The Project Gutenberg eBook of Blaubart und Miss Ilsebill

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Title: Blaubart und Miss Ilsebill

Author: Alfred Döblin

Illustrator: Carl Rabus

Release date: September 26, 2020 [eBook #63301]

Language: German

Credits: Produced by Jens Sadowski

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK BLAUBART UND MISS ILSEBILL ***

Alfred Döblin

Blaubart und Miß Ilsebill

Mit Steinzeichnungen
von
Carl Rabus

Berlin 1923
Hans Heinrich Tillgner Verlag

Copyright 1923 by Hans Heinrich Tillgner Verlag in Berlin.

Inhalt

Das verwerfliche Schwein
Die Nachtwandlerin
Der Ritter Blaubart
Die Segelfahrt

Das verwerfliche Schwein


Das verwerfliche Schwein

Hubert Feuchtedengel, — Neuromanist und die zweiundvierzigtausend Mark seiner Erbschaft verfressend, aussaufend, drauf vier Jahre verheiratet, bis ihn seine Frau verstößt, weil er nur wöchentlich einmal anschwimmt zum Verschnarchen, Verschnaufen und zu einem Reinigungsbad, dann Mediziner auf Pump und Stipendien sechzehn lange Semester, bis das goldene Staatsexamen reift, achtunddreißig Jahr und nicht wenige Monate alt, — bringt es so weit, daß er Medizinalpraktikant in einem lothringischen Bezirkskrankenhäuschen wird. Inzwischen hat sich bei ihm ein exquisiter Fimmel etabliert.

Er sieht am grauen Morgen einen Bandwurm klar vor seinen geistigen Augen, mit unzähligen regsamen, windenden Gliedern, eierlegend, eierstreuend, eierregnend; in einem Bad kleiner tropfenartiger Eier bewegt sich das Vieh stolz, zieht hin. Dann erhebt sich der Beobachter vom Bett, steigt gedankenvoll zu einem Romanisten aufs Zimmer; sprechen braucht er nicht; der andere weiß schon: der Bandwurm ist da. Als keiner gefunden wird von einem älteren Zechgenossen, verschwindet Hubert nach Greifswald, erscheint nach Jahren wieder in Süddeutschland als selbstdenkender Mediziner. Jetzt weiß er: er hat keinen Bandwurm; was man vor Augen sieht am frühen Morgen, ist kein Bandwurm sondern Blutandrang. Und im lothringischen Hospital gelangt er zu der abschließenden wissenschaftlichen Überzeugung, daß es sich bei ihm um Sepsis, um Blutvergiftung handelt, beschränkt auf den Kopf; zweifellos um einen Fimmel, aber auf Sepsis beruhend.

Sein Assistenzarzt heißt Werner Strick. Das ist ein Gewaltmensch. Feuchtedengel imponiert ihm nicht, aber sie sind Duzbrüder. Neben dem rotgesichtigen hochwüchsigen Strick, der bei der Visite mit Sporen steigt, die zutrauliche gutmütige beleibte Gestalt seines Medizinalpraktikanten, Krankenjournale vor der kurzen Stülpnase, drüber her auf die Betten glotzend, dampfend vor Eifer.

Nach zwei Monaten konsultiert im schwarzen Gehrock nachmittags ein halb fünf Uhr vor der Stationsvisite Feuchtedengel seinen Chef wegen Hirnsepsis. Erklärt sofort, zahlen zu wollen, will wie ein gewöhnlicher Patient behandelt werden. Strick zieht sich die Stiefel an, wobei ihm sein Patient hilft, nimmt den erregten Besucher unter den Arm, setzt ihn im weißgestrichenen Untersuchungszimmer auf einen Eisenstuhl. „Zunge heraus!“ „Aufstehen, Fußspitzen zusammen, Augen zu!“ „Augen zu!“ „Romberg negativ.“ Zieht die schweren braunen Vorhänge zu, steckt hinter Feuchtedengels Rücken die Küchenlampe an, spiegelt seine Augen. Nichts zu finden. „Schlaf dich aus, Kerl. Geh nach Hause, Kerl!“

Nach drei Wochen schwimmt Hubert wieder an im schwarzen bauchumspannenden Gehrock. Sein Chef schmeißt ihm zwei Sporenstiefel vor die Beine. Hubert knaut, ist gedrückt, stellt die Stiefel auf, bleibt demütig an der Tür. Die Krücke des Spazierstockes fliegt gegen ihn. Drei Tage ist er Luft für seinen Herrn.

Schneevoller Winter. Silvesternacht. Sie versöhnen sich im jubelnden Bahnhofslokal. Frühmorgens fünf ziehen sie aufrecht aus der Wirtschaft die Neubrückenstraße herunter durch die Kapellenstraße. Feuchtedengel kann seine Überzeugung nicht zurückhalten. Also die Medizin, sagt er, entwickelt sich, aber schwach; es gibt eine umschriebene lokalisierte Sepsis; man kann sie haben, man kann sie lange Zeit haben. Werner Strick hat seinen Paletot im Bahnhof liegen lassen, geht in einer Flauschjacke, trägt die Reitpeitsche. Er schickt den Schwaben nach der Bahn; als er den Paletot hat, der Dicke ihn wieder demütig angafft, gerät er in Stinkwut über Hubert Feuchtedengel, seinen Medizinalpraktikanten. Haut ihm den steifen Hut ein, spuckt auf das schwarze Brückengeländer, schimpft vor sich. Wie sie weiter marschieren, flucht Strick. Er habe genug von der Sache. Beißt auf seine Zigarre: „Du Schwein. Du verwerfliches Schwein. Du bist ja ein ganz verwerfliches Schwein. Jetzt aber, jetzt sollst du was sehen. Jetzt kommst du mit. Jetzt hast du deine Sepsis und wirst behandelt. Verstehst du, Kerl?“

Feuchtedengel ist einverstanden, seine Augen tränen vor Entzücken, er ist vor Rührung nicht imstande, den Hut auszubeulen. „Kerl,“ flucht Strick weiter, kaut an seinem kalten Stengel, „Kerl, Kerl, dich werden wir kriegen.“ Klirrt mit den Sporen, stubbst am Kino den Plakatständer um.

Im Doktorzimmer, mit der Linken Licht knipsend, schubbst der Assistenzarzt den Barhäuptigen gegen die Chaiselongue, streift sich die Ärmel auf. Der Dicke unsicher: „Ziehst du nicht den Mantel aus? Wollen wir die Schwester wecken?“

„Nun legst dich hin und hälst die Goschen, Luder damisches.“ Strick raucht krampfhaft, schluckt, sucht im Arzneischrank.

„Kriegst eins reingefuhrwerkt,“ giftet er seinen Schüler an, „daß du platzst. Kollargol, für deine kreuzdämliche Sepsis. Wieviel willst du denn?“

„Fünf Gramm,“ lächelte der glückliche Hubert; beschaut schmunzelnd seine geschwollenen Armvenen.

„Nimm den Arm runter, ist noch nicht so weit. Fünf Gramm kannst ins Gesicht kriegen von mir. Fünfzehn krieste. Zwanzig, wenn du nicht ’s Maul gleich zumachst. Spuck dir rein, du verwerfliches Subjekt.“

Werner Strick vom Schrank weg, bürstet, wäscht sich im Paletot in den mächtigen Operationsschüsseln. Sein schwarzer Hut schwankt bei der wuchtigen Tätigkeit. Geheimnisvoll von hinten Feuchtedengel, aus himmelnden Äuglein zu seinem Chef: „Fünfundzwanzig Gramm. Ich vertrag es. Ehrenwort. Viel muß man bei mir geben. Über die Maximaldose.“

Verächtlich schweigt der Chef. Das Sublimat spritzt, über die Schüssel hinweg springt der Hut. Der Schwabe rückt an, will gebückt unten den Hut fassen, kriegt von der Seite einen Tritt in die Weiche.

Massig steht mit der großen Zwanziggrammspritze aus Glas der qualmende Mensch vor dem rotbäckigen Medizinalpraktikanten, der auf dem Untersuchungsstuhl sitzt, den linken bloßen Arm, mit Gummi abgeschnürt, triumphierend hinstreckend. Hubert bebt vor Freude, läßt sich nichts merken. Dreht den Kopf von Strick ab gegen die Wand. „Das schöne Bild“, schwabbelt er schämig, „in der Klosterküche. The monastery kitchen, cuisine de monastère. Soviel Mönche und bloß ein Kalb.“

Von oben faucht Werner: „Schwein, wieviel willste haben?“

„Fünfundzwanzig,“ stöhnt Hubert, kann es sich nicht versagen, bettelnd den Arm des andern zu berühren.

Spießt sich die Kanüle in die strotzende Vene, der Stempel der Spritze sinkt, die dicke schwärzlichbraune Flüssigkeit vermindert sich.

Hubert, eisern den Unterarm auf die Lehne drückend, knurrt, brüllt, schreit von innen heraus, gräbt seine Stimme aus der Tiefe der Brust, windet Gesäß, Rumpf, Schultern auf dem Stuhl, zieht das Gesicht lang, reißt die Lider hoch, die Stirn voller Querfalten. Der Arm ist ein Tier, das sich in ihn verbissen hat; er will weg davon. Keucht: „Mehr, mehr, Werner, gib nicht nach, laß nicht nach.“ Seine Füße treten mit den Spitzen den Boden.

„Fünfzehn, du hältst das Maul, achtzehn, neunzehn, kommst nicht weg, Junge, zwanzig, noch lange nicht, zweiundzwanzig; jawohl, vierundzwanzig. Da wären wir.“

Dreht ihm den Rücken; bläst, geht an die Wasserleitung. Ein Trampeln hinter ihm beginnt.

Hohes, tönendes Luftziehen, Sekunden Stille, dumpfes Krachen, Hinklatschen, Poltern, Bersten, Splittern, Stille. Stille.

Über den weißen Steinfliesen schwarz und ungefüg das quadratisch geschwollene, baumlange Untier, der Dickwanst, bäuchlings hingestreckt, die Stuhllehne zerquetscht unter der Brust, ein Stuhlbein von unten aufragend zwischen den Knien wie ein schräger Fahnenmast.

„Der Lump!“ triumphierend Strick am Wasser, schlägt sich den Schenkel mit der nassen Handfläche, „fünfundzwanzig Gramm! Hab’ ich gesagt! Dreißig! Warum nicht vierzig! — Häh, verruchtes Subjekt. Hähä.“ Stampft näher: „Häh, die Zunge! Streck’ die Zunge raus, Kerl!“

Der bewegt sich nicht.

Brüllend schüttelt Strick mit Lachsalven den Körper: „Die Zunge raus. Biste tot, dann biste tot.“ Zieht sich den Paletot aus. Der Körper bewegt die Finger; die Knie krümmen sich, das Stuhlbein wackelt leicht. Strick zieht sich wieder den Paletot an, schüttet die Sublimatschüssel aus, schleudert Wassermassen aus zwei vollen Schüsseln gegen den Hinterkopf des Körpers quer durch den Raum.

Das Stuhlbein bleibt stehen.

Der Wasserstrahl braust in den Behälter. Schüssel auf Schüssel wirft immer zorniger Strick über den Körper. Wutglühend schmeißt er Schüssel samt überschwappendem Wasser gegen die schwarze ungerührte Masse: „Da hast du den ganzen Salat. Das halbe Meer! Am besten, man buddelt dich gleich ein.“

Leitung abgestellt, Licht ausgedreht, Strick trampst türeschmetternd auf sein Zimmer.

Wie er sich das Nachthemd überziehen will, kommt es die Treppe schwer und langsam gegangen, stellt sich an seine Tür, klopft dumpf. Strick schnarcht im Halbschlaf: „Herein,“ legt sich zurück.

Über die Schwelle schlurrt aus dem dunklen Vorraum in das morgenlich graue Zimmer eine schräg nach hinten türmende, kopfsenkende, wassertriefende Gestalt; hinter ihr, sie am Rockkragen stützend, eine andere.

Stehen auf dem Bettvorleger, stumm.

„Werner,“ murmelt nach einer Weile die schiefe schwankende Masse.

„Herein,“ schnarcht der; reißt die Augen auf, weil ihn etwas Kaltes, Nasses anfaßt. Dann richtet er sich langsam in die Höhe.

„Wer ist denn das?“

„Werner,“ murmelt der vordere, „ich bin in den Fluß gefallen von der Brücke, ich konnte nicht gleich mitkommen. Du hast nicht gehört, wie ich dich rief.“

„Was bist du, Mensch?“

„Ich bin in den Fluß gefallen, wie ich deinen Paletot holte. Ich habe immer gerufen.“

„Dann gib mir meinen Paletot her, du Kerl; wo hast du ihn?“

„Ich hab’ ihn nicht.“

Strick ringt verzweifelt die Hände: „Na siehste! Bist du nicht versoffen, du elendes Geschöpf, hat dich das Kollargol nicht umgebracht, was soll ich mit dir machen?“ Überwältigt schreit er: „Raus, raus, septisches Vieh. Ich schlafe.“

„Werner, du sollst mir den Arm verbinden.“

„Wer ist denn das hinter dir?“

Traurig flüstert der Schwabe: „Das ist der Teufel!“

Entsetzt hält sich Strick den Kopf: „Was soll ich denn mit dem noch machen! Mitten in der Nacht!“

„Er hat mich rausgeholt aus dem Wasser, wie ich schon fast tot war. Du sollst mir den Arm verbinden.“

„Du bist ja schon tot. Hast du so wenig medizinische Kenntnisse?“

Hartnäckig flüstert Hubert — der Teufel stemmt ihn rückwärts —: „Du sollst mir den Arm verbinden; ein Fisch hat mich gebissen.“

Strick wühlt sich hilflos aus dem Bett, zieht sich Strümpfe und Hosen über, seufzt: „Komm.“

Verbindet ihn unten; kopfschüttelnd sieht er die beiden abziehen, droht hinter ihnen.

Bevor er zur Visite geht, am nächsten Nachmittag, schlurrt Feuchtedengel mit dem andern auf sein Zimmer, am hellen Tage.

„Wo kommst du her; du bist doch längst tot.“

„Ich bin wahrscheinlich tot; der Arm heilt aber nicht.“

Strick geht um die beiden herum; der Schwabe ist ganz trocken, seine Hosen, sein Mantel verschrumpfelt, erdig.

„Deine Sachen sind ja schon trocken; wo hältst du dich bei Tag auf, Mensch?“

„Im Freien. Wenn der andere keine Zeit hat, hängt er mich an einen Baum. Davon bin ich so rasch trocken geworden.“

„Das ist sehr praktisch. Aber warum holt er dich denn immer runter?“

„Mein Arm tut mir so weh. Du hast mir zuviel Kollargol eingespritzt, es ist mir eingefallen; nachher hast du mich in den Fluß geschmissen. Das gnade dir Gott. Aber ich bin schon wieder trocken.“

Breitbeinig stellt sich Strick vor den andern, schlägt sich mit der Reitpeitsche gegen die blanken Stiefelschäfte: „Jetzt rede ich gar nicht mit dir Sumpfhuhn. Jetzt rede ich mit dem andern. Mit dem da. Sagen Sie mal: Warum bringen Sie mir immer den Kerl her, was soll denn die ganze Trocknerei, warum verschwinden Sie nicht mit ihm von der Bildfläche?“

„Ich kann nich, Herr. Ich kann nich. Tut mir sehr, sehr leid. Wir haben kein Holz und haben keine Kohlen, mit die Hitze ist es aus bei uns. Ich kann jetzt keinen mehr so anbringen. Sie müssen alle erst getrocknet werden.“

„Was bringen Sie ihn aber immer zu mir, wo Sie doch sehen, was mit ihm los ist?“

„Ja, er will immer, Herr.“

„Herr Doktor heiße ich. Aber wenn er will, was ist dann?“

„Er läßt mir keine Ruhe, er hält soviel von Sie, Sie hätten seinen Bandwurm wegkuriert. Von morgens bis abends jault er immer nach Sie, von wegen dem Arm, jault und jault.“

„Ja, soll ich denn den Kerl noch behandeln, wenn er stinkt?“

„Das sag ick doch auch, Herr, Herr Doktor. Das predige ich ihm doch den janzen lieben Dag, Herr, Herr Doktor.“

„Zum Himmeldonnerwetter, dann reden Sie doch mal Fraktur mit ihm. Vergraben Sie ihn, schmeißen Sie ihn ins Feuer. Glauben Sie denn, ich habe meine Zeit gestohlen.“

„Ich will’s ihm noch mal sagen; er ist so tücksch, so störrisch, er läßt nicht ab.“

„Ich will; ich will. Das hätten Sie schon gestern tun sollen. Was sollen die Leute von mir denken, wenn ich mit so einem ungebügelten Subjekt umgehe; und dann immer zwei auf einmal. Wer wird sich von mir behandeln lassen bei dem Gestank.“

„Sag’ ich doch auch, verdirbt Ihnen das Geschäft. Ist mir peinlich, Herr. — Jetzt gehst du also deiner Wege, sonst setzt es was! Verstande wu? Vorwärts, hüh!“

Schüttelt den Feuchtedengel am Hals, daß dem in seinem pendelnden Schädel die Kiefern klappen.

