The Project Gutenberg eBook of Das Buch vom Brüderchen: Roman einer Ehe

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Title: Das Buch vom Brüderchen: Roman einer Ehe

Author: Gustaf af Geijerstam

Translator: Francis Maro

Release date: November 3, 2019 [eBook #60622]

Language: German

Credits: Produced by Peter Becker, Jens Sadowski, and the Online
Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS BUCH VOM BRÜDERCHEN: ROMAN EINER EHE ***

Das Buch vom Brüderchen

Roman einer Ehe
von
Gustaf af Geijerstam

Zehnte Auflage
(Neunzehntes und zwanzigstes Tausend)

S. Fischer, Verlag, Berlin
1910

Autorisierte Übersetzung von Francis Maro
Alle Rechte vorbehalten

So laßt mich scheinen, bis ich werde,

Zieht mir das weiße Kleid nicht aus!

Ich eile von der schönen Erde

Hinab in jenes feste Haus.

Dort ruh’ ich eine kleine Stille,

Dann öffnet sich der frische Blick;

Ich lasse dann die reine Hülle,

Den Gürtel und den Kranz zurück.

Und jene himmlischen Gestalten

Sie fragen nicht nach Mann und Weib,

Und keine Kleider, keine Falten

Umhüllen den verklärten Leib.

Zwar lebt’ ich ohne Sorg’ und Mühe,

Doch fühlt’ ich tiefen Schmerz genung;

Vor Kummer altert’ ich zu frühe:

Macht mich auf ewig wieder jung.

Aus Goethes Wilhelm Meister.

Einleitung

Es war einmal ein Schriftsteller, der glücklich mit seiner Frau und seinen drei Kindern lebte. Er war so glücklich, daß er es selbst nicht begriff, und in all diesem schrieb er viele Bücher von dem Unglück der Menschen.

Es war nicht die Liebe, in der sein höchstes Glück lag; auch bestand es nicht in der Vaterfreude, die er naiv als eine so natürliche Sache nahm, als könnten Eltern nie etwas anderes als Freude an ihren Kindern erleben; auch darin lag es nicht, daß der seltene Vogel, den man ungebrochene Jugend nennt, noch nach vieljähriger Ehe in seinem Hause in sicherem Neste saß. Sein höchstes Glück bestand darin, daß ihm niemals etwas Böses begegnet oder bekannt geworden war, das er nicht durch seine Kraft und Gesundheit überwinden zu können glaubte. Die Unglücksfälle, die aufzutauchen drohten, waren wie vorübergehende Wolken vom Horizonte verschwunden und hatten seinen Himmel nur noch reiner und freier gelassen. Wenigstens glaubte er so, und dieser Glaube war die Wirklichkeit, in der er lebte. Die Armut, gegen die er einen ununterbrochenen Kampf geführt, hatte er doch stets im Abstand zu halten vermocht. Es gab bloß einen Feind, mit dem er niemals seine Kräfte gemessen, und dieser Feind war der Tod. Vielleicht war es nicht das geringste Glück dieses Mannes zu nennen, daß er lange niemals ernstlich gefürchtet hatte, der Tod könnte ihn selbst oder die, die ihm am nächsten standen, treffen.

In diesem Gefühl der Fülle des Daseins schrieb dieser Schriftsteller ein sommerhelles Buch, das von seinen eigenen zwei großen Jungen handelte, ihren Spielen und Vergnügungen, ihren Abenteuern und Mißgeschicken. Das Buch ward ein heiteres Spiel für ihn selbst, und wenn ich jetzt an diese Zeit zurückdenke, glaube ich es kaum fassen zu können, daß dieser Mann, von dem ich hier spreche, einmal ich selbst war.

Als das Buch gedruckt und geheftet und alles klipp und klar war, sodaß es in die große weite Welt hinaus ziehen konnte, da nahm der Verfasser ein paar Exemplare des im Hause ersehnten Buches mit heim. Er schrieb Olofs Namen auf ein Buch und den Svantes auf ein anderes, und überreichte den verewigten Söhnen feierlich jedem sein Exemplar.

Olof nahm sein Buch in Empfang, und Svante nahm das seinige. Von Olof, der eine praktische Natur ist und nicht zum Litterarischen neigt, wird behauptet, daß er sich bei dieser Gelegenheit zum ersten Male aus freien Stücken hinsetzte, um in einem Buche zu lesen. Ich glaube beinahe, er las drei ganze Kapitel. Svante hingegen las das ganze Buch in einem Zuge von Anfang bis zu Ende. Dann griff er gewisse Kapitel heraus, die ihm besonders gefielen, und las sie laut Jedem vor, der zuhören wollte. Es herrschte mit einem Worte großer Jubel im ganzen Hause.

Damals lief jedoch noch ein kleines Kerlchen in den Zimmern herum. Das war Olofs und Svantes kleines Brüderchen, und es hatte langes, lockiges lichtblondes Haar und die größten blauen Augen, die ein kleiner Junge nur haben konnte. Er hieß Sven und war erst zwei Jahre alt. Sprechen konnte er nicht ganz. Aber verstehen konnte er.

Als Svante ihm nun laut vorgelesen hatte, fragte Mama:

„Von wem, glaubst Du, ist da die Rede?“ Und da Sven nicht wußte, was er sagen sollte, fuhr Mama fort:

„Ja, weißt Du, von den großen Brüdern, versteht Nenne das nicht?“

Sven wurde nämlich für den Alltag Nenne gerufen. Das hatte er selbst erfunden, weil er kein S aussprechen konnte.

„Ja, aber die Brüder heißen doch nicht so, wie es im Buch steht,“ versuchte Nenne.

„Wie dumm Du bist,“ sagte Olof, „so hat er uns eben genannt.“

Da verstand Sven, und mit Augen, die vor Ungeduld leuchteten, fragte er:

„Steht da nichts von Nenne drin?“

Papa war inzwischen hereingekommen, er hob den Kleinen bis zur Decke empor, setzte ihn wieder nieder und sagte:

„Was sollte wohl von einem Knirpschen stehen, das so klein ist, daß es noch nichts gethan hat?“

Aber Sven gab sich nicht zufrieden. Er führte seine großen blauen Augen ins Treffen, so gut er nur konnte, er teilte mit seinem kleinen roten Munde Küsse aus, er kämpfte mit allen Waffen, die ihm zu Gebote standen. Er wollte ein Buch für sich haben.

„Ja, aber Nenne kann ja nicht lesen.“

Dieser Grund machte auf Nenne nicht den geringsten Eindruck. Er lief durch die Zimmer aus und ein, und sein ganzes kleines lebendiges Gesichtchen war vor Eifer rosenrot. Olof hatte ein Buch bekommen, und Svante hatte ein Buch bekommen. Warum sollte Sven allein leer ausgehen?

Und da half nichts. Der Schriftsteller hatte kein anderes Exemplar bei der Hand. Darum gab Mama ihres her, und nachdem ihr Name ordentlich ausradiert worden war, schrieb Papa feierlich auf das Buch:

Dem kleinen Nenne
von Papa.

Und erst da war Sven zufrieden.

Das heißt, es sah aus, als wäre er zufrieden. Denn er erhob keine weiteren Einwände. Er ging nur herum und las in seinem neuen Buch. Er konnte von vorwärts und von rückwärts lesen, er hielt das Buch nach oben und nach unten, und er las laut, so daß es im ganzen Hause wiederhallte.

Endlich setzte er sich für eine Weile allein hin und dachte nach. Und dann ging es durch alle Zimmer, als könnte er gar nicht rasch genug ans Ziel kommen. Sven lief direkt in Papas Stube, wo Papa am Schreibtisch saß und qualmte. Da machte er sich so klein, daß er zwischen Papas Stuhl und dem Tische durchkriechen konnte, und dann steckte er den Kopf durch und versuchte Papa ins Gesicht zu sehen.

„Was giebt es, Sven?“ fragte Papa, der es nicht liebte, gestört zu werden.

Aber Sven gab sich nicht früher zufrieden, bis der Stuhl weggeschoben wurde, so daß er heran kommen konnte. Dann stellte er sich zwischen Papas Kniee, sah zu Papas Gesicht auf und sagte milde, aber bestimmt:

„Papa ein Buch nur Nenne schreiben.“

„Was ist das?“ fragte Papa.

„Papa ein Buch nur Nenne schreiben,“ wiederholte der Kleine. Und diesmal erhob er die Stimme.

Da begriff Papa.

Es hatte das kleine Brüderchen gegrämt, daß er nicht mit in dem Buche hatte sein dürfen. So klein er war, hatte er seine Ansprüche an Gerechtigkeit. So klein er war, fand er vielleicht, daß er ein ebenso großes Recht an Papa hatte, wie die anderen Brüder, und so klein er war, wußte er, daß, wo Papa, Mama und die Brüder waren, auch sein Platz sein mußte. Er sah Papa mit großen, fragenden Augen an, und er war so eifrig, als gälte es Leben oder Tod.

Papa nahm die Sache auch sehr ernst und antwortete:

„Ich verspreche Dir, daß ich einmal auch über Dich ein Buch schreiben werde.“

Nur Nenne,“ wiederholte das kleine Brüderchen, deutlich zeigend, daß darin eben das Hauptgewicht lag.

„Nur Nenne,“ sagte Papa ernst. Recht muß Recht bleiben.

Das kleine Brüderchen lief fort. Es verkündete die Neuigkeit bis in die Küche, und seine Ehrenrettung war in diesem Augenblick vollkommen.

Das kleine Brüderchen verabsäumte es auch nicht, daran zu erinnern. Aber ein Schriftsteller hat ja so viel zu schreiben. Er kann nicht jederzeit dazu kommen, über ein kleines helllockiges Kerlchen zu schreiben, das in der Welt nichts anderes ausgerichtet hat, als daß es kam und ging und Allen Freude machte. Und in der Dichtung wie im Leben müssen die Kleinen warten, weil die Großen sie nicht früher vorlassen wollen, bis die Reihe an sie kommt.

Darum hat das kleine Brüderchen auf sein Buch warten müssen, bis zum heutigen Tag. Jetzt bin ich selbst ein Anderer, und alles um mich ist neu. Der Kleine wußte wohl nicht, um was er mich bat, ebensowenig wie ich wußte, was ich versprach.

Aber ich höre eine Stimme, die mich zwingt, das, was ich versprach, zu halten.

Erster Teil

1.

Dieses ganze Buch ist ein Buch vom Tode, und doch handelt es, wie mir scheint, mehr von Glück als von Unglück. Denn Unglück heißt nicht, das verlieren, was Einem teuer ist, das Unglück liegt darin, es zu beschmutzen, zu verderben oder zu entstellen. Und es giebt ein Geheimnis, ich mußte lange leben, bevor ich es lernte. Die Liebe steht niemals stille. Sie muß mit den Jahren entweder wachsen oder abnehmen. Und nicht nur in dem letzten Fall kann sie Leiden verursachen. Der gewaltigste Eros ist der, der Leiden bringt, weil er immer stärker wird.

Aber ich will beim Anfange beginnen und all das, was in diesem Buch geschrieben ist, will ich so erzählen, wie man einen Traum erzählt. Und so seltsam es auch dem Leser klingen mag — all das zusammen ist nur das Buch, um das das kleine Brüderchen mich bat.

Habe ich geträumt, daß ich geliebt, geheiratet und Kinder bekommen habe? Habe ich geträumt, daß ich unsäglich glücklich und unsäglich unglücklich war? Habe ich geträumt? Oder habe ich wirklich all dies erlebt, das mich an nichts anderes von menschlichem Leben, das in meinen Gesichtskreis gekommen, zu erinnern scheint? Es kommt mir jetzt vor, als stünde ich in irgend einer unfaßbaren Weise — nicht über, ach, alles andere eher als über — aber wohl ferne von all dem, und das Einzige, das jetzt zu mir dringt, ist ein Ton der Andacht, so überschwänglich, daß nicht einmal Musik ihn fassen und in greifbarer Weise ausdrücken könnte. Ja, wenn ich einstmals das niedergeschrieben habe, was sich jetzt seinen Weg zu den unbeschriebenen Bogen sucht, die eines Tages vielleicht ein Buch bilden werden, glaube ich hoffen zu können, daß die Erzählung selbst mir den Leitfaden geben wird, um das Rätsel zu lösen, das mich jetzt quält und beunruhigt: was in meinem Leben Traum gewesen und was Wirklichkeit.

Es ist nämlich nicht nur der Kummer, der mich drückt. Es ist auch ein Wundern über das, was geschehen, dasselbe Wundern, das sich auf dem Grunde alles bewußten Lebens regt. — — —

Ich erinnere mich in diesem Augenblick, wie ich eines Abends in das Zimmer meiner Frau kam und sie grübelnd fand, mit einem aufgeschlagenen Buch vor sich. Sie las nicht in dem Buche, und ihr Gesicht drückte Unzufriedenheit aus.

Ich beugte mich über ihre Schulter und sah, daß sie in der Bibel gelesen hatte. Das Buch lag beim ersten Buch Mosis aufgeschlagen, und auf meine Frage, was sie gelesen, wies sie bloß auf ein paar Zeilen, die ich noch zu unterst auf einer Seite lesen zu können vermeine. — Und ich las die Worte:

Verflucht sei die Erde um deinetwillen ... Mit Schmerzen sollst du deine Kinder gebären.

„Ist das nicht gräßlich?“ sagte sie. „Ich erinnere mich nicht, ob ich mit Schmerzen geboren habe. Ich habe nie daran gedacht.“

Sie erhob sich und ging zu einem kleinen Bettchen, das quer hinter unseren eigenen Betten stand, und sie beugte sich hinab über ein rundes, blühendes, schlafendes Kindergesicht, dessen Lippen sich saugend regten, als läge der Knabe an der Mutterbrust.

„Habe ich Dich in Schmerzen geboren?“ sagte sie wie zu sich selbst. „Nein, in Glück habe ich Dich geboren, in Glück und Jubel, ein Glück, so namenlos groß, daß ich es nie gewußt habe, bis jetzt.“

Sie zog mich hinab aufs Sopha und lehnte ihren Kopf an meine Schulter, schmiegte sich in meine Arme, als wollte sie dort Schutz vor allem Ungemach und Schmerz der Welt finden. Ohne ihre Stellung zu ändern, streckte sie die Hand aus und schlug das Buch zu.

„Das ist ein dummes Buch,“ sagte sie. „Ich habe mich nie darauf verstanden.“

„Das ist es wohl nicht,“ sagte ich lächelnd.

„Das hast Du selbst gesagt,“ sagte sie und richtete sich zur Hälfte auf.

„Ich? Nie!“

„Nun, dann hast Du etwas anderes gesagt.“

Sie beugte sich wieder hinab.

„Ich erinnere mich nicht. Ich weiß nur, daß ich denken will wie Du, glauben wie Du, sein wie Du. Denn Niemand ist wie Du, Niemand auf der Welt.“

Auf solche Worte kann kein Mann antworten. Man braucht sie nicht abzuwehren, denn sie sind nicht als Rauchopfer der Eitelkeit gedacht. Sie kommen wie eine Liebkosung, so wie wenn ein Mann seine Frau ansieht und sagt: „Es giebt für mich kein Weib außer Dir.“ Meine Frau fuhr auch nach einer Pause, so kurz, daß ich sie kaum gemerkt hatte, fort:

„Ich habe Dir gewiß noch nie dafür gedankt, daß Du mich gelehrt hast, zu glauben, wie Du glaubst, aber ich bin so froh, daß Du es gethan. Du kannst es nicht so fühlen, wie ich es fühle. Du kannst es nie so fühlen. Jeder Tag, der vergeht, macht mich reicher. Jede Stunde scheint mir erfüllt von meinem Glück. Es ist so merkwürdig, mir jetzt zu denken, daß ich einmal, als ich um vieles jünger war, mich sehnte, sterben zu können, um in den Himmel zu kommen. Was meinte ich da, und wonach sehnte ich mich? Ich glaube, ich habe es vergessen, als wäre es nie gewesen. Das Einzige, was ich früher manchmal schwer empfand, war, daß ich niemals meinen Vater wiedersehen sollte, der tot ist. Aber jetzt kommt es mir vor, daß ich nichts anderes verlange, als mit Dir und den Knaben leben zu können. Ich würde nicht wünschen, daß es etwas anderes gäbe als das Leben, das Du und ich leben durften. Ich will mit Dir leben, bis die Knaben groß sind und hinausziehen. Dann wollen wir zusammen altern — Du und ich — und etwas anderes kann ich mir nicht denken.“

„Glaubst Du nicht an irgend eine Möglichkeit eines anderen Lebens?“ fragte ich.

Sie schüttelte mit einer energischen Geberde den Kopf.

„Nein,“ rief sie aus, „ich will nichts anderes als das, was ist. Ich will einmal in der Erde unter einem schönen Blumenhügel schlafen. Das ist Alles für mich, und darum bitte ich Gott jeden Abend.“

Sie betete jeden Abend zu Gott, und sie glaubte nicht an ein unsterbliches Leben. Ich wußte es, und fühlte aufs Neue das Wunderbare in diesem, ihrem eigenen Rätsel, das für sie bloß natürliche Wirklichkeit war. Ich streichelte ihre Schulter, um sie wissen zu lassen, daß ich gehört und verstanden hatte, und mit einem plötzlichen Uebergang fragte sie:

„Glaubst Du an etwas anderes?“

„Ich glaube weder, noch glaube ich nicht.“

Sie wiederholte meine Worte ganz tonlos, obgleich sie sie schon mehrere Male zuvor gehört, wiederholte sie, als enthielten sie etwas ganz Unfaßbares, und rief plötzlich:

„Dann hast Du Dich verändert.“

„Das glaube ich nicht.“

„Ja, das hast Du. Wie hätte ich sonst glauben können, daß das Leben mit dem Tode zu Ende sei? Du hast es mich gelehrt. Warum willst Du jetzt nicht glauben, wie ich?“

Bei ihren Worten flog eine Erinnerung durch meine Seele. Ich sah sie und mich auf einem schmalen Pfad unter den hellen Birken der Schären wandeln. Ueber uns funkelten des Himmels Sterne, und zu unseren Füßen zitterte im Grase der matte Lichtschein aus den Fenstern unseres ersten Sommerheims. Ich vermeinte noch die Worte hören zu können, die in der Stille des Abends zwischen uns geflüstert wurden, Worte vom Leben und vom Tode, von Gott und dem Kommenden, diese Worte, die von unserem ersten Liebesrausch Ernst und Glut empfingen. Ich erinnerte mich, daß sie es war, die fragte, und ich antwortete. Ich erinnerte mich, daß sie tief betrübt und stumm wurde, während sie über meine Antwort nachdachte, und als nun diese Erinnerung durch meine Seele zog, mit einer Deutlichkeit, die keine Worte wiederzugeben vermögen, war es mir, als müßte das, was ich damals gesagt, sie in ganz anderer Weise getroffen haben, als ich eigentlich gemeint, und ich fühlte einen Stich im Herzen, als hätte ich, ohne es zu wollen, ihr etwas zu Leide gethan.

Sie unterbrach mich, indem sie sagte:

„Ich kann das nicht fassen, das, weder zu glauben, noch nicht zu glauben. Ich muß eines von Beiden thun.“

Sie sprach diese Worte mit einem Ton aus, als bäte sie mich, ihr nicht zu widersprechen, und ich that es auch nicht. Ich behielt bloß in mir die Stimmung der lichten Insel unserer Jugend und wunderte mich darüber, daß ich die ganze Zeit die Sterne durch das Laubwerk der Birken zu sehen meinte.

Meine Frau hatte sich, während wir sprachen, erhoben und stand wieder neben dem kleinen Bette. Mitten im Gespräche hatte sie gemerkt, daß der Kleine sich bewegte. Sie hob ihn empor, nahm ihn in ihre Arme in jener sicheren, schützenden Art, wie nur Mütter es können, und legte ihn an die Brust. Ihr Gesicht strahlte, als sie sah und fühlte, wie er ihre Milch mit jener unbeschreiblichen Ruhe sog, die das Vorrecht des Kindes ist.

Wovon wir eben gesprochen und was ich jetzt sah, verschmolz in eigentümlicher Weise in meinem Gefühl zur Einheit, und ich erinnerte mich der Worte, die den Anfang des kurzen Gesprächs gebildet hatten. Lange saß ich und dachte an das, was ich sagen wollte. Ich dachte an die grausamen Worte: „Verflucht sei die Erde um Deinetwillen“ und an den Zusatz an die arme Erde: „Dornen und Disteln sollst Du tragen.“ Das Gefühl dessen, was ich besaß und was ich sah, war mir so übermächtig, daß ich fürchtete zu sprechen, nur um meine Bewegung nicht durch Thränen zu verraten, und gleichzeitig versuchte ich, meine eigenen Gedanken davor zurückzuhalten, die Form des Worts anzunehmen, um meiner Frau nicht pathetisch zu erscheinen.

Endlich nahm ich die Bibel in die Hand und legte sie weg.

„Du hast Recht,“ sagte ich, „und das harte Wort hat Unrecht. Da sollte stehen: ‚Gesegnet sei die Erde um Deinetwillen. Trauben und Rosen soll sie tragen.‘“

Und nachdem ich dies gesagt, beugte ich das Knie und lehnte die Stirn zugleich an mein Weib und an mein Kind. Mit der Hand, die sie frei hatte, strich sie mir übers Haar.

„Ach! Wir waren jung damals, jung und sehr glücklich.“

2.

Ich habe bis jetzt nicht den Namen meiner Frau genannt, und es fällt mir noch schwer, es zu thun. In meinen Gedanken nenne ich sie zuweilen Mignon, weil dieser Name der einzige ist, unter welchem ich sie sehen kann, so wie sie kam und ging. Was weiß ich im Uebrigen, ob ich jetzt sie selbst male oder die Erinnerung, die sie zurückgelassen? Ist ein Mensch das, was er Jenen zu sein scheint, die ihn nicht so gesehen, wie vielleicht bloß Einer ihn zu sehen vermag? Ist er nicht vielmehr in seinem innersten Wesen gerade das, was bleibt, nachdem das Aeußere und Zufällige verblaßt ist? Ist es nicht möglich, daß das, was Mancher Idealisierung nennt, eigentlich die innerste Aehnlichkeit ist, die, welche einmal in einer Welt, die kein menschliches Auge erreicht, unser wirkliches Ich werden wird, Allen sichtbar?

Sie war klein von Gestalt und zart, und als ich sie zum ersten Mal sah, war es bei einer flüchtigen Vorstellung auf der Straße beim Schein einer Gaslaterne. Als ich sie verlassen hatte, blieben mir ein paar wunderbar große und tiefe Augen in der Erinnerung. Im Uebrigen erinnerte ich mich nur an einen schwarzen Pelzkragen, ein paar lange schwarze Handschuhe und den Druck einer Hand, die einen plötzlichen und starken Eindruck von etwas Aufrichtigem, Wachem und Wahrem hervorrief. Sonst erinnerte ich mich an ihr ganzes Aussehen so wenig, daß ich ein paar Tage später an ihr vorbei ging, ohne sie zu erkennen. Und doch hatten mir diese Augen keine Ruhe gelassen, sie waren immer wieder vor meiner Phantasie aufgetaucht, gleichzeitig strahlend und schmerzgebunden, etwas zugleich Lebenverlangendes und Andachtsvolles bergend. Wenn je ein paar Augen eine Seele gespiegelt haben, waren es die ihren.

Wenn ich an Alles denke, was ich durch meine Frau erlebt habe, weiß ich, daß durch all die bunten Lebensjahre meines Daseins Niemand mich so wie sie gelehrt hat, das Gefühl für das Religiöse beizubehalten. Ich glaube jedoch nicht, daß ich sie je das Wort Religion habe nennen hören, und man hätte sie sicher narren können, Abraham mit dem Apostel Paulus zu verwechseln. Aber Alles, was sie mit ihrem Denken oder Fühlen umfaßte, wurde ihr in irgend einer besonderen Weise heilig. Ihr Wesen war Zärtlichkeit, und das Leben, das sie leben wollte, war ein Fest, ein Fest, bei dem ihr Gefühl für den Wert und die Heiligkeit des Lebens keinen Mißton ertragen konnte. Aber Alles, was in ihr stark und lebendig war, war zu gleicher Zeit gebrechlich und spröde. In der Tiefe ihrer Seele war eine Ganzheitsanbetung, die das Leben nicht ertrug, weil sie auf einem höheren Plan zu stehen schien als das Leben selbst.

Wir waren viele Jahre verheiratet gewesen, als sie eines Tages zu mir sagte, plötzlich, unvorbereitet und ohne äußeren Anlaß, sowie ihre stärksten Gefühle immer kamen:

„Du darfst mich nie, nie fühlen lassen, daß Etwas zwischen mir und Dir alt und gewohnt geworden ist. An dem Tage, wo das geschieht, will ich sterben.“

Wie viele Frauen haben nicht dasselbe gesagt, und wie Viele haben nicht gelebt, um nachher über ihre eigenen Worte zu lächeln! Ich habe einmal von einer Frau gehört, die zu einem Manne sagte:

„Glaubst Du nicht, daß es einige Frauen geben kann, die das fühlen, was alle Frauen sagen?“

Ich erinnere mich, daß dies mir bei den Worten meiner Frau in den Sinn kam und daß ich in dem Gefühl ihrer Wahrheit zur Antwort nur ihre Hand drückte. Ich begriff, daß das, was sie gesagt, ihr tiefster Ernst war, und ich wußte, daß hier das Wort Sentimentalität nicht am Platze war. Aber ich sah auch, daß sie ein Wort von mir erwartete, das ihr etwas sagte, und darum antwortete ich:

„Glaubst Du nicht, daß etwas alt und gewohnt werden kann, ohne darum an Stärke, Freudigkeit und Heiligkeit einzubüßen?“

Sie sah mich mit großen Augen an, als wollte sie auf den Grund meiner Seele sehen. Dann ging sie auf mich zu und küßte mich, und ich merkte, daß ihre Augen feucht waren, während ich fühlte, wie ihre ganze Gestalt sich zu der meinen neigte, in einer einzigen großen Zärtlichkeit.

„Laß es dann alt und gewohnt werden,“ sagte sie. „Ich sehne mich darnach, daß es so wird.“

Nicht ein Wort mehr wurde gesprochen. Aber den ganzen Tag sah ich, daß sie wie in stillem, stummem Jubel umherging. Am Nachmittag war sie draußen im Garten, und ich hörte von meinem Fenster, daß sie allein sang, mit vollen, glockenreinen Tönen.

Nach einer Weile kam sie mit einem kunstvoll gebundenen Strauß von Wiesenblumen herein, in dem die Flora des Sommers sich mischte, wie die Töne in einem Lied. Sie stellte ihn ohne ein Wort auf meinen Tisch und lächelte still, um meine Arbeit nicht zu stören. Dann setzte sie sich selbst ein Stück weit weg, und während ich schrieb, blickte ich zuweilen auf, nur um sie anzusehen. Die Abendsonne färbte ihr dunkles Haar und spielte in den Farben ihres Antlitzes, das stets neu war, niemals sich gleich.

3.

Es begab sich nie, daß etwas zwischen uns alt und gewohnt wurde. Ich weiß, daß ich ein großes Wort ausspreche. Aber es ist wahr. Und darum kann ich noch sagen: Gesegnet sei das Leben und was das Leben gab! Das Leben für das segnen, was es nahm, das kann ich nicht.

Aber es geschah uns, daß die Sorge in unser Haus kam, und ich begreife jetzt, daß sie uns hätte trennen können, weil ich es nicht vermochte, so zu trauern wie sie. Aber ich weiß mit demütiger Dankbarkeit, daß dies doch nie geschah. Und doch, hätten Menschen es vermocht, es würde gelungen sein.

Wie bald ich es sah, weiß ich noch nicht. Aber ich weiß, daß der Eindruck so innig mit der Erinnerung an meine Frau verwoben ist, daß ich es jetzt nicht mehr fassen zu können glaube, daß ich sie je in dem Lichte der Jugend und des Glücks allein gesehen. Sie war nämlich frühzeitig krank, ja, ich habe sie eigentlich nie anders gekannt als mit dem Keim der Krankheit. Wie kam es da, daß ich bis zuletzt lange Zeiten vergessen konnte, daß ihre Gesundheit untergraben war und daß der Krankheitskeim, der bestand, sich entwickeln oder ganz verschwinden mußte? Ich wußte ja nur zu gut, daß er nicht verschwand. Und doch lernte ich nie ihr Leben in einem anderen Lichte sehen, als dem gewöhnlichen. Horchte ich nicht auf die Vorboten, die kamen? Stellte ich mich blind und taub gegen die Ahnungen, die in mir aufloderten, wie Feuersflammen meines Glückes Haus bedrohend, das ich so fest gemauert wähnte? Ich weiß nicht, ob es so war. Aber ich weiß, daß, als ich heiratete, ich so jung war, daß ich glaubte, die Liebe sei ein Heilmittel gegen alles Unglück der Welt, und wenn ich Elsa strahlend und glücklich sah, wenn wir uns gemeinsam in Wald und Wellen tummelten, wenn ich sah, wie die Sonne sie bräunte und die Sommerwellen ihre weißen Glieder bespülten, da vergaß ich, daß das Unglück kommen konnte, und ich spiegelte mir vor, daß das, was ich befürchtet hatte, nur Einbildung war. Ach, ich wurde schließlich so bewandert in der Kunst, das zu vergessen, was ich nicht sehen wollte, daß ich von Gesundheit und langem Leben träumte, auch nachdem Elsa dem Tod so nahe gewesen, daß es ein Wunder war, daß sie ihm entrann, und sie unter ihrem Kleid verborgen die Spuren des Messers des Operateurs trug, nie ganz frei von Schmerzen, sie nur dadurch vergessend, daß sie sich selbst Gewalt anthat, um uns, die sie liebte, den Kindern und mir, Freude und das Fest des Lebens zu schenken.

Aber ich erinnere mich doch, wie bald ich dieses Etwas sah, das zu vergessen unsere ganze Ehe ein wechselnder Kampf war. Ich sah es an ihrem Gesichte, wenn sie allein saß und sich unbeobachtet glaubte, und anfangs meinte ich, als ich dies sah, daß zwischen mir und ihr etwas stünde. Ich pflegte sie darnach zu fragen, und es ist schwer zu sagen, ob es meine Liebe oder meine Eigenliebe war, die mich glauben ließ, daß nichts anderes, als was mich selbst berührte, ihr Glück trüben konnte. Ich sah, daß ich sie mit meinen Fragen unsäglich quälte, aber ich fragte sie doch, und bei solchen Anlässen konnte sie mit einem Ausdruck lächeln, als weilte ihre Seele weit weg, einem Ausdruck, der mich noch in der Erinnerung quält, weil es dieser Ausdruck war, den ich jahrelang zu besiegen strebte, aber der schließlich die Oberhand bekam und mich besiegte.

„Du sollst mich nicht fragen,“ sagte sie einmal. „Ich weiß selbst nicht, was es ist. Ich weiß nur, daß kein Mensch es verstehen kann.“

In was sie da blickte, gehört dem Unbekannten an, wonach Alle fragen, aber worauf Niemandem eine Antwort wird. Doch wie hätte ich das damals verstehen können? Unser Leben war glücklich, unsere Tage froh, unsere Knaben wuchsen heran und erfüllten unser Heim mit ihrer frohen Munterkeit. Und niemals war Elsa zärtlicher gegen mich, als wenn ich diese Momente schweigender Betrübtheit bemerkt hatte, die ich das Recht gehabt hätte, unmotiviert zu nennen, wenn es keine anderen Motive gäbe als die, welche die Menschen in Worte kleiden können.

4.

Zu dieser Zeit waren unsere Knaben herangewachsen und waren schon große Jungen. Olof hatte bereits mit der Schule angefangen, und Svante näherte sich auch schon der Zeit, wo er beginnen sollte, die trockenen Nüsse vom Baume der Erkenntnis zu knacken.

Zu dieser Zeit war es, daß die dunklen Stunden zum ersten Male anfingen, meiner Frau übermächtig zu werden, und mehr als einmal sah ich, daß sie geweint hatte. Sie wich mir in ihrer stillen Weise aus, und sie that es, damit ich sie bei solchen Anlässen nicht fragen sollte. Ich kann nie vergessen, welche Angst mich in dieser Zeit beherrschte. Diese Angst schlich sich Nachts an mich heran, wenn ich einsam an meinem Schreibtisch saß. Sie folgte mir, wenn ich ging, um mich zur Ruhe zu legen, und sie blieb in der Dunkelheit auf dem Rande des Bettes sitzen, während ich wach lag und den Atemzügen meiner Frau lauschte, um zu hören, ob sie schlief.

So still wurde es zwischen uns in dieser Zeit, so wunderlich still. Wir konnten in unser Wohnzimmer kommen und die Lampe anzünden, und wir konnten dort sitzen, ohne ein Wort zu sagen, und wir fühlten, wie das Schweigen sich gleich einer Mauer zwischen uns aufrichtete, die Niemand aufgebaut, aber die auch Niemand niederreißen konnte. Und wenn unsere Hände sich suchten, war es nur, weil wir es mußten und Keiner von uns es ertragen konnte, ferne von dem Anderen zu sein, obgleich wir Beide fühlten, daß wir es im Grunde doch waren.

Die Knaben kamen herein, um Gutenacht zu sagen. Wir küßten sie Beide, und wir sahen ihnen nach, wenn sie gegangen waren. Aber kein Wort wurde gesprochen, und wenn ich meinen Kopf wieder nach der Richtung wandte, wo meine Frau saß, fühlte ich, daß sie weinte, aber ich hörte es nicht. Wir hätten nicht unglücklicher sein können, wenn Eines von uns oder wir Beide ein dunkles Geheimnis zu verbergen gehabt hätten. Und doch wußten wir Beide, daß es kein solches gab.

„Bist Du unglücklich mit mir, Elsa?“ fragte ich sie.

Und zur Antwort hörte ich sie schluchzen, wie in höchster Angst:

„Wenn ich Dich nicht hätte, glaubst Du, daß ich da leben könnte?“

5.

Wie lange diese Zeit währte, kann ich mich nicht mit Bestimmtheit entsinnen. Ich weiß nur, daß ich mich ihrer wie eines einzigen entsetzlichen Winters ohne Schnee erinnere, eines langen, dunklen Strichs in unserem Leben, das mich leer und ohne Sinn dünkte. Nachher habe ich den Tod das Teuerste, was ich besaß, aus meinen Armen reißen sehen, ich sah Freunde sterben, ich habe mich von Allem verlassen gefühlt, wofür ich geistig sterben oder leben wollte. Aber etwas, das sich mit diesem Winter vergleichen läßt, habe ich niemals erlebt, denn damals glaubte ich, daß Elsa im Begriffe stand, von mir fortzugleiten, und dieser Gedanke war mir furchtbarer als irgend etwas, das andere Menschen mir zufügen konnten oder das mich überhaupt im Leben zu treffen vermochte.

Diese Zeit war so bitter, weil ich damals das einzige Mal in meinem Leben in meinem Herzen hart gegen sie wurde, und ich wurde es, weil ich es nicht besser verstand. Ich kam schließlich dazu, mich in mich selbst zurückzuziehen so wie sie, denn der Gram beherrschte mich; endlich bekam der Gram Stimme, und die harten Worte zitterten in der Luft um uns.

Eines Tages fand ich sie in Thränen, und mit einer Stimme, die nicht mehr meine war, rief ich aus:

„Wie lange glaubst Du, daß ich das aushalten werde?“

Im selben Augenblick, in dem ich es gesagt, bereute ich meine Worte, und niemals werde ich den Ausdruck des Schreckens vergessen, der ihr ganzes Antlitz versteinerte.

„Was meinst Du?“ sagte sie.

„Das, was ich sage.“

Es war, als hätte ein böser Geist, den ich nicht zügeln konnte, durch meinen Mund gesprochen. Alles, was ich gelitten, stieg in mir empor, als wolle es mich ersticken, und ich empfand es als einen Triumph, daß ich ihr wehe gethan.

„Gehe doch,“ sagte sie, „gehe von mir. Warum bist Du je zu mir gekommen?“

Sie weinte nicht, als sie ging. Aber mitten durch meinen Zorn fühlte ich, daß ich ihr mit meinen unüberlegten Worten einen Schmerz zugefügt, so groß, daß ich selbst nie einen ähnlichen gefühlt hatte, noch fühlen werde. Aber ich schüttelte diesen Gedanken ab und verschanzte mich hinter dem beschränkten Hochmut, der den Menschen dazu bringt, ein Unglück nicht abzuwehren, sondern nachzurechnen, wessen Schuld es ist.

„Es ist ihre Schuld,“ sagte ich zu mir selbst, „wenn unser Glück vorüber ist. Was habe ich gethan, daß sie unglücklich sein und mich dadurch quälen muß, daß sie mir die Ursache nicht sagt? Sie liebt mich nicht mehr. Das ist ja der Lauf der Welt. Was schön ist, muß verunstaltet werden. Wer glücklich ist, darf es nicht lange bleiben.“

Hinter solchen Gedanken verbarg ich mein wirkliches Empfinden, das die ganze Zeit über von ihr erfüllt war. Ich glaubte, daß ich ein Recht zu grollen hätte, und ich fand, daß das, was ich gesagt, noch eine härtere Antwort erhalten hatte, als die Worte selbst verdient hatten.

6.

Diese Zeit war die einzige, in der unser Glück wirklich hätte untergehen können, und ich glaube, daß wir Beide gleich stark die Empfindung hatten, daß schicksalsschwere Mächte mit unserem Leben spielten. Ein ganzer Tag verging, während dessen kein Wort zwischen uns gewechselt wurde. Aber am Abend, als wir zur Ruhe gehen sollten, fielen wir einander in die Arme und weinten, ohne sprechen zu können.

Dann wurde alles wie zuvor. Aber die Frage, die mich verzehrte: „Was ist es, was kann es sein?“ war und blieb unbeantwortet. Doch war ich ruhiger, fühlte Reue über meine unausgesprochenen Gedanken und wartete zugleich gewissermaßen auf eine Lösung.

Zwei Tage später fand ich folgenden Brief auf meinem Tisch.

Ich erinnere mich, daß ich ihn mit einem Gefühl der Angst erbrach, so, als könnte mir dieses Papier ein Geheimnis entschleiern, das die Macht hatte, mein ganzes Leben zu vernichten. Aber gleichzeitig brannte ich vor Verlangen, Antwort auf die eine Frage zu erhalten: „Warum ist sie nicht glücklich? Kann man gleichzeitig glücklich und unglücklich sein?“

Der Brief lautete folgendermaßen:

Mein Geliebter.

Daß solche Worte fallen konnten zwischen Dir und mir! Daß es nur möglich ist, daß das geschah! Ich glaubte zuerst, die Sonne sei erloschen und ich könnte niemals mehr das Licht des Tages sehen. Und ich grübelte und grübelte, wie ich Dich wieder gut gegen mich stimmen könnte und wie Alles werden könnte, als sei dies nie gewesen.

Aber dann sah ich, daß Du doch gut warst in Deinem Herzen, obgleich es nicht den Anschein hatte, und ich begann zu verstehen, daß Du niemals anders werden kannst, und daß nur das, daß ich nicht auf Deine Fragen antworten konnte, Dich so zerrissen und bitter machte, und darum schlugst Du blind zu, ohne zu wissen, daß Du mir so wehe thun konntest, wie Du es thatst. Auch jetzt weiß ich nicht, was ich Dir antworten soll, aber Du darfst Dich nicht darüber wundern, daß ich schreibe. Es geschieht nur, weil, wenn ich versuchen wollte, davon zu sprechen, ich nie mehr als die Hälfte von dem sagen würde, was ich wollte.

Es giebt so vieles, das ich in mir herumtrage, Georg, so vieles, das ich nie gesagt, weder zu Dir noch zu irgend jemand Anderem, weil ich weiß, daß ich es nie sagen kann. Ich bin immer so gewesen, Georg, und ich werde wohl auch immer so bleiben.

Manchmal, wenn ich daran denke, wie Du gegen mich bist, von Allem sprichst, keinen Winkel Deines Herzens verbirgst, dann glaube ich, daß ich nur ein Echo von Dir bin, und ich bin so arm, daß ich Dir nichts wiederzugeben habe. Und wenn Du mir gesagt hast, daß dem nicht so ist, dann habe ich mich so glücklich gefühlt, Georg, so glücklich und reich. Und ich weiß, daß ich Dir alles gegeben habe, was ich geben kann, und alles, was ich habe.

Aber wenn Du siehst, daß ich sitze und in mich selbst hineinstarre, wie Du zu sagen pflegst, dann sollst Du wissen, daß ich nichts anderes thue, als was ich immer gethan habe, auch wenn ich am glücklichsten war, auch lange bevor ich Dich kannte und mein wirkliches Leben anfing. Und wenn ich weine, sollst Du nicht glauben, daß ich unglücklich bin. Das, woran ich da denke, macht mich nicht unglücklich. Es ist nur etwas, worüber ich zuweilen grübeln muß, weil ich weiß, daß es kommen wird und weil ich es immer gewußt habe.

Aber Du sollst mich nicht darnach fragen, denn ich kann Dir doch nicht antworten. Könnte ich es, ach, könnte ich es, dann würden ja meine Thränen von selbst trocknen. Vielleicht ist es auch nichts, vielleicht liegt es nur darin, daß ich zu glücklich bin.

Aber ich will, daß Du mir glaubst, wenn ich Dir sage, daß Du nicht zu fürchten brauchst, es gäbe etwas Verborgenes und Geheimes in meiner Seele, das ich verberge und geheim halte, weil Du es nicht sehen dürftest. Es ist bloß das, daß ich nicht kann.

Bitte mich darum nicht, zu sprechen, sondern sei mir gut, so wie ich bin. Sei mir gut als Deinem kleinen Mädchen und Deiner Freundin, die nichts anderes verlangt, als an Deiner Seite gehen zu dürfen, so lange Gott mir das Leben schenkt, und dann zu sterben und in Ruhe zu schlafen, von allen Anderen vergessen, außer von Dir. Denn Du sollst mich nicht vergessen, und das ist das einzige „unsterbliche Leben“, das ich verlange.

Aber eines wünsche ich zuweilen. Und das ist, daß wir Beide grau und alt wären und unsere Kinder schon recht alt. Ich bin so sehr Mutter, daß ich wünschte, meine Knaben wären erwachsen und ich könnte zu ihnen nach Hause gehen und kleine, kleine, ganz kleine hilflose Kindchen in meine Arme nehmen und sehen, daß ich auch ein bißchen in ihnen lebte. Meine Jungen sind jetzt so groß, daß sie mich bald nicht mehr brauchen. Aber es wäre so gut alt zu sein und zusammen mit Dir zu gehen und des Tages harren zu können, an dem die große Ruhe kommt. Ich glaube, ich würde Dich doppelt lieben, wenn Du alt und grau wärest und Niemand Dich mit denselben Augen ansehen könnte wie ich und ich denken dürfte, daß Niemand außer mir an Dich ein Recht gehabt und Niemand so recht wüßte, wer Du bist.

