Title: Dissolving Views: Romanfragmente von Leo Wolfram.
Author: Ferdinand Prantner
Release date: May 21, 2017 [eBook #54754]
Language: German
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Anmerkungen zur Transkription
Der vorliegende Text wurde anhand der 1861 erschienenen Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Zeichensetzung und offensichtliche typographische Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Ungewöhnliche sowie inkonsistente Schreibweisen wurden beibehalten, insbesondere wenn diese in der damaligen Zeit üblich waren oder im Text mehrfach auftreten.
Im Inhaltsverzeichnis wurde für ‚Der Prior von Sankt Martin‘ die Seitenzahl von 139 zu 143 korrigiert.
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Dissolving views.
Erster Band.
Bei Hoffmann und Campe in Hamburg sind erschienen:
Thlr. | Sgr. | |
Aston, L., aus dem Leben einer Frau | — | 22½ |
Bernays, Isaak, Schief Levinche mit seiner Kalle, oder polnische Wirthschaft. Ein komischer Roman. | 1 | 15 |
Christen, F. E., Diana. Wahrheit und Dichtung. 2 Theile | 2 | 15 |
— Malcolm. See-Gemälde aus der neuern Zeit. | 1 | 15 |
Clemens, F., Der Excentrische. Roman | 1 | — |
— Das entschleierte Bild zu Sais | 1 | 10 |
Corbiere, Ed., die Zöglinge der Marine. 2 Theile | 2 | — |
Douglaß, Frederick, Sclaverei und Freiheit. Autobiographie. Aus d. Engl., bearb. von Ottilie Assing | 1 | 15 |
Elpis Melena, hundert und ein Tag auf meinem Pferde und ein Ausflug nach der Insel Maddalena | 1 | 15 |
— Garibaldi’s Denkwürdigkeiten. 2 Bde. | 2 | — |
Falkson, Ferd., Giordano Bruno | 1 | 15 |
Freese, H., die Prinzessin von Ahlden | 1 | 15 |
Gathy, A., Cavalcade, oder die Kunstreiterin | 1 | — |
Görner, C. A., Almanach dramatischer Bühnenspiele. 8. Jahrgang | 1 | 15 |
Gregorowitsch, N., die Fischer. Ein Roman. Aus dem Russischen. Nebst Einleitung von Alexander Herzen. 2 Theile | 2 | 15 |
Gutzkow, Dr. K., Novellen. 2 Bände | 3 | — |
— Seraphine. Ein Roman | 1 | 20 |
— öffentliche Charaktere | 1 | 20 |
— zur Philosophie der Geschichte | 1 | 20 |
— Börne’s Leben | 1 | 15 |
Halfern, A. von, der Squire. Ein Bild aus den Hinterwäldern Nordamerikas. 2 Theile | 2 | — |
Heine, H., Reisebilder. 4 Theile | 7 | — |
— Der Salon. 4 Theile | 6 | 20 |
— Vermischte Schriften. 3 Bände | 6 | — |
— Die romantische Schule | 2 | — |
— Ueber Ludwig Börne | 2 | — |
Herzen, Alexander, aus den Memoiren eines Russen. Im Staatsgefängnisse und in Sibirien | 1 | — |
— — Zweite Folge. Petersburg und Nowgorod. | — | 20 |
— — Dritte Folge. Jugenderinnerungen | 1 | — |
— — Vierte Folge. Gedachtes und Erlebtes | 1 | — |
— Briefe aus Italien und Frankreich | 1 | — |
— Rußlands sociale Zustände | 1 | — |
— Vom anderen Ufer | 1 | 15 |
Romanfragmente
von
Leo Wolfram.
Erster Band.
Hamburg.
Hoffmann und Campe.
1861.
Dialog
im Censurdepartement des Polizeiministeriums im Lande der
Dissolving views 1860.
Erster Sekretär. Gut, daß Sie kommen! Ich bin kein Engländer, und da ist unter den beanständeten Büchern eines mit einem englischen Titel. Ich habe, da ich gestern sowol hier als zu Hause zu fragen vergaß, im Flügel’schen Dikzionnär nachgesehen. Dissolve, auflösen, zertheilen. Und view, Ansicht. Das schien mir gleich auf zersetzende, destruktive Ansichten hinauszulaufen.
Zweiter. Ganz richtig; aber hier dürfte etwas Anderes gemeint sein. Wenn Sie weiter unten sehen wollen, — (schlägt das Dikzionnär auf) da steht:
Dissolving views, — analitische Prospekte; mittelst zweier magischer Laternen dargestellte Bilder, deren eines durch Zuziehen der einen und Aufziehen des entsprechenden Schiebers der andern Laterne allmälig einem zweiten, dritten Bilde weicht.
Wir haben ja solche hier im Theater gesehen.
Erster. Das muß man eben wissen. Man kann nicht von uns prätendiren, daß wir auf alle erotischen Metafern der Romanschreiber eingehen. Haben Sie das Buch durchgesehen?
Zweiter. Sehr flüchtig.
Erster. Auch ich. Da ich heute Etwas darüber sagen muß und sehr überhäuft bin, so habe ich es, wie gewöhnlich, meiner Frau zu lesen gegeben, die auf alle beanständeten Artikel erpicht ist.
Zweiter. Das pflege ich auch meinerseits häufig zu thun. Und was sagt Ihre Frau Gemalin?
Erster. Sie sagt: der Roman sei Nebensache, bloße Emballage, um die Ansichten über gewisse Zustände und Personen einzuschmuggeln.
Zweiter. Sonderbar. Meine behauptet, der Verfasser habe dieses Element nur hineingemengt, um den Roman, der aber eigentlich keiner sei, zu illustriren.
Erster. Am Ende kann uns das gleichgültig sein. Uns ginge die Frage näher an, ob er viel gelesen würde? Und meine Frau leugnet das, und sagt, der Autor verderbe es mit allen Parteien.
Zweiter. Das ist doch ganz eigen! Meine ist vom Gegentheil überzeugt und findet, daß er es gerade mit der stärksten halte, überall der sogenannten Intelligenz huldige. —
Erster. Sie werden doch hoffentlich diese Partei nicht die stärkste bei uns nennen wollen?
Zweiter. Ich erzähle Ihnen nur, was meine Frau sagt. Was geschieht also mit dem Buche?
Erster. Meine erste Impression war, daß es bei uns durchaus nicht aufliegen dürfe. Das Verbot läßt sich durch die Tendenz ganz allein hinreichend motiviren.
Zweiter. Wir brauchen ja Gott sei Dank überhaupt Nichts zu motiviren, was wir thun.
Erster. Ich meine auch nur dem Chef gegenüber. Aber die Sache hat eben zwei Seiten.
Zweiter. So fand ich auch. — Es ist eine fatale Geschichte. Lassen wir’s durch, so wissen wir, was sich Jeder beim Lesen denkt und am Ende glaubt man noch, wir haben’s nicht verstanden.