„Mein Arm, mein Arm.“

„Hier gibt’s nüscht mit Arm. Nichts zu machen. Abfahrt. Volldampf.“ Strick hebt die Peitsche in der Faust hinter ihnen.

Auf der Treppe wimmert der Schwabe; oben donnert es durch die Tür: „Raus, sofort raus samt dem Deibel!“

Der beeilt sich, daß sie nur so davonpoltern.

Strick vom Mittagessen auf sein Zimmer, will Briefe schreiben. Vierfüßiges Getrapp auf der Treppe fängt an, an die Tür klopft es, einmal, zweimal. Strick denkt, ich antworte nicht. Sie klopfen weiter, stoßen mit den Füßen. Einer flüstert: „Er ist nicht zu Hause.“ Der andere wimmert: „Doch, er schläft. Klopfen Sie noch mal, ich kann nicht mehr.“

Die Tür wackelt von den Tritten, ein Likörglas fällt vom Vertikow. Einer winselt: „Sehen Sie, der trinkt Likör.“ Vorsichtig wird die Tür geöffnet. Strick liegt über dem Papier, tut als ob er schläft. Der Teufel läßt den rechten Arm sinken. Feuchtedengel nach vorn gestürzt, muß auf allen Vieren kriechen, die Brust hängt dicht über dem Boden, seine Arme baumeln, schleifen nach, die Handrücken wischen den Teppich; der Kopf geht hoch, um etwas zu sehen, schlägt mit der Stirn wieder auf.

Der andere tippt den Schlafenden leise ans Ohr. Dem ist die Galle ins Blut gestiegen.

Er richtet sich vor den beiden auf, puterrot, gequollenen Gesichts, mit funkelnden Augen: „Nu hab’ ich’s dick.“

Der Teufel läßt den Feuchtedengel auf den Boden plumpsen, stemmt sich die Fäuste in die Weichen: „Fangen Se ooch noch an mit mir?“

„Sie haben sich mit dem verstunkenen Kerl Ihrer Wege zu scheren. Sie haben —“

„Ich kann mit dem Kerl nicht fertig werden. Er läßt das Jaulen nicht sein und er läßt es nicht sein, es ist nicht anzuhören. Dann verbinden Sie ihn eben, und die Sache ist fertig.“

Strick rast im Zimmer: „Er stinkt ja schon, Menschenskind; er fault ja, wie Sie ihn da sehen, in seinen Kleidern.“

„Dafür kann ich nichts. Dafür bin ich nicht da. Dann gehen wir zu einem andern Doktor.“

Unten wühlt der mit dem Kopf: „Ich will nicht; ich geh zu keinem anderen Doktor.“

Strick brüllt: „Raus, raus mit euch Gesellschaft.“

Packt den Schwaben, der aufschreit, ihn bettelnd anblickt, unter dem Kinn, zerrt ihn in die Höhe. Der Teufel fällt ihm in den Arm: „Sie haben mir den Mann nicht anzurühren. Ich laß Ihnen den hier liegen und hol ihn nicht ab, bis Sie ihn verbinden. Und wehe, wenn Sie ihn mir kujonieren.“

Trottet zur Tür.

„Was soll ich mit dem Kerl hier?“

„Ich kann nicht den ganzen Tag mit dem verplempern. Will überhaupt nichts mehr von dem wissen. Er ist mir zuviel und ist mir zuviel. Der hat ja einen Fimmel. Sehen Sie, wie Sie mit ihm fertig werden.“

Greift nach der Türklinke. Strick zieht ihm die Hand von der Klinke.

„Was soll ich mit dem Kerl hier, Sie. Jetzt ist er doch tot, mehr kann ich doch mit ihm nicht machen.“

„Lieber Herr, ick jeh was essen.“

„Sie sind faul. Faul sind Sie.“

„Ist mir jleich, Herr. Ick jeh was essen.“

„Ich bin nicht Ihr Herr.“

„Ick bin nich Ihr Hans Fipps. Ich bin ein biederer Deibel, der seine Arbeit tut wie jeder andere. Hab auch nur zwee Arme und zwee Beene. Sie haben mir meinen Dienst nicht zu erschweren.“

„Sie wollen mir Vorschriften machen. Lernen Sie erst Benehmen.“

Da nimmt der andere die Hand von der Klinke: „Benehmen? Det laß ich mir nich gefallen. Det kann ich mir nich gefallen lassen. Det wär jelacht. Feuchtedengel, hilfste mit?“

„Ich kann nicht. Er soll mich verbinden.“

„Nun komm mal. Den kriegen wir.“

Packt den schlappen Schwaben am Mantel zwischen den Schulterblättern mit der linken Hand, rafft ihn hoch, zieht ihn vor sich wie ein Schild, fängt an auf Strick loszugehen. Der in tobender Wut schlägt ohne Waffen drauf los, dem keifenden, bettelnden, schluchzenden Feuchtedengel gegen die Stirn, zwischen die auseinanderklaffenden Zahnreihen, am Hals vorbei. Der andere versteckt sich. Der Medizinalpraktikant plärrt: „Du willst mein Beschützer sein?“ „Sei nicht feige,“ keucht der hinter ihm, „wir kriegen ihn schon.“

„Ich will ja nicht.“

„Wir kriegen ihn schon.“

Schwapp, hat der Medizinalpraktikant einen wuchtigen Stoß gegen die Schultern. Und wie sich der Teufel vorbeugt, um zu sehen, was da los ist, wettert ihm selbst ein Schlag gegen die Schläfe, daß ihm Nacht vor den Augen wird, der Rumpf zusammenklappt, die Knie einknicken und er im Umsinken nur noch die Kraft hat, Feuchtedengel über sich zu ziehen.

Strick steht lachend über den beiden. Er ist atemlos, öffnet alle Fenster, gießt sich Kognak ein. Als er sich auf das Sofa gesetzt hat, fragt er höhnisch herüber: „Es wird Frühling im Januar. Na, wie weit sind wir?“

Neben dem Dicken rappelt es sich hoch, der dicke Körper schwankt, schaukelt. Mühsam steht der Teufel hinter seinem Schild, stöhnt: „Wir — wir — wir sind so weit, meine Herren.“

Vom Sofa lacht es.

Der Teufel prustet: „Wir sind so weit, meine Herren.“

Stramm nähert sich Strick. Der Teufel flüstert dem Dicken ins Ohr: „Ick boxe jetzt mit dem linken Arm. Und paß mal auf, was ich dann mache.“

„Mit wem?“ winselt der mißtrauisch.

„Paß mal auf,“ zischt der andere verlogen.

Wieder schmettern die Hiebe auf Feuchtedengel, jetzt springt aber der Teufel mit ihm von Ecke zu Ecke.

Es kommt ihm vor, als ob er Kraft in den Beinen habe.

Plötzlich fühlt er sich aufgehoben; über einen Schemel fünf Schritt weit fliegt er auf den anstürmenden Feind. Der, angeprallt an Brust und Hals, zu Boden gewuchtet, taumelt rückwärts auf die Knie, tippt seitlich auf die Hände. Mit doppeltem Gekrach fallen sie hin. Im Nu hockt der Teufel über ihm, eins, zwei, drei, schlägt ihm die Faust gegen Schläfe und Augen.

Dann würgt er ihn ab, sitzt aufgeblasen wie ein Frosch über dem blauen Mann, wichtig beschäftigt, freut sich, wirft verliebte Blicke auf ihn, wie er immer weniger mit dem Mund schnappt, mit den Füßen zappelt, ganz ruhig ist. Immer wieder probiert er, ob der andere noch blauer werden kann.

Streichelt ihm herzlich vergnügt die Backen: „Nun bist du fertig.“ Sich selber streichelt er: „Ei, ei, das ist schön.“

Er geht gemächlich blasend im Zimmer herum, sieht sich die Bücher an, setzt sich, nachdem er sich geschnäuzt hat, an den Tisch, trinkt Kognak.

Die blanken Schaftstiefel Stricks glänzen herüber.

„Zu meinen Lebzeiten war ich Pferdeknecht. Ist lange her. Will auch mal Reitstiefel mit Sporen haben wie ein Herr, und eine Reitpeitsche dazu.“

Setzt sein Gläschen hin, zieht dem Assistenzarzt die Stiefel rechts ab, links ab, steigt selber ein. Die Peitsche mit dem Elfenbeingriff nimmt er vom Spind, stolziert vor dem Spiegel. „Ei, Widuwio, wie siehste nu aus. Jetzt gehört sich für dich ein Pelz, eine warme Mütze, dann bist du der Herr Baron.“ Aus dem Spind holt er den Pelz, vom Rechen die gefütterte Mütze. Hat den Pelz am Leib, die Mütze auf dem Kopf. Sagt nachdenklich in der frischen Luft am Fenster: „Wir gehen etwas aus. Wir haben genug gearbeitet. Es ist Frühling im Januar.“

Feuchtedengel sieht ihn gravitätisch zur Türe stelzen: „Was soll aus mir werden?“

Verächtlich schweigt der Teufel, schließt hinter sich ab.

Die beiden liegen allein.

Ruft der Dicke nach einer Zeit: „Strick.“ Der dreht den Kopf, glotzt seinen Nachbar an.

„Strick, was machst du?“

Kläglich stottert der: „Nun bin ich auch tot.“ Weint: „Meine Stiefel haben sie mir ausgezogen.“

Es schlägt fünf. Jammert Strick: „Wie lange sollen wir hier noch liegen.“

„Ich weiß nicht. Der amüsiert sich jetzt in deinen Sachen, spielt den Herrn Baron. Den mußt du sehen, wie der sich benimmt. Und uns läßt er liegen, als wenn’s nichts wäre. Wer soll denn jetzt Visite machen: es ist fünf.“

Da hebt der Doktor den Arm: „Schon fünf und noch keine Visite. Einer muß gehen, du oder ich.“

„Ich kann nicht, Werner. Ich kann wirklich nicht. Mir pellt sich schon die ganze Haut ab. Was sollen sich die Patienten von unserem Krankenhaus denken, wenn ich Visite mache.“

„Zeig’ mal,“ sagt Strick. Der dreht sich ihm zu. „Pfui, siehst du aus. Da muß ich gehen. O je, bin ich geschunden.“

Strick hinkt zur Tür: die ist abgeschlossen, die Nebentür steht auf. Auf der Station sehen ihn die Schwestern an. Die eine jammert: „Sind Sie schon tot? Ach Gott, erst der Medizinalpraktikant und dann Sie.“

Eine andere weint: „Es ist aber schnell gegangen. Wie blau Sie sind. Jetzt haben wir keinen Doktor mehr.“ Die Dritte blickt mitleidig auf seine Füße: „Sie gehen schon auf Strümpfen.“

Herzlich spricht ihm die Oberschwester ihr Beileid aus, zugleich für die verreiste Oberschwester der Nachbarstation. Sie begleiten ihn zum Ausgang, geben ihm zwei Kränze mit, die sie für einen anderen gekauft haben: winken mit den Taschentüchern hinter ihm her. Vor seiner Wohnung macht er Halt: ihm ist sein Zimmer, der Teufel samt Feuchtedengel zuwider. Er will sich zu den Kränzen nur noch einen anständigen Sarg kaufen. Der Portier leiht ihm einen Schafpelz und Filzpantoffeln. „Gehen Sie rasch, Herr Doktor,“ sagt er, „dann reicht’s zwei Stunden. Lassen Sie die Kränze hier, ich leg’ sie Ihnen oben rauf.“ Strick hetzt durch die Läden, in der Kapellenstraße wird er matt, läuft, um sich zwei silberne Reitpeitschen zu kaufen. Oben im verschneiten Stadtpark sinkt er auf eine Bank, fällt ganz auf die Seite, herunter vom Sitz, freut sich: „Jetzt wird man mich ehrlich begraben.“ Liegt im Schnee, im Finstern.

Der Teufel späht unter die Bank mit einer Laterne, sieht ihn liegen, klopft ihm freundlich den Schnee ab: „Man soll’s nicht übertreiben, lieber Junge. Nun wird dir gleich wohler.“ Er führt ihn am Kragen. Strick, vergrämt über sein Pech, gerät in Zorn, weil der ihn duzt, verbittet sich das, macht sich schwer. Der andere näselt vornehm, daß er jetzt den feinen Mantel anhabe und die Mütze und die blanken Reitstiefel, und die beiden neuen Peitschen werde er sich auch behalten. Strick verlangt die Peitschen zurück, flucht, bis der andere ihn am Wege zur Parkstraße über die Bordschwelle hinwirft, schwörend, er werde noch den dusseligen Feuchtedengel holen, dann werde er ihnen die Suppe versalzen. Als die beiden an seinen Armen wackeln, bläkt und schimpft der Teufel, wer nur hier der feine Mann sei und wer der Prolet; wer anderen Leuten das Leben schwer mache; was seien sie beide für Lumpenbagage: der eine ohne Hut und im ungebügelten Paletot, daß man sich schämen müsse vor die Damens, der andere in Filzpantoffeln, im Portierpelz mit Mottenfraß und dabei noch mit zwei Reitpeitschen. Ohne Pferd und kann nicht mal hopp hopp machen.

Er hängt sie zum Austrocknen statt an einen Baum, wie sich’s gehört, an den Latten eines Zaunes auf, mit dem Blick auf altes Eisen, zerbrochene Kochtöpfe. Erst am Morgen nimmt er sie herunter. Da ist Strick ganz Gift geworden. Der Teufel prahlt keck, wie er mit ihnen des Wegs zieht: „Jetzt sind wir zu dreien. Kommt noch der Gendarm und will mich verhaften, nehm ich ihn mit und wir sind vier. Ich muß mich beeilen.“

Strick wiehert lachend: „Du Hund. Wenn Feuchtedengel nicht gewesen wäre, hättest du nicht mal mich gekriegt.“

„Was,“ faucht der andere, „Hund sagt der zu mir? Und das wollen Kavaliere sein? Ich hab’ genug.“

„Ich auch,“ höhnt Strick.

„Mein Arm,“ winselt Feuchtedengel, aufwachend, „wer soll mich verbinden?“

„Ich hab’ genug,“ brüllt der Teufel, läßt sie fallen, dreht sich um sich selbst, „haltet die Schnauzen!“

Stößt, auf der Allee stehend, mit den Füßen rückwärts, scharrt wie ein Pferd.

„Was macht er nur,“ denken die beiden im Schneehaufen.

Er bläst sich auf, der Mantel platzt, sein Bauch dringt vor, wird groß wie ein Globus, reicht rund herum vom Hals bis unter die Knie, seine Hose folgt, seine Weste gibt nach. Seine Arme stecken oben wie kleine Stiele in der Kugel. Bückt sich keuchend, langt sich den Doktor, der ihn anspucken will, läßt ihn auf dem linken Arm, der linken Schulter nach dem Hals zu rutschen. Zwischen Weste und Hals stürzt Strick kopfüber abwärts, die Beine ragen zuletzt heraus. Die zappelnden Pantoffeln reißt der Teufel ab. Rechts versinkt Feuchtedengel. Der Bauch weitet sich, wirft Falten, steht prall. Der Teufel bläst die Backen auf. Die Kugel dampft, glüht, versengt die Kleider, dunkelblaue Flammen schlagen heraus, stehen über ihr wie eine Glocke. Der Teufel holt Luft, zieht sich schnurrend zusammen, schüttelt sich. Asche, weiße Knöchelchen fallen von ihm ab.

