Title: Nachbarn: Erzählungen
Author: Hermann Hesse
Release date: August 10, 2017 [eBook #55321]
Language: German
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produced from images made available by the HathiTrust
Digital Library.
Erzählungen
von
Hermann Hesse
Vierte Auflage
S. Fischer, Verlag, Berlin
1909
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
Published, October 15, 1908. Privilege of copyright
in the United States reserved under the act approved
March 3, 1905 by S. Fischer, Verlag, Berlin.
In der Hirschengasse, die nur aus sieben Häusern besteht, gibt es einen bescheidenen, doch anständigen Weißwarenladen, der gleich seiner Nachbarschaft noch unberührt von den Veränderungen der neuen Zeit in einer etwas kärglich gewordenen Wohlhabenheit dasteht und hinreichenden Zuspruch hat. Man sagt dort noch beim Abschied zu jedem Kunden, auch wenn er seit zwanzig Jahren regelmäßig kommt, die Worte: „Schenken Sie mir die Ehre ein andermal wieder,“ und es gehen dort noch zwei oder drei alte Käuferinnen ab und zu, die ihren Bedarf an Band und Litzen in Ellen verlangen und auch im Ellenmaß bedient werden. Die Bedienung wird von einer ledig gebliebenen Tochter des Hauses und einer angestellten Verkäuferin besorgt, der Besitzer selbst ist von früh bis spät im Laden und stets geschäftig, doch redet er niemals ein Wort. Er kann nun gegen siebzig alt sein, ist von sehr kleiner Statur, hat nette rosige Wangen und einen kurz geschnittenen grauen Bart, auf dem vielleicht längst kahlen Kopfe aber trägt er allezeit eine runde steife Mütze mit stramingestickten Blumen und Mäandern. Er heißt Andreas Ohngelt und gehört unbestritten zur echten, ehrwürdigen Altbürgerschaft der Stadt.
Dem schweigsamen Kaufmännlein sieht niemand etwas Besonderes an, es sieht sich seit Jahrzehnten gleich und scheint ebensowenig älter zu werden, als jemals jünger gewesen zu sein. Doch war auch Andreas Ohngelt einmal ein Knabe und ein Jüngling, und wenn man alte Leute fragt, kann man erfahren, daß er vorzeiten „der kleine Ohngelt“ geheißen wurde und eine gewisse Berühmtheit wider Willen genoß. Einmal, vor etwa fünfunddreißig Jahren, hat er sogar eine „Geschichte“ erlebt, die früher jedem Gerbersauer geläufig war, wenn sie auch jetzt niemand mehr erzählen und hören will. Das war die Geschichte seiner Verlobung.
Der kleine Ohngelt hatte seinen Übernamen von der geringen Höhe seines Wuchses, doch hätte diese Eigenschaft nicht ganz hingereicht, ihn in den Augen seiner Mitbürger zu einer interessanten und komischen Figur zu machen. Diese Art von Beachtung verdankte er vielmehr seiner inwendigen Natur, in welcher ein schüchtern sanftes Wesen sich mit einem ungemein zärtlichen Gemüte hübsch und drollig verband.
Der junge Andreas war schon in der Schule aller Rede und Geselligkeit abgeneigt, er fühlte sich überall überflüssig und von jedermann beobachtet und war ängstlich und bescheiden genug, jedem andern im voraus nachzugeben und das Feld zu räumen. Vor den Lehrern empfand er einen abgründigen Respekt, vor den Kameraden eine mit Bewunderung gemischte Furcht. Man sah ihn nie auf der Gasse und auf den Spielplätzen, nur selten beim Bad im Fluß, und im Winter zuckte er zusammen und duckte sich, sobald er einen Knaben eine Handvoll Schnee aufheben sah. Dafür spielte er daheim vergnügt und zärtlich mit den hinterbliebenen Puppen seiner älteren Schwester und mit einem Kaufladen, auf dessen Wage er Mehl, Salz und Sand abwog und in kleine Gucken verpackte, um sie später wieder gegeneinander zu vertauschen, auszuleeren, umzupacken und wieder zu wägen. Auch half er seiner Mutter gern bei leichter Hausarbeit, machte Einkäufe für sie oder suchte im Gärtlein die Schnecken vom Salat.
Seine Schulkameraden plagten und hänselten ihn zwar häufig, aber da er nie zornig wurde und fast nichts übelnahm, hatte er im ganzen doch ein leichtes und ziemlich zufriedenes Leben. Was er an Freundschaft und Gefühl bei seinesgleichen nicht fand und nicht weggeben durfte, das gab er seinen Puppen. Den Vater hatte er früh verloren, er war ein Spätling gewesen, und die Mutter hätte ihn wohl anders gewünscht, ließ ihn aber gewähren und hatte für seine fügsame Anhänglichkeit eine etwas mitleidige Liebe.
Dieser leidliche Zustand hielt jedoch nur so lange an, bis der kleine Andreas aus der Schule und aus der Lehre war, die er am obern Markt im Dierlamm’schen Geschäft abdiente. Um diese Zeit, etwa von seinem siebzehnten Jahre an, fing sein nach Zärtlichkeiten dürstendes Gemüt andere Wege zu gehen an. Der klein und schüchtern gebliebene Jüngling begann mit immer größeren Augen nach den Mädchen zu schauen und errichtete in seinem Herzen einen Altar der Frauenliebe, dessen Flamme desto höher loderte, je trauriger seine Verliebtheiten verliefen.
Zum Kennenlernen und Beschauen von Mädchen jeden Alters war reichliche Gelegenheit vorhanden, denn der junge Ohngelt war nach Ablauf seiner Lehrzeit in den Weißwarenladen seiner Tante eingetreten, den er später einmal übernehmen sollte. Da kamen Kinder, Schulmädchen, junge Fräulein und alte Jungfern, Mägde und Frauen tagaus tagein, kramten in Bändern und Linnen, wählten Besätze und Stickmuster aus, lobten und tadelten, feilschten und wollten beraten sein, ohne doch auf Rat zu hören, kauften und tauschten das Gekaufte wieder um. Alledem wohnte der Jüngling höflich und schüchtern bei, er zog Schubladen heraus, stieg die Bockleiter hinauf und herunter, legte vor und packte wieder ein, notierte Bestellungen und gab über Preise Auskunft, und alle acht Tage war er in eine andere von seinen Kundinnen verliebt. Errötend pries er Litzen und Wolle an, zitternd quittierte er Rechnungen, mit Herzklopfen hielt er die Ladentür und sagte den Spruch vom Wiederbeehren, wenn eine schöne Junge hoffärtig das Geschäft verließ.
Um seinen Schönen recht gefällig und angenehm zu sein, gewöhnte Andreas sich feine und sorgfältige Manieren an. Er frisierte sein hellblondes Haar jeden Morgen auf das Nobelste, hielt seine Kleider und Leibwäsche sehr sauber und sah dem allmählichen Erscheinen eines Schnurrbärtchens mit leidenschaftlicher Ungeduld entgegen. Er lernte beim Empfange seiner Kunden elegante Verneigungen machen, lernte beim Vorlegen der Zeuge sich mit dem linken Handrücken auf den Ladentisch stützen und auf nur anderthalb Beinen stehen, und brachte es zur Meisterschaft im Lächeln, das er bald vom diskreten Schmunzeln bis zum innig glücklichen Strahlen beherrschte. Außerdem war er stets auf der Jagd nach neuen schönen Phrasen, die zumeist aus Umstandsworten bestanden und deren er immer neue und köstlichere erlernte oder erfand. Da er von Hause aus im Sprechen unbeholfen und ängstlich war und schon früher nur selten einen vollkommenen Satz mit Subjekt und Prädikat ausgesprochen hatte, fand er nun in diesem sonderbaren Wortschatz eine Hilfe und gewöhnte sich daran, unter Verzicht auf Sinn und Verständlichkeit sich und andern eine Art von Sprechvermögen vorzutäuschen.
Sagte jemand: „Heut ist aber ein Prachtswetter,“ so antwortete der kleine Ohngelt: „Gewiß — o ja — denn, mit Verlaub — allerdings —.“ Fragte eine Käuferin, ob dieser Leinenstoff auch haltbar sei, so sagte er: „O bitte, ja, ohne Zweifel, sozusagen, ganz gewiß.“ Und erkundigte sich jemand nach seinem Befinden, so erwiderte er: „Danke gehorsamst — freilich wohl — sehr angenehm —.“ In besonders wichtigen und ehrenvollen Lagen scheute er auch vor Ausdrücken wie „nichtsdestoweniger, aber immerhin, keinesfalls hingegen“ nicht zurück. Dabei waren alle seine Glieder vom geneigten Kopf bis zur wippenden Fußspitze ganz Aufmerksamkeit, Höflichkeit und Ausdruck. Am ausdrucksvollsten aber sprach sein verhältnismäßig langer Hals, der mager und sehnig und mit einem erstaunlich großen und beweglichen Adamsapfel ausgestattet war. Wenn der kleine schmachtende Ladengehilfe eine seiner Antworten im Staccato gab, hatte man neben dem Gefühl unendlicher Hingabe vor allem den Eindruck, er bestehe zu einem Dritteil aus Kehlkopf.
Die Natur verteilt ihre Gaben jedoch nicht ohne Sinn, und wenn der bedeutende Hals des Ohngelt in einem Mißverhältnis zu dessen Redefähigkeit stehen mochte, so war er als Eigentum und Wahrzeichen eines leidenschaftlichen Sängers desto berechtigter. Andreas war in hohem Grade ein Freund des Gesanges. Auch beim wohlgelungensten Komplimente, bei der feinsten kaufmännischen Gebärde, beim gerührtesten „Immerhin“ und „Wennschon“ war ihm vielleicht im Innersten der Seele nicht so schmelzend wohl wie beim Singen. Dieses Talent war in den Schulzeiten verborgen geblieben, kam aber nach vollendetem Stimmbruch zu immer schönerer Entfaltung, wenn auch nur im Geheimen. Denn es hätte zu der ängstlich scheuen Befangenheit Ohngelts nicht gepaßt, daß er seiner heimlichen Lust und Kunst anders als in der sichersten Verborgenheit froh geworden wäre.
Am Abend, wenn er zwischen Mahlzeit und Bettgehen ein Stündlein in seiner Kammer verweilte, sang er im Dunkeln seine Lieder und schwelgte in lyrischen Entzückungen. Seine Stimme war ein ziemlich hoher Tenor, und was ihm an Schulung gebrach, suchte er durch Temperament zu ersetzen. Sein Auge schwamm in feuchtem Schimmer, sein schön gescheiteltes Haupt neigte sich rückwärts zum Nacken und sein Adamsapfel stieg mit den Tönen auf und nieder. Sein Lieblingslied war „Wenn die Schwalben heimwärts ziehn“. Bei der Strophe „Scheiden, ach Scheiden tut weh“ hielt er die Töne gar lang und zitternd aus und hatte manchmal Tränen in den Augen.
In seiner geschäftlichen Laufbahn kam er mit schnellen Schritten vorwärts. Es hatte der Plan bestanden, ihn noch einige Jahre nach einer größeren Stadt, etwa Pforzheim oder Heilbronn zu schicken. Nun aber machte er sich im Geschäft der Tante bald so unentbehrlich, daß diese ihn nicht mehr fortlassen wollte, und da er später den Laden erblich übernehmen sollte, war sein äußeres Wohlergehen für alle Zeiten gesichert. Anders stand es mit der Sehnsucht seines Herzens. Er war für alle Mädchen seines Alters, namentlich für die hübschen, trotz seiner Blicke und Verbeugungen nichts als eine komische Figur. Der Reihe nach war er in sie alle verliebt und er hätte jede genommen, die ihm nur einen Schritt entgegen getan hätte. Aber den Schritt tat keine, obwohl er nach und nach seine Sprache um die gebildetsten Phrasen und seine Toilette um die angenehmsten Gegenstände bereicherte.
Eine Ausnahme gab es wohl, allein er bemerkte sie kaum. Das Fräulein Paula Kircher, das Kircherspäule genannt, war immer nett gegen ihn und schien ihn ernst zu nehmen. Sie war freilich weder jung noch hübsch, vielmehr zwei Jahre älter als er und ziemlich unscheinbar, sonst aber ein tüchtiges und geachtetes Mädchen aus einer anständigen und wohlhabenden Handwerkerfamilie. Wenn Andreas sie auf der Straße grüßte, dankte sie nett und ernsthaft, und wenn sie in den Laden kam, war sie freundlich, einfach und bescheiden, machte ihm das Bedienen leicht und nahm seine geschäftsmännischen Aufmerksamkeiten wie bare Münze hin. Daher sah er sie nicht ungern und hatte Vertrauen zu ihr, im übrigen aber war sie ihm recht gleichgültig und sie gehörte zu der geringen Anzahl lediger Mädchen, für die er außerhalb seines Ladens keinen Gedanken übrig hatte.
Bald setzte er seine Hoffnungen auf feine, neue Schuhe, bald auf ein nettes Halstuch, ganz abgesehen vom Schnurrbart, der allmählich sproßte und den er wie seinen Augapfel pflegte. Endlich kaufte er sich von einem reisenden Handelsmanne auch noch einen Ring aus Gold mit einem großen Opal daran und mußte es erleben, daß auch diese Verschönerung ohne Einfluß auf die geringe Wertschätzung der Damenwelt für ihn blieb. Damals war er sechsundzwanzig Jahre alt.
Als er aber dreißig wurde und noch immer den Hafen der Ehe nur in sehnsüchtiger Ferne umsegelte, hielten Mutter und Tante es für notwendig, fördernd einzugreifen. Die Tante, die schon recht hoch in den Jahren war, machte den Anfang mit dem Angebot, sie wolle ihm noch zu ihren Lebzeiten das Geschäft abtreten, jedoch nur am Tage seiner Verheiratung mit einer unbescholtenen Gerbersauer Tochter. Dies war denn auch für die Mutter das Signal zum Angriff. Nach manchen Überlegungen kam sie zu dem Befinden, ihr Sohn müsse in einen Verein eintreten, um mehr unter Leute zu kommen und den Umgang mit Frauen zu lernen. Und da sie seine Liebe zur Sangeskunst wohl kannte, dachte sie ihn an dieser Angel zu fangen und legte ihm nahe, sich beim Liederkranz als Mitglied anzumelden.
Trotz seiner Scheu vor Geselligkeit war Andreas in der Hauptsache sofort einverstanden. Doch schlug er statt des Liederkranzes den Kirchengesangverein vor, weil ihm die ernstere Musik besser gefalle. Der wahre Grund war aber der, daß dem Kirchengesangverein Margret Dierlamm angehörte. Diese war die Tochter von Ohngelts früherem Lehrprinzipal, ein sehr hübsches und fröhliches Mädchen von wenig mehr als zwanzig Jahren, und in sie war Andreas seit neuestem verliebt, da es schon seit geraumer Zeit keine ledigen Altersgenossinnen mehr für ihn gab, wenigstens keine hübschen.
Die Mutter hatte gegen den Kirchengesangverein nichts Triftiges einzuwenden. Zwar hatte dieser Verein nicht halb so viel gesellige Abende und Festlichkeiten wie der Liederkranz, dafür war aber die Mitgliedschaft hier viel wohlfeiler, und Mädchen aus guten Häusern, mit denen Andreas bei Proben und Aufführungen zusammenkommen würde, gab es auch hier genug. So ging sie denn ungesäumt mit dem Herrn Sohn zum Vorstande, einem greisen Schullehrer, der sie freundlich empfing.
„So, Herr Ohngelt,“ sagte er, „Sie wollen bei uns mitsingen?“
„Ja, gewiß, bitte —“
„Haben Sie denn schon früher gesungen?“
„O ja, das heißt, gewissermaßen —“
„Nun, machen wir eine Probe. Singen Sie irgend ein Lied, das Sie auswendig können.“
Ohngelt wurde rot wie ein Knabe und wollte um alles nicht anfangen. Aber der Lehrer bestand darauf und wurde schließlich fast böse, sodaß er am Ende doch sein Bangen überwand und nach einem resignierten Blick auf die ruhig dasitzende Mutter sein Leiblied anstimmte. Es riß ihn mit und er sang den ersten Vers ohne Stocken.
Der Dirigent winkte, es sei genug. Er war wieder ganz höflich und sagte, das sei allerdings sehr nett gesungen und man merke, daß es con amore geschehe, allein vielleicht wäre er doch mehr für weltliche Musik veranlagt, ob er es nicht etwa beim Liederkranz probieren wolle. Schon wollte Herr Ohngelt eine verlegene Antwort stammeln, da legte seine Mutter sich für ihn ins Zeug. Er singe wirklich schön, meinte sie, und sei jetzt nur ein wenig verlegen gewesen, und es wäre ihr gar so lieb, wenn er ihn aufnähme, der Liederkranz sei doch etwas ganz anderes und nicht so fein, und sie gebe auch jedes Jahr für die Kinderbescherung, und kurz, wenn der Herr Lehrer so gut sein wollte, wenigstens für eine Probezeit, man werde ja alsdann schon sehen. Der alte Mann versuchte noch zweimal begütigend davon zu reden, daß das Kirchensingen kein Spaß sei, und daß es ohnehin schon so eng hergehe auf dem Orgelpodium, aber die mütterliche Beredsamkeit siegte zuletzt doch. Es war dem bejahrten Dirigenten noch nie vorgekommen, daß ein Mann von über dreißig Jahren sich zum Mitsingen gemeldet und seine Mutter zum Beistand mitgebracht hatte. So ungewohnt und eigentlich unbequem ihm dieser Zuwachs zu seinem Chore war, machte ihm die Sache im stillen doch ein Vergnügen, wenn auch nicht um der Musik willen. Er bestellte Andreas zur nächsten Probe und ließ die beiden lächelnd ziehen.
Am Mittwoch Abend fand sich der kleine Ohngelt pünktlich in der Schulstube ein, wo die Proben abgehalten wurden. Man übte einen Choral für das Osterfest. Die allmählich ankommenden Sänger und Sängerinnen begrüßten das neue Mitglied sehr freundlich und hatten alle ein so aufgeräumtes und heiteres Wesen, daß Ohngelt sich selig fühlte. Auch Margret Dierlamm war da und auch sie nickte dem Neuen mit freundlichem Lächeln zu. Wohl hörte er manchmal hinter sich leise lachen, doch war er ja gewöhnt, ein wenig komisch genommen zu werden, und ließ es sich nicht anfechten. Was ihn hingegen befremdete, war das zurückhaltend ernste Betragen des Kircherspäule, das ebenfalls anwesend war und, wie er bald bemerkte, sogar zu den geschätzteren Sängerinnen gehörte. Sie hatte sonst immer eine wohltuende Freundlichkeit gegen ihn gezeigt, und jetzt war gerade sie merkwürdig kühl und schien beinahe Anstoß daran zu nehmen, daß er hier eingedrungen war. Aber was ging ihn das Kircherspäule an?
Beim Singen verhielt sich Ohngelt überaus vorsichtig. Wohl hatte er von der Schule her noch eine leise Ahnung vom Notenwesen und manche Takte sang er mit gedämpfter Stimme den andern nach, im ganzen aber fühlte er sich seiner Kunst erbärmlich wenig sicher und hegte bange Zweifel daran, ob das jemals anders werden würde. Der Dirigent, den seine Verlegenheit lächerte und rührte, schonte ihn und sagte beim Abschied sogar: „Es wird mit der Zeit schon gehen, wenn Sie sich dran halten.“ Den ganzen Abend aber hatte Andreas das Vergnügen, in Margrets Nähe sein und sie häufig anschauen zu dürfen. Er dachte daran, daß bei dem öffentlichen Singen vor und nach dem Gottesdienst auf der Orgel die Tenöre gerade hinter den Mädchen aufgestellt waren und malte sich die Wonne aus, am Osterfest und bei allen künftigen Anlässen so nahe bei Fräulein Dierlamm zu stehen und sie ungescheut betrachten zu können. Da fiel ihm zu seinem Schmerze wieder ein, wie klein und niedrig er gewachsen war und daß er zwischen den andern Sängern stehend nichts würde sehen können. Mit großer Mühe und vielem Stottern machte er einem der Mitsinger diese seine künftige Notlage auf der Orgel klar, natürlich ohne den wahren Grund seines Kummers zu nennen. Da beruhigte ihn der Kollege lachend und meinte, er werde ihm schon zu einer ansehnlichen Aufstellung verhelfen können.
Nach dem Schluß der Probe lief alles davon, kaum daß man einander grüßte. Einige Herren begleiteten Damen nach Hause, andere gingen miteinander zu einem Glas Bier. Ohngelt blieb allein und kläglich auf dem Platze vor dem finsteren Schulhause stehen, sah den andern und namentlich der Margret beklommen nach und machte ein enttäuschtes Gesicht, da kam das Kircherspäule an ihm vorbei und als er den Hut zog, sagte sie: „Gehen Sie heim? Dann haben wir ja einen Weg und können miteinander gehen.“ Dankbar schloß er sich an und lief neben ihr her durch die feuchten, märzkühlen Gassen heimwärts, ohne mehr Worte als den Gutenachtgruß mit ihr zu tauschen.
Am nächsten Tag kam Margret Dierlamm in den Laden und er durfte sie bedienen. Er faßte jeden Stoff an, als wäre er Seide, und bewegte den Maßstab wie einen Fiedelbogen, er legte Gefühl und Anmut in jede kleine Dienstleistung, und leise wagte er zu hoffen, sie würde ein Wort von gestern und vom Verein und von der Probe sagen. Richtig tat sie das auch. Gerade noch unter der Türe fragte sie: „Es war mir ganz neu, daß Sie auch singen, Herr Ohngelt. Singen Sie denn schon lang?“ Und während er unter Herzklopfen hervorstieß: „Ja — vielmehr nur so — mit Verlaub,“ entschwand sie leicht nickend in die Gasse.
„Schau, schau!“ dachte er bei sich und spann Zukunftsträume, ja er verwechselte beim Einräumen zum ersten Male in seinem Leben die halbwollenen Litzen mit den reinwollenen.
Indessen kam die Osterzeit immer näher, und da sowohl am Karfreitag wie am Ostersonntag der Kirchenchor singen sollte, gab es mehrmals in der Woche Proben. Ohngelt erschien stets pünktlich und gab sich alle Mühe, nichts zu verderben, wurde auch von jedermann mit Wohlwollen behandelt. Nur das Kircherspäule schien nicht recht mit ihm zufrieden zu sein und das war ihm nicht lieb, denn sie war schließlich doch die einzige Dame, zu der er ein volles Vertrauen hatte. Auch fügte es sich regelmäßig, daß er an ihrer Seite nach Hause ging, denn der Margret seine Begleitung anzutragen, war wohl stets sein stiller Wunsch und Entschluß, doch fand er nie den Mut dazu. So ging er denn mit dem Päule. Die drei ersten Male wurde auf diesem Heimgang kein Wort geredet. Das nächste Mal nahm die Kircher ihn ins Gebet und fragte, warum er nur so wortkarg sei, ob er sie denn fürchte.
„Nein,“ stammelte er erschrocken, „das nicht — vielmehr — gewiß nicht — im Gegenteil.“
Sie lachte leise und fragte: „Und wie geht’s denn mit dem Singen? Haben Sie Freude dran?“
„Freilich ja — sehr — jawohl.“
Sie schüttelte den Kopf und sagte leiser: „Kann man denn mit Ihnen wirklich nicht reden, Herr Ohngelt? Sie drücken sich auch um jede Antwort herum.“
Er sah sie hilflos an und stotterte.
„Ich meine es doch gut,“ fuhr sie fort. „Glauben Sie das nicht?“
Er nickte heftig.
„Also denn! Können Sie denn gar nichts reden als wieso und immerhin und mit Verlaub und dergleichen Zeug?“
„Ja, schon, ich kann schon, obwohl — allerdings.“
„Ja obwohl und allerdings. Sagen Sie, am Abend mit Ihrer Frau Mutter und mit der Tante reden Sie doch auch deutsch, oder nicht? Dann tun Sie’s doch auch mit mir und mit andern Leuten. Man könnte dann doch ein vernünftiges Gespräch führen. Wollen Sie nicht?“
„Doch ja, ich will schon — gewiß —“
„Also gut, das ist gescheit von Ihnen. Jetzt kann ich doch mit Ihnen reden. Ich hätte nämlich einiges zu sagen.“
Und nun sprach sie mit ihm, wie er es nicht gewöhnt war. Sie fragte, was er denn im Kirchengesangverein suche, wenn er doch nicht singen könne und wo fast nur Jüngere als er seien. Und ob er nicht merke, daß man sich dort manchmal über ihn lustig mache und mehr von der Art. Aber je mehr der Inhalt ihrer Rede ihn traurig machte, ja demütigte und entrüstete, desto eindringlicher empfand er die gütige und wohlmeinende Art ihres Zuredens. Etwas weinerlich schwankte er zwischen kühler Ablehnung und gerührter Dankbarkeit. Da waren sie schon vor dem Kircher’schen Hause. Paula gab ihm die Hand und sagte ernsthaft:
„Gute Nacht, Herr Ohngelt, und nichts für ungut. Nächstes Mal reden wir weiter, gelt?“
Verwirrt ging er heim und so weh ihm war, wenn er an ihre Enthüllungen dachte, so neu und tröstlich war es ihm, daß jemand so freundschaftlich und ernst und wohlgesinnt mit ihm gesprochen hatte.
Auf dem Heimweg von der nächsten Probe gelang es ihm schon, in ziemlich deutscher Sprache zu reden, etwa wie daheim mit der Mutter, und mit dem Gelingen stieg sein Mut und sein Vertrauen. Am folgenden Abend war er schon soweit, daß er ein Bekenntnis abzulegen versuchte, er war sogar halb entschlossen, die Dierlamm mit Namen zu nennen, denn er versprach sich Unmögliches von Päules Mitwisserschaft und Hilfe. Aber sie ließ ihn nicht dazu kommen. Sie schnitt seine Geständnisse plötzlich ab und sagte: „Sie wollen heiraten, nicht wahr? Das ist auch das Gescheiteste, was Sie tun können. Das Alter haben Sie ja.“
„Das Alter, ja das schon,“ sagte er traurig. Aber sie lachte nur und er ging ungetröstet heim. Das nächste Mal kam er wieder auf diese Angelegenheit zu sprechen. Das Päule entgegnete bloß, er müsse ja wissen, wen er haben wolle; gewiß sei nur, daß die Rolle, die er im Gesangverein spiele, ihm nicht förderlich sein könnte, denn junge Mädchen nehmen schließlich bei einem Liebhaber alles in den Kauf, nur nicht die Lächerlichkeit.
Die Bedenken und Seelenqualen, in welche ihn diese deutlichen Worte versetzt hatten, wichen endlich der Aufregung und den Vorbereitungen zum Karfreitag, an welchem Ohngelt zum ersten Mal im Chor auf der Orgeltribüne sich zeigen sollte. Er kleidete sich an diesem Morgen mit besonderer Sorgfalt an und kam mit gewichstem Zylinder frühzeitig in die Kirche. Nachdem ihm sein Platz angewiesen worden war, wandte er sich nochmals an jenen Kollegen, der ihm bei der Aufstellung behilflich zu sein versprochen hatte. Wirklich schien dieser die Sache nicht vergessen zu haben, er winkte dem Orgeltreter und dieser brachte schmunzelnd ein kleines Kistlein, das wurde an Ohngelts Stehplatz hingesetzt und der kleine Mann darauf gestellt, so daß er nun im Sehen und Gesehenwerden dieselben Vorteile genoß wie die längsten Tenöre. Nur war das Stehen auf diese Art mühevoll und gefährlich, er mußte sich genau im Gleichgewicht halten und vergoß manchen Tropfen Schweiß bei dem Gedanken, er könnte umfallen und mit gebrochenen Beinen unter die an der Brüstung postierten Mädchen hinab stürzen, denn der Orgelvorbau neigte sich in schmalen, stark abfallenden Terrassen niederwärts gegen das Kirchenschiff. Dafür hatte er aber das Vergnügen, der schönen Margret Dierlamm aus beklemmender Nähe in den Nacken schauen zu können, was ihn ebenfalls nicht wenig mitnahm. Da der Gesang und der ganze Gottesdienst vorüber war, fühlte er sich erschöpft und atmete tief auf, als die Türen geöffnet und die Glocken gezogen wurden.
Tags darauf warf ihm das Kircherspäule vor, sein künstlich erhobener Standpunkt sehe recht hochmütig aus und mache ihn lächerlich. Er versprach, sich späterhin seines kurzen Leibes nicht mehr zu schämen, doch wollte er morgen am Osterfeste noch ein letztes Mal das Kistlein benutzen, schon um den Herrn, der es ihm angeboten, nicht zu beleidigen. Sie wagte nicht zu sagen, ob er denn nicht sehe, daß jener die Kiste nur hergebracht habe, um sich einen Spaß mit ihm zu machen. Kopfschüttelnd ließ sie ihn gewähren und war über seine Dummheit so ärgerlich wie über seine liebe Arglosigkeit gerührt.
Am Ostersonntage ging es im Kirchenchor noch um einen Grad feierlicher zu als neulich. Es wurde eine schwierige Musik aufgeführt, und Ohngelt balancierte tapfer und erfolgreich auf seinem Gerüste. Gegen den Schluß des Chorals hin nahm er jedoch mit Entsetzen wahr, daß sein Standörtlein unter seinen Sohlen zu wanken und unfest zu werden begann. Er konnte nichts tun, als stillhalten und womöglich den Sturz über die Terrasse vermeiden. Dieses gelang ihm auch und statt eines Skandals und Unglücks ereignete sich nichts, als daß der Tenor Ohngelt unter leisem Krachen sich langsam verkürzte und mit angsterfülltem Gesichte abwärts sinkend aus der Sichtbarkeit verschwand. Der Dirigent, das Kirchenschiff, die Emporen und der schöne Nacken der blonden Margret gingen nach einander seinem Blick verloren, doch kam er heil zu Boden und in der Kirche hatte außer den grinsenden Sangesbrüdern nur ein Teil der nahesitzenden männlichen Schuljugend den Vorgang wahrgenommen. Über die Stätte seiner Erniedrigung hinweg jubilierte und frohlockte der kunstreiche Osterchoral, während der Versunkene reuig an die guten Ermahnungen der Jungfer Kircher dachte.
Als unterm Kehraus des Organisten das Volk die Kirche verließ, blieb der Verein auf seiner Tribüne noch auf ein paar Worte beinander, denn morgen am Ostermontag sollte wie jedes Jahr ein festlicher Vereinsausflug unternommen werden. Auf diesen Ausflug hatte Andreas Ohngelt von Anfang an große Erwartungen gestellt. Er fand jetzt sogar den Mut, Fräulein Dierlamm zu fragen, ob sie auch mitzukommen gedenke, und die Frage kam ohne viel Anstoß über seine Lippen.
„Ja, gewiß gehe ich mit,“ sagte das schöne Mädchen mit Ruhe, und dann fügte sie hinzu: „Übrigens, haben Sie sich vorher nicht weh getan?“ Dabei stieß sie das verhaltene Lachen so, daß sie auf keine Antwort mehr wartete und davonlief. In demselben Augenblick schaute das Päule herüber, mit einem merkwürdig mitleidigen und ernsthaften Blick, der Ohngelts trostlose Verwirrung noch steigerte. Sein flüchtig aufgeloderter Mut war nicht minder eilig wieder umgeschlagen, und wenn er von dem Ausflug nicht schon mit seiner Mama geredet und diese nicht schon zum Mitgehen aufgefordert gehabt hätte, so wäre er jetzt am liebsten vom Ausflug, vom Verein und von allen seinen Hoffnungen still zurückgetreten.
Der Ostermontag war so blau und sonnig wie gemalt und um zwei Uhr kamen fast alle Mitglieder des Gesangvereins mit mancherlei Gästen und Verwandten oberhalb der Stadt in der Lärchenallee zusammen. Ohngelt brachte seine Mutter mit. Er hatte ihr am vergangenen Abend gestanden, daß er in Margret verliebt sei und zwar wenig Hoffnungen hege, dem mütterlichen Beistande aber und dem Ausflugsnachmittage doch noch einiges zutraue. So sehr sie ihrem Kleinen das beste gönnte, so schien ihr doch Margret zu jung und zu hübsch für ihn zu sein. Man konnte es ja versuchen; die Hauptsache war, daß Andreas bald eine Frau bekam, schon des Ladens wegen.
Man rückte ohne Gesang aus, denn der Waldweg ging ziemlich steil und beschwerlich bergauf. Frau Ohngelt fand trotzdem Sammlung und Atem genug, um erstlich ihrem Sohn die letzten Verhaltungsmaßregeln für die kommenden Stunden einzuschärfen und hernach ein aufgeräumtes Gespräch mit Frau Dierlamm anzufangen. Margrets Mutter bekam, während sie Mühe hatte im Bergansteigen Luft für die notwendigsten Antworten zu erübrigen, eine Reihe angenehmer und interessanter Dinge zu hören. Frau Ohngelt begann mit dem prächtigen Wetter, ging von da zu einer Würdigung der Kirchenmusik, einem Lob für Frau Dierlamms rüstiges Aussehen und einem Entzücken über das Frühlingskleid der Margret und ihre Schönheit über, sie verweilte bei Angelegenheiten der Toilette und gab schließlich eine Darstellung von dem erstaunlichen Aufschwung, den der Weißwarenladen ihrer Schwägerin in den letzten Jahren genommen habe. Frau Dierlamm konnte auf dieses hin nicht anders, als auch des jungen Ohngelt lobend zu erwähnen, der so viel Geschmack und kaufmännische Fähigkeiten zeige, was ihr Mann schon vor manchen Jahren während Andreas’ Lehrzeit bemerkt und anerkannt habe. Auf diese Schmeichelei antwortete die entzückte Mutter mit einem halben Seufzer. Freilich, der Andreas sei tüchtig und werde es noch weit bringen, auch sei der prächtige Laden schon so gut wie sein Eigentum, ein Jammer aber sei es mit seiner Schüchternheit gegen das Frauenzimmer. Seinerseits fehle es weder an Lust noch an den wünschenswerten Tugenden für das Heiraten, wohl aber an Zutrauen und Unternehmungsmut, und wenn schon dies ja in einem gewissen Sinne für ihn spreche, so komme er doch auf diese Weise in der erwähnten Hauptsache niemals vorwärts.
Frau Dierlamm, da die Gesellschaft mittlerweile die Hügelhöhe und einen nahezu ebenen Pfad erreicht hatte, begann mit wiedergewonnenem Atem nun die besorgte Mutter zu trösten und wenn sie dabei auch weit davon entfernt war, an ihre Tochter zu denken, versicherte sie doch, daß eine Verbindung mit Andreas für jede ledige Tochter der Stadt nur willkommen sein könnte. Diese Worte sog die Ohngelt wie Honig ein und über ihr vom Gehen warm gewordenes Gesicht leuchtete eine so reine Genugtuung, daß es fast wie Schadenfreude anzusehen war.
Unterdessen war Margret mit anderen jungen Leuten der Gesellschaft weit voran geeilt und diesem kleinen Kreise der Jüngsten und Lustigsten schloß sich auch Ohngelt an, obwohl er alle Not hatte, mit seinen kurzen Beinen nachzukommen.
Wieder waren alle ausnehmend freundlich gegen ihn, denn für diese Spaßvögel war der ängstliche Kleine mit seinen verliebten Augen ein gefundenes Fressen. Auch die hübsche Margret tat mit und zog den Anbeter je und je mit scheinbarem Ernste ins Gespräch, so daß er vor glücklicher Erregung und verschluckten Satzteilen ganz heiß wurde.
Allein das Vergnügen dauerte nicht lange. Allmählich merkte der arme Teufel doch, daß er hinterrücks beständig ausgelacht wurde, und wenn er sich auch darein zu schicken wußte, so ward er doch niedergeschlagen und ließ alle Hoffnung wieder sinken. Äußerlich ließ er sich jedoch möglichst wenig anmerken. Die Ausgelassenheit der jungen Leute stieg mit jeder Viertelstunde und er lachte angestrengt desto lauter mit, je deutlicher er alle Witze und Andeutungen als auf ihn selber gemünzt erkannte. Schließlich endete der Keckste von den Jungen, ein baumlanger Apothekergehilfe, die Neckereien durch einen recht groben Scherz.
Man kam gerade an einer schönen alten Eiche vorüber und der Apotheker bot sich an zu versuchen, ob er den untersten Ast des hohen Baumes mit den Händen erreichen könne. Er stellte sich auf und sprang mehrmals in die Höhe, aber es reichte nicht ganz, und die im Halbkreise umherstehenden Zuschauer begannen ihn auszulachen. Da kam er auf den Einfall, sich durch einen Witz wieder in Ehren und einen andern an die Stelle des Ausgelachten zu bringen. Plötzlich griff er den kleinen Ohngelt um den Leib, hob ihn in die Höhe und forderte ihn auf, den Ast zu fassen und sich daran zu halten. Der Überraschte war empört und wäre gewiß nicht darauf eingegangen, hätte er nicht in seiner schwebenden Lage Furcht vor einem Sturze gehabt. So packte er denn zu und klammerte sich an; sobald sein Träger dies aber bemerkte, ließ er ihn los und Ohngelt hing nun unter dem Gelächter der Jugend hilflos hoch am Aste, mit den Beinen zappelnd und zornige Schreie ausstoßend.
„Herunter!“ schrie er heftig. „Nehmen Sie mich sofort wieder herunter, Sie!“
Seine Stimme überschlug sich, er fühlte sich vollkommen vernichtet und ewiger Schande preisgegeben. Der Apotheker aber meinte, nun müsse er sich loskaufen, und alle jubelten Beifall.
„Sie müssen sich loskaufen,“ rief auch Margret Dierlamm.
Da konnte er doch nicht widerstehen.
„Ja, ja,“ rief er, „aber schnell!“
Sein Peiniger hielt nun eine kleine Rede des Inhalts, daß Herr Ohngelt schon seit drei Wochen Mitglied des Kirchengesangvereins wäre, ohne daß jemand ihn habe singen hören. Nun könne er nicht eher aus seiner hohen und gefährlichen Lage befreit werden, als bis er der Versammlung ein Lied vorgesungen habe.
Kaum hatte er gesprochen, so begann Andreas auch schon zu singen, denn er fühlte sich von seinen Kräften verlassen. Halb schluchzend fing er an: „Gedenkst du noch der Stunde“ — und war noch nicht mit der ersten Strophe fertig, so mußte er loslassen und stürzte mit einem Schrei herab. Alle waren nun doch erschrocken und wenn er ein Bein gebrochen hätte, wäre er gewiß eines reumütigen Mitleids sicher gewesen. Aber er stand zwar blaß, doch unversehrt wieder auf, griff nach seinem Hute, der neben ihm im Moose lag, setzte ihn sorgfältig wieder auf und ging schweigend davon — denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Hinter der nächsten Wegbiegung setzte er sich am Straßenrande nieder und suchte sich zu erholen.
Hier fand ihn der Apotheker, der ihm mit schlechtem Gewissen nachgeschlichen war. Er bat um Verzeihung, ohne eine Antwort zu erhalten.
„Es tut mir wirklich furchtbar leid,“ sagte er nochmals bittend, „ich hatte gewiß nichts Böses im Sinn. Bitte verzeihen Sie mir und kommen Sie wieder mit!“
„Es ist schon gut“, sagte Ohngelt und winkte ab, und der andere ging unbefriedigt davon.
Wenig später kam der zweite Teil der Gesellschaft mit den älteren Leuten und den beiden Müttern dabei langsam angerückt. Ohngelt ging zu seiner Mutter hin und sagte:
„Ich will heim.“
„Heim? Ja warum denn? Ist was passiert?“
„Nein. Aber es hat doch keinen Wert, ich weiß es jetzt gewiß.“
„So? Hast du einen Korb gekriegt?“
„Nein. Aber ich weiß doch —“
Sie unterbrach ihn und zog ihn mit.
„Jetzt keine Faxen! Du kommst mit und es wird schon recht werden. Beim Kaffee setz’ ich dich neben die Margret, paß auf.“
Er schüttelte bekümmert den Kopf, gehorchte aber und ging mit. Das Kircherspäule versuchte eine Unterhaltung mit ihm anzufangen und mußte es wieder aufgeben, denn er blickte schweigend geradeaus und hatte ein gereiztes und verbittertes Gesicht, wie es niemand an ihm je gesehen hatte.
Nach einer halben Stunde erreichte die Gesellschaft das Ziel des Ausflugs, ein kleines Walddorf, dessen Wirtshaus durch seinen guten Kaffee bekannt war und in dessen Nähe die Ruinen einer kleinen Raubritterburg lagen. Im Wirtsgarten war die schon länger angekommene Jugend lebhaften Spielen hingegeben, Gelächter und laute Rufe klangen hell durch die sonnige Frühlingsluft. Jetzt wurden Tische aus dem Hause gebracht und zusammengerückt, die jungen Leute trugen Stühle und Bänke herbei; frisches Tischzeug wurde aufgelegt und die Tafeln mit Tassen, Kannen, Tellern und Backwerk bestellt. Frau Ohngelt gelang es richtig, ihren Sohn an Margrets Seite zu bringen. Er aber nahm seines Vorteils nicht wahr, sondern dämmerte im Gefühl seines Unglücks trostlos vor sich hin, rührte gedankenlos mit dem Löffel im erkaltenden Kaffee und schwieg hartnäckig trotz allen Blicken, die seine Mutter ihm sandte. Gleichgiltig hörte er zu, wie Margret mit ihrem andern Tischnachbarn ein lebhaftes Gespräch begann und weiterführte, und er nickte nur still vor sich hin, als weiter unten an der Tafel im Gewirre der Unterhaltungen auch Anspielungen auf sein Abenteuer laut wurden. Er hörte mehrmals unter Kichern das Wort Zachäus aussprechen und wußte, wem es galt, und dennoch war er nicht mehr zornig, sondern gab sich dem Gefühl eines widerstandslosen Untersinkens in Schmach und Unglück mit einer Art von Wollust hin.
Nach der zweiten Tasse beschlossen die Anführer der Jungen, einen Gang nach der Burgruine zu tun und dort Spiele zu machen. Lärmend erhob sich die Jungmannschaft samt den Mädchen. Auch Margret Dierlamm stand auf und im Aufstehen übergab sie dem mutlos verharrenden Ohngelt ihr hübsches perlengesticktes Handtäschlein mit den Worten:
„Bitte bewahren Sie mir das gut, Herr Ohngelt, wir gehen zum Spielen.“ Er nickte und nahm das Ding zu sich. Die grausame Selbstverständlichkeit, mit der sie annahm, er werde bei den Alten bleiben und sich nicht an den Spielen beteiligen, wunderte ihn nicht mehr. Ihn wunderte nur noch, daß er das alles nicht von Anfang an bemerkt hatte, die merkwürdige Freundlichkeit bei den Proben, die Geschichte mit dem Kistlein und alles andere.
Als die fröhlichen jungen Leute gegangen waren und die Zurückgebliebenen weiter Kaffee tranken und Gespräche spannen, verschwand Ohngelt unvermerkt von seinem Platz und ging hinterm Garten übers Feld dem Walde zu. Die hübsche Tasche, die er in der Hand trug, glitzerte freudig im Sonnenlicht; er aber wußte nicht, sollte er das nette Spielzeug mit Küssen bedecken oder weit in die Büsche schleudern. Vor einem frischen Baumstrunk machte er Halt. Er zog sein Taschentuch heraus, breitete es über das noch lichte, feuchte Holz und setzte sich darauf. Dann stützte er den Kopf in die Hände und brütete über traurigen Gedanken und als sein Blick wieder auf die bunte Tasche fiel und als zugleich mit einem Windzug die Schreie und Freudenrufe der in der Burg Ballspielenden herüberklangen, neigte er den schweren Kopf tiefer und begann lautlos und kindlich zu weinen.
Wohl eine Stunde lang blieb er so sitzen. Seine Augen waren wieder trocken und seine Erregung verflogen, aber das Traurige seines Zustandes und die Hoffnungslosigkeit seiner sehnlichsten Bestrebungen waren ihm jetzt noch klarer als zuvor. Da hörte er einen leichten Schritt sich nähern, ein Kleid rauschen, und ehe er von seinem Sitze aufspringen konnte, stand die Paula Kircher neben ihm.
„Ganz allein?“ fragte sie scherzend. Und da er nicht antwortete und sie ihn genauer anschaute, wurde sie plötzlich ernst und fragte mit frauenhafter Güte: „Wo fehlt es denn? Ist Ihnen ein Unglück geschehen?“
„Nein,“ sagte Ohngelt leise und ohne nach Phrasen zu suchen. „Nein. Ich habe nur eingesehen, daß ich nicht unter die Leute passe. Und daß ich ihr Hanswurst gewesen bin.“
„Nun, so schlimm wird es nicht sein —“
„Doch, gerade so. Ihr Hanswurst bin ich gewesen, und besonders noch den Mädchen ihrer. Weil ich gutmütig gewesen bin und es redlich gemeint habe. Sie haben recht gehabt, ich hätte nicht in den Verein gehen sollen.“
„Sie können ja wieder austreten und dann ist alles gut.“
„Austreten kann ich schon, und ich tu es lieber heut als morgen. Aber damit ist noch lange nicht alles gut.“
„Warum denn nicht?“
„Weil ich zum Spott für sie geworden bin. Und weil jetzt vollends keine mehr —“
Das Schluchzen übernahm ihn beinahe. Sie fragte freundlich: „— und weil jetzt keine mehr —?“
Mit zitternder Stimme fuhr er fort: „Weil jetzt vollends kein Mädchen mehr mich achtet und mich ernst nehmen will.“
„Herr Ohngelt,“ sagte das Päule langsam, „sind Sie jetzt nicht ungerecht? Oder meinen Sie, ich achte Sie nicht und nehme Sie nicht ernst?“
„Ja, das wohl, das war nicht recht von mir. Aber das war auch eigentlich nicht das, was ich gemeint habe. Ich glaube schon, daß Sie mich noch achten. Aber das ist es nicht.“
„Ja, was ist es denn?“
„Ach Gott, ich sollte gar nicht davon reden. Aber ich werde ganz irr, wenn ich denke, daß jeder andere es besser hat als ich, und ich bin doch auch ein Mensch, nicht? Aber mich — mich will — mich will keine heiraten!“
Es entstand eine längere Pause. Dann fing das Päule wieder an:
„Ja, haben Sie denn schon die eine oder andre gefragt, ob sie will oder nicht?“
„Gefragt! Nein, das nicht. Zu was auch? Ich weiß ja vorher, daß keine will.“
„Dann verlangen Sie also, daß die Mädchen zu Ihnen kommen und sagen: Ach Herr Ohngelt, verzeihen Sie, aber ich möchte so schrecklich gern haben, daß Sie mich heiraten! Ja, auf das werden Sie freilich noch lang warten können.“
„Das weiß ich wohl,“ seufzte Andreas. „Sie wissen schon, wie ich’s meine, Fräulein Päule. Wenn ich wüßte, daß eine es gut mit mir meint und mich ein wenig gut leiden könnte, dann —“
„Dann würden Sie vielleicht so gnädig sein und ihr zublinzeln oder mit dem Zeigfinger winken! Lieber Gott, Sie sind — Sie sind —“
Damit lief sie davon, aber nicht etwa mit einem Gelächter, sondern mit Tränen in den Augen. Ohngelt konnte das nicht sehen, doch hatte er etwas Sonderbares in ihrer Stimme und in ihrem Davonlaufen bemerkt, darum rannte er ihr nach und als er bei ihr war und beide keine Worte fanden, hielten sie sich plötzlich umarmt und gaben sich einen Kuß. Da war der kleine Ohngelt verlobt.