Erster. Und lassen wir’s nicht durch, so geben wir uns eigentlich eine ungeheure Ohrfeige.
Zweiter. Wie so?
Erster. Weil wir, wenn wir auch auf der Tendenz herumreiten, geradezu eingestehen, daß wir es auf uns beziehen, obgleich weder das Land noch der — — Eine noch der Andere genannt ist.
Zweiter. Ja wen meinen Sie denn?
Erster. Und wen meinen denn Sie, daß ich gemeint habe?
(Die beiden Sekretäre sehen einander lachend an.)
Seite | |
Vorrede | v |
Goldnebel | 1 |
Der Taschenteufel | 44 |
Zimmerreise | 67 |
Clair-obscur | 102 |
Der Prior von Sankt Martin | 143 |
Konkurrenz | 175 |
Ein thätiger Freund | 213 |
Im Hafen | 251 |
Bewegte Nacht | 297 |
Bescheerungen | 341 |
Kirchenweihe | 385 |
Das Gewitter über dem Gebirgssee war vorüber. Fliehend zog das Wolkenheer nach fernen Thälern, versprengte Reste in den Klüften zurücklassend und das Banner der siegenden Abendsonne flammte auf den Felsengipfeln.
Manche Riesentanne lag auf der Höhe, wo die volle Gewalt der entfesselten Geister des Gebirgs gewüthet, niedergerissen von den Wirbeln des Wettersturms. Am Mittag war als erstes Schlachtsignal ein langer dumpfer Donner über das Thal hingerollt und fast bis zum Untergange der Sonne standen auf den Bergen die dunkeln Schaaren der luftigen Streiter, deren Schatten den See in Nacht hüllten.
So oft aber auch auf Erden der Kampf des Lichtes gegen die starre Finsterniß ein vergeblicher sein mag, am Himmel ist der Sieg der glänzenden Königin über die nächtigen Rebellen gewiß. Und als erst die kleinste Lücke in die schwarzen Massen geris[S. 2]sen, die erste Flammensalve der Sonne durch die Wolkenphalangen gebrochen war: da drang es herein, das uralte, ewig neue, freundliche Wunder, das Abendroth, unaufhaltsam die Felsenwände überströmend. Und nun brach sich’s feurig brandend auf der Höhe an einem durchsichtigen Damme von Tannen, welche wie flammende Christbäume in den Himmel hinausragten — floß wie Lava, nur verklärend statt zerstörend, über das Geröll und die steilen Wiesenhänge herab — drang waldeinwärts wie zur Verfolgung der geflüchteten Nebel in ihre letzten Schlupfwinkel und legte tausend Flämmchen an die dunkeln Baumstämme, als wäre der Hochwald erleuchtet von einem Fackelzuge der Berggeister zur Feier jenes Dichters, der da nicht geboren ward, sondern vom Anfange war. — — Und nun senkt es sich in die Fluten des See’s, der noch hohe Wellen rollt und zerstiebt auf ihren überschlagenden Gipfeln in Millionen Goldfunken. — Längst ist oben reiner Gottesfriede, während es in der Tiefe noch rauscht und brandet.
Ein Schiffchen durchschneidet den vergoldeten Schaum. Die beiden Männer, die es trägt, haben beim ersten Nachlassen des Gewitters die Fahrt gewagt, und ihre glühenden Wangen bezeugen den Kraftaufwand, welchen der Kampf gegen Sturm und[S. 3] Wellen erforderte. Während der Aeltere, ein Bewohner der Gegend, mit der Ruhe der Gewohnheit den Krieg so wie den Frieden der Elemente betrachtet, hat das treue, tiefe Auge des Jüngern Beides lebendig zurückgespiegelt.
Diese junge, kräftige Seele, die sich in diesem Augenblicke der siegreichen Macht des Körpers freut, empfängt alle Eindrücke rein und ganz, und gibt sie eben so wieder. Sie sieht noch nicht „ob jeder Freude schweben den Geier schon, der sie bedroht.“ Oder vielmehr der junge Mann hält ein sicheres Auge, eine feste Hand, eine gute Waffe für hinreichend, um den Räuber aus den Lüften herabzustürzen.
Seine Erscheinung bietet Nichts von Allem, was die Uebersättigung interessant nennt. Keine Künstlerlocken wallen um die Stirn, um beim Aufzucken eines unverstandenen Schmerzes, am Klavier oder an der Staffelei, geschüttelt zu werden: sein blondes Haar ist kurz und schlicht. — Keine Weltgedanken haben Furchen durch die glatte freie Stirn gezogen, keine Geschichte von gefallenen Engeln und geknickten Blumen ist auf seinen Wangen zu lesen, und jedes Weib, welches sich auf das Fach des „Dämonischen“ versteht, wird ein einziger Blick in die geistig jungen und doch ernsten, schönen, offenen Züge überzeugen, daß ihr in der lockenden Aufgabe, dieses[S. 4] Geschöpf Gottes zu verderben, noch keine zuvorgekommen.
Er hat während der Fahrt seine graue Lodenjacke zu dem im sogenannten Kränzchen des Schiffes liegenden grünen Hut geworfen und die Hemdermel hinaufgestreift; der Sprühregen, den der Wind von den Wellen hinwegpeitscht, näßt seine Brust und die glänzenden, steinernen Muskeln des Armes. Er freut sich, die volle Kraft ins Ruder pressend, der Kühlung, während der alte Schiffer seinen warmen Kittel zugeknöpft hat und über den heißen Uebermuth des jungen Reisenden lächelt, der ihm kein Fremder, da er in dessen väterlichem Hause vor Jahren gedient.
Das Bett des See’s, dessen ganze Länge der Nachen bei ruhigem glatten Wasser in einer Stunde durchmessen würde, krümmt sich in seiner Hälfte fast unter einem rechten Winkel. — Das Ufer des schmäleren Theiles — des sogenannten untern See’s — in welchem sich unsere Schiffer befinden, bilden nördlich die jäh abfallenden Wände des Wettersteines, — südlich steile Waldhöhen.
Dieses letztere Ufer bietet dem vom Sturme Ueberfallenen die rauhe, aber freundlich rettende Hand, während an der Felsenbrust des andern der sichere Untergang seiner harrt.
An einer einzigen Stelle hat ein Bach, welcher durch eine Einklüftung der Felsenwand in trockenen Monaten als Silberfaden herabrieselt, nach Regengüssen und im Frühling aber donnernd in den See stürzt, so viel Sand und Geröll herabgewälzt, daß sich ein etwa funfzig Schritte im Umfange messendes Stück sanft abgedachten Ufers gebildet hat.
Der Glückliche, welchen der Sturm gerade an diese Stelle treibt, hat den großen Lebenstreffer aus der schäumenden Urne voll Todesloosen gezogen und mag, von unersteiglichen Felsen umschlossen, hier harren bis der Sturm sich legt und eines der vielen den See durcheilenden Schiffchen ihn aufnimmt.