Freundlich sieht er an seinem Bauch herunter, sagt: „Ei, liebes Bäuchlein.“ Hebt die Pantoffeln, beide Reitpeitschen auf, geht allein spazieren.

Zu einem Fräulein, die ihn wegen seiner erschöpften Haltung an der Großhafenstraße anspricht, sagt er: „Sehr gebummfidelt, höchst schmeichelbar. Ja, es war allerhand. Der eine, der Strick, Herr Strick, Herr Doktor Strick hatte starke Muskeln, aber der andere war noch schlimmer, der mit dem Bandwurm. Der knaute Ihnen und maulte und jaulte den ganzen Tag und wurde nich fertig. Et war mich zu viel. Et war mich zu viel. Und nu, nu sehn Se, liebes Fräulein —“

„Gehen wir ein paar Minuten ins Café Braune, mein Herr.“

„Gewiß doch, meine Dame. Und nu haben se beide nichts. Nu sind sie nich im Himmel und nich in der Hölle. Nu sind sie einfach tot.“

Die Nachtwandlerin

Die Nachtwandlerin

Als es zur Abendmesse läutete, ging Herr Valentin Priebe an der riesigen Hedwigskirche vorüber und erwog, seine dünne goldene Uhr mit einer eleganten Armbewegung aus der Tasche ziehend, wie er den Rest des Tages verleben solle. Es war Sonnabend, sein Bureau um fünf Uhr geschlossen, und in der warmen Herbstluft mochte es lieblich sein für einen jungen Mann zu flanieren.

Er hob zweimal den braunen Samthut ab, um vorsichtig die feinen Spinnweben abzublasen, die von der Alten Bibliothek durch die Luft herschwammen, zupfte an seinem Taschentuch, dessen Rosa malerisch vor der blauen Sportsjacke stand. Seine sanft gebogenen Beine schritten zierlich einher in weißen Tennishosen, hellgelben Schuhen. An der Charlottenstraße prustete ein lahmes Auto vorbei; schnüffelnd hob sich die aufgestülpte Nase über dem struppigen blonden Schnurrbart. Herr Priebe wedelte anmutig das Taschentuch gegen den Staub, bog sich besänftigt in den Hüften vor. Er huschte über den Damm.

Violette Strümpfe trug er, und es gelang ihm trotz energischen Schleuderns der Beine nicht, sie den Passanten zu Gesicht zu bringen; die Hosen waren zu lang.

In der Friedrichstraße musterte er mit verwegenem Blick gleichmäßig Herren und Damen, bereit, nach Belieben als Schürzenjäger oder Männerfreund zu gelten. Sperrte die braunen, runden Augen auf, die gutmütige Kaninchenblicke warfen. Sein linkes Auge, mit schwarzen Sprenkeln in der Iris, stand etwas nach außen; auch zuckte Herr Priebe mit dem Kopf häufig nach links, als wollte er über die Schulter nach hinten sehen.

In aufgelösten Scharen trotteten die Menschen beide Seiten der Straße entlang, standen vor den Schaufenstern, sprangen in die Wagen, schlüpften zwischen schnurrenden Autos über den Asphalt. Streifte ihn etwas am Arm in der Mohrenstraße, lockte eine Stimme: „Na, Schatz?“ Geschminktes feines Gesicht, rotblonde Perücke, übergroße Augen, Moschuswolke, Veilchenbukett an der Brust. Blutübergossen wandte Herr Priebe den Kopf ab. Er sah angestrengt auf den Damm, fixierte einen Radfahrer derart ängstlich, daß der ihn anbläkte.

Wie er aus seiner Lähmung an der Bordschwelle erwachte, schlenderte er vor das Schuhgeschäft von Barthmann und summte. Da kam dicht hinter ihm her ein graziöses Püppchen, rotblonde Perücke, übergroße Augen, Dessous schlenkernd über durchbrochenen hellblauen Strümpfen, plauderte mit einem Geck im Zylinder. Sie lachten an ihm vorüber. Herrn Priebe stand das Herz still.

Er setzte sich in die Elektrische, fuhr in den Tiergarten, zog auf und ab die Hofjägerallee, bis er sich beruhigt hatte, lag matt in einer Droschke. Er wohnte in der Brunnenstraße in einem Quergebäude. In der lauen Abendluft lärmten die Kinder. Bevor er in den Hausflur ging, sah er sich um, ob ihm jemand folgte. Sein Vater saß hemdsärmelig in der Wohnung unter der Hängelampe, qualmte einen beizenden Knaster; ein kahlköpfiger Invalide mit einer blauen Brille, krummem Rücken. Die kleine Ella war schon im Bett an der Wand; sie zog Herrn Valentin das rosa Taschentuch aus der Jacke und roch daran; er gab ihr eine Banane vom Tisch.

Am Montag zwängte er sich in seinen Omnibus, rollte zum Wedding hinauf. Er ging über einen ungeheuren Kohlenhof. In kleinen Haufen lagen die schwarzen rußigen Steine, schwelten. Der Hof war mit dickem Staub bedeckt, unter dem Schienenstränge in dem weißen Morgenlicht blitzten. Von schwarzen Bergen rieselte es unaufhörlich herunter; starke Kräne knirschten hinein, prasselten ihre Ladung in die kleinen Bunker. Herr Priebe ging in einem glanzigen schwarzen Überrock über den dunstigen Hof; seine grauen Hosen waren abgestoßen. Er warf verschlafene Blicke über die Geleise, kletterte die Wendeltreppe des kleinen Bureauhauses hinauf. Niedrige, weite Kontorräume, Holzladen an den Fenstern. Hinter den Pulten Männer; an der Wand junge Mädchen in schwarzen Schürzen; sie spielten auf Schreibmaschinen, machten metallischen Lärm.

Der Herr kaute an seinem Schnurrbart, pendelte tiefsinnig und zerstreut auf und ab, rauchte eine zerblätterte Zigarre. Zwei Fräulein stießen sich an, sagten laut zueinander: „Herr Priebe sieht eigentlich recht verlebt aus.“ Er stutzte, rekelte sich an seinem Pult, sagte unter hörbarem Gähnen zu seinem Nachbarn: „Das Großstadtleben bekommt einem auf die Dauer nicht. Ich werde doch noch nach Friedrichshagen ziehen.“ Aß zum Frühstück einen sauren Hering. Dann setzte er den horngefaßten Zwicker auf, schrie ein engbrüstiges Mädchen an, einer anderen warf er den Durchschlag zerrissen vor die Füße. Das Fräulein hob die Fetzen auf, maulte, plärrte laut los, die Schürze ins Gesicht geknüllt. Entrüstet verlängerte der Herr sein Gesicht, bewegte sich verlegen herum.

In der Mittagspause beobachtete der Herr dieses Mädchen, das Antonie gerufen wurde, folgte ihr auf die Wendeltreppe, näselte neben ihr leutselig, daß die Sache von vorhin nichts auf sich habe. In polnischem, rauhem Dialekt erwiderte sie von Furcht vor Kündigung und weinte nochmals. Er stieg zurück; die jungen Männer an den Pulten stießen sich lächelnd an.

Am nächsten Morgen hatte Herr Priebe eine faltige Stirn, zotete mit den Kollegen, dann ging er summend durch den Raum, beugte sich, wie versehentlich, über die polnische Maschinistin, die hochfuhr, und flüsterte eine kleine Zeit mit ihr vor allen Menschen. Als er sich von ihr abwandte, pfiff er gleichmütig und saß nägellutschend an seinem Pult, um seinem glattgescheitelten, blonden Nachbarn ein träumerisches „Ja, ja“ zuzuwerfen. Wie der ihm zuzwinkerte, zog er schmunzelnd sein gut ausgefülltes Gesicht in Falten, so daß es aussah, als wäre es mit Bindfäden verschnürt von den Ohren her.

Antonie Kowalski war ein rundes, ebenmäßiges Geschöpf. Sie trug große unechte Ringe in beiden Ohren, an den feisten Armen breite metallene Reifen. Sie wohnte im Nebenhause Valentins; eine niedrige Mauer trennte beide Höfe. Hoch im vierten Stock hauste sie mit ihrer Mutter. Die Frau, eine Polin, hatte, während ihr Mann im Gefängnis saß, eine Liebschaft mit einem Zigeuner, einem Kesselflicker, unterhalten. Als der Ehemann nach dreieinhalb Jahren aus dem Gefängnis wiederkam und die einjährige Antonie vorfand, setzte er Mutter und Kind aus der Wohnung. Sie zogen in die Brunnenstraße, in eine Dachkammer. Antonie wuchs als ein jähzorniges, leidenschaftliches und zärtliches Tierchen auf; nur daß sie in der Zeit ihres monatlichen Ungemachs stiller und leidend wurde, sich verkroch, auch viel mit der Mutter weinte. Um den Vollmond hatte die Mutter sie empfangen. Die Frau stand damals spätabends mit dem Zigeuner in der Küche, als ihr der branntweinduftende Geselle um den Leib griff. Sie war, Hilfe zu schreien, an das Fenster gelaufen, hatte die Gardine und Flügel weit aufgerissen, so daß plötzlich das prallweiße Mondlicht hart über Diele und Tisch fiel. Sie fuhr einen Augenblick geblendet zurück. Der rasende Mann warf sie schon auf den weiß bestrahlten Boden, riß ihr keuchend die Röcke ab, und so wurde sie seine Geliebte. Jetzt lachte und schwatzte Antonie viel im Schlaf, wenn der Mond vor ihr Fenster trat. Oft saß sie abends am Fenster, hatte die Augen offen; die Mutter mußte sie schütteln und laut anrufen, ehe sie den Blick herdrehte und aufstand.

Eines Tages, als es Mittag pfiff, wartete Antonie Herrn Valentin an der Wendeltreppe ab. Sie fragte ihn leise, warum er sie nicht ansähe und warum er sie vorige Woche sitzen gelassen hätte. „Hier sind zwei Billetts für das Konzert bei Lipps, um halb neun an der Kegelbahn oder drin im Saal.“ Drückte ihm einen gelben Programmzettel in die Hand, lief über den Kohlenhof.

Herr Priebe zitterte stark. Seine kalten Hände schwitzten, als er wieder an seinem Pulte saß. Ihm wurde wüst und schwindelig. Der Speichel lief ihm unter der Zunge vor, er legte den Kopf auf die Schreibunterlage: „Was nun?“ Setzte seinen steifen Hut verbeult auf, stockerte auf die Straße und ging statt zu Tisch lange Straßenzüge rasch entlang, die Liebenwalder Straße, Prinz-Eugen-Straße, über die Pankstraße, zum grünumsäumten Bahnhof Wedding, fuhr mit der Ringbahn um halb Berlin und zurück. Vom Kontor machte er sich abends im schäbigen Gehrock auf den Weg zur Brauerei, erst als ein hellgekleidetes Mädchen hinter ihm kicherte, fuhr er nach Hause, parfümierte sich im Tennisanzug. Mit Tränen in den Augen verabschiedete er sich nach vielem Drehen von der kleinen Ella, die ihn oft fragte, warum er so stöhne, wie ein Bär stöhne.

Musik schmetterte aus allen Gärten am Friedrichshain. Antonie war nicht an der dunklen Kegelbahn. Aus dem blitzenden Ballsaal tönte die Stimme des Maitre. Herr Valentin stützte sich auf den Arm eines lustigen Kollegen, als er die Treppe zum Saal hinaufging. Antonie tanzte gerade am Arm eines flotten Kommis vorbei. Gnädig begrüßte Herr Valentin das Fräulein im Vorübergehen. Sie huschte am Schluß des Polkas auf ihn zu, stellte sich, ohne ein Wort zu sagen, neben ihm auf. „Da wären wir also, kleine Krabbe,“ sagte er heiser, fixierte sie bis zu den Füßen mit Kennerblicken.

Sie trug ein weißes Waschkleid mit einem braunen Ledergürtel. Die schwarzen Haare hatte sie über die Ohren gewellt, hoch aus der Stirn gekämmt. Der große weiße Federhut war vom Tanzen weit in den Nacken gesunken, so daß das dunkelrote volle Gesicht grell davorstand. Breite Nase, hervortretende Backenknochen; die schwarzen Augen ernst und feucht. Schweigend standen sie sich gegenüber, dann legte sie ihren bloßen prallen Arm in seinen und zog ihn mit ehrfürchtigen, zärtlichen Blicken zum Saal hinaus in den lampionbeschienenen Garten.

Draußen unter den alten Laubbäumen krachten die Schießbuden; die Karussels dudelten. Herr Valentin hob keck den Samthut zurück, zündete eine Zigarette an, führte Antonie in das Gewühl zwischen den Tischen. Mit überlauter Stimme schwatzte er, lachte, gestikulierte. Sie preßte seinen rechten Arm fest an sich. Einem Fräulein, das mit einem Glas Bier vorüberging, warf er einen schlüpfrigen Gruß zu. Antonie kicherte begeistert. An der Kegelbahn brannten keine Laternen. Sie setzte sich mit einem Sprung auf einen sandbestreuten Tisch, er hüpfte nach einer Pause neben sie. Schon lehnte ihr weißer Federhut an seiner Wange, faßte sie ihn zögernd um die Taille. Ein stoßweises Rucken ging durch seinen Körper, er wand sich unter ihrem Arm, schauderte: „Ach Gott!“ Der Samthut kollerte hinter ihnen auf den Tisch. Valentin sagte: „Fräulein, ich habe heute mittag ein Paar Würstchen gegessen; die müssen verdorben gewesen sein.“ Sie streichelte mit dem Handteller seine Wange, seufzte verschämt: „Sie müssen was dagegen tun, Herr Priebe.“ Er rutschte nach einer Pause mit einem Grinsen von der Tischplatte, stand leichenblaß da. Sie kam nach.

In der Nacht warf er sich im Bett, murmelte ins Kissen: „Was soll daraus werden? Was ist denn, was ist denn?“ Der Vater schrie aus der Nebenstube: „Immerfort kracht dein Bett. Wer soll dabei schlafen?“ Priebe lag ruhiger. Ihm fiel ein, daß Antonie eine Vase in einer Verkaufsbude schön gefunden hatte. Noch vor acht Uhr morgens stand er vor einem laden in der Chausseestraße, betrat als erster Käufer das Geschäft, erstand für achtundzwanzig Mark ein unförmiges Porzellanstück eine Vase mit einem Reigen von Amoretten, die dicke Backen machten und einen Kranz hielten.

