des Wassers noch nicht genug ausgearbeitet worden war. Die Landschaft war öde, der Boden bestand aus Sand. Das Bett ist außerordentlich scharf markiert. Da wo die Krümmungen das Bett noch nicht haben erweitern können, gleicht es einem engen Korridor, und von den hohen, jähen Ufern stürzen Massen von Sand und ganze Blöcke in den Fluß, so daß es aussieht, als steige am Wasserrande Rauch auf. Wiederholt liefen wir Gefahr, von derartigen Erdrutschen ertränkt zu werden. Wenn je, so hieß es hier aufpassen; es ging mit schwindelnder Fahrt, und wir hatten das Gefühl, als würden wir widerstandslos in einen Strudel hineingerissen; doch es blieb uns nichts weiter übrig, als bereit zu stehen und die Stöße zu parieren.

Nun hörten wir Kasim der großen Fähre ein verzweifeltes Halt zurufen. Der Fluß war nur 20 Meter breit, mitten im Fahrwasser war eine treibende Pappel auf Grund geraten, und auf derselben hatte sich eine solche Masse von Reisig und Schilfwurzeln aufgehäuft, daß das Ganze einen[S. 92] kleinen Holm bildete. Weißschäumend wirbelte das Wasser um den Holm, und wäre die Fähre der Strömung gefolgt, so hätte sie unfehlbar anprallen müssen und wäre dann von der Wucht des Stoßes und dem nachdrängenden Wasser zum Kentern gebracht worden.

Nur 50 Meter trennten uns von der gefährlichen Stelle; die Katastrophe schien unvermeidlich. Die Angst schnürte mir die Kehle zusammen; ich fürchtete, daß in diesen kochenden Strudeln alles verloren gehen könnte, und an Bord herrschte ein entsetzlicher Wirrwarr. Im letzten Augenblick gelang es dem flinken Alim, mit einer Leine an Land zu springen. Das Ufer war sehr steil, und beinahe wäre er in den Strom hinuntergerutscht, faßte aber noch festen Fuß und zog die Leine aus Leibeskräften an, unterstützt von den anderen, die unter dem wilden Ruf „ja Allah“ die Stangen entgegenstemmten. Die Fähre machte kurz vor dem Holme Halt, und die Strömung kochte und wogte um sie herum.

Um Kasim rekognoszieren zu helfen, stieg ich in die Jolle, die ich mitten in der Strömung verankerte, um auch mit dem Strommesser die Geschwindigkeit zu messen. Doch in dem hier herrschenden Sog war dieses Manöver ziemlich gefährlich, ehe man es richtig ausführen konnte. Das erste Mal war ich drauf und dran zu kentern; das Boot war halb voll Wasser und das in Arbeit befindliche Kartenblatt durchweicht. Sowie der Anker Grund gefaßt hatte, legte sich die Jolle so schief, daß die eine Längsseite gegen die Strömung lag; doch nachdem das Ankertau in das Vorderteil gezogen worden war, legte sich das Boot parallel mit ihr, ängstlich wie ein Pendel schwingend. Der Strommesser zeigte 101 Meter in der Minute, welche Geschwindigkeit sich während der ganzen Tagereise nicht verminderte.

Unterdessen gelang es den Männern, den Vordersteven der Fähre von dem gefährlichen Holme abzuhalten, und nun ging es über die schäumende Stromschnelle hinweg. Nachher wurde die Fahrt durch dieses öde Land, wo kein lebendes Wesen an den Ufern zu sein schien, ungehindert fortgesetzt. Nicht weit südlich vom Jangi-darja sollen Jäger dann und wann Spuren von wilden Kamelen finden, doch an den Fluß selbst kommen diese scheuen Wüstentiere niemals.

An dem Masar Ala Kunglei Busrugvar, wo sich einige Hirten aufhielten, erschien es uns passend, die Nacht zu bleiben, um so mehr, als die Männer dem Heiligen dafür danken wollten, daß er uns unbeschädigt über die Stromschnellen hatte kommen lassen.

Die Fähre mitten in der reißenden Drift zum Halten zu bringen, war nicht leicht. Ich landete zuerst mit der Jolle, Alim warf mir eine Leine zu, und dann zog ich die Fähre so dicht ans Ufer, daß er an Land springen und das übrige besorgen konnte (Abb. 36).

[S. 93]

Als die Fähre vertäut war, rüttelte das Wasser an ihr; es knackte in ihrem Holzwerke, und um die Jolle herum, die vor dem Vordersteven angebunden war, brodelte weißer Schaum. Es dröhnt von den Jarufern, wo Blöcke herabstürzen, man hört den Sand sausend die Böschungen herunterrutschen, und es knistert in dem Lagerfeuer auf dem kahlen Ufer, sonst aber ist die Gegend friedlich, sogar die Hunde sind zur Ruhe gegangen, denn hier ist nichts anzubellen.

Am 3. November schlängelte sich das Bett mehr, die Fahrt war aber ebenso gut. Es wurde uns nur schwer, in scharfen Buchten mit Gegenströmung glatt durchzukommen. In einer solchen wäre die Jolle beinahe zwischen den beiden Fähren zerquetscht worden, wenn ich sie nicht noch im letzten Augenblick hätte retten können. Morgens früh war eine kleine Wasseransammlung am Ufer mit dünnem, spiegelblankem Eise bedeckt, dem ersten, was wir bisher gesehen. Schließlich passieren wir den Punkt am linken Ufer, wo der Jangi-darja wieder in den Kona-darja mündet; damit wird die Geschwindigkeit des Wassers wieder die gewöhnliche. In Tellpel, dem heutigen Lagerplatze, wohnen neun Hirtenfamilien mit 8000 Schafen.

Die Hirten dieser Gegend bedienen sich des folgenden Fischereigerätes. Es ist ein Netz, das fächerartig in einer dreizinkigen Gabel, die unmittelbar über der Wasserfläche an einer Achse befestigt ist, ausgespannt wird. Das Ganze gleicht einem Fledermausflügel, der mittelst einer Leine unter das Wasser herabgelassen und wieder in die Höhe gezogen werden kann. Wenn der Flügel heruntergelassen und aufgespannt ist, wird der Fisch in die Falle gejagt, und wenn man fühlt, daß er gegen das Netz stößt, schließen sich die Arme der Gabel, das Netz faltet sich wie eine Tüte und wird emporgezogen.

Der Joll-begi war verabschiedet worden; ein Hirt, der in der Geographie des Landes weniger gut als wünschenswert gewesen wäre, bewandert war, hatte uns nur einen Tag begleitet, aber in Tellpel fanden wir einen alten Ehrenmann, der für uns unschätzbar war. Er hieß Mollah Faisullah, war 54 Jahre alt, hatte einen großen weißen Bart und trug eine gewaltige Hornbrille; er war stets heiter und gesprächig und las den Achterdeckpassagieren vor.

Am 4. und 5. November nahm der Fluß wieder einen anderen Charakter an. Er war schmal, hatte ein deutlich ausgearbeitetes Bett und war ziemlich reißend. An beiden Seiten dehnte sich eine unendliche Steppe von gelbem Schilf, aus der einzelne, mit Tamarisken bewachsene Dünen wie Inseln hervortraten. Es war eine Zwischenstufe zwischen einem alten und einem neuen Bette, und tatsächlich sollte es auch erst acht Jahre alt sein. Der Tarim verändert also seine Lage, aber nur auf kurzen Strecken seines[S. 94] Laufes, und es ist interessant zu beobachten, daß wir die alten, verlassenen Flußbettstücke beinahe immer im Norden liegen lassen oder, mit anderen Worten, daß der Fluß nach rechts wandert. Daß an dem neuen Flußbette kein Pappelwald steht, ist natürlich, denn er hat noch nicht aufsprießen können. Doch an den verlassenen Strecken steht er dicht und üppig, obgleich er dort gewöhnlich zum Untergange verdammt ist, wenn das Wasser sich zurückgezogen hat.

Was dazu beitrug, die Einförmigkeit an Bord zu unterbrechen, waren die plötzlichen Einfälle der Hunde. Sie pflegten ins Wasser zu springen, an Land zu schwimmen und dann die Fähre am Ufer ganze Tagereisen zu begleiten. Was sie jedoch nie begreifen lernen konnten, waren die sich regelmäßig wiederholende Topographie des Flusses und seine Erosionsgesetze. Wenn die Fähre an einem konkaven Ufer entlang ging, liefen sie oberhalb des Zeltes nebenher; wenn dann aber die Wassermasse das Bett kreuzte, um am anderen Ufer einen ebensolchen Bogen zu beschreiben, schwammen sie hinüber, um wieder in unserer unmittelbaren Nähe zu sein. Dieses Manöver wiederholte sich überflüssigerweise bei jeder Biegung, und es war unmöglich, ihnen begreiflich zu machen, daß, wenn sie nur warteten, wir bald wieder an ihr Ufer zurückkehren würden. An einigen Tagen kreuzten sie den Fluß zwanzigmal und waren schließlich so erschöpft, daß sie heulten. Jolldasch war lustig anzusehen, wenn er im Wasser plätscherte, nach Atem rang und nach jedem kalten Schluck hustete.

Bei Initschke hatte der Fluß 80,6 Kubikmeter Wasser in der Sekunde, und es war deutlich zu sehen, daß er allmählich stieg — in einer Nacht um 5 Zentimeter. Diese letzte Messung erforderte dreistündige Arbeit bei Laternenschein. Der Fluß war zu breit, als daß wir, wie sonst, ein Tau von Ufer zu Ufer hätten spannen und das Boot an den Messungspunkten daran festbinden können. Die Strömung, die bis zu 86 Meter in der Minute betrug, war auch viel zu reißend, als daß sich das Tau überhaupt hätte hineinbringen lassen. Ich versuchte freilich, damit hinüberzurudern, doch gelang es mir nicht. Statt dessen wurde ein dünner, mit weißen Knoten eingeteilter Bindfaden von Ufer zu Ufer gespannt und an jedem Knoten die Jolle verankert.

In der Nacht auf den 5. November stieg der Fluß noch um 2 Zentimeter. Der Tarim fließt jetzt wieder nach Nordost. Auf einer sandigen Alluvialhalbinsel bei Hässemet-tokai saßen zwölf dunkelgraubraune, fast schwarze Geier, gewaltige, plumpe Vögel, die uns ruhig betrachteten und nur die Köpfe wie Sonnenblumen drehten, während die Fähre um ihre Landzunge herumfuhr. Sie hatten sich hier bei dem Kadaver eines Pferdes zusammengefunden. Die Geier waren entschieden satt; sie saßen in Gruppen[S. 95] in einiger Entfernung von dem Kadaver, schienen zu verdauen und ließen sich von einigen dreisten Raben Gesellschaft leisten. Etwas weiter unten passierten wir wohl 40 Geier, die auf den dürren Zweigen abgestorbener Pappeln thronten; sie saßen wie Höllengeister oder Todesdämonen in dem struppigen Walde da, und die Umgebung paßte gut zu ihrer unheimlichen Erscheinung.

Da war es angenehmer, den endlosen Karawanen der Wildgänse, die noch immer nach Westen zogen und aus Scharen von 80–100 Vögeln bestanden, mit den Blicken zu folgen. Sie fliegen in den feinsten Drachen- oder Pfeilspitzen, von denen gewöhnlich ein Flügel sehr lang und der andere kürzer ist. Stets sieht man an der Spitze einen Führer, der geradeaus fliegt und nie über die einzuschlagende Richtung unschlüssig zu sein scheint, während die Flügel, den Bewegungen des Führers entsprechend, hin und her wogen wie zwei im Winde flatternde Blätter.

Charakteristisch für diesen Teil des Tarimlaufes war auch die Menge des steckengebliebenen Treibholzes und der auf Grund geratenen Pappelstämme. Viele von diesen gehen mit der Zeit unter, andere befinden sich in einem Stadium abnehmender Tragkraft. Nur das eine Ende ist untergegangen, während das andere noch in der Richtung der Strömung liegt und nickend über der Oberfläche auf und nieder steigt. Oft sah ein solcher Pappelstumpf wie eine auf uns zuschwimmende Seeschlange aus. Doch nur das um das Hindernis herum kochende Wasser täuschte das Auge; wir waren es, die sich näherten und darüber hinwegglitten, während der Stumpf wie ein Wasserkobold gegen den Boden der Fähre schlug.

Aus dem Hirtengehöfte Bostan nahmen wir am 6. November einen neuen Cicerone, einen Jäger, mit, aber Mollah Faisullah durfte trotzdem bei uns bleiben, denn er war lustig und heiter und las den anderen vor von den Taten und Leiden der Helden und von sagenhaften Städten mit tausend Toren und tausend Wächtern an jedem Tore. Die Bewohner von Bostan wollten uns Melonen schenken, wir nahmen sie aber nicht an, da solche Delikatessen jetzt nachts gefrieren. Dagegen ließen wir uns einen großen weißen Hahn gefallen, der kaum an Bord gebracht war, als er auch schon auf den alten Hahn losfuhr und ihn über Bord drängte. Da der neue Passagier entschieden alleiniger Herr im Hause sein wollte, mußte mein bisheriger Morgenwecker von Kasim in Obhut genommen werden. Von nun an waren sie die besten Freunde — aus der Ferne; krähte der eine, so antwortete der andere sogleich; es klang ganz ländlich.

In Kara-daschi, dem Lager vom 6. November, waren wir dicht bei dem Punkte, wo wir nach dem gefährlichen Zuge durch die Wüste nördlich vom Kerija-darja im Jahre 1896 zuerst Wasser gefunden hatten.

[S. 96]

7. November. Daß wir uns bevölkerten Gegenden näherten, sah man daran, daß hier und da Schilfhütten und sogar Lehmhäuser vorkamen und an den Ufern nicht selten Kähne angebunden lagen. Diese ähnelten immer mehr dem Lop-nor-Typus; sie waren aus einer einzigen Pappel ausgehauene, langgestreckte, schmale Fahrzeuge, die sich von den Lop-nor-Kähnen dadurch unterschieden, daß der Vorderrand in eine Art von durchbohrtem Handgriffe mit einer Leine auslief und das Hinterteil eine kleine Plattform, einen Sitzplatz, bildete (Abb. 37). Das Ruder ist schaufelförmig.

Die Fährleute nahmen einen kleinen Kahn in Beschlag. Alim führte eine förmliche Wasserpantomime auf mit seinen verzweifelten Versuchen, des Bootes Herr zu werden; wie er auch ruderte, er konnte es nicht dazu bringen, gerade vorwärtszugehen, war aber desto öfter nahe daran, zu kentern. Bei Tschong-aral wurde das Boot gegen ein größeres vertauscht. Es war nicht unsere Absicht, den Kahn zu stehlen und so die friedlichen Ufer zu brandschatzen, wir bezahlten ihn vielmehr noch an demselben Abend. Islam und Mollah trieben nun in dem Kahne, und die Flottille hatte sich also um ein Fahrzeug vergrößert.

In der Gegend von Gädschis mündet links ein Arm des Schah-jar-darja (Mus-art), der vom Chan-tengri kommt. Er ist in der Mündung 29 Meter breit, und, soweit das Auge flußaufwärts reicht, sieht es nicht aus, als ob diese Breite sich verminderte. Das Bett war mit stillstehendem Wasser von 78 Zentimeter Durchsichtigkeit gefüllt, während das des Tarim nur bis 4 Zentimeter durchsichtig war. Das Wasser hatte infolgedessen eine herrliche rein blaue Farbe, und die Grenze war ziemlich scharf.

Während ich damit beschäftigt war, den Arm von der Jolle aus zu untersuchen, erschien der Joll-begi von Tschimen, ein alter Mann in veilchenblauem Tschapan. Er brachte Briefe von Nias Hadschi und den Kosaken mit, die uns mitteilten, daß es der Karawane gut gehe.

Bei dem Dorfe Teres erwarteten mich am Ufer eine Menge Geschenke, wie Schafe, Früchte, zwei Kisten Birnen aus Kutschar, eine mit Granatäpfeln, ferner Hasen, Fasanen, Hühner, Eier und Milch, kurz eine willkommene Verstärkung des Proviants. Unser Transportmittel hat vor Kamelen den Vorzug, daß es nie knurrt, wenn man ihm auch noch soviel aufpackt; es geht darum doch ebenso weit und ebenso gut.

Wir lagerten an dem Punkte, wo der Weg von Kara-dasch und Kungartschak-bel nach Tschimen, Schah-jar und Kutschar über den Fluß führt. Es war genau dieselbe Stelle, wo wir 1896 den zugefrorenen Fluß kreuzten. Chalil Bai, der alte Ehrenmann, in dessen Hause ich damals zu Gaste war, kam mir, auf einen Stock gestützt, trotz seiner 73 Jahre entgegen. Es ist stets ein großes Vergnügen, alte Freunde wiederzusehen;[S. 97] es ist ein Band, das wiederangeknüpft wird. Ich saß lange mit dem Alten in gemütlicher Unterhaltung am Feuer.

37. Kähne auf dem mittelsten Tarim. (S. 96.)
38. Der See Koral-dungning-köll. (S. 105.)
39. Der Jumalak-darja von Koral-dung aus gesehen. (S. 105.)
40. Besuch des Beks von Schah-jar in Tschimen. (S. 97.)

GRÖSSERES BILD

Während der zwei Rasttage, die wir am Ufer von Tschimen zubrachten, wurde wie gewöhnlich eine astronomische Ortsbestimmung nebst verschiedenen Nacharbeiten ausgeführt und der Fluß gemessen. Hier fand uns Abdurahman, der erste Dschigit aus Kaschgar; er hatte in seiner versiegelten Posttasche lauter gute Nachrichten. Er nahm meine Post und außerdem noch einen hermetisch verlöteten Blechkasten mit Negativen mit nach Kaschgar zurück. Ein neuer Jäger wurde angenommen und ein Vorrat von Öl gekauft, für den Fall, daß nächtliche Fahrten mit Fackeln in Frage kommen würden.

Der 10. November war der erste wirkliche Wintertag. Der Morgen war bitterkalt, feuchter Nebel lag über der Erde und verteilte sich erst unter dem recht scharfen Südwestwinde, der sich jetzt erhob und unsere Fahrt sehr beschleunigte. Der Boden war weiß bereift, und auch die Fähre und die schwarze Kajüte waren weiß. Die Luft war grau und neblig, der Himmel mit Wolken bedeckt, und die ganze Landschaft mit blauweißen, winterkalten Tinten gefärbt.

Noch um 10 Uhr vormittags hatten wir −2 Grad und nachmittags um 5 Uhr wieder −1 Grad; nur fünf Stunden erhob sich die Quecksilbersäule ein wenig über den Nullpunkt. Das waren trübe Aussichten, denn wenn der Fluß jetzt zuzufrieren begann, wurden wir unvermeidlich vor Beendigung der Flußreise vom Eise eingeschlossen. Wir sehnten uns von diesem offenen, kahlen, jedem Wind und Wetter preisgegebenen Tschimen, wo das Brennholz sehr knapp ist, fort. Abdurahman, der Kurier, wurde in dem Kahne über den Fluß gesetzt, sein Pferd schwamm nebenher; ich war herzlich froh, als ich ihn mit der kostbaren Posttasche glücklich auf dem anderen Ufer sah.

Der Bek von Schah-jar, der mit Reitergefolge hierher gekommen war, um mir seine Aufwartung zu machen (Abb. 40), schenkte mir einen Hund, ein junges Tier, das wie ein Fuchs aussah, den Namen Dowlet erhielt und ein komischer vierbeiniger Clown war. Gleich vom ersten Tage an hielt er wütende Wache an Bord und wurde der auserkorene Liebling aller zweibeinigen Passagiere mit Ausnahme des Hahnes.

So lichteten wir denn unsere Anker und glitten fort von denen, die am Ufer standen und uns mit staunenden Blicken nachschauten. Die Flottille bestand jetzt aus vier Fahrzeugen. Da wir jetzt gewöhnlich zwei Wegweiser hatten, mußte der eine mit dem Kahne vorausgehen und Kasim mit der schwer belasteten Proviantfähre hinterdrein fahren. Die Tagereise wurde lang, aber der Wind half schieben. Das offene Bett erstreckte[S. 98] sich in Krümmungen nach Osten. Hier und da berührten wir Wälder auf beiden Seiten, sonst war das ganze Land eine Kamischsteppe mit ausgedehnten Hochwasseranschwemmungen.

Es war schön, an diesem Abend die steifgefrorenen Glieder am Feuer wärmen zu können. Der Sicherheit halber wird jetzt stets ein kleiner Holzvorrat an Bord genommen, falls es dort, wo man lagert, kein Brennholz geben sollte.

Am 11. November passierten wir verschiedene Hirtenlager, und am 12. begann der Uferwald wieder häufig und schön zu werden. Alle geschützten Buchten und Arme waren jetzt morgens überfroren, und manchmal sahen wir kleine Eisscheiben, die sich am Ufer gebildet hatten, auf dem Wasser schwimmen.

Der Fluß heißt hier Ugen oder Ögen, aber auch Terem oder Tarim. Die Kähne haben schon genau dieselbe Form und dasselbe Aussehen wie im Loplande. Mehrere tausend Wildgänse schwebten täglich über unseren Häuptern hinweg. Oft waren die Flügel der Pfeilspitze mehrere hundert Meter lang, und manchmal schien der Führer den anderen um etwa 30 Meter voranzufliegen. Wahrscheinlich waren es die letzten Pilger, die sich durch die Kälte der letzten Tage hatten zum Aufbruch bestimmen lassen. An den Pappeln sitzt kaum noch ein einziges Blatt; sie haben ihr gelbes Herbstgewand abgeworfen und warten auf den Winter.

Am nächsten Tage passierten wir den Punkt, wo der Intschikke-darja von links gerade in einer scharfen Biegung nach Norden einmündet. Es fängt an, im Zelte grimmig kalt zu werden, und ich pflege in der Jolle Platz zu nehmen, um mich ein bißchen der Sonne zu erfreuen. Die Temperatur des Wassers ist jetzt mittags nur 2 Grad über Null, und die langen Stangen haben unten eine Eishülse. In Biegungen, in denen die Südsonne nicht ankommen kann, ist die Uferlinie von einem fußbreiten, höchstens 12 Millimeter dicken Eisrande eingefaßt, der jetzt ein wenig über der Wasserfläche schwebt, die gefallen war, seit er sich gebildet hatte.

Wir mußten im Dunkeln lange nach einem geeigneten Lagerplatze suchen. Islam und Nasar gingen zu Fuß und waren bald außer Sicht. Doch spät abends leuchtete in der Ferne ein Feuer. Sie hatten an einer Uferstelle Halt gemacht, wo eine alte Sattma stand, und nährten nun, ohne Rücksicht auf die Hütte und ihren Besitzer, das Feuer mit dem dürren Holze.

Unsere Tage flossen ruhig, still und einförmig dahin. Das Eintreten des Winters veränderte unsere Lebensweise nur wenig. Es ging nur mehr Brennholz drauf, aber unser Lieferant brummte nicht; es handelte sich bloß darum, im Dunkeln passende Stellen mit trockenem Holze[S. 99] zu finden, denn mit solchen, wo nur junge Bäume wuchsen, war uns wenig gedient. Ich wurde jetzt erst um 6½ Uhr geweckt, und es war wenig angenehm, bei 11–12 Grad Kälte aufzustehen und die eiskalten Kleider anzuziehen. Die Toilette wurde daher mit einer virtuosenhaften Geschwindigkeit abgefertigt, zu der die Gründlichkeit in umgekehrtem Verhältnis stand. War man angekleidet und hatte man um 7 Uhr die ersten meteorologischen Ablesungen gemacht, so war es um so schöner, nach dem Feuer eilen zu können, das in der Morgenkälte lebhaft brannte, nachdem es über Nacht den Boden um sich herum erwärmt hatte. Wenn ich ans Ufer komme, begrüßt mich von allen Seiten ein freundliches, höfliches „Salam aleikum“. Die Männer sitzen dann gewöhnlich beim Frühstück, das aus gekochtem Schaffleisch mit Bouillon, worin Brotstücke schwimmen, und Tee besteht. Auch ich verzehre nun mein Frühstück am Feuer. Darauf werden die gewöhnlichen Ufermessungen vorgenommen, und wenn alles fertig ist und die Lebensgeister wieder angeregt sind, kommandiere ich „Mangele“ (Weiterfahren!), und in einem Augenblick sind die Taue gelöst, die Stangen im Wasser, und die Fähre setzt ihren langen Weg den Tarim hinab fort.

Der Fluß ist glücklicherweise so tief, daß wir nur selten auf Grund stoßen, und in den meisten Fällen können wir uns mit den Stangen wieder flottmachen. Das Achterdeck gewährt einen recht malerischen Anblick. Männer, Schafe, Hühner, Säcke, Kisten durcheinander, und eine Rauchsäule zieht von ihrem Feuer über den Fluß hin, so daß die Fähre von fern wie ein Dampfer aussieht. Dort wird Brot gebacken, meine gewaschene Wäsche an ausgespannten Leinen getrocknet, schmutziges Geschirr abgewaschen und Werkzeuge und Hausgerät angefertigt. Naser war damit beschäftigt, mit dem Beile ein gewaltiges Steuerruder zurechtzuhauen, mittelst dessen man mit der in Gegenströmung geratenen Fähre würde ausbiegen können. Kasim und Kader haben sich in den Besitz zweier Kähne gesetzt, mit denen sie die kleine Fähre manövrieren, wenn die Stangen nicht bis auf den Grund reichen. Wenn der Tag einförmig zu werden beginnt, wird von allen Seiten ein Lied angestimmt, das in dem Schweigen der Wälder recht stimmungsvoll erklingt. Gegen Abend erstirbt jedoch der Gesang. Alle sehnen sich nach dem großen Lagerfeuer, aber wir fahren noch eine ziemliche Weile nach Sonnenuntergang im Mondschein weiter. Keine Feuer leuchten an diesen einsamen Ufern, nur die Reflexe des Mondes folgen geschäftig den Ringeln auf der Wasserfläche, und das Achterdeckfeuer wirft einen matten Schein auf das Schilf am Uferrande.

Wenn ich endlich „Indi toktamiß“ (Anhalten) kommandiere, wird es an Bord lebendig. Im Nu wird die Fähre festgemacht, einige Feuerbrände[S. 100] und alles notwendige Küchengeschirr an Land getragen, in einem gewaltigen Topfe der Asch (Reispudding) mit Fleisch und Gemüse zubereitet und die Kiste mit meinem Service, Tee, Gewürzen und Konserven neben das Feuer gestellt, wo jetzt auch ich mein spätes Mittagessen zu verzehren pflege. Alle Zutaten zum Pudding sind an Bord vorbereitet worden, und es dauert daher auch nicht lange, bis Islam mit der Meldung „Asch taijar“ erscheint. Nicht lange währt es, so legen sich die Männer um das Feuer herum in ihren Pelzen schlafen; solange jenes groß und hoch ist, lassen sie den Pelz vorn offen, doch sobald sie schläfrig werden, hüllen sie sich ganz darin ein und kriechen näher an das verkohlende Feuer heran, das nachts sich selbst überlassen bleibt. Sie schnarchen schon eine gute Weile, ehe ich mit den Tagesaufzeichnungen fertig bin und ihrem Beispiele folgen kann.

[S. 101]

Zehntes Kapitel.
Der Jumalak-darja auf dem Wege durch die Sandwüste.

Am 14. November wurde die Tagereise mit einer mittleren Geschwindigkeit von 44 Metern zurückgelegt. Während der Nacht hatte sich Eis zwischen den Fahrzeugen der Flottille gebildet, die als festgefrorenes Ganzes am Ufer lag. Nur für die kleine Jolle war dies gefährlich, denn die scharfen Eisscheiben konnten wie Messer auf ihren straffgespannten Segeltuchrumpf wirken. Die Uferanschwemmungen sind steinhart und geben einen harten, scharrenden, fast klingenden Ton von sich, wenn sie mit den beeisten Stangen in Berührung kommen. Während des Tages wurde jedoch nur eine einzige Treibeisscholle beobachtet, die in dem trüben Wasser kaum zu sehen war. Noch geht der Erdfrost nicht tiefer als ein paar Zentimeter, wodurch gerade an der Uferlinie eigentümliche Leisten, Scheiben und Wülste entstehen, nachdem der darunterliegende lose Schlamm fortgespült worden ist. Doch sobald die Sonne etwas wärmende Kraft erhalten hat, werden sie wieder weich und fallen polternd ins Wasser. Wildgänse sind nicht mehr zu sehen.

In einiger Entfernung von uns standen vier Männer wie Bildsäulen und betrachteten uns. Als wir jedoch näherkamen, nahmen sie Hals über Kopf Reißaus, ihre Habseligkeiten und vier böse Hunde zurücklassend, die uns wohl eine Stunde unter wütendem Bellen verfolgten. Später sahen wir ihre Pferde weiden; auch diese folgten uns am Ufer.

Als es dunkel wurde, mußte Rehim Bai, der eine unserer Cicerones, mit dem Kahne vorausgehen und das Fahrwasser zeigen. Er hatte an einer schrägstehenden Stange eine gewaltige chinesische Papierlaterne, in der eine helleuchtende Öllampe brannte. Er mußte sich ein paar hundert Meter vor uns halten. Ich machte die Kompaßpeilungen an der Laterne ebenso sicher wie bei Tageslicht.

Gleich unterhalb des Lagers Teppe-teschdi passierten wir am Tage darauf die Grenze zwischen den Verwaltungsbezirken Schah-jar und[S. 102] Kutschar. Die Grenze war durch ein kegelförmiges Gebinde von Stangen und Stöcken bezeichnet; östlich davon dürfen nur Kutscharer Hirten ihre Schafe weiden.

In der Nähe von Källälik fanden wir inmitten mehrerer Schafhürden eine außergewöhnlich gut gebaute Lehmhütte. Ein Hund, eine Hühnerschar und einige Lämmer waren die einzigen Geschöpfe, die wir erblickten; aber wir sahen bald, daß die Bewohner die Flucht ergriffen hatten, sowie sich die Fähre an ihrem Ufer gezeigt hatte. Auf dem Herde in der Hütte brannte Feuer unter dem Topfe, und Kleidungsstücke und Werkzeuge lagen umher. Die benachbarten Dickichte wurden durchsucht, aber niemand gefunden. Schließlich zeigte sich von weitem ein Knabe, der nach einer energischen Treibjagd eingefangen wurde. Der Ärmste war aber so furchtsam, daß er nicht dazu vermocht werden konnte, den Mund aufzutun, noch weniger, uns Aufklärungen zu geben. Er zitterte an allen Gliedern und wagte nicht einmal aufzusehen.

Was für phantastische Sagen und Märchen in den Wäldern des Tarim über unsere Fähre und ihre weite Reise wohl in Umlauf sein mochten! Wie oft passierten wir leere, verlassene Hütten, deren Einwohner sich eben erst aus dem Staube gemacht hatten! Was sollten diese einfachen Hirten denken, wenn sie ein solches Ungetüm herannahen sehen, ein ungeheueres Wassertier, das mit nach vorn und hinten ausgestreckten Fühlhörnern lautlos wie ein Tiger schleicht? Viele liefen kopflos davon, als sei ihnen der Böse selbst auf den Fersen, andere blieben in gemessener Entfernung am Waldrande stehen, um zu sehen, was hieraus werden würde, und noch andere liefen außer sich herum, als habe ein Waldgeist sie erschreckt. Doch wie dem auch sei, wenn man die Anlage der Orientalen für Übertreibungen und Aberglauben kennt, kann man davon überzeugt sein, daß in dem Kielwasser unserer Fähre eine ganze Menge Legenden und Geschichten entstanden, die, von der Tradition geschützt, mit der Zeit noch zu einer ungeheuerlichen Erzählung von dem den Tarim hinab erfolgten Siegeszuge des Flußgottes, des Wüstenkönigs oder des Waldgeistes verbessert werden.

Im Lager Chade-dung wurden am 16. November die Führer aus Tschimen entlassen, weil sie die Gegend und die Namen der Wälder hier nicht mehr kannten. Als wir das Lager verließen, hatten wir also keinen anderen Wegweiser als den gewundenen Lauf des Flusses, und es galt, um jeden Preis einen Mann zu finden, der mitkommen wollte. Endlich sahen wir einen Hirtenknaben mit seiner Herde und kamen ihm ziemlich nahe, ehe er uns gewahr wurde; da lief er aber auch schon davon, so schnell ihn seine Beine trugen. Wir mußten ihn jedoch haben, und so[S. 103] wurde wieder eine zeitraubende Treibjagd angestellt, die damit endete, daß er erwischt wurde. Er teilte uns mit, daß die Gegend Sarikbuja heiße und wir weiter unten auf dem linken Ufer noch vor Abend dort ansässige Menschen finden würden. Die Auskunft war richtig, und wir erhielten bald einen kundigen Lotsen.

Jetzt tauen die Eisscheiben, die sich auf den ruhigen Uferlagunen ausbreiten, nicht mehr in der Sonne auf; sie nehmen ungestört an Dicke zu und tragen die Hunde, denen es auf ihren Schwimmtouren oft ordentliche Mühe macht, ein von dünnem Eis eingefaßtes Ufer zu erklimmen. Diese Eisränder werden jetzt sichtlich größer und scheinen stillschweigend übereingekommen zu sein, daß sie eine Brücke über den ganzen Fluß spannen und uns unerbittlich den Weg versperren wollen.

Es wurde jetzt Regel, daß die Fahrt jeden Tag mindestens zwölf Stunden dauerte, und die Papierlaterne half dem Monde abends beim Leuchten. Heute abend loderte in der Ferne ein einsames Feuer am Ufer; es war in Dung-kotan, welchen Punkt ich 1896 berührt hatte und der aus diesem Grunde für die Karte von Bedeutung war. Der hier wohnende Bai Kader erteilte mir manche wichtige Auskunft über die mit der Jahreszeit wechselnden Eigenschaften des Flusses.

Kader erzählte uns auch, daß der Tiger in der Gegend ziemlich häufig vorkomme. Ich kaufte von ihm das schöne Fell einer großen Bestie, die hier vor vierzehn Tagen erlegt worden war. Man erstaunt darüber, daß diese einfachen Waldmenschen mit ihren primitiven Vorderladern es fertig bringen, einem Tiere wie dem Tiger den Garaus zu machen. Ohne List würde es jedoch nicht gehen; denn der Tiger ist zu stark für sie. Er raubt ein Pferd, eine Kuh oder ein Schaf und schleppt seine Beute ins Schilf hinein. Hier frißt er sich satt und läßt den Rest bis auf weiteres liegen, und wenn er seiner Wege geht, benutzt er stets einen ausgetretenen Hirtenpfad. Infolge dieser Eigentümlichkeit wird er Joll-bars (joll = Weg, Steig, bars = Tiger) genannt. Aus der Fährte sieht man, wohin er gegangen ist und von woher man ihn erwarten kann, und an den Resten der Beute erkennt man, ob er zurückzukommen beabsichtigt, wenn er wieder hungrig wird. Dann wird auf dem Wege das Fangeisen oder die Falle (Kappgan oder Tosak) aufgestellt, unter ihr eine 50 Zentimeter tiefe Grube gegraben und das Ganze sorgfältig mit Zweigen, Reisig und Blättern bedeckt. Der Tiger tritt, wenn er Pech hat, in das Eisen und sitzt dann fest. Die Falle ist von Stahl und so schwer, daß der Gefangene sie nur mühsam mitschleppen kann, wenn er sich zurückzieht. Sie loszuwerden ist unmöglich, denn sie packt sehr fest und ist mit scharfen Widerhaken versehen. Die Spur ist sehr deutlich und leicht zu verfolgen, doch die Jäger[S. 104] lassen ihn mindestens eine Woche damit gehen, bevor sie sich ihm zu nahen wagen. Der Tiger, der jetzt der Fähigkeit, sich frei zu bewegen, beraubt ist, kann sich nicht länger Nahrung verschaffen und ist ausgehungert und elend. Er muß die unschuldige Kuh, die er ins Dschungel geschleppt hat, verwünschen und fühlt, wie ihm die Tatze abstirbt. Endlich wagen sich die Männer zu Pferd mit geladenen Flinten an ihn heran und schießen nun gewöhnlich vom Sattel aus, um weniger angreifbar zu sein, wenn der Tiger es mit dem Reste seiner Kraft versuchen sollte, sich auf sie zu stürzen. Der Tiger, dessen Fell ich jetzt kaufte, war ganz erschöpft gewesen, als sich die Jäger bis auf 40 Meter Schußweite an ihn herangewagt hatten, und nach der ersten Kugel, die ihm ins linke Auge ging, hatte er sich auf die Seite gelegt. Doch solchen Respekt hatten sie vor ihm, daß sie ihm vom Sattel herab noch fünf Kugeln gaben, ehe sie sich ihm zu nähern wagten. Man kann sich ihre Befriedigung denken, als sie den ärgsten Feind ihrer Herden getötet hatten.

Der Tosak ist ein sinnreiches Instrument, ein Tellereisen oder richtiger eine Kneifzange, deren beide Bogen mittelst zweier stählerner Federn von großer Spannkraft zum Zusammenklappen gebracht werden. Die Schneiden der beiden Bogen tragen scharfe ineinandergreifende Zähne. Die Federn spannen mit so großer, elastischer Kraft, daß man sich aufs äußerste anstrengen muß, um beide Bogen in die Lage zu bringen, die sie beim Aufstellen der Falle haben müssen. Die Bogen liegen nun an dem Stahlringe und werden einfach durch einen Bindfaden und einige Holzpflöckchen in dieser Lage festgehalten. Der Bindfaden bildet den Durchmesser des Rings; auf ihn muß der Tiger treten, wenn die Zange augenblicklich zusammenklappen und seine Tatze festklemmen soll. Einmal war ein Tiger nur mit den Zehen darin sitzengeblieben, hatte diese abgerissen und war, wenn auch als Krüppel, doch noch entkommen.

Nach dem Lop zu tritt der Tiger häufiger auf, besonders auf dem Südufer; bei Tage zeigt er sich selten, doch nachts streift er geisterhaft auf den Hirtensteigen umher.

Der Tigertöter begleitete uns am 17. nach Ostnordosten. Der Fluß ist schmal und gewunden, und seine nächsten Umgebungen bilden ein Gewirr von Altwassern, Armen, die sich nur während der Hochwasserperiode füllen, und von Uferseen, umgeben von Schilf und Wald. Im großen und ganzen ist meine Karte über den Fluß eine Augenblicksphotographie, denn kein Jahr vergeht, ohne daß neue Arme entstehen, alte Krümmungen verlassen werden und Uferlagunen sich bilden oder austrocknen. Es ist ein unruhiger Fluß; das Land ist flach, und das Bett verändert launenhaft seine Lage.

41. Frühstücksrast auf dem Jumalak-darja. (S. 105.)
42. Rekognoszierender Kahn. (S. 108.)
43. Ördek und Palta als Lotsen. (S. 108.)

GRÖSSERES BILD

[S. 105]

Nach Sonnenuntergang stieg der Mond rotgelb an einem blauen Himmel auf, der jedoch immer dunklere Schattierungen annahm, während der Mond immer weißer und heller wurde. Gegen diesen Hintergrund stachen die Umrisse der Ufer so scharf ab, als seien sie aus schwarzem Papier ausgeschnitten; alles sah in dem winterlich farblosen Tone, der in der Natur herrschte, kalt und frostig aus. Der Tarim lag blank und glänzend da, und nur um steckengebliebene Treibholzstücke herum war die Strömung zu erkennen. Wenn der Mond tief stand, schien seine Scheibe vom einen Ufer zum anderen zu rollen, je nachdem der Fluß einen Bogen nach rechts oder nach links machte.

Am 18. November trafen wir bei Lämpa-akin die ersten Lopleute. Es war ein Greis mit seinen beiden Söhnen, die in drei Kähnen mit Netzen und anderen Geräten auf dem Wege flußaufwärts waren, um zu fischen. Sie waren ganz verdutzt, als wir sie mitten in einer Biegung überraschten, gewannen es aber nicht über sich, davonzurudern, obgleich dies mit ihren schnellen, leichten Nußschalen eine Kleinigkeit gewesen wäre. Die Jünglinge durften weiterfahren, den Alten aber nahmen wir nach vielem Wenn und Aber mit. Er kannte die Gegend bis in die kleinsten Einzelheiten.

Bei Koral-dung (Wachthügel) wurde auf dem rechten Ufer längere Rast gemacht. Hier ist die Grenze zwischen Kutschar und Lop. Unmittelbar im Süden des Hügels glänzt im Sonnenscheine der Koral-dungning-köll mit grünblauem, kristallhellem Wasser, zur Hälfte mit Eis bedeckt und von Tamariskenhecken und außerordentlich dichten Kamischfeldern umgeben, in denen zahlreiche Tigerspuren von den nächtlichen Wanderungen des schwarzgestreiften Raubtieres Zeugnis ablegen (Abb. 38). Im Sommer werden diese Felder überschwemmt, und der Boden war noch feucht; aber jetzt stehen nur noch die seichten Uferseen voll Wasser. Der Fluß, der von hier an Jumalak-darja (der runde Fluß) genannt wird, zieht sich nach Nordosten, macht aber bald wieder einen Bogen nach Südosten und gleicht einem schmalen Bande zwischen den Schilffeldern (Abb. 39, 41).

Hinter Atschal veränderte er wieder sein Aussehen und schrumpfte auf nur 20 Meter Breite zusammen, war 7 Meter tief und hatte keine Spur von Anschwemmungen. Die Uferterrassen sind steinhart gefroren, und stößt die Fähre dagegen, so ist es, als schramme sie an einem Marmorkai entlang. Hier haben wir rechts den Ufersee Ak-kumning-jugan-köll (der große See im weißen Sande), der zwischen unfruchtbaren Dünen eingebettet liegt und so groß ist, daß die Stimme vom einen Ufer nicht bis zum anderen dringt. Auch am 19. passierten wir eine Reihe Uferseen,[S. 106] und es ist ein charakteristisches Zeichen des Tarim, daß diese immer zahlreicher werden, je mehr er sich dem Lop-nor nähert.

Der Sonnenuntergang rief merkwürdige Beleuchtungen hervor. Die ganze Steppe leuchtete in so intensivem, feurigem Gelb, als wäre das Schilf ringsumher in Brand geraten. Dunkel und schweigend schlängelte sich der Jumalak-darja mit pechschwarzem Wasser durch die Schilfdickichte, in denen der Königstiger hinterlistig versteckt liegt. Es pfeift und knistert in den Eisscheiben, die alle Lagunen bedecken. Manchmal leuchtet es in dem dunkeln Wasser vor uns wie ein Blitz auf, wenn eine vorher unsichtbare Treibeisscholle sich in einem Wasserwirbel querstellt und sich eine glashelle Ecke, in der die Strahlen der untergehenden Sonne sich widerspiegeln und wie in einem Prisma spielen, über die Oberfläche des Wassers erhebt. Kahl und schwarz stehen die Pappelstämme da und strecken ihre knorrigen, dürren Arme über den Fluß hin, noch im Tode seine lebenspendende Flut segnend.

Wieder wurde der Fluß so krumm, daß ich täglich oft ein paar hundert Kompaßpeilungen machen mußte, um alle Bogen auf der Karte eintragen zu können. Wir hatten noch einen Lopmann als Cicerone angestellt, der uns in einer mit Eis bedeckten Lagune im Vorbeifahren einige Fische fing. In derartigen klaren, stillen Wasseransammlungen pflegen die Fische sich gern aufzuhalten. Das Netz wird quer vor der Mündung der Bucht ausgespannt, und es war lustig anzusehen, wie geschickt der Fischer seinen Kahn führte. Im Achter stehend trieb er den Kahn mit dem breitblätterigen Ruder in sausender Fahrt über das Netz hinweg auf das in der Mündung spröde Eis, das unter dem Gewichte des Kahnes brach und dann mit dem Ruder bis ans Binnenende der Bucht zerschlagen wurde. Die Schollen wurden in die Strömung hinausgeschoben und die Fische mit dem Ruder nach dem Netze hingejagt, das dann in den Kahn gezogen wurde. Ist das Eis zu stark, so werden die Fische nur durch Ruderschläge gegen seine Decke aufgescheucht. In den großen Uferseen wird der Fischfang auch im Winter und selbst wenn sie ganz vom Flusse abgeschnürt sind, betrieben.

Am 20. November führte die Richtung des Jumalak-darja auf der letzten Strecke der Tagereise ganz gerade nach Ostnordost. In weiter Ferne entdeckten wir mit dem Fernrohre etwa zehn Männer am Strande, bei denen wir Halt machten. Es waren die Beks der in der Nähe des Flusses liegenden Ortschaften Tograk-mähälläh und Kara-tschumak. Sie teilten uns mit, daß sie von Fu Tai, dem Generalgouverneur von Urumtschi, Befehl erhalten hätten, einem „Tschong mähman“ oder vornehmen Gaste, der den Jarkent-darja herunterfahre, entgegenzukommen. Die Chinesen behielten[S. 107] uns also, wenn auch sehr von weitem, im Auge, und das Gerücht von der Reise auf dem Wasser hatte sich weit verbreitet. Doch niemand wußte, woher wir kamen und wo unsere Reise enden sollte; alle fanden nur, daß wir sehr sonderbare Geschöpfe seien. Mehr als zwei Jahre später fragten mich indische Kaufleute in Ladak, ob ich nichts von einem weißen Manne wüßte, der mehrere Monate lang einen großen Fluß im Norden hinabgesegelt sei; auf dem Indus, erklärten sie, würde eine solche Fahrt unmöglich sein.

Junus Bek, der vornehmste unserer neuen Freunde, erwartete uns seit mehreren Tagen und war schon flußaufwärts geritten, aber wieder umgekehrt, da er von einer Fähre nichts hatte erblicken können.

Ketschik, der Punkt, an dem wir jetzt lagerten, ist von großem Interesse. Der Name bedeutet „Furt“, weil hier die Straße zwischen Kakte und Karaul den Fluß kreuzt, wie gewöhnlich an einer geraden Stelle, wo der Grund keine tiefen Gruben hat. Hier gähnt links ein mächtiges, mit Schlamm gefülltes Bett. Ich erfuhr, daß dieses Bett der frühere Lauf des Tarim gewesen und der Fluß darin mindestens 50 Jahre geströmt habe, da die Greise es schon in ihrer Kindheit gekannt hätten. Vor vier Jahren habe der Fluß seinen Lauf verändert und dieses alte Bett so vollständig verlassen, daß nicht einmal während der Hochwasserperiode ein Tropfen dort hineinlaufe. Der neue Lauf, dessen Wiedervereinigung mit dem alten Bette wir erst nach mehreren Tagen erreichen sollten, zieht sich nach Südosten durch öde Gegenden, wo es früher nur Uferseen gegeben hatte. Es ist eine neue Illustration der Veränderungen der Gewässer dieser Gegenden, die zunehmen, je weiter abwärts wir kommen und je geringer der Fallwinkel des ganzen Tarimbeckens wird. Wenn der Fluß schließlich im Lop-nor-Gebiete selbst in völlig ebenes Terrain übergeht, hört alle Ordnung auf, und eine Karte hat nur während der Zeit ihrer Aufnahme Gültigkeit. Flüsse wie Seen verändern hier ihre Lage und Wassermenge von Jahr zu Jahr, und derjenige, welcher den Lauf des Flusses bis zu seiner Auflösung und Vernichtung mitgelebt hat, versteht, daß auch sein Endpunkt, der Lop-nor, ein wandernder See sein muß, ein See, der periodisch von Norden nach Süden und von Süden nach Norden wandert, ganz wie das Messinggewicht am Ende eines schwingenden Pendels. Das Pendel hier ist der Tarim. Es mag sein, daß die Perioden ein paar hundert Jahre lang sind, aber in der Geschichte der Erde verschwinden sie wie Schwingungen des Sekundenpendels.

Die seltsame Gegend, die wir in den folgenden Tagen durchstreifen sollten, war auch den meisten Eingeborenen ein unbekanntes Land, denn dort hätten sie nichts zu tun, erklärten sie. Doch so viel wußten sie,[S. 108] daß der neue Wasserlauf an einigen Punkten Gefahren und Schwierigkeiten biete, und Junus Bek hatte daher einige Kundschafter mit Kähnen vorausgeschickt, um uns da, wo es aufpassen hieß, zu warnen (Abb. 42).

Der 21. November war unser erster Tag auf dem neuen Flusse, wo die Stromgeschwindigkeit manchmal 100 Meter in der Minute überstieg. Die Beks mit allen ihren Geschenken wurden an Bord verstaut, und vor uns gingen zwei Lopkähne, der eine davon mit vier Ruderern. Dieser sah von hinten prächtig aus, denn er war schmal wie eine Wanne, alle Männer ruderten im Stehen, aber nur der letzte Mann war sichtbar, und die vier Ruder wurden ohne Takt ins Wasser getaucht. Noch wuchs das Schilf ziemlich dicht aber struppig durcheinander und stand in Gürteln und unterbrochenen Feldern. Die Richtung des Bettes ist unbestimmt; große, abgerundete Bogen gibt es nicht, wohl aber kleine, die sozusagen nach dem einzuschlagenden Kurse umhersuchen und tasten. Die Wassermasse teilt sich unaufhörlich um kleine Holme, wo man den verkehrten Weg einschlagen könnte, wenn nicht die Kähne vorausgingen und die Ruderer mit den Rudern sondierten (Abb. 43). Enge Passagen, steckengebliebene Pappelstämme, Anhäufungen von Kamischwurzeln und Reisig, scharfe Ecken und rauschende Stromschnellen halten uns in beständiger Spannung. Daß das Bett sich neugebildet hat, sieht man auch daran, daß hier und dort mitten darin frische Pappeln stehen, die aber zum Tode verurteilt sind. Sie waren so gefährlich und drohend, daß wir das Zelt und das meteorologische Häuschen abnehmen mußten. Rechts hatten wir eine ganze Reihe Seen; der letzte von ihnen heißt Buja-köll und mündet wieder in den Hauptfluß ein; der Vereinigungspunkt bildet ein Labyrinth von kleinen Eilanden.

Hinter dieser Stelle tritt die Tschong-ak-kum, wie die große Sandwüste hier genannt wird, auf. Die Dünen rücken uns auf beiden Seiten immer näher, und der Vegetationsgürtel schrumpft plötzlich zusammen.

Als die Dämmerung hereinbrach, siedelte ich in die Jolle über und folgte dem Geschwader der Lopleute. Mit schwindelnder Fahrt ging es über kleine Wasserfälle, und man befand sich in ununterbrochener Spannung. Als wir in die Sandwüste hineinkamen und auf beiden Seiten hohe Dünen hatten, wurde es Nacht, und wir machten Rast. Die Lopleute hatten Treibholz in ihren Kähnen gesammelt, und bald erhellten zwei schöne Feuer die Wüstenlandschaft und ihren unverhofften Gast, den Jumalak-darja. Der Fluß wird hier auch Tärim, Jangi-darja oder Tschong-darja genannt.

22. November. Der Jumalak-darja fließt nach Südosten; sein vier Jahre altes Bett bohrt sich durch die peripherischen Teile des öden Wüstenmeeres,[S. 109] und die Dünen, die es gewagt haben, sich ihm in den Weg zu stellen, sind von unwiderstehlichen Wassermassen über den Haufen geworfen worden. Der Sand ist ohnmächtig dieser wilden Kraft gegenüber, die, den Fallgesetzen gehorchend, die tausendjährige Wüste durchbricht, sich zwischen den aufgestellten Sandwogen einen Weg bahnt und an ihrer Basis zehrt.

Auf beiden Seiten erheben sich Dünen bis zu 15 Meter Höhe, auf dem rechten Ufer aber, wo der Sand mächtiger ist, ist er oft auch unfruchtbar. Dann und wann passieren wir eine einsame Pappel, während die Tamarisken, diese Kinder des Wüstensandes, recht zahlreich auftreten und schmale Kamischbänder sich meistens an beiden Ufern hinziehen. Es ist merkwürdig, daß die Dünen eine so feste Basis haben können, daß sie aus der Wasserfläche als ganz senkrechte Wand emporsteigen können; dies kommt daher, daß sie unten feucht sind. Höher hinauf ist der Sand ebenso lose wie gewöhnlich; er rieselt in kleinen Furchen an der Düne herunter und bildet da, wo die senkrechte Wand anfängt, kleine Kaskaden und Fälle, und er fährt so lange fort zu rinnen, als er von oben herab Zufuhr erhält; läuft aber das Stundenglas ab, so ist die Düne tot und von Wind und Wellen fortgetragen. Doch unter anderen Formen wird sie wieder auferstehen und ihre rastlose Wanderung fortsetzen. Auch das Wüstenmeer hat sein Leben, das hier ebenso gesetzmäßig pulsiert wie im Schatten der Palmen.

Auf diesen unglaublich öden Ufern sah alles tot aus; keine Menschen, keine Tiere, nicht einmal Raben und Geier, diese Gäste der Einöden. Nur ein „Saldam“ war in einer Pappel zu sehen; es ist eine aus Ästen und Zweigen geflochtene Art Nest, in dem sich der Schütze versteckt, wenn er auf die Antilopen wartet, die bei Sonnenaufgang zur Tränke kommen. Wieder sind wir von Friedhofstille umgeben; kein Gruß dringt aus der Tiefe der Wüste zu uns, nur die Strömung singt dem Sande ihr murmelndes Lied, das auf den Lippen des Tarim bald im Froste erstarren wird.

Dieselbe Strömung führt uns mit jeder verrinnenden Stunde immer tiefer in die Dünen hinein. Mit seltsamen Gefühlen gleitet man in diesem unbekannten Lande, das nicht einmal unsere Lopmänner je besucht hatten, auf dem Wasser dahin. Jetzt, wenn jemals, dienten sie als Avisos. Sie senken die Ruder ins Wasser und verschwinden in der nächsten Biegung, sie sind eine Weile außer Sicht, tauchen aber wieder vor uns auf, sobald sie eine kritische Stelle bemerkt haben. Sie umfahren uns wie Schaluppen eine Fregatte, gehen dann voraus und zeigen das Fahrwasser. Und die schwere Fähre gleitet ruhig den Jumalak-darja hinab. Wunderbar,[S. 110] diese Sandwüste — auf dem Wasser zu durchkreuzen; einst war ich in derselben Wüste aus Mangel an Wasser fast verschmachtet!

Einmal verkündeten die Kahnleute, daß sich der Fluß in fünf Arme teile. Sie führten uns nach demjenigen, den sie für den größten hielten. Das Wasser schäumte weiß zwischen ein paar Reisigholmen; es galt, den rechten Kurs zu halten. Die Fähre glitt in den Durchgang hinein, schrammte auf beiden Seiten, gelangte wieder in offenes Wasser und stieß dort auf Grund. Das Bett war querüber gleichmäßig seicht, aber vorwärts mußten wir, und wir kamen auch über diese Stelle hinweg, dank den wenigen Zentimetern, die das Wasser während des letzten Tages gestiegen war; wäre es um ebensoviel gefallen, so wäre es uns schlimm gegangen. Wie oft streifte der Boden der Fähre unmittelbar über Bänke und Untiefen hin, ohne daß wir es ahnten! Vielleicht oft so dicht, daß nicht ein Blatt Papier dazwischen Raum gefunden hätte. Noch war uns aber der Fluß gewogen, noch führte er uns vorwärts, dem Ziele entgegen.

In einem Tograkhaine, wo wir eine Weile landeten, waren sehr viele Tigerspuren. Wir gingen eine Strecke landein und hielten von Hügeln Ausschau, doch ist es mir nie geglückt, dieses grausame, in seiner imponierenden Kraft dennoch fesselnde Tier zu Gesicht zu bekommen.

Der ganze Jangi-darja oder „neue Fluß“ gibt uns wieder einen Beweis für die Neigung des Flusses, nach rechts zu drängen. Am linken Ufer finden wir, daß das Wasser nach dem Flusse zurückstrebt, am rechten, daß es sich von ihm zu trennen sucht, um das Terrain immer weiter nach rechts hin vorzubereiten. In alten Zeiten ergoß sich der Tarim in den alten, nördlichen See Lop-nor, jetzt mündet der Fluß in den südlichen; diese Verlegung der Mündung war ein Riesenschritt nach rechts.

Während der letzten Tage sahen wir nicht viel Eis; die Strömung war zu reißend, als daß es sich hätte ansetzen können. Doch ging die Temperatur schon gegen 8 Uhr auf −6 Grad herunter. Mit jedem Tage wird der Wettlauf zwischen uns und dem Zufrieren des Flusses immer interessanter. Viele Tage konnten wir nicht mehr vor uns haben, denn die Kälte wurde von Nacht zu Nacht größer. Doch so lange wir die Fähre behalten durften, war es herrlich, und mit Zittern und Zagen dachte ich an den Tag, an welchem wir gezwungen sein würden, uns von unserem gesicherten Heim zu trennen und unsere schwimmende Wohnung im Stiche zu lassen. Wie man das Haus liebt, in dem man lange behaglich gewohnt hat, so würde ich diese Flotte, die uns so treu durch Ostturkestan getragen hatte, vermissen. Ich würde die große Annehmlichkeit vermissen, Tag und Nacht das Lager aufgeschlagen zu wissen,[S. 111] alles fertig und alles bereit zu haben, keine Arbeit zu haben mit Belasten und Abladen, Zeltaufschlagen und Füttern der Karawanentiere. Jeden Augenblick hatte ich die Dunkelkammer zur Verfügung und brauchte nur meine Hand mit einem Becher auszustrecken, um ihn mit süßem, kaltem Wasser gefüllt zurückzuziehen.

Am 23. November hatten wir noch immer 70,7 Kubikmeter Wasser. Es langte also noch, aber das Eis — wann würde dieses uns den Weg abschneiden? Wir wollten vorwärtsgehen, bis wir die Eisfesseln nicht mehr sprengen konnten, und wenn wir dann einfrören, würden wir ins Winterquartier gehen, ein großes Lager anlegen und die Karawane aufsuchen. Landeten wir in einer waldlosen Gegend, so sollte der Rumpf der Fähre Stück für Stück als Brennholz verwendet werden. Die alte, gute Fähre! Es sollte ihr Lohn sein, daß sie uns, nachdem sie uns ans Ziel getragen, auch im Loplande an den Winterabenden Licht und Wärme spendete!

[S. 112]

Elftes Kapitel.
Im Kampf mit dem Treibeise.

Am Anfange unserer Fahrt vom 24. November machte der jetzt von Wald begleitete Tarim ein paar große Bogen und nahm darauf die Form eines ziemlich regelrechten W an. Dann und wann begegneten wir Lopfischern; an Stangen vor ihren provisorischen Hütten sahen wir lange Reihen von zum Trocknen aufgehängten Fischen. Hier und dort hing eine getrocknete Fischhaut an einer Stange am Ufer. Dies bedeutete, daß hier nicht von jedermann gefischt werden durfte und daß der, welcher herkömmlicherweise hier Anspruch auf die Fischereigerechtigkeit erhob, sein Wahrzeichen aufgerichtet hatte.

An einer gefährlichen Stelle hing es an einem Haar, daß wir Schiffbruch gelitten hätten. Es war eine scharfe Biegung, wo die ganze Strömung unmittelbar am Fuße der Erosionsterrasse entlang ging. Eine dadurch unterminierte gewaltige Pappel war über den Fluß gefallen und lag, etwa einen Meter über der Wasserfläche, wagerecht gerade über demjenigen Drittel der Breite, wo die Strömung war (Abb. 44). Die übrigen beiden Drittel nahm ein langsam kreisender Wirbel mit Gegenströmung ein. Ein Lopkahn konnte mit Leichtigkeit unter dem Stamme durchgleiten; wäre aber die Fähre damit in Kollision geraten, so wären Zelt, Kisten und schwarze Kajüte unfehlbar über Bord gefegt worden, und wäre die Fähre dabei in eine schräge Lage gekommen und hätte ihr Oberbau genügenden Widerstand geleistet, so wäre sicher die ganze Herrlichkeit gekentert. Es wäre zu einer Kraftmessung zwischen dem Oberbau und der Pappel gekommen, und der Baum war so massiv, daß er ganz danach aussah, es mit jedem aufnehmen zu können.

44. Drohender Schiffbruch. (S. 112.)

GRÖSSERES BILD
45. Kähne auf dem unteren Tarim. (S. 115.)
46. Tokkus-kum, das Nordufer der Sandwüste. (S. 115.)
47. Dorf Al-kattik-tschekke. (S. 116.)

Gerade an diesem Punkte ging die große Fähre der Flottille voran und glitt sorglos auf ihrer ruhigen Bahn dahin, ohne an einen Hinterhalt zu denken, als Palta just in dem Augenblicke, da wir in den Sog der Strömung hineintrieben, einen verzweifelten Schrei ausstieß, denn wir hatten nur einige zehn Meter die Pappel wie eine Barriere vor uns.[S. 113] Die Stangen reichten hier nicht bis auf den Grund, weshalb die Männer paarweise zu den neugezimmerten Stoßrudern griffen. Das war ein Geschrei und eine Aufregung! Mit rascher Fahrt trieben wir auf die Pappel zu und sahen, wie ernst die Lage war. Die Strömung bildete gerade an dieser Stelle einen kleinen Wasserfall, und die Geschwindigkeit war so groß, daß ein Schiffbruch das Werk eines Augenblickes hätte sein können. Der Gedanke durchzuckte mich, daß ich wenigstens die fertigen Kartenblätter und die Notizbücher retten müßte, denn bei einem Schiffbruche in diesem Strudel würde alles in der trüben Wassertiefe verloren gehen. Die Leute arbeiteten mit grimmiger Kraft. Islam und der Bek standen vorn, bereit, die Pappel anzupacken und so den Stoß abzuschwächen. Da gelang es den Lailikmännern im letzten Augenblick, die Fähre mit Gewalt aus der Strömung heraus- und in den Wirbel hineinzustoßen, wo sie sich langsam im Kreise drehte und in die Gegenströmung hineinglitt. Natürlich wäre sie wieder nach der Pappel hingetrieben, wenn nicht Alim ins Wasser gesprungen, das nur 1,4 Grad warm war und ihm bis an die Achselhöhlen reichte, und mit einem Tau auf das linke, niedrige Ufer geklettert wäre. Er zog uns dann an der gefährlichen Stelle vorbei.

Während wir uns im Wirbel drehten, sausten Kasim und Kader mit der kleinen Fähre und der Jolle an uns vorbei, ebenfalls gerade auf die Pappel los. Sie führten jetzt ein geschicktes Manöver aus. Sie waren vor dem Ungetüm gewarnt worden und hatten rechtzeitig die Jolle losgemacht, die sie im Vorbeifahren mit einem kräftigen Stoße nach der großen Fähre hintrieben. Mit Hilfe ihrer Ruder war es ihnen gelungen, so dicht an das rechte Ufer heranzukommen, daß Kasim mit einer Leine an Land springen konnte. Die kleine Fähre war indessen schon bei der Pappel angelangt, und es fehlte nicht viel zu einer Havarie, um so mehr als Kasim sich an den Ästen festhalten mußte, um nicht über Bord gefegt zu werden.

Hätte dieses Abenteuer in dunkler Nacht stattgefunden, so wäre das Zufrieren des Flusses an der Unterbrechung der Wasserreise unschuldig gewesen. Doch auch diesmal hatten wir das Glück als Gast an Bord und trieben flußabwärts weiter. Mit jedem Tage stieg die Verwunderung der Lailikmänner. Sie meinten, der Fluß müsse doch einmal ein Ende nehmen, aber er eile immer weiter nach Osten. Es schwindelte ihnen beim Gedanken an die wachsende Entfernung, und sie konnten sich keinen klaren Begriff davon machen. Es war ihnen nur, als sei ihr Haus und Heim in Lailik in weiter Ferne hinter Stürmen und Nebeln, Sandwüsten und undurchdringlichen Wäldern verschwunden.

An Bord war es wieder ruhig, und die Klänge des Symphonions beherrschten bei Sonnenuntergang die Stimmung. Islam brachte mir[S. 114] gerade einen Teller mit frischgekochtem Fisch, der delikat duftete: da ertönten wilde Hilferufe von flußaufwärts, wo Kasim und Kader hinter uns zurückgeblieben waren. Das Geschrei war so durchdringend und angstvoll, daß wir alle bestürzt waren. Ich gab Befehl sofort zu landen, aber die Fähre befand sich mitten auf dem Flusse, und es dauerte eine Weile, ehe die Leute sie ans rechte Ufer bringen konnten. Ich fürchtete, daß einer der Männer am Ertrinken oder schon ertrunken sei.

Sofort nach dem Landen eilten alle Männer durch Schilf und Gestrüpp das Ufer hinauf. Ich sollte unverzüglich Nachricht über das Vorgefallene erhalten. Bald kam einer der Lopmänner mit dem Berichte, daß die Proviantfähre an einem aus dem Flußgrunde aufragenden Baumstumpfe, der kaum bis an die Oberfläche reichte und nicht beachtet worden sei, gekentert sei. Da kein Menschenleben verloren gegangen, war ich wieder beruhigt und verzehrte meine inzwischen kaltgewordene Portion Fisch.

Jetzt folgte ein tragikomisches Schauspiel. Auf der Oberfläche der Strömung kamen viele unserer Sachen in vergnügtem Durcheinander fröhlich angetanzt; ihnen auf den Fersen folgten die Lopkähne, um aufzufischen, was sich noch retten ließe. Da sah man Eimer und Schüsseln, Kisten mit Mehl und Obst, Brotfladen, schwimmenden gelben Seerosen vergleichbar, Stangen, Ruder und andere leichte Dinge. Einige Sachen waren an der Unglücksstelle selbst, wo auch unsere beiden Schafe an Land geschwommen waren, gerettet worden, verschiedenes aber, wie eine Metallaterne, eine Axt, ein Spaten u. dgl., war unwiederbringlich verloren.

Jetzt lagerten wir da, wo wir waren, und Islam und Alim zündeten ein paar gewaltige Feuer an. Erst spät abends, nachdem ich mehrere Stunden in der Dunkelkammer gearbeitet hatte, kehrten die anderen mit den verunglückten Booten und deren klatschnassem Inhalt zurück. Kasim war sehr niedergeschlagen; er habe aber dem Mißgeschicke nicht vorbeugen können. Sie waren in einen Stromwirbel geraten, wo sie einem auf Grund gestoßenen Stamme auszuweichen versucht hatten, und waren darauf von der Strömung unwiderstehlich einem anderen zugetrieben worden, den sie nicht gesehen und vor dem sie sich nicht mehr hatten hüten können. Die Jolle erhielt den ersten Stoß und einen langen Riß an der einen Seite, glücklicherweise über der Wasserlinie. Kader, der nicht schwimmen konnte, hatte sich in die Jolle gerettet, als die Fähre kenterte, Kasim aber schwang sich auf den Stamm und blieb dort, um Hilfe rufend, sitzen, bis der Kahn anlangte. Sie hatten dann nach den verlorenen Sachen gesucht, das Wasser aus der Fähre und der Jolle geschöpft und sich schließlich zu uns begeben, wo Männer und Sachen an den Feuern nach und nach trocken wurden.

[S. 115]

25. November. Die „Schang-ja“ oder Beke von Tschong-tograk und Arelisch erwarteten uns heute und hatten ein paar Kähne mitgebracht, so daß unser Geschwader jetzt zehn Fahrzeuge zählte, die in feierlicher Prozession den Fluß hinabglitten (Abb. 45). Die beiden Beke nahmen rechts und links von Palta Platz und halfen beim Rudern, so daß wir jetzt etwas schneller als die Strömung gingen. Meine eine Jollenhälfte wurde zur allgemeinen Heiterkeit von einem ungeübten Schiffer manövriert, während Islam damit beschäftigt war, ein Stück Leder über den Riß der anderen Hälfte zu nähen. Bei Tokkus-kum (neue Dünen) lagerten wir (Abb. 46). Unsere muhammedanischen Freunde glaubten, wenn das Wetter still bleibe, könnten wir die Reise noch 20 Tage fortsetzen; nach einem Buran aber könne der Fluß in einer einzigen Nacht zufrieren. Er gefriere von der Mündung aufwärts, also gegen die Strömung. Sie wollten beobachtet haben, daß das Wasser um so schneller fließe, je kälter es sei, was theoretisch richtig sein mag, für das Auge aber kaum bemerkbar ist.

Am folgenden Tage trieben wir gerade auf die höchsten Partien von Tokkus-kum zu, riesenhafte, außerordentlich imponierende Anhäufungen von gelbem Flugsand. Sie sind ein Ausläufer der großen Wüste, die hier bis an das rechte Ufer des Flusses heranreicht: die Basis der Dünen wird vom Wasser zerfressen und unterwühlt. Es war die gewaltigste Sandanhäufung, die ich gesehen habe. Die Fähre legte am linken Ufer an, und wir ruderten in Kähnen hinüber und erstiegen die losen Abhänge, auf denen man in den Sand einsinkt und mit ihm abrutscht. Endlich erreichten wir doch den Kamm der äußersten Düne, die sich wie eine steile Wand über dem Flusse erhebt. Hier liegt dem Beschauer eine selten großartige Landschaft zu Füßen, und man erstaunt über die eigentümlichen Formen, in welchen die tätigen Kräfte der Erdrinde Gestalt angenommen haben. Wohl bin ich früher durch das Meer der Wüste und über berghohe Dünenkämme gewandert und habe über ihre erstarrten Wogen von Sand und wieder Sand hingeschaut, und nach Süden hin breitete sich auch jetzt eine solche Landschaft aus. Hier aber standen wir an der nördlichsten Grenze der Sandwüste, und zwar an einer so scharfen Grenze, wie man sie nur an den Küsten eines Meeres oder an den Ufern eines Sees findet. Die äußerste Dünenreihe bildet eine Mauer, einen Wall, einen geschweiften Bogen von lauter Sand, der in einem Winkel von 32 Grad unmittelbar nach dem Wasser abstürzte. Die Feuchtigkeit, die das Flußband sowohl in Gestalt reichlicher fallenden Taus wie als mechanisch aufgesogene Nässe begleitet, verleiht hier dem Sande kräftigeren Halt als im Inneren der Wüste; dadurch entsteht das eigentümliche Relief von Einsenkungen, Terrassen und Kegeln, das man auf der Abbildung 46 sieht. Die Erosion[S. 116] an der Basis der Düne verursacht unaufhörlich Sandrutsche; der Sand stürzt hinunter und bildet Kegel. Der fortgeschwemmte Sand lagert sich nicht weit davon ab und bildet Bänke und Anschwemmungen. Wenn man diese Sandmauer von dem gegenüberliegenden linken Ufer betrachtete, sah sie ganz senkrecht aus, und man glaubte, die Männer würden sich den Hals brechen, als sie ungestüm den Abhang hinunterliefen und neue Abstürze und Rutsche des Sandes verursachten. Die Dünen waren hier ungefähr 60 Meter hoch; die Männer oben auf dem Kamme erschienen verschwindend klein.

Die Aussicht über den Fluß war großartig. Tief unter uns schlängelte sich das Wasser wie in einem Kanal und verschwand im Osten in bizarren Bogen. Auf der östlichen Flanke dieser kolossalen Sandanhäufung war die Grenze ebenso scharf; dort setzte ohne jeden Übergang Tograkwald ein, und die Pappeln standen in üppigen Gruppen unmittelbar am Fuße der Ostabhänge der Dünen.

In Al-kattik-tschekke wohnt Bek Istam und mit ihm zehn Familien in Hütten von Stangen und Kamisch (Abb. 47). Die Hütten liegen alle auf einem Haufen, um Kälte, Wind und Sommerhitze möglichst abzuhalten. Die ganze Bevölkerung — etwa 40 Personen, Männer, Weiber und Kinder in schreienden Farben, zerlumpt und häßlich — wurde auf einer Platte verewigt; darunter war ein neunzigjähriger Greis, der vor 60 Jahren vom Kara-köll hierher gekommen war. Er kauerte am Feuer, war blind und klagte darüber, daß er seine Söhne verloren habe und sich jetzt niemand seiner annehme. Er erzählte von den wechselnden Betten des Tarim, aber das Gedächtnis hatte nachgelassen, und seine Angaben waren daher nicht zuverlässig.

Nachdem wir den Fluß gemessen hatten, der jetzt 75,4 Kubikmeter Wasser in der Sekunde führte, fischte Istam Bek in einer mit 4 Zentimeter dickem Eise bedeckten Bucht innerhalb einer Schlammbank. Die Fischerei wurde wie Seite 106 angegeben betrieben, mit dem Unterschiede, daß jetzt zwei Netze benutzt wurden. Das erste wird in die Mündung gelegt, dann wird ein etwa 10 Meter breiter Eisgürtel aufgehauen; an dem neuen Eisrande wird das zweite Netz hinabgesenkt und mit dem ersten verbunden. Das Wasser ist nur einen Meter tief. Es ist jedoch wahrscheinlich, daß sich die Fische bei dem Lärm in den innersten Teil der Bucht zurückziehen. Nun wird wieder ein Gürtel von 10 Meter Breite aufgehauen und an dem neu entstandenen Eisrande das erste Netz ausgespannt. Dieses Manöver wird so lange wiederholt, bis nur noch der innerste Teil der Bucht freibleibt; es ist dann leicht, alle dort vorhandenen Fische zu fangen. Das Netz wird durch am unteren Rande angebrachte[S. 117] Steine und am oberen befestigte trockene Binsen im Wasser vertikal gehalten. An dem Schwanken dieser Binsen sieht man, wenn ein Fisch sich in den Maschen gefangen hat; dann wird der verdächtige Teil des Netzes behende mit dem Ruder emporgehoben und der Fisch mit einem Knüppel auf den Kopf geschlagen und ins Boot geworfen.

Unsere Tage waren jetzt gezählt, das war sonnenklar; denn wenn sich auch die Temperatur des Wassers bei Tag ein wenig über Null hielt, so war sie doch nachts unter dem Gefrierpunkt, und morgens waren die Fähren eingefroren und mußten erst losgehauen werden. Die Lopleute hatten uns darauf vorbereitet, daß, sobald das erste Treibeis sich zu zeigen anfinge, es nur noch zehn Tage bis zum gänzlichen Zufrieren dauern würde. Mit steigender Spannung erwarteten wir diesen Augenblick. Er trat am 28. November ein. Als ich am Morgen aus dem Zelte kam, fand ich den ganzen Fluß mit porösem, weichem Eisschlamme übersät, kleinen Nadeln und Kristallen, die sich auf dem Grunde, jedenfalls unter der Wasserfläche bilden und sich zu Fladen und Schollen, die auf der Oberfläche oft schneeweiß sind, vereinigen. Dieses Treibeis, welches ein sicheres Anzeichen des nahe bevorstehenden Zufrierens des Flusses ist, wird „Kömul“ oder „Kade“ genannt. Es treibt die Fische aus dem Flusse in die Buchten und die Uferlagunen. Wenn sich Kömul zeigt, weiß man also, wo man mit größter Aussicht auf guten Fang die Netze auslegen muß. Dann sind auch alle Lopleute draußen, um ihren Vorrat für den Winter einzusammeln.

Der Morgen war düster und kalt und der Himmel umwölkt. Mit Beilen und Brechstangen wurden die Boote aus ihren nächtlichen Banden befreit, doch sie hatten an der Wasserlinie einen Eisrand, der den ganzen Tag sitzenblieb. Um ihre Kähne zu schützen, ziehen die Lopmänner sie nachts aufs Land. Alles ist gefroren; unsere Seile sind hart wie Holz, und der Strommesser steckt in einer Eishülse, die vor der Benutzung aufgetaut werden muß. Wir heizten vorn und im Achter und froren trotzdem, aber die Leute waren guten Mutes und sangen den ganzen Tag; ich argwöhne, daß die Männer von Lailik gar nichts gegen das Einfrieren hatten, für sie bedeutete es ja, daß die Reise zu Ende war und sie wieder nach Hause zurückkehren konnten.

Wir schoben die Fähre in das Treibeis hinaus und folgten seinen tanzenden Schollen. Das Beobachten ihrer Bewegungen bot eine Abwechslung, ein neues Interesse für die Besatzung. Wie die Fähre waren auch die Schollen gehorsame Sklaven der Launen der Strömung. Sie wurden in die Stromfurche hineingezogen, wo sie stets am zahlreichsten waren; sie gerieten in Wirbel hinein, wo sie sich im Kreise drehten, bis es dort so[S. 118] voll wurde, daß einige wieder in die Strömung hinausgedrängt wurden; sie blieben stecken, wo Bänke unmittelbar unter der Oberfläche lagen, und sie sagten uns oft, nach welcher Richtung die Fähre gesteuert werden müsse. Munter, kleinen Inseln gleich, trieben sie den Fluß hinab, mit einem schnarrenden Geräusche schlugen sie gegeneinander, sie stießen gegen unsere Boote, zerschellten, taten sich wieder zusammen, trieben gegen die Ufer und drehten sich dort wieder im Kreise. Das Treibeis nahm jedoch im Laufe des Tages ab; um 1 Uhr war der größte Teil verschwunden, und um 4 Uhr sahen wir keine einzige Scholle mehr. Wir hatten jedoch die erste Warnung erhalten; in zehn Tagen würde der Fluß zugefroren sein.

Während dieser Tagesfahrt war der Tarim außergewöhnlich launenhaft. Er erstreckte sich erst auf vielversprechende Weise nach Nordosten, dann aber machte er ganz unerwartet einen Bogen nach links, bis er auch am linken Ufer auf mächtigen Sand stieß, der ihn zwang, sich in tollen Krümmungen nach Nordnordosten zu wenden.

In der Gegend Siwa rasteten wir des Flußmessens wegen eine Weile. Vermutlich war es das letzte Mal, daß ich diese Arbeit nach der alten Methode ausführen konnte, denn die kleine Jolle, welche die Muhammedaner Kagas-kemi, das Papierboot, nannten, vertrug es nicht, zuviel mit dem Treibeise in Berührung zu kommen. Die Messung ergab 72,45 Kubikmeter Wasser. Stellt man unter Berücksichtigung der vom Hochwasser stehengebliebenen Anzeichen eine annähernde Berechnung an, so findet man, daß der Fluß hier in der Hochwasserperiode mindestens 173 Kubikmeter in der Sekunde führen muß.

29. November. An diesem Morgen hatte der Winter wieder einen großen Schritt vorwärts gemacht. Die Kälte stieg jetzt nachts bis auf −16 Grad, und das Wasserthermometer zeigte null Grad. Der Fluß sah seltsam fremd aus; seine Oberfläche war so mit weißen Treibeisschollen belastet, daß man glauben konnte, er sei über Nacht zugefroren und dann mit einer dicken Schneeschicht bedeckt worden. So schlimm war es jedoch nicht. Die weiße Masse war in unausgesetzter Bewegung wie eine rotierende Stufenbahn; es war wieder „Kade“ oder „Kömul“, das von Tag zu Tag mehr und größer wurde. Stand man am Ufer und fixierte diesen vorbeieilenden, weißglänzenden Streifen, so schwindelte es einem vor den Augen, bis der Streifen unbeweglich erschien, während man anscheinend selbst den Fluß hinabglitt.

Wir hatten am Abend vorher einen sehr unglücklichen Lagerplatz gewählt, eine kleine Bucht, die am Morgen so fest zugefroren war, daß man ungehindert um die Boote herumspazieren konnte. Es dauerte infolgedessen eine ziemliche Zeit, bis ein Kanal in dem Eise nach dem Flusse hinaus[S. 119] aufgehauen war. An dem äußeren Rande der Eisscheibe leckte die Strömung, die auf ihm einen ganzen Wall von Treibeis auftürmte, der kreideweiß glänzte wie Schnee. Die Eisschollen waren größer und kompakter als gestern und wenn sie aneinander stießen, klirrte es wie zerbrochenes Porzellan. Auf der ganzen Fahrt klang es heute um uns herum wie das Glockenspiel einer fernen Kirche, und Millionen von Eiskristallen funkelten und spielten wie Diamanten im Sonnenschein. Das ununterbrochene Sausen und Pfeifen, das durch das Schmelzen der Eisnadeln entstand, und der blendende Lichtschein, der von ihnen ausging, wirkten betäubend, fast hypnotisierend auf die Sinne.

Betrachtet man das „Kade“ genauer, so findet man, daß es aus lauter kleinen, außerordentlich dünnen, zusammengeballten Schuppen und Nadeln von Eis besteht, die nur da, wo sie sich über die Wasserfläche erheben, schneeweiß werden, unter dem Wasser aber dieselbe Farbe haben wie dieses. Die aus diesem leichten, wassergetränkten Materiale bestehenden Treibeisschollen haben selten mehr als einen Meter Durchmesser und eine runde Form, was von ihrem unaufhörlichen Reiben aneinander und an den Ufern kommt. Aus demselben Grunde trägt jede Scholle an der Peripherie einen etwa 10 Zentimeter hohen Wall, der weiß glänzt, während das Innere in der Höhe des Wasserspiegels eine gleichmäßige, blaugraue Fläche bildet und nach und nach zu einem festeren Fladen zusammenfriert.

Wir sind von zahllosen weißen Ringen umgeben, den Grabkränzen des Flusses, welche verkünden, daß er bald unter seinem kalten Leichentuche zur Ruhe gehen wird (Abb. 48). Wie wir monatelang das Leben des Tarim mitgelebt haben, werden wir auch an seinem Begräbnis teilnehmen.

Auch heute zehrte die Sonne energisch an den Eiskränzen, aber noch um 12 Uhr war die halbe Oberfläche des Flusses mit Treibeis bedeckt, und es verschwand nicht mehr; es fuhr fort zu schwimmen, wenn auch in gelichteteren Reihen.

Der Fluß hat hier dieselben Charakterzüge wie der Jarkent-darja unterhalb Lailik; die großen, breiten Alluvialhalbinseln und Holme treten wieder auf, das Bett ist breit und wird von kräftigen Erosionsterrassen, auf denen dichter, alter Wald steht, eingeschlossen.

Ansasch-kum ist eine hohe, unfruchtbare Sandpartie am rechten Ufer, so genannt nach einem alten, längst verstorbenen Pavan, der diese Düne zu besteigen pflegte, um nach Antilopen und wilden Kamelen auszuschauen. Letztere, die sich jetzt nie an den Ufern des Tarim zeigen, waren früher dann und wann durch die Wüste an den Fluß gekommen. Die Hirten in den Wäldern des Tarim haben keine Kenntnis von dem Vorhandensein des wilden Kamels; nur wenn man sie danach fragt, pflegen[S. 120] sie manchmal zu antworten, sie hätten gehört, daß es tief drinnen in der Wüste ein solches Tier gebe.

Wohl eine Stunde trieben wir im Dunkeln bei Laternenschein, aber es gab ein nervenangreifendes Rufen und Schreien bei jeder Bank und jeder Untiefe. Als ich abends am Schreibtisch die Aufzeichnungen für den Tag machte, prallte jede vorbeitreibende Scholle gegen die Fähre, die dabei jedesmal knackte und erschüttert wurde.

Längs der Ufer hat das feste Zufrieren endgültig begonnen, und die Eisränder nehmen täglich an Breite zu. Sie beschränken jedoch ihr Gebiet einstweilen noch auf stille Ufer, an denen keine Strömung entlang geht, oder auf Anhäufungen von im Flußbett steckengebliebenem Treibholz und Reisig.

30. November. Das Treibeis fuhr die ganze Nacht fort, gegen die Fähre zu klirren und zu scheuern, aber es störte mich nicht in meinem ruhigen Schlafe. Der Fluß war kaum zur Hälfte damit bedeckt, und merkwürdigerweise verschwand es größtenteils, obgleich der Himmel bewölkt war und die Einwirkung der Sonne also fehlte. Der Tarim strömte außergewöhnlich schnell dahin; wir machten eine lange Fahrt und hatten zur Rechten immerfort den hohen Sand, der einer Bergkette glich, deren Formen an die nordtibetischen Ketten erinnerten. Menschen waren nicht zu sehen, auch kein Rauch, nur einige aufgerichtete Stangen, auf denen ein Pavan geschossene Antilopen aufzuhängen pflegt, um sie vor den Raubtieren zu schützen. Ein Fasan, ein Falke und einige Raben waren das einzige Leben, das wir bemerkten. Wildenten und Gänse sind schon längst spurlos verschwunden.

Ich arbeitete täglich 14 Stunden von 6½ Uhr an, zu welcher Zeit das erste Kohlenbecken ins Zelt gebracht wird. Das Frühstück, gekochter Fisch, wird erst gegessen, wenn wir wieder abgestoßen haben, und auch das Mittagmahl wird an Bord serviert, weil das Geschirr dort nahe bei der Hand ist und die Landungsplätze in der Dunkelheit nicht immer leicht zugänglich sind. Die Zeit war jetzt so kostbar, daß keine Minute verloren gehen durfte. Mein „Friseur“ Islam mußte mir sogar am Schreibtische die Haare schneiden.

48. Treibeis auf dem unteren Tarim. (S. 119.)
49. Blick vom rechten Tarimufer flußaufwärts (1. Dezember). (S. 120.)
50. Die Fähre an der Mündung des Ugen-darja. (S. 126.)
51. Begrüßung Parpi Bais und Islam Bais. (S. 126.)

GRÖSSERES BILD

1. Dezember. Der Tarim verändert seinen Charakter nicht. Er fließt in weitem Bogen nach Nordosten, von üppigem Wald begleitet, hinter welchem der gelbe Sand noch mächtiger zu werden scheint. Der Wasserstand ist derselbe geblieben. Wir gingen in einer Biegung an Land und machten von der Höhe des Sandes aus ein paar photographische Aufnahmen, von denen eine hier (Abb. 49) beigefügt ist. Der Unterschied zwischen den verschiedenen Teilen des Flusses tritt hier schärfer als je hervor.[S. 121] Das eigentliche Strombett ist grau und reich an weißen Eisringen; die Lagunen an den Seiten und innerhalb der Schlammablagerungen sind klar grünblau und mit 10 Zentimeter dickem, glashellem Eis bedeckt, das knackt und klingt, wenn man darauf geht. Im Südosten verliert sich der Blick in unendlich weite Ferne über unzählige Dünenkämme, und auch im Nordwesten zieht sich ein Sandgürtel hin, der jedoch nicht besonders umfangreich sein kann. Zwischen diesen beiden Gebieten erreicht die Breite des Vegetationsgürtels höchstens zwei Kilometer, obwohl einzelne Tamarisken sich hie und da ein wenig weiter fort vom Ufer verirren. Unmittelbar am Flusse hat das Ufer gewöhnlich einen Schilfrand.

Ich wurde in aller Frühe von einem gewaltigen Knattern gegen den Boden der Fähre geweckt; es war das aufsteigende „Kade“. Es steigt fast gleichzeitig mit der aufgehenden Sonne; nachts ist es nicht zu sehen. Wenn man frühmorgens mit einer Stange auf dem Grunde entlang fährt, ist dieser hart und glatt wie Eis, später am Tage aber fühlt er sich weich und uneben wie gewöhnlicher Sand an. Dann ist das Kade bereits hochgegangen. Wenn das Treibeis an den Seiten der Fähre entlang schrammte, klang es ungefähr, als ob man mit einer Zuckerschneidemaschine Zucker zerkleinerte. Anfangs waren die Hunde auf diese neue, unerklärliche Erscheinung wütend und bellten die unschuldigen Eisschollen ohne Unterschied an, bald aber gewöhnten sie sich daran und liefen, als diese zahlreicher und dichter geworden, sogar auf ihnen an Land.

Oft werden wir von dem Treibeise gewarnt. Es geht ebenso tief wie die Fähre und bleibt selbst stehen, häuft sich an, knattert und kracht, sobald das Wasser nicht tief genug ist. Die Lopmänner behaupteten, das Kade erhöhe die Geschwindigkeit des Wassers, was ich jedoch bezweifle, da diese ewigen Kollisionen eher die entgegengesetzte Wirkung haben müssen.

Am 2. Dezember legten wir bei einer Geschwindigkeit von 66 Zentimeter in der Sekunde 23,17 Kilometer zurück, und die Windungen waren so unbedeutend, daß die Luftlinie nicht viel kürzer sein dürfte. Der Fluß stieg über Nacht ein wenig, aber das Wasser war noch immer ebenso trübe, was wohl zu einem nicht geringen Teile der auf dem Grunde vor sich gehenden Eisbildung zugeschrieben werden muß. Die äußerste Dünenwand des Sandmeeres tritt etwas zurück und ist schließlich nicht mehr zu sehen. Uferlagunen kommen noch immer vor; sie stehen mit dem Flusse durch einen schmalen Kanal in Verbindung, aber die Mündung des Kanals ist jetzt verstopft, so daß die dem Kade entflohenen Fische in einer Falle sitzen. Die kleinen Seen sind beinahe immer nach ihren Besitzern genannt, die hier allein das Fischrecht haben.

[S. 122]

Zur Linken war es jetzt nicht weit nach dem früher von mir besuchten Tarimarme Ugen-darja, den mächtige Wälder umgeben. Das nördliche Sandgebiet hat auch aufgehört, und die Waldgebiete beider Flüsse bilden jetzt eine zusammenhängende Waldgegend.

Eine schwache Brise genügte, um die Kälte fühlbar zu machen; die über dem Kohlenbecken erwärmte Luft wurde fortgetragen, und die Tinte gefror unaufhörlich in der Feder. Den Himmel bedeckten dichte Wolken, die wie Tücher über der Erde lagen, ohne eine Schneeflocke von sich zu geben. Abends aber glänzte die Sonne wie eine Kugel von glühendem Golde unter diesem düsteren Thronhimmel hervor, und ihre Strahlen erzeugten großartige Lichtwirkungen. Die ganze Lufthülle schien wie ein brennbares Gas Feuer gefangen zu haben; die Schilffelder leuchteten purpurn, die Pappeln breiteten ihre Zweige wie geöffnete Arme aus und schienen sich an dem Abschiedskusse der untergehenden Sonne zu berauschen, und die untersten Teile des Himmels glänzten in intensiv violetten Schattierungen. Das schöne Schauspiel währte jedoch nur einige Minuten, dann kam die Dämmerung und hüllte alles in ihren gedämpften, eisengrauen Ton ein, und die Schilfstauden, die eben noch ihre langen Speere wie eine Leibgarde zu Fuß bei festlicher Parade geschultert hatten, standen wieder so einförmig und langweilig da wie Gartenzäune bei uns zu Hause.

Wir sehnten uns nach Menschen, denn die Ufer waren so traurig still. Gab es denn keine Hirten in dieser verlassenen Gegend? Das Wissen unserer Wegweiser ging auf die Neige, und wir bedurften neuer Leute, die das Land besser kannten.

Als die Dunkelheit undurchdringlich wurde, kommandierte ich Halt. Die Kähne huschten wie Irrlichter über das Wasser, die Laternen schaukelten auf ihren Stangen hin und her, und ihre Bilder im Wasser beleuchteten die Stromringel auf der Oberfläche des Flusses und glänzten auf den Eisschollen. Man sieht nichts weiter als diese Lichtpunkte vor sich. Sie bleiben stehen und scheinen wie Leuchtkäfer auf das Ufer hinaufzufliegen und dort im Schilfe umherzuhuschen. Wir folgten den Kähnen und wählten einen Lagerplatz aus, der jedoch nicht recht für uns paßte, da es dort an dürrem Holze fehlte. Um die Landschaft zu erhellen und mit besserem Erfolge nach Brennholz suchen zu können, steckten die Männer das ungeheuer dichte Schilf, welches die Uferterrasse bedeckte, in Brand. Wie Bambusrohr knisternd, knallend und pfeifend wurde dieses dürre Kamisch von den entfesselten Flammen verzehrt. Es wurde ein riesenhaftes bengalisches Feuer, und sein wilder, gelbroter Schein fiel auf das dunkle Wasser, wo er die Tausende von Treibeisschollen, die in rastlosem Zuge vorbeitrieben, scharf beleuchtete. Diese schienen auf der Pilgerfahrt[S. 123] nach einem gemeinschaftlichen Wallfahrtsorte begriffen zu sein; sie folgten alle derselben großen Heerstraße, auf der sie geboren werden und sterben, aber sie wetteiferten nicht miteinander, sie gingen in schönster Ordnung, alle in demselben Takte. Sie zogen vorbei wie Wassergeister, welche jeden Abend eine muntere Polonaise tanzten, um die Beendigung der Jahresarbeit des Flusses zu feiern und sich vor dem langen Winterschlafe noch gründlich zu amüsieren. Sie glitten dahin wie eine Prozession friedloser Muselmänner mit weißen Turbanen um die Köpfe, wie Freier, geschmückt mit Kränzen von kleinen weißen Immortellen aus vergänglichem Eise.

Recht eigentümlich wirkte die große Fähre sowohl auf dem Fluß wie auf das Ufer unseres Lagerplatzes Ilek ein. Das Treibeis trieb gerade gegen ihre eine Längsseite und strich so an ihr entlang, daß es nachher eine ganze Strecke flußabwärts eine ganz gerade Richtung beibehielt, die jedoch nach und nach wieder eingebüßt und in der Strömung zerstört wurde. Gegen die 1,35 Meter hohe Uferterrasse erzeugte die Fähre, die wie ein Wellenbrecher dämpfte, einen Stromwirbel, der schon an demselben Abend begann, das lose Erdreich der Terrasse zu unterminieren, so daß es nach und nach ins Wasser plumpste. Ich fürchtete, daß es zu einem verhängnisvollen Rutsche kommen würde, aber die Terrasse hielt.

Am 3. Dezember war der Fluß zu drei Vierteln mit Treibeis bedeckt, welches Verhältnis natürlich im Laufe des Tages unaufhörlich wechselt. Wo der Fluß schmal ist, wird die ganze Masse so zusammengedrängt, daß vom Wasser gar nichts zu sehen ist; dann scheint es, als lägen die Fahrzeuge eingefroren in einem treibenden Eisfelde. Was macht es uns jetzt aus, ob es weht, wir werden von dieser nachdrängenden Schlange, die sich zwischen den Ufern hinwindet, widerstandslos mitgenommen. Dort jedoch, wo der Fluß wieder breiter wird, zerstreuen sich auch die Eisschollen, und offenes Wasser kommt wieder zum Vorschein.

Die Eisschollen klirren munter gegen die gefrorenen Ufer; man wird nicht müde, die streifige Marmorierung, diese glänzenden Eismuster, diese Schlingen, Girlanden und langsamen Karusselle zu betrachten, lauter wechselnde Muster, die von dem gesetzmäßigen Laufe des Stromes vorgeschrieben werden. Die Geschwindigkeit war den ganzen Tag über die beste, und wir schwebten ungehindert an üppigen Wäldern und mächtigen Sandausläufern vorbei, die sich beständig in neuen, wunderbaren Perspektiven zeigten. Doch es war nicht mehr so wie früher auf dem ruhigen, spiegelblanken Jarkent-darja; jetzt erfüllte die Luft ein Sausen, das immer stärker wurde, je mehr sich der Fluß verschmälerte, und das von diesen Massen von Treibeis verursacht wurde. Die Eisränder der Ufer näherten sich einander immer mehr, und es kann nur noch ein paar Tage dauern, bis die Brücke fertig ist.[S. 124] Jetzt liegen sogar die Teile des Flusses, in denen das Wasser langsam fließt, unter einer Eisdecke, die so hell wie Glas schimmert. Der Wald wird wieder dünn, der Fluß breiter, die Landschaft offener; man hat nach allen Seiten hin freie Aussicht. Oft scheint der Fluß vor uns gar kein Ende zu nehmen; er erstreckt sich geradeaus in die weite Ferne wie ein wunderbares, weißes Band, eine wahre Milchstraße.

An der Kanalmündung Daschi-köll überraschten uns zwei Reiter am Ufer. Hassan Bek von Teis-köll hatte sie ausgeschickt, um uns ausfindig zu machen. Der Sohn des Beks mit einem Gefolge von zehn anderen Männern erwartete uns eine ziemliche Strecke weiter unten bei Momuni-ottogo. Er hatte mit den beiden Spähern verabredet, daß diese, falls sie uns träfen, ihn durch angezündete Feuer davon benachrichtigen sollten. Sie ritten nun wieder zurück, und wir sahen eine Rauchsäule nach der anderen aufsteigen, und als wir Momuni-ottogo erreichten, brannte dort ein Feuer, und die ganze Gesellschaft erwartete uns mit einem Dastarchan.

Hassan Beks Sohn brachte wichtige Nachrichten. Meine Karawane hatte sich drei Tage in Teis-köll aufgehalten und sollte gestern nach Jangi-köll und von dort weiter nach Argan, dem in Lailik festgesetzten Vereinigungspunkte, ziehen. Da wir aber jeden Augenblick einfrieren konnten und es von Wichtigkeit war, die Kamele nahe zur Hand zu haben, schickte ich an Nias Hadschi und die Kosaken einen reitenden Eilboten mit dem Befehl, sie sollten da, wo sie sich gerade befänden, bleiben. Ferner erfuhr ich, daß sich mein alter Freund Chalmet Aksakal aus Korla bei der Karawane befinde und Parpi Bai mich in Karaul erwarte.

Über die Eigenschaften des Flusses in diesen Gegenden wurde mir mitgeteilt, daß er von Anfang Dezember bis Anfang März zugefroren und dann noch einen halben Monat mit porösem Eise bedeckt sei. Das Hochwasser erreiche diese von den Quellen so weit entfernten Gegenden erst Anfang August und stehe Ende September oder Anfang Oktober am höchsten. Nachher falle der Wasserstand täglich, sei aber einige Zeit vor dem Zufrieren keinen Veränderungen unterworfen. Wenn der Fluß zugefroren sei, steige das Wasser, was seinen Grund darin haben solle, daß das Treibeis sich nach der Mündung hin zusammenpacke und zu einer Art Damm aufstaue. Wenn dieses sich wieder verteilt habe, falle das Wasser von neuem. Während des Juni habe es seinen tiefsten Stand, und man könne dann an mehreren Stellen den Fluß zu Pferd durchwaten.

Es versteht sich von selbst, daß die Unterschiede zwischen dem Hochwasser und dem niedrigsten Wasserstande im unteren Tarim, der so weit vom Gebirge liegt, viel unbedeutender sein müssen als z. B. im Jarkent-darja[S. 125] bei Jarkent oder im Aksu-darja bei Aksu. Je weiter abwärts wir kommen, desto mehr gleichen sich diese Unterschiede aus, und die Wassermenge wird auch in wesentlichem Grade von jenen unzähligen Lagunen und Uferseen reguliert, welche die Ufer des Tarim wie Schmarotzer, die sein Blut aufsaugen, begleiten. Die im Jarkent- und Aksu-darja, im Chotan-darja und Kisil-su so gewaltige Frühlingsflut verliert daher unterwegs nach und nach ihre ungestüme Überschwemmungskraft. Denn erst müssen die Lagunen, die im Sommer ausgetrocknet sind, neu gefüllt werden, wozu ungeheure Wassermengen gehören. Erst nachdem sie den ihnen zukommenden Anteil erhalten haben, macht sich das Hochwasser in den unteren Regionen fühlbar. Wenn der Zufluß von oben sich verringert und aufhört, wirken diese Behälter wieder als Reservoire. Um die Zeit, als wir Lailik verließen, hatte das Hochwasser Momuni-ottogo und Karaul erreicht, jetzt aber, Anfang Dezember, hatte es schon vor ein paar Monaten seine trübe Flut in die äußersten Seen des Tarimsystems ergossen.

Bei Momuni-ottogo waren wir wieder mit freundlichen, dienstwilligen Eingeborenen in Berührung gekommen. Die Nacht war dunkel und bitterkalt, und der eintönige Zug des Treibeises wurde dann und wann von einem eigentümlichen Laute übertönt, der dadurch hervorgebracht wurde, daß unsichtbare Kräfte neue Netze von glashellem Eise über die ruhigen Flächen des Flusses spannten. Der Tag war im ganzen hell und freundlich gewesen; wir hatten eine lange lehrreiche Fahrt gemacht und erfreuliche Nachrichten von den Unseren erhalten. Es war aber auch schon der erste Adventsonntag, und wir standen auf der Schwelle des Grabgewölbes des Tarim, das immer mehr mit Kränzen von weißen Immortellen überhäuft wurde.

[S. 126]

Zwölftes Kapitel.
Wir frieren fest und gehen ins Winterquartier.

Während der letzten drei Tagereisen nahm die Strömung an Schnelligkeit zu; am 4. Dezember legten wir im Durchschnitt 1 Meter in der Sekunde zurück, bisweilen aber war die Fahrt beinahe unangenehm stark, und die Fähre strich längs der Ufer hin, daß es in den Eisrändern krachte. Der Pappelwald hört nach und nach auf, und bei Karaul, wo der Ugen-darja mündet (Abb. 50), ist das Land entweder ganz kahl oder mit Kamischfeldern, kleinen Sanddünen (Abb. 52) und Tamarisken bedeckt.

Wir lagerten bei Karaul, denn dort erwarteten uns Parpi Bai und eine große Zahl anderer Eingeborener. Mein alter, treuer Diener von 1896 eilte an Bord, ergriff meine Hände und führte sie an seine Stirn; er war so gerührt über das Wiedersehen, daß er lange kein Wort hervorbringen konnte. Wie Islam Bai war auch er gealtert und graubärtig geworden, aber er sah ebenso prächtig aus wie früher, um so mehr als er jetzt eine besonders kleidsame Tracht trug, eine mit Pelz verbrämte blaue Mütze und einen dunkelblauen Tschapan (Abb. 51).

Den nächsten Tag blieben wir in Karaul. Ich mußte eine astronomische Beobachtung vornehmen und die Wassermenge des Ugen-darja und des Tarim messen. Jener führte gar kein Treibeis, dieser aber war voll davon, und das Messen war schwerer als gewöhnlich. Der Hauptfluß hatte jetzt 55,7 Kubikmeter, der Ugen-darja nur einige wenige. Das Wasser des Ugen ist bis zu 69 Zentimeter Tiefe durchsichtig, das des Tarim bloß bis auf 8 Zentimeter. Noch 300 Meter unterhalb des Zusammenflusses kann man den Unterschied zwischen dem Wasser beider Flüsse deutlich wahrnehmen.

Der Aksakal von Korla kam mir hier auch entgegen und brachte ein paar Kisten mit Birnen und Trauben mit, sowie einige hundert Zigaretten, die der russische Konsul in Urumtschi mir vor vier Jahren geschickt hatte, die aber jetzt erst ihren Bestimmungsort erreichten.

[S. 127]

Karaul ist der Punkt, wo der Tarim sein scharfes Knie macht, um nach dem Lop-nor abzubiegen. Die Richtung ist Südost, und zeitraubende Bogen kommen nicht vor. Die Stromgeschwindigkeit war stark, und als wir einmal gegen einen im Grunde steckengebliebenen Pappelstamm stießen, half das nachschiebende Treibeis der Fähre darüber hinweg. Es war aber eine ungemütliche Geschichte; die ganze eine Seite wurde über das Wasser gehoben, schrammte auf der Pappel entlang und knallte dann förmlich auf die Wasserfläche nieder.

Der 7. Dezember war der letzte Tag auf dem Tarim im Schifffahrtsjahre 1899, das wußten wir schon am Morgen, denn die Karawane erwartete uns bei Jangi-köll, wohin wir nur noch eine Tagereise hatten, und kurz unterhalb dieses Punktes war der Fluß seit zwei Tagen in seiner ganzen Breite zugefroren. Wir traten also die Fahrt mit gemischten Gefühlen an; die Lailiker freuten sich, daß die Stunde ihrer Befreiung geschlagen hatte, Islam und Kader sehnten sich nach ihren Kameraden und nach dem Leben auf festem Boden, ich selbst war froh, daß die Reise so gut geglückt war und an einem für meine Pläne so geeigneten Orte endete; andererseits begann ich aber die letzte Tagereise mit wehmütigen Gefühlen, denn ich würde die Fähre, die dritthalb Monate mein friedliches Heim gewesen, mit Bedauern verlassen.

Drei Beke von den nächsten Dörfern und eine unabsehbare Reiterschar begleiteten uns auf dem Ufer, doch an Bord durfte nur der Bek von Jangi-köll, mit dem wir später noch viel zu tun haben werden.

Die letzte Tagesfahrt war eine der interessantesten der ganzen Flußreise, denn sie führte uns in ganz anders geartete Gegenden, als wir bisher passiert hatten. Der Fluß strömt beinahe gerade nach Südosten. Links dehnen sich endlose Gras- und Kamischsteppen aus, auf denen sich sehr selten eine einsame Pappel erhebt, rechts türmt sich ununterbrochen der hohe, unfruchtbare Sand auf, dessen Basis vom Flusse bespült wird. Das Ungewöhnliche ist, daß dieser Sand nichtsdestoweniger einer ganzen Reihe höchst eigentümlicher, von lauter öden Dünen ohne Spur von Vegetation umgebener Seen Raum gewährt. General Pjewzoff hatte auf seiner Reise einige von ihnen bemerkt, aber weder er noch ich hatten geahnt, daß ihre Zahl so groß sei, und es gehörte daher jetzt noch zu meinem Reiseprogramm, sie näher zu untersuchen, eine Karte von ihnen aufzunehmen und sie auszuloten.

Der Fluß war jetzt ganz mit Treibeis erfüllt, und nur ein Drittel der Fläche, wo sich die Stromfurche hinzog, war eisfrei, sonst war alles zugefroren. An einigen Stellen kamen wir nur mit Mühe hindurch auf Kosten der Eisränder, die klirrend wie Glas zersplitterten. Den Eisschollen[S. 128] wurde der Platz knapp; sie prallten aneinander und schoben sich übereinander, wobei sie Miniaturterrassen oder auf dem Eisbande der Ufer weiße Wälle bildeten. Die ganze Masse trieb mit unwiderstehlicher Kraft vorwärts; die Blöcke, die nicht mitkommen konnten, waren auf sich selbst angewiesen, während wir uns mitten in der Bahn hielten und sicher auf das Ziel losgingen.

Tus-algutsch-köll, der „See, wo Salz genommen wird“, ist die erste der langen Reihe von Wüstenlagunen, die gleich Trauben an einem Stengel am rechten Ufer des unteren Tarim hängen. Obgleich ich später reichlich Gelegenheit finden werde, diese seltsamen Gebilde zu besuchen, konnte ich mich nicht enthalten, schon jetzt an Land zu gehen, um wenigstens einen Blick auf den See zu werfen. Der Kanal, der den See mit dem Flusse verbindet, war an der Mündung mit Lehm und Reisig verstopft. Das Wasser wird auf diese Weise 2–3 Jahre lang isoliert, und die darin eingeschlossenen Fische sollen fett und schmackhaft werden, sobald das Wasser einen schwachen Anflug von Salz bekommen hat. Der zweite See ist der Seit-köll; er zieht sich beinahe eine Tagereise weit landeinwärts in den Sand hinein; seine drei Kanäle waren ebenfalls abgesperrt worden, um das nächste Hochwasser zu verhindern, mit dem See in Verbindung zu treten.

In der Nähe der Mündung dieser Seen sahen wir mehrere verlassene Dörfer. Die aus Pappelholz und Kamisch gebauten Hütten (Abb. 53) standen noch da und sahen ziemlich neu und brauchbar aus, aber nicht ein einziges lebendes Wesen war zu sehen, und in dem Sand, der sich ringsumher schneewehenartig angehäuft hatte, war nicht einmal eine Fußspur zu entdecken. Mir wurde erzählt, daß die Bewohner dieser, wie auch die einer ganzen Reihe anderer, weiter flußabwärts liegender Dörfer vor sieben Jahren fortgezogen seien, nachdem die Pocken (Tschitschek) die Bevölkerung in schrecklicher Weise dezimiert hätten. Den Überlebenden wurden von den chinesischen Behörden Wohnsitze auf dem linken Ufer angewiesen. Sie hatten vorher hauptsächlich vom Fischfang gelebt, nun aber wurde ihre Lebensweise eine ganz andere; sie bestellten ihr Feld, säten Weizen und erwarben sich ihren Unterhalt auch mit Viehzucht. Der Boden ist jedoch mittelmäßig, und obwohl sich ohne Schwierigkeit Kanäle vom Flusse ziehen lassen, reicht der Ertrag des Bodens doch nicht für ihren Unterhalt aus, und sie müssen oft ihre Schafe verkaufen, um sich Mehl aus Korla zu verschaffen. Die reichsten Eingeborenen besitzen bis zu tausend Schafen, aber die meisten sind arm und begeben sich im Sommer nach ihren alten Seen, um dort zu fischen. Hierbei bewohnen sie jedoch nicht ihre alten Hütten, an denen für die meisten so traurige Erinnerungen hängen, sondern[S. 129] lagern unter freiem Himmel. Jetzt haben die Chinesen Zwangsimpfung eingeführt, welcher die skeptische Bevölkerung sich und ihre Kinder unterwerfen muß.

52. Kleine gebundene Dünen bei Karaul. (S. 126.)
53. Verlassene Hütten am Seit-köll. (S. 128.)
54. Unser Hauptquartier Tura-sallgan-ui. (S. 135.)
55. Winterquartier in Jangi-köll mit meinen Leuten. (S. 133.)

GRÖSSERES BILD

Auch am Seit-köll gingen wir an Land und bestiegen eine hohe Düne, von der man eine prächtige Aussicht über den See hat, der sich nach Südsüdwesten hinzieht und einem Fjorde zwischen steilen Felsen gleicht.

Die Flußkrümmung, an welcher der Seit-köll liegt, ist außerordentlich energisch in den Sand eingeschnitten, wo sie gleichsam eine vorgeschobene Bucht des Flusses bildet. Früher hatte das Sandmeer sich weit nach Nordosten erstreckt, war aber nach und nach von dem Flusse, der also auch hier nach rechts zu wandern scheint, zurückgedrängt worden.

Über die Bildung der Wüstenseen gaben mir die Landeskinder ziemlich phantastische Aufklärungen. Sie behaupteten, erst seien die Kanäle gegraben worden, dann habe sich der Fluß während der Hochwasserperiode durch sie neue Bahnen gesucht; große Wassermassen hätten sich in den Sand hineingewälzt, die Dünen verdrängt und jene großen Seen gebildet, die gewöhnlich nach dem Manne heißen, dem sie ihre Entstehung verdanken sollen. Es versteht sich von selbst, daß trotz alles Grabens keine Seen entstehen würden, wenn es in der Plastik des Bodens nicht schon gewisse notwendige Vorbedingungen gäbe. Auch der Dasch-köll ist in hydrographischer Hinsicht sehr eigentümlich. Dieser See liegt ganz dicht am Ufer des Flusses, ist aber noch durch einen bedeutenden Sandwall von ihm getrennt. Neulich hat der Fluß einfach die ganze Düne fortgespült, und seine Wasserfläche hängt jetzt unmittelbar mit dem Spiegel des Sees zusammen. Die Fläche des Sees steigt und senkt sich mit der des Flusses. —

An einem Punkte namens Arelisch begegneten uns Tschernoff und Faisullah und weiter abwärts Nias Hadschi und mehrere der Karawanenleute und begleiteten uns auf dem Ufer mit einer ganzen Reihe neuangeschaffter Hunde. Ihre Freude, uns gesund und munter auf der alten Fähre wiederzusehen, läßt sich nicht beschreiben. Sie hatten es kaum für möglich gehalten, daß mich dieses Ungetüm Hunderte von Meilen würde transportieren können, während sie auf staubigen Wegen so manchen ermüdenden Schritt getan. Jetzt konnten wir bleiben, wo wir wollten, denn wir waren wieder mit der Karawane in Verbindung. Da mir aber Tschernoff sagte, wir hätten nur noch ein paar Stunden bis an einen Punkt, wo das Treibeis sich zusammengepackt habe und zu einer dichten Masse zusammengefroren sei, durch die nicht hindurchzukommen sei, beschloß ich, beim Scheine der Laternen weiterzufahren.

Die letzte Nacht unserer Flußreise war schon einige Stunden unter ihrem schwarzen Schleier dahingeschritten, als ein großes Feuer am linken[S. 130] Ufer aufflammte. Es war von unseren Karawanenleuten an einem geeigneten Landungsplatze gleich oberhalb der Eisbarre angezündet worden. Hier legten wir zum letztenmal an und gingen müde und frierend nach dem Feuer hinauf, wo wir bald in lebhaftem Gespräche mit den Unseren waren.