Nun habe ich Dir so viel gesagt, und das, was Du mich gebeten, Dir zu sagen, habe ich doch nicht gesagt. Aber denke nicht daran, Georg, denke nur, daß ich Dich jetzt liebe, so wie ich Dich immer geliebt habe, daß das, was ich jetzt für Dich fühle, mehr ist, als Worte ausdrücken können, mehr als Du selbst je wissen kannst. Denn bei Dir und hier ist mein Platz und ich habe alles, was je eine Frau gehabt hat oder haben kann, und wenn sie noch so glücklich wird. Glaube nichts Anderes, denn sonst machst Du mich unglücklicher, als Du ahnen oder glauben kannst.

Deine Frau.

7.

Ich saß lange mit diesem Brief in der Hand, und die Woge von Zärtlichkeit, die mir entgegenströmte, war so mächtig, daß sie alle Fragen erstickte und mich in meiner gewohnten Umgebung, in der nichts verändert schien, mit einem Gefühle umhergehen ließ, als sei ich der Märchenprinz, der auf den Flügeln des Westwinds die Insel der Glückseligkeit erreicht hat.

Ich hatte gefragt, warum meine Frau so verändert schien, und ich hatte es nicht erfahren. Ich hatte nur einen Beweis ihrer Zuneigung bekommen, und so ist ja die Liebe, daß sie nichts Anderes will als sich selbst, und alle Fragen, die sie dabei stellt, zielen auf nichts Anderes hin als auf die einzige Gewißheit, ohne die sie selbst nicht bestehen kann. Darum gab dieser kleine Brief uns die Lösung von allem, obgleich er nichts erklärte, und in stummer Dankbarkeit ging ich, nachdem ich ihn gelesen, zu meiner Frau hinein, glücklich, daß ich ganz glauben konnte.

Wir sprachen auch nicht viel von diesem Briefe, aber wir empfanden es Beide als eine Erleichterung, daß er geschrieben worden war, und des Abends saßen wir lange auf, nachdem die Kinder sich zur Ruhe begeben hatten. Ich erinnere mich, wie Elsa in dieser Zeit sang, sang, so wie sie nie für jemand Anderen als mich gesungen hat. Und ich saß und ließ meine Seele von den Tönen liebkosen, während ich in mir grübelte, wie es möglich gewesen war, daß eine Mißstimmung sich zwischen sie und mich hatte schleichen können.

Wie die Tage gingen, weiß ich nicht. Ich bemerkte nicht, daß sie länger wurden, daß der Schnee von den Dächern tropfte und daß die Bäume des Humlegartens zu knospen begannen. Höchstens bedauerte ich, daß der Winter nicht länger währte, so daß die Lampe zeitig angezündet werden und unsere Abende beginnen konnten.

„Hast Du gemerkt,“ sagte mir meine Frau eines Morgens, „daß ich froher bin als früher und daß ich nie mehr weine?“

Ich hatte es gemerkt. Aber undankbar wie ein Mensch ist, der eben einer Gefahr entgangen ist, die er nicht verstanden hat, hatte ich die Veränderung genossen, ohne darüber nachzudenken.

„Weinst Du vielleicht, wenn Niemand Dich sieht?“ fragte ich.

Und ich fühlte einen Schatten meines alten Mißtrauens in mir erwachen.

Aber meine Frau merkte es nicht. Sie stand vor mir so strahlend jung, als hätte keine Wolke ihre Stirne verdunkelt. Und um ihre Lippen spielte ein Lächeln, das ich schon einmal gesehen zu haben meinte. Ich konnte mich nur nicht erinnern, wann.

„Ich weine nicht mehr,“ sagte sie.

Und ihre Stimme hatte einen fast herausfordernden Klang, als sie hinzufügte:

„Das ist auch mein Geheimnis.“

Ich folgte ihrer Stimmung, ohne ihre Worte zu verstehen. Ich war zufrieden und glücklich in dem Gefühl, daß das Leben uns wieder lächelte.

Diese ganze Periode ließ in unserem Zusammenleben keine andere Spur zurück, als daß dieses noch inniger und gleichsam behutsamer wurde, als je zuvor. Ich kann nicht mehr sagen, in welcher Weise ich diese wunderliche Paranthese in einer glücklichen Ehe mir selbst zu erklären versuchte. Gewiß ist, daß ich damals weit entfernt war zu ahnen, daß sie den Keim zu der Tragik einer ganzen Zukunft barg.

8.

Obgleich sie sich mit Stolz die Mutter zweier Knaben nannte, war Elsa doch noch jung, und wenn sie am Arm ihres Mannes über die Strand-Promenade ging, waren ihre Schritte elastisch, und sie schmiegte sich, während sie ging, mit einer Bewegung an mich, die zeigte, daß, wenn etwas diesen schönen Kopf bedrückte, es nicht die Jahre waren.

Es war an einem dieser gefährlichen Frühlingsabende in Stockholm, wo die Sonne warm über frischknospende Bäume fällt, die Straßen gleichsam zum Spiel und zur Augenweide von Leuten wimmeln, wo die Landgasthäuser alte Eheleute locken, Neuvermählte oder Verlobte zu spielen, wo der Himmel blau ist und die Eisblöcke den Strom hinabtanzen, wo der Winter so weit weg scheint, als sollte er niemals wiederkommen, und der Frühling einen Sommer verspricht, so wie man noch keinen erlebt.

An einem solchen Abend war es, daß Elsa ihren Mann verlockte, bis zum Tiergartenbrunnen spazieren zu gehen, eine Absage nach Hause zu telephonieren und ein kleines Souper à deux zu bestellen, in einem niedrigen Zimmer mit weißen Gardinen, von wo aus man über die hellen Bäume sehen konnte, durch deren Zweige die Abendsonne zwischen langen Schatten schien.

Dies war eine unserer liebsten Vergnügungen, und je seltener wir uns, seit die Kinder heranwuchsen, derselben hingeben und diese allein lassen wollten, desto mehr genossen wir einen solchen Abend, der die ganze Freudigkeit und Schwärmerei mit sich brachte, die die Alltagskost der Jugend ist und die mit den Jahren zu Feierstunden wird, die man in der Erinnerung hegt.

Ich erinnere mich auch gerade an diesem Abend so gut an Elsa.

Vergnügt und zufrieden, in die Sophaecke geschmiegt, saß sie da und genoß langsam ihr letztes Glas Champagner. Sie glich einem Kätzchen, das darauf wartet, daß man es liebkost oder mit ihm spielt. Und ihr gegenüber saß ich selbst, rauchte bedächtig eine gute Cigarre und folgte mit meinen Blicken dem Sonnenschein, der zwischen den Schatten der Bäume zitterte. Ich fühlte mich glücklich und zufrieden, aber ich hatte in letzter Zeit viel gearbeitet, und es störte mich beinahe, daß meine Frau da saß und sich darnach sehnte, daß ich mich ganz mitreißen ließ. Denn sie selbst war in Fieberstimmung. Sie sah aus, als wollte sie im Zimmer umherspringen, spielen, rasen und sich fangen lassen, als sehnte sie sich nach etwas Neuem, etwas Ungewöhnlichem, als wäre sie von dem mädchenhaften Verlangen nach den unsterblichen Thorheiten des Glücks erfüllt, was gerade zu dem gehörte, was ich bei ihr am allermeisten liebte. Aber ich konnte mich nicht mitreißen lassen, wie gerne ich auch wollte. Es war, als läge eine böse Ahnung oder eine unwiderstehliche Wehmut in mir auf der Lauer und hinderte mich, ganz dem Flug ihrer Gefühle zu folgen. Später kann man sich an etwas derartiges erinnern, und man kann sich selbst wegen dessen anklagen, was man damals versäumt hat, so als hätte man ein Verbrechen begangen. Ich erinnere mich noch, daß ich damals ihre Stimmung verstand; und durch das, was nachher folgte, weiß ich, welchen Weg ihre Träume nahmen.

Ein wenig darüber verstimmt, daß unsere Gefühle sich nicht wie gewöhnlich im selben Rhythmus bewegten, saß sie stumm da, das letzte Glas Champagner schlürfend, und während sie so saß, glitten ihre übermütigen Gedanken unmerklich in eine milde träumende Stimmung hinüber, und während sie ihren Mann anblickte, dessen Haar an den Schläfen schon ganz grau war, sah sie wie in einem Traum den Tag, an dem wir Beide vor vielen Jahren zu einer sonnenbeleuchteten Schärengarteninsel gerudert waren, hinter deren Bäumen unser erstes lichtes Sommerheim hervorschimmerte. Sie sah und sah. Das Bild wurde so deutlich und so scharf, daß sie jeden Strauch und jeden Baum zu unterscheiden vermeinte, alles bis zu dem feinen Spiel von Schatten und Lichtern, die die Abendsonne über das Schindeldach des grauen Häuschens warf. Sie sah die Bucht sich in unendlichem Blau weiten, und da, wo sie sich um die Insel schloß, wiegten ihre Wellen Spiegelbilder der hellen Birken und der dunklen Eichen und Tannen, die sich im Wasser beinahe schwarz abzeichneten.

Wie oft hat sie mir nicht die Klarheit dieser Visionen oder Erinnerungen beschrieben, die ihr eigenthümlich waren! Ich kann ihren Traum jetzt besser und klarer sehen, als ich es damals konnte.

Gewiß ist, daß sie all dies sah, bis ihre ganze tolle Laune verschwunden war, und ich sah, wie warme Thränen ihre Augen füllten. Mit einer hastigen Bewegung leerte sie den Rest ihres Glases, glitt von dem Sopha herab und lehnte ihren Kopf an meine Kniee.

Als hätte etwas von ihrem Gefühle sich unmittelbar auf mich übertragen, oder als wären sich unsere Gedanken in der Vergangenheit begegnet, in der der Glückstraum des Lebens uns beide umfing, wurde auch ich von einer Stimmung, die ganz verschieden von der vorhergehenden war, ergriffen, und indem ich sanft meinen Arm um ihren Hals legte und ihre Wange streichelte, sagte ich:

„Woran denkst Du?“

„Ich denke an unseren ersten Sommer.“

In diesem Augenblick kam es mir vor, als hätte ich auch an dasselbe gedacht. All meine Müdigkeit war wie fortgeflogen, und voll Bewegung bog ich ihren Kopf empor und küßte ihren Mund.

Im selben Moment saß Elsa aufrecht da.

Das Verlangen nach etwas Neuem, etwas Ungewöhnlichem, das die Einförmigkeit des Alltäglichen durchbrach, vermischte sich im Augenblick mit der Erinnerung an das, was einst gewesen, und mit einem Tonfall, dem man nicht widerstehen konnte, rief sie aus:

„Ich will hinfahren, Georg! Ich will hinfahren!“

Aber im selben Augenblick fühlte ich mich wieder in die Wirklichkeit zurückversetzt. Meine Gemütsstimmung war im tiefsten Grunde vielleicht dieselbe wie die meiner Frau. Aber ich empfand gleichzeitig dieses wunderliche Gefühl einer wartenden Enttäuschung, das sich in uns erhebt und in den überspanntesten Augenblicken des Lebens unsere Träume zügelt. Ich scheute zurück vor diesem Versuch, die Jugend zum Leben zu erwecken, als fürchtete ich, anstatt dessen einem Schmerz zu begegnen, den ich um jeden Preis vermeiden wollte. Ich fühlte mich einer Enttäuschung so gewiß, daß der unschuldige Vorschlag meiner Frau, die kleine Fahrt in den Schärengarten, der Besuch des Ortes, wo ich jede Bucht, jeden Sund kannte, ja sogar die Steine auf dem Grunde des Fjords, mir etwas so Wichtiges und Entscheidendes zu bergen schien, daß ich mich genau bedenken mußte, bevor ich einen so schicksalsschweren Entschluß faßte. Aber gleichzeitig sah ich, daß dieser Gedanke meine Frau mit einem Entzücken erfüllte, so groß, daß ich nicht Nein sagen konnte. Darum sagte ich auch Ja und schloß sie in meine Arme, um meine eigene Mißstimmung zu verbergen.

Aber als wir dann heimwärts gingen, lag über Elsas ganzem Wesen etwas wie ein Schimmer von Jugend. Nichts von dem, was ich wirklich fühlte, hatte sie gemerkt. Gleichsam als glaubte sie einem großen Glück entgegenzugehen, so leuchteten ihre Züge, das ganze lebensvolle Gefühl wiederspiegelnd, mit dem sie das, was gewesen, mit dem, was war, verband. Und es durchzuckte mich eine so schmerzliche Empfindung bei dem Gedanken, meine böse Ahnung könnte sich vielleicht bestätigen, daß ich meine Gedanken nicht zurückhalten konnte.

„Bist Du sicher, daß es so wird, wie Du es erwartest?“ fragte ich.

Sie zuckte zusammen, und ihr Gesichtsausdruck war beinahe verbittert, als sie antwortete:

„Warum mußt Du mir alles verderben?“

„Pflege ich das wirklich zu thun?“

Sie wurde gleich wieder gut.

„Nein, aber ich war so glücklich, gerade jetzt.“

Ich schwieg und zog sie bloß enger an mich. Vor ihrem Glauben vergaß ich meine Zweifel, und in meiner Phantasie nahm unsere unbedeutende Reise ganz wunderliche Formen an, so wie wenn kleine nahegelegene Inseln sich zum Horizonte erheben und in phantastischem Glanze schimmern.

9.

So saßen wir endlich eines Sonntags Morgens auf dem Verdeck des Dampfschiffs und eilten dem bekannten Ziele zu.

Es waren viele Jahre vergangen, in denen wir diesen Weg nicht genommen hatten, Jahre, die Gutes und Böses gebracht, Jahre, die zersplittert, und Jahre, die vereint hatten. Getrennte Wege hatten unsere Gedanken genommen, aber sie waren sich wieder begegnet, und wie in einem wunderlichen mystischen Gefühl vereint, das das Schicksal herauszufordern schien, saßen wir Seite an Seite, während Gegend um Gegend an uns vorbeiglitt, von der klaren Lenzsonne beleuchtet, vom blauglitzernden Wasser bespült, das ein leichter Wind kräuselte.

Meine Widerspenstigkeit war nun gänzlich verflogen. Ich ließ mich willenlos von meiner Frau führen und nahm jeden Eindruck mit einer Rührung auf, als wäre ich zwölf Jahre jünger und säße auf dem Verdeck, neuen, unbekannten Zielen entgegenziehend, die mein Alltagsleben verändern und dem ganzen Dasein neue Ausblicke geben sollten. Meine Frau schien mir verjüngt, so wie ich selbst. Ihr Gesicht färbte eine zarte Röte, und die Augen leuchteten mit jenem Glanze, den das Glück verleiht. Ihre Stimme hatte Intonationen unbestimmbarer Zärtlichkeit, die mich mit der ganzen Stärke der Illusion liebkosten, die uns Beide erfüllte, und zwischen uns kamen und gingen Worte und Lächeln, Blicke und Gebärden, die nur der ersten Zeit der Liebe eigen zu sein pflegen.

Und als das Dampfboot uns endlich ans Land setzte und wir allein auf der Brücke standen und das Schiff fortdampfen sahen, da umschlangen wir einander und gingen langsam über den Weg, der sich zwischen Haselstauden und hohen knorrigen Eichen schlängelte, auf deren Zweigen kaum noch die Spur von den Knospen des Frühlings sichtbar war. Da erst sahen wir, wie wenig entwickelt die Vegetation um uns war. Das Meer, das den ganzen Schärengarten in seiner kalten Umarmung umschlungen hält, legt um Inseln und Schären eine Eiseskühle, die die Arbeit des Frühlings hemmt. Hier war es nicht grün wie im Inneren des Landes, wo Wiesen und Haine sich gerade im Schutz dieses weiten Schärengartens belauben, der die harten Nordwinde fern hält. Hier war es öde und kalt, auf den Zweigen der Bäume zeigten sich schwache, lichtgrüne Triebe, die gelb und braun schillerten, die Palmenweide trug Kätzchen, das Gras schlief unter welken Blättern, und die Anemonen, die im Inneren des Landes längst verblüht waren, wuchsen blau und weiß unter den Zweigen der Haselsträucher.

Gerade diese späte Entwicklung der Natur erfüllte uns Beide, die wir in unserer eigenen Stimmung wie gefangen waren, mit einem neuen Glück. „Siehst Du, hier kommt es so spät, wie damals?“ — „Weißt Du noch, man hat einen zweiten Frühling, wenn man in den Schären wohnt?“ und wir sahen hinaus über den weiten Fjord, der diesen ganzen späten Frühling umschloß, und freuten uns, daß die Fischmöven wie einst in weiten Bogen über dem blauen Wasser kreisten, freuten uns über ihre weißen Flügel, die in der Sonne glitzerten, und blieben stehen, um ihr freies Spiel zu betrachten, wenn sie durch die Luft schossen und das Wasser erreichten, wo ihre klaren Augen die Beute erspäht hatten.

Hand in Hand wie zwei Kinder gingen wir den Hügel hinauf zu einem kleinen, roten Haus, und wir betrachteten einander, als tauschten wir ein Geheimnis aus, als der Fährmann, der uns früher hinüber zu rudern gepflegt hatte, aus der Thüre trat und versprach, uns zu unserer Jugendinsel zu führen.

Still ging die Fahrt über das blaue Wasser. Ohne ein Wort zu wechseln, von der seltsamen Stimmung erfüllt, die uns Beide beherrschte und mit jedem neuen Blicke, der sich aufthat, zu wachsen schien, saßen wir Hand in Hand da und ließen uns von den Erinnerungen durchfluten, wohl wissend, daß dem Einen kund war, was der Andere dachte. Nie war uns diese Fahrt so herrlich erschienen, nie hatten wir wie jetzt die verführerische Pracht der Mittagssonne gesehen, nie hatte das Schimmern des Wassers und der reich belaubten Gestade sich so melodisch mit dem ernsten Hintergrund des dunklen Tannenwalds vermählt. Und als wir der kleinen Insel näher kamen, da war es uns, als ob jeder Stein, jeder Baum, jeder Strauch emporwüchse, nicht aus der verringerten Entfernung, sondern aus unserer eigenen Erinnerung, die getreuer als die Wirklichkeit diese Umgebung bewahrt hatte, aus der für uns das Glück des ganzen Lebens entsprossen war.

Aber als wir ans Land kamen, blieben wir Beide stehen, und der Ausruf des Entzückens, der schon auf Elsas Lippen geschwebt, erstarrte. Schweigend betrachteten wir einander, und wie von etwas Neuem, Unerwartetem bedrückt, das wir nicht einmal sehen oder erkennen wollten, gingen wir langsam den schmalen Pfad von der Landspitze weiter.

Was wir gesehen hatten, war, daß das Haus, das jetzt auf der Insel stand, nicht mehr grau war. Es war rot angestrichen. Es war nicht mehr ein breites, zweistöckiges Gebäude. Es war eine niedrige Hütte, die gleichsam auf demselben Platze zusammengeschrumpft war, auf dem unser erstes Heim gestanden hatte. Sie schien sich auf der alten Stelle zusammengedrückt zu haben, als hätte Armut und Not sie im Laufe der Jahre gezwungen, sich so klein zu machen. Wir standen eine Weile schweigend, als müßten wir erst Atem schöpfen.

„Georg,“ sagte Elsa, „was ist das?“

Ich brauchte bloß auf die alten Eichen zu weisen, die ringsumher standen. Ihre Aeste trugen schwarze Zeichen, und ihre Rinde war versengt. Ich wies ihr den rußgeschwärzten Grundstein, das kleine Gärtchen, das verwildert war, und einen Haufen alter Holzbalken, der quer über dem Grasplatz lag. Sie waren verbrannt und verkohlt, verfault und verwittert. Das war alles, was von unserem ersten Heim übrig war.

„Hier ist eine Feuersbrunst gewesen,“ sagte ich.

Und meine Stimme zitterte.

„Verbrannte Stätten.“

Als hätten wir uns Beide zusammengehörig mit jenem kleinen Fleck Erde gefühlt, den wir seit vielen Jahren nicht wiedergesehen, wurden wir nun von einem ganz neuen Interesse ergriffen, nämlich zu erfahren, was geschehen war, was diese unsere Glücksinsel so verwandelt hatte, daß sie für uns halb unkenntlich geworden war. Dieses Interesse verscheuchte gewissermaßen die ganze Welt der Träume, die uns bis dahin umfangen gehalten, und erweiterte unsere Gefühlswelt dahin, auch das Leben Derer zu umfassen, die hier draußen gelebt und gelitten, gearbeitet und gestrebt und die die Jahre so hart geformt und gemodelt hatten, daß keinerlei Glücksträume ihnen länger die harte Wirklichkeit vergoldeten.

Und während sich unsere Gedanken diesen Menschen zuwendeten, deren wir früher nur als eines notwendigen Anhängsels unserer eigenen Freude gedacht hatten, öffnete sich die Thür der Hütte, und in dem Sonnenlicht, das über die Stufe fiel, stand ein gebücktes, altes Mütterchen und blinzelte uns mit einem wiedererkennenden Lächeln zu. Sie sah so alt aus, daß sie geradeswegs einem alten Märchen entstiegen schien, sie war auf einen Stock gestützt, und das runzlige Gesicht verzerrte sich schmerzlich, als sie ihren gichtbrüchigen Körper bewegte.

„Das sieht jetzt anders aus, als wie die Herrschaften das letzte Mal da waren ...“ sagte die Alte.

Und indem sie sich mühsam vorwärtsbewegte, kam ein alter Mann zum Vorschein, der, seiner Gewohnheit treu, im Hintergrunde gestanden hatte, bis die Reihe an ihn kam. Die beiden Alten begrüßten die Beiden, die sich eben jung geträumt, und der Greis rieb sich die Hände, hustete und murmelte unverständliche Worte, während er langsam und bedächtig auf der Schwelle Platz machte, über die die Alte die beiden Reisenden einlud einzutreten.

Durch das Skelett einer unvollendeten Veranda sahen wir hinaus auf die Fjorde und Sunde unserer Jugend. Vernachlässigt war der Garten, verfallen schien das ganze neue Haus, das Gras überwucherte die Wege, die wir einst gegangen, und in der Laube unten am Strande faulten Tische und Bänke, weil Niemand gut machte, was Wind und Wetter zerstörten.

Ohne daß wir zu fragen brauchten, erzählten die beiden Alten, wie das Unglück über sie gekommen war. Die Frau erzählte, und der Mann wiederholte bekräftigend ihre Worte. Und das Unglück war so hinterlistig und unerwartet hereingebrochen, daß Niemand ihm Widerstand leisten und Niemand helfen konnte.

Denn an einem Frühlingstag im März, als der Nordwind frisch blies und das Eis zwischen den Inseln weder trug noch brach, war das Feuer ausgebrochen. Und weil das Eis weder trug noch brach, hatten die Nachbarn rings umher auf dem Lande gestanden und das Ganze angesehen, ohne ihnen zu Hilfe kommen zu können. Die beiden Alten hatten allein weggetragen, was sie aus dem brennenden Hause retten konnten; und machtlos danebenstehend sahen sie ihr Eigentum zu Asche verbrennen. Mit dieser Asche, in der sie die letzten Funken erlöschen sahen, erlosch ihnen auch jede Hoffnung auf ein sorgenfreies Alter. Denn niedrig war das Haus, das sie nach langen Jahren auf dem Grund des alten aufgebaut. Gering war der Hausrat. Dürftig die Umgebung. Und sie selbst gebrochen und müde. Ein einziger Unglückstag hatte Alles genommen, was frühere Jahre aufgebaut.

Wie von demselben Schicksal gebeugt saßen die Beiden da, die sich eben jung geträumt, und lauschten den schweren, kargen Worten, in denen die Alten von dem Feuer erzählten, das ihr Haus verödet hatte. Gerade das ergreifend Alltägliche dieser Darstellung, unterbrochen von bedeutungslosen Einzelheiten, vermischt mit den Armeleuteerinnerungen an Hab und Gut, das zu Grunde gegangen, drückte die Gäste zu Boden, entkleidete unsere eigenen Träume der Pracht der Illusion und ergriff uns mit stiller, schwärmerischer Wehmut. Es dünkte uns beinahe, daß während wir nichts wußten, während wir unser Leben lebten und uns glücklich wähnten, hier auf einer kleinen Insel in den Schären etwas von jenem Schatze des Lebens verbrannt und verschwunden war, den wir gesammelt und in sicherer Hut zu haben glaubten. Elsa hatte die Empfindung, daß sie bei jenem Brande mehr verloren hatte, als die beiden Alten; und während die Erzählung fortschritt, sah ich, daß sie sich Gewalt anthun mußte, um nicht in Thränen auszubrechen. Denn was bedeuteten diese Möbel, Kleider und Hausgeräte? Was bedeutete es, daß zwei zusammengebrochene Menschen, deren Leben abgeschlossen war, hier saßen und sich grämten über den Gegensatz zwischen früher und jetzt, in jenem dürftigen Wohlstand, wo der Unterschied doch ein so geringer war? Was bedeutete all dies dagegen, daß sie niemals, niemals mehr die Insel ihrer Jugend so sehen sollte, wie sie sie einst geschaut?

So empfand sie, und sie wandte mir ihr Antlitz zu, und ich konnte ihr keinen Trost geben. Denn ich dachte daran, wie Unrecht ich gethan, nicht der Stimme meiner ersten Ahnung gefolgt zu sein und es uns Beiden erspart zu haben, die Brandstätte unseres ersten Glücks zu sehen. Aber ich hatte nicht das Herz, dies zu sagen, und indem ich ihren Arm nahm, gingen wir Beide noch einmal schweigend um die Insel.

Es erging uns wie den Kindern im Märchen, die sich einst im Wunderland verirrten und bei ihrer Heimkunft fanden, daß die Zeit weitergeeilt war und die Menschen rings um sie müde und alt gemacht hatte. Still und träumend saßen wir am Strande und blickten über den Fjord. Da war alles sich gleich geblieben, und wie wir da saßen, vergaßen wir das neue Haus und den Verfall hinter uns. Wir erinnerten uns nur, daß wir drei Jahre an dieser Bucht gewohnt hatten, jeden Sommer an einem anderen Orte; und in einer Art Verlangen, das fortzusetzen, was wir einmal begonnen, beschlossen wir, weiter, zu dem Heim des zweiten Sommers zu fahren, wo wir uns an zwei kleine, rote Häuschen am Waldessaum erinnerten und an eine kleine Wiese, auf der in einem weißen Korbwagen unter blauem Schleier unser erster Knabe geschlummert hatte.

Wir ließen uns hinüberrudern, und diesmal wußten wir, daß wir einem öden Strand entgegensteuerten. Denn wir hatten uns vorher erkundigt. Wir wußten, daß die Jahre auch hier die Spuren dessen, was gewesen, hinweg gefegt und alles verändert hatten.

Auf der kleinen Landzunge, an der wir ausstiegen, wohnte vor einigen Jahren ein alter Fischer mit seiner Frau. In einer Winternacht, als der Schnee um die Hütte stöberte, starb sie, und als eines Tages auch die Stunde des Alten schlug, da erbten die Kinder die beiden Hütten am Waldessaume, das Boot und den Fischerschuppen unten am Meer.

Aber es giebt gar manche Geschichten in den Schären, und eine davon war auch die Geschichte von den kleinen, roten Häuschen am Waldessaum. Als die fünfzig Jahre, für die die Verstorbenen einst den Boden gekauft hatten, um waren, kam der Bauer, dem das Land gehörte, und nahm es zurück. Er verjagte den neuen Besitzer von Haus und Hof. Und darum waren die Häuser der Erde gleich gemacht, das Holz fortgeführt, das frühere Kartoffelland von Disteln und Unkraut überwuchert, und der Boden sah aus, als hätte auch hier das Feuer gehaust.

Die beiden Reisenden, die die Spuren ihres Jugendglücks suchten, standen wieder unter den Trümmern eines verwüsteten Heims. Es war, als würden sie von Ruinen verfolgt. Und von einer unheimlichen Beklemmung ergriffen, die all den Illusionen, welche zerstört worden waren, auf dem Fuße folgte, ließ Elsa meinen Arm fahren. Den trockenen, reisigbedeckten Hügel hinaufgehend, kam sie zu dem Zaun, dessen Thüre herausgerissen war und an dem ein paar verrostete Angeln verkrümmt an den Haken der Pfähle hingen.

Hier stützte sie ihre beiden Arme auf den Rand des Zaunes, und all den wechselvollen Gefühlen, die ihre Seele durchströmt hatten, freien Lauf lassend, brach sie in heftiges Weinen aus. Sie schluchzte, als wäre alles Unglück des Lebens über ihr Haupt hereingebrochen. Sie stieß meine Hand zurück, als ich sie streicheln wollte, und sie weinte so lange, daß ich ungeduldig wurde und darauf drang, fortzugehen, um nicht zu spät zum Dampfschiff zu kommen.

Sie hörte mich nicht, umfaßte nur meine Schultern und sagte:

„Du hattest Recht, wir hätten nie herkommen sollen.“

Und sie gestand, daß sie lange an diese Reise gedacht hatte, daß sie sie gewünscht hatte, seit Jahren, daß sie durch einen Zufall — sie wußte nicht wie — auf den Gedanken verfallen war, daß sie jetzt unternommen werden solle, gerade jetzt. In ihren heimlichen Träumen hatte sich der Gedanke an diese Reise in wunderlicher Weise mit dem Gedanken an unser ganzes Lebensglück verknüpft. Es war ihr gewesen, als sollten, als müßten wir diese Reise einmal unternehmen, als könnte sie ihres Glücks nie wirklich sicher sein, bevor sie diese Orte wiedergesehen hätte, so wie sie sie einst gesehen, so wie sie sie stets in ihren Träumen sah. Sie sagte, daß es ihre Absicht gewesen war, wenn wir zusammen herauskämen, mich zu bitten, noch einen Sommer draußen zu wohnen. Und sie hatte gewußt, daß ich ihr diese Bitte nicht abschlagen würde. Aber jetzt, wo nichts übrig war, nichts von alledem, das einst das ihre gewesen, jetzt schien es, als sei ein Glied gerissen, das sie an das Leben selbst kettete.

Ich stand stumm bei ihrem verzweifelten Ausbruch da, und ich begriff nur zu wohl, daß ich einer jener Phantasieen oder Träume gegenüberstand, die für einen Menschen mit reichem Gefühlsleben in des Wortes eigentlichem Sinne mehr bedeuten können als das Leben selbst. Für mein eigen Teil hatte ich mich freilich auch erregt gefühlt, sowohl durch all die Erinnerungen, die diese Orte zum Leben erweckten, als durch die Zerstörung, die die teueren Punkte heimgesucht hatte. Aber diese Verwüstung in irgend einen Zusammenhang mit dem zu bringen, was für mich selbst teuer und bedeutungsvoll war, das fiel mir nicht ein. Und vor diesem Schmerzensausbruch stand ich völlig ratlos da.

Ich versuchte es mit dem gewöhnlichen Mittel, wodurch ein Mann weiblichen Schmerz zu beruhigen pflegt. Ich versuchte es mit Liebkosungen. Aber Elsa entzog sich meiner Hand, weil sie sah, daß in meiner Freundlichkeit ein Trost lag, den sie verschmähte, anstatt der Sympathie, die sie suchte. Ihr Gesicht nahm einen verschlossenen, unzugänglichen Ausdruck an, als setzte sie ihre ganze Persönlichkeit für die Phantasie ein, die sie beherrschte und in der sie sich von Niemandem stören lassen wollte.

Sie blickte um sich auf den zerklüfteten Plan, und während sich ihr Auge in Mitgefühl feuchtete, sagte sie:

„Arme Menschen!“

Wieder ging ihre eigene Enttäuschung in ein Mitgefühl mit dem Unglück anderer Menschen über, für das dieser verödete Fleck Erde Zeugnis ablegte. Wieder setzten wir uns nieder und ließen unsere Blicke um den kleinen Hügel am Waldessaume schweifen, der uns die sorglose Ruhe eines ganzen Sommers in Erinnerung rief. Wir begannen zu sprechen. Und wir versuchten uns die Szenen auszumalen, die dieser Zerstörung vorausgegangen waren. Der Bauer, dem das Land gehörte, kam zu dem jungen Paar, das den Hof geerbt hatte. Er teilte ihnen kurz und bündig mit, daß die Zeit abgelaufen sei. Die fünfzig Jahre waren um, und nun sollten die Häuser niedergerissen werden. Er wollte sein Land wiederhaben. Es war klar, daß er keinen Vorteil dabei hatte. Es würde vielleicht günstiger für ihn gewesen sein, das Stück Erde noch einmal zu verkaufen. Aber er hatte gesehen, wie die Anderen im Sommer Mietsgäste gehabt hatten. Das Einkommen dieser Miete hatte seinen Neid erregt, und mit der Stärke einer fixen Idee schlug in seinem Hirn der Gedanke Wurzel, daß hier Niemand wohnen sollte. Der Boden sollte ihm gehören und niemand Anderem.

Und so mußten die Jungen, die hier gewohnt hatten, ihre Baulichkeiten niederreißen, sie auf eine andere Insel bringen und dort aufbauen, wo der Reiche sich bewegen ließ, dem Armen Platz zu gönnen. Aber als die letzte Bootsladung bereit stand, von der Brücke abzustoßen, da hatte den Mann Raserei erfaßt. Und nun seinerseits sein Recht ausübend, griff er zur Axt. Er hieb die Bäume nieder, die auf seines Vaters Grund standen, er entwurzelte die Beerensträuche, das Zaunthor riß er aus seinen Angeln und warf es zu oberst auf die Fähre. Und bevor er vom Lande abstieß, wälzte er Steine vom Stege ins Meer, so den Landungsplatz zerstörend, und fuhr von dannen, zufrieden mit der Rache, die seinen Feind nicht das Geringste gewinnen ließ.

Davon sprachen wir, aber die ganze Zeit über lag unsere eigene Enttäuschung auf der Lauer hinter unseren Worten, und Elsa erzitterte.

„Sind wir es, die das Unglück mit uns führen?“ sagte sie.

Ich lächelte. Die Worte meiner Frau kamen mir leer und überspannt vor.

„Fahren wir zu der dritten Insel. Dort, wissen wir ja, steht alles so, wie es gestanden hat,“ sagte ich.

Aber Elsa schüttelte nur den Kopf, und indem sie sich plötzlich erhob, sagte sie:

„Laß uns den alten Weg durch den Wald gehen.“

Und ohne meine Antwort abzuwarten, ging sie voraus. Es war, als sei ihre frühere Lebendigkeit zurückgekehrt, als hätte sie nun in einem Nu die ganze Schwere der Leiden und Sorgen Anderer von sich abgeschüttelt, all dies, das das Land unserer Erinnerungen umschattete und uns an diesem ganzen wunderlichen Tage mit allem Weh und Elend der Welt verfolgt hatte. Sie führte mich gerade in den Wald hinein, auf einem schmalen Pfad, auf dem die Tannen ihre Aeste über unseren Häuptern vereinigten. Der Weg war weich und leicht zu gehen. Rings um uns zitterte der Sonnenschein auf feuchtem Moos und einer Perspektive von Aesten und Stämmen. Der Pfad führte zu einer kleinen Bucht hinab. Dicht an einer steilen Klippe schnitt sie in den Wald, und gegen den Strand zu ließen die spärlichen Bäume das Sonnenlicht durch, das auf eine offene, schwach begrünte Lichtung fiel.

Hier blieb Elsa stehen und begann die Stämme der Bäume zu durchforschen. Und als ich sie so suchen sah, da erwachte auch in mir eine Erinnerung, die so lange geschlummert hatte, daß sie mir in elf Jahren kaum einmal in den Sinn gekommen war.

Es war an einem Abend, als wir noch in jenem Häuschen wohnten, das nun der Erde gleich gemacht war. An einem Augustabend war es. Und denselben Pfad verfolgend, waren wir hierher gekommen, um von einem schönen Sommer Abschied zu nehmen. Da hatte meine Frau eine schwarze Stecknadel aus ihrem Kleide genommen und sie in der Rinde einer Tanne befestigt.

„Ob sie wohl noch da ist, wenn wir das nächste Mal herkommen,“ hatte sie gesagt.

Diese Erinnerung huschte durch meine Seele, und es wurde mir wehmütig ums Herz. Da sah ich meine Frau mit einem leisen Aufschrei einer kleinen Tanne zueilen. Aus ihrer Rinde zog sie eine rostige Nadel, und indem sie mir um den Hals fiel und mich küßte, weinte sie Thränen des Glücks.

Behutsam steckte sie die Reliquie wieder in die Rinde des Baums. Denn sie brachte es nicht übers Herz, sie wegzunehmen. Vielleicht hatte sie eine abergläubische Furcht, daran zu rühren. Aber seit sie sie gefunden, verschwand der schmerzliche Eindruck eigener Enttäuschung und fremder Not, er verwischte sich in uns Beiden. Und als hätte uns dieser kleine Vorfall tröstende Grüße guter Geister gebracht, wanderten wir selig zurück über verbrannte Stätten, die uns nichts anderes gelassen hatten, als eine alte, rostige Nadel, die so gut geborgen war, daß Niemand sie fortnehmen konnte.

10.

Wie oft habe ich nicht dieser Fahrt über verbrannte Stätten gedacht, wie oft ist sie mir nicht seither als ein Symbol unseres ganzen Lebens erschienen!

Aber damals wirkte dieses Ereignis ganz anders auf uns, als jetzt, wo ich mich daran erinnere. Damals wirkte es so, daß wir zu unserem dritten Landaufenthalt gingen, den meine Frau zuerst gar nicht hatte sehen wollen, und dort zum zweiten Male unser Heim für den Sommer mieteten! und leichten Herzens zogen wir hinaus in die Gegend, an die wir uns durch eine rostige Nadel, die Niemand fortgenommen, gebunden fühlten.

Rein von Wolken, die die Sonne verdunkeln, steht der Sommer vor mir, der auf diesen Frühlingsausflug folgte. Mit welcher Lust arbeitete ich, und wie leicht schritt die Arbeit vorwärts. Blatt um Blatt wurde ruhig und mühelos zu dem Buche gelegt, das zum Herbst herauskommen sollte, und mehr als einmal stand das Mittagsbrot auf dem Tische, wenn die Thüre zum Arbeitszimmer verschlossen wurde und Elsa sich niedersetzte, um die Seiten vorlesen zu hören, die während des Vormittags geschrieben worden waren. Still und glücklich saß sie da und freute sich, daß der Stoß dicht beschriebener Blätter auf dem Tische gewachsen war. Denn sie wußte wohl, wer der Arbeit Leben gab. Sie wußte, daß das, was ich von Menschen dichtete, aus langen Gesprächen zwischen mir und ihr hervorwuchs, und sie war es zufrieden, daß ich sie mein Notizbuch nannte, das sicherer als irgend eine Schrift meine Gedanken bewahrte und sie mir frisch und erneut wiedergab. Denn wenn ich sie dann aus dem treuen Gedächtnis emporholte, das meine eigenen Gedanken besser barg als ich selbst, sah ich sie durch das Vergrößerungsglas der Liebe wieder, mit dem sie all das sah, was sie und mich betraf, und vor Allem meine Arbeit. Darum hatte auch sie, während ich las, die Empfindung, daß das, was sie selbst mit mir in ungeordneten Phantasieen gesehen, nun in dem Geschriebenen Form gewonnen hatte. Sie genoß eine stille, seltsame Mutterfreude, indem sie so diesen meinen geistigen Kindern auf ihrem Entstehungswege folgte, und dennoch war sie eifersüchtig auf sie, weil sie sich einbildete, daß sie meine Gedanken so erfüllen konnten, daß sie sie selbst, das Heim, die Kinder und alles, was es im Leben gab, verdrängten. Ja, ich glaube nicht, daß sie auch nur ahnte, wie dieses Zusammendichten mit ihr mir kostbarer war als die Dichtung selbst.

Wie kindisch es auch klingen mag, so ist es doch wahr, daß nichts mich je so zu geistiger Thätigkeit angespornt hat, als wenn ich aus ihrem Gesichtsausdruck, der nie das, was sie dachte, verhehlen konnte, entnahm, daß es mir geglückt und daß sie zufrieden war. Ich konnte, während ich schrieb, an dieses Vorlesen denken, und dieser Gedanke zerstreute die hundert ungebetenen Phantastereien, die sonst so gerne die Feder hindern wollen, zu arbeiten. Aber wenn wir die Lektüre beendet hatten und hinaus in das Speisezimmer kamen, da lachten wir darüber, daß der Hecht kalt geworden war und daß die Jungen, die notdürftig gewaschen, bloßbeinig und sonnverbrannt dasaßen, hungrig und erwartungsvoll aussahen.

„Wir sitzen schon so lange hier und warten,“ knurrte Olof. „Wo seid Ihr denn gewesen?“

„Wir haben Papas Buch gelesen,“ sagte Mama.

„Hättet Ihr damit nicht bis nach dem Mittagessen warten können?“

„Nein, das konnten wir nicht.“

„Das muß ein komisches Buch sein,“ bemerkte Olof.

Aber Svante, der noch nicht zu buchstabieren angefangen hatte, nahm Papas unbekanntes Buch in Schutz, und wie immer war Mama diejenige, die den Zwist beilegen und die unruhigen Gewässer beruhigen mußte.

Aber was für ein Sommer war das! Was für ein herrlicher Sommer, voll Arbeitsfreude, Schärenwinden, klarer Sonne und lauen Mondscheinabenden! Er steht vor meiner Erinnerung wie ein einziger Sonnentag. Ich erinnere mich der Freunde, die mit ihren Segelbooten an unserer Brücke landeten, ich erinnere mich der Ausfahrten mit Eßkörben bei frischem Sommerwind, des Badens im offenen Meer, wo Olof schwimmen lernte und Svante sich im Sande rollte, um seine Anlagen zu zeigen. Ich erinnere mich der Festtage mit Blumenguirlanden und Versen, Erdbeeren und Wein, der langen, stillen Spaziergänge durch den Tannenwald, der sich zu einem sonnenbeleuchteten Fjord öffnete, und ich erinnere mich an den Fährmann, der uns im Segelboot zu begleiten pflegte und uns alle aus seinem grauen Kinnbart anlachte.

Wie kurz war dieser Sommer, und wie frühe kam der Herbst! Mit welcher Wehmut verfolgten wir nicht die Veränderungen der Natur, wie die Abende länger und die Tage kürzer wurden, wie man die Wiesen mit ihren herrlichen Blumen abmähte, so daß Alles kahler wurde, wie der Roggen sich gelb färbte und das Schilf hoch und groß rings um die Ufer wuchs, einen dichten, wehenden Wald aus Grün mit violetten Blütenbüscheln bildend, wo früher das Wasser munter über die Steine geplätschert hatte.

Und als der Tag des Aufbruchs endlich herankam, wie suchten wir da nicht alle Plätze des Sommers auf, um sie ein letztes Mal wiederzusehen. Wir gingen den Aussichtsberg hinauf, und wir wanderten den Waldweg auf und ab, besonders wenn es dunkelte und die Sterne durch die Zweige der Tannen schimmerten. Beinahe eine ganze Woche brachten wir nur damit zu, Abschied zu nehmen. Wir nahmen die Knaben mit und segelten rings um die Insel, und wir sprachen von dem Buche, unserem Buche, das fertig war und zum Herbste herauskommen sollte. Stundenlang konnten wir über den schmalen Pfad gehen, der von dem rotgestrichenen Wohnhause hinab zum Strande führte, und jeden Abend verweilten wir lange auf der Brücke, dem Rauschen der Wogen horchend, das jetzt ruhiger klang als in dem unruhigen Frühling, zugleich jedoch härter.