In der kühlen Fasanen-Allee traf er sich abends mit der kleinen Polin. Die nahm ihm kreischend das hohe Paket aus der Hand. Riß das Papier ab, sobald sie allein auf einer Bank saßen. Mit offenem Mund blieb sie vor der bunten Kostbarkeit sitzen. Vorsichtig stellte sie sie neben sich auf die Bank, küßte und biß Herrn Priebe resolut in die Backe. Er streichelte ihr mit einigen krampfhaften Bewegungen das Stirnhaar unter dem weißen Federhut zurück und hielt es für angebracht, ihr unter schlüpfrigen Koseworten an die Brust zu greifen. Sie bog kräftig seine Hand weg, nahm seinen Kopf, küßte sein ganzes Gesicht ab. Dann gingen sie Arm in Arm die schmalen Spazierwege, während er sie oft losließ, an einem Baum lehnte und mit einem Gelächter losplatzte, das sie stutzig machte; schließlich sah sie geschmeichelt schief auf die Erde. Die Vase aber warf er unter solchen Grimassen an der Rousseauinsel ins Wasser, zum schluchzenden Entsetzen Antoniens, der er eine schönere versprach. Am Gitter des nebligen Wasserstreifens krächzte er mit übermüdetem Gesicht: „Vase hin, Vase her, was kommt es auf eine Vase an?“

Er hatte schon im Kontor gelegentlich den jungen Leuten erzählt von einer exotischen Mätresse, die er sich halte, und die ihn stark strapaziere; von einem kleinen reizenden Brillantring, den er ihr geschenkt habe, und den sie nun jetzt beim Tanz verloren hätte, ohne deswegen auch nur mit der Wimper zu zucken. Er wurde eines Sonnabends von den Kollegen genötigt, mit ihnen auf die feinen Lokale zu gehen. Er meinte zuerst, das sei lächerlich für sie, denn das Geld ginge dabei nur so hin. Dann fuhr man zunehmend heiter in Berlin herum. Valentin, in gehobener Laune, freudig über sich erstaunt, lud sie immer zu neuen Lokalen ein, die er aus Plakaten kannte. Sie hockten zu vieren in einer jämmerlichen Rumpeldroschke, tranken erst in Mundts Tanzsalon, fuhren von Café zur Kneipe. Um drei Uhr morgens gröhlten sie im Café Minerva, um halb vier torkelten sie untergefaßt in das Café Greif, Elsässerstraße. An einem Ecktisch sagte eine graublasse Dame zu Valentin, er sähe aus wie der keusche Joseph; er sank über den Schoß einer alten Vettel, die ihr Pilsener Bier wegrückte, und der er gestand, sie wäre so zärtlich wie seine letzte Braut. Die drei anderen halsten ihm das Weib auf, packten beide in eine Droschke, tobten hinter dem langsamen Fuhrwerk mit Schirmen und Hüten her.

Kaum ein Wort sprach Valentin in den nächsten Tagen im Kontor. Sein Gesicht hatte in manchen Minuten etwas wie Versteinerung. Er war erschüttert, fand sich nicht damit ab, was ihm in der Nacht geschehen war, wütete gegen die Kollegen, hätte sie um Gnade bitten mögen. Abends blieb er zu Hause; vor dem Einschlafen weinte er im Bett viel und kläglich. Antonien übersah er; auch als sie ihm verstohlen auf dem Kohlenhof „Adieu“ sagte, weil sie eine Verwandte in Ostpreußen pflegen sollte, meinte er nur: „Ja, wenn Sie Urlaub bekommen haben, Fräulein, — dann, dann reisen Sie nur.“ Er ließ sich gehen, bürstete sich nicht ab, lief manchmal mittags unter einer Angst spazieren.

Wenig über zwei Wochen dauerte dieser Zustand. Dann cremte Valentin seine gelben Schuhe ein, nahm sich zu einigen verzweifelten Flanierzügen, um nicht zu ersticken, einen jungen Kassierer mit; hatte eine gelle, herrische, aufgeregte Stimme; seine Augen blutunterlaufen, wie bei einem Säufer. Erwachte eines Morgens mit Halsschmerzen. Der Kloß, das Drücken ließ nicht nach. Eine fröhliche Bewegung entstand in ihm unter dieser drolligen Ablenkung, die ihn veranlaßte, alle Augenblicke „gluck, gluck“ zu machen, dabei den Kopf nach vorn wie eine Gans zu rucken. Der Doktor, zu dem er ging, schickte ihn zu seinem Erstaunen zu einem anderen. Und der, ein beleibter Sanitätsrat mit fleischigen Fingern, lächelte auf Valentins Frage, was er denn habe, schnüffelte, während er in seinem Notizbuch kritzelte: „Müssen sich mal bei dem schönen Fräulein erkundigen, das Sie vor ein paar Wochen besucht haben, hähä; die wird’s wissen.“ Er hörte schon nichts mehr. Er sprang mit inwendigem Gelächter die Treppe herunter. Also das war es? Er prustete auf der Königsstraße vor Vergnügen. In einer ihn plötzlich überkommenden Heiterkeit kaufte er sich ein Witzblatt an der Ecke Spandauerstraße; ob etwas von seiner Sache drinstände. Nun war alles wieder gut. So hatte sich die Sache doch gelohnt. Zu Hause zog er sich um und promenierte an der strengen Winterluft. In seiner Pelzmütze und dem vermotteten Krimmerkragen machte er einen entschieden russischen Eindruck. Er lupfte mit feiner Verachtung das linke Bein, wenn er an einer Dame vorüberging. „In dieser Gesellschaft wären wir also zu Hause. Die Krankheit paßt zur Pelzgarnitur. Vom Scheitel bis zur Sohle.“ Er hatte keine gewöhnlichen Halsschmerzen; es war das Leiden der Roués, der Herrschaften von Welt. Es ist nicht schrecklich; man kann damit spazieren gehen, Schokolade trinken. Er lächelte in tief befriedigter Rache um sich. Zu einem Reisenden, den er traf, sagte er: „Wir haben unsere Bewegungsfreiheit wieder.“

Antonie kam zurück. Valentin begrüßte sie geringschätzig an der Schreibmaschine. Sie sah recht gewöhnlich aus, schon die Beschäftigung degradierte. Auf der Straße schmiegte sie sich mittags an ihn; sie latschten durch die lange Turmstraße im Schnee. Auf die Frage, warum er so sei, antwortete er, es ereigneten sich in einer Stadt wie Berlin mancherlei Dinge; Erlebnisse könne man sie nennen; er nähme sie belanglos. Sie bat ihn, zu sprechen. Als er sich selbstzufrieden eine Zigarette angezündet hatte und noch lange mit dem Streichholz spielte, gab er brockenweise von sich, daß es mit der Offenheit solche Sache sei; man wüßte schlecht, wie man sich da zu verhalten habe, besonders Frauen gegenüber, man hört ja manches; es sei jedenfalls nicht so einfach. Sie hatte tränenschwimmende Augen, machte ein verschlossenes fremdes Gesicht. Ihm ging die Zigarette aus; er stammelte beunruhigt, er werde sich die Sache überlegen. Dabei klopfte er den Schnee vom Rock ab, den sie beim Anlauf gegen einen Baum abgestreift hatte.

Abends im Humboldthain hatte er vor ihrem verfrorenen Gesicht ein so demütig anbetendes Gefühl und war so furchtsam, daß er wie ein getretener Hund an ihre Hand kroch und alles herausplatzte, blind, wie ein Todgeweihter. Am Schluß seiner Rede fiel er vor Erregung von der Bank. Antonie, von seiner Erregung mitgerissen, zerrte an seiner Schulter, bettelte, er möchte doch aufstehen, trat auf ihre Muffe, die hingefallen war. Sie weinte und tröstete ihn plappernd, als sie nach der Stadt zugingen; jeden Augenblick faßte sie ihn bei den Paletotknöpfen, umarmte ihn mit Kraft, daß er seufzte. Sie hatte, als sie sich bald trennten, beide mit blauen Nasen und mit Schnee auf den Schultern, ein fast glücklich verwirrtes Wesen, wollte mit Valentin in ihre Wohnung gehen. Er warf unruhige Blicke, schnaubte, rannte, getrieben durch die hellen und engen Straßen, an Kinos vorbei mit Mordplakaten, an dem Geigengesang der Cafés, auf Knien, die weicher und weicher wurden und ihm wie Wachs wegschmolzen.

Antonie und Valentin sprachen dann für lange Zeit nur noch zweimal zusammen. Das eine Mal am Tage nach der Begegnung im Humboldthain; da trafen sie sich vor der Fabrik zu einem gemeinsamen Nachhauseweg. Sie hatte einen schwarzen Tuchmantel an, dazu eine leichte Boa; auf dem Kopf eine samtene Kappe. In ihren runden Bewegungen glitt sie an ihn heran; öffnete wenig den breiten Mund mit den aufgeworfenen Lippen, ging vertraulich dicht neben Valentin im Schnee. Sie sprachen vom Geschäft, vom Wetter und blieben vor den Schaufenstern stehen. Den Rest des Weges fuhren sie in der Elektrischen. Nur beim Abschiede konnte er einmal ihren unverständlichen Blick fassen, den sie auf die Seite drehte.

Nach anderthalb Wochen fragte er sie auf der Wendeltreppe, wie es ihr ginge. Sie antwortete, während sie sich an einem Ohrring zupfte: „Gut“; vielleicht könnten sie sich morgen unterhalten.

Am nächsten Tag kam sie nicht ins Kontor. Wochenlang blieb sie fort. Er schrieb an sie, bettelte um eine Antwort. Ihre Mutter hielt sie zu Hause. Sie war still geworden. Sie litt an Schlaflosigkeit. Noch als sie ins Bureau ging die letzten Tage, meinte sie zur Mutter, sie höre feines Glöckchenklingen, auch tiefe summende Saitentöne, die in Harmonien abwechselten. Es war gar nicht lästig, sie hörte es recht gern. Sie wollte nicht auf die Straße gehen, blieb lieber im Zimmer; keinen Menschen als die Mutter mochte sie sehen. Und als einmal Valentin sie besuchte, durfte er sich ihr gegenübersetzen; nur daß er sie berührte, duldete sie nicht. Hinter ihm öffnete sie das Fenster. Ein plötzlicher Trieb kam über sie, sich nicht zu bewegen. Sie ging wenige Schritte im Zimmer liebevoll um sich herum. Die Mutter fragte einmal, ob sie sich nicht langweile. Sie setzte ihr den breiten Federhut auf, kleidete sie völlig und warm an. Sie lächelte zur Mutter: „Geh du mit aus.“ Die faßte sie bei den Ellbogen: „Hast du eine Liebschaft, Toni? Kriegst schon einen anderen.“ Sie gingen die Treppe hinunter und wieder hinauf. „Ich freue mich allein viel mehr mit meinen schönen Sachen.“ Und wirklich saß sie oben in den Stuhl gesunken der Mutter gegenüber, plauderte schön und strahlend; sie strich über ihr Kleid. Das Weiße ihres Auges war sichtbar. Sie war viel beschäftigt, ohne zu wissen, womit. Oft wanderte sie im Zimmer herum mit glücklichem Gesicht, auf lautlosen Pantoffeln. Sie gönnte sich feierlich keine Beschäftigung. Spielte gedankenlos, gedankenvoll mit bunten Zeuglappen. Band sich nach und nach eine Puppe zusammen, eine sehr farbige Flickpuppe, ein kleines Mädchen, groß wie eine Hand, zeigte sie der Mutter, schmiegte sich an sie, bettete sie ein.

Unter dem Spiel und dem Plaudern wurde sie offener. Antonie half der Mutter träumerisch im Haushalt, begleitete sie bei Besorgungen. Valentin wünschte zu ihr; er saß ihr gebrochen gegenüber. Sie beobachtete ihn leer. Eine Freundin riet Antonie, ihn doch wegzuschicken.

Und eines Spätnachmittags stand Antonie am Fenster ihrer Dachwohnung, sah auf das Nachbargebäude. Je länger sie hinsah, um so wilder fuhren ihre Arme zusammen. Krampfhaft wand sie sich; sie beschattete ihre hellen Augen: „Ich will ihn wieder lieben können. Ich kann es nicht ohne ihn ertragen. Ich will dich wieder lieben können.“ Am Abend hatte er einen Zettel von ihr. Sie waren allein. Das gräßlich geöffnete Gesicht stand vor seinem. Sie hielt ihn, fordernd: „Küß mich, küß mich!“ „Nein, ich darf nicht, ich darf nicht.“ „Der Arzt geht mich nichts an, Valentin. Der Arzt kann mich nicht tot und nicht lebendig machen.“ Die bibbernden zwei umarmten sich. Sie biß sich in seine Lippen fest. Und dann biß er nach ihrer, Valentin torkelte. Eine Schlange umwand sie in einer steinernen Spirale, rollte sie hin, ließ sie liegen.

Als die Mutter am nächsten Morgen den braunen Schal sich über den Kopf schlug, um waschen zu gehen, kam Antonie verschlafen aus dem Bett gekrochen, zog die Frau am Arm zu sich her und ließ sich von ihr streicheln: „Mir fehlt gar nichts mehr, Mutter; ich gehe ins Geschäft.“ „Hast du dich mit Valentin vertragen?“

Nach einer langen Pause, während es schien, als ob sie wieder einschliefe, sagte Antonie: „Ich denke schon.“

Im Geschäft war sie träge, sinnierte herum, blieb schließlich weg. Sie mischte sich unter die kleinen Fabrikmädchen, die abends in der Brunnenstraße und Chausseestraße tanzen gingen, sagte nie Valentin davon. Sie stand neugierig und mit verschämter Miene um elf Uhr abends an dunklen Häuserecken mit zweifelhaften Damen, die ihr mit Witzeleien zuredeten. Antonie horchte sie aus, betrachtete sie, ließ sich in Cafés von Männern begleiten und lief dann weg. Stiller und stiller kam sie von solchen Spaziergängen nach Hause; ihre Schlaflosigkeit fing wieder an.

Damals begannen die ersten Erscheinungen eines sonderbaren Nachtwandelns bei ihr. Ihre kleine Puppe in der Hand, schlich sie im Hemd bei völliger Finsternis durch Stube und Küche, an der schnarchenden Mutter vorbei über den Korridor und wieder zurück. Keine Diele krachte, vorsichtig setzte sie die nackten Füße, keinen Stuhl stieß sie an. Sie flüsterte zu der Puppe, die sie an ihren Mund hochschwenkte: „Nimmst du mich mit? Du bist gut. Mit dir geh ich. Hupf auf meinen Arm und sei recht lieb zu mir. Mit dir geh ich aus. Ja, kannst dich ruhig auf die Hemdkrause setzen. Du bist so schön, so schön zu mir. Mit wem kann man so schön sein wie mit mir?“

Einmal erwachte die Mutter darunter, daß Antonie seufzend am Fenster rüttelte, das nicht gleich aufsprang. Sie brachte die Träumerin wortlos zu Bett, die nach einigem Stammeln unruhig einschlief.

Zu Valentin war Antonie in dieser Zeit gleichmäßig freundlich. Er kam heimlich oft zu ihr; als er sie einmal fragte, wann sie heiraten wollten, sagte sie, wozu das sei, wessen es noch zwischen ihnen bedürfe. Und immer ungeduldiger wartete sie, wenn er wegging, daß es ganz finster würde. Willenlos umarmte sie ihn und war gut zu ihm; wenn er fort war, stöhnte sie jammervoll, bestrich ihren kleinen runden Spiegel mit Seife, so daß sie sich nicht sah, steckte die Gardinen vor dem Fenster zusammen. Die Mutter tappte im Dunkeln durch die Küche herein: „Bist du da, Toni?“ „Willst du die Toni sehen, Mutter?“ Und während die Frau mit der Petroleumlampe herkam, hielt sie ihr den kleinen Zeuglappen, die Puppe, tränenübergossen hin: „Das ist die Toni. Das ist meine kleine, süße Toni. Nicht, Mutter, das soll unsere kleine süße Toni sein?“ Sie lachte und schmeichelte dem Lumpen; die alte Frau lachte mit.

Und eines späten Abends brannte das elektrische Licht vor einem neueröffneten Tingeltangel in der Hussitenstraße. Es war strenger Frost; in ihrem schwarzen Tuchmantel, die Kappe auf dem Haar, lief die kleine Polin in eine Häusernische und sah mit zwei heftig kichernden und kreischenden Mädchen zu den grell plakatierten Schaufenstern herüber. Da drehte sich drüben die Tür; untergefaßt zogen drei bunte Damen mit zwei Herren über den schmutzigen Damm, in einer Reihe. Der eine Herr tänzelte graziös; er hatte ein gedunsenes glührotes Gesicht und verlor oft zum allgemeinen Vergnügen einen Gummischuh; ein rosa Taschentuch stand malerisch vor seinem zerknäulten Ulster. Es war Priebe. Antonie ging taumlig ein paar Schritte auf die Gruppe zu, drückte sich, die Muffe vor der Stirn, in einen dunklen Hauseingang. Der amüsierte Herr griff mit feuchter Hand über ihr Ohr, zerrte eine Haarsträhne; im Vorübergehen stotterte er: „Alle Kinder sollen mitkommen. Ihr braucht euch vor mir nicht zu fürchten.“

Drei Uhr mitten in der Nacht gröhlten sie im Hofe von Valentin zweistimmig Lieder; dann gedämpft zu Ehren seiner Braut, wie Herr Priebe sagte, den Schlager: „Nimm mich mit, nimm mich mit, in dein Kämmerlein.“ Und während sie, Männchen und Weibchen, im Kreise flöteten, kam in dem grellen Mondschein oben aus der Dachluke ein Kopf mit schwarzem losen Haar hervor, bloßer Hals, rot durchwirkter Hemdrand, schob sich im weißen Unterrock ein Körper durch das Fenster auf die Dachrinne. Tappte mit unregelmäßigem Schritt die Regenrinne entlang; bloße Füße; an ihrer Hand, vor ihrem Rock zappelte etwas Schwarzes, Kleines.