So hatte denn diese märchenhafte, friedvolle Reise ihr Ende erreicht! Wie im Traume konnte ich zurückblicken auf alle die verflossenen Tage mit ihren reichen Erfahrungen, auf unser einsames Leben an Bord, unsere Abenteuer und Exkursionen, unsere venezianischen Abende und den endlosen Wald, der unseren Weg mit seinen gelben Blättern bestreute. Nie hat sich eine Reise so glücklich und bequem ausführen lassen; sie bildete in der Tat einen passenden Übergang zwischen dem stillsitzenden Leben in Stockholm und den mühevollen Jahren, die jetzt vor mir lagen. Ich war wie auf einem Triumphwagen mitten in das Herz von Asien geführt worden und nun war ich dort; und wohin ich mich wendete, lockte das Unbekannte mit magischer Anziehungskraft. Es war ein eigentümliches Zusammentreffen, daß uns das Eis gerade an dem Punkte, an dem sich die Karawane befand, den Weg versperrte. Sie war vor drei Tagen hier angekommen und hatte durch ausgesandte Kundschafter Kenntnis vom Herannahen der Fähre erhalten, worauf sie im ersten besten Dorfe geblieben war. Es war durchaus keine Enttäuschung, daß wir den anfangs bestimmten Vereinigungspunkt Argan nicht vor dem Zufrieren des Flusses erreicht hatten, sondern im Gegenteil ein großer Vorteil. Es stellte sich nämlich heraus, daß Jangi-köll der vorzüglichste Ausgangspunkt für die großen, gefährlichen Expeditionen war, die ich nach den Wüsten im Osten und Westen plante, und daß es überdies noch den Vorzug hatte, nicht sehr weit von Korla entfernt zu liegen, der nächsten Stadt, wo wir das, was wir zur Ausrüstung der Karawane brauchten, finden konnten.

Jetzt war keine Eile mehr nötig, und es war zu schön, am Morgen des 8. Dezember ruhig ausschlafen zu dürfen. Die Kosaken suchten einen sehr geeigneten Platz für das Winterquartier aus, der einige hundert Meter oberhalb des Punktes, an dem wir Halt gemacht hatten, ebenfalls auf dem linken Ufer des Flusses lag. Dorthin wurde das ganze Gepäck der Karawane gebracht, und hier schlugen die Leute ihre Zelte auf. Dort war ein vorzüglicher, jetzt fest zugefrorener kleiner Hafen mit steilen Ufern, dessen Eis mit Äxten und Stangen aufgebrochen wurde. Die Fähre, die während der Nacht auch tüchtig festgefroren war, wurde aus ihren Banden befreit und nach dem Hafen gezogen, wo sie am Ufer vertäut wurde, welche Vorsichtsmaßregel jedoch überflüssig war, da sie sehr bald von fußdickem Eise eingeschlossen war. Im Laufe des Winters gefror das Wasser[S. 131] hier zum Teil bis auf den Grund, und unsere weitgereiste Wohnung lag wie auf einem Bette von Granit.

Der erste Abend im Winterlager führte eine jener unangenehmen Entdeckungen herbei, die jedoch etwas ganz Gewöhnliches sind, wenn man so naiv oder gutmütig ist, allzu großes Vertrauen auf die Ehrlichkeit eines Muhammedaners zu setzen. Nias Hadschi hatte in Lailik 4½ Jamben bekommen, mit denen er teils den Lebensunterhalt der Karawane bestreiten, teils allerlei Einkäufe machen sollte. Die Summe war so reich bemessen, daß ein hübsches Stück Geld hätte übrigbleiben müssen. Statt dessen aber hatte mein Karawan-baschi unterwegs noch eine Anleihe von gegen 4 Jamben gemacht. Jetzt wurde am Feuer Gericht abgehalten; ich hatte auf dem Richterstuhle — einem Mehlsacke — Platz genommen, und der angeklagte Sünder, seine Ankläger, die Zeugen und Zuhörer standen um mich herum; es war feierlich und tragisch, und gern hätte ich noch ein paar Jamben dazubezahlt, wenn ich mit meinem Diener nicht hätte ins Gericht zu gehen brauchen. Doch um ein Exempel zu statuieren, den anderen zur Warnung, und die Autorität, die der Führer haben muß, aufrechtzuhalten, nahm ich Nias Hadschi vor und verlangte von ihm Rechenschaft darüber, wie er die ihm anvertrauten Gelder verwaltet habe. Wie er diesem Verlangen nachkam, wird jeder sagen können, der je mit Muhammedanern zu tun gehabt hat; er suchte mir auseinanderzusetzen, daß nicht ein Tenge unnötig ausgegeben sei und daß er ehrlich und treu seinen Auftrag ausgeführt habe — aber er log. Sirkin hatte auf meinen Befehl auf der Reise Buch geführt, und es war leicht, die Ausgaben zu kontrollieren. Außerdem wurde ihm zur Last gelegt, daß er hochmütig und stolz gegen die anderen gewesen sei. In Aksu hatte er seine eigenen, in Korla seines Sohnes Schulden bezahlt, und dieses Herrchen hatte er mir noch obendrein als Geschenk mitgebracht. Ich wollte ihm nicht an diesem Tage, der für mich so glückbringend gewesen, ein zu strenges Urteil sprechen; überdies hatte ich ihn ja selbst in Versuchung geführt, indem ich ihm soviel Geld anvertraut hatte. Das Urteil lautete auf Entlassung; im Laufe des folgenden Tages sollte er das Lager verlassen.

Eigentümlich sind diese Muselmänner; man wird nie recht klug aus ihnen. Dieselben Männer, die ihn eben noch angeklagt hatten, legten nun Fürbitte für ihn ein und baten, ich möchte ihn doch nur degradieren und als Koch der Muselmänner behalten. Es nützte ihnen jedoch nichts; das Urteil war gesprochen, und ich wollte meinen Entschluß nicht ändern. Es tat mir freilich leid, den alten Mann, den Mekkapilger, den Freund des Propheten und Prschewalskijs einstigen Diener, allein in den öden Winter hinauszuschicken. Ich versprach, der ganzen Geschichte nicht mehr zu[S. 132] gedenken, und als er abzog, gab ich ihm noch eine halbe Jamba mit auf den Weg, die seine Tränenfluten stillte. Hiermit war seine kurze Geschichte zu Ende, und er war sicher der Ansicht, noch gut davongekommen zu sein. Er hatte bei unserer herumziehenden Theatertruppe von Karawane als ein Schauspieler figuriert, der nur im ersten Akte auftritt. Doch im Laufe des Stückes werden immer neue Schauspieler die alten ablösen und ihre Rollen mit wechselndem Glück spielen. Der Souffleur ist das Gewissen, die Bühne das innerste Asien, und die Zuschauer sind die Sterne des Himmels und die am Tage heulenden Stürme. Wenn man den Himmel als Zuschauer hat, muß man gut spielen und muß mild gegen schlechte Spieler sein. —

Während der drei Tage vom 9. bis zum 11. Dezember wurde das Lager und die Zusammensetzung der Karawane für die nächste Zukunft geordnet. Chalmet Aksakal erhielt den Auftrag, uns von Korla eine Verstärkung einiger unserer Vorräte, zwei mongolische Filzzelte und fünf Maulesel zu besorgen, sowie einige Silberbarren in Kleingeld umzuwechseln, und zwar in Tengestücke aus Jakub Beks Zeit, die zwischen Korla und Tscharchlik noch gangbar sind und von denen 21 auf 1 Sär gehen. Musa Ahun sollte ihn nach Korla begleiten und mit den Sachen zurückkehren. Ferner sollte Chalmet Aksakal meine große Post mitnehmen und nach Kaschgar weiterschicken.

Die vier Männer aus Lailik, unsere guten, prächtigen Fährleute, traten jetzt vom Schauplatze ab und kehrten in ihre ferne Heimat zurück. Ihr vereinbarter Monatslohn wurde verdoppelt, und ich bezahlte ihnen die Heimreise. Ihre Dankbarkeit war groß, und mit Tränen in den Augen beteten sie „Dua“ und „Allahu ekbär“ für mich; mit Bedauern trennte ich mich von diesen Männern, die in jeder Hinsicht ein gutes Andenken hinterließen. Sie wollten zu Fuß nach Korla gehen, wo der Aksakal ihnen beim Einkaufen guter Reitpferde helfen sollte. Ich habe nachher nichts wieder von ihnen gehört, hoffe aber, daß sie glücklich nach Hause gelangt sind.

Trotz dieser großen Verminderung des Karawanenpersonals bot das Lager doch ein außerordentlich lebhaftes Bild dar. Die mir am nächsten im Range Stehenden der Leute waren die Kosaken und Islam Bai als unser Karawan-baschi. Parpi Bai wurde zum Oberaufseher der Pferde ernannt und benutzte seine freie Zeit zur Falkenjagd. In Friedenszeiten wurde der Falke mit lebendigen Hühnern gefüttert, ein greuliches Schauspiel. Turdu Bai und Faisullah waren für die Kamele verantwortlich und hielten abwechselnd an den Weideplätzen derselben Wache. Kurban, ein sechzehnjähriger, hübscher, offener und heiterer Junge aus Aksu, war Laufbursche, führte die Pferde zur Tränke und brachte denen, die draußen[S. 133] die Kamele hüteten, Essen. Ein mit diesen Gegenden außerordentlich gut bekannter Loplik, der treffliche Ördek, wurde für die grobe Arbeit im Lager, wie Wassertragen für die Küche, Holzfällen in dem nächsten dürren Walde und Futterholen für die Pferde, angenommen. Im Hafen wurde eine Wake aufgehauen und ständig offengehalten, das Kochwasser aber wurde stets aus dem Flusse geholt, wo es, weil fließend, frisch und rein war. Die Kamele trugen das Brennholz ins Lager, und unsere nächsten Loplik-Nachbarn verschafften uns auf Veranlassung des Beks der Gegend schon am ersten Tage tausend Bündel Klee und tausend Bündel Heu. Auch ein Schmied wurde für diverse Arbeiten angenommen; er mußte anfangs Sirkin helfen, mir Schlittschuhe zu machen. Ich hatte mir nämlich gedacht, mit diesem Transportmittel über die Seen zu ziehen, doch sie fielen nicht so aus, daß ich sie zu etwas anderem hätte benutzen können, als mir in der Nachbarschaft Bewegung zu machen.

Das Lager bekam Besuch von ganzen Scharen von Lopliks (Abb. 55). Sobald unsere Nachbarn gehört, daß wir uns in ihrem Lande niedergelassen und in der Wildnis ein kleines Dorf angelegt hatten, wallfahrteten sie scharenweise dorthin; sie brachten stets Geschenke mit und gaben uns so viele Aufklärungen, wie sie nur konnten. Es war ein fortwährendes Kommen und Gehen, und wenn ich an Bord im Zelte arbeitete, hörte ich ein ununterbrochenes Stimmengewirr wie von einem Marktplatze.

Das Zelt der Leute war unter der einzigen Pappel, die es im Lager gab, aufgeschlagen; dahinter lagen alle Kamellasten auf ihren Saumleitern aufgestapelt. Die Küche der Leute war ein Feuerherd unter freiem Himmel, umgeben von einer hohen Einfriedigung von Brennholz, die mit dem Winterbedarfe an Umfang zunahm. Das Ganze wurde von fünf Hunden bewacht, denn die Karawane hatte fünf Hunde aus Kutschar und Korla mitgebracht. Zwei von diesen waren unübertreffliche, schöne, sympathische Windhunde; sie wurden Maschka und Taigun genannt und waren schon vom ersten Tage an meine erklärten Günstlinge. Sie waren groß, hochgewachsen, weiß und sehr kurzhaarig, so daß sie im Winter beständig das Feuer aufsuchten und nachts bei mir in eigens für sie angefertigten Mänteln aus weißem Filz schliefen. Es war komisch zu sehen, mit welcher Gewandtheit sie ohne Hilfe in die Mäntel kriechen lernten und wie dankbar sie waren und wie wohlgefällig sie stöhnten, wenn man sie zudeckte. Auf dem Kriegspfade aber waren sie unüberwindlich und verbreiteten geradezu Entsetzen unter den Hunden der Umgegend. Ich habe nie Hunde auf so raffinierte Weise Krieg führen sehen wie Maschka und Taigun. Sie umkreisten ihren Gegner, bis sie ihn an einem Hinterbeine packen konnten, drehten ihn daran um sich selbst und ließen ihn erst los, wenn die[S. 134] Geschwindigkeit so groß war, daß der Ärmste kopfüber eine Strecke weit hintaumelte und dann heulend auf drei Beinen davonhinkte. Beim Füttern wagte keiner der anderen Hunde die Fleischstücke auch nur anzusehen, solange die Windhunde sich noch nicht sattgefressen hatten. Mir waren sie Gesellschafter und ein guter Ersatz für den ersten Dowlet, leider waren aber auch ihre Tage gezählt. Nach ihrer Ankunft im Lager fiel Jolldasch zwar nicht in Ungnade, er zog sich aber freiwillig ins Privatleben zurück und wagte mein Zelt nie zu betreten, wenn die Neuen dort waren. Er schlief aber getreulich vor dem Zelte, und wenn ich ihn beim Hinausgehen streichelte, sprang und bellte er vor eitel Dankbarkeit und Entzücken. Jollbars, der „Tiger“, war ein kolossaler schwarzbrauner Hund, ein Sohn des Lopdschungels mit Wolfsblut in den Adern, der immer an einer eisernen Kette bei den Kamellasten lag und so wild war, daß sich niemand in den Radius der Kette hineinwagte. Er war ein Hofhund furchtbarster Art, ein Ritter von den mörderischsten Reißzähnen, aber ich wurde selbst mit ihm bald gut Freund. Er spielte eine gewisse Rolle in der Karawane, begleitete mich auch auf dem Wege nach Lhasa, und als er zwei Jahre später spurlos verschwand, trauerten alle um ihn. Ich liebe die Hunde; sie gehen mit ihrem ganzen Wesen in den Mühen des Karawanenlebens auf und tun stets ihre Pflicht.

Als ich am Morgen des 10. aus dem Zelte trat, das noch immer an Bord stand, fand ich zu meinem Erstaunen das Holzgerüst zu einem ganzen Hause am Ufer aufgeschlagen. Der Bek von Jangi-köll hatte diese vorzügliche Idee gehabt; er hatte seine Leute aufgeboten, Bauholz besorgt und die Arbeit beim Morgengrauen anfangen lassen. Das Gerippe, das aus Pfählen, schmalen Stangen und Latten bestand, wurde im Laufe des Tages mit vertikal gestellten Schilfbündeln ausgefüllt, und sogar die Dachbalken wurden mit Kamischgarben bedeckt. Es wurde eine ideale Hütte von der im Loplande üblichen Bauart; sie enthielt zwei große Zimmer. Die Männer hatten sich das eine als meine Küche und Backstube, das andere als Aufbewahrungsort für mein ganzes Gepäck gedacht. Mir fiel jedoch ein, wie der bekannte Afrikaforscher Schweinfurth einmal Aufzeichnungen und Sammlungen von vielen Jahren dadurch eingebüßt hat, daß er sie in einer sehr feuergefährlichen Hütte aufbewahrte; ich ließ das Gepäck daher den ganzen Winter im Freien, es wurde aber mit Segeltuch und Filzdecken zugedeckt. Hätte es in meiner Absicht gelegen, in Jangi-köll zu überwintern, so hätte ich natürlich ein vollständiges, bequemes Holzhaus, in das die Fenster der Dunkelkammer hätten eingesetzt werden können, bauen lassen, aber ich hatte andere Pläne und sollte bloß einige Tage, zu drei verschiedenen Malen, an diesem schönen Orte Gastfreiheit genießen.[S. 135] Doch während dieser Tage kam mir die Hütte sehr zustatten, und sie erlangte einen gewissen Ruf im ganzen Loplande. Unser Lagerplatz wurde allgemein Tura-sallgan-ui (das von dem Herrn erbaute Haus) genannt (Abb. 54), und mir ist von Lopliks versichert worden, daß dieser Name sich für alle Zeiten in der geographischen Nomenklatur der Gegend einbürgern werde, geradeso wie eine Stelle am Kuntschekkisch-Tarim noch heute Urus-sallgan-sal oder „Der Russe baute eine Fähre“ heißt, weil dort einst Kosloff auf einem Floße von dürren Tograkstämmen den Fluß überschritten hat.

Die Hütte sollte jedoch die Vergänglichkeit aller anderen irdischen Dinge teilen. Als die nächste Frühlingsflut das Bett des Tarim füllte, überschwemmte er hier seine Ufer und zerstörte nicht nur den Bootshafen, sondern riß auch unsere Hütten und die Pappel mit fort; da waren wir aber schon abgezogen und hatten unsere Penaten auf festerem Boden aufgestellt. Es war dies jedoch eine schlagende Bekräftigung meiner auf jahrelange Beobachtungen gegründeten Theorien über die hydrographischen Unberechenbarkeiten in den unteren Teilen des Tarimsystems; nicht ein Stück blieb von Tura-sallgan-ui übrig, keine einzige Spur wird in Zukunft von unserem langen Besuche an diesem reizenden, aber trügerischen Ufer Zeugnis ablegen.

Wie friedlich vergingen mir die Tage in Tura-sallgan-ui! Ich hätte als Gast des Schahs von Persien in den Spiegelhallen und Marmorsälen seines Palastes nicht in gehobenerer Stimmung sein können als hier zwischen den Kamischmauern dieser luftigen Wohnung, wo der Wind seine unendlich melancholischen Trauermärsche in den Schilfstengeln pfiff, dem Klagen unzähliger, friedloser Luftgeister vergleichbar.

Für unsere acht Pferde wurde aus demselben Material ein geräumiger Stall erbaut, dessen eine Längsseite nach dem Hofe zu offen blieb. Unsere Hühner erhielten neue Kameraden, und wir kauften auch Schafe und Kühe, die uns mit Milch versahen. Das Ganze wurde schließlich der reine Gutshof, der, wenn er auch gerade nicht als Muster eines solchen gelten konnte, doch der gemütlichste und behaglichste war, mit dem ich je zu tun gehabt habe. Zwischen den Hütten, dem Zelte, den Kamellasten, der Küche und dem Hafen entstand ein freier Platz, der Markt des Dorfes; dort brannte Tag und Nacht ein Feuer, um das herum Matten ausgebreitet waren und Gäste empfangen wurden; dies war der „Klub“. Das Feuer durfte erst im Mai des folgenden Jahres ausgehen; es wurde nicht von jungfräulichen Vestalinnen, sondern von bärtigen Barbaren unterhalten. Die Nachtwachen, die alle zwei Stunden abgelöst und von den Kosaken kontrolliert wurden, speisten die Flammen während der nächtlichen Stunden und wärmten sich dort in den kalten Winternächten.

[S. 136]

Schon seit unserer Ankunft hatte ich Erkundigungen über die Wüste im Südwesten eingezogen, aber die Bevölkerung wußte von den Geheimnissen, die sich hinter dem hohen Sande verbargen, herzlich wenig. Längs des rechten Ufers erstreckte sich eine berghohe Wand von unfruchtbaren Dünen und lockte mich mit geradezu unwiderstehlicher Gewalt. Das einzige, was ich gewiß wußte, war, daß ich jetzt einen gefährlichen Streich auf ihre Verschanzungen wagen, einen Kampf auf Leben und Tod mit dem breitesten Gürtel der Wüste Takla-makan beginnen würde. Aber, wie gesagt, irgendwelche Auskunft von Wert konnte ich nicht erhalten. Was mich am meisten in Erstaunen setzte, war das Entsetzen, mit dem das Volk von der Wüste sprach, die gewöhnlich schlechtweg Kum, Tschong-kum oder, nach einer sagenhaften Stadt, die in ihrem Inneren begraben liegen soll, Schahr-i-Kettek-kum genannt wurde. Man hielt es für das Schlimmste, was einem Menschen passieren könne, wenn er sich freiwillig oder unfreiwillig dorthin verirrte; keiner war je dort gewesen; ehemalige Kameljäger und die heutigen Goldsucher hatten sich nur zwei Tagereisen weit vom Flusse zu entfernen gewagt und waren dann stets schleunigst wieder umgekehrt, von Entsetzen über diesen unheimlichen, gar kein Ende nehmenden Sand überwältigt. Wir wurden für Selbstmörder angesehen, als wir dorthin zu wollen erklärten, und man prophezeite uns, daß wir nie mehr zurückkehren würden. Ich beruhigte die Leute jedoch ein wenig, indem ich ihnen erzählte, es sei nicht das erste Mal, daß ich mich erdreiste, den Kampf mit der Sandwüste aufzunehmen.

Von Tura-sallgan-ui sah man im Südwesten eine Unterbrechung in dem Sandwalle. In ihr sollte das Becken des Basch-köll liegen, und am Ufer davor ist ein Dorf Jangi-köll-ui, in dem mehrere unserer Lieferanten und neuen Freunde wohnten. Das Wenige, was mir erzählt wurde, erhöhte nur noch mein Verlangen, die Wüste zu besuchen. In der Verlängerung der Seen in dieselbe hinein sollten sich offene, kahle Bodeneinsenkungen hinziehen, die trockenem Seeboden glichen, nach Ansicht der Eingeborenen aber durch Nordostwinde, die den Sand fortfegen, entstanden waren. Diese Senkungen werden „Bajir“ genannt, doch wie weit sie gehen, wußte niemand. Man hatte nur von früher gehört, daß vor vielen hundert Jahren fern im Südwesten ein heidnisches Volk unter dem Herrscher Atti Kusch Padischah gewohnt habe. Heilige Imame hätten sich zur Verbreitung des Islam dorthin begeben; da das Volk aber die neue Lehre nicht annehmen wollte, hätten die Imame den Fluch und die Rache des Himmels über das ganze Land herabgerufen; dann habe es tagelang Sand geregnet und Land, Volk und Städte seien darunter begraben worden.

56. Zusammentreffen mit dem Franzosen Bonin. (S. 144.)

GRÖSSERES BILD
57. Bonin im Hauptquartier. (S. 145.)
58. Parpi, Palta und Islam auf den äußersten Dünen des Sandmeeres am Jangi-köll. (S. 150.)

[S. 137]

Bevor ich endgültig aufbrach, wollte ich eine kürzere Versuchsexkursion machen, um zu rekognoszieren, und berief daher abends alle nach dem „Klub“, wo ich folgenden Tagesbefehl für den 11. Dezember erteilte. Die Kamele, die die Exkursion mitmachen sollten, mußten über den Fluß geführt werden, der notwendige Proviant war zu ordnen, und die Verbindung zwischen beiden Ufern offen zu halten. Während meiner Abwesenheit sollte die Hütte wohnlich eingerichtet werden. Das große, dem Flusse zugekehrte Zimmer sollte in zwei kleine geteilt werden, von denen das innere doppelte Kamischwände erhalten und mit Filz ausgeschlagen werden sollte, um es zugfrei zu machen. Der Fußboden sollte mit Binsen und Teppichen belegt werden, in der Mitte aber eine Feuerstelle und darüber ein Loch im Dache sein. Das neue Haus war bis zu meiner Rückkehr fertigzustellen.

Während ich am 11. meine wissenschaftlichen Beobachtungen machte, wurden Anstalten zum Überführen der Kamele getroffen, was durchaus nicht leicht war. Unsere Annahme, daß das Eis tragen würde, erwies sich als unrichtig. Ein heftiger Wind hatte die gefrorenen Stellen wieder aufgerissen; darauf war der Fluß in der letzten Nacht von neuem zugefroren, aber das Eis war noch nicht genügend tragfähig. Die Kamele hinüberschwimmen zu lassen, wäre ihr Tod gewesen. Der einzige Ausweg war, sie auf der großen Fähre zu transportieren, aber diese lag so fest wie in einem Schraubstock. Die Kosaken wußten aber Rat; sie boten Leute auf, die eine Rinne durch die fußdicke Eisdecke in unserer kleinen runden Bucht schlugen. An einer schmalen Stelle unmittelbar oberhalb des Lagers wurde ein Tau viermal über den Fluß gespannt. Die Strömung betrug hier beinahe einen Meter in der Sekunde, und gerade dieser Punkt war der letzte, der im Winter zufror. Die Stelle war bis auf ein ziemlich breites Eisband an dem niedrigen rechten Ufer noch vollständig offen. Die Fähre wurde an dem Tau hinübergezogen und nahm ein Kamel auf dem Achterdeck mit. Sie landete an der Eisdecke des rechten Ufers, die so fest war, daß sie die Kamele trug.

Gegen Abend besuchte mich ein chinesischer Siah (Schreiber); er war von dem Amban von Kara-schahr hergeschickt, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen, eigentlich aber war er ein unschädlicher Spion, der ausfindig machen sollte, was für ein Kunde ich sei. Nasar Bek, mein alter Freund und Wirt von Tikkenlik, kam spät abends und blieb über Nacht, so daß wir lange gemütlich miteinander plaudern konnten. Er teilte mir allerlei Interessantes mit. Zuerst wußte er zu erzählen, daß ein Russe von Dung-chan (Sa-tscheo) nach Tscharchlik gekommen sei und in einer Woche ungefähr hier sein werde; ich ahnte, daß dies kein Russe, sondern der französische Reisende Bonin sei.

[S. 138]

Nasar Bek erzählte auch, daß sich in der Nachbarschaft von Jing-pen und Tikkenlik in der letzten Zeit einige Male wilde Kamele gezeigt hätten, und einmal hatte der Bek selbst eine Herde von fünf Tieren in der Nähe der Straße nach Turfan gesehen. Er wußte, daß zu den Zeiten seiner Vorfahren Beke aus Turfan gekommen waren, um von der Lopbevölkerung einen Tribut von Otterfellen für die Chinesen einzufordern. Sie pflegten östlich um den Bagrasch-köll über den Kurruk-tag und den Kum-darja, dann bei Turfan-köbruk über den Ilek zu gehen und am Kara-köll Halt zu machen. Aus chinesischen Quellen wissen wir, daß diese Angabe mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Der Otter (Kama) kommt im Tschiwillik-köll und mehreren andern Seen der Gegend vor, dagegen aber, soviel ich habe erfahren können, im Kara-koschun nicht; man muß sich dies merken, denn es läßt vermuten, daß die nördlichen Seen mit den südlichen, die ein ganz neues Gebilde ausmachen, nicht in Verbindung gestanden haben. Der Otter wird des Felles wegen mit einer Art Fischgabel (Sendschkak) auf dem Eise nach Schneefall gefangen. Man sieht dann in dem Schnee, dessen Menge in diesen Gegenden übrigens sehr unbedeutend ist, wo ein Otter gegangen ist; hat er sich z. B. in eine Wake begeben, um Fische zu fangen, so lauert der Jäger mit der Fischgabel an dem Loche oder er hat rings um das Loch eine Schlinge gelegt, die zugezogen wird, sobald das Tier wieder den Kopf aus dem Wasser steckt. Gibt es mehrere Waken, so werden an allen Schlingen gelegt und Wachen ausgestellt, da man nicht wissen kann, wo sich der Otter zu zeigen gedenkt.

Nasar Bek war vor ein paar Jahren in Tusun-tschappgan gewesen und hatte dort von einem Hügel herab ungefähr einen Tagesritt weit nach Nordosten eine Wolke oder Nebelwand (Bulut) gesehen, die seiner Meinung nach von einem im Norden des Kara-koschun liegenden unbekannten See herrühren mußte. Er glaubte, daß der Kum-darja, das ausgetrocknete Bett am Südfuße des Kurruk-tag, früher in diesen See gemündet habe, welche Vermutung von guter Urteilskraft zeugte und, wie ich später nachweisen konnte, vollkommen richtig war.

Vor 18 Jahren war der Bek in drei Tagen von Argan nach Lop geritten, wobei er das trockene Bett des Ettek-tarim als Straße benutzte. Vor 12 Jahren kamen noch wilde Kamele von Westen her an dieses Bett. Damals gingen öfters Kameljäger von Wasch-schahri nach Argan durch die Wüste, in der noch Tamarisken waren; über das Innere der Tschertschenwüste konnte aber auch Nasar Bek keine Auskunft geben.

Dies und vieles andere erzählte der dicke Nasar Bek, und ich merkte mir seine Worte; sie sollten nicht ohne Einfluß auf meine künftigen Pläne bleiben.

[S. 139]

Dreizehntes Kapitel.
Eine französische Visite.

Der 12. Dezember, an dem die Exkursion beginnen sollte, setzte mit wenig einladendem Reisewetter ein, denn es stürmte heftig aus Südwest, und sobald man ins Freie trat, erstarrte man vor Kälte. Durch die Talsenkung des Basch-köll strich der Wind wie durch einen Flintenlauf. Die Kosaken, die sich wie Polarreisende eingehüllt hatten, nahmen unsere Jagdgewehre mit. An dem Ausfluge beteiligten sich außerdem nur Faisullah, Ördek und Pavan Aksakal (der weißbärtige Jäger), ein hochgewachsener, heiterer Greis aus dem Dorfe Jangi-köll, der bald einer unserer besten Freunde wurde und alles tat, um sich uns aufs beste nützlich zu machen. Die Karawane bestand aus vier Kamelen, auf denen wir abwechselnd ritten. Die Hunde Maschka und Taigun begleiteten mich zum ersten Male.

Meine Ausrüstung war so einfach wie nur möglich: eine kleine Kiste mit den notwendigen Instrumenten, Kodak, Fernglas und Küchengeschirr; ein Bündel Kissen, Filzdecken und Pelze bildeten mein Bett. Das Gepäck wurde in der kleinen Fähre hinübergebracht, die stets, solange es noch offenes Wasser gab, die Verbindung zwischen beiden Ufern aufrechterhielt und so fleißig benutzt wurde, daß wir eigens einen Loplik als Fährmann anstellen mußten. Die Kamele wurden auf dem rechten Ufer beladen; dann zogen wir nach dem Dorfe Jangi-köll. Ein Vorrat von Eis wurde mitgenommen, denn das Wasser des Basch-köll ist salzig, seit sein Kanal vor 10 Jahren abgesperrt wurde.

Das jetzt 20 Familien zählende Dorf lag früher am Kanale des Jangi-köll, als aber vor acht Jahren elf Einwohner an den Pocken starben, zogen die Überlebenden nach der Mündung des Basch-köll und nahmen den Dorfnamen mit. Erkrankt jemand an den Pocken, so ergreift alles, was in der Nähe ist, die Flucht.

Unsere Reise ging längs des Südostufers des Basch-köll weiter. Dieser war am Rande schon so fest zugefroren, daß er gerade einen Mann tragen konnte; im übrigen glich die Eisdecke einer sehr dünnen, schwankenden[S. 140] Scheibe, und in der Mitte des Sees sah man noch große, offene Stellen klaren, blauen Wassers, das jetzt in Wellen ging und den Eisrand zerfetzte. Daß der See nicht ganz zugefroren war, kam von seinem leichten Salzgehalte.

Einige Enten und Schwäne draußen auf dem Wasser hatten wohl das Fortziehen vergessen. Der See ist 20 Kilometer lang und an einigen Stellen nur einen, selten zwei Kilometer breit. Er zieht sich ganz gerade nach Südsüdwest hin und gleicht einem in die Sandwüste einschneidenden Fjord; in seinem fernen Hintergrunde erheben sich die Dünen kaum über den Horizont. Das Seeufer reicht jedoch nicht bis an die Basis der Dünen heran; ein Gürtel von sehr langsam abfallendem Erdreich liegt zwischen beiden und besteht aus mit Sand untermischtem Schlamm, in welchem man um die Sommerzeit einsinkt, der aber jetzt festgefroren war. Wenn man den Kanal, der vom Flusse nach dem See führt, jetzt öffnete, würde das Wasser um Manneshöhe steigen und diesen tiefliegenden Gürtel überschwemmen. Am Ostufer, wo wir wanderten, fallen die Dünen steil ab, am Westufer aber steigen sie treppenförmig auf, welches Verhältnis seinen Grund in dem im ganzen Loplande vorherrschenden östlichen Winde hat.

In einiger Entfernung vom Ufer sah man einige Brunnen, welche Schafhirten aus Jangi-köll gegraben hatten, weil das Brunnenwasser weniger salzhaltig sein soll als das des Sees. Diese Hirten besuchen auch von Zeit zu Zeit die Steppen am Kontsche-darja.

Wir machten am Südende des Sees, wo es gutes Brennholz gab, Halt, und das Biwak unter freiem Himmel — wir hatten kein Zelt mitgenommen — war wirklich gemütlich. Was machten wir uns daraus, daß es in der dunkeln Nacht um uns herum stürmte. Wir hatten in der Dunkelheit einen gewaltigen Arm voll trockener Tamariskenzweige gesammelt. Die Kosaken hatten ein vortreffliches, aus Rebhühnern, Reispudding und Tee bestehendes Mittagessen bereitet, und nachdem ich die auf dem Marsche gemachten Beobachtungen in das Tagebuch eingetragen hatte, legten wir uns schlafen, von dem Zufußgehen ziemlich müde. Sirkin deckte mich so sorgfältig zu, daß ich mir wie ein in Papier eingewickelter Hering vorkam.

Am nächsten Morgen war die ganze Landschaft mit einer gewaltigen Reifschicht überzogen, und die Dünen sahen wie beschneit aus. Die aufgehende Sonne drang nicht bis zu uns, sie wurde von den mächtigen Dünen im Osten verdeckt, und es war ein etwas ungemütliches Aufstehen, da wir 8 Grad Kälte hatten.

Im Süden des Sees steigt der Sand in nicht allzu steilen Absätzen an, und die Vegetation hört mit einem Schlage auf. Von der Höhe sieht man im Westen eine Bodeneinsenkung (Bajir), die etwa 1 Kilometer lang[S. 141] und ½ Kilometer breit sein mochte, mit feuchtem, unfruchtbarem Salzboden in der Mitte und vereinzelten Grasbüscheln am Rande. Sie hat die Form eines Kessels, da sie auf allen Seiten von kolossalen, steilen Dünen umschlossen ist, und gleicht dem Boden eines alten Sees, den der Flugsand sorgfältig zu vermeiden scheint.

Im Süden und Südwesten erscheint ein Meer von Sand mit außerordentlich markierten Protuberanzen oder kulminierenden Anhäufungen von Dünen, die den Wellen des Ozeans gleichen. Man kann sich vorstellen, daß in den zwischen ihnen liegenden Tälern zahlreiche Bajire liegen müssen. Die Protuberanzen sind hier näher aneinander als in den westlichen Teilen der Takla-makan, und oft sind die Dünen auf beiden Seiten steil, was eine Folge wechselnder Winde ist. Jedoch zeigen die großen Sandwogen, daß der Ostwind vorherrscht und kräftiger ist als alle anderen. Nachdem ich einen Überblick über das Terrain erhalten hatte und zu der Überzeugung gelangt war, daß dieser Punkt sich nicht eignete, um von hier aufzubrechen, da die Bajir des Basch-köll uns nur eine kurze Strecke weit bequemen, ebenen Boden bot, beschloß ich, für die große Wüstendurchkreuzung einen anderen Ausgangspunkt zu wählen und längs des Sees Jangi-köll nach Tura-sallgan-ui zurückzukehren.

Wir wandten uns also nach Osten, in welcher Richtung die steilen Seiten der Dünen uns zugekehrt lagen. Wir mußten über alle diese abschüssigen Treppenstufen hinüber und machten lange Umwege, um die Kamele über die Riesenwelle, welche die beiden Seebecken scheidet, hinüberbringen zu können. Die Tiere hatten vor dem unsicheren Boden Angst, und über die höchsten Pässe rutschten zwei von ihnen auf den Knien, wohl um dem Boden näher zu sein, wenn sie fallen sollten.

Während die Karawane weiterzog, führte mich Pavan Aksakal auf eine gut 100 Meter hohe Düne hinauf, die das ganze Land weit umher beherrschte und von der aus die Kamele in der Tiefe wie kleine Käfer aussahen. In der südwestlichen Verlängerung des Jangi-köll zeigten sich drei große, durch ansehnliche Sandmassen getrennte Bajire. Im Nordosten trat der See selbst mit graublauem, glänzendem Eise hervor und in größerer Ferne der mächtige Sandwall, der sich zwischen dem Jangi-köll und dem rechten Ufer des Tarim erhebt.

Mit Mühe lotsten wir die Kamele über einen gewaltigen Sandrücken und stiegen dann nach der großen viereckigen Bajir hinab, die dem innersten Teile des Jangi-köll am nächsten liegt. Ihr Boden ist ganz sandfrei und besteht aus konzentrischen Ringen. Zu äußerst, an der Basis der Dünen, haben wir weiche Stauberde, in welche die Tiere fußtief einsinken, dann folgt ein Ring sumpfigen Bodens, und zuletzt schneeweiße Salzkristallisationen.[S. 142] Im nordöstlichen Teile der Senkung finden wir einen großen und mehrere kleine Tümpel mit bitterem Salzwasser. Im Nordosten breitet sich ein Gürtel von zwei Meter hohem Schilfe aus; dort fanden wir einen vorteilhaften Lagerplatz mit einer Menge trockenen Brennholzes.

Vom See ist unsere Bajir durch eine 30 Meter hohe Sandenge getrennt, an deren Basis süße Quellen sprudeln; das Wasser derselben wird aber salzig, nachdem es sich im Grunde der Senkung gesammelt hat. Die ungewöhnliche Landschaft gewährte, vom Sandrücken aus gesehen, einen außerordentlich ansprechenden Anblick. Der Jangi-köll ist so lang und gerade, daß sein nördliches, dem Flusse zunächst gelegenes Ende, an dem es keinen Sand gibt, gar nicht zu sehen ist, und man hätte ebensogut glauben können, an einem Fjord mit dem Meere vor sich zu stehen wie an einem Wüstensee, der von gewaltigen Dünen eingefaßt wird. Das Wasser ist süß und soll höchstens 7 Meter tief sein. Es ist zwei Jahre abgesperrt gewesen und sollte, zum Besten des Fischfanges, noch sieben bis acht Jahre isoliert bleiben. Einige kleine, im Nordosten offengebliebene Stellen ließen jedoch auf unterirdische Quellen schließen. Doch der Zufluß durch sie hält nicht gleichen Schritt mit der Abnahme des Sees; daß sein Spiegel fällt, sieht man schon an den Rändern der Eisscheibe, die an den Ufern umgebogen zu sein scheinen.

Wir folgten dem Westufer nach Nordnordost. Der See hat dieselbe Form und Größe, sogar dasselbe Aussehen wie der Basch-köll und gleicht einem breiten Flusse. An einem Fischereiplatze mit Feuerspuren lag etwa ein Dutzend Kähne eingefroren am Ufer. Streckenweise wanderten wir auf dem Eise, das rein und durchsichtig wie Spiegelglas über kristallklarem Wasser lag. Bis in drei Meter Tiefe traten die kleinsten Einzelheiten auf dem Grunde hervor, und anfangs fühlte man sich unsicher, als sollte man über das Wasser einer ruhigen Bucht gehen. Es glich einem riesengroßen Aquarium mit Algen, die regungslos waren wie Korallen, und mit großen schwarzrückigen Fischen, die in den Algenbüschen schlummerten und von den Kosaken durch Stampfen aus ihrem starren Winterschlafe aufgeweckt wurden. Sie bewegten dann langsam die Flossen und zogen sich ruhig und gemächlich in die Tiefe zurück. Die kleinen Fische schossen in ganzen Schwärmen am Ufer entlang, wo das Eis 10,2 Zentimeter dick war, während es nur hundert Schritte weiter seeeinwärts bloß 3 Zentimeter Dicke hatte. Nie habe ich einen so wunderbar schönen Eisspiegel gesehen. Ich fühlte mich beinahe versucht, mich hier für den Winter niederzulassen, nur um in einer provisorischen Eisjacht über seine glatte Bahn hinzusegeln, statt mich in den mörderischen Sand hineinzuwagen!

[S. 143]

An den Kanälen des Jangi-köll vorbei begaben wir uns längs des rechten Tarimufers nach dem Ausgangspunkte der Exkursion, wo der Fährmann uns mit seinem Fahrzeuge erwartete und Islam Bai und Parpi Bai uns in Empfang nahmen. Im Lager war alles ruhig.

Der Tagesbefehl für den 15. Dezember lautete, daß Tschernoff, Islam und Ördek zu Pferd den Seit-köll untersuchen und nachsehen sollten, ob das Land in seiner südwestlichen Verlängerung sich zum Ausgangspunkte der Wüstenreise eignete. Sie führten ihren Auftrag schnell und gut aus. Tschernoff und Ördek, die beide Rekognoszierungen mitgemacht hatten, konnten infolgedessen Vergleiche über die Güte beider Wege anstellen. Nach anderthalbtägiger Abwesenheit kehrten sie mit einer in großen Zügen entworfenen Kartenskizze über ihre Tour zurück. Meine Kundschafter versicherten, daß solcher Sand, wie wir ihn am Jangi-köll gesehen, dort weit und breit nicht zu erblicken sei und daß die Anhäufungen, welche die Bodensenkungen trennen, sogar zu Pferde passiert werden können. Von ihrem äußersten Südpunkte aus hatten sie noch einige Bajirmulden sich nach Südwest hinziehen sehen; durch diese würden uns wenigstens die ersten Tagereisen in hohem Grade erleichtert werden. Auch jetzt waren die Dünen weißbereift gewesen, und Ördek sprach den Gedanken aus, daß man bei Wassermangel seinen Durst mit Reif stillen könne. Ich vermutete indessen, daß der Reif nur in der Nähe des Flusses so reichlich sei und nach den zentralen Teilen der Wüste hin abnehmen werde.

So wurde denn beschlossen, das Seebecken des Tana-bagladi zum Ausgangspunkte der Wüstenreise zu wählen.

Bei meiner Rückkehr von der Rekognoszierung hatte sich das Aussehen des Tarim in einiger Hinsicht verändert. An der Fährstelle war jetzt nur noch ein Drittel der Breite offen, und das Treibeis hatte sich noch mehr vermindert, seit sowohl oberhalb wie unterhalb des Lagers große, ruhige Strecken des Flusses zugefroren waren. Das Wasser wurde klarer und war auf 19 Zentimeter durchsichtig, aber es war im Fallen begriffen und in einer Woche 24 Zentimeter gesunken, so daß die Eisfläche eine Schale mit klaffenden Rissen bildete.

In Tura-sallgan-ui verbrachte ich wieder ein paar herrliche Ruhetage, und die Hütte wurde zu einer behaglichen Wohnung eingerichtet. Das innere Zimmer, wo meine Kisten, Instrumente, Schreibsachen usw. geordnet wurden und das von dem äußeren durch einen von einem Dachbalken herabhängenden, dicken Vorhang von rotem Filz getrennt wurde, war jedoch nicht warm zu bekommen. Inmitten all dieses trockenen Schilfes wagte ich nicht einen Ofen aufzustellen, da es nur einiger Funken aus seinem Rohre bedurfte, um das Ganze in Brand zu setzen. Daher wurde in die[S. 144] Hinterwand des Gemaches eine Tür gebrochen und unmittelbar vor dieser das Zelt aufgeschlagen; hier war die Benutzung des Ofens nicht mit Feuersgefahr verbunden. Die Außenseite des Zeltes wurde zusammengenäht, und rundherum schütteten wir einen Wall auf, um alle Zugluft abzusperren. Hier wurde mein Bett ausgebreitet; auf einem Tische hatte ich einige Arbeitsgeräte usw. Ich residierte demnach in einer Wohnung von drei Zimmern und fühlte mich in meinem eigenen Dorfe so wohl, daß es einer guten Portion Energie bedurfte, um alles zu verlassen und das Weihnachtsfest in der Wüste zu feiern.

Doch wer konnte der „Urus Tura“ (der russische Herr) sein, der sich unseren Gegenden nähern sollte? Da ich wußte, daß Charles Eudes Bonin von China aufgebrochen war, um den Kontinent über Sa-tscheo, Lop und Urumtschi zu durchqueren, nahm ich an, daß er es sein müsse, und schickte ihm daher einen Eilboten entgegen, mit der Einladung, zu mir zu kommen und bei mir zu wohnen. Dieser Auftrag wurde Parpi Bai anvertraut, weil es Bonin interessieren mußte, einen Mann zu sehen, der den Prinzen von Orléans und Bonvalot auf ihrer Reise durch Tibet begleitet hatte und der Zeuge der Ermordung von Dutreuil de Rhins gewesen war.

Am Abend des 16. kam Parpi Bai mit einer von französischer Artigkeit überfließenden Antwort wieder. Bonin — er war es in der Tat — war in dem 10 Kilometer nördlich von unserem Dorfe gelegenen Örtäng (Gasthause mit Posthalterei) von Dschan-kuli angekommen. Bei hellem Mondschein ritt ich dorthin und fand den berühmten Reisenden, von seinen anamitischen, französisch sprechenden Dienern umgeben, in einer Gaststube, die ein mitten auf dem Fußboden brennendes Feuer mit Rauch erfüllte.

Auf einer langen Reise durch öde Gegenden kann es nichts Angenehmeres geben, als einen Europäer zu treffen. Jetzt war es mehr als je der Fall, denn Bonin war ein reizender, heiterer, witziger und gelehrter Herr, und es war für mich ein unvergleichliches Vergnügen, seinen interessanten Erfahrungen und Hypothesen zu lauschen. Er hatte eine alte Pilgerstraße über den Astin-tag nach Tibet gefunden und eine ehemalige Heerstraße, die von Sa-tscheo nach der Gegend führte, wo der alte Lop-nor gelegen hatte, und in betreff der Wanderung dieses Seebeckens hatte Bonin dieselben Ansichten wie ich.

Bonin lud mich zu einem vortrefflichen Abendessen ein; am folgenden Morgen nach dem Frühstück begaben wir uns nach Tura-sallgan-ui, wo wir einen außerordentlich gemütlichen Tag verlebten (Abb. 56). Mein französischer Gast nahm mit großem Interesse das Dorf und seine Sehenswürdigkeiten, die Hütten, den Klub und den Hafen mit den eingefrorenen Booten in Augenschein. Die ganze Karte über den Tarim mit seinen zahllosen[S. 145] Krümmungen passierte Revue, und als der Mond aufging, machten wir sogar eine kleine Bootfahrt zwischen dem Treibeise.

59. Sandsturm in der Wüste. (S. 152.)

GRÖSSERES BILD
60. Abstieg über den steilen Abfall einer Sanddüne. (S. 155.)

GRÖSSERES BILD

Doch als der Abend kalt wurde, lud ich meinen Gast in das Zelt ein, und nun wurde im Ofen so eingeheizt, daß es in dem eisernen Rohre krachte. Ein „lukullisches“ Mahl wurde aufgetragen und alles, was das Haus vermochte, hergegeben, alle Speicher und Vorratskammern gebrandschatzt. Die Hauptgerichte waren schwedische Kaisersuppe, tatarischer Schißlick und turkestanischer Reispudding, dann folgte eine ganze Reihe Konserven, die wir mit dem Inhalte der einzigen, meinen ganzen Weinkeller bildenden Flasche, die Oberst Saizeff in einem unbewachten Augenblick in eine meiner Kisten eingeschmuggelt hatte, anfeuchteten; nach dem Essen gab es Tee und Zigarren. Es war der vergnügteste Abend, den ich im innersten Asien verlebt habe; erst nach Mitternacht endete das Gelage, das auch durch Tafelmusik verschönt wurde; Bonin machte es sich im Zelte bequem, und ich übernachtete im kalten „Salon“.

Am Morgen des 18. fuhr Bonins weitgereister chinesischer Karren vor; die Abschiedsstunde schlug, und wir trennten uns: er, um in sein Vaterland zurückzukehren, ich, um in der Tiefe der Wüste zu verschwinden. Er hatte sein gut ausgeführtes Tagewerk hinter sich, vor meinem Blicke wogte in undurchdringlichem Nebel eine ganze Welt von Rätseln. Als alles fertig war, wurden Bonin und seine Diener unter der großen chinesischen Laterne, die an einem Pfahle in der Mitte des Marktes hing, photographiert (Abb. 57). Er trug einen langen, roten Mantel und ein ebenfalls rotes Baschlik und glich einem lamaistischen Pilger. Ein kräftiger Handschlag, und au revoir! Er verschwand in seinem Karren, der zwischen den Gebüschen fortrollte. So war ich denn wieder allein, aber ich bewahrte unser Zusammentreffen als eine der angenehmsten Episoden der ganzen Reise in meinem Gedächtnis. Ein Hauch aus Europa war mit der Morgenröte über den Lop-nor zu mir gedrungen und mit der untergehenden Sonne wieder im Westen verschwunden. —

Der stolze Tarim machte jetzt seine letzten Anstrengungen, um vor dem langen Winterschlafe noch ein bißchen zu leben. Gleich oberhalb des Lagers war der Fluß jedoch schon so fest zugefroren, daß man auf dem Eise hinüberreiten konnte, und infolge der großen Wassermassen, die auf diese Weise in dem Bette gebunden worden waren, fiel der Wasserstand am Lager immerfort. Wenn dieses kompakte Wintereis an der Lenzsonne schmilzt, entsteht eine erste Frühlingsflut, die „Mus-suji“ (Eiswasser) genannt wird; diese reichliche Flut war es, die der Fähre im nächsten Jahre weiter nach Südosten verhelfen sollte.

Der 19. Dezember war für längere Zeit unser letzter Tag in Turasallgan-ui[S. 146] und verging unter Vorbereitungen zur Wüstenreise. Nach den Rekognoszierungen hatten wir den Tana-bagladi zum Ausgangspunkte bestimmt; doch lange hatten wir hin und her überlegt, ehe wir soweit gelangt waren. Die Eingeborenen, denen das Ganze als ein unheimliches, wahnsinniges Unternehmen erschien und die augenscheinlich nicht wünschten, daß Selbstmörder gerade von ihren friedlichen Hütten aus aufbrächen, rieten mir, die Wüste zu umgehen und die Durchquerung von Tschertschen aus nach dem Jangi-köll hin zu beginnen, und auch meine eigenen Leute fanden, daß dies ein kluger Vorschlag sei — sie könnten uns dann mit einer kleinen Entsatzexpedition entgegenkommen und von einem bestimmten Tage an, wenn unsere Ankunft bevorstehe, allabendlich auf einer himmelhohen Düne einen Holzstoß anzünden, der unsere Schritte in die rechte Richtung lenken würde. Der Gedanke an diese Fackel der Winternacht, die auf der äußersten Klippe des Wüstenmeeres brennen und wie ein Leuchtturm ihren blendenden Schein über die Dünenkämme werfen sollte, war malerisch, phantastisch und recht verlockend. Wie festlich könnte dann unser Einzug in die warmen Hütten von Jangi-köll sein, wenn wir erschöpft, auf dem Schiffe der Wüste schaukelnd gerade auf das freundlich lockende gelbe Licht zusteuerten, dessen Schein uns das Ende unserer Mühsal verkündete! Doch ich ließ mich dadurch nicht verlocken; es war besser, mit ausgeruhten Tieren und von einem festen, sicheren Punkte aus aufzubrechen, und dabei blieb es.

Mein alter erfahrener Diener aus den Takla-makan-Tagen, Islam Bai, wurde auch jetzt Karawan-baschi; die übrigen Teilnehmer waren Turdu Bai, Ördek und Kurban. Wir hatten nur sieben Kamele und ein Pferd, und von den Hunden durften nur Jolldasch und Dowlet II mitkommen, da ich die empfindlichen Windhunde der Mittwinterkälte unter freiem Himmel nicht aussetzen wollte.

Eine aus Parpi Bai, Faisullah und einem Loplik namens Chodai Verdi nebst drei Kamelen bestehende Hilfskarawane sollte uns die vier ersten Tage begleiten und dann nach Hause zurückkehren.

Die Kisten, die in der Hütte gestanden hatten, wurden für den Winter an Bord der Fähre gebracht, um gegen Feuersgefahr geschützt zu sein, und auf dem Dache der Dunkelkammer hatte das meteorologische Häuschen seinen ständigen Platz; dort arbeiteten der Thermograph und der Barograph ununterbrochen den ganzen Winter hindurch. Sirkin hatte es lernen müssen, mit ihnen umzugehen, und hatte seit dem 7. Dezember gründlichen Unterricht in meteorologischer Beobachtungskunst erhalten. Er wurde Oberhaupt und Leiter des Winterlagers; sein meteorologisches Journal führte er so genau, daß die Daten desselben als Stütze meiner eigenen, auf der Reise gleichzeitig ausgeführten Beobachtungen von großem Werte waren.[S. 147] Die Kosaken, die ich blutenden Herzens als Bedeckung des Lagers zurücklassen mußte, logierten in ihrem Zelte, in das sie den Ofen setzten, erhielten zwei Jamben zur Bestreitung der Haushaltkosten und hatten Überfluß an Proviant. Sie übernahmen auch die Verantwortung für den Wachtdienst und die Pflege unserer zurückbleibenden Tiere, deren Zahl sich um drei junge Maulesel vergrößert hatte, die wir für den außergewöhnlich billigen Preis von 70 Sär bekommen hatten und die 3½ Jahre aushielten.

Die Ausrüstung wurde mit größter Sorgfalt gewählt; es galt, mit leichtem Gepäck in den hohen Sand hineinzugehen, nichts Überflüssiges durfte mitgenommen werden. Wir hatten Reis und Mehl für zehn Tage, fertiggebackenes Brot für vierzehn Tage und für ebensolange „Talkan“, geröstetes Weizenmehl, das so wie es ist verzehrt wird. Ich nahm einige Konservenbüchsen, Tee, Zucker und Kaffee mit, die Männer einen Block chinesischen Ziegeltee. Der Proviant sollte also nur bis Tschertschen reichen, wo wir unsere Vorräte leicht erneuern konnten.

In der einzigen Kiste, die ich mitnahm, lagen das Universalinstrument mit Stativ, meteorologische Instrumente, Nivellierspiegel, Kodak, Marschroutenbücher, Bandmaße, Proberöhren, Karten über Ostturkestan, eine Menge Kleinigkeiten und Kleider. Die Chronometer trug ich stets bei mir.

Am 20. Dezember morgens um 7 Uhr weckte mich Islam mit der Frage, ob wir reisen wollten, da es heftig aus Südwest stürme. Es war dies deutlich zu merken, denn das Zelt blähte sich wie ein Gummiball und der Rauch drang aus dem Ofenrohre in meine Behausung; aber der Aufbruch war auf diesen Tag festgesetzt, und es ist nicht klug gehandelt, eine einmal beschlossene Sache auf die lange Bank zu schieben. Ich aß also ein letztes Frühstück in meinem warmen Zelte, dann wurde das Gepäck nach dem rechten Ufer gebracht, wo sich die Beke und die Bevölkerung der Gegend versammelt hatten, um uns zu einem Abenteuer aufbrechen zu sehen, von dem wir, wie sie fest glaubten, nie wieder zurückkehren würden!

Das Beladen der Kamele begann. Meine Instrumentkiste, mein Bettsack und die Kiste mit dem Küchengeschirr bildeten eine Kamellast, der Hauptproviant und die Kleider der Leute eine zweite; das dritte Kamel war mit massiven Holzklötzen beladen, das vierte mit Mais für die Tiere und die drei übrigen mit Eis, das in kompakten Klumpen in Tulumen (Schläuchen von Ziegenfell) verwahrt wurde. Die drei Reservekamele hatten tüchtige Lasten, die aus lauter Holz und Eis bestanden. Alle Reisenden waren mit guten Winterkleidern und warmen Pelzen ausgerüstet.

[S. 148]

Vierzehntes Kapitel.
Ins Herz der Wüste Takla-makan.

Mit dem Flusse zur Rechten und dem gewaltigen Sande zur Linken zogen wir gerade nach Westen. Der Tarim war auf dem ganzen Wege stromaufwärts fest zugefroren; wir verließen ihn aber bald und bogen in den Sand ein, dem Südostufer des Tana-bagladi-Sees folgend. Eine 20 Zentimeter dicke Eisscheibe bedeckte ihn; offenes Wasser war nirgends zu sehen. An unserem Ufer war die Tiefe so bedeutend, daß wir trotz des klaren Wassers nicht bis auf den Grund sehen konnten. Als wir die äußerste Seebucht im Süden erreichten, wurde eine kurze Rast gemacht; vier kleine Waken wurden in das Eis gehauen, und die Kamele durften noch einmal, das letzte Mal für längere Zeit, so viel trinken, wie sie konnten. Sie schienen zu wissen, daß sie Durst leiden würden, denn sie tranken lange und mit langem, saugendem Schlürfen. Nach jeder Wiederholung schnaubten sie und bewegten ihre weichen Lippen, daß die Wassertropfen weit umherspritzten und Eiszapfen in ihrem üppigen Winterbarte hingen. Sie waren ein wenig ängstlich davor, sich mit ihrem ganzen Gewicht über das spiegelblanke Eis zu beugen, das deshalb erst mit Sand bestreut werden mußte. Auch der kleine Schimmel von Kaschgar, die Hunde und die Männer benutzten die Gelegenheit, um sich ordentlich satt zu trinken; denn wenn wir auch für 20 Tage Eis mitgenommen hatten, konnte es dennoch sein, daß wir später mit dem kostbaren Getränke würden vorsichtig umgehen müssen.

So wurde denn dieses letzte Wasser verlassen. Wir gingen über die Dünen, welche das Seebecken im Süden begrenzen, und lagerten an einem zugefrorenen Salztümpel, in dessen nordöstlichem Teile Kamisch wuchs, in welchem die von ihren Lasten befreiten Kamele weiden durften.

In dem dichtesten Schilfe wurde ein kleiner, runder Aushau gemacht, in welchem wir uns niederließen, vor dem Winde geschützt, aber nur mit dem Himmel als Dach. Von dürrem Schilfe wurde ein Feuer angezündet das dann haushälterisch mit Spänen von dem ersten Holzklotze genährt[S. 149] wurde. Parpi Bai war Koch. Er wusch den Reis, legte ein Stück Fett in den Topf, in dem kleine Fleischstücke, Zwiebel und Suppenkraut kochten, streute den Reis hinein und fügte eine Kanne Wasser hinzu, worauf er den Topf mit einem Deckel zudeckte; der Pudding muß kochen, bis das Wasser teils verdampft, teils in den Reis eingezogen ist; so wird ein orthodoxer Reispudding bereitet. Einige nette Lopleute, die uns aus eigenem Antriebe begleitet hatten, überraschten uns abends mit je einem Armvoll Brennholz und Eis. Wir brauchten also unsere eigenen Vorräte von diesen beiden wichtigen Dingen nicht gleich am ersten Abend in Anspruch zu nehmen.

Als ich am folgenden Morgen aus meinem Bette kroch, tobte noch immer der Sturm aus Südwest, aber die natürliche Schilfhütte schützte uns vor ihm, und das Feuer verbreitete wohltuende Wärme in dem Halbdunkel. Die Tagereise ging in jeder Beziehung gut, da das Terrain wider Erwarten günstig war. Unser Weg war uns vollständig durch jene eigentümlichen Bajirmulden vorgeschrieben, die in einer Reihe nach Südwesten laufen. Im Südwesten unseres Lagerplatzes gehen wir über eine sehr niedrige, bequeme Sandschwelle nach der ersten Bajir, an deren Anfang einige von Salzkristallisationen umgebene Salzwassertümpel liegen — wie gewöhnlich in dem Teile der Bodensenkung, der dem Flusse zunächst liegt. Die zweite und dritte Bajir waren ein wenig kleiner. Man konnte fürchten, daß dies ein Zeichen des Aufhörens der Bajire sei und wir wieder in lauter Sand wie in der Takla-makan würden waten müssen, aber die Bajir Nr. 4 beruhigte uns; sie war ebenso groß wie die drei ersten zusammengenommen. Diese Mulden, deren Boden in gleicher Höhe zu liegen und vollständig eben zu sein scheint, sind voneinander durch schmale Landgürtel getrennt.

Der Bajirboden ist selten fest; hier bestand er aus feinem, feuchtem Staube, in den die Kamele 40 Zentimeter tief einsanken, und die Wanderung war langsam und ermüdend; wir brauchten vier Minuten zu einer Strecke von 200 Meter, legten also nur 3 Kilometer in der Stunde zurück. Das erste Kamel hat es am schlimmsten, denn es muß einen Weg für die anderen auspflügen, das letzte dagegen geht beinahe wie auf einem angelegten Fußpfade, den ich auf meinem kleinen Schimmel auch benutzte. Meine Männer gingen zu Fuß, außer Parpi Bai, der auf einem Kamele oben auf einem Holzhaufen saß.

Der Gestalt nach sind alle diese Bajire einander gleich, und man findet, daß dieselben Naturkräfte sie alle gebildet haben. Denn dasselbe Relief kehrt mit bewunderungswürdiger Regelmäßigkeit wieder. Sie erstrecken sich von Nordosten nach Südwesten und sind im allgemeinen nur[S. 150] einen Kilometer breit. Wir wandern stets an einem der „Ufer“ hin, weil der Boden da, wo der Sand in den Staub übergeht, am härtesten zu sein pflegt. Gleich den Seen sind sie überall von Sand umgeben, aber die Dünen des südöstlichen Randes bilden eine fortlaufende zirka 33 Grad steil abfallende Wand, während im Nordwesten die Luvseitenabhänge der Dünen langsam zu einer Kulmination ansteigen, an deren Westfuße man sicher darauf rechnen kann, noch eine Bajir zu treffen. Es versteht sich von selbst, daß die von uns eingeschlagene Richtung die einzig mögliche war; sie mußte uns gerade auf unser Ziel, das Dorf Tatran am Tschertschen-darja, eine Tagereise unterhalb der Stadt Tschertschen führen. Nach Osten oder Westen zu gehen, ist in dieser Wüste sogar für einen Fußgänger beinahe ganz unmöglich.

Wir schreiten schwer und langsam beim Klange der Glocke des letzten Kameles dahin. Die Landschaft ist unsagbar tot und öde; selbst die Sandwüsten auf dem Monde, wenn es solche gibt, können nicht jeglichen organischen Lebens barer sein als diese hier. Es ist nichts, absolut nichts vorhanden, was darauf schließen ließe, daß hier je Leben in irgendeiner Gestalt existiert habe. Nur die Spuren der drei Kundschafter, die ich ausgeschickt hatte, bewirkten eine Unterbrechung der leblosen Einförmigkeit; auch sie hörten bald auf (Abb. 58).

Kurz vor dem Ende der Bajir Nr. 4 machten wir Halt — Lager Nr. 2 —, aber jetzt fehlte uns die Schilfhecke, und wir waren dem wirbelnden Flugsande völlig preisgegeben. Die Kamele wurden angebunden, damit sie nicht ihrer Gewohnheit gemäß nachts nach den üppigen Weideplätzen am Flusse durchbrannten. Zwei kleine Feuer wurden angezündet; es waren unser zu viele, um an einem Feuer Platz zu finden.

Das große, alles beherrschende Gesprächsthema ist: wie weit erstrecken sich diese gesegneten Mulden? Denn so weit sie reichen, hat es keine Not. Ich erklomm die nächste hohe Düne. Die Landschaft, die sich nach Osten hin aufrollt, ist geradezu unheimlich; dem Blicke begegnen auf dieser Seite nur die steilen Abhänge auf den südöstlichen „Ufern“ der Bajire, und man sieht nur ein aufgeregtes Sandmeer in riesenhaften Wogen, die im Begriffe gewesen zu sein scheinen, gerade auf den Zuschauer loszurollen, aber unterwegs erstarrt waren und jetzt nur eine erlösende Zauberformel abwarten, um nach Westen weiterzurauschen. Nach meinen topographischen Arbeiten von der vorigen Reise mußten wir bis Tatran 285 Kilometer haben, also beinahe doppelt so weit wie von den Seen des Masar-tag nach dem Chotan-darja, welche Entfernung hingereicht hätte, eine ganze Karawane zu töten! Islam und ich, die jene Reise nie vergessen konnten, sahen nur zu wohl ein, wie gewagt diese neue Wüstenwanderung tatsächlich war.

[S. 151]

Man bedenkt sich erst noch, ehe man aus den Pelzen kriecht, wenn ein frischer westlicher Buran weht und die Luft mit Flugsand erfüllt ist, so daß sich das Tageslicht in Dämmerung verwandelt und wenn es obendrein −11 Grad kalt ist. Auf dieser ganzen Expedition, die zwei Monate dauerte, schlief ich jede Nacht, außer in Tschertschen, unter freiem Himmel, was mir in keiner Weise schlecht bekam. An den Holzspänen und Eisstücken wurde schon jetzt gespart.

Parpi Bai war kränklich, und ich wollte ihn schon vom Lager Nr. 2 zurückschicken, aber er konnte in seinem schweren Pelze nicht gehen und Tura-sallgan-ui in einem Tage nicht erreichen; eines der Kamele mußte sich seiner erbarmen. Es war die einzige meiner Wanderungen, an der er teilnahm; seine Tage waren gezählt.

Heute wurden 22,4 Kilometer zurückgelegt, größtenteils auf ebenem Bajirboden; die Sandengen zwischen den Mulden wurden nach und nach höher und breiter. Das einzige nicht recht Gute war, daß die Depression sich fortlaufend nach Südwesten erstreckte; hielt diese Richtung an, so würden wir in das grenzenlose Sandmeer hineingeraten und in die diagonale Richtung nach Nija hinüber gezwungen werden, was mehr wäre, als eine Karawane auch unter den günstigsten Verhältnissen würde aushalten können. Andererseits aber wäre es töricht gewesen, von der von den Bodensenkungen vorgeschriebenen Richtung abzuweichen, denn ein günstigeres Terrain konnte man sich in einer Sandwüste nicht wünschen.

Die schwindelnd hohen, unendlichen Sandmassen, die sich in diesem Teile des inneren Ostturkestan ausbreiten, gleichen in ihrer Anordnung einem Netze, in dessen Maschen die Bajire liegen. Wo wir auch vom Flusse aus die Reise angetreten hätten, stets wären wir in eine ununterbrochene Rinne von Mulden hineingeraten, die alle auf derselben Linie nach Südsüdwesten liegen. Die Depressionen erleiden schon jetzt eine deutliche Veränderung. Ihr Boden wird härter und bequemer für die Kamele, trockener und sandreicher. Ferner tauchen an den „Ufern“ Lehmränder in Gestalt von 1½ Meter hohen Tafeln und Terrassen oder nur unter dem Sande hervorspringenden Leisten auf; sind sie kein Gebilde der Winderosion, so können sie ihre Entstehung nur dem Wasser verdanken; sie gleichen uralten Uferlinien, die auf Seen oder Flüsse schließen lassen. Für die Annahme, daß die Bajirmulden alte Seedepressionen anzeigen, spricht ihre Beckenform und die konzentrisch angeordneten Gürtel von Terrassen aus mit Salz gemischtem Staube (Schor) und Salz, welches Aussehen auch die jetzigen Uferseen Jangi-köll, Basch-köll, Tana-bagladi usw. erhalten würden, wenn sie austrockneten.

Ich selbst neige mehr zu dem Glauben, daß wir jetzt auf dem Grunde[S. 152] eines riesigen Binnensees wanderten. Dafür sprechen die Niveauverhältnisse des ganzen Tarimbeckens, die Stromrichtung des Tarimflusses und des Tschertschen-darja und die Lage der Bajirketten; denn jede Bajirreihe bildet einen Bogen, dessen Mittelpunkt zwischen dem alten Lopsee und dem Kara-koschun, wo wir auch die tiefste Depression des Tarimbeckens finden, gelegen ist.

Von der sechsten Bajir an wurde der Boden so, daß man die Depression an jedem Punkte überschreiten konnte; die vorhergehenden waren in ihren inneren Teilen so weich und tückisch gewesen, daß man in ihnen spurlos hätte versinken können, wenn man sich zu weit vom Rande entfernt hätte. Ein interessanter Fund wurde in der Bajir Nr. 8 gemacht: einige poröse spröde Skeletteile von einem wilden Kamele.

Im Lager Nr. 3 wurde versuchsweise ein Brunnen gegraben, der schon auf 1,2 Meter Tiefe reichlich Wasser von +4,8 Grad gab, es war aber bitteres, konzentriertes Salz. Der Boden ist nirgends gefroren, obwohl die Feuchtigkeit bis an die Oberfläche reicht; er ist aber auch überall stark mit Salz vermischt.

23. Dezember. Heute weckte uns wieder ein richtiger Buran. Der Himmel war mit Wolken bedeckt und die Luft so mit Flugstaub gesättigt, daß die Landschaft, wenn man diese Heimat der Todesstarre so nennen kann, auf einige hundert Meter Entfernung verschwand und nur die nächsten Gegenstände seltsam und unheimlich hervortraten (Abb. 59). Die einzigen menschlichen Gäste, welche diese Wüste je gehabt, erstaunten darüber, daß der Flugsand, der besonders während der Frühlingsstürme in Menge treiben muß, die Bajire nicht ganz und gar ausfüllt und sie ganz von der Erdoberfläche vertilgt. Doch in Wirklichkeit scheint jedes Sandkorn ebenso treu, wie der elektrische Strom durch sein Kabel eilt, gewissen Bahnen zu folgen, die ihm nicht erlauben, sich in den Depressionen niederzulassen, sondern es zwingen, sich auf einem der Dünenabhänge niederzulassen. Es ist, als scheute der Sand die nackten Flächen. Natürlich werden diese Verhältnisse vom Winde diktiert.

Vom Lager Nr. 3 wurde die Richtung der Bajirreihe Südsüdwest, und ich hielt immerfort den Kurs auf das Dorf Tatran. Es war jedoch deutlich, daß wir uns immer höher werdendem Sande näherten; schon jetzt wuchsen die Engen zwischen den Bajiren an Höhe und Breite, und wir gingen längere Strecken in diesem Sande als auf ebenem, nacktem Boden. Ein paarmal suchten wir sogar vergebens nach einer Bajir; wir waren offenbar vom Wege abgekommen und hatten uns auf Protuberanzen zwischen Depressionen, die wir in der dicken Luft nicht sahen, verirrt. Die Karawane mußte Halt machen, während wir einen Übergang suchten und darauf die anderen anriefen.

61. Das endlose Wüstenmeer. (S. 159.)

GRÖSSERES BILD
62. Karawane auf dem Astin-joll. (S. 174.)
63. Hirtenhütten in Schudang. (S. 176.)
64. Das alte Bett des Tschertschen-darja. (S. 182.)

[S. 153]

Die Bajire 9–12 waren tief wie Kessel, aber so klein, daß sie unsere Wanderung wenig erleichterten, um so mehr, als ein System von kleinen Dünen in der Richtung von Nordosten nach Südwesten ihren Boden kreuzte. Als wir die zwölfte Depression gekreuzt hatten, sah es bedenklich aus; wir keuchten lange auf dem Wege über die nächste Schwelle, die kein Ende nehmen wollte, und die Kamele blieben immer öfter stehen; aber schließlich erreichten wir den höchsten Rücken, der uns einen angenehm überraschenden Anblick bot: vor uns und tief unter uns dehnte sich die dreizehnte Depression aus; ihr Boden war ganz sandfrei, und ihr anderes Ende verschwand im Staubnebel; sie mußte uns also ein gutes Stück weiterhelfen. In der Mitte dieser großen Bajir erhoben sich einzelne Terrassen von Tonerde in horizontalen Schichten, aus der Ferne Häuser- und Mauerruinen gleichend.

Wir lagerten zwischen zwei solchen Blöcken. Solange der Kochtopf und die Teekanne auf dem Feuer brodeln, hocken wir alle um dasselbe herum; nach dem Abendessen plaudern die Muselmänner über die Aussichten für den nächsten Tag, während ich beim Scheine einer Laterne meine Aufzeichnungen mache. Nur drei Holzstücke dürfen in jedem Lager draufgehen, zwei am Abend und eines am Morgen, sonst würde der Vorrat nicht zwei Wochen reichen.

Der Sturm legte sich während der Nacht, und als ich in aller Frühe aus meinem Pelzneste guckte, warf der Mond seine silberglänzenden Strahlen auf unser stilles Lager, wo alle fest schliefen und nur die schweren Atemzüge der Kamele das tiefe Schweigen unterbrachen. Ich mußte daran denken, daß der Mond, wenn er überhaupt die Fähigkeit besäße, auf menschliche Weise zu sehen und zu reflektieren, sich sehr über die armen Würmer wundern würde, die sich in den ewigen Sand hinein verirrt haben und die in ihrem Trotze über Teile der Erdoberfläche ziehen, die nicht für Menschenkinder geschaffen sind. Ich dachte mit Neid an seinen erhöhten Platz im Weltraume, der ihm nicht nur auf dieses Sandmeer im innersten Asien hinabzusehen erlaubte, sondern auch auf mein Heim im Norden, nach welchem meine Gedanken gerade an diesem Abend mit ganz besonderer Sehnsucht eilten, war doch heute der heilige Abend.

Müde von dem anstrengenden Sandmarsche des gestrigen Tages schliefen wir uns alle gemütlich aus, und die Sonne stand schon über den Kämmen der Dünen, als ich am Morgen erwachte. Alle Wolken und aller Flugstaub waren fortgezaubert worden, und das Sandmeer um uns herum glühte wie ein Lavastrom. Die Kamele, die stets dicht zusammengedrängt lagen, um sich aneinander zu wärmen, warfen lange, grelle Schatten auf den Boden, jenen seltsamen, öden Boden, auf dem man ein[S. 154] hilfloser, linkischer Gast ist und den zu betreten man sich kaum berechtigt fühlt. Es ist, als gehörte er einem anderen Planeten an.

Jetzt wurde es im Lager lebendig; das Gepäck wurde wieder geordnet, aber die Auslese war schon so gründlich getroffen, daß nichts mehr entbehrt werden konnte. Parpi Bai, Faisullah und Chodai Verdi kehrten mit den drei Reservekamelen zurück. Es war die Rede davon, daß Kurban mit ihnen ziehen sollte, aber er war so heiter und vergnügt, daß das Weihnachtsfest ohne ihn noch einsamer geworden wäre, weshalb er bleiben durfte. Die Leute schienen ebenso verhext zu sein wie ich, sie wollten alle mit durch die Wüste.

Die Zurückkehrenden erhielten ein paar Eisstücke, einen Holzklotz und einige Brotfladen, eine sehr knappe Beköstigung für den heiligen Abend; sie sollten die Entfernung in zwei Tagereisen zurücklegen und versuchen, den Seit-köll zu erreichen, welcher von hier aus der nächste Punkt war, an dem es Wasser gab. Im Sande waren unsere Spuren verweht, in den Bajiren würden sie jahrelang erhalten bleiben. Gefahr war nicht vorhanden; wohin sie sich auch nach Norden wendeten, stets würden sie an den Tarim gelangen. Es war mir eine Beruhigung, sie in Sicherheit zurückkehren zu wissen, und auch für uns war ein großer Vorteil dabei; der Wasservorrat würde nun länger reichen, da sechs Personen weniger davon zehrten. Bald entschwanden sie unseren Blicken wie schwarze Punkte auf dem Gipfel der nächsten Sandenge.

Unsere sieben übrigen Kamele wurden nun mit schweren Lasten beladen, die jedoch mit jedem Tage leichter werden sollten. Bis der Proviant sich nicht bedeutend verringert hatte, durfte keiner reiten.

Rasch durchschritten wir den Rest der dreizehnten Bajir. Ihr Boden ist leicht gekörnt, knisternd, hart und trocken, hier und dort mit einer dünnen, reifähnlichen Salzschicht bedeckt. Doch gräbt man nur ein paar Dezimeter tief, so stößt man auf ein ziemlich mächtiges Lager von gediegenem Salze, das deutlich das Bett eines verschwundenen Salzsees anzeigt. Die Tafeln und die Terrassen, die selten mehr als 2 Meter Höhe erreichen, sind mit einer völlig horizontalen Schicht von gelbrotem, beinahe steinhartem Tone von ein paar Dezimetern Dicke bedeckt.

Die fünfzehnte Bajir war im Südwesten von gewaltigem Sand abgeschlossen. Wir arbeiteten uns hinauf; es war eine harte Anstrengung für die Kamele, diese zahllose Folge von Abhängen hinauf und hinunter zu überwinden.

Ich ging zu Fuß voraus, aber von einer Bajir war nichts zu sehen; ich hoffte eine wirklich große, ebene Fläche als Weihnachtsgeschenk zu erhalten, aber immer höher ging es hinauf in immer tiefer werdendem[S. 155] Sande, und schließlich erkannte ich, daß ich auf die Protuberanz zwischen zwei Depressionen geraten war.

Unvergeßlich ist mir das Gefühl des Ärgers, das mich überkam, als ich von der 60 Meter hohen, abschüssigen Düne unsere sechzehnte Bajir erblickte, die wie ein kohlschwarzer Topf unter mir gähnte; ihr Boden war bis an die Oberfläche durch und durch naß, um ihren Rand herum lief ein Ring von weißem Salze und ringsumher erhoben sich hohe Dünen; es war ein Höllenpfuhl, ein Loch, das ganz gut ins Reich der Toten hätte hinabführen können.

Doch nachdem mich die Karawane eingeholt, rutschten wir an dem Sandabhange nach dieser unheimlichen Mulde hinunter (Abb. 60) und folgten, wo der Boden trug, ihrem Rande. Nach einem Marsche von 15½ Kilometer hatten wir genug und lagerten an der südlichen Dünenschwelle der Bajir.

Wie düster der Tagemarsch auch gewesen sein mag, sobald ich Halt geboten habe, wird die Stimmung immer gleich fröhlicher. Islam macht sofort mein Bett am Feuer zurecht, Kurban sorgt für mein Reitpferd, Turdu Bai und Ördek laden die Kamele ab, deren Lasten so gelegt werden, daß sie sich am folgenden Morgen bequem wieder aufladen lassen. Darauf werden die Kamele in unserer unmittelbaren Nähe angebunden, die beiden Holzklötze in kleine Scheite zerspalten, Feuer angemacht und die Eisstücke zum Schmelzen in den Eisentopf und in einen eisernen Eimer gelegt, dann bereitet Ördek den Reispudding. Das Wasser, in welchem der Reis gewaschen wird, erhalten das Pferd und die Hunde; kein Tropfen darf umkommen. Nachdem das letzte Holzscheit des Abends verbrannt ist, bleibt nichts weiter übrig, als in die Koje zu kriechen. Wenn die Kamele nicht gar zu durstig werden, haben wir noch Wasser für 15 Tage und Holz für 11 Tage.

Nie habe ich den heiligen Abend in einer düsterern, einsamerern Umgebung zugebracht. Nichts weiter als die Kälte erinnerte an dieses frohe Fest, an dem sich alle Erinnerungen aufrollen und an dem Blicke, der sich in der ersterbenden Glut des Lagerfeuers verliert, vorüberziehen. Das fröhlichste, glücklichste aller Feste verbrachte ich in einem Höllenloche, wo nur der Tod oder der Mangel jeglichen Lebens einen seiner größten Triumphe feierte. Wie Fledermäuse im Winter saßen wir zusammengekauert um das spärliche Feuer, über dessen Kohlen nur noch die letzten blauen Flammen züngelten; wir hüllten uns dichter in die Pelze, um den eisigen Pfeilen der Mittwinternacht die Spitze abzubrechen, doch der Weihnachtsengel ging an uns vorüber, obwohl ihm alle Türen weit geöffnet waren. Es war ein Weihnachtsfest der Wüste, und selbst am Pol kann es nicht einsamer verlaufen.

[S. 156]

Während des ersten Festtages war das Terrain so günstig, daß wir 18,2 Kilometer zurücklegen konnten. Hinter der Sandenge des Weihnachtslagers kamen drei kleine Mulden, aber die Bajir Nr. 20 lag groß wie ein Tal vor uns. Ihre Längsrichtung ging gerade nach Süden, und ihre östliche Sandmauer stieg bis gegen 100 Meter hoch direkt vom „Ufer“ auf. Wenn nur Ostwinde in der Gegend herrschten, würde man diese Regelmäßigkeit verstehen, doch im Winter waren südliche und nördliche Winde häufiger, und man sollte denken, daß diese die Mulden mit der Zeit ausfüllen mußten. In der westlichen Takla-makan hatten wir nur in dem dem Chotan-darja am nächsten liegenden Teile Flecke mit freiem Boden gefunden, also in einer Gegend, wo östlicher Wind vorherrscht.

Als wir die ganze Bajirreihe hinter uns hatten, gerieten wir wieder in gewaltigen Sand hinein, auf dem es beständig bergauf ging. Auf beiden Seiten unseres Kurses sahen wir Mulden; da sie uns aber nichts nützen konnten, zogen wir auf dem höchsten Kamme der Protuberanz weiter. Wenn man auf dem Kamme selbst bleibt, wo der Sand eine feste, zusammengepackte Masse bildet, wird der Marsch leichter, doch lag der Sand an mehreren Stellen so ungünstig, daß für die schwerbeladenen Kamele mit dem Spaten ein Pfad gegraben werden mußte. Obgleich wir uns alle durch Gehen warm zu halten suchten, erstarrten wir beinahe vor Kälte in dem heftigen Südwestwinde, der keinen Augenblick nachließ. Straußenfedern vergleichbar wirbelte der Sand von den Dünenkämmen, und alles verschwand in graugelbem Nebel. Man sieht, wie die scharfen Kammlinien unter der Einwirkung des Windes ihre Lage verändern. Der Sand durchdringt alles; er juckt auf der Haut des ganzen Körpers, er knirscht zwischen den Zähnen, und noch heute fallen Sandkörner aus meinem Tagebuche, wenn ich darin blättere.

Am 26. Dezember überschritten wir nicht weniger als acht Bajire, aber sie waren alle klein und von keinem Nutzen für uns, da wir erst nach ihnen hinunter und dann auf der anderen Seite gleich wieder hinauf mußten. Es tat mir leid zu sehen, wie dies die Kamele anstrengte, aber ich hoffte, daß ihre Kräfte ausreichen würden, und ihr Lohn sollte groß sein, wenn wir erst die üppigen Weiden des Tschertschen-darja erreichten. Wir wanderten also meistens zu Fuß im Sande, und nur auf ebenem Bajirboden benutzte ich die Gelegenheit, ein paar Kilometer zu reiten.

Die Sandengen werden auf Kosten des ebenen Bodens immer höher und breiter; für uns ist es ein Glück, daß ihr steiler Abhang immer nach Süden und ihr allmählich ansteigender nach Norden liegt. Bei jeder neuen Bajir gelangen wir an den Rand einer solchen jähen Sandklippe. Ohne sich zu besinnen, lassen sich die Kamele beinahe Hals über Kopf den Abhang[S. 157] hinabgleiten. Der Sand fängt dann an nachzugeben und gleitet wie in einem Wasserfall hinab, in dem sie mit steifen Beinen hinunterrutschen. Sie sind schon daran gewöhnt, balancieren sicher und fürchten sich nicht mehr vor den hohen Dünenkämmen.

Islam, mein alter erfahrener Wüstenlotse, geht gewöhnlich voraus und sucht die Kurve, die unser Weg bildet, soviel wie möglich auf derselben Ebene zu halten. Auf jedem neuen Kamme, nach welchem wir uns mühsam hinaufgearbeitet haben, machen wir Halt und schauen uns um, stets hoffend, in der Richtung des Weges eine neue Bajir zu finden, sehen uns aber meistens in der Hoffnung getäuscht und folgen dann den besten Dünenkämmen.

Im Lager Nr. 7 konnte ich meinen Dienern zu ihrer Beruhigung mitteilen, daß wir schon 2 Kilometer über die Hälfte des Weges nach dem alten Bette des Tschertschen-darja hinaus waren, von dessen Vorhandensein der russische Reisende Roborowskij vor einigen Jahren hatte erzählen hören und das nach seiner Karte etwa 65 Kilometer nördlich von dem jetzigen Flußbette liegen mußte. Noch besaßen wir 2½ Kamellasten Eis, was ausreichen mußte; dafür aber war zu befürchten, daß uns das Brennholz ausgehen und uns damit die Möglichkeit genommen werden könnte, das Eis zu schmelzen.

Am 27. Dezember brachen wir früh auf; die Leute fühlten sich in dieser endlosen Wüste entmutigt und hielten es für das beste, den Marsch zu beschleunigen, um in gastfreundlichere Gegenden zu gelangen, ehe unsere Vorräte gar zu sehr zusammenschmolzen. In der Nacht sank die Temperatur unter −20 Grad, und als wir aufbrachen, war es noch −18 Grad kalt. Doch der Sonnenaufgang war schön und der Himmel klar. Das Tagesgestirn war aber noch nicht viele Grade über den Horizont emporgestiegen, als auch schon die gewöhnlichen Wolkenbänke heraufzogen, um die Nachtkälte, die die Sonne noch nicht hatte vertreiben können, auf der Erdoberfläche festzuhalten.

Nachdem ich meinen Morgentee eingenommen, brach ich, gut eingehüllt, als Vorhut auf. Es wehte nicht, und mir wurde bald so warm, daß ich den Ulster fallen ließ, damit die Karawane, die meinen Spuren folgte, ihn mitnehme. Über zahllose Kämme hinweg erreichte ich endlich die Höhe der Schwelle, wo ich überlegend stehenblieb und das Terrain mit dem Fernglase untersuchte. Hinten in der Richtung des Kurses erschien eine Bajir, deren Boden ein außergewöhnliches Aussehen hatte und ganz schwarzpunktiert war. Voller Neugierde, was dies sein möchte, eilte ich von den Dünen hinab, und meine Verwunderung wurde noch größer, als ich vom Winde verwehte Kamischblätter und die Spuren eines kleinen[S. 158] Nagetieres fand, das nicht größer sein konnte als eine Ratte. Als ich näherkam, sah ich zu meiner Freude, daß in dieser Bajir Kamisch wuchs, wenn auch dünn und in welken, verdorrten Stauden. Doch es gab dort auch lebendes, gelbes Schilf; es hatte sich nur gegen die ebenso gelben meterhohen Dünen, welche die Bodensenkung in der Diagonale kreuzten, von fern nicht abgehoben.

Mich an dem Anblicke von Leben freuend, erwartete ich die Karawane. Die Männer waren froh, als sähen sie vor sich ein Paradies winken, und die Kamele blähten, die Weide witternd, ihre Nasenlöcher auf. Jetzt hielten wir Rat; Turdu Bai schlug vor, hierzubleiben, damit sich die Tiere ordentlich satt fressen könnten. Da wir jedoch vermuteten, daß die nächste Bajir noch besser sein würde, mußte Islam vorausgehen, um zu rekognoszieren, indes wir langsam seiner Spur folgten und die Kamele im Gehen fressen ließen. Der Kundschafter gab uns ein Zeichen ihm nachzukommen, und wir lagerten mitten in der Bajir Nr. 31, obwohl sie nicht besser war als die vorige.

Es war eine in hohem Grade unerwartete, staunenswerte Entdeckung, mitten in der Wüste, 120 bis 140 Kilometer vom nächsten Wasser entfernt, Vegetation zu finden. Daß dies nicht die äußerste „Strandinsel“ des Tarim sein konnte, lag auf der Hand, denn stark salzhaltiger Untergrund und wüstester Sand trennten uns von diesem Flusse. Ebensowenig konnte es einer der Vorposten des Tschertschen-darja sein, denn bis an diesen Fluß hatten wir noch 150 Kilometer. Vielleicht befanden wir uns in einer Gegend, welche einst der Fluß Kara-muran durchzogen hatte. Wie dem auch sei, alle lebten wieder auf, und wir sahen die nächste Zukunft in den hellsten Farben.

Die Kamele erhielten jedes seinen Eimer mit 30 Liter Wasser, das sie austranken wie unsereiner eine Tasse Tee. Es war ein tiefer Griff in unseren Eisvorrat. Die Blöcke wurden im Eisentopfe über Kamischfeuer geschmolzen, und die Lasten wurden dadurch leichter. Bei Tagesanbruch durften die Kamele auf die Weide gehen. Auch wir zogen aus dem dürren Schilfe Nutzen. Solange es noch Tag war, sammelten wir ganze Haufen davon und brauchten abends die vorgeschriebenen drei Holzklötze nicht in Anspruch zu nehmen.

Der Sonnenuntergang war an diesem Abend von einer ungewöhnlichen Farbenpracht. Die schweren Wolken, die den Himmel den ganzen Tag erfüllt hatten, verzogen sich; sie waren oben grauviolett mit einem goldglänzenden Rande, aber ihre Unterseite war ebenso schmutziggelb wie die Dünen, und man glaubte, das Spiegelbild der Wüste am Himmelsgewölbe widerscheinen zu sehen.

[S. 159]

Fünfzehntes Kapitel.
Das endlose Wüstenmeer.

Das unfreundliche Wetter hielt noch immer an. Nach einer −21 Grad kalten Nacht erwachten wir am 28. Dezember wieder bei östlichem Winde, dicker Luft und bleischweren Wolken, an denen nicht einmal eine schwache hellere Färbung verriet, wie hoch die Sonne schon gestiegen war. Wir waren in das Land der ewigen Dämmerung hineingeraten. Auch am Kerija-darja hatte ich im Winter 1896 solches Nebelwetter gehabt; es muß wohl ein charakteristisches Zeichen des Winters der inneren Wüste sein. Man täuscht sich leicht in den Entfernungen und hält eine Bajir, in die man hinuntergekommen ist, für lang, weil ihr anderes Ende in weiter Ferne verschwindet; doch man ist noch nicht weit gelangt, so steigen schon die sie begrenzenden Dünenwände wie Gespenster aus dem Boden auf. Die Sandprotuberanzen vor uns gleichen im Staubnebel fernen Bergketten, und doch sind sie uns ganz nahe. Man täuscht sich beständig und weiß nicht, wohin man am besten seine Schritte lenkt, und auf dem Sattel wird man so vom Winde durchkältet, daß man vorzieht, zu Fuß zu gehen und das Pferd zu führen.

In der Anordnung des Sandes herrscht beständig dieselbe Regelmäßigkeit (Abb. 61). Gibt es auch sonst nichts in dieser Wüste, so treffen wir doch hier eine Kraft, die mit souveräner Allmacht aus diesem flüchtigen Material ein phantastisches Gebilde — ein Mittelding zwischen Gebirge und Meer — gestaltet. Jede einzelne Düne gibt die Form der großen Protuberanzen wieder, und die Form der Düne wiederholt sich in den unzähligen kleinen Wellen, die ihren Rücken kräuseln. Der tiefste Teil des Wellentales ist stets der, welcher der Basis der steilen Leeseite zunächst liegt, welches Gesetz auch für die Bajirmulden, die größte Wellentälerform der Wüste, gilt. Der Sand, der von granitharten Bergen stammt, muß treu denselben Gesetzen gehorchen wie das wenig beständige Wasser. Er wälzt sich in Wogen dahin, die denen des aufgeregten Ozeans gleichen; auch die seinen rollen unwiderstehlich vorwärts, nur ist die Bewegung unendlich viel langsamer.

[S. 160]

In der Bajir Nr. 33 konnte ich ein gutes Stück vorausreiten. Mich lockte ein schwarzer Gegenstand, der sich höher erhob als das tote, vertrocknete Kamisch. Dieses ist selten mehr als ein paar Dezimeter hoch und sieht aus, als wäre es abgeweidet worden, obwohl es nur verkümmert und abstirbt, sobald seine Wurzeln nicht mehr zum Grundwasser hinabreichen. Der schwarze Gegenstand stellte sich als die erste Tamariske heraus. Noch lebte sie ein schwaches Leben, aber rund umher lagen längst abgestorbene, vertrocknete Zweige, ein willkommener Zuschuß zu unserem Holzvorrat.

Noch eine Stunde konnte ich reiten, ohne diese angenehme Bajir endigen zu sehen. Auch das Kamisch nahm kein Ende. Es lebt, ja besitzt sogar, besonders in der Nähe von Flugsand, vom Sommer her einen Anflug von Grün, ist aber auf ebenem Staubboden abgestorben. Es scheint beinahe, als sei der Sand für sein Gedeihen erforderlich oder trage dazu bei, es am Leben zu erhalten. Weitere Tamarisken sind nicht zu sehen; ich machte daher an einem Punkte Halt, wo das Schilf etwas dichter stand und gegen den Wind schützte; hier band ich das Pferd an und zündete ein kleines Feuer an.

Erst in der Dämmerung kam die Karawane herangezogen. Eines der Kamele, ein prächtiges Männchen, das beste von den fünfzehn Kaschgarern, war seit vier Tagen kränklich und ging daher langsamer als gewöhnlich. Einen Kilometer vom Lager hatten sie es, von der Last befreit, zurückgelassen, und Kurban war bei ihm geblieben. Doch, als es dunkel geworden, kam Kurban uns nach, weil es ihm allein bei dem kranken Tiere zu unheimlich geworden war. Nach dem Abendessen mußten Islam und Turdu Bai mit einer Laterne und einem Beutel voll Häcksel, der eigentlich für das Pferd bestimmt war, nach jenem Platze zurückkehren. Sie fanden jedoch das Kamel tot; es lag mit offenem Maule und halbgeschlossenen Augen da und war noch warm. Es war rührend, Turdu Bai Tränen vergießen zu sehen; er liebte die Kamele wie ein Vater und er war von allen Männern derjenige, der sich am wenigsten am Feuer sehen ließ, da er sich stets bei den Kamelen zu schaffen machte. Das Tier, welches zuerst auf dieser Reise verendete, erlag weder der Überanstrengung noch dem Mangel wie seine vielen Nachfolger. Die Muselmänner sagten: „Choda kasseli värdi“ (Gott hat ihm eine Krankheit gegeben), und wahrscheinlich würde es ebenso sicher auf den Steppen des Tarim gestorben sein wie hier in der Wüste. Die übrigen sechs Kamele befanden sich vorzüglich. Und doch war es der neunte Tag. In der Takla-makan waren gerade am neunten Tage zwei Männer, vier Kamele und das ganze Gepäck liegen geblieben, damals aber waren wir vor Hitze und Durst verschmachtet,[S. 161] jetzt erstarrten wir fast vor Kälte und hatten Wasser in genügender Menge.

65. Eine alte Tograk am Tschertschen-darja. (S. 182.)
66. Auf dem Eise des Tschertschen-darja. (S. 184.)
67. Am Ufer des Tschertschen-darja. (S. 184.)
68. Sattma in Araltschi. (S. 187.)
69. Tränken der Pferde an einer Wake. (S. 189.)
70. Schilfhütten in Scheitlar. (S. 193.)

Wir hatten jetzt den Abschnitt der Wüstendurchquerung erreicht, in welchem man die großen Schwierigkeiten hinter sich hat und jedes neue Anzeichen von Leben und Wasser mit Spannung und Interesse wahrnimmt. Derartige Zeichen blieben auch heute nicht aus. Wir hatten schon das erste Kamisch und die erste Tamariske passiert. Ich ritt jetzt als Vorhut über die große, lange Bajir Nr. 33, die sich noch immer wie ein ausgetrocknetes Flußbett vor mir hinzog.

Den Boden kreuzten in allen Richtungen Spuren von Hasen, welche Tiere des Wassers gar nicht zu bedürfen scheinen; auch Fuchsfährten waren zu sehen. Dann traten einige Steppenpflanzen, Grasflecke und „Tschigge“, eine am Lop-nor vielfach vorkommende Binsenart, auf. Schließlich zeigten sich wieder Tamarisken, teils frische, geschmeidige, teils abgestorbene, die auf den charakteristischen Kegeln thronen, die ihre längst verdorrten Wurzeln umschließen.

Das Terrain war eben und vorzüglich; wer hätte ahnen können, daß man ein solches im Herzen dieser Sandwüste finden würde! Es wehte jedoch aus Osten so kalt, daß ich bisweilen zu Fuß gehen mußte, um nicht Hände und Füße zu erfrieren.

Diese schöne Bajir endete jedoch in einer Sackgasse, und ein ziemlich hoher Sandpaß war ihr im Süden vorgelagert. Da das Terrain aussah, als könne hier das Grundwasser erreicht werden, beschloß ich, hierzubleiben und zu versuchen, einen Brunnen zu graben.

Islam und Ördek machten sich sogleich ans Brunnengraben, während Turdu Bai die Kamele versorgte und Kurban Holz sammelte. In einer Tiefe von 1,38 Meter stand Wasser. Es war fast ganz süß und hatte +8,2 Grad Temperatur, es quoll aber so langsam aus dem Boden des Brunnens, daß man bei der Verteilung Geduld haben mußte. Abends durften zwei Kamele nach Herzenslust trinken, jedes nämlich sechs Eimer.

Jetzt hatten wir alles, was wir brauchten: Wasser, Brennholz und Weide; es war eine wirkliche Oase in der Tiefe der Wüste. Zwei große Feuer loderten den ganzen Abend in dem intensiven Winde und erhellten mit ihrem rötlichen Scheine die Dünenkämme, von denen Flugsand auf uns herabregnete. Als die Männer meiner Spur folgten, hatten auch sie ein neues, erfreuliches Anzeichen besserer Gegenden erblickt: einen großen, schwarzen Wolf, der über die Dünen im Westen fortgelaufen war.

Dieser Ruhetag war für Menschen und Tiere außerordentlich schön und notwendig. Wir waren meistens zu Fuß gegangen, die Kamele hatten[S. 162] schwere Lasten schleppen müssen, und die Kälte greift den Körper an, wenn man nicht hinreichend Brennholz hat, um sich zu erwärmen.

Wir machten das Lager so gemütlich, wie es die Umstände erlaubten. Der weiße Filzteppich, auf welchem mein Bett ausgebreitet zu werden pflegte, wurde in ein improvisiertes, mit ein paar Tamariskenzweigen gestütztes Zelt verwandelt, das uns Schutz gegen den Sturm gewährte, der den ganzen Tag tobte. Auf der vor dem Winde geschützten Seite hatte ich ein gewaltiges Feuer. Die Leute kampierten auf dieselbe Weise. Während ich den Tag lesend auf meinem sandbedeckten Bette verbrachte, tränkten sie die Kamele, was geraume Zeit in Anspruch nahm.

Das während der Nacht hervorgesickerte Wasser war am Morgen gefroren, und die ausgegrabene Erde war steinhart. Aus den Stangen eines Packsattels wurde eine Leiter gemacht, die bis auf den Boden der Grube reichte, wo Ördek die Eimer mit einer Schale allmählich füllte. Die Kamele tranken nicht weniger als je neun Eimer, zwei von ihnen sogar elf, und man sah sie förmlich anschwellen, während sie sich die Flüssigkeit einverleibten. Ihre Stimmung veränderte sich sichtlich. Sie wurden munter, spielten miteinander, liefen umher und grasten dann tüchtig in dem spärlichen Schilfe.

Der letzte Tag des neunzehnten Jahrhunderts sah am Morgen, als es noch dunkel war, recht vielversprechend aus; ich sah die Sterne auf das Biwak herabfunkeln, wo die Tamarisken sich auf ihren Kegeln gespensterhaft erhoben. Als wir uns aber zum Aufbruch rüsteten, war das Wetter wieder ebenso unfreundlich wie gewöhnlich. Klare, ruhige Nächte und wolkenschwere, windige Tage charakterisieren den Winter und halten die Kälte an der Erdoberfläche fest.

Heute bedeckte sich die Karawane mit Ruhm; sie legte 24,3 Kilometer zurück, die längste Tagereise auf dem ganzen Wüstenzuge.

In den Bajiren Nr. 34, 35 und 36 kam andauernd Vegetation vor, aber die Tamarisken standen dort zerstreuter. Von dem Grenzpasse der letzten Mulde scheint sich eine Bajir nach Südosten zu erstrecken; sie lag aber nicht auf unserem Wege und wurde links liegen gelassen. Ich merkte allerdings, daß es eine Enttäuschung für die Leute war, sie nicht benutzen zu dürfen, sondern nach Südsüdwest abbiegen und einen hohen Paß erklettern zu müssen, doch ihre Überraschung war ebenso groß wie die meine, als wir von der Höhe herab die Bajir Nr. 37 erblickten, die groß, breit und offen wie ein Feld war und nicht mehr den Eindruck einer geschlossenen Arena machte. Der sie im Süden begrenzende Paß sah aus wie eine sehr niedrige Schwelle, und hinter ihm erhob sich kein Sand mehr, was ich der bedeutenden Entfernung und der unklaren Luft zuschrieb. Als wir diese Schwelle[S. 163] endlich überschritten hatten, zeigte sich vor uns die Depression Nr. 38 ebenso groß und offen. Es war herrlich; eine unsichtbare Hand schien eine Riesenfurche durch den Wüstensand gepflügt zu haben, um der Karawane den Weg zu bahnen.

Wir lagerten vorn in der Mulde, wo wir reichlich Brennholz fanden. Islam wollte uns von der letzten Kamellast Holz befreien, aber Turdu Bai, der ein vorsichtiger General war, schlug vor, sie noch eine Tagereise weit mitzunehmen, eine kluge, verständige Rede.

So ließen wir uns denn in dieser wunderbaren Neujahrsnacht in Ruhe und Frieden an zwei großen Feuern nieder in einer Gegend, die so still und ungestört war, daß nicht einmal die Stille eines weit abseits vom Wege liegenden vergessenen Grabes ihr darin gleichkam. Unsere Freunde wußten nicht, wo wir waren, und in Tura-sallgan-ui waren sie ganz gewiß in Aufregung über unser Schicksal, um so mehr, als ihre Phantasie durch Islams haarsträubende Beschreibungen über unseren früheren Wüstenzug und Parpi Bais Schilderung unserer ersten Wüstentage schon erhitzt worden war. Auch die Kosaken hatten während der Rekognoszierung gesehen, wie es dort aussah, und gestanden nachher, sie hätten gefürchtet, daß der Sand uns auf allen Seiten den Weg versperren werde und wir von unserem eigenen Mute verurteilt seien, vor Durst, Müdigkeit und Kälte umzukommen. Meine vier Begleiter sagten diesen Abend, daß sie erst jetzt, nun wir in sicheres, eine Küste anzeigendes Fahrwasser gekommen, von ihrer Unruhe befreit seien; sie konnten aber nicht begreifen, wie ich die Entfernung nach Tatran mit solcher Sicherheit zu beurteilen imstande war. Sie glaubten entschieden, daß meine Versicherungen und Versprechungen eigentlich nur wohlwollende Versuche seien, sie zu beruhigen.

Und nun ging die Sonne in diesem Jahrhundert zum letztenmal unter — das konnte man nur daran sehen, daß der trübe, neblige Tag in nächtliche Schatten überging, die das erste Morgenrot des zwanzigsten Jahrhunderts verjagen sollte.

Wenn der erste Tag eines neuen Jahres oder noch mehr der eines neuen Jahrhunderts eine Vorbedeutung enthalten oder ein Wahrzeichen zukünftiger Dinge sein soll, so sah die Zukunft an diesem 1. Januar 1900 für uns in Wahrheit düster aus. Der Himmel war in ein schwarzes Trauergewand gehüllt, und von Morgenrot war nichts zu sehen. Die Temperatur ging um 7 Uhr jedoch bis −15 Grad hinauf, und als ich aufstand und mich ankleidete, befand ich mich dank dem großen Feuer in einem noch gemäßigteren Klima.

Das einzige, was die Neujahrsstimmung hob, war, daß unsere 38. Bajir sich vor uns bis ins Unendliche hinzog, und leichten Schrittes zogen wir[S. 164] in ihrer Mitte dahin. Die Leute hegten sogar die eitle Hoffnung, dies sei der Anfang der Steppen, die sich am Ufer des Tschertschen-darja ausdehnen. Die Vegetation wurde jedoch magerer, nur hie und da ein Grasbüschelchen, einige Schilfstengel oder eine Tamariske, und zwischen kleinen Löchern in dem hier mit Sand untermischten Boden huschten Feldmäuse, von den Muselmännern „Säghisghan“ genannt, hin und her.

Von dominierenden Punkten aus spähten wir vergebens nach der nächsten Bajir, doch diese Bildungen schienen jetzt aufgehört zu haben. Der Blick reichte weit nach Süden: das Sandmeer war wie in der Takla-makan mehr kompakt, die gewaltigen Sandwände, die wir bisher zur Linken gehabt hatten, fehlten, weitere Depressionen waren nicht zu sehen, die ganze Bauart hatte sich mit einem Schlage verändert, aber die Dünen lagen glücklicherweise immer noch im Norden und Süden.

Wir hatten es bisher gut gehabt, wir hatten es gehabt wie ein Schiff, das von der offenen See in Gürtel von Treibeis und Tang hineingekommen ist. Die Wogen gingen haushoch, und wir kamen verzweifelt langsam vorwärts, es ging bergauf und bergab über große Dünen. Die Vegetation hörte beinahe ganz auf. Ich fing wieder an zu vermuten, daß die Oasen, die wir eben durchquert, von den äußersten in die Wüste vorgeschobenen Vorposten des Kara-muran herrührten und daß diese Landstrecke auch wohl bald im Sande begraben sein würde. In diesem Falle konnten wir uns darauf vorbereiten, bis in die Nähe des Tschertschen-darja nur schwieriges Terrain zu finden.

Fern im Osten schien es noch Depressionen zu geben, aber diese lagen außerhalb unseres Weges. Nach Süden hin war alles gleichmäßig hoher Sand, nur hie und da dominierten pyramidenhohe Dünenkämme, und der Horizont glich einem Sägeblatt mit gezähnter Schneide. Noch tauchte gelegentlich eine verdorrte Tamariske auf ihrem Kegel zwischen den Dünen auf, aber die Entfernungen zwischen diesen abgestorbenen Bäumen wurden immer größer. Als wir nach einer mühsamen Wanderung von nur vierzehn Kilometer wieder eine von etwas Kamisch und trockenen Zweigen umgebene Tamariske trafen, machten wir daher Halt.

2. Januar 1900. Als ich bei Tagesanbruch geweckt wurde, umgab mich eine vollständige Winterlandschaft; es schneite leicht, der Boden war kreideweiß, und die Dünen hätten ebensogut kolossale Schneewehen sein können, denn vom Sand war gar nichts zu sehen. Islam war so vorsichtig gewesen, eine Decke über meine Kiste zu legen, auf deren Deckel Instrumente und Aufzeichnungsbücher nachts gewöhnlich liegen blieben. Es war noch halbdunkel, als das Morgenfeuer vor meinem Bette angezündet wurde, und seine Flammen ließen die feinen Schneekristalle wie Diamanten[S. 165] glitzern und funkeln. Es waren nicht gewöhnliche Schneesternchen, sondern Nadeln, als wenn Reif in außerordentlicher Menge gefallen wäre.

Während der ersten Marschstunden blieb die Landschaft auf allen Seiten blendend weiß; ich hatte noch nie Sanddünen in diesem ungewöhnlichen Gewande gesehen, in diesem weißen Leichentuche, das nur dazu beitrug, ihre totenähnliche Einsamkeit und Nacktheit zu erhöhen. Gegen Mittag verschwand die dünne Decke von allen nach Süden gekehrten Abhängen, und gleich nach Mittag hatten auch die anderen ihren gewöhnlichen gelben Farbenton wieder angenommen; nur hier und dort in Vertiefungen lag noch ein kleiner, weißer Streifen.

Der Sand wurde immer beschwerlicher, und es tauchte keine Bajir mehr auf, die uns einige ermüdende Schritte hätte ersparen können; alles war jetzt Sand. Freilich lagen die steilen Leeabhänge stets nach Süden und Westen, auf zwei ein Netz von Vierecken bildende Dünensysteme deutend, aber alle Depressionen waren hier längst versandet. Augenscheinlich herrschten hier weniger regelmäßige Windverhältnisse als in der nördlichen Hälfte der Wüste. Es war ein Glück, daß wir den Marsch nicht von Süden her begonnen hatten, denn dies wäre nie gegangen; wir hätten uns zur Umkehr gezwungen gesehen, und auch noch so große Feuer hätten den in diesem Winter herrschenden Nebel auf größere Entfernung hin nicht durchdringen können.

Um 4 Uhr begann es zu schneien, jetzt aber ordentlich. Wir waren nicht verurteilt, an Wassermangel zu sterben. Es herrschte ein regelrechtes Schneetreiben mit Wind aus Südsüdwest. Welch ein Unterschied gegen die Sandstürme in der Takla-makan! Nach einer halben Stunde war die Landschaft wieder kreideweiß, und die Schneedraperien schienen von den Wolken herab auf dem Boden zu schleppen. Die Dämmerung breitete sich über diesem Chaos von Sand und Schnee aus, und wir suchten und spähten nach einem Platze, wo wir die Kamele über Nacht anbinden konnten. Endlich erschien im Süden in einer Entfernung von zwei Kilometer ein schwarzer Punkt; dorthin mußten wir um jeden Preis. Eine gutgemessene Stunde gehörte dazu, und es war pechfinster, als wir bei einer Tamariske anlegten und Brennholz fanden.

Der fallende Schnee zischte nicht einmal im Feuer, er verwandelte sich in Dampf, ehe es dazu kam, aber auf den Blättern meines Tagebuches ließ er sich häuslich nieder. Die freundlichen Oasen hatten gänzlich aufgehört, und um uns herum lag lauter unfruchtbarer Sand. Ein paar Stunden lang waren wir an zwei Fuchsfährten entlang gegangen, einer älteren, nach Norden gehenden, und einer frischen, welche die Rückkehr des Fuchses nach dem Tschertschen-darja anzeigte. Was mochte er in der Wüste[S. 166] gesucht haben? Er mußte doch wohl am Flusse ein viel einträglicheres Jagdrevier haben.

Ich konnte Ördeks Gedankengang verstehen, wenn ihm in dieser Wüste, die gar kein Ende nahm, in der nicht einmal die Sonne schien, und in die wir uns immer tiefer hineinverirrten, unheimlich zumute wurde. Er sprach mit Begeisterung von den Ufern des Tarim, den Seen, den Kähnen und den Fischnetzen wie von einem Paradiese, in das er nie zurückkehren würde. Er sprach von den Schwänen, jenen himmlischen, gefühlvollen Vögeln, welche die Seen zu besuchen pflegen. „Wird das Männchen erschossen,“ erzählte er, „so grämt sich das Weibchen zu Tode und weicht nicht von dem Platze, wo sein Beschützer ermordet worden ist.“ Er habe einmal einen Jäger eine Kugel in eine fliegende Schar hineinschicken sehen, worauf zwei Schwäne herabgestürzt seien. Das Männchen sei tödlich getroffen gewesen, und das Weibchen sei ihm gefolgt, sich in der Verzweiflung mit dem Schnabel die Brust zerfetzend.

Die Kamele waren jetzt so angegriffen, daß wir ihnen einen Ruhetag gönnen mußten. In einer Tiefe von 1,13 Meter fanden wir Wasser mit schwach bitterem Beigeschmack, und Schnee war auch genug da. Der Boden war 33 Zentimeter tief gefroren. Es schneite den ganzen Tag heftig in dichten, großen Flocken. Die Leute machten kleine Entdeckungsreisen in die Nachbarschaft, und in der Dämmerung kam Turdu Bai mit zwei Kamelen zurück, die je eine volle Last trockenen Brennholzes, das er in der Nähe gefunden hatte, trugen. Die Flocken prasselten auf die uralte Zeitung, die ich in der Hand hielt, und glitten an ihr herunter. Oft mußte ich das Blatt schütteln, um die Worte unterscheiden zu können. Auch um die Mittagszeit herrschte Halbdunkel, und Dünen, Erdboden und Himmel verschmolzen zu einem einzigen, weißen, wirbelnden Durcheinander in höchst unangenehmer, matter, ungleichmäßiger Beleuchtung. Noch am späten Abend dauerte das Schneewetter an.

Die Nacht wurde für uns im Freien Liegende recht kalt; das Minimumthermometer zeigte −30,1 Grad, um 7 Uhr −27 Grad und um 8½, als ich aufstand, −24 Grad. Das ist recht kühl für ein Toilettenzimmer, besonders, da ich mich stets entkleidete und im Schlafrocke schlief. Am scheußlichsten ist das Waschen und Anziehen, wenn man auf der Feuerseite +30 Grad und im Rücken −30 Grad hat. Die ganze Nacht schneite es gleich stark, und am Morgen war ich so vollständig im Schnee begraben, daß Islam mich mit Spaten und Kamischbesen aus der Schneehülle befreien mußte. Dafür hatte der Schnee aber dazu beigetragen, mein Nest warm zu halten; ich hatte gar nichts von der nächtlichen Kälte gemerkt. Es ist zu schön, wenn man erst einmal in den Kleidern steckt[S. 167] und mit dem Pelze über den Schultern vor dem Feuer sitzt und seinen Tee trinkt!