Als er mit seiner Braut verschämt und doch tapfer Arm in Arm in den Wirtsgarten zurückkehrte, war alles schon zum Aufbruch bereit und hatte nur noch auf die zwei gewartet. In dem allgemeinen Tumult, Erstaunen, Kopfschütteln und Glückwünschen trat die schöne Margret vor Ohngelt und fragte: „Ja, wo haben Sie denn meine Handtasche gelassen?“
Bestürzt gab der Bräutigam Auskunft und eilte in den Wald zurück, und das Päule lief mit. An der Stelle, wo er so lang gesessen und geweint hatte, lag im braunen Laube der schimmernde Beutel, und die Braut sagte: „Es ist gut, daß wir noch einmal herüber sind. Da liegt ja auch noch dein Sacktuch.“
Schorsch Eiselein, Kolonialwarenhändler in Gerbersau, besaß einen Kaufladen, von dem er anständig und bequem leben konnte und der ihm wenig Sorgen machte, und eine kluge kleine Frau, mit der er überaus zufrieden war, ferner einen kleinen Sohn, der vom Vater sowohl wie von der Vorsehung zu Höherem bestimmt war und ihm darum viele Sorgen machte.
Dieser Sohn hieß Karl Eugen Eiselein, und es wollte etwas bedeuten, daß er von klein auf nicht Karl oder Eugen, sondern stets mit dem fürstlichen Doppelnamen Karleugen gerufen ward. Dementsprechend gab der Kleine auch für zwei zu tun und zu sorgen, schrie für zwei und brauchte Windeln und Kleider für zwei, bis er allmählich in das Alter trat, wo die Erzeuger an ihren Sprößlingen eine gewisse Freude zu erleben wünschen. Daran ließ es denn der Knabe auch nicht fehlen; es zeigte sich, daß er nicht zu den Dummen gehöre und wohl einer höhern Ausbildung fähig sei.
Herr Eiselein war sehr glücklich. Ihm selbst waren die Gefilde der klassischen Bildung zu seinem Schmerze unerschlossen geblieben; desto sehnlicher wünschte er, seinen Sohn in dieser fremden Welt sich tummeln zu sehen. Er legte daher eines Tages einen Festrock, gestickte Weste und reinen Hemdkragen an, strich dem Knäblein zärtlich über den glatten blonden Scheitel und führte es zur Lateinschule, wo er es der Obhut des Kollaborators Wurster übergab.
Von da an ging der junge Karl Eugen den gewohnten Weg eines Gerbersauer Lateiners. Ein Jahr lang regierte ihn der Kollaborator Wurster, ein sanfter lächelnder Mann mit altmodischen Löcklein und engen Hosen; dann gab ihn dieser an den Präzeptor Dilger weiter, einen feisten Wüterich mit langem Meerrohr und furchtbarer Stirnrunzel, und wieder nach einem Jahr übernahm ihn Doktor Müller, ein eleganter Stutzer von feinen Manieren.
Der Bub erwies sich als gescheit und kam glatt von einer Klasse in die andere. Nicht so glatt und tadellos ging er aus manchen langwierigen Affären und Untersuchungen hervor, welche Äpfeldiebstähle, Unehrerbietigkeiten gegen die Lehrer, Schulschwänzereien und schlechtes Betragen beim Kirchenbesuch zum Gegenstande hatten. Zwar verstand er die Kunst, sich hinter andere zu bergen und einleuchtende mildernde Umstände beizubringen, vortrefflich; trotzdem verbüßte er manchen sonnigen Mittwoch nachmittag im Klassenarrest und kam oft genug geprügelt und gescholten und jammervoll nach Hause, wo der Vater ihn mit Trost und Teilnahme empfing und jedesmal schnell wieder einer freundlicheren Betrachtung des Lebens entgegenführte.
Nichtsdestoweniger war Karl Eugen Eiselein in seinem elften Lebensjahre eines Tages spurlos verschwunden, samt vier Talern aus seines Vaters Ladenkasse, einem halben Zuckerhut und zwei Schulkameraden, deren bestürzte Eltern ihre Klagen mit denen des Kolonialwarenhändlers vereinigten.
Als die Knaben gegen Abend noch immer fehlten, wurden nach allen Seiten Boten ausgesandt, der ganze Fluß ward mit Stangen abgestochen und bei jedem Stiche schauderte die zuschauende Kinderschar zusammen, gewärtig, im nächsten Augenblick einen der Ertrunkenen am Spieße zu sehen. Es kam aber keiner zum Vorschein.
Herr Eiselein war in seiner Not den ganzen Abend herumgelaufen. Er kehrte spät und trostlos heim und schob den Suppenteller, den die Frau ihm warmgestellt hatte, traurig zurück. Aber die kleine Frau, so ruhig und nachgiebig sie sonst war, stellte ihm den Teller sogleich wieder hin, zwang ihm den Löffel in die Hand und sagte sehr bestimmt: „Für nix will ich ’s Essen nicht gewärmt haben, iß du jetzt nur. Der Lausbub wird wohl wiederkommen, wenn er Hunger kriegt. Sei jetzt so gut und iß!“ Und der Vater war so gebrochen und widerstandslos, daß er nicht einmal aufbegehrte, sondern ganz still den Löffel nahm und aß, bis nichts mehr da war. Das hatte die Frau doch nicht erwartet, und da sie daraus seine Verzweiflung ersah, wurde jetzt auch sie beklommen und angstvoll, und beide saßen den ganzen Abend beisammen am Tisch, sagten nichts und gaben sich düsteren Gedanken hin.
Nachts nach elf Uhr geschah ein kurzes schwaches Läuten an der Hausglocke und gleich darauf ein stärkeres, kühneres, und an der Pforte stand und wartete und schämte sich Karl Eugen. Nachdem man ihm abgefragt hatte, daß auch seine Kameraden wieder da und noch am Leben seien, ließ man ihn schlafen. Ehe der aufatmende Vater vom Bette aus nach dem Kerzenlöscher griff, hustete seine kühn gewordene Frau und sagte: „Schorsch, wenn du morgen dem Bub nicht eine gesalzene Portion gibst, dann geb’ sie ihm ich.“ Er seufzte, löschte das Licht und konnte noch lang nicht einschlafen.
Am anderen Tag kam alles sauber an das Licht und als Hauptverführer ward der gefährliche Fennimore Cooper entdeckt. Die Knäblein hatten beschlossen, miteinander die langweilige alte Welt zu verlassen und die Heimat der Mohikaner aufzusuchen, wo statt Meerrohr und Grammatik Skalpmesser, Kriegsbeil und Flinte die Begleiter der Jugend sind. Auch wäre alles gut gegangen, aber die Nacht war so kalt und sie hatten im Walde nimmer aus noch ein gewußt, obwohl der eine von ihnen Pfadfinder, der zweite Falkenauge und der dritte Waldläufer hieß. Von den vier Talern waren drei Batzen für eine Blechpistole und sieben für ein grausam langes Sackmesser ausgegeben worden, der Rest fand sich unversehrt vor und nur der Verbleib des Zuckerhutes blieb ein Rätsel.
Diesen ganzen Tag lief Karl Eugens Mutter in Spannung umher und als bis zum Abendessen noch nichts geschehen war, ging sie zum Vater in den Laden hinunter. „Eh’ der Kleine seine Prügel nicht hat, kriegt er auch nix zu essen,“ sagte sie mit Nachdruck und der Gatte sah ein, daß es Pflichten gibt, denen niemand sich entziehen kann, und Weltgesetze, denen wir widerstandslos unterliegen. Gleich darauf machte das Söhnchen dieselbe Erfahrung; während jedoch der Vater sich mit Seufzen begnügte, ließ jener nach Art der Jugend seinen Gefühlen und Tränen freien Lauf, ja erhob ein so erschütterndes Wehegeschrei, daß der Züchtiger schon nach wenigen Streichen innehielt und froh war, als Karl Eugen nur wieder aufstand und sich zum Essen bewegen ließ.
Dieses Abenteuer hatte zur Folge, daß in der Lateinschule über dreißig Indianerbücher konfisziert wurden, daß die drei Amerikaner zuerst vom Klassenlehrer eine angemessene Strafpredigt samt Arrest zugeteilt erhielten und dann noch dem schonungslosen Spott der Schulkameraden anheimfielen, und daß der kleine Eiselein für eine Weile in sich ging und mehrere Wochen lang ein Musterschüler war. Allmählich wurden die kassierten Bücher durch neue ersetzt, die Strafrede und der Arrest verschmerzt, auch der Musterschüler verschwand wieder wie ein Nebelbild und nur der Schülerspott hielt noch lange Zeiten vor.
Es kamen die Jahre heran, in welchen es sich zu zeigen pflegt, ob ein Schüler Lust und Beruf zu den höheren Studien habe oder ob es geratener sei, ihn sein Latein in einem Kaufladen oder in einer Schreibstube vergessen zu lassen. Beim jungen Eiselein war es unzweifelhaft, daß er zu ersterem bestimmt sei. Seine Hefte waren sauber und wiesen gute Zeugnisse auf, seine Aufsätze hatten Schwung und Feuer, ebenso seine Deklamationen, und bei der Entlassungsfeier der obersten Klasse trug er, nun fünfzehnjährig, eine selbstgefertigte Rede vor, bei der dem Rektor ein Schmunzeln auf die Lippen und dem andächtig zuhörenden Kolonialwarenhändler eine Träne ins Vaterauge trat. Es war beschlossen, ihn in die Residenz auf das Gymnasium zu tun.
Vorher waren noch ein paar Wochen Ferien, und in dieser Zeit legte Karl Eugen die ersten Zeugnisse seiner Dichterbegabung ab. Es fand nämlich der Geburtstag einer Großtante statt, die Familie Eiselein war eingeladen und beim Kaffee trat der Jüngling mit einem Gedicht hervor, dessen Schönheit und Länge die ganze Festgesellschaft in Erstaunen setzte. Seinem Vater gab der Bengel auf Befragen zur Antwort, er habe schon seit einem Jahr oder noch länger eine Masse Gedichte gemacht und wisse schon längst, daß er zum Dichter und nur zum Dichter geboren sei. Dies hörte der überraschte Papa mit ebensoviel Befremdung als Stolz. Denn wenn er auch nie an den außerordentlichen Gaben seines Sohnes gezweifelt hatte, so war doch dieser frühe und kühne Flug des jungen Adlers ihm eigentümlich überraschend. Teils um ihn zu belohnen, teils vielleicht auch um ihn in gute Bahnen zu lenken, kaufte und schenkte er dem Jungen Theodor Körners Werke in rot Leinen gebunden und eine ebenfalls schön gebundene, jedoch im Preise herabgesetzte ältere Lebensbeschreibung Gotthold Ephraim Lessings.
Um die Zeit dieser Ereignisse hatte der inzwischen auch schon konfirmierte Karl Eugen das Äußere eines Knaben vollkommen abgelegt, Pausbacken sowohl wie kurze Hosen, und sich in einen schlanken, stillen und wohlgekleideten Jüngling verwandelt, der etwas auf sich hielt und jedem, der ihn etwa noch als Bub zu behandeln und mit du anzureden wagte, eine ironische Haltung entgegenzusetzen wußte, deren Wirkung, obwohl er selbst sie überschätzte, nicht zu leugnen war. Seine Schuhe waren stets blank, sein Gang gemessen, sein Scheitel glatt und gepflegt. Das hauptstädtische Gymnasium würde sich seiner nicht zu schämen brauchen. Vorwegnehmend drang er auch schon in den Ferien tief in die homerische Welt ein und las die halbe Odyssee, allerdings in der Vossischen Übersetzung. Er hätte sie ganz gelesen, wenn nicht der rotleinene Körner dazwischen gekommen wäre.
Die Ferienzeit erreichte ihr Ende, diesmal nicht zum Leidwesen Karl Eugens, welcher vielmehr die Reise nach der Stadt und den Eintritt in das Gymnasium mit freudigster Ungeduld erwartete. Während in den letzten Tagen Herr Eiselein seinen Sohn mit verdoppelter Zärtlichkeit und Sorgfalt behandelte und schon im voraus ein mit Stolz gemischtes Abschiedsweh empfand, war die Mutter still und emsig mit dem Einkaufen und Packen, Waschen und Glätten, Flicken und Bürsten des Notwendigen beschäftigt. Am vorletzten Tage machte der Gymnasiast in seinem schwarzen Konfirmandenrock eine Reihe von Abschiedsbesuchen bei Verwandten, Gevattern, Lehrern und guten Freunden, nahm Ratschläge, Geschenke und Glückwünsche, Händedrücke und Scherzworte mit manierlichem Lächeln entgegen und trug die Gefühle eines in rühmliche Kriegsdienste abgehenden jungen Fähnrichs in seiner Brust. Der feste Vorsatz, schon in die ersten Ferien verändert, gealtert und vornehmer heimzukommen, verlieh ihm dabei eine zurückhaltende Überlegenheit von delikater Nuance.
Alsdann kam die Stunde des Abschieds und der Abreise. Der Vorsteher einer Knabenpension in der Hauptstadt, in dessen Hause Karl Eugen unterkommen sollte, war gekommen, um ihn abzuholen. Die Mutter lächelte, gab noch einige gute Winke und Ratschläge, sah nach dem Gepäck und warf prüfende Blicke auf den Pensionsherrn. Dieser benahm sich sehr gemessen, sehr höflich und sehr fein. Der Vater hingegen war traurig, seinen Liebling zu verlieren und doch aber auch stolz, ihn einer glänzenden Laufbahn und Zukunft entgegenschreiten zu sehen, und die Mischung dieser Gefühle arbeitete in seinen Zügen so heftig, daß sein Gesicht ganz bläulich anlief und so mitgenommen aussah, als hätte der brave Herr die unverantwortlichsten Ausschweifungen zu bereuen.
„Also, geehrter Herr, seien Sie ohne Sorgen, Ihr Sohn kommt in gute Hände,“ versicherte der fremde höfliche Herr des öftern, wobei Vater Eiselein ihn mit einem Blicke ansah, als hätte jener ihm seine Teilnahme bei einem Todesfall ausgesprochen.
Und der Fremde zog höflich den Hut, und ein letzter inbrünstiger Händedruck machte den Sohn erbeben. Und der Zug hielt an und man stieg ein, und der Zug pfiff und stank nach Rauch und Öl und lief wieder davon, so schnell, daß er schon fast außer Sicht gerückt war, als Eiselein sein farbiges Taschentuch gefunden, herausgezogen und ausgebreitet hatte, um nachzuwinken. Nun flatterte das stattliche Tuch wie ein Fähnlein in den Lüften und sah mit seinem goldgelben Grund und weiß und roten Muster so fröhlich und erquicklich aus, als sei dem Hause Eiselein heute eitel Freude widerfahren. Während sein Knabe im Wagen nicht ohne peinliche Gefühle der Unterhaltung des Herrn standhielt, dessen Höflichkeit und Lächeln auf dem verlassenen Bahnhof liegen geblieben schienen, wandelten die Eltern langsam und in Gedanken, aber in Gedanken verschiedener Art, in die Stadt und in ihren Spezereiwarenladen zurück.
„Du, der Pensionsherr gefällt mir nicht übel,“ sagte sie.
„Ja, ja, er war ja sehr freundlich. Jawohl,“ sagte er.
Sie schwieg. Im stillen baute sie aber ihre Hoffnungen durchaus nicht auf die Freundlichkeit jenes Herrn, sondern auf das, was sie von Strenge und schneidiger Art an ihm bemerkt zu haben glaubte. Und als auch sie nun einen Seufzer ausstieß, dachte sie dabei vorwiegend an das sündliche Geld, das ihr Bub nun kosten würde, denn die Pension war nicht billig.
Nach der Abreise des Knaben trat im Hause eine große Ruhe ein und zugleich ein Stillstand in der begonnenen langsamen Verschiebung der Machtverteilung. Seit der Indianergeschichte nämlich hatte sich des öftern der Fall wiederholt, daß Frau Eiselein den Buben männlicher anfaßte als ihr Gemahl und eine Lanze zur Rettung der elterlichen Autorität einlegte. Dabei war von den bis dahin unbestrittenen hausherrlichen Machtbefugnissen jedesmal ein Körnlein der Wagschale ihres Mannes entglitten und auf die ihrige gefallen, so daß das Zünglein unmerklich, aber sicher nach ihrer Seite hinüberstrebte.
Nach acht Tagen kam der erste Brief aus der Hauptstadt. Er enthielt vornehmlich eine Aufzählung der schönsten Straßen und Denkmäler, eine etwas unklare Abhandlung über die Sprache Homers und die Bitte um etwas mehr Taschengeld, da man so mancherlei Kleinigkeiten in und außer der Schule brauche.
Die Mutter fand das unnötig, der Vater aber begriff den Wunsch vollkommen und bestand darauf, daß dem Buben, da er jetzt unter fremden Leuten leben müsse, nicht gleich die erste kleine Bitte abgeschlagen werde. Doch verlangte dafür die Mutter, daß Karl Eugen ein Büchlein über seine Ausgaben führe und monatlich darüber Bericht ablege. Sie schrieb ihm das. Der Gymnasiast antwortete, es sei ihm unmöglich, seine Zeit an eine solche Pfennigklauberei zu wenden, er sei doch kein Krämer. Die Worte Krämer und Pfennigklauberei waren unterstrichen.
Da schrieb die Mama kurz und klar ohne Unterstreichungen zurück, unter diesen Umständen müsse es eben beim alten Betrage bleiben. Es blieb aber nicht dabei, sondern das Söhnlein führte nun sauber Buch und verfehlte nicht, rechtzeitig seine Abrechnungen vorzulegen, deren Inhalt freilich zuweilen Zweifel und Kopfschütteln erregte.
„Mit den Bleistiften und Linealen, die er da wieder gebraucht haben will, könnte man ein Öfele heizen,“ seufzte die Mutter.
Sie seufzte noch ganz anders, als im nächsten Frühjahr für den Sohn ein neuer teurer Anzug zu bezahlen war, der das Doppelte von dem kostete, was man zu Haus dafür hätte aufwenden müssen. Karl Eugen hatte ihn ungefragt machen lassen und antwortete auf einen entrüsteten Brief der Mutter sehr ruhig, Kleider seien in unserem nördlichen Klima nun eben einmal etwas Notwendiges und er könnte nicht nackt und auch nicht wie ein Strolch herumlaufen.
Wie ein Strolch sah er auch gar nicht aus, als er bald darauf in die Osterferien heimkam. Den eleganten neuen Anzug vervollständigten ein feiner weicher Hut, ein paar Manschetten und ein steifer Stehkragen. Als die Mama über diese feinen teuren Sachen schalt und Rechenschaft verlangte, zuckte der Schlingel die Achseln und machte ein ergebenes Gesicht. „Was will man machen?“ meinte er bedauernd. „Die Sachen sind ja noch recht einfach. In meiner Pension ist einer, der zahlt achtzig und neunzig Mark für jeden Anzug.“ Es gelang dem Eleganten denn auch, wenigstens den Papa so zu berücken, daß nicht weiter davon die Rede war. Er führte sich zierlich auf, plauderte und erzählte sehr nett und hatte ordentliche Zeugnisse mitgebracht. Einen großen Teil des Tages dichtete er, jedoch insgeheim und ohne jemand seine Leistungen zu zeigen. Auf der Straße grüßte er alle Bekannten mit einer fast herzlichen Höflichkeit und sah Gassen, Häuser und Leute mit einem freundlich sorglosen Interesse an, ganz wie ein Fremder, den der Zufall für eine kurze Zeit in das altmodische kleine Nest geführt hat.
In diese Ostervakanz fiel auch Karl Eugens merkwürdige erste Verliebtheit. Eines Tages erzählte ihm ein Schulkamerad, es sei bei seiner Schwester ein sechzehnjähriges Mädchen aus Karlsruhe zu Besuch, „was Feines, sag’ ich dir, und kolossal schön.“ Von da an trachtete er danach, diese Augenweide selber zu erleben, und war schon im voraus ganz bereit, sich in sie zu verlieben. Doch hatte er Pech und als die schöne Karlsruherin nach einigen Tagen wieder abreiste, hatte er sie nicht zu sehen bekommen. Aber sein Verlangen war nun einmal erwacht, seine Gedanken hingen nun einmal an jener Fremden, verliebt sein schien ihm ohnehin für einen jungen Dichter löblich und nützlich zu sein, und so verliebte er sich in die Niegesehene nicht schlechter und nicht weniger als andere Buben in ihre Mädchen. Die Versmappe schwoll wie ein Alpenbach im Frühjahr, barst schließlich und mußte durch eine größere ersetzt werden.
Ich sah dich nicht und dennoch kenn’ ich dich,
Ich kenn’ dich nicht und dennoch lieb’ ich dich — usw.
Einige Mal weinte er sogar beim Schreiben. Es war ein Elend. Das fand auch Herr Eiselein, als einige von den Blättern ihm zufällig in die Hände fielen. Zwei davon hatte er schon zum Einwickeln von Salami verwendet, beim dritten fiel ihm die Handschrift auf, er erkannte ex ungue leonem und las die Liebesverse seines Sohnes mit steigendem Entsetzen, denn Karl Eugen nannte sich darin einen unseliger Leidenschaft rettungslos Verfallenen, einen tief im Tale des Elends Wandelnden usw. Die Aussprache war für beide Teile peinlich. Der Vater mußte bekennen, daß zwei von diesen Gedichten, wenn auch auf eine seltsam schlichte Weise, den Weg ins Volk gefunden hätten; der Sohn hingegen mußte sich stellen, als seien die feurigen und mit Tränen benetzten Beweise seiner Leidenschaft nichts weiter als Stilübungen. Frau Eiselein erfuhr nichts davon. Als der Dichter den ersten Schrecken überstanden hatte, träumte er hold verschämt davon, wie es wäre, wenn seine Salamigedichte nun doch ihren Weg zu irgend einer jungen Schönen und Gnade bei ihr fänden, und wäre in diesem Falle sehr gerne bereit gewesen, seine Gefühle auf selbige zu übertragen. Da dies ein Traum blieb, war er froh, als die Ferien zu Ende gingen. Er packte seine schwere Mappe sorgfältig ein und kehrte etwas stiller, als er gekommen war, in die Stadt und Schule zurück.
Seine Briefe begannen in dieser Zeit eine großartige und manchmal schwer verständliche Sprache anzunehmen. Zuzeiten ließen sie auch lange auf sich warten, bis die Mutter mahnte.
Und wieder kam Karl Eugen in die Ferien. Er war jetzt ausgewachsen, trug sich sehr elegant und hatte völlig erwachsene Manieren. Unter anderm kam er gleich am zweiten Tage lächelnd in den Laden herunter, suchte sich mit Umsicht eine Zigarre aus und zündete sie an. „Ja, seit wann rauchst du denn?“ fragte der Papa; da war Karl Eugen erstaunt und fast entrüstet, daß man das nicht selbstverständlich fand. Leicht und zierlich schenkte er sich, während der Vater mit ihm sprach, einen Magenbitter aus der Flasche und setzte jenen dadurch vollends so in Erstaunen, daß er verstummte. In seiner Stube lagen die Werke von Heinrich Heine und ein paar moderne Romane herum, statt der dicken Versmappe hatte er ein Heftlein mitgebracht mit dem Titel: „Schlamm. Ein Schauspiel von K. E. Eiselein.“ Auf der nächsten Seite stand ein ellenlanges Personenverzeichnis.
Die Ferien verliefen still und heiter. Das folgende Schuljahr aber brachte einen kleinen Sturm. Es kam ein Schreiben des Pensionsherrn — des Inhalts, der Bursche sei auf schlimmen Wegen, habe sich wiederholt nachts aus dem Hause entfernt, sei kürzlich in einer Kneipe getroffen worden und stehe sogar im Verdacht, Umgang mit einer Kellnerin zu haben. Und während die erschrockenen Eltern noch trostlos und ratlos über diese Greuel nachdachten, kam ein Brieflein vom Sohn selber, liederlich auf einen Fetzen gekritzelt, darin stand: „Ich brauche bis Mittwoch zwölf Mark 50 Pf. Wenn Ihr mir’s nicht geben könnt, erschieße ich mich. Karl Eugen.“
Das war also der Schlamm. Doch verlief diese Sache ruhiger, als man gedacht hätte. Die Mutter reiste in die Hauptstadt, die Kneipschulden des Buben wurden bezahlt, er selber kam unter strenge Aufsicht, zeigte echte Reue und legte eine Zeitlang eine musterhafte Bescheidenheit an den Tag. Dann fing er allmählich wieder an, den Feinen zu spielen und bezeichnete gelegentlich in Gesprächen und Briefen jene böse Affäre als einen komischen und verzeihlichen Jugendstreich gleich jener Amerikafahrt.
Je näher der Abschluß der Gymnasialjahre heranrückte, desto häufiger und deutlicher erinnerte Karl Eugen daran, daß er zum Dichter geboren sei und daher unmöglich ein Brotstudium ergreifen könne. Geschichte und Philosophie waren die einzigen Fächer, denen er einen bedingungsweisen Wert zugestehen konnte. Aber hier zeigte sich zum ersten Male der Vater zäh, und auch nachdem er einige Gedichte seines Sohnes gelesen hatte, beharrte er fest dabei, daß dieser ein solides Studium und einen bestimmten Beruf erwähle. Als Karl Eugen sah, daß er diesmal in einen lecken Kübel schöpfe, machte er eine entgegenkommende Schwenkung und erklärte sich bereit, Philologie zu studieren unter der Bedingung, daß er dann in eine Burschenschaft eintreten dürfe. Und obwohl jetzt die Mutter in den Kampf eingriff und sich mächtig dagegen stemmte, drang er dennoch durch. Die Eltern aber machten bekümmerte Gesichter. Das Geschäft rentierte sich neuerdings schlechter als je, seit an jeder Ecke irgend ein neues Lädchen aufgegangen war, und der Sohn hatte schon als Schüler so stattlich verbraucht, daß die Eltern sich ziemlich hatten einschränken müssen und mit Sorgen in die kommenden Zeiten blickten.
Das erste Semester mit Kollegiengeldern, Büchern, Burschenschaft, Reitkurs und Hauboden wurde denn auch sträflich teuer. Aber stolz und froh waren die Alten doch, auch die strenge Mutter, als der Student in die ersten Ferien kam, schön und stark, heiter und ritterlich, mit Schnurrbart und Reitstiefeln. Alle Mädchen der Stadt wurden unruhig, und die Bürgergesellschaft, zu deren Kegelabend der Vater ihn mitbrachte, empfing ihn mit Achtung und gratulierte dem Alten zu seinem stattlichen Burschen. Einige schwere Seufzer konnten ihm freilich doch nicht erspart werden, auch nicht eine peinliche, zögernd geführte Unterredung über den starken Geldverbrauch. Ein so kostspieliges Semester durfte nicht wieder kommen, die Geschäfte gingen schwach und es mußte doch auch für nachher etwas übrig bleiben.
Überhaupt wurde im Verkehr mit den Eltern, mündlich und brieflich, das leidige Geld mehr und mehr zum Kardinal- und Angelpunkt. Daß Herr Eiselein sich stark verrechnet hatte, konnte bald jeder Beobachter merken.
Es gibt kaum etwas so peinlich Rührendes, als wenn ein ehrenhafter Bürger, der bislang zu den Wohlhabenden zählte, allmählich mehr und mehr in ein armseliges Sparen hineingerät. Er könnte sehr gut einen neuen schwarzen Rock brauchen, aber der alte muß weiter dienen und wird nach und nach zum Sinnbild des ganzen rückwärtsgehenden Hauswesens. Er wird immer ein wenig brauner, ein wenig fettiger, die Schulternähte werden deutlicher und schärfer wie zunehmende Sorgenfalten, die Ärmel beginnen auszufransen, bis eine aufgenähte Litze dem Verfall vorläufig Einhalt tut und als erstes Notflickwerk entstellend in den Baustil des Kleides eingreift.
Ganz so weit war es mit Eiselein noch nicht, aber die Vorzeichen häuften sich. Für seinen Stand und sein Städtchen war er wohlhabend gewesen, der Laden hätte auch noch ein paar Kinder bequemlich mit ernährt, aber der in immer fremdere und großartigere Verhältnisse hineinwachsende Sohn fraß alles auf. Es blieb nicht aus, daß er das stets häufiger zu hören bekam und daß das Verhältnis zwischen Sohn und Eltern allmählich in einen vorsichtigen, zähen, fast erbitterten Krieg ums Geld ausartete.
Unterdessen folgte dem ersten Semester das zweite, dazwischen Ferien voll unbehaglich schwüler Stimmung, und das Geldausgeben nahm eher zu statt ab. Im dritten Semester meldete aber der Sohn plötzlich, er sei aus der Burschenschaft ausgetreten, deren geistloses Leben ihn seinen literarischen Studien zu sehr entzogen und entfremdet habe. Die Reitkurse, Dedikationen, Ausflüge, Mützen und Bänder und dergleichen verschwanden vom Budget und machten starken Buchhändlerrechnungen Platz. Und eines Tages kam unter Kreuzband die neueste Nummer einer merkwürdigen Zeitschrift und enthielt ein langes Gedicht von Karl Eugen. Das Blatt hieß „Der Abgrund“, erschien zweimal im Monat, kostete jährlich zwanzig Mark und hatte sich die Aufgabe gestellt, bedeutenden jungen Talenten der neuesten literarischen Richtung den Weg in die Öffentlichkeit zu bahnen. Herr Eiselein verstand weder das Gedicht seines Sohnes, noch die anderen Beiträge, freute sich aber doch dieses ersten Erfolges und nahm an, daß eine so vornehme, fettgedruckte und teure Zeitschrift jedenfalls ihre Mitarbeiter auch ordentlich bezahlen werde. Er schrieb in diesem Sinne an den Studenten, bekam aber keine Antwort.
Als dieser wieder einmal für ein paar Wochen heimkehrte, hatte er sich erheblich verändert. Die Eleganz der Kleidung war verschwunden und statt ihrer trat eine zwischen stromerhaft und künstlermäßig schwankende geniale Nachlässigkeit zutage. Ein paar große Flecken auf den Rockärmeln schienen ihn gar nicht zu stören, nur auf die Farben und Schlingung seiner großen selbstgeknüpften Flatterschlipse legte er noch Wert. Sein Hut war schwarz und weich und hatte Ränder von mehr als italienischer Breite. Statt der Zigarren rauchte er jetzt grobe, kurze Pfeifchen aus Holz oder Ton. Sein Benehmen war ironisch schlicht. Da auch seine Rechnungen diesmal etwas schlichter waren, fanden die Eltern keinen Grund, diese Veränderung zu tadeln, sondern hofften nun einen bescheidenen und fleißigen Kandidaten aus ihm werden zu sehen. Er hütete sich auch, diese Träume zu stören oder gar zu erzählen, welche Wege die unter dem Titel von Kollegiengeldern bezogenen Summen gegangen waren. Wenn etwa einmal von Examen und dergleichen Dingen die Rede war, schmückte ein ernstes, schwermütiges Lächeln seine Lippen, welche jetzt ein ungepflegter Stoppelbart umrahmte. Alle vierzehn Tage aber brachte die Post den „Abgrund“, und mehrmals enthielt er Gedichte des Studenten. Es war merkwürdig — der junge Mann schien durchaus gesund, verständig und harmlos zu sein, diese Gedichte aber waren zumeist krank, unverständlich und todeselend, als wäre es wirklich ein Abgrund, der ihn verschlungen hätte. Die andern waren nicht besser, alles klang wie ein spukhaft idiotisches Gewinsel, dessen Sinn nur besonderen Eingeweihten zugänglich war. Es tönte darin von Tempeln, Einsamkeiten, wüsten Meeren, Zypressenhainen, welche stets von einem zagen Jüngling unter schweren Seufzern besucht wurden. Man begriff wohl, daß es symbolisch gemeint war, aber damit war wenig gewonnen.
In der Universitätsstadt verbrachte Karl Eugen die Abende, die ihm das Dichten übrig ließ, meist in derselben kleinen Kneipe in der Nähe der Reitschule, wo bei Wein und Knobelbecher einige fallit gegangene Studentchen ihre Jugend vertrauerten. Es waren lauter geniale Kerle, Leute, die einen ganzen Hörsaal voll Streber aufwogen, die auf Gott und die Welt flöteten und dem Leben seine paar Geheimnisse längst abgezwungen hatten. Eben darum taten sie auch nichts mehr als dasitzen, trinken und knobeln, die Partie um zehn Pfennig.
Der Dichter stand im fünften Semester. Da kam einstmals ein schwüler Tag — Widersacher, Weiber, Schulden —, die Widersacher aber waren die Professoren, denen Karl Eugens längeres Verweilen an der hohen Schule weder notwendig noch erwünscht erschien. Und der Abgründige setzte sich hin und schrieb an Herrn Georg Eiselein, Kolonialwarenhändler in Gerbersau, einen Brief:
„Lieber Vater!
Dieser Tage — ich bin schon am Packen — komme ich zu Euch nach Hause und denke längere Zeit zu bleiben. Es ist Zeit für mich, an ein ernstes Schaffen zu gehen, dazu kommt man hier ja nie. Bitte räumt mir meine Ferienstube ein. Führst du den feineren holländischen Tabak eigentlich noch im Laden, oder muß ich von hier mitbringen? Alles weitere mündlich. Dein Sohn K. E.“
Noch nie war ein so sanfter Brief von ihm gekommen, so entschlossen, still und männlich. Der Vater war hoch erfreut, bestellte eine Sendung von dem Tabak, den er nicht mehr hatte führen wollen, und bat Frau Eiselein, die Stube für den Heimkehrenden bereit zu machen. Es wurde gescheuert, gekratzt, gerückt und geklopft, der Lehnstuhl neu überzogen, die Fenster gewaschen und mit frischen Vorhängen versehen. Man konnte sich das jetzt leisten — ein wohlig tiefes Aufatmen ging durch das gedrückte Hauswesen, da seine Kräfte aufhören sollten, für den Entfernten zu verbluten.
Es kam ein Koffer mit Kleidern und zwei schwere Bücherkisten, und am nächsten Tage kam der Sohn selber. Der Alte war ganz gerührt, ihn zu sehen, wie still und ernst er geworden war. Dankbar bezog jener die behagliche Stube, stellte Bücher auf und hängte Pfeifen und Bilder an die Wände, darunter das Porträt eines Dichters, dessen Werke für die Jünger des „Abgrundes“ eine Art Bibel waren. Es war ein Brustbild in modernster Schwarzweißmanier, sichtlich gewaltig übertrieben, und stellte einen jungen Mann mit bösartigen Augen, sorgenvoller Stirne und ungemein hochmütigem Munde vor, Kragen und Binde von der allermodischsten Fasson. Im Hintergrunde war man erstaunt die Abbildung eines berühmten Reiterstandbildes aus der schönen wilden Kondottierizeit zu erblicken, dessen kühle Kühnheit den vorne abgebildeten Nervenkünstler zu verhöhnen schien. Die umfangreiche Büchersammlung enthielt einige Griechen und Lateiner, ein paar Grammatiken und Wörterbücher aus der Schulzeit her, Zellers Geschichte der griechischen Philosophie und zwei Bände aus dem Handbuch für klassische Philologie, alles andere war „schöne Literatur“. Hier sah man die Werke junger Autoren, die aber schon viel geschrieben hatten, in Umschlägen von dämonisch lodernder Farbe, mit geheimnisvollen Linearkünsten von ebenso jungen und fleißigen Malern bedeckt, und wer die Sprache dieser Farben und Linien nicht verstand, der konnte aus den Titeln auf die Fülle und Tiefe des Inhaltes schließen. Das All. Eine Trilogie — Violette Nächte — Mysterien der Seele — Die vierzehn geheimen Tröstungen der Schönheit. Das waren einige davon. Die meisten waren mit Widmungen des einen Dichters an den andern versehen, eines aber war der Schlange Zarathustras und ein anderes dem sechsten Erdteil gewidmet. Die paar gewöhnlichen Schweinereien „aus der Demimonde“ und dergleichen, die sich irgendwie in diese stolzen Kreise verirrt hatten und deren Umschläge minder schön, aber viel deutlicher als die der anderen waren, krochen schmal und schamhaft zusammen. Ein teilweise aufgeschnittener Dante lehnte sich an einen ganz aufgeschnittenen deutschen Boccaccio. Ein paar Bände des Zürchers Meyer erweckten im Beschauer den Verdacht, es möchten sich von den verstorbenen biederen und schlichten Poeten der vormodernen Epoche noch mehrere vorfinden. Dies erwies sich jedoch als unbegründet.
Es war Hochsommer und Karl Eugen ging manchmal, mit einem Buch in der Tasche, in den Tannenwald hinaus, um dort im Schatten zu lesen. Der Wald selber interessierte ihn nicht. Die Freude an der rohen Natur, die von jeher nicht sehr stark in ihm gewesen war, hatte ihm jener Kondottiere-Dichter vollends abgewöhnt und in der feinen Schule des Engländers Oskar Wilde hatte er gelernt, daß die Natur stets nur das Mittelmäßige zu schaffen vermag, im Gegensatze zur Kunst, deren neidische Feindin sie ist. Zu Hause hielt er sich stets beiseite in seinem Zimmer; die Umgebung dort, namentlich der Laden mit seinen Geräuschen und Gerüchen, war allzu stillos und vulgär. Er saß da, rauchte, schrieb und las in jenen Büchern mit den sonderbaren Titeln und Umschlägen. Mit Vorliebe las er die beiden Bücher von Oskar Wilde, die er besaß. Sie waren übersetzt; englisch konnte er nicht. Das eine davon hatte er noch als Burschenschafter kennen gelernt und gekauft, und einst hatte es bittere Händel mit einem Bundesbruder gegeben, der das Buch verrückt fand und den Verfasser eine Zeitlang den „wilden Oskar“ nannte. Es war nicht zu sagen, wie viel er diesem Engländer verdankte.
Es mochte von dieser Lektüre herrühren, daß seine eigene Arbeit nicht recht gedeihen wollte. Er hatte die Absicht, ein ausbündig tiefes und feines Buch zu schreiben in einer Art lyrischer Prosa, deren Vorbilder die Lieder im Zarathustra waren. Aber die beständige Beschäftigung mit so raffinierten Büchern machte ihn immer wieder unfähig, sie raubte ihm Zeit und Kräfte und machte ihn manchmal ganz mutlos, da es ihm vorkam, das Auserlesenste und Feinste sei alles längst von anderen gesagt. Es fehlte ihm nicht an Gedanken, aber den einen hatte Nietzsche, den andern Dehmel, den dritten Maeterlinck schon ausgesprochen. Und auch seine Stimmungen, seine Leiden, seine Sehnsucht — alles stand schon da und dort in schönen Büchern, gesungen, geseufzt oder gestammelt. Und wenn er sich selber ironisch betrachten wollte, worauf er gut eingeübt war, so kam wieder ein Bild heraus, das auch schon — sei es von Verlaine, sei es von Bierbaum oder einem andern — wiederholt und gut gezeichnet längst vorhanden war. Vielleicht hätte er daraus den Schluß ziehen sollen, daß er eben nichts Neues zu sagen wisse und darum besser tue, das Papier zu sparen und sich auf anderes zu verlegen.
Aber das hatte allerdings einen Haken. Von einer Rückkehr zum Brotstudium konnte wohl nicht die Rede sein, weil keinerlei Anfang da war. Er hatte nie zu studieren begonnen. Und es fror ihn, wenn er an den unentrinnbaren Tag dachte, an dem diese schmerzliche Wahrheit aufhören würde sein Geheimnis zu sein. Bisher hatte er immer gehofft, eines Tages plötzlich mit „seinem Werk“ hervorzutreten und dadurch die verbummelten Jahre zu rechtfertigen. Er hoffte es auch jetzt noch, aber mit weniger Zuversicht. Zwar druckte „Der Abgrund“ immer wieder Gedichte von ihm ab, aber er zahlte nichts dafür und die Bedingung, daß nur von Abonnenten unter Einsendung der Abonnementsquittung Beiträge aufgenommen wurden, kam ihm neuestens nicht mehr so harmlos vor wie im Anfang. Andere Zeitschriften, an die er sich wandte, gaben keine Antwort oder schickten ihm seine Verse eiligst zurück, manchmal sogar mit höhnischen Glossen.
Wenn er hätte schreiben wollen wie diese altmodischen Romanfabrikanten und derartige Leute, dachte er, würde der Erfolg nicht ausbleiben! Aber wer nur das Eigenste, Innerste, Persönlichste darbot, wer seinen Stolz in die Prägung neuer Formen, in die Pflege einer priesterlich reinen, feiertäglichen Sprache setzte, mußte natürlich zum Märtyrer des Ideals werden. Nein, wenn auch nie Erfolg und Ruhm ihn belohnte, er würde doch niemals von etwas anderem reden und singen als von den erlesenen tiefen Stimmungen und Visionen seiner innerlichsten Stunden.
Eines Tages tauchte eine neue Hoffnung in ihm auf. Er schrieb Briefe an die beiden Dichter, die er am meisten verehrte. Darin schilderte er, wie ihre Werke ihm Offenbarungen gewesen seien, drückte seine kniefällige Verehrung aus und schloß mit der Bitte um Rat in seinen Dichternöten, fügte auch eine „Abgrund“-Nummer und einige Gedichte bei.
Und siehe, beide Größen antworteten. Der eine schrieb im feierlichsten Stil, die Kunst sei allerdings ein Martyrium, es sei aber Ehre, die schwere Last tragen zu dürfen, und was heute keine Anerkennung finde, werde vielleicht in einer späteren Epoche erkannt und zum gebührenden Ruhm erhoben werden. Er ermahnte den Jünger, treu zu bleiben und niemals das alte ars longa, vita brevis zu vergessen.
Der zweite Dichter schrieb einen ganz gewöhnlichen Briefstil. Er danke schön für die herrlichen Worte und sende die hübschen Verse anbei zurück; übrigens scheine Herr Eiselein, wenn er nicht irre, in der angenehmen Lage eines Privatmannes zu sein, der zu seinem Vergnügen dichte und das Elend derer nicht kenne, die davon leben müssen. In diesem Falle möchte er Herrn Eiselein, dessen Brief und Gedichte einen so feinsinnigen Kunstfreund verraten, um ein Darlehen von zweihundert Mark ersuchen, da er zurzeit sehr in der Klemme sei. Man könne sich das Leben eines Dichters nicht traurig genug vorstellen; von dem von Herrn Eiselein so enthusiastisch verehrten Buche „Das All, eine Trilogie“ zum Beispiel habe er in den drei Jahren seit seinem Erscheinen an Tantiemen den baren Betrag von 24 Mark 75 Pfg. eingenommen, und wenn er nicht nebenher die Sportsberichte für ein Tageblatt besorgen würde, wäre er längst verhungert.
Der enttäuschte Karl Eugen legte beide Briefe zu unterst in die Schublade. Oft hatte er schon früher darüber mitgeschimpft, daß das deutsche Volk seine Dichter darben lasse, doch blickte er in diesen Jammer jetzt zum ersten Mal so nah und klar hinein. Er hatte in seinem Leben noch wenig anderes getan, als Gedichte gemacht — woher hätte er wissen sollen, daß die meisten Leute, auch wenn sie wirklich Bücher lasen, Wichtigeres kannten und lesen wollten als die Träume und schwankenden Stimmungen von ein paar Schwärmern? Freilich, er glaubte das Leben zu kennen; er wußte nicht, daß er abseits desselben in einer unfruchtbaren Wüste lebe und daß drüben, im wirklichen Leben, jeder Tag Wunder gebar, neben denen die raffiniertesten Symbolistenkünste harmlos und farblos waren.
Ohne daß er viel tat außer Lesen, flossen die Tage weg. Der Sommer wurde braun und neigte zur Welke, Septemberregen wuschen den Staub vom Grünen, es gab schon farbige Blätter, kühle Nächte und neblige Morgenfrühen. Und mit dem fallenden Laube des großen Ahorns wehte ein Brief zur Türe des Ladens herein, lag mit der übrigen Post auf der Tischecke, ward von Herrn Eiselein mit ins Kontor hinein genommen, gelesen, wieder gelesen, mit einem hoffnungslosen Seufzer weggelegt und schließlich vom Herrn selber zur Mama hinaufgebracht. Der Brief kam von einem Kaufmann in der Universitätsstadt und brachte die Enthüllung, daß Karl Eugen daselbst noch viele Schulden habe, von denen der Vater keine Ahnung gehabt hatte.
Der Sohn war morgens im Laden gewesen, um seinen Tabaksbeutel zu füllen. Er hatte den Brief dort liegen sehen und erkannt, und war stark in Versuchung gekommen, ihn wegzunehmen. Aber schließlich mußte es doch einmal an den Tag kommen und da hatte es ihm besser geschienen, den Zusammenbruch jetzt zu erleben, als noch länger die Angst in sich herumzutragen. Seither saß er in seiner Stube, von Augenblick zu Augenblick das Eintreten der Eltern erwartend und fürchtend, und jede Minute kam ihm so lang wie ein Wintersemester vor. In dieser Stunde fühlte, erlebte und litt er mehr, als in allen seinen Gedichten stand, und seine freie, heitere Künstlermoral schmolz zu einem wehmütigen und gequälten Trotz zusammen. Es kam aber niemand. Es wurde Zeit zum Mittagessen und nach einigem Zögern faßte er Mut und ging ins Eßzimmer hinüber. Dort fand er nur seinen Vater, der schon an der Suppe saß und nicht aufschaute. Die Suppe wurde abgetragen, das Rindfleisch und das Gemüse wurde gebracht und schweigend verzehrt, und Karl Eugen verging fast vor Angst und Spannung.
„Wo ist denn die Mutter?“ fragte er schließlich beklommen.
„Verreist.“
„Wohin denn?“
„Wirst’s dann schon hören.“
Er fragte nicht weiter. Aber er sah im Geist seine kleine, schneidige Mutter durch die Gassen der Universitätsstadt laufen und seine Versäumnisse, Schandtaten und Schulden aufspüren, eins ums andere. Sie ging in seine ehemalige Wohnung, sie ging zu den Kaufleuten und Gastwirten, zum Buchhändler und zum Juden Werzburger, und ach, sie ging auch zu den Professoren, deren Ausspruch sein Schicksal vollends besiegelte und ihm den Hals abdrehte.
Der arme Versmacher wußte nun, welche Stunde es geschlagen habe. Wenn wenigstens der Vater hingereist wäre! Aber die Mutter! Sie würde nichts vergessen, ihr würde nichts verborgen bleiben, sogar über die vergessenen und vergebenen ersten Semester würden ihr blutrote Lichter aufgehen.
Vier stille, scheue, bange Tage vergingen, voll Mißtrauen und Zweifel für den Vater und voll Spannung und Qual für den Jungen. Sie sprachen nicht miteinander, obwohl beide den Wunsch dazu in sich trugen. Der Sohn mochte nichts sagen, ehe er wußte, wie viele seiner Sünden entdeckt seien. Der Vater war zum ersten Mal unversöhnlich und tief empört, da er auf die scheinbare Besserung Karl Eugens, die sich nun als Komödienspiel erwies, heimlich schon wieder herrliche Hoffnungen gebaut hatte.
Am fünften Tage kam Frau Eiselein zurück und jede verschwiegene kleine Hoffnung, die der Alte und der Junge etwa noch genährt hatten, sank in Staub und Trümmer. Sie wußte nicht nur genau, wie viel Schulden ihr Sohn noch hatte, sie wußte auch alles andere. Daß es mit dem Studium aus und vorbei und das Geld für all die Semester weggeworfen und verloren war. Daß der Studiosus aus der Burschenschaft nicht ausgetreten, sondern gewimmelt worden war. Daß er sein Zimmer mit einer japanischen Tapete und unzüchtigen Bildwerken geschmückt, daß er Verhältnisse mit schlimmen Weibern gehabt und für eine vom Theater eine Brosche gekauft hatte. Und vieles andere von dieser Art.
Nachdem sie vor dem betretenen Sünder und dem gebrochenen Vater alles sachlich und geläufig berichtet und hergezählt hatte, setzte sich die Mutter auf einen Stuhl, blickte ihren Sohn durch und durch und sagte: „So, was sagst du dazu? Ist’s wahr oder nicht?“
„Es ist wahr,“ bestätigte er leise.
„Bist du ein Lump oder nicht?“
„Mama —“
„Ja oder nein!“
„Ja,“ flüsterte er und wurde fuchsrot.
„Jetzt kannst du mit ihm reden, Schorsch,“ sagte sie zum Papa, dessen Entrüstung nun verzweifelt losbrach. Alle Kraftworte, die er früher an dem Buben gespart hatte, stürzten nun verspätet und hitzig hervor, so daß der Malefikant seinen Vater kaum mehr kannte, während zu seinem Erstaunen die Mutter ruhig sitzen blieb und mit merkwürdigem Mienenspiel das Losheulen, Wüten und Verrollen des großen Donnerwetters beobachtete.
„Du kannst uns jetzt allein lassen,“ sagte sie ruhig zu Karl Eugen, als der Vater verstummte, in seinen Sessel sank und mit dem Ersticken rang. Wieder hatte sich das Zünglein der Wage bewegt und von diesem Tage an hatte die kluge, entschlossene Frau den Schwerpunkt der häuslichen Macht auf ihre Seite gebracht. Es wurden keine Worte darüber verloren, aber Eiselein senior tat nun vollends gar nichts mehr, ohne sie vorher mit stummer Frage anzublicken, und der junior witterte und begriff, daß er von nun an seinen Wandel allein vor den Augen der Mutter zu führen und zu rechtfertigen haben werde. Darum fügte er sich ihr schweigend und wartete lautlos, bis die Reihe an ihn käme, mit ihr zu reden.
Das geschah denn auch bald und gründlich. Er bekam nichts geschenkt, vom Indianerzug bis zur japanischen Tapete fand er seine Vergehen und Laster treu gezählt und gebucht, und die Abrechnung schloß für ihn mit einem bodenlosen Minus. Zugleich hielt die Mutter es jetzt für angezeigt, ihm die verschlimmerte Lage des väterlichen Handels und Vermögens zu eröffnen, versteht sich nicht ohne nachdrücklich darauf hinzuweisen, wie erheblich er, der Sohn, an diesem Rückgange mitschuldig war.
„So stehen die Sachen,“ schloß sie endlich, „und an deinen Schulden haben wir mindestens noch vier, fünf Jahre zu büßen. Was soll jetzt mit dir werden?“
Karl Eugen hatte mehrmals Miene gemacht, die lebhafte, aber sachliche Darlegung seiner Mutter zu unterbrechen, war aber streng zur Ruhe verwiesen worden. Nun saß er da, geschlagen und vernichtet, und sollte Antwort geben. Mit finsterer Miene erhob er sich, rückte den Stuhl und sagte: „Ich weiß nichts zu sagen, du würdest mich doch nicht verstehen. Es ist besser, ich gehe jetzt fort; wenn ich mein Ziel erreiche, höret ihr wieder von mir, im andern Falle bin ich nicht der erste, der so zugrunde gegangen ist.“
Und schon näherte er sich der Türe, fast stolz auf sein Elend und auf den tragischen Ton, in dem er seine Worte vorgebracht hatte. Aber die Mutter rief ihn zurück.
„Du bleibst gefälligst sitzen,“ sagte sie, „bis ich fertig bin.“
Er nahm leise wieder Platz. Sie lachte vor sich hin.
„Soll denn die Theaterspielerei gar nicht aufhören, dummer Bub? Wo willst du denn hin? Hast du denn Geld? Du bist gar nicht der Mann, mir was vorzuspielen, und für das Verzweifelttun geb’ ich dir keinen Kreuzer. Oder willst du dir etwa das Leben nehmen? O du! Tust’s ja doch nicht, ich kenn’ dich schon. Nun, du bist nun einmal leider Gottes unser Bub und wir müssen sehen, daß noch was aus dir wird. Fortgereist wird jetzt nimmer, also mach’ keine Komödie und sag’, was du zu sagen hast. Ob ich’s dann versteh’ oder nicht versteh’, ist meine Sache. Warum soll ich dich durchaus nicht verstehen? Du hast doch meiner Seel’ nicht so viel studiert. Also los!“
Im Herzen war der Jüngling froh, daß sie ihn nicht hatte laufen lassen, und trotz der Beschämung begann er ein wenig Vertrauen zu ihr zu fassen. Er hustete also ein bißchen, seufzte und schnitt die vorbereitenden Grimassen, und dann begann er zu erzählen und zu erklären, daß er von jeher ein Dichter habe werden wollen. Er habe, man möge es glauben oder nicht, genug Studien gemacht und viel gelernt, und er sei jetzt auf dem Sprung, sein erstes Werk zu schaffen. Wenn er jetzt davon ablassen müsse, so wäre all die schöne Zeit doppelt verloren; vielleicht glücke es ihm damit und dann sei alles wettgemacht. Er begann von Schriftstellern zu erzählen, die Landhäuser besitzen und erster Klasse reisen; von den Briefen der beiden Symbolisten sagte er nichts. Sie unterbrach ihn und meinte, er könne schon zufrieden sein, wenn es hinreiche, seine Schulden zu zahlen. Bis wann er denn sein Werk fertig machen wolle, wenn es in all den Semestern nicht fertig geworden sei? Da wurde er wieder lebhaft und erklärte ihr, welche Reife so etwas erfordere. „Reife!“ lächelte sie. Jetzt aber sei er so weit; wenn er nur noch diesen Winter zur Arbeit frei habe, würde er fertig.
„Ich will noch drüber schlafen,“ sagte sie, „es kommt jetzt vollends auf einen Tag nimmer an. Wir reden morgen weiter. Daß du Tabak und Schnaps nach Belieben aus dem Laden holst, muß aber schon heut ein Ende haben, denk’ dran!“
Als der junge Mensch in seiner Stube saß und die Sache überdachte, kam er sich zwar erbärmlich klein und gedemütigt vor und schämte sich fast vor den stolzen Büchertiteln an der Wand; aber froh war er doch, die Angst vom Halse und wieder Boden unter seinen Füßen zu haben. Er zog das dicke Heft hervor, in welchem die paar ersten Zeilen seiner großen Dichtung standen. „Das Tal der bleichen Seelen“ stand auf dem Umschlag, und der Titel schien ihm gut, ein kleines Meisterwerkchen. Er war eine Offenbarung und ihm vor einem Vierteljahr auf dem Heimweg von einer einsamen Kneiperei eingefallen, und seither glaubte er an sein Werk und hatte ein Gefühl, als sei das Schwerste, Entscheidende daran schon getan. Auch die Widmung war schon fertig. Sie war an jenen Dichter, der ihm den Märtyrerbrief geschrieben hatte, gerichtet, kurz und schön, in feiner Mischung von Stolz und Demut, das ehrerbietige Sichneigen vor dem auserwählten Geiste ausdrückend.
Herr Eiselein hatte noch am selben Abend eine zweite Unterredung mit seiner Frau. Er wußte durchaus keinen Rat, stöhnte und fluchte abwechselnd und wurde desto elender, je lebhafter die Frau ihn um Vorschläge drängte.
„Du weißt also nichts?“ sagte sie dann am Ende freundlich.
Wütend sprang er auf und lief in der Stube hin und her wie ein Eingesperrter.
„Nach Amerika schick ich ihn, den Gutedel!“ schrie er zornig.
„Damit er vollends ein Lump wird? Und meinst du, die Reise kostet nichts? Nein, er soll schön dableiben, bis er seine Streiche abverdienen kann. Man hat schon Schlimmere wieder zuwege gebracht.“
„Ja, aber wie denn?“
„Wenn dir’s recht ist, will ich sehen, was zu machen ist. Geduld wird’s schon brauchen. Überlaß ihn nur mir!“
Dabei blieb es, denn der Hausherr wehrte sich nicht. Er fühlte, ohne daß sie etwas weiteres sagte, den Sinn dieses Abkommens wohl heraus. „Du hast ihn verlottern lassen,“ meinte sie, „ich will ihn wieder kurieren, du aber laß die Finger davon.“
Folgenden Tages rief sie den bange harrenden Sohn zu sich und gab ihm ihre Entschlüsse kund.
„Ich habe mit Papa über dich beraten,“ sagte sie. „An deine Dichterei hab ich keinen rechten Glauben. Damit du aber nicht sagen kannst, wir hätten dich mit Gewalt von deinem Glück abgehalten, sollst du deinen Willen noch einmal haben, aber zum letzten Mal. Du kannst also diesen Winter dichten so viel du willst. Wir sind jetzt im Oktober, da kannst du bis zum Frühjahr schon was hinter dich bringen. Aber wenn es dann nichts damit ist, hat das Bummeln ein Ende und du mußt dann endlich daran glauben und eine solide Arbeit anfangen. Ist’s dir so recht?“
Es war ihm recht und er ließ es nicht an Dankesworten fehlen. Das Herz schlug ihm vor Lust, daß er nun nicht mehr heimlich, sondern erlaubter- und anerkannterweise das Leben eines Dichters führen sollte. Der Druck der Angst und des bösen Gewissens war von ihm genommen, er atmete wieder legitime Lebensluft, nachdem er so lang auf dem dünnen Glasboden einer rechtlosen Scheinexistenz gewandelt war. Nun hoffte er einen neuen Aufschwung und freute sich darauf, tüchtig zu arbeiten. Denn von Arbeiten redet ja niemand lieber als Dichter, Künstler und dergleichen Müßiggänger. Freudig stieg er die schmale Stiege zu seiner Stube hinauf, warf sich aufatmend in den Lehnsessel, steckte eine Pfeife an und griff nach den „Violetten Nächten“, einem seiner Lieblingsbücher, in dessen dunkle, reimlose Verse er sich mit Wollust vertiefte.
Das Tal der bleichen Seelen war einstweilen immer noch ein dickes Quartheft mit weißen Blättern. Der Dichter hütete sich wohl, diese harrende unbeschriebene Fläche zu entweihen. Auf ihr sollte nur etwas Kostbares, Delikates Platz finden, Züge bleicher Seelen sollten über sie hinweg schauern wie Herbstwolken, zart und düster, abwechselnd mit tieftönigen, farbig lodernden Träumen im Stile des Gabriele d’Annunzio, der seit einiger Zeit für Karl Eugen die Rolle des Vermittlers romanischer Kultur spielte. Selber hatte er nie das Glück gehabt, Italien oder italienische Kunstwerke zu sehen, doch hatte die Lektüre dieses Italieners ihn so erzogen, daß er mühelos Vergleiche und Bilder anwenden konnte wie „vornehm gleich den Gesten einer Madonna des Karlo Crivelli“ oder „kühn wie eine Form des göttlichen Benvenuto Cellini“ oder „ein Lächeln von lionardesker Lieblichkeit“. So häufte er spielend die Schönheiten alter und fremder Kulturen; er gab seinem Stil bald die Glut des d’Annunzio, bald die welke Reife von Huysmans, bald die träumerische Märchenfarbe Maeterlincks oder die weiche Süßigkeit Hofmannsthals. Noch ein wenig Zeit, ein wenig Reife, und es mußte daraus etwas berückend Köstliches entstehen.
Er wartete ab, las in seinen Büchern, liebkoste das leere Papier und setzte sich in Bereitschaft, die bleichen Seelen würdig und feierlich durch symbolische Traumländer zu geleiten. Sie sollten von allem reden, was schön und fern und seltsam ist, und an alles erinnern, was in einsamen Nächten die schauernde Seele eines Ästheten berührt und entzückt und traurig gemacht hat. Von den Wänden schauten erwartungsvoll und segnend die Bücherreihen, die Tabakspfeifen und das Bildnis des Dichters mit dem Kondottiere herab. Zuweilen schien es ihm, als seien dies alles Dinge, welche überwunden oder doch überboten werden könnten. Dann strich er sich leise mit der Rechten übers Haar, blickte sinnend und lächelnd vor sich nieder und träumte von den wunderbaren, reichen, schöpferischen Stunden, in denen er im Sinnbilde der bleichen Seelen alles Wunderbare und Unerhörte aus dem Reich der Schönheit erfassen und in adlige Formen schöpfen würde.
Nach einer solchen Stunde war es ihm immer doppelt peinlich, wenn er im Laden, wo er sich mit irgend einer Stärkung versehen wollte, dem strafenden Blick des Vaters oder gar der Mutter begegnete und unverrichteter Dinge wieder abziehen oder ein paar Zigarren und dergleichen durch lange, demütige Bitten und Reden erkämpfen mußte. Doch wußte er sich in diese Mißlichkeiten fast immer mit Ergebung und freundlicher Ruhe zu finden oder für die Stillung seiner Bedürfnisse unbewachte Minuten zu benützen.
Der November brachte noch eine Reihe von sonnig blauen Tagen und am Rande der Tannenwälder leuchtete noch immer rot und gelbes Laubgebüsch. Um diese Zeit begann der „Abgrund“ seine Leser zur schleunigen Erneuerung ihres Abonnements aufzufordern, was eine Zwiesprache zwischen Mutter und Sohn zur Folge hatte, worin er den kürzeren zog, so daß er sich darein schicken mußte, die Tröstung, sich je und je gedruckt zu sehen, künftig zu entbehren.
Dann kam ein tagelanger schwerer Regen, und eines Morgens lag auf den völlig entblätterten Büschen im Garten der erste leichte Reif.
Kaum hatte den der Dichter erblickt, so stieg er in den Keller und holte sich ein Becken voll Kohlen und einen Arm voll Holz herauf. Das wiederholte er am Nachmittag und acht Tage lang täglich zweimal, bis an einem Abend, während es im Ofen knallte und krachte, Frau Eiselein in die Stube trat.
„Du bist wohl verrückt,“ sagte sie und deutete auf den glühenden Ofen. „So heizen kann man zur Not bei zehn Grad Frost. Das ist auch so eine Studentenmode. Du weißt wahrscheinlich nicht, was die Kohlen kosten? Drunten müssen wir jeden Pfennig sauer verdienen und du verbrennst das Zeug da gleich zentnerweise.“
Karl Eugen war aufgestanden und blickte scheu herüber.
„Ungesund ist die übertriebene Heizerei auch noch,“ fuhr sie fort. „Frieren sollst du nicht, aber auch nicht das Dreifache verbrennen wie andere Leute. Künftig findest du jeden Morgen ein Becken voll Kohlen und das nötige Holz dazu parat gemacht. Damit kommst du aus, wenn du Vernunft hast. Das Selberholen muß aber aufhören.“
Des Sohnes Vorstellungen waren erfolglos und er blieb schmollend in seiner Stube. Vierzehn Tage lang behalf er sich mit dem zugemessenen Vorrat; da er aber die Gewohnheit hatte, zu überheizen und weit in die Nacht hinein lesend aufzubleiben, reichte er bald damit nimmer aus. Morgens einmal, als er noch das ganze Haus schlafend glaubte, stand er fröstelnd auf und schlich in den Keller, fand aber zu seinem nicht geringen Ärger und Schrecken den Kohlenverschlag wohlverschlossen. Noch größer war seine Verlegenheit, als er beim Hinaufsteigen in der Türe die Mutter stehen sah, die ihm guten Morgen wünschte.
„Machst dir ein bißchen Bewegung?“ rief sie lächelnd. „Ja, ja, Frühaufstehen ist gesund.“
„Du, Mutter,“ sagte er flehend, „mit dem bißchen komm’ ich nicht aus. Leg’ ein paar Schaufeln zu!“
„Tut mir leid,“ war die Antwort, „tut mir leid, junger Herr. Wer nichts verdient, muß wenigstens sparen können. Wenn du aber durchaus mehr brauchst, so weißt du ja den Weg in den Wald, wo du als Bub schon oft genug Tannenzapfen aufgelesen hast. Wenn du jeden Morgen so zeitig aufstehst wie heute und statt in den Keller in den Wald gehst, kannst du leicht einen Korb voll oder zwei zusammenbringen. Arme Leute heizen mit nichts anderem.“
Am nächsten Morgen blieb er zum Trotz recht lang im Bett liegen. Am übernächsten stand er in der Frühe leise auf, nahm einen Sack mit und ging in den Wald. Das Lesen kam ihm schrecklich mühsam vor, nach einer guten Stunde war der Sack aber voll und er konnte ihn noch heimtragen, eh’ die Gassen sich belebten. Von da an ging er täglich und die Mutter tat, als nehme sie keine Notiz davon. Bald kannte er im Walde die guten Reviere, vermied die Kiefernwälder und die jungen Bestände und hielt sich an den alten Tannenforst, wo das dichte Moos voll Zapfen lag. Dabei wurde er immer so warm, daß er nachher kaum mehr zu heizen brauchte. Die harsche Herbstmorgenluft tat ihm sichtlich gut und allmählich lernte er, zum ersten Mal seit seiner Schulbubenzeit, auch wieder ein Auge auf das Waldleben haben. Er sah die Sonne aus dem Nebel steigen, gewöhnte sich dran aufs Wetter zu achten, jagte bald einen Hasen, bald ein Wildhuhn aus dem Schlaf und da er doch einmal mit den verdammten Zapfen zu tun hatte, lernte er sie allmählich nach Form und Herkunft kennen und die dunklen harzreichen von den leichten und dürren, die der Weißtannen von den rottannenen unterscheiden. Anfangs verbarg er sich, so oft ein armes Weiblein, ein Forsthüter oder Bauer daherkam, nach und nach wurde er weniger scheu und schließlich trug er im Notfall, wenn auch ungern, seinen Sack vor jedermanns Augen heim.
Es kam ein Tag, noch im November, da gab er seinen letzten, aus den üppigen Zeiten her übrig gebliebenen Batzen aus. Zaghaft wandte er sich an die Mutter um ein wenig Taschengeld.
„Was brauchst du denn?“ fragte sie. „Du hast doch alles Nötige.“
Nun ja, er brauchte eigentlich nichts, aber man mußte doch für alle Fälle ein paar Groschen im Sack haben.
„Ach so.“ Die Mutter nickte. „Zu einem Glas Bier oder so, nicht wahr? Ist ganz recht. Leider hab’ ich für solche Sachen gar nichts übrig — aber wenn dir neben dem Dichten etwa eine Stunde übrig bleibt, kannst du dir ja leicht ein bißchen was verdienen. Für den Sack Tannenzapfen, den du mir bringst, geb’ ich fünfzig Pfennig. Oder wenn du morgen vormittag mit dem Vater Kisten packen willst, kannst du auch eine Mark verdienen.“
Er war einverstanden und wenn er künftig für sein wohlverdientes Geld im Adler oder Sternen einen Schoppen trank oder eine Kegelpartie mitmachte, schmeckte es ihm besser als früher bei manchem Kommers.
Kurz vor Weihnachten fiel ein wenig Schnee und gleich darauf trat Frost ein, so daß es mit der Waldarbeit plötzlich ein Ende hatte. Dem Dichter tat es fast leid um die gewohnte Morgenbeschäftigung, als aber Weihnachten kam und vorüberging, fiel es ihm plötzlich auf die Seele, wie schnell die Zeit verstrich und wie notwendig es nun war, seine Dichtung ernstlich vorwärts zu bringen. Säcke holen, Kisten packen, Holz spalten und dergleichen hatte ihn in der letzten Zeit ganz davon abgebracht.
Als er zum ersten Mal das Tal der bleichen Seelen wieder zur Hand nahm, gefiel der Titel ihm nicht mehr so ganz und er suchte einen neuen zu finden, aber es fiel ihm keiner ein. Mißmutig lief er eine Zeitlang herum, ging öfter als sonst zu einem Bier und Billard und sah sich daher bald wieder ohne Taschengeld. Diesmal half er beim Ausschreiben der Neujahrsrechnungen und saß drei Tage beim Papa im Kontor. Er bekam ein paar Mark dafür, aber seine Dichtung wurde davon nicht fett. Vielmehr war es merkwürdig, wie nach jeder solchen Arbeit die Gedanken ausblieben, statt zu kommen. Während er das Widmungsblatt nochmals überlas und sich daran begeistern wollte, geschah es, daß er plötzlich daran denken mußte, daß der reiche Direktor Selbiger seinem Vater die letzte Halbjahrsrechnung noch immer schuldig geblieben war. Ob es wohl anging, den Mann zu mahnen? Bei Tische sprach er mit dem Alten darüber, aber der war entschieden fürs Abwarten.
Und immer öfter nahm Karl Eugen mit Verzweiflung wahr, daß er mit jedem Schritt, den er im tätigen Leben machte, seiner Dichtung ferner kam und Abbruch tat. Er zwang sich nun gewaltsam und schrieb ein paar Seiten, die ihn aber nicht befriedigten. Die Sprache war gequält und steif, es kam kein Leben hinein. Ärgerlich warf er das Heft dann in die Schublade und ging zu einem Kartenspiel im „Hecht“, verlor ziemlich und bot sich wieder für zwei Tage zum Mithelfen im Laden an.
Dann suchte er bei seinen Büchern Trost, die er in letzter Zeit vernachlässigt hatte. Und nun erlebte er es zum ersten Mal, daß sie ihn im Stich ließen, ihm keine Stimmung gaben und ihm sogar fast langweilig vorkamen. Er hätte jetzt ein Dichterwerk gebraucht, das seine gegenwärtige Not erfaßt und ausgesprochen und tröstlich verklärt hätte. Aber d’Annunzio betrachtete griechische Gemmen und streichelte die Schultern schöner Baronessen, Oskar Wilde roch an exotischen Blumen und analysierte sein Nervenleben, und der Kondottiere-Dichter besang eine „blaue Stunde“ und einen leierspielenden Knaben.
Eine leise erste Ahnung stieg bitter in ihm auf, daß alle diese schönen Bücher vielleicht eben nur Bücher, nur ein Luxus für Glückliche und Reiche und Zufriedene seien, mit dem Leben und seiner Not aber keine Berührung hatten und haben wollten — Olympier an goldenen Tischen, welche von unten her, aus dem Wirrsal des Menschlichen, kein Klagelaut erreichte. Sie waren schön gewesen, als er sie in üppigen, faulen Zeiten genossen hatte. Und jetzt, da das Leben seine Hände nach ihm ausstreckte, schwiegen sie und wollten nichts von ihm wissen. Der Dichter des „All“ fiel ihm ein, der keine Trilogien mehr, sondern Sportsberichte für ein Tageblatt schrieb. Und er warf das Buch, das er gerade in der Hand hielt, zornig und traurig an die Wand.
Im Februar tat Frau Eiselein die erste behutsame Frage nach dem Gedeihen der Dichtung. Karl Eugen hatte gerade ein Faß Petroleum hereingerollt. Er drückte sich um die Antwort. Und als sie neugierig war, wenigstens den Titel zu erfahren, rückte und schob er unmutig an dem Faß herum und brummte: „Den Titel macht man immer zuletzt.“ Doch wurde er rot dabei.
Ende März klopfte die Mama wieder an, trat zu dem Dichter an den Schreibtisch und verlangte sein Werk zu sehen.
„Es ist nicht fertig,“ sagte er in unbehaglichem Ton.
„Dann ist’s eben halbfertig,“ beharrte sie. „Ich gehe nicht aus der Stube, bis ich’s gesehen habe. Sei vernünftig, du kennst mich doch.“
O ja, er kannte sie. Dennoch zögerte er noch eine ganze Weile, ehe er die Lade herauszog und sein Heft vorlegte.
„Das Tal der bleichen Seelen! Schau, jetzt ist ja doch der Titel da, freilich ein komischer.“
Es folgten etwa zehn beschriebene Blätter, auf denen aber das meiste wieder durchgestrichen war.
„Ist das alles?“ fragte sie ruhig.
„Das ist alles .... Ich wollte — —“
„Laß nur, ’s ist schon gut.“
Da die Frau das schmerzliche Gesicht ihres Sohnes sah, hielt sie an sich und brach erst nachher auf der Treppe in ein kräftiges Gelächter aus.
Als sie später den Dichter auf den Kopf fragte, bis wann sein Werk wohl Hoffnung habe, fertig zu werden, senkte er den Kopf und gestand: „Ich glaube nie.“
Im April trat Karl Eugen in das Geschäft seines Vaters ein. Im nächsten Jahre ging er als Volontär in ein auswärtiges Kaufhaus, von wo er mit guten Zeugnissen zurückkam, und als nach einigen weitern Jahren der alte Herr anfing kränklich zu werden, übernahm er den Laden allein und überließ dem Vater nur noch die Korrespondenzen.
Während dieser Jahre fiel das Geniewesen in aller Stille vollends von ihm ab wie eine Schlangenhaut, und es zeigte sich, daß unter der Hülle recht viele väterliche und mütterliche Erbstücke unverloren geschlummert hatten. Die erstarkten nun und traten bald auch äußerlich zutage. Wie mit dem Lesen und Dichten der Weltschmerz, so war mit dem Schlips und den Geniemanieren auch die falsche Bedeutsamkeit und Wichtigkeit des Auftretens verschwunden und der absonderliche Apfel also doch nahe beim Stamm gefallen. Und der vom milden Stachel täglicher Arbeit aus dem Traum geweckte Jüngling sah allmählich ein, daß seine vermeintliche Frühreife weit eher ein ungewöhnlich langes Kapriolenmachen der Jugendlichkeit gewesen war. Aber desto gründlicher faßte er die Arbeit und Umkehr an.
Die Zeit ging hin, er heiratete und wurde Vater, das Geschäft ging nicht übel und seine Schulden waren alle längst bezahlt. Zuweilen nahm er etwa einmal abends eines der Bücher von damals in die Hand, blätterte darin hin und her, schüttelte nachdenklich den Kopf und stellte es an seinen Ort zurück. Das Dichterbildnis aber hing noch immer an der Wand: der Jüngling im modischen Kragen blickte stolz und verachtend aus dem Rahmen und hinter ihm saß unerschüttert der kühne Kondottiere auf seinem ehernen Roß.
Dieser Tage fuhr ich in der Eisenbahn von Steckborn nach Konstanz. Durch Obstbäume glänzte mattrot der abendliche Untersee, Bauerngärten mit Geranien, Fuchsien und Georginen leuchteten durch braun und grüne Lattenzäune, jenseits des Wassers lag die Reichenau und über Ried und Rebbergen das hohe Horner Kirchlein goldig umleuchtet in der milden Abendklarheit. Es war noch heiß und ich hatte streng rudern müssen, um den Zug noch zu erreichen. Nun saß ich müde und gedankenlos allein in der Wagenecke und sah durchs offene Fenster die wohlbekannten Berge, Matten und Wasser im roten Abenddunst verglühen.
Der Wagen war fast leer. Ein paar Bänke weiter saßen zwei grauhaarige Herren in lebhaftem Gespräch beisammen. Ich war zu müd und teilnahmlos, um etwas davon zu verstehen; ich hörte nur die einzelnen Worte und nahm wahr, daß der eine von den Redenden ein Thurgauer vom See, der andere aber ein Zürcher sein müsse, der Sprache nach zu urteilen. Dann interessierte mich auch das nicht mehr, ich lehnte mich träg in die Ecke und begann zu gähnen.
Da hörte ich in dem benachbarten Gespräch plötzlich mehrmals den Namen Garibaldi nennen und war verwundert, daß dieses Wort mich so merkwürdig erregte. Was ging mich Garibaldi an?
„Ja wohl, der Garibaldi!“ rief da wieder der Thurgauer laut, und die Betonung, mit der er den Namen aussprach, weckte mich aus meiner Stumpfheit und zwang mich, dem lang nicht mehr gehörten Klange folgend lange Erinnerungswege zu wandern, zurück und weiter zurück bis in die Zeiten, in denen jener Name mir vertraut und wichtig gewesen war. Aus kühlen Brunnentiefen ferner Kinderjahre wehte mich ein fremder, starker Heimwehzauber an. Und als ich spät am Abend von Konstanz zurück war und dann langsam durch die bleiche Seenacht meinem Dorfe entgegen fuhr, als der leise laue Wind im Segel sang und seltene Rufe aus entfernten Fischerbooten übers Wasser wehten, stand ein Stück Kinderzeit und halbvergessenes, glückliches Ehemals neu und lebendig vor mir auf.
Garibaldi war ein Märchen, ein Phantasiebild, eine Dichtung.
Eigentlich hieß er Schorsch Großjohann, wohnte jenseits unseres gepflasterten Hofes und trieb das dunkle Gewerbe eines Winkelreinigers, das ihn kümmerlich ernährte. Ich wurde aber zehn Jahre alt, ehe ich seinen eigentlichen Namen erfuhr; bis dahin hörte ich ihn nie anders als den Garibaldi nennen und wußte nicht, daß schon dieser Name, der mir so wohl gefiel, eine Dichtung war. Ihn hatte meine Mutter erfunden, und da ich ohne meine Mutter nie zum Träumespinner und Fabulierer geworden wäre, war es billig, daß sie auch bei jenem Kindermärchen Pate stand. Sie hatte das Bedürfnis und auch die Gabe, ihre ganze Umgebung beständig nach ihrem eigenen, lebhaften Geist zu gestalten und zu benennen, und ich darf von dieser ihrer Zauberkunst nicht zu reden anfangen, da ich sonst kein Ende fände.
So hatte sie auch, schon lang vor meiner Geburt, mit dem alten Winkelreiniger Großjohann, den man täglich mehrmals über unsern Hof gehen sah und mit dem man doch kaum alle Jahr einmal ein Wörtlein sprach, nichts anzufangen gewußt. Dem schmierigen Winkelreiniger half es nichts, daß er eine mächtige, wetterfeste Figur, breite Schultern und ein abenteuerlich kriegerisches Gesicht mit greisem, langem Doppelbart besaß; an ihm war das nur lächerlich. Aber sobald man ihn Garibaldi nannte, war er seines stolzen Äußeren würdig, dann umwitterte ihn statt des Winkelgestankes eine heroische Luft und war es jedesmal ein Erlebnis und eine Freude, ihm zu begegnen. Meine Mutter wünschte stets unter Menschen und Sachen zu leben, deren Anblick ihr jedesmal ein Erlebnis und eine Freude war. So nannte sie den alten Nachbar Garibaldi.
Ich kleiner Bub wußte vom wahren, historischen Garibaldi, dessen Bild und Taten meiner Mutter wohlbekannt waren, damals noch kein Wort. Aber der stattliche welsche Name machte mir großen Eindruck und hüllte den Schorsch Großjohann wie eine sagenhafte Wunderwolke ein.
Soweit war Garibaldi die Schöpfung meiner Mutter. Ohne davon eine Ahnung zu haben, dichtete ich nun an ihm weiter und machte ihn zu einem seltsamen Helden, dessen Leben ich mitlebte und dessen Schicksale mich wie eigene Schicksale bewegten, ohne daß ich je ein Wort mit ihm gesprochen hätte. Fast jeden Tag sah ich ihn ein oder zweimal in seiner Tätigkeit, außerdem abends im Hof oder hinter den niederen Fensterchen seiner Wohnung.
Er war damals schon bald siebzig und, wenn man auf Kleidung und Reinlichkeit nicht allzu streng achten wollte, ein schöner Greis. Das Kriegerische, das er an sich hatte, bestand neben der großen sehnigen Gestalt hauptsächlich in der braunen Gesichtsfarbe und in dem langen, gelblichgrauen, stark verwilderten Haar und Bart. Wenn man das Gesicht genauer aufschaute und mit dem äußeren Wesen und Lebenswandel des alten Mannes zusammenhielt, kam eher ein milder Charakter heraus. Mund und Nase zwar waren fest, scharf und schneidig geformt, aber die große stille Stirn wies weder Narben noch tiefe Falten auf, sondern glich etwa einer abendlichen Straße, auf welcher das Leben vollends eindämmert oder wo Wanderer, Wagen und Rosse, das sind Gedanken, Hoffnungen und Leidenschaften schon so lange vorübergebraust und gefahren sind, daß ihre Spuren sich wieder zu glätten beginnen. Dies bestätigten auch die hellgrauen Augen. Sie waren noch klar und scharf und saßen klein und wachsam über der braunen Hakennase, aber der Blick zeigte eine etwas müde Ruhe, als suche er in diesen späten Tagen auf Erden keine Ziele mehr.
Schön und merkwürdig war in diesem gefestigten und stillgewordenen Angesicht ein manchmal auftauchendes, ganz schwaches Lächeln der Ruhe und leidlosen Resignation, wenn der alte Schorsch etwa einem Festzug, einem Kinderauflauf, einer Prügelei oder dergleichen zuschaute. Wenn hinter diesem Lächeln irgend ein bewußter Gedanke stand, so war es der eines ironisch zuschauenden, überlegen Unbeteiligten, dem die Wichtigkeit dieser kleinen menschlichen Händel schon lange lächerlich und kindlich vorkam.
„Hauet einander nur,“ sagte dieses Lächeln, „hauet nur zu! Und meinetwegen könnt ihr ja Feste feiern, wenn’s euch Spaß macht. Was kümmert’s mich?“
Mein Verstand war noch viel zu klein, um diese Züge zu lesen und sich einen Reim darauf zu machen. Aber meine Phantasie nahm von dem stillen Alten Besitz und ließ ihn nicht los, sie liebte ihn und schuf ihn zu einem Wesen um, das mir viel ferner und fremder war als er selber und das doch zu mir gehörte und zum Helden meiner Gedanken wurde, während der Schorsch selber jahraus jahrein mir vorüberging und unbekannt blieb. Und wenn ich nun vom alten Garibaldi erzähle, ist es mehr Geträumtes als Gesehenes, aber lauter Erlebtes, und vielleicht ist das Erfundene so wahr wie das Gesehene; vielleicht erlebte meine Phantasie nichts anderes als was der Alte hätte erleben können und sollen, wenn er nur dazu gekommen wäre.
Vom Hofe aus führte eine kaum fußbreite, schadhafte und überhängende steinerne Treppe, ein richtiger Halsbrecher, an der alten, weit ausgebauchten Bergmauer hin in ein winziges Gärtchen hinauf, das dem Nachbar Staudenmeyer gehörte. Gärtchen ist eigentlich schon viel gesagt, denn das zwischen zwei in den Berg hinein gebauten Hinterhäusern und einer jähen Terrassenmauer eingeklemmte Stück abschüssigen Bodens war nicht größer als eine tüchtige Stube. Vom Berge her schwemmte jeder Regen eine Menge Sand herab und nahm dafür die gute schwarze Erde mit, und auf der einen Seite stand das Dach des daraufstoßenden Hauses so weit über, daß man dort in Wirklichkeit kaum das Gefühl haben konnte, im Freien zu sein. Die Nachbarin hatte, noch außer der Witterung und dem Unkraut, um den Besitz ihres Fleckchens Erde ohne Unterlaß mit einer großen Schar von verwilderten Katzen und mit einer nicht kleineren Horde strohblonder Kinder zu kämpfen. Beide, Kinder und Katzen, entstammten der benachbarten, steilen und finsteren Armutgasse, wilderten üppig in dem Winkel dort herum, waren nicht auseinander zu kennen und so wenig mit Erfolg zu bekriegen wie ein Mückenschwarm. Allmählich wurde also Frau Staudenmeyer des Kämpfens müde und das Gärtlein fiel ganz den ungebetenen Gästen anheim. Es wucherten nun auf dem verwahrlosten Platze alte Stachelbeerstauden mit einem geilen, niemals Früchte reifenden Erdbeergeschlinge samt vielerlei Unkräutern zu einem grünen Wirrwarr zusammen, aus welchem hier und dort ein Rest der ehemaligen Gartenherrlichkeit, etwa ein himmelhoch aufgeschossener Salatstock oder eine faustgroße Zwiebelblüte hervorragte.
Im Sommer und Herbst, wenn an schönen Tagen abends noch Sonne dort hinunter kam und die feuchten Mauern erwärmte, dann erschien gegen sieben Uhr der greise Garibaldi im Hof, stieg langsam die schmalen Steinstaffeln zum Gärtchen hinauf und setzte sich auf den ausgetretenen obersten Treppenstein. Dort ruhte er schweigend in der schwachen Spätsonne, tat seltene Züge aus einer schwarzgebrannten, kurzen Holzpfeife und gab nur, wenn etwa ein Nachbar ihn vom Fenster aus anrief, ein kurzes Wort zurück. Sonst redete er keinen Ton, sondern saß regungslos auf dem schmalen Stein und ruhte und rauchte, bis es dunkelte und kühl wurde. Über und unter ihm rumorten die Kinder, rauften und zankten miteinander, fraßen unreife Beeren und erfüllten die goldige Abendluft mit Gelächter, Geschrei und Gewimmer. Sie hieben einander die Köpfe blutig, stahlen einander das Vesperbrot, fielen über die Mauer herab und schrien Mordio. Den Alten berührte es nicht, obwohl er ungezählte Enkel und Großneffen unter der Horde hatte. Wenn einmal etwas Besonderes los war und das Geschrei zum Gebrüll anwuchs, drehte er den verwitterten Kopf vielleicht ein wenig danach hinüber und auf seine schmalen Lippen trat für einen flüchtigen Augenblick das kühle, gleichgültige Lächeln, mit welchem er den Lauf der Ereignisse zu betrachten gewohnt war.
Er hatte an anderes zu denken als an das kleine Zeug um ihn herum. Während sein brauner Daumen die Glut in die Holzpfeife zurück stopfte, verweilte seine Erinnerung weit von hier, in alten Zeiten und fremden Ländern, in wilden Feldzügen und auf weiten, abenteuerlichen Raub- und Wanderfahrten.
Er sah Höfe und Dörfer in Brand stehen und mit langen, unwilligen Flammen durch die Nacht gen Himmel klagen. Er sah auf verlassenen Straßen und auf den Türschwellen verlassener Häuser Erschlagene in schmutzigen Blutlachen liegen, krepierte Pferde und zertrümmerte Wagen, dazwischen herrenlos umherirrendes Vieh und verlaufene, weinende Knaben und Mädchen.
Kam dann etwa eins von seinen strohblonden, verwahrlosten Enkelkindern hergelaufen und bettelte: „Großvater, schenk’ mir was!“, dann streifte er es mit flüchtigem Blick und setzte, ohne eine Antwort zu geben, sein spöttisch stilles Lächeln auf, und das Kind lief wieder weg. Er aber hörte schnell wieder auf zu lächeln, zog die Kniee ein wenig höher, neigte den grauen Kopf ein wenig weiter vor und blickte wieder in die Länder der Erinnerung, der Abenteuer, mit demselben unverwandten, glühenden und auch verschleierten Blick, welchen die in Käfige gesperrten Raubvögel haben. Über seine hohe, braune Stirne fiel in fahlen Strängen das lange Haar und nichts an der ganzen Gestalt hatte Leben und bewegte sich als der schmale, alte Mund, der zuweilen eine dünne Rauchfahne hinaus blies, und als sein hagerer Schatten, der über die Mauer hinab und langsam über den ganzen Hof wanderte, immer länger und phantastischer und immer wesenloser werdend, bis er in die allgemeine Dämmerung untertauchte.
So im Dunkelwerden war es mir eine grausige Lust, vom Fenster meiner Knabenkammer aus den Garibaldi dasitzen zu sehen, von Haar und Bart umfilzt, aufrecht und bewegungslos, mit geisterhaft undeutlichen Zügen, bis sein Gesicht vollständig in das Dunkel versank und nur noch die Silhouette eines sitzenden Riesen übrig blieb, hin und wieder von einer spärlichen Rauchwolke umflogen. Die vielen Kinder waren um diese Zeit nicht mehr da, von der überdachten Gartenseite her wuchs die Finsternis heran, die uraltmodisch geschweiften Giebel und krummen Dächer all der Armenhäuser standen schwarz in den noch lichten Himmel, da und dort glühte ein Fensterlein gleich einem trüben roten Auge auf, und damitten kauerte rastend der alte Abenteurer, bis ihn fröstelte, dann verschwand er still in den finsteren Torweg hinein wie in eine unzugänglich fremde Welt.
Der alte Garibaldi hatte zwei Söhne gehabt, junge stramme Riesen von gewaltiger Erscheinung und vom übelsten Ruf, aber beide waren eines Tages ohne Abschied verschwunden und man brachte sogleich alle in den letzten Jahren am Ort begangenen und unaufgeklärt gebliebenen Verbrechen mit ihrem Flüchtigwerden in Verbindung. Fast ein Jahr später kam Bericht aus Brasilien, daß beide nicht mehr am Leben seien. Der eine war schon unterwegs auf dem Schiff am Fieber gestorben, der andere nachher in Rio, offenbar im bittersten Elend. Zusammen mit dem dazu beauftragten Polizeidiener besuchte mein Vater den Alten, um ihm die Todesnachricht zu bringen.
„Ihren Söhnen ist’s drüben nicht gut gegangen,“ fing mein Vater an.
„Wo drüben denn?“ fragte der Garibaldi.
„In Brasilien, ’s ist ihnen nicht gut gegangen.“
„Wieso?“
„Wieso? Tot und gestorben sind sie,“ schrie der Büttel, dem es nicht wohl war, bis er es herausgesagt hatte.
„So so?“ machte der Garibaldi und schüttelte den Kopf. Und:
„Alle beide?“ fragte er nach einer Weile.
„Ja wohl, alle beide,“ sagte mein Vater.
„So so. — So so.“
Und als jetzt mein Vater sich anschickte einen Anfang mit dem Trösten zu machen, winkte er ab und lächelte verachtungsvoll. Da ging denn mein Vater mit dem Polizeidiener wieder fort und Garibaldi machte sich wie sonst an seine Arbeit.
Am Abend dieses Tages, da jedermann die Nachricht schon wußte, saß er wieder auf seiner Staffel und alle Nachbarn schauten ihn an und alle paar Minuten rief ihn einer vom Fenster oder von der Gasse herüber an: „Mein Beileid auch, du!“
Und er sagte jedesmal „merci“. Da kam der Stadtpfarrer auch noch gegangen und gab ihm die Hand und sagte freundlich: „Wir wollen in Ihre Stube hinein gehen, kommen Sie!“
Aber Garibaldi schüttelte den Kopf. „’s ist gut,“ sagte er, „und ich sag meinen merci“, und blieb sitzen, und die vielen Herumsteher drückten sich hintereinander und kicherten. Der Stadtpfarrer schien betrübt und es sah aus, wie wenn er noch einiges zu sagen hätte, aber er zog nur den Hut und grüßte wieder freundlich und ging langsam aus dem Hof und fort, und der Garibaldi blies eine große Rauchwolke hinter ihm her.
Von da an, wenn ich ihn des Abends wieder rasten sah, schien mir sein Gesicht ein wenig tiefer gefurcht und noch abwehrender und einsamer als sonst, und ich betrachtete ihn, der zwei starke Söhne im fremden Land verloren hatte, mit vermehrter Scheu.
Außer jenen untergegangenen Söhnen hatte Garibaldi noch drei verheiratete Töchter, deren älteste verwitwet war. Dies war die Lene Voßler, ein wildes und berüchtigtes Weib, groß von Wuchs und von einer seltsam ungelenken, aber längst verwilderten Schönheit. Diese war von allen seinen Kindern das einzige, das zu ihm paßte, und auch das einzige, das in Verkehr und Freundschaft mit ihm stand. Sie kam den Winter über fast jeden Abend zu ihm in seine Hinterhausstube, dort saß sie neben dem Alten, oft bis es spät wurde, und redete kaum ein Wort mit ihm, der seine kleine Pfeife im Munde hielt und ebenfalls schwieg. Ich besann mich oft genug, was die zwei wohl mit einander anstellen möchten, aber sie saßen hinter den alten großblumigen Gardinen aus Wolle und man konnte im Schimmer der schlechten Ölfunzel nur zuweilen ihre ernsten Köpfe sehen.
Und häufig kam zu diesen beiden merkwürdigen, geheimnisvollen Menschen noch eine dritte Fabelgestalt. Dies war der alte Penzler, ein gewesener und verarmter Mühlenbauer, der aus Bayern stammte und den schon seine Herkunft und sein seltenes Handwerk zu etwas besonderem machten. Seit Jahren lebte er einsam und vielbesprochen in der finsteren Hengstettergasse ein ärmliches Sonderlingsleben, drehte ewig an seinem ungeheuren Schnauzbart, redete in alttestamentlichen Wendungen und betrank sich alle paar Wochen einmal, was meistens zu Nachtskandal und schlimmen Szenen führte. Der einzige Mensch, dem er Achtung zeigte und mit dem er eine Freundschaft unterhielt, war Garibaldi. Als dessen Söhne totgesagt wurden, kam Penzler zu ihm, schlug ihm auf die Schulter und rief mit gewaltiger Trösterstimme: „So geht’s, alter Prophete! Wir sind allesamt wie Gras und wie des Grases Blüte. Na, die Lausbuben haben jetzt keine Sorgen mehr.“
Winterabends kam der Mühlenbauer sehr oft zum Garibaldi und saß mit ihm und seiner Tochter, der Lene Voßler, in der niedrigen, trüb erhellten Stube, die sich allmählich ganz mit Tabaksrauch füllte. Ich schaute immer hinüber und lief manchesmal noch spät Nachts von meinem Bett ans Fenster, schaute nach ob drüben noch Licht sei und stierte das einsame rote Fenster ahnungsvoll und begierig an, bis mich fror und ich ins Bett zurück mußte.
An einem Abend, es ging schon gegen den April und man brauchte fast nimmer zu heizen, wurde meine Neugierde belohnt und das eigentliche Treiben und Wesen des Alten ward mir klarer. Es fehlte nämlich diesmal der wollene Vorhang hinter seiner Scheibe und ich sah den Garibaldi mit der Lene und dem Penzler am Tische sitzen. Es mochte neun Uhr oder später sein. Eine Blechlampe gab trübes Licht, die beiden grauhaarigen Männer bliesen Rauch aus ihren Pfeifchen und saßen still und vorgebeugt auf ihren Hockern, die Lene Voßler aber hatte über den ganzen Tisch im Viereck ein Kartenspiel ausgebreitet, ein Blatt dicht am andern. Auf diese Karten starrten alle drei. Bald nahm die Lene, bald ihr Vater eine Karte in die Hand und legte sie nachdenklich und zögernd an einen anderen Platz; der Mühlenbauer sah mit scharfem Gesichte zu, deutete mit dem Pfeifenstiel hierhin und dorthin, schnitt ernste Grimassen, schüttelte den Kopf oder zuckte mächtig mit den gewaltigen Augenbrauen, die so stark wie Schnurrbärte waren. Gesprochen wurde nichts. Über den drei gebeugten Köpfen wölkte der dichte Rauch und stieg über der Lampenflamme in einer ununterbrochenen Säule in die Höhe.
Zwei Stunden lang schaute ich zu. Penzler schnitt immer schärfere Grimassen, die Lene ordnete ihre Karten immer leidenschaftlicher und legte sie hastig aus, der alte Garibaldi aber saß mir gerade gegenüber und so oft er den Kopf erhob, floh ich in meine Stube zurück, obwohl er mich am dunklen Fenster nicht hätte sehen können. Seine Augen waren auf die Karten gerichtet und brannten in dem braunverwelkten Gesicht mit leiser Glut.
Sie taten also Karten legen und wahrsagen, und es wunderte mich nicht. Aber wer wahrsagen kann, der muß auch zaubern können. Vom Bayern, dem Penzler, wußte man ja schon immer, daß er mit Geistern umging und viele geheime Heilmittel kannte. Ich paßte auf wie ein Jagdhund und brannte vor banger Begierde. Und als die Tage wärmer und die Abende lang und mild wurden, sah ich öftere Male wie Garibaldi, sobald es zu dunkeln begann, an seinem Staffelplatz vom Penzler abgeholt wurde und mit ihm die Gasse hinab verschwand. Ich wußte genau, daß er nicht ins Wirtshaus ging, dafür hatte ihn meine Mutter oft gerühmt; daß man aber in diesen lauen, stichdunkeln Frühjahrsnächten viel Zauber treiben konnte, war gewiß.
Ich sah in meinen Gedanken die zwei alten Hexenmeister die Stadt verlassen, im finstern Walde Kräuter suchen, ein Feuer anfachen und Beschwörungen ausüben. Ich sah sie unter moosigen Felsen beim Lichte kleiner Diebslaternen Schätze aus der feuchten Erde graben. Ich sah sie Wetter machen und Krankheiten beschwören.
Ob wohl die Lene Voßler auch mitging? Nein, sie ging nicht mit. Eines Abends konnte ich der Neugier nicht widerstehen. Sobald ich den Mühlenbauer im Hof erscheinen sah, verließ ich still das Haus durchs Gartentor und schlich mich zwischen den Gärten hindurch auf die Gasse. Garibaldi und Penzler gingen miteinander straßabwärts. Der eine hatte etwas unter dem Arm, was wie ein aufgerollter langer Strick aussah, der andere trug eine Art Kachel oder Kanne. Ich folgte ihnen mit großem Herzklopfen die Gasse hinunter, über den Balkensteg und bis auf den Brühel, wo das letzte Haus der Stadt, ein alter Gasthof steht und wo der Weg sich teilt. Es führt von dort aus ein Sträßlein eben den Fluß entlang, das andere stark ansteigend bergan in den Wald hinein.
Weiter wagte ich nicht hinterher zu gehen, der Gasthof war schon geschlossen, ringsum brannte keine Laterne, von der Stadt hörte man nichts mehr als vielleicht ein fernes Wagenrollen; vor mir lag kirchenstill der Brühel mit seinen riesigen Linden und Kastanien und durch die alten Kronen stöhnte der feuchte, stürmische Frühlingswind. Und die beiden dunklen Männer, die unter den hohen Bäumen auf einmal klein erschienen, wandelten in die schwarze Stille hinein, gleichmäßig im Schritt und ohne miteinander zu reden, ihre Geräte tragend. Ich sah sie schwer und stille schreiten, der Nacht entgegen, mitten in das sich auftuende Reich der Finsternis und der schrecklichen Wunder, wo sie heimisch waren.
Mir wurde todesangst, als der Penzler einmal hinter sich schaute; ich blieb am Brühel stehen und sah nur noch, daß die beiden den Talweg flußabwärts einschlugen. Dann lief ich im Galopp zurück, kam ungesehen wieder durch die Hintertüre ins Haus und als ich dann geborgen im Bette lag, konnte ich noch lang nicht einschlafen, weil mein Herz vom schnellen Laufen und vor Angst nicht aufhören wollte gewaltig zu schlagen.
Von da an wagte ich dem Garibaldi kaum mehr zu begegnen und wich ihm und dem Penzler auf der Straße ängstlich aus. Und daran tat ich wohl, denn es zeigte sich nicht allzu lange darauf, daß sie gefährliche Wege gegangen seien.
An einem Morgen im Sommer — ich hatte Ferien — sprach es sich in der Stadt herum, es sei zu Nacht ein Unglück passiert. Nach einer Stunde erfuhr man, der Mühlenbauer Penzler sei in aller Gottesfrühe tot aus dem Wasser gezogen worden und liege drunten im Gutleuthaus. Alles strömte in großer Aufregung und Neugierde dorthin. Auf den steinernen Korridor des Gutleuthauses waren ein paar Bündel leinene Säcke und darüber eine rote Wolldecke gelegt, darauf lag halb entkleidet eine Gestalt, das war der Mühlenbauer. Aus der Nähe betrachten durfte man ihn nicht, ein Landjäger stand dabei, und mir war es recht, denn das Grausen hätte mich umgebracht.
Der Garibaldi war auch da, ging aber bald wieder weg und hatte sein gleichmütiges Gesicht aufgesetzt, so als gehe die Geschichte ihn nichts an. Als er wegging und die vielen Leute immer noch neugierig herumstanden und die Mäuler offen hatten, lächelte er auf seine stille, verächtliche Art. Und der Penzler war sein einziger Freund gewesen.
Wahrscheinlich war er nachts dabei gewesen, als der andere ins Wasser fiel. Warum hatte er dann nicht sogleich Leute geholt?
— Oder war der Bayer vielleicht mit seinem Wissen und durch seine Schuld ertrunken? Hatten sie Streit gehabt, vielleicht bei der Teilung eines Schatzes?
Man hörte auf von dem Unglück zu reden. Garibaldi tat wie immer seine Arbeit in der Stadt herum und rastete bei gutem Wetter jeden Abend auf der Treppenstaffel über unserem Hof, wo die Kinder lärmten. Der dem Zauberwesen zum Opfer gefallene Mühlenbauer fand keinen Nachfolger. Garibaldis Gesicht wurde je älter desto undurchschaulicher und ich, der einen Teil seiner Geheimnisse kannte, sah hinter seiner gleichmütigen Stirn und hinter seinem ruhig überlegenen Blick eine Welt von dunklen Schicksalen träumen.
Im folgenden Herbst geschah es, daß ihm bei der Arbeit die hohe Leiter eines Gipsers auf die Schulter fiel und ihn beinah erschlagen hätte. Er lag vier Wochen krank im Spittel. Als er von dort wiederkam, war in seinem Wesen eine gewisse Veränderung wahrzunehmen. Er lebte wie sonst, tat seine Arbeit und sprach womöglich noch weniger als früher, aber er hatte jetzt die Gewohnheit, leise mit sich selber zu reden und zuweilen zu lachen, wie wenn ihm alte lustige Geschichten einfielen. An stillen Abenden, wenn die Kinder gerade anderswo tobten oder einem Kunstreiterwagen oder Kamelführer oder Orgelmann nachliefen, hörte man ihn im Höfchen ohne Unterlaß murmeln. Auch saß er nie mehr lange Zeit auf seinem Steine still, sondern ging öfters unruhig auf und ab, was zusammen mit dem Murmeln und Kichern etwas Unheimliches hatte.
Ich fühlte damals zum ersten Mal Mitleid mit dem alten Hexenmeister, ohne ihn aber deswegen weniger zu fürchten. Sein neuerliches Gebaren schien mir bald auf Gewissensbisse, bald auf neue schlimme Unternehmungen zu deuten.
„Der Garibaldi will auch anfangen altwerden,“ sagte einmal meine Mutter beim Nachtessen. Ich verstand das im Augenblick nicht, denn ich hatte ihn nie anders als grau und alt gesehen. Aber ich vergaß das Wörtlein nicht und merkte nach und nach selber, daß Garibaldi wirklich jetzt erst zu altern begann.
Noch einmal machte er von sich reden. Eines Abends war, nach langem Ausbleiben, seine Tochter Lene wieder einmal zu ihm gekommen. Sie waren in der Stube beieinander und ich glaube, die Lene wollte auswandern. Darüber kamen sie in Streit, bis das Weib mit der Faust auf den Tisch schlug und ihm Schimpfworte sagte. Da hub der alte Mann seine Tochter, so groß und stark sie war, jämmerlich zu hauen an und warf sie die Stiege hinunter, daß das Geländer krachte und das Weib nur mit Mühe und Schmerzen davonhinken konnte.
Von da an blieb Garibaldi ganz einsam und nun brach das Alter plötzlich vollends über ihn herein. Die Pfeife begann ihm im Munde zu wackeln und häufig auszugehen, die Selbstgespräche nahmen kein Ende, die Arbeit wurde ihm sauer. Schließlich gab er sie auf und war fast über Nacht zu einem gebückten und zittrigen Kerlchen geworden.
Für mich hörte er darum nicht auf wichtig und rätselhaft zu sein. Ich fürchtete ihn mehr als je und konnte es doch nicht lassen, ihm halbe Stunden lang vom sicheren Fenster aus zuzuschauen. Beim Rauchen stützte er jetzt den Ellenbogen aufs Knie und hielt die Pfeife mit der Hand fest, aber auch die war zittrig und hatte keine Kräfte mehr.
Die Tage waren noch kühl und im Walde lag noch ein wenig Schnee, da war eines Tages der Garibaldi gestorben.
Mein Vater bürstete seinen Schwarzen und ging zur Leiche. Ich durfte nicht im Zug gehen (wenn man das Dutzend Nachbarn einen Zug heißen will), aber ich stieg auf die Kirchhofmauer und hörte zu und erfuhr dabei zum ersten Mal, daß der Tote nicht Garibaldi, sondern Schorsch Großjohann geheißen hatte, was mich in lange Zweifel stürzte, denn fragen mochte ich niemand.
Nachher sagte mein Vater zur Mutter: „Unser Garibaldi war doch ein sonderbarer Mensch, fast unheimlich; weiß Gott, wie er so geworden ist.“
Darüber hätte ich nun mancherlei mitteilen können. Aber ich behielt alles für mich — das Wahrsagen, das Zaubern, die Nachtgänge flußabwärts und das, was ich über den Tod des bayerischen Mühlenbauers vermutete.
Die Leute von Gerbersau, die da auf den Straßen laufen, unter ihren Ladentüren stehen, ihr Handwerk und Geschäft besorgen und fast alle so zufrieden sind, obwohl sie beständig über die schlechten Zeiten zu klagen haben, alle diese Leute haben den Walter Kömpff noch gut gekannt. Sie sind mit ihm in die Schule gegangen, sie sind mit ihm Soldat gewesen, sie haben Geschäfte mit ihm gehabt und früher oft abends ein Bier mit ihm getrunken. Und dann machte er plötzlich so viel von sich reden, eine Zeitlang!
Aber alle diese Leute sprechen nimmer von ihm und haben ihn vergessen. Es gab eine Zeit, da hätte man meinen sollen, sie würden von Walter Kömpff noch als weißhaarige Großväter zu reden haben und mit keinem auswärtigen Geschäftsfreund über den Marktplatz gehen können, ohne ihm das vormals Kömpffsche Haus zu zeigen und ihm nachher im Adler oder Hirschen die Geschichte dazu zu erzählen, der Länge und Breite nach.
Und wenn auch gar nichts zu verwundern und zu erzählen gewesen wäre, wie war es möglich, diesen Mann so ganz zu vergessen? Hätte noch vor zehn Jahren irgend ein Gerbersauer sich den Marktplatz vorstellen können ohne den Kömpffschen Laden und das Schild darüber und den mit seinem Namen bemalten grauen Pritschenwagen und ohne ihn selber, wie er unter der Tür stand oder über den Platz schritt oder auf dem grünen Feierabendbänklein saß? Oder hätte jemand sich einen Jahrmarkt denken können, ohne daß er in seiner Ladentüre stand und die vielen Dutzende von auswärtigen Bekannten begrüßte?
Beispielsweise gesprochen, stelle man sich jetzt einmal den jüngeren Giebenrath vor, den Tuchhändler! Nicht wahr, da läuft er gaßauf, gaßab, ruft hier „Guten Morgen!“ und dort „Grüß Gott!“, langt da an den Hut und macht dort ein Kompliment, und dann geht er in sein Haus, und man weiß, da ist er jetzt drin und verkauft Tuch, und überm Laden steht mit Gold auf Schwarz sein Name. Es ist niemand in der Stadt, der ihn nicht kennt und der nicht weiß, wie er spricht und wie er lacht und was er im Winter für einen Mantel hat und mit wem er verwandt ist und was er für Geschäfte macht und daß er zu den Demokraten gehört. Also, wieder beispielsweise, der jüngere Giebenrath stirbt jetzt — oder, um niemand weh zu tun, sagen wir, er geht weg, vielleicht nach Stuttgart oder nach Pforzheim.
Ja, wenn ich das nur sage, da lachen sie alle und winken mir mit dem ganzen Arm ab: „Wo denkst hin! Der bleibt, wo er ist! Der und wegziehen!“
Also gut, aber vielleicht zieht er doch weg, und niemand begreift’s, und man schüttelt den Kopf, und sein Firmenschild wird heruntergenommen und die Kinder sehen zu. Am Morgen vermißt ihn der Friseur und am Abend der Ankerwirt und untertags vermißt ihn da einer und dort einer in der Stadt, und seine Nachbarn mögen gar nimmer ans Fenster, weil er doch nimmer vorbeikommt und hereingrüßt und einen kleinen Spaß macht, oder wenn er’s eilig hatte, konnte man ihm nachsehen und sich besinnen, wohin’s ihm denn so eilig pressierte. Und ich würde dann sagen: Ihr Leute, sei’s um eine kleine Weile, so redet kein Mensch mehr vom jüngeren Giebenrath, außer er hätte Schulden. — Ja, da würde man wieder abwinken und lachen und den Kopf schütteln und mich heimschicken!
Und doch ist es mit dem Kömpff um kein Haar anders gewesen. Kaum daß man jetzt seinen Namen noch etwa einmal hört. Nun, ich erzähle, wie es mir damit gegangen ist.
Wie es die jungen Leute im Brauch haben, war ich auf der Wanderschaft, und wohin ich kam, schien mir’s kein schlechtes Leben in der Fremde; ich kam mir extra gescheit vor und wollte gar nicht begreifen, wieso man eigentlich gerade immer in Gerbersau leben müsse. Da war zum Beispiel Cannstatt, ein wohlhabender Ort, und dann Tübingen, auch nicht übel, und dann Basel und Zürich, und wiederum München, alles angenehme Plätze, wo auch Leute wohnen und wo man so gut seine Batzen verdienen und wieder verjucken kann wie irgendwo in der Welt. Also kam mir, aus der Ferne gesehen, die Stadt Gerbersau immer kleiner und unnötiger und sogar ziemlich lächerlich vor, und ich bin länger draußen geblieben, als es der Brauch ist. Zwischenein höre ich, der Kömpff am Marktplatz fange an, sonderbare Geschichten zu machen, das und jenes. Dann hör’ ich, er sei übergeschnappt, und nicht lang darauf von einem andern, er sei vortrefflich bei Verstand und überhaupt viel zu gut und edel für seinen Ort, und er werde auch wahrscheinlich fortgehen. Und so durcheinander, wenig Gutes und viel Böses, bis ich gar nichts mehr glaubte. Ich dachte: wenn ich zufällig einmal wieder besuchsweise heimkomme, will ich den und jenen darum fragen und etwas Sicheres zu erfahren suchen.
Die Zeit verging und ich war nachgerade nimmer ganz jung. Daheim dachten sie kaum mehr daran, daß ich am Ende auch wieder einmal heimkommen könnte, und ich selber dachte es am wenigsten.
Wie es gegangen ist, daß ich jetzt doch wieder in Gerbersau sitze, anfangs nicht ohne Unbehagen und Beschämung, und daß ich jetzt wieder hier so zu Hause bin wie nur je in den Bubenzeiten, das wäre eine lange Geschichte. Aber davon ist diesmal nicht die Rede. — Also ich komme wieder heim, lasse mich begrüßen und begutachten, anschielen und auslachen, finde die alten Gassen und Winkel und einige neue dazu, und kaum habe ich nach ein paar Tagen mir die alte Mundart wieder recht angewöhnt, so frage ich rechts und links nach dem Herrn Walter Kömpff. Ich meine, jeder müsse gleich vor lauter Geschichten und Erklärungen überlaufen und herzensfroh sein, daß er einen Neuen findet, der’s ihm abhört.
Aber wie ich den ersten frage: „Du, wie war’s denn eigentlich damit?“, da besinnt er sich ein bißchen, klopft die Zigarre ab, zieht, bläst eine Verlegenheitswolke hinaus, und schließlich meint er: „Ja, das sind Sachen, da schwätzt jetzt kein Mensch mehr davon. Frag einmal den Köberle.“ Also abends, wie ich ihn bei der Metzelsuppe im Rößle treffe, frage ich den Köberle. Er behält den Wein ein Weilchen im Mund, macht Telleraugen, schluckt dann und runzelt, so gut er kann, die glatte Stirn und sagt: „Ja, weißt du, das ist eigentlich schon recht lang her. Liebe Zeit, der Kömpff! Ja ja, ich kann mir’s noch gut denken. Na, wir sehen uns ja bald einmal wieder, da reden wir dann. Am Donnerstag schenkt der Kronenwirt den ersten Neuen aus, du kommst doch auch?“
So allmählich ist das Nötigste ja auch zusammengetröpfelt. Ich wollte nun einmal alles wissen, da redete und fragte und horchte ich’s so zusammen, das eine bei einem Voressen im Waldhorn, das andere bei einer Kindsleiche unterwegs zum Kirchhof, da etwas in einer Schusterwerkstatt und dort etwas im Kaufladen. Was eigentlich damals Merkwürdiges passiert sei, bekam ich denn auch allmählich heraus, aber keinerlei Schlüssel dazu, denn darum hatte sich niemand gekümmert.
Bis mir die Holderlies einfiel. Die war ja in alten Zeiten im Kömpffschen Haus Magd gewesen. Richtig lebte sie auch noch und wohnte droben in der allerobersten Vorstadt, wohin es ein schweißtreibendes Klettern ist und wo trotzdem fast lauter alte, gebrechliche Leute hausen. Wenn ich an meine Bubenzeit dachte, konnte ich mir die Lies wieder vorstellen, die schon damals nimmer auffallend jung war. Ich stieg denn in die Vorstadt hinauf, und so oft ich meinte, jetzt sei es erreicht, ging es noch ein Gäßlein und einen schmalen Gartensteig und eine böse Mauerstiege hinauf, bis ich ganz bei den letzten Häuschen war; da lag die Stadt senkrecht mit ineinander verwirrten Dächern so verschoben und seltsam unter mir, als sei sie betrunken oder ich. Dann ging es noch eine steinerne Gartentreppe, für die ich fast zu breit war, und zwei hölzerne stichdunkle Stiegen hinauf. Und dann klopfte ich und es tat eine Türe sich auf, und ich stand in einem lichten, stillen Altenstübchen und hätte nie geglaubt, daß es in unserm engen Bergtal so viel Luftraum gebe, wie ich hier über die Geranien weg vor den kleinen klaren Fenstern liegen sah.
Die Holderlies kannte mich natürlich nimmer, denn ich war in den zwanzig Jahren groß und breit geworden, und ich kannte auch sie nicht mehr, die unglaublich eingegangen und klein geworden war. Aber es gab sich schon, und wie ich nach dem langen Steigen erst wieder Atem hatte, fingen wir mit dem besten Humor von den alten Zeiten an, die für sie freilich noch lange nicht die wirklich alten waren.
Später kam ich wieder, fünfmal, zehnmal, und ich erfuhr alles, was die Alte von meinem Kömpff wußte und vermutete. Bald darauf starb sie, und ich ging bei dem sonderbaren Leichenzug durch die steilen Gärtchen und über alle die Steige und Treppchen mit. — Und nun will ich die Geschichte des Walter Kömpff erzählen, soweit sie mir klar geworden ist.
Über den alten Hugo Kömpff ist wenig zu sagen, als daß er in allem ein echter Gerbersauer von der guten Sorte war. Das alte, feste und große Haus am Marktplatz mit dem niedrigen und finsteren Kaufladen, der aber für eine Goldgrube galt, hatte er von Vater und Großvater überkommen und führte es im alten Sinne fort. Nur darin war er einen eignen Weg gegangen, daß er seine Braut von auswärts geholt hatte. Sie hieß Kornelie und war eine Pfarrerstochter vom oberen Schwarzwald, eine hübsche und ernste Dame ohne das geringste bare Vermögen. Das Erstaunen und Reden darüber dauerte seine Weile, und wenn man die Frau auch später noch ein wenig seltsam fand, gewöhnte man sich doch zur Not an sie oder ließ wenigstens den Mann darum ungeschoren. Der lebte auch in einer sehr stillen Ehe und bei guten Geschäftszeiten unauffällig nach der väterlichen Art dahin, war gutmütig und wohlangesehen, dabei ein vortrefflicher Kaufmann, so daß es ihm an nichts fehlte, was hierorts zum Glück und Wohlsein gehört. Zur rechten Zeit stellte sich ein Söhnlein ein und wurde Walter getauft; er hatte das Gesicht und den Gliederbau der Kömpffe, aber keine graublauen, sondern von der Mutter her braune Augen. Nun war ein Kömpff mit braunen Augen freilich noch nie gesehen worden, aber genau betrachtet schien das dem Vater kein großes Unglück, und der Bub ließ sich auch nicht an wie ein aus der Art Geschlagener. Es lief alles seinen leisen, gesunden Gang, das Geschäft ging vortrefflich, die Frau war zwar immer noch ein wenig anders, als man gewohnt war, aber das war kein Schade, und der Kleine wuchs und gedieh und kam in die Schule, wo er zu den Besten gehörte. Nun fehlte dem Kaufmann noch, daß er in den Gemeinderat kam, aber auch das konnte nimmer lang auf sich warten lassen, und dann wäre seine Höhe erreicht und alles wie beim Vater und Großvater gewesen.
Es kam aber nicht dazu. Ganz wider die Kömpffsche Tradition legte sich der Hausherr schon mit vierundvierzig Jahren zum Sterben nieder. Es nahm ihn ohne zu viel Schmerzen und doch langsam genug hinweg, daß er alles Notwendige noch in Ruhe bestimmen und ordnen konnte. Und so saß denn eines Tages die hübsche dunkle Frau an seinem Bette, und sie besprachen dies und jenes, was zu geschehen habe und was die Zukunft etwa bringen könnte. Vor allem war natürlich von dem Buben Walter die Rede, und in diesem Punkte waren sie, was sie beide nicht überraschte, keineswegs derselben Gesinnung und gerieten darüber in einen stillen, doch zähen Kampf. Freilich, wenn jemand an der Stubentüre gehorcht hätte, der hätte nichts von einem Streit gemerkt.
Die Frau hatte nämlich vom ersten Tag der Ehe an darauf gehalten, daß auch an unguten Tagen Höflichkeit und sanfte Rede herrsche. Mehr als einmal war der Mann, wenn er bei irgend welchem Vorschlag oder Entschlusse ihren stillen, aber festen Widerstand spürte, in Zorn geraten. Aber dann verstand sie ihn beim ersten scharfen Wort auf eine Art anzusehen, daß er schnell einzog und seinen Groll wenn nicht abtat, so doch in den Laden oder auf die Gasse trug und die Frau damit verschonte, deren Wille dann meistens ohne weitere Worte bestehen blieb und erfüllt wurde. So ging auch jetzt, da er schon nah am Tode war und seinem letzten und stärksten Wunsch ihr ruhiges Andersmeinen gegenüberstand, das Gespräch in Maß und Zucht seine Bahn. Doch sah das Gesicht des Kranken so aus, als wäre es mühsam gebändigt und könne von Augenblick zu Augenblick die Haltung verlieren und Zorn oder Verzweiflung zeigen.
„Ich bin an mancherlei gewöhnt, Kornelie,“ sagte er, „und du hast ja gewiß auch manchmal gegen mich recht gehabt, aber du siehst doch, daß es sich diesmal um eine andre Sache handelt. Was ich dir sage, ist mein fester Wunsch und Wille, der mir seit Jahren feststeht, und ich muß ihn jetzt deutlich und bestimmt aussprechen und darauf bestehen. Du weißt, daß es sich hier nicht um eine Laune handelt und daß ich den Tod vor Augen habe. Wovon ich sprach, das ist ein Stück von meinem Testament, und es wäre besser, du würdest es in Güte hinnehmen.“
„Es hilft nichts,“ erwiderte sie, „soviel drüber zu reden. Du hast mich um etwas gebeten, was ich nicht gewähren kann. Das tut mir leid, aber zu ändern ist nichts daran.“
„Kornelie, es ist die letzte Bitte eines Sterbenden. Denkst du daran nicht auch?“
„Ja, ich denke schon. Aber ich denke noch mehr daran, daß ich über das ganze Leben des Buben entscheiden soll, und das darf ich so wenig, wie du es darfst.“
„Warum nicht? Es ist etwas, was jeden Tag vorkommt. Wenn ich gesund geblieben wäre, hätte ich aus Walter doch auch gemacht, was mir recht geschienen hätte. Jetzt will ich wenigstens dafür sorgen, daß er auch ohne mich Weg und Ziel vor sich hat und zu seinem Besten kommt.“
„Du vergißt nur, daß er uns beiden gehört. Wenn du gesund geblieben wärest, hätten wir beide ihn angeleitet, und wir hätten es abgewartet, was sich als das Beste für ihn gezeigt hätte.“
Der kranke Herr verzog den Mund und schwieg. Er schloß die Augen und besann sich auf Wege, doch noch in Güte zum Ziel zu kommen. Allein er fand keine, und da er Schmerzen hatte und nicht sicher sein konnte, ob er morgen noch das Bewußtsein haben werde, entschloß er sich zum letzten.
„Sei so gut und bring ihn her,“ sagte er ruhig.
„Den Walter?“
„Ja, aber sogleich.“
Frau Kornelie ging langsam bis an die Tür. Dann kehrte sie um.
„Tu es lieber nicht!“ sagte sie bittend.
„Was denn?“
„Das, was du tun willst, Hugo. Es ist gewiß nicht das Rechte.“
Er hatte die Augen wieder zugemacht und sagte nur noch müde: „Bring ihn her!“
Da ging sie hinaus und in die große, helle Vorderstube hinüber, wo Walter über seinen Schulaufgaben saß. Er war zwischen zwölf und dreizehn, nicht sehr groß, aber gesund, ein ruhiger und gutwilliger Knabe. Im Augenblick war er freilich verscheucht und aus dem Gleichgewicht, denn man hatte für besser gehalten, ihm nicht zu verheimlichen, daß es mit dem Vater zu Ende gehe. So folgte er der Mutter verstört und mit einem inneren Widerstreben kämpfend in die Krankenstube, wo der Vater ihn einlud, neben ihm auf dem Bettrand zu sitzen.
Der kranke Mann streichelte die warme, kleine Hand des Knaben und sah ihn gütig an.
„Ich muß etwas Wichtiges mit dir sprechen, Walter. Du bist ja schon groß genug, also hör gut zu und versteh mich recht. In der Stube da ist mein Vater und mein Großvater gestorben, im gleichen Bett, aber sie sind viel älter geworden als ich, und jeder hat schon einen erwachsenen Sohn gehabt, dem er das Haus und den Laden und alles hat ruhig übergeben können. Das ist nämlich eine wichtige Sache, mußt du wissen. Stell dir vor, daß dein Urgroßvater und dann der Großvater und dann dein Vater jeder viele Jahre lang hier geschafft hat und Sorgen gehabt hat, damit das Geschäft auch in gutem Stand an den Sohn komme. Und jetzt soll ich sterben und weiß nicht einmal, was aus allem werden und wer nach mir der Herr im Hause sein soll. Überleg dir das einmal. Was meinst du dazu?“
Der Junge blickte verwirrt und traurig vor sich nieder; er konnte nichts sagen und konnte auch nicht nachdenken, der ganze Ernst und die feierliche Befangenheit dieser sonderbaren Stunde in dem dämmernden Zimmer umgab ihn wie eine schwere, dicke Luft. Er schluckte, weil ihm das Weinen nahe war, und blieb in Trauer und Verlegenheit still.
„Du verstehst mich schon,“ fuhr nun der Vater fort und streichelte wieder seine Hand. „Mir wär’ es sehr lieb, wenn ich nun ganz gewiß wissen könnte, daß du, wenn du einmal groß genug bist, unser altes Geschäft weiterführst. Wenn du mir also versprechen würdest, daß du Kaufmann werden und später da drunten alles übernehmen willst, dann wäre mir eine große Sorge abgenommen und ich könnte viel leichter und froher sterben. Die Mutter meint —“
„Ja, Walter,“ fiel die Frau Kornelie ein, „du hast gehört, was der Vater gesagt hat, nicht wahr? Es kommt jetzt ganz auf dich an, was du sagen willst. Du mußt es dir nur gut überlegen. Wenn du denkst, es wäre vielleicht besser, daß du kein Kaufmann wirst, so sag es nur ruhig; es will dich niemand zwingen.“
Eine kleine Weile schwiegen alle drei.
„Wenn du willst, kannst du hinübergehen und es noch bedenken, dann ruf’ ich dich nachher,“ sagte die Mutter. Der Vater heftete die Blicke fest und fragend auf Walter, der Knabe war aufgestanden und wußte nichts zu sagen. Er fühlte, daß die Mutter nicht dasselbe wolle wie der Vater, dessen Bitte ihm nicht gar so groß und wichtig schien. Eben wollte er sich abwenden, um hinauszugehen, da griff der Leidende noch einmal nach seiner Hand, konnte sie aber nicht erreichen. Walter sah es und wandte sich ihm zu, da sah er in des Kranken Blick die Frage und die Bitte und fast eine Angst, und er fühlte plötzlich mit Mitleid und Schrecken, daß er es in der Hand habe, seinem sterbenden Vater weh oder wohl zu tun. Dies Gefühl von ungewohnter Verantwortung drückte ihn wie ein Schuldbewußtsein, er zögerte, und in einer plötzlichen Regung gab er dem Vater die Hand und sagte leise unter hervorbrechenden Tränen: „Ja, ich verspreche es ganz gewiß.“
Dann führte ihn die Mutter still ins große Zimmer zurück, wo es nun auch zu dunkeln begann; sie zündete die Lampe an, gab dem Knaben einen Kuß auf die Stirn und suchte ihn zu beruhigen. Darauf ging sie zu dem Kranken zurück, der nun erschöpft tief in den Kissen lag und in einen leichten Schlummer sank. Die großgewachsene, schöne Frau setzte sich in einen Armstuhl am Fenster und suchte mit müden Augen in die Dämmerung hinaus, über den Hof und die unregelmäßigen, spitzigen Dächer der Hinterhäuser hinweg an den bleichen Himmel blickend. Sie war noch in guten Jahren und war noch eine Schönheit, nur daß an den Schläfen die blasse Haut gleichsam ermüdet war. Und nun, da sie den Kopf mit halbgeschlossenen Augen senkte und ruhend saß, erschien sie älter, als sie war.
Sie hätte wohl auch einen Schlummer nötig gehabt, doch schlief sie nicht ein, obwohl alles an ihr ruhte. Sie dachte nach. Es war ihr eigen, daß sie entscheidende, wichtige Zeiten ungeteilt bis auf die Neige durchleben mußte, sie mochte wollen oder nicht. So hielt es sie auch jetzt, der Ermattung zum Trotz, mitten in dem unheimlich stillerregten, überreizten Lebendigsein dieser Stunden fest, in denen alles wichtig und ernst und unabsehbar war. Sie mußte an den Knaben denken und ihn in Gedanken trösten, und sie mußte auf das Atmen ihres Mannes horchen, der dort lag und schlummerte und noch da war und doch eigentlich schon nicht mehr hierher gehörte. Am meisten aber mußte sie an diese vergangene Stunde denken.
Das war nun ihr letzter Kampf mit dem Mann gewesen, und sie hatte ihn wieder verloren, obwohl sie im Recht war und es besser wußte. Alle diese Jahre hatte sie den Gatten überschaut und ihm ins Herz gesehen in Liebe und in Streit, und hatte es durchgeführt, daß es ein stilles und reinliches Miteinanderleben war. Sie hatte ihn lieb, heute noch wie immer, und doch war sie immer allein geblieben. Sie hatte es verstanden, in seiner Seele zu lesen, aber er hatte die ihre nicht verstehen können, auch in Liebe nicht, und war seine gewohnten Wege hingegangen, bald dankbar und bald grollend und schnell wieder versöhnt. Er war immer an der Oberfläche geblieben mit dem Verstand wie mit der Seele, und wenn es Dinge gab, in denen es ihr nicht erlaubt und möglich war, sich ihm zu fügen, hatte er nachgegeben und gelächelt, aber ohne sie zu verstehen.
Und nun war das Schlimmste doch geschehen. Sie hatte über das Kind mit ihm nie ernstlich reden können, und was hätte sie ihm auch sagen sollen? Er sah ja nicht ins Wesen hinein. Er war überzeugt, der Kleine habe von der Mutter die braunen Augen und alles andere von ihm. Und sie wußte seit Jahren jeden Tag, daß das Kind die Seele von ihr habe, und daß in dieser Seele etwas lebe, was dem väterlichen Geist und Wesen widersprach, unbewußt und mit unverstandenem Schmerze widersprach. Gewiß, er hatte viel vom Vater, er war ihm fast in allem ähnlich. Aber den innersten Nerv, dasjenige, was eines Menschen wahres Wesen ausmacht und geheimnisvoll seine Geschicke schafft, diesen feinen, schönen Lebensfunken hatte das Kind von ihr, und wer in den innersten Spiegel seines Herzens hätte sehen können, in die leise wogende, zarte Quelle des Persönlichsten und Eigensten, hätte dort die Seele der Mutter gespiegelt gefunden.
Behutsam stand Frau Kömpff auf und trat ans Bett, sie bückte sich zu dem Schlafenden und sah ihn an mit halbem Bewußtsein, daß sein Gesicht zum letzten Mal unentstellt das alte sei, das sie so lang gekannt hatte. Sie hatte es lieb, wenn es auch nicht schön war. Sie wünschte sich noch einen Tag, noch ein paar gute Stunden für ihn, um ihn noch einmal recht zu sehen. Er hatte sie nie ganz verstanden, aber ohne seine Schuld, und eben die Beschränktheit seiner kräftigen und klaren Natur, die auch ohne inneres Verstehen sich ihr so oft gefügt hatte, erschien ihr liebenswert und ritterlich. Überschaut hatte sie ihn schon in der Brautzeit, damals nicht ohne einen feinen Schmerz. Aber er war ihr in herzlicher und mannhafter Liebe entgegengekommen, und so fein und überlegen sie war, hatte sie nicht gezögert, mit ihm zu gehen. Es hatte ihr besser geschienen, sich einem echten und treuen Liebhaber anzuvertrauen, als auf den Auserlesenen, Unwahrscheinlichen zu warten, dem sie auch ihr Innerstes hätte zeigen und hingeben können; und sie hatte recht gehabt.
Später war der Mann in seinen Geschäften und unter seinen Kameraden freilich um ein weniges derber, gewöhnlicher und spießbürgerlich beschränkter geworden, als ihr lieb war, aber der Grund seiner ehrenhaft festen Natur war doch geblieben, und sie hatten ein gutes und tüchtiges Leben miteinander geführt, an dem nichts zu bereuen war. Nur hatte sie gedacht, den Knaben unmerklich seine Wege gehen zu lassen und es so zu leiten, daß er frei bleibe und seiner eingeborenen Art unbehindert folgen könne. Und jetzt ging ihr vielleicht mit dem Vater auch das Kind verloren.
Der Kranke konnte bis spät in die Nacht hinein schlafen. Dann erwachte er mit Schmerzen, und gegen den Morgen hin war es deutlich zu sehen, daß er abnahm und die letzten Kräfte rasch verlor. Doch gab es dazwischen noch einen Augenblick, wo er ruhig und klar zu reden vermochte. Die Nachtlampe brannte schwach und rot hinter der Bettstatt, vor den Fenstern war es noch nächtig und im Hause alles still. Die Frau ruhte angekleidet im niederen Liegesessel und war durch ihren leisen Schlummer hindurch beständig gegenwärtig und aufmerksam. Dann begann er zu reden.
„Du,“ sagte er. „Du hast doch gehört, daß er es mir versprochen hat?“
„Ja, freilich. Er hat es versprochen.“
„Dann kann ich darüber ganz ruhig sein?“
„Ja, das kannst du.“
„Das ist gut. — Du, Kornelie, bist du mir böse?“
„Warum?“
„Wegen Walter.“
„Nein, du, gar nicht.“
„Wirklich?“
„Ganz gewiß. Und du mir auch nicht, nicht wahr?“
„Nein, nein. O du! Ich dank’ dir auch.“
Sie war aufgestanden und hielt seine Hand. Die Schmerzen kamen und er stöhnte leise, eine Stunde um die andere, bis er am Morgen erschöpft und still mit halb offenen Augen lag.
Er starb erst zwanzig Stunden später.
Die schöne Frau trug nun schwarze Kleider und der Knabe ein schwarzes Florband um den Arm. Sie blieben im Hause wohnen, der Laden aber wurde verpachtet. Der Pächter hieß Herr Leipolt und war ein kleines, geschmeidiges Männlein von einer etwas aufdringlichen Höflichkeit. Zu Walters Vormund war ein gutmütiger Kamerad seines Vaters bestimmt, der sich selten im Hause zeigte und vor der strengen und scharfblickenden Witwe einige Angst hatte, die er unter unsicher vorgebrachten Witzen zu verbergen bestrebt war. Übrigens galt er für einen vorzüglichen Geschäftsmann. So war fürs erste alles nach Möglichkeit wohlbestellt, und das Leben im Hause Kömpff ging ohne Störungen weiter, nur etwas stiller als zu Lebzeiten des Herrn.
Nur mit den Mägden, mit denen schon zuvor eine ewige Not gewesen war, haperte es wieder mehr als je, und die feine schöne Witwe mußte zwischenhinein sogar einmal drei Wochen lang selber kochen und das Haus besorgen. Zwar gab sie nicht weniger Lohn als andere Leute, sparte auch am Essen der Dienstboten und an Geschenken zu Neujahr keineswegs, dennoch hatte sie selten eine Magd lang im Hause. Denn während sie in vielem fast zu freundlich war und namentlich nie ein grobes Wort hören ließ, zeigte sie in manchen Kleinigkeiten eine kaum begreifliche Strenge. Vor kurzem hatte sie ein fleißiges, anstelliges Mädchen, an der sie sehr froh gewesen war, wegen einer winzigen Notlüge entlassen. Das Mädchen bat und weinte, doch war alles umsonst. Der Frau Kömpff war die allergeringste Ausrede oder Unoffenheit unerträglicher als zwanzig zerbrochene Teller oder verbrannte Suppen.
Da fügte es sich, daß die Holderlies nach Gerbersau heimkehrte. Die war längere Jahre auswärts in Diensten gewesen, brachte ein ansehnliches Erspartes mit und war hauptsächlich gekommen, um sich nach einem stattlichen Vorarbeiter aus der Deckenfabrik umzusehen, mit dem sie vorzeiten ein ehrenhaftes Verhältnis gehabt und der seit langem nicht mehr geschrieben hatte. Leider kam sie zu spät und fand den Ungetreuen frisch verheiratet, was ihr so nahe ging, daß sie sogleich wieder abreisen wollte. Da fiel sie durch Zufall der Frau Kömpff in die Hände, ließ sich trösten und zum Dableiben überreden und ist von da an volle dreißig Jahre im Hause geblieben.
Ihr Verhältnis zu Frau Kornelie war etwas Merkwürdiges. Einige Monate war sie als fleißige und stille Magd in Stube und Küche tätig. Ihr Gehorsam ließ nichts zu wünschen übrig, doch scheute sie sich auch gelegentlich nicht, einen Rat unbefolgt zu lassen oder einen erhaltenen Auftrag sanft zu tadeln. Da sie es in verständiger und gebührlicher Weise und immer mit voller Offenheit tat, ließ die Frau sich darauf ein, rechtfertigte sich und ließ sich belehren, und so kam es allmählich, daß unter Wahrung der herrschaftlichen Autorität die Magd zu einer Mitsorgerin und Mitarbeiterin herangedieh. Dabei blieb es jedoch nicht. Sondern eines Abends, nach einer besonders lebhaften und versöhnlich abgeschlossenen Aussprache über Küchenangelegenheiten, kam es wie von selber, daß die Lies ihrer Herrin am Tisch bei der Lampe und feierabendlichen Handarbeit ihre ganze sehr ehrbare, aber nicht sehr fröhliche Vergangenheit erzählte, worauf Frau Kömpff eine solche Achtung und Teilnahme für das ältliche Mädchen faßte, daß sie ihre Offenherzigkeit erwiderte und ihr selber manche von ihren streng behüteten Erinnerungen mitteilte. Und bald war es beiden zur Gewohnheit geworden, miteinander über ihre Gedanken und Ansichten zu reden, und die einsame Frau sprach schließlich mit der Holderlies ohne Scheu sogar über manche Dinge, auf die einst zwischen ihr und ihrem Manne nie die Rede gekommen war.
Dabei geschah es, daß unvermerkt vieles von der Denkart der Frau auf die Magd überging. Namentlich in religiösen Dingen nahm sie viele Ansichten von ihr an, nicht durch Bekehrung, sondern unbewußt, aus Gewohnheit und Freundschaft. Frau Kömpff war zwar eine Pfarrerstochter, aber keine ganz orthodoxe, wenigstens galt ihr die Bibel und ihr angeborenes Gefühl weit mehr als die Norm der Kirche. Sie wäre möglicherweise längst eine eifrige Pietistin geworden, wäre sie nicht so ungesellig und scheu gewesen. Auch waren ihr Bibelauslegung und Gebet kein sehr starkes Bedürfnis. Desto peinlicher achtete sie darauf, ihr tägliches Tun und Leben stets im Einklang mit ihrer Ehrfurcht vor Gott und den ihr gefühlsmäßig innewohnenden Gesetzen zu halten. Dabei sparte sie aber das Grübeln und auch das Reden und entzog sich den natürlichen Ergebnissen und Forderungen des Tages nicht, nur bewahrte sie sich ein stilles Gebiet im Innern, wohin Begebnisse und Worte nicht reichen durften und wo sie in sich selbst ausruhen oder in unsicheren Lagen Festigung und Gleichgewicht suchen konnte.
Es konnte nicht ausbleiben, daß von den beiden Frauen und der Art ihres Zusammenhausens auch der kleine Walter hier und dort beeinflußt wurde. Doch nahm ihn fürs erste die Schule zu sehr in Anspruch, als daß er viel für sonstige Gespräche und Belehrungen übrig gehabt hätte. Auch ließ ihn die Mutter gern in Ruhe, und je sicherer sie seines innersten Wesens war, desto unbefangener und froher beobachtete sie, wie viele Eigenschaften und Eigentümlichkeiten des Vaters nach und nach in dem Kinde zum Vorschein kamen. Namentlich in der äußeren Gestalt wurde er ihm immer ähnlicher.
Aber wenn auch keine Mißstände zutage traten und niemand etwas Besonderes an ihm fand, war der Knabe doch von ungewöhnlicher und vielleicht allzu zwiespältiger Natur. So wenig die braunen Augen in sein Kömpffsches Familiengesicht paßten, so unverschmelzbar schienen in seinem Gemüt väterliches und mütterliches Erbteil nebeneinander zu liegen, so daß es schien, er werde Mühe haben, es zu einem gefestigten eignen Wesen zu bringen.
Einstweilen spürte selbst die Mutter nur selten etwas davon. Doch war Walter nun schon in die späteren Knabenjahre getreten, in welchen allerlei Gärungen und seltsame Rösselsprünge vorkommen und wo die jungen Leute sich beständig zwischen empfindlicher Schamhaftigkeit und derberem Wildtun possierlich hin und wieder bewegen. Da war es immerhin gelegentlich auffallend, wie schnell oft seine Erregungen wechselten und wie leicht seine Gemütsart umschlagen konnte. Ganz wie sein Vater fühlte er nämlich das Bedürfnis, sich dem Durchschnitt und herrschenden Ton anzupassen, war also ein guter Klassenkamerad und Mitschüler, dabei auch von den Lehrern gern gesehen. Herzensfreunde hatte er nicht, stand aber fast mit allen vertraulich. Und doch schienen daneben andre Bedürfnisse in ihm mächtig zu sein. Wenigstens war es manchmal, als besänne er sich auf sich selbst und lege eine Maske ab, wenn er sich von einem tobenden Spiel beiseite schlich und sich entweder einsam in seine Dachbodenkammer setzte oder mit ungewohnter, stummer Zärtlichkeit zur Mutter kam. Gab sie ihm dann gütig nach und erwiderte sein Liebkosen, so war er unknabenhaft gerührt und weinte sogar zuweilen. Auch hatte er einst an einer kleinen Rachehandlung der Klasse gegen den Lehrer teilgenommen und fühlte sich, nachdem er sich zuvor laut des Streiches gerühmt hatte, nachher plötzlich so zerknirscht, daß er aus eignem Antrieb hinging und um Verzeihung bat.
Das alles war erklärlich und sah recht harmlos aus. Es zeigte sich dabei zwar eine gewisse Schwäche, aber auch das gute Herz Walters, und niemand hatte Schaden davon. So verlief die Zeit bis zu seinem fünfzehnten Jahr in Stille und Zufriedenheit für Mutter, Magd und Sohn. Auch Herr Leipolt gab sich um Walter Mühe, suchte wenigstens seine Freundschaft durch öfteres Überreichen von kleinen, für Knaben erfreulichen Ladenartikeln zu erwerben. Dennoch und obwohl Walter die Sachen annahm, liebte er den allzu höflichen Ladenmann gar nicht und wich ihm nach Kräften aus.
Am Ende des letzten Schuljahrs hatte die Mutter eine Unterredung mit dem Söhnlein, wobei sie zu erkunden suchte, ob er auch wirklich entschlossen und ohne Widerstreben damit einverstanden sei, nun Kaufmann zu werden. Sie traute ihm eher Neigung zu weiteren Schul- und Studienjahren zu. Aber der Jüngling hatte gar nichts einzuwenden und nahm es für recht und selbstverständlich hin, daß er jetzt ein Ladenlehrling werde. So sehr sie im Grunde darüber erfreut sein mußte und auch war, kam es ihr doch fast wie eine Art von Enttäuschung vor. Doch überwog das Gefühl der Beruhigung in ihr und sie sah Walters weiterer Zukunft ohne große Sorgen entgegen. Zwar gab es noch einen ganz unerwarteten Widerstand und ziemlich herben Streit, indem der Junge sich hartnäckig weigerte, seine Lehrzeit im eignen Hause unter Herrn Leipolt abzudienen, was das einfachste und für ihn auch weitaus das leichteste gewesen wäre und bei Mutter und Vormund längst für selbstverständlich gegolten hatte. Doch war das nur eine leichte Trübung. Die Mutter fühlte nicht ungern in diesem festen Widerstand etwas von ihrer eignen Art, sie gab am Ende nach und es wurde in einem andern Kaufhaus eine Lehrstelle für den Knaben gefunden.
Walter begann seine neue Tätigkeit mit dem üblichen Stolz und Eifer, wußte täglich viel davon zu erzählen und gewöhnte sich schon in der ersten Zeit einige bei den Gerbersauer Geschäftsleuten übliche Redensarten und Gesten an, die ihm vom Vater her im Blut lagen und zu denen die Mutter freundlich lächelte. Allein dieser fröhliche Anfang dauerte nicht sehr lange.
Schon nach kurzer Zeit wurde der Lehrling, der anfangs nur geringe Handlangerdienste tun oder zusehen durfte, zum Bedienen und Verkaufen am Ladentisch herangezogen, was ihn zunächst sehr froh und stolz machte, bald aber in einen schweren Konflikt führte. Kaum hatte er nämlich ein paarmal selbständig einige Kunden bedient, so deutete sein Lehrherr ihm an, er möge vorsichtiger mit der Wage umgehen. Walter war sich keines Versäumnisses bewußt und bat um eine genauere Anweisung.
„Ja, weißt du denn das nicht schon von deinem Vater her?“ fragte der Kaufmann.
„Was denn? Nein, ich weiß nichts,“ sagte Walter verwundert.
Nun zeigte ihm der Prinzipal, wie man beim Zuwägen von Salz, Kaffee, Zucker und dergleichen durch ein nachdrückliches letztes Zuschütten die Wage scheinbar zugunsten des Käufers niederdrücken müsse, indessen tatsächlich noch etwas am Gewicht fehle. Das sei schon deshalb notwendig, da man zum Beispiel am Zucker ohnehin fast nichts verdiene. Auch merke es ja niemand.
Walter war ganz bestürzt.
„Aber das ist ja unrecht,“ sagte er schüchtern.
Der Kaufmann belehrte ihn eindringlich, aber er hörte kaum zu, so überwältigend war ihm die Sache gekommen. Und plötzlich fiel ihm die vorige Frage des Prinzipals wieder ein. Mit rotem Kopf unterbrach er zornig dessen Rede und rief: „Und mein Vater hat das nie getan, ganz gewiß nicht.“
Der Herr war unangenehm erstaunt, unterdrückte aber klüglich eine heftige Zurechtweisung und sagte mit Achselzucken: „Das weiß ich besser, du Naseweis. Es gibt keinen vernünftigen Laden, wo man das nicht tut.“
Der Junge war aber schon an der Tür und hörte nicht mehr auf den Mann, der ihn scheltend und drohend zurückrief, sondern ging im hellen Zorn und Schmerz nach Hause, wo er durch sein Erlebnis und seine Klagen die Mutter in nicht geringe Bestürzung und Verlegenheit brachte. Sie wußte, mit welcher gewissenhaften Ehrerbietung er seinen Lehrherrn betrachtet hatte und wie sehr es seiner Art widerstrebte, Auffallendes zu tun und Szenen zu machen. Aber sie verstand Walter diesmal sehr gut und freute sich trotz aller augenblicklichen Sorge, daß sein empfindliches Gewissen stärker als Gewohnheit und Rücksicht gewesen war. Sie suchte nun zunächst selbst den Kaufmann auf und sprach beruhigend mit ihm, obwohl es ihr sauer wurde; dann mußte der Vormund zu Rate gezogen werden, dem nun wieder Walters Auflehnung und Entrüstung unbegreiflich war und der durchaus nicht verstand, daß ihm die Mutter auch noch recht gebe. Auch er ging zum Prinzipal und sprach mit ihm. Dann schlug er der Mutter vor, den Jungen ein paar Tage in Ruhe zu lassen, was auch geschah. Doch war dieser auch nach drei und nach vier und nach acht Tagen nicht zu bewegen, wieder in jenen Laden zu gehen. Und wenn wirklich jeder Kaufmann es nötig habe, zu betrügen, sagte er, so wolle er auch keiner werden.
Nun hatte der Vormund in einem etwas weiter talaufwärts gelegenen Städtchen einen Bekannten, der ein kleines Ladengeschäft betrieb und für einen Frömmler und Stundenbruder galt, als welchen auch er ihn gering geschätzt hatte. Diesem schrieb er in seiner Ratlosigkeit, und der Mann antwortete in Bälde, er halte zwar sonst keinen Lehrling, sei aber bereit, Walter einmal versuchsweise bei sich aufzunehmen. So ungern die Mutter den Jungen jetzt schon von Hause weggab, konnte sie doch nichts Ernstliches einwenden, und so wurde Walter nach Deltingen gebracht und jenem Kaufmann übergeben.
Der hieß Leckle und wurde in der Stadt „der Schlotzer“ geheißen, weil er in nachdenklichen Augenblicken seine Gedanken und Entschlüsse aus dem linken Daumen zu saugen pflegte. Davon abgesehen, war er zwar wirklich sehr fromm und Mitglied einer kleinen Sekte, aber darum kein schlechterer Kaufmann. Er machte sogar in seinem Lädchen vorzügliche Geschäfte und stand trotz seinem stets schäbigen Äußeren im Geruch eines sehr wohlhabenden Mannes. Er nahm Walter ganz zu sich ins Haus, und dieser fuhr dabei nicht übel; denn war der Schlotzer etwas knapp und krittlig, so war Frau Leckle eine sanfte Seele voll unnötigen Mitleids und suchte, soweit es in der Stille geschehen konnte, den Lehrling durch Trostworte und Tätscheln und gute Bissen nach Kräften zu verwöhnen. Vielleicht hätte er das lieber abgewiesen, aber dazu war er zu jung, auch machte ihn in der ersten Zeit das Heimweh schmiegsam und dankbar für ihre Zärtlichkeiten.
Im Leckleschen Laden ging es zwar genau und sparsam zu, aber nicht auf Kosten der Kunden, denen Zucker und Kaffee gut und vollwichtig zugewogen wurden. Walter Kömpff begann daran zu glauben, daß man auch als Kaufmann ehrlich sein und bleiben könne, und da es ihm an Geschick zu seinem Beruf nicht fehlte, kam er rasch vorwärts und war selten einem Verweis seines strengen Lehrpatrons ausgesetzt. Doch war die Kaufmannschaft nicht das einzige, was er in Deltingen zu lernen bekam. Der Schlotzer nahm ihn fleißig in die „Stunden“ mit, die manchmal sogar in seinem Hause stattfanden. Da saßen Bauern, Schneider, Bäcker, Schuster beisammen, bald mit, bald ohne Weiber, und suchten den Hunger ihres Geistes und ihrer Gemüter an Gebet, Laienpredigt und gemeinschaftlicher Bibelauslegung zu stillen. Zu diesem Treiben steckt im schwarzwälderischen Volk ein starker Zug, und es sind meistens die besseren und höher angelegten Naturen, die sich ihm anschließen. Außer gelegentlichen harmlosen Unfreundlichkeiten gegen Kirche und Pfarrer ist dabei auch noch selten etwas Schlimmes herausgekommen, und das mit den Fabriken um sich greifende moderne Übel der Verflachung und Seelenlosigkeit hat am Pietismus einen kräftigen und ehrenwerten Feind. Gerade in den Fabriken gibt es manche solche Fromme, die unter Spott und Mißachtung fest bleiben und täglich zu Helden und Märtyrern werden, wovor die aufgeklärten Großmäuler und Schwindelidealisten billig Respekt haben dürften.
Daß es unter diesen wacker strebenden Hungrigen des Geistes nicht an seltsamen und auch närrischen Brüdern fehlt, ist natürlich und schadet der Sache nichts. Immerhin gewann der junge Walter an einigen solchen Käuzen einen zweifelhaften Eindruck. Im ganzen war er, ob ihm auch das Bibelerklären manchmal zu viel wurde, diesem Wesen von Natur nicht abgeneigt und brachte es öfters zu wirklicher Andacht. Aber er war nicht nur sehr jung, sondern auch ein Gerbersauer Kömpff; als ihm daher nach und nach auch einiges Lächerliche an der Sache aufstieß und als er immer öfter Gelegenheit hatte, andre junge Leute sich über sie lustig machen zu hören, da wurde er mißtrauisch und hielt sich möglichst zurück. Wenn es auffällig und gar lächerlich war, zu den Stundenbrüdern zu gehören, so war das nichts für ihn, dem trotz allen widerstrebenden Regungen das Verharren im Üblichen und bürgerlich Hergebrachten ein unbewußtes, aber desto tieferes Bedürfnis war. Immerhin blieb von dem Stundenwesen und vom Geist des Leckleschen Hauses genug an ihm hängen.
Er hatte sich schließlich sogar so eingewöhnt, daß er nach Abschluß seiner Lehrzeit sich scheute, fortzugehen und trotz allen Mahnungen des Vormundes noch zwei volle Jahre bei dem Schlotzer blieb. Viel trug es auch zu seinem dortigen Wohlsein bei, daß er von Deltingen aus mindestens einmal im Monat für einen Sonntag heimfahren und bei der Mutter sein konnte.
Endlich nach zwei Jahren gelang es dem Vormund, ihn zu überzeugen, daß er notwendig noch ein Stück Welt und Handelschaft kennen lernen müsse, um später einmal sein eigenes Geschäft führen zu können. So ging denn Walter am Ende in die Fremde, ungern und zweifelnd, nachdem er zuvor seine Militärzeit abgedient hatte. Ohne diese rauhe Vorschule hätte er es vermutlich nicht lange im fremden Leben draußen ausgehalten. Auch so ging es ihm noch kunterbunt genug und fiel es ihm nicht leicht, sich durchzubringen. An sogenannten guten Stellen fehlte es ihm freilich nicht, da er überall mit guten Empfehlungen ankam. Aber innerlich hatte er viel zu schlucken und zu flicken, um sich oben zu halten und nicht davonzulaufen. Zwar mutete ihm niemand mehr zu, beim Wägen zu mogeln, denn er war nun meist in den Kontors großer Geschäfte tätig, aber wenn auch keine beweisbaren Unredlichkeiten geschahen, kam ihm doch der ganze Umtrieb und Wettbewerb ums Geld oft unleidlich roh und grausam und nüchtern vor, besonders da er nun keinen Umgang mehr mit Leuten von des Schlotzers Art hatte und nicht wußte, wo er die unklaren Bedürfnisse seiner Phantasie befriedigen sollte.
Trotzdem biß er sich durch, arbeitete treulich und lernte viel, und fand sich allmählich mit müde gewordener Ergebung darein, daß es nun einmal so sein müsse, daß auch sein Vater es nicht besser gehabt habe und daß alles mit Gottes Willen geschehe. Die geheime, sich selber nicht verstehende Sehnsucht nach der Freiheit eines klaren, in sich begründeten und befriedigten Lebens starb allerdings niemals ganz in ihm ab, nur wurde sie stiller und glich ganz jenem seinen, stetigen Schmerze, mit dem jeder tiefer veranlagte Mensch am Ende der Jünglingsjahre sich in die Ungenüge des Lebens findet und in dem die reifende Manneswürde oft ihre tiefsten Wurzeln stecken hat.
Seltsam war es nun, daß es wieder die größte Mühe kostete, ihn nach Gerbersau zurückzubringen. Anfänglich hatte ihn zwar in Köln, wo er damals lebte, eine Verliebtheit festgehalten. Allein das Mädchen, um das er sich Mühe gab, wollte nichts von ihm wissen und hätte wohl auch schlecht zu ihm gepaßt. Sie verlobte sich mit einem Einheimischen, und Kömpff hätte allen Grund gehabt, sich jetzt zur Mutter und in die Heimat zu flüchten, da es um seine innere Festigkeit und Lebensfreude übel bestellt war. Dennoch und obwohl er einsah, daß es sein Schade sei, das heimische Geschäft länger als nötig in fremder Pacht zu lassen, wollte er durchaus nicht heimkommen. Es war nämlich, je näher diese Notwendigkeit ihm rückte, eine wachsende und zuletzt fast verzweifelte Angst in ihn gefahren. Wenn er erst einmal im eignen Haus und Laden saß, sagte er sich, dann gab es vollends kein Entrinnen mehr. Es graute ihm davor, nun auf eigne Rechnung Geschäfte zu treiben, da er zu wissen glaubte, daß das die Leute schlecht mache. Wohl kannte er manche große und kleine Handelsleute, die durch Rechtlichkeit und edle Gesinnung ihrem Stand Ehre machten und ihm verehrte Vorbilder waren; aber das waren sämtlich kräftige, scharfe Persönlichkeiten, denen Achtung und Erfolg von selbst entgegenzukommen schienen, und soweit kannte sich Kömpff, daß er wußte, diese Kraft und Einheitlichkeit gehe ihm völlig ab.
Fast ein Jahr lang zog er die Sache hin. Dann mußte er wohl oder übel kommen, denn Leipolts schon einmal verlängerte Pachtzeit war nächstens wieder abgelaufen, und dieser Termin konnte ohne erheblichen Verlust nicht versäumt werden.
Er gehörte schon nicht mehr ganz zu den Jungen, als er gegen Wintersanfang mit seinem Koffer in der Heimat anlangte und das Haus seiner Väter in Besitz nahm. Äußerlich glich er nun fast ganz seinem Vater, wie derselbe zur Zeit seiner Verheiratung ausgesehen hatte. In Gerbersau wußte auch außer seiner Mutter niemand, wie es nun bei ihm aussah, und so nahm man ihn überall mit der ihm zukommenden freundlichen Achtung als den heimkehrenden Erben und Herrn eines respektabeln Hauses und Vermögens auf, und Kömpff fand sich leichter, als er gedacht hatte, in die Rolle eines wohlgeschätzten und ehrenwerten Jungbürgers. Die Freunde seines Vaters gönnten ihm wohlwollende Grüße und hielten darauf, daß er sich ihren Söhnen anschließe. Die ehemaligen Schulkameraden schüttelten ihm die Hand, wünschten ihm Glück und führten ihn an die Stammtische im Hirschen und im Anker ein. Überall fand er durch das Vorbild und Gedächtnis seines Vaters nicht nur einen Platz offen, sondern auch einen unausweichlichen Weg vorgezeichnet und wunderte sich nur zuweilen, daß ihm ganz dieselbe Wertschätzung wie einst dem Vater zufiel, während er fest überzeugt war, daß jener ein ganz andrer Kerl gewesen sei und sich seiner vielleicht jetzt schämen würde.
Da Herrn Leipolts Pachtzeit schon in sechs Wochen abgelaufen war, hatte Kömpff in dieser ersten Zeit vollauf zu tun, sich mit den Büchern und dem Inventar bekannt zu machen, mit Leipolt abzurechnen und sich bei Lieferanten und Kunden einzuführen. Er konnte nachrechnen, daß der Pächter sich in all den Jahren ein kleines Vermögen erworben habe, das er ihm aber gönnte denn er fand das Geschäft in guter Ordnung und leidlicher Blüte. Er saß oft nachts noch über den Büchern und war im stillen froh, gleich so viel Arbeit angetroffen zu haben, denn er vergaß darüber zunächst die tiefersitzenden Sorgen und konnte sich, ohne daß es auffiel, noch eine Zeitlang den Fragen der Mutter entziehen. Er fühlte wohl, daß für ihn wie für sie ein gründliches Aussprechen notwendig sei, und das schob er gern noch hinaus. Im übrigen begegnete er ihr mit einer ehrlichen, etwas verlegenen Zärtlichkeit, denn es war ihm plötzlich wieder klar geworden, daß sie doch der einzige Mensch in der Welt sei, der zu ihm passe und ihn verstehe und in der rechten Weise liebhabe.
Als endlich alles im Gange und der Pächter abgezogen war, als Walter die meisten Abende und auch den Tag über manche halbe Stunde bei der Mutter saß, erzählte und sich erzählen ließ, da kam ganz ungesucht und ungerufen auch die Stunde, in der Frau Kornelie sich das Herz ihres Sohnes erschloß und wieder wie zu seinen Knabenzeiten seine etwas scheue und unstete Seele offen vor sich sah. Mit wunderlichen Empfindungen fand sie ihre alte Ahnung bestätigt: ihr Sohn war, allem Anschein zum Trotz, im Herzen kein Kömpff und kein Kaufmann geworden, er stak nur, innerlich ein Kind geblieben, in der aufgenötigten Rolle und ließ sich verwundert treiben, ohne daß er lebendig mit dabei war. Er konnte rechnen, buchführen, einkaufen und verkaufen wie ein andrer, aber es war eine erlernte, unwesentliche Fertigkeit. Und nun hatte er die doppelte Angst, entweder seine Rolle schlecht zu spielen und dem väterlichen Namen Unehre zu machen, oder am Ende in ihr zu versinken und schlecht zu werden und seine Seele ans Geld zu verlieren.
Es kam nun eine lange Reihe von stillen Jahren. Herr Kömpff merkte allmählich, daß die ehrenvolle Aufnahme, die er in der Heimatstadt gefunden hatte, zu einem Teil auch seinem ledigen Stande galt. Daß er trotz vielen Verlockungen älter und älter wurde, ohne zu heiraten, war — wie er selbst mit schlechtem Gewissen fühlte — ein entschiedener Abfall von den hergebrachten Regeln der Stadt und des Hauses. Doch vermochte er nichts dawider zu tun. Auch nachdem der Schmerz um jene frühere Liebe still geworden und eingeschlafen war, ging es nicht besser. Denn nun ergriff ihn mehr und mehr eine peinliche Scheu vor allen wichtigen Entschlüssen. Er mußte fast lachen, wenn er bedachte, daß er eigentlich nun heiraten sollte. Er hatte zu sorgen genug, wie sollte er auch noch ein Familienherr und Vater werden mögen! Wie hätte er seine Frau und gar die Kinder behandeln sollen, er, der sich selber oft wie ein Knabe vorkam mit seiner Herzensunruhe und seinem mangelnden Zutrauen zu sich selber? Manchmal, wenn er am Stammtisch in der Honoratiorenstube seine Altersgenossen sah, wie sie auftraten und sich selber und einer den andern ernst nahmen, wollte es ihn wundern, ob diese wirklich alle in ihrem Innern sich so sicher und männlich gefestigt vorkamen, wie es den Anschein hatte. Und wenn das war, warum nahmen sie ihn dann ernst und warum merkten sie nicht, daß es mit ihm ganz anders stand?
Solche Fragen kamen ihm zuweilen. Aber es dachte kein Mensch daran, ihn etwa nicht für voll zu nehmen und seinem bürgerlich biederen Aussehen und Auftreten irgend zu mißtrauen. Und doch war er in vielem geradezu ein Kind. Obwohl vielleicht in sechs, acht Jahren man ihn gewiß in den Gemeinderat wählen würde, schien ihm das doch unmöglich und lächerlich und kam ihm diese Ehre immer ebenso seltsam, großartig und entlegen vor wie damals, als er noch in die Schule ging und mit Ehrerbietung und Erstaunen davon reden hörte, sein Vater käme vielleicht das nächste Jahr in den Gemeinderat — lieber Gott! Sie hätten ihn ebensogut zum Papst machen können. Es schien ihm, als spielten alle Leute Komödie.
So hätte er das seltsame Schauspiel eines geachteten, wohlhabenden Bürgers gewährt, dem auf der Welt nichts mangelt als die Hauptsache, nämlich das Zutrauen zu sich selber. Doch sah das niemand, kein Kunde im Laden und kein Kollege und Kamerad auf dem Markt oder beim Schoppen, außer der Mutter. Diese mußte ihn freilich genau kennen, denn bei ihr saß das große Kind immer wieder, klagend, Rat haltend und fragend, und sie beruhigte ihn und beherrschte ihn, ohne es zu wollen. Die Holderlies aber nahm bescheiden daran teil. Die drei merkwürdigen Leute, wenn sie abends beisammen waren, sprachen ungewöhnliche Dinge miteinander. Sein immerfort unruhiges Gewissen trieb den Kaufmann auf neue und wieder neue Fragen und Gedanken, über die man zu Rate saß und aus der Erfahrung und aus der Bibel Aufschlüsse suchte und Anmerkungen machte. Der Mittelpunkt aller Fragen war der Übelstand, daß Herr Kömpff nicht glücklich war und es gern gewesen wäre.
Ja, wenn er eben geheiratet hätte, meinte die Lies seufzend. O nein, bewies aber der Herr, wenn er geheiratet hätte, wäre es eher noch schlimmer; er wußte viele Gründe dafür. Aber wenn er etwa studiert hätte, oder er wäre Schreiber oder ein Handwerker geworden. Da wäre es so und so gegangen. Und der Herr bewies, daß er dann wahrscheinlich erst recht im Pech wäre. Man probierte es mit dem Schreiner, Schullehrer, Pfarrer, Arzt, aber es kam auch nichts dabei heraus.
„Und wenn es auch vielleicht ganz gut gewesen wäre,“ schloß er traurig, „es ist ja doch alles anders und ich bin Kaufmann wie der Vater.“
Zuweilen erzählte Frau Kornelie vom Vater. Davon hörte er immer gern. ‚Ja, wenn ich ein Mann wäre, wie der einer gewesen ist!‘ dachte er dabei und sagte es auch bisweilen. Darauf lasen sie ein Bibelkapitel oder auch irgend eine Geschichte, die man aus der Bürgervereinsbibliothek da hatte. Und die Mutter zog Schlüsse aus dem Gelesenen und sagte: „Man sieht, die wenigsten Leute treffen es im Leben gerade so, wie es gut für sie wäre. Es muß jeder genug durchmachen und leiden, auch wenn man’s ihm nicht ansieht. Der liebe Gott wird es schon wissen, zu was es gut ist, und einstweilen muß man es eben auf sich nehmen und Geduld haben.“
Dazwischen trieb Walter Kömpff seinen Handel, rechnete und schrieb Briefe, erschien als ruhiger Gast an den regelmäßigen Wochenabenden, machte da und dort einen Besuch und ging in die Kirche, alles pünktlich und ordentlich, wie es das Herkommen erforderte. Im Lauf der Jahre schläferte ihn das auch ein wenig ein, doch niemals ganz; in seinem Gesicht stand immer etwas, das einem verwunderten und bekümmerten Sichbesinnen ähnlich sah.
Seiner Mutter war anfangs dies Wesen ein wenig beängstigend. Sie hatte gedacht, er würde vielleicht noch weniger zufrieden, aber mannhafter und entschiedener werden. Dafür rührte sie wieder die gläubige Zuversicht, mit der er an ihr hing und nicht müde wurde, alles mit ihr zu teilen und gemeinsam zu haben. Und wie die Zeiten dahinliefen und alles im Gleichen blieb, gewöhnte sie sich völlig daran und fand nicht viel Besonderes und Beunruhigendes mehr an seinem bekümmerten und ziellosen Wesen.
So stand es und so blieb es. Walter Kömpff war nun nahe an vierzig und hatte nicht geheiratet und sich wenig verändert. In der Stadt ließ man sein etwas zurückgezogenes Leben als eine Junggesellenschrulle hingehen und wußte glücklicherweise nicht, wie eigentümlich es in der großen Vorderstube seines Hauses an den stillen Abenden aussah, an denen er mit den beiden alten Frauen seine ernsten Beratungen hielt und auf die Mutter hörte wie ein Zehnjähriger. Daß in dies resignierte Leben noch eine Änderung kommen könnte, hatte er nie gedacht.
Sie kam aber plötzlich, indem Frau Kornelie, deren langsames Altern man kaum bemerkt hatte, auf einem kurzen Krankenlager vollends ganz weiß wurde, sich wieder aufraffte und wieder erkrankte, um nun schnell und still zu sterben. Am Totenbette, von dem der Herr Stadtpfarrer eben weggegangen war, standen der Sohn und die alte Magd.
„Lies, geh hinaus,“ sagte Herr Kömpff.
„Ach, aber lieber Herr —!“
„Geh hinaus, sei so gut!“
Sie ging hinaus und saß ratlos in der Küche. Nach einer Stunde klopfte sie, bekam keine Antwort und ging wieder. Und wieder kam sie nach einer Stunde und klopfte vergebens. Sie klopfte noch einmal.
„Herr Kömpff! O Herr!“
„Sei still, Lies!“ rief es von drinnen.
„Sei still, Lies. Iß du nur!“
„Und Sie nicht?“
„Ich nicht. Laß jetzt gut sein! Gute Nacht!“
„Ja, darf ich denn gar nimmer hinein?“
„Morgen dann, Lies.“
Sie mußte davon abstehen. Aber nach einer schlaflosen Kummernacht stand sie morgens schon um fünf Uhr wieder da.
„Herr Kömpff!“
„Ja, was ist?“
„Soll ich gleich Kaffee machen?“
„Wie du meinst.“
„Und dann, darf ich dann hinein?“
„Ja, Lies.“
Sie kochte ihr Wasser und nahm die zwei Löffel gemahlenen Kaffee und Zichorie, ließ das Wasser durchlaufen, trug Tassen auf und schenkte ein. Dann kam sie wieder.
Er schloß auf und ließ sie hereinkommen. Sie kniete ans Bett und sah die Tote an und rückte ihr die Tücher zurecht. Dann stand sie auf und sah nach dem Herrn und besann sich, wie sie ihn anreden solle. Aber wie sie ihn ansah, kannte sie ihn kaum wieder. Er war blaß und hatte ein schmales Gesicht und machte große merkwürdige Augen, als wollte er einen durch und durch schauen, was sonst gar nicht in seiner Art war.
„Sie sind gewiß nicht wohl, Herr —“
„Ich bin ganz wohl. Wir können ja jetzt Kaffee trinken.“
Das taten sie, ohne daß ein Wort gesprochen wurde. Aber der Lies schien es durchaus nötig, daß das große Unglück auch beredet werde, schon weil es ihr mißfiel und gefährlich vorkam, daß ihr Herr seinen ganzen Schmerz und Schrecken in sich verschloß. Also fing sie nach einigem Warten wieder an:
„Unsere liebe, arme Frau! Ja, Herr Kömpff, das ist ein schwerer Schlag für uns.“
Sie sagte erst seit gestern „Herr Kömpff“ zu ihm, bisher hatte er für sie „Herr Walter“ geheißen.
Er gab keine Antwort.
„Lieber Gott,“ fing sie nochmals an, „und so schnell ist es gegangen, kein Mensch hat daran gedacht. Es ist ja gut für sie. Wenn sie auch noch lang hätte leiden müssen! Aber für uns ist es doch schrecklich traurig.“
„Ja, Lies.“
„Nicht wahr? Und sie war auch noch gar nicht so besonders alt. Du liebe Zeit, vierundsechzig! Das ist doch noch lang kein hohes Alter, Herr Kömpff.“
Er blickte sie mit seinen großen, veränderten Augen an.
„Jesus, was fehlt Ihnen?“ rief sie bestürzt.
„Nichts, Lies. Aber du gehst jetzt hinaus und läßt mich in Ruhe.“
Den ganzen Tag, während die Leichenfrau da war und die Tote besorgte, saß er allein in der Stube. Es kamen ein paar Trauerbesuche, die er sehr ruhig empfing und sehr bald und kühl wieder verabschiedete, ohne daß er jemand die Tote sehen ließ. Nachts wollte er wieder bei ihr wachen, schlief aber auf dem Stuhle ein und wachte erst gegen Morgen auf. Erst jetzt fiel es ihm ein, daß er sich schwarz anziehen müsse. Er holte selber den Gehrock aus dem Kasten. Abends war die Beerdigung, wobei er nicht weinte und sich sehr ruhig benahm. Desto aufgeregter war die Holderlies, die in ihrem weiten Staatskleid und mit rotgeweintem Gesicht den Zug der Weiber anführte. Über das nasse Sacktuch weg äugte sie fortwährend, vor Tränen blinzelnd, nach ihrem Herrlein hinüber, um das sie Angst hatte. Sie fühlte gut, daß dieses kalte und ruhige Gebaren nicht aus seinem inneren Wesen kam und daß die trotzige Verschlossenheit und Einsiedlerei ihn verzehren müsse.
Doch gab sie sich vergebens Mühe, ihn seiner Erstarrung zu entreißen. Er saß daheim am Fenster oder lief ruhelos durch die Zimmer. An der Ladentür verkündete ein Zettel, daß das Geschäft für drei Tage geschlossen sei. Es blieb aber auch am vierten und fünften Tag zu, bis einige Bekannte ihn dringend mahnten.
Kömpff stand nun wieder hinter dem Ladentisch, wog, rechnete und nahm Geld ein, aber er tat es, ohne dabei zu sein. An den Abenden der Bürgergesellschaft und der Hirschengäste erschien er nicht mehr und man ließ ihn gewähren, da er ja in Trauer war. In seiner Seele war es leer und still. In der ersten Verzweiflung nach dem Tod der Mutter hatte es ihn stark gelüstet, sich in einer dunkeln Bodenkammer aufzuhängen. Denn wie sollte er nun leben? Eine tödliche Ratlosigkeit hielt ihn wie ein Krampf bestrickt, er konnte nicht stehen noch fallen, sondern fühlte sich ohne Boden im Leeren schweben. Daß er die Kammer mied und den Strick unberührt ließ, geschah ohne Überlegung aus einer verborgen fortwirkenden Gewissenhaftigkeit, über die er nicht Herr war.
Nach einiger Zeit begann es ihn unruhig zu treiben; er fühlte, daß irgend etwas geschehen müsse, nicht von außen her, sondern aus ihm selbst heraus, um ihn zu befreien. Damals fingen nun auch die Leute an, etwas zu merken, und die Zeit begann, in der Walter Kömpff zum bekanntesten und meistbesprochenen Mann in Gerbersau wurde.
Wie es scheint, hatte der sonderbare Kaufmann in diesen Zeiten, da er sein Leben erobern wollte und sein Schicksal der Reife nahe fühlte, ein starkes Bedürfnis nach Einsamkeit und ein Mißtrauen gegen sich selbst, das ihm gebot, sich von gewohnten Einflüssen zu befreien und sich gewissermaßen eine eigne, abschließende Atmosphäre zu schaffen. Wenigstens fing er nun an, die beiden Wirtshausabende zu meiden; anfänglich entschuldigte er sich noch bei seinen Herren Freunden, dann hörte auch dieses auf, und man begann ihn für einen unfeinen Bruder zu halten. Schlimmer war, daß er um dieselbe Zeit die treue Holderlies zu entfernen suchte.
„Vielleicht kann ich dann die selige Mutter eher vergessen,“ sagte er und bot der Lies ein beträchtliches Geschenk an, daß sie in Frieden abgehe. Die alte Dienerin lachte jedoch nur und erklärte, sie gehöre nun einmal ins Haus und werde auch bleiben. Sie wußte gut, daß ihm nicht daran gelegen war, seine Mutter zu vergessen, daß er vielmehr ihrem Andenken stündlich nachhing und keinen geringsten Gegenstand vermissen mochte, der ihn an sie erinnerte. Und vielleicht verstand die Holderlies ihres Herrn Gemütszustände ahnungsweise schon damals; jedenfalls verließ sie ihn nicht, sondern sorgte mütterlich für sein verwaistes Hauswesen und half ihm auch das Gedächtnis der Hingegangenen redlich pflegen.
Es muß nicht leicht für sie gewesen sein, in jenen Tagen bei dem Sonderling auszuharren. Walter Kömpff begann damals zu fühlen, daß er zu lange das Kind seiner Mutter geblieben war. Stürme, die ihn nun bedrängten, waren schon jahrelang in ihm gewesen, und er hatte sie dankbar von der Mutterhand beschwören und besänftigen lassen. Jetzt schien ihm aber, es wäre besser gewesen, beizeiten zu scheitern und neu zu beginnen, statt erst jetzt, da er nicht mehr bei Jugendkräften und durch jahrelange Gewohnheit hundertfach gefesselt und gelähmt war. Seine Seele verlangte so leidenschaftlich wie jemals nach Freiheit und Gleichgewicht, aber sein Kopf war der eines Kaufmanns und sein ganzes Leben lief eine feste, glatte Bahn abwärts und er wußte keinen Weg, aus diesem sicheren Gleiten sich auf neue, bergan führende Pfade zu retten.
Und während er mit zärtlicher Trauer jede Erinnerung an die gestorbene Mutter wach erhielt und innig am Herzen hegte, schämte er sich dieser Treue und hielt sich täglich vor, wie notwendig es ihm sei, von heute an ein eignes Leben zu führen und keine Stimme mehr zu lieben und zu hören als das Schreien seines vereinsamten Herzens nach Rast und Erlösung.
In seiner Not besuchte er mehrmals die abendlichen Versammlungen der Pietisten. Eine Ahnung des Trostes und der Erbauung wachte dort zwar in ihm auf, doch mißtraute er heimlich der inneren Wahrhaftigkeit dieser Männer, die oft ganze Abende mit unendlich kleinlichen Versuchen einer untheologischen Bibelauslegung verbrachten, viel verbissenen Autodidaktenstolz an den Tag legten und selten recht einig untereinander waren. Es mußte eine Quelle des Vertrauens und der Gottesfreude geben, eine Möglichkeit der Heimkehr zur Kindeseinfalt und in Gottes Arme; aber hier, meinte er, war sie nicht. Die Redner und Gäste dieser Versammlungen waren alle ehrenwerte, redliche Menschen, aber sie hatten doch alle, schien ihm, irgend einmal einen Kompromiß geschlossen und hielten in ihrem Leben eine irgend einmal angenommene Grenze zwischen Geistlichem und Weltlichem inne. Eben das hatte Kömpff selber sein Leben lang getan, und eben das hatte ihn müde und traurig gemacht und ohne Trost gelassen.
Das Leben, das er sich dachte, müßte in allen kleinsten Regungen Gott hingegeben und von herzlichem Vertrauen erleuchtet sein. Er wollte keine noch so geringe Tätigkeit mehr verrichten, ohne dabei mit sich und mit Gott einig zu sein. Und er wußte genau, daß dies süße und heilige Gefühl ihm bei Rechnungsbuch und Ladenkasse niemals zuteil werden könne. In seinem Sonntagsblättlein las er zuweilen von großen Laienpredigern und gewaltigen Erweckungen in Amerika, in Schweden oder Schottland, von Versammlungen, in denen Dutzende und Hunderte, vom Blitz der Erkenntnis getroffen, sich gelobten, fortan ein neues Leben im Geist und in der Wahrheit zu führen. Bei solchen Berichten, die er mit Sehnsucht verschlang, hatte Kömpff ein Gefühl, als steige Gott selber zuzeiten auf die Erde herab und wandle unter den Menschen, da oder dort, in manchen Ländern, aber niemals hier, aber niemals in seiner Nähe.
Die Holderlies erzählte, er habe damals jämmerlich ausgesehen. Sein gutes, ein wenig kindliches Gesicht wurde mager und scharf, die Falten tiefer und härter. Auch ließ er, der bisher das Gesicht glatt getragen hatte, jetzt den Bart ohne Pflege stehen, einen dünnen, farblos blonden Bart, um den ihn die Buben auslachten. Nicht weniger vernachlässigte er seine Kleidung, und ohne die zähe Fürsorge der bekümmerten Magd wäre er schnell vollends zum Kindergespött geworden. Den ölfleckigen alten Ladenrock trug er meistens auch bei Tisch und auch abends, wenn er auf seine langen Spaziergänge ausging, von denen er oft erst gegen Mitternacht heimkam.
Nur den Laden ließ er nicht verkommen. Das war das letzte, was ihn mit der früheren Zeit und mit dem Althergebrachten verband, und er führte seine Bücher peinlich weiter, stand selber den ganzen Tag im Geschäft und bediente. Freude hatte er nicht daran, obwohl die Geschäfte erfreulich gingen. Aber er mußte eine Arbeit haben, er mußte sein Gewissen und seine Kraft an eine feste, immerwährende Pflicht binden, sonst hätte ihn das planlose Suchen und Sehnsuchtleiden verzehrt. Auch wußte er genau, daß mit dem Aufgeben seiner gewohnten Tätigkeit ihm die letzte Stütze entgleiten und er rettungslos den Mächten verfallen würde, die er nicht weniger fürchtete als verehrte.
In kleinen Städtlein gibt es immer irgendeinen armen, entgleisten Bettler und Tunichtgut, einen alten Säufer oder entlassenen Zuchthäusler, der jedermann zum Spott und Ärgernis dient und als Entgelt für die spärliche Wohltätigkeit der Stadt den Kinderschreck und verachteten Auswürfling abgeben muß. Als solcher diente zu jenen Zeiten ein Alois Beckeler, genannt Göckeler, ein schnurriger, alter Taugenichts und weltkundiger Herumtreiber, der nach langen Landstreicherjahren hier hängen geblieben war. Sobald er etwas zu beißen und zu trinken hatte, tat er großartig und gab in den Kneipen eine drollige Faulpelzphilosophie zum besten, nannte sich Fürst von Ohnegeld und Erbprinz von Schlaraffia, bemitleidete jedermann, der von seiner Hände Arbeit lebte, und fand immer ein paar Zuhörer, die ihn halb heimlich bewunderten, halb verachtend protegierten und ihm manchen Schoppen zahlten.
Eines Abends, als Herr Walter Kömpff einen seiner langen, einsamen und hoffnungslosen Spaziergänge unternahm, stieß er auf diesen Göckeler, welcher der Quere nach in der Straße lag und einen kleinen Nachmittagsrausch soeben ausgeschlafen hatte.
Kömpff erschrak zuerst, als er unvermutet den Daliegenden zu Gesicht bekam, auf den er im Halbdunkel beinahe getreten wäre. Doch erkannte er rasch den Vagabunden und rief ihn vorwurfsvoll an:
„He, Beckeler, was machet Ihr da?“
Der Alte richtete sich halb auf, blinzelte vergnügt und meinte: „Ja, und Ihr, Kömpff, was machet denn Ihr da, he?“
Dem so Angeredeten wollte es mißfallen, daß der Lump ihn weder mit Herr noch mit Sie titulierte.
„Könnet Ihr nicht höflicher sein, Beckeler?“ fragte er gekränkt.
„Nein, Kömpff,“ grinste der Alte, „das kann ich nicht, so leid mir’s tut.“
„Weil mir niemand was dafür gibt, und umsonst ist der Tod. Hat mir vielleicht der hochgeehrte Herr von Kömpff irgend einmal was geschenkt oder zugewendet? O nein, der reiche Herr von Kömpff hat das noch nie getan, der ist viel zu fein und zu stolz, als daß er ein Aug’ auf einen armen Teufel könnte haben. Ist’s so oder ist’s nicht so?“
„Ihr wisset gut, warum. Was fanget Ihr an mit einem Almosen? Vertrinken, weiter nichts, und zum Vertrinken hab’ ich kein Geld und geb’ auch keins.“
„So, so. Na, denn gute Nacht und angenehme Ruhe, Bruderherz.“
„Wieso Bruderherz?“
„Sind nicht alle Menschen Brüder, Kömpff? He? Ist vielleicht der Heiland für dich gestorben und für mich nicht?“
„Redet nicht so, mit diesen Sachen treibt man keinen Spaß.“
„Hab’ ich Spaß getrieben?“
Kömpff besann sich. Die Worte des Lumpen trafen mit seinen grüblerischen Gedanken zusammen und regten ihn wunderlich auf.
„Gut denn,“ sagte er freundlich, „stehet einmal auf. Ich will Euch gern etwas geben.“
„Ei, schau!“
„Ja, aber Ihr müsset mir versprechen, daß Ihr’s nicht vertrinket. Ja?“
Beckeler zuckte die Achseln. Er war heute in seiner freimütigen Laune.
„Versprechen kann ich’s schon, aber Halten steht auf einem andern Blatt. Geld, wenn ich’s nicht verbrauchen darf, wie ich will, ist so gut wie kein Geld.“
„Es ist zu Eurem Besten, was ich sage, Ihr dürft mir glauben!“
Der Trinker lachte.
„Ich bin jetzt vierundsechzig Jahre alt. Glaubt Ihr wirklich, daß Ihr besser wißt, was mir gut ist, als ich selber? Glaubt Ihr?“
Mit dem schon hervorgezogenen Geldbeutel in der Hand stand Kömpff verlegen da. Er war im Reden und Antwortenkönnen nie stark gewesen und fühlte sich diesem vogelfreien Menschen gegenüber, der ihn Bruderherz nannte und sein Wohlwollen verschmähte, hilflos und unterlegen. Schnell und fast ängstlich nahm er einen Taler heraus und streckte ihn dem Beckeler hin.
Erstaunt nahm Alois Beckeler das große Geldstück hin, hielt es vors Auge und schüttelte den struppigen Kopf. Dann begann er, sich demütig, umständlich und beredt zu bedanken. Kömpff war über die Höflichkeit und Selbsterniedrigung, zu der ein Stück Geld den Philosophen vermocht hatte, beschämt und traurig und lief schnell davon.
Dennoch empfand er eine heimliche Erleichterung und kam sich vor, als hätte er eine Tat vollbracht. Daß er dem Beckeler einen Taler zum Vertrinken geschenkt hatte, war für ihn eine abenteuerliche Extravaganz, mindestens so kühn und unerhört, als wenn er selber das Geld verlüdert hätte. Er kehrte an diesem Abend so zeitig und zufrieden heim wie seit Wochen nicht mehr.
Für den Göckeler brach jetzt eine gesegnete Zeit an. Alle paar Tage gab ihm Walter Kömpff ein Stück Geld, bald eine Mark, bald einen Fünfziger, so daß das Wohlleben kein Ende nahm. Einmal, als er am Kömpffschen Laden vorüberkam, rief ihn der Herr herein und schenkte ihm ein Dutzend gute Zigarren. Die Holderlies war zufällig dabei und trat dazwischen.
„Aber Sie werden doch dem Lump nicht von den teuren Zigarren geben!“
„Sei ruhig,“ sagte der Herr, „warum soll er’s nicht auch einmal gut haben?“
Und der alte Taugenichts blieb nicht der einzige Beschenkte. Den einsamen Grübler befiel eine zunehmende Lust am Weggeben und Freudemachen. Armen Weibern gab er im Laden das doppelte Gewicht oder nahm kein Geld von ihnen, den Fuhrleuten gab er am Markttag überreiche Trinkgelder und den Bauernfrauen legte er gern bei ihren Einkäufen ein Extrapäckchen Zichorie oder eine gute Handvoll Korinthen in den Korb.
Das konnte nicht lange dauern, ohne aufzufallen. Zuerst bemerkte es die Holderlies, und sie machte dem Herrn schwere, unablässige Vorwürfe, die zwar erfolglos blieben, ihn aber nicht wenig beschämten und quälten, so daß er allmählich seine Verschwendungslust vor ihr verstecken lernte. Darüber wurde die treue Seele mißtrauisch und begann sich aufs Spionieren zu legen, und das alles brachte in Bälde den Hausfrieden bedenklich ins Wanken.
Nächst der Lies und dem Göckeler waren es die Kinder, denen des Kaufmanns sonderbare Freigebigkeit auffiel. Sie kamen immer öfter mit einem Pfennig daher, verlangten Zucker, Süßholz oder Johannisbrot und bekamen davon soviel sie wollten. Und wenn die Lies aus Scham und der Beckeler aus Klugheit schwiegen, die Kinder taten es nicht, sondern verbreiteten die Kunde von Kömpffs großartiger Laune bald in der ganzen Stadt.
Merkwürdig war es, daß er selber wider diese Freigebigkeit kämpfte und sich vor ihr fürchtete. Nachdem er tagsüber Pfunde verschenkt und verschwendet hatte, befiel ihn abends beim Geldzählen und beim Buchführen Entsetzen über diese liederliche, unkaufmännische Wirtschaft. Angstvoll rechnete er nach und versuchte seinen Schaden zu berechnen, sparte beim Bestellen und Einkaufen, forschte nach wohlfeilen Quellen, und alles nur, um andern Tages von neuem zu geuden und seine Freude am Geben zu haben. Die Kinder jagte er bald scheltend fort, bald belud er sie mit guten Sachen. Nur sich selber gönnte er nichts, er sparte am Haushalte und an der Kleidung, gewöhnte sich den Nachmittagskaffee ab und ließ das Weinfäßchen im Keller, als es leer war, nimmer füllen.
Die mißlichen Folgen ließen nicht lange auf sich warten. Kaufleute beschwerten sich mündlich und in groben Briefen bei ihm, daß er ihnen mit seinem sinnlosen Dreingeben und Schenken die Kunden weglocke. Manche solide Bürger und auch schon mehrere seiner Kunden vom Lande, die an seinem veränderten Wesen Anstoß nahmen, mieden seinen Laden und begegneten ihm, wo sie ihm nicht ausweichen konnten, mit unverhohlenem Mißtrauen. Auch stellten ihn die Eltern einiger Kinder, denen er Leckereien und Feuerwerk gegeben hatte, ärgerlich zur Rede. Sein Ansehen unter den Honoratioren, mit dem es schon einige Zeit her nicht glänzend mehr ausgesehen hatte, schwand dahin und ward ihm durch eine zweifelhafte Beliebtheit bei den Geringen und Armen doch nicht ersetzt. Ohne diese Veränderungen im einzelnen allzu schwer zu nehmen, hatte Kömpff doch das Gefühl eines unaufhaltsamen Gleitens ins Ungewisse. Es kam immer häufiger vor, daß er von Bekannten mit spöttischer oder mitleidiger Gebärde begrüßt wurde, daß auf der Straße hinter ihm gesprochen und gelacht ward, daß Spaßvögel ihm mit umständlicher Herzlichkeit die Hand drückten und ernste Leute ihm mit Unbehagen auswichen. Die paar alten Herren, die zur Freundschaft seines Vaters gehört hatten und einigemal mit Vorwürfen, Rat und Zuspruch zu ihm gekommen waren, blieben bald aus und wandten sich ärgerlich von ihm ab. Und immer mehr verbreitete sich in der Stadt die Ansicht, Walter Kömpff sei im Kopf nimmer recht und gehöre bald ins Narrenhaus.
Mit der Kaufmannschaft war es jetzt zu Ende, das sah der gequälte Mann selber am besten ein. Aber ehe er die Bude endgültig zumachte, beging er noch eine Tat unkluger Großmut, die ihm viele Feinde machte.
Eines Montags verkündigte er durch eine Anzeige im Wochenblatt, von heute an gebe er jede Ware zu dem Preis, den sie ihn selber koste.
Einen Tag lang war sein Laden voll wie noch nie. Die feinen Leute blieben aus, sonst aber kam jedermann, um von dem offenbar übergeschnappten Händler seinen Vorteil zu ziehen. Die Wage kam den ganzen Tag nicht zum Stillstehen und das Ladenglöcklein schellte sich heiser. Körbe und Säcke voll spottbillig erworbener Sachen wurden fortgetragen. Die Holderlies war außer sich. Da ihr Herr nicht auf sie hörte und sie aus dem Laden verwies, stellte sie sich in der Haustür auf und sagte jedem Käufer, der aus dem Laden kam, ihre Meinung. Es gab einen Skandal über den andern, aber die verbitterte Alte hielt aus und suchte jedem, der nicht ganz dickfellig war, seinen wohlfeilen Einkauf ordentlich zu versalzen.
„Willst nicht auch noch zwei Pfennig geschenkt haben?“ fragte sie den einen, und zum andern sagte sie: „Das ist nett, daß Ihr wenigstens den Ladentisch habt stehen lassen.“
Aber zwei Stunden vor Feierabend erschien der Bürgermeister in Begleitung des Amtsdieners und befahl, daß der Laden geschlossen werde. Kömpff weigerte sich nicht und machte sogleich die Fensterläden zu. Tags darauf mußte er aufs Rathaus und wurde nur auf seine schriftliche Erklärung, daß er sein Geschäft aufzugeben entschlossen sei, mit Kopfschütteln wieder laufen gelassen.
Den Laden war er nun los. Er ließ seine Firma aus dem Handelsregister streichen, da er sein Geschäft weder verpachten noch verkaufen wollte. Die noch vorhandenen Vorräte, soweit sie dazu paßten, verschenkte er wahllos an arme Leute. Die Lies wehrte sich um jedes Stück und brachte Kaffeesäcke und Zuckerhüte und alles, wofür sie irgend Raum fand, für den Haushalt beiseite.
Ein entfernter Verwandter stellte den Antrag, Walter Kömpff zu entmündigen, doch sah man nach längeren Verhandlungen davon ab, teils weil nahverwandte, namentlich minderjährige Erbberechtigte nicht vorhanden waren, teils weil Kömpff nach der Aufgabe seines Geschäfts unschädlich und der Bevogtung nicht bedürftig erschien.
Es sah aus, als kümmere sich keine Seele um den entgleisten Mann. Zwar redete man in der ganzen Gegend von ihm, meistens mit Hohn und Mißfallen, manchmal auch mit Bedauern; in sein Haus aber kam niemand, etwa nach ihm zu sehen, einen Rat zu geben, oder ein wenig Gesellschaft zu leisten. Es kamen nur mit großer Schnelligkeit alle Rechnungen, die noch offen standen, denn man fürchtete, hinter der ganzen Geschichte stecke am Ende ein ungeschickt eingeleiteter Bankrott. Doch brachte Kömpff seine Bücher richtig und notariell zum Abschluß, zahlte alle baren Schulden ohne Abzüge und wurde, als alles erledigt war, amtlich entlastet. Freilich nahm dieses übereilte Abschließen nicht nur seine Börse, sondern noch mehr seine Kräfte unmäßig in Anspruch, und als er fertig war, fühlte er sich elend und dem Zusammenbrechen nahe.
In diesen bösen Tagen, als er nach einer überhitzten Arbeitszeit plötzlich vereinsamt und unbeschäftigt sich selber überlassen blieb, kam wenigstens einer, um ihm zuzusprechen, das war der Schlotzer, Kömpffs ehemaliger Lehrherr aus Deltingen. Der fromme Handelsmann, den Walter früher noch einigemal besucht, nun aber seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, war alt und weiß geworden und es war eine Heldentat von ihm, daß er noch die Reise nach Gerbersau gemacht hatte.
Er trug einen langschößigen braunen Gehrock und führte ein ungeheures, blau und gelb gemustertes Schnupftuch bei sich, auf dessen breitem Saum Landschaften, Häuser und Tiere abgebildet waren.
„Darf man einmal reinsehen?“ fragte er beim Eintritt in die Wohnstube, wo der Einsame gerade müd und ratlos in der großen Bibel blätterte. Dann nahm er Platz, legte den Hut und das Schnupftuch auf den Tisch, zog die Rockschöße über den Knieen zusammen und schaute seinem alten Lehrling prüfend in das blasse, unsichere Gesicht.
„Also Sie sind jetzt Privatier, hört man sagen?“
„Ich habe das Geschäft aufgegeben, ja.“
„So, so. Und darf man fragen, was Sie jetzt vorhaben? Sie sind ja, vergleichsweise gesprochen, noch ein junger Mann.“
„Ich wär’ froh, wenn ich’s wüßte. Ich weiß nur, daß ich nie ein rechter Kaufmann gewesen bin, drum hab’ ich aufgehört. Ich will jetzt sehen, was sich noch gut machen läßt an mir.“
„Wenn ich sagen darf, was ich meine, so scheint mir, das sei zu spät.“
„Kann es zum Guten auch zu spät sein?“
„Wenn man das Gute kennt, nicht. Aber so ins Ungewisse den Beruf aufgeben, den man gelernt hat, ohne daß man weiß, was nun anfangen, das ist unrecht. Ja, wenn Sie das als junger Bursch getan hätten!“
„Es hat eben lang gebraucht, bis ich zum Entschluß gekommen bin.“
„Es scheint so. Aber ich meine, für so langsame Entschlüsse ist das Leben zu kurz. Sehen Sie, ich kenne Sie doch ein wenig und ich weiß gut, daß Sie es schwer gehabt haben und nicht ganz ins Leben hinein passen. Es gibt mehr solche Naturen. Sie sind Kaufmann geworden Ihrem Vater zulieb, nicht wahr? Jetzt haben Sie Ihr Leben verpfuscht und haben das, was Ihr Vater wollte, doch nicht getan.“
„Was? Auf die Zähne beißen und aufrecht bleiben. Ihr Leben schien Ihnen verfehlt und war es vielleicht, aber ist es jetzt im Gleis? Sie haben ein Schicksal, das Sie auf sich genommen hatten, von sich geworfen, und das war feig und unklug. Sie sind unglücklich gewesen, aber Ihr Unglück war anständig und hat Ihnen Ehre gemacht. Auf das haben Sie verzichtet, nicht etwas Besserem zulieb, sondern bloß, weil Sie es müde waren. Ist es nicht so?“
„Vielleicht wohl.“
„Also. Und darum bin ich hergereist und sage Ihnen: Sie sind untreu geworden. Aber bloß zum Schelten hätte ich mit meinen alten Beinen den Weg hierher doch nicht gemacht. Drum sage ich, machen Sie’s wieder gut so bald wie möglich.“
„Wie soll ich das?“
„Hier in Gerbersau können Sie nicht wieder anfangen, das sehe ich ein. Aber anderswo, warum nicht? Übernehmen Sie wieder ein Geschäft, es braucht ja kein großes zu sein, und machen Sie Ihres Vaters Namen wieder Ehre. Von heut auf morgen geht’s ja nicht, aber wenn Sie wollen, helfe ich suchen. Soll ich?“
„Danke vielmal, Herr Leckle. Ich will mir’s bedenken.“
„Aber bald, nicht? Und dann kommen Sie oder schreiben mir gleich?“
„Ja, gern. Und schönen Dank! Sie sind so gut gewesen.“
Der Schlotzer nahm weder Trank noch Essen an und fuhr mit dem nächsten Zug wieder heim.
Kömpff war ihm dankbar, aber er konnte seinen Rat nicht annehmen.
In einer Muße, an die er nicht gewöhnt war und die er nur schwer ertrug, machte der Exkaufmann zuweilen melancholische Gänge durch die Stadt. Dabei war es ihm jedesmal wunderlich und bedrückend zu sehen, wie Handwerker und Kaufleute, Arbeiter und Dienstboten ihren Geschäften nachgingen, wie jeder seinen Platz und seine Geltung und jeder sein Ziel hatte, während er allein ziellos und unberechtigt umherging.
Der Arzt, den er wegen Schlafmangels um Rat fragte, fand seine Untätigkeit verhängnisvoll. Er riet ihm, sich ein Stückchen Land vor der Stadt draußen zu kaufen und dort Gartenarbeit zu tun. Der Vorschlag gefiel ihm und er erwarb an der Leimengrube ein kleines Gut, schaffte sich Geräte an und begann eifrig zu graben und zu hacken. Treulich stach er seinen Spaten in die Erde und fühlte, während er sich in Schweiß und Ermüdung arbeitete, seinen verwirrten Kopf leichter werden. Aber bei schlechtem Wetter und an den langen Abenden saß er wieder grübelnd daheim, las in der Bibel und gab sich erfolglosen Gedanken über die unbegreiflich eingerichtete Welt und über sein elendes Leben hin. Daß er mit der Aufgabe seiner Geschäfte Gott nicht näher gekommen sei, spürte er wohl, und in verzweifelten Stunden kam es ihm vor, als sei Gott unerreichbar fern und sehe auf sein törichtes Gebaren mit Strenge und Spott herab.
Bei seiner Gartenarbeit fand er meistens einen zuschauenden Gesellschafter. Das war Alois Beckeler. Der alte Taugenichts hatte seine Freude daran, wie ein so reicher Mann sich plagte und abschaffte, während er, der Bettler, zuschaute und nichts tat. Zwischenein, wenn Kömpff ausruhte, hatten sie Diskurs über alle möglichen Dinge miteinander. Dabei spielte Beckeler je nach Umständen bald den Großartigen und Alleswisser, bald war er kriechend höflich.
„Wollt Ihr nicht mithelfen?“ fragte Kömpff etwa.
„Nein, Herr, lieber nicht. Sehen Sie, ich vertrage das nicht gut. Es macht einen dummen Kopf.“
„Mir nicht, Beckeler.“
„Freilich, Ihnen nicht. Und warum? Weil Sie zu Ihrem Vergnügen arbeiten. Das ist Herrengeschäft und tut nicht weh. Außerdem sind Sie noch in guten Jahren und ich bin ein Siebziger. Da hat man seine Ruhe wohl verdient.“
„Aber neulich habt Ihr gesagt, Ihr wäret vierundsechzig, nicht siebzig.“
„Hab’ ich vierundsechzig gesagt? Ja, das war im Dusel gesprochen. Wenn ich ordentlich getrunken hab’, komm’ ich mir immer viel jünger vor.“
„Also seid Ihr wirklich siebzig?“
„Wenn ich’s nicht bin, so kann wenig daran fehlen. Nachgezählt hab’ ich nicht.“
„Daß Ihr auch das Trinken nicht lassen könnt! Liegt’s Euch denn nicht auf dem Gewissen?“
„Nein. Was das Gewissen anlangt, das ist bei mir gesund und mag was aushalten. Wenn mir sonst nichts fehlte, möcht’ ich leicht nochmal so alt werden.“
Kömpff hatte einen Widerwillen gegen diesen leichtfertigen Ton, bewunderte und beneidete aber im geheimen den Strolch um seine ungebeugte Lebensfreude. Auch war Beckeler jetzt sein einziger Umgang, und wenn er einmal zwei Tage ausblieb, konnte er sicher auf ein kleines Geschenk rechnen. Und er rechnete auch darauf.
Es gab auch Tage, an denen Kömpff finster, elend und ungesprächig war. Der Göckeler hatte dafür eine feine Witterung und merkte schon beim Herankommen, wie es mit dem närrischen Lustgärtner stehe. Dann blieb er, ohne hereinzutreten, am Zaune stehen und wartete etwa eine halbe Stunde, eine Art schweigender Anstandsvisite. Er lehnte stillvergnügt am Gartenzaun, sprach keinen Ton und betrachtete sich seinen sonderbaren Gönner, der seufzend hackte, grub, Wasser schleppte oder junge Bäume pflanzte. Und schweigend ging er wieder, spuckte aus, steckte die Hände in die Hosensäcke und grinste und zwinkerte lustig vor sich hin.
Schwere Zeiten hatte jetzt die Holderlies. Sie war allein in dem unbehaglich gewordenen Hause geblieben, besorgte die Stuben, wusch und kochte. Anfangs hatte sie dem neuen Wesen ihres Herrn böse Gesichter und grobe Worte entgegengesetzt. Dann war sie davon abgekommen und hatte beschlossen, den übel Beratenen eine Weile machen und laufen zu lassen, bis er müde wäre und wieder auf sie hören würde. So war es ein paar Wochen gegangen.
Am meisten ärgerte sie sein kameradschaftlicher Umgang mit dem Göckeler, dem sie die feinen Zigarren von damals nicht vergessen hatte. Aber gegen den Herbst hin, als wochenlang Regenwetter war und Kömpff nicht in den Garten konnte, kam ihre Stunde. Ihr Herr war trübsinniger als je.
Da kam sie eines Abends in die Stube, hatte ihren Flickkorb mit und setzte sich unten an den Tisch, an dem der Hausherr beim Lampenlicht seine Monatsrechnung studierte.
„Was willst, Lies?“ fragte er erstaunt.
„Dasitzen will ich und flicken, jetzt wo man wieder die Lampe braucht. Oder darf ich nicht?“
„Du darfst schon.“
„So, ich darf? Früher, wie die Frau selig noch da war, hab’ ich immer meinen Platz hier gehabt, ungefragt.“
„Ja, ja.“
„Freilich, es ist ja seither manches anders worden. Mit den Fingern zeigen die Leute auf einen.“
„Wieso, Lies?“
„Soll ich Ihnen was erzählen?“
„Ja, also.“
„Gut. Der Göckeler, wissen Sie, was der tut? Am Abend sitzt er in den Wirtshäusern herum und verschwätzt Sie.“
„Mich? Wie denn?“
„Er macht Sie nach, wie Sie im Garten schaffen, und macht sich lustig darüber und erzählt, was Sie allemal mit ihm für Gespräche führen.“
„Ist das auch wahr, Lies?“
„Ob’s wahr ist! Mit Lügen geb’ ich mich nicht ab, ich nicht. So macht’s der Göckeler also, und dann gibt es Leute, die sitzen dabei und lachen und stacheln ihn an und zahlen ihm Bier dafür, daß er so von Ihnen redet.“
Kömpff hatte aufmerksam und traurig zugehört. Dann hatte er die Lampe von sich weggeschoben, so weit sein Arm reichte, und als die Lies nun aufschaute und auf eine Antwort wartete, sah sie mit wunderlichem Schrecken, daß er die Augen voll Tränen hatte.
Sie wußte, daß ihr Herr krank war, aber diese widerstandslose Schwäche hätte sie ihm nicht zugetraut. Sie sah nun auch plötzlich, wie gealtert und elend er aussah. Schweigend machte sie an ihrer Flickarbeit weiter und wagte, gerührt und bestürzt, nicht mehr aufzublicken, und er saß da und die Tränen liefen ihm über die Wangen und durch den dünnen Bart. Die Magd mußte selber schlucken, um Herr über ihre Bewegung zu bleiben. Bisher hatte sie den Herrn für ein wenig überarbeitet, für launisch und kurios gehalten. Jetzt sah sie, daß er hilflos, seelenkrank und im Herzen wund war.
Die beiden sprachen an diesem Abend nicht weiter. Kömpff nahm nach einer Weile seine Rechnung wieder vor, die Holderlies strickte und stopfte, schraubte ein paar Mal am Lampendocht und ging zeitig mit leisem Gruß hinaus.
Seit sie wußte, daß er so elend und hilflos war, verschwand der ganze eifersüchtige Groll aus ihrem guten Herzen. Sie war froh, ihn pflegen und sanft anfassen zu dürfen, sie sah ihn auf einmal wieder wie ein Kind an, sorgte für ihn und nahm ihm nichts mehr übel.
Als Walter bei schönem Wetter wieder einmal in seinem Garten herumbosselte, erschien mit freudigem Gruß Alois Beckeler. Er kam durch die Einfahrt herein, grüßte nochmals und stellte sich am Rand der Beete auf.
„Grüß Gott,“ sagte Kömpff, „was wollet Ihr?“
„Nichts, nur einen Besuch machen. Man hat Sie lang nimmer draußen gesehen.“
„Wollet Ihr sonst etwas von mir?“
„Nein. Ja, wie meinen Sie das? Ich bin doch sonst auch schon dagewesen.“
„Es ist aber nicht nötig, daß Ihr wiederkommt.“
„Ja, Herr Kömpff, warum denn aber?“
„Es ist besser, wir reden darüber nicht. Gehet nur, Beckeler, und laßt mir meine Ruhe.“
Der Göckeler nahm eine beleidigte Miene an.
„So, dann kann ich ja gehen, wenn ich nimmer gut genug bin. Das wird wohl auch in der Bibel stehen, daß man so mit alten Freunden umgehen soll.“
„Nicht so, Beckeler!“ sagte er freundlich. „Wir wollen im Guten voneinander, ’s ist immer besser. Nehmt das noch mit, gelt.“
Er gab ihm einen Taler, den jener verwundert nahm und einsteckte.
„Also meinen Dank, und nichts für ungut! Ich bedank mich schön. Adieu denn, Herr Kömpff, adieu denn!“
Damit ging er fort, vergnügter als je. Als er jedoch nach wenigen Tagen wiederkam und diesmal entschieden verabschiedet wurde, ohne ein Geschenk zu bekommen, ging er zornig weg und schimpfte draußen noch über den Zaun herein: „Sie großer Herr, Sie, wissen Sie, wo Sie hingehören? Nach Tübingen gehören Sie, dort steht das Narrenhaus, damit Sie’s wissen.“
Leider hatte der Göckeler nicht unrecht. Kömpff, der schon jahrelang in ungesundem Grüblertum lebte, war in den Monaten seiner Vereinsamung immer weiter in die Sackgasse seiner selbstquälerischen religiösen Spekulationen hineingeraten und hatte sich in seiner Verlassenheit in fruchtlosem Nachdenken aufgerieben. Als nun mit dem Einbrechen des Winters seine einzige gesunde Arbeit und Ablenkung, das Gartengeschäft, ein Ende hatte, kam er vollends nicht mehr aus dem engen, trostlosen Kreislauf seiner kränkelnden Gedanken heraus. Von jetzt an ging es schnell mit ihm bergab, wenn auch seine Krankheit noch Sprünge machte und mit ihm spielte.
Zunächst brachte das Müßigsein und Alleinleben ihn darauf, daß er immer wieder sein vergangenes Leben durchstöberte. Er verzehrte sich in Reue über vermeintliche Sünden früherer Jahre. Dann wieder klagte er sich verzweifelnd an, seinem Vater nicht Wort gehalten zu haben. Oft stieß er in der Bibel auf Stellen, von denen er sich wie ein Verbrecher getroffen fühlte.
In dieser qualvollen Zeit war er gegen die Holderlies weich und fügsam wie ein schuldbewußtes Kind. Er gewöhnte sich an, sie wegen Kleinigkeiten flehentlich um Verzeihung zu bitten, und brachte sie damit nicht wenig in Angst. Sie fühlte, daß sein Verstand am Erlöschen sei, und doch wagte sie es nicht, jemand davon zu sagen.
Eine Weile hielt sich Kömpff ganz zu Hause. Gegen Weihnachten hin wurde er unruhig, erzählte viel aus alten Zeiten und von seiner Mutter, und da die innere Ruhelosigkeit ihn wieder oft aus dem Hause trieb, fingen jetzt manche Unzuträglichkeiten an. Denn inzwischen hatte der arme Mann seine Unbefangenheit den Menschen gegenüber verloren. Er merkte, daß er auffiel, daß man von ihm sprach und auf ihn zeigte, daß Kinder ihm nachliefen und ernste Leute ihm auswichen.
Nun fing er an, sich unsicher zu fühlen. Manchmal zog er vor Leuten, denen er begegnete, den Hut übertrieben tief. Auf andre trat er zu, bot ihnen die Hand und bat herzlich um Entschuldigung, ohne zu sagen wofür. Und einem Knaben, der ihn durch Nachahmung seines Ganges verhöhnte, schenkte er seinen schönen Spazierstock mit elfenbeinernem Griff.
Einem seiner früheren Bekannten und Kunden, der damals auf seine ersten kaufmännischen Torheiten hin sich von ihm entfernt hatte, machte er einen Besuch und sagte, es tue ihm leid, bitter leid, er möge ihm doch vergeben und ihn wieder freundlich ansehen.
Eines Abends, kurz vor Neujahr, ging er — seit mehr als einem Jahr zum ersten Mal — in den Hirschen und setzte sich an den Honoratiorentisch. Er war früh gekommen und der erste Abendgast. Allmählich trafen die andern ein, und jeder sah ihn mit Erstaunen an und nickte verlegen, und einer um den andern kam und mehrere Tische wurden besetzt. Nur der Tisch, an dem Kömpff saß, blieb leer, obwohl es der Stammtisch war. Da bezahlte er den Wein, den er nicht getrunken hatte, grüßte traurig und ging heim.
Ein tiefes Schuldbewußtsein machte ihn gegen jedermann unterwürfig. Er nahm jetzt sogar vor Alois Beckeler den Hut ab, und wenn Kinder ihn aus Mutwillen anstießen, sagte er Pardon. Viele hatten jetzt Mitleid mit ihm, aber er war der Narr und das Kindergespött der Stadt.
Man hatte Kömpff vom Arzt untersuchen lassen. Der hatte seinen Zustand als primäre Verrücktheit bezeichnet, ihn übrigens für harmlos erklärt und befürwortet, daß man den Kranken daheim und bei seinem gewohnten Leben lasse.
Seit dieser Untersuchung war der arme Kerl mißtrauisch geworden. Auch hatte er sich gegen die Entmündigung, die nun doch über ihn verfügt werden mußte, verzweifelt gesträubt. Von da an nahm seine Krankheit eine andre Form an.
„Lies,“ sagte er eines Tages zur Haushälterin, „Lies, ich bin doch ein Esel gewesen. Aber jetzt weiß ich, wo ich dran bin.“
„Ja, und wie denn auf einmal?“ fragte sie ängstlich, denn sein Ton gefiel ihr nicht.
„Paß auf, Lies, du kannst was lernen. Also nicht wahr, ein Esel hab’ ich gesagt. Da bin ich mein Leben lang gelaufen und hab’ mich abgehetzt und mein Glück versäumt um etwas, was es gar nicht gibt!“
„Das versteh’ ich nun wieder nicht.“
„Stell dir vor, einer hat von einer schönen, prächtigen Stadt in der Ferne gehört. Er hat ein großes Verlangen, dorthin zu kommen, wenn es auch noch so weit und teuer ist. Schließlich läßt er alles liegen, gibt weg, was er hat, sagt allen guten Freunden Adieu und geht fort, immer fort und fort, tagelang und monatelang, durch dick und dünn, so lang er noch Kräfte hat. Und dann, wie er so weit ist, daß er nimmer zurück kann, da fängt er an zu merken, daß das von der prächtigen Stadt in der Ferne ein Lug und Märchen war. Die Stadt ist gar nicht da und ist niemals da gewesen.“
„Das ist traurig. Aber das tut ja niemand, so was.“
„Ich, Lies, ich doch! Ich bin so einer gewesen, das kannst du sagen, wem du willst. Mein Leben lang, Lies.“
„Ist nicht möglich, Herr! Was ist denn das für eine Stadt?“
„Keine Stadt, das war nur so ein Vergleich, weißt du. Ich bin ja immer hier geblieben. Aber ich habe auch ein Verlangen gehabt und darüber alles versäumt und verloren. Ich habe ein Verlangen nach Gott gehabt — nach dem Herrgott, Lies. Den hab’ ich finden wollen, dem bin ich nachgelaufen, und jetzt bin ich so weit, daß ich nimmer zurück kann — verstehst du? Nimmer zurück. Und alles ist ein Lug gewesen.“
„Was denn? Was ist ein Lug gewesen?“
„Der liebe Gott, du. Er ist nirgends, es gibt keinen.“
„Herr, Herr, sagen Sie keine solchen Sachen! Das darf man nicht, wissen Sie. Das ist Todsünde.“
„Laß mich reden. — Nein, still! Oder bist du dein Leben lang ihm nachgelaufen? Hast du hundert und hundert Nächte in der Bibel gelesen? Hast du Gott tausendmal auf den Knieen gebeten, daß er dich höre, daß er deine Opfer annehme und dir ein klein wenig Licht und Frieden dafür gebe? Hast du das? Und hast du deine Freunde verloren — um Gott näher zu kommen, und deinen Beruf und deine Ehre hingeworfen, um Gott zu sehen? — Ich habe das getan, alles das und viel mehr, und wenn Gott lebendig wäre und hätte auch nur so viel Herz und Gerechtigkeit wie der alte Beckeler, so hätte er mich angeblickt.“
„Er hat Sie prüfen wollen.“
„Das hat er getan, das hat er. Und dann hätte er sehen müssen, daß ich nichts wollte als ihn. Aber er hat nichts gesehen. Nicht er hat mich geprüft, sondern ich ihn, und ich habe gefunden, daß er ein Märlein ist. Eine Kinderfabel, weißt du.“
Von diesem Thema kam Walter Kömpff nicht mehr los. Er fand beinahe einen Trost darin, daß er nun eine Erklärung für sein verunglücktes Leben hatte. Und doch war er seiner neuen Erkenntnis keineswegs sicher. So oft er Gott leugnete, empfand er ebensoviel Hoffnung wie Furcht bei dem Gedanken, der Geleugnete könnte gerade jetzt ins Zimmer treten und seine Allgegenwart beweisen. Und manchmal lästerte er sogar, nur um vielleicht Gott antworten zu hören, wie ein Kind vor dem Hoftor Wauwau ruft, um zu erfahren, ob drinnen ein Hund ist oder nicht.
Das war die letzte Entwicklung in seinem Leben. Sein Gott war ihm zum Götzen geworden, den er reizte und dem er fluchte, um ihn zum Reden zu zwingen. Damit war der Sinn seines Daseins verloren und in seiner kranken Seele trieben zwar noch schillernde Blasen und Traumgebilde, aber keine lebendigen Keime mehr. Sein Licht war ausgebrannt und es erlosch schnell und traurig.
Eines Nachts hörte ihn die Holderlies noch spät reden und hin und wieder gehen, ehe es in seiner Schlafstube ruhig wurde. Am Morgen blieb er viel länger als sonst liegen und gab auf kein Klopfen Antwort. Und als die Magd endlich leis die Tür aufmachte und auf den Zehen in sein Zimmer schlich, schrie sie plötzlich auf und rannte verstört davon, denn sie hatte ihren Herrn an einem Kofferriemen erhängt gefunden.
Eine Zeitlang machte sein Ende die Leute noch viel reden. Daß es verbrecherisch war, verzieh man seinem Irrsinn. Aber wenige empfanden etwas von dem, was sein Schicksal gewesen war. Und wenige dachten daran, wie nahe wir alle bei dem Dunkel wohnen, in dessen Schatten der arme Walter Kömpff sich verirrt hatte.
Wenn im Frühling oder Sommer oder auch noch im Frühherbst ein linder Tag ist und eine angenehme, auch wieder nicht zu heftige Wärme den Aufenthalt im Freien zu einem Vergnügen macht, dann ist die ausschweifend gebogene halbrunde Straßenkehle am Allpacher Weg, vor den letzten hochgelegenen Häusern der Stadt, ein prächtiger Winkel. Auf der berghinan sich schlängelnden Straße sammelt sich die schöne Sonnenwärme stetig an, die Lage ist vor jedem Winde wohl beschützt, ein paar krumme alte Obstbäume spenden wenn auch kein Obst, so doch ein wenig Schatten, und der Straßenrand, ein breiter, sanfter, rasiger Rain, verlockt mit seiner wohlig sich schmiegenden Krümmung freundlich zum Sitzen oder Liegen. Das weiße Sträßlein glänzt im Lichte und hebt sich schön langsam bergan, schickt jedem Bauernwagen oder Landauer oder Postkarren ein dünnes Stäublein nach, so viel es vermag, und schaut über eine schiefe, von Baumkronen da und dort unterbrochene Flucht von schwärzlichen Dächern hinweg gerade ins Herz der Stadt, auf den Marktplatz, der von hier aus gesehen freilich an Stattlichkeit stark verliert und nur als ein sonderbar verschobenes Viereck mit krummen Häusern und drollig herausspringenden Vortreppen und Kellerhälsen erscheint.
An solchen sonnig milden Tagen ist der wohlige Rain jener hohen Bergstraßenkrümmung unwandelbar stets von einer kleinen Schar ausruhender Männer besetzt, deren kühne und verwitterte Gesichter nicht recht zu ihren zahmen und trägen Gebärden passen und von denen der Jüngste mindestens ein hoher Fünfziger ist. Sie sitzen und liegen bequem in der Wärme, schweigen oder führen kurze, brummende und knurrende Gespräche untereinander, rauchen kleine schwarze Pfeifenstrünke und spucken häufig weltverächterisch in kühnem Bogen bergabwärts. Die etwa vorübertapernden Handwerksburschen werden von ihnen scharf betrachtet und peinlich begutachtet und je nach Befund mit einem wohlwollend zugenickten „Servus, Kunde!“ begrüßt oder schweigend verachtet.
Der Fremdling, der die alten Männlein so hocken sah und sich in der nächsten Gasse über das seltsame Häuflein grauer Bärenhäuter erkundigte, konnte von jedem Kinde erfahren, daß dieses die Sonnenbrüder seien, und mancher schaute dann noch einmal zurück, sah die müde Schar träg in die Sonne blinzeln und wunderte sich, woher ihr wohl ein so hoher, wohllautender und dichterischer Name gekommen sei. Etwaige reisende Enthusiasten empfanden mythische Schauer dabei und machten aus dem Halbdutzend grauer Faulpelze die überbliebenen Reste einer aussterbenden uralten Gemeinschaft von Verehrern des Tagesgestirns. Das Gestirn aber, nach welchem die Sonnenbrüder genannt wurden, stand längst an keinem Himmel mehr, sondern war nur der Schildname eines ärmlichen und schon vor manchen Jahren eingegangenen Wirtshauses gewesen, dessen Schild und Glanz dahin waren, denn das Haus diente neuerdings als Spittel, das heißt als städtisches Armenasyl, und beherbergte freilich manche Gäste, die das Abendrot der vom Schild genommenen Sonne noch erlebt und sich hinter dem Schenktisch derselben die Anwartschaft auf ihre Bevormundung und jetzige Unterkunft erschöppelt hatten.
Das Häuschen stand, als vorletztes der steilen Gasse und der Stadt, zunächst jenem sonnigen Straßenrand, bot ein windschiefes und ermüdetes Ansehen, als mache das beständige Aufrechtstehen ihm viele Beschwerde, und ließ sich nichts mehr davon anmerken, wie viel Lust und Gläserklang, Witz und Gelächter und flotte Freinächte es erlebt hatte, die fröhlichen Raufereien und Messergeschichten gar nicht zu rechnen. Seit der alte rosenrote Verputz der Vorderseite vollends erblaßt und in rissigen Feldern abgeblättert war, entsprach die alte Lotterfalle in ihrem Äußeren vollkommen ihrer Bestimmung, was bei städtischen Bauten unserer Zeit immerhin eine Seltenheit ist. Ehrlich und deutlich, ja sogar fast beredt gab sie zu erkennen, daß sie ein Unterschlupf und Notdächlein für Schiffbrüchige und Zurückgebliebene war, das betrübliche Ende einer geringen Sackgasse, von wo aus keine Pläne und verborgenen Kräfte mehr ins Leben zurückstreben mögen.
Von der Melancholie solcher Betrachtungen war glücklicherweise im Kreis der Sonnenbrüder meistens nur wenig zu finden. Vielmehr lebten sie fast alle nach Menschenart ihre späten Tage hin als ginge es noch immer aus dem Vollen, bliesen ihre kleinen Gezänke und Lustbarkeiten und Spielereien, Brüderschaften und Eifersüchteleien nach Kräften zu wichtigen Angelegenheiten und Staatsaktionen auf und nahmen zwar nicht einander, aber doch jeder sich selber so ernst wie möglich. Ja sie taten, als fange jetzt, da sie sich aus den geräuschvollen Gassen des tätigen Lebens beiseite gedrückt hatten, der Hallo erst recht an, und betrieben ihre jetzigen unbedeutenden Affären mit einer Wucht und Zähigkeit, welche sie in ihren früheren Betätigungen leider meist hatten vermissen lassen. Gleich manchem anderen Völklein glaubten sie, obwohl sie vom Spittelvater absolut monarchisch und als rechtlose Scheinexistenzen regiert wurden, eine kleine Republik zu sein, in welcher jeder freie Bürger den andern genau um Rang und Stellung ansah und emsig darauf bedacht war, ja nirgends um ein Haarbreit zu wenig ästimiert zu werden.
Auch das hatten die Sonnenbrüder mit anderen Leuten gemein, daß sie die Mehrzahl ihrer Schicksale, Befriedigungen, Freuden und Schmerzen mehr im Gemüt oder in der Einbildung als in greifbarer Wirklichkeit erlebten. Ein frivoler Mensch könnte ja überhaupt den Unterschied zwischen dem Dasein dieser Ausrangierten und Steckengebliebenen und demjenigen der tätigen Bürger als lediglich in der Einbildung begründet hinstellen, indem diese wie jene ihre großen und kleinen Geschäfte und Taten mit derselben emsigen Wichtigkeit verrichten und schließlich doch vor Gottes Augen so ein armer Spittelgast möglicherweise nicht viel schlechter dasteht als mancher große und geehrte Herr. Aber auch ohne so weit zu gehen, kann man wohl finden, daß für den behaglichen Zuschauer das Leben dieser Sonnenbrüder kein unwürdiger Gegenstand der Betrachtung sei, da das Menschenleben auch auf einer geringen Bühne immer noch ein amüsantes und nachdenkliches Schauspiel darbietet.
Je näher die Zeiten heranrücken, da das jetzt aufwachsende Geschlecht den Namen der ehemaligen Sonne und der Sonnenbrüder vergessen und seine Armen und Auswürflinge anders und in anderen Räumen versorgen wird, desto wünschenswerter wäre es, eine Geschichte des alten Hauses und seiner Gäste zu haben. Als chronistischer Beitrag zu einer solchen soll auf diesen Blättern einiges vom Leben der ersten Sonnenbrüder berichtet werden.
In den Zeiten, da die heutigen Jungbürger von Gerbersau noch kurze Hosen oder gar noch Röckchen trugen, und da über der Haustüre des nachmaligen Spittels noch aus der rosenroten Fassade ein schmiedeiserner Schildarm mit der blechernen Sonne in die Gasse hinaus prangte, kehrte an einem Tage spät im Herbste Karl Hürlin, ein Sohn des vor vielen Jahren verstorbenen Schlossers Hürlin in der Senfgasse, in seine Heimatstadt zurück. Er war etwas über die Vierzig hinaus, und niemand kannte ihn mehr, da er seinerzeit als ein blutjunges Bürschlein weggewandert und seither nie mehr in der Stadt erblickt worden war. Nun trug er einen sehr guten und reinen Anzug, Knebelbart und kurzgeschnittenes Haar, eine silberne Uhrkette, einen steifen Hut und hohe saubere Hemdkragen. Er besuchte einige von den ehemaligen Bekannten seiner Familie, ein paar alte Schulkameraden und Kollegen, und trat überall als ein fremd und vornehm gewordener Mann auf, der seines Wertes ohne Überhebung bewußt ist. Dann ging er aufs Rathaus, wies seine Papiere vor und erklärte, sich hierorts niederlassen zu wollen. Als das Nötige eingeleitet worden war, entfaltete Herr Hürlin eine emsige und geheimnisvolle Tätigkeit und Korrespondenz, unternahm öftere kleine Reisen, kaufte ein Grundstück im Talgrunde und begann daselbst an Stelle einer abgebrannten Ölmühle ein neues Haus aus Backsteinen zu erbauen und neben dem Hause einen Schuppen und Remise und zwischen Haus und Schuppen einen gewaltigen backsteinernen Schlot. Zwischendrein sah man ihn in der Stadt gelegentlich bei einem Abendschoppen, wobei er zwar anfangs still und vornehm tat, nach wenigen Gläsern aber laut und mächtig redete und nicht damit hinterm Berge hielt, wie er zwar Geld genug im Sack habe, um sich ein schönes Herrenleben zu gönnen, doch sei der eine ein Faulpelz und Dickkopf, ein anderer aber ein Genie und Geschäftsgeist, und was ihn betreffe, so gehöre er zur letzteren Sorte und habe nicht im Sinn, sich zur Ruhe zu setzen, ehe er sechs Nullen hinter die Ziffer seines Vermögens setzen könne.
Geschäftsleute, bei denen er Kredit zu genießen wünschte, taten sich nach seiner Vergangenheit um und brachten in Erfahrung, daß Hürlin zwar bisher nirgends eine erhebliche Rolle gespielt hatte, sondern da und dort in Werkstätten und Fabriken, zuletzt als Aufseher, gearbeitet, vor kurzem hingegen eine erkleckliche Erbschaft gemacht hatte. Also ließ man ihn gewähren und gönnte ihm ein bestimmtes Maß von Respekt, einige unternehmende Leute steckten auch noch Geld in seine Sache, so daß bald eine mäßig große, schmucke Fabrik samt Wohnhäuschen im Tale erstand, in welcher Hürlin gewisse für die Wollwebeindustrie notwendige Walzen und Maschinenteile herzustellen gedachte.
Kaum war der Betrieb eröffnet, so wurde der Unternehmer von jener selben Fabrik, deren Aufseher er früher gewesen war, gerichtlich belangt, indem er gewisse technische Geheimnisse, die er sich dort angeeignet, widerrechtlich als eigene Erfindung ausgeben und ausnützen sollte. Aus dem endlosen Prozeß zog er sich schließlich, wenn auch ohne Schande, so doch mit erheblichen Kosten, betrieb aber nun sein Geschäft mit doppeltem Eifer, indem er seine Preise etwas niedriger ansetzte und die Welt mit Anpreisungen überschwemmte. Die Aufträge blieben nicht aus, der große Schlot rauchte Tag und Nacht, und ein paar Jahre lang florierte Hürlin und seine Fabrik auf das erfreulichste und genoß Ansehen und ausgiebigen Kredit.
Damit war sein Ideal erreicht und sein alter Lieblingstraum in Erfüllung gegangen. Wohl hatte er schon in jüngeren Jahren des öfteren Anläufe zum Reichwerden gemacht, aber erst jene ihm fast unerwartet zugefallene Erbschaft hatte ihn flott gemacht und ihm erlaubt, seine alten kühnen Pläne auszuführen. Übrigens war der Reichtum nicht sein einziges Sehnen gewesen, sondern seine heißesten Wünsche hatten zeitlebens dahin gezielt, eine gebietende und große Stellung einzunehmen. Er wäre als Indianerhäuptling oder als Regierungsrat oder auch etwa als berittener Landjäger ganz ebenso in seinem Element gewesen, doch schien ihm nun das Leben eines Fabrikbesitzers sowohl bequemer als selbstherrlicher. Eine Zigarre im Mundwinkel und ein sorgenvoll gewichtiges Lächeln im Gesicht, am Fenster stehend oder am Schreibtisch sitzend allerlei Befehle zu erteilen, Verträge zu unterzeichnen, Vorschläge und Bitten anzuhören, mit der faltigen Miene des Vielbeschäftigten eine gelassene Behaglichkeit zu vereinigen, bald unnahbar streng, bald gutmütig herablassend zu sein und bei allem stets zu fühlen, daß er ein Hauptkerl sei und daß viel in der Welt auf ihn ankomme, das war seine leider erst spät zu ihrem vollen Recht gekommene Gabe. Aber nun hatte er das alles reichlich, konnte tun, was er mochte, Leute anstellen und entlassen, wohlige Seufzer des sorgenschweren Reichtums ausstoßen und sich von vielen beneiden lassen. Das alles genoß und übte er auch mit Kennerschaft und Hingabe, er wiegte sich weich im Glücke und fühlte sich endlich vom Schicksal an den ihm gebührenden Platz gestellt.
Inzwischen hatte aber jener geschädigte Konkurrent, auf dessen Kosten Hürlin groß geworden war, eine neue Erfindung gemacht, nach deren Einführung mehrere der früheren Artikel teils ganz entbehrlich, teils viel wohlfeiler wurden, und da Hürlin trotz seines Glaubens und seiner Versicherungen eben kein Genie war und nur das Äußerliche seines Geschäftes verstand, sank er anfänglich langsam, dann aber immer schneller von seiner Höhe und konnte am Ende nicht verbergen, daß er abgewirtschaftet habe. Er versuchte es in der Verzweiflung noch mit ein paar waghalsigen Finanzkünsten, durch welche er sich selber und mit ihm eine Reihe von Kreditoren schließlich in einen gewaltigen und unsauberen Bankrott hineinritt. Er entfloh, wurde aber eingebracht, verurteilt und ins Loch gesteckt, und als er nach mehreren Jahren wieder in der Stadt erschien, war er ein entwerteter und lahmer Mensch, mit dem nichts mehr anzufangen war.
Eine Zeitlang drückte er sich in unbedeutenden Stellungen herum; doch hatte er schon in den schwülen Zeiten, da er den Krach herankommen sah, sich zum heimlichen Trinker entwickelt, und was damals heimlich gewesen und wenig beachtet worden war, wurde nun öffentlich und zu einem Ärgernis. Aus einer mageren Schreibersstelle wegen Unzuverlässigkeit entlassen, ward er Agent einer Versicherungsgesellschaft, trieb sich als solcher in allen Schenken der Gegend herum, wurde auch da wieder entlassen und fiel, als auch ein Hausierhandel mit Zündhölzern und Bleistiften nichts abwerfen wollte, am Ende der Stadt zur Last. Er war in diesen Jahren schnell vollends alt und elend geworden, hatte aber aus seiner fallitgegangenen Herrlichkeit einen Vorrat kleiner Künste und Äußerlichkeiten herübergerettet, die ihm über das Gröbste hinweghalfen und in geringeren Wirtshäusern noch immer einige Wirkung taten. Er brachte gewisse schwungvoll großartige Gesten und nicht wenige wohltönende Redensarten in die Kneipen mit, die ihm längst nur noch äußerlich anhafteten, auf Grund derer er aber doch noch immer eine Schätzung unter den Lumpen der Stadt genoß.
Damals gab es in Gerbersau noch kein Armenhaus, sondern die Unbrauchbaren wurden gegen eine geringe Entschädigung aus dem Stadtsäckel da und dort in Familien als Kostgänger gegeben, wo man sie mit dem Notwendigsten versah und nach Möglichkeit zu kleinen häuslichen Arbeiten anhielt. Da nun hieraus in letzter Zeit allerlei Unzuträglichkeiten entstanden waren und da den verkommenen Fabrikanten, der den Haß der Bevölkerung genoß, durchaus niemand aufnehmen wollte, sah sich die Gemeinde genötigt, ein besonderes Haus als Asyl zu beschaffen. Und da gerade das ärmliche alte Wirtshäuslein zur Sonne unter den Hammer kam, erwarb es die Stadt und setzte nebst einem Hausvater als ersten Gast den Karl Hürlin hinein, dem in Kürze mehrere andere folgten. Diese nannte man die Sonnenbrüder.
Nun hatte Hürlin schon lange zur Sonne nahe Beziehungen gehabt, denn seit seinem Niedergang war er nach und nach in immer kleinere und ärmere Schenken gelaufen und schließlich am meisten in die Sonne, wo er zu den täglichen Gästen gehörte und beim Abendschnaps mit manchen Kumpanen am selben Tische saß, die ihm später, als auch ihre Zeit gekommen war, als Spittelbrüder und verachtete Stadtarme in eben dasselbe Haus nachfolgen sollten. Ihn freute es, gerade dorthin zu wohnen zu kommen, und in den Tagen nach der Gant, als Zimmermann und Schreiner das alte Schankhaus für seinen neuen Zweck eilig und bescheiden zurichteten, stand er von früh bis spät dabei und hatte Maulaffen feil.
Eines Morgens, da es schön mild und sonnig war, hatte er sich wieder daselbst eingefunden, stellte sich neben die Haustüre und sah dem Hantieren der Arbeiter im Innern zu. Es wurde ein Dielenboden ausgebrochen und neu gelegt, die ausgetretene Stiege geflickt und mit einer festen Brüstung versehen, ein paar dünne Wände eingezogen, der Stadtbaumeister schimpfte hinter den Meistern her, die Gesellen heuchelten großen Fleiß, und die Lehrbuben drückten sich von Wand zu Wand. Dieser Umtrieb gefiel dem alten Hürlin wohl, er guckte hingerissen und freudig zu und überhörte gern die bösartigen Bemerkungen der Arbeiter, hielt die Fäuste in den tiefen Taschen seines schmierigen Rockes und warf mit seinen geschenkten, viel zu langen und zu weiten Beinkleidern spiralförmige Falten, in denen seine Beine wie Zapfenzieher aussahen. Daneben sog er emsig an einem defekten Tonpfeifchen, das zwar nicht brannte, aber doch nach Tabak roch. Der bevorstehende Einzug in die neue Bude, von dem er sich ein bequemes und schöneres Leben versprach, erfüllte den alten Tropf mit glücklicher Neugierde und Unruhe.
Indem er dem Legen der neuen Stiegenbretter zuschaute und stillschweigend die dünnen tannenen Dielen auf ihre Güte und mutmaßliche Haltbarkeit abschätzte, fühlte er sich plötzlich beiseite geschoben, und als er sich gegen die Straße umkehrte, stand da ein Schlossergeselle mit einer großen Bockleiter, die er mit großer Mühe und vielen untergelegten Bretterstücken auf dem abschüssigen Straßenboden aufzustellen versuchte. Hürlin verfügte sich auf die andere Seite der Gasse hinüber, lehnte sich an den Prellstein und verfolgte die Tätigkeit des Schlossers mit großer Aufmerksamkeit. Dieser hatte nun seine Leiter aufgerichtet und gesichert, stieg hinauf und begann über der Haustüre am Mörtel herumzukratzen um das alte Wirtsschild hinwegzunehmen. Seine Bemühungen erfüllten den Exfabrikanten mit Spannung und auch mit Wehmut, indem er der vergangenen Tage gedachte, der vielen unter dem jetzt fallenden Wahrzeichen genossenen Schoppen und Schnäpse und der früheren Zeiten überhaupt. Es bereitete ihm keine kleine Freude, daß der schmiedeeiserne Schildarm so fest in der Wand saß, und daß der Schlossergesell sich so damit abmühen mußte, ihn herunterzubringen. Es war doch unter dem armen alten Schilde oft heillos munter zugegangen! Als der Schlosser zu fluchen begann, schmunzelte der Alte, und als jener wieder daran zog und bog und wand und zerrte, in Schweiß geriet und fast von der Leiter stürzte, empfand der Zuschauer eine nicht geringe Genugtuung. Da ging der Geselle fort und kam nach einer Viertelstunde mit einer Eisensäge wieder. Hürlin sah wohl, daß es nun um den ehrwürdigen Zierrat geschehen sei. Die Säge pfiff klingend in dem guten Eisen und nach wenig Augenblicken bog sich der eiserne Arm klagend ein wenig abwärts und fiel gleich darauf klingelnd und rasselnd aufs Pflaster.
Da kam Hürlin herüber. „Du, Schlosser,“ bat er demütig, „gib mir das Ding! ’s hat ja keinen Wert mehr.“
„Warum auch? Wer bist du denn?“ schnauzte der Bursch.
„Ich bin doch von der gleichen Religion,“ flehte Hürlin, „mein Alter war Schlosser, und ich bin auch einer gewesen. Gelt gib’s her!“
Der Geselle hatte indessen das Schild aufgehoben und betrachtet.
„Der Arm ist noch gut,“ entschied er, „das war zu seiner Zeit keine schlechte Arbeit. Aber wenn du das Blechzeug willst, das hat keinen Wert mehr.“
Er riß den grün bemalten, blechernen Blätterkranz, in welchem mit kupferig gewordenen und verbeulten Strahlen die goldene Sonne hing, herunter und gab ihn her. Der Alte bedankte sich und machte sich eilig mit seiner Beute davon, um sie weiter oben im dicken Holdergebüsche vor fremder Habgier und Schaulust zu verbergen. So verbirgt nach verlorener Schlacht ein Paladin die Insignien der Herrschaft, um sie für bessere Tage und neue Glorien zu retten. Als er wiederkam, um von neuem die Arbeiten der Zimmerleute zu inspizieren, kam ihm das Haus so sonderbar anders und verödet vor, lediglich, weil die Sonne fehlte und statt ihrer ob der Tür nur noch ein brüchiges Loch im Verputz zu sehen war.
Wenige Tage darauf fand ohne viel Sang und Klang die Einweihung des dürftig hergerichteten neuen Armenhauses statt. Es waren ein paar Betten beschafft worden, der übrige Haushalt stammte noch aus der Wirtsgant her, außerdem hatte ein Gönner in jedes der drei Schlafstüblein einen von gemalten Blumengewinden umgebenen Bibelspruch auf Pappdeckel gestiftet. Zu der ausgeschriebenen Hausvaterstelle hatten sich nicht eben sehr viele Bewerber gemeldet, und die Wahl war sogleich auf Herrn Andreas Sauberle gefallen, einen verwitweten Wollenstricker von gutem Leumund, der seinen Strickstuhl mitbrachte und sein Gewerbe weiter betrieb, denn die Stelle reichte knapp zum Leben aus und er hatte keine Lust, auf seine alten Tage einmal selber ein Sonnenbruder zu werden.
Als der alte Hürlin seine Stube angewiesen bekam, unterzog er sie sogleich einer genauen Besichtigung. Er fand ein gegen das Höflein gehendes Fenster, zwei Türen, ein Bett, eine Truhe, zwei Stühle, einen Nachttopf, einen Kehrbesen und einen Staubwischlappen vor, ferner ein mit Wachstuch bezogenes Eckbrett, auf welchem ein Wasserglas, ein blechernes Waschbecken, eine Kleiderbürste und ein Neues Testament lagen und standen. Er befühlte das solide Bettzeug, probierte die Bürste an seinem Hut, hielt Glas und Becken prüfend gegen das Tageslicht, setzte sich versuchsweise auf beide Stühle und fand, es sei alles befriedigend und in Ordnung. Nur der stattliche Wandspruch mit den Blumen wurde von ihm mißbilligt. Er sah ihn eine Weile höhnisch an, las die Worte: „Kindlein liebet euch untereinander!“ und schüttelte unzufrieden den struppigen Kopf. Dann riß er das Ding herunter und hängte mit vieler Sorgfalt an dessen Stelle das alte Sonnenschild auf, das er als einziges Wertstück in die neue Wohnung mitgebracht hatte. Aber da kam gerade der Hausvater wieder herein und gebot ihm scheltend, den Spruch wieder an seinen Platz zu hängen. Die Sonne wollte er mitnehmen und wegwerfen, aber Karl Hürlin klammerte sich ingrimmig daran, trotzte zeternd auf sein Eigentumsrecht und verbarg nachher die Trophäe schimpfend unter der Bettstatt.
Das Leben, das mit dem folgenden Tage seinen Anfang nahm, entsprach nicht ganz seinen Erwartungen und gefiel ihm zunächst keineswegs. Er mußte des Morgens um sieben Uhr aufstehen und zum Kaffee in die Stube des Strickers kommen, dann sollte das Bett gemacht, das Waschbecken gereinigt, die Stiefel geputzt und die Stube sauber aufgeräumt werden. Um zehn Uhr gab es ein Stück Schwarzbrot und dann sollte die gefürchtete Spittelarbeit losgehen. Es war im Hof eine große Beuge buchenes Holz angefahren und das sollte gesägt und gespalten werden.
Da es noch weit hin bis zum Winter war, hatte es Hürlin mit dem Holz nicht eben eilig. Langsam und vorsichtig legte er ein Buchenscheit auf den Bock, rückte es sorgfältig und umständlich zurecht und besann sich eine Weile, wo er es zuerst ansägen solle, rechts oder links oder in der Mitte. Dann setzte er behutsam die Säge an, stellte sie noch einmal weg, spuckte in die Hände und nahm dann die Säge wieder vor. Nun tat er drei, vier Striche, etwa eine Fingerbreite tief ins Holz, zog aber sogleich die Säge wieder weg und prüfte sie aufs peinlichste, drehte am Strick, befühlte das Sägeblatt, stellte es etwas schiefer, hielt es lange blinzelnd vors Auge, seufzte alsdann tief auf und rastete ein wenig. Hierauf begann er von neuem und sägte einen halben Zoll tief, aber da wurde es ihm unerträglich warm und er mußte seinen Rock ausziehen. Das vollführte er langsam und mit Bedacht, suchte auch eine gute Weile nach einem sauberen und sicheren Ort, um den Rock dahin zu legen. Als dies doch endlich geschehen war, fing er wieder an zu sägen, jedoch nicht lange, denn nun war die Sonne übers Dach gestiegen und schien ihm gerade ins Gesicht. Also mußte er den Bock und das Scheit und die Säge, jedes Stück einzeln, an einen anderen Platz tragen, wo noch Schatten war; dies brachte ihn in Schweiß und nun brauchte er sein Sacktuch, um sich die Stirne abzuwischen. Das Tuch war aber in keiner Tasche, und da fiel ihm ein, er habe es ja im Rock gehabt, und so ging er denn dort hinüber, wo der Rock lag, breitete ihn säuberlich auseinander, suchte und fand das farbige Nastuch, wischte den Schweiß ab und schneuzte auch gleich, brachte das Tuch wieder unter, legte den Rock mit Aufmerksamkeit zusammen und kehrte erfrischt zum Sägebock zurück. Hier fand er nun bald, er habe vorher das Sägeblatt vielleicht doch allzuschräg gestellt, daher operierte er von neuem lange daran herum und sägte schließlich unter großem Stöhnen das Scheit vollends durch. Aber nun war es Mittag geworden und läutete vom Turm, und eilig zog er den Rock an, stellte die Säge beiseite und verfügte sich ins Haus zum Essen.
„Pünktlich seid Ihr, das muß man Euch lassen,“ sagte der Stricker. Die Lauffrau trug die Suppe herein, danach gab es noch Wirsing und eine Scheibe Speck und Hürlin langte fleißig zu. Nach Tisch sollte das Sägen wieder losgehen, aber da weigerte er sich entschieden.
„Das bin ich nicht gewöhnt,“ sagte er entrüstet und blieb dabei. „Ich bin jetzt todesmüd und muß nun auch eine Ruhe haben.“
Der Stricker zuckte die Achseln und meinte: „Tut was Ihr möget, aber wer nichts arbeitet, bekommt auch kein Vesper. Um vier Uhr gibt’s Most und Brot, wenn Ihr gesägt habet, im anderen Fall nichts mehr bis zur Abendsuppe.“
Most und Brot, dachte Hürlin und besann sich in schweren Zweifeln. Er ging auch hinunter und holte die Säge wieder hervor, aber da graute ihm doch vor der heißen mittäglichen Arbeit und er ließ das Holz liegen, ging auf die Gasse hinaus, fand gleich einen Zigarrenstumpen auf dem Pflaster, steckte ihn zu sich und stieg langsam die fünfzig Schritte bis zur Wegebiegung hinan. Dort hielt er veratmend an, setzte sich abseits der Straße an den schön erwärmten Rain, sah auf die vielen Dächer und auf den Marktplatz hinunter, konnte im Talgrund auch seine ehemalige Fabrik liegen sehen und weihte also diesen Platz als erster Sonnenbruder ein, an welchem seither bis auf heute so viele von seinen Kameraden und Nachfolgern ihre Sommernachmittage, und oft auch die Vormittage und Abende, versessen und verduselt haben.
Die wohltuend sanfte Beschaulichkeit eines von Sorgen und Plagen befreiten Alters, die er sich vom Aufenthalt im Spittel versprochen hatte, und die ihm am Morgen bei der sauren Arbeit wie ein schönes Trugbild zerronnen war, fand sich nun allmählich ein. Die Gefühle eines für Lebzeiten vor Sorge, Hunger und Obdachlosigkeit gesicherten Pensionärs im Busen, beharrte er mollig faul im Rasen, fühlte auf seiner welken Haut die schöne Sonnenwärme, überschaute weithin den Schauplatz seiner früheren Umtriebe, Arbeit und Leiden und wartete ohne Ungeduld bis jemand käme, den er um Feuer für seinen Zigarrenstumpen bitten könnte. Das schrille Blechgehämmer einer Spenglerwerkstatt, das ferne Amboßgeläut einer Schmiede, das leise Knarren entfernter Lastwagen stieg, mit einigem Straßenstaub und dünnem Rauch aus großen und kleinen Schornsteinen vermischt, zur Höhe herauf und zeigte an, daß drunten in der Stadt brav gehämmert, gefeilt, gearbeitet und geschwitzt würde, während Karl Hürlin still und ungeplagt in vornehmer Entrücktheit darüber thronte.
Um vier Uhr trat er leise in die Stube des Hausvaters, der den Hebel seiner kleinen Strickmaschine taktmäßig hin und her bewegte. Er wartete eine Weile, ob es nicht doch am Ende Most und Brot gäbe, aber der Stricker lachte ihn aus und schickte ihn weg. Da ging er enttäuscht an seinen Ruheplatz zurück, brummte vor sich hin, verbrachte eine Stunde oder mehr im Halbschlaf und schaute dann dem Abendwerden im engen Tale zu. Es war droben noch so warm und behaglich wie zuvor, aber seine gute Stimmung ließ mehr und mehr nach, denn trotz seiner Trägheit überfiel ihn eine gewaltige Langweile, auch kehrten seine Gedanken unaufhörlich zu dem entgangenen Vesper zurück. Er sah ein hohes Schoppenglas voll Most vor sich stehen, gelb und glänzend und mit süßer Herbe duftend. Er stellte sich vor, wie er es in die Hand nähme, das kühle runde Glas, und wie er es ansetzte, und wie er zuerst einen vollen starken Schluck nehmen, dann aber langsam sparend schlürfen würde. Wütend seufzte er auf, so oft er aus dem schönen Traum erwachte, und sein ganzer Zorn richtete sich gegen den unbarmherzigen Hausvater, den Stricker, den elenden Knauser, Knorzer, Schinder, Seelenverkäufer und Giftjuden. Nachdem er genug getobt hatte, fing er an sich selber leid zu tun und wurde weinerlich, schließlich aber beschloß er, morgen zu arbeiten.
Er sah nicht, wie das Tal bleicher und von zarten Schatten erfüllt und wie die Wolken rosig wurden, noch die abendmilde, süße Färbung des Himmels und das heimliche Blauwerden der entfernteren Berge; er sah nur das ihm entgangene Glas Most, die morgen unabwendbar seiner harrende Arbeit und die Härte seines Schicksals. Denn in derartige Betrachtungen verfiel er jedesmal, wenn er einen Tag lang nichts zu trinken bekommen hatte. Wie es wäre, jetzt einen Schnaps zu haben, daran durfte er gar nicht denken.
Gebeugt und verdrossen stieg er zur Abendessenszeit ins Haus hinunter und setzte sich mürrisch an den Tisch. Es gab Suppe, Brot und Zwiebeln, und er aß grimmig, so lange etwas in der Schüssel war, aber zu trinken gab es nichts. Und nach dem Essen saß er verlassen da und wußte nicht was anfangen. Nichts zu trinken, nichts zu rauchen, nichts zu schwätzen! Der Stricker nämlich arbeitete bei Lampenlicht geschäftig weiter, um Hürlin unbekümmert.
Dieser saß eine halbe Stunde lang am leeren Tische, horchte auf Sauberles klappende Maschine, starrte in die gelbe Flamme der Hängelampe und versank in Abgründe von Unzufriedenheit, Selbstbedauern, Neid, Zorn und Bosheit, aus denen er keinen Ausweg fand noch suchte. Endlich überwältigte ihn die stille Wut und Hoffnungslosigkeit. Hoch ausholend hieb er mit der Faust auf die Tischplatte, daß es knallte, und rief: „Himmelsternkreuzteufelsludernoch’nmal!“
„Holla,“ rief der Stricker und kam herüber, „was ist denn wieder los? Geflucht wird bei mir fein nicht!“
„Ja, was ins heiligs Teufels Namen soll man denn anfangen?“
„Ja so, Langweile? Ihr dürfet ins Bett.“
„So, auch noch? Um die Zeit schickt man kleine Buben ins Bett, nicht mich.“
„Dann will ich Euch eine kleine Arbeit holen.“
„Arbeit? Danke für die Schinderei, Ihr Sklavenhändler, Ihr!“
„Oha, nur kalt Blut! Aber da, leset was!“
Er legte ihm ein paar Bände aus dem dürftig besetzten Wandregal hin und ging wieder an sein Geschäft. Hürlin hatte durchaus keine Lust zum Lesen, nahm aber doch eins von den Büchern in die Hand und machte es auf. Es war ein Kalender, und er begann die Bilder darin anzusehen. Auf dem ersten Blatte war irgend eine phantastisch gekleidete ideale Frauen- oder Mädchengestalt als Titelfigur abgebildet, mit bloßen Füßen und offenen Locken. Hürlin erinnerte sich sogleich an ein Restlein Bleistift, das er besaß. Er zog es aus der Tasche, machte es naß und malte dem Frauenzimmer zwei große runde Brüste aufs Mieder, die er so lange mit immer wieder benetztem Bleistift nachfuhr und ausmalte, bis das Papier mürb war und zu reißen drohte. Er wendete das Blatt um und sah mit Befriedigung, daß der Abdruck seiner Zeichnung durch viele Seiten sichtbar war. Das nächste Bild, auf das er stieß, gehörte zu einem Märchen und stellte einen Kobold oder Wüterich mit bösen Augen, gefährlich kriegerischem Schnauzbart und aufgesperrtem Riesenmaul vor. Begierig netzte der Alte seinen Bleistift an der Lippe und schrieb mit großen deutlichen Buchstaben neben den Unhold die Worte: „Das ist der Stricker Sauberle, Hausvater.“
Er beschloß, womöglich das ganze Buch so zu vermalen und verschweinigeln. Aber die folgende Abbildung fesselte ihn stark, und er vergaß sich darüber. Sie zeigte die Explosion einer Fabrik und bestand fast nur aus einem mächtigen Dampf- und Feuerkegel, um welchen und über welchem halbe und ganze Menschenleiber, Mauerstücke, Ziegel, Stühle, Balken und Latten durch die Lüfte sausten. Das zog ihn an und zwang ihn, sich die ganze Geschichte dazu auszudenken und sich namentlich vorzustellen, wie es den Emporgeschleuderten wohl im Augenblick des Ausbruches zu Mut gewesen sein möchte. Darin lag ein Reiz und eine Befriedigung, die ihn lange in Atem hielten, denn bei aller Selbstsucht gehörte er zu den vielen Menschen, denen anderer Leute Schicksale, namentlich wenn sie gehörig illustriert erscheinen, viel mehr nachzudenken und innerlich zu erleben geben als ihre eigenen.
Als er seine Einbildungskraft an diesem aufregenden Bilde erschöpft und gesättigt hatte, fuhr er fort zu blättern und stieß bald auf ein Bildlein, das ihn wieder festhielt, aber auf eine ganz andere Art. Es war ein lichter, freundlicher Holzschnitt: eine schöne Laube, an deren äußerstem Zweige ein Schenkenstern aushing, und über dem Sterne saß mit geschwelltem Hals und offenem Schnäblein und sang ein kleiner Vogel. In der Laube aber erblickte man um einen rohen Gartentisch eine kleine Gesellschaft junger Männer, Studenten oder Wanderburschen, die plauderten und tranken aus heiteren Glasflaschen einen guten Wein. Seitwärts sah man am Rande des Bildchens eine zerfallene Feste mit Tor und Türmen in den Himmel stehen, und in den Hintergrund hinein verlor sich eine schöne Landschaft, etwa das Rheintal, mit Strom und Schiffen und fernhin entschwindenden Höhenzügen. Die Zecher waren lauter junge, hübsche Leute, glatt oder mit jugendlichen Bärten, liebenswürdige und heitere Burschen, welche offenbar bei ihrem Wein die Freundschaft und die Liebe, den alten Rhein und Gottes blauen Sommerhimmel priesen.
Zunächst erinnerte dieser Holzschnitt den einsamen und mürrischen Betrachter an seine besseren Zeiten, da er sich noch Wein hatte leisten können und an die zahlreichen Gläser und Becher guten Getränkes, die er damals genossen hatte. Dann aber wollte es ihm vorkommen, so vergnügt und herzlich heiter wie diese jungen Zecher sei er doch niemals gewesen, selbst nicht vor Zeiten in den leichtblütigen Wanderjahren, da er noch als junger Schlossergeselle unterwegs gewesen war. Diese sommerliche Fröhlichkeit in der Laube, diese hellen, guten und freudigen Jünglingsgesichter machten ihn traurig und zornig; er zweifelte, ob alles nur die Erfindung eines Malers sei, verschönert und verlogen, oder ob es auch in Wirklichkeit etwa irgendwo solche Lauben und so hübsche, frohe und sorgenlose junge Leute gebe. Ihr heiterer Anblick erfüllte ihn mit Neid und Sehnsucht und je länger er sie anschaute, desto mehr hatte er die Empfindung, er blicke durch ein schmales Fensterlein für Augenblicke in eine andere Welt, in ein schöneres Land und zu freieren und gütigeren Menschen hinüber als ihm jemals im Leben begegnet waren. Er wußte nicht, in was für ein fremdes Reich er hineinschaue, und daß er dieselbe Art von Gefühlen habe wie Leute, die in Dichtungen lesen, indem ihre Freude an der Schönheit des Dargestellten durch die Überlegung, wie viel geringer die alltägliche Wirklichkeit sei, zu einer leichten, süßen Trauer und Sehnsucht wird. Diese Art Trauer und Heimweh als etwas Süßes auszukosten, verstand er vollends nicht, also klappte er das Büchlein zu, schmiß es zornig auf den Tisch, brummte unwillig Gutnacht und begab sich in seine Stube hinüber, wo über Bett und Diele und Truhe das Mondzwielicht hingebreitet lag und in dem gefüllten Waschbecken leise leuchtete. Die große Stille zu der noch frühen Stunde, das ruhige Mondlicht und das leere, für eine bloße Schlafstelle fast zu große Zimmer riefen in dem alten Rauhbein ein Gefühl von unerträglicher Vereinsamung hervor, dem er leise murmelnd und fluchend erst spät in das stille Land des Schlummers entrann.
Es kamen nun Tage, an denen er Holz sägte und Most und Brot bekam, wechselnd mit Tagen, an denen er faulenzte und ohne Vesper blieb. Oft saß er oben am Straßenrain, giftig und ganz mit Bosheit geladen, spuckte auf die Stadt hinab und trug Groll und Verbitterung in seinem zuchtlosen Herzen. Das ersehnte Gefühl, bequem in einem sicheren Hafen zu liegen, blieb aus und statt dessen kam er sich verkauft und verraten vor, führte Gewaltszenen mit dem Stricker auf oder fraß das Gefühl der Zurücksetzung und Unlust und Langeweile still in sich hinein.
Mittlerweile lief der Pensionstermin eines der in Privathäusern versorgten Stadtarmen ab, und eines Tages rückte in der Sonne als zweiter Gast der frühere Seilermeister Lukas Heller ein.
Wenn die schlechten Geschäfte aus Hürlin einen Trinker gemacht hatten, war es mit diesem Heller umgekehrt gegangen. Auch war er nicht wie jener plötzlich aus Pracht und Reichtum herabgestürzt, sondern hatte sich langsam und stetig, mit den nötigen Pausen und Zwischenstufen, vom bescheidenen Handwerksmann zum unbescheidenen Lumpen heruntergesüffelt, wovor ihn auch sein tüchtiges und energisches Weib nicht hatte retten können. Vielmehr war sie, die ihm an Kräften weit überlegen schien, dem nutzlosen Kampf erlegen und längst gestorben, während ihr nichtsnutziger Mann sich einer zähen Gesundheit erfreute, noch einige Jahre weiterlumpte und dann, nachdem er ruiniert und bevormundet war, träg und ungeschwächt einem höheren Alter entgegenbummelte. Natürlich war er überzeugt, daß er mit dem Weib so gut wie mit der Seilerei ein unbegreifliches Pech gehabt und nach seinen Gaben und Leistungen ein ganz anderes Schicksal verdient habe.
Hürlin hatte die Ankunft dieses Mannes mit der sehnlichsten Spannung erwartet, denn er war nachgerade des Alleinseins unsäglich müd geworden. Als Heller aber anrückte, tat der Fabrikant vornehm und machte sich kaum mit ihm zu schaffen. Er schimpfte sogar darüber, daß Hellers Bett in seine Stube gestellt wurde, obwohl er heimlich froh daran war.
Nach der Abendsuppe griff der Seiler, da sein Kamerad so störrisch schweigsam war, zu einem Buch und fing zu lesen an. Hürlin saß ihm gegenüber und warf ihm mißtrauisch beobachtende Blicke zu. Einmal, als der Lesende über irgend etwas Witziges lachen mußte, hatte der andere große Lust, ihn danach zu fragen. Als aber Heller im gleichen Augenblick vom Buch aufschaute, offenbar bereit, den Witz zu erzählen, schnitt Hürlin sofort ein finsteres Gesicht und tat, als sei er ganz in die Betrachtung einer über den Tisch hinwegkriechenden Mücke versunken.
So blieben sie hocken, den ganzen langen Abend. Der eine las und blickte zuweilen plaudersüchtig auf, der andere beobachtete ihn ohne Pause, wandte aber den Blick stolz zur Seite, so oft jener herüberschaute. Der Hausvater strickte unverdrossen in die Nacht hinein. Hürlins Mienenspiel wurde immer verbissener und feindseliger, obwohl er eigentlich seelenfroh war, nun nicht mehr allein in der Schlafstube liegen zu müssen. Als es zehn Uhr schlug, sagte der Hausvater: „Jetzt könntet ihr auch ins Bett gehen, ihr zwei.“ Beide standen auf und gingen hinüber.
Während die beiden Männlein in der halbdunkeln Stube sich langsam und steif entkleideten, schien Hürlin die rechte Zeit gekommen, um ein prüfendes Gespräch anzubinden und über den lang ersehnten Haus- und Leidensgenossen ins klare zu kommen.
„Also jetzt sind wir zu zweit,“ fing er an und warf seine Weste auf den Stuhl.
„Ja,“ sagte Heller.
„Eine Saubude ist’s,“ fuhr der andere fort.
„So? Weißt’s gewiß?“
„Ob ich’s weiß! — Aber jetzt muß ein Leben reinkommen, sag’ ich, jetzt! Jawohl.“
„Du,“ fragte Heller, „ziehst du ’s Hemd aus in der Nacht oder behältst’s an?“
„Im Sommer zieh ich’s aus.“
Auch Heller zog sein Hemd aus und legte sich nackt ins krachende Bett. Er begann laut zu schnaufen. Aber Hürlin wollte noch mehr erfahren.
„Nein.“
„Pressiert auch nicht so. — Gelt, du bist ’n Seiler?“
„Gewesen, ja. Meister bin ich gewesen.“
„Und jetzt?“
„Und jetzt — kannst du mich gern haben, wenn du dumme Fragen tust.“
„Jerum, so spritzig! Narr, du bist wohl Meister gewesen, aber das ist noch lange nichts. Ich bin Fabrikant gewesen. Fabrikant, verstanden?“
„Mußt nicht so schreien, ich weiß schon lang. Und nachher, was hast denn nachher fabriziert?“
„Wieso nachher?“
„Frag auch noch! Im Zuchthaus mein’ ich.“
Hürlin meckerte belustigt.
„Du bist wohl ’n Frommer, was. So ein Hallelujazapfen?“
„Ich? Das fehlt gerad noch! Fromm bin ich nicht, aber im Zuchthaus bin ich auch noch nicht gewesen.“
„Hättest auch nicht hineingepaßt. Da sind meistens ganz feine Herren.“
„O jegerle, so feine Herren wie du einer bist? Freilich, da hätt’ ich mich geniert.“
„’s redet ein jeder, wie er’s versteht oder nicht versteht.“
„Ja, das mein’ ich auch.“
„Also sei gescheit, du! Warum hast du die Seilerei aufgesteckt?“
„Ach, laß mich in Ruh! Die Seilerei war schon recht, der Teufel ist aber ganz wo anderst gesessen. Das Weib war schuld.“
„Das Weib? — Hat sie gesoffen?“
„Das hätte noch gefehlt! Nein, gesoffen hab ich, wie’s der Brauch ist, und nicht das Weib. Aber sie ist schuld gewesen.“
„So? Was hat sie denn angestellt?“
„Frag nicht so viel!“
„Hast auch Kinder?“
„Ein Bub. In Amerika.“
„Der hat recht. Dem geht’s besser als uns.“
„Ja, wenn’s nur wahr wär. Um Geld schreibt er, der Dackel! Hat auch geheiratet. Wie er fortgegangen ist, sag ich zu ihm: Frieder, sag ich, mach’s gut und bleib gesund; hantier, was du magst, aber wenn du heiratest, geht’s Elend los. — Jetzt hockt er drin. Gelt, du hast kein Weib gehabt?“
„Nein. Siehst, man kann auch ohne Weib ins Pech kommen. Was meinst?“
„Danach man einer ist. Ich wäre heut noch Meister, wenn die Dundersfrau nicht gewesen wär.“
„Na ja!“
„Hast du was gesagt?“
Hürlin schwieg still und tat so, als wäre er eingeschlafen. Eine warnende Ahnung sagte ihm, daß der Seiler, wenn er erst einmal recht angefangen habe, über sein Weib loszuziehen, kein Ende finden würde.
„Schlaf nur, Dickkopf!“ rief Heller herüber. Er ließ sich aber nimmer reizen, sondern stieß noch eine Weile künstliche große Atemzüge aus, bis er wirklich schlief.
Der Seiler, der mit seinen sechzig Jahren schon einen kürzeren Schlummer hatte, wachte am folgenden Morgen zuerst auf. Eine halbe Stunde blieb er liegen und starrte die weiße Stubendecke an. Dann stieg er, der sonst schwerfällig und steif von Gliedern erschien, leicht und leise wie ein Morgenlüftchen aus seinem Bette, lief barfuß und unhörbar zu Hürlins Lagerstatt hinüber und machte sich an dessen über den Stuhl gebreiteten Kleidern zu schaffen. Er durchsuchte sie mit Vorsicht, fand aber nichts darin als das Bleistiftstümpchen in der Westentasche, das er herausnahm und für sich behielt. Ein Loch im linken Strumpf seines Schlafkameraden vergrößerte er mit Hilfe beider Daumen um ein beträchtliches. Sodann kehrte er sachte in sein warmes Bett zurück und regte sich erst wieder, als Hürlin schon erwacht und aufgestanden war und ihm ein paar Wassertropfen ins Gesicht spritzte, da sprang er hurtig auf, kroch in die Hosen und sagte guten Morgen. Mit dem Ankleiden hatte er es gar nicht eilig, und als der Fabrikant ihn antrieb, vorwärts zu machen, rief er behaglich: „Ja, geh nur einstweilen hinüber, ich komm schon auch bald.“ Der andere ging und Heller atmete erleichtert auf. Er griff behende zum Waschbecken und leerte das klare Wasser zum Fenster in den Hof hinaus, denn vor dem Waschen hatte er ein tiefes Grauen. Als er sich dieser ihm widerstrebenden Handlung entzogen hatte, war er im Umsehen mit dem Ankleiden fertig und hatte es eilig zum Kaffee zu kommen.
Bettmachen, Zimmeraufräumen und Stiefelputzen ward besorgt, natürlich ohne Hast und mit reichlichen Plauderpausen. Dem Fabrikanten schien das alles zu zweien doch viel freundlicher und bequemer zu gehen als früher allein, und er fing an, dem Kameraden die freundschaftlichsten Gefühle entgegenzubringen und sich auf ein ersprießliches und fröhliches Zusammenleben zu freuen. Sogar die unentrinnbar bevorstehende Arbeit flößte ihm heute etwas weniger Schrecken ein als sonst, und er ging, wenn auch zögernd, mit fast heiterer Miene auf die Mahnung des Hausvaters mit dem Seiler ins Höflein hinunter.
Trotz heftiger Entrüstungsausbrüche des Strickers und trotz seines zähen Kampfes mit der Unlust des Pfleglings war in den vergangenen paar Wochen an dem Holzvorrat kaum eine wahrnehmbare Veränderung vor sich gegangen. Die Beuge schien noch so groß und so hoch wie je, als hätte sie die gesegnete Haltbarkeit jenes Ölkrugs und Kades der Witwe, und das in einer Ecke liegende Häuflein zersägter Rollen, kaum zwei Dutzend, erinnerte etwa an die in einer Laune begonnene und in einer neuen Laune liegengelassene spielerische Arbeit eines Kindes.
Nun sollten also die beiden Grauköpfe zu zweien daran arbeiten; es galt, sich ineinander zu finden und einander in die Hände zu schaffen, denn es war nur ein einziger Sägbock und auch nur eine Säge vorhanden. Nach einigen vorbereitenden Gebärden, Seufzern und Redensarten überwanden die Leutlein denn auch ihr inneres Sträuben und schickten sich an, das Geschäft in die Hand zu nehmen. Und nun zeigte sich leider, daß Karl Hürlins frohe Hoffnungen eitel Träume gewesen waren, denn sogleich trat in der Arbeitsweise der zwei Tröpfe ein tiefer Wesensunterschied zutage.
Jeder von ihnen hatte seine besondere Art, tätig zu sein. In beider Seelen mahnte nämlich, neben der eingebornen übermächtigen Trägheit, ein Rest von Gewissen schüchtern zum Fleißigsein; wenigstens wollten beide zwar nicht wirklich arbeiten, aber doch vor sich selber den Anschein gewinnen, als seien sie etwas nütze. Dies erstrebten sie nun auf durchaus verschiedene Weise und es trat hier in diesen abgenützten, verwischten und scheinbar vom Schicksal zu Brüdern gemachten Männern ein unerwarteter Zwiespalt der Anlagen und Neigungen hervor.
Hürlin hatte die Methode, zwar so gut wie nichts zu leisten, aber doch fortwährend sehr beschäftigt zu sein oder zu scheinen. Ein einfacher Handgriff wurde bei ihm zu einem höchst verwickelten Manöver, indem mit jeder noch so kleinen Bewegung ein sparsam zähes Ritardando verschwistert war; überdies erfand und übte er zwischen zwei einfachen Bewegungen, beispielsweise zwischen dem Ergreifen und dem Ansetzen der Säge, beständig ganze Reihen von wertlosen und mühelosen Zwischentätigkeiten und war immer vollauf beschäftigt, sich durch solche unnütze Plempereien die eigentliche Arbeit möglichst noch ein wenig vom Leibe zu halten. Darin glich er einem Verurteilten, der dies und das und immer noch etwas ausheckt, was noch geschehen und stattfinden und getan und besorgt werden muß, ehe es ans Erleiden des Unvermeidlichen geht. Und so gelang es ihm wirklich, die vorgeschriebenen Stunden mit einer ununterbrochenen Geschäftigkeit auszufüllen und es zu einem Schimmer von ehrlichem Schweiß zu bringen, ohne sich doch anzugreifen und eine nennenswerte Arbeit zu tun.
In diesem eigentümlichen, jedoch praktischen System hatte er gehofft von Heller verstanden und unterstützt zu werden, und fand sich nun völlig enttäuscht. Der Seiler nämlich befolgte, seinem inneren Wesen entsprechend, eine entgegengesetzte Methode. Er steigerte sich durch krampfhaften Entschluß in einen schäumenden Furor hinein, stürzte sich mit Todesverachtung in die Arbeit und wütete, daß der Schweiß rann und die Späne flogen. Aber das hielt nur Minuten an, dann war er erschöpft, hatte sein Gewissen befriedigt und rastete tatenlos zusammengesunken, bis nach geraumer Zeit der Raptus wieder kam und wieder wütete und verrauchte. Die Resultate dieser Arbeitsart übertrafen die des Fabrikanten nicht erheblich.
Unter solchen Umständen mußte von den beiden jeder dem andern zum schweren Hindernis und Ärgernis werden. Die gewaltsame und hastige, ruckweise einsetzende Art des Heller war dem Fabrikanten im Innersten zuwider, während dessen stetig träges Schäffeln wieder jenem ein Greuel war. Wenn der Seiler einen seiner wütenden Anfälle von Fleiß bekam, zog sich der erschreckte Hürlin einige Schritte weit zurück und schaute verächtlich zu, indessen jener keuchend und schwitzend sich abmühte und doch noch einen Rest von Atem übrig behielt, um Hürlin seine Faulenzerei vorzuwerfen.
„Guck nur,“ schrie er ihn an, „guck nur, faules Luder, Tagdieb du! Gelt, das gefällt dir, wenn sich andere Leut für dich abschinden? Natürlich, der Herr ist ja Fabrikant! Ich glaub, du wärst imstand und tätest vier Wochen am gleichen Scheit herumsägen.“
Weder die Ehrenrührigkeit noch die Wahrheit dieser Vorwürfe regte Hürlin stark auf, dennoch blieb er dem Seiler nichts schuldig. Sobald Heller ermattet beiseite hockte, gab er ihm sein Schimpfen heim. Er nannte ihn Dickkopf, Ladstock, Hauderer, Seilersdackel, Turmspitzenvergolder, Kartoffelkönig, Allerweltsdreckler, Schoote, Schlangenfanger, Mohrenhäuptling, alte Schnapsbouteille, und erbot sich mit herausfordernden Gesten ihm so lang auf seinen Wasserkopf zu hauen, bis er die Welt für ein Erdäpfelgemüs und die zwölf Apostel für eine Räuberbande ansähe. Zur Ausführung solcher Drohungen kam es natürlich nie, sie waren rein oratorische Leistungen und wurden auch vom Gegner als nichts anderes betrachtet. Ein paar Mal verklagten sie einander beim Hausvater, aber Sauberle war gescheit genug, sich das gründlich zu verbitten.
„Kerle,“ sagte er ärgerlich, „ihr seid doch bigost keine Schulbuben mehr. Auf so Stänkereien laß ich mich nicht ein; fertig, basta!“
Trotzdem kamen beide wieder, jeder für sich, um einander zu verklagen. Da bekam beim Mittagessen der Fabrikant kein Fleisch und als er trotzig aufbegehrte, meinte der Stricker: „Reget Euch nicht so auf, Hürlin, Strafe muß sein. Der Heller hat mir erzählt, was Ihr heut wieder für Reden verführt habt.“ Der Seiler triumphierte über diesen unerwarteten Erfolg nicht wenig. Aber abends ging es umgekehrt, Heller bekam keine Suppe und die zwei Schlaumeier merkten, daß sie überlistet waren. Von da an hatte die Angeberei ein Ende.
Untereinander aber ließen sie sich keine Ruhe. Nur selten einmal, wenn sie nebeneinander am Rain droben kauerten und den Vorübergehenden ihre faltigen Hälse nachstreckten, spann sich vielleicht für eine Stunde eine flüchtige Seelengemeinschaft zwischen ihnen an, indem sie miteinander über den Lauf der Welt, über den Stricker, über die Armenpflege und über den dünnen Kaffee im Spittel räsonierten oder ihre kleinen idealen Güter austauschten, welche bei dem Seiler in einer bündigen Psychologie der Weiber, bei Hürlin hingegen aus Wandererinnerungen und phantastischen Plänen zu Finanzspekulationen großen Stils bestanden.
„Siehst du, wenn halt einer heiratet —“ fing es bei Heller allemal an. Und Hürlin, wenn an ihm die Reihe war, begann stets: „Tausend Mark wenn mir einer lehnte —“ oder: „Wie ich dazumal in Solingen drunten war.“ Drei Monate hatte er vor Jahren einmal dort gearbeitet, aber es war erstaunlich, was ihm alles gerade in Solingen passiert und zu Gesicht gekommen war.
Wenn sie sich müdgesprochen hatten, nagten sie schweigend an ihren meistens kalten Pfeifen, legten die Arme auf die spitzen Kniee, spuckten in ungleichen Zwischenräumen auf die Straße und stierten an den krummen alten Apfelbaumstämmen vorüber in die Stadt hinunter, deren Auswürflinge sie waren und der sie in ihrer Torheit schuld an ihrem Unglück gaben. Da wurden sie wehmütig, seufzten, machten mutlose Handbewegungen und fühlten, daß sie alt und erloschen seien. Dieses dauerte stets solange, bis die Wehmut wieder in Bosheit umschlug, wozu meistens eine halbe Stunde hinreichte. Dann war es gewöhnlich Lukas Heller, der den Reigen eröffnete, zuerst mit irgendeiner Neckerei.
„Sieh einmal da drunten!“ rief er und deutete talwärts.
„Was denn?“ brummte der andere.
„Mußt auch noch fragen! Ich weiß was ich sehe.“
„Also was, zum Deihenker?“
„Ich sehe die sogenannte Walzenfabrik von weiland Hürlin und Schwindelmeier, jetzt Dallas und Kompagnie. Reiche Leute das, reiche Leute!“
„Kannst mich im Adler treffen!“ murrte Hürlin.
„So? Danke schön.“
„Willst mich falsch machen?“
„Tut gar nicht not, bist’s schon.“
„Dreckiger Seilersknorze, du!“
„Zuchthäusler!“
„Schnapslump!“
„Selber einer! Du hast’s grad nötig, daß du ordentliche Leute schimpfst.“
„Ich schlag dir sieben Zähne ein.“
„Und ich hau dich lahm, du Bankröttler, du naseweiser!“
Damit war das Gefecht eröffnet. Nach Erschöpfung der ortsüblichen Schimpfnamen und Schandwörter erging sich die Phantasie der beiden Hanswürste in üppigen Neubildungen von verwegenem Klange, bis auch dies Kapital aufgebraucht war und die zwei Kampfhähne erschöpft und erbittert hintereinander her ins Haus zurückzottelten.
Jeder hatte keinen anderen Wunsch, als den Kameraden möglichst unterzukriegen und sich ihm überlegen zu fühlen, aber wenn Hürlin der Gescheitere war, so war Heller der Schlauere, und da der Stricker keine Partei nahm, wollte keinem ein rechter Trumpf gelingen. Die geachtetere und angenehmere Stellung im Spittel einzunehmen, war beider sehnliches Verlangen; sie verwandten darauf so viel Energie, Mißtrauen, Nachdenken und geheime Zähigkeit, daß mit der Hälfte davon ein jeder, wenn er sie seinerzeit nicht gespart hätte, sein Schifflein hätte flott erhalten können, anstatt ein Sonnenbruder zu werden.
Unterdessen war die große Holzladung im Hof langsam kleiner geworden. Den Rest hatte man für später liegen lassen und einstweilen andere Geschäfte vorgenommen. Heller arbeitete tagweise in des Stadtschultheißen Garten, und Hürlin war unter hausväterlicher Aufsicht mit friedlichen Tätigkeiten wie Salatputzen, Linsenlesen, Bohnenschnitzeln und dergleichen beschäftigt, wobei er sich nicht zu übernehmen brauchte und doch etwas nütze sein konnte. Darüber schien die Feindschaft der Spittelbrüder langsam heilen zu wollen, denn da sie nimmer den ganzen Tag beisammen waren, hatte jeder in den Mußestunden genug zu klagen und zu berichten. Auch bildete jeder sich ein, man habe ihm gerade diese Arbeit seiner besonderen Vorzüge wegen zugeteilt und ihm damit über den andern einen Vorrang zugestanden. So zog sich der Sommer hin, bis schon das Laub braun anzulaufen begann und die Abende, an denen man bis neun Uhr ohne Licht sein konnte, ein Ende nahmen.
Da begegnete es dem Fabrikanten, als er eines Nachmittags allein im Torgang saß und sich schläfrig die Welt betrachtete, daß ein fremder junger Mensch den Berg herunterkam, vor der Sonne stehen blieb und ihn fragte, wo es denn zum Rathaus gehe. Hürlin war aus Langeweile höflich, lief zwei Gassen weit mit, stand dem Fremden Rede und bekam für seine Mühe zwei Zigarren geschenkt. Er bat den nächsten Fuhrmann um Feuer, steckte eine an und kehrte an seinen Schattenplatz bei der Haustüre zurück, wo er mit überschwenglichen Lustgefühlen sich dem lang entbehrten Genusse der guten Zigarre hingab, deren letzten Rest er schließlich noch im Pfeiflein aufrauchte, bis nur noch Asche und ein paar braune Tropfen übrig waren. Am Abend, da der Seiler vom Schulzengarten kam und wie gewöhnlich viel davon zu erzählen wußte, was für feinen Birnenmost und Weißbrot und Rettiche er zum Vesper gekriegt und wie nobel man ihn behandelt hatte, da berichtete Hürlin auch sein Abenteuer mit ausführlicher Beredsamkeit, zu Hellers großem Neide.
„Und wo hast denn jetzt die Zigarren?“ fragte dieser alsbald mit Interesse.
„Geraucht hab’ ich sie,“ lachte Hürlin protzig.
„Alle beide?“
„Jawohl, alter Schwed, alle beide.“
„Auf einmal?“
„Nein, du Narr, sondern auf zweimal, eine hinter der anderen.“
„Ist’s wahr?“
„Was soll’s nicht wahr sein?“
„So,“ meinte der Seiler, der es nicht glaubte, listig; „dann will ich dir was sagen. Dann bist du nämlich ein Rindvieh und das kein kleines.“
„So? Warum denn?“
„Hättest eine aufgehebt, dann hättest morgen auch was gehabt. Was hast jetzt davon?“
Das hielt der Fabrikant nicht aus. Grinsend zog er die noch übrige Zigarre aus der Brusttasche und hielt sie dem neidischen Seiler vors Auge, um ihn vollends recht zu ärgern.
„Siehst was? Ja gelt, so gottverlassen dumm bin ich auch nicht, wie du meinst.“
„So so. Also da ist noch eine. Zeig einmal!“
„Halt da, wenn ich nur müßte!“
„Ach was, bloß ansehen! Ich versteh’ mich darauf, ob’s eine feine ist. Du kriegst sie gleich wieder.“
Da gab ihm Hürlin die Zigarre hin, er drehte sie in den Fingern herum, hielt sie an die Nase, roch ein wenig daran und sagte, indem er sie ungern zurückgab, mitleidig: „Da, nimm sie nur wieder. Das ist vom allergeringsten Kraut, von der Sorte bekommt man zwei für den Kreuzer.“
Es entspann sich nun ein Streiten um die Güte und den Preis der Zigarre, das bis zum Bettgehen dauerte. Beim Auskleiden legte Hürlin den Schatz auf sein Kopfkissen und bewachte ihn ängstlich. Heller höhnte: „Ja, nimm sie nur mit ins Bett! Vielleicht kriegt sie Junge.“ Der Fabrikant gab keine Antwort, und als jener im Bett lag, legte er die Zigarre behutsam auf den Fenstersimsen und stieg dann gleichfalls zu Nest. Wohlig streckte er sich aus und durchkostete vor dem Einschlafen noch einmal in der Erinnerung den Genuß vom Nachmittag, wo er den feinen Rauch so stolz und prahlend in die Sonne geblasen hatte und wo mit dem guten Dufte ein Rest seiner früheren Herrlichkeit und Großmannsgefühle in ihm aufgewacht war. So hatte er früher zwischen Bureau und Fabriksaal am feinen Stengel gesogen und sorglose, herrschaftliche, großkaufmännische Wolken hinausgeblasen! Und dann schlief er ein und während der Traum ihm das Bild jener versunkenen Glanzzeit vollends in aller Glorie zurückbeschwor, streckte er schlafend seine gerötete und aus dem Richtmaß geratene Nase mit der ganzen vornehm stolzen Weltverachtung seiner besten Zeiten in die Lüfte.
Allein mitten in der Nacht wachte er ganz wider alle Gewohnheit plötzlich auf, und da sah er im halben Licht den Seilersmann zu Häupten seines Bettes stehen und die magere Hand nach der auf dem Simsen liegenden Zigarre ausstrecken.
Mit einem Wutschrei warf er sich aus dem Bette und versperrte dem Missetäter den Rückweg. Eine Weile wurde kein Wort gesprochen, sondern die beiden Feinde standen einander regungslos und faselnackend gegenüber, musterten sich mit durchbohrenden Zornblicken und wußten selber nicht, war es Angst oder Übermaß der Überraschung, daß sie einander nicht schon an den Haaren hatten.
„Leg die Zigarre weg!“ rief endlich Hürlin keuchend.
Der Seiler rührte sich nicht.
„Weg legst sie!“ schrie der andere noch einmal, und als Heller wieder nicht folgte, holte er aus und hätte ihm ohne Zweifel eine saftige Ohrfeige gegeben, wenn der Seiler sich nicht beizeiten gebückt hätte. Dabei entfiel demselben aber die Zigarre, Hürlin wollte eiligst nach ihr langen, da trat Heller mit der Ferse drauf, daß sie mit leisem Knistern in Stücke ging. Jetzt bekam er vom Fabrikanten einen Puff in die Rippen, und es begann eine gelinde Balgerei. Es war zum ersten Mal, daß die beiden handgemein wurden, aber die Feigheit wog den Zorn so ziemlich auf, und es kam nichts Erkleckliches dabei heraus. Bald trat der eine einen Schritt vor und bald der andere, so schoben die nackten Alten ohne viel Geräusch in der Stube herum, als übten sie einen antiken Tanz, und jeder war ein Held und keiner bekam Hiebe. Das ging so lange, bis in einem günstigen Augenblick dem Fabrikanten seine leere Waschschüssel in die Hand geriet; er schwang sie wild über sich durch die Luft und ließ sie machtvoll auf den Schädel seines unbewaffneten Feindes herabsausen. Sonderlich weh tat es gewiß nicht, aber dieser Hauptschlag mit der Blechschüssel gab einen so kriegerisch schmetternden Klang durchs ganze Haus, daß sogleich die Türe ging, der Hausvater im Hemde hereintrat und mit Schimpfen und Lachen vor den Zweikämpfern stehen blieb.
„Ihr seid doch die reinen Lausbuben,“ rief er scharf, „boxet euch da splitternackt in der Bude herum, so zwei alte Geißböcke! Packet euch ins Bett, und wenn ich noch einen Ton hör’, könnt ihr euch gratulieren.“
„Gestohlen hat er“ — schrie Hürlin, vor Zorn und Beleidigung fast heulend. Er ward aber sofort unterbrochen und zur Ruhe verwiesen. Die Geißböcke zogen sich murrend in ihre Betten zurück, der Stricker horchte noch eine kleine Weile vor der Türe und auch als er fort war, blieb in der Stube alles still. Neben dem Waschbecken lagen die Trümmer der Zigarre am Boden, durchs Fenster sah die blasse Spätsommernacht herein und über den beiden tödlich ergrimmten Taugenichtsen hing an der Wand von Blumen umrankt der Spruch: „Kindlein, liebet euch untereinander!“
Wenigstens einen kleinen Triumph trug Hürlin am andern Tage aus dieser Affäre davon. Er weigerte sich standhaft, fernerhin mit dem Seiler nachts die Stube zu teilen, und nach hartnäckigem Widerstand mußte der Stricker sich dazu verstehen, jenem das andere Stübchen anzuweisen. So war der Fabrikant wieder zum Einsiedler geworden, und so gerne er die Gesellschaft des Seilermeisters los war, machte es ihn doch schwermütig, so daß er zum ersten Mal deutlich spürte, in was für eine hoffnungslose Sackgasse ihn das Schicksal auf seine alten Tage gestoßen hatte.
Das waren keine fröhlichen Vorstellungen für den armen Alten. Früher war er, ging es wie es mochte, doch wenigstens frei gewesen, hatte auch in den elendsten Zeiten je und je noch ein paar Batzen fürs Wirtshaus gehabt und konnte, wenn er nur wollte, jeden Tag wieder auf die Wanderschaft gehen. Jetzt aber saß er da, rechtlos und bevogtet, bekam niemals einen blutigen Batzen zu sehen und hatte in der Welt nichts mehr vor sich als vollends alt und mürb zu werden und zu seiner Zeit sich hinzulegen.
Er begann, was er sonst nie getan hatte, von einer hohen Warte am Allpacher Straßenrain über die Stadt hinweg das Tal hinab- und hinaufzuäugen, die weißen Landstraßen mit dem Blick zu messen und den fliegenden Vögeln und Wolken, den vorbeifahrenden Wagen und den ab- und zugehenden Fußwanderern mit Sehnsucht nachzublicken, als ein trauernder Ausgeschlossener und Liegengebliebener, der nimmer mitkann. Für die Abende gewöhnte er sich nun sogar das Lesen an, aber aus den erbaulichen Geschichten der Kalender und frommen Zeitschriften heraus hob er oft fremd und bedrückt den Blick, empfand, daß er mit diesen Leuten und Begebenheiten nichts gemein und nichts zu tun habe, erinnerte sich an seine jungen Jahre, an Solingen, an seine Fabrik, ans Zuchthaus, an die Abende in der ehemaligen Sonne und dachte immer wieder daran, daß er nun allein sei, hoffnungslos allein.
Der Seiler Heller musterte ihn mit bösartigen Seitenblicken, versuchte aber nach einiger Zeit doch den Verkehr wieder ins Geleise zu bringen. So daß er etwa gelegentlich, wenn er den Fabrikanten draußen am Ruheplatz antraf, ein freundliches Gesicht schnitt und ihm zurief: „Schönes Wetter, Hürlin! Das gibt einen guten Herbst, was meinst?“ Aber Hürlin sah ihn nur an, nickte träg und gab keinen Ton von sich.
Vermutlich hätte sich allmählich trotzdem wieder irgendein Fädlein zwischen den Trutzköpfen angesponnen, denn aus seinem verstockten Tiefsinn und Gram heraus hätte Hürlin doch ums Leben gern nach dem nächsten besten Menschenwesen gegriffen, um nur das elende Gefühl der Vereinsamung und Leere zeitweise loszuwerden. Der Hausvater, dem des Fabrikanten stilles Schwermüteln gar nicht gefiel, tat auch, was er konnte, um seine beiden Pfleglinge wieder aneinander zu bringen. Da kam endlich allen dreien eine Erlösung, wenn schon eine zweifelhafte.
Es rückten kurz hintereinander im Laufe des September zwei neue Ankömmlinge ein und zwar zwei sehr verschiedene.
Der eine hieß Louis Kellerhals, doch kannte kein Mensch in der Stadt diesen Namen, da Louis schon seit Jahrzehnten den Beinamen Holdria trug, dessen Ursprung unerfindlich ist. Er war, da er schon viele Jahre her der Stadt zur Last fiel, bei einem freundlichen Handwerker untergebracht gewesen, wo er es gut hatte und mit zur Familie zählte. Dieser Handwerker war nun aber unvermutet schnell gestorben, und da der Pflegling nicht zur Erbschaft mitgerechnet werden konnte, mußte ihn jetzt der Spittel übernehmen. Er hielt seinen Einzug mit einem wohlgefüllten Leinwandsäcklein, einem ungeheuren blauen Regenschirm und einem grünbemalten Holzkäfig, darin saß ein sehr feister gewöhnlicher Sperling und ließ sich durch den Umzug wenig aufregen. Der Holdria kam lächelnd, herzlich und strahlend, schüttelte jedermann innig die Hand, sprach kein Wort und fragte nach nichts, glänzte vor Wonne und Herzensgüte, so oft jemand ihn anredete oder ansah und hätte, auch wenn er nicht schon längst eine überall bekannte Figur gewesen wäre, es keine Viertelstunde lang verbergen können, daß er ein gutwilliger und ungefährlicher Schwachsinniger war.
Der zweite, der etwa eine Woche später seinen Einzug hielt, kam nicht minder lebensfroh und wohlwollend daher, war aber keineswegs schwach im Kopfe, sondern ein zwar harmloser, aber durchtriebener Pfiffikus. Er hieß Stefan Finkenbein und stammte aus der in der ganzen Stadt und Gegend von alters her wohlbekannten Landstreicher- und Bettlerdynastie der Finkenbeine, deren komplizierte Familie in vielerlei Zweigen in Gerbersau ansässig und anhängig war und viele Dutzende von Mitgliedern zählte. Die Finkenbeine waren alle fast ohne Ausnahme helle und lebhafte Köpfe, dennoch hatte es von jeher niemals einer von ihnen irgend zu etwas Nennenswertem gebracht, denn von ihrem ganzen Wesen und Dasein war die Vogelfreiheit und der Humor des Nichtshabens ganz unzertrennlich.
Besagter Stefan war noch keine sechzig alt und erfreute sich einer fehlerlosen Gesundheit. Zwar war er etwas mager und fast zart von Gliedern, aber zäh und stets wohlauf und rüstig, und auf welche schlaue Weise es ihm gelungen war, sich bei der Gemeinde als Anwärter auf einen Spittelsitz einzuschmuggeln und durchzusetzen, war rätselhaft. Es gab Ältere, Elendere und sogar Ärmere genug in der Stadt. Allein seit der Gründung dieser Anstalt hatte es ihm keine Ruhe gelassen, er fühlte sich zum Sonnenbruder geboren und wollte und mußte einer werden. Und nun war er da, ebenso lächelnd und liebenswürdig wie der treffliche Holdria, aber mit wesentlich leichterem Gepäck, denn außer dem, was er am Leibe trug, brachte er einzig einen zwar nicht in der Farbe, aber doch in der Form wohlerhaltenen steifen Sonntagshut von altväterisch biederer Eleganz mit. Wenn er ihn aufsetzte und ein wenig nach hinten rückte, war Stefan Finkenbein ein klassischer Vertreter des Typus Bruder Straubinger.
Er führte sich als einen weltgewandten, spaßhaften Gesellschafter ein und wurde, da der Holdria schon in Hürlins Stube gesteckt worden war, beim Seiler Heller untergebracht. Alles schien ihm gut und lobenswert zu sein, nur die Schweigsamkeit seiner Kameraden gefiel ihm nicht. Eine Stunde vor dem Abendessen, als alle viere beisammen draußen im Freien saßen, fing der Finkenbein plötzlich an: „Hör’ du, Herr Fabrikant, ist das bei euch denn alleweil so trübselig? Ihr seid ja lauter Trauerwedel.“
„Ach laß mich.“
„Na, wo fehlt’s denn bei dir? Überhaupt, warum hocken wir alle so fad da herum? Man könnte doch wenigstens einen Schnaps trinken, oder nicht?“
Hürlin horchte einen Augenblick entzückt auf und ließ seine müden Äuglein glänzen, aber dann schüttelte er verzweifelt den Kopf, drehte seine leeren Hosentaschen um und machte ein leidendes Gesicht.
„Ach so, hast kein Moos?“ rief Finkenbein lachend. „Lieber Gott, ich hab’ immer gedacht, so ein Fabrikant, der hat’s alleweil so im Sack herumklimpern. Aber heut ist doch mein Antrittsfest, das darf nicht so trocken vorbeigehen. Kommt nur ihr Leute, der Finkenbein hat zur Not schon noch ein paar Kapitalien im Ziehamlederle.“
Da sprangen die beiden Trauerwedel behend auf die Füße. Den Schwachsinnigen ließen sie sitzen, die drei anderen stolperten im Eilmarsch nach dem Sternen und saßen bald auf der Wandbank jeder vor einem Glas Korn. Hürlin, der seit Wochen und Monaten keine Wirtsstube mehr von innen gesehen hatte, kam in die freudigste Aufregung. Er atmete in tiefen Zügen den lang entbehrten Dunst des Ortes ein und genoß den Kornschnaps in kleinen, sparsamen, scheuen Schlücken. Wie einer, der aus schweren Träumen erwacht ist, fühlte er sich dem Leben wiedergeschenkt und von der wohlbekannten Umgebung heimatlich angezogen. Er holte die vergessenen kühnen Gesten seiner ehemaligen Kneipenzeit eine um die andere wieder hervor, schlug mordsmäßig auf den Tisch, schnippte mit den Fingern, spuckte vor sich hin auf die Diele und scharrte tönend mit der Sohle darüber. Auch seine Redeweise nahm einen plötzlichen Aufschwung und die volltönenden Kraftausdrücke aus den Jahren seiner Herrlichkeit klangen noch einmal fast mit der alten brutalen Sicherheit von seinen blauen Lippen.
Während der Fabrikant sich diesermaßen verjüngte und im Nachglanze seines einstigen Virtuosentums und Glück sonnte, blinzelte Lukas Heller nachdenklich in sein Gläschen und hielt die Zeit für gekommen, wo er dem Stolzen seine Beleidigungen und den entehrenden Blechhieb aus jener Nacht heimzahlen könnte. Er hielt sich still und wartete aufmerksam, bis der rechte Augenblick da wäre.
Inzwischen hatte Hürlin, wie es früher seine Art gewesen war, beim zweiten Glase angefangen ein Ohr auf die Gespräche der Leute am Nebentisch zu haben, mit Kopfnicken, Räuspern und Mienenspiel daran teilzunehmen und schließlich auch zwischenein ein freundschaftliches Jaja oder Soso dareinzugeben. Er fühlte sich ganz in das schöne Ehemals zurückversetzt und als nun das Gespräch nebenan lebhafter wurde, drehte er sich mehr und mehr dort hinüber und nach seiner alten Leidenschaft stürzte er sich bald mit Feuer in das Wogen und Aneinanderbranden der Meinungen. Die Redenden achteten im Anfang nicht darauf, bis einer von ihnen, ein Fuhrknecht, plötzlich rief: „Jeses, der Fabrikant! Ja, was willst denn du da, alter Lump? Sei so gut und halt du deinen Schnabel, sonst schwätz ich deutsch mit dir.“
Betrübt wendete der Angeschnauzte sich ab, aber da gab ihm der Seiler einen Ellbogenstoß und flüsterte eifrig: „Laß dir doch von dem Jockel das Maul nicht verbieten! Sag’s ihm, dem Drallewatsch!“
Diese ehrenvolle Ermunterung entflammte sogleich das Ehrgefühl des Fabrikanten zu neuem Bewußtsein. Trotzig hieb er auf den Tisch, rückte noch mehr gegen die Sprecher hinüber, warf kühne Blicke um sich und rief mit tiefem Brustton: „Nur etwas manierlicher, du, bitt ich mir aus! Du weißt scheint’s nicht, was der Brauch ist.“
Einige lachten. Der Fuhrknecht drohte noch einmal gutmütig: „Paß Achtung, Fabrikantle! Dein Maul wenn du nicht hältst, kannst was erleben.“
„Ich brauch nichts zu erleben,“ sagte Hürlin, von Heller wieder durch einen Stoß angefeuert, mit Würde und Nachdruck, „ich bin so gut da und kann mitreden wie ein anderer. So, jetzt weißt du’s.“
Der Knecht, der seinem Tisch eine Runde bezahlt hatte und dort den Herrn spielte, stand auf und kam herüber. Er war der Kläfferei müde. „Geh heim ins Spittel, wo du hingehörst!“ schrie er Hürlin an, nahm den Erschrockenen am Kragen, schleppte ihn zur Stubentüre und half ihm mit einem Tritt hinaus. Die Leute lachten, sahen belustigt zu und fanden, es geschehe dem Spektakler recht. Damit war der kleine Zwischenfall abgetan und sie fuhren mit Schwören und Schreien in ihren wichtigen Gesprächen fort.
Der Seilermeister war selig. Er veranlaßte Finkenbein, noch ein letztes Gläschen zu spenden. Und da er den Wert dieses neuen Genossen erkannt hatte, bemühte er sich nach Kräften, sich mit ihm anzufreunden, was Finkenbein sich ruhig und lächelnd gefallen ließ. Dieser war vorzeiten einmal im Hürlinschen Anwesen betteln gegangen und von dem Herrn Fabrikanten streng hinausgewiesen worden. Trotzdem hatte er nichts gegen ihn und stimmte den Beschimpfungen, die Heller dem Abwesenden jetzt antat, mit keinem Worte bei. Er war besser als diese aus glücklicheren Umständen Herabgesunkenen daran gewöhnt, der Welt ihren Lauf zu lassen und an den Besonderheiten der Leute seinen Spaß zu haben.
„Laß nur, Seiler,“ sagte er abwehrend. „Der Hürlin ist freilich ein Narr, aber noch lang keiner von den übelsten. Da dank ich doch schön dafür, daß wir da droben auch noch dumme Händel miteinander haben sollen.“
Heller merkte sich das und ging gefügig auf diesen versöhnlichen Ton ein. Es war nun auch Zeit zum Aufbrechen, so gingen sie denn und kamen gerade recht zum Nachtessen heim. Der Tisch, an dem nunmehr fünf Leute saßen, bot einen ganz stattlichen Anblick. Obenan saß der Stricker, dann kam auf der einen Seite der rotwangige Holdria neben dem hageren, verfallen und grämlich aussehenden Hürlin, ihnen gegenüber der dünn behaarte, pfiffige Seiler neben dem fidelen, helläugigen Finkenbein. Dieser unterhielt den Hausvater vortrefflich und brachte ihn in gute Laune, zwischenein machte er ein paar Späße mit dem Blöden, der geschmeichelt grinste, und als der Tisch abgeräumt und abgewaschen war, zog er Spielkarten heraus und schlug eine Partie vor. Der Stricker wollte es verbieten, gab es aber am Ende unter der Bedingung zu, daß „um nichts“ gespielt werde. Finkenbein lachte laut.
„Natürlich um nichts, Herr Sauberle. Um was denn sonst? Ich bin ja freilich von Haus aus Millionär, aber das ist alles in Hürlinischen Aktien draufgegangen — nichts für ungut, Herr Fabrikant!“
Sie begannen denn und das Spiel ging auch eine Weile ganz fröhlich seinen Gang, durch zahlreiche Kartenwitze des Finkenbein und durch einen von demselben Finkenbein entdeckten und vereitelten Mogelversuch des Seilermeisters anregend unterbrochen. Aber da stach den Seiler der Haber, daß er mit geheimnisvollen Andeutungen immer wieder des Abenteuers im Sternen gedenken mußte. Hürlin überhörte es zuerst, dann winkte er ärgerlich ab. Da lachte der Seiler auf eine schadenfrohe Art dem Finkenbein zu. Hürlin blickte auf, sah das unangenehme Lachen und Blinzeln, und plötzlich wurde ihm klar, daß dieser an der Hinauswerferei schuld war und sich auf seine Kosten lustig mache. Das ging ihm durch und durch. Er verzog den Mund, warf mitten im Spiel seine Karten auf den Tisch und war nicht zum Weiterspielen zu bewegen. Heller merkte sofort, was los war, er hielt sich vorsichtig still und gab sich nun doppelt Mühe, auf einem recht brüderlichen Fuß mit Finkenbein zu bleiben.
Es war nun also zwischen den beiden alten Gegnern wieder alles verschüttet, und desto schlimmer, weil Hürlin überzeugt war, Finkenbein habe um den Streich gewußt und ihn anstiften helfen. Dieser benahm sich unverändert lustig und kameradschaftlich, da aber Hürlin ihn nun einmal beargwöhnte und seine Späße und Titulaturen wie Kommerzienrat, Herr von Hürlin usw. ruppig aufnahm, zerfiel in Bälde die Sonnenbrüderschaft in zwei Parteien. Denn der Fabrikant hatte sich als Schlafkamerad schnell an den blöden Holdria gewöhnt und ihn zu seinem Freund gemacht.
Von Zeit zu Zeit brachte Finkenbein, der aus irgend welchen verborgenen Quellen her immer wieder ein bißchen kleines Geld im Sack hatte, wieder einen gemeinsamen Kneipengang in Vorschlag. Aber Hürlin, so gewaltig die Verlockung für ihn war, hielt sich stramm und ging niemals mehr mit, obwohl es ihn empörte zu denken, daß Heller desto besser dabei wegkomme. Statt dessen hockte er beim Holdria, der ihm mit verklärtem Lächeln oder mit ängstlich großen Augen zuhörte, wenn er klagte und schimpfte oder darüber phantasierte, was er tun würde, wenn ihm jemand tausend Mark liehe.
Lukas Heller dagegen hielt es klüglich mit dem Finkenbein. Freilich hatte er gleich im Anfang die neue Freundschaft in Gefahr gebracht. Er war des Nachts einmal nach seiner Gewohnheit über den Kleidern seines Schlafkameraden gewesen und hatte dreißig Pfennige darin gefunden und an sich gebracht. Der Beraubte aber, der nicht schlief, sah ruhig durch halbgeschlossene Lider zu. Am Morgen gratulierte er dem Seiler zu seiner Fingerfertigkeit, die er höchlich lobte, forderte ihm das Geld wieder ab und tat, als wäre es nur ein guter Scherz gewesen. Damit hatte er vollends Macht über Heller gewonnen, und wenn dieser an ihm einen guten und lustigen Kameraden hatte, konnte er ihm doch nicht so unverwehrt seine Klagelieder vorsingen wie Hürlin dem seinigen. Namentlich seine Reden über die Weiber wurden dem Finkenbein bald langweilig.
„’s ist gut, sag ich, Seilersmann, ’s ist gut. Du bist auch so eine Drehorgel mit einer ewigen Leier, hast keine Reservewalze. Was die Weiber angeht, hast du meinetwegen recht. Aber was zuviel ist, ist zuviel. Mußt dir eine Reservewalze anschaffen — mal was anderes, weißt du, sonst kannst du mir gestohlen werden.“
Vor solchen Erklärungen war der Fabrikant sicher. Und das war zwar bequem, aber es tat ihm nicht gut. Je geduldiger sein Zuhörer war, desto tiefer wühlte er in seinem Elend. Noch ein paarmal steckte ihn die souveräne Lustigkeit des Taugenichts Finkenbein für eine halbe Stunde an, daß er nochmals die großartigen Handbewegungen und Kernworte seiner goldenen Zeit hervorlangte und übte, aber seine Hände waren doch allmählich ziemlich steif geworden, und es kam ihm nimmer von innen heraus. In den letzten sonnigen Herbsttagen saß er zuweilen noch unter den welkenden Apfelbäumen, aber er schaute auf Stadt und Tal nimmer mit Neid oder mit Verlangen, sondern fremd, wie wenn all dieses ihn nichts mehr anginge und ihm fernläge. Es ging ihn auch nichts mehr an, denn er war sichtlich am Abrüsten und hatte hinter sich nichts mehr zu suchen.
Das war merkwürdig schnell über ihn gekommen. Zwar war er schon bald nach seinem Sturze, in den dürftigen Zeiten, da die „Sonne“ ihm vertraut zu werden begann, grau geworden und hatte angefangen, die Beweglichkeit zu verlieren. Aber er hätte sich noch jahrelang herumschlagen und manchen Schoppen trinken und manchesmal das große Wort am Wirtstisch oder auf der Gasse führen können. Es war nur der Spittel, der ihm in die Knie geschlagen hatte. Als er damals froh gewesen war, ins Asyl zu kommen, hatte er nicht bedacht, daß er sich damit selber seinen besten Faden abschneide. Denn ohne Projekte und ohne Aussicht auf allerlei Umtrieb und Spektakel zu leben, dazu hatte er keine Gabe, und daß er damals der Müdigkeit und dem Hunger nachgegeben und sich zur Ruhe gesetzt hatte, das war erst sein eigentlicher Bankrott gewesen. Nun blieb ihm nichts mehr als sein Zeitlein vollends abzuleben.
Es kam dazu, daß Hürlin allzulange eine Wirtshausexistenz geführt hatte. Alte Gewohnheiten, auch wenn sie Laster sind, legt ein Grauhaariger nicht ohne Schaden ab. Die Einsamkeit und die Händel mit Heller halfen mit, ihn vollends still zu machen, und wenn ein alter Blagueur und Schreier einmal still wird, so ist das schon der halbe Weg zum Kirchhof.
Es ist unerquicklich anzusehen, wie ein in Nichtigkeiten, Prahlerei und Selbstsucht alt gewordener Lebenskünstler geringer Art, statt in dem ihm zukommenden Stil etwa bei einer Schlägerei oder bei einem nächtlichen Heimwandel von der Kneipe hinzufallen und zu verschwinden, aufs letzte noch trübsinnig wird und als Pfuscher auf dem ihm zeitlebens fremd gewesenen Gebiet des Sentimentalen endigt. Allein da das tägliche Leben doch unbestreitbar ein gewaltiger Dichter ist und also keine sinnlose Willkür üben kann, bleibt einem nichts übrig als zuzuschauen, sich zu verwundern und sich das beste dabei zu denken. Und schließlich hat das ja auch seine Tragik und Schönheit, wenn solch ein lebenslang verwahrlostes und roh gebliebenes und vergewaltigtes Gemüt ganz am Ende noch rebelliert und sein Recht haben will, mit ungelenken Flügelschlägen taumelt und sich, da ihm nichts anderes bleibt, wenigstens noch an Schwermut und Klage ersättigen will.
Es war vielerlei, was jetzt an dieser rüden und übel erzogenen Seele zu rütteln und zu nagen kam, und es zeigte sich, daß sie ungeachtet ihrer früheren Starrheit und Selbstherrlichkeit recht wenig befestigt war. Der Hausvater war der erste, der seinen Zustand erkannte. Zum Stadtpfarrer, als dieser einmal seinen Besuch machte, sagte er achselzuckend: „Der Hürlin kann einem schier leid tun. Seit er so drunten ist, zwing ich ihn ja zu keiner Arbeit mehr, aber was hilft’s, das sitzt bei ihm anderwärts. Er sinniert und studiert zu viel, und wenn ich diese Sorte nicht kennen täte, würd ich sagen, ’s ist das schlechte Gewissen und geschieht ihm recht. Aber weit gefehlt! Es frißt ihn von innen, das ist’s, und das hält einer in dem Alter nicht lang aus, wir werden’s sehen.“ Auf das hin saß der Stadtpfarrer ein paarmal beim Fabrikanten auf seiner Stube neben dem grünen Spatzenkäfig des Holdria und sprach mit ihm vom Leben und Sterben und versuchte irgend ein Licht in seine Finsternis zu bringen, aber vergebens. Hürlin hörte zu oder hörte nicht zu, nickte oder brummte, sprach aber nichts und wurde immer fahriger und wunderlicher. Von den Witzen des Finkenbein tat ihm zuzeiten einer gut, dann lachte er leis und trocken, schlug auf den Tisch und nickte billigend, um gleich darauf wieder in sich hinein auf die verworrenen Stimmen zu horchen, die ihn beschäftigten und quälten, und die er nicht verstand.
Nach außen zeigte er nur ein stilleres und weinerlich gewordenes Wesen und jedermann ging mit ihm um wie sonst. Nur dem Schwachsinnigen, wenn er eben nicht ohne Verstand gewesen wäre, hätte ein Licht über Hürlins Zustand und Verfall aufgehen können und zugleich ein Grauen. Denn dieser ewig freundliche und friedfertige Holdria war des Fabrikanten Gesellschafter und Freund geworden. Sie hockten zusammen vor dem Holzkäfig, streckten dem fetten Spatzen die Finger hinein und ließen sich picken, lehnten morgens bei dem jetzt langsam herankommenden Winterwetter am leicht geheizten Ofen und sahen einander so verständnisvoll in die Augen, als wären sie zwei Weise und nicht zwei arme hoffnungslose Narren gewesen. Man sieht manchmal, daß zwei gemeinsam eingesperrte Waldestiere einander so anblicken — je nachdem man will und gestimmt ist, kann man ihren Blick stumpfsinnig, drollig oder erschreckend seelenvoll finden.
Was am heftigsten an Hürlin zehrte, das war die auf Hellers Anstiften im Sternen erfahrene Demütigung und Schande. An dem Wirtstisch, wo er lange Zeiten fast täglich gesessen war, wo er seine letzten Heller hatte liegen lassen, wo er ein guter Gast, Hausfreund und Wortführer gewesen war, da hatten Wirt und Gäste ruhig und mit Gelächter zugesehen, wie er hinausgeworfen wurde. Er hatte es an den eigenen Knochen erfahren und spüren müssen, daß er nimmer dorthin gehöre, nimmer mitzähle, daß er vergessen und ausgestrichen war und keinen Schatten von Recht mehr besaß.
Für jeden anderen bösen Streich hätte er gewiß an Heller bei der ersten Gelegenheit Rache genommen. Aber diesmal brachte er nicht einmal die gewohnten Schimpfworte, die ihm so locker in der Gurgel saßen, heraus. Was sollte er ihm sagen? Der Seiler war ja ganz im Recht. Wenn er noch der alte Kerl und noch irgend etwas wert wäre, hätte man nicht gewagt ihn im Sternen an die Luft zu setzen. Er war fertig und konnte einpacken.
Und nun schaute er vorwärts, die ihm bestimmte schmale und gerade Straße, an ungezählten Reihen von leeren, dunklen, toten Tagen vorbei dem Sterben entgegen, an das er bald fast mit Sehnsucht, bald mit zornigem Grausen dachte. Da war alles festgesetzt, angenagelt und vorgeschrieben, selbstverständlich und unerbittlich. Da war nicht die Möglichkeit, eine Bilanz und ein Papierchen zu fälschen, sich in eine Aktiengesellschaft zu verwandeln oder in Gottes Namen sich durch Bankrott und Zuchthaus auf Umwegen wieder ins Leben hineinzuschleichen. Denn er war jetzt keine Firma und kein Name mehr, sondern lediglich ein mürber alter Mensch, vor dem der Abgrund des Unendlichen sich grauenhaft geöffnet hatte und dem der dürre Rippenmann still und grinsend den Rückzug versperrte. Und wenn der Fabrikant auf vielerlei Umstände und Lebenslagen eingerichtet war und sich in sie zu finden wußte, so war er doch auf diese nicht eingerichtet und wußte sich nicht in sie zu finden, sondern bald schlug er ungebärdig abwehrend mit schwachen Greisenarmen um sich, bald steckte er den Kopf in die Hände, machte die Augen zu und zitterte in Angst vor der unentrinnbaren Faust, die er beständig seinem Nacken nahe fühlte.
Der gute Finkenbein, da er allmählich ahnte, daß es bei dem Fabrikanten erheblich spuke, gab ihm nicht selten ein ermunterndes Wort oder klopfte ihm mit gutmütig tröstendem Lachen auf die Schulter.
„Du, Oberkommerzienrat, studier nicht so viel, du bist allweg gescheit genug, hast so viel reiche und gescheite Leut seinerzeit eingeseift, oder nicht? — Nicht brummen, Herr Millionär, ’s ist nicht bös gemeint. Ist das ein Spritzigtun — Mann Gottes, denk’ doch an den heiligen Vers über deiner Bettlade.“
Und er breitete mit pastoraler Würde die Arme aus wie zum Segnen und sprach mit Salbung: „Kindlein, liebet euch untereinander!“
„Oder paß auf, wir fangen jetzt eine Sparkasse an und wenn sie voll ist, kaufen wir der Stadt ihren schäbigen Spittel ab und tun das Schild raus und machen die alte Sonne wieder auf, daß Öl in die kranke Maschine kommt. Was meinst?“
„Fünftausend Mark wenn wir hätten —“ fing Hürlin zu rechnen an, aber da lachten die anderen; er brach ab, seufzte und fiel in sein Brüten und Stieren zurück.
Während es vollends Winter wurde, sah man ihn stiller und ruheloser werden. Er hatte die Gewohnheit angenommen, tagaus tagein in der Stube hin und wieder zu traben, einmal grimmig, einmal angstvoll, ein andermal lauernd und tückisch. Sonst aber störte er niemand. Der Holdria leistete ihm häufig Gesellschaft, schloß sich in gleichem Tritt seinen Dauerläufen durchs Zimmer an und beantwortete nach Kräften die Blicke, Gestikulationen und Seufzer des unruhigen Wanderers, der beständig vor dem bösen Geiste auf der Flucht war, den er doch in sich trug. Wenn er sein Leben lang schwindelhafte Rollen geliebt und mit wechselndem Glücke gespielt hatte, so war er nun dazu verurteilt, ein verzweifelt trauriges Ende mit seinen hanswurstmäßigen Manieren durchspielen zu müssen. Er spielte denn auch miserabel und lächerlich genug, aber wenigstens war die Rolle echt und der frühere Poseur trat nun zum ersten Mal und nicht zu seinem Vorteil ohne Maske auf. Die Ahnung des Ewigen und der Durst nach dem Unaussprechlichen, der auch dieser Seele eingeboren und ein ganzes Leben lang vergessen und vernachlässigt worden war, fand nun, da er überquoll, nach keiner Seite hin seinen Ausdruck und gebärdete sich in Grimassen, Bewegungen und Tönen seltsamster Art absurd und lächerlich genug. Aber er war doch eine echte Kraft, und dieses sich selber nicht verstehende Sterbenwollen war gewiß seit Jahrzehnten die erste großartige und im höheren Sinn vernünftige Regung dieser geringen Seele.
Zu den Sprüngen und Kapriolen des aus dem Geleise Gekommenen gehörte es, daß er neuerdings mehrmals am Tage unter seine Bettstatt kroch, das alte Sonnenschild hervorholte und einen sehnsüchtig närrischen Kultus damit trieb, indem er es bald feierlich vor sich hertrug wie ein heiliges Schaustück, bald vor sich aufpflanzte und mit verzückten Augen betrachtete, bald wütend mit Fäusten schlug, um es dann sogleich wieder sorglich zu wiegen, zu liebkosen und endlich an seinen verborgenen Ort zurück zu bringen. Als er diese symbolischen Possen anfing, verlor er seinen Rest von Kredit bei den Sonnenbrüdern und wurde gleich seinem Freunde Holdria als völliger Narr behandelt und besprochen. Namentlich der Seiler sah ihn mit unverhohlener Verachtung an, hänselte und demütigte ihn wo er konnte und ärgerte sich, daß Hürlin das kaum zu merken schien.
Einmal nahm er ihm sein Sonnenschild und versteckte es in einer anderen Stube. Als Hürlin es holen wollte und nicht fand, irrte er eine Zeit im Haus umher, dann suchte er wiederholt am alten Orte danach, dann bedrohte er der Reihe nach alle Hausgenossen, den Stricker nicht ausgenommen, mit machtlos wütenden Reden und Lufthieben, und als alles das nichts half, setzte er sich an den Tisch, legte den Kopf in die Hände und brach in ein jammervolles Heulen aus, das eine halbe Stunde dauerte. Das war dem mitleidigen Finkenbein zu viel. Er gab dem zu Tod erschreckenden Seiler einen mächtigen Fausthieb und zwang ihn, das versteckte Kleinod sogleich herbeizubringen.
Der zähe Fabrikant hätte trotz seiner fast weiß gewordenen Haare noch manche Jahre leben können. Aber der Wille zum Sterben, der wenn auch unverstanden in ihm arbeitete, fand bald einen Ausweg und machte der unschönen tragischen Komödie ein erwünschtes Ende. In einer Dezembernacht konnte der alte Mann zufällig nicht schlafen. Im Bett aufsitzend gab er sich seinen öden Gedanken hin, stierte über die dunklen Wände hin und kam sich verlassener vor als je. In Langeweile, Angst und Trostlosigkeit stand er schließlich auf, ohne recht zu wissen was er tue, nestelte seinen hanfenen Hosenträger los und hängte sich damit geräuschlos an der Türangel auf. So fand ihn am Morgen der Holdria und der auf des Narren ängstliches Geschrei herübergekommene Hausvater. Das Gesicht war ein wenig bläulicher geworden, sonst war wenig daran zu entstellen gewesen.
Schrecken und Überraschung waren nicht klein, aber von sehr kurzer Dauer. Nur der Schwachsinnige flennte leise in seinen Kaffeetopf hinein, alle anderen wußten oder fühlten, daß dieses Ende des Fabrikanten nicht zur unrechten Zeit gekommen war, und daß es weder zur Klage noch zur Entrüstung hinreichende Veranlassung biete. Auch hatte ihn ja niemand lieb gehabt.
Natürlich stürzten sich auch ein paar Winkelredakteure auf den interessanten Fall und teilten in ihren Schundblättlein den Lesern nebst den nötigen moralischen Posthaltern die Tatsache mit, daß der einst nicht unbekannte Bankrotteur Karl Hürlin nunmehr verdientermaßen im Armenhaus als Selbstmörder geendet habe.
Wie seinerzeit der Finkenbein als vierter Gast in den Spittel gekommen war, hatte man in der Stadt einige Klagen darüber vernommen, daß das kaum gegründete Asyl sich so ungehörig rasch bevölkere. Nun war schon einer von den Überzähligen verschwunden. Und wenn es wahr ist, daß die Armenhäusler meistens merkwürdig gedeihen und zu hohen Jahren kommen, so ist es doch ebenso wahr, daß selten ein Loch bleibt wie es ist, sondern um sich fressen muß. So ging es auch hier; in der kaum erblühten Lumpenkolonie war nun einmal der Schwund ausgebrochen und wirkte weiter.
Zunächst schien freilich der Fabrikant vergessen und sonst alles beim alten zu sein. Lukas Heller führte, soweit Finkenbein es zuließ, das große Wort, machte dem Stricker das Leben sauer und wußte von seinem bißchen Arbeit noch die Hälfte dem willigen Holdria aufzuhalsen. So fühlte er sich sehr wohl und heiter, begann sich im Neste warm zu sitzen und beschloß, unter so behaglichen Umständen sich keine Sorgen zu machen und jedenfalls noch reichliche Jahre in diesem Wohlleben zu verweilen, der Gemeinde zum Ärger und sich zum Pläsier. Er war nun, nach Hürlins Tode, der älteste von den Sonnenbrüdern, fühlte sich ganz heimisch und hatte nie in seinem Leben sich so im Einklang mit seiner Umgebung und Lebensstellung befunden, deren ob auch ärmliche, doch sturmsichere Ruhe und Trägheit ihm Zeit ließ, sich zu dehnen und zu fühlen und sich als ein achtungswerter und nicht unwesentlicher Teil der Gesellschaft, der Stadt und des Weltganzen vorzukommen. Ihm war es seelenwohl dabei, den Umtrieb hinter sich und vor sich die Aussicht in träge, sorgenlose Jahre zu haben.
Anders erging es dem Finkenbein. Das ideale Bild, das seine lebhafte Phantasie sich einst vom Leben eines Sonnenbruders erdacht und herrlich ausgemalt hatte, war ganz anders gewesen als was er in Wirklichkeit hier gefunden und gesehen hatte. Zwar blieb er dem Ansehen nach ganz der alte Leichtfuß und Spaßmacher, genoß freudig das gute Bett, den warmen Ofen und die solide, reichliche Kost und schien keinen Mangel zu empfinden. Er brachte auch immer wieder von geheimnisvollen Ausflügen in die Stadt ein paar Nickel für Schnaps und Tabak mit, an welchen Gütern er den Seiler ohne Geiz teilhaben ließ. Auch fehlte es ihm selten an einem Zeitvertreib, da er gaßauf gaßab jedes Gesicht kannte und wohlgelitten war, so daß er in jedem Torgang und vor jeder Ladentüre, auf Brücke und Steg, neben Lastfuhren und Schiebkarren her, sowie im Sternen, im Leuen und im scharfen Eck jederzeit mit jedermann sich des Plauderns erfreuen konnte.
Trotzdem aber war ihm nicht recht wohl in seiner Haut. Denn einmal waren Heller und Holdria als tägliche Kameraden von geringem Wert für ihn, der mit flotteren und ergiebigeren Leuten umgehen konnte, und dann drückte ihn je länger je mehr die Regelmäßigkeit dieses Lebens, das für Aufstehen, Essen, Arbeiten und Zubettgehen feste Stunden vorschrieb. Schließlich, und das war die Hauptsache, war dies Leben zu gut und zu bequem für ihn. Er war gewohnt, Hungertage mit Schlemmertagen zu wechseln, bald auf Linnen und bald auf Stroh zu schlafen, bald bewundert und bald angeschnauzt zu werden. Er war gewohnt, nach Belieben umherzustreifen, die Polizei zu fürchten, kleine Geschäfte und Streiche an der Kunkel zu haben und von jedem lieben Tag etwas Neues zu erwarten. Diese Freiheit, Armut, Beweglichkeit und beständige Spannung fehlte ihm hier vollkommen und bald sah er ein, daß der mit vielen Listen und Schikanen ermöglichte Eintritt in den Spittel nicht, wie er gemeint hatte, sein Meisterstück, sondern ein dummer Streich mit betrüblichen und lebenslangen Folgen gewesen war.
Freilich, wenn es in dieser Hinsicht dem Finkenbein wenig anders erging als vorher dem Fabrikanten, so war er in allem übrigen dessen fertiges Gegenteil. Vor allem ließ er den Kopf nicht hängen wie jener und ließ die Gedanken nicht ewig auf demselben leeren Felde der Trauer und Ungenüge grasen, sondern hielt sich munter, ließ die Zukunft möglichst außer Augen und tändelte sich leichtfüßig von einem Tag in den andern. Er gewann dem Stricker, dem Simpel, dem Seiler Heller, dem fetten Sperling und der ganzen Sachlage nach Möglichkeit die fidele Seite ab und hatte aus seinem früheren Leben die bequeme Virtuosengewohnheit herübergebracht, niemals über die gegenwärtige Lage hinaus Pläne zu machen und Wünsche und Hoffnungen zu verankern. Damit gelang es ihm auch jetzt noch, da er doch für allezeit versorgt und versichert war, das Leben der Vöglein und Fliegen zu führen, und das tat nicht ihm allein, sondern dem ganzen Hause gut, dessen tägliches Leben durch ihn einen Hauch von Freisinn und zierlicher Heiterkeit bekam. Den konnte es freilich nötig brauchen, denn zur Erheiterung und Verschönerung der gleichförmigen Tage hatten Sauberle und Heller aus eigenen Mitteln ungefähr so wenig wie der gute Wasserkopf Holdria beizusteuern.
Es liefen also die Tage und Wochen so leidlich hin, und wenn es nicht immer fröhlich herging, gab es doch auch keine Händel und Ärgernisse. Der Hausvater schaffte und sorgte sich müd und mager, der Seiler genoß eifersüchtig sein billiges Wohlsein, der Finkenbein drückte ein Auge zu und hielt sich an der Oberfläche, der Holdria blühte in ewigem Seelenfrieden und nahm an Liebenswürdigkeit, gutem Appetit und Beleibtheit täglich zu. Das Idyll wäre fertig gewesen. Allein es ging inmitten dieses nahrhaften Friedens der hagere Geist des toten Fabrikanten um. Das Loch mußte um sich fressen.
Und so geschah es an einem Mittwoch im Februar, daß Lukas Heller morgens eine Arbeit im Holzstall zu tun hatte, und da er noch immer nicht anders als ruckweise und mit langen Pausen fleißig sein konnte, kam er in Schweiß, ruhte unter der Türe aus und bekam Husten und Kopfweh. Zu Mittag aß er kaum die Hälfte wie sonst, nachmittags blieb er beim Ofen und zankte, hustete und fluchte gewaltig, und abends legte er sich schon um acht ins Bett. Am andern Morgen holte man den Doktor. Diesmal aß Heller um Mittag gar nichts, etwas später ging das Fieber los, in der Nacht mußten der Finkenbein und der Hausvater abwechselnd bei ihm wachen. Tags darauf starb der Seiler, widerwillig, neidisch und keineswegs geduldig und lärmlos, und die Stadt war wieder einen Kostgänger los geworden, was niemand zu Verdruß gereichte.
Sie sollte es aber bald noch besser bekommen. Es brach nämlich im März ein ungewöhnlich frühes Sommerwetter und Wachstum an. Die großen Berge und die kleinen Straßengräben wurden grün und jung, die Straße war von plötzlich aufgetauchten Hühnern, Enten und Handwerksburschen fröhlich bevölkert und durch die Lüfte stürzten sich mit freudigem Schwunge große und kleine Vögel.
Dem Finkenbein war es in der zunehmenden Vereinsamung und Stille des Hauses immer enger und bänglicher ums Herz geworden. Die beiden Sterbefälle schienen ihm bedenklich und er kam sich immer mehr wie einer vor, der auf einem untersinkenden Schiffe als Letzter am Leben blieb. Nun roch und lugte er stündlich zum Fenster hinaus in die Wärme und milde Frühjahrsbläue hinein. Es gärte ihm in allen Gliedern und sein jung gebliebenes Herz, da es den lieben Frühling witterte, gedachte alter Zeiten und begann zu überlegen, ob nicht auch ihm bei diesem allgemeinen Quellen, Sprossen und Wohlergehen vielleicht ein Lenz beschieden sei.
Eines Tages brachte er aus der Stadt nicht nur ein Päcklein Tabak und einige neueste Neuigkeiten, sondern auch in einem schäbig alten Wachstüchlein zwei neue Papiere mit, welche zwar schöne Schnörkel und feierliche blaue Amtsstempel trugen, aber nicht vom Rathaus geholt waren. Wie sollte auch ein so alter und kühner Landfahrer und Türklinkenputzer die zarte und geheimnisvolle Kunst nicht verstehen, auf sauber geschriebene Papiere beliebige alte oder neue Stempel zu übertragen. Nicht jeder kann und weiß es, und es gehören feine Finger und eine gute Übung dazu, von einem frischen Ei die dünne innere Haut zu lösen und makellos auszubreiten, die Stempel eines alten Heimatscheins und Wanderpasses darauf abzudrücken und reinlich von der feuchten Haut aufs neue Papier zu übertragen.
Und wieder eines Tages war Stefan Finkenbein ohne Sang und Klang aus Stadt und Gegend verschwunden. Er hatte auf die Reise seinen hohen, steifen Straubingerhut mitgenommen und seine in völliger Auflösung begriffene alte Wollenkappe als einziges Andenken zurückgelassen. Die Behörde stellte eine kleine vorsichtige Untersuchung an. Da man aber bald gerüchtweise vernahm, er sei in einem benachbarten Oberamt lebendig und vergnügt in einer beliebten Kundenherberge erblickt worden, und da man kein Interesse daran hatte, ihn ohne Not zurückzuholen, seinem etwaigen Glücke im Weg zu stehen und ihn auf Stadtkosten weiter zu füttern, wurde auf fernere Nachforschungen klug verzichtet und man ließ den losen Vogel mit den besten Wünschen fliegen wohin er mochte. Es kam auch nach sechs Wochen eine Postkarte von ihm aus dem Bayrischen, worin er dem Stricker schrieb: „Geehrter Herr Sauberle, ich bin in Bayern. Es ist hier ziemlich kälter. Wissen Sie was? Nehmen Sie den Holdria und seinen Spatz und lassen sie für Geld sehen. Wir können dann mitnander drauf reisen. Wir hängen dann dem Hürlin selig sein Schild raus. Ihr getreuer Stefan Finkenbein, Turmspitzenvergolder.“
Vielleicht hätte in dem fast geleerten Neste das Verhängnis noch weiter gewütet, aber der dermalige letzte Sonnenbruder Holdria war allzu schuldlos und allzu seßhaft. Es sind seit Hellers Tode und Finkenbeins Auszug fünfzehn Jahre vergangen und der Blöde haust noch immer feist und rotbackig in der ehemaligen Sonne. Er ist zuerst eine Zeitlang allein geblieben. Die zahlreichen Aspiranten hielten sich eine gute Weile bescheiden und ängstlich zurück, denn der schauervolle Tod des Fabrikanten, das schnelle Wegsterben des zähen Seilers und die Flucht Finkenbeins hatten sich zur allbekannten Moritat gestaltet und umgaben etwa ein halbes Jahr lang den Wohnsitz des Blödsinnigen mit blutrünstigen Sagen und Schreckensgeschichten. Allein nach dieser Zeit trieb die Not und die Trägheit wieder manche Gäste in die alte Sonne hinauf und der Holdria ist von da an nie mehr allein dort gesessen. Kuriose und langweilige Brüder hat er kommen, mitessen und sterben sehen und ist zurzeit der Senior einer Hausgenossenschaft von sieben Kumpanen, den Hausvater nicht mitgerechnet. An warmen, angenehmen Tagen sieht man sie häufig vollzählig am Rain des Bergsträßleins hocken, kleine Stummelpfeifen rauchen und mit verwitterten Gesichtern und verschiedenartigen Gefühlen auf die inzwischen talauf und talabwärts etwas größer gewordene Stadt hinunterblicken.
Ende
Buchdruckerei Roitzsch, Albert Schulze, Roitzsch.
Werke von Hermann Hesse
(S. Fischer, Verlag, Berlin)
Peter Camenzind
Roman. 50. Auflage. Geh. 3 Mark, geb. 4 Mark.
Es ist ein köstliches lebensstarkes Buch, eines von den Büchern, die, nachdem wir sie gelesen, eine stille Gewalt über unsere Seele üben. Diese Schöpfung von Hesse ist so reich und meist auch von so reifer Kunst, daß sie dem Besten, was seine Landsleute Keller und Meyer geschaffen haben, an die Seite gestellt werden darf.
(Der Tag, Berlin)
Ein Buch für die Verträumten im Lande. Von allerlei Liebe und Freundschaft, von sonderbaren Menschen, von schneeweißen Wolken, die am kornblauen Himmel stehen, und von den Schatten der Bäume wird erzählt. Die Beichte einer Jugend, böser Bangigkeiten voll und arm an schmalen Freuden, durchaus nicht immer gewandt, aber immer in Worten, die von einer köstlichen Innigkeit und Innerlichkeit überleuchtet sind: Abendröte der Seele, duftende Keuschheiten.
(Tagesbote aus Mähren und Schlesien, Brünn)
Unterm Rad
Roman. 18. Auflage. Geh. M. 3.50, geb. M. 4.50
Hier ist etwas Freies, Unkünstliches, Naturgewachsenes. Immer wenn ich ein Buch von Hesse lese, habe ich die Empfindung, daß sich über mir der blaue Himmel wölbt, daß Bäume ringsum grünen und frische Luft weht.
(Die Zeit, Wien)
Es ist dieser Roman ein gutes, tiefes, starkes Buch, geläuterter noch als der „Camenzind“, von einer tüchtigen Männlichkeit durchweht, eine Wohltat für den, der ihn liest, treuherzig, überzeugend, von lebhaftem, heißem Natursinn kündend, frei von ästhetischer Kränkelei — ein klares Schwabenbuch, ein durch und durch deutscher Roman.
(Münchener Neueste Nachrichten)
Es ist die einfache Geschichte von einem Jungen, der stolz und mit der Anwartschaft auf Ruhm und Glück ins Leben eintritt und unters Rad kommt und überfahren wird; ein Buch voll Schwermut und heimlicher leiser Klage und auch ein Buch voll Anklage. Schwer und gewichtig in seiner Einfachheit, die um so tiefer wirkt, als sie das Resultat einer unnachahmlichen sprachlichen Meisterschaft und stilistischen Adels ist.
(Münchener Zeitung)
Diesseits
Erzählungen. 16. Aufl. Geh. M. 3.50, geb. M. 4.50
Wie man etwa Eduard Mörikes Gedichte lesen sollte, an einem stillen, schönen Sommertage im Grase liegend, der Zeit und jeder Alltäglichkeit weit entrückt, ruhevoll nur sich und dem Weben der leise schaffenden Natur lauschend, in solcher Sonntagsstimmung sollte man Hermann Hesses neuen Novellenband „Diesseits“ lesen.
(Neue Zürcher Zeitung)
Wie lange habe ich mich darauf gefreut, dieses Buch anzuzeigen! Eine erlesene Schar der Novellen Hesses, die verstreut in Zeitschriften lagen, in einem Bande gesammelt in Händen zu halten, zu eigen zu haben wie Hausschwalben, die ihr Nest an unserem Dache sich bauen. Es ist ein stilles, vornehmes und unsäglich schönes Buch geworden, das man ehrfürchtig in die Hand nimmt, ehrfürchtig aus der Hand legt, still, ergriffen, nachdenklich, voll einer Liebe zu dem Menschen, der ein so starkes, reines Herz hat und es so lauter schenkt. Hermann Hesse bedeutet einen Gipfelpunkt deutscher Erzählerkunst.
(Münchener Zeitung)
Anmerkungen zur Transkription
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