The Project Gutenberg eBook of Der Volksbeglücker

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Title: Der Volksbeglücker

Author: Rudolf Haas

Release date: March 13, 2022 [eBook #67619]
Most recently updated: October 18, 2024

Language: German

Original publication: Germany: L. Staackmann, Verlag

Credits: The Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER VOLKSBEGLÜCKER ***

Rudolf Haas

Der Volksbeglücker

Der Volksbeglücker

Von

Rudolf Haas

Verlagssignet

Drittes bis zehntes Tausend


L. Staackmann, Verlag, Leipzig
1920

Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten

Copyright 1910 by Axel Juncker in Berlin-Charlottenburg

Druck von C. Grumbach in Leipzig

Dem Prager Dichter

Friedrich Adler,

meinem langjährigen Freunde,
dankbar zu eigen.

Erstes Buch

1.

Das niedrige Bergland, das Westböhmen von Bayern scheidet, ist eine liebe, warme Erikagegend, die im Sommer schamhaft errötet, wenn sie sich hüllenlos in ihrer unberührten jungfräulichen Schönheit dem glücklichen Entdecker nach langem Sträuben endlich preisgeben muß.

Und er entdeckte und liebte diese frische, keusche Art, der hager aufgeschossene Junge, der jeden Nachmittag, wenn die Mittelschüler, vom Unterricht erlöst, den sechstausend Insassen von Neuberg die Ohren voll lärmten, durch die winkeligen Kleinstadtgassen in den lachenden Sommer hinauslief, immer denselben Weg, den Hügel hinauf und am Kamm fort auf schmalen Feldrainen, wo der wilde Quendel blühte und die blauen Glockenblumen, bis er endlich mitten darin war in der roten Erika. Stundenlang konnte er dann dort oben liegen, versunken in dem leuchtenden, bienendurchsummten Teppich, und in die helle, silbern flimmernde Luft blicken. Soweit er schaute, war nichts als der klare endlose Luftraum, und nur ganz nahe, dicht vor ihm, standen die verästelten Blütenbüschel rosenrot vor dem blauen Hintergrund.

Die sonnenweite Unendlichkeit des Sommers war um ihn, und er fühlte sich wie losgelöst von allem, was mit ihm und neben ihm lebte. Und in seiner Seele erwachten die uralten Fragen nach dem Woher und Warum, sein achtzehnjähriges Jünglingsgemüt fragte nach dem Zweck dessen, was nie einen Zweck hatte, suchte Regel und Plan in dem, was planlos und regellos entstanden war, wollte einheitliche schöpferische Ordnung in dem Wirrwarr finden, der sich unbewußt gebildet hatte, wie er sich bilden mußte nach den starren, toten Gesetzen von Urbeginn. Und gegen den Kindersinn, der blindlings glaubt und mit ganzer Seele etwas glaubend fassen will, drang der reifende Verstand des Jünglings an, der Tatsachen und Beweise für den Glauben forderte. Es ist das ein schwerer Kampf, der meist in stillen Nächten und verschwiegener Einsamkeit durchgefochten, langsam heilende Wunden und dauernde Narben zurückläßt. Glücklich, wer in diesen Tagen einen verständnisvollen Vater zur Seite hat, der ihn unmerklich und dennoch sicher aus dem Wirrsal leitet.

Fritz Hellwig hatte solches Glück nicht. Sein Vater, ein Volksschullehrer, war schon vor vielen Jahren gestorben, und unter der ziellosen Leitung einer überzärtlichen Mutter, die den einzigen Sohn beständig mit dem lauen Badewasser einer weichlichen Liebe umplätscherte, wuchs er zum verschlossenen Träumer heran. Während seine Altersgenossen Trapper und Indianer spielten, den Tomahawk schwangen und an ihren Lagerfeuern gestohlene Erdäpfel brieten, lag er im Heidekraut oder saß er in einer dämmrigen Zimmerecke und füllte die Stube mit Traumgestalten, mit Feen, Zwergen und blonden Königstöchtern. Deswegen litt er auch mehr als sonst einer darunter, als von der flimmernden Märchenpracht Stück für Stück der trügerische Flitter abfiel und der nüchternen, trostlos grauen Wirklichkeit Platz machen mußte. Und als er mit den zunehmenden Jahren nicht mehr im unklaren über seine Entstehung bleiben konnte und als er aus den unreif-rohen Zoten der Mitschüler den Sachverhalt zu ahnen begann, kam ihm das wie eine Entweihung seiner Mutter vor. Er schloß sich noch ängstlicher ab und haderte mit der Welt und grollte seiner Mutter, weil sie ihm Lügen vorgesagt, deren Verlust jetzt so weh tat. Aber mit niemandem sprach er darüber, hatte keinen Vertrauten und war zu stolz und zu scheu, um einen Menschen in seine Seele blicken zu lassen. Deswegen hielten ihn viele für eigensinnig oder hochmütig. Die weinerliche Lehrerswitwe aber, für die es seit dem frühen Tode ihres Mannes im Leben keine ungetrübte Freude mehr gab, konnte nur zanken oder seufzend den Kopf in die ausgearbeitete Küchenhand stützen, und ließ im übrigen ihren dickschädeligen Jungen unbedingt gewähren.

Auch damals, als er ihr kurz eröffnete, daß er an den Sonntagen nicht mehr in den Gottesdienst gehen werde. Erst schlug sie zwar die Hände zusammen und wollte den Grund wissen und was Pater Romanus dazu sagen werde. Denn sie war sehr fromm und fand den sanftesten Trost in der frohen Aussicht auf eine Wiedervereinigung mit ihrem seligen Gatten, indes die leiblichen Reste des unaufhörlich Betrauerten schon längst in alle Winde verweht waren mit den kühlen weißen Blumenblättern des Rosenstämmleins, das aus seinem Grabe Nahrung sog zu einem gedeihlichen Wachstum und fröhlichen Blütentreiben. Daran dachte die einfache Frau jedoch nicht. Sie glaubte nur den Worten der Sachwalter Gottes auf Erden und hegte eine grenzenlose Verehrung eben für jenen Jesuitenpriester Romanus, dem die jungen Seelen der Neuberger Lateinschüler in Obsorge gegeben waren. Der war von knochiger Länge und bleicher, fast krankhafter Gesichtsfarbe, aber seine wandlungsfähige Stimme hatte einen tiefen Orgelklang, wie man ihn von solcher Stärke in dem kaum gewölbten Brustkasten niemals vermutet hätte, und da er überdies stets den richtigen Ton zu treffen wußte, ebenso sanft und süß wie grimmig, hart und leidenschaftlich sein konnte, war es kein Wunder, daß er als Kanzelredner starken Zulauf hatte. Auch war er zu christlichem Beistand jederzeit gern erbötig, selbst wenn er nicht darum angegangen wurde, war dann je nach Bedarf milde, salbungsvoll, gütig, entrüstet oder ein zorniger Eiferer und hielt für schmerzhafte Verletzungen und verwickelte Zustände der Seele erbauliche Worte und heilsame Bibelsprüche bereit wie ein Apotheker seine Salben und Pflaster, nur daß er seinen Kunden kein Geld, sondern lediglich die Beichte abverlangte. Doch nahm er diese ins Ohr geflüsterten Verfehlungen als vollgültiges Zahlungsmittel, und wenn es ihm gelungen war, einen besonders feisten Sündenbraten aufzugabeln, dann saß er mit niedergeschlagenen Augen und geneigtem Ohr ohne Regung im Beichtstuhl. Nur seine Hände bewegten sich, als zählte er Sünde zu Sünde wie ein Hausherr am Zinstag seine Taler.

Wie so manche Mutter oder Kostfrau der hoffnungsvollen Gymnasiasten von Neuberg war auch Frau Hellwig eine eifrige Besucherin dieser Offizin, weshalb sie ihren großen Jungen, der mir nichts, dir nichts auf die Segnungen der Messe verzichten wollte, auch sofort an den Religionsprofessor erinnerte. Fritz hatte jedoch auf diese Erinnerung und auf alle ihre Fragen und Vorstellungen diesmal nur die trotzige Antwort, er gehe nicht. Denn er scheute sich, die gottesfürchtige Frau in ihren teuersten Empfindungen zu verletzen mit dem Bekenntnis, daß er den Glauben verloren habe. Für eine Mutter ihres Schlages konnte es ja kein größeres Unglück geben als ein gott- und glaubenloses Kind. Sie ahnte freilich den eigentlichen Beweggrund. Aber viel zu wehleidig, sich ihn einzugestehen, fand sie sich mit dem spiegelfechterischen Gedanken ab, daß ihr Trotzkopf von Sohn nur irgendwie gegen den Religionslehrer aufmucken wollte. So trieb sie’s wie der Vogel Strauß und war leidlich beruhigt dabei.

Aus dem eigenmächtigen Fernbleiben von den religiösen Übungen erwuchsen Hellwig übrigens fürs erste keinerlei Verdrießlichkeiten. Denn Pater Romanus übte in den oberen Klassen keine Überwachung durch Namenaufruf, sondern fragte lediglich ein paarmal im Jahre seine Schüler, ob sie auch stets der Sonntagsmesse beiwohnten. Wer gefehlt habe, solle sich melden. Durch dieses Vorgehen wollte er dartun, daß keine Spur von Mißtrauen gegen die Wahrheitsliebe seiner Zöglinge in ihm sei. Doch hatte er eine eigene Überwachung auch gar nicht nötig, da seine zahlreichen Verehrerinnen eine solche aufs trefflichste besorgten, indem sie bald klagend bald Hilfe heischend ihren Beichtiger hinsichtlich des Verhaltens seiner Schüler fortwährend auf dem laufenden hielten. Das wußten die schlauen Jungen ganz gut und hüteten sich, ohne triftigen Entschuldigungsgrund eine vorgeschriebene Andachtsübung zu versäumen. Auf Hellwig, dessen Mutter mindestens einmal im Monat beichten ging, hatte Pater Romanus schon längst ein scharfes Auge, weil hier wieder einmal ein Schäflein vom rechten Weg abirren wollte. Aber er hielt die Zeit seines Einschreitens noch nicht für gekommen.

Die übrigen Professoren, außer einem, hatten den stillen Jüngling gern, der stets aufmerksam und in sich gekehrt dasaß, keinen Sittenpunkt in ihren Katalogen aufwies und mit zähem Fleiß seinen Platz unter den mittelmäßigen Schülern behauptete. Sie schätzten seine gründliche Arbeit, und sogar dem Klassenersten Otto Pichler wurde er manchmal als Muster hingestellt.

Der war das gerade Gegenteil von Hellwig, lachte sich, ein kecker Draufgänger, in alle Herzen hinein, stieg unverfroren den Backfischen nach und rauchte heimlich seine Pfeife. Er lernte leicht und mühelos, war ein ebenso guter Turner wie Rechner, Schlittschuhläufer wie Lateiner und hielt sich, über alle Tiefen wegtänzelnd, mit prächtigem Leichtsinn immer an der Oberfläche des Lebens. Seine Mitschüler räumten ihm wie selbstverständlich eine führende Stellung ein, für die kleineren Studenten war er ein bewunderter Halbgott und in dem unschuldigen Tagebuch mancher Fünfzehnjährigen prangte sein Name als der des endlich gefundenen Ideals. Seine frischroten Wangen und der anziehende Gegensatz, in dem die lustigen Blauaugen zu den dunkelbraunen Locken standen, konnten hier unmöglich ihre Wirkung verfehlen.

Nur Fritz kümmerte sich nicht um ihn, wie er sich überhaupt um niemanden scherte. Aber gerade dieses verschlossene Wesen reizte den sieggewohnten Pichler, auf dessen Freundschaft viele stolz waren, und in mannigfacher Weise suchte er, sich ihm zu nähern.

Da sah er eines Tages — eine sehr langweilige Unterrichtsstunde war eben zu Ende —, wie Hellwig das Lesebuch, das er in seiner Freude über die Erlösung ungestüm zugeklappt hatte, hastig wieder öffnete und trübselig einen schmierigen Fleck auf den bedruckten Blättern betrachtete. Neugierig blickte Otto ebenfalls hin und erkannte deutlich die Überreste einer Fliege, die sich auf irgendeine Weise in das Buch verirrt und durch das Zuschlagen den Tod gefunden hatte. Fritz aber zog mit dem Bleistift einen Kreis um die schmutzige Stelle und schrieb darunter: ‚Zur Erinnerung! Hier habe ich ohne Absicht ein Leben vernichtet.‘

Pichler war mit seinem Spott sonst gleich bei der Hand. Aber während er diesem Treiben zusah, kam ihm zugleich mit einer an Rührung streifenden Gemütsbewegung heftiger als je der Wunsch, Fritz zum Freund zu gewinnen.

An diesem Nachmittage folgte er ihm daher heimlich und fand ihn in der Erikaeinsamkeit. Mit einer sonderbaren Frage weckte er den Träumer aus seiner Versunkenheit.

„Hellwig, tut dir nicht auch die schöne Erika leid?“ fragte er.

Der Angeredete schrak zusammen, sprang auf und blickte den als Spötter bekannten Pichler unsicher an.

„Ist es denn nicht auch Unrecht, Pflanzen zu zerquetschen?“ fuhr dieser fort.

Eine jähe Röte färbte Hellwigs Wangen. Ganz verlegen stand er da und fürchtete das Ausgelachtwerden. Als Pichler jedoch ernst blieb und ihm mit einem herzlichen Blick die Hand entgegenstreckte, schlug er zögernd ein.

Auf solche Weise erreichte der braunlockige Schwerenöter seine Absicht und kam in ein engeres Verhältnis zu Fritz. Es hatte sogar den Anschein, als könnte sich dieses zu einer regelrechten Jugendfreundschaft entwickeln. So gut schienen die Auffassungen der beiden zusammenzustimmen. Im letzten Grunde hatte indes Otto selbständige Ansichten überhaupt nicht. Um sich zu solchen durchzuringen, war er viel zu bequem und viel zu seicht. Sein ungemein geschmeidiger Geist ermöglichte es ihm jedoch, sich überall zurechtzufinden und fremde Meinungen skrupellos zu den seinen zu machen, insofern dieselben für ihn neu oder überraschend und geeignet waren, ihren Verfechter in ein auffallendes Licht zu rücken.

Für Hellwigs Entschluß, den Religionsübungen fern zu bleiben, war er sogleich Feuer und Flamme. Als dieser ihm zu bedenken gab, daß er selbstverständlich auch alle Folgen tragen und sich insbesondere bei der nächsten Umfrage des Paters Romanus freiwillig melden müßte, stutzte er zwar einen Augenblick, fand aber dann diesen Gedanken großartig und schwor, daß er durch dick und dünn mithalten werde. Aber Freunde müßten sie werden, denn Arm in Arm mit Hellwig fordere er sein Jahrhundert in die Schranken. Bei diesen Worten warf er sich leidenschaftlich an die Brust des Kameraden, und sie gelobten einander mit Handschlag, nie zu lügen.

Seither unternahmen sie gemeinsame Spaziergänge oder kamen bei schlechtem Wetter in Hellwigs Zimmer zusammen. Dieses war zugleich die gute Stube der Lehrerswitwe, die darin ihre besten Möbelstücke aufgestellt hatte: einen Glaskasten, angefüllt mit goldbemalten Porzellantassen, Tellern, Zinnkrügen und einem Kruzifix unter gläserner Glocke, eine vielfächerige Kommode, einen eirunden Salontisch sowie sechs Polsterstühle, die unter ihren weißen Leinenschutzhüllen aussahen wie kopflose Damen in Frisiermänteln. In diesem Durcheinander, das jedoch von den reinlichen Fenstervorhängen, den geflickten Tischläufern und den gehäkelten Deckchen bis hinab zum Fußboden peinlich sauber gehalten war, konnten die beiden Jünglinge ungestört ihre Meinungen austauschen. Denn Frau Hellwig hielt sich gewöhnlich in der Küche auf, wo sie auch schlief, und erschien nur im Zimmer, um eine Kanne Kaffee nebst einem Scheiterhaufen von Butterbroten oder Kuchenstücken hereinzubringen. Dann blieb sie ein Weilchen, lächelte gutmütig zu Ottos Witzen und lobte ihn, daß er ihrem Traumhans von Jungen den Hang zum Alleinsein ausgetrieben habe. Dafür erwies sie sich auch dankbar, und seit sie erfahren hatte, daß Otto der Sohn eines mit acht Kindern gesegneten Dorfküsters und arm wie eine Maus in dessen Kirche sei, konnte sie’s nicht unterlassen, ihm beim Weggehen jedesmal etwas zuzustecken, Kuchen, Äpfel oder ein Stück vom Sonntagsbraten, obwohl sie’s wirklich nicht zum Hinauswerfen hatte. Sie mußte im Gegenteil trotz einem Kalkulator rechnen und einteilen, um ihrem Sohne nebst einer anständigen Lebensführung das Studieren zu ermöglichen. Aber sie war glücklich, wenn sie jemanden bemuttern konnte, und sagte Pichlern auch, er solle ihr nur seine schmutzige Wäsche bringen, sie werde sie ihm rein machen, bügeln und flicken, das gehe mit der ihres Jungen in einem hin.

„Deine Alte ist wirklich ideal!“ versicherte Otto des öftern, während sie vor den dampfenden Tassen saßen und die Abtragung des Scheiterhaufens in Angriff nahmen. Dann kamen sie wieder ins Reden und ereiferten sich mit glühenden Köpfen und vollen Backen über Philosophie, Religion und Volkserziehung, während sie die Hände unablässig nach den gefüllten Tellern streckten, bis der letzte Bissen vertilgt war. —

Da geschah es, daß Pater Romanus in der obersten Klasse wieder einmal die bereits seit längerer Zeit erwartete Frage stellte: Ob jemand in den letzten Monaten die Messe versäumt habe?

Wie der Krampus aus der Schachtel schnellte Fritz von seinem Sitze auf, stand kerzengerade und schaute dem Professor freimütig ins Auge. Zögernd erhob sich auch Pichler. Aber er ließ schuldbewußt den Kopf hängen.

„So, so, der Beste und der Fleißigste aus der Klasse!“ lächelte der Pater und forschte leutselig nach dem Grund.

„Ich bin freiwillig weggeblieben!“ sagte Hellwig mit fester Stimme. Seine Augen glänzten wie Stahl, die Nasenflügel bebten.

„Und wie oft, mein liebes Kind?“ fragte der Priester sehr sanft.

„Seit zwei Monaten jeden Sonntag. Ich hab’ es nicht gezählt!“

„Aber Hellwig, was soll das heißen? Wie können Sie das rechtfertigen?“

„Ich habe keine Entschuldigung, Herr Professor. Ich bin nur so nicht hingegangen!“

„Kind!“ Beschwörend streckte Romanus die Arme aus, als wollte er die Worte nicht an sich heran kommen lassen.

Mäuschenstill war es in der Klasse. Die Oktavaner in den Bänken hielten den Atem an und starrten mit ängstlicher Bewunderung auf den stillen, sonst so wenig beachteten Kameraden und wunderten sich, wie der Duckmäuser gegen den gefürchteten Lehrer aufzutreten wagte.

Pater Romanus hatte das auch nicht erwartet. Er wußte nicht recht, wie er sich dazu verhalten sollte. Um Zeit zur Überlegung zu gewinnen, richtete er seine Augen langsam auf Otto, betrachtete ernst und prüfend dessen gesenktes Haupt und fragte schärfer:

„Und was ist mit Ihnen, Pichler?“

„Ich ...,“ stammelte der und stockte gleich.

„Wie oft haben Sie gefehlt?“

Otto warf einen scheuen Blick auf die gefurchte Stirn des Lehrers und sah schnell wieder zu Boden. Sein ganzer Mut hatte ihn verlassen.

„Einmal ...,“ stotterte er zerknirscht.

„Otto!“ raunte ihm Hellwig verwundert zu.

Aber die eindringliche Stimme des Priesters forschte weiter: „Und warum, liebes Kind?“

Und Otto antwortete tonlos: „Ich war unwohl.“

„Herr Professor, das ist ...“ brauste Fritz auf und schwieg sofort wieder, als er die klägliche Figur des andern gewahrte.

„Wollten Sie etwas sagen, Hellwig?“ wandte sich Pater Romanus nun wieder an ihn. Da schüttelte er stumm den Kopf. Wozu den Angeber machen?

Und plötzlich kam ihm zu Bewußtsein, daß sich alle Blicke der Klasse in seiner Person wie in einem Brennpunkt vereinigten. Unerträglich, wie ein unkeusches Betasten des Körpers, war ihm das. Und mit einemmal konnte er es nicht über sich bringen, den Beweggrund seines Fernbleibens anzugeben. Er hatte das Gefühl, als würde er durch ein solches Geständnis seine Seele nackt zur Schau stellen.

„Nun, Hellwig, haben Sie sich eines Bessern besonnen? Wollen Sie mir Ihr sonderbares Benehmen aufklären?“

Die sanfte Stimme des Jesuiten rann wie ein süßes Honigbächlein durch die Stille.

Fritz schwieg, sah ihn an und zuckte nicht mit der Wimper.

„Kind, nehmen Sie doch Vernunft an! Woher nur auf einmal? ... Denken Sie doch auch an Ihre liebe Mutter!“

Keine Antwort.

„Wollen Sie also den Grund Ihres Benehmens wirklich nicht angeben?“

„Nein!“

Kurz, hart, messerscharf, daß Pater Romanus zurückprallte. Aber er faßte sich rasch.

„Sie scheinen mir vom rechten Weg abgekommen zu sein,“ sagte er und strich mit der schmalen Hand über die Augen. „Besuchen Sie mich doch einmal in meiner Wohnung. Dort können Sie mir alles ungestört sagen. Das von heute bleibt unterdessen, als wenn es nicht vorgekommen wäre.“

Mit einem leichten Kopfnicken gab er den beiden Schülern die Erlaubnis zum Niedersitzen und begann mit dem Unterricht.

Kaum war dieser zu Ende, drängten sich die Mitschüler an Hellwig heran, sagten, daß er ganz recht gehabt habe, wenn’s auch vielleicht einen Karzer absetzen könne, und wollten wissen, ob er zu Pater Romanus hingehen werde. Er gab ihnen keine Auskunft, hastete, hochnasig wie immer, davon.

In seinem Herzen schien etwas in Unordnung geraten zu sein, zuckte, stach und schmerzte.

Pichler! Ach ja so, das! — Wie fremd ihm auf einmal der Name vorkam. Als hätte er ihn viele Jahre nicht gehört.

Plötzlich schritt Otto neben ihm her. Er hatte brennend rote Backen und war ganz kleinlaut.

„Fritz, — bist du bös?“ fragte er mit einem verlegenen Lächeln.

Brüsk wandte sich jener ab: „Ach geh, du! Du bist feig!“

„Nein, Fritz, da tust du mir unrecht!“

„Wortbrüchiger!“

„Fritz, ich mußte!“

„Du mußtest? Das ist ja eben die Feigheit!“

„Hör’ doch damit auf, Fritz! Schau’, wenn ich wirklich feig wär’, hätt’ ich dich jetzt gewiß nicht angesprochen, hätt’ mich viel eher seitwärts in die Büsche geschlagen. Und — ist es Feigheit, wenn ich die Verachtung meines Freundes zu tragen gewillt bin — meines Vaters wegen?“

Er machte eine Pause. Hellwig, von der unerwarteten Wendung überrascht, fand keine Antwort.

„Ja!“ fuhr Otto mutiger fort. „Wegen meines alten Vaters! Ich hab’ doch nicht wissen können, wie die Geschichte ausgehen wird. Und wenn ich auch nur Karzer oder eine schlechte Sittennote bekommen hätt’ ... was dann? Die Nachhilfestunden, die Freitische, die Schulgeldbefreiung — alles wär’ beim Teufel! Und dann hätt’ ich das Studieren eben einfach an den Nagel hängen können! Und mein Vater ist so stolz, daß wenigstens einer von uns achten studieren kann! Die Gründe mußt du mir gelten lassen, Fritz!“

„Warum hast du mir dein Wort gegeben? Ich hab’s nicht verlangt!“

„Ich war wie im Rausch damals! Du hast mich fortgerissen ... da hab’ ich mir nicht alles so überlegt —“.

„Gut, gut! Aber laß mich jetzt in Ruh’!“

„Und du verzeihst mir, gelt?“

Zweifelnd blickte Hellwig den Kameraden an.

„Otto, — du kannst mir ja nicht einmal in die Augen schaun!“

Da hob der andere das gesenkte Antlitz. Zwei helle Tropfen rollten ihm über die Wangen, zeichneten silbrige Streifen darauf.

„Das Mißtrauen verdien’ ich nicht, Fritz!“

Die schmerzliche Spannung in den Zügen des jungen Kato ließ nach. Seine Miene hellte sich etwas auf.

„Machen wir einen Strich darunter, Otto, wir sind beide Schwächlinge!“

Eilig rannte er fort.

Pichler ging nach Hause. Er schämte sich noch ein wenig und war doch froh, daß die Geschichte wieder in Ordnung war. Das war ja ausgezeichnet gegangen. Eine heiße Zuneigung zu Fritz stieg plötzlich in ihm auf und das Verlangen, ihm etwas Liebes zu tun. Er wußte nur nicht, was. Und wie öfters schon, faßte er wieder einmal den Entschluß, ein guter, ganz makelloser Mensch zu werden; sich zu Wissen, Ansehn, Bedeutung hinaufzuarbeiten. Im Geiste sah er sich schon Stufe um Stufe erklimmen, angestaunt, beneidet, von vielen umworben. Auf einen machtvollen Posten gestellt, erwarb er Millionen und verfügte unumschränkt darüber, beschenkte fürstlich seine Bekannten, half dem Freunde zu Glück und Ehren.

Immer kühner schwang sich seine Phantasie empor. Als er vor dem ärmlichen Hause stand, wo ihm ein biederer Spengler Kost und Wohnung gewährte gegen die Verpflichtung, seine zwei dickköpfigen Buben durch das Untergymnasium zu lotsen, da wurde es ihm schwer, sich in der Wirklichkeit zurecht zu finden. Die gehobene Stimmung verließ ihn aber den ganzen Abend nicht mehr. Seine Ungeduld drängte ihn, mit der Erwerbung eines umfangreichen Wissens sogleich zu beginnen. Er kramte in seiner Bibliothek, die sich zumeist aus Bändchen der Reclamschen Sammlung zusammensetzte, nahm bald dies, bald das in Angriff und fand keine rechte Ruhe.

Da fiel ihm Kants Kritik der reinen Vernunft in die Hände. Er hatte das Werk stets unverdaulich und langweilig gefunden, war trotz wiederholter Anläufe nicht über die ersten hundert Seiten hinausgekommen. Heute aber beschloß er, sich durch den ganzen umfangreichen Band durchzufressen. Die Beine unterm Tisch lang ausgestreckt, das Gesicht zwischen beiden Fäusten, saß er in der Bodenkammer, die bei besserem Geschäftsgang gewöhnlich einem zweiten Gesellen des Spenglers zugewiesen wurde, blies gewaltige Rauchwolken aus einer langen Pfeife und begann zu lesen.

‚Wenn mich Fritz so sähe,‘ dachte er selbstzufrieden und legte sich ins Zeug, als beabsichtigte er durch eine solche Überwindung dem gekränkten Freunde ein Sühnopfer darzubringen.

Aber je länger er saß, je schwächer wurde seine Aufmerksamkeit. Auf dem Fundamente einer Welt der ‚Dinge an sich‘ bauten seine Gedanken bald wieder prunkvolle Luftschlösser in den Himmel hinein, und die rosige Zukunftsphantasterei eines ehrgeizigen Jünglings schnitt dem kategorischen Imperativ der Vernunft eine spöttische Grimasse.

Unterdessen verging Frau Hellwig vor Sorgen um ihren Jungen, der heute noch seltsamer als sonst war, kein Wort redete und das Abendessen unberührt ließ. Hätte sie in sein Inneres schauen können, die Sorgen wären freilich einem großen Mitleid mit dem armen Grübler gewichen. Schwerblütig, wie er war, legte er dem Vorfall eine übergroße Bedeutung bei. Er litt nicht so sehr unter dem Verrat Ottos, sondern weil er sich selbst untreu geworden war und kein Recht mehr hatte, Pichlern zu zürnen. Denn er war selber feig gewesen. Oder war es etwa nicht Feigheit, zu schweigen, nur weil ein paar Dutzend Augen auf ihn geschaut hatten. Wie sollte er der Wahrheit zum Sieg helfen, wenn er sich fürchtete, sie laut auszusprechen? Beispielgeber hatte er sein wollen — und war vor sich selbst fahnenflüchtig geworden. Wessen er Otto geziehen, er selbst hatte es begangen — und besaß nicht einmal eine Entschuldigung dafür.

So peinigte er sich und konnte die ganze Nacht keinen Schlaf finden. Er faßte keine guten Vorsätze, denn er hatte alles Zutrauen zu sich verloren. Und es dünkte ihm wertlos, etwas, das er nie hätte tun dürfen, durch den Entschluß gutzumachen, es in Zukunft nicht wieder zu tun. In dieselbe Lage konnte er sich nicht zurückversetzen, die war unwiderruflich vorbei und der Makel nicht mehr wegzuwischen.

An allen Gliedern wie zerschlagen, die trüben Augen dunkel unterrändert, erschien er den nächsten Tag in der Schule. Otto war ebenso überrascht wie dankbar, daß Fritz mit keinem Wort auf das Vorgefallene zurückkam und weiter mit ihm verkehrte, als hätte es nie ein Gestern gegeben. Von dem harten Ringen, das zwischen Abend und Morgen lautlos vor sich gegangen, hatte er freilich keine Ahnung, hätte es auch nicht begriffen. Für ihn war jetzt alles wieder im Gleis, zumal auch Pater Romanus nicht dergleichen tat und es schien, als beabsichtigte er die Geschichte im Sand verlaufen zu lassen. Eine vorläufige Folge sollte sie aber doch haben.

2.

Eines Tages, es war bereits spät im Oktober, kam die schöne achtunddreißigjährige Frau des reichen Kaufmannes Wart zu Hellwig und bat ihn, mit ihr zu gehen, ihr Sohn verlange nach ihm.

Fritz war über dieses Ansinnen sehr verwundert, da er den jungen Wart, der die siebente Klasse des Gymnasiums besuchte, nur aus einem gemeinsamen französischen Lehrkurs ganz flüchtig kannte. Er sagte deshalb der unerwarteten Besucherin, die in ihrem schwarzen Seidenkleide fein und fremd zwischen den vermummten Lehnstühlen stand, hier müsse ein Irrtum vorliegen. Sie aber entgegnete, sie irre sich nicht, ihr Junge habe schon oft von Fritz Hellwig gesprochen, namentlich in der letzten Zeit, als die Geschichte mit dem Religionsprofessor vorgefallen sei.

Fritz aber, der sich nur sehr schwer an Menschen anschloß und vor neuen Bekanntschaften förmlich Angst hatte, antwortete kurz, daß er den Heinrich Wart viel zu wenig kenne und keinen Anlaß habe, ihn zu besuchen. Wenn jener etwas von ihm wünsche, solle er’s in der Schule sagen.

Auf eine so schroffe Abweisung war die Frau nicht gefaßt gewesen. Sie brach in Tränen aus und rief ganz aufgeregt, das sei unschön und lieblos gehandelt. Er könne sich denken, daß ihr ungewöhnliches Begehren auch einen ungewöhnlichen Grund haben müsse. Kurz und gut, ihr Sohn sei schwer krank, man wisse überhaupt nicht, ob er wieder aufkommen werde. Heute, nachdem er mehrere Tage im Fieber gelegen und nur fortwährend phantasiert habe, heute habe er auf einmal den Wunsch geäußert, mit Hellwig zu sprechen. Er solle nicht hart sein, vielleicht handle es sich um den Wunsch eines Sterbenden.

Da nahm er wortlos den Hut vom Nagel und ging mit.

In den Gassen war es schon dämmrig, ein steter feiner Regen fiel und schien das Leben in der Stadt langsam auszulöschen. Kein Fuhrwerk rasselte, es bellte kein Hund und nur ab und zu hastete jemand mit aufgespanntem Schirm eilfertig vorbei, den Rockkragen emporgestülpt und die Hosen unten aufgekrempelt, ohne das seltsame Paar zu beachten. Die Frau schritt unbekümmert um den Regen, der ihr ins Gesicht schlug und Perlen in ihr Blondhaar streute, rasch vorwärts. Ihr Kleid knisterte und rauschte über das nasse Pflaster, sie raffte es nicht, hätte auch keine Hand hiezu frei gehabt, denn mit der Rechten hielt sie das Taschentuch vor die Augen, während sie die behandschuhte Linke leicht auf Fritzens Arm legte, als fürchtete sie, er könne ihr noch im letzten Augenblick davonlaufen. Die Sorge war unnötig. Nun er sich einmal entschieden hatte, war zugleich auch jene ruhige Entschlossenheit über ihn gekommen, mit der er stets an die Verwirklichung seiner Vorsätze zu schreiten pflegte. Und wenn sich auch bisweilen mitten in der Ausführung seine noch nicht gefestigte Jugend aus der Bahn drängen ließ, früher oder später vollendete er doch immer, was er sich vorgenommen hatte.

Die schlanke Frau an seiner Seite begann zu sprechen. Erst leise und zögernd, als schämte sie sich. Bald aber vergaß sie die Zurückhaltung, ging aus sich heraus und redete sich das Leid vom Herzen herunter, wie wenn sie sich einem langjährigen älteren Bekannten anvertraute und nicht dem blutjungen Schüler, der trotz seiner Größe im Schultermaß nur wenig höher als sie auf langen Beinen nebenher lief, den Blick geradeaus gerichtet und die Hand zur Faust geschlossen.

Was sie sagte, war nichts anderes als die alte Klage der Mütter heranwachsender Söhne. Aber sie gab nicht dem Sohne schuld, daß er ihr Sorgen mache, sondern sich selbst und quälte sich mit harten Zweifeln, daß sie ihn vielleicht in seiner Entwicklung durch eine fehlerhafte Erziehung verpfuscht oder nicht die Fähigkeit gehabt habe, den sonderbaren Knaben zu verstehen und sicher über die Schwelle der Kindheit hinüberzuleiten.

Seine Begabung, sagte sie, sei ungewöhnlich, reich und vielversprechend seine Anlagen. Aber ihr Mann halte von solchen Sachen nichts und sie, die Mutter, habe vieles, das ihr notwendig schien, unterlassen müssen, um das väterliche Ansehen nicht zu untergraben. Bei dieser zwiespältigen Führung sei der Junge ratlos geworden, sei noch immer unselbständig und unfrei und beuge sich zu sehr vor einem fremden Willen. Am meisten aber betrübe sie seine Art, mit den kleinen Leuten umzugehen, mit Dienstboten, Bettlern und Landstreichern. Überzart und vorsichtig wie mit rohen Eiern, verlegen und schüchtern wie ein Bittender, wo er befehlen sollte — immer in der Sorge, ja niemandem weh zu tun. Denn er achte das Menschentum auch in seiner erbärmlichsten Fratze, aber — und das sei ihr Kummer — darüber vergesse er sein eigenes, lasse sich ausbeuten und habe schon mehr als einmal freiwillig die Strafe auf sich genommen, die ein säumiger Laufbursche oder ein naschhaftes Stubenmädchen verdienten.

Die Sprecherin holte tief Atem und fuhr leidenschaftlich fort: „Mein armer Heinz hat den Mut zum Leiden und Schweigen, aber keinen Willen zur Tat! Drum reißt’s ihn so zu Ihnen! Weil Sie haben, was ihm mangelt! Er schwärmt für Sie, ist einfach in Sie vernarrt! Das hat er mir zwar nicht gesagt, aber ich weiß es doch! Ich kenn’ ihn ja durch und durch — aber nur so, wie Schätze in einem Glaskasten. Ich hab’ keinen Schlüssel, kann nicht zu ihm, ohne eine Scheibe zu zerbrechen. Sie aber könnten es ... Wenn Heinz am Leben bleibt — er wird — er muß! — dann ... nicht wahr, — Sie werden sein Freund! Er braucht einen starken Menschen, an den er sich klammern, aufrichten, emporranken kann! Der ihn lehrt, auf den eigenen Füßen zu stehen und eine eigne Meinung nicht bloß zu haben, sondern auch durchzusetzen! Dann versprech’ ich mir viel von ihm! Nicht wahr, Sie werden ...?“

In banger Erwartung streckte sie ihm die Hand hin. Doch er schlug nicht ein. Wohl war er mit wachsender Teilnahme ihrem Reden gefolgt, das ganz neue Gebiete vor ihm aufschloß. Hatte die hohe Auffassung einer gewissenhaften Mutter von ihren Pflichten gegenüber dem Kinde mit immer heißerer Ergriffenheit wahrgenommen und über Worte gestaunt, die er niemals einer Frau zugetraut hätte. Aber er war seines Vorsatzes, nie zu lügen, eingedenk und antwortete mit jener ungelenken Rauheit, die bei ihm stets herhalten mußte, wenn er weich zu werden drohte: „Wart ist mir fremd. Ich kann gar nichts versprechen.“

Die Frau ließ mutlos den Kopf hängen. Fritz kam sich wie ein Verbrecher vor, als er den leidvollen Ausdruck ihres Gesichtes wahrnahm. Wie aus einer anderen, lichteren Welt erschien sie ihm, die Verkörperung alles Lieben, Zarten, Gütigen. Eine warme Welle flutete in ihm empor. Am liebsten hätte er ihre Hände gefaßt und um Verzeihung gebeten, daß er ihr weh tat. Aber er biß nur die Zähne zusammen und verdoppelte den Schritt, so daß sie ihm kaum nachkommen konnte.

„Seien Sie wenigstens freundlich zu ihm!“ bat sie.

Und er darauf: „Ich bin kein Lausbub!“

Nun standen sie vor dem alten Bürgerhause auf dem Marktplatz, das mit Erkern und Simsen und Vorsprüngen, mit Luken, Giebeln und steilen Dachflächen düster und massig in die Luft hineinwuchs. Kisten und Fässer und Ballen und Tonnen türmten sich allenthalben im wölbigen Flur, lagen im breiten Stiegenhaus und verengten die kühlen Korridore, überhuscht von den spärlichen Reflexen schwelender Kerzen hinter verstaubten Gläsern.

Polternd klangen die Schritte der beiden im Hinansteigen über die bequeme Holztreppe. Nun hielten sie vor der hohen dunklen Wohnungstür, ein Dienstmädchen öffnete, und sie traten ein. Flüsternd erkundigte sich die Frau nach dem Befinden ihres Kindes und erhielt befriedigende Auskunft. Da öffnete sie eine zweite Tür, winkte Fritz, daß er ihr folgte und schritt durch ein unbeleuchtetes Zimmer mit weitem Raum. Undeutlich hoben sich die Gegenstände aus dem schwachen Lichtschein, den die Straßenlaternen zu den Fenstern hinaufsandten, in florigen Teppichen versank der Fuß, und leis klirrten ein paar Gläser im altdeutschen Schrein. Hellwig tastete sich durch mit vorgestreckten Händen, stieß an einen Stuhl. Da drehte sich wieder eine Tür geräuschlos in den Angeln und ein grün gedämpftes Lampenlicht quoll durch den Spalt.

Sie waren im Krankenzimmer. Mit der Schmalseite an die Wand gerückt, von den drei anderen Seiten frei zugänglich, schob sich ein breites Eichenbett bis in die Mitte des Gelasses. Darinnen war, fast so weiß wie die Kissen und Linnen, ein mageres Antlitz sichtbar, von einem dichten Kranz tiefschwarzer Haare eingefaßt und von zwei mächtigen dunklen Augen überleuchtet, die es ganz beherrschten und noch abgezehrter erscheinen ließen.

Frau Wart war sofort bei ihrem Sohne.

„Wie geht’s dir, mein Junge? Hast du auch brav geschlafen?“ fragte sie und war prächtig anzusehen in der wohltuenden und beruhigenden Heiterkeit, hinter der sie alle ihre angstvolle Sorge barg. Der Kranke gab keine Antwort, sondern schaute mit seinen glänzenden Fieberaugen an ihr vorbei auf Fritz, der stumm unter dem schweren Türvorhang stand. Sie bemerkte den Blick, nickte ihm zu und lächelte: „Ist’s dir recht? Du hast ihn ja haben wollen.“

Da stieg ein sachtes Wellchen Blutes in das eingefallene Gesicht, leuchtete durch die Haut und warf einen zartroten Schein darüber.

„Guten Abend, Hellwig,“ sagte er leise und ließ die Augen nicht von ihm.

Nun kam Fritz näher, hielt am Fußende des Bettes und sagte: „Servus, Wart! Was treibst du denn für Geschichten? Krank sein — das gibt’s doch nicht! Sieh lieber, daß du bald wieder ins Französisch kommst.“

Die Mutter tat einen tiefen, freien Atemzug. Sie hatte heimlich vor diesem Zusammentreffen gebangt, hatte gefürchtet, daß Hellwigs kantige Art den Kranken verletzen und aufregen könnte. Nun sah sie den warmen Blick, hörte den herzlichen Klang der vor kurzem noch so trotzig rauhen Stimme und schämte sich im stillen ihrer argen Meinung.

„Bleib nur liegen, du!“ flüsterte sie beglückt und drückte ihren Jungen, der sich aufrichten wollte, in die Kissen zurück. „Herr Hellwig setzt sich zu dir, da könnt ihr reden ... aber nicht zu lang, nicht wahr?“

Bittend schaute sie den Besucher an und wies auf einen Stuhl neben dem Lager.

„Ich könnt’ ebenso gut stehen!“ entgegnete Fritz wieder kalt abweisend. Als er jedoch die ängstlich-erwartungsvolle Miene des andern sah, verstummte er und setzte sich.

Geräuschlos glitt die Frau aus dem Gemach. Im dunklen Nebenzimmer verließ sie die mühsam behauptete Fassung. Sie hatte Hellwig auf ihre eigene Verantwortung herbeigeholt, versprach sich davon eine raschere Wendung zum Gesunden. Wenn nur, ach, wenn nur endlich alle Gefahr vorüber wäre! Und die Sorge um das Leben des Kindes senkte sich wieder schwer und lautlos auf das blonde Haupt, die schlanken Schultern und drückte sie nieder. Wie unter eine wuchtende Last geduckt, stand sie ohne Regung und versuchte mit beiden Händen das übermächtig schlagende Herz zu halten. —

„Was willst du von mir?“ fragte Hellwig den Kranken. Der schaute hilflos gegen die Zimmerdecke und dann suchend im Raum umher. Da fiel sein Blick auf einige Bücher, die in grünen Einbänden neben der Lampe und zwischen Arzneiflaschen auf dem Tisch lagen. Wie Erlösung überkam es ihn.

„Mutter hat mir Darwin geschenkt!“ sagte er lebhaft. „Die große Ausgabe. Den mußt du lesen, ich leih’ dir ihn!“

Eine Sekunde nur blickte Fritz in die Augen, die ihm groß und leuchtend entgegenstanden: dann hatte er begriffen. Hatte begriffen, daß hier vor ihm einer seines Wesens lag, gleich scheu und zurückhaltend und zu stolz, um sich aufzudrängen. Und er wußte mit einemmal, daß dieser schmächtige schwarzhaarige Mensch, den er im großen Troß der andern mit übersehen hatte, schon seit langem, heimlich und ohne sich zu verraten, sein Freund war. Und auch er fühlte sich jetzt, da er den Spuren der scharf geprägten Züge in dem geistreichen Antlitz nachforschte, mächtig zu ihm hingezogen. Aber er ehrte das Schamgefühl des andern. Deswegen antwortete er scheinbar ganz gleichgültig auf dessen Anerbieten.

„Du würdest mir damit eine große Freude machen!“ sagte er und nahm eines der grünen Bücher vom Tisch. „Ist’s das hier?“

„Ja. Nimm dir nur gleich ein paar Bände mit.“

„Einer genügt vorläufig!“ entgegnete Hellwig kurz und erhob sich.

„Du gehst schon?“

„Ja!“

„Du kommst aber wieder?“

„Ich werd’ mir doch das Buch nicht behalten!“ knurrte Fritz.

Der Kranke hob die Hand von der Bettdecke und reichte sie ihm wortlos. Fritz nahm sie in seine breite Rechte und hielt sie einen Augenblick fest.

„Gute Nacht, Wart!“

„Gute Nacht, Hellwig!“

Im Nebenraum trat ihm Frau Wart entgegen: „Nun?“

„Ich hab’ mir einen Band Darwin ausgeborgt!“ sagte er unwirsch, hastete an ihr vorbei, durchs Vorzimmer und über die Treppe hinab ins Freie.

3.

Der November war noch nicht zu Ende, da hatte Hellwig sämtliche Schriften Darwins bewältigt. Die Mutter wurde auf sein Treiben aufmerksam und drang nachts in sein Zimmer, wo er vor der Lampe über den Büchern saß. Da schalt sie wegen seines langen Wachens, bat ihn, seiner Gesundheit nicht zuviel zuzumuten und wich erst, bis sie ihn ganz sicher hinter dem Wandschirm in den Federn wußte.

Um ihr Mißtrauen zu zerstreuen, ging er die nächsten Tage früher zu Bett. Dann aber verschaffte er sich ein Zigarrenkistchen, befestigte darin auf dem unteren schmalen Brett eine Kerze, an dem oberen aber, um dessen Anbrennen zu verhindern, einen ausgedienten Topfdeckel und hatte so eine Art Diebslaterne, nach drei Seiten für das Licht abgeblendet. Wenn nun seine gewöhnliche Schlafstunde heranrückte, stellte er dieses Gerät knapp hinter das Buch in der Weise, daß kein Lichtstrahl durch die klaffenden Fugen der Tür in die Küche dringen und der Mutter sein Wachbleiben verraten konnte. Dann löschte er die Lampe, hielt sich still und las beim flackernden Schein der Kerze mit geschnürtem Atem weiter, bis draußen auf der Gasse die ersten Bauernfuhrwerke über das holprige Pflaster rumpelten und der erwachte Lärm dem nahen Morgen vorauslief. Dann suchte er endlich sein Lager und tat hinter bleischweren Lidern einen traumlosen Schlaf, aus dem ihn jedoch meist schon nach zwei, drei Stunden die nichtsahnende Mutter weckte mit der Meldung, daß das Frühstück fertig und es Zeit zur Schule sei.

Unterdessen hatte Warts Genesung rasche Fortschritte gemacht. Er durfte bereits kurze Spaziergänge unternehmen und tat dies mit Hellwig, dessen Seele ihm, nun das Eis einmal gebrochen, offensichtlich zuströmte. Ganz aber fanden sie sich erst an einem frostklaren Dezembertage, als sie nach einem schon längeren Marsch bei Milch und Butterbrot in einem Dorfwirtshaus saßen und von den alten Juden auf die Erlöser und auf den Gottesbegriff zu sprechen kamen.

Sie waren die einzigen Gäste in der niedrigen Stube. Hinter dem Kachelofen hockte zusammengeduckt eine weißhaarige Frau und summte ihrem Enkelkind ein eintönig uralt Wiegenlied zum Schlaf. Die große Stehuhr pochte wie das Herz der Stille, und Heinz Wart sprach: „Darwin ist ein Erlöser und ist auch keiner. Viele alte Götzen hat er zerschlagen, der Verstand mag damit zufrieden sein, aber nicht das Herz. Und mit der Lösung der Frage nach unserer Herkunft ist jene nach der Herkunft unseres Gottglaubens nicht aus der Welt geschafft. Für mich aber bedeutet Gott nichts anderes als das Ideal, nach dem sich jeweils die Menschen gesehnt haben. Den entrechteten Hindukasten von den Sudras bis zu den Tschandalas ist sicherlich die endliche selige Ruhe nach einem Leben der Knechtschaft als das Herrlichste erschienen — und Buddha hat ihnen das Nirwana gegeben. Bei den alten Deutschen hast du Freude am Kampf und Zechgelag und hast du kriegsgewaltige Schlachtengötter und reisige Jungfrauen, die die Helden nach Walhall zur Metbank bringen. Dem Schwärmer von Nazareth aber ist der Mensch selbst zum Ideal geworden. Darum ist sein Gott ein Menschengott, der alle unsere Tugenden und Fehler, Milde und Härte, Erbarmen und Grausamkeit, opferfreudigste Hingabe und starrste Ichsucht, zum höchsten Maß gesteigert, in sich vereinigt. Und weil dadurch Gott den Menschen so nahe gerückt wurde, haben sie sich ihm so bereitwillig zugewendet. Denn in ihm beten sie ihr Menschentum an, und sie lieben sich selber in ihrem Gott. Und die Reformationen sind nichts als Versuche gewesen, den lieben alten Menschengott umzumodeln, damit er zu den neuen Menschen mit ihren neuen Anschauungen wieder passe. Und wenn wir jetzt gegen den Druck verjährter Dogmen knirschen, so beweist das für mich nichts anderes, als daß unsere Zeit abermals reif geworden ist für eine neue Sehnsucht. Aber wir wissen noch nicht, wo sie wohnt und kennen den richtigen Weg nicht zu ihr, lassen uns leicht irreführen durch die Lockungen falscher Propheten. Nietzsche ist für mich ein solcher. Ich bewundere die rauhe Kühnheit und empöre mich über die wahnwitzige Überhebung, mit der er das Ich zum Gott machen will. Freilich, die Ausgestaltung wäre logisch. Vom Weiteren zum Engeren, vom Kreis zum Punkt. Nach dem Menschen als Gattung der Mensch als einzelner. Jeder einzelne sich selbst Gesetzgeber und Richter und Rächer des eigenen Gesetzes. Jeder sich selbst Gott. Oder Schöpfer seines Gottes: des Übermenschen. Aber ...“

Er atmete tief auf und schwieg. Von der untergehenden Sonne kam ein seltsam rötlicher Schein in die Stube, alle Gegenstände ertranken in einem ungewissen Zwielicht, und nur vor den winzigen Fenstern stand noch hell und durchsichtig die Luft wie ein unbewegtes, zartpurpurnes Meer.

Mühselig erhob sich die gebeugte Greisin von der Ofenbank und wollte die Lampe anzünden. Aber Fritz winkte ab: „Lassen Sie nur, wir bleiben ganz gern im Dunkeln.“

Dann war wieder Schweigen. Das Kind schlief in der Wiege. Eine graue Katze strich mit gehobenem Schweif und gekrümmtem Rücken unhörbar um ein Stuhlbein, immer rundum, rundum. Und das verhuzelte Weibchen beim Ofen ließ den Kopf tief und tiefer sinken und schlief allmählich ein.

Mit hämmerndem Herzen saß Fritz und starrte aufgeregt nach dem unscheinbaren Menschen neben sich, dessen Antlitz weiß aus dem Dämmer herausleuchtete. Was er da gehört hatte, war mehr als zusammengelesene Weisheit, waren selbständige Ideen, die seine Seele mitschwingen machten. Und er kam sich klein vor, fühlte seine Unfertigkeit und wie wenig er wußte. Und plötzlich kam ihm die blonde Frau wieder in den Sinn, die an jenem Regenabend mit rauschenden Gewändern neben ihm gegangen. Das drohte die Weihe der Stunde zu stören. Er legte die Hand auf den Schenkel des Freundes.

„Weiter, Heinz! Was ist’s mit dem Aber?“

Wart zuckte auf und schaute ihn mit leeren Augen an, als hätte er alle seine Gedanken auf weite Wanderung geschickt und müßte erst warten, bis sie sich wieder zurückfanden. Dann sagte er, den Kopf in die Hand gestützt und den Blick immerfort auf die Tischplatte vor sich gerichtet, sagte ganz leise, wie aus einem Traum heraus:

„Auf dem rechten Weg zur neuen Sehnsucht scheinen mir trotz allem doch die Jakobiner gewesen zu sein, und Maximilian Robespierre, der Tauben züchtete und Menschen mordete, hat es oft genug ausgesprochen: ‚Wir wollen die Wünsche der Natur erfüllen und die Bestimmung der Menschheit erreichen: den friedlichen Genuß der Freiheit und Gleichheit, ein Reich der ewigen Gerechtigkeit. Wo der Bürger der Obrigkeit und die Obrigkeit dem Volke dient und das Volk der Gerechtigkeit. Wo die Künste der Schmuck der Freiheit sind, der Handel die Quelle des öffentlichen Reichtums und nicht der ungeheuerlichen Wohlhabenheit einzelner Häuser. Schrecker der Unterdrücker wollen wir sein und Tröster der Unterdrückten und statt der Kleinlichkeit der Großen wollen wir die Menschengröße.‘ — Das geht zwar schnurstracks gegen den Kampf ums Dasein des Individuums, aber trotzdem glaube ich, daß darin unser Heil für die Zukunft liegt. An Stelle des Menschengottes möchte ich das Menschentum setzen und gegen die Forderung: ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst!‘ die Formel: ‚Hilf deinem Nächsten wie dir selbst!‘ ... Die Menschheit zur Freiheit führen, den Elenden und Gequälten ein freies, heiteres Dasein schaffen, ihnen ihr Recht auf Glück zurückerobern, das jeder schon hier auf Erden für sich fordern darf kraft seines Menschentums — es ist ein Ziel, wohl wert, sein Leben dafür aufzuwenden ...“

Er hatte sich in Begeisterung hineingesprochen, sprang auf und stand mit geröteten Wangen aufrecht da, ein heiliges Feuer in den Augen. Da war auch schon Fritz neben ihm, riß ihn an sich und sagte mit erstickter Stimme: „Heinz — Freund — Bruder ... unser Leben ... wir wenden’s dran ...“

Nun ward es ihnen zu eng in der Stube. Sie brachen auf und schritten Schulter an Schulter unter einem klaren Sternenhimmel heimwärts. Und während sie so gingen, mußte Fritz abermals an Frau Wart denken und empfand einen dumpfen Groll, daß sie ihren Wunsch erfüllt und ihn als Freund ihres Sohnes sehen sollte. Und gleichzeitig stemmte er sich gegen dessen frühe Reife und den Einfluß, den sie auf ihn zu gewinnen drohte. Seine Stimme klang beinah feindlich, als er jetzt sagte: „Woher nimmst du eigentlich das alles?“

Da seufzte der andere leise und erwiderte: „Mein Gott, man sitzt nicht umsonst mit einundzwanzig Jahren erst in der Septima!“

„Du bist schon so alt?“ fragte Fritz erstaunt. Denn Wart sah mit seinem bartlosen blassen Gesicht und der schmächtigen Gestalt kaum siebzehnjährig aus. Nun nickte er: „Jawohl — sogar bald zweiundzwanzig. Im Frühjahr muß ich schon das drittemal zur Stellung. Hoffentlich ist meine Brust noch immer für den Rock des Kaisers zu schmal. Sonst wär’s gefehlt, weil ich ja noch nicht das Einjährigenrecht hab’.“

„Ja, aber ...?“

„Wieso das kommt? Ganz einfach! Ich war kaum mit dem Untergymnasium fertig, da hat mich mein Alter ins Geschäft gesteckt. Aber ich hab’ mich dort nicht zurechtfinden können. Nach drei Jahren hat er das auch selbst eingesehen und mich wieder ins Gymnasium zurückgeschickt. Das verdank’ ich der Mutter, ich weiß das, aber bis jetzt hab’ ich ihr keine Ehre gemacht. Die Quinta und die Sexta hab’ ich wiederholen müssen, für Mathematik hab’ ich nun einmal kein Verständnis, ich bring’ das trockene Zeug nicht in den Schädel! Und dann die Bücher: Rousseau, Proudhon, Engels, Lasalle, Marx, Adam Smith — du kennst ja meine Sammlung.“

Er schwieg und Hellwig ebenfalls. Arm in Arm schritten sie auf der schneebedeckten Landstraße rüstig vorwärts, überließen sich ihren nachgenießenden Gedanken und gingen auf dem Marktplatz mit einem kurzen Händedruck stumm voneinander.

4.

Seit diesem Tage waren sie Freunde.

Sie blieben aber nicht lang zu zweit, denn Pichler wollte sich nicht kaltstellen lassen. Hellwig mußte ihn mit Wart bekannt machen, und auch dieser wurde dem kecken Leichtfuß bald geneigt.

Ihre Zusammenkünfte hielten sie jetzt bei Heinz ab, der nach der Genesung wieder sein Zimmer bezogen hatte.

Das lag ganz oben, unterm Dach des altertümlich und weitläufig gebauten Hauses, worin das Bürgergeschlecht Wart seit Jahrhunderten einen schwunghaften Kaufhandel betrieb. Der jetzige Inhaber war ein derber, knorriger Fünfziger von praktischem Verstand und tüchtigem Arbeitssinn. Von der Pike auf im Geschäft, war er jeder geistigen Tätigkeit abhold, sofern sie nicht auf einen realen und reellen Gewinn unmittelbar hinzielte. Den ganzen Tag dröhnte seine Stimme durch die hallenden Korridore, war seine untersetzte Gestalt überall zu sehen. Bald half er mit schweißtriefender Stirn im Hof beim Aufladen der Warenballen, bald teilte er im Kanzleiraum Befehle aus, durchlief die weiten Speicher oder fertigte die Ladenkunden ab, in unermüdlicher Regsamkeit für die ordentliche und glatte Abwicklung des verzweigten Betriebs.

Trotzdem fand er noch Zeit zur Verwaltung der verschiedenlichsten bürgerlichen Ehrenämter, war Stadtverordneter, Waisenvater und Ortsschulrat, Feuerwehrhauptmann und Schützenleutnant und stand bei allen Mitbürgern wegen seines gediegenen Charakters in Ansehen. Vornehmlich bei der Opposition, deren Leitung selbstverständlich in seiner Hand lag. Denn die Wart hatten alle von jeher ihren eigenen Kopf.

Darüber waren vom Wart Nikl — unter diesem Namen war er, der Nikolaus hieß, in der ganzen Gegend bekannt — allerhand Geschichten im Schwang.

Als die klerikale Vereinigung, die in Neuberg dank der werbenden Kraft des Paters Romanus gegründet worden war, ihren ersten Unterhaltungsabend veranstaltete, da war Nikolaus Wart an der Spitze von zwanzig handfesten Gesinnungsgenossen lärmend in den Saal gedrungen, wo eben eine Festvorstellung im Gange war und das Konterfei eines bekannten schwarzen Häuptlings mit Lorbeer und Lilien bekränzt hinter Glas und Rahmen an der Wand hing. Einen Tisch erkletternd, nahm der Nikl seelenruhig das Bildnis vom Nagel und lehnte es in eine Ecke. Aber als alle Gäste, darob entrüstet, auf ihn eindrangen, da hob er es wieder, schwang es mit beiden Fäusten, und breitspurig mit gespreizten Beinen auf dem Tisch aufgepflanzt, schrie er mit voller Lungenkraft: „Ruh’ geben! Zurück! Sonst hau’ ich auf eure Schafsköpf’ den größten drauf!“

Dann schleuderte er das Bild zu Boden, daß die Scherben splitternd umherflogen, sprang hinterdrein und tat mit seinen Kumpanen so gründliche Arbeit, daß die Vereinigung katholischer Männer kläglich abziehen mußte. Worauf Wart Nikl schmunzelnd den rötlichen Vollbart strich und eine Sitzung der Freisinnigen eröffnete, die bis zum grauenden Morgen dauerte. —

Und früher — in Zeiten schwerer nationaler Bedrängnis — als die Stadt Neuberg eine Kundgebung gegen die slawischen Vorstöße veranstaltete und als von einer kurzsichtigen Regierung zur Verhütung von Ausschreitungen ein slawisches Reiterregiment in die Stadt beordert wurde, das denn auch alsbald mit flachen Säbelhieben in die leidenschaftlich aufgewühlte Volksmenge einbrach, da hatte sich Wart Nikl den hitzigen Blauröcken entgegengestellt, hatte Rock, Weste, Hemd vorn auseinander gezerrt, und den Soldaten die nackte Brust darbietend, hatte er gebrüllt: „Da! da! Stecht her, wenn ihr dürft! Totschlagen könnt ihr uns, unterkriegen niemals nicht!“

Daraufhin hatte man sich die Sache noch einmal überlegt und gegen die ehrenwörtliche Versicherung des Bürgermeisters, daß die Leute freiwillig und friedlich auseinandergehen würden, die Truppen abrücken lassen. Und als hernach die Verwundeten vorüber getragen wurden, da waren dem Wart Nikl die Tränen aus den Augen gesprungen und mit einem schmerzvollen Blick zum Standbild Kaiser Josefs II. hatte er gerufen: „Schau’ her, trauter Kaiser Seff, schau’ nur her, wie’s deinen Deutschen heutigentags geht!“ —

Dieser Begebenheit verdankte er übrigens das beste Glück seines Lebens. Denn wie jedes Ausharren in einer gemeinsamen Not wildfremde Menschen urplötzlich vertraut macht, hatte sich neben den stiernackigen Kaufmann, der dem Übermut der slawischen Reiter mit seiner mächtigen Stimme Einhalt tat, ein schlankes Mädchen mit wehendem Blondhaar mutvoll aufgepflanzt und laut gerufen: „Recht so! Recht!“, wobei es den Soldaten herausfordernd die funkelnden Augen entgegenhielt.

An diesen Blick mußte der Junggesell fortwährend denken und kam nach einigen Tagen rätselhafter Unrast endlich zu dem Entschluß: „Die wird’s oder keine!“

Sie hieß Hedwig und war die Tochter des Stadtarztes Doktor Kreuzinger, der aus übergroßer Liebe zur Heimat die gewählte Hochschullaufbahn und damit auch die sichere Anwartschaft auf eine Universitätsprofessur aufgegeben hatte, um in seiner Vaterstadt ständig leben zu können. Er war ein ebenso ausgezeichneter praktischer Arzt wie scharfsichtiger Forscher, und seine Abhandlungen in den Fachblättern fanden wegen ihrer gehaltvollen Sachlichkeit Anklang und Beachtung. Wie denn auch bei den Kongressen, zu denen er sich regelmäßig einzufinden pflegte, manche ‚Berühmtheit‘ mit Worten schmeichelhaften Lobes des unscheinbaren Kollegen aus der Provinz Erwähnung tat, worüber der dann stets errötete und in eine hilflose Befangenheit hineingeriet, bis ein neuer Redner seine Aufmerksamkeit fesselte. Dann begannen die schlanken Finger in dem grauen Vollbart zu wühlen, die gescheiten Augen wurden wieder lebendig, und eine Falte auf der Stirn verriet die starke Gedankenarbeit, womit der bescheidene Landarzt dem Vortrag folgte.

Auf die Werbung des Kaufmanns erwiderte er einfach: „Wenn sie will, ich rede ihr da nichts hinein.“ Und der urwüchsige Gesell verlor vielleicht zum erstenmal im Leben seine Sicherheit, wurde verlegen wie ein Schuljunge und mühte sich mit seiner ungelenken Zunge schöne Satzgebilde zu formen, als er dem schlank aufgewachsenen Mädchen gegenüberstand, das ihn stirnbreit überragte, trotzdem es erst siebzehn Jahre alt war. Aber sie sagte ja. Die aufrichtige Geradheit des Mannes, seine ehrliche Lebensführung, die wie ein offenes Buch im vollen Licht vor aller Augen dalag, hatten’s ihr angetan. Und sie hatte nie Ursache, ihre Wahl zu bedauern. Auch dann nicht, als Wart Nikl erkannte, daß sie in jener bewegten Stunde nicht Begeisterung an seine Seite getrieben hatte, sondern lediglich die heilige Entrüstung, die jeden Guten packt, wenn irgendwo Gewalt vor Recht gehen soll.

Jeder ehrte die wackere Art des andern und forderte nichts Unmögliches von ihr. Weder Hedwig, daß Nikl ihr zuliebe plötzlich ein Schöngeist werde, noch er, daß seine schöne Frau Rosinen abwiege, kiloweise Mehl verkaufe oder die Buchführung lerne. Er überließ ihr auch die Erziehung der Kinder, da er wußte, daß sie ihm hierin überlegen war. Und seit sein Versuch, auf die Berufswahl des Sohnes kraft seiner väterlichen Gewalt bestimmend einzuwirken, kläglich gescheitert war, übersah er, der Bücherfeind, es sogar stillschweigend, wenn Frau Hedwig ihrem Jungen Geld zur Beschaffung von Zeitschriften oder Büchern einhändigte.

Die erworbenen Schätze stapelte Heinz mit unverdrossenem Sammeleifer in seiner Dachstube auf, die dadurch ein recht gelehrtes und von den übrigen Räumen des Hauses grundverschiedenes Gepräge bekam. Allerhand Druckwerke stauten sich hier auf Schrank und Tisch und füllten längs der Wände hohe Regale, wogegen in den anderen Zimmern nur Preislisten, Warenproben und Geschäftsbriefe herumlagen. Denn Vater Wart las außer einer Tageszeitung und der deutschen ‚Grenzwacht für Neuberg und Umgebung‘ überhaupt nur, was mit der Führung seines Geschäftes und seiner bürgerlichen Ehrenämter unmittelbar zusammenhing.

Um so heißhungriger fiel Hellwig über die Bücherei des Freundes her. Der Kaufmann war ihm deswegen nicht besonders grün und äußerte zu seiner Frau, der lange Blonde mit den Storchbeinen sei gerade so ein Mucker wie sein Herr Sohn. Dagegen nannte er Pichler bald einen netten und vernünftigen jungen Mann, weil dieser rasch die schwachen Seiten des einflußreichen Bürgers aufgespürt hatte, mit ihm über das Geschäft sprach, für Warenmuster Interesse zeigte und sich in den Marktpreisen auskannte, kurz zu haben schien, was Nikl an seinem Heinz so ungern vermißte: das Zeug zu einem guten Kaufmann.

Frau Hedwig erwiderte auf diese Lobsprüche nichts. Ihr gefiel Pichler nicht. Doch sie war zufrieden, Heinz und Fritz beisammen zu wissen und störte ihren Verkehr nicht, trachtete im Gegenteil, daß Hellwig sie nicht zu Gesicht bekam, weil sie das Gefühl nicht los wurde, daß ihm ein Zusammentreffen mit ihr Unbehagen schaffe. Dem war in der Tat so. Sie hatte auf den jungen Menschen gleich bei der ersten Begegnung tiefen Eindruck gemacht, und so sehr er sich dagegen wehrte, er mußte die schöne Frau lieben. Mußte sie lieben, weil sie im Vollsinn des Wortes eine Mutter war — und haßte sie auch vom selben Augenblick an. Mußte sie hassen in seiner jugendlichen Parteilichkeit, weil sie nicht seine Mutter war. Weil sie ihn zwang, Vergleiche zwischen ihr und der eigenen Mutter anzustellen und weil diese Vergleiche immer gegen letztere ausfielen. Sein kindliches Gemüt kämpfte dagegen an, wollte sich das reine Bild derjenigen nicht trüben lassen, die ihn in ihrem Schoße getragen. Aber der kalte Verstand trieb ihn stets aufs neue das Für und Wider abzuwägen — und immer neigte sich das Zünglein zugunsten der blonden Frau.

Das ging so weit, daß ihm sogar die Schamröte ins Gesicht stieg, als er eines Tages Heinz und Otto in seine Behausung führte und die Mutter nach einer kleinen Weile mit ihrer unvermeidlichen Kaffeekanne anrückte. Ein schwächliches, verblühtes Frauchen, sanft, gutherzig und rührselig, kam sie hereingetrippelt, bat um Entschuldigung, daß sie nichts Besseres vorzusetzen habe, und auf Pichlers Frage, ob die Hühner des Nachbarn ihr noch immer auf dem Bleichplatz im Gärtchen die Wäsche beschmutzten, erhob sie sofort ein großes Jammern über diese Rücksichtslosigkeit, mit reichlichem Wortschwall und Mitleid heischender Miene.

Fritz saß da und schämte sich vor Heinz. ‚Dort Bücher und verstehendes Fernbleiben — hier Kaffee und Geschwätz!‘ dachte er bitter. Denn er war noch nicht reif genug für die Erkenntnis, daß hier wie dort ein gleich schönes menschliches Empfinden nur seinen verschiedenen Ausdruck fand.

„Hör’ doch schon auf mit dem Quatsch, Mutter!“ sagte er unwillig.

Da verstummte sie erschrocken und stahl sich mit einem unterdrückten Seufzer aus der Stube.

Kaum gesprochen, war ihm das Wort schon leid. Aber als jetzt Heinz seine ernsten Augen auf ihn richtete: „Du hast sie gekränkt!“, da fuhr er auf: „Ach was, wenn sie auch fort so herumgreint!“ Und dann heftig zu Otto: „Warum fragst du auch immer so? Meine Mutter ist mir zu gut für deine blöden Witze!“

Der Angefahrene widersprach gekränkt und beteuerte seine guten Absichten. Aber Fritz ließ ihm nichts gelten. Schimpfend rannte er im Zimmer herum, und es waren nicht gerade Schmeichelworte, die er Pichlern an den Kopf warf. Je länger er so wetterte, desto mehr fühlte er, wie grundlos eigentlich seine Vorwürfe waren. Er hörte aber trotzdem nicht auf. Er mußte sich Luft machen, empfand eine wohltuende Befreiung dabei.

Unterdessen war Heinz behutsam in die Küche geschlichen, wo Frau Hellwig, die Hände im Schoß gefaltet, beim Fenster saß und aus tränenvollen Augen bekümmert in den Hof blickte. Als sie ihn gewahrte, erhob sie sich schnell: „Sie wünschen wohl Trinkwasser? Gleich sollen Sie’s haben!“

Bei diesen Worten hatte sie sich schon gebückt und machte sich mit der Wasserkanne zu schaffen, damit er ihr verweintes Gesicht nicht bemerken sollte.

„Lassen Sie’s nur, Frau Hellwig!“ sagte Heinz darauf. „Ich hab’ keinen Durst. Es ist nur — Fritz hat das nicht bös gemeint ...“

Nun richtete sie sich lebhaft in die Höhe: „Hat er Sie geschickt?“

„Das nicht, — aber ... ich weiß das eben ...“

„Nicht wahr, er ist ein garstiger Junge!“ seufzte sie. „Horchen Sie nur, wie er schreit! Was er nur wieder haben mag?“

„Es reut ihn, daß er so schroff gewesen. Der arme Otto muß jetzt dafür büßen. Aber der verträgt’s!“ erwiderte Heinz leichthin.

Zweifelnd blickte sie ihn an: „Zeit wär’s schon, Herr Heinz, wenn er einmal zu Vernunft kommen wollte. Immer ist er gleich obenhinaus. Wenn man doch nur sein Bestes will ...“ — ihre Tränen begannen wieder zu fließen — „und wenn man dann nichts als Undank davon hat, das tut weh. Nicht ein bissel hat er mich lieb!“

„Er zeigt’s Ihnen bloß nicht!“ versuchte Wart den Freund zu verteidigen. Die Witwe aber klagte unbeirrt fort: „Das kommt alles nur daher, weil er in keine Kirche mehr geht. Wohin soll das führen? Noch keinem ist’s gut gegangen ohne den lieben Gott, das können Sie mir alten Frau schon glauben ... Es ist ein Kreuz, ein rechtes Kreuz mit dem Jungen! — Aber da steh’ ich und red’ und vergess’ ganz, ich — hab’ ja noch ein paar Lederäpfel. Die müssen Sie kosten! Der Fritz fliegt nur so darauf!“

Da sah Heinz, daß hier ein Trost nicht nötig war, und während Frau Hellwig geschäftig die runden Früchte auf einem Teller ordnete, ging er wieder ins Zimmer zurück.

Fritz vermied es jedoch seit jenem Tage, die Freunde in seine Wohnung mitzunehmen.

5.

Weihnachten war vor der Tür, und damit war auch die Zeit gekommen, da Pater Romanus seine Schäflein zur ersten von drei schuljährlichen Beichten zu verhalten pflegte. Sämtliche verfügbaren Seelenhirten von Neuberg, insbesondere die frommen Mönche aus dem Franziskanerkloster, leisteten werktätige Beihilfe. Klassenweise wurden ihnen die Schüler zugewiesen, wobei jedoch Romanus besondere Wünsche seiner Studenten nach Möglichkeit berücksichtigte. Allen konnte er’s freilich nicht recht machen, weil nach einzelnen Beichtvätern wegen ihrer Milde eine allzu rege Nachfrage herrschte, die Milde nach der Kürze der Ermahnungen und der Bußgebete eingeschätzt.

Hellwig aber trachtete diesmal bei dem allgemein gefürchteten Pater Guardian anzukommen, der nicht im Beichtstuhl, sondern in seiner Zelle die Verfehlungen der Gläubigen anzuhören und endlose geharnischte Reden gegen die armen Sünderlein loszulassen pflegte.

Jede Rede verschlug es ihm jedoch, als Fritz, kaum auf dem Schemel niedergekniet, rauh hervorstieß: „Meine Beichte ist kurz, ich glaube an gar nichts!“

Ein langes Schweigen folgte den Worten. Die kleine, vertrocknete Priestergestalt saß ganz unbeweglich, und der kahle Schädel leuchtete wie eine große Billardkugel unter Hellwigs niederschauenden Augen.

„Ich glaube an gar nichts!“ sagte er endlich nochmals.

Nun regte sich unbehaglich der Leib in der dunklen Kutte, zwei wässrige Augen mit roten Rändern schauten hilfeheischend zur Decke und eine zögernde Stimme fragte: „Ja ... lieber Bruder ... lieber Bruder ... wie sind Sie denn dazu gekommen?“

„Durch Nachdenken und Vergleichen, auch durch Lesen,“ erwiderte Fritz und blickte dem Frater fest ins Gesicht. Der rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her und suchte nach einer schicklichen Einleitung.

„Lieber Bruder,“ fing er endlich an, und Hellwig wunderte sich über die freundliche Stimme, den warmen Blick des als unleidlich streng Verrufenen. „Lieber Bruder, Sie sind noch jung und daher leicht zur Übertreibung geneigt. Sie glauben an gar nichts, sagen Sie, aber Sie sagen das nur, weil Ihnen noch nicht klar geworden ist, daß wir alle, die wir Menschen sind, sehr wenig wissen und sehr viel glauben. Sie glauben jetzt vielleicht den Worten eines alten Priesters ebensowenig wie den Worten der Heiligen Schrift. Aber einen Schöpfer lassen Sie doch gelten, nicht wahr?“

„Nur die Natur!“

„Dann haben Sie lediglich einen anderen Namen für denselben Gegenstand und glauben nur an einen Teil unseres allumfassenden Gottes. Denn: meinst du, daß ich ein Gott nur in der Nähe bin und nicht auch ein Gott in der Ferne? Erfülle ich nicht Himmel und Erde, spricht der Herr. — Wollen Sie mir jetzt ein paar Fragen ehrlich beantworten?“

Der Jüngling nickte stumm.

„Sagen Sie mir also vor allem, wie Sie es mit den zehn Geboten halten, vom vierten angefangen. Bemühen Sie sich, die darin vorgeschriebenen Pflichten gegen die Eltern und Nächsten sowie gegen sich selbst zu erfüllen?“

„Ich will nie etwas tun, das ich nicht vor mir selbst verantworten kann und bemühe mich, meine Kräfte für die Allgemeinheit auszubilden, so gut ich kann,“ entgegnete Fritz nach einigem Besinnen.

„Schön, lieber Bruder, recht schön. Das ist ganz christlich gedacht und gehandelt. Und nun noch eins: Haben Sie sich leichtfertig oder aus Übermut zu einer solchen Beichte entschlossen? Haben Sie skrupellos und ohne Kampf den Glauben Ihrer Kindheit über Bord geworfen?“

„Es ist mir nicht leicht geworden,“ gestand Hellwig, wenn auch mit Widerstreben.

„Das genügt mir schon, lieber Bruder, denn: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, spricht der Herr. Und deswegen ...“

Der greise Priester schwieg und schien mit einem schweren Entschluß zu ringen. Dann aber sagte er, und es zeigte sich, daß in dem verwitterten Körper jene Liebe, die ihn einst seinem Berufe entgegengeführt hatte, noch lebendig, daß sie nicht zermürbt oder ertötet worden war, durch den beständigen Kampf wider den Zweck und die Bestimmung seines Menschentums. Jenen entnervenden Kampf, den er als Jüngling in der Begeisterung seiner Jahre freiwillig aufgenommen hatte und darin der gereifte Mann unter allen Qualen des Entsagens und Kasteiens gegen die Natur sündigen mußte, um nicht gegen seinen Gott zu sündigen.

„Mein lieber Bruder,“ sagte er, „Ihre Sünde ist nicht so groß, wie Sie anzunehmen scheinen. Und der Schmerz, die Unruhe, die Sie empfinden, seit Sie an unserm barmherzigen Schöpfer zu zweifeln angefangen haben, ist auch eine Buße, die gewogen und wahrlich nicht zu leicht befunden werden wird. Darum glaube ich es vor Gott und vor meinem Gewissen rechtfertigen zu können, wenn ich Sie Ihrer Sünden ledig spreche. Leider habe ich nicht die Zeit, Ihnen die Gründe eingehend darzulegen, denn draußen warten andere Beichtkinder. Auch bin ich alt und müd und geistig nicht mehr regsam genug, um die großen Gärungen der neuen Zeit zu verfolgen und Ihnen im Sinne unseres Glaubens auszudeuten. Wenden Sie sich daher an Ihren Religionsprofessor und vertrauen Sie sich ihm getrost an. Es wird Ihr Schade nicht sein.“

Segnend hob er die Hand, begann er die lateinische Formel zu sprechen. Er ließ sich hierbei auch von dem Gedanken leiten, daß durch ein Verweigern der Lossprechung, das bei den strengen Gymnasialvorschriften leichtlich zur Ausweisung führen konnte, der junge Zweifler nicht nur nicht gebessert, sondern erst recht zum Verharren in der eingeschlagenen Bahn bewogen worden wäre. Hellwig aber verstand diese Güte nicht. Rücksichtslos und hart gegen sich und andere, forderte er dieselbe Härte und Rücksichtslosigkeit im Verfechten der Grundsätze auch von den anderen für sich selbst wie ein gutes Recht. Deswegen wartete er das Ende der Lossprechung nicht ab, sondern erhob sich mit einer jähen Bewegung von den Knien und schritt trotzig aus der Zelle.

Er ging zu Pater Romanus.

Der bewohnte im ersten Stockwerk eines armseligen Hauses zwei enge Gelasse, die mit Kruzifixen, Heiligenbildern, Büchern und kaum dem notwendigsten und dürftigsten Hausrat versehen waren. In dem einen Raum befand sich neben einem Schrank, einem Betpult und einem Waschtisch überhaupt nur noch ein schmales, mit Roßhaarkissen und einer groben Kotze ausgestattetes Bettlein. Es ging jedoch die Rede im Ort, daß an diese zwei Räumlichkeiten noch ein drittes Zimmer stoße mit behaglichen Polstermöbeln und mit weichen Daunenpfühlen in einer breiten, fast doppelspännigen Bettstatt, darinnen eine wunderschöne Nichte des Paters die jungen Glieder strecken und nebenbei auch dem Oheim die Wirtschaft führen sollte. Doch konnte das ebensogut böswillige Verleumdung sein, denn wenn auch manche ein derartiges Frauenzimmer bisweilen an den Fenstern oder im abendlichen Dunkel auf Spaziergängen begriffen gesehen haben wollten, so war für alle Fälle und jedermann sichtbar eine ungemein häßliche Weibsperson vorhanden, die in einer winzigen Küche ein ungebärdiges Wesen entfaltete, wie ein Zerberus den Wohnungseingang bewachte und jeden Unbekannten rücksichtslos vor der hölzernen Lattentür im Vorflur warten ließ, bis sie ihn bei ihrem geistlichen Herrn angemeldet hatte.

Auch Fritz erhielt auf seine Frage, ob er den Herrn Professor sprechen könnte, die mürrische Antwort: „Werd’ nachsehn!“ und konnte dann in aller Muße Zug für Zug die Buchstaben des messingnen Namensschildes an der Vorhaustür betrachten, ehe ihm diese geöffnet wurde.

Pater Romanus empfing ihn beim Schreibtisch sitzend, und sein Kopf war vollständig unsichtbar zwischen den dickleibigen Schmökern, die sich rechts und links der Wangen zu Bergen türmten. Als die Tür aufging, stieg der schwarze Haarschopf langsam aus diesem Bücherverließ, die Augen spähten wie über eine Burgzinne nach dem Eintretenden, — dann sprang die schwarze Gestalt rasch vom Sessel empor und kam mit einem freudigen „Ah!“ der Überraschung auf den Jüngling zu.

Der aber ließ sich nicht beirren, sondern begann ohne Umschweife einen trockenen Bericht über den Vorfall in der Beichtkammer.

Pater Romanus hatte sich an dem Tisch in der Mitte des Zimmers niedergelassen und hörte mit einem rätselvollen Gesichtsausdruck aufmerksam zu. Als Hellwig fertig war, sagte er mit mühsam behaupteter Ruhe: „Wenn das so ist, Kind Gottes, dann gehen Sie morgen selbstverständlich nicht zur heiligen Kommunion. Auch vom Kirchenbesuch enthebe ich Sie vorläufig unter der Bedingung, daß Sie dafür wöchentlich einmal zu mir kommen. Wollen Sie mir das versprechen?“

„Ich glaube nicht, daß das einen Zweck hätte, Herr Professor,“ entgegnete Fritz zögernd.

Nun erhob sich der hagere Priester wieder, stand in der dunklen Soutane, die sich glatt und faltenlos über den flachen Brustkasten spannte, Stirn gegen Stirn dem hoch aufgeschossenen Schüler gegenüber, und seine Stimme hatte den schwingenden Predigerton, als er jetzt rief: „Geben Sie den Einflüsterungen des Bösen kein Gehör, der übermächtig in Ihrem Herzen aufsteht, weil die alleinseligmachende Kirche ihre Anstalten trifft, ihm ein vermeintlich schon sicheres Opfer zu entreißen. Er schlägt Sie mit Blindheit, daß Sie vor lauter Finsternis den Zweck nicht sehen können und das sonnenklare Ziel! Ihre Seele ist in Gefahr, Fritz Hellwig! Sehen Sie in mir das Sprachrohr unseres allgütigen Gottes, der Sie in letzter Stunde zur Umkehr mahnt!“

Da reckte sich der Jüngling empor: „Ich habe es nicht nötig, umzukehren, Hochwürden. Ich will nicht zurück, sondern vorwärts!“

„Ihre Verstocktheit ist groß, Kind, aber mit Gottes Hilfe ist mir die Bekehrung weit ärgerer Sünder schon gelungen, auch bei Ihnen wird sie kein vergebliches Bemühen sein. Ich kenne Sie durch und durch, Hellwig, und kenne auch die Ursache Ihres jetzigen Zustandes. Sie lesen zu viele weltliche Bücher. Machen Sie sich davon frei! Die weltlichen Bücher sind die Saatfelder des Teufels, in denen die Giftpflanze der Seelenfäulnis üppig in die Halme schießt! Sie machen den Gläubigen wankelmütig und bestärken den Ungläubigen in seinem gottlosen Wandel. Satan wollte die Menschheit von Gott abwendig machen, da erfand er die Lettern und gab ihr die weltlichen Bücher. Aller Schmutz fließt in ihnen zusammen wie in einer Kloake und jegliches Übel kommt von ihnen. Verbrennen sollte man sie und in Acht und Bann tun alle diejenigen, die sie erzeugen und verbreiten! Kind Gottes, warum lasen Sie solche Schriften, in denen die Verleumdung der Religion ihren eklen Geifer verspritzt? Warum lasen Sie weiter, statt sie ins Feuer zu werfen, als Sie die Verlockung zum Unglauben merkten?“

„Solche Bücher kenne ich nicht, Hochwürden. Nur ernste wissenschaftliche Werke. Darwin zum Beispiel.“

„Darwin!“ ächzte Romanus. „Darwin! — Auch ich habe ihn gelesen, aber als reifer, glaubensfester Mann und nicht als haltloser Jüngling! Wissen Sie denn nicht, daß geschrieben steht: Hütet euch vor jenen, die im Schafspelze zu euch kommen, im Innern aber reißende Wölfe sind? O Kind Gottes, und Darwin ist der Oberste dieser Wölfe! Ein Irrlehrer ist er, ein schamloser Verführer und wahnwitziger Lügensprecher! Oder ist es nicht Wahnsinn, daß wir, die Ebenbilder Gottes, für die sein eingeborener Sohn am Kreuze blutete, entstanden sein sollen nicht durch eines allmächtigen Schöpfers Hand, sondern durch blinden Zufall aus einem Urschleim? Der Kot des Lebens Anfang und der Menschheit Vater! O mein Gott! Mein Gott! Daß sich überhaupt Leute finden, die so hirnverbrannt sind, das zu glauben!“ — Der Eiferer schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn und Fritz entgegnete bescheiden:

„Auch in der Bibel steht, daß Gott den Menschen aus Staub erschaffen hat.“

„Aus Staub, jawohl! Aber nicht aus Dreck! Aus Staub, den seine göttliche Hand von aller Unreinheit geläutert und geadelt, sein göttlicher Atem gewandelt hat zum köstlichen Gefäß der unsterblichen Seele!“

Da sagte Hellwig und ein warmes Leuchten kam aus seinen Augen: „Auch dieses habe ich in Darwins Lehre gefunden. Der Atem Gottes kam in den Staub — da war das Leben. Das Leben selbst ist dieser Atem, des Lebens Regung in uns, das ist die Seele, unsterblich wie das einmal gewordene Leben selbst. Und Gott ist nichts anderes als die Natur, die aus sich selbst das Leben gebiert, dreifach und doch nur eins: der leblose Stoff als Träger der ewigen, ehernen, großen Gesetze; der Leben gewordne Stoff, der den unbelebten zur Selbsttätigkeit erlöst und endlich der Selbstbewußtsein gewordene Stoff, der Geist. So hab’ ich’s mir zurecht gelegt.“

„Lästern Sie nicht, Verblendeter!“ Der Pater hob abweisend die Hand. Ruhiger fuhr er fort: „Ihre Seele, Kind, ist überwuchert von Unkraut und Dornen! Viel Schweiß wird es kosten, diesen Boden zu jäten und für die Aufnahme der heiligen Samenkörner zu bereiten, die da sind die Worte der Evangelien. Wir müssen ganz von vorn anfangen und das so bald als möglich. Morgen abend um sechs Uhr erwarte ich Sie. Jetzt aber lassen Sie mich allein. Sie haben mich tief betrübt, ich will im Gebete Trost und Zuflucht suchen. Und auch für Sie will ich beten, daß Ihnen Gott die schwere Sünde nicht zu hoch anrechnet, die Sie im Angesicht des Gekreuzigten begangen haben!“

Er warf sich vor dem Hausaltar, der in einer Zimmerecke errichtet war, in die Knie, legte die Stirn auf das Holz der Betbank, hielt die gefalteten Hände über dem Haupt empor. Wie gelöst schienen seine Glieder, unter dem seidig glänzenden Priesterrock bebte der Leib in Fieberschauern.

Eine tiefe Furche zwischen den Brauen, mit stürmischem Atem und zuckenden Nüstern schaute Fritz empört zu. Dann sagte er laut und hart: „Herr Professor, lügen Sie doch nicht Ihrem Herrgott ins Gesicht!“

Jäh fuhr Romanus in die Höhe. In den Halsadern pochten ihm alle Pulse sichtbar. „Bube!“ schrie er. Aber sogleich wieder hatte er die aufgestörten Leidenschaften fest im Zügel. Stoßweise, mit gewaltsam gebändigter Erregung, sprach er: „Danken Sie’s Ihrer Mutter, daß nur der Priester und nicht Ihr Professor die frechen Worte gehört haben will. Sie haben die Achtung vor jeder Autorität verloren. Hellwig, Hellwig, das wird ein böses Ende nehmen! Ich wollte Ihnen ein Freund und Berater sein, doch Sie haben meine väterlich gebotene Hand zurückgestoßen. Gut! Ganz wie Sie wünschen! Ich werde trachten, auch das zu vergessen. Das ist mehr Nachsicht, als Sie verdienen. Damit ist meine Aufgabe vorläufig beendet. Wenn Sie aufrichtig bereuen, steht Ihnen meine Wohnung wieder offen. Bis dahin — gehen Sie!“

Sein ausgestreckter Finger zeigte nach der Tür. Fritz verneigte sich stumm und ging langsam. Aber über die ausgetretene Schneckenstiege rannte er schon in heftigen Sätzen.

Draußen atmete er auf. Die leichte Winterluft streichelte ihm die Stirn, schien mit frischen, kühlen Händen alle Unreinheit fortzuwischen, die er aus dem Haus des Geistlichen an Leib und Kleidern mitzutragen glaubte.

Trotzdem gelang es ihm nicht gleich, den Ekel zu überwinden, den das Gebaren des Jesuiten in ihm ausgelöst hatte und den er ganz körperlich, wie den Nachgeschmack einer verdorbenen Speise, zu empfinden vermeinte, so oft er sich das Bild wieder vergegenwärtigte: Die große Gebärde, mit der sich Romanus vor dem Altar in die Knie geworfen, das heuchlerische Spiel mit Gebet und christlicher Liebe, die schamlose Schaustellung von Gefühlen, die, wenn wirklich empfunden, unter allen Umständen der Einsamkeit gehören mußten. Und er empfand lebhafte Genugtuung, daß er mit seiner Meinung nicht hinterm Berge gehalten. Vor den Folgen war ihm nicht bang. Er wußte, daß er recht gehandelt und glaubte noch an den Sieg des Rechts, weil er an die Menschen glaubte und, selbst vornehm, auch anderen keine Niedrigkeit zutraute.

Als er nach stundenlangem planlosen Herumwandern das Gleichgewicht endlich wieder erlangte, war der Abend bereits so weit vorgerückt, daß er Heinz nicht mehr aufsuchen wollte. Der wußte ebensowenig wie Otto um die ganze Angelegenheit. Denn Hellwig hatte diesmal niemandem seine Absicht mitgeteilt, weil er die Erinnerung an das Auskneifen Pichlers noch zu lebendig mit sich herumtrug und nicht abermals einen Freund in Versuchung bringen wollte. Das Verheimlichen war ihm schwer genug angekommen, wie einen Vertrauensbruch empfand er es. Der Aufschub, zu dem er sich jetzt abermals gezwungen sah, war ihm daher höchst unlieb, und er konnte kaum den nächsten Vormittag erwarten. Dieser war schulfrei zum Behufe eines würdigen Nachgenusses der Kommunion, die den Studenten bei der ersten Frühmesse gespendet wurde und von der sich Hellwig selbstverständlich fern hielt.

6.

Die Uhr am Rathaus hatte noch nicht neun geschlagen, als Fritz auch schon mit langen Beinen über die breiten Holztreppen zu Heinzens Behausung hinaufeilte.