Der Schnee fiel den ganzen Tag, und die Temperatur brachte es nur zu −13 Grad, was bitterkalt ist, wenn man den Wind gerade entgegen hat. Das Terrain war nicht unvorteilhaft. Wir konnten oft zwischen den schlimmsten Dünen hindurchkreuzen, und schließlich zeigten sich wieder einige kleine Mulden, die jetzt nach Südsüdost gerichtet und voller Sand waren. In einer solchen, Nr. 43, lagerten wir, obwohl dort keine Spur von Feuerungsmaterial war. Wir besaßen jedoch noch eine halbe Kamellast von unserem ursprünglichen Vorrat; da alle halb erstarrt waren, mußte sie diesen Abend draufgehen, geschehe, was da wolle.

Auf den nach Süden gerichteten steilen Dünenabhängen vermag sich der frischgefallene Schnee nicht lange zu halten. Nur auf den Nordseiten der Dünen bleibt er liegen, und in den Dünentälern ist er mehrere Zentimeter tief. Wirft man einen Blick nach Norden, so sieht man fast nur Sand, nach Süden bloß Schnee.

5. Januar. Endlich hatten die Wolkenmassen, die uns während der ganzen Wüstenreise verfolgt hatten, sich entschlossen, sich von ihrem Inhalte zu trennen, denn der Schnee fuhr die ganze Nacht fort, lautlos wie Watte zu fallen, und am Morgen waren sogar die Stellen, wo unsere Feuer gebrannt hatten, verschneit. Alle unsere Sachen mußten unter dem Schnee hervorgesucht werden. Auch die Kamele lagen überschneit im Kreise da und sahen mit den kleinen Schneewehen auf dem Rücken, Puder in der Perücke und Eiszapfen im Kinnbarte und am Maule ganz barock aus.

Jetzt war nicht einmal ein Streifen gelben Sandes zu sehen. Am Vormittag lagen die steilen, nach Westen gerichteten Abhänge im Schatten und hatten eine prachtvolle Färbung — stahlblau in verschiedener Schattierung, je nach der wechselnden Abschüssigkeit des Hanges, — zu oberst aber wölbten sich die weißen Kuppeln der Dünen, intensiv von der Sonne beleuchtet.

Die hohen Sandprotuberanzen hatten auffallende Ähnlichkeit mit dem in ewigen Schnee gehüllten Kamme einer Bergkette; ich glaubte hier ein Miniaturbild des Transalai mit dem durch eine hohe Dünenpyramide dargestellten Pik Kauffmann wiederzuerkennen. Das blaßblaue Farbenspiel war dasselbe. Es blendete die Augen. Ich hatte eine doppelte Schneebrille, und alle Männer trugen dunkle Brillen. Doch war die Luft nicht rein, wie sie es im Gebirge an klaren Tagen ist. Die feinen Kristallnadeln erlaubten uns nicht, Umrisse und Formen über eine Entfernung von einem Kilometer hinaus deutlich zu unterscheiden; weiter fort verschwindet alles in undurchdringlichem Schneenebel. Und das war gut, denn das Terrain war[S. 168] nach Süden hin wenig ansprechend. Lauter immer höher werdende Berge von Sand, kein sandfreier Fleck von auch nur einem Quadratmeter Größe, keine Vegetation, weder lebende, noch tote.

Im Laufe des Tagemarsches erlitt die Schneedecke gewisse Veränderungen. Trotz des Schmelzens und der Verdunstung wurde sie um so dicker, je weiter wir nach Süden gelangten, was seinen Grund darin hat, daß die Schneemenge mit der Entfernung von den Bergen, denen wir uns jetzt langsam näherten, abnimmt. Manchmal hatte der Schnee eine harte Kruste, und man hätte lange Strecken auf den Schneeschuhen zurücklegen können. Wer hätte geglaubt, daß dies in einer Sandwüste möglich sein würde!

Im allgemeinen wurde unser Marsch durch den Schnee erleichtert, denn infolge der Regelierung an den Berührungsflächen des Schnees und des Sandes wurde die Tragkraft des Bodens größer. Namentlich waren alle Kämme hart wie Eis, und auf die steilen Abhänge brauchte man nur den Fuß zu setzen, so rutschten schon Schollen von 20 Quadratmeter Größe hinunter. Jetzt hätte nicht einmal der heftigste Buran den Sand aufzuwirbeln vermocht, denn der Schnee wirkte wie Öl auf die Wellen.

Am 6. Januar blieb das Sandmeer sich gleich, ja seine Wogen gingen wenn möglich noch höher. Islam wandert an der Spitze, wird aber müde und besteigt ein unbeladenes Kamel. Turdu Bai ist unermüdlich, er führt die Karawane wie eine Lokomotive ihre Güterwagen. Wenn ich gehe, um mich warm zu halten, darf Kurban auf meinem munteren Pferdchen reiten.

Der Lagerplatz war von allen, die wir bisher gehabt hatten, der schlechteste, eine Grube im Sandmeere, in der nicht einmal ein vom Winde verschlagenes Blatt zu entdecken war. Es ist im Bette, wenn man sich schlafen legt, beinahe −20 Grad kalt, und man muß sich eine Weile gedulden, ehe die Glieder wieder so elastisch werden, daß man sich der Situation gewachsen fühlt und alle die Diebslöcher, durch welche die Nachtkälte eindringt, zustopfen kann. Diese Nacht ließen die Kälte und der Wind uns kaum schlafen, und am Morgen hatten wir der −24 Grad starken Kälte nur noch ein paar Scheite entgegenzusetzen. Die Leute lagen auf einem Haufen, um sich aneinander zu wärmen, und waren von der Bekanntschaft mit diesem unheimlichen Lande, in das wir uns wie Holzwürmer in eine Planke hineingebohrt hatten, völlig entmutigt.

Am nächsten Morgen waren wir erst um 10 Uhr hinreichend aufgetaut, um unseren Weg fortsetzen zu können. Die Luft war außergewöhnlich klar, und im Süden zeigte sich zum ersten Male die äußerste, Tokkus-dawan genannte Kette des Kwen-lun. Im Norden war der Himmel rein und[S. 169] blau, im Süden aber zogen tiefhängende weiße Wolken, die man oft kaum von den beschneiten Dünen unterscheiden konnte.

71. Meine Kosaken Tschernoff, Sirkin und Schagdur. (S. 195.)
72. Meine burjatischen Kosaken Tscherdon und Schagdur mit tibetischer Jagdbeute. (S. 198.)
73. Basch-tograk. (S. 202.)
74. Tamariskendickicht. (S. 203.)
75. Der Teich bei Kurbantschik. (S. 204.)

Von dem Gipfel einer Düne aus machte ich eine erfreuliche Entdeckung. Als ich den fernen südlichen Horizont mit dem Fernglase musterte, fiel mir etwas auf, das sich gegen den Schnee wie schwarze Baumstümpfe abhob und nichts anderes sein konnte als toter Wald. Die Stelle lag etwas aus unserem Wege, gegen Südost, aber ich ließ die Karawane nichtsdestoweniger dorthin ziehen, und wir schlugen am Abend unser Lager unter Massen von abgestorbenen, verdorrten Pappelstämmen auf.

Mit vermehrter Lebenslust und frischem Mute gingen die Leute an die Arbeit. Sie schaufelten den Schnee fort und ließen die Äxte zwischen den Tograkbäumen tanzen, so daß wir bald ganze Stöße von Brennholz hatten. Ein unmittelbar neben dem Lager stehender Stamm war zum Fällen zu dick; er wurde deshalb, so wie er war, in Brand gesteckt und beleuchtete wie eine Riesenfackel das weiße Leichentuch der Wüste. Quer über mein Feuer wurde eine hohle Pappel gelegt, durch welche die Flammen wie durch ein Rohr leckten. Sie glühte, krachte, wurde von innen erleuchtet und glänzte wie Rubine, bis die Rinde platzte und sich wie in Verzweiflung unter der rasenden Gewalt des losgelassenen Elementes wand. Gewaltige Rauchsäulen stiegen zum Monde empor, der jetzt seit langer Zeit zum ersten Male wieder aus seinem Wolkenversteck hervortrat. Meine Leute überlisteten diesen Abend die nächtliche Kälte; sie schaufelten Gruben in den Sand, füllten sie mit glühenden Holzkohlen, schütteten sie wieder zu und legten sich dann darauf nieder. Die Kamele haben seit zwei Tagen kein Futter erhalten, und die Hunde bekommen nur Brot.

Am 8. Januar sollten wir aus der Macht der Wüste befreit werden. Als wir aufbrachen, sagte ich den Leuten, daß sie diese Nacht am Ufer des Tschertschen-darja schlafen würden. Wir nahmen kein Brennholz mit, da wir vor uns überall dürre Stämme sahen, doch sie wurden immer vereinzelter, und bei dem letzten, wo der hohe Sand wieder anfing, beluden wir ein Kamel mit Holz.

Als wir den Gipfelpunkt eines dominierenden Dünenkammes erreicht hatten, zeigte sich im Südosten das erste Anzeichen des ersehnten Zieles: eine dunkle Linie am Horizont, die sich scharf gegen die ewige, weiße Schneedecke abhob. Das mußte der Waldgürtel am Tschertschen-darja sein!

Nachdem wir noch eine Stunde marschiert, gelangten wir an die ersten Tamariskenkegel; ihre Grenze war außerordentlich scharf, kein einziger Strauch überschritt sie, und der Sand, dessen letzte Abhänge langsam nach dem Vegetationsgürtel abfielen, hörte ebenso plötzlich auf. Nun zogen wir in ein vollständiges Labyrinth von Tamarisken hinein; sie standen so dicht,[S. 170] daß zwischen ihnen nur schmale, gewundene Gänge waren; auf diesen zwängten wir uns in unzähligen Zickzackbiegungen durch, wobei die Kamellasten so dicht an den trockenen Zweigen vorbeischrammten, daß diese krachten.

Die Leute wollten gern in einem Haine von uralten Pappeln bleiben, wo alles, dessen wir bedurften, im Überfluß vorhanden war; ich gab ihnen jedoch die Versicherung, daß, wenn sie sich noch eine Weile geduldeten, wir am Flußufer selbst lagern würden. Nach einer Viertelstunde erreichten wir auch den Weg, der von Tschertschen nach dem Lop führt und auf dem wir im Schnee frische Spuren von Kühen und Schafen erblickten. Wir folgten diesem Wege eine Strecke, bis er das Flußufer berührte, und schlugen hier auf einem kleinen Hügel, von dem wir die schneebedeckte, 100 Meter breite, in dem Rahmen der dunkeln Uferwälder kreideweiß erscheinende Eisdecke des Tschertschen-darja überschauen konnten, das Lager auf. Es war sehr angenehm, am Fuße dieser gewaltigen Bäume rasten und die schöne Aussicht genießen zu können. Die Berge zeichneten sich scharf und deutlich ab, und der Schnee glitzerte im Mondschein. Am allerbesten war es jedoch, daß unsere sechs Kamele und das Pferd sich jetzt in die Schilffelder vertiefen konnten, nachdem sie die Probe so rühmlich bestanden hatten. Meine Leute waren verwundert, daß ich die Entfernung fast bis auf eine „gulatsch“ (Klafter) hatte berechnen können, und erklärten, daß sie mir jetzt überallhin folgen würden, ohne sich auch nur einen Moment zu bedenken.

Der Punkt, an dem wir den Fluß erreichten, liegt nach meiner früheren Karte (Petermanns Mitteilungen Ergänzungsheft Nr. 131) 285 Kilometer von dem Punkte entfernt, an dem wir den Tarim beim Tana-bagladi verlassen hatten. Nach dem jetzt aufgenommenen Bestecke betrug die Entfernung 284,5 Kilometer. Eine größere Genauigkeit kann man bei solchem Terrain nicht verlangen.

Es war mir also gelungen, die große, breite Tschertschen-Wüste zu durchqueren, und zwar ohne weitere Verluste als den eines Kameles und ohne die übrigen, die noch wohlbeleibt waren, zu überanstrengen. Den höchsten Sand hatten wir im Norden gehabt, den schwersten aber im Süden, wo sich die Dünen auf keine Weise hatten umgehen lassen. Daß alles so gut gegangen, hatte seinen Grund in dem unerwarteten Vorkommen von Mulden, die etwa zwei Drittel des Weges ausmachten, sowie darin, daß wir mitten in der Wüste Wasser, Brennholz und Kamisch gefunden hatten. In einer älteren Auflage der Karte des russischen Generalstabs über die südlich von der sibirischen Grenze liegenden Gebiete hatte ich einen Weg eingetragen gefunden, der diese Wüste von Tatran nach einem Punkte im Westen von Karaul kreuzt. Diese Angabe, die wohl begründet sein[S. 171] mußte, hatte mich zuerst auf den Gedanken gebracht, diese gefährliche, lange Wüstenwanderung zu versuchen, und ich halte es jetzt nicht für unmöglich, daß ein solcher Weg früher wirklich hat vorhanden sein können.

Die Kamele verdienten einen ganzen freien Tag in den üppigen Kamischfeldern; dies traf sich auch insofern gut, als ich eine astronomische Beobachtung machen mußte, die den ganzen Tag und Abend in Anspruch nahm. Die Temperatur erhob sich nicht über −14 Grad, und da es obendrein noch leicht aus Norden wehte, konnte ich mit dem Theodoliten nicht arbeiten, ohne mir zwischen den Ablesungen die Hände am Feuer wieder geschmeidig zu machen. Als ich am Abend bei −25,1 Grad den Sirius observierte, klebten meine Fingerspitzen an dem Instrumente, das sich glühend heiß anfühlte, fest.

Ördek machte sich auf die Suche und fischte wirklich einen von Kopf bis zu Fuß in Schaffelle gehüllten Hirten auf. Dieser war über so unerwartete Gäste in seinem friedlichen Walde ganz verdutzt. Wir wurden aber bald bekannt und gute Freunde; er verkaufte uns ein Schaf, das eine angenehme Abwechslung in unseren Küchenzettel brachte, und erschien abends noch mit einer Kanne Milch für uns. Die ergiebigen Schneefälle der letzten Tage waren für die 400 Schafe, die er und seine beiden Kameraden hüteten, verhängnisvoll geworden; mehrere waren erfroren, und die übrigen hatten nur mit Schwierigkeit an ihre Weide gelangen können. Die Waldgegend nannte er Keng-laika (das breite Überschwemmungsgebiet). Der Fluß war schon 20 Tage zugefroren und würde es noch 2½ Monate bleiben. Der Tschertschen-darja friert also bedeutend später zu als der Tarim, er hat aber auch ein größeres Gefälle und liegt südlicher.

Wir hatten nur noch 7 Kilometer bis Tatran; nach dem Bestecke hätte die Entfernung ungefähr eine Tagereise mehr betragen müssen. Der Unterschied beruht auf der Mißweisung des Kompasses, die in dieser Gegend 6 Grad nach links von der Richtung des Weges ausmacht, d. h. daß man, wenn man nach dem Kompasse z. B. direkt nach Süden zu gehen glaubt, in Wirklichkeit nach Süden 6 Grad Osten geht.

Der 10. und 11. Januar brachten uns auf dem Wege, den ich von meiner vorigen Reise her kannte, nach Tschertschen.

Zu meiner Freude hörte ich, daß Tschertschen vor einem Monate einen Bek erhalten hatte, der kein anderer war als mein alter Freund aus Kapa, Mollah Toktamet Bek. Nach seinem Hause begaben wir uns und wurden dort herzlich empfangen. Er war mit seinen 72 Jahren und seiner aristokratischen Erscheinung noch ganz derselbe sympathische, liebenswürdige Greis wie früher und stellte uns sofort sein Haus zur Verfügung. Ich ließ mich an dem offenen Herde in einem Hinterzimmer nieder, die Leute mit dem[S. 172] Gepäcke in einem vorderen. Dies war das erste von den wenigen Malen, die ich auf der ganzen Reise im innersten Asien unter einem Dach schlief.

Die Einwohnerschaft von Tschertschen war jetzt auf etwa 500 Familien angewachsen. Unter ihnen rasteten wir vom 12. bis zum 15. Januar, denn sowohl die Leute wie die Tiere bedurften der Ruhe. Ich benutzte jedoch die Zeit gut und zog Erkundigungen über die umliegenden Gegenden ein. Unaufhörlich erreichten uns unbestimmte Gerüchte von in der Wüste begrabenen Städten und Schätzen und besonders von einer alten Stadt, die am unteren Andere-terem, 170 Kilometer westlich von Tschertschen, liegen sollte. Doch wie ich auch die Eingeborenen verhörte, bestimmte, zuverlässige Angaben konnte ich nicht erhalten. Sie fürchten, man könne dorthin gehen und all das Gold finden, das ihre Phantasie so freigebig unter den Dünen ausbreitet, zugleich aber glauben sie auch, daß die alte Stadt der Wohnsitz der Wüstengeister sei und nach deren Belieben ihre Lage verändere. Ein Mann erzählte, er habe sich nach dem Andere-terem begeben und dort einen 15 Klafter hohen, zylinderförmigen Turm von blauer Fayence gesehen; dieser habe ihm aber so seltsam und unheimlich ausgesehen, daß er es nicht gewagt, näher heranzugehen. Nachdem er sich beruhigt habe und, fest entschlossen, drinnen nach Gold zu suchen, dorthin zurückgekehrt sei, sei der Turm verschwunden gewesen. Er wollte es daher nicht unternehmen, mich dorthin zu führen, denn er war felsenfest davon überzeugt, daß der Turm in der Wüste umherwanderte und alle Nachforschungen vereiteln würde.

Die Gegend zwischen Tschertschen und Andere war eine der wenigen Landstrecken Ostturkestans, die ich noch nicht bereist hatte; ich beschloß daher, einen Abstecher dorthin zu machen, obschon es sich um einen anstrengenden Ritt von 340 Kilometer handelte. Außer dem Führer, den der Bek zum Mitkommen zwang, wollte ich nur drei Diener mitnehmen, Ördek und Kurban, sowie Mollah Schah, einen Einwohner von Tschertschen, der mit Littledale durch Tibet gereist war. Drei neue Pferde wurden gekauft und ebenso viele für unser Gepäck gemietet. Islam Bai, Turdu Bai, die Kamele, das Wüstenpferd und Dowlet II sollten in Tschertschen bleiben und sich ordentlich ausruhen, während Jolldasch seinem Herrn, wohin dieser auch ging, treu folgte.

Vorher wartete meiner in Tschertschen noch eine große Freude. Am Morgen des 13. Januar traf einer der Winterdschigiten des Konsuls dort ein, Musa, derselbe Mann, der 1896 in Chotan mein Dolmetscher bei den Chinesen gewesen war. Er brachte eine gutgefüllte Posttasche mit. Ich hatte also reichliche Lektüre an Briefen und Zeitungen aus der Heimat[S. 173] und verschlang ihren Inhalt mit großem Genusse vor dem lodernden Herdfeuer im Hause des Beks. Wie es Musa gelungen ist, mich so leicht zu finden, ist mir noch heute ein Rätsel. Es war verabredet worden, daß die Kuriere über Aksu nach der Lopgegend gehen sollten; aber Musa erklärte einfach, er habe „es im Gefühle gehabt“, ich müsse im südlichen Teile des Landes sein. Islam Bai wollte gehört haben, daß Musa in Tschertschen eine Herzallerliebste habe und diese wohl auf dem Wege habe besuchen wollen. Gesegnet sei die Schöne, wenn ich ihr meine Post verdankte! Wäre Musa zwei Tage eher angekommen, so hätte ich die Post erst bei der Ankunft in Tura-sallgan-ui in Jangi-köll erhalten, denn weder der Bek noch sonst jemand in Tschertschen hatte die geringste Ahnung davon, daß wir aus der Tiefe der Wüste auftauchen würden, und Musa hätte dann seinen Weg nach Osten fortgesetzt.

[S. 174]

Sechzehntes Kapitel.
Dreihundertvierzig Kilometer in 30 Grad Kälte.

Auf kleinen, munteren, ausgeruhten Pferden traten wir am Morgen des 16. Januar den kleinen Ausflug von 340 Kilometer an. In langsamem Trab ging es auf dem Astin-joll (unterer Weg) (Abb. 62) nach Nija. Auf demselben Wege war im Jahre 1889 Hauptmann Roborowskij von General Pjewzoffs Expedition geritten; es war so gut wie das einzige Mal auf meiner ganzen Reise, daß ich auf dem von mir eingeschlagenen Wege nicht der erste war.

Rasch lassen wir Tschertschens äußerste Gehöfte hinter uns und sind nun draußen in einer öden, unfruchtbaren Gegend auf einem Wege, der rechts und links von durch Winderosion entstandenen Lehmterrassen eingefaßt ist. Der Pfad ist einem dunkeln Bande gleich in dem weißen Schnee leicht erkennbar. An dem zugefrorenen Brunnen von Kallaste (der aufgehängte Schädel) wird am ersten Abend Rast gemacht.

Als ich am Morgen bei 22 Grad Kälte geweckt wurde, standen Sonne und Mond gleich hoch über dem Horizont und hatten genau dieselbe rotgelbe Färbung. Hätte man nicht die Himmelsrichtungen gekannt, so hätte man beim ersten Anblick in Zweifel sein können, welches das Tages- und welches das Nachtgestirn sei.

Schnell wieder in den Sattel! Ein greulicher Westwind erhob sich und durchkältete Mark und Bein. Man versuche nur, bei 20 Grad Kälte gegen den Wind anzureiten und dabei sklavisch an das Marschroutenbuch gebunden zu sein. Die Hände erstarren, und man muß die Feder anfassen wie den Stiel eines Hammers, sonst hat man keine Kraft in den Fingern. Einen solchen Tag vor sich zu haben, ist eine recht schöne Aussicht. Länger als eine halbe Stunde hintereinander im Sattel zu sitzen, geht nicht an; man muß absteigen, laufen und mit den Füßen stampfen, um nicht zu erfrieren.

Bei dem Brunnen von Kettme waren wir schon so erschöpft, daß wir eine Viertelstunde rasten mußten, um uns an einem kleinen Feuer zu erwärmen; dann ging es in schnellem Trab über den schwach wellenförmigen[S. 175] Boden nach Jantak-kuduk, wo wir wieder eine Weile rasten mußten, um warm zu werden. Dasselbe Manöver wurde am Brunnen von Ak-bai wiederholt.

Am Tage darauf lag eine neue Schneedecke so leicht und weich wie Daunen über der alten, hartgefrorenen. Die Landschaft ist trostlos einförmig und öde; kein Tier war zu sehen, nur Spuren von Hasen und Wolfsfährten zeigten sich im Schnee. Dünnes Kamisch, in weiten Zwischenräumen stehende Tamarisken und vereinzelte Pappeln wechseln mit unfruchtbarem Boden und Sandgürteln ab. Tailak-tuttgan ist ein größerer Brunnen; schon sein Name ist interessant, er bedeutet „das gefangene wilde Kameljunge“ und verrät, daß diese Herrscher der Wüste hier vorzeiten vorgekommen sind; jetzt fehlen sie ganz. Namenlose Brunnen sieht man häufig; sie sind von verschmachtenden Sommerreisenden gegraben, die nicht bis zum nächsten größeren Brunnen haben warten können.

Osman Bai-kuduk trägt den Namen des Mannes, der diesen Brunnen grub und damit seinen Namen der Nachwelt überlieferte, obwohl er selbst längst vergessen ist und niemand weiß, wer er war. Gleich hinter dieser Raststelle nimmt der Sand zu, und es folgt ein Gewirr von Tamariskenkegeln, zwischen denen sich der Pfad verliert wie ein gewundener Hohlweg, in dem sich gut Verstecken spielen läßt.

Das Bett des Kara-muran war leer und ausgetrocknet; nicht einmal eine Eisscholle war zu sehen. Es ist 1–2 Meter tief in den Lehmboden eingeschnitten, hat eine Breite von 70–100 Meter und soll im Sommer zeitweise bedeutende Wassermassen in die Wüste führen.

Bei Toktekk wurde in der Dämmerung gelagert, weil wir frische Spuren von Hirten sahen. Auf der ganzen Tagereise hatten wir nur einen einsamen Wanderer erblickt. Es war ein armer Schlucker, der, nur von seinem Hunde begleitet, zu Fuß nach Kerija ging. Der Hund hinkte in jämmerlichem Zustand einher; er war blutüberströmt, sein eines Ohr war abgerissen, das andere baumelte wie ein Lappen. Der Mann erzählte, daß der Hund in der Nacht mit einem Wolfe im Kampfe gewesen und von ihm so zugerichtet worden sei. Es muß unheimlich sein, mitten im Winter allein und unbewaffnet den Weg zwischen Tschertschen und Kerija zurückzulegen. Der Mann sagte aber ganz ruhig, an sein mit Feuerstein und Zunder angezündetes Feuer wagten sich die Wölfe nicht heran, und bei Tage hielten sie sich gewöhnlich abseits.

Nach 28 Grad Kälte in der Nacht auf den 19. mußten wir wieder in kleinen Entfernungen zwischen den Rastfeuern vorwärts. Wir haben eine Gegend erreicht, die durch die Flüsse von den Nordabhängen des Kwen-lun reichlicher bewässert wird und daher reicher an Vegetation ist.[S. 176] Links haben wir noch immer unfruchtbaren Sand, rechts aber Steppe und bewaldete Hügel.

In Pakka-kuduk hörten wir von Norden her Rufe, und Mollah Schah machte bald einen netten, braunbärtigen Hirten ausfindig, der uns nach einer luftigen Hütte führte, in welcher der Bai, der Besitzer der in dieser Gegend weidenden Schafherden, mit seiner Familie wohnte. Nur im Winter hält er sich hier auf, im Sommer wohnt er am Andere-terem; dann herrscht in diesem ganzen Landstrich eine gräßliche Hitze mit Myriaden von Mücken und Moskitos. Die Wölfe bereiten den Schafbesitzern große Verluste; gegen größere Rudel können die Hunde nichts ausrichten. Man sagt, daß, wenn der Wolf ein Schaf nur streife, dieses schon vor Angst und Schrecken sterbe. Komme nicht rechtzeitig Hilfe herbei, so werde die ganze Herde zerrissen.

Am Brunnen von Schudang fanden wir auch einen Hirten, der etwa zehn Esel tränkte. Der Brunnen ist 3 Meter tief, liegt in einer Mulde und hat ganz süßes Wasser. Hier steht eine Lenger (Herberge), welche die Chinesen vor vier Jahren erbaut haben. In den auf einer Terrasse gelegenen Lehmhütten der Hirten von Schudang ließen wir uns nieder (Abb. 63). Wir hatten es hier warm und gut; abends kam der Bai und verkaufte uns zwei Schafe, die sofort geschlachtet wurden.

In Schudang holten wir einen Reisenden aus Tschertschen ein, einen chinesischen Siah (Schreiber), der auf dem Wege nach Kerija war, um dort vor dem Amban Rechenschaft über sein Amt abzulegen. Gleich uns blieb er dort, um sich einen Tag auszuruhen, und wir tauschten Visiten aus. Als wir am folgenden Morgen aufbrachen, hatte er von seinem Opiumrauchen gräßliche Kopfschmerzen.

Der Mölldscha ist, wie ich in „Durch Asiens Wüsten“ mitgeteilt habe, da, wo er den oberen Weg schneidet, ein mächtiger Fluß, hier aber, auf dem Astin-joll, gewahrt man ihn kaum, weil er sich deltaartig in mehrere veränderliche Arme teilt. Hierdurch wird die Bewässerung wirkungsvoller und die Vegetation reicher. Doch scheint der Kara-muran ein mächtigerer Fluß zu sein, der sich wahrscheinlich tiefer in die Wüste hinein erstreckt und auch wohl seinerzeit die Vegetation erzeugt hat, die in den von uns durchzogenen Bajirmulden noch ein kümmerliches Dasein fristet.

Bei Tschaltschik lagerten wir in einer kleinen Hütte, durch deren aus einigen Zweigen bestehendes Dach es ebenso stetig schneite wie draußen. Von jetzt an begleitete uns ein Eingeborener zu Fuß, um dem Wegweiser Turduk beim Führen zu helfen.

76. Tal zwischen Kurbantschik und Budschentu-bulak. (S. 204.)
77. Tograk-bulak. (S. 204.)
78. Ruine bei Jing-pen. (S. 205.)
79. Tschernoffs wildes Kamel. (S. 213.)
80. Eines unserer zahmen Kamele. (S. 213.)

Die Hirten, die in diesen vor den Blicken der Welt so abgesperrten Gegenden ihre Tage verleben, sind gutmütige, freundliche Leute, die nur[S. 177] anfänglich eine gewisse Scheu vor dem Fremdling zeigen, aber, nachdem sie sich überzeugt haben, daß er keine bösen Absichten hegt, bald zutraulich werden. Sie sprechen alle mit weicher, milder, durchaus nicht unangenehmer Stimme, die den Eindruck macht, selten zu ertönen und beinahe vor ihrem eigenen Klange zu erschrecken. Unser Hirt hatte eine wirklich schön klingende Stimme, die er übrigens in allen möglichen Nuancen und so leise und vorsichtig ertönen ließ, als fürchte er sich vor dem Sprechen. Hätte man nur seine Stimme gehört, so würde man ihn für einen Mann von weit höherem Bildungsgrad gehalten haben, aber sein Aussehen zeigte, daß er ein echter Wilder war. Er trug einen Schafpelz, eine Pelzmütze und Schuhe von demselben Material, sah mit seinem nie gewaschenen Gesichte so dunkel wie ein Indianer aus, hatte schmale, schrägliegende Augen, eine dicke Nase und fleischige Lippen und war völlig bartlos. Religion hatte er jedoch, denn als wir an einem Masar vorbeiritten, blieb er stehen und strich sich mit den Handflächen über das Gesicht, wie es die Muselmänner bei ihrem „Allahu ekbär“ immer tun.

Am Morgen des 22. Januar waren wir wieder ganz eingeschneit. Wir verlassen jetzt die Straße und schlagen auf ungebahnten Wegen die Richtung nach der „alten Stadt“ ein. Das Terrain war scheußlich. Zwischen einem Chaos von Tamariskenkegeln liegen kleine, lockere Sanddünen, die im Verein mit dem frischgefallenen Schnee das Vordringen entsetzlich langsam und anstrengend machen. Die Pferde waten im Sande und sinken bei jedem Schritte fußtief ein.

Auf solchem Terrain gelangten wir schließlich an die Ruine eines Hauses, das zwei quadratische Zimmer enthalten hat. Die aus Lehm bestehenden Mauern und ein Gerippe aus Pfählen und Stangen standen noch aufrecht bis zu einer Höhe von 5,8 Meter. Sie waren so dick und stark, daß man in ihnen eine Festung früherer Zeiten vermuten konnte. Wir lagerten in geringer Entfernung bei den Ruinen einiger uralter Türme. Der Schnee lag so hoch, daß er die genauere Untersuchung dieses an und für sich armen Ruinenfeldes in hohem Grade erschwerte.

Im Laufe des Abends nahm das Schneien so zu, daß wir, die wir kein Zelt hatten, einige Vorsichtsmaßregeln ergreifen mußten. Mein Bett wurde, wie gewöhnlich, auf der Erde aufgeschlagen, nachdem der Schnee fortgeschaufelt worden war, und meine kleine Kiste vor das Kopfende gestellt. An dieser wurde eine Filzdecke befestigt, deren anderes Ende ein paar Tamariskenzweige trugen, und die wenigstens meinen Kopf schützte, während der untere Teil des Bettes sich allmählich mit richtigen Schneewehen bedeckte. Während der Nacht weckte mich plötzlich etwas, das mein Gesicht wie eine eiskalte Hand berührte. Es stellte sich heraus, daß es[S. 178] die Filzdecke war, die infolge des Gewichtes des Schnees heruntergeglitten war; ein Teil der kalten Niederschläge hatte längs meines Halses seinen Weg in das Bett hinein gefunden. Nahe am Feuer sind die Filzdecken wie in Schlamm getaucht.

Am andern Tage wurde die Kona-schahr (alte Stadt) in Augenschein genommen. Eine ziemlich massive Lehmmauer ragte aus dem Schnee hervor, und mehrere Wälle und Trümmerhaufen zeigten die Plätze früherer Häuser an. Wir fanden Spuren von einem Kanal, der anscheinend aus dem nahegelegenen Flusse Bostan-tograk nach diesem Orte hingeleitet worden war. Die am besten erhaltene Ruine war ein zirka 10,5 Meter hoher Turm von 24,2 Meter Umfang mit einer Öffnung oder Schießscharte oben an der einen Seite, wohin man jedoch nicht ohne Leiter gelangen konnte, da das Innere des Turmes kompakt war. Im Südosten sah man noch zwei Türme. Sie hatten also alle in einer Reihe gelegen und wahrscheinlich einen alten Weg markiert. Rote und schwarze Scherben von gebrannten Ziegeln kamen in großer Menge vor. Spuren von Inschriften oder Ornamenten waren nirgends zu entdecken, und alles war sehr von der Zeit mitgenommen. Leider wurde eine genauere Untersuchung durch den fußhohen, alles nivellierenden Schnee erschwert.

Es mag hier eingeschaltet sein, daß Dr. Stein von Rawalpindi während der höchst interessanten, verdienstvollen und ergebnisreichen Reise, die er 1900–1901 hauptsächlich zu archäologischen Zwecken durch Ostturkestan machte, auch den unteren Andere-darja besuchte und dort die Ruinen eines alten Ortes entdeckte. Von besonders großer Bedeutung sind die von ihm ausgegrabenen Manuskripte. Ich empfehle jedem, der sich für die archäologischen Probleme in Innerasien besonders interessiert, aufs wärmste Steins vortreffliche Arbeit. «Archæological Exploration in Chinese Turkestan. Preliminary Report» (London 1901), um so mehr als die von mir am Lop-nor gemachten Entdeckungen durch Steins gründliche Untersuchungen an anderen Stellen in klarerem und vielseitigerem Lichte erscheinen. —

Wir ritten am Abend nach dem Bostan-tograk weiter, dessen Flußbett bis zu 8 Meter tief in den Boden eingeschnitten und 141 Meter breit ist; es war mit Eis gefüllt, das einen halben Meter dick war und direkt auf dem Schlammgrunde ruhte. Daß das Eis so dick wird, beruht darauf, daß eine Quelle den ganzen Winter hindurch das Bett hinabfließt und nach und nach gefriert, wobei das Eis an Dicke zunimmt. Bei Andere führte dieser Quellstrom 3 Kubikmeter Wasser in der Sekunde. Der Bostan-tograk ist also auch in seinem Unterlauf ein ansehnlicher Fluß; wo der Fluß aufhörte, ein solcher zu sein, eine gute Strecke weiter nach Norden, lag früher die Ansiedlung Andere-terem, die aber jetzt verlassen ist.

[S. 179]

Wenn das Lager fertig ist, macht sich Turduk allabendlich seine Pfeife zurecht, wozu recht originelle Anstalten nötig sind. Er schneidet sich zwei Stäbchen und steckt sie so in die Erde, daß das eine senkrecht, das andere in einem Winkel von 45 Grad nach oben zeigt, beide aber von demselben Punkte ausgehen. Dann wird feuchter Lehmteig um sie herumgelegt und dicht an sie herangedrückt, worauf die Stäbchen entfernt werden. In die Öffnung des so gebildeten vertikalen Ganges wird eine Fingerspitzevoll von dem sauren, schlechten Tabak des Landes gelegt, an dem Ende des schrägen Ganges wird der Rauch eingesogen. Die Stellung desjenigen, der sich dieses raffinierte Genußmittel zu Gemüt führt, ist jedoch weder bequem noch graziös. Der Raucher muß der Länge nach auf dem Bauche an der Erde liegen. —

Am folgenden Tage setzten wir unseren Weg längs des Bostan-tograk nach Andere und dem Baba-köll fort, von wo aus wir den Rückweg nach Tschertschen antraten. Unterwegs trafen wir nur eine Eselkarawane, die Häute von wilden Yaken und Kulanen aus den nordtibetischen Bergen nach Kerija brachte. Es wurde ein kalter Ritt. In der Nacht auf den 25. Januar hatten wir −29,6 Grad, und das Maximum stieg selten über −14 Grad. Man ist der Kälte und dem Winde völlig preisgegeben und gerät in einen Zustand apathischer Gleichgültigkeit. Jetzt brauchte ich wenigstens keine Wegaufnahme zu machen, denn wir kehrten auf demselben Wege, den wir gekommen, wieder zurück, und ich konnte also die Hände in die Ärmel meines sartischen Wolfspelzes stecken.

In der Nacht auf den 27. sank die Temperatur auf −31,2 Grad, und als sie um 1 Uhr auf −16 Grad stieg, erschien uns die Luft, da es windstill war, beinahe temperiert. Wir ritten schnell. Die Hufe schlugen dumpf und eintönig auf die gefrorene Erde. Vornübergebeugt, zusammengekauert, saßen wir mit gekreuzten Armen im Sattel und ließen den Pferden freie Zügel. Erst im Lager wurde bemerkt, daß Kurban und ein Packpferd fehlten. Um Mitternacht kam er jedoch zu Fuß an, halbtot vor Kälte. Sein Pferd war zu müde gewesen, und er hatte es bei Turduk zurückgelassen.

Den letzten Tag ritten wir von Jantak-kuduk nach Tschertschen in 10 Stunden, nachdem wir nachts eine Minimaltemperatur von −32,2 Grad gehabt hatten, was in diesem ganzen Winter das Minimum blieb. Wir brachen indessen erst spät auf, so daß wir noch mehrere Stunden in finsterer Nacht reiten mußten und die nächtliche Kälte wieder anfing. Es war schneidend kalt und dazu herrschte noch Gegenwind, der freilich schwach war, aber hinreichte, um uns im Sattel fast vor Kälte erstarren zu lassen. Ich versuchte, mein Gesicht durch ein Halstuch zu schützen; aber der Atem[S. 180] gefror und erstarrte im Barte und an der Nase; das Tuch schützte jedoch ein wenig gegen den schneidenden Wind. Am schlimmsten ist es für die Augen, denn wenn sie vom Winde tränen, kleben die Wimpern zu kleinen Eisklumpen zusammen, die man von Zeit zu Zeit entfernen muß, um die Augen öffnen zu können.

Schön war es daher, endlich an Ort und Stelle zu gelangen und sich an den Feuern im Hause des Bek erwärmen zu können, heißen Tee mit frischen Eiern, Brot und Honig zu bekommen und dann in die Koje zu kriechen, um noch ein paar Stunden schwedische Zeitungen zu lesen und sich an dem züngelnden, gemütlichen Spiele des Feuerscheines an den Wänden zu freuen, während Jolldasch, müde von der langen, kalten Reise, lang hingestreckt am Feuer schnarchte.

Das Ergebnis dieser Rekognoszierung war weniger reich, als ich gehofft, und kaum die dreizehn Tage, die ich geopfert hatte, wert. Dennoch waren mehrere wichtige geographische Beobachtungen gemacht worden, besonders hinsichtlich der Ausdehnung der Sandgürtel in diesem Teile des Landes, der Breite der Vegetationsgebiete und der Größe der Flüsse nebst ihrer Richtung, die nördlicher ist als auf Roborowskijs Karte, was seinen Grund in dem langsamen Gefälle des Tarimbeckens nach dem Lop-nor hat.

[S. 181]

Siebzehntes Kapitel.
Zwischen vergessenen Gräbern und ausgetrockneten Flußbetten.

Der 30. Januar war ein wenig einladender Tag zum Aufbruche von Tschertschen: Wind, dichte Wolken, Schneefall und ein eiskalter, feuchter Nebel und dabei mittags um 1 Uhr noch −15 Grad. Wir brachen indessen doch auf. Wir waren eine recht stattliche Karawane mit sechs Kamelen, fünf Pferden und einer ganzen Schar Bürger von Tschertschen, die uns bis an den Fluß begleiteten. Mollah Schah wurde fest bei mir angestellt; er schien mir sehr brauchbar für die Reise nach Tibet. Sein Abschied von der Vaterstadt, von seiner Frau und seinen sechs Kindern war so ruhig, als handelte es sich um einen Ausflug von ein paar Tagen. So leicht verläßt kein Europäer sein Heim, wenn er es erst in 2½ Jahren wiedersehen soll.

Wir folgten nicht dem gewöhnlichen Wege auf dem linken Ufer des Flusses, sondern überschritten ihn und durchzogen in den ersten beiden Tagen die Steppen des rechten Ufers, um in Keng-laika zu lagern, wo wir zuerst an den Fluß gelangt waren und wo ich einen astronomisch bestimmten Punkt hatte.

Es war jetzt meine Absicht, so genau wie möglich das alte Bett des Tschertschen-darja festzustellen, das nach Roborowskij, der es jedoch nie selbst gesehen hatte, etwa 65 Kilometer nördlich von dem jetzigen liegen sollte. Dies war das Problem, das jetzt zu lösen war und das zu dem ursprünglichen Programme gehörte. Es stellte sich nachher heraus, daß die Angaben, welche Roborowskij von den Eingeborenen erhalten hatte, unzuverlässig gewesen waren und einer Revision bedurften.

Um uns ordentlich vorzubereiten und uns vor allem zwei zuverlässige Führer zu sichern, opferten wir einen Rasttag in Keng-laika. Fanden wir das alte Bett, so mußten wir auf eine neue, wenn auch kleinere Wüstenreise vorbereitet sein, denn wir mußten dem Bette folgen, um zu sehen, wohin es führe.

[S. 182]

Von den Hirten erhielten wir sofort die unerwartete Auskunft, daß die nördliche der beiden Bodensenkungen, die wir in der Wüste gesehen, sich schon bei Su-ößgen, eine Tagereise abwärts, mit dem Flusse vereinige. Unterhalb dieses Punktes gebe es ihres Wissens im Norden des Flusses kein altes Bett, sondern nur lauter hohen Sand, und was dieser verberge, wisse niemand; dies hatten wir auf unserer Wüstenwanderung selbst schon zur Genüge gesehen.

Bei einem kleinen Salztümpel, dem Schor-köll, verließen wir am 2. Februar den Tschertschen-darja und gingen durch Tamariskensteppen und toten Wald nach dem Tschong-schipang, wie das hintere alte Bett genannt wird (Abb. 64). Es ist sehr deutlich, hat ungefähr dieselbe Breite wie der jetzige Fluß, bildet eine wenig gewundene Rinne im Boden und hat hohe, deutliche Uferwälle oder nivellierte Erosionsterrassen mit Tamarisken oder vereinzelt stehenden, teils lebenden, teils verdorrten Pappeln (Abb. 65). Nach Norden hin erstreckt sich in unabsehbarer Ferne das Sandmeer. Auf dem rechten Ufer des Bettes fanden wir einige größtenteils versandete Hirtenhütten, die wohl ein- bis zweihundert Jahre alt waren.

Weiter oben teilt sich das Bett in zwei Arme, von denen der rechte nach dem Tschertschen-darja zurückgeht, der linke aber nach Ostnordost weiterzieht. In diesem befinden sich die wohlerhaltenen Reste zweier aus Reisig und Pfählen hergestellter Dämme; ihr Zweck ist gewesen, den Fluß zu zwingen, sich nach rechts zu wenden, was jedoch, wenigstens hier, nicht gelungen ist. Auch dieser Arm führte uns allmählich wieder nach dem Tschertschen-darja, den wir bei Su-ößgen erreichten.

Als wir festgestellt hatten, daß in dieser Gegend nördlich vom Flusse kein altes Bett vorhanden ist, zog ich es vor, am rechten Flußufer, wo es keinen Weg gibt, entlang zu wandern. Hier entdeckten wir indes einen Kona-darja oder alten Fluß, ein Beweis dafür, daß sich der Tschertschen-darja nicht immer nach rechts wendet, wenn er seinen Lauf verändert.

In der Nähe des verlassenen Bettes trafen wir die massigsten Pappeln, die ich in ganz Ostturkestan je gesehen habe. Sie sind nicht mehr als 6 oder 7 Meter hoch, aber zwei, die wir maßen, hatten an der Erdoberfläche einen Umfang von 4,75 und 6,80 Meter. Der eigentliche Stamm ist nicht viel mehr als einen Meter hoch, worauf er sich in bizarre, knorrige, dichtbelaubte Zweige teilt. Das Vorkommen derartiger Bäume beweist, daß der Fluß hier jahrhundertelang geströmt hat. Denn wenn man sich der Altersbestimmung der Eingeborenen, daß die Tograk tausend Jahre lebe, tausend Jahre verdorrt auf ihrer Wurzel stehe und tausend Jahre umgestürzt liegen bleibe, ehe sie vergehe, auch nicht gerade anschließt, so[S. 183] kann man doch überzeugt sein, daß diese Veteranen verschiedene Jahrhunderte auf dem Nacken haben.

Gleich hinter diesen Pappeln, die als Einsiedler unter lauter Tamarisken standen, führten uns die Wegweiser nach einem alten muhammedanischen Begräbnisplatze mit mehreren Gumbes und den Überresten einiger Häuser, von denen das größte 15 × 13 Meter maß. Durch den Platz lief ein deutlicher Kanal nach ebenso deutlichen Ackerfeldern.

Wir lagerten an ein paar Gräbern, die wir am 4. Februar genauer untersuchten. Vor drei Jahren waren sie von einigen Hirten ausgegraben worden. Diese hatten natürlich geglaubt, Gold oder andere Wertsachen darin zu finden. Jetzt standen drei Särge am Fuße des Tamariskenkegels, in dem sie begraben gewesen waren. Zwei von den Leichen, die eines älteren Mannes und die einer Frau in mittleren Jahren, waren gut erhalten. Die Haut umschloß dicht das Skelett und war hart wie Pergament. Die Frau war mir besonders interessant. Ihr vollkommen unbeschädigtes Haar war im Nacken mit einem roten Bande zusammengebunden und hatte eine rotbraune Farbe, die bei den Asiaten, an die man hier denken könnte, deren Frauen ihr Haar überdies stets in Flechten tragen, selten vorkommt. Der Schädel hatte indoeuropäische Form, die Stirn war hoch, die Augen lagen gerade, die Jochbeinbogen standen wenig hervor, und die schmale Adlernase hatte längliche, beinahe parallele Nasenlöcher. Es ging daraus unzweideutig hervor, daß man keine Chinesin oder Mongolin vor sich hatte. Dazu kam, daß ihre Kleidung nicht asiatisch war. Sie hatte eine Art Hemd von grober Leinwand an, das enganliegende Ärmel hatte und sich nach unten rockartig erweiterte. Die asiatischen Frauen haben weite Ärmel und bauschige Beinkleider, aber nie Röcke, weil diese ihnen, die nach Männerweise reiten, nur hinderlich sein würden. Um die Stirn hatte sie, ebenso wie der Mann, eine kleine dünne Binde gehabt, die jetzt beinahe ganz zu Staub geworden war. An den Füßen trug sie rote Strümpfe. Bei beiden Leichen waren die Nägel beschnitten, nicht wie bei den Chinesen langgewachsen.

Von der Kleidung des Mannes war nicht mehr viel vorhanden. Das weiße Haar war nicht wie bei den Chinesen teilweise abrasiert, noch weniger in einen Zopf geflochten. In seinem Sarge lag ein einfacher Holzkamm. Die Särge waren schnell und provisorisch zusammengeschlagene Laden von sechs Pappelbrettern mit parallelen Seiten, ebenso hoch wie breit und etwas länger als die Leichen. Ganz in der Nähe sahen wir die Überreste einer alten Hütte, deren Wände aus ineinander geflochtenem Reisig bestanden.

Alles schien anzudeuten, daß die Toten Russen waren, und mir stieg gleich der Gedanke auf, es könnten zwei von den Raskolniken, den russischen[S. 184] Schismatikern, sein, die in den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts von Sibirien nach dem Lop-nor flohen und von deren weiteren Schicksalen nichts bekannt ist. Der Tamariskenkegel, in den die beiden Särge hineingestellt gewesen, hatte damals, als das Begräbnis stattfand, wohl ebenso ausgesehen wie jetzt.

Unter den jetzigen Bewohnern Ostturkestans findet man oft Typen, die durch Kreuzung mit arischem Blut einen großen Teil der Kennzeichen der mongolischen Rasse verloren haben; doch daß diese Leichen keine muhammedanischen waren, bewiesen die Särge, denn die Muselmänner begraben ihre Leichen nicht in Särgen. Die Hirten behaupteten, daß mehrere andere Kegel ebenfalls Gräber umschlössen, konnten uns aber keine mehr zeigen. Vielleicht hat einmal eine ganze Raskolnikengemeinde diesen vor jeder Religionsverfolgung geschützten Ort aufgesucht. Leider fehlte den Särgen jede Spur von Inschrift.

So überließen wir denn diese geheimnisvollen Gräber ihrer ewigen Ruhe in der Einöde und gingen auf dem rechten Ufer weiter.

Während der letzten Stunden gingen wir auf dem Eise des Tschertschen-darja, das uns beinahe wie ein eigens für uns angelegtes Asphalttrottoir erschien, — so eben und gut ging es sich dort nach all dem Gestrüpp und den trockenen Ästen, die im Walde umherlagen (Abb. 66). Nur in den nach Nordosten gerichteten Krümmungen hatte der Wind den Schnee vom Eise gefegt; sonst lag dieser überall dezimeterhoch, und die auf dem Eise ungeschickten und hilflosen Kamele hatten also hier nichts zu fürchten. An diesem Flusse vermissen wir die energischen Züge des Tarim; das Bett ist nicht so kräftig ausgemeißelt, wird aber auf den Ufern von den unvermeidlichen Pappeln, Tamarisken und Kamischfeldern begleitet. Auf dem rechten Ufer ist der Vegetationsgürtel breiter als auf dem linken, wo er von dem von Norden herandrängenden Sande, dessen hohe, unfruchtbare Dünen gewöhnlich über dem Walde zu sehen sind, stark beeinträchtigt wird.

Am 5. Februar marschierten wir teils auf dem Eise, teils auf dem rechten Ufer in alten Betten, die den verlassenen Krümmungen des Tarim entsprechen (Abb. 67). Tigerspuren kreuzten wir oft. Auf dem Eise lag mitten in einer großen Blutlache das Fell eines Rehs, und um die Lache herum sah man die Spuren von drei, vier Wölfen. Sie hatten ihrem Opfer augenscheinlich auf dem Eise aufgelauert, um es zum Ausgleiten zu bringen, es auf diese Weise überrumpelt und dann einen Schmaus gehalten.

81. Eisschollen in der Oase Altimisch-bulak. (S. 222.)

GRÖSSERES BILD
82. Abdu Rehims Beute. (S. 223.)

GRÖSSERES BILD

In einem anderen verlassenen Bette, das seit Menschengedenken kein Wasser mehr geführt hat, hing an der Spitze einer Stange ein Hirschschädel; die Gegend heißt infolgedessen Kallaste (der aufgehängte Schädel),[S. 185] welcher Name sich im innersten Asien oft wiederholt. Der Zweck dieses Nischan (Zeichen) ist zu zeigen, wo der Weg geht, wenn dieser aus irgendeinem Grunde, wie Flugsand, Überschwemmung, Buschholz oder dergleichen, schwer erkennbar ist.

Die Kälte dauerte an. In der Nacht auf den 6. hatten wir −29 Grad, aber unerschöpfliche Vorräte von vorzüglichem Brennholz. Bei Ak-ilek-lenger gingen wir nach dem linken Ufer hinüber. Über der Stromrinne knackte das Eis unter dem Gewichte der Kamele recht beunruhigend. Die Karawane begab sich von hier direkt nach Buguluk am Tschertschen-darja, während ich mit zwei Begleitern in dem alten Bette weiterritt, das bei Ak-ilek anfängt und ein paar Kilometer nördlich von dem jetzigen Flusse liegt. Es ist reich an lebender, frischer Vegetation. Als wir gerade vor Buguluk waren, ließen wir das Bett linkerhand liegen und vereinigten uns wieder mit den Unsrigen, die schon an dem Punkte lagerten, wo die Straße von Tscharchlik nach Tschertschen den Fluß kreuzt. Ich hatte diesen Punkt 1896 besucht; wir blieben jetzt einen Tag dort.

Leider mußten wir hier von unseren beiden Führern, welche die Gegenden, in die wir jetzt kamen, nicht genau kannten, Abschied nehmen und unseren Weg allein suchen, bis wir wieder Menschen trafen.

Der eine unserer Führer wußte nur zu erzählen, daß sich einmal ein Hirte aus dem unteren Keng-laika nordwärts in den Sand hineinbegeben habe und schließlich an eine „Kona-schahr“ gelangt sei. Hier habe er acht Tschugune (Kupferkannen) und 40 Ketmene (Spaten) gefunden und mit so viel von der Beute, wie er zu tragen vermocht, den Rückzug nach seiner Hütte angetreten. Während seiner Abwesenheit hätten Wölfe seine Schafe zerrissen, was man allgemein als Strafe für seine Habgier angesehen habe. Er sei darauf nach dem Fundort zurückgekehrt und habe Spaten und Kannen wieder an den Platz gelegt, von dem er sie fortgenommen habe.

Auf derartige Erzählungen kann man natürlich keine Pläne bauen, und es ist überhaupt am besten, nur das zu glauben, was man selbst gesehen und erlebt hat.

Toktamet Bek hatte mir auch eine Räubergeschichte erzählt, die jedoch den Eindruck der Wahrheit machte. Er war einmal in seinem Hause in Tschertschen von sieben Dieben, die in später Nacht bei ihm angeklopft hatten, überfallen worden. Auf seine Frage, wer da sei, hatten sie den Namen eines seiner Bekannten genannt, weshalb er sofort öffnete. Da hatte einer aus der Bande ein Messer gezogen und ihn mit dem Tode bedroht, wenn er nicht schweige und sich binden lasse. Unterdessen plünderten die anderen sein Haus und setzten sich in den Besitz aller Wertgegenstände,[S. 186] sowie einer Summe von 2000 Tenge in geprägtem Silber. Dann hatten sie die Flucht ergriffen und den Bek gebunden mitgeschleppt, damit er keine Gelegenheit habe, Leute zur Verfolgung aufzubieten. Das Interessanteste aber war, daß die Bande von Wasch-schahri den Tschertschen-darja überschritten und sich nordwärts nach dem Tarim begeben hatte, wobei sie einem alten Bette, anscheinend dem Ettek-tarim, gefolgt war. Es war sicher nicht das erste Mal, daß dieses Bett, dessen Bekanntschaft wir bald machen sollten, von flüchtigen Missetätern als Rückzugslinie benutzt wurde.

8. Februar. Jetzt wanderten wir am linken Ufer des Tschertschen-darja abwärts, teils um nicht denselben Weg zurückzulegen wie Roborowskij, teils um zu erforschen, ob sich auf dieser Strecke alte Betten vom Flusse abzweigen oder sich mit ihm vereinigen. Der Fluß ist oft mächtig angeschwollen, und das Ufergebiet bildet eine Terrasse, die ein paar Meter über der Eisfläche liegt. Nur an einem Punkte trat der Sand dicht an den Fluß heran; dort fielen 10 Meter hohe Dünen steil nach dem Eise ab. In einem kleinen Tograkhaine wurde das Lager aufgeschlagen. Obgleich der Tag wie gewöhnlich trübe gewesen, war der Sonnenuntergang doch herrlich, und ein purpurnes Licht ergoß sich über die Dünen, die wie auf dem Sprunge standen, auch dieses kleine Vegetationsband, das der Fluß speist, zu verschlingen.

Der junge Kurban, der anfangs einen so vielversprechenden Eindruck machte, schien in Wirklichkeit ein Schlingel zu sein. So verschwand er z. B. an diesem Abend, nachdem es dunkel geworden war. Alle Tiere befanden sich im Lager, so daß er nicht bei ihnen sein konnte, und sein Pelz war auch da, obwohl es 18 Grad Kälte hatte. Als er Stunde auf Stunde ausblieb und man befürchten mußte, daß Wölfe ihn überfallen hätten, wurden Leute auf die Suche nach ihm ausgeschickt. Nach langer Zeit kehrten sie mit dem Jüngling zurück, der während des Tagemarsches ein Paar Stiefel von einer Kamellast verloren hatte. Islam Bai hielt dem Bengel, der sich später zu einem ausgewachsenen Schelme entwickelte, eine Strafpredigt. Es war ja nichts dabei, daß er ein Paar Stiefel verloren hatte, aber es war dumm von ihm, nicht zu sagen, daß er sie zu suchen beabsichtige. Wir hatten gefürchtet, er sei irgendwo eingeschlafen und könne über Nacht erfrieren.

9. Februar. Erst diese Nacht ließ uns hoffen, daß die ärgste Winterkälte vorüber sei; das Minimumthermometer zeigte nur −20,1 Grad, und die Temperatur hob sich im Laufe des Tages auf −7,6 Grad; so warm hatten wir es seit dem 28. Dezember nicht gehabt. Das Terrain war gut, und wir konnten 30 Kilometer zurücklegen — am Tage vorher wurden[S. 187] es nur 26 —, aber das Land ist trostlos einförmig, und vergebens schaut man nach Menschen aus. Ich war dieser Wüstenei recht überdrüssig und sehnte mich nach einem dankbareren Felde. Wir zogen rasch und in geraden Peilungen über die Steppe zwischen 30 Meter hohen, unfruchtbaren Dünen zur Linken und dem Flusse zur Rechten. Der Fluß gleicht noch immer einem kreideweißen Bande, doch große Strecken sind Anschwemmungen, die jetzt, da alles mit Schnee bedeckt ist, von der Eisdecke fast gar nicht zu unterscheiden sind.

Am folgenden Tage stieg die Temperatur um 1 Uhr auf −2,2 Grad, und wir hatten den ersten Frühlingssturm aus Nordosten, der indessen nur ein schwacher Vorläufer der heftigen Stürme war, die den Frühling im Loplande charakterisieren. Auf der Wanderung nach Nordosten fanden wir ein augenscheinlich ganz verlassenes Bett. Seine Breite betrug 32 Meter, und es war 6½ Meter tief in den Boden eingeschnitten. Es hat also eine völlig andere Gestalt als der jetzige Fluß, der seicht und wohl fünfmal so breit ist, was sich sicher darauf zurückführen läßt, daß der neue Fluß sein Bett noch nicht hat vertiefen können. An den Ufern stand dichter, toter, noch wurzelfester Pappelwald. Im Grunde des Bettes war der Boden an einigen Stellen recht heimtückisch. Zwei Kamele versanken geradezu in losem, leichtem, kartoffelmehlähnlich trockenem Staube. Sie mußten mit Spaten wieder herausgegraben werden.

Vom Anfange dieses alten Bettes an, das sich längs der Grenze des Sandmeeres hinzieht, hört aller Pappelwald an den Ufern des Tschertschen-darja auf; die wenigen dort vorkommenden Bäume sind nicht älter als 30 Jahre. Der ehemalige, jetzt tote Wald begleitet dagegen das verlassene Bett.

Am 11. Februar trafen wir bei der Sattma von Araltschi am linken Ufer des Tschertschen-darja endlich Menschen (Abb. 68). Es waren ein Mann, zwei Knaben und zwei Frauen mit 600 Schafen, sechs Kühen und einigen Pferden und Eseln. Sie teilten uns mit, daß das alte Bett, dem wir gestern gefolgt waren, sich in das äußerste Gebiet des Sandes hineinziehe und sich weiter abwärts mit dem Ettek-tarim vereinige. In einem Monate erwarten sie die „Mus-suji“, die Eisschmelzflut, die zehn Tage lang so gewaltig dahinströmt, daß der Tschertschen-darja dann nicht durchwatet werden kann; wenn diese Frühlingsflut vorbei ist, bleibt nicht viel Wasser in dem Bette zurück und es ist sehr seicht, bis im Spätsommer das eigentliche Hochwasser aus dem Gebirge kommt und es aufs neue füllt.

Jetzt zogen wir auf dem zugefrorenen Flusse weiter nach Osten. Dieser ist so breit wie ein See, und sein Boden liegt beinahe in gleicher Höhe mit den Ufern; im Schilfe des Ufers waren große, jetzt zugefrorene, überschwemmte Strecken zu sehen. Der Name Keng-laika (das ausgedehnte[S. 188] Anschwemmungsgebiet) ist eine sehr passende Bezeichnung für das ganze ausgedehnte Delta des Tschertschen-darja. Daß dieser Teil des Flusses ein sehr junges Gebilde ist, sieht man ganz deutlich; es kann nicht lange her sein, seit der Fluß in dieses südliche Bett übergesiedelt ist.

In einem kleinen Pappelhaine bei Jiggdelik-agil ließen wir uns in der Nähe von zwei Hütten nieder und richteten uns für einen Rasttag, der der Ortsbestimmung gewidmet werden sollte, häuslich ein.

Ich schlief mich an diesem Ruhetage gründlich aus. Man darf nicht durch Gardinen verwöhnt sein, wenn man unter freiem Himmel schläft, besonders nicht, wenn man erst am hellen Tage und bei schon hochstehender Sonne erwacht. Und man darf sich nicht vor den Hirten und ihren Familien genieren, die sich die Morgentoilette des Fremden mit der größten Verwunderung ansehen, während die frei umhergehenden Kamele dicht neben dem Bette vorjährige Pappelblätter auflesen.

Mollah Chodscha, der Herr des Ortes, wußte gut Bescheid; als ich ihn aber bat, uns den Weg nach dem Ettek-tarim, dem früheren Bette des Tschong-tarim, zu zeigen, leugnete er hartnäckig, ihn zu kennen. Er log offenbar, um uns nicht begleiten zu müssen. Meine Leute wollten ihm eine Tracht Prügel verabreichen, um ihn gefügiger zu machen; da mir dieses gewiß wirksame Verfahren jedoch nicht zusagte, beschlossen wir, ihn beim Aufbruch ganz einfach gebunden mitzunehmen und ihn mit dem jetzt bedeutend zusammengeschmolzenen Gepäck auf eines der Kamele zu laden.

Indessen rettete ihn ein für beide Teile glückliches Ereignis von allen Schikanen. Mein alter Freund aus Tscharchlik, Togdasin Bek, kam abends in unserm Lager an, weil er vom Amban jener Stadt Befehl erhalten hatte, nach mir Ausschau zu halten und mir seine Dienste zur Verfügung zu stellen. Daher war es ihm ein Vergnügen, mich nach dem Ettek-tarim zu führen, dessen Bett ihm schon zweimal als Straße gedient hatte, und er machte mir über dieses Bett höchst unerwartete Mitteilungen, die mit denjenigen, die ich 1896 von Kuntschekkan, dem Bek von Abdall, erhalten hatte, genau übereinstimmten. Der Ettek-tarim, sagte er, ist erst seit 30 Jahren verlassen. Vor dieser Zeit strömte die Hälfte der Wassermenge des Tarim (Jarkent-darja) durch dieses Bett.

Togdasin Bek war einmal auf diesem Wege, wo es jetzt keinen Tropfen Wasser gibt, sogar in einem Boote gerudert. Das zweite Mal hatte er den Ettek-tarim 1877 gesehen, als der berühmte Nias Hakim, Bek von Chotan, der Vertraute und Mörder Jakub Beks, mit einer Karawane von Kamelen, Eseln und Mauleseln von Chotan nach Korla flüchtete, bei welcher Gelegenheit Togdasin Bek ihm diesen Ogri-joll (Diebsweg) zeigen mußte, auf dem alle diejenigen entlang schleichen, die auf dem[S. 189] großen Karawanenwege den Dienern der Gerechtigkeit in die Hände zu fallen fürchten.

13. Februar. Noch immer hoher Sand zur Linken. Der gute alte Bek zeigte uns jetzt den Weg, und es war merkwürdig, wie gut er Bescheid wußte, obwohl er seit 23 Jahren nicht hier gewesen war. Der Ortssinn der Asiaten ist oft unglaublich scharf ausgebildet. Togdasin konnte z. B. sagen. „Wenn wir noch ein paar “joll„ gehen, kommen wir an eine Stelle mit besserer Weide“ und er irrte sich dabei nie.

Die Kamele sind während der Brunstzeit, deren Höhepunkt gerade im Februar ist, gefährlich und boshaft. Wir haben bloß Hengste und müssen aufpassen, daß sie einander nicht verletzen. Im Lager Koschmet-kölli wurden jedoch zwei Bestien handgemein. Sie kämpften in blinder Wut, die Köpfe am Boden hinstreckend, wickelten ihre Hälse umeinander wie Schlangen, rangen und stießen aus allen Kräften, bissen und schlugen nach allen Seiten aus, und der Geifer spritzte dabei wie Seifenschaum umher. Der Stärkere fuhr seinem Gegner mit dem Kopfe zwischen beide Vorderbeine, um ihn umzuwerfen. Gelingt dies, so kann der Besiegte froh sein, wenn er ohne ernste Verletzungen davonkommt. Das muß jedoch verhindert werden. Alle Männer eilen herbei. Am Nasenstricke ziehen nützt nichts, denn dies fühlt das Kamel, wenn es vor Wut schäumt, gar nicht. Nein, sie schlagen die Kämpfenden so lange mit Knüppeln auf die Nase, bis sie voneinander ablassen und schaumbespritzt und blutig mit vor Haß glühenden Augen nach ihren Weideplätzen zurückkehren. Wir mußten, wenn wir lagerten, den ärgsten Raufbolden stets die Vorderbeine zusammenbinden und ihnen auf dem Marsche Halftern anlegen.

Am 14. Februar machten wir einen ganz kurzen Tagemarsch von nur 15 Kilometer, weil wir bei Basch-agis, dem letzten Punkte, wo wir Wasser bekommen konnten, Halt machen mußten (Abb. 69). Der nördlichste Arm des Tschertschen-darja biegt an diesem Punkte nach Südosten ab nach dem Lop-kölli, wie der Kara-buran hier ausschließlich genannt wird. Wir hatten drei Tagereisen in wasserloser Gegend vor uns und mußten für unseren eigenen und den Bedarf der Pferde ein paar Säcke Eis mitnehmen.

Um 1 Uhr zeigte das Thermometer +0,4 Grad; es war das erste Mal seit dem heiligen Abend, an dem wir +0,1 Grad hatten, daß das Quecksilber über Null stand. Doch ging die Temperatur in der Nacht bis −24 Grad herunter.

Als wir am 15. Februar nach Nordosten wanderten, entfernten wir uns nach und nach von dem hohen Sande, der jedoch noch immer in etwa 5 Kilometer Entfernung zu sehen war.

[S. 190]

Am Julgunluk-köll (Tamariskensee) erreichten wir den Ettek-tarim, dessen Bett von hier an nach Süden geht und der seinerzeit unweit des jetzigen Fischerdorfes Lop in den Kara-buran mündete. Wir folgten seinem Laufe den ganzen Tag nach Norden. Hier wächst frisches, saftiges Buschholz ziemlich üppig, obwohl der Erdboden überall so trocken wie Zunder ist. Daß jedoch das Grundwasser nicht fehlt, sieht man schon an dem Julgunluk-kuduk, der gegenwärtig versandet war. Ein aus einem Pappelstumpfe ausgehöhlter Wassertrog für Pferde und Esel zeigte auch, daß dieser Schleichweg gelegentlich benutzt wird, besonders von Leuten, die „Jiggde“(Elaeagnus)-Beeren sammeln. Die das Bett umgebenden Sanddünen sind höchstens 4 Meter hoch. Das Bett des Ettek-tarim ist sehr deutlich, und man sieht gleich, daß es nicht länger als einige dreißig Jahre her sein kann, seit der Fluß es verlassen hat. Es markiert sich als eine nackte, von lichten Wäldern und Dickichten eingefaßte Rinne. Auch der gewundene Verlauf der letzten Stromrinne tritt in dem Bette als deutliche Vertiefung hervor. Sogar Treibholz steckt hier und dort noch im Boden.

Ein paar geophysische Charakterzüge, auf die ich nur flüchtig hinweisen will, dienen zur Beleuchtung meiner Theorien über die Wanderungen des Lop-nor. Erstens beweist die Tatsache, daß der Ettek-tarim reich an lebenskräftigem Pappelwalde ist, während an dem entsprechenden Teile des Tarim jeder Wald fehlt, daß letzterer ein neugebildeter Fluß ist, an dem der Wald noch nicht hat groß werden können. Zweitens beweist die kolossale Anhäufung von Flugsand, die wir an dem heutigen Lagerplatze fanden und die den bezeichnenden Namen Tag-kum (Berg-Sand) trägt, daß der Tarim in früherer Zeit im Osten dieser Stelle noch nicht existiert hat, denn sonst hätte der hier herrschende Ostwind nicht solche Massen von Sand hierher treiben können. Dies hat nur zu einer Zeit geschehen können, als sich der Tarim noch in den alten, jetzt ausgetrockneten Lopsee ergoß. Schließlich ist zu beachten, daß der Sand zwischen dem Ettek-tarim und unteren Tarim vom Tag-kum an nach Norden wesentlich abnimmt. Er hat sich in den Gegenden, die auf der Leeseite des alten Lopsees lagen, nicht anhäufen können.

Das Vegetationsgebiet des Ettek-tarim bildet einen 3 Kilometer breiten Gürtel, gegen welchen im Osten der hohe Sand steil abfällt; im Westen dagegen erheben sich die Dünen langsam zu den gewaltigen Protuberanzen, die wir weiter westlich in der innersten Wüste gesehen hatten.

16. Februar. Während meine Leute die Kamele beluden, erstieg ich am Morgen den höchsten Kamm des Tag-kum, der wohl 50 oder 60 Meter über den Wald emporragt. Man hat von hier eine orientierende Aussicht. Im Nordosten erscheint eine Bajir von dem gewöhnlichen Aussehen dieser[S. 191] Mulden und mit den charakteristischen konzentrischen Ringen. Im Osten wird diese Bodensenkung von einer Sandmauer begrenzt, die nur halb so hoch ist wie der Tag-kum. Weiter nach Osten hin nimmt der Sand ab in der Richtung nach dem rechten Ufer des Tarim, dessen Vegetationsgürtel man an dem dunkleren Farbentone erkennt. Im Osten des Tarim taucht wieder Sand auf, der stets nach Westen steil abfällt.

Es liegt die Annahme nahe, daß diese Bajirmulden in der ganzen Wüste verstreut liegen und ein Werk des Windes sind. In dem Bette des Ettek-tarim haben sich bisher nur unbedeutende Dünen anhäufen können, aber im Walde sind sie schon 3 bis 4 Meter hoch. Einstweilen liegt das Bett noch geschützt vor der großen Flutwelle von Sand, die sich langsam nähert und es zu begraben droht. Teilweise ist es jedoch schon geschehen; die Welle des Tag-kum hat einen Teil des Ettek-tarim-Bettes begraben, und weiter nach Norden hin verschwindet das Bett oft unter dem nachdringenden Sande. Die Bajirmulden sind nicht stationär, sie wandern nach Westen über den Boden der Wüste. Sie entstehen an seinem Ostrande und verschwinden im fernen Westen, wo andere, weniger regelmäßige Windverhältnisse herrschen. Eine Bajir erhält sich also während ihres ganzen Daseins, obwohl ihr Boden sich im Laufe von 100 Jahren erneuert, wenn man die Geschwindigkeit der Wanderung der Dünen auf zirka 5 Meter im Jahre veranschlagt. Wenn auch die Wellen der Dünen denselben Windgesetzen wie die Wogen des Meeres gehorchen, so liegt doch ein großer Unterschied darin, daß sich bei den Meereswogen nur die Wellenbewegung fortpflanzt, das Wasser aber an seiner Stelle bleibt, während sich bei den Sandwogen auch das Material weiterbewegt, vorwärts gestoßen wird und überschwemmt. Würde der Wind nicht neues Material zuführen, so würde der vorhandene Sand weggefegt werden.

Gegen Norden zeigt der Wald Neigung zum Absterben. Die Wurzeln scheinen nur noch gerade bis zum Grundwasser hinunter zu reichen; doch ist er noch dicht, und Stämme von 2,45 Meter Umfang sind nichts Außergewöhnliches. Am östlichen Ufer des Ettek-tarim ist der Wald unvergleichlich viel reicher als auf dem westlichen, weil jenes im Windschatten geschützt liegt, während die Vegetation des letzteren vom Sande langsam erstickt wird.

Auf der letzten Tagereise in diesem alten lehrreichen Bette kam toter Wald ebenso häufig vor wie lebender, und die Vernichtung ist hier im allgemeinen weiter vorgeschritten, indem sich die Sandmassen beider Ufer einander bis auf 300 Meter genähert haben. Sie haben hie und da schon eine Brücke von kleineren Dünen zueinander hinübergespannt.

Bei Tana-baglagan zeigten sich frische Spuren von Wasser. Im vorigen Jahre hatte man von Basch-argan am Tarim einen Kanal[S. 192] gegraben, in der Absicht, das ausgetrocknete Bett des Ettek-tarim wieder zu füllen, um ausgedehntere Weidegründe zu erhalten und die noch vorhandene Vegetation zu retten. Aber der kleine Kanal war nur mit Mühe bis Tana-baglagan geführt worden, und man hatte das Unternehmen aufgegeben.

Endlich erreichten wir bei Basch-argan wieder unseren alten Freund, den Tarim. Wie klein und unansehnlich zeigte sich jetzt dieser Fluß, der im Herbst auf uns einen so mächtigen Eindruck gemacht hatte! Gefesselt und regungslos lag er da, einem schmalen, eisbedeckten Kanale ohne Alluvialbildungen gleichend. Die Eisdecke sah aus wie eine Rinne mit emporstehenden Rändern — das Wasser war nämlich gefallen, seit der Fluß zugefroren war. Als der Tarim zufror, hatte er eine Breite von 43 Meter, aber jetzt war er nur 23,6 Meter breit. In der Wake, aus der wir die Kamele, die drei Tage gedurstet hatten, tränkten, war die Eisdecke 52 Zentimeter dick. Dann gingen wir durch Wald, Dickicht und Unterholz nach Argan oder Airilgan, wo wir Lager schlugen.

Der 18. Februar, ein Sonntag, wurde zur Ruhe bestimmt. Der Tarim hatte beim Zusammenfluß eine Breite von 59 Meter; der Kontsche- oder Kun-tschekkisch-tarim war 24 Meter, und der vereinigte Fluß, der nach dem Kara-buran hinuntergeht, 76,8 Meter breit. Unser Lager stand auf der Landspitze zwischen dem Tarim und dem vereinigten Flusse, welchen Punkt wir bei zwei späteren Gelegenheiten wieder besuchen sollten und der also sowohl für topographische wie für astronomische Messungen ein wichtiger Knoten- und Kontrollpunkt wurde. Von hier zog der prächtige alte Togdasin Bek wieder heim, der uns anderthalb Jahre später noch mehr Dienste leisten sollte.

83. Gebäude auf Tonsockeln (S. 228.)
84. Tschernoff und Abdu Rehim bei einem Tora in der Wüste. (S. 229.)
85. Aufrechtstehender Türpfosten. (S. 230.)
86. Der Platz von Ördeks Entdeckung;
ein Jahr später photographiert. (S. 232.)
87. Einige von Ördeks Trophäen.
Das Maß auf der rechten Seite des Bildes stellt einen Meter dar. (S. 232.)

[S. 193]

Achtzehntes Kapitel.
Die Ankunft der burjatischen Kosaken in Tura-sallgan-ui.

Mit einer Beschreibung des Netzes der Wasserwege, welche die Landstrecken durchkreuzen, über die wir den Rückzug nach Jangi-köll antraten, werde ich den Leser nicht ermüden. Eine verwickeltere, verworrenere Hydrographie läßt sich nicht denken. Namen, die auf „köll“, „tscholl“, „daschi“, „akin“, „kok-ala“ (= See, Tümpel, Salztümpel, Strom, Flußarm) endigen, kommen unausgesetzt vor, selbst da, wo das Land jetzt trocken liegt.

Das Dorf Scheitlar zählt drei Familien, die von Fischfang und Schafzucht leben. Eine alte Frau saß vor den Schilfhütten (Abb. 70) und schlug Pflanzenfasern (Tschigge, Asclepias), bis sie eine baumwollartig feine, weiche Masse bildeten, aus der ein grober, aber haltbarer Stoff gewebt wird. Sie erzählte, daß ihre Eltern am Tschiwillik-köll gewohnt hätten, der früher sehr viel größer gewesen sei als jetzt und noch der größte See sei, den die Leute hier überhaupt kennen.

Unser Weg führte jetzt nach Nordwesten. Bei Arelisch teilt sich der Kun-tschekkisch-tarim in zwei Arme, von denen der östliche nach dem obenerwähnten See geht; der westliche ist der Kok-ala, an dem wir zum Teil hingezogen sind. Die Tage werden immer frühlingshafter, obgleich die nächtliche Kälte noch auf −18,8 Grad herunterging. Am 21. Februar erreichten wir Dural, wo der Amban von Lop residiert, und am Tage darauf Tikkenlik, wo Kirgui Pavan zu mir stieß. Er war es, der mir 1896 den Weg nach den großen Seen im Osten gezeigt und mir dadurch Gelegenheit gegeben hatte, eine so bedeutungsvolle Entdeckung zu machen.

Im Lager Turduning-söresi wurden wir wieder vom Glück begünstigt. Ein Mann aus Singer im Kurruk-tag, Abdu Rehim, hatte sich dort mit acht Kamelen niedergelassen, um einige Tage im Walde zu rasten. Ich brauchte gerade für die nächste Expedition einen Führer nach dem trockenen Flußbette Kum-darja, dessen Vorhandensein sowohl der russische[S. 194] Reisende Kosloff wie ich festgestellt hatte, doch bisher nur dadurch, daß wir es an einigen Punkten berührt hatten. Es stellte sich jetzt heraus, daß Abdu Rehim derselbe Mann war, der Kosloff den Weg von Norden nach Altimisch-bulak gezeigt hatte, der Quelle im Kurruk-tag, die dem Kum-darja zunächst liegt.

Es war wirklich ein außergewöhnlich glückliches Zusammentreffen, daß ich gerade diesem Manne begegnen mußte, der einer von den zwei oder drei Jägern im ganzen Lande war, die nach Altimisch-bulak hinzufinden wissen. Ganz leicht ließ sich jedoch nicht mit ihm einig werden, denn er taxierte seine eigene Bedeutung ganz richtig, und als wir den Vorschlag machten, ihm seine Kamele abzukaufen, verlangte er unverschämte Preise. Islam Bai, der in seiner Art, mit seinen Glaubensgenossen umzugehen, etwas von Tamerlans rücksichtslosem Despotismus hatte, geriet infolgedessen in eine Schlägerei mit Abdu Rehim, der anfänglich den Eindruck eines Freibeuters und unbändigen Gesellen machte. Als dieser sich grollend entfernte, rief ich ihn zu mir, und nun machten wir die Angelegenheit unter vier Augen ab — ohne Handgreiflichkeiten. Er sollte mir sechs seiner Kamele für täglich ½ Sär pro Tier vermieten und mich durch das Bett des Kum-darja nach Altimisch-bulak führen, von wo er nach Singer, seiner Heimat, weiterziehen sollte. Seine Kamele trugen keine Lasten; er hatte seine Schwester und ihre Aussteuer einem Bek in Dural gebracht und kehrte jetzt mit leeren Händen wieder nach Hause zurück. Islam Bai prophezeite, daß mir dieser Mann Unannehmlichkeiten bereiten würde, aber er hatte unrecht. Einen besseren, zuverlässigeren, tüchtigeren Führer habe ich nie gehabt. Es war das erste Mal, daß ich Veranlassung hatte, mit Islam unzufrieden zu sein; es sollte aber noch schlimmer kommen.

Unsere Kamelhengste waren nach der Erwerbung dieser neuen weiblichen Gesellschaft für die Karawane kaum mehr zu regieren. Besonders ein kräftiges baktrisches Kamel war störrisch und wollte seine Kameraden unaufhörlich beißen. Es war wild geworden, und der Schaum stand ihm vor dem Munde, als sei es von einem Barbiere eingeseift worden. Es brüllte und seufzte den ganzen Weg in den sehnsüchtigsten, schwermütigsten Tönen. Sobald wir lagerten, mußte es mit dem Nasenstricke und starken Verschnürungen um die Füße an einer Pappel verankert werden.

Auf dem letzten Tagemarsche (24. Februar) begegneten uns ganze Scharen von Dorfbewohnern der Gegend, Beke mit Gefolge, Kundschafter und Kuriere. Alle waren ebenso froh wie erstaunt, uns lebendig wiederzusehen, nachdem wir spurlos und still in der Tiefe der Wüste verschwunden waren. Noch feierlicher aber war es, als drei Kosaken auf schwarzen, schnaubenden Pferden heransprengten. Es waren Sirkin und die beiden[S. 195] neuen Kosaken aus Transbaikalien; sie waren wie zur Parade gekleidet, in dunkelgrüner Uniform, das Wehrgehenk über der Schulter, mit schwarzen Lammfellmützen und blanken Reiterstiefeln! Trotz ihrer ausgeprägt mongolischen Züge sahen sie auf ihren hohen Pferden, die sie mit überlegener Sicherheit lenkten, stattlich aus. Ich kam mir neben ihnen ganz zerlumpt vor. Sie hielten vor mir, grüßten militärisch und statteten in vorschriftsmäßiger Weise Rapport ab.

Sirkin, der Höchstkommandierende im Winterquartier, meldete, daß ein Kamel durchgebrannt und einer der Windhunde auf der Jagd von einem Wildschweine schwer verwundet worden sei; im übrigen stehe im Lager alles gut. Der älteste der beiden neuen Kosaken rapportierte, ihm und seinem Kameraden sei von ihrem kommandierenden General in Tschita Befehl erteilt worden, sich zu mir nach dem Loplande zu begeben.

Dann hielten wir unseren festlichen Einzug in Tura-sallgan-ui, wo Tschernoff und eine große Anzahl unserer Nachbarn sich auf dem Markte versammelt hatten (Abb. 71). Das Lager sah größer aus, der Stall hatte einen Anbau, und ein neues Zelt war aufgeschlagen. Alles war sauber und zu unserer Heimkehr geschmückt, mein Haus gereinigt und der Ofen im Zelte geheizt. Alle befanden sich wohl, die Maulesel waren dick und fett, und die Kamele und das Dromedar hatten an Umfang zugenommen, aber wild waren sie, namentlich das letztere, das auf eine „unterirdische“, unheimlich dumpf rollende Weise brüllte, mit den Zähnen knirschte und schäumte, daß ihm der Geifer in großen Flocken vom Maule herabtropfte; es rollte die Augen und versuchte zu beißen. Wehe dem, der ihm zu nahe kam! Es duldete nur Faisullah in seiner Nähe. Doch seine Füße waren mit einem Tau festgebunden, das um einen in die Erde gerammten Pflock geschlungen war, und die Bestie konnte sich nicht von der Stelle bewegen.

Parpi Bai, der sich sofort, als das entlaufene Kamel vermißt worden war, aufgemacht hatte, um es zu verfolgen, kehrte unverrichteter Sache wieder zurück. Dieses Kamel, eines der fünfzehn, verschwand auf rätselhafte Weise vom Schauplatze. Es spukte nachher noch lange in der Gegend. Bald dieser, bald jener versicherte, es gesehen zu haben; es sei stets verschwunden, sobald man versucht habe, sich ihm zu nähern und es einzufangen. Parpi Bai hatte seine Spur ein paar Wochen hindurch bis nach Schinalga verfolgt, von wo das Tier ins Gebirge hinein, dann aber wieder abwärts in der Richtung nach Kutschar gelaufen war, wo Parpi Bai diesem fliegenden Holländer noch einen ganzen Tag in gestrecktem Galopp nachgesetzt war. Dann aber hatte er das Tier völlig aus den Augen verloren, und keiner der Bewohner der Gegend hatte ihm Auskunft über dasselbe geben können. Nur bei Tschadir hatte ein Jäger es gesehen, für ein wildes[S. 196] Kamel gehalten und gerade schießen wollen, als er den Packsattel gewahrte. In diesem Augenblick hatte das Tier seinen Verfolger erblickt und war hinter dem nächsten Berge verschwunden. Bei Schinalga war ihm ein anderer Reiter ganz nahe gewesen; als sich aber das verängstigte Kamel nur noch einen Steinwurf vor dem Lasso, den der Mann bereithielt, befand, war es auf einmal dahingestürmt, als habe es Feuer hinter sich, und war wie der Wind entflohen. Gegen Ende des Frühlings wurde uns erzählt, es sei nach dem Juldustale gelaufen und dort von Kalmücken aufgegriffen worden. Wir sahen es nie wieder.

Es ist weder vorher noch nachher je vorgekommen, daß mir ein Kamel aus der Karawane einfach entlaufen ist, aber Turdu Bai und Faisullah, die die Lebensgewohnheiten der Kamele aus langjähriger Erfahrung kannten, sagten, es komme gelegentlich vor, daß das Kamel, wenn es von Wildschweinen oder Tigern erschreckt werde, vor Angst ganz von Sinnen sei. Es sei dann so verwirrt und verängstigt und fliehe, als sei der Teufel und sein ganzer Anhang ihm auf den Fersen. Etwas Derartiges hatte augenscheinlich unser Kamel betroffen.

Daß der Tiger auch hier vorkommt, davon erhielt ich einen beinahe lebenden Beweis. Nicht weit vom Lager hatte Mirabi, einer unserer Freunde, kürzlich in einer Falle einen Tiger gefangen, der jetzt mit Haut und Haar, gefroren und steif wie ein Turnpferd, mitten auf dem Markte paradierte. Nachdem er im Frühling aufgetaut war, bewahrten wir uns das Fell auf.

Da gerade von den Tieren die Rede ist, will ich noch erwähnen, daß meine Menagerie sich um eine Katze und zwei neugeborene Hündchen, die wir von Pavan Aksakal bekamen, vergrößert hatte. Sie wurden Malenki und Maltschik (der Kleine und das Bübchen) getauft, weil sie so klein und niedlich waren. So hießen sie auch noch, als sie schon ausgewachsen und ein paar Riesen ihrer Gattung geworden waren. Sie waren in der Karawane geboren, verbrachten ihr Leben in der Karawane und wurden vorzügliche Karawanenhunde und meine besonders guten Freunde, die alle ihre Kameraden überlebten. Wir hatten jetzt auch eine Menge Hühner, die dazu beitrugen, das ländliche Bild noch gemütlicher zu machen; der Jagdfalke hatte sich eingewöhnt, und die Lailiker Gans, unsere Reisegefährtin von der Flußfahrt, hatte es in jeder Beziehung gut. Sie schien ihre früheren Verwandten vergessen zu haben und schenkte den Wildgänsen gar keine Aufmerksamkeit mehr.

Diese hatten schon im Februar angefangen, von Westen her wiederzukommen. Es sind dieselben Scharen, die wir im Herbst nach Indien ziehen sahen, in der entgegengesetzten Richtung, aber auf demselben Wege,[S. 197] über dieselben Seen und Flüsse hin, vorbei an denselben Pappeln und Waldgruppen, die sie seit Generationen kennen. Der Tarim ist ihre große Heerstraße, und sie scheinen selten den geraden Weg über die Wüste einzuschlagen. Sie flogen jetzt massenweise über Tura-sallgan-ui hinweg; wir hörten ihr Geschrei und ihre schnatternde Unterhaltung zu jeder Tages- und Nachtzeit, bei jedem Wetter, in pechfinsterer Nacht, wenn die Wolken Mond und Sterne hinderten, die Erdoberfläche zu erhellen; wir sahen sie am Tage bei Windstille wie bei Sturm, wenn die Sonne verhüllt war oder zwischen zerrissenen Wolken hervorguckte; sie zogen in eilender Fahrt vorbei, ohne Rast und Ruh. Die Lopleute sagten, daß dieselben Scharen Jahr für Jahr nach denselben Nistplätzen zurückkehren und gerade so wie die Loplik selbst bestimmte Gesetze über das Besitzrecht haben. Durch ihre viermonatige Abwesenheit entgehen sie der kontinentalen Kälte, die alle Seen und Flüsse verschließt.

An Wild litt ich also keinen Mangel. Täglich gingen die Kosaken auf die Jagd, und nie kehrten sie mit leeren Händen heim. Sie erlegten mehrere Wildschweine und brachten uns Fasanen, Enten und Gänse, gelegentlich auch ein Reh. Von allen Seiten erhielten wir landwirtschaftliche Erzeugnisse, Eier, Milch, Sahne, Schafe, Hühner, Heu usw., und Fische hatten wir stets im Überfluß.

Tura-sallgan-ui war ein Marktplatz, ein im ganzen Loplande bekannter Ort von Bedeutung geworden. Außerhalb unserer eigenen Grenzen entstanden kleine „Vorstädte“, in denen Tischler, Schmiede und andere Handwerker sich niederließen. Ali Ahun, ein Schneider aus Kutschar, gründete ein wohllöbliches Etablissement, in dem eine kleine Nähmaschine den ganzen Tag rasselte. Parpi Bai, der gelernter Sattler war, hatte seine Werkstatt neben dem Stalle und war damit beschäftigt, vorzügliche Packsättel für Kamele und Maulesel anzufertigen. Von Kutschar und Korla kamen Kaufleute mit Waren, die wir, wie sie wußten, brauchen konnten, wie Zucker, Ziegeltee, chinesisches Porzellan, russische Teekannen, Zeugstoffe usw. Ein Kaufmann aus Andischan baute sich hier sogar ein eigenes Haus, eine Strohhütte, deren Wände mit rotem russischem Kattun tapeziert wurden und in welcher ganze Stapel von Zeugballen, Tschapanen, Mützen und Stiefel standen, ganz wie in den Läden der Basare. Dieser „Laden“ wurde sehr beliebt, und man sah dort unsere Muselmänner und Kosaken oft plaudern, Tee trinken, rauchen und kaufen.

Und erst alle die Reisenden, die hier vorbeizogen! Die große Landstraße führte freilich über Dschan-kuli, aber der dortige Herbergsvater hatte in uns einen gefährlichen Konkurrenten bekommen, und der Weg fing allmählich an, über Tura-sallgan-ui zu gehen. Alle Reisenden wollten natürlich[S. 198] in unserem Dorfe übernachten; für sie war es ein willkommenes Tama-schah, beobachten zu können, wie es bei uns aussah. Reiter ritten täglich in das Dorf ein und boten auf dem Markte Pferde aus, von denen mehrere gekauft wurden.

So wuchs die Bedeutung unserer kleinen Stadt mit amerikanischer Schnelligkeit, und noch am späten Abend war es ein ewiges Kommen und Gehen und ein Lärm ohnegleichen. Die einzige Laterne des Marktes mußte brennen, bis der letzte Fremdling abgezogen war. Dann hörte man nur noch die Schritte des Nachtwächters und das Bellen der Hunde.

Während meiner Abwesenheit hatte Sirkin das meteorologische Journal mit musterhafter Genauigkeit geführt, und da es ein großer Vorteil war, einen festen Punkt für die Beobachtungen zu haben, erhielt er Befehl, es während der nächsten Exkursion fortzusetzen und auch dann Chef im Winterquartier zu sein. Tschernoff wurde zu meinem Leibkoch ernannt und bereitete kleine vorzügliche Koteletten und Pilmen (Fleischklöße). Er sollte mich auf der nächsten Reise begleiten.

Streng genommen hätte ich diese beiden Kosaken, die dem Konsulatskonvoi in Kaschgar angehörten, jetzt zurückschicken müssen, denn ich hatte nur das Recht, sie bis zur Ankunft der beiden Burjaten zu behalten. Doch ich hatte sie so liebgewonnen und gesehen, wie ehrlich und gewissenhaft sie die ihnen anvertrauten Aufträge ausführten, daß ich mich mit dem Gedanken, mich von ihnen zu trennen, nicht vertraut machen konnte. Ich schrieb daher an Generalkonsul Petrowskij und bat ihn, sich an die betreffende Behörde mit dem Gesuche zu wenden, daß ich die Kosaken noch behalten dürfe, und überzeugt, daß mein Gesuch bewilligt würde, behielt ich Sirkin und Tschernoff bis auf weiteres.

Islam Bai sollte im Lager als Oberbefehlshaber der Muselmänner bleiben. Er und Sirkin erhielten den Auftrag, sich nach meiner Abreise nach Korla zu begeben, um 25 Pferde, einige Maulesel und Proviant für die Sommerkampagne in Tibet zu kaufen.

Die beiden neuen Kosaken waren Vollblutburjaten. Ihre Sprache unterscheidet sich nur wenig vom Mongolischen, aber sie sprachen auch fließend Russisch, und während der Zeit, die sie in meinem Dienste waren, lernten sie ganz vorzüglich Dschaggataitürkisch. Der Religion nach sind sie Lamaisten, und ihre Augen strahlten vor Begeisterung, als ich ihnen einmal anvertraute, daß wir später südwärts nach dem heiligen Tibet ziehen würden.

Nikolai Schagdur und Tseren Dorschi Tscherdon (Abb. 72) waren jeder 24 Jahre alt und gehörten dem transbaikalischen Kosakenheere an, das zu nicht geringem Teile aus Burjaten besteht. Ihre Dienstzeit ist vier[S. 199] Jahre, von denen meine beiden Kosaken erst die Hälfte hinter sich hatten, als sie diesen außergewöhnlichen, verlockenden Auftrag erhielten, der ihnen Gelegenheit geben sollte, eine ihnen unbekannte Welt zu sehen. Ihren Sold für zwei Jahre hatten sie in 1000 Goldrubeln erhalten, denn der russische Kaiser hatte bestimmt, daß die Eskorte mich nichts kosten solle. Ich nahm indessen ihr Gold in Verwahrung, gewährte ihnen freie Station, solange sie bei mir waren, und gab ihnen nachher, außer anderen Geschenken, ihre 1000 Rubel wieder, so daß die Abkommandierung ihnen noch bedeutenden pekuniären Gewinn brachte. Aber ihre Dienste waren auch unschätzbar, und ihre Aufführung war über jedes Lob erhaben.

Sie hatten die Reise von Tschita hierher in 4½ Monaten gemacht, mit der Eisenbahn, mit der Post, zu Pferde und zuletzt in der Arba. Als Kosaken in Dienst hatten sie auf russischem Gebiete freie Reise. Die Reise war über Irkutsk, Krasnojarsk, Kuldscha und Urumtschi gegangen, an welch letzterem Orte sie von dem großen Sinologen, dem nunmehr verstorbenen Konsul Uspenskij, zwei Monate aufgehalten worden waren, weil dieser meine Spur verloren und nicht gewußt hatte, wohin er sie schicken sollte.

Nach beendeter Dienstzeit, während welcher sie in Sprache und Disziplin völlig russifiziert werden können, kehren die burjatischen Kosaken in ihre Stanitzen (Dörfer) zurück, nehmen die Tracht und die Sitten ihrer Heimat wieder an und leben hauptsächlich von Viehzucht. Schagdurs und Tscherdons Stanitza war Ataman Nikolajewska, 200 Kilometer nordwestlich von Troizkosawsk. Diese beiden Männer wären für mich in den Tod gegangen, und ich schloß mich ebenso an sie an wie an ihre russischen Kameraden. Besonders Schagdur war das Ideal eines Menschen und ein guter, treuer Diener. —

Während meines kurzen Aufenthalts in Tura-sallgan-ui war das Wetter noch recht winterlich. Schon am 25. Februar tobte der erste wirkliche „Kara-buran“. Es war schön, im Hause sitzen zu können, während der Sturm um unsere Schilfhütten heulte und unsere einzige Pappel umzubrechen drohte. Flugsand und Staub trieben über das Eis des Tarim hin, und die Dünenwand im Süden war im Nebel gar nicht zu sehen. Am 26. fiel Schnee in Gestalt von runden Körnern, die knatternd auf das Zelttuch schlugen. Die Landschaft wurde wieder kreideweiß, und die Dünenwand sah aus wie eine schneebedeckte Bergkette. Schließlich aber wurde das Wetter schön, und ich konnte mich an die astronomischen Observationen machen; für die Kartenarbeit war Tura-sallgan-ui der wichtigste Knotenpunkt der ganzen Reise.

Am 4. März stieg die Temperatur auf +7 Grad. Der feste Eispanzer des Flusses begann allmählich porös zu werden, und das Schmelzwasser[S. 200] stand nicht nur hoch auf dem Eise, sondern strömte auch in nicht unbedeutenden Mengen von den Ufern hinab. Die im ersten Eise festgefrorene Fähre lag infolgedessen mit ihrer Reeling in gleicher Höhe mit dem auf dem Eise stehenden Wasser und war schon halb vollgelaufen.

Wo die Stromgeschwindigkeit groß war, öffnete sich wieder eine Rinne im Eise. Sirkin und die anderen wurden ermahnt, wenn die erste Frühlingsflut komme, sehr vorsichtig zu sein. Meine Kisten sollten für den Fall, daß dem Lager eine Überschwemmung drohte, an Bord gestellt werden. Falls auch die Fähre in Gefahr sein würde, sollte sie an einen sicheren Platz gebracht werden.

Kurban, der Unglücksrabe, wurde jetzt entlassen und verschwand, sobald er seinen Lohn erhalten hatte. Der junge Spitzbube verstand, sich seine Heimreise nach Kaschgar besonders bequem einzurichten. In Kutschar war er in das Serai der Andischaner gegangen und hatte sich dort als mein Expreßkurier an den Konsul vorgestellt, worauf ihm die freundlichen Kaufleute alles, was er verlangte, gegeben hatten. In Aksu war er zu der jungen Frau eines Beks in recht intime Beziehungen getreten und hatte Prügel bekommen, war aber vom chinesischen Amban, der sicher gedacht hatte, gegen den Kurier eines Europäers müsse man klugerweise höflich sein, gut behandelt worden. Aus der letztgenannten Stadt verschwand er auf einem gestohlenen Pferde. In Kaschgar erreichte seine Frechheit den Höhepunkt, indem er dem Konsul einen ganzen Räuberroman auftischte. Er hatte den Verzweifelten gespielt und erzählt, daß er von mir beauftragt worden sei, dem Konsul eine besonders wichtige Post zu überbringen, auf dem Wege aber von Banditen überfallen worden sei, die ihm die Postsachen und alles Geld geraubt hätten. Doch Petrowskij war an Räubergeschichten gewöhnt und setzte den Jüngling hinter Schloß und Riegel, um ihm Gelegenheit zu geben, über sein hartes Schicksal nachzudenken! Weiteren Gewinn hatte er von seinem Wagestücke nicht, und die Armen, die sich unterwegs von ihm hatten beschwindeln lassen, mußten allein für ihre Unvorsichtigkeit büßen und ihre Ansprüche, so gut sie konnten, mit dem jungen Kurban ausmachen.

88. Ein Tschappgan auf dem Kara-koschun. (S. 240.)
89. Im Schilf unterhalb Kum-tschappgan. (S. 240.)
90. Nordufer des Sees Kara-koschun. (S. 240.)

GRÖSSERES BILD

[S. 201]

Neunzehntes Kapitel.
Der Kurruk-tag und der Kurruk-darja.

Als das Wetter frühlingshaft zu werden begann, schickte ich Faisullah und Abdu Rehim mit den Kamelen und dem schwereren Gepäcke nach Dillpar am Kontsche-darja voraus, damit sie einen guten Weideplatz aussuchten und dort unsere Ankunft erwarteten. Ich selbst brach mit Tschernoff, Ördek und Chodai Kullu, einem Loplik, der nachher zwei Jahre in meinem Dienste war, sowie einer ganzen Schar Begleiter am 5. März auf. Diesmal nahmen wir zwei Zelte und einen Ofen mit, im übrigen aber nur das gewöhnliche Gepäck, die Instrumentkiste, zwei Kisten mit Küchengeschirr, zwei Jagdgewehre usw. Chodai Kullu galt für einen gewaltigen Jäger und hatte ein eigenes Gewehr. Weil mehrere Pferde von Jing-pen, wo die Wüste anfängt, wieder zurückgeschickt werden sollten, mußte der Dschigit Musa uns bis dorthin begleiten.

Unsere erste Tagereise auf dieser neuen Expedition führte uns nach Norden quer über das Steppenland, das sich zwischen Tarim und Kontsche-darja ausdehnt. Wir brachen spät auf, wie es der Fall zu sein pflegt, wenn man ein Hauptquartier auf längere Zeit verläßt; es ist so vieles zu ordnen und zu besorgen, und in der letzten Minute noch sind eine Menge Kleinigkeiten zu erledigen. Die drei zurückbleibenden Kosaken und die Muselmänner standen in Reih und Glied, als ich ihnen Lebewohl sagte und Parpi ermahnte, sich nicht in eine der Töchter des Landes zu verlieben — er war nämlich wegen seiner Schwäche in dieser Beziehung bekannt. Hochaufgerichtet stand er in seinem blauen Tschapan da und erwiderte lächelnd, ich könne ganz ruhig sein. Er hatte recht, seine Liebesabenteuer waren für immer zu Ende — zwölf Tage später starb er nach kurzer Krankheit und wurde feierlich auf dem stillen Friedhofe beerdigt; Eingeborene und Kameraden folgten seiner Leiche, und Stangen mit Wimpeln und Yakschwänzen schmücken jetzt sein Grab.

Er hatte also keine Gelegenheit, sich auf dieser Expedition so auszuzeichnen wie auf der vorigen, als er noch ein kräftiger Mann war, aber[S. 202] ich bewahre ihm ein gutes, freundliches Andenken. Ich habe vielleicht manchen Diener, der während meines Karawanenlebens bei mir angestellt gewesen ist, vergessen, aber die Verstorbenen vergesse ich nie; ihr Andenken liegt mir warm am Herzen, sie sind auf ihrem Posten zusammengebrochen und haben in meinem Dienste alles hingegeben, was sie besaßen — ihr Leben. Möge er sanft am Fuße der Dünen ruhen, der alte, redliche Parpi Bai. —

Es war mittlerweile dunkel geworden, bevor Faisullahs Lagerfeuer zwischen den Pappeln am Ufer des Kontsche-darja aufloderte. Der Fluß war noch fest zugefroren, und wir lagerten am linken Ufer in der Waldgegend Dillpar, wo wir auch den folgenden Tag blieben. Die uns begleitenden Beke kehrten am Morgen wieder um, und wir waren jetzt von neuem auf uns selbst und unsere Vorräte angewiesen.

Als wir am 7. März nach Nordnordost weiterzogen, war die Karawane folgendermaßen zusammengesetzt: Abdu Rehim und seine beiden jüngeren Brüder mit acht Kamelen, von denen sechs zu unserer Verfügung standen, die beiden übrigen trugen ihre Besitzer; ferner Faisullah mit unseren fünf Kamelen, Tschernoff, Ördek, Chodai Kullu und Musa mit je einem Pferde und ich auf demselben kleinen starken Schimmel, der mich durch die Tschertschenwüste getragen hatte. Jolldasch und Maschka war das Nachtwächteramt übertragen.

Unweit Dillpar kreuzten wir drei alte Betten des Kontsche-darja.

Darauf lassen wir die Wälder des Kontsche-darja hinter uns zurück und reiten auf hartem, salzhaltigem, knisterndem Boden mit spärlichen Tamarisken und einer dünnen Sandschicht. Basch-tograk ist ein kleiner Waldsee in der Einöde mit mächtigen, wenn auch niedrigen, absterbenden Pappeln (Abb. 73). Westlich davon erscheint eine in dem ebenen Terrain weithin erkennbare Tora (Wegpyramide), die auf der alten Straße gestanden hat, die von den Bewohnern des Loplandes Kömur-salldi-joll (der Weg, auf dem Steinkohlen ausgebreitet worden sind) genannt wurde und die Korla und Sa-tscheo verband und sich jetzt am Ufer des alten Lop-nor hinzieht. In „Durch Asiens Wüsten“ habe ich den Teil dieser Straße, der nach Nordwesten von Jing-pen bis Korla führt, beschreiben können. Ihre Fortsetzung nach Osten, von Jing-pen an, zu erforschen, war einer der Zwecke dieser neuen Reise.

Nachdem wir die letzten Tamarisken (Abb. 74) hinter uns haben, beginnt die von den Eingeborenen „Sai“ genannte Terrainform, die am Fuße aller zentralasiatischen Bergketten gewöhnlich vorkommt, eine fürs Auge unmerklich langsam ansteigende Bodenerhebung, hart wie Asphalt, unfruchtbar und mit feinem, dünnschichtigem Gruse bestreut. Durch den[S. 203] Boden zog sich eine trockene Erosionsfurche, die aus dem Sugett-bulak, einem Quertale des Kurruk-tag, kam, welches Tal das Ziel unserer Tagereise war; in dieser Furche fanden wir einen bequemen Weg nach dem Fuße des Gebirges.

Eben wie das Meer dehnt sich der wüste Sai um uns her aus. Fern im Süden unterscheidet man noch als dunkle Linie den Vegetationsgürtel des Kontsche. Einige scheue Antilopen entflohen bei einem Fehlschusse, sonst gab es kein Tierleben. Der Boden wird steiniger, der Anstieg nimmt zu; in dem Bette liegt Treibholz von Tamarisken und Weidenbäumen, welches eine Sil (Regenflut) mitgeschwemmt hat.

Endlich haben wir auf beiden Seiten Berge und machen in der trompetenförmigen Mündung des Sugett-bulak-Tales Halt, wo ein kleiner Bach 88 Liter Wasser in der Sekunde führt. Hier steht ein einsamer Weidenbaum, daher der Name Sugett-bulak (Weidenquelle). Wir hatten 33 Kilometer zurückgelegt; die Temperatur war auf 13,1 Grad gestiegen, und Mäntel waren nur abends nötig. Die Quelle, die den Bach speist, liegt eine Tagereise talaufwärts; es sind zwei Tagereisen bis zu den nächsten mongolischen Nomaden, die sich ständig in den größeren Tälern zwischen den Parallelketten des Kurruk-tag, wo es vorzügliche Weide geben soll, aufhalten.

Ein frischer Talwind wehte die ganze Nacht über unseren schönen, angenehmen Lagerplatz. Zum erstenmal im Jahre blieb die Minimaltemperatur über Null, nämlich auf +1,3 Grad. Unsere Tiere waren während der Nacht hoch oben im Tale umhergestreift, wo Gras und Weidenbäume wachsen, und es kostete Zeit, sie wieder herunterzutreiben.

Der heutige Tagemarsch führte nach Osten am Fuße des Gebirges entlang, wo wir unzählige trockene Erosionsfurchen überschritten. Wir sahen Hasen, Antilopen und Archaris (Bergschafe); letztere verschwanden gewandt und leichtfüßig in einer Klamm, als Tschernoff sie zu überraschen suchte. Zur Linken lösen ständig wechselnde Bergperspektiven einander ab; unzählige Gipfel werden passiert und verschwinden, und neue tauchen vor uns auf. Die dominierenden Gipfel werden von verschiedenen Punkten aus gepeilt. Die nächsten Vorberge verdecken jedoch die hinter ihnen liegenden Hauptkämme, deren Gipfel nur in den Quertälern sichtbar sind. Die Berge sind braun, violett, rot, grau und gelb in stets wechselnder Skala, die sich auch durch die Schatten verändert, welche entstehen, wenn Wölkchen unter der Sonne hinsegeln.

Zur rechten Hand fällt das Terrain langsam ab, nach der Ebene hinunter, wo der Kontsche sich nach dem Kara-köll hinschlängelt. Nach Passierung mehrerer kleiner, schwach eingeschnittener, durch Hügelreihen voneinander getrennter Betten stehen wir am Rande des besonders kräftig[S. 204] eingeschnittenen Gebirgstales Kurbantschik, das 40 Meter unter unseren Füßen liegt. Ein Bach rieselte zwischen porösen Eisschollen hin. Unser Lager an seinem linken Ufer hatte eine entzückende Lage. Im Norden öffnete sich der breite Schlund der Talmündung, im Süden standen die Jarterrassen wie dunkle Wände. Hinter einem Hügel hat sich ein kleiner Teich mit herrlichem, reinem, smaragdfarbigem Wasser gebildet, der so tief ist, daß man in seiner Mitte nicht bis auf den Grund sehen kann (Abb. 75). Ein kleiner Arm des Baches ergießt sich in ihn und tritt auf der anderen Seite wieder aus ihm heraus; es ist ein Bagrasch-köll im kleinen. Das Becken befindet sich gerade in der Mündung einer Erosionsfurche, und nach Regen muß hier ein ziemlich hoher Wasserfall herabrauschen; da aber Niederschläge in diesen „trockenen Bergen“ eine große Seltenheit sind, so kann man sich denken, welche Zeit dazu gehört, das Becken auszumeißeln. Die Berge der Umgebung bestehen aus Diorit.

Von Kurbantschik sollen es zwei Tagereisen bis an den Kamm der Hauptkette sein, wo ein Weg über einen Paß führt, der Dawan, von den Mongolen aber Többwe genannt wird. Vom Passe sind es anderthalb Tagereisen nach dem Bagrasch-köll.

Am 9. März mußten wir noch das Kurbantschiktal eine ziemliche Strecke hinabreiten, ehe wir durch ein Seitental auf seine linke Terrasse hinaufgelangen konnten (Abb. 76). In südöstlicher Richtung kommen wir über eine holperige Steppe in einen gewundenen, trocknen Hohlweg hinunter, den abgerundete Höhen von weichem Material, das jedoch weiter oben in festes Gestein übergeht, einfassen.

Tograk-bulak ist eine reizende Stelle in diesem stillen Tale (Abb. 77). Wir rasteten in einem Pappelhaine, wo es eine Quelle gab, die jetzt mit dickem Eise, aus dem dichtes Schilf hervorguckte, bedeckt war.

Stunde auf Stunde wandern wir nach Osten, zur Linken das Gebirge. Der Sai wird nicht von bedeutenderen Furchen durchschnitten, wohl aber von Tausenden kleiner Betten, die nur einen Fuß tief in den Boden eingeschnitten und mit Schutt gefüllt sind. Die Sonne ging glutrot unter, dann trat Dämmerung ein; aber noch hatten wir einen weiten Weg bis an die Bergpartie, wo die nächste Quelle sein sollte. Chodai Kullu hatte sie früher besucht und führte jetzt die Karawane. Im Dunkel der Nacht hörten wir ihn rufen, und wieder standen wir am Rande einer gewaltigen Erosionsfurche, deren Uferhang die Kamele hinunterrutschten. Es stellte sich heraus, daß wir in der Dunkelheit in ein falsches Tal gelangt waren; es war ganz unfruchtbar, und es gab dort keinen Tropfen Wasser. Doch wir hatten heute schon 42 Kilometer zurückgelegt und lagerten trotz alledem.

[S. 205]

Am folgenden Morgen machten wir die Entdeckung, daß die Quelle von Budschentu-bulak nur einen Kilometer weiter östlich lag, und die Tiere wurden daher dorthin geführt. Ich selbst wurde bei Sonnenaufgang geweckt, und zwar gründlich. Tschernoff war, wie gewöhnlich, in mein Zelt gekommen und hatte, während ich schlief, den Ofen geheizt, aber nicht darauf geachtet, daß der abwärtsgehende Talwind das Zelttuch gegen das erhitzte Kaminrohr drückte. Ich erwachte von einer unleidlichen Wärme und sah das Zelt in Flammen stehen. In demselben Augenblick stürmten auch schon die Männer herbei, rissen das Zelt um, während Tschernoff die Kisten und die herumliegenden Sachen und Papiere hinaustrug, und ich selbst warf über das Zelt eine Filzdecke, die das Feuer erstickte. Meine luftige Wohnung sah nach diesem Abenteuer wenig einladend aus; die Männer wußten jedoch Rat. Sie nahmen ein Stück Sackleinwand, schnitten die Ränder der angebrannten Stelle weg und machten das Loch mit dem Sackleinen zu. Glücklicherweise hatte das Feuer noch nichts anderes vernichten können.