Herr Priebe imitierte eben mit Damenstimme: „Ach, wenn das der Petrus wüßte.“

Da scharrte es vom Dach. Der Kassierer Lorenz, ein pickliges Biergesicht, blickte zuerst auf. Ein weißer Haufen, ausgestreckte Beine ohne Strümpfe, kam dicht vor der Front des Hinterhauses herunter, polterte gegen ein Blumenbrett auf einen Mülleimerdeckel, klatschte saftvoll dick und breit auf. Über die niedrige Feuermauer spritzte es klebrig, weiß; auf der Mauer blieb etwas Dunkles, Lappiges liegen.

„Es ist einer aus dem Fenster gefallen.“ Die fünf bewegungslos. Herr Lorenz wischte sich die Lippen ab. „Wo war das?“ gellte ein Fräulein; die rannte heulend über den Hof zum Tor, die beiden anderen nach. „Ich kann so was nicht sehen,“ murmelte Herr Priebe, „mir wird ganz schlecht; ich leg’ mich schlafen.“ Im Hause klapperte es, wurden Fenster hell. Valentin bewegte die Lippen, was nun wirklich gewesen wäre, zitterte die Treppe hinauf in seine Wohnung, hüllte sich bis über die Ohren ein: „Ich will von dem ganzen Hause nichts wissen; ach, mir ist schlecht. Umziehen, umziehen.“

Morgens im Finsteren klopfte Antoniens Mutter bei Priebe an, schrie und schluchzte am ungeheizten Ofen, der Fensterriegel sei nicht zu gewesen in der Nacht, sie hätte es vergessen am Abend. Sie hielt auch einen alten Zettel von Antonie in der Faust; auf dem stand, Valentin solle ihre Puppe nicht bekommen, wenn sie wieder krank würde. „Da ist nun der Lumpen. Kommen Sie doch bloß mal rauf zu uns, Herr Priebe.“ Valentin riß die kleine Ella bei der Schulter herum; sie solle ausspucken hinter der Frau; den Vater fuhr er an, wie er die Tür vor sowas aufmachen könne. Das Kind bockte: „Gerade machen wir die Tür auf.“

Nachdem man in der folgenden Woche Valentin nahegelegt hatte im Bureau, wegen seines maßlosen Brüllens mit dem Personal und wegen des unmotivierten Herumskandalierens in Urlaub zu gehen, zog er, ohne sich von Vater und Schwester zu verabschieden, nach der Woltersdorfer Schleuse und nahm ein möbliertes Zimmer. Der Wirtin erzählte er, man habe ihn beneidet in Berlin und ihn für einige Zeit kaltstellen wollen, natürlich Weibergeschichten, die unvermeidlichen Weibergeschichten; drei Wochen würde er bleiben. Er sprudelte in anklagender Rede von Gemeinheiten, Ruchlosigkeiten, die man gegen ihn begangen habe. In einer Sofaecke im dunklen Zimmer brummelte er, holte die Puppe zur Spielerei aus seinem Koffer. Der Wirtin erklärte er, man müsse sich mangels anderer Gesellschaft irgendwie unterhalten. Heiß schluchzend überfiel er den scheckigen Lumpen, pfiff: „Wir haben uns mit solchen Sachen aufzuhalten, Toni, wir könnten ganz anderes im Kopfe haben.“ Trostlos und verzweifelt weinte er drin so laut, daß die Wirtin ein Kreuz vor der Tür schlug.

Als die Frau beim Richten ihrer Resedenstöcke sagte: „Sie werden die Sachen schon überwinden,“ meinte er mit schiefem Grinsen: „Wir haben Kräfte, liebe Frau. Was glauben Sie von uns? Wir werden das den Leuten heimzahlen mit Zins und Zinseszins. Lassen Sie uns mal wieder zu Haus sein.“ Und er sang so schön: „Wenn das der Petrus wüßte,“ daß die Wirtin mit dem Kopf nickte: „Gott, haben Sie eine Stimme, Herr Priebe.“

Er dampfte schon nach zwei Wochen, Ende April, ab: „Der Landaufenthalt ist nichts für Berliner, wenigstens nicht für mich.“

Er packte zu Hause seine Sachen in den Schrank, kaufte sich einen grünen Schlips, einen Lavallier, der offen vor der Weste wehen konnte. Für elf Uhr abends verabredete er sich mit seinem Freund Lorenz, dem Kassierer. Er pomadisierte sich, als man drin schlief, zog neue graue Gamaschen über die Schuhe, schraubte die Hängelampe hoch, um sich vor dem Spiegel an seinen Bewegungen zu erfreuen.

Da sah er aus dem schweren Holzkoffer einen Puppenarm ragen. Er kehrte dem Koffer den Rücken, rümpfte die Nase, sprang nach kurzem Herumstehen auf den Koffer zu, stopfte den Arm zurück. Wie er die Bartbinde abnahm und schräg nach hinten sah, ragte der Arm wieder hervor. Valentin riß den Deckel hoch, schmiß die Puppe in die Mitte des Wäschebündels, schniefte gehässig: „Den Dreck werd’ ich dir. Dich rausholen. Die Zeiten sind vorüber. Den Dreck. Rin in die Kommode.“ Der Deckel schmetterte herunter. Im Spiegel sah er bewegungslos, wie der Deckel zitterte, sich langsam hob, die Puppe durch die Spalte auf ein Handtuch am Boden raschelte. Mit plumpen Schritten, die Arme in Boxerstellung, bewegte sich Valentin in Hemdsärmeln auf das Handtuch: „Zeitversäumnis! Gemeiner Ulk!“ Wie ein Stehaufmännchen wippte die Puppe auf der Diele, fiel wieder hin. Valentin gegen sie her. Sie schnellte, zappelte, kam vorwärts. Als er wuchtig über sie stürzte, stand sie am Spind, schlüpfte in den weißen Mondschein, glitt leicht gegen die Tür. Knarrte die Schwelle; mit einmal war die Puppe nicht mehr im Zimmer.

Den Hut stülpte Valentin wutgeschwollen auf den glattgekämmten Schädel, schlug auf die Türklinke. Da schwang sich am Treppenabsatz das feine Geschöpf grade über das finstere Geländer.

Er stand im kalten Luftzug im Türrahmen, die Jacke unter dem linken Arm, der Riemen einer Gamasche hing. Er winselte, die Schultern senkend: „Heiliger Gott, was soll das? Soll ich Vatern wecken?“ schlich schon die Stufen herunter, dem schleifenden Geräusch nach. Wie er durch den langen Hausflur stolperte, flüsterte er: „Du, du, halt, bleib doch stehen. Ich — ich hab’ nichts getan. Ich nehme dich mit zu Lorenz.“

Nach, nach.

Hagelwetter in der Brunnenstraße. An der Gaslaterne schlüpfte sie im Bogen herum. Große Schritte machte er schon, sie immer größere. Sie wuchs, war wie ein Junge, wie ein Mann. Stralsunderstraße. Er schwenkte seine Jacke in der Linken, schluckte Hagelkörner.

Sie bog in die Hussitenstraße ein, hielt an der Ecke an, war breit wie ein Pferd. Er lief auf sie auf, saß, wie sie sich duckte, schwankend auf ihren Schultern fest. Sie rannte mit ihm fort.

Er biß in ihren Kopf. An der Sebastiankirche hörte er die ersten grunzenden Laute von unten, schüttelte an ihrem Hals, wimmerte: „Ich will ja ehrlich sein.“

Höhnend kam es herauf: „Willst du das, willst du das?“

„Du kannst mich nach Hause lassen. Was hab’ ich schon ausgehalten.“

„Noch nicht genug.“

Sie rasten vorbei an einem Schutzmann; der schnaubte sich die Nase. „Was hat der Mensch für einen Gang am Leibe! Hoppa, hoppa, Reiter.“

Valentin wollte den Schutzmann anrufen, es ging zu rasch. Er heulte in den Wind. „Ich verlier’ meinen Hut.“

„Brauchst keinen Hut.“

„Meine Jacke, meinen Kragen.“

„Kannst nackt kommen.“

Greinend schlug Valentin die Hände vor die roten Augen: „Ich will nichts mehr wissen von diesen Sachen. Werd’ ich doch mal den kleinen Lorenz fragen, was er dazu meint.“

Die Gleise der Maschinenfabrik tauchten auf, ganz in Finsternis gelagert. Valentin brüllte, warf sich: „Keiner hilft, keiner hilft.“ Die Puppe hielt ihn fest wie Kautschuk. Und während er kratzte, mit Armen und Beinen in den weichen Massen wühlte und sich wand auf seinem Sitz, kam der schwarze Humboldthain heran, menschenleer, mit Eisengeländern, starren Bäumen.

„Hi, hi, hi!“ würgte er. Dröhnend lachte die Puppe: „Nimmst mich mit zu Lorenz?“

Der leere Vorplatz. Der tintige Teich dehnte sich. Sie lockerte seine Beine; schnellte zusammen. Mit einem Ruck sauste er kopfüber in das Wasser.

Sie stürzte sich glucksend nach. Er schluckte hochsteigend. „Ich sterbe schon, laß mich los.“ Wie ein Schlagbaum lang war ihr Arm, mit dem sie sich unter das Wasser drückte: „Es fängt erst an! Verlogener Hund!“ Das Wasser spritzte nach allen Seiten; sprudelte, gurgelte minutenlang. „Verfaulen sollte ich dich lassen.“

Schräg über den Teich prasselte der Hagel in der Finsternis.

Der Ritter Blaubart

Der Ritter Blaubart

Hinter der dünnen Birkenreihe, welche die Stadt von Norden her umsäumte, zog eine wellige Ebene dem Meer zu, wenig mit niedrigen Kiefern und Strauchwerk besetzt. Kein Weg führte aus dem Durchbruch der Stadt gerade hindurch zum Strand, der kaum zwei Stunden entfernt war; eine Kleinbahn umfuhr die Einöde in weitem Bogen. In vielen Senkungen der Ebene stand der Sumpf, schwarz und steif wie Leim; Ratten und Kröten hausten hier; öfter stieß ein Häher durch die Luft, schlug ein Weichtier an.

Wo sich die Hügelreihe am stärksten erhob, ragten quadratische und unförmige Steinblöcke scharf auf, Reste verwitterter Klippen. Die See hatte sich früher über das Land gestreckt; jetzt lag die Ebene verstört da; Meer und Erde wandten sich von ihr ab.

Diese Fläche war vor Jahren auf eine sonderbare Weise in den Besitz eines Barons Paolo di Selvi gekommen. Er war von einer Weltreise durch den Sund in die See gesteuert, um in der Stadt den Vater seines ersten Bootsmanns zu besuchen, der unter dem Äquator dem Schwarzwasserfieber erlegen war. Er stieg ans Land, sprühend von Laune, träumerisch, eroberungssicher. Breitschultrig ging er mit den leicht gebogenen Beinen des Reiters über die Anlegebretter. Der Wind pfiff scharf an dem Morgen, warf ihm die schiefsitzende Mütze mit einem glatten Schlag ins Wasser, so daß er barhäuptig und lachend unter seinen Leuten stand, die das böse Omen entsetzte. Seine Augen waren schräg gestellt, standen dicht an der Nase, die klein und stumpf war und mit ihrer Wurzel tief einsetzte. Die klaren, hellgrauen Augen stimmten schlecht zu dem Mund von mädchenhafter Weiche, zu der Sanftheit seiner Stirne. Er ritt auf einem schwarzen Hengst hinter einem Maultiergespann den weiten Umweg nach der Stadt. Zwei Truhen schleppte man zu dem alten Mann, den er suchte, eine mit Andenken und allem Nachlaß des Toten, die andere mit japanischer Seide und sibirischem Pelzwerk. Kaum zwei Stunden blieb er in der Stadt. Dann trabte er pfeifend und lachend, seine Mütze schwenkend, allein zurück, unkundig der Gegend, den kurzen Weg durch die Ebene.

Es ist nichts bekannt über die Vorgänge in der Ebene an diesem Mittag. Der Baron muß schon beim Eintritt in die Einöde vom Pferd abgesessen sein und sich zu Fuß durch den Sand und Morast gemacht haben. Beim nächsten Morgengrauen fand man den Vermißten besinnungslos auf der weißen Klippe liegen, lang auf dem Rücken ausgestreckt, über und über mit Lehm bedeckt, als sei er gestürzt und hätte sich um sich gerollt auf einer Flucht, das Gesicht geschwollen wie verbrannt, unter Bläschen glühend. Auch der Ärmel über seiner rechten Hand und die rechte Schulter war versengt. Man lagerte den Ohnmächtigen auf eine Bahre, trug ihn schräg herüber zur Chaussee, wo man ihn auf einem Heuwagen in die Stadt fuhr. Die wunden Flächen heilten. Der Baron sprach nicht; er schien nicht sicher zu wissen, was ihm geschehen war. Nur sahen die Krankenschwestern, daß seine Augen gegen Abend einen entsetzten Ausdruck annahmen, daß er den rechten Arm, die rechte Schulter wie zur Abwehr in die Höhe hob, sich duckte, versteckte, hinsank und trostlos wimmerte.

Als er genesen war, schenkte er die Jacht seinem ersten Steuermann, entließ die Leute und zog in die Stadt.

Zuerst bewohnte er ein Haus im Süden, ganz im Freien. Er pflog mit keinem Menschen Verkehr, viele Singvögel umgaben ihn. Nach einigen Monaten zog er an die Stadtmauer in eine ganz alte Wohnung, die einen Blick auf die dunstige Heide gewährte. Auf der Stadtmauer spazierte nun und saß der unzugängliche völlig veränderte Mann oder ritt auf der Chaussee langsam zum Meer.

Bis er nach Jahresfrist einmal frühmorgens durch die Straßen der Stadt ging, auf dem Marktplatz nach dem Baumeister fragte und diesen dann beauftragte mit kurzen Worten, ihm in der Heide auf der höchsten Anhöhe um die Klippe herum ein Wohnhaus zu bauen. Der Baumeister brauche sich nicht beeilen, sagte er, indem er die Arme verschränkte. Es solle ein Schloß werden, heimlich, weitläufig, mit vielem festlichem Schmuck, denn er wolle in sechs Monaten seine Gemahlin heimführen.

So zogen die Wegebauer in die entsetzliche Heide, stampften von der Chaussee her einen sicheren Weg nach der Klippe. Maurer fuhren lärmend an, planten den Hügel ab, gruben Pfeiler ein. Sie umbauten den Felsen, der sich bis zum ersten Stock des Hauses erhob und frei in die Zimmer ragte. Ein weitgedehntes Gebäude aus grauem Kalkstein richteten sie auf, mit bunten Fenstern, zierlichen Türmen. Mitten in der Einöde erhob sich das Schloß, zum Gelächter der Bauleute, zum Kopfschütteln der Städter.

Knapp einen Monat, nachdem Zimmer und Wände mit Kostbarkeiten gefüllt waren, führte der Baron eine fremde junge Frau in sein Schloß. Sie erschien einmal im Theater der Stadt, die Portugiesin, ein braunes, kindliches Wesen, das nicht vom Arm des Mannes wich. Der lachte wie früher, bezauberte alle. Sie tanzten an dem Abend im Bürgersaal. Der Baron spitzte seinen Mund und pfiff im Tanz. Er strich den braunen Vollbart, zeigte spottend die Brandnarben seiner rechten Hand. Das zweite Mal, daß man von der Portugiesin hörte, war eine Woche später, als ein reitender Bote nachts vom Schloß her jagte, dem Arzt die Tür einschlug, ihn nach der Heide schleppte an die Leiche der jungen Frau. Sie lag mit blaurotem Gesicht im Nachtkleid auf dem dunklen Korridor vor ihrem Zimmer. Neben ihr lag zerbrochen Leuchter und Kerze, mit denen sie gegangen war.