Die Morgensonne hielt vor den bemalten Bogenfenstern, ließ die satten Farben der Glasbilder aufleuchten und füllte das geräumige Stiegenhaus mit warmem Licht. Vom Hof her drang das Lärmen der Auflader, das Klirren der Wagenketten und das Gewieher der Pferde. Das alte Haus, das sonst, wenn die Sonne vorübergegangen war, düster, fast mürrisch dreinblickte, war heute gar nicht wieder zu erkennen. Jeder Winkel schien hell und munterer Tätigkeit voll zu sein, wie ein Tempel fröhlicher Arbeit stand es, tönte und glänzte im jungen Morgenlicht.

Und jetzt mischte sich in den summenden Lärm der Ladestellen von oben her Türenschlag und Schuhgetrapp. Auf schnellen Füßen kam etwas die Stufen herabgepoltert, bog um die Ecke des Treppenabsatzes. Gewänder rauschten, ein heller Rocksaum flatterte um schwarzbestrumpfte Knöchel, ein dicker Blondzopf schwang den Takt dazu. Ranke, geschmeidige, biegsame Glieder, blaue Funkelaugen, gerötete Wangen — das war ein Hasten, war ein Eilen, hatte nicht mehr Zeit, die wirbelnden Füße zu hemmen und — stieß mit Hellwig Stirn gegen Stirn zusammen.

Wehleidig-erschrocken ein „Au!“ aus weißer, weiblicher Kehle. Der Hut des Jünglings flog zu Boden. Lebenswarm knospende, drängende Jugendfülle fiel zugleich mit einem strauchelnden Mädchenleib für einen Augenblick in die Arme des Verlegenen, zehn kleine Finger klammerten sich Halt suchend an seinem Rockkragen fest. Dann sprang ein Lachen lustig in den Morgenglanz hinein: „Verzeihen Sie, bitte!“ und weiter ging’s in trappelnden Schuhen und wehenden Kleidern die Stiege hinunter durchs flimmernde Spiel der Sonnenlichter, während Fritz noch auf dem Treppenabsatz stand und mit der Hand die Beule an der Stirn befühlte.

„Das war die Ev!“ sagte Heinz lachend, als ihm der Freund die Begegnung erzählte.

„Was denn für Ev?“ knurrte Hellwig verdrossen. Er ärgerte sich über die Heiterkeit des andern und hatte das unbehagliche Gefühl, daß er irgendwie eine lächerliche Rolle gespielt haben könnte. Und als nun Heinz lustig rief: „Da hört sich doch alles auf! Jetzt weißt du Brummbär am Ende gar nicht, daß ich eine Schwester hab’?“, da wurde Fritz wieder einmal ungemütlich.

„Woher sollt’ ich’s wissen? Gesagt hast du mir nichts, und herumschnüffeln tu’ ich nicht!“ polterte er los. „Überhaupt — schöne Freundschaft das! Wenn sie mir nicht grad’ eine Beule gestoßen hätte, wüßt’ ich bis heute nicht, daß mein Freund eine Schwester hat!“

Nun mußte er jedoch selber lachen, und so unterblieb diesmal der Auftritt.

Heinz war in trefflicher Laune und scherzte weiter: „Dann hast du wenigstens gleich einen Vorgeschmack bekommen! Tröst’ dich, du wirst mit dem tollen Ding noch mehrfach zusammenrennen!“

Da hob Fritz die Hände wie zur Abwehr: „Das fehlte grad’ noch!“

„Wird dir nichts übrig bleiben!“ erwiderte Heinz. „Sie ist schon furchtbar neugierig auf dich. Gestern ist sie auf Weihnachtsferien gekommen — weißt, sie ist heuer in Deutschland draußen in einem Töchterheim — und die Mutter muß ihr was von dir geschrieben haben. Sie hat wenigstens gleich gestern gefragt, wann du herkommst.“

„Dann komm’ ich überhaupt nicht mehr, bis sie wieder fort ist! Ich wüßt’ ja gar nicht, was man mit so einem Wesen reden soll!“ platzte Fritz heraus und Wart setzte die Neckerei fort: „Nur Mut, Fritze! Wenn man erst über den Anfang hinaus ist, findet sich alles von selber. Sie wird dich nicht gleich fressen!“

„Aber ich kann doch um Himmels willen nicht von Buddha und Haeckel mit ihr sprechen!“ unterbrach ihn Hellwig verzweifelt. „Und was anderes interessiert mich nicht! Und was mich nicht interessiert, davon red’ ich nicht! Und wovon ich gern reden möcht’, das kann doch wieder so ein Pensionsmädel nicht interessieren, so ein Gansl! Nein, da ...“

‚Tu’ ich nicht mit‘ wollte er sagen. Aber der Satz blieb ihm in der Kehle stecken. Mitten in seine Worte hinein hatte eine klingende Stimme gerufen: „Dank’ schön für die gute Meinung, Herr Hellwig!“

Und da stand sie, gegen die er soeben geeifert, leibhaftig unter der geöffneten Tür, durch die vom Gangfenster in der hinteren Giebelwand ein breiter schräger Streifen Sonnenlicht fiel. Wie goldene Fädchen glänzten die krausen Locken über den kleinen Ohrmuscheln, hinter den lachenden Lippen blitzten die Zähne, und die Sonnenstäubchen tanzten um die feinen Schultern, tanzten um die werdenden Hüften unterm roten Gürtelband, tanzten um den ganzen schlanken Leib im hellen Tuchkleid, der sich auf tanzbereiten Füßen wiegte und seiner jungen Schönheit sorglos freute.

Fritz war nicht so sorglos. Linkisch stand er, mit rotem Gesicht, und wußte tatsächlich nicht, was er reden sollte. Heinz schaute von seinem Schreibtisch behaglich nach den beiden, schlang die Hände um das emporgezogene Knie und war gemütsroh genug, dem ruppigen Freunde den fatalen Zustand vom Herzen zu gönnen.

„Jetzt wehr’ dich!“ rief er ihm fröhlich zu. „Gib acht, daß sie dir nicht die Augen auskratzt.“

„Von mir aus ...“ brummte Hellwig achselzuckend, während er sich trotzig gegen die Wand lehnte, die er im beständigen Rückwärtsschreiten endlich erreicht hatte. Dabei duckte er den Kopf nach vorn, denn der aufstrebende Haarschopf fegte bereits die schiefe Decke des Dachzimmers. Und da er noch obendrein die Hände zu Fäusten geballt hielt, war er ganz bedrohlich anzusehen, gleich einem sprungbereiten Tiger oder lauernden Schnapphahn, wie Heinz belustigt meinte.

Mittlerweile hatte sich die junge Schöne mitten in der Stube aufgepflanzt und tauschte mit dem Bruder einen verständnisinnigen Blick.

„Also ein Gansl bin ich?“ sagte sie unter mehrfachem leichten Kopfnicken. „Wissen Sie, daß das eine Beleidigung ist?“

Fritz gab keine Antwort. Er stand unbeweglich, wurde noch röter und aufgeregter, aber scheinbar ruhig, wie das seine Gewohnheit war, sah er dem unerwünschten Widerpart scharf und gerade in die Augen.

‚Sie schaut der Mutter ähnlich,‘ dachte er und fühlte dabei, wie der Zorn in ihm zu kochen begann, weil sie’s wagte, ihn zur Rede zu stellen. Da sie ein bitterböses Gesicht aufgesetzt hatte und das verräterische Zucken der lachlustigen Mundwinkel, so gut es ging, unterdrückte, nahm er ihre strenge Frage für blutigen Ernst, glaubte in eine demütigende Lage hineingeraten zu sein und ärgerte sich über seinen Mangel an Schlagfertigkeit, der ihm keine schneidige Entgegnung finden ließ.

„Eine ungerechtfertigte Beleidigung!“ bekräftigte Heinz.

„Und für die müssen Sie Abbitte leisten!“ forderte der entsetzliche Backfisch resolut und hielt dem geraden, feindseligen Blick des Gequälten tapfer die blauen Augen entgegen.

Hellwig schwieg. Von den hohen Büchergestellen funkelten in Goldschrift die erlauchten Namen der Geistesriesen, schienen des ratlosen Menschleins an der Wand zu spotten. Immer stärker brodelte es in ihm, und Wart, der ihn unausgesetzt beobachtete, hielt es für ratsam, einzulenken. Er blinzelte seiner Schwester zu, die aber gab nichts darauf, ließ sich von ihrem jungen Ungestüm fortreißen und rief befehlend, mit schräg abwärts gestrecktem Arm und Zeigefinger: „Abbitten! Nun?“

Da fuhr auch schon Hellwigs Wort wie ein Keulenschlag nieder: „Gesagt ist gesagt und Gansl bleibt Gansl! Man hört’s am Schnattern!“

Das klang grob, herausfordernd und wirklich verletzend. Nun war’s, als hätte eine ungeschlachte Hand mit einemmal alle kindliche Heiterkeit aus dem hübschen Gesicht fortgewischt. In die blanken Augen kam ein feuchter Schimmer. „Pfui, Sie sind roh!“ sagte Eva Wart, kehrte dem klotzigen Gesellen energisch den Rücken, und ehe noch der Bruder vermittelnd eingreifen konnte, hatte sie schon das Zimmer verlassen.

Fritz sah ihr nach und wunderte sich, wie hoch so ein dicker Zopf fliegen und wie goldähnlich seine Spitze leuchten konnte. Ihm war keineswegs wohl ums Herz. Er verwünschte seine ungefügen Manieren, aber auch das naseweise Ding, das ihm mit solcher Anmaßung entgegengetreten war. Keinen Augenblick dachte er daran, daß er eigentlich ein Spaßverderber war. Denn er hatte kein Verständnis für tändelnde Scheingefechte, und seiner gärenden Jugend fehlte noch vollständig der Humor, zumal sie zu wenig sonnig gewesen und die gefühlsduselige Empfindlichkeit der fortwährend unglücklichen Mutter gerade aus den nichtigsten Ereignissen einen Grund zum Jammern herauszuholen pflegte.

Vergebens suchte ihm Heinz die Sache von der harmlosen Seite darzustellen, mit beruhigenden Worten und vorsichtigem Tadel über seine Rauhbeinigkeit. Fritz wollte nichts hören, haderte mit ihm, daß er ihn in diese Lage gebracht, und lief endlich grollend davon.

Inzwischen hatte Eva mit sprühenden Augen und lebhafter Entrüstung ihrer Mutter den Vorfall erzählt. Frau Hedwig nahm ihr temperamentvolles Kind in die Arme und klopfte ihm begütigend die erhitzte Wange.

„Nimm’s nicht tragisch, Mädl!“ sagte sie. „Jungens sind einmal nicht anders.“

„Ich lass’ mir das aber nicht gefallen!“ rief die Kleine stürmisch. „Er muß sich entschuldigen!“

„Das muß er nicht!“ erwiderte die Mutter mit freundlichem Ernst. „Denn auch du bist nicht ganz schuldlos, Eva. Was hast du bei Heinz oben zu suchen gehabt?“

„Ich war halt so neugierig,“ gestand die noch nicht Fünfzehnjährige verschämt.

„Und warst keck und vorwitzig. Siehst du, da hast du eben gleich deine Strafe wegbekommen.“

„Du nimmst ihn noch in Schutz ...“ murmelte das Mädchen vorwurfsvoll und konnte die locker sitzenden Tränen nicht länger zurückhalten.

„Das tu’ ich nicht, Kind. Ich will nur sagen, daß ihr beide im Unrecht wart. Aber auch wenn er allein schuld hätte, dürftest du keine Abbitte von ihm verlangen. Es ist unedel, seinen Beleidiger zu demütigen. Da weiß ich eine vornehmere Rache.“

„Was denn? Sag’s doch!“ drängte Eva ungeduldig, als Frau Wart eine Pause machte und ihr die wirren Haare aus der Stirn strich.

Ihre Gesichter waren jetzt dicht nebeneinander. Die Frau saß in der Erkernische beim Nähtisch, das Mädchen lehnte neben ihr, den Arm hinter der Stuhllehne um die Mutter gelegt, und schaute sie erwartungsvoll an. Die Ähnlichkeit zwischen beiden war nicht zu verkennen. Dieselbe glatte, ein wenig niedrige, aber fein geformte Stirn, dieselben klaren blauen Augen neben einer geraden, an der Spitze leicht abgeflachten Nase, dieselben sacht geschwungenen Lippen über einem rundlichen Kinn. Aber während bei Eva die Züge noch weich, nur erst angedeutet oder noch verhüllt waren von dem Pfirsichflaum einer zarten Kindlichkeit, traten sie in Frau Hedwigs Antlitz bestimmter hervor, waren durch das Widerspiegeln eines sorgfältig geschulten Geistes in eine schöne Harmonie gebracht und von lauterster Menschenliebe überglänzt, vereinigten sie sich zu einem Gesamtausdruck jener Güte, von der da ein Sagen geht, daß sie alles verzeiht, weil sie alles begreift.

Frau Wart ließ ihr neugieriges Kind erst ein bißchen zappeln, ehe sie mit ihrem Plan herausrückte, der dahin zielte, den widerborstigen Jungen mit einem Weihnachtsgeschenk zu überraschen. Darauf wollte die Kleine anfangs durchaus nicht eingehen. Als jedoch die Mutter anregte: „Weißt, wir kaufen ihm ein paar Bücher, stecken einen Zettel hinein und schreiben darauf: ‚Vom Gansl und seiner Mutter‘, dann wird er sich schämen und doch freuen,“ da war das quecksilberne Ding auch schon Feuer und Flamme und brachte sofort eine Menge von Werken in Vorschlag:

„Schiller! Oder Geibel! Oder Scheffel! Nein? Also Baumbach! Freytag! Heyse!“ und so weiter alle Lieblinge der Pensionsliteratur. Da indessen die lächelnde Zuhörerin immer den Kopf schüttelte, hieß es gleich wieder unwillig: „So sag’ endlich auch du was!“ und der Schmollmund war fertig.

Aber schließlich fing sie doch wieder an, und endlich kam die Mutter auf das ‚Liebesleben in der Natur‘ von Boelsche. Das sei heiter und leicht und bringe manches Anregende, ohne eigentlich wissenschaftlich zu sein. Aber Fritz brauche nicht immer nur die ganz gedankenschweren Sachen zu lesen. Damit war die Kleine auch zufrieden, obwohl sie das Buch nicht kannte.

Und kaum waren sie im reinen, als sich die Zimmertür auftat. Geräuschvoll prustend und die frostroten Hände reibend, kam das Familienoberhaupt hereingestapft, schritt vorerst zum Ofen, wo es die Handflächen an den grünen Kacheln wärmte und machte dann beim Erker halt. Seine massige Gestalt mit den breiten Schultern füllte den schmalen Zugang beinah ganz.

„Nun, ihr Glucken!“ dröhnte seine tiefe Stimme und in allen Falten, Fältchen und Pölsterchen des bartüberwucherten vollen Gesichts saßen und lachten die fidelen Geister einer kreuzbraven Vergnügtheit. „Nun, ihr Glucken, was für ein Ei wird denn da wieder ausgebrütet?“

„Wer weit fragt, wird weit gewiesen, Nikl,“ kam die Gattin dem flinken Plauderzünglein der Tochter zuvor. Denn sie fürchtete, daß der bücherfeindliche Mann dem Kinde durch ein abfälliges Urteil die Freude verderben könnte.

Der gemütliche Bürger dachte an die nahe Weihnachtszeit und gab sich mit dem deutungsvollen Bescheid zufrieden. „Freilich, freilich,“ lachte er behaglich, „erwarten ist besser als erlaufen. Denn: mit Geduld hat die Katz’ den Schwartenmagen überwunden. Ich bin schon stad!“ Und dann unvermittelt abspringend: „Aber eine Kälte hat’s heut’, Leutln, daß die Schindelnägel krachen! Ich hab’ ein paar hundert Flaschen Krondorfer unterwegs, da wird mir die Hälfte zersprungen herkommen! ’s ist halt alleweil ein G’frett! — Hast nichts zum Essen, Mutter? Ich muß gleich wieder hinunter.“

Trotzdem Herr Wart auf seine Frage nach dem Gabelfrühstück täglich dieselbe Antwort erhielt: „Es steht schon auf deinem Schreibtisch!“, wäre es ihm niemals eingefallen, vom Laden unmittelbar in sein Arbeitszimmer zu gehen. Denn diese kurze Pause, diese flüchtige, meist auf wenig belanglose Worte beschränkte Unterhaltung mit seiner Frau war ihm Ausruhn, Erholung und geistige Stärkung für die weitere Vormittagsarbeit.

Heute aber wurde er noch nicht fortgelassen. Eva stellte sich in ihrer ganzen Größe vor ihm auf und sprach sehr ernsthaft: „Du, Vater, sag’, bin ich ein Gansl?“

Wart Nikl schaute die sonderbare Fragerin erst verdutzt an, dann bewegte er kräftig nickend das Haupt und rief aus einem unbändigen Gelächter heraus: „Und was für eins, Mädl! Und was für eins! So ein ganz ausgewachsenes! Das wär’ ein Bratl zu Martini gewesen!“ Und er kniff sein Herzblatt in die glatt gerundete Wange.

Die Kleine aber wandte mit einem unwilligen Ruck ihr Gesicht weg, fauchte wie ein Kätzchen, und auf der Suche nach einer schlagenden Widerlegung sagte sie zornig: „Ich — ich werd’ im August schon fünfzehn und — und die Fräuleins sagen alle, daß ich sehr gut lerne. Ja!“

Nun mußte auch Frau Hedwig lachen, und zum Unglück hob noch obendrein das kleinste Glöcklein im Turm des Franziskanerklosters zu läuten an.

„Hörst es?“ neckte da gleich der Vater, zum Fenster zeigend. „Hörst es, was die Glocke sagt? ‚Tu d’ Gäns’ ein! Tu d’ Gäns’ ein!‘ sagt sie. Komm, komm, ich muß dich in den Stall tun!“

Da hielt sich Eva die Ohren zu und wollte an ihrem Erzeuger vorüber aus dem Zimmer. Der aber fing sie in den ausgebreiteten Arm, drückte sie an sich und brachte mit Hilfe des untergelegten Zeigefingers ihr gesenktes Kinn in die Wagrechte. Und da sah er, daß die großen Kinderaugen voll Tränen waren. Sofort hörte der gutmütige Mann mit dem Gelächter auf und sagte ganz unruhig: „Aber geh, Ev, wirst doch nicht heulen? Fesch sein, Mädl! Spaß verstehn! — Wart’, ich werd’ dir jetzt auch erzählen, was die Glocken beim Begräbnis sagen. Alsdann: wenn so ein recht reicher Frommer zur ewigen Ruh’ gebracht wird, dann brummen die dicken großen Glocken immerzu: ‚Fünferbanknoten! Fünferbanknoten!‘ — Aber wenn sie einen armen Hascher hinausschaffen, dann belfert nur so ein kleines grantiges Glöckerl hinterher: ‚Klingl, glenkl, armer Schlenkl!‘“

Das trug der Nikl sehr wirkungsvoll vor. Die ‚Fünferbanknoten‘ sprach er dumpf und feierlich, legte die fleischige Hand auf den Magen und schaute scheinheilig zur Decke, wogegen bei dem raschen ‚Klingl, glenkl‘ seine Stimme in die krähendste Fistel überschnappte. Darüber mußte Eva lachen. Und als er sie noch auf die Schulter klopfte: „Laß gut sein, du bist schon recht!“, war sie wieder ganz versöhnt. Und weil sie wußte, daß er’s gern von ihr leiden mochte, zupfte sie ihn am rötlichen Bart. Nun schnappte er mit grimmigem Gesicht nach ihr, sie zog wie erschrocken die Hand zurück und lachte laut, die Mutter lachte mit und Wart Nikl ebenfalls, und die Fensterscheiben zitterten vor seines Basses Grundgewalt.

7.

Während es dem Mädchen mit Lachen und freundlicher Teilnahme leicht gemacht wurde, über den kleinen Vorfall wegzukommen, mußte Fritz wie immer allein damit fertig werden und fraß sich hiebei nur desto tiefer hinein in seinen Groll gegen die Frauen im allgemeinen und gegen die weiblichen Mitglieder des Hauses Wart im besonderen. Und seine Stimmung wurde keineswegs gebessert bei der Erinnerung, daß er wegen der dummen Geschichte nicht einmal dazu gekommen war, Heinz von der Beichte und dem Auftritt mit Pater Romanus Bericht zu erstatten.

Als er dies beim nächsten Zusammentreffen in den Gängen des Schulgebäudes nachholte, meinte Wart, daß er einen Unsinn begangen habe. „Unsinn oder Sinn!“ sagte Fritz darauf, „ich mußte einfach. Wir werden ja sehn, ob man heutzutage wirklich ohne Lüge nicht durchkommen kann!“

Da verkündete die Glocke hallend den Beginn des Nachmittagsunterrichts, die Studenten strömten in die Klassenzimmer, und die beiden Freunde mußten das Gespräch vorläufig abbrechen.

In der Oktava verlas der Klassenvorstand unter lautloser Stille das Ergebnis der am Vortage stattgehabten Monatskonferenz, verteilte die Strafzettel mit den Tadelsworten, den Rügen und Ermahnungen und fügte seine eigenen Bemerkungen hinzu. Die wiesen zwar in einigen besonders schweren Fällen drohend auf schärfere Maßnahmen und auf das Schreckgespenst eines Durchfallens bei der Reifeprüfung hin, klangen im übrigen jedoch recht sanft und tröstlich. Denn dem alten Herrn mit dem weißen Backenbart und den schon leise zittrigen Händen waren seine Jungen ans Herz gewachsen.

Name um Name wurde aufgerufen. Die Zettel wanderten in die Hände der Schüler, und wer einen bekam, sah trübselig drein, während mancher Schuldbewußte erleichtert aufatmete und sich freute, daß diesmal ein schon für unabwendbar gehaltenes Verhängnis doch noch gnädig vorübergegangen war. Schließlich blieb nur noch ein einziges Blatt übrig. Da stellte sich der Professor in Positur, machte ein bekümmertes Gesicht, so gut ihm das in Anbetracht seiner roten Wängelein und fröhlich zwinkernden Augen möglich war, und begann: „Leider, und ich bedaure das sehr, leider bin ich in die unangenehme Lage versetzt, auch einem meiner fleißigsten Schüler, von dem ich’s nicht erwartet hätte, mitteilen zu müssen, daß sein sittliches Verhalten nicht vollkommen einwandfrei ist. Fritz Hellwig ...!“

Der Aufgerufene erhob sich und trat aus der Bank vor.

„Fritz Hellwig, ich habe die betrübliche Pflicht, leider, Ihnen wegen Ihres sittlichen Betragens den Tadel der Konferenz aussprechen zu müssen, leider.“

Fritz nahm das weiße Blatt aus den Händen des Lehrers, verbeugte sich und ging auf seinen Platz zurück. Er dachte an Pater Romanus, fand die Strafe sehr mild und wunderte sich nur, warum der Pater erst davon gesprochen hatte, daß er den ganzen Vorfall vergessen wolle.

Mit diesem Gedanken beschäftigt, hörte er nur mit halbem Ohr hin, wie der Professor jetzt fortfuhr: „Nehmen wir uns also zusammen und folgen wir mit größerer Teilnahme dem Unterricht.“ Und erst als er etwas schärfer einsetzte: „Hellwig, ich spreche mit Ihnen!“, erhob dieser sich wieder und blickte ziemlich verständnislos. Nun kam der behäbige Mann vom Podium herab, stellte sich neben die Bank und sagte freundlich: „Wir sollen nicht so gleichgültig sein, namentlich im Griechischen. Herr Kollege Hermann hat sich beklagt, leider, daß wir seinem Vortrag gar nicht zuhören, sondern währenddessen leider immer zerstreut in allen Himmelsrichtungen herumschauen. Auch bei seinen Fragen melden wir uns niemals und bekunden mangelnde Teilnahme an besagtem Gegenstand, indem wir immer wie ein Haubenstock dasitzen, leider.“ Und mit gedämpfter Stimme fügte er hinzu: „Es hat nicht viel auf sich. Nur munterer sein, munterer!“ Dann trippelte er wieder zum Lehrpult zurück.

Fritz stand da, als hätte der Blitz vor ihm eingeschlagen, war kalkweiß und rührte sich nicht. Erst als der Professor fragte, ob ihm etwas fehle, bewegte er verneinend den Kopf und setzte sich. Sein Herz klopfte unregelmäßig, trieb das Blut bald in heftigen Stößen, bald matt und mühsam durch die Adern. Mit leeren Augen stierte er vor sich hin, war jetzt wirklich teilnahmslos und dachte nur immer das eine: daß ihm ein Unrecht geschehen sei. Gerade das Griechische war schon wegen Plato und Demosthenes sein Lieblingsgegenstand trotz des widerwärtigen, schwindsüchtig aussehenden Lehrers, der infolge einer Kehlkopfkrankheit fortwährend hustete und heiser sprach, als stäke ihm ein Schleimpfropfen in der Luftröhre. Auch hatte er die Eigenschaft, daß er beim Reden niemandem ins Gesicht, sondern mit hastenden Augen stets an der betreffenden Person unstet vorbeisah. Deshalb konnte er von anderen ebenfalls keinen offenen Blick vertragen, wurde unruhig und nervös, wenn er einen solchen auf sich gerichtet fühlte. Daher mochte er Hellwig nicht leiden, fand aber, weil dieser im Griechischen dank einer umfangreichen Privatlektüre sehr viel wußte, keine Handhabe, ihm irgendwie seine Abneigung fühlen zu lassen. Da hatte ihn Pater Romanus, der tödlich Gekränkte, mit ein paar achtlos hingeworfenen Worten auf das dehnbare Gebiet des sittlichen Betragens gewiesen und der Erfolg zeigte, wie gut der Jesuit seine Werkzeuge zu wählen verstand.

Davon ahnte Hellwig freilich nichts. Er hatte nur das Bewußtsein, daß der Tadel unverdient war. Denn wenn er auch nicht, wie die meisten anderen und namentlich Pichler, bei jeder Frage, auf die er Bescheid zu geben wußte, gleich mit der Hand in die Höhe fuhr, so konnte er sich doch mit ruhigem Gewissen sagen, daß er den Unterricht noch immer mit Aufmerksamkeit verfolgt hatte, stets bei der Sache gewesen und nur selten eine Antwort schuldig geblieben war.

Das Unglück wollte es, daß als nächste Lehrstunde das Griechische an die Reihe kam und Professor Hermann, durch Aufstehen von den Sitzen begrüßt, ins Schulzimmer trat. Auch Fritz erhob sich gewohnheitsmäßig mit. Als er jedoch das eingetrocknete gelbe Gesicht erblickte, da wallte zugleich mit einer siedenden Wut das kindische Verlangen in ihm auf, dem eklen Patron einen Tort anzutun und seiner Mißachtung sogleich irgendwie Ausdruck zu geben. Er verschränkte die Arme vor der Brust, warf den Kopf in den Nacken und sah den Professor herausfordernd an. In dieser Stellung verharrte er noch, als seine Mitschüler bereits wieder auf den Bänken saßen.

Da sprang der ausgelaugte, stangendürre Mensch mit einem gewaltigen Satz vom Podium herunter auf ihn zu: „Eh, eh, — wie stehn S’ da? Wie stehn S’ da?“

Fritz rührte sich nicht.

Das Gesicht des Lehrers war fahlgrün geworden. Pfeifend kam der Atem aus der kranken Kehle.

„Hinaus! Sie Frechling! Lausbub! Klassenbuch! Sittenrüge! Karzer! Hinaus! Hinaus!“ schrie, spuckte und hustete er und hieb mit der geballten Rechten immerfort auf die Bank unter allen Zeichen einer schweren Nervenüberreizung. Selbst als Hellwig das Zimmer verlassen hatte, konnte er sich nicht beruhigen. In seinem dicksohligen knarrenden Schuhwerk schritt er vor der Schultafel hin und her, fortwährend Worte wie „Frechheit!“, „Bube!“ zwischen den gelblichen Zähnen zerreibend, nahm dann das Klassenbuch aus der Pultlade und schrieb beinah eine Seite voll. Mit einem hämischen „So!“ klappte er endlich den grünen Deckel zu und begann ein wütendes Prüfen unter der verschüchterten Schülerschar, wobei er raunzend, räuspernd, hüstelnd eine ungenügende Note nach der andern in seinen Handkatalog eintrug. Und niemand fand heute vor dem Verärgerten Gnade.

Fritz mußte inzwischen im Korridor das Ende der Stunde abwarten. Er lehnte sich in eine der tiefen Fensternischen und blickte durch die eisernen Gitterstäbe in den Hof, der von zweistöckigen Gebäuden eingeschlossen, unter der Aufsicht vieler schnurgerade ausgerichteter Fensteraugen trübselig im Schatten lag, als schämte er sich seiner Dürftigkeit. Wehmütig streckte ein verkrüppelter Roßkastanienbaum die beschneiten Äste nach dem Stücklein Himmel über den geflickten Ziegeldächern, eine hungrige Dohle saß in seiner Krone, ließ den starken Schnabel hängen und fror.

Die Glieder schlaff, den Kopf gesenkt, drückte Hellwig die Achsel gegen das kalte Gemäuer. Aller Lebensmut war ihm zerbrochen, und in sein steinstarres Antlitz meißelte tiefe und immer tiefere Furchen ein ungeheurer Schmerz. Er hatte zum erstenmal im Leben die Ungerechtigkeit kennengelernt. Und da war ihm, als sei der feste Boden unter seinen Füßen weggezogen worden, als wankten alle Grundpfeiler der Ordnung, stürzten hin und lägen begraben unter dem hereinbrechenden Chaos.

Es war ihm so klar gewesen bisher als die erste und einfachste sittliche Forderung: Das Recht des Nebenmenschen wahren wie sein eigenes, als geheiligtes, unantastbares Gut. Und jetzt? Da stand er, und ein Unrecht war ihm geschehen, und er hatte kein Mittel, gegen den Übeltäter aufzutreten, es sei denn die rohe Kraft der Muskeln. Und statt, daß er und alle andern mit ihm wie ein Mann sich erhoben, den Beflecker des Rechts zu züchtigen, blieben sie untätig, als dieser dem ersten Verbrechen das zweite hinzufügte. Und wenn auch einige die Unbill verurteilten, so schien sie ihnen doch zu geringfügig, um viel Aufhebens davon zu machen. Aber gab es denn hier überhaupt eine Geringfügigkeit? Jede Beleidigung Gottes, und wäre sie noch so klein, sollte schwerste Missetat sein und die gröbliche Verletzung eines ersten Sittengesetzes Bagatelle? Und jetzt empfand er auch Scham über sein unwürdiges Benehmen. Wie zu einem heiligen Krieg hätte er ausziehen, hätte glühend für das gelästerte Menschengut in die Schranken treten müssen, ohne der eigenen Kränkung zu gedenken. Statt dessen hatte er in einer großen Sache klein und jämmerlich, so recht wie ein geprügelter Knabe gehandelt. Das machte ihn verzagt und schwunglos, drückte nieder und beraubte ihn der Kraft zum entschiedenen Eintreten für seine Schuldlosigkeit. Und als die Stunde vorüber war und als er an Professor Hermann vorbei in das Schulzimmer ging, da senkte er, wiederum zum erstenmal im Leben, schuldbewußt den Kopf.

8.

Den nächsten Tag begannen bereits die Weihnachtsferien, die solcherart für Hellwig und für seine Mutter keineswegs freundlich eingeleitet wurden. Er hatte ihr gleich nach seiner Heimkunft den Tadelszettel auf den Küchentisch gelegt: „Da, unterschreib den Wisch!“ Sie las ihn bedächtig vom Anfang bis zum Ende und fing sofort ein Weinen an und ein Zanken, ohne den Sohn nach der Ursache der Maßregelung zu fragen. Denn daß er sie verdiente und schuldig war, dafür war ihr das mit dem Schulsiegel und der Unterschrift des Direktors versehene Blatt todsicherer Beweis.

Fritz versuchte nicht einmal, sich zu verteidigen. Es wäre auch ein vergebliches Bemühen gewesen, ihren Glauben an die Behörden und an geschriebene Amtsurkunden erschüttern zu wollen.

Als sie endlich mit dünnen unbehilflichen Volksschülerbuchstaben ihren Namen auf den Zettel gemalt hatte, packte er ihn mitsamt den Schulbüchern zusammen und ging in seine Stube. Dort fand er auf seinem Tisch ein Postpaket vor. Überrascht öffnete er es; drei schön gebundene Bücher fielen ihm in die Hände. Zwischen den Blättern des einen stak ein Briefumschlag. Darin war eine Karte. ‚Fröhliche Weihnachten‘ stand auf der einen Seite und auf der anderen ‚wünschen das Gansl und seine Mutter‘.

Mit einem Fluch ließ Hellwig die Faust auf den Tisch fallen. Unter zusammengezogenen Brauen funkelte der Zorn. Als Fopperei erschien ihm die Sendung, als Zudringlichkeit und neue Beleidigung. Er hatte Frau Wart niemals Grund zu einer solchen Vertraulichkeit gegeben, hatte jeden Versuch schroff abgelehnt. Und nun kam sie ihm so. Denn, daß der Plan von ihr ausgegangen, darauf hätte er Stein und Bein geschworen. Schon schickte er sich an, die Bücher wieder einzupacken, schon schien es, als ob Frau Hedwigs gute Saat nutzlos ausgestreut wäre. Da glänzte ihm aus dem aufgeschlagenen Band der Name Darwin entgegen. Angeregt las er den Satz, stutzte, las weiter.

Und als der Nachtwächter morgens im winterlichen Dunkel der Gassen den Ruf anstimmte:

„Hausmagd, steh auf, heiz’ ein, kehr’ aus,
Trag ’n Bedarf Wasser ins Haus!“,

da war Fritz Hellwig richtig mit den leichten Plaudereien so ziemlich fertig geworden.

Dadurch hatte er sich das Geschenk unfreiwillig angeeignet und die Rückgabe unmöglich gemacht. Es hatte ihm nicht sonderlich gefallen. Zu spielerisch, zu tändelnd und oberflächlich war es ihm. Und doch saß er und träumte mit leuchtenden Augen in das Dunkel hinaus. Träumte vom Frühling und Blütentreiben mit seltsam bewegtem Herzen, das wehmütig und sonnig war, erwartungsfreudig und voll von tausend unsichtbaren, heimlich pochenden Kräften wie ein Vogelnest zur Brutzeit. Erschauernd wurde er seiner werdenden Mannheit inne, mit einer leisen, scheuen Sehnsucht nach dem Weibe. Rein und ohne noch zum Verlangen sich zu verdichten, war diese Sehnsucht einer jungen Blüte gleich, die kaum entfaltet zum erstenmal dem Lichte entgegenblickt. Und der Atem der Liebe machte ihn sanft und gütig und erfüllte ihn mit einer innig warmen Verehrung für das Weib als einen heiligen Brunnen, in dessen klarer Tiefe Anfang und Ende aller Menschwerdung in sich beschlossen ruht. Und neidlos und ohne Vergleiche empfand er jetzt eine aufrichtige Dankbarkeit für die mütterliche Frau, die ihm einen Freund geschenkt und jetzt diese Weihnacht des Herzens bereitet hatte.

So wurde eine Wandlung seiner Seele wohl angebahnt, aber im kalten Licht des Tages regte sich wieder der alte Trotz.

Damit er nicht zu Heinz gehen mußte oder Gefahr lief, von ihm abgeholt zu werden, machte er sich gleich nach dem Frühstück auf den Weg, um Pichler in seinem Heimatsdorf aufzusuchen, das drei Stunden von Neuberg entfernt, schon an der bayrischen Grenze lag.

Dort hatte der Küster und Kirchendiener Pichler ein gemauertes Hüttlein inne, das wie ein Schwalbennest an einer schlanktürmigen Kirche klebte und außer für zwei Wohngelasse nur noch für eine Vorratskammer und den Kuhstall Raum bot. Hellwig fand den Kameraden in der großen Stube, wo hinter dem überlebensgroßen Kachelofen zwei Turteltauben gurrten und links davon unter dem Geschirrschrank die Hühner in ihrer rot angestrichenen Steige hockten. Auf der Holzbank aber, die sich längs aller Wände um die Stube zog, saßen verteilt sechs junge Menschenkinder. Die älteren Buben banden Birkenreiser, die, am Barbaratag geschnitten und ins Wasser gesteckt, nunmehr grüne Triebe hatten, mit roten und blauen Bändern zu Ruten, mit denen sie am zweiten Feiertag die Dirnen peitschen wollten. Und um sich zu vergewissern, ob sie das Sprüchlein noch wüßten, sprachen sie manchmal halblaut vor sich hin: „Frische, frische Krone, ich peitsch’ dich nicht um Lohne, ich peitsch’ dich nur aus Höflichkeit, dir und mir zur Gesundheit!“

Beim Ofen wirtschaftete mit nackten Armen eine siebente, wenig jüngere als Otto, in Töpfen und Schüsseln herum, und unter all der regsamen Jugend saß dieser selbst, der einzige Dunkelhaarige, schnitt mit der Schere Engel, Hirten und Lämmer aus einem Bilderbogen und steckte sie neben die heilige Familie und die drei Könige aus dem Morgenlande in den Moosboden der aus Pappendeckel gefertigten Krippe.

Als Hellwig die strohgefütterte Tür öffnete, schwieg das Summen und Tönen, die geschäftigen Hände ruhten und vierzehn helle Augen starrten neugierig auf den Ankömmling, der mit Reif und Schnee zugleich eine frische Winterluft in die dumpfig warme Stube brachte. Anfangs waren sie schüchtern und sahen zu, wie der älteste Bruder in seiner lauten Weise den Freund begrüßte. Bald aber schoben sich die kleineren, die schmutzigen Mittelfinger im Mund oder Nasenloch, näher heran, glucksten und umschlichen im Kreis den Fremdling. Da hob Fritz eine kaum Vierjährige mit beiden Armen hoch über seinen Kopf, daß sie fast an den braunen Deckenbalken stieß. Und nun wollten auch die andern Fibelschützen nicht um diesen Genuß kommen, drängten und stießen sich, kicherten, und als Otto mit den geflochtenen Weihnachtsstriezeln und einer Flasche Kümmelschnaps aus der Vorratskammer zurückkehrte, lehnten sie bereits, links zwei Männlein, rechts zwei Weiblein, alle unter zehn Jahren, an den Knien des Gastes, der beim Eßtisch saß, und guckten scheu-zutraulich wie junge Hunde von der Seite nach seinem Gesicht hinauf. Die zwei älteren Burschen flochten leise pfeifend an ihren Ruten weiter, und die Siebzehnjährige beim Ofen, die nach dem Tode der Küsterin das Haus versehen mußte, hantierte mit ihren Kochgeräten und bemühte sich jetzt, möglichst wenig Lärm zu machen.

Hellwig aber war Kind mit den Kindern, und Otto gewahrte mit wachsendem Staunen, wie viel harmlose Heiterkeit und genügsamer Frohsinn diesem spröden, widerspenstigen Charakter eingemischt war. Er lachte und trieb Tollheiten, sprach Schnellsagesätze vor — „hinter Hansens Hundshütten hängen hundert Hundshäut’“ — und erzählte den Auflauschenden von der versunkenen Stadt im Tillenberg, von der Sturmmutter Melusine und dem Hehmann im Franzensbader Moor.

Dann kam der Küster nach Hause, ein schneiderdürres Männchen mit spitziger Nase, spitzigem Kinn und einem spitzigen grauen Ziegenbart darunter, und brachte in einem Netz zwei schöne Spiegelkarpfen, ein Geschenk aus dem Fischteich seines Pfarrherrn. Im Nu war er von der Schar seiner Sprößlinge umringt, und in dem Gewoge blonder Köpfe und greifend emporgestreckter Hände schwankte sein kümmerliches Gestaltchen wie der Mast eines steuerlosen Kutters in sonnenüberfunkelten Wellen.

Endlich gelang es der ältesten, das Fischnetz zu fassen und mit hochgehaltenen Armen aus dem Bereich der neugierigen Finger zu bringen. Aber immer wieder bettelten die Kleinen: „Zeig’ doch einmal her! Ich möcht’ mir die Viecher ja nur anschaun!“, hingen sich an ihren Rock und suchten den Arm der Schwester im Sprung zu erhaschen und niederzuziehen. Scheltend wehrte sie dem Ansturm, machte sich mit einem kräftigen Ruck frei, und nun flog die ganze leuchtende Wolke von Gesundheit und Jugendkraft zur Anrichtbank beim Ofen, während das Küsterlein den Schnee von den Röhrenstiefeln stampfte und den Gast bewillkommte. Doch hielt es sich nicht lang dabei auf, sondern verlangte gleich nach dem Mittagessen.

Bald saßen um eine einzige gewaltige Schüssel dampfender Milchsuppe mit Schwarzbroteinlage alle außer der ältesten Tochter, die sich Abbruch tat und den Magen bis zum Aufleuchten der ersten Sterne leer behalten wollte, um dann sicher das goldene Meerschweinchen über die Zimmerdecke laufen zu sehen. Das Fasten wurde ihr gar nicht leicht, und man merkte ihr an, daß sie gern mitgehalten hätte, als nun alle ihre Löffel in die dickliche Flüssigkeit versenkten, auch Fritz, der die Gastehre eines eigenen Tellers rundweg ausgeschlagen hatte. Die Kinder aßen noch ungeschickt, mit schmatzenden Lippen und hastigen Gebärden, indes die zwei halbwüchsigen Rutenbinder langsam, ernst und mit einer Gründlichkeit dem Nahrungsgeschäft oblagen, daß ihnen der Schweiß auf die Stirnen trat.

Ganz gegen seine sonstige Gepflogenheit sprach Otto nicht viel. Verdrießlich zupfte er an seinem sprossenden Schnurrbärtlein und war unzufrieden mit Hellwigs Besuch, trotzdem er ihn dringend darum gebeten. Er hatte sich’s eben ganz anders vorgestellt, ein ungestörtes Beisammensein mit dem Freunde, wobei ihm Gelegenheit geboten war, seine Geistesblitze flammen zu lassen. Vor den Geschwistern aber oder gar vor dem Vater getraute er sich nicht mit hohen Themen anzufangen, da er selten von der Leber weg sprach, sondern mit Vorbedacht je nach der Zuhörerschaft Gegenstände auswählte, mit denen er zu blenden hoffte. Das war jedoch beim Küster so gut wie ausgeschlossen. Der ließ sich von niemandem ein X für ein U vormachen und hatte für die oft gewagten Behauptungen seines ältesten noch immer einen tüchtigen Trumpf bei der Hand gehabt. Alle Versuche aber, Fritz von den Angehörigen abzusondern und in die kleine Stube zu lotsen, scheiterten an dem rückhaltlosen Behagen, mit dem sich dieser den Kindern überließ, und an seiner hellen Freude über die ihm bisher unbekannte Traulichkeit eines quellwasserfrischen Familienlebens.

So kam es, daß der Küster fast allein die Unterhaltung besorgte. Das bewegliche Greislein hatte sich trotz Armut und Kindersorgen den Humor nicht abhanden kommen lassen und trug sein Los mit heiterer Zufriedenheit.

„Sie müssen halt fürlieb nehmen,“ sagte er zu Fritz. „Was Extra’s ist’s nicht. Wir machen eben unsere Schrittlein und essen unsere Schnittlein, so gut wir können. Langen Sie zu, wenn’s Ihnen schmeckt, oder hören Sie auf, wenn Sie genug haben. Immer tüchtig! Tüchtig! Wie man sich zum Essen hat, so hat man sich auch zur Arbeit. Schaun Sie unsern Christoph an,“ — er deutete mit dem Kinn zu einem der Rutenbinder hinüber — „wie schön faul der einführt. Der war auch in der Stadt im Gymnasium, er hat studiert bis zum Hals, in den Kopf ist nichts hineingegangen.“

Der Christoph ließ ein unwilliges Grunzen hören, aß aber unentwegt gemächlich weiter.

„Da schaut den an!“ fuhr der Vater fort. „Der ist gar ein Philosoph. Recht hast, Toffl, schweig und näh’ dich an und denk: Wenn man auf alle Hund’ werfen wollt’, die einen anbellen, müßt’ man viel Steine aufheben. Ob du ein Studierter bist oder nicht, ist egal. Unser Herrgott verläßt keinen Deutschen, wenn er nur ein wenig Böhmisch kann!“ Und er lachte über den Witz, daß er mit dem Essen innehalten mußte.

Viel zu rasch nahte für Hellwig die Stunde des Heimwegs, wollte er die Mutter nicht mit dem Anzünden des Christbaums warten lassen. Er gab allen der Reihe nach die Hand und mußte versprechen, bald wiederzukommen. Otto begleitete ihn ein Stück und brachte jetzt das Gespräch natürlich zuerst auf die Vorkommnisse in der griechischen Stunde. Fritz war indes nicht in der Stimmung, darüber zu reden. Nur als Pichler sagte: „Du hast’s dem hustenden Schleicher gut gegeben, das war großartig!“, wehrte er kurz ab, mit gefurchter Stirn: „Laß mich in Ruh’!“ Aber er blieb ganz kalt dabei. Wie in eine weite Ferne gerückt kam ihm das Ereignis vor. Denn dazwischen war die Auferstehung der Liebe und der erkennende Blick in unschuldige Kinderaugen.

Otto suchte nunmehr seine neuesten Schlager an den Mann zu bringen, die Ausbeute einer flüchtigen Beschäftigung mit Stirners Hauptwerk. Doch auch damit weckte er heute keinen Widerhall. Fritz hörte nur mit halbem Ohr hin, und Pichler sah seine geistreichsten Paradoxa wirkungslos verpuffen. Da verlor er die Lust zur Fortsetzung des Feuerwerks und kehrte um.

Fritz aber bog jetzt von der Straße ab und schritt weglos in das stille, klare Winterland hinein. Weiß, weich und schimmernd breitete sich der Schnee, ein stolzer Fürstenmantel für die Berge, eine warme Schlafdecke für die müden Fluren, machte den Schritt lautlos, das Auge hell und freundlich den Tod, der auf kahlen Ästen mit vergessenen welken Blättern spielte und in verlassenen Vogelnestern kauerte. Und vor der weiten, toten Einsamkeit war der Himmel erschauernd hoch hinauf zurückgewichen. Vergeblich strebte die Sonne den kalten Leib der Erde in ihre Arme zu nehmen wie damals im Frühling. Kaum, daß sie den fühllosen noch streicheln und mit ein paar funkelnden Edelsteinen schmücken konnte.

Fühllos und tot?

Wie viele mochten jetzt, im gleichen Augenblick, gerade so wie der hagere Junge, mit wachen Sinnen und heißem Herzen über öde Flächen wandern und durch Frost und Eis und Winterstarrheit unbewußt dem Endzweck ihres kurzen Daseins entgegengetrieben werden, der da ist: Träger, Übertrager des Lebens zu sein. Liebe nennen sie’s und sind glücklich dabei. Glücklich wie irrfahrende Schiffer, die endlich Land gefunden. Land: das heißt fester Boden, Herd, Weib, Kind und — ein Fleckchen zum Grab. Was sonst noch drum und dran hängt: Religion, Gemeinwohl, Kunst, Kultur, ist gute Zier und erfreuendes Spiel, nicht mehr. Und über die Grube des bewunderten Künstlers und des geistesgewaltigen Denkers, des Länder einenden Staatsmannes wie des schwärmerischen Religionsstifters schreitet mit schweren Schuhen rücksichtslos und lachend in derber, rotbackiger Daseinslust mit seinem Schatz der junge Bauernbursch, ein Kaiser gegen die großen Toten, nur weil er lebt.

Und der jetzt weiter und weiter in die Einsamkeit lief, Fritz Hellwig, der ernste Grübler und Sucher, hatte das gleiche Empfinden. Wohl konnte er sich nicht erklären, was das war und woher es kam. Aber es war da, hielt ihn fest und stieß ihn vorwärts wie Sprungfedern. Er sah den blauen Himmel und nickte ihm zu, er sah den saubern Schnee der Erde und warf sich längelang hinein, wälzte sich darin in toller, zweckloser Freude, sprang wieder auf und rannte mit wilden Jubelschreien weiter, dachte an nichts und wollte an nichts denken. Er fühlte nur, daß er lebte und daß das Leben schön war, schön und reich und verheißend — wie die Geschenke gütiger Frauen oder die Augen junger Mädchen. Weder an Frau Wart noch an Eva dachte er dabei, nur ganz umrißlos schwebte ihm die Erscheinung eines wunderherrlichen Weibes vor mit blonden Haaren, freiem Blick und beglückender Anmut im Wesen und Bewegen.

Da drang ein sanftes Blöken an sein Ohr und wie er aus seinem Taumel erwachte, und wie er näher hinschaute, bemerkte er mitten im Walde, durch unregelmäßige Zwischenräume getrennt, mit Reisig zugedeckt und mit zartem Heu und Nadelholzknospen als Köder darüber, drei tiefe Gruben, die ein schlauer Wilderer den Jagdtieren gegraben hatte. Und noch eine vierte war da, bei der war das leichte Deckwerk eingebrochen. Mit weitem Schlunde gähnte sie dunkel aus dem weißen Schnee herauf und darinnen stand ein rötlichgraues Rehkalb, schrie und schlug mit den Vorderbeinen immer wieder nach dem Rand der Grube. Aber es erreichte ihn nicht, zitterte und fürchtete sich sehr.

Fritz legte sich platt auf die Erde, griff das Viehlein behutsam mit flachen Händen beiderseits der Brust und hob das zappelnde heraus. Jetzt war es auf ebenem Grund und sollte davonlaufen. Aber es tat nur kurze Sprünge, humpelte unbehilflich und zog den einen Fuß hoch. Nun sah er, daß es dort einen offenen Schaden hatte vom Sturz in die Falle, vielleicht auch einen Sehnenriß oder Bruch. Da nahm er das ganz junge, magere Geschöpf vom Boden und trug’s auf seinen Armen zum Forsthaus an der Straße. Und wie er so dahinschritt unter den stillen runden Kiefernkronen, wußte er auch, was er damit tun wollte.

Er sprach mit dem Förster, forderte und erhielt das Tierchen um ein billiges Geld. Denn es war nicht mehr waldtüchtig und für den Markt noch zu dürftig an Fleisch und Fell. Nach geschlossenem Handel strich der Weidmann eine Salbe auf die wunde Stelle und legte einen Leinenstreifen darüber, die Försterin aber tat noch ein übriges, nahm das rote Bändlein aus den Locken ihrer Siebenjährigen und knüpfte es dem Tier um den Hals.

Mittlerweile war die Sonne untergegangen. Aber der Schnee leuchtete, und alle Gegenstände waren nahe gerückt und standen in einer ruhevollen Halbhelle wie Wächter vor einem schönen Geheimnis. Über den Saum des Horizonts kam ein großer Stern herauf, strahlte und winkte der Erde: ‚Komm zu mir, ich bin deiner Rätsel Lösung‘. Doch die Erde, stolz, leuchtend in reiner Klarheit, winkte zurück: ‚Komm du und erkenn’ in meinem Spiegel deines Wesens Art‘.

Mit seiner atmenden Last ging Fritz rasch vorwärts. Niemand begegnete ihm. Von den Dörfern, die rechts und links der Straße bis zu den Bergen hinüber allenthalben in den Fluren verstreut lagen, blinkte gelber Lichtschein aus jedem Fenster. Alle Menschen waren schon daheim und rüsteten sich für die Ankunft des Herrn.

Fast ohne Biegung lief die Straße nunmehr, von hohen Pappeln begleitet, eine sachte Lehne hinauf, und da sie sich oben gleich wieder abwärts senkte, schien es dem Hinanschreitenden, als endigte sie gerade vor dem riesigen Himmelstor, dessen dunkelblauer Stahl, mit silbernen Sternennägeln beschlagen, den Raum von der Unendlichkeit schied.

Breit, schwer, gewaltig ragte es senkrecht auf, für immerwährende Zeiten geschmiedet und geeignet, dem brüllenden Ansturm der Ewigkeiten von drüben wie dem Zuflattern der bang fragenden Seelen von hüben unverrückbar und gelassen standzuhalten. Und da schien es Hellwig, als sei das heiße, pochende Leben irgendwo weit zurückgeblieben, und vor der Majestät des Schweigens, das machtvoll aufgerichtet ihm entgegen stand, fühlte er zum erstenmal das Grauen vor der Einsamkeit, die ihn zu würgen begann, während sie ihm sonst Freundin und Trösterin gewesen. Mit schleppenden Schritten ging er weiter. Eine schnürende Beklemmung engte ihm die Brust, und ihm war, als hätte er allen Zusammenhang mit der Erde verloren.

Endlich war er oben. Und der Himmel war mit einem Male hoch und fern, und vor ihm breitete sich das weite weiße Tal im Mondglanz wie in einem leise wallenden, ganz durchsichtigen See, und die Lichter von Neuberg grüßten freundlich. Ganz deutlich sah er den Kirchturm, die feurige Scheibe der Rathausuhr, das alte hochgiebelige Haus am Marktplatz. Ein Fenster schien dort besonders hell. Und im Rahmen zwischen den geöffneten Flügeln stand eine schlanke junge Gestalt in knappem Kleid mit rotem Gürtelband, winkte — und winkte ihn ins Leben zurück.

Trugbild der Mondnacht.

Aber jetzt gab’s kein Halten mehr. In langen Sätzen sprang er den Abhang hinab. Das warme Geschöpf auf seinen Armen regte sich unruhig, hob den Kopf und schrie kläglich. Er kümmerte sich nicht darum, blickte nur nach dem leuchtenden Fenster hinüber und glaubte in alle Herrlichkeiten der Erde zu schauen. Dann erlosch das Schimmern, Gassen schoben sich dazwischen, er hastete hindurch und fand sich — er wußte nicht, wie er hingeraten — mit seinem Rehkalb plötzlich im dämmrigen Flur des Kaufmannshauses.

Das laute Dröhnen seiner Stiefel auf der Treppe ernüchterte ihn. Er fuhr zusammen, blieb stehen, besann sich. Das Tierchen blökte immerfort. Seine rauhe Stimme füllte hallend die gewölbten Gänge. Erschrocken legte er ihm die Hand auf die Schnauze und wollte zurück. Das ging jedoch nicht mehr. Denn das Weib des Hausdieners stand, durch das Geschrei herausgelockt, bereits unten auf der Stiege.

„Gehen Sie nur hinauf, Herr Hellwig,“ sagte sie, als sie ihn erkannte. „Die Herrschaften sind alle zu Haus.“ Da mußte er vorwärts.

Das Rehlein spektakelte unaufhörlich. Als er bereits im ersten Stock war, fiel ihm ein, daß er ja sein lungentüchtiges Angebinde beim Auflader abgeben könnte. Das war wie eine Erlösung. Aber es mußte beim Vorsatz bleiben. Die Wohnungstür tat sich auf, neugierig steckte die kleine Eva Wart den blonden Kopf heraus. Nun durchfuhr es ihn wie den Soldaten der Befehl. Auf gestrafften Beinen stand er kerzengerade und hielt den Nacken steif. Unter den gefalteten Brauen blickten die Augen wieder feindselig auf das Mädchen, von dem er sich noch vor kurzem im Geiste die Pforten des Lebens hatte öffnen lassen.

Das Rehkalb blökte noch immer.

Eva war nicht weniger rot als Hellwig. Kleinlaut schob sie sich durch den Türspalt, hatte die Wimpern gesenkt und spielte mit dem Ende ihres dicken Zopfs, der sich über ihre Schultern nach vorn verirrt hatte. Keine Spur mehr von Übermut und Reschheit, wie sie sie vor ein paar Tagen im Dachzimmer gezeigt. Die Ermahnungen der Mutter machten sie schuldbewußt und befangen.

Fritz raffte sich endlich auf, verbeugte sich und sagte: „Guten Abend.“

„Guten Abend,“ kam ebenso kurz ein Gelispel zurück. Aber hinter den niedergeschlagenen Augendeckeln begannen die losen Geisterchen schon wieder zu rumoren. Und vom rechten glitt sogar eines zum Mundwinkel hinab, huschte über die geschürzten Lippen und war im Nu hinter der linken Augenklappe verschwunden. Dort lachte es fröhlich weiter. Und das Rehkalb sorgte, daß keine Stille eintrat.

Nach einer Weile fing Fritz von neuem an: „Ich — danke — für die Bücher.“

Da hob sie die Stirn. Und aus ihren Augen sprang ihm der ganze Schwarm der lustigen Kobolde entgegen, daß er ordentlich geblendet zurückfuhr.

„Hat’s Ihnen Freude gemacht?“ forschte sie.

Er überhörte die Frage, sprach schnell und unsicher weiter: „Da bring’ ich Ihnen was ... wenn Sie’s halt mögen. Sonst schaff’ ich’s wieder fort.“

Ihr Gesicht strahlte. „Mein?“ fragte sie zweifelnd, kam näher und strich mit den Fingerspitzen vorsichtig über das weiche Fell. „Wie lieb und hübsch.“

Er schaute auf ihre goldfarbenen Locken, die sich dicht vor seinen Augen kräuselten und tat in fluchtartiger Eile einen Schritt zurück.

„Passen Sie auf!“ warnte er dabei. „Es hat ein wehes Haxl!“ Doch als er ihre bestürzte Miene gewahrte, beruhigte er gleich: „Es hat nicht viel auf sich. In ein paar Tagen ist’s gut. Wollen Sie’s?“

Sie bejahte wortlos mit wiederholten heftigen Kopfbewegungen.

„Dann lass’ ich’s also hier!“ sagte er, froh über die Erledigung der schwierigen Angelegenheit und setzte das Tierlein behutsam auf den Fußboden. Zitternd stand es da und tat sehr scheu.

„Geben Sie ihm bald zu saufen und zu fressen!“ riet er noch. Und Eva ganz ängstlich darauf: „Mein Gott, was denn? Ich hab’ ja nichts!“

„Im Stall unten ist Heu genug für hundert solche Vieher!“ belehrte er sie und drängte das Reh in den Vorraum der Wohnung. Dann wandte er sich zum Gehen. Aber die Kleine hatte noch etwas auf dem Herzen. Unschlüssig stand sie, hielt die Klinke in der Hand und fühlte sich gar nicht behaglich, zumal das Rehkalb immer von hinten gegen ihre Beine stieß und hinauswollte. Doch sie nahm allen ihren Mut zusammen. „Herr Hellwig!“ rief sie schüchtern. Und als er sich umdrehte, murmelte sie mit fliegendem Atem: „Nicht wahr, Sie ärgern sich nicht mehr auf mich?“

„Weshalb sollt’ ich denn?“ kam ein Knurren zurück.

Bittend schaute sie ihn an. „Gehn Sie, Sie wissen’s ganz gut ... von neulich halt ...“

„Nein, Fräulein ... Eva!“ Gewaltsam mußte er sich ihren Namen aus der Kehle zwingen. „Gute Nacht!“

Und er beeilte sich, über die Treppe hinunterzukommen, während sie, wieder ganz fröhlich, hinterher rief: „Sie haben schon recht gehabt mit dem Gansl!“

Dann fiel die Tür krachend ins Schloß und legte sich plump und klotzig vor ein helles Mädchenlachen.

Unten streckte Fritz beide Arme mit kräftigen Stößen ein paarmal seitwärts und vorwärts, denn sie schmerzten ihn jetzt doch, weil er ja die, wenn auch leichte Bürde fast zwei Stunden ohne Unterbrechung geschleppt hatte. Dann schlenderte er langsam seiner Behausung zu in einer sonderbar weichen, träumerischen Stimmung. Aber er freute sich darüber und freute sich auf die Stunden, die kommen würden und begehrte die Zeit vorwärts zu schieben, als hätte er etwas recht Fröhliches in ganz naher Frist zu erwarten. Und einen nach allen Windrichtungen zerflatternden Drang fühlte er, zu irgendeiner besonderen Tat, die stark oder gut sein sollte und jedenfalls so, daß sie vor den blauen Augen bestehen könnte, deren strahlenden Schein er heimlich im Herzen wie in einer Schatzkammer trug.

Aus einzelnen Fenstern schimmerten schon die Christbaumkerzen, als er mit heiterer Miene noch einmal in das entlegenste Gewinkel der Vorstadt hinausging, wo als vorgeschobener Posten ein Völkchen von Straßenkehrern, Bettlern und herabgekommenen Handwerksleuten mit vielen Kindern und wenig Brot in einer Reihe armseliger Hütten herbergte. Dort öffnete er auf gut Glück eine der Türen, die geradeswegs in die Stube führte, warf seine Börse hinein und lief rasch weg, indes hinter ihm das wüste Gekeif einer harten Weiberstimme unvermittelt in den schrillen Ruf grenzenloser Überraschung umschlug. In jener Börse aber hatte er schon seit Jahren von seinem Taschengeldchen Kreuzer zu Kreuzer gespart, um nach der Reifeprüfung eine Reise in die Alpen unternehmen zu können. Doch tat ihm das Aufgeben einer lang genährten Hoffnung heute gar nicht leid. Froh war er darüber, und da das Opfer uneingestandenermaßen der kleinen Eva Wart gegolten, fühlte er sich jetzt wie durch ein Band geheimen Einverständnisses mit ihr verbunden, obwohl sie gar nichts davon wußte.

Seine Mutter aber hatte ihn noch nie so sanft, zugänglich und herzlich gesehen wie an diesem Abend, so daß auch für sie ein leidlich vergnügtes Weihnachtsfest abfiel. Sie bedachte ihren Jungen mit allerlei Dingen des täglichen Bedarfs, mit Hemden, Taschentüchern, Socken und Kragen, erging sich eine Stunde lang in der beschaulich-rührseligen Betrachtung einstiger, gemeinsam mit dem Gatten verlebter Weihnachtsabende und suchte dann ihre Schlafstelle.

Fritz dagegen begab sich, als die Glocken zur Mette läuteten, noch einmal auf die Straße, wo von allen Seiten die Frommen heranzogen, um beim Gottesdienst der Geburt des Erlösers dankbar zu gedenken. Trotz der mondhellen Nacht trugen viele nach alter Gewohnheit ihre brennenden Laternen mit sich, und auch von den Hügellehnen herab zu den Dorfkirchen bewegten sich rötlichgelbe, schwankende Lichter, eines hinter dem andern, wie die Glieder großer Feuerwürmer.

Unstet strich Hellwig durch die Gassen und spähte den Wallern ins Gesicht. Zwischen ernsten Greisen, würdigen Matronen und verschlafenen Hausfrauen schritten blutjunge Mädchen mit lebenslustigen Augen, die unter großen Umschlagtüchern, Kapuzen oder leichten Seidenschals verstohlen nach den Jünglingen blickten. Insgeheim hoffte Fritz auch Eva in der Menge zu sehen. Aber sie kam nicht. Und als er sich scheu wie ein Dieb in die Nähe des Marktplatzes wagte, da lag das Haus der Kaufmannsfamilie schwarz und finster ganz im Schatten, und hinter den Vorhängen waren alle Lichter verlöscht. Nun wurde er kühner, setzte sich auf den Rand des Brunnens, der von einer uralten steinernen Rolandfigur bewacht, in der Mitte des Platzes aufgestellt war, und während das Wasser hinter seinem Rücken klingend in das Becken fiel, starrte er zu den dunklen Fenstern empor, und in seiner verwunderten Seele begann das Keimen und Wachsen einer zaghaften Sehnsucht, eines innigen Glücksgefühles, gleich dem Drängen und Treiben in blattlosen Bäumen zur Vorfrühlingszeit. Noch wissen sie nicht, was da sich regt und ihre Rinde dehnt, — ahnungsvoll stehen sie und warten und ängstigen sich wohl auch, bis in einer gesegneten Stunde aus allen Knospen grüne Blätter, weiße Blüten lachend der Sonne in die Arme springen. So träumte Fritz Hellwig unter einem hohen, frostklaren Sternenhimmel seiner ersten, keuschen, seligtörichten Jünglingsliebe entgegen. —

Als er am nächsten Morgen erwachte, schämte er sich zwar ein wenig seines Treibens, aber die schwärmerische Empfindung war geblieben. Doch ging er während der ganzen Ferienwoche nicht ein einziges Mal zu Heinz, sondern trieb sich wie verloren ganz allein herum, lief alle seine Lieblingsplätze ab und freute sich über alles mögliche: auf den Sommer und die Erikablüte, das Baden im Fluß und das Schwämmesuchen in den Wäldern, auf das Ende der Gymnasialstudien und auf das Leben in der Hauptstadt, wo er im Herbst die Hochschule beziehen würde.

9.

Nach den Feiertagen wurde Fritz in die Kanzlei des Direktors gerufen, und der hielt ihm in scharfer Weise vor und sagte ihm auf den Kopf zu, er, Friedrich Hellwig, sei an dem und dem Tage, zu der und der Stunde in dem und dem Gasthaus beim Billardspielen gesehen worden. Das war eine schwere Anklage, denn der Wirtschaftsbesuch war den Studenten streng untersagt.

„Das ist eine Lüge!“ rief Fritz ungestüm.

Der Direktor aber entgegnete, er solle sich mit seinen Worten in acht nehmen. Ausflüchte werden da nichts helfen, denn er sei mit vollster Bestimmtheit erkannt worden. Übrigens müsse er sich auch schon deswegen an den Vorfall erinnern, weil er sich beim Erscheinen des Gewährsmannes — es sei einer der Herren Professoren gewesen — unterm Billard versteckt habe. „Fügen Sie also,“ schloß der Schulmann, „zu dieser Feigheit nicht noch eine, sondern legen Sie ein mannhaftes Geständnis ab!“

„Herr Direktor,“ antwortete Fritz mühsam, „ich bin kein Feigling. Hätt’ ich’s getan, so würde ich’s auch sagen. Aber es ist nicht wahr! Die Anzeige ist Wort für Wort erlogen! Stellen Sie mich dem Klatscher gegenüber! Er soll’s mir ins Gesicht sagen, wenn er sich traut!“

Darauf erwiderte der Direktor mit seiner schrillen, metallenen Stimme, und bei jedem nachdrücklichen Wort zuckte der breite Vollbart, stachen die kalten Augen gegen den Verwegenen. „Vor allem,“ sagte er, „muß ich Ihre Ausdrucksweise auf das schärfste rügen. Die Strafe hierfür wird nicht ausbleiben, verlassen Sie sich darauf! Im übrigen werden wir mit Ihrem unverschämten Leugnen sofort fertig sein! — Ich bitte, Herr Kollega!“

Er öffnete die Tür zu seinem Sprechzimmer, und heraus trat hüstelnd und spuckend Professor Hermann.

„Sie wissen, um was es sich handelt, Herr Kollega? Der Schüler hat ja laut genug gesprochen.“

„Verehrtester Herr Direktor,“ entgegnete Hermann, „verehrtester Herr Direktor, ich kann nur wiederholen, was ich Ihnen bereits mitgeteilt habe. Der Oktavaner Hellwig hat mir gegenüber in der gröblichsten Weise die Achtung verletzt, jene Achtung, die er seinen Lehrern und Vorgesetzten schuldet. Dies hat mich veranlaßt, seinem Treiben außerhalb der Schule ein wenig nachzugehen. Denn wenn ein eifriger und fleißiger Schüler in den höheren Klassen plötzlich versagt und sein Benehmen auffällig ändert, ist in neunundneunzig von hundert Fällen das Wirtshaus schuld. Diese Ansicht des hochwürdigen Paters Romanus hat sich noch immer als richtig erwiesen. Nun besteht da in der Vorstadt ein kleines Gasthaus, wo dem Vernehmen nach fast täglich Studenten zusammenkommen sollen, weil es entlegen, billig und mit weiblicher Bedienung versehen ist. Mit weiblicher Bedienung! In dieser Kneipe habe ich den Schüler Hellwig gesehen, der sich bei meinem Eintritt hinter das Billard geduckt hat. Leider habe ich ihn nicht zur Rede stellen können, weil meine Augengläser in der Wärme angelaufen sind, und als ich sie geputzt hatte, war er offenbar durch einen rückwärtigen Ausgang verschwunden.“

So redete der Professor, und wenn ihm jemand erwidert hätte, daß Spitzeltum und Angeberei von anständigen Leuten zu den verächtlichsten Charaktereigenschaften gerechnet werden, hätte er gewiß eifrig zugestimmt und nur ganz verwundert gefragt, was diese Bemerkung denn hier zu tun habe. Denn er fühlte sich in der schleimigen Niedrigkeit seines Wesens über jeden Tadel erhaben und hatte noch niemals gezweifelt, daß eine seiner Handlungen etwas anderes als vollkommen sein könnte.

Fritz war einfach fassungslos.

„Es muß ein Irrtum sein!“ Der leise Ton seiner Stimme machte keinen guten Eindruck.

„Geben Sie das Leugnen auf!“ riet der Direktor. „Sie machen damit Ihre Sache nur schlimmer!“

Nun wurde der ehrliche Junge wild. „Ich war aber nicht dort!“ rief er ungeduldig. „Kenne die Spelunke gar nicht! Herr Professor verwechseln mich vielleicht mit jemandem andern!“

Freimütig und Bestätigung heischend, oder wie die beiden Pädagogen feststellten, frech und verstockt, blickte er von einem zum andern. Da fuhr Professor Hermann auf ihn los: „Sie kecker Bursch! Also ich bin ein Lügner? Was? Natürlich! Verwechselt hab’ ich Sie! Einen Doppelgänger haben Sie! — Zu blöd! — Verehrtester Herr Direktor, wie ich schon sagte, der Schüler ist ein Schandfleck für die Anstalt! Ein Schandfleck!“

Gewaltsam suchte sich Fritz zu beherrschen. Aber es ging nicht. „Sie haben mir schon einmal unrecht getan!“ keuchte er in zuckendem Zorn. „Ohne jeden Anlaß, nur weil Sie mir aufsässig sind! Das ist gemein! Das ist schuftig!“

Er spie dem Professor vor die Füße, blieb mit gespannten Muskeln noch eine Minute hoch aufgerichtet stehen und wartete. Da jedoch die zwei Schulmeister vor der ungeheuerlichen Tat stumm wie Steinbilder standen, schritt er traurig durch die Tür über die Stiege hinab ins Freie und ließ, je weiter er ging, das eben noch stolz getragene Haupt immer tiefer sinken.

Infolge dieser Begebenheit sah Romanus früher noch, als er gedacht, seinen Plan verwirklicht, war die Entfernung Hellwigs, des räudigen Schafes, das eine beständige Gefahr für die anderen bedeutete, vom Gymnasium unvermeidlich geworden. Der Pater empfand eine starke Befriedigung darüber. Nur daß sein Name in der leidigen Affäre nicht ganz verschwiegen geblieben, trübte ihm die Freude. Denn er wollte ganz rein dastehen. Nicht der leiseste Schatten eines Verdachtes durfte auf ihn fallen, daß er auch nur mittelbar beigetragen hätte, wenn der einzige Sohn einer bedürftigen Witwe kurz vor der Reifeprüfung so hart gemaßregelt wurde.

Und wie nun in einer eigens einberufenen Sitzung Hellwigs Ausschließung von allen Mittelschulen des Reiches beim Landesschulrat beantragt werden sollte und als alle Lehrer einig waren, daß für den unerhörten Frevel diese strengste Strafe eigentlich noch nicht streng genug sei, da erhob sich plötzlich der Religionsprofessor und trat aufs wärmste für den Sohn der Witwe ein. Er konnte das beruhigt tun. Am Neuberger Gymnasium wenigstens konnte dieser auf keinen Fall geduldet, konnte er nicht noch weiterhin von einem Lehrer unterrichtet werden, dem er Gemeinheit und Schufterei vorgeworfen.

Professor Hermann aber war tatsächlich im guten Glauben gewesen. Wie jemand, der einen Bekannten zu treffen hofft, im Menschengewühl bald diesen, bald jenen Fremden für den Gesuchten hält, ihm nacheilt und erst in nächster Nähe den Irrtum erkennt, — so hatte auch er sich vorgetäuscht, daß er Hellwig wirklich gefunden habe, weil er ihn finden wollte. Das wußte Romanus und schonungsvoll stach er dem Professor den Star, legte dar und stellte unter Beweis, daß der Beschuldigte an dem bewußten Tage tatsächlich nicht in jener Kneipe gewesen, kurz, trieb den verlegen hüstelnden Angeber so in die Enge, daß er schließlich notgedrungen die Möglichkeit eines Irrtums zugeben mußte, worauf ihn der Pater eines solchen in unwiderleglicher Weise überführte.

Die Stimmung unter den Professoren schlug nun zwar zugunsten des Jünglings um, aber die gröblich beleidigte Autorität forderte Sühne. Der Antrag an die Oberbehörde wurde auf ‚lokale Ausschließung‘ eingeschränkt.

Noch im Jänner traf die Genehmigung ein, und Hellwig erhielt ein Abgangszeugnis, in welchem das sittliche Verhalten als ‚nicht entsprechend‘ bezeichnet und auf der Rückseite der Vermerk eingetragen war, daß gegen den Schüler wegen ‚Beschimpfung und Bedrohung eines Lehrers, fortgesetzt frechen Benehmens, Ungehorsams und Widersetzlichkeit‘ die lokale Ausschließung vom k. k. Staatsgymnasium in Neuberg verfügt worden sei.

10.

Wenn man sieben Jahre ununterbrochen in derselben Schule von denselben Lehrern unterrichtet wurde, ist es gewiß schwer, sich in den Unterrichtsplan einer anderen Anstalt hineinzufinden, mit der Art und den Eigenheiten anderer Professoren sich vertraut zu machen. Fritz tat mehr. Seine Mutter hatte im Laufe der Jahre unter vielfachen Entbehrungen ein paar Gulden zusammengebracht, um ihn für den Anfang der Hochschulzeit über Wasser halten zu können. Die wollte sie jetzt dranwenden, wollte ihn in der nächsten Gymnasialstadt weiterstudieren lassen. Aber er ließ sich dort nur als Privatschüler einschreiben, blieb in Neuberg und lernte ohne Lehrer drauflos. Es galt jetzt nicht nur den umfangreichen Stoff für die Reifeprüfung, sondern auch den des letzten Halbjahres ohne Leitung zu bewältigen. Da blieb alles andere links liegen: Darwin, Nietzsche, Marx, die Spaziergänge und Zusammenkünfte mit den Freunden.

Erst fertig werden! Und er hockte über den Schulbüchern wie ein Geizhals bei seinen Schätzen.

Da fiel, es war im April, seine Mutter in eine Krankheit. Erst Influenza. Dann Lungenentzündung. Und dann erklärte Doktor Kreuzinger in seiner behutsamen Art dem verzweifelten Jungen, er müsse sich auf das Schlimmste gefaßt machen.

Das durfte nicht sein. Sie mußte leben. Noch viele Jahre leben. Durfte nicht von ihm gehen, bevor er nicht wenigstens ein Tausendstel abgetragen hatte von seiner drückend großen Schuld. Was war denn ihr Leben gewesen? Unter Darben und Kümmernissen ein stetes Plagen und Sorgen für ihn. Und die Zeit, wann er das ändern, die ganze Last des Lebens auf seine Schultern nehmen konnte, war noch so weit.

„Herr Doktor, es kann nicht sein!“

Aber es war doch. Eines Nachmittags. Sie hatte die Sterbesakramente empfangen. Segnend war der Priester gegangen. Der alte Arzt mit dem weich fließenden Silberbart saß neben ihrem Bett. Sie lag mit geschlossenen Lidern bleich und teilnahmslos da. Glockenklänge kamen von draußen. Sie läuteten zu irgendeinem Begräbnis. Wie fast jeden Nachmittag. Da regte sich die Kranke, öffnete die Augen, rief ihren Sohn zu sich. Auf unhörbaren Sohlen zog sich der Arzt in eine Ecke zurück. Fritz trat an ihr Bett. Sie streckte die Hände aus, zog ihn zu sich nieder, nahe, ganz nahe. Und sah ihm aufmerksam wie prüfend ins Gesicht. Und die Sorge um das Seelenheil ihres Kindes stieg noch einmal in ihr auf.

„Versprich mir,“ — flüsterte sie — „versprich mir, Fritzl, daß du immer an unsern Herrgott glauben wirst.“

Er aber schwieg. In gedankenloser Dumpfheit schaute er in das Gesicht, das ihm so vertraut war, und wunderte sich, daß er noch niemals früher bemerkt hatte, wie kennzeichnend und bestimmt ausgeprägt eigentlich die Falte war, die sich von dem papierdünnen Nasenflügel um den Mundwinkel bis zum Kinn hinab fortsetzte.

Und abermals, nur kaum wie ein leichter Hauch: „Versprich mir’s.“

Die Worte wehten an ihm vorbei, erreichten ihn nicht.

Er blickte auf die scharfe Linie um den Mund, sah, wie sie zuckte, bald länger, bald kürzer wurde, und mühte sich, ihr letztes Ende in der glanzlosen Haut des Kinns zu entdecken.

Und noch einmal, fast unhörbar, wie das Schweben einer Flocke in unbewegter Luft:

„Versprich ...“

Wie tief die Furche wurde, wenn sich die Lippen bewegten. Und wie fremd das aussah ...

Da hoben sich die schmalen wachsbleichen Hände. War’s zur Umarmung oder Abwehr? Er wußte es später nicht mehr, wußte nur, daß sie sogleich wieder schwer mit einem seltsam erschütternden, dumpfen Aufschlagen auf die Bettdecke gefallen waren.

Und dann war alles vorbei. Nur die Augen starrten noch groß und weit geöffnet. Aber es war keine Angst mehr darin und kein Flehen. Nichts. Und die Furche war jetzt ganz starr, ganz tief, wie mit dem Messer in gelbes Holz geschnitten.

Der Arzt war rasch hinzugetreten. Tiefernst, mit ruhigen, leisen Bewegungen tat er, was für ihn zu tun übrig blieb. Er forschte nach dem Leben und fand keine Spuren mehr, zog die Lider über die leeren Totenaugen und wandte sich dann zu Fritz. Der stand mit schlaff hängenden Armen und vorgeschobenem Kopf reglos. Da war etwas unter ihm fortgeglitten. Etwas, das noch ganz kurz vorher geatmet hatte — und sich geregt hatte — und Worte gesprochen hatte — irgendwelche leise Worte, deren Nachhall noch im Zimmer zitterte — so still war es ...

Sacht legte ihm Doktor Kreuzinger den Arm um die Schulter. „Sie ist hinüber.“

Verständnislos stierte ihn Hellwig an. Kein Muskel zuckte, hart lagen die Züge auf dem unbewegten Antlitz. Langsam wand er sich aus dem Arm des Greises, und ohne die Haltung zu ändern, steif, schwerfällig, schob er sich aus dem Gemach.

Ein warmer Regen war niedergegangen und verrauscht. Ein harscher Wind schob dunkle Wolkenklumpen vor sich her. Hinter ihm wurde blauer Himmel. Rund und blank und frisch wie eine riesige, taubesprühte Knospe lag die Erde im Arm des Frühlings. Lag und lachte, schrie, jauchzte, jubelte dem starken Leben ein heiliges Ja entgegen. Und die Blumen lachten es mit und die Bäche rauschten es mit und vom Himmel die Höhen herunter brüllte es mit das täppische Hünenkind, der Lenzsturm, sprang wipfelauf, wipfelab und über die sprossenden Fluren hin, tanzend, keuchend, stöhnend in unbändiger Kraft.

Und: „Ja — leben — ja!“ brüllte er dem schwachen Menschlein zu, dem hageren Jungen im dünnen Hausrock, mit zerwirrten Haaren, der sich, mühsam wie der aufgescheuchte Abendfalter im unerträglich grellen Licht des Tages, zurechtzufinden suchte und mit seiner ersten großen Trauer zur Erde hatte flüchten wollen. Aber die Erde gab heute dem Leben ein Fest. Und die seinen Schmerz hatte lindern sollen, peitschte ihn bis zur Verzweiflung empor durch die wilde, machtvolle Freude, mit der neues und immer neues Werden die starre Winterhaft zerbrach und alle Grenzen überflutete. Leben rang sich siegreich aus Leben, stürzte glühend in die werbende Umarmung des Lebens, und des Lebens warmer Atem quoll aus braunen Ackerschollen, dampfte aus feuchten Moosen, stieg aus jungen Saaten und geöffneten Blumenkelchen über Getier und grüne Wipfel himmelan wie schwerer berauschender Opferduft.

Wozu?

Die seinem Herzen am nächsten gewesen, hatte ihren Platz verlassen, und keine Lücke war geblieben. So — wie nach dem Zerstäuben eines Tropfens die ungeheure Meerflut gleichmäßig weiterrollt. Niemand fragte nach der Gestorbenen, vermißte oder brauchte sie.

Und rings jauchzte die kraftvolle Frühlingswelt. Aber er konnte ihr nicht nahekommen. Ein Fremdes, Hassenswertes drängte sich dazwischen, gegen das er vergebens ankämpfte. Das machte ihn trostlos und verzweifelt. Ganz leer war es in ihm. Und in den Kronen des Waldes sang der Lenzsturm das Lied des Lebens. —

Stunden verrannen. In seiner leichten Jacke begann ihn zu frieren. Da wollte er umkehren, tat ein paar Schritte, blieb wieder stehen und besann sich. Wohin nur? Und da fiel ihm ein: Er mußte ja seine Mutter begraben. Nun wich die steinstarre Ruhe aus seinem Gesicht. Die Mundwinkel zuckten. Aber er konnte noch nicht weinen. —

Als er nach Hause kam, war Frau Hedwig dort. Sie hatte alles schon besorgt. Die Leichenfrau war dagewesen, hatte die Tote gewaschen und in ihr Kleid getan. Mit einem weißen Linnen zugedeckt, lag sie jetzt in der Stube auf dem Leichenbrett, zu Häupten zwei brennende Wachskerzen und das schwarze Kruzifix aus dem Glasschrank, zu Füßen ein Gebetbuch und eine Schere. Ein Becken mit Weihwasser stand daneben und ein Wedel aus Kornähren lag darüber. Ganz dem Herkommen gemäß war sie aufgebahrt, und nichts war verabsäumt.

Als Fritz Frau Hedwig in der Stube erblickte, wachte die alte Abneigung wieder auf. Nur zögernd überschritt er die Schwelle. Dann aber bemerkte er unwillkürlich die kleinen Zeichen ihrer wohltuenden Obsorge: das geöffnete Fenster, die abgestellte Uhr, das weiße Tuch vorm Spiegel. Und im Bewußtsein seiner Verlassenheit konnte er sich ihrer warmen Mütterlichkeit nicht mehr entwinden. Er griff nach den wortlos gereichten Händen, hielt sie fest und — drückte sie rauh aufschluchzend gegen die Augen. Nun streichelte sie ihm die Wangen, die Stirn, das Haar. Und dann lag sein Kopf auf ihrer Schulter, während er sich umsonst mühte, der Tränen Meister zu werden, die ihm jäh und heiß über die Lider sprangen.

Lautlos weinte er so, kaum eine Minute lang und doch lang genug, daß der versteinerte Schmerz in eine sanftere Trauer sich löste.

„Mutter!“ rief er leise. „Mutter!“ So ruft nachts ein banges Kind nach ihrem Schutz.

Und eine tiefe, weiche Frauenstimme sagte: „Still, Fritz, still! Lassen Sie sie friedlich heimgehn.“

Er schüttelte heftig den Kopf, ohne die Stirn von ihrer Schulter zu heben, wo es sich so gut ruhte.

„Hier war sie zu Haus ... und übermorgen ... tragen sie mir sie fort!“

„Nein, Fritz, sie tragen sie heim. In den Frieden. In die Ruhe. In das sicherste Geborgensein. Eine Mutter zur Mutter.“

„Sie war die meine ... mir hat sie gehört!“

„Ja, Fritz, Ihnen — aber auch der Erde. Schaun Sie, Fritz, nur der Leib, die Form wird sich nur ändern, aber ihr Zweck wird immer bleiben. Hier bei uns hat sie ihre Bestimmung erfüllt, drum muß sie zu anderen, muß für diese Keim und Nahrung, Wurzel und Mutterbrust sein. Alles muß allen nützen. Das ist das Schöne, Trostreiche auf Erden.“

Da schaute er ihr lang wie suchend in die Augen und sagte nichts mehr.

Ihre Aufforderung, bei Heinz zu übernachten, schlug er aus. Nun ging sie und ließ ihn mit der Verstorbenen allein.

Es war bereits dunkel geworden. Die Wachslichter leuchteten matt und füllten das Zimmer mit unstet flackerndem Schein und zuckenden Schatten.

Er trat zu der Toten und schlug das Laken zurück. Da lag sie still und weiß in ihrem einstigen Brautkleid, und der Körper, aus dem er selbst einst Wärme und Blut und Leben gesogen hatte, war kalt und steif und wertlos geworden. Er schauerte zusammen. Bis in die Knochen fror ihn. Und ihm war, als erstürbe auch sein Leib, würde bleischwer und seiner Seele fremd, die sich plötzlich nicht mehr darin zu Haus fühlte und erschrocken umherschaute, wie ein zur Nachtzeit angekommener Reisender im ungewohnten Gastzimmer.

Langsam breitete er das Tuch wieder über den Leichnam und setzte sich an das offene Fenster, durch das die starke, kühle Frühjahrsluft strich. Der Sturm hatte sich gelegt. Es wurde Nacht. Lampe um Lampe erlosch in den Häusern, ganz finster wurde es unter einem sternlosen Himmel. Und zu Häupten der Toten zwischen den schwelenden Lichtern hing unbeweglich der Kruzifixus.

Da fiel ihm die letzte Bitte der Mutter wieder ein. In raschem Aufwallen erhob er sich, nahm das Kreuz und legte es vor sich auf das Fensterbrett. Der Kerzenschein huschte über die Porzellanfigur, die weiß und schlank auf dem dunklen Holz lag, die Arme weit gebreitet und das Haupt mit der Dornenkrone zur Seite geneigt.

Immerfort starrte er auf das Bildwerk.

Und draußen lag die Erde wie ertrunken in der dickflüssigen Dunkelheit, und die Atemzüge der schlafenden Kreaturen kamen und gingen wie schwere, unhörbare, noch dunklere Wellen, und rundum flutete die uferlose Stille der Nacht.

Und jäh durchzuckte es ihn: Wenn ... wenn doch ... wenn es doch dort drüben was gäbe? Wer weiß es denn? Wer kann behaupten oder leugnen — wenn sogar die eigene Seele dem Körper fremd werden kann?

In dumpfer Qual stöhnte er auf. Seine Finger legten sich um das Kreuzholz, als wollten sie es zerbrechen, schüttelten es, ungeduldig, leidenschaftlich, drohend: „Gib Antwort, du!“

Aber rings war Dunkel und Schweigen.

11.

Nach zwei Tagen war die Tote begraben, und die Notwendigkeit der Beendigung seiner Gymnasialstudien war für Hellwig eiserner als je. Über Zureden seines Freundes hatte er endlich eingewilligt, war zu ihm übergesiedelt und wohnte nun Wand an Wand neben Heinz in einer noch kleineren Dachkammer.

Niemand störte ihn hier. Sogar das Essen wurde ihm hinaufgebracht. Und er wühlte sich ganz in diese Abgeschiedenheit hinein, ging kaum ins Freie und lernte nur, lernte, lernte.

In den letzten Tagen des Mai unterzog er sich an dem Gymnasium der benachbarten Stadt der Prüfung über den Lehrstoff des zweiten Halbjahrs und bestand sie. Kurz darauf legte er die schriftliche und endlich auch die mündliche Reifeprüfung ab. Und da der Landesschulrat, der dieses Schulexamen leitete, nicht an allen Mittelschulen zu gleicher Zeit prüfen konnte, traf es sich, daß Hellwig um volle drei Wochen früher für reif erklärt wurde als seine Kollegen in Neuberg.

Nun wollte er gleich nach Prag und sich auf eigene Faust durchschlagen. Aber sie ließen ihn nicht fort. Auch Vater Wart nicht, der zielbewußte Arbeit in jeder Form achtete und seine Meinung über den großen Blonden mit den Storchbeinen sehr zu dessen Gunsten geändert hatte.

„Machen Sie keine Geschichten!“ sagte er ihm. „Jetzt heißt’s erst tüchtig faulenzen! Den Schädel ausrauchen lassen von der ewigen Lernerei!“

„Ich darf Ihre Gastfreundschaft nicht mißbrauchen,“ erwiderte Fritz. „Ich darf mich nicht länger von Ihnen aushalten lassen!“

Da polterte der Kaufmann los: „Jetzt das ist aber schon mehr als blöd! Aushalten lassen! So was sagt man überhaupt nicht!“ Dann überlegte er und fuhr fort: „Übrigens, wenn Sie sich’s justament verdienen wollen — der Bub’ von meiner Schwester ist bei mir in der Lehr’. Wenn Sie ihm bis zum Oktober ein bissel Stenographie und Französisch beibringen wollen, kann’s ihm nichts schaden und mich soll’s freuen! Gilt’s?“

Er streckte ihm die biedere Tatze hin, und Fritz schlug ein.

Hier bewog ihn nicht zum letzten der Gedanke an Doktor Kreuzinger. Dem greisen Gelehrten war jener Kampf zwischen kindlicher Zärtlichkeit und Wahrheitsliebe nicht entgangen und die geweckte Teilnahme hatte ihn veranlaßt, den Jüngling zu einem Besuche aufzufordern. Gern war Hellwig jetzt dieser Einladung gefolgt. Hatte ihm doch Heinz schon viel von der Bücherei und den Sammlungen des Großvaters berichtet. Seine hoch gespannten Erwartungen wurden auch nicht getäuscht, wurden von dem, was er dort vorfand und erlebte, noch übertroffen. Versteinerungen, Abdrücke und Knochen vorsintflutlicher Geschöpfe waren hier aufgespeichert, Mollusken, Krebse, Spongien und Leptokardier jeglicher Form und Gattung in Gläsern, Kasten und Wandschränken füllten zwei große Zimmer. Das Wertvollste aber war die klare Art, mit welcher der Doktor aus dem Äußerlichen den Kern herausschälte, die Zusammenhänge bloßlegte und die vielfachen faserfeinen Verästelungen auf ihre gemeinsame Wurzel zurückführte. Mit prunklosen Worten, scheinbar stets bei der Sache und doch über ihr, entwarf er dem begierig Lauschenden eine Übersicht über die Entwicklungsgeschichte der Erde und des Lebens und leitete ihn die Quellen der Erkenntnis hinauf, soweit Menschensinne dorthin vordringen können.

Dem ersten Besuch folgten andere, und bald war Hellwig täglich um sechs Uhr früh in der stillen Gelehrtenwohnung. Meist kam er allein, denn Heinz hatte sich ganz auf die Sozialpolitik geworfen und war für nichts anderes mehr zu haben. Für Fritz aber waren diese Morgenstunden, da er an der Seite des verehrten Mannes zuhörend und lernend durch den sommergrünen Garten schritt, während der Sonnenschein silbern in den Baumkronen spielte, das Schönste, das ihm das Leben bisher gebracht hatte, gehörten überhaupt zu dem Kostbarsten, das es ihm je zu bieten vermochte.

Und eines Tages lernte er dort den Doktor Albert Kolben kennen.