Ein rothes Kreuz, mit verdorrten Kränzen und Votivbildchen geschmückt, bezeichnet diese Stelle; unsere Schiffer richteten fast zugleich den Blick dahin.
Sie gewahrten zwei Gestalten, von Schiffbrüchigen oder vor dem Sturm dahin Geflüchteten, deren Bewegungen zeigten, daß sie bereits den Nachen entdeckt. Die Entfernung ließ an der weiblichen ein Gewölk schwarzer Locken, ein graues Kleid, ein weißes Tuch, einen weißen Arm, der dasselbe schwang, unterscheiden. Eine männliche neben ihr wirbelte mit heftigen Gestikulazionen ein an einen Stock gebundenes gelbes Sacktuch über dem Kopfe herum.
Nachdem der junge Mann im Schiffchen die[S. 6] Zeichen erwiedert, stand die Dame am Ufer ruhig, den Arm um das rothe Kreuz schlingend, während der Herr seine Telegrafie noch einige Zeit fortsetzte.
„Da sind wir gerade zurecht gekommen, Herr Arnold,“ begann der Schiffer, nach alter Gewohnheit den Vornamen des jungen Mannes gebrauchend, den er einst auf seinen Armen getragen — — „das ist die gnädige Frau, vom Freinhof. Das ist in dieser Woche das zweite Malheur. Vorigen Montag war sie mit zwei Herren auf dem Wetterstein. Es haben ihr Alle gesagt, daß der Nebel einfällt. Aber fort haben sie müssen und wie sie über den Erzbach hinaus waren, war der Nebel da. — Sie hat aber einmal hinauf wollen und über Ja und Nein waren sie in den Leckerstauden[1] und der eine von den Herren, ein Professor aus der Stadt, kegelt sich den Fuß aus. Zum Glück ist der Nebel nicht liegen geblieben und da hat der große Herr Knorr, der dort auf dem Fichtenkegel wohnt, den Professor ganz allein das Stück Weges über den Kräuterkamm auf die Tannenbachalm getragen, nachher zu uns herunter, dann haben wir ihn über den See auf den Freinhof geführt. Der Professor wird sich den Wetterstein merken und der Herr dort beim[S. 7] rothen Kreuz schaut mir auch darnach aus, als ob er vom See auf eine Weile genug hätte.“
Für Arnold, welcher die Gegend seit zwei Jahren nicht betreten hatte, war der Name „Freinhof“ ein fremder Klang. Der Alte gab die geforderte Aufklärung:
„Wenn wir die Herrenleute abgeholt haben, und um die Ecke kommen, in den obern See, werden wir den Hof gleich sehen. Die Gebäude sind im vorigen Sommer aus der Erde geschossen. Das Holz war da, denn der große Fabrikant aus der Stadt, Herr von Kollmann schreibt er sich, hat den ganzen Wald herum gekauft. Aber für die Ziegelfuhren haben sie eine Straße über die Föhrleiten gemacht. Bis zum ersten Schnee haben sie’s unter Dach gebracht, die gnädige Frau, der Herr Knorr heißt sie immer nur die schöne Frau Julie, ist alle Wochen zweimal herausgekommen und da hat die Arbeit fliegen müssen. Heuer im Frühjahr waren auch die Maler und Tapezierer in vier Wochen fertig und jetzt stehen die Gebäude da, daß einem das Herz lacht.“
Arnold hatte aufmerksam zugehört, strengte aber sein Auge vergeblich an, die Gruppe am Felsenufer, von welchem man doch nur etwa zehn Minuten entfernt war, deutlicher zu unterscheiden, da sie ihm plötzlich durch ein Phänomen verhüllt wurde, welches[S. 8] sicherlich Jedermann einmal zu beobachten Gelegenheit hatte.
Es fällt zuweilen, durch einen Riß in den Wolken, ein scharf begrenzter Lichtstrom, eine strahlende Feuergarbe herein, welche alles hinter ihr Liegende in einen blendenden Schleier hüllt. Ein solcher Streifen von Glanznebel legte sich zwischen das Schiffchen und das Ufer und erst als das leuchtende Hinderniß halb durchdrungen war, konnte Arnold die Gestalt der Frau wieder unterscheiden, welche, wie von Rosen übergossen, in Goldzindel gekleidet, wie das verkörperte Abendroth dastand.
Aber der glühendste Kuß der untergehenden Sonne war auch ihr letzter gewesen; ein Augenblick, und der Glanznebel verschwand, die Wölkchen an den Waldhängen, welche wie entzündete Baumwollflocken flammend aufstiegen, erloschen zu grauer Asche; über den Höhen schwebte noch eine warme Glorie, aber im Thalgrund über dem See lagen die blauen kalten Töne des Abends. —
Auch die feenhafte Goldhülle der schönen Frau, deren Züge Arnold nun deutlich unterschied, war wieder zum einfachen grauen Kleide geworden. Sie stand vorgebeugt am Rande des Gerölls und hatte die Arme über der Brust gekreuzt; ihre Blässe und das Zittern, welches die hohe schlanke Gestalt durch[S. 9]lief, verriethen den ungleichen Kampf zwischen der kleinen heißen Lebensflamme und dem kalten Hauche des Sees und des triefenden Felsens.
Arnold gewahrte dennoch ein freundliches Blinken der schwarzen Augen. Die leichte Geisterbrücke zwischen diesem räthselvollen Augenpaar und dem lichten offenen des jungen Schiffers war aufgebaut und ein froher Gruß der Seelen flog auf ihr vom Nachen ans Felsenufer und zurück.
Im nächsten Augenblicke fuhr das leichte Fahrzeug knarrend auf den Sand und Arnold stand mit einem Sprunge am Ufer.
Julie reichte ihm mit reizendem Lächeln die Hand und sagte: „In solcher Lage gibt es keine Fremden! Lassen Sie mich erst danken, wenn Ihr Werk vollendet ist. Wir waren noch zur rechten Zeit hier gelandet, und ich habe, als der Sturm nachließ, unsern Fährmann nach dem Hofe hinübergeschickt, um unsere große Barke zu holen. Ich will sie aber nicht erwarten, sondern bitte Sie, mich nur gleich von diesem treulosen Zufluchtsorte wegzuführen, der das Leben mit eisigen Händen langsam aus den Gliedern zieht,... der See verschlingt es wenigstens in einer Minute.“ — „Vor Allem,“ sagte Arnold, „nehmen Sie das Einzige, was ich Ihnen zum Schutze bieten kann, meine Lodenjacke“ — er langte sie aus dem Schiff[S. 10]chen und sie hüllte sich lachend darein mit zwei raschen Bewegungen voll Weichheit und Grazie — „und nun meinen weichen grünen Hut“ — sie drückte denselben auf die dichten Locken — „und nun einige Tropfen Rum aus meiner Feldflasche“ — sie führte sie an die Lippen, deren hohes Nelkenroth die Kälte nicht zu bleichen vermochte.