Der Bach von Budschentu-bulak war in mehrere Arme geteilt, die unter einer umfangreichen Eisscholle rieselten. Wir entfernten uns jetzt von den Bergen und zogen in südlicher Richtung weiter. In der Ferne zeichnete sich die „Kona-schar“ von Jing-pen auf dem Nebel der hinter ihr liegenden Sandwüste ab. Die Ruinen lagen in einer Linie von Norden nach Süden, so daß ich sie im Vorbeiziehen alle besehen, messen und abzeichnen konnte. Die beiden ersten sind Tora oder Türme aus Lehm, 4,5 Meter hoch und 15 Meter im Umfang (Abb. 78). Ein Guristan (Begräbnisplatz) war, wie schon aus der Lage der Leichen hervorging, von Muhammedanern angelegt. Die Füße lagen nach Süden, der Kopf nach Norden und das Gesicht nach der Kibla gewendet. Die Gräber sind mit zigarrenkistenförmigen Denkmälern von an der Sonne getrocknetem Lehm geschmückt. Spätere Überschwemmungen haben die Außenseite der Terrasse, in welcher die Gräber liegen, zerstört, so daß mehrere derselben freigelegt sind und die Schädel wie aus Schießscharten in einer Mauer herausgucken. Das Skelett eines ungefähr fünfzehnjährigen Jünglings war aus seiner Grabhöhle herausgefallen; es konnte etwa 200 Jahre alt sein. Dicht daneben stand etwas, das ein „Mesdschid“ oder „Chanekah“, ein „Gumbes“ oder Monument auf dem Grabe eines Vornehmen hätte sein können und von dem nur noch drei Mauern ohne Dach standen; die vierte Mauer war anscheinend gleich dem Außenrande der Terrasse vom Wasser fortgespült worden. Die Hinterwand war 6 Meter lang, die Höhe der Mauern betrug 4,13 Meter. Um die Ruinen herum lagen eine Menge Scherben von Krügen aus gebranntem Ton, rote sowohl wie schwarze; an einigen[S. 206] von ihnen saß noch der runde Henkel. Darauf fanden wir ein Tora von 8 Meter Höhe und 31,4 Meter Umfang. Sieben solche von kleinerem Umfange thronten auf einem isolierten Hügel; entweder sind sie als Denkmäler auf den Gräbern hervorragender Persönlichkeiten errichtet worden, oder sie sind chinesische Potai (Meilensteine), die, wie noch heute an wichtigeren Plätzen, durch ihre Anzahl die Entfernung bis zur nächsten größeren Station der Gegend in Li (etwa 450 Meter) angeben.

Die interessanteste dieser Ruinen war eine Ringmauer von demselben Aussehen wie die, welche ich bei Sai-tschekke und Merdek-schahr gesehen hatte. Sie war aus an der Sonne getrocknetem Lehm erbaut, dem ein Skelett von horizontalen Balken Festigkeit verlieh, und besaß vier Tore. Der Durchmesser betrug 182 Meter, die Dicke der Mauern 11 Meter und die Höhe 6,6 Meter; die Tore lagen im Norden, Süden, Osten und Westen. Im Zentrum stand eine kleine Lehmpyramide.

Welchen Zweck eine solche Mauer gehabt hat, ist schwer zu sagen. Für eine Stadtmauer ist sie zu klein, und überdies fehlt im Innern jegliches Anzeichen von Häusern. Für eine Festung dürften die vier offenen Tore überflüssig sein. Ich bin daher eher geneigt anzunehmen, daß hier eine Art Wirtshaus oder Posthalterei gewesen und die Bewohner in Zelten oder Holzhäusern im Schutze dieser provisorischen Mauer gewohnt haben. Die Lop-nor-Straße ist wahrscheinlich mitten hindurch gegangen, denn das Ost- und das Westtor liegen gerade in der Längsrichtung dieses Weges. Alte Lopleute bewahren noch eine Tradition, wonach die große Heerstraße nach Peking über Jing-pen und weiter nach Dung-chan oder Sa-tscheo geführt habe.

Wenn wir von den Ruinen nach Jing-pen gegen Ostsüdost ziehen, haben wir weit nach rechts einen üppigen Gürtel von ansehnlichen Pappeln, der das trockene Bett begleitet, dessen Untersuchung der wichtigste Punkt des Programmes war. Alle Jäger im Lande, die es kennen, nennen es Kurruk-darja (trockener Fluß), manchmal auch Kum-darja (Sandfluß), welchen Namen auch Kosloff gebraucht.

Die Örtäng von Jing-pen ist eine chinesische Poststation, die seit einem Jahre öde und leer steht. Die Behörden versuchten vor einiger Zeit, den Verkehr auf dem alten Wege zwischen Lop und Turfan wieder ins Leben zu rufen, doch diese Straße wird äußerst selten benutzt und ist überdies überflüssig, da der Weg über Korla, wenn auch länger, viel angenehmer und bequemer ist.

Jing-pen ist eine wahre Oase, die auf allen Seiten von Wüsten eingefaßt wird; wir brauchten nicht zu fürchten, daß unsere Tiere uns während der beiden Ruhetage, die wir ihnen gewährten, fortlaufen würden. Die[S. 207] Posthalterei liegt auf einer scharf markierten Terrasse, die sich ein paar Meter über einen langgezogenen reichbewachsenen Salzsumpf erhebt.

In geographischer Hinsicht ist dieser Punkt von größtem Interesse, denn man findet bald, daß der Sumpf in der Biegung eines alten Flußbettes liegt und auf beiden Seiten, ganz wie der Tarim, mit alten Pappelgruppen eingefaßt ist. Sogar die Eingeborenen erkannten, daß wir uns hier an dem früheren Laufe jenes Flusses befanden. Weiter nach Osten hin erstreckt sich die Feuchtigkeit jedoch nicht; das Bett liegt trocken wie Zunder da, bis es sich in dem ebenso trockenen Becken des alten Lop-nor verliert. Enten, Gänse und Rebhühner bevölkern die Oase, und süßes Wasser erhält man aus einem Brunnen.

Die Temperatur stieg am 12. März auf +21,4 Grad; Fliegen und Spinnen fingen an sich zu zeigen, und mit Bangen sah ich der Zeit entgegen, da man täglich von Hitze und Insekten gequält werden und nur nachts Kühlung finden würde. Diese deutlichen Anzeichen des Sommers mahnten uns indessen, das Gepäck wesentlich zu erleichtern. Musa, der von hier mit allen Pferden, meinen kleinen erprobten Wüstenschimmel ausgenommen, und einem Kamele, das schlechten Appetit hatte, zurückkehren sollte, mußte auch meinen Pelz, meinen Regenrock, den Ofen usw. mitnehmen, was ich jedoch später bei ein paar Gelegenheiten sehr zu bereuen hatte.

Der Zweck dieser langen Rast war, daß die Tiere ordentlich weiden sollten, denn auf der ganzen Strecke nach dem Kara-koschun konnten wir nach Abdu Rehims Aussage nur an zwei Stellen gute Weide finden. Anhaltender Westwind mit 8 Meter Geschwindigkeit in der Sekunde und undurchdringlicher Nebel erschwerten jegliche Arbeit im Freien.

Doch die Stunden vergehen schnell, und am 13. März konnten wir uns wieder in Bewegung setzen. Abends sprang der Wind nach Osten um und riß um Mitternacht das Zelttuch in die Höhe, so daß es wie ein losgerissenes Segel flatterte. Darauf wurde das Zelt an der Windseite mit Stricken und Pflöcken festgemacht und auf den am Boden schleppenden Saum des Zelttuches große Lehmschollen gelegt.

Während des Tages schwoll der Wind immer mehr an und artete abends in einen vollständigen Orkan aus. Wir wanderten auf der linken Uferterrasse nach Osten; die Anordnung der Pappelgruppen bezeichnete den Verlauf des Bettes. Eine seiner Biegungen war so deutlich, daß sie gut erst im vorigen Jahre hätte verlassen worden sein können. Ihre salzige, eisfreie Wasseransammlung bildete einen Halbmond, ganz wie in den Bold-schemal des Tarim, und auf dem linken Ufer stand eine Gruppe von Pappeln mit bis zu 4,10 Meter Umfang an der Basis. Eine Schar Enten flog auf, bevor Tschernoff hatte schießen können, und die Hunde liefen sich[S. 208] außer Atem, um eine Antilope zu erjagen, die mit elastischen Sprüngen wie ein Gummiball über die Steppe flog.

Dann ist es mit Wasser und lebendem Walde vorbei — der noch vorhandene ist tot, aber die Stämme stehen noch auf ihrer Wurzel, wie Grabdenkmäler auf einem Kirchhof. Der Boden ist mit feinem, losem Staub bedeckt, der sich wie ein Kometenschwanz hinter der Karawane erhebt. Schon um 2 Uhr herrschte Dämmerung; der Sturm wurde ärger, und Abdu Rehim erklärte, daß wir Halt machen müßten, weil es den Tieren zu schwer werde, gegen diesen Luftdruck anzukämpfen. Wir machten also Halt, und es galt nur noch, einen einigermaßen geschützten Lagerplatz zu finden.

Die Lehmwüste hat hier eigentümliches Relief. Sie ist vom Winde modelliert. Würfel, Terrassen und Tische in horizontaler Lage erheben sich überall ein paar Meter hoch, und Holz von toten Bäumen liegt auf der Erde umhergestreut.

Beim Suchen nach einem geschützten Platze hätten wir einander beinahe verloren. Ich ging nach Südwest oder wurde vielmehr dorthin geweht; es ging sich so leicht, daß ich nicht merkte, wie ich mich von den anderen entfernte; doch als ich keinen geeigneten Platz fand und umkehrte, kam mir der ganze Sturm mit rasender Heftigkeit entgegen und jagte mir einen horizontalen Regen von Sand und feinem, rotgelbem Staub ins Gesicht, und von der Karawane war keine Spur zu sehen. Es war dieselbe Empfindung wie beim Gehen durch Wasser oder Schlamm, und trotz all meines Bemühens entfernte ich mich nur von den Meinen. Alle Spuren sind sofort verwischt. Augen, Mund und Nase werden von Sand und Staub verstopft, und ich mußte stehenbleiben, um Atem zu schöpfen. Da sah ich im Nebel eine Gestalt erscheinen und erkannte Tschernoff, der auf der Suche nach mir war.

Nachdem wir die anderen gefunden hatten, lagerten wir da, wo wir uns befanden. Im Schutze eines Tamariskenkegels wurde mein Zelt aufgeschlagen, wobei nur die halben Zeltstangen benutzt und ihre oberen Enden mit Tauen befestigt wurden. Die Seitenstricke wurden um massive Wurzelstämme gebunden und Stücke von trockenem Holz auf die Säume gelegt, so daß schließlich alles fest war und den Sturm aushalten konnte. Doch feiner Sand sickerte durch das Zelttuch und bedeckte das Bett und die Sachen im Zelte.

91. Transport der Kähne über Land. (S. 242.)

GRÖSSERES BILD
92. Hütten bei Jekken-öi. (S. 245.)
93. Flußmessung bei Schirge-tschappgan. (S. 246.)
94. Brücke über den Ilek. (S. 247.)

Die Männer hüllten den Kopf in den Mantel, als sie sich niederlegten; sie konnten ihr Zelt, dessen Stangen nicht zerlegbar waren, nicht aufschlagen. Die Kamele lagen in einer Reihe da, den Hals in der Windrichtung ausgestreckt und den Kopf vor dem Winde geschützt. Am Boden[S. 209] betrug die Geschwindigkeit des Windes 18,1 Meter in der Sekunde, auf einem nur 2 Meter hohen Hügel aber 26,1 Meter. Dort mußte ich auf den Knien liegen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Der Sturm kam jetzt aus Nordosten, und man konnte sich leicht davon überzeugen, was für ungeheuere Massen von Sand und Staub von diesem kräftigen Träger nach Westen und Südwesten befördert wurden. Sobald man sich nur niederkauert, wird man von den sausenden Wolken, die am Boden hinfegen und im Windschatten wirbeln, beinahe erstickt. Zweige, entwurzelte Grasbüschel und erbsengroße Sandkörner treiben im Winde und schlagen einem ins Gesicht.

In der Dämmerung schien der Sturm des Tobens überdrüssig zu sein, er schien sich die Sache zu überlegen und Atem schöpfen zu wollen; die Luft klärte sich für ein paar Minuten auf. Es berührte uns ganz eigentümlich, als wir uns überzeugten, was für Irrtümer man beim Schätzen vertikaler und horizontaler Dimensionen begeht, wenn man überall von Nebel umgeben ist. Wir hatten in einer Talmulde zu lagern geglaubt und fanden nun, daß wir uns inmitten eines wenig kupierten Geländes befanden.

Da pfiff es schon wieder um die Ecken und heulte und sauste um meine Höhle, wo ich wie in Nacht und Nebel verschwand. An Kochen des Essens war nicht zu denken, und ich mußte mich mit Wasser und Brot und dem Inhalte einer Konservendose begnügen.

Maschka und Jolldasch rollten sich jeder in seiner Zeltecke zusammen. Als ich beim Scheine der Laterne in meinem Tagebuche schrieb, trocknete die Tinte sofort von dem darauf fallenden Sand, und die Feder kratzte und quietschte in den kleinen Dünen, die sich auf dem Blatte bildeten. Die ausgepackten Sachen waren nach einer halben Stunde total verschwunden. Es war nicht besonders angenehm, sich in diesem Gestöber von Sand, von dem auch das Bett voll war, entkleiden zu müssen, und es war in der schwülen, staubschweren Luft zum Ersticken.

Woher kamen wohl diese Milliarden von Kubikmetern Luft, und wo zogen sie hin? Welche Kräfte verursachten eine so revolutionäre Umwälzung in der Atmosphäre? Hatte dies seinen Grund darin, daß die westlichen Wüsten schon stärker von der Sonne erwärmt worden waren als die östlichen, welche daher Luft liefern mußten, um den durch die aufsteigende warme Luft entstandenen leeren Raum zu füllen? Oder war es eine lokale Erscheinung, ein Wind, der kaskadenartig vom Kamme des Kurruk-tag herabstürzte, um auf anderen, höheren Bahnen wieder dorthin zurückzukehren, nachdem er hier unten die Erdoberfläche nur gestreift hatte. Man konnte es nicht wissen; sicher aber ist, daß der Wind in diesen Gegenden die stärkste physische Kraft ist, die an der Umgestaltung der Erdoberfläche arbeitet.

[S. 210]

14. März. Die Minimaltemperatur sank auf −7,1 Grad, und obgleich der Sturm bedeutend nachgelassen hatte, war es doch schneidend kalt; es war notwendig, ein ordentliches Feuer von Baumstämmen anzuzünden und dann eine tüchtige Strecke zu Fuß zu gehen — hatte ich doch meine Pelze zur Unzeit heimgeschickt.

Im Südosten des Lagers war das Bett des Kurruk-darja an ein paar Stellen noch feucht; dort wuchsen lebende Tamarisken und etwas Schilf, der Wald auf den Ufern aber war tot, teils noch auf der Wurzel stehend, teils schon umgefallen. Wir verirrten uns in einem wüsten Durcheinander von Lehmterrassen mit scharfen Kanten. Die Eingeborenen nennen sie „Jardang“, ein bezeichnender Name, dessen ich mich fernerhin auch bedienen werde. In einem solchen Terrain zu wandern, ist ermüdend und zeitraubend; man muß unausgesetzt hinauf und wieder hinunter von diesen Terrassen, die ursprünglich vom fließenden Wasser erodiert, dann aber vom Winde phantastisch und launenhaft geformt worden sind. Daher ist es nicht immer ganz leicht, ein fortlaufendes Flußbett zwischen diesen Jardang herauszufinden und zu verfolgen. Sie scheinen sich weit nach Süden hinzuziehen, wo nur ein paar isolierte Sanddünen aus der ebenen Wüste emporragen.

Weiterhin überschreiten wir wieder ein paar gut erhaltene Flußkrümmungen, deren Ufer dichter toter Wald begleitet. Die liegenden Stämme sind gewöhnlich dicker als die stehenden, die Wind und Wetter mehr ausgesetzt und der vernichtenden, feilenden Einwirkung des Flugsandes direkt preisgegeben sind. Sie stehen da wie balsamierte Mumien ehemaliger Bäume, und die Landschaft gleicht oft einem Stoppelfelde von riesigen Dimensionen. Nur längs des Laufes des Kurruk-darja tritt dieser tote Wald auf, der seinerzeit von dem trügerischen Wasser des Flusses gelebt hatte und abgestorben war, als dieses sich einen südlicheren Ablauf suchte und die neuen Seen Kara-buran und Kara-koschun bildete.

Unmittelbar zur Linken haben wir die äußersten Vorberge des Kurruk-tag. Ihre unterste Terrasse bot uns einen ebenen, bequemen Weg. Eine dominierende Bergpartie heißt Tschartschak-tag (der Berg der Müden), weil Tausende von chinesischen Soldaten, die von Turfan nach dem neuangelegten Tscharchlik kommandiert worden waren, hier gelagert und, nachdem sie ihren ganzen Proviant verzehrt, Uniform und Gewehr weggeworfen haben und nach Turfan durchgebrannt sein sollen.

Rechts zieht sich noch immer das Bett des Kurruk-darja hin, links ein anderes, dessen linke Uferterrasse außerordentlich scharf ausgeprägt ist. Wir gehen demnach auf einer langen, schmalen Erhöhung zwischen zwei Betten, von denen das linke älter ist als der Kurruk-darja; dies sah sogar Abdu Rehim ein, der wußte, daß es sich noch eine weite Strecke nach[S. 211] Osten erstreckte. Manchmal lichtet sich der tote Wald, und seine noch aufrechtstehenden Stämme haben von fern täuschende Ähnlichkeit mit Telegraphenstangen. In vor dem Winde geschützten Tälern sahen wir jetzt zum ersten Male Spuren von wilden Kamelen.

Unter den toten Bäumen kommen jetzt häufig Jiggde-Büsche (Ölweide, Elaeagnus hortensis) vor. Nach der ganz richtigen Auffassung der Eingeborenen bilden sie den besten Beweis für eine frühere Bewässerung, denn die Jiggde ist die erste unter Büschen und Bäumen, die eingeht, wenn die Bewässerung aufhört, und schon verdorrt, wenn das Wasser salzhaltig ist. Tograk (Pappeln) und Julgun (Tamarisken) sind weit zäher und leben noch lange Zeit auf den Wurzeln.

Auch heute rasteten wir in einer absolut öden Gegend, aber wir hatten sieben Tulume (Schläuche von Ziegenleder) voll Eis mitgenommen, von denen zwei täglich draufgingen, wenn die Kamele nichts erhielten.

Am 15. März herrschte wieder starker Ostwind. Seine Geschwindigkeit betrug nur 7 Meter in der Sekunde, aber er machte sich bei −1,1 Grad um 7 Uhr morgens fühlbar und drang durch unsere dünnen Frühjahrsanzüge. Selbst wenn man den halben Tag zu Fuß geht, kann man nicht warm werden. Um 1 Uhr stieg die Temperatur nur auf +6,8 Grad. In Jing-pen hatten wir bei Westwind +21,4 Grad gehabt. Es ist wahrscheinlich, daß dieses Verhältnis mit der verschiedenen Erwärmung des Kontinents in enger Verbindung steht. Im Jahre 1897 hatte ich in der östlichen Mongolei um diese Jahreszeit noch einen bitterkalten Winter mit tiefem Schnee gehabt. In den zentralen Wüsten dagegen bildet sich ein barometrisches Minimum, das seine Saugkraft auf die Randgebiete ausübt. Diese Ungleichheit des Luftdrucks ist im Frühling am größten und gleicht sich im Sommer aus. Daher treten im Lopgebiete im Frühling heftige östliche und nordöstliche Stürme ein.

Abdu Rehim kannte eine Quelle in den niederen Bergen, die wir seiner Ansicht nach besuchen mußten. Wir verließen daher den Kurruk-darja bis auf weiteres und schlugen den Weg nach Nordosten ein. Nachdem wir einen niedrigen Bergrücken passiert hatten, erblickten wir eine ausgedehnte offene Arena. Im Norden derselben sah man merkwürdigerweise kaum etwas vom Gebirge, so niedrig sind die Hügel, die sich auf dieser Seite schwach abzeichnen. Mitten in diesem flachen Kesseltale finden wir die Oase Oi-köbruk, wo Kamisch wächst. Wasser gibt es jedoch nicht, und die Vegetation lebt von den Regenfluten, die sich dann und wann hier ansammeln.

Spuren von wilden Kamelen kamen jetzt in solcher Menge vor, daß wir ihnen kaum noch Aufmerksamkeit schenkten. An einer Stelle hatte vor ein paar Tagen ein großes Tier im Sande gelegen und sich dort behaglich[S. 212] eingewühlt. Wahrscheinlich waren alle diese Wanderer auf dem Wege von oder nach Jardang-bulak gewesen, dem einzigen Punkte der Gegend, wo Wasser offen zu Tage tritt.

Ein Kamm, bestehend aus einer grobkristallinischen Gesteinsart, durchzogen von Diabasgängen, alles stark verwittert, trennte uns noch von Jardang-bulak, und nachdem wir ein unfruchtbares Gebiet überschritten hatten, lagerten wir in dem Talgange dieser Quelle.

Hier wächst auf einem ganz kleinen Flecke üppiges Schilf. Es war der eine von den beiden Plätzen, wo wir Weide und Wasser finden sollten; daher beschlossen wir, den Tieren hier zwei Ruhetage zu gewähren. Drei andere ähnliche Quellen — doch ohne nennenswerte Vegetation — liegen ganz in der Nähe. Unsere Quelle heißt Atschik (die bittere). Das Wasser derselben rieselt in einer Erosionsfurche zwischen niedrigen Granitplatten hin und trägt eine dezimeterdicke Eisdecke, deren Oberfläche wilde Kamele und Antilopen, die hier zur Tränke gegangen sind, beschmutzt haben. Das Eis mußte daher gewaschen werden, ehe wir es verwenden konnten, aber sein Schmelzwasser war vorzüglich und hatte keinen Beigeschmack, obwohl das Aräometer in dem Quellwasser direkt am Ursprung 1,012 spezifisches Gewicht zeigte.

Abdu Rehim, unser Wegweiser, ist ein gewaltiger Kameltöter; er benutzte daher den ersten Rasttag zu einem Jagdausfluge. Er blieb vierzehn Stunden fort und erzählte bei seiner Rückkehr, daß er auf ein großes männliches Kamel gestoßen sei, welches er, nach der blutigen Spur zu urteilen, schwer verwundet habe. Der Jäger hatte das Wild bis weit über den Kurruk-darja hinaus verfolgt, und es war ihm dabei mehrmals gelungen, sich dem Tiere bis auf 300 Schritt zu nähern, welcher Abstand für asiatische Flinten jedoch zu groß ist. Schließlich war das Kamel südwärts nach den ersten Sanddünen gelaufen, wo es Abdu Rehim bald aus den Augen entschwand, und da es auch zu dämmern begann, hatte er umkehren müssen. Er sagte, daß die Kamele, wenn sie verwundet worden sind, stets südwärts nach der offenen Wüste laufen, und glaubte, daß sie sich auch dann, wenn sie den Tod auf natürliche Weise kommen fühlen, nach den Dünen begeben, um dort ihr Grab zu finden. Er glaubte dies, weil er in den Bergen des Kurruk-tag selten oder nie Kamelgerippe gefunden hatte. Vielleicht wissen sie, daß, wenn ihr Todeskampf lang wird, sie sicher sein können, ihn in der Sandwüste in Ruhe auszukämpfen, während sie im Gebirge Belästigungen leichter ausgesetzt sein würden.

Abdu Rehim hatte auch ganz frische Spuren einer Herde von sieben Kamelen gesehen, eines alten Männchen mit zwei Weibchen und vier Tailak (Jungen).

Besser glückte es Tschernoff. Frühmorgens hörte ich die Männer äußerst lebhaft, aber mit leiser Stimme davon reden, daß die Hunde angebunden[S. 213] werden müßten. Darauf wurde es ganz still, und dann krachten dicht beim Lager fünf Schüsse. Mit dem Winde hatte sich ein Kamel, ohne einen Hinterhalt zu ahnen, der Quelle genähert. Tschernoff und Chodai Kullu legten an, aber das Kamel machte kehrt und entfloh, nur leicht verwundet, in östlicher Richtung. Tschernoff verfolgte es; das Tier blieb bisweilen stehen und betrachtete ihn neugierig. Auf 500 Schritt Entfernung wurde ein letzter Schuß abgefeuert und traf aufs Blatt. Das Kamel lief langsam nach Süden, fiel ein paarmal, erhob sich wieder und brach schließlich, als die Jäger ihm schon ganz nahe waren, etwa 2 Kilometer vom Lager tot zusammen (Abb. 79).

Es war ein junges Weibchen. Es hatte eine sehr weiche, feine Wolle, die jetzt, zu Anfang der Zeit des Haarens, beinahe von selbst abfiel; die Männer sammelten sie, um Schnüre und Stricke daraus zu drehen. Darauf wurde das Tier zerlegt; sein Fleisch war uns sehr willkommen, da unser Vorrat an Schaffleisch, das in den letzten Tagen schon etwas verdorben gewesen war, jetzt gerade ein Ende genommen hatte. Die Hunde hielten von den Fleischresten und Eingeweiden einen Festschmaus, und die Füchse der Gegend werden sich gewiß auch noch eingestellt haben. Am Tage darauf kreiste ein Geier über dem Platze, wo das arme Tier den Tod gefunden hatte. Abdu Rehim glaubte, daß die wilden Kamele die Gegend, wo einer ihrer Kameraden gefallen war, noch lange scheuen würden. Zum Vergleich mit dem erbeuteten Kamele habe ich eines unserer zahmen Kamele mit abgebildet (Abb. 80). Dieses Tier hatte schon 1896 an meinem Zuge durch die Kerijawüste und zum Lop-nor teilgenommen; es starb 1901 im Innern von Tibet.

Abends schoß Tschernoff ein paar prächtige Rebhühner, die uns gut zustatten kamen. Die Fleischverproviantierung ist nämlich während der heißen Jahreszeit stets eine heikle Frage. Ich hatte mit Kirgui Pavan und zwei anderen Jägern, die Jardang-bulak kannten, vereinbart, daß sie sich dort mit fünf Schafen nebst Hühnern und Eiern einfinden sollten. Da sie jedoch nichts von sich hören ließen, konnten wir nicht länger warten. Bei unserer Rückkehr erfuhren wir, daß sie zwar aufgebrochen waren, sich aber in der Wüste verirrt und während des Sturmes drei Schafe verloren hatten. Die übrigen waren halbtot, als sie endlich Jardang-bulak erreichten, wo sie auch unsere Feuerstelle fanden; da war es aber zu spät, und sie traten daher den Rückweg nach Tikkenlik an. Wir regten uns aber ihres Nichtkommens wegen nicht auf, denn wenn wir nur wohlbehalten den Kara-koschun erreichten, brauchten wir keine Not zu leiden.

[S. 214]

Zwanzigstes Kapitel.
Das gelobte Land des wilden Kamels.

Abdu Rehim gab mir manche Auskunft über die Eigenschaften des wilden Kamels, die mit dem übereinstimmte, was ich 1896 von dem alten Kameljäger am unteren Kerija-darja darüber erfahren hatte.

In der gegenwärtigen Jahreszeit muß das Kamel alle acht Tage saufen, im Winter aber kann es zwei Wochen dursten. Doch kann es auch im Sommer das Wasser einen halben Monat entbehren, wenn es saftige Weide hat. Daß es den Durst im Winter nicht länger als 14 Tage ertragen kann, hat seinen Grund darin, daß das Futter dann vertrocknet ist. Die Tiere kennen die Lage der Quellen so genau, als richteten sie sich nach Karte und Kompaß. Die Jungen sind von ihren Müttern dorthin geführt worden, und die Reliefverhältnisse des Terrains verwachsen mit ihrem Bewußtsein. Auch stark salzhaltiges Wasser saufen sie mit großem Behagen. Zwischen Tamarisken und im Schilfe, wie auch überall, wo der Schütze Deckung findet, kann er gegen frischen Wind bis auf 30 Schritt an das Tier herankommen, und im allgemeinen schießt er nicht gern aus größerer Entfernung als 50 Schritt.

Der Geruch ist der feinste Sinn des Kamels, und es soll den Menschen in einer Entfernung von 20 Kilometer wittern können; wenn es merkt, daß etwas nicht geheuer ist, entflieht es mit Windesschnelle. Gleich seinen Vettern am Kerija-darja hegt es große Furcht vor dem Rauche von Lagerfeuern. Es flieht auch vor dem zahmen Kamele mit Packsattel, ja selbst, wenn dieser abgenommen ist, denn es wittert sogleich den fremden Geruch des zahmen Kamels. Dagegen war es bisweilen vorgekommen, daß junge, noch nicht zur Arbeit verwendete Kamele sich in wilde Herden hineinverirrt und dort Aufnahme gefunden hatten. Bei einer solchen Gelegenheit hatte einmal Abdu Rehims Bruder ein seinem Vater gehöriges Kamel in dem Glauben, es sei ein wildes, geschossen. Im großen und ganzen scheinen die Kamele des Kurruk-tag dieselben Eigenschaften zu haben wie die vom Kerija-darja. Sie vermeiden bewohnte Gegenden sowie Stellen,[S. 215] welche Menschen, wenn auch noch so selten, passieren. In Verbindung hiermit sei erwähnt, daß nach Prschewalskij wilde Kamele in der Kum-tag-Wüste östlich vom Sumpfe des Kara-koschun häufig vorkamen. Jetzt fehlen sie in dieser Wüste oder sind wenigstens sehr selten geworden, was seinen Grund in dem Austrocknen des Sees, wie auch darin haben kann, daß die noch vorhandenen Wasserflächen bewohnten Gegenden zu nahe liegen.

Die wilden Kamele nähern sich einem Platze, wo Jäger gelagert haben, für längere Zeit nicht wieder. Abdu Rehim glaubte, sie würden nicht eher als nach dem nächsten Regen wieder nach Jardang-bulak kommen oder dort wenigstens nicht eher weiden, als bis die Stelle reingewaschen und jede Spur unserer Feuer fortgeschwemmt worden sei. Im allgemeinen bleibt die Kamelherde bloß 2–3 Tage an einem Platze mit Weide und sucht dann einen anderen auf. Nach einer Quelle gehen sie nur, um zu trinken, und bleiben nie länger dort, selbst wenn die Weide noch so gut ist. Mein Gewährsmann behauptete, dem Kamele sage sein Instinkt, daß es bei den Quellen die größte Gefahr laufe, mit Menschen zusammenzutreffen. Wenn es solche gesehen oder gewittert hat, flieht es mehrere Tage ohne Aufenthalt, bewerkstelligt seinen Rückzug aber im ganzen mit großer Ruhe. Findet es auf der Flucht Weide, so hält es sich dort eine Weile auf und frißt sich satt, bevor es weiterläuft. Wenn die Nacht hereinbricht, legt es sich neben eine Tamariske, wo der Boden weich ist, und setzt seine Flucht erst fort, wenn es wieder hell ist. Es frißt alles mögliche aus dem Pflanzenreiche, am liebsten aber trockene, losgerissene, vom Winde verwehte Grasbüschel. Auch die Weideplätze findet es mit überraschender Sicherheit auf und begibt sich in gerader Linie vom einen zum anderen, selbst wenn sie mehrere Tagemärsche weit voneinander entfernt liegen und die Gegend keine Anhaltspunkte für die Orientierung zu bieten scheint.

Während der Brunst, die in die Monate Dezember, Januar und Februar fällt, kämpfen die Männchen förmliche Schlachten. Sie beißen sich, wo sie sich nur treffen. Der im Streite Unterliegende muß oft einsam und allein abziehen, während dem Sieger dann bis zu acht Weibchen zufallen können. Geraten zwei gleich starke Männchen aneinander, so trennen sie sich nicht eher, als bis eines oder beide kampfunfähig geworden sind. Sie richten einander mit den Zähnen gräßlich zu und ziehen sich blutig und zerbissen zurück; oft reißen sie einander ganze Fleischstücke aus dem Leibe, und selten trifft man ein ausgewachsenes Männchen, das nicht durch scheußliche Narben entstellt ist.

Oft stößt man auf einzelne Kamele, auch auf Paare; aber Herden von 4 oder 6 Tieren sind die Regel, während Herden von 12–15 selten sind; stets ist jedoch ein starkes Männchen der Führer. Das zahme Kamelweibchen[S. 216] geht ein Jahr lang trächtig, bei dem wilden soll es 14 Monate dauern. Man ist der Ansicht, daß das zahme jeden 18. Monat ein Junges gebären kann, und zwar zum ersten Male im Alter von 8 und zum letzten Male mit 15 Jahren. Das Junge wird 40 Tage gesäugt, ehe es Gras fressen lernt, setzt das Säugen aber noch über ein Jahr fort. Bevor es anderthalb Monate alt ist, kann es mit dem Maule kaum an die Erde kommen. Bei den wilden soll es ebenso sein.

Das zahme Kamel ist bis zum Alter von 20 Jahren arbeitsfähig. Das wilde soll 50 Jahre alt werden, was jedoch unsicher und unwahrscheinlich ist. Doch Abdu Rehim hatte einmal in den Muskeln eines alten Kamelmännchens eine mongolische Kugel gefunden, deren Form erkennen ließ, daß sie dort 40–50 Jahre gesessen haben mußte, denn solange bedienten sich die Mongolen schon nicht mehr solcher Kugeln. Seinen Beschreibungen nach schienen die Kamele der Berge schwerer zu schießen zu sein als die der Takla-makan. Tschernoff glaubte, dies könne darauf beruhen, daß die Jäger des Landes weniger reichliche Pulverladung in ihren Flinten haben als wir und daß ihre Waffen unvollkommener sind. Die Kugel dringt nicht tief genug ein und bleibt oft sitzen, ohne ein empfindliches Organ verletzt zu haben.

Zwischen Jardang-bulak und Chami kommt das wilde Kamel überall vor. Es geht nach Westen hin nie über den Weg zwischen Jing-pen und Turfan hinaus. Unser Lager Nr. 6 (am 13. März) kann als sein westlichster Verbreitungspunkt im Bette des Kurruk-darja betrachtet werden. Im Kurruk-tag findet man es am häufigsten im Tale von Altimisch-bulak und östlich von diesem. Es ist aber ein unruhiges Tier, das ein Nomadenleben im großen Stile führt.

Abdu Rehim war 6 Jahre Kameljäger gewesen und hatte in dieser Zeit 13 Kamele erlegt, was darauf schließen läßt, daß sie eine keineswegs leicht zu gewinnende Beute sind. Sein Vater hatte einmal versucht, ein Junges zu fangen, um es aufzuziehen und zu zähmen. Geduldig legte er sich auf die Lauer. Sobald das Junge geboren war, witterte jedoch die Mutter Unrat, nahm das Neugeborene zwischen Hals und Kinn und entfloh mit solcher Geschwindigkeit, daß sie nicht einzuholen war.

95. Unsere Kähne auf dem Ilek. (S. 247.)
96. Pappeln am Ufer des Ilek. (S. 247.)
97. Im Schilf auf dem Suji-sarik-köll. (S. 248.)
98. Unsere Kähne bei einem Nachtlager. (S. 248.)
99. Brücke bei Tikkenlik. (S. 250.)
100. Der Kalmak-ottogo-Arm. (S. 250.)

Bevor uns der prächtige junge Abdu Rehim verläßt, seien noch ein paar Worte über seine Familie gesagt. Er ist ein Sohn des Pavans Ahmed, der seit 40 Jahren in Singer mit seinen vier Söhnen wohnt, die alle dort geboren und von denen drei verheiratet sind. Alle Bewohner des Dörfchens sind demnach Mitglieder der Familie Ahmeds. Der älteste Sohn ist Karaultschi, der vom Amban von Dural eingesetzte Stationswächter des Dorfes. Wenn in der Gegend etwas Unerlaubtes oder[S. 217] Verdächtiges geschieht, ist es seine Pflicht, darüber Bericht zu erstatten. Er ist Besitzer von 200 Schafen, die ein Mongole in der Gegend von Argan unter der Bedingung hütet, daß die Hälfte der im Jahre geborenen Lämmer dem Mongolen, die andere Hälfte aber Ahmed zufällt, welch letzterer auch noch so viel Wolle beansprucht, wie zur Herstellung von drei Kigis (Filzdecken) erforderlich ist. Den Rest darf der Mongole, der selbst große Herden besitzt, behalten.

Ferner ist Ahmed Besitzer von 27 Kamelen, mit denen er nicht selten Geschäfte macht, indem er neue ankauft, wenn sie billig sind, und sie teuer verkauft, sobald sich die Gelegenheit dazu bietet. Schließlich hat er noch 2 Pferde und 10 Kühe. Er baut Weizen, Gerste, Melonen, Zwiebeln und andere Gemüse in Singer, wo der Boden besonders ergiebig sein soll, so daß sie dort jedes Jahr auf Ernte rechnen können, während man in anderen Gegenden die Äcker einige Jahre ruhen lassen muß. Die Leute sind von ihrem Dorfe entzückt und möchten mit keinem anderen tauschen.

Abdu Rehim war ein hübscher, munterer, kräftiger und zuverlässiger Mensch, und was ich an ihm besonders schätzte, war seine Wahrheitsliebe und die Zuverlässigkeit seiner Angaben. Konnte er eine gewünschte Auskunft nicht erteilen, so antwortete er, daß er es nicht wisse. Sonst pflegen die Muselmänner in einem solchen Falle rasch eine Geschichte zu erfinden. Er besorgte seine acht Kamele mit bewundernswerter Geschicklichkeit, war überall bei der Hand, belud und lud ab wie ein Sklave und fand den geraden Weg zwischen den Quellen wie ein wildes Kamel. Ihn zu sehen, wie er sich mit der schweren, plumpen Flinte auf der Schulter auf sein Reitkamel schwang, war ein wahres Vergnügen; er war geschmeidig und stark wie ein Tiger. Jeden Abend pflegte ich ihn in mein Zelt zu rufen, um ihn eine Stunde lang über seine Erfahrungen auszuhorchen. Ich versuchte, ihn noch länger an unsere Karawane zu fesseln, aber er sehnte sich nach seinem Heim in den Bergen zurück.

Beim Aufbruch am 18. März wurden sieben Ziegenfellschläuche und zwei Säcke mit Eis mitgenommen, sowie zwei Säcke Kamisch, um an Lagerplätzen ohne Weide sparsam an die Kamele verteilt zu werden. Unterwegs sahen wir Spuren von einem alten und einem jungen Kamele, und zwar so frische, daß die Tiere am selben Morgen dort gegangen sein mußten. Tschernoff brannte vor Eifer und verschwand, von Chodai Kullu begleitet, hinter den Hügeln. Abdu Rehim ritt wie gewöhnlich an der Spitze, seine Kamele anführend, ihm folgte Faisullah mit unseren vier Tieren; ich war der letzte. Ördek ging gewöhnlich zu Fuß.

Plötzlich machte der Vortrab Halt, und die Männer saßen ab. Sie hatten ein großes, liegendes Kamel wahrgenommen. Abdu Rehim kroch[S. 218] mit der Flinte auf dem Rücken am Boden entlang. Ich schlich mich zu ihm hin und beobachtete mit dem Fernglase eine Herde, die aus einem großen schwarzen Bughra (Männchen) und fünf helleren Kamelen bestand. Das Bughra hatte sich gerade erhoben und wendete den Kopf mit aufgeblähten Nüstern unruhig und aufmerksam nach unserer Seite. Drei von den anderen lagen wiederkäuend, und zwei weideten.

Während wir anderen in einer Entfernung von 800 Schritt auf einem gutversteckten Aussichtspunkte, von dem man allen Bewegungen der Herde folgen konnte, stehenblieben, schlich Abdu Rehim nach dem Platze, wohin auch Tschernoff durch die Spuren geleitet worden war. Doch der Wind kam gerade von hier, und das Männchen witterte offenbar Unrat. Es ging nach Westen, wo die Weibchen lagen, blieb stehen, schnüffelte, den Blick unverwandt nach unserer Seite gerichtet, in der Luft und ging dann weiter; die anderen, zwei ausgewachsene Weibchen und drei Jährlingsfüllen, merkten nichts.

Jetzt krachte ein Schuß. Er traf nicht, die Entfernung war zu groß; aber, erschreckt von dem Knall, ergriff das Bughra schleunigst die Flucht. Die Weibchen zögerten einen Augenblick, schnellten darauf wie Sprungfedern in die Höhe und schwenkten in so starkem Galopp ab, daß der Staub hinter ihnen aufwirbelte. Das Bughra lief allein, die anderen dicht aneinander gedrängt 100 Schritt rechts von ihm. Ich betrachtete die Schar durch das Fernglas, aber nach wenigen Minuten waren die großen Tiere zu kleinen schwarzen Punkten zusammengeschrumpft, und nachher sah ich nur noch die Staubwolke, die ihren Weg angab. Die Tiere flohen mit großer Schnelligkeit und ohne sich zu verschnaufen; sie waren in den Wind hineingekommen, der ihnen den Karawanengeruch zuführte, und hatten die Gefahr erkannt. Abdu Rehim glaubte, daß sie drei Tage in der Sandwüste bleiben würden, ehe sie sich auf einem weiten Umweg wieder in die Berge wagten.

Sehr weit waren wir auch am folgenden Morgen noch nicht gelangt, als die Schützen wieder anhielten und nach Süden zeigten, wo ein einsames Kamel philosophierend zwischen toten Tamariskenkegeln umherspazierte. Drei Flintenläufe wurden auf das Tier gerichtet, und drei Schüsse krachten, aber die Entfernung war zu groß, und das Kamel lief in wenig hastigem Trabe nach Nordosten; dabei kreuzte es unseren Weg, so daß wir es jetzt zur Linken hatten, wo es plötzlich stehenblieb und sich die Friedensstörer der Wüste betrachtete. Daß die Hunde auf das Kamel losstürmten, ließ es sich mit merkwürdiger Ruhe gefallen. Tschernoff schoß wieder, worauf das Tier zusammenzuckte, alle Beine spreizte, den Schwanz aufrichtete und ziemlich langsam, die Hunde auf den Fersen, nach Osten lief. Verwundet war[S. 219] es, das sah man an den spärlichen Blutspuren, aber die Verwundung schien nur leicht zu sein, und es entschwand uns bald aus dem Gesichte.

Wir hatten einen neuen Beweis von der unbegreiflichen Dummheit und Unvorsichtigkeit des wilden Kamels erhalten. Das jetzt in Frage kommende schien sich außerordentlich für unsere Kamele zu interessieren und stand nach der ersten Salve einige Augenblicke ganz still. Tschernoff verfolgte es zu Pferd und näherte sich ihm auf 50 Schritt, aber die Hunde verdarben ihm die Jagd. Das Kamel, eines jener einsamen Männchen, die von einem stärkeren Nebenbuhler besiegt worden sind, war wohl gerade an die Quelle gekommen, um zu saufen. Es hatte sicherlich nur eine ungefährliche Schramme erhalten.

Zur Linken haben wir noch immer die untere Terrasse und finden auf ihr unzählige tiefe Regenwasserrinnen. Zur Rechten schlängelt sich der Kurruk-darja mit seinem toten Walde und seinen Jarterrassen. Von dieser Gegend an sind Schneckengehäuse (Limnaea) außerordentlich häufig. Hier hat es also an den Seiten des früheren Flusses Uferseen gegeben. Diese Behauptung bedarf keines anderen Beweises als des Vorkommens von Süßwassermollusken, die sich nicht in schnell strömendem Flußwasser, sondern nur in stillen Seen und Lagunen mit reichlicher Vegetation aufhalten.

Dann überschreiten wir das Bett und gehen nach Südosten, um ein Bild von dem Aussehen der Wüste nach dieser Seite hin zu erhalten. Der harte Felsboden ist außerordentlich unangenehm und höckerig. Die Jardang werden niedriger, die Furchen zwischen ihnen sind nur einen Fuß tief eingeschnitten, aber die Kamele stolpern über diese ewigen Schwellen. Sand tritt auf, bildet aber keine Dünen. Ördek fand einige Scherben eines an starkem Feuer gebrannten Tongefäßes und eine Art von Schiefer. Noch aufrechtstehende Pappelstämme sind nicht ungewöhnlich, aber sie sind tot und grau, spröde und zerbrechlich. Sie sind stets dünn, als ob nur ihr innerstes Mark der Beschädigung durch die Atmosphärilien zu widerstehen vermöchte. Der Boden ist mit Limnaeaschalen bestreut. Tschidschegan (totes Kamisch), gestutzt wie die Borsten einer Scheuerbürste, bedeckt große Flächen; es sind die früheren, üppigen Felder auf den Ufern dieses Flusses und seiner Lagunen.

Es kam uns sehr unerwartet, daß wir in einer Bodensenkung ein Dutzend lebender Pappeln fanden, die allerdings kümmerlich aussahen, aber doch Wurzeln hatten, um ihren Lebenssaft aus dem Grundwasser zu saugen. Um sie herum kreuzten sich mehrere Kamelspuren, und man sah auch die Fährte eines Wolfes, der von Süden gekommen war, wohin auch ein paar Kamelspuren gingen. Abdu Rehim glaubte, daß es nach dieser Richtung hin Weide gebe oder daß dort ein See liege. Er hatte nie vom Awullu-köll gehört und ahnte gar nicht, wie recht er hatte.

[S. 220]

Wir ziehen dann zwischen 3 Meter hohen, steil nach Westsüdwest abfallenden Dünen hindurch, die außerordentlich regelmäßig gebildet sind, eine hübsche Halbmondform haben und isoliert liegen. Im Süden dieses noch in den Windeln liegenden Übersandungsgürtels erscheinen höhere Dünen, zwischen denen jedoch noch immer toter Wald auftritt. Es war nicht unsere Absicht, uns jetzt in dieser Richtung noch weiter zu begeben, sondern wir kehrten nach Nordosten zurück und lagerten in einer wüsten Gegend, wo die Kamele, die hier in der Heimat ihrer wilden Verwandten stets angebunden wurden, Kamisch aus den Säcken erhielten.

Oft verlieren wir das alte Bett ganz, um uns dann nach stundenlangem Suchen plötzlich wieder am Rande einer Biegung zu befinden. Wahrscheinlich finden wir in dem gegenwärtigen Relief der Landschaft verschiedene hydrographische Epochen abgespiegelt. Die außerordentlich scharf markierte Terrasse am Fuße des untersten Sai ist eine Uferlinie, die seinerzeit von den Wellen eines sehr ansehnlichen Sees bespült worden ist. Dieser ist nach und nach flacher geworden und zusammengeschrumpft; die Schneckenschalen sind liegen geblieben und zeigen, welche Gegenden früher unter Wasser standen.

Die Wüste wird immer unfruchtbarer. Oft kreuzen wir nach Süden führende Kamelspuren; es ist nicht unwahrscheinlich, daß das Kamel sich nach dem Awullu-köll, der selten von Lopleuten besucht wird, zu begeben pflegt. Und dann geht unser Zug wieder durch ein Stück Flußbett, das bewundernswert deutlich ist. Es ist 94 Meter breit, 6,5 Meter tief eingeschnitten und trägt auf seinen Ufern toten Wald. Es ist ein fossiler Fluß. Nimmt man ein Stück vom Tarim, läßt sein Wasser verschwinden und seinen Wald welken und verdorren, so wird das Resultat genau dasselbe sein, das wir hier vor uns hatten.

Wir rasteten in einer Bodensenkung.

Von diesem Lager folgten wir einem Kamelpfade, der jedoch wahrscheinlich nur einmal von einer Herde benutzt worden war, denn es liegt nicht in der Natur des wilden Kamels, sich an bestimmte Wege zu halten, sondern es pflegt im Gegenteil seine Sicherheit dadurch zu vergrößern, daß es sich davon ganz unabhängig macht. In dieser Beziehung ist es schlauer als der Tiger, der sich in Fallen fangen läßt, weil er stets alte Wege benutzt.

Die Landschaft verändert sich wenig. Die Berge sehen eher aus wie eine niedrige Hügelreihe mit eingekerbtem Kamme. Toter Wald ist spärlich, aufrechtstehende Stämme selten. Rechts ein Meer von Jardang mit Milliarden von Schneckenschalen. Ördek fand einen Tonkrug, Stücke einer großen Schüssel mit einem glasierten Rankenornament und ein Stück von[S. 221] einem großen Kupferkessel mit horizontal umgebogenem Rande. Hier hat ein Gehöft oder ein kleiner Weiler gelegen; jedenfalls zeigte der Fund, daß die Gegend bewohnt gewesen ist. Die Gefäße waren chinesische Arbeit.

Während des heutigen Tages hörte das Bett des Kurruk-darja ganz auf, und der Boden, den wir jetzt betraten, war ehemals vom Wasser des alten Lop-nor-Sees überschwemmt. Daher endigte der Wald hier, die Schnecken aber waren noch zahlreicher als früher. Die Jardang bildeten jetzt ein paar Meter breite und einen Meter hohe Rücken von ziemlich festem, horizontal geschichtetem gelbem Tone, deren Richtung Nordost-Südwest war und die einander bis ins Unendliche folgten. Furchen oder Rinnen von derselben Breite und Tiefe trennten sie voneinander. Die Richtung dieser eigentümlichen Bodenform läßt uns vermuten, daß sie ausschließlich ein Werk des vorherrschenden Nordostwindes ist, dessen Flugsand an dem leicht vergänglichen Tone beständig feilt und frißt. Alle Ränder und Seiten dieser langen Tafeln zeigen deutlich vom Winde abgeschliffene Flächen. Anhäufungen von Treibsand fehlen jedoch, weil der See erst vor relativ kurzer Zeit verschwunden ist. Marco Polos Behauptung, daß zur Durchquerung der Lopwüste ein Jahr erforderlich sei, ist nicht so übertrieben, wenn man bedenkt, daß dazumal Kara-buran und Kara-koschun noch nicht existierten und man also von der Takla-makan bis nach der Mandschurei von einer ununterbrochenen Wüste sprechen konnte.

Unweit des Lagers Nr. 12 wurden dicke, graublaue Scherben von einem großen Tongefäße mit kleinen Henkeln gefunden. Es war das dritte Mal, daß wir an diesen ausgetrockneten Wasserwegen Spuren von Menschen fanden. Der Boden ist hier und da mit Salzablagerungen bedeckt, an denen man sieht, daß der See, nachdem er seines Zuflusses beraubt worden war, allmählich salzig geworden ist. Daß die Salzschichten so selten sind, hat seinen Grund darin, daß der Wind die Oberschicht des Bodens beständig abhobelt.

Jetzt galt es, Altimisch-bulak (die sechzig Quellen) zu finden. Wir schlugen daher den Weg nach Nordnordost ein, die niedrigen Ausläufer und Hügel des Kurruk-tag ersteigend, von wo aus der Blick sich auf der absolut ebenen, aber rauhen Fläche der Wüste verliert. Nur zweimal während aller seiner Wanderungen in diesen Gegenden hatte Abdu Rehim fern im Süden einen schneebedeckten Kamm gesehen, aber er hatte nie etwas vom Astin-tag gehört.

Gegen Abend erhob sich ein heftiger Nordwind; der Himmel bedeckte sich mit Wolken, und es war bei der herrschenden Finsternis nicht möglich, die Quelle zu finden, weshalb wir nach einem Marsche von 38 Kilometer in einer gänzlich unfruchtbaren Tonwüste lagerten. Seit fünf Tagen hatten[S. 222] wir keinen Tropfen Wasser gefunden, und das bißchen, das sich noch in den Schläuchen befand, war verdorben. Der Fleischvorrat war auch zu Ende, und die Bewirtung fiel an diesem Abend kärglich aus.

Der Wind hielt die ganze Nacht an; das Zelttuch war straffgespannt, es flatterte und riß an den Tauen, und ich hatte alle meine Papiere und Karten eingepackt, denn wenn der Wind das Zelt umstürzte, wären sie fortgeflogen und nicht wieder zu erlangen gewesen. Noch am Morgen betrug die Windstärke 11 Meter in der Sekunde.

Als ich bei Tagesanbruch aus dem Zelte trat, lag eine trostlose Landschaft vor mir. Im Nordosten erstreckt sich ein niedriger Rücken, im Südosten fällt das Terrain nach der Wüste ab, im übrigen sieht man in weiter Ferne unbedeutende Kämme und Landrücken; der Boden ist mit Schutt bedeckt, keine einzige Pflanze; alles ist verwittert, kahl und öde. Die Chinesen haben diese Landrücken auf ihren Karten nicht als Gebirge verzeichnet, nur der Hauptkamm weit hinten im Norden ist darauf angegeben.

Heute war es Melik Ahun, Abdu Rehims Bruder, der den Zug führte. Schweigend und ruhig thronte er auf seinem hohen Kamele an der Spitze, den ganzen Zug hinter sich, wie ein Lotse ein ganzes Geschwader leitet.

Nachdem wir einen Hügel passiert hatten, erblickten wir ein großes, offenes Feld, und in der Mitte desselben glänzte der Boden gelb — es war die gesegnete, herrliche Oase Altimisch-bulak!

Mit ihren durch ständiges Leben im Freien geschärften Augen hatten Abdu Rehim und Melik sogleich eine am Ostrande weidende Kamelherde erblickt — ich konnte die Tiere kaum mit dem Fernglase erkennen. Jetzt übernahm der erfahrene Kameljäger die Führung und gab der Karawane Anweisung, einen Umweg hinter einem niedrigen Bergrücken herum zu machen. Abdu Rehim und Tschernoff eilten nach dem Kamischfelde der Oase; ich folgte ihnen, um mir den Verlauf der Jagd als passiver Zuschauer anzusehen. Wir kreuzten das Bächlein der „sechzig Quellen“, wo, wie unser Wegweiser schon vor einem Monate richtig prophezeit hatte, noch große schöne Eisschollen lagen (Abb. 81) und gingen dann in das Schilf und die Tamarisken hinein.

Auch diese Herde bestand aus einem großen dunkeln Bughra und fünf hellen Kamelen; vielleicht war es dieselbe, die wir schon gesehen hatten. Das alte und eines der Jungen weideten eifrig, die übrigen lagen, die Köpfe uns zugewandt. Wir waren 300 Schritt von ihnen entfernt und der Wind kam gerade von ihnen, weshalb weder Gehör noch Geruch sie warnen konnte; für uns war es das Wichtigste, uns nicht sehen zu lassen. Eigentlich war es feige, sich auf diese Weise an die edeln Tiere heranzuschleichen und sie aus dem Hinterhalte zu überfallen.

[S. 223]

Mich interessierte es am meisten, möglichst viel von ihren Bewegungen und Gewohnheiten im Freien zu sehen, aber ich wollte den Männern nicht das Schießen verbieten, denn dies würde in der Karawane Unzufriedenheit und Ärger erweckt haben, die verdrießliche Folgen haben konnten. Dazu kam, daß Abdu Rehim Kameljäger von Beruf war. Die Muselmänner besitzen keine Spur von Gefühl für die Leiden eines Tieres und hätten das Verbot sicherlich als einen gegen sie selbst gerichteten launenhaften Einfall aufgefaßt. Für einen Jäger mußte auch die Jagd auf ein solches Tier ein Fest sein, das sah man unseren Schützen an; sie sahen und hörten nichts anderes, wenn sie Kamele beschlichen, und ihre Augen strahlten vor leidenschaftlicher Freude. Ich aber seufzte erleichtert auf, wenn sie fehlten, denn meine Sympathien waren ganz auf seiten der Kamele. Diesmal stand es jedoch in den Sternen geschrieben, daß ein unschuldiges Leben erlöschen sollte.

Abdu Rehim bat uns, dort, wo wir uns befanden, zu warten, während er einen großen Umweg machte, um ungesehen an einer Lücke im Dickicht vorbeizukommen. Lautlos und unsichtbar wie ein Panther glitt er durch die Büsche; wir konnten weder sehen noch hören, wo er blieb. Mittlerweile hatte ich vortreffliche Gelegenheit, die Bewegungen der Tiere zu beobachten. Die beiden Weidenden gingen mit gesenktem Kopfe, erhoben ihn manchmal, wenn das Maul voll war, kauten langsam und kräftig, so daß das dürre Kamisch zwischen den Zähnen knisterte, und ließen den Blick über den offenen Horizont gleiten. Sie zeigten keine Spur von Unruhe und hatten keine Ahnung von dem, was ihnen bevorstand.

Jetzt krachte Abdu Rehims Flinte, und fünf Kamele liefen in langsamem Trab auf unsere Büsche zu; doch wahrscheinlich hielten sie den Punkt für verdächtig, denn sie machten plötzlich kehrt und rannten in wildem Laufe bergauf, gerade gegen den Wind. Dies war eine ebenso kluge wie natürliche Strategie, denn gegen den Wind wittern sie die Gefahr, während in der entgegengesetzten Richtung alle möglichen Fallstricke verborgen sein können.

Das jüngere weidende Kamel hatte eine Kugel in den Bauch erhalten und bekam eine zweite in den Hals, als es sich erhob, um sich den anderen zuzugesellen.

Als wir es erreichten, lag es auf allen vier Knien und kaute an dem, was es noch zwischen den Zähnen hatte. Manchmal erhob es sich auf den Hinterfüßen, fiel dann aber, weil ihm die Vorderbeine den Dienst versagten, auf die Seite. Der Blick war ruhig und resigniert, ohne Furcht oder Verwunderung; nur wenn man ihm über die Nase strich, versuchte es zu beißen. Es glich auffallend den zahmen Kamelen aus Singer und hatte gerade angefangen, Wolle zu verlieren. Nachdem es von verschiedenen Seiten photographiert worden war (Abb. 82), öffnete ihm Abdu mit einem kräftigen[S. 224] Schnitte die Adern am Halse; das Blut spritzte in einem dicken Strahle heraus, es folgten einige Todeszuckungen, und dann ging dieser Sohn der Wüste, der noch vor ein paar Minuten so friedlich und ruhig in dieser einsamen Gegend geweidet, in die ewigen Weidegründe ein. Die anderen waren unseren Blicken schon entschwunden. Abdu Rehim war selig, seinen alten Vater nun mit einem großen Vorrate von Kamelfleisch überraschen zu können.

Das erlegte Kamel war ein etwa vierjähriges Männchen. Wie bei den zahmen, kann man bei den wilden Kamelen das Alter mit ziemlich großer Sicherheit am Aussehen der Vorderzähne erkennen. Daß es bei einer Herde weilte, in der ein Bughra das Szepter führte, läßt sich dadurch erklären, daß es ein für allemal durch einen scheußlichen Biß in den Nacken gezüchtigt worden und überdies noch so jung war. Sonst weiden Bughrakamele nur während des Sommers friedlich zusammen, in der Brunstzeit duldet keines ein anderes Männchen in seiner Nähe.

Die Kamele aus Singer wurden nachts angebunden und tags bewacht, sonst wären sie heimgelaufen. Ihr Ortssinn ist scharf entwickelt, und sie würden sich selbst dann dorthin finden, wenn man sie in eine ihnen ganz unbekannte, dreißig Tagereisen von Singer entfernte Gegend führte. Abdu versicherte, es seien die Kamele gewesen, die uns im Dunkeln an jenem Abend, als wir in der Steinwüste lagerten, direkt nach Altimisch-bulak geführt hätten, und sie würden sicher weitergegangen sein und die Quelle gefunden haben, wenn ich nicht Halt kommandiert hätte.

Der Reichtum an wilden Kamelen am Fuße des Kurruk-tag wechselt in verschiedenen Jahren sehr. Werden sie in der Gegend von Luktschin sehr von Jägern bedrängt, so begeben sie sich hierher und umgekehrt. In diesem Jahre waren sie zahlreich. Läßt man sie in Ruhe, so besuchen sie die Quellen alle drei Tage. Eine Herde von acht Kamelen kam von Süden her an die unterste Eisscholle, um Eis zu kauen. Die Männer kamen mit ihren Flinten erst dorthin, als die Tiere schon wieder fort waren.

101. Jugend am Ufer des Tarim. (S. 254.)
102. Malenki und Maltschik. (S. 254.)
103. Dünen auf dem rechten Tarimufer. (S. 258.)
104. Gewaltige Sanddünen am rechten Tarimufer. (S. 258.)

GRÖSSERES BILD

[S. 225]

Einundzwanzigstes Kapitel.
Der frühere See Lop-nor.

Unsere Zelte wurden zwischen Tamarisken und Schilf unmittelbar neben der Quelle aufgeschlagen. Nach der Wüstenwanderung war dies ein reizender, einladender Lagerplatz, und ein Genuß war es zu sehen, wie die Kamele und mein Pferd in der üppigen Weide schwelgten und von Zeit zu Zeit an die Quelle kamen, um an der Eisrinde zu knabbern. Hier wollten wir einige Zeit bleiben, um die Tiere zu der bevorstehenden Wüstenreise nach Süden Kräfte sammeln zu lassen. Wir selbst litten beinahe Mangel an Nahrungsmitteln. Reis und Brot waren allerdings noch im Überfluß vorhanden, aber bekommt man weiter nichts, so wird das Menü sehr einförmig. Tschernoff und ich konnten uns nicht überwinden, Kamelfleisch zu essen, das den Muselmännern jedoch gut schmeckte.

Die Leute aus Singer sehnten sich nach Hause, aber es gelang mir dennoch folgendes Übereinkommen mit ihnen zu treffen. Melik und sein jüngerer Bruder sollten mit vier Kamelen in Altimisch-bulak bleiben, während Abdu uns mit den übrigen vier Kamelen zwei Tagereisen weit begleitete, um unseren Kamelen die Last zu erleichtern und Säcke mit Eis zu transportieren. Weiter wagte er nicht mitzukommen; er hatte riesigen Respekt vor der Wüste, die er nicht kannte.

Vom 23.–27. März blieben wir in dieser wunderbaren Oase, der herrlichsten, die ich je besucht hatte. Nach dem angestrengten Marsche von Jardang-bulak hierher war es schön sich auszuruhen. Die Atmosphäre war in Aufruhr, aber das genierte mich wenig; mein Zelt war von undurchdringlichem Kamisch und Tamarisken umgeben, und lieblich klang es, wenn der Wind durch das Dickicht ringsum sauste und pfiff.

Unsere Jäger streiften nach Wildenten und Antilopen umher, aber mit beiden Wildarten war es hier gleich schlecht bestellt. Ein einsames Kamel kam von Nordwesten nach der Quelle herunter; einige von Abdus Kamelen wurden, von ihren Packsätteln befreit, auf den Sai getrieben und gingen dem wilden neugierig entgegen. Es näherte sich vorsichtig, beobachtete[S. 226] unverwandt die unseren und hatte entschieden die Absicht, sich zu ihnen zu gesellen. Dann aber kam es auf andere Gedanken, kehrte um und verschwand im Westen.

Nur ein Fuchs, der an der Kamelleiche geschmaust hatte, wurde die Beute der Jäger. Er hatte ein großes Fleischstück im Maul und wollte damit wohl in seinen Bau gehen, als er statt dessen ins Gras beißen mußte.

Ich benutzte die Ruhetage zu einer astronomischen Beobachtung in mehreren Serien und zum Lesen. Die Luft fing an, frühlingshaft zu werden. Am 25. hatten wir mittags +17,2 Grad, obgleich die Minimaltemperatur in der Nacht vorher auf −7,1 Grad heruntergegangen war. Abdu Rehim bereicherte meine Kenntnisse in der Geographie der Gegend und zählte die Namen aller Quellen, die er kannte, auf, wobei er auch ihre Lage zueinander genau beschrieb. Von der Zuverlässigkeit seiner Angaben erhielt ich ein Jahr später deutliche Beweise. Er sagte mir nämlich, daß er nach Osten hin nur drei namenlose Quellen in einer Entfernung von zwei kleinen Tagereisen jenseits Altimisch-bulak kenne. Ich fand sie alle drei, und sie retteten uns im rechten Augenblick aus einer kritischen Lage. Ferner beschrieb er alle alten Wege, die er im Kurruk-tag kannte. Sie werden durch Steinpyramiden bezeichnet, welche die Singerleute „Ova“ (das mongolische Wort „Obo“) nennen. Ein solcher Weg führte über Singer nach Südsüdwest und ist wahrscheinlich mit dem alten Weg der chinesischen Steuereinnehmer nach dem Lop-nor identisch.

Nachdem alle Vorbereitungen getroffen, ein großer Eisvorrat und vier Tagare (Säcke) Kamisch beschafft worden waren, brachen wir am Morgen des 27. März wieder auf.

Unsere Absicht war, die Lopwüste von Norden nach Süden zu durchqueren und dabei einen klaren Überblick über die Ausdehnung des früheren Sees und unwiderlegliche Beweise für das Vorhandensein des Seebeckens zu erhalten. Schon durch den Marsch im Bette des Kurruk-darja und die Feststellung, daß dieser schließlich in einen See mündete, war die Richtigkeit der chinesischen Karten, sowie der Ansichten v. Richthofens und meiner eigenen in dieser geographischen Streitfrage bewiesen worden; es blieb nur noch übrig, ein Profil der Gegend, wo der See sich früher ausgedehnt hatte, zu erlangen.

Mit eigentlichen Gefahren war diese neue Wüstendurchquerung nicht verknüpft. Die Entfernung nach dem Kara-koschun, wo wir Wild und weiter westwärts auch Lopfischer finden sollten, ließ sich in einer Woche zurücklegen, und selbst wenn der mitgenommene Wasservorrat sich als unzureichend erwies, würden wir kaum vor Durst verschmachten können. Die[S. 227] Tagare waren so dicht mit Eis gefüllt, daß alle Ecken straff gespannt waren; doch wie wir sie auch vor der Sonne zu schützen suchten, ein paar Eimer vertropften wohl während des ersten Tagemarsches.

Wir zogen das Bett des Rinnsals von Altimisch-bulak hinunter nach Ostsüdost. Der Quellbach verschwindet schon etwa 100 Meter vom Lager unter Sand und Schutt. In einer gleich links liegenden Rinne, wo auch eine kleine Quelle aufsprudelte, ließ sich gerade, als wir dort vorbeizogen, eine Schar Enten nieder. Tschernoff schlich sich mit der Doppelflinte dorthin und erlegte fünf Stück mit einem Schusse; sie waren recht fett und eine willkommene Verstärkung unseres mageren Proviants.

Die 30 Kilometer lange Tagereise führte uns vom Fuße des Gebirges auf die ebene Wüste hinunter, wo Tonformationen drei verschiedene Stockwerke bilden. Das unterste bilden die Bodenfläche oder die Rinnen, in denen wir nach Südwesten hinziehen, das mittlere die gewöhnlichen Jardang von 2 bis 3 Meter Höhe, welche die Hälfte des ganzen Wüstenareales einnehmen; das oberste besteht aus mächtigen Tischen, Türmen und Würfeln von rotem Tone, die sich 15–20 Meter über den Boden erheben und östlich von unserem Wege am zahlreichsten sind. Sie stehen hier in langen Reihen und sehen Mauerruinen so täuschend ähnlich, daß wir sie ein paarmal ganz nahe betrachten mußten, um uns vom Gegenteil zu überzeugen.

Es ist beachtenswert, daß die Rinnen zwischen den Jardangrücken in jeder Hinsicht den Bajiren der Tschertschenwüste entsprechen. Beide eigentümliche Terrainformationen verdanken ihre Entstehung dem Winde.

Nach Osten hin erscheint keine eigentliche Fortsetzung des Kurruk-tag, sondern nur ein isolierter Bergstock. Ich hatte allen Grund, die gewaltige Bergkette, die in dieser Richtung auf unseren Karten des innersten Asien angegeben ist, schon jetzt als apokryph zu betrachten.

Die Wüste ist gänzlich unfruchtbar, nicht einmal dürres Holz kommt vor. Schnecken liegen hier und dort, aber nirgends so zahlreich wie weiter westlich.

Während des Marsches am 28. veränderte sich das Aussehen des Seebeckens. Schnecken wurden immer zahlreicher, und toter Wald trat wieder ziemlich häufig auf. In den Tonablagerungen sind noch zwei Stockwerke zu unterscheiden. Sie lassen verschiedene Perioden und den verschiedenen Wasserstand in dem früheren See erkennen und enthalten auch Schneckenschalen. In dem Maße, wie der Wind an dem Tone frißt und zehrt, fallen die Schnecken heraus, und der Boden ist oft ganz weißpunktiert von ihnen. Eine dünne Sandschicht, selten einen[S. 228] Fuß dick, bedeckt stellenweise den Boden. Eine kleine eiserne Tasse wurde gefunden, und Scherben von Tongefäßen sind so häufig, daß wir ihnen gar keine Aufmerksamkeit mehr schenken. Darüber steht toter Wald in einem Gürtel, den man deutlich nach beiden Seiten verfolgen kann und der eine wichtige, lange bestehende Uferlinie des Lop-nor bezeichnet.

So schritten wir zwischen den Tonrücken hin, während das Wasser in beunruhigender Weise aus den Eistagaren tropfte. Es war erst 3 Uhr, als Tschernoff und Ördek, die zu Fuß vorausgingen, um den besten Weg auszusuchen, stehenblieben und uns zu sich riefen. Sie hatten die Ruinen einiger Häuser gefunden!

Die Rinne, der wir gefolgt waren, hatte uns gerade zu dieser merkwürdigen Entdeckung hingeführt; wären wir einige hundert Meter westlicher oder östlicher in die Wüste hineingezogen, so hätten wir die Ruinen nicht sehen können, um so mehr als sie dem gewöhnlichen toten Walde so sehr glichen, daß man dicht davor stehen mußte, um zu erkennen, was es war: menschliche Wohnungen am Nordufer des Lop-nor!

Natürlich schlugen wir sofort das Lager auf und sahen uns den Platz erst flüchtig an, um einen allgemeinen Überblick zu gewinnen. Drei Häuser hatten hier gestanden, aber ihre mächtigen Balken und Pfosten, ihre Dächer und Bretterwände waren eingestürzt, arg von der Zeit und den Stürmen mitgenommen und teilweise im Sande begraben. Die Grundbalken hatten jedoch ihre Lage noch beibehalten, so daß ich leicht einen Grundriß der Häuser zeichnen und ihre Maße nehmen konnte.

Ein Umstand, der sogleich ein recht bedeutendes Alter angab, war, daß die Gebäude auf Tonsockeln (Abb. 83) standen, die 2½ Meter hohe Hügel bildeten, an Areal und Form gleich der unteren Fläche der Häuser. Ursprünglich waren diese auf ganz ebenem Boden erbaut gewesen, welcher aber, nachdem er ausgetrocknet, vom Winde so ausgehöhlt und abgefeilt worden war, daß nur die von den Häusern geschützten Teile stehenblieben. Scherben von Tongefäßen und kleine irdene Tassen, wie sie noch heute vor den Buddhabildern oder an anderen heiligen Orten hingestellt werden, lagen massenweise umher. Auch einige chinesische Münzen und ein paar eiserne Äxte wurden gefunden.

Bei dem östlichsten dieser drei Häuser fanden wir beim Graben verschiedene merkwürdige Holzschnitzereien, die zur Verzierung seiner Wände gedient hatten. Darunter war das Bild eines Königs mit einer Krone auf dem Kopfe und einem Dreizacke in der Hand, sowie ein Mann mit einem Kranze, außerdem allerlei Muster und Ornamente, Gitter und Lotosblumen, alles kunstfertig geschnitzt, aber sehr von der Zeit mitgenommen.[S. 229] Von den verschiedenen Mustern wurden Proben beiseite gelegt, die um jeden Preis mitgenommen werden mußten.

In Südosten erhob sich ein Tora, das wir besuchen mußten, um nachzusehen, ob auch dort Entdeckungen zu machen wären. Es war kuppelförmig und teilweise eingestürzt; wahrscheinlich war es ein Weg- oder Signalzeichen gewesen (Abb. 84). Drei andere ebensolche bildeten mit dem ersten dieselbe Figur wie die vier Hauptsterne im Sternbilde des Löwen; die Entfernungen zwischen ihnen betrugen 5–7½ Kilometer. Weitere Spuren von alten Häusern trafen wir nicht. Die Nacht hatte schon ihren dunkeln Schleier über die Wüste gebreitet, als wir nach dem großen Signalfeuer des Lagerplatzes zurückkehrten, müde und erschöpft von dreistündiger Wanderung auf ungünstigem Terrain, denn alle die unzähligen Jardang mußten unter rechten Winkeln gekreuzt werden.

Indessen hatten wir so durch eine glückliche Fügung die Fortsetzung des Kömur-salldi-joll gefunden, jenes alten Weges, der von Korla am Nordufer des Lop-nor entlang nach Sa-tscheo und Peking führte.

Abdu Rehim sollte uns jetzt verlassen und seine Bezahlung erhalten. Sein Lohn belief sich auf 1½ Jamba, was allerdings viel war, aber durch seine vortrefflichen Dienste und die unschätzbaren Aufklärungen, die er mir gegeben hatte, mehrfach aufgewogen wurde. Chodai Kullu erhielt den Auftrag, ihn nach Altimisch-bulak und Singer zu begleiten und sich von dort mit den Holzschnitzereien auf irgendeine Weise nach Tura-sallgan-ui zu begeben. Er entledigte sich seines Auftrages wie ein ganzer Mann und erreichte das Hauptquartier lange vor uns. Als er dort ankam, erzählte er, er habe in Altimisch-bulak ein Kamel getötet, wurde aber gehörig ausgelacht, da man dies für erlogen hielt; keiner von uns hatte ihn auch nur einen Hasen töten sehen. Er hatte jedoch später Gelegenheit, nicht nur zu beweisen, daß er die Wahrheit gesprochen, sondern auch, daß er ein sehr guter Schütze war.

Am folgenden Morgen zogen die beiden Männer nach Norden. Sie sollten versuchen, in einem Tage nach Altimisch-bulak zu kommen, denn sie erhielten keinen Tropfen aus unserem Vorrat, der schon so klein war, daß ich leider nicht noch einen Tag an dieser interessanten Stelle bleiben konnte. Die Karawane war jetzt noch mehr zusammengeschmolzen. Ich hatte nur Tschernoff, Faisullah und Ördek, vier Kamele, ein Pferd und zwei Hunde bei mir.

Wir brachen sehr spät auf, denn der halbe Tag ging mit verschiedenen Nacharbeiten bei den Ruinen hin. Einige Einzelheiten wurden abgezeichnet, ein paar Ansichten aufgenommen und die Maße gemessen.

[S. 230]

Das kleinere Haus, das, seiner Ausschmückung und dem Vorkommen der Opfertassen nach zu urteilen, ein Tempel gewesen war, maß an den Seiten 5,6 und 6,6 Meter.

Das größere Haus hatte in seinem Grundriß die Dimensionen 52,4 × 18 Meter; seine Längsrichtung war Südwest nach Nordost. Seine Grundbalken waren über den Hügel, an dem der Wind ständig zehrt, vorgeschoben. Das Haus war in mehrere Zimmer von verschiedener Größe geteilt gewesen. Wie der Sand das Bauholz konserviert, sah man leicht daran, daß verschüttete Teile sehr gut erhalten, die freiliegenden aber übel zugerichtet, porös und oft an den Enden besenförmig aufgesprungen sind. An viereckigen Löchern in Balkenrahmen (Abb. 85), in welche vertikale Eckpfosten hineinpaßten, sah man sogar die Striche des Stiftes, mit dem die Form der Löcher einst aufgezeichnet worden war. Mehrere solche Pfosten waren hübsch verziert und so rund gedrechselt, daß sie einer Menge übereinandergestellter Kugeln und Scheiben glichen.

Einer der äußeren Räume hatte wahrscheinlich als Schafstall gedient, denn dort lag eine fußdicke Schicht von Schafdung. Dieser wird von den Chinesen zur Feuerung benutzt, aber in einer so holzreichen Gegend, wie die Uferwälder des Lop-nor es gewesen sind, wäre eine solche Sparsamkeit überflüssig gewesen. Alle Dachteile lagen in je einem Haufen auf der Westseite der Häuser. Der letzte Oststurm, dem sie nicht länger hatten widerstehen können, hatte sie dorthin geschleudert. Alles Bauholz war Pappelholz aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Nach der Bodengestalt zu urteilen, hatten diese beiden Gebäude und ein drittes, das beinahe zerstört war, auf einer Halbinsel in einem See oder auf einer Landenge zwischen zwei Seen gelegen. Man hat allen Grund zu der Vermutung, daß der Verlauf der Uferlinie beim Lop-nor ebenso unregelmäßig und launenhaft gewesen ist wie beim Kara-koschun.

Man wird fragen, welchen Zweck diese Häuser erfüllt und was für Leute sie erbaut und dort gelebt haben. Mein erster Eindruck war, daß sie eine „Örtäng“ oder größere Poststation auf der Straße nach Dung-chan (Sa-tscheo) gebildet haben. Eingehenderes darüber behalte ich mir für ein späteres Kapitel vor.

Während ich und Tschernoff mit Messungen beschäftigt waren, hatten die beiden anderen Männer von frühmorgens an die Umgegend abgestreift, ohne noch mehr Entdeckungen zu machen. Daher wurden die Kamele beladen, und wir zogen nach Südwesten, in einer durch die Lage der Jardang mit absoluter Notwendigkeit vorgeschriebenen Richtung; wir mußten den zwischen ihnen vom Winde ausgemeißelten Furchen sklavisch folgen. Die Schwellen werden jedoch allmählich niedriger, und unausgebildete Dünen[S. 231] treten auf. Toter Wald ist sehr häufig, aber er steht in Gehölzen, die sicher Inseln in dem alten See gewesen sind. Welch ein Unterschied gegen den Kara-koschun, an dem es jetzt keine einzige Pappel gibt. Milliarden von Schnecken liegen umher, und die harten, scharfen Kamisch- und Binsenstoppeln sind nicht gut für die Fußschwielen der Kamele. Solche Kamischstoppeln werden auch stehenbleiben, wenn der Kara-koschun einst austrocknet.

Darauf hört der Sand wieder auf; es war nur ein erster Gürtel, den wir eben gekreuzt hatten. Alles ist tot und öde, erstickt und verdorrt in dieser Gegend, die früher so reich bewässert und so reich an üppiger Vegetation war.

Nach einer Wanderung von 20 Kilometer blieben wir in einer unbedeutenden Bodensenkung, wo ein paar lebende Tamarisken wuchsen und wir also Hoffnung hatten, an das Grundwasser zu kommen. Als aber der Brunnen gegraben werden sollte, stellte sich heraus, daß der Spaten bei den Ruinen vergessen worden war. Ördek, der sich diese Nachlässigkeit hatte zuschulden kommen lassen, erbot sich sofort, ihn zu holen.

Ich hatte großes Bedenken, ob ich ihm erlauben sollte, allein einen so weiten Gang zu machen, noch dazu in einer Jahreszeit, wo man nie vor Sandstürmen sicher ist; da aber unser Wasservorrat gering war und der Spaten für uns alle noch von unschätzbarem Nutzen sein konnte, sagte ich ihm, er solle sich aufmachen und unseren Spuren folgen. Doch sollte er sich erst durch ein paar Stunden Schlaf stärken, und ich ermahnte ihn, wenn er uns nicht wiederfände, nur gerade nach Süden zu gehen, da er dann früher oder später das Ufer des Kara-koschun erreichen würde. Wir selbst konnten nicht auf ihn warten, um ihm aber seine Aufgabe zu erleichtern, gab ich ihm das Pferd. Nach einem tüchtigen Abendessen ritt er um Mitternacht durch die Wüste nach Norden zurück.

Was ich gefürchtet hatte, trat schon gegen 2 Uhr morgens ein; ein halber Sturm aus Nordost weckte mich und hielt den ganzen Tag mit Sandgestöber und Staubnebel an. Man sah nicht weit vor sich, und die Spuren konnten nicht lange erhalten bleiben. Ich hoffte jedoch, daß Ördek bei Beginn des Sturmes so klug gewesen sei, den Spaten seinem Schicksal zu überlassen und sofort umzukehren.

Uns, die wir nach Südwesten weiterzogen, war der Sturm willkommen; er schob uns, erleichterte das Gehen und nahm einen Teil der stechenden Glut der Mittagssonne fort. Die Wüste wurde jetzt immer öder; sogar der tote Wald hörte fast ganz auf, der Sand wurde zusammenhängend und nur selten von kleinen Bajiren unterbrochen, die Dünen waren aber nur noch 5 Meter hoch. Von ihnen aus sieht man, daß der[S. 232] Sand gegen Westen und Südwesten, wohin der Wind ihn beständig trägt, immer höher wird. Das tote Kamisch, an dem wir dann und wann vorüberziehen, ist vom Winde nach Südwesten niedergeschlagen, als sei es mit einer Riesenbürste nach dieser Seite niedergebürstet worden.

An einem Punkte, wo wir ein paar Holzstücke fanden, wurde das Lager Nr. 18 aufgeschlagen. Während wir noch damit beschäftigt waren, stellte sich der prächtige Ördek wieder ein; er brachte den Spaten mit und führte das Pferd, das, wie er selbst, von dem 60 Kilometer weiten anstrengenden Ritte auf schlechtem Terrain vor Müdigkeit beinahe umfiel. Das Allermerkwürdigste aber war die wichtige Neuigkeit, die Ördek, nachdem er sich eine Weile ausgeruht hatte, zu erzählen wußte.

Er hatte sich während des Sturmes verirrt, unsere Spuren verloren und einen Tora erreicht, in dessen Nähe er die Ruinen mehrerer reich mit geschnitzten Planken verzierter Häuser gefunden hatte (Abb. 86, 87). Dort hatten auch irdene Tassen, Spieße, Beile, Metallstücke, Münzen und dergleichen gelegen, von denen er einiges mitgenommen hatte und uns nun zeigte. Er hatte auch zwei geschnitzte Planken mitgenommen, und zwar die besten der vorhandenen, und dann das Suchen nach der ersten Ruinenstelle fortgesetzt, die zu finden ihm schließlich auch gelungen war. Vergebens hatte er die Bretter auf das Pferd zu binden versucht; dieses scheute so davor, daß er sie schließlich selbst hatte tragen müssen. Seine Schultern waren noch blutig von den Stricken. Als er unser Lager Nr. 17 erreicht hatte, versuchte er wieder, seine Last dem Pferde aufzubürden, dieses riß sich aber los und ging durch. Nach vielen Bemühungen gelang es ihm, das Pferd wieder einzufangen; er war aber so müde, daß er die Bretter liegen ließ und uns aufsuchte.

Daß diese Nachricht das Programm für das nächste Jahr umgestalten würde, war mir sofort klar. Zunächst wurde der arme Ördek beauftragt, den zurückgelassenen Fund am nächsten Morgen zu holen, welcher Auftrag schon ausgeführt war, bevor wir aufbrachen. Die Planken waren sehr gut erhalten und mit geschnitzten Blumen und Girlanden verziert. Ich hatte jetzt sehr große Lust zum Umkehren, was jedoch eine Torheit gewesen wäre, da unser Wasservorrat nur noch für ein paar Tage reichte und die warme Jahreszeit mit großen Schritten nahte.

105. Sandsturm auf dem Beglik-köll. (S. 263.)

GRÖSSERES BILD
106. Die Fähre sitzt auf dem Tuwadaku-köll im Schilfe fest. (S. 261.)
107. Frauen und Kinder in Tscheggelik-ui. (S. 273.)
108. Stall in Tscheggelik-ui. (S. 273.)

Nein, der ganze Reiseplan mußte geändert werden. Nach den Ruinen mußte ich zurückkehren, koste es was es wolle, aber den Sommer über wollten wir nach Tibet gehen und uns im Winter dann wieder nach dem Lop-nor begeben. Würden wir die Stelle in dieser ebenen Wüste, wo das Auge vergebens nach einem einzigen Anhaltspunkte sucht, auch wiederfinden? Ich zweifelte nicht daran, denn ich vertraute fest auf meine Ortsbestimmungen.[S. 233] Wenn ich es nur übernähme, den Weg nach Altimisch-bulak zu zeigen, so würde Ördek, wie er fest behauptete, die von ihm so glücklich entdeckten Ruinen ganz bestimmt wiederfinden. Schon jetzt sehnte ich mich dorthin zurück, mußte mich aber noch acht Monate gedulden. Ich segnete den Spaten, der vergessen worden war und dadurch Veranlassung zu dieser großartigen Entdeckung gegeben hatte.

31. März. Die Temperatur ist nachts noch unter 0 Grad, bei Tage aber steigt sie bedeutend. Der Sturm hatte aufgehört, und die Luft war klar, der Himmel prunkte in der reinsten türkisblauen Farbe, die grell gegen die trostlos graugelbe Wüste absticht. Der tote Wald hat aufgehört; Bruchstücke, die sein ehemaliges Vorhandensein ahnen lassen, kommen nicht mehr vor; wir haben das Vegetationsgebiet des Lop-nor hinter uns gelassen. Ich gehe zu Fuß voraus und gewinne dadurch Zeit; denn mein Vorsprung übt eine gewisse Zugkraft auf die Karawane aus, und außerdem trage ich als Führer die Verantwortung. Wir pflegten den Marsch barfuß anzutreten, aber die Füße sind auf dem erhitzten Boden bald wie verbrannt, und man muß wieder Schuhe anziehen. Abkühlung spürt man nur, wenn man als letzter im Zuge in die Spuren der Kamele tritt, die den nachtkalten Sand aufgewühlt haben.

Die Lopwüste ist öder als die Tschertschenwüste, denn dort fanden wir wenigstens Weide und Brunnenwasser; hier hätte das Graben nirgends Erfolg gehabt. Bei einer toten Tamariske lagerten wir. Die Kamele sind müde und matt, denn seit fünf Tagen haben sie nicht getrunken; am Morgen des 1. April aber erhielten sie jeder einen Eimer Wasser, worauf der Vorrat nur noch einen Tag reichte. Auch den letzten Kamischsack durften sie leer fressen. Wir mußten nach dem Kara-koschun eilen, wohin es noch 60 oder 70 Kilometer sein mußten. Wie gewöhnlich brach ich früher auf und ging direkt nach Süden. Wüste Dünen auf allen Seiten, dieselbe trostlose Wüstenperspektive, die ich schon so oft gesehen hatte.

So erreichte ich eine hohe Düne, auf der ich mich ermüdet niedersetzte und den Horizont mit dem Fernglase absuchte. Lauter Sandrücken. Doch was war dies! Im Südosten breiteten sich zwischen Dünen und Jardangterrassen große Wasserflächen aus. Wasser in dieser Wüste! Ich traute kaum meinen Augen; es mußte eine Luftspiegelung sein!

Jetzt mußte ich mich sputen und eilte sofort dorthin. Nein, es war richtig ein See mit den bizarrsten Einschnitten, Buchten, Inseln, Holmen und Sunden, dem tollsten Gewirre von Wasserflächen, wie sie nur auf ebenem Terrain zwischen Dünen und vom Winde ausgearbeiteten Terrassen entstehen können. Außer ein paar jungen Tamariskensprossen auf dem[S. 234] weichen sumpfigen Uferrande und etwa 20 Kamischstengeln war die Gegend jedoch ebenso unfruchtbar wie bisher.

Ich ging an dem gebuchteten Ufer entlang nach Südwesten. Der See verengerte sich manchmal bedeutend, erweiterte sich aber bald wieder zu größeren Flächen. Das Wasser hatte einen leichten Anflug von Salz, wurde aber von allen Tieren gern getrunken. Darauf wandte sich unser Ufer nach Norden, und wir mußten ihm dorthin folgen, denn eine Furt fanden wir nicht, und die Kamele wären im Schlamme versunken.

Der See streckte seine schmalen Buchten wie Finger nach Nordosten aus, die uns ärgerliche Umwege verursachten. Der Boden ist feucht und schwankt unter den ängstlichen Kamelen; er geht auf und nieder, als sei eine Gummihaut über ein verborgenes Wasser gespannt, und man hat das Gefühl, als bedürfe es nur eines Loches darin, um die Karawane in den Fluten verschwinden zu lassen.

Das Land ist gänzlich unfruchtbar. Der See zeigt einen auffallenden Parallelismus mit Bajirmulden und Jardangterrassen, mit Dünen, Dünentälern und Windfurchen; alles zieht sich von Nordosten nach Südwesten, und ziemlich oft sieht man die Jardangrücken unter dem Wasser.

Daß dies nicht der Anfang des Kara-koschun sein konnte, schien mir keinem Zweifel zu unterliegen, denn sonst hätte es hier Kamisch im Überflusse gegeben. Doch woher kommt dann dieses Wasser? Sein geringer Salzgehalt zeigte, daß es ziemlich neu war. Wäre es alt, so sähe man hier schon junges aufkeimendes Kamisch, das sich so unglaublich schnell mit dem Wasser verbreitet. Ich vermutete, daß der See von dem neugebildeten Arme von Schirge-tschappgan herrührte.

So merkwürdig diese Entdeckung auch war, indem sie mich der Lösung der verwickelten Lop-nor-Frage einen Schritt näher führte, so hatten wir doch unter den gegenwärtigen Umständen wenig Nutzen davon; wir bedurften jetzt vor allem der Weide für die Tiere und der Lebensmittel für uns selbst, denn wir hatten nur noch Reis und Tee, und bei so kärglicher Kost konnten wir nicht anders als hungrig sein. Statt die Schritte rasch südwärts nach dem Kara-koschun zu lenken, hatten wir uns von diesem unfruchtbaren See aufhalten lassen — ein richtiger Aprilscherz!

Da der See sich immer weiter nach Westen hinzog, beschloß ich Halt zu machen, um zu sehen, ob sich keine Furt würde entdecken lassen. Wir standen augenscheinlich an einem ganz neuen Wasserarme des Tarim und mußten hinüber. Eine Strömung war allerdings nicht wahrzunehmen, wohl aber eine ganz frische Wasserlinie, die zeigte, daß der Wasserspiegel um[S. 235] einen Meter gesunken war, was seinen Grund im Fallen des Tarim während des Winters hatte. Die bedeutenden Dünen, die den See auf allen Seiten einrahmen, ja bisweilen kleine Inseln bilden, beweisen, daß sie sich an Ort und Stelle befunden haben, als diese Überschwemmung das Land unter Wasser setzte. Die Anordnung der Dünen würde sonst eine ganz andere sein; sie hätten im Süden und im Südwesten des Sees gefehlt, wo sie nun statt dessen am höchsten waren.

2. April. Tschernoff gab sich nicht eher zufrieden, als bis er eine 90 Zentimeter tiefe Furt mit tragfähigem Sandboden gefunden hatte. Den Kamelen gefiel das Bad. Auf der anderen Seite drangen wir wieder in hohe Dünen ein, und der See entschwand uns bald aus den Augen. Der Sand wurde immer gewaltiger; 8–11 Meter hohe Dünenkämme wurden mit dem Nivellierspiegel gemessen.

Die Muselmänner waren mißmutig und glaubten, der See, den wir verlassen hatten, sei der Kara-koschun gewesen. Ich selbst begann unwillkürlich darüber nachzugrübeln. War es so, dann waren wir verloren! Die Kamele keuchten in dem weichen Sande und sahen so melancholisch aus, als zerbrächen sie sich den Kopf darüber, warum wir den See sogleich verlassen hatten. Die Hitze war unerträglich, und die Sonne schien uns gerade ins Gesicht.

So gefährlich war es jedoch nicht. Das Terrain veränderte sein Aussehen in erfreulicher Weise. Der Sand nahm ab, ein Gürtel von toten Pappeln wurde durchquert, und dann kam einer von lebenden Tamarisken. Vor uns erhob sich ein 5 Meter hoher Hügel. Ich sagte Faisullah, er solle mich hinaufbegleiten, um den Kara-koschun in Augenschein zu nehmen. Und richtig! Von dieser Anhöhe sah man im Südwesten, Süden, Südosten und Osten große und kleine Flächen reinen, blauen Wassers, die durch gelbe Kamischfelder voneinander getrennt waren.

Auf einer Landzunge in dem nächsten großen See wurden die Zelte unmittelbar am Strande aufgeschlagen. Mit Genuß betrachtete ich von meinem Zelte aus durch das Fernrohr die Scharen von Gänsen, Enten und Schwänen, die auf dem See schwammen und tauchten. Ein Wüstenreisender kann sich keine schönere Aussicht träumen. Leider waren die Schwimmvögel zu weit vom Ufer entfernt. Aus ihrer Art zu tauchen konnte man schließen, daß der See nicht sehr tief war. Sein Wasser war ganz süß.

Das Zelttuch flatterte im Seewinde. Welch ein Unterschied gegen den Wüstenwind und seinen Staub! Das Wasser plätscherte so herrlich am Ufer, und halb träumend lag ich da, über diese jetzt so glücklich beendete Fahrt nachdenkend. Das Vorhandensein des Seebeckens des alten[S. 236] Lop-nor war festgestellt, ein ehemals bewohnter Ort war entdeckt, ein neuer See in der Wüste angetroffen worden. Weder Menschen noch Tiere waren dabei verloren gegangen.

Was das Profil quer durch die ganze Lopwüste betraf, so fand ich, daß es nicht genügte. Man kann die Ergebnisse des Kochthermometers und des Aneroids in einem Lande mit so unbedeutenden Höhenunterschieden nicht verwerten. Mein schon gefaßter Entschluß, diese Gegend noch einmal zu untersuchen, wurde nur noch fester, denn nur ein Präzisionsnivellement des Beckens konnte über die äußerst unbedeutenden Höhenunterschiede zwischen dem Lop-nor und dem Kara-koschun Auskunft geben. Ich hatte nach meiner früheren Reise gerade deshalb betont, daß der Lop-nor ein wandernder See sein müsse, weil dieses ganze Gebiet nahezu in ein und derselben Fläche liege.

[S. 237]

Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Fünfundzwanzig Tage im Kahn.

Am 3. April stürmte es den ganzen Tag heftig aus Nordosten. Der See lockte mich mit unwiderstehlicher Gewalt; ich wollte mich nach all dem erstickenden Sande und der Hitze auf seinen frischen Wogen tummeln und seine Tiefe messen, aber wir hatten kein Boot. Hätten wir nur die eine Hälfte der Segeltuchjolle mitgenommen, so hätte es damit keine Not gehabt. Es mußte sich aber mit den Ziegenlederschläuchen und den Leitern, an denen sie befestigt gewesen, ein Floß oder jedenfalls eine Art Fahrzeug herstellen lassen, in welchem man mit dem Winde über den See treiben konnte. Mit Tschernoff und Ördek ging ich am Strande entlang. Die Leitern wurden mit Stricken an zwei Stangen festgebunden, und das auf diese Weise hergestellte Floß wurde von den sechs Ziegenlederschläuchen getragen, die mit Luft gefüllt waren, die Ördek hineingeblasen hatte. Tschernoff und ich nahmen an Bord Platz, jeder auf einer Leiter reitend. Als Tschernoff seinen Platz einnahm, wäre die ganze Herrlichkeit beinahe umgeschlagen; die Ziegenlederschläuche lagen schon auf dem Wasser, die Leitern etwas unter diesem, und wir saßen halbnackt da und ließen die Beine ins Wasser herunterhängen. Unsere breiten Rücken dienten als Segel. Wir trieben gerade auf das Lager zu. Hunderte von Enten flogen, erschreckt durch die ungewöhnliche Erscheinung, in lärmenden Scharen auf. Wir mußten uns festhalten und balancieren, um nicht zu kentern, wenn die großen Wellen an uns vorüberrauschten. Binnen kurzer Zeit waren auch unsere Oberkörper völlig durchnäßt, denn jede Schlagwelle ging über das Floß weg und gab uns eine ordentliche Dusche.

Die Fahrt dauerte 2½ Stunden. Das Wasser war jetzt weder vollkommen süß noch ganz klar, denn von diesem Winde wird aus den östlichen Seegebieten stagnierendes Wasser nach Westen getrieben und durch den Wellenschlag getrübt.

Beim Lager war der Strand so seicht, daß Ördek eine Strecke weit in den See hineinwaten und uns dann an Land ziehen mußte. Wir waren[S. 238] derart steifgefroren, daß wir kaum nach dem Feuer hinaufgehen konnten. Mich überfiel ein sehr heftiger Schüttelfrost; meine Zähne klapperten und die Hände flogen, ich zog die nassen Kleider aus, trocknete mich am Feuer und ging dann zu Bett. Erst nach einer Stunde, als ich mich wieder warm angezogen und eine große Tasse brühheißen Kaffee getrunken hatte, fühlte ich mich am Lagerfeuer wieder einigermaßen normal.

Beim Sonnenuntergang nahm der Himmel einen seltsamen Farbenton an. Er leuchtete gelbrot über den Dünen im Norden. Der schon vorher heftige Wind schwoll zum richtigen Buran an. In zügelloser Wut stürmten die Wogen gegen das Ufer und überschütteten die Zelte mit Spritzwasser. Wir mußten mit den Zelten eine Strecke landeinwärts ziehen und ihre Befestigungen in der gewohnten Weise verstärken.

Noch einen Tag durften die Kamele sich ausruhen, während der Sturm zu heulen fortfuhr. Im Norden und Süden des Kara-koschun flammt der Horizont in unheimlichem, brandgelbem Farbentone, in der nordöstlichen Verlängerung des Sees aber ist er dunkelstahlgrau, was darauf schließen läßt, daß sich die Wasseransammlungen ziemlich weit nach dieser Richtung hin erstrecken und daß es dort keinen Flugsand gibt.

Als wir am 5. aufbrachen und am Strande entlang zogen, hoffte ich, daß es bis zu den ersten Menschenwohnungen am Kum-tschappgan nicht mehr weit sein würde.

Wildenten, Gänse, Schwäne, Taucher, Möwen, Seeschwalben und besonders Krähen kommen in Menge vor; Hasen und Igel sind nicht selten. Spuren von Füchsen, Rehen, Luchsen und Wildschweinen sieht man beständig an den Ufern. Zwei Jäger waren vor einigen Monaten auf dem Eise gewesen; ihre Spuren waren in den feuchten Uferlehm eingedrückt.

Längs des Ufers und auch ziemlich weit davon entfernt findet man Schneckenschalen und abgestorbenes Kamisch. Daß das Leben aus diesen Organismen entflohen ist, beruht darauf, daß sie einer längstvergangenen Periode angehören und älter sind als der jetzige See.

Am folgenden Tage wurde die Wanderung längs des Sees fortgesetzt. Ich ging schnell zu Fuß voraus, fest entschlossen, nicht eher Halt zu machen, als bis wir Menschen träfen. Nach solchen sehnten wir uns eigentlich nicht, wohl aber nach Fischen, Geflügel und Eiern und nicht zum wenigsten nach einem Boote, mit dem ich die jetzige Ausdehnung des Sees untersuchen konnte.

Als ich gegen Abend mitten in den unabsehbaren Sümpfen, die sich südlich von unserem Wege ausdehnten, eine gewaltige Rauchwolke erblickte, blieb ich daher sofort stehen und erwartete die anderen. Sicherlich hatten sich einige Lopfischer dorthin begeben und das dürre, vorjährige Schilf[S. 239] angezündet, einmal wohl, weil es ihnen irgendwo den Zutritt zu ihren Fischplätzen versperrte, dann aber auch in der Absicht, den frisch aufkeimenden Pflanzen Raum zu verschaffen. Während wir das Lager aufschlugen, mußte sich Ördek zu Pferd in der Richtung nach dem Rauche auf den Weg machen, obwohl ich lebhaft bezweifelte, daß er durch dieses Labyrinth von Sümpfen durchkommen würde. Er hatte Streichhölzer bei sich, um uns, falls er nicht zu den Lopfischern gelangen konnte, dies mittels eines Signalfeuers mitzuteilen.

Tschernoff machte sich mit der Flinte auf der Schulter auf und kam nach ein paar Stunden mit einer prächtigen Gans wieder, die er auf einem See geschossen hatte und zu der er dann hinausgeschwommen war. Er hatte auch das Pferd gefunden, das Ördek angebunden zurückgelassen hatte, um seinen Kundschafterweg zu Fuß und schwimmend fortzusetzen. Ördek gelang es schließlich doch, eine Fischergesellschaft ausfindig zu machen, und er kehrte noch am Abend mit acht Männern und ganzen Säcken voll des sehr nötigen Proviantes, bestehend aus drei Gänsen, vierzig Eiern, Fischen in Menge, Mehl, Reis und Brot, zurück.

Am 7. zeigten uns die redlichen Lopleute den Weg nach dem Kum-tschappgan. Am Kum-tschappgan lagerten wir da, wo sich der Tarim in zwei Arme teilt, in den Kum-tschappgan und den Tusun-tschappgan. Die Hütten standen noch an derselben Stelle wie 1896, die Verteilung der Gewässer war in der Hauptsache dieselbe, und alles war sich gleichgeblieben. Ich hatte wieder einen Punkt erreicht, wo ich die Marschrouten von dieser und der vorigen Reise vergleichen und aneinanderfügen konnte. Während der Nacht trat das in diesen Gegenden ziemlich wunderbare Phänomen ein, daß ein ziemlich heftiger Regen fiel und auf mein Zelt klatschte. Meine Leute, die unter freiem Himmel lagen, eilten in die nächste Sattma.

Schon am folgenden Morgen stellten sich zwei alte Bekannte ein, Numet Bek von Abdall und Tokta Ahun, der Sohn des alten redlichen Kuntschekkan Bek, der vor zwei Jahren tief betrauert von all seinen Leuten gestorben war. Numet Bek sollte uns jetzt in vieler Beziehung von großem Nutzen sein. Er wurde beauftragt, für die Kamele und das Pferd zu sorgen, sie nach den Weideplätzen von Mian zu schicken, sie dort bewachen zu lassen und uns später, wenn wir nach Tibet zogen, in gutem Zustande wieder abzuliefern. Ferner sollte er uns Proviant und Führer für die Rückreise nach Tura-sallgan-ui, die ich in Kähnen zu unternehmen beabsichtigte, besorgen.

Die Ruhezeit in Kum-tschappgan wurde zu zwei großen Bootexkursionen benutzt, die erste nach derselben Richtung wie 1896, die zweite durch den Tusun-tschappgan und über den südlichen Teil des Sees in Gegenden, die ich bisher noch nicht besucht hatte.

[S. 240]

Tschernoff und ich nahmen in einem großen Kahne mit drei Ruderern Platz, Faisullah mit dem Proviant und zwei Ruderern in einem kleineren. Wie Aale glitten wir durch das Schilf, das vom Regen naß war und uns im Vorbeifahren ab und zu eine Dusche gab (Abb. 88, 89).

Es war unmöglich, diese Landschaft von Wasser, Sand und Schilf wiederzuerkennen, so hatte sie sich in den vier Jahren verändert. Seen, die damals offen und frei dalagen, waren jetzt ganz mit Kamisch zugewachsen, während sich neben ihnen andere gebildet hatten, die neue Namen trugen (Abb. 90). Kum-köll (Sandsee) und Jangi-köll (neuer See) sind Benennungen, die für sich selbst sprechen. Alles ist in diesem flachen Anschwemmungsgebiet veränderlich. Die größten während dieser Fahrt gemessenen Tiefen betrugen 4,85 und 5,15 Meter; sie befanden sich in einem ganz neugebildeten Seebecken namens Tojagun, was beweist, daß es neben dem Kara-koschun tiefere Senken geben kann, während ältere Teile des Sees allmählich versanden und zuwachsen.

Auf der ganzen Tagereise sahen wir Massen von toten Fischen, die bald auf dem Wasser trieben, bald im Schilf staken, bald, den Bauch nach oben, weiß auf dem Grunde schimmerten. In einigen Durchgängen war die Luft mit dem ekelhaften Gestanke verfaulter Fische erfüllt, die immer zahlreicher wurden, je weiter wir nach Osten kamen; man sagte mir, die Massen von Krähen, die wir überall erblickten, seien dadurch hierhergelockt worden. Einige unserer Ruderer glaubten, eine unbekannte Krankheit habe unter den Fischen gewütet, ein anderer aber erklärte, die große Sterblichkeit sei auf die ungewöhnliche Schneemenge des letzten Winters zurückzuführen. Der Schnee hatte fußhoch auf dem Eise gelegen, und unmöglich ist es nicht, daß dies den Fischen in den seichten Becken geschadet hat. Mit Recht klagten die Leute über Fischmangel und konnten sich nicht erinnern, je ein so schlechtes Fangjahr gehabt zu haben.

Wir ruderten auf neuen Wasserwegen auf den Kanat-baglagan-köll hinaus, wo das Schilf so dicht und dick stand, daß jedes weitere Vordringen eine absolute Unmöglichkeit war. Im Jahre 1896 konnte ich dieses Becken, das jetzt zugewachsen war, noch ungehindert befahren.

109. Die umgebaute Fähre. (S. 274.)

GRÖSSERES BILD
110. Der Bau der Pontonfähren. (S. 274.)
111. Sattma in Abdall. (S. 275.)
112. Die Pontonfähren auf dem Wege nach Abdall. (S. 275.)

Auf der Rückfahrt schaute ich mit großer Spannung zu, wie die Ruderer einen großen schönen Schwan mit den Händen griffen. Wir sahen ihn auf dem offenen Wasser am Schilfrande schwimmen; er tauchte aber unter, als wir uns näherten. Die Leute senkten die Ruder mit aller Kraft ins Wasser und ruderten nach der Stelle hin, wo der Schwan sich wahrscheinlich wieder zeigen würde, was an den Ringeln auf der Wasserfläche zu sehen war. Als der Schwan wieder emporkam, waren wir ihm so nahe, daß er sich in seiner Verwirrung in das Schilf hineinbegab; damit war er[S. 241] verloren, denn dort konnte er nicht die Flügel zur Flucht ausbreiten. Der Kahn flog ihm wie ein Pfeil nach; der alte Jaman Kullu sprang ins Wasser, das ihm bis an die Hüften reichte, fiel über das arme Tier her und schleppte dann seine Beute in das Boot. Der Schwan war so verängstigt, daß er mit schlaffem Halse und hängendem Kopfe wie tot dalag; er wurde sofort getötet.

Zahllose Wildenten und Gänse bevölkerten den See. Vielleicht hatten sich einige von ihnen schon zu Prschewalskijs Zeit hier als Junge aufgehalten. Die Generation der menschlichen Eingeborenen, die damals in ihrer vollen Kraft stand, ist jetzt zu Greisen und Greisinnen geworden, und ein neues Geschlecht ist seitdem herangewachsen. Nicht einmal die Seen sind dieselben geblieben, sie sind geschrumpft und zugewachsen und haben die Lage gewechselt; die Sanddünen sind vorgerückt, alles hat sich in der kurzen Zeit von 20 Jahren verändert, und das Bild, das man von einem flüchtigen Besuche mitnimmt, ist, genau genommen, nur eine Momentphotographie.

Wir verbrachten die Nacht an einem sehr notwendigen Feuer auf einem kleinen Eilande im „See der vergessenen Fischhaut“ und kehrten am nächsten Tage bei starkem Winde und hohem Seegange nach Kum-tschappgan zurück. Faisullah, der nie in einem Boote gesessen hatte, wurde bleich und sehnte sich, wieder an Land zu kommen.

Am 10. April wurde an dem Punkte, wo der Fluß sich in Sümpfe auflöst, die Wassermenge des Tarim gemessen; sie betrug 29,7 Kubikmeter in der Sekunde. Im Jahre 1896 hatte ich an derselben Stelle und um dieselbe Zeit 50,5 Kubikmeter gefunden. Der bedeutende Unterschied beruht teils auf dem neugebildeten Schirge-tschappgan-Arme, teils auf einer Menge von natürlichen Kanälen, die sich seit meinem vorigen Besuche oberhalb des Kum-tschappgan vom Hauptflusse abgetrennt haben.

Die Sanddüne, die dem Kum-tschappgan seinen Namen gegeben hat, ist 10,24 Meter hoch. Die größte Tiefe des Sees beträgt 5,15 Meter. Man kann diesen Vertikalunterschied von 15,39 Meter als den größten im ganzen unteren Lop-nor-Becken betrachten.

Am 11. April unternahmen wir eine Kahnfahrt nach den südlichen Teilen des Kara-koschun, die den nördlichen sehr unähnlich sind. So betrug die größte gemessene Tiefe nur 1,90 Meter, aber während des ganzen späteren Teiles der Fahrt hatten wir nur 0,3 und noch weniger. Der Grund besteht aus feinem gelbem Schlamm, der auf schwarzem Moore oder blauem Tone ruht; sobald das Ruder ihn streift, steigt es wie Tinte im Wasser auf. Als das Wasser so seicht wurde, daß die Kähne nicht mehr darauf schwammen, mußten die Leute aussteigen und sie an Stricken weiterziehen; als aber auch dies bald unmöglich war, mußten wir umkehren. Man sinkt[S. 242] 10 Zentimeter tief in den Schlamm ein, findet dann aber einen festen, aus einer dünnen Salzschicht bestehenden Untergrund. Der Sate-köll ist eine ausgedehnte, seichte Wasserfläche mit wenig Schilf und liegt ganz in der Nähe des Wüstenweges, der am Südufer von Abdall nach Sa-tscheo führt. Weder Seevögel noch Fische gibt es in diesen sterilen Seebecken, die zu baldigem Verschwinden verurteilt sind; keine Algen bedecken ihren Boden. Während des Sommers trocknen sie vollständig aus, und ihr Bett verwandelt sich dann in eine harte, rissige Lehmschicht. Der ganze Kara-koschun wandert langsam nach Norden zurück.

Den Tag darauf ruderten wir nach Abdall und lagerten auf dem westlichen Ufer, wohin auch die Kamele geführt wurden. Der Tarim führte hier nicht weniger als 93,3 Kubikmeter in der Sekunde, verlor also auf der kurzen Strecke bis Kum-tschappgan 63,5 Kubikmeter, die sich in vielen Tschappganen oder Kanälen von dem Hauptflusse abtrennen. Das Tarimdelta wandert flußaufwärts, wie auch die Seen, die von den vielen Armen gebildet werden. Der Fluß hatte hier jetzt infolge der Eisschmelze seinen höchsten Wasserstand und war ungefähr ebenso hoch angeschwollen wie beim Hochwasser im Herbst vor dem Zufrieren. Im Sommer steht die Wasserfläche volle 2 Meter niedriger.

Eine kurze Tagereise nördlich von der Gegend von Abdall wird die Wüste von einem neugebildeten Arme durchschnitten, der von Schirge-tschappgan am unteren Tarim ausgeht. Dieser Flußarm war bisher nur von Jägern aus Abdall besucht worden; ich wollte eine Karte von ihm aufnehmen. Da das Gebiet aber nur mit Kähnen untersucht werden konnte, mußten solche auf irgendeine Weise über den Wüstenstreifen, welcher den neuen Arm vom Tarim trennte, mitgenommen werden; es handelte sich nun darum, wie dies zu bewerkstelligen sei. Einen schweren Kahn auf einem Kamele zu balancieren, ist unmöglich, und zwei hintereinander gehende Kamele mit zwei Kähnen in der Länge zu beladen, gelang ebensowenig; durch den ungleichen Takt ihres Ganges war es ein ständiges Hin- und Herreißen, und die Tiere scheuten auch vor diesen ungewöhnlichen Lasten.

Die einzige Möglichkeit war, sie wie Schlitten auf der Erde weiterzuziehen, wobei vor jeden Kahn ein Kamel gespannt wurde (Abb. 91). Die Tiere mußten vorsichtig geführt werden, damit sie nicht scheuten und durchgingen. So gelangten die Fahrzeuge mit ein wenig abgescheuertem Boden, sonst aber in gutem Zustand an Ort und Stelle.

Unser Zug nahm sich recht komisch aus. Die Kamele hatten den größten Teil ihrer Wolle verloren und waren, ein paar hier und dort noch sitzende Haarbüschel abgerechnet, nackt. Sie zogen die langen, knirschenden Kähne geschickt durch den Sand, in welchem dadurch eine abgerundete Furche[S. 243] entstand. Alle Mann gingen zu Fuß; ein drittes Kamel trug das Gepäck, alle notwendigen Instrumente und Proviant für sieben Tage.

Faisullah sollte die Kamele wieder zurückführen und dafür sorgen, daß sie nach Mian gebracht würden, worauf er und Ördek uns wieder bei Schirge-tschappgan zu treffen hatten.