Der war auch von den Pfahlbürgern Neubergs als ein verlorenes Schaf erklärt worden, und sie hatten ihm, oder eigentlich in seiner Abwesenheit, bei Bier, Kaffee und geselligen Zusammenkünften hatten sie sein Verkommen so lang vorausgesagt, bis er vor ein paar Monaten den Doktorgrad erwarb. Und Reserveoffizier war er ebenfalls. Da waren sie baff. Dann aber entrüsteten sie sich desto mehr und fanden, der Kolben Albert hätte das nur getan, um sie zu ärgern. Denn die genasführten Propheten empfanden das Ausbleiben ihrer Vorhersagungen als persönliche Beleidigung. Es war gewiß unverschämt vom Kolben Albert. Aber er ließ sich eben überhaupt nichts vorschreiben, sondern tat, was ihm beliebte und ließ bleiben, was ihm nicht paßte. Das konnte er um so leichter, als er nach seinen Eltern ein beträchtliches Vermögen nebst einem Landgut besaß und von niemandem abhängig war. Übrigens hatte er von je auf die Nachrede der Leute keinen Deut gegeben, hatte im Gegenteil alles getan, um sie herauszufordern. Als sechzehnjähriger Lateinschüler hielt er sich ein Reitpferd und zwei große Hunde, als Achtzehnjähriger soff er einmal sogar den Wart Nikl unter den Tisch, als Zwanzigjähriger schnürte er sein Bündel und zog nach Wien. Was er dort trieb, wußte man nicht. Es liefen jedoch die abenteuerlichsten Gerüchte um. Daß er in der Schriftleitung einer sozialdemokratischen oder anarchistischen Zeitung tätig sei, in Volksversammlungen Brandreden halte und fortwährend betrunken in den Schnapsschenken herumliege. Da wurde er als Sechsundzwanzigjähriger Doktor der Weltweisheit und tauchte wieder in Neuberg auf. Daß es sich lediglich um einen kurzen Erholungsurlaub handelte, wußten nur seine vertrautesten Freunde.

Über eine so unklare Lebensführung mußten sich die wackeren Spießer entrüsten. Sie entrüsteten sich, weil sie aus ihm nicht klug werden konnten. Und sie wurden nicht klug aus ihm, weil er sich nicht in den Kochtopf gucken ließ, Zudringliche mit höflicher Überlegenheit abwehrte und lüsterner Neugierde begegnete, indem er mit trockener Sachlichkeit und größtem Ernst die ungeheuerlichsten Behauptungen aufstellte, verfocht und begründete. So bekannte er sich einmal gegenüber einem waschechten deutschen Volksgenossen, der sein politisches Gewissen erforschen wollte, zur demokratisch-alldeutsch-antisemitischen Anarchie und spickte den unvorsichtigen Frager derart mit großen Worten und fetten Phrasen, daß dieser ganz mürb wurde und schließlich — etwas angeheitert war er auch schon — das neue Programm als einzige Rettung des Bürgertums vor der roten Gefahr begeistert zu preisen anhob. Nachträglich wurde er von einsichtigeren Leuten aufgeklärt, daß er seiner leichtgläubigen Beschränktheit einen tüchtigen Bären habe aufbinden lassen, und der Chor der Entrüsteten war wieder um eine ausgiebige Stimme verstärkt.

Kolben ertrug die üble Nachrede, wie man das Konzert der Frösche im Frühjahr erträgt und verriet mit keiner Miene, wie sehr ihn das zwecklose Lärmen belustigte. Sein rundliches, ganz glatt rasiertes Gesicht blieb immer gleichmäßig ernst, und nur die besten Freunde errieten aus einem fast unmerklichen Zwinkern im rechten Augenwinkel seine heimliche Fröhlichkeit.

Als Hellwig mit ihm zusammentraf, saß er, phlegmatisch und scheinbar gelangweilt wie immer, auf der Gartenbank unter dem breit schattenden Buchenbaum und grub mit dem Spazierstock Strich neben Strich in den Kies, während Doktor Kreuzinger von den Erfolgen des letzten Ärztekongresses lebhaften Bericht erstattete, den er bei Fritzens Ankunft unterbrach, um die Vorstellung zu besorgen.

Ohne seine nachlässige Haltung zu ändern, hob Kolben nur ein wenig die Stirn, faßte den Jüngling mit einem raschen Blick und zeichnete nach einem kurzen Kopfnicken schweigend weiter.

Hellwig empfand das als Unhöflichkeit und Beleidigung. Hitziger, als eben nötig war, sagte er:

„Herr Doktor, es wird besser sein, wenn ich wieder gehe. Der Herr scheint die Störung nicht zu wünschen!“

Begütigend winkte der alte Gelehrte mit beiden Händen. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, war Kolben schon gemächlich zur Seite gerückt und antwortete, fortwährend eifrig weiterstrichelnd: „Was Ihnen nicht einfällt! Setzen Sie sich nur her.“ Damit goß er aber Öl in die Flamme.

„Eine solche Behandlung brauche ich mir nicht gefallen zu lassen!“ brauste Fritz auf. „Sparen Sie sich das für Ihren Pferdeknecht!“

Nun hob der andere den Kopf. Das glatte Kinn auf den Stockknauf gelegt, schaute er dem Zornigen mit einem erstaunten Blick in die Augen. „Was für ein Unterschied,“ fragte er unerschüttert ruhig, „was für ein Unterschied ist denn zwischen Ihnen und meinem Pferdeknecht?“

Da sah ihn Hellwig noch ein paar Sekunden streitgewärtig an. Dann senkte er beschämt die Augen. Und jetzt stand Kolben auf, langsam, gemessen, mit der ihm eigenen steifen Würde, trat neben ihn und sagte, immer mit der gleichen kalten Nachlässigkeit: „Seien Sie nicht so empfindlich. Guter Ton, feine Manieren — mit solchen Albernheiten werden wir uns doch hier nicht abgeben. Kommen Sie. Und seien Sie versichert: Wer in den Frühstunden bei unserm verehrten Doktor Gast sein darf, den achte ich schon um dessentwillen. Allerdings, verbeugen werde ich mich trotzdem nicht vor Ihnen.“

Bei diesen Worten glitt etwas wie ein Lächeln über seine Züge. Und da war nichts mehr von Phlegma oder Langeweile darin. Geistvoll, klar und klug, erhielt dieses gescheite Gesicht, das sonst hinter der angewöhnten Ruhe wie eingefroren lag, durch die reife Verständigkeit seines Lächelns etwas ungemein Gewinnendes und Anziehendes.

Mit einem geschickt aufgegriffenen Thema verstand Doktor Kreuzinger auch die letzten Reste der Mißstimmung zu beseitigen und geriet über Kolbens Einwürfe gegen die Gasträatheorie bald in ein schönes Feuer, wurde beredt und ausführlich. In die faltigen Wangen hinter dem silbrigen Bartgewelle stieg eine sachte Röte, und es dauerte nicht lang, so sprach nur mehr er allein, indes die zwei jüngeren aufmerksam zuhörten und sich in der warmen Glut, die von dem prächtigen Greise ausströmte, seltsam einander näher gerückt fühlten.

Aber nicht immer war diese klare Ruhe bei Hellwig. Noch war ein Großes, Lastendes da, mit dem er fertig werden mußte. Seit jener bei der toten Mutter durchwachten Nacht hatten ihn die Zweifel nicht mehr losgelassen. Und jetzt, da ihn die Prüfungssorgen nicht mehr ablenkten, standen sie wieder übermächtig auf. Und mit ihnen der Vorwurf, daß er seiner Mutter das Sterben schwer gemacht habe.

Oft sprach er darüber mit Heinz.

„Ich mußte ja, gelt, du? Es ging doch nicht anders? Aber wenn, — Heinz, ich such’ und such’ — aber wenn ich einmal draufkomm ... Nicht wahr, du, es ist nichts?“

Und er trug zusammen, was er an Schriften über Religionssysteme und Weltanschauungen auftreiben konnte. An jedes Werk ging er mit Zittern und Zagen, daß er darin vielleicht auf einen Beweis für das Dasein Gottes stoßen könnte und auf die Bestätigung seines Unrechts gegen die Tote. Aber er fand nichts. Der Kult der Azteken, die ihrem Kriegsgott Huizilopochtli ‚Menschen opferten, um glückliche Kriege zu führen und Kriege führten, um solche Menschenopfer herzuschaffen‘, erschien ihm ebenso sinnlos oder berechtigt, wie das papierne Gohei in den Sintotempeln der Japaner, die Apisverehrung der Ägypter oder die Heiligkeit des Hundes bei den Iraniern. Und weder Avesta und Zend, noch Koran, Bibel, Luther und die ganze Reihe der Denker von Spinoza bis Spencer vermochten ihn der Wahrheit irgendwie näher zu bringen.

12.

Die Ferien vergingen im Flug. Hellwigs Abreise stand in wenigen Tagen bevor. Als eine Art Abschiedsfeier wurde ein Ausflug in die weitere Umgebung unternommen. Auch Pichler wurde eingeladen, der die Reifeprüfung mit Auszeichnung bestanden hatte.

In tauiger Morgenfrühe schritt die Gesellschaft durch das noch erhaltene alte Stadttor ins Freie. Voran Wart Nikl mit seiner schönen Frau, hinter ihnen Eva zwischen Kolben und Pichler. Doktor Kreuzinger mit Heinz und Fritz machten den Beschluß.

Durch die Herbstluft segelten die kleinen Spinnen in ihren leichten Silberschiffchen, der Rauch der Erdäpfelfeuer zog über die fahlen Fluren, und in den Stoppelfeldern folgten die Reihen der Jagdliebhaber ihren lohfarbenen Vorstehhunden.

Manchmal blitzte ein Flintenlauf, rundete sich ein Rauchwölkchen, knallte ein Schuß. Ein Hase überschlug sich und schrie, ein Hund heulte auf, ein scharfes Befehlswort verklang. Und wieder war es still, und lautlos glitten die Silberschiffchen, schneller, immer schneller, als wollten sie den Menschen entrinnen und ihrer Tücke gegen die ehrlichen Kreaturen.

An Evas Seite fühlte sich Pichler in seinem Fahrwasser. Hier war er der Schwerenöter, wollte Eindruck machen, zog alle Register seiner wortgewandten Liebenswürdigkeit. Er war witzig, geistreich und gefühlvoll, warf Artigkeiten und Schmeicheleien wie ein Gaukler schimmernde Glaskugeln in die Luft und schwafelte und salbaderte in einem fort.

Eva ließ sich’s gefallen. Sie lachte über seine Mätzchen, schaute ihn belustigt an und fand, daß es sich mit ihm ganz gut plaudern ließ. Manchmal blieb sie auch stehen, wartete auf den Großvater und fragte ihn nach dem Namen eines verspäteten Schmetterlings oder eines klar in blauer Ferne aufsteigenden Berges, tauschte neckende Worte mit Heinz oder ermahnte Hellwig, der hellen Gotteswelt kein so sauertöpfisches Gesicht zu schneiden. Ganz heiß und eifrig war sie, hatte rote Backen und glänzende Augen und überließ die jungen Glieder dem milden Sonnenschein mit einem läßlichen Behagen, das wohlig war und ein wenig sinnlich, wie in einem laulichen Bade.

„Wenn ich Sie ansehe, gnädiges Fräulein, muß ich an Gottfried Keller denken,“ sagte Pichler. Und das Mädchen darauf: „Jemine, wieso denn?“

„Ja, ganz bestimmt. Sie erinnern mich an eine seiner Frauengestalten. Nämlich an die Figura Leu im ‚Landvogt von Greifensee‘. Die hat mir immer ausnehmend gefallen. Warten Sie, wie sagt das nur gleich Keller? Ja: sie war ein elementares Wesen. Ein elementares Wesen, dessen goldblondes Kraushaar sich nur mit äußerster Anstrengung den Modefrisuren anbequemen ließ und dem Perruquier des Hauses täglich den Krieg machte. Sie lebte fast nur vom Tanzen und Springen. So beiläufig heißt es. Und dasselbe gilt auch von Ihnen. Sie sind von demselben entzückenden Übermut. Und diese widerspenstigen Löckchen hier ...“

Er faßte nach dem feinen Gekräusel an ihrer Schläfe. Durch eine hastige Wendung des ganzen Körpers wich sie der Berührung aus. „Sie sind ein Schmeichler!“ sagte sie halb verlegen, halb erfreut.

Da machte Doktor Kolben, der bisher leise pfeifend ein paar Schritte seitwärts von ihr gegangen war, seine erste Bemerkung:

„Herr Pichler hat etwas vergessen, mein kleines Fräulein,“ begann er. Sofort unterbrach sie ihn im hellen Zorn: „Ich bin nicht Ihr kleines Fräulein!“ Ihr Auge sprühte, der Fuß stampfte die Erde. Doch der unausstehliche Mensch fuhr gleichmütig fort: „Das meine nicht, aber doch das kleine. Vorderhand wenigstens. Wir können ja noch wachsen. Das müssen wir eben abwarten. Heute wollte ich nur erwähnen, daß jene Figura Leu, die Herr Pichler an den Haaren herbeigezogen hat, von ihrem Verehrer gemeinhin nur der Hanswurstel genannt wurde. Ob der Vergleich in dieser Hinsicht ebenfalls stimmt, soll dahingestellt bleiben.“

Kolben sagte das, weil er über die junge Schöne ungehalten war, die so mir nichts, dir nichts auf Ottos Plattheiten hineinfiel. Sie würdigte ihn keiner Antwort, klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne und zerrte an ihren Fingern, bis die Gelenke knackten.

Pichler versicherte unter vielen Entschuldigungen, seine Worte seien natürlich nicht so aufzufassen, nur die reizende Grazie habe er kennzeichnen wollen, den Glanz der Löckchen ...

„Hören Sie schon auf mit dem dummen Zeug!“ unterbrach da Wart Nikls Tochter den Honigfluß seiner Rede. Nun schwieg er und tat beleidigt.

Kolben hatte ihre letzten Worte nicht mehr vernommen. Angewidert von Pichlers Geschwätz, hatte er sich auf dem Absatz herumgedreht und zu Doktor Kreuzinger begeben.

Dort machte Fritz noch immer sein sauertöpfisches Gesicht. Er blickte nach der frischen Mädchengestalt, an der alles Verheißung war und leise schwellendes Werden, sah ihre anmutigen Bewegungen, den Rhythmus der Glieder beim leichten Schreiten, hörte das klingende Lachen und empfand eine unbestimmte Sehnsucht, wie arme Schelme im Kellergeschoß nach den hohen, luftigen Räumen der Vermöglichen.

Heinz stritt mit dem Großvater über den Zukunftsstaat.

Die tiefe Baßstimme Wart Nikls dröhnte hallend weithin durch den ruhevollen Herbstmorgen. Bald rief er einem bekannten Jäger ein Weidmannsheil zu oder erwiderte lärmend den Gruß eines Vorübergehenden, bald hatte er ein Scherzwort für seine Tochter oder zeigte er seiner Frau die Grenzlinien der einzelnen Besitzungen und lobte oder schimpfte nicht gerade leise über deren Bewirtschaftung.

Langsam schlenderte Hellwig hinter der Gesellschaft her. Da schob sich plötzlich ein fremder Arm unter seinen. „Kommen Sie!“ sagte Doktor Kolben. „Wir gehn Schwämme suchen.“

Fritz sah ihn verwundert an. Eine so vertrauliche Annäherung war bei dem in sich verhaltenen Menschen etwas Ungewöhnliches.

„Ich weiß hier herum ein paar famose Plätze!“ sprach dieser weiter und tat, als merkte er das Staunen des andern nicht. „Hier links in den Wald einige hundert Schritte aufwärts. Dort pflegen Herrenpilze zu wachsen.“

Noch einmal schaute Hellwig nach dem Mädchen. Das lachte eben Pichlern zu, der sein Schmollen aufgegeben hatte. Da fühlte er ein leises Zucken im Herzen. Er preßte die Lippen fest aufeinander. Eine tiefe Falte stand ihm wieder einmal über dem scharf einspringenden Nasensattel senkrecht auf der steilen Stirn. Das hagere Gesicht bekam sein kühnes, wie versteintes Aussehen. Ohne Widerstand ließ er sich von Kolben in den Wald führen.

Zwischen den geraden Kieferstämmen, die mit dürftigen Kronen wie erschöpfte Krieger in Reih und Glied standen, gingen sie auf dem rostroten Nadelboden, über gewundenes Wurzelwerk und dann wieder durch rauschendes Heidelbeergestrüpp eine gute Weile stumm vorwärts.

„Hier ist einer!“ sagte der Doktor, bückte sich und durchschnitt mit dem Taschenmesser den Strunk eines Pilzes. Fritz sah gleichgültig zu. Kolben steckte den Fund in die Tasche. Von Moos und Farnkräutern umwuchert, lag ein niedriger Felsblock quer über dem Jagdsteig. Kolben setzte sich. Fritz stand daneben und schaute düster in das bewegliche Gitter aus Sonnenstrahlen und Wipfelschatten auf dem Boden.

Der Doktor brach endlich das Schweigen. „Was ist eigentlich mit Ihnen los, Hellwig? Was drückt Sie?“

Seine Stimme klang warm und herzlich. Aus seinem Antlitz war alle kalte Verschlossenheit weggewischt. Aber Fritz erwiderte schroff abweisend: „Was veranlaßt Sie zu dieser Frage?“

„Lassen wir den Stolz beiseite!“ antwortete Kolben. „Aussprache tut immer gut. Sie gehn ja herum, als ob Sie jeden Halt verloren hätten.“

„Herr Doktor!“

„Ich heiße Kolben. Albert Kolben. Das ‚Herr‘ ist überflüssig. Ja, und ... vertrauen Sie mir!“ Ein freundlich aufmunternder Blick der gescheiten Augen begleitete die Bitte.

Fritz erwiderte nichts.

„Vertrauen Sie mir! Es ist nicht zudringliche Neugier oder Unverschämtheit von mir. Nur — ich hab’ mal einen gekannt. Der ist genau so herumgelaufen. Und war schon nahe dran, den Sprung ins große Dunkel zu machen. Sein oder Nichtsein. Ob’s edler im Gemüt ... Hat ihn arg gehabt damals. Zweifel an der Welt, an Gott, an den Menschen, an allem, was man so heilig, ehrwürdig, groß, erhaben, sittlich oder moralisch nennt. Und kein Ausblick. Als wär’ ein Brett vor der Erde gewesen. Soweit hat er gehalten. Und kein Ausblick. Triebleben, Hinvegetieren, zwecklos, stumpfsinnig. Nicht wahr? — Kultur? — Auch die Ameise schafft sich angenehme Lebensbedingungen. — Moral? — Der Pöbel und Moral! Ein Tiger, der Gras frißt! Eher will ich aus Cäsar einen Lakaien machen als dem Pöbel die Gemeinheit abgewöhnen. Also, da hat er gehalten. Na ja denn, ich selber bin’s gewesen. Und da ist einer gekommen, der hat’s gewußt und sich ausgekannt. Hat eine feine Hand gehabt der — Doktor Kreuzinger heißt er —, eine leichte. Und hat mir den Star gestochen. Und hat mich ins Leben hinein gestoßen. So recht mitten hinein ins Leben. Da steh! Laß die Woge kommen und halt stand! Und fürcht’ dich nicht. Und — wirf dich hinein! Brauch’ deine Arme! Schwimm! Es geht schon, es trägt dich schon! — — Und wahrhaftig, es ist gegangen. Es hat mich wirklich getragen. Hätt’s niemals gedacht. — Also, darauf kommt’s an. Klarer Kopf. Helles Auge. Ruhige Hand. Nicht grübeln, Grashalme zählen, Grillen fangen. Arbeiten! Fest arbeiten! Mitten in den Wellen gegen die Wellen. Ein Ziel vor sich und drauflos! Ein Ziel, ja! Aber nicht oben bei den Wolken. Hier, wo du feststehst, auf der Erde unter den Menschen ... Da geh’ drauf und dran! Schulter an Schulter mit den andern. Oder, wenn sie das nicht wollen, lauf allein voraus! Sie folgen schon. Und wenn sie auch das nicht wollen — wenigstens hast du Ruhe!“

Selten ließ der wortkarge, zugeknöpfte Mann jemanden so in sein Inneres schauen. Fritz fühlte das. Und nun konnte er nicht mehr an sich halten. Erst stockend, dann zusammenhängender, leidenschaftlicher redete er sich alles von der Seele herunter, was ihn in letzter Zeit überstürmt und aus der Bahn geworfen hatte.

Kolben unterbrach ihn nicht. Seine dunklen Augen lagen wieder wie verschleiert hinter den goldgeränderten Brillengläsern. Die Spitze des Spazierstocks zeichnete Strich neben Strich in den glatten Waldboden. Endlich war Fritz mit seiner langen Beichte fertig.

„So steh’ ich da!“ knirschte er zwischen den Zähnen. „Und weiß nicht ein und aus. Das Vergangene liegt mir wie ein Stein vor der Zukunft. Ich kann ihn nicht wegwälzen! Er rührt und rührt sich einfach nicht! Die ganze Kraft geht drauf! Ich verbrauch’ mich, werde hin! Von meiner toten Mutter kann mich keiner erlösen!“

Er schwieg mit keuchenden Lungen. Aus den Wipfeln kam das leichte Wehen des Windes wie der Atem der Stille. Kolben erhob sich, trat ganz dicht zu ihm heran.

„Mut, Fritz! Und Geduld! Du — wir werden uns wohl von heut’ an du sagen müssen — du wirst bald drüber weg sein. Jetzt aber — fürs erste — schaun wir, daß wir zu den anderen ins Forsthaus kommen. Abends hältst du dich dann bei mir auf. Vielleicht hab’ ich was für dich.“

In der Nacht, die diesem Tage folgte, schloß Fritz kein Auge. Er suchte nicht einmal den Schlaf, hatte kein Verlangen darnach. Rastlos wanderte er in seiner Kammer auf und ab, mit leuchtenden Augen, breitete die Arme oft weit aus und fühlte sich endlich ganz leicht und frei. Abgefallen war, was ihn bedrückt hatte, fortgetilgt die Unrast, das Suchen nach einem Überirdischen. Glatt und offen lag der Weg in die Zukunft vor ihm.

Er hatte einsehen gelernt, daß er seine Kräfte an etwas zu verschwenden im Begriff gewesen, das keiner ergründen konnte. Daß der Gedanke an den Zustand nach dem Tode ein Feind des Lebens sei. Und daß die Grübler und Dogmatiker die Menschheit um keinen Zoll vorwärts gebracht hatten, sondern nur die Handelnden, die Blutzeugen, die Männer der Tat.

‚Ich schreib’ getrost: Im Anfang war die Tat!‘ — Jetzt fiel’s ihm wieder ein, und jetzt konnte er auf einmal nicht verstehen, wie ihn nicht schon damals, als er den Faust las, diese einfachste und klarste aller Weisheiten auf die richtige Spur gebracht hatte. Daß er erst noch viele Monate im Dunkeln getappt und sich gemartert hatte, bis ihn jetzt der viel verlästerte Kolben zum Ausgangspunkte zurückführte und die Bahn frei machte durch ein paar treffsichere Worte und mit Hilfe einer Übersetzung der Hymne ‚An einen unbekannten Gott‘ aus dem Rigveda. Da lag sie vor ihm im gelben Lampenlicht, Druckerschwärze auf vergilbtem Papier, und sprach mit tausendjähriger Zunge zu ihm, tröstete, beruhigte, richtete ihn auf durch die Erkenntnis, daß ein Rätsel, das seit unzählbaren Jahren die Menschen zu ergründen sich mühten und nicht ergründen konnten, kein Rätsel sei, sondern vererbter Wahn mit einem Inhalt ohne Wert für das Leben und für die Entwicklung, eine taube Nuß.

Wieder und wieder las er das mächtige Gedicht in der meisterhaften Übertragung, jetzt im Zusammenhang, jetzt einzelne Strophen, und als er sie alle auswendig wußte, sprach er die letzten noch und abermals laut vor sich hin:

„Wer weiß es denn, wer hat es je ergründet,
Woher sie kam, woher die weite Schöpfung?
Die Götter kamen später denn die Schöpfung —
Wer weiß es wohl, von wannen sie gekommen?
Nur er, aus dem sie kam, die weite Schöpfung,
Sei’s, daß er selbst sie schuf, sei’s, daß er’s nicht tat —
Er, der vom hohen Himmel her herabschaut,
Er weiß es wahrlich! Oder — weiß auch er’s nicht?“

Zweites Buch

1.

Im Oktober kamen Hellwig und Pichler nach Prag und nahmen Quartier bei der Frau Wondra, die in zwei Zimmern fünf Hochschülern Wohnung und Verpflegung gegen ein sehr mäßiges Entgelt gewährte. Sie war die Witwe eines Unteroffiziers, der ein starker Pfeifenraucher gewesen war und ihr außer einer kleinen Pension nichts hinterlassen hatte als dreißig Pfeifen von der billigsten Sorte, mit langen und kurzen Rohren, mit Gips-, Holz- und bemalten Porzellanköpfen, alle wohleingeraucht und arg mitgenommen. Als sich für die duftende Sammlung kein Käufer finden wollte, tat es der sparsamen Hausfrau leid, sie unbenützt verstauben zu lassen, weshalb sie sich auf ihre alten Tage selbst das Rauchen angewöhnt und es hierin noch jedem ihrer jungen Mieter zuvorgetan hatte. Da sie kahl war, trug sie sommers und winters dieselbe große Haube aus braunem Taft, die den Schädel und die Ohren zudeckte und für das gelbe Gesicht einen kreisrunden Rahmen abgab. Was auf dem Kopf an Haaren zu wenig, wuchs dafür in gedoppelter Fülle als Schnauzbart unter der Nase, die zum Himmel strebte, als wollte sie sich in beleidigtem Stolz vor so unfraulicher Zierde zurückziehen, worüber sich hinwiederum zwei kleine graue Schlitzäuglein anscheinend sehr belustigten, weil sie fortwährend zwinkerten und blinzelten. Doch je ungeschlachter ihr Aussehen, je derber ihre Rede war, desto milder und lockerer gerieten ihr die Mehlspeisen, die Buchteln, Dalken, Nudeln und Kolatschen, mit denen sie für das leibliche Wohl ihrer Studenten sorgte. Aber auch das Seelenheil der jungen Leute war ihr nicht gleichgültig, und um die schwankende Jugend vor Abwegen zu bewahren, suchte sie ihre Kostkinder abends an das Haus zu fesseln, indem sie mit ihnen Schafkopf spielte oder ein Quodlibet um ein beschränktes Bierquantum.

In dem größeren der beiden Zimmer wohnten bereits seit einigen Semestern der Astronom König, der Philosoph Fundulus und der Mediziner Karg, alle drei schon bemoostere Häupter, die sich bei der Wondra zufällig gefunden und trotz ihrer verschiedenen Neigungen Freundschaft geschlossen hatten.

Diese Freundschaft pflegte regelmäßig auch auf die rascher wechselnden Mieter der anderen Stube ausgedehnt zu werden, und schon am Abend nach ihrem Einzug erhielten Fritz und Otto unter Führung der Wondra den Besuch der Zimmernachbarn. Die Quartiersfrau trug sechs Tabakpfeifen, der Mediziner den großen Bierkrug, der Philosoph den Tabaktopf und der Astronom die abgegriffenen Spielkarten. Würdevoll überreichte die Wondra den neuen Pfleglingen zwei Rauchwerkzeuge zur ausschließlichen Benützung für die Dauer des Mietverhältnisses und gegen die Verpflichtung, nach einer bestimmten Reihenfolge abwechselnd mit den übrigen für die Füllung des Tabakbehälters zu sorgen.

Nach dieser feierlichen Handlung wurde ihnen eröffnet, daß man gesonnen sei, sie in die Hausgemeinschaft Wondra aufzunehmen und solche Ehre festlich zu begehen mit Hilfe eines Viertelhektoliters Bier, den die Aufgenommenen nach Brauch und Fug zum besten geben mußten.

Mit großem Hallo wurde das Faß aus der Schenke geholt, worauf ein mächtiges Gelage anhob, in dessen Verlauf der Mediziner mit der bärtigen Witwe einen Hopser tanzte, daß die Dielen dröhnten und die Haube in greuliche Unordnung kam. Des Philosophen dagegen, der eine sehr verliebte und schwärmerische Wesenheit war und nicht viel vertragen konnte, hatte sich bald eine weinerliche Stimmung bemächtigt, in der er Pichlern von seiner Liebsten daheim erzählte und ihre Treue in Zweifel zog, um sich sogleich wieder wegen des schimpflichen Verdachtes die bittersten Vorwürfe zu machen.

Fritz saß mit König, einem unentwegten stillen Zecher, beim Fenster und hielt durch einsilbige Bemerkungen ein notdürftiges Gespräch mühsam im Gange. Doch wurde das dem Sterngucker bald langweilig. Er stand auf und gesellte sich dem Philosophen zu, den er durch eine Bemerkung über die Minderwertigkeit des Weibes rasch in Harnisch brachte und in der anschließenden erregten Auseinandersetzung mit Brocken aus Schopenhauer kräftig bombardierte.

Unvermutet fand sich Fritz allein in der Fensternische. Niemand fragte oder kümmerte sich um ihn, und es war ihm ganz recht so.

Die Fenster des hoch gelegenen Zimmers gaben Ausblick in einen engen Hof und jenseit desselben über ein Gewirr von Dächern und Türmen und Giebeln, die in dem silberblauen Glanz der Mondnacht schimmernd ruhten. Und dunkel aus dem sanften Glanz herausgehoben, wuchtete darüber der Hradschin und trug den mächtigen Dom wie eine schwere, stolze Krone. Oben wanderten und neigten sich die Sterne, unten lag die Stadt von den beweglichen Wellen des Mondlichts umspielt, — und inmitten stand der alte Königsitz, aller Nähe und Ferne entrückt, in immer gleicher, steinerner Ruhe stumm, dunkel und geheimnisvoll.

Sonderbar ergriffen schaute Fritz auf dieses Märchen, das Glanz und Nacht und Stille um einsam thronende Größe woben. In der Stube lärmten und lachten die Zecher. Er achtete nicht darauf. Sehnsucht nach Arbeit überkam ihn, nach einer schöpferischen Tat, an der er seine Kräfte erproben, ermüden, ausgeben könnte. Und noch als die übersättigten Trinkkumpane schon längst in dumpfen Schlaf versunken waren, lag er wach und sehnte sich nach einer Aufgabe, riesenhaft gleich der gewaltigen Königsburg, die von Menschenhänden über eine ganze große Stadt gestellt, sie machtvoll und unnahbar beherrschte.

Aber er fand nicht, was eigentlich diese Aufgabe sein sollte, und mit schmerzendem Schädel schlief er endlich ein.

In der Klarheit des nächsten Morgens, der über einen tiefblauen Herbsthimmel eine silberweiße Sonne heraufleitete, erwachte er freier, als er sich niedergelegt hatte, kleidete sich rasch an und eilte auf die Gasse. Es trieb ihn zu den Stätten, die aus der Ferne solchen Eindruck auf ihn gemacht. Er wollte sie durchforschen, erobern, ganz in sich aufnehmen wollte er sie und zugleich sehen, ob auch im nüchternen Schein des Tages der drückende Zauber bestehen blieb.

Mit niedrigen Türen und kleinen Fenstern unter zerbröckelten Gesimsen standen unten in der engen Gasse schmalbrüstige Häuser, mit verrußten Mauern und vorspringenden Dächern drängten sie sich aneinander, alt, müde, eins das andere stützend und alle vom leisen Abglanz toter Jahrhunderte traurig umwittert. Unverändert standen sie so, ließen die Jahre vorübergehn, und wenn aus einem der dicken Gemäuer eine neue Öffnung herausgebrochen, eins der vielen Trödlergewölbe, wo von altersher die armen Juden ihren Handel trieben, in ein dürftiges Lädchen mit einem Auslagfenster umgestaltet wurde, ging es die Gasse entlang wie raunende Verwunderung ob solch unerhörten Eindringens einer andern Zeit.

Als Fritz hinabkam, hatte trotz der frühen Stunde das geschäftige Leben bereits begonnen. Mit schlau-vertraulichen Verneigungen grüßten ihn die jüdischen Händler, riefen ihm verständnisvoll lächelnd ein paar leise Worte zu, auf ihren angehäuften Plunder deutend, in der Hoffnung, daß er ihnen etwas abkaufen oder in Pfand geben werde. Langsam ging er in der Richtung, wo er den Hradschin vermutete, vorwärts. Seine Schritte hallten laut in der engen Häuserschlucht, darüber ein schmales Streifchen Himmel war und ein wenig vom erstarkten Sonnenschein, der die Giebel vergoldete, ohne daß seine Quelle dem Auge sichtbar wurde. Und Gasse folgte auf Gasse, kreuz und quer. Stille Winkel waren da, unregelmäßige Plätzchen und dunkle Sackgassen, in denen die Häuser geduckt und wie furchtsam verkrochen standen, als hörten sie noch den Lärm der Verfolgungen, schauderten vor dem warmen Blut, das in Zeiten unduldsamen Glaubenseifers auf ihren Dielen verdampfte, an ihre Wände spritzte, in roten Bächen über die finstern Treppen rann.

In dem Durcheinander des gleichförmig engen und schmutzigen Winkelwerks hatte Fritz bald jede Orientierung verloren und mußte sich endlich entschließen, einen Vorübergehenden nach dem Weg zu fragen. Der aber maß den deutschen Studenten mit einem feindseligen Blick, brummte ein paar tschechische Worte und gab keine Auskunft. Einigermaßen betreten ging Hellwig weiter, und das beklemmende Gefühl, als sei er in ein verschollenes Jahrhundert zurückversetzt, wurde stärker. Da kam ein weißbärtiger Hebräer, der in seinem Gewölbe den Vorfall mit angesehen hatte, auf ihn zu, dienerte und erkundigte sich in einem sonderbar harten Deutsch nach seinen Wünschen. Fritz sah auf das freundliche Männlein, das mit hohem Hut, fuchsigen Schaftstiefeln und schmierigem Leibrock vor ihm in der Häuserschlucht stand und vermißte — er wußte nicht, wie ihm das in den Sinn kam — die steife blaue Halskrause, die die böhmischen Juden noch im siebzehnten Jahrhundert auf der Straße tragen mußten. Doch zwang er sich in einem energischen Aufraffen des spukhaften Traumzustandes Herr und der Gegenwart wieder gerecht zu werden, brachte sein Anliegen vor und erhielt umständlichen Bescheid.

Er bedankte sich, durchschritt noch einige Gassen und gelangte endlich zur Karlsbrücke. Vor ihm rollte, um Inseln, Mühlen und Brückenpfeiler brodelnd, mit braun dunklem Wasser der breite Strom, drüben baute sich Giebel über Giebel mit Kuppeln und Türmen und Zinnen die Kleinseite auf, und darüber ruhte, durch einen herbstlich goldigen Gartenwall geschieden, breit und wuchtig der Hradschin, in der Klarheit des Tages gleich hoheitsvoll und unnahbar wie im trüglichen Dämmer der Mondnacht. Nur die Linien waren schärfer und bestimmter die gewaltige Majestät, die der Veitsdom krönte, der im Panzer seines Gerüstwerks stumm und dunkel vor dem blauen Himmel stand.

Keinen Blick hatte Fritz für die altertümliche Schönheit des Platzes, auf dem er sich befand, für den Auslug durch zwei Torbogen zum langgestreckten Moldaukai hinab, für die Türme und steinernen Bildwerke der berühmten Brücke. Unverwandt schaute er zur Burg hinüber, deren lautlose Größe ihn quälte und erdrückte.

Dann war er am andern Ufer, ging wie schlafwandelnd an alten Palästen vorüber, hinter deren geöffneten Torflügeln die Trauer sterbender Gärten wehmütig versunken lag; durch eine steil ansteigende Gasse schritt er, und auch hier webte die Erinnerung, war die Stille einer längst verwehten Zeit. Doch war hier ein anderer Stil in den Häusern, die Fassaden waren reicher und schmuckvoller, durch schön geschmiedete Gitter oder kunstvolle Tore vorteilhaft gehoben. Allerlei Schildereien zierten die Fronten, hier glänzte ein silberner Schlüssel im blauen Felde über der Haustür, dort ein Wagenrad oder Winkelmaß, da wieder sprang ein Hirschlein mit vergoldeten Hufen, blühte eine vielblättrige Blume, als Zeichen einer Innung oder Wappen eines längst verstorbenen Besitzers und seines stolzen Bürgertums.

Noch die Schloßstiege hinan, dann war er oben, trat ohne sich umzusehen durch die kühlen Torbogen in die weiten stillen Burghöfe. Eine pochende Unrast stieß ihn vorwärts, beklommen spähte er überall umher, aber kalt und abweisend ragten die mächtigen Quadermauern, schauten gleichgültig über ihn weg und ließen sich nicht nahe kommen. Und als er vor dem Veitsdom stand, da wuchs auch dieser hart vor ihm trotz der leicht aufstrebenden Schlankheit der Rippen, der wunderlich verzerrten Fratzen der Wasserspeier ruhig und sicher in die Luft hinauf, wie ein Gebirge aus Stein und Stille.

Verzweifelt lief Hellwig von einer Örtlichkeit zur andern, ein ohnmächtiger Zorn war in ihm, daß ihn ein Menschenwerk so klein machen durfte, er wehrte sich dagegen und spürte doch, wie er dieser unfaßbaren Größe mehr und mehr unterlag.

Da fand er sich unversehens an einem seltsamen Orte. Bunte Häuschen waren da, so klein, daß er mit der Hand den Dachsims fassen konnte, eines neben dem andern, mit Türchen und Fensterchen, wie von Zwergen für Zwerge geschaffen. Er war in das Alchimistengäßchen geraten. Und wie er näher zusah und wie ihm einfiel, daß der zweite Kaiser Rudolf mit seinen Magiern, Goldmachern und Sterndeutern hier hausete, da — atmete er leicht auf.

Hier war etwas menschlich Warmes, eine Schwäche, ein mildes Licht, das auf die riesenhaften Prachtbauten hinüber leuchtete und ihnen allen Schrecken nahm. Tief unten lag die Stadt, zu beiden Ufern des Stroms hingebettet, ihre hundert Türme und Kuppeln und Türmchen leuchteten, blitzten und funkelten in der Sonne — und wer von hier hinabschaute mit dem Bewußtsein des Herrschers, dem konnte wohl zumute sein, als stände er berghoch über all den geduckten Siedelungen, über all den ameisenklein wimmelnden Menschen im flachen Lande und könnte sie zertreten mit stampfendem Fuß nach Lust und Laune. Darum schuf er sich und seinem schrankenlosen Machtgefühl den unnahbar stolzen, riesenhaften Bau auf steiler Höhe, fern von allem Menschentreiben und der Sonne näher. Doch siehe — dicht daneben, versteckt und heimlich, stellte er die kleinen, schwachen Hütten auf und trug aus der stolzen Burg sein schwaches, kleines Menschentum dorthin, wenn es ihn zu quälen anfing. Bei abergläubischem Spuk und geraunten Zaubersprüchen suchte er daran zu vergessen, aus glühenden Gemengen in absonderlich geformten Retorten sollte der hilflosen Ohnmacht ein Mittel zur Allmacht erstehen, im gelassenen Lauf der Gestirne nach der Zukunft forschend, wollte der Blinde sehend und wissend werden.

So standen diese Häuschen als rührende Zeugen menschlicher Ohnmacht, die vergebens über ihre Grenzen tastet, und so wirkten sie befreiend und versöhnend auf Hellwig. Plötzlich war ihm Burg und Dom vertraut geworden. Der Gewalt des ersten Eindrucks entronnen, bemerkte er jetzt überall heimliche Schönheiten und anheimelnde Winkel, vom Zauber der Romantik überhaucht. Ganz glücklich wurde er darüber. Und jedesmal, wenn später wieder ein scheinbar unbegreiflich großes Menschenwerk lähmend auf ihn wirken wollte, mußte er an die kleinen Alchimistenhäuschen denken und lächelte leise fröhlich dabei.

2.

Pichler hatte sich für die Juristerei entschieden, während Hellwig nicht so ohne weiters schlüssig werden konnte. Zwar segelte er vorläufig ebenfalls unter der Flagge der Rechtsgelehrsamkeit, besuchte indes auch zahlreiche philosophische und naturwissenschaftliche Vorlesungen und wollte sich erst nach dem ersten Semester endgültig entscheiden.

Bald sah er ein, daß er sich mit dem römischen Recht nie werde befreunden können. Die nüchterne Sachlichkeit desselben lief seinem nachdenklichen Wesen schnurstracks zuwider. Er begann das Kolleg zu schwänzen, saß während der so gewonnenen Zeit lieber in der Universitätsbibliothek. Gedrängt durch die Fülle der Erinnerungen, die sich ernst und eindringlich allerorten in der Stadt aufzeigten, begann er hier ein eifriges Geschichtsstudium und bemühte sich außerdem einen Überblick zu gewinnen über die Entwicklung der Kulturen und über die Verfassungen der Völker. Auch an den Nachmittagen verweilte er gern in dem hohen, wölbigen Saal, wo es so flüsternd leise herging, die Diener mit schweren Bücherpäcken nur auf den Zehen hinter den Stuhlreihen umherschlichen und über vergilbte Schmöker gebeugt, junge und alte Leute emsig lasen oder Auszüge machten. Das Rascheln der starken Pergamentblätter, das Knistern des Papiers und das Gekritzel der Bleistifte gab eine gute, zu geistiger Sammlung ladende Melodie. Im Flug vergingen ihm die Stunden, und nach seiner Meinung gewöhnlich viel zu früh stand der Diener hinter ihm mit der höflich-leisen Einladung, Schluß zu machen, weil gleich gesperrt würde. Wohl entlieh er sich auch Bücher und trug sie in seine Wohnung. Aber dort war abends an ein ernstes Arbeiten nicht zu denken.

Nebenan in der großen Stube fand sich täglich die geräuschvolle Quodlibetpartie zusammen. Pichler war jetzt einer der fleißigsten dabei, denn er hatte dem Spiel Geschmack abgewonnen und pflegte es mit dem gleichen geschäftsmäßigen Eifer, den er tagsüber auf sein Studium verwendete. Aber auch der einsame Bücherwurm im Nebenzimmer blieb nicht unbehelligt. Jede halbe Stunde steckte die Wondra den Kopf zur Tür herein und forderte ihn auf, mit ihnen lustig zu sein. Oder es erschien der Philosoph und erlaubte sich eine spezielle Blume. Und wenn Karg zu Hause war, kam er ebenfalls und wich nicht, bis Hellwig endlich aufstand und sich den fröhlichen Zechern zugesellte. Dann bemühte sich Karg so gewinnend als möglich zu sein. Denn die zwei strammen Neuberger gefielen und schienen ihm der Fuchsenehre würdig bei der Landsmannschaft Herminonia, der er selbst angehörte. Grün-weiß-rot waren die Farben, unentwegt und immerdar judenrein, arisch-deutsch die Mitglieder, gewaltig ihre Leistungen im Vertilgen des bräunlichen Gerstensaftes, und mit neidvoller Bewunderung erzählte man sich in den anderen Verbindungen von den ungezählten Halben, die auf den Herminonenkneipen die schwitzenden Kellner herbeischaffen mußten.

Dieserhalb, nicht minder aber wegen ihrer geradlinigen Ehrlichkeit war das Ansehen der Herminonen unter der farbentragenden Studentenschaft groß. Sie wußten es sich aber auch zu erhalten durch die immer bereite Kühnheit, mit der sie auf dem Paukboden standen, wo sie dann die scharfen Klingen ebenso geschickt und flink handhabten, wie sie bei den Hochschülerkränzchen plump und ungelenk das Tanzbein schwangen, mit der gleichen Seelenruhe dort furchtbare Rückschneidquarten in die Gesichter der Gegner, hier nicht minder gefürchtete Tritte auf die Zehen der Tänzerinnen austeilend.

Den unablässigen Werbungen des Mediziners glückte es endlich, seine beiden Stubennachbarn zur Teilnahme an der Eröffnungskneipe zu bewegen. Pichler tat es gern mit der frohen Aussicht auf eine vergnügliche Unterhaltung, während Hellwig mitging, um sich die Geschichte einmal anzusehen und aus eigener Anschauung eine Sache kennenzulernen, deren Lob ihm seit der Gymnasialzeit in die Ohren tönte.

Wie alte Bekannte wurden sie aufgenommen, trafen hier auch einige, mit denen sie gemeinsam die Schulbank in Neuberg gedrückt hatten, schon in junger Fuchsenherrlichkeit mit Kappe und Band und im Vollgefühl ihrer neuen Würde. Einer war darunter, der hatte noch kaum vor Jahresfrist in der Geschichtsstunde behauptet, daß sein Vaterland eine absolutistische Verfassung habe. Jetzt aber redete er von der Notwendigkeit der Sonderstellung Galiziens, von der deutschen Staatssprache und von der Einsicht, die Bismarck mit der Gründung des Norddeutschen Bundes unter Ausschluß Österreichs an den Tag gelegt, redete noch von vielen anderen Dingen, als hätte er selbst sie gemacht und alle hohe Staatswissenschaft in der Westentasche. Und ein anderer war da, Karl Deimling, schon ein alter Knabe, der redete beinah überhaupt nichts, sondern trank nur immerzu, und wenn er sonst noch die Lippen voneinander tat, war es zum Singen eines rauhen Trinkliedes oder zu einer knappen Bemerkung, die mit harter Grobheit wie eine Panzergranate einschlug. Doch war er ein zuverlässiger Kamerad, treu wie ein Bulldogg, und kannte kein anderes Ideal, als die Farben der Herminonen untadelig blank zu halten vor Feind und Freund. Schon manchen Fuchs hatte er gedrillt. Ja fast alle, die jetzt als Burschen an der oberen Tafel saßen, waren einst mit sprossenden Bärten und den ungelenken Bewegungen junger großer Tiere unter seine Fuchtel gekommen. Prachtkerle waren darunter aufgestanden, sehnige Gestalten mit blutroten Narben in den energischen Gesichtern, mit Augen, die in einem selbstverständlichen Mut kühl und beinah schwermütig darein blickten, und mit einer geflissentlich zur Schau getragenen Kaltblütigkeit, die sie älter und reifer erscheinen ließ. Doch wenn sie ganz unter sich waren, dann warfen sie diese Würde wie einen lästigen Mantel ab, schäumten auf und brausten in zweckloser Lebensfreudigkeit, wurden übermütig wie Füllen, ausgelassen wie Kinder nach dem Gottesdienst. Hellwig aber begriff weder die Notwendigkeit jenes gemessenen Gehabens, noch hatte er Verständnis für die harmlose Freude an Unsinn, Kinderei und Ulk. Er konnte nicht mit dem Leben spielen, hatte sich auf jede Sache noch immer mit der ganzen Wucht seiner schweren Gründlichkeit geworfen und kannte die Freude des Schwimmers nicht, der im Ringen mit hoch gehenden Wogen seine überschüssige Muskelkraft um ihrer selbst willen vergeudet.

Feierlich wurde die Kneipe eröffnet, weihevoller Sang ertönte zum Preise der Freiheit und des Deutschtums. Sehr anständig und förmlich ging es zu, bis unten an der Fuchsentafel ein lustiges Trinklied aufklang: „Sa, sa, geschmauset, laßt uns nicht rappelköpfisch sein!“

Da war das Eis gebrochen. Ein scharfes Zechen hob an, Blumen wurden zugetrunken, Bierjungen gebrummt, Übermütige zum Einsteigen verdonnert. Karg als Fuchsmajor hielt scharfes Regiment. Er ließ seine Füchse strafweise trinken, daß sie anschwollen wie Schwämme im Wasser. Das kleinere der Trinkhörner begann zu kreisen. Staunend sah Hellwig, wie mit Ausnahme der allerjüngsten jeder das erzbeschlagene Gefäß in einem Zuge leerte, ohne Atem zu holen, ohne zu verschütten oder zu ‚bluten‘. Die Pfeifen qualmten, eine dicke Wolke Tabakdampf umschleierte die Gasflammen, drückend heiß wurde es. Der Schläger des Erstchargierten fiel immer öfter dröhnend auf die Tischplatte: „Silentium!“ — „Silentium!“ donnerte gleichzeitig Karg seinen Füchsen zu.

Wieder stieg ein ernster Cantus. Aber der klang nur so, wie in der Kirche das Meßlied: pflichtgemäß, korrekt, ohne Wärme.

Cantus ex! Colloquium!

„Heil dem Cantus!“

„Verflucht, sind die Füchse ledern!“ rief da der schweigsame Deimling. „Liefert endlich einen Ulk! Oder ich lass’ euch spinnen, daß ihr Schusterbuben kotzt!“

Nun sammelte Karg seine Knappen, beriet sich flüsternd mit ihnen, und die ganze Fuchsentafel zog ins Nebenzimmer. Auch Pichler ging mit, der sich rasch hineingefunden hatte und, leicht beschwipst, alles im rosigsten Licht sah. Nach einer Weile kamen sie mit brennenden Kerzen zurück. Der Fuchsmajor rückte einen runden Tisch von der Wand, stellte einen Stuhl darauf und ließ sich dort oben nieder. Die Füchse aber umkreisten ihn und sangen:

„Jessas, a Ringelg’spiel
Is a Hetz und kost’ net viel.
Alles draht sich um und um,
Tschindarassa bumbumbum!“

Immer schneller sangen sie und immer rascher bewegten sie sich in der Runde, erst auf dem Fußboden, dann von Stuhl zu Stuhl, endlich auf dem Tisch, so viel ihrer Platz hatten. Das Singen wurde Gebrüll, das Getrappel Staub aufwirbelndes Stampfen, der Boden schwankte, die Gläser klirrten, bis endlich mit einem Huronengeheul die Darsteller insgesamt in die Knie sanken, teils auf den Dielen, teils auf den Sesseln und auf dem Tisch, sich mit hoch gehaltenen Lichtern zu einer Art Schlußgruppe um den Fuchsmajor vereinigend, der die Arme an den Leib gedrückt, die Hände auf den Schenkeln wie ein ägyptischer König auf seinem Sitz hockte.

Da sauste plötzlich ein faustgroßer Stein durch eine splitternde Fensterscheibe, klatschte gegen die Wand und fiel polternd nieder, indes der Mörtel langsam nachrieselte. Ungestüm sprangen die Füchse auf, aber schon rief Karg, vom Tisch herabspringend, sein donnerndes: „Silentium!“ Da mußten sie bleiben. Die Burschen bewahrten eisige Gelassenheit.

„Der Esel von Kellner hat wieder einmal nicht zugemacht!“ sagte Deimling, stand auf und trat an das zerbrochene Fenster, um die Läden zu schließen. Gejohl schallte von der Gasse, ein zweiter Stein flog knapp an seinem Kopf vorbei. „Nur keine Aufregung!“ brummte das alte Semester, unerschüttert ruhig mit dem widerspenstigen Rolladen beschäftigt. Der Erstchargierte, stud. med. Braun, ein breitschultriger Hüne aus dem Egerland, hatte inzwischen das andere Fenster verwahrt. „Sehen Sie,“ wandte er sich zu den Gästen, „die edlen Söhne der Libuscha heißen uns auf ihre Art willkommen. Geschieht öfters so, man gewöhnt sich daran! — Aufgepaßt, Füchse!“ fuhr er mit scharfer Kommandostimme fort. „Bei solchen Sachen ist die erste Pflicht: ruhig bleiben! Nicht mit der Wimper zucken! Sonst ist der Krawall fertig! Schreibt euch das hinter die Ohren! Und nun steigt: ‚Die Wacht am Rhein‘. Cantor, incipias!

„Es braust ein Ruf wie Donnerhall!“ stimmte der Sangwart an, alle fielen ein, und diesmal wehte wirklich etwas vom Sturmatem der Begeisterung in den frischen Stimmen.

Fritz aber war wärmer geworden. Das sichere Auftreten der jungen Leute, ihre kalte Geistesgegenwart und die musterhafte Zucht, mit der sie hinter sorgenlosem Leichtsinn und behaglicher Fröhlichkeit versteckt, einen zähen Kampf um ihre Muttersprache führten, das alles zwang ihm, der nicht ihre Ansichten teilte, Achtung ab, weil hier ein ehrliches Wollen zu spüren war. Er wurde gesprächiger, taute auf und weil sich, hierdurch angeregt, auch jene freier gaben, geschah es, daß er in ein ganz leidliches Verhältnis zu ihnen kam. Er blieb bis zum Schluß in der Kneipe und als beschlossen wurde, noch ein Kaffeehaus aufzusuchen, ging er ebenfalls mit.

Je drei oder vier in einer Reihe, zogen sie geräuschvoll durch die spärlich erhellte Gasse zum Wenzelsplatz. Die Nacht war bereits ziemlich vorgerückt, in den Straßen bewegten sich nur vereinzelte Schwärmer. Unerwartet aber brach mit großem Getöse aus einem Nebengäßchen ein Trupp meist jüngerer Leute. Sie hatten schwarze Samtbaretts schief auf den mähnigen Köpfen, schwangen drohend dicke Stöcke und gebärdeten sich ohne ersichtlichen Grund sehr aufgeregt und wild. Es waren die Mützen der deutschen Studenten, die das tschechische Jungvolk derart in Zorn brachten. Denn in ihm war die Unduldsamkeit eines kleinen Stammes, der rings von einem großen umklammert, eifersüchtig seinen Besitzstand wahrt, in jedem Farbenbändlein des Feindes eine Gefahr für sich erblickend. Worte wie Provokation und Frechheit fielen, und schon auch zerbrach ein Spazierstock an dem harten Schädel Deimlings. Der schüttelte sich nur wie ein Auerochs, den ein Kieselsteinchen traf, nahm Hellwig, der ihm zunächst schritt, unterm Arm und ging weiter mit finsterer Miene, ohne ein Wort zu sprechen. Auch die andern Herminonen hatten sich zusammengeschlossen, marschierten Schulter an Schulter dicht gedrängt, mit unbewegten Gesichtern, und redeten nicht. Jeder Widerstand, das wußten sie, trieb Wasser auf die Mühlen der Gegner, und schon mehr denn einmal hatte die unbedeutende Verletzung eines Tschechen in einem solchen Raufhandel den Vorwand abgegeben zur Zerstörung deutschen Eigentums, zu Plünderung und Raub. Darum dämmten sie gewaltsam ihren Zorn zurück und zogen Schritt für Schritt gelassen weiter. Voran ging der riesenhafte Braun, mit Schultern und Ellbogen sich den Weg durch die Erregten bahnend, die mit heftigen Gebärden immer wieder herzu drängten und zurückwichen, unschlüssig, ob sie einen ernstlichen Angriff wagen sollten. Ihre lauten Stimmen erfüllten die Gasse, lockten die Gäste aus den Schenken vor die Türen, und mancher schloß sich dem Zuge an. Und jedesmal, wenn einer sich hinzugesellte, wurde ihm, der vordem ganz ruhig sein Schöpplein getrunken, das Gesicht fahl vor Aufregung und in den glitzernden Augen erwachte der Haß. Wie eine elektrische Wolke umhüllte er das lautlose Häuflein der Studenten, und endlich mußte die Entladung erfolgen.

Als der Trupp an einem Neubau vorüberkam, raffte einer blind vor Wut einen Ziegelbrocken, warf und traf einen Herminonen an die Schläfe. Der ächzte, stolperte nach vorn und wäre hingefallen, wenn ihn nicht seine Bundesbrüder schnell gestützt hätten. Aus einer Fleischwunde floß ihm das Blut über Gesicht und Kleider. Hellwig aber, in dem es schon lang brodelte, war, ehe ihn Deimling zurückhalten konnte, mitten in den dichtesten Knäuel gesprungen, bekam den Werfer zu fassen und schmetterte ihn in aufflackerndem Jähzorn zu Boden. Im Nu war der Wildling zwischen den Tobenden eingekeilt, die mit Fäusten und Stöcken nach ihm hieben, Kragen und Binde von seinem Hals rissen und ihn durch ihre Überzahl arg bedrängten. Er wehrte sich, so gut oder schlecht es ging. Der Hut war ihm vom Haupt geschlagen worden, sein feines Haar flatterte im Luftzug und gab lichten Schein über der gefurchten Stirn, die weiß aus dem Halbdunkel leuchtete, während der übrige Teil des Gesichts darin versank. Von vorn gestoßen, gezerrt von rückwärts, von allen Seiten geknufft, geschoben und gequetscht, mußte er sich darauf beschränken, die Hiebe mit emporgehobenen Armen von seinem Kopfe abzuwehren, und es wäre ihm übel ergangen, wenn nicht Deimling und Braun zu Hilfe gekommen wären. Den Kopf zwischen die Schultern gezogen und die vorgehaltenen Fäuste wie Rammböcke brauchend, brachen sie sich, ostfränkische Bauernsöhne, unwiderstehlich Bahn und stellten sich kampfgewärtig um den Bedrängten.

Nun aber eilten Wachleute herbei und trennten die Streitenden. Die Tschechen wurden in die Gasse zurückgedrängt, die Hochschüler unter polizeilichem Schutz zum Kaffeehaus geleitet und dem Portier überantwortet, der sofort die Tore hinter ihnen schließen mußte.

3.

Der junge Mensch, den Fritz aufs Pflaster geschleudert, hatte zwar nicht gefährliche, aber immerhin ernstlichere Verletzungen davongetragen. Wie Hühner auf gestreuten Weizen, stürzten sich Zeitungsleute auf den Vorfall und schon die tschechischen Mittagsblätter brachten spaltenlange Berichte. Scheinbar ruhig und sachlich gehalten, wirkten sie durch Unterdrückung oder einseitige Beleuchtung einer Tatsache besser als die schärfsten Brandartikel und verfehlten in ihrer geschickten Fassung die beabsichtigte Wirkung nicht.

Leidenschaftlich erregte Volksmassen sammelten sich und zogen singend durch die Straßen. Auf dem Graben, der sonst nach stillschweigendem Übereinkommen den Deutschen zum Abendbummel überlassen blieb, zog in geschlossenen Reihen die slawische Jungmannschaft auf, Jünglinge und Mädchen mit rot-weiß-blauen Bändern und Schleifen streiften umher und umringten die deutschen Burschenschaftler mit wüstem Geschrei. Langsam anschwellend rollte es die Straße entlang, brandete an den Häusern empor, ebbte ab und schwoll zurückkehrend wieder an, murrte, tobte, donnerte ohne Aufhören hinab und hinauf, von einem Menschenschwarm dem andern zugeworfen, bald dumpf am Boden hinrollend, bald schrill in die schwere, nebelfeuchte Abendluft flatternd, die es sogleich wieder niederdrückte und am Boden festhielt.

Mit gelben Höfen leuchteten die Straßenlampen nur verschwommen in der Dämmerung. Gleich schwarzen Käfern hasteten die Menschen durcheinander, und wo eine Studentenkappe sichtbar wurde, entstand ein heftigerer Wirbel in den wimmelnden Massen, stürzten alle ungestüm herzu, fluchend, gestikulierend und aufs heftigste erbittert.

Hellwig ging mit Braun und Deimling im Zuge der Herminonen. Pichler war verschwunden. Als der tolle Lärm losbrach, hatte er sich sacht davongestohlen. So stumm und kleinlaut, wie er vordem auf dem Weg von der Kneipe zum Bummel keck und prahlerisch einem entschiedenen Widerstand das Wort gesprochen, war er über die Straße und durch die nächste Seitengasse heimgegangen.

Das Gewühl wurde immer stärker und schon lieferte man sich da und dort kleine Scharmützel. Aber sie waren nur rasch und kurz, als sollten vorerst die Kräfte geprüft und ausgekundschaftet werden, wie weit der Gegner zu gehen entschlossen sei. Da fiel es plötzlich einem verwegenen Häuflein von sieben rotbemützten Teutonen ein, die Wacht am Rhein anzustimmen. Gewaltig sangen sie mit ihren schweren Bässen das deutsche Wehr- und Trutzlied in das einförmige Gejohl.

„Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein!“ Weiter kamen sie nicht. Wie losgelassene wilde Tiere stürzten sich die Tschechen auf die unbedachten Heißsporne. „Mažte ji! Haut sie!“ brüllten die Jünglinge mit der slawischen Trikolore, und manches zarte Mädchen bearbeitete mit dem Regenschirmchen die Köpfe der Sänger, bis das luftige Dach in Fetzen am geknickten Stäbchen flatterte.

Aber auch die andern Hochschüler mußten die Unbesonnenheit der sieben Kampfhähne entgelten. Eine Sturzwelle, warf sich die entfesselte Wut gegen die Deutschen und brachte sie nun wirklich in ernste Gefahr. Berittene Schutzleute sprengten in die Menge. Sie vermochten nichts gegen die wache Leidenschaft. Die arg bedrohten Deutschen flüchteten in die Fluren der Häuser. Aber mancher Hausbesorger weigerte ihnen auch diese Zuflucht und trieb sie wieder auf die Gasse, wo die ergrimmten Slawen neuerdings über sie herfielen. Die Geschäftsleute hatten ihre Läden schon früher geschlossen. Nun beeilten sich auch die Wirte und Kaffeesieder, ihre Spiegelscheiben zu verwahren, denn bereits waren viele eingedrückt und zertrümmert.

Vor dem deutschen Vereinshaus war das Gedränge am ärgsten. Den meisten Studenten war es nach hartem Strauß gelungen, sich dorthin zurückzuziehen. Die Menge aber schickte sich allen Ernstes an, das Gebäude zu stürmen. Schon splitterte das Holz an den Fensterläden, wurden die Torflügel bedrohlich locker, als eine Schar Dragoner heransprengte, die im Verein mit einigen Abteilungen Fußvolk die Volksmassen ziemlich rasch in die Seitenstraßen abdrängten.

Aber während am Graben das militärische Lagerleben sich entfaltete, während die angepflockten Pferde mit gesenkten Köpfen schlafend neben Sattelzeug und Pyramiden von Gewehren standen, während die Posten auf und nieder schritten, umsummt von den leisen Gesprächen der ruhenden Mannschaft, — ein Säbel klirrte, ein Pferd schüttelte sich und wieherte leise, still und dunkel standen die Häuser, — währenddessen rotteten sich in den Vororten die Vertriebenen wieder zusammen, und von den immer bereiten Scharen arbeitsscheuer Halunken unterstützt, nahmen sie Rache dafür, daß man sie in der Wahrung ihrer vermeintlichen Rechte mit Waffengewalt gehindert hatte.

Deutsche Firmenschilder wurden von den Häusern gerissen, die Geschäfte aufgebrochen, die Vorräte auf die Gasse geschleppt, vernichtet, geraubt. Und die Steine flogen in die Säle deutscher Bildungsstätten und wissenschaftlicher Anstalten, flogen in die Spitäler bis zu den Betten der wehrlosen Kranken, verbreiteten Schrecken und Angst in den Räumen, die das tiefste Menschenelend umschlossen, vermehrten die Leiden der Schwerkranken und warfen halb Genesene in neues Siechtum.

Die ganze Nacht dauerten die Überfälle. Sie waren so ausgezeichnet ins Werk gesetzt, daß der Pöbel, dem ein Heer von Spähern zur Verfügung stand, seine Arbeit regelmäßig gründlich abgetan und sich aus dem Staub gemacht hatte, wenn endlich die Hüter der öffentlichen Ordnung auftauchten. Auch der nächste Morgen brachte keine Ernüchterung. Posten lauerten bei verdächtigen Häusern, stürzten sich auf jeden, der heraustrat und mißhandelten ihn, wenn er als Deutscher erkannt wurde. Und wo noch ein unbewachtes deutsches Kauflädchen zu finden war, wurde es aufgesprengt und ausgeplündert. Die Behörden waren unentschlossen, zauderten und fürchteten sich vor den möglichen Folgen energischer Maßregeln.

So verging auch dieser Tag und noch eine Nacht unter fortwährendem Tumult. Während der ganzen Zeit durften die Studenten das deutsche Vereinshaus nicht verlassen. Ein starker Militärkordon bewachte sie, aber heraus ließ man niemanden, der nicht einen unauffälligen Hut vorweisen konnte. Denn man wollte vermeiden, daß durch den Anblick der bunten Mützen die Menge von neuem gereizt und zu einem Angriff gegen die Truppen verleitet werde.

In diesen Tagen höchster Bedrängnis wurde wieder einmal eine deutsche Eintracht geboren. Mit pomphaften Worten und tausend Vorbehalten erklärten sich die radikalen Fraktionen bereit, ihre gegen Judentum und Liberalismus geschliffenen Streitäxte bis zur Wiederkehr besserer Zeiten zu vergraben. Mit weitschweifigen Debatten und großen Reden ging ein kleines Geschlecht daran, das neugeborene Zufallskind eines großen Augenblicks auf die Taufe zu heben.

Nun war da unter den Freisinnigen ein Hochschulprofessor, der in seiner stillen Gelehrtenstube ein fleißiges Arbeitsleben führte, in bescheidener Zurückgezogenheit seiner Wissenschaft lebte und von vielen übersehen oder wenig beachtet wurde, weil er jedem Hervortreten fast ängstlich auswich. Um so größeren Eindruck machte es, als er sich jetzt unter dem Zwang einer ehrlichen Entrüstung zur ganzen Höhe seiner hageren Gestalt erhob und die Erregung hinter einer trockenen Knappheit bergend, mit dürren Worten darlegte, was nach seiner Ansicht zur Abwehr weiterer Drangsal und zur Sühne der erlittenen Unbilden fürs erste zu geschehen habe. Über seine Anregung wurde an den Ministerpräsidenten ein Telegramm abgesendet, worin der kalte Stolz gekränkten Rechts sofortige Abhilfe forderte, wenn es nicht zur Selbsthilfe kommen sollte. Dann begab sich eine Abordnung zum Statthalter und verlangte Schutz und entschiedenes Eingreifen.

Jetzt endlich wurde der Belagerungszustand über die aufgestörte Stadt verhängt und binnen kurzer Frist eine halbwegs erträgliche Ordnung hergestellt.

Durch diese Ereignisse wurde Fritz gegen Wunsch und Absicht in den Wirbel der nationalen Bewegung mit hineingerissen. Seine zupackende Handgreiflichkeit gegen den Ziegelwerfer hatte ihn bekannt gemacht. Er wurde als Vertreter der Finkenschaft in die Abordnung gewählt, und da es den Kampf gegen eine Ungerechtigkeit galt, sagte er nicht nein. Die vollwertige Persönlichkeit jenes Universitätsprofessors aber nahm ihn rasch gefangen, war mit ihrer ehrlichen Begeisterung und Besonnenheit ganz darnach angetan, den unberatenen Jüngling in der Ansicht zu bestärken, daß hier um ein Menschengut gekämpft werde, das auch tüchtigen und reifen Männern kostbar sei. Darum legte er sich unbesinnlich mit voller Kraft ins Zeug und gab sein Bestes her, um den überkommenen Auftrag ehrenvoll zu bestehen und dem Volke, dem er angehörte, nützlich zu sein, soweit er das als halbfertiger und unerfahrener Schüler vermochte. Doch fand er trotz allem in dieser Tätigkeit keine volle Befriedigung, spürte vielmehr ein vages Unbehagen, ohne die Quelle zu kennen, aus der es floß.

4.

Während der zwei Sturmtage hatte auch Pichler die Wohnung nicht verlassen. Doch hielt er sich nicht in seiner eigenen Stube auf, in die leichtlich von der Gasse ein Stein hätte fliegen können, sondern vertrieb sich im Hofzimmer die Zeit, so gut es ging, indem er mit der Wondra Mühle spielte, meistens aber rauchend mit gekreuzten Beinen im Lehnstuhl des Astronomen saß und nicht zum Hradschin, sondern den Leuten des gegenüberliegenden Hauses in die Fenster schaute. Das behagte ihm je länger, je besser, da es zumeist dienstbare weibliche Wesen waren, die er zu Gesicht bekam und die in hofseitigen Küchen und Kammern tagsüber mit den Hausfrauen um die Wette geschäftig sich regten, in einsamer Frühe mit Hemd und Unterrock bekleidet sich die Haare ordneten und abends auch noch die Röcke auszogen, um sich rasch zu reinigen, bevor sie die Lämpchen verlöschten.

Die Wondra störte ihn nicht in diesem beschaulichen Treiben. Wohl hockte sie rauchend, schwatzend und strickend im selben Zimmer, aber sie schaute meist auf den Wollschlauch, der unter den klappernden Nadeln zusehends wuchs und hatte durchaus nicht acht, wohin unterdessen ihr Mietsmann die Blicke wandern ließ.

Von den Vorfällen der letzten Tage wußte sie die übertriebensten und blutrünstigsten Geschichten zu erzählen, mit einer Anschaulichkeit, als wäre sie überall mit dabeigewesen. Dazu lebte sie in der beständigen Angst, daß auch ihr die Stuben geplündert werden könnten, weil sie Deutsche beherbergte; deswegen begab sie sich sehr zeitig zu Bett, als ob, wenn sie schlief, auch alle anderen das gleiche tun und sie in Ruhe lassen müßten. Vorher jedoch verwahrte sie ihre Wohnung auf das sorgsamste, und Pichler mußte ihr jeden Abend beistehen, wenn sie den Eingang mit dem Küchenkasten verrammelte und zur Sicherheit noch ein paar Sessel darauftürmte. Erst dann kroch sie beruhigt in die Federn, während Otto, nunmehr mit einem Fernrohr des Sternguckers, wieder im Lehnstuhl Platz nahm, zuvor aber die Lampe zurückschraubte, um zu verhüten, daß die ahnungslosen Mägde ihn erblickten und durch Herablassen der Rollvorhänge dem angenehmen Schauspiel ein Ende machten.

Von Fenster zu Fenster ließ er sein Perspektiv wandern, und da bemerkte er in einem hellen Kämmerlein auch ein junges Frauenwesen, das dort an der Nähmaschine saß und unablässig weiße Leinwandflächen unter die Nadel schob. Ganz deutlich sah er das reine Profil und den nackten, schlanken Hals, der sich in einer anmutigen Linie hinter der Hausjacke verlor, alles vom Lichte der seitlich stehenden Lampe voll beleuchtet. Das gefiel ihm aus der Maßen wohl.

Am nächsten Morgen erwachte er erst spät. Sein erster Blick galt wieder jenem Fenster; da stand die fleißige Näherin im geöffneten Rahmen fertig angezogen und beutelte aus einem Flanelltüchlein eine Wolke Staubes in die Luft hinaus. Wie ein freundliches Winken war das, und Otto winkte zurück, indem er lächelnd die Hand gegen das Fräulein bewegte. Darüber erschrak dieses ein wenig, betrachtete aber den hübschen Jungen mehr erstaunt als entrüstet. Nun wagte er es und warf eine Kußhand hinüber. Sie lachte ein ganz kurzes Lachen in hohen Kehltönen, nickte, drehte sich auf dem Absatz herum, und ihr Rocksaum wehte, während sie im Dunkel des Zimmers verschwand. Aber nach einer Weile kam sie wieder und blieb jetzt schon länger beim Fenster.

Schimmernde Fädchen spannen sich, von einem Fenster zum andern zogen sie sich wie helle Seide oder leichte Sonnenstrahlen, auf denen die verliebten Jugendgeisterchen ein lustiges Seiltanzen begannen mit halsbrecherischen Sprüngen und Nicken und Neigen. Zag oder mutig, ängstlich oder keck trippelten, tollten sie hinüber, herüber, bis hinter der lichten Mädchengestalt eine rundliche Frau mit gestrenger Miene auftauchte, worauf die männliche Geisterschar kopfüber in den Hof purzelte, die weibliche aber in den tiefblauen Winterhimmel hinein lachend davonschwebte.

Es war, wie Otto gleich vermutet hatte und von der Wondra bestätigt erhielt, die Mama gewesen. Die Wondra wußte auch, daß sie einen kleinen Postbeamten zum Mann und zwei Töchter besaß. Die ältere sollte in einigen Wochen Hochzeit machen und ließ sich, während sie mit Eltern und Bräutigam bei Freikonzerten und in Vergnügungslokalen ihre abendliche Unterhaltung suchte, von der jüngeren Schwester, der braven Helenka, die Aussteuer fertig nähen.

Pichler wich den ganzen Tag nicht von seinem Lauscherposten und nahm sich kaum zum Essen Zeit. Indes zeigte sich die Helenka erst abends wieder in jenem Gemach, und mit verliebten Augen betrachtete er die runde Anmut ihrer Bewegungen, wie sie flink und leicht in dem Leinwandhaufen herumwirtschaftete. Er nahm die Lampe und stellte sie beim Fenster so auf, daß ihr Schein auf ihn fallen mußte. Dann warf er wieder eine Kußhand hinüber. Da ließ sie die Hände in den Schoß fallen, lehnte sich in dem Stuhl zurück und lachte ausgelassen. Er lachte auch, winkte und verneigte sich. Sie winkte wieder, war blutrot und lachte fort, bis sie plötzlich ihre Arbeit zusammenpackend, nun ihrerseits die Hand an die Lippen legte und mit den geküßten Fingerspitzen durch die Luft fuhr, worauf das Licht blitzschnell erlosch.

Mit glänzenden Augen schaute Otto auf das dunkle Fenster, rieb sich die Hände, schnippte mit den Fingern und freute sich unbändig. Doch hinderte ihn das nicht, nachher andächtig dem Treiben der schläfrigen Mägde zuzusehen und hierauf selbst einen gesunden Schlaf zu tun, den vergnügliche Träume begleiteten.

Durch ein lautes Krachen wurde er mitten in der Nacht unsanft geweckt. Gleich darauf kam die Wondra im Barchentunterrock mit einem Angstgezeter in sein Zimmer gestürzt. Denn sie vermutete nichts anderes, als daß ihre Landsleute bei ihr einbrechen und für den Volksverrat Rache nehmen wollten. Auch Otto mochte Ähnliches erwarten und machte ein bängliches Gesicht. Da erhob sich draußen mächtiger Gesang: „Raus da! Aus dem Haus da! Rrraus! Rrraus! Rrrraus!“

Karg, König, Fundulus und Hellwig waren heimgekehrt und hatten sich, da die Tür nicht nachgeben wollte, mit vereinten Kräften dagegen gestemmt, so daß die Stühle polternd von dem Küchenkasten fielen und dieser selbst ins Wanken kam. Nun verwandelte sich das Angstgezeter der Witwe in einen Freudenlärm. Trotz der ungewöhnlichen Stunde wollte sie zur Feier der glücklichen Wiedervereinigung ein kleines Gelage veranstalten bei schwarzem Kaffee mit Rum und bei Flaschenbier, das sie in der kühlen Jahreszeit stets in genügender Menge vorrätig hielt. Die Studenten jedoch wollten erst wieder einmal ordentlich ausschlafen, bedankten sich und vertrösteten die unternehmende Kostfrau auf eine gelegenere Zeit. Ungern gab sie nach, wünschte zuvor wenigstens noch die Erlebnisse ihrer Mieter sogleich zu erfahren und ermüdete nicht im Fragen, bis Karg die wohlbeleibte Dame nicht gerade sanft in ihre Kammer zurückbeförderte und die zugeschlagene Tür den rauschenden Redeschwall vorläufig staute.

Weniger als die Hauswirtin war Pichler über die Ankunft der Stubengenossen erfreut, weil dadurch das begonnene Schäferspiel unliebsam gestört wurde. Indes, die Sache war bereits eingefädelt und spann sich ohne Schwierigkeiten weiter. Am nächsten Vormittag erwartete er die Helenka bei ihrem Haustor und hatte die Genugtuung, daß sie ihn erkannte und im leichten Schreiten mehrmals zurückblickte, ob er ihr nachfolgte. Dies tat er denn auch in angemessener Entfernung. Nun er sie im Straßenkleid sah, erschien sie ganz anders und gefiel ihm fast noch besser. Sie war ziemlich groß, von reichen, vollen Formen, die durch ein straff gezogenes Mieder unter einem kurzen Jäckchen und einem knappen Rock ohne Falten aufs günstigste zur Geltung gebracht oder vielmehr diskret unterstrichen wurden. Eine weiße Matrosenmütze, von einem silbernen Pfeil gehalten, saß keck auf einer Fülle dunklen Gelocks, an den leise schaukelnden Hüften wiegte sich ein gewaltiger Henkelkorb im Takte mit. So schritt sie rasch und resch mit schnellen Schritten vor ihm her, stramm aufgerichtet und sehr selbstbewußt im Gefunkel ihrer jungen Schönheit.

Als sie ihre Einkäufe besorgt hatte und mit gehäuftem Korbe heimging, fragte Pichler mutig, ob er sie begleiten dürfe. Sie bejahte verlegen. Aber als er sich vorgestellt hatte, begann sie sogleich ein lebhaftes Schwatzen über ihre Näherei, ihre Familie und die bevorstehende Hochzeit, über die winterliche Kälte und über viele andere Dinge in dem kleinbürgerlichen Bestreben, das Gespräch nicht ins Stocken geraten zu lassen. Fast ganz allein bestritt sie es, in einem etwas holprigen und mühsamen Deutsch. Aber Pichler fand auch die Fehler reizend, die ohne alle Ziererei neckisch wie Flocken von den schmalen Lippen fielen.

Von nun an traf er sie täglich, einmal am Vormittag, einmal gegen Abend, je nachdem sie Zeit hatte. Die Stunde gab sie ihm bekannt, indem sie dicke Ziffern mit Tinte auf Papierblätter malte und gegen die Fensterscheiben hielt.

Die Stadt hatte wieder ihr gewöhnliches Aussehen, die Erregung schien verbraust, friedlich bewegte sich jede der feindlichen Nationen auf ihrem Bummel, die Deutschen auf dem Graben, die Tschechen auf dem Roßmarkt und in der Ferdinandsstraße. Otto zeigte sich mit Helenka bald da, bald dort, und je nachdem, wo sie gingen, sprach er deutsch oder böhmisch mit ihr. Denn er hatte sie gebeten, ihm in der Erlernung der zweiten Landessprache behilflich zu sein, und so war dieser Liebeshandel nicht nur reizvoll, sondern auch praktisch.

Sie war eine Vollblut-Tschechin und machte kein Hehl aus ihrer Gesinnung, was sie aber nicht hinderte, auch an hübschen deutschen Männern Gefallen zu finden. Doch war ihre Gunst nicht leicht zu erringen, denn sie war sich ihrer Schönheit voll bewußt und konnte wählerisch sein, weil sie von vielen umworben wurde. Am wenigsten verfingen Schmeicheleien bei ihr, da sie solche schon bis zum Überdruß zu hören bekommen. Das hatte Pichler bald weg und änderte im selben Augenblick von Grund aus seine Kriegskunst. Er wurde kurz angebunden, derb, sogar grob. Alles, worauf sie Wert legte oder sich was einbildete, setzte er herab, mäkelte daran und tadelte es, wählte aber seine Ausdrücke derart bedachtsam, daß er immer nur eine allgemeine Ansicht zu äußern schien. Erzählte sie, stolz auf ihre prächtige Büste, daß sie auf dem letzten Ball ein ausgeschnittenes Kleid nur mit Armspangen getragen und was für Aufsehen sie erregt habe, tat er höchst gleichgültig und bemerkte nur beiläufig, er habe einmal aus einem ähnlichen Anlaß mit einem Mädchen sich überworfen, das er gleicherweise, wie es ihn, sehr gut leiden mochte. Er habe damals mit der Schönen nicht ein einziges Mal getanzt, und als sie Aufklärung verlangte, habe er ihr nur kurz geraten, sie möge auf den Markt gehen und sich dort ausstellen; er werde sie begleiten und wie ein Pferdehändler die gediegene Wölbung der Brust anpreisen, die tadellosen Arme, Schenkel und so weiter. Er habe sich nicht anders helfen können damals, denn diese Schaustellung der Reize sei ihm widerlich gewesen, und gewohnt, mit seiner Meinung nicht hinterm Berg zu halten, habe er eben klipp und klar herausgesagt, was er sich dachte.

Danach hatte die Helenka auf dem ganzen Heimweg kein Wort mehr geredet, aber er war dennoch mit seiner Erfindung und ihrer Wirkung sehr zufrieden. In der Tat blieb diese Art des Umgangs nicht ohne Eindruck bei einem Mädchen, das zwar schön und im Plaudern gewandt, sonst aber just kein Kirchenlicht war. Bald war ihnen der Bummel zu belebt, sie mieden ihn und suchten einsamere Gassen, wo es die Helenka schweigend litt, daß er ihren Arm packte und mit hastiger Zärtlichkeit an sich drückte. Und einmal, als sie von einem ernsten Bewerber erzählte, der auf der Bildfläche erschienen war, riß er sie heftig an sich. „Helenka, so lasse ich dich keinem andern!“ Mitten auf der Gasse küßte er sie und kümmerte sich nicht um ihr Sträuben und nicht um die Leute.

Von nun an trugen sie das heimliche Sehnen ihrer klopfenden Herzen in noch größere Abgeschiedenheit. Eng aneinander gedrängt gingen sie längs des Moldauufers spazieren, über einen weiten ebenen Plan, wo das geflößte Brenn- und Bauholz aus dem Böhmerwald aufgestapelt war. Gute Verstecke gab es hier, die zu Raummetern geschlichteten Scheite waren wie Mauern und die glatten Stämme der toten Waldriesen wie Bänke. Ganz dunkel war es und nichts war hörbar, als das Glucksen und Plätschern, wenn eine stärkere Welle gegen das sandige Ufer schlug. In der Ferne blitzten die Lichter der Stadt und lagen in gelben Streifen über den schwarzen Fluten, ein schrilles Läuten der Straßenbahn kam herüber, eine Turmuhr schlug mit langsam verhallendem Klang — dann war wieder nichts als das dumpfe Rauschen im Fluß. Als wären sie beide allein auf der Erde, so war das und so gab sich die Helenka dem Werbenden. Sie tat es ohne Lüsternheit oder Neugierde, als schenkte sie ihm nur, was ihm gebührte, weil es für ihn allein in dieser dunkeln Einsamkeit aus ihrem jungen Herzen emporgewachsen war.

Dann aber starrte sie ihn, die Hände auf seinen Schultern, mit entsetzten Augen an und stieß ihn wild von sich.

„Mein armer Vater!“

Ganz klanglos sagte sie das und wiederholte es mehrmals und wimmerte leise.

Otto stand ratlos und wußte nicht, wie er sie beruhigen sollte. Sie tat ihm nicht so sehr leid, er war mehr ungehalten, daß sie ihm jetzt diese Szene machte und die Freude verdarb. Plötzlich aber erhob sie sich mit einem entschlossenen Ruck und drückte sich unter der runden Mütze das Haar an den Schläfen zurecht. „Komm!“ sagte sie nur und schritt ohne Aufenthalt schnell gegen die Stadt. Sie weinte nicht mehr, aber sie sprach auch nicht. Stumm ging sie neben ihm her. Manchmal atmete sie in ihr Taschentuch und preßte es an die geröteten Lider, um die Spuren der Tränen auszutilgen. Aber durch die Stadt schritt sie wieder ganz aufrecht, mit frei erhobenem Kopf und wagerechtem Kinn. Otto wollte etwas sagen. Mit einer heftigen Handbewegung winkte sie ihm Schweigen. Sie wollte nicht gestört sein in dem Belauschen ihrer aufgeschreckten Seele und dem staunenden Hineinhorchen in den Aufruhr des Blutes. Beim Haustor neigte sie flüchtig den Kopf und schritt rasch und fest hinein, ohne ein Wort oder Lächeln zum Abschied.

Er atmete auf. Seiner jubelnden Siegerfröhlichkeit war der stumme Heimweg zur Qual geworden. Alles in ihm drängte nach lauter, lärmender Freude. Und statt dieser Luft machen zu dürfen, hatte er mit einer Leichenbittermiene neben ihr hergehen und seufzen müssen, wo er jauchzen wollte. Er lief mehr als er ging in die Herminonenkneipe, trank dort, sang und schwärmte übermütig mit den Füchsen bis zum Morgengrauen.

Am nächsten Vormittag stand die Helenka wieder beim Fenster und kündete mit ihren Tintenziffern die Stunde des Stelldicheins. Und von nun an war alles gut, und sie war lustig und fügsam und sehr verliebt.

5.

Das Wintersemester war vorüber. Fritz war wenig vorwärts gekommen. Durch den Verkehr mit den Studenten war er einem gelinden Trinken anheim gefallen und der Gewohnheit, abends lang im Wirtshaus zu sitzen. Anfangs hatte er sich Vorwürfe gemacht und zu bremsen versucht. Aber da kamen ihm die Bekannten auf die Bude gerückt, und notgedrungen mußte er als ihr Vertrauensmann mithalten. Später schwächte der reichlichere Genuß des Alkohols seine Widerstandskraft, das Trinken wurde ihm sogar Bedürfnis, um die Lustlosigkeit zu bannen, in der er jetzt wie in einer halbhellen Dämmerung lebte. Er ging spät zu Bett und stand mit wüstem Kopf spät auf, fühlte sich müde, leer, unzufrieden und konnte sich doch zu keiner ernsten Arbeit zusammenraffen, ließ vielmehr den Herrgott einen guten Mann und fünf gerade sein.

Seine Barschaft schmolz bei diesem Leben rasch. Während Otto schon drei Mittelschülern Nachhilfeunterricht erteilte, war es ihm bisher nicht geglückt, Ähnliches aufzutreiben. Überall wurde er abgewiesen. Der Vermerk auf seinem Zeugnis, daß er vom Neuberger Gymnasium ausgeschlossen worden war, machte fürsorgliche Eltern stutzig; sie wagten nicht, ihm ihre Kinder anzuvertrauen. Und er war zu hölzern und zu stolz, um sein Licht auf den Scheffel zu stellen oder als Vertrauensmann seine Beziehungen zu den Parteigrößen auszunützen. Da las er in einer Zeitung, daß ein Rechtsanwalt einen Schreiber für die Nachmittage suchte. Er bewarb sich um den Posten und erhielt ihn. Das brachte ihn noch mehr aus der Bahn. Trüb und trostlos eintönig schlichen die Tage neben ihm her, zwischen stumpfsinnigem Wirtshaushocken am Abend und gleichgültiger Mattigkeit am Morgen war einer wie der andere ausgefüllt mit dem Schreiben von Mahnbriefen, Klagen, Pfändungsgesuchen, und alle waren sie verloren.

Hätte er ein gemütliches Daheim oder wenigstens eine ruhige Kammer gehabt, er wäre vielleicht eher aus diesem grauen Netz herausgekommen, in dem er hing wie die Fliege im Spinngewebe und sich wehrlos den Lebensmut austrinken ließ. So aber fühlte er einen Ekel vor dem Treiben der Wondra. Er floh davor und floh vom Teufel zum Beelzebub — in die Kneipen und Kaffeehäuser. Manchmal kam ihm in diesen jammervollen Monaten der Gedanke an Eva. Aber wenn dieser jemals treibende Kraft für ihn gehabt, so hatte er sie jetzt verloren. Wie wenn einer, der im zähen Moorgrund langsam versinkt, zu einem schönen Stern hinaufblickt und sich denkt: ‚Den siehst du auch bald nicht mehr!‘ — so war es und machte ihn traurig und jeden Halt nahm es ihm.

Bei den Studenten war er gut gelitten. Er galt als treu und verläßlich, und die trockene Sprödigkeit, die er im Umgang an den Tag legte, wurde von den jungen Leuten als Zeichen männlicher Reife und Wahrhaftigkeit genommen und hochgehalten. Aber je mehr man sich um ihn riß, je scheuer und zugeknöpfter wurde er. Er litt unter diesem Leben ohne Inhalt, das um so leerer wurde, je weiter die hellen Kampftage in die Vergangenheit zurücksanken. Rasch wie die Fehde entbrannt, war sie auch vergessen und die Gegenwart wieder angefüllt mit Kneipen, Nachtschwärmen und Raufereien unter den einzelnen Verbindungen. Und er zechte und schwärmte mit und wenn er noch in keinen Ehrenhandel verwickelt worden war, so hatte er das nur seiner Wortkargheit zu danken.

Schal war das alles, belanglos und nichtswürdig. Aber loskommen konnte er doch nicht.

In die Hörsäle kam er nicht mehr. Er schämte sich, mit schwerem Kopf und stumpfen Sinnen hinzugehen. Statt dessen saß er jetzt auch an den Vormittagen in der Kanzlei. Denn die ungeordnete Lebensweise kostete viel Geld, und schon gab er täglich mehr aus, als er, das Erworbene eingerechnet, verbrauchen durfte. Vom Bureau ging er ins Kaffeehaus, wo er die Tagesblätter und sämtliche ernstere Zeitschriften las, deren er habhaft werden konnte. Gewöhnlich blieb er dort bis spät abends, begab sich dann in eines der Studentenwirtshäuser. Er brachte es nicht über sich, bei der Wondra das Nachtmahl zu nehmen. Sie rechnete auch bei der Zubereitung nicht mehr mit ihm, aber den Kostpreis setzte sie ihm deswegen doch nicht herab.

Dann kamen wieder Abende, an denen es ihm einfach unmöglich war, ein menschliches Gesicht zu sehen. An denen er die Kneipen mied und trotz Frühlingswind und Regenwetter im Freien sich herumtrieb. Den Radmantel um die Schultern, lief er pfadlos am Strand der Moldau herum. Das aufgeweichte Erdreich klebte in Klumpen an seinen Sohlen und machte sie schwer, unter seinen Tritten spritzte ihm das Schmutzwasser der Regenpfützen oft bis ins Gesicht, und nach jedem solchen Ausflug schalt die Wondra, daß seine Kleider nicht sauber zu kriegen seien. Aber immer wieder rannte er in diese tiefdunkle Einsamkeit, als könnte er sich dort vor seinem eigenen Ich verstecken. Aber er entkam sich nicht. Alle Vorwürfe und aller Ekel über sein unwürdiges Treiben gingen unablässig mit ihm durch die Finsternis, und er fühlte nur, daß er sich Stunde um Stunde an sich selbst versündige, indem er in schlaffem Müßiggang seine blanken Kräfte rosten ließ. Manchmal auch packte ihn ein sinnloser Zorn, der ihm Tränen in die Augen trieb. Er schlug mit geballten Fäusten seinen Leib, und je mehr es ihn schmerzte, mit desto wilderer Freude schlug er weiter, auf Arme, Wangen, Schläfen, und höhnte und beschimpfte sich mit häßlichen Worten, die in einem Schluchzen erstickten. Jedes Ziel war ihm entglitten, er ging mit verbundenen Augen um sein Leben herum wie der Gaul im leeren Göpel.

Die nächtlichen Wanderungen führten ihn weit über die Holzplätze hinaus in eine Gegend, wo der neue Hafen erstehen sollte. Die Arbeiten hatten noch nicht begonnen, aber schon waren in der großen Kotwüste Baggermaschinen aufgestellt und neben angehäuften Baustoffen Holzhütten und Verschläge für die Karren und Werkzeuge errichtet worden. Nur selten kam in den Abendstunden ein Mensch hieher. Ihn aber trieb es immer wieder in diese Öde, die so gut zu seiner Stimmung paßte. Stundenlang konnte er dort hocken und vor sich hinbrüten, während der Regen kühl und traurig ohne Pausen auf ihn niederfiel. Und je unfreundlicher das Wetter war, je länger blieb er, als wollte er mit diesem freiwilligen Ausharren in einer Beschwerde nur irgendwie eine sühnende Tat setzen, wenn er schon nichts anderes zuwege brachte.

Da vernahm er einst — es war ein naßkalter Aprilabend — ein Husten und Stöhnen wie von einem unruhigen Schläfer, schaute um sich und gewahrte einen spärlichen Lichtschein, der aus einer der hölzernen Hütten flimmerte. Leise ging er darauf zu. Und wie er vorsichtig durch die Fugen der Bretterwand spähte, sah er im Innern des matt erhellten Raumes zwei Gestalten auf dem bloßen Erdboden hingestreckt, während drei andere neben einem Feuer kauerten und einem geschlachteten Pudel das Fell abzogen. Das Feuer brannte in einem Viereck aus Ziegelsteinen, und auf diesem Herd stand ein verbogener Blechtopf, darin das Wasser schon zu dampfen anfing.

Die fünf Kumpane mochten wohl schon öfters hier übernachtet haben und schienen sich in ihrem Schlupfwinkel ganz sicher zu fühlen, weil sie sich so sorglos gehen ließen. Gern hätte sich Fritz zu ihnen gesellt. Aber sein Erscheinen hätte sie höchstens beunruhigt oder mißtrauisch gemacht, und helfen konnte er ihnen doch nicht. So ließ er es bleiben.

Das Hundefleisch war gar geworden. Nun wurden auch die Schläfer munter und setzten sich zum Feuer. Alle schwiegen, streckten die Hände nach den rauchenden Fleischstücken, rissen mit den Zähnen große Fetzen los, die sie mit der Hast des Hungers verschlangen. Dazu tranken sie von der gelblich-grauen Fettbrühe mit schmatzenden Lippen, und in ihren knochigen Gesichtern war ein Ausdruck der Zufriedenheit, als säßen sie bei dem alten Schlemmer Lukull zu Tisch. Satt gegessen, kramten sie aus den Taschen die gesammelten Zigarrenstummel, setzten sie in Brand und streckten sich längelang auf den nackten Erdboden aus, die verschränkten Hände als Kissen unterm Kopf. Einer hatte auch eine gefüllte Schnapsflasche mit, die im Kreis herumging und schnell leer war. Solang das Feuer brannte, unterhielten sie sich halblaut miteinander. Sie redeten deutsch, aber aus ihrer Aussprache hörte der Lauscher, daß nur zwei von ihnen wirklich Deutsche waren, der ‚Schwabe‘ und der ‚Bayer‘, wie sie genannt wurden, während die drei anderen, der ‚Tschasbauer‘, der ‚Wasserkopf‘ und der ‚Krowot‘ der slawischen Rasse angehörten.

Sie erzählten von ihren vergeblichen Gängen um Arbeit und verwünschten das milde Wetter, weil es schneller den Schnee weggeräumt hatte als sie mit ihren Schaufeln. Dann wurden sie einsilbiger und schliefen endlich ein, indes der Regen ohne Pause rieselte und der Wind empfindlich kalt durch die Bretterwände pfiff.

Fritz schlich sacht davon. Seine Kleider waren schwer von Nässe, in den Vertiefungen seines Filzhutes bildete das Wasser kleine Teiche. Aber heim ging er noch nicht. Eine dumpfe Trauer war in ihm, und mit doppelter Gewalt griff die Reue über so viele nutzlos verzettelte Tage an sein Herz. Denn es war ihm gewesen, als hätte im unsteten Flackern des dürftigen Feuerchens hinter Qualm und rauchiger Glut wie in weiter trüber Ferne das verlorene Ziel flüchtig herüber geleuchtet.

... Den Elenden und Gequälten ein freies, heiteres Dasein schaffen, ihnen das Recht auf Glück zurückerobern — ein Ziel, wohl wert, sein Leben dafür aufzuwenden ...

Hatte wirklich einmal einer so zu ihm gesprochen, und er hatte sich ihm zugeschworen mit Handschlag und Gelöbnis? Und statt dessen schritt er satt und behäbig in den Reihen der Behäbigen und Satten, trank sein Bier in Ruhe und ereiferte sich höchstens im Streit der Glieder untereinander, indes der ganze Körper in schwerer Not rang. Die Menschheit war dieser Körper, und ihre Not war der Hunger. Und wo dieser war in seinem bittersten Ernst, da war auch kein Kampf von Volk zu Volk, von Bruder zu Bruder. Da saß der Bayer mit dem Polen, der Deutsche mit dem Slawen beim Feuer, und sie teilten sich einträchtiglich im Fleisch eines gestohlenen Hundes.

Und während er in Regen und Sturm durch die Frühlingsnacht irrte, wurde ihm immer klarer und erkannte er immer deutlicher, daß die Unzufriedenheit, die Unlust und Leere der letzten Monate nicht seinem Müßiggang entsprang, nicht dem Wirtshaushocken und Zechen und Saufen. Das waren nur die Folgen, die Ursache aber war, daß er sich an eine Sache mit halbem Herzen und gegen seine innerste Überzeugung hingegeben. Das Unrecht, die Vergewaltigung, die der Schwächere erdulden mußte, hatten ihn geblendet, so daß er nicht sah, daß der ganze Kampf ein Unrecht war und ein Frevel an der Allgemeinheit.

Als er endlich — der Morgen brach an — nach Haus kam, begegnete er dem Mediziner Karg, der ohne Gruß an ihm vorüber und die Treppe hinabeilte. Unter der Wohnungstür stieß er mit dem Astronomen zusammen. Auch der war bleich und ernst und grüßte kaum. Fritz war zu müde, als daß ihm das aufgefallen wäre. Er entledigte sich seiner Kleider, aus denen in trüben Bächlein das Regenwasser rann und fiel in einen bleischweren Schlaf.

Nach kaum zwei Stunden wurde er von Pichler wach gerüttelt. Der hübsche Mensch hatte blasse, zitternde Lippen und war ganz verstört.

„Fritz, steh’ auf! Karg hat den König erschossen!“

Es war so. Betrunken hatten sie in einem Nachtkaffee Streit angefangen, der mit Faustschlägen und Ohrfeigen endete. Nüchtern geworden, hatten sie sich am nächsten Tag wieder versöhnt und das frühere Einvernehmen hergestellt. Aber Deimling war Zeuge des Auftritts gewesen und duldete eine so gemütliche Beilegung nicht. Ein Mitglied der Herminonia war tätlich beleidigt worden, und dafür gab es nach seinen starren Ehrbegriffen nur eine Sühne mit den Waffen, sollte kein Makel an den Farben der Landsmannschaft haften bleiben. Das sagte er dem Karg, und als der entgegnete, die Sache sei bereits durch gegenseitige Entschuldigung aus der Welt geschafft, erklärte Deimling finster, er hätte gedacht, der Fuchsmajor würde besser wissen, was die Ehre der grün-weiß-roten Farben gebieterisch fordere. Für seine Person könne er ja die Hiebe ungestraft auf sich sitzen lassen. Aber dann werde der Fall in der nächsten Kneipsitzung zur Sprache kommen, und da werde es sich ja zeigen, ob ein Geohrfeigter, der sich für eine solche Schmach nicht Genugtuung mit den Waffen verschaffe, ferner noch würdig sei, das grün-weiß-rote Band zu tragen.

Nun war Karg mit Leib und Seele bei seiner Burschenherrlichkeit und war viel zu oft schon auf Mensur gestanden, als daß es ihm auf einen Ehrenhandel mehr oder weniger, selbst mit einem guten Freunde, sonderlich angekommen wäre. Wenn Deimling wollte, ging er eben los, da war weiter nichts dabei. Aber die Osterferien standen vor der Tür. Und König war ein guter Fechter. Und Karg wollte seiner Mutter nicht mit frischen Schmissen nach Haus kommen. Und der Handel mußte binnen zweimal vierundzwanzig Stunden — so stand’s im Kodex — ausgetragen sein. Also einigte man sich auf Pistolen. Deimling war ganz Korrektheit und steife Würde. Er ordnete alles und verbot insbesondere dem Fuchsmajor, mit dem Gegner in derselben Stube zu wohnen, so daß ihm die Wondra für diese eine Nacht in ihrer eigenen Kammer das Lager zurechtmachte, während sie selbst in der Küche schlief.

Dann war es so gekommen, daß König, der den ersten Schuß hatte, ein Loch in die Luft schoß, während Karg, vor Aufregung zitternd und unsicher, die Waffe nicht in der Gewalt hatte. Seine Kugel fuhr dem Astronomen ins linke Auge. Ein paar Atemzüge lang stand er noch aufrecht, mit unverändertem, nur wie verwundertem Gesicht. Und schon wollten alle des guten Ausgangs sich freuen, da wankte er, fiel hin und hatte den letzten Atemzug getan, ehe noch jemand die Verletzung wahrgenommen.

Seinen Leichenwagen begleiteten die Herminonen in voller Wichs und Abordnungen von vielen anderen Verbindungen. Es war ein sehr schönes Begräbnis. Karg stellte sich den Gerichten. Er wurde zu drei Jahren Kerker verurteilt und da er Reserveoffizier war, vom Kaiser begnadigt. So verlief alles in schönster Regelmäßigkeit, und auf dem frischen Grabhügel wurden die Frühlingsgräser besonders üppig grün, als hätten sich aus dem zerstörten Jünglingskörper alle Hoffnungskeime lichthungrig in ihre zarten Spitzen geflüchtet.

Die Wondra weinte sehr um den Verlust ihres besten, weil beständigen Mieters. Acht Tage rührte sie kein Kartenblatt an, und noch weitere vierzehn Tage traten ihr jedesmal, wenn sie sich zum Spieltisch setzte, die Tränen in die Augen, und sie weihte dem Toten einen stillen Gedächtnisschluck.

6.

Karg wurde seit diesem Zweikampf mit ausgesuchter Hochachtung behandelt, so daß ihm das zu Kopf stieg und er einer dünkelhaften Einbildung anheimfiel, die sich in kurzen, herrischen Gebärden und in einem blasierten Gesichtsausdruck offenbarte. Er wurde stolz und war beinahe froh, daß er einen ernstesten Fall gehabt und daß von ihm erzählt werden konnte, er habe schon einen im Duell erschossen.

Derart hatten sich alle Beteiligten in ihrer Weise rasch wieder zurechtgefunden.

Hellwig brauchte länger. Alles in ihm bäumte sich gegen die Leichtfertigkeit, mit der hier über ein Menschenleben zur Tagesordnung übergegangen wurde. Und als eines Tages nach Ostern Karg auf ihn zutrat: „Kommen Sie heut’ mit in die Kneipe?“, wandte er sich wortlos ab. Das war eine Beleidigung, und der Herminone, jetzt erst recht nicht gewillt, sich dergleichen gefallen zu lassen, verlangte Aufklärung. Fritz aber gab keine Antwort, stand mit dem Gesicht gegen das Fenster gekehrt und rührte sich nicht. Da schickte ihm Karg seine Zeugen. Es waren Deimling und der Erstchargierte Braun. Gemessen und förmlich überbrachten sie die Forderung.

„Sie haben sich umsonst bemüht!“ sagte Hellwig. „Ich schlage mich nicht.“

Nun hätten sie füglich gehen können. Aber Braun tat noch ein übriges, indem er den allseits Beliebten auf die Folgen einer solchen Weigerung aufmerksam machte. Fritz bat ihn jedoch sehr ruhig, er möge sich das sparen. Seinen Entschluß werde es nicht ändern.

„Diese Methode ist sehr eigentümlich!“ nahm nun Deimling das Wort. „Erst der Ehre eines Menschen grundlos nahe treten und dann ...“

„Mein bester Herr Deimling,“ fiel ihm da Hellwig in die Rede, „das Leben eines Menschen ist wertvoller als seine Ehre!“

„Das ist jedenfalls ein bequemer — und sicherer Standpunkt!“ entgegnete der alte Herminone, setzte mit einer spöttischen Verbeugung hinzu: „Hüten Sie also Ihr wertvolles Leben!“ und wollte sich entfernen. Fritz vertrat ihm den Weg: „Sie haben mich falsch verstanden. Ich habe nicht von mir gesprochen, sondern von dem armen König.“

„Er ist gefallen wie ein Soldat auf dem Felde der Ehre!“ antwortete Braun. Fritz erwiderte:

„Ich weiß nicht, welche Ehre Sie meinen. Es gibt ihrer ja so viel als Stände und Rassen. Ich weiß nur, daß ein Menschenleben etwas Kostbares und Heiliges ist. Und wer eins davon vernichtet, bestiehlt die Menschheit um tausend Möglichkeiten, versündigt sich an ihr und besudelt jene einzige Ehre, die ich allein gelten lasse: die Ehre, Mensch zu sein.“

„So behalten Sie diese Ehre!“ sagte Deimling spöttisch. „Womit ich die Ehre habe!“

Braun aber machte noch einen Versuch.

„Sie sind dann in der Gesellschaft unmöglich,“ gab er ihm zu bedenken. Und Fritz leidenschaftlich darauf:

„Ich will auch nichts mehr gemein haben mit jenen! Sie reden von ihrer Liebe und brüsten sich mit ihrer Treue zum Volke. Aber das sind nichts als Worte! Worte! Wer wegen eines Schmarrens sein Leben in die Schanze schlägt, leichtsinnig und unbedenklich hinwirft, wer skrupellos ein Leben vernichten kann, und alle, die dies loben und in Ordnung finden, alle, die für die Macht ihres Volkes begeistert schwärmen, gleichzeitig aber dulden, daß auch nur das kleinste lebendige Teilchen dieses Volkes zwecklos zerstört wird — alle die sind Phrasensager und Lügner und haben keine Ehrfurcht, weder vor ihrem Volke noch vor der Menschheit. Das ist es. Und darum schlage ich mich nicht und darum kann ich auch Ihre Verachtung ertragen!“

Während er redete, war er ganz ruhig geworden. In den letzten Worten hatte sogar eine leise Überlegenheit durchgeklungen. Jetzt setzte er sich und spielte mit dem Federkiel auf dem Tisch. Die beiden Studenten entfernten sich wortlos.

Fritz atmete leicht und froh. Die Brücken waren abgebrochen und hinter ihm verbrannt. Mochte kommen, was da wollte — er hatte wieder pflugreife Erde unter sich.

Seine Energie und Spannkraft waren wieder da, drängten nun, je länger sie in müßiger Ruhe gelegen, je ungestümer vorwärts, forderten eine unzweideutige und ganze Tat.

Jener flüchtige Blick in das Treiben der Obdachlosen hatte ihm die Richtung neu gewiesen. Und nach der Erschütterung über den gewaltsamen Tod des Astronomen war wie nach einem schweren Sommergewitter reine, klare Luft geworden. Nicht darauf konnte es ankommen, ob ein Volk stärker, mächtiger, fortgeschrittener, besser sei, als das andere, sondern daß alle ohne Unterschied leben konnten, wie es ihrer Menschenehre gebührte.

In alle Fernen und Weiten schweifte seine junge Begeisterungsfähigkeit und entzündete sich an dieser Vorstellung zu einer hellen und starken, ganz warmen Glut. Und in der glückhaften Erregung, die sich seiner nach dem Weggehen der beiden Herminonen bemächtigte, begann er, zum erstenmal, seine Gedanken niederzuschreiben und schrieb in einem Zuge bis in die Nacht hinein an einer Abhandlung, in der er die uralte Lehre von der Menschenverbrüderung mit seinem Feuer neu vergoldete.

Mit der frohen Raschheit, die ein glückliches Gelingen auslöst, packte er das Manuskript, kaum daß die Tinte trocken geworden, zusammen, siegelte und adressierte es an die ‚Freien Blätter‘, das führende Organ der Sozialisten in der Reichshauptstadt. — —

Die silbergraue Dämmerung vor den Fenstern wich bereits dem hellen Licht der nahen Sonne, als Pichler nach einer durchschwärmten Nacht heimkam. Fritz erzählte ihm ohne Umschweife den Vorfall mit den Herminonen. Auf dem Bettrand sitzend, hörte Otto nur mit halbem Ohr hin, während er sich der Stiefel und Kleider entledigte und unter langgezogenen Seufzern gähnend den Mund aufriß. Die Sache war ihm nicht mehr neu. Er hatte sie bereits bei der Kneipe und in den Kaffeehäusern genugsam zu hören bekommen. Erst als er in den Federn lag und die Decke bis zum Hals hinaufgezogen hatte, fragte er unter fortwährendem Gegähn: „Und was wirst du jetzt machen?“

„Schlaf dich erst aus!“ erwiderte Hellwig. „Wir sprechen weiter, bis dein Schädel wieder klar ist.“

„Ist er ohnehin!“ knurrte der andere, drehte sich gegen die Wand und schlief auch schon. — —

Fritz wusch sich die Augen hell und goß einen großen Krug Wasser über Kopf und Nacken. Als die Wondra bald darauf mit dem Frühstück erschien, teilte er ihr mit, daß er die Wohnung zu verlassen gedenke. Mit würdevollem Kopfnicken nahm sie die Kündigung zur Kenntnis, stellte den Kaffee auf den Tisch und entfernte sich, ohne ein Wort zu sprechen. Denn auch sie war bereits durch Karg über den Vorfall unterrichtet und wußte als langjährige Studentenmutter, wie man sich einem Auskneifer gegenüber zu benehmen hatte.

Hellwig lächelte ein wenig, während er sich das feuchte Haar aus der Stirn kämmte und den Kragen anknöpfte. Dazwischen nahm er, wie es seine Gewohnheit war, stehend kleine Schlucke vom Frühstückskaffee, und da er wieder tief in seine Gedanken hineingeriet, behielt er schließlich den Topf in der Hand und schritt damit, von einer unklaren und ungeduldigen Erwartung getrieben, rastlos um den Tisch herum.

Auch als er ins Freie trat, wo die alten Häuser wehmütig zu der stillen Pracht des Frühlingsmorgens hinaufschauten, wurde es nicht ruhiger in ihm, wollte das Gefühl nicht weichen, daß ihm etwas Fröhliches ganz nahe bevorstand. Pünktlich ging er in die Kanzlei und schrieb einen Mahnbrief nach dem andern. Dann erschien der Anwalt und beauftragte ihn, gegen einen nachlässigen Ratenzahler auf Grund des rechtskräftigen Urteils das Pfändungsgesuch bei Gericht einzureichen. Während Hellwig die Eingabe vorbereitete, kam der Schuldner und wollte die verfallene Rate erlegen. Er habe das Geld nicht früher zusammenbringen können. Der Advokat aber, dem es um seinen Verdienst zu tun war, erklärte, das helfe jetzt nichts mehr. Die Frist sei versäumt, die ganze gestundete Forderung nunmehr fällig und die Exekution bereits eingeleitet.

Die Mitteilung traf den Schuldner, der ein anständiger kleiner Geschäftsmann zu sein schien, ersichtlich hart, da er durch eine Pfändung sehr zu Schaden und um jeden Kredit kommen mußte. Inständig flehte er um Aufschub. Der wurde ihm endlich unter der Bedingung zugestanden, daß er mit der Rate zugleich fünf Kronen für die Kosten des Pfändungsgesuches bezahle. Das war nicht viel, aber der arme Teufel kramte in allen Taschen und brachte endlich in Nickelmünzen vier Kronen und dreißig Heller zur Strecke, die der Anwalt gleichmütig einstrich, mit der Ermahnung, nunmehr pünktlich zu sein und auch die fehlenden siebzig Heller nicht zu vergessen. Einer großen Sorge ledig, versprach der Mann alles unter vielen Dankesworten. Da sagte Hellwig: „Das Gesuch ist noch nicht fertig, Herr Doktor!“

„Wie? Ja so, ganz recht — die Klage gegen die Seifenfabrik ...“ meinte der Advokat diplomatisch und winkte Schweigen.

„Nein,“ antwortete Hellwig unbeirrt, „das Pfändungsgesuch habe ich noch nicht fertig!“

Der Anwalt wurde verlegen.

„Also adieu! adieu!“ rief er lärmend. „Und vergessen Sie nicht auf die nächste Rate! Pünktlich sein, nur pünktlich!“

Damit schob er den Mann zur Tür hinaus. Dann drehte er sich zornrot zu seinem Schreiber: „Was fällt Ihnen ein, Herr Hellwig? Derartige Äußerungen sind ganz ungehörig!“

„Mir fällt gar nichts ein!“ erwiderte Fritz trotzig. „Ich meine nur, was man nicht geleistet hat, dafür läßt man sich auch nicht bezahlen.“

Mit großen, runden Augen blickte der Chef auf seinen sonst so stillen Gehilfen. Denn Hellwig hatte unter dem Druck der letzten Monate vollständig gleichgültig und ohne Nachdenken, wie eine Maschine, gearbeitet und stumm alles getan, was ihm aufgetragen worden war.

„Ich verbitte mir jede Kritik!“ rief der Chef. „Das wäre noch schöner! Was glauben Sie denn eigentlich?“

„Ich glaube, daß dieses Vorgehen und anständig zwei — Worte sind.“

Nun warf sich der Anwalt in die Brust: „Sie sind entlassen und können auf der Stelle gehn! Ich zahle Ihnen das Gehalt für die vollen vierzehn Tage, obwohl ich nicht dazu verpflichtet bin.“

„Ich danke!“ entgegnete Fritz, „es könnte sonst wieder ein armer Schlucker dafür büßen müssen!“, stand auf und ging.

Nun war er mit allem und gründlich fertig. Ein Jahr war vertrödelt, mit den Studien war er nicht viel weiter gekommen und für das Leben geleistet hatte er gar nichts. Die Bilanz quälte ihn jetzt doch, und trotzdem, oder gerade weil der Maienhimmel so wundervoll blau, die Luft so weich und kosend war, fiel ihn ein arger Jammer mit bösen Krallen an.

Bedrückt ging er durch die belebten Geschäftsstraßen, schritt teilnahmslos über die breite neue Moldaubrücke und auf weißen Kieswegen neben blühendem Gesträuch in einen stillen Park hinein, der einem Fürsten eignend und dem Publikum zugänglich, an einer sachten Hügellehne hinter den Häusern emporstieg. Alte Bäume waren da, weite Rasenpläne und in runden Beeten standen farbige Blumen im Glanz ihrer kürzlich erblühten Schönheit, von Sonnenschein und lauer Luft umflossen. Auf den braunen Gartenbänken saßen junge Mädchen in hellen Kleidern und lasen in dieser begnadeten Frühe zärtliche Liebesgeschichten oder Verse aus zierlichen Goldschnittbänden. Und wo eine Sitzgelegenheit tiefer in die lauschigen Hecken hineingerückt war, hatte sich auch wohl ein oder das andere Pärchen niedergelassen, kecke Studenten zumeist und schmiegsame Backfische mit Musikmappen oder Malgeräten, die ihre bezüglichen Unterrichtsstunden schwänzend, kreuzvergnügt beim gütigen Lehrer Lenz in die Schule gingen. Leichte, kühle Blütenblätter fielen von den Bäumen, und die grüne Wipfelwelt, die reglos zwischen Himmel und Erde schwamm, erfüllte ohne Pausen laut tönender Finkenschlag. So stellte dieser sanft ansteigende große Garten eine ideale Frühlingslandschaft dar, aber die heitere Lebensfreude, die blankäugig überall sich regte, war nicht danach angetan, der tristen Gemütsverfassung Hellwigs den Garaus zu machen. Sauertöpfisch und verdrossen bewegte er sich auf den gewundenen Fußsteigen zum Gipfel und setzte sich oben auf eine einsame Steinbank, die abseits von den Hauptwegen im Halbrund eines Jasmingebüschs aufgestellt war.

Beinah die ganze Stadt konnte von dort überblickt werden, wie sie da unten hingebreitet lag, in Leibesmitte von dem sonnenüberspiegelten Stromband wie mit wehrhaftem Stahl gegürtet, und vergoldete Kuppeln funkelten im Licht gleich den Zieraten auf dem Brustharnisch einer reisigen Brunhilde. Ernst und hart war dieses Stadtbild, von einer herben Schönheit, deren strenge Linien auch die Helligkeit des Frühlings nicht weicher und anmutiger machen konnte.

Aber Fritz sah nicht darauf hin, schaute darüber hinweg in eine leere Ferne und grübelte in sich hinein.

Der Auftritt mit dem Rechtsanwalt war ihm selbst überraschend gekommen. Doch war ihm das jetzt ganz recht und er wünschte es nicht ungeschehen.

Im Buschwerk, um ihn, über ihm, war es ungemein lebendig. Lichtbächlein rannen von den Zweigen, und unsichtbare Vögel lockten und suchten einander. Verwirrend dufteten, kaum den geplatzten Knospen entquollen, die weißen Blüten, und das gesamte lose Lenzgesindel war geschäftig, mit Schmeicheln und Streicheln und Fächeln und Lächeln die Sinne leise zu umgarnen und irgendeine namenlose Sehnsucht wach zu bringen.

Plötzlich mußte er an die kleine Eva Wart denken, und so oft er diese Erinnerung unwillig zurückstieß, so hartnäckig stellte sie sich immer wieder ein. Ohne daß er es wußte, wurden ihm die Lider feucht.

Und nun sah er auch ihr ganzes Heim vor sich, das tätige Haus, den biederen Kaufmann, den Freund — und neben der hochgesinnten Mutter stand das feine Jungfräulein und schaute ihn leidvoll aus ernsten Augen an. Wenn er jetzt diesen Menschen gegenüber treten sollte, konnte er es denn, ohne die Stirn zu senken? Die Schamröte stieg ihm in die Wangen. Und dann — dann legte er mit einem dumpfen Ächzen beide Hände vors Gesicht, und zwischen den gespreiteten Fingern quollen große, warme Tränen.

Minutenlang saß er so, zusammengekauert, die Ellbogen auf die Schenkel gestützt. Als er sich endlich erhob, mit einer Bewegung, als risse er eine Handfessel jäh entzwei, da blickten unter den gewölbten Stirnknochen die Augen hart und finster, und in dem hageren Antlitz war Zug um Zug ein Ausdruck von gesammelter Entschlossenheit.

7.

Als er heimkam, war Otto eben aufgestanden. Fritz teilte ihm nunmehr mit, daß er die Wohnung aufgekündigt habe. Da schüttelte ihm Pichler warm die Hand und sagte: „Das war gescheit von dir. Sonst hätt’ ich nämlich selbst ausziehen müssen. Denn bei aller Freundschaft wirst du zugeben müssen, daß wir nicht beisammenbleiben dürfen.“

„Warum denn?“ fragte Hellwig erstaunt. Und Otto erwiderte: „Das ist doch ganz klar — weil ich sonst gerade so unmöglich bin wie du. Man kann doch mit einem, der keine Satisfaktion gibt, nicht in derselben Stube wohnen, ohne daß ...“

„Ach so!“ sagte Hellwig und fügte hinzu: „Du bist wenigstens aufrichtig, das ist doch etwas.“

„Immer!“ versicherte Otto. Dann fuhr er fort, und sein gönnerhafter Ton bekundete, daß er sich neben dem Geächteten sehr brav und bieder vorkam. „Deswegen,“ — fuhr er fort — „deswegen aber keine Feindschaft! Wir bleiben die alten, das ist selbstverständlich. Wir treffen uns auch regelmäßig und zwar in einem sicheren Wirtshaus, das noch gesucht werden muß. Öffentlich, muß ich dich leider bitten, so zu tun, als ob wir jeden Verkehr abgebrochen hätten. Ich werde es gerade so halten, aber sonst — unter vier Augen — alles wie früher! Gilt’s?“

Er streckte ihm die Hand hin. Fritz sah über sie hinweg. „Du bist sehr großmütig!“ meinte er mit kaltem Spott. „Aber ich hab’ solche Heimlichtuerei nicht gern. Ein ehrliches Entweder — Oder ist mir schon lieber.“

„Wie du willst — ich bleibe trotzdem dein Freund.“

„Ein Freund, der nicht den Mut hat — — ach, weißt du, reden wir nicht weiter davon, es ist so müßig.“

Er setzte sich zum Schreibtisch, nahm irgendein Buch vor. Aus alter Gewohnheit suchte er dabei nach seiner Pfeife, die stets handgerecht am Tischbein lehnte. Sie war nicht mehr dort, war überhaupt aus dem Zimmer verschwunden. Die Wondra hatte sie wieder an sich genommen, weil so ein ehrwürdiges Erbstück von den Lippen eines Verfemten nicht entweiht werden durfte.

Wieder lächelte er. Ein leises, bitteres Lächeln. So kleinlich war das alles, so überflüssig und bedeutungslos.

Noch öfter hatte er im Verlauf dieser Tage Gelegenheit zu einem solchen Lächeln. Wie ein Aussätziger wurde er gemieden. Sogar der sanfte Fundulus drückte sich scheu an ihm vorbei, mit gesenkten Lidern und allen Zeichen mitleidender Verlegenheit. Niemand erschien am Abend, um ihm eine Blume zuzutrinken oder ihn zum Spiel aufzufordern. Auch kein Bier holte ihm die Wondra.

Er hatte die Absicht gehabt, die Wohnung zu verlassen, sobald er ein anderes Zimmer gefunden. Jetzt aber entschloß er sich, die ganzen vierzehn Tage auszuharren. Niemand sollte ihm nachsagen, daß er vor Verachtung geflohen sei. Und gerade zum Trotz, nur um sich zu zeigen, ging er jetzt in alle Studentenwirtshäuser, saß allein an einem Tisch, und während ein geringschätziges Lächeln um seinen Mundwinkeln lag, dachte er an die Zukunft und wie er sich einrichten würde.

Steif aufgereckt schritt er dann durch die Haufen seiner früheren Bekannten, schaute ihnen mit freien, hellen Augen ins Gesicht. Mancher wurde dadurch verwirrt, griff zum Gruß nach seiner Kappe. Aber er erhielt den Gruß nicht zurück.

So vergingen acht Tage, ohne daß Hellwig mit einem Menschen sprach. Pichler hatte gleich nach jener Unterredung Tisch und Bett des armen König mit Beschlag belegt und vermied ängstlich ein Zusammentreffen. Doch hatte er ein Briefchen hinterlassen, worin er sein Benehmen mit den alten Gründen nochmals entschuldigte. Fritz riß es in Fetzen.

Wenn er aber gedacht hatte, daß er durch seine völlige Absonderung Zeit und Lust zum Arbeiten zurückerzwingen werde, so war das ein Irrtum gewesen. Das Lesen der gelehrten Werke mit dem trostlos gleichförmigen lateinischen Druck machte ihm keine Freude, zum Studieren fand er nicht die Sammlung, den Vorträgen der Professoren hörte er nur mit halbem Ohr zu, und es war keiner unter ihnen, der ihn zu fesseln vermocht hätte. Zu beschaulich ging es ihm auf einmal in den Stätten der hohen Wissenschaft her. Alle seine Kräfte waren in brodelndem Aufruhr. Unrast war in ihm und drängende Sehnsucht, mitten im Leben, wo es am gewaltigsten brauste, mitzutun, im offenen Widerstreit Aug’ in Aug’ und Stirn gegen Stirn einem starken Gegner zu trotzen und im Kampfe für die Erhöhung der heute Erniedrigten die Waffen nur siegend oder sterbend aus der Hand zu legen.

Alle Länder widerhallten vom Lärm dieses Kampfes und in den Industriestädten waren die wohlgerüsteten Heerlager. Auch Prag war mit beteiligt, aber der Streiter waren daselbst nur wenige. Die Unzufriedenheit der Massen entlud sich hier im unfruchtbaren, aber bequemeren Nationalitätenhader. Und wo das anders war, da waren Tschechen die Rufer im sozialen Kampf, und Hellwig verstand ihre Sprache nicht. Wohl traten in ihren Zusammenkünften bisweilen auch deutsche Redner auf, aber das geschah nur selten und brachte in die Beratungen stets etwas Fremdes und Feierliches. So fehlte die Brücke des lebendigen Wortes, und er vermochte keine Fühlung mit ihnen zu gewinnen, trotzdem er jetzt häufig ihre Versammlungen besuchte.

Niedergedrückt kam er eines Abends von einer solchen heim. Seine Koffer waren schon gepackt, in zwei Tagen wollte er in die neue Wohnung übersiedeln. Da fand er auf seinem Tisch ein Geldaviso aus Wien und eine Verständigung des Inhalts, daß die Schriftleitung der Freien Blätter seine Abhandlung mit Vergnügen angenommen habe und um weitere Beiträge ersuche.

Aber auch von Kolben war ein Brief eingelaufen. Der Doktor schrieb: „Lieber Fritz! Du scheinst Luft unter die Flügel bekommen zu haben. Es war aber auch höchste Zeit. Jetzt sieh nur zu, daß du nicht wieder den Kurs verlierst, überleg’ nicht lang und komm her nach Wien. Es gibt hier massenhaft für dich zu tun!“

Da ließ Fritz sein Gepäck statt in die neue Wohnung auf den Bahnhof schaffen und fuhr in die Reichshauptstadt.


Drittes Buch

1.

Doktor Kolben saß in seinem Arbeitszimmer. Das war ein mäßig großer Raum mit roten Tapeten und dunklen Nußholzmöbeln. Der Schreibtisch stand schwer und massig vor einem großen Fenster, und durch die Fensterscheiben sah man in einen gepflegten Garten mit Hecken, Büschen, grünen Wipfeln und blühenden Rosen. Darinnen ruhte das kleine helle Haus, das dem Doktor gehörte, wie ein weißer Vogel in einem grünen Nest. Still war es hier draußen am Rande der Großstadt, ihr Lärm verbrauste, ehe er bis zu dem anmutigen Tal gelangte, das waldbestandene Hügel umsäumten und schützten. Eine Eisenbahn vermittelte in regem Verkehr die Verbindung mit der Stadt, in kaum zwanzig Minuten war man drinnen, und so hatte man hier alle guten Dinge des Landlebens samt allen Bequemlichkeiten der Großstadt beisammen und konnte sich’s wohl sein lassen.

Der Doktor schrieb fleißig und bedeckte Bogen um Bogen eines starken gelblichen Papiers mit regelmäßigen Buchstaben in gedrängten Zeilen. Da klopfte es, die Tür ging auf und Fritz stand so, wie er eben vom Bahnhof gekommen, in ihrem Rahmen.

„Schnell kommst du!“ sagte Kolben. „Und das ist sehr vernünftig. Sieh dir unterdessen die Bilder an, ich bin gleich fertig.“

Er deutete auf ein kleines, mit Mappen und Zeitschriften überladenes Tischchen in der Ecke. Dann ließ er die Feder wieder über die gelblichen Bogen wandern, und erst nach einer Viertelstunde legte er sie weg.

„So! Jetzt laß dich einmal anschaun!“

Er stand auf und Hellwig, der unterdessen die Zeitschriften durchstöbert hatte, ebenfalls. Der Doktor legte ihm beide Hände auf die Schultern und blickte ihm in die Augen. Fritz hielt eine kleine Weile diesem forschenden Blick stand, dann senkte er halb trotzig, halb verlegen die Lider.

„Laß gut sein!“ sprach Kolben. „Es hat nichts auf sich. Besser ein Jahr, als sich selbst verloren. So was macht jeder durch, wenn er nicht gerade ein bleichsüchtiger Musterknabe ist oder eine große Null. Also hör’ zu: Der Kampf ums allgemeine Wahlrecht soll langsam vorbereitet werden. Ein paar große Streike werden sich nicht mehr lang hinausschieben lassen. Die Schriftleitung der Freien Blätter hat junge unverbrauchte Kräfte dringend nötig. Ich schätze, es könnte dir nicht schaden, wenn du da ein bissel mittust. Willst du?“

„Geht denn das so einfach?“ fragte Hellwig und horchte hoch auf.

„Wird sich machen lassen. Ich hab’ das Kunstreferat, bin auch sonst mit den Leuten bekannt. — Es ist keine Protektion!“ beschwichtigte er, als Fritz eine heftig abweisende Bewegung machte. „Glaubst du, ich würde dich empfehlen, wenn ich dich nicht bis in die Nieren kennte? Noch einmal: Willst du?“

„Ich hab’ keine Ahnung von der ganzen Sache, weiß nicht, ob ich überhaupt dazu tauge ...“

„Du taugst schon. Und die Handwerksgriffe lernen sich leicht. Ein paar Wochen Einschulung, und das Werkel geht von selber. Zum dritten und letztenmal: Willst du? Ja oder nein?“

Noch einige Minuten zögerte Fritz mit der Antwort. Kolben ließ ihm Zeit zum Überlegen, trat ans Fenster und sah einem Rotschwänzchen zu, das im Lindenwipfel flink sich regte.

„Nun?“ fragte er endlich.

„Ja!“ antwortete Fritz.

Nach einigen Tagen saß er in der Redaktion der Freien Blätter, hatte Monatsgehalt und Zeilenhonorar vertragsmäßig zugesichert und kam rasch ins Fahrwasser.

Um ihn tönte der Lärm, schrien die Parteien des Tages, forderten von der Gegenwart ungestüm ihre vermeintlichen Rechte. Und er stand mitten drin, mitten in dem heißen, tosenden Leben, das jeden Tag seine Gestalt änderte, Verbrauchtes abstieß und neue Schlagworte ausgab. Was heute oben war, hatte morgen seine Macht verloren, lang Niedergehaltenes stieg plötzlich empor, ein immerwährender Wechsel war da, ohne Stetigkeit und Ruhe, scheinbar ein Wirrwarr und doch eins durch das andere bedingt.

Von besonderem Reiz für ihn war es da, den Zusammenhängen nachzuspüren, die das wertlos gewordene Gestern mit dem schillernden Heute verknüpften, die vielen durcheinander wirbelnden Strömungen und Gegenströmungen bis zu ihrer gemeinsamen Quelle zu verfolgen und aus dem beständigen Auf und Ab der fließenden Erscheinungen das Bleibende herauszufinden.

Und er erschrak über die drückende Machtfülle, die gewaltig aufgespeicherte Vermögen den verdienstlosen Besitzern über ganze große Menschengruppen verliehen, sah diese vergeblich dagegen ankämpfen, matt und mutlos werden, und fühlte mehr, als er klar erkannte, daß eine Ordnung, in welcher derartiges möglich war, irgendwie krank sein müsse, ohne daß er hätte finden können, wo eigentlich die Krankheit saß und wie sie zu heilen wäre. Denn alle die Wohlfahrtseinrichtungen, die Krankenkassen, Unfallversicherungen, Altersversorgungen, schienen ihm bestenfalls Verlegenheitsmittel, durch die nur die Folgeerscheinung der Krankheit erträglicher gemacht, nicht aber die Krankheit selbst behoben werden konnte, so etwa, wie man einem schwer Verwundeten Morphium einspritzt, um die unerträglichen Schmerzen für Augenblicke zu übertäuben.

Da war nun seiner grüblerischen Natur wieder ein reicher Stoff geboten. Aber er blieb in beständiger Fühlung mit dem Leben und arbeitete freudig drauflos, so daß es gewöhnlich sehr spät wurde, ehe er zum Nachtmahl und in seine Wohnung kam. Aber auch dann gönnte er sich noch nicht Ruhe, las vielmehr, schrieb und studierte, als wollte er in Wochen nachholen, was er während der leeren Monate in Prag versäumt hatte.

So verging der Sommer im Flug, es wurde Herbst und eines Tages traf Heinz Wart in Wien ein. Er hatte die Reifeprüfung abgelegt, und zielsicherer als Hellwig schwankte er keinen Augenblick, sondern kam mit der festen Absicht, sich ganz dem Zeitungswesen zu überantworten und dort mitzuarbeiten, wo er am ehesten die Verwirklichung seiner Jugendideale erhoffte.

Er war noch blasser und stiller geworden, die Augen brannten ihm groß und wie im Fieber unter der weißen Stirn. Von den dunklen Haaren bis in die Fingerspitzen schien die ganze überschlanke Gestalt mit verhaltener Leidenschaft durchtränkt, von Temperament förmlich gesättigt zu sein. Er war einer von jenen, die mit dem Herzen entscheiden, sich an der eigenen Glut verzehren und unbesinnlich zur Selbstopferung bereit sind, wenn sie glauben, der Idee, für die sie brennen, dadurch dienen zu können.

Hellwig aber freute sich sehr, den besten Freund seiner Jugend wieder zu haben. Sie bezogen zwei einfenstrige Stuben im selben Haus, und da sie auch im gleichen Redaktionszimmer saßen, waren sie fast ununterbrochen beisammen. Nur abends, wenn Fritz zu Hause arbeitete oder an Versammlungen teilnahm, tat Heinz nicht mit. Das war nichts für ihn, das Studieren oder Debattieren bis in die späten Nachtstunden. Er wollte das Elend nicht bloß vom Hörensagen, sondern aus eigener Anschauung kennenlernen. Und er ging in die Massenquartiere und Schnapsbuden, kroch in alle Schlupfwinkel der Obdachlosen. Bisweilen blieb er dann tagelang verschwunden. Und wenn er wieder in der Wohnung auftauchte, hatte er statt der getragenen guten Kleider ein paar Fetzen an, geflickt und schmutzstarrend, und Fritz mußte ihm bis zum Ersten des nächsten Monats mit Geld aushelfen.

Wo er sich herumtrieb, verriet er nicht. Aber er war dann noch stiller und bleicher als sonst, und seine Augen schienen gleichsam nach innen zu schauen, und in ihrem dunklen Grunde lag unbeweglich etwas seltsam Starres, vereister Schreck oder versteintes Grauen, wie bei Leuten, die hart am Tod vorübergegangen oder an einer furchtbaren Gefahr.

Allen Fragen wich er aus. „Laß mich nur, Fritz, ich komm’ schon allein drüber weg. Dann wirst du’s erfahren.“

Da drang Hellwig nicht weiter in ihn.

2.

Pichler hatte sein Verhältnis mit der Helenka gelöst. Nach einem heftigen Streit waren sie auseinander gegangen, und keins fragte mehr dem andern nach. Jetzt diente er sein Freiwilligenjahr ab, beim Fuhrwesen, wegen der schönen Uniform. Und die Uniform stand ihm ausgezeichnet. Das wußte er, und konnte es kaum erwarten, bis er einen dreitägigen Feiertagsurlaub bewilligt erhielt, den er in der Heimat zubrachte, um sich dort den Leuten in all seinem Glanz zu zeigen. Die Geschwister bestaunten den stolzen Krieger wie ein farbenprächtiges Fabelwesen, und auch der lustige Küster unterließ das Witzeln und hatte helle Freude an dem stattlichen Sohn. Den aber trieb es nach Neuberg. Er wollte die Eva Wart sehen und Eindruck machen.

Das alte Haus war, wenn möglich, noch schwärzer und verwitterter geworden, aber die muntere Arbeit erfüllte es jetzt wie einst, und wie vor Jahrhunderten schon leuchteten die bunten Glasmalereien noch immer frisch und kräftig im Sonnenschein. Der Rehbock Hansl tummelte sich im Garten, und unter den Bäumen am Grasplatz stand seine Herrin, zierlich und fein, ein gefaltetes Tuch um den Leib, und befestigte Leinenwäsche mit hölzernen Klammern an den kreuz und quer zwischen die Bäume gespannten Schnüren. Sie trug eine blaue Hausjacke mit weiten Ärmeln, und so oft sie ein Wäschestück hob, fielen sie bis zu den Ellenbogen über die runden Arme zurück. Das freute die fröhlichen Sonnenlichter und liebkosend streichelten sie die glatte Haut, durch deren Weiß in einem ganz zarten und duftigen Schein, nur kaum wie die Farbe junger Apfelblüten, das Blut schimmerte. Eine warme Anmut war in den Bewegungen der fleißigen Arbeiterin, und wenn sie sich auf die Zehen stellte, mit zurückgebeugtem Oberkörper eine höher hinlaufende Leine zu sich niederzog, formten die kleinen Brüstlein zwei feine schattenhafte Hügel in den leichten Stoff des losen Kleides.

Im knapp sitzenden Waffenrock mit funkelnden Knöpfen, glänzend gewichste Röhrenstiefel an den Füßen, kam Otto über den Hof, und die Scheide des schweren Säbels stieß mit lautem Klingen gegen das Pflaster. Verwundert schaute das Fräulein nach der geräuschvollen Erscheinung und vergaß vor Überraschung die blühweiß gewaschenen Unterhosen Wart Nikls aufzuhängen, die es gerade aus dem Korb genommen. Unschlüssig hielt es diese in der Hand und wartete der Dinge, die da kommen würden.

Der fremde Krieger aber ging schnurstracks auf den Garten zu, blieb, die Hacken zusammenschlagend, vor dem Gitter stehen stehen und salutierte stramm:

„Servus, Fräulein Eva!“

Nun erkannte sie ihn an der Stimme. „Jemine, der Herr Pichler!“ rief sie und lief, das Gartentürl zu öffnen. Sie tat es mit einem kleinen Knicks und sagte unüberlegt dazu: „Tretet ein, hoher Krieger!“

„Der sein Herz Euch ergab!“ ergänzte Otto schnell und verneigte sich tief, wobei er die weißbehandschuhte Rechte gegen seine Brust drückte.

Das Fräulein errötete. „Bei Ihnen muß man mit dem Zitieren vorsichtig sein!“ lachte es. „Sie sind gut beschlagen!“ Dann wollte es ihm die Hand zum Willkomm reichen und bemerkte, daß es noch immer des Vaters Unterhose hielt. Unmutig weggeschleudert flog diese im Bogen neben den Korb. Pichler gewahrte den Zorn.

„Lassen Sie sich nicht stören!“ sagte er und zog die Handschuhe aus. „Wenn es Ihnen recht ist, werde ich helfen.“

„Ja?“ antwortete sie vergnügt. „Kommen Sie, das ist lustig!“

Dann hängten sie mitsammen die Wäsche auf. Im Rasen blühten die Gänseblümchen und der gelbe Löwenzahn, die jungen Blätter der Obstbäume glänzten frisch, und mit geschmeidigen Gliedern sprang das Reh über die grünen Wiesenflächen. Eva regte sich flink, Otto reichte ihr die feuchten Leinenstücke und stellte sich ungeschickt, um einen Vorwand zu haben, seine Finger mit ihrer warmen Hand oder dem kühlen festen Fleisch der Arme in Berührung zu bringen. Sie achtete nicht darauf. Ganz Eifer war sie, und die blonden Stirnhaare bewegten sich in krauser Unordnung wie ein leichtes goldenes Gitterwerk vor der klaren Stirn. Dabei plauderten sie von allem möglichen, und nur von einem sprachen sie nicht, obwohl Eva mit still klopfendem Herzen darauf wartete: von Fritz Hellwig.

Aber auch Pichler dachte an ihn und wiegte sich in der frohen Zuversicht, daß es ihm gelingen werde, den Gegner auszustechen. Denn er wußte, daß Hellwig sein Mitbewerber war. So ängstlich dieser auch das Geheimnis behütete, den Spüraugen Ottos war es nicht verborgen geblieben.

Alle Register seiner bestrickenden Liebenswürdigkeit zog er, und das Bewußtsein, daß er fesch und vorteilhaft aussah, verlieh ihm große Sicherheit. Er übertraf sich selbst an Witz, Geist und drolligen Einfällen, so daß Eva fortwährend lachen mußte und in ihrer Vertrauensseligkeit, die ohne Arg war, dem lustigen Gesellschafter mit warmen Blicken entgegenkam. Und sie merkte auch die Absichtlichkeit nicht, als er ihr mit zögernden Händen die Haare aus der Stirn ordnete, mit ihrem Armband sich zu schaffen machte oder wie zufällig über ihr Kleid hinstrich. Wie mit einem guten Kameraden unterhielt sie sich und begegnete seinen Vertraulichkeiten auch wohl mit anderen, indem sie ihn auf die Finger schlug oder belustigt ihren schmalen Fuß zum Vergleich auf seinen großen Stiefel stellte.

Otto aber deutete alles zu seinen Gunsten. Er brannte lichterloh und glaubte, daß die Kleine nicht weniger in ihn verliebt sei als er in sie. Seine übermütige Siegessicherheit ließ ihn immer mehr wagen. Als er aber mit einer halben Wendung seinen Arm einen Augenblick um ihre Hüfte legte, klatschte sie ihm ein nasses Tuch ins Gesicht. „Das fordert Strafe!“ rief er und wollte sie jetzt erst recht an sich ziehen. Das Mädchen aber stand plötzlich mit einer so erstaunten und kalt abweisenden Miene vor ihm, daß er betreten seine Absicht aufgab. Er sah ein, daß er fürs erste Mal zu weit gegangen. Um den ungünstigen Eindruck zu verwischen, war er jetzt doppelt aufmerksam und bescheiden. Eva hantierte indes gleich wieder fröhlich weiter und tat, als sei nichts vorgefallen. Erst dieser vornehme und sichere Anstand brachte ihn aus dem Text. Er wurde verlegen, verlor den Faden und einen Augenblick stockte das lebhaft geführte Gespräch.

Der Rehbock kam, rieb den Kopf an seiner Herrin und schaute sie mit klugen Augen an. Da benützte sie endlich die Gelegenheit und sagte: „Wie doch die Zeit vergeht! Jetzt hab’ ich ihn schon das dritte Jahr! Was mag denn eigentlich der edle Spender machen?“ Ganz leichthin sagte sie das, aber ihr Herz schlug laut dabei.

„Wer?“ fragte Otto und wollte nicht verstehen.

„Sie wissen wohl gar nicht, von wem er ist?“ erwiderte sie. Es war ihr nicht möglich, den Namen über die Lippen zu bringen.

„Ja so!“ antwortete Pichler gedehnt und gleichgültig. „Sie reden von Fritz Hellwig? Da kann ich nicht dienen. Seit der wegen jener gewissen Geschichte von Prag hat fortmüssen, hab’ ich nichts mehr von ihm gehört.“

„Was für gewisse Geschichte?“ fragte sie und schaute ihn bang an. Da hoffte er sein Eisen zu schmieden, begann zu erzählen und stellte die Sache so dar, als ob Fritz aus Mangel an Mut den Zweikampf abgelehnt hätte.

„Man darf das nicht!“ schloß er. „Erst beleidigen und dann auskneifen. Es ist mir schwergefallen, aber ich hab’ schließlich nicht anders handeln können.“

„Wieso?“ Eine kleine Falte stand ihr zwischen den Brauen.

„Mit einem Auskneifer verkehrt man nicht. Der ist gesellschaftlich tot. Ich hab’ dennoch versucht, mir den Freund zu erhalten, hab’ heimlich mit ihm zusammentreffen wollen, trotz der Gefahr, daß es herauskommt und mich ebenfalls unmöglich macht.“

Er mußte innehalten. Eva hatte mit dem Fuß aufgestampft und ungestüm dazwischengerufen: „Fritz ist kein Auskneifer!“

Mit einem nachsichtigen Lächeln blickte er sie groß an.

„Sprechen wir nicht mehr davon. Mir geht die Geschichte nah, und helfen tut das Reden doch nichts mehr!“

„Ihnen nicht, das seh’ ich jetzt schon selber!“ sprach sie ihm mit funkelnden Augen entgegen. Gekränkt versetzte er: „Warum sind Sie so bös? Sie tun ja gerade, als ob ich an allem schuld bin!“

„Beileibe!“ entgegnete sie und in ihrer Stimme war Spott und Zorn. „Fein haben Sie sich benommen! Ein unschuldiger Engel sind Sie!“ Dann aber ging ihr doch das mühsam gezügelte Temperament durch. „Wollen Sie wissen,“ fuhr sie heftig fort, „wollen Sie wissen, wer der Feigling ist? Nehmen Sie einen Spiegel und schaun Sie sich an! Dann sehen Sie ihn!“

„Fräulein Eva!“

Das klang gereizt und grollend. Sie hörte nicht darauf. Rücksichtslos warf sie ihm ihre Empörung ins Gesicht.

„Vielleicht nicht? Sie haben nicht den Mut gehabt, offen zu Ihrem Freund zu halten. Wie alle sich losgesagt haben, haben auch Sie ihn aufgegeben! Das ist feig! Das ist schlecht! Pfui!“

Sie drehte sich auf dem Absatz herum, schritt tiefer in den Garten hinein mit heißen Wangen und wild schlagendem Herzen. Aber ihre blitzenden Augen waren jetzt voll Tränen.

Pichler war sehr blaß geworden und zerknüllte seine Handschuhe. Das Reh, das ihm gerade in die Quere kam, erhielt einen unsanften Stoß. Doch kein Wort erwiderte er. Eine Weile stand er noch unschlüssig, dann kehrte er sich langsam ab und schritt durch das Gartentürl in den Hof zurück. Aber sein Säbel klang jetzt nicht mehr hell auf den Steinen. Er hielt ihn am Korb fest und bestrebte sich eines möglichst geräuschlosen Abgangs.

Eva schrieb an diesem Tage noch einen langen Brief an Heinz. Aber obwohl sie dabei fortwährend an Fritz dachte und obwohl jedes Wort eigentlich für ihn bestimmt war, kam auf den vier eng beschriebenen Seiten schließlich nicht einmal sein Name vor. Und nur ganz zum Schluß, als Nachschrift, schrieb sie: „Deinen Stubennachbar lasse ich grüßen.“ Sie schrieb es hastig und überstürzt und wagte dabei nicht auf das Papier zu schauen, so daß diese Zeile schief und mit unordentlichen Buchstaben dastand und von der sauberen Nettigkeit der übrigen erheblich abstach.

3.

Fritz blieb es erspart, dem Kaiser zu dienen. Eine Unregelmäßigkeit in der Krümmung der Hornhaut beeinträchtigte das Sehvermögen seines rechten Auges und machte ihn zum Waffendienst untauglich. Er war froh darüber, und als er auch die letzte Musterung glücklich hinter sich hatte, verleitete er seinen Freund Heinz zu einem kleinen Gütlichtun in einem Weinkeller. Von dort gingen sie noch in ein Nachtkaffeehaus. Ein Streichorchester spielte hier, und der große, schäbig elegante Raum war gesteckt voll. Studenten, ledige junge Beamte und alte Witwer waren in der Überzahl, saßen angeheitert, lustig oder schläfrig bei den runden Marmortischchen und musterten die geschminkten und geputzten Weiber, die von der Straße kamen und Liebe feilboten. Allenthalben saßen oder standen sie bei den Herren, von den großen Hüten nickten die gefärbten Federn, und falsche Edelsteine funkelten an billigen Spitzenblusen.

Eine aber saß allein und abseits in einer Ecke, hatte ein schlecht sitzendes dunkles Kleid an, und ihr Gesicht war ohne Schminke. Mit ängstlichen Augen schaute sie in das lärmvolle Durcheinander, und wenn ein Mann sie ansprach, begann sie zu zittern, errötete und gab keine Antwort. Eine Anfängerin. Der Zahlkellner beobachtete sie mißtrauisch. Er sorgte sich um sein Geld für die Zeche. Aber auch Heinz Wart ließ sie kaum aus den Augen.

Die Musik spielte den neuesten Gassenhauer, die Gäste sangen mit, stampften, klatschten und pfiffen.

Leichthin sagte Heinz: „Ich werde mich an ihren Tisch setzen. Gehst du mit?“

„Was dir nicht einfällt!“ erwiderte Fritz und schaute den Epikuräer entrüstet an. Der bemühte sich, ein unbefangenes Gesicht zu machen, wurde aber doch rot, als er jetzt meinte: „Dann wäre ich dir dankbar, wenn du mich allein ließest.“

„Wie du willst. Zugetraut hätte ich’s dir nicht!“

„Man täuscht sich eben. Gute Nacht.“

Hellwig hatte schon den Hut auf und stürmte davon. Er war nicht prüde und kein Sittenrichter. Aber die käufliche Liebe ekelte ihn an.

Die junge Frau zuckte erschreckt auf, als sich Heinz mit einem ungelenken: „Erlauben Sie?“ zu ihr setzte. Aber bald verlor sie alle Scheu. Weder Unverschämtheit noch freches Begehren war in seinem Blick, nur ernste Teilnahme, die Vertrauen heischte und Vertrauen wachrief.

Sie hieß Marie und war aus dem Waldviertel. Nach einem verstorbenen Onkel hatte sie gemeinsam mit ihrer Schwester einen Milchhandel in der Stadt übernommen. Aber da sie beide nichts vom Geschäft verstanden, wollte es nicht gehen und wurde ihnen schließlich versteigert. Die ältere Schwester hatte mit einem Lohnkutscher ein Verhältnis, das ihr allwöchentlich Prügel und alljährlich ein Kind einbrachte. Die Marie aber ging einem Heiratsschwindler ins Netz, der sie um die letzten Kreuzer betrog und dann sitzen ließ. Weil sie zart und schwächlich aussah, glückte es ihr nicht gleich, als Dienstmagd unterzukommen, die Quartiersfrau wollte ihr ohne Zahlung nicht länger Unterstand geben, bei der Schwester war Not und Elend und kein Platz für noch einen müßigen Kostgänger. Deswegen saß die Marie jetzt hier und wollte das Letzte, das ihr noch geblieben, feilgeben, um wieder einmal ordentlich essen und die Miete zahlen zu können.

Das alles erzählte sie dem Wart, und die Aussprache tat ihr wohl. Er unterbrach sie mit keinem Wort, hörte still zu und lebte ihr einfaches Schicksal mit, das ihn ans Herz griff, trotzdem er vorausgewußt hatte, daß ihr Bericht so oder ähnlich lauten würde.

Dann redeten sie noch über viele Dinge. Die Marie fühlte sich geborgen, wurde lebhafter und wenn sie lächelte, glitt über ihr mageres Gesicht ein wehmütig freundliches Licht. Wie wenn im Vorfrühling der Sonnenschein über ein erstes blasses Schneeglöckchen hinhuscht, sah es aus, und in ihren goldbraunen Augen war ein sanfter Glanz von einer Munterkeit, die ungewiß, ob sie sich vorwagen sollte, ihre leuchtenden Flüglein hob und senkte.

Es war sehr spät geworden. Heinz schlug vor, zu gehen. In ihr Schicksal ergeben, folgte sie ihm. Aber auf der Straße nahm sie doch seinen Arm und schmiegte ihre Wange daran, zum Dank, daß er sie rücksichtsvoll und wie ein anständiges Mädchen behandelte. Vor einem Logierhaus machte er halt. Bevor er klingelte, bot er ihr mit behutsamen Worten ein Darlehen an. Sie gab keine Antwort, wurde verwirrt und schluchzte kurz auf. Aber das Geldstück nahm sie doch, mit kaum verhehlter Gier, aus seinen Händen und barg es bebend in ihrem Täschchen. Dann wartete sie mit fliegendem Atem, daß er anläuten und das Zimmer bestellen würde. Doch er hielt ihr nur die Hand hin.

„Gute Nacht!“ sagte er einfach.

Freudig erschrocken schaute sie ihn an.

„Sie gehn nicht mit?“ rief sie in der Ratlosigkeit ihrer Überraschung. Und das war wie ein Aufjubeln, und die hellen Tränen stürzten ihr über die Wangen.

„Schlafen Sie sich aus. Wenn es Ihnen recht ist, hol’ ich Sie morgen früh ab. Dann sehen wir weiter.“

Sie war ganz fassungslos und wußte nicht, wie sie ihm dankbar sein könnte. In überströmendem Empfinden neigte sie sich über seine Hand. Unwillig machte er sich frei, zog die Nachtglocke und wollte rasch davon. Sie ließ es nicht zu.

„Sie ... du ...“ stammelte sie, legte ihre Arme um seinen Hals und küßte ihn.

Die Sommernacht war lau und ausgesternt, rein und rund hing der Mond im dunklen Blau, lautlos war es und niemand in der Gasse zu sehen. Und nichts war zu hören als der Herzschlag der vielen schlafenden Menschen, der durch die Mauern der großen Zinshäuser drang und leis und warm durch die Stille pochte.

„Bleib’ bei mir, du!“ flüsterte die Marie. „Geh’ nicht fort, laß mich nicht wieder allein. Ich bin so froh, daß ich dich gefunden hab’!“

Der Schlüssel rasselte im Schloß. Schläfrig öffnete der Pförtner das Tor. Nur einen flüchtigen Blick warf er auf das Pärchen, dann sagte er mit einem verständnisinnigen Blinzeln zu Heinz: „Ein Zimmer mit zwei Betten ist nicht mehr frei. Wenn die Herrschaften fürlieb nehmen wollen mit Nummer einundvierzig?“

Heinz stand wie betäubt.

„Geh’ nicht fort!“ bat die Marie.

Da nahm er wortlos den Zimmerschlüssel aus der Hand des Türstehers. Und noch ehe er im zweiten Stockwerk angelangt war, hatte er schon den schlanken, bebenden Frauenleib ganz dicht an sich gezogen.

Körper an Körper und Wange an Wange stiegen sie die Treppe hinan, mit fieberndem Blut und hämmernden Herzen, und wie eine glühende Wolke umhüllte sie die ungestüme Sehnsucht ihrer jungen lebenshungrigen Sinne.

So kam die große Leidenschaft der Liebe über Heinz Wart. Er bezog mit Marie eine aus Küche und Zimmer bestehende Wohnung im fünften Stock eines Miethauses. Dort war es hell und freundlich, und die schlichten Möbel glänzten im Morgensonnenschein mit den Zähnen, den Augen der Marie um die Wette. Heiter ging sie an ihr Tagewerk und beschloß es heiter, ganz geborgen fühlte sie sich, wußte sich geliebt und liebte wieder mit aller Zärtlichkeit ihres unverbrauchten kindlichen Herzens. Ein sachtes Rot kam in ihre schmalen Wangen, leicht und federnd schritt sie einher. Aber ihre Arme blieben mager, und der trockene Husten wollte nicht weichen.

Beglückt und froh ließ sich Heinz von ihrer warmen Liebe wiegen. Seine Starrheit löste sich, er wurde weicher, menschlicher sozusagen. Im schnurgeraden Wandern nach dem Ziel hatte er eine heimliche Stätte gefunden, wo er traumverloren ruhen und endlich auch einmal der Melodie seines eigenen Lebens lauschen konnte.

Fritz bat den Freund — wortlos, nur mit einem festeren Händedruck — um Verzeihung wegen der schlechten Meinung, die er von ihm gehabt, und mit der Marie schloß er bald gute Kameradschaft. Viele schöne Abende verlebte er in ihrem Heim, aber auch jeden freien Tag verbrachte er mit ihnen.

Dann fuhren sie alle drei in den Wiener Wald oder in die Voralpen hinaus, nach denen die Marie solche Sehnsucht hatte, daß sie sich immer wie zu einem Fest schmückte, wenn sie die laubwaldumwachsenen Höhen wiedersehen sollte, die weich hinfließenden Kämme und die weiten Täler. Denn sie liebte die freie Gotteswelt, den blauen Himmel, unter dem sie groß geworden, die blumigen Fluren, die ihr das Wiegenlied geflüstert, die saalweiten Buchenwälder, durch die mit goldenen Mänteln die Rehe sprangen wie verwunschene Märchenprinzen.

Abseits von dem großen Heer der Ausflügler streiften sie, meist weglos, den ganzen Tag umher, an kühlen Bergquellen hielten sie Rast, von duftschweren Maiglöckchen umblüht oder umloht von der berauschenden Glut blutroter Alpenrosen. Und je einsamer es war, desto glücklicher waren sie, großen Kindern gleich, die hinter die Schule gelaufen.

4.

Diese Ausflüge waren für Hellwig immer wie ein Jungbrunnen, aus dem er sich Erquickung und neue Frische holte für sein aufreibendes Tagwerk. Dieses war, je mehr er sich eingearbeitet hatte, je mühevoller geworden. Die Partei hatte bald die Tüchtigkeit, die Werbekraft und den Einfluß erkannt, den der junge Schriftleiter mit seiner warmen Begeisterung und stillen Leidenschaftlichkeit auf breite Massen üben konnte. Die Scheu vor dem öffentlichen Hervortreten hatte er rasch überwunden, zauderte jetzt niemals mehr, in den Versammlungen als Redner aufzustehen, und wenn er etwas zu sagen hatte, sagte er es frei heraus und wunderte sich selbst manchmal, wie leicht und mühelos ihm die Worte von den Lippen kamen. Mit frohen Kräften tat er sich überall um, und je mehr man auf seine Schultern lud, desto wohler fühlte er sich. Und seine Kräfte wuchsen, je mehr er sie brauchte.

Immer zu eng waren ihm die Grenzen abgesteckt, sein Ungestüm schrie nach einer ganz großen Aufgabe, an der er sich ungehemmt und uneingeschränkt erproben und wirklich abmessen konnte, was er zu leisten imstande sei. Und die Aufgabe wurde ihm.

In dem ausgedehnten nordböhmischen Kohlenbecken waren die Lohnverhältnisse schon lang unhaltbar und der Streik nicht länger hinauszuschieben. Stürmisch verlangten ihn die Bergleute, und die Parteileitung mußte nachgeben. Es wurde notwendig, einen verläßlichen Mann in das unruhige Gebiet zu entsenden, der die Bewegung vorbereiten, in geordnete Bahnen lenken und überwachen sollte. Die Wahl fiel auf Fritz Hellwig. Eine große, verantwortungsvolle Sendung wurde ihm, der wenig über vierundzwanzig Jahre alt war, damit auferlegt. Aber vor die Entscheidung gestellt, schwankte er keinen Augenblick und sagte ja.

An einem trüben Herbsttag betrat er den Ort seines zukünftigen Wirkens. Die große lärmvolle Provinzstadt machte keinen günstigen Eindruck. Ein trockener Geschäftsgeist, der das Zweckmäßige auch schön findet, sprach aus ihrer ganzen Anlage. Man sah es gleich: Diese Stadt hatte keine Vergangenheit. Ihre Insassen wohnten nur erst wie zur Miete, waren nicht auf diesem Boden erbgesessen und mit ihm verwachsen durch vieljährige Überlieferung. Deswegen legten sie keinen Wert auf ein behagliches Heim, hätten auch keine Zeit gefunden, es zu schmücken, in ihrer rastlosen Jagd nach dem Erwerb.

Mit ihren vielen Fabriksschloten lag die Stadt, beständig von einer Wolke schwärzlichen Qualms überschattet, mit Geratter, Gerassel und Getöse angefüllt, in einer ungemein reizvollen Landschaft wie ein häßliches Mal auf einem schönen Körper. Zahlreiche Berge schlossen sie von zwei Seiten ein, ein stattlicher Strom hatte sich eine breite Rinne durch das Gebirge gegraben und trug Frachtschiffe auf seinem Rücken, beladen mit Obst und Korn und Kohlen, die rings in dem großen Becken gefördert wurden. Und an seinen Ufern führten die Schienenstränge, keuchten die Lokomotiven, knarrten die Dampfkrahne, schwere Warenballen aus den Eisenbahnwagen hebend und in den Schiffsrumpf senkend.

Es war eine reiche Gegend, und die Leute verwendeten den unerschöpflich zuströmenden Reichtum mit klugem Bedacht. Sie legten ihn in der Erde an, vergruben ihr Pfund und wucherten doch damit, teuften Schacht um Schacht ab, stellten immer stärkere Fördermaschinen auf, und die schwarzen Diamanten brachten hundertfältigen Nutzen.

Aber die Landschaft litt darunter, und schon jetzt sah man weite Flächen mit rauchenden Löschhalden eingesunken und verrollt, wo einst auch fruchtschwere Obstbäume standen und gelbes Korn der Ernte entgegenreifte. Und wenn der letzte Kohlenblock dem Bauch der Erde wird entrissen sein, dann wird eine Wüste ringsum zurückbleiben und ein großes Elend.

Daran dachten sie jedoch vorläufig nicht. Sie waren stolz auf ihre Bergwerke, stolz auf ihre Fabriken, stolz auf ihren Reichtum und hielten sich für ungemein geschäftstüchtig, weil sie sich alles dienstbar zu machen und aus allem Vorteil zu ziehen wußten.

Am stolzesten aber war die Stadt auf ihre chemische Fabrik. Die bildete ein eigenes Viertel, und wohl fünfzig Schlote ragten hoch in die Luft, gewaltige Säulen für den Thron der Königin Industrie. In dicken Wolken hing der schwarze Rauch darüber als Baldachin und unten sausten und grollten die Räder, knatterten die Treibriemen, ächzten die Winden, schrillten die Dampfpfeifen: die große Sinfonie zu Ehren der Königin.

Weit über fünftausend Arbeiter beschäftigte diese Fabrik, und weit über fünfzehntausend Bergleute fanden in den Kohlengruben ihr Brot. Die sollte Fritz Hellwig nun führen, organisieren und vorbereiten zum Kampfe gegen die mächtigen Handelsherren.

Er hatte sich außerhalb der Stadt in einem kleinen Hause am Ufer des Stromes bei einem Faßbinder eingemietet. Hier war es still und friedsam, die Hafenbahn führte nicht bis her und der Lärm drang nur kaum noch wie ein leises Murmeln von fern. Um die Fenster schlang ein edler Weinstock seine Ranken, bewaldete Berge stiegen am jenseitigen Ufer mit anmutigen Gipfeln empor, und durch das grüne Tal glitt leise rauschend mit eiligen Wellen der schöne Fluß. Früh morgens ging die Sonne an den Fenstern vorbei, lag wie gleißendes Silber auf der breiten Wasserfläche, Lastschiffe und Zillen wanderten bei günstigem Wind mit aufgesteckten Segeln vorüber, Schleppdampfer bewegten sich an rollender Kette stromaufwärts.

Bisweilen auch tönte unten auf dem gepflasterten Vorplatz lustiger Schlegelklang. Aber der Bindermeister war rücksichtsvoll und fragte jedesmal, wenn er die Reifen antreiben wollte, seinen Mieter, ob ihm das Gehämmer nicht lästig sei. Er war außerordentlich mager, groß, etwas vornüber gebeugt durch die Last seiner siebzig Jahre, und um das ganze Gesicht starrte ihm ein wahrer Urwald von grauen Haaren, so daß nur die kleinen Vogelaugen sichtbar waren und eine Hakennase von abenteuerlicher Form. Wie ein Meergreis schaute er aus, grün, mit grünlich verschossenen Kleidern und grünlich-schwarzer Hautfarbe. Denn er wusch sich nur Sonntags. Dagegen hielt er viel auf leichtes Schankbier und Schnupftabak, wovon er unglaubliche Mengen verbrauchte. Seine Frau war ihm darin ähnlich. Auch sie verschmähte weder eine Prise noch einen guten Trunk. Doch ging sie immer sauber gewaschen, und Fritz hatte keinen Anlaß zu einer Klage. Seine Stube war kühl und hell, die Aussicht prachtvoll, der Kaffee vortrefflich.

Wenn er zu Hause war, sah er am liebsten zum Fenster hinaus auf das bunte Treiben im Strom, schaute den Scharen der Möven zu, die wie Silberstreifen über die glitzernde Wasserfläche schossen und ließ sich nachts von dem eintönigen Geplätscher der wandernden Wellen in Schlaf singen.

Aber er hatte nicht viel Zeit zu beschaulicher Muße. Die Agitatoren, die vor ihm dagewesen waren, hatten schlecht gewirtschaftet. Sie hatten verhetzt, statt aufzuklären; sie hatten aufgereizt, wo sie hätten belehren sollen. Sie hatten den Leuten die glückliche Unwissenheit genommen und nichts dafür gegeben.

„Werdet Sozialdemokraten, und es wird euch gut gehen.“

Und sie wurden Sozialdemokraten. Aber es ging ihnen nicht gut. Es ging ihnen schlechter. Denn zur gleichen Lebenslage war die Unzufriedenheit gekommen.

So war es Hellwig nicht leicht gemacht, Vertrauen zu erwerben. Aber es gelang ihm doch. Er war fortwährend unter ihnen, bereiste das ausgedehnte Gebiet, warb um sie und ließ nicht locker. Und langsam begann ihr Mißtrauen zu schwinden. Sie ließen ihn näher an sich heran, öffneten ihm ihre Stuben, ihre Herzen. Sie spürten heraus, daß er es ehrlich mit ihnen meinte und fingen an ihn zu lieben.

Bald kannten ihn alle Arbeiter. Es war auch nicht schwer, ihn unter Hunderten herauszufinden. Schulterbreit, von einem kraftvollen Ebenmaß der Glieder, überragte er die meisten um Haupteslänge. Wenn sie seinen runden Schlapphut, den grauen Radmantel auftauchen sahen, kamen sie näher, vertrauten ihm ihre Nöte. Und bald auch kamen sie zu ihm in die Redaktion des Wochenblattes, dessen Leitung er mit übernommen hatte. In den Frühstunden oder am Abend nach der Arbeit kamen sie, mit ihren rußigen Gesichtern und schwieligen Fäusten, holten sich Rat in ihren kleinen Kümmernissen und großen Mühsalen.

Es gab prächtige Menschen unter ihnen. Da war Anton Stanzig, der Glasbläser, der in seinen freien Stunden in den Bergen herumlief, um sich eine neue Lunge zu holen, weil er sich die alte beim heißen Schmelzofen schon zur Hälfte herausgeblasen hatte. Er spuckte Blut und sammelte Schmetterlinge, las darüber dicke Bücher und wußte alle Arten mit ihren lateinischen Namen zu benennen. Oder da war Ferdinand Opitz, der nach beendeter Häuerschicht die dunkle Kohlengrube verließ, um sich mit Spektralanalysen zu beschäftigen und dessen ständige Klage war, daß er so selten dazu käme, das Sonnenspektrum zu beobachten. Oder da war Franz Bogner, der alte Kesselwärter, der in den Mußestunden mit seinen knotigen Fingern zarte Blumengewinde und Figuren modellierte. Und was sollte man von Karl Pfannschmidt halten, dem fünfunddreißigjährigen Bergmann, der zur Rastzeit im Schacht mit dem Speck zugleich auch ein Buch aus dem Brotsack zog und auf einem Haufen Kohle bäuchlings hingestreckt, beim trüben Schein der Grubenlampe Rousseaus contrat social im Urtext zu lesen anfing.

Er hatte eine zweiklassige Dorfschule besucht und mußte mit zwölf Jahren ins Bergwerk. Schon längst war seine Gesichtsfarbe fahlgrün und seine Luftröhre voll von Kohlenteilchen, die er obertags fortwährend aushustete. Die heiße Schachtluft hatte den Körper angegriffen, aber der Sehnsucht konnte sie nichts anhaben. Die war geblieben, und mit ihr ein unstillbarer Hunger nach Wissen. Seine Stuben waren vollgepfropft mit allen Lehrbüchern der Mittelschulen. Denn er hatte einst den Ehrgeiz gehabt, es bis zum Doktor der Weltweisheit zu bringen. Da hatte er heiraten müssen, kurz nach der Hochzeit war das erste Kind gekommen, und die Sorge um das tägliche Brot zwang ihn, im Schachte auszuharren.

Hellwig war bald der wahren Natur des bescheidenen Bergmanns auf die Spur gekommen, bot ihm seine Bücherei zur Benützung an, lud ihn zu sich ein. Und Pfannschmidt zog eines Abends nach langem Zögern seine guten Kleider an und ging hin. Frisch rasiert war er, trug blank gewichste Stiefeletten und an den ausgearbeiteten Händen braunlederne Handschuhe. Linkisch stand er unter der Tür und zog und zerrte an dem Knoten seiner Halsbinde, die himmelblau auf einer brettsteifen Hemdbrust glänzte. Die Hemdbrust hatte sich unter der Weste verschoben und wölbte sich nun wie ein mächtiger Frauenbusen.

„Stör’ ich?“ fragte er schüchtern.

„Beileibe!“ erwiderte Fritz. „Schön, daß Sie kommen.“

Er nahm dem Besucher den Hut aus der Hand, legte ihn aufs Bett, öffnete den Kasten und nahm eine Flasche Wein heraus.

„Machen wir’s uns gemütlich.“

Der Bergmann saß steif nur kaum auf dem Rand des angebotenen Stuhls und hatte die Hände vor sich auf die geschlossenen Knie gelegt. Seine Blicke wanderten in der Stube herum, blieben an den Büchergestellen haften.

Fritz schraubte die Lampe höher. „Ich denke, wir lesen etwas!“ schlug er vor. Denn auch ihm fehlte die Gabe, durch leichtes Geplauder Brücken zu schlagen, über die ihre einander noch fremden Seelen sich hätten näher kommen können. Er holte ein paar Bände, setzte sich seinem Gast gegenüber, der ihn stumm und erwartungsvoll ansah.

„Vielleicht das hier!“ meinte Hellwig nach einigem Herumblättern. Und nun las er mit verhaltener Leidenschaft Friedrich Adlers Gedicht ‚Nach dem Strike‘.

„... Im tiefen Schacht, von Luft, vom Lichte,
Von jedem frohen Blick entfernt,
Gefahr, wohin der Fuß sich richte —
Wir haben tragen es gelernt.
Wir wissen uns dem Los zu neigen.
Wir gehen fürs Leben in den Tod.
Wir schweigen schon und werden schweigen,
Allein wir hungern, schafft uns Brot!“

Und weiter:

„... Und laßt es nicht zum höchsten steigen,
Bedenket, Eisen bricht die Not —
Wir schweigen schon und werden schweigen,
Allein wir hungern, schafft uns Brot!“

Pfannschmidt war aufgestanden. Gleich nach den ersten Versen war er aufgestanden, ganz außer sich, mit geballten Händen und weit geöffneten Augen.

„Herr! ... Herr ...!“

„Ein schönes Gedicht, nicht wahr?“ sagte Fritz leichthin, um die eigene Ergriffenheit zu verbergen.

„Schön? — Packen tut’s einem, daß man gleich mit Fäusten dreinschlagen möcht’! Sakra! Wir schweigen schon und werden schweigen, allein wir hungern! ... Das sind Worte, gerade solche Worte, wie sie unsereins auch spricht ... aber was da alles drinliegt! Und was alles dazwischen liegt, bis einer zu dem Ton kommt ... Herr, ich hab’ auch mein Lebtag gehungert und geschwiegen und gewartet: es muß doch anders werden. Und ein Tag nach dem andern ist vorbeigegangen, ein Jahr hinterm andern, — bis mir meine Frau das erste graue Haar aus dem Bart zieht. Und da hab’ ich’s auf einmal gewußt: Du steckst drin und kannst nicht heraus ...! — Ich hab’ angefangen, auf die Tage aufzupassen, wie sie so langsam vorüberschleichen. Und da ist mir geworden: Ich lieg’ sechs Schuh tief in einem offenen Grabe ... und jeder Tag ist wie eine Schaufel Erde, die sie auf mich werfen. Bei den Beinen fängt’s an, dann kommt’s auf die Brust, die Arme ... immer schwerer ... immer mehr Erde ... Und endlich fällt sie auch aufs Gesicht. Dann ist das Licht fort, jeder Strahl, jeder Schimmer — alles. Und das ist das Ende ... Lebendig muß man sich begraben lassen und kann sich nicht wehren. Verfluchte Armut!“

„Pfannschmidt!“ rief Fritz erschüttert. „Um Himmelswillen, nicht so mutlos! Denken Sie nicht ans Untergehn, sonst sind Sie ja schon unten! Verfluchte Armut, jawohl! Aber — Hand aufs Herz, ihr, die ihr da arm seid — seid ihr ganz ohne Schuld? — Ihr habt geschwiegen und schweigt! Laßt alles auf euch niedergehn — und schweigt! Zum Teufel! So wehrt euch doch! Ihr habt Fäuste — braucht sie! Habt Rechte — fordert sie! Und weigert man sie euch — erzwingt sie!“

Da lächelte der Arbeiter traurig und sagte: „Herr, Sie wissen eben nicht, was jahrelang schuften und hungern heißt. Das macht einen schon kaputt. Wenn man so Stücker zwanzig Jahre in der Tretmühle drin ist, dann hört sich endlich alles andere auf. Man lebt nur noch so hin ...“

Fritz vermochte nicht zu antworten. Was er auch geredet hätte, es wären doch nur Worte gewesen, leere Worte, die an diesen heißen Schmerz nicht herankonnten, — wie Wassertropfen in der Luft verdampfen, lang ehe sie das Erz im Hochofen erreichen können.

So war Schweigen, während vor den Fenstern der dunkle Strom vorüberzog, schnell, lautlos gleitend, Welle um Welle ohne Anfang und Ende.

5.

Tage aufreibender Tätigkeit folgten. Es galt die Forderungen zusammenzustellen und den Grubenbesitzern bekanntzugeben. Hoch waren die Forderungen nicht, denn die Leute waren wirklich hundejämmerlich daran. Sechs, im besten Fall zwölf Gulden in der Woche verdienten die Männer, die Weiber brachten es höchstens auf sieben, und zu alledem waren die Lebensmittel schandhaft teuer. Es gedieh zwar alles in Hülle und Fülle in der fruchtbaren Gegend und die Bauernhöfe hatten große Viehbestände. Aber die klugen Geschäftsleute wußten auch aus diesem Segen Gewinn zu ziehen, trieben mit Obst, Korn, Milch einen schwunghaften Handel nach dem Ausland und den nahen Kurorten. Nur die Ausschußware beließen sie dem heimischen Markt, forderten aber die gleichen Preise wie für die gute. Und die Löhne waren seit Jahrzehnten unverändert.

Das glatte Zuströmen des Reichtums hatte die Unternehmer übermütig gemacht. Sie vertrauten ihrem mühelosen Glück und glaubten, daß ihnen alles gelingen müßte und nichts geschehen könnte.

Rundweg lehnten sie die Forderungen ihrer Arbeiter ab. Alle ohne Ausnahme, in Bausch und Bogen, brüsk, ohne Beschönigung. „Wir bewilligen gar nichts! Wem’s nicht recht ist, der kann gehen!“

Da berief Hellwig die Bergleute zu einer Versammlung unter freiem Himmel, am frühen Morgen, draußen vor der Stadt auf einem Hügel mit weiter Fernsicht über das große Becken. Und sie, über die schroffe Abweisung erbittert, legten trotzig die Arbeit nieder und strömten von allen Seiten auf die frührotbeglänzte Höhe. Wohl achttausend kamen sie, Männer mit struppigen Bärten, Weiber, die Kinder unterm Herzen trugen, muskelbepackte Jünglinge und Mädchen mit wachsgelben Wangen. In ihren besten Kleidern, wie zu einem Gottesdienst, kamen sie.

Blutrot stieg im Osten die Sonne empor. Unter ihr lag die herbstreife Erde und hob die quellenden Brüste dem Licht entgegen. Rein war der Himmel, rein die Luft, rein die Stadt vom Fabriksqualm. Rauchlos ragten die Schlote, mahnende, warnende Finger, aus dem Häusergewirr.

Hellwig schwang sich auf eine Felsplatte, die in der weiten Fläche des Gipfels wie eine natürliche Rednerbühne aufgebaut war und blickte über die Versammelten. Eine schwankende dunkle Masse, brandete es da unten, Kopf bei Kopf, und die Gesichter leuchteten seltsam weiß und fremd daraus hervor. Und das Regen der Leiber, das Summen der gedämpften Stimmen vereinigte sich zu einem dumpfen Brausen, wie der Schwall mächtiger Wogen, die ohne Rand und Ufer im offenen Meer hinrollen.

Einen Augenblick stand er wie erschrocken vor dem ungeheuern Andrang des Lebens, das ihm entgegenatmete. Und es dünkte ihn Vermessenheit, als ein Einzelner, Jugendlicher, gleichsam darüberzustehen und ihm die Bahn zu weisen. Und er sah Hoffnung in ihren glänzenden Augen, hörte das Brausen leiser und leiser werden — und lautlose Stille wurde unter der blauen Himmelsdecke, wie in einem endlos gedehnten leeren Saal.

Alle schwiegen und hielten ihm die Gesichter zugewendet und erwarteten etwas von ihm und waren begierig auf seine Botschaft. Da durchsengte es ihn mit einer wilden, ganz heißen Glut. Noch einen freien, leuchtenden Blick warf er über die Menschenmassen, dann sprach er mit weithin tönender, schwingender Stimme.

Er sagte:

„Da unten liegt die schöne reiche Erde, die unser aller Mutter ist. Da unten schläft auf Garbenbündeln die Fruchtbarkeit, biegen sich die Äste fruchtschwer und segenbeladen.

Unsere Mutter ist so schön und so reich. Aber ihr, die ihr Kinder dieser Mutter seid ... schaut dort hinab, wo die Essen ragen und die Aschenhaufen rauchen! ... ihr, die ihr dort unten in den finsteren Schächten, fern dem Licht, in der heißen, staubigen Luft, in den engen, stickigen Gängen schweißtriefend die Karren schiebt und halbnackt die Hauen schwingt beim bleichen Flackern der Grubenlampen — eure Lungen keuchen, eure Lippen sind zerrissen und wund, eure Augen haben rote Ränder — ihr armen Kinder dieser reichen Erde wißt nichts von der Schönheit eurer Mutter!

Wenn noch die Nacht auf den Bergen träumt, müßt ihr Abschied nehmen von Weib und Kind, jeden Tag Abschied fürs Leben, denn dort unten lauert die Gefahr, kauert der Tod — und eure Lieben wissen nicht, ob sie euch lebend wiedersehen.

‚Wer weiß, wie nahe mir mein Ende?
Ein Grubenlicht, ein Lebenslicht,
Ein Tropfen löscht es gar behende —
Ein Grubenlicht — ein Totenlicht!‘

sagt euer alter Bergmannsspruch. Und Tag für Tag müßt ihr hinab in die heiße, dunkle Tiefe. Und erst wenn der Tag zum Sterben kommt, wenn die Nacht wieder auf den Bergen träumt, dann kommt ihr — vielleicht! — hervor aus der dunklen, heißen Tiefe und eure Augen sehen die Sonne nicht mehr. Tag für Tag. Und keinen Tag seht ihr den Quell alles Lebens, die Sonne.

Was habt ihr getan, um so gestraft zu werden?

Wolltet ihr Umsturz und Revolte? Den Untergang des Reiches? Den Tod des Herrschers?

O, nichts von alledem, meine Brüder! Ihr seid nur — arm!

Das ist es ja, was unsere Gesellschaftsordnung so furchtbar macht und so ungeheuerlich! Daß die Armut zum Fluch, daß die Armut zur Strafe wurde, zu einer harten, grausamen, entsetzlichen Strafe.

Und wenn ihr — nicht ein Ende, beileibe! — wenn ihr eine Milderung wollt, wenn euere Forderungen noch so maßvoll sind, wenn ihr nichts verlangt als nur ein wenig mehr Luft und Licht und ein wenig Würze zum trockenen Brot — auch dieses Wenige geben sie euch nicht!

Wenn ihr euch auch plagt und rackert und Arbeiten auf euch nehmt, die oft einem Schwein zu schmutzig wären, geduldig und ohne Murren auf euch nehmt — denn eure Kinder wollen essen — es hilft euch alles nichts, plagt, rackert, schindet euch, so viel ihr wollt, ihr müßt — ganz arm bleiben.

Nichts gibt man euch dazu, nicht einmal ein wenig mehr Luft und Licht und ein bißchen Würze zum trockenen Brot!

Ballt sich euch die Faust? Will euch der wilde Zornschrei die Brust zerreißen?

Gemach, ihr meine Brüder!

Nicht in Haß und Zorn dürft ihr handeln! Wägen müßt ihr, müßt alles überlegen, und ruhig und besonnen, aber um so fester und sicherer, strenger und unbeugsamer pocht dann auf euer Recht!

Und das erste Recht der Erdenkinder ist ein Anrecht auf die Früchte der Mutter. Wie euern Kindern die Brüste eurer Frauen, so gehören euch die Früchte der Erdenmutter. Und euer bestes Recht ist, daß ihr satt zu essen habt für euch und eure Kinder.

Aber nicht mit der kurzen Gewalt der Fäuste dürft ihr euch dieses Recht holen. Denn ...

Ich sehe viele unter euch, die Väter und Mütter sind. So frage ich euch: Wollt ihr, daß euern Kindern dasselbe Los falle, das euch beschieden ist? Wollt ihr, daß ihnen wie euch das Geleite geben durch das ganze lange Leben der Hunger und die Not? Wollt ihr, daß eure Kinder einst, wie ihr, vor einer Wiege stehn und emporschreien zum harten kalten Tod: ‚Komm doch! Komm und nimm den Wurm zu dir, eh’ er bei uns verhungert!‘

Wollt ihr das? O, nein doch, nein!

Nun denn, so unterdrückt den Zorn, laßt den Drang nach Aufruhr und Empörung nicht mächtig werden — um eurer Kinder willen. Denn wenn ihr jetzt hingeht, die Maschinen zerstört und vernichtet und plündert, werdet ihr in Ketten gelegt und in Kerker geworfen. Und eure Kinder stehen schutzlos da, preisgegeben dem hohnlachenden Daseinskampf — und verderben.

Ihr seid Söhne der Erde: so seid ihr Söhne der Arbeit.

Ihr seid Söhne der Arbeit: so seid ihr stark und starr.

Und so rufe ich euch zum Kampf! Zum zähen, lautlosen Kampf der härtesten Unnachgiebigkeit! Rührt keinen Finger zur Arbeit, bevor nicht eure Forderungen erfüllt sind: Neun Stunden Arbeitszeit und vierzig Prozent Lohnerhöhung.

Mehr könnt ihr vorerst nicht fordern. Mit einem Schlag fällt auch der stärkste Mann keinen hundertjährigen Baum, aber durch viele Axtschläge bringt ihn selbst ein Kind zu Fall.

Söhne der Erde, Söhne der Arbeit, seid stark und starr und achtet die Gesetze um eurer Kinder willen!“

Als er geendet hatte, zerriß ein lautes Jubelschreien die atemlose Stille. Ein entfesselter Strom, drängten sie gegen ihn, streckten die Arme aus, schwenkten Hüte und Tücher. Die Vordersten erkletterten den Felsen, haschten nach seinen Händen, drückten und schüttelten sie, und einige wollten ihn auf den Schultern forttragen. Er aber wehrte ihnen und schritt ergriffen durch die entflammte Menge, mit feuchten Augen und hämmerndem Herzen.

Da stellte sich ihm ein Mann in den Weg, den er vorher noch niemals gesehen hatte. Und doch mußte die kurze, gedrungene Gestalt mit dem mächtigen Schädel, dem verwilderten Bart und den brennenden, tiefhöhligen Augen sofort auffallen. Er war schlecht gekleidet, trug einen abgeschabten Flausrock, Zwilchhosen, die an den Knien mit großen Flicken ausgebessert waren, trangeschmierte hohe Stiefel, und das blaue Leinenhemd ließ trotz der kühlen Herbstluft die haarige Brust frei.

Etwas erstaunt schaute ihn Fritz an, und der Fremdling sagte mit unverhohlenem Spott: „Sie wundern sich über mein Aussehen, guter Freund? Das bin ich gewohnt. Übrigens heiße ich Karus, komme von Odessa und wollte mir mal anschaun, wie ihr da draußen in Freiheitskämpfen macht. Ich habe Ihre Rede gehört, es war eine schöne Rede, eine gehaltvolle Rede, gewiß, aber eben doch nur eine Rede. Und das, nehmen Sie mir’s nicht übel, junger Freund, aber das alles hat verflucht wenig Wert. Ihr redet und redet, glaubt, weiß der Himmel was ihr für die ‚Freiheit‘ und für die ‚Menschheit‘ tut. Doch seien wir ehrlich, im Grund genommen denkt ihr verteufelt wenig an die ‚Freiheit‘ und an die ‚Menschheit‘. Ihr denkt schließlich auch nur an eure Magen, wollt, daß ihr genug für den Wanst habt — — daß aber draußen irgendwo zur selben Zeit soundsoviele Hunderttausende im Straßengraben verrecken, daran denkt ihr nicht, ihr — altruistischen Egoisten!“

Er hatte mit halblauter Stimme gesprochen und keine Falte seines verwitterten Gesichtes verzogen. Nur die Augen blitzten lebendig in ihren tiefen Höhlen, und durch seine Worte zitterte es wie verhaltene Glut.

„Stören Sie mir die Stunde nicht!“ antwortete Hellwig unwillig. „Was geht es Sie an, wie wir für unser Recht eintreten? Ihnen zu Trost sei’s gesagt: wir werden es auch bekommen! Weil wir uns rühren! Warum rühren sich die soundsoviel hunderttausend anderen nicht auch? Oder, wie Sie sagen, warum verrecken Sie lieber im Straßengraben, statt sich ihr Recht zu holen?“

Da schüttelte sich die vierschrötige Gestalt des Unbekannten in lautlosem Gelächter. Er schaute Fritz lang an, mit einem sonderbaren, tief bohrenden Blick, dann sagte er langsam, jedes Wort betonend:

„Weil sie frei sein wollen!“, drehte sich auf dem Absatz herum und ging weg. Rücksichtslos brach er sich mit den groben Fäusten und dem Stiernacken Bahn durch das Gedränge, war im Nu darin untergetaucht.

Das ganze Auftreten des Mannes, sein hartes Wesen und dann die rätselhaften Schlußworte, das alles hatte einen starken Eindruck auf Hellwig gemacht. Und noch in seinem Zimmer grübelte er, suchte einen Sinn in dem mystischen Satz:

... Sie verrecken lieber im Straßengraben, weil sie frei sein wollen ...

Aber er fand keine Deutung.

6.

Im Kohlenbecken ruhte die Arbeit.

Von allen Seiten liefen Spenden ein. Sogar Wart Nikl leistete einen Beitrag. Kolben schickte tausend Gulden und schrieb dazu: „Noch einmal die gleiche Summe steht dir in vier Wochen zur Verfügung, wenn du sie brauchst. Es geschieht aus Freundschaft für dich, denn ich triefe nicht von Menschenliebe. Nenn meinen Namen nicht. Ich verzichte auf den blökenden Dank der Herde, verdiene ihn auch nicht. Halt dich tapfer!“

Das Geld wurde nicht verteilt, sondern zur Anschaffung von Lebensmitteln in großen Mengen verwendet. Mehrere Küchen mit riesigen Herden wurden aufgestellt, in denen das Essen für Hunderte auf einmal bereitet werden konnte. So waren sie in der Lage, länger auszuhalten.

Sparsamkeit war aber auch notwendig, denn Woche um Woche verging, in geschlossenen Schlachtreihen standen sich Arbeiter und Unternehmer gegenüber, niemand dachte ans Nachgeben. Alle Schächte lagen wie ausgestorben. Fünfzehntausend Bergleute feierten. Aber die Ruhe wurde nirgends gestört.

Im Dezember fiel starker Frost ein. Die Lagerbestände der Gruben waren vollständig geräumt. Der Kohlenmangel wurde immer empfindlicher, drohte zu einer Katastrophe für Industrie und Bevölkerung zu werden.

Und dann war die Kohlennot wirklich da. Die Preise für Brennmaterial wurden unerschwinglich. In den Gassen der Städte wurden die Kohlenfuhrwerke immer seltener. Und auch die wenigen mußten von Polizisten begleitet werden. Denn allenthalben strichen Leute mit Körben und Säcken durch die Straßen, klaubten die Kohlenbröcklein — wenn sie welche fanden — gleich goldenen Münzen auf, und wiederholt schon waren die Pferde ausgespannt, die Fuhren geplündert worden. Und die Eisenbahnzüge, die den kostbaren Brennstoff aus dem Rheinland und von England heranführten, rollten von der Grenze an unter Gendarmeriebedeckung. Trotzdem aber warteten längs der Schienenstränge Leute mit Stangen, Rechen und Harken, sprangen in die Bremshütten und warfen von den fahrenden Zügen die Kohle ihren Genossen zentnerweise hinab.

Noch bedrohlicher wurde die Lage, als eine große Maschinenfabrik nicht mehr alle Kessel heizen konnte, den Betrieb einschränkte und achthundert Gießer entließ. Andere Unternehmer folgten diesem Beispiel, und die Erregung wuchs ungeheuer unter den brotlos gewordenen Massen. Fast schien es, als stände das Land am Vorabend einer Revolution.

Beschwerden, Bittschriften, Drohbriefe liefen bei den Ministerien ein. Unternehmer, Kaufleute, Handwerker, die gesamte Bevölkerung forderte stürmisch von der Regierung Hilfe. Hohe Beamte gingen in das Streikgebiet ab, um zu vermitteln, zu schlichten und ein Ende der Not herbeizuführen.

Das Nachgeben fiel den stolzen Gewerken in ihrem Hochmut nicht leicht. Aber unter dem Druck der öffentlichen Meinung blieb ihnen keine andere Wahl. Widerwillig ließen sie sich zu Zugeständnissen herbei. Nicht alle Forderungen wollten sie bewilligen, doch was sie anboten, war immer noch so viel, daß es, gleich gewährt, genügt hätte, den Ausstand zu vermeiden.

So erging denn vom Regierungsvertreter an die Vertrauensmänner der Streikenden die Einladung zu einer gemeinsamen Besprechung. An Fritz Hellwig war sie gerichtet als den Leiter und Führer der Bewegung.

Er war eine stadtbekannte Persönlichkeit geworden. Man staunte über die straffe Organisation, die er förmlich aus dem Boden gestampft hatte, ließ ihm die geschickte Leitung gelten, lobte seinen lauteren Charakter und seine vornehme Kampfesweise.

Und manche, die früher den Provinzredakteur über die Achsel angesehen, suchten jetzt seine Bekanntschaft. Aber er blieb zugeknöpft und verschlossen und ließ sie sich nicht nahe kommen.

Ungleich gemütlicher verkehrte er mit seinen Quartiersleuten. Der Faßbinder war auf seine alten Tage auch Sozialdemokrat geworden. Wenigstens behauptete er es. Die waschechte Gesinnung übte indes weder auf seinen waschechten Hautüberzug, noch auf sein sonstiges Gehaben einen bemerkenswerten Einfluß. Nach wie vor schnupfte er, trank Schankbier und wusch sich nicht. Aber statt des nationalen Banners schwang er jetzt die rote Fahne. Freilich nur seinen Reden nach. Dafür aber gewaltig, mit dem Brustton der Überzeugung.

Er war stolz auf seinen Mieter und sonnte sich in dem Abglanz, der von dessen Beliebtheit auf sein Haus fiel. Jeden Besucher hielt er auf und fing ein Gespräch mit ihm an.

„Guten Tag, Genosse!“

„„Guten Tag!““

„Was Neues?“

„„Bin keine Zeitung!““

„Nun, nun, nur nicht so schnell! Lassen Sie doch unsern Herrn Genossen Hellwig ein bissel ausschnaufen!“

„„Geht nicht, Herr Meister! Die Sache ist dringend.““

„Schon wieder dringend? Ja, wir Roten! Wir marschieren nicht, wir laufen Sturm!“

„„Könnt da schlecht mit, was? Wenn die Beine schon wacklig werden!““

„Wacklig? Oho! Oho! Da schaun S’ her! La—uf—schritt!“

Und er lief ein Stück die festgefrorene sonnige Uferstraße entlang, warf die langen Beine wie ein Droschkengaul, stand still und schaute sich schnaufend und Beifall gewärtig um. Der Besucher hatte indes die Gelegenheit benützt und war ins Haus geschlüpft. Da nahm der Bindermeister eine Prise, spuckte in die Hände und schlug wütend auf seine Fässer.

Und wenn Hellwig aus dem Haus trat, frühzeitig, kaum, daß die Sonne hinter den weißen Bergen herauf wollte, machte sich der Binder, wenn ihn nicht noch der Kater im Bett festhielt, jedesmal an ihn heran.

„Schon auf, Herr Genosse?“ fragte er zutunlich. „Sind Sie denn nicht noch schläfrig? Arg spät war’s wieder. Ich hab’ schon einmal ausgeschlafen gehabt, wie Sie die Fenster aufgemacht haben. Passen Sie nur auf, daß Sie nicht verkühlen! Ich lieg’ immer bei zugemachten Fenstern und doch friert mich in der Nacht wie einen Italiener. Und jetzt gar Sie! Alle Fenster reißen Sie sperrangelweit auf. Das kann doch nicht bekömmlich sein!“

„Ich bin das so gewohnt, Herr Meister. Und dann, es liegt sich so schön, wenn’s dunkel ist und man hört draußen das Wasser am Eis vorübergehn. Es wiegt einen ordentlich!“

„Jawohl, schön haben wir’s schon dahier! Und eine Luft! Eine starke Luft! Die hält gesund und macht Appetit ... Teufelszeug noch einmal! Hat Ihnen meine Alte den Kaffee gebracht? Man muß jetzt schon fort hinter ihr her sein, wissen Sie, weil sie so arg viel vergeßlich wird. Sie trinkt zu viel. Das tut den Frauenzimmern nicht gut.“

Nun mußte Fritz hellauf lachen, weil hier einmal der Blinde über den Einäugigen König sein wollte.

„Nein, Herr Meister,“ sagte er, „auf den Kaffee hab’ ich noch nie zu warten brauchen. Und was das andere betrifft,“ — er klopfte dem Meergreis auf die knochige Schulter — „da sollten Sie sich doch erst selber bei der Nase nehmen. Groß genug ist sie ja!“

„Haha! — Haha!“ fing da der Alte ein stoßweises Gelächter an, und sein Bartwald kam in stürmische Bewegung. „Meine Nase — haha! — das ist ein gar wichtiges Glied der bürgerlichen Gesellschaft. Sie zahlt ihre Tabaksteuer und erspart meiner Alten die Nachtlampe! Also darf sie sich auch groß machen!“

Dabei rieb er sich die Hände und trat stampfend von einem Fuß auf den andern. Denn es war kalt, und vom Fluß herüber pfiff ein eisiger Wind. Die Sonne war kaum überm Horizont herauf und stand als tiefrote Scheibe hinter einem rauchigen Frostnebel, der zwischen Himmel und Erde düster brodelte. Fritz drückte den Schlapphut fest aufs Haar und ging in der grauen Dämmerung eilig die Uferstraße entlang nach der Stadt, indes der Bindermeister in seiner Werkstatt beim glühenden Ofen schnitzelte und manchmal glucksend in sich hinein lachte. Denn er empfand den Scherz des sonst so ernsten Mieters als beglückende Auszeichnung.

Vor der Redaktionsstube warteten bereits die Vertrauensmänner, Pfannschmidt und fünf andere Bergleute, auf ihren Führer. Die Hände in den Taschen der Winterröcke vergraben, dicke Wolltücher um den Hals und den Rockkragen darüber, standen sie einsilbig beisammen. Als Hellwig zu ihnen trat, rückten sie die Pelzmützen, reichten ihm die Hand und harrten schweigend, bis er die Kanzlei aufgesperrt hatte. Dort war es noch ungemütlich, es roch nach staubigem Papier und Druckerschwärze, im eisernen Ofen brannte kein Feuer, und die Schreibtische, Pulte und Schreine standen langweilig in einem unfreundlichen Halbdunkel. Der Diener hatte sich verspätet, kam nun ganz abgehetzt keuchend gelaufen, heizte ein und wollte abstauben. Fritz schickte ihn fort. Die Zeit drängte, um elf Uhr sollte die Besprechung stattfinden und da gab es noch manches zu beraten.

„Also was?“ fing, als der Bursche gegangen, einer der Männer an. „Also was? Wird heut’ endlich Schluß werden?“

„Kaum!“ versetzte Fritz achselzuckend. „So mürb sind sie noch nicht.“

„Mürb! Mürb!“ knurrte der andere unwirsch. „So nehmen wir doch an, was sie uns bieten! Ich hab’s satt! Gebratene Tauben kriegen wir nicht, drum halten wir den Spatzen fest! Ist besser wie gar nichts!“

„Seid ihr auch der Ansicht?“ fragte Hellwig finster die übrigen. Die starrten stumm vor sich auf den Tisch. Nur Pfannschmidt sagte: „Der Martin raunzt immer so herum. Wenn’s nach seinen Reden gegangen wär’, hätten wir gar nicht anfangen dürfen!“

„Ich sag’, was ich sag’!“ beharrte der andere. „Wenn’s noch ein paar Wochen so fortgeht, und wir verdienen nichts, haben wir so viel verloren, daß wir dann beim höhern Lohn gut zwei Jahre fretten müssen, bis wir den Verlust herein und die Schulden bezahlt haben. Ist’s nicht wahr?“

Von seinen Gefährten nickte einer zustimmend. Die drei anderen schienen unentschlossen. Pfannschmidt wollte etwas erwidern. Da brach auch schon Fritz los:

„Was der Martin sagt, ist zwar eine arge Übertreibung, aber nehmen wir an, es ist so. Gut. Und was weiter? Wenn’s wirklich so ist, wie er sagt? Und wenn’s noch ärger wäre, wenn ihr vier und sechs und zehn Jahre braucht, um den Lohnausfall hereinzubringen. Was weiter? Dürft ihr euch deswegen mit Halbheiten begnügen? Mit einem Erfolg, der keiner ist, nicht Fisch, nicht Fleisch? Da hätten wir gar nicht anfangen dürfen! Jetzt gibt’s einfach kein Biegen mehr! Jetzt muß es brechen — und wenn wir alle dabei zugrunde gehn! Jawohl! Schaut nicht so entsetzt drein! Ihr könnt einfach nicht nachgeben! Könnt nicht, versteht ihr? Denn die einmal aufgestellten und nicht befriedigten Forderungen, die würden fort und fort in euch weiternagen, und ihr hättet keine Ruhe, bis ihr sie früher oder später doch durchsetzt. Und der Kampf, den ihr dann um den Rest führen müßtet, wäre größer und schwerer als der heutige ums Ganze! Das ist es! Und sind die Opfer, die ihr jetzt bringt, wirklich zu groß? Wenn dann euch und mindestens noch euern Kindern, von den Enkeln will ich nicht reden, wenn auch dann ein ruhiges Fortarbeiten bei halbwegs hinreichendem Verdienst sicher ist? Seid mir drum nicht so verzagte Angstmeier! Kleinmütige Kreuzerbettler! Vertraut und seid starr! Unser Sieg ist nur noch eine Frage von Tagen. Er kann einfach nicht ausbleiben! Nur, ihr müßt auch dran glauben!“

Nun hatte er sie wieder fest. Der alte Nörgler wiegte zwar noch unschlüssig den Kopf. Aber auch er sprach nicht mehr dagegen.

Ziemlich zur selben Zeit saßen im großen Sitzungssaale des Palastes, den sich die Grubenbesitzer erbaut hatten, ungefähr fünfzehn Herren um einen grünen Tisch. Hagere Gestalten zumeist, mit schmalen Händen und nervösen Bewegungen, in Gehrock oder Jackett, tadellos nach der letzten Mode gekleidet. Nur einer war dabei, der wollte in die elegante Versammlung gar nicht recht hineinpassen, Max Koppenstein, ein fettes Herrchen mit einer goldenen Kette über dem Spitzbauch. Er hatte eine ganz enge, niedrige Stirn, und daran hing, breit ausgebaucht, mit roten Backen und mächtigem Doppelkinn, das feiste Schlemmergesicht wie ein runder Luftballon. Aus zwinkernden Äuglein hinter weißlichen Wimpern schaute er sehr harmlos in die Welt und war doch der Gefährlichste unter diesen kalten Geldmenschen, unübertroffen in der sanften, zärtlichen Grausamkeit, mit der er seine Angestellten auspumpte und seinen Schuldnern die letzte Habe pfändete. Und wenn er sich manchmal im Bureau in Gegenwart eines Geschäftsfreundes ein Glas ältesten Kognaks einschenkte, dann sagte er wohl zungenschnalzend: „Das ist ein Schnäpschen! Wie das duftet! Hm?“ und hielt dem Zuschauer lobgewärtig das leere Becherchen unter die Nase. Aber einschenken tat er ihm nichts. Doch schadete das seinem Ansehn keineswegs, denn er war steinreich, besaß die meisten und die ergiebigsten Flöze und hatte deswegen auch in der heutigen Versammlung den Ehrenplatz inne, zur Rechten des uniformierten Vertreters der Regierung.

Steif und förmlich, mit herablassenden Mienen und gemachtem Gleichmut, rückten sich die Herren auf den schweren Lederstühlen zurecht, als Hellwig mit seinem Häuflein in den Saal trat. Der Beamte wies ihnen die Plätze an und hielt eine Rede, die dem Geist der Versöhnung, dem friedlichen Zusammenwirken in Eintracht und Brüderlichkeit einen Preishymnus sang. Man solle, sagte er, bedenken, daß noch kein Friede ohne beiderseitiges Entgegenkommen geschlossen worden sei. Man solle dem großherzigen Beispiel der Unternehmer folgen und der Allgemeinheit zuliebe Opfer bringen, die nur scheinbar Opfer seien, denn sie werden sich reichlich bezahlt machen durch das Blühen und Gedeihen des Staates und der Volkswirtschaft, aus welcher Quelle dann hinwiederum allen Bürgern Vorteil fließe.

Und kühl und ruhig, mit ganz leichtem Spott, erwiderte Hellwig darauf:

„Die fünfzehntausend Menschen, die zu vertreten wir die Ehre haben, wollen nicht Großherzigkeit oder Gnade, sondern ihr Recht. Von schönen Worten werden sie nicht satt und ebensowenig von dem großmütigen Angebot. Das Sattwerden aber ist zum Blühen und Gedeihen zumindesten des einzelnen eine so notwendige Sache, daß sie jedes Opferbringen ausschließt. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen. Und wer zu essen hat, braucht nicht zu arbeiten, nicht wahr, meine Herren? Jedenfalls haben Sie zu essen. Nun, und die hinter mir stehn, wollen das auch. Sie wollen beileibe nicht so gut, sie wollen nur genug essen. Das ist ein so klares, einfaches und selbstverständliches Verlangen, und ist doch so ernst und fromm, daß sich nichts davon herunterhandeln läßt. Der Versuch zu schachern und zu feilschen ist Ihrer ebenso unwürdig, wie es für uns unwürdig wäre, darauf einzugehen. Wir können kein Jota nachlassen. Sie haben lang genug getrotzt, — geben Sie es auf! Es war ein Irrtum, — gestehen Sie ihn ein! Denn früher oder später müssen Sie doch nachgeben! Tun Sie es heute — und schon morgen wird in allen Gruben wieder gearbeitet!“

Auf ein so stolzes, selbstbewußtes Auftreten waren die Herren nicht gefaßt, hatten vielmehr erwartet, daß ihr Angebot ohne Besinnen werde angenommen werden. Wie Könige waren sie sich vorgekommen, die unverdiente Gnaden austeilen. Jetzt schwiegen sie mit gefalteten Stirnen und undurchdringlichen Mienen. Nur Max Koppenstein zog die Schultern hoch, breitete die Arme aus und sagte: „Ich denke, meine Herrn, darauf kann es nur eine Antwort geben.“ Und zu dem Beamten gewendet, fuhr er fort: „Nun haben Sie sich, verehrtester Herr Ministerialrat, wohl selbst überzeugt, wo die Schuld liegt. Es tut uns ja aufrichtig leid, aber“ — wieder zog er die Schultern hoch und wieder breitete er die Arme aus — „schließlich kann doch kein Mensch verlangen, daß wir uns verbluten sollen.“

So schien der Einigungsversuch gescheitert und der Gegensatz zwischen den beiden Parteien verschärft. Aber es war doch anders. Denn die Regierung bot nach wie vor alles auf, um die Unternehmer zur Annahme der sämtlichen, in keiner Weise übertriebenen Forderungen zu bewegen. Es gelang ihr auch, einen nach dem andern nachgiebig zu stimmen. Aber jeder machte seine Einwilligung von der Bedingung abhängig, daß Max Koppenstein, dem ein reichliches Achtel der gesamten Kohlengruben gehörte, sich ebenfalls anschließe. Der indes war wie ein Aal und ließ sich nicht greifen. Er war sehr höflich, ungemein konziliant, von einer bestrickenden Liebenswürdigkeit. Aber nein sagte er trotzdem. Unter tausend Entschuldigungen, überzuckert und verblümt, aber dennoch: nein.

Nach einigen Tagen wurde ihm vorsichtig und vertraulich die Möglichkeit einer Ordensauszeichnung angedeutet. Da legte er zehn Prozent zu. Und es hätte wohl nicht mehr viel gebraucht, um ihn ganz zu gewinnen. Denn es gab noch höhere Orden und es gab Adelsbriefe.

Da kam ein unerwartetes Ereignis den Arbeitern und der Regierung zu Hilfe.

7.

Die gewaltige Braunkohlenablagerung umfaßte ein Gebiet, das gut fünfzehn Kilometer breit und fast viermal so lang war. Von Urgebirgen eingeschlossen und nur manchmal durch schmale Bänder eruptiven Gesteins unterbrochen, lagen hier die Flöze neben- und übereinander, bald knapp unter der Erdoberfläche, bald Hunderte von Metern tief.

Offene Tagbaue gab es, in deren schwarze Vierecke die Sonne schien und die bloßgelegte Kohle bald da, bald dort an den senkrechten Wänden in Brand setzte, so daß beständig Rauchsäulen emporwirbelten. Und nicht weit davon bohrten sich unterirdische Schachtanlagen dreihundert Meter ins Erdinnere. Und überall qualmte die Lösche, zu Bergen getürmt, auf den Halden, füllte ein brenzlicher, staubgesättigter Dunst die Luft, hing der Rauch wie ein feiner Nebel über den verwüsteten Landstrichen, die nach dem Abbau eines Schachtes zurückgeblieben waren, über den noch üppigen Weizenfeldern daneben und über den — wie lange noch? — lachenden Fluren.

Und mitten in dem Becken lag, zwischen Porphyrhügel eingebettet, weit berühmt durch ihre heilkräftigen Quellen, eine Badestadt. Rund um sie rauchten die Schächte, wurde der Boden von den Bergleuten durchwühlt, die Stollen und Querschächte trieben gleich Gängen riesiger Feldmäuse. Und dicht daneben bahnten sich durch die Spalten des zerklüfteten Porphyrs die warmen Quellen den Weg zur Stadt.

Die Schächte aber waren seit vielen Wochen unbeaufsichtigt. Und niemand wußte, daß in den Gruben Koppensteins seit einigen Tagen, meist zur Nachtzeit, aus der Ferne angeworbene, schlecht geschulte Kreaturen wieder arbeiteten. Der schlaue Fuchs traf seine Vorbereitungen, um nach Beendigung des Streiks — das Ende hing ja nur mehr von ihm ab, und er konnte es herbeiführen, wann es ihm paßte, — um nach Beendigung des Streiks die Lieferungen unverzüglich mit aller Kraft aufnehmen zu können. Die Kohlen blieben vorläufig noch unten in den Schächten — denn die Förderschalen mußten still stehn. Aber schon waren alle Hunde voll beladen. Wo nur ein freies Plätzchen in den Stollen war, türmten sich die Kohlenstücke und konnten nach der Aufnahme des regelmäßigen Betriebes sofort hinaufgeschafft, sortiert und in die Eisenbahnwagen verladen werden. Auf solche Weise hoffte Koppenstein der Konkurrenz einen Vorsprung von einigen Tagen abzugewinnen.

Da geschah es, daß bei diesem Abbau ohne planmäßige Leitung eine Schwimmsandschicht angefahren wurde. Ungeheure Sandmassen gerieten in Bewegung, durchbrachen, einmal in Fluß, die trennenden Schachtwände und stürzten gleich riesigen Lawinen in die Gruben. Und die Erdrinde, unter der sie seit Jahrhunderten ruhig gelegen, wurde mitgerissen von der furchtbaren Gewalt des wandernden Sandes, kam ins Rutschen, Gleiten und brach nieder.

Es war eine laue, regendrohende Febernacht, als die Bewohner der Badestadt durch ein ohrenbetäubendes Gedröhn und Geprassel aus dem Schlaf geschreckt wurden. Der Boden schwankte, Mauern barsten, Häuser wankten, sanken krachend in sich zusammen. Eine ganze breite Straßenzeile, die mit schönen Gebäuden gerade über dem Schwimmsandlager errichtet war, hatte sich gesenkt, zwanzig Häuser waren eingestürzt, viele standen windschief mit gespaltenen Grundpfeilern, geknickten Eisenträgern, verschobenen Dachstühlen und zitterten wie große Tiere.

Tote und Verwundete lagen unter Ziegelschutt, Sparrenwerk und zertrümmertem Hausrat. Aus den Betten gescheuchte Menschen rannten halb nackt durch die dunklen Gassen, fragten, stießen sich, weinten, schrien, heulten und rangen die Hände, ratlos, planlos irrend, von einer entsetzlichen Angst geschüttelt. Und dazwischen tönte das Stöhnen und Brüllen der Verschütteten, das Prasseln der Balken, das Aufschlagen fallender Dächer. Und jedesmal, wenn eine Wand sich neigte, ein Schuttregen niederging, hetzte die Furcht aufs neue in wirbelndem Knäuel die aufgestörten Menschen durcheinander. Gellend schrien sie auf, duckten sich, hielten sich die Ohren zu, prallten aneinander und waren wie von Sinnen. Der Türmer läutete Sturm mit allen Glocken. Auf den Bahnhöfen pfiffen die Lokomotiven in winselnden, langgezogenen, Hilfe heischenden Klagelauten. Und die Finsternis stand unbeweglich und schlang alle Tonwellen mit dunkel gähnendem nimmersatten Rachen.

Endlich kam Hilfe. Ärzte, Rettungsmannschaften, Feuerwehren. Besonnene Männer nahmen die Leitung in die Hand. Aus den Nachbarstädten trafen in mehreren Eisenbahnzügen Verstärkungen ein. Die nervenzersetzende Angst wich, der panische Schrecken machte einer verzweifelten Entschlossenheit Platz. Hunderte und Hunderte regten sich im Schein der flackernden Windlichter, handhabten Schaufel und Spaten, trugen die Verwundeten zum Verbandsplatz, schleppten Möbel aus bedrohten Gebäuden.

Vor den Schächten aber hatten sich die Bergleute gesammelt. Freiwillig waren sie gekommen, im Arbeitskittel, mit Lederschurz und Grubenlampe. Ohne Besinnen, als ein ganz Selbstverständliches, boten sie ihre Hilfe, ihr Leben an, machten sich zur Einfahrt fertig. Die eingerosteten Ketten der Förderschalen ächzten schrill, langsam begannen sich die Räder zu drehen, schnurrten die Seile.

„Glückauf!“

„„Glückauf!““

Und unter der Führung einiger Ingenieure ging es in die feindliche Tiefe, der Gefahr zu Leibe, um nachzuforschen, einzudämmen, abzulenken, Tote zu bergen, und die Schächte vor dem Ersaufen zu bewahren.

Aber noch ein anderes war geschehen.

Durch die ungeheure Erschütterung im Innern der Erde war auch eine der dünnen Wände gesprengt worden, die die weit vorgetriebenen Stollen von den Quellspalten trennten. Die Thermalwasser waren in die Grubenbaue eingedrungen, breiteten sich darin aus, und im gleichen Maße, wie sie in den Schächten stiegen, fielen sie in ihrem früheren Staubecken, bis sie nach dem Gesetz kommunizierender Gefäße hier wie dort mit gleich hohem Spiegel standen, in ersoffenen Schächten einerseits und anderseits so tief unter den Badehäusern, daß die Leitungsröhren nicht mehr bis zum Wasserspiegel reichten. Die heilkräftigen Quellen, der Ruhm und Stolz der Stadt, drohten zu versiegen.

Jetzt freilich wurde eine strenge Untersuchung eingeleitet. Sie enthüllte Ungeheuerliches. Unter dem Eindruck desselben nahmen die Gewerken alle Forderungen ihrer Arbeiter in Bausch und Bogen an, um wenigstens einen Feind vom Hals zu haben und nicht zwischen zwei Feuer zu geraten. Sie hofften auch, daß die Regierung, dadurch zur Milde gestimmt, Gnade für Recht üben und ein Vertuschen der Verbrechen ermöglichen würde. Auch an Hellwig traten sie heran, baten ihn und boten als Anzeigengelder große Bestechungssummen, wenn er die Angelegenheit in seiner Zeitung totschweige. Er wies ihren Vertretern die Tür. Und brachte Artikel nach Artikel, sachlich, trocken, auf Grund amtlicher Feststellungen.

Die Bergwerksinspektoren hatten bisher die Aufsicht nur lax oder gar nicht ausgeübt. So war es möglich geworden, daß sich die Unternehmer seit Jahrzehnten über alle Sicherheitsvorschriften wegsetzen konnten. Am ärgsten schaute es in den Koppensteinschen Gruben aus. Die lagen in der Nähe der Heilquellen und zu beiden Seiten der Eisenbahn. Dort durfte die Kohle nicht abgegraben werden, sollten Stützen, Wände und Pfeiler stehen bleiben zum Schutz der Quellen und der Bahn. So stand es in der Vorschrift. Aber in Wirklichkeit war die Kohle doch abgegraben, und die Pfeiler, Wände und Stützen waren kaum halb so dick, wie es das Gesetz verlangte. Und unter dem Bahnkörper liefen Stollen weg und Gänge. Und darüber, auf der dünnen Rinde, keuchten Tag und Nacht ohne Pause die schweren Lastzüge, donnerten die Eilzüge mit den Kurgästen.

Als durch Hellwigs Zeitung diese Dinge bekannt wurden, ging der übliche Entrüstungssturm durch die Presse. Noch nie hatte ein Provinzblatt solchen Aufruhr erregt. Auch die Blätter des Auslandes rauschten mit. Sie brachten Abbildungen und ergingen sich in schauerlichen Schilderungen der Unfälle, die möglich gewesen wären. Erzählten von kranken Menschen, die voll Hoffnung den Bädern entgegeneilten und nicht wußten, daß der Weg dahin über bereitete Gräber führte. Auch der Reiter über den Bodensee wurde vielfach zitiert. Und man war darüber einig, daß die Inspektoren ihre Pflicht in unverantwortlicher Weise verabsäumt hatten.

Nun wurden Beamte in Massen versetzt, gemaßregelt, entlassen. Koppenstein aber war zugrunde gerichtet. Auf seine Kosten sollten die Hohlräume unter den Schienen ausgefüllt, die schwachen Pfeiler und Schutzwände durch Mauerwerk gesichert, sollte, um die Heilquellen in ihre früheren Wege zurückzudrängen, die Verbindung zwischen den Quellspalten und Gruben durch Dämme und Betonfüllungen gestopft werden. Und die Bahn forderte Ersatz für die unter ihrem Grundeigentum gewonnenen Kohlen, und die Stadtgemeinde, die Besitzer der eingestürzten Häuser, die Hinterbliebenen der Getöteten und die Verletzten stellten ebenfalls Ersatzansprüche. Und überdies drohte ein Strafprozeß wegen fahrlässiger Gefährdung von Menschen, Beschädigung fremden Eigentums, wegen Diebstahls und einer Menge anderer Verbrechen. Das ertrug Koppenstein nicht. Aus dem Gefängnis hätte er sich vielleicht nicht viel gemacht, aber daß die rastlos angehäuften Reichtümer mit einem Schlag in alle Winde zerstieben sollten, das warf ihn nieder. In der Marmorwanne seines Badezimmers öffnete er sich die Pulsadern und verblutete.

Seine Verwandten richteten ihm ein Begräbnis erster Klasse mit jeglichem Pomp. Viele folgten dem sechsspännigen Leichenwagen. In den Augen seiner Standesgenossen war er entsühnt.

Glimpflicher kamen die andern Grubenbesitzer weg. Aber fast keiner war ganz frei von Raubbau und Unterlassungssünden. Da wurden die stolzen Herren gar klein. Auf einmal konnten sie geschmeidig den Rücken beugen, sich entschuldigen, um Gnade betteln. Die Arbeiterfrage war vollständig in den Hintergrund gedrängt. Willig zahlte man die höheren Löhne, suchte alles zu vermeiden, was die Öffentlichkeit noch mehr aufbringen konnte. Aber es dauerte noch geraume Zeit, bis die Anordnungen der Behörden durchgeführt waren und der Skandal halbwegs in Vergessenheit kam.

Jetzt endlich konnte Hellwig aufatmen. Die Kämpfe gegen die Lotterwirtschaft hatten mit ihren schlaflosen Nächten und furchtbaren Aufregungen seinen widerstandsfähigen Körper doch stark mitgenommen. Es war sein Verdienst, daß der Augiasstall gründlich gesäubert wurde. Er war der Herold gewesen, der Rufer im Streit, hatte die anderen wachgerüttelt und rücksichtslos alles aufgedeckt, was sonst vielleicht nur entstellt oder gar nicht in die Öffentlichkeit gedrungen wäre. Als hierauf das große Rauschen der Blätter anhob, schwieg er. Zu stolz, um zu jubeln oder den Besiegten zu höhnen, schwieg er und überließ anderen die Ausnützung des erfochtenen Sieges.

Jetzt war er wieder viel zu Hause, saß beim Fenster und blickte über den Strom hinüber zu den waldigen Bergen, wo schon die Blütenkätzchen aus den Zweigen brachen und die ersten Spitzen des jungen Grüns. Eine leise Schwermut war in ihm, eine gärende Sehnsucht, die nicht Wunsch werden wollte. Wieder war ihm, als müßte er etwas suchen, und wußte doch nicht was. Fühlte er den Drang zum Schaffen, das Verlangen nach irgendeiner befreienden Tat, fand aber weder Umriß noch Plan.

Es war bald recht still um ihn geworden. Selten besuchte ihn jemand. Sie waren ihm dankbar, sprachen mit anerkennenden Worten von seiner energischen Führung. Aber da sie ihn nicht mehr brauchten, hatten sie keinen Anlaß, zu ihm zu gehen. Nur Pfannschmidt kam regelmäßig. Der arbeitete nicht mehr im Schacht. Hellwig hatte sich an die Parteileitung wegen Beigabe einer Hilfskraft gewendet und den Bergmann in Vorschlag gebracht. Das war genehmigt worden, und so saß Pfannschmidt nunmehr in der Schriftleitung, besorgte die laufenden Geschäfte und fühlte sich endlich auf einem richtigen Platz.

8.

Es war bereits Frühling geworden, als Fritz eines Tages die Nachricht erhielt, daß Doktor Kreuzinger gestorben sei. Da fuhr er mit dem nächsten Zuge nach Neuberg. Seit sechs Jahren war er nicht mehr dort gewesen. Und was lag alles dazwischen. Erst als ein Vorkämpfer des Deutschtums von den Studenten gepriesen, dann als Verräter und Feigling in Acht und Bann getan, von allen Leuten als Verkommener und Verlorener abgeurteilt, kehrte er jetzt wie ein Sieger zurück. Der Streik hatte seinen Namen überall bekannt gemacht. Auch die klerikalsten Neuberger waren stolz, daß ein Kind ihrer Stadt so was hatte leisten können. Und kaum daß er vom Bahnhof ins Städtchen kam, sprach ihn jeder, der ihn noch erkannte, mit grüßenden Worten an, wollte ihm die Hand drücken, fragte, ob er sich noch seiner erinnern könne. Sein Name war aber auch monatelang täglich in allen Wirtshäusern genannt worden. Sogar Professor Hermann hatte voll Genugtuung erklärt, daß Fritz Hellwig sein Schüler und wie begabt er gewesen sei. Und nur Pater Romanus hatte dann immer säuerlich-süß den Mund verzogen und ein paar Worte fallen lassen vom Hochmut, der vor dem Fall kommt. —

Doktor Kreuzinger hatte einen wunderschönen Tod gehabt. An einem warmen Frühlingsmorgen war er auf seiner Gartenbank eingeschlafen, das neueste Werk eines berühmten Forschers mit dessen eigenhändiger Widmung auf den Knien. Die Vögel sangen über ihm im Buchenbaum, die Sonne streichelte sein weißbärtiges Antlitz. Und als sie ihn so fanden, glaubten sie, er lächle aus einem schönen Traum heraus. Nun lag er zwischen seinen Sammlungen aufgebahrt und sollte nach Gotha zur Feuerbestattung gebracht werden. Heinz und Kolben, Fritz und Wart Nikl trugen die Bahre zum Bahnhof. Priester war keiner zugegen. Und nur wenige Freunde folgten dem Sarge des als gottlos Bekannten. Denn die Stadt war ganz in den Klauen des Klerikalismus und es gehörte Mut dazu, sich diesem unduldsamen Riesen entgegenzustellen.

Und über den Toten weg ging das starke Leben unbekümmert weiter.

Eva, der kleine Backfisch von einst, war groß und reif und frauenhaft geworden. Die Trauer um den Großvater lag über ihrem Frohsinn wie der weiche Flaum auf der Schale einer schönen Frucht. Aber die schlanken Glieder regten sich wie unter unerwünschten Fesselbändern, und hinter den ernsten Mienen drängte verhalten die Daseinsfreude zum Durchbruch. So stand sie im Garten vor Fritz, am Tag nach dem Begräbnis, und mühte sich ruhig zu erscheinen, während ihm ihre ganze Jugend entgegenzitterte. Gleichgültige Dinge redete sie, und hätte ihm doch am liebsten zugerufen: „Steh nicht so hölzern da! Nimm mich in deine Arme! Dort gehör’ ich hin, ich bin ja dein ...“

„Haben Sie wirklich nicht an mich gedacht? Die ganze Zeit her nicht? Nicht einen einzigen Gruß hatte mir Heinz zu melden!“

Er blickte ihr in die schimmernden Augen.

„Aber von Ihnen hat er mir einmal einen Gruß ausgerichtet,“ sagte er langsam. Sie wurde rot. Er fuhr fort: „Ich dank’ Ihnen heute dafür. Und wenn ich es nicht durch Heinz hab’ besorgen lassen ...“ Er stockte und wollte hinzufügen: „Sie sind mir zu gut dafür.“ Aber das brachte er nicht über die Lippen, sondern meinte nur: „Was hätten Sie auch davon gehabt?“

„Mich hätt’s gefreut!“ antwortete sie leise.

„Kann man sich über leere Worte freuen?“

„Ah — wenn es nur leere Worte gewesen wären — dann gewiß nicht!“ Das klang zornig. Und als er zögernd fragte: „Wofür hätten Sie’s denn sonst gehalten?“, zuckte sie die Achsel: „Wenn Sie das nicht selbst wissen ... übrigens, ich hab’ auch ohne das gelebt!“

Mit einer schnellen Wendung kehrte sie sich von ihm weg.

Fritz konnte sich die plötzliche Ungnade nicht erklären. Und weit entfernt, den wahren Grund auch nur zu ahnen, ritt er sich mit seiner bärentatzigen Ehrlichkeit noch tiefer hinein: „Ich hab’ nichts Schlimmes dabei gedacht, Fräulein Eva. Ich hab’ nur gemeint, so durch einen Vermittler ... Wenn ich’s aber weiß ...“

Da unterbrach sie ihn bös: „Sie bilden sich doch nicht am Ende ein, daß ich um Ihren Gruß stehe? Den können Sie schon behalten. Mir liegt gar nichts daran!“, gab sich einen Ruck, warf den Kopf in den Nacken und rauschte stolz davon.

Fritz sah ihr nach, wie sie über den Hof ins Haus schritt und fühlte den zornigen Wunsch, ihr nachzustürzen, sie an den Armen zu packen und zu schütteln: „So versteh mich doch!“ Da drehte sich das Tor in quietschenden Angeln, fiel hinter dem blonden Fräulein ins Schloß. Und mit einem Male war der weite Hof mit den regsamen Arbeitern, den zahlreichen Fuhrwerken und den stampfenden Pferden öd und leer. Wie von fernher kommend rauschte der Lärm der Auflader an seinem Ohr vorüber. Und während Minute um Minute verrann, fühlte er erst noch dumpf, dann bewußter, deutlicher und erkannte endlich mit ganz scharfer Klarheit, wie es um sein Herz eigentlich stand.

Im selben Augenblick legte ihm der Kaufmann die Hand auf die Schulter.

„Nanu?“ sagte er. „Sie stehen ja da wie der steinerne Roland beim Röhrkasten!“

Fritz fuhr zusammen, schaute den gemütlichen Mann mit fremden Augen an.

„Wissen Sie,“ sprach dieser weiter, „wissen Sie, das gefällt mir gar nicht von Ihnen! Himmel, Schimmel, wenn man jung ist, soll man wie ein Eichkatzl sein und die Welt zusammenreißen vor lauter Lebendigkeit! Nicht so leutscheu und winkelheimlich! Wenn Sie sich jetzt sehn könnten! Das Gesicht! Die Milch gerinnt, wenn Sie hineinschaun! Was ist denn eigentlich mit Ihnen los?“

Und als Fritz auch darauf keine Antwort gab, schüttelte er bedenklich den Kopf: „Sonderbar, die Leute von heute! Der meinige ist gerade so! Wenn man Sie ansieht, meint jeder, Sie könnten nicht bis drei zählen. Und wenn’s nicht wahr wär’, möcht’ ich niemals glauben, daß so ein Mannl die Raubritter da oben zusammenhaut und die Kohlen so teuer macht, daß man sie bald nicht mehr wird bezahlen können!“

„Es hat so kommen müssen,“ antwortete Hellwig gedankenlos, „mein Verdienst ist’s nicht.“

„Kruzitürken und Chineser, bescheiden sind Sie auch? Das hat noch gefehlt! Sagen Sie mir nur, was hat man denn von der Bescheidenheit? Höchstens, daß man tüchtig übers Ohr gehauen wird. Auftreten muß man heutzutage: ‚So bin ich und wenn ich euch nicht pass’, steigt mir alle auf den Buckel!‘ — Das gibt einem erst Gewicht! — Mein Schwiegervater war auch so einer. Nur ja nicht merken lassen, daß er mehr versteht wie die andern. Und er hätt’ sie doch alle in die Tasche stecken können. Aber der dümmste Kerl hat sich vor ihm in der Sonne den Bauch wärmen dürfen, und er ist zufrieden im Schatten sitzen geblieben. So ein Wesen begreif’ ich einfach nicht.“ —

„Er hat ...,“ entgegnete Fritz versonnen, „er hat — die fremde Wärme nicht gebraucht. Er hat von uns überhaupt nichts gebraucht, hat alles in sich selber gehabt. — Wie Bettler sind wir vor ihm gestanden. Haben uns beschenken lassen und — konnten nicht einmal dafür danken. Weil er auch für unsern Dank zu reich gewesen ist. Wir — verlieren uns hundertmal — an die Erde — an die Menschen — verzetteln und verpulvern uns — damit wir nur nicht an uns zu denken brauchen und an unsere Armut. Glück suchen nennt man das. Er — ist mit sich allein geblieben — ist groß genug gewesen zum Alleinsein — und hat das Glück gehabt. Von den Ranken, die sein Herz getrieben hat, ist keine verdorrt. Sie sind um die Welt gewachsen, ja — ganz rund herum sind sie gewachsen und doch alle wieder in seinem Herzen zusammengekommen. So war er.“

Während er sprach, schaute er unablässig auf einen blauen Ölkäfer, der seinen dicken Leib träg über den Kiesweg ins Gras schleppte. Jetzt schwang sich ein Spatz vom blühenden Apfelbaum, nahm das Kerbtier in seinen Schnabel und flatterte durch den Sonnenschein davon. Ein paar weiße Blütenblätter fielen lautlos wie Flocken vom schwingenden Ast auf den grünen Rasen.

Wart Nikl räusperte sich und nahm Hellwigs Hand zwischen seine beiden.

„Ich versteh’ nicht, was Sie da gesagt haben. Aber fühlen kann ich’s schon, wie Sie’s meinen. Ein Alter, über den die Jungen so reden, der muß wohl viel wert gewesen sein.“ Und als ob er den düster Starrenden trösten wollte, fügte er hinzu: „Er hat Sie sehr gern gehabt.“

Fritz lächelte bitter. Über den Hof herüber rief die krähende Stimme eines Lehrbuben nach dem Kaufmann.

„Kopf hoch, Fritz!“ sagte er noch. Und mit verlegener Herzlichkeit: „Wissen Sie, ganz so ohne sind Sie auch nicht. Ich hab’ ordentlich einen Respekt vor Ihnen, Kreuzdonnerwetter! Den krieg’ ich vor solchen Grünschnäbeln nicht so bald!“

Und fort war er.

Hellwig atmete auf. Fluchtartig, damit ihn nicht abermals jemand aufhalte, hastete er durch die rückwärtige Gartentür auf die Gasse und lief seinen alten Weg über die Brücke, die Hügellehne hinan zu den stillen Lichtungen, wo im Sommer die Erika glühte. Jetzt standen späte Himmelschlüssel in den Fluren und in heimlichen Waldwinkeln unter Strauchwerk versteckt blühten die Maiglöckchen auf.

Er suchte die Einsamkeit. Aber er fand sie nicht. Überall regte sich’s, trieb Blätter, surrte um Blumen, flatterte, zwitscherte, lockte und holte sich die Genossin. Da warf er sich mit dem Gesicht nach abwärts auf den Boden und deckte die Hände vor die Augen. Er schämte sich seiner Liebe. Weil sie ihn von einem andern Wesen abhängig machte, ihm die Selbständigkeit raubte, als ein Fremdes von seinem Herzen Besitz ergriff, seine Ziele verdunkelte und Zwiespalt in sein Wollen brachte, ohne daß er sich davon befreien konnte. Er bäumte sich dagegen, wollte das Gefühl ersticken und den Zwang abschütteln. Aber immer wieder drängte sich das Bild des schlanken Mädchens unter seine wirbelnden Gedanken, zwang ihn, an schimmernde Augen zu denken, an trotzig geschürzte Lippen und blondes Haar, das über einem feinen Gesicht wie ein Goldhelm leuchtete.

Und endlich erlahmte ihm die Kraft zum Widerstand. Auf dem Rücken liegend, schaute er traumverloren in das durchsonnte grüne Netz der Äste, ließ sich von seiner Sehnsucht leise wiegen. Ein Kuckuck schrie aus der Ferne immerzu. Und jetzt sang auch von irgendwo eine schmetternde Männerstimme in den fröhlichen Wald hinein:

„Es fallen drei Sterne vom Himmel,
Die geben hellen Schein.
Wer wird uns früh aufwecken
Beim braunen Mädelein?
Ei, wer uns früh aufwecken wird?
Das tun die Waldvögelein.
Die wecken uns all die Morgen
Beim braunen Mädelein!“

Ein übermütiges Jauchzen klang dem Liede nach.

Da riß sich Fritz ungestüm aus der weichen Stimmung. Was war ihm denn so Großes widerfahren, daß er müßig sein und schlaff werden durfte? Hatte sich eine Ranke, die sein Herz getrieben, um ein blondes Mädel geschlungen und war nach diesem Umweg wieder zu ihm zurückgewachsen? Fast höhnisch lächelte er. Nun, und wenn? Sollten deswegen die anderen verdorren? Er bewegte die Unterarme mit den geballten Fäusten vor sich, wie wenn er einen Stab zerbrechen wollte. Und den trotzigen Blick geradeaus gerichtet, als sähe er an den Stämmen vorbei nach einem nahen Ziel, schritt er durch den Wald. Niemand sollte ihn mehr abdrängen! Niemand!

Andern Tags reiste er ab. Beim Abschied vermied er, Eva die Hand zu reichen.

9.

Otto Pichler hatte das letzte Rigorosum abgelegt. Glühend vor Freude eilte er nach Haus, umarmte die Wondra, und dann, in seiner Stube, begann er unverweilt seine neue Unterschrift einzuüben. Dr. Otto Pichler. In markigen Buchstaben, mit einem schwungvollen Schnörkel. Aber das genügte ihm nicht. Er kniete auf den Fußboden nieder und wohl fünfzigmal schrieb er mit Kreide auf die braunen Bretter: Dr. Otto Pichler. Und immer markiger wurden die Buchstaben, immer besser gelang der Schnörkel.

Seine Beziehungen zu Hellwig hatte er schon längst wieder lose angeknüpft. Der Umstand, daß Heinz Wart, Kolben und Fritz bei den Freien Blättern wirkten, hatte auch ihn zu einer Schwenkung ins sozialistische Lager veranlaßt. Denn es schien ihm nicht unmöglich, daß er, von den einstigen Freunden unterstützt, auf dem guten Sprungbrett der Journalistik sich später in eine angesehene Stellung hinüberschnellen könnte, in ein Reichsratsmandat oder ähnliches. Klug und mit kühlem Bedacht arbeitete er auf dieses Ziel los. Er verstand gewandt, geistreich und witzig zu schreiben, sein Stil war wie seine Rede, flott, frisch und lebendig, und was seiner Überzeugung an Tiefe fehlte, ersetzte er durch schöne Worte und verblüffende Wendungen. Mit Warts Hilfe gelang es ihm, seine Aufsätze bei den Freien Blättern unterzubringen, und bald hatte er als Feuilletonist einen kleinen Ruf. Seine Schreibweise gefiel, das Publikum las die schaumleichten Sächelchen gern, die sich noch obendrein wissenschaftlich gaben und viele interessante Dinge ‚populär‘ darstellten. Aber auch mit den Herminonen kam er deswegen nicht über Kreuz. Er wußte alle heiklen Klippen geschickt zu umsegeln, so daß er nach wie vor ungestört in der Gesellschaft der Studenten verkehren konnte.

Hellwig aber hegte gegen ihn keinen Groll mehr. Er war reif genug geworden, um das Verhalten des einstigen Freundes damals bei der Satisfaktionsverweigerung als jugendliche Torheit zu belächeln. Nach wie vor glaubte er an die ehrliche Tüchtigkeit, hielt er viel von den Fähigkeiten des Schulkameraden, und von der fröhlichen Leichtigkeit, mit der Otto das Zutrauen der Leute und ihre Sympathien eroberte, ließ auch er sich immer wieder gefangen nehmen.

Als ihn daher, nach dem Ende des Streiks und der Aufregungen, die Ruhe und Tatenlosigkeit zu quälen anfing, während in Wien große Dinge sich vorbereiteten, der Kampf um das allgemeine Wahlrecht mit aller Wucht aufgenommen werden sollte und auch sonst dort, im Aneinanderprallen des kühnsten Fortschritts und der verbissensten Reaktion, die Kräfte immer frisch und stahlblank blieben, — als ihn das nun in der tiefen, schlaffen Stille der Provinz zu quälen und zu locken anfing, da schrieb er an Pichler, ob er sein Nachfolger werden wolle. Wenn ja, möge er sich bei der Parteileitung darum bewerben, er, Hellwig, gedenke wieder zu den Freien Blättern zurückzugehen.

Und Pichler, der neugebackene Doktor, überlegte sich das nicht zweimal. Hier bot sich ihm ein Anfang, ein festes Einkommen, eine selbständige Stellung und die Möglichkeit, von dort aufzusteigen, alles schöner, als er zu hoffen gewagt. Deswegen säumte er nicht lang, fuhr nach Wien, stellte sich vor, setzte alle Hebel in Bewegung. Und von Wart und Hellwig warm empfohlen, von Doktor Kolben nicht im Stich gelassen, glückte es ihm auch, den Posten zu erhalten.

Die Begegnung der einstigen Freunde war nicht gerade herzlich, aber auch nicht farblos. Eine Entfremdung war vorhanden, aber dafür auch jene ruhige Kameradschaft, wie sie zwischen Männern ist, die an demselben Werk mitarbeiten. Eine Woche verwendete Fritz daran, den Nachfolger einzuführen und sattelfest zu machen. Dann packte er seine Sachen und nahm Abschied von allen. Nicht leichten Herzens ging er fort. Und ungern ließen ihn die Arbeiter ziehen. Einzeln und in Abordnungen waren sie gekommen, hatten ihn umstimmen, zum Bleiben bewegen wollen. Und gar der alte Faßbinder hatte sich schon lang nicht hineinfinden können. Immer wieder war er auf die Schönheit der Gegend zu sprechen gekommen, auf die starke Luft, die Ruhe, auf alle Vorzüge der Gegend und seines idyllisch gelegenen Hauses. Und erst als das alles ohne Erfolg geblieben war, hatte er sich leidvoll in seine Kammer hinter einen Wall von Bierflaschen zurückgezogen und hatte dort mit Tränen in den Augen ohne Aufhören getrunken und getrunken, bis ihm der Kopf schwer auf die bier- und tränenfeuchte Tischplatte gefallen und das jammervolle Schluchzen in ein gewaltiges Schnarchen übergegangen war. Das war eine würdige Abschiedsfeier gewesen, denn betrinken tat sich der hoch geeichte Meergreis nur in ganz seltenen Ausnahmefällen. Und von jener Stunde an trug er das Unvermeidliche mit männlicher Fassung.

Pichler fand sich rasch zurecht. Viel brauchte es ja nicht dazu. Alle Wege waren ihm geebnet worden, alle Räder griffen pünktlich ineinander, Pfannschmidt arbeitete wie ein Zughund, und Otto hatte eigentlich nichts zu tun, als sich in das bereitete Nest zu setzen und zuzusehen. Sein schmiegsames Wesen, seine lächelnde Liebenswürdigkeit machten es ihm leicht, mit den Arbeitern schnell in ein gutes Verhältnis zu kommen. Und sie fanden bald, daß der Neue, der ihnen so freundlich um den Bart ging und der sie niemals durch eine kantige Schroffheit verletzte, daß der Neue nicht so übel wäre. Auch gefiel ihnen, daß er stets tadellos gekleidet ging, zu repräsentieren verstand und nicht in der Vorstadt wohnte, sondern nahe der Schriftleitung in einem schönen Zinshaus zwei Zimmer innehatte. So streute er diesen einfachen Leuten Sand in die Augen und blendete sie durch einen glanzvollen Schein. Er machte sich aber auch mit der ‚guten Gesellschaft‘ der Stadt bekannt und hielt es für nur selbstverständlich, Richard Deming, den einflußreichen Direktor der chemischen Fabrik, höflich zu grüßen, seit er ihm einmal in einer Versammlung vorgestellt worden war. Die Anna Bogner aber, die achtzehnjährige Tochter des Kesselwärters, erkor er sich — ohne Frauen konnte er nicht mehr sein — die Anna erkor er sich zu seiner heimlichen Geliebten.

Er sah das braunhaarige Mädchen, das in der Zeitungsdruckerei beschäftigt war, fast täglich und es gefiel ihm. Klein, rund und frisch, trug es sich immer nett und sauber, schaute aus klaren Augen vergnügt ins Leben und ließ beim Lachen alle Zähne blitzen. Es lachte gern und viel, war stets gutes Mutes, freute sich bei der Maschine auf den Feierabend, wenn es regnete, auf den Sonnenschein und wenn die Sonne schien, über den lustigen Glanz in der Welt und im jungen Herzen.

So war die Anna, bis sich ihr Schicksal erfüllte. Ganz gewöhnlich fing es an. Blicke herüber und hinüber, erst vorsichtig sondierend, bald aber kühner werbend und eindringlicher. Dann griff Otto nach dem Hut und grüßte. Da erschrak sie, sah darein, als faßte sie es nicht, war erstaunt, verlegen, geschmeichelt, hastete purpurrot weiter. Aber sie schaute doch noch einmal über die Schulter zurück, ob sie sich denn wirklich nicht getäuscht habe, und da stand der fesche Doktor mit dem dunklen Schnurrbart noch an der Ecke und winkte mit der beringten Hand.

Andern Tags klopfte ihr das Herz bis zum Hals hinauf, als sie ihn kommen sah. Beklommen trippelte sie vorwärts in Harren und Bangen, fürchtete schon, er sei gleichgültig vorüber gegangen. Aber da zog er gerade wieder höflich den Hut. Nun neigte sie, wie sie sich fest vorgenommen, mutig den kraushaarigen Kopf zum Dank, steif genug, verschämt und beglückt.

Dann dauerte es keine Woche mehr, bis er ihr ein Briefchen zusteckte und um ein Stelldichein für den Sonntag bat. Jenseit des Stromes wollte er sie treffen, draußen im Freien, wo schon die Wälder anfingen und nicht so leicht ein Bekannter hinkam.

Und das junge Ding zog sein bestes Kleid an, schmückte sich wie zum Fest und wartete eine halbe Stunde vor der angegebenen Zeit bereits am Waldrand.

Drei rote Rosen zwischen den Fingern, kam Otto gegangen und schon von weitem schwenkte er grüßend den weißen Panamahut. Mit einer Verbeugung überreichte er ihr die Blumen. Schüchtern griff sie darnach, steckte sie mit hastenden Fingern vor die atmende Brust, kam nicht gleich damit zurecht, schämte sich und stand mit gesenkten Wimpern in einer argen Verwirrung. Aber er half ihr rasch darüber weg, sagte ihr ein paar Artigkeiten im leichtesten Plauderton und benahm sich ungezwungen, als treffe er sie nicht das erstemal, sondern kenne sie schon lang und gut. Da verlor sie die Scheu, taute auf und fing nun ebenfalls zu erzählen an, von ihrer Arbeit, von den Tongebilden ihres Vaters, den Liebhabern ihrer Freundinnen. Gönnerhaft hörte er zu, fand das Schwatzen abgeschmackt, aber das Mädel hübsch und schritt, das Stöckchen schwingend, in fröhlicher Zuversicht an ihrer Seite.

Der Wald war still und erwartungsvoll, durch die grünen Büsche schimmerte es wie goldene Gewänder, blitzte wie sonnige Augen, mit blauen Kelchen standen die schlanken Glockenblumen, und die Anna pflückte sie zum Strauß. Weiße Waldorchideen ordnete sie mit hinein und die nickenden Blütenturbane des Türkenbunds, durch dessen Berührung Juno einst den Mars empfing. Geschmeidig bog sie den Körper, sprang wie ein Hirschlein zwischen den Bäumen und funkelte ordentlich vor Lebenslust. Immer besser gefiel sie dem jungen Manne. Unternehmend strich er den weichen Schnurrbart empor, faßte die Warme mit der Rechten von rückwärts um den Leib, bog mit der Linken ihr glühendes Gesicht zu sich herüber und küßte sie auf den Mund.

„Nein, so was ... aber Herr Doktor!“ wehrte sie ihm schämig und versuchte loszukommen. Es war ihr jedoch nicht ernstlich darum zu tun, sie sträubte sich zwar ein wenig, weil sie es für schicklich hielt, schmiegte sich dabei aber nur fester in seinen Arm. Da küßte er sie nochmals und gab sie dann frei. „Du gefällst mir, Annl!“ sagte er und strich mit der Hand über ihre Wange.

„Spotten Sie nur nicht!“ antwortete sie und warf ihm von unten herauf einen schnellen verliebten Blick zu.

„Spotten? Nein, du bist wirklich hübsch! Aber das Sie-sagen mußt du dir abgewöhnen.“

Nun kicherte sie: „Was der Herr Doktor für Einfälle hat! Wir kennen uns ja kaum!“

„Wer bin ich?“

„Der Herr Doktor!“

„Wer?“

„... Sie!“

„Du sollst du sagen! Trau’ dich nur, Mädl! Na?“

Sie schüttelte den gesenkten Kopf, daß alle Spitzen ihrer krausen Haare zitterten. Da legte er den Arm um ihren miederlosen Leib. „Komm!“ sagte er. „Schäm’ dich nicht, wir sind ja allein.“

Sie lehnte sich leicht an ihn.

„Du!“ sagte sie erschauernd und ließ sich widerstandslos fortführen, tiefer und tiefer in den erwartungsvollen Wald.

10.

Hellwig war wieder im alten Fahrwasser, arbeitete viel, sprach in Versammlungen und ruhte sich bei Heinz von der Hetzjagd aus.

So oft er zu ihm kam, müd und abgerackert, oft erst spät abends, fand er den Tisch für sich mitgedeckt, Marie, die zarte, blasse Frau, kam ihm mit sonnigen Augen entgegen, und die Lampe leuchtete hell über weißem Tischzeug, sauberen Dielen und blankem Hausrat. Eng war das Gemach, war Wohn-, Arbeits- und Schlafzimmer, alles in einem, aber die freundlichen Geister des Behagens lugten aus allen Winkeln, schaukelten sich in den Falten der baumwollenen Fenstervorhänge, tollten, ein loser Schwarm, durch die offene Tür in die Küche, wo sie der Marie in den Rostbraten bliesen, daß das Fett prasselnd aus der Pfanne spritzte. Aber nicht immer gab es Rostbraten in der Pfanne. Manchmal, und namentlich wenn der Monatsletzte nicht mehr fern war, lief Heinz zum Greisler hinunter um Käse, Brot und Wurst, und auch ein paar Flaschen Bier brachte er mit herauf. Aber wenn dann die Marie fragte: „Wo hast du die Butter?“ oder „Wo ist denn der Emmentaler?“, da hatte er das gewöhnlich unten auf dem Ladenpult liegen lassen und mußte die vielen Stufen noch einmal hinab und hinauf.

Und wenn sie dann alle drei unter dem weißen Schirm der Hängelampe um den Tisch saßen, war es Hellwig, als sei alle Leidenschaftlichkeit der Fehde verbraust und aller Streit da draußen eingeschlafen, tief ruhig wurde er, und leise schlug ihm das stürmische Herz, ganz leise, auf daß es die heimliche Innigkeit dieser Stätte nicht störe, die voll Liebe und Frieden war. Und kein Schatten wäre in dieser reinen Helligkeit gewesen, wenn Marie nicht manchmal gekränkelt und immer anhaltender gehustet hätte.

Und bisweilen kam jetzt über Heinz wieder der alte Hang zum Herumstreifen in den Elendquartieren. Dann litt es ihn nicht in dem Frieden seines Heims, und mochte die Marie auch noch so freundlich bitten, er ließ sich nicht zurückhalten. Wie an Seilen zog es ihn fort. Da mußte auch Fritz aufbrechen, und manchmal begleitete er dann den Freund.

Und da trafen sie einmal mit Robert Karus zusammen. In einem Bierbeisel trafen sie ihn, wo er Lumpensammlern, Kanalstrottern und zittrigen Bettelleuten die Idee des Anarchismus erläuterte und für die Propaganda der Tat mit ungefügen Worten eintrat.

Hellwig erkannte ihn gleich wieder. Aber auch Karus hatte kein schlechteres Gedächtnis. Mit einem lauten „Hei!“ ließ er die Faust auf den Tisch fallen und rief: „Da schaut her, der Bergprediger! Wie geht’s, Herr Bergprediger, wie steht’s? Ist die friedliche Rebellion vorüber? Fressen die Hündlein wieder hübsch brav aus der Hand?“

Aber ehe Fritz noch antworten konnte, hatten sich die andern Gäste bereits um Heinz geschart. „Das ist ja der Herr Wart!“ — „Guten Abend, Herr Wart!“ — „Wir dachten schon, Sie hätten uns ganz vergessen, Herr Wart!“ hieß es. Sie schüttelten ihm die Hände, waren von dem Wiedersehen sichtlich erfreut.

„Also das ist der Ausbund, der so haarsträubend edle Werke tut!“ sagte Karus und musterte den schmächtigen Mann mit einem raschen Blick von oben bis unten. „Hand her, Heinz Wart!“ rief er dann. Er hielt ihm die haarige Tatze hin. Wart legte seine kühle, schmale Rechte hinein. „Endlich treffe ich Sie!“ sagte Karus mit gedämpfter Stimme. „Ist höchste Zeit gewesen, sonst wär’ ich Ihnen nächster Tage auf die Bude gerückt. Wir zwei gehören nämlich zusammen wie Faust und Arm!“

Heinz war es gewöhnt, auf seinen Streifzügen mit den absonderlichsten Kostgängern des lieben Herrgotts in Berührung zu kommen. Deswegen wunderte er sich nicht weiter über das Gehaben des struppigen Kumpans, setzte sich schweigend zu ihm an den Tisch und Hellwig ebenfalls. Diesem war die Begegnung sehr erwünscht, denn er hoffte jetzt den seltsamen Menschen näher kennenzulernen, der mit ein paar hingeworfenen Worten seine Gedanken wochenlang zu beschäftigen vermocht hatte. Er konnte sich nicht klar werden über das Gefühl, das er für oder gegen ihn hegte, spürte etwas seinem eigenen Wesen Verwandtes in ihm und doch auch wieder etwas, was ihn schroff abstieß und zum Widerspruch reizte.

Dem Karus mochte es ebenso gehen. Die Art, wie er den ‚Bergprediger‘ behandelte, war halb kameradschaftlich, halb gehässig, und immer lief daneben überlegener Spott mit. Jetzt saßen sie also beisammen in der schweren, verdorbenen Luft, tranken schales Bier und die verluderten und zermürbten Gesellen an den anderen Tischen rückten möglichst nahe zu, spitzten die Ohren, und jedesmal, wenn Heinz eine Bemerkung machte, lächelten und nickten sie einander zu, stießen sich an und taten, als wäre ihnen ein Heil verkündet worden, wenn sie auch kaum die Hälfte aller Worte vernehmen konnten. Karus aber rüstete sich zu einem Strauß mit Hellwig.

„Also was?“ sagte er. „Sind Sie in der Provinz glücklich fertig? Wo predigen Sie denn jetzt? Und worüber, wenn’s zu fragen erlaubt ist?“

Fritz wurde nicht zornig und wurde nicht grob. Ganz gelassen blieb er und antwortete so naiv und unbefangen, als es ihm möglich war: „Gegenwärtig geht’s um das allgemeine Wahlrecht.“

„Schöne Sache!“ entgegnete Karus, mit dem mächtigen Schädel nickend, tiefernst. „Schöne Sache! Würdig der edelsten Begeisterung! Nun denken Sie sich aber mal eine große Menagerie. Da sitzen die Tiere alle in engen Käfigen. Der Löwe, der Tiger, die Gemse, der Falk, der Adler, alle sitzen sie in ganz engen Käfigen. Und den Menageriebesitzer wandelt eines Tages ein Mitleid an oder eine gnädige Laune, er stellt einen etwas größeren Zwinger auf und erteilt den Bestien die Erlaubnis, je eine aus ihrer Mitte, welche sie halt wollen, in den größeren Käfig zu entsenden. Und dann springen die abgesandten Löwen, Tiger, Gemsen, Falken, Adler dort drin herum, stoßen mit den Köpfen an das gesetzmäßige Gitter, verletzen sich die Pranken, zerbrechen sich die Flügel, beißen sich die Zähne aus. Und die anderen Vieher sehen das und schreien, quieken, krächzen, brüllen: ‚Hoch unsere Freiheit! Hoch unser allgemeines Wahlrecht!‘ Aber die Eisenstäbe zerbrechen, den Wärter in Fetzen reißen? Das fällt keinem ein! Dazu sind sie zu faul und zu träg! Sie fauchen wohl gegen ihn, aber kommt er ihnen mit der spitzigen Gabel an den Leib, dann ducken sie sich und heulen! Denn schließlich gibt er ihnen doch zu fressen.“

„Sie sind ein sonderbarer Schwärmer, Karus,“ erwiderte Fritz. „Ich meinerseits glaube aber trotz Ihrer schönen Vergleiche, daß das allgemeine Wahlrecht ein guter Sturmbock ist, mit dem wir die Gitter schon brechen wollen. Nur haben müssen wir’s erst!“

Karus lächelte mitleidig.

„So sagen Sie mir doch einmal, was wir nach Ihrer Ansicht eigentlich tun sollen, um frei zu werden?“ rief Hellwig ungeduldiger.

Da ging ein heftiger Ruck durch die gedrungene Gestalt des wilden Gesellen, aus seinen Augen brach ein unbändiges Feuer. Aber seine Stimme klang beinah gemütlich, als er jetzt sagte: „Dreinschlagen!“

„Wozu?“ meinte Hellwig achselzuckend. „Wir erreichen auf friedlichem Weg mindestens genau so viel.“

Da klopfte ihm Karus auf den Rücken und sprach: „Lieber junger Freund, wie stellen Sie sich denn das vor: Auf friedlichem Weg? Die wilden Tiere im Käfig wollen heraus, nicht wahr? Und wenn nun so eine graziöse Löwendame oder ein feuriger Tigerjüngling kommt und den Wärter bittet, er solle doch so freundlich sein und das unangenehme Gitter entfernen, so wird der Wärter natürlich nichts Eiligeres zu tun haben, als diesem gewiß berechtigten Wunsche zu willfahren. Alle Bestien wird er herauslassen, damit sie dann über ihn herfallen und ihn vor lauter Dankbarkeit auffressen. Nicht wahr, so würde es kommen? Und das ist das, was Sie meinen mit dem ‚Auf friedlichem Weg‘?“

„Nicht so ganz, Herr Karus. Sie sagten ja vorhin selbst, daß der Käfig, wie Sie sich auszudrücken beliebten, immer weiter wird. Nun, und einmal wird er eben so groß sein, daß wir das Gitter nicht mehr sehn und spüren. Das ist doch gewiß auf friedlichem Weg zu erreichen.“

Karus lachte hell auf.

„Und das soll die Freiheit sein? So stellen Sie sich die Freiheit vor? Wirklich so? Ich bedanke mich für so eine Freiheit! Ich will fliegen — und stoß’ mir den Schädel an der Decke ein. Ich will ein bissel weiter spazieren gehn, krach, renn’ ich — ob früher, oder später, einmal doch — ans Gitter und kann nicht weiter. Muß ich da nicht die Stäbe zerbrechen, wenn ich hinaus will? Und wenn ich allein zu schwach bin — zum Teufel, hundert Fäuste knicken das Zeug schon entzwei! Aber feig sind die Kerle! Feig und faul! Ihr eigenes Fleisch haben sie zu lieb, und ihre einzige Sorge ist der Magen! Nein, nein, Bergprediger, damit ist’s nichts! Wenn der Zwinger auch noch so groß ist, es bleibt eben immer ein Zwinger. Und die Freiheit verträgt kein Gitter!“

Heinz saß da, die Linke vor den Augen und die Stirn in die Spanne zwischen Daumen und Zeigefinger gestützt, hielt ein abgebranntes Zündholz in der andern Hand und versah die runden Umrisse der Bierlachen mit strahlenförmigen Ausläufern. Mit Fleiß und Sorgfalt tat er das und bemühte sich, alle gleich lang und schön regelmäßig zu machen. Aber als Karus schwieg, begann er unvermittelt zu sprechen.

„Nein,“ sagte er, „kein Gitter und kein Eisen. Weil wir ja keine wilden Tiere sind, sondern Menschen. — Es sollte keine Fesseln unter uns geben, keine Käfige und keine Kerker. Und es sollte auch niemand unter uns Macht haben, andere darin festzuhalten. Weder ein einzelner noch ein Volk oder ein Staat. Niemand. Weil — wer nicht für mich ist, der ist wider mich ... das ist auch eine falsche Formel. Jeder für sich — und keiner wider den andern: so müßte es sein. Und bis das so sein wird, dann sind wir alle edel genug, die Freiheit zu ertragen. Weißt du, Fritz ...“

So redete er, und da er seine Haltung nicht änderte, war es, als ob er in die Tischplatte hinein spräche. Aber das Zündholz war in seiner Hand zerknickt, und seine Wangen waren ganz tiefrot geworden.

„Gehn wir!“ sagte er nach einer langen Pause und atmete schwer auf.

Sie traten ins Freie. Karus faßte ihn unterm Arm. „Faust und Arm!“ sagte er noch einmal. „Oder Muskel und Nerv! Komm, Heinz Wart!“

Fritz ging schweigend nebenher und sah in den Himmel hinauf, der ganz hell ausgesternt war. Und wieder fühlte er, wie schon öfter: wenn der stille Heinz seine leidenschaftliche Stunde hatte, dann sagte er Dinge, die seltsam überzeugend klangen. Und er sagte sie in so sonderbar eindringlichem Ton, daß keine Entgegnung sich regen konnte. Und doch mußte es eine Entgegnung geben, das spürte er ganz deutlich und wußte nur nicht, wo die Lücke war, wo er den Fuß einsetzen mußte, um über die glatte Mauer hinüberzukommen.

Karus fing an, aus seinem Leben zu erzählen.

Er war Hilfslehrer gewesen, aber seine vertrotzte Natur konnte sich in kein Joch beugen. Statt die Buben zu pflichtbewußten Staatsbürgern zu erziehen, redete er zu ihnen von der sozialen Bewegung und vom Anarchismus, füllte ihre jungen Seelen mit dem wilden Freiheitsdrang, der in ihm selbst brauste. Keine Verwarnung fruchtete. Schließlich wurde er auf unbestimmte Zeit beurlaubt. Da wußte er, woher der Wind blies und kam um seine Entlassung ein. Und dann durchwanderte der Doktor der Weltweisheit Robert Karus fast die ganze Erde, machte den Aufstand der Insel Kreta mit, war auf den Philippinen einer der Insurgentenführer, wurde in Rußland wegen nihilistischer Umtriebe nach Sibirien geschickt, floh von dort durch Persien über den Ganges nach Indien und war jetzt endlich wieder in seine Heimat zurückgekehrt, als Fünfzigjähriger dieselbe Glut und Freiheitssehnsucht im Herzen, die ihn als Jüngling in die Welt hinausgetrieben hatte. Vorläufig wollte er ausruhen, wie er es nannte, und verdiente sich sein karges Brot, indem er armen Handelsbeflissenen, die in Anbetracht der geringen Vergütung gern sein verwahrlostes Äußere mit in den Kauf nahmen, Unterricht in Französisch, Englisch, Spanisch, Russisch erteilte.

Heinz Wart schloß sich seit diesem Tage ganz an den alten Revolutionär an, war fortwährend mit ihm beisammen und wurde noch blasser und stiller als vorher. Und noch größer und rätselvoller als vorher standen ihm die heißen dunklen Augen im schmalen Gesicht.

11.

Pichlern ging es ungemein wohl. Sein Schifflein schwamm auf glatter Flut, kein böser Windstoß rührte gefährliche Wogen auf, nirgends zeigte sich eine Wetterwolke. Die Arbeit lief wie am Schnürchen, die Leute hatten ihn gern, er war überall beliebt. Und wenn ihm etwas seine Laune trübte, so war’s jetzt sein Verhältnis zur Anna Bogner.

Sie hatte ihm alles gegeben, was so ein schlichtes armes Ding einem Mann wie Pichler überhaupt zu schenken vermochte, stand nun ratlos, fremd, wie verloren in der Welt und hatte niemanden, an den sie sich klammern konnte, als eben ihn. Gerade das aber wurde ihm bald lästig, der Reiz der Neuheit war vorbei, der Schmetterlingsstaub von den Flügeln gestreift, die einfache reine Seele des guten Kindes konnte ihn nicht fesseln. Es kam die Überlegung, die Furcht vor einer möglichen Entdeckung, der Überdruß. Seltener bat er sie um eine Zusammenkunft, entschuldigte sich mit dringenden Geschäften. Und sie ließ sich alles gefallen, sah ihr Glück — es hatte kaum sechs Wochen gewährt — verblassen und war geduldig und gläubig und treu wie ein Hund. Aber ihre Munterkeit war weg, kaum lachte sie noch oder freute sie sich über den Sonnenschein.

Und endlich blieb Otto ganz fort. Acht, vierzehn Tage wartete sie, aber er gab kein Lebenszeichen, war für sie wie vom Erdboden verschwunden.

Er birschte in anderen Gefilden. Dort war Grete Deming, die Tochter des kaiserlichen Rates Richard Deming, der bei der großen chemischen Fabrik den Direktorposten innehatte. Das war ein scharfsichtiger und besonnener Selfmademan, dem das kühle Blut auch in den schwierigsten Lagen nicht in raschere Wallung kam. Er war von festgefügtem Knochenbau, ziemlich groß, stark, doch nicht fett, hatte breite Hände und trug den grauen Backenbart zu beiden Seiten des ausrasierten Kinnes kurz geschoren. Nie war das Unternehmen besser geleitet, der Gewinn größer gewesen, als seit Deming an der Spitze stand. Geschäftsmann durch und durch, von modernem Geist erfüllt, kühn und wagemutig, wußte er günstige Marktlagen rasch zu packen, tatkräftig auszunützen und hatte noch immer gegen die Vorsichtigen und Ängstlichen recht behalten. Er war seit Jahren Witwer und hatte eine Tochter, das Fräulein Grete Deming, eine dunkeläugige Schöne, die gertenschlank auf dem Kutschbock saß und mit festen kleinen Händen ihren Traber lenkte. Umschwärmt und begehrt, ging sie gleichgültig an dem Schwarm ihrer Bewunderer vorbei, nicht warm, nicht kalt, ein wenig hochmütig, ein wenig herablassend und sehr selbstbewußt. Sie war schön, war jung, das einzige Kind ihres reichen Vaters und deshalb nahm man ihr nichts übel, fand auch ihre Unarten reizend, und viele Mädchen der Stadt gingen mit leicht vorgebeugtem Oberkörper und leise schaukelnden Hüften, trugen Reitgerten und rauchten Zigaretten, ganz wie Grete Deming. Es gab eine Grete-Deming-Frisur, ein Barett, einen fußfreien Rock, eine Tüllkrause à la Grete Deming. Aber keiner einzigen saß die runde Nerzmütze mit dem Reiherstoß so fesch auf welligem Haar, fiel der glatte Rock auf einen so tadellos fein geknöchelten Fuß, hob sich pfirsichfrisch und rassig aus den weißen Tüllwogen ein so pikantes Gesicht — wie eben dem Fräulein Grete.

Pichler sah sie vorüberfahren, blickte ihr nach und stand wie gebannt. Ein eigenes Gefühl drängte sich in sein Herz, weh und schmerzhaft, als sei ihm ein Glück bestimmt gewesen, und er habe es leichtsinnig selbst verscherzt. Unwürdig kam er sich vor und doch wieder wertvoll genug, nach den höchsten Kränzen zu langen. Verheißende Möglichkeiten blitzten in der Ferne, Ahnungen von Genüssen, um die er sich gebracht, Sehnsucht nach einer geistreichen und glanzvollen Gesellschaft, von der er sich freiwillig ausgeschlossen hatte. Fast reute ihn, daß er so offen eine politische Gesinnung zur Schau gestellt hatte, statt in ein Staatsämtchen zu schlüpfen oder einen anderen standesgemäßen Beruf zu ergreifen. Und stärker und bestimmter kam ihm der Vorsatz, daß seine jetzige Beschäftigung nur einen Übergang darstellen durfte, da weder seiner Stellung als gebildeter Mensch, noch seinen Fähigkeiten der ständige Verkehr mit den untersten Volksschichten angemessen sei. Und so begann er denn seine Läuterung dort, wo ihm der Verkehr mit den untersten Volksschichten dermalen am unangenehmsten geworden, bei Anna Bogner. Er war sich selber für ein solches Verhältnis zu gut geworden.

Die Anna wartete geduldig noch eine Woche lang, dann aber faßte sie sich ein Herz und ging zu ihm. Sie wollte Gewißheit haben, das Harren und Bangen quälte gar zu sehr.

Zaghaft klopfte sie an, trat zaghaft ein. Da war gerade Karl Pfannschmidt anwesend und beriet die Zusammenstellung der nächsten Zeitungsnummer mit dem verantwortlichen Schriftleiter.

Verlegen sprang Pichler auf.

„Was bringen Sie mir denn Schönes, Fräulein?“ fragte er und bemühte sich, seiner unsicheren Stimme einen geschäftsmäßigen Tonfall zu geben.

„Ich bring’ nichts,“ antwortete sie leise, „ich will mir was holen.“

„Ach ja richtig, das hatte ich ganz vergessen!“ erwiderte Otto und schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Jetzt fällt’s mir wieder ein! Bitte, wollen Sie hier eintreten!“ Er führte sie ins Nebenzimmer. „Sie entschuldigen schon einen Augenblick!“ sagte er noch zu Pfannschmidt.

Drinnen herrschte er das arme Ding mit scharfer Flüsterstimme an: „Was soll das heißen, Anna? Was fällt dir ein, hieher zu kommen! Denk’ doch an deinen Ruf!“

„Ich will mir was holen!“ murmelte das Mädchen.

Nun versuchte er es in einer anderen Tonart. „Ich konnte wirklich nicht abkommen, Annl!“ sagte er mit biederer Herzlichkeit. „War mit Geschäften überhäuft. Das geht manchmal nicht anders. Aber sobald ich wieder Luft hab’ ...“

Sie schüttelte langsam den Kopf.

„Ich bin nicht deswegen da ...“

„Nicht deswegen?“

„Ich will mir nur was holen,“ sagte sie eintönig.

„Ja, aber was denn nur? So sag’s doch endlich!“

„Meine Ehre ...“

Ganz gleichgültig sprach sie das vor sich hin, mit rauher, brüchiger Stimme und schaute mit toten Augen an ihm vorbei ins Leere.

Er wußte nichts zu erwidern, hob bedauernd die Hände und ließ sie auf die Schenkel fallen.

„Aber Annl — du hast mich doch lieb gehabt ...“

„Ja, ich hab’ dich lieb gehabt.“

„Und — und ... es konnte doch nicht immer so fortgehn. Das hättest du im voraus bedenken sollen.“

„Ja — das hätte ich im voraus bedenken sollen ...“

Wie ein Automat sprach sie ihm die Worte nach.

„Annl, sei doch nicht so, ich bitte dich! Wir — können deswegen ja gut bleiben. Nur — das wirst du einsehn, ich ... Herrgott, wenn nur der Kerl nicht draußen wär’! Der paßt auf jedes Wort! — Wir treffen uns morgen, Annl! Um sechs Uhr! Da reden wir dann weiter. Wirst du kommen?“

„Ich werde schon nicht kommen. Was gibt’s auch noch zu reden? Das ist nun einmal so, da nützt nichts mehr.“

„Annl!“

Noch immer schaute sie an ihm vorbei, mit derselben steinernen Ruhe.

„Nenn’ mich nicht mehr so. Ich nenn’ dich auch nicht mehr so. Ich denk’ mir nur — so, wie du jetzt bist, das sollte doch anders sein. Es ist nicht recht so. Nur, es wird wohl auch wieder besser werden — oder — die Welt hätt’ sonst kein Gewissen ...“

Mit schleppenden Schritten ging sie zur Tür, öffnete und schob sich müde durch das vordere Zimmer an Pfannschmidt vorüber zum Ausgang. Dort schlug Pichler noch einmal den Geschäftston an. „Also die Sache ist in Ordnung, nicht wahr?“

„In Ordnung,“ sagte sie tonlos und bewegte die trockenen Lippen kaum. Nun trat sie über die Schwelle, den Kopf steif oben, und in dem starren Gesicht regten sich nicht einmal die Lider, um die weit offenen Augen zu kühlen.

Als sie fort war, sagte Pichler mit gemachter Leichtigkeit: „Es war mir so peinlich ... sie hat mir nämlich eine Novelette angeboten für unser Blatt und sich jetzt Bescheid geholt. Ich mußte ablehnen. Schriftlich wär’ das einfacher gegangen. Zu dumm! Jedes Frauenzimmer will heutzutag’ schon schreiben!“

Pfannschmidt blätterte in den Manuskripten, die er vor sich ausgebreitet hatte. Dann sagte er: „Also mit dem Leitartikel sind Herr Doktor einverstanden? Was bringen wir denn unterm Strich?“

Otto biß sich auf die Lippe. Er fühlte, daß ihm hier die Ausrede nicht geglaubt worden war. Aber er faßte sich schnell.

„Unterm Strich? Haben wir nicht irgendeine verliebte Geschichte lagern? So was zieht immer!“

12.

Fritz, Heinz und Karus schlenderten mitsammen durch die Großstadt. Es war ein schöner Vorfrühlingstag. Die Sonne glänzte am blauen Himmel, hing durchsichtige Silberschleier vor die Fronten der Mietkasernen, machte die Fiakerrosse fröhlich, und sogar den geplagten Pinzgauer Hengsten vor den schweren Fuhrwerken verlieh sie ein gemütliches Aussehen. Zwischen lautlos gleitenden Elektromobilen, Automobilen, Karossen und Straßenbahnwagen bewegten sich rasselnde Streifwagen, Handkarren, Radfahrer. Eisen klirrte, Pferde wieherten, Kutscher schrien „Ooooohb!“, das klingelte, ratterte, stampfte, dröhnte, surrte, tutete ohrenbetäubend durcheinander. Und auf den Gehsteigen wimmelten die Menschen, Hut neben Hut und Ellbogen bei Ellbogen, vereinigten sie sich rechts und links der Straßenzeile zu je einem ununterbrochen flutenden schwärzlichen Strom, der langsam wogte, still stand und wieder vorwärtsdrängte. Es sah aus, als würde hier das Blut der Stadt durch die Stöße eines unsichtbaren Herzens im Kreislauf erhalten. Nur vor den Kirchen schien es zu stocken. Die Kirchentüren waren offen, fremd leuchteten die gelben Kerzenflammen aus den dämmrigen Schiffen in die lärmende Nüchternheit des Tages. Viele der Vorübergehenden zogen die Hüte, bekreuzigten sich oder beugten wohl auch die Knie. Mit einem Pack Federbetten kam ein molliges Frauchen vorbei. Während des langen Faschings war im Haushalt das Geld knapp geworden. Aber heute abends war ein Bürgerball. Und die Kirchenpforten waren der Schönen nicht umsonst aufgetan. Rasch trat sie ein, legte ihr Bündel auf die Steinfließen, kniete darauf und sprach andächtig ein Vaterunser. Dann setzte sie gestärkt ihren Weg zum Versatzamt fort.

Mit schlurfenden Schritten schob sich ein Bettler die Häuser entlang. In der Hand hielt er einen irdenen Topf mit schmutziggrauem Reisbrei, wie man ihn den Jagdhunden zum Fressen gibt. Den mochte ihm eine gutherzige Köchin geschenkt haben, und der Alte schaute mit verzückten Augen und wässerndem Mund auf seinen Schatz. Da war Karus blitzschnell, mit einem Satz, bei ihm und schlug den Scherben aus der zittrigen Hand: „Betteln, Schlappschwanz? Da! Jetzt friß!“

Der Mann winselte und bückte sich jammernd nach den Scherben. Fritz packte Karus am Arm: „Was heißt das?“ Und der gleichmütig darauf: „Sie sehen’s ja!“

Leute sammelten sich. Fritz zog die Börse. „Geben Sie ihm nichts!“ knurrte Karus. Hellwig schob ihn beiseite, drückte eine Münze in die verlangend aufgehobene Hand, schritt schnell davon.

„Wie konnten Sie das tun?“ sagte er. „Das war grausam!“

„Ach was, grausam!“ rief Karus zornig. „Verdient so einer was Besseres? He? — Verflucht, daß doch die Kerle mit Bettelsuppen und Küchenabfall zufrieden sind! Daß sie nicht fordern, was ihnen vorenthalten wird! Daß sie nicht wenigstens rauben und stehlen! Aber da stehen sie blödsinnig neben brechenden Tischen, verrecken vor Hunger und wagen nicht dreinzuhauen. Mit einem rechtschaffenen Knüttel oder meinethalben mit Pulver und Bomben! Pfui Schande und Feigheit!“

Heinz aber sah unterdessen nach einem hageren Menschen, der vor ihnen hertaumelte, manchmal stehn blieb, sich an die Stirn griff, umherschaute, weitertorkelte und endlich hinfiel. Im Nu war eine johlende Menge um ihn. Heinz aber sagte ganz aufgeregt zu den Freunden: „Schaut euch die Augen an! So blickt kein Betrunkener!“, lief hin und beugte sich über den Gefallenen. Die Umstehenden lachten und spotteten: „Seht den Lumpen! Schon am hellen Vormittag hat er einen Rausch!“

„Nein!“ sagte Heinz laut und hart. „Der hat keinen Rausch, der hat Hunger! Und da lacht ihr und spottet noch!“

Und er faßte den Liegenden: „Komm, mein lieber Bruder!“ und half ihm auf die Füße. Sie nahmen ihn in die Mitte, stützten ihn sorgsam und führten ihn aus dem Gedränge. Vor einem gut bürgerlichen Gasthaus machte Wart halt.

„Heinz, das ist ein Unsinn!“ sagte Hellwig und suchte ihn zurückzuhalten. Doch der wehrte sanft ab: „Laß mich nur, Fritz, ich bin dem Menschentum Genugtuung schuldig in diesem hier!“ Und er öffnete die Tür.

An den runden Tischen saß ein zahlreiches Publikum beim Frühschoppen. Alle Augen richteten sich auf die Ankömmlinge. Es war aber auch ein ungewöhnlicher Aufzug. Heinz im englischen Überzieher, den rassigen Kopf mit den langen schwarzen Haaren hoch aufgereckt, Karus, wie immer, mit zerknittertem Hemd und tranigen Stiefeln, zwischen beiden der dürre Mensch, von oben bis unten mit Straßenkot besudelt, endlich der breitschultrige Hellwig mit Radmantel und Schlapphut. Der Oberkellner kam gelaufen und fragte, ob sich die Herrschaften nicht geirrt hätten. Die Schenkstube sei rückwärts im Hof. Da sagte Heinz: „Nein, wir haben uns nicht geirrt, aber Sie scheinen sich in uns zu irren. Dieser schmutzige Mensch hier ist mein Bruder. Die Speisekarte, bitte!“

„Bitte sehr, bitte gleich!“ antwortete der Befrackte und wußte nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Wart und Hellwig kannte er. Aber die zwei andern schienen doch nicht so ganz in das feine Lokal zu passen. Da jedoch die andern Gäste nicht beleidigt taten, glaubte er es wagen zu können und winkte dem Speisenträger. Heinz bestellte Fasan mit Trüffeln und Moselwein. Das imponierte. Die Gäste aber hielten ihn und Fritz für zwei reiche Müßiggänger, Hetzbrüder oder Hausherrnsöhnchen, die nach einer durchzechten Nacht einen Ulk ausführten. Deshalb lächelten sie gönnerhaft oder blinzelten nachsichtig und wohlwollend zu ihnen hinüber.

„Seht sie euch an!“ sagte Karus halblaut. „Seht doch, wie sie dasitzen, die Herren Hofräte und Hausbesitzer und Großkaufleute! Und wie sie nicht zu begreifen vermögen, daß jemandem so eine Tat Bedürfnis sein kann. Oh, wie gut sie unsern Heinz zu verstehen glauben. Wie gut sie wissen, daß er, auch nicht anders als sie in ihrer Jugend, aus Langweile und Übermut mit der Armut seinen Spaß treibt! Wie sie das verstehen, entschuldigen, verzeihen! Wüßten sie, daß es ihm ernst damit ist, sie ließen uns alle vier hinauswerfen!“

Unterdessen brachte man auf einer silbernen Platte den Fasan, goldbraun gebraten und würzig duftend. Und der hungrige Mensch griff gierig nach einem Schenkel, aß und sprach, nachdem er alles gegessen: „Mich hungert, gebt mir Wurst!“ Den Wein aber schob er weit von sich: „Ich trink’ nur Bier!“

Die Gäste sahen das, lächelten und dachten sich: „So ein Esel!“

Heinz aber stand auf: „Komm, mein lieber Bruder!“

Und sie gingen in die Schenkstube. Dort aß der ausgehungerte Mensch fünf Knackwürste, trank einen Liter Bier dazu, wurde fröhlich und bedankte sich. Die umhersitzenden Kutscher aber, die Dienstmänner und Laufburschen zeigten auf ihn und meinten: „Seht den Glückspilz an, er hat heut’ Ostern, Pfingsten und Weihnachten!“

Heinz drängte jetzt zum Aufbruch. Sie überließen den Gesättigten seinem Schicksal und machten sich auf den Heimweg. Keiner sprach. Karus ging Arm in Arm mit Wart. Fritz schlenderte nebenher und dachte allerlei. Wohinaus wollten die zwei? Er sah noch immer nicht klar, erkannte nur, daß sie in ganz anderen Gleisen gingen als er selbst und daß er ihnen dorthin nicht zu folgen vermochte.

Jetzt waren sie bei Karus’ Wohnung angelangt. Oben warfen sie ihre Überkleider auf das Bett, setzten sich, rauchten und schwiegen eine geraume Weile. Endlich sagte Fritz aus seinem Sinnen heraus: „Heinz, du gehst in die Irre! Man füttert solche Leute nicht mit Fasanen!“

„Wissen wir auch!“ sagte Karus.

„So? Und trotzdem ...“

„Jawohl, trotzdem und gerade deswegen! Unzufrieden muß man sie machen! Ihnen die guten Dinge vorrücken, die es auf der Welt gibt und von denen sie keine Ahnung haben. Dann werden sie lüstern. Und das stachelt sie auf wie die Bremse den Stier!“

„Nun und?“

„Nun und dann sind sie eben reif für unsere Gilde.“

„Euere Gilde? Gehören dazu jene, die lieber im Straßengraben verrecken, weil sie frei sein wollen?“

„Und ob die dazu gehören! Unsere braven Jungen, die lieber verhungern, eh’ sie sich was schenken lassen. Lieber stehlen, eh’ sie betteln. Weil ...“ — ein spöttisches Lächeln verkroch sich in Karus’ verwildertem Bart — „weil ihr bestes Recht ist, daß sie satt zu essen haben. Und weil sie sich zu keinem Ausgleich hergeben. Ihr Recht wollen sie, Bergprediger! Und gibt man’s ihnen nicht, so nehmen sie sich’s — wenn’s not tut mit Gewalt!“

Hellwig achtete nicht auf den Spott und sagte kalt: „Mit dem Argument der Fäuste wird nichts zu holen sein! Klärt lieber die Menschen auf! Und fangt nicht unten damit an, sondern oben, bei denen, die jetzt die Macht haben!“

Da stieß Karus einen Laut aus, halb Lachen, halb Grunzen. „Bergprediger!“ rief er. „Bergprediger, das ist ein weiter Weg! So weit, daß die Erde nicht mehr warm ist, bis er zu Ende gegangen ist. Nein, da lob’ ich mir schon die Kürze des Eisens. Die soziale Frage — lösen? Hm, sie ist wie der gordische Knoten. Man löst ihn nicht, mit dem Schwert muß man ihn zerhauen!“

Während er so sprach, ging er zum Schrank, nahm ein kurzes Handbeil heraus und warf es auf den Tisch: „Da liegt der beste Helfer! Schau’n Sie sich das Ding gut an. Es hat Tyrannenblut geleckt! Deshalb blinkt und lacht’s auch so fröhlich. Hei, das war ein Fest! Freilich ihr — ihr habt Fischblut in den Adern und könnt euch nicht vorstellen, was das heißt: ein Aufstand in Havanna. Damals war’s, daß der Gouverneur — der Hund ließ unter die Rebellen schießen! — mit dieser Hacke ein Verhältnis einging. So ein richtiges treues Verhältnis, das nur der Tod trennen kann. Hat er auch getan, schnell und sicher! — Und seither nehm’ ich das Hämmerchen überall mit hin. Vielleicht könnt’ ich’s noch einmal brauchen. Gelt, du?“

Liebkosend strich er über die blanke Schneide.

Hellwig hatte sich erhoben, tiefen Ernst im Antlitz.

„Dessen rühmen Sie sich noch? Vielleicht wollen Sie gar prahlen mit dem nutzlosen Blutvergießen? Das ist abscheulich roh!“

Nun kam Leben in Heinz. „Nutzlos, Fritz? Nutzlos? O ganz und gar nicht! Sie sind ja reif für das große Sterben! Weil sie den Keim der Fäulnis in sich tragen! Wir brauchen heile, gesunde Menschen, kampffrohe, sieghafte! Und weil wir sie brauchen, müssen wir ihnen den Boden bereiten und Platz schaffen durch den Untergang der Kranken!

Wenn wir allen nur erst den Glauben eingeimpft hätten, den Glauben an die selbsttätige Befreiung, an die Befreiung durch die Tat! Aber solang sie sich nur immer gütlich tun an der Sonne der Erkenntnis, so lang werden sie nicht an den lachenden Sturm glauben lernen, der die Sonne überwindet. Die milde weiße Sonne ist gut für kleine Mädchen und für Greise, wir aber wollen das Brausen des Sturms, den Kampf der Wogen, das Entstehen neuer Länder und Meere aus dem Zusammenbruch der alten. Ewiges Sonnenlicht trocknet das Gebein und dörrt das Blut in den Adern, das Mark in den Knochen. Ewiges Müßiggehen mit Lobgesängen des Friedens auf den Lippen und mit dem beginnenden Verfall im Herzen macht ungeeignet zum Kämpfen. Wir aber sollen immer bereit sein zum großen Kampf und die Kraft nicht zersplittern in kleinen Plänkeleien, nutzlosen Scharmützeln um Tugend, Moral und um die toten und sterbenden Götter!

Viel zu lang haben wir Sonne gehabt, so sind wir faul und lässig geworden. Fechten nur noch mit den spitzigen Dolchen der Worte und den dünnen Stoßdegen des Geistes. Aber unsere Arme können das breite Schlachtschwert nicht mehr heben. Und durch den steten Frieden sind wir geworden wie ein stehendes Wasser ohne Zufluß und ohne Abfluß. Auf dem unbewegten Spiegel blühn die weißen Wasserrosen, aber im schlammigen Grund schlafen die Keime der Fäulnis. Und so die Keime aufwuchern, werden wir sein wie ein großer Sumpf, ein Herd aller Krankheiten und bösen Dünste.

Darum wollen wir, die wir dies erkennen, wie gute Ärzte an der Menschheit handeln: zum Heile der Gesunden wollen wir die Morschen und Siechen, die Bresthaften und Verderbten ausrotten!“

„Und was dann?“ rief Hellwig außer sich. „Heinz, was dann? Wenn der Aufruhr durch die Länder jagt, über Verwundete und Tote weg, wenn der alte Gesellschaftsbau zerschmettert liegt — was dann? Wie willst du es besser machen? Was willst du an die Stelle des Zertrümmerten setzen? Etwas Großes und Herrliches müßte es sein — und könnte die Opfer doch nicht aufwiegen!“

Und kalt und ruhig erwiderte Heinz: „Du fragst verfrüht, und darauf kann ich dir nur antworten: Ich weiß es nicht!“

„O du! du! So weit bist du schon? — Du weißt es nicht? Und willst doch das Oberste zu unterst kehren, Thron und Reiche stürzen, willst, daß das Chaos hereinbricht — und dann — dann stehst du da, ratlos, tatlos, tappst umher, versuchst, experimentierst — bis du endlich dem betörten Volk gestehen mußt: Ich kann euch nichts Besseres geben! Frei hab’ ich euch gemacht, nun helft euch, wie ihr könnt! Schöne Freiheit das! Mit dem Blute Hunderttausender erkauft — und weiß dann nichts mit sich anzufangen! Arzt sein nennst du das? Ich nenne es morden!“

Mit einem Fluch sprang Karus da auf. In jähem Zorn wollte er auf den Beleidiger los. Aber Heinz trat dazwischen und sagte mit tiefklingender, bewegter Stimme, die Fritz in allen Fibern erschauern machte:

„Einen Golddom wollen wir der Freiheit aufführen, denn Nietzsche hat recht: das Herz der Menschheit ist von Gold! Aber viel Schlacke hat die Zeit daran abgesetzt. Die müssen wir erst lösen. Im Feuer der Empörung, in der Glut des Aufruhrs wollen wir die Menschheit läutern, alle Unreinheit muß verschwinden, nichts als das blanke Edelmetall darf übrigbleiben. — Und bist du einmal so weit, dann greif hinein mit beiden Händen, knete, forme, bilde, baue — mach’ es dann, wie du willst: immer wird ein lauteres Goldwerk sein, was unter deinen Händen ersteht! Darum ist es besser, alles, was krank ist, falle mit einem Mal, als daß es sich fortschleppe von den Kindern zu den Kindeskindern und zur ewigen Pein und Pestbeule werde für die Gesunden!“

Fritz stand da und hielt die geballten Fäuste vor, als wollte er diese furchtbare Auffassung von sich stoßen.

„Heinz!“ sagte er mühsam, unter starken Atemzügen. „Heinz, du willst die Krankheit deiner Brüder heilen — und bist selbst einer von den Kränksten. Widersprich mir nur nicht, es ist so! Das ist ja doch auch ein Zeichen der Krankheit, daß sie sich selbst nicht erkennt: so glaubt der Schwindsüchtige bis zum letzten Hauch an seine Gesundheit. Wer denn gibt dir ein Recht über die andern? Du kannst das Leben nicht schaffen — so darfst du es auch nicht vernichten ...“

Karus unterbrach ihn mit gemachter Roheit: „Predigen Sie nicht, Bergprediger, uns stimmen Sie nicht um! Und Sie werden selbst auch anders reden, wenn Sie nur erst einmal Blut gesehen haben. An nichts gewöhnt man sich schneller als ans Aderlassen. An das aktive, mein’ ich nämlich! Versuchen Sie’s nur einmal!“

Da stürzte Hellwig auf Wart zu, der reglos beim Fenster saß, die Hände vor dem Gesicht. „Heinz!“ rief er in heißer Wallung, und packte ihn an den Schultern und rüttelte ihn. „Heinz, ich bitte dich — um unserer Freundschaft willen bitte ich dich, mach’ dich von dem da frei!“

Heinz rührte sich nicht. Eine ganze Weile stand Fritz noch bei ihm und wartete. Dann wandte er sich traurig, schritt langsam aus der Stube, mit feuchten Augen.

„Der Friedensengel verläßt uns! Jetzt muß Krieg werden!“ rief ihm Karus lachend nach.

13.

Im lachenden Sommer starb die Marie. Ein heftiger Blutsturz, ein kurzes Krankenlager, ein allmähliches Auslöschen — langsam, unerbittlich und unabwendbar. Ganz klar war es ihr, daß sie sterben mußte. Lächelnd sprach sie davon und tröstete lächelnd den Geliebten. Aber dann, als die Stunde kam, da klammerte sie sich an ihn und krallte die Nägel in seinen Rock, und in ihren Augen war Angst und Grauen und Verzweiflung.

„So hilf mir doch, du!“

Aber er konnte ihr nicht helfen, er konnte sie nur halten und hielt sie doch nicht fest, fühlte, während er ihren zitternden Körper mit beiden Armen enger und enger umschloß, wie sie ihm entglitt und wie ihr Leben wegfloß gleich einer Welle unter greifenden Kinderhänden. Und sein Herz mochte noch so wild an ihre Brust pochen, das ihre fand den Takt nicht mehr, und endlich stand es ganz still. Und stand gerade in dem Augenblick still, als der Wille und Drang zum Leben in ihm am stärksten wurde. Als er die Tote ganz dicht an sich preßte in dem ungestümen Wunsch, daß seine ungebrochene Lebenskraft in den erkaltenden Leib hinüberströme und für sie beide Arbeit tue. Aber Marie war tot.

Nach zwei Tagen begrub er sie. Und als der Leichenwagen zum Friedhof kam, — im schnellen Trab, denn der Weg war weit, — da erwarteten ihn dort die Ausgestoßenen, die Enterbten, die Parias, viele, viele hunderte zerlumpte und verkommene Gestalten. Und als der Sarg im offenen Grabe stand, da schritten sie, die Ausgestoßenen, die Enterbten, die Parias, einer hinter dem andern an der kühlen Grube vorbei. Und jeder hatte eine Handvoll roter Alpenrosen mitgebracht und warf sie in die kühle Grube. Der Sarg verschwand unter den glühend freudigen Blüten, die Grube füllte sich — und als der letzte vorübergezogen, da lag die tote Marie unter einem leuchtenden Hügel von roten flammenden Alpenrosen, die letzte Gabe der Berge, die die Tote so sehr geliebt. Das war der Dank der Obdachlosen, der Bettler, Lumpensammler und Kanalstrotter für das bißchen Liebe, die ihnen Heinz Wart gezeigt. Und er wußte nicht, daß Karus ihnen die Idee eingegeben hatte. —

Wenige Tage nach dem Begräbnis erhielt Fritz von dem Freund einen Brief:

‚Ich gehe nach Rußland. Forsche nicht nach mir. Es muß so sein.‘

Nichts weiter stand auf dem Blatt. Aber Hellwig war für Wochen aus allen Gleisen.

Von Osten herüber glühten blutrot die Brände des Aufruhrs. Eine Verfassung forderte das Volk, Freiheit und Glück — oder das Grab. Die Antwort war Pulver und Blei, waren Pferdehufe, Gewehrkolben und Nagaiken.

Und Heinz eilte mit Karus dorthin, Heinz, der unpraktische Schwärmer, der stille Büchermensch, der weder schlaue Seitenwege gebrauchen konnte noch geschickte Rückendeckung, und Fritz wußte, er ging in den Tod. Nicht suchen wollte er den Tod. Denn mit der Marie war ihm ja nicht alles gestorben. Die Liebe zu den Entrechteten und Zertretenen war ihm geblieben und war jetzt nur desto heißer geworden. Nicht ans Sterben dachte er. Mithelfen wollte er, mithelfen und mitstreiten, allen Gefahren trotzend, in frommer Begeisterung dort mithelfen und mitstreiten, wo ihm sein Ziel am hellsten und am nächsten leuchtete.

Und Hellwig machte sich Vorwürfe, daß er den Freund nicht besser behütet hatte. Wieder wollte eine böse Krisis über ihn kommen. Aber die Ereignisse, die jetzt, lang vorbereitet, Schlag auf Schlag einander folgten, rissen ihn mit in ihren wirbelnden Strudel und ließen ihm vorerst keine Zeit zur Grübelei.

Als jenseit der Nordostgrenzen des Reiches die Rebellion in vollem Wüten war, da hielten die Sozialisten die Gelegenheit für günstig und holten im Kampf für das allgemeine Wahlrecht zu wuchtigen Schlägen aus.

Und da geschah es auch, daß die Teilnehmer einer Versammlung, in der August Mark, ein stimmgewaltiger Agitator, die Masseninstinkte aufgewühlt hatte, vor das Palais des Ministerpräsidenten ziehen und demonstrieren wollten. Sicherheitswache zu Fuß und zu Pferd versperrte ihnen den Weg. Hellwig, von dem Vorhaben der Menge telephonisch benachrichtigt, eilte aus der nahen Schriftleitung rasch herbei. Es war höchste Zeit. Schon waren die Säbel aus der Scheide geflogen, fielen die flachen Klingen auf Köpfe, Schultern und Arme. Schreiend wichen die vorderen Reihen, die rückwärtigen, weniger gefährdeten, drängten nach vorn, ein dampfender Knäuel, stießen sie sich, johlten und brüllten. Und schon auch hoben sich geballte Fäuste, schlugen Stöcke, prasselten Steine gegen die Polizei. Da drehten sich die Klingen, aus den flachen Hieben wurden scharfe, Schmerzensschreie gellten, Blutende wankten gegen die Häuser, fielen aufs Pflaster hin.

„Einhalten!“ rief Hellwig mit voller Lungenkraft und schob sich durch das Getümmel. „Einhalten!“

Er packte den Arm eines berittenen Schutzmanns. Das Pferd wurde unruhig und bäumte sich. Doch er hielt fest. „Nicht morden!“ preßte er zwischen den Zähnen hervor. Seine Linke griff nach dem Bein des Reiters, im Handumdrehen lag dieser zappelnd auf dem Boden.

Da fielen aber auch schon drei — sechs — zehn Wachleute über Hellwig her, griffen nach seinen Armen, zerrten ihn am Rock, stießen ihn von allen Seiten. Und einer packte ihn im Genick und schrie: „Im Namen des Gesetzes! Sie sind verhaftet!“

Als das die Leute hörten und als sie sahen, wie hart einem ihrer besten Führer mitgespielt wurde, flammte die durch den kurzen Raufhandel angefachte Leidenschaft turmhoch empor. Ein Wald von starren, im Sturm zitternden Ruten, hoben sich Hunderte von Stöcken über die dunkle Masse der Hüte und Schultern, ein kurzer wilder Aufschrei krachte gegen die nachtdunkle Himmelskuppel. Dann war der Kordon durchbrochen, Brust an Brust, Faust gegen Faust rangen sie mit den Hütern der Ordnung um ihr vermeintliches Recht.

Los und ledig stand Hellwig mitten im heißesten Gewühl. Und schämte sich. Schämte sich, daß er sich hatte hinreißen lassen, daß er, der gekommen war, die Menge zu beruhigen, ohne Überlegung selbst als der tollste Stürmer losgebrochen war. Und eine Weile stand er ganz untätig, mit schlaff hängenden Armen. Aber als ihm ein Verwegener frohlockend entgegenrief: „Drauf! Drauf! Heut’ zwingen wir sie!“, da richtete er sich straff auf.

„Halt!“ schrie er, und seine Stimme war wie klingender Stahl. „Halt!“

Und als sie stutzten und einander zur Ruhe verwiesen in der Erwartung einer Rede, da schob sich die Wache, durch Hilfstruppen verstärkt, rasch in das Gewimmel. Die aufgeregte Menge wollte es nicht leiden — drängte abermals vor — doch Hellwig rief mit beschwörend erhobenen Händen: „Leute, ich bitt’ euch, bleibt besonnen! Zeigt, daß ihr ernste Männer, daß ihr reif für das Wahlrecht seid! Geht ruhig nach Haus!“

Noch zögerten sie. Da stimmte er das Lied der Arbeit an. Und mit einemmal wichen sie zurück und ihre Gesichter wurden ernst und feierlich — und einer nach dem andern stimmte ein, bis es aus tausend Kehlen dröhnend klang: „Die Arbeit hoch!“ Und alle ihre erhitzte Leidenschaft strömte aus in dem Lied — und willig folgten sie, immer singend, den Anordnungen der Wachleute, die langsam, Schritt für Schritt vorrückend, die Straße absperrten. —

Ein paar Tage darauf wurde Hellwig vor den Untersuchungsrichter geladen. Er war der Aufreizung und öffentlichen Gewalttätigkeit angeklagt. Das Urteil lautete auf zehn Monate Kerker.

14.

In St. Petersburg. Langsam fährt die Prunkkalesche des Ministerpräsidenten durch die Straßen. Kosaken begleiten sie, bis an die Zähne bewaffnet. In einer düsteren Seitengasse harren zwei Männer. Der eine ist blaß und schlank, seidiges Schwarzhaar fällt ihm bis auf die Schultern. Dem andern steht das blaue Hemd vor der Brust offen.

Langsam rollt die Kutsche heran.

Da hebt der im blauen Hemd den Arm. Ein länglicher Körper schwirrt durch die Luft, schlägt auf dem Pflaster hart auf. Ein dumpfes Gekrach. Rauchwolken. Schmerzensschreie. Tumult. Die Pferde bäumen sich, rasen die leer gewordene Straße hinab. Sie ziehen keinen Wagen mehr. Die Trümmer des Wagens sind in alle Winde verstreut.

Ein Bombenattentat. Der Ministerpräsident ist tot. Viele seiner Gehilfen liegen im Blut. Von den Tätern fehlt jede Spur.

**
*

In Moskau. Der Chef der Polizei lustwandelt in seinem großen Garten. Es ist ein schöner Tag. Die Bäume sind grün, die Vögel singen. Der Polizeichef lächelt. Die Stadt ist ruhig, der Aufstand vorüber. Ein paar Dutzend sind aufgeknüpft, ein paar Salven haben das Volk zur guten Gesinnung zurückgebracht. Die Gefängnisse sind überfüllt. Aber die Stadt ist ruhig. Der Polizeichef hat alle Ursache, zufrieden zu sein.

Ein schlanker Mann in der Uniform eines Polizeileutnants kommt rasch den Kiesweg herauf. Er ist blaß und hat langes schwarzes Haar. In strammer Haltung steht er vor dem Gewaltigen, die Hand am Mützenschirm.

„Was gibt’s?“ fragt dieser.

„Das hier!“

Schnell fährt die Rechte zwischen die Knöpfe des Waffenrocks. Ein Schuß verhallt im Park. Ein paar Vögel flattern erschreckt auf. Die andern singen weiter.

Der blasse Mensch verläßt ruhig den Garten. Niemand hält ihn auf. Er kommt vom Rapport.

**
*

In Odessa. Auf dem Dachboden eines Hauses kauert ein Mann in gespannter Erwartung. Er ist von untersetzter Gestalt, hat einen verwilderten Bart und tranige Stiefel. In der Rechten hält er ein doppelläufiges Gewehr. Starr äugt er durch die Dachluke hinab in den Gefängnishof jenseit der Straße, der von niedrigeren alten Gebäuden umschlossen ist. Der Gefängnishof ist nicht leer. Ein Galgen ragt dort in die stille Morgenluft. Der Henker macht die Schlinge zurecht. Es schlägt sechs Uhr. Trommelwirbel grollt auf. Die Tür in den Hof öffnet sich. Der Verurteilte wird herausgeführt. Er ist schlank und blaß, das Haar ist abgeschoren, der Hals entblößt.

Einen Augenblick arbeitet es heftig im Gesicht des Wartenden. Ein kurzes Schluchzen erschüttert ihn. Aber er beißt die Zähne in die Unterlippe, hebt die Flinte. Sein Arm zittert. Nur einige Sekunden. Dann ist er ganz ruhig.

Die erste Kugel bewahrt den Freund vor einem schimpflichen Tod. Die zweite gilt dem Leiter der Hinrichtung. Auch sie geht nicht fehl.

Unten entsteht eine Panik. „Man hat geschossen! Die Juden haben geschossen!“ schreit einer. Und das ist das Signal zum Gemetzel.

Wie losgelassene Bestien stürmen die Kosaken in die Häuser, erschlagen die Männer, hauen die Kinder in Stücke, vergewaltigen die jungen Judenweiber. Ein Pogrom.

Der Mann auf dem Dachboden hat sich durch die Luke gezwängt, flieht über mehrere Dächer, entkommt unbehelligt.

Vor der Stadt, in einem Dickicht, sitzt er, hat das Gesicht in die Hände vergraben, weint, stöhnt und winselt. Es ist Nacht geworden. Da erhebt er sich und trottet mit tief hängendem Kopf durch die weiten, öden Steppenflächen gegen Norden. Unter dem Lodenrock klirrt manchmal ganz leise ein Beil gegen die Gürtelschnalle.

15.

Im Gefängnis erfuhr Fritz den Tod seines Freundes Heinz Wart. Die näheren Umstände blieben ihm unbekannt. Die wußten nur jene, die dabei gewesen. Und die verrieten nichts.

Trotzdem er das tragische Geschick des Freundes vorausgesehen, brachte es ihn jetzt, da es sich erfüllt hatte, doch um allen Lebensmut.

Zwischen den grauen Wänden der Kerkerzelle saß er reglos auf der Pritsche, die Ellbogen auf die Schenkel gelegt, und starrte in den schmutzigen Bretterboden. Schaben krochen ihm über die Füße, eine Maus steckte den spitzigen Kopf aus ihrem Loch und piepte. Er achtete nicht darauf, rührte sich nicht und hob auch nicht die Stirn, wenn der Aufseher den Schieber vom vergitterten Guckloch zurückschob und den schweigsamen Häftling mit kritischen Blicken beobachtete. Und in den Nächten lag er schlaflos, stierte mit brennenden Augen in die Finsternis, fühlte, wie die Einsamkeit ihn würgte. So trieb er es wochenlang, ließ die Tage vorübergehen und zählte sie nicht, wußte nicht die Stunden, die da neben ihm wegtropften, wußte nicht, ob die Sonne schien, ob Regen fiel oder Schnee über der Erde lag und die Zeit war wie eine große grenzenlose Wüste. Kolben kam und wollte mit ihm sprechen. Er weigerte die Unterredung, antwortete auch dem Kerkermeister nicht, aß kaum das Notwendigste, dachte an nichts und empfand weder Schmerz noch Sehnsucht — nur Leere, entsetzliche Leere. So lebte er hin, und es war eigentlich nicht Leben, war nur ein triebhaftes Hinvegetieren in einer halben Betäubung.

Allmählich aber, im Wandern der Monate, unter dem Einwirken der Stille, der klingenden Ruhe um ihn her, löste sich doch endlich die starre Spannung. Die Stumpfheit wich. Unablässig bohrend, heftig und heftiger setzte das quälende Gedenken wieder ein, daß der Freund gestorben und daß dieses Sterben zwecklos gewesen sei.

Wie konnte das möglich werden? Wo lag die Ursache dieser stets wiederkehrenden Erscheinung, daß Tausende und Tausende immer aufs neue ihr Leben in die Schanze schlagen mußten im unstillbaren Drang, den Millionen zu helfen, die von wenigen Machthabern kaltblütig und grausam niedergehalten wurden? Drüben in Rußland bluteten die Massen, wurden von Soldatenhorden niedergeritten, gefoltert, zusammengehauen, reihenweise erschossen. Hüben jubelten sie dem errungenen Wahlrecht zu, priesen sich glücklich, jauchzten im Siegestaumel. Hier wie dort hing die Erfüllung ihres Wunsches an einem Federzug des Herrschers. Und der eine verweigerte ebenso kalt und starr, was der andere gütig gewährte. Wo war das Recht? Nach welcher Formel konnte die Willkür des einen gerechtfertigt und die Gnade des andern auf eine gesetzmäßige Grundlage gebracht werden? Durfte es überhaupt Willkür und Gnade geben? Wo war Sinn und Logik in diesem Widerstreit? Und wer trug die Schuld, daß Männer wie Karus nicht nur möglich waren, sondern im Recht? Zum mindesten so weit im Recht, daß sie so gut wie er und andere als Bekämpfer einer Krankheit auftreten und ihre Mittel als die einzig sicheren rühmen konnten? Wo lag überhaupt der Herd dieser Krankheit? Woher das Elend, die Armut, die ewige Unzufriedenheit? Und mußte denn das immer und ewig so bleiben?

Die Lehren Proudhons kamen ihm in den Sinn, die Versuche Robert Owens, und trotz ihres Mißlingens glaubte er hier eine Spur zu finden.

Wenn man den Kommunismus mit der bestehenden Ordnung verknüpfen könnte ... Etwa so, daß je ein Unternehmen allen dabei Beschäftigten gemeinsam gehörte, die Gewinnanteile aber verschieden wären je nach dem Maß der Arbeitsleistung ...

Immer tiefer wühlte er sich in diese Gedanken hinein. Und je mehr er grübelte, desto möglicher und erreichbarer schien ihm eine solche Lösung. Heller wurde die Fernsicht, näher rückte das Ziel. Und endlich stand es vor ihm, zum Greifen nah, in scharfer Klarheit. So mußte es gehen. Und da überkam es ihn mit schöner Zuversicht: Sprich es aus, sag’ es getrost aller Welt! Sie müssen dich hören.

Ein wunderbares Kraftgefühl durchströmte ihn. Lebendig pochten alle Pulse, alle Gedanken drängten sich und schossen zusammen wie Kristalle in einer übersättigten Lösung. Und während Woche um Woche verrann, Monat an Monat sich reihte, arbeitete in der kahlen Kerkerzelle rastlos sein Geist, trug Block zu Block und Stein zu Stein. Lückenlos fügte sich alles, wurde groß und wuchs empor zu einem gewaltigen Bau, der ein Totenmal werden sollte für den Freund und eine Vorhalle zum künftigen Tempel der neuen Werte.


Viertes Buch

1.

Während Hellwig im Gefängnis saß, war das allgemeine Wahlrecht Gesetz geworden. Otto Pichler erntete wiederum, wo Fritz die Aussaat besorgt hatte. Er wurde im Wahlbezirk der Bergleute zum Abgeordneten gewählt. Mühelos wie alles war ihm auch das geglückt. Trotzdem er bisher weder in einer ernsten Lage sich bewährt, noch auf besondere Erfolge hinzuweisen hatte, vertrauten sie ihm, da sie sich daran gewöhnt hatten, dem Nachfolger als Verdienst anzurechnen, was der Vorgänger erkämpfte: den ruhigen Verlauf der Zeit in Zufriedenheit und Ordnung bei reichlicherem Erwerb und kürzerer Arbeitsdauer.

So kam Otto in die Hauptstadt, hielt eine Jungfernrede voll geistreicher Wendungen und glänzender Nichtigkeiten, sprach dann noch ein paarmal bei wichtigen Anlässen und befragte die Minister, so oft es seine Wähler verlangten. Damit glaubte er fürs erste genug getan zu haben und machte sich nun daran, das Leben auch einmal mit einem Geldbeutel zu genießen, den die Bezüge angenehm schwellten.

Bei den Kabaretten und Wintergärten fing er an, gewann hier Fühlung mit Kunstbeflissenen, die dekadent und kraftlos ihre Ohnmacht hinter Stimmungen zu verbergen und ihre Unfruchtbarkeit durch Anregungen zu heilen suchten. Diese Leute benutzte er, um sich Zutritt zu den Firnistagen der Ausstellungen zu verschaffen, schloß hier neue Bekanntschaften, knüpfte die mannigfaltigsten Beziehungen an und war bald in die Gesellschaft eingeführt. Zwar hütete er sich noch, mit Großkapitalisten und Geldmännern öffentlich zu verkehren. Aber als er Deming im Theater traf, verbeugte er sich doch vor ihm und hatte die Genugtuung, daß der kaiserliche Rat, der mit seiner Tochter den Winter in der Hauptstadt zubrachte, ihn wie einen Bekannten begrüßte und sich leutselig nach seiner dermaligen Tätigkeit erkundigte.

Ein paar Tage später erhielt er die Einladung zum Empfangsabend des Direktors. Er schwankte lang, ob er hingehen sollte. Endlich tat er es doch. Gretes junge Schönheit lockte zu stark.

Der gewichtige Mann kam ihm freundlich entgegen, klopfte ihn wohlwollend auf die Achsel und sagte, daß es ihn sehr freue, den Doktor Pichler, dessen glänzend und geistvoll geschriebene Abhandlungen er stets mit Vergnügen lese, bei sich begrüßen zu können. Der Doktor gelte zwar für einen Freigeist und Feind der bürgerlichen Gesellschaft, aber das tue gar nichts. Denn in seinem Hause komme es nur auf den Menschen an, nicht auf die Gesinnung.

Otto verneigte sich geschmeichelt und wurde den Gästen vorgestellt: Exzellenzen, Baronen, reichen Kaufherren. Er, Doktor Otto Pichler, kam sich ordentlich klein vor neben so viel Geld und Titel und Würden.

Und Grete, die in ihrem weißen Seidenkleid wie ein schöner Sommertag leuchtete, war voller Huld und Gnade. Er durfte sie zu Tisch führen, eine Auszeichnung, um die ihn viele beneideten und die sogar er, Doktor Otto Pichler, Feuilletonist, Schriftleiter und Abgeordneter, sogar er sich nicht recht erklären konnte. Woher auch hätte er wissen sollen, daß es im Kampfe gegen die Demokraten der geheime Feldzugsplan Demings war, ihnen die besten und fähigsten Führer zu ködern und abspenstig zu machen?

Grete verstand zu plaudern. Sie hatte alles gelesen, alles gesehen, was gerade Mode war, sprach mit der größten Sicherheit darüber, und ihr Tischnachbar war der letzte, der ihr die oberflächliche Dreistigkeit übelnahm, mit der sie über die verwickeltsten Probleme, die schwierigsten Fragen und über die besten Männer der Zeit ihr Urteil abgab. Er tat’s ja auch nicht anders. An jenem Abend aber kam er gar nicht dazu, das volle Feuerwerk seines beweglichen Geistes sprühen zu lassen. Die vornehm gedämpfte Üppigkeit der Umgebung, das ausgesucht feine Essen, die erlesenen Weine und echten Importzigarren, das Schimmern entblößter Schultern und milchweißer Nacken im hellsten Lichterglanz: das alles war ihm ungewohnt, in ein schönes Zauberland glaubte er hineinzuschauen, nur wie aus weiter Ferne drang das Schwirren der Unterhaltung an sein Ohr. Und es wurde ihm, als glitten unsichtbare weiche weiße Frauenhände über die zartesten Saiten seiner Seele und ließen sie erklingen in sinnverwirrender, unsäglich süßer Musik.

Und als er spät nachts seiner Wohnung zuschritt, da war etwas wie Neid in ihm. Neid gegen jene, die der Sorgen um des Lebens Notdurft überhoben, nach Lust und Laune ihrer Neigungen leben und die Erde zum Paradies sich wandeln konnten.

Seither verkehrte er oft bei Deming. Aber er erzählte seinen Parteigenossen nichts davon.

2.

Es war in den letzten Tagen des Mai, als Hellwig aus der Strafanstalt in die Hauptstadt zurückkehrte. Dort hielt er sich jedoch nur gerade so lang auf, als er benötigte, um den Rucksack zu packen und sich einen einjährigen Urlaub zu erwirken. Innerhalb dieser Zeit hoffte er mit seinem Werke fertig zu werden. Über Plan, Aufbau und Einteilung war er sich klar, brauchte nun für die Ausführung ganz freie Bahn. Seine Ersparnisse ermöglichten ihm die Unterbrechung.

Als er dann noch die Wohnung gekündigt und seine Habseligkeiten nach Neuberg vorausgesendet hatte, machte er sich ungesäumt auf die Wanderung. Er wollte den Weg in die Heimat zu Fuß zurücklegen. Denn wie ein Rausch hatte es ihn angepackt, als er nach der langen Haft wieder Felder erblickte, grüne Fluren, Wälder, Berge, die runde hohe Himmelsglocke über der blumigen Erde.

Auf einsamen Steigen und Fußwegen ging er, ging über die Kämme und durch die engen Gebirgstäler Oberösterreichs zum Böhmerwald hinüber und durch die düsteren, waldreichen Gebirgsmassen nordwärts, ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen, den Wind um die Ohren blasen, vom Regen die Stirn kühlen und ging nur immerzu, atmete, schaute und drängte sich an die Brust der Erde wie ein hungriges Kind. Selten nur machte er in einem Wirtshaus Rast, übernachtete oft im Freien. Bei schlechtem Wetter bat er in Dörfern oder Einschichten um Unterkunft, mit den Bauern teilte er Roggenbrot und Milch.

Zehn Tage wanderte er so durch den werdenden Sommer. Seine Wangen wurden rot, sein Gesicht vom Wetter gebräunt. Der Stickluft des Kerkers entronnen, dehnten sich die Lungen, badete sich der Körper in dem herben Ozon, wurde leicht und frisch und aller Mühsal ledig, wie ein junger Krieger, der sich zu frohem Kampfe rüstet.

Und am elften Tag, da schritt er mit dem erwachenden Morgen seiner Vaterstadt zu. Die Sonnenpfeile hatten Wunden geöffnet im Leib der Nacht, und sie verblutete langsam. Langsam stieg die Sonne herauf, und über den Hügeln war ein Leuchten wie rotes Gold. Der Morgenwind hatte schon ausgeschlafen, weckte die Waldsänger und läutete mit allen Blütenglocken. Tautropfen hingen an den Blättern, die Lerchen flogen jubelnd der Sonne entgegen, und eine große Frische war überall. Und die Sonne stieg höher und höher.

Mit einem wilden Schrei breitete er beide Arme aus, weit, weit —

Vor ihm, tief unten im Tal, lag seine Vaterstadt. Der schlanke Kirchturm mit dem eisernen Kreuz, die roten Ziegeldächer, in grüne Gärten eingebettet, von runden Obstbäumen bewacht, umdrängt von gelben Ährenfeldern, die dem Herbst entgegenreiften an der treuen Mutterbrust. Zwischen Weiden und Erlen schlang der Fluß sein stahlglänzendes Band durch die Wiesen und unter Mühlenrädern fort. Und die Mühlenräder drehten sich und rollten, und von ihren Schaufeln fiel ein funkelnder Regen von Edelsteinen.

Unter dem breit schattenden Blätterdach der hohen Linde, die, ein Wahrzeichen seit Jahrhunderten, auf dem Hügel stand, ruhte der Heimgekehrte und blickte in das leuchtende Tal hinab, wo tausend Erinnerungen mit frohen Augen ihm entgegen schauten, mit weißen Kinderhänden winkten, die Arme verlangend nach ihm streckten. Und seine Jugend kam leise zu ihm her, legte das blonde Haupt in seinen Schoß und lächelte ihm zu. Und ruhiger schlug ihm das aufgeregte Herz, sachter wurde die Freude. Eine sanfte Wehmut klang hinein, unbestimmt, fernher, wie ein weicher Mollakkord. Und ein wunschlos träumendes Gefühl des Geborgenseins umfaßte ganz warm seine Seele, und sie ruhte darin und bebte wie ein aus dem Nest gefallener Vogel zwischen zwei helfenden Menschenhänden.

Lang saß er so mit gelösten Gliedern und schaute und konnte sich nicht satt sehen an der ruhevollen Schönheit seiner Heimat. Über dem blühenden Wipfel hing der Himmel hell und unbewegt wie ein seidenes Fahnentuch und leise summten die Bienen ihr süßes Lied.

Und nach den starken Fußmärschen der letzten Tage, dem kurzen Schlaf auf unbequemen Lagern, den Aufregungen der Stunde forderte der Körper sein Recht. Wohliges Ermatten wiegte ihn ein, die Lider wurden ihm schwer. Er streckte sich lang aus im leicht bewegten Gras, sah durch das helle Wipfelgrün in den blauen Himmel hinein und ließ sich willenlos hinübertragen in das uferlose Meer der Träume.

Ihm träumte:

Er ging mit Heinz durch einen großen Wald. Der war ausgetrocknet vom Sonnenbrand, und die Zittergräser auf seinem Grunde waren fahl und dürr. Aber die Vögel sangen in seinen Kronen, und unter den Zittergräsern blühten die Blumen. Eine große Schönheit war in diesem Walde, die sonnenheiße Schönheit des reifen Sommers.

Und Heinz sprach: „Wie groß muß erst deine Schönheit sein, du warmer Wald, wenn alle Flammen, die in deinen Stämmen und Gräsern schlummern, mit eins erwachen und emporschlagen in lohender Glut. Wohlan, du warmer Wald! Ich will deine Flammen wecken! Ich will dein Herold sein, dein Befreier und Erlöser!“

Und sie trugen Äste zusammen und dürre Reiser.

Die zündeten sie an.

Bläulich fahl leuchteten Flämmchen auf mit leisem Knistern, verschwanden wieder, tauchten abermals auf, größer, lauter knatternd.

Und weiter und weiter liefen die Flammen.

Und jetzt, wie ein goldrotes Eichhörnchen, sprang ein Flämmlein hinan am honigfarbenen Kiefernstamm.

Und da, und dort — lauter goldrote Eichhörnchen.

Die wuchsen und wuchsen, wurden zu gelben, fauchenden Katzen, samtroten grollenden Leoparden — und jetzt waren es riesige, goldhelle Löwen.

Und die riesigen Löwen begannen ein Ringen und Balgen, zerfleischten, verschlangen einander in rasender Wut. Und die Sieger wurden größer und größer.

Und ein Sausen kam von fern, dumpf und hohl, wie nahender Sturm.

Und ein Sturm brach herein und peitschte die Flammen mit heulender Wucht. Vor, hinter, neben ihnen lohten sie, stiegen sie, schlugen mit gierigen Pranken zum Himmel, verrankten und verwoben sich zu glühenden Wänden, wehten wie leuchtende Flaggentücher, vereinigten sich, himmelan steigend, hoch, hoch oben zu einer einzigen Kuppel von blendendem Glanz. Und eine kochende Hitze war überall.

Sie aber, die beiden schwachen Menschenkinder, standen in diesem weiten Feuerdom, standen darin und fürchteten sich. Fürchteten sich vor der entfesselten Schönheit des Waldes, die sie selbst geweckt hatten. Wollten fliehen und fanden keinen Ausweg.

Enger drängten die Flammenwände herzu, tiefer sank die gewaltige Kuppel.

Und jetzt schlug’s zusammen mit Heulen und Sausen.

Ein Prasseln, Krachen, Brüllen und Funkenstieben.

Und eine Stimme scholl durch das Getöse wie hohnlachender Donner:

„Lernt eure Leidenschaften zügeln und euer Wollen! Euer Wollen war groß — seht zu, ob ihr auch tragen könnt, was ihr gewollt habt!“

Und die Flammen brachen nieder und begruben sie unter ihrem heißen goldenen Mantel. — — —

Fritz erwachte verstört und erschreckt.

Die Sonne stand im Mittag, vor ihm lagen die roten Giebeldächer, und leise summten im blühenden Lindenwipfel die Bienen immerzu ihr süßes Lied.

Aber aus der Landschaft war aller Glanz genommen. Die Freude war tot, die Erinnerungen winkten und die Jugend lächelte nicht mehr.

Traurig und schwer wurde ihm ums Herz. Und doch war eigentlich nicht der Traum daran schuld, sondern der wieder aufgeweckte Gedanke, daß er nun bald der Mutter des toten Freundes werde gegenübertreten müssen. Er dachte an jenen Abend, da sie mit rauschenden Gewändern im Regen neben ihm hergegangen war und dem kranken Kinde einen starken Freund zu werben geglaubt hatte. Alles hatte sie von dieser Freundschaft erhofft — und war nun um alles gekommen.

Und das Haus dort unten stand unverändert da und deckte mit seinen steinernen Mauern gleichmütig das Leid wie einst die Fröhlichkeit zu.

Noch kein Gang war ihm so schwer geworden. Aber er mußte gegangen werden. Langsam stand er auf, schritt langsam über die Lehne ins Tal.

Jetzt stand er vor dem alten Haus, trat ein und wunderte sich, daß der Flur so geräumig und still, der Hof so öde war. Kein Pferdegewieher, kein Aufladerlärm. Nur ein paar Kisten lagen einsam, wie vergessen da.

Mit geschnürtem Atem stieg er die Treppe empor, fand die Tür zum Vorzimmer offen, ging hinein. Er nahm den Rucksack vom Rücken, hing Hut und Wanderstecken an den Kleiderständer, klopfte an die Tür der Wohnstube.

„Herein!“ sagte eine weiche Stimme. Eva stand vor ihm, schlank und blaß, in schwarzen Gewändern.

„Fritz!“ sprach sie leise, kam auf ihn zu und legte ihm die Arme um den Hals. „Wie gut, daß du kommst!“

Wie etwas Selbstverständliches tat sie das, — so, als setzte sie nur ein begonnenes Träumen fort.

Unsicher schaute er auf den blonden Scheitel und wagte kaum zu atmen.

„Ist das wahr?“ fragte er endlich schwer.

Da schrak sie auf, ward sich ihres Tuns erst bewußt. Heftig nahm sie die Arme von seinem Nacken.

Doch er hielt sie fest.

„Nein, Eva, du gehörst schon hierher!“ sagte er mit tiefem Ernst. Und das war wie ein Gelöbnis.

Sie wehrte ihm nicht.

„Ich hab’ dich ja schon lange so lieb!“ stammelte sie wie zur Entschuldigung und schmiegte sich erschauernd fest an ihn.

Da nahm er ihren Kopf zwischen seine beiden Hände, schaute ihr in die feuchten Augen.

„Dank! Dank! Nun wird sich’s leichter tragen.“

Dann war lange Schweigen.

Endlich richtete er sich mit einem Ruck straff auf. Sein Blick verdüsterte sich.

„Komm zur Mutter!“ sagte er.

Sie blickte ihn ängstlich an und fürchtete sich beinah vor seiner finsteren Stirn.

„Komm!“ Sie führte ihn die Treppe hinauf zum Dachzimmer.

„Willst du mich nicht anmelden?“

„Wozu? Mutter weiß, daß du kommen wirst, erwartet dich schon seit Tagen.“

Da legte er die Hand auf die Klinke und stieß die Tür auf.

Frau Hedwig saß beim Schreibtisch ihres toten Sohnes, mit dem Sichten von Briefen und Papieren beschäftigt. Auf ihren Haaren lag ein Schimmer wie von grauer Asche, und in das gütige Antlitz war ein müder Zug gekommen.

Eva schob sich an Fritz vorüber rasch ins Zimmer.

„Er ist da!“ sagte sie und schaute die Mutter mit bittenden Augen an. Die hatte sich schon erhoben, ging auf ihn zu: „Willkommen.“

Sie hielt ihm die Hand hin. Er aber nahm sie nicht.

„Ich komm’ allein!“ murmelte er mit aufeinanderliegenden Zähnen.

Da legte sie ihm mit einem warmen Blick die verschmähte Rechte auf den Arm: „Machen Sie es sich und uns doch nicht gar so schwer!“

„Nicht so gut sein ...“ Das klang rauh, wie ersticktes Schluchzen.

„Fritz!“ sprach nun die Frau herzlich und war ganz nahe bei ihm. „Das dürfen Sie nicht glauben, Fritz. Nein, das nicht ... Unser Heinz, der — hat wohl so sterben müssen. Hat sich für seinen Glauben geopfert und über den Tod mehr gefreut als je im Leben. Drum — es wird wohl das beste Gedenken für ihn sein, wenn wir ihn so verstehen und auf niemanden einen Stein werfen. Auch auf uns selbst nicht, Fritz! Keiner hat schuld an seinem Tod — nicht einmal er selbst. Er hat nur — das allerbeste Glück kennenlernen wollen — und gern ein Leben dafür weggeworfen, das sich anders nicht mehr hat erfüllen können ...“

Ihre Stimme zitterte, aber um den Mund lag etwas wie der Abglanz eines mutigen Lächelns. Und wieder hatte sie den rechten Weg zum Herzen des schwerblütigen Menschen gefunden.

„Es wird schon so sein, Frau Wart,“ sprach er klanglos vor sich hin und stand noch wie geistesabwesend da. Dann aber, im Überquellen einer starken Empfindung, haschte er nach ihren Händen. „Meine zweite Mutter!“ sagte er ganz leise, ganz innig.

Sie verstand ihn gleich.

„Ja, Fritz, Ihre zweite Mutter. Und Sie — mein anderer Heinz. So wird’s wohl recht sein.“

Und sie zog sein Gesicht zu sich nieder und küßte ihn auf die Wange. Dann wandte sie sich an ihre Tochter: „Nun, Ev? Was sagst du zu deinem neuen Bruder? Bist du’s zufrieden?“

Die aber schüttelte den Kopf.

„Nicht?“ fragte die Mutter. „Und doch glänzen dir die Augen so stark?“

Verwirrt kehrte sich die Schlanke ab, drehte angelegentlich den Fensterriegel hin und her. Sie merkte nicht, daß Fritz hinter sie trat. Erst da er den Arm um sie legte, zuckte sie zusammen, ließ ihn jedoch stumm gewähren.

Als sie sich umwandten, sahen sie, daß sie allein waren. Frau Wart hatte leise das Zimmer verlassen.

„Wo ist die Mutter?“ fragte Eva fast erschrocken.

Fritz sagte nichts darauf. Seine Augen leuchteten und in seinem Gesicht war etwas von der frommen Andacht gläubiger Beter.

Als ein Bettler hatte er das Haus betreten und war überreich geworden. Und die Erinnerung an den Freund hatte allen Schrecken verloren.

In heißer Ergriffenheit zog er seine schöne Braut an sich und küßte sie zum erstenmal auf den Mund.

3.

Fritz mußte lang suchen, bis er in Neuberg eine Wohnung auftrieb. Niemand wollte ihm ein Zimmer vermieten. Seit er im Kerker gesessen, war er wieder ein räudiger Wolf geworden. Professor Hermann stellte nicht mehr voll Genugtuung fest, daß Fritz Hellwig sein Schüler gewesen sei. Er behauptete jetzt im Gegenteil, daß solch ein Ende mit Schrecken ja vorauszusehen war, denn dieser Hellwig habe schon als Junge keine Achtung vor der Autorität gehabt. „Und keinen Glauben!“ fügte Pater Romanus hinzu und nickte schwermütig mit dem Kopf. Und das war der zweite Grund, weshalb sie ihn mieden. Weil er kein Klerikaler war. Denn die Klerikalen waren in Neuberg zahlreich geworden wie die Grundeln im Teich. Zwar nannten sie sich christlich-sozial oder katholisch-national, aber das war nur ein anderer Name für dieselbe Sache. Das war so gekommen, weil die freisinnige Bürgerschaft in viele kleine Gruppen, von denen jede die deutscheste sein wollte, zersplittert war und im Streite um des Kaisers Bart begriffen, dem straff organisierten schwarzen Gegner eine wichtige Stellung um die andere fast kampflos überließ. Noch gab es ja einige wackere Männer, denen alles, was nur von weitem nach Papismus und Pfaffentum roch, in der Seele zuwider war, aber die mußten bei der allgemeinen Zwietracht für sich stehen und waren, wenn auch nicht auf den Hund, so doch auf den Galgenhumor gekommen, derart, daß sie den verhaßten Schwarzen jeden Schabernack antaten und mit Schnurrpfeifereien, Schelmenstücken und Schalksnarrenstreichen kämpften, wenn es schon nicht anders ging. Zu diesen Männern gehörte auch der Flickschuster Peter Kofend. Der hatte schon viel auf dem Gewissen. Bereits dreimal war er bei der Firmung gewesen und hatte jedesmal, noch nicht trocken vom Salböl, das Firmgeschenk versoffen. Und bei der letzten Firmung, da hatte er gar zuvor noch die Böller vernagelt, so daß der hochwürdige Herr Weihbischof ohne Freudenschüsse in Neuberg seinen Einzug hatte halten müssen. Und was das Lächerlichste war, er hatte einmal im Wirtshaus mit dem frommen, gebrechlichen alten Sattlermeister Adam Jahn gewettet: er, der Kofendschuster, werde trotz seiner zappeligen Munterkeit früher ins Gras beißen als der Jahnsattler mit seinem Asthma. Und als Einsatz stellte er das Leichenbier: Wer den andern überlebte, sollte nach dem Begräbnis den üblichen Trunk für die Trauergäste zahlen. Und der fromme, gebrechliche alte Jahnsattler, der vom vielen Beten eine Hornhaut auf den Knien hatte, kam durch diesen Vorschlag in eine arge Not. Denn er war nicht nur fromm, er war auch sparsam. Und er dachte sich: Ich bin zehn Jahre älter als der Peter, ich bin kränklich, ich bin fromm, der liebe Herrgott wird mir verzeihen, wenn ich das Leichenbier sparen und der Kirche mehr vermachen kann. Vielleicht hilft er mir sogar, der liebe Herrgott, daß ich dem Peter zum Trotz gewinne. Und er nahm die Wette an und sie wetteten um das Leichenbier, jeder, daß er früher sterben werde als der andere. Und während der Jahnsattler seither noch gebrechlicher wurde, eine noch dickere Hornhaut auf den Knien bekam und sichtlich einging, war der Peter verrucht genug, die Geschichte in der ganzen Stadt zu erzählen. Und die ganze Stadt, mit wenigen Ausnahmen, bedauerte den frommen, gebrechlichen alten Adam und entrüstete sich über den gottlosen Peter. Und die ganze Stadt, mit noch weniger Ausnahmen, entrüstete sich auch über Hellwig, daß er bei dem gottlosen Peter wohnen wollte. Und die ganze Stadt, mit den wenigsten Ausnahmen, entrüstete sich noch mehr über den Kofendpeter, daß er einem abgestraften Sozialistenführer Unterstand gab. Der Kaufmann Wart gehörte zu den Ausnahmen. Darüber wunderte sich niemand. Von dem Vater eines Hingerichteten konnte man nichts anderes erwarten.

Der Kaufmann war nicht mehr der behaglich polternde, vergnügte Mensch von ehedem. Etwas Scheues und Gedrücktes war in sein Wesen gekommen, machte sich auch äußerlich geltend durch einen schleppenden Gang mit vorgebeugten Schultern und gesenkter Stirn. Schwere Jahre waren über ihn weggerollt, das merkte man. Gleich nach dem Begräbnis Doktor Kreuzingers hatte es angefangen. Da hatte die Wühlerei eingesetzt: Pflicht jedes Christen sei es, den Kaufladen eines Menschen zu meiden, der nicht einmal für seine Toten den Priester begehrte. Und viele Kunden waren ausgeblieben. Dann kam, durch Vermittelung des Konsulats in Odessa, die Nachricht, daß Heinz Wart am Galgen geendet. Des Zwischenfalls bei der Hinrichtung wurde keine Erwähnung getan. Das blieb kein Geheimnis, sprach sich rasch in der ganzen Gegend herum, brachte die Familie in Acht und Bann. Wer in Neuberg und Umgegend nur halbwegs etwas auf sich hielt, mied jegliche Berührung mit den Angehörigen eines Gehängten. Der Kaufhandel ging immer schwächer. Ungeduldig stampften die müßigen Rosse in den Ställen, bis sie verkauft wurden. Die Auflader mußten bis auf einen entlassen werden. Im Kontor ruhten alle Federn. Das alte Geschäft stand vor dem Verfall.

Der emsige, an fortwährende Arbeit gewöhnte Wart empfand den Müßiggang fast wie körperlichen Schmerz. Er alterte sichtlich dabei. Es waren nicht Geldsorgen, die ihn drückten. Auch ohne den Kaufhandel waren seine Einkünfte weit größer als die Ausgaben für den Haushalt. Und doch schützte er immer den schlechten Geschäftsgang vor, wenn Frau Hedwig, um ihn zur Aussprache zu bringen, vorsichtig nach dem Grund seines veränderten Gehabens forschte. Er wußte, daß sie ihm die Ausrede nicht glaubte. Aber er vermochte nicht von seinem Sohn zu sprechen. Seit er die furchtbare Botschaft erhalten, war dessen Name nicht über seine Lippen gekommen. Damals hatte er auch seine sämtlichen Ehrenämter niedergelegt und sich von allen Bekannten zurückgezogen.

Auf Hellwigs Werbung hatte er nur die bittere Antwort: „Recht so! Nehmt mir nur auch das letzte noch weg!“ und ging schwerfällig in sein Schreibzimmer, wo er sich einschloß.

Später kam er mit keinem Wort darauf zurück, sagte auch nichts, als er die Vorbereitungen zur Aussteuer gewahrte. Und nur einmal, als sich Heinzens Todestag zum zweitenmal jährte, meinte er, bevor er sich schlafen legte, traurig zu seiner Frau: „Schön sind wir dran, Mutter, auf unsere alten Tage. Der eine ...“ — er verschluckte das häßliche Wort — „die andere — heiratet einen, der auch schon eingesperrt war. Wer weiß, was noch kommt. Er ist ja von der gleichen Sorte!“

Und als Frau Hedwig mit gefalteten Händen vor ihn hintrat: „Sei doch nicht so verzweifelt, Nikl!“, wehrte er ab: „Laß gut sein, Mutter, red’ nichts. Es wird nicht anders durchs Reden!“ Dann zog er sich die Decke über das Gesicht hinauf und tat, als ob er schliefe. Aber die Gattin, die auch schlaflos lag, hörte sein unterdrücktes Stöhnen, das in Pausen immer wiederkehrte, bis zum grauenden Morgen.

4.

Hellwig arbeitete an seinem Buche und die ganze Fron des Schaffenden lernte er kennen. Spürte am eigenen Leib, wie schwer so ein Werk auf seinem Schöpfer lastet, wie es ihn nie zu Atem kommen läßt, vorwärts peitscht und auch in den Stunden notwendigster Rast gefangen hält und quält und nicht frei gibt, bis es irgendeinem Ende zugeführt ist. Selbst die kargen Augenblicke, die er sich für seine Braut abrang, kamen ihm wie ein Raub vor, und er konnte ihrer nie ganz froh werden. Immer war ihm, als versäumte er etwas, das notwendig getan werden mußte, das auf ihn wartete, nach ihm schrie und ihn mit tausend Ketten zog. Zerstreut und fahrig war er und früher, als er gewollt, brach er dann gewöhnlich auf. Manchmal bäumte er sich gegen diese Fron, wollte sie abschütteln und trug sie doch auch wieder gern.

Es war ein merkwürdiger Brautstand. Doch Eva war damit zufrieden. Sie verlangte keine Zärtlichkeiten. Was ihm recht war, war auch ihr recht, und nur ihn ganz verstehen wollte sie lernen und sein Leben ganz von tief auf mitleben wollte sie.

So störte sie ihn nicht. Aber mit dem Werk ging es doch nicht richtig vorwärts. Das müde Wesen des Kaufmanns wirkte auf Fritz wie ein beständiger Vorwurf. Er fühlte, daß das nicht so bleiben durfte. Gerade hier mußte volle Klarheit herrschen. Doch die wollte nicht kommen. Der Kaufmann ging jedem Alleinsein mit seinem zukünftigen Schwiegersohne hartnäckig aus dem Weg. Aber endlich mußte er ihm doch Rede stehen.

Draußen vor der Stadt in den Feldern war es. Hellwig hatte während einer langen Wanderung den weiteren Aufbau seines Buches überdacht und ging arbeitslustiger, als er es seit Tagen gewesen, heim. Da sah er vor sich die untersetzte Gestalt Wart Nikls auftauchen, der einsam seinen Abendspaziergang abtat. Fritz schritt rascher aus, holte ihn ein und erhielt auf seinen kurzen Gruß noch kürzeren Dank. Da sagte er ohne weitere Einleitung: „Warum weichen Sie mir aus, Herr Wart?“

„Lassen Sie das!“ antwortete der Kaufmann schroff.

„Nein, so kann es nicht bleiben, Herr Wart, einmal muß es gesagt werden: Geben Sie mir mit schuld, daß Heinz gestorben ist?“

„Lassen Sie das!“ Das klang zornig und klang drohend. Aber Fritz gab nicht nach.

„Seien Sie offen!“ bat er. „Was nützt das Versteckspielen? Nur daß alle darunter leiden.“

Ganz ruhig war es rundum. Manchmal nur raschelte es in den Zweigen der Bäume, fiel ein überreifer Apfel zu Boden. Dann war es wieder still, und lautlos webte die Dämmerung am dunklen Mantel der Nacht.

Der Kaufmann atmete ein paarmal tief auf. Dann sagte er: „Im Anfang, Fritz, im Anfang, da ist’s schon so gewesen. Man sucht halt immer nach einem Verführer, wenn einem ein Liebes Schande macht. Später aber, nach dem Ärgsten ... da hab’ ich mir gedacht, man kann eine Kugel nicht aufhalten, wenn sie aus dem Rohr ist. Es wird wohl auch so gewesen sein. Wie blind ist er hineingerannt ... Ich tät Ihnen mein Mädel nicht geben, wenn ich anderer Meinung wäre. Ich hab’ nur die eine ... Das wird wohl genügen?“ fügte er noch hinzu, in einem Ton, der deutlich erkennen ließ, daß er die Fortsetzung des Gesprächs nicht wünschte.

Fritz schüttelte den Kopf. „Nein, Herr Wart, es genügt noch nicht, so sehr ich Ihnen dafür dankbar bin. Aber Schande? Schande hat Ihnen Heinz nie gemacht!“

„Der Galgen ist wohl eine Ehre?“ rief da der unglückliche Vater und barg sein Leid hinter einem höhnischen Auflachen.

Hellwig schaute ihm fest ins Auge. „Mitunter ganz gewiß!“ sagte er. „Auch Savonarola haben sie aufgehängt, den Erlöser haben sie gekreuzigt, den Huß verbrannt ...“

„Die haben auch nicht gemordet,“ unterbrach ihn Wart tonlos und schauderte zusammen.

„Heißt es Mord, einen Menschen wegräumen, von dem man weiß, daß er in der nächsten Stunde tausend Unschuldige umbringen wird? Das ist kein Töten, das ist Selbsthilfe der Menschheit.“

„So nennen Sie’s! Andere nennen’s Mord.“

„Heute vielleicht noch. Unsere Enkel werden wieder anders sprechen. Von Kindsbeinen wird uns gelehrt: Du sollst nicht töten! Und niemand lehrt uns auch jenes zweite, Größere: Du sollst nicht töten lassen! — Aber die Zeit wird kommen, und die Menschen reif werden auch für dieses Gebot. Dann wird wieder einmal Tugend werden, was heute noch Verbrechen ist. Und Heinz und die vielen, die wie er gestorben sind, werden Märtyrer und Blutzeugen heißen. Und darum glaub’ ich auch jetzt nicht mehr, daß sein Sterben nutzlos gewesen ist. Sein Gedanke lebt weiter, und seine Rächer sind nicht fern. Vielleicht werden es schon jene sein, die Brot von dem Korn gegessen haben, das aus seinem Grab gewachsen ist. Und die werden vollenden, was er angestrebt hat: Ein heiles gesundes Volk wird aufstehn, das vor niemandem den Nacken beugt, das sich selbst bestimmt durch seinen eigenen Geist, herrscherlos und herrenlos, ein Volk von lauter Königen und Herrschern! Dafür hat er gelebt — das goldene Herz der Menschheit hat er finden wollen — und dafür ist er in den Tod gegangen. Das ist kein schimpfliches Sterben.“

Der Kaufmann erwiderte nicht. Die Abendglocken läuteten. Wie ein schlafsuchendes Kind schmiegte sich die Erde in den Arm der Nacht.

Als Wart vor seinem Hause stand, reichte er Hellwig die Hand. „Fritz!“ sagte er weich. „Wir wollen’s beschlafen, Fritz!“

5.

Peter Kofend gewann seine Wette. Trotzdem er um zehn Jahre jünger und der Jahnsattler so gebrechlich war. Eines Tages kam er mit trüben Augen und hochroten Wangen von einem Geschäftsgang nach Haus. „Aus is! Gar is! Ich leg’ mich hin und steh’ nimmer auf!“ sagte er zu seiner Frau. Und während die Erschrockene in die Küche lief, um einen Tausendguldenkrauttee zu kochen, der ihr immer gut tat, legte sich der Peter ins Bett und — stand wirklich nicht mehr auf. Er klagte nicht, redete nichts, fühlte sich nur müd. Der Arzt sprach von einer allgemeinen Schwäche, von Schonung und Ruhe und ähnlichen Dingen, die er immer sagte, wenn er aus einem Fall nicht klug wurde. Die Frau Kofend aber wußte am zweiten Tag ebenfalls, daß ihr Mann recht behalten werde. Da hatte ihre schwarze Henne zu krähen versucht. Und trotzdem der Unheilsansagerin sofort der Kragen umgedreht wurde — eine Henne, eine schwarze Henne, die krähte — das bedeutete einen sicheren Todesfall.

Vier Tage später erhielt der Jahnsattler wirklich die schwarz umränderte Todesanzeige und vergoß darüber Tränen eines aufrichtigen Kummers. Er weinte aber nicht über den Gestorbenen, er weinte um das schöne Geld fürs Leichenbier. Er bezahlte es auch. Aber dann ging er zu Fritz Hellwig und fragte ihn, wie er es anfangen müsse, um ein Sozialist zu werden. Denn er fühlte sich gekränkt und verletzt, weil ihm alle seine Frömmigkeit nichts genützt hatte im Wettkampf mit dem ruchlosen Peter. Deswegen wollte auch er jetzt vom Beten nichts mehr wissen. Fritz aber konnte seinen Nöten weder mit Rat noch Beistand dienen. Doch der Alte wich nicht. Starrköpfig beharrte er bei seinem Verlangen, und Hellwig, der den höllischen Humor der Sache erfaßte, schlug ihm endlich vor, wenn er schon unbedingt nicht anders wolle, so möge er ihm, dem abgestraften Sozialistenführer, dem allbekannt Glaubenlosen, ein Zimmer in seinem Hause vermieten. Denn er brauchte wieder eins, da die Frau Kofend in ihr Heimatsdorf übersiedelte. Das gefiel dem Jahnsattler alsogleich, weil er damit vor aller Welt seine neue Gesinnung beweisen und, wie er meinte, den Sachwaltern Gottes auf Erden, ja seinem lieben Herrgott selbst einen Tort antun würde. Und die ganze Stadt bedauerte abermals den armen, gebrechlichen alten Jahnsattler, weil er in der Hilflosigkeit des Alters dem Versucher ins Garn gegangen war. Und die ganze Stadt entrüstete sich abermals über Hellwig, weil er die kindische Torheit des Greises so mißbrauchte. Weitere Folgen hatte die Geschichte aber nicht. Der Jahnsattler sorgte, nachdem der erste Schmerz über das verspielte Geld vorüber war, nach wie vor dafür, daß die Hornhaut auf seinen Knien nicht verschwand, und Hellwig kam in der Wohnung des frommen Mannes mit seiner Arbeit rüstig vorwärts. Er hatte jetzt endlich ganz freie Bahn vor sich.

Wart Nikl war fast vom Abend zum Morgen wieder ins Gleis gekommen, hatte seine Tatkraft und gute Laune wiedergefunden. Nicht so sehr durch Hellwigs Argumente, sondern weil die Aussprache überhaupt beschleunigt hatte, was früher oder später doch hätte eintreten müssen. Was lang verstaut gewesen, hatte Luft bekommen, strömte in gedoppelter Fülle vor, war so überreich, daß er nicht wußte, wo er zuerst mit der Arbeit anfangen sollte. Den Neubergern zum Trotz wollte er sein Geschäft nicht nur auf die frühere, sondern auf eine noch ansehnlichere Höhe bringen. Wozu brauchte er den Kleinverschleiß? Kurz entschlossen ging er her und legte den Schwerpunkt des Unternehmens in den Großhandel mit Farbwaren und Lacken. Er nahm Vertreter und einen Reisenden auf, reiste auch selbst, und rascher, als er gehofft, war die Sache im Gang.

So arbeiteten der künftige Schwiegervater und Schwiegersohn, jeder auf einem anderen Gebiete, aber beide mit dem Einsatz ihrer ganzen Kraft. Und das Jahr war noch nicht vorüber, da hatte Fritz sein Buch vollendet.

Als er den Schlußpunkt machte, war sein Inneres wie ein ausgeschöpfter Brunnen. Restlos hatte er alles hergegeben, was er hergeben konnte. Fast leid war ihm, daß er das Drängen und Gären in sich nicht mehr spürte. Und mit leisem Bedauern, als nehme er von einem lieben Freunde Abschied, packte er das Manuskript zusammen, um es einem Verleger zuzusenden.

In den folgenden Tagen machte sich eine tiefe Abspannung, die bis zur schweren körperlichen Müdigkeit anstieg, bei ihm geltend. Doch gab er diesem Zustand nicht lässig nach, sondern versuchte durch reichlichere Bewegung in freier Luft ihm entgegenzuwirken. Er unternahm starke Märsche in die Umgebung, und einmal gelangte er auch in den Geburtsort Pichlers.

Der Küster war seit Jahren tot, die Kinder in den Dörfern im Dienst oder verheiratet. Nur Christoph, der ältere von den einstmaligen Rutenbindern, befand sich noch im Ort, war hier Gemeindediener, Polizist, Nachtwächter, Bettelvogt, Flurhüter, Fleischbeschauer und Barbier in einer Person. Er hatte sich einen struppigen Schnauzbart, eine rote Nase und die für seine vielen Ämter unentbehrliche Würde zugelegt, welch letztere ihn auch dann nicht verließ, wenn seine Ordnungsversuche bei einer Wirtshausrauferei mit seinem eigenen Hinauswurf endeten. Er erzählte Hellwig, daß Otto für die Geschwister so gut wie verschollen sei und sich auch nach dem Tod des Vaters nicht um sie gekümmert habe. Doch sei es, trotzdem dann für die noch unversorgten jüngeren Kinder schwere Zeiten gekommen, auch ohne ihn gegangen. Sie hätten eben fest zusammengehalten und den ältesten Bruder nicht dazu gebraucht. Jetzt seien sie so ziemlich aus dem Wasser, viel zum Beißen habe zwar keiner, aber sie seien zufrieden, wie’s der Vater ebenfalls gewesen, und hätten sich schon an den Gedanken gewöhnt, daß sie für den vornehmen Herrn Bruder nicht mehr auf der Welt seien und er nicht für sie.

Hier unterbrach er plötzlich den Redefluß und eilte mit langen Schritten schimpfend einigen Dorfbuben nach, die mit verdächtig dicken Taschen aus dem Hühnerhof des Pfarrers schlichen.

Fritz machte sich auf den Heimweg. Was er eben von Otto gehört, kam ihm so selbstverständlich vor! Das Leichte und Spielerische im Wesen des Freundes war ihm, je älter und reifer er wurde, desto weniger verborgen geblieben. Aber trotz der Enttäuschungen, die ihm der einstige Freund bereitet hatte, hielt er ihn nicht für schlecht und fand es nur verwunderlich, wie der leichtlebige und sorglose Mensch so lang an seiner Seite hatte aushalten können.

Langsam schritt er weiter. Die ersten Sterne blitzten auf. Und da fiel ihm ein, daß er fast denselben Weg ging, den er einmal vor Jahren in Winterschnee und Kälte gegangen, um ein Geschenk für seine Braut in einer Fanggrube zu finden. Und er sann seinem Leben nach und staunte, wie doch alles so zufällig an ihn herangekommen war und ihn mitgerissen hatte, fast ohne sein Dazutun. Und während er alles überdachte — einsam war es um ihn, ein paar Fledermäuse fuhren hastig durch die unbewegte Luft, irgendwo schrie jämmerlich ein Vogel unter den Zähnen eines Raubtiers — da stieg wie eine Vision ein Bild vor ihm auf, von dem er zeit seines Lebens nicht mehr ganz loskommen konnte. Es war ihm, als sei alles, was Leben in sich hat, vor ungezählte Millionen überlasteter Karren gespannt und müsse sie, gleich den Pferden vor schweren Fuhren, mit bebenden Flanken und keuchenden Lungen über eine steile Bergstraße hinaufziehen, die schnurgerade ansteigt, höher und höher, in die weite Unendlichkeit hinein, wie ein Band ohne Ende. Und über allen den zitternden, mühselig hinkriechenden Geschöpfen thront riesengroß aufragend, gelassen vor sich blickend, mit unbewegten Zügen ein gewaltiges Weib und hält in der Rechten eine schwere Peitsche. Und jedesmal, wenn irgendwo ein Karren stecken bleiben will, knallt diese Peitsche, saust ihre geflochtene Schnur hoch über gekrümmte Nacken hin, und die geplagten Geschöpfe zucken zusammen, ducken sich furchtsam und ziehen weiter, ziehen mit zum Platzen gestrafften Muskeln, fliegendem Atem, verlöschender Kraft, ziehen — ziehen. — Und wenn eins leblos hinsinkt, schreiten die andern, rollen die Karren gleichgültig über den Leichnam fort. Und immerzu rollen die Karren, Millionen hinter Millionen, die unabsehbare, schnurgerade Straße hinauf, und unablässig knallt über ihnen die Peitsche.

6.

Fast ein Jahr war es her, seit Pichler im Abgeordnetenhause seine letzte Rede gehalten hatte. Da forderten seine Wähler Rechenschaft und Rechtfertigung von ihm, und so kam er endlich wieder einmal in seinen Wahlkreis.

Gemurr empfing ihn, als er den Saal betrat, und finster sahen die Versammelten auf ihn. Er aber stieg auf die Rednerbühne, wie gewöhnlich mit einem liebenswürdigen Lächeln um die Lippen. Doch da reckten sich ihm Fäuste entgegen, und ein gewaltiger Lärm erhob sich.

„Nicht reden! Demingkreatur! Mandat niederlegen! Ausbeuterknecht!“ rief und schrie und johlte es durcheinander. Er verfärbte sich und fühlte etwas wie Furcht. Aber noch immer lächelte er, und dieses Lächeln schien in seinem schönen Gesicht förmlich eingefroren zu sein. Als jedoch der Spektakel gar nicht aufhören wollte, wurde er wütend. Was? Diese Kerle, die tief unter ihm standen, wagten zu drohen? Statt dankbar zu sein, daß er sich überhaupt mit ihnen abgab? Heiser schrie er in den Saal hinab: „Wollt ihr endlich schweigen? Ich will reden! Hört ihr? Ich will!“

Die Antwort war Lachen und Getöse. Man trommelte auf Tische, pfiff, stampfte mit Füßen, schüttelte Fäuste und Biergläser. Da packte ihn ein jäher Zorn. Er griff nach der Glocke, die ihm zur Hand stand und schleuderte sie in die Menge. Sie traf niemanden. Aber jetzt stürmten sie und drängten auf das Podium, faßten ihren Abgeordneten bei den Schultern, schrien ungestüm auf ihn ein, rüttelten und zerrten, schoben und stießen und beförderten ihn ins Freie. Dort umringten sie ihn, und gewalttätiger Haß sprach aus ihren Gebärden, ihren Mienen und Worten. Die Einberufer mahnten zur Besonnenheit. Pfannschmidt nahm den übel Zugerichteten beim Arm und führte ihn aus dem Gedränge. Murrend und ungern wichen die Leute. Das Gesicht des Bergmannes war hart und finster. Man sah, daß er den einstigen Schriftleiter nicht aus Freundschaft beschützte. Pichler machte jetzt keine vorteilhafte Figur. Der Jähzorn war verraucht. Nun kam die Angst. Er schlotterte an allen Gliedern, die Knie knickten ihm ein, er stolperte nur so vorwärts und wäre gefallen, wenn ihn Pfannschmidt nicht gestützt hätte. Kragen und Halsbinde waren ihm herabgefetzt, der feine Anzug hatte Löcher.

Vor dem Gasthof ließ ihn Pfannschmidt stehen, wandte sich kurz ab und ging ohne Gruß. In fluchtartiger Eile reiste Otto nach Wien zurück.

Trotzig legte er sein Mandat nieder. Wenn er jedoch gehofft hatte, daß es ihm bei seinen ausgebreiteten Beziehungen gelingen werde, sofort eine andere Stellung zu bekommen, sah er sich arg enttäuscht. Alle Bekannten hatten nur ein bedauerndes Achselzucken: es sei dermalen nichts frei. Er war eben kompromittiert. Deming hätte vielleicht Rat gewußt. Aber an ihn wollte er sich nicht wenden. Er schämte sich vor Grete.

Um sich über Wasser zu halten, mußte er Stück für Stück seiner Habseligkeiten zum Trödler oder ins Leihhaus tragen. Dann borgte er sich Geld. Aber es dauerte nicht lang, waren ihm alle Quellen versiegt. Hungrig irrte er in der Großstadt herum. Seine Stiefel waren zerrissen, der Rock, den er am Leib trug, wurde schäbig, und er hatte keinen besseren mehr. In seiner Not schrieb er an Hellwig. Der wies ihn kalt ab. Es sei Pichlern, schrieb er zurück, von je zu gut gegangen und zu leicht gemacht worden. Er habe den Lebenskampf noch nie in seiner ganzen Rauheit empfunden. Jetzt aber könne er zeigen, was in ihm stecke. Durch eigene Kraft müsse er sich herausarbeiten. Unter dem Hammer der Not werde er Stahl werden, wenn er wirklich Eisen sei.

Drei Tage hielt Pichler dem Hunger stand. Dann war er am Ende seiner Widerstandskraft. Vor der Wohnung Demings wartete er und wußte es so einzurichten, daß er richtig von dem kaiserlichen Rat bemerkt wurde. Und der Millionär erkannte ihn sofort und trat auf ihn zu und sprach leutselig mit ihm. Er fragte, ob es dem Doktor denn gar so schlecht gehe und warum er sich nicht an ihn gewendet habe. Und zum Schluß drückte er dem Überraschten eine größere Banknote in die Hand, als Darlehen, wie er sagte, und verabschiedete sich huldreich.

Pichler stand da und schaute ihm nach und wußte nicht, ob er wachte oder träumte. Aber der blaue Schein zwischen seinen Fingern war greifbare Wirklichkeit. Da ging er und kaufte sich neue Wäsche und neue Schuhe, kleidete sich vom Kopf bis zu den Füßen neu. Und als er dann ein Bad genommen und Haar und Bart hatte zustutzen lassen, überkam ihn ein ungestümes Verlangen nach Wohlleben und Genießen. In einem Tingeltangel ließ er sich vorsetzen, was gut und teuer war, und am nächsten Vormittag erwachte er mit wüstem Kopf in der Wohnung einer Dirne.

Zwei Tage später, als das Geld alle war, folgte er der Aufforderung des kaiserlichen Rates, ging zu ihm und setzte ihm rundweg seine Lage auseinander. Deming hörte ihn wohlwollend an, mit schlecht verhehlter Freude. Und nach einer Einleitung, in welcher er beiläufig sagte, daß man begabten Menschen helfen müsse, daß es ihm selbst auch nicht immer gut gegangen und er auch einmal in ganz ähnlichen Verhältnissen stellenlos herumgelaufen sei, machte er dem Doktor den Vorschlag, als Beamter in die Fabrik einzutreten. Aber eines verlange er unbedingt: Pichler müsse sich von seinen Parteigenossen vollständig lossagen und die Politik links liegen lassen.

Das versprach Otto gern.

7.

In aller Stille hatten Fritz und Eva Hochzeit gehalten. Wieder entrüsteten sich die Gutgesinnten Neubergs, weil kein Priester dabei war, aber ihre Ungnade schadete den Betroffenen nichts. Wart Nikl blieb fröhlich und aufrecht, obwohl es jetzt recht einsam um ihn wurde und nur Frau Hedwig, still und tapfer den Trennungsschmerz verbergend, in den weiten Wohngemächern waltete, die kurz vorher noch Eva mit hellem Lachen erfüllt hatte. Jetzt war sie in der Hauptstadt, wo ihr Mann als Anerkennung und als Entschädigung für das Kerkerjahr die verantwortliche Leitung der Freien Blätter erhalten hatte, und nichts war von ihr zurückgeblieben, als ein paar eingerahmte Bilder an den Wänden und ein paar vergessene Bänder und Maschen in den Schrankfächern.

Kolben hatte den jungen Eheleuten den ersten Stock seines Familienhauses vermietet. Alle Zimmer ließ er neu tapezieren, die Parketten ausbessern, die Küche malen, und ins Badezimmer kam ein Gasofen. So war alles neu und schön und hell, ein funkelblankes Nest der Häuslichkeit und des jungen Eheglücks.

Und sie waren glücklich. Ein wackerer Kamerad, ging Eva vom ersten Tage an neben ihrem Manne, heiter, blühend, mit sonnigen Augen und verstehendem Herzen. Nicht eine Sekunde empfand er, daß mit ihr etwas Fremdes und bisher Ungewohntes in sein Leben gekommen. Selbstverständlich wie ihre Verlobung, war auch ihr Zusammenleben, schlicht, einfach und natürlich, ein Ehefrühling, wie er zur Zeit der Schneeschmelze und der ersten Weidenkätzchen ernst und keusch und mit frommer Weihe die Erde überkommt, wenn jeder Baum mit tausend Knospen betet und die unschuldigen Saaten sich im hellsten Sonnenglanz dem Mutterschoß der Scholle entringen. Nie war ein falscher Ton, ein gemachtes Empfinden zwischen ihnen. Sie gaben sich und nahmen einander, wie sie waren, ehrlich und herzlich schritten sie Seite an Seite, wußten, was sie aneinander hatten und brauchten es sich nicht erst zu sagen. Ein warmer Blick, ein Kuß war alles, was ihre vornehm zurückhaltenden Naturen an Zärtlichkeit zu verschwenden hatten. Und es genügte ihnen. Eva war fröhlichen, kindlichen Sinns und hatte nichts von dem tief bohrenden, grüblerischen Wesen ihres Mannes. Aber sie fühlte mit dem Herzen, wo ihr Geist nicht fassen konnte und hatte jene Einfalt des Gemütes, die das Echte herausspürt und das Erkünstelte zurückstößt, ohne für die Zuneigung hier und den Widerwillen dort einen Grund angeben zu können. So ergänzte sie ihren Gatten aufs beste und nahm in gleicher Weise von seinem Ernst wie er von ihrem Frohsinn an.

Nach den ersten Wochen besuchte Kolben das junge Paar fast täglich. Als Backfisch hatte Eva den unerschütterlich gelassenen Menschen nicht ausstehen können. Jetzt wurde er ihr bald sympathisch. Er war ihr überall behilflich, wußte vorteilhafte Einkaufsquellen anzugeben, wurde ihr Berater in allen den kleinen Sorgen des Haushalts, für die Fritz durchaus kein Verständnis aufbringen konnte. Ihm war es als Junggesellen ganz gleichgültig gewesen, ob ein Anzug hundert oder zweihundert Kronen kostete, wenn er nur halbwegs paßte. Und wenn er faltig wurde, gab er ihn einem Schneider zum Aufbügeln, und mochte dessen Forderung noch so unverschämt sein, er bezahlte sie und war deshalb ein geschätzter Kunde. Das wurde jetzt anders. Denn Eva war sparsam und verstand zu rechnen. Sie wollte niemanden übervorteilen, aber auch selbst nicht übervorteilt werden, ließ jedem genau das zukommen, was ihm gebührte, keinen Heller mehr noch weniger, und buchte Einnahmen und Ausgaben. Und wenn dann der Schuster für ein paar Stiefelsohlen drei Kronen fünfzig verlangte, sagte sie und zeigte es ihm schwarz auf weiß: „Vor vier Monaten hat das nur drei Kronen zehn gemacht, wenn Sie teurer werden wollen, kann ich bei Ihnen nicht mehr arbeiten lassen!“, worauf der Handwerker zwar von unerschwinglichen Lederpreisen und Teuerung zu reden anfing, gewöhnlich aber doch seine Forderung auf das frühere Maß einschränkte. So hatte sie ihre liebe Not und freute sich, daß Kolben da war, mit dem sie darüber reden und sich beraten konnte.

Fritz aber steckte wieder bis überm Hals in der Arbeit. Während der zweijährigen Unterbrechung war ihm manches fremd geworden, die Zusammenhänge mußten wieder gefunden, das Versäumte mußte nachgeholt werden. Dazu kam das Lesen der Bürstenabzüge seines zweibändigen Werkes, das demnächst erscheinen sollte. Und als es erschien, aus der Zeit heraus entstanden, sachlich und frei von einseitiger Parteilichkeit, als es von der Kritik mit lautem Beifall begrüßt wurde und fast alle Blätter ohne Unterschied günstige Besprechungen brachten, einige wohl auch im Überschwang den Anbruch einer neuen Epoche der Volkswirtschaftslehre verkündeten, als das alles eintrat, da kam Hellwig erst recht nicht zur Ruhe.

Sein Buch wurde rasch von der Mode den ‚allgemeinen Bildungsnotwendigkeiten‘ beigezählt. Wer in Zeitfragen mitreden wollte, mußte es gelesen haben. Man sprach überall davon, lud den Verfasser zu Teeabenden und Gesellschaften, die verschiedenen Vereine, Zirkel und Klube zur Verbreitung wirtschaftlicher Kenntnisse, Kultur, Wissenschaft oder Bildung forderten ihn zu Vorträgen auf, Zeitungen und Zeitschriften baten ihn um Beiträge.

Anfangs war ihm das lästig, später gewöhnte er sich daran. Von den Einladungen machte er keinen Gebrauch, Vorträge hielt er selten, Abhandlungen schrieb er nach wie vor über Dinge, die ihm ans Herz griffen, und niemals auf Bestellung.

Als sie merkten, daß er nicht mit ihnen heulen wollte, wurden sie kühler, setzten sein Buch von der Liste der Bildungsnotwendigkeiten wieder ab und ließen ihn in Ruhe.

In der Partei aber machte sich allmählich eine Strömung gegen ihn immer bemerkbarer. Erregt und in Bewegung gehalten wurde sie von dem ehrgeizigen Leibinger, der auf den Posten des verantwortlichen Schriftleiters gehofft hatte und sich nun von einem jüngeren verdrängt sah. Er war Mitglied der Parteileitung und hatte sich unentbehrlich zu machen verstanden durch eine Art widerlicher Zuvorkommenheit und händereibender Salbung, mit der er sich zu den unangenehmsten Aufgaben drängte. Niemand mochte den schmalbrüstigen Menschen so recht leiden, der mit eingeknickten Knien immer leise ging, aber man duldete und ertrug sein unsympathisches Wesen, weil er brauchbar war, erfinderisch und gleich gut geübt im jähen Überrumpeln, wie im langsamen Erdrosseln der Gegner.

Jetzt benützte er den Anlaß, fand heraus und sagte es heimlich allen, daß viele Ansichten und Grundsätze in dem gepriesenen Werke Hellwigs eigentlich dem Parteiprogramm zuwider liefen, ja manchmal geradezu der heutigen Gesellschaftsordnung ein Loblied sangen. Und er hatte mit diesen Behauptungen um so eher Erfolg, als der Parteiobmann Anheim und alle, die mit ihm der Leitung angehörten, überzeugte Anhänger der Marxschen Lehre und geschworene Feinde aller Revisionisten waren.

Offen wagte man sich vorerst freilich nicht an den verdienstvollen Mann heran. Aber zu fühlen bekam er es doch, daß man mit seinem Wirken nicht mehr ganz einverstanden war. Man schob ihn beiseite, wo es nur halbwegs anging, faßte Beschlüsse, ohne ihn um seine Ansicht zu fragen, und verschwieg ihm manches, was der verantwortliche Schriftleiter als erster hätte wissen müssen. Anfangs achtete er nicht darauf. Aber als es sich öfter wiederholte, als er sogar in seinem eigenen Blatt bloßgestellt wurde, fiel es ihm auf. Er wurde stutzig, führte Beschwerde, forschte nach dem Grund. Man gab ausweichende Antworten, entschuldigte sich wohl auch mit einem Versehen. Aber beim nächsten Anlaß machte man es ihm wieder so. Kolben wollte ihm die Augen öffnen. Fritz hörte nicht auf ihn. Er schrieb das geänderte Verhalten der Genossen einer flüchtigen Verstimmung zu und ließ sich die schöne Zuversicht nicht rauben, daß alles bald wieder seinen rechten Gang gehen werde.

8.

Da wurde der Reichsrat aufgelöst, weil er der Regierung nicht zu Willen war. Neuwahlen wurden angeordnet. Die nordböhmischen Bergarbeiter wandten sich an Hellwig, daß er in ihrem Wahlkreis kandidiere. Pflichtgemäß fragte er die Parteileitung um ihre Meinung. Die sagte weder ja noch nein, vertröstete ihn auf später.

Und nun begann der aufreibende Wahlkampf mit seiner rastlosen Agitation und den ungezählten Versammlungen in allen Bezirken. Und während Hellwig von Versammlung zu Versammlung fuhr, an einem Tage oft in drei, vier Sälen sprach, dabei die Freien Blätter leitete und, ein immer wacher Kämpfer, die Machenschaften der Gegner aufdeckte, durchquerte und vereitelte, waren in seiner eigenen Partei Leute an der Arbeit, die seine Stellung zu untergraben und seinen Einfluß zu brechen sich redlich bemühten. Er war ihnen zu bekannt, zu berühmt, zu volkstümlich geworden. Sie fürchteten, daß er ihnen über den Kopf wachsen, daß er sie verdrängen und die Führerschaft ganz an sich reißen könnte. Er dachte nicht daran. Ihm ging es um die Sache, die er für gut hielt und mit dem Einsatz aller Kräfte fördern wollte. Sie aber erwogen alle Möglichkeiten, bangten für ihre Ämtlein und fürchteten und beneideten und haßten ihn heimlich sehr. Die Massen jubelten ihm zu, ihre erkorenen Führer aber saßen in geheimen Konventikeln beisammen und rieten hin und meinten her, wie sie dem beliebten Mann Schlingen legen und ihn unauffällig zu Fall bringen könnten. Und wenige gab es unter diesen Ratern und Meinern, die frei und unparteiisch urteilten. Er hatte aber auch fast jeden schon einmal vor den Kopf gestoßen, weil er nie mit seiner Meinung hinterm Berg hielt, sondern sie immer klipp und klar und rücksichtslos heraussagte. Das trugen sie ihm nach und schmollten und grollten und nannten ihn grob, unduldsam, hochfahrend. Und sahen doch ruhig zu, wie er den Hauptteil der Wahlarbeit für sie tat. Mochte er sich plagen und abrackern, das kam der Partei zugute und im richtigen Augenblick wollten sie schon auf dem Posten sein.

Aber auch Kolben wachte und war sehr beschäftigt. Bedachtsam, ohne Übereilung, wie ein schlauer Kundschafter, sondierte er und horchte herum, und als er genug erfahren hatte, machte er sich auf und fuhr in das nordböhmische Kohlengebiet. Denn von dort kamen beunruhigende Nachrichten. Gerüchte von einem neuerlichen Streik waren in den letzten Jahren mehrmals laut geworden. Jetzt aber erhielten sie sich hartnäckig, nahmen bestimmtere Formen an und wollten nicht wieder verstummen.

Das Ziel seiner Reise verriet der Doktor nicht, er brauchte auch von niemandem Abschied oder Urlaub zu nehmen. Er war ganz unabhängig und hatte sich in der Leitung der Kunstnachrichten, die er den Freien Blättern ohne Entgelt besorgte, vollständige Freiheit ausbedungen. Nur Eva mußte es wissen, weil sie gewohnt war, ihn täglich zu sehen, mit ihm Einkäufe besorgte oder spazierenging. Er war ihr einziger Bekannter in der großen Stadt, und wenn sie ihn nicht gehabt hätte, wäre sie den größten Teil des Tages ganz einsam gewesen. Denn ihren Mann bekam sie jetzt fast gar nicht zu Gesicht, er kam spät nachts heim, müde und abgehetzt, aber mit der ersten Sonne war er schon wieder auf den Beinen, sah hastig die Morgenblätter durch und konnte das Frühstück kaum erwarten. Und wenn sie es brachte, aß er hastig und verabschiedete sich zerstreut und fahrig, lief manchmal auch, die bevorstehenden Arbeiten überdenkend, überhaupt ohne Gruß davon.