Aber am letzten Abend, als der Augustmond schon im Abnehmen war, gingen wir allein zur Brücke hinab und stießen mit dem Boote ab.

In der Nachtbrise segelten wir hinaus über die schwarze Bucht, auf die der gelbe Halbmond glitzernde Streifen malte und um die die Bäume so dunkel und wunderlich standen, ganz andere Konturen bildend als die, die das Tageslicht gab. Wie durch eine Zauberlandschaft segelten wir dahin, dem Plätschern der kleinen Wellen am Bug des Bootes lauschend. Wir eilten über die nur gekräuselte Wasserfläche mit größerer Geschwindigkeit dahin als je am Tage, denn die Brise der Nacht hat größere Kraft, oder sie scheint sie wenigstens zu haben. Aber ohne zu sprechen oder irgend etwas zu verabreden, wendete ich das Boot, so daß es die Klippen umschiffte, und über die Steine der Badebucht gingen wir ans Land. Wir nahmen einander bei der Hand, und wir gingen unseren alten Weg zu der hohen Tanne, in deren Rinde die rostige Nadel steckte. Wir brauchten den Baum nicht zu suchen, denn während des Sommers waren wir oft hingepilgert, und wir hatten niemals gefürchtet, daß Jemand an das kleine Ding rühren würde, das so gut verborgen war und uns das Siegel unseres eigenen unermeßlichen Glücks zu sein schien, das zu entfliehen gedroht hatte, aber zurückgekehrt war.

Doch wie wir so in unsere Gedanken versunken standen und das Mondlicht in dem Dunkel der Nadelbäume untergehen sahen, sagte meine Frau:

„Ich will sie nicht dalassen. Ich möchte sie mitnehmen.“

Mit behutsamer Hand machte sie sie los und befestigte sie an der Innenseite ihres Kleides.

„Vielleicht komme ich nie mehr her, und da will ich nicht, daß Du sie nach mir findest.“

Dann segelten wir wieder hinaus in die nächtliche Brise, und eine Vorahnung dessen, von dem ich nie geglaubt hatte, daß es kommen würde, erfüllte mich mit einem unnennbaren Gefühl der Trauer. Ich sah auf die Stelle im Boote, wo Elsa saß. Es war mir, als würde sie vor meinen Augen leer und als segelte ich einsam über einen Wasserspiegel, der andere Konturen hatte als die, die das Sonnenlicht gegeben. Ich saß da, so stark von diesem Gefühl erfüllt, daß ich vergaß, daß ich nicht allein war, und zusammenzuckte, als erwachte ich zu einer neuen Wirklichkeit, als ich die Stimme meiner Frau vernahm. Sie sprach leise, so als spräche sie zu sich selbst, und ich hörte im Anfange die Worte, ohne sie zu verstehen.

„Ich habe so oft gedacht,“ sagte sie, „daß es Menschen geben muß, die etwas brauchen, an das sie glauben können, und denen Unrecht widerfährt, wenn man ihnen ihren Glauben nimmt. Ich bin so glücklich, daß ich so glaube wie Du. Ich will nichts thun, was Dir nicht recht ist, nicht einmal etwas glauben, was Du nicht weißt. Aber ich kann es nicht lassen, an Gott zu glauben. Bist Du sehr böse darüber?“

Wenn meine Frau mich dies in unserer ersten Jugend gefragt hätte, würde ich gewiß streitlustig geworden sein, und ich wäre mit all den Gründen gegen einen derartigen Glauben angerückt, den die illusionslose Richtung der Zeit mich gelehrt hatte fast mit nachsichtiger Geringschätzung zu betrachten. Die Jahre, die mich älter gemacht, hatten mir wohl keinen Glauben gegeben, mir aber doch das Verlangen genommen, auch nur einen einzigen Proselyten machen zu wollen, nicht einmal wenn dieser einzige meine eigene Frau wäre. Was ich glaubte, war nichts Festes, nur ein Suchen, das Größte zu finden, und mehr als ein Mal hatte mich schon in meiner frühen Jugend die Dürftigkeit dessen, was man mit einem schlechten Worte Materialismus nennt, durch seine trockene Kühle überrascht. Aber von solchen Dingen, die in mir selbst noch zu unklar und formlos waren, sprach ich im Allgemeinen ungerne, und ich fühlte mich jetzt durch die Worte meiner Frau gleichzeitig überrumpelt und gedemütigt.

„Wie sollte ich darüber böse sein können,“ antwortete ich bloß.

„Ah, wie froh ich bin,“ ertönte wieder ihre Stimme. Denn ihr Gesicht unterschied ich nur undeutlich. „Dann wirst Du auch nicht zürnen, wenn ich Dir sage, daß ich jeden Abend mein Abendgebet spreche, so wie, als ich ein Kind war. Ich weiß nicht, zu wem ich bete. Aber ich lasse auch die Knaben für Dich und mich und für einander beten. Glaubst Du, daß es unrecht ist?“

Ich legte das Ruder nieder, stand von meinem Platze auf, nahm das liebe Gesicht meiner Frau zwischen meine Hände und küßte sie, ohne ein Wort sagen zu können.

„Ich will nicht, daß es etwas geben soll, was Du nicht weißt,“ sagte sie einfach.

Wieder saß ich an meinem Platze am Ruder, wieder schoß das Boot dahin, und nach einer Weile sah ich durch das Laubwerk ein Licht, das mich zu der Brücke meines Heims leitete. Uns mit den Armen umschlungen haltend gingen wir den schmalen Pfad zu unserem Sommerheim, und als wir uns zur Gutenacht küßten, sagte Elsa:

„Du hast mich heute Abend so glücklich gemacht. Ah, Du weißt nicht, wie glücklich Du mich gemacht hast.“

An diesem Abend blieb ich lange auf, und ich that, was ich nicht oft während dieses ganzen glücklichen Sommers gethan. Ich dachte an Elsa und mich. Unaufhörlich tauchte der Gedanke wieder auf, warum sie mich hatte fragen müssen, ob ich ihr erlaubte, an Gott zu glauben und zu beten. Denn das war es ja, was sie gethan hatte. Und während mich diese weiche Weiblichkeit wie ein Hauch unnennbaren Glücks berührte, fühlte ich doch gleichzeitig den Stachel, der darin lag, daß sie je so hatte fragen müssen. Ich ging in Gedanken unsere Jugend durch und all die Jahre, in denen wir uns geliebt. Ich glaubte, daß ich sie immer auf den Händen hatte tragen wollen, ich glaubte, daß ich es immer gethan hatte, und nun klang durch ihr ganzes Wesen ein Ton, als hätte ich bei alledem achtlos ihr Innerstes zerrissen und ihr, ohne es zu wissen, eine Wunde geschlagen, die vielleicht lange geblutet hatte, bevor sie gewagt hatte, mich ahnen zu lassen, daß sie litt. Sie schien in irgend einer Weise mich oder meine Kritik oder Beides zu fürchten. Und ich fragte mich selbst: Warum?

Ich wußte, daß ich sie nicht darnach fragen konnte. Denn sie würde immer die Arme um meinen Hals schlingen und sagen: „Du, Du, niemals hast Du mir etwas anderes als Gutes gethan!“ Ich glaubte den Fanatismus ihrer Stimme zu hören, wenn sie dies sagte. Ja, ich wußte, daß sie so antworten mußte, und ich wußte auch, daß sie alles, was sie sagte, als die innerste Wahrheit empfinden würde, so gewiß als sie es sonst nicht hätte sagen können. Aber dieser Gedanke beruhigte mich nicht. Etwas ganz Anderes beschäftigte mich jetzt. Was kümmerte es mich im Uebrigen in dieser Stunde, ob meine Frau zu Gott betete oder nicht? Was kümmerte es mich, ob sie das oder jenes dachte? Was sie gesagt, hatte mich wie Pfeile getroffen, die geradenwegs in mein Herz gedrungen waren. Ihre Worte waren mit ihr selbst und dem ganzen Sommer, der vergangen war, verschmolzen, mit dem Gefühl der Kahnfahrt auf dem dunklen Wasser, mit dem Brausen des Waldes und dem Strahlenweg des Mondes über die krausen Wellen. Es verschmolz alles zu einem einzigen Ganzen und sang davon, daß ich einen Schatz gewonnen, der sich nicht teilen oder verwandeln ließ, aber der mein blieb, solange ich begriff, daß er nur in der Stille für mich wuchs.

Aber dabei quälte mich der Gedanke, daß ich sie, ohne es zu wollen, doch erschreckt hatte. Das quälte mich im Widerspruch zu ihren eigenen Worten, die noch in meinem Ohre klangen. In Gedanken durchlebte ich alles zwischen uns, woran ich mich erinnern konnte und was möglicherweise damit zusammenhing, und als ich mich an nichts mehr erinnern konnte, suchte ich in meinen Gedanken nach dem, was ich nicht zu finden vermochte.

Denn es war Schuldgefühl, was ich empfand, Schuldgefühl, was mich bedrückte. Ich konnte mich nur nicht entsinnen, wie oder wann ich schuldig geworden war. Ich meinte bloß, daß ich es war und sein mußte. Als ich hereinkam, um zu Bette zu gehen, sah ich bestürzt, daß meine Frau noch wach lag. Aber als ich mich niedergelegt hatte, beugte sie sich nur vor und küßte meine Hand.

Ich habe nie einen glücklicheren Ausdruck in ihrem Antlitz gesehen.

11.

So kam der Tag heran, den wir lange erwartet hatten, der Tag, an dem unser Kind geboren werden sollte, an dem das Geheimnis, das meine Frau mir schon seit langem anvertraut und das ihrer Seele Spannkraft und ihrer Hoffnung Flügel gegeben, an den Tag kommen und das Glück wieder auf immer in unser Haus einkehren sollte. Das Vorgefühl dessen hatte dazu beigetragen, unseren Sommer so hell zu machen, wenigstens sehe ich es jetzt so. Aber so wunderbar mir alles jetzt erscheint, wo ich die Erklärung dafür zu haben glaube, so natürlich und einfach kam damals alles, und ich war weit entfernt, die ganze Bedeutung dessen, was sich mit uns begab, zu ahnen.

Wir hatten ja schon vorher zwei Kinder bekommen, und ich hatte viele dieser rührenden Beweise der Mutterfreude der Erwartung gesehen, die ein Mann, der seine Frau liebt, niemals vergißt. Aber nie hatte ich meine Frau so von Freude über das Kommende erfüllt gesehen, wie sie es jetzt war. Nie war sie in einer so andachtsvollen Glückseligkeit umhergegangen wie jetzt, nie hatte sie es in diesem Maße verstanden, eine feiertägliche Stimmung über unser ganzes Alltagsleben zu breiten, wie in diesem düsteren Herbst in der tristen Stadt, wo der Regen unaufhörlich fiel und das ganze Leben um uns so schwer und trübe erschien wie wohl nie zuvor.

Wir hatten ja zwei Knaben, und darum war es natürlich, das kleine Wesen, das kommen sollte, „das Mädchen“ zu nennen. Sie erwarteten wir und von ihr sprachen wir, und eines Mittags, als ich von meiner Arbeit nach Hause kam, sagte meine Frau zu mir:

„Es ist mein Engel, der kommt, Georg, sie wird mich retten.“

So lange hatte ich in der Vergessenheit gelebt, daß irgend eine Gefahr uns je bedroht, daß ich zuerst ihre Worte nicht verstand.

„Dich retten?“ wiederholte ich mechanisch. „Wovor?“

In ihr Gesicht trat ein wunderlicher Ausdruck, so als zöge sie sich in sich selbst zurück, um darüber nachzudenken, wie es möglich war, daß zwei Menschen, die sich liebten, so verschieden empfinden konnten.

„Hast Du schon vergessen, wie es im Winter war?“ sagte sie.

Ich begriff noch nicht, oder ich wollte nicht begreifen.

„Ich glaubte, dies sei vorüber,“ sagte ich.

„Glaubst Du, daß etwas je vorüber sein kann?“ war die Antwort. Und sie fügte hinzu:

„Vielleicht kann das kleine Wesen, das kommt, das thun, was nichts anderes kann.“

An dieses kurze Gespräch dachte ich oft, und ich suchte vergebens, es mit dem ungetrübten Glück in Einklang zu bringen, das wir in dem Sommer, der vergangen war, genossen hatten. War es möglich, daß meine Frau in dem Sonnenschein des Glücks, der ihrem ganzen Wesen die Färbung gab, den Keim zu einem Unglück verbarg, das sich über unser ganzes Leben senken sollte? War das möglich? Lebte sie zwei Leben? Konnte sie mitten im Sonnenschein leben und zugleich fühlen, daß die Nacht nahe war? Oder gehörte die Ahnung der Furcht, die sie jetzt zeigte, bloß jener Art von Phantasie an, die eine Folge ihres Zustandes war?

Ich versuchte mich mit der letzteren Alternative zu beruhigen, aber es wollte mir nicht recht gelingen: und mehr und mehr begann ich, das ganze Leben meiner Frau in einem neuen und anderen Lichte zu sehen, demselben, das sie schließlich ganz einhüllen sollte.

Ich kann das ganz neue Gefühl der Zärtlichkeit nicht beschreiben, das durch diese Gedanken, die ich nicht einmal in Worte zu kleiden vermag, in mir erwachte. Und ich wagte kaum das, was ich vor meinen Augen sah, zu glauben, als alles glücklich verlief und meine Frau nach schwerem Kampfe sich langsam zu erholen begann, nachdem sie einem zarten Wesen das Leben geschenkt, zu dem sie von allem Anfang an Worte sprach, die kein Anderer hören durfte.

Aber das Mädchen kam nie. Anstatt ihrer war ein Knabe gekommen, der den Namen Sven erhielt.

Zweiter Teil

1.

Der kleine Sven wuchs heran und wurde Aller Liebling. Er hatte langes, goldenes Haar, und zur Erinnerung an das Mädchen, das nicht gekommen war, pflegte Mama das Goldhaar zu kräuseln, sodaß es in langen Locken um sein kleines Gesichtchen mit der zarten Haut und den wunderbaren Engelsaugen lag. Kein Kind hat tiefere große Augen mit einem so früh träumerischen Blick gehabt, und kein Kind hatte eine vertrauensvollere, zärtlichere kleine Hand, die sich in die eines großen Menschen schmeichelte, als wüßte es, daß es überall Geborgenheit finden konnte, weil es selbst von nichts Bösem wußte.

Der kleine Sven war der Abgott des großen Bruders. Nichts konnte schöner sein, als zu sehen, wie der große Bruder, der es liebte sich männlich zu zeigen und daher ungerne seine Gefühle an den Tag legte, das kleine Brüderchen in einem Wägelchen zog, sich an seinem frohen Gesichtchen freute und sich unaufhörlich umdrehte, um zu sehen, daß das kleine Brüderchen nicht herausfiel. Das Einzige, was sich hiermit vergleichen ließ, war, wenn man Svante dasselbe thun sah, und Svante freute sich umsomehr daran, Beschützer zu sein, als er bei den Spielen mit dem großen Bruder immer derjenige gewesen, der klein war und gehorchen mußte. Sven war so klein gegenüber den großen Brüdern, die er bewunderte und denen er folgte, daß er immer das kleine Brüderchen war und blieb, und er war so froh, daß das ganze Haus sich um ihn versammelte, wenn ihm etwas Freudiges geschehen war und seine klingende Stimme oder sein klares Lachen durch die Räume erklang. Man kam, weil man sehen wollte, wie seine Augen funkelten und wie seine kleinen weißen Händchen vor Entzücken umherfochten, weil man diese ganze strahlende Kinderfreude sehen wollte, die dem Herzen Sonne gab.

Ah, ich wünschte, ich hätte diese Erzählung vom kleinen Brüderchen früher geschrieben, so daß ich sie Blatt für Blatt ihr hätte vorlegen können, die seine kurze Lebensgeschichte besser kannte, als ich, besser als irgend Jemand. Sie, die sich an jedes seiner Worte erinnerte, an jeden kleinen Zug aus dem Buche seines Lebens, sie, die sein Leben und ihr eigenes im Verein mit ihm lebte, auch als seine klaren Augen nicht mehr unter uns leuchteten; sie, die ihm endlich auf den Pfaden folgte, auf denen Niemand, bevor seine Zeit gekommen ist, folgen kann. Sie hätte dann das, was ich sagen wollte, mit ihrem Geist erfüllt, und mein Gedicht hätte soviel Unmittelbarkeit empfangen, als handelte es von einem noch lebenden Kinde.

Denn der kleine Sven lebte und wirkte mit seiner Mutter, bei ihr und für sie. Er hatte seine Spielstube bei ihr, und die ganzen Vormittage, wenn Papa fort war und die großen Jungen lernten, saß der kleine Sven auf dem Boden und hörte Mama Märchen erzählen. Mama konnte viele Märchen, aber kein Märchen hatte Sven lieber als das vom Rotkäppchen, das zur Großmutter gehen sollte und das der häßliche Wolf auffraß. Er war so furchtbar erschüttert, wenn er an das Schicksal des kleinen Rotkäppchens dachte, und er hatte solche Angst vor dem abscheulichen Wolf und war so böse auf ihn. Er wollte groß werden und in die Welt ziehen und ihn finden und ihn totschießen.

Dann erfanden Mama und er Spiele. Sie spielten, daß Sven fortreiste und weg war, und Mama saß allein und wartete auf ihn. Und dann kam Sven nach Hause, und das war eine Freude, so groß, daß Mama ihre Arbeit weglegen und ihn auf den Schoß nehmen und viele Male küssen mußte. Und viele andere Spiele spielten sie.

Der kleine Sven hatte zuhause viele Namen. Er wurde das kleine Brüderchen genannt und Nenne, was er selbst erfunden hatte, und Fratzi und Goldkind, so wie es eben kam. Er kannte alle seine Namen, konnte sie aufzählen und war stolz auf sie. Der kleine Sven spielte nicht viel mit anderen Kindern und fühlte sich nie lange wohl mit ihnen. Er kam immer zurück zu Mama, als wäre das die natürlichste Sache der Welt. Und er kümmerte sich dann nie darum, ob er das Spiel unterbrach und die anderen Kinder ärgerte. Sowie er nur Mama erblickte, lief er von allem fort, nahm sie bei der Hand und folgte ihr, wohin sie ging. Das war eine Liebe, die über alle Begriffe ging und die nie erkaltete, weil der Gegenstand derselben zu glücklich über dieses Verhältnis war, um den Kleinen je beschwerlich zu finden.

Sven und Mama hatten ihre kleinen Geheimnisse, und wenn Sven Mama etwas zuflüsterte, durfte nicht einmal Papa zuhören. Versuchte er es, nur um Sven zu necken, da schrie der Kleine:

„Nein, er darf nicht. Er darf nicht. Sag ihm, daß er nicht darf.“

Und Mama verteidigte ihren Schatz und hielt Papa ferne, sodaß Sven alles, was er zu sagen hatte, ihr ins Ohr flüstern konnte.

Wenn das geschehen war, dann triumphierte Sven.

„Siehst Du,“ sagte er. „Du hast es nicht hören dürfen.“

Und dann ging er mit Mamas Hand in der seinen und lachte seinen Vater aus. Das nannte er Papa „foppen“, und er kannte wenig Dinge, die er vergnüglicher fand.

Ich kann sie noch Beide vor mir sehen, Hand in Hand, den langen Weg auf- und niedergehend, der bei den Fliederbüschen anfing, unter den kahlen Bäumen im Winter gehend, wenn Sven in seinen kleinen Pelz gekleidet war, den man aus Mamas altem gemacht hatte und auf den er so stolz war. Es wäre im übrigen schwer zu entscheiden, wer von den Beiden dem anderen eigentlich am meisten zu sagen hatte. Und wenn ich sie lange angesehen hatte und Lust bekam, mit dabei zu sein, dann wurde Sven eifersüchtig und schob sein kleines rotes Mündchen vor, sodaß Mama seine Aufführung gegen das Familienoberhaupt tadeln und ihm sagen mußte, wie gut Papa war. Das wollte Sven nur ungern anerkennen. Und während wir zusammen gingen, machte er verstohlen Mama Mienen, die Papa nicht sehen sollte, ganz als wollte er sich selbst dadurch beglücken, daß er den Zauberkreis heimlichen Einverständnisses beibehielt, den er um seine Liebe und sich selbst gezogen.

Aber wenn Papa in der Stadt war und nach Hause kam, dann stand Sven hinter der Thüre versteckt und wartete, um ihn recht erschrecken zu können. Er stellte sich lange vor der Zeit hin, zu der Papa zurückerwartet werden konnte. Unaufhörlich kehrte er von seinem Schlupfwinkel zurück und fragte:

„Glaubst Du nicht, daß Papa sehr erschrecken wird?“

Natürlich glaubte Mama das, und natürlich war Sven überglücklich über diese Aussicht. Und wenn Papa endlich kam und im Flur stehen blieb, um den Sand aus seinen Galoschen zu stampfen, da kam Sven so still und leise herangeschlichen und dachte gar nicht mehr daran, ihn zu erschrecken, sondern stand nur da und lächelte für sich selbst, als wüßte er sehr wohl, daß Papa ihn nicht sehen konnte, ohne froh zu werden. Und langsam kroch er näher, wie um sich an Papas Ungeduld, ihn in die Arme zu schließen, zu weiden, und dann hing er sich an Papas Hals und ließ sich hineintragen, während gleichzeitig die Dogge der Familie, die Svante seinerzeit Pudel getauft, vor Freude bellte und um uns herumsprang.

Ich erinnere mich so gut an die Augen meiner Frau, wenn sie diese Szene betrachtete.

„Wenn Du wüßtest, wie viel ich mit ihm von Dir spreche,“ sagte sie, als Sven endlich seinem Vater erlaubte, ihn loszulassen, und Mama Platz machte.

2.

Schon seit Sven so klein war, daß er sich bewegen konnte, war er Pudels intimster Freund gewesen und hatte das Recht gehabt, mit Pudel alles zu machen, was er wollte. Er durfte ihn an den Ohren ziehen und an seinem kurzen Schwanz zupfen, auf ihm liegen und ihn in den unbequemsten Stellungen festhalten. Pudel zeigte hierüber keinen höheren Grad von Mißvergnügen, als daß er zuweilen verwundert aussah, warum er all dies eigentlich über sich ergehen lassen mußte, und sich sanftmütig und friedfertig auf einen andern Platz legte, in der eitlen Hoffnung, daß sein wohlmeinender Plagegeist müde werden und ihn in Frieden lassen würde.

Aber trat Sven hinaus in den Hof, dann folgte Pudel ihm, wohin er auch ging. Mit seiner kurzen gespaltenen Schnauze schnuppernd, stand er da und sah zu, wie Sven langsam und bedächtig Sand in eine kleine Blechbüchse schüttete oder zuweilen zu der weniger geeigneten Zerstreuung überging, in der Wassertonne zu plätschern. Pudel folgte ihm die ganze Zeit, und näherte sich irgend ein Fremder, so begleitete Pudel dessen Gehaben mit mißtrauischen Augen, in jedem Augenblick bereit, falls die Verhältnisse sein Einschreiten erforderten.

Sven und Pudel wandelten im übrigen ihre eigene Straße, und mehr als einmal hatten sie das ganze Haus in plötzlichen Schrecken versetzt, indem sie auf den unerfindlichsten Wegen verschwanden; und nachdem man schon daran verzweifelt hatte, sie je lebendig wiederzusehen, tauchten sie urplötzlich auf, als sei nichts geschehen, Beide gleich erstaunt über die Aufregung, die sie hervorgerufen hatten.

Es wäre unrecht zu sagen, daß Sven eigentlich ein ungehorsamer Knabe war. Aber in diesem Punkt war er nicht leicht zu behandeln. Mehr als einmal hatte Mama ihm die Rute versprochen, wenn er noch einmal auf eigene Hand fortliefe, und mehr als einmal hatte sie mir unmittelbar darauf versichert, daß sie das Herzblut desjenigen sehen wollte, der es wagte, Sven zu berühren. Aber hierin schien Sven Vorwürfen und Ermahnungen gleich unzugänglich zu sein, und er stand so erstaunt bei Mamas heftiger Freude da, ihn nach solchen Ausflügen lebendig wiederzufinden, als wunderte er sich, daß sie Beide über irgend etwas auf der Welt so verschieden denken konnten.

„Es war doch nicht gefährlich,“ sagte Sven. „Pudel war ja mit.“

Mama wollte nicht schlecht von Pudel sprechen, aber sie versuchte Sven davon zu überzeugen, daß Pudel auf jeden Fall nicht dasselbe war wie ein Mensch. Sie sagte alles, was sie sich nur ausdenken konnte. Sven versprach mit den Aermchen um ihren Hals, daß er nie mehr fortlaufen und Mama Kummer machen wollte.

Aber wenn er so für sich selbst ging und es Frühling war und das Wasser in den Rinnen am Hof floß, da vergaß Sven alles Andere auf Erden, bis auf das, daß er ein kleiner Junge war, der tief hinein in den Wald gehen wollte.

Wer weiß, in welchen Gedanken er einherging, oder ob er auch nur merkte, daß er auf verbotene Wege kam? Er ging und plauderte mit sich selbst, und Pudel folgte ihm, und als er bei der Zaunthüre anlangte, stand sie offen. Da mußte er doch hinausgucken und einen Blick in die Welt thun, die dort draußen lockte, und da sah er auf der anderen Seite der großen Landstraße zu oberst auf dem Grabenrain, wie die gelben Huflattichblumen gegen die graue Erde leuchteten, und so krabbelte er hinüber, so gut seine kleinen Beinchen es vermochten. Aber jetzt war er beinahe im Walde drinnen, und da konnte er nicht länger widerstehen. Hoch und mit knorrigen Aesten erhoben sich die Tannen über seinem Kopfe, und hinein ging er zwischen die Stämme, wo die Sonne auf das Moos schien und die ersten Frühlingsvögel ihre Triller zu schlagen begannen. Eine kleine Feldmaus wischte zwischen den Steinen durch, und der kleine Sven lief ihr nach. Weiter und weiter weg kam er. Da lag ein kleines Moor, und draußen im Moor wuchsen Weidenkätzchen mit glänzenden Gehängen. Die konnte er nicht erreichen, denn da würde er eingesunken sein und sich die Füße naß gemacht haben. Aber er konnte immerhin einige Steine ins Moor werfen und hören, wie es plumps sagte, und die großen weiten Ringe ansehen, die die ganze kleine Wasserfläche in Aufruhr brachten. Das that er auch, und damit fuhr er eine gute Weile fort. Seine Wangen wurden rot, und seine Augen leuchteten vor Entzücken. Fröhlicher und fröhlicher wurde er, und er ging bis auf die Wiese hinunter, wo das königliche Lustschloß lag, und als er hinaus auf den Weg kam, begann er zu laufen. Er lief und lief, und als er an die hohen Gitterthüren kam, sah er, daß er wieder nahe von zuhause war. Da wurde er von neuem froh, weil er den Weg erkannte und weil Pudel schnupperte, mit seinem gestutzten Schwanz wedelte und nach Hause wollte. Und plötzlich begann er sich nach Mama zu sehnen, und da erinnerte er sich an die gelben Blumen, die er in der Hand hatte.

Langsam und bedächtig ging er wieder heimwärts, und es kann schon sein, daß Sven sich jetzt dunkel erinnerte, daß er nicht vom Hause hätte weggehen sollen. Aber eines gab es, was Sven nicht wußte und worauf er sich auch nicht verstand. Das war, wie lange er eigentlich vom Hause fort gewesen war. Denn ein paar Stunden und ein kleines Weilchen war für ihn ein und dasselbe.

Aber als er über die Wiese getrippelt kam und sich gerade wieder in Trab setzte, um zu Mama zu kommen und auf den Schoß genommen und gestreichelt und geküßt zu werden und zu erzählen, wie gut er sich amüsiert hatte, da erschrak Sven dadurch, daß man rings um ihn zu schreien begann. Da war Papa und Mama, Olof und Svante, die beiden Dienstmädchen und noch Mehrere, meinte Sven. Sie schrieen, Einer lauter als der Andere, der Eine hier und der Andere dort. Sven konnte gar nicht sehen, woher sie kamen. Denn gerade als er sich nach einer Seite umwenden wollte, schrie Jemand hinter ihm, und als er sich dann wieder umdrehte, um nach der anderen Richtung zu schauen, wurde er vom Boden aufgehoben und von Jemandem fortgetragen, der so rasch lief, als er laufen konnte, und bevor er sich noch recht besinnen konnte, war er drinnen im Speisezimmer, und Mama selbst nahm ihn in ihre Arme und drückte ihn an sich, so daß er gar keine Luft bekam.

Sven wußte wohl, daß er vor Mama nie Angst zu haben brauchte, aber dieses Mal verließ ihn doch der Mut. Denn jetzt erinnerte er sich, was sie von der Rute gesagt hatte, und als er Papa erblickte, wurde er wirklich ängstlich. Denn Papa sah strenge aus und sagte in sehr ernstem Ton:

„Jetzt müssen wir aber die Rute holen, Sven. Denn so viel ich weiß, hat Dir Mama das versprochen.“

Da wußte sich Sven keinen Rat, und in der Not nahm er seine Zuflucht zu den Blumen, die er Mama entgegenhielt.

Aber das hätte er garnicht thun müssen. Denn Mama war so erschrocken gewesen, und sie war so glücklich, ihn wieder zu haben, daß sie ihn nur in die Arme nahm und, halb weinend, halb lachend, sich von ihm streicheln ließ; und endlich nahm sie ihm die Blumen ab und gab sie in ein kleines grünes Glas, ordnete sie und ließ Sven sehen, wie schön sie in der Sonne glänzten. Da gab Papa alle Gedanken an eine Bestrafung auf, ging in sein Zimmer und fühlte sich überflüssig.

Aber als Mama mit Sven allein blieb, nahm sie ihn auf den Schoß und erzählte ihm, als wäre es ein Märchen, wie unruhig sie sich gefühlt und wie schrecklich ihr zu Mute gewesen war. Sie erzählte, daß sie geglaubt, daß Sven sich das Bein gebrochen habe und einsam im Walde läge, und daß sie ihn nicht früher wiederfinden würden, als bis er tot wäre. Oder daß er ins Wasser gefallen sei und daß sie ihn dort als Leiche finden würden, und dann konnten weder Mama noch Papa noch die Geschwister jemals wieder froh werden. All das hörte Sven an und verstand nur, daß Mama besser gegen ihn war als alle anderen Menschen. Dann ließ sie Sven alles erzählen, was er gesehen und gethan, wie er sich vergnügt hatte und wie weit er fort gewesen war. Sie erfuhr von dem kleinen Mäuschen, von den Vögeln und von dem Sumpf und von den Steinwürfen. Und schließlich verstanden sie einander, alle Beide, und waren nur glücklich darüber, daß sie sich wiedergefunden hatten.

Und als sie sich so recht ausgesprochen hatten, nahm Mama Sven mit sich zur Etagère. Da standen viele prächtige Sachen, mit denen Sven manchmal spielen durfte, wenn alles sehr gut ging. Unter anderem stand da ein weißer Pudel aus Porzellan, der eine Quaste am Schwanz hatte und einen kleinen Pantoffel in der Schnauze trug. Er war sehr alt und gehörte eigentlich nicht Mama. Denn Papa hatte ihn von seiner Mutter bekommen, und er hatte ihr gehört, seit sie zwei Jahre alt war, da hatte eine Pathin ihn ihr geschenkt.

Das war das Schönste, was Sven kannte, und den nahm Mama in der Glückseligkeit ihres Herzens von der Etagère herab und gab ihn ihm, anstatt der Rute. Aber er blieb da stehen, wo er stand.

„Denn sonst,“ wie Sven sagte, „kann ich ihn zerschlagen. Und dann wird Papa so böse.“

Aber er vergaß nie, daß er ihm gehörte. Und er pflegte zuweilen davon zu sprechen, wenn Besuch kam.

„Den habe ich von Mama bekommen,“ sagte Sven, „als ich in den Wald lief und wiederkam. Das war, weil Mama sich so freute, als sie mich sah.“

Und Mama verteidigte ihre Erziehungsmethode gegen jede Kritik, indem sie den Knaben in die Höhe hob und Alle ihn ansehen ließ. Gott segne sie! Sie hatte Recht.

3.

So ging ein Jahr, ohne daß wir sein Schwinden bemerkten. Aber um diese Zeit begann ihre Gesundheit ernstlich zu leiden, und ohne daß wir mit einander davon sprachen, wußten wir Beide, daß es nur eine Möglichkeit gab. Schon einmal früher hatte das Messer des Operateurs seine lebensgefährlichen Eingriffe machen müssen, und die Krankheitssymptome, die sich jetzt einstellten, waren uns nur allzu gut bekannt. Es überraschte uns darum nicht, als der Doktor uns eines Tages das Urteil verkündete und uns das, was wir schon geahnt, wissen ließ, nämlich, daß nur eine schleunige Operation Elsa mir und meinen Kindern retten konnte.

Als sei ein Todesurteil über unser ganzes Leben gefallen, gingen wir an diesem Tage in unserem Hause herum, und ich sah, daß Elsa von Allem Abschied nahm. Zum ersten Male stand es ganz deutlich vor mir, wie viel von ihren innersten Gedanken sie vor mir, sowie vor Allen verborgen hatte, wie vertraut sie mit dem Todesgedanken war, und wie die Gewißheit, daß sie jung sterben müßte, an ihrer innersten Lebenskraft nagte. Sie war blaß geworden, und ihre Wangen waren abgemagert. Die Hände waren wachsgelb, und sie ging in Angst vor mir umher.

Da bat sie mich zum ersten Male, sterben zu dürfen. Zum ersten Male sprach sie von all dem, das sie getragen und verborgen, um dessentwegen ich in sie gedrungen und das sie nie anders als in Andeutungen über die Lippen gebracht hatte.

„Schon seit ich sehr jung war,“ sagte sie, „lange bevor Du und ich uns kennen lernten, ist es mir so natürlich gewesen, daran zu denken, daß ich nicht lange leben würde. Dann fand ich Dich, und da vergaß ich Alles. Denn Du hast mich so glücklich gemacht, Georg, Du hast mich glücklicher gemacht, als ich Dich je machen konnte. Du hast mir meine drei Knaben gegeben, meine zwei großen Jungen und den kleinen Sven. Und was kann ich für sie, für Dich und für Euch Alle sein? Ich bin ja so krank, und ich werde nie gesund. Du sollst mich vergessen, Georg. Ach ja, ich weiß, daß Du um mich trauern wirst, weil Du mich lieb hast, obgleich ich immer zart und schwach gewesen bin und Niemandem nützen konnte. Aber Du sollst mich doch vergessen. Und Du wirst eine Andere finden, die Dir mit den Kindern hilft.“

Und wieder bat sie mich sterben zu dürfen, bat, die wenigen Wochen, die ihr gegönnt waren, in Ruhe zu leben. Sie wollte nur nicht auf dem Operationstisch sterben, aber sie war es zufrieden, von hinnen zu scheiden, und sie wollte bloß mit ihren Schmerzen so lange leben, daß sie die Kinder auf das, was kommen mußte, vorbereiten und Abschied von ihnen nehmen konnte.

So plötzlich war all das über mich hereingebrochen, daß ich nicht einmal meine Gedanken zu ordnen vermochte, noch weniger fand ich Worte, um zu antworten. Ich fühlte dunkel, daß ich mich, wenn ich hier eingriff, in einen Kampf stürzte, der über das hinausging, was Menschen im Allgemeinen verurteilt sind zu erleben. Ich fühlte die Scheu, die ich immer empfunden habe, wenn es galt, an etwas zu rühren, das eines anderen Menschen innerstes und unantastbares Eigentum ist. Und wenn es etwas giebt, das kein Anderer als der Mensch selbst entscheiden kann, so ist es wohl die Frage, ob er sich einem sicheren Tod unterwerfen oder einen schweren Kampf aufnehmen soll, um vielleicht das Leben zu gewinnen. Wie ich meine Frau vor mir sah, erschien sie mir so nahe und doch so ferne. Ihre Bitte, sterben zu dürfen, war so rührend und so ernst gemeint, daß ich nicht den Mut hatte, sie zu bitten, sich um meinetwillen dem Leben wieder zuzuwenden. Denn für sie galt es nicht mehr und nicht weniger. Und mit Staunen merkte ich, daß sie alles, was sie liebte, verlassen konnte, weil sie vorbereitet war. Aber gleichzeitig fühlte ich mit der Stärke der Verzweiflung, daß ich sie nicht verlieren konnte. Ich konnte es nicht. Und in meiner Verzweiflung nach dem Einzigen greifend, was mir in den Sinn kam, sagte ich bloß:

„Aber Sven, kannst Du Sven verlassen?“

Sie zuckte zusammen wie vor einem Keulenschlag, und sie rang ihre Hände in Verzweiflung.

„Nein, nein! Ich kann nicht.“

Sie wankte zur Schlafzimmerthür und bat mich nur, sie allein zu lassen. Ich sah sie die Thür hinter sich verschließen, und ich blieb sitzen, wo ich saß, und hatte das Gefühl, daß alles, was ich mit ihr erlebt hatte, tot und verschwunden war und daß sie jetzt von uns gehen würde. Ich begriff, daß, wenn sie es nicht that, dies nicht um meinetwillen geschah, sondern um des Kleinen willen mit dem goldenen Haar und den wunderbaren Kinderaugen, ihrem kleinen Engel, der gekommen war und sie ans Leben festgekettet hatte. Ich begriff all dies, aber es verletzte mich nicht. Ich fand es ganz natürlich, daß ich allein sie nicht halten konnte. Ich ließ den Kopf sinken und weinte, weinte zum ersten Male über mich selbst und mein eigenes Leben. Und ich erwartete nichts, glaubte nichts anderes, als daß die Tage jetzt ruhig und unerbittlich bis zu der Stunde fortschreiten würden, die kommen mußte; und schließlich würde der Tod all das zerreißen, wofür ich gelebt hatte.

Wie lange ich so saß, weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß es dämmerig wurde und daß ich dadurch auffuhr, daß ich fühlte, daß meine Frau auf den Knieen vor mir lag und ihren Kopf an meinen Arm lehnte. Sie war so leise gekommen, daß ich sie nicht gehört hatte, und ihre Stimme klang ruhig, als sie sagte:

„Ich will für Dich leben, Georg, für Sven und unsere großen Jungen.“

Ich kannte ihre Stimme, wenn sie so tief und warm wurde, als sei alles andere als ihre Liebe in ihr verstummt. Ich begriff, daß ihr Entschluß jetzt unerschütterlich war, daß sie wieder uns Allen gehörte oder gehören wollte, und eine warme Welle der Dankbarkeit gegen sie und das ganze Leben durcheilte mich. Es dauerte lange, bevor wir unsere Lage veränderten, aber als wir es thaten, erhob sie sich und zündete alle Lampen an wie zu einem Feste.

Dann rief sie die Kinder herein, und sie kamen Alle still und sich wundernd, und wir brauchten ihnen nichts zu erklären. Denn sie hatten Alle verstanden, Jedes in seiner Weise, sie hatten mit einander gesprochen, wie wir Großen, und sie wußten, daß Mamas Leben auf dem Spiele stand, aber daß sie es wagte, um für sie leben zu können.

Sven kletterte auf Mamas Schoß und schmiegte sich an sie. Und er brachte uns Alle dazu, durch Thränen zu lächeln, als er sagte:

„Mama darf nicht vom Fratzi wegsterben.“

Dies war ja einer seiner Kosenamen in der Familie, und er wendete ihn selbst ohne eine Ahnung davon an, daß es komisch klang. Darum brachten uns seine Worte beinahe etwas wie eine Verheißung des Lebens, und sie beruhigten uns.

Aber als die Kinder zur Ruhe gegangen waren, gingen Elsa und ich, uns mit den Armen umschlingend durch die Räume. Und ich sah, daß sie wieder Abschied nahm, aber in anderer Weise als vor einigen Stunden. Am nächsten Tage sollte sie in das Sanatorium fahren.

Aber als ich frühmorgens herauskam, saß Olof in dem großen Lehnstuhl gegenüber der Schlafzimmerthüre.

„Sitzest Du schon lange hier?“ fragte ich überrascht.

„Ja,“ antwortete der Knabe einsilbig.

Er hatte da gesessen und an seine Mutter gedacht und daran, wie ernst alles mit einem Schlage geworden war. Zum ersten Male fiel es mir auf, wie groß er war, und ich ergriff seine Hand wie die eines Gleichalterigen. Es zuckte in dem Gesicht des Zehnjährigen, aber er konnte nichts sagen.

Als wir dann in der Droschke saßen, war er wieder Herr über sich selbst, und er stieg noch auf das Trittbrett neben meine Frau, streichelte ihre Wange und sagte beschützend wie zu einem Kinde:

„Habe keine Angst, Mama, es wird schon gut gehen.“

Svante kam auch heran, und der kleine Sven wurde aufgehoben und plauderte und plapperte. In diesem Augenblick wußte Elsa nicht, wen von Allen sie am Meisten liebte. Aber auf dem Wege kamen wir in unserem Gespräche unaufhörlich auf unseren großen Jungen zurück, der zum ersten Male wie ein Mann gesprochen und gefühlt hatte.

4.

Der Todesengel ging dieses Mal an unserem Heim vorbei, aber seine Schwingen hatten uns so dicht gestreift, daß das, was jetzt geschehen war, lange unserem ganzen Leben sein Gepräge gab, ja eigentlich nie aufhörte, es zu thun. Doch — noch einmal kehrte das Glück in unser Heim zurück, aber gedämpft und ernster. Noch einmal kehrte sie zurück, die unserem Alltagsleben heiliges Licht gab. Unsere Knaben hießen uns willkommen, als wir wiederkamen, und der kleine Sven kletterte zu Mama hinauf, schmiegte sich an sie und sah so innig glücklich und schelmisch aus.

„Siehst Du, daß Du nicht vom Fratzi hast wegsterben dürfen,“ sagte er.

Er sah so triumphierend aus, als glaubte er, daß der glückliche Ausgang ihm zu verdanken sei, und hauptsächlich um uns Alle aufzumuntern, sagte ich:

„Ich glaube, Du meinst, Du hast Mama gesund gemacht.“

„Das hat er auch,“ antwortete meine Frau.

Und wieder sah ich den Ausdruck in ihren Zügen, der mir früher so fremd erschienen war, aber den ich mehr und mehr zu verstehen anfing.

Sie schloß sanft den Kleinen in die Arme, und aus ihren Augen fielen zwei klare Thränen. Dann reichte sie mir die Hand und sagte:

„Ich bin so froh, daß ich wieder zu Hause bin.“ Ich konnte nichts erwidern. Ich sah nur auf die Gruppe vor mir, und ich wußte, daß ich hier das Glück hatte, das ich vor ein paar Wochen noch kaum zu erhoffen gewagt. Und doch fühlte ich in meinem Herzen einen Stachel, wie von einer grauenden Ahnung hoffnungsloser Einsamkeit.

5.