Ich, Tschernoff, Tokta Ahun, Jaman Kullu und noch zwei Ruderer lagerten bei Jangi-jer (neue Stelle), wo wir die erste seeartige Anschwellung des Schirge-tschappgan-Armes erreichten, die größtenteils mit Schilf zugewachsen war, im Norden aber von ziemlich hohem Sand begrenzt wurde.

Die Kähne wurden sofort ins Wasser gebracht, und die Männer machten eine kleine Rekognoszierung, um die Strömung zu suchen, der wir aufwärts folgen mußten, um uns in diesen Irrgängen von Kamisch und Wasser nicht ganz zu verlieren.

Der Tag war so weit vorgeschritten, daß wir unser Nachtlager da, wo wir uns befanden, aufschlugen. Die Nacht unter freiem Himmel war jedoch wenig angenehm. Ein heftiger Nordoststurm erhob sich und brachte starken Regen. Als Tschernoff mich gegen 4 Uhr mit einem Filzteppiche bedeckte, war ich schon ziemlich durchweicht, hatte einen kleinen See an den Füßen und ein paar kleine Bäche auf dem Kopfkissen, schlief aber wieder ein, ohne mich um den Regen zu bekümmern.

Unsere erste Beschäftigung am Morgen war, unsere Kleider an einem schönen Feuer zu trocknen, worauf das Geschwader ausgerüstet wurde. Ich hatte die Instrumente in meinem Kahne, Tschernoff den Proviant in dem seinen; dieser war aber so schwer belastet, daß die Reling nur 4 Zentimeter über dem Wasser lag, und an offneren Stellen des Flusses schlugen die Wellen dann und wann in den Kahn. Jolldasch, der ohne Erlaubnis bei uns geblieben war, durfte auch mitkommen, fiel uns aber nur lästig; wenn es ihm im Kahne zu langweilig wurde, sprang er ins Wasser und schwamm in das Schilf hinein, und wir hatten viele Mühe, ihn wieder zu erwischen.

Die Fahrt war ziemlich mühsam. Der Buran fuhr fort, im Schilfe zu heulen und zu pfeifen, und wir mußten an dem dichten Schilfbestande entlang rudern, um Schutz zu finden. Auf offenem Wasser drohten die Kähne sich selbst bei ziemlich unbedeutendem Wellenschlage mit Wasser zu füllen und unterzugehen. In dem Schilfdickicht war es halbdunkel. Hier und dort plätscherte ein Fisch; Schwäne und Gänse eilten fort, und bei ein paar Gelegenheiten wurden sie ihrer Eier beraubt.

Solange die Strömung deutlich war, ging alles gut; dann aber wurden wir durch ein vollständiges Labyrinth von dichtem Kamisch, aus dem Wasser[S. 244] herausguckenden Tamariskenkegeln, Anschwemmungen, Landzungen und Landengen gehemmt. Über drei Stunden lang suchten wir hier kreuz und quer nach einem Durchgange, gingen denselben Weg, den wir gekommen waren, wieder zurück, verloren uns in schlängelnden Buchten, wo wir wieder umkehren mußten, forcierten den Schilfbestand, indem wir die Kähne mit den Rudern durch seine knackenden Wände trieben, und schleppten sogar die Fahrzeuge über schilfbewachsene Landengen, die benachbarte Wasserflächen voneinander trennten. Jede Düne, die dabei passiert wurde, mußte einer von uns besteigen; doch der Blick reichte bei dem Nebel nicht weit, und die ganze Umgebung war ein einziges dichtes Dschungel.

Als dieses Suchen umsonst war, steckten wir das Kamisch in Brand. Es gab in dieser mit Dämmerung gesättigten Atmosphäre ein großartiges Schauspiel, als sich die Flammen in die regenfeuchten Schilfhecken hineinwarfen und diese knallten, knisterten und dampften und rabenschwarze Wolken emporsteigen ließen, die vom Sturme zerzaust wurden und wie ein Trauerflor über diese irreführenden Sümpfe mit ihren überwachsenen Irrgängen führten. Rußflocken erfüllen die Luft, und man wird ebenso schmutzig wie naß, während man in dem seichten Wasser umherpatscht und die Kähne in die vom Feuer gebahnte Gasse schleppt, die jetzt auch einen Blick nach vorn gestattet und uns sehen läßt, wo wir den nächsten Weg zum offenen Wasser haben (s. bunte Tafel).

Endlich waren wir wieder auf dem rechten Wege, wo das Wasser tüchtig strömte. Die Strömung war so saugend und so schnell, daß die Ruderer all ihre Kraft aufbieten mußten, um den Kahn gegen sie vorwärtszubringen. Gegen Abend sahen wir uns nach einem geeigneten Lagerplatze an dem hier überall feuchten Ufer um; da es uns aber nicht gelang, einen solchen zu finden, blieben wir bei einigen Tamarisken und legten, um wenigstens trocken zu liegen, Kamisch auf die Erde. In schneidendem Wind machte ich meine Aufzeichnungen beim Scheine des Lagerfeuers, und der Sturm peitschte den Flußarm derart, daß von den Wogenkämmen weißer Gischt sprühte.

Der Morgen war wenig verlockend zur Fortsetzung der Fahrt. Im Norden war der Himmel schwarzgrau von Flugsand, und bei Wellenschlag läßt sich die Strömung schwer unterscheiden. Erst um 11 Uhr konnten wir aufbrechen und zogen nun nach Nordwesten über langgestreckte Seen, die uns wieder in ein deutliches Flußbett führten. Manchmal verengte sich dieses bis nur auf 10 Meter Breite und hatte dann eine Stromgeschwindigkeit von 0,9 Meter. Dann folgt eine verwickelte Strecke, von den Jägern Tokkus-Tarim (neun Flüsse) genannt, weil der Strom hier in mehrere Arme geteilt ist.

In brennendem Schilfe.

GRÖSSERES BILD

[S. 245]

Der größte See auf dem ganzen Wege zog sich glücklicherweise von Norden nach Süden hin. Indem wir seinem östlichen, von hohen Dünen eingefaßten Ufer folgten, blieben wir vor dem Sturme geschützt. Gerade über den See hinüberzufahren, wäre unmöglich gewesen; er war ganz weiß von den schäumenden Wellen, und es war mehr Glück als Geschicklichkeit, daß wir uns auf der anderen Seite wieder in den Flußarm hineinfanden. Der Wasserweg lief alsdann nach Südwesten, und der Wind neutralisierte den hemmenden Einfluß der Strömung. Bei dem Lager Nr. 30 führte dieser Arm 10,6 Kubikmeter Wasser, die dem unteren Tarim entzogen worden waren.

Auch die folgende Tagereise war verwickelt, und der Wind dauerte fort. Die Minimaltemperatur war auf −0,3 Grad heruntergegangen. Wir ruderten längs des Ufers weiter, gerieten aber oft in Sackgassen. Ein junger Hirt, auf den Tokta Ahun gestoßen war, diente uns als Lotse, bis wir eine Sattma erreichten, von welcher aus ein alter Fischer uns zu Boot begleitete. Ohne seine Hilfe wäre es uns nicht möglich gewesen, die Mündung des Flußarmes zu finden, denn sie war total vom Schilfe verdeckt. Ein wenig weiter aufwärts lotste er uns durch einen kaum meterbreiten Kanal, wo die Kähne an einer Stelle auf das Land und durch das Schilfdickicht gezogen werden mußten, um an einem etwa 55 Zentimeter hohen Wasserfalle vorbeizukommen. Ein zweiter Katarakt hatte eine Höhe von 60 Zentimeter.

Man erhält durch diese Wasserfälle den Eindruck, daß der Schirge-tschappgan-Arm stärkeres Gefälle hat als der Hauptfluß, sich also auf einem etwas höheren Niveau befinden muß. Hierdurch erklärt sich auch die Tendenz des ganzen hydrographischen Systems, nach Norden zu wandern und sich nach diesen flachen Depressionen hinüberzuwerfen. Ein Niveauunterschied von einem Meter spielt in einem Lande, das beinahe ganz horizontal ist, eine sehr große Rolle.

Bei Jekken-öi fanden wir ein Dörfchen (Abb. 92) von 4 Sattmen und 20 Einwohnern, ausschließlich aus Greisen, Frauen und kleinen Kindern bestehend, denn die kräftigere männliche Bevölkerung hatte sich nach Tscharchlik begeben, um Ackerbau zu treiben. Die Bevölkerung lebt hier von Fischfang, Wildenten, die sie massenweise fangen, und Enteneiern. Sie besitzen auch 150 Schafe und eine Anzahl Kühe. Vor vier Jahren waren sie von Tscheggelik-ui hierher gezogen und sie erzählten, daß der neue Flußarm erst vor sieben Jahren angefangen habe, sich von ihrem See aus einen Arm nach Osten zu bahnen.

Von einem ganzen Geschwader von Kähnen begleitet, steuerten wir am 18. nach Südwesten über eine Seenreihe, die Tiefen bis zu 4,6 Meter[S. 246] zeigten. Diese Seen sind dadurch eigentümlich, daß das Wasser sich von ihnen nach zwei Seiten teilt; die Bifurkation findet nach Osten und Westen statt. Die Hauptmasse geht ostwärts und bildet den Arm, dem wir gefolgt waren, ein Teil aber fließt bei Schirge-tschappgan in den Tarim, und der Spiegel des Sees liegt 60 Zentimeter über dem Niveau des Tarim.

Allmählich kommen wir in einen Kok-ala (kleinen Flußarm) hinein, der sich nach dem Tarim hinunterschlängelt, wo sein kristallhelles Wasser sofort in den trüben Fluten des Flusses verschwindet.

Eine Strecke weiter abwärts machen wir an den Hütten von Schirge-tschappgan Halt und haben eine prachtvolle Aussicht über den gewaltigen Fluß, der hier gerade und regelmäßig ist und von ehrwürdigen dichtbelaubten Pappeln eingefaßt wird. Hier werden 5,6 Kubikmeter Wasser aus den Seen von Jekken-öi wieder an den Tarim abgegeben, der selbst an diesem Punkte 108,4 Kubikmeter in der Sekunde führte, die größte Wassermenge, die ich bis dahin in dem Flusse gefunden hatte (Abb. 93).

In der Nacht auf den 20. April ging die Temperatur wieder auf −4 Grad herunter, was für diese Jahreszeit recht ungewöhnlich ist. Nachdem wir uns mit Faisullah, Ördek und Maschka wiedervereinigt hatten, war unser Plan, auf den östlichen Seen, die ich das vorige Mal entdeckt hatte, nach Tikkenlik zurückzurudern. Es war recht ärgerlich, zwei Tage lang denselben Weg wie damals gehen zu müssen, nach Kum-tschekke, aber die hydrographischen Verhältnisse hatten sich so verändert, daß ich auf mehrere neue Erfahrungen hoffen konnte.

So ließen wir denn jetzt den Nias-köll zur Linken liegen und ruderten über den Tschong-köll, der seinen Namen (großer See) mit Recht führt und auf dem man sich mit den wenig seetüchtigen Kähnen nicht zu weit hinauswagen darf.

Sodann gehen wir einen mächtigen Flußarm hinauf, der lauter Sand durchschneidet und Lailik-darja heißt. Indem ich von Zeit zu Zeit die Wassermenge in diesem östlichen Arme auf dem Wege aufwärts maß, würde ich allmählich seinen Charakter erforschen und ausfindig machen können, wieviel Wasser unterwegs in den Seen verloren geht, sich durch Verdunstung verflüchtigt, in den Boden einsickert usw.

Der Sadak-köll hatte sein Aussehen in den vier Jahren vollständig verändert. Er war mit Schilf zugewachsen und voller Sand und Anschwemmungen, in denen ein Flußarm mit starker Strömung entstanden war. Die Hütten, bei denen ich damals vom Sturme aufgehalten wurde, standen noch. Ihre Bewohner waren größtenteils noch dieselben; sie erkannten mich wieder und empfingen uns mit der größten Freundlichkeit. Sie nennen ihr mit 26 Menschen bewohntes Dorf Merdektik, nach[S. 247] einem neugebildeten Arme des Merdek-köll. Schritt für Schritt sehen wir, wie das ganze hydrographische System nach Norden und Osten wandert, um dereinst wieder in das Seebecken des alten Lop-nor zurückzukehren.

Von dem Dorfe begleitete uns ein Fischer in seinem Kahne und zeigte uns den gegen die ziemlich reißende Strömung angehenden Weg nach Norden. Tschernoff hatte uns eine 6 Meter lange Stange besorgt, die er in Meter und Dezimeter eingeteilt hatte, so daß er die Tiefen direkt ablesen konnte, wenn ich Sondieren für wünschenswert hielt. Längs der Ufer stand reicher Tograkwald in seinem ersten, zarten Lenzgrün und wirkte da, wo er, wie hier, die gelbe, öde Sandwüste als Hintergrund hatte, besonders anziehend.

In Kulaktscha machten wir eine kurze Frühstücksrast; dort wohnten noch immer fünf Familien, lauter alte Bekannte von 1896. Seit meinem vorigen Besuch hatten die Hirten der Gegend eine ziemlich feste Brücke (Abb. 94) von Balken, Ästen und Kamisch über den Fluß geschlagen, um ihr Vieh im Sommer von einem Ufer nach dem anderen hinübertreiben zu können. Sie ist so niedrig, daß man mit belasteten Kähnen nur gerade unter ihr durchfahren kann; aber sie ist pittoresk, wie sie ihre Pfähle und Balken in dem Ilek spiegelt, dessen Wasser schwarz wie Tinte, aber auch klar wie Kristall ist.

Dann ruderten wir mit einer Geschwindigkeit von 1,8 Meter in der Sekunde zwischen üppigen Wäldern und undurchdringlichen Schilfdickichten weiter und langten bei Sonnenuntergang unter Mückentanz in Kum-tschekke an, wo wir gleichfalls von Freunden aus dem Jahre 1896 empfangen wurden.

Mit ihnen machte ich am folgenden Tage eine Fahrt nach dem Merdek-köll, um von diesem eine Karte aufzunehmen. Dieser Fluß empfängt sieben Kubikmeter Wasser vom Ilek und hat Tiefen bis zu 7,4 Meter, also viel bedeutendere als der Kara-koschun.

Von Kum-tschekke gingen wir weiter den Fluß hinauf, der noch immer außergewöhnlich tief ist und von prächtigen Wäldern eingefaßt wird. Es ist eine sehr schöne Gegend, die mit ihrem Kanale und ihrem blanken, dunkeln Wasserspiegel einem Parke gleicht, und es ist eine Freude, die unaufhörlich wechselnden Uferszenerien zu betrachten (Abb. 95, 96).

Von dem See und Dorfe Tosgak-tschantschdi an nahmen wir neue Ruderer, und ich machte einen Ausflug nach dem auf der vorigen Reise entdeckten Arka-köll.

Auf der folgenden Tagereise wurde mitten im Flusse eine der größten Tiefen gelotet, die ich im ganzen Tarimsysteme je gefunden habe, 12,55 Meter. Von dem Punkte, wo wir am Ufer lagerten, unternahm ich wieder[S. 248] eine Bootexkursion nach dem nahegelegenen Tajek-köll. Ich hatte nur einen Mann bei mir, und der Kahn mußte einen halben Kilometer über Land von dem Flusse nach dem See getragen werden. Der Tajek-köll, an dessen östlichem Ufer wir 1896 mit Kamelen durch mühsames Terrain wanderten, ist ziemlich offen und hat in der Mitte Tiefen von 5,7 Meter, 6,9 Meter und 9,5 Meter, die also beinahe doppelt so groß sind wie die tiefsten Stellen des Kara-koschun.

Als ich wieder ins Lager kam, war das Zelt so voller Mücken, daß sie ausgeräuchert werden mußten, worauf die Leinwand auf allen Seiten zugezogen und Jolldasch angebunden wurde, damit er nicht, wie er zu tun pflegte, aus und ein liefe und diese verwünschten Insekten, die uns jetzt abends zu plagen begannen, mitbrächte. Es ist eine Art großer hellgrauer Mücken, die ihr Opfer mit unglaublicher Energie und unglaublichem Eigensinn umschwärmen; sie hinderten mich am Schreiben sowie an jeder anderen Beschäftigung. Man ist ihrem Blutdurste, gegen den der eines Tigers nichts ist, völlig preisgegeben. Sie zeigen eine Todesverachtung, die nicht Mut, sondern Dummdreistigkeit ist, greifen von allen Seiten an und gehen gern in den Tod, wenn sie nur erst eine tüchtige Mahlzeit Blut haben einsaugen können.

Am 27. brachen wir bei Tagesgrauen aus diesem unwirtlichen Mückenneste auf. Es dauerte nicht lange, so fegte ein warmer, dunstiger Südwestwind über das Wasser in diesem unheimlich verwickelten Labyrinthe von Seen, Sümpfen und Flüssen hin. Wir folgten unserem alten Ilek aufwärts; er gleicht kaum einem Flusse, sondern eher einer offenen Gasse in einem Sumpfsee. Unsere Richtung ist anfangs nördlich, aber beim Suji-sarik-köll (See des gelben Wassers) biegen wir nach Westen ab, um in ungeheuer verwickelten Dickichten und Dschungeln von Kamisch, durch die ein schlecht instandgehaltener Tschappgan führt, zu verschwinden (Abb. 97). Drinnen ist es dunkel und schwül; das Kamisch ist von den Stürmen über den engen Wasserweg gelegt worden und ist mit Staub und Flugsand bedeckt. Stellenweise bildet das Ganze eine Brücke, auf der man bequem weite Strecken über das im allgemeinen 2 Meter tiefe Wasser gehen kann. Es war jedoch nicht immer ganz leicht, unter diesen mächtigen natürlichen Gewölben, wo man so staubig wird wie auf einer Landstraße, vorzudringen. Zwischen Milliarden von Schilfstengeln rinnt das Wasser nach dem Ilek hinab. Diesen Abend lagerten wir im Dorfe Scheitlar, das wir auch im Winter besucht hatten (Abb. 98); ich erhielt also einen Anknüpfungspunkt an die Karte der Expedition nach Tschertschen.

113. Tokta Ahun und seine Mutter in Abdall. (S. 275.)
114. Tamarisken bei Tattlik-bulak. (S. 292.)
115. Frauen und Kinder der Loplik. (S. 278.)
116. Das Gerüst meiner Jurte. (S. 292.)

Von diesem Punkte aus machte ich am folgenden Tage mit zwei Führern einen Ausflug nach dem Kara-köll. Wir mußten 4,1 Kilometer[S. 249] zu Fuß gehen, ehe wir an sein Ufer gelangten, wo ein Kahn im Schilfe angebunden lag. Auch jetzt hatten wir einen Nordoststurm von der schlimmsten Sorte uns gerade entgegen. Wir ruderten um die größte offene Wasserfläche des Sees herum, indem wir uns längs des Schilfes oder innerhalb seines äußeren Randes, wo der Wellenschlag gemildert war, bewegten. Im Kara-köll sieht man ganze Fladen von Kamischwurzeln, die mit Lehm, Schlamm und verfaulten Algen vom Seeboden zusammengeballt sind und teils auf dem Wasser, teils ein wenig unter der Oberfläche treiben. Sie werden von der Bevölkerung „Sim“ genannt und sehen oft aus, als könnten sie einen Mann tragen. Sie zeigen jedenfalls deutlich, daß die Wasservegetation einer der Faktoren ist, die zur Verseichtung dieser ausgedehnten, wenig tiefen Sumpfseen beitragen.

Mit Tschernoff als Gehilfen maß ich jeden Arm, jeden Kanal, der Wasser nach dem Ilek und nach Argan führte und gewann die interessantesten Resultate, unter anderem den Beweis, daß das Wasser des Tarim sich seit meinem vorigen Besuche in immer größerer Menge in dieses östliche System hinübergezogen hatte.

Mit neuen Booten und Ruderern fuhren wir am 29. nach Westen und Nordwesten, den gewaltigen See Tschiwillik-köll kreuzend, der bedeutende offene Wasserflächen besitzt, aber gleich den anderen größtenteils von Schilf und Binsen überwuchert ist. Bei dem Dorfe Kadike, das 40 Bewohner zählt, durften die anderen lagern, während ich mit zwei Kähnen nach dem Awullu-köll weiterfuhr, um seinen Zusammenhang mit den übrigen Wasserwegen zu untersuchen.

In Kadike gesellten sich am nächsten Tage Kirgui Pavan und Schirdak Pavan, meine alten Führer, zu uns, und erst jetzt erhielten wir die Nachricht von Parpi Bais Tod. Als wir uns vor ein paar Tagen von Faisullah trennten, der sich schleunigst nach Tura-sallgan-ui begeben sollte, hatte er den Befehl an Parpi Bai und Tscherdon mitgenommen, mit der Hauptmasse der Karawane nach Tschimen vorauszugehen, damit die Tiere nicht unnötig von Bremsen und Mücken gepeinigt würden. Doch Parpi Bai sollte von dem Vertrauen, das ich zu seiner Fähigkeit hegte, eine große Karawane leiten zu können, nie Kenntnis erhalten.

Am 1. Mai hatten wir wieder neue Boote und neue Leute, darunter Kirgui und Schirdak. Die Fahrt ging auf dem Kuntschekkisch-Tarim nach Westnordwest. Bei Dargillik sind im Walde noch Spuren von etwa 20 Hütten, nach denen die Beke von Turfan sich unter der chinesischen Herrschaft vor Jakub Beks Zeit über Turfan-köbruk am oberen Ilek begaben, um die hauptsächlich in Otterfellen bezahlten Steuern für den Kaiser einzutreiben. Sie pflegten Geschenke in Gestalt von Mehl für die[S. 250] Beke und die Bevölkerung des Landes, die sich in ihren Kähnen von allen Seiten hier einfanden, mitzubringen. Dargillik war damals eine Art Marktplatz, und alle sehnten sich dorthin, in der Hoffnung, mit einem Beutel Mehl zurückzukehren, denn damals wurde im Loplande noch kein Ackerbau getrieben.

Bei dem Lager Dillgi fanden wir, daß jetzt 84,3 Kubikmeter Wasser dem Tschiwillik-köll zuströmten, aber ein paar Tage vorher hatten wir 91 Kubikmeter gemessen, die aus ihm abflossen. Dieses beim ersten Anblick seltsame Verhältnis beruht darauf, daß der Zufluß schon angefangen hat, abzunehmen, so daß der See, der als Reservoir wirkt, sich noch eine Zeit lang mehr Wassers entledigt, als er empfängt.

Die drei folgenden Tage ruderten wir angestrengt flußaufwärts. Am 4. Mai lagerten wir bei dem alten Naser Bek in Tikkenlik (Abb. 99) und erhielten gute Nachrichten aus dem Hauptquartier. Der 5. wurde Tikkenlik geopfert, denn am Morgen langte die erste Karawane aus Tura-sallgan-ui unter Tscherdons Oberbefehl hier an und mußte inspiziert werden. Die übrigen Teilnehmer waren Faisullah, Mollah Schah, Musa, Kutschuk und zehn Loplik samt 35 Pferden, 5 Mauleseln und 5 Hunden; Menschen wie Tiere waren in gutem Zustand. Das Gepäck der Karawane war imponierend und bestand aus Reis, Mehl, Konserven usw., der privaten Habe und den Kleidungsstücken der Leute, einem großen mongolischen Filzzelte und unzähligen anderen Dingen. Eine kleine Strecke außerhalb des Dorfes hatte die Karawane ihr großes Lager aufgeschlagen. Nach dem von mir durch Faisullah gesandten Befehl sollte sie den großen Karawanenweg bis Abdall benutzen und von dort direkt nach Tschimen in Nordtibet gehen, ein passendes Standlager aussuchen und meine Ankunft dort abwarten, wobei vor allem dafür gesorgt werden sollte, daß die Tiere gut gepflegt wurden, damit sie die Strapazen, die ihrer im Sommer warteten, aushalten konnten.

Der Amban von Tscharchlik, Dschan Daloi, passierte Tikkenlik während meiner dortigen Anwesenheit. Er war auf dem Wege nach seiner Residenzstadt und zeigte sich als ein ungewöhnlich liebenswürdiger, artiger, feiner Chinese, der mir später von großem Nutzen sein sollte.

Am 6. Mai wechselten wir zum letzten Male auf dieser langen Fahrt die Ruderer und Kähne. Wir brauchten leichte Fahrzeuge und starke Muskeln, denn ich beabsichtigte, die uns noch von Jangi-köll trennende Strecke möglichst schnell zurückzulegen. Über den Kalmak-ottogo-Arm (Abb. 100) gelangten wir wieder in den Tarim, wo wir am 7. gute Hilfe vom Winde hatten, was bei der starken Strömung, die jetzt nach der Eisschmelze herrschte, auch sehr nötig war.

[S. 251]

Den letzten Tag lag wieder Staubnebel schwer über dem Lande. Bei Artillma ersparten wir uns eine große Flußbiegung dadurch, daß wir die Kähne über eine schmale Landzunge schleppten. Als wir schließlich an unseren wohlbekannten Strand mit der einsamen Pappel gelangten, standen alle Mann zu unserem Empfang bereit. Sirkin berichtete über alles Vorgefallene und überreichte das meteorologische Journal nebst seinen Aufzeichnungen und Beobachtungen über die Veränderungen des Flusses während meiner Abwesenheit. Auf dem Korso hatten sie eine hübsche kleine mongolische Jurte aufgeschlagen, in der ich von nun an wohnte. Die Kosaken logierten in der Kamischhütte, Islam und Turdu Bai im Zelte. Die Fähre lag im Hafen vertäut und sollte jetzt wieder zu Ehren gelangen.

[S. 252]

Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Gefährliche Wasserfahrten.

Durch die Rückkehr in das alte Winterquartier war ein neues Glied in die Kette der Exkursionen eingefügt worden und hatte ein neues Kapitel der Reise seinen Abschluß gefunden. Der unschätzbaren Operationsbasis, die wir in Jangi-köll gehabt hatten, bedurften wir jetzt nicht länger, denn jetzt sollte all unser lebendes und totes Hab und Gut nach anderen Gegenden Asiens, in eine neue Welt und neue Verhältnisse übersiedeln: auf die unwirtlichen Berge zwischen dem Himalaja und dem Kwen-lun, welche die mächtigste Erhebung der Erdrinde bilden.

Die zehn Tage, die ich jetzt im Hauptquartiere zubrachte und die zur Ruhe so sehr notwendig waren, vergingen sehr schnell unter mannigfaltigen Beschäftigungen. Zuerst wurden alle Geschäfte mit Chalmet Aksakal von Korla abgeschlossen, der uns Pferde und Proviant auf lange Zeit hinaus besorgt hatte und der, als er uns verließ, meine große Post nach Europa mitnahm.

Unterdessen waren die Kosaken durchaus nicht müßig. Sie veränderten den Oberbau der Fähre in besonders bequemer, gemütlicher Weise. Unser altes Schiff sollte nämlich bald wieder in Gebrauch treten, da die Reise den Tarim hinunter fortgesetzt werden sollte. Statt des Zeltes wurde auf dem Vorderdeck eine ordentliche Hütte errichtet, die ganz wie die Dunkelkammer aussah, nur mit dem Unterschiede, daß die Latten mit weißen Filzdecken tapeziert wurden. Die Vorderwand bildeten zwei Filzvorhänge, von welchen der rechte vor dem Schreibtische nur nachts heruntergelassen wurde. Hier wurde auch eine kleine Markise gegen die Sonne, die mir sonst auf der Fahrt nach Süden sehr lästig geworden wäre, angebracht. An die aus Brettern bestehende Backbordlängswand wurden drei meiner Kisten gestellt, von denen eine als Eßtisch diente. Das Bett hatte seinen Platz an der Steuerbordlängswand, die nur aus einer großen herabhängenden Filzwand bestand. Ein Teppich wurde dagegen nicht auf den Boden gelegt; die Behausung sollte so luftig wie möglich sein. Das meteorologische[S. 253] Observatorium hatte denselben Platz wie früher, und die Instrumente ließen sich bequem von drinnen ablesen, wenn ich nur den kleinen Filzvorhang ein wenig zurückschlug. Die Decke bildeten sieben mit einem Teppiche bekleidete Latten. Von einer derselben hing an Stahldrähten ein mehr als einfacher „Kronleuchter“ herab.

Als die neue Residenz fertig war, wurden all meine Habseligkeiten dorthin gebracht, außer den Sachen, deren ich auf dem Flusse nicht bedurfte und die mit der Karawane gingen. Meine kleine Mongolenjurte wurde zusammengelegt und an Bord verstaut, denn ich wollte von ihr auf der Reise nach dem neuen Hauptquartier im Gebirge Gebrauch machen. Das neue Studierzimmer war so einladend und gemütlich, daß ich nicht begriff, wie ich mich auf der langen, kalten Herbstreise mit dem Zelte hatte begnügen können; die Filzdecke, die das Eindringen der Sonnenglut verhinderte, hielt auch die Wärme im Zimmer fest. Am besten von allem war, daß ich in dieser angenehmen Wohnung auf dem Tarim bis an den Punkt bleiben konnte, wo wir früher oder später unsere gute alte Fähre würden im Stiche lassen müssen, was sich, wie ich hoffte, noch recht lange würde hinausschieben lassen.

Auf dem Achterdeck bauten sich die Kosaken aus Brettern und Filzdecken eine ähnliche Kajüte, in der sie ihre Sachen unterbrachten. Sirkin hatte dort seinen kleinen Beobachtungstisch mit Aneroiden, einer Uhr, Wasserthermometern, Strommessern, Bandmaßen, Papier und Schreibmaterial. Er war mir auf der Reise nach Abdall ein unschätzbarer Sekretär.

Die Arbeit an der Fähre war schnell erledigt. Weil die Kosaken vor dem Aufbruche nicht müßig gehen sollten, gab ich ihnen ein neues Problem zu lösen. Die kleine englische Segeltuchjolle taugte zu allem, nur nicht zum Kreuzen; da aber unsere Freunde, die Fischer und die Bootsleute, es einstimmig für unmöglich erklärten, ohne Zuhilfenahme der Ruder gerade gegen den Wind anzugehen, fühlte ich mich versucht, sie in Erstaunen zu setzen und ihnen einen schlagenden Beweis von der Richtigkeit meiner Behauptung des Gegenteils zu geben.

Ich schnitzte daher ein kleines Modell, und nach dieser Vorlage hieben die Kosaken aus einem Pappelstamme ein Segelboot zurecht, dessen Rumpf nach allen Regeln der Kunst geformt wurde. Mit eisernen Krampen wurde am Boden ein loser Kiel und unter diesem ein paar Eisenstangen befestigt. Darauf wurde das Boot mit Leder gedeckt, das so fest gespannt wurde wie ein Trommelfell; ein abnehmbarer Mast hatte seinen Platz am Vorderteil, und das Fahrzeug trug ein einziges Segel. Unser Schmied verfertigte ein vortreffliches Steuer mit Ruderzapfen, drehbar auf zwei[S. 254] Stiften. Am Boden wurden zwei Sandsäcke festgemacht, um dem an und für sich schwankenden Fahrzeuge etwas Halt zu geben. Es trug nur einen Mann und war so schmal, daß der Segler kaum im Achter Platz fand und, so gut er konnte, mit den Beinen auf der Reling balancieren mußte.

Während all dieser Arbeiten hatte sich der freie Platz in unserem Dorfe, wo abends treu die chinesische Laterne brannte, aus einem Markte in eine Werft verwandelt, und mit Interesse und Neugierde verfolgten die Eingeborenen unser Tun (Abb. 101). Als das Boot fertig war und bei starkem Winde auf dem Flusse probiert wurde, versammelten sie sich an den Ufern und legten die größte Verwunderung über meine Manöver an den Tag. Das Boot kreuzte leicht und gehorchte willig dem Steuer, aber man durfte nicht gegen Nässe empfindlich sein, denn die Reling tauchte gewöhnlich unter die Oberfläche, und das Wasser stürzte in den Achterraum, den es bald füllte. Das Boot ging ausgezeichnet schnell, und seine Benutzung war ein erquickender Sport an den Tagen, da wir mit der großen Fähre starken Windes halber nicht weiter konnten.

Am Abend des 17. Mai besuchten alle Muselmänner Parpi Bais Grab und sprachen dort ihre Gebete; es war ihr letzter Abschiedsgruß an den alten Kameraden. Darauf wurde die Bevölkerung der Gegend zusammengetrommelt, und Holzfäller, Wasserträger, Hirten und alle, die uns sonst Dienste geleistet hatten, erhielten ihre Bezahlung.

Als ich am folgenden Morgen aus meiner Kajüte trat, standen die neun Kamele bereit und warteten auf ihre Lasten, die schon geordnet und an den Leitern festgebunden waren. Es war ursprünglich beabsichtigt, daß sie nachts marschieren sollten, um von den Bremsen verschont zu bleiben, die sie besonders jetzt, da sie nach dem Haaren nackt und empfindlich sind und mit den vereinzelten Haarbüscheln auf Kopf und Höckern wie junge Krähen aussehen, entsetzlich peinigen. Da sie aber lange geruht hatten und an das Gehen mit Lasten noch nicht gewöhnt waren und daher wahrscheinlich anfangs spielen und bocken würden, beschlossen wir, daß sie die ersten Märsche bei Tag zurücklegen und erst, sobald sie sich eingewöhnt hatten, nachts marschieren sollten.

Islam, Turdu Bai, Chodai Kullu und zwei Lopleute führten die Karawane; Tschernoff hatte den Auftrag, sie nach dem Gebirge zu eskortieren. Maschka, Jolldasch und die beiden, jetzt schon tüchtig gewachsenen jungen Hunde Malenki und Maltschik wurden angebunden, damit sie nicht mit der Karawane liefen (Abb. 102). Als meine besonderen Lieblinge sollten sie mir auf der Fähre Gesellschaft leisten. Die übrigen Hunde dagegen durften die Karawanenreise mitmachen; Jollbars, dem ein Wildschwein einen schlimmen Riß in der Seite beigebracht hatte, sollte nach[S. 255] seinem Belieben handeln. Er lag, seine Wunde leckend, in meiner alten Hütte, erholte sich aber wieder und begleitete mich später auf dem Wege nach Lhasa.

Als die Kamele mit ihren hohen Lasten und die Männer in farbigen Gewändern, von einer Menge Schaulustiger umgeben und von berittenen Lopleuten und Beken begleitet, durch Schilf und Unterholz fortzogen, boten sie ein schönes, farbenprächtiges Schauspiel. Doch in Tura-sallgan-ui war es, als sie fort waren, öde und leer geworden. Das Dorf lag verlassen, und sogar die Laterne war fort; auf dem Markte, wo es eben noch so lebhaft zugegangen war, spazierten jetzt nur noch ein paar Krähen umher. Die Ställe standen leer, die Kaufleute, die in unserer Nähe ihre Läden aufgeschlagen gehabt, hatten sich nach dankbareren Handelsplätzen begeben und nur aus der alten Küche der Muselmänner stieg noch der Rauch des letzten Feuers.

Die Hütten aber, in denen jetzt nur Skorpione und Spinnen hausen würden, sollten nicht niedergerissen werden; Chalmet Aksakal hatte erklärt, daß sie reisenden Kaufleuten von Nutzen sein könnten. Ein Jahr darauf wurde jedoch, wie schon erwähnt, die ganze Herrlichkeit durch die Frühlingsflut zerstört; die Hütten wurden dem Erdboden gleichgemacht, und selbst die Pappel ging den Weg alles Irdischen.

Der Klang der Kamelglocken war kaum verhallt, als Sirkin, Ördek und ich mit ein paar Ruderern in zwei Kähnen die Fähre, die für die Zukunft unser Lager bilden sollte, verließen. Wir eilten in sausender Fahrt flußabwärts und in den schmalen Kanal hinein, der nach dem Göllme-ketti (See des verlorenen Netzes) führte, wo Tiefenmessungen vorgenommen werden sollten. Merkwürdigerweise nahmen die Tiefen nach Süden zu, wo sie bis zu 7 Meter betrugen, also bedeutend mehr als gerade gegenüber im Flusse. Die größten Tiefen findet man im allgemeinen am östlichen Ufer, wo auch die Dünen steil nach dem See abfallen.

Während wir den Göllme-ketti hinabfuhren, nahm der Wind schnell an Heftigkeit zu und ging in einen halben Sturm über mit Dämmerung und Wolken von Staub und Sand, der wie Besen von allen Dünenkämmen aufwirbelte. Die Wellen schlugen in die Kähne, die bald hinter einem Vorsprunge an Land gezogen und leergeschöpft werden mußten.

Nachdem dies getan war, fuhren wir weiter; es wurde aber eine abenteuerliche Fahrt. Weit nach Süden hin erstreckte sich der See mit weißschimmernden, hellgrünen Wogen. Die Lage war insofern kritisch, als der See manchmal ziemlich flach war; wenn der Kahn an solchen Stellen den Sandboden streifte, konnte das Fahrzeug im Wogenschwalle kentern. Um eine solche Katastrophe zu vermeiden, mußten wir ziemlich weit vom[S. 256] Lande abhalten. Die Wellen schlugen über die niedrige Reling, und nach einer Weile saßen wir pudelnaß in einem erfrischenden Bade. Ich zitterte für das Skizzenbuch und die Instrumente, fand aber sonst die Lage höchst amüsant und spannend. Auf die Dauer wurde sie jedoch unhaltbar, denn die Kähne waren halb voll Wasser, und je tiefer sie lagen, desto leichter konnten die Wellen hineinströmen. Auf einmal sank Sirkins Boot und wurde von der Brandung hin und her geworfen, nachdem die Leute hinausgesprungen waren und ihre Sachen zu retten versucht hatten, was ihnen teilweise auch geglückt war. Wir sahen sie nachher ihr Fahrzeug ganz ruhig auf das Trockene ziehen, wo sie das Wasser aus ihren Kleidern wrangen. Wir anderen fuhren noch etwas weiter, bis auch unsere Lage höchst bedenklich wurde. Der Kahn wurde wie eine Nußschale von den Wellen hin und her geworfen. Noch hoben ihn jedoch die Kämme, und ich schöpfte, während die anderen ruderten, was das Zeug hielt; aber seine lange, schmale Form verursachte, daß jede Welle wenigstens mit ihrer Spitze hineinschlug und unter den Filzdecken, die meinen Sitzplatz bildeten, Spritzwasser zurückließ.

Der Atem stockt einem unwillkürlich, wenn eine gewaltige, weiß-schäumende Woge gegen die Seite des Kahns anstürmt; man glaubt, das leichte Fahrzeug müsse im nächsten Augenblick unfehlbar kentern oder vollständig von dem Schaumfalle unter Wasser gedrückt werden; es hält aber den Anprall noch aus und hebt sich wieder. Bald aber mußte es unfehlbar untergehen. Wir trieben daher den Vordersteven dem Lande zu, wobei die ganze Wassermasse auf das Achter drängte, und der Schiffbruch fand auf seichtem Wasser mit Sandboden statt, wo man an Land waten konnte, ohne mehr als bis zur Mitte naß zu werden, und so noch mit Mühe und Not alle Papiere zu retten vermochte.

Hier zogen wir uns nackt aus und breiteten unsere Anzüge und Sachen auf dem noch sonnendurchglühten Sande zum Trocknen aus. Die Leute benutzten die Gelegenheit zu einem Schläfchen, während ich auf besseres Wetter wartete. Da der Sturm sich aber nicht legte, wir keinen Proviant hatten und ich der Chronometer halber rechtzeitig wieder daheim sein mußte, mußten zwei Ruderer die Kähne am Lande entlang führen, während ich die Kartenarbeit zu Fuß fortsetzte.

117. Hauptquartier bei Mandarlik. (Blick talabwärts.) (S. 299.)

GRÖSSERES BILD
118. Lager bei Mandarlik. Blick talabwärts. (S. 299.)
119. Landschaft oberhalb von Mandarlik. (S. 299.)
120. Hauptkamm des Tschimen-tag, oberhalb von Mandarlik gesehen. (S. 300.)

Wenn auch die Tiefenmessungen auf dieser Exkursion mangelhaft gewesen waren, so hatte ich wenigstens die Überzeugung gewonnen, daß die Kähne bei starkem Wellenschlag geradezu lebensgefährlich sind. Es ist recht lustig, nach seinen eigenen „Seekarten“ zu manövrieren, aber auf dem Rückwege hatten wir wenig Nutzen von ihnen. Die Gegend verschwand in undurchdringlicher Finsternis. Die Männer schienen nach dem[S. 257] Gefühle zu rudern; sie müssen aber auch Katzenaugen gehabt haben, denn sie stießen nicht ein einziges Mal an. Schagdur, der Haus und Heim behütet hatte, zündete auf der Hafenspitze rechtzeitig ein Feuer an, und als wir an der Fähre anlegten, strahlte es aus den Kajüten so hell wie aus den Salons eines Flußdampfers.

Nachts stürmte es so heftig aus Südosten, daß die Fähre im Hafen schlingerte. Der Wasserstand stieg in den letzten Tagen um einige Zentimeter. Die Einwohner sagen, daß, wenn die große, durch das Auftauen des Eises verursachte Frühlingsflut vorbei sei, ein zweites, wenn auch unbedeutendes Hochwasser alljährlich beobachtet werde, und zwar gerade um die Zeit, wenn die Ölweidenblüten aufbrechen und die jungen Wildgänse selbständig zu werden beginnen. Wahrscheinlich hängt diese Erscheinung mit der Verteilung des Luftdruckes während dieser Jahreszeit zusammen. Uns war jeder Zuschuß zu der Wassermenge willkommen. Am 16. Mai hatten wir 73,4 Kubikmeter, oder 22 Kubikmeter weniger als am 7. Mai. So schnell fällt der Fluß, wenn die große Frühlingsflut vorbei ist.

Wir mußten uns sputen. Am 19. Mai befahl ich, die Anker zu lichten, nachdem die noch rückständigen Schulden und Belohnungen ausbezahlt worden waren. Die neuen Fährleute, Ak Käscha, Sadik, Tokta Ahun und Atta Kellgen, sahen angenehm und verständig aus und waren mit ihrer Ausrüstung und ihren Stangen bereit. Die englische Jolle manövrierte ein Loplik, das mit unserem großen Kahne zusammengebundene Segelboot nahm ein zweiter in seine Obhut, die kleine Lailiker Proviantfähre und unsere übrigen, jetzt überflüssigen Kähne wurden den Bewohnern von Jangi-köll geschenkt. Auf der großen Fähre war Ördek Kemi-baschi (Schiffskommandant), und vor dem Schreibtische hatte der alte Aksakal Pavan, der uns gern begleiten wollte, seinen Platz.

Die Frauen der Gegend hatten sich in unseren verlassenen Hütten versammelt, von wo aus sie uns zwischen dem Schilf hindurch begafften, und als die Fähre von der Strömung erfaßt wurde und mit flotter Fahrt flußabwärts trieb, begleitete uns am Ufer die männliche Bevölkerung, die sich jedoch nach und nach verlor, um nach Hause zurückzukehren.

Während der ganzen ersten Tagereise zog sich der Fluß unmittelbar längs hohen Sandes hin. Wir lagerten auf dem Westufer, der Mündung des Karunalik-köll gerade gegenüber. Das Programm der jetzt beginnenden Reise bestand darin, vom untersten Laufe des Tarim und möglichst vielen der an seinen Ufern liegenden Seen Karten aufzunehmen. Dies sollte die dritte Marschlinie in dieser Gegend werden. Nur bei Argan, Schirge-tschappgan und Abdall würde ich Punkte der beiden vorhergehenden[S. 258] Expeditionen berühren. Beunruhigende Gerüchte waren freilich in Jangi-köll in Umlauf gewesen. Man hatte gesagt, daß der Fluß sich immer mehr in neue, östliche Betten hinüberziehe und daß das Wasser kaum ausreiche, um die Fähre bis an das Ende des Flusses zu tragen. Wir waren jedoch entschlossen, die Fähre nicht eher zu verlassen, als bis jedes weitere Vordringen mit ihr wirklich unmöglich sein würde.

Am 20. Mai machte ich eine Fahrt nach dem See Karunalik-köll, die in jeder Hinsicht glücklich ausfiel und von herrlichem Wetter begünstigt wurde. Die Lotungen konnten daher kreuz und quer über den See auf planmäßig ausgewählten Linien gemacht werden. Schon im Einlaufskanal wurde eine interessante Beobachtung gemacht. Nicht weniger als 2,3 Kubikmeter Wasser in der Sekunde strömten vom Flusse in den See, der also um diese Zeit den Tarim um eine Wassermenge von 200000 Kubikmeter im Tage brandschatzte. So vielen Wassers bedarf es, um den See auf gleiches Niveau mit dem Flusse zu bringen. Man bekommt dadurch einen Begriff davon, wieviel Wasser selbst in einem so kleinen See durch Verdunstung und Einsickern in den Sand verloren geht.

Der See besteht aus zwei elliptischen Becken und gleicht an Gestalt einer Acht, welches Relief sich bei diesen eigentümlichen Wüstenseen wie auch bei den trockenen Bajirmulden oft wiederholt. Man findet daher bei ihnen ständig dieselben Bezeichnungen wie „Bolta“, d. h. Abschnürung oder schmale Passage zwischen den beiden Becken des Sees, „Kakkmar“ oder Buchten an den Seiten von „Modschuk“, welcher Name vorspringende Landspitzen oder Zungen bedeutet usw. Die größten Depressionen liegen wie bei den Bajiren an den steil abfallenden Dünen im Osten. Die meisten, wenn nicht alle Pappeln stehen auch am östlichen Ufer, oft im ärgsten Sande, so daß man sich wundern muß, daß sie nicht davon erstickt werden. Ihr Schicksal ist aber doch besiegelt, denn die Dünenmasse wälzt sich unter dem Drucke der Oststürme unausgesetzt westwärts. Tamarisken und Ölweiden kommen vereinzelt vor, und auf dem Westufer steht viel Schilf, obgleich nur auf dem Trockenen.

Die Höhe des nächsten dominierenden Dünenkammes wurde mit dem Nivellierspiegel gemessen; sie belief sich auf 89,5 Meter. Dabei ist jedoch zu bemerken, daß ich mit dem Spiegel die Höhe einiger anderen naheliegenden Dünen auf 10 bis 15 Meter mehr schätzen konnte, so daß diese Dünen auf dem rechten Ufer des Tarim also eine Höhe von zirka 100 Meter erreichen (Abb. 103, 104).

Nachdem wir abends mit der Fähre noch bis an den Einlauf des Ullug-köll (großer See) gefahren waren, lagerten wir und bestimmten den folgenden Tag zu einem Ausfluge dorthin. Gleich mehreren anderen Seen[S. 259] auf dem rechten Tarimufer hat auch dieser in seinem südlichsten Teile zwei durch eine gewaltige Sanddüne getrennte Buchten.

Fische sind sehr reichlich vorhanden, aber regelmäßiger Fischfang wird erst dann betrieben, wenn der Fluß so weit gefallen ist, daß der See abgeschnürt wird und zusammenschrumpft. Dann sollen die Fische fetter werden und wohlschmeckender sein. Sie werden auf andere Weise gefangen als in den schilfreichen Seen, wo man in jedem Tschappgan Netze auslegt. Hier fängt man sie mit einem Schleppnetze, das bis zu 80 Meter lang ist und von zwei Kähnen in seichtem Wasser gerudert wird. Man bildet erst einen Halbkreis, dann aber schwenkt das eine Boot in diesen hinein wie in eine Spirale, während andere Ruderer die Fische mit den Rudern in diesen Schneckengang hineinjagen, wo sie dann in dem Schleppnetze hängenbleiben, mit diesem aufgenommen und mit einem Knüttel totgeschlagen werden.

An den Ufern ist das Tierleben durch Rehe und Wildschweine vertreten, die sich dort jedoch nur sporadisch zeigen. Adler, Seeschwalben und einige kleine Sumpfvögel waren die einzigen Vögel, die wir sahen. Enten und Gänse würden hier vergeblich nach Nahrung suchen.

Diese ganze Reihe von Seen, die am rechten Ufer des Tarim wie Blätter an einem Zweige hängen, sind Schmarotzer, Auswüchse an dem Leibe des Flusses; sie erhalten von ihm ihre Lebenskraft und würden sterben und verschwinden, wenn der Fluß eine andere Richtung einschlüge. Im Herbst sind sie zur Hälfte ausgetrocknet und müssen wieder gefüllt werden. Der Fluß wird also jährlich ungeheuerer Wassermengen beraubt, die sonst dem Kara-koschun zugute kommen und der Karte ein ganz anderes Aussehen geben würden. Man kann sich daher denken, daß, als die Seenreihe noch nicht vorhanden war, die Lopseen viel größer gewesen sein müssen als jetzt, und ihre Zunahme ist eine der Ursachen des langsamen Verschwindens der unteren äußersten Seen.

Am 22. Mai sollte eine lange Fahrt flußabwärts gemacht werden, aber schon gegen 11 Uhr jagte uns ein toller Südwest in eine Bucht hinein, in der wir fast den ganzen Tag bleiben mußten. Erst um 6 Uhr konnten wir weiterfahren. In den ziemlich gerade nach Osten laufenden Teilen des Flusses ging es mit reißender Geschwindigkeit vorwärts, denn der Wind half, und wir legten 1,52 Meter in der Sekunde zurück, was von der Schnelligkeit, mit welcher die Kähne gewöhnlich gerudert werden, nicht weit entfernt ist. Es war ein Genuß, die Ufer wieder vorbeieilen zu sehen, und es ging so geschwind, daß ich mit dem Kompaß und der Uhr aufpassen mußte, um nicht mit der Karte im Rückstand zu bleiben. Sirkin war mir eine unschätzbare Hilfe; er führte Tiefenmessungen aus,[S. 260] maß die Stromgeschwindigkeit und von Zeit zu Zeit auch die Geschwindigkeit der Fähre.

Das Leben an Bord war ebenso ruhig und friedlich wie im Herbst; alle taten ihre Pflicht. Die Kosaken, die damals noch nicht bei mir gewesen waren, fanden diese Fahrt höchst vergnüglich. Sie saßen plaudernd vor ihrer Kajüte oder umkreisten zu Kahn die Fähre, gingen an Land, um in den Buchten Wildenten zu schießen und belustigten sich nach beendeter Tagereise mit Fischfang. Wir leben beinahe ausschließlich von Fischen und Enten, doch konnten wir von den Hirten an den Ufern auch Schafe und Milch bekommen. Schagdur war mein Koch und Kammerdiener. Ördek, der Kapitän, kommandierte ein wenig geräuschvoll, versah aber sein Amt in vortrefflicher Weise. An den Lagerplätzen schliefen die Muselmänner an Land, die Kosaken und ich an Bord. Jeden Abend wurden die jungen Hunde gebadet, zum großen Vergnügen der Zuschauer, aber zum Entsetzen für die kleinen Sündenböcke selber.

Am 23. Mai machten wir eine außergewöhnlich lange Fahrt. Gerade als wir am Abend mit dem Messen des Flusses beschäftigt waren, erschienen Nasar Bek, Kirgui Pavan und Temir Schang-ja in ihren Kähnen. Der letzte wurde sogleich fortgewiesen, weil er ein ausgemachter Schuft war, der durch seine dressierten Spießgesellen Chalmet Aksakal um eine Partie Zeugstoffe und andere Waren hatte bestehlen lassen und der überdies die Bevölkerung seines Distrikts gewohnheitsmäßig aussog. All sein Bitten half ihm nichts; ich zeigte ihn beim Amban von Tscharchlik an, der ihm seine Amtstracht und sein Amt entzog.

In Verbindung hiermit möge man es nicht für vermessen halten, wenn ich sage, daß so lange wir unseren Wohnplatz im Loplande aufgeschlagen hatten, dort Ordnung und Ruhe herrschten; ich duldete keine Ungerechtigkeiten gegen die arme, aber redliche Bevölkerung. Es wurde auch eine Gewohnheit, daß die, denen ein Unrecht zugefügt worden und die nicht die Kraft und die Mittel besaßen, sich ihr Recht zu verschaffen, sich mit Bittschriften um Hilfe und Beistand an mich wandten, und Tura-sallgan-ui ist daher seinerzeit auch der Sitz eines „Landgerichts“ gewesen, das unserem Lager mit Übergehung von Dural, Kara-schahr und Tscharchlik, wo chinesische Ambane regieren, den Anstrich einer Metropole des Landes gab. Bei schwereren Fällen pflegte ich an die Ambane zu schreiben und sie daran zu erinnern, daß es ihnen schlimm gehen würde, wenn sie meinen Wünschen nicht nachkämen; leichtere Rechtsstreitigkeiten aber konnten wir selbst schlichten. Die Lopbevölkerung wird tatsächlich mehr von ihren Beken und Ambanen als von Bremsen und Mücken gepeinigt.

Wir bekamen jetzt recht viele Passagiere, unter anderen auch einen[S. 261] Mann, der nach Kum-tschappgan wollte und es für bequem hielt, auf diese Weise dorthin zu gelangen; er mußte aber als gewöhnlicher Matrose gegen freie Station an Bord dienen. Ein Geschwader von neun Kähnen war aufgeboten worden, um uns einen Weg über die Seen, die wir heute zu passieren hatten, zu bahnen und uns durch ihre verwickelten Schilflabyrinthe zu führen. Bei Keppek-ui begann dieses Gewirr von neugebildeten Seen, die voller Kamisch waren, in dem wir nur mit Schwierigkeit vorwärtskamen. Alle überflüssigen Passagiere mußten in die Kähne steigen, und alle Fischer und Ruderer, die das Geschwader bemannten, begaben sich ins Wasser, zogen aus Leibeskräften und preßten die Fähre zwischen den kompakten Schilfbeständen hindurch. Über die Seen Kurban-dschajiri und Süssük-köll ging es dagegen gut, dank dem nachschiebenden Winde und unseren Leuten, welche die Stangen mit Rudern vertauschten und die Fähre über ziemlich offenes Wasser ruderten.

Auf der anderen Seite mußten wir uns wieder durch einen Korridor zwängen, wo das 4 Meter hohe Schilf einer dichten Hecke glich. Das war ein Geschrei und Lärm in diesem Hohlwege, wo wir drauf und dran waren, wie in einer Mausefalle steckenzubleiben, ohne vorwärts oder rückwärts zu können; wir hatten allen Grund zu fürchten, daß dies der unglückselige Punkt sei, an dem wir die Fähre zurücklassen mußten!

Solange wir festsaßen, hatten wir es schön in dem kühlen Schatten. Dagegen bildeten die durch die Luft schwärmenden Bremsen (Kökkön) eine wirkliche Landplage. Unaufhörliches Brummen ertönt in den Ohren; sie setzen sich klatschend auf das Kartenblatt, lassen sich in meiner Kajüte häuslich nieder und stechen und quälen uns wie böse Geister. Ich hätte mich freilich mit dem Moskitonetze schützen können, schämte mich aber vor den Leuten, die nackt im Wasser gingen und sich gar nicht beklagten. Bei Sonnenuntergang verschwinden diese scheußlichen Insekten, aber nur, um Mücken und Moskitos Platz zu machen. In dieser Jahreszeit hat man im Loplande weder Tag noch Nacht vor den Insekten auch nur eine Stunde Ruhe.

In den See Tuwadaku-köll war nicht leicht hineinzukommen. Die Passage war gerade 1½ Meter zu schmal, dazu seicht und winkelig; aber dies war der einzige Weg, der sich uns bot (Abb. 106). Etwa 20 Leute arbeiteten ein paar Stunden mit Spaten an der Vertiefung des Kanals und hieben das Schilf auf beiden Seiten fort; auf diese Weise drang die Fähre Fuß für Fuß vor. Um die Arbeit zu erleichtern, steckten wir nach und nach das Schilf in Brand, wodurch kolossale Feuersäulen und Rauchwolken von dem See aufstiegen. Dieses Verfahren ist jedoch manchmal recht unangenehm und konnte nur auf der Leeseite der Fähre vorgenommen[S. 262] werden. Man begab sich sozusagen mit Hab und Gut auf einen brennenden See hinaus; wäre uns das Feuer zu nahe gekommen, so hätte der Oberbau der Fähre ebenso hell gebrannt wie das Schilf.

Bei dem Dorfe Jekkenlik, das auf einer Insel inmitten des gleichnamigen Sees liegt und von zwei Familien bewohnt wird, ließen wir nach einem sehr anstrengenden Tage die Anker fallen.

Die Exkursion, die wir am 25. Mai nach dem Beglik-köll unternahmen, wurde eine ziemlich muntere Fahrt. Früh am Morgen war die Luft außergewöhnlich frisch, obwohl das Minimumthermometer nicht unter +16 Grad heruntergegangen war; es ist merkwürdig, wie schnell sich der Körper an die verschiedenen Temperaturen gewöhnt; im Winter war es uns bei −10 Grad oft warm vorgekommen. Die Atmosphäre war vollkommen ruhig, und der Jekkenlik-köll lag spiegelblank, als wir nach dem Dorfe Kattik-arik hinüber ruderten. Dieses besteht aus zwei Sattmen mit drei Familien, die uns freundlich begrüßten und uns halfen, die Kähne über eine schmale Landenge nach dem alten, jedoch noch mit stillstehendem, klarem Wasser gefüllten Bette des Jarkent-darja zu schleppen.

Der Abwechslung halber hatte ich Schagdur mitgenommen. Er war im Ablesen der Tiefen und Geschwindigkeiten schon ebenso geschickt wie Sirkin; nur eine Eigenschaft machte ihn für diese abenteuerlichen Seefahrten ungeeignet, und diese bestand darin, daß er nicht schwimmen konnte.

Still und ruhig lag der Beglik-köll da, und man ahnte kaum, daß dieser Wasserspiegel von den Mächten des Himmels zu schäumenden Wogen aufgepeitscht werden könne. Es tat mir beinahe leid, die Spiegelbilder, die sich naturgetreu wie Photographien auf der Wasserfläche zeigten, zerstören zu müssen. Heißer denn je brannte die Sonne. Ich mußte meinen weißen Anzug unaufhörlich mit Wasser bespritzen, um es einigermaßen kühl zu haben. Der ganze Tag wurde diesem See gewidmet, und dennoch kamen wir nicht mehr dazu, die Messungen auf ein paar Fjorden ganz zum Abschlusse zu bringen. Einer von ihnen wurde von einem Dünenkamme aus in die Karte eingetragen. Der Sand war glühend heiß, er brannte durch die Schuhsohlen, und es war daher schön, eine Weile auf der Kahnreling zu sitzen, mit den Füßen im Wasser zu plätschern und eine Pfeife Virginia zu rauchen.

Wir hatten dort noch nicht lange gesessen, als mein alter Freund Kirgui Pavan, auch Kurban genannt, auf die hohen, steilen Dünen des uns gerade gegenüberliegenden östlichen Ufers zeigte und mit fragendem Tone „Kara-buran“ (schwarzer Sturm) sagte. Dort sah man eine dunkle, ein wenig schräge Säule mit einem Kapitäl aus helleren Wolken am Horizont aufsteigen. Ähnliche Säulen tauchten nach und nach in langen[S. 263] Reihen auf beiden Seiten der ersten auf, Händen und Fingern vergleichbar; sie zogen sich allmählich zu einer zusammenhängenden Wand mit gezähnten Konturen zusammen, die immer höher wurde. Wir schwebten nicht länger über das, was uns bevorstand, in Ungewißheit.

Einen Augenblick überlegten wir die Situation. Die Lopleute stimmten dafür, zu bleiben, wo wir waren; darauf konnte ich aber durchaus nicht eingehen, nicht weil wir nicht genügend Proviant hatten und ich die Nacht lieber in meiner bequemen Hütte zugebracht hätte, sondern einzig und allein, weil die Chronometer zur bestimmten Zeit aufgezogen werden mußten. Kirgui Pavan war gar nicht dafür, bei einem von Osten kommenden Sturme am Westufer zu liegen. Er war außerordentlich vorsichtig und klug, hatte aber nie Angst, und wenn Gefahr vorhanden war, verlor er nie seine Kaltblütigkeit. Jetzt machte er seine Berechnungen und schlug dann vor, wir sollten versuchen, die Mündung des schmalen Kanales zu erreichen, der den Beglik-köll vom Flusse aus mit Wasser versieht und der so lang ist, daß wir am Morgen zwei gute Stunden gebraucht hatten, um ihn zurückzulegen. Doch von seiner Mündung trennte uns die größte Partie des Sees mit einem breiten Fjord, der sich westwärts in den See hineinzieht.

Nach dem Ostufer hinüberzugehen, wo wir unter den Dünen Schutz gehabt hätten, wäre das beste gewesen; aber obwohl der See noch so gut wie ganz ruhig dalag, rieten doch alle davon ab, denn die Entfernung war zu groß und es wäre uns nicht gelungen, noch hinüberzukommen. Es blieb uns also nichts weiter übrig, als die Fjordmündung zu kreuzen und dann am nördlichen Seeufer, wo wir zwischen kleinen Holmen und Inseln Schutz finden würden, entlang zu rudern.

Die Männer ruderten mit solcher Kraft, daß ich erwartete, die Ruder zerspringen zu hören; diese standen so straff gespannt im Wasser wie Pfeilbogen, als wir über das stille Wasser hinsausten, und der Schaum spritzte büschelförmig vom Bug der Kähne auf (Abb. 105). Wir machten fast 9 Kilometer in der Stunde. Die Leute waren fürchterlich ängstlich und unausgesetzt riefen sie mit dumpfer, hohler Stimme: „ja Allah!“ Noch war die Atmosphäre still, aber deutlich fühlte man, daß eine fürchterliche Revolution bevorstand, und man sah, wie der Sturm an Boden gewann.

„Jetzt ist er schon auf den äußersten Dünen“, sagte Kirgui Pavan in demselben Augenblick, als sich ihre Konturen auflösten und wie auf einer Schiefertafel ausgelöscht wurden; im Nu verschwand die ganze Dünenwand, der ganze Strand in dickem, gelbgrauem Nebel. „Rudert, rudert, Kinder, es gibt einen Gott.“ fügte er, die Leute anfeuernd, hinzu. „Chodaim var“ (es gibt einen Gott) war in allen kritischen Fällen sein stehender, beruhigender Wahlspruch.

[S. 264]

Jetzt kamen die ersten Windstöße aus Ostnordost, dann hörte man das Brausen, als der schwarze Sturm auf das Wasser niederschlug, welches zischte und spritzte und in wenigen Minuten mit hohen, dunkeln, rollenden Wogen in völligem Aufruhr war. Je näher der Sturm kam, desto angestrengter wurde gerudert, und die Geschwindigkeit betrug jetzt bis an das Nordufer sicherlich 10 Kilometer. „Wir kommen nicht mehr hin,“ riefen sie, „ja Allah!“

Ich steckte die wenigen mitgenommenen Instrumente zu mir, zog mir Schuhe und Strümpfe aus und war auf alles gefaßt. „Jetzt ist er hier!“ schrien unsere Ruderer, die alle auf den Knien lagen, die Ruder fester fassend, und die Ruderschläge folgten so dicht aufeinander, als würden die Arme der Ruderer mit Dampf getrieben.

Gerade als der Sturm uns erreichte und die leichten Boote umgerissen hätte, wenn wir uns nicht rechtzeitig luvwärts gebeugt hätten, wurden wir in dicken Nebel gehüllt, der aus lauter feinem Staube bestand. Jetzt verhüllte er auch das westliche und nördliche Ufer, und recht ernste Gefühle bemächtigten sich unserer, als wir nichts weiter sahen als tobende Wellen, zwischen denen die Kähne wie Strohhalme verschwanden.

Kirgui Pavan aber und seine Ruderer kannten einen feinen Kniff, der darin bestand, bei jeder heranstürmenden hohen Welle die Kähne ein bißchen gegen den Wind zu kehren; auf diese Weise nahmen wir nicht so sehr viel Wasser ein, obwohl wir alle von dem aufspritzenden Gischt völlig durchnäßt wurden.

Wir waren noch im letzten Augenblick vom Westufer aufgebrochen; ein paar Minuten später und die Kähne wären untergegangen. Schön war es, als wir endlich die am Nordufer stehenden Tamarisken wie dunkle Flecke durch den Nebelschleier schimmern sahen, und bald darauf befanden wir uns im Schutze eines vorzüglichen Wellenbrechers, einer langen, schmalen Halbinsel.

Sirkin und Nasar Bek hatten sich unsertwegen sehr beunruhigt, und letzterer begab sich selbst mit zwei großen Kähnen von Jekkenlik nach dem Beglik-köll, um uns Entsatz zu bringen. Wir trafen ihn und seine Begleiter in der Nähe der Kanalmündung, und sie waren freudig überrascht, uns wohlbehalten auf dem Rückwege zu sehen. Er hatte Betten, warme Kleidungsstücke und Proviant mitgebracht, eine vollständige Ausrüstung, die Sirkin für den Fall, daß wir am Abend nicht zurückkehren könnten, zurechtgemacht hatte.

121. Aufbruch ins tibetische Hochgebirge. (S. 300.)

GRÖSSERES BILD
122. Zwei gefangene Kulanfüllen. (S. 309.)
123. Die Kulanfüllen von vorn gesehen. (S. 309.)
124. Ein Parallelkamm des Arka-tag, von Lager Nr. 19 aus gesehen. (S. 315.)
125. Einige unserer Pferde im südlichen Quertale (3. Aug. 1900). (S. 317.)

Bei solchem Wetter, in dem man nicht sieht, nach welcher Seite man schwimmen muß, hätte ein Schiffbruch draußen auf offenem See verhängnisvolle Folgen haben können. Alle, außer Schagdur, waren allerdings gute[S. 265] Schwimmer; dagegen ist die Tragkraft der Kähne, wenn sie erst mit Wasser gefüllt sind, gering; die Instrumente wären wohl für immer verloren gewesen.

Leicht war es nicht, die Fähre in dem so schilfreichen Jekkenliksee zu finden. Es war pechfinster, als wir an dem See anlangten, und der Sturm war jetzt auf dem Gipfel seiner Wut. Wir sahen absolut nichts, fühlten aber um so mehr, wie die Schilfhecken vom Buran auf unsere Kähne niedergeschlagen wurden und unser Gesicht peitschten. Ich mußte die ganze Zeit über die Arme hoch halten und mit ihnen abwehren, um nicht von den langen scharfen Blättern geschnitten zu werden. Rufen und Warnen nützte gar nichts, das Sausen des Windes in dem Kamisch ließ jeden anderen Laut ersterben. Wie die Ruderer den Weg fanden, weiß ich nicht, aber schließlich wurde doch das von Sirkin angezündete Feuer sichtbar. Wir befanden uns schon dicht vor dem Lager; obwohl die Scheiter in dem intensiven Winde weiß glühten, hatten sie den Nebel nicht weiter zu durchdringen vermocht.

Dies war einer der unheimlichsten Stürme, die ich je erlebt habe, und in dieser Nacht wurde nicht viel aus dem Schlafen. Das meteorologische Observatorium wurde hereingenommen, in den Kajüten wirbelten alle leichteren Sachen umher und mußten rechtzeitig fest verstaut werden, und durch die Filzdecken kam ein Regen von Sand und Staub. Am unruhigsten war ich des Feuers wegen, denn die Fähre war überall von Schilf umgeben; daher wurden sowohl an Bord wie auf dem Land die ganze Nacht hindurch Wachen ausgestellt.

[S. 266]

Vierundzwanzigstes Kapitel.
Die letzte Reise der Fähre.

Den ganzen folgenden Tag tobte der Sturm, und geduldig mußten wir in Jekkenlik warten. Gegen Abend ließ er ein wenig nach, und ich machte in dem neuen Boote eine herrliche Segelfahrt über die offenen Flächen des Sees.

Am 27. Mai, der windstilles warmes Wetter brachte, wurde der Rest des Jekkenlik-köll bis an den Punkt zurückgelegt, wo sein Wasser in Kaskaden in das Bett des Tarim hinunterströmt. Wir waren umgeben von einer Flottille von 12 Booten mit 30 Mann Besatzung, die uns über die Fälle hinweghelfen sollten. Es war ein eigentümliches Gefühl, als die Fähre von Fallkamm zu Fallkamm sank; sie beugte sich mit ihrem Vorderteile vornüber, um im nächsten Augenblick von der aufgeregten Wassermasse in Empfang genommen zu werden. Es herrschte die größte Spannung, und die Leute schrien, daß einem der Kopf schwindeln konnte; aber es lief doch alles glücklich ab, und die Fähre glitt ruhig auf den Tarim hinaus.

Am folgenden Tage wurden alle unnötigen Gäste, mit dem alten Naser Bek an der Spitze, verabschiedet, und in ihrer Einwohnerzahl dezimiert, zog die Flottille langsam flußabwärts. Die Tage waren folgendermaßen eingeteilt. Bei Sonnenaufgang wurde ich von Schagdur geweckt und inspizierte dann das Lager mit einem „Guten Morgen, Kosaken“, was mit militärischem Honneurmachen und „Starovie schelajim vasche prevoschoditelstvo“ (wir wünschen Euer Exzellenz Gesundheit) erwidert wurde; an die Muselmänner wurde der gewöhnliche Gruß „Salam aleikum“ (Friede sei mit euch) gerichtet, der wie ein Echo von allen Lippen zurückschallte. Das Frühstück bestand aus Fisch, Eiern, Tee und Brot. Während des Tages stand das Teegeschirr in meiner Kajüte, und der Samowar war bei den Kosaken stets angeheizt. Die Hauptmahlzeit wurde gegen 8 Uhr abends eingenommen und bestand aus Reispudding, Fisch, Kaffee und Milch. Die Arbeit wurde, solange es Tag war, ununterbrochen fortgesetzt, und den Abend nahm das Eintragen der am Tage gemachten Beobachtungen in Anspruch.

[S. 267]

Schagdur machte sich vortrefflich, und ich gewann diesen prächtigen Kosaken, zu dem ich unbeschränktes Vertrauen hatte, immer lieber. Er hatte schon ziemlich geläufig mit den Muselmännern sprechen gelernt und nahm aus eigenem Antrieb bei Sirkin Unterricht in meteorologischer Beobachtungskunst, sowie im Lesen und Schreiben in russischer Sprache, worin er sich während dieser Fahrt so vervollkommnete, daß er mir später bei mehreren Gelegenheiten, als wir getrennt waren, Briefe schreiben konnte. Hätten die Kosaken einen weniger guten Charakter gehabt, so wären sie vielleicht während der Reise verdorben worden, denn sie hatten sehr viel Freiheit, solange sie in meinen Diensten standen. Doch ihre Disziplin erschlaffte nicht um Haaresbreite, und nie vergaßen sie die Achtung, die sie dem ihnen zugeteilten Vorgesetzten schuldig waren.

Der Beste unter den Muhammedanern war Kirgui Pavan, der siebzigjährige Kameljäger aus Tikkenlik, ein durch und durch ehrlicher, anständiger Mensch, angenehm und munter im Umgang. Er hielt sich tagelang vor dem Schreibtisch im Vorderteile auf, wo er die Steuerbordstange führte, während Aksakal aus Jangi-köll, ein großer, starker, weißbärtiger Mann von 60 Jahren, die Backbordstange hatte. Es bereitete mir ein Extravergnügen, der Unterhaltung dieser beiden Greise über die Aussichten der Fahrt und die beständig größer werdenden Entfernungen, die sie von ihrer Heimat im Nordwesten trennten, zuzuhören. Sie zerbrachen sich den Kopf darüber, wie sie überhaupt wieder zurückkommen sollten, und ich mußte sie wiederholt beruhigen und ihnen versprechen, daß ich für ihre Rückkehr sorgen würde. Vorläufig war Kirgui Pavan das Land noch bekannt, und es war ein großer Vorteil, ihn beim Beginnen jedes neuen Kartenblattes nach der nächsten Hauptrichtung des Flusses fragen zu können, denn sonst geschah es leicht, daß die angefangene Zeichnung nach einer Weile über den Rand des Blattes hinausging.

Ördek, der sich so vortrefflich gemacht hatte, meldete sich krank und mußte zu Kahn nach seiner Heimat zurückgebracht werden. —

Wir hatten beim Einbrechen der Dunkelheit die Fähre vertäut, ich hatte zu Mittag gegessen und war mit meinem Tagebuch beschäftigt, als die Hunde zu bellen begannen und ein unbekannter Kahn im Dunkeln heranruderte und anlegte. Ich glaubte, ein Loplik wolle uns besuchen, doch es ertönten schnelle Schritte auf dem Seitengange der Fähre, die Filzvorhänge meiner Kajüte wurden zurückgeschlagen, und die wohlbekannten Züge des Dschigiten Musa zeigten sich. Er war in 33 Tagen mit Post von Kaschgar geritten und war uns von dem Lager in Jangi-köll, das er öde und leer gefunden, flußabwärts zu Boot gefolgt. Die Ankunft der Dschigiten bildete stets die großen Festtage der Reise, an denen die Verbindung[S. 268] mit der Heimat und der Außenwelt wieder angeknüpft wurde. Nachdem Pakete von Briefen, Büchern und Zeitungen auf dem Fußboden aufgereiht worden, wurde die Kajüte zugemacht, und ich legte mich hin und las bis um 3 Uhr morgens.

29. Mai. Mein alter Lotse Kirgui Pavan teilte mir wie gewöhnlich die Namen der Gegenden und einzelnen Stellen mit und erzählte mir alles, was er von dem Flusse aus früherer und aus jetziger Zeit wußte. An einen Hügel bei einer einsamen Pappel namens Kamschuk-tüschken-tograk (die Pappel, wo sich Kamschuken niederließen), knüpfte er eine dunkle Geschichte von Menschen unbekannten Stammes, aber obenerwähnten Namens, die vor mehreren Jahrzehnten von Korla gekommen und auf einigen aus Pappelstämmen zusammengefügten Flößen den Kontsche-darja hinuntergegangen waren. Es waren etwa fünfzig Familien mit Frauen und Kindern, aber verhältnismäßig wenig alten Leuten gewesen. Sie reisten langsam, rasteten hier und dort ein paar Tage, waren arm und tauschten sich gegen Flinten und Pulver Lebensmittel ein. Kirgui Pavan hatte sie in seiner Jugend selbst gesehen. Er erinnerte sich, daß sie geschickte Schützen gewesen, die sich von Fischen und Wildschweinfleisch ernährt haben. Ihr Führer hieß Jiwen (Iwan?) und hatte das Land vorher allein besucht, um zu sehen, ob es sich zur Ansiedelung eignete. Beim Schafschlachten hatten sie nicht ebenso verfahren wie die Muselmänner, sondern das Schaf erst durch einen Keulenschlag vor die Stirn betäubt. Ein älteres Mitglied ihrer Gesellschaft war von den Lopbewohnern Jeghalaghak, der „Weinende“, genannt worden; seine Gattin war gestorben und lag bei der obenerwähnten Pappel begraben. Auf Befehl Aschur Beks von Turfan hatten sie nach dreijährigem Aufenthalt im Loplande, wo sie bis Tscharchlik gekommen waren, auf demselben Wege wieder zurückkehren müssen. Die Rückreise hatten sie zu Land angetreten und waren in einer dunkeln Nacht von einem Buran überfallen worden. Hierbei verschwand ein junges Mädchen, die Braut eines Mannes namens Eweranj. Dieser war vor Gram beinahe wahnsinnig geworden und hatte seine Verlobte Tag und Nacht gesucht; da sie sich aber offenbar im Sturme verirrt hatte, hatten sie sie ihrem Schicksale überlassen und waren weitergezogen. Alle sprachen fließend „Turki“ und sagten, daß sie Flüchtlinge seien.

Diese unzusammenhängende, bruchstückhafte Erzählung war die einzige Raskolnikenüberlieferung, die ich im Loplande hörte. —

Gegen Abend begann der Fluß wieder unruhig und launenhaft zu werden; er teilte sich in mehrere Arme, unter denen wir unseren Weg mit großer Vorsicht auswählen mußten, und ergoß sich schließlich in den neuen See Sattowaldi-köll, wo wir auf einer kleinen Insel, dem einzigen[S. 269] in Sehweite befindlichen festen Boden, lagerten. Hier waren die Mücken noch lästiger als gewöhnlich, und ich hatte in meiner Kajüte ein brennendes Becken mit Kamischhäcksel, um Ruhe vor ihnen zu haben.

Die nächste Tagereise führte ununterbrochen über Seen und durch ein Labyrinth von engen Kanälen, in denen wir nur mit Hilfe aufgebotener Leute vordringen konnten. Wir lagerten jedoch abends wieder auf dem alten Tarim, der hier 23,8 Kubikmeter in der Sekunde führte.

Nachdem am 1. Juni der Dschigit Musa mit der neu gefüllten Posttasche wieder zurückgeschickt worden war, setzten wir unseren Weg auf dem Flusse fort. Der Tarim fing an, unangenehm gewunden zu sein, und der Wind war uns hinderlich; bisweilen half nicht einmal das Arbeiten mit Rudern und Stangen, und erst am Abend des 2. Juni erreichten wir Ajag-argan, wo wir auf derselben Landzunge lagerten, wo unser Zelt schon zweimal aufgeschlagen gewesen war.

Hier blieben wir verschiedener Arbeiten wegen zwei Tage liegen. Die Muselmänner beschäftigten sich mit gründlicher Reinigung der Fähre. Ich maß die beiden Flüsse, die der Tarim bei Argan aus dem Tschiwillik-köll erhält und die zusammen 36,5 Kubikmeter Wasser führten. Wir würden also während der noch folgenden Tagereisen nicht über Wassermangel zu klagen haben. Der vereinigte Fluß, der von hier an auch Baba Tarim (Flußgreis) genannt wird, hatte jetzt 60,8 Kubikmeter in der Sekunde.

Die Strecke am 5. Juni war voller Biegungen und Windungen und führte durch ziemlich üppigen Wald, der jetzt in seiner größten Sommerpracht stand. Das Wasser des Flusses hatte 23,5 Grad. Sirkin pflegte oft von der Fähre hineinzuspringen und eine kleine Schwimmtour um sie herum zu machen. Ich selbst badete nur um Mitternacht und 7 Uhr morgens, hatte aber den ganzen Tag über einen großen Zuber mit Wasser in meiner Kajüte, um mich zwischen den Kompaßpeilungen erfrischen zu können. Jeden Abend legten die Kosaken ihre Netze aus, und wir konnten uns also selbst mit Fischen versorgen. Eines Morgens betrug der Fang zwanzig Stück, die so groß waren, daß ein Fisch gut für einen hungrigen Mann ausreichte.

Flußabwärts nehmen Bremsen, Mücken und Moskitos in beängstigendem Grade zu, und wo sie sich zusammentun, hat man keine sonderliche Freude am Dasein. Sie sind außerordentlich gesellschaftlich und übertreffen einander an Aufmerksamkeit. Doch gegen sie zu kämpfen, ist ganz vergeblich; man zieht dabei in jedem Falle den kürzeren. Die Stiche der Bremsen brennen wie Feuer, und jeden Abend liegen Hunderte dieser Insekten tot um den Schreibtisch herum, so daß täglich ausgefegt werden muß. Die[S. 270] Hunde führen einen verzweifelten Krieg mit ihnen und haben nur nachts Ruhe. Die Hütten, die wir gelegentlich passieren, sind unbewohnt, und Hirten fehlen, weil ihre Herden von den Bremsen vernichtet werden würden. Die Kaufleute, die in dieser Jahreszeit zwischen Tscharchlik und Korla reisen, reiten nur nachts und schützen ihre Tiere in Kamischhütten.

Wir rasteten bei Küjüsch, um dort unser Abendbrot zu essen und den Fluß zu messen, aber um 10 Uhr brachen wir wieder auf und hatten noch ein paar Stunden Nutzen vom Monde. Nachdem dieser untergegangen war, umgab uns tiefes Dunkel. Vor uns war nur die uns führende chinesische Papierlaterne zu sehen, die, an ihrer Stange schaukelnd, wie ein Elmsfeuer über das Wasser hinhuschte. Die Nacht war absolut ruhig und windstill; kein Laut war zu hören, kein Hauch zu spüren. Die Bremsen schlummerten längst zwischen Gras und Schilf, bisweilen plätscherte ein Fisch im Wasser, oder man hörte das leise Rauschen um einen steckengebliebenen Stamm.

Auf der Kommandobrücke saßen die Kosaken, rauchten ihre Pfeifchen und amüsierten die Gesellschaft mit der Spieldose, wodurch sie auch die Leute wachhielten, was jedoch infolge der Furcht derselben vor dem Anprallen gegen überhängende Pappeln und dem Aufgrundgeraten eigentlich überflüssig war. Sirkin hatte eine gewaltige Ölfackel angezündet, um die Ufer zu beleuchten, und er und Schagdur berichteten mir ständig von dem Aussehen der Ufer, z. B. „rechts dichter Wald am Ufer, links Kamischfelder, Gesträuch und junger Wald“ usw. Die Kompaßrichtungen wurden nach der Laterne gepeilt.

So gleiten wir denn, von stiller Nacht umgeben, diesen endlosen Fluß hinab. Alle freuen sich nach einem glühend heißen Tage der erquickenden Kühle und können jetzt ihre sommerlich dünnen Kleidungsstücke öffnen, ohne juckende Stiche befürchten zu müssen. Ich begleite am Schreibtische mit der Flöte die wohlbekannten Melodien der Spieldose, die Kosaken qualmen ihre Schifferpfeifen, Kirgui ruft dann und wann sein: „Chabardar“ (gebt acht), wenn er besondere Wachsamkeit für nötig hält, und Stunde auf Stunde gleiten wir den gewaltigen Fluß hinab, seinem Grabe in der Wüste entgegen. Das Stundenglas ist bald abgelaufen; es sind die letzten Pulsschläge, denen wir folgen, und mit einem Gefühle des Bedauerns sehe ich eine Flußbiegung nach der anderen hinter uns verschwinden.

Wenn dann die Musik den Reiz der Neuheit eingebüßt hat, stellen sich Müdigkeit und Schlaflust ein. Die Spieldose verstummt, die Fackel darf erlöschen, Sirkin pufft Aksakal, dessen geneigter Kopf bedenklich hin und her schwankt, wird aber selbst eine Weile darauf überrascht, wie er, den Rücken an die Reling gelehnt und den Kopf über den Rand hinaushängend,[S. 271] mit weitgeöffnetem Munde eine Serenade zu Ehren des Sandmannes anstimmt. Hinterlistig gerät seine Mütze ins Gleiten und fällt ins Wasser, er fährt auf und ist eine Weile munter wie ein Fisch.

Um 2 Uhr nachts erbarmte ich mich meiner müden Diener, die nicht von denselben Interessen wachgehalten werden konnten wie ich. Wir vertäuten die Fähre am Ufer, und nach fünf Minuten herrschte an Bord lautlose Stille.

Wir hatten jedoch nicht lange geruht, als ein neuer Buran heransauste und meine Filzdecken losriß; er tobte den ganzen Tag und machte uns das Aufbrechen unmöglich. Erst um 10 Uhr abends nahm er ab und gönnte uns Zeit zu einer dreistündigen Fahrt. Aber am 8. und 9. Juni hielt uns der wütende Sturm wieder fest. Kleine Flugsanddünen lagerten sich überall in der Kajüte ab; man braucht beim Schreiben kein Löschpapier; ich selbst bin wie mit Puder überschüttet, in der Teetasse kann man, wenn man sie zuzudecken vergißt, alluviale Gebilde und sedimentären Schlamm studieren, und Schagdurs Frühstückskotelette sind mehr sandig als gesalzen.

Ganz passend, um mir während dieses gezwungenen Wartens Beschäftigung zu geben, langte noch ein Dschigit an, und ich dachte mir gleich, daß er mir wichtige Nachrichten bringen würde, denn er war ein Extrakurier, dessen Absendung nicht vereinbart worden war. Konsul Petrowskij teilte mir denn auch mit, er habe vom Generalgouverneur von Turkestan ein Telegramm bekommen, daß die beiden Kosaken Sirkin und Tschernoff unter den jetzigen unruhigen Verhältnissen an mehreren Grenzen Asiens nicht länger zu entbehren seien, sondern nach Kaschgar zurückgeschickt werden müßten.

Diese Nachricht traf mich sowohl wie Sirkin, der uns danach in einigen Tagen verlassen mußte, wie ein Donnerschlag. Wir sprachen lange darüber und mutmaßten, daß an der sibirischen Grenze ernste Unruhen ausgebrochen seien; von den wahren Verhältnissen, dem Kriege in China, hatten wir ja keine Ahnung. Zunächst schickte ich sofort einen Eilboten mit einem Briefe an Tschernoff, daß er sich unverzüglich nach Abdall zu begeben habe. Sirkin mußte ja seinen Kameraden erwarten, einzeln konnte ich sie nicht reisen lassen. Als ich nun vor dieser gezwungenen Trennung stand, freute ich mich, daß ich in einem von Jangi-köll an den russischen Kaiser abgegangenen Briefe ausführlich von diesen beiden Kosaken und den unschätzbaren Diensten, die sie mir geleistet, gesprochen hatte.

Am Abend des 9. waren wir sehr in Unruhe um Schagdur, der gegen 5 Uhr auf die Jagd gegangen war. Als er um die Abendbrotzeit, um 9 Uhr, noch nicht da war, zündeten wir an verschiedenen Punkten des[S. 272] Ufers sechs Feuer an, die malerisch und unheimlich leuchteten und den feinen Staub, der noch immer die Luft erfüllte, rot färbten. Doch er kam nicht, und es war klar, daß er sich verirrt hatte. Ich schickte nun alle Mann mit Öl- und Kienfackeln nach verschiedenen Seiten aus. Ich hörte ihre Rufe in der Ferne verhallen und dachte an die Gefahren, die einen einzelnen Fremdling unter Flugsanddünen, Tigern und Wildschweinen umlauern können. Es wäre schlimm gewesen, drei von den vier Kosaken auf einmal zu verlieren.

Die Kundschafter kehrten einer nach dem anderen unverrichteter Dinge zurück. Um Mitternacht kam Schagdur selbst und berichtete, daß er ein Reh verwundet habe, das nach Westen in den Sand hinein geflohen sei. Er habe seine Beute stundenlang verfolgt, und als er beim Eintreten der Dunkelheit umgekehrt sei, habe er seine Spur verloren, sei aber gerade nach Osten gegangen. Dann sei er längs des Flusses am Ufer weitermarschiert, bis er endlich eines der Feuer erblickt habe.

Am 10. konnten wir weiterfahren. Tuga-ölldi (das Kamel starb) ist eine Gegend auf dem linken Ufer. Mongolen, die zu Jakub Beks Zeit nach Lhasa pilgerten, pflegten aus Furcht vor Jakub Beks Leuten auf dem linken Ufer hinzuziehen. Auf einer solchen Reise war eines ihrer Kamele an diesem Punkte gestorben. Ein längst vergessenes, unwichtiges Ereignis bleibt so durch den Namen der Nachwelt erhalten. Jetzt benutzen die Mongolen stets die große Karawanenstraße, die am rechten Ufer entlang geht.

Bei Schirge-tschappgan hielten wir abends an, um den Fluß an demselben Punkte wie am 18. April zu messen; die Wassermasse betrug 68,3 Kubikmeter; der Fluß fällt also in dieser Jahreszeit sehr bedeutend. Nachdem der letzte Dschigit von hier nach Kaschgar zurückgeschickt worden war, fuhren wir nachts weiter und hatten mehrere Kähne vor uns, welche die Ufer mit Fackeln erhellten. Es war ein seltsamer Fackelzug, der in stiller Nacht den Tarim hinabzog, während die Kahnleute ihre eintönigen, schwermütigen Liebeslieder sangen.

Von der Strecke von Schirge-tschappgan bis Tscheggelik-ui hatte ich 1896 eine Karte aufgenommen, und als wir am 11. Juni Ak-köll passierten, sah ich, daß die früher hier befindliche große Flußbiegung verlassen worden war und der Fluß sich quer durch die Landzunge gearbeitet hatte.

126. Aussicht vom Passe nach Ost zu Nord (3. Aug. 1900). (S. 317.)

GRÖSSERES BILD
127. Aussicht vom Passe nach Norden (3. Aug. 1900). (S. 317.)

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Im Laufe des Tages hörte der Wald auf, und das Land war nach allen Seiten hin offen und flach. Die Luft war still, aber noch herrschte nach all den Stürmen Halbdunkel. Einige Kähne begegneten uns; in dem ersten saß Temir Bek von Tscheggelik-ui. Er wurde an Bord eingeladen[S. 273] und teilte mir unter anderem mit, daß es unmöglich sei, mit der Fähre jenseits seines Dorfes weiterzukommen, denn der Semillaku-köll sei ganz mit Schilf zugewachsen. Obgleich ich mich nach der frischen Gebirgsluft und meine Ruderer sich nach Hause sehnten, dachten wir doch mit einer gewissen Wehmut daran, daß dies die letzte Fahrt unserer alten Fähre war. In später Nacht vertäuten wir unser Fahrzeug zum letztenmal am linken Tarimufer, Tscheggelik-ui gerade gegenüber.

Schon am folgenden Morgen schickte ich Kirgui Pavan auf Rekognoszierung nach den Seen. Er kam mit der Nachricht zurück, daß die Fahrstraße für die große Fähre unpassierbar sei. Um seine Ansicht zu bekräftigen, brachte er ein Bündel Kamischstengel mit, deren Länge die Tiefe des Wassers in den seichtesten Stellen angab. Er glaubte jedoch, daß wir mit 25 Mann in 4 Tagen einen fahrbaren Kanal herstellen könnten. Dieser Vorschlag wurde nicht angenommen, weil es bis Abdall nur noch drei Tagereisen waren. Ich beschloß daher, einige Tage in Tscheggelik-ui zu bleiben, weil ich der Dunkelkammer noch einmal zum Entwickeln bedurfte und ein paar neue Fahrzeuge hergerichtet werden sollten.

So brachten wir denn in diesem friedlichen Fischerdorfe eine behagliche Ruhewoche zu (Abb. 107). Wir lagen am westlichen Ufer und hatten Aussicht auf das Dorf mit seinen Kamischhütten, auf seine offenen Ställe (Abb. 108), wo Rinder, Pferde und Esel von Millionen Bremsen gepeinigt wurden, und den Strand, wo kleine nackte Kinder umherliefen und zwischen den Kähnen spielten. Der Hintergrund dieses lebhaften Bildes war ein memento mori, der Begräbnisplatz des Fischerdorfes mit seinen Stangen und Wimpeln, die über den Wohnungen der Toten im Winde flatterten.

Jede Nacht arbeitete ich bis 4 Uhr in der Dunkelkammer; Sirkin war dabei mein Gehilfe, er holte reines Wasser und trocknete die Kopien. Das Wetter war eigentümlich, denn es stürmte beinahe ununterbrochen aus Nordosten. Wer sich einen ganzen Frühling und Vorsommer inmitten dieser ewigen Burane aufgehalten und ihre Gewalttätigkeit und Kraft, ihre umgestaltende Arbeit kennen gelernt hat, wundert sich nicht mehr darüber, daß die Verteilung der Wüsten, Seen und Flüsse in diesem Lande eine ständige Veränderung erleiden muß. Die Arbeit wurde von dem Heulen des Sturmes begleitet; beim Plätschern der Wellen und dem klagenden Sausen des Windes im Schilf legte man sich zum Schlafen nieder, und wenn man erwachte, hatte man wieder dasselbe wohlbekannte Pfeifen, dieselbe staubgesättigte Atmosphäre um sich herum. Einen Vorteil hatte dieses Wetter aber doch: es verscheuchte Bremsen und Moskitos und kühlte die Luft angenehm ab. Bisher hatten wir nur zweimal über +40 Grad im[S. 274] Schatten gehabt, jetzt zeigte das Thermometer selten über 25 Grad, nachts sogar nur +9,3 Grad und 11 Grad.

Die Kosaken machten kleine Ausflüge, um zu jagen und Fische zu fangen, beschäftigten sich im übrigen aber mit der Herstellung unserer neuen Fähren, die aus je drei langen Kähnen bestanden. Meine Pontonfähre wurde etwas ganz Außergewöhnliches (Abb. 110). Ein Bretterfußboden wurde quer über die Kähne gelegt und darauf ein prismatisches Gitter von Latten gestellt, das mit Filzdecken überzogen einem Zelte glich. Als ich am 18. Juni zum letztenmal auf der großen Fähre zu Mittag gespeist hatte, traf diese das Gesetz der Veränderung; die Kajüten wurden abgerissen, alle Nägel verwahrt und die mit Sand und Staub bedeckten Filzdecken ausgeklopft; meine Kisten wurden in die neue schwimmende Wohnung gebracht, die 26 Mann trug, also für mich, meine vier Ruderer und das Gepäck mehr als ausreichend war (Abb. 109). Ein Teil des Proviants wurde unter den Bretterfußboden in die Kähne gelegt, den Rest beförderten einzelne Kähne, die uns begleiten sollten. Wir hatten freilich weniger Platz als bisher, aber das neue Zimmer war doch außerordentlich gemütlich. Die Kosaken wohnten ebenso auf der zweiten Pontonfähre.

Kirgui Pavan, Aksakal und unsere alten Ruderer erhielten ihre Entlassung. Eines Abends gaben wir ihnen zu Ehren ein prächtiges Gastmahl; mehrere Schafe wurden geschlachtet, und die Reispuddinge dampften auf gewaltigen Holzschüsseln. Sie bekamen ihren Lohn in bar, ein paar Kähne und Proviant für die ganze Heimreise und bedankten sich dafür nach der Sitte des Landes mit Gebeten für mein Wohlergehen. Als ich am folgenden Morgen bei Sonnenaufgang aus der Laboratoriumhütte trat, standen sie alle in Reih und Glied und sprachen ihr Morgengebet. Bevor ich mich schlafen legte, sah ich sie noch ihre Boote bemannen und nach einem letzten Lebewohl die Heimreise antreten.

Beim Zurücklassen der Fähre war mir zumute, als sollte ich einen sicheren Haltepunkt verlieren und ein altes Heim verlassen. Sie hatte uns unter wechselndem Geschick treu den Fluß hinabgetragen und ihren Zweck auf vortreffliche Weise erfüllt. Sie wurde jetzt der Bevölkerung von Tscheggelik-ui geschenkt, die über das vorzügliche Beförderungsmittel — besonders für Viehtransporte über den Fluß und das Hinüberschaffen von Gütern und Karawanen — ganz entzückt war. Später hörten wir, daß der Amban befohlen habe, sie nach Argan zu schaffen, wo die Karawanenstraße den Tarim überschreitet und wo bisher nur eine sehr mangelhafte Fähre zur Verfügung stand. Kommt ein europäischer Reisender dorthin, so wird er sie gleich wiedererkennen, sei es auch nur an der Etikette. Schagdur[S. 275] hieb nämlich in ihre Seiten meinen Namen in großen lateinischen Buchstaben und die Jahreszahlen 1899–1900 ein.

Erst am 19. Juni gegen Mittag verließ unsere neue Flottille mit vielen neuen Ruderern und Beken Tscheggelik-ui. Ohne weitere Schwierigkeit ruderten wir mit prächtiger Fahrt über die Seen und durch ihre schmalen Durchgänge, in denen das Vordringen mit der großen Fähre unmöglich gewesen wäre. Nachdem wir bei dem Dorfe Tokkus-attam gelagert hatten, gingen wir am folgenden Tag über den Semillaku-köll, dessen Tiefe nirgends 1 Meter überstieg. Der See Kara-buran war noch mehr gefallen und würde, wie man mir sagte, in zwei Monaten vollständig austrocknen; Anfang Oktober füllt ihn die Herbstflut wieder. An der Mündung des Tschertschen-darja wurde der Messungen wegen eine Weile gerastet. Obwohl das Flußbett scharf ausgeprägt, tief und mit Wasser gefüllt war, betrug sein Tribut an die Kara-koschun-Seen nur 4 Kubikmeter in der Sekunde.

Die letzte Tagereise auf dem Tarim war kurz und wurde zum Versöhnungsfest mit dem Winde, der uns vorher so oft Abbruch getan hatte. Jetzt wehte es gerade von Osten mit 11 Meter in der Sekunde und kühlte frisch und herrlich ab; die Ruderer brauchten tüchtig ihre Arme und fanden gute Hilfe an der Strömung (Abb. 112). Die Bremsen, die sich bei solchem Wetter hinausgewagt hatten, ließen sich in meinem Zelte nieder. Es wäre für beide Teile besser gewesen, wenn wir Waffenstillstand geschlossen hätten; hätten sie mich mit ihren Stichen verschont, so würde ich sie nicht totgeschlagen haben.

In Abdall trafen wir unsere alten Freunde Numet Bek und Tokta Ahun (Abb. 113). Letzterer hatte die Pferdekarawane und die Kamele bis an den Tschimen-tag begleitet und konnte mir mitteilen, daß in dem neuen Hauptquartier alles gut stehe. Die von uns im Frühling zurückgelassenen Kamele und mein kleiner Grauschimmel waren, fett und ausgeruht, mit ins Gebirge genommen worden. Der Kurier mit dem Briefe hatte schon lange sein Ziel erreicht, und in einigen Tagen mußten Tschernoff und die Karawane, die mich ins Gebirge führen sollte, hier sein.

Während des Aufenthalts in Abdall (Abb. 111) hatten wir anfangs gutes Wetter, d. h. Wind, der bis auf 16 Meter in der Sekunde anschwoll. Ich blieb daher an Bord der Pontonfähre wohnen, die ich beinahe nie verließ; es war der reine Stubenarrest. Ich saß die ganzen Tage am Schreibtisch und machte eine gewaltige Post fertig, welche die Kosaken nebst fertigen Platten mitnehmen sollten. Draußen heulte der Wind im Schilfe, der Bretterfußboden knackte von der Dünung und rieb sich an den Kähnen, und der Wellenschlag plätscherte gemütlich um die letzteren. Während[S. 276] der Windpausen machte ich astronomische Beobachtungen. Groß war mein Erstaunen, als ich, hiermit beschäftigt, eines Morgens einen Reiter nach den Hütten von Abdall sprengen sah und bald meinen prächtigen Tschernoff erkannte, der nach Empfang meines Briefes sofort in unglaublich kurzer Zeit aus dem Gebirge hierher geritten war. In den letzten 35 Stunden hatte er überhaupt nicht geschlafen, war aber geradeso munter und aufgeweckt wie gewöhnlich. Als ich ihn nachher zu einer längeren Segeltour einlud, berichtete er mir von dem neuen Hauptquartier, das für den Rest des Jahres meine Operationsbasis werden sollte. Es schmerzte ihn tief, uns gerade jetzt, da ein neues Kapitel dieser Reise begann, verlassen zu müssen.

Ein paar Tage darauf langten Turdu Bai und Mollah Schah mit vier Kamelen und zehn Pferden bei uns an. Obgleich sie, seitdem sie das Gebirge verlassen hatten, nur nachts marschiert waren, waren doch die Hälse und Beine der Kamele von den Bremsen blutig gestochen; die anderen Körperteile waren durch Filzdecken geschützt gewesen.

Jetzt trat ein unangenehmer Umschlag im Wetter ein. Der Wind hörte auf, und es folgte drückende Hitze. Wir mußten die Kamele mit größter Vorsicht und Sorgfalt schützen, denn die Luft wimmelte buchstäblich von Bremsen. Ich ließ daher ihretwegen eine Sattma ausräumen, die Wände derselben gut dichtmachen und stets ein paar Leute bei ihnen aufpassen, die nichts weiter zu tun hatten, als die Bremsen totzuschlagen, die sich dort einschlichen, um die armen Tiere zu stechen. Nachts durften sie auf die Weide gehen. Eines Morgens wurden sie vermißt, und Turdu Bai, der seine Schutzbefohlenen kannte, ahnte sofort, daß sie von diesem scheußlichen Orte durchgebrannt seien. Sie hatten sich, ihrer eigenen Spur folgend, auf den Weg nach dem Gebirge gemacht, wo, wie sie wußten, ihre Kameraden sie erwarteten und sie sich nicht von der Hitze und schmerzhaften Insektenstichen plagen zu lassen brauchten; sie wurden aber rechtzeitig wieder eingefangen und mußten sich in ihr Schicksal finden. Jeden Abend wurden sie im Flusse gebadet, was ihnen sehr gefiel.

Im Filzzelte auf der Pontonfähre war es bei dieser Hitze unerträglich. Draußen ertönte unausgesetzt ein summendes Brausen, und als ich den Filzvorhang zurückschlug, füllte sich das Zelt mit Bremsen. Ich nahm meine Dusche und kleidete mich schleunigst an; darauf wurde die Fähre nach dem rechten Ufer hinübergerudert, und ich eilte wie durch einen Kugelregen nach Tokta Ahuns Hütte. Dort war es schön; es war mindestens 6 Grad weniger heiß als im Zelt, und die Sonnenglut vermochte die dicken Kamischgarben des Daches nicht zu durchdringen. Die Hunde hielten den Umzug für eine brillante Idee; sie siedelten sich in je einer Ecke an[S. 277] und schlugen dadurch den Bremsen, die ihnen nicht folgen konnten, ein Schnippchen.

Inzwischen vergingen die Tage, und es wurde Zeit zum Aufbruch. Ich mochte gar nicht an die Trennung von Sirkin und Tschernoff denken; ohne sie würde es so leer und öde sein. Wir warteten nur auf den nächsten Sturm, der uns von den Bremsen befreien würde, denn bei dem jetzt herrschenden Wetter wurden wir von diesen unangenehmen Tieren buchstäblich belagert. Doch der Sturm kam nicht, und die Tage gingen hin. Wir versuchten freilich einmal, auf jeden Fall aufzubrechen, aber daraus wurde nichts; die Kamele warfen sich in Verzweiflung auf die Erde und wälzten sich die Lasten ab. Ich wollte der Kartenarbeit wegen nicht in der Nacht reisen; so warteten wir denn wieder, und ich schob den Augenblick der Trennung von Tag zu Tag hinaus.

[S. 278]

Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Poesie im innersten Asien.

Solange wir still lagen, ging es uns nicht schlecht. Wir hatten alles, dessen wir bedurften, und die Bewohner von Abdall (Abb. 115) wußten gar nicht, was sie uns alles zuliebe tun sollten. Beschäftigung hatten wir auch vollauf; die Kosaken jagten Wildenten und machten Bootfahrten, wir maßen zum letztenmal den alten Tarim und fanden 43,7 Kubikmeter Wasser in der Sekunde. In zweieinhalb Monaten war der Fluß auf weniger als die Hälfte zusammengeschrumpft und er sollte im Sommer noch mehr abnehmen.

Während dieser Tage zeichnete ich zu meinem Vergnügen einige alte wohlbekannte Lieder auf, die seit über hundert Jahren von den Söhnen und Töchtern des Loplandes gesungen worden waren. Auch einige neue Lieder, welche die Fischer am Kara-koschun singen, schrieb ich nieder. Alle diese Lieder sind einfach und ungekünstelt und zeugen von beschränkter Phantasie und naiver Lebensanschauung. Aber sie beweisen doch, daß auch diesem kleinen Fischervolke, das seine Tage im Herzen von Asien abseits von den großen Karawanenstraßen und isoliert von anderen Stämmen einförmig verlebt, Poesie nicht fremd ist und daß die Liebe, bald süß, bald bitter, wie überall bei den Menschenkindern, auch bei ihnen herrscht. Durch diese Lieder erhält man auch einen Begriff von den Grenzen der Welt, in der sich ihre Gedanken und ihr Wissen bewegen. Doch sie verlieren durch Übersetzung und machen sich in ihrer ursprünglichen Form, in der Turkisprache mit holperig gereimten Versen nach einer eintönigen Melodie zu den Akkorden einer Dutar gesungen, viel besser. Die Wehmut, die sich wie ein roter Faden durch die Worte und die Musik zieht, paßt gut für den, der einsam ist, und läßt seine Hoffnungen schärfer hervortreten. Hier einige Proben dieser einfachen Dichtkunst.

Es folgt ein Lied, das Dschahan Bek, der Vater des alten Kun-tschekkan Bek, gesungen hat, das also gegen hundert Jahre alt ist; es spricht sich darin ein Weib aus, dessen Liebe verschmäht worden ist:

[S. 279]

Die Geister haben dich schöner geschaffen als alle anderen Männer. Als du in deine Heimat zurückkehrtest, wäre ich dir nachgeflogen wie eine Gans, wenn ich Flügel gehabt hätte, und ich habe geschrien wie eine Wildgans. Du wußtest nicht, daß ich dich ein ganzes Jahr erwartet und auf deine Rückkehr wartend keinen anderen Mann geliebt habe. Ich erwarte dich seit lange und bitte alle, die zu dir reisen, dich, du meine andere Hälfte, zehnmal zu grüßen. Du nimmst alle auf, die vorbeiziehen und zu dir kommen, und du spielst und singst, aber wenn du spielst und singst, darf ich nicht mit dabei sein. Deine Füße scheinen gebunden zu sein, sonst kämst du her. Dein Name ist über ganz Alti-schahr bekannt. Mach’ es wie Juldus Wang, sei faul und laß andere für dich arbeiten. Wenn du mich nicht haben willst, komme ich doch und werde, so gut ich es kann, deine Magd. Alle Frauen raten mir, zu dir zu gehen; ein ganzes Jahr lang habe ich deinetwegen nicht lächeln können, denn du hast die Unwahrheit gesprochen; ich habe keine Freude von dir gehabt, meine Augen sind übergeströmt wie ein Fluß. Gott hat nicht befohlen, daß wir vereinigt werden sollen. Deine Wimpern und Brauen sind das Schönste, was es gibt.

Aus derselben Zeit stammt das mit Bitterkeit gemischte, sehnsuchtsvolle Lied eines Liebenden, dem seine Angebetete einen Korb gegeben hat:

Seitdem du dich zu Pferde fortbegeben, gehe ich hier umher und sehne mich nach deinen schwarzen Augenbrauen. Wenn ich Gelegenheit finde, reise ich dir im Laufe dieses Monats nach, um zu singen, zu spielen und zu trommeln. Du bist noch jung, und deine Eltern haben dich einem guten Manne gegeben. Du bist wilder als der Teufel, Jungfrau Sahib, du bist hartherzig; du verstehst meine Worte nicht, du wilder Teufel! Du bist wie das Wetter, bald trübe, bald sonnig. Deine Eltern hielten viel von dir und mußten dich fein und weich kleiden. Laß mich wissen, wann deine Hochzeit sein soll, damit ich komme und sie mitmache. Deine Mutter war besser als Imam Pattma und rein wie Nephrit. Imam Pattma liebt dich; als wir alle jung waren, spielten wir miteinander und waren Freunde. Du schwankst hin und her wie die Nackenfeder des Okkarvogels, und dein Ruf ist wie auf Flügeln bis Tschimen geflogen. Wenn wir uns im Herbst nach dem Tarim begeben, werden sich unsere Augen begegnen. Du bist jetzt vater- und mutterlos, aber alle werden dir mehr geben, als Vater und Mutter gekonnt hätten. Wenn du dein Gewand angelegt hast, gleichst du einem Sternwurme (Glühwürmchen).

Kuntschekkan Beks Schwiegervater pflegte nachstehendes Lied zu singen, das also wenigstens achtzig Jahre alt ist, obgleich es ebenso wahrscheinlich ist,[S. 280] daß es damals schon ein altes Lied war. Ein Liebender, der noch nicht alle Hoffnung aufgegeben hat, singt:

Ich bin sehr traurig darüber, daß ich nicht meine kleine Freundin nahm; ich friere deswegen wie eine verfrorene Fischotter. Du hast einen schönen Chalat, aber ich war nicht stark genug, um deinen Chalat zu gewinnen. Wenn ich dich jetzt nicht zur Frau bekomme, werde ich doch an deinem Hause vorbeireisen und dich sehen. Dein schwarzes Haar ist sehr schön; wenn ich dich bekommen hätte, würde dein schwarzes Haar an meiner Brust geruht haben, aber mein Nebenbuhler nahm dich und gab dich mir nicht. Hätte ich gewußt, daß du einen Ring am Finger trägst, so hätte ich nie mit dir bekannt werden wollen, aber ich komme im zehnten Monat. Wenn ich im zehnten Monat komme, werde ich dich fragen, wie es dir geht, du bezaubernder Engel, der du allein in deinem leeren Hause geblieben bist. Deine Brust ist so weiß wie eine angezündete Lampe; wenn du dein Gewand öffnest, sieht man deine kreideweiße Brust. Deine Nägel gleichen dem Tage. Ich liebe dich glühend, du bist wie der Stern, der in die Spur des Mondes tritt. Wenn ich dich bitte, ein wenig zu verweilen, eilst du auf deinem schnellen Pferde davon. Nun, da ich ein alter Bettler geworden, kann ich dich, die du die schönste der Frauen bist, nicht bekommen; du bist schöner als die Sonne. Du, Assan, begib dich zu ihr und bringe die Worte vor, die ich gesagt! Ich werde die Beke bitten, dich mir zu geben. Als ich deine Fußspuren auf dem feuchten Sande sah, weinte ich so, daß kleine Hügel unter Wasser standen. Du gleichst einer Fürstin, und hast deine Teetasse auf einer Metallschale. Ich kam nach Jatschi hinüber, um dich zu sehen, fand aber nur deine Schale mit Reispudding. Da ich dich nicht bekam, habe ich tot in dieser Welt gelebt. Ich werde Gott bitten, mich noch ein paar Jahre leben zu lassen, damit ich dich doch noch bekommen kann. Ich jagte meine alte Frau fort. Möge Gott dich mir geben. Du gehst so leicht, wie der Falke fliegt, aber dein Mann hat dich noch nicht verlassen, und ich bin allein.

128. Rast der Karawane während Tscherdons Rekognoszierung (3. Aug. 1900). (S. 318.)

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129. Auf der höchsten Bergkette der Erde. (S. 320.)

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Ein zehn Jahre altes Lied aus Argan, gesungen von einem Manne, der an die Unrechte geraten ist, lautet:

Wie Tajir Chan und Suja Chan in derselben Nacht starben, haben wir einander auch nicht bekommen. Tajir Chan starb in dem Dorfe seines Mädchens, ehe er es bekommen hatte. Kara Vater schlug ihn dreimal mit dem Schwerte, und nun erholt er sich nie wieder. Er war nicht schwer verwundet, muß aber viele Sünden auf seinem Gewissen gehabt haben, weil er doch gestorben ist. Wie keiner Tajir Chans Tod rächte, so wird sich auch niemand darum kümmern, daß ich dich nicht bekommen[S. 281] habe. Jetzt, seit ich mit dir bekannt geworden, kommt am Ende jemand und schlägt mich tot. Jetzt habe ich eine andere Frau genommen, und nun mögen sie mit dir tun, was sie wollen. Nun aber reut es mich, daß ich den Bek und Ahun nicht gebeten habe, lieber dich mir zu geben. Und nun denke ich, daß, wenn Gott mich nicht sterben läßt, die Menschen mich nie werden töten können. Es wäre freilich besser gewesen, mit dem ganzen Dorfe zu kämpfen und totgeschlagen zu werden, als die Frau, die ich jetzt habe, auf dem Halse zu haben.

Agatscha Chan war ein Mädchen aus Kum-tschappgan, das sich tröstete und sang:

Mein Freund ist hierhergekommen, und seitdem grünt alles. Es ist für dich, der du die Erde mit deinem Spaten bearbeitest, Zeit, deinen Weizen zu säen. Wenn ich die Sprache der Wildente verstehen könnte, würde ich sie fragen, wie es dir geht. Du kamst hierher, wolltest mich aber nicht ansehen, und dann reistest du wieder heim. Agatscha Chan begleitete dich nicht, sie stieg aufs Pferd und ritt mit einem anderen Manne fort.

Noch ein Liebeslied trostlosen Inhalts, das vor einigen Jahren in Tusun-tschappgan gedichtet ist, lautet:

Du gleichst der weißen Ente. Ich möchte die Nacht an deinem Busen zubringen. Wenn du zum abendlichen Saitenspiele tanzest, umflattern dich die schönen Bänder. Ich sitze bei mir, du bei dir, aber ich weiß, daß du an mich denkst. Sende mir den Falken, den du auf deiner Hand trägst. Wenn ich mich abends hinlege, kann ich nicht schlafen, weil ich an dich denke. Deine Eltern wollen dich mir nicht geben, sie geben dich gewiß einem Bek aus Turfan. Die Leute sagen, daß deine Eltern dich mir darum nicht geben, weil sie mich nicht mögen. Meine Sehnsucht nach dir macht mir den Kopf wirr, mir ist, als drehten sich die Wolken um mich herum. Du hast einen vornehmen Mann bekommen, und ich bleibe einsam und verlassen. Ein anderer hat dich genommen, ich bekam dich nicht. Deine Mutter hat Brot und Saatkorn in Menge, ihr Vorrat nimmt kein Ende. Wenn deine Mutter morgens Brot backt, kocht schon der Kessel. Es ist so lange her, seit ich dich sah.

Es ist derselbe Klageton, der durch alle diese Liebesergüsse geht: es ist eine alte Geschichte, doch bleibt sie ewig neu, wo man ihr auf Erden begegnet. Aber auch die Lieder, die nichts mit Liebe zu tun haben, sind ebenso wehmütig. So singt zur Zeit des alten Numet Bek (etwa 1700 geboren) ein Jüngling ein Lied an seinen Bruder; sie waren beide vom Kara-koschun, hatten sich aber nach Abdall begeben:

[S. 282]

Reise du heim und erkundige dich, wie es dort steht; ich fahre aus und fange Fische. Wenn die Fische hier knapp sind, reise ich lieber nach Hause und fische dort. Ich sehne mich so nach Hause, daß ich nicht essen kann. Alle in dieser Gegend, Gute und Böse, schelten auf mich, so daß ich nicht essen kann. Ich kam hierher, um zu sehen, ob dies ein guter Ort sei, aber meine Frau und die Kinder blieben in Jatschi (Dorf am alten Kara-koschun). Wenn ich mit dem Kahne früh abfahre, komme ich in einem Tage heim. Jetzt reise ich; es war dumm, daß ich den Pelz und andere Sachen, die ich hätte zu Hause lassen können, mitnahm. Wenn die Abdalleute mich auch töten wollen, werde ich mich nicht umsehen, sondern heimreisen. Sie mögen nach Belieben hinter mir herschelten und schreien, aber heim fahre ich. Wie das Siebengestirn am Himmel und das Archari auf den Bergen ging ich von Hause fort, und nun weine ich. Jetzt fahre ich heim; lebe wohl du mein einziger Freund an diesem Orte. Wenn ich dich verlassen habe und nach Hause zurückgekehrt bin, sind wir wie durch einen hohen Berg getrennt.

Vor hundert Jahren sprach ein blinder Greis in Tusun-tschappgan seinen Schmerz in folgendem Liede aus, das noch gesungen wird:

Ich Armer bin von Gott mit Blindheit gestraft worden. Wie bin ich jetzt unglücklich; nun sehe ich weder die Hütten noch die Kamischhecken um sie herum, sondern muß einsam in meiner Sattma sitzen! Jetzt ist es traurig, ich kann meine Freunde weder sehen noch treffen, meine Knochen sind so weich wie Mehl geworden. Seit ich blind geworden bin, ist mir, als ob mein ganzer Körper schmerze. Gott hat mich hart gestraft, daß er mich die Hütten und die Kamischfelder nicht sehen läßt. Weshalb, Gott, ließest du mich geboren werden, wenn du mich nachher meines Augenlichtes berauben wolltest? Seit ich blind geworden, ist mein Inneres voll Kummer und Gram. Möchte Gott nie einen anderen Elenden mit Blindheit heimsuchen! Da ich nicht sehe, kann ich nicht gehen, ohne die Hände zum Fühlen auszustrecken. Meine Kinder rufen mir zu: du tust nichts, du fängst keine Fische, du verschaffst uns nichts zu essen. Es wäre besser, wenn Gott mich sterben ließe, statt mich zu meiner Qual in dieser Welt zu lassen. Früher konnte ich Geld verdienen, jetzt sehe ich es nicht einmal und kenne es nur wieder, wenn ich daran rieche. Gott hat mich hart gestraft, als er mich so elend werden ließ. Wenn ich mit meinem Weibe sprechen will, antwortet sie mir nur mit harten Worten. Als ich sah, erhielt ich gut zubereitetes Essen; jetzt stellt sie mir kaum Tee hin. Wenn ich nur sehen könnte, würde ich wie früher auf den See hinausfahren und meine Netze auslegen. Würde ich es jetzt versuchen, so würde ich den Weg[S. 283] nicht finden können und an die unrechte Stelle kommen. Als ich Kind war, müssen meine Eltern für ein Versehen meinerseits den Wunsch ausgesprochen haben, daß ich blind werden möchte. Früher konnte ich meine Netze auslegen, doch dem Blinden ist das Fischen unmöglich. Jetzt, da ich die Meinen nicht mit Fischen versehen kann, werden sie nur halbsatt. Ich glaubte, daß du, mein Sohn, mir auf meine alten Tage helfen und mich ernähren würdest, aber du hast mich von dir gestoßen.

Daß ein Volk, welches früher fast ganz von Fischnahrung gelebt hat, den Fischfang und die kleinen Abenteuer dabei besingt, ist selbstverständlich. Als Probe dieser kunstlosen Seepoesie mag das im Fischerdorfe Kara-koschun passierte und besungene Mißgeschick dienen:

Ich war draußen auf dem See, als der Sturm kam und meinen Kahn umriß, und hier liege ich nun, und Vater und Mutter wissen es nicht. Die Fische und das Brot, die ich mit hatte, landeten im Magen des Sees statt in meinem Magen. Beim Schiffbruche konnte ich nichts weiter retten als den Kochtopf, Gott sei gelobt. Ich habe gewiß harte Worte gegen einen Älteren gebraucht oder irgendein Unrecht getan, weil ich diese Strafe erhalten habe. Mein Kamerad, der gleichzeitig mit mir draußen war, verlor nichts; Gott muß ihn lieben. Ich hatte 30 Fische in einem Bunde und 12 in dem anderen, und alle gingen sie unter. Wenn ich jetzt aufstehe und mich spute, komme ich zum Abendessen nach Hause. Ich warf einen Blick auf die Binsenbündel, die auf dem Wasser schwammen, und eilte dann heim. Bei meiner Heimkehr schalten meine Eltern und sagten: Was hast du mit all den Fischen gemacht? Und ich antwortete: Wäret ihr froher über die Fische gewesen als über meine Rettung, so könnt ihr mich ja totschlagen. Du, mein Freund, komm, laß uns das Boot an Land ziehen und es zum Trocknen hinlegen.

Ich kann auch einige Proben geben, wie die Menschen, welche derartige Lieder singen, ihre Briefe schreiben, was ebenfalls von Interesse sein dürfte. Die Schriftstücke zeugen bei all ihrer sklavischen Untertänigkeit von großem Wohlwollen und großer Höflichkeit, und zwischen den Zeilen schimmert das Ansehen hervor, dessen sich unsere Karawane überall erfreute. Während meines Aufenthalts im Lande erhielt ich Massen von Briefen und mußte einen einheimischen Sekretär für ihre Beantwortung haben. Der Sekretär las mir die Briefe vor, und ich teilte ihm mit einigen Worten mit, was er antworten sollte. Es ist sowohl komisch wie für die Achtung, die wir genossen, bezeichnend, daß alle diese Briefe mit den Worten. „Dem großen König, dem gnädigen Herrn, Gottes Segen“ begannen. Als die Kosaken mich Exzellenz nannten, fand ich diesen Titel[S. 284] schon übertrieben, aber den Beken des Loplandes war er noch viel zu nichtssagend; sie kamen sofort mit Ullug Padischahim (Eure Majestät). Ich fühlte mich zweihundert Tage lang beinahe als König von Lop-nor.

Der alte Naser Bek von Tikkenlik überraschte mich mit folgendem Briefe:

Wir, Eure allerschlechtesten Untertanen, Naser Bek, mein Schwiegersohn und alle, Große wie Kleine, wünschen unserem großen Padischah, daß Ihr, was Gott gnädig geben möge, in Tschimen ruhig und friedvoll anlanget; und wenn Ihr dorthin gekommen seid, hatten wir zu Euch eilen und Euch dienen wollen, aber der Amban ist hier, und ich kann daher nicht um Urlaub bitten. Indessen wäre es notwendig gewesen, daß ich mich bei Euch eingestellt und meine Verbeugung gemacht hätte. Wenn Ihr mich durch eine Zeile von Tschimen wissen laßt, daß Ihr ruhig und friedvoll dort angekommen seid, wäre ich sehr dankbar. Zum Zeichen, daß ich lebe, sende ich Euch zehn Ellen weiße Leinwand. Bitte, vergeßt mich nicht.

Mirab Bek von Ullug-köll schreibt:

Eure niedrigen Sklaven und Diener, Mirab Bek von Ullug-köll und sein Sohn Baker Schang-ja, Seidulla Imam, Mahmet Baki Masin, Sati Ahun, Allah Kullu, alle großen und kleinen Bewohner Ullug-kölls, fragen durch diesen Brief nach der Gesundheit des Tura (des Herrn). Wir hätten Euch begleiten und Euch dienen müssen, konnten es aber nicht, weil wir den Amban fürchteten. Gott allein weiß, ob wir Euch noch einmal wiedersehen werden; doch hoffen wir es. Wenn wir erfahren, daß Ihr glücklich im Gebirge angelangt seid, werden wir in Wahrheit Gott danken, und wir werden beten, daß Ihr wieder hierherkommt, damit wir uns wieder treffen.

Mehr kollegialisch schreibt der Amban von Tscharchlik:

An den sehr lieben und gnädigen Herrn He-dani (Hedin) von Dschan Daloi aus Tscharchlik. Ich bitte, schriftlich mein Bedauern aussprechen zu dürfen, daß wir, als wir uns zum erstenmal in Tikkenlik trafen, keine Gelegenheit hatten, einander zum Gastmahl einzuladen. Wir trafen uns spät, Ihr fuhrt nach Eurem, ich nach meinem Bestimmungsorte, aber wir werden einander nie vergessen. Gebe Gott, daß wir uns einmal unter günstigen Verhältnissen treffen! Wir müssen uns nahetreten, einander kennen lernen und die besten Freunde werden. Möchten wir nicht anders als gut voneinander denken. Von woher und wann es auch sein möge, schreibt mir einen Brief und fordert mich zu einer Begegnung auf. Wir bitten, Euch mitteilen zu dürfen, daß wir den Brief von Chalmet Aksakal gelesen haben und sehr dankbar sind, daß Ihr uns gebeten habt, die Diebe[S. 285] ausfindig und dingfest zu machen. Wir haben die abhanden gekommenen Waren bei den Dieben gefunden und die Sache, die gesetzlich behandelt und abgeschlossen ist, schon erledigt. Wünscht Ihr noch etwas mehr, so seid so gnädig und laßt mich es wissen. Leider konnte ich nicht mehr zu Euch kommen, habe aber Nachricht erhalten, daß Ihr hier vorbeipassiert seid. Für alle Fälle schicke ich Euch 100 Dschin Reis und ein paar Flaschen Branntwein und bitte Euch, mich nicht zu vergessen.

Infolge der Etikette konnte er mich nicht aufsuchen, weil ich keine Miene gemacht hatte, ihm eine Visite abzustatten. Den Branntwein mußte der Bote wieder mitnehmen; dergleichen durfte es in unserer Karawane, wo strenge Mannszucht gehalten wurde, nicht geben. Im allgemeinen ist auf die Artigkeiten der Chinesen, ob sie mündlich oder schriftlich ausgedrückt werden, nicht viel zu geben, doch hinsichtlich Dschan Dalois hatte ich keinen Grund, mich zu beklagen. Als er ein Jahr darauf von dem Generalstatthalter in Urumtschi abgesetzt wurde, hieß es in Tscharchlik, der Grund seiner Absetzung sei seine allzu große Dienstwilligkeit gegen einen „Jang-kwetsa“ oder „fremden Teufel“. Von dem Boxeraufstande in China verspürten wir nicht einmal eine schwache Dünung; kein verhallendes Echo davon drang bis ins innerste Asien.

[S. 286]

Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Aufbruch nach Tibet.

Das Warten dauerte uns schließlich zu lange, und mit sehnenden Blicken betrachteten wir die Kurve des Barographen, die durchaus keine Neigung zeigte, Sturm zu verkünden. Ich lag meistens auf meinem Bett, las Bücher von Selma Lagerlöf und Kipling und studierte die buddhistische Mythologie; doch die Bremsen hoben die Belagerung nicht auf, und der Wind gab uns keine Gelegenheit, einen Ausfall zu machen und ihre Umzingelungskette zu sprengen. Nun verlor ich die Geduld und beschloß, am Abend des 30. Juni auf jeden Fall aufzubrechen. Die Karawane sollte zu Land den etwa siebenstündigen Weg um die Sümpfe machen und mich in Joll-arelisch oder an dem Punkte, wo die Straße nach Sa-tscheo sich von der ins Gebirge führenden scheidet, wieder treffen. Ich selbst wollte zu Kahn über dieselben Seen wie im April fahren, und da Joll-arelisch bereits auf einer der Karten von jener Exkursion eingetragen war, entstand also dadurch keine Lücke in der Karte.

Im Laufe des Tages wurde alles gepackt, Kisten und Lasten wurden geordnet, die englische Jolle verstaut, alle Forderungen bezahlt und die Post nach Europa den Kosaken überantwortet, die beide ihre Pässe und je ein Geschenk von 2 Jamben, sowie das Versprechen erhielten, daß ich sie ihrem obersten Kriegsherrn, dem Zaren, aufs beste empfehlen würde. Sie nahmen auch einen Brief nach Tscharchlik an Dschan Daloi mit, in welchem ich diesen bat, sofort 3000 Dschin Mais (30 Esellasten) in das Hauptquartier zu schicken. Die Bezahlung für die Furage und den Transport konnte ich erst beim Empfang aushändigen, weil ich infolge des unvorhergesehenen Aufbruchs der Kosaken ganz leere Taschen hatte. Die Kasse befand sich im Hauptquartier am Tschimen-tag.

Um 5 Uhr nachmittags fing das Beladen an. Sobald die Kamele ins Freie gekommen waren, wurden sie von Tausenden von Bremsen umschwärmt. Sie benahmen sich indessen würdig, mit ihrer gewöhnlichen Geduld; bei jedem fertigbeladenen Kamele wurden vier Männer aufgestellt,[S. 287] welche die Insekten mit großen Kamischblättern fortwedelten. Als alles zum Aufbruch fertig war, stieg Turdu Bai zu Pferd und begab sich an die Spitze des Zuges, der sich eiligst entfernte.

Jetzt kam die Reihe an die Pferde, welche störrisch waren, ausschlugen und sich sogar zu Boden warfen; die Lasten mußten sehr fest gebunden werden, damit sie sie nicht abschütteln konnten. Mollah Schah, Kutschuk und Tokta Ahun, Kuntschekkan Beks Sohn, marschierten mit ihnen den Kamelen nach.

Der Klang ihrer Glocken und Schellen war schon verhallt, als uns auf einmal einfiel, daß die Hunde fehlten. Sie waren auf eigene Hand auf Entdeckungsreisen ausgegangen und wurden erst nach einstündigem Suchen erwischt, gebunden und Schagdur übergeben, der der Karawane folgte, nachdem er seinen Kameraden Lebewohl gesagt hatte.

Der große, bequem eingerichtete Kahn, der mich nach dem verabredeten Orte bringen sollte, lag mit Proviant, Filzdecken, Rauchgeschirr und Laterne bereit. Jetzt stand das schlimmste bevor: der Abschied von den Kosaken. Voller Rührung dankte ich ihnen für ihre Dienste, und nach einem kräftigen Händedruck und einem letzten Lebewohl sah ich sie ihre Rappen besteigen und auf dem Wege nach Tscharchlik, das sie am nächsten Morgen zu erreichen gedachten, verschwinden. Sie waren mit Empfehlungen an Ambane, Beke und Aksakale versehen und sollten längs des Gebirges über Kopa und Sourgak reisen und von dort während der Nächte über Chotan und Jarkent nach Kaschgar reiten.

Es war pechfinster, als ich allein mit meinen Ruderern die Bootfahrt antrat. Meine Karawanen, Diener und Güter waren jetzt zerstreut, und es galt, sie wieder aufzulesen und das Ganze zu vereinigen. Die Strömung half uns, und mit sausender Fahrt ging es den Fluß hinab, dessen dunkle Ufer hinter uns verschwanden. In Kum-tschappgan rasteten wir nur so lange, wie für den Rudererwechsel erforderlich war. Der Mond ging gerade unter, aber die Nacht war klar, und die Sterne leuchteten über den wandernden Seen hell wie Wachsfackeln.

Um 11 Uhr nachts verließen wir Tusun-tschappgan, von einem des Weges kundigen Manne in einem Einrudererkahne geleitet. Daß er in der Dunkelheit durch diese Labyrinthe von hohem dichtem Schilf, durch Tschappgane und enge Kanäle, Lagunen und Seen hindurchfand, war ein vollendetes Meisterstück. Die Männer ruderten ohne Zögern und Unterbrechung, als ob die Kähne auf unsichtbaren Schienen liefen. Sie sprachen nicht, sie ruderten nur, taktfest und stetig. In die dichten Hecken aber drangen die Lüfte der Sommernacht nicht; dort war es erstickend heiß, dumpfig und moderig, und Miasmen stiegen aus dem lauwarmen Wasser[S. 288] der Sümpfe auf. Ich schlummerte dann und wann ein wenig, und gegen Morgen begannen die Leute zu singen, um sich wach zu halten. Der Sate-köll war bedeutend seichter als im April, weshalb die Ruderer ausstiegen und mich weiterzogen; doch wir mußten bald den großen Kahn verlassen und uns des kleinen bedienen. Als auch dieser nicht weiter konnte, gingen wir zu Fuß durch den Schlamm und erreichten so das Ufer.

Jetzt folgte ein mehrstündiges Warten in der baumlosen, stillen, finsteren Einöde. Endlich ertönten Rufe, anfangs aus der Ferne, dann aus größerer Nähe; mit brennender Laterne gingen wir den Erwarteten entgegen. Es waren Schagdur und Tokta Ahun mit der Pferdekarawane. Sie hatten die Kamelkarawane bald überholt, und wir mußten nun auf diese warten. Die Lopleute gingen weit in den See hinaus, um eine Kanne süßen Wassers und einige Bündel Kamisch zur Feuerung zu holen, denn das Ufer war gänzlich ohne Vegetation.

Beim ersten Tagesgrauen kam die Kamelkarawane herangezogen; sie hatte sich in der Dunkelheit verirrt und war, durch einen Eselpfad irregeführt, zu früh nach dem Gebirge abgebogen. Sie zog jetzt weiter, ohne sich aufzuhalten; als die anderen mit dem Frühstück fertig waren, stiegen auch wir zu Pferde. Das Land ist entsetzlich öde; im Norden des Sumpfes geben wenigstens die Sanddünen der Wüste ein gewisses Relief, und der tote Wald verkündet, daß dort einst Leben geherrscht hat, hier aber gibt es gar nichts; die Erde ist eben wie ein Fußboden und besteht aus hartem, salzhaltigem Lehm, der einst unter Wasser gestanden hat.

Wir entfernen uns in spitzem Winkel vom Ufer, und die äußersten Seen des Tarim waren kaum noch wie eine dunkle, gleichsam über dem Horizont schwebende Linie sichtbar, als sich die Sonne im Osten erhob und ein Meer von Licht und Wärme über die Wüste fluten ließ. Das Tagesgestirn trat in seltener Schönheit auf. Seine Strahlen brachen sich in den feinen, leichten Wölkchen, die wie ein Schleier vor seinem Antlitz schwebten. Die Ränder der Wölkchen wurden von hinten erleuchtet und glühten wie Kränze von flüssigem Gold, die Mitte jeder Wolke aber färbte sich violett in verschiedenen Schattierungen. Die Luft war klar und still, und der Himmel prunkte in fleckenlosem, reinem Blau.

Noch schöner als dieses Schauspiel war jedoch das Gebirgspanorama, das in der schiefen, beinahe horizontalen Beleuchtung scharf und deutlich hervortrat; die Ketten zeigten abwechselnd hellbraune, rosa und violette Nuancen, die infolge der großen Entfernung nicht grell, sondern ruhig, gedämpft und harmonisch waren und einen entzückenden Hintergrund zu dieser dürren Wüste bildeten, wie ja auch der Sonnenaufgang viel schöner ist, wenn er auf eine schwüle, düstere Nacht folgt.

130. Allgemeines Trocknen an der Sonne. (S. 328.)
Von links nach rechts: Aldat, Nias, Kutschuk, Mollah Schah, Turdu Bai und Tscherdon.

GRÖSSERES BILD
131. Gletschermassiv im Südwesten vom Lager Nr. 27. (S. 329.)

GRÖSSERES BILD

[S. 289]

Die Sonne hat aber auch ihre Schattenseiten. Kaum guckt sie über den östlichen Wüstenrand, so füllt sich die Luft mit Millionen Bremsen, die, Wolkensäulen vergleichbar, Pferde und Reiter begleiten und umgeben. Man muß sich verteidigen, so gut man kann, und die Pferde werfen und schlagen mit Kopf und Mähne.

Dunglik (die Hügel) ist eine kleine Oase auf dem Wege nach den Bergen und liegt gerade da, wo die flachen Schuttkegel der letzteren langsam anzusteigen beginnen. Von Abdall, das 838 Meter über dem Meere liegt, waren wir 203 Meter gestiegen. Alle waren müde von der durchwachten Nacht; ich selbst schlief unter der ersten besten Tamariske ein und wachte erst wieder auf, als mir die Sonne auf den Kopf brannte. Da siedelte ich in das Zelt über und setzte mich dort, sehr leicht gekleidet, zum Arbeiten hin.

Am folgenden Morgen wurde ich um 3 Uhr geweckt, Lichter und Laternen wurden angezündet und das aus Tee, Eiern und Brot bestehende Frühstück gebracht. Das Gepäck wurde geordnet und die Tiere beladen; es fing an, im Osten hell zu werden, und als wir um 4½ Uhr aufbrachen, wobei wir Wasservorrat für uns selbst und die Hunde mitnahmen, war es schon ganz hell, und geschäftig gingen die Bremsen an ihr Tagewerk. Ich schlug ein paar Hundert tot, die sich auf der nackten Haut der Kamele festgesogen hatten. Sie summten in Schwärmen um uns und folgten uns ein paar Kilometer weit, wie vor Wut erglühend, als die aufgehende Sonne durch ihre mit Blut gefüllten Leiber schien. Es knallt, wenn die Peitschenschnur den aufgeschwollenen Sauger trifft und er platzt. Doch bald wagten sie sich nicht weiter vom Vegetationsgebiete zu entfernen, und wir waren sie für den Rest des Tages los.

Wir kamen jetzt auf den offenen, wüsten, kiesigen und unfruchtbaren Sai hinaus, der langsam nach dem Gebirge ansteigt; hier gibt es keinen Grashalm, kein Insekt, keine Spur von Leben, nur auf asphalthartem Boden dünn verstreuten Kies und Sand.

In launenhaft wechselnden Abständen sind kleine Steinpyramiden errichtet, deren einzige Aufgabe es ist, als Richtschnur beim Sturme zu dienen. Die Asiaten finden, daß sie ihren Wegen und Stegen einen gewissen Dankbarkeitstribut schuldig sind, der den Pyramiden in Gestalt eines Zuschusses von einem oder mehreren Steinen gebracht wird. Ohne Weg würden sie nicht nach Quellen und Weiden hinfinden, und besonders denkt der glücklich einem Sturme entronnene Wanderer an die, welche ihm unter schwierigen Verhältnissen folgen, und liefert daher gern seinen Beitrag dazu, die Wegweiser noch deutlicher zu machen.

Mittlerweile begann die Tageshitze mit heißen Dämpfen und Luftbewegungen anzurücken. Ich wußte, daß der Weg nach der ersten Quelle[S. 290] Tattlik-bulak weit war, denn dieser Schuttkegel am Nordfuße des Kwen-lun war an allen Punkten, wo ich ihn früher überschritten hatte, unendlich breit gewesen. Doch wenn ich gehofft hatte, ziemlich bald ins Gebirge hineinzukommen, so wurde diese Illusion vernichtet, als wir zwei mächtige Steinhaufen, zwischen denen der Weg hindurchführte, passierten und damit nach Tokta Ahuns wenig erfreulicher Erklärung gerade die Hälfte des Weges zurückgelegt hatten. Wir ritten schon sieben Stunden in ununterbrochenem Karawanentempo.

Die kleinen, fünf Monate alten Hunde waren schon zu Anfang des Marsches müde und in einem Korbe auf ein Kamel gesetzt worden, wo es ihnen sehr gut ging. Als die Sonne zu stechen begann, wurden sie mit einer Filzdecke zugedeckt, und wir hörten nichts weiter von ihnen, bis wir an unserem Bestimmungsorte anlangten, wo sie munter und gesund, nur etwas steifbeinig, aus ihrem Verstecke hervorkamen und die Gegend in Augenschein nahmen.

Maschka und Jolldasch waren empfindlicher gegen die Hitze und schienen vor Müdigkeit erschöpft zu sein, als wir die zweite Hälfte des Tagemarsches antraten. Obgleich sie ein paarmal Wasser bekamen, blieben sie doch zurück und mußten geholt werden. Schließlich wurden sie gebunden auf ein Kamel gelegt. Aber diese Art zu reisen war nicht nach ihrem Geschmack; sie wälzten sich herunter, sobald das Kamel sich in seinen wiegenden Gang setzte. Dann blieben sie wieder zurück, und Schagdur ritt mit der Wasserkanne zurück. Nach ziemlich langer Zeit sahen wir ihn mit Jolldasch zurückkehren; er war sehr niedergeschlagen und meldete, daß Maschka gestorben sei. Beide Hunde hatten sich an einer schattigen Terrasse in einem Hohlwege halb eingegraben. Maschka hatte alles Wasser, das in der kupfernen Kanne war, bekommen und es gierig verschlungen. Dann hatte Schagdur Jolldasch an der Leine geführt und Maschka vor sich auf den Sattel genommen; er war aber noch nicht weit mit ihnen gekommen, als der Hund aufgeregt wurde, das Pferd in den Hals biß und den Kopf fallen ließ. Die letzten Wassertropfen nützten nichts; der beste und klügste aller unserer Hunde war und blieb tot und mußte am Wegrande zurückgelassen werden.

Jetzt war das Wasser zu Ende, und ich fürchtete das Schlimmste für Jolldasch. Nach mehrfachem Fortlaufen band ich ihn selbst auf einer Kamellast fest, wo er halb tot und seekrank geschaukelt wurde.

Im übrigen hielten sowohl Menschen wie Tiere sich gut. Es war aber auch einer großen Anstrengung wert, dem stickigen Sommer drunten zu entfliehen. Des Reitens müde ging ich mehrere Stunden zu Fuß. Die Landschaft bleibt sich gleich; die Steigung ist unmerklich. Gegen Abend wurde das Terrain kupiert, und wir gelangten zwischen niedrige Hügel von[S. 291] Rollsteinkies, Sand und Lehm. Später tritt anstehendes Gestein auf, außerordentlich verwitterter und brüchiger hellgrüner Schiefer und Granit. Wir folgen einem ausgeprägten Trockentale aufwärts, das Seitentäler aufnimmt, und die Landschaft wird immer kräftiger ausgemeißelt von Regenbächen, die jetzt keinen Tropfen Wasser mehr enthalten.

Von dem oberen Teile einer schmalen, abfallenden Talfurche öffnet sich die Perspektive über die Oase, den Bach und die Herberge Hung-lugu, ein doppelt angenehmer Anblick nach einem solchen Tage. Sobald wir dort angekommen waren, wurden die Hunde nach dem Bache gebracht, und es folgte ein Trinken, das gar kein Ende nehmen wollte. Sie liefen in das frisch sprudelnde, schwach salzhaltige Wasser, das sie mit großer Begierde „löffelten“, wobei ihre Augen vor Freude strahlten. Manchmal ging es zu schnell, und das Wasser kam in die unrechte Kehle; dann husteten und räusperten sie sich, um sofort weiterzuschlürfen. Darauf legten sie sich der Länge nach ins Wasser, wälzten sich in dem am Ufer wachsenden Grase, bellten vor Freude und tranken von neuem.

Die Vegetation ist in diesem herrlichen Tale üppig und besteht hauptsächlich aus prächtigen, zu wirklichen Bäumen entwickelten Tamarisken, im übrigen aus Gras, Kamisch und allerlei Kräutern; in einer Erweiterung des Tales steht sogar eine Gruppe alter knorriger Pappeln. Wir zogen talaufwärts weiter. In einem herrlichen Tamariskenhaine fanden wir die Pferdekarawane, die den ganzen Tag bedeutenden Vorsprung gehabt hatte, und eine kleine Karawane von sieben Eseln und sieben Schafen, die Numet Bek einen Tag vorher von Abdall geschickt hatte, um uns mit Proviant zu unterstützen.

Nichts kann herrlicher sein, als nach 14½stündigem, angestrengtem Marsche durch eine Wüste von 70 Kilometer Breite eine solche Oase zu erreichen. Hier wurde auch in der Dämmerung eines der gemütlichsten Lager, die ich je gehabt habe, aufgeschlagen. Meine Jurte wurde zum ersten Male am Außenrande des Tamariskenwaldes aufgerichtet und war mit Bett, Teppich und Kisten so nett, sauber und einladend, daß ich die Fähre und ihre behagliche Kajüte nicht länger vermißte. Schagdur, Turdu Bai und Mollah Schah pflanzten ihr weißes Zelt unter den Tamarisken auf, die anderen kampierten in einem Dickicht, das einer Laube glich. Um 9 Uhr zeigte das Thermometer +20 Grad und im Wasser +12,8 Grad, so daß mir die gewöhnliche Abenddusche nach all der Hitze ziemlich kalt vorkam. Schon hier befanden wir uns in einer Höhe von 1953 Meter, 1115 Meter über Abdall.

Alle waren entzückt über den Tagesbefehl für den 3. Juli, der auf Ausruhen an der Tattlik-bulak (süßen Quelle) lautete. Über die Hitze[S. 292] brauchten wir uns nicht länger zu beklagen; die Sonne stach mittags allerdings, aber es wehte aus Südwest, nicht gleichmäßig und ununterbrochen wie in der Ebene, sondern stoßweise, manchmal so heftig, daß die Jurte umzufallen drohte, manchmal hörte der Wind auf und machte der Windstille Platz. An der linken Talseite steht ein kleiner senkrechter Wall von Rollsteinen, und aus dieser Wand sprudelt mit einer Temperatur von +10 Grad die kristallklare süße Quelle hervor. Auf dem Walle oberhalb erhebt sich eine Steinpyramide mit ein paar Stangen. Auf einer derselben las ich: P. Splingaert 1894 und C. E. Bonin 1899.

Die Vegetation ist reich, obwohl sie nur in wenigen Arten auftritt. Von Tieren kommen nur einige kleine Vögel, Ameisen, Spinnen, Fliegen, Zecken und Käfer vor. Ein paar Bremsen hatten sich hierher verirrt; sie waren vielleicht von unseren eigenen Kamelen mitgebracht. Wir genossen unser Glück in vollen Zügen, und alles wäre gut gewesen, wenn wir nicht Maschka, den Liebling aller, verloren gehabt hätten. Beim Aufbruch von diesem herrlichen Ruheplatze wurden einige Veränderungen mit dem Gepäck vorgenommen. Die Jolle wurde in eine Filzdecke genäht, um vor dem Scheuern geschützt zu sein, und die Jurte wurde auf die Pferde geladen, die immer zuerst nach dem Lagerplatz gelangten. Von nun an sollte ich schon bei der Ankunft mein Haus fertig finden.

Der Weg führt zwischen Felsen von schwarzem Schiefer in dem Tale des Baches von Tattlik-bulak aufwärts. Die Tamarisken stehen gerade in Blüte, und ihre prachtvollen Blütentrauben mit ihrer reinen violetten Farbe erheitern sozusagen die sonst eintönige, braungraue Berglandschaft (Abb. 114). Unaufhörlich kreuzen wir den kleinen Bach, dessen frisches Wasser in unmittelbarer Nähe zu haben uns sehr angenehm war, da der Tag heiß wurde. Im Winter ist dieses ganze Tal mit Eis bedeckt. Der Bach friert nach und nach zu, und diejenigen, welche dann hier durchkommen, müssen auf dem Eise gehen. Man vermeidet dann diesen Weg, weil die Tiere sich leicht die Beine brechen können. Hier lag noch ein totes Kamel von einer mongolischen Pilgerkarawane, die diesen Weg im Winter gemacht hatte; es war auf dem Eise ausgeglitten und hatte ein Bein gebrochen. Gleich hinter Tattlik-bulak steht eine kleine Gruppe von Pappeln, und zwischen ihren Ästen lagen Stangen, die eine Art Bahre bildeten. Hier sollen früher Kameljäger ihr erlegtes Wild auf die Bäume gelegt haben, um es vor Hunden und wilden Tieren zu schützen. Jetzt kommen selten wilde Kamele in diese Gegend.

Als wir am Abend auf der kleinen Weide von Basch-kurgan ankamen, war mein tragbares Hotel schon fertig und möbliert, ganz wie ein Wirtshaus an der Landstraße (Abb. 116). Doch darf ich dort nicht[S. 293] eintreten, um mich ausschließlich der recht notwendigen Ruhe hinzugeben. Nein, erst werden Thermo- und Barograph ausgepackt, dann die heute unterwegs gesammelten Gesteinproben etikettiert und eingepackt, darauf die Kartenblätter gezeichnet und zuletzt die Aufzeichnungen und Beobachtungen eingetragen. Um diese Zeit ist das Mittagessen fertig; ihm folgen um 9 Uhr die gewöhnliche meteorologische Ablesungsreihe und das Ablesen des Hypsometers; wenn dann auch noch die Chronometer aufgezogen und verglichen sind, gehe ich ins Freie, um eine Weile mit den Hunden zu spielen und sie zu füttern. Vor 11 Uhr ist die Tagesarbeit selten zu Ende; dann lese ich noch eine halbe Stunde im Bett, bevor ich in der frischen, gesunden Gebirgsluft fest einschlafe.

Um die Höhen nicht zu schnell zu nehmen, hatten wir beschlossen, während des Rittes nach dem Hauptquartier oft Rasttage einzuschieben; so wurde auch Basch-kurgan ein Tag geopfert. Hier treffen drei Täler zusammen, die in das lange Tal von Tattlik-bulak übergehen. Der Name „Festung des Talkopfes“ schreibt sich von der Ruine eines auf einem isolierten Hügel thronenden kleinen chinesischen Forts her. Schagdur und Mollah, mein Sekretär von Abdall, machten einen weiten Ausflug nach Osten, auf welchem ersterer nach einiger Unterweisung im Gebrauch von Kompaß und Uhr eine rohe Kartenskizze von dem Lande zu machen beauftragt war. Es war das erstemal, daß er eine solche Aufgabe löste, und wenn die Karte auch nur als Kroki verwendbar war, gab sie mir doch einen guten Begriff vom Verlauf der Bergketten und Täler in jener Richtung. Schagdur vervollkommnete sich später zu einem bedeutenden Grade von Sicherheit in der Auffassung des Terrains.

Bei Basch-kurgan kreuzten wir die untere Kette des Astin-tag, welche das Tal von Tattlik-bulak durchbricht; ein Paßübergang ist daher unnötig. Der nächste Tagemarsch führt uns weiter aufwärts nach dem Hauptkamme desselben Bergsystems. Dorthin gelangten wir jedoch nicht in einem Tag, sondern wir lagerten unterwegs schon in Basch-joll, einem kleinen Weideplatz mit einer herrlichen Quelle (+5,8 Grad) und den Ruinen einer chinesischen Festung.

Am 8. Juli hatten wir einen langen Wüstenweg vor uns und nahmen Wasser mit. Um 6½ Uhr brachen wir auf und zogen immer höher nach dem Kamme des Astin-tag hinauf. Auf beiden Seiten erheben sich steile, wilde, zackige Felsenmassen. Der Hohlweg erweitert sich und führt nach einem bequemen, hügeligen Passe hinauf, der merkwürdigerweise keinen anderen Namen als „Dawan“, der Paß, hat. Der bisher nach Osten führende Weg bog jetzt nach Süden ab. Doch auch ostwärts erstreckt sich zwischen felsigen Bergen ein Tal, in welchem zwei wilde Kamele davonflüchteten.[S. 294] Dies ist im innersten Asien das dritte Gebiet, wo ich wilde Kamele getroffen habe, und ich bin, nach den Beobachtungen, die später gemacht wurden, in der Lage, eine Karte ihrer Verbreitung zu geben.

Auf dem Passe sprühregnete es leicht; als wir aber hinuntergingen und das breite, flache Längental, das den Astin-tag vom Akato-tag trennt, überschritten, begann es tüchtig zu regnen, und der Donner rollte über den Bergen. Das Land ist eine Wüstenei; man sieht keine Spur von Leben. Wir waren über 13 Stunden geritten, als wir endlich die namenlose Steppe erreichten, wo die Karawane Halt gemacht hatte und die Tamariskenbüsche Feuerung gaben, wo aber weder Wasser noch Weide zu finden war.

Am Morgen des 9. Juli war der Himmel völlig klar und die Temperatur auf +0,7 Grad heruntergegangen. Die jetzt herrschende Marschordnung war folgende: voran gingen die Esel und die noch übrigen Schlachtschafe. Ihnen folgten Mollah Schah und Kutschuk mit den Pferden, und da sie schneller ritten als alle anderen, waren sie stets die ersten an den Lagerplätzen. Dann kamen Turdu Bai und Mollah mit den Kamelen und zuletzt ich mit Schagdur und Tokta Ahun. Letzterer war mein Cicerone, da er die Gegend sehr gut kannte. Schagdur hielt mein Pferd, wenn ich Berggipfel anpeilte oder Gesteinproben abschlug, deren Einpacken in Zeitungspapier seine Sache war. Infolge all des dadurch verursachten Aufenthalts langten wir stets ein, zwei Stunden später im Lager an als die anderen.

Im Südwesten leuchten die Firnfelder eines prachtvollen Bergmassivs, Illwe-tschimen genannt; an der uns zugekehrten Seite desselben liegen zwei kleine Salzseen, der Usun-schor und der Kalla-köll.

Während der kurzen Rast an einem Quellbecken am Fuße des Akato-tag veränderte sich plötzlich das Wetter; der Himmel überzog sich, und es gab einen Platzregen; wir waren augenscheinlich schon mitten im Klima Tibets, wo Sonnenschein, Wind und Regen miteinander in wenigen Minuten abwechseln.

Von der Quelle gehen wir durch eine trockene Rinne nach Südwesten. Hier erhob sich ein heftiger Südweststurm, der keinen Regen brachte, aber Staub und Sand aufwirbelte und uns so das Gesicht peitschte, daß die Haut schmerzte. Er kam wie eine kompakte gelbgraue Wand von lauter Wirbeln angezogen und hüllte uns in einen Nebel ein, der die Landschaft auf allen Seiten verschwinden ließ. Nichts als der Weg ist sichtbar; man schwankt im Sattel und kann nur mit Mühe seine Aufzeichnungen machen, wobei die Marschroutenblätter beinahe zerrissen werden. Nach zwei Stunden endete der Orkan ebenso plötzlich, wie er losgebrochen war. Wir waren sozusagen durch einen Fluß von Wirbelwind gewatet. Im Gegensatz zu[S. 295] den Stürmen des Tieflandes klärte sich die Luft sofort auf und wurde wieder ebenso rein und durchsichtig wie vorher. Daß der Flugsand von diesen heftigen Bergwinden wirklich weitergetragen wird, sahen wir sofort; auf dem leichten Doppelpasse des Akato lagen kleine Dünen angehäuft, die südwestliche Winde dorthin geführt hatten.

Auf dem Südabhange, den wir südostwärts kreuzten, wiederholte sich dasselbe orographische Relief, das wir beim Astin-tag gesehen hatten. Der Sai, der harte Schuttkegel, fällt langsam nach einem neuen Riesentale ab, das sich von Westen nach Osten zieht und im Süden von einer neuen Bergkette, dem Tschimen-tag, begrenzt wird. Der Sai geht in Kakir, horizontalen, im Wasser nach Regen abgelagerten Tonschlamm, über. Hier lagen die Gerippe der beiden Pferde, die von Tscherdons und Faisullahs Karawane gestorben waren. Endlich hob sich vom Ufer eines kleinen Sees, der nur den Namen „Köll“ führt, einen halben Kilometer Durchmesser hat und von Rasen umgeben ist, die Jurte ab.

Seltsamerweise traten jetzt wieder Mücken und Bremsen auf, und namentlich die ersteren plagten uns sehr, bis wir das Hauptquartier in Tschimen-tag verlassen hatten. Sobald man einen Augenblick stillsteht, wird man von ihnen umschwärmt; Pferde und Hunde werden ebenso heftig angegriffen, aber die Haut der Kamele ist für ihre feinen Folterwerkzeuge zu dick. Hier in den Bergen leben und regieren die Mücken jeden Sommer 2½ Monate. Man wundert sich, daß ihre Larven die hier im Winter herrschende strenge Kälte überdauern können.

Am 10. Juli zogen wir schräg über das Tal nach Südosten und kreuzten dabei verschiedene Rinnen, bis wir an die Schlucht Temirlik kamen, wo wir an einigen von frischer Weide umgebenen Quellen rasteten.

Es war eine wahre Feuerprobe, am folgenden Morgen mitten im ärgsten Mückentanze die astronomischen Beobachtungsreihen auszuführen; die Mücken nahmen immer die Gelegenheit wahr, wenn ich an den Schrauben drehte und mich nicht verteidigen konnte.

Temirlik (2961 Meter über dem Meere) sollte später während der Reise ein wichtiger Punkt werden. Auch jetzt stellten sich mehrere Gäste in unserem Lager ein. Gleichzeitig mit uns kamen vier Goldgräber aus den Gruben von Bokalik an; sie hatten sich ein paar Monate im Gebirge aufgehalten, aber nicht so viel Gold gefunden, daß es der Rede wert war, und kehrten daher mißmutig nach Chotan zurück. Während des Ruhetages stieß die in Tscharchlik bestellte Maiskarawane mit ihren fünf Führern und einem artigen Briefe des Ambans, den ich S. 284 mitgeteilt habe, zu uns. Schließlich kamen auch Boten aus dem Hauptquartier, wohin wir noch zwei Tagereisen hatten, mit der Nachricht, daß dort alles gut stehe.

[S. 296]

Der eine war Chodai Värdi, „der von Gott Gegebene“, wie der Name besagt, tatsächlich aber ein unangenehmer Kerl aus Jangi-köll, der mir später einmal beinahe einen verhängnisvollen Streich gespielt hätte. Der andere hieß Aldat und war afghanischen Stammes, wohnte aber in Tschertschen. Er hatte in den Bergen überwintert, um Yake zu schießen, deren Haut er an Kaufleute aus Kerija verhandelte. Er war ein prächtiger, hübscher junger Mann, der jährlich als Nimrod in diesem wilden Gebirge umherstreifte. Er wandert im Herbste hierher und nimmt großen Munitionsvorrat mit. Die Flinte und der Pelz sind das einzige, was er sonst noch zu tragen hat, und dann streift er den ganzen Winter wie ein halbwilder Bergbewohner ohne Zelt und Proviant umher und lebt von dem Fleisch der Yake, die er schießt, und stillt seinen Durst aus den Quellen, die der ewige Schnee speist. Im Sommer kommen dann seine Brüder mit Eseln, um die Yakfelle von seinen verschiedenen Stapelplätzen abzuholen; sie schneiden die brauchbaren Stücke aus und bringen sie nach Tschertschen. Islam hatte ihn engagiert, weil er alle Gebirgsgegenden bis an den Fuß des Arka-tag genau kannte; weiter südlich war Aldat aber nie gewesen.

Aldat war ein seltsamer, aber sympathischer Mensch, hatte eine Adlernase und einen Vollbart, sowie den harmonisch geformten Schädel der arischen Rasse, ein Typus, dessen edle Züge durch keinen Tropfen mongolischen Blutes verdorben waren. Das einsame, düstere, an Entbehrungen reiche, aber dennoch fesselnde Leben, das er auf den Bergketten und in den engen Tälern des Kwen-lun zu führen gewohnt war, spiegelte sich wider in seinem wehmütigen Blicke, der zu grübeln und zu fragen schien. Er war noch nicht lange bei uns, als er sich auch schon gut zurechtfand. Er redete nie unnötigerweise, antwortete kurz und klar auf Fragen und ging, die Flinte auf der Schulter, beinahe stets für sich allein. Sein Gang war königlich; er schien über den Boden hinzuschweben, wurde nie müde und verspürte nichts von dem ermattenden Einflusse der Luftverdünnung.

Ich fand großen Gefallen an Aldat und schlug ihm vor, sich an unserer ersten Tibetexpedition zu beteiligen, was er ohne Zögern annahm. Das Leben, das er führte, erschien mir ebenso unerklärlich wie verlockend. Ich fragte ihn, was er anfange, wenn die Jagd fehlschlage und er nichts zu essen habe. „Dann hungere ich,“ antwortete er, „bis ich wieder einen Yak finde.“ Wo er schlafe? In Klüften und Schluchten, manchmal auch in Höhlen. Ob er sich vor Wölfen fürchte? Nein, er habe Zunder, Stahl und Stein und zünde allabendlich ein kleines Feuer an, an dem er sein Yakfleisch brate; überdies vertraue er auf seine Flinte. Sich verirren? Nein, das könne er nicht; er kenne alle Pässe und habe die Täler unzählige Male durchstreift. Und das beständige Alleinsein falle ihm durchaus[S. 297] nicht schwer; er habe keine anderen Freunde, die ihm fehlen könnten, als seinen alten Vater und seine Brüder.

132. Aussicht nach Süden vom Lager Nr. 28 aus. (S. 330.)

GRÖSSERES BILD
133. Bugsierung eines Kamels über den Fluß. (S. 339.)
134. Fester Boden unter den Füßen. (S. 339.)
135. Ein glücklich über den Fluß gebrachtes Kamel. (S. 339.)

Ein unruhig umherirrender Geist in Menschengestalt! Ich kann mir kaum ein Land denken, in dem das Alleinsein unheimlicher ist als Tibet; die Wüste wäre nicht schlimmer. Bei Tag geht es noch an, aber nachts, wenn die Kälte die Haut schmerzen macht und die dunkeln Bergketten sich unheimlich drohend im Mondschein erheben! Armer Aldat, wie manches Mal war er müde und matt nach fehlgeschlagenen Hoffnungen an die einsame Quelle gekommen, wo nur die Antilopen zu trinken pflegten, und hatte sich, in seinen Pelz gehüllt, am Rande ihres Bettes hingelegt und dort den langsamen Gang der Stunden der Nacht abgewartet. Und wenn die Sonne, seine einzige Freundin in der Wildnis, endlich aufging, geschah es nur, um ihn zu ermahnen, die Jagd nach wilden Yaken ohne Rast und Ruh wie ein Spürhund fortzusetzen. Sein Leben war in Wahrheit gefährlich, arm und groß, und, als er schon lange tot war, konnte ich nicht verstehen, wie er es ausgehalten hatte; noch heute ist er mir ein Rätsel. Ich hatte alles, dessen ich bedurfte, Diener, eine Leibwache von Kosaken, Wächter und Hunde, aber dennoch war mir, wenn der Schneesturm klagend um die Jurte sauste und die Wölfe in den Bergen heulten, oft ganz wunderlich zumute.

Die Leute, die mich auf dieser Reise nach dem Hauptquartier im nördlichen Tibet begleiteten, sollten sich alle auf die eine oder andere Weise auszeichnen. Turdu Bai war, wie schon erwähnt, der beste Muselmann, den ich in meinem Dienste gehabt habe, und wenn er zugegen war, war ich stets der Kamele wegen beruhigt. Schagdur war über jedes Lob erhaben, und ich kann nicht Worte genug finden, um die Dienste, die er mir leistete, zu würdigen. Er lernte alles, vergaß nichts und brauchte nie erinnert zu werden, und ich hatte ihn stets gern in meiner Gesellschaft. Es war ein gewisses Etwas an ihm, das ihn so sympathisch machte. Ich bewunderte hauptsächlich seinen wilden, verwegenen Mut in Gefahren und die Ruhe, mit der er schwere Aufgaben übernahm. Zweimal hatte er später Gelegenheit zu zeigen, wie gern er sein Leben für mich hingegeben hätte. Es war ein ebenso erhebendes wie wohltuendes Gefühl, sich von solcher Treue in der blindesten, uneigennützigsten Gestalt, die ich je kennen gelernt, umgeben zu wissen; daher hielt ich sehr viel von diesem jungen burjatischen Kosaken, der in seiner Heimat vor den Götzen des Lamaismus gekniet hatte, ihnen jetzt aber verächtlich den Rücken kehrte. Es war nicht mein Verdienst, daß dies geschah, denn ich fühlte mich nicht berufen, den Glauben der Asiaten zu erschüttern, wohl aber gab das Leben in meiner Karawane sowohl Schagdur wie den anderen mancherlei zu denken, wovon sie früher nie geträumt hatten.

[S. 298]

Tokta Ahun aus Abdall war ein durchaus ehrlicher Naturmensch, ein verständiger Kerl, der mir von großem Nutzen war. Ich habe vorher erwähnt, daß er sowohl die Pferde wie die Kamele nach Temirlik begleitete und jetzt mit uns zum dritten Male in zwei Monaten die Reise nach dem Hauptquartier hinauf machte, das kürzlich der Mücken halber von dieser Quelle nach Mandarlik (3437 Meter) verlegt worden war. Da er bei einer späteren Expedition eine hervorragende Rolle spielen wird, sage ich jetzt nichts weiter über ihn.

Auch mit Kutschuk wird der Leser bald genauere Bekanntschaft machen; er war ein prächtiger, außergewöhnlich tüchtiger Mensch. Auch Mollah Schah war mit in Nordtibet.

Bleibt also nur noch Mollah, der „Herr Doktor“, eine klassische Erscheinung von fünfzig Lenzen, ein kleines, dürres, verhutzeltes Männchen, ohne ein Härchen auf Kinn und Lippen, weshalb wir ihn manchmal scherzend fragten, ob er nicht eigentlich ein verkleidetes Weib oder im besten Falle ein Mongole sei, welche Reden für die Gläubigen des Propheten gerade nicht schmeichelhaft sind. Er redete mit einer Stimme, die scharf wie ein Pfriemen war, und schwatzte immer, sogar abends, wenn keiner zuhörte. Doch er war sehr lustig, wußte gut Bescheid und war bei allen beliebt. Auch Mollah Schah werde ich noch genauer vorstellen, denn er begleitete mich auf der zweiten Expedition nach dem Lop-nor.

Der Abend wurde durch ein rasendes Gewitter aus Westen verherrlicht, und die Windstöße drückten beinahe die Jurte nieder, die auf allen Seiten verankert werden mußte. Ein strömender Regen durchweichte unsere Wohnungen und machte den Boden schlüpfrig, und die Leute, die den Mais gebracht hatten, kauerten sich unter den Filzstücken und Sackleinwandstreifen, die sie zur Hand hatten, wie Murmeltiere zusammen. Die jungen Hunde bellten wütend bei den Donnerschlägen, die sie jetzt zum ersten Male hörten und wohl für irgendeinen unerlaubten Spektakel in den Bergen hielten. Doch da es fortfuhr zu donnern, beruhigten sie sich allmählich und knurrten nur noch leise. Schließlich schienen sie dahinterzukommen, daß der Donner zum Stück gehöre und sich durch Hundegebell nicht erschrecken lasse.

Am 12. Juli gingen wir nach Osten über das Tal Usun-jar. Hinter der trockenen Schlucht Basch-balgun verlassen wir den Vegetationsgürtel und reiten auf hartem, unfruchtbarem Kiesboden weiter; links aber sehen wir noch immer den hellen Grasgürtel, der sich bis an den Geröllfuß des Akato erstreckt, von wo aus die Karawane von ein paar Kulan- oder wilden Eselherden neugierig betrachtet wird.

Östlich von der Quelle Kumutluk sieht man im Nordosten die bedeutende Wasserfläche des Gas-nor einen großen Teil des Talgrundes[S. 299] einnehmen. Die Ufer sind von so heimtückischen Sümpfen umgeben, daß man nur an einem einzigen Punkte an den See gelangen kann. Sie glänzen hier und dort kreideweiß wie von Schnee, und das Wasser ist scharf salzig. Im Westen des Gas-nor liegt eine kleine Süßwasserlagune, Ajik-köll genannt, weil sich dort Bären von den Früchten der Sträucher ernähren sollen.

Bei Tschiggelik (Binsenstelle, 2977 Meter) oder Dundu-namuk (mittelste Quelle), wie die Mongolen den Platz nennen, wachsen „Boghana“-Sträucher, Kamisch und Binsen; hier war die Luft buchstäblich voll von Mücken und Moskitos, die uns ärger peinigten als je am Tarim und ein Jucken wie von einem Ekzem hervorriefen.

Jetzt hatten wir nur noch eine Tagereise vor uns. Wir ritten gegen Süden das Tal von Mandarlik hinauf, das sich zwischen 8 Meter hohen Geröllterrassen scharf markiert und höher oben von einem kristallhellen Bach durchrauscht wird. Wir treten in dieses Quertal auf dem Nordabhange des Tschimen-tag ein; die äußersten Felsausläufer lassen wir hinter uns zurück, die Granitmassen mit ihren wilden, bizarren Vorsprüngen rücken einander immer näher. Wendet man sich im Sattel um, so sieht man wie durch ein breites Tor den Gas-nor und dahinter in der Ferne den Kamm des Akato-tag. Das breite Tschimental läuft im Osten in das Zaidambecken aus.

In einer Erweiterung des Mandarliktales weiden unsere Pferde, Maulesel und Kamele. Tscherdon, Islam, Faisullah und die anderen kommen uns zu Fuß entgegen, und bald darauf sind wir wieder daheim in einem großen, gut ausgestatteten Hauptquartier (Abb. 117, 118, 119).

[S. 300]

Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Über den Tschimen-tag, Ara-tag und Kalta-alagan nach dem oberen Kum-köll.

Vor dem Aufbruch zur ersten tibetischen Expedition gönnten wir uns im Hauptquartier im Tale von Mandarlik eine Woche Ruhe. Es war eine weidereiche, schöne, herrliche Gegend, die zwischen mächtigen Granitfelsen eingeschlossen war. Auf einer Terrasse am linken Ufer des munter rauschenden Flusses dieses Tales erhob sich unser wanderndes Dorf. Die Kosaken und der Schneider Ali Ahun, der beständig vollauf zu tun hatte, residierten in der großen mongolischen Jurte, hinter welcher Schagdur aus mitgebrachten Brettern eine Einfriedigung zimmerte, um das meteorologische Häuschen vor etwaigen Besuchen der Kamele zu schützen. Die Muselmänner wohnten teils in zwei geräumigen Zelten, teils in den schützenden Verschanzungen, die dadurch entstanden, daß die Kamellasten und die Maissäcke in Kreisen und Reihen aufgestapelt wurden. Ich selbst hauste in der kleinen Jurte, vor welcher alle meine Kisten standen, die zum Schutze gegen die oft genug fallenden Regenschauer mit einer weißen Decke zugedeckt waren. Die Aussicht talaufwärts war großartig; im Hintergrund erhob sich der Hauptkamm des Tschimen-tag mit seinen bei klarem Wetter blendenden Schneefeldern (Abb. 120). Die Kamele, die jetzt fast zwei Monate im Gebirge geweidet hatten und bald ins Feuer sollten, waren rund wie Tonnen und glänzten vor Fett. Auch die anderen Karawanentiere hatten es in jeder Beziehung gut. Von der Schafherde waren noch 42 Stück da; die verlorenen Hunde wurden durch drei zugelaufene ersetzt, welche halbwilde Deserteure von den nächsten mongolischen Lagerplätzen in Tschurchak waren.

Nach diesem Orte machte Schagdur einen Ausflug und wurde dort sehr freundlich aufgenommen. Die Mongolen versprachen uns alles, was wir an Tieren brauchen würden, zu verkaufen, und hofften, daß ich ihnen gelegentlich einen Besuch abstatten würde. Tscherdon ritt eines Tages talaufwärts, stieß dort auf eine Herde von 50 Yaken und erlegte eine[S. 301] prächtige fette Kuh. Ich beschäftigte mich mit Beobachtungen und Exkursionen und bereitete die nächste Reise vor. Proviant für sieben Mann auf 2½ Monate wurde beiseite gestellt. Alle überflüssigen Gäste, die unser Lager bevölkerten, wurden fortgeschickt.

Im Hauptquartier blieben Islam als Karawan-baschi, Faisullah als Hüter der vier Kamele von Abdall, Chodai Kullu, Kader und Chodai Värdi zur Besorgung der Pferde, Ali Ahun als Schneider und Schagdur als Bedeckung und Meteorolog. Er sollte die ganze Zeit über täglich dreimal ablesen und die selbstregistrierenden Instrumente in Gang halten. Musa aus Osch sollte uns bis an den Kum-köll mit sechs Pferden begleiten, die dazu bestimmt waren, anfangs den anderen Tieren die Lasten zu erleichtern, und Tokta Ahun sollte von dort mit ihm umkehren. Letzterer hatte gebeten, den Sommer in Mian, wo er Weizen baute, zubringen zu dürfen, erhielt aber Befehl, sich in 2½ Monaten wieder bei uns einzufinden und dann ein halbes Dutzend Kamele mitzubringen.

Die Karawane war mit besonderer Sorgfalt ausgewählt und folgendermaßen zusammengesetzt: Tscherdon als meine rechte Hand, Zelterrichter, Kammerdiener und Koch, Turdu Bai als Karawan-baschi für die sieben Kamele, Mollah Schah als solcher für die elf Pferde und einen Maulesel, Kutschuk als Ruderer für die geplanten Seefahrten. Nias aus Kerija, ein Goldgräber, den wir im Gebirge getroffen hatten, sollte als Handlanger der höhergestellten Muselmänner fungieren, und Aldat war so weit Wegweiser, als seine Kenntnis der Gegend reichte. Jolldasch kam natürlich mit und wohnte, wie gewöhnlich, in meiner Jurte. Von den übrigen Hunden nahmen wir nur Maltschik mit, sowie einen großen, gelben Mongolenhund, der einem Wolfe glich. Die zurückbleibenden Hunde zausten die abreisenden, mit denen sie nicht in Eintracht gelebt hatten, zum Abschiede noch tüchtig im Nacken. Von den Schafen wurden sechzehn mitgenommen, die der Goldgräber Nias hinter der Karawane hertrieb.

So zogen wir denn fort aus den Wohnungen des Friedens, unbekannten Schicksalen in unbekannten Teilen der Erde entgegen, und der Klang der Glocken und Schellen hallte von Mandarliks Granitfelsen wider (Abb. 121). Bald ließen wir das Haupttal, das sich bis an die Schneefelder hinauf zu erstrecken schien, rechts liegen und folgten einem kleinen, wasserlosen Tale. Von einem kleinen Passe zweiter Ordnung läuft nach Südosten ein von Jägern und Goldgräbern ausgetretener Pfad, der uns über ausgedehntes, kupiertes Weideland führt.

Obgleich wir im Zickzack über Hügel und Pässe auf und nieder wandern, gelangen wir doch allmählich in immer höhere Regionen.

[S. 302]

Im Tale Kar-jakkak (der fallende Schnee) fing die Natur schon an, einen mehr alpinen Charakter anzunehmen. Die absolute Höhe betrug 3984 Meter. Ein klarer Bach rieselte zwischen rundgeschliffenen Granitstücken, und auf seinen Uferwällen waren niedliche Blumen in üppiges Moos und Gras eingebettet. Überall war Überfluß an Kulan- und Yakdung, der uns gute Feuerung lieferte. Ein paar Yakschädel verkündeten, daß Jäger die Gegend besuchen, wo ihnen eine Höhle mit Feuerherd als Nachtlager dient. Das Murmeltier (Dawagan) hatte an mehreren Stellen seine Löcher in den Boden gegraben; die lebhaften, achtsamen Nagetiere saßen an den Eingängen ihrer Wohnungen und pfiffen, wenn wir herannahten. Rebhühner gackerten geschäftig auf den Berghalden.

Im oberen Teile dieses einladenden Tales schlugen wir Lager. Allerdings waren wir nicht sehr weit gekommen, aber ausgeruhte Tiere unter schweren Lasten dürfen zu Anfang nicht angestrengt werden. Das Gepäck wird mit der Zeit leichter, ja der Proviant vermindert sich leider viel zu schnell, und gegen ihn spielt das Gewicht der gesammelten Gesteinproben keine Rolle, obwohl auch diese schließlich zu einer nicht unbedeutenden Last anwachsen.

Wir hatten Mandarlik bei stechendem Sonnenbrand und Mückenspiel verlassen, aber schon jetzt sahen wir uns vom kalten Herbst umgeben. Als ich am anderen Morgen aus der Jurte trat, herrschte vollständiger Winter; der Schnee fiel in dichten Flocken, und der Boden verschwand unter einer kompakten Schneedecke. Mitten in Asien Mitte Juli vollständiger Winter! Wenn der Sommer schon so ist, bekommt man Respekt vor dem Winter in diesen Bergen.

Wir warteten besseres Wetter ab, aber das Schneien dauerte fort, und der Tag war verloren. Bisweilen fiel der Schnee nicht in Flocken, sondern in runden Hagelkörnern, die kräftig auf das Dach der Jurte schmetterten. Die Temperatur hielt sich etwas über Null, und gegen Mittag taute der Schnee auf der Jurte auf und tropfte durch alle Säume hinein.

Diese vierte Parallelkette des Kwen-lun-Systems zeigte sich schon bei der ersten Bekanntschaft den vorhergehenden sehr unähnlich. Letztere waren trocken, hatten keinen ewigen Schnee und besaßen abgerundetere Formen; hier waren wir in wirklichen Alpen mit Niederschlägen und reicher Vegetation. Bisher hatten wir 13–14 Stunden von einer der spärlich vorkommenden Quellen zur anderen wandern müssen; hier fanden wir auf Schritt und Tritt Wasser.

Obgleich das Schneien auch am 22. Juli fortfuhr, beschlossen wir trotzdem aufzubrechen. Der weiche Boden war glatt und tückisch, aber die Kamele kamen doch gut vorwärts. In den Tälern fiel der Schnee in[S. 303] großen, federleichten, feuchten Flocken, die verschwinden, sobald sie den Boden berühren, der nach und nach durchtränkt und naß wird. Auf den Höhen fiel er in Gestalt runder, leichter Graupeln. Diese sind für den Reitenden angenehmer, weil sie leicht herunterrollen, während man von den Flocken naß wird. Es tropft von der Mütze; die Hände sind naß und steif, das Kartenblatt wird knitterig und ruiniert. Der Blick dringt nicht weit, man erhält keinen Überblick über die Anordnung und Gestalt der Bergkämme. Nur im Norden wurde es ein paarmal hell, und man erblickte wie durch einen Tunnel den kuppelförmigen, flach gewölbten Rücken des Akato.

Der Tagemarsch führte in einem Bogen um einen mächtigen Teil des Tschimen-tag, immer bergauf und bergab. Nach all diesem durchkältenden Schnee war es schön, in Jappkaklik-sai (3998 Meter), wo Teresken wachsen, die Weide aber kümmerlich ist, rasten zu können.

Die Temperatur sank abends unter Null; der Schnee blieb daher liegen und häufte sich zu einer dicken Schicht an, da er den ganzen Abend außerordentlich dicht fiel. Eigentümlicherweise war es dabei von Zeit zu Zeit im Zenit so klar, daß wir die Sterne funkeln sahen, während der Schnee in gewaltigen Flocken durch die Luft wirbelte. Ein Vorteil war, daß er nicht mehr schmolz, sondern sich wie eine wärmende Decke auf und um die Jurte legte. Die Temperatur ging auf −4,8 Grad herab.

Als am nächsten Morgen der Tag graute, wurde ich von einem entsetzlichen Lärm im Lager geweckt und eilte hinaus. Der Hirt Nias und alle Schafe, bis auf vier, wurden vermißt, und an den Spuren im Schnee konnte man leicht erkennen, daß uns während der Nacht Wölfe in dem Schneesturm und der dabei herrschenden undurchdringlichen Finsternis einen Besuch abgestattet hatten. Sofort wurden alle Mann auf die Fährte losgelassen, und Tscherdon nahm seine Flinte und stieg zu Pferd. Erst gegen 10 Uhr kamen sie mit Nias und einem Schafe wieder. Neun der übrigen hatten sie hier und dort zwischen den Hügeln erfroren gefunden; nur eines fehlte ganz.

Den Hergang beschrieb Nias folgendermaßen. Er hatte wie gewöhnlich im Freien unter einem Filzteppich neben seinen Schafen geschlafen, von denen nur vier angebunden gewesen waren; wenn nämlich nur einige stillstehen, bleiben die übrigen auch an der Stelle. Mitten in der Nacht hatten ihn Tritte im Schnee und das Blöken der Tiere, das jedoch das Heulen des Sturmes nur schwach durchdrang, aus dem Schlafe geweckt. Er fuhr in die Höhe und sah drei Wölfe, die gegen den Wind auf die Schafe losfuhren, um sie aus dem Lager zu treiben. Nias verfiel gar nicht darauf, erst die anderen Leute zu wecken, sondern stürmte, ohne sich[S. 304] zu besinnen, zu Fuß den Schafen nach. Er war die ganze Nacht wie ein Verrückter hinter ihnen hergelaufen, hatte aber nur das eine retten können. Der schlaue Angriffsplan war so gut geglückt, daß die Hunde nichts gemerkt hatten. Der „Mongole“ war schon wieder durchgebrannt, Jolldasch schlief in meinem Zelte, und der unerfahrene Maltschik lag, wie ein Igel zusammengerollt, hinter dem Zelte der Leute. Es nützte wenig, daß die Leute über alles, was Wolf heißt, fluchten und die Graubeine verwünschten; unser Proviant war und blieb schwer geschädigt. Aber Schafe sind und bleiben Schafe; warum mußten sie den sicheren Hafen des Lagers verlassen und ihren listigen Feinden gerade in den Rachen laufen?

Als wir dieses traurige Lager verlassen hatten und unseren Weg nach dem Passe hinauf fortsetzten, waren wir sehr erstaunt, das vermißte Schaf über die Hügel galoppieren zu sehen, wobei es uns erschreckt, wild und vorsichtig betrachtete und anscheinend nicht recht wußte, ob es uns für Freunde oder Feinde halten sollte. Doch sobald das arme Tier seine fünf Kameraden erblickte, gesellte es sich auf der Stelle zu ihnen. Es war wohl die ganze Nacht umhergeirrt, hatte sich zu seinem Glücke von den anderen getrennt und war so den Wölfen entwischt, die es übrigens, als sie sich ertappt sahen, für gut befunden hatten, sich zurückzuziehen.

Der Tag war klar und herrlich, und der Schnee schmolz weg. Wir schritten nach dem Hauptpasse des Tschimen-tag (4269 Meter) hinauf, von wo aus man nach Süden ein stattliches Panorama vor sich hat. Eine neue Bergkette, der Ara-tag, zieht sich von Westen nach Osten hin; er ist jetzt ganz mit Schnee bedeckt, obwohl nur einige Gipfel im Südwesten wirkliche Firnfelder tragen. Das breite Längental zwischen Tschimen-tag und Ara-tag heißt einfach Kajir (Lehmschlammtal) und wird von einem Flusse durchströmt, der nach Westen fließt. Wo er blieb, machten wir später ausfindig.

Von dem orographischen Bau des Tschimen-tag will ich jetzt nur sagen, daß er Mangel an Ebenmaß zeigt. Das Tschimental liegt 2961 Meter über dem Meere, das Kajirtal 4185 Meter, weshalb wir hier eine Stufe höher nach dem nordtibetischen Plateau hinauf gelangt sind. Wenn man den Tschimen-tag von Norden betrachtet, hat man eine gigantische Bergkette vor sich; von Süden gesehen, erscheint er unbedeutend, weil der relative Höhenunterschied gering ist.

136. Salzsee bei Lager Nr. 35 (27. Aug. 1900). Aussicht nach Nordosten. (S. 341.)

GRÖSSERES BILD
137. Salzsee bei Lager Nr. 35 (27. August 1900). Aussicht nach Südosten. (S. 341.)

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Auch in diesem Lager hatten wir ein kleines Abenteuer mit den Schafen. Als ich wie gewöhnlich nach der meteorologischen Ablesung die Abendrunde machte, stellte sich heraus, daß von den sechs Schafen nur zwei angebunden waren. Da aller Wahrscheinlichkeit nach auch hier Wölfe umherstreiften, befahl ich, daß alle Schafe angebunden werden sollten. Doch[S. 305] als die vier losen Schafe gebunden werden sollten, jagte ihnen dies einen solchen Schreck ein, daß sie in wilder Flucht ins Gebirge hinaufrannten. Trotzdem es schon pechfinster war, eilten ihnen alle Mann nach, und eine halbe Stunde lang hörte ich verhallende Rufe von den Hügeln.

Schließlich kam Tscherdon mit zweien wieder, die er mit dem Lasso glücklich eingefangen hatte. Erst nach zwei Stunden näherte sich die Treibjagd auf die anderen wieder dem Lager; aber die armen Tiere waren derartig verängstigt, daß es unmöglich schien, sie zu ergreifen. Schließlich gelang es freilich, aber nur durch List. Erst wurden sie talabwärts getrieben und dann in Schlingen gefangen. Sie wurden von nun an immer angebunden, bis sie der Reihe nach geopfert wurden, um nicht den Wölfen, sondern uns selbst zugute zu kommen.

Von herrlichem Wetter begünstigt, bereiteten wir uns am Tage darauf unter tiefblauem Himmel, ohne ein Wölkchen, ja ohne einen Luftzug, auf die Erstürmung der nächsten Verschanzung in Nordtibets Randgebirgen, des Ara-tag (Zwischenkette), vor. Auf dem Passe Ak-tschokka-aituse (der weiße Felsenpaß, 4373 Meter) wiederholte sich das Panorama von gestern, nur sah man jetzt eine neue westöstliche Kette, den Kalta-alagan (Kaltas Jagdgebiet), von dem der Ara-tag durch ein neues Längental geschieden wird, das sich weiter westwärts mit dem vorhergehenden vereinigt. Der vereinigte Fluß durchbricht darauf den Tschimen-tag und strömt in das Tschimental.

Zwei prächtige Kulane sprengten in unserer unmittelbaren Nähe heran und guckten über die hohe Terrasse; man hätte sie für zahme Pferde halten können. Als sie uns erblickten, stoben sie davon und setzten quer über das Tal, wobei sie mit unglaublicher Gewandtheit an dem jähen Abhange herab- und ebenso sicher an dem gegenüberliegenden hinaufkletterten, um im Nu zwischen den Hügeln zu verschwinden.

Die Unseren waren weit voraus. Ich wurde beständig durch Beobachtungen auf Pässen und in Tälern, Sammeln von Gesteinproben, Photographieren, Skizzieren usw. aufgehalten. Tokta Ahun kannte freilich einen Weg nach Südwesten über die nächste Kette, aber aus den Spuren ersahen wir, daß Aldat den Weg nach Osten durch das Haupttal hinauf eingeschlagen hatte.

In einem Seitental mit magerer Weide manövrierte eine Herde von zehn Kulanen und zwei kleinen Füllen, die erst ein paar Tage alt sein konnten; sie waren nett und geschmeidig und folgten ohne Schwierigkeit dem schnellen Laufe der älteren, als diese uns vorn und auf den Seiten umkreisten und unser Tun und Lassen mit größtem Interesse beobachteten.

[S. 306]

Noch immer ging es höher hinauf; über einen hügeligen Paß gelangten wir in ein anderes, tief und energisch eingeschnittenes Tal. Es begann zu dämmern und kalt zu werden, und wir sehnten uns nach dem Anblicke der Rauchsäule, die wie gewöhnlich verkünden sollte, daß die Karawane einen geeigneten Lagerplatz gefunden. Doch die Spur schlängelte sich immer weiter aufwärts, und soweit der Blick reichte, sah man keine Zelte. Die Vegetation nahm ab, und wir näherten uns immer kälteren Regionen.

Es war klar, daß die Karawane den Weg über den Paß hinüber fortgesetzt hatte; doch nach dem mächtigen Flusse zu urteilen, dessen Tal wir folgten, mußte der Paß über den Kalta-alagan noch weit entfernt sein, und wir zerbrachen uns den Kopf darüber, weshalb die anderen einfach drauflosgegangen waren und nicht da Halt gemacht hatten, wo es noch Brennholz und Weide gab. Bei Sonnenuntergang ballten sich schwere, drohende Wolken zusammen; als es aber dunkel geworden war, zerteilten sie sich wieder, und eine sternklare Nacht brach herein. Die Berge verschmolzen immer mehr zu schwarzen Silhouetten, und die Kartenarbeit konnte nur mit Schwierigkeit fortgesetzt werden. Der Bach war noch groß und das Tal mit Schutt angefüllt, trotzdem aber sahen wir noch die Spur, die um einen Felsvorsprung bog und in ein kleines Nebental hineinging, das anscheinend nach einem näheren Passe hinführte.

Jetzt war alle Arbeit unmöglich. Was tun? Einfach in der Nacht weiterreiten, war keine Kunst, aber es durfte mir nicht passieren, daß ich in meiner Karte eine Lücke entstehen ließ, noch dazu an einem so wichtigen Punkte, wo es sich darum handelte, einen Paß erster Ordnung zu überschreiten. Ich blieb daher einfach da, wo wir waren, und befahl Tokta Ahun weiterzureiten, bis er die Karawane erreichte, und dann mit meiner Jurte und meinen Kisten zurückzukehren.

Währenddessen hatten Tscherdon und ich es in der nächtlichen Kälte und Dunkelheit in diesem Lager, das 4652 Meter über dem Meere lag, nichts weniger als gemütlich. Um 9 Uhr beschäftigten wir uns mit den meteorologischen Ablesungen. Dann waren wir der Untätigkeit und Erwartung preisgegeben. Wir kauerten uns dicht nebeneinander nieder, um uns warm zu halten, und unterhielten uns von ähnlichen Lagen, in denen wir uns früher einmal befunden hatten. Tscherdon hatte in dieser Hinsicht von den Manövern in Transbaikalien nicht viel zu berichten, ich aber hatte in Persien inmitten der Schakale im Freien gelegen, war am Ufer des Kara-kul im Pamir beinahe erfroren und hatte viele unheimliche Nächte in der Takla-makan-Wüste durchwacht.

Zum Schlafen war es zu kalt; die Kälte wurde immer stärker, wir[S. 307] hatten keine Pelze und mußten uns bewegen, um nicht zu erfrieren. Aber schließlich macht sich nach elfstündigem Ritt und all der damit verbundenen Arbeit Müdigkeit geltend, und der Kopf wird einem wüst und schwer. So krochen wir denn wieder zwischen zwei Felsblöcken, die uns Schutz gewährten, zusammen. Langgezogenes Wolfsgeheul in der Ferne ermunterte uns wieder, die Flinte wurde in Bereitschaft gehalten und die ungeduldig zwischen den Steinen scharrenden Pferde in unserer unmittelbaren Nähe angebunden. Hätten wir nur Feuer anmachen können, so wäre die Lage weniger ungemütlich gewesen, doch wie wir auch in der Nachbarschaft umhersuchten, wir fanden weder Yakdung noch Teresken. Es war zu dunkel; man konnte nur mit den Händen umhertasten, und es blieb uns nichts weiter übrig, als durch Stampfen und Armbewegungen dafür zu sorgen, daß der Blutumlauf nicht ins Stocken geriet.

Nach fünf unendlich langen Stunden hörten wir Hufe auf dem Schutte klappern. Kutschuk und Tokta Ahun kamen mit zwei Pferden und der Jurte. Eine halbe Stunde später erschien Turdu Bai mit den Kisten und Küchengeschirr auf Kamelen. Sie schoben alle Schuld auf Mollah Schah, der mit den Pferden weitergezogen sei, als Aldat ihm von einem guten Weideplatze an einer kleinen Quelle jenseits des Passes erzählt habe. Sie brachten einen Sack voll Feuerung mit, und das Mittagessen schmeckte nach siebzehnstündigem Fasten gar zu schön. Es graute schon über den kahlen Bergen, als wir uns schlafen legten.

Ermattet von den Anstrengungen des Tages und der Nacht kamen wir am folgenden Morgen nicht vor 10 Uhr in Gang; nun wurde die noch fehlende Strecke nach dem Lager Nr. 14, wo die übrigen warteten, zurückgelegt. Der Anstieg nach dem Awraspasse (4786 Meter), auf dem wir den Kalta-alagan überschreiten, ist ganz unbedeutend. Hier entrollt sich uns eine unendlich weitgestreckte, großartige Aussicht nach Süden; aber jetzt handelt es sich nicht mehr um eine einzige, leicht orientierte Bergkette, sondern um eine ganze Welt von Bergen, deren richtige Einteilung Monate in Anspruch nehmen würde.

Von dem Passe führt ein trockenes Quertal auf offenes, flaches Terrain hinab. Bei einigen Hügeln, wo eine Quelle entspringt, hatte die Karawane am vorhergehenden Abend das Lager aufgeschlagen. Mollah Schah und Musa erhielten für ihren unnötig langen Marsch gehörige Schelte.

26. Juli. Jetzt ging es nach Westen weiter, in rechtem Winkel gegen die Route der letzten Tage und in der Richtung nach dem oberen Kum-köll, der mit dem Fernglase in der Ferne zu sehen war, später aber wieder durch kleine Hügel und Bodenanschwellungen verdeckt wurde. Auch jetzt marschierten wir in einem großen, breiten Längentale, das den Südfuß der[S. 308] mächtigen Kalta-alagan-Kette begleitet. Im Süden begrenzt unser Tal ein kolossaler Sandgürtel, der mir anfangs eine kleinere, mit den übrigen parallellaufende Kette von Hügeln zu sein schien, sich aber, als wir näherkamen, als eine Reihe von Dünen entpuppte, die beinahe ebenso gewaltig waren wie in der Takla-makan und die gleiche Farbe hatten. Dieselben Vorbedingungen für die Entstehung eines Sandmeeres, die in der Wüste vorhanden sind, finden sich also auch hier auf 4000 Meter Höhe vor. Die nördliche Grenze des Sandgürtels markiert sich außerordentlich scharf gegen den weichen oder kiesigen Talboden, wo die Tereske und andere Brennholz liefernde Büsche zerstreut wachsen. Die Dünenkämme ziehen sich in nord-südlicher Richtung hin und scheinen von vorwiegend westlichen Winden gebildet worden zu sein.

Mit dem Sande zur Linken und dem Kalta-alagan zur Rechten wurde der Tagemarsch recht einförmig. Das einzige, was dem Auge ein wenig Abwechslung gewährte, war das Tierleben. Kulane waren den ganzen Tag außerordentlich zahlreich; wir sahen sie überall auf den gleichmäßig und langsam nach dem See abfallenden Steppen grasen und auch miteinander kämpfen.

Die Murmeltiere beobachteten uns von ihren Löchern aus. Sie sahen zu drollig aus, wenn sie auf den Hinterbeinen standen und die Vorderpfoten über der Brust kreuzten. Erst wenn die Hunde ganz nahe sind, stürzen sie sich Hals über Kopf in ihre Höhlen. Auch Hasen waren häufig, und Wildenten sah man nach dem See fliegen. Die Mücken machten einen Angriff, der jedoch bald nach Sonnenuntergang endete. Den ganzen Tag herrschte Sommer; die Mittagstemperatur stieg auf +20 Grad, und es kam uns heiß vor, weil die Luft windstill war; man würde die bedeutende Höhe vergessen haben, wenn nicht selbst geringfügige Bewegungen Atemnot und Herzklopfen verursacht hätten.

Während des Rittes wurden zwei Kulanfüllen lebend gefangen. Aldat und Tscherdon ritten auf eine Herde von 34 Tieren zu, die bei ihrem Herannahen die Flucht ergriff. Eine Mutter aber blieb mit ihrem viertägigen Füllen zurück. Als sie die Gefahr näherkommen sah, ließ sie das Junge im Stich und vereinigte sich mit der Herde. Das Füllen blieb ruhig stehen und ließ sich ergreifen, ohne auch nur einen Versuch zur Flucht zu machen. Aldat nahm es vor sich auf den Sattel, dann wurde es, in eine Filzdecke gewickelt, auf ein Kamel gelegt. Es schien diese Beförderungsart ganz natürlich zu finden, aber es war auch noch nicht lange her, seit es von der Mutter in wiegendem Gange über diese Berge, die sein Aufenthaltsort werden sollten, getragen worden war. Das andere Füllen wurde auf dieselbe Weise beim Lager Nr. 15 gefangen.

[S. 309]

Als ich im Lager anlangte, liefen die Füllen ganz ungeniert umher und zeigten keine Spur von Furchtsamkeit, wenn man sie streichelte (Abb. 122, 123). Es war mein Wunsch und meine Absicht, den Versuch zu machen, sie mit Mehlgrütze großzuziehen, bis sie sich selbst ernähren konnten, was im Alter von 20 Tagen geschehen soll. Wir würden sie mit der größten Liebe gepflegt haben und sie hätten uns über die Höhen ihres Heimatlandes begleitet. Doch als wir über die Sache sprachen, versicherte Tokta Ahun, daß sie binnen fünf Tagen sterben würden; er habe achtmal versucht, Kulane aufzuziehen, aber es sei stets mißlungen.

Nun befahl ich, daß sie nach dem Platze, wo sie gefangen worden, zurückgebracht werden sollten, damit ihre Mütter sie leicht wiederfinden könnten. Tscherdon und Aldat stiegen sofort zu Pferde, aber Tokta Ahun sagte, daß dies nichts nützen würde. Er habe die Erfahrung gemacht, daß die Mutter, deren Junges man gefangen und berührt habe, von ihrem Kinde nichts mehr wissen wolle, sondern das Füllen wie einen Pestkranken fliehe. Sie scheine ihr verlorenes Kind weder zu vermissen noch zu betrauern, sondern fliehe mit der übrigen Herde und wolle nicht wieder nach dem Platze zurück.

Hätten wir dagegen eine Stute gehabt, so wäre das Aufziehen sicher möglich gewesen. Im Tschimentale sollen jährlich Massen von Füllen umkommen, weil sie in den ersten Tagen ihres Lebens den älteren Kulanen nicht folgen können, wenn diese vor einer drohenden Gefahr die Flucht ergreifen. Sie verhungern oder werden eine Beute der Wölfe. Wahrscheinlich vermögen die älteren jedoch sich zu einer geordneten Verteidigung gegen diese Raubtiere aufzuschwingen; sonst würde die neue Generation gar zu arg mitgenommen werden.

Inzwischen wurden unsere kleinen Gäste im Lager gehegt und gepflegt und lernten leicht die Mehlsuppe hinunterschlürfen. Doch sie waren dem Untergange geweiht, und als sie schon am Abend anfingen hinzusiechen und heftiges Verlangen nach der Muttermilch verrieten, ließ ich sie schlachten; es war der einzige Dienst, den ich diesen Kindern der Wildnis, die sonst in die Krallen der Wölfe gefallen wären, leisten konnte. Die Muselmänner nahmen die Häute und das Fleisch, das sie für besonders zart und wohlschmeckend hielten, mit.

Ehe die Füllen geschlachtet wurden, photographierte ich sie mehrere Male. Das eine war 90, das andere 91 Zentimeter hoch. Der Kopf ist unverhältnismäßig groß, und die Beine sind im Verhältnis zum Leib geradezu lächerlich lang entwickelt, aber diese Glieder sind ja auch dasjenige, dessen sie zuvörderst und am meisten bedürfen. Der Leib ist sehr kurz und zusammengedrückt und gibt kaum eine Andeutung von den edeln,[S. 310] harmonischen Formen, welche die ausgewachsenen Kulane kennzeichnen. Die, welche wir fingen, waren noch zu unerfahren, um das geringste Erstaunen über Menschen, Kamele und Zelte zu zeigen. Eine Woche später hätten sie sich weder fangen lassen noch wären sie unter uns umhergegangen, ohne einen Fluchtversuch zu machen. Man konnte sich durch Hinhalten eines Fingers überzeugen, ob sie hungrig waren; sie fingen dann an, eifrig zu saugen.

27. Juli. Nachdem die Minimaltemperatur in der Nacht knapp +1 Grad geblieben war, folgte wieder ein warmer, herrlicher Tag. Die Längentäler haben im allgemeinen ein gemäßigteres Klima, sie bilden aber auch die relativ niedrigen Gegenden des Hochlandes. Als wir uns zum Aufbruche rüsten wollten, stellte sich heraus, daß die Pferde fortgelaufen waren und sich talaufwärts nach den besseren Weideplätzen, wo sich die Kulane aufhielten, begeben hatten. Mollah Schah mußte eine halbe Tagereise zu Fuß machen, um sie zu suchen, und kam erst gegen 11 Uhr wieder.

Wir hatten bei Bulak-baschi (erste Quellen) gelagert und ritten von dort nach Westen. Rechts haben wir den ganzen Tag eine ununterbrochene Reihe von Sümpfen, Mooren und Tümpeln. Das Gras ist üppig, aber der Boden trägt nicht einmal einen Fußgänger, sondern ist außerordentlich tückisch und gefährlich. Einige Becken sind ein paar hundert Meter lang. Das Wasser, welches sie speist, sprudelt in unzähligen Quelladern unter dem Sande hervor; diese vereinigen sich weiter unten zu einem Flusse, der am Ostende des Kum-köll mündet.

Wir spähten nach dem See aus. Endlich trat im Westen sein heller Streifen hervor. Der Tag war warm und ruhig, die Mücken lästig, und eine Bremsenart, „Ila“ genannt, peinigte die Pferde und machte sie durch Eindringen in ihre Nüstern unruhig und aufgeregt. Die Kulane schützen sich gegen diese Insekten dadurch, daß sie die Nüstern beim Grasen dicht am Boden halten, die Orongoantilopen, indem sie an den heißen Tagen im Sandgürtel bleiben und erst abends nach den Weideplätzen herunterkommen.

Die Yake schützen sich auf dieselbe Weise, gehen aber tiefer in den Sand hinein, weshalb wir sie auf dem heutigen Ritte nicht sahen, während wir überall Fußspuren und Dung von ihnen erblickten. Als aber gegen 4 Uhr ein heftiges Unwetter mit Hagel und Regen losbrach, mochten sich die Yake sagen, daß ihre Feinde sich zurückziehen würden, und nun erschienen sie truppweise auf den Dünenkämmen. Erst sahen wir eine Kuh mit ihrem Kalbe den steilen Abhang herunterrutschen; sie erblickte uns rechtzeitig und kehrte sofort wieder um. Dann zeigte sich eine große Herde von mehr als 30 Tieren, die sich in einer Reihe auf einem mächtigen[S. 311] Dünenkamme aufstellten und sich durch die Karawane nicht erschrecken ließ. Ich mußte eine Weile halten und diesen wirklich stattlichen Anblick durch das Fernglas genießen. Die Tiere hoben sich mit außerordentlicher Schärfe rabenschwarz vom gelben Hintergrund ab. Sie waren auf dem Wege nach ihren Weideplätzen am See, als sie sich davon abgeschnitten sahen. Man konnte beinahe beobachten, welchen Genuß ihnen der noch immer auf die Erde klatschende Regen bereitete. Die in dieser Gegend lebenden Yake sollen immer dieselbe Taktik befolgen, um den Bremsen zu entgehen. Die ganze Nacht gehen sie auf die Weide, bei Sonnenaufgang aber sieht man sie wieder den Rückzug nach den Dünen antreten, wo sie ruhig bleiben, bis die Dunkelheit einbricht oder ein Sturm sie wieder herunterlockt.

Die Reihe der Sanddünen nahm vom Regen einen dunkleren Farbenton an. Man meint, solch ein heftiger, plätschernder Regen müsse alles in einen Brei verwandeln, aber nicht einmal die scharfen Kanten der Dünen werden dadurch verändert, und die Regentropfen vermögen nur kleine Gruben auf der Oberfläche hervorzubringen. Der Sand nimmt nach und nach an Höhe ab und tritt weiter zurück; rechts haben wir den See, dessen Südufer sich nach Nordwesten hinzieht; hier grasten 14 große Yake.

Tscherdon, der mit mir ritt, konnte seine Augen nicht von ihnen abwenden und bat schließlich, ob er nicht sein Glück versuchen dürfe. Er schlich sich wie eine Katze nach einem gewaltigen Stiere hin; da dieser aber ruhig stehenblieb und ihn nur wütend, ohne eine Spur von Furcht betrachtete, wurde Tscherdon dabei unbehaglich zumute und er trat ohne Blutvergießen den Rückzug an. Ich hatte ihm anempfohlen, sich mit den Yaken vorzusehen und sich lieber nicht allein auf eine solche Jagd einzulassen, weil der Yak, wenn er verwundet wird, oft den Schützen angreift.

Ein wenig weiter vorn erblickte Tscherdon einen einsamen, vier Monate alten Wolf, dem er im Galopp nachsetzte und den er auch glücklich einfing. Der Gefangene blieb gefesselt im Lager. Die Hunde behandelten ihn mit größter Gleichgültigkeit, aber die Leute gaben ihm alle möglichen liebenswürdigen Ehrentitel, in Erinnerung an die neun Schafe, die jetzt gerächt werden sollten. Tokta Ahun riet mir, gut auf die Schafe aufpassen zu lassen, denn die Wölfin, die wahrscheinlich ihre Höhle in der Nachbarschaft habe, werde ihr Junges schwerlich aus dem Auge verlieren und, wenn ihm etwas Böses widerführe, an den Schafen Rache nehmen. Zweimal hatte er junge Wölfe gefangen, und beide Male hatten ihm die älteren Wölfe einen Esel zerrissen. Ausgewachsene Kulane lassen sie in Frieden, weil sie sie im Laufe doch nicht einholen können, jüngere aber pflegen sie in schlammige Moräste hineinzujagen und ihnen dort die Kehle durchzubeißen.

[S. 312]

Das jetzt gefangene Wölflein, das aufgezogen und mitgenommen werden sollte, überlistete jedoch seine Wächter. Es biß nachts den Strick durch und entfloh mit dem Ende desselben. Die Muselmänner hofften, daß es, wenn es wüchse, von dem Stricke, den es um den Hals hatte, erdrosselt würde; ich hielt es jedoch für wahrscheinlich, daß die Mutter die Strickschlinge rechtzeitig durchbeißen würde.

Das Lager Nr. 16 am oberen Kum-köll war in jeder Hinsicht befriedigend. Es gab dort gute Weide und Brennholz, und das Wasser des Sees war süß. Die absolute Höhe betrug hier nur 3882 Meter. Im Norden erhob sich stattlich und deutlich der Kalta-alagan und erstreckte sich, soweit das Auge reichte, nach Westen. Im Süden war die Bergwelt in dicke Wolken gehüllt.

Am folgenden Morgen lag das Boot zusammengesetzt am Ufer bereit, und mit Kutschuk als Matrosen fuhr ich mit passendem Winde über den See, indem ich alle notwendigen Instrumente für die Kartenarbeit und die Lotungen, die Jurte usw. mitnahm. Wir waren noch nicht weit vom Ufer entfernt, als ein heftiger Windstoß die Rahe abbrach, so daß wir zurückrudern mußten, um sie erst zu reparieren. Beide Stücke wurden aneinandergebunden und mit Tamariskenlatten geschient; darauf steuerten wir in der Richtung nach einem Schneegipfel in Nordnordosten über den See. Ich hatte nicht erwartet, diesen See so seicht zu finden; die größte Tiefe betrug 3,73 Meter. Am Nordufer landeten wir auf einer kleinen Insel.

Jetzt begann der Himmel im Osten beunruhigend auszusehen, und das Tal füllte sich mit dichten Wolken. Über dem Dünengürtel wirbelten gelbe Sandwolken auf, und wir hielten es für das klügste, noch eine Weile zu warten. Der Sturm brach auch richtig los, und wir suchten uns vor dem Sturzregen dadurch zu schützen, daß wir uns gegen den Wind gedeckt zusammenkauerten. Der See ging hoch mit schäumenden Wogen, aber ich konnte, als der Regen aufgehört hatte, nicht der Versuchung widerstehen, das Segel loszumachen und das leichte Fahrzeug förmlich vom Ufer wegfliegen zu lassen. Jetzt hieß es aufpassen. Das ganze flache Tal war gleichsam eine Rinne für den Wind, der rücksichtslos über den See hinsauste. Dieser erstreckte sich vor uns, soweit der Blick reichte, und wir balancierten vorsichtig über die Wogenkämme, um nicht Wasser einzunehmen. Als der Wind stärker wurde und der Mast zu brechen drohte, mußte Kutschuk das Segel einziehen; dann trieben wir auch ohne dieses mit reißender Geschwindigkeit. Das Sondieren ließ sich nur bisweilen ausführen, denn die Fahrt war zu stark, aber die Geschwindigkeit konnte ich leicht messen und auch Kompaßpeilungen vornehmen.

138. Meine Jurte im Lager Nr. 35 (27. August 1900). Aussicht nach Norden. (S. 341.)

GRÖSSERES BILD
139. Der Fischberg. (S. 346.)
140. Der Fischberg vom See aus. (S. 346.)

[S. 313]

Als der Wind an Stärke abnahm, hatte der See schon angefangen sich zu verschmälern, so daß wir nicht mehr weit von dem Punkte entfernt zu sein schienen, wo er sein überschüssiges Wasser in einen Fluß entleert und es nach dem weiter westlich gelegenen großen Salzsee Ajag-kum-köll (unteren Sandsee) entsendet. Unser See wurde immer flacher, selten über einen Meter tief, und das naheliegende, langsam abfallende Südufer wurde von Schlammbänken fortgesetzt, über denen sich das Wasser bei den Ruderschlägen schwarz färbte. Enten und Gänse waren hier zahlreich. Letztere brüteten und konnten nicht weit fliegen, aber um so besser tauchen, was wir erfuhren, als wir versuchten, mit einer Schar um die Wette zu rudern und sie mit den Rudern anzugreifen.

Die Rückkehr von diesem herrlichen Ausfluge war tragikomisch. Wir ruderten aus Leibeskräften, aber der Wind erhob sich wieder, und nicht lange dauerte es, so fing es auch wieder an zu regnen. Wir wurden pudelnaß, wozu auch die dann und wann in das Boot schlagenden Wellen das Ihrige beitrugen. Endlich tauchten in der Ferne die Zelte auf, aber es dauerte noch ein paar Stunden, ehe wir sie erreichten. Ich hatte stets Pech mit den Seefahrten: sie konnten bei herrlichstem Wetter angetreten werden, endeten aber immer mit Sturm.

[S. 314]

Achtundzwanzigstes Kapitel.
Fünftausend Meter über dem Meere.

Am 30. Juli wurden Tokta Ahun und Musa mit sechs Pferden nach dem Hauptquartier zurückgeschickt. Das Gepäck wurde dadurch für die zurückbleibenden Tiere etwas schwerer. Unsere Gesellschaft bestand nun aus mir, sechs Mann (Tscherdon, Turdu Bai, Mollah Schah, Kutschuk, Nias und Aldat), 7 Kamelen, 11 Pferden, 1 Maulesel, 5 Schafen und 2 Hunden. Am nächsten Morgen lag das Becken des Kum-köll in undurchdringlichen, feuchten Nebel gehüllt, und die Kalta-alagan-Kette war spurlos verschwunden. Die Luft war warm und still und mit Moskitos gepfeffert, die uns den ganzen Tag treu begleiteten. Wir sehnten uns nach Gegenden, in denen diese gemeinen Wesen nicht leben konnten, und gedachten, erst dann in ihre Heimat zurückzukehren, wenn der Winter ihnen den Garaus gemacht haben würde.

Der Kum-köll lag wie ein Spiegel da, verschwand aber hinter uns gleich im Nebel. Wir dringen in den westlichen Randgürtel des Sandes ein, wo die Dünen wie Landspitzen auslaufen; dazwischen finden wir festen Boden und eine Reihe kleiner Becken mit je einem schwach salzhaltigen Tümpel. Es ist eine schwere Arbeit für unsere Tiere, denn ihre Lasten sind ansehnlich; auf so bedeutender Höhe ist das Gehen schon auf ebenem Boden mühsam, und hier sinken sie dazu noch in den losen Sand ein.

Nachdem der Sandgürtel aufgehört hat, reiten wir über dünn mit Gras bestandenen kupierten Boden und gelangen an den Fluß Pettelik-darja. Er führte wohl 10 Kubikmeter Wasser in der Sekunde und war höchstens 65 Zentimeter tief, aber sein Boden war trügerisch und für die Kamele gefährlich. Turdu Bai und Mollah Schah probierten es wiederholt, ihn zu überschreiten, und versanken dabei mit ihren Pferden beinahe im Schlamm. Schließlich fanden sie eine Stelle, welche die Kamele trug, die, wenn der Boden unter ihnen nachgibt, unverbesserlich ungeschickt sind. Nach einem Marsche von noch einigen Stunden gelangten wir wieder an das Ufer des Pettelik-darja, wo wir Lager schlugen.

[S. 315]

Der nächste Tagemarsch führte nach Südsüdost und war ebenso lang wie der vorhergehende. Es war der vierte Tag, daß wir über ebenes, offenes Terrain inmitten der höchsten Berge der Erde zogen. Der Fluß wurde von neuem überschritten, und vor uns erhob sich eine kleinere Bergkette, die uns den Weg versperrte und wahrscheinlich ein Ausläufer des Arka-tag war. Die öde Steppe dient zahllosen Orongoantilopen als Aufenthalt; doch wie sehr unsere Jäger sich auch bemühten, es gelang ihnen nicht, eine zu erlegen. Die Tiere scheinen hier die Gefahr kennen gelernt zu haben, denn das Land wird von Zeit zu Zeit von Goldgräbern und Yakjägern durchstreift; daher sind sie auf ihrer Hut und kommen nicht zu nahe an uns heran. Nun war Aldats Terrainkenntnis erschöpft; so weit südlich war er noch nie gewesen und von den anderen natürlich auch keiner, weshalb ich für die Zukunft selbst das verantwortliche Amt des Führers übernehmen mußte.

Wir richteten den Kurs auf einen Einschnitt in der Kette, wo sich ein vielversprechendes Tal öffnete. Doch als wir darin waren, stellte es sich heraus, daß es trocken war. Zur Rechten, d. h. an der linken Talseite, leuchtete jedoch in einer Schlucht frisches grünes Weideland, und dort fanden wir eine kleine Quellader, die unseren Bedürfnissen genügte.

Am 1. August legten wir 29 Kilometer nach Südsüdost zurück. Im großen betrachtet, führte unsere Reise nach Süden, weil ich alle diese Bergketten rechtwinkelig überschreiten und außer den geographischen Entdeckungen auch Material zu einem geologischen Profile sammeln wollte. Wir gedachten, soweit wie nur irgend möglich nach Süden zu gehen und wieder umzukehren, sobald die Hälfte unserer Vorräte verbraucht war. Bei dieser Berechnung vergaß ich jedoch einen wichtigen Faktor zu berücksichtigen, den nämlich, daß auf dem Rückwege die Kräfte der Tiere so gesunken sind, daß die Heimreise viel längere Zeit erfordert. Ich dachte zwar daran, aber mir war die Hauptsache, auf jeden Fall möglichst weit zu gelangen. Auf irgendeine Weise würden wir wohl wieder nach Hause kommen, schlimmstenfalls zu Fuß. Der Wendepunkt, hatte ich mir gedacht, sollte in eine weidereiche Gegend fallen, wo die Tiere sich ausruhen könnten. Ich ahnte nicht, wie anstrengend unser Rückzug sein und welche Mühe es kosten würde, mit den Resten der Karawane zurückzukommen.

Es war nicht leicht, die Granitmauer, die sich uns jetzt in den Weg stellte, zu forcieren. Es kostete den ganzen Tag, gelang aber schließlich doch. Durch gewundene Furchen und Täler, über Ausläufer und kleinere Pässe suchten wir uns einen Weg nach der Wasserscheide auf diesem neuen Kamme hinauf und sahen im Süden in ihrer ganzen Länge eine gewaltige, rabenschwarze, schneebedeckte Kette, die ich für den Arka-tag hielt (Abb. 124).[S. 316] Ich kannte diese mächtige Bergkette von 1896 her und fürchtete, daß ihre Besteigung auch jetzt für uns eine harte Nuß werden würde. In dem Längentale vor dieser neuen Mauer lagerten wir an einem kleinen Bache. Die Weide war schlecht, aber Yakdung, unsere einzige Feuerung, reichlich vorhanden. Die Höhe über dem Meeresspiegel betrug hier 4638 Meter.

Der Tag war herrlich gewesen, ohne Bremsen und Moskitos. Um 7 Uhr begann jedoch der Regen auf die Jurte zu prasseln, und als ich ins Freie trat, sah ich nichts von den Bergen, denn alles war in Regenwolken gehüllt. Die paarweise gekoppelten Pferde lassen die Köpfe hängen. Sie blinzeln und sind halb im Schlafe, und das Wasser tropft von ihren Packsätteln und Mähnen herab. Die Kamele liegen dicht aneinander gedrängt, um sich warm zu halten; sie atmen schwer und scheinen sich des Ausruhens zu freuen. Das Lagerfeuer glüht und raucht vor dem Zelte der Leute, wo Tscherdon mein Mittagessen und Mollah Schah das der Leute bereitet. Bald daraus lassen Kutschuk und Nias die Pferde weiden; sie bleiben die ganze Nacht auf der Weide, doch ab und zu muß sich ein Wächter nach ihnen umsehen, damit sie sich nicht gar zu weit entfernen. Die Kamele können erst zur Weide gehen, wenn es Tag wird, und bleiben daher die ganze Nacht liegen, erhalten aber einige Scheffel Mais zum Abendessen. Jolldasch hütet sich, bei solchem Wetter auszugehen, sondern liegt lieber zusammengerollt in meinem Zelte. Maltschik hat die Entdeckung gemacht, daß es bei den Kamelen warm ist. Er hat einen schlimmen Fuß und ist in den letzten Tagen auf ein Kamel gepackt worden, dessen wiegende Bewegungen er mit der Geschicklichkeit eines Akrobaten und mit einer gewissen Eleganz pariert hat. Man ist froh, in die hell erleuchtete Jurte kriechen zu können, wenn draußen in der Dunkelheit der Regen die Erde peitscht.

Wir blieben den nächsten Tag dort, weil ich eine astronomische Beobachtung machen mußte, eine die Geduld auf die Probe stellende Arbeit, wenn man unaufhörlich durch Hagelschauer und Wolken unterbrochen wird. Der Morgen sah wenig versprechend aus. Seit Mitternacht hatte es geschneit, und das Schneien hielt noch bis 9 Uhr an. Das überhaupt spärlich vorhandene schlechte Gras lag unter einer weißen Decke begraben, und die Tiere wurden nicht zur Hälfte satt, obwohl sie den ganzen Tag nach Gras suchten. Die Berge zeichnen sich in wechselnden Beleuchtungen ab; bald stehen die Schneefelder grellweiß auf einem Hintergrunde von dunkeln Wolken, bald ist der Himmel im Hintergrunde klar, während die Schneefelder, wenn Wölkchen die Sonne verschleiern, einen kalten, stahlblauen Ton annehmen. Der ewige Schnee mit seinen rudimentären Gletschern, der sich gestern so scharf markierte, macht sich nicht länger geltend, denn alles ist gleich weiß.

[S. 317]

Die Nacht auf den 3. August war eine der kältesten, das Thermometer fiel auf −5,2 Grad. Die ersten Symptome der Müdigkeit zeigten sich jetzt bei den Tieren; ein Pferd mußte ohne Last gehen, und ein Kamel ließ nach, wenn es bergauf ging. Wir zogen gerade ins Gebirge hinein, wo es uns am niedrigsten erschien, und gelangten in eine Talweitung, wo es von Hunderten von Orongoantilopen wimmelte; es waren große, prächtige Tiere mit Hörnern, die wie Bajonette in die Luft standen. Sie flüchteten schnell und leicht die Abhänge hinauf, und es schien ihnen nicht die geringste Anstrengung zu sein, in der verdünnten Luft über die Hügel zu eilen.

Von dieser Talweitung führte ein Tal nach Süden und ein zweites nach Südwesten; wir wählten das erstere (Abb. 125). Das Tal verschmälerte sich und wurde steil. Da hier dem Anscheine nach kein Vordringen möglich war, mußte Tscherdon weiterreiten und rekognoszieren, während wir warteten und ich mich mit Photographieren beschäftigte. Er kam bald mit dem Bescheid wieder, daß hier kein Weg für die Kamele sei, weshalb wir es in dem anderen Tale versuchten.

Dieses Tal bog nach Südsüdwesten ab und schien nach einem schneefreien Passe hinaufzuführen. Ich ritt voraus. Die Steigung war entsetzlich steil. Auf dem mit Schutt bedeckten Passe (Abb. 126, 127), dem höchsten Punkte, den wir bisher erreicht hatten (4962 Meter; der Montblanc hat nur 4810 Meter!), mußte ich eine halbe Stunde auf die anderen warten, die schwer und mühsam den steilen Schuttweg emporkeuchten. Die Aussicht vom Kamme war nichts weniger als erfreulich. Ein Chaos von Felsen, Bergästen und schneebedeckten Kämmen breitete sich im Süden vor uns aus. Es war klar, daß wir noch nicht auf dem Kamme des Arka-tag waren.

Endlich war es den anderen möglich, die Höhe zu erklimmen. Die Kamele hatten sich so angestrengt, daß ihnen die Knie zitterten. Ihre Nasenlöcher waren aufgebläht; sie brauchten mehr Luft, und müde und gleichgültig schweiften ihre Blicke nach Süden, als hätten sie die Hoffnung ganz aufgegeben, sich in dieser Welt von unfruchtbaren, kahlen Bergen je satt grasen zu können. Vom Passe ging es im Zickzack zwischen Felsvorsprüngen hindurch in ein kleines Tal hinunter, das nach Südsüdwesten führte. Auch dieses war in anstehendes Gestein von schwarzem Schiefer, Porphyr und Diorit eingeschnitten. An dem Bache wuchs nur Moos; doch da, wo er in ein mächtiges Längental mündete, wuchs auch „Jappkak“, von den Leuten sogleich zur abendlichen Feuerung gesammelt.

Dieses Längental durchfließt der größte Fluß, den wir gesehen, seit wir den Tarim verlassen hatten; bei einer Breite von 65 Meter und einer Maximaltiefe von 60 Zentimeter führte er 27 Kubikmeter Wasser in der Sekunde; er strömte nach Westnordwesten.

[S. 318]

Nach einem schwierigen steilen Übergang auf das linke Ufer steuerten wir auf der Südseite hinauf, wo wir (4783 Meter hoch) auf offenem Terrain an einem Nebenflusse lagerten (Abb. 128). Ein wenig höher oben grasten 13 große, schwarze Yake. Sie beachteten uns nicht, doch als das Lager aufgeschlagen wurde, witterte der Führer Unrat, und die Herde setzte sich in geschlossener Reihe in Bewegung nach dem Arka-tag, dessen Hauptkamm sich jetzt in seiner ganzen düsteren Größe vor uns erhob. Kamen wir nur glücklich über ihn hinüber, so mußte nachher im Süden ziemlich offenes Terrain vor uns liegen.

Damit Tscherdon und Aldat die nächsten nach dem Arka-tag hinaufführenden Täler untersuchen konnten, blieben wir am nächsten Tag liegen. Am 5. August kamen wir an ein großes Tal mit einem wasserreichen Flusse, von dem wir hofften, daß es uns zu einem geeigneten Passe im Arka-tag führen würde.

Ein in seiner gigantischen Größe überwältigendes Panorama entwickelte sich vor uns. Die Ausläufer des Arka-tag glichen Sphinxen, die nach Norden starren und ihre Tatzen vom Flusse benetzen lassen. Bald verschleierte sich jedoch die starre Schönheit der Natur mit tröpfelnden Wolken und Regennebel, der den Blick trübte, während wir unseren mühsamen Marsch immer höher talaufwärts fortsetzten, wo die Luft kalt und rauh war.

Während wir nach dem besten Wege Ausschau hielten, wurde Jolldasch vermißt, der sich die Freiheit genommen hatte, mit Turdu Bai zu laufen. Dieser hatte ihn einer Herde Orongoantilopen nachsetzen gesehen und geglaubt, er würde sich, wie gewöhnlich, schon wieder bei uns einstellen. Aber er ließ nichts von sich hören, und als wir dann bei Platzregen bei der nächsten Talgabelung lagerten, kehrte Turdu Bai um, um den Hund zu suchen.

Unterdessen wurden die Zelte so schnell wie möglich aufgeschlagen; der Regen plätscherte, und es wehte ein heftiger Wind. Mollah Schah dagegen ritt weiter, um zu sehen, wohin das Tal führte; gab es hier keinen Paß, der sich überschreiten ließ, so würden wir durch das Weiterziehen mit der ganzen Karawane die Tiere nur unnötig ermüden. Der Regen ging um 4 Uhr in Hagel über, was weit besser war. Wir waren jedoch mit unserem ganzen Sack und Pack bereits so durchnäßt, daß wir von dem Wechsel keinen Vorteil mehr hatten.

Nach dem Regen wurden alle Lasten bedeutend schwerer für die armen Tiere. Diese fingen auch schon an nachzulassen. Tscherdons Reitpferd hatte all seine Freßlust verloren und sah jämmerlich aus. Dies schmerzte den Kosaken, der eine unendliche Liebe für seinen Rappen hegte, tief. Er[S. 319] hatte ihn vorzüglich dressiert. Wenn er den Rappen beim Namen rief, kam dieser gelaufen und legte seinen Kopf auf Tscherdons Schulter. Der kleine burjatische Kosak war ein richtiger Akrobat. Er stand auf den Händen im Sattel, wenn der Rappe im Schritt ging, sprang Bock und machte einen Purzelbaum über ihn hinweg. Das Tier stand bei solchen aufregenden Vorgängen ganz still. Tscherdon hegte und pflegte es daher, so gut er konnte, und war sehr niedergeschlagen, es krank zu sehen.

Die vier noch übrigen Schafe sind merkwürdig. Sie folgen der Karawane wie Hunde, erklimmen mit Leichtigkeit jede noch so steile Höhe und scheinen von der spärlichen, schlechten Weide ganz befriedigt zu sein.

Wir haben uns an die kolossale Höhe gewöhnt. Sitze ich still im Sattel oder Zelte, so spüre ich nichts davon, aber die geringste Anstrengung, wie einige Hammerschläge gegen eine Felswand, verursacht Atemnot und Herzklopfen. Ein Vorteil ist, daß wir von Moskitos und Bremsen, die spurlos verschwanden, befreit sind. Statt ihrer kommt hier eine Art gewaltiger Hummeln vor, die im Sonnenschein umhersausen und deren Summen wie Orgeltöne durch die Luft braust. Ihre Ausstattung paßt sich diesen winterkalten Gegenden an, denn sie tragen richtige Pelze und Überstiefel von dichten, gelben Haaren.

Bei diesem Lager fehlte jegliche Weide; es nützte also nichts, die Tiere frei umherlaufen zu lassen, es wäre sogar grausam gewesen. Statt Nahrung zu finden, erhalten sie nur Duschen von Wasser und Eis.

Nach einigen Stunden kam Turdu Bai mit Jolldasch zurück, den er jenseits des von ihm rekognoszierten Passes gefunden hatte. Der Hund war wie toll und verzweifelt hin und her gelaufen und hatte vergebens nach der Spur der Karawane, von der ihn ein ganzer Bergrücken trennte, gesucht. Ohne Hilfe würde er uns nie gefunden haben. Damit er es künftig unterließ, hinter Antilopen her zu jagen, bekam er zur Strafe nichts zu fressen und wurde außerhalb der Jurte angebunden.

Mollah Schah kehrte nach sechsstündiger Abwesenheit zurück und versicherte, daß der mit unserem Tale verbundene Paß überschritten werden könne. Doch was jenseits auf der Südseite lag, wußte er nicht, denn er hatte sich dort mitten in einem Schneegestöber befunden, das die Aussicht versperrte.

Als wir am Morgen diesen unwirtlichen Lagerplatz verließen, lag die Landschaft wieder unter Schnee. Am Vormittag zeigte sich jedoch die Sonne, die Schneefelder wurden kleiner, und man hörte überall Schmelzwasser rieseln. Das Tal stieg langsam und gleichmäßig nach dem Passe des Arka-tag an; sein Boden war mit schwarzem Schieferschutt bedeckt, der unter den Pferdehufen knisterte.

[S. 320]

Der Paß bildete einen kuppelförmig abgerundeten Kamm, den sogar die Kamele ohne Schwierigkeit erstiegen. Mittelst des Photographiestativs wurde ein kleines Zelt für das Thermohypsometer errichtet, das eine Höhe von 5180 Meter anzeigte. Wir befanden uns hier auf der — der Kammhöhe nach — höchsten Bergkette der Erde (Abb. 129). Vor uns breitete sich das Längental aus, das ich 1896 durchwandert hatte. Gerade im Süden erhob sich ein kolossaler Gebirgsstock mit ewigen Schnee- und Firnfeldern und kurzen, nach allen Seiten auslaufenden Gletscherzungen — aus der Vogelperspektive mußte er einem Seesterne gleichen. Nach Norden erstreckten sich drei breite, stumpfe Gletscher mit gewaltigen Stirnmoränen aus schwarzem Schutt. Von dem Felsstocke selbst sieht man nur einzelne schwarze und braune Zacken, sonst ist alles kreideweiß, und selbst das Eis ist überschneit.

Es ist sehr angenehm abwärts zu ziehen, wenn man mehrere Tage lang immer höhere Regionen mühsam erklommen hat. Die Tiere gehen leicht, und man hofft, eine Bodensenkung mit Weide zu finden. Wir zogen demnach in gutem Marschtempo das Quertal hinab, welches von dem Passe nach Süden in das Längental hinunterführt. In der Nähe seiner Mündung überraschte Aldat eine junge Orongoantilope, die er mit seiner plumpen, primitiven Vorderladeflinte erlegte. Es war ein schöner Zuschuß zu unserem Fleischvorrat, und unsere drei noch übrigen Schafe durften sich ihres Lebens noch ein paar Tage länger freuen.

Statt nach dem Flusse des Haupttales hinunterzugehen, bogen wir nach Westen ab und lagerten auf einer Halde, wo dünnes Gras wuchs. Da es Aldat auch hier gelang, eine prächtige Orongo zu erlegen, hatten wir für mehrere Tage Proviant. Der Reis ist auf diesen Höhen ein wenig appetitliches Gericht; der Pudding bäckt sich zu einem unschmackhaften Teige zusammen, und wir hatten beschlossen, die letzten Schafe so lange wie irgend möglich am Leben zu lassen. Leider hatte Tscherdon viel zu wenig Patronen mitgenommen und war anfangs viel zu verschwenderisch damit umgegangen. Für die Zukunft waren wir auf die Flinte Aldats angewiesen, dessen Munitionsvorrat glücklicherweise mehr als ausreichend war.

So war es uns denn endlich gelungen, den gewaltigen Wall zu bemeistern, den die Natur wie ein Bollwerk gen Norden aufgerichtet hat, um Tibets Geheimnisse zu schützen und zu umgürten. Schon lange hatten wir die Pfade der halbwilden Yakjäger und der törichten Goldgräber hinter uns zurückgelassen, und eine vollkommene Terra incognita breitete sich vor uns im Süden aus, wo ich nur an ein paar Punkten meinen früheren Weg sowie Wellbys, Rockhills und Bonvalots Routen schneiden würde. Das Wissen des Führers war erschöpft; er betrachtete die unendlichen[S. 321] Einöden, nach denen unser Weg führte, mit fragenden, fremden Blicken. Er konnte mir keine Auskunft mehr geben, woher die Wasserläufe, die wir überschritten, kamen, noch wohin sie gingen; ich bin nun auf mich selbst angewiesen und kann nur das auf der Karte angeben, was ich mit eigenen Augen sehe. Die Karte wird daher ein schmaler Gürtel um die Route, die wir einschlagen, aber es ist mein Plan, mir später durch neue Routen Gelegenheit zu verschaffen, den Bau des Gebirges klarlegen zu können.

141. Blick vom See aus nach Westen auf den abziehenden Sturm. (S. 347.)
142. Blick vom See aus nach Osten. (S. 347.)
143. In Todesgefahr. (S. 349.)

GRÖSSERES BILD

Arbeit habe ich von früh bis spät vollauf, freie Augenblicke sind selten. Muß man in diesem Lande, das so öde ist, wie man es vom Monde annimmt, auch viel Ungemach ertragen, so wird man dafür doch täglich durch Entdeckungen und Erfahrungen überreich belohnt. Es ist ein großer Reiz, zu wissen, daß man überall der erste ist, der über diese Berge wandert, wo es weder Wege gibt noch je gegeben hat und wo man vergeblich nach anderen Spuren als denen sucht, welche die gespaltenen Hufe der Yake und Antilopen und die runden der Kulane in den Boden eingedrückt haben. Das Gebiet ist herrenlos; Flüsse, Seen und Gebirge haben keine Namen, ihre Ufer und Schneefelder sind nie von den Blicken eines anderen Forschungsreisenden als den meinen betrachtet worden; sie bilden mein ephemeres Eigentum. Es ist erhebend und wonnig, seinen Weg über die gewaltigen Gebirge zu suchen, wie das Schiff seine spurlose Bahn durch die Dünungen des Weltmeeres zurücklegt; hier aber sind die Wellen, die über das tibetische Hochland hinrollen, in Stein verwandelt, und alle Entfernungen, alle Dimensionen sind in so gigantischem Maßstabe angelegt, daß ein Marsch von Wochen die Situation nicht verändert; wir befinden uns stets im Mittelpunkte einer Welt von Bergen. Ebenso wunderbar ist es, inmitten der Stürme, dieser Revolutionen des Luftkreises, zu leben, welche über die kahlen Berge jagen und das Gestein mit dem Feuer ihrer schnell einherrollenden himmlischen Batterien, mit ganzen Schauern schmetternder Hagelkörner beschießen.

Als ich in der Nacht hinaustrat, war der Himmel mit Wolken bedeckt, deren Ränder, vom Monde mit Silber umgossen, hier und dort hell glänzten. Nur das Gletschermassiv wurde nicht beschattet, und seine kalten Firnfelder wurden vom bleichen Lichte des Mondes beleuchtet. Meine Diener lagen in tiefem Schlafe, die Karawanentiere waren festgebunden, das Lagerfeuer verglomm, nur der Bach sang sein murmelndes, melancholisches Lied zwischen den Schieferscheiben in seinem Bette.

Still wacht die Nacht allein über der Wildnis; ringsumher breitet sich auf allen Seiten ein Chaos von unbeantworteten Fragen, von ungelösten Rätseln aus; fern im Süden ahnt man den Kamm des Himalaja und dahinter Indien mit seinen stickigen Dschungeln. Im fernen Westen[S. 322] verflechten sich unsere Berge mit dem Hochlande von Pamir, und wenn die Sonne bei uns aufgeht, hat sie schon ihr strahlendes Licht über das Reich der Mitte und die Gebirgsgegenden auf seiner westlichen Grenze ausgegossen. Im Norden, im innersten Asien, sind wir heimischer; aber hier in Tibet ist man einsam in einem unbekannten Lande. Vergebens späht man umher nach einem Feuer, nach der Spur eines Menschen; man hat einen unbewohnten und unbewohnbaren Teil der Erde erreicht, man hat das Gefühl, wie ein Staubkorn auf diesen unermeßlichen Flächen zu verschwinden, und glaubt zu spüren, wie der Planet mit schwindelnder Fahrt rastlos durch den Weltraum rollt.

Am 7. August zogen wir nach dem Lagerplatze Nr. 23, von Abdall an gerechnet. In der Hoffnung, einen meiner alten Seen zu finden, zogen wir in dem Längentale nach Westen. Jetzt war es mit Tscherdons Pferde zu Ende. Es wurde langsam von einem Manne geführt, fiel aber oft und konnte nur mit Mühe wieder aufstehen; dagegen war sein Appetit gut, und wir taten alles, um es zu retten. Tscherdon behandelte es auf mongolische Weise; er ließ es an den Ohrenzipfeln zur Ader und schnitt ihm ein paar drüsenähnliche Auswüchse aus den Bindehäuten der Augenlider fort, was ihm ein wenig zu helfen schien, denn es lief nun längere Strecken. Sobald wir einen Weideplatz erreichten, wollten wir Halt machen und ihm einen Ruhetag schenken. Ich wollte es töten lassen, doch da Turdu Bai glaubte, es sei noch zu retten, mußte Mollah Schah es uns nachführen.

Da wir vergebens nach einem See im Westen ausschauten, beschloß ich, nach Süden abzuschwenken, um die Bergkette zu überschreiten, die von dem Gletschermassiv nach Westen ging. Das Tal war ziemlich schmal; sein Fluß führte jetzt wenig Wasser, und auf der Südseite unterhalb der Moränen fanden wir, wie beim Kum-köll, ein Gebiet von Flugsand in ziemlich mächtigen, oft isoliert liegenden Dünen, die regelmäßige Halbmonde bildeten, mit dem konkaven, steilen Abhange nach Osten.

Von dem Bache, auf dessen Uferabhange wir lagerten, erschien das Gletschermassiv im Osten ganz nahe; wir hatten es also zur Hälfte umgangen.

Fünf Stunden später kam Mollah Schah. Er hatte das Pferd ein paar Kilometer vom Lager zurückgelassen; es war weder besser noch schlechter als am Morgen gewesen. Als sich jedoch Tscherdon dorthin begab, war das Tier schon verendet. Turdu Bai ritt ein Quertal in der jetzt zu überschreitenden Kette hinauf und kehrte am Abend mit der Nachricht zurück, daß der dortige Paß nicht gefährlich sei und daß sich südlich vom Passe ein großer See ausdehne. Weideland hatte er dagegen nicht gesehen.

[S. 323]

Er mußte also am nächsten Tage den Weg zeigen. Das Tal stieg so eben und langsam an, daß der Paß uns keine Mühe machte. Von dem 5122 Meter hohen Passe aus hatten wir das schon so oft gesehene Panorama vor uns: ein Längental und eine teilweise mit ewigem Schnee bedeckte Bergkette. Diese mußte mit dem Koko-schili identisch sein. Ein großer Teil des Talgrundes wurde von einem ansehnlichen See mit west-östlicher Richtung eingenommen.

Die Karawane, die, wie gewöhnlich, einen großen Vorsprung hatte, war, statt nach dem Ufer hinunterzugehen, noch eine ziemliche Strecke westlich vom See weitergezogen. An der westlichsten Bucht des Sees hatte sie Halt gemacht und das Lager Nr. 24 (5028 Meter) aufgeschlagen, das schlechteste, das wir bisher gehabt hatten. Soweit das Auge reichte, gab es weder eine Spur von Weide noch von Brennholz oder Dung zur Feuerung. Wir zerschlugen eine überflüssige Kiste, um wenigstens heißen Tee zu bekommen. Jedes der Tiere erhielt eine Handvoll Mais.

Kaum war das Lager in Ordnung, so brach ein wildes Unwetter los, erst Regen, dann Hagel und darauf wieder strömender Regen, der durch die Filzdecken in meine Jurte hineintropfte und rieselte. Der Sturm kam von Westen, und in der Nacht verwandelten sich die Niederschläge in Schnee. Die Kamele lagen im Halbkreise, alle an denselben in den Boden gerammten Pflock so angebunden, daß die Köpfe vor dem Winde geschützt waren. Die beiden äußersten waren mit Filzmatten zugedeckt. Sie froren derart, daß sie bebten, aber sie sind nach dem Verlieren ihrer Wolle auch beinahe nackt, und man beobachtet mit Interesse, wie die neue Wolle langsam hervorkommt und wächst. Sie wächst hier oben schneller als in den warmen Tiefländern; die Natur macht ihr Recht geltend und paßt sich den Verhältnissen an. Hätten die Pelze eine Ahnung von dem Winter gehabt, dem wir mitten im Sommer entgegengingen, so hätten sie ihre Besitzer wohl nicht verlassen.

Das Erwachen nach einer solchen Nacht ist nicht angenehm. Es ist einem kalt und frostig; alles ist feucht, Jurte und Gepäcklasten sind mit Wasser durchtränkt und die eigenen Kleidungsstücke naß. Am Morgen war die Luft mit feinem, leichtem Sprühregen erfüllt, und der Westwind heulte durch das Tal. Frierend und schauernd brachen wir mit unseren hungrigen Tieren auf.

Die neue Bergkette im Südwesten unseres Lagers sah niedrig und bequem aus, ja wir glaubten, daß sie, mit den vielen schon überschrittenen verglichen, die reine Bagatelle sein würde. Ihre Nordabhänge bestanden nicht einmal aus anstehendem Gestein, sondern nur aus niedrigen Hügeln; über diese hinüberzukommen, schien ganz einfach, aber in der Wirklichkeit wurde[S. 324] es das Ärgste, was uns bisher begegnet war. Zunächst war es durchaus nicht leicht, nach dem Fuße der Hügel hin zu gelangen, denn der Boden war überall sumpfig, und um die gefährlichsten Fallgruben, wo die Pferde bis ans Maul in den Schlamm gerieten, zu umgehen, mußten wir mit der größten Vorsicht weiterziehen. Wir hielten es jedoch für selbstverständlich, daß der Boden wieder hart und tragfähig werden würde, sobald wir den Abhang erreichten.

Erst ging es auch leidlich, denn der Boden bestand aus gelber Tonerde, die mit Steinen und Schieferstücken bedeckt war. Langsam zogen wir aufwärts. Nur ein großes Kamel, das gegen alles, was Paß hieß, einen ausgesprochenen Widerwillen hatte, blieb zurück und legte sich ganz gemächlich nieder; Turdu Bai blieb bei ihm.

Als wir glücklich auf den ersten Kamm hinaufgelangt waren, zogen wir auf seinem Rücken nach Südosten weiter. Ich ritt voran und folgte einer Yakspur, die anfangs zeigte, wo der Boden trug, höher oben aber in dem losen, durch und durch nassen Schmutze verschwand, in dem es unter den Hufen des Pferdes klatschte und quatschte. Schließlich sank das Pferd so tief ein, daß ich vorzog, abzusteigen und es zu führen. Ich hätte natürlich umkehren müssen, aber der Kamm erschien mir so verlockend nahe. Als ich einen Punkt erreicht hatte, wo mir der Stiefel im Schlamme beinahe steckenblieb, wartete ich auf die anderen. Die Männer gingen zu Fuß und keuchten bei jedem Schritte. Die wie immer geduldigen und fügsamen Kamele kamen hinterdrein, bei jedem Schritte fußtief einsinkend, aber doch besser von ihren Fußschwielen getragen als die Pferde von ihren Hufen. Eines von ihnen fiel und mußte abgepackt werden. Sie wunderten sich wohl, was wir mit diesen wahnsinnigen Anstrengungen auf schwankendem Boden mit merklicher Steigung und in so verdünnter Luft zu erreichen beabsichtigten.

Man wird vom Gehen schwindlig, der Boden gibt nach und scheint zu schwanken, unaufhörlich muß man stehenbleiben, um nach Luft zu ringen. Nicht einmal die ziemlich großen Schieferplatten, die hier und dort liegen, sind zuverlässig, sondern drücken sich allmählich in den Boden ein, und in der dadurch entstandenen Grube sammelt sich ein Wasserpfuhl. Man hört das Wasser unter dem Schutte sickern und brodeln; man wandert wie über unterirdische Fluten hin, die jeden Augenblick uns alle verschlingen können. Man meint, daß dieser Teig von Hügeln, der aus einer zähen Flüssigkeit oder Grütze zu bestehen scheint, mehr und mehr nach allen Seiten auslaufen müsse.

Eine solche Terrainform entsteht durch die ewigen Niederschläge, die beim Fallen in den Boden eindringen und nur einen unbedeutenden Beitrag[S. 325] zu den sichtbaren Flüssen und Bächen liefern. Auch das Fehlen jeglicher Vegetation mit ihren bindenden Wurzeln trägt dazu bei. Nicht selten stehen die Schieferplatten quer, und einigen Kamelen brachte das Abenteuer blutige Füße ein. An einer Stelle mußten ein paar Pferde, die buchstäblich drauf und dran waren, im Schlamme zu ertrinken, schleunigst von ihrem Gepäck befreit und herausgezogen werden.

Als die Lage gar zu schwierig wurde, schickte ich Tscherdon nach dem Kamme hinauf, um zu rekognoszieren. Er kehrte mit dem Bescheide zurück, daß dieser Kamm nur der erste einer ganzen Reihe solcher sei, die sich nach Süden ausdehnten und die Aussicht versperrten. Sie seien fleckig von Schnee, der durch sein Auftauen den Boden noch ungangbarer mache.

Seine Worte gaben endlich das Signal zum Rückzug. Wir hatten auf dieser erbärmlichen Strecke über vier Stunden verloren und uns unnötigerweise nach einer Höhe von 5248 Meter hinaufgearbeitet; schlimmer aber war, daß wir die Kräfte der Tiere so angestrengt hatten. Nach einigem Suchen fanden wir ein Erosionstal und zogen mitten in seinem Bache, der einzigen Linie, auf welcher der Boden trug, abwärts. Er bog nach Westen in das Längental ein; an seinen Ufern war der Boden ebenso lose und sumpfig wie oben auf dem Kamme. Von mehreren Seiten kamen Zuflüsse, so daß der vereinigte Fluß schließlich 8 Kubikmeter Wasser führte. Als wir endlich an seinem rechten Ufer in 5011 Meter Höhe ein wenig Weideland fanden, lagerten wir und beschlossen, die Tiere zwei Tage ruhen zu lassen.

Doch wie fiel es in diesem Lager Nr. 25 mit der Ruhe aus! Der Morgen sah allerdings vielversprechend aus, doch als ich mit dem Observieren der Sonne anfangen wollte, bedeckte sich der Himmel mit Wolken. Sodann sollten mein Bett, meine Filzdecke und mein Teppich nach der Nässe der vorhergehenden Tage getrocknet werden; doch kaum hingen sie auf der Leine, als der Himmel im Westen blauschwarz wurde. Wir konnten die Sachen kaum noch unter Dach bringen, bevor ein Hagelsturm mit Geheul und Geprassel durch das Tal fegte. Nachdem dieses Unwetter abgezogen war, hatte ich Gelegenheit, eine Sonnenbeobachtung zu machen, mit der ich eben fertig wurde, als ein neuer Sturm im Anzuge war, der ebenso schwarz wie der vorige aussah, aber siebenmal so arg war. Einige heftige Windstöße bildeten den Vortrab, dann folgten Hagel und nasser Schnee. Selten habe ich in Tibet ein ärgeres Unwetter erlebt. Es blitzte und donnerte mehrere Male in der Minute, und der Orkan fegte ganz dicht am Erdboden unmittelbar über unseren Köpfen hin. Es krachte, als zerrissen die Berge und als rollten Felsblöcke mit Donnergepolter in die Tiefe. Man schloß bei den blendenden Blitzen unwillkürlich die Augen[S. 326] und fühlte den Boden unter den Donnerschlägen erbeben. Es ist unheimlich und feierlich, sich in einem solchen Unwetterzentrum zu befinden und den Leidenschaften der Naturkräfte preisgegeben zu sein. Man legt seine Arbeit fort, sieht, lauscht und staunt.

Die Hunde heulten erbärmlich. Der Wind riß das Zelt der Männer um, und sie konnten es nur mit großer Mühe wieder festmachen. Die Landschaft wurde wieder mit Schnee und Hagel zugedeckt, unter welcher Decke die hungrigen Pferde ihr kärgliches Futter suchten.

Turdu Bai war den ganzen Tag mit den Kamelen draußen gewesen und kam abends heim. Sie legten sich in ihren gewöhnlichen Halbkreis und wurden bald überschneit, nachdem wir alles getan hatten, um sie warm einzupacken. Sie zitterten vor Kälte. Die Männer gaben zwei Filzteppiche her, ich einen, und die beiden, in welche die Boothälften eingenäht waren, wurden auch genommen und über die armen Tiere gedeckt.

Der zweite Rasttag war besser; die Sonne taute den Schnee auf, und der Hagelsturm kam erst um 5 Uhr. Als wir am 12. August nach Südosten zogen, um die Bergkette zu überschreiten, ging Turdu Bai mit zwei kranken Kamelen, die unbeladen blieben, voraus. Wir überholten ihn bald, denn er kam nur außerordentlich langsam vorwärts, da das eine Kamel, der Paßhasser, oft liegen blieb und sich eine Weile ausruhen mußte.

Vor uns waren keine hohen Berge sichtbar; doch der Boden war widerwärtig: ein einziger Morast von gelbem Schlamm, mit Wasser vollgesogen wie ein Schwamm, trügerisch selbst da, wo er mit dünnem Schutt bedeckt ist und sicher und vertrauenswürdig aussieht. Bei jedem Tritt sinken die Tiere fußtief ein, und da jeder Schritt ein Herausziehen der Füße aus dem zähen, saugenden Schlamme ist, ist das Vordringen sehr anstrengend. Der Boden ist jetzt so lose, daß die anfangs schwarzgähnenden Fußspuren sich bald wieder schließen und verschwinden. Im allerglücklichsten Falle sinken die Tiere nur etwa 10 Zentimeter ein, und man freut sich ihretwegen, wenn man an derartige rettende Inseln in einem unabsehbaren Sumpfe gelangt. Doch die Freude ist kurz; bald versinken sie wieder knietief, fallen, müssen von ihren Lasten befreit, herausgezogen und von neuem beladen werden. Ein fluchwürdiges Land! Daß Weide und Brennholz 5000 Meter über dem Meere fehlen, kann man verstehen, doch warum trägt uns die Erde nicht, warum droht sie die ganze Karawane zu verschlingen?

Kein einziges Fleckchen, wäre es auch nur so groß wie ein Fünfmarkstück, ist trocken; alles ist von Wasser durchtränkt; man befindet sich wie auf schlammigem Seeboden, von dem das Wasser gerade abgezapft worden ist. Die Tiere sind zu bewundern, daß sie überhaupt gehen; weshalb[S. 327] legen sie sich nicht nieder und weigern sich, sich in einem so barbarischen Dienste anzustrengen? Das große Kamel, der Paßhasser, hatte vollkommen recht, daß es sich nicht weiter abmühte. Das Innerste der Wüste Takla-makan ist nicht lebloser als dieses entsetzliche Bergland.

Alle müssen zu Fuß gehen; das Herz klopft, als wolle es zerspringen, und man schnappt nach Luft. Und wenn man wieder im Sattel sitzt, fällt das Pferd beinahe alle Augenblicke vornüber. Es ist, als wären ihm unausgesetzt die Füße mit Bindfaden festgebunden, der bei jedem Schritt erst abgerissen werden muß. Ich reite jetzt voran, um den Boden zu erproben. Aber die Lasttiere scheuen vor den tiefsten Spurgruben und weigern sich ihnen zu folgen; sie schwenken lieber seitwärts ab, aber nur, um an noch schlechtere Stellen zu geraten.

So schreiten wir Stunde auf Stunde dahin. Dieses Land will uns festhalten. Unser Vorrücken erinnert an einen Feldzug in Feindesland, wo man auf sich selbst und seine eigenen Vorräte angewiesen ist, sich immer mehr von einer sicheren Operationsbasis entfernt und auf dem Marsche nichts weiter findet als eingeäscherte Städte, zerstörte Dörfer und verwüstete Felder. Je weiter es geht, desto deutlicher erkennt man, daß die Schwierigkeiten des Rückzuges wachsen werden, und gerade diese Schwierigkeiten sind es, die anreizen. Mit gespanntem Interesse fragt man sich, ob es wohl gelingen werde, sie zu überwinden. Und man denkt nicht im entferntesten ans Umkehren!

Es ist eigentümlich, in verhältnismäßig so kurzer Entfernung wie zwischen dem Akato-tag und diesen Gegenden so ungleichartige Naturverhältnisse zu finden. Bald muß man lange Tagemärsche machen, um eine erbärmliche Quelle zu finden; bald braucht man nur, wo man will, auf den Boden zu stampfen, um die Grube sich gleich mit Wasser füllen zu sehen.

Auf einem niedrigen sattelförmigen, die Wasserscheide bildenden Paß, nach dem wir hinsteuerten, ging gerade ein einsamer Wolf in Gedanken versunken spazieren, ergriff aber die Flucht, sobald er uns erblickte. Wir befanden uns gerade auf dem Passe (5111 Meter), als der übliche Sturm kam. Als der Donner rollte, klang es wie das Kugelrollen auf einer riesenhaften Kegelbahn oder das Bombardement einer Festung. Es war erst 4 Uhr, aber es wurde so dunkel wie an einem Herbstabend. Die Pferde gehen schräge, um den Hagelschauer zu parieren. Das Lager wurde in aller Hast mitten in einem Morast aufgeschlagen. Ehe man noch mit dem Aufschlagen fertig wird, ist man schon pudelnaß, und wenn man dabei dem Schauer nicht die ganze Zeit den Rücken zudreht, so schlägt einem der Hagel ins Gesicht. Nach zwei Stunden war der Sturm vorüber, und[S. 328] die Sonne guckte hervor, aber wir lagen im Schatten, und der Sonnenschein vergoldete wie hohnlächelnd die Hügel im Osten.

Der große Paßhasser konnte nicht mehr bis zum Lager gehen, sondern war jenseits des Passes zurückgelassen worden. Um zu versuchen, ob wir ihn nicht doch noch retten könnten, blieben wir einen Tag in diesem greulichen Lager in 5076 Meter Höhe. Tscherdon und Turdu Bai ritten am Morgen hin, kamen aber mit der Nachricht wieder, daß das Tier dem Tode geweiht sei. Sie hatten es dazu gebracht, sich zu erheben und einige Schritte zu gehen, dann aber war es auf die Seite gefallen, und da es nicht dazu vermocht werden konnte, aufzustehen, hatten sie es totgestochen.

Den ganzen Tag goß es. Ich hatte +2 Grad in der Jurte und konnte nichts weiter tun, als mit Pelzen zugedeckt lesen. Man muß sich sehr genau überlegen, wohin man empfindliche Sachen legen kann, denn durch das Dach tropfte das Wasser, und ich hatte an beiden Seiten des Bettes ein paar kleine Seen, die abgeleitet werden mußten. Überall ist es naß und ungemütlich; man sehnt sich von einem solchen Platze fort, einerlei wohin, denn schlimmer kann es nicht werden. Tscherdon und Turdu Bai waren vom Regen überfallen worden, als sie bei dem Kamele waren. Sie saßen fünf Stunden bei ihm, unter ihren Mänteln zusammengekauert, und ihre Pferde waren bis an den Bauch gelbbraun; nach dem frischen Regen waren sie doppelt so tief wie gestern eingesunken.

Der 14. August brach endlich mit Sonnenschein an. Die Temperatur war in der Nacht auf −3,2 Grad heruntergegangen, so daß der Boden am Morgen steinhart gefroren war und eine dünne Eiskruste die in unseren Spuren entstandenen Pfützen bedeckte, aber die Freude währte nicht lange, denn schon am Vormittag war alles wieder naß und weich.

Der heutige Tag brachte uns über diese greuliche Bergkette hinüber, die uns so viel Mühe gekostet hatte. Von ihrem leichten, hügeligen Passe aus sah man wieder ein Längental, das im Süden von einem neuen, ansehnlichen Rücken begrenzt wurde. Weiter aufwärts im Tale, nach Südwesten zu, schimmerte der Boden grün; dorthin lenkten wir unsere Schritte, denn der Weide bedurften wir jetzt am allermeisten.

Sobald wir den Platz erreicht hatten und uns endlich auf trockenem sandigem Boden befanden, wurde Halt gemacht; es war ein Vergnügen, die Tiere in dem dünnen Grase wieder aufleben zu sehen. Alles, was Bettstücke und Decken hieß, wurde auf dem Sande ausgebreitet, um im Sonnenbrande zu trocknen (Abb. 130); die Jurte und das Zelt trockneten am besten, wenn sie in gewöhnlicher Weise aufgeschlagen wurden.

144. Lagerplatz im tibetischen Hochland. (S. 355.)
145. Umbetten des kranken Aldat. (S. 356.)
146. Ein im Schlamm versinkendes Kamel. (S. 359.)
147. Turdu Bai auf einem Berge in der Nähe des Lagers Nr. 54. (S. 361.)

GRÖSSERES BILD

Am 15. August waren gerade 15 Jahre vergangen, seit ich meine erste Reise nach Asien angetreten hatte; ich konnte den Tag nicht besser[S. 329] als durch Verweilen an diesem gastfreundlichen Platze feiern. Das Wetter war gut, obwohl es ein paar Stunden regnete, und die Temperatur stieg auf etwas über +15 Grad. Die müden Tiere erholten sich sichtlich, und da wir nicht wußten, was unserer wartete, wurde ihnen noch ein Ruhetag zugestanden. Wenn es dunkel wird, kommen die Kamele ganz von selbst gravitätisch nach dem Lager gezogen, doch in einem Halbkreis können sie sich nicht ohne Hilfe legen. Sobald der Tag graut, erheben sie sich und gehen wieder auf die Weide. Man denkt, es müsse sie ermüden, die ganze Nacht mit erhobenem Kopfe in derselben Lage zuzubringen, aber es scheint ihnen gar nichts auszumachen.

Dieser Platz (Abb. 131) rettete uns für die nächste Zukunft. Er glich einer Oase in der Wüste (Lager 27). Tiere und Menschen sammelten hier neue Kräfte. Letztere hatten eigentlich nichts weiter zu tun, als Brot zu backen, schmutziges Zeug zu waschen und Feuerung einzusammeln, die uns eine kleine in harten Büscheln wachsende Pflanze mit trockenem Stamme, die „Jer-baghri“ genannt wird, lieferte.

[S. 330]

Neunundzwanzigstes Kapitel.
Eine lange Seefahrt.

Am 17. August brachen wir auf, um die nächste, von Osten nach Westen gehende Bergkette zu überschreiten. Der Anstieg macht sich unseren müden Tieren bald recht fühlbar. So, wie wir jetzt zogen, waren wir gezwungen, unnötigerweise über drei Pässe zweiter Ordnung zu gehen, ehe wir den Hauptpaß erreichten. Hinten im Westen erhebt sich der mächtige Gebirgsstock mit den Gletschern und den ewigen Schneefeldern im Osten erscheint ein Tafelberg, dessen Kammlinie so gerade ist, als sei sie mit einem Lineale gezogen worden; wahrscheinlich war der Berg mit dem porösen Tuff, der in diesen Gegenden allgemein vorkommt, bedeckt. Vom Passe führte ein zwischen roten Hügeln eingeschnittenes Tal langsam nach Süden. Sein Bach mündet schließlich in einen wohl 10 Kubikmeter Wasser führenden Fluß vom nächsten Gletscher. In der Nähe des Zusammenflusses hatte sich die Karawane auf einem mageren Rasenplatze, wo der sandige Boden wenigstens trocken war, im Lager Nr. 28 niedergelassen (Abb. 132).

Jetzt hatten wir nur noch zwei Schafe, von denen hier eines dem Hunger geopfert werden mußte. Das letzte blökte ängstlich und suchte vergeblich seinen toten Kameraden. Schlimmer war, daß Aldat, als er auf eine Orongoantilope schoß, seine Flinte ruinierte; eine hinten am Laufe befindliche Stahlschraube wurde losgesprengt und hätte ihn beinahe ins Gesicht getroffen. Zum Glück fand er die Schraube wieder; sie wurde nun mit Stahldraht und einem Lederriemen in ihrer Lage so festgemacht, daß die Flinte im Notfalle benutzt werden konnte.

Als wir am Tage darauf gerade aufbrechen wollten und die Tiere schon zum Beladen bereitstanden, verdunkelte sich der Himmel in beunruhigender Weise, weshalb wir es für das klügste hielten, noch eine Weile zu warten; wir wären in ein paar Minuten durch und durch naß geworden. So warteten wir denn einen Regenguß nach dem anderen ab, und auf diese Weise ging der Tag hin. Um 2 Uhr klärte es sich auf, aber nun[S. 331] war es zum Aufbrechen zu spät. Statt dessen begab ich mich mit dem großen photographischen Apparat nach der nächsten Gletscherzunge und wollte mich gerade anschicken, ein paar Aufnahmen zu machen, als der Himmel wieder seine freigebigen Schleusen öffnete. Gleichzeitig näherte sich von Süden her, schwarz wie die Nacht, ein Hagelsturm, der sich wie eine dicke Masse über die Erde hinwälzte und ihre Oberfläche hinter sich weiß färbte.

Es war uns einerlei, wohin uns unser Weg das Flußtal abwärts führte, die Hauptsache war, daß wir niedrigere Gegenden mit Weide erreichten. Wir folgten dem Flußlaufe über 30 Kilometer weit, lagerten aber eine ziemliche Strecke von seinem Westufer entfernt. Zu Anfang des Marsches hatten die Leute einen recht ungewöhnlichen Fund gemacht, nämlich ein Stück eines alten Muhammedanerhemdes, ein Tauende und ein Holz mit Kerben, wie es beim Beladen der Tiere gebraucht wird. Ob diese Sachen von einer mongolischen Pilgerkarawane oder von Hauptmann Wellbys Reise herstammten, ließ sich nicht feststellen; letzteres ist jedoch nicht unwahrscheinlich. Wellby und Malcolm reisten 1896 gleichzeitig mit mir durch Nordtibet, von Westen nach Osten, von Ladak nach Zaidam und wählten das Längental, welches meiner Route nach Süden hin zunächst liegt. Sie machten eine denkwürdige, schöne Reise. Ein paar Jahre darauf fiel Wellby im südafrikanischen Kriege, in dem auch Malcolm schwer verwundet wurde.

Der größere Teil des Tages wurde von einigermaßen gutem Wetter begünstigt; die Regenschauer fielen in solchen Pausen, daß wir dazwischen wieder trocken wurden, doch kaum war dies geschehen, so goß es wieder vom Himmel herunter, daß das Wasser von den Lasten rieselte und unsere Anzüge vor Nässe glänzten. Jolldasch fing ein ganz kleines Wölflein, einen wütenden, kleinen Teufel, der gebunden mitgenommen wurde und die verzweifeltsten Versuche zur Wiedererlangung seiner Freiheit machte.

Am 20. August war der Boden im großen ganzen so eben, daß sich keine Rinnsale oder Erosionsfurchen bilden, sondern sich das Wasser in zahllosen kleinen, trüben Lachen ansammelt. Die Grasvegetation wird allmählich besser, als wir sie bisher in Nordtibet gesehen haben, und hier und dort wächst üppiger wilder Lauch. Die Kamele fressen diese Pflanze mit Begierde, und auch in unseren Suppen schmeckte sie gut.

Nach Süden hin ist das Land bis ins Unendliche offen, und keine mächtigen Bergketten stellten sich uns mehr in den Weg. Am Horizont zeigten sich allerdings Bergkämme, aber sie sahen ganz unschuldig aus. Das Land hatte Plateaucharakter angenommen, und wir wanderten über unabsehbare Hochebenen hin. An dem Ufer eines Tümpels weideten drei[S. 332] große schwarze Yake. Sie setzten uns in schwerem Galopp nach, wahrscheinlich in dem Glauben, daß wir zu ihren alten Bekannten gehörten. Als sie nur noch 200 Schritt entfernt waren, erkannten sie ihren Irrtum und kehrten in langsamem Trabe um. Im Südosten erblickten wir einen ungeheueren See, an dessen Nordwestufer die Weide ziemlich gut war, weshalb wir das Lager Nr. 30 dort aufschlugen.

Der 21. August wurde zur Ruhe und zu astronomischer Observation bestimmt. Das Wetter war herrlich, wirklich warm, und Fliegen summten wieder in der Luft. Wir hatten die Zelte unweit des Ufers auf sandigen Hügeln, die das Regenwasser aufsaugen und davon nicht schlammig werden, aufgeschlagen. Der Strand selbst war flach und kiesig, und ein 50 Zentimeter hoher Kieswall zeigte, wie weit die Wellen zu dringen pflegten. Das Wasser war bittersalzig, aber in der Nähe gab es glücklicherweise eine süße Quelle. An Feuerung litten wir keinen Mangel, denn hier wuchsen Jappkakstauden in ziemlicher Menge; einige Männer brachten ganze Arme voll davon ins Lager. Ihnen war unheimlich zumute, denn sie hatten ganz seltsame Klagelaute gehört und glaubten, es seien Menschenstimmen gewesen. Doch Aldat, der von der Jagd zurückkam, erklärte, es seien Wölfe. Außer sich warf er seine Flinte hin, die ihm noch nie so schlechte Dienste geleistet. Er hatte einen Kulan und einen Yak verwundet, aber beide hatten die Flucht ergriffen. Gestern hatte er eine Orongoantilope angeschossen, deren Skelett wir später auf dem Marsche fanden; das Fleisch und die Eingeweide waren von Wölfen gefressen worden. Es fing an Zeit zu werden, daß Aldat uns etwas Fleisch verschaffte, denn wir lebten jetzt meistens von Reis und Brot. Ein paar Konservendosen hatte ich noch, und Tscherdon bewirtete mich täglich mit einer vortrefflichen Suppe von grünen Erbsen, wildem Lauche und Liebigs Fleischextrakt, der mir auf dieser Reise große Dienste leistete.

Jetzt wurde folgende Verabredung getroffen. Am 22. August sollte Kutschuk mich schräg über den See nach einem ziemlich bedeutenden Gipfel, der sich im Südosten zeigte, hinrudern. Gleichzeitig sollte die Karawane nach Westen und Süden um den See herummarschieren und am Ufer vor dem erwähnten Gipfel Halt machen. Da ich fürchtete, daß es ihnen vielleicht unmöglich sein möchte, auf diesem Wege hinzugelangen, ließ ich Mollah Schah auf Rekognoszierung dorthin reiten. Er kam am Abend wieder und versicherte, daß keine Hindernisse vorlägen. Im Westen hatte er einen zweiten, ebenso großen See gesehen, in den sich wahrscheinlich das Schmelzwasser des Gletscherstockes ergoß. Die Sache lag also klar, und ich hielt es für selbstverständlich, daß die Karawane vor uns an[S. 333] dem verabredeten Platze eintreffen würde, da Tiefenlotungen und andere Beobachtungen naturgemäß ziemlich viel Zeit kosteten. Tscherdon wurde daher ermahnt, bei der Ankunft ein Feuer anzuzünden, das uns abends als Leuchtfeuer dienen sollte und nach welchem wir, wenn es nötig wäre, unseren Kurs rechtzeitig ändern könnten.

Warm und klar brach der Tag an; nur einige leichte Wölkchen segelten an dem türkisblauen Himmel, und spiegelblank lag der See. Während die Karawane beladen wurde, brachten wir das Boot am Ufer in Ordnung. Segel, Ruder und Rettungsbojen wurden mitgenommen, im übrigen nur die notwendigen Instrumente. Wir fuhren eine gute Weile vor der Karawane ab, sahen aber nachher ihre lange Reihe am Ufer entlang schreiten.

Mit der Uferlinie beginnt die zusammenhängende Salzkruste, die den ganzen Seeboden bedeckt und hier anfänglich 2–4 Zentimeter dick war. Sie bricht unter unseren nackten Füßen. Wir mußten das Boot nämlich erst 1½ Kilometer in den See hineinziehen, ehe es schwamm, und in dieser Entfernung vom Strande betrug die Tiefe noch kaum 50 Zentimeter. Jetzt steuerten wir erst nach einer kleinen Insel in Ostsüdosten. Kutschuk brauchte nicht zu rudern, sondern schob das Boot vorwärts; das Ruder scharrte wie auf Stein, wenn es die allmählich immer fester werdende Salzkruste berührte.

Dieser umfangreiche See ist nur ein kolossaler Salztümpel ohne Spur von Leben. Keine Schwimmvögel, keine Wassertiere, keine Algen waren zu sehen. Auch der Uferstreifen ist, soweit der Wellenschlag reicht, unfruchtbar; nur auf den sandigen Hügeln, welche die Wasserfläche um einige Meter überragen, wächst Gras.

Wir landeten an der kleinen, birnförmigen Insel, deren größte Höhe 5 Meter über dem Wasserspiegel nicht übersteigt. Sie liegt wie eine Semmel im See und hat vortreffliches, geschütztes und unberührtes Weideland. Das Gerippe eines Vogels war das einzige Lebenszeichen, das wir finden konnten. Die Aussicht aber ist großartig und orientierend. Nach Westen und Osten erstreckt sich völlig offenes Land, auf dem bis an den Rand des Horizontes auch nicht der kleinste Berggipfel sichtbar ist. Im Nordwesten glänzt das mächtige Firnmassiv, vor dessen Gletscherzungen wir vor ein paar Tagen lagerten. Im Süden erscheinen flache, weich abgerundete Landrücken und im Norden die sich hie und da bis zu Schneebergen erhebende größere Kette, die wir zuletzt überschritten hatten.

Darauf steuerten wir nach Südosten in der Richtung des vereinbarten Sammelplatzes. Nur in einem Ringe um die Insel herum lag Kies auf plastischem blauem Ton, dann aber setzte die Salzkruste wieder[S. 334] ein. Die Tiefe nahm ein wenig zu, so daß Kutschuk das Boot nicht mehr mit dem Ruder weiterstoßen konnte, sondern rudern mußte.

Die Tiefenverhältnisse in diesem See waren höchst unerwartet. Der Boden ist beinahe ganz eben, und die größte Tiefe betrug nur 2,33 Meter. Der See liegt also wie eine papierdünne Wasserschicht über der Salzkruste und ist nur halb so tief wie die Kara-koschun-Sümpfe. Die Unterschiede zwischen den einzelnen Lotungsstellen beliefen sich auf einen oder ein paar Zentimeter. Ich hatte eine mehrere hundert Meter lange Lotleine mit Bleigewicht mitgenommen, doch meistens genügte das 2,13 Meter lange, in Dezimeter und Zentimeter eingeteilte Ruder.

Gerade im Osten schien sich der See bis ins Unendliche zu erstrecken, einer Meeresbucht vergleichbar; dies beruhte aber auf einer durch Luftspiegelung hervorgerufenen Sinnestäuschung.

Es war ein wunderbarer, in Wahrheit höchst außergewöhnlicher Tag, den wir auf diesem Salzsee zubrachten. Das Wetter war prächtig; kein Lüftchen regte sich, und der Himmel spiegelte sich deutlich im Wasser wieder. Nur um die Randgebirge herum lag ein Kranz von dichteren weißen Wolken. Die Sonne, ein seltener Gast in diesen Gegenden, wärmte ordentlich; man freute sich, wieder etwas vom Sommer zu sehen, und träumte von den entflohenen Annehmlichkeiten dieser Jahreszeit. Es war schon wohltuend, das Gesicht in der Strahlenflut baden zu können und nach all der Nässe und Kälte in der Nachbarschaft des Arka-tag einmal wirklich das Gefühl des Trockenseins zu haben, aber ohne die giftigen Insekten, die tiefer unten die treuen Sommerbegleiter der Sonne bilden. Um uns herum ist es so still wie im Grab; keine Fliege summt in der Luft, kein Fisch plätschert im Wasser, das leblos daliegt wie eine chemische Lösung, überall war es still und friedlich wie an einem Sonntage. Die vor kurzem noch so unruhigen Geister der Luft und des Wetters hatten sich einen freien Tag gemacht, wahrscheinlich nur, um sich zu neuem wildem Streitgetümmel auszuruhen.

Die Landschaft hat in dieser reinen, verdünnten Luft einen ganz ungewöhnlichen, leichten Ton. Man könnte sie mit einer Braut in weißer und hellblauer Seide vergleichen; es ist das duftigste Aquarell in den zartesten Farben, denn alles ist ätherisch und durchsichtig wie eine Luftspiegelung oder ein Traum. Nur unmittelbar beim Boote schimmert das Wasser grün, sonst ist es hellblau vom Widerscheine des Himmels.

Welch herrliche Art, nach dem nächsten Lagerplatze zu gelangen, verglichen mit dem Reiten mit der schwerfälligen, müden Karawane! Ich saß im Vorderteile des Bootes so bequem wie in einem Lehnstuhl und[S. 335] machte meine Beobachtungen und Aufzeichnungen wie vor einigen Monaten auf der Fähre. Der Kurs war ein für allemal gegeben, und ein Blick nach dem Berggipfel genügte zur Kontrolle der Richtung. Die Geschwindigkeit wurde alle fünf, die Tiefe alle zehn Minuten gemessen, und Kutschuk sang und summte zu den Ruderschlägen allerlei Weisen. Er ruderte das Boot mit einem Ruder, das bald an der Backbord-, bald an der Steuerbordreling senkrecht ins Wasser getaucht wurde. Mast und Segel waren in der Mitte des Bootes querüber festgebunden, um uns nicht im Wege zu sein. Mäntel hatten wir nicht mitgenommen; hätte ich mich erwärmen müssen, so würde ich mit dem zweiten Ruder geholfen haben, nun aber freute ich mich untätig meines Daseins, aller Hagelschauer uneingedenk. Die Temperatur stieg auf 14 Grad und betrug im Wasser 17,1 Grad; es war ordentlich warm.

Das Wasser ist so salzig, daß die ins Boot fallenden Tropfen wie Stearin erstarren. Nachdem das Wasser verdunstet ist, bleibt eine kreideweiße dünne Glocke zurück, die jedoch gewöhnlich einfällt. Das Lotungsruder wird so weiß, als wäre es angestrichen, unsere Hände werden weiß und rauh, unsere Kleider von Spritzern weißgetüpfelt, und der Strommesser glitzert mit tausend Facetten. Die Ränder und der Boden des Bootes sehen aus, als wäre es kürzlich zu einem Mehltransport benutzt worden.

Während der ersten Stunden sahen wir die Karawane am Westufer entlang schreiten, und ich beobachtete mit dem Fernglase ihren gewöhnlichen ruhigen Gang und ihre Marschordnung. Sie beschrieb einen Bogen, während wir in gerader Linie nach dem Sammelplatze ruderten. Zuerst entfernten wir uns demnach voneinander, darauf verschwand die Karawane hinter den Uferhügeln, mußte aber bald am südlichen Ufer wieder auftauchen, und dann würden wir uns einander wieder nähern und schließlich an demselben Punkte zusammentreffen. Aber sie erschien nicht wieder. War sie vielleicht auf schwankenden Boden gestoßen und mußte einen Umweg machen, sammelten am Ende die Leute unterwegs noch Brennholz oder war gar Wildbret geschossen worden, das erst abgehäutet, zerlegt und eingepackt werden mußte?

Kilometer auf Kilometer blieb die Tiefe 1,88 Meter. Stunde auf Stunde schien sich der Abstand zwischen uns und dem Südufer nicht zu verringern. Aber, wie gewöhnlich, verging die Zeit auf dem Wasser schnell. Am Nachmittag bedeckte sich der Himmel mit leichten, dünnen Wolken, und die blaue Wasserfläche nahm eine marmorierte Schattierung an. Das Boot schoß in gerader Linie nach Südosten, und das Wasser plätscherte um das Ruder; dies war der einzige Laut, der die Stille auf[S. 336] diesem tibetischen „Toten Meere“, dessen Spiegel 4765 Meter über dem Weltmeere liegt, unterbrach.

Um 4 Uhr guckte die Sonne wieder hervor. Unter der sinkenden Sonne schien sich der See am weitesten nach Westen auszudehnen; es ist die Strahlenbrechung, die diese Sinnestäuschung hervorruft. Die Karawane war nicht zu sehen, aber die Entfernung war auch bedeutend, und sie mochte wohl hinter einigen Uferhügeln marschieren.

Gegen Abend sah der vor kurzem noch so klare, blanke Wasserspiegel beim Südufer mattgeschliffen aus. Ein brausendes Geräusch ließ sich immer deutlicher vernehmen und wurde von Kutschuk für das Rauschen eines in der Nähe mündenden Flusses gehalten. Bald wurde uns jedoch klar, daß das Brausen von einem sich erhebenden Winde herrührte, in dessen Bahn wir bald hineingerieten. Der Wind kam von Osten; es ruderte sich schwer, und als er stärker wurde, hißten wir Segel und änderten den Kurs in Südwest ab. Mit reißender Fahrt und in hohem Seegange strichen wir nach dem Ufer hin, wo sich die Brandung weißschäumend und donnernd über scharfkantige Kiesel wälzte, die das Segeltuchboot aufzuschlitzen drohten. Das Segel wurde rechtzeitig gerefft, Kutschuk sprang ins Wasser, ich half mit dem Ruder, und so brachten wir das Fahrzeug unverletzt an Land und zogen es hoch am Ufer hinauf.

Bevor die Dämmerung in Dunkelheit überging, eilten wir nach den nächsten Hügeln hinauf, um nach der Karawane auszuspähen. Doch von Menschen und Tieren war keine Spur zu entdecken! Die ganze Gegend lag schweigend und ausgestorben, beinahe unheimlich vor uns, und mir war zumute wie beim Eintreten in eine Klosterruine, in der seit tausend Jahren niemand gewesen ist. Während Kutschuk Jappkakbüschel sammelte, ging ich weiter in die Hügel hinein, wurde aber von ein paar Buchten und Lagunen aufgehalten, deren nur von einer außerordentlich dünnen Wasserschicht bedecktes Salz wie Eis glänzte. Ein Kulanschädel lag, verwittert und gebleicht, an einem Abhange, und in dem losen Erdreiche stand eine Bärenspur eingedrückt. Ich lauschte und rief, aber die Karawane war und blieb verschwunden.

148. Tscherdons Yak. (S. 361.)
Von links nach rechts: Mollah Schah, Turdu Bai, Kutschuk.

GRÖSSERES BILD
149. Ein erbeuteter Yak. (S. 361.)
150. Ein junger Kulan. (S. 362.)
151. Kopf und Seitenfransen des Yaks. (S. 361.)

Als ich nach dem Landungsplatze zurückkehrte, war es schon dunkel. Kutschuk hatte einen gewaltigen Armvoll Jappkak zur Feuerung zusammengesucht, und ich half ihm den Vorrat noch vergrößern. Jetzt war es ganz klar, daß sich den anderen irgendein unerwartetes Hindernis in den Weg gestellt haben mußte, sonst wären wenigstens ein paar Reiter nach dem Sammelplatze gekommen, um uns Bescheid und — was für uns das Wichtigste war — Essen, Wasser und warme Kleider zu bringen. Erst überlegten wir, ob wir nicht den heftigen, günstigen Wind benutzen[S. 337] und westwärts segeln sollten; aber in der Dunkelheit wäre dies doch zu gewagt gewesen, besonders da der Wind immer heftiger wurde. Vielleicht hatte die Karawane auch einen so weiten Umweg machen müssen, daß sie noch gar nicht hier sein konnte.

Es blieb uns also kein anderer Ausweg, als uns auf beste Weise für die Nacht einzurichten. Ein ebener Fleck wurde für das Lager aufgesucht, der ganze Feuerungsvorrat dort aufgestapelt, alle Sachen aus dem Boote geholt und dieses selbst in seine beiden Hälften auseinandergenommen. Letztere wurden aufgerichtet und bildeten so vorzügliche Schilderhäuschen, die uns gegen den Wind schützten. Wir waren gerade in Ordnung, als es zu regnen begann. Nun wurden die Boothälften, gegen je ein Ruder gelehnt, in einem Winkel von 45 Grad aufgestellt; wir hatten sowohl ein Dach über dem Kopfe wie Schutz vor dem Winde. Ich nahm die eine Rettungsboje, Kutschuk die andere, und mit diesen als Kopfkissen gelang es uns, solange die Luft noch warm war, eine Weile zu schlafen.

Um 9 Uhr zog ich die Chronometer auf und besorgte eine meteorologische Ablesung, während Kutschuk Feuer anmachte. Dann blieben wir noch ein paar Stunden sitzen und stellten philosophische Betrachtungen an. Es wäre zu schön gewesen, wenn wir eine Tasse heißen Tee und ein bißchen Brot oder wenigstens einen Becher Wasser gehabt hätten. Ich zog mir aus dieser Fahrt die Lehre, mich künftig nie ohne Proviant und warme Decken für die Nacht aufs Wasser zu begeben!

Als alle Feuerung verbrannt war, krochen wir in die Koje; jetzt kamen uns die Boothälften wieder vorzüglich zustatten. Erst wurde das Segel auf dem Kiese ausgebreitet, der dadurch auch nicht viel weicher wurde, dann wurde die Rettungsboje zur Hälfte in den Boden eingegraben, darauf legte ich mich entsprechend zusammengekrümmt nieder und zuletzt deckte Kutschuk die eine Boothälfte über mich. Alle Ritzen, durch die Zug kommen konnte, verstopfte er mit Sand, wobei er ein Ruderblatt als Spaten benutzte. Der Boden des Bootes war nur 1–2 Zoll über meinem Kopfe, und ich lag wie eine Leiche in ihrem Sarge, welcher Gedanke sich um so mehr aufdrängte, als Kutschuk draußen stand, Sand aufgrub und um mich herumschüttete. Drinnen war es so eng, daß ich mich in meinem Grabe nur mit Mühe umdrehen konnte, und ebenso dunkel wie in der Ruhestätte der Toten.

Ein ganzer, auf dem Wasser zugebrachter Tag greift an und macht hungrig, und wenn man nichts zu essen bekommt, friert man leicht; aber in unseren kleinen „Zelten“ wurde es bald warm. Kutschuk packte sich auf dieselbe Weise ein. Ein prächtiges Boot, das uns erst den ganzen[S. 338] Tag getragen hatte und uns hinterdrein noch als Zelt diente! Die Annehmlichkeit wurde noch größer, als es wieder zu regnen begann und die schweren Tropfen auf dem straffgespannten Bootboden wie Trommelwirbel schmetterten. Wir unterhielten uns eine Weile; Kutschuks Stimme klang durch die beiden Segeltuchwände wie eine Stimme aus dem Grabe, und auch meine tönte dumpf und hohl. Doch die Müdigkeit machte sich geltend, und wir schliefen, Wölfe, Bären und unsere eigene treulose Karawane vergessend, auf unserem Kirchhofe ein.

Ein paarmal wachte ich von der eindringenden Nachtkälte auf, schlief aber wieder ein, und als endlich das Morgenlicht unter den Bootrelingen hereinflutete, sah ich zu meinem Erstaunen, daß es schon 7 Uhr war. Kutschuk wurde gerufen und mußte den Sargdeckel öffnen; richtig stand die Sonne schon hoch über dem Horizont. Wir waren starr vor Kälte und sammelten schleunigst Feuerung, die mit den letzten Zündhölzern in Brand gesteckt wurde und uns wieder neues Leben gab. Es wehte frisch und gleichmäßig aus Osten, und da von der Karawane nichts zu sehen und zu hören war, blieb uns nichts weiter übrig, als westwärts zu gehen und sie zu suchen.

Also wurde das Boot wieder zusammengefügt, getakelt, ins Wasser gesetzt und bemannt, das Segel wurde aufgespannt, das eine Ruder diente als Segelbaum, das andere als Steuer, und mit sausendem Winde strichen wir längst des Südufers hin. Der Wind war ziemlich stark, der See ging hoch, die Jolle rollte ordentlich, und Kutschuk, der vorn im Boote saß, wurde seekrank. Die Geschwindigkeitsmessungen und die Lotungen wurden fortgesetzt und die Route eingetragen. Nachdem wir eine gute Stunde unterwegs waren, konnte ich mit dem Fernglas am Westufer des Sees zwei weiße Punkte wahrnehmen, die wir für die Jurte und das Zelt hielten. Kleine schwarze Punkte, die beide umgaben, mußten unsere Leute und Tiere sein. Nach drei Stunden waren wir dort. Tscherdon und Aldat wateten uns entgegen, um die Jolle vorsichtig ans Land zu ziehen. Der Karawane war richtig von einem mächtigen Fluß, den zu durchwaten unmöglich war, der Weg abgeschnitten worden. Der Fluß kam von einem großen See im Westen. Sie waren daher nach der Quelle zurückgekehrt, bei der wir sie fanden, und hatten die ganze Nacht auf einem Hügel ein Feuer unterhalten, das uns als Richtschnur dienen sollte, wenn wir draußen auf dem See umherirrten. Aldat hatte einen Kulan geschossen, denn frisches Fleisch war uns hochnötig. Das Wölflein hatten sie jedoch so freigebig damit traktiert, daß es an Überfütterung starb.

Sobald wir an Land gekommen waren, mußte Tscherdon mir ein[S. 339] Frühstück mit Kaffee bereiten; der Rest des Tages wurde zu verschiedenen Nacharbeiten benutzt. Jetzt handelte es sich darum, nach welcher Seite wir zunächst unsere Schritte lenken sollten. Gingen wir nach Westen, so brauchten wir drei Tage zur Umgehung des dort liegenden Sees, und im Osten hatten wir unseren großen Salzsee. Im Süden versperrte uns der Fluß, der von dem westlichen, entschieden süßen See Wasser nach dem salzigen führte, den Weg. Von Umkehren konnte noch keine Rede sein; dies durfte erst geschehen, wenn das morastige Hochland so fest gefroren war, daß der Boden trug. Ich beschloß daher, die ganze Karawane mit der Jolle über den Fluß zu führen.

Die Karawane mußte also nach der schmalsten Stelle des Flusses ziehen, während ich mit Kutschuk nach dem Mündungsgebiete ruderte. Die Breite beträgt hier etwa 300 Meter, und unmittelbar vor der Mündung lag eine Bank mit nur 50 Zentimeter Wasser, die eine prachtvolle Furt gewesen wäre, wenn sie nicht in der Mitte eine schmale Rinne von 2,56 Meter Tiefe gehabt hätte. Wir fuhren nach dem schmalen Übergange, wo die anderen warteten und alles Gepäck abluden. Auch hier ist das Wasser scharf salzig, obwohl die Strömung von dem Süßwassersee ziemlich stark ist; man sieht, wie sich süßes und salziges Wasser miteinander vermischt, wobei Flockenbildungen und Wirbel entstehen wie bei Zuckerwasser.

Die beiden Ufer bestanden aus hartem Kies. Die schmalste Stelle, wo die Überführung stattfinden sollte, war 58 Meter breit. Die größte Schwierigkeit war das Ausspannen eines Taues zwischen beiden Ufern. Beinahe alle Stricke, mit denen die Packlasten auf Kamelen und Pferden festgebunden wurden, mußten dazu genommen und aneinandergebunden werden. Am linken Ufer wurde das eine Ende festgemacht, dann wurde das Seil flußabwärts gezogen, worauf ich aus allen Kräften in einem Bogen hinüberruderte, während Kutschuk mit dem anderen Ende bereitstand, am rechten Ufer ans Land zu springen. Wir trieben indessen, da das Seil sich als zu kurz erwies, an der hier vorspringenden Landspitze vorbei und mußten uns wieder zurückschleppen und noch ein Ende anbinden, worauf dasselbe Manöver mit besserem Erfolge wiederholt wurde. Das Tau wurde nun auch an diesem Ufer festgebunden und so straff gezogen, daß es die Wasserfläche nicht mehr berührte.

Die Pferde sollten hinübergetrieben werden, aber sie ließen sich nicht dazu bringen, ins Wasser zu gehen. Es gelang erst, als wir eines von ihnen hinüberbugsiert hatten. Am schlimmsten war das Übersetzen der Kamele (Abb. 133, 134, 135). Sie ließen sich nicht bewegen, selbst hinüberzuschwimmen. Wir mußten sie einzeln mit dem Boote holen. Dabei[S. 340] wird das Kamel ins Wasser getrieben, und ein Strick wird ihm um den Kopf geschlungen. Diesen hält Turdu Bai, der im Achter des Bootes sitzt, über Wasser. Ich ziehe das Boot an dem ausgespannten Seile entlang quer über den Fluß. Da es dem Kamel aber durchaus nicht einfällt zu helfen, sondern es sich ganz bequem im Wasser ziehen läßt, habe ich die ganze durch die unaufhörlich saugende Strömung verursachte Wucht auf meinen Händen ruhen, und ich muß beim Weiterschieben alle meine Kräfte aufbieten, um das Seil nicht loszulassen, in welchem Falle natürlich die ganze Bescherung nach dem See hinuntergetrieben wäre und das Kamel leicht hätte verloren gehen können. Ich brachte es jedoch nach dem anderen Ufer hinüber, wo es eine Weile zappelte, bis es festen Boden unter sich fühlte und für gut fand, sich wieder auf eigene Füße zu stellen. Das Wasser strömte von seinen Seiten, als es dort in der Einsamkeit stand und sich verwundert nach seinen Kameraden umsah.

Nach dem zweiten und dritten Kamel wurde das Tau so schlaff, daß es ins Wasser hing; es mußte mit den übrigen Laststricken verstärkt werden, so daß es doppelt wurde und straffer war. Mitten in dieser Arbeit riß das erste Seil, und wir konnten wieder von vorn anfangen. Meine Hände waren schon ganz abgeschürft. Tscherdon mußte die Überführung der drei übrigen Kamele besorgen; endlich hatten wir alle Tiere unversehrt drüben. Das letzte Schaf, das sich daran gewöhnt hatte, bei den Kamelen zu kampieren, schwamm von selbst hinüber.

Schließlich wurde das Gepäck hinübergebracht; dann wurde das Lager auf dem rechten Ufer aufgeschlagen. Die Wassermenge dieses Flusses betrug 47,5 Kubikmeter in der Sekunde. Es war der größte Fluß, den ich bisher in Nord- und Mitteltibet gesehen hatte. Verschiedene Wassertierchen wurden von der Strömung aus dem Süßwassersee mitgeführt, um, sobald die Salzmischung ihnen zu stark wird, einem sicheren Untergang entgegenzugehen.

Ein Kamel und zwei Pferde hatten wundgescheuerte Stellen auf dem Rücken und trugen daher während der nächsten Tage kein Gepäck. Auch mein alter Wüstenschimmel bedurfte der Ruhe, und ich bestieg deshalb ein anderes Pferd. Gewöhnlich pflegte ich meine Reitpferde so zu dressieren, daß sie stillstanden, sobald ich eine Kompaßpeilung vornehmen wollte. In dieser Beziehung war das Wüstenpferd vorzüglich. Ich brauchte nur die Hand in die Kompaßtasche zu stecken, so stand es ohne weitere Aufforderung unbeweglich still.

Wir zogen die aus lauter weichem Material, ohne Spur von festem Gestein bestehenden Hügel, welche die beiden großen Seen im Süden begrenzten, hinauf. Hier und dort wuchs an den Bächen vortreffliches Gras,[S. 341] das nebst Quellen und brennbaren Sträuchern zum Rasten aufforderte; aber die Tiere waren jetzt so ausgeruht, daß wir unseren Weg fortsetzten. Ein niedriger Kamm wird überschritten; südlich davon erscheint ein neuer See, der keinen sichtbaren Abfluß hat, aber doch süß ist.

Zwischen den Hügeln im Südwesten des Sees grasten 18 Yake, und höher hinauf sah man eine Yakherde von über hundert Tieren, alten und jungen; der Boden erschien von ihnen ganz schwarz punktiert. Während wir sie beobachteten, wurde es sowohl im Westen wie im Osten dunkel, und das Rollen des Donners, das wie das Brüllen des Löwen ein tyrannisches Warnungssignal zum Aufpassen ist, verkündete, daß ein Sturm im Anzuge war. Der Hagelschauer schlug mit überwältigender Macht nieder, die Yake verschwanden im Nebel, und Aldat, der mit der Flinte auf der Schulter nach den Höhen auf der anderen Seite des Tales geeilt war, ebenfalls. Er wurde sich selbst überlassen, während wir längs des Sees weiterzogen und an einem einige Kilometer von seinem Südufer gelegenen Tümpel das Lager aufschlugen.

Gegen 9 Uhr ertönten Rufe durch die Dunkelheit, und ein paar Leute wurden ausgeschickt, um Aldat entgegenzugehen, der ganz müde nach Hause kam und unter der Last eines großen Fleischstückes und eines Yakschwanzes keuchte. Er hatte geglaubt, daß wir am See bleiben würden, und deshalb Pelz und Flinte liegen lassen, um sie später zu holen. Sein Opfer war ein ziemlich großes Yakkalb, das beim ersten Schuß zusammengebrochen war. Die anderen Tiere hatten nicht die Flucht ergriffen, sondern sich nur ein wenig höher auf die Hügel hinaufbegeben. Aldat hätte leicht noch einige schießen können, hatte es aber für unnötig gehalten.

Da der folgende Tag, ein Sonntag, zur Ruhe bestimmt wurde, begab er sich mit Kutschuk nach der Stelle, und beide holten eine ganze Ladung Fleisch, das eine unschätzbare Verstärkung unseres sehr kümmerlichen Proviants war. Tscherdon briet mir ein paar Schnitzel, die nicht schlecht waren; es war aber auch ein junges Tier mit zartem Fleisch.

Am 27. August ritten wir direkt nach Süden. Auch an diesem Abend lagerten wir im Lager Nr. 35 am Ufer eines großen Salzsees, wo es in der Nachbarschaft eine Quelle gab und wo die Weide zu gut war, als daß wir hätten vorbeiziehen können (Abb. 136, 137, 138).

Am 28. August wurden wir wieder von einem Labyrinth von Tümpeln, Seebuchten und Wasserläufen aufgehalten. Einer der letzteren war recht bedeutend und hatte eine starke Strömung. Mollah Schah versuchte es, an ein paar Stellen hinüberzukommen, aber das Wasser war zu tief.

[S. 342]

Jetzt standen wir von neuem da, von einem unüberschreitbaren Flusse gehemmt, und bereiteten uns gerade vor, an seinem linken Ufer hinaufzuziehen, um weiter aufwärts nach einer Furt zu suchen. Doch über uns lauerte ein anderer, wohlbekannter alter Feind. Obwohl Ostwind wehte, verfinsterte sich der westliche Horizont, und bleischwere Wolkenmassen wälzten sich über das Land wie eine Schlagwelle, die auf ihrem Wege alles zu begraben droht. Das Ganze glich einem riesenhaften Netzzuge oder einem Heere, dessen beide Flügel in gleichmäßigem Takt zum Angriff stürmten. Die Wolken des linken Flügels hatten dunkelrot gefärbte Ränder, die auf dem rechten waren rabenschwarz. Die alleräußersten Vorposten waren in die unglaublichsten, von einem dämonischen Sturm gejagten Gestalten zerrissen. Noch badet sich die Landschaft im Osten in Licht und Sonnenschein. Doch von Westen her schnürte sich das unheimliche Netz immer dichter um uns zu. Wir beschlossen also, schleunigst zu lagern, aber ja nicht zu nahe an dem Ufer dieses Flusses, der vielleicht von den heftigen Niederschlägen anschwellen würde. Wir halfen alle beim Aufrichten des Jurtengestelles und hatten gerade ein paar Filzdecken über die Dachlatten gezogen, als der Sturm über den Teil der Erdoberfläche, auf dem wir uns befanden, hinfuhr und die Hagelschauer an der Erde entlangfegten. Es schmerzt im Gesicht und an den Händen, als sei jedes Hagelkorn aus einem Blasrohr geschossen, und man läuft buchstäblich Spießruten, ehe man unter Dach kommt.

Am anderen Morgen war das Wetter wenig angenehm. Im Norden hatten wir jetzt den letzten Salzsee und im Süden einen neuen See von achtunggebietenden Dimensionen. Von diesem strömt das Wasser, wie auch der von Westen kommende Fluß, nach dem ersteren hin. In seinem Unterlaufe erweitert sich der Fluß zu nicht unbedeutenden Becken. In ein solches ruderten wir aus Unkenntnis der Flußrichtung hinein und gerieten dort in eine Sackgasse. Auf dem innersten Ufer saßen ungefähr 50 Gänse, die vermutlich auf ihrer Winterreise nach Indien hier Rast hielten. Alle flogen langsam und niedrig, außer einer, die auf dem Wasser liegenblieb und untertauchte, als wir an sie heranruderten. Wir verfolgten sie nahezu eine Stunde. Das Untertauchen dauerte immer kürzere Zeit, und als sie nur 10 Meter vom Boote auftauchte, begann ich, sie mit der einzigen vorhandenen Waffe, dem Ruder, zu harpunieren. Mehreremal wurde sie von dem Blatte gestreift und schließlich mit einem gutgezielten Schlage getötet, worauf sie gerupft wurde, um uns eine angenehme Abwechslung im Speisezettel zu bereiten.

[S. 343]

Nachher fanden wir die Mündung des Flusses in dem sehr breiten Arme, der vom Süßwassersee in den salzigen geht. Wir bestiegen am anderen Ufer einen Hügel und sahen uns dort beinahe auf allen Seiten von ansehnlichen Wasserflächen umgeben. Gerade nach Osten erstreckte sich die Landenge, auf deren äußerster Zunge wir uns befanden, im Norden dehnte der Salzsee seinen großen Wasserspiegel aus, und im Süden lag der neuentdeckte süße See. Die Mittelpartie dieser Landenge bestand aus einer kleineren Bergkette, an deren Südfuß es gute Weide und reichlich Wildbret zu geben schien. Ehe wir noch in dunkler Nacht nach dem Lager zurückkehrten, hatte ich schon den Plan zu einer besonderen Exkursion um diesen neuen See gefaßt.

[S. 344]

Dreißigstes Kapitel.
Über stürmische Seen und himmelhohe Berge.

Das Lager Nr. 36 am Flusse wurde jetzt zur Operationsbasis gewählt. Hier sollten Turdu Bai, Aldat und Nias mit allen Kamelen und vier müden Pferden zurückbleiben. Mich sollten Tscherdon, Mollah Schah und Kutschuk begleiten, und die Karawane aus dem Maulesel, sieben Pferden und den Hunden bestehen. Wir hatten Proviant für eine Woche und nahmen nur absolut notwendige Sachen, Filzdecken und Pelze mit. Meine Instrumente wurden in das Futteral des großen photographischen Apparates gepackt; in diesem von Seen überschwemmten Hochlande war auch das Boot unentbehrlich. Nur die Hälfte meiner Jurte wurde mitgenommen, d. h. die Holzgitter, die den unteren Teil ihres Gerüstes bilden. Das Gepäck war also leicht; es wurde zu Boot nach dem gegenüberliegenden Ufer gebracht. Die Pferde durchwateten den Fluß.

Darauf wurde die Karawane beladen, und wir setzten uns in Marsch. Doch wir waren noch nicht weit gelangt, als uns der Sund zwischen den Seen Halt gebot; wir mußten wieder alles abpacken, das Gepäck hinüberrudern und die Pferde über den Sund schwimmen lassen. Endlich standen wir jedoch auf der Spitze der Enge und konnten im Ernst darauf losgehen, indem wir dem Nordufer des Süßwassersees folgten. Bald erreichten wir jedoch einen Teil desselben, wo die Berge steil ins Wasser abfielen, ja sogar überhingen, so daß wir zu einem Umweg über den Kamm gezwungen wurden. Dort hatten wir sowohl links wie rechts weitgedehnte Wasserflächen.

An einem kleinen Bache wurde unsere sehr provisorische Jurte aufgeschlagen. Auf den Abhängen weidete 300 Schritt von uns entfernt eine Herde von elf großen schwarzen Yaken, die nicht die geringste Miene zur Flucht machten. Man konnte sich versucht fühlen zu glauben, daß sich Nomaden in der Gegend aufhielten und zahme Yake bei sich hätten. Doch als unsere Pferde auf die Weide geschickt wurden und allmählich nach den besseren Weideplätzen hinaufgingen, blähten die Yake ihre Nüstern auf,[S. 345] spähten aufmerksam nach unserer Richtung hin und bewegten sich dann in langsamem Trab über den Kamm nach dem Salzsee.

152. Blick nach Süden von Aldats Begräbnisplatz. (S. 364.)

GRÖSSERES BILD
153. Lager Nr. 60 in 5111 Meter Seehöhe. (S. 366.)

GRÖSSERES BILD

Meine Jurte war so eng, daß Tscherdon erst mein Bett zurechtmachen und dann die Gitter über dem Bett aufschlagen mußte. Ich mußte wie in eine Hundehütte hineinkriechen; sobald ich aber erst drinnen war, hatte ich es gut und warm, und Jolldasch half noch wärmen.

Nachdem wir über Nacht es bei einer Temperatur von −5,2 Grad hatten aushalten müssen, erwachten wir am 31. August an einem wirklich herrlichen Sommertage ohne ein Wölkchen oder einen Windhauch. Der See lag wie ein Spiegel da. Ein Kulan kam heran und besah sich die Pferde so ungeniert, als wisse er ganz genau, daß Tscherdons Patronen schon lange zu Ende waren. Auf dem Südufer erhoben sich zwei blendendweiße Schneeberge ohne Spur von Wolkenkranz und spiegelten sich im See wider. Ein mehrstündiger Marsch am Ufer entlang führte uns nach dem Ende des Sees, aber dieser wurde nur durch eine mehrere hundert Meter breite Landenge von einem neuen getrennt, der sich weit nach Osten erstreckte und dessen nördlichem Ufer wir ebenfalls folgten.

Eine Strecke weit gingen wir oben auf den Uferfelsen zirka 70 Meter über der Wasserfläche, einen Kulanpfad benutzend, der so dicht am Rande entlangführte, daß einem beinahe unheimlich zumute wurde. In dem tiefen Wasser sahen wir einen Schwarm ziemlich großer, schwarzrückiger Fische, die besonders Kutschuks lebhaftes Interesse erregten. Wir lagerten in der Nähe, weil wir versuchen wollten, einige von ihnen zu fangen. Jolldaschs Halsband lieferte Material zu Angelhaken, die in der Glut des Lagerfeuers eine entsprechende Gestalt erhielten. Für den Fall, daß es in der Gegend Wildgänse oder Enten geben sollte, wurde aus einer Holzlatte ein Bogen fabriziert. Wir lebten ungefähr wie Robinson Crusoe und mußten uns mit der dürftigen Ausrüstung, die uns gerade zu Gebote stand, weiterhelfen.

Der Abend war kalt und windig, und die Aussichten auf den nächsten Tag waren wenig hoffnungsvoll. Meine Jurte stand fest wie ein Berg, und ich lag darin wie ein Begrabener, aber es war dort so eng, daß die Toilette mit gewissen Schwierigkeiten verbunden war. Am nächsten Morgen machte ich in aller Frühe einen Spaziergang nach den nächsten Hügeln in der Nachbarschaft und hatte von dort aus einen großartigen Überblick über dieses eigentümliche Gebiet, das reicher an Wasser als an Land ist. Der innerste Teil des Sees erstreckte sich keilförmig nach Nordosten. Er liegt 4848 Meter über dem Meere. Wir waren hier wieder in verhältnismäßig tiefere Gegenden gelangt, und doch befanden wir uns noch höher als der Gipfel des Montblanc!

[S. 346]

Unterdessen wurde das Boot ins Wasser gebracht und ausgerüstet, und nun ruderten wir dicht an die senkrechten roten Sandsteinfelsen heran, unter denen die Fische standen. Die Karawane zog um den See herum weiter, um an seinem Südufer gegenüber einem Berggipfel zu lagern (Abb. 139, 140).

Das Boot wurde ganz nahe am Ufer verankert. Die Blöcke der Bergwände schienen oft nur an einem Haar zu hängen; es war, als drohten sie herabzustürzen und uns zu zerschmettern.

Als Angelruten wurden Zeltstangen benutzt, als Köder kleine Stücke Yakfleisch, und eine leere Zündholzschachtel diente in tadelloser Weise als Kork. Die Fische bissen gut an, aber die Ausbeute war doch gering. Nur vier mittelgroße Asmane blieben an unseren Angelhaken hängen. Wir angelten nicht zum Vergnügen, sondern der Nahrung wegen, der Fang reichte jedoch nur gerade zu einer Mahlzeit für uns. Wenn unser Mittagsessen an diesem Abend auch nur dürftig ausfiel, so war es dafür aber wenigstens außergewöhnlich und delikat.

Während ich in Gedanken versunken saß und mich des Sonnenbades und der Ruhe erfreute, flogen die Stunden nur so hin, und es wurde Zeit, nach dem Sammelplatze zu steuern. Im Westen wurde es dunkel, und der Himmel überzog sich bald mit Wolken. Ein Sturm war im Anzug. Wir mußten uns entscheiden, ob wir ihn erst vorüberziehen lassen wollten, was sich nicht verlohnt hätte, da es schon 2 Uhr und die Karawane wahrscheinlich bereits am Vereinigungspunkte angelangt war, oder ob wir uns auf den See hinauswagen sollten; ich zog das letztere vor. Kutschuk brauchte nicht lange zu rudern, so kamen wir in den nordwestlichen Wind hinein, der uns großartig weiterhalf. Im Süden strichen schon blaugraue Wolken mit lang herunterhängenden, nachschleppenden Hagelfransen längs der Berge hin, die allmählich verschwanden, und hinter uns verdichtete sich die Luft auf dieselbe Weise. Der Sturm kam immer näher, der See ging immer höher, und um uns her waren die Wogen mit weißem Schaum bedeckt.

Jetzt schlug die Hagelbö nieder, und die großen Körner prasselten auf das Wasser. Das Innere des Bootes wurde binnen wenigen Minuten kreideweiß. Nach allen Seiten hin war nichts weiter zu sehen als Wasser und Hagelwolken, keine Spur vom Ufer und von den Bergen. Wir mußten der Wellen wegen, die der anschwellende Wind zu bedeutender Höhe aufpeitschte, scharf aufpassen; da sie aber mehrere Male so lang waren wie das Boot, wurden wir gut mit ihnen fertig. Die Jolle wurde wacker nach Südosten getragen, und der Schaum spritzte um den Vordersteven. Unmittelbar südlich von den Felsen hatte die Tiefe 48,67 Meter betragen, die größte von mir in Tibet gemessene, nach dem Südufer zu aber nahm[S. 347] sie schnell ab. Je weiter wir uns von diesen Felsen entfernten, desto mehr waren wir dem Sturme ausgesetzt, und ich fürchtete, daß der See so flach werden würde, daß unser Fahrzeug wie eine Nußschale von der Brandung umhergeworfen werden könnte.

Nachdem der Hagelschauer aufgehört hatte, tobte der Wind noch ärger; aber jetzt konnten wir wenigstens sehen, wo das Land lag (Abb. 141, 142). Wir hatten noch nicht den halben Weg zurückgelegt und steuerten nach einer Landspitze hin, hinter der wir im Windschutz sein würden. Die Wellen waren jetzt so hoch, daß wir das Ufer nicht sehen konnten, wenn wir uns in ihren Tälern befanden. Sie sahen unheimlich aus und waren, wenn die Sonne aus den Sturmwolken hervortrat, blank wie Delphinrücken und glänzten bald grün, bald blau, während die Sonnenstrahlen den spritzenden Schaum wie Juwelen funkeln ließen. Der Segeltuchrumpf der Jolle bauchte sich bei dem Stampfen aus; er war so gespannt, daß ein heftiger Seitenstoß ihn hätte sprengen können, und wir mußten das Boot jetzt mit beiden Rudern manövrieren und die Stöße parieren. Doch auch diesmal lief alles glücklich ab. Der Sturm ging vorüber, der Wind legte sich, die Einzelheiten des Ufers ließen sich erkennen, und wir änderten den Kurs, indem wir ihn jetzt gerade auf das Lager richteten. Der Sonnenuntergang war prachtvoll. Die Sonne selbst versteckte sich hinter einer kohlschwarzen Wolke, ihre reflektierten Strahlen aber glänzten wie Quecksilber auf der Oberfläche des Sees.

Wir hatten uns jetzt so weit von Turdu Bais Lager entfernt, daß wir an den Rückzug denken mußten. Nach meinem Besteck konnten wir nicht mehr weit von den Quellen des Jang-tse-kiang sein, und ich hatte den Gedanken an einen Versuch, sie zu finden, noch nicht gänzlich aufgegeben. Daß die drei großen Seen, die wir in dieser Gegend entdeckt hatten, mit ihnen nichts zu schaffen haben, war klar; diese Seen bilden ein abflußloses Becken für sich. Ganz sicher war ich meiner Sache jedoch noch nicht und ich beschloß daher, den 2. September einer Exkursion nach Süden zu opfern. Diese führten uns über wellenförmige Ebenen mit spärlichem Graswuchs und morastigem Boden, und nach einer Wanderung von 27 Kilometer machten wir am Ufer eines Flusses Halt, der sich in den nächsten See, einen südöstlich von den vorhergehenden liegenden kleinen Salztümpel, ergießt.

Weiter konnten wir mit unseren abgetriebenen Pferden und unseren zusammenschmelzenden Vorräten nicht gehen, sondern mußten am folgenden Tage wieder nach Westen ziehen, wobei wir in dem tückischen Boden beinahe steckengeblieben wären. Die Pferde sanken bisweilen 60 Zentimeter tief ein. Ein mächtiger, von den Bergen im Süden kommender Fluß[S. 348] strömte nach Norden, nach dem von uns übersegelten See hin; sein Bett bot uns guten, festen Boden zum Reiten dar.

Diese Gegend ist außerordentlich reich an Wild. Von Orongoantilopen sahen wir ein halbes Dutzend Herden von etwa je 20 Tieren; Yake und Kulane traten einzeln oder in kleinen Gruppen von ein paar Tieren auf; Feldmäuse, Murmeltiere und Hasen gab es überall, und am Seeufer schrien Gänse und Möwen. Die Karawane ritt in zwei Gruppen, zwischen denen eine Lücke von 50 Meter war. Gerade durch diese Lücke jagte Jolldasch drei Kulane, die in schmetterndem Trab vorbeisausten. Kaum war ich mit meinem kleinen photographischen Apparate in Ordnung, so waren sie schon fort. Eine Weile darauf verschwand der Hund, einer Orongoherde auf den Fersen folgend, und als er nach langer Abwesenheit wieder erschien, war er mit Blut befleckt und augenscheinlich übersatt. Es war ihm gewiß gelungen, eine der Antilopen zu erwischen, und er hatte an ihr eine ordentliche Mahlzeit gehalten. Auch Wölfe und Füchse streiften auf den Ebenen, die sich im Süden des Sees ausdehnen, umher.

Es war meine Absicht gewesen, am Tage darauf nach Norden über den See zu rudern, um eine neue Lotungslinie zu erhalten, aber wir erwachten unter höchst ungewöhnlichen Witterungsverhältnissen. Der Himmel war ganz klar, die Sonne schien in all ihrem Glanze, dabei aber wehte ein halber Sturm aus Norden, und die Wogen rauschten gegen das langsam abfallende Ufer. Aus einer Seefahrt konnte demnach nichts werden. Wir ritten daher westwärts weiter, immer am Ufer entlang, das hier so weich ist wie ein großes Moorbad, ein Schlammpfuhl, ein abscheulicher Sumpf, worin man bei jedem Schritt Gefahr läuft zu versinken. Ein seltsames, unwirtliches Land! Sogar die Erde scheint gleich der Luft verdünnt zu sein, ja selbst die Berge sind porös wie Bimsstein. Alles ist in einer Art Auflösungszustand; auf das Wetter ist hier gar kein Verlaß, und es ist lebensgefährlich, sich den Seen anzuvertrauen.

An einigen Stellen trägt der Boden, geht aber in Wogen und schwankt unter dem Gewichte der Pferde. Endlich nimmt der See ein Ende, und sein Wasser ergießt sich durch einen breiten, ziemlich großen Flußarm in den unteren süßen See. Hier hatten sich Hunderte von Wildgänsen niedergelassen, die in kurzen Kreisen ihre neugefiederten Flügel erprobten und sich zu der bevorstehenden Reise nach wärmeren Himmelstrichen vorbereiteten. Ein einsamer Königsadler beobachtete sie.

In der Nähe des Punktes, wo der Fluß in den unteren See mündet, wurde das Lager Nr. 62 aufgeschlagen. Von hier aus konnten wir von dem Hauptquartiere, wo Turdu Bai wartete, nicht mehr als eine Tagereise längs des südlichen Seeufers entfernt sein. Während Mollah Schah und[S. 349] Tscherdon zu Land weiterzogen, fuhr ich mit meinem sicheren Ruderer Kutschuk diagonal über den See. Ich trat die Fahrt im herrlichsten Wetter bei günstigem östlichem Winde an. Der Wind wurde stärker, schlug nach einer Weile aber wieder um. Die gewöhnlichen Vorboten des Sturmes, die schwarzen Wolken, verdunkelten den Himmel im Westen. Sie teilten sich in zwei Abteilungen. Die eine zog über die Berge im Süden hin und ließ eine weiße Schneedecke hinter sich zurück, die andere eilte uns über den See entgegen. Wieder erhoben sich die unruhigen Wellen, denen hier nie Ruhe gegönnt ist. Das Klügste wäre gewesen, mit dem Sturme zu treiben; aber dann hätten wir uns von den Unseren entfernt, die uns vom Nordufer, von welchem sie der breite Sund trennte, nicht hätten abholen können.

Wir beschlossen, mit Aufbietung aller unserer Kräfte gegen Wind und Wellen anzurudern. Schon stampfte das Boot greulich, und ich, der vorn saß, nahm das Spritzwasser jeder hohen Welle in Empfang und war bald klatschnaß (Abb. 143). Ein Gußregen tat das Seine, um die Situation noch unbehaglicher zu machen. Wir arbeiteten mit je einem Ruder, daß diese knackten, aber die Wellen warfen uns immer wieder zurück. Das Boot schwebt auf einem Wogenkamme oft zur Hälfte über dem Wasser und plumpst dann in das Tal mit einem Knalle hinunter, der leicht ein Sprengen des schwachen Fahrzeuges verursachen könnte.

Jetzt trat ein neuer, unheilvoller Umschlag in der Windrichtung ein; der Wind sprang mit ungeheurer Geschwindigkeit nach Süden um, so daß ein neues Wogensystem, welches das bisherige kreuzte, entstand. An den Kreuzungspunkten bilden sich Wellenpyramiden von doppelter Höhe. Es gilt ihnen entgegenzutreten, sie zu parieren und möglichst auf den verhältnismäßig ebenen Wasserflächen zwischen ihnen zu bleiben. Doch ehe man sich besinnen kann, wird die Jolle auf einen Wellenkamm gehoben, und balanciert man dann nicht, so kann man leicht kentern. Lotungen konnten nicht mehr vorgenommen werden. Man darf sich freuen, wenn man von diesem Abenteuer mit dem Leben davonkommt, und wir fragen uns unwillkürlich, ob diese oder die nächste Welle unser Boot umreißen wird.

So arbeiteten wir anderthalb Stunden, ehe sich die Sturmbö und mit ihr auch die Wellen legten. Doch der Himmel sah noch immer unheilverkündend aus. Überall sah man Sturmzentren, die Tromben mit schwarzen, hängenden Wolkendraperien glichen. Das Ufer schien noch immer gleichweit entfernt, als die zweite Bö kam und uns mit Massen von Schnee und Hagelkörnern, die uns gerade ins Gesicht schlugen, überschüttete. Man mußte den Kampf aufnehmen, denn ein unvorsichtiger Augenblick des Erschlaffens konnte bewirken, daß eine Welle die Gelegenheit benutzte[S. 350] und das Boot umkehrte. Den ganzen Tag arbeiten wir wie Galeerensklaven.

Während der Pause, die jetzt eintrat, beeilten wir uns Terrain zu gewinnen, denn der Himmel verfinsterte sich zum dritten Male, und die dritte Sturmbö sauste mit strömendem Regen auf uns los. War das Innere des Bootes vorher kreideweiß von Schnee und Hagel gewesen, so stand jetzt in beiden Hälften Wasser, das mit den Wellen im Takte plätscherte.

Nach achtstündiger angestrengter Arbeit erreichten wir endlich das Ufer; es war ein schönes Gefühl, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Von einem Hügel sah ich Mollah Schah, der uns an einer Landspitze mit vier Pferden erwartete. Wir steuerten dorthin und hielten zur Messung der Wassermengen in dem Sunde an, den wir vor einer Woche passiert hatten. Die Breite und die Tiefen wurden gemessen, aber nur drei Geschwindigkeiten konnten bestimmt werden, als die vierte Sturmbö kam. Obgleich die Sonne noch über dem Horizont stand, wurde es so dunkel wie bei Nacht, und nur zackige Blitze erhellten das unheimliche Chaos. Nur mit Aufbietung der äußersten Kräfte konnten wir über den 60 Meter breiten Sund hinüberkommen. Es war ein gründlicher Abschiedsgruß des entfliehenden Sturmtages. Wir hatten wirklich genug davon. Segel, Mast, Ruder und Rettungsbojen wurden am Ufer unter das umgekehrte Boot gelegt, ich verteilte die Instrumente unter uns, dann stiegen wir zu Pferd und trabten langsam nach Hause.

Das Reiten war gar zu schön nach all der anstrengenden Ruderarbeit. Jetzt glänzte der Mond zwischen zerrissenen Wolken hervor, und sein Licht vermischte sich in phantastischer Weise mit den zuckenden Blitzen, die einander unaufhörlich ablösten.

Ganz erschöpft kamen wir endlich in unseren kalten Hütten an, wo alles gut stand. Aldat hatte vier Orongoantilopen geschossen; wir hatten daher Proviant für ein paar Wochen. Die Kamele und die abgetriebenen Pferde waren fetter geworden und hatten sich ausruhen können. Doch der Sturm jagte noch immer über die Erde hin, als wir uns in Morpheus’ Arme warfen.

Der 6. September, an dem wir im Hauptquartier verweilten, hatte beinahe den Charakter eines Winterabends. Kein Schimmer war von der Sonne zu sehen, und die Hagelschauer folgten dicht aufeinander. Ich beschäftigte mich mit den Ergebnissen der Exkursion, Tscherdon und Kutschuk gingen auf ziemlich erfolgreichen Fischfang aus, und die anderen präparierten Orongoskelette. Eine der vier Antilopen hatte, schwer verwundet, die Flucht ergriffen und Aldat hatte sie verloren gegeben, Turdu Bai aber verfolgte[S. 351] die Spur und fand das Tier tot an einem Tümpel liegen, bewacht von einem Adler, der schon ein paarmal in die von der Kugel verursachte Wunde gehackt hatte. Er wurde jetzt eine leichte Beute.

Vielleicht erwähne ich in dieser Reisebeschreibung viel zu oft solcher Dinge und Verhältnisse, die dem Leser als reine Bagatellen erscheinen mögen; es geschieht jedoch, um ihm einen Begriff zu geben von dem Leben, das der einsame Wanderer in diesen öden, unbewohnten Gegenden führt. Aneinandergereiht können sie ein vollständiges Bild liefern von dem Verlaufe der Tage durch Monate und Jahre hindurch in dem kleinen Gemeinwesen, das unsere Welt ausmachte. Letztere ist nicht groß und sie lebt unter einförmigen Verhältnissen; dieselben Beschäftigungen kehren regelmäßig mit dem Glockenschlage wieder, und nur das Land, das wir durchwandern, hält mit seinen beständigen Veränderungen das Interesse wach.

Mit der Wahl meiner Diener hatte ich allen Grund zufrieden zu sein. Turdu Bai sorgt mit stoischer Ruhe für die Kamele, als wären es seine eigenen Kinder. Tscherdon ist ordentlich, pünktlich und aufgeweckt und überdies ein sehr komischer Geselle mit seiner eigenen kleinen Philosophie. Mollah Schah pflegt die Pferde tadellos, ist aber ein bißchen wortkarg, brummig und verschlossen. Während des Marsches wird die halbe Pferdekarawane von Kutschuk geführt, der, wenig über zwanzig Jahre alt, ein Riese ist, stets heiter und zufrieden, besonders wenn er auf dem Wasser sein kann, denn seit seiner Kindheit hat er die Ruder geführt. Ohne Aldat wäre unsere Lage jetzt recht besorgniserregend gewesen. Er hat uns mit frischem Fleische versorgt und läuft stets hinter Wildbret her. Sowohl im Lager wie auf dem Marsche mag er am liebsten allein sein, und er redet nur wenig. Nias verrichtet die gröberen Arbeiten, trägt Wasser, wenn wir lagern, sammelt Feuerung, treibt morgens die Tiere ein und hilft beim Beladen.

Am besten haben es die Hunde; sie erhalten frisches Fleisch im Überfluß und haben weiter nichts zu tun, als Wache zu halten; bellen sie einmal des Nachts, so gilt es nur Yaken, Kulanen oder unseren eigenen Tieren. Sie spielen mit dem letzten Schafe, das zu schlachten keiner übers Herz bringen kann; treu zu den Kamelen haltend, weidet es mit ihnen und ruht nachts zwischen ihren wärmenden Leibern.

Das Lager Nr. 43 wurde ein Wendepunkt. Weiter südlich konnten wir nicht gehen, da unsere Vorräte nur für 2½ Monate berechnet und wir schon 1½ Monate unterwegs waren. Reis hatten wir noch genug, aber mit dem Mehl mußte mit der größten Sparsamkeit umgegangen werden. Es war davon zuviel draufgegangen, als wir versuchten, das Kamel, welches starb, zu retten. Der Winter würde nicht lange auf sich[S. 352] warten lassen, und wir mußten daher in einem großen westnordöstlichen Bogen nach dem Hauptlager im Tschimentale eilen.

Ich wollte, bevor wir diesen Teil von Tibet verließen, noch eine der latitudinalen Bergketten, die in einem im Südwesten sich erhebenden gewaltigen Bergmassiv mit ewigem Schnee kulminierte, überschreiten. Im Lager Nr. 44 (4888 Meter) beschlossen wir also, die Karawane zu teilen. Turdu Bai sollte mit dem größeren Teile nach Westsüdwest durch das sich in dieser Richtung öffnende Längental ziehen. Er hatte Befehl, uns auf offenem Lande unmittelbar nordwestlich von dem Bergmassive, um dessen Südseite ich herumgehen wollte, zu erwarten. An dieser Exkursion, deren mutmaßliche Dauer auf vier Tage berechnet war, sollten Tscherdon und Aldat teilnehmen. Wir hatten nur sechs Pferde, die kleinen provisorischen Jurten, Proviant für eine Woche und Feuerung für zwei Tage. Ich würde mich mittelst meines Besteckes und des Kompasses schon zurechtfinden, aber von dem Gesichtspunkte aus, daß sich die Muselmänner verirren konnten, war das Ganze doch etwas abenteuerlich. Indessen mußten die Spuren der einen Gesellschaft doch immer der anderen als Leitschnur dienen, und gab es in der zum Sammelplatze ausersehenen Gegend gar keine Spuren, so sollte die zuerst angelangte Gesellschaft dort warten. Für den Fall aber, daß alle Spuren durch Schnee oder Regen bald verwischt werden würden, sollte Turdu Bai, wenn wir nach einer Woche noch nichts von uns hören ließen, alle Nachforschungen aufgeben und sich nach Norden nach dem großen Hauptquartiere durchzuschlagen suchen. Ihr Proviant reichte im Notfalle aus, und was uns betraf, so würde uns Aldat wohl mit Fleisch versorgen können.

Am 8. September brachen die beiden Abteilungen gleichzeitig aus dem Lager Nr. 44 auf. Nachdem wir den Fluß, der vor einigen Tagen unseren Marsch nach Süden gehemmt hatte, in seinem oberen Laufe überschritten hatten, gingen unsere Wege auseinander. Wir eilten nach Südsüdwesten. Nach einem mehrstündigen schnellen Ritt gelangten wir an eine Hügelreihe, der Quellen entsprangen, die kleine Becken kristallhellen Wassers bildeten und von niedrigem, dichtem, intensiv grünem Grase von der Weichheit eines indischen Rasens umgeben waren. Da nach Süden hin keine Weide zu erblicken war und wir in der Nähe der Quellen reichliche Feuerung fanden, weil Yake und Kulane sie zu besuchen pflegten, blieben wir dort in einer Meereshöhe von 4973 Meter.

Während des Rittes hatten wir Gesellschaft von ein paar großen, ganz hellgelben Wölfen, die uns mit gespannter Aufmerksamkeit beobachteten. Jolldasch, der sie in die Flucht jagen wollte, mußte an die Leine genommen werden; er wäre ihnen ein willkommener Bissen gewesen. Das[S. 353] Wetter war natürlich abscheulich. Es war der achtzehnte Tag mit Schnee- und Hagelsturm aus Westen; die Nacht aber war wie gewöhnlich windstill und sternklar.

154. Unser Lager in Togri-sai am 8. Oktober. (S. 370.)
155. Die Kamelkarawane. (S. 372.)
156. Das Illwe-tschimen-Gebirge aus dem Tschimental. (S. 374.)
157. Obo beim Lager Nr. 71 im untern Togri-sai. (S. 373.)

GRÖSSERES BILD

Auch am 9. ritten wir bei starkem Wind nach Südwesten. Es geht bergauf und bergab über eine Menge Hügel. Wir nähern uns immer höheren Regionen. Ein aus lauter Moor bestehender Ausläufer mußte umgangen werden, bevor wir wieder nach Westen abschwenkten und das Schneemassiv vor uns hatten. Steifgefroren und abgespannt lagerten wir auf dem letzten Grasplatz.

Als das Lager fertig war, meldete Aldat, daß ein großer Yak in der Nähe weide, und bat, auf die Jagd gehen zu dürfen, was erlaubt wurde. Ich beobachtete ihn, wie er katzengleich in den Bodensenkungen hinschlich, um auf genügende Treffweite an das nichts Böses ahnende Tier heranzukommen. Er hatte dem starken Gegenwinde zu danken, daß er sich dem Yak bis auf 30 Schritt nähern und die Flinte auf die Gabel legen konnte. Der Schuß krachte, und der Yak machte einen Satz, daß der Sand hoch aufwirbelte, lief dann noch ein paar Schritte, blieb stehen, taumelte, versuchte sich im Gleichgewicht zu halten, fiel, stand wieder auf und wiederholte diese Bewegungen mehrere Male, bis er schließlich wie ein Klotz auf die Erde fiel und liegenblieb. Aldat lag noch, unbeweglich wie eine Statue, hinter seiner Flinte, um nicht die Aufmerksamkeit des sterbenden Tieres zu erwecken.

Tscherdon und ich begaben uns nun dorthin. Alle drei bis vier Schritte bleibt man stehen und hat das Gefühl, als müsse man in dieser ungeheuer verdünnten Luft von der Anstrengung sofort einen Herzschlag bekommen. Der gefallene Yak war ein großer fünfzehnjähriger Stier. Die Messer wurden hervorgeholt, der Kopf vom Rumpfe getrennt und die Eingeweide herausgenommen; dann blieb das Tier bis zum nächsten Morgen liegen, da das uns besonders nötige Fett erst dann geholt werden sollte. Betrübten Herzens mußte Aldat das prächtige Fell zurücklassen, das ihm in Tschertschen eine hübsche Summe eingebracht hätte, aber wir hatten nur drei Lastpferde, und ich versprach ihm, seinen Meisterschuß zum vollen Werte zu bezahlen.

Der 10. September war ein harter Tag. Vor Sonnenaufgang trieb Aldat die Pferde ein, die sich bis weit ins Tal hinunter verirrt hatten; dann ging er wieder fort, um das Fett und den Yakkopf in das Lager zu holen. Der Westwind, unser schlimmster Feind, verschlief sich und stellte sich erst um 9 Uhr ein; er entschädigte sich aber für den Zeitverlust, denn so arg hatte er selten getobt. Das Lager lag auch sehr offen und in einer Höhe von 5143 Meter, so daß der Wind in den hohen Regionen freien[S. 354] Spielraum hatte. Im Westen zeigte sich der auf der Südseite des Schneegebirgsstockes liegende Paß, über den wir hinüber sollten. Man bebte zurück vor dieser unheimlichen Schwelle, deren Höhe bedeutend sein mußte. Gefährlich sah der Paß jedoch nicht aus.

Da Aldat noch immer nicht kam, schickte ich Tscherdon aus, um tragen zu helfen. Erst um 11 Uhr kehrten sie zurück. Tscherdon hatte den jungen Jäger krank neben seinem Opfer liegend gefunden, außerstande, seine Arbeit fortzusetzen. Der Kosak half ihm nach dem Lager zurück und brachte einen Teil des Yakfettes mit. Der arme Jäger sah wirklich sehr angegriffen aus und hatte heftiges Kopfweh und Nasenbluten. Er mußte sich ruhig verhalten, während ich und Tscherdon das Zelt abbrachen und unsere Tiere beluden.

Die Erde war bei −6 Grad Kälte gefroren; in der vorhergehenden Nacht hatten wir sogar −10,7 Grad gehabt; dies waren deutliche Anzeichen des Winters. Aldat war so schwach, daß er ohne Hilfe nicht in den Sattel kommen konnte; schließlich aber waren wir mit allem in Ordnung und konnten uns auf den Weg nach dem abscheulichen Passe machen. Rechts von uns defilierten alle bisher aus der Ferne erblickten Schneegipfel vorbei, jetzt aber in unserer unmittelbaren Nähe. Als die Sonne kräftiger wurde, taute der Boden wieder auf, und wir mußten mühsam durch den Schlamm patschen. Stundenlang ging es bergauf; wir glaubten unaufhörlich, den Paß dicht vor uns zu haben, aber immer wieder war er in die Ferne gerückt. Neue Höhen, neue kleine Schwellen erheben sich vor uns; wir überschreiten sie und müssen dann sehen, daß die Aussicht nach Westen schon wieder von einer neuen Höhe verdeckt wird.

Die Pferde sinken in den Schlamm ein. Der lockere Boden ist mit Schieferplatten bedeckt; die armen Tiere gleiten auf ihnen aus, geraten in den Schlamm daneben und verletzen sich die Beine an den scharfen Kanten. Im Schutze eines großen Felsblockes rasten wir eine Viertelstunde, um unsere steifgewordenen Glieder wieder geschmeidig zu machen. Etwa 10–20 Meter nördlich von unserem Wege enden zwei scharfabgeschnittene Gletscherzungen. An ihnen entlang gingen ebenso langsam wie wir zwei Yake. Jolldasch lief hin und bellte sich heiser, aber sie schenkten ihm nicht die geringste Aufmerksamkeit. Manchmal blieben sie stehen und betrachteten uns, hielten uns aber sichtlich für ungefährlich. Diese großen Tiere bewegten sich auf diesem Moorboden und in dieser dünnen Luft mit beneidenswerter Leichtigkeit und Gewandtheit. Auf dem Passe zeigten die Aneroide eine Höhe von 5426 Meter; man hat dort genau die halbe Höhe der Atmosphäre unter sich!

Das Thermometer stieg an diesem Tage nicht einen halben Grad über Null, und der Wind drang uns durch Mark und Bein; Pelze und Lederwesten[S. 355] nützten gar nichts. Könnte man gehen, so wäre es leicht, die Körperwärme wieder zu erhalten, aber man kann nicht gehen, man hockt auf den vorwärtstaumelnden Pferden und sehnt sich nach einem leidlichen Lagerplatze. Der einzige Trost, den wir hatten, war, daß es wieder bergab ging, nachdem wir den Paß endlich erreicht hatten. In einer Höhe von 5263 Meter, 450 Meter über dem Gipfel des Montblanc, lagerten wir in einem vom Passe nach Südwest führenden Tale. Dort wuchsen einige erbärmliche Grashalme, und wir hatten nur noch eine Handvoll Feuerung. Aldat konnte nicht auf den Beinen stehen; er mußte an der Stelle, wo er vom Pferde heruntersank, bleiben und wurde sofort in Filzdecken eingepackt; wir konnten ihn nicht einmal dazu bewegen, ein wenig heißen Tee zu trinken, und er stöhnte die ganze Nacht.

Am folgenden Morgen erschien im Südwesten ein neues Schneemassiv und in seiner Südostverlängerung ein ganzer Kamm von schneebedeckten Bergen, gewiß die Tang-la-Kette. Von Osten nach Westen erstreckt sich ein Haupttal, in welches alle Flüsse und Bäche der Gegend einmünden. Um nicht alle ihre Täler überschreiten zu müssen, beschlossen wir, in dieses Längental hinunterzugehen. In der Nähe des Bergfußes erhob sich ein kleiner isolierter Hügel, auf dem Tscherdons scharfe Augen einige dunkle Punkte entdeckten, die er für Menschen oder Yake hielt. Wir machten Halt und beobachteten sie mit dem Fernglase. Etwas war es, denn sie bewegten sich, aber der eine Punkt schien unförmlich groß; vielleicht war es eine Yakkuh mit ihren Kälbern.

Angeregt von diesem Anblick schlugen wir die Richtung nach dem Hügel ein. Der arme Aldat befand sich jetzt so schlecht, daß er festgebunden werden mußte, um nicht herunterzufallen. Er redete unzusammenhängende Worte, schien zu phantasieren und bat unaufhörlich, wir sollten ihn zurücklassen. Als wir weiter unten am Abhange waren, konnten wir in den schwarzen Punkten zwei Männer erkennen, die Steine zu einer Pyramide sammelten. Noch ein bißchen weiter und wir sahen, daß die beiden Männer unsere Freunde Turdu Bai und Kutschuk waren, die sich am Abend vorher hierher begeben hatten, um nach uns auszuspähen. Da sie keine Spuren von uns hatten finden können, hatten sie beschlossen, in ihr Lager zurückzukehren, vorher aber noch ein Wahrzeichen für uns zu errichten. Für eine künftige Expedition wird die Pyramide, die über zwei Meter hoch ist, ein gutes Merkmal und ein leicht wiederzuerkennendes Zeichen sein.

Nach einem sehr notwendigen Ruhetage im Lager Nr. 48 (5073 Meter) zogen wir am 13. September nach Westen weiter (Abb. 144). Es war nicht unsere Absicht, einen Kranken den Strapazen der Reise auszusetzen, aber unsere knappen Vorräte erlaubten uns nicht, noch länger zu[S. 356] verweilen. Aldat hatte die ganze Nacht phantasiert, gestöhnt und Lieder in persischer Sprache gesungen. Die Behandlung, die ich für geeignet gehalten hatte, wirkte nicht. Er hatte die Herrschaft über seinen Körper und seinen Geist verloren, verfiel sichtlich und starrte mit wirrem Blicke ins Leere. Während des Marsches lag er auf einem Bett, das ihm auf einem Kamel zwischen ein paar Säcken zurechtgemacht worden war. Er hatte ein Kopfkissen, war mit Filzdecken zugedeckt und mußte festgebunden werden, um nicht herunterzugleiten (Abb. 145).

In dem Längentale gingen wir über eine niedrige Schwelle (5107 Meter) und folgten dann einem Bett, dessen Boden aus Sand bestand; es war ein vortrefflicher Untergrund, der die Tiere trug. Vor uns ging in aller Gemächlichkeit ein Yakstier, dessen schwarzer Fransenbehang die Erde berührte und der wie ein mit einer Trauerdecke versehenes Turnierroß aussah. Jolldasch lief ihm nach und zupfte ihn an den hinteren Zotteln. Der Yak drehte sich um, richtete den Schwanz in die Höhe und senkte die Hörner zum Angriff, worauf Jolldasch auskniff, um das Spiel nach einer Weile wiederzubeginnen. Eine Herde von 20 Archaris oder wilden Schafen verschwand wie der Wind, als Tscherdon mit Aldats Flinte sie zu beschleichen versuchte.

Das Tal, dem wir gefolgt waren, mündete in eine Ebene, in der wir an dem ersten Süßwassertümpel (4903 Meter) lagerten.

Von nun an wurde meine Jurte sowohl abends wie morgens geheizt. Der Deckel des großen Eisentopfes oder, wenn dieser gebraucht wurde, meine Waschschüssel wurde mit glühenden Kohlen auf einem Bett von Asche in die Jurte gestellt; dies war bei dem ewigen Winde, der über das Hochland hinstrich, wirklich notwendig.

Am 14. September konnten wir infolge des vorteilhaften, wenig kupierten Terrains volle 30 Kilometer zurücklegen. Die Landschaft wird durch zahllose kleine Salztümpel charakterisiert, von denen jeder das Zentrum eines ganz kleinen abflußlosen, sehr oft auch keinen sichtbaren Zufluß erhaltenden Beckens bildet. Wir suchten lange nach süßem Wasser und blieben bei einer kleinen Quelle, die mit spärlichem Graswuchs umgeben war. Das Wetter war zu Anfang des Tages herrlich gewesen, nachmittags aber kamen die gewöhnlichen Stürme, jetzt der Abwechslung halber von Osten. Es hagelte und gewitterte. Gerade als wir lagerten (4890 Meter), begann ein ärgeres Schneetreiben, als wir es je erlebt hatten. Das kurze Gras war bald unter dem Schnee begraben. Auf der Windseite meiner Jurte türmte sich eine ganze Düne von Schnee auf. Es war nicht leicht, um 9 Uhr die gewöhnliche meteorologische Ablesung auszuführen, denn es war so dunkel wie in einem Sacke, und man wurde in kompakte Wolken[S. 357] von wirbelndem Schnee gehüllt. Die Ablesungslaterne ist invalid geworden, denn drei ihrer Glasscheiben sind durch Pappe ersetzt, und die vierte ist in zwanzig Stücke zersprungen, die durch Papierstreifen und Syndetikon zusammengehalten werden. Der Schnee knirscht unter unseren Füßen, und man braucht sich nur ein paar Minuten im Freien aufzuhalten, um einem Schneemanne zu gleichen. Das Zelt der Leute schlägt und knallt im Winde; ich kann daraus entnehmen, wo es steht, denn obwohl es nur ein paar Meter entfernt ist, kann ich es im Schneegestöber nicht sehen. Man kann sich indessen noch freuen, daß man sich bei solchem Wetter unter Dach befindet, während die armen Tiere müde und frierend, die Schwänze gegen den Wind gekehrt, draußen stehen müssen. Es ist unheimlich in einem Lande, das nichts weiter als Wasser bietet, eingeschneit zu werden. Die Aussichten für die Zukunft sind auch nicht gut; all dieser Schnee kann schmelzen und den Boden in einen Schlammpfuhl verwandeln. Schon um 9 Uhr abends war die Temperatur auf −2,1 Grad heruntergegangen, nachdem wir um 1 Uhr +11 Grad gehabt hatten. Wir waren jetzt jedoch so von Schnee umgeben, daß sowohl das Zelt wie die Jurte die Nacht über warm gehalten wurden.

Die Stimmung wurde durch den Zustand des armen Aldat noch gedrückter. Er war von einer schweren Krankheit befallen, auf die ich mich nicht verstand. Er klagte über Schmerzen im Herzen und im Kopfe, und seine Füße waren kalt und hart wie Eis und sahen schwarz aus. Ich rieb sie tüchtig, um das Blut in Umlauf zu bringen, aber ohne Erfolg. Sie waren wie tot, und man konnte mit einer Stecknadel hineinstechen, ohne daß er es fühlte. Dieser Zustand schritt nach und nach immer höher an den Beinen hinauf. Spät am Abend gab ich ihm ein warmes Fußbad, das ihm gut zu bekommen schien. Merkwürdig kam es uns jedoch vor, daß er sozusagen verrückt geworden war. Während der Märsche schwatzte er ununterbrochen und rief seinem Kamele zu, es solle sich legen, und noch eine gute Weile, nachdem er im Zelte in sein Bett gelegt worden war, bat er die andern in der herzbewegendsten Weise, doch das Kamel halten zu lassen. Mollah Schah, der ihn von Tschertschen her kannte, erzählte uns, daß er früher verrückt gewesen, aber von einem gewissen Abdurrahman Chodscha, einem Ischan (Arzt), geheilt worden sei, welch letzterer in das Haus von Aldats Eltern gekommen sei, dort Gebetformeln über diesen gesprochen und ihn mit Koranversen beschriebene Papierzettel habe verschlucken lassen. Es war herzzerreißend, diesen vierundzwanzigjährigen, vor kurzem noch so kräftigen Mann in seinen Fieberphantasien von seinem Vater und seinen Brüdern in Tschertschen sprechen zu hören. Jetzt wurde nachts stets bei ihm Wache gehalten, und wir taten alles,[S. 358] um ihn zu retten. Doch dazu ist nicht viel Aussicht vorhanden, wenn man einen Sterbenden durch eisige Schneestürme und über himmelhohe Berge schleppen muß!

Von Hunger getrieben gingen die Pferde über Nacht auf Grasentdeckungsreisen aus, und es dauerte am Morgen ziemlich lange, bis wir sie wieder alle hatten. Jetzt schien die Sonne warm auf die 30 Zentimeter dicke Schneedecke, die durch ihre glänzend reine Weiße blendete. Der Tag wurde jedoch kalt und rauh, denn ein häßlicher Westwind wehte über die Schneefelder hin. Wenn er gelegentlich aussetzte, war es richtig heiß in der Sonne, aber schon nach ein paar Minuten waren wir wieder mitten im Schneegestöber. Dieses dauert zwar nie lange, und die Sonne tritt bald wieder aus den Wolken hervor, aber der Wind macht kalt. Es ist Winter und Sommer in brüderlicher Vereinigung, ein charakteristisch tibetisches Wetter.

Wir hielten jetzt konsequent nordwestliche Richtung ein und brauchten daher keine mächtigen Bergketten zu überschreiten. Das Land war nach dieser Seite ziemlich offen. Die Temperatur blieb den ganzen Tag unter Null, und der gefrorene Boden trug. Aber der Schnee verbarg die unglaublich dicht nebeneinanderliegenden Murmeltierlöcher, in welche die Pferde oft traten und dann fielen. Unsere Marschregel lautete jetzt: drei Tage Wanderung, den vierten Rast. Der 16. September, ein Sonntag, war solch ein herrlicher Ruhetag mit gutem Wetter (in 4997 Meter Höhe). Tscherdon hatte vorsorglich einige Patronen aufgespart, gab sie nun aber für einen jungen Yak hin, der uns einen großen Sack voll prächtigen Fleisches einbrachte; gut schmeckt es nicht, aber man ist wenig wählerisch, wenn einem nichts anderes geboten wird. Er schoß auch einen jungen Wolf, der es augenscheinlich auf unser letztes Schaf abgesehen hatte. Der Kadaver wurde eine willkommene Speise für einige Raben, die unsere immer müder werdende Karawane seit einigen Tagen begleiteten; vielleicht ahnten sie, daß es nicht mehr lange dauern konnte, bis jemand zurückgelassen werden würde.

Abends bat Aldat, die Nacht im Freien zwischen zwei Kamelen zubringen zu dürfen. Die Muselmänner glauben nämlich, daß die von diesen Tieren ausströmende Körperwärme einen Kranken, dessen Kräfte im Abnehmen begriffen sind, zu heilen und zu stärken vermag. Er wurde gut eingepackt in den Kreis gelegt, und Mollah Schah und Nias leisteten ihm Gesellschaft.

Am 17. September wurde ich frühmorgens durch einen entsetzlichen Lärm im Lager geweckt; die Hunde bellten, daß ihnen der Atem ausging, und die Männer überschrien sich förmlich. Ich guckte hinaus und sah[S. 359] kaum 50 Schritt vom Zelte einen großen Bären forttraben. Aus den Spuren im Schnee erkannten wir, daß er das Lager gründlich besichtigt und eine Runde um meine Jurte gemacht hatte. Als die Hunde anschlugen, hatte er es für gut befunden, den Rückzug anzutreten.

Das Wetter war jetzt gut, aber das Terrain geradezu abscheulich. Die kupierte Landschaft scheint mit kantigen, unangenehmen Tuffstücken in allen Größen bedeckt zu sein. Nicht ein Quadratfuß ist frei davon. Und gibt es eine kleine freie Stelle, so haben Feldmäuse und Murmeltiere sie benutzt, um dort ihre tückischen Höhlen zu graben. Unsere Tiere stolperten unausgesetzt gegen die spitzen Steine, und zwei von den Kamelen verletzten sich die Fußsohlen derartig, daß sie bluteten.

Dann folgte eine Strecke losen Bodens, der am Vormittag an der Oberfläche noch so fest gefroren war, daß die dünne Kruste die schweren Kamele trug. Doch allmählich taut diese obere Schicht auf, und dann gehen wir wie auf schwachem Eise. An einer Stelle waren die fünf Kamele in allerschönster Ruhe eben darüber hinweggeschritten, als das sechste, das letzte, mit beiden Vorderfüßen durchtrat. Es saß im Schlamme fest und sank immer tiefer hinein (Abb. 146). Die anderen gingen weiter, der Nasenstrick riß, und das Kamel brüllte vor Schmerz. Wir eilten herbei und nahmen ihm die Last ab. Dabei fiel es auf die Seite; der Boden wurde immer weicher, und schließlich schwamm es im Schlamme wie ein Stück Butter in einer Breischüssel. Wir banden Stricke um seine Beine, um sie nacheinander herauszuziehen, aber was wir auch mit ihm anstellten, es sank immer tiefer ein und hielt sich überdies ebenso regungslos still wie im Wasser. Ich fürchtete schon, daß wir sechs Männer es nicht würden herausholen können. Der Packsattel hatte sich im Schlamme festgesogen und wurde abgeschnallt. Schließlich kam ich auf den Gedanken, unter jedes Bein, das wir herausgezogen hatten, eine Filzdecke zu breiten, und dann wälzten wir es in die Höhe, bis es seine gewöhnliche Liegestellung einnahm. Nachdem es sich so eine Weile ausgeruht hatte, brachten wir es dazu, eine verzweifelte Kraftanstrengung zu machen; es taumelte nach dem festen Boden hin, während ihm der Schmutz klumpenweise von den Beinen und den Seiten fiel. Es war mit einem Schlammpanzer bedeckt, der mit Messern abgeschabt wurde, und stand zitternd da, außer Atem und kollerig.

Darauf erreichten wir ein eigentümliches Tal, das sich nach Ostnordost bis zu einem in 10 Kilometer Entfernung sichtbaren See erstreckte. Nordöstlich von diesem erhebt sich ein gewaltiges Schneemassiv, das wir den ganzen Tag auf der rechten Seite gehabt hatten und das entschieden der riesige Gebirgsstock war, dessen Nordseite ich 1896 umwandert und den ich König-Oskar-Gebirge genannt hatte.

[S. 360]

Im Talboden stehen tafelförmige, mit 15–20 Meter dicken Tuffbetten bedeckte Terrassen, und der Boden ist dicht mit Tuffblöcken besät.

Am folgenden Tag hatte die Sonne ihre Herrschaft wiedererlangt, und die Stürme schwiegen. Der Rest des letzten Schnees schmolz und verdunstete. Um 1 Uhr stieg die Temperatur bis auf +12 Grad. Es geht auf günstigem Terrain nach Nordwesten. Zur Linken zieht sich eine kleinere Bergkette hin, fern im Nordosten eine mächtigere und zwischen beiden ein Längental von dem gewöhnlichen Aussehen. Vor uns erhebt sich ein gewaltiges Schneemassiv, dessen Firnfelder in der Westsonne wie Silber glänzen, während die hügeligen schwarzen Seiten einem Panzerturme gleichen.

158. Aus dem Hauptquartier in Temirlik. (S. 379.)

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159. Das Hauptquartier bei Temirlik. (S. 380.)
Auf dem andern Ufer des Baches meine Jurte und die Terrassen mit den Höhlen, im Hintergrund der Akato-tag.

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[S. 361]

Einunddreißigstes Kapitel.
Aldats Tod.

So zogen wir durch das öde Tibet hin. Zwei Monate waren schon vergangen, ohne daß wir Spuren von Menschen gesehen hatten, und wir fingen an, uns zu den Unseren zurückzusehnen. Aber jeder Tagemarsch, den ich auf meiner Übersichtskarte mit Punkten verzeichnete, zeigte, wie langsam wir uns ihnen näherten und wie viele Tagereisen uns noch blieben. Über 400 Kilometer trennten uns noch von Temirlik.

Wir folgten dem Längentale nach Westen und blieben dadurch auf ein und demselben Niveau. Die Gegend ist außerordentlich wildreich. Schädel und Skeletteile von Yaken zeigen an, daß auch diese zähen Tiere sich der Macht des Todes nicht entziehen können.

Der dritte Marschtag hat seinen besonderen Reiz, denn dann wissen alle, daß wir morgen rasten dürfen. Den 20. September über blieben wir also im Lager Nr. 54 (4917 Meter) (Abb. 147). Tscherdon schoß mit Aldats Flinte einen fünfzehnjährigen Yak, der, bevor wir ihn abhäuteten und zerlegten, in mehreren Stellungen photographiert wurde (Abb. 148, 149, 151). Am Abend kam Tscherdon mit einer Orongoantilope heim, und nun wurde eine neue muselmännische Kur mit Aldat versucht. Der Kranke wurde entkleidet und in das noch weiche, warme Fell der Antilope gehüllt, das dicht an seinen Körper gedrückt wurde. Ich glaubte nicht recht an die Wirkung, und es tat mir bitterlich weh, daß ich ganz machtlos war und ihm nicht helfen konnte. Die letzten Abende gab ich ihm ein paar Zentigramm Morphium; er konnte sonst nicht einen Augenblick schlafen.

Auf dem Zuge nach dem Lager Nr. 55 hatten wir andauernd gutes Terrain. Ein paar Kilometer vom Ufer eines nicht unbedeutenden Sees, dem alle Bäche des südlichen Gebirges zuströmten, rasteten wir in einer ziemlich gastlichen Gegend. Der Boden war hier von Murmeltieren, deren Höhlen überall ihre gähnenden Eingänge zeigten, derartig zugerichtet, daß er wie wurmstichig aussah. Diese großen, starkgebauten Nagetiere sehen,[S. 362] wenn sie einzeln oder paarweise über dem Höhleneingang in der Sonne sitzen, unbeschreiblich drollig aus. Sobald wir uns nähern, rollen sie wie Billardbälle in ihre Löcher hinein, und sobald sie unsere schweigend und langsam dahinschleichende Karawane erblicken, lassen sie durchdringende, gellende Pfiffe ertönen, die von allen Seiten widerhallen. Die Karawane wird in diesem sonst so friedlichen Lande förmlich ausgepfiffen.

Ein alter Invalide, der taub gewesen sein oder sich von seiner sicheren Höhle zu weit entfernt haben muß, mußte diese Unvorsichtigkeit mit dem Verluste seiner Freiheit büßen. Er lag auf einem Abhange in der Sonne und sah prächtig aus, er hatte sogar Ähnlichkeit mit einem Menschen oder wenigstens mit einem Affen. Jolldasch flog wie ein Pfeil hin und störte das Murmeltier in seinem friedlichen Schlafe, und während es sich verteidigte, kamen die Männer, banden es und legten es unversehrt auf ein Kamel. Wir beabsichtigten, es zu zähmen; es lebte zwei Monate, blieb aber die ganze Zeit gleich wild. Sobald man sich ihm näherte, setzte es sich auf die Hinterbeine und war bereit, mit seinen messerscharfen Vorderzähnen, in denen es eine achtunggebietende Kraft besitzt, sofort zuzubeißen. Es biß große Späne aus den Stöcken, die man ihm hinhielt. Ein Biß von seinen Zähnen soll gefährlich sein und die Wunde sehr schwer heilen. In seine Höhle kehrte es nie wieder zurück, und es gewöhnte sich bald daran, auf dem Kamelrücken zu schaukeln.

Wo Murmeltiere, Dawagan werden sie von den Muselmännern genannt, vorkommen, kann man beinahe sicher sein, auch Bären anzutreffen. Der tibetische Bär lebt zum größten Teile von diesen Nagetieren, die er mit Haut und Haar, Knochengerüst und allem auffrißt. Er belauert sie nicht, wie Jolldasch es tat, sondern überzeugt sich nur, wenn er auf Besuch nach der Höhle kommt, ob die Herrschaften zu Hause sind. Mit seinen starken Tatzen gräbt er die Erde an den Seiten des Ganges auf und erwischt schließlich sein Opfer. Er macht sich auf diese Weise noch tüchtig Bewegung vor dem Mittagessen. Ein gewaltiger Erdwall verrät schon von weitem, daß ein Bär dagewesen ist und Haussuchung abgehalten hat.

Kleinere Herden von Kulanen kreisten auf diesem breiten Talboden. Sechs Kulane begleiteten uns in nächster Nähe wohl eine halbe Stunde weit. Sie sind außerordentlich hübsch anzusehen (Abb. 150); ihre schlanken Formen besitzen vollendete natürliche Schönheit; sie laufen im Halbkreise, einen Winkel von 45 Grad mit dem Erdboden bildend, und bleiben plötzlich ein wenig vor und neben uns in einer Reihe stehen. Ihre Bewegungen sind so regelmäßig und so sicher, als trügen sie unsichtbare Kosaken auf dem Rücken.

[S. 363]

Während dieses Tagemarsches hatte Aldat zu Pferde sitzen können, obwohl gut festgebunden und beaufsichtigt. Wir hofften alle auf Besserung, aber abends wurde es wieder schlechter mit ihm. Jeden Atemzug begleitete ein stöhnender Laut, und er atmete 58 mal in der Minute, was selbst in einer Höhe von 4838 Meter abnorm ist. Seine Temperatur war merkwürdig niedrig; von den Herzschlägen war nichts zu vernehmen, wie angestrengt man auch horchte, und ebenso schwach war der Puls. Sein Bewußtsein umnachtete sich. Er sprach davon, fortgehen und Yake schießen zu wollen. Obwohl es gegen die Marschordnung verstieß, blieben wir seinetwegen einen Tag liegen. Die Leute wollten indessen gern weiter, denn mit unseren Vorräten war es schlecht bestellt; das Brot mußte in ein paar Tagen zu Ende sein, und Pulver war nur noch für ein Dutzend Schüsse vorhanden.

Da der Zustand des Kranken auch am Morgen des 23. September so gut wie unverändert war, obgleich er jetzt nur 24mal in der Minute atmete, beschlossen wir aufzubrechen. Daß er nicht mehr lange leiden würde, war klar, aber wir konnten nicht länger warten. Er wurde zwischen zwei Feuerungssäcke auf ein Kamel gebettet und erhielt eine weiche Unterlage von Filzdecken. Die Beine wurden in Filzmatten eingepackt, und unter den Kopf wurde ihm ein zusammengerollter Pelz geschoben. Über das Ganze wurden Stricke gebunden; er lag so bequem wie in einem Bett.

Gerade als das Kamel sich zum Aufbruch erheben sollte, hörte Aldat auf, zu atmen. Seine gebrochenen Augen, schöne, graue afghanische Augen, schienen in der Ferne ein Land zu suchen, wohin unsere Blicke nicht reichen. Er, der früher mit leichten, schnellen Schritten in den Spuren der Yake über die Berge geeilt war, hatte den Strapazen erliegen müssen und ein Leben beendet, das an Freuden so arm gewesen war.

„Getti“ (er ist fortgegangen), sagten die Muselmänner und standen schweigend um dieses seltsame Totenlager herum. Turdu Bai aber betrachtete die Lage von der praktischen Seite und fragte mich, was wir mit der Leiche machen sollten. Ich wollte ihn nicht sofort begraben, und alle waren sichtlich zufrieden, als ich „Marsch“ kommandierte. Das Kamel hatte ihn schon so manchen Tag getragen, und er war eine leichte Last. Ich hatte den Leuten versprochen, daß wir Temirlik in 18 Tagen erreichen würden, wenn wir 6 Rasttage machten und täglich 24 Kilometer zurücklegten. Sie zählten daher die Kilometer mit steigendem Interesse und waren eifrig darauf bedacht, keine Zeit zu verlieren.

So brachen wir denn auf und näherten uns dem Seeufer. Unsere Karawane hatte sich in einen Leichenzug verwandelt, der durch Tibets[S. 364] wüste Täler einen Kameraden zu Grabe trug. Keiner sprach; eine stille, feierliche Stimmung herrschte. Kulane und Yake weideten ungestört neben unserem Wege, und die schwarzen Totenraben folgten uns in weiten Kreisen.

Nun erreichten wir das Ufer, wo der Boden hart und vorzüglich zum Gehen war.

Der See nahm ein Ende, und wir zogen nach Nordwesten über eine langsam ansteigende kupierte Ebene, die von Furchen mit gefährlichem Schlammboden durchschnitten war (Abb. 152). In einer solchen fanden wir ein kleines Holzstück, das zu einem mongolischen Packsattel gehört hatte. Es war mürbe wie Rinde und stammte vielleicht von einer mongolischen Pilgergesellschaft, die sich aus den nördlicheren Tälern hierher verirrt hatte, oder auch von Hauptmann Wellbys und Leutnant Malcolms unglücklicher Karawane, deren Weg wir gerade heute gekreuzt haben mußten.

Während die anderen im Lager ihre gewöhnliche Arbeit verrichteten, gruben Mollah Schah und Nias ein Grab für Aldat. Ein Pelz wurde unter, ein zweiter über die Leiche gelegt, und so wurde er in dieser feuchten, heimtückischen Erde zur ewigen Ruhe bestattet.

Es war von allen Beerdigungen, bei denen ich zugegen gewesen bin, die einfachste; keine Zeremonien, keine Tränen, keine anderen Gebete, als die, welche ich stumm für die Seelenruhe des Toten in einer anderen, besseren Welt zum Himmel emporsandte. Das Grab wurde zugeschüttet und ein länglicher Hügel darüber aufgeworfen. Am Kopfende wurde eine Holzlatte eingerammt, an deren Spitze wir eine von Aldats eigenen Jagdtrophäen, einen Yakschwanz, als „Tugh“ festbanden, wie es die muhammedanische Sitte verlangt. Auf ein kleines Holzstück schnitt ich mit arabischen und lateinischen Buchstaben den Namen des Toten, das Datum und meinen eigenen Namen ein, für den Fall, daß das Schicksal jemand hierherführte, bevor alle Spuren des Grabes vertilgt sein würden.

Die Flinte des Toten, seinen noch nicht ausbezahlten Lohn und den Wert seiner Kleidung und seines Pelzes hatte ich später Gelegenheit, seinem Bruder, den wir im Tschimentale trafen, eigenhändig zu übergeben. Sein alter Vater besuchte mich ein Jahr später in Tscharchlik. Es war mir eine Beruhigung, daß die Mutter tot war und ihr der Kummer, einen so guten, prächtigen Sohn zu verlieren, erspart geblieben war.

Am 24. September wurde die Karawane außergewöhnlich früh fertig; meine Begleiter wollten gewiß möglichst schnell von diesem traurigen Friedhofe fortkommen. Die Muselmänner sprachen ein Dua (Gebet) am Hügel, dann wurde der arme Aldat in der großen Einsamkeit allein gelassen; keine anderen Pilger als die Tiere der Wildnis würden künftig nach seinem[S. 365] Grabe wallfahrten. Der schwarze Yakschwanz flatterte im Winde, wurde aber, als wir fortzogen, bald von den Hügeln bedeckt.

Wir mußten jetzt lange nach Norden ziehen und steuerten zuerst auf ein in der nördlichen Bergkette gähnendes Taltor los. Es war nicht leicht, dorthin zu gelangen. Der Boden besteht aus losem rotem Sand und wird von einer Menge 30–50 Meter tiefer Schluchten durchfurcht, nach deren Moorgrunde es steil hinuntergeht und in denen man leicht mit Mann und Maus ertrinken könnte, wenn nicht einer der Leute zuvor zu Fuß versuchte, ob der Moorboden trägt.

Der folgende Tagemarsch führte uns über mehrere parallele kleine Ketten. Als wir sie endlich überschritten und die Freude hatten, im Norden offenes, flaches Land, ein breites Längental, zu sehen, war dort keine Spur von Vegetation zu erblicken. Obgleich wir eine gute Tagereise hinter uns hatten, setzten wir daher unseren Weg quer über das Tal fort. Wir ritten stundenlang, ehe wir einige Grashalme und einen Süßwassertümpel fanden. Wir waren offenbar in ein vegetationsloses Gebiet gekommen und würden uns jetzt mit jedem Tage in immer unfruchtbarer werdenden Gegenden befinden.

Die verdünnte Luft dieses Hochlandes, das 5000 Meter über dem Meere liegt, tat mir nichts; ich hatte mich an sie gewöhnt, und auch meine Leute hielten sich tapfer. Vermeidet man alle Anstrengungen, so kann man die Luftverdünnung sicherlich ziemlich lange ertragen.

Je mehr wir uns in den folgenden Tagen dem Arka-tag näherten, desto wüster wurde das Land. Am 27. September suchten wir vergebens nach einem Grashalm; keine Spur von Pflanzen- oder Tierleben war zu erblicken. Es ging bergauf und bergab, über Berge und Täler, die jetzt stets durchquert wurden. Kaum ist man nach einem Flusse hinuntergelangt, so muß man sich schon wieder an der anderen Seite hinaufarbeiten, und obgleich diese Höhenunterschiede nur 100 Meter betragen, so werden sie doch durch die unaufhörliche Wiederholung mörderisch. Nach vielen zeitraubenden Bogen und Rasten erreichten wir endlich den Hauptpaß dieser neuen Bergkette (5203 Meter). Unmittelbar nördlich davon erhob sich ein einzelner Bergrücken, der auf der östlichen oder auf der westlichen Seite umgangen werden mußte. Ich entschied mich für die letztere und ritt der Karawane weit voraus. Als es dunkelte, mußte ich jedoch Halt machen und die anderen erwarten. Sie kamen todmüde in kleinen Partien an und hatten einen Schimmel aus Jangi-köll in hoffnungslosem Zustand zurückgelassen.

Nach dem Abendessen inspizierte ich mit der Laterne, wie gewöhnlich, besonders nach schwereren Tagereisen, das Lager (5111 Meter) und die[S. 366] Tiere. Sowohl die Kamele wie die Pferde waren geknebelt, damit sie nicht auf die Suche nach Weide gingen. Die Leute schliefen, müde von den Strapazen des Tages. Ich selbst wollte gerade einschlafen, als der Türvorhang der Jurte von einem heftigen Windstoß in die Höhe gerissen wurde und feiner Schnee hereinwirbelte.

Am nächsten Morgen waren wir wieder von Winterlandschaft umgeben (Abb. 153). Doch die Wolken verzogen sich bald; es wurde ruhig, und die Sonne glühte mit intensiver Kraft.

Unsere Straße ging jetzt nach Nordwesten ein schmales, von roten Felsen, Sandstein und Schiefer eingefaßtes Tal hinab, das in ein Längental ausmündete. Solange wir uns in dem engen Durchgange befanden, dessen Bach über Nacht zu Eis gefroren war, hatten wir Schutz vor dem Winde, sobald wir aber die Hügel hinter uns hatten, fuhr der Wind, der sich eben erhoben hatte und bald zu einem vollständigen Orkan aus Westen anschwoll, über die Karawane her. Man muß die Knie ordentlich andrücken, um nicht aus dem Sattel geworfen zu werden. Pferde, Reiter und Kamele beugen sich nach der Windseite hinüber und liegen auf dem Winde; die ganze Karawane sieht schief aus, alle leichten Gegenstände, die Pferdeschwänze und die Kleider der Leute stehen auf der Windseite wie Flaggen ab. Die Atmung wird erschwert, man erstickt beinahe. Die Kamele schwanken in ihrem wiegenden Gange. Das erste beste Weideland sollte das Signal zur Rast geben, denn lange kann man in solch einem Winde nicht gehen; wer es nicht selbst erprobt hat, kann sich keinen Begriff davon machen.

Am Südufer des Sees lagerten wir an einem kleinen Bache.

Bei der veränderlichen Temperatur und dem ewigen Witterungswechsel wird die Haut empfindlich. Besonders Nase und Ohren sind übel daran und blättern unaufhörlich ab. Die Nägel werden spröde wie Glas und springen ein, und beständig hat man Schmerzen in den Fingerspitzen.

Mehrere Pferde waren jetzt kränklich, und Mais hatten wir nur noch für zwei Tage. Daher wurde der Reisvorrat hervorgesucht; alles, was wir davon entbehren konnten, sollte den Tieren gegeben werden. Unser kleinster Maulesel wäre uns in diesem Lager Nr. 61 (4907 Meter) beinahe gestorben, wurde aber von Tscherdon, der ihn auf burjatische Weise behandelte, gerettet. Das Tier schwoll unförmlich auf und krümmte sich am Boden. Nachdem der Kosak durch Befühlen eine passende Stelle ausgesucht hatte, nahm er einen Pfriemen und rannte ihn dem Tiere mit einem kräftigen Stoße bis an den Stiel in den Leib. Da strömte Gas heraus, aber kein Tropfen Blut. Dann wurde der Maulesel gezwungen, aufzustehen. Ein Strick wurde um sein Hinterteil geschlungen. Ein Mann[S. 367] zog ihn vorwärts, und ein zweiter prügelte ihn mit einer Holzlatte. Jedesmal, wenn er hinten ausschlug, zogen zwei Männer an dem Stricke, so daß der Esel von rechts nach links gerissen wurde. Über die Methode selbst mag man sagen, was man will, aber diese echte Pferdekur hat dem Tiere geholfen. Es wurde gesund, war mit auf dem Ritte nach Lhasa, zog mit durch ganz Tibet nach Ladak, ging über den Kara-korum nach Kaschgar und befand sich ausgezeichnet, als ich Ende Mai 1902 in letzterer Stadt von ihm Abschied nahm.

Nach einem Rasttage zogen wir uns an dem kalten letzten Tage des September recht warm an, um die Verschanzungen des Arka-tag zu erstürmen. Wir folgten dem Ostufer des Sees und gingen nach Norden, wo sich ein vorteilhafter Paß zeigte. Dann aber zwang uns eine Bucht, die der See nach Osten ausschickt und in die sich ein Fluß ergießt, zu einem bedeutenden Umwege.

Bald gelangten wir an ein Erosionstal, das uns einen guten Weg nach den Höhen bot. Ich ritt mit Tscherdon und Mollah Schah voraus nach dem Passe hinauf. Von der Südseite, auf der wir uns befanden, war der Paß leicht zu ersteigen, und wir erreichten bald seine Schwelle; auf der Nordseite aber, wo die Schichtköpfe zutage treten, fiel er sehr steil ab.

Gerade auf diesem Kamme, der fast die ganze Erdrinde überragt und wie ein Schwungbrett in den Weltenraum hinauszeigt, tobte der Schneesturm mit solcher Wut, daß man das Gefühl hatte, verloren zu sein. Ich hatte kaum die Kraft, die nötigen Beobachtungen auszuführen. Die Hände werden steif und ganz gefühllos. Die Höhe betrug 5203 Meter. Da die Karawane auf sich warten ließ, gingen die beiden Männer wieder zurück. Ich kehrte dem Sturme den Rücken zu und kauerte mich nach Möglichkeit zusammen. Nach dem Abgrunde im Norden zu ist jetzt nichts weiter zu sehen als wirbelnde Schneewolken, ein kochender Schneekessel; es heult und stöhnt auf allen Seiten, es pfeift, wenn der Wind sich über den scharfen Paßkamm wälzt.

Nun ertönten die Kamelglocken ganz in der Nähe. Die Tiere zogen wie Schatten an mir vorüber, ihre Tritte waren nicht zu hören. Turdu Bai ging vornübergebeugt, den einen Arm zum Schutze erhoben, als arbeite er sich durch ein Dickicht hindurch. Jetzt galt es, auf der Nordseite des Passes hinunterzusteigen; es war, als sollte man sich auf gut Glück in einen unbekannten Abgrund stürzen, dessen Boden nicht zu sehen ist.

Um bei der Hand zu sein, sobald die Kamele der Hilfe und Stütze bedurften, gingen alle zu Fuß. Kutschuk geht voran und untersucht den Weg. Er nimmt die Wand in unzähligen Zickzacklinien. Wir müssen[S. 368] alle zehn Schritte stehenbleiben, damit uns nicht das Gesicht erfriert. Wir gleiten und rutschen auf dem Schnee hinunter. Ein Kamel gleitet aus und fällt, rollt noch ein halbes Mal herum, aber bleibt in so vorteilhafter Stellung liegen, daß es aufstehen kann, ohne erst abgeladen werden zu müssen.

Jetzt war der Tag zu Ende, und es wurde dunkel; aber wir gingen trotzdem weiter, bis wir den steilen Abhang hinter uns hatten. In finsterer Nacht lagerten wir auf einer Halde (4977 Meter), wo es keinen Grashalm gab; Feuerung hatten wir auch nicht, nur Wasser in Gestalt von Schnee und Eis, davon aber im Überfluß.

Als die Sonne am 1. Oktober aufging, konnten wir sehen, wie sich die Gegend, in der wir in der Dunkelheit Halt gemacht hatten, ausnahm. Vollständiger Winter umgab uns auf allen Seiten, und dabei schneite es noch immerfort. Die Tiere waren steifbeinig und hungrig; daher rasteten wir schon nach wenigen Kilometern auf einer Halde mit leidlichem Graswuchse (4899 Meter). Mit wehem Herzen gab ich Befehl, das letzte Schaf zu schlachten; es kam mir wie ein Mord vor.

Am 2. Oktober zogen wir 30 Kilometer nordwärts bergab. Noch eine Tagereise half uns dieses freundliche, langsam abfallende Tal weiter. Die Luft war klar geworden, und wir sahen das Tschimengebirge in einer Entfernung von gewiß 100 Kilometer vor uns liegen. Doch bevor wir aufbrachen, war schon wieder der Westwind im Gange, um uns auf unseren elenden Kleppern vor Kälte erstarren zu lassen.

Das Tal erweitert sich, und wir sehen im Norden den See Atschik-köll. Wir hätten bleiben sollen, wo der Bach, dem wir bisher gefolgt waren, endete, aber wir hofften, den See bald zu erreichen und dort Quellen zu finden. Die armen Tiere waren ganz erschöpft. Das Pferd, auf dem ich nach Andere geritten war, blieb mit Nias zurück, und ein zweiter Schimmel wurde mit Kutschuk als Pfleger zurückgelassen. Sie sollten uns langsam nachkommen. Wir ritten nach Norden weiter, es dämmerte und wurde dunkel, aber der Mond erhellte mit seinem bleichen Lichte die kalte Einöde. Wasser war nicht zu sehen, und der See blieb eine ziemliche Strecke östlich von unserem Wege liegen. Frierend ging Turdu Bai zu Fuß voraus. Wir waren seelenfroh, als er endlich stehenblieb und uns zurief, wir hätten einen sich in den See ergießenden Fluß erreicht. 37½ Kilometer täglich war ungefähr das meiste, was die Tiere nunmehr aushalten konnten. Die kranken Pferde erreichten wirklich noch dieses Lager Nr. 65 (4251 Meter), aber erst gegen Mittag und nachdem sie die Nacht in einiger Entfernung vom Lager zugebracht hatten. Sie wurden dann aufs beste gepflegt und mit Reis traktiert.

160. Tscherdon und Schagdur mit ihrer Beute. (S. 382.)
Rechts der Schneider Ali Ahun.

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161. Die Packpferde am Ufer des Ajag-kum-köll. (S. 384.)

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[S. 369]

Ein eigentümlicher, kalter, feuchter Nebel lag am 6. Oktober über dem Seebecken, und durch seinen Schleier zeichnete sich die nördliche Bergkette matt und schwach, aber doch malerisch ab. Sie schien leicht auf die Leinwand des Himmels hingeworfen zu sein, und zu oberst leuchtete der Schnee halbklar hindurch. Infolge der gedämpften Nuancen schien die Kette noch mindestens eine Tagereise entfernt zu liegen.

Die Karawane ist im Sterben, und im Begräbnistempo schreiten wir die langsame Steigung hinan. Kulane und besonders Orongoantilopen kommen zu Hunderten vor. Jolldasch erbeutete eine der letzteren, die er über die Nase biß und sie dann festhielt, bis Tscherdon hinzukam und sie erstach; dadurch erhielten wir eine sehr notwendige Verstärkung unseres Proviantes.

Die Steigung nimmt zu; wir überschreiten zahllose Schluchten und Pässe; oft müssen wir eine Weile rasten, um die Tiere Atem schöpfen zu lassen. Bald wird gemeldet, daß ein Pferd nicht weiterkann. Kaum ist es erstochen worden, als sich schon ein zweites hinlegt, um nicht wieder aufzustehen. Ehe wir diesen abscheulichen Paß erreichten, der für eine ausgeruhte Karawane eine Bagatelle gewesen wäre, waren noch zwei Pferde verlorengegangen, unter ihnen mein treuer Wüstenschimmel, der mich nach Tschertschen und Altimisch-bulak getragen hatte.

Die Aussicht vom Passe war ebenfalls nicht erfreulich. Auf beiden Seiten hatten wir kleine Gletscherzungen und im Norden ein Gewirr von Bergen. Merkwürdigerweise bekamen wir die Kamele hinüber, worauf wir in einer Kluft lagerten, in der jedoch weder von Gras noch von Brennmaterial die geringste Spur zu finden war.

Soviel Reis, wie nur irgendwie entbehrt werden konnte, wurde an die letzten Pferde verteilt, die angebunden und mit Filzdecken zugedeckt wurden. Am Morgen lag eines von ihnen tot in der Reihe mit vorgestrecktem Halse, starren Augen und schon steif gefroren. Keiner hatte gemerkt, wann und wie seine Qual zu Ende gewesen war, und die noch vorhandenen Pferde schenkten ihm keine Aufmerksamkeit. Sie waren zu erschöpft und ermattet, um Teilnahme zu zeigen; sie schienen sich nur nach Ruhe zu sehnen, und sie starben ohne einen Seufzer, ohne einen Klagelaut, während es mich unsagbar schmerzte, ihren Untergang auf meinem Gewissen zu haben.

Bewundernswert in ihrer Resignation lagen die Kamele wie gewöhnlich regungslos in derselben Stellung, in der wir sie am Abend vorher verlassen hatten. Sie waren mit Reif bepudert und blickten sehnsüchtig nach dem Tale hin, dem wir dann nach Nordosten folgten. Sehr lange konnten wir es nicht mehr aushalten. Die Tagemärsche wurden[S. 370] immer kürzer, und die Kräfte der Tiere waren bis aufs äußerste erschöpft.

Die Nacht auf den 8. Oktober war ruhig, kalt und klar, und die Minimaltemperatur sank bis auf −18,3 Grad. Eiskalte Luft strömte durch das Tal herunter; es war der gewöhnliche Nachtwind, der wie Wasser in seinem Bett strömt. Schon um 8 Uhr hatte er aufgehört zu wehen, und wenn kein Sturm losbricht, kehrt er im Laufe des Tages um. Diesem scharfausgeprägten Tale folgten wir nach Nordosten. Eine frische Karawane könnte von hier in vier Tagen nach Temirlik gelangen, mit uns aber ging es langsamer. Nur sechs kleine Stücke Brot waren noch da, und Reis hatten wir für drei oder vier Tage. Es hatte den Anschein, als würden wir während der letzten Strecke hungern müssen. Es wäre schön gewesen, wenn wir hätten Brennmaterial finden können, aber diese Gegend wird nicht von Yaken besucht.

In pfeifendem Schneegestöber zogen wir durch dieses Tal, das sich bald zu einem Hohlwege zusammendrängt, dessen Boden mit ganzen Mauern und Stapeln von herabgestürzten, teilweise rundgeschliffenen Blöcken bedeckt ist. Es ist ein außerordentlich energisch in den Granit eingesägtes Durchbruchstal, und die Landschaft trägt die gewöhnlichen wilden, felsigen, malerischen und launenhaften Charakterzüge des Granits. Ich saß buchstäblich festgeschneit auf meinem stolpernden Pferde, die meisten der Leute aber mußten zu Fuße gehen, da ihre Reittiere gefallen waren. Unaufhörlich kreuzten wir den Fluß, um möglichst auf den ebeneren Erosionsterrassen bleiben zu können. Oft trägt das Eis des Flusses sogar die schweren Kamele und muß dann mit Sand bestreut werden; da aber, wo es nicht trägt, wird es vorher mit Steinen und Stangen zertrümmert. Manchmal brechen die Tiere ein und fallen. Die alten Kamele bewährten sich auf diesem schwierigen Terrain vorzüglich, trotzdem sie nun auch noch die Lasten der toten Pferde tragen mußten.

Das Tal trägt den Namen Togri-sai (das gerade Tal) (Abb. 154) und ist den Goldgräbern aus Tschertschen und Kerija wohlbekannt; hier gibt es nämlich ein Goldfeld, das wir auf dem heutigen Marsche passierten. Vor ungefähr einem Monat sollten die letzten Goldgräber abgezogen sein; jetzt gab es im Tale keine frischen Spuren von menschlichen Besuchern mehr. Wir hatten ungefähr die Hälfte unseres Weges zurückgelegt, als wir die drei ersten, aus Granitstücken erbauten Hütten passierten. In der Nähe sahen wir eine Menge Gruben in den Schuttbetten, umgeben von Sand- und Schuttwällen, welche die Goldgräber aufgeworfen hatten. Selten sind diese Gruben mehr als 2½ Meter tief. Man kann sie zu mehreren Hunderten zählen; die meisten sind längst verlassen, einige aber[S. 371] scheinen während des letzten Sommers bearbeitet worden zu sein. Die Hütten sind sehr provisorisch, viereckig mit 2–3 Meter langen Seiten; die Mauern sind von Blöcken ohne das geringste Bindemittel aufgetürmt, und das Dach besteht im besten Falle aus grober Leinwand oder einer Filzdecke, unter die eine Stange gelegt wird. Hier und dort laufen in diesem asiatischen Klondike Gänge und Zäune zwischen den Schutthaufen hin, und an einigen Gruben waren Zeichen aufgerichtet, z. B. ein Antilopenschädel oder eine Kulanhaut auf einer Stange, wodurch das Besitzrecht angezeigt wird. Manchmal hat der Besitzer sein Gebiet noch besonders mit einer niedrigen Mauer von Granitstücken eingefriedigt.

Einige Hütten besaßen sehr einfache Öfen zum Brotbacken. Die Goldgräber bringen einen Vorrat von Mehl mit, leben im übrigen aber von Yak-, Kulan- und Antilopenfleisch, das ihnen von den Jägern, die um des Verdienstes willen in dieser Wildnis mit ihnen kampieren, für eine geringe Summe überlassen wird. Die Vorräte werden auf Eseln hierher befördert, die für die Zeit von zwei Monaten, während welcher in den Gruben gearbeitet wird, in die tiefer gelegenen Täler, wo es Weideland gibt, hinuntergeschickt werden. Nur in zweien der Hütten fanden wir einiges Hausgerät, ein paar plumpe Harken, um den Schutt von den goldhaltigen Gesteinarten zu entfernen, eine Bahre, ein paar Dachfirststangen und einen Trog zum Backen oder Goldwaschen. Wir machten uns kein Gewissen daraus, dieses vortreffliche Holz, das uns mehrere Tage ein prächtiges Feuer liefern sollte, mit Beschlag zu belegen.

Eines der Kamele verfiel sichtlich und wurde zurückgelassen, sollte aber am folgenden Morgen in das Lager geholt werden. Bei kaltem Wetter mit Schneegestöber und −3 Grad zogen wir außerordentlich langsam abwärts. Erst um 11 Uhr lagerten wir in 4515 Meter Höhe nach diesem anstrengenden, aber interessanten Tage; eben war der Mond wieder aus der Nacht der Schneewolken hervorgetreten.

[S. 372]

Zweiunddreißigstes Kapitel.
Ein trügerisches Feuer.

Das Kamel starb während der Nacht und war schon steif gefroren, als Turdu Bai es aufsuchte. Es wurde der Preis, den die Götter des Togri-sai-Tals für den Brennholzraub forderten. Jetzt blieb uns gerade noch die Hälfte der ursprünglichen Zahl der Karawanentiere, 6 Kamele, 3 Pferde und 1 Maulesel. Da auch diese Tiere sich in jämmerlicher Verfassung befanden, mußten alle Mann zu Fuß gehen.

Es ist lehrreich, die Kamele zu beobachten (Abb. 155). Sie sind prächtige Tiere, stets ruhig und geduldig in ihrem harten, ermüdenden Dienste, und es ist ein Vorbild für den Menschen, einen solchen Riesen ohne einen traurigen Blick in seinem erlöschenden Auge, ohne einen Klagelaut über den Verlust eines Lebens, dessen einzige Befriedigung mit frischen, sättigenden Weideplätzen verknüpft gewesen ist, zusammenbrechen zu sehen. Das Tier machte seinen Tagemarsch, solange es noch konnte; es ging mit schwankenden Füßen, aber hocherhobenem Kopfe, es suchte nicht mehr nach Gras zwischen diesen unfruchtbaren Granitfelsen; würdig und majestätisch blieb es bis an die Stelle, wo sein Gebein im Tale bleichen wird. Als es nicht mehr imstande war, noch einen Schritt weiter zu tun, als die Schatten des Todes sein Bewußtsein umflorten, nahm es einen letzten Abschied von dem entfliehenden Tage und legte sich so bequem nieder, wie das Schuttbett es erlaubte. Den anfeuernden Schlägen setzte es stolze Verachtung entgegen; einige Peitschenhiebe mehr oder weniger bedeuteten für das Tier nichts mehr, das jetzt im Begriffe stand, das irdische Leben für immer zu verlassen.

Das Tal erweitert sich immer mehr. Nach Weide suchen nützte nichts, und die Tiere konnten nicht weit gehen. Wir mußten Halt machen, um sie ruhen zu lassen, und die letzten Packsättel wurden ihres Strohpolsters beraubt.

Langsam, müden Schrittes wanderten wir am 10. Oktober nach Nordnordost in demselben Tale weiter. Auch ich ging zu Fuß, um das mir noch zur Verfügung stehende Pferd zu schonen. Der Fluß ist nach den −18,8[S. 373] Grad in der Nacht fest zugefroren. Ich ging nach der rechten Talseite hinüber, um das Gestein zu untersuchen, und fand dort durch reinen Zufall einige sehr interessante Zeichnungen. Sie sind auf von Wind und Wetter blankgeschliffenen, dunkelbraun gewordenen Flächen von sonst hellgrünem Schiefer angebracht, und dadurch, daß sie mit einem spitzen Werkzeug durch die äußerste Rindenschicht hindurch eingehauen sind, treten sie deutlich in hellen Linien auf dunkelm Grunde hervor. Ihr Alter muß bedeutend sein, denn einige Teile der Bilder sind verwischt.

Die dargestellten Szenen sind alle dem Leben eines Jägers entnommen. Dieser Jäger ist ein vielseitiger Mensch gewesen. Er hat Yake, Kulane, Orongoantilopen und Wölfe im Gebirge, Enten, Gänse und Tiger am Lop-nor gejagt. Besonders beachtenswert ist der Umstand, daß alle fünf abgebildeten Schützen sich des Bogens bedienen. Die Felsenzeichnungen rühren also von einem Meister her, dem Feuerwaffen noch unbekannt waren, denn sonst hätte er die Flinte auf ihrer Stützgabel abgebildet. Die langen Pfeile haben nach vorn gerichtete Widerhaken und gleichen dem Dreizacke Neptuns.

Obgleich nur mit ein paar Konturlinien ausgeführt, sind die verschiedenen Tiere charakteristisch und leicht erkennbar gezeichnet. Die Schützen sind in verschiedenen Positionen dargestellt, bald stehend, bald kriechend, bald liegend; derjenige, welcher seinen Pfeil gegen den Tiger richtet, hat es für das Sicherste gehalten, im Sattel sitzenzubleiben. Die drei Felsplattenflächen, denen der Meister seine Kunstwerke anvertraut hat, sind 1½ und 1 Meter hoch und die Bilder ungefähr 3 Dezimeter lang. Gewiß stammen sie aus der Zeit, als Mongolen am Lop-nor wohnten und wahrscheinlich einen Teil des Sommers im Gebirge zubrachten.

Eine kräftige Stütze für die Richtigkeit dieser Annahme erhielt ich an dem Punkte, wo wir am linken Ufer des Flusses auf ziemlich gutem Weidelande lagerten (4067 Meter). Hier fanden wir einen mongolischen Obo, einen zusammengetragenen Steinhaufen mit Schieferscheiben, in welche alle „Om mani padme hum“ (O das Kleinod im Lotos, Amen), das Fundamentaldogma des Lamaismus, in tibetischen Buchstaben eingehauen war (Abb. 157).

Wegen dieser Menschenspur war uns die Stelle sympathisch, und wir hielten uns noch einen Tag bei dem Obo auf. Dieser Tag brachte eine große, erfreuliche Veränderung in unserer Lage hervor. Tscherdon hatte dicht beim Lager mit Aldats letztem Schusse einen jungen Kulan erlegt, als Mollah Schah atemlos zu mir gelaufen kam und mir sagte, er habe fern im Osten zwei Jäger zu Pferd gesehen. Er wurde sofort beauftragt, ihnen nachzusetzen und sie um jeden Preis ins Lager zu bringen. Sie[S. 374] kamen und waren anfangs ein wenig scheu, wurden aber bald zutraulich. Drei Monate hatten sie im Gebirge zugebracht und die Goldgräber mit Kulanfleisch versehen. In Temirlik waren sie nicht gewesen; wir schwebten also noch immer in Unkenntnis über unser Hauptquartier.

Durch diese unerwartete Berührung mit Menschen nach 84tägiger Isolierung hob sich die Stimmung. Ich kaufte sofort ihre beiden Pferde, die, mit den unseren verglichen, wie englisches Vollblut aussahen. Ein kleiner Sack Weizenmehl kam uns ebenfalls vortrefflich zupasse. Was uns aber am meisten interessierte, war die abends am Lagerfeuer geführte Unterhaltung. Mollah Schah hatte sich schon erboten, zu Fuß nach Temirlik zu gehen und eine Entsatzkarawane aufzubieten, doch das war jetzt nicht mehr nötig. Togdasin, so hieß der eine Jäger, kannte die Gebirgspfade genauer und sollte auf seinem eigenen, eben an mich verkauften Pferde nach dem Hauptquartier reiten und eine Entsatzkarawane holen. Er sollte in zwei Tagen dort sein und Islam Bai den Auftrag bringen, uns mit 15 Pferden und Proviant bis an die Quellen von Supa-alik, zwei Tagereisen westlich von Temirlik im Tschimentale, entgegenzukommen.

Um 11 Uhr in der Nacht sprengte Togdasin fort. Er nahm ein paar leere Konservenbüchsen mit, um seine Legitimation als mein Kurier zu bekräftigen und Islam begreiflich zu machen, daß er mir neue Büchsen von derselben Art mitzubringen habe. Togdasins ganzer Proviant bestand aus einem kleinen Stück Kulanfleisch. Ich beneidete ihn nicht um seine nächtliche Reise; die letzte Nacht hatten wir −20,2 Grad gehabt; es war ihm aber eine ansehnliche Vergütung versprochen, wenn er seinen Auftrag gut ausführen würde. Er konnte sich natürlich mit dem Pferd aus dem Staube machen, aber ich vertraute ihm, obwohl er uns fremd war, und er vertraute uns.

Die beiden folgenden Tagemärsche führten uns aus dem Togri-sai hinaus eine gute Strecke ostwärts im Tschimentale. Der Piaslik, die mächtige Bergkette, die sich auf der Südseite des Tales erhebt und die Fortsetzung des Tschimen-tag bildet, sandte eine ganze Reihe wilder, felsiger Kulissen nach Norden in das Tal hinein. Am 14. Oktober brachen wir in ungewöhnlich heiterer Stimmung auf, die dadurch, daß fast alle zu Fuß gehen mußten, nicht herabgedrückt wurde. Nach unseren Berechnungen mußten wir am Abend mit der Rettungsexpedition zusammentreffen.

Im Norden erhebt sich der Illwe-tschimen mit seinen schneebedeckten Gipfeln (Abb. 156); über alle die zahllosen, jetzt trockenen Schluchten, die seine Abhänge durchfurchen, mußten wir hinüber, und sie machten uns viel Mühe. Mollah Schah verbürgte sich dafür, daß wir die Quellen von Supa-alik, wo wir Islam am Abend treffen sollten, noch vor[S. 375] Einbruch der Dunkelheit erreichen würden, aber er wußte in der Gegend offenbar nicht Bescheid, und der zweite Jäger hatte uns nur zwei Tagereisen weit begleitet und war dann wieder umgekehrt.

Es wurde dunkel, es wurde pechfinster, ohne daß wir einen Schimmer von den Quellen erblickten. Wir verloren den Pfad, dem wir bisher gefolgt waren. Hier und dort wuchsen Jappkakbüsche, Gras aber fehlte. Dank dem festen Boden hielten jedoch die Tiere diese lange Wanderung aus. Nachdem wir, müde und schläfrig, anderthalb Stunden in rabenschwarzer Nacht marschiert waren, blieben Mollah Schah und Nias, die vorangingen, stehen und signalisierten ein Feuer in der Ferne. Dieser Anblick elektrisierte uns alle, und wir beschleunigten unsere Schritte. War das Feuer klein, so konnte es in der Nähe brennen, war es aber groß, so würden wir es über Nacht nicht mehr erreichen. Jedenfalls war es klar, daß der Kurier in Temirlik gewesen war und daß Islam sofort mit der Hilfsexpedition aufgebrochen, spornstreichs hierher geritten und vielleicht gerade angekommen war, Feuer zum Abendessen angezündet hatte und bis zum Ausgange des Mondes zu rasten beabsichtigte, um uns dann noch weiter entgegenzugehen. Er mußte sich sagen, daß unsere Lage, da wir uns so verspäteten, kritisch sein konnte und daß wir, von allem entblößt, schneller Hilfe bedurften. Jetzt endlich fühlten wir uns wirklich erleichtert; es war uns, als hätten wir das Ende unserer Mühen und Entbehrungen gerade vor uns und brauchten uns nur wenig anzustrengen, um es zu erreichen. In später Nachtstunde würden wir dieses gleich einem Leuchtturme freundlich lockende und leitende Feuer erreichen, wir würden bald um seine Glut herumsitzen und uns mit den Unsrigen unterhalten, würden erfahren, wie es ihnen gegangen, und von unseren Abenteuern erzählen, während eine prächtige, heißersehnte Mahlzeit für unsere ausgehungerten Mägen zubereitet würde.

In schwarzer Nacht gingen wir gerade auf das Feuer zu, das bisweilen verschwand, jedoch bald wieder aufloderte. Wir hatten einen Lotsen, der uns vor allen gefährlichen Schluchten warnte. Ich hielt mich an dem Boote, das von einem Kamel getragen wurde, und ging immer nach der anderen Seite hinüber, wenn mir die Hand zu erfrieren begann; dann hielt ich mich mit der anderen, bis auch diese alles Gefühl verloren hatte und die erste inzwischen wieder warm geworden war.

Während einer langen Strecke war das Feuer nicht sichtbar, unsere Hoffnung erlosch, und die Müdigkeit kam wieder. Vielleicht lagerten dort nur einige Goldgräber. Wir blieben stehen und riefen und sammelten Jappkakbüschel, mit denen wir ein gewaltiges Feuer anfachten. Doch kein Zeichen von Verständigung ließ sich wahrnehmen. Aus dem Revolver[S. 376] wurden ein paar Schüsse abgefeuert, die in der dunkeln Nacht klanglos verhallten, ohne auch nur von einem Echo beantwortet zu werden. Mit verhaltenem Atem lauschten wir; still wie ein Grab lag die Gegend, und das Feuer zeigte sich nicht mehr. Vielleicht waren sie von einem forcierten Ritt todmüde und schliefen fest.

Als wir unser eigenes Feuer, an dem wir eine halbe Stunde gerastet und uns für eine Weile erwärmt hatten, verließen, war die Dunkelheit vor uns noch undurchdringlicher als vorher. Ein Blinder kann keine schwärzere Nacht vor Augen haben, und unwillkürlich blickte ich zu den Sternen empor, um mich zu überzeugen, daß ich mein Augenlicht nicht verloren hatte. Stunde auf Stunde marschierten wir nach Osten weiter und zogen unsere müden Tiere, die Weide zu wittern schienen, da sie sich nicht weigerten, uns zu folgen.

Jetzt flammte das Feuer wieder auf, und die eben noch stumm einherwandernden Männer sprachen wieder eifrig miteinander. Wir passierten die ersten Malgunsträucher, deutliche Vorboten nahen Wassers; wir konnten nicht mehr weit von den Quellen entfernt sein. Dann wurde dieser falsche Feuerschein wieder matter und erlosch. Die Männer riefen alle fünf Minuten mit der ganzen Kraft ihrer Lungen, aber ihre Stimmen verhallten ungehört in der Nacht. Ich hätte mich versucht fühlen können zu glauben, ein Irrlicht wolle uns foppen, es schwebe vor uns her und entferne sich in dem Maße, wie wir uns näherten.

Unsere Geduld war auf eine zu starke Probe gesetzt worden, unser mit dem Feuer entflammtes Interesse erschlaffte wieder, als jenes erlosch, und die Müdigkeit erhielt von neuem die Oberhand. Als wir den nächsten Gürtel von Buschholz und Gestrüpp erreichten, kommandierte ich zu allgemeiner Zufriedenheit Halt. Wir waren über 12 Stunden gewandert, hatten aber dennoch nicht mehr als 43 Kilometer zurückgelegt.

Menschen und Tiere waren so erschöpft, daß die Karawane sich beim Scheine des in aller Eile angezündeten Feuers höchst kläglich ausnahm. Der Atem der Kamele bildete in der Kälte Wolkensäulen, die Leute saßen jeder da, wo er stehengeblieben war, auf der Erde, und die fehlgeschlagene Hoffnung ließ uns unsere Erschöpfung doppelt fühlen.

162. Der Kalta-alagan von Süden (Lager am 15. und 16. November). (S. 384.)

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163. Der Kalta-alagan von Süden (Lager am 15. und 16. November). (S. 384.) (Fortsetzung nach rechts des Bildes Nr. 162.)

GRÖSSERES BILD

Doch auch eine erfreuliche Entdeckung wurde in dem Feuerscheine gemacht. Es stellte sich heraus, daß unser Glücksstern uns nach einem vorzüglichen Weideland mit gutem, hohem Gras und Brennholz in Hülle und Fülle geführt hatte. Eine Kanne Flußwasser war noch da, und es reichte zu einer Tasse für die Person. Tee und ein paar Stücke Kulanfleisch, die über dem Feuer geröstet wurden, waren alles, was wir noch besaßen. Das Lager wurde ganz provisorisch aufgeschlagen, da wir am[S. 377] folgenden Morgen auf jeden Fall früh aufstehen und die Quellen suchen wollten. Das trügerische Feuer ließ sich nicht wieder sehen, aber der Mond schien, und für den Fall, daß die Unsrigen sich in der Nähe befänden und in der Nacht weiterzureiten gedächten, unterhielten wir noch anderthalb Stunden lang ein großes Signalfeuer. Und dann fielen wir unter dem klaren, sternenfunkelnden Himmelsgewölbe in einen todähnlichen Schlaf. Wir befanden uns hier wieder auf einer Höhe von nur 3471 Meter.

Am Morgen des 15. Oktober fanden die Männer eine nur ein paar hundert Meter entfernte Süßwasserquelle, und da das Lager in jeglicher Hinsicht vortrefflich war, beschlossen wir, hier den Gang der Ereignisse abzuwarten. Mollah Schah, der auf Kundschaft ausgewesen war, erklärte, das gestrige trügerische Feuer sei von Jägern angezündet worden, die jetzt mit ihren gesammelten Fellen nach Tschertschen zurückkehrten und uns augenscheinlich absichtlich auswichen, weil sie nicht wissen konnten, was für Leute wir sein würden. Wir waren also wieder auf uns selbst angewiesen und wußten nicht, was wir von der Hilfsexpedition und der Zuverlässigkeit des Kuriers Togdasin denken sollten. Tscherdon hatte von ihm etwas Pulver und Blei erhalten und war den ganzen Morgen fort, um uns eine Antilope zu verschaffen. Den Tieren ist jedoch in dieser von Jägern oft besuchten Gegend schwer beizukommen.

Um 2 Uhr kam er mit leeren Händen wieder. Dafür aber sagte er, daß er im Westen etwas Schwarzes sehe, von dem er erst geglaubt habe, es sei eine Kulanherde, das er jetzt jedoch für Reiter halte, die sich unserem Lager näherten.

Ich eilte mit dem Fernglase hinaus. Eine berittene Schar sprengte wirklich in einer Staubwolke heran. Von einem Hügel beobachteten wir die Schar mit größter Spannung. Sie war noch weit, weit entfernt, aber über den Vegetationsgürtel hinweg, den sie noch nicht erreicht hatte, gut zu sehen. Infolge der Luftspiegelung schien sie etwas über dem Erdboden zu schweben, doch an den auf und nieder hüpfenden Bewegungen merkte man, daß die Männer im Galopp ritten. Jetzt verschwanden sie zwischen der dunkleren Vegetation, aber die Staubwolke erhob sich noch über den Büschen. Es mußten die Unseren sein, die unser Signalfeuer nicht bemerkt hatten, sondern erst in der Frühe weitergeritten waren, bis sie die Spur der Kamele gefunden hatten und dann umgekehrt waren, um uns ausfindig zu machen.

Die Spannung erreichte ihren Höhepunkt, als zwei Reiter diesseits des Gebüsches auftauchten; dann erschienen noch zwei und eine ganze Herde von Pferden, die jene vor sich her jagten. Sie ritten in Karriere. Jetzt erkannte ich Islam an seinem Lederbaschlik. Er ritt auf einem Schimmel[S. 378] an der Spitze. Er trieb sein Pferd zu noch schnellerem Laufe an, so daß er einige Minuten vor den anderen ankam, stieg in einiger Entfernung ab und grüßte. Er sah gesund und munter aus und meldete, daß im Hauptquartier alles in Ordnung sei. Die übrigen waren Musa aus Osch, Chodai Värdi und Tokta Ahun aus Abdall.

Es war ihr Feuer gewesen, das wir gesehen hatten. Sie waren richtig in aller Frühe aufgebrochen und scharf nach Westen geritten, bis sie unsere Spuren gesehen und erkannt hatten, daß wir aneinander vorbeigegangen waren.

Islam hatte 15 fette, starke Pferde, sowie Proviant mit und brachte mir lauter erfreuliche Nachrichten. Der Postdschigit Jakub war aus Kaschgar gekommen, und mit einem Schlage wurde ich durch Brief- und Zeitungspakete meiner Heimat und der Zivilisation wieder ganz nahegerückt. Kurz nach unserem Aufbruch von Mandarlik hatten sie das Lager nach Temirlik verlegt, wo sie sich bei mongolischen Erdhöhlen niedergelassen hatten. Der Amban von Tscharchlik hatte in eigener hoher Person dort einen Besuch abgestattet, ebenso der Mongolenhäuptling Pschui aus Zaidam, aber beide hatten wieder heimkehren müssen, ohne mich zu sehen. Ersterer hatte 30 mit Mais beladene Esel mitgebracht. Seit ein paar Wochen hatten die Daheimgebliebenen unsertwegen in der größten Unruhe geschwebt, da wir versprochen hatten, höchstens 2½ Monate fortzubleiben, und nur für diese Zeit Proviant mit hatten.

Hunderte von Fragen und Antworten kreuzten einander, und erst spät in der Nacht kam ich zur Ruhe. Die Männer saßen lange plaudernd an einem großen, flammenden, jetzt von vielen Händen unterhaltenen Feuer; sie hatten einander so viel zu erzählen, und alle waren froh und zufrieden über das Wiedersehen. Welch ein Unterschied gegen den Abend vorher, an dem wir, von allem entblößt, aufs Geratewohl Halt gemacht hatten! Die Raben des Elias waren wiedergekommen, und unsere dreimonatigen Mühen und Strapazen hatten ihr Ende erreicht.

Eine Veranlassung zur Trauer war Aldats Tod. Sein Bruder Kader Ahun hatte sich selbst nach Tschimen begeben, um ihn zu treffen, und erhielt jetzt eine eingehende Beschreibung von der Krankheit und dem Tode seines Bruders. Er erkannte auch, daß wir gut gegen Aldat gewesen waren, alles getan hatten, um ihn zu retten, und daß alle sein Hinscheiden beklagten. Kader Ahun sagte, daß er auf die Trauerbotschaft vorbereitet gewesen sei. Vor einiger Zeit habe er geträumt, daß er über eine große Ebene reite und meiner Karawane begegne. Vergebens habe er unter den Leuten seinen Bruder gesucht, und als er erwacht sei, habe er gewußt, daß Aldat ein Unglück zugestoßen sein müsse. Wir rechneten aus, daß der[S. 379] Traum genau mit Aldats Tod zusammentraf, und daß er nicht erdichtet war, konnte Schagdur konstatieren. Kader Ahun hatte dem Kosaken nämlich lange, bevor Nachrichten von uns eingelaufen waren, sein Gesicht mitgeteilt und hinzugefügt, daß Aldat sicher tot sei. Dies war der einzige Fall von Telepathie, der mir auf meinen Reisen vorgekommen ist.

Nach weiteren zwei, der Ruhe, Lektüre und astronomischen Beobachtungen gewidmeten Tagen ritten wir am 18. Oktober fast 50 Kilometer ostwärts über kahle Einöden und Sandgürtel. Unsere Kamele und letzten Pferde wurden unbeladen langsam nachgeführt. Es war sehr behaglich, wieder auf einem großen, fetten, ausgeruhten Pferde zu sitzen, und ich freute mich, daß unsere überlebenden Tiere jetzt über ein halbes Jahr in Frieden weiden und der Ruhe pflegen würden; sie hatten es verdient.

Bag-tokai (der Gartenwald) ist der Name einer kleinen, armseligen Oase, die von Quellen aus dem sonst ganz sterilen Erdreich hervorgezaubert worden ist. Hier trafen wir acht Männer aus Bokalik, die auf dem Heimwege nach Tschertschen 11 Yake, 4 Kulane und 2 Orongoantilopen geschossen hatten. Sie konnten beim Verkauf der Felle auf guten Verdienst rechnen. Wir gaben ihnen so viel Reis, wie wir entbehren konnten; sie hatten den ganzen Sommer nur von Yak- und Kulanfleisch gelebt, und wir wußten selbst, was es heißt, es schlecht zu haben, und wie schön es ist, wenn der Speisezettel ein wenig Abwechslung bringt.

Unsere Karawane war wieder zu einer ansehnlichen Reiterschar angewachsen, als wir am 20. Oktober die Richtung nach Nordosten, nach Temirlik, einschlugen. Die bösen Geister des Westwindes hatten sich wieder verschworen, uns noch einmal tüchtig durchzubleuen, bevor wir bei den Fleischtöpfen des Hauptlagers anlangten.

Auf halbem Wege begegnete mir Schagdur; mit militärischer Haltung saß er wie aus Erz gegossen auf seinem Pferde. Unser Zusammentreffen war freudig, und wir hatten einander viel zu erzählen. Die meteorologischen Ablesungen hatte er vortrefflich besorgt, und die selbstregistrierenden Instrumente waren fehlerlos gegangen. Es dämmerte schon, als wir die Quellen von Temirlik erreichten. Hier kamen mir Faisullah und Kader, der mit auf der Fähre gewesen war, entgegen und zeigten mir unsere sechs ausgeruhten Kamele, die den ganzen Sommer ungestört geweidet hatten. Am rechten Ufer des kleinen Baches, der von den Quellen gebildet wird, stiegen die Funken mehrerer Feuer in die Luft empor; hier stand das neue Hauptquartier wie ein Dörfchen. Dort sah man zwei Zelte und die große mongolische Jurte, eine von Schilf und Zweigen erbaute Hütte, ganze Stapel von Maissäcken und den schwereren Teil der Kamellasten (Abb. 158). Ali Ahun, der Schneider, und Jakub, der Postdschigit, begrüßten uns hier,[S. 380] und dazu noch viele Leute, die ich noch nie gesehen hatte und die nur zufällige Gäste waren.

Auf dem linken Ufer steht eine doppelte Lößterrasse. Auf dem unteren Absatz war bereits meine kleine Jurte aufgeschlagen und der angeheizte Ofen hineingesetzt. In die obere Terrasse, die eine lotrechte Wand bildet, haben die Mongolen in alten Zeiten Grotten hineingegraben, die vorzügliche Zimmer abgeben (Abb. 159). Eines von ihnen hatte Schagdur schon als eine vortreffliche photographische Dunkelkammer eingerichtet, und sämtliches photographisches Zubehör stand dort bereit zur Benutzung beim Entwickeln der Platten, die während der tibetischen Expedition aufgenommen worden waren.

Damit war diese mühevolle Reise beendet, und wir konnten uns mit gutem Gewissen ein paar Wochen der Ruhe hingeben. Die Reise hatte zu großartigen geographischen Entdeckungen geführt, aber sie hatte auch bedeutende Opfer an Strapazen, Leiden und Leben gekostet. Von den 12 Pferden lebten nur noch 2 und von den 7 Kamelen Los 4. Eines von ihnen erreichte glücklich Temirlik und stand zwei Tage stolz aufrecht in dem gelbgewordenen Grase; am dritten Tage legte es sich hin und starb, ohne die Weide auch nur angerührt zu haben. Und auch ein Menschenleben war verloren gegangen.

[S. 381]

Dreiunddreißigstes Kapitel.
Über sechs Pässe.

Nachdem ich in der Jurte an den Quellen von Temirlik ordentlich installiert war, wurde der Tag folgendermaßen eingeteilt: erst schlief ich gründlich aus, dann aß ich mein Frühstück, beschäftigte mich einige Stunden damit, Beobachtungsreihen und Tagebücher ins Reine zu schreiben, um die Abschriften nach Hause schicken zu können, und schrieb Briefe nach Europa; hierauf las ich schwedische Zeitungen in einem von Islam gebauten Lehnstuhle am Ofen, in dem beständig ein gemütliches Feuer knisterte. Wenn es dunkel wurde, wurde die schwarze Grotte erleuchtet, wo ich bis zum späten Abend Platten entwickelte. War ich mit allen diesen Arbeiten fertig, so erhielt ich in der Jurte mein Mittagessen oder Abendessen, wie man es nennen will.

Meine Zeit wurde aber auch von vielen anderen Dingen in Anspruch genommen. Löhne für die vergangene Zeit wurden ausbezahlt. Wir kauften vier vortreffliche Kamele und besaßen jetzt im ganzen 14. Musa aus Osch und der junge Kader wurden entlassen, weil sie sich nach Hause zurücksehnten; der erstere mußte die gewaltige Post mitnehmen, die ich für Kaschgar fertiggemacht hatte. Diese Post war in vieler Beziehung wichtig. Ich hatte einen Überschlag über den Bestand der Reisekasse gemacht und erkannt, daß er nicht ausreichte. Ich schrieb daher an meinen Vater und an den schwedischen Gesandten in Petersburg und bat, daß eine größere Summe in russischem Papiergeld an Generalkonsul Petrowskij geschickt werden möchte, der letzteres dann in chinesisches Silbergeld einwechseln und mir im nächsten Sommer nach Tscharchlik schicken sollte. An Oberst Saizeff schrieb ich und bat ihn, mir eine neue Sendung Konserven nach Osch zu schicken.

Vom 25. Oktober bis zum 4. November machten die Kosaken einen Jagdausflug nach dem Kum-köll; sie wurden von Tokta Ahun, Mollah und Togdasin begleitet und sollten ein paar Aufgaben lösen. Da ich selbst nicht Zeit hatte, den Tschimen-tag und den Kalta-alagan auch von dieser[S. 382] Gegend aus zu überschreiten, erhielt Schagdur den Auftrag, eine Kartenskizze von dem Wege, den sie zurücklegten, zu zeichnen, auf dem ganzen Zuge meteorologische Beobachtungen auszuführen und namentlich die Höhe der Pässe zu bestimmen. Er löste diese Aufgabe tadellos, und seine Karte stimmte vorzüglich, wie sich bei der später von mir ausgeführten Kontrollrechnung herausstellte. Jedenfalls füllte Schagdur durch diese von ihm gemachte Arbeit eine wichtige Lücke in meinen eigenen Aufnahmen aus. Als die Kosaken wiederkamen, brachten sie obendrein noch eine ganze Herde erlegten Hochwildes mit (Abb. 160). Aber kalt und unfreundlich war es in den Bergen gewesen, die jetzt vom Scheitel bis zur Sohle kreideweiß glänzten.

Unser Lager bot denselben lebhaften Anblick dar wie früher Tura-sallgan-ui am Tarim. Alle Goldgräber und Jäger, die von Bokalik zurückkehrten, statteten uns natürlich einen Besuch ab, und aus den Tiefländern kamen Leute, welche Dienst suchten. Doch auf meiner Terrasse hatte ich Ruhe und Frieden und Aussicht auf das Lager jenseits des Baches, über den eine kleine Brücke führte. Nur Hunderte von Raben störten mich mit ihrem heiseren Krächzen und mußten jedesmal, wenn eine astronomische Beobachtungsreihe vorgenommen werden sollte, durch einige Flintenschüsse erst verscheucht werden.

Am 11. November waren wir wieder zum Aufbruch bereit. Es war mein Wunsch, ein vorher nie besuchtes Gebiet des Tschimen-tag und des Akato-tag zu erforschen, eine Karte davon aufzunehmen und so eine große Lücke in meiner Karte von Nordtibet auszufüllen. Ein Vergnügen war es nicht, diese neue Exkursion, die mindestens einen Monat in Anspruch nehmen würde, im bitterkalten Winter anzutreten; lieber wäre ich nach den östlichen Wüsten gegangen, wohin ich mich sehr sehnte, aber auch diese Arbeit mußte ausgeführt werden.

Als Teilnehmer waren Tscherdon, Islam Bai, Turdu Bai, Tokta Ahun, Chodai Bärdi und Togdasin, der die betreffende Gegend ganz genau kannte, ausersehen. Kutschuk und Nias begleiteten uns den ersten Tag, um die Pferde führen zu helfen, die, ausgeruht und munter, anfangs ihre Lasten abzuschütteln versuchten. Es waren ihrer 13; wir hatten auch 4 Maulesel, dafür aber keine Kamele. Ich hatte mir selbst das Versprechen gegeben, daß ich es nicht wieder so schlecht haben sollte wie das letztemal, und nahm daher einen reichlichen Vorrat Konserven, sowie den Ofen mit. In Temirlik sollte Schagdur Chef sein und mit den meteorologischen Ablesungen fortfahren. Mein sämtliches zurückbleibendes Gepäck wurde zum Schutze vor Feuersgefahr in einer der Grotten untergebracht, an deren Eingang beständig Wache gehalten werden sollte.

[S. 383]

Da das Gebiet, welches wir jetzt erforschten, den Gegenden, die wir im vorigen Sommer gesehen hatten, sehr ähnelte, werde ich mich in der Folge kurz fassen. Sechs Tagemärsche führten uns nach dem Ajag-kum-köll, wohin wir 140 Kilometer hatten. Den ersten Tag durchquerten wir das Tschimental, seinen ebenen, unfruchtbaren Lehmgrund und auf seiner Südseite einen Gürtel von höchstens 15 Meter hohen Dünen und traten darauf wie durch ein Riesenportal von lauter Granitfelsen in den Tschimen-tag ein. Die ganze Zeit über stiegen wir nach Süden aufwärts. Von unserem Lager, wo ich es bald ebenso warm und gemütlich hatte wie in Temirlik, beherrschte man das ganze Tal nach Norden hin bis an den Akato, dessen domförmiges Gebirge sich ohne eine Spur von Schnee auf seinem Kamme gen Himmel erhob.

Als ich nach einer herrlichen Nacht aus meinen Träumen geweckt wurde, konnte ich mich erst gar nicht in die Tatsache hineinversetzen, daß wir uns jetzt wieder auf dem Marsche befanden. Die kurze Ruhezeit war gar zu schnell vergangen. Doch zu Grübeleien haben wir keine Zeit; das Frühstück wird gebracht und verzehrt, dann geht es wieder vorwärts durch eine Gebirgslandschaft von Granit in allen erdenkbaren Abarten. Jetzt führte uns Togdasin nach dem Tschimen-tag über eine Kette von Vorbergen auf einem bequemen Passe, auf dem der Schnee eine zusammenhängende Decke bildete. Die Löcher der Murmeltiere waren zur Hälfte vom Schnee verstopft, in welchem auch keine Spuren von diesen Tieren zu sehen waren. Sie waren schon für den Winter zu Bett gegangen und hatten es gut und warm in ihren Höhlen. Sie tun wohl daran. Nordtibet ist schon im Sommer so unfreundlich, daß man gut tut, es im Winter zu meiden.

Der Hauptpaß, der uns über den Tschimen-tag selbst führte, war sehr bequem und bestand aus weichen, abgerundeten Hügeln ohne anstehendes Gestein. Auf seiner Südseite gelangten wir in dasselbe Längental, das wir im Juli weiter oben im Osten gekreuzt hatten. Unweit des Lagers heißt die Gegend Att-attgan (das erschossene Pferd), weil dort ein Jäger, der längere Zeit Pech gehabt hatte und am Verhungern gewesen war, schließlich sein Pferd hatte erschießen müssen, um Fleisch zu bekommen. Unser Lagerplatz am Flusse heißt Mölle-koigan (der fortgeworfene Sattel), weil er hier seinen Sattel im Stiche gelassen hatte.

Als wir auf der anderen Seite in ein schmales Tal eintraten, das nach dem Kamm der Kalta-alagan-Kette hinaufführte, scheuchten wir eine friedlich an den Abhängen weidende Yakherde auf. Sie ergriff die Flucht und erschreckte ihrerseits eine Kulanherde, die sich höher oben befand. Jetzt wälzten sich die schweren Bataillone lawinengleich in Wolken von Sand und Staub den Berg hinab.

[S. 384]

Im Süden des Passes haben wir einen steilen Abstieg in einer mit Granitblöcken und Schutt besäten Talfurche. Nach dem Austritt aus der trompetenförmigen Mündung des Tales schwenkt unser Weg nach Südwesten und Westen ab und begleitet den Fuß der Bergkette (Abb. 162, 163), deren Ausläufer und Verzweigungen von Wetter und Wind in launenhafter Weise geformt worden sind. Sie gleichen Tischen, Lehnstühlen, Schalen und Hälsen mit Köpfen, und manchmal hat sich die Kraft des Windes quer durch dünnere Partien durchgefressen.

Der Ajag-kum-köll blitzte am südwestlichen Horizont wie eine riesenhafte Schwertklinge. Da aber der Weg dorthin noch weit war, lagerten wir in der Einöde, wo trinkbares Wasser in 1,42 Meter Tiefe gegraben wurde.

Während des Rasttages, der hier unseren Tieren geschenkt wurde, erhielten Tscherdon, Togdasin, Islam Bai und Turdu Bai die Erlaubnis, auf die Jagd zu gehen. Sie ritten in zwei Partien, aber nur die beiden letztgenannten kamen abends wieder. Wir zerbrachen uns natürlich sehr den Kopf darüber, was den anderen passiert sein könnte, und als der Abend und die Nacht vergingen, ohne daß sie etwas von sich hören ließen, fürchteten wir, daß sie sich verirrt hätten. Erst am nächsten Morgen gegen 10 Uhr kamen sie in traurigem Zustand im Lager an. Eine Archariherde verfolgend, waren sie wilde Täler hinaufgeritten, hatten, als es gar zu steil wurde, ihre Pferde zurückgelassen und waren über Block- und Geröllmassen weiter geklettert. Auf einmal war Togdasin buchstäblich zusammengebrochen und hatte über entsetzliche Kopf- und Herzschmerzen geklagt. Er konnte keinen Schritt mehr gehen und sich, als Tscherdon die Pferde geholt hatte, nicht einmal im Sattel halten. Die Nacht verbrachten sie infolgedessen mitten im ärgsten Geröll, wo sie nicht einmal Wasser zum Trinken hatten. Der Kranke hatte den Kosaken gebeten, allein ins Lager zurückzukehren, da er selbst auf alle Fälle bald sterben werde und es ihm ganz gleichgültig sei, wo dies geschehe.

Beide blieben in der Kälte liegen, und Tscherdon rüttelte von Zeit zu Zeit Leben in seinen Kameraden und hinderte ihn am Erfrieren. Beim ersten Tagesgrauen machten sie sich wieder auf und schleppten sich langsam nach dem Lager hinunter. Togdasin befand sich in höchst bedauernswertem Zustande und mußte auf seinem Pferde festgebunden werden, als wir nach dem Seeufer hinabritten und in einer Gegend lagerten, die nur spärliche Jappkakbüschel und kleine Eisschollen am Ufer aufzuweisen hatte (Abb. 161).

164. Turdu Bai und Kutschuk mit dem zusammengelegten Faltboot. (S. 384.)

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165. Der Verfasser im Faltboot auf dem Ajag-kum-köll. (S. 384.)

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Am Morgen des 18. November wurde das Boot (Abb. 164) zu einer Fahrt über die salzigen Tiefen des Ajag-kum-köll instand gesetzt (Abb. 165).[S. 385] Es wurde von Tokta Ahun gerudert und trug eine bedeutende Last, denn wir nahmen außer Segeln, Rudern, Rettungsbojen, Tiefenlotungsapparaten und Instrumenten auch Proviant für zwei Tage, nämlich Fleisch, Konserven, Brot und Kaffee, ferner Geschirr zum Bereiten der Speisen, eine Tschugun (Kupferkanne) mit Wasser und einen kleinen Beutel mit Eisstücken mit. Schließlich versahen wir uns auch mit Pelzen und Filzdecken; so war der Raum in dem kleinen Fahrzeug überall besetzt. Ich peilte ein für allemal ein kleines vorspringendes Vorgebirge im Südwesten ein, auf das wir in gerader Linie zusteuerten. Das Wetter war herrlich, der See lag ruhig und still, und nur eine kaum merkbare Dünung bewegte seine Fläche.

Einmal in der Viertelstunde maß ich die Geschwindigkeit und lotete die Tiefe, die nach der Mitte des Sees, wo sie 19,63 Meter betrug, zunimmt. Unweit des Nordufers stießen wir auf ein dünnes, loses Eisfeld, das mit Leichtigkeit forciert wurde. Diese Eisscheiben, die nur 1 Zentimeter dick waren, glänzten so intensiv im Sonnenschein, daß ihr Anblick ohne Schneebrille nicht zu ertragen war. Wahrscheinlich breitet sich vom Flusse eine Süßwasserschicht über den salzigen See aus, und diese ist es, die gefriert.

Das Arbeiten mit der Lotleine, die jedesmal, wenn sie heraufgeholt wurde, gefror und so steif wie Holz wurde, war ein ziemlich frostiges Vergnügen, und ich konnte mir zwischen den verschiedenen Lotungen kaum die Hände wieder warm reiben.

Die Stunden enteilten, ohne daß wir uns dem Vorgebirge merklich näherten. Aber wir kreuzten den See ja auch in der Diagonale. Am Nachmittag erhoben sich Staubwirbel und Tromben auf dem südlichen Ufer und verschmolzen bald zu einer einzigen graugelben Wolke, die über den Erdboden hinjagte. Das bedeutete nichts Gutes. Hier herrschte sichtlich starker Nordwestwind. Noch eine Weile, und wir hörten ein Brausen im Westen; die ersten Windhauche erreichten uns, den eben noch blanken Wasserspiegel trübte eine leichte Kräuselung, die mit großer Schnelligkeit zu Wellen und Wogen anschwoll, und je weiter wir in den Bereich der Windpeitsche eindrangen, desto höher wurden die Wogen. Wir behielten den Kurs bei, bis das Stampfen des schwerbeladenen Bootes uns zwang, nach Süden und Südosten zu rudern. Das einzige, was wir jetzt zu tun hatten, war, zu versuchen, möglichst schnell das nächste Ufer zu erreichen, denn es war nur zu wahrscheinlich, daß der Wind in einen Sturm ausartete und uns gegen eine unwirtliche Küste schleudern könnte, wo das zerbrechliche Fahrzeug vielleicht zerfetzt würde. Die Dämmerung war schon eingetreten, und es wäre unter allen Verhältnissen mit Gefahr verknüpft gewesen, in der Dunkelheit bei schwerem Seegang zu landen.

[S. 386]

Die Karawane hatte Befehl, an demselben Tag 5 Stunden weit am Nordufer entlangzugehen und in dem neuen Lager nachts ein Feuer zu unterhalten, das uns zur Leitung dienen sollte, falls wir die Nachtzeit zur Rückfahrt benutzten. Dieses Feuer ist uns jedoch überhaupt nicht zu Gesicht gekommen, weil die Entfernung zu groß und die Luft voll dicken Staubes war.

Mittlerweile tanzte das Schiffchen auf seiner gefährlichen Straße weiter. Glücklicherweise hatten sich Wind und Wellen über das Eis am südlichen Ufer hergemacht; dieses hätte sonst unser Boot wie mit Messern zerschnitten. Die weiße Linie, die vor uns in der Dunkelheit leuchtete, war die Brandung der schäumenden Wogen am Ufer, das glücklicherweise aus Sand bestand und ziemlich steil nach dem See abfiel. Ehe wir uns dessen versahen, befanden wir uns mitten in der tobenden Brandung. Das Boot wurde von einer Welle auf das Ufer geworfen, aber vom zurücklaufenden Wasser sogleich wieder mitgezogen, dann von neuem emporgeschleudert, so daß seine Holzrahmen knackten und der Segeltuchrumpf sich bis zur Gefahr des Zerplatzens ausbauchte. Doch nun sprang Tokta Ahun ins Wasser, und mit vereinten Kräften zogen wir das Boot an Land, was uns jedoch erst gelang, nachdem ein paar heranstürmende Wellen hineingeschlagen waren und einen Teil unserer Habseligkeiten durchnäßt hatten.

Wir lagerten unmittelbar am Ufer im Schutze eines kleinen Hügels. Hier gab es sehr viele Köuruk-Pflanzen, eine Art kleiner, niedriger holziger Steppengewächse, die ein vortreffliches Feuermaterial abgaben und von denen wir einen gewaltigen Haufen sammelten. Das einzige Zeichen von Leben waren Gänsefedern und Kulanspuren. Von der Landschaft war nichts zu sehen, denn wir waren von undurchdringlicher Nacht umgeben und fanden das Brennmaterial nur mit Hilfe hier und dort angezündeter kleiner Filialfeuer.

Als der Vorrat hinreichend groß war, ließen wir uns mit umgehängten Pelzen am Lagerfeuer nieder, stellten die kupferne Kanne mit Wasser auf die Glut und bereiteten uns ein hochfeines Abendessen, das für mich aus Ochsenschwanzsuppe, Käse, Brot und Kaffee bestand, während sich Tokta Ahun an einer Hammelkeule gütlich tat und Tee dazu trank. Dann blieben wir noch gemütlich sitzen, qualmten mit unseren Pfeifen und schmiedeten großartige Pläne für die beschlossene Winterreise durch die Wüste Gobi nach den Kara-koschun-Sümpfen, die Tokta Ahun so genau kannte wie seine Tasche.

Der Wind flaute ab, der Himmel klärte sich auf und kündigte eine kalte Nacht an. Um 9 Uhr hatten wir −14 Grad, die Feuerung war[S. 387] zu Ende, und es war Zeit, sich schlafen zu legen. Mein ehrlicher Ruderer hörte meinen Vorschlag, die beiden Boothälften als Zelte zu benutzen, mit skeptischer Miene an; er mußte aber bald eingestehen, daß es eine außerordentlich schlaue Idee war. Wir rollten uns wie Knäuel unter der Bootschale zusammen und sahen mit einem gewissen Beben einer eiskalten Nacht entgegen. Ich schlief auch nur einige Stunden. Dann jagte mich die starke Kälte von −22,1 Grad auf, und ich weckte meinen Reisekameraden, der mir aus diesem nicht für helle Sommerträume geschaffenen Neste heraushalf.

Wir waren halb erfroren, als wir aus unseren dünnen Schalen krochen. In den Füßen hatte ich das Gefühl verloren, obwohl sie in vier Paar Strümpfen und gewaltigen, von Ali Ahun angefertigten, mit Lammfell gefütterten Stiefeln steckten. Unsere erste Sorge war daher, Material zu einem ordentlichen Feuer zu sammeln, und an diesem mußte ich mich ausziehen, um das Blut durch Reiben wieder in Umlauf zu bringen. Doch die Nachtkälte liegt einem noch den ganzen Tag in den Knochen, bis man wieder in seine gewöhnlichen, relativ bequemen Verhältnisse gelangt.

Bei 19 Grad Kälte stießen wir das Boot vom Lande ab und ruderten im herrlichsten Wetter über den See in der Richtung der Gegend, wo die Karawane, unserer Meinung nach, angelangt sein und uns erwarten mußte. Die Maximaltiefe betrug hier 24 Meter.

Schon weit draußen vom See aus glaubten wir, auf der rechten Spur zu sein, und vermeinten, Zelt und Jurte und Pferde zu sehen. Als wir uns aber genügend genähert hatten, um die Gegenstände mit dem Fernglase deutlich erkennen zu können, verwandelten sich jene beiden in zwei kleine Hügel, diese aber in eine Kulanherde. Wir landeten jedoch, um zu konstatieren, daß die Karawane hier vorbei und nach Westen weitergezogen war. Zwei Bären waren kürzlich nach Osten getrabt, um die Murmeltiere in ihrem tiefen Winterschlafe zu stören.

Es blieb uns also nichts weiter übrig, als am Ufer entlangzurudern, um die Unseren aufzuspüren. Ganz hinten im Westen zeigte sich unter der sinkenden Sonne eine Rauchwolke, wir konnten aber nicht entscheiden, ob sie von einem Feuer herrührte oder aus von fliehenden Kulanen aufgewirbeltem Staube bestand. Ein stumpfer Vorsprung nach dem anderen wurde in der Dämmerung umschifft, und Tokta Ahun schob jetzt das Boot in seichtem Wasser mit dem Ruder längs des Ufers weiter. Ich saß ganz steif gefroren in der vorderen Hälfte des Bootes, der Ruderer aber hielt sich warm und sang ein schwermütiges Lied aus den Hütten von Abdall. Schließlich drang ein Feuerschein durch das Dunkel, aber diese nächtlichen Feuer sind, so belebend sie auch anfangs wirken, meistens[S. 388] trügerisch. Nachdem wir drei Stunden auf den Schein zugerudert waren, verschwand er wieder. Wir setzten jedoch unseren Weg fort und stießen von Zeit zu Zeit gellende Rufe aus, die endlich durch Hundegebell beantwortet wurden. Da loderte das Feuer in unserer unmittelbaren Nachbarschaft auf, und ein Fackelträger nahm uns am Ufer in Empfang.

Togdasin, den wir gleich Aldat im Gebirge gefunden hatten, schien zu demselben Schicksale verurteilt zu sein wie dieser. Die Krankheit nahm sichtlich eine Wendung zum Schlechten. Der Mann lag, wie die Muselmänner zu tun pflegen, wenn sie sich schlecht befinden, auf den Knien mit vornübergebeugtem Leibe und auf die Erde gelegtem Kopfe; er konnte sich nicht überwinden zu essen, wollte aber unaufhörlich kaltes Wasser haben und phantasierte und stöhnte bei jedem Atemzuge.

Tokta Ahun teilte mir mit, daß diese Krankheit, die wohl eine außerordentlich bösartige Form von Bergkrankheit ist, unter den Jägern und Goldgräbern in diesen Gebirgen ziemlich häufig auftrete. Sie heißt bei den Muselmännern einfach Tutekk (Atemnot, Bergkrankheit), oder sie sagen auch „Is allup getti“ (hat die Bergkrankheit bekommen), gleichviel, ob von einem Mann, Pferd oder Kamel die Rede ist. Ist man früher einmal schwer krank gewesen, so hat man wenig Aussicht auf Genesung. Der von dem Übel Befallene hat anfangs das Verlangen, sich nach dem Tieflande hinunterzuflüchten, wohin er jedoch nie wieder gelangt, wenn er nicht im Gebirge selbst wieder gesund wird. Zwei Goldgräber waren diesen Sommer auf dem Wege nach ihrer Heimat bei Temirlik daran gestorben. Doch wenn die Krankheit schon Fortschritte gemacht hat, soll der Unglückliche seinen Zustand nicht mehr beurteilen können; er weiß nichts davon, daß er krank ist, und kann über sein Befinden keine Auskunft geben. Die Symptome bestehen in Anschwellen des Körpers, Schwarzwerden der Beine, gänzlichem Verschwinden des Schlafs und des Appetits, Schmerzen in Kopf und Herzen, dazu Durst, geschwächte Herztätigkeit und abnehmende Körpertemperatur. Nach Tokta Ahuns Erfahrung sollte Tabakrauchen das beste Mittel dagegen sein; deshalb sah man ihn beständig mit der Pfeife im Munde. Ich selbst habe die Bergkrankheit nicht kennen gelernt, nicht einmal in 5500 Meter Höhe. Die Hauptsache ist, sich nicht zu überanstrengen.

Wieder beschlich uns das Gefühl, den kalten, grausamen Tod in unserer Gesellschaft zu haben, als folge er, auf sein schon auserkorenes Opfer lauernd, mit der Sanduhr in der Hand der Karawane treu über alle Pässe und Ebenen. Am schlimmsten ist, daß man sich völlig machtlos fühlt, dem Kranken zu helfen, und sehen muß, daß die Behandlung, die man ihm zuteil werden lassen kann, erfolglos bleibt.

[S. 389]

Sowohl für den Kranken wie für die Seefahrer war ein Ruhetag notwendig. Islam Bai erhielt diesen Tag eine Aufgabe zu lösen. Er sollte mit Kutschuk über den See rudern und eine Lotungsreihe ausführen, deren ich zur Vervollständigung der Seekarte bedurfte (Abb. 166). Das Kniffliche dabei war nur, daß Islam nicht schreiben konnte; er mußte daher mechanisch wie ein selbstregistrierender Apparat arbeiten. Die Uhr konnte er immerhin ablesen und verstand auch, alle fünfzehn Minuten die Lotungen anzustellen. Beim ersten Punkte knüpfte er einen Bindfaden mit einem Knoten um die Lotleine, beim zweiten Punkte einen mit zwei Knoten usw. Nachher wurden diese Abstände von mir mit dem Bandmaße gemessen. Die gemessene Linie konnte ich selbst vom Ufer aus feststellen, und die Durchschnittsgeschwindigkeit des Bootes war bekannt.

Pechschwarz senkte sich diese Nacht auf unser Lager herab; der Himmel war mit dichten, undurchdringlichen Wolken bedeckt, kein Unterschied machte sich zwischen Land, Wasser und Atmosphäre bemerkbar; unser kleines Gemeinwesen verschwand in einem unergründlichen, kohlschwarzen Raume. Öffne ich den Vorhang vor der Tür der Jurte, so fällt eine schwache Lichtstraße über den Boden, im übrigen ist das vor der Jurte der Leute brennende Feuer das einzige, woran das Auge einen Anhaltspunkt findet. Das Innere meiner Wohnung ist gemütlich möbliert, der Fußboden da, wo meine Kisten stehen, mit einem Chotaner Teppich bedeckt, mein Bett auf der Erde ausgebreitet, und auf ihm sitze ich mit gekreuzten Beinen, meine Aufzeichnungen machend oder an meinen Kartenblättern zeichnend. Tscherdon bringt von Zeit zu Zeit ein Kohlenbecken herein, ohne welches man bei 20 Grad Kälte schwer arbeiten könnte.

Wenn ich jetzt, nachdem Jahre vergangen sind und ich wieder von allem, was mir am liebsten ist, umgeben bin, zurückdenke an diese langen kalten, stillen Winterabende in Tibet, wundere ich mich beinahe, daß mir in dieser tödlichen Einsamkeit, die Tage und Jahre hindurch immer gleich einsam blieb, die Zeit nie lang geworden ist. Doch das beständig unerschöpfliche Arbeitsfeld hielt mich aufrecht; ich hatte stets treue, zuverlässige Diener, und für jeden Tag des Jahres hatte ich ein kleines Buch mit Bibelsprüchen, das, wie ich wußte, auch täglich in meinem Elternhause gelesen wurde.

Wie eine schwere Last lag es mir freilich auf dem Herzen, wieder einen Kranken im Lager zu haben, und Togdasins kurze Gebetrufe an den Gott der Muhammedaner, „Ja Allah, Ej Chodaim“, ließen mir keine Ruhe. Nicht einmal Kiplings herrliche Lieder in „The seven seas“ konnten meine Gedanken ablenken, als ich diesen Abend zur Ruhe ging.

Die Rückreise nach Temirlik, die am 22. November angetreten wurde,[S. 390] nahm 12 Tage in Anspruch und führte uns über die Bergketten Kalta-alagan und Tschimen-tag und zweimal über den Akato-tag.

Der erste Tagemarsch wurde fürchterlich. Wir gingen nach Westen und hatten den Wind, einen halben Sturm mit −2 Grad um 1 Uhr und −10 Grad um 2 Uhr, gerade entgegen; selten habe ich mich so gelähmt und erschöpft gefühlt. Es erfordert Geduld, der Karawane zu folgen und sich die Hände abwechselnd vor Kälte erstarren zu lassen. Die über Nacht auf dem Ajag-kum-köll entstandene dünne Eisdecke wurde vom Sturme zersplittert und nach Osten getrieben; der See sah unheimlich, kalt und dunkelblau und vom Wellenschaume weißgestreift aus. In solchem Wetter mit unserem kleinen Boote unterwegs zu sein, wäre wohl der sichere Untergang gewesen. Der ganze östliche Teil des Sees ist nämlich nur einen oder ein paar Dezimeter tief, das Boot wäre gegen den hier etwas festeren Eisrand geworfen und zerschnitten worden, und der Seeboden besteht aus Schlamm, in welchem man rettungslos versinkt. Die Kosaken hatten auf ihrem Jagdausfluge die Mündung des Flusses zu überschreiten versucht, aber das erste Pferd war bis an den Hals in den Schlamm gesunken und hatte nur mit großer Mühe noch gerettet werden können.

Der Tschimen-tag zeichnete sich auch an dem Punkte, wo wir jetzt diese Kette überschritten, durch eine höchst sonderbare Architektur aus. Das Tal, aus welchem man nach dem Passe hinaufgeht, liegt selbst so hoch, daß man die Paßschwelle kaum gewahrt. Auf der nördlichen Seite ist das Gefälle aber um so steiler. Hier stürzt sich ein zwischen nackten Wänden und Vorsprüngen eingeklemmter Hohlweg wie eine Treppe über Felsenschwellen und Gesteinplatten jäh nach dem Tale hinunter. Wir hatten einen langen Marsch gemacht; die Karawane ging voraus, und ich erreichte den Anfang dieses Korridors erst bei Einbruch der Dunkelheit. Islam erwartete mich mit einer Laterne, aber mein Pferd wäre trotzdem beinahe gestürzt, da es von einer Treppenstufe auf die andere springen mußte. Tief unter uns im Tale bei dem sandumgürteten und zu gewaltigen Eisblöcken gefrorenen Wasser der Quellen von Kum-bulak leuchtete das Lagerfeuer, und nach vielen Mühen erreichte ich meine Jurte, die auf einem steil in die Tiefe abstürzenden Felsenabsatze aufgeschlagen war. Erst am Morgen, als wir reisefertig waren, merkte ich, wie gefährlich diese Lage gewesen war. Die Jurte stand gerade in der Mündung eines Abzugskanales für alle Blöcke, die von den oberhalb zunächst stehenden Felswänden abstürzten. Dann und wann ertönte in der Nacht das Echo eines Blocksturzes, aber meine Jurte war doch verschont geblieben.

Der Zug weiter durch das Tal hinunter war nicht leicht. An ein paar Stellen, wo der Granit mehrere Meter hohe Stufen in der Rinne[S. 391] selbst bildete, mußten alle Tiere abgeladen und dann vorsichtig an den Platten hinuntergelassen werden. Einmal überschritten wir eine gewaltige Eistafel, die den Talgrund wie gegossenes Porzellan ausfüllte und sich allen Spalten und Ritzen anschmiegte. Ihre glatte Oberfläche mußte erst mit Sand bestreut werden, damit die Pferde nicht fielen. Es war wirklich schön, diesen von Blöcken und Schutt angefüllten Hohlweg hinter sich zu haben und wieder in das Tschimental zu gelangen, wo wir an der Stelle lagerten, an der wir vor einem Monat mit der Hilfskarawane zusammengetroffen waren.

Von hier aus wurde Kutschuk mit dem sich jetzt etwas besser befindenden Togdasin und dem Boote nach Hause geschickt, während wir anderen nach Norden weiterzogen, um über den Akato-tag zu gehen.

Die Nacht auf den 28. November war mit ihren −24,6 Grad die kälteste, die wir bisher in diesem Winter gehabt hatten.

Ein düsteres, steiles Granittal führt nach dem 4926 Meter hohen Passe Gopur-alik im Akato hinauf (Abb. 167). Mit einem Male konnten wir nicht hinauf gelangen, sondern lagerten in dem Tale zwischen Massen von Felsblöcken, wo es weder Wasser noch Feuerungsmaterial und auch kein Gras gab. Am folgenden Morgen strengten wir uns weiter mit dem Erklimmen der Abstürze an. Die Pferde atmen so schnell und mühsam, daß man erwartet, ihre Lungen würden zerspringen; sie bekommen keine Luft und müssen unaufhörlich ausruhen, um nicht zusammenzubrechen. Der Paß ist scharf wie eine Klinge und fällt nach beiden Seiten jäh ab. Alle gehen zu Fuß; ich lasse mich hinaufbugsieren, indem ich mich am Schwanze meines Pferdes halte. Lasten gleiten ab, und Pferde fallen. Hier heißt es aufpassen und zugreifen, sonst könnten sie in das abschüssige Tal Hunderte von Metern tief hinabrollen und zu Brei zerschmettert werden. Der Westwind heult so regelmäßig wie ein Passatwind, und es ist bei −15 Grad recht fühlbar kalt.

Die Maulesel gehen sicherer als die Pferde; daher mußte einer von ihnen meine Instrumentenkiste tragen. Endlich erreichen wir den Paß und haben von seinem scharfen Kamme eine großartige Aussicht. Mit einem Blick beherrscht man alle diese mächtigen, mit blendenden Schneepanzern bekleideten Bergäste, und im Westen breitet sich ein unentwirrbares Durcheinander von Felsen aus. Das Tal, das uns nach dem Passe hinaufgeführt hat, liegt wie eine schattige, jäh abfallende Rinne unter unseren Füßen, und wir erstaunen, daß es möglich gewesen ist, in ihm hier heraufzuklimmen. Im Norden erhebt sich der gewaltige schneebedeckte Gebirgsstock Illwe-tschimen mit seinen vielen bizarren Gipfeln, die wir von früheren Exkursionen her kannten.

[S. 392]

Nach der üblichen Rast zu Beobachtungen sehnte ich mich nur nach dichteren Luftschichten und Schutz gegen den Wind. Jetzt folgen wir einem imposanten Tale, das auf beiden Seiten mehrere Nebentäler empfängt. Ihre Mündungen gleichen gigantischen Toren zwischen lotrechten Felswänden. Wenn man in die Tore hineinsieht, erblickt man im Hintergrunde die wunderlichsten Berggestalten, wo der Schnee auf allen Vorsprüngen in Friesen und Mustern liegt; in dem gedämpften Purpur der Abendsonne gleichen sie Galerien und Dekorationen in einem tibetischen Tempel.

Sobald die Pferde im Lager von ihren Lasten befreit worden waren, ergriffen sie die Flucht, wurden aber nach einer Weile wieder eingefangen und angebunden. Weide gab es nämlich in dieser Gegend (4057 Meter) nicht. Der Wind weht noch immer, und die Glut des Kohlenbeckens reicht nicht aus, um die Tinte in meiner Feder flüssig zu halten. Ich habe −12 Grad in der Jurte. Durch die unvermeidliche Zugluft von allen Seiten brennt mein Licht in drei Stunden herunter und ist von dicken Stearinstalaktiten umgeben. Tscherdon schoß einen Yakstier, und ich bedauerte Turdu Bai, Tokta Ahun und Chodai Värdi, die den Yak um 9 Uhr abends bei grimmiger Kälte zerlegen sollten. Solange das Fleisch warm war, konnten sie sich daran die Hände wärmen, aber gegen Mitternacht kehrten sie in das Lager zurück mit einem Bündel steinhartgefrorener Fleischstücke, die unter den Beilhieben wie Glas zersprangen.

Beim nächsten Lagerplatze fanden wir in den harten, gefrorenen Büscheln der Hochlandsteppe gutes Brennmaterial, und der Schnee schenkte uns Wasser. Am folgenden Morgen vergoldete die Sonne die Gipfel des Illwe-tschimen, während wir noch im Schatten lagen; es wehte nicht, wir sehnten uns in den Sonnenschein hinaus und waren bald im Gange. Von dem obenerwähnten Gebirgsstock geht ein Tal aus, dessen Gehänge außergewöhnlich gute Weide tragen. Daher blieben wir hier nach einem kurzen Tagemarsch, und ich war gerade dabei, das Stativ des Theodoliten aufzustellen, als der Weststurm kam und jeder Arbeit im Freien ein Ende machte. Er riß das Zelt der Leute um; es flog fort und landete auf dem Eise des Talgrundes.

Längs des zunächststehenden Berges sahen wir einen Mann auf einem Kamel reiten. Ich glaubte, es möchte ein Bote an mich sein, und schickte daher Tokta Ahun aus, um Erkundigungen einzuziehen. Der Mann war, wie sich herausstellte, ein Mongole und gehörte zu einer Pilgergesellschaft aus Kara-schahr, die auf dem Wege nach Lhasa war. Die anderen waren am Morgen hier vorbeigekommen, er aber war zurückgeblieben, weil sein Kamel nicht so schnell hatte laufen können.

166. Islam Bai und Kutschuk stoßen vom Lande ab. (S. 389.)
Im Hintergrund die kleine isolierte Bergpartie am Nordwestufer des Ajag-kum-köll.

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167. Das nach dem Passe Gopur-alik hinaufführende Tal. (S. 391.)

Mongolische Pilger begeben sich jährlich aus den russischen und chinesischen[S. 393] Vasallenländern im Norden über Temirlik, Ghas und Zaidam nach der heiligen Stadt. Sie wandern stets im Spätherbst oder Winter dorthin und kehren im nächsten Jahre um dieselbe Zeit wieder zurück. Während der warmen Jahreszeit gehen sie nie über Abdall, weil die Bremsen ihnen die Kamele ruinieren würden. Auf der Rückreise sind sie stets übel daran, weil ihnen von ihren Tieren nur noch wenige geblieben sind, und die meisten Männer gehen zu Fuß. In Abdall pflegen sie zu versuchen, ihre erschöpften Kamele gegen Pferde zu vertauschen, um dadurch instand gesetzt zu werden, ihre noch weit entfernte Heimat zu erreichen. Ein schwächliches Kamel hat gleichen Wert mit einem Pferd, drei schlechte Kamele mit einem gesunden, ein ganz abgetriebenes mit einem Esel. Ihren Proviant verwahren die Pilger in Säcken und Kisten, und auf der Rückreise kaufen sie in Abdall neue Vorräte. Wenn sie auf der Hinreise in das Land der Zaidammongolen gelangen, lassen sie alle Kamele bei ihren Stammverwandten zurück und reisen auf gemieteten Pferden weiter. In Zaidam haben viele Mongolen hierdurch ein bedeutendes Einkommen.

Sie müssen großes Vertrauen zu der Wahrheit ihrer Religion besitzen, da sie das Opfer eines ganzen Jahres voller Strapazen, Entbehrungen und Kosten bringen, um nur die heilige Stadt zu sehen und an den dortigen Tempelfesten und Prozessionen teilzunehmen. Sie richten es stets so ein, daß ein Pilger, der schon in Lhasa gewesen ist, mitkommt, und von Zaidam nehmen sie Führer, die alle geeigneten Lagerplätze kennen. Vier Monate sind sie unterwegs und richten sich ihr Karawanenleben so angenehm wie möglich ein. Während des Marsches sammeln sie „Argussun“ (Argol oder Yakdung) zum Brennen und sitzen abends um ihre Feuer, bereiten sich Tee und essen Tsamba, das tibetische Nationalgericht. Mit gespannter Erwartung nähern sie sich dem Ziele ihrer Träume, sehen eine Bergkette nach der anderen hinter sich verschwinden und empfinden ohne Zweifel, wenn hinter der letzten Höhe endlich Lhasas weiße Tempelfassaden glänzen, dieselbe heilige Ehrfurcht, die den Mekkapilger ergreift, wenn er zum ersten Male in seinem Leben vom Berge Arafat seine heilige Stadt erblickt.

Es war ein seltsames Gefühl, diese Pilger in der Nähe zu wissen und in den Spuren zu ziehen, die nach Lhasa führten. Einen Augenblick lang fühlte ich mich versucht, mich ihnen anzuschließen, nur Schagdur mitzunehmen und als Burjate verkleidet mit ihnen zu ziehen. Aber nein, es ließ sich nicht ausführen; ich hatte für den Winter andere Pläne und durfte mein Programm nicht ändern.

Wir folgten den wie helle Kreise in den Sand gedrückten Spuren der mongolischen Kamele. Im Norden unseres Weges zieht sich die Astin-tag-Kette[S. 394] so weit nach Osten und Westen hin, wie das Auge reicht. Gegen Abend nahm die Luft einen hellblauen Farbenton an, war aber im Zenit glänzend weiß, — wahrscheinlich brachen sich die Mondstrahlen in seinen Eisnadeln; die Berge leuchteten in rosa Schattierungen, alles zeigte sich in schwachen, winterkalten Tönen; auch wenn man von lauter Wärme umgeben wäre, würde man sehen, wie diese Landschaft unter der vernichtenden Macht der Kälte erstarrt ist.

Wir wandern in dem Tale nach Osten und gelangen an den am Nordfuße des Akato-tag gelegenen Salzsee Usun-schor. Hier entspringen mehrere Süßwasserquellen, und nur da, wo sich ihre Rinnsale in den See ergießen, liegt Eis. Sonst ist das mit Salz gesättigte Wasser offen, obwohl es eine Temperatur von −7,9 Grad hat.

Es war schön, am Abend des 5. Dezember wieder daheim zu sein und im Lager alles gut und ruhig vorzufinden. Die Quellen von Temirlik waren jetzt von mächtigen Eisblöcken und Eiskuppeln umgeben. Togdasin hatte sichtlich einen ernstlichen Stoß bekommen, denn sein Zustand hatte sich nicht gebessert. Er wohnte in einer Grotte neben mir, und ich nahm mich in den Tagen, die ich jetzt im Hauptquartier zubrachte, seiner sehr an. Als das Hauptquartier Ende Dezember nach Tscharchlik verlegt wurde, kam er mit, und ich sah ihn dann erst im April des folgenden Jahres wieder. Er war ein Krüppel geworden; die Füße waren ihm buchstäblich Stück für Stück abgefallen, aber er war heiter und zufrieden, und ich gab ihm soviel ich konnte für seinen Lebensunterhalt.

In betreff der mongolischen Karawane erzählte Schagdur, daß sie einen Tag in Temirlik gerastet und aus 75 Männern, lauter Lamas, und zwei Weibern bestanden habe. Einer dieser Priester hatte einen besonders hohen vornehmen Rang, und ihm wurde von den anderen die größte Ehrfurcht erzeigt. Ungefähr 25 von den übrigen waren so arm, daß sie zu Fuß gingen und nur unter der Bedingung mitkommen durften, daß sie ihren wohlhabenderen Kameraden dienten. Letztere hatten eine Reisekasse von 10 Jamben pro Mann und außerdem noch eine Kasse von 120 Jamben, die für den Dalai-Lama bestimmt waren, weil sie für alle Feste und Feierlichkeiten, an denen sie teilnehmen, bezahlen müssen. Dies ist der Peterspfennig, von dem der Papst in Lhasa lebt.

Die Schar war gut bewaffnet und besaß 30 mongolische Flinten, 2 Berdan- und 1 Winchestergewehr; sie waren also auf die Abwehr tangutischer Räuberanfälle vorbereitet. Schagdur hatte einige von ihnen aufgefordert, mit ihm auf die Kulanjagd zu gehen, sie hatten aber erwidert, daß jegliches Blutvergießen verboten sei, weil es die Wallfahrt besudeln würde.

[S. 395]

Der Mann, der zurückgeblieben war und den wir gesehen hatten, war ein Lama, der zehn Jahre in Lhasa gelebt hatte und jetzt noch drei dort bleiben sollte. Ich fragte mich, ob er Schagdur wohl wiedererkennen würde, wenn es uns später noch gelingen sollte, in die heilige Stadt zu gelangen.

Die Karawane zählte 120 Kamele und 40 Pferde. Außerdem hatten sie 7 Paradepferde bei sich, die mit der größten Sorgfalt gepflegt wurden und als Geschenk für den Dalai-Lama bestimmt waren. Der Proviant bestand aus gehacktem Fleisch in kleinen gedörrten, gefrorenen Stücken, geröstetem Weizenmehl und Tee.

Mit der größten Neugierde hatten sich die Pilger unser Lager angesehen und die Veranlassung meines Besuches zu erforschen versucht. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sie bei der Ankunft in Lhasa ihre in dieser Beziehung gemachten Entdeckungen den betreffenden Behörden meldeten und daß dies eine der Ursachen war, weshalb die Grenze gegen Norden mit so großer Aufmerksamkeit bewacht wurde. Ich erhielt später eine Bestätigung für diesen Verdacht.

Schagdur hatte einige Neuigkeiten aufgeschnappt, die ich mir merkte. Die Mongolen hatten erzählt, daß alle Pilger, die sich Lhasa nähern, unter strenger Aufsicht stehen. Schon in Nakktschu werden alle angehalten und untersucht. Sie müssen ihre Namen angeben, die Orte, in denen sie leben, und den Namen des Oberlamas, unter dem sie stehen, und von ihm ein Zeugnis vorzeigen, in welchem angegeben wird, zu welcher Kloster- oder Tempelgemeinde sie gehören und was der Grund ihrer Wallfahrt ist. Wenn alle diese Formalitäten erledigt sind, wird ein Bericht darüber nach Lhasa geschickt, und die Pilger müssen warten, bis sie von den Behörden der Stadt besondere Pässe erhalten.

Sind sie erst damit versehen, so brauchen sie sich nachher keiner weiteren Kontrolle zu unterwerfen. Diese Vorsichtsmaßregeln sollen getroffen worden sein, um Russen, d. h. Europäer, zu verhindern, sich in Lhasa einzuschleichen. Aus denselben Gründen war vor einigen Jahren ein Erlaß an die Turgutenstämme, die russische Untertanen sind, ergangen, daß aus ihrem Lande künftig keine Pilger nach Lhasa geschickt werden dürften. Dieses Verbot war aber kürzlich aufgehoben, und die einige Zeit unterbrochenen Wallfahrten waren wieder aufgenommen worden.

Ein Lama der Pilgerkarawane hatte von einer Prophezeiung in einem in Lhasa befindlichen alten heiligen Buche zu erzählen gewußt, die verkündete, daß der Tsagan Chan, der „Weiße Zar“, einst über die ganze Welt herrschen, Tibet erobern und Lhasa zerstören werde. Die Lamas würden dann ihre Heiligtümer in unzugängliche Gebirge in Südtibet flüchten.

[S. 396]

Der Lama hatte Schagdur eingeladen, mitzukommen; für ihn würde es leicht zu machen sein, besonders wenn er sich für einen Turguten ausgäbe. Ich unterhielt mich abends, wenn es im Lager still war, mit meinem treuen Kosaken über diese Dinge, die ihn in so hohem Grade interessierten. Schon als Kind hatte er von der heiligen Stadt gehört und brannte nun vor Eifer, einmal dorthin zu kommen. Er ahnte nicht, daß es meine Absicht war, es selbst auf den verbotenen Wegen zu versuchen. Doch wir mußten uns noch gedulden. Ich hatte vorher noch wichtigere Dinge auszuführen, und der ganze Plan des Versuchs, verkleidet nach Lhasa zu dringen, gehörte zu jenen waghalsigen Abenteuern, die nur Reiz ausüben, wenn man noch jung ist.

[S. 397]

Register

Druck von F. A. Brockhaus in Leipzig.

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Tarim und die Wüste Takla-Makan

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OSTTIBET.

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Obere Hälfte der Karte „Osttibet“ und eines Faksimiles der Karte des Autors
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