Sie fand sich auch damit ab, hoffte geduldig auf die Wiederkehr ruhigerer Zeiten und blieb heiter und zufrieden. Wenn sie mit den häuslichen Arbeiten fertig war, — viel zu tun gab es nicht, weil Fritz, um keine Zeit zu verlieren, jetzt auch das Mittagessen in der Stadt nahm —, spielte oder sang sie sich ein Lied, ging in den Garten, pflegte ihre fünf Rosenstämmlein, nähte oder lag lesend oder träumend in der Hängematte unter den dunklen Kastanienwipfeln und freute sich auf das Erscheinen Kolbens und auf das Ende ihrer Einsamkeit. Sogar übermütig konnte sie dann werden. Der Übermut lag ihr nun einmal im Blut und ließ sich auch von ihrer jungen Frauenwürde nicht unterkriegen. Um den Doktor zu necken, versteckte sie sich vor ihm ganz tief in die Fliederhecken oder in die dichten Jasminbüsche, daß auch nicht ein Zipfelchen ihres Kleides, kein Schimmerchen ihres Blondhaars sichtbar war. Zusammengekauert hockte sie in ihren grünen Schlupfwinkeln und rief „Herr Doktor!“ und wenn er sie nicht gleich fand, war sie froh wie ein Schulkind und lachte ausgelassen.

Als er ihr seine Abreise melden wollte, lag sie in der Hängematte. Sie erblickte ihn von weitem, wie er langsam, in seiner gemessenen Art, den gelben Kiesweg heranschritt, machte die Augen fest zu und stellte sich schlafend. Aber manchmal blinzelte sie doch blitzrasch zwischen kaum geöffneten Lidern nach ihm hin und sah, wie er näher kam und zauderte und stillstand, unschlüssig, ob er sie wecken sollte. Sie hielt sich ruhig, veränderte keine Miene und atmete gleichmäßig fort. Da wagte er es, tat vorsichtig einen Schritt vorwärts und noch einen. Jetzt fühlte sie, daß er ganz nahe sein mußte, hörte das Knistern seiner Kleider — und wie sie, zu fröhlichem Lachen bereit, die Lider voll aufschlug, da war sein ernstes Gesicht dicht über dem ihren — sie bemerkte ein paar winzige Puderstäubchen im bläulichen Anflug der eben erst rasierten Wangen — und von seinen Augen waren alle Schleier gefallen. Ein warmer Glanz war in ihnen und das innige Leuchten einer großen Liebe. Nur eine Sekunde war das so. Dann erlosch alles wieder, der Doktor stand in lässiger Haltung, wie immer, vor ihr und gleichmütig wie immer fragte er, ob er störe.

Sie aber war ganz aufgeregt, sprang aus dem Netzgeflecht und in der ersten Ratlosigkeit einer ihr neuen Erkenntnis sagte sie mit überquellendem Empfinden: „Sie armer Doktor!“

„Warum?“ antwortete er ihr in seinem gemütlichsten, freundschaftlichsten Ton. Doch sie dachte nur an das Geschaute, hatte erkannt, daß er ihretwegen litt, vielleicht seit Jahren leiden mußte, und um ihm nur irgend etwas Liebes zu tun, legte sie mit einem hindrängenden Schritt beide Hände auf seine Schulter. „Armer Doktor!“ sagte sie nochmals. Da wußte er, daß sie alles gesehen hatte, wurde ein klein wenig blässer und richtete sich straff auf. „Ich brauche Ihr Mitleid nicht, gnädige Frau!“ sagte er schroff.

Nun war sie ihrer Unüberlegtheit erst inne, errötete noch mehr, und die Tränen sprangen ihr hell von den Wimpern. „O Gott!“ rief sie bestürzt. „Hab’ ich Sie gekränkt? Das wollte ich nicht! Ich schätze Sie ja so! Ich kenne keinen Menschen nach Fritz, den ich lieber hätte! Sie dürfen mir nicht bös sein! Sie sind mir nicht böse, nicht wahr, nein?“

Kolben war schon wieder der Alte. „Sie sind ein rechtes Kind, Frau Eva!“ erwiderte er mit seinem spöttischen Lächeln. „Wie kann man nur am hellichten Tag so närrisch träumen! Lassen Sie’s gut sein, mir geht’s so kannibalisch wohl, daß ich jedem ein derart ausgezeichnetes Wohlbefinden wünschen kann. Ich bin Herr meiner Zeit, kann mir’s einrichten, wie ich will und Vergnügungsreisen machen, wann ich will. Was ich beispielsweise noch heute zu tun gedenke.“

„Sie wollen fort?“

„Jawohl, in drei Stunden geht mein Zug. Um Ihnen das mitzuteilen, bin ich eigentlich herunter gekommen. Mindestens vier Tage werde ich fortbleiben. Es ist mir erschrecklich leid, daß ich den Stoff zu Ihrem Herbstkleid nicht mit aussuchen kann. Denn wie ich die edle Weiblichkeit kenne, duldet so was keinen Aufschub.“

„Doktor!“ rief Eva zornig. „Sie sind heute abscheulich!“

Er verneigte sich leicht. „Das freut mich, Frau Eva, das freut mich sehr! Weil ich nunmehr ganz beruhigt abreisen kann, mit dem erhebenden Bewußtsein, daß meine verehrte Gönnerin froh sein wird, von meiner abscheulichen Gegenwart wenigstens auf kurze Zeit verschont zu bleiben.“

So sprach er und sprach noch manches in derselben Tonart, so daß Eva schließlich an sich selbst ganz irr wurde und nicht mehr wußte, ob sie in der schaukelnden Hängematte unter den dunklen Kastanienwipfeln nicht doch vielleicht geträumt und einen Traum für Wirklichkeit genommen hatte.

9.

Als Kolben sich zu seiner Reise entschlossen hatte, war Leibinger aus den Kohlendistrikten gerade wieder in die Hauptstadt zurückgekehrt. Tags darauf erschien eine Abordnung der Bergleute bei der Parteileitung. Sie erklärte, daß man zur sofortigen Arbeitseinstellung fest entschlossen sei und fragte an, ob man mit Unterstützungen aus der Streikkasse werde rechnen können. Fritz sprach sich entschieden gegen alles aus. Anheim, Leibinger und die übrigen aber brauchten Ausflüchte, wollten in Hellwigs Gegenwart nicht Farbe bekennen, und schließlich gab Leibinger den Leuten einen Wink, sie möchten später noch einmal vorsprechen. Und sie verstanden das und entfernten sich. Als sie fort waren, sprach Hellwig noch eine halbe Stunde lang sehr eindringlich über alle Hindernisse, die dem Streik gerade jetzt, knapp vor den Wahlen, im Wege standen. Man hörte ihn schweigend an, nickte manchmal oder schüttelte die Köpfe, wie er so seine Gründe an allen zehn Fingern herzählte, aber kein Wort fiel dafür oder dawider. Man müsse sich das noch reiflich überlegen, war schließlich alles, was Anheim mit Räuspern und Hüsteln vorbrachte. Dann mußte Hellwig in eine Wählerversammlung der Gegner und hinterher noch in zwei der eigenen Partei, und jetzt erst, als sie sich vor ihm sicher wußten, tauten Leibinger und Mark auf, wurden lebhaft und hatten mit den wieder erschienenen Bergleuten eine lange Besprechung.

Den übernächsten Tag kam Kolben am frühen Morgen zu Fritz, der noch in Hemdärmeln mit Kamm und Bürste hantierte. Der Doktor war die ganze Nacht gefahren und sah verstaubt und abgespannt aus.

„Was bringst du so zeitig, Albert?“ fragte Fritz ein wenig erstaunt.

„Nur meine Neugier!“ antwortete Kolben und ging ohne Umschweife auf sein Ziel los. „Ich hab’ nämlich gehört, daß der Streik beschlossene Sache sein soll.“

„Da hast du dich gründlich verhört!“ lachte Hellwig. „Im Gegenteil, es ist so gut wie sicher, daß jetzt nicht gestreikt wird.“

„So, so ... Weißt du, ich komm’ gerade von den Schächten ... Es ist eine Abordnung dagewesen, das weißt du ja ... nun, und die ist gestern heimgekommen mit der Meldung, daß es am Montag, also in vier Tagen, losgehen kann ...“

Dröhnend schmetterte Hellwigs Faust auf den Tisch. „Das ist nicht möglich!“ schrie er.

Kolben zuckte die Achseln. „Ist aber trotzdem so. Ich sag’ dir, gejubelt haben sie über die Nachricht. Mich haben sie ausgelacht. Zwei Agitatoren sind gleich mitgekommen. Leibinger will morgen hin ...“

„Das ist nicht möglich!“ sagte Fritz nochmals und war ganz blaß.

„Wenn du mir nicht glaubst, — im Verbandsheim wirst du’s ja erfahren.“

„Ja — ich werde es erfahren ...“ murmelte Fritz mit aufeinander liegenden Zähnen. Dann reckte er sich hoch. „Ich geh’ gleich hin! Kommst du mit?“

Sie gingen. Im Beratungszimmer fanden sie Leibinger, Mark und den Obmann Anheim. Das war ein hagerer Greis mit einem mächtigen kahlen Schädeldach und buschigen Brauen über zwei herrischen Augen. Mit fester Hand hielt er die Zügel, war unbestechlich, ehrlich und treu, aber kannte auch kein Nachgeben. Was er sagte, stand wie ein Block, an dem nicht gerüttelt werden durfte, und alle fügten sich ihm. Auch Mark, der seichte Schwätzer, der gewaltig war im Schimpfen und im Aufpulvern der Massen. Wie ein Kutscher sah er aus mit seinen ganz kleinen Augen, der engen Stirn und dem pechschwarzen Haar, das reichlichste Pomade nicht geschmeidig machen konnte.

„Also, da seid ihr ja beisammen!“ begann Hellwig mit fliegendem Atem und sprang ohne Umschweife mitten in die Sache hinein. „Ihr habt hinter meinem Rücken den Streik beschlossen? Das gibt’s nicht! Das dulde ich einfach nicht!“

„Oho!“ sagte Anheim.

„Jetzt ist’s zu spät!“ ließ sich Mark vernehmen. Und Leibinger lachte spöttisch: „Ich denke, du hast hier weder was zu dulden, noch zu befehlen!“

Kolben rückte sich ein wenig auf seinem Stuhl zurecht. „So kommen wir nicht vom Fleck!“ meinte er. „Fangen wir schön von vorn an. Warum soll denn eigentlich gestreikt werden?“

„Sehr richtig, das möchte ich auch wissen!“ platzte Mark heraus. Leibinger aber fiel ihm sofort ins Wort: „Der Grund ist doch schon längst bekannt. Die vereinbarte Arbeitszeit soll vom Zeitpunkt des Einsteigens in die Förderschale bis zum Zeitpunkt des Aussteigens gerechnet werden. Nicht, wie die Kohlenbarone rechnen, von der Ankunft bei der Arbeitsstelle im Schacht bis zum Niederlegen des Werkzeugs dortselbst. Denn um zur Arbeitsstelle zu gelangen, müssen die Leute oft stundenlang im Stollen gehn, so daß sie elf und noch mehr Stunden unter der Erde sind, statt der vereinbarten neun.“

„Ja, aber da haben die Leute doch ganz recht, wenn sie sich das nicht gefallen lassen!“ bekräftigte jetzt Mark und tat sehr entrüstet.

Hellwig sagte darauf: „Die Forderung ist berechtigt, gewiß! Das habe ich schon hundertmal gesagt! Aber ebenso oft hab’ ich euch vorgehalten, daß es jetzt einfach unmöglich ist, sie mit Gewalt durchzusetzen. Die Leute haben sich kaum vom letzten Ausstand erholt. Sommer ist auch. Die Lieferungen sind nicht dringend, die Grubenbesitzer können zuwarten, haben Zeit, haben die öffentliche Meinung für sich, da die Ursache des Streiks zu geringfügig, zu mutwillig erscheint. Und wir haben jetzt auch die Mittel nicht, sie wirksam zu unterstützen. Auf den Schiffswerften streiken achttausend. Wo sollen wir’s denn hernehmen? Fragt Kolben! — Wie viel hast du in der Streikkasse!“

„Warte!“ erwiderte dieser und rechnete leise vor sich hin. „Zwanzigtausendsechshundertzwei Kronen vierzehn — zuletzt sind siebzehn Kronen acht dazu gekommen: — Zwanzigtausendsechshundertneunzehn Kronen zweiundzwanzig Heller!“

„Da habt ihr’s! Das reicht kaum vier Tage!“

Leibinger unterbrach ihn schnell: „Es ist weitaus genug, wenn man die Spenden hinzurechnet. Und gar so lang kann’s nicht dauern!“

„Leibinger, nimm doch Vernunft an!“ rief Hellwig.

„Das möcht’ ich dir raten! Wir müssen Erfolg haben!“

„Auch ich wäre für den Versuch!“ bemerkte Anheim. „Im Notfall kann die Arbeit jeden Tag wieder aufgenommen werden.“

„Und soundsoviel Lohntage sind beim Teufel!“ sagte Fritz grimmig. Da glaubte Mark ein kräftiges Beweismittel gefunden zu haben.

„Die Wahlen stehen vor der Tür!“ rief er laut. „Hat der Streik Erfolg, sind wir unüberwindlich!“

Kolben griff das unüberlegte Geständnis sogleich auf. „Ich danke Ihnen für das erlösende Wort, Herr Mark! Ja, Fritz! Die Wahlen stehen vor der Tür, und Leibinger will Abgeordneter werden.“

„Wer sagt das?“

„Ich, Herr Leibinger! Glauben Sie, ich weiß nicht, daß Fritz Hellwig Ihrem Ehrgeiz im Wege ist? Daß Sie gern an seiner Stelle Schriftleiter sein möchten? Und ihm das Abgeordnetenmandat neiden, obwohl er’s noch nicht hat?“

„Nicht weiter, Albert!“ unterbrach ihn Hellwig unwillig. „Das gehört nicht her!“

Und Leibinger, kühn gemacht, schrie: „Verleumdung!“

Kolben aber sprach unbeirrt fort, mit seinem leicht ironischen Lächeln, mit seiner großen Ruhe und sehr sarkastisch:

„O gewiß gehört das her! Es war kein Zufall, daß ich ins Kohlengebiet gereist bin, gleich nachdem Herr Leibinger von dort zurück war. Ganz und gar kein Zufall war das. Und da hab’ ich so manches gehört, mein lieber Fritz. Das, was ich eben von ihm behauptet habe, hat Herr Leibinger den Leuten nämlich über dich gesagt, wenn auch vielleicht nicht mit so feinen Worten. Du, Fritz, seist der Streber, der Mandatsjäger, der unverläßliche Mitläufer, der alles zu seinem Vorteil nützt und so weiter. Und als Beweis soll dienen: Du werdest gegen den Streik sein, denn du spielst mit den Grubenbesitzern unter einer Decke. Jemand hat mir sogar anvertraut, im Rausch natürlich, du seist von ihnen bestochen.“

Fritz stand da, hatte die Fäuste geballt und starrte mit weiten Augen den Sprecher an.

„Ist — das — wahr?“

„Ich hörte es so!“

„Ich verwahre mich gegen eine solche Infamie!“ rief Leibinger. Der Doktor beachtete ihn nicht.

„Wenn ich nach dem Ursprung dieser Gerüchte fragte,“ fuhr er trocken fort, „hat’s immer geheißen, die Gegenpartei behauptet es. Aber einer, der mir sehr zugetan ist und für dessen Verläßlichkeit ich jede Bürgschaft übernehme, hat es im Interesse der Partei bitter beklagt, daß — Herr Leibinger solche Sachen in Umlauf setze.“

„Nennen Sie den Namen!“ rief Leibinger. Und Mark unterstützte ihn mächtig: „Namen nennen! Namen nennen!“

„Sparen Sie sich den Atem, meine Herrn!“ erwiderte Kolben und spielte mit seiner Uhrkette. „Den Namen geb’ ich Ihnen nicht preis!“

„Aha!“ frohlockte Leibinger. „Dergleichen kennt man! Alles ist erstunken und erlogen!“

Kolben lehnte sich faul zurück: „Ich pflege zwar sonst nicht zu lügen, aber wenn Herr Leibinger es sagt ...“

Fritz aber trat mit schweren Schritten hart vor diesen hin, der aufgesprungen war und sich vergebens mühte, den unschuldig Gekränkten zu spielen. Mit seinem hellen Blick schaute ihm Hellwig ins Gesicht und sprach leise, mit erzwungener Ruhe: „Also — deswegen! Damit du — deine eigenen Ziele — erreichst, sollen Zehntausende — sollen sie tage- — vielleicht wochen- und monatelang — hungern. Höre, Leibinger, ich bin“ — er tat einen tiefen Atemzug und seine Stimme war spröd wie splitterndes Glas — „ich bin nicht gewohnt, — mit Lumpen dieselbe Luft zu atmen!“

Leibinger lachte schrill auf und schrie: „Ich bin hier genau so viel wie du! Übrigens — mit Beleidigungen wirst du dich nicht rechtfertigen! Eher bestärkst du unsere Gegner in dem Verdacht, daß doch was Wahres an der Geschichte ist!“

Anheim hielt sich für verpflichtet, einzuschreiten.

„Hellwig, das geht zu weit!“ mahnte er. Und Mark sekundierte: „Wir sind keine Lausbuben!“

Der Obmann fuhr fort: „Auf eine Anschuldigung, die sehr unwahrscheinlich klingt, — ich sage nichts gegen Herrn Doktor Kolben, er kann falsch berichtet worden sein, — auf eine vage Anschuldigung hin willst du den Stab über einen verdienten Genossen brechen? Audiatur et altera pars! Sei gerecht!“

Und Mark sekundierte: „Wo sind die Beweise?“

Da schäumte Fritz auf.

„Der das gesagt hat,“ rief er leidenschaftlich, „der wiegt mir hundert Zeugen auf!“

Nun erhob sich der Obmann, räusperte sich und sprach, als redete er in einer Volksversammlung. „Ich muß,“ sprach er, „mich im Namen der gesamten Partei, die zu führen ich die Ehre habe, auf das nachdrücklichste gegen ein solches Vorgehen verwahren. Wer bist du denn, Hellwig, daß du glaubst, mit uns wie mit Schuljungen umspringen zu können? Jedenfalls steht hier, wie ich schon betont habe, Behauptung gegen Behauptung und erst die einzuleitende strenge Untersuchung wird ergeben, auf wessen Seite das Recht ist!“

„Beweise! Wo sind die Beweise!“ rief Mark.

„Herr Mark!“ sagte Kolben. „Wir sind nicht taub. Wozu beweisen, was schon längst nicht nur mir allein bekannt ist. Ihr wißt es ja alle recht gut und freut euch darüber, daß Leibinger für euch die Arbeit tut. Ihr wollt den Hellwig los sein. Er ist euch zu groß geworden, drum soll er ganz klein werden! So oder so!“

Fritz stand ganz dicht vor den drei Männern.

„Leute!“ bat er mit gefalteten Händen. „Seid aufrichtig! Wenn ihr schon etwas gegen mich habt, so hetzt nicht heimlich in so gemeiner Weise gegen mich, daß die, denen ihr Führer und Berater sein sollt, das Bad aussaufen müssen, sondern habt den Mut, mir’s offen und ehrlich ins Gesicht hinein zu sagen!“

Da sprach Anheim mit erhobener Stimme: „Hellwig, es ist durch nichts bewiesen, daß sich Leibinger in irgendeiner Weise unkorrekt benommen hat. Daran müssen wir festhalten. Daß du nunmehr auch uns in Bausch und Bogen verdächtigst, zeigt, wie falsch dein Standpunkt in dieser Angelegenheit ist. Deine Mitarbeiterschaft war uns stets wertvoll ...“

„Das heißt, sie ist es gewesen!“ erläuterte Mark.

„Aber,“ fuhr Anheim fort, „aber in letzter Zeit sind Dinge vorgefallen, die geeignet sind, dich und deine Stellung zu unserer Sache in einem schiefen Licht erscheinen zu lassen. Namentlich als dein Buch herausgekommen ist, das du auf den Markt geworfen hast, ohne uns zu fragen —“

Da sagte Kolben mit unverhohlenem Spott: „Ich denke, die Herren sind entschiedene Gegner der Zensur!“

Steif wehrte der Obmann den Ausfall ab: „Hier liegt der Fall doch anders! Ein Parteimitglied schreibt gegen die eigene Partei! So was ist noch nicht dagewesen! Ja, Hellwig, dein Werk kommt vielen von uns vor wie die Schriften der Jesuiten. Man kann das, was du sagst, so oder so deuten.“

„Wasch’ mir den Pelz und mach’ mich nicht naß!“ nickte Mark eifrig.

Jetzt tat der Doktor, was selten bei ihm vorkam, er lachte hell auf: „Klarer als Hellwig hat doch nicht so bald einer seine Ansichten niedergeschrieben!“

„Das dachten wir im Anfang auch. Als jedoch fast alle Gegner das Buch eines ihrer gefürchtetsten Widersacher zu loben anfingen — von dem Lob fällt ein ganz eigentümlicher Widerschein auf die etwas krausen Wege des Verfassers. Das wäre der erste Punkt. Zweitens hast du, Hellwig, oft und oft scharfe Artikel erprobter Anhänger entweder gar nicht oder nur in sehr verwässerter Form in das Parteiblatt aufgenommen. Und sonderbarerweise waren das immer Artikel, die gewissen geld- oder einflußreichen Leuten auf die Finger klopfen sollten.“

Fritz war einfach sprachlos. Er hatte die schöne Gepflogenheit, jeden Aufsatz, der die mangelnde Sachlichkeit durch Schmähungen zu verdecken suchte, dem Verfasser zurückzuschicken. Das war alles.

Anheim setzte seine Anklage fort:

„Drittens endlich widerrätst du auch den Streik, von dessen Notwendigkeit wir alle überzeugt sind. Kurz und gut: Ich halte es entschieden für einen Fehler, der scharfe Mißbilligung verdient, wenn sich Leibinger des von Herrn Doktor Kolben behaupteten, aber durch nichts bewiesenen Vorgehens gegen dich schuldig gemacht hat. Indes, nach dem Vorgesagten, hätte er — nach meiner Ansicht und nach der Ansicht vieler Parteimitglieder — gegen den Freund Otto Pichlers zwar in der Form, kaum aber in der Sache unrecht gehabt. Bedingungslos vertrauen können wir dir nicht mehr. Wir haben das übrigens in einer vertraulichen Sitzung schon früher festgestellt, und ich bin beauftragt, alle diese Dinge beim nächsten Reichsparteitag zur Sprache zu bringen. Wenn ich sie dir vorher mitteile, um dir die Rechtfertigung zu erleichtern, so erblicke darin einen Beweis, daß wir dich nur ungern verlieren würden.“

Fritz war ganz farblos. Aber seine Augen funkelten wie Stahl in der Sonne.

„Bist du — zu — Ende?“ keuchte er und preßte die Faust gegen die Brust, um dem übermächtigen Pochen des Herzens Einhalt zu tun. Anheim bejahte mit einem stummen Neigen des kahlen Hauptes. Da warf er den Kopf zurück und gewaltsam die Erregung zerdrückend, sprach er erst stoßweise und unsicher, dann immer kälter und verächtlicher:

„Der langen Rede kurzer Sinn ist: Ich — bin von den Geldmännern der bürgerlichen Parteien — bestochen — käuflich wie eine Marktware. Daß ich — euch nicht zu Gesicht stehe — wundert mich nicht. Aber — daß ihr so jämmerlich seid, daß ihr so erbärmlich niedrig denken könnt — macht das mit euch selber aus. Eins nur noch: Ich bin der festen Überzeugung, daß nur der Zufall drei solche Prachtexemplare in derselben Parteileitung zusammengeführt hat. Die Partei achte ich nach wie vor — aber betrachtet um euretwillen meinen Austritt mit dieser Sekunde als vollzogen ...“

Anheim hatte sich wieder erhoben.

„Wir werden Ihren Entschluß der Partei zur Kenntnis bringen,“ sagte er förmlich.

Und als Hellwig bereits die Klinke in der Hand hatte, rief ihm Mark noch schadenfroh nach: „Der Streik beginnt natürlich Montag!“

Da wandte er sich und seine Augen lohten.

„Der Streik beginnt nicht!“

Mark lachte höhnisch, und Leibinger tat jetzt wieder den Mund auf: „Setz’ dich nur aufs hohe Roß, du dunkler Ehrenmann!“ rief er. „Wir bringen dich schon herunter!“ Aber Hellwig hatte bereits die Tür hinter sich zugemacht.

Im Lesezimmer stand er wie betäubt. Kolben legte ihm die Hand auf den Arm: „Nun, Fritz?“

„Laß nur, Albert ... laß!“

Den gläsernen Briefbeschwerer nahm er vom Tisch, hielt ihn gegen das Licht, sah hindurch und legte ihn aufs Fensterbrett. Er ließ das Gewebe der Stoffvorhänge durch seine Finger gleiten, als wollte er die Festigkeit der Fäden prüfen. Er öffnete das Fenster, lehnte sich hinaus und schloß es dann gleich wieder.

Immer heftiger arbeitete es in ihm. Und endlich sank er, der in seiner Vertrauensseligkeit Getäuschte, in seiner kinderklaren Arglosigkeit Betrogene, sank Fritz Hellwig schwer auf einen Stuhl und legte beide Hände vors Gesicht.

„Das arme Volk!“ stöhnte er zu tiefst aus der Brust heraus. „Das arme, arme Volk!“

10.

Aber er blieb nicht untätig dem Schmerz hingegeben. Am selben Nachmittag noch reiste er in den Kohlenbezirk. Pfannschmidt, telegraphisch verständigt, erwartete ihn. Noch in der Nacht wurde ein Flugblatt fertig. Den nächsten Abend sollte eine Versammlung, am Sonntag aber ein Meeting unter freiem Himmel abgehalten werden. Der anbrechende Morgen fand Hellwig mitten unter den Bergleuten. Er fuhr von Schacht zu Schacht, verständigte die Knappschaften, verteilte die Flugblätter.

Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht von seiner Anwesenheit. In hellen Haufen kamen sie abends in den Versammlungssaal. Dort hatten sich auch Anheim und Leibinger eingefunden.

Von stürmischem Jubel begrüßt, trat Hellwig hinter den Rednertisch. Es dauerte Minuten, bevor er sich verständlich machen konnte. Dann aber wurde es lautlos still. Seine geschulte Rednerstimme war bis in den entferntesten Winkel des großen Raumes vernehmbar. Leibingers Anhang versuchte wohl anfangs durch Räuspern und Scharren den Redner zu stören. Aber Anheim winkte ab. Er hatte sich für das Zuwarten entschieden.

Was Hellwig sagte, klang auch gar nicht aufreizend. Nüchtern und sachlich gab er seine Gründe gegen den Streik bekannt. Als sie merkten, wohinaus er wollte, begannen viele zu murren und dazwischen zu rufen. Denn sie hatten sich bereits mit dem Gedanken an den Ausstand vertraut gemacht.

Da flammte er auf. Jedes Wort schlug ein. Und es währte nicht zehn Minuten, da waren sie wieder in seinem Bann. Aus den geröteten Gesichtern, die in gespannter Aufmerksamkeit ihm zugewendet waren, aus den glänzenden Augen, die jeden Satz von seinen Lippen vorwegzunehmen verlangten, las er die Wirkung, spürte er heraus, daß er wieder Fühlung mit ihnen hatte. Und als er sie jetzt zur Entscheidung aufforderte, da stimmten unter tosendem Beifall fast alle gegen den Streik.

Im ersten Anlauf hatte er den Kampf bereits so gut wie gewonnen. Nach ihm hätte Leibinger zu Wort kommen sollen. Statt seiner stand Anheim auf. Ein starres Festhalten am Streik konnte der Partei nur schaden. Das sah der Obmann ein und gab seiner Meinung dahin Ausdruck, daß es wohl am besten sei, die Entscheidung den Arbeitern zu überlassen. Er konnte sich an den Fingern ausrechnen, wie die Entscheidung ausfallen mußte. Doch war der Rückzug geschickt in Szene gesetzt, das Ansehen der Partei brauchte nicht darunter zu leiden. Von Hellwigs Austritt erwähnte der Obmann nichts. Er hoffte, da auch Fritz geschwiegen, daß sich die leidige Geschichte vielleicht doch bis nach den Wahlen vertuschen oder irgendwie werde beilegen lassen.

Dem Meeting am Sonntag aber schenkte Hellwig ganz reinen Wein ein. Schonungslos brachte er alles zur Sprache, was zum Bruch geführt hatte und forderte Leibinger auf, sich zu rechtfertigen. Der jedoch wagte es nicht. Denn unter den Versammelten waren viele, die seine Ausstreuungen mit eigenen Ohren gehört hatten und jetzt durch laute Zurufe bestätigten. Er überließ es Anheim, die verlorene Sache zu führen. Aber die Leute wollten auch den nicht hören. Sie tobten und schrien, schleuderten dem Obmann, der auf der Felsplatte stand, ihre Empörung ins Gesicht. Wer seine Stimme für Leibinger erheben wollte, wurde niedergebrüllt, mundtot gemacht, mit Püffen und Stößen herumgeschoben, bis er still war oder sich entfernte.

Es hätte nur eines Winkes von Hellwig bedurft und die Mehrzahl wäre von der Partei abgefallen. Doch das wollte er nicht. Die Kräfte durften nicht zersplittert werden, unter dem Gegensatz zwischen einzelnen durfte die Gesamtheit nicht leiden. Deswegen beruhigte er die Aufgeregten. Man dürfe, sagte er, das Kind nicht mit dem Bad ausschütten, weil einer oder der andere sich unwürdig erwiesen habe, nicht die Partei verdammen. Es sei ihm nicht leicht geworden, den Kampf aufzunehmen. Aber rechtfertigen habe er sich gerade vor ihnen wollen und müssen. Und er habe es für seine Pflicht gehalten, sie nach Pichler vor Leibinger zu bewahren. Nicht gegen die Partei richte sich sein Angriff, denn die Partei sei rein, habe schon Großes erreicht und durch feste, lautere Eintracht werde sie alles erreichen. Schließlich riet er ihnen, einen bewährten Mann aus ihrer Mitte in den Reichsrat zu entsenden und schlug Karl Pfannschmidt vor. Sie aber verlangten ungestüm, daß er selbst sich bewerbe. Er weigerte sich. Denn dadurch wäre der Zwist erst recht entfacht worden. Solang die jetzige Leitung blieb, konnte er nicht mit der Partei gehen. Und gegen sie wollte er nicht gehen. Von der Uneinigkeit hätten nur die Gegner Nutzen gezogen. Und er sagte ihnen, daß er noch einmal zu ihnen kommen werde, wenn sie es forderten. Er wollte ihnen zu besonnener Überlegung Zeit lassen und den Ernst ihrer Gesinnung prüfen. Sie jubelten ihm zu, umdrängten und begleiteten ihn wie einen Triumphator in die Stadt. Dann reiste er ab.

Und sie — riefen ihn nicht zurück.

Kaum war er fort, setzte heimlich, aber um so gehässiger die Wühlarbeit gegen ihn ein. Seine Feinde waren durch den schnellen, mit gewaltigem Ungestüm geführten Angriff überrumpelt worden. Doch da er den Sieg nicht ausnützte, fanden sie Zeit, sich zu sammeln. Leibinger zeigte sich nicht mehr. Aber seine Kreaturen waren unermüdlich am Werke.

Fortwährend und überall wurde jetzt von Hellwig gesprochen. Aber es war nur selten Gutes, was man sich von ihm zu erzählen hatte. Und nach manchem Für und Wider, nach halben Andeutungen und vielsagendem Schweigen kam man gewöhnlich überein, es sei eigentlich unerfindlich, worin sein Verdienst bestehen sollte. Er habe einfach Glück gehabt. Der große Erfolg von damals sei nicht auf seine Rechnung zu setzen; dazu habe die Katastrophe, die zur rechten Zeit hereinbrach, das meiste beigetragen. Die eigentlichen Kämpfer und Sieger seien jedoch die Arbeiter gewesen. Die allein haben darunter gelitten, dafür gehungert, die volle Schwere des Feldzuges am eigenen Leib verspürt. Hellwig habe eigentlich nur zugesehen und geredet. Jetzt aber nehme er die Lorbeeren ganz für sich in Anspruch, maße sich das Recht an, andere zu hofmeistern, zu beleidigen, als Spielball zu gebrauchen, seine Meinungen ihnen aufzuzwingen. Die Freiheit führe er zwar fortwährend im Munde, aber gleichzeitig übe er unerhörteste Zwangsherrschaft gegen alle, die ihm nicht unbedingte Gefolgschaft leisten, er habe ganz das Zeug zum Diktator. Dem müsse vorgebeugt werden. Das Volk müsse selbst über sich herrschen, dürfe nach niemandes, auch nicht nach Hellwigs Pfeife tanzen.

So wurde geredet, und die bewegliche Menge, seinem persönlichen Einfluß entrückt, schenkte diesen Reden gern und willig Gehör. Und da Leibinger vorderhand doch nicht gut selbst als Wahlwerber auftreten konnte, war das Schlußergebnis, daß Pfannschmidt wieder als Bergmann arbeitete, August Mark zum Abgeordneten gewählt wurde und der Streik, der förmlich Hellwig zum Trotz doch noch versucht worden war, mit einem Mißerfolg endete.

Der Bruch mit der Parteileitung war Hellwig nicht so nah gegangen als die Haltung der Bergarbeiter, kurz nachdem sie ihm zugejubelt und ihn wie einen Halbgott gefeiert hatten. Doch fand er auch hier Entschuldigungsgründe für ihren Wankelmut. Er war auf halbem Wege stehn geblieben, hatte den begonnenen Kampf nicht bis zu Ende geführt. Eine Hanswurstiade war das gewesen, die Leute hatte er verwirrt, ohne ihnen einen Weg aus dem Irrsal zu zeigen, und es war kein Wunder, wenn sie, von ihm im Stich gelassen, wieder jenen folgten, an deren Führerschaft sie nun einmal schon gewöhnt waren. Nachträglich hatte sein Ausscheiden aus der Partei zwar noch einigen Staub aufgewirbelt, wäre es fast zu einer Spaltung im geeinigten Lager gekommen. Da er aber nichts von sich hören ließ, sich ganz vergrub und verschollen blieb, legte sich die Aufregung, es wurde stiller, und man vergaß ihn allmählich.

Und er wühlte sich immer tiefer in seine Arbeiten hinein, studierte, las und schrieb die Tage und die halben Nächte durch. Denn er war jetzt ausschließlich auf die unsicheren Einkünfte angewiesen, die er von den Zeitschriften für Beiträge gezahlt erhielt. Und da sparte er und knauserte und versagte sich sogar die gewohnten Zigarren, immer in Sorge, daß er einmal nicht genug verdienen und gezwungen sein könnte, die Mitgift seiner Frau anzugreifen.

Und Eva sollte Mutter werden.

11.

Da ließ sich eines Tages Leo Reinholt bei ihm anmelden. Der besaß außer einem großen Vermögen im Ostwinkel des Reiches eine Tuchfabrik mit Spinnereien, Webereien, Färbereien und allem, was dazu gehörte. Die Wohnungen, die er dort seinen Bediensteten aufgebaut, waren musterhaft, und die Wohlfahrtseinrichtungen, die er sonst noch geschaffen, hatten seinerzeit viel von sich reden gemacht. Der also ließ sich eines Tages bei Hellwig anmelden.

Fritz empfing ihn sehr zurückhaltend. „Was verschafft mir die Ehre?“ fragte er steif und wies auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch. „Wollen Sie Platz nehmen?“

Ungezwungen kam der Fabrikant der Einladung nach. Er war beinahe ebenso groß, aber schmächtiger als Hellwig, hatte auffallend kleine Hände und blickte aus hellen braunen Augen treuherzig in die Welt. Im dunklen Haarschopf leuchtete das Weiß einer werdenden Glatze.

„Haben Sie eine Viertelstunde Zeit für mich?“ fragte er, indem er sich setzte.

„Da müßte ich wohl zuvor wissen, um was es sich handelt.“

„Das läßt sich nicht so einfach sagen ... Sie sind gegenwärtig ohne feste Stellung?“

„Über meine Privatverhältnisse glaube ich Ihnen keine Rechenschaft schuldig zu sein.“

Der andere lächelte leicht: „Gewiß nicht!“ Und immer nur wie ganz beiläufig und nebenbei fuhr er fort: „Ja, also, wie soll ich Ihnen das auseinandersetzen? — Ich habe mich eingehend mit Ihrem Buch befaßt, sehr eingehend, ja. Und, also, die Vorschläge, die Sie machen, die scheinen mir durchführbar und, was die Hauptsache ist, rentabel. Ja, also — kurz und gut, ich beabsichtige meine Fabrik danach einzurichten und, ja — wenn Sie wollen — Sie könnten mir dabei helfen.“

Fritz sprang auf. Mit einem jähen, ungestümen Satz.

„Ist das Ihr Ernst?“

„Wäre ich sonst hier?“ Der Fabrikant zündete sich eine Zigarre an. „Sie erlauben doch? — Darf ich vielleicht aufwarten?“ Er hielt Hellwig die Ledertasche hin. Der beachtete es gar nicht. Mit langen Schritten lief er durchs Zimmer. Dann machte er wieder vor dem Besucher halt, schaute ihn zweifelnd an: „Ja — aber — wieso ...? Ich weiß nicht, was Sie veranlassen könnte ... Scherzen Sie denn wirklich nicht?“

Reinholt blies den grauen Rauch in die Luft. „Warum wundert Sie das eigentlich? Ich sage ja, ich halte die Geschichte für rentabel. Für mich ist das ein Geschäft wie jedes andere, eine Spekulation meinetwegen, die glücken oder fehlschlagen kann. Das weiß ich vorläufig noch nicht. Glückt sie, ist’s gut. Wenn nicht, hab’ ich mich eben verrechnet und muß die Folgen tragen.“

Er sagte das alles im trockensten Geschäftston. Und doch war im Grunde seiner braven Augen etwas, das zu dieser kaufmännischen Sachlichkeit nicht stimmte. Etwas Warmes, nur gedämpft wie hinter Schleiern Leuchtendes, — Güte, die nicht erkannt sein wollte.

Fritz hatte seine Wanderung durch das Zimmer wieder aufgenommen. Die Arme auf dem Rücken verschränkt, schritt er ruhlos auf und ab und schaute zur Decke, als ob er von dort etwas herablesen wollte. Dann wieder blieb er stehen, schüttelte den Kopf und bewegte die Lippen wie im Selbstgespräch. Reinholt beobachtete ihn eine gute Weile. Endlich rief er ihn an: „Herr Hellwig ...“

Da schrak er aus seiner Versunkenheit auf: „Ja?“ und schaute den Fabrikanten fremd an.

„Wir wollen die Sache nicht überstürzen, Herr Hellwig. Es hat ja Zeit. Ich mute Ihnen keine sofortige Entscheidung zu. Nur einige Aufklärungen möchte ich Ihnen noch geben, dann überlegen Sie sich’s und lassen mich, sagen wir in vier Wochen, Ihren Entschluß wissen. So lang bleibe ich Ihnen im Wort.“

Das klang wieder sehr nüchtern und vernünftig. Und diese kühle Art ließ auch Fritz ruhiger werden; aufmerksam hörte er zu, wie jetzt der Fabrikant in großen Umrissen seinen Plan entwickelte.

Als er gegangen war, blieb Hellwig noch lang unbeweglich vor dem Schreibtisch sitzen. Da hatte ihm einer die Möglichkeit gezeigt, wie er sein Lebenswerk erfüllen konnte. Und es war ihm, als ob er in eine ungeheure Helligkeit schaute, die ihn blendete und alle Gegenstände überstrahlte, so daß nichts anderes zu sehen war als Licht und Licht. So — wie man die Möven nicht sieht, die Barken nicht und nicht die Schiffe, wenn die Sonne auf den See scheint und seine Fläche zum Spiegel macht. Und man weiß doch ganz sicher, daß dort klares Wasser ist und freut sich und kann es nicht erwarten, bis man die Kleider vom Leib ziehen und in dem kühlen Silber untertauchen kann.

Da tat sich die Tür auf und Eva kam herein, sacht, schüchtern, mit dem aufrechten Königinnengang des tragenden Weibes. Nun sprang er empor, hob die Arme seitwärts und aufwärts, mit einer so ungestümen, frohen und leidenschaftlichen Bewegung, als wollte er eine Welt umspannen.

„Eva ...“ stammelte er. „Eva ...“

Eine Sekunde nur schaute sie ihn befremdet an und wunderte sich über den Glanz in seinen Augen. Dann wußte sie, daß eine Wendung eingetreten, daß ein großes Glück für ihn im Anzug sei. Mit ausgestreckten Händen trat sie auf ihn zu: „Fritz ... Ist’s jetzt wieder gut, Fritz?“

„Ja!“

Und nun erzählte er es ihr. Aber während er redete, verlor sich mehr und mehr die beschwingte Zuversicht der ersten Freude. Er begann von den Hindernissen zu sprechen, die zu beseitigen, von den Schwierigkeiten, die zu überwinden waren. Die Skrupel kamen, aus Licht wurde Schatten und keins der Bedenken, die ihm aufstiegen, verhehlte er ihr. Nach Reinholts Schilderung lag die Industrie in jenem Lande zwar sehr im argen, aber gerade in der Gegend, wo auch sein Unternehmen stand, waren noch einige kleinere Spinnereien und Webfabriken, die insgesamt kaum zweitausend Leute beschäftigten. Doch diese gehörten fast ausnahmslos zu jener Partei, die gegen Hellwig als Abtrünnigen den Bannfluch geschleudert hatte.

Für den Anfang, zu diesem Schluß kam er endlich, für den Anfang werde sich wohl eine Trennung nicht vermeiden lassen. Erst wenn der ärgste Wirrwarr vorüber, die neue Ordnung einigermaßen befestigt sei und sich eingelebt habe, werde ihm Eva folgen können.

Sie hörte es und wurde blaß. „Und das Kind?“ fragte sie tonlos.

Einen Augenblick zögerte er mit der Antwort. Er fühlte ein Würgen in der Kehle. Aber sie sollte, sie durfte nicht merken, wie nah es ihm ging. „Ich werde euch unterdessen nach Neuberg bringen,“ sagte er. Da ließ sie traurig den Kopf sinken und sprach kein Wort mehr.

12.

Hellwig nahm das Anerbieten Reinholts an. Der Entschluß war ihm nicht leicht geworden. Erst als er ganz mit sich im reinen war, sagte er ja. Aber nun er sich einmal entschieden hatte, glaubte er um so sicherer an den Erfolg. Verläßliche Leute wurden angeworben, die eine Art Kerntruppe für das neue Unternehmen abgeben sollten. Pfannschmidt war darunter, der alte Kesselwärter Bogner, auch einer von den Brüdern Otto Pichlers. Die reisten mit Reinholt gleich ab. Hellwig wollte noch die Entbindung Evas abwarten.

Und Evas schwere Stunde kam. Die Geburt währte lang, ein Arzt mußte gerufen werden. Fritz war im Zimmer daneben. Die Tür war angelehnt, aber hinein ging er nicht. Auf daß sie später einmal sich nicht doch vielleicht irgendwie vor ihm schäme, weil seine Augen ihre allerhilfloseste Menschlichkeit gesehen. Er hörte das kalte Klirren der Instrumente, die gedämpften Anordnungen des Arztes, das leise Stöhnen seines Weibes. Und er wußte nicht, wie es stand. Die Ungewißheit marterte ihn, die Angst und das Bewußtsein seiner Ohnmacht. Daß er so dastehen mußte und ein Liebes leiden lassen mußte und nicht helfen konnte. Und mit einemmal überkam es ihn und zwang ihn, in seinem Herzen zu wühlen, die verborgensten Falten zu durchwühlen, ob nicht doch vielleicht irgendwo ein Fetzen vom verlorenen Gottglauben zurückgeblieben, an den er sich klammern, den er umkrallen könnte wie der jämmerlichste Betbruder den Rosenkranz. Aber er fand nichts. Wie ein gefangenes Tier im Käfig rannte er ohne Pausen um den Tisch, den Kopf nach vorn geduckt, die Augen starr, mit steif gestrafften Armen und geballten Fäusten. Und empfand seine Ohnmacht und spürte den Widersinn, daß Leben unter entsetzlichen Qualen vom Leben sich losreißen muß, und hörte die Ketten klirren und die Peitsche sausen.

Und dann war drinnen ein weherer Ton. Und dann — der erste Schrei seines Kindes. Da wurde er totenblaß — und seine Arme hoben sich langsam und breiteten sich aus und ein zitterndes Schluchzen kam ganz von tief aus seiner Brust. Und er ging in die Küche, wo weinend die Magd saß. „Marie ... es ... es schreit schon,“ sagte er fremd, mit weicher, bebender Stimme — und schritt wieder wie im Traum in das Zimmer zurück und stand und horchte.

Mittag war nahe. Um die halbentlaubten Bäume im herbstlichen Garten floß der Sonnenschein, blau funkelte der Himmel durch die offenen Fenster, und warme weiche Luft drang herein. Und im nahen Kirchturm begannen alle Glocken auf einmal zu läuten. Und die Glocken läuteten und läuteten, und das Kind schrie und schrie und überschrie das Geläute, heller, freudiger, lebenswilliger — er war noch nie vorher so fromm gewesen wie in dieser Stunde. —

Noch ein anderer hatte mit Fritz gebangt und gelitten. Doktor Kolben, der jetzt den Arzt hatte weggehen sehen und heraufkam, nur bis in das Vorzimmer, und sich erkundigte. Und als er hörte, daß ein Junge angekommen sei, da lachte er über das ganze Gesicht und lief wieder fort. Und schon nach einer kleinen Weile kam er noch einmal und brachte einen großen Strauß blühender Rosen für die junge Mutter. So viele ihrer der Gärtner gehabt hatte, so viele hatte er hergeben müssen.

Den nächsten Tag kam Frau Wart von Neuberg hergereist und im geruhigen Lauf der Stunden fügte sich mählich alles in die neue, von dem jungen Menschlein beherrschte Ordnung. Aber Fritz schwankte wieder und zauderte und verschob seine Abreise Woche um Woche. Es war ihm, als hätte er Eva zum andernmal gewonnen. Und während sie sich langsam wieder aufrichtete, entfaltete sich neben ihr noch ein zweites, ein neues Menschenleben, das ihr und ihm gehörte und doch wieder nicht gehörte, das hilflos in ihre reifen Hände gegeben war, daß sie es formten und sicher einfügten in das rollende Räderwerk der Gegenwart. Und es würde forttreiben und ein Teilchen ihres Wesens mit hinüber tragen in eine Zukunft, die nicht mehr die ihre war. Er konnte lang und immer wieder vor dem weißen Schlafkörbchen seines Buben stehen und den Rätseln des Lebens nachsinnen, indes der Säugling ruhig atmend schlief, mit kaum beflaumtem Kopf und einem blassen Gesicht, das ohne Bewegung war, leidenschaftslos und ohne Arg wie die glatte Meeresfläche — und doch birgt sie ungezählte wunderbare Möglichkeiten, schöne und wilde, furchtbare und sanfte, unter ihrem harmlosen Frieden.

Und die Trennung wurde ihm schwer. Schon erwog er den Gedanken, Weib und Kind gleich mit sich zu nehmen. Er schrieb auch an Reinholt deswegen. Doch der riet ihm ab. Die Lage sei so einfach nicht, die Gegend außerdem öd, die Lebensmittel, und namentlich eine keimfreie Milch, nur sehr schwierig zu beschaffen. Denn die nächste größere Stadt sei viele Meilen weit entfernt und eine sanitätspolizeiliche Überwachung gebe es so gut wie gar nicht. Es sei schon besser, wenn sich Fritz die Sache vorerst ansehe und sich einlebe.

Er las das Schreiben und spürte heraus, daß ihm nicht alles gesagt wurde. Und der Zwiespalt in ihm wurde immer größer. Es drängte und zog und trieb ihn nach dem Ort, wo seine Gedanken Tat werden sollten — und hielt ihn doch mit tausend Fäden fest in seinem Heim. Kolben merkte gut, wie es um ihn stand. Doch er redete da nichts hinein, riet nicht ab und stimmte nicht zu. In Eva aber war die Mutterzärtlichkeit aufgeweckt und die Liebe zum Kinde ließ sie alles andere als unwichtig hintansetzen. Und wenn sie ihn vordem eher aufgemuntert und sich gefreut hatte, weil sie ihn fröhlich sah, so bat sie ihn jetzt, daß er bei ihr bleibe oder sich gedulde, wenigstens ein Jahr noch, bis das Kleine stärker und widerstandsfähiger geworden und eine Übersiedelung leichter zu bewerkstelligen wäre. Und fast hätte sie ihn umgestimmt, und schon wollte er Reinholt bitten, ihn seines Versprechens zu entbinden, obwohl der Fabrikant bereits alle Vorbereitungen traf, Zubauten aufführte, Leute aufnahm, Ungeeignete fortschickte und nur die Ankunft Hellwigs abwartete, um mit der Einrichtung des neuartigen Betriebes ungesäumt zu beginnen. Eine Absage im letzten Augenblick mußte ihm einen empfindlichen Schaden bringen, das wußte Fritz. Und seine Nächte wurden schlaflos und unstet wieder seine Tage, er kämpfte schwer und konnte und konnte sich nicht entscheiden.

Und da war es wieder jene Frau, der er schon so vieles zu danken hatte, die ihm mit behutsamen Händen die Hindernisse wegräumte und das sichere Vertrauen wiedergab, Frau Hedwig, seine zweite Mutter, wie er sie einst genannt hatte. Sie wollte verhüten, daß er sich gegen Reinholt entscheide. Denn das hätte niemandem gefrommt. Ihm nicht, weil ihn später ganz gewiß der Gedanke gepackt und gequält und nicht mehr losgelassen hätte, daß er die Gelegenheit, sein vermeintliches Lebenswerk zu vollenden, nutzlos habe vorübergehen lassen. Und den Seinen nicht, weil sie sich später selbst den Vorwurf nicht erspart hätten, daß sie ihn elend gemacht und schuld an seinem Leiden hätten. Deswegen suchte sie mit behutsamem Takt, ohne daß er es merkte, seinen Entschluß zugunsten Reinholts zu beeinflussen. Und sie tat es um so beruhigter, da für Eva mit ihrem Buben bei den Großeltern in Neuberg eine sonnige Zuflucht bereit stand.

„Wann wirst du denn abreisen?“ fragte sie ihn einmal und sie fragte, als ob alles glatt und seine Abreise eine selbstverständliche und von allen erwartete Sache sei.

„Das hat noch gute Wege!“ erwiderte er unwirsch.

Sie tat erstaunt: „Gute Wege? Ich hab’ gedacht, sie brauchen dich schon sehr notwendig.“ Er trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte und gab keine Antwort. Da trat sie ganz nah zu ihm und sagte ganz leise, mit großer Überwindung: „Fritz — es ist vielleicht doch besser, weißt du ... damit ... unser Heinz — er hat Ähnliches gewollt, Fritz ...“

Mit einem Satz stand er auf den Füßen, hatte die Hand im Ausschnitt der Weste verkrampft und atmete heftig. Aber kein Wort kam über seine Lippen. Ihre Bewegung niederkämpfend, fuhr sie tapfer fort: „Du hast ihm ja auch dein Buch zugeeignet — und was da jetzt ins Leben treten soll — es wäre die Vollendung dazu ...“

Noch immer gab er keine Antwort. Und noch, als sie sich langsam wandte und aus dem Zimmer ging, stand er wie ein steinernes Bild und hielt sie nicht zurück. Aber ihre Worte wirkten nach. Ein ehrendes Totenmal hatte er dem Freund errichten wollen, dem flammend in den Tod gegangenen Freund ... Und da, nach Tagen und Nächten schweren Ringens fiel es mit einemmal auf ihn: Wenn — alles so bleibt und das Suchen nicht aufhört — und dein Junge später einmal — er ist ja eines Blutes mit dem Toten und mit dir — es könnte mit ihm gerade so werden später einmal. Darum — tu’s! pack’ zu! versuch’, ob du’s zwingen kannst! — Wirb um die heutigen Herren und erobere sie durch eine unwiderlegliche große Tat! — Damit dein Bub nachher ruhig weiter bauen kann — und vorwärts kommen kann zu den Quellen des Menschentums, ohne im vorgelagerten Sumpf stecken zu bleiben — und darin zu ersticken, wie Heinz — und beinahe du selbst ...

Und er entschied sich für Reinholt. Und je länger er bisher gezaudert hatte, je hastiger betrieb er jetzt die Reise. Eva sollte unterdessen nach Neuberg, bis er sie in einiger Zeit werde zu sich holen können. Aber sie wollte nicht nach Neuberg. Sie fürchtete sich vor den Leuten. „Er hat sie sitzen lassen, na ja, das hat ein Blinder voraussehen können!“ So würden sie reden und sich anstoßen und ihr nachschauen und sich teilnehmend und mitleidig und hämisch nach dem Vater des Kindes erkundigen. Und auch ihr Vater würde nicht anders denken. „Es hat so kommen müssen, Mutter. Er und Heinz, die zwei haben ja nie ein Herz für ihre Familie gehabt!“ Deutlich glaubte sie zu hören, wie er das sagte. Und ganz im letzten Winkel ihres Herzens regte sich etwas wie eine vage, dumpfe Ahnung, daß Fritz einst wiederkehren würde — und nicht als Sieger. Und daß er dann sein Heim so wieder finden müßte, wie er es verlassen. Weit schob sie den Gedanken von sich, aber er ließ sich nicht bannen und so sehr sie sich mühte, an Hellwigs Erfolg zu glauben, ganz leise und ganz heimlich zweifelte sie doch daran. Deswegen war sie taub für das Zureden der Mutter und hörte nicht auf Fritz. Sie wolle vorläufig alles unverändert beim alten lassen, bis er einen Überblick haben und ihr wenigstens annähernd werde sagen können, wie lang die Trennung notwendig sei. Dann wolle sie sich’s erst zurechtlegen. Dabei blieb es. Und als Fritz abgereist war und bald darauf auch Frau Hedwig nach Neuberg zurück mußte, da hatte Eva in der großen Stadt keinen Einzigen, an den sie sich wenden konnte, als den Doktor Albert Kolben.


Fünftes Buch

1.

In einer weiten Ebene, zwischen Buchenbeständen und buschigem Wiesenland, lag das große Unternehmen Leo Reinholts. Die Eisenbahn führte vorüber, ein paar Dörfer waren in der Nähe, die sich mit verstreut in großen Zwischenräumen stehenden Häusern stundenweit hinzogen. Und dazwischen waren längs der Bahn noch ein paar kleinere Fabriken, Gründungen findiger Konkurrenten, die aber nicht recht emporkommen wollten und zum Gedeihen zu schwach, zum Eingehen zu jung, in kümmerlicher Unzulänglichkeit sich fortfretteten. Die Einheimischen aber, zumeist Ruthenen und schlaue Polen, haßten die Schornsteine und die roten Ziegeldächer der Fabriken. Denn die hatten ihnen die beschauliche Ruhe gestört, die mit schlechtestem Branntwein zufriedene Bedürfnislosigkeit abgewöhnt und die Löhne verteuert durch einen Schwarm fremdsprachiger Arbeiter, die noch obendrein wegen ihrer Wissenschaft des Lesens und Schreibens und wegen ihrer größeren Weltkenntnis auf das Bauernvolk herabschauten, sich besser dünkten und die Herren spielen wollten. So waren die Klassenunterschiede schärfer als sonstwo ausgeprägt und drängten die Arbeiter der einzelnen Betriebe stärker als sonstwo zum Zusammenschluß. Ein ganz leidliches Einvernehmen hatte bisher unter ihnen geherrscht, und fast ohne Ausnahme waren sie Sozialdemokraten. Da kam nun plötzlich Reinholt und forderte von seinen Leuten, daß sie es nicht mehr seien. Und wer sich nicht darein schicken wollte, bekam seinen Abschied. Er hielt strenge Musterung, mußte sie auch halten, denn für sein Experiment — nichts anderes war es — brauchte er ganz zuverlässige Leute.

So entstand eine Spaltung. Da kam Hellwig und richtete das neue Unternehmen ein. Wie der Haushalt einer einzigen Familie wurde das. Eine große Küche war da, mit Dampfheizung und papinischen Kesseln, dort wurde für alle auf einmal gekocht. Reine und luftige Speisehallen gab es, eine Bücherei mit weiten Leseräumen, einige Spielzimmer, auch ein Theater und einen Tanzsaal. Ein Krankenhaus, eine Schule und ein Altersheim wurden gebaut, im Park waren Tummelplätze für die Kinder und Erholungsstätten für die Erwachsenen, Bäder und Turnsäle fehlten nicht. Die Frauen sollten beim Kochen helfen, die Wäsche besorgen, im Gemüse- und Obstgarten arbeiten oder die Kinder beaufsichtigen, wie sie es lieber wollten, und wenn es ihnen gefiel, konnten sie jede Woche in diesen Beschäftigungen wechseln. Die Lohnzahlung wurde abgeschafft. Jeder war am Gewinn beteiligt. Nach einem einfachen Schlüssel unter Berücksichtigung der Arbeitsleistung und der Kopfzahl einer Familie wurden die Anteile ermittelt, die jeder zu dem gemeinschaftlichen Haushalt beizutragen hatte. Der Überschuß wurde bar herausbezahlt oder gutgeschrieben, wie es jeder lieber mochte. Für alle Bedürfnisse war gesorgt. In der Schneiderei konnten sich alle die Kleider anfertigen und flicken lassen, eine Schusterwerkstatt war da und ein gemeinsames Bestellbureau für alle Dinge des täglichen Bedarfs. So waren sie ganz unabhängig, waren ein Gemeinwesen für sich und brauchten keine fremde Vermittlung.

Fritz aber war für sie bald das treibende Rad des Ganzen. Zu ihm kamen sie mit ihren Anliegen und Wünschen, und wenn sie untereinander Streit hatten, fügten sie sich seinem Schiedsspruch. Und da er mit ganzem Herzen bei der Sache war, gewann er auch ihre Herzen. Das wußte er nicht, aber es war so. Manche bewunderten, die meisten liebten und nur ganz wenige fürchteten ihn. Alle aber standen unter dem zwingenden Bann seiner prachtvollen Aufrichtigkeit, fühlten heraus, daß er bedingungslos auf ihrer Seite stand. Niemanden ließ er gleichgültig. Zu seiner vollwertigen Persönlichkeit mußte jeder Stellung nehmen, und die Mehrzahl gab sich vollständig in seine Leitung. Ihn nannten sie ‚Meister‘, wie er selbst es ihnen vorgeschlagen hatte, während Reinholt nach wie vor der ‚Herr‘ blieb. Doch waren sie auch ihm zugetan und rühmten ihm strenge, aber unparteiische Gerechtigkeit nach.

Bevor das alles auch nur halbwegs ins Gleis kam, waren viele Monate vergangen. Welche Unsumme von Plage und Mühsal und Sorge für Hellwig damit verknüpft gewesen, wußte außer Eva vielleicht niemand so recht. Anfangs kannte er freilich weder Müdigkeit noch Abspannung, war ihm die Arbeit nur wie ein Fest. Aber Monat um Monat verrann, und die Schwierigkeiten wollten nicht aufhören. Immer wieder fand sich etwas, das geordnet, unschädlich gemacht, ausgetilgt werden mußte. Bald waren es geheime Machenschaften, bald offene Widersetzlichkeit, Zwist und Streit. Kaum ein Tag verging, an dem Hellwig nicht einen Schiedsspruch zu fällen, als Friedensstifter zu walten hatte. Sooft er dachte, jetzt und jetzt werde er Eva holen können, immer kam etwas verquer. Anfangs waren es die Zustände im jungen Unternehmen selbst, die seine Wachsamkeit forderten. Dann aber setzten die Feindseligkeiten der Gegner ein. Der Verlust von nahezu tausend Genossen traf die Partei hart. Und daß es gerade Fritz Hellwig war, der ihnen diesen Verlust zugefügt, war nur ein Grund mehr zur erbittertsten Fehde. Da wurde geschürt, gehetzt, auf jede Weise versucht, die Leute unzufrieden zu machen und aufzureizen. Ohne Erfolg. Wer sich nicht fügen wollte, konnte anderswo sein Brot suchen. Eisern hielt Fritz die Ordnung aufrecht. So gütig und umgänglich er sonst war: wenn eine Satzung übertreten wurde, kannte er keine Nachsicht. Das hatten sie bald heraus und liebten auch diese Strenge. Er gab ihnen viel und hätte auch viel fordern können. Um so begreiflicher fanden sie es, daß er das wenige, das er wirklich forderte, auch durchsetzte.

Da traten die Gegner aus ihrer Zurückhaltung, riefen offen zum Kampf gegen den Augenauswischer, den Volksbetrüger, Verräter und Zwietrachtsäer, der sich in Menschlichkeit wie ein Frosch blähe und lediglich den eigenen Bauch mit dem blutigen Schweiß der Armen fülle. So stand es in ihren Zeitungen, und das waren noch die besten Vergleiche. Ein besonders Eifriger aber behauptete, daß Hellwig wie eine Trichine im gesunden Fleisch der Partei sitze und es infiziere, während er sich fett mäste. Leibinger leitete den Feldzug. In ihm war die erlittene Kränkung noch lebendig und heiß wie am ersten Tag, und sein Ehrgeiz knüpfte an einen Sieg über den mächtigen Feind die schönsten Erwartungen. Unter Hochdruck arbeitete er. In allen Zeitungen, in ungezählten Versammlungen predigte er den Kampf gegen den einstigen Genossen und seinen Anhang. Renegaten und Schufte ohne jeden Gemeinsinn wurden sie genannt, niedrige Bedientenseelen, die vor dem Geldsack auf dem Bauch lägen und sich an Bettelsuppen gütlich täten, armselige Heloten, die jedes Gefühl für Freiheit und Manneswürde verloren hätten.

Und die Arbeiter der benachbarten Betriebe, scheelsüchtig gemacht, neideten Reinholts Leuten das bessere Los. Sie spuckten aus, wenn sie einen trafen und riefen ihm wohl auch „Kommuner Hellwigianer!“ zu, was ein Witz sein sollte und eine verächtliche Anspielung auf die kommunistischen Einrichtungen.

Die kommunen Hellwigianer aber ließen sich darob die Haare nicht grau werden. Mancher Heißsporn verbat sich vielleicht die Beleidigungen und kam mit blutigem Schädel heim, die meisten aber lachten oder zuckten die Achseln, wenn sie beschimpft wurden, und das trieb die Gegner in eine immer heftigere Erbitterung. Aber auch die Fabriksbesitzer nahmen mit der Zeit gegen das aufblühende neuartige Unternehmen Stellung, weil sie sich dem scharfen Wettbewerb nicht gewachsen fühlten. Denn da alle Arbeiter am Gewinn beteiligt waren, bemühten sie sich zu eigenem Vorteil, nur gute Ware herzustellen, so daß die Reinholtsche Marke bald gesucht war und die Nachfrage stärker als das Angebot. Und da auch das Bauernvolk in seiner alten Abneigung verharrte, stand Hellwig mit den Seinen ganz vereinsamt und auf sich selbst angewiesen mitten unter Widersachern, Neidern und Feinden. Da setzte er erst recht seinen Neuberger Schädel auf: Durch müssen wir! Und wenn sich alle auf den Kopf stellen!

Der Glaube an sein Werk verzehnfachte seine Kräfte. Und seine warme Begeisterung griff auf alle über. Gemeinsame Not schweißte sie ganz fest zusammen. Die Zwistigkeiten im eigenen Lager hörten auf, immer seltener wurde er als Schiedsrichter angerufen. Der Trotz und das Gefühl, daß ihnen unrecht getan werde, spornte alle zu erhöhter Leistung. Draußen schrien sie, hetzten und wühlten. Reinholts Fabrik aber stand da, geschäftigen Lebens voll, die Räder surrten, die Webstühle klapperten, die Schiffchen flogen fröhlich. Zu einträchtigem Tun regten sich die emsigen Hände, und auf allen Gesichtern sonnte sich das Behagen am Gedeihen des Unternehmens, das allen ans Herz wuchs, weil es allen gehörte.

2.

Und im Fabrikspark, auf den Spielplätzen, unter der Hut der alten Bäume, drängte sich tagsüber das junge Volk der Kinder, saßen nach getaner Arbeit zufriedene Menschen, schwatzten, sangen oder hörten dem Meister Hellwig zu, der an schönen Abenden im Garten von einem Podium herab über alle möglichen interessanten und wissenswerten Dinge zu sprechen oder aus guten Büchern vorzulesen pflegte. Ganz zwanglos, wie eine gelegentliche Zusammenkunft gleichgesinnter Freunde war das, und viel guten Samen streute er in empfängliche Seelen.

Anfänglich war die Zahl der Teilnehmer nur gering, weil viele, an das neue Leben noch nicht gewöhnt, lieber in den Billardsälen oder beim Kartenspiel ihre Erholung suchten. Mit der Zeit aber stellten sich immer mehr ein, hörten zu und beteiligten sich mit Fragen und Einwänden an den Debatten, fanden Gefallen daran und zogen dieses Turnier bald jeder andern Unterhaltung vor.

Einer, der niemals fehlte, war der alte Kesselwärter Bogner, der seinem Meister Hellwig treu ergeben war und immer wieder versicherte, daß er ein so schönes Leben auf seine alten Tage nicht einmal im Traum erhofft hätte. Er überwachte seine Kessel und formte feine Blütenzweige, die er schön bemalt in seiner Stube aufstapelte oder Personen, denen er wohlwollte, als Angebinde verehrte. Für Hellwig aber tat er etwas ganz Besonderes: Er modellierte und goß aus Bronze die Büste des Meisters. Zwar geriet die Nase ein bißchen schief, und die Wangen hatten Blatternarben, aber am Sockel stand in großen Buchstaben ‚Friedrich Hellwig‘, und so wußte jeder, wen das Werk darstellte. Und die Mängel, die waren nach den Versicherungen des Schöpfers nur durch den elenden Gips und durch das schlechte Gußmetall verschuldet. Jetzt stand das Bildwerk im Lesesaal, und bei der Aufstellung hatte es einen grünen Reisigkranz getragen, mit einer roten Schleife, und Reinholt hatte eine Rede gehalten, die war sehr erbaulich und dem Kesselwärter wurde ganz rührselig. Aber er lachte doch und strahlte im faltigen Gesicht, denn Adam Pichler, ein jüngerer Bruder Ottos, stand neben ihm und sagte ihm ins Ohr, daß so eine Büste eigentlich in eine Ausstellung gehörte und sicher einen Preis bekommen würde.

Adam verkehrte überhaupt viel mit dem alten Bogner und ging auch regelmäßig zu den Abendvorlesungen. Er tat das aus Neigung. Aber es war nicht so sehr die Neigung zur Wissenschaft, als vielmehr die Neigung zur Anna Bogner. Die Anna war ernster geworden, der Frohsinn, das Lachen und aller Übermut ihrer Jugend klang in der Erinnerung an die erste Enttäuschung nur mehr wie auf einer abgedämpften Geigenseite.

Adam aber begehrte sie zum Weib. Da hatte sie ihm ganz aufrichtig gesagt, wie es um sie stand und daß sie einst mit seinem Bruder Otto ein Verhältnis gehabt. Der blonde Mensch mit den stillen Augen und den groben Händen hatte schweigend zugehört und darnach ein paar Tage nicht mit ihr geredet, bis er alles in sich verarbeitet hatte. Dann aber war er zu ihr gegangen, die in heimlicher Pein verstohlen aus der Ferne nach ihm sah. Denn sie hatte ihn lieb gewonnen.

„Anna,“ hatte er gesagt, „es ist schon in Ordnung mit uns.“

Da war sie zusammengefahren, hatte ihm ungläubig ins Gesicht gestarrt und nur gefragt: „Trotzdem?“

„Trotzdem, Anna, weil — es muß doch ausgeglichen werden ...“

Er hatte den Arm um sie legen wollen. Doch sie war hastig einen Schritt zurückgetreten.

„Wenn’s nur deswegen sein soll ... bleibt’s schon besser so, wie’s ist, Adam. Ich müßt’ mich ja schämen.“

„Nein, Anna, das mußt du schon nicht. Tät ich’s denn, wenn ich dich — nicht auch gern hätt’, Anna?“

Er war wieder ganz nahe bei ihr und streichelte mit den harten Fingern unbeholfen ihren Ärmel. Und dann hatte er sie im Arm. Und sie sträubte sich nicht mehr.

Und seither sah man sie fast immer miteinander gehen, den alten Kesselwärter, dem die paar Haare nur noch wie ein silbriges Schimmerchen auf dem kahlen Schädel glänzten, ein wenig gebeugt und ein wenig zittrig, zwischen den beiden jungen aufrechten Menschen, die fest und ruhig einherschritten mit der stillen Zuversicht, die ein sicheres Glück verleiht.

Oft auch gesellte sich Pfannschmidt zu ihnen, der in dem neuen Gemeinwesen eine Art Hausverwalter war und außerdem die Bücherei betreute. Keine Spur von Gedrücktheit oder Trauer war mehr in ihm, wohl sprach er wenig und lachte nicht oft, aber seine ernsten Augen schauten warm und froh, und der Widerstreit zwischen Neigung und Beruf war nicht mehr in ihrem Blick. Die Bücherei war seine Welt, dort war er am sichersten anzutreffen. Entweder las er oder ordnete er die Bücher, versah sie mit Schildern und Nummern, verteilte sie übersichtlich und legte mehrere Verzeichnisse an. Abends aber kämmte er mit Salböl den spröden Scheitel noch einmal glatt und ging, dem Meister zuzuhören. Er war einer der aufmerksamsten Zuhörer, aber auch der eifrigste Frager, und wenn er sich einmal in etwas hineinverbissen hatte, ließ er sich nicht so leicht davon abbringen. Jedes Für und Wider erwog er, Beweise und Gegenbeweise ließ er bedächtig aufmarschieren, und Fritz hatte mit diesem zähen Gegner oft seine liebe Not. Regelrechte Debatten und Diskussionen hatten sie miteinander und das war für sie wie ein Bad im kühlen Fluß.

So schien sich mit der Zeit eine gedeihliche Ordnung einstellen zu wollen und Hellwig dachte abermals daran, Weib und Kind zu sich zu holen. Aber als er an einem schönen stillen Sommerabend wieder einmal auf dem Podium saß und gerade über Oliver Cromwell sprach, da wurden von dem Fahrweg, der außerhalb des Parks den Zaun entlang führte, ein paar Steine unter die Versammelten geworfen. Der eine streifte Hellwigs Kopf, der zweite traf ihn an der Schulter, die übrigen verfehlten ihr Ziel. Schnell war Pfannschmidt beim Gittertor, riß es auf, stürmte hinaus. Andere folgten. Aber draußen war niemand zu sehen. Still lagen die Wiesen und Felder da, die Ähren nickten und rauschten leis auf schwanken Halmen, die Blätter der Büsche regten sich sacht im Abendwind, und sacht breitete die Dämmerung ihre seidenfeinen Flöre darüber aus. Mannshoch standen die Feldfrüchte, dicht belaubt wucherte überall in den Wiesen das Staudenzeug, und was sich dort irgendwo versteckt hielt, war gut geborgen und in der Dämmerung nicht leicht aufzuspüren.

Hellwig hatte eine Beule am Schläfenbein und eine Prellwunde am Oberarm, leichte Verletzungen, die nichts zu bedeuten hatten. Aber eine Warnung waren sie und ein Zeichen, wie tief die Hetzereien Wurzeln gefaßt.

Und wenn es hiefür noch eines Beweises bedurfte, so brachte ihn die folgende Nacht. Da brannte ein Magazin nieder, und die Fabriksfeuerwehr mußte harte Arbeit tun, um den Brand einzudämmen. Er war gelegt worden, von wem, war offenes Geheimnis, aber Beweise fehlten. Die Folge war, daß Reinholt die Nachtwache verschärfte und zwei Dampfspritzen anschaffte. Und Fritz sah seine Vereinigung mit Eva abermals um Monate hinausgerückt.

3.

Danach aber hatte sich ganz plötzlich der Sturm gelegt. Die Unbesonnenheit der Steinwerfer und Brandstifter hatte die Gegner zur Vorsicht gemahnt. Was nützte es auch, die Außenstehenden aufzuwiegeln, wenn die Hellwigianer geschlossen gingen und der Aufschwung der Fabrik alle Hetzer Lügen strafte.

Wochen vergingen, alles blieb ruhig.

„Wir sind durch!“ sagte Fritz, der vertrauensselige, arglose Mensch, und glaubte felsenfest daran, weil er an sein Werk glaubte und an die Lauterkeit der Menschen. Und er freute sich des Erfolges und freute sich auf die Seinen. Jetzt wollte er sie wirklich holen. Mehr denn zwei Jahre — waren es denn wirklich schon zwei Jahre? — hatte er sie nicht gesehen. Da war ihm die Zeit fortgeronnen, wie Sand zwischen den Fingern durchgeglitten, Tag um Tag; Monat um Monat. Er hatte nicht darauf geachtet und sie nicht gezählt. In all dem rastlosen Bemühen, dem Tumult von Sorgen und Anstrengungen, dem raschen Wechsel zwischen Erfolg und Mißlingen, zwischen heller Zuversicht und herber Enttäuschung.

Waren es denn wirklich schon zwei Jahre? Aber da lagen die Briefe Evas vor ihm, alle, wie er sie erhalten, gelesen, beantwortet und dann in das Schubfach getan hatte, wo sie, nicht mehr beachtet, verstaubten. Regelmäßig alle vierzehn Tage schrieb sie ihm. Und jetzt lagen sie da, kunterbunt durcheinander, gut fünfzig Briefe. Und in jedem erzählte sie von dem Buben, alle Einzelheiten und Kleinigkeiten berichtete sie. Im Drang und Schwall der Arbeit hatte er ihren Mitteilungen nicht weiter nachgesonnen. Und sie machten doch die ganze Entwicklung des jungen Menschleins aus, das dort fern von ihm und vaterlos heranwuchs. ‚Hansl lacht mich schon an — Hansl sitzt schon — Hansl bekommt Zähne — Hansl hat sich ganz allein am Tischbein aufgemannelt — Hansl hat das erste Wort gesprochen — Hansl läuft, Hansl redet schon. Er ist blond wie du — er hat deine Augen — aber das Kinn hat er von mir.‘

Er erschrak fast und entsetzte sich, daß er so achtlos darüber zur Tagesordnung hatte übergehen können. Fünfzig Briefe. Und in allen war zwischen den eng geschriebenen Zeilen die unausgesprochene Bitte: ‚Komm bald und bleib bei uns!‘ Und in keinem stand: ‚Hol’ uns zu dir!‘ Denn die Mutter bangte um ihr Kind, und Fritz hatte ihr die Lage immer eher in düsteren Farben geschildert, alle Ereignisse trocken verzeichnet und nichts beschönigt. Und nur einmal schrieb sie: ‚Wenn ich doch bei dir sein könnte!‘ Das war damals, als ihm die Steine den Leib verwundet hatten.

Einen Brief nach dem andern las er nun wieder durch. Um ihn war die Ruhe der Nacht, einer warmen, glanzhellen Nacht. Das Fenster stand offen, die hereinflutende Luft war gesättigt vom schweren Duft der Erde, und unten im Fabrikshof machte der Wächter die Runde. Klingend schlug die Eisenspitze seines Stocks auf die Steine, und wenn die zwei starken Doggen, die ihn begleiteten, sich schüttelten, klirrten die Glieder ihrer Kettenhalsbänder leise aneinander, Eisen gegen Eisen und Stahl gegen Stein, und nichts anderes war zu hören als dieser kriegerische Klang. Und es war wie der Pulsschlag des harten, streitbaren Lebens, das da draußen in der weichen, weißen Glanznacht tief aufatmend, doch nicht schlafend ruhte, Gewehr im Arm und immer kampfbereit gleich einem einsamen Vorposten in Feindesland.

Stunde um Stunde flutete vorüber. Und Fritz saß und las die Briefe. Mit gesammelten Sinnen las er sie jetzt alle wieder, sah seinen Buben heranwachsen und begleitete Schrittlein nach Schrittlein seine Entwicklung. Und er fühlte eine tiefe Trauer, daß er sich so gar nicht vorstellen konnte, wie der Junge jetzt aussah, lachte und sprach, und der Wunsch, ihn und die Mutter bei sich zu haben, schwoll ihm übermächtig empor.

Aber es blieb auch diesmal nur beim Wunsch.

Die Ruhe, die so unvermittelt eingefallen, war nicht die Ruhe des Friedens oder der Erschöpfung. Leibinger hatte die Nutzlosigkeit der bisherigen Kampfesart erkannt. Und da kam es ihm gerade recht, daß Robert Karus, aus Rußland zurückgekehrt, wieder in der Hauptstadt aufgetaucht war. An ihn wandte er sich um Rat und Hilfe und der sagte zu, unter der Bedingung, daß ihm vollständig freie Hand gelassen werde. Ungern fügte sich Leibinger, aber er fügte sich doch.

Und Karus ging an die Arbeit. Ein paar erprobte Leute wählte er sich und schickte sie zu Reinholt auf Arbeitssuche. Sie erhielten strengen Befehl, als unbedingte Anhänger Hellwigs aufzutreten und vorsichtig die Unzufriedenheit der Zufriedenen zu wecken. Das Wie blieb ihnen überlassen. Und sie waren ihrer Aufgabe gewachsen. Rasch hatten sie jene aufgespürt, die schwankten oder sich zurückgesetzt fühlten, machten sich an sie heran und bearbeiteten sie.

Aber auch Karus blieb nicht müßig, und Mark und Leibinger waren seine Werkzeuge. Ein paar Schlagworte warf er den Arbeitern der benachbarten Unternehmungen hin und wiegelte sie auf. Und geschulte Agitatoren waren mitten unter ihnen und schürten und schürten ohne Unterlaß. Immer lauter, immer ungestümer erhoben sie die Forderung nach höherem Lohn, nach kürzerer Arbeitszeit, nach Gleichstellung mit den Hellwigianern. Die Fabrikanten aber, selbst in ihrer Existenz bedroht, konnten und wollten keine Zugeständnisse machen. Da begann der Streik.

Unfriede im eigenen Haus, heller Aufstand ringsum: so war jetzt die Lage und so war sie Karus recht. Hellwig aber, der Vertrauensselige, der kindlich Arglose, wußte nicht, daß viele gegen ihn murrten. Und als der Streik jetzt so unvermittelt losbrach und als alle Betriebe feierten und nur die von ihm geleitete, nach seinen Ideen eingerichtete Fabrik rüstig weiter ging, — und seine Leute verrichteten gelassen ihr Tagwerk und schienen sich um das Branden außerhalb ihrer Herdfeuer gar nicht zu kümmern, — da frohlockte er und abermals sagte er siegessicher zu Reinholt: „Leo, wir sind durch!“ Und nur das eine trübte ihm die Freude: daß er wieder Geduld haben und erst das Ende des Ausstands abwarten sollte, ehe er die Seinen zu sich kommen ließ. Dann aber wollte er es ganz bestimmt tun und freute sich darauf und glaubte, daß ein Ausgleich bald erzielt und die Lohnbewegung bald zu Ende sein werde. Er tat sogar ein übriges, er ging zu den einzelnen Fabriksherren und setzte sich für jene ein, die seine erbittertsten Feinde waren. Und er tat es nicht nur um ihretwillen, auch seinetwegen tat er es, er wollte vielleicht doch einen oder den anderen für seine Ansichten gewinnen. Aber überall begegnete er mit seinen Vermittlungsversuchen einem starren „Nein!“ oder einem geschmeidigeren „Leider nicht möglich!“ und einer gab geradezu ihm die Schuld an dem Streik und an dem Niedergang der kleineren Betriebe. Doch auch die Arbeiter, als sie es erfuhren, verbaten sich seine Einmischung. Da ließ er es bleiben. Aber nicht eine Sekunde wankte ihm der Glaube an seine Schöpfung und die Zuversicht, daß sein Weg der richtige wäre.

Reinholt war nicht so vertrauensselig. Manches an den Leuten wollte ihm nicht mehr gefallen. Daß sie häufig mitsammen flüsterten, im Bibliothekssaal heftige Debatten führten, die sofort abgebrochen wurden, wenn er oder Hellwig oder Pfannschmidt oder sonst ein Treuer dazu kam. Und namentlich der Sanders, ein dunkelhaariger Gesell mit Blatternarben im eischmalen Gesicht, gefiel ihm gar nicht. Er war erst seit kurzer Zeit in der Fabrik und doch spielte er, vornehmlich unter den jüngeren, eine große Rolle. Sie hörten auf ihn, suchten und riefen ihn, und wenn er zu ihnen trat, wurden ihre Worte leiser, steckten sie die Köpfe zusammen und bekamen aufgeregte Gesichter. Auch dem Pfannschmidt war das bereits aufgefallen, und nur Hellwig wollte es nicht gelten lassen. Wenn ihn Reinholt aufmerksam machte oder warnte, schüttelte er mit ungläubigem Lächeln den Kopf, suchte und fand Entschuldigungen.

„Das Kameradschaftsgefühl ist in ihnen noch nicht erloschen, soll es auch nicht sein! Und da wurmt sie’s eben, daß sie Streikbrecher geschimpft werden. Aber das geht vorüber. Als der Streik angefangen hat, was hat man da nicht alles befürchtet. Sogar Militär hat hermüssen, weil unsere Nachbarn um ihre Maschinen Angst gekriegt haben. Und schau’ her, jetzt dauert die Geschichte schon fast zwei Wochen — und alles bleibt ruhig. Glaub’ mir nur, Leo, jetzt sind wir schon überm Berg. Die Arbeitsfreude bei uns, während ringsherum alles gärt und tobt und siedet, beweist mir am schlagendsten die Ohnmacht der Gegner. Wir haben unsere Leute zufrieden gemacht, den Erfolg jagt uns keiner mehr ab!“

„Nicht alle sind zufrieden, Fritz!“ beharrte Reinholt bei seinem Bedenken. „Sie planen was gegen uns! So mach’ doch die Augen auf, Fritz, ich werd’ ja ganz irr an dir! Du hast Mitleid mit denen da draußen, vielleicht trübt dir das den Blick — aber ich denke, sie haben uns wahrhaftig genug Prügel unter die Beine geschmissen und verdienen keine Rücksicht!“

„Nein, nein, Leo, sprich nur nicht anders als du denkst!“ entgegnete Fritz traurig. „Die Leute sind nicht besser und nicht schlechter als wir alle. Sie wollen auch nur — wieder Menschen werden. Teilhaben an den reizvollen Nebensachen und bunten Nichtigkeiten, die zwischen Arbeit und Schlaf, zwischen Hunger und Liebe liegen und uns erst vom Vieh unterscheiden. Und sind wir nicht mit schuld, daß sie es so heftig heischen? Die unseren haben das alles, es ist kein Wunder, wenn die anderen gegen uns toben. Leo, es ist Zeit, höchste Zeit, daß wir hier mit dem Aufbau fertig, daß uns die Kräfte frei werden, einen oder den anderen Reichen noch für unsere Ansichten zu werben, zu gewinnen. Vielleicht — gehen wir doch den rechten Weg, können wir dem kommenden Gründer der neuen Gesellschaft — Vorläufer sein ...“

4.

Einer hatte diesem Gespräch zugehört. Robert Karus, der schon seit Tagen in der Gegend weilte. In ihm war der Haß des Zerstörers gegen den Bauenden. Und auch er wollte seinem Freunde Heinz Wart ein Totenmal errichten. Sorgsam bereitete er den Grund, und seine Saat schoß schwer und wuchernd in die Halme.

Aber weder die Freunde Hellwigs noch dieser selbst wußten von seiner Anwesenheit. Und niemand hatte ihnen noch verraten, daß Karus bereits einige Male, das Gitter überkletternd, in den Fabrikpark eingedrungen war, um hinter Buschwerk versteckt zu lauschen. Und seine Flugblättchen gingen unter den Eingeweihten von Hand zu Hand, ängstlich behütet vor den Augen Unberufener, und in geheimen Versammlungen wurden sie besprochen und schürten die Erregung und peitschten die Lust zur Empörung immer höher auf. Mehr als hundert hatten sich schon unbedingt an Karus angeschlossen, viele gab es, die durch die abfälligen Kritiken und klug berechneten Reden der gemieteten Hetzer aufgestachelt, schon unentschieden schwankten und jeden Tag zu Überläufern werden konnten. Und die Streikenden, durch die Unnachgiebigkeit ihrer Brotherren zum äußersten bereit, standen wie ein Mann gegen Hellwig und was Karus und Mark und Leibinger ihnen vorsagten, das sprachen sie nach und glaubten, daß einzig Hellwig an ihrer Lage schuld wäre.

So war eine gewaltige Menge Zündstoff aufgehäuft. Der geringfügigste Anstoß mußte die Explosion herbeiführen. Und Karus sorgte dafür, daß dies bald geschah.

Nun, da der Boden gehörig unterminiert, ein verläßlicher Kern von Anhängern gebildet, die Erbitterung der Leute bedrohlich angewachsen war, nun mußte Sanders, der gedungene Proselytenmacher, aus seiner Reserve heraus. Bei jeder Gelegenheit redete er jetzt ganz offen vor allen Leuten über die mangelhaften Einrichtungen des Unternehmens, schimpfte darüber, mäkelte und nörgelte, und nichts fand mehr Gnade vor seinen Augen. Zu wenig Abwechslung im Essen, zu kleine Portionen, zu wenig Geld, aber viel zu viel Bevormundung, Kasernenzwang und Drill: das war so der eiserne Bestand seiner Argumente. Dieses Tadeln und Mäkeln führte bald zu Zank und Streitereien. Die treu zu Hellwig hielten, wollten es nicht dulden, die andern gaben dem Nörgler recht, Unfriede entstand, Zwist und Spaltung.

Am heftigsten erboste sich über die Reden Sanders’ der alte Bogner. Jedes gehässige Wort gegen den Meister brachte ihn in Harnisch, er schalt und wetterte über die Anmaßung der jungen Leute und wäre am liebsten mit den Fäusten dreingefahren. Aber er erntete mit seinem ehrlichen Grimm nur Gelächter und Spott.

Pfannschmidt wollte anfangs vermitteln und beschwichtigen. Bald jedoch erkannte er den Ernst der Bewegung, erschrak, wie fest sie sich schon eingenistet hatte, und schwere Befürchtungen kamen ihm. Da ging er zu Hellwig und deckte ihm alles auf. Der aber legte, wie vordem den Warnungen Reinholts, jetzt auch diesen Berichten keine Bedeutung bei. Er wollte einfach nicht sehen, wo jeder sehen, nicht hören, was jeder vernehmen konnte. Wollte blind und taub bleiben und allen ungünstigen Zeichen zum Trotz die siegessichere Zuversicht sich aufrechterhalten. Er zwang sich zur Sorglosigkeit, um die Zweifel, die sich schon leise regten, zu übertäuben. Er drückte jeden Argwohn, der ihm jetzt doch manchmal leise aufstieg, gewaltsam nieder, und gewaltsam zwang er sich, an den Erfolg ganz fest zu glauben, weil er den Erfolg brauchte. Weil er das Gelingen nicht nur heiß herbeisehnte, sondern notwendig haben mußte, sagte er: „Es ist schon gelungen!“ und sagte es sich und den anderen immer wieder vor, als könnte durch dieses fortwährende starre Bejahen jede Möglichkeit des Mißlingens gebannt werden. Und es durfte kein Mißlingen geben, sollte nicht, so meinte er, sein ganzes Leben mit in Stücke brechen.

Deswegen stellte er den besorgten Warnern seine lächelnde Sicherheit entgegen, und was nur erst beinahe fertig und was noch fast nur kaum mehr als ein Wunsch war, sollte als fertig und vollendet angesehen werden. Doch weder Reinholt noch Pfannschmidt konnte er überzeugen.

Sanders aber wurde immer dreister. Er begann nun auch über zu viel Arbeit sich aufzuhalten, hatte an jedem neuen Auftrag etwas auszusetzen und wenn er ihn überhaupt ausführte, tat er es nur widerwillig zögernd mit sichtlicher Verdrossenheit. Und als er nach dem festgesetzten Reihengang eine Woche lang die Kontrolle der Nachtwächter besorgen sollte, weigerte er sich mit der Begründung, er sei als Weber aufgenommen und nicht als Hausmeister. Da könne man schließlich auch von ihm verlangen, daß er die Ställe ausmiste oder die Senkgrube putze, das käme auf dasselbe heraus. Er weigerte sich also, schrieb aber auch noch am gleichen Tag an Leibinger, er möge sich bereit halten, die Sache werde bald entschieden werden.

Und als am folgenden Morgen das Kontrollbuch keinen Vermerk aufzeigte und als er deswegen verwarnt wurde, zuckte er bloß die Achseln und lächelte dazu. Und als am zweiten Morgen aus der Verwarnung eine Rüge wurde, unter Androhung der Entlassung, da lächelte er noch geringschätziger und zuckte wieder die Achseln. Am dritten Morgen war er entlassen. Er erhielt sein Sparkassenbuch und seine Abfertigung und konnte gleich gehen. Obwohl Reinholt dagegen gesprochen, hatte es Fritz so angeordnet. Eine Satzung war übertreten, die darauf gesetzte Strafe war verwirkt worden, da gab es für Hellwig kein Überlegen und galt keine Rücksicht.

Sanders aber hatte nichts anderes gewollt. Seiner Anhänger gab es viele, und die, das wußte er, würden ihn nicht so mir nichts, dir nichts ziehen lassen. Und er traf keine Anstalten zum Fortgehen. Das Geld nahm er zwar, aber seine Sachen packte er nicht. Nur sein Sonntagsgewand zog er an und ein gestärktes Hemd und ging ins Wirtshaus.

Dort saß bereits Karus mit Leibinger und Mark. Sie hatten einen großen Krug Wein vor sich und tranken fleißig. Mit einem selbstbewußten Schmunzeln setzte sich der blatternarbige Weber zu ihnen.

„Wie steht’s?“ fragte Karus kurz.

Sanders schenkte sich gemächlich ein Glas voll und tat einen bedächtigen Zug. Da sein Bericht mit Spannung erwartet wurde, kam er sich sehr wichtig vor und wollte dieses Gefühl seiner Bedeutung möglichst lang auskosten.

Leibinger rieb die Hände rund umeinander und machte sein verbindlichstes Gesicht.

„Es scheint alles glatt gegangen zu sein?“ fragte er ausholend. Sanders nahm noch einen Schluck. Dann zog er sein Taschentuch und wischte sich umständlich den Mund ab.

„Verfluchtes Getu’!“ schimpfte Karus. „Laß die Faxen und red’ endlich!“

Da tat Sanders gekränkt und war beleidigt:

„Befehlen lass’ ich mir nichts!“

„Aber wir bitten Sie doch!“ lenkte Leibinger ein und Mark nickte und bestätigte eifrig: „Gewiß, gewiß, wir bitten Sie!“

Da war der blasse Weber wieder versöhnt und erzählte von seiner Entlassung und fügte hinzu, daß er nicht fortgehen, sondern heute beim Abendvortrag im Garten Einspruch zu erheben gedenke und vom Mittag bis Feierabend werde er noch ein bißchen Stimmung machen.

Leibinger meinte dazu: „Gut! Sehr gut!“ und Mark: „Schön! Sehr schön! Ausgezeichnet!“ Karus aber sagte: „Da erzählst du uns nichts Neues! Denke, daß ich dir das so eingetrichtert hab’. Daß sie dich davongejagt haben, hast du brav gemacht. Mach’s weiter so, dann geht heut’ abend der ganze Krempel in Fransen!“

Dröhnend lachte er, und seine Faust schmetterte hart auf den Tisch. Dann trank er sein Glas leer, füllte es rasch und leerte es wieder und noch einmal und abermals. Nun die Entscheidung so nahe war, wurde er doch aufgeregt. Die anderen bemerkten das, schauten ihn an und schwiegen. Ihm aber löste der Wein die Zunge.

„Bekehren will er die Aussauger!“ rief er unvermittelt aus dem Wirbel seiner Gedanken heraus. „Bekehren! So lang man die nicht totschlägt, gibt’s keine Bekehrung!“

„Sprechen Sie von Hellwig?“ fragte Mark und riß die Augen weit auf.

„Nein, vom Mond, Sie Kalb!“ entgegnete Karus grob. Leibinger lächelte liebenswürdig. Da faßte auch Mark die Beleidigung als Witz auf. Er lachte laut und gezwungen. Doch schien es ihm ersprießlicher, ein anderes Thema anzuschlagen.

„Herr Karus,“ sagte er, „die Partei kann es Ihnen nicht hoch genug anrechnen, daß Sie sich so selbstlos ...“

Karus unterbrach ihn: „Dankt dem Himmel, daß ich euch früher nicht so genau gekannt hab’. Ich hätt’s mir sonst, weiß der Teufel, noch gründlich überlegt!“

Er hielt inne, fuhr mit den gespreiteten Fingern durch den borstigen Haarschopf.

„Eh was, jetzt bin ich einmal da!“ sagte er dann. Und mehr im lauten Selbstgespräch: „Als junger Grasaff’ bin ich auch nicht anders gewesen wie der Volksbeglücker. Heinz auch nicht. Gewiß nicht! Nein! ... Was stiert ihr mich denn so blöd an? Ich bin nicht besoffen! Nur ... ich hab’ auch einmal einen Freund gehabt! Ja — der Robert Karus hat auch einmal einen Freund gehabt ...“

„Sie haben doch viele Freunde!“ beeilte sich Leibinger zu versichern, und Mark beteuerte das auch, rückte aber seinen Stuhl aus der Nähe des Mannes, dessen flackernde Augen und dessen zerfahrenes Wesen ihm Angst machten.

„Redet mir das nicht vor!“ antwortete Karus geringschätzig. „Ihr braucht mich, deswegen tut ihr mir schön! Aber Freunde? Bah! Furcht habt ihr vor mir! Alle haben Furcht! — — Heinz nicht ... Und doch — hab’ ich ihn später ...“ Er sprang von der Bank und schüttelte die Fäuste vor sich, als rüttle er an Ketten. „Sie hätten ihn sonst ... es ist einfach nicht anders gegangen!“

Wie ein erstickter Aufschrei war das. Und wieder trank er und ging mit mühsamen Schritten über den Lehmboden der Stube.

„Also seither: Rache für Heinz! Das ist der Grund! Nicht ihr! Nur — er! Die Gesellschaft von heute hat ihn umgebracht, drum muß sie weg! Sie oder ich! Eher wird da nicht Ruh’!“

Die anderen wurden aus den wirren Reden des verstörten Menschen, der im Ringen mit einem schweren Entschluß aus allen Fugen gehoben schien, nicht klug, schauten einander bedeutungsvoll an und unterbrachen ihn mit keiner Silbe.

„Nun kann’s ja losgehen!“ sagte Karus nach einer Weile wieder ganz kalt. „Ich geh’ jetzt und horch’ ein bissel herum! Auf Wiedersehn heut’ abend!“

5.

Es war Abend geworden.

Langsam schritt Karus den Fußweg entlang zur Fabrik.

Hoch über den weiten Wiesen zogen weiße Wolken wie Schaumflocken durch den blauen Himmel und flimmerten im Widerschein der müd geneigten Sonne. Eine Spottdrossel sang unsichtbar in einer Hecke. Ihr tiefes, klingendes Lied erfüllte den ganzen Busch, und es war, als sänge dieser selbst mit allen seinen Ästen und unbewegten Blättern durch einen Zauber zum Tönen gebracht. Sonst war Schweigen. Unter goldenen Schleiern lag die Erde still und glanzmüde, und das Leben hielt den Atem an. Und nichts war mehr zu hören als das tiefe, quellende Lied, das aus dem verzauberten Busch in die Märchen gewordene Welt verklang.

Aber nicht überall war diese Landschaft so des Friedens voll.

In der Fabrik Reinholts, in dem großen Garten, auf dem schattigen Platz unter den hohen Kastanien, wo der Tisch für den Vorleser stand und die Bänke für die Zuhörer, ballte sich und lärmte eine dunkle Menschenmasse verworren durcheinander, und Fritz Hellwig war rings von ihr umschlossen. Er hatte eben noch aus dem ‚Egmont‘ vorgelesen und war warm geworden bei der Stelle: ‚Ich fühle mir Hoffnung, Mut und Kraft. Noch hab’ ich meines Wachstums Gipfel nicht erreicht und steh’ ich droben einst, so will ich fest, nicht ängstlich stehen.‘ Aber die Worte: ‚Soll ich fallen, so mag ein Donnerschlag, ein Sturmwind, ja selbst ein verfehlter Schritt mich abwärts in die Tiefe stürzen, da lieg’ ich mit vielen Tausenden‘, die Worte konnte er schon nicht mehr lesen.

Da waren sie vom Lesesaal herübergekommen, erregt und schreiend, und Sanders ging in der ersten Reihe, ein wenig unsicher und ein wenig schwankend, mit zerwirrtem Haar und mit offener Weste. Er hatte sich Begeisterung und Mut getrunken, und das machte ihm jetzt die Füße schwer. Aber seine Zunge war gelenkig geblieben. Im Lesesaal hatte er zu seinen Freunden geredet. Während die anderen ahnungslos ihre Arbeit taten, hatte er seine Leute aufgepulvert. Und jetzt standen sie mit ihm vor Hellwig, um die Auflassung der Strafe zu fordern und — es ging unter einem hin — die Einstellung der Arbeit aus Solidarität mit den hungernden Genossen.

Mit leidenschaftlichen Worten forderten sie das, und ihre Gebärden waren drohend und trotzig. Reinholt und Pfannschmidt hatten sich beim Nahen des Haufens wie zum Schutz neben Hellwig gestellt, und auch die anderen Getreuen drängten näher herzu. Fritz aber stand ruhig und aufrecht da, und seine Augen blickten wie verwundert in das Getümmel. Und je länger sie schauten, desto kälter glänzend wurden sie. Aber kein Muskel zuckte an ihm, nur die Nasenflügel zitterten leicht, und je fester sich die Lippen aufeinander legten, desto bestimmter wurde in dem unbewegten Gesicht der Ausdruck einer harten Entschlossenheit. Sein heller Blick richtete sich fest auf Sanders, und seine Stimme klang herrisch und streng.

„Was suchen Sie noch hier?“ fragte er.

„Fritz!“ flüsterte ihm Reinholt beschwörend zu. „Tu’ jetzt nichts, was sie noch mehr erbittern könnte! Nur jetzt nicht!“

„Ich muß!“

„Was ich hier suche?“ rief Sanders zu ihm hinauf. „Arbeit such’ ich! Brot such’ ich! Gerechtigkeit such’ ich!“

„Gerechtigkeit haben Sie bereits gefunden. Brot und Arbeit suchen Sie anderswo, die Kündigung bleibt aufrecht!“

„Sie ist willkürlich!“

„Sie bleibt aufrecht.“

Im selben Augenblick trat Karus hinter den Bäumen vor.

„Servus, Volksbeglücker! Schön schaut’s hier aus!“

Hellwig blickte ihn an und erstaunte nicht einmal, ihn jetzt und hier zu sehen.

Was wollten nur die da unten von ihm? Und warum war Reinholt so farblos? Und warum bebte Pfannschmidt so und hielt die Hände geballt? Und warum war er selbst so seltsam ruhig, so leer, so, als ob er ganz hohl wäre und sein Blut, seine Lebendigkeit, sein ganzer Inhalt ausgeronnen?

„Er darf nicht fort! Wir dulden’s nicht!“ riefen sie drohend zu ihm herauf.

„Fritz, mach’ die Kündigung rückgängig!“ beschwor ihn Reinholt.

Da reckte er sich hoch auf: „Nein!“

Und ganz hart, wie wenn Eisen gegen Glasscherben klirrt, rief er hinab in den Lärm: „Hier hab’ ich allein zu befehlen! Ob ihr’s duldet oder nicht — einerlei! Der Mann ist entlassen!“

Karus lachte höhnisch auf.

„Er duldet nicht, daß ihr einen Willen habt!“ rief er. „Kuscht, Hunde, kuscht! Er duldet nichts, als daß ihr kuscht!“

Nun brausten sie wilder empor: „Wir kuschen nicht! Wir lassen uns das Maul nicht verbieten! Wir lassen Sanders nicht weg! Er darf nicht fort!“

Die Treuen Hellwigs riefen dagegen und scharten sich dichter um das Podium und suchten die Schreier abzudrängen. Doch ihre Zahl war nur klein. Denn viele hielten sich zurück und standen unentschlossen da und wußten nicht, wem sie recht geben sollten. Der alte Bogner aber wollte immer wieder auf Sanders los und rang mit seinem Schwiegersohn, der ihn zurückhielt, und zitterte am ganzen Leibe und weinte vor Wut laut auf.

„Mach’ die Kündigung rückgängig!“ flehte Reinholt abermals. Hellwig schüttelte nur mit einem kurzen Ruck den Kopf. Jetzt mußte er fest bleiben, durfte sich die Leitung nicht aus den Händen winden lassen, sonst war alles verloren.

„Niemand darf hier drohen!“ sprach er in den Lärm hinein, laut und hell. „Niemand! Ich nicht und ihr nicht und niemand! Sanders ist entlassen! Und bleibt es! Und bliebe es auch, wenn ihr anständig und bescheiden euer Anliegen vorgebracht hättet! Er hat unsere Ordnung verletzt. Gilt euch diese Ordnung nichts und nichts euer verpfändetes Wort? Wenn ihr frei und unabhängig sein wollt, müßt ihr die Gesetze achten, die ihr beschworen habt und dürft nicht jene schützen, die sie böswillig brechen. Erst durch die Ungerechtigkeit werden wir unfrei!“

„Ich hab’ nicht Nachtwächter sein wollen, weil ich ein gelernter Weber bin! Ist das ein Verbrechen?“ rief Sanders spöttisch.

„Ich fordere Sie nochmals auf, die Ordnung zu achten und die Fabrik sofort zu verlassen!“

„Und wenn ich’s nicht tu’?“

„Dann jagt ihn der Volksbeglücker hinaus!“ höhnte Karus. „Schöne Volksbeglückung das! Wie ein ausgedienter Gaul wird er vor die Tür gesetzt!“

Einer von den Arbeitern aber, die um Sanders waren, trat jetzt verlegen vor und sagte: „Meister, ich ... wenn ich gewußt hätt’, was die eigentlich wollen, hätt’ ich mich nicht so tief eingelassen. Sie haben’s ja so abgemacht, untereinander, der Karus, der Leibinger und der Sanders. Jetzt begreif’ ich erst, wo das hinaus soll.“

„Schuft!“ schrie Sanders und spie ihm ins Gesicht. Karus trat gebieterisch dazwischen.

Hellwig ächzte dumpf auf und taumelte. Wieder einmal sah er sich einem Schurkenstück gegenüber, der Ekel kam und lähmte seine Tatkraft. Er haßte die Falschheit. Und alles, was nur eine Spur von Gemeinheit in sich hatte, machte ihn fassungslos und wehrlos, da konnte er nicht zornig dreinfahren, fühlte er nur Enttäuschung und Schmerz und eine tiefe Mutlosigkeit.

„Ihr habt es gehört!“ sagte er und das Sprechen wurde ihm schwer. „Ist es wirklich schon so weit, daß eine abgekartete Komödie uns auseinander bringen kann?“

Als sie den Meister so ganz tief traurig und wie um alle Hoffnungen betrogen sahen, regte sich das Gewissen in so manchem.

„Nein, Meister! — Wir halten zu Ihnen, Meister!“

Und der alte Bogner rang immer noch mit seinem Schwiegersohn und bat und drohte und schluchzte immerzu: „Laß mich los, Adam! Ich muß dem Kerl das Maul zustopfen!“ Doch der Adam ließ nicht los.

Karus aber wurde kaum des Umschwungs gewahr, da holte er aus zum entscheidenden Schlag. Und mit dem ganzen Elan seiner wilden, ungezügelten Leidenschaft lief er den letzten Sturm.

„Jawohl!“ schrie er, sprühendes Feuer in den Augen. „Jawohl! Es ist eine abgekartete Komödie! Aber sie ist gut genug, denen da oben die Larven herunterzureißen! Damit ihr endlich erfahrt, wie sie euch aus lauter Liebe die letzte Unze Blut aussaugen!“

„Nieder mit den Blutsaugern!“ rief Mark im Hintertreffen. Und: „Nieder mit den Blutsaugern!“ riefen ihm viele nach. Und immer lauter tönte und schmetterte die Stimme des alten Revolutionärs:

„Millionen raffen die zwei da oben zusammen! Jeder Tropfen Schweiß, den ihr vergießt, wird für sie zum Goldstück! Dann werfen sie euch ein paar Knochen hin: Da hast, Hund, friß dich satt!“

Und wie grollende Meeresbrandung tönte die Antwort zurück:

„Wir sind keine Hunde!“

„Nein, ihr seid keine Hunde! Es ist euer Recht, zu fordern, was sie euch als Almosen vor die Füße schmeißen! Ihr müßt die Herren sein, denn euere Muskeln stoßen die Welt vorwärts!“ rief Karus.

Sein heißer Atem wehte über sie weg, schlug ihnen wie Glutwind ins Gesicht, ergriff und riß sie mit wie der Sturm die Bäume.

„Nieder mit den Unterdrückern! Nieder! Nieder!“

Das grollte und gellte auf, hob sich wie eine gewaltige Woge hoch empor, wieder, wieder und immer wieder und wollte nicht schweigen.

Schlag auf Schlag kam das alles und ließ niemandem Zeit zur Überlegung. Hellwig stand mit totenblassem Gesicht und stützte sich schwer auf Reinholt. Als ob ihn das gar nichts anginge, blickte er in das Toben und fühlte nur einen harten Druck, der stärker und stärker sein Herz zusammenpreßte. Reinholt aber wollte ein letztes Mittel versuchen.

„Leute!“ rief er. „Kommt zur Besinnung, Leute! Fünf Kompagnien Soldaten sind im Dorf!“

Karus griff das Wort auf:

„Seht ihr’s! Seht ihr’s! Jetzt werfen sie schon die Larven ab! Jetzt zeigen sie ihr wahres Gesicht! Zusammenschießen lassen sie euch, wenn ihr euer Recht fordert!“

Und aus hundert Kehlen brauste es stürmisch zurück: „Wir lassen uns nicht zusammenschießen!“

Mittlerweile hatte Leibinger auch die Streikenden vor dem Gittertor gesammelt. Rauh aufjohlten die. Und dann: „Genossen, nicht nachgeben! Wir helfen euch! Hoch die Internationale! Hoch die Freiheit!“

„Hoch die Freiheit! Hoch! Hoch die Freiheit!“

Und Karus’ Stimme klang wie Trompetenschall durch den Aufruhr: „In Sklavenketten halten sie euch! Um euere besten Menschenrechte betrügen sie euch!“

„Wir lassen uns nicht betrügen! Wir sind keine Sklaven!“

Mühsam raffte sich endlich Hellwig zusammen: „Laßt euch nicht aufhetzen, Leute!“

„Er darf nicht reden! Herunter mit dem Tyrannen!“ donnerte es zurück.

Da schrie er schluchzend auf: „Das sind meine Braven? Für die hab’ ich gearbeitet?“ und sprang mit einem Satz mitten unter sie. „Hier bin ich! Nun? Was zaudert ihr? Macht den Tyrannen nieder! Ihr seid ja frei!“

Eine kurze Stille der Verblüffung.

„Du Schuft!“ rief der alte Kesselwärter und drang mit geschwungener Faust auf Karus ein. Der fing den Schlag auf und sagte kalt: „Ruhig, Alter! Gleich ist’s vorüber!“

„Wessen klagt ihr mich an?“ fragte Hellwig.

„Er darf nicht reden! Nieder mit dem Tyrannen!“ schrie Mark im Hintertreffen. Aber nun Hellwig wieder mitten unter ihnen war, nun sie die vertrauten Züge wieder dicht vor sich sahen, die Lippen, die so oft gütige Worte zu ihnen gesprochen, die Augen, die so oft heiter und frei und immer ohne Falsch auf sie gesehen, da trauten sie sich nicht recht vor, und nur dumpfes Murren folgte dem gellenden Auftakt Marks.

„Wessen klagt ihr mich an?“

„Wir lassen uns die Freiheit nicht rauben! Wir sind keine Sklaven!“ grollten sie und schauten mit scheuen Blicken an seinen leuchtenden Augen vorbei und schüttelten die Fäuste nur verstohlen.

Fritz aber stand da, wie ein Träumender stand er da und schaute in eine leere Ferne hinaus, einem zerfließenden Trugbild nach. Und während es sich langsam auflöste und zerrann, stieg langsam und immer klarer und schärfer eine neue Erkenntnis vor ihm auf. Sein Blick war starr und visionär, mit fremder, müder Stimme fing er an zu sprechen und es war, als holte er die Worte aus einem tiefen Brunnen herauf:

„Ich euch die Freiheit rauben? Brüder, wie kann ich euch etwas rauben, was niemals ein Menschengut gewesen ist? In schweren Ketten keuchen wir, das Schicksal hat sie uns auferlegt und wir zerbrechen sie nimmermehr. Aber das Tragen wollte ich euch leichter machen. Daß wir Schulter an Schulter die Ketten schleppen und sie uns nicht zu tief ins Fleisch schneiden. Ihr aber ... erhebt euch wider mich mit geballten Fäusten, Unmögliches verlangend, nie Erreichbares heischend. Ihr könnt ja nicht anders, seit heute, seit jetzt weiß ich es. Denn daß wir die Ketten stets aufs neue fühlen müssen, sobald sie uns nur ein bißchen leichter wurden, immer wieder schwer und drückend fühlen müssen, ist Menschenlos — ist ewiger Menschenfluch ...“

Die Stimme brach ihm. Unschlüssig standen die Leute. Karus aber, enttäuscht und zornig über diese Resignation, riß sein Beil aus dem Gürtel.

„Gelatsch! Gelatsch! Und geht’s nicht anders, zerreißt die Ketten, zerbrecht die Fesseln, zerschlagt den Kerker! Dann habt ihr die Freiheit! Die Freiheit ist da!“

Und: „Freiheit! Freiheit! Zerschlagt den Kerker! Wir wollen keine Ketten! Wir sind keine Knechte!“ schrien sie toll, jauchzend, außer Rand und Ufer.

„Führ’ uns, Karus!“ tönte ein Ruf. Und da schwoll es an zu Donnergebrüll: „Führ’ uns, Karus! Karus, führ’ uns!“

Und die Streikenden draußen riefen: „Wir kommen! Wir helfen euch!“ und warfen sich, Hunderte eine geballte Masse, gegen das Tor, und das Schloß sprang krachend entzwei, und tobend wälzte sich die Rotte in den Garten.

„Fritz Hellwig!“ frohlockte Leibinger. „Der Zahltag ist da!“

Karus vertrat ihm den Weg: „Diesem da wird kein Haar gekrümmt! Vorwärts, Männer! Vorwärts! Zu den Maschinen! Feuer in die Speicher! Den roten Hahn auf alle Dächer! Im Namen der Freiheit! Im Namen Heinz Warts! Rache für Heinz Wart!“

„Rache! Rache!“ gab der entfesselte Haufe gedankenlos das Wort weiter. Und Fritz lachte. Rasend lachte er auf und hieb sich mit der Faust die Schläfen: „Im Namen Heinz Warts? Recht so! Recht! Sengt! Brennt! Raubt! — Heinz! — Heinz Wart! ... Heinz ...!“ Wie verzweifelt gebärdete er sich.

„Wenn die Soldaten kommen ...“ warnte Mark.

„Dann reißen wir das Pflaster auf und bauen Barrikaden! Drauf, Männer, drauf! Unser ist die Welt!“

Und das blinkende Beil in hocherhobener Faust stürmte Karus fort. Fast alle folgten.

„Heinz Wart!“ riefen die einen, „Freiheit!“ riefen die andern. Blind, taub, sinnlos, jeder Überlegung beraubt stürzten sie ihrem neuen Führer nach.

Ganz wenige blieben zurück. Pfannschmidt, der sich den Empörern entgegengeworfen, lehnte, aus einer klaffenden Stirnwunde blutend, an einem Baum, und Bogner betreute ihn. Adam Pichler aber war schon früher in das Lager der Soldaten gerannt. Und Reinholt hatte alles andere seinen Gang gehen lassen in der Sorge um den Freund.

Im Laufschritt kam das Militär angerückt. Der diensthabende Hauptmann, die gelbe Feldbinde um den schlanken Leib, führte es mit gezogenem Säbel.

Da erwachte Fritz aus seiner Starrheit.

„Nicht das!“ stammelte er und atmete wie ein gehetztes Tier. „Nicht das!“

Unausgesetzt tönten krachende Axtschläge vom Fabrikhof, Gesplitter von Holz und Glas und Eisen, Brüllen und Gejohl.

Blutroter Feuerschein lohte auf. Die Magazine standen in Flammen.

Und jetzt ein wildes Geheul. Die Aufrührer hatten das Militär erblickt.

Hornsignale gellten durch den Tumult. Scharfe Kommandoworte. Prasseln von fallenden Steinen. Das dumpfe Aufschlagen der Gewehrkolben gegen hundert Schultern.

„Nicht das! Nicht ...“ Hellwig tat ein paar Schritte, wollte hin — und kam nicht weit. Ein furchtbarer Aufschrei: „Aus! Alles — aus!“

Reinholt sprang rasch herzu. Zu spät. Wie ein gefällter Stier brach der Volksbeglücker ohnmächtig zusammen.

Im selben Augenblick krachte die Salve.

6.

Als Hellwig das Bewußtsein wieder erlangte, war bereits die Nacht hereingebrochen. Er lag ausgestreckt auf einer der Bänke. Reinholt kniete neben ihm und legte nasse Tücher auf seine Stirn. Ein Häuflein verstörter und weinender Menschen stand im Kreis herum. Unstet leuchtete von der Fabrik herüber noch der Feuerschein. Vor dem zerbrochenen Gittertor aber hielten ein paar kastenartige Wagen, gelb angestrichen, das rote Kreuz im weißen Felde. Soldaten kamen und gingen mit brennenden Fackeln und mit Tragbahren, auf denen dunkle Menschenleiber lagen und stöhnten und zuckten. Ein Regimentsarzt eilte vorbei. Der Leinenkittel über der Uniform starrte von eingetrocknetem Blute, und auf der Höhe seiner fetten roten Wangen standen große Schweißtropfen. Er beugte sich über Hellwig und fragte, wie er sich fühle, und untersuchte ihn.

Der richtete sich jählings auf. „Wie viele sind verwundet? Wie viele tot?“ fragte er hastig, und im Grunde seiner Augen stand das Grauen. Der Arzt zog gleichmütig die Schultern hoch. „Weiß die Zahl noch nicht!“ sagte er. „War ein heißer Tag, hat viel Arbeit gegeben. Das waren, Gott sei Dank, die letzten.“ Mit einer Kopfbewegung deutete er auf die Bahre, die eben in den Krankenwagen gehoben wurde. „Ruhe brauchen Sie! Schlafen Sie sich ordentlich aus, Ihre Nerven haben’s verdammt nötig! Sonst fehlt Ihnen nichts!“ Nachlässig salutierte er und eilte zu den Fahrzeugen. Die Pferde zogen an, im Galopp ging es fort.

Dann kam der Hauptmann und bat den Besitzer der Fabrik um eine Unterredung. Und während Reinholt mit ihm sprach, trat Hellwig auf den Fahrweg hinaus, ging wie ein Schlafwandelnder weiter und weiter, zwischen rauschenden Feldern ging er und durch blühende Wiesen, und als Reinholt laut seinen Namen durch die Stille rief, da schritt er nur desto rascher vorwärts, mehrfach abbiegend, kreuz und quer, auf schmalen Rasenbändern, weiter und weiter, und er wußte nicht, wohin er ging und was ihn vorwärts stieß.

Hoch oben in der Luft trieben noch immer schnell und lautlos die silbrigen Wolken vor dem Mond, der halbrund am Himmel hing und es war, als ständen die Wolken still und jagte die weiße Luna in hastiger Flucht zwischen den ruhenden Silberflocken durch den glanzerfüllten Raum. Von den brennenden Speichern und Dächern der Fabrik kam ein roter Schein und wehte unruhig über die Fluren, und der Himmel war dort purpurn glühend und die dunklen Büsche standen davor mit allen ihren schlanken Zweigen und gerundeten Blättern scharf aus dem lohenden Glanz herausgehoben, schwarze Schattenbilder auf goldig flammendem Grund. Schön und seltsam und geheimnisvoll war die Landschaft mit ihren sanften und grellen, ruhigen und beweglich huschenden Lichtern und Farben und Schatten, und unermeßlich dehnte sie sich in einem milden Leuchten blau verdämmernd, weit, weit, bis sie mit dem Rand der hohen Himmelsglocke zusammenschmolz. Lautloses Ineinanderspielen der Farben unten, lautloses Wolkenziehen hoch darüber, glanzgesättigte Stille dazwischen: das war wie ein Prunksaal der Einsamkeit, die hier demütigstolz die Königskrone aus den Händen der Unendlichkeit entgegennahm.

Trostbringende Königin Einsamkeit.

Für den, der hier ihren Krönungssaal durchwanderte, weiter und immer weiter wanderte, mit gesenkter Stirn und schlaffen Armen, für ihn hatte sie keinen Trost, und er suchte ihn auch nicht. Er wollte nur ... Was wollte er denn eigentlich noch?

Da war ihm alles niedergebrochen. Ihm, dem Sieger, — „Wir sind durch!“ hatte er oft und oft den Freunden gesagt, — war alles niedergebrochen. So gründlich, daß kein Stein auf dem andern geblieben. Und die ihm vertraut hatten, saßen jetzt zwischen ausgebrannten Mauern, viele brave, arbeitsame Leute, — und konnten betteln gehen. Sein Lebenswerk. — Und Blut war vergossen worden. Durch seine Schuld war Blut vergossen worden, rotes, warmes Menschenblut. Sein Lebenswerk. Und alles war ihm niedergebrochen. Was wollte er also noch?

Diese Gedanken, und immer nur dieselben Gedanken waren es, die ihn begleiteten, während er so durch die endlose Ebene hinschritt, stundenlang weiter und weiter schritt, bis ihn die Müdigkeit überwältigte. Seine Beine begannen zu zittern, er taumelte und mußte sich niedersetzen.

Ganz schüchtern leuchtete das Frührot auf. In klaren Kugeln hing der Tau an den Gewächsen, und faul versuchte ein Frosch seine knarrende Stimme. Ein Vogel fing zu zirpen an, zaghaft und leis, als fürchtete er sich noch vor der Dämmerung und der Stille — dann lauter, kecker — ein zweiter gab Antwort — und als der junge Tag goldhell in das freudig aufschauernde Land hineinsprang, da jubilierten im vollen Chor, dem Zwang der Nacht entronnen und grüßten ihn viel hundert gefiederte Sänger.

Mit dem Gesicht nach abwärts hatte sich Fritz ins tauige Gras geworfen. Vielgestaltig regte sich das Leben unter ihm. Winzige weiße Würmchen krochen umher, schwerfällig schüttelten die Fliegen den Tau von den surrenden Flügeln, ein hungriger Käfer lief hastig durch das Labyrinth der grünen Stengelchen, eine Spinne kletterte über das feine Wurzelwerk und über die kleinen Steinchen, mühselig, als stieg sie über hohe Berge. Und unter der beweglichen Mannigfaltigkeit ruhte das braune schwere Erdreich gelassen und still wie die Brüste einer Mutter unter den ratlos tastenden Fingerlein des trinkenden Kindes.

Aber diese Ruhe strömte nicht auf ihn über, und sein Herz ging nicht in stillerem Gang. Schnell und schwer pochte es gegen den Boden im harten Rhythmus der Verzweiflung. Und während er so in die Erde starrte und den herben Duft ihrer Fruchtbarkeit trank, erwachten und zogen vorüber wie Bilder einer Zauberlaterne alle die hingeschwundenen achtunddreißig Jahre seines Lebens mit ihren Hoffnungen und Irrtümern, ihren Kämpfen, Niederlagen und bittersten Enttäuschungen. Was immer er bisher versucht hatte, alles war ihm mißlungen. Viele Wege war er gegangen, mit beschwingtem Fuß, in ernster und froher Begeisterung vermeinend, daß er dem Ziele näher komme. Aber jeder war ein Irrweg gewesen, hatte zum Ausgangspunkt zurückgeführt. Und da hielt er nun, wo er angefangen — vor dem Nichts. Und alle Kraft war verzettelt, alle Arbeit vergeudet, verpulvert, vertan. Und jedesmal hatte er geglüht und geflammt, gleich heiß und hell geflammt für ein Leben ohne Götter und ohne Lüge, für die Herrschaft des deutschen Volkes und für die brüderliche Gleichheit aller Völker, für den Sieg der Sozialisten und für ihre Niederlage durch seine Ideen. Und alles war Lüge gewesen und Götzendienst. Sich selbst hatte er belogen und ein utopisches Ziel war sein Gott und Götze und selig machender Glaube. Wie die Spinne vor seinen Augen mühsam über die Grashalme, war er auf ebenem Boden keuchend gekrochen und hatte vermeint, er stürmte steile Berge empor zum Ziel. Nutzlos verschwendete Mühe — Irrsal — Verzweiflung — das war alles, was ihm geblieben. Und eine Ehe, die keine Ehe war, ein Weib, für das der Gatte, ein Kind, für das der Vater wie ein Gestorbener war.

Aber leise, in den quälenden, schweren Rhythmus der Verzweiflung hinein, nur kaum wie ein schwaches Vogelzwitschern im Gewittersturm verhallend, schwebte fernher, ganz leise, eine Melodie des Trostes und ein schüchterner Hoffnungsklang. Und eine scheue Sehnsucht stand auf und pochte zag an und pochte lauter und mahnte: „Kehr’ heim!“

Und pochte lauter und mahnte inniger: „Kehr’ heim! Zu Eva und Hansl, dorthin gehörst du — sie warten auf dich. — Nicht um deinetwillen — ihretwegen mußt du hin, daß sie aufrecht bleiben und sich weiter freuen — wenn auch du — zerbrochen bist ...“

Und ohne noch einmal in die Fabrik zurückzukehren, wie er ging und stand, im Hausanzug und mit der Gartenmütze, reiste er von der nächsten Bahnstation ab.

7.

Otto Pichler las in seinem Stammcafé in den Zeitungen, daß das Unternehmen des einstigen Freundes gescheitert war. Es bewegte ihn nur wenig. Sein Schifflein war geborgen.

Schon längst hatte er Grete Deming geheiratet, schon längst war er Prokurist und Stellvertreter des Direktors der chemischen Fabrik. Sein Schwiegervater hatte sich vor einigen Jahren zur Ruhe gesetzt. Ein verdienstvoller alter Herr, den man nicht hatte übergehen können, war dermalen mit der Leitung betraut. Aber sein Rücktritt konnte nicht mehr lang auf sich warten lassen, und dann war Otto der kommende Mann. Bei den Beamten war er beliebt. ‚Das Glückskind‘ nannten sie ihn und hatten recht damit. Nur wenige gab es, die so spielend mit dem Leben fertig wurden und mühelos die reifen Früchte auflesen konnten, die ihnen ohne vieles Dazutun wie von selbst in den Schoß fielen.

Seine Ehe war wie tausend andere auch weder heiß noch kalt; eine gleichmäßig laue Atmosphäre hüllte sie ein, ließ keine Stürme heran, machte den Körper feist und war dem Wohlbefinden ungemein bekömmlich.

Er ging seine Wege, Grete ging ihre Wege, mit der Treue nahmen sie es beide nicht zu genau.

Als der zukünftige Direktor den Bericht gelesen hatte, fragte er den Kellner, ob die Herren seiner täglichen Tarockpartie schon anwesend seien. Der Befrackte bejahte. Da zog Otto ein goldenes Etui aus der Brusttasche, zündete sich eine Zigarette an, und während er den Rauch erst einatmete und dann langsam in die Luft hinausschwimmen ließ, dachte er: Ist es nicht Wahnsinn und Aberwitz, Gesundheit und Kraft und Blut für wildfremde Menschen einzusetzen? Wir leben schließlich doch nur das eine Leben, und warum sollten wir uns das nicht so angenehm wie möglich machen und trachten, daß es uns sacht und unmerklich verrinne in Fröhlichkeit und heiterem Behagen?

Dann ging er ins Spielzimmer und mischte die Karten.


Sechstes Buch

1.

Mitternacht war vorüber, als Hellwig bei Kolben Einlaß heischte. Der Doktor war noch wach. Als Fritz draußen schellte, ging er ihm ins Vorzimmer entgegen. „Komm nur herein,“ sagte er, „ich hab’ dich erwartet.“

Und Fritz trat wortlos ein und hatte blasse Wangen und scheue Augen, die ohne Unterlaß den persischen Teppich am Fußboden betrachteten. Aber Kolben tat, als bemerkte er das nicht, sondern sprach zu ihm über seine Rosenkulturen im Garten, die heuer besonders reichlich blühen würden, über die vielen sonnigen Frühjahrstage, die immer wieder zu Wanderungen ins Gebirge lockten, über die letzte Premiere im Burgtheater. Über das alles und noch über viele andere Dinge sprach der Doktor unbefangen und zwanglos, als wäre Hellwig nicht an die drei Jahre, sondern kaum ebenso viele Tage fortgewesen. Und nur mitten zwischen diesen Dingen sagte er einmal ganz von ungefähr: „Deine Frau wirst du wohl jetzt nicht aufwecken wollen? Sie weiß auch noch nichts, es ist besser, du bleibst die Nacht bei mir.“

Fritz atmete schwer auf und bewegte die Lippen, aber er sprach nichts und schaute nur stumpf vor sich hin, elend und voll Schuldbewußtsein. Doch als ihm der Doktor jetzt sein Schlafzimmer überlassen wollte, — er müsse sich ausruhen, man sehe ihm ja an, daß er total erschöpft sei, — da lehnte er auch das stumm ab und blieb auf dem Diwan sitzen, mit halb geschlossenen Augen und ganz teilnahmslos. Kolben aber dachte bei sich, daß es besser wäre, den stolzen und harten Mann mit allen den herben Verlusten und Enttäuschungen und Vorwürfen allein sich abfinden und fertig werden zu lassen. Und er brachte Kissen und Decken, wünschte ihm gute Nacht und zog sich zurück. Und Hellwig war ihm dafür dankbar.

Er drehte die Glühlampe ab und blieb im Dunkeln sitzen und erinnerte sich, daß er unter einem Dach mit Eva sei, daß ober ihm sein Junge schlief, und das war Weh und Beruhigung, Qual und Trost zugleich. Doch schließlich wurde die Übermüdung stärker als alles andere, und auf die zerrüttelnden Aufregungen der letzten Tage reagierte der Körper endlich mit einem tiefen traumlosen Schlaf, der bis in die späten Vormittagstunden nicht von den bleischweren Lidern wich.

Über alles mögliche hatte Kolben geredet. Aber was er für den Freund getan und wie er Eva über die langen einsamen Tage und Monate und Jahre hinweggeholfen, davon hatte er geschwiegen. Mit opferwilliger Treue, ein verläßlicher Berater und Sorgenbanner, war er ihr zur Seite gestanden, und während sie anfangs nicht darauf achtete, hatte er ihr alle unangenehmen und schwierigen Geschäfte abgenommen. Auch ihr Vermögen verwaltete er, und wenn Eva sich niemals ganz verlassen fühlte und wenn ihr gar nicht recht zu Bewußtsein kam, was eigentlich Fritz ihr angetan hatte, als er sie mit dem Kinde unbesinnlich in der großen fremden Stadt mutterseelenallein gelassen, wenn sie davon nichts merkte und sich leidlich zufrieden und geborgen glaubte, so war dies ausschließlich das Verdienst des Doktors.

**
*

Als Fritz endlich wach geworden, ging er mit Kolben in den ersten Stock hinauf. Kaum ein Wort hatte er bisher geredet. Und als er im Vorzimmer seiner eigenen Wohnung stand, spürte er den ungestümen Schlag seines Herzens bis in der Kehle. Kolben aber ließ ihn draußen warten und ging allein hinein, um Eva vorzubereiten. Ruhig und launig wie alle Tage begrüßte er sie und tat, als wäre gar nichts Ungewöhnliches vorgefallen oder im Anzug. Der vierjährige Hansl war mit dem Dienstmädchen spazierengegangen.

Wo war die Frohsinn blitzende Eva von früher? Ganz zu tiefst, in den verstecktesten Winkel des Herzens, mußte sich die Fröhlichkeit verkrochen haben. Keine Spur davon war mehr in den schwermütigen Augen, dem ernsten Antlitz, das deutlich die Zeichen gelittener Schmerzen eingefaltet trug. Nur in den blonden Haarspitzen leuchtete etwas, ein flink Bewegliches, Übermütiges, und war schon wieder weg. Kaum wie ein schnell vorbeihuschendes Erinnern an funkelnde Jugend und sonnige Tage war das gewesen.

Unten schritt ein Briefträger über die Straße.

„Haben Sie keine Nachricht von Fritz?“ fragte da Eva unvermittelt.

„Dasselbe wollte ich Sie fragen ...“

Ein trauriges Lächeln ging um ihre Lippen.

„Mich? Seit Wochen hat er nichts hören lassen. Ich weiß schon nicht mehr, was ich mir denken soll!“

„Schreibfaul war Fritz von je.“

„Aber so lang hab’ ich noch nie warten müssen!“

„Er wird Sorgen haben. Der Streik dauert jetzt schon einen Monat ...“

„Wissen Sie denn wenigstens darüber etwas Neues? Denken Sie sich, heut’ hab’ ich schon wieder keine Zeitung bekommen. Gestern doch auch nicht. Was nur dem Austräger eingefallen ist?“

Kolben erhob sich. „Ich — habe ihn das so geheißen, Frau Eva,“ sagte er sehr ernst.

Da stand sie auch schon dicht vor ihm und schaute angstvoll in sein ruhiges Gesicht. „Kolben! Was hat’s gegeben?“

„Nichts, was Sie bedauern müßten, Frau Eva.“

Sie rieb die Knöchel ihrer Finger gegeneinander. „So sprechen Sie doch! Rasch! Rasch!“

Zögernd gab er Antwort: „Die Führer des Streiks haben ihren Zweck erreicht. Reinholts Arbeiter haben sich dem Ausstand angeschlossen ... es hat Ausschreitungen gegeben ...“

Da schrie sie laut auf: „Fritz! Fritz! — Doktor, was ist mit Fritz?“

„Ruhe, Frau Eva, Ruhe — ihm ist nichts geschehen. Jetzt endlich wird er heimkommen.“

Sanft legte er den Arm um die Wankende. Aber sie stieß ihn ungestüm zurück. „Jetzt, Kolben? Jetzt? Nein! Nein! Das erträgt er nicht! Doktor ... er verzweifelt ja! Wir müssen hin! Doktor ... wir kommen ja schon zu spät ...“

Kolben hielt ihr die zitternden Hände fest. „Seien Sie vernünftig, Frau Eva, ich hab’ Ihnen schon gesagt: Jetzt endlich wird er heimkommen. Vielleicht ist er schon auf dem Weg ...“

Da schaute sie ihn mit einem wilden Blick an und rief: „Vielleicht! Vielleicht auch nicht! Bringt Sie denn nichts aus Ihrem Gleichmut? Und Sie wollen sein Freund sein? Schämen Sie sich! Wissen Sie denn ... ob er — überhaupt noch lebt?“

Und ganz ruhig, ganz bescheiden antwortete der Doktor darauf: „Gewiß, Frau Eva ... Er ist ja schon heimgekommen.“

Er öffnete die Tür. Hellwig stand unter der Schwelle. Und während Kolben mit zuckendem Gesicht, — nun er allein war, brauchte er nichts mehr zu verbergen, — während Kolben über die Treppe hinabeilte, warf sich Eva stürmisch an die Brust ihres Mannes.

„Fritz!“ flüsterte sie in heißer Freude. „Fritz!“

„Eva!“ Das klang rauh und war wie ein Schrei.

Sie schmiegte sich ganz dicht an ihn. „Nun bist du wiedergekommen! Nun bist du endlich wiedergekommen!“ sagte sie und wiederholte es immerfort, langte nach seinen Wangen und streichelte sie und schaute ihn mit strahlenden Augen an und hatte alles Leid vergessen. „Blaß und schmal bist du geworden! Wo sind deine roten Backen hin? Bist du müde? Komm, setz’ dich, mach’ dir’s bequem, ruh’ dich aus ...“

Und er hielt sie fest an sich gepreßt und legte ihren Kopf an seine Brust und schaute auf ihren blonden Scheitel und biß die Zähne zusammen, um nicht aufzuschluchzen. Alles Unrecht, das er ihr angetan, stand mit einem Male, nun er die Sanfte, Geduldige, Frohe wiedersah, riesengroß vor ihm auf, und er fühlte sich elend und schlecht und aller Liebe unwert.

Aus dem Vorzimmer klang das Getrappel von Kinderfüßen und Geplapper. Der kleine Hansl kam vom Spaziergang heim. Und dann ging die Tür auf, sprang der Bub über die Schwelle, auf die Mutter zu. Da sah er den großen fremden Mann, wurde kleinlaut und wagte sich nicht weiter. Eva ergriff seine Hand. „Hansl!“ sagte sie mühsam heiter. „Hansl, komm zu Vaterl!“

Halb scheu, halb zutraulich trippelte der Bub heran.

„Vaterle ...?“ fragte er furchtsam.

„So trau’ dich doch, Hansl! Na?“ Und um ihm die oft vorgesprochenen Worte ins Gedächtnis zu rufen, begann sie: „Grüß’ — Gott —“ Da stellte sich das Kerlchen stramm vor den großen Vater hin und sagte hell und herzhaft: „Grüß’ Gott, Vaterle, und hab’ mich lieb. Hab’ auch Mutterl lieb und bleib’ bei uns!“

Wortlos, in tiefster Bewegung, hob Fritz seinen Sohn zu sich hinauf und küßte ihn.

„So!“ rief Eva. „Jetzt komm, Hansl, wir wollen Vaterl was zu essen holen!“

Und rasch führte sie den Buben aus der Stube. Er durfte seinen Vater nicht länger in solcher Erregung sehen.

2.

Ein Tag nach dem andern ging vorüber und Hellwigs düstere Miene wollte sich nicht aufhellen. Sein Inneres war wie ausgebrannt, wüst, nackt und leer. Alle Quellen waren versiegt, alle Hoffnungen verdorrt. Was er für sein Lebenswerk gehalten, lag in Trümmern. Da schämte er sich vor sich selbst, vor seinem Weibe, vor den Menschen.

Führer hatte er ihnen sein wollen, Pfadfinder, Heilbringer — und war nichts gewesen als was so viele andere auch: ein Irrlehrer und dünkelhafter Maulheld, der da glaubte, den Menschen die Wahrheit schenken zu können. Jeder andere durfte mit gleichem Recht das gleiche behaupten. Die Wahrheit hatte ja doch keiner, konnte keiner haben, weil es im ständigen Fluß der Entwicklung einfach keine Wahrheit gab. Keine Wahrheit wenigstens, die zu allen Zeiten Wahrheit bleiben muß. Wer am Ufer steht oder im Strome treibt, weiß vielleicht, daß die Strombahn in diesem Augenblick von Westen nach Osten zieht. Aber ob sie sich tausend Meter weiter unten nicht nach Süden wendet oder nach Norden oder im Bogen zurück nach Westen, das weiß er erst, bis er’s mit eigenen Augen sieht. Doch so wahr der Strom ein paar Meter weit nach Osten fließt, so wahr fließt er auch ein paar Meter weiter unten nach Süden. Wer aber wäre vermessen genug, zu behaupten: Tausend Meter abwärts muß dieser unbekannte Strom im unbekannten Lande so fließen und nicht anders! — In tausend Jahren muß die Menschheit diesen und diesen Weg gehen und keinen andern!

Wer wäre so vermessen?

Er, Fritz Hellwig, er hatte die Vermessenheit gehabt und schämte sich jetzt, da er sie erkannte. Und noch etwas anderes erkannte er jetzt: den Frevel, so nannte er es, der kein Freund der Beschönigung war, den Frevel, den er an Eva und seinem Kinde begangen — und an sich. Das frohe Lachen und Plaudern des Buben war ihm wie beständiger Vorwurf. Aus den guten Augen seiner Frau las er ihn und immer haltloser wurde er.

Auch Kolben vermochte da nichts zu richten. „Dir hätt’ ich auch eine Schuld abzuzahlen, Albert!“ hatte Fritz bitter gesagt und als der Doktor dagegen lachend protestierte, hatte er tonlos weiter gesprochen: „Ich muß nur nehmen und immer nehmen! Immer nur in euerer Nachsicht leben! Das ist nicht gut, Albert, nein, das ist nicht gut ...“ Und er war wieder in das tatenlose Hindämmern gefallen, jedem Zuspruch unzugänglich und taub für jeden Trost.

Seit seiner Rückkunft hatte er die Wohnung nicht verlassen. In sich vergraben und ganz in seine Verzweiflung eingewühlt lebte er, zeigte für nichts Interesse, rührte die Zeitungen nicht an. Briefe von Reinholt liefen ein. Sie blieben ungelesen. Wenn die Flurglocke klang, schrak er zusammen. Er fürchtete sich vor den Menschen, weil er sich vor ihnen schuldig glaubte.

„Doktor, was sollen wir nur machen?“ fragte Eva oft ganz mutlos.

„Gehn lassen!“ antwortete dieser. „Es wird auch wieder anders werden.“

Und sie ließen ihn gewähren. Mit keinem Wort rührte Eva an der Vergangenheit, tat, als wäre er nie fort gewesen. Sie drängte sich ihm nicht auf, aber stets war sie in seiner Nähe, hielt jede Störung fern, barg ihren Kummer hinter hellen Mienen und lächelnder Heiterkeit, hüllte ihn ganz in ihre Liebe ein und umhegte ihn mit jener stillen Hausmütterlichkeit, deren Walten unmerklich ist und die doch alles durchleuchtet und durchwärmt.

Und wenn sie sich gar keinen Rat mehr wußte, schickte sie Hansl zu ihm. Den konnte er dann stundenlang auf seinen Knien haben, wie ein Kind konnte er mit ihm plaudern und alle Märchen, die er noch wußte, erzählte er ihm. Aber sobald der Junge fort war, sank er wieder zusammen wie ein Feuer, das allen Brennstoff aufgezehrt hat.

Unangemeldet kam eines Tages Kaufmann Wart hergereist, um nach dem Rechten zu schauen und nebenbei auch seinem Schwiegersohn gründlich den Kopf zu waschen. Aber als er ihn so elend sah, unterließ er es. „Das Flamändern wird dir jetzt wohl vergangen sein!“ knurrte er nur.

Einige Tage später nahm er ihn beiseite: „Fritz, was wirst du jetzt eigentlich anfangen?“

„Ich — weiß es nicht ...“

„Aber ich wüßt’ was!“ lächelte verschmitzt der rundliche Mann, der jetzt wieder frisch und blühend aussah und unter seinem weißen Barthaar feiste rote Wängelein hatte. „Ich wüßt’ was! Komm zu uns nach Neuberg!“

„Das geht nicht!“

„Muß gehn, Fritz. Schau, es ist ein wahrer Jammer. Alles klerikal, alles schwarz, bis über die Ohren schwarz! Das wär’ was für dich. Misch’ auf! Jag’ sie davon! Schließlich, es ist ja doch deine Vaterstadt. Wär’ ein Verdienst, Fritz, — und besser, als so ins Weite, Nebulose hinein. Dort hast du wenigstens festen Boden und weißt, daß du darauf gehörst und für wen du’s machst. Dein Bub, — hm — ich denk’ halt, jeder Baum braucht seine Erde. Und so eine Großstadt, das ist doch keine richtige Heimat. Irgendwo aber soll jeder Mensch seine Wurzeln haben. Pflanz’ halt den Hansl dort ein, wo er hingehört, nicht? Und dann — uns zwei Alten tät’s auch wohl. Die Mutter, — sie hat zu viel durchmachen müssen, — die Mutter kann nicht mehr recht fort. Es zwickt und reißt sie überall. Gefahr ist keine, aber beschwerlich ist so was, drum ist sie auch nicht mitgekommen. Die Mutter, siehst, und ich — jetzt sind wir schon ganz allein. Und dann hätten wir wenigstens wieder jemanden. Und schreiben — du wirst ja doch nichts andres tun als Bücher schreiben und für die Zeitungen — schreiben kannst bei uns draußen auch. Was meinst?“

Fritz antwortete nicht gleich. Kolben kam herein.

„Stör’ ich?“ fragte er.

„Nur herein, Herr Doktor! Ich sag’ grad’ nur, der Fritz soll mit nach Neuberg!“

Kolbens Augen hinter der goldenen Brille leuchteten auf. Das konnte eine Lösung sein. Aber diplomatisch meinte er nur: „Hm, Neuberg? Was dort?“

Fritz sagte nicht ja, nicht nein. Doch die Worte klangen in ihm nach. Und die beruhigende Aussicht in eine Zuflucht ließ ihn gefaßter werden, wenn er sich das auch nicht eingestehen wollte, und richtete ihn auf und war wie das Bändchen Bast, das ein ins Krumme wachsendes Bäumchen am stützenden Pfahl festhält.

3.

Und die Tage glitten weiter, sacht und gleichmäßig, wie weiße Schwäne auf einer unergründlich tiefen und dunklen Flut. Glatt war die Oberfläche und verriet nicht, was darunter brausend durcheinander brodelte, alle Leidenschaften deckte sie zu, alle Angst und Qual und Aufregung, und darüber segelten die weißen Schwäne, einer hinter dem anderen, ruhig und lautlos. Kaum merklich war die Bahn, die sie zogen, aber sie war doch da und in den sanft bewegten Wellen spiegelte sich mit kleinen Lichterchen die verbannte Freude, versuchten die Silberfischchen der Hoffnung zaghaft ihren Tanz. Und zwischen das stürmische Einst und das Jetzt schob sich mit mildem Glanz, die scharfen Konturen abtönend und verschleiernd, wie eine durchsichtige Wolke der Friede.

Ohne Geräusch und ohne viele Worte, mit einer gleichmäßig stillen Freundlichkeit und innigen Hingabe, versah Eva den Haushalt und pflegte den kleinen Hansl und den großen Fritz und jede Bequemlichkeit bereitete sie ihm. Und täglich kam sie mit den Zeitungen und fing von Dingen zu reden an, die ihr ganz fern lagen. Von Doktor Kolben oder aus den gelehrten Büchern holte sie sich Aufklärung, in die schwer gangbaren Gebiete der Finanzwissenschaft und der hohen Politik drang sie mutig ein, schlug sich tapfer mit den schwierigsten Lehren und mit den verwickeltsten Ereignissen herum, um nur mit ihrem Manne über etwas sprechen zu können, was vielleicht seine Teilnahme wecken und ihn aus der schweren Dumpfheit reißen könnte. Oder sie legte ihm Zeitschriften und Bücher auf den Tisch: hier sei ein bemerkenswerter Aufsatz, den müsse er lesen. Und dieses neue Werk vom Wesen des Geldes werde ihn möglicherweise auch ansprechen. Doch wenn sie ihm von Reinholt Briefe brachte, dann sagte sie nichts dazu und schaute ihn nur freundlich bittend an: Er solle doch einmal einen aufmachen und lesen. — Aber mit keinem Wort rührte sie an der Vergangenheit, erwähnte auch nichts davon, daß viele Blätter für ihn eintraten und das Vorgehen seiner Feinde in der schärfsten Weise verurteilten. Das hatte Zeit, das konnte ihm später als Genugtuung dienen. Jetzt sollte er nur erst aus der schlaffen Teilnahmslosigkeit heraus. Aber es wollte und wollte nicht anders mit ihm werden. Meist saß er vor seinem Schreibtisch, hatte die weißen Papierbogen vor sich liegen und die Feder daneben, aber er rührte sie nicht an und nicht eine Zeile schrieb er, sondern grübelte nur und brütete vor sich hin, viele, viele Stunden lang. Aber die Melodie der Häuslichkeit tönte immerzu leis um ihn und ruhiger und ruhig schlug allmählich sein Herz.

Und da geschah es eines Tages — ein Gewitter war verrauscht und durch zerrissenes Gewölk drang die sinkende Sonne mit schrägen Strahlen, die von den Fensterscheiben gegenüber in gelber Lohe zurückflammten. Dämmrig wurde es und düster, und Eva zündete die Lampe an. Das Gas brodelte leise im messingnen Auslauf, und vor den Fenstern draußen im Garten schlief sanft und sacht die Erde ein und eine Amsel sang vom eisernen Windpfeil eines Landhauses herab der müden das Schlummerlied. Da geschah es. In dieser seltsam leuchtenden und heimlich klingenden Stille außen und innen, in diesem feierabendlichen Frieden, der alle Dinge weich und warm in seine Arme nahm, geschah es.

Halb vom Vorhang zugedeckt, saß Fritz beim Fenster. Er hatte, nach langer Zeit wieder einmal, in seinem Werk geblättert, das er einst in einem Rausch der Schaffensfreude niedergeschrieben, hatte auch einzelne Stellen gelesen, wieder und wieder gelesen, aber keinen Widerhall in seiner Seele gehört. Worte waren das, leere, taube Worte, die an ihm abglitten und hohl tönten, wie Gefäße ohne Inhalt. Und alle Glut war in sich zusammengesunken, und unter der Asche glomm kein Funke mehr.

Er klappte das Buch zu und lächelte bitter, als er den gepreßten Lederrücken sah. Für Jahrhunderte schien dieser Einband berechnet und was er umschloß, war schon widerlegt, war schon verbrannt und ausgekühlt und wertlos.

Lang saß er dann und schaute in den Garten hinaus. Noch tobte das Gewitter und die Wolken hingen ganz niedrig und die Bäume bogen sich und zitterten im Sturm und wenn ein Blitz grell aufflammte, der Donner nachkrachte, duckten sie sich noch tiefer und bebten sie noch stärker. Und die weißen Landhäuschen fürchteten sich mit ihnen und kauerten wie verirrte junge Tiere in dem zitternden Grün. Und in dicken Strängen fiel der Regen nieder. Und dann wurde es stiller und lichter und freier und der letzte Donner war noch nicht vergrollt, da war auch schon wieder Amselsingen und war leuchtender abendlicher Friede.

Dann flammte die Lampe auf, und Eva kam und legte ihm die Abendblätter aufs Fensterbrett. Und wie jedesmal schob er sie beiseite, ohne einen Blick hineinzutun. Denn er wollte nicht erinnert werden, wollte nicht wissen, was draußen in der Welt vorging, das sollte tot für ihn sein, wie er für die Welt tot sein wollte.

Lebhaft und ungestüm sprang jetzt sein Bub, des stillen Spielens mit den Bauklötzchen in der Ecke müd, zu ihm her, legte die Arme um seinen Leib und den Kopf auf seine Knie: „Vaterle, erzähl’ was!“

Da schrak er aus seinem Grübeln und schaute das Kind mit ausdruckslosen Augen an.

„Was erzählen!“ bettelte der Bub.

Nun bezwang er sich mühsam, hob den Knaben auf seinen Schoß, fing nach einer geraumen Weile zu reden an: „Also — es war einmal ein Mann, der war verwunschen, immerzu irre zu gehen. Wenn er wohin gewollt hat, in die Kirche oder auf den Jahrmarkt in die Stadt, hat er niemals den rechten Weg finden können. Er selber freilich, er hat schon geglaubt, daß er richtig geht. Immer der Nase nach geradeaus, dann links um die Ecke und noch einmal rechts um die Ecke, dann muß die Kirche ja da sein. So hat er geglaubt. Aber die Kirche ist nicht da gewesen, sondern die Ziegelscheuer oder die Herberge oder sonst ein Haus, nur nicht die Kirche. Und er hätte doch darauf geschworen, daß er recht gegangen ist. Und wenn er zum Jahrmarkt nach Aberg gewollt hat, ist er sicher zum Viehmarkt nach Beheim gekommen, was doch in einer ganz anderen Richtung liegt. Weil er aber nicht leer nach Haus hat kommen wollen, hat er sich halt dort eine Kuh gekauft oder einen Ziegenbock und den hat er dann sicherlich dem Meister Schneider oder Fleischhauer in den Stall getrieben, die doch am andern Ende vom Dorf gewohnt haben. Und kurz und gut, er hat halt nie dorthin kommen können, wohin er gewollt oder wo er zu tun gehabt hat. Immer hat er sich verirrt oder ist immerzu im Kreis herumgegangen, immerzu rundherum im Kreis.“

Er schwieg und holte tief Atem.

„Der dumme Mann!“ rief der kleine Hansl.

„Jawohl, der dumme, dumme Mann!“

„Fix, Hansl, dein Abendbrot ist da!“ rief die Mutter dazwischen. Der Bub wollte nicht fort: „Erzähl’ mehr, Vaterl!“ bat er. Aber Frau Eva machte keine Umstände. Sie packte den Zappelnden unter den Armen und hob ihn in seinen Sessel. „Avanti! Jetzt wird gegessen, daß du mir rechtzeitig in die Federn kommst!“ Sie band ihm ein Mundtuch vor, gab ihm den Löffel in die Hand. Nun aß er gehorsam seine Eierspeise und schmatzte mit den Lippen und ließ sich von der Mutter die Semmelbrocken in den Mund stecken.

Durch das Gegitter des Spitzenvorhangs schaute Fritz zu. Da waren sie beisammen, die beiden lieben Menschen, die schöne reife Frau und der helläugige Knabe, im goldenen Kreis der Lampe. Und beide hatten vergnügte Gesichter und waren guter Dinge und nicht ein leisester Schatten trübte jetzt ihre heiteren Mienen. Im engsten Raum, vom goldenen Lichtkreis eingeschlossen, Mutter und Kind, Erfüllung und Verheißung, lachend und blühend wie die Erde im Juni. Und er — hatte sich selbst aus dem goldenen Kreis verbannt, — um all das Licht hatte er sich betrogen, mußte schuldbeladen abseits stehen.

Der dumme, dumme Mann!

Hart vor seinen Füßen hörte mit einer scharfen Linie das warme Lichtrund auf und um ihn war Dunkel und Einsamkeit und Kälte.

Du dummer, dummer Mann!

So tritt doch heraus aus dem Dunkel. Wag’ den Schritt — ins Licht, in die Wärme, in die Liebe — zurück in den leuchtenden Kreis des Lebens. Diesmal kannst du nicht in die Irre gehen. Zu nah ist das Ziel. Ein Schritt nur — ein Öffnen der Arme — und du hast es und hältst es fest — und nimmer, nimmermehr kann es dir dann entfliehen.

Aber es war ihm, als könnte er niemals über diese scharfe, klare Grenzlinie hinüber.

„Weiter erzählen!“ rief Hansl und schlug mit seinem Löffel gegen den blechernen Teller. „Weiter erzählen, Vaterle!“

Doch Eva hielt ihm die Hand fest und sagte: „Was gibt’s da noch viel zu erzählen? Der Mann ist immer falsch gegangen, weil er ja doch verzaubert war. Und einmal, da ist er schon weit fortgewesen und hat sich gar nicht nach Haus finden können. Aber da ist ihm eingefallen, daß seine Frau mit dem Essen auf ihn wartet und daß sein Bub auf ihn wartet und eine Geschichte erzählt haben will. Und wie ihm das einfällt, da hat er sich umgedreht, und keinen einzigen falschen Schritt hat er mehr gemacht und ist nur immerzu geradeaus gelaufen und gelaufen, bis er richtig zu Haus war. Und so schnell ist er gelaufen, daß das Essen wirklich noch warm war und daß er auch noch eine Geschichte hat erzählen können. Und seit der Zeit ...“

Mehr konnte sie nicht sagen. Denn Fritz war aus seiner dunklen Nische in das helle Licht getreten, mit weit gebreiteten Armen — und seine Augen waren groß und leuchteten in ihren Tiefen, und die lieben zwei lehnten ihre Köpfe an seine atmende Brust, und so stand er in stummer Ergriffenheit und hatte sein Ziel erreicht und hatte sein Glück gefunden im goldenen Kreis des Lebens.

4.

In der Nacht, die diesem Erlebnis folgte, da lag er wach bis zum Morgen. Und während Eva neben ihm still atmete, fühlte er, wie Ring um Ring von seinem Herzen sprang, Stück um Stück der Eiswall brach, hinter dem es eingefroren nur müd gepocht hatte. Die Nacht flutete dunkel und gleichmütig vorüber. Ihm aber leuchteten die Augen groß und eines ernsten Glückes voll. Erlösung. Auferstehung. Weitab vom tosenden Jubel, vom wütenden Haß des Tages, im engsten Raum, zwischen seinen vier Pfählen, mit einer beglückenden Selbstverständlichkeit war diese Stunde gekommen und hatte ihn zum Hafen getragen, mühelos, wie eine Welle die Muschel auf den Strand spült. Und er konnte alle Segel einziehen und Anker werfen.

Und langsam und allmählich lernte Fritz Hellwig wieder lachen und wieder frei aufschauen. Und wenn er den Glauben an sich selbst verloren hatte, so fand er ihn allmählich und langsam wieder in dem Glauben an das Leben und in der Liebe der Seinen und zu den Seinen. Und alle Zärtlichkeit Evas und aller Jubel des Buben strömte in seine Seele, die ihre Tore weit offen hielt und machte ihn dankbar und fromm und glücklich wie ein unartiges Kind über unverdiente Weihnachtsgaben. Und jetzt bemerkte er auch die behutsame Zartheit, mit der Eva seine Stimmungen belauschte und wie sie sich mühte, ihn abzulenken, aufzuheitern und aus seiner Teilnahmslosigkeit zu wecken. Wie sie immer und immer wieder leis an sein Herz pochte und Einlaß heischte und die Geduld niemals verlor, wenn sie vergeblich warb, wenn er sie rauh zurückstieß und keinen Teil mehr haben wollte an aller Freude und Liebe. Und er zieh sich der Selbstsucht, weil er sich nur dem eigenen Schmerz überantwortet hatte und zu allem angerichteten Unheil, zu allen seinen Irrfahrten, die so viele bitter getäuscht und arm gemacht, noch und abermals ein Unrecht gehäuft und jener weh getan hatte, die ihm zunächst stand und ihn am liebsten hatte.

Schwere Schuld war zu sühnen und manches konnte überhaupt nicht ausgetilgt werden. Aber irgendwie gutmachen und aufwiegen ließ es sich, nur mußte er die Zeit nützen und seine Kräfte, statt sie in nutzloser Selbstbemitleidung zu vergeuden, frei machen für die Sühne.

Und langsam wurden sie frei.

Hatte er früher alles an sich vorbeigehen und gleichgültig zu Boden fallen lassen, so konnte er jetzt nicht genug tun und nicht genug finden, was Eva freuen und fröhlich machen sollte. Auf alle ihre Anregungen ging er ein, sprach mit ihr über die Tagesereignisse, und wenn sie auf ein besonders verwickeltes Thema gerieten und wenn Eva sich immer tiefer hinein verfitzte und hilflos hing wie ein Fisch im Netz, dann lachte er wohl und sagte, sie solle sich doch keine solche Mühe und seine Schuld nicht noch größer machen.

Sie erwiderte nicht auf solche Reden, blickte ihn nur strahlend aus innigen Augen an und auf ihrem Gesicht lag ein ganz heller Schein der Freude.

Bald hatte er nachgeholt, was er in den letzten Wochen versäumt, hatte er die Zusammenhänge wiedergewonnen und die Zeitungen blieben nicht mehr ungelesen neben dem Schreibtisch liegen. Und er las die maßlosen Ausfälle in den Blättern der Gegner, las die Verteidigungen und die Lobsprüche der Anständigen und ihm wurde dabei, als ob das alles irgendwo weit in der Ferne sich abgewickelt und er gar keinen Teil daran habe. Auch die Briefe Reinholts las er jetzt. Und da erfuhr er denn das Schicksal der Empörer.

Karus, Leibinger, Sanders und fünf andere waren tot, Mark im Gefängnis, die übrigen in alle Winde verstreut. Der Streik war zu Ende.

Fritz las das und wurde wieder sehr traurig. Aber es war nicht mehr die dumpfe Verzweiflung, der tatenlose Trübsinn von früher. Eine tiefe sanfte Wehmut war es, die ihn ganz läuterte und immer fester und unlösbarer mit seinen Lieben verknotete.

Den ganzen Tag war er jetzt mit dem Buben im Garten, lehrte ihn die Vögel nach dem Ruf, die Pflanzen und die Steine unterscheiden und wurde nicht müd, die zahllosen Fragen des aufgeweckten Kindes zu beantworten. Aber noch keinen Schritt hatte er seit seiner Rückkehr vor das Haus getan. Er schämte sich noch.

Und auch jetzt, als ihn Eva zu einem Spaziergang aufforderte, wollte er nichts davon wissen. Sie aber ließ nicht mehr locker, bat und drang in ihn und endlich gab er nach.

Zwischen den gartenumhegten Villen gingen sie, in stillen Gassen, die wie breite Alleen waren, von Bäumen flankiert und mit gelbem Kies bestreut. Und nur wenig Menschen waren zu sehen. Eva hängte sich fest an seinen Arm, war heiter, froh und herzlich und lachte und freute sich. Da vergaß er alles andere und fühlte nur ihre sonnige Nähe, blickte in ihre klaren Augen, die unter langen Wimpern hell und blank in die blanke und helle Welt hineinlachten und er wurde sicherer, ging aufrechter dahin und wenn ein Spaziergänger sie schärfer ansah, stehenblieb und ihnen nachschaute, empfand er nicht Unbehagen oder Befangenheit, sondern war stolz und freute sich über seine blühend junge schöne Frau.

Eine sachte Lehne hinauf gingen sie, bis die Häuser den Weinpflanzungen Platz machten und weiter oben eine freie Schau ins Land hinein sich auftat.

Unten lag die große, turm- und giebelreiche Stadt, ein dunkler Wall von schönen laubwaldumwachsenen Bergen mit weißen Schlössern und bewimpelten Warten und Aussichtstürmen schloß den Horizont ein und hoch und still weitete sich der Herbsthimmel darüber. Im Westen ging die Sonne schlafen, von Gipfel zu Gipfel den Gebirgskamm entlang lief ein zackiges Feuerband, und rings um das Himmelsrund, je weiter von der goldenen Lohe im Westen, je tiefer und satter, wogten und wehten und schwebten zarte, durchsichtige Schleier, purpurn und blau und violett, sanken von den Höhen ins Tal, breiteten sich aus und hüllten gleitend, wogend, weich und duftig die Türme, die Giebel und Dächer alle ein.

Eine lange Weile standen Fritz und Eva Schulter an Schulter und schauten stumm zu, wie die Sonne in Licht und farbenfroher Schönheit ertrank. Der runde Rücken des Hügels war fast baumlos. Lediglich vor einem zierlichen Kapellchen waren ein paar junge Linden im Halbkreis eingepflanzt und daneben war ein Friedhof mit blumigen Gräbern, schlichten schwarzen und weißen Steinen, Kreuzen und dürftigen dunklen Zypreßchen.

Sie öffneten die Lattentür, traten ein und gingen zwischen den Gräberreihen hin. Einsam war es hier und still und gar nicht traurig. Die Höhenluft spielte mit den welken Kränzen, wehte um die grünen Gräser, um die nickenden Blütenköpfchen und um die prunklosen Male auf den reinlichen Totenstätten. Und wo ein Kindergrab war, dort kniete ein gipserner Engel in einem sauber angestrichenen Gitterchen und betete. Und die blauen Berge winkten und grüßten noch von fern und die Lichter der Stadt leuchteten durch die duftigen Abendschleier gedämpft herauf, einzeln oder, wo ein Straßenzug ging, in feurigen Ketten. Traulich war das alles und anheimelnd, und Eva sagte versonnen:

„Hier möcht’ ich auch einmal liegen, du. Es ist so lieb hier.“

„Sprich nicht vom Sterben!“ bat Fritz.

„Warum?“ fragte sie und schaute ihn aus lebensfrohen Augen an. „Leben wir denn länger, wenn wir davon schweigen? Oder sind wir glücklicher? Ich glaube doch nicht, Fritz. Mir wenigstens, mir ist immer, als müßt’ ich mich schnell noch doppelt freuen über die Gegenwart, wenn ich denke, daß alles einmal vorübergeht. Und viel tiefer und stärker freue ich mich dann über das bißchen Glück, das wir haben. Und das haben wir, gelt, du?“

Sie schmiegte sich ganz dicht an ihn, legte die Wange auf seinen Arm.

„O — du!“ antwortete er und seine Stimme war rauh und brüchig. „Ob wir das haben! Unsere Stuben sind ja berstvoll davon — und alles durch dich! Alles, was darin schön und warm und hell ist, hast du hineingetragen und bereitet mit deinen Händen. Und was darin häßlich und kalt und dunkel ist — durch meine Schuld ist es dazugekommen. Drum sprich nicht vom Sterben! Ich mag nicht dran denken, du! Ich mag nicht denken, wie wenig Zeit mir noch bleibt, um — dir’s zu danken und dir’s zu lohnen — und abzuzahlen — und zu vergelten, so gut ich’s kann. — Ev, du Liebe, Gute, Gütige!“

Ein Schluchzen erstickte seine Worte. Noch nie hatte er so leidenschaftlich zu ihr gesprochen, ihr so ganz unverhüllt und rückhaltlos sein Innerstes offenbart. Ein seltenes, schweres Glücksempfinden flutete wie eine heiße Welle über die Frau und ließ sie zu tiefst erschauern.

Sie schwiegen. Lange, lange. Die Grabmale ragten ruhig in die halbhelle Dämmerung, schwarze Schatten stiegen über die Hügel. Ein Stern flammte auf und noch einer und wieder einer und lautlos schwebte die Nacht zu Tal. Und der Himmel wölbte sich hoch über ihren Häuptern und baute sich seltsam durchsichtig in einem ganz satten, ganz dunklen Blau über alle die funkelnden Sterne hinaus höher und höher in die weite, leuchtende Unendlichkeit empor.

5.

Jetzt ließ sich auch Doktor Kolben wieder öfter blicken, der sich in der letzten Zeit ganz zurückgezogen hatte, um das Heilung bringende Walten Evas nicht zu stören. Die Septembertage waren mild und klar und sonnig, in den Nächten stand der Vollmond am Himmel, so daß es auf der Erde gar nicht mehr finster wurde und Licht mit Licht, Goldglanz mit Silberschimmer lautlos wechselte. Da nahmen Hellwig und Kolben ihre Mondscheinpartien wieder auf. Vor Jahren, damals, als Fritz noch als blutjunger Mitarbeiter bei den Freien Blättern saß, hatten sie solche Wanderungen öfter unternommen, und regelmäßig war auch Heinz mit dabei gewesen.

Diesmal fuhren sie in die Eisenerzer Alpen. Spät nachts kamen sie in Kallwang an und machten sich ungesäumt auf den Marsch. In Nagelschuhen und Lodenflaus, die Rucksäcke auf den Rücken, schritten sie wacker aus. Erst war es noch dunkel und nur die Sterne leuchteten über ihrem Weg. Aber dann ging rund und voll der Mond auf und schüttete sein Silber auf die Erde. Die tief eingefalteten Täler füllte er und den endlosen Luftraum, und vor dem hellen Himmel standen dunkel und riesengroß und silberüberrieselt die gewaltigen Mauern des Hochgebirges. Jeder Gipfel war scharf umrissen, und doch waren alle Linien weich und seltsam fließend. Jeder Kamm war rein geprägt und war doch schattenhaft und unbestimmt verschwimmend. Jeder Gebirgsstock ragte klar und fest mit dem Boden verwachsen aus dem silbernen Tal in den silbernen Himmel, und doch schien das alles, in diesem Licht, das so ruhig leuchtete und dennoch immerwährend flimmerte und flutete und mit winzigen Wellchen ineinanderspielte, schien das alles, die wurzelfesten Berge, die mächtigen Kuppen und starr aufragenden Zinken, flaumenleicht und schwebend, nur kaum wie mit ganz feinem Pinsel auf den zart silbernen Himmel hingestrichen. Und das war das Seltsamste: daß die Wucht und kolossale Größe des Gebirges nah und greifbar dastand und doch nicht fühlbar und nicht drückend wurde.

Schweigend schritten sie dahin. Über ebene Wiesenflächen schritten sie, und die Gräser rauschten unter ihrem Tritt und schimmerten und flimmerten, eins im bläulichen Schatten des anderen. Und durch mächtige Tannenwälder schritten sie, die still und undurchdringlich finster waren gleich lichtlosen Kirchenhallen, und nur hoch oben, über dem schwarzen Gitter der Nadelkronen, lag der Mondglanz wie ein durchbrochenes Spitzengewebe.

Schweigend schritten sie vorwärts. Etwas tief Beruhigendes war in dieser Wanderung durch Glanz und Stille, etwas, was alle Leidenschaften einwiegte, alle Wünsche schweigen, alle Erdenmühe vergessen ließ, und auf lautlosen Schwingen hob sich die frei und leicht gewordene Seele und gleitend flog sie, flog schwebend in den unendlichen Frieden hinein, der alle Berge und Täler, alle Höhen und Tiefen durchtränkte.

Schweigend schritten sie aufwärts. Und als sie den Wald hinter sich hatten, ins Krummholz kamen und auf weiche Alpenmatten, da hatte der sanfte Mondglanz schon dem härteren Licht des Morgens weichen müssen. Und als sie den Kamm erstiegen, da brodelten tief unten schon und brandeten die grauen Morgennebel, alle Täler füllend, wie ungebärdige Ströme gegen die ruhige Kraft der Berge an. Und dann sprang die Sonne rein und rund, ein junger Held in goldig flammender Rüstung, auf den Burgwall und schleuderte die Feuerspeere ungestüm fernhin gegen die weißen Hünen im Gesäuse, die gelassen ihre ungeheueren Schilde entgegen hielten, gegen die funkelnden Panzer das Dachsteins, des Glockners, der trotzig unbewegten Riesen — und es war wie der heiße Ansturm des vergänglichen Lebens, das seine überschäumende Kraft auszutoben begehrt an dem unverrückbaren, sicheren, ewigen Sein.

Noch immer schwiegen die beiden Wanderer, schritten den felsigen Kamm entlang zum Gipfel. Neuschnee lag hier oben, weich und unberührt, eine duftige Decke, mit den tiefroten Sternen der Nelken, mit gelben und blauen Alpenblumen leuchtend durchweht. Und zwischen dem Felsgetrümmer blühte das Edelweiß.

Nun waren sie auf dem Gipfel, breiteten die Mäntel aus und hielten Rast. Die Rucksäcke wurden ausgepackt, der sturmsichere Weingeistkocher angezündet, der Tee bereitet. Ein harscher Höhenwind strich über den Kamm, machte die Wangen rot, und die Lungen atmeten tief auf in dieser reinen Frische. Ganz still war es. Die Morgennebel waren verflogen, der Übermut der jungen Sonne war verbraust. Klar und ruhig schien sie von einem blauen Himmel herab auf die gewaltige Bergwelt mit ihren schroffen Zacken und jähen Abstürzen, ihren breiten Gipfeln und schmalen Tälern, und tief unten zwischen dunklem Tannengrün und hellen Wiesen duckten sich winzige Häuschen und Kirchlein und Menschensiedelungen, duckten sich und ruhten an der Brust der Berge sicher und gut wie Vögel im Nest.

Noch immer schwiegen die zwei oben auf der freien Höhe und ließen die Gedanken ausklingen, die während des Aufstiegs, während der mannigfaltigen Übergänge von der dunkelsten Nacht bis zum strahlenden Tag in ihnen wach geworden. Es war wohl bei beiden dasselbe gewesen. An die Not des Lebens hatten sie gedacht und an die herben Enttäuschungen, die keinem von ihnen erspart geblieben. Durch Leid und Verzweiflung waren sie beide gegangen, der eine, als er der geliebten Frau entsagen mußte um des Freundes willen, der andere, als ihm ein Ideal um das andere, ein schöner Traum nach dem anderen zerstob und entschwand. Und doch war jetzt Ruhe in ihnen, eine sanfte, innige Ruhe wie Mondlicht über Trümmern.

Kolben brach endlich das Schweigen.

„Hier ist Friede!“ sagte er und schaute immerzu in das lachende Tal zu seinen Füßen.

Fritz lachte. Traurig und bitter lachte er.

„Ja — hier oben — ein paar tausend Meter weit von allen Menschen — da ist Friede! Und Ruhe — und Sicherheit. — Aber schon dort unten, in den elenden Hütten — so friedlich schauen sie aus, so idyllisch und poetisch — schon dort unten ... weißt du, wie viele Kinder dort schon mißhandelt, — wie viele Tiere nutzlos gequält wurden und täglich werden? Wie viel Elend und Schande und Leid diese Strohdächer zudecken, diese — Menschenstätten? Hier ist Friede! Aber wo Menschen sind, da ist Blut und Schmach und Kampf und Unzufriedenheit.“

Und nun brach auf einmal alles aus ihm vor, was wochenlang auf seiner Seele gewuchtet hatte.

„Aber woher nur? Woher diese ewige Unzufriedenheit? Die Frage läßt mich nicht los! Und ich finde keine Antwort! Das Tier ist zufrieden, die Herde folgt noch heute willig dem Leitstier, die Wölfe rennen im Rudel wie vor tausend Jahren. Nur wir Menschen ändern immer wieder unsere Ordnung. Damit die Republik an die Stelle der Monarchie treten kann, müssen Tausende verbluten. Und kaum haben die Überlebenden gelernt ‚Hoch die Republik!‘ zu schreien, müssen abermals Tausende sterben, die nicht so schnell wie die anderen ihre Kehlen umstimmen können auf den neuen Ruf: ‚Es lebe der Kaiser!‘ — Und wieder zurück, wieder vorwärts, ein steter Wechsel, eine Sehnsucht, so brennend heiß, daß sie manchmal mit Blut gelöscht werden muß! Warum nur? Warum?“

Kolben brach eine purpurne Nelke aus dem weißen Schnee und betrachtete sie aufmerksam: die Blütenblätter, die wie frierend zusammengerollt waren und das Stengelchen, an dem ein ganz dünnes Eisfähnchen glitzerte. Denn in der Sonne war der Schnee geschmolzen, aber der kalte Höhenwind hatte das Wasser sogleich wieder gefrieren lassen. Von allen Seiten betrachtete das der Doktor ganz genau und sagte dabei:

„Warum, Fritz? Weil wir — das Denken gelernt haben. Das Leben — das hat die Natur in den ungeheueren Kreislauf hineingeworfen, gedankenlos und zwecklos hat sie es geschaffen. Wie es sich weiter entwickelt, darnach fragt sie nicht. Aber das Leben hat sich weiter entwickelt und wir — haben uns im Daseinskampf als stärkste Waffe das Denken geschmiedet. Die Natur denkt nicht, wir, ihre Kinder, denken, forschen nach Ursache, Plan und Ziel, werfen unsere bangen Fragen an die Tore der Ewigkeit. Und nichts tönt zurück, nichts kann zurücktönen — als Schweigen. Unseres Daseins uns bewußt, sind wir vom Unbewußten wie von Mauern eingeschlossen und können nicht heraus. Seit wir zu denken angefangen haben, sind wir über unsere Mutter hinausgewachsen. Wie können wir da jemals zufrieden sein?“

Hellwig stöhnte dumpf auf. „Dieses Sich-bescheiden, diese Resignation — ich kann mich nicht damit abfinden ...“

„Du wirst schon müssen, Fritz. Vielleicht — schau’, nimm’s einmal so: Die Entwicklung steht nicht still. Darum wird die Menge immer Rohstoff bleiben und niemals reif werden. Im Bilde: Sie ist ein ungeheuerer Klumpen Ton. Und die einzelnen wenigen, die Erlöser, Dichter, Denker, die in der Entwicklung Vorausgelaufenen, die ‚mit den neuen Wahrheiten‘, die Herrenmenschen, was weiß ich, die alle kneten an dem ungeheueren Klumpen herum. Der eine da, der andere dort, aber ihn ganz bewältigen und zu einem Bildwerk zusammenfassen, das ist keiner imstand. Weil der Ton zu weich ist. Und eh’ er erstarrt, ist schon ein neuer Bildner da und ändert die Nase, die Ohren, die Beine. Manchmal patzt er auch, das tut nichts, ein anderer macht’s schon wieder besser.

Rohstoff ist die Menge, Fritz, und bleibt Rohstoff. Bildungsfähig ist sie und wird doch niemals Bildung haben. Entwicklungsfähig ist sie und wird doch niemals entwickelt sein. Oder: sie braucht immer ihren Beglücker und wird doch nie beglückt sein. Oder zufrieden, was dasselbe ist. Drum laß das gehn!“ — Und jetzt wurde Kolben sehr herzlich. — „Sieh lieber zu, daß dein Junge nicht in der breiigen Masse versinkt. Wenn du’s zuwege bringst, daß er ein Bildner wird, ein vollwertiger ganzer Kerl, ein Kneter, kein Gekneteter — kurz und gut, wenn du der Menschheit einen einzigen tüchtigen Mann heranziehst, dann hast du für sie mehr getan, als wenn du zehntausend — halb glücklich machst. Denn zehntausend Halbheiten sind noch immer kein Ganzes!“

So sprach Doktor Kolben, der stille, versonnene Mensch, während er unablässig die purpurne Blüte mit dem glitzernden Eisfähnchen zwischen den Fingern drehte. Der täppische Bergwind riß ihm die Worte von den Lippen, aber sie erreichten doch ihr Ziel, ein geneigtes Menschenohr, ein empfängliches Menschenherz, wo sie Wurzel fassen und zum Blühen kommen durften.

Und die Sonne lag funkelnd auf dem blendend weißen Schnee und die Täler waren grün und leuchteten grüßend herauf und die Bergriesen standen sicher und trotzig im Kreis und bewachten den Frieden, der mit weit gedehnten Schwingen über allen Dingen schwebte.

6.

Als sie heimkehrten, Edelweiß auf den Hüten, die Kleider schwer vom Duft der Alpenmatten, da waren Reinholt und Pfannschmidt und der alte Bogner mit seinem Schwiegersohn zu Hellwig gekommen.

„Endlich!“ rief Reinholt und ging auf ihn zu und umarmte ihn. „Endlich seh’ ich dich wieder! Wie konntest du ohne Abschied davonlaufen und nichts mehr von dir hören lassen?“

„Leo!“ sagte Fritz dumpf. „Nein — du mußt mir noch Zeit lassen, Leo!“

„Was hast du? Ich versteh’ dich nicht?“

Da schrie er gequält auf: „Habt Geduld mit mir! Ich kann euch noch nicht Rede stehen!“

„Fritz, — laß doch Vergangenes vergangen sein!“

„Ich — hab’ euch ärmer gemacht, als ihr gewesen seid, bevor ihr mich gekannt habt! Ich hab’ euch viel versprochen und nichts hab’ ich gehalten! Und kann euch nicht einmal Ersatz bieten — ich bin ja selber bettelarm dabei geworden!“

„Also das quält dich?“ entgegnete Reinholt. „Na weißt du, so überflüssig ist nicht bald was! Wen hast du ärmer gemacht? Die zu uns gehalten, denen geht’s heut’ noch gut — die anderen liegen, wie sie sich selbst gebettet haben. Die Spekulation ist mißglückt, ein paar Gulden sind beim Teufel — das ist alles und das ist schon längst verschmerzt. Geh, Fritz, brau’ dir nur um Himmelswillen nicht so närrisches Zeug zusammen!“

„So zürnst du mir denn nicht?“

Reinholt lachte so laut und herzhaft, daß Hellwig, ob er wollte oder nicht, von der Grundlosigkeit seiner selbstquälerischen Vorwürfe überzeugt sein mußte.

„Meister! Mein guter Meister!“ rief jetzt der alte Kesselwärter und kam schüchtern näher.

Nun flog doch wieder etwas wie ein Lächeln über Hellwigs Gesicht: „Was macht mein lieber Bogner?“

Die harte Greisenhand strich zärtlich über seinen Rock.

„Jetzt geht’s schon wieder, Meister. Weil ich Sie nur gesund wiederseh’. Im Anfang freilich ...“ — und nun ballte er die Faust — „Die verdammten Kerle! Gott hab’ sie selig, aber wenn sie nicht schon der Teufel geholt hätte, ich selber müßt’ ihnen was antun ...“

„Ihr seid ja ein ganz blutgieriger Kumpan!“ meinte Kolben lächelnd. Und der Alte darauf: „Ja, Herr, Sie sind eben nicht dabei gewesen. Wie das so gekommen ist, so auf einmal mitten in den tiefen Frieden hinein wie ein Hagelwetter, — man kann kaum ein Vaterunser beten, ist schon alles hin ... Der alte Schädel kann’s wirklich nicht aufnehmen ...“ Und wieder in flackerndem Zorn, mit geballter Faust: „Der Hund, der Karus!“

„Wie ist’s mit ihm gewesen?“ wandte sich da Fritz rasch an Pfannschmidt.

„Ich hab’s nicht gesehen,“ erwiderte dieser, „weil mir der Hieb zu schaffen gemacht hat. Aber wie sie erzählen, — er muß rein den Tod gesucht haben.“

„Ja, Meister!“ fiel ihm nun Adam Pichler ins Wort. „So was glaubt niemand, der’s nicht mit angeschaut hat. Wie die Schießerei losgehen soll, steht da nicht der Mensch oben auf dem Steinhaufen mit der Hacke in der Hand? Und wie sie sich schußfertig machen, springt er, Meister, er springt, so wahr ich leb’, mitten unter die Soldaten. Stücker drei, vier schlägt er, daß sie wie Bullen umfallen, dann haben sie ihn fest. Er aber reißt einem das Bajonett heraus — ‚Lebendig nicht!‘ schreit er und ‚Mordbuben!‘ und so was wie ‚Heinz!‘ und hat sich auch schon ins Herz gestochen.“

„Er wollte nicht mehr leben ohne Heinz ...“ murmelte Fritz verstört.

Ganz still war es nach diesen Worten. Die Abendsonne fiel schräg durchs Fenster und wob um alle einen warmen goldenen Schein. Wie eine Botschaft des Friedens war das, und alle Herzen pochten ruhiger.

„Fritz, wir kommen eigentlich mit einer Bitte ...“ sagte Reinholt nach einer Weile.

„Was könntet ihr von mir noch wollen!“

„Hör’ zu!“ antwortete der Fabrikant und mühte sich wieder einmal möglichst leichthin und geschäftsmäßig zu sprechen: „Hör’ zu: Die Spekulation ist also nicht geglückt, und ich bin es müde, hier was Neues anzufangen. Wir wandern aus. In die deutschen Kolonien, irgendwohin, wo’s noch unbebautes, ganz jungfräuliches Land gibt. Dort nehmen wir den Pflug in die Hand und werden Bauern. Nicht um Gewinn, wieder nur für uns wollen wir arbeiten. Komm mit!“

Und auch die andern baten: „Meister, kommen Sie mit!“

Kolben war rasch zu Eva getreten. Fritz bemerkte es. „Hab’ keine Angst, Albert!“ sagte er. „Ich geh’ nach Neuberg!“ Und zu Reinholt gewendet: „Nein, Leo, ich bleib’ im Land. Wenn unsere Ideen in der Entwicklung begründet sind, so setzen sie sich durch — auch ohne uns. Wenn nicht, so rollt die Zeit darüber weg, und wenn wir uns noch so dagegenstemmen. Das ist mir so klar geworden seither, daß ich das Frühere nicht mehr verstehe. Und dann, Leo — ich hab’ einen Buben. — Und was ich meiner Frau angetan hab’, das muß doch auch gutgemacht werden.“

Da trat Doktor Kolben schnell auf Reinholt zu: „Ich halte mit, wenn’s Ihnen recht ist!“

„Albert!“ rief Fritz erschrocken. Und Eva haschte die Hand des Freundes: „Doktor, Sie dürfen nicht von uns!“

Der treue Mensch schüttelte langsam den Kopf. Jetzt, da Eva ganz sicher geborgen war und ihm für sie nichts mehr zu sorgen blieb, wollte das alte Leiden wieder aufwachen, und bei Hellwigs letzten Worten hatte er erschrocken etwas sich regen gefühlt, das fast wie Neid war, Neid gegen den Freund und sein Glück.

Aber gelassen wie immer sagte er: „Was ist denn da weiter dabei? Nach Neuberg ging’ ich so nicht mit, und ob dann hundert oder tausend Meilen zwischen uns sind, das kommt schon auf eins heraus. Drum laßt mich nur getrost fort. Aus der Welt geh’ ich ja nicht und dann — vielleicht können mich diese da jetzt — besser brauchen.“

Ende.

Im gleichen Verlage erschienen die folgenden Werke von

Rudolf Haas:

Michel Blank und seine Liesel.

Roman. 25. Tausend.

Einbandzeichnung von Oswald Weise.

Matthias Triebl.

Die Geschichte eines verbummelten Studenten.

36. Tausend.

Triebl der Wanderer.

Roman. 30. Tausend.

Verirrte Liebe.

Erzählungen. 14. Tausend.

Einbandzeichnung von Friedrich Felger.

Der Schelm von Neuberg.

Lustspiel in 4 Akten.

Die wilden Goldschweine.

Roman. 1.-15. Tausend.

Einbandzeichnung von Max Both.

(Erscheint im Herbst 1920.)

Dieser Roman bildet die Vorgeschichte zu „Michel Blank und seine Liesel“.

Vornehm im besten Sinne ist der Erzähler Rudolf Haas, der tief in die lichte Menschenseele blicken läßt und der Gedichte ausrauschen läßt von hinreißendem Schwung, aber stolz ausweicht, wo eine grelle Effektszene anzubringen wäre, oder breite Sentimentalität .. Ein Lobpreiser des Lebens!

(Friedrich Adler i. d. „Bohémia“, Prag.)