An den Frühling, der jetzt kam, erinnere ich mich wie an ein Meer von Blumen, das jeden freien Platz in unserem Heim erfüllte. Die Hyacinthen mischten sich nach und nach mit blauen Anemonen, die blauen Anemonen mit weißen, mit Goldlack und Violen, und endlich, als der Johannistag herankam und der Sommerwind in den herabgelassenen Gardinen spielte, kamen die blühenden Syringen.

Mama und Sven waren es, die die Blumen herbeischafften, und es wäre schwer zu entscheiden, wer von ihnen Beiden Blumen am meisten liebte. Ich sehe sie noch Seite an Seite, die Hände voll Blumen, rotwangig und plaudernd über den großen Hof zu der offenen Veranda gehen. Ihr Haar war ebenso schwarz wie das seine blond, aber ihre tiefen blauen Augen waren gleich. Sie bildeten den seltsamsten Kontrast, und doch waren sie ähnlicher, als Mutter und Kind zu sein pflegen. Sie gehörten zusammen, als wären sie geschaffen, stets vereint zu sein, stets mit Blumen in den Händen zu gehen, bis zu des Lebens Ende Hand in Hand zu wandeln und einander in die Augen zu blicken. Niemand konnte sie zusammen sehen, ohne daß sein Gesicht von einem sonnigen Lächeln erhellt wurde, und oft konnte ich das merken und meinen eigenen Reichtum noch erhöht fühlen.

Denn in dieser Zeit dünkte mich das Leben reich und voll wie nie. Ich vergaß wieder alles, was meine Seele mit schweren Ahnungen erfüllt hatte, und der Moment war mir genug. Es kam mir vor, als hätten wir alles, was traurig und schwer war, nur durchmachen müssen, um nachher ein umso volleres Glück zu genießen. Ich war dankbar für jeden neuen Tag, der ging, ich war froh, daß ich vergessen konnte, und ich hatte das Gefühl, als würden wir einem Glück entgegengetragen, höher als das, welches Menschen erreichen.

Ich glaube, daß auch meine Frau, wenigstens eine Zeit lang, dieses mein Gefühl teilte. Denn von ihr ging dieser stete Strom von Glückseligkeit aus. Sie war wirklich zum Leben zurückgekehrt, sie fühlte sich gesund, sie lebte unter großen alten Bäumen und in einem Ueberfluß von Blumen. Sie hatte uns alle um sich, und nichts störte ihre Ruhe.

So ging sie eines Abends mit mir über den langen Weg, auf dem wir Niemandem begegneten und den wir deshalb am liebsten gingen. Rings um uns blühten die Syringen und erfüllten die Luft mit ihrem Geruch, und auf dem bleichen, hellen Junihimmel schwebte der Halbmond, ohne ein Licht zu werfen, nur in dem Blau schwimmend, das sich grenzenlos weit wölbte und auf dem blasse Sterne gleichsam zu funkeln versuchten, ohne die Nacht durchbrechen zu können.

Wenn ich mich an diese Zeit und alles, was dann folgte, erinnere, muß ich mit Staunen an unsere Spannkraft denken. Als wäre nur eine Streuwolke über unseren Himmel gezogen und verweht worden, so wandelten wir hier jeden Abend glücklich auf und nieder, und in unseren Gesprächen war nicht der leiseste Schimmer von Wehmut. Alles, was gewesen, lag begraben hinter uns. Es war wohl nicht das sorglose Glück mit dem unerprobten blinden Zutrauen der Jugend zu sich selbst. Es war viel mehr. Es war diese ruhige stille Harmonie, die zwischen Menschen kommt, die zusammen gelitten und überwunden haben, ein Glück, das nichts trüben und nichts zerstören kann, weil es unauflöslich mit dem Innersten des Wesens zweier Menschen verwachsen ist. Wir wußten in dieser Zeit, daß wir nichts wünschten, nichts begehrten, als das, was wir schon besaßen. In solchen Perioden des Lebens kann der Eine die Einsamkeit suchen, um seine Thränen zu trocknen, weil er sich schämt, zu zeigen, wie glücklich er ist. Keine fremden Gedanken, die ihre eigenen Wege gehen, keine Phantasieen, kein Verlangen kann diese seltsame Stimmung steigern, aus der die Lebenskraft quillt. Alles, wovon Sagen und Lieder gesungen, lebt da sein volles, niemals versiegendes Leben, so wie keine Dichtung es wiederzugeben vermag, und ich glaube, daß solche Erfahrungen allein das Zusammenleben zwischen Mann und Weib heilig machen können.

Wenigstens fühlten wir so in diesen linden Frühlingsnächten, in denen unsere Spaziergänge immer an demselben Platze schlossen, vor den Betten der schlafenden Kinder. Wir sprachen nicht viel von dem, was wir fühlten. Aber eines Abends sagte meine Frau:

„Wie lange ist es, daß wir verheiratet sind?“

„Warum fragst Du? Du vergißt ja Daten nie.“

„Ja, aber kann es wahr sein, daß es mehr als zehn Jahre sind? Kann es wahr sein, daß wir so alt sind?“

„Betrübt Dich das?“ antwortete ich und lächelte.

Sie schmiegte sich an mich und nahm meinen Arm.

„Es gab eine Zeit, wo ich solche Angst hatte, alt zu werden,“ sagte sie. „Und das habe ich noch. Aber ich verstehe nicht, wie Leute davon sprechen können, daß man in der Jugend am meisten liebt und am glücklichsten ist. Das müssen Menschen sein, die nicht lieben können.“

Ich versuchte einen Einwand. Aber sie unterbrach mich, indem sie von Anderen zu sprechen begann. Sie sprach von Freunden, denen wir zugethan waren, von Bekannten, mit denen wir verkehrten. Und sie stellte in Abrede, daß sie glücklich sein konnten. Sie erzählte Züge aus ihrem Leben, was sie gethan und was sie gesagt hatten. Noch länger verweilte sie bei dem, was sie nicht gethan und nicht gesagt hatten. Und sie schloß mit den Worten:

„Ich glaube, in unserer Zeit haben die Menschen vergessen, zu lieben. Sie sind durch so vieles andere ausgefüllt.“

Alles, was meine Frau mir jetzt sagte, verwunderte mich. Denn sie pflegte sich selten mit Anderen zu beschäftigen, wenn sie mit mir allein war, und ich suchte die Menschheit in Schutz zu nehmen. Ich brachte sie sogar dazu, ein paar Ausnahmen zuzugestehen.

Aber sie antwortete auf alles, was ich anzuführen hatte, als hörte sie mir eigentlich nicht zu; und als sie verstummte, fuhr sie fort, ihren eigenen Gedankengang verfolgend:

„Warum bist Du und ich glücklicher, als alle anderen Menschen?“

Sie sagte das mit einem Ernst, als berührte sie nur ein ganz bekanntes und anerkanntes Faktum, und sie fügte hinzu:

„Ich finde, daß alle Anderen unglücklich sind, wenn ich sie mit Dir und mir vergleiche.“

Ich lächelte über ihren Eifer, während ihre Worte mir gleichzeitig warm ums Herz machten.

„Warum mußt Du vergleichen?“ sagte ich.

„Weil es mich glücklich macht,“ antwortete sie. Und indem sie vor mir stehen blieb und zu mir aufblickte, fügte sie hinzu:

„Laß es mich jetzt sagen, weil ich sonst vielleicht nie dazukomme, es Dir zu sagen. Ich finde, es ist so eigentümlich, wenn ich an die erste Zeit denke, wo wir verheiratet waren. Da meinte ich, daß ich Dich liebte und daß ich glücklich war. Das war deshalb, weil ich nichts wußte und nichts verstand. Nun weiß ich, was es bedeutet, und nun will ich Dir danken.“

Bevor ich es hindern konnte, hatte sie meine linke Hand ergriffen und sie geküßt, und als ich versuchte, sie zurückzuziehen, hielt sie sie fest und küßte sie abermals, da wo der Ringfinger war.

Es lag eine Macht in ihrem Gefühl und ihrer Person, als sie diese Worte sagte, die mich beinahe verwirrte. Stumm nahm ich sie in meine Arme und küßte sie mit dem Gefühl, daß ich zum ersten Male meine Braut küßte. Und ich wußte mit ihr, daß die Erde keine größere Seligkeit barg.

6.

Sven hatte einen Spielkameraden gefunden, und das war ein Ereignis in seinem kleinen Leben. Denn früher hatte er nur mit den großen Brüdern gespielt. Nun war dieser Spielkamerad ein paar Monate jünger als Sven, und überdies war der Spielkamerad ein Mädchen. All dies war etwas sehr Neues und Entzückendes, und in dieser Zeit hatte Sven viel mit Mama zu besprechen.

Die kleine Martha war mit ihrem Papa und ihrer Mama hinaus aufs Land gezogen, und im Anfange hatten sie und Sven einander aus der Entfernung betrachtet. Martha war ein kleines, unbeschreiblich süßes Mädchen mit roten, frischen Wangen, klaren, blauen Augen und langem, lockigem Haar, das beinahe so wie Svens eigenes war. Und es dauerte nicht sehr lange, so kam sie eines Tages und setzte sich in die Nähe von Sven und betrachtete neugierig, was er vor hatte.

Sven war gewohnt, für sich allein zu spielen, und er hatte ein Spiel, das ihn sehr unterhielt und eigentlich ganz leicht faßlich war. Es bestand darin, daß er hinausging und sich auf eine Wiese setzte. Da betrachtete er mit dem größten Interesse alles, was auf dem nächsten Fleckchen Erde um ihn vorging. Da waren Ameisen, die auf Grashalme kletterten, ein Schmetterling, der sich auf eine Blume setzte und dann auf weißen Flügeln weiter in die Sonne flatterte, ein Hirschkäfer, der auf den Rücken gefallen war und umgedreht werden mußte, um weiter kriechen zu können, oder ein paar Vögelchen, die zwischen den Erdhügelchen umherhüpften und sich nicht von dem Kinde stören ließen, wenn sie für sich oder ihre Jungen Futter suchten. Oder er saß auch ganz einfach da und pflückte Grashalme um sich ab und ließ sie grübelnd und untersuchend durch seine Finger gleiten, und wenn er die Hand voll hatte, warf er sie alle fort und begann neue auszureißen. Das nannte Sven selbst „im grünen Gras spielen“ und davon konnte er lange erzählen, wenn er das Spiel unterbrach und zu Mama hineinlief, um über die Entdeckungen, die er gemacht hatte, zu berichten. Dem guckte nun die kleine Martha zu, und schließlich fragte sie Sven, was er mache.

„Siehst Du nicht, daß ich im grünen Gras spiele?“ sagte Sven.

Und er machte vor Verwunderung große Augen.

Nein, das verstand Martha gar nicht. Aber da Sven sich so lange damit beschäftigte, nahm sie an, daß es etwas unbeschreiblich Unterhaltendes sein mußte, und darum setzte sie sich neben ihn. Und die beiden Kinder rissen Gras aus und beobachteten Ameisen und kamen sich dabei so nahe, daß, als sie fortgingen, sie einander bei der Hand hielten und meinten, sie könnten sich gar nie trennen.

Ein paar Tage später saß Sven drinnen bei Mama und sprach von Martha. Jetzt sprach er nicht mehr von Gras und Blumen oder Vögeln und Schmetterlingen. Jetzt erzählte er nur, was Martha gesagt und was Martha gethan hatte, und wie gut sie sich mit einander unterhielten.

Eines Tages sagte Mama zu ihm:

„Du hast Martha wohl sehr lieb?“

Da schob Sven die Unterlippe vor und antwortete:

„Weißt Du nicht, daß Martha meine Braut ist?“

Mama antwortete sehr ernst:

„Das hast Du mir noch gar nicht gesagt.“

„Du mußt es aber doch wissen,“ meinte Sven. „Wir wollen uns heiraten.“

„Wann wollt ihr heiraten?“ fragte Mama.

„Wenn wir groß sind, natürlich,“ antwortete Sven.

Sven war sehr glücklich, eine Braut zu haben, die er heiraten sollte, und es war das Schönste, was man sich denken konnte, wenn die zwei Kinder Hand in Hand über den Hof kamen und der Sonnenschein in ihrem lockigen Haar spielte, oder wenn Sven Martha in ihrem kleinen Wagen zog und sich unaufhörlich umdrehte, um sie anzusehen.

Aber manchmal zankten sie sich, und dann wurde Sven düster und ging zu Mama und sagte, daß Martha abscheulich sei.

Dann antwortete Mama:

„Ja, aber Du willst sie doch heiraten, und da müßt Ihr doch wieder gut Freund werden.“

„Ich will sie nicht heiraten,“ sagte Sven.

Aber wie dies nun auch sein mochte, sie wurden wieder gut Freund, versöhnten und küßten sich und unterhielten sich noch besser, als je zuvor.

Es versteht sich von selbst, daß Mama Svens Braut mindestens ebenso anbetete wie er selbst, und wenn sie herauskam und Sven mitnehmen wollte und Sven seinerseits Martha nicht verlassen konnte (eine ganz neue Erfahrung in seinem kurzen Dasein), dann löste sich der Konflikt in der Weise, daß Mama die Brautleute Eines an jeder Hand nahm und zugleich ihre Spielkameradin und ihre Vertraute wurde. Ja, ich fürchte, sie sprach mit ihnen Beiden von Liebe und Ehe, weil sie wie Keiner ihre Sprache konnte, und es mag wohl sein, daß sie bei der Stärke ihrer Phantasie sich schon als Schwiegermutter zu fühlen anfing.

Es nützte nichts, wenn Jemand versuchte, Svens Liebe von der scherzhaften Seite zu nehmen. Olof höhnte allerdings das kleine Brüderchen und versuchte zu erklären, daß ein richtiger Kerl sich nichts aus Mädels machte. Selbst Svante, der in diesem Punkte ein weniger reines Gewissen hatte, versuchte das kleine Brüderchen damit anzugreifen, daß es eben zu klein war.

In seiner Not wendete sich Sven an Mama als an die höchste Autorität. Und Mama sagte ihm, daß er sich nicht darum kümmern solle, was die großen Jungen sagten, und wenn er Martha lieb habe, so wäre das ja nichts Komisches, gleichviel ob er klein oder groß sei.

Nun fand Sven, daß die Brüder ihr Teil bekommen hätten, und ließ sich sein Glück nicht weiter von ihnen trüben. Er war selbst so ernst mitten in seiner Freude, daß er nicht begriff, wie irgend Jemand über so etwas scherzen konnte, und darum machte er auch kein Geheimnis aus der Sache. Wenn ein Aelterer, was ja vorkam, ihn fragte, ob es wahr sei, daß er eine Braut habe, antwortete er ohne Weiteres Ja, und gleich darauf lief er fort und spielte mit ihr, so als wollte er die ganze Welt fragen, ob sie nicht schön und süß sei, wie eine richtige Braut sein soll.

Ja, Sven betrug sich überhaupt so, daß man aufhörte mit ihm zu scherzen, und selbst die Brüder ließen ihn in Frieden.

Aber eines Tages kam Olof auf den Einfall, ihm zu sagen, daß er Haare hätte wie ein Mädchen. Das hatte Sven schon vorher gehört und sich nichts daraus gemacht.

Aber jetzt fügte der große Bruder hinzu:

„Das paßt doch für Dich nicht, wenn Du eine Braut hast.“

Und das machte auf Sven einen tiefen Eindruck.

Von diesem Tage an hörte er nicht auf, Mama wegen seines Haares zu quälen.

„Ich will mein Haar so haben wie die anderen Jungen,“ sagte er.

Es half nichts, daß Mama sich wehrte und Sven bat, sich doch nicht um das zu kümmern, was die großen Jungen sagten. Es half nicht einmal, daß sie Sven bat, Mama zu Liebe seine schönen Locken zu behalten, die Mama so gerne hatte. Sven blieb dabei, daß sie fort sollten.

„Ich will nicht wie ein Mädchen aussehen,“ sagte er.

Mama trauerte bei dem bloßen Gedanken, daß jemand die schönen Locken auch nur berühren sollte.

„Ich kann mir das Burschi nicht ohne seine Locken denken,“ sagte sie.

Sie nahm ihn in ihre Arme, flüsterte mit ihm, plauderte, überredete und bat und flehte für die lieben Locken. Aber Sven ließ sich nicht überzeugen. Er bat so schön und sah so rührend aus, daß er schließlich seinen Willen durchsetzte.

Er kam in seinem kleinen roten Hut herein, die weiße Bluse flatterte um die kleinen Beinchen.

„Ich fahre in die Stadt und lasse mich scheren,“ schrie er.

Er war voll Eifer und Entzücken, und als er im Zuge saß, plauderte er in einem fort und wendete sich an einen fremden alten Herrn, den er nie im Leben gesehen hatte, daß er zur Stadt fahre, um sich sein langes Haar abschneiden zu lassen.

Der alte Herr sah von seiner Zeitung auf, warf dem Knaben einen zerstreuten, gleichgiltigen Blick zu und fuhr fort zu lesen.

Sven glaubte, daß er nicht gehört hatte, und wiederholte der Deutlichkeit wegen:

„Ich lasse mir mein Haar schneiden, damit ich nicht wie ein Mädchen aussehe.“

Aber der alte Herr verschanzte sich hinter seine Zeitung und murmelte etwas, das Mama veranlaßte, ihr kleines Herzblatt zum Schweigen zu bringen.

Dann blieb Sven den ganzen Weg stumm und saß ganz stille da, als grübelte er über irgend etwas nach. Er sah so unglücklich aus, daß Mama ihn auf den Schoß nahm und ihn streichelte und bitterböse auf den alten Herrn wurde, der nicht begriff, daß der Kleine dasaß und sich grämte, daß nicht alle fremden Herren sich darum kümmern, daß ein kleiner Junge froh ist.

Sven schwieg, als er auf die Straße kam. Aber dann flüsterte er, als hätte er Angst, daß Jemand sie hören könnte.

„Das war bestimmt kein netter Herr.“

„Ja, aber siehst Du, Sven, Du hast ihn doch nicht gekannt,“ sagte Mama.

„Deswegen hätte er doch nett sein können,“ sagte Sven.

„Aber kleine Jungen sollen nicht zu fremden Leuten sprechen,“ wendete Mama ein.

„Ich glaubte, er würde sich freuen, wenn er hörte, daß ich nicht mehr wie ein Mädchen aussehen muß.“

Armes Kindchen! dachte Mama, und wieder ergrimmte sie in ihrem Herzen, wenn sie an alle verdrießlichen Menschen dachte, die die Freude der Kleinen zerstören. Armes Kindchen! Wie wird es Dir einstmals in der Welt gehen?

Und um Sven richtig zu trösten und seine Freude wieder wachzurufen, sagte sie.

„Das war ein abscheulicher, schlimmer alter Herr. Ganz schlimm war er.“

Da wurde Sven wieder eitel Sonnenschein, und sein Schmerz war verflogen, weil er glauben durfte, daß nur abscheuliche Menschen so etwas thun. Sein Haar wurde geschnitten, und er durfte in eine Konditorei gehen. Da bekam er Backwerk und war überglücklich, weil er glaubte, daß alle Menschen wußten, daß er zum ersten Male geschoren war wie ein Junge. Dann fuhr er wieder mit Mama nach Hause, und als er in den Hof kam, ließ er Mamas Hand los und lief, so rasch seine Beine ihn tragen wollten, hinein zu Papa.

Da blieb er beim Schreibtisch stehen, nahm den Hut ab und vergaß, daß man Papa nicht stören durfte, wenn er arbeitete. Er stand stille mit dem Hut in der Hand, und sein ganzer Körper arbeitete vor Aufregung zu hören, was Papa sagen würde. Ja, seine Augen wuchsen, so daß es aussah, als wäre der Junge nichts als Augen.

Papa sah und sah und ahnte, daß etwas ganz Merkwürdiges vorgefallen war. Endlich ging ihm ein Licht auf, und da mußte er den Kleinen in die Höhe heben und wieder niederstellen.

„Jetzt ist Sven aber ein richtiger Junge geworden,“ sagte Papa.

Und mit diesem Attest seiner Männlichkeit lief Sven fort, um sich den großen Brüdern zu zeigen und von Martha bewundert zu werden.

7.

Der Sommer, der in einer so lächelnden Umgebung begonnen, sollte sich jedoch an der Westküste fortsetzen, und die Ursache war die, daß eine Sehnsucht, stärker, als ich sie schildern kann, mich hinzog.

Ich kann nicht sagen, wie diese unvernünftige Sehnsucht in mein Blut kam. Möglicherweise lag die Ursache darin, daß ich einmal als Kind einen Sommer an der Westküste verbrachte, und es ist ja ziemlich unentschieden, welche Rolle diese frühen, selbst vorübergehenden starken Kindheitseindrücke bei der Bildung des Grundstoffs der Gefühle spielen, der dann unser Leben bestimmt.

Es will mir selbst wunderlich erscheinen, daß die Erinnerungen an diese Wochen sich durch mehr als dreißig Jahre so lebendig erhalten konnten. Ich war nämlich damals erst sechs Jahre alt, und aus diesem Alter pflegen alle anderen Erinnerungen, außer denen an das Heim, in dem man jahrelang gewohnt, zu verblassen. Aber viele Jahre hindurch habe ich das Meer vor mir gesehen, so wie ich es damals sah ... Ich habe es mit himmelhohen Wellen gesehen, bis ins Undenkbare durch die Phantasie des Kindes vergrößert. Ich habe den Tang, die Quallen und die Seesterne gesehen, das ganze reiche Leben auf dem Meeresgrund in seichten Buchten und an grauen Klippen. Ich habe kahle Felsen sich über dem Meere erheben gesehen, das sich an ihrem Fuße brach, und ich habe die wunderliche Erinnerung eines großen Sturms in mir auftauchen gefühlt, der Mengen von Sand gegen mein empfindliches Kindergesicht peitschte.

Es ist wunderlich, daß man so lange herumgehen und eine solche Erinnerung mit sich herumtragen kann, und noch wunderbarer, daß sie es vermag, eine solche Macht über unsere Seele auszuüben. Eine solche Erinnerung ist von einer sehnsüchtigen Wehmut erfüllt, die dem Traum des jungen Mädchens von dem Ritter gleicht, der sich eines Tages zu ihrem Ohre neigen und ihr Verheißungen eines überschwänglichen Glücks zuflüstern wird. Sie gleicht dem, was der Jüngling fühlt, der die Siegesverheißungen der Zukunft in seinen pochenden Adern singen hört. Ja, sie gleicht vielleicht am meisten dem stillen Zukunftsglauben, der bei Männern lebt, in denen der Jüngling nie ganz gestorben ist. Sie lag tief in meiner Seele wie Heimweh, und es dauerte Decennien, bis ich ihrer Mahnung gehorchen konnte.

Aber als ich nach vielen Jahren endlich so weit kam, zu wissen, daß ich einen Sommer am Meer genießen konnte, da war es meine Frau, die mich befürchten ließ, daß meine ganze Freude in Rauch aufgehen würde. Meine Frau hatte nämlich niemals die Westküste gesehen, und ich wußte, daß sie eine Art von Widerwillen gegen die ganze Reise hegte und nur nachgab, weil sie begriff, daß der geringste Widerstand mir wehe thun würde. Das wußte ich, weil sie einmal gesagt hatte: „Ich kann mir keinen Sommer denken, in dem man keine Bäume sieht.“ Und ich begriff sehr wohl, daß, als ihr diese Worte entschlüpften, sie einen Widerwillen gegen diese ganze Fahrt verriet, der so tief saß, daß sie selbst fürchtete, ihn nicht überwinden zu können. Da sie jedoch sah, daß ich ihre Antipathie gemerkt hatte, that sie Alles, um diese Worte in meiner Erinnerung auszulöschen. Aber sie verließen mich nicht, und ich fing an, mich beinahe beklommen zu fühlen, wenn ich an mein ersehntes Meer dachte.

Diese ganze Sache war für mich weder so unbedeutend noch so thöricht, als sie vielleicht klingen mag. Niemand kann eine wirkliche Freude fühlen, wenn sie sich mit Mißtönen mischt, und der schlimmste Mißton, den ich mir denken konnte, war, wenn meine Frau meine Freude nicht teilte. Ich hatte mich ja daran gewöhnt, mich nie einsam zu fühlen, weder in Freude noch in Schmerz, und es brachte mich außer mir, daß ich nun merkte, daß ich mit meiner Sehnsucht allein stand.

Ich wollte, daß mein Traum von einem Sommer Wirklichkeit würde, und ich kämpfte für dieses Ziel mit demselben Eifer, wie damals, als ich mich auf dem Wege glaubte, die Liebe meiner Frau zu verlieren, und kämpfte, um sie wiederzugewinnen. Tag und Nacht grübelte ich über die Möglichkeit nach, der Gefahr vorzubeugen, von der ich fürchtete, daß sie meine Sommerfreude stören würde, und schließlich glaubte ich ein Mittel gefunden zu haben. Ich schlug nämlich eines Tages meiner Frau vor, daß wir die Reise nach der Westküste rings um die ganze schwedische Küste machen sollten, und ich that es, weil ich sie besiegen wollte. Ich fühlte, daß zwischen uns ein stummer Kampf ausgekämpft wurde, aus dem ich nicht als der Ueberwundene hervorgehen wollte. Ich wollte meine Frau zwingen, das Meer zu lieben, und ich glaubte, daß die Art, die ich erfunden hatte, etwas von dem Besten war, worauf ein Mensch je gekommen war. Mein Gedankengang war nämlich dieser: „Der Weg geht durch den Schärengarten Stockholms. Er setzt sich an unserer ganzen herrlichen Ostküste fort. Nach und nach, beinahe unmerklich, wird sie die lächelnde Natur der Ostküste in die karge der Westküste übergehen sehen, und ohne es zu wissen, wird sie von der Größe ergriffen werden, die alles Andere übertrifft.“

Ich kann doch nicht behaupten, daß auf der Reise selbst etwas eintraf, das mir Anlaß gab zu glauben, daß mein so gut ausgedachter Plan die gewünschte Wirkung hatte. Meine Frau freute sich wie immer an einer schönen Dampfschiffreise; aber daß die Fahrt selbst ihren Gedanken eine bestimmte Richtung gab, konnte ich nicht entdecken. Das Ganze war für sie eine lange Dampfschiffreise, als solche das Herrlichste, was sie kannte, aber nichts weiter.

Ich befand mich die ganze Zeit in starker Spannung, und mein Mut begann zu sinken, als wir Gothenburg passiert hatten und ich den Meeresschaum um meine geliebte Westküste zischen sah.

Es wehte ein tüchtiger Sturm, und der war natürlich in diesem Augenblicke alles eher als willkommen, weniger, weil er die Fahrt erschwerte, als weil ein Westküstensturm nicht geeignet ist, den Unwillen gegen das Meer zu benehmen, wenn ein solches Gefühl einmal vorhanden ist. Ich beobachtete die ganze Zeit meine Frau, und ich betrachtete sie von der Seite, während das Boot auf den Wogen emporstieg und die Wellen das Verdeck vom Kiel bis zum Steuer überschwemmten. Aber ich konnte nichts entdecken, was meine stumme Frage beantwortete. Wie sie da saß und über das schwarze Wasser blickte, schien sie mir unzugänglich, und in mir riefen hundert widerstreitende Stimmen, die sich, wie mich dünkte, alle in einer Kraftanstrengung sammelten, um zu ihrem Herzen und ihrer Sympathie zu dringen.

Aber wie ich da saß, begann meine Unruhe zu weichen, und ungestört von allen Zweifeln und aller nervösen Gehetztheit sah ich zum ersten Male die Natur der Westküste. Sie erfüllte mich mit einer Empfindung, die ich heilig nennen will, und vor diesem verschwand alles Andere.

Das Boot tanzte über die erregte Wasserfläche, und vor seinem Bug klärten sich die Konturen einer langgestreckten Insel, die sich auf einem Hintergrund treibender Wolken abzeichnete. Je näher wir dieser Insel kamen, desto stärker glühte in mir die Freude jahrelanger Sehnsucht, die nun befriedigt werden sollte. Wir stiegen auf der Brücke ans Land, und in einem gierigen Blick faßte ich alles um mich auf. Ich sah die Brücken, die Bootshütten, all die kleinen Gebäude, die, in hellen Farben leuchtend, sich auf dem Abhang der kahlen Klippe zusammendrängten. Im Hafen schaukelte sich Boot an Boot, und auf den Klippen lagen Mengen von Fischen in der Sonne, um zu trocknen. Draußen auf einer Landspitze stand eine Gruppe von Männern in getheerten Kleidern, mit Südwestern und hohen Stiefeln, und ordneten langsam und bedächtig einen Haufen großer Fische, die ich meines Wissens noch nie gesehen hatte.

Die starke Luft peitschte mein Gesicht und meine Wangen, und um mich vernahm ich ein Donnern wie von brausenden Wasserfällen, die rasende Winde peitschten. Ich sah die Konturen der Klippen in der Ferne blau und schwarz verschwimmen, wenn der Sturm die Wolken in wilder Jagd über den Himmel trieb, der durch zerrissene Nebel blau leuchtete. Und als ich zu unserem kleinen weißen Haus kam, das am äußersten Ende der westlichen Landspitze lag, weit weg von der Gruppe anderer menschlicher Wohnstätten, da sah ich zum ersten Male das Meer.

Ich stand lange und blickte hinaus über dieses Meer, das ich endlich erreicht hatte; und als ich in unsere Zimmer kam, sah ich, daß meine eigenen Fenster dieselbe Aussicht hatten, die ich eben verlassen, nur daß das Meer mir noch näher gekommen zu sein schien. Wieder stand ich stille und wußte nicht, was in diesem Augenblick in mir vorging. Aber im selben Moment fiel mein Blick auf meine Frau. Sie stand allein am Fenster und sah hinaus, und in einem Augenblick kam es über mich, daß ich alles, was durch Wochen meine Gedanken beschäftigt hatte, alle Ueberreizung, alle Zweifel, alle List, alle Berechnung, den ganzen Kampf, um meine Frau zu zwingen, zu fühlen wie ich — daß ich all das vergessen hatte, seit dem Moment, wo ich den Fuß auf die felsige Insel gesetzt hatte. Nun stand sie da, und ich wußte nicht, ob unsere Gedanken in diesem Augenblick sich zum Kampfe gegen einander erhoben oder sich begegneten.

Da wendete sie sich um, und ich sah, daß ihre Augen voll Thränen waren. Sie streckte die Hand nach mir aus, ich nahm sie, und zusammen standen wir da und blickten hinaus übers Wasser. Unter unserem Fenster rollten die Wellen über die Steine, und so weit das Auge reichte, sah man nur die weißen Kämme der Wellen gegen den dunklen Meeresspiegel, und die kleinen Schären, an denen das Meer sich brach. Wie Kaskaden von weißem Schaum stürzten die Wellen zur Höhe, von der Schwere des ganzen Meeres hervorgepreßt, das vom Westen auf sie drückte. Es war ein Aufruhr voll ruhiger Kraft, ein großer Ausbruch, der etwas von dem vollen Jubel des Lebens selbst in sich trug.

Vor diesem Aufruhr legte sich mein eigener zur Ruhe, und mit der Hand meines Weibes in der meinen, fühlte ich, daß wir Beide auf dem Wege zum Meere gewesen und auf getrennten Straßen hingelangt waren. Wir sprachen kein Wort, aber wir standen lange da, und das, was gewesen war, starb in uns. Als wir einschlummerten, hörten wir noch das Getöse des Sturms und der Wogen, und als das Tosen aufhörte, erwachten wir durch die Stille.

Vor unseren Fenstern lag das Meer ruhig und groß.

8.

Diese Erinnerung habe ich schon vor Jahren aufgezeichnet. Ich wußte damals nicht, daß ich einst einen anderen und größeren Kampf mit meiner Frau kämpfen würde, einen Kampf, nach dessen Beendigung ich einsam dastehen sollte, und doch nicht einsam, niedergebeugt, aber doch nicht ohne Hoffnung.

Jetzt sehe ich uns auf der höchsten Klippe vor unserem weißen, traulichen Hause sitzen. In einer Pracht, die stets neu ist, die Abend für Abend wechselt, versinkt die Sonne ins Meer, und zwischen uns sitzt Sven. Er ist bloßfüßig und braun, und weil es gegen Abend kühl wird, steckt er seine kleinen Füße unter Mamas Kleid. Er bettelt, so lange aufbleiben zu dürfen, als die Sonne zu sehen ist. Sich wundernd folgen seine Augen dem letzten flammenden Schimmer der Sonne, die in dem ruhig wogenden Meer verschwindet. Er sitzt da, das Kinn in die Hand gestützt, als dächte er an etwas Ernstes, das er nicht in Worte kleiden kann. Und als er endlich weiß, daß er zu Bett gehen muß, hängt er sich an Papas Hals und bittet, daß ich ihn trage.

Mit meiner leichten Bürde auf den Armen steige ich sachte über die Klippen, und als ich wiederkehre, sehe ich gegen den Himmel die dunkle Silhouette der Gestalt meiner Frau. Sie sitzt, wie Sven eben saß, und ihre Augen suchen den Punkt, wo die Sonne untergeht und die Flammen der Abendröte erloschen sind.

9.

Nie ist Sven so bewundert, so geliebkost, so von allen auf Händen getragen und vergöttert worden, wie in diesem Sommer. Die Lootsen trugen ihn über die Berge und schnitzten ihm Boote, die alten Mütterchen blieben stehen und lächelten strahlend, so wie sie ihn nur erblickten. Die jungen Frauen vergaßen ihre eigenen Sprößlinge und sagten, daß sie niemals ein solches Kindchen gesehen hätten, die Mädchen führten ihn auf die Klippen und spielten mit ihm, ohne daß er sie zu bitten brauchte. Sven ging in beständigem Sonnenschein herum, und er wurde braun und stark in dieser Luft, so wie er es nie gewesen.

Sven war mit einem Worte der Mittelpunkt all unserer Gedanken und die Sonne dieses unseres einzigen Sommers an der Westküste.

Es war jedoch wunderlich, daß er gerade in dieser Zeit einen neuen Gesprächsstoff fand, zu dem er immer wieder zurückkehrte. Für Sven war es nämlich eigentümlich, daß er von allem sprach, was ihm in den Sinn kam, und er that es ungekünstelter, als Kinder es zu thun pflegen, vollkommen unbekümmert in Beziehung auf den Eindruck, den er auf einen Erwachsenen machen könnte. Bei Kindern ist es ja sonst gewöhnlich, daß sie bis zu einem gewissen Grade das, was sie denken, bei sich behalten und sich nur mit einer gewissen Zurückhaltung einem Aelteren gegenüber aussprechen. Dies kommt daher, daß sie fürchten, ihre Gedanken von dem Lächeln der Ironie getroffen zu fühlen, selbst wenn dieses Lächeln mit Wohlwollen gepaart ist. Besonders ist dies der Fall, wenn ein Kind gefühlvoller, naiver, seiner Natur nach offener ist als andere Kinder, oder sich in seinem ganzen Wesen von der Mehrzahl unterscheidet.

Sven hatte von dem Moment an, wo er seine Augen aufschlug, nie etwas Anderes als verständnisvolle Wärme um sich gefühlt. Als er in das Alter trat, in dem Eltern sich mit ihren Kindern beschäftigen können, waren ihm beinahe stündlich ein Paar Augen gefolgt, die sich über jede seiner Bewegungen freuten, jedes Wort verstanden und aufmunterten, jede Aeußerung seiner zarten, unschuldigen Seele klarer und besser wiederspiegelten, als er selbst sie gethan hatte. Durch die Liebe seiner Mutter lernte der kleine Sven die ganze Welt um sich kennen, und weil sie zu seiner eigenen sich zärtlich hingebenden Person paßte, so wie er zu ihr, die ihm Tag für Tag etwas gab, was mehr war, als daß sie ihm das Leben geschenkt hatte, so konnte Sven sich auch nichts Anderes denken, als daß er alles, was sich in ihm regte, wuchs und fragte, ebenso natürlich und einfach, wie es kam, ausplaudern mußte.

Vielleicht lag in ihm auch, obwohl er sie nie in Worte kleiden konnte, etwas wie eine Ahnung, daß er nicht her gehörte? Vielleicht band ihn diese Ahnung, wenn auch unbewußt, noch stärker an sie, die unter ihrem Lebensglück lange dasselbe Gefühl verborgen hatte? Wer kann darauf antworten? Oder wer kann es versuchen, zu antworten? Niemand. Nur das Schweigen schwebt über blühenden Grabhügeln.

Aber gewiß ist, daß der kleine Sven eines Tages ein Bild an der Wand von Mamas Zimmer entdeckt hatte, und als er es eine Weile angesehen hatte, nahm er es herunter und betrachtete es schweigend, als begegnete er etwas ganz Neuem, vor dem sein Verstand ganz still stand.

Es war kein Bild nach dem jetzigen Geschmack. Es liegt wenig Kunst darin, und es erzählt eine Geschichte. Es giebt eine Sage, die der Todeszug heißt. Ueber eine weite Haide geht der Tod. Er ist in einen weißen Mantel gehüllt, der das Gerippe verbirgt, aber den Todtenschädel frei läßt. Ihm folgt ein langer Zug von Jungen und Alten ohne jeglichen Unterschied, und der Zug ist so lang, daß er in der Unendlichkeit zu verschwimmen scheint, und Niemand kann seinen Schluß sehen. In der Hand hält der Tod eine Glocke, und man sieht, daß sie eben erklungen ist. Man sieht es, denn am Wege sitzt ein vom Alter gebrochenes Weib und streckt flehend seine Hände nach dem Unerbittlichen aus, der, ohne sie anzusehen, an ihr vorüberschreitet. Aber ganz nahe hinter dem Tode steht ein junges Paar, das sich liebt. In dem Ohr des jungen Mannes ist die Glocke des Todes erklungen, und die Liebesarme der Verzweiflung können ihn nicht zurückhalten. Der Zug des Todes geht weiter, und wenn die Stelle kommt, die für ihn im Zuge offen steht, muß er mitschreiten, und sein Platz auf Erden wird leer stehen, und keine Sehnsucht kann ihn zurückrufen. Aber da wo der Zug zu enden scheint, schimmert es wie ein Licht der Morgenröte.

So ist das Bild, und Mama hatte es auf die Schäre unter anderen Bildern und Photographieen mitgenommen, mit denen sie unser neues Sommerheim schmückte, und auf eine Photographie dieses Bildes blickte Sven einmal unverwandt, als er Mama fragte:

„Was ist das?“

Und Mama erzählte die Sage von dem grausamen Tod, der kommt und den mitnimmt, der jung ist, und den Alten, der bettelt, mitkommen zu dürfen, zurückläßt. Sven hängte das Bild wieder an seinen Platz.

Aber am nächsten Morgen nahm er es abermals herab, und als er es eine Weile angesehen hatte, mußte Mama die ganze Geschichte zum zweiten Male erzählen.

Wieder saß Sven da und hörte zu, und wieder wurden seine großen Augen ernst und verwundert.

„Glaubst Du, Mama, daß der junge Bräutigam sehr betrübt ist, weil er sterben muß?“ sagte Sven.

„Ja,“ antwortete Mama, „aber sie, die seine Braut ist, ist noch betrübter.“

„Aber er wird vielleicht ein Engel,“ sagte Sven, „und bekommt weiße Flügel auf den Schultern.“

„Das wird er wohl,“ sagte Mama.

Aber Sven seufzte und war doch noch nicht zufrieden.

„Warum kann die alte Frau nicht mit ihm gehen, wenn sie doch so gerne will?“ sagte er.

„Das weiß Niemand, Sven,“ sagte Mama, „das weiß nur Gott.“

„Weiß er es denn?“

„Ja, er weiß es.“

Sven ging wieder hinaus in die Sonne auf die Klippen. Aber seither wurde diese Geschichte seine liebste, und beinahe jeden Morgen, wenn Mama da saß und sich frisierte, kam Sven herein, nahm das wunderliche Bild herunter und bat Mama zu erzählen.

Aber noch etwas war Sven passiert, und das hatte sich im Winter begeben. Da war er ins Theater mitgenommen worden und hatte ein Stück gesehen, das am Sonntag Vormittag gespielt wurde, wo Sven auf sein konnte und nicht nach Hause gebracht werden mußte, um sich schlafen zu legen. Strindbergs „Glückspeter“ wurde gegeben, und Sven verstand wohl nicht viel von dem Stücke, aber er unterhielt sich in seiner Weise. Er unterhielt sich so gut, daß er alle ansteckte, die rings um ihn saßen ...

Aber dann kam die Scene, wo der Tod sich dem Glückspeter zeigt, und da wurde Sven stumm. Niemand hatte daran gedacht, daß diese Scene vorkam, oder daß sie überhaupt einen solchen Eindruck machen konnte. Aber alles, was dann folgte, beachtete Sven gar nicht mehr. Und wenn ihn später Jemand fragte, was er im Theater gesehen, antwortete er nur:

„Ich habe den Tod gesehen. Das war ein großes, langes Knochengerippe und konnte sprechen. Und er hielt eine Sichel in der Hand.“

Diese Erinnerung brachte nun Sven mit dem Bilde vom Zuge des Todes zusammen. Das Einzige, womit der Knabe sich nicht aussöhnen konnte, war, daß, als er den Tod sah, er eine Sichel hatte, aber auf dem Bilde läutete er mit einer Glocke. Sonst war es, als sei die Erinnerung aus dem Theater, das Bild an der Wand und Mamas Sage für das Kind zu Einem verschmolzen.

Unaufhörlich pflegte Sven davon zu sprechen. Dieses Bild hatte sich in seiner Phantasie mit einer Intensität festgesetzt, die nichts verwischen konnte. Und er erzählte Jedem, der es hören wollte, wie der Tod auf den Glückspeter zukam und drohte ihn mitzunehmen, aber wie er wieder gehen mußte, weil der Glückspeter ihn so schön bat. Er erzählte so davon, daß er selbst bei der bloßen Erinnerung schauerte, und wenn der Tod sich ihm in leibhaftiger Gestalt offenbart hätte, so würde er nicht stärker haben ergriffen sein können.

Aber seine Freunde auf der Schäre fanden es wunderlich, daß ein so kleines Kind von etwas derartigem sprechen konnte. Sie machten sich nie über ihn lustig, sondern das, was er erzählte, bestärkte sie bloß in dem Gefühl von etwas wunderlich Zartem und Feinem, das sie gerne in die Arme nahmen und über die Berge trugen.

Und Sven ließ sich durch diese Sagen in seinem Glück nicht stören. Er war so vertraut mit ihnen, daß sie ihm nur zu folgen schienen, wie der Schatten dem Sonnenschein folgt. Und er schuf sich seine eigene Welt draußen auf der Schäre. Wenn die Brandung hoch ging und der Sturm brüllte, dann stand er am Fenster und blickte hinaus über das tosende Meer, und er konnte stundenlang so stehen, ohne daß er im stande war sich loszureißen. Wenn der Himmel blau war und der Wind kühl und still über die Insel wehte, dann ging er allein zum Strande hinab, fing Seesterne und lernte mit Booten spielen.

Aber sein liebster Aufenthalt war der Lootsenausguck, wo Mama mit ihrer Arbeit saß, und da bat er sie alles zu erzählen, was sie vom Meere wußte. Er war überglücklich, wenn er barfuß über die Klippen lief, und er zog seine kleinen Höschen hinauf, und kletterte auf seinen feinen Füßen so vorsichtig wie eine kleine Prinzessin. Aber wenn man weit gehen sollte, da bat er, daß man ihn trage. Und da Niemand Sven das abschlagen konnte, worum er bat, fand sich immer Jemand, der ihn auf die Arme oder auf die Schultern nahm. Dann sah er sich stolz um und lächelte in dem Gefühl seiner Macht und der Seligkeit, daß Alle ihn liebten.

Aber wenn Mama mit Papa allein blieb, sagte dieser öfter als einmal:

„Er ist ja so frisch und munter, wie er nie gewesen ist. Warum spricht er dann immer vom Tode?“

Und sie antwortete:

Ich lehre es ihn nicht. Seine Gedanken kommen und gehen, wie sie wollen. — — Siehst Du?“

Sie wies hinunter auf den Strand. Da saß Sven allein und sah ungemein glücklich und froh aus. Er hielt eine Schnur in der Hand, und an der Schnur war ein Stück Holz befestigt, das wie ein Boot aussah. Das zog er auf den Strand, belud es mit Steinchen und schob es wieder hinaus.

„Hörst Du nicht?“ sagte Elsa.

Und um besser zu hören, gingen wir sachte näher, ohne daß der Knabe uns sah.

Er saß ganz stille, ließ das Holzstück auf den Wellen auf- und niedergleiten, und mit schwacher, glockenreiner Stimme sang er für sich selbst. Es war ein Seemannslied, das er von den Kindern auf der Insel gelernt hatte.

Sing fallerala, sing fallerala la,

Und tief im Meere sein Grab er sah.

Da erblickte er uns, verstummte und erklärte, daß er nicht singen wolle, wenn Papa zuhörte.

10.

Ich merke, daß ich in diesem Buch fast nur von unseren Sommern erzähle. Das kommt ganz einfach daher, daß wir im Sommer am stärksten das Gefühl hatten, zu leben. Im Winter wohnten wir ja entweder in der Hauptstadt oder so nahe derselben, daß wir zu jeder Zeit hinkommen konnten. Da ging es uns wie den meisten Anderen. Das Hauptstadtleben ergriff uns, schleuderte uns in seinen Wirbel und bemaß die Zeit sehr karg, in der wir alle mit einander leben und uns Eins fühlen konnten. Dahin waren meine und meiner Frau lange vertrauliche Gespräche zu Zweien, dahin das muntere Zusammenleben mit den Kindern. Nicht einmal das Weihnachtsfest, ja das am allerwenigsten, war frei von dem Gefühl überanstrengenden Hastens, das Müdigkeit, Ueberdruß und Mißstimmung zurückläßt. Darum erwarteten wir den Sommer beinahe wie eine Befreiung von etwas Bösem, und wenn wir die Hauptstadt verließen, war es immer, als zögen wir unserer eigenen Erneuerung und der unseres Zusammenlebens entgegen.

Von unserem letzten Sommer will ich jetzt erzählen, dem letzten, in dem wir wirklich das Gefühl hatten, zu leben, dem Sommer, der so ganz anders wurde, als wir gehofft und gedacht hatten.

Wir hatten diesmal einen ganz anderen Ort gewählt, als die Schären der Westküste, und wir hatten dies gethan, damit meine Frau sich mit all dem umgeben konnte, was sie im vorhergehenden Sommer vermißt hatte. Denn wie sehr das Meer sie auch ergriffen hatte, barg sie doch in tiefster Seele eine Art Abgeneigtheit gegen die See, die in einsamer Majestät herrschen will und keine hohen Bäume und blühenden Matten in ihrer unmittelbaren Nähe duldet. Im Innersten sehnte sie sich immer nach belaubten Hainen und üppigen Blumen, und der Sieg, den ich in meinem Kampf fürs Meer errungen, war also nur halb. Darum kamen wir überein, für die Zukunft abwechselnd den Ort unseres Sommeraufenthalts zu bestimmen. Und diesen Sommer wollten wir überdies mit Anderen theilen, das wiederbeleben, was einmal unsere Herzen erfüllt, als all unser Glück sich im Kreise von lauter Freunden wiederspiegelte, die in unserem Hause so kamen und gingen wie in ihren eigenen.

Um den Kontrast zu dem Sommer auf der Schäre so stark als möglich zu machen, wählten wir „Lidingön“, und in dem oberen Stockwerk eines halb verfallenen Herrenhofs schlugen wir unser Sommerheim auf.

Es war eine Wohnung mit vielen großen Zimmern, eine Wohnung mit schrägen Fenstern, fleckigen Tapeten und altväterischen großen Veranden, einer langen und schmalen, die nach dem Hof ging, und einer kleineren, von der aus man über den Garten sah, mit seinen ungeharkten Wegen und den wildwuchernden Beerensträuchern, über die Eichen weit hinaus nach der Landzunge und der ganzen stillen, hellen Bucht sah, die in Grün gebettet dalag und einem ruhigen Binnensee glich. Die Veranden waren zu beiden Seiten des Hauses ganz und gar von wildem Wein überwachsen, und auf der Veranda nach dem Meere war die eine Seite mit Kaprifolium bedeckt. Das Ganze machte den Eindruck eines Hauses, das im begriffe ist, überwuchert, überwachsen zu werden, zu verschwinden, um wieder eins mit der Natur zu werden. Wenn man auf der kleineren Veranda saß und träumend über den Garten blickte, auf die Eichen und die ruhige Bucht, mußte man daran denken, daß alles, was hier gepflügt oder gebaut war, einmal verschwinden und daß der Tag kommen würde, wo neue Menschen das in der Erde verborgen fanden, was der Freude und Sorge längst vergessener Menschen eine Heimstatt gegeben hatte und Nahrung ihren Körpern. Wehmütig ohne jede Düsterkeit schlich sich dieses Gefühl über den, der da saß und die Stimmung dieses kleinen Flecks in sich aufnahm, und es wurde ihm zu Mute, als hätte alles irdische Glück darin bestanden, hier zu leben, bis das Haus fiel und das Unkraut alles verdrängte, und dann einschlummern zu dürfen, mit dem Gebäude, das in Ruinen zerfiel, und den alten Bäumen, die morsch und abgelebt zusammensanken, und eins zu werden mit der unfruchtbaren Erde selbst, die es auch müde geworden zu sein schien, das zu tragen, was bestimmt war, ihren Bebauern Leben zu geben.

Hier wuchsen die Syringen dicht, der Goldregen hing prächtig und schwer über ungepflegte Beete und Rabatten, wo die Mohnblumen sich überreif zur Erde neigten und die Rosensträucher sich drängten. Hier war alles, was meine Frau an Stimmung und Natur liebte. Hier war etwas von einer sterbenden melancholischen Ueppigkeit, die mit ihrem ganzen Seelenleben übereinstimmte. Hier ging sie umher, als wäre sie vom ersten Augenblick an daheim. Hier vergaßen wir, daß das Leben und die Menschen uns schwere Wunden geschlagen und daß wir selbst uns gewehrt und zurückgeschlagen hatten. Hier vergaßen wir den Zwang des Winters und seine enervierenden Vergnügungen. Und auf der anderen Seite der Bucht hatten wir Freunde, zwischen deren Brücke und der unseren die Boote häufig hin- und hergingen.

Aber die ganze Umgebung lastete schwer auf mir, und ich hatte das Gefühl, als hinderte sie mich am Arbeiten. Sie versetzte mich in eine Stimmung, die verschieden von allem war, was ich je erfahren. Aber die Zeit verging, und mit ihr kam die Ruhe. Mit einer Stärke wie nie zuvor kam der Genius der Arbeit über mich, und ich wurde von nichts anderem gestört als von Sven.

Denn er war der Einzige, den wir nie lehren konnten, daß Papa in Frieden gelassen werden müßte, wenn er arbeitete. Er öffnete die Thüre so sachte, als wollte er zeigen, wie wichtig es war, daß Stille herrschte. Sah ich ihn dann an, so legte er den Finger auf den Mund und sagte „Pst“ mit einer so machtbewußten und gleichzeitig unschuldigen Miene, daß ich unwillkürlich die Feder weglegen mußte. Sah ich hingegen nicht auf, dann ging er sachte zum Schreibtisch hin und stellte sich neben mich. Er konnte da geduldig die längste Zeit stehen; und wenn ich stark blieb und that, als ahnte ich seine Nähe nicht, dann konnte er wieder seiner Wege gehen, ebenso still, wie er gekommen war. Das geschah jedoch nicht oft, und wenn ich den Kopf nur ein klein wenig drehte, sah ich sogleich die blauen, erwartungsvollen Augen, die die meinen suchten. Und dann war ich verloren.

„Was willst Du eigentlich, Sven?“ sagte ich.

Und ich meinte, daß ich streng aussehen sollte, wußte aber, daß ich es nicht konnte.

Dann war es eine Blume oder ein Stein oder irgend eine andere Seltenheit, mit der er kam. Und ich ergab mich auf Gnade und Ungnade. Ich schob Papier und Feder weg und ließ Sven mich stören, so viel er wollte. Und darüber freue ich mich jetzt.

11.

Hier draußen sang der kleine Sven, wie er es den ganzen Winter gethan, und gewiß hatte Elsa hauptsächlich um seinetwillen darauf bestanden, daß unser Klavier einmal mit hinaus in die Schären kam.

Denn seit Mama entdeckt hatte, daß Sven singen konnte, war es doch nur ganz natürlich, daß sie anfing, seine Anlagen auszubilden, und daß sie stolz auf seine Stimme war wie auf alles, was er sagte, that und vornahm. Sie schaffte ihm kleine Liederbücher an und lernte die Worte mit ihm auswendig. Denn Sven war erst fünfeinhalb Jahre alt und zu klein, um lesen zu können. Auch hatte seine Mama heilig und teuer gelobt, daß es lange dauern würde, bevor er sich mit etwas so Schrecklichem plagen müßte. Aber singen, das konnte er, und er konnte viele Lieder. Sehr selten entschlüpfte ihm ein falscher Ton, und war das einmal der Fall, so sah er ganz verdrießlich aus und begann wieder ganz von vorne.

Er hatte auch nie Angst zu singen, wenn Fremde zuhörten. So viele, als wollten, durften kommen. Sven sang und lachte, und die großen, blauen Augen leuchteten. Warum sollte er Angst haben, zu singen, wenn er es selbst so lustig fand, und er im übrigen so schön sang? Das hatte Mama gesagt, und wenn sie es fand, mußten ja alle dasselbe finden.

Von allen schönen Liedern, die Sven konnte, war doch keines niedlicher anzuhören als dieses:

Bäh, bäh, weißes Lamm, hast Du denn auch Woll?

Ja, ja, kleiner Mann, hab die Taschen voll.

Sonntagsrock für Vater und Feierkleid fürs Mütterchen

Und zwei Paar Strümpfe fürs kleine, kleine Brüderchen.

Der Schluß dieses Liedes war Svens Glanznummer. Denn so wie er zu dem letzten Vers kam, ging es über Stock und Stein, so rasch, so rasch, als wollte er das Schlußwort aufessen und für sich selbst behalten. „Das kleine, kleine Brüderchen“ eilte lange vor der Klavierbegleitung daher, und das kam nur daher, daß er die zwei paar Strümpfe für eigene Rechnung nahm und den ganzen Vers als eine Anspielung. Warum sollte auch nicht das ganze Lied eigens für ihn geschrieben sein, wenn er es singen konnte und sich so darüber freute?

Dieses Lied durfte kein Anderer als Sven singen, und es konnte es auch Niemand so wie er, der das kleine Brüderchen im Leben war, das kleine Brüderchen im Tode, der niemals etwas Anderes wurde und immer unter diesem Namen leben wird.

 

Die Fenster im Speisesaal stehen offen, der Duft des Flieders strömt mit der Abendluft herein, die Sonne ist im Untergehen, und auf der Wand über dem geöffneten Klavier beben ihre Strahlen. Am Klavier sitzt seine Mama in weißem Sommerkleid, rings herum stehen wir Anderen, und mitten unter uns singt der kleine Sven.

Sonntagsrock für Vater und Feierkleid fürs Mütterchen

Und zwei Paar Strümpfe fürs kleine, kleine Brüderchen.

Es ist Johannisabend, und Sven ist glücklich. Denn er hat Mamas Versprechen, daß er sich an diesem Abend nicht früher niederzulegen braucht, als bis er selbst will. Das will er natürlich nie, und mit Mamas Hand in der seinen geht er mit den Brüdern und den Großen über die Gartenwege, bis ihm die Augen zufallen und er schlafend in sein Bett getragen wird, nichts von seinem Unglück ahnend, nicht länger wach sein zu dürfen.

Da schläft er mit seinem Freund auf dem Arm, dem weißen kleinen Hund aus Holz, der Wolle hat wie ein Lämmchen und Augen aus schwarzen Stecknadelknöpfen und den Sven „Flocki“ getauft hat. Flocki ist ein friedlicher Schlafkamerad. Er stört Niemanden.

Draußen in den Kronen der Bäume ertönt das erste schwache Vogelgezwitscher, das die Morgenröte kündet.

12.

Ich glaube nicht, daß Sven je ein so wunderbares Zusammenleben mit seiner Mutter gelebt hat, wie in diesem Sommer, oder vielleicht ist es auch möglich, daß ich nie Gelegenheit hatte, es so gründlich zu verfolgen. Möglicherweise trug hierzu der Umstand bei, daß wir in diesem Sommer zum ersten Mal die Gesellschaft unseres großen Jungen entbehrten. Olof hatte nämlich nach dem Norden reisen müssen, um Waldluft zu atmen und sich daran zu gewöhnen, allein vom Hause fort zu sein. Und die Folge davon wurde natürlich die, daß die Zurückbleibenden sich noch inniger als gewöhnlich an einander schlossen. So viel ist gewiß, daß ich in diesem Sommer unbewußt anfing Sven mit denselben Augen anzusehen wie seine Mutter, und daß mir nie so wie damals die Augen darüber aufgingen, wie verschieden er von allen Kindern war, die ich je gesehen, obgleich nichts bei ihm anders war, als was man kindlich nennt.

An einen Morgen erinnere ich mich, daß er mich, als ich spazieren ging, dadurch überraschte, daß er ganz allein auf der Wiese saß mit einem Strauß Glockenblumen und Ranunkeln in der Hand. Ich fragte ihn, ob er mit mir in den Park gehen wollte. Das war ein Anerbieten, das er immer mit Entzücken aufzunehmen pflegte, und es erregte daher mein Erstaunen, daß er sich diesmal energisch weigerte.

„Willst Du nicht mit Papa kommen, Sven?“

Ich fühlte mich beinahe verletzt und dachte, es wäre eine Laune.

Sven schüttelte nur den Kopf und blieb stille sitzen.

„Aber warum denn?“

„Ja, ich sitze hier und warte auf Mama,“ sagte das kleine Brüderchen mit großer Bestimmtheit.

„Aber Du weißt doch, daß Mama erst viel später herauskommt. Mama ist nicht so gesund wie früher, und sie muß morgens lange liegen, weil sie in der Nacht nicht schläft.“

So verhielt es sich auch, und wenn uns das nicht hinderte, unser Sommerglück zu genießen, so kam es nur daher, daß wir uns im Laufe der Jahre so sehr daran gewöhnt hatten, daß die Kränklichkeit meiner Frau zeitweise wiederkommen mußte, daß dieser Umstand uns nur ganz natürlich und alltäglich schien.

Sven ließ sich jedoch durch keine Vernunftgründe beeinflussen, sondern blieb eigensinnig sitzen.

„Ich weiß, daß sie heute kommt,“ sagte er.

Ich lächelte über seine Sicherheit und ging weiter, während ich weniger an seine Voraussage als an diese allumfassende Liebe eines Kindes dachte, die weit über seine Jahre hinausging und die den Knaben veranlaßte, unthätig mit ein paar Blumen in der Hand dazusitzen, nur um es nicht zu versäumen, die Mutter im selben Augenblick, in dem sie sich zeigte, zu begrüßen.

Aber während ich so weiter ging, wendete ich mich plötzlich um, und da sah ich den weißen Hut und das leichte, geblümte Kleid meiner Frau zwischen den Jasminbüschen auftauchen. In demselben Augenblick hörte ich einen gellenden Schrei von Sven.

Lächelnd ging ich zurück und sah den Knaben in einem Paroxysmus der Zärtlichkeit an dem Halse seiner Mutter hängen. Ich rief sie an, aber das kleine Brüderchen ließ nicht locker. Er klammerte sich an Mama an, und schon aus der Ferne rief er mit einem Gemisch von Verdrießlichkeit über mein Mißtrauen und Triumph darüber, daß er Recht behalten hatte:

„Siehst Du, daß sie gekommen ist! Siehst Du, daß ich es wußte!“

„Du bist wohl drinnen gewesen und hast geguckt,“ sagte ich.

Nichts kann die Verachtung aller rationalistischen Auslegungen dessen, was er fühlte und wußte, beschreiben, mit der Sven antwortete:

— „Nein, das habe ich gewiß nicht. Hab ich es, Mama?“

Und Mama tröstete ihn damit, daß er gewiß nicht geguckt habe. Aber zu mir sagte sie:

„Du kannst nicht glauben, wie oft das schon geschehen ist. Es ist, als fühlte er mich in der Luft, bevor ich komme. Kinder können ja so etwas nicht erfinden.“

13.

Sven war jedoch überhaupt in diesem Sommer nicht derselbe. Ohne irgend einen äußeren Anlaß konnte er plötzlich erklären, daß er müde sei, und dann wollte er nur im Grase liegen mit dem Kopf in Mamas Schoß. Oder er kam auch zu Papa und bat ihn, ihn zu tragen. Dann nahm Papa ihn auf die Schultern und trug ihn hinaus in Wald und Feld, und nie ist sein Blick dankbarer gewesen oder sein kleines, weiches Händchen zärtlicher.

Dann klagte er über Kopfschmerzen und bekam Antipyrin, und dann wollte er des Morgens nicht aufstehen und sagte, er sei so müde. Aber da der Kleine im übrigen ganz gesund schien, hob Papa ihn aus dem Bette und erklärte, er solle sich ankleiden und zusehen, daß er hinaus in die frische Luft komme. Da stand Sven auf und versuchte, so lange Papa drinnen war, so gut er konnte, die mühsame Arbeit, die Strümpfe anzuziehen. Aber sowie Papa zu der Thür hinaus war, schlich er zu Mamas Bett und bat, zu ihr hineinkriechen zu dürfen.

Natürlich konnte Mama einer solchen Bitte nicht widerstehen. Und nie war Sven glücklicher. Da lag er mit dem Kopfe in Mamas Arm, schloß wieder die Augen und war still und ruhig, bis die Kräfte anfingen, zurückzukehren. Dann stand er wieder auf, aber bevor er es that, sah er Mama mit seinen merkwürdigen Augen an:

„Erzähle es Papa nicht!“

„Ja, aber warum denn?“ sagte Mama.

„Ja, weißt Du, sonst wird Papa sehr böse.“

All das erschien Mama so wunderlich, daß sie Sven alles Mögliche versprochen hätte; und folglich versprach sie auch dies. Und Sven ging hinaus und war ruhig und zufrieden, weil Mama seinen Ungehorsam nicht verriet und weil er und Mama zusammenhielten.

Aber wenn Mama fortreisen sollte oder nur ohne ihn ausgehen, da war er verzweifelt. Sein Schmerz kannte keine Grenzen, und sein Weinen war so herzzerreißend, daß man nichts Anderes thun konnte, als ihm mit allen Trostgründen zusprechen, die Einem zu Gebote standen. Ja, der Anblick seines leidenschaftlichen Schmerzes war so qualvoll, daß man ihn lange nicht vergessen konnte, und eines Vormittags sprachen wir davon. Ich hatte gerade meine Frau überredet, mich auf einem Ausflug in die Stadt zu begleiten, um dort mit ein paar Freunden zu Mittag zu essen und, wie man sagt, ein bißchen herauszukommen. Und ich hatte das gethan, gerade weil ich fand, daß sie sich von Sven ausruhen sollte.

Es gelang uns schließlich auch, den Eindruck zu vergessen, den uns die Thränen des Kleinen gemacht hatten, und wir brachten einen angenehmen Tag zu, wie immer in der Stadt, wenn wir wußten, daß wir nicht dort zu bleiben brauchten. Die Stimmung war gerade auf dem Höhepunkt, als meine Frau mich im Flüstertone fragte, ob es mir sehr unangenehm wäre, wenn sie mit einem früheren Boot wegführe. Es war recht selten, daß wir einen Ausflug machten, um uns zu unterhalten, und der Vorschlag war nicht gerade nach meinem Geschmack. Ich stellte daher Elsa vor, daß wir gesagt hatten, wir würden erst mit dem letzten Boote kommen, und daß uns daher Niemand erwartete. Mit einem Worte — ich erhob alle die Einwände, die mir einfielen. Und zuletzt versuchte ich es mit einem Hauptargument:

„Sven hat sich ja schon niedergelegt, wenn Du kommst.“

„Das ist es nicht,“ war die Antwort. „Ich möchte nur gerne nach Hause.“

Sie sah mich bittend an, und natürlich war die Folge die, daß sie wegfuhr.

Inzwischen ging Sven Nachmittag zuhause umher und spielte. Aber als die Zeit herankam, zu der er sich niederzulegen pflegte, verschwand er spurlos. Unsere Dienstmädchen gehörten nicht zu Jenen, die sich viel Kopfzerbrechens machen; und als sie ihn ein paar Mal gerufen hatten, ohne eine Antwort zu bekommen, gaben sie sich damit zufrieden, daß er sich schon zeigen würde, wenn die Dunkelheit einbreche, und daß die Herrschaft ja auf jeden Fall erst spät zurückkomme. Sven konnte also seiner Wege gehen, und gegen acht Uhr setzte er sich ganz allein auf die Dampfschiffbrücke. Er wußte nicht so genau, wann das Dampfschiff kam, und darum mußte er auch lange dort sitzen. Aber er wartete geduldig und still, und schon weit draußen in der Bucht, während das Boot zwischen den vielen Brücken hin und her lavierte, erblickte ihn seine Mama. Er saß da ganz klein und zusammengekauert, und sein kleiner grüner Krockethut leuchtete gegen das blaue Wasser.

Alles kam ihr so wunderlich vor, beinahe als hätte sie es vorher gewußt, daß er da sitzen würde, und ihre Augen ließen die ganze Zeit die kleine Gestalt nicht los, die auf der Bank der Brücke saß, mit gesenktem Kopf und gebeugtem Rücken, als grübelte er. Aber als das Boot anlegte und Mama sich anschickte ans Land zu steigen, da stand der kleine Sven in der höchsten Spannung aufrecht auf der Brücke, und seine Augen suchten und suchten, als stünde das ganze Leben auf dem Spiel. Und als Mama ihm entgegen kam, da war es schwer zu sagen, wer glücklicher war, er, der nicht vergeblich gewartet, oder sie, die das Kind ihrer harrend gefunden.

„Aber wie konntest Du da sitzen, Sven,“ sagte Mama mitten in ihrer Freude. „Mama sollte doch erst spät nachts kommen.“

„Ich wußte natürlich, daß Du kommen würdest,“ sagte Sven.

Seine Stimme und seine Augen waren voll Verwunderung, daß Mama sich eine so einfache Sache nicht vorstellen konnte.

„Ich wußte natürlich, daß Du kommen würdest, und darum saß ich da und wartete.“

Und auf Mamas Frage, ob er lange gesessen habe, antwortete er:

„Ja, natürlich, sonst hätte Hanna mich erwischt. Und dann hätte ich mich niederlegen müssen.“

Mama antwortete nichts darauf. Es wäre ihr nicht möglich gewesen ihm vorzuhalten, daß er eigentlich ungehorsam gewesen sei. Seine unschuldige Liebe, die die Ursache dazu war, schützte ihn gegen jeden Vorwurf, und Sven wußte das sehr wohl. Er blickte von der Seite zu Mama auf und lächelte:

„Ich habe Hanna zum Besten gehalten. Ich bin hinter den Busch gekrochen, so daß sie mich nicht sehen konnte.“

„Nein, das hast Du gethan?“ sagte Mama.

Sie und Sven gingen zusammen hinauf, zufrieden wie zwei Mitschuldige, deren Streich geglückt ist, und die Folge war natürlich die, daß Mama an diesem Abend ihren Jungen selbst niederlegte. Das that sie übrigens oft, obgleich er bald sechs Jahre wurde und bei ernsthafteren Anlässen der große Junge genannt wurde.

Wie langsam es ging, wenn sie ihm ins Bett half! Wie leicht und weich nahm sie nicht seine Kleidungsstücke ab, wie vorsichtig wusch sie nicht seine zarten Glieder, wie sachte wurde er nicht abgetrocknet, und wenn dann das lange Nachthemdchen übergestreift werden sollte, ging es wie ein Spiel. Dann saß sie mit dem Kleinen im Schoße da und träumte von der Zeit, als er noch ganz klein war und sie ihn selbst nährte. Und wenn er endlich zu Bett gehen sollte, da wollte er nie sein Abendgebet sprechen. Er hatte tausend Einfälle, nur um es zu verhindern, daß Mama von ihm ginge. Aber wenn er es gesagt hatte, schlang er die Arme um sie und flüsterte:

„Es ist so schön, wenn Du mir hilfst. Denn Du faßt mich nie hart an.“ Elsa beugte sich noch tiefer über sein Bett und flüsterte zurück:

„Ich werde Dir immer helfen. Kein Anderer darf es thun. Bis Du Dir selbst helfen kannst.“

Sie war reich dafür belohnt, daß sie ein Vergnügen unterbrochen und nach Hause gefahren war, und als ich mit dem letzten Boote nachkam, lag sie wach, um mir alles zu erzählen, was Sven gesagt hatte.

Nach einem fröhlichen Tag mit Kameraden wirkten diese kleinen rührenden Züge des Knaben noch mehr auf mich, als sie es sicherlich sonst gethan hätten.

„Weißt Du, daß ein großer und guter Mann mir gegenüber einmal dieselben Worte gebraucht hat, als er von dem ersten Eindruck erzählte, als seine Mutter gestorben war?“ sagte ich. „Auch er war damals zwischen fünf und sechs Jahren, und es handelte sich um dieselbe Sache — das Hemd zu wechseln. Er gebrauchte ganz dieselben Worte: ‚Ich fühlte das erste Mal, daß Jemand mich hart anfaßte.‘“

Ich stand neben Svens kleinem Bett und sah ihn lange an. Seine Schläfen hatten etwas Eingesunkenes bekommen. Aber er schlief tief und gut, und ich beugte mich hinab und küßte ihn auf die Stirne.

Wir versuchten von etwas Anderem zu sprechen, aber ich war so von dem Gedanken an das Kind erfüllt, daß ich keinen Sinn für etwas Anderes hatte.

„Hast Du nie an etwas gedacht?“ sagte ich. „Olof kann ich mir als einen großen Menschen denken als ganz erwachsen. Und Svante auch! Sie sind ja so verschieden. Aber ich kann sie mir doch Beide so denken. Aber Sven? Kannst Du ihn Dir groß denken? Was willst Du mit ihm in der Welt anfangen? Wohin glaubst Du, daß er passen würde, außer zu uns?“

Meine Frau lächelte mit einem schmerzlichen Zug, der nadelfeine Falten um ihren Mund bildete.

„Daran habe ich oft gedacht,“ sagte sie. Und ihren eigenen Gedankengang weiterspinnend, fügte sie hinzu:

„Das ist vielleicht deshalb, weil ich ihn mehr als alles Andere auf der ganzen Welt liebe. Mehr als die beiden anderen Knaben, mehr als Dich. Ich habe oft daran gedacht, und ich weiß, wenn einer der großen Jungen stürbe, ich würde nie aufhören, um sie zu trauern. Aber ich glaube, ich könnte es tragen, Euch zuliebe, die ihr lebtet. Wenn Du stürbest — ich vermag es nicht zu denken. Aber wenn Sven stürbe, dann könnte ich auch nicht leben. Ich habe oftmals daran gedacht, es Dir zu sagen. Denn ich wollte, daß Du es wüßtest.“

Sie reichte mir ihre Hand, und ihre Augen suchten die meinen, als wollte sie mich um Verzeihung bitten, daß sie glaubte, ohne mich leben zu können. Und nachdem wir das Licht gelöscht hatten, lag ich lange wach und wiederholte in Gedanken ihre Worte. Ich schlief in dem Glauben ein, daß ich niemals erfahren würde, ob sie die Wahrheit gesprochen oder nicht.

14.

Sven wurde so krank, daß er zu Bett gebracht werden mußte. Aber obgleich wir sehr wohl wußten, daß es bedenklich genug war, blieb das Fieber doch so schwach, daß wir an keine wirkliche Gefahr glaubten. Ich schrieb unverdrossen weiter, und meine Frau saß am Krankenbett des Knaben, hielt seine Hand in der ihren und erzählte ihm Märchen, wenn er zuhören konnte.

Der Doktor sagte uns, daß die Krankheit zweifellos langwierig sein würde, aber glaubte uns im übrigen die besten Aussichten geben zu können, und da ich lange eine Reise geplant hatte, fuhr ich für ein paar Tage fort, in der Hoffnung, wenn ich heimkäme, das Schlimmste vorüber zu finden. Ich brachte also drei ganze Tage mit guten Freunden zu, und ich freute mich, ohne in höherem Maße Unruhe zu empfinden, an Freundschaft und schöner Natur. Aber als ich dann im Zuge saß und nach Stockholm zurückkehren sollte und von dort nach meinem Heim, kam eine Angst über mich, die ich nicht bezwingen konnte. Unmittelbar bevor ich fuhr, hatte ich mit meiner Frau durchs Telephon gesprochen. Ich hatte aus der Ferne ihre Stimme vor Freude beben gehört: Sven ging es besser! Er hatte im Bett aufrecht gesessen und gelacht und geplaudert. Er hatte gegessen und Mama gebeten, das „Vaterle“ zu grüßen, was sein Specialkosenamen war, wenn er sehr ausgelassen war. Alles deutete also auf das Beste, und doch konnte ich meine Angst nicht los werden.

Als ich nach Stockholm kam, war es zehn Uhr Abends. Ich war gerade zu der Minute gekommen, in der das letzte Boot zu mir nach Hause abging. Ich begab mich daher direkt in das Hotel, in dem ich abzusteigen pflegte. Es war dunkel, und der Regen fiel in Strömen. Hastig trat ich ins Vestibule, mit jener Empfindung hoffnungsloser Fremdheit, die mich immer überkommt, wenn ich zur Sommerszeit gezwungen bin, Stockholm zu besuchen, und weiß, daß ich allein sein muß. Ich konnte noch nicht mein Ersuchen um ein Zimmer vorbringen, als der Portier mir schon entgegenkam und mich, indem er eine Nummer nannte, bat, dieselbe sogleich telephonisch anzurufen.

Ich that es und bekam nur den Bescheid, daß der Doktor schon fort sei und daß ich mir augenblicklich einen Wagen nehmen und nachfahren sollte.

Der Schlag, der mich so heftig und unvorbereitet traf, lähmte mich, und die fieberhafte Thätigkeit, die ich entwickelte, erschien mir selbst ganz automatisch. Ich bestellte einen Wagen, und im selben Augenblick, in dem das geschehen war, dachte ich, daß ich essen sollte. „Sven ist gestorben,“ dachte ich. „Er lebt nicht mehr, wenn ich nach Hause komme. Wenn ich komme, darf ich nicht hungrig und müde sein. Ich muß wachen können und meine Frau trösten.“ All das ging durch mein Hirn, während ich dasaß und auf die Mietsdroschke wartete. Ich sah mich selbst wie eine andere Person, sah, daß ich Fleisch auf meinen Teller legte, es zerschnitt und zu essen versuchte. Die ganze Zeit dachte ich bloß an Eines: an den Wagen, der nicht kam. Gott im Himmel! Der Wagen kam nicht, und daheim lag mein Junge und starb, und ich konnte nicht zu ihm kommen.

Ich bezahlte und ging in die Vorhalle des Hotels, wo ich auf- und abging, es war mir ganz unmöglich, still zu sitzen, unmöglich, einen zusammenhängenden Gedanken zu denken.

„Mein Kind liegt im Sterben,“ sagte ich zum Portier. „Darum bin ich so nervös.“

Ich versuchte, ihm zuzulächeln, damit er begriffe, wie sehr ich selbst einsah, daß mein Betragen sinnlos war. Aber ich fühlte selbst, daß das Lächeln zu einer Grimasse wurde, und ich wartete auch nicht seine Antwort ab. Ich fuhr nur fort, mit der Uhr in der Hand auf- und abzugehen, als wollte ich der Zeit vorauseilen, und als der Wagen endlich kam, war ich gewiß, daß alles vorüber sei. Ich begriff nicht, warum ich dasaß oder warum ich hinaus in den strömenden Regen fahren sollte, aber automatisch wie früher sagte ich zum Kutscher:

„Fahren Sie, so rasch nur ein Pferd laufen kann, mein kleiner Junge liegt im Sterben. Sie sollen es nicht umsonst thun.“

Der Kutscher hatte uns schon oft gefahren.

„Ist das der kleine, liebe Junge, der so schön ist?“ fragte er.

Diese einfachen Worte riefen mich wieder zur Wirklichkeit zurück, und durch meine Brust wogte eine warme Welle der Dankbarkeit gegen den jungen Menschen, der mich kutschierte.

„Ja,“ sagte ich mit erstickter Stimme. „Ja, er ist es.“

Und ich setzte mich in den Wagen, mit dem Gefühl, daß ich einen Menschen getroffen habe, der begriff, um was es sich handelte und der mir helfen würde. Während wir über die Gassen eilten, sprach ich still mit mir selbst und weinte vor Freude und Schmerz: „Er ist so schön und gut, daß selbst ein Mann, der ihn nur in einen Wagen hat steigen sehen, sich seiner erinnert und es mir sagt. Und er soll sterben? Es giebt ja Millionen Kinder, die leben dürfen. Warum muß gerade meines sterben?“

Nie bin ich rascher gefahren, und nie ist mir ein Weg länger erschienen. Ich sah im Dunkel die Funken um die Hufe der Pferde sprühen, ich fühlte, wie der Regen nachließ, und sah die Landschaft wie ein dunkles Schattenspiel an mir vorbeifliegen, und die ganze Zeit saß ich da und sprach zu mir selbst unfaßbare Worte, von denen ich nicht verstand, wie sie mir auf die Lippen kamen. Es war, als würde ich durch die Dunkelheit gerade dem entgegengeführt, was für mich kommen mußte, und ich bat bloß um Aufschub, bat, daß er noch lebte, wenn ich ankäme, sodaß er noch einmal seine Arme um meinen Hals schlingen könnte und ich seine Stimme hören dürfte.

Vorwärts ging es, vorwärts in rasender Eile. Der Wagen sprang von der einen Seite des Weges auf die andere. Aber keinen Augenblick fiel es mir ein, daß etwas zerbrechen könnte oder daß wir umwerfen würden. Das war ein prächtiger Bursche, der Kutscher, der an meinen kleinen Jungen dachte, der so schön und lieb war und der nicht sterben durfte.

„Es ist der Vater mit seinem Kind,“ sagte ich laut zu mir selbst. Ohne daß ich es wußte, saß ich da und recitierte Verse, und ein krampfhaftes Schluchzen drängte sich durch meine Kehle, als wollte es mich ersticken, und um Luft zu bekommen, beugte ich mich aus dem Wagenfenster und sah die Landschaft an, in der ich jede Aussicht, jede Biegung des Weges kannte. An den Steinen, über die der Wagen jetzt rüttelte, konnte ich merken, daß wir in den Abkürzungsweg eingebogen waren, der zu meinem Heim führte. Alle Sinne angespannt, sah ich hinaus ins Dunkel, ich sah die Konturen einer Droschke, die auf dem Hofe hielt. Der Doktor ist noch da! Der Doktor ist noch da! Dann hörte ich von der Veranda die Stimme meiner Frau: „Er kommt. Gott sei Dank! Er ist da!“ Und in ein paar Augenblicken war ich die Stufen hinaufgeeilt und stand im Saal.

Ich stand da, und meine Gemütsbewegung war so ungeheuer, daß ich nichts von dem, was ich sah, auffassen konnte. Ich hatte die Empfindung, daß der Doktor dastünde, und ich fühlte, daß meine Frau mich eng umschlungen hielt. Es war mir klar, daß sie froh war, ja überglücklich aussah, und daß ich es auch sein sollte. Ich hörte etwas von einem Ohnmachtsanfall, der jetzt vorüber war und, wie der Doktor hoffte, nichts zu bedeuten hatte. Aber ich konnte nichts sagen und nichts denken. Das Glück kam so unvorbereitet über mich, daß es mich nicht aus der furchtbaren Betäubung wecken konnte, die mich noch in ihrer Gewalt hatte. Mechanisch nahm ich meine Handschuhe und meinen Ueberrock ab, und noch stand ich da und suchte gleichsam meine Augen an das Licht in dem erleuchteten Gemach zu gewöhnen.

„Willst Du nicht zu ihm hineingehen? Willst Du ihn nicht sehen?“ sagte meine Frau. „Er ist wach.“

Und ihre Stimme klang beinahe vorwurfsvoll, als hätte ich sie nicht verstanden.

„Ja, ja,“ sagte ich.

Und ohne zu fassen, was jetzt geschah, ging ich hinein und sah Sven in meinem Bett liegen und zu mir aufblicken.

„Erkennst Du Papa, Sven?“

„Ja,“ sagte der Kleine mit erstaunter Stimme.

Er konnte nicht begreifen, daß die Großen alle so aufgeregt und unruhig aussahen. Er streckte seine kleine Hand aus und streichelte mich, und ich merkte, wie mager und dünn sie geworden war.

Während ich dastand und mich über den Knaben beugte, begriff ich, daß alles Wirklichkeit war und daß mein Kind lebte. Ich hielt seine Hand an meine Augen, und ich fühlte, wie die Last von meiner Brust fiel und der Schleier von meinen Augen glitt.

15.

Wie wundersam, voll Hoffnung, Unruhe, Verzweiflung und Befürchtungen war nicht die Zeit, die nun folgte! Der Doktor hatte uns eine lange Kränklichkeitsperiode prophezeit, wir bereiteten uns daher, in Geduld zu warten, und wir versuchten auch, diese Tugend zu üben. In zwei langen Wochen, die nun folgten, fügte sich Svens Krankheit in die täglichen Gewohnheiten unseres Alltagslebens ein, so wie die Krankheit es immer thut, wenn sie für länger in einem Hause einkehrt. Ich schrieb darum jeden Vormittag, ohne mich stören zu lassen, an meinem Buch, und meine Frau ging jeden Tag zwischen ihm und mir hin und her, saß in Svens Zimmer, der ruhig wurde, wenn er ihre Nähe fühlte, und schlich sich hinaus, wenn er schlief, um frische Luft zu schöpfen und mir von all den guten Zeichen zu erzählen, die ihr aufmerksames Auge stets zu entdecken glaubte. Svante ging einsam und stumm umher und fuhr über die Bucht und erzählte seinen Freundinnen, den kleinen Mädchen, daß das kleine Brüderchen schwer krank lag und daß daheim alles so still geworden war.

Wir hatten eine Pflegerin nehmen müssen, damit meine Frau sich nachts ausruhen konnte. Das geschah nicht ohne vieles Sträuben von Elsas Seite. Denn sie war so eifersüchtig auf den Kleinen, daß sie niemand Anderen duldete, den er um Hilfe bat oder der ihm solche angedeihen ließ. Und erst als sie merkte, daß die Kräfte sie verließen, gab sie mit Thränen in den Augen ihre Einwilligung und fügte sich in das Unvermeidliche.

Ein paar Stunden, nachdem die Pflegerin eingetroffen war, kam jedoch meine Frau zu mir und erzählte mit strahlenden Augen, daß Sven großes Gefallen an seiner neuen Freundin gefunden.

„Von Dir lasse ich mir gerne helfen. Denn Du bist lieb,“ hatte er gesagt.

Und damit schloß er seine Augen und lag stille, wie er zu liegen pflegte, mit der Eisblase auf seinem Kopfe, der immer schmerzte, die kleinen mageren Hände auf der Decke.

Eines Tages wurden wir plötzlich durch Leierkastenmusik draußen auf dem Hofe gestört, und da Sven gerade an diesem Tage gegessen und geplaudert hatte und sehr munter aussah, fragten wir ihn, ob er sich nicht heraustragen lassen wollte, um einen Affen anzusehen.

Sonst war Sven immer derjenige gewesen, der herbeigestürzt kam, wenn ein Leierkastenmann im Anzuge war. Ganz atemlos pflegte er zu Papa zu kommen und um Kleingeld zu bitten. Es war seine Freude, geben zu können, und wenn er mit seinen Münzen angerückt kam und strahlend glücklich aussah, als wüßte er, was es für einen armen Musikanten bedeutete, Geld für Essen zu bekommen, da brachte er manches schwarzbraune Gesicht dazu, mit weißen Zähnen zu lachen, und dunkelglänzende Augen strahlten seine blauen an.

Aber jetzt hing er so müde und klein an Papas Arm. Vorsichtig in eine Decke gewickelt war er, und Strümpfe hatte er an den Füßen. So wurde er hinausgetragen, und Papa hielt ihn auf der Veranda in seinen Armen, von wo er auf den sonnenbeleuchteten Hof hinuntersehen konnte, wo die munteren Weisen des Leierkastens Sven entgegentönten. Müde und fremd blickte er hinab auf die Bäume und den Hof, auf das Rudel Kinder, die dort im Sonnenschein standen, und sein Blick war die ganze Zeit wundersam, als grübelte er nach, warum all dies nicht schön sei wie sonst. Er versuchte den Mund zu verziehen, als er den Affen erblickte, der das Lustigste war, was er kannte, und der auf dem Leierkasten auf- und abhüpfte, mit seiner kleinen Kette rasselnd, und komische Grimassen schnitt, wenn er versuchte, eine Nuß zu knacken.

Aber Sven vermochte es nicht, all das anzusehen. Er wurde nur immer ernster und ernster. Immer schwerer und schwerer saß er auf Papas Arm. Es war, als wäre er weit fort und sähe hinab auf alles, was die Erde Schönes und Fröhliches hatte, und sehnte sich danach und fühlte, daß all dies nicht mehr für ihn da war. Er lehnte nur seinen Kopf an Papas Schulter, und dann wurde er wieder in sein Bettchen getragen.

Mama legte ihn hinein und strich ihm die Kissen zurecht:

„War es nicht hübsch, Sven?“

„Oh ja, ich konnte nur noch nicht recht. Aber ich werde schon bald gesund.“

Da beugte Mama sich hinab und streichelte das Haar des kleinen Brüderchens, aber ohne daß er es sah, streckte sie ihre andere Hand aus und suchte die meine, die sie krampfhaft drückte.

16.

So saß ich eines Nachts allein in meinem Zimmer und wußte, daß am nächsten Tage die Aerzte kommen und über den kleinen Sven ihr Urteil über Leben oder Tod aussprechen würden. Ich wußte, daß ihrer Zwei sein würden, denn unser Hausarzt wollte einen Specialisten konsultieren, weil er es nicht länger wagte, auf sein eigenes Urteil zu bauen. Ich saß allein, die Lampe war angezündet, und vor mir lag ein Manuskript, dem die Schlußkapitel fehlten.