Die zwei Tropfen mußten hingereicht haben, das unter Schnee wallende Blut zu beflügeln: die Wangen färbten sich sanft und der Perlenschimmer des Auges verwandelte sich in Brillantglanz.
Sie beugte sich einen Augenblick über eine glatte ruhige Stelle des Wassers zwischen den Steinblöcken und betrachtete ihr herauflächelndes Spiegelbild mit dem grünen runden Hut und der grauen, grünverbrämten Jacke.
Arnold hatte noch kein schöneres Weib gesehen.
„Das steht mir doch zehnmal hübscher als alle die albernen Coeffüren, zu denen meine Haare die Französinnen der Residenz begeistert haben!“ rief Julie zurücktretend aus und wendete sich nun mit den Worten: „Aber jetzt schnell ins Schiff, lieber Hofrath!“ an den kleinen Mann, der früher das gelbe Tuch geschwenkt hatte und auf dem Sande herumtrippelnd, prüfend und kopfschüttelnd das Fahrzeug und die Wellen betrachtete.
Arnold hatte beim Landen seinen Gruß kaum erwiedert. Er war empört beim Anblick des in einen dichten warmen Plaid gewickelten Mannes, während die Frau in leichtem Kleide mit offenen Ermeln der kalten Seeluft preisgegeben war. Er sagte: „Für den Fall, daß der Herr Hofrath länger hier zu verweilen gedächte, könnte mein Fährmann seinen langen Rock zu den Schutzmitteln fügen, womit ich ihn bereits ausgestattet sehe.“ —
„Ich verstehe Sie ganz wohl, junger Mann, — erwiederte der Angegriffene — und Sie haben anscheinend Recht. Diese Dame wird aber selbst meine Rechtfertigung übernehmen. Vor der Hand erkläre ich nur, daß ich diesem Nachen um keinen Preis die Last einer vierten Person aufbürden werde, sondern das Schiff vom Freinhof abwarte, und bemerke, daß Sie am besten thäten, meinem Beispiele zu folgen.“ —
„Und wenn der Great Eastern selbst um jene Ecke gedampft käme, — rief Arnold, etwas heftig, gegen Julie gewendet, — so könnte er Sie nicht sicherer hinüberbringen, als mein dem Herrn Hofrathe so unheimliches Fahrzeug! Meinem heutigen Glück können Sie sich ruhig anvertrauen!“ — Er setzte im Geiste dazu: „Lassen Sie doch diesen Hasenfuß bleiben, wo er will.“
Julie war von Arnolds Hand gestützt ins Schiff[S. 12]chen gestiegen und rief dem Zurückbleibenden zu: „So leben Sie glücklich und zufrieden! auf baldiges Wiedersehen beim Thee!“ — und als der Schiffer schon abgestoßen hatte, wendete sie sich nochmals um, mit freundlich bittender Stimme rufend: „Guter, lieber Blauhorn! Werden Sie mir denn vergeben, daß ich durch meinen sträflichen Leichtsinn Ihr Leben in Gefahr gebracht habe? Nochmals auf Wiedersehen ohne Groll!“
Arnold, der keinen Blick von ihren Zügen verwendete, sah in den schwarzen Augen, wie sie zu dem kleinen, bleichen Hofrath hinüberlachten, ganz den gleichen Glanz, der darin geschimmert, als sie ihm, Arnold, bei der ersten Begrüßung und dem Sprunge ans Ufer die Hand geboten. — Hatten diese Augen nur einen Glanz, diese Mienen, wenn man so sagen darf, dieselbe weiche schmeichelnde Melodie für alle Menschen und Lagen?
„Sie haben — begann Julie — dem guten Hofrathe Unrecht gethan. Der Mann ist in seiner dreifachen Eigenschaft als Gatte einer schönen bösen Frau, als eingebildeter Kranker und als Mitglied der Kommission, welche unsere Finanzen in Ordnung bringen soll, ein beklagenswerthes Geschöpf, und wenn ich ihm meinen Plaid nicht aufgezwungen hätte, so lief ich die dreifache Gefahr, ihn in eine wirkliche Krank[S. 13]heit zu stürzen, der bösen Frau in der Untergrabung seines Lebens behülflich zu sein und den Staat auf unbestimmte Zeit seiner unschätzbaren Leistungen zu berauben. Ich stellte ihm also das Ultimatum, entweder den Plaid umzulegen oder denselben von meiner Hand ins Wasser fliegen zu sehen.“ — „Das entschuldigt allerdings den guten Hofrath — entgegnete Arnold — aber nicht minder ungerecht als meine Anklage ist sicherlich der Vorwurf, den Sie sich selbst machten, als Sie von sträflichem Leichtsinn gegen sein Leben sprachen... konnten Sie den Sturm vorhersehen?“ —
„Der Vorwurf war nur gerecht. Ich bestand auf der Fahrt bei stark umwölktem Himmel und allen Anzeichen des herannahenden Gewitters. Und wenn mir — sagte sie mit ernstem Tone — die Folgen gleichgültig waren, so hatte ich wahrlich kein Recht, dasselbe von meinem Gaste vorauszusetzen.“
Es lag Etwas in Juliens ganzem Wesen, was den Eindruck verhinderte, den diese Worte unter andern Umständen, oder besser, aus anderem Munde, auf Arnold gemacht hätten — nämlich einen unangenehmen. Es war ihm unmöglich, ihr jene affektirte Gleichgültigkeit gegen das Leben zuzumuthen, in welcher sich manche in den glücklichsten Verhältnissen, wofür er die ihrigen hielt, lebende Frauen gefallen,[S. 14] und welche bei Gelegenheiten, wo es gilt, sich vorzüglich interessant zu machen, als förmliche Sterbesehnsucht auftritt.