Der Baron folgte der Untersuchung des Arztes mit starren Augen. Keine Miene verzog er, keine Frage beantwortete er. Aus den Worten einer schluchzenden Zofe hörte der Arzt von einem Herzleiden der fremden Frau. Er knöpfte seinen Pelz zu; sie war wohl einer Lungenembolie erlegen.

Nach drei Wochen erschien der Baron wieder in der Stadt. Man lud ihn zu Gesellschaften. Oft und öfter ritt er in die Stadt, er fuhr zur Jagd, beteiligte sich an Rennen, saß abends beim Wein, erzählte versunken von seinen Fahrten und Abenteuern. Lange Zeit sah man ihn schwärmend, träumerisch mit den Soldaten und Seeleuten der Stadt. Er fuhr eines Märztages mit einigen von ihnen wieder in See. Es kam nach einem halben Jahr ein Brief von ihm an bei dem Verwalter seines Schlosses, daß die Wohngemächer grün auszuschlagen und grüne Läufer zu legen seien. Im Damenzimmer sollten Orchideen gesetzt werden.

Er kehrte zurück. Wieder führte er eine junge, fremde Frau auf sein Schloß. Diese hat kein Städter gesehen. Eines Morgens lag sie im schwarzen Reitkleid, den Schleier vor dem stolzen, weißen Gesicht, eine Gerte in der Hand, tot auf dem Hofe des Schlosses.

Im Volk, bei den Schiffern und Vorstadtarbeitern, munkelte man, wenn der finstere Baron im schwarzen Ledermantel vorüberritt. Die Kinder schrien vor ihm auf, schossen mit dem Katapult auf seinen Hengst.

Die Tochter eines Ratsherrn, ein schmächtiges, hellblondes Mädchen, sah ihm vom Fenster nach. Ihr traten Tränen in die taubengrauen Augen, wenn die Männer grimmig von dem schwarzen Ritter sprachen. Sie weinte in ihrem Zimmer um ihn, war eines Tages auf seinem Schloß und wurde seine Frau. Alle angstvollen Beschwörungen der Verwandten konnten dies nicht verhindern.

Scharen von tobenden Menschen aber wälzten sich über den dunklen Weg nach dem Schloß, noch ehe ein Monat verstrichen war, als man die Leiche des süßen Geschöpfes eines Abends an dem Tor des Schlosses nahe dem Weg zur Chaussee fand. Die Polizei umringte das Schloß, nahm den Baron in Haft. Das Gericht verfügte die Ausgrabung der beiden ersten Frauen, die genaue chemische Untersuchung der drei Leichen auf Giftstoffe. Die Analyse war ohne Ergebnis. Der Baron wurde auf freien Fuß gesetzt. Das Volk streckte die Hände nach ihm aus, wollte ihn zerreißen, als er zusammengesunken, den Revolver in der rechten Hand; langsam nach der Heide hinausritt.

Von nun an mied er die Stadt völlig. Hauste allein in der Heide. Nur sein Reichtum hielt die Dienerschaft im Schloß zurück.

Da landete eines Tages eine kleine Jacht vor der Stadt. Ein silbernes Horn blies über die Heide; Miß Ilsebill kutschierte ein Schimmelgespann durch die glatte Chaussee nach der Stadt. In dem Gasthof am Markt logierte sie sich ein.

Fragte den Wirt nach dem Baron Paolo und seinem verrufenen Schloß. Fragte zum zweiten, ob jetzt noch eine Frau bei ihm wäre. Fragte zum dritten, wo sie ihn sehen könne.

Bei den Rennen, morgen in Stirming.

Frühmorgens rüstete man das Gespann. Der Groom stieg auf den Bock. Auf dem Polster schaukelte Miß Ilsebill.

Die schnurgraden Alleen herunter sausten die Automobile. Lenkten in weitem Bogen vor das Portal der Rennbahn. Der Himmel stahlblau. Es wehte sommerliche Luft. Die Menschen drängten auf die Rennbahn, füllten die Tribüne um den weiten, grünen Rasen. Lärm der Stimmen und Gefährte brauste, ein Riesenvogel über die leere Fläche.

Die Miß fuhr zuletzt, kurz vor dem Start, am Sattelplatz vor. Zwei sanfte Schimmel zogen den offenen blauausgeschlagenen Wagen durch den knirschenden Sand. Sie stieg aus, im blauen wallenden Samtkleide, eine weiße Feder wehte in den bloßen Nacken. Glitt durch die hölzerne Sperre auf ihren Platz. Sie hatte eine gelbweiße Haut, ebenmäßige Züge. Ihre tiefschwarzen Augen schlüpften zögernd über die Menschen und Gegenstände, wie ein schleimiger Schneckenleib, ließ eine Spur. Sie saß lächelnd da. Kaute Schokolade.

Baron Paolo lehnte an der Stange. Er sah mit Vergnügen die weißen Pferde antraben, hielt seinen weichen Filzhut zum Schutz über die spähenden Augen. Als die weiße Straußenfeder steil in dem Winde sich aufstellte, ging er die vier Stufen der Treppe hinunter, schob sich seitlich durch die Menge, trat vor Miß Ilsebill. Er hob die hohlen Hände wie ein Araber auf. Beugte seinen Nacken vor ihr. Sie erschrak und lachte.

Calvello hieß der Favorit. Das braune schlankbeinige Tier jagte lässig hinter dem Rudel. Schon waren zwei Runden um, die Entscheidungsstrecke kam. Miß Ilsebill ließ das Silberpapier fallen, stützte das feste Kinn auf die Hand, jauchzte über die gebundene Ruhe des Pferdes. Sie waren dicht am Ziel: da legte sich der blauweiße Jockey dicht an das Ohr des Pferdes, flüsterte: „Calvello, ho, Calvello.“ Das Tier senkte den Kopf, flog in vier Sprüngen hin, siegte. Sie strahlte. Der Lärm der Menge rauschte über sie.

Kaum das Hürdenspringen vorüber war, stand sie auf, lud den schweigenden Mann zu einer Spazierfahrt mit ihr ein. Während sie durch die Wälder im Süden der Stadt fuhren, sagte er, daß er der Baron Paolo di Selvi sei, daß er durch sein Geschick hierher verschlagen sei und drüben in der Heide wohne. Sie erzählte, sie wäre Miß Ilsebill; er hätte auf seinem Heideschloß drei Frauen verloren, und sie trauere über sein Geschick.

Worauf er einen trüben Blick auf sie warf, den grauen Kopf senkte; der Groom aber riß die Schimmel herum; sie fuhren die Chaussee zurück, auf den geraden Weg zur Heide. An der Wendung der Schloßallee verengerte sich der Weg. Paolo nahm dem Kutscher die Leine ab. Die Pferde sträubten sich. Er stieg aus und riß sie vor. Unter Peitschenhieben zogen sie an, sie schnaubten und wollten durchgehen, aber er hielt die Leine straff.

Prunkend stand in der Wüstenei das graue Schloß; über dem Dach des Damenflügels ragte die Spitze einer weißen Klippe. Paolo saß aufrecht im weißen Hut. Eingefallen waren seine braunen Wangen und seine Schläfen, seine schräg gestellten grauen Augen blickten leer, nur sein Mund rund und weich und sehnsüchtig wie immer. In der Dämmerung kamen sie vor sein Haus. Am Portal gab er ihr zum Abschied die Hand. Miß Ilsebill stieg aber aus und bat sich bei ihm zu Gaste auf ein paar Tage. Sie wollte ihn pflegen und mit schöner Musik erheitern. Sie bezog die Zimmer des Damenflügels.

Sie ritten morgens und mittags aus. Ilsebill sang und spielte vor ihm in den Gemächern. Sie trug bunte und nixengrüne Gewänder. In ihren Augen war ein weißes Schimmern, wenn sie auf den Teppichen tanzte. Ihr schwarzes Haar hatte sie in Zöpfen gebunden, die sie mit den blitzenden Zähnen festhielt.

Paolo lag stumpf auf den Polstern, rauchte und hüllte sich in Dampf, später warf er sich auf den Teppich, sah ihr neugierig aus seinen hellen Augen zu, hörte sie summen zu der Guitarre, in die ihre Dienerin griff. Seine Stimme wurde heller, sein Gang rascher.

Und als sie einmal auf dem Balkon standen, brach sie in ein ungefüges Weinen aus. Sie wollte wissen, was mit ihm sei, sie wollte ihm helfen. Er aber nahm ihre beiden gelbweißen heißen Hände, legte sie auf seine Stirn, indem er die Worte eines fremden Gebets flüsterte. Sie hing an seinem Hals, während er entsetzt bebte und lauter sprach und schrie, was sie nicht verstand. Schon war er wieder still und sanft, geleitete Miß Ilsebill in ihr Zimmer.

Und am Abend schlich sie sich, indessen der Baron im Herrenflügel schlief, allein trotzig und finster an die Tür des verschlossenen Zimmers, in das die Klippe hineinragte. Sie rüttelte an dem Holz, stemmte sich seufzend mit der Schulter an; das Schloß hielt fest.

Da nahm sie das goldene Kreuz vom Halse ab, flehte die Mutter Gottes um Hilfe an, fand am Fuße der Tür einen Riegel bloßliegen, schob ihn, den Finger einschlagend, in die Höhe, mit schwerer Mühe, so daß ihr Arm schmerzte.

Lautlos sprang die Tür auf. Miß Ilsebill, die zarte, in ein schwarzes Tuch geschlagen, hob die Kerze. Es war ein schmales, freundliches Gemach, mit zärtlichem Frauentand die Tischchen und Wände bedeckt. Der rohe, zackige Felsen bildete die breite Hinterwand; er schattete sonderbar in dem unsicheren Lichte. In seiner Nische über dem Boden stand das grünbezogene Nachtlager, zu dem zwei Stufen führten. Miß Ilsebill tänzelte freudig über den dicken Teppich, warf ihr Tuch ab, sog den schwachen Blumengeruch ein, zündete zwei Ampeln an und war in dem heimlichsten Zimmer. Grüne japanische Seide hing von der Decke herab. Bilder und Tapeten lächelten ruhevoll und sanft. Die sonderbare Klippe schimmerte wie ein spielerischer, phantastischer Einfall.

Sie legte leise die Tür an, sprang auf das Lager, lag träumend stundenlang, schlüpfte frühmorgens wieder durch die Korridore auf ihr Zimmer, nachdem sie das Licht gelöscht, sorgfältig die schweren Riegel herabgeschoben hatte. „War nichts geschehen, ist mir nichts geschehen,“ seufzte sie glücklich vor sich hin. Glitt nun Nacht für Nacht hinüber in das Felsenzimmer, dort zu schlafen.

Des Tages aber fand Miß Ilsebill kein Ende des Plauderns, Singens und Lockens vor dem versunkenen Manne. Aus ihren tiefschwarzen, schlüpfenden Augen schlug öfter ein greller Blick zu ihm. Und als sie einmal unter den fünf raschelnden Schleiern vor ihm getanzt hatte und er lachend über ihre tollen Sprünge ihre Handgelenke hielt, warf sie ihre Schönheit vor ihm hin und bettelte an seinem Hals: „Ich bin Ihr Eigen, Paolo.“ „Sind Sie das, Miß Ilsebill? Sind Sie das?“ Und sein Blick war nicht grell und heiß, sondern derart schwermutsvoll, fragend und ohne Trost, daß sie von ihm abwich, die Schleier um sich warf und aus dem Zimmer schlich. Er umgab sie aber mit so viel stiller Ehrfurcht, daß er die blaßwangige Ilsebill ganz in staunendes Glück versenkte.

Auf ihren Streifzügen durch die Wälder trug der schwarze Ritter sie oft auf den Armen und betete, manchmal in die starken Knie sinkend, in fremder, harter Sprache. Sie hob nie die Lippen zu seinem Munde, nur selten nahm er ihre gelbweißen Hände und preßte sie an seine Stirn.

Welche Kleider trug Ilsebill mit feinen Knöcheln? Wieviel Zöpfe hingen aus ihrem blauschwarzen Haar? Grüne Kleider, wie die Seide in dem Felsenzimmer trug Miß Ilsebill. Grüne Blätter lagen auf ihrem Haare und waren eingeflochten in drei dichten Zöpfen.

Miß Ilsebill und Paolo spielten und jagten zusammen, sie saßen oft am Meere, sie träumten zu zweit. Paolos Augen sprühten.

Eines Mittags sagte sie ihm, daß sie ihn um etwas bitten möchte. Und als Paolo freundlich fragte, biß sie sich auf die Unterlippe und meinte, daß sie ihm etwas sagen müsse. Ob es nicht zweckmäßig wäre, wenn sie einen Arzt kommen ließen aus der Stadt; sie glaube, sie sei etwas krank. Paolos Lippen wurden schneeweiß, er atmete schwer mit geschlossenen Augen: was ihr denn fehle. Sie höre immer, fast immer ein leises Scharren. Es sei ein Geräusch, ganz weit entfernt, ein gleichmäßiges Streifen, Rieseln und Scharren. Als liefe ein Tier über Sand und bliebe immer wieder schnaufend stehen. Es sei so fein, daß es wie ein Pfeifen klinge.

Er stand am Fenster und blies gegen die Scheibe. Fuhr mit rauher Stimme heraus, es sei kein Arzt not bei solcher Krankheit; sie müsse sich zerstreuen; sie müsse jagen, reisen; am besten, sie ginge fort von hier. Da lachte Miß Ilsebill aus vollem Halse und sagte, ihre beiden Pferde seien nur schwer den Weg hierher gelaufen, und jetzt: wo fände sie Pferde, die sie zurücktragen würden ohne ihn. Der untersetzte Mann hatte sich umgedreht, seine Stirn lag in Falten, sein mageres Gesicht glühte, er klagte heiser: sie solle gehen, sie solle gehen, sie solle gehen, er wolle sie doch nicht. Er wolle kein Weib und keinen Menschen und nichts. Er hasse sie alle, die höhnischen, sinnlosen Wesen. Sie solle gehen, oh sie solle gehen. Ein Messer wolle er ihr gleich geben, damit solle sie sich ihre Krankheit aus dem Herzen schälen.

Wie Miß Ilsebill mit schaukelnden Hüften auf ihn zuging, kam er auf sie gewankt, taumelnd wie ein Kind, sah sie an derart schwermutsvoll und ohne Trost, daß sie sein Haar streichelte und in fesselloses Schluchzen ausbrach, als er an ihrer Brust zitterte. Sie stellte keine Frage an ihn; sie nahm heimlich einen Dolch von der Wand, versteckte ihn unter ihrem Kleid.

Miß Ilsebill ging nun in ihrem dünnen Kleid oft allein aus. Sie streifte bis an die Stadtmauer, brachte Paolo seltene Muscheln, blaue Steine mit, auch streng duftende Narzissen, die er liebte. Und auf einem Wege sprach sie in der Vorstadt einen alten Bauern, der erzählte, der Baron habe sich mit Leib und Seele einem bösen Untier verkauft. Er schüttelte den Kopf, als sie sagte, sie wohne in dem Schloß. Ob sie denn nicht wisse. Das mit dem Schloß, mit der Einöde, mit dem Felsen, dem Sumpf.

Was denn damit sei.

Habe sie nicht auch schon das Scharren und Kratzen gehört.

Kratzen? Kratzen nicht. Aber was sei damit.

„Ja, da liegt ein Untier, ein Drache. Das liegt da auf dem alten Meeresgrund. Das alte Meer hat es nicht mit fortgeschwennnt. Ein Unglück ist es, eine Gefahr für die Menschen, die heute leben. Es braucht Menschen.“

„Nein, lieber Bauer.“

„Nein, Miß Ilsebill. Warum sagt Ihr nein? Habt Ihr die Portugiesin gekannt und dann die andere und dann die von unserem Ratsherrn. Das waren drei Menschen. Drei, von denen wir wissen. Es sind viel mehr.“

„Und jetzt wird es mich holen.“

„Wer weiß, Miß Ilsebill. Wen der Drache anfällt, der muß ein gerade gewachsener Mensch sein. Ich kenne Euch nicht. Laßt Euch nicht in Versuchung führen. Die Heide ist ein Unglück. Man muß stark im Glauben sein. Und frei von den bösen Gelüsten. Ein schweres Ding. Den Ritter hat der Drache fast zerrissen, die Frauen hat er getötet.“

„Lieber Bauer, was sucht der Ritter Paolo in der Heide?“

„Er findet nicht aus noch ein. Die Heide ist ein Unglück. Er sollte wegziehen. Er kann nicht gesund werden. Und Hilfe gibt es nicht.“

Sie hörte es mit Glück, denn sie wußte es schon lange. Sie spielte auf ihrem Zimmer mit Eidechsen, die sie fing. Als Paolo sie einmal unter Lächeln klagen hörte, sie suche im Grunde nur nach dem Tier, das so laut scharre und murre und raschele, meinte er, nach einem langen, schüttelnden Gelächter, er wolle einen Dichter einladen, den er kenne in der Stadt. Der solle sie mit Märchen und seltsamen Geschichten unterhalten. Es sei ein seelenkundiger Mann.

Am nächsten Mittag spazierte über den breiten Hauptweg der Dichter auf das Schloß. Sie saßen zu dritt bei Tisch. Dann lud Paolo ihn ein, den Arzt zu spielen bei Miß Ilsebill und ihre Schwermut zu beheben. Denn es scheine ihm eine Art Schwermut zu sein, was in ihr scharre und raschele und sie zu verschlingen drohe.

Der Dichter sprach mit ihr auf ihrem Balkonzimmer. Es war ein schlanker junger Mann mit langen Armen und mit freien Bewegungen. Er fuhr über sie mit herrscherischen Blicken. Sie lachten zusammen, über ihre Bilder gebückt. Er bat sie, sie möchte tanzen, als schon die Lust dazu in der Wilden erwacht war. Sie tanzten zusammen unter Ilsebills letztem Schleier, und die Entfesselte sprang mit ihm auf den Balkon und lachte mit einmal über das Schloß und den Sumpf und die scharrenden Tiere.

Sie krümmte sich über das Eisengitter, schrie ihr Gelächter über die dämmrige Heide hin.

Wahnsinnig, ja wahnsinnig wäre sie selbst. Wahnsinnig und eine Leiche sei sie, hier geworden. Eine Leiche bei lebendigem Leibe. Mögen alle vorsintflutlichen Drachen ausbrechen und Paolos Glück morden. Sie kenne nur ein Tier, das ausbrechen wolle, und das sei sie selber.

Sie streckte ihre runden Arme über sich, rief das Meer an. Sie wolle wieder fort. Sie wolle reisen und wandern und wolle immer lieben und immer küssen. Und eh die Dunkelheit einbrach, ging der Dichter. Trällernd riß sie ein grünes Blatt aus ihrem Haar und steckte es zwischen seine Lippen.

Kaum war es finster im Schloß geworden, da warf sich Miß Ilsebill ihr schwarzes Tuch um, nahm noch mit glühenden Wangen eine Kerze in die Hand und belud ihren linken Arm mit zwei Scheiten Holz. Sie wollte zum Schluß die Felsenkammer in Brand stecken und dann in Nacht und Nebel verschwinden. Auf dem Meere wartete schon die Jacht, die der Dichter zur Flucht besorgt hatte.

Den dunklen Gang keuchte sie hin. Aus dem Dunklen, ihr entgegen, kamen Schritte. Die Scheite ließ sie über die Knie leise zu Boden gleiten. Es war Paolo. Der sie nicht fragte, ihre Kerze sachte an den Boden stellte, sie zärtlich, ohne zu sprechen, streichelte über Haar und Hände. Die schwarzen Augen Miß Ilsebills schlüpften nicht fort von seinen, die in ihr suchten, voll Teilnahme blickten und einen erschreckenden Trost spendeten, schlüpften nicht ab von der ruhigen Aufgeschlossenheit seines heiteren Gesichts. Seine schräggestellten Augen strahlten über sie gar eine Dankbarkeit, sein Mund näherte sich zum ersten Male ihren Lippen und küßte sie. Er sagte, sich von ihr lösend, er ginge noch heute in die Stadt.

Sie kauerte auf dem Gang, die Kerze war erloschen, sie war verwandelt, eine unbezwingliche Angst schüttelte ihre Schultern. Sie hielt das Kreuz in beiden Händen hoch. Sie richtete sich auf. Die Scheite ließ sie liegen. Sie mußte über den Gang. Sie mußte nach der Tür. Sie mußte in die Kammer. Hart war ihr Gesicht, dann verzerrte es sich hilflos. Hinter dem Kreuz schleppte sich Miß Ilsebill, weinend und kasteiend. Den Riegel schob sie hoch. In der Kammer ging sie händeringend auf und ab, schlug sich die Brust, schlummerte auf dem weichen Teppich ein.

Im Traume hörte sie ein Scharren und Krachen, lautes Rufen einer Männerstimme: „Ilsebill, rette dich; rette dich, Ilsebill, Ilsebill!“ Richtete sich auf.

Kam aus dem Felsen eine blasende Flamme, ein brennender Mund her. Der Felsen sprang auseinander, aus der Höhle strömte das Wasser, wälzte sich ein grauenhaftes Meeresungeheuer, eine Meduse mit zahllosen ringelnden Fängen; aus dem Leib schlug eine zitternde, blaurote Flamme wie der Atem. Miß Ilsebill stürzte nach der Tür; die fand sie nicht; da schrie sie gell und wahnsinnig: „Paolo, Paolo.“

Das Untier zischte nach ihr; eine lähmende Süße durchfloß sie; sie schlug in Todesangst gegen die Wand. Ein blanker Spieß hing da, sie riß ihn herunter, schleuderte ihn blind in die Flamme hinein. Halbumfallend fand sie die Tür, lief, schreiend, mit den versengten Händen um sich schlagend, über die stummen Gänge. Blieb vor ihrer Zimmertür liegen.

Bis an den grauen Morgen lag die stolze Miß Ilsebill. Als sie sich aufrichtete, löste sie mit starrer Ruhe ihre Schuhe und Strümpfe ab, band sich die Zöpfe auf, ging barhäuptig, in bloßem, dünnem Röckchen aus dem Hause, durch den Torweg nach der Stadt zu über die Heide, bis da, wo die Birken stehen. Sie wandte sich nicht einmal um.

Hinter ihr tobte es. Vom Meere her kam ein Donnern und Bersten. Eine Springflut, eine meilenweite graue Wand durchbrach die Dämme und Deiche, setzte rollend und schäumend über die verwunschene Ebene, bedeckte wieder, was ihr schon einmal gehört hatte, dazu das graue Schloß. Das furchtbare Wasser warf seine Wellen bis dicht an den Berg heran vor der Stadt, auf dem die Birken standen. Ilsebill wanderte auf den Berg.

Und wie sie zwischen den Bäumen ging, stieg der Nebel in den Wald. Aus einem Baume, an dem sie betete und ihr Kreuz aufhing, trat ein feiner, feiner Rauch, der süßer als Flieder duftete. Er legte sich um die wandernde Ilsebill, so daß sie eingehüllt war in die Falten eines weiten, duftenden Mantels. Sie sah keinen Schritt vor sich und keinen Schritt hinter sich. Und als sie merkte, daß der Mantel der Mutter Gottes sie einhüllte, fing sie an zu weinen wie ein zages Mädchen. Rascher und rascher lief sie, aber sie stürzte bei jedem Schritt: „Ich möchte doch leben. Ach, liebe Mutter Gottes, laß mich doch die Blumen noch sehen, laß mich doch die Vöglein sehen. Ach, liebe Mutter Gottes, sei gut zu mir. Ich sehe, du bist gut zu mir, wie ich zu dir bin.“ Ihre Lippen blaßten. Sie wurde dünner und dünner. Seufzend löste sie sich auf. Verschwand in dem feinen Nebel, der über die Birken zog.

Schon hob sich die Sonne über dem Wasser, da trabte langsam ein schwarzer Hengst mit einem Reiter durch den Mauerdurchbruch von der Stadt her. Der Reiter ritt über den Berg, und wie er auf der Höhe stand, schäumte meilenweit vor ihm das graue tobende Wasser und kein Weg und kein Schloß. Er stieg ab, band das Pferd an einen Stamm, ging zwischen den Birken. Ein winziges goldenes Kreuz hing an einem Baum; um den ging ein süßer Geruch herum. Er zog den weichen Hut, kniete nieder und legte die Stirn an die Rinde: „Große Angst hast du uns beschert, holde Mutter Gottes; große Liebe hast du uns beschert, du holde Mutter Gottes.“

Die Städter sahen noch einmal den schwarzen Reiter an diesem Tage des Dammbruches durch die Stadt jagen. Dann hörte man nach vielen Jahren wieder von ihm, als die Kämpfe in Mittelamerika tobten. Als Führer einer Freischar gegen die heidnischen Indianer fiel er damals mit seiner ganzen Mannschaft bei einem heimtückischen Angriff.

Die Segelfahrt

Die Segelfahrt

Die Digue von Ostende lag in dem blitzenden Mittagslicht. Die geschmückten Menschen auf der breiten Meerespromenade lachten und gingen aneinander vorüber. Unter dem Widerschein des unermeßlichen Wassers funkelten die Fenster der Strandhäuser zärtlich auf. Das unablässige Brausen des Meeres rollte von den Steindämmen zurück, schwoll wieder an, schwoll immer wieder ab.

Der schwere Brasilianer ging mit offenem Munde unter den geschmückten Menschen. Er ging dicht am Meeresgitter der Promenade. Er hielt den Kopf gesenkt wie überrieselt vom Badewasser; seine vollen Lippen waren feucht. Die schwarzen, weißdurchzogenen Haarsträhnen fielen über seine Ohren. Er bog den Kopf mit dem Kalabreser nach rechts und links, um dem Anprall des scharfen Windes zu begegnen. Er streifte ab und zu mit einem freudigen Blick das graugrüne Wasser. Sein gelbbraunes schwammiges Gesicht zuckte, die Augen, die in grauen Höhlen lagen, schimmerten; er spürte den feinen Luftwirbeln nach, die um seinen bloßen Hals fuhren, das graue Schläfenhaar anhoben und gegen seine Wange mit feinen Stiletten anschwirrten. Er fror leise; blickte an seinem weißen Vorhemd entlang, über das weißer Sonnenschein floß, und einen Augenblick beunruhigte ihn der Gedanke, daß sein Blick vielleicht Schatten werfe. Er seufzte, drängte sich tiefer in die Menschen.

Das Schüttern des Eisenbahnzuges schwang noch in ihm nach, der ihn gestern von Paris an die See getragen hatte.

Fluchtartig hatte er Paris verlassen, fluchtartig war er auf seiner Jacht aus der Heimat über den Ozean gefahren, aus einem hoffnungslosen Glück; plötzlich seiner achtundvierzig Jahre gedenk. In Paris hatte er vier Monate lang die Schwelgereien der Kunst, der glatten Säle, die bestialischen Tänze ertragen: dann warf ihn eine schwere Lungenentzündung hin; er lag aufgegeben wochenlang im Hospital. Als er am Sonntag das Haus verließ mit schwachen Knien, schlug er den Kragen seines Loden-Capes hoch, bestieg eine Droschke, fuhr auf die Bahn. Einen Tag schlich er gebeugt durch das tote Brügge. Dann raffte er sich auf, jagte in der Julihitze nach Ostende.

Er hob den Blick vom dünnen Sande, der unter seinen Füßen wegzog.

Sie glitt zum zweiten Male an ihm vorüber; rostfarbenes Haar unter breitrandigem, weißem Hut. Ein grauer Blick aus einem klugen, nicht jungen Gesicht wich vor ihm zurück. Sie war vielleicht Mitte dreißig. Er hörte noch hinter sich eine hohe gesangvolle Stimme.

Bei dem Klang dieser Stimme wandte sich Copetta um. In dem Augenblick hörte der Wind auf mit Messern zu werfen. Sie sprach mit einer alten Dame, die sie stützte. Der Brasilianer schob den Hut in den Nacken; eben als er über ihre schmalen Schultern blickte, schwarzer Überwurf auf dunkelblauer Seide, verlor er sie. Der weiße Hut wippte über der Menschenmenge, verschwand um eine Ecke.

Copetta schlenderte in ein Café, löffelte eine Schokolade. Das Meer rollte unablässig gegen die Steindämme; leises Scharren der Sandkörnchen; der Wind warf mit dünnen Stiletten.

Nachmittags um die Zeit des Kurkonzertes ging der schwarze Brasilianer in einem langen grauen Gehrock über die Digue. Leicht und frech wehte die Musik. Als er mit seinem dicken gelben Stock vor dem Kurhaus Schritt um Schritt den Boden stampfte, wich ein grauer Blick wieder vor ihm zurück. Die alte Dame sprach auf sie ein. Ihr Gesicht war schmal, die Backenknochen traten scharf hervor; die kleinen Augen unter den dünnen roten Brauen blickten bestimmt und nüchtern, über der Nasenwurzel hatte sie Sommersprossen, von den Augenwinkeln zogen sich Fältchen. Ihr Gang schwebte.

Der Brasilianer strich sich über die Augen, blieb unwillig stehen, schlenderte weiter.

Gegen Abend saß er auf der Veranda seines Hotels. Als er die Weinkarte in die Hand nahm, fiel ihm ein, daß er heute dreimal eine Frau gesehen hatte, rostfarbenes Haar unter einem wippenden Hut; dreimal eine Frau, schwarzer Überwurf auf dunkelblauer Seide; ein grauer Blick. Still schob er seinen Hut zurück, mit Seufzen, Lächeln und Vorsichhinstarren zog er seine Brieftasche heraus, trug seine breite Visitenkarte in die Villa, in der er sie hatte verschwinden sehen, gab sie einem Mädchen ab. Als er wieder die Meerluft an seinem Hals fühlte, fragte er sich, wozu das eigentlich gewesen war. Dröhnend schlug er seine Zimmertür hinter sich zu, warf sich im finstern Zimmer auf einen Schreibsessel, zerriß die Bilder seiner Kinder, nahm eine Nagelschere, zog seinen edelsteinbesetzten Trauring ab, hing ihn über die Schere, hielt den Ring über die brennende Kerze. Die Steine verkohlten; die Schere wurde heiß; er ließ sie fallen. Wühlte mit beiden Armen in zwei großen Eimern mit Meersand, die er sich auf sein Zimmer hatte bringen lassen, stand ächzend auf, bestreute den Boden und Teppich blind mit Sand, fluchte leise auf die Hunde, die Hausdiener, die zu wenig Sand gebracht hatten. Schlief auf seinem Sessel ein.

Wie er am Mittag eben auf der Veranda, in einem Stuhle liegend, tief die scharfe Luft einatmete und schwindlig die Augen schloß, stand vor ihm das Bild der gehenden Frau, sehr schmales, verwelktes Gesicht, ein klarer, bestimmter Blick, der sich fest auf ihn richtete. Sie hatte ihn bitten lassen, nicht Mittags sie zu besuchen. Er warf die dünne Decke von seinen Füßen, stülpte den Hut über das zerwühlte Haar, schritt schwerfällig, die Arme auf der Brust verschränkt, die Stufen herunter, über die leere sonnige Promenade, auf ihre Villa zu, ein einstöckiges Haus mit schmalen, geschlossenen Fenstern. Er schob sich durch einen dunklen Korridor, klopfte leise an die Tür, an der ihr Name auf einer Visitenkarte stand. Nichts verlautete. Er riß die Tür auf.

Sie lag halb im Bett; hatte, um herauszuspringen, die blaue Decke nach der Wand zu geworfen. Zwei volle frauenhafte Beine berührten mit feinen Zehen eben den Boden, ein sehr schmächtiger, strenger Körper richtete sich auf in einfachem bandlosem Hemd, ein ernstes, schmales Gesicht unter dem aufgelösten Haar.

Erschüttert blieb der schwarze Brasilianer an der Tür stehen. Sie lächelte, deckte sich zu, bat ihn, in einer Viertelstunde wiederzukommen. Totenblaß, ohne ein Wort zu sprechen, hob er seinen Stock vom Boden auf. Das alte Mädchen gab ihm die Hand; er sah in kleine nüchterne Augen.

Am Abend kam ein Bote aus seinem Hotel zu ihr; er lud sie zu einer Segelfahrt für den nächsten Morgen ein; nicht einmal seinen Namen hatte er auf der Karte unterschrieben. Sie drehte den mächtigen Briefbogen in der Hand hin und her; halb unwillkürlich nahm sie einen Bleistift, schrieb auf dasselbe Blatt, er möchte kommen, er möchte recht früh kommen; sie machte unter ihren Namensbuchstaben L noch einen wunderlichen Schnörkel, den sie fast eine Minute malte.

Bei grauendem Morgen lief sie ihm vor der Tür in dünner Bastseide entgegen; sie sprangen eilig die schmale Steintreppe zu dem murmelnden Strand herunter; sie warf mit Muscheln nach ihm zurück und fand als sie sich nach ihm umwandte, daß es in seinen Mienen leidenschaftlich zuckte. Ganz weißes Leinen trug er; er ging mit bloßem Kopf; die linke Hand trug er im Gelenk verbunden; er sagte, er hätte sich gestern Abend beim Fall über Glas an der Ader geschnitten. Mit einem Ruck stieß er ein kleines Ruderboot in das Wasser, hob die Aufschreiende auf den Sitz, sprang nach, ruderte gemächlich auf ein Segelboot zu, das vor der Holzbrücke am Herrenbad schaukelte. Sie sprangen in den Segler; Copetta zog schon den Anker; ihre bloßen Arme hielten sich an der Steuerbank fest, leise klangen die hölzernen Mastringe an, nach einem Zug blähte sich das Großsegel; das Boot ging in See.

Sie fuhren durch die Strandgischt in das graugrüne Meer hinein. Über die scharfe Horizontlinie kam ein weißer Schein, der sich von Augenblick zu Augenblick verstärkte und höher rückte. An dem starken Morgenwinde flogen sie gleichmäßig hin. Nun hockte der Brasilianer neben dem Großbaum auf den Planken, legte die Takelung fest. Wild lachend richtete er sich auf, schwang breitbeinig ein dünnes Tau wie ein Lasso um seinen Kopf und warf es gegen sie; sie schüttelte sich umschnürt, löste sich mit einem Ruck, schleuderte das Seil geballt mit einem mädchenhaften Kichern gegen seine Brust. Rasch hatte sie das Ruder angebunden an sich, sich über Bord gebückt, überschüttete ihr kaltes Gesicht mit Meerwasser, warf, einen Fuß auf der Ruderbank, bis über die Ärmel triefend, zwei volle Hände gegen ihn. Er fing das Salzwasser schlürfend mit offenem Munde auf, schluckte. In dem böig aufblasenden Wind ließen sie das Boot laufen, das anfing wie ein unruhiges Tier zu zittern. Sie jagten sich über die Planken. Johlend sprang die Schmächtige auf die Ruderbank und schlug mit den Fäusten gegen die Takelung. Sie riß sich ihre dünne Jacke ab, pfiff und drehte sich um sich selbst. Ihr Mund mit den dünnen Lippen öffnete sich oft zu einem kurzen, kindlichen Lachen.

Der breitschultrige Brasilianer saß zusammengesunken auf dem Bordrand; erschüttert hörte er ihr Lachen, mit bebenden Lippen, hochgezogener Stirn hielt er ihren Kopf, als sie sich über seine Knie legte und ihn neugierig betrachtete. Seine steinharten Hände stemmten ihre aufstrebenden Schultern ab; er wiegte den Kopf verneinend hin und her. Die Wellen krochen über Bord, sie schlüpften wie kleine Hunde sacht an ihnen herunter auf die Planken. Der Wind nahm an Stärke zu. Das Boot legte sich stark über, das Kleid des Großsegels fing an zu flattern, sie schossen in den Wind.

Die schwarzen, fast glasigen Augen des Brasilianers sahen über ihr triefendes Haar weg, das alte Mädchen suchte mit zurückgebogenem Kopf nach seinem Munde, seinem Hals, sie tastete sich an seiner Brust hin. Sein schwammiges, zerfaltetes Gesicht war gelöst, als ginge immer ein feierliches, glückerfülltes Wort um ihn herum. Das Boot schwankte steuerlos, Welle auf Welle rollten an. Copetta saß auf dem Bootsrand. Als eine hohe Wand gegen das Boot ging, hob er weit die Arme auf, legte sich wie auf ein Kissen mit dem Rücken gegen die Welle. Das Polster glitt zurück. Sie hörte, wie er etwas murmelte; sie sah noch den berauschten, verschlossenen Blick, mit dem er verschwand.

Ein Stoß des Bootes warf sie gegen den Mast. Sie fühlte keinen Schmerz in ihrem blutigen Arm. Sie schrie nach der Stelle hin gellend Hilfe, lange Rufe stieß sie aus. Man fand sie bald in dem treibenden Boot liegen. An Land erwartete man sie. Man wußte alles; Copetta hatte ein Telegramm an die Behörde geschickt.

Sie blieb noch eine Woche bei der alten Dame in der einstöckigen Villa. Dann sagte man ihr, daß sie sich mehrmals mittags im Speisezimmer auf die Dielen geworfen habe vor den andern und mit den Händen in die Luft tastete. Daß das Hausmädchen von außen beobachtet hätte, wie sie am hellen Morgen mitten in ihrem Zimmer stillstand und sich um sich drehte. Am Nachmittag des Tages, an dem man ihr dies sagte, packte sie mit dem Hausdiener ihre Koffer, legte ein schwarzes Kleid an, verließ ihre Mutter, fuhr nach Paris.

Sie nahm ein kleines Zimmer und ging auf die Straße. Sie trug ihr rotes Haar aufgetürmt; Wangen und Lippen geschminkt. Sie kam tagelang nicht nach Hause. Sie versagte sich niemandem. Es war ihr eine Lust, sich jedem Rolljungen, Viehtreiber in die Arme zu werfen. Sie machte sich mit gleichgültigem Lachen und Kopfschütteln zur Beute jeglicher Krankheit, die auf sie sprang, und trug sie mit Küssen, mit Gähnen und Inbrunst weiter. Sie schlich nach einigen Monaten in schwarzen Seidenkleidern in die strahlenden Ballsäle. Ihr Gesicht war voller geworden; die kleinen Augen glänzten unter dem Atropin. Die jungen Männer nannten sie die Hyäne. Sie trug in die Ballsäle eine sonderbare Bewegungsweise. Der Tanz war ersichtlich aus einer eigentümlichen Ungeschicklichkeit der Tänzerin entstanden, die sich schon bei ihren ersten Schritten auf dem Parkett zeigte. Sie stieß jede berührende Hand zurück, wiegte sich in den Hüften vor ihrem Partner nach rechts und links, nur langsam wie ein Schiffer von einem Bein taumelnd auf das andere. Dann umging sie mit plumpen Füßen ihren Partner und jetzt wiegten sie sich gemeinsam, Hüfte an Hüfte gefaßt, aber er sprang vor ihren aufgehobenen Armen zurück, sie suchte ihn, sank über ihn hin und schließlich walzte sie nicht, sondern ließ sich von ihrem Partner halb tragen, wobei ihre Füße kaum über den Boden schleiften und sie die Augen schloß.

Sie ließ ein Jahr über sich ergehen. Als eines Abends der Postbote zu einem riesigen Blumenstrauß einen Brief brachte, drehte sie lange den mächtigen Bogen in ihren gepflegten Händen hin und her. Sie warf die Blumen in den Papierkorb, schlug den zitronengelben Kimono über die Brust zusammen, setzte sich an den Schreibtisch und spielte mit dem stark parfümierten Bogen. Der Bote stand noch an der Tür, seine Uniformmütze setzte er schon auf, als sie sich erhob und ihn bat, eine Depesche zu besorgen. Sie schien wie erleuchtet; sie nahm ein befehlerisches Wesen an. Sie telegraphierte nach Ostende: „Herrn Copetta, Ostende, Hotel Estrada. Erwarten Sie mich morgen mittag. Bitte Drahtantwort.“ Eine Stunde stand sie zitternd auf der Treppe, ob die Antwort bald käme. Sie packte den Handkoffer. Nach drei Stunden schickte sie um einen Wagen; zog einen dünnen Anzug aus gelber Bastseide an, fuhr auf die Bahn.

Der Zug rannte lange Stunden der Nacht, rannte über Brüssel, Gent, Brügge, schließlich Ostende frühmorgens. Sie rasselte durch die engen bekannten Straßen der Stadt. Mit einmal leuchtete zwischen den Häusern das Meer auf, das graugrüne Meer. Sie stand aufgerichtet in der rasselnden Droschke, als der böige Wind sie mit einem Hagel von Stiletten überschüttete. Sie schrie aufgerichtet im Wagen vor Heimweh und Seligkeit, hob ihren Sonnenschirm auf und winkte dem graugrünen Meere zu. Sie betrat ihr altes Zimmer wieder, hörte halb, daß ihre Mutter schon seit langen Monaten in diesem Hause gestorben sei. Ihr Gesicht war still; aber als die Pensions-Dame sie entsetzt fragte, warum sie hier sitze und so lache, antwortete sie: „Doch vor Glück, liebe Frau, wovor denn als vor Glück. Was erzählen Sie?“

Und dann nahm sie, die sich sanft wie eine schöne junge Frau bewegte, ihren weißen Sonnenschirm und ging an das Meer. Die Digue lag in dem blinzelnden Mittagslicht. Unter dem Widerschein des unermeßlichen Wassers funkelten die Fenster der Strandhäuser zärtlich auf. Unablässig brüllte das Meer, warf sich gegen die Steindämme und legte sich platt hin. Sie drängte sich gewandt durch die geschmückte Menge, schlüpfte in das Vestibül des Hotels. Der Portier gab ihr das Telegramm; er erzählte, der Herr sei vor einem Jahr etwa verunglückt auf einer Segelpartie. Sie faßte sich an die Brust: „Auf diesem Meer?“ Und dann drückte sie ihm ein Geldstück in die Hand, warf ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier mit ihrer Adresse, flüsterte ihm ins Ohr, er möchte doch dies Blatt an sich nehmen; wenn der verunglückte Herr heute Abend käme, möchte er es ihm sofort geben. Sie ging an dem Verblüfften lächelnd vorbei auf die Promenade, nahm einen jungen Herrn, der ihr folgte, an, hörte, mit ihm nachmittags an der Kapelle eine Schokolade trinkend, mit strahlendem Gesicht die freche leichte Musik des Kurkonzerts.

Der Abend kam herauf. Der Vollmond hing schlohweiß über dem ungeheuren Wasser.

Sie stand an ihrem Fenster und wartete. Es wurde Nacht; sie hatte schon ungeduldig auf das rostrote Haar den wippenden weißen Hut gesetzt. Sie lief auf den Zehen durch den dunklen Korridor, sah die lange Strandpromenade herunter, die im blendendweißen Mondlicht lag. Dann lief sie die lange Promenade hin und her, hielt ihren Hut fest, den der Sturm abhob, spielte mit ihrem Schatten, der schwarz vor ihr herfiel, tanzte ihm pfeifend auf offenem Weg etwas vor, machte ihm lange Nasen. Sie lugte nach dem Hotel, ob sein Fenster noch nicht hell wurde. Um zwölf Uhr schlief sie auf ihrem Bett sitzend ein; gegen vier fuhr sie entsetzt zusammen; es war schon ganz hell. „Er ist voraus.“ Sie huschte die Tür hinaus, warf draußen johlend die Arme in die Luft, rief ihren Namen, tutete dazu. Im Nu war sie die schmale Steintreppe herunter. Sie suchte die Abfahrtstelle, lief zu den Badehäusern. Da lagen kleine und große Ruderboote. Keine frischen Männerschritte im Sand! Sie zog die Schuhe und Strümpfe aus, warf ihren Hut an den Strand, schürzte ihren Rock, zog keuchend an dem Bootsseil. Jetzt sprang sie ein, zog die Ruder. Nur wenig wurde sie von der Brandung zurückgeworfen, dann fuhr sie sicher aus.

Scharf blies der Wind über das offene Wasser; dicke Regentropfen fielen; weit und breit kein Segel, kein Boot. Über die hohen gebogenen Wellenwände kroch ihr Boot, stürzte metertief, kroch unverdrossen weiter, Sie suchte nach allen Seiten; die Angst überkam sie. Sie schrie auf den Knien kriechend, von jeder Wellenhöhe seinen Namen kreischend über das brodelnde Wasser, aber jetzt schlüpften nicht zahme Hündchen über den Bord; wie der Steinschlag fielen die Wellen auf die Brust der Atemlosen, die sich die Augen wischte.

Eben legte sie, schon erlahmend, die Ruder hin, brach in ein wütendes Schluchzen aus, schlug sich verzweifelt mit den Fäusten gegen die Brust, als eine dunkle Gestalt sich neben dem Boot aus dem Wasser aufrichtete.

Auf dem Kamm einer Welle schwang sich die dunkle Gestalt ins Boot. Der Brasilianer saß stumm auf dem Bootsrand und ließ die Beine auf die Ruderbank hängen. Er war unförmig geschwollen; seinen weißen Anzug trug er prall auf dem Körper. Die weißgrauen Haare waren dick inkrustiert mit Salz; schwarzgrüner Tang hing in Büscheln über sein triefendes gelbbraunes Gesicht, dessen Mund bebte. Dünner, weißer Sand und Muscheln rieselten von seinen breiten Schultern, floß aus seinen Ärmeln. Er blies laut die Luft von sich, dann atmete er stiller. Langsam hob er den rechten Arm und wehrte die Frau ab, die sich jubilierend von dem Boden erhob. Seine tiefen schwarzen Augen sahen sie fragend an, ihr volles frauenhaftes Gesicht, ihre Lippen, die reif waren, ihre kleinen lebendigen Augen unter den roten Brauen, die jetzt beseelt und süchtig strahlten. Dann blickte er an ihr vorbei. Sie stürzten unter peitschendem Regen zwischen Wellenbergen hinunter; sie hörte ihr eigenes entsetztes Rufen nicht unter dem Singen und Flöten des Sturmes. Er senkte seinen Arm, legte sich wie auf ein Kissen mit dem Rücken gegen die Welle. Das Polster glitt zurück. Sie sah, wie er langsam den Kopf ihr zuwandte, sah den berauschten, aufgeschlossenen Blick auf sich gerichtet, sprang ihm nach.

Und nun umschlangen sie die wulstig dicken Arme; jetzt lachte sie gurgelnd und drückte ihren Kopf an seinen gedunsenen. Und wie sie zusammen die nassen Wellen berührten, wurde sein Gesicht jung; ihr Gesicht wurde jung und jugendlich. Ihre Münder ließen nicht voneinander; ihre Augen sahen sich unter verhängten Lidern an.

Eine Wassermasse, stark wie Eisen, schickte das unermeßliche graugrüne Meer heran. Die trug sie mit der Handbewegung eines Riesen an die jagenden Wolken herauf. Die purpurne Finsternis schlug über sie. Sie wirbelten hinunter in das tobende Meer.

Dieses Werk erschien im Sommer 1923 als zehnter Band der Reihe „Das Prisma“ im Verlag Hans Heinrich Tillgner, Berlin. Druck des Textes F. E. Haag, Melle, der Steinzeichnungen A. Ruckenbrod, Berlin. Hundert numerierte Exemplare wurden auf Bütten gedruckt, mit der Hand in Leder gebunden und vom Autor signiert. Die ganzseitigen Steinzeichnungen dieser Ausgabe wurden vom Künstler signiert.

Dieses Exemplar trägt die Nummer
60.

Alfred Döblin

Anmerkungen zur Transkription

Die Seitennummern der ganzseitigen Abbildungen und ihrer leeren Rückseiten wurden entfernt.

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