Ich hatte meiner Frau Gutenacht gesagt und erwähnt, daß ich arbeiten würde.

„Daß Du heut Abend schreiben kannst!“ hatte sie gesagt.

Und es lag eine Nüance von Bitterkeit in ihrem Tone, so als meinte sie, daß ich nicht so fühlte wie sie.

Doch sie bereute es sogleich, legte ihren Kopf an den meinen und sagte:

„Du bist glücklich, daß Du es kannst.“

Und hier saß ich nun allein, und jeder Nerv zitterte in einer seelischen Erschütterung, so zusammengesetzt und so ungeheuer, daß ich sie kaum beschreiben kann. Ich hoffte trotz allem, daß mein Kind am Leben bleiben würde, ja, ich glaubte es. Aber gleichzeitig hatte ich die Empfindung, daß ich jetzt schreiben müßte, jetzt oder nie. Ich wußte beinahe jedes Wort, das auf den Blättern stehen sollte, die blank und unbeschrieben vor mir lagen. Die Notwendigkeit trieb mich an, und ich schrieb, füllte eines nach dem anderen von den weißen Blättern und legte sie zu dem Manuskripthaufen, der vor mir auf dem Tische wuchs. Es war, als hätte mir eine unsichtbare Stimme ihre Befehle ins Ohr geflüstert, ich mußte dieser Stimme gehorchen, ihr blind gehorchen, und über mir war eine jagende Hast, so, als wüßte ich, daß es sich um das Leben handelte.

Morgen, erklang es in mir, morgen! Wer weiß, was morgen geschieht. Es kann geschehen, daß Dein Kind sterben muß. Und dann kannst Du nicht schreiben. Dann heischt man von Dir Geld und wieder Geld. Du kannst Dein Buch umarbeiten, Du kannst es besser machen, aber Du kannst es niemals fertig schreiben, wenn Dein Kind sterben sollte.

Wie Peitschenhiebe jagten mich die Gedanken vorwärts, und schon sah ich bei dem bleichen Schein der Lampe das Morgenlicht durch die Gardine auf das Papier fallen. „Geld, Geld! Du mußt Geld schaffen, wenn Dein Kind stirbt und wenn Du Deine Frau retten willst.“

Und durch die Stimmen, die meine Arbeit antrieben, hörte ich es wie einen Ton, den ich zu erkennen glaubte: „Es ist der Vater mit seinem Kind!“ Der Vater mit seinem Kind! Wo hatte ich das schon gehört? Wann hatte ich diese jagende Hast gespürt? Es war, als sausten Peitschen, als schlügen Hufe Funken aus steinigen Wegen, als fühlte ich die Nachtluft mein brennendes Haupt kühlen. Ich schrieb und schrieb. Und ich erinnerte mich, wie ich wie ein Rasender gefahren war, in dem Glauben, daß mein Kind tot sei.

Aber ich dachte nicht mehr an mein Kind. Ich dachte an sie, die mich ganz besitzen mußte, wenn es denkbar sein sollte, daß sie bei mir blieb, wenn das Unfaßbare Wirklichkeit wurde und Sven starb. Ich schrieb und schrieb, schrieb, wie kein Mensch für Geld geschrieben hat, schrieb die besten Seiten, die aus meiner Feder geflossen sind. Und als die Kräfte mich verließen, trank ich, trank viel, um mich selbst am Leben zu erhalten.

Als die Sonne schon eine Weile am Himmel stand, schrieb ich die letzten Zeilen. Und ich saß wie betäubt.

Ich sammelte die vollgeschriebenen Bogen und legte sie in meine Lade, dann schlich ich mich hinaus und lauschte an der Thüre, hinter der Sven lag. Da öffnete meine Frau dieselbe und sah hinaus. Ich wankte auf sie zu und sagte:

„Es ist fertig.“

Sie lächelte mir zu, und es lag eine Welt von Glück in ihrer Stimme, als sie antwortete:

„Er schläft so ruhig. Es kann nicht gefährlich sein.“

Ich ging von ihr und versank eine Weile später in einen totenähnlichen Schlaf.

17.

Bevor der nächste Tag verstrichen war, wußten wir, daß es keine Hilfe gab und daß der kleine Sven sterben mußte. Die Gewißheit war wie ein schwerer Schlag über uns hereingebrochen, denn die ganze Zeit vorher hatten wir gehofft. Wir standen im Vorzimmer, die beiden Aerzte stumm und ernst, meine Frau die Augen auf ihre Züge gerichtet, als glaubte sie, daß sie noch nicht ihr letztes Wort gesprochen hatten. Ich sah sie Alle an, während ich den Arm um meine Frau legte, um zu versuchen, sie an mich zu ziehen, und ich bemerkte, wie es in dem gefühlvollen Gesichte unseres Freundes, des Doktors, zuckte. Der Professor sprach sachte und mit leiser Stimme, so als kostete ihn jedes Wort eine Ueberwindung. Ich fühlte nichts Anderes, als daß das Unausweichliche gekommen war und daß ich mich stählen mußte, um es ertragen zu können. Aber mit einem Druck meiner Hand, in dem ich ihren ganzen Schmerz fühlte, machte sich meine Frau aus meinem Arm los, der um ihre Taille lag, und indem sie ihre Hände rang, so daß man buchstäblich die Knochen knacken hörte, rief sie aus:

„Sagen Sie, daß noch Hoffnung ist. Sagen Sie es.“

Die beiden Männer wichen ihrem Blick aus, aber da richtete sich das junge Weib empor und sagte:

„Er darf nicht sterben. Ich werde Euch zeigen, daß er leben wird.“

Sie ging fort, und wir standen schweigend da und sahen ihr nach, wie sie in das Krankenzimmer verschwand. Wir begriffen alle, wie tief sie es empfand, daß jede Möglichkeit der Hoffnung wirklich vorüber war und daß sie darum das Gelübde ablegte, ihn dem Tode zu entreißen — allen zum Trotz. Wir schieden ohne viele Worte, und ich folgte meiner Frau, ohne zu wissen, was ich ihr sagen wollte, nur um in ihrer Nähe zu sein und vielleicht das zu sehen, was ich am meisten fürchtete.

Ich fand sie nicht im Krankenzimmer. Ich fand sie in meinem eigenen Zimmer, und ihre Züge waren versteinert. Sie saß zusammengesunken auf dem Sopha, die Hand hart an die Wange gepreßt, ihre Augen waren trocken und glanzlos, und sie blickte in das große Dunkel. Ihre Gestalt, ihr Antlitz, ja sogar ihre Hände bezeugten es. Ich versuchte zu ihr zu sprechen, ich versuchte ihren Namen zu nennen, aber sie antwortete mir nicht, und schließlich mußte ich sie ihrem eigenen Schmerz überlassen, angstvoll der Worte harrend, die kommen würden, wenn er einmal losbrach.

Es dauerte sehr lange, bevor das Schweigen gebrochen wurde, und als es geschah, war es nicht mit Worten. Meine Frau streckte nur ihre Hand nach mir aus und zog mich zu sich auf das Sopha. Sie fiel in meine Arme, und ein langes Schluchzen, das aus einer einzigen Brust zu kommen schien, erschütterte uns Beide.

„Du dauerst mich so sehr!“ flüsterte sie. „So sehr!“

„Ich?“

Ich riß mich los und sah auf. Denn in ihrer Stimme lag etwas, das mich mit einer Ahnung erfüllte, die ich nicht als Gedanke in mir emporsteigen lassen wollte.

Sie wendete sich mir mit gefalteten Händen zu und schrie beinahe:

„Du verlangst doch nicht von mir, daß ich darnach lebe, lebe ohne Sven. Ich kann es nicht. Ich kann es nicht.“

Das war meine Ahnung, der sie Worte gegeben, und ich stand da, ratlos und ohne ein Wort über die Lippen bringen zu können.

„Setze Dich zu mir,“ sagte sie. „Ich werde nicht heftig werden. Ich werde ruhig sprechen. Denn ich bin nicht mehr unruhig. Ich fühle nur, wie alles zusammenbricht. Ich bin schon jetzt fort, obgleich Du es noch nicht fassen kannst, weil Du so wenig weißt und ich so wenig sagen konnte. Aber warum sollte ich es Dir sagen, bevor es unumgänglich notwendig war? Denn ich habe mit Dir leben wollen, Georg, ich habe mit Dir leben wollen, weil ich Dich mehr geliebt habe als alles Andere im ganzen Leben. Ich bin jetzt nicht jung. Ich bin so alt, wie Du nie werden kannst. Du hast es nur nie gewußt, es nie sehen wollen, und wenn ich Dich so glücklich sah, wollte ich Dich nicht stören. Aber so lange ich mich zurückerinnern kann, habe ich gewußt, daß ich nicht wie andere Menschen bin. In mir habe ich das Bedürfnis gefühlt, sterben zu dürfen. Kannst Du das verstehen, was ich Dir jetzt sage, Georg? Ich verstehe es ja kaum selbst. Als ich am glücklichsten war über Dich und die Kinder und alles, was schön ist, immer habe ich gewußt, daß ich eines Tages von allem würde fort müssen und daß nichts mich daran würde hindern können. Ich würde wollen und nicht wollen, wünschen und nicht wünschen. Aber ich würde ins Dunkel gehen, wo ich hingehörte. Ich habe das Gefühl gehabt, daß etwas kommen würde und mich zwingen, mir sagen, daß ich muß. Erinnerst Du Dich an den Winter, Georg, in dem es so schwer und so düster war zwischen Dir und mir? Da versuchte ich Dir zu schreiben, wie mir zu Mute war. Denn sprechen konnte ich ja nicht. Aber ich konnte auch nicht schreiben. Was ich Dir sagen wollte, konnte ich nicht, und ich erinnere mich, wie ich mich darüber wunderte, daß Du mich nicht auch nachher fragtest, mich oft und beharrlich fragtest, obwohl ich Dich gebeten hatte, es nicht zu thun. Zuweilen wollte ich, daß Du mich fragen solltest. Aber meistens war ich froh, daß Du es nicht thatest. Was habe ich gelitten in dieser Zeit, Georg! Wenn Du ahnen könntest, was ich gelitten habe! Du kamst und nahmst meine Hand und setztest Dich neben mich, und ich wurde nicht glücklich wie sonst. Denn ich wußte ja, daß ich Tag für Tag daran dachte, wie ich sterben und von Dir gehen könnte. Ich wollte es selbst thun, Georg. Kannst Du fassen, daß ich mitten in meinem Glücke es selbst thun wollte? Und Du warst gut zu mir und freundlich und froh, und ich hatte das Gefühl, als wäre ich ein treuloses Weib und betröge Dich. Und weißt Du, warum ich von Dir fort gehen wollte? Ja, weil ich es so sicher wußte, daß es eines Tages geschehen würde, und darum wollte ich lieber gehen, so lange Du jung und stark warst und mich bald vergessen und mit einer Anderen glücklich werden konntest.“

Sie verstummte einen Augenblick, und ihre Augen schwammen in Thränen. Dann fuhr sie wieder fort, und ihre Stimme war wie neu.

„Dann kam der kleine Sven, Georg, und alles wurde anders. Erinnerst Du Dich, daß ich es Dir schon damals sagte? Erinnerst Du Dich, daß ich es sagte? Ich glaubte damals, daß Gott ihn mir geschickt habe, um mich im Leben zurückzuhalten, damit ich Dich so glücklich machen könnte, wie ich es wünschte, und jeden Abend betete ich zu Gott, daß es mir gelingen möchte. Ich glaubte so fest, daß Gott mich erhört habe, und davon sprach ich mit dem kleinen Sven, wenn wir allein waren und Niemand unsere Worte belauschen konnte. Aber jetzt, Georg, jetzt geht er von mir. Jetzt weiß ich, daß all das Andere, all das, was Du bis jetzt nicht gewußt hast, wiederkommen wird, und jetzt will ich bloß, daß Du mir allen Schmerz verzeihst, den ich Dir zugefügt habe, und allen Schmerz, den ich Dir jetzt zufüge. Aber Du darfst mich nicht bitten, zu bleiben. Dahin, wo Sven geht, dahin gehe auch ich.“

Sie stand vor mir, und sie schien mir in diesem Augenblick größer, als Menschen sind. Ich war in dem Maße auf all das unvorbereitet, was sie jetzt gesagt hatte, daß es mich dünkte, sie erzähle einen unheimlichen Traum, den ich nicht in Wirklichkeit verwandeln konnte. Aber ich fühlte auch, daß, während sie mir den größten Schmerz zufügte, sie die Größe einer Liebe enthüllte, nach der ich nur meine Hände ausstrecken wollte, damit sie mir nicht im selben Augenblick geraubt würde, in dem sie ganz mein geworden.

„Ich kann das nicht ertragen,“ schrie ich beinahe. „Ich kann es nicht ertragen. Dich und ihn verlieren. Du kannst es nicht meinen.“

Sie erhob sich lautlos, und wie eine Niobe, die die Arme um ihre Kinder breitet, die die Pfeile der Götter selbst in den Mutterarmen suchen, stand sie vor mir.

„Laß mich Sven mitnehmen,“ sagte sie. „Er muß ja doch sterben. Ich trage ihn hinab zur Bucht heut Abend, wenn alle schlafen. Es ist ein so kurzer Kampf. Und dann brauch ich Dich nicht noch mehr zu quälen, als ich es schon gethan habe.“

Ich stellte mich ihr in den Weg, und mit der Kraft meiner Arme drückte ich sie gewaltsam auf das Sopha.

„Warte,“ sagte ich, „warte! Du weißt ja selbst nicht, was Du thust.“

Aber sie antwortete mir nur:

„Es wird Dein und mein Unglück, wenn Du mich hinderst. Klage mich nicht an, wenn es dann kommt.“

Sie wand sich in Schmerz unter meinem Griffe, und nach einer Weile fiel sie in eine lange Ohnmacht. Ich legte sie auf das Sopha, und es war mir, als sei alles, was gesagt worden war, ein wahnwitziger Traum. Lange stand ich und betrachtete sie, bis ich hörte, wie ihre Atemzüge lang und regelmäßig wurden, und ich sicher war, daß sie schlief. Da schob ich das Kissen unter ihrem Kopf zurecht und breitete eine Decke über sie.

Vor Gemütserschütterung wankend ging ich in das Zimmer, in dem Sven lag. Sein rechtes Auge war zusammengefallen, und sein linkes war so wunderlich klar und groß geworden. Ich beugte mich über ihn, nahm seine kleine, unschuldige Hand und führte sie an die Lippen.

„Du geliebtes Kind,“ dachte ich. „Wir Beide können einander nicht helfen.“

18.

Wir hatten das Bett des kleinen Sven in das Verandazimmer gestellt, damit er durch die geöffneten Thüren die Vögel singen und die Winde rauschen hören könnte. Da lag er nun auf seinem weißen Bettchen, und wenn er aufsah, war es in der Erwartung, geküßt zu werden, oder er bewegte auch sachte die kleinen schwachen Händchen, und dann beugten wir uns über ihn, weil wir wußten, daß er uns liebkosen wollte.

Svante ging auf den Zehen in das Krankenzimmer, und sein Herz war erfüllt von dem Unbegreiflichen, daß das kleine Brüderchen sterben sollte. Lange stand er stille und betrachtete ihn oder beugte sich hinab und küßte seine Wange. Aber als Mama aus ihrer Betäubung erwacht war, da ging er auf sie zu, als sie hereinkam, und legte seine beiden Arme um ihren Hals.

Nie werde ich den Blick unsäglicher Verzweiflung vergessen, mit der sie den Knaben umarmte und ihm in die Augen sah.

„Hast Du um Olof telegraphiert?“ sagte sie zu mir.

Ich nickte, und wieder sah ich, wie sie sich über Svante beugte und ihn an sich drückte. Von einem plötzlichen Instinkt getrieben, erhob ich mich und ging hinaus, meine Frau allein mit dem gesunden Kinde und dem sterbenden lassend. Als ich mich in der Thüre umwendete, sah ich meine Frau Svante zu dem Bette des kleinen Brüderchens führen. Da setzte sie sich auf die eine Seite und ließ den Knaben auf der anderen Platz nehmen. Dann beugte sie sich hinab über Sven. Aber die ganze Zeit hielt sie Svantes Hand fest, und ich sah, daß sie beide Kinder liebkoste, ohne irgend einen Unterschied zu machen.

Als Svante schließlich herauskam, ging ich hinein und nahm seinen Platz gegenüber meiner Frau ein. Da reichte sie mir über das sterbende Kind ihre Hand und sagte:

„Ob es zum Glück oder zum Unglück ausschlägt, weiß ich nicht. Aber ich werde bei Dir bleiben. Denn ich glaube jetzt, daß Gott es will.“

Und nach einem Augenblick fügte sie hinzu:

„Sven will es auch. Ich habe mit ihm gesprochen.“

Ohne antworten zu können, beugte ich mich hinab und küßte ihre Hand. Und in dieser Stunde wußte keiner von uns, was Glück und was Unglück war.

19.

Die Tage, die nun folgten, suche ich vergebens von einander zu trennen. Ja, es wäre mir unmöglich, auch nur zu sagen, wie viele ihrer waren. Nacht wurde zu Tag und Tag zu Nacht, und unser Leben hatte bloß einen einzigen Punkt, um den es kreiste: das kleine Zimmer, vor dem die blühenden Kaprifolien die Veranda bedeckten, die Luft mit ihrem Duft erfüllend, und wo unser kleiner Junge lag und mit dem Tode kämpfte.

Hier gingen wir, hier saßen wir Seite an Seite, schliefen, aßen, wachten. Hier verschmolz alles, was wir zusammen gelebt und geträumt hatten, in einem einzigen, verzehrenden Schmerz. Hier that meine Frau, als die letzte Hoffnung erloschen schien, den Kork in die Moschusflasche. Sie, die mit ihm sterben wollte, nahm das letzte Stimulierungsmittel fort, damit sie sich dann nicht vorzuwerfen brauchte, daß sie die letzten Stunden des Kleinen gestört, nur um selbst die Freude zu haben, sein großes Auge uns entgegenleuchten zu sehen.

Denn das rechte Auge war erloschen und dahin. Das Augenlid lag darüber geschlossen, als sei die Hälfte seines Köpfchens schon lange tot, aber wenn das linke Augenlid sich öffnete, glänzte das Auge umso größer. Es wurde so ernst und groß, als blickte es schon in eine Welt, zu der sein Vater und seine Mutter noch nicht Zutritt hatten und in die wir nicht kommen konnten, bevor der letzte Vorhang fiel und wir ihm auf dem Wege folgten, auf dem die Glocken des Todes läuten und der, welcher das Läuten hört, folgen muß, welche Bande ihn auch auf Erden zurückhalten mögen.

Hier saßen wir, wenn die Tagessonne leuchtete, wenn draußen der Regen fiel und wenn die Nachtlampe im Krankenzimmer ihren schwachen, zuckenden Schein über das weiße Bett warf und den kleinen Sven selbst, ihn, den unsere Blicke suchten, um den unsere stummen Unterredungen sich drehten und dem wir nun schließlich die Befreiung von seinen Qualen wünschten! Still, wie er gelebt, lag er auf seinem letzten Lager, und wenn meine Frau sich über ihn beugte, regte er seine müden Lippen und küßte sie.

„Streichle Papa, Sven,“ sagte sie. „Papa ist hier.“

Dann richtete er sein großes, müdes Auge auf mich und legte seine schmale, weiße Hand an meine Wange mit einer Bewegung, als regte er sich nur im Schlaf.

So saßen wir in der letzten Nacht, und näher sind Menschen einander nie gesessen. Wir hielten uns über dem Bett des Kindes an den Händen, und ein leiser Druck sorgte dafür, daß keine Bewegung in seinem Gesicht verloren ging, wenn er aufsah und uns mit seinem großen einzigen Auge suchte. Wir sprachen zu einander: „Hast Du das gesehen? Hast Du es gesehen?“ Und während wir gierig diesen Schatz von Erinnerungen sammelten, der das Einzige sein sollte, was uns blieb, verstrichen die langsamen Stunden der Nacht, und die Morgenröte stieg über der Bucht auf, über die Eichen, über den ganzen alten Garten unter unseren Fenstern.

Als wollten wir der Seele des kleinen Brüderchens freien Lauf lassen, dahin zu fliegen, wo wir ihm nicht folgen konnten, öffneten wir die Thüren zur Veranda, und die frische Morgenluft strömte herein. Es hatte in der Nacht geregnet, und durch zersplitterte Wolken brach die Sonne über die Landschaft, während die Nebel über das Wasser der Bucht flogen. Sie stieg und stieg hinan, und bei ihren Strahlen begannen die Vögel zu zwitschern. Und das ganze herrliche Erwachen der Natur ergriff uns so, daß wir uns zum Schweigen zwingen mußten, um nicht den Kleinen zu stören, der schlief.

„Siehst Du,“ sagte Elsa, „siehst Du? So schön muß es werden, wenn er sterben soll.“

Aber noch zögerte der Todesengel, noch dauerten die ruhigen, regelmäßigen Atemzüge des Kindes fort, und Müdigkeit ergriff uns. Ich nahm meine Frau halb mit Gewalt und zwang sie, sich auf dem Sopha neben dem Bett des Knaben zur Ruhe zu legen. Da schlief sie, mit der Hand auf seinem Bette, und während die Morgensonne emporstieg, saß ich allein wach und lauschte ihren schweren Atemzügen, während in mir alles stille und ruhig wurde, und ich rief nach einem Ende dieser Pein für uns alle. Ich saß da, bis meine Frau sich von ihrem Schlummer erhob. Dann wechselten wir die Plätze, und ermattet schlief ich ein, die Hand auf der Stelle, wo eben die ihre geruht hatte.

So vergingen ein paar Stunden, und die Sonne stieg höher und höher an einem klaren Sommerhimmel empor. Ich erwachte dadurch, daß meine Frau ihre Hand auf meinen Arm legte.

„Wache auf, Georg,“ sagte sie. „Sven stirbt jetzt.“

Ich konnte nicht dort drinnen bleiben. Ich ging hinaus in den Garten; und in dem Gedanken, ihm eine letzte Freude zu bereiten — ihm, der immer Blumen geliebt — brach ich eine Rosenknospe, die schönste, die ich finden konnte, kehrte zurück und legte sie auf das Kissen meines Knaben, neben das Auge, das noch sehen konnte. Außer Stande, es länger ertragen zu können, ging ich wieder hinaus auf die Veranda. Von dort hörte ich, wie Svante hereinkam und sich an das Bett setzte. Aber ich drehte mich nicht um. Ich ging nur und horchte auf die langen, furchtbaren Atemzüge, die wie von einem erwachsenen Manne kamen und mir in die Seele schnitten. Da hörte ich einen Laut von meiner Frau, und ich wendete mich um.

Sven hatte das Auge aufgeschlagen und die Rose gesehen. Dann hatte er seine Hand nach der Blume ausgestreckt, sie aufgehoben, als wollte er ein letztes Mal die Rose sehen, und hatte sie dann zurück auf das Kissen fallen lassen.

Plötzlich wurde sein ganzer Körper von furchtbaren, langandauernden Krampfanfällen geschüttelt. Sie begannen beim Kopfe, der schräg gedreht wurde, und schienen sich bis in die Glieder fortzusetzen, die steif und bläulich wurden. Da senkte meine Frau das Haupt, um nicht sehen zu müssen. Aber als die Anfälle aufgehört hatten, weinte sie still, und wieder reichte sie mir über das kleine Bett ihre Hand.

So saßen wir dort drinnen, bis die Atemzüge aufhörten ... wieder kamen ... sich verlängerten, an Stärke zunahmen ... und aufhörten. Dann wurde Alles still. Das Schweigen des Todes herrschte. Gebeugt und weinend folgten wir den Flügelschlägen der Seele, die im Entfliehen war.

Wir hatten ihn Jedes an einer Hand gehalten, und auf einmal ließen wir die kalten Hände hinab auf die Decke sinken.

Dann ging meine Frau aus dem Gemache und suchte die Ruhe. Aber ich blieb sitzen und fühlte mit Entsetzen, wie stumm Alles geworden war.

 

Am Nachmittag kam Olof, und zusammen mit Vater und Mutter trat er von seinem ersten Ausflug in die Welt an das Bett, wo das kleine Brüderchen tot lag. Da weinte er männlich und still, und als er in den Speisesaal kam, zeigte ihm Svante ernst seinen Finger.

Der trug ein tiefes Zeichen, und Svante beschrieb, wie das kleine Brüderchen seinen Nagel hineingedrückt hatte, bevor es gestorben war. Er behielt dieses Zeichen mehrere Tage lang, und er vermißte es, als es verschwand.

20.

Es steht ein kleiner, gelber Sarg mitten im Zimmer, auf derselben Stelle, wo vor nicht langer Zeit ein Bett mit einem lebenden Kinde stand. Jetzt ist das Zimmer mit Rosen geschmückt. Man sieht beinahe nichts Anderes als Rosen, und durch die Thüre tritt ein einsames Weib.

Sie trägt ein Kind auf ihren Armen, und das Kind ist tot. Sie will nicht, daß irgend jemand Anderer als sie selbst ihren Liebling berühre, und mit ihren eigenen Händen, die nicht zittern, legt sie ihn in den Sarg. Ein kleines Hündchen aus Wolle, mit dem er zu schlafen pflegte, als er noch frisch und gesund war und Niemand an den Tod dachte, legt sie in seinen Arm. Es ist „Flocki“, der seinen Herrn begleiten will. Es ist ein friedlicher Schlafgefährte, der keinen stört. Dann sieht sie nach, ob ihr Knabe gut liegt, und ordnet sein Bett, als hätte er eben sein Abendgebet gesprochen und sie wäre gekommen, um ihm Gutenacht zu sagen. Sie sieht ihn an, als sollte ihr Herz brechen, und sie küßt seine kalten Lippen.

Dann geht sie ihrer Wege, und ich stehe da allein mit dem Deckel, den, wie ich ihr versprochen habe, kein Anderer als ich festschrauben soll. Ich schraube und schraube, und der Ton des Meißels gegen die Schrauben, die in das Holz eindringen, klingt schrill, so als knirschte ich selbst vor Schmerz mit den Zähnen.

Aber als es geschehen ist, fühle ich keinen Schmerz mehr. Es ist, als hätte die Angst der letzten Tage jede Möglichkeit, zu fühlen, in mir ertötet, aber wohin ich sehe, begegnet mein Blick nur Blumen.

Da gehe ich hinaus auf die Veranda, und der Duft des Kaprifoliums, der aus dem Dunkel emporsteigt, schlägt mir entgegen, derselbe Duft, der mich umgab, als ich die Finger meines Kindes die meinen mit der Macht des Todes umklammern fühlte. Alles in mir ist aufgelöst, alles ist vorüber. Ich denke an sie, die eben hinausging, und an alles, was folgen muß. Ich fühle, daß ich nie Zeit haben werde ihn so zu betrauern, wie ich wollte, meinen kleinen Knaben mit den Engelsaugen, und einsam beuge ich das Knie an seinem Sarge, ich, der ich nicht weiß, vor wem ich das Knie beuge und zu wem ich beten soll.

21.

Aber draußen auf dem Kirchhof liegt ein kleines Grab. Es ist wie ein Garten geordnet, mit einer Buchsbaumhecke, einem Rosenstock und einem Hügelchen mit frischem Gras, dessen Gipfel dicht mit Stiefmütterchen bedeckt ist. Es ist verschieden von allen anderen Gräbern, und darüber grünt eine einsame Linde.

Auf dem Hügel ist ein Stein, und auf dem Steine stehen die Worte: „Unser kleiner Sven.“

Da schläft unser Glück, das einstmals größer war als das Anderer. Da unter der Erde ist die Seele meiner Frau gefangen, mit Zauberbanden gebunden, und keine Liebe kann sie zur Erde zurückbringen.

Dritter Teil

Ewig besitzen wir nur das Verlorene.

Henrik Ibsen.

1.

Nichts von dem, was ich erwartet und gefürchtet hatte, blieb aus. Der einzige Unterschied war der, daß, während das Unglück immer größer wurde, ich nicht daran glauben wollte, trotzdem ich es geahnt hatte und wußte, daß es kommen würde. Denn daß der Schmerz kommen wird, das können wir Menschen wissen. Wie er wirklich kommt, wissen wir jedoch nie.

Das Erste, was ich mit unaussprechlichem Entsetzen fühlte und verstand, als wenigstens so viele Tage verflossen waren, daß ich zur Ruhe kommen und über das, was wirklich geschehen war, nachdenken konnte, war, daß meine Frau nie so aus ihrem innersten Wesen gesprochen hatte, als da sie in meinem Zimmer vor mir saß und mir sagte, daß sie zum Unglück geboren sei, und daß sie jetzt, wo Sven dahin sei, nur lebe, um zu sterben. Immer von neuem wiederholte ich ihre Worte, immer von neuem hallten sie in meinem Ohr wieder, und je länger ich an sie dachte, desto gewisser wurde es mir, daß sie einen Kampf kämpfte zwischen dem Verlangen zu sterben und ihrer Liebe zu mir und ihren Kindern, die ihr gebot zu leben. Dennoch begann mehr und mehr alles das, was sie von ihrer Liebe zu uns gesagt, vor meinen Gedanken emporzusteigen und die furchtbaren Worte zu verdrängen, welche von einer Todessehnsucht zeugten, die beinahe ein Entschluß zum Tode geworden war. Ich sah sie hin- und hergerissen zwischen dem Gefühle, das sie an uns drei, die wir noch lebten, band, und der dunklen Sehnsucht, die sie zu ihm zog, der dahingegangen war. Wir waren ein Ganzes für sie gewesen, und daher kam ihr Leiden, sie fühlte, daß sie nie die streitenden Kräfte würde versöhnen können, die um ihre Seele rangen.

Ich sah all dies. Ich sah es während einer Reise, zu der ich sie fast gezwungen, um ihr den Anblick des Meers und der Sonne, neue Menschen und Eindrücke des Lebens zu geben. Nie vergesse ich diese Reise. Nie vergesse ich die Hoffnungslosigkeit, die sich meiner bemächtigte, als ich Woche für Woche immer deutlicher gewahrte, daß alles, was sie sah, an ihr vorbei glitt, als wäre es für sie nicht vorhanden. Sie verbarg mir viel, sie verbarg sogar ihre Thränen, und ich begriff, daß sie das that, weil sie sah, wie ich nur in der Hoffnung lebte, sie zum Leben zurückzuführen, und sie so gerne, so gerne wollte, daß ich solange als möglich diese Hoffnung beibehalte. Ich begriff dies eines Abends, als wir auf einer Veranda saßen und über die norwegischen Fjords und Fjells sahen. Elsa betrachtete lange alles, dann schloß sie die Augen vor dem Bilde, das sie liebte, und sah fort.

„Georg,“ sagte sie, „Georg! Warum läßt Du mich all das sehen?“

Dann brach sie still in Thränen aus, aber versuchte wieder ihrem Weinen Einhalt zu thun und sah zu mir empor.

„Warum thust Du so viel für mich? Warum bist Du so gut gegen mich? Es wäre viel besser, wenn Du mich meinen eigenen Weg gehen ließest.“

Ich fühlte, daß ich vor einem Leiden stand, das sich nicht messen oder wägen ließ. Ich fühlte Reue, daß ich sie dem Schmerze entziehen wollte und daß ich sie es hatte merken lassen. Ueberhaupt versuchen, sie zu leiten oder auf ihren Kummer einzuwirken, schien mir in diesem Augenblick nur elend und klein. Ich zog sie bloß an mich und sagte:

„Weine bei mir! Weine so viel Du willst! Lege Dir keinen Zwang auf! Glaubst Du nicht, daß ich trauere wie Du?“

Die Thränen strömten aus ihren Augen, und doch war das Gesicht, das sie mir zuwandte, so freudestrahlend, als sei ihr das größte Glück widerfahren.

„Wirklich?“ sagte sie.

Daß meine Frau glauben konnte, ich hätte schon vergessen oder sei auf dem Wege zu vergessen, ergriff mich so, daß mein Schmerz losbrach, und ich hörte und sah nichts Anderes, als was ich selbst fühlte und was mich quälte. Ich erzählte ihr, wie nüchtern unser ganzes Heim mir jetzt vorkäme, seit Sven gegangen war. Ich sagte ihr, welche Angst ich hätte, wieder heim zu kommen und die Arbeit des Alltagslebens zu beginnen, jetzt, da ich wüßte, daß seine klare Stimme mich nicht willkommen heißen und er selbst nicht mehr hinter der Thüre versteckt stehen würde, um mich zu begrüßen, wenn ich heim käme. All das sagte ich ihr, und ich fühlte, wie sie an meiner Brust ruhig wurde. Ich war glücklich in dem Bewußtsein, wie gemeinsam wir noch fühlen konnten. Aber ich begriff auch, daß ihre Furcht, ich teilte ihren Schmerz nicht so, wie sie wollte, von ihrer Ahnung kam, daß alles, was ich vornahm, alles, was ich that, dachte und sagte, in dem einzigen Versuche gipfelte, sie selbst zum Leben zurückzurufen.

Darüber dachte ich nun nach. Aber nach diesem Abend veränderte ich, wie ich selbst wohl wußte, mein Benehmen gegen meine Frau. Ich wurde resigniert und erwartete nicht, daß sie so bald ihre Gedanken von ihm, der dahingegangen war, uns zuwenden würde, die sie noch hatte. Dadurch wurde sie vertrauensvoller und offener gegen mich. Aber die Reise glitt an uns vorbei, als wäre alles, was wir gesehen, nur eine Einbildung gewesen. Freunde trafen wir, aber keine Teilnahme vermochte etwas Anderes als Dankbarkeit bei meiner Frau hervorzurufen, die Menschen glitten an uns vorbei, als wären wir selbst innerhalb einer Grenze gestanden, die keiner aus eigenem Willen überschreiten könnte.

Und die Ruhe, die wir erreichen konnten, fanden wir nicht früher, als bis wir eines Abends in unser neues Heim einzogen. Das war eine Wohnung in Stockholm, mit der wir das Haus auf dem Lande vertauscht hatten, in dem wir so viel Böses und Gutes erlebt. Wir hatten dies schon geplant, bevor wir ahnten, daß das, was uns jetzt widerfahren war, geschehen könnte, und mit einem Gefühl der Furcht vor dem Winter traten wir in unsere Zimmer.

Aber dennoch erlebten wir hier die ersten Tage der Erleichterung und der Ruhe im Schmerze. Tausendmal bereuten wir, daß wir je gereist waren und gleichsam unseren Schmerz mit uns geschleppt hatten, um ihn von fremden Menschen betrachten zu lassen.

2.

Auf dem Kirchhof steht ein kleiner Stein mit der Inschrift „Unser kleiner Sven“. Er ist auf den Hügel gelegt, der sich unter einer Linde wölbt deren Blätter schon lange gefallen sind. Am Stamm der Linde steht eine Bank, und auf der Bank sitzt eine einsame, schwarzgekleidete Frau mit langem Kreppschleier wie der einer Witwe. Sie sitzt lange da, und im Herbstlicht spricht sie mit einem, den Niemand sehen kann.

Sie befiehlt dem Kutscher, der in der Nähe des Grabes hält, zurück auf die Landstraße zu fahren. Und sie beugt sich hinab und sammelt in ihrem Taschentuch Erde von dem Grabe. Dann nimmt sie aus einem Nähtäschchen schwarze Seide, Nadel, Faden und Schere. Die Seide schneidet sie zu und näht einen kleinen Beutel. Dann nimmt sie von der Erde und füllt ihn. Sie drückt ihre Lippen auf die dunkle Erde, und als sie das gethan hat, näht sie den Beutel zu. Sie näht dicht und genau, so daß kein Körnchen verloren gehen kann, und an den Ecken des kleinen Beutelchens befestigt sie starke Schnüre. Dann packt sie ihr Nähzeug wieder ein und sitzt lange da, mit dem schwarzen Amulett in der Hand, und denkt daran, daß sie nun ihm geweiht ist, der im Grabe liegt.

Dann beugt sie das Knie unter den kahlen Aesten der Linde und küßt den Stein, der den Namen ihres Lieblings trägt. Stille und feierlich, als vollzöge sie eine heilige Handlung im Beisein vieler Menschen, hängt sie die Schnüre um ihren Hals, öffnet ihr Kleid und legt die heilige Erde an ihre Brust.

Die ganze Zeit über ist ihr Gesicht ernst, aber glücklich und hell, und bevor sie sich erhebt, küßt sie die Erde unter ihren Füßen und bleibt dann stehen, um einen Blick auf das Grab zu werfen. Ein Wald von kleinen Topfpflanzen blüht um das Grab, und frische Blumen sind auf den Hügel gelegt. Kein Grab ist so schön, so gepflegt, keines so reich geschmückt gerade jetzt, wo der Herbstwind die Bäume rüttelt.

Da lächelt sie vor Freude und spricht wieder leise und innig zu einem, den Niemand sehen kann. Dann geht sie zu dem Wagen, der am Thor des Kirchhofs wartet und fährt nach Hause.

Aber als sie heimkommt, geht sie geradeswegs zu mir herein, nimmt das schwarze Amulett heraus und sagt mir, was es enthält. Dann hält sie mir es hin und bittet mich, es zu küssen. Ich thue es, um ihre Freude nicht zu stören und mit einem glücklichen Lächeln birgt sie es wieder an ihrem Busen, indem sie sagt:

„Wenn Du wüßtest, wie glücklich ich mich fühle, wenn ich draußen bei Sven bin, würdest Du dich nicht kränken, daß ich so oft fahre. Ich werde für mehrere Tage ruhig, wenn ich nur zu ihm hinauskomme.“

Dann geht sie wieder und läßt mich allein. Und als ich nach ein paar Stunden von meiner Arbeit aufstehe und sie suche, finde ich sie bei Svens kleiner Kommode, wo sie die Dinge, die einmal ihm gehört haben, durch ihre Hände gleiten läßt.

3.

So kreisen ihre Gedanken stets um ihn, der tot ist, und es giebt nichts, das sie stören kann. Sie spricht davon, daß sie ihm bald folgen werde, und sie thut es in einem ruhigen, vertraulichen, besonnenen Tone, als müßte das die natürlichste Sache der Welt für Andere sein, so wie für sie selbst.

Manchmal pflegt sie hinzuzufügen:

„Ich möchte nur so gerne leben, bis die Knaben ein bißchen größer sind und mich nicht mehr brauchen.“

Dann kann ihr Gesicht einen verzweifelten, zerissenen Ausdruck annehmen, als wüßte sie, daß dieser Wunsch mehr ist, als sie hoffen oder verlangen kann, und ihre Stirne bekommt eine tiefe Falte zwischen den Augen, so, als ob das Grübeln ihr Schmerz verursachte. Sie fühlt, daß sie zwischen Leben und Tod wählen muß, wenigstens in ihren Wünschen, und sie kann es nicht. Darum will sie zuerst eine Zeitlang leben, um Denen, die am Leben sind, alles zu sein, was sie ihnen sein kann, und dann sterben, um bei ihm zu bleiben, dem sie sich angehörig fühlt. Sie sucht eine Versöhnung zwischen dem Verlangen zu sterben und dem Bedürfnis zu leben, und sie fürchtet Beides, weil das eine wie das andere um die Herrschaft in ihrer Seele ringt und jedes in seiner Weise sie grenzenlos quält. Gleichzeitig ahnt sie jedoch, welche der Mächte schließlich den Sieg davontragen wird, und darum fügt sie dies hinzu nicht als ein außerordentliches Ereignis, das Verwunderung und Staunen hervorrufen soll, sondern als etwas Selbstverständliches, das sie erlebt hat und das Niemand bezweifeln kann.

„Erinnerst Du Dich, wie ich sagte, daß ich nicht an ein Leben nach diesem glaubte?“ sagt sie. „Du hast mich gelehrt, so zu glauben.“

Ihr Gesicht verdüstert sich, wie sie das sagt, und es kommt etwas wie Groll in ihre Stimme, das mir weh thut. Sie sieht es, und versöhnend legt sie ihre Hand auf die meine, indem sie fortfährt:

„Jetzt glaube ich daran, und jetzt weiß ich, daß man anfangen kann, ein solches Leben schon hier auf Erden zu leben. Dazu ist nur nötig, daß Jemand fortgeht, mit dem man so verbunden ist, daß man das Gefühl hat, als ginge die Seele mit. Beinahe jeden Abend kommt Sven zu mir. Er kommt nicht, wenn ich es will oder wenn ich ihn bitte zu kommen. Nicht, wenn ich weine und mich sehne, meine Arme nach ihm ausstrecke und seinen Namen rufe. Aber wenn ich es am wenigsten ahne, dann sehe ich ihn neben mir sitzen. Und wenn ich dann so recht ruhig und froh bin, dann lächelt er mir zu und sieht glücklich aus. Er sieht mich dann an, ganz wie er es zu thun pflegte, und bevor ich mich besinnen kann, ist er fort. Aber ich bin doch glücklich. Denn ich weiß, daß er bei mir gewesen ist. Er ist oft gekommen, wenn Du schliefst und ich wach lag. Mehr als ein Mal habe ich daran gedacht, Dich zu wecken. Aber ich habe nie gewagt, es zu thun. Denn ich fürchtete, daß er, wenn Du erwachtest, verschwunden sein würde, und dann würdest Du mir vielleicht nicht glauben, was ich gesehen.“

Sie betrachtete mich die ganze Zeit mit Scheu, als glaubte sie, ich würde ihr widersprechen. Ich thue es nie. Ich weiß ja selbst nicht, was ich glaube. Ich habe so furchtbare Erschütterungen durchgemacht, daß ich nicht zu sagen wage, was Wirklichkeit und was Schein ist in den Erfahrungen der Anderen. Weiß ich es nur von meinen eigenen? Weiß ich, ob nur das, was ich mit meinem Verstande erreichen kann, Wirklichkeit ist? Ist es nicht denkbar, daß es eine Wirklichkeit giebt, die nur mit dem Gefühl oder — warum nicht — mit der Einbildung erreicht werden kann? es kommt mir vor, als hieße es gleichsam mich selbst verstümmeln, wenn ich mein Gefühl und meine Phantasie dazu degradierte, nur dazu zu existieren, um von dem Verstande unterjocht zu werden. In Gedanken vergleiche ich es damit, wenn ich das Auge einen körperlichen Schmerz leugnen lassen wollte, weil er unsichtbar ist, oder das Ohr die Möglichkeit einer Geschmacksempfindung in Abrede stellen, weil sie nicht gehört werden kann. Und wie gut ich auch all die Argumente kenne, die gegen einen derartigen Gedankengang ins Treffen geführt werden, so ist es mir doch unmöglich, sie in diesem Falle geltend zu machen. Ich glaube weder, noch glaube ich nicht. Ich gehe gleichsam in der peinvollen Erwartung herum, einmal über das Klarheit zu erhalten, was ich nicht weiß.

Und dabei wächst in mir ein Gedanke, der in der Stunde Wurzel geschlagen, in der ich wußte, daß mein Kind sterben mußte. Ich begreife, daß, was auch all dies sein mag, Einbildung oder Wirklichkeit, es doch eines Tages meine Frau von mir nehmen wird. Sie ist mit meinem eigenen Leben verwachsen, und ich kann sie nicht missen. Gegen mein eigenes Glück, das ich einstmals so stark wähnte, daß ich von seiner Höhe auf das Anderer herabsehen konnte, erhebt sich die Macht, die das Schicksal alles Lebenden ist. Der Tod steht vor mir, wie er einmal vor dem kleinen Sven stand, auf dem Bilde, dessen Inhalt er immer als ein Märchen erzählt haben wollte. Die Glocke läutet, und der, der nicht von hinnen gehen soll, wird gerufen, und der, dem der Ruf nicht gilt, muß zurückbleiben. Der Unterschied ist nur der, daß ich den Tod aus der Ferne sehe, lange bevor er herangekommen ist, weiß, daß seine Glocke erklingen wird, und daß die, der sie erklingt, mit Freuden scheidet.

Aber ich will nicht thatenlos die Macht des Todes verfluchen. In mir wächst ein Verlangen, das höher geht, als mir selbst bewußt ist. Es ist dasselbe Verlangen, das, als die Gewißheit vom Tode des Kindes meine Frau zu Boden drückte, sie antrieb zu sagen: „Er soll nicht sterben. Er darf es nicht. Ich weiß, daß er nicht sterben wird.“ In gleicher Weise sage auch ich zu mir selbst: „Ich will es nicht. Ich will sie nicht verlieren. Sie soll leben — allem zum Trotz.“ Ich merke nicht, daß ich das Unmögliche versuche. Die Kritik, die sogleich wach war, solange es sich um sie handelte, schlummert jetzt, wo es mir gilt. Ich will mit dem Tode kämpfen, um ihr und mein Glück zu behalten, so wie es einmal blühte, nicht, als das Leben uns entgegenlächelte, aber wenigstens, als wir seine Züchtigung empfangen hatten und doch wußten, daß es lächeln konnte. Ich wollte alles thun, um sie zurückzuerobern. Wie Orpheus wollte ich hinab ins Totenreich steigen, mit meiner Liebe wollte ich sie zwingen zurückzukehren, und folgt sie mir, werde ich mich gewiß nicht umwenden und zu den Schatten zurückblicken.

Das gelobe ich mir selbst, und ich erwarte nicht, daß der Lohn bald kommen wird. Im Gegenteil, ich bereite mich auf eine lange, harte Prüfungszeit vor, und ich weiß im Vorhinein, daß das Erste, was ich lernen muß, die Kunst des Wartens ist.

Aber ich bin so sicher in meinem Glauben, daß ich für mich lächeln kann, wenn ich ihre Rede vom Tode höre. Ich kann sie sagen hören, daß sie sich fortsehnt, und ihre Liebkosungen fühlen, wenn sie mich bittet, ihr zu verzeihen. Dann genieße ich die Liebkosungen und vergesse ihre Worte. Wie eine große, unendliche Gewißheit fühle ich, daß der Sieg unwiderruflich mein ist und nicht dessen, der in der Erde schlummert. Ich nehme ihn in meinen Gedanken zum Bundesgenossen, sage ihr sogar, indem ich auf ihren eigenen Gedankengang eingehe, daß sie leben muß, weil Sven will, daß sie lebt, ja, weil er es mir zugeflüstert hat, während ich schlief.

Sie hört mich mit verwunderten, glänzenden Augen an, und lange Zeit später — so lange Zeit, daß ich mich nicht erinnern kann, was ich selbst gesagt habe — erzählt sie mir, daß Sven auf ihrem Bett gesessen sei, in seinem neuen weißen Kleid mit der blauen Schärpe, und gesagt habe:

„Mama, Du sollst nicht so viel um mich weinen. Es thut mir so weh im Kopf, wenn Du weinst.“

Ich höre diese Worte, und ich klammere mich an sie wie an ein Omen. Hoffnungsvoller denn je träume ich von einer Zukunft, in der unser totes Kind ein stärkeres Vereinigungsband sein wird, als wenn es gelebt hätte, und ich gedenke mit Thränen in den Augen der Worte, die sie selbst mich einmal gelehrt:

Zusammen altern.

4.

Es war nichts Geringeres als ein Kampf mit dem Tode, den ich begonnen, und die Zeit, die folgte, wurde ein beständiger Wechsel zwischen der düstersten Verzweiflung und der hellsten Hoffnung. Das Schwerste unter solchen Verhältnissen ist natürlich die völlige Unthätigkeit, die darin besteht, bloß ruhig auf das zu warten, was kommen soll und geduldig alles der Zeit zu überlassen, während man gleichzeitig glaubt, daß alles, was geschieht, nur das Herannahen der Nacht beschleunigt, die man verscheuchen zu können hofft. Wie ängstlich beobachtete ich nicht meine Frau in dieser Zeit! Wie folgte ich ihr nicht auf ihren Fahrten zum Grabe! Und wie freute ich mich, wenn ich sie ruhig und fröhlich die Knaben um sich versammeln, ihnen erzählen und vorlesen sah, so wie nur sie es konnte, und wenn ich wieder ihre munteren Stimmen hören durfte, die durch einander klangen, wenn das Gelesene Anlaß zu einem dieser lustigen Kommentare gab, die es zu einem Feste machen, Kindern vorzulesen. Und wie konnte ich nicht beim Mittagstisch oder bei der Abendlampe nach dem angestrengten, abwesenden Ausdruck in dem Antlitz meiner Frau spähen, der wie eine Wolke kommen und uns alle stumm machen konnte.

Es war dann, als ginge ihre Seele plötzlich von uns fort und ließe uns allein. Die Knaben wechselten Blicke mit mir, Blicke, die deutlich sagten, daß sie, soweit ihr Alter es zuließ, ebenso wohl verstanden wie ich und ebenfalls litten, wenn es ihnen auch leichter fiel, die Gedanken zu zerstreuen. Svante stand auf und streichelte Mama, und er fühlte sich nicht zurückgestoßen, weil es ihm nicht gelang, ihre Augen zu erhellen. Er konnte nachher zu mir kommen und sagen:

„Mama thut mir so leid.“

Das war alles für ihn, und drum war er vielleicht ein besserer Tröster als ich.

Olof saß bei solchen Anlässen mehr still da und versuchte mit mir zu sprechen, als wäre alles, wie es sein sollte. Aber seine Augen folgten der Mutter, und ging sie hinaus, um allein zu sein, was oft geschah, wenn sie fühlte, daß sie uns nicht länger ansehen und mit uns sprechen konnte, dann pflegte er sich an ihre Thüre zu schleichen und dort lange zu stehen und zu horchen. Dauerte das Schweigen allzulange, so ging er sachte hinein, und geschah es, daß er abgewiesen wurde, dann kam er still zurück und setzte sich mit einer resignierten Miene nieder, als wüßte er, daß er nicht alles auf einmal verlangen könnte.

Es erging ihm wie mir, er hätte es als eine Erleichterung empfunden, wenn er nur gewußt hätte, was er thun sollte.

Und wenn wir drei zu solchen Zeiten allein saßen, dachten wir alle an das, was wohl hinter der verschlossenen Thüre vorging, wo meine Frau sich immer näher und näher zu der Grenze hinarbeitete, an der das Leben aufhört, wo sie sich zum Tode durchkämpfte.

„Wißt Ihr, woran Mama leidet?“ sagte ich eines Tages.

Olof sah fort, ohne etwas zu sagen, aber Svante antwortete:

„Ja.“

Ich hätte übrigens nicht zu fragen gebraucht. Denn ich wußte, daß sie sie auf das vorbereitet hatte, was kommen sollte.

5.

Des Abends, wenn ich allein blieb, saß ich oft da und schrieb, um meine Gedanken zu zerstreuen oder überhaupt etwas vorzunehmen, an einer Art Tagebuch, das ich auf dem Grunde einer Schreibtischlade verwahrte, damit Elsa es nicht durch einen unglücklichen Zufall in die Hand bekäme.

Ich habe es jetzt wieder gelesen, und alles, was darin steht, scheint mir vor so langer Zeit geschrieben, daß ich kaum glauben kann, daß seither nicht einmal zwei Jahre verflossen sind. Aber wie ich darin lese, wird alles, was geschehen ist, lebendig und gegenwärtig, und ich fühle wieder die Martern der furchtbaren Illusion, die mich damals aufrecht hielt.

Tagebuch

4. September.

Ich sitze hier und denke an den kleinen Sven. Alles um mich ist stumm, und ich glaube ihn zu sehen, wie er in den letzten Tagen, in denen er noch aufsein konnte, über die Gartenwege ging, seine kleine, zärtliche Hand in der meinen, und in einem fort plauderte, während er mit seinen gedankenvollen Kinderaugen zu mir aufsah. Und wie ich mich in diese Erinnerung vertiefe, ist mir die Hoffnungslosigkeit, daß ich ihn niemals wiedersehen werde, so unsäglich bitter. Denn er war, ohne es zu ahnen, des Hauses Mittelpunkt. Er war es, der immer uns vier Großen entgegengelaufen kam und der die Räume mit seinem Gezwitscher erfüllte, wenn wir heimkamen. Um ihn versammelten wir uns bei jeder Kleinigkeit, die Freude bereitete, um zu erfahren, was er dazu meinte. Jetzt geht sein Vater umher und muß sich hart gegen die Erinnerung machen, um nicht zu versagen und um alles Andere aufrecht zu erhalten. Darf nicht einmal zu viel denken. Nicht einmal trauern. Denn dann würde alles in die Brüche gehen.

Kam er, um seine Mutter zu holen und uns Alle in Betrübniß zurückzulassen? Oder kam er, um zu gehen, so still und schön wie er ging, und uns Alle durch seinen Tod des Lebens große Kunst zu lehren?

16. Oktober.

Ich habe an alles gedacht und alles gesehen, und ich weiß jetzt, um was der Kampf gekämpft wird. Tag für Tag habe ich gesehen, wie es nur schlimmer geworden ist. Und es ist keine Freude, klar zu sehen. Es ist ein Leiden. In dieser Zeit habe ich jede Einzelheit verfolgen können, und ein Wort oder ein Blick konnte mich bis in mein innerstes Wesen erzittern machen, weil ich wußte, was er zu bedeuten hatte. In meiner Anwesenheit und der der Knaben habe ich sie gleichsam abfallen und Gespräche mit einem Unsichtbaren führen sehen. Bis aufs Aeußerste habe ich jeden Nerv anstrengen müssen, um in ihren Augen den Blick zu erzwingen, der zeigte, daß sie sich bewußt wurde, daß sie nicht allein war. Ich habe sie selbst alles fühlen und verstehen sehen, sie ahnen und wissen sehen, was in ihr lauerte. Sie hat sich in Angst vor mir niedergeworfen und mich gebeten, sie nicht wegzuschicken — sondern ein wenig Geduld zu haben.

Ich leide furchtbar darunter, ihren Kampf zu verfolgen, und dennoch weiß ich, daß das, was jetzt meine Qual ausmacht, nur eine andere Seite derselben Eigenschaften einer reichen und machtvollen Natur ist, deren Wellen hoch gehen wie die des Meeres — derselben Eigenschaften, die mir einst alles Glück und allen Jubel der Welt geschenkt.

30. Oktober.

Die furchtbare Spannung fängt an, vorüberzugehen, und meine Frau befindet sich von Tag zu Tag besser. Nach dem Dunkel des Winters werden wohl einmal die Tage länger und die Stunden lichter.

8. Dezember.

Es ist lange her, seit ich mein Tagebuch berührt habe. Aber das kommt daher, daß ich gearbeitet habe. Ich habe ein Theaterstück geschrieben, und es ist wunderlich zugegangen. Mitten in Korrekturen und Arbeit aller Art, in der Kränklichkeit meiner Frau und einer Nervosität, die mir mein ganzes Wesen wie eine Bogensaite gespannt erscheinen ließ, bin ich des Morgens aufgestanden und habe mir die Zeit zum Schreiben gestohlen. Ich habe Nacht für Nacht bis zwei Uhr geschrieben. Ich habe Whisky getrunken, um mich wach zu erhalten. Ich bin mitten in der Arbeit ausgegangen und habe soupiert, um Lärm zu hören und Gesichter von Menschen zu sehen, mitten in einem fieberhaften Leben zu sein, es um mich wogen und meine Schläfen brennen zu fühlen.

Aber das Stück wurde fertig, und ich fühle nur eine große Mattigkeit. Was ich erreichen will, ist jetzt wahrlich weder Ruhm, noch Schriftstellerfreude. Ich habe das Gefühl, als lebte mein Hirn allein auf Kosten des ganzen übrigen Körpers. Ja, es ist schade, daß der Tag nur vierundzwanzig Stunden hat, wenn es gilt, das Unmögliche zu erreichen.

17. Dezember.

Es ist mir, als ob, ohne daß ich es klar weiß, alles, was ich erlebt habe und lebe, war und bin, in irgend einer wunderbaren Weise einer Erfüllung entgegenginge, die sich vollzieht, ohne daß ich einen Finger rühren kann. Während all dem lebe ich mein gewöhnliches Leben, und ich glaube nicht, daß Jemand mich eigentlich verändert findet. Ich bin froh, wenn ich herauskomme und Menschen treffe, sogar ausgelassen. Denn das lindert.

Aber daheim lebe ich mein wirkliches Leben. Und unablässig habe ich dort das Gefühl, als glitte über sie und mich etwas von dem, wovon ich einmal selbst in einem ganz anderen Zusammenhang geschrieben habe, daß es „größer als Glück und Unglück“ ist, etwas von dem, das keinen Namen hat.

In all dem ist natürlich meine Frau der Mittelpunkt. Ob sie der Gesundheit oder dem Untergang entgegengeht, weiß ich nicht. Dies scheint mir jetzt etwas zu sein, in das ich nicht eingreifen kann. Es kommt mir zuweilen vor, als stünde ich außerhalb, als hätte ich keinen Teil daran und könnte es niemals erreichen. Und in all dem ist keine Ueberspanntheit, nur eine resignierte Sehnsucht, die farblos ist.

25. Januar.

Meine Frau hat sich heute ans Klavier gesetzt. Singen will sie wohl noch nicht, aber ich habe doch wieder Musik in meinem Heim gehört, und die Melodieen von einst haben unseren Sinn gleichsam auf einen neuen, helleren Ton gestimmt. Ueberhaupt ist in letzter Zeit etwas Neues über sie gekommen, etwas Neues, das mehr verspricht, als das Frühere. Sie ist zum Leben erwacht und ist mit uns Andern wie zuvor. Noch nicht so recht vielleicht. Aber ich fühle, wie sie uns mit jedem Tage näher kommt. Zuweilen glaube ich, was sie sagt, daß all das kommt, weil sie weiß, daß sie nun bald scheiden wird und daß diese Hoffnung sie aufrecht hält. Aber zuweilen glaube ich, daß wenn es auch jetzt so sein mag, all dies doch auf dem Wege ist, in etwas Größeres hinüberzugleiten, das sie selbst mit Verwunderung und Angst spürt, aber nicht glauben will.

Wie es damit ist, weiß ich nicht. Aber ich weiß, daß ich jetzt nicht verzweifelt bin, wie ich früher war. Denn jetzt lebe ich unter dem Schicksal, das das meine ist und das — geschehe was da will —, so wie ich es jetzt sehe, nichts Häßliches in ihr Leben und in das meine bringen kann. Das hatte ich gefürchtet.

19. Februar.

Ich halte das nicht länger aus. Ich habe Schwarz und Schwarz und Schwarz um mich gesehen, so daß ich in Raserei gerate, so wie ich nur mich selbst in einem Spiegel erblicke. Und das Beste ist, daß meine Frau selbst anfängt, ein wenig von alledem zu fühlen.

26. März.

Ich gehe nur und warte darauf, daß der Winter wirklich zu Ende geht, so daß wir von hier fortkommen. Eine Apathie höchst wunderlicher Art beherrscht mich, und ich habe manchmal Angst, daß dieser Winter mich gebrochen hat. Was der Sommer bringen kann, ist vielleicht auch nicht gerade etwas, worauf man Erwartungen setzen kann. Wir zogen nach Stockholm herein, oder richtiger wir mieteten eine Wohnung, als wir glaubten, daß alles uns vorwärts tragen würde, wenn auch langsam. Wie es geworden ist, wäre es besser gewesen, wir wären auf dem Lande geblieben, in der Abgeschiedenheit, die für uns das Beste zu sein scheint. Hier ist es einsamer als dort.

Die Sorge wirkt verscheuchend.

31. Mai.

Heute ist unser Hochzeitstag. „Im wunderschönen Monat Mai.“ Ich kann es nicht lassen, etwas aufzuzeichnen, wie kindisch ich auch selbst fühle, daß es ist. Es sind nämlich heute vierzehn Jahre, daß wir verheiratet sind, und das Jahr, das vergangen ist, war das schwerste. Das, was vergangen ist, war ja das dreizehnte — das Unglücksjahr par préférence. Es ist, als glaubte ich, daß Jemand oder etwas von nun an unseren Weg ebnen wollte, oder als fühlte ich, daß etwas in mir der Heilung nahe sei. Und all dies, weil mir eine Ziffer eingefallen ist, die unter normalen Verhältnissen sicherlich spurlos an mir vorübergegangen wäre.

25. Juni.

Die Tage verstreichen, während ich umhergehe und denke, daß ich anfangen sollte, zu arbeiten. Aber die Schmetterlinge der Dichtung flattern nur unruhig über etwas umher, das öde und verbrannt ist. Zuweilen will es mich bedünken, als könnte ich ihrem Fluge folgen. Aber dann erinnert mich die Wirklichkeit wieder an das, was ist, und alles verdunkelt sich.

Könnte ich nur stets so sein, daß meine Frau nichts merkte. Könnte ich gleichmäßig und froh sein oder es wenigstens scheinen. Aber ich kann es nicht, und ich weiß, daß sie nicht nur über sich selbst trauert, sondern auch über den Schmerz, den sie mir verursacht. Es muß furchtbar sein, so herumzugehen wie sie und nichts zu können, nichts zu vermögen, und bei dem Geringsten zusammenzubrechen, das ihr Unruhe oder Schmerz verursacht. Einhergehen und über den Tod grübeln, von dem sie glaubt, daß er kommen wird, der aber nicht kommt. Dreifach entsetzensvoll muß es sein, zu alledem dem Menschen, den man am meisten liebt, unsägliches Leid zuzufügen und nichts thun zu können, um es zu lindern.

Sie kann zuweilen dasitzen und mich ansehen, wenn sie glaubt, daß ich es nicht merke, und dann kommt in ihr Antlitz ein solcher Ausdruck der Verzweiflung, daß er mir in die Seele schneidet.

Gestern kam sie und setzte sich neben mich und legte ihre Hand auf die meine.

„Wenn Du nur mich nicht hättest,“ sagte sie, „um wie viel glücklicher würdest Du da sein!“

Ich weiß, daß sie an die Wahrheit ihrer eigenen Worte glaubte, und meine Antwort konnte wohl für einen Augenblick ihren Glauben erschüttern und ein Aufleuchten der Hoffnung in ihre Augen locken, aber sie konnte ihr nicht die sichere Ueberzeugung wiedergeben, daß sie unentbehrlich sei und daher leben müsse.

6.

Wenn ich diese Blätter lese und sehe, wie ich zwischen Hoffnung und Furcht geschwankt habe, begreife ich nicht, daß das, was diese Zeilen erzählen, wirklich wahr sein kann. Und doch muß es so sein. Denn scripta manent. Und wie unvollständig und fragmentarisch diese Aufzeichnungen auch sein mögen, erzählen sie mir doch mit voller Gewißheit, daß ich damals mehr hoffte, als ich jetzt fassen kann, wo alles seine Erklärung und sein Ende gefunden hat.

So viel begreife ich, daß in diesem Winter, zu dessen Erinnerungen ich nicht mehr zurückkehren will und kann, mein Glück darin bestand, daß ich schließlich etwas fand, was, wie ich glaubte, dazu beitragen konnte, meine Frau zu retten. Welches Glück war dies nicht! Nicht mehr ein unthätiger Zuschauer sein zu müssen, eingreifen, wirken, arbeiten zu können, mit einem bestimmten Ziel vor Augen, einem Ziel, das man wenigstens glaubt erreichen zu können. In der Jugend würde eine solche Glücksquelle vielleicht arm und gering erscheinen. Aber wenn die Jahre das Haar ein wenig grau gesprenkelt haben, begnügt man sich mit Geringerem als früher. Man kann dann leben und leiden, wenn man glaubt, daß es in dem Bereiche der Möglichkeit liegt, Besserung zu schaffen, und man kann in dem bloßen Bewußtsein einer solchen Möglichkeit etwas finden, was beinahe dem Glück gleicht.

Für mich kam diese Hilfe in demselben Moment, in dem die Ahnung, die ich schon lange gehabt, daß das Stadtleben für den Zustand meiner Frau verderblich sei, sich immer mehr zu wirklicher Ueberzeugung steigerte und sich schließlich in den Entschluß umsetzte, sie daraus loszureißen und zum Lande zurückzukehren, das wir nie hätten verlassen sollen. Der Arzt bestärkte mich auch in diesem meinem Entschluß, und als ich das erste Mal diesen Plan meiner Frau als eine bloße Möglichkeit vorlegte, leuchtete ihr ganzes Gesicht auf, als hätte ich ihr die Freuden des Paradieses versprochen, und sie sagte nur:

„Kannst Du das für mich thun? Willst Du das?“

Diese Worte regten mich zu Handlung und Leben an, und in allem Zweifel, aller Unruhe und allem, was ich früher geschildert und erzählt habe, allem, was mich zu Boden drückte, glänzten mir diese Worte wie Sterne durch die Dunkelheit entgegen und feuerten mich zu der letzten großen Anstrengung an, die, wie ich hoffte, uns allen die Freude in unserem Heim wiederschenken sollte. Je mehr ich daran dachte, desto wahrscheinlicher kam es mir vor, daß ich hier das „Sesam öffne dich“ gefunden hatte, das meiner Frau den Weg bahnen sollte, wieder dem Leben anzugehören. Wie ein Mann, der glaubt, einen Talisman gefunden zu haben, der ihm die Macht giebt, Wunder zu wirken, setzte ich meine ganze Zuversicht auf diesen Plan, und als wir endlich in die kleine Villa gezogen waren, die hoch oben mit der Aussicht über Fjords und Wälder lag und wo die Blätter der Espen vor dem Fenster zitterten, an dem meine Frau sitzen und mich sehen würde, so oft ich von meiner Arbeit heim käme, da fühlte ich mit Gewißheit, daß nun die Lösung gefunden sei. So wunderlich mir dies auch jetzt erscheinen mag, ich war ganz von der Gewißheit durchdrungen. Ich glaubte, und ich war unaussprechlich glücklich in meinem Glauben.

Nie habe ich mich auch hoffnungsfreudiger gefühlt, wie als diesen Winter der Schnee zu fallen begann und wir dieses eigentümlich heimliche Gefühl empfanden, von allen und allem abgeschlossen zu sein, das dem nordischen Himmelsstrich eigen ist. Vom Dachboden bis hinab zum Keller stand unser neues Heim fertig, und wie früher, das Ganze ordnend und die Zimmer mit all den kleinen Erfindungen und Gegenständen schmückend, die hervorzuzaubern das Geheimnis des Weibes ist, ging meine Frau wieder zwischen uns umher. Die lauten Stimmen der Knaben hallten in den Zimmern wieder, ohne daß Jemand sie zu dämpfen brauchte. Die Kanarienvögel sangen und trillerten, ohne daß Jemand das nächtliche grüne Tuch über ihr Bauer hing. Der Pudel bellte zu dem Spielen und Balgen der Knaben. Und das Klavier war nicht mehr verschlossen.

Das kam eines Abends, als ich es am wenigsten ahnte. Ohne mit einem Worte ihre Absicht zu verraten, kam Elsa hinab in das Wohnzimmer und setzte sich an das Klavier. Sie sah mich an, als sie an mir vorbeiging, und ich begriff, wie glücklich sie war, daß sie ihrem eigenen Wunsche folgen konnte. Seit Sven gestorben war und sie nicht mehr seine klare Stimme zu den Tönen des Klaviers hören konnte, hatte meine Frau nie die Lieder singen wollen, denen so oft nur er allein gelauscht hatte. Kaum meinen eigenen Sinnen glaubend, sah ich sie am Klavier sitzen, hörte sie einen Ton anschlagen, und gleich darauf klangen die Töne durch das Gemach.

Mein weißer Schwan,

Du stummer, stiller,

Nicht Schlag, nicht Triller

Zeigt Stimme an.

Und der Schluß:

Mit schmerzlicher Ode

Schloßt Du die Bahn,

Du sangst im Tode:

Du warst doch ein Schwan.

Weder früher noch später habe ich dieses Lied so gehört. Während sie sang, kamen die Knaben sachte herein, nach einander kamen sie und blieben stumm in der Thüre stehen. Sie sahen mich verwundert an, als glaubten auch sie ihren Sinnen nicht, und ich nickte zur Antwort, während meine Augen feucht wurden. Als die letzten Töne verklungen waren, war es still im Zimmer, aber still wie zu einer Feierstunde.

Meine Frau stand auf und schloß den Flügel.

„Ich kann heute nicht mehr,“ sagte sie wie zur Entschuldigung.

Aber dann sah sie uns alle an und begriff, welche Freude sie hervorgerufen. Ihr Gesicht leuchtete auf, sie ging an mir vorbei und auf die Knaben zu, zog sie an sich und drückte beider Köpfe an ihre Schultern.

„Dankt dem kleinen Brüderchen,“ sagte sie. „Er hat mir geholfen.“

Sie sagte das nicht krankhaft wie früher, nicht in dem beinahe feindlichen Ton, den sie angeschlagen, wenn sie glaubte, daß wir Lebenden sie hinderten, dem Toten anzugehören. Sie sagte es weich und stille und beinahe glücklich, mit einem Ausdruck, als nähme sie Abschied von etwas Vergangenem, das niemals wiederkommen sollte.

7.

Hinter dem Schlafzimmer lag ein kleiner Raum, der ursprünglich als Toilettezimmer gedacht war, den man aber aus irgend einem Grunde nicht eingerichtet hatte. Er war sehr unregelmäßig, die Fenster saßen hoch oben, und das Licht war trüber als in den andren Zimmern.

Da wohnte der kleine Sven. Da war sein Gemach, und dieses Gemach war verschlossen.

Niemand durfte meiner Frau helfen, dieses Zimmer zu ordnen oder dort aufzuräumen. Sie allein mußte alles thun. Da hängte sie helle Gardinen vor das kleine Fenster, und in die Fensternische hinter die Gardine stellte sie einen Tisch. Für diesen Tisch nähte sie ein Tuch, das aus demselben Stoff war wie die Vorhänge, und auf dem Tisch standen Svens Spielsachen. Da war ein Pferd, das einen Wagen zog, ein paar Zinnsoldaten und ein Zelt. Da war Svens weiße Kaffeetasse mit dem Goldrand, seine Sparbüchse, ein kleiner Säbel und ein Czako. Da war alles, was er zurückgelassen, seine ganze kleine Hinterlassenschaft. Unter dem Tisch standen zwei Holzpferde, von denen das eine seine Mähne ganz verloren hatte, und vor dem Tisch stand ein kleines, niedriges Holzstühlchen, das Sven bekommen hatte und das er sich durch die Zimmer zu tragen pflegte, wenn er so recht vergnügt war und Mama dazu bekommen wollte, ihm Märchen zu erzählen.

Aber mitten unter den Spielsachen standen kleine und große Portraits in Rahmen, und an den Wänden so nahe als möglich vom Lichte hingen andere. Da waren Bilder von Papa und Mama, von den Brüdern und von der ganzen Familie. Da war das Portrait von Sven in seinem langen Kittelchen und von Sven in dem kleinen Pelz, wie er auf einer Bank stand und gegen die Sonne blinzelte, die über den Schnee leuchtete. Aber alle Bilder waren aus der Zeit der Jugend und des Glücks, als noch nichts geschehen war, das an den Banden reißen konnte, die uns noch alle vereinten. Und allein, ganz für sich, hing auf einem Vorsprung der Mauer die Abbildung von Spangenbergs Bild vom Tode, über das der kleine Sven gegrübelt und dessen Geschichte seine Mama ihm lange vor dem Tag erzählt hatte, an dem er selbst mehr davon erfuhr, als die Großen je erzählen können.

Und dann stand noch etwas da. Das war eine kleine, dunkelgebeizte Kommode, die Sven einmal bekommen hatte. Die hatte ihre kleine Geschichte, denn in früheren Zeiten hatte sie Papa gehört. Da war sie gelb und hell gewesen, aber seither hatte sie viel Schicksale durchgemacht, und als sie in Svens Besitz überging, bekam sie ihre neue Farbe. Aber in ihren drei Laden lagen all die Dinge, die Erinnerungen an den Kleinen bargen und nicht herumliegen durften. Da wurde sein letztes Hemdchen verwahrt und das letzte Paar Strümpfe, das er getragen hatte. Da lagen seine kleinen Notenhefte „Sing uns was, Mama,“ die nie mehr unten auf das Notenpult im Wohnzimmer kommen sollten. Da wurde sein letztes, schönes, weißes Sommerkostüm aufgehoben, mit der schönen, blauen Schärpe und der Rosette in der gleichen Farbe auf der weißen Mütze. Da lagen seine kleinen, braunen Schuhe, und die Bücher des kleinen Sven. Da war auch Papas eigenes Buch von den großen Brüdern, Mamas eigenes Exemplar, das Sven sich erbettelt hatte, als er Papa bat, ein Buch nur über Nenne zu schreiben.

Das war Svens Zimmer, und hier war Elsas Heiligtum. Jeden Abend ging sie dort hinein, und jeden Morgen saß sie da, bevor sie mit Anderen sprach. Nie war sie glücklicher, als wenn Papa auch hineinging und drinnen blieb.

Dort wohnte auch Sven, und was da gesprochen wurde, weiß Niemand. Auch wenn Elsa etwas davon erzählte, war das, was sie sagte, nichts gegen die Worte, die dort drinnen zwischen ihr und der Welt des Unbekannten gewechselt wurden.

„Du glaubst ja nicht daran,“ sagte sie eines Tages zu mir. „Aber ich fühle es.“

„Woher weißt Du, daß ich nicht glaube?“ antwortete ich.

Sie blickte mich mit großen, verwunderten Augen an.

„Du kannst nicht glauben wie ich,“ sagte sie. „Denn du zweifelst gleichzeitig, ob es möglich ist. Aber ich weiß es, und ich zweifle nicht mehr.“

Eine Erinnerung tauchte in mir auf, die Erinnerung an die Stunde, in der sie mir vorwarf, daß ich ihr ihren Glauben an die Wirklichkeit des Uebersinnlichen genommen. Ich begriff, daß sie ihren gegenwärtigen Glauben brauchte, daß sie ihn immer gebraucht hatte, daß er mit ihrem innersten Wesen so tief und ganz zusammenhing, daß ihr vielleicht viel Leiden erspart geblieben wäre, wenn man diesen Glauben niemals erschüttert hätte. In gleicher Weise wußte ich bei mir selbst, daß ich den Glauben an eine Fortdauer nach dem Tode nie ganz von mir geworfen hatte. Ich hatte kritisiert, untersucht, ja gestrebt, diesen Gedanken in meinen eigenen Augen unmöglich zu machen. Aber ich hatte das vielleicht hauptsächlich in der Hoffnung gethan, daß mich gerade dieses Suchen schließlich zu der Ueberzeugung vom Gegenteil führen würde. Diese Ueberzeugung war nie gekommen, aber mit den Jahren hatte das, was ich von dem Künftigen dachte, eine Veränderung durchgemacht. Der Unsterblichkeitsgedanke war und blieb für mich allerdings nur eine Möglichkeit, aber mehr und mehr hatte er die Form von etwas Mattem und Mildem angenommen, dem ich mich näherte, ohne recht zu wissen, wie. Schritt für Schritt hatte ich die Möglichkeit einer solchen Ueberzeugung in mir wachsen gefühlt, und was ich im letzten Jahre durchlebt, hatte mein Gefühl von dieser Möglichkeit genährt, die mein Verstand noch immer weder annehmen noch verwerfen konnte.

Gleichzeitig schien es mir, als stünde ich allein in all diesem, und als wollte oder könnte meine Frau nicht sehen, was hierbei in mir vorging. Aber, als sie mir diese Worte sagte: „Du zweifelst gleichzeitig, ob es auch möglich sei,“ da wurde es mir klar, daß sie mich mißverstehen mußte, weil ich selbst nichts gesagt hatte. Wie hatte ich über all das schweigen können? Wie konnte ich vergessen, daß, was ich hier wirklich zu sagen hatte, sie sicherlich mit dem höchsten Glück erfüllen mußte? In einem Nu wollte ich gutmachen, was ich verbrochen zu haben glaubte, und ich erinnerte sie darum an den Tag, an dem sie gesagt hatte, daß sie glauben wollte wie ich, denken wie ich, leben wie ich.

„Ich will, daß Du es einmal erfährst,“ sagte ich. „Es sind nun seither Jahre vergangen. Aber nie habe ich etwas derartiges von Dir verlangt. Nie habe ich gewollt, daß Du etwas in Dir um meinetwillen verändern solltest. Deine Liebe hat Dir diesen Gedanken eingegeben, nicht ich.“

Sie sah vor sich hin, als schweiften ihre Gedanken grübelnd in ferne Vergangenheit.

„Ich glaubte, Du wolltest, daß ich werden sollte wie Du,“ sagte sie.

„Nie,“ antwortete ich, „nie habe ich etwas derartiges gewünscht. Ich wollte mit Dir über das, was ich dachte und fühlte, sprechen können. Aber ich wünschte, daß Du es mir gegenüber ebenso machtest. Ich habe es vermißt, daß Du es nicht gethan hast.“

Ich sah, daß in all dem etwas enthalten war, das sie quälte, mehr als Worte es schildern können. Aber ich ahnte nicht, was es war.

„Ich habe immer gedacht, Du wollest mich Dir ähnlich haben,“ sagte sie.

„Das habe ich gedacht und auch Anderen gesagt. Als ich glaubte, daß ich nicht mit Dir sprechen könne, habe ich zu Fremden gesprochen.“

Das Letzte fügte sie mit einem Tonfall hinzu, als hätte sie etwas unüberwindlich Abstoßendes ausgesprochen, dessen sie sich schämte.

„Wie habe ich Dich so mißverstehen können?“ sagte sie.

Und indem sie ihren Arm um meine Schulter schlang, sah sie mir in die Augen und fragte:

„Du bist nicht böse, wenn Du mich zu Sven hineingehen siehst?“

„Böse?“

Ich mußte sie mit einer Miene des Erstaunens betrachtet haben, die nicht mißzuverstehen war. Denn sie fragte nicht mehr. Ohne ein Wort zu sagen, wendete sie sich ab und ging in Svens kleines Zimmer. Sie verweilte lange darin, und als sie wiederkam, sah ich, daß sie geweint hatte, aber nicht aus Kummer.

Aber während ich allein saß und auf sie wartete, mußte ich daran denken, daß sie nie früher in meiner Gegenwart die Thüre des kleinen Gemaches geöffnet hatte und hereingegangen war, um ihre Andacht zu verrichten. Und zugleich wußte ich, daß, seit Sven gestorben war, ich ihr nie so nahe gekommen war wie jetzt.

8.

Warum konnte nicht alles so weitergehen, wie es begonnen hatte? Warum kam das, was ich nicht gefürchtet, und wuchs zu einer gefährlicheren Macht für mich und die Meinen heran, als irgend etwas von dem, was ich früher gefürchtet hatte? Man könnte ebenso wohl fragen, warum geschieht nicht alles, was der Mensch wünscht? Oder warum liegt es nicht in seiner Macht, die Entwickelung des Lebens so zu gestalten, wie er selbst will?

Es lag zwischen meiner Frau und mir in dieser Zeit, trotz aller Zärtlichkeit und allen Verständnisses, dennoch ein gewisses Etwas, das uns trennte. Dies lag nicht in theoretischen Meinungsverschiedenheiten. Auch war es nicht der Art, daß es uns hinderte, uns stets zu begegnen, uns stets zu suchen, uns stets Einer an des Anderen Gegenwart zu freuen. Es war ganz einfach eine Verschiedenheit in unserer Art, alles zu nehmen, was in dieser Zeit geschah und zwischen uns vorging. Für sie war all das ein Abschied, bei dem sie sich immer mehr dem Ueberschreiten jener Grenze näherte, von der niemand wiederkehrt. Mir schien es wie eitel Verheißungen, daß unser Leben aufs neue beginnen und meine Frau zu mir, zu uns allen, zum Leben selbst zurückkehren sollte.

Aus allem, was geschah und wovon mir damals vieles dunkel und unerklärlich schien, habe ich verstanden, daß darin der eigentliche Erklärungsgrund für ihr Schicksal und das meine lag, die ganze Erklärung dessen, was war und was kommen würde, und ich hätte verzweifeln müssen, wenn ich das alles damals so klar gesehen hätte, wie ich es jetzt sehe. Ich meinerseits begehrte, daß meine Frau ihre Todesgedanken aufgeben und um meinetwillen den Weg durchs Leben wieder aufnehmen sollte, auf dem sie gleichsam gelähmt stehen geblieben war, als Sven starb. Sie wieder wünschte, daß ich einsehen möchte, daß sie unwiderruflich den Schritt ins Jenseits gethan, als ihr Engel, wie sie ihn immer nannte, dahinging. Sie wünschte, daß ich das so tief verstünde, daß meine Aufgabe nur die wäre, wie ein Freund an ihrer Seite zu schreiten und ihre Hand zu halten im Mitgefühl der Finsternis, die kommen mußte und nach der sie selbst trachtete. So tief liebten wir uns, daß Keines von uns den Traum aufgeben konnte, den Gedanken des Anderen mit seinem eigenen übereinstimmen zu sehen. Darum konnte Keiner den Anderen seinen eigenen Weg gehen lassen und resigniert das Loos des Lebens entgegennehmen, das Einsamkeit heißt. Darum konnte auch Keiner umhin, Bitterkeit zu empfinden, als er merkte, daß seine Hoffnung fehlschlug. Darum fühlte sie mein Bemühen sie dahin zu führen, wohin sie nicht wollte, so wie ich ihren Widerstand fühlte, und darum war unser ganzes Leben im eigentlichen Sinn des Wortes ein Kampf um die Liebe und ein Kampf auf Leben und Tod.

So lange hatte ich im Schatten des Todes gelebt, daß ich es nicht einmal für möglich hielt, daß irgend ein anderer Zustand mir beschieden sein könnte. Ich war damit vertraut geworden wie der chronisch Kranke mit seinen Schmerzen. Der Schatten kam nicht nur von dem kleinen Toten, der dahingegangen war, sondern auch von ihr, die gehen wollte. Er kam nicht nur von dem, was wir hinter uns gelassen. Er harrte unser auch in dem, was kommen sollte, was vor uns lag. Die beiden Schatten begegneten sich auf dem Punkte des Lebenswegs, auf dem wir jetzt angelangt waren. Die beiden Schatten umschlangen mein ganzes Leben, und meine Schuld war, daß ich es nicht vermochte, die Sonne vom Himmel zu reißen, um den einen Schatten zu vertreiben.

Dies war meine Schuld und meine Illusion. Denn mit sehenden Augen sah ich nicht. Mit hörenden Ohren hörte ich nicht. Ich sah bloß meinen eigenen Wunsch, hörte bloß die Laute der starken Lebenssehnsucht meines eigenen Traumes. Und doch wußte ich, daß nur in der Sage der Wille eines Mannes die Toten ins Leben zurückzurufen vermag. Ja, selbst die Sage läßt ihn gegen die Götter sündigen, dadurch, daß er das Uebermenschliche versucht; sie läßt ihn sich nach dem Reiche der Schatten umsehen, nur damit sie, um derentwillen er das Unmögliche versucht, auf ewig in die Nacht des Orkus zurücksinke.

9.

Der Frühling kam spät in diesem Jahr; der Frühling, auf den ich wie auf den Glücksbringer und Befreier gehofft, machte Miene, gar nicht kommen zu wollen. Kalt und hart lag der Boden da, nackt bogen sich die Zweige der Bäume vor unseren Fenstern in einem eisigen Wind. Schneemassen thürmten sich noch Ende April, und wenn die Sonne einmal schien, blies der Nordwind, die eisige Luft vom bottnischen Meere mit sich führend.

Zu dieser Zeit kam eine Erkältung hinzu und warf meine Frau wieder auf das Krankenlager. Wochenlang hatte sie zu Bett gelegen, und in diesen Wochen hatten wir das Schlimmste gefürchtet. Wieder war es still geworden in den Räumen. Wieder hatten die Knaben und ich, ohne zu sprechen, unsere Mahlzeiten an dem Tisch eingenommen, an dem ihr Platz leer war. Wieder waren die Laute im ganzen Hause gedämpft worden, und wieder war die Krankheit gekommen und hatte unsere Hoffnungen verstummen gemacht.

Aber gegen alle Erwartung erholte sich meine Frau. Langsam schritt die Genesung vor, und gering waren die Kräfte. Ueber alle Beschreibung seltsam erschien dieses neue Erwachen zum Leben, das Niemand hatte erwarten können. Aber es war doch Wirklichkeit, und wenn ich jetzt allein in meinem Arbeitszimmer im Erdgeschoß saß und das ganze Haus zur Ruhe gegangen war, konnte ich wieder beginnen, Träume vom Sommer zu träumen.

Und das Wunderbarste von allem! Ich träumte sie bald nicht allein. Als hätte die Genesung von der letzten Krankheit mehr als bloß die Rückkehr zu physischer Gesundheit bedeutet, so erlebten wir jetzt eine Zeit, die die Versöhnung alles dessen, was gewesen, in sich zu schließen schien. Meine Frau begann meine Träume zu theilen, sie begann sich darnach zu sehnen, zusammen mit mir zu leben. Sie begegnete mir so, wie sie mir nicht begegnet war seit dem Tage, an dem wir Sven zur Ruhe betteten. Sie war noch schwach und krank und vermochte nicht viel zu sprechen. Aber sie konnte doch hören, was ich ihr sagte. Sie wußte, daß der Frühling kam, und sie freute sich über die Frühlingsblumen, die auf ihrem Nachttischchen standen.

„Wie glücklich sind wir gewesen, Georg,“ sagte sie. „Wie glücklich sind wir gewesen.“

Sie preßte diese Worte mit dem Tone des schneidendsten Wehs hervor. Sie schloß die Augen, indem sie sie aussprach, und Thränen rieselten unter ihren Lidern hervor.

„Wir werden noch ein Mal ebenso glücklich werden,“ sagte ich.

Ich glaubte, was ich sagte, und ich nahm ihre Antwort für ein Versprechen.

„Ja, ja,“ antwortete sie hastig. „Im Sommer.“

Sie hörte mir zu, als ich von den Freuden unserer Jugend erzählte und von den Schären, die immer unser liebstes Heim gewesen.

„Wir werden zwischen den Inseln umherfahren und in der Nachtbrise segeln,“ sagte sie.

Und als ob quälende Erinnerungen sie störten, rief sie aus:

„Du mußt das vergessen und nie daran denken, was ich Dir in diesen letzten Jahren gesagt habe. Ich bin so wunderlich gewesen und habe mich selbst nicht verstanden. Oft, oft war es mir, als spräche ein Anderer durch meinen Mund, ohne daß ich es verhindern konnte. Du hast alles geben müssen, und ich habe nur empfangen. Aber das wird anders werden. Wenn ich nur gesund werde.“

Ich beschwichtigte sie und bat sie, nicht zu viel zu sprechen, allzu glücklich, um mehr sagen zu können.

„Ja, ja,“ sagte sie. „Ich habe zu Dir geschwiegen und zu Anderen gesprochen. Und wer sind die Anderen? Dumme Menschen, die nichts verstehen.“

Sie schloß die Augen und schlummerte ein. Stumm blieb ich an ihrem Bette sitzen und betrachtete sie. Sie hatte beinahe dasselbe Gesicht wiederbekommen, wie zu ihrer Mädchenzeit, als ich in meinem Bett erwachte und sie zum ersten Male schlafend sah. Schwere Freudentropfen fielen aus meinen Augen, und während der Aprilschnee sich dort draußen auf die harte Erde hinabsenkte, fühlte ich, wie mein eigenes Herz auftaute.

10.

Meine Frau stand auf und begann sich zu erholen, sie ging wieder unter uns, und sie hatte keinen anderen Gedanken, als uns glücklich zu machen und selbst zu fühlen, wie wir uns freuten, daß sie wieder dem Leben angehörte.

Ach, diese kurzen Wochen, in denen Niemand außer uns sie sah, wie gedenke ich ihrer nicht jetzt! Und wie gelang es ihnen nicht, alles, was gewesen, aus meinem Gedächtnis auszulöschen! Im Vergleich zu ihrem stummen Glück war alle Unruhe und aller Schmerz, den wir früher erlebt, für nichts zu rechnen. Alles, was gesagt wurde, habe ich in meiner Erinnerung eingezeichnet und geborgen. Was nicht gesagt wurde und größer war, als was das Leben sonst giebt, das schlummert in meiner Seele, mir den Grundton des Lebens gebend, das ich sonst nicht tragen könnte. Diese Tage, die jetzt kamen, verwischten alles, was an Unruhe, Zweifel und Mißtrauen in mir gewesen war. Denn ich hatte ihr mißtraut, ihrer Liebe mißtraut, weil sie sich nicht vom Tode zum Leben führen lassen wollte, um mit mir zu leben.

Nun war all ihr Widerstand dahin. Ich fühlte es in jedem Augenblick, den ich an ihrer Seite saß, in jedem Worte, das sie zu mir sprach. Es war, als hätte die Krankheit mit allem in ihr aufgeräumt und als wäre sie durch dieselbe gereinigt und geläutert wiedergekehrt. Ihre ganze Persönlichkeit kehrte zurück, und stundenlang konnte ich dasitzen und mich an ihrem Gesichte freuen, weil es dasselbe war wie früher.

„Weißt Du noch, wie ich Dir sagte, daß wir uns trennen sollten?“ sagte sie eines Tages.

Ich mußte nachdenken, um mich daran erinnern zu können, daß sie es je gesagt. Und als endlich die Erinnerung erwachte, sagte ich ihr, daß ich ihre Worte vergessen hätte, wie man die einer Fieberkranken vergißt.

„Ich meinte, was ich sagte,“ fuhr sie eifrig fort. „Ich glaubte, Du wolltest mich zu etwas zwingen. Und dann thatest Du mir so leid. Du hast es so schwer gehabt, viel schlimmer als ich. Aber, Du mußt auch wissen, daß ich so krank gewesen bin, viel zu krank, als daß ich an etwas anderes als mich selbst hätte denken können. Ach, es ist, als wäre ich wieder aufgewacht!“

Sie griff sich an den Kopf mit einer wunderlichen, halb unruhigen halb glücklichen Gebärde. Und sie fügte hinzu:

„Aber wenn ich einmal sterbe, dann mußt Du zu Svens Kommode gehen. Da zu oberst liegt ein Brief von mir. Aber Du darfst ihn nicht früher lesen. Denn ich weiß, daß ich doch bald sterbe, und wenn ich sterbe, werde ich ganz wie Sven sterben.“

Wie oft habe ich sie nicht solche Worte sprechen hören, und wie oft haben sie mich nicht bis ins innerste Mark erschauern lassen! Jetzt gingen sie so spurlos an mir vorüber, als wären sie gar nicht ausgesprochen. Ich betrachtete sie als die letzten Wellen nach dem Sturme, als die letzten leichten Nachwellen, wenn das Meer in Aufruhr gewesen ist. Ich lächelte in der Siegesgewißheit, daß ich sie wieder errungen, und indem ich ihr Gesicht dem meinen zuwandte, sah ich ihr in die Augen und sagte:

„Aber jetzt willst Du ja leben?“

„Ja,“ sagte sie. „Ich will leben für Dich und für die Knaben und um Sven niemals zu vergessen.“

An diesem Tage ging sie an meinem Arm über den Kiesweg vor der Villa. Ihre Schritte waren müde und unsicher, und sie stützte sich schwer auf meinen Arm, aber wir waren vergnügt wie zwei Kinder, und sie lachte über sich selbst, weil ihr Gang so unsicher war, daß ihre Beine unter ihr zusammenknicken wollten, wenn sie ausschritt, lachte mit einem etwas kränklichen, aber so innig glücklichen Lachen, daß es mich froh machte, sie stützen zu dürfen.

„Wie glücklich bin ich jetzt wieder, Georg,“ sagte sie, als wir wieder ins Haus gingen. „Und Du mußt es auch werden.“

Dann führte ich sie die Stiege hinauf. Aber bevor sie in ihre Stube ging, wollte sie noch das Zimmer der Knaben sehen. Da stand sie lange mit mir und sah alles an, als wäre es für sie während der Zeit, in der sie krank gelegen war, neu geworden.

„Sie haben es wohl auch oft sehr schwer gehabt,“ sagte sie. „Ich war ja zu nichts fähig. Aber jetzt wird es besser gehen.“

Die Pflegerin half ihr ins Bett, und als die Knaben vom Spielplatz nach Hause gekommen waren, rief sie sie mit ihrer dünnen, schwachen Stimme, so verschieden von ihrer früheren tiefen und vollen, daß sie hereinkämen und erzählten, was sie draußen gemacht und womit sie sich vergnügt hätten. Das thaten sie auch so gründlich, daß ich mehr als einmal versuchte, sie zu unterbrechen. Aber sie hinderte mich immer daran. Und während sie durcheinander sprachen, lag sie die ganze Zeit da und sah ihre Gesichter an und hörte ihren Worten zu, als brauchte sie Zeit, um zu verstehen, daß das, was sie jetzt erlebte, Wirklichkeit war und kein Trugbild. Dann ließ sie sie zu sich kommen, um ihnen den Gutenachtkuß zu geben.

„Jetzt werde ich bald gesund,“ sagte sie. „Und wenn der Sommer kommt, dann nimmt uns Papa eine Wohnung in den Schären. Ich brauche sie nicht zu sehen oder zu wissen, wo sie ist. Denn er richtet es immer so gut für uns Alle ein.“

Mit einem leisen, glücklichen Lächeln schloß sie die Augen und legte sich im Bett zurecht, um einzuschlummern. Aber als ich die Knaben hinausbegleitet hatte, nahm ich meinen Mantel und ging allein denselben Kiesweg auf und nieder, über den meine Frau und ich eben gewandert waren. Es war ein ruhiger, klarer Frühlingsabend mit leichtem Nachtfrost.

11.

In diesen Tagen mußte ich oft, ohne daß ich mir klar machen konnte, wie oder warum, an Elsas und meine Fahrt zum Meere denken. Sie kam mit der Erinnerung an meinen stummen Kampf, sie dahinzubringen, das zu lieben, was mir teuer war; und die Erinnerung, wie es mir gelungen und doch nicht gelungen war, reizte und beunruhigte mich zugleich.

Sie kam mir in den Sinn, als ich in diesen Tagen der Genesung mit der Hand meiner Frau in der meinen dasaß und sie ihren Kopf an meine Schulter lehnte.

„Daß ich so weit weg von Dir gewesen bin,“ sagte sie eines Abends. „Daß ich so weit weg gewesen bin. Das war nur, weil ich glaubte, Du wolltest mich verhindern, zu Sven zu gehen.“

„Das willst Du ja jetzt nicht mehr?“ sagte ich.

„Nein, nein,“ sagte sie. „Jetzt will ich bei Dir bleiben. Aber ich habe so viele häßliche und dumme Gedanken gedacht in dieser Zeit.“

Ihre Stimme wurde wie die eines Kindes, das ein Vergehen gesteht, so daß ich lachen mußte, als ich sie hörte.

„Nein, lache nicht,“ fuhr sie fort. „Denn es ist wahr, ich habe geglaubt, Du verstündest mich nicht, und ich habe es auch gesagt. Kannst Du mir verzeihen?“

Sie sprach so tief ernst, daß ich ganz gerührt wurde, und um sie nicht noch mehr zu erregen, antwortete ich in einem Tone, den ich so munter als möglich zu machen suchte:

„Ist das die einzige Sünde, die Du auf dem Gewissen hast?“

„Nein, nein,“ sagte sie, „aber gegen Dich weiß ich keine andere.“

Und sie fuhr fort, indem sie sich enger an mich schmiegte.

„Aber das ist auch das Aergste, was ich sagen und denken konnte. Denn ich weiß ja, daß Niemand außer Dir mich verstanden hat. Niemand von all den Menschen, mit denen ich sprach, als ich mich so einsam und elend fühlte und meinte, daß alles in mir zusammenbrechen müßte.“

Sie schaudert, als sie das sagt, und führt die Hand an die Stirne.

„Das ist jetzt vorüber,“ sagt sie. „Und alles ist so ruhig und klar. Aber jetzt mußt Du noch etwas wissen.“

Sie setzte sich auf und betrachtete mich mit einem Blick, so hell und tief, als wollte sie mich auf dem Grunde ihrer Seele lesen lassen.

„Du mußt wissen, was das Allerschlimmste war,“ sagte sie. „Als ich umherging und daran dachte, daß ich sterben und Sven folgen würde, und als ich an das so dachte, daß ich meinte, Du glittest von mir fort, und alles glitte fort, und die Erde war öde und leer — da hatte ich solche Angst, ach, so furchtbare Angst. Denn ich glaubte, ich würde gezwungen sein, es selbst zu thun. Das war das Allerärgste. Aber jetzt weiß ich, daß ich es nie zu thun brauche. Das hat Gott mir gelobt.“

„Meinst Du, daß Du doch bald von mir gehen wirst?“ sagte ich.

Ich schauderte bei meinen eigenen Worten, und ich fühlte, daß mir die Stimme nahe daran war, zu versagen.

„Das weiß ich nicht,“ sagte sie, indem sie wieder den Kopf an meinen Arm lehnte. „Ich weiß nur, daß ich es nie selbst thun muß.“

Sie schwieg, und ich fand keine Worte, um ihr zu erwidern. Ich sah sie an. Sie war wieder ganz so wie in unseren glücklichsten Jahren. Sie erschien mir gleichsam zarter und jünger, und die Ruhe, die ihre frühere fieberische Rastlosigkeit abgelöst hatte, gab jeder ihrer Bewegungen eine vertrauensvolle Zärtlichkeit, die mir im selben Atemzuge Glück und Schmerz schenkte.

Als sie zu Bett gegangen war und ich hereinkam, um ihr Gutenacht zu sagen, sah sie mich mit demselben hellen und tiefen Blick an wie früher:

„Du darfst Dich auch nicht daran kehren, daß ich sagte, Du hättest mir meinen Glauben genommen,“ sagte sie. „Das hast Du nie gethan. Das habe ich mir nur eingebildet. Ach, ich habe mir soviel eingebildet. Ich habe wohl in einer einzigen Einbildung gelebt.“

Ein schmerzlicher Ausdruck trat in ihr Gesicht, und indem ich über ihre Stirne fuhr, um ihn zu verscheuchen, antwortete ich:

„Das habe ich wohl nicht gethan. Das ist wahr. Aber ich hätte doch verstehen sollen, daß das, was Du glaubtest, Dir kostbar war. So kostbar, daß ich Dich nie auch nur zu der Möglichkeit anderer Gedanken hätte führen dürfen.“

Ihr ganzes Antlitz erstrahlte wie von einem inneren Licht, und mit einem schwachen, müden Ausruf der Freude schlang sie die Arme um mich und sagte Gutenacht.

Ich löschte die Kerze an ihrem Bett und ging sachte aus dem Zimmer. Mein Herz war übervoll von Dankbarkeit für alles, was sie gesagt hatte. Es war, als hätte sie mir einen Schatz für die Erinnerung gegeben.

Im selben Augenblick, in dem ich dies dachte, wurde es mir klar, daß ich gleichsam schon angefangen hatte, sie in der Erinnerung zu suchen. „Sie geht von mir,“ dachte ich. Und zu meinem Staunen merkte ich, daß ich jetzt den Gedanken ohne Bitterkeit denken konnte, nur weil ich ihr so nahe war wie nie zuvor. „Sie stirbt nicht,“ dachte ich den Augenblick darnach. „Sie wird leben.“ Und ich merkte den Widerspruch in meinem eigenen Gedankengang nicht.

Ich saß in meinem Zimmer und versuchte zu lesen. Aber ich war zu erregt, zu glücklich über den seltsamen Reichtum, der mir zugefallen war. Und plötzlich sah ich meine Frau in dem Sommer an der Westküste, in dem Augenblick, als sie sich von dem Fenster der Lotsenhütte mir zuwandte und ich fühlte, wie wir in derselben Liebe zu dem unendlichen Meere vereint wurden, die von keiner Grenze weiß. Es war eine Aehnlichkeit zwischen dem, was ich damals empfand und was mich jetzt mit Glück und Hoffnung erfüllte, und zugleich kam es mir in den Sinn, wie viele lange Jahre ich einhergegangen war und mich nach dem Meere gesehnt hatte.

Wie eine Vision tauchte eine Erinnerung vor mir auf, die ich lange vergessen hatte. Ein Knabe steht auf einem hohen Berg und sieht hinaus übers Meer. Die Klippe ist steil, und unter ihm tosen die Wogen in wildem Schäumen. Der Knabe hat den Rock aufgeknöpft. Er hält ihn mit beiden Händen ausgespannt, so daß er wie ein Segel wirkt. Es ist ihm göttlicher Genuß, zu fühlen, wie er dem Sturme trotzt, der ihn von der Klippe zu heben und ins Meer zu schleudern droht. In dieser Freude wird er durch eine Stimme gestört, die seinen Namen durch den Wind ruft. Ein paar Arme, stärker als seine eigenen, umfassen ihn und tragen ihn mit Gewalt von der gefährlichen Stelle und vom Anblick des Meeres, das von Gefahren und Mut rauscht.

Der Knabe bin ich selbst, und ich lächle wehmütig bei der Erinnerung, während die Stunden der Nacht weiterschreiten, ohne daß ich es merke, und ich einsam sitze und in das blicke, was geschehen soll. Jetzt habe ich das erreicht, wonach das Kind sich sehnte, aber der Sturm hat mich weiter geführt, als ich selbst wollte. Jetzt wollte ich, daß sich die Elemente entweder zur Ruhe legten oder daß Jemand, der stärker wäre als ich, mich von der Gefahr fortführen könnte, von der ich nie glaubte, daß ich sie fürchten würde.

Aber ich weiß zugleich, daß das nicht geschehen kann. Und mit beschämten und schaudernden Gefühlen denke ich an das Leiden meiner Frau, das größer ist als das meine.

12.

Nicht lange nach diesem Tag wurde ich durch eine Telephonbotschaft heimgerufen, die mitteilte, daß meine Frau von einem heftigen Krampfanfall getroffen worden war. Man fügte hinzu, daß es ernst sei, und bat mich, meine Heimkehr zu beschleunigen.

Am selben Tag hatte ich meiner Frau frühmorgens Lebewohl gesagt, bevor ich zu meiner Arbeit fuhr. Es war der erste Mai, und wir hatten davon gesprochen, den Kindern auf irgend eine Weise einen fröhlichen Tag zu bereiten, so wie es früher im Hause der Brauch gewesen. Es war mir auch zuerst unmöglich zu fassen, daß das, was ich gehört hatte, Wirklichkeit sein könnte.

Ich benützte daher die Zeit, die mir blieb, bis der Zug abging, um ein wenig Obst und anderes zu kaufen, was für den frohen Tag notwendig war. Natürlich ist das etwas Vorübergehendes, sagte ich zu mir selbst, wie ich da mit meinen Packeten im Coupé saß. Um die Zeit rascher hinzubringen, nahm ich meine Zeitungen zur Hand und versuchte zu lesen. Es gelang mir im Anfang, weil ich mich anstrengte, alles gleichsam so alltäglich wie möglich zu nehmen, damit meine Angst mir nicht übermächtig würde, wenigstens solange ich im Coupé säße. Aber je näher ich meiner Wohnung kam, desto stärker fühlte ich, wie mich nur die Unruhe zu allem trieb, was ich vornahm. Die Gedanken wollten den Augen nicht folgen, die mechanisch über die Zeitungsspalten glitten, und bald merkte ich, daß die Augen ohne Ordnung ihren Weg von der einen Spalte zu der anderen suchten. Ich faltete die Zeitung zusammen, und wie ein Blitz durchzuckte es mich: „Du fährst dem entgegen, was Du gefürchtet hast. Du kannst nicht leugnen, daß Du beständig gefürchtet hast. Nie hast Du geglaubt, daß sie leben würde. Du hast es Dir nur selbst vorspiegeln wollen. Jetzt hat die Stunde geschlagen, und Du entgehst ihr nicht.“

Eine unnatürliche Ruhe kam über mich. Vielleicht kam dies daher, daß ich jetzt der letzten Gewißheit entgegenfuhr, vor der ich fühlte, daß mit ihr aller Kampf zu Ende sein mußte. „Gott, soll sie sterben,“ murmelte ich, „möchte sie doch ohne Schmerzen sterben können!“ Und noch immer wunderte ich mich, daß ich so ruhig sein konnte. Ich sah mich auf dem Perron um, als der Zug stehen blieb. Ich hatte erwartet, daß Jemand mir entgegenkommen würde, aber Niemand war da. „Dann lebt sie noch,“ dachte ich mit derselben eigentümlich klaren Ruhe. Und im nächsten Augenblick dachte ich: „Vielleicht ist gerade das ein Zeichen, daß alles zu Ende ist. Man hat eingesehen, daß ich nicht hier vor fremden Augen erschüttert werden will.“ Aber selbst vor dieser Möglichkeit behielt ich dieselbe wunderliche Gefühllosigkeit bei. Langsam begann ich heimwärts zu gehen, schwer stieg ich den Hügel hinan. Ich blickte zum Fenster auf, und ich glaubte sie noch sehen zu können, als sie zum ersten Male nach ihrer ersten Krankheit wieder angekleidet und auf war. Ueber das schwarze Kleid, das sie jetzt immer trug, hatte sie ein helles Cape geworfen, und das Fenster stand weit offen. Sie beugte sich hinab und winkte, ungeduldig, weil ich nicht schon früher aufgeblickt hatte, und sie bebte vor Eifer, mich damit erfreuen zu können, daß sie auf war und allein gehen konnte. Diese Erinnerung durchzuckte mich, und mechanisch sah ich zu dem Fenster auf, obgleich ich wohl wußte, daß jetzt Niemand da stehen und mir zuwinken würde.

Da stand der Gedanke vor mir: „Durch mehr als ein und ein halbes Jahr warst Du darauf gefaßt, daß sie sterben würde, und Du hast sie betrauert, als wäre sie schon dahin, jetzt kannst Du nicht mehr fühlen. Der Schmerz hat sich selbst verzehrt, er ist in einer eigenen Flamme erloschen, und nur die Asche ist übrig.“

Kurz darauf stand ich im Schlafzimmer und sah, daß meine Frau bewußtlos war. Ich lauschte ihren Atemzügen, nahm ihre Hand und versuchte, zu ihr zu sprechen. Ich begriff, daß alles vergeblich war, und ging hinab, um selbst mit dem Doktor durchs Telephon zu sprechen, nicht weil ich glaubte, daß er nötig war, sondern weil ich meinte, ich müßte es. Er versprach zu kommen, und leise ging ich wieder die Stiege hinauf, auf der mich durch die geöffneten Thüren aus dem Krankenzimmer der Laut der Atemzüge meiner Frau erreichte, die allein in dem ganz stummen Hause zu herrschen schienen.

Da sah ich Olof, der stille auf der Treppe stand und zu horchen schien. Ich legte meine Hand auf seine Schulter und gedachte an ihm vorbei zu gehen. Aber der Knabe hielt mich auf.

„Warum schnarcht Mama so wunderlich?“ sagte er.

Er wurde rot, als hätte er etwas Unpassendes gesagt, und versuchte zu lächeln, ohne daß es ihm gelang.

„Das pflegt sich so anzuhören,“ sagte ich, „wenn ein Mensch nahe daran ist zu sterben.“

Der Knabe brach nicht in Thränen aus. Er nickte nur und sah weg.

„Er hat es erwartet so wie ich,“ dachte ich.

Und im selben Augenblick sah ich, wie groß und wie klein er war.

Da war es, als bräche etwas in mir auf. „Hier steht das Schlimmste bevor,“ dachte ich, „das, in das Du Dich noch nicht hineingedacht hast. Die Kinder, die Kinder!“ Und während die Pflegerin allein bei der Kranken saß, ging ich mit den Knaben hinunter, um zu Mittag zu essen und mit ihnen von dem zu sprechen, was geschehen sollte.

Wie wir mit einander sprachen an diesem Tag und den folgenden! Wie wir unsere Stimmen dämpften, als fürchteten wir, sie zu stören, deren Ohr von keinem Laute mehr erreicht werden konnte! Meine Knaben erschienen mir plötzlich wie ein paar Altersgenossen, die allein alles geteilt und alles verstanden hatten. Für sie war nichts Wunderliches daran, daß Mama zu Sven ging. Das hatte sie ihnen ja selbst so oft gesagt. Es lag nichts Störendes für sie in dem Gedanken, daß Mama fortging, weil sie nicht zu leben wünschte. Sie wurden von keinen Theorieen beunruhigt. Sie kritisierten nicht. Sie versuchten keine Auslegungen dessen, das nur einfach und groß war. Sie wußten bloß, daß, wenn Mama sterben und von ihnen gehen wollte, dies nur deshalb geschah, weil sie krank und schwach war und weil sie nicht zu leben vermochte. Wenn Jemand ihnen gesagt hätte, daß ihre Mama dadurch zeigte, daß sie sie weniger liebte, würden sie gelacht haben oder empört gewesen sein.

Jetzt sprachen sie zu mir von so mancherlei, das ich nicht gehört hatte. Und wie wir sprachen, begann in mir selbst der Schmerz gleichsam aus der Ferne zu erklingen. Ich wußte, daß er einmal kommen würde, mit Linderung kommen. Aber noch konnte er nicht ganz die Ruhe überwinden, die mich beherrschte und die ich selbst dann noch beibehielt, als der Doktor das Krankenzimmer verlassen und mir all das gesagt hatte, was ich schon wußte.

Aber bevor er kam, wurde ich durch Schreie hinauf ins Schlafzimmer gerufen. Als ich eintrat, lag meine Frau in krampfhaften Zuckungen, die im Gesichte anzufangen schienen und sich von da fortpflanzten, bis sie ihren ganzen Körper erschütterten. Wir konnten nichts thun. Und von Zeit zu Zeit kamen die entsetzlichen Anfälle wieder.

Der Doktor machte ihnen durch Injektionen ein Ende, und die frühere Ruhe kehrte wieder, aber das Bewußtsein kam nicht zurück. Noch fast zwei Tage lag sie in derselben Betäubung, in der ich sie zuerst gefunden. Unaufhörlich, lange nachdem die Zuckungen aufgehört hatten, glaubte ich ihr Antlitz verzerrt und in derselben grauenvollen Weise bebend zu sehen. Da erinnerte ich mich an Svens Totenbett. Ich wußte, daß ich damals dasselbe Bild gesehen, von der Verzerrung des Gesichtes und des Mundes bis zu dem Zittern der Glieder und den krampfhaft geballten Händen. Ich gedachte ihrer Worte: „Wenn ich sterbe, werde ich ganz so sterben wie Sven.“ Ich erinnerte mich, daß ich bei mir selbst gelächelt hatte, als ich diese Worte hörte, ich hatte sie für einen Ausdruck der Ueberspanntheit erklärt. Jetzt, wo sie sich verwirklicht hatten, konnte ich sie nicht aus dem Sinne schlagen. Woher wußte sie es? Oder wie konnte sie es so sicher sagen, wenn sie nichts wußte? War dieses Zusammentreffen bloß ein Zufall? Und kann man überhaupt alles Zufall nennen, was man sich nicht erklären will?

Ich saß Stunden am Bette meiner Frau und ging bloß hinaus, um Luft zu schöpfen oder zu ruhen. Ich saß mit den Knaben am Krankenlager, und wir flüsterten mit einander, sprachen Worte, die niemals wiederkommen werden, und deren sich Keiner von uns mehr entsinnen kann. Ich schlief in den Kleidern auf dem Bett neben Elsa, meiner kleinen Elsa, die niemals mehr erwachen sollte, und ich saß allein wach, damit die Pflegerin Ruhe fände und ich wenigstens die Erinnerung an ein paar Stunden besitzen könnte, in denen niemand Anderer als wir Beide im Sterbezimmer gewesen waren.

Man sagt von Sterbenden, daß ihr ganzes Leben an ihnen vorüberrauscht, bevor das Ende eintritt, und es muß wohl so sein, daß man da alles, was man selbst erlebt hat, vielleicht in einem neuen Lichte sieht. Für mein eigen Teil weiß ich, daß ich in der letzten Nacht, als es so langsam Tag wurde und die Knaben ermattet zur Ruhe gegangen waren, mein eigenes Leben und alles, was sie und ich mit einander erlebt hatte, so sah, wie ich es nie zuvor gesehen. Und ich sah, daß ich von allem, was sie mir gesagt, mir das eingeprägt hatte, was ich hätte vergessen sollen, und gerade das vergessen hatte, was ich vor allem hätte beherzigen müssen. Ich hatte mir das gemerkt, was sie nach meinem eignen Wunsche sprach, und alles vergessen, was sie dagegen gesprochen. Während ich glaubte, alles für sie zu thun, hatte ich daher für mich selbst und mein eigenes Glück gearbeitet. Alles, was ich erlebt hatte, sammelte sich in diesem Gedanken wie in einem einzigen Brennpunkt.

Denn hinein in das Thal des Todes hatte sie mich geführt. Das sah ich jetzt, als die graue Luft vor dem Fenster sich erhellte und ein weiter Rand der Morgenröte sich rings um das Himmelsgewölbe abzeichnete. Von selbst und aus eigenem freien Antrieb hatte ich niemals dorthin getrachtet, hatte nur gestrebt, von dort fortzukommen und zu vergessen, daß solches vorhanden war. Und wie ich nun hier saß, wollte es mich bedünken, daß ich jetzt ebenso wenig von der Welt wußte, als da ich zuerst zum Leben in dieser Welt voll Widersprüche erwachte, und über alles verwundert, was mir dort begegnete, meine ersten Schritte machte. Immer war ich mit etwas wie Verwunderung in mir umhergegangen, immer mit einem Gefühl, daß das, was ich erlebte, nur zur Hälfte Wirklichkeit sei, immer hatte ich mich gleichsam von dem, was war, dem Unbekannten entgegengestreckt, das kommen sollte. Immer hatte ich vom Glücke geträumt, und das Glück hatte sich mir nie anders gezeigt, als in Gestalt eines Heims. Dieses Glück hatte ich errungen, es errungen, wie nur einer unter Tausenden es erringt, aber der Tod, an den ich nie hatte denken wollen, war unsichtbar hinter mir hergeschlichen. Er nahm meinen kleinen Knaben mit den Engelsaugen und dem goldenen Haar. Und als er starb, beugte er sich tiefer über mich denn zuvor, breitete seine schwarzen Fittiche über mein Haus und ließ mich nicht früher los, als bis er mir und den Meinen sie geraubt, die uns teurer war als alles im Leben, weil sie uns teurer war als das Leben selbst.

Ich stand auf und sah hinaus. Ich lauschte ihren Atemzügen, und ich konnte es nicht glauben, daß es meine Frau war, die hier lag und sterben sollte. Ich beugte mich hinab und benetzte ihre Zunge und ihre Lippen mit Wasser, und ich betrachtete ihre Züge, bis es vor meinen Augen schwarz wurde und ich nichts sehen konnte. Aber ihr selbst glaubte ich nahe zu sein, und war noch eine Erinnerung in ihr, die, unerreichbar für mich, von allem getrennt, was wir Sterblichen Dasein nennen, sich mit ihrem eigenen Leben beschäftigte, so wußte ich, daß ich mit darin war. Ich war mit darin so, wie ich mich nie selbst sehen sollte und kein Anderer als sie mich sehen konnte.

Und während meine Gedanken so um alles kreisten, was wir Beide zusammen erlebt hatten, vergaß ich mich selbst und sah nur sie. Jung und hingebend trat sie mir entgegen, aber in allem Glück, das um sie strahlte und ihre Schritte leicht machte, lag eine Wehmut, die umso stärker war, weil sie so lange schwieg. Ich glaubte mich jetzt erinnern zu können, daß ihr ganzes Wesen früh, früh schon auf einem Plane stand, der nicht der Anderer war. Sie war geschaffen, glücklich zu sein und dann zu sterben, und der Tag kam, an dem es eine Grausamkeit wurde, zu versuchen, sie zum Leben zu zwingen. Sie konnte nicht eine Zeitlang trauern und dann vergessen. Sie konnte nur trauern und sterben. Alles über dem Gefühl ihres Schicksals vergessend, hätte ich wissen müssen, daß sie immer die Wahrheit sprach und am meisten dann, wenn ihre Rede mir wunderlich und unmöglich schien. Aber am allerwahrsten war sie, wenn der Schmerz die Worte auf ihre Lippen preßte und sie mich bat, sterben zu dürfen.

Warum hatte ich sie nicht gewähren lassen? Warum hatte ich versucht, sie gegen ihren Willen und über ihre Kraft zu zwingen? Begriff ich denn nicht, daß sie nur durch eine unerhörte Kraftanstrengung durch zwei lange Jahre in meinem Heim gekommen und gegangen war, mit uns, die wir lächeln wollten, gelächelt, mit uns, die wir spielen wollten, gespielt hatte?

Wie hatte ich so grausam sein können, und wie kann man so grausam sein, nur weil man nicht recht und klar zu sehen vermag?

Und diese Fragen sammelten sich zuletzt in der neuen: Wie hat sie mich lieben können, wenn ich sie gegen meinen Willen so gequält habe?

Denn als hätte ich ihren Gedanken folgen können, die schon von den meinen getrennt waren, schien es mir, daß ich dies gegen meinen Willen gethan hatte und daß sie das für mich fühlen mußte, obgleich ich es früher nicht hatte glauben wollen. Aber nie sollte mir eine Antwort auf diese Frage werden, nie sollte sie aus dieser Betäubung erwachen, und mit Verzweiflung im Herzen, würde ich mich eines Tages dem neuen Leben zuwenden, das mich ohne sie erwartete.

So suchte ich in der Ahnung dem Weg zu folgen, den ihre Gedanken nahmen, während sie tiefer und immer tiefer in die Gewalt des Todes glitt. Es war, als hätte ich mich selbst und mein eigenes Leben dem Tode gegeben und als machten wir Beide zusammen, sie und ich, unsere Rechnung mit der Welt. Alles außer und in mir wurde so schwindelnd hoch und groß, daß ich glaubte nichts erreichen zu können. Es war kein Trost in all diesem, nur ein verzweifelter Abschied. Träge schritten die Stunden vorwärts, und schon kam der Augenblick unwiderstehlicher Müdigkeit, wo man die Augen schließt und die Hände zusammenpreßt in einem einzigen Gebet, daß alles zu Ende sein möge.

Da hörten plötzlich die regelmäßigen Atemzüge auf, und ich fühlte, wie mein Herz gleichsam starr wurde. Ich glaubte, daß nun der Tod komme, und ich eilte hinaus, um die Knaben zu wecken. Sie kamen herein, schlaftrunken und ernst, und setzten sich am Bette nieder, und in diesem Augenblicke erinnerte ich mich an das, was sie einmal gesagt hatte:

„Wenn ich sterbe, will ich, daß kein Anderer außer Dir und den Knaben um mich ist. Nur zu Euch gehöre ich.“

So saßen wir nun auch, und während wir uns nicht erklären konnten, was ihre erleichterten Atemzüge bedeuten sollten, und das Ende erwarteten, merkten wir, daß ihre Augen gleichsam arbeiteten, um sich zu öffnen, und wir sahen, wie sie sich dorthin wendete, wo Svens Porträt an der Wand hing, und hörten sie sagen:

„Nenne.“ Schwach und leise sprach sie das kleine Wörtchen aus, aber sie hatte doch gesprochen. Krampfhaft faßten wir uns bei den Händen, und unsere Thränen flossen, nicht aus Schmerz, sondern aus Freude, daß wir wieder ihre Stimme gehört hatten.

Von diesem Augenblick an wußte sie, daß wir da saßen. Von diesem Augenblick an war gleichsam ein Abschiednehmen in jeder Miene, jeder Bewegung und jedem Worte. Wenn sie unsere Stimmen hörte, schlug sie ihr eines Augenlid auf, ganz wie Sven es einmal gethan hatte, und wir konnten merken, daß sie uns erkannt hatte und sich unserer Liebkosungen bewußt war.

Noch einmal nannte sie Svens Namen, als hätte sie sagen wollen, daß sie ihn sähe, daß sie zu ihm ginge. Aber dann sank sie zusammen, und wir saßen atemlos da, gierig nach einem Zeichen haschend, daß sie uns noch nicht verlassen, noch nicht von uns gegangen war.

Da schlug sie ihr linkes Auge auf, so wie Sven es einmal gethan, und ihr Blick suchte den meinen. Ich beugte mich über sie und sah, daß sie versuchte zu sprechen. Aber sie vermochte es nicht, und mit einem Ausdruck unsäglichen Leidens sank sie zurück in die Betäubung, die der Vorbote des Todes ist. Mehrere Male wiederholte sie denselben Versuch. Bei jedem Male trat in ihr Gesicht dieser Ausdruck verzweifelter Ohnmacht, und mit jedem Male wurde er herzzerreißender. Es war, als gehörte sie uns nicht mehr an, aber als gäbe es doch etwas, was sie uns sagen wollte, ehe sie für immer schied, als könnte sie nicht sterben, ohne es den Ueberlebenden mitgeteilt zu haben. Es war entsetzlich, ihren Kampf anzusehen, und noch entsetzlicher, vielleicht ihre letzten Worte zu verlieren. Wieder beugte ich mich über sie hinab, und verzweiflungsvoll flüsterte ich eine Bitte in ihr Ohr. Da schlug sie ihr Auge zu mir auf, und ich sah, daß sie mich hörte. In einer Spannung, als hinge mein ganzes zukünftiges Leben von ihren Worten ab, näherte ich mein Ohr ganz ihrem Munde.

Da hörte ich ihre Stimme. Sie kam aus so weiter Ferne, wie noch keine Stimme in meinem Ohr erklungen ist. Sie war so schwach, daß ich sie kaum unterscheiden konnte. Es war kaum sie selbst sondern eher ihr Geist, der sprach. Aber deutlich und klar vernahm ich die Worte, und Niemand außer mir konnte sie hören:

„Ich ... habe ... Euch ... so lieb.“

Ich muß vor Schmerz aufgeschrieen haben. Denn ich fühlte Hände, die mich umfaßten und stützten. Und der Ausruf, der sich mir entrungen, hatte die Sterbende erreicht. Denn von meiner Frau kam ein verzweifelter Laut des Schmerzes, der sagte, daß sie mich hören konnte, ohne es doch zu vermögen, ihre leblose Hand auf mein Haupt zu legen. Diesen Laut kann ich noch zu dieser Stunde hören.

Um diese Worte sagen zu können, war sie stundenlang ringend dagelegen. Und als sie sie gesagt hatte, sank sie in Ruhe zurück. Es war Friede über ihren Zügen. Sie wünschte nichts mehr, verlangte nichts mehr. Sie hatte ihre Rechnung mit der Welt abgeschlossen, als sie, bevor sie starb, gesagt hatte, wie sehr sie die Knaben und mich liebte.

Ein paar Stunden später hatte sie die Augen geschlossen. Es geschah ohne Todeskampf, stille und ruhig, so wie wenn ein Licht herabgebrannt ist.

Sie lebte ihr eigenes Leben und starb ihren eigenen Tod.

Sie war so schwach, daß sie keinen Todeskampf hatte. Sie hatte vorher lange genug gekämpft.

Aber sie war stark genug, um uns, bevor sie ging, ein Wort zu schenken, an das wir uns erinnern und von dem wir leben konnten. Ihre Liebe war stärker als der Tod.

Segen über sie!

13.

Ich öffnete den Brief, der zu oberst in der kleinen Kommode meiner eigenen Kindheit dort drinnen in Svens Heiligtum lag. Da las ich dieses:

„Ich habe so oft vom Sterben gesprochen, aber einmal wird es ja doch geschehen. Wer dieses Blatt zuerst findet, soll es Dem oder Denen zeigen, die mein Begräbnis anordnen werden. Oh Gott, wenn ich dieses Wort niederschreibe — wäre ich so nahe dem Grabe, wie das Wort dem Papier. Ich wollte ja für Geliebte leben, die mehr für mich gethan haben, als Menschen für einen Anderen thun, und ich versuche, so gut ich kann. Aber wenn es nicht gelingt — und es ist mir so zu Mute — dann möchte ich in mein weißes Kleid gekleidet werden. In meiner untersten Kommodenlade ist all das Linnen, das Nenne, mein Engel, benützte. Aber gebt es mir mit. Laßt so viel von dem, was sein ist und in meinem Sarge Platz hat, mit hineinkommen. Auch auf seinen harten, kleinen Spielsachen werde ich weich liegen. — —

Ein letzter Wunsch noch. Sterbe ich zuhause, so versucht, wenn es möglich ist, mich in Nennes Zimmer aufzubahren.

Dank für alles, alles. Aber ich war ein unglücklicher Mensch und konnte nicht leben trotz aller Liebe und Zärtlichkeit — —.

Eure
Elsa.“

Und so wurde sie in das weiße Kleid gekleidet, das sie nicht getragen, seit sie sich an der Erde nicht mehr freute und an allem, was der Erde war. Alles geschah, so wie sie es gewünscht, und in Svens kleinem Zimmerchen ward ihr letztes Lager gebettet. Da lag sie, das weiche, schwarze Haar gelöst über das weiße Gewand fallend, und rings um sie waren alle Blumen des Frühlings. Hinter ihr erhob sich zu dem kleinen Fenster eine purpurrothe Azalee, und auf dem Bette lag ein Regen von gelben Rosen.

Sie sah aus, als ob sie schliefe, und ihr Gesicht hatte sich im Tod verjüngt.

So ging sie zu Sven, wie sie selbst gesagt, und darum ist dies das „Buch vom kleinen Brüderchen“, das kam und seiner Mutter Engel wurde, wenn auch nicht so, wie wir gehofft hatten. Denn er nahm sie mit, als er ging.

14.

Aber dieses Buch ist zugleich die Erzählung von einem Kampf mit dem Tode. Es ist die Erzählung von einem Manne, der kämpfte und überwunden ward, aber der sich seiner Niederlage nicht schämt.

Ich bin seither weit umhergezogen, und ich habe viele Menschen gesehen. Aber alles ist mir fremd gewesen und alles tot, bis dieses Buch geschrieben ward. Es ward geschrieben in lichten Sommertagen, da wo die Schären aufhören und das offene Meer beginnt. Und es ward geschrieben von einem einsamen Manne, der nicht mehr einsam ist.

In langen Wochen hat er über das Meer hinausgeblickt, das gleich dem Menschenleben, das des Lebens wert, niemals ruhig ist. Er sah dort, daß über tosenden Gewässern Leuchtthürme blinken, und sollten auch die Leuchtthürme erlöschen, so funkeln doch des Himmels Sterne.

Von Gustaf af Geijerstam ist im gleichen Verlage erschienen:

Das Haupt der Medusa. Roman. Sechstes Tausend.
Die Komödie der Ehe. Roman. Achtes Tausend.
Nils Tufvesson und seine Mutter. Bauernroman. Viertes Tausend.
Frauenmacht. Roman. Achtes Tausend.
Wald und See. Novellen. Viertes Tausend.
Kampf der Seelen. Roman. Viertes Tausend.
Alte Briefe. Novellen. Viertes Tausend.
Karin Brandts Traum. Roman. Achtes Tausend.
Gefährliche Mächte. Roman. Sechstes Tausend.
Die Brüder Mörk. Roman. Viertes Tausend.
Thora. Roman. Zwanzigstes Tausend.
Das ewige Rätsel. Roman. Sechstes Tausend.
Die alte Herrenhofallee. Roman. Sechstes Tausend.
Gesammelte Romane. Sechstes Tausend.

S. Fischer, Verlag, Berlin W. 57

Gustaf af Geijerstams
Gesammelte Romane

Fünf Bände in schöner gediegener Ausstattung
Geheftet 12 Mark, in Leinen geb. 15 Mark

1. Bd.: Porträt / Einleitung von Friedrich Düsel / Auf der letzten Schäre / Das Geheimnis des Waldes / Kristins Myrte / Sammel / Alte Briefe / Frau Gerdas Geheimnis.
2. Bd.: Das Haupt der Medusa / Die Komödie der Ehe.
3. Bd.: Das Buch vom Brüderchen / Frauenmacht.
4. Bd.: Karin Brandts Traum / Gefährliche Mächte.
5. Bd.: Die Brüder Mörk / Die alte Herrnhofallee.

Geijerstam ist ein Erlebnisdichter. Er schöpft von innen und verlegt auch seine Wirkungen nach innen. Seine Eheromane sind nicht bloß „Ehegeschichten“ schlechthin, Geschichten vom Sichfinden und Sichverlieren der Geschlechter — es tauchen darin fast alle die leisesten, feinsten und heimlichsten Seelenkonflikte und Seelenprobleme auf, all die uns moderne Menschen innerlich bewegenden Fragen, die den Wert der differenzierten Persönlichkeit entscheiden. Geijerstams Wirkung gedeiht jetzt zur vollen Blüte, an der Schwelle einer Zeit, die keine größere Sehnsucht kennt als die, fern vom verwirrenden Lärm der hastenden, nach materiellen Gütern jagenden Welt sich ein Eigen- und Innenleben aufzubauen, aus dessen Tiefen wieder rein und voll die Glocken der Seele heraufläuten.

Druck von Rosenthal & Co. in Berlin

Anmerkungen zur Transkription

Verlagsanzeigen wurden an das Ende des Buches verschoben.

Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigert. Weitere Änderungen, teilweise unter Verwendung anderer Ausgaben und des schwedischen Originales, sind hier aufgeführt (vorher/nachher):