Juliens Worte hatten aber das unverkennbare Gepräge des treuen Ausdruckes ihres Innern, und vielleicht war es die plötzlich auftauchende Besorgniß, sie falsch aufgefaßt zu sehen, was sie bestimmte, in heiterm, fast scherzendem Tone fortzufahren: „Ich nöthigte den unglücklichen Hofrath in den Nachen des Mannes, den alle Forellen des Sees unter dem Namen Fischerhans als böses Prinzip verabscheuen. Ich will nach dem Waldufer, es wird dunkel, der Hofrath beschwört mich ihm sein Leben zu schenken und Hans beantragt augenblickliche Umkehr. Ich lachte sie aus und bestehe darauf, wenigstens quer über die Bucht nach dem Hofe zurückzufahren. — Wenn wir’s nicht durchsetzen, sagt Hans, so treibt es uns in den untern See hinaus, und wenn der Wind gegen den Wetterstein umspringt, — — so haben wir, erwiedere ich, das rothe Kreuz, — wo wir landen. All das Gerede war aber schon vergeblich, mit dem ersten Donnerschlag fiel der Sturm ein, entführte meinen Strohhut, der Regen strömte herab, und nach einer Viertelstunde, in welcher jeder Augenblick der letzte schien, stießen wir so gerade und pünktlich auf den Sand am rothen Kreuz, daß ich Hans vollkom[S. 15]men Recht gebe, wenn er behauptet, mein Schutzengel allein habe das Schiff gelenkt. — Als der Sturm nachließ, befahl ich ihm nach dem Freinhof zu fahren, wo man nichts von unserer Fahrt wußte, und das Herrenschiff herzuholen. In der Zwischenzeit kam das schöne Abendroth, kam Ihr Nachen, dem ich mich nun anvertraut habe, obwol er um nichts besser als der fortgeschickte, — und ich freue mich, daß meine Erlösung nicht auf dem geraden, langweiligen, legalen Wege, sondern gerade so gekommen, wie sie eben gekommen.“
Es schien Arnold bei Juliens letzten Worten, als ob die Augen doch nicht nur einen Glanz hätten. Es verstrichen ein Paar Minuten und er vermochte nicht das Gespräch am Ende des so freundlich dargebotenen Goldfadens anzuknüpfen. Nur eines Haares Breite lag zwischen der glücklichsten Antwort und dem schmählichsten Gemeinplatz.
„So viel ist gewiß, sagte er, daß Glück und Verdienst wieder einmal in grellem Mißverhältnisse stehen. Mir wird die Freude zu Theil, Sie in meinem Nachen zu führen, — aber erst nachdem die Vorsehung Sie aus der wirklichen Gefahr gerettet. Der schöne Traum einer Rettung durch mein Kommen läßt sich nun einmal nicht festhalten. Er ist ver[S. 16]schwunden wie die Goldstickerei, welche der Glanznebel für mein Auge auf Ihr graues Kleid geworfen.“
„Das ist hübsch gesagt, erwiederte sie, — derselbe Goldnebel hat auch über Sie, als ich Sie durch ihn herankommen sah, so etwas wie einen Heiligenschein geworfen. — Wir haben nun unsere beiderseitigen Verklärungen abgestreift, so wie die Situazion alles Schauerliche. — Eine halberfrorne Frau, welche auf ihr Schiff wartete, hat vorgezogen, in dem Nachen eines jungen Mannes, der ihr seine warme Jacke anbot, nach Hause zu fahren. — Das ist Alles, was hinter dem Goldgewölke liegt.“
Ein Schatten von tiefem Ernst, der über ihr Gesicht flog, wich eben so schnell, als sie fortfuhr: „Wenigstens sehe ich, daß Sie ein echter Deutscher sind: Sie reflektiren, Sie lassen keine Freude bei sich einziehen, wenn sie sich nicht mit einem vom Verdienst gefertigten Passe legitimirt, und suchen die Stelle, wo der Regenbogen auf der Erde steht, zu ergründen, um sich zu überzeugen, ob er auch auf festem Boden ruhe!“
Der Vorwurf war ungerecht. Arnold reflektirte nicht, aber Juliens Worte gaben ihm erst den Stoff dazu.
Eine Antwort war nicht mehr möglich, denn in dem Augenblicke, wo nun das Schiff um den Felsen[S. 17]vorsprung bog, welcher die Bucht, an welcher der Freinhof liegt, bisher verdeckte, schmetterte durch das stille Halbdunkel ein Ruf — oder Ton — oder Aufschrei — wie ihn nur der begreift, welcher jemals einen Urbewohner der Berge aus voller Kraft der Lunge „jodeln“ gehört —... ein Jodler, der das Echo am Ende des Sees aus dem ersten Schlummer aufzuschreien zwang, — das ferne Waldufer nahm die Herausforderung an und nun scholl es zehnfach zurück von Berg und Fels und verklang endlich in sanfteren Tonwellen, welche von dem raschen Ruderschlage übertönt wurden, womit die stattliche, fest und zierlich gebaute Barke vom Freinhof herankam. In einer Minute hatte sie den Nachen Arnolds erreicht. —
Der Urheber des gewaltigen Jubelgrußes war aber kein Eingeborner der Gegend, sondern der vom Schiffer erwähnte „große Herr Knorr,“ welcher auf der äußersten Spitze des Vordertheils, gerade über den goldnen Buchstaben des Namens Julia stand, und mit einem braunen Sammtrock bekleidet und einem grauen, weichen, vielgeprüften Filzhute bedeckt, in ungeheurer Länge emporragte, wie der Rauchfang eines Dampfschiffes. Auf dem mittleren Sitze saß ein Mann in eleganter Sommerkleidung, das heißt, er war vom Hals bis zu den Kamaschen mit dem gleichen englischen Stoff von unbestimmter Farbe[S. 18] überzogen und trug einen Panama-Hut mit Sammtband. „Kannst du denn, — rief er dem andern zu — dein höllisches Gejohle nicht lassen, wo du gar nicht weißt, ob es zur Situazion paßt!“ — Der Lange im Sammtrock lachte laut aus seinem struppigen Vollbart und sagte: „Zu meiner Situazion jedenfalls, und für die deine hindere ich dich nicht, jedes Geflöte und Gesäusel anzustimmen, welches dir passend scheint.“
Julie war beim ersten der vom Panama-Hut mißbilligten Töne rasch im Schiffchen aufgestanden mit dem Ausrufe: „Da sind sie, die Retter nach der Gefahr! — der gute närrische Knorr, vielleicht der einzige Mensch, der es ganz ehrlich mit mir meint — und der ewig fein sein wollende Reiland“... (es schien Arnold, als ob vor dem Namen Reiland noch das Wort „unausstehlich“ halblaut eingeschlüpft wäre).
„Willkommen, willkommen!“ scholl es von den aneinanderliegenden Schiffen. „Wir waren so fest überzeugt — rief Knorr’s gewaltige Baßstimme — daß Sie der See verschlungen, schöne Frau Julie, daß Herr Reiland bereits Trauer um seinen Hut gelegt, und ich einen meiner Revolvers mitgenommen habe, um mich beim rothen Kreuz nach Erhebung des Thatbestandes zu erschießen“ — er knallte dabei einen der Läufe gegen die Felsenwand los — „und[S. 19] nun eine Jubelfanfare für die glückliche Rettung“ — — er setzte ein chromatisches Posthorn an den Mund, und ein Geschmetter, welches den vorigen Jodler zu Schanden machte, fiel mit dem Wiederhall der Pistole zusammen.
„Aber um Gotteswillen, lieber, lieber Knorr — bat Julie mit aufgehobenen Händen — jetzt ein Ende mit Ihrem gräßlichen Unsinn! Geschwind fort, zum rothen Kreuz, dort finden Sie den verzweifelnden Blauhorn, den Sie auf der Heimfahrt mit Schießen und Blasen sein Elend vergessen machen sollen.. Guten Abend, lieber Reiland! Adieu! In einer Stunde im Schweizerhaus!“
Der Genannte verbeugte sich mit einem Blick, in welchen er ehrerbietige Zärtlichkeit, feines Bedauern über Knorr’s Auffassung der Situazion und noch vielerlei Anderes zu legen gedachte. Knorr aber rief den vier Ruderern ein Vorwärts! zu, und die Fahrzeuge flogen in entgegengesetzter Richtung auseinander.
Arnold hatte Welt genug, um manche auf seinen Lippen schwebende Frage zu unterdrücken. — Knorr’s vertrauliches „schöne Frau Julie“ hatte ihn eben so unangenehm berührt, als Reilands süßes albernes Augenspiel. — — Und wieder in Juliens Zügen das gleiche frohe Aufleuchten beim Gruße. — —
Mit einem ihm unerklärlichen Uebergange hatte[S. 20] sich nach der Begegnung mit der Barke ihr ganzes Wesen verändert. Es war, als ob, wie auf den Berggipfeln, auch in ihr der letzte Funke der Abendglut verlöscht wäre.
Sie sagte: „Legen Sie Ihr Ruder weg und lassen Sie dem Fährmann allein die Mühe. Setzen Sie sich zu mir, — wir kommen doch noch vor den Andern nach Hause.“
Es läßt sich denken, daß Arnold schnell und freudig gehorchte.
„Da haben Sie, fuhr sie fort, ein Bild meines Lebens: — ein Ort, der die Heimat des Friedens scheint, und aus dem doch alle Ruhe verbannt ist. — Wenn ein Augenblick einer ruhigen frohen Träumerei kommt, so fährt ein greller Mißlaut dazwischen, wie jetzt der tolle Lärm dieses guten Menschen, und doch verletzt dieser mich hundertmal weniger als manches Lied mit oder ohne Worten, dessen Ton rein und dessen Sinn falsch ist — und das ich doch anhören muß.“
Sie erschien Arnold mit jedem Augenblicke schöner, als sie, den Lockenkopf senkend, mit schmerzlichem Lächeln vor sich hinsah.
Er erwiederte: „Und doch ist nun auch dieser grelle Mißlaut verklungen, und so muß es jeder andere, wenn Sie ihn nicht in Ihrer Seele nachklingen[S. 21] lassen. Ich vermag nicht über frohe und schmerzliche Bewegungen in Ihrem innern und äußern Leben zu urtheilen, aber daß Sie die Gabe besitzen müssen, jede Dissonanz in den Akkord zu lösen, wenn Sie nur ruhig wollen, davon bin ich fest überzeugt.“
„Ruhig wollen?“ wiederholte sie — „Ich kann mir nur ein heftiges, heißes Wollen denken.... wer Ihr Mittel besitzt, der bedarf seiner schon nicht mehr!“
Sie schwieg einen Augenblick, wendete sich gegen ihn und sprach mit leiser Stimme, aber jedes Wort betonend und langsam: „Könnten denn Sie Jemanden — — so recht innig — vom Grund des Herzens — bis in den Tod — — unversöhnlich hassen?“
Mag man es einen Wahnsinn nennen, daß Arnolds Blut heiß aufwallte und zum Herzen drang, als die Worte, so langsam einander folgend, jedes die Erwartung des folgenden spannend, über die wunderbar reizenden Lippen traten.
Konnte er sich denn auch nur träumen lassen, daß statt „hassen“ ein anderes Wort schließen würde? — Und wenn es kam — — hätt’ er sich dessen freuen können? — War er der Mann, der ein Glück in einem flüchtigen Abentheuer fand, wenn die Frage von der schlimmsten, rasch auf ihr Ziel hinsteuernden[S. 22] Koketterie eingegeben war? — und welche Erklärung hätte es gegeben für eine solche Frage an einen jungen Mann, den die schöne Frau eine Stunde lang nicht kannte, sondern sah? welche Erklärung, die nicht dem Paradiesvogel ihrer Anmuth die schönsten Schwungfedern, dem Schmucke ihres Geistes die glänzendsten Juwelen ausgebrochen hätte?
Doch das andere Wort kam eben nicht, und einen Augenblick später freute er sich dessen.
Seine Wangen waren aber mit einer im Abenddunkel freilich nicht sichtbaren Glut übergossen, als er bei der Dissonanz, womit die Frage schloß, erst klar fühlte, welchen Klang er erwartet... welche Gedankensünde er gegen sie begangen.
Sie war ihm zu verzeihen. — „Ich möchte — sagte er, vor Allem Sie fragen, wie kann ein so harter, wie ein dreischneidiger Dolch geschliffener Gedanke aus weichen Frauenlippen kommen?“
„Vielleicht, entgegnete Julie, — ist eben nur eine Frau in ihrer Schwäche eines solchen fähig; ich habe die kräftigsten Charaktere stets am versöhnlichsten gefunden, vielleicht mit Ausnahme eines Einzigen.“
„Der Zweite, rief Arnold, bin nicht ich! Ein dreifaches Nein! Ein Haß, wie Sie ihn malen, ist ein Ungeheuer unter den menschlichen Gefühlen, ist[S. 23] vielleicht die einzige, durch nichts zu tilgende Schuld gegen die Menschennatur! Ob ich zu den kräftigen Charakteren in Ihrem Sinne gehöre, vermag ich nicht zu entscheiden; die Ziele und Hindernisse, an denen ich meine Kräfte zu messen habe, liegen noch vor mir. Daß ich mir aber kein Verbrechen denken kann, das nicht endlich gesühnt werden, — und so auch keinen Haß, der nicht endlich erlöschen könnte, das ist wahr — so wahr, daß ich Sie — Vergebung meiner Offenheit! — innig beklagen würde, wenn Sie das, was Sie aussprachen, in seiner furchtbaren Bedeutung, in seiner ganzen tödtlichen Kälte zu fassen, zu begreifen vermöchten!“
War es doch das Nachzittern des nicht gesprochnen „andern“ Wortes, das ihn so heiß gegen den kalten Haß reden ließ?
„Es wird eine Zeit kommen, entgegnete Julie ruhig, wo Sie meine Frage, die Sie befremden muß, begreifen, — wo Sie auch den Grund derselben nicht hören, sondern so zu sagen mit erleben. Ich glaube, Sie werden unserem Hause, werden mir nicht fremd bleiben. — Daß Sie den Freinhof heute nicht verlassen, sondern die Gastfreundschaft annehmen, welche Ihnen dessen Besitzerin anbietet, versteht sich von selbst. Erst jetzt, da ich Sie den Bekannten, die Sie treffen,[S. 24] vorzustellen wünsche, bitte ich Sie mir zu sagen, welchen Namen ich nennen darf.“
„Ich heiße Arnold Korbach und theile letzteren Namen mit der Besitzung meines Vaters, dem Korbachthale, sechs Stunden von hier, wo unsere Metallfabrik liegt. — Ich habe mehr als ein Jahr auf der Reise in Begleitung eines Freundes meines Vaters zugebracht und wollte, nachdem ich nach der Rückkehr einige Tage bei den Meinigen verlebt, mit dem heutigen Nachttrain nach der Residenz, wo ich noch ein Jahr künstlerische und technische Studien betreiben werde, um dann die Leitung unserer Werke zu übernehmen.“
— „Ihr Name war für mich kein fremder Klang. Ich hörte Ihres Vaters bei vielen Gelegenheiten auf eine solche Weise erwähnen, daß ich mich nun doppelt freue, den Sohn eines von allen Rechtlichen so hochgeachteten Mannes kennen zu lernen. Der schwere Schlag, welcher im vorigen Jahre Ihr Haus durch den Tod Ihrer würdigen Mutter getroffen, deren segensreiches Wirken in weiten Kreisen bekannt war, hat innige Theilnahme auch bei denen erregt, welche sie nicht persönlich kannten.“
— „Die Kreise, von denen diese mir wohlthuenden Worte gelten, sind zwar höchst achtungswürdige, aber wohl kaum weite. Man kannte meine[S. 25] Mutter als die Gründerin der protestantischen Kolonie in Korbach, kennt meinen Vater als den Beschützer derselben, — als freisinnig, — verzeiht ihm in gewissen Regionen nicht, daß er, selbst Katholik, meine Schwester und mich im Glauben der Mutter erziehen ließ, und — ich werde mich nicht täuschen, wenn ich annehme, daß bei dem hier zu Lande herrschenden Geiste die Zahl Derer, welchen ein Unglück unseres Hauses Freude bereitet, größer ist als jene der freundlich Theilnehmenden.“
— „Ich hörte auch in diesem Sinne sprechen, und Sie können auf Ihre Feinde nur stolz sein. Glücklich, der in unabhängiger Lage sich des Beifalls der Guten freuen kann, ohne den Haß der Schlechten zu scheuen. Sie athmen Freiheit! Ein Wort, das mir wie eine ferne Kindheitserinnerung klingt. — Der Schlag der Hämmer in Ihren schönen Werken, deren blühenden Zustand Alle preisen, mag all’ dieß feindliche Gerede übertönen. Es freut mich, Sie gerade dieser Bestimmung entgegengehen zu sehen. Das Bild der Metallfabrik stimmt für mich zu Ihrem Wesen. Ich konnte mir Sie nicht am Schreibtische als Beamten, eben so wenig als künftigen Advokaten, Literaten, kurz als ein Mitglied der schreibenden Welt denken. — Nun sind wir im Augenblick zur Stelle — — in einiger Zeit wird Knorr auf Ihr Zimmer[S. 26] kommen, Sie ins Schweizerhaus zu begleiten.. vergessen Sie einstweilen meine seltsame Frage — urtheilen Sie überhaupt heute nicht über mich, Sie würden es vielleicht widerrufen müssen.“
Arnold drückte die dargebotene Hand. Sie waren gelandet; Hausleute und Diener des Freinhofes drängten sich unter Aeußerungen der Freude um Julie, welche freundlich dankte, Arnolds Jacke abstreifte, die sie ihm lachend über die Schulter hing und, von einem Mädchen gefolgt, nach der Mitte der Gebäude zuschritt. — Ein junger Diener in Jagdlivree hatte Arnolds Reisetasche demselben vorgetragen und führte ihn nach links, einige Stufen hinan, über einen hölzernen Gang, dessen geschnitzte zierliche Säulen, von Schlinggewächsen umsponnen, das vorspringende Dach trugen, in ein im bekannten Stile aller eleganten Chalets gehaltenes Zimmer, wo ihn aller Comfort empfing, welchen Reichthum und Geschmack vereinigt dem Gaste zu bieten vermögen. — Der Erzähler dieser Geschichte weiß, was er selbst und Tausende seiner Mitgeschöpfe unter Lokalitäten-Beschreibungen gelitten. Dieses mitleidslose Herumzerren durch Haupt- und Nebengebäude, das Inventarium sämmtlicher Einrichtungsgegenstände, meistens nur zu dem Zwecke, die Begabung des Autors als Dekorateur und seine Fachstudien im Tischler- und Tapazierer-Handwerk[S. 27] zur Schau zu stellen — — dieses Alles bildet ein dem Gesetze nicht erreichbares Vergehen gegen die Sicherheit des arglos vertrauenden Lesers, welches als Mißbrauch der schriftstellerischen Amtsgewalt zu bezeichnen wäre.
Dieser Ansicht gemäß sei hier der reizende Freinhof mit der rücksichtsvollsten Kürze gezeichnet.
Auf der vom Seeufer sanft aufsteigenden Anhöhe, an den Waldhang gelehnt, steht das Schweizerhaus, Juliens Wohnung, — ein Stockwerk hoch, von uralten Tannen überragt.
Der feste steinerne Unterbau enthält zwei Dienerwohnungen, eine Küche und Kammern; der obere Theil, aus röthlich braunem Holze, zwei große Zimmer nach dem See hin, welche als Gesellschafts- und Musiksalon dienen, und vier kleine Piecen nach der Waldseite: Juliens Schlafgemach, ihr Boudoir, ein Bibliothekzimmer, ein Maler-Atelier.
Offene Gänge mit schlanken hölzernen Säulen und leichtem Dache verbinden das Schweizerhaus mit den beiden ebenerdigen Flügeln. An den hohen Bogenfenstern dieser aus rothen Ziegeln aufgeführten, mit grauem Schiefer gedeckten Gebäude läuft, in der Höhe von sechs Stufen, eine Gallerie hin, über welche wir, und zwar im linken Flügel, der die Fremdenzimmer enthält, bereits Arnold begleitet haben. —[S. 28] Den rechten Flügel bewohnt der Herr des Hauses bei seinen in den ungleichsten Zwischenräumen stattfindenden Besuchen des Freinhofes.
Etwa hundert Schritte von diesem Flügel, durch Baumgruppen von den Wohngebäuden getrennt, durch eine schattige Zufahrt mit denselben verbunden, liegen die Wirthschaftsgebäude.
— — — Julie war vor ihrem Mädchen die Treppe hinaufgeflogen in ihr Boudoir, hatte sich auf die Ottomane geworfen, und lag einige Minuten regungslos, ein Marmorbild, mit geschlossenen Augen da. Das Mädchen stand schweigend und betrachtete sie mit sanftem mitleidigen Blick; sie sah dieses Bild wohl nicht zum erstenmale. Julie schien nach einiger Zeit aus einem Mittelzustande zwischen Schlaf und Ohnmacht zu erwachen, und sagte leise und freundlich: „Nimm die Lampe weg, Martha, und komm in einer halben Stunde“ — und als sie im dunkeln Gemach allein war, drückte sie das Gesicht in die Kissen und zog, von Fieberschauer geschüttelt, einen Shawl fest um sich. Ob der zitternde Athem, der fliegende Puls, — ein Schmerzenslaut, der sich aus ihrer Brust rang, von einem Leiden des schönen Körpers, ob von einer tieferen, nur in einsamer Minute die Fesseln brechenden Seelenqual herrührten? — Vielleicht würde, hätte er sie belauschen können, derjenige die rechte[S. 29] Antwort getroffen haben, der sie doch nur eine Stunde lang kannte, — Arnold, wenn anders der Wunsch zu errathen die Fähigkeit des Errathens schärft.
Seele und Sinne hatten in der kurzen Stunde einen tiefen Eindruck empfangen. Er war aber gewohnt, keinen Eindruck in träumerischem Halbdunkel zu lassen: er war vor Allem wahr gegen sich selbst. Mit bestimmten Fragen beleuchtete er jedes nebelhafte Gebild in seinem Innern, bis es Gestalt und klaren Umriß gewann, und dann ward es warm im Herzen gehegt oder kalt abgestoßen.
Er fragte sich: Kannst du dich einer Empfindung entsinnen wie die, welche diese Frau in dir erregt? — Nein. — Kannst du dieses Gewoge von Eindrücken, welche dich während dieser Spanne Zeit bald erfreuten bald verletzten, Liebe nennen? — Nein. — Wie nennst du es also? — Er fand aber keine Antwort.
— Nachdem er sich in seinem Zimmer eingerichtet und den Inhalt seiner Reisetasche, — Zeichenmappe, Tagebuch, — geordnet auf dem Tische lagen, trat er ans Fenster und sah nach dem stillen See hinaus. Die Bilder des Abends begannen den dunkeln Raum vor seinen Augen zu füllen: er duldete dießmal die Träumerei und stellte sich keine Fragen mehr.
Alle glänzenden und bleichen Bilder verschwanden aber plötzlich, wie Geister beim Hahnenrufe, bei den Tönen, welche die Ankunft Knorrs und seiner Gefährten verkündeten.
Er sah sie landen und sich nach dem Fremdenflügel wenden, — trat vom Fenster zurück und in der folgenden Minute wurde die Thür aufgerissen und Knorr schritt herein.
Seine Erscheinung war darnach angethan, um Arnold vollends aus seiner Gedankenflut auf den festen Boden der Wirklichkeit zu heben. Knorr aber mußte den festen Boden mit wirklichem Wasser vertauscht haben, denn dasselbe triefte noch von seinen am Leibe hängenden Kleidern, rieselte von den Haaren, perlte im Bart, und die damit gesättigte Hutkrempe hing schlaff über die Stirne. Er warf das formlose Filzgebilde in einen Winkel und sich selbst in ein Fauteuil, mit den Worten: „Ich schlage vor, uns einander nicht vorzustellen, überhaupt unsere Bekanntschaft gar nicht anzufangen, sondern bloß fortzusetzen. Meinen Namen hat Ihnen Frau Julie bereits gesagt und jedenfalls ein Beiwort angefügt, welches näher oder ferner mit dem Begriffe von „verrückt“ verwandt ist. Ich dagegen sah Sie zum erstenmal, als Sie aufs Aufopferndste bemüht waren, eine schöne Frau im Dunkeln über einen See zu fahren.“
„Welche aber, unterbrach ihn Arnold, Ihren Namen nicht bloß in Begleitung des obigen Beiwortes, sondern auch mit einem Zusatze nannte, welcher beweist, wie hoch Sie in ihrer Meinung stehen.“
„So hoffe ich,“ sagte Knorr, „und was nochmals das Beiwort betrifft, so ist im Freinhof und im übrigen Europa die Grenze zwischen verrückt und gescheidt noch nicht ausgemittelt worden.“ —
„Jedenfalls, rief Arnold, müssen Sie vor Entscheidung dieser Grenzfrage trockene Kleider anziehen und das sogleich, sonst müssen Sie krank werden.“
„Auch das wünscht’ ich der Neuheit wegen einmal zu versuchen, sagte Knorr, und unserm Doktor zu Lieb, der bei dem Gesundheitszustand dieser Gegend sein Dasein bloß durch Wilddiebstahl fristet. Mit mir hat es aber keine Gefahr: ich werde trocknen, indem ich Ihnen erzähle, warum ich naß bin. Die hölzerne Julia, weniger leicht gebaut und eben so unberechenbar wie ihre lebendige Namensschwester, war nicht dicht ans Ufer zu bringen. Wollte man alle Gewalt anwenden, so verrannte sich der tiefe Kiel in den Sand, oder die Julia keilte sich zwischen die Steine und nahm Schaden, und der Hofrath, Reiland, die Schiffsleute und ich konnten als sieben linke Schächer über Nacht am rothen Kreuz hängen. Da Herr von Blauhorn zu weinen anfing, that ich[S. 32] einen Satz ins Wasser, nahm ihn auf die Schulter und schritt, wie der große Christof mit dem Weltheiland, auf die Julia zu. Da geräth mein linker Stiefel auf einen lockern Stein, die ganze Gruppe stürzt in sich zusammen und ich liege, meiner vollständigen Länge nach, auf dem Rücken im hochaufspritzenden Gewässer und habe die Selbstverleugnung, in dieser Verfassung meine Bürde mit den Armen über meiner Brust in die Luft zu halten, bis die Schiffsleute dieselbe übernehmen. Das Wasser, welches da von mir wie von einem Regenschirm abtropft, war Zeuge dieser That.“ —
Arnold fühlte sich von der ehrlichen Seele, die aus den großen, derben Zügen des Erzählers leuchtete, angezogen, und sagte: „Sie haben scherzend erzählt, und im Ernst sehr schön gehandelt.“
„Ich denke wohl“ — erwiderte Knorr, seinen Filz ausdrückend und schritt von dannen, da Arnold entschieden auf dem Kleiderwechsel bestand und seine Begleitung in das Schweizerhaus ablehnte.
Es verging eine halbe Stunde, bis sich die Fenster desselben erhellten. Er sah nach und nach mehrere Gäste des Freinhofes von seinem Flügel aus hinübergehen. Der Diener hatte erzählt, daß ein Theil der Gesellschaft, auf einem anderweitigen Ausfluge gleichfalls vom Gewitter überrascht, fast gleich[S. 33]zeitig mit Arnold angelangt war. — Er folgte nach einiger Zeit, und als er über die von außen auf die Gallerie des Schweizerhauses führende Treppe an das erste offene Fenster des Salons gelangte, wurde er, aus dem Dunkel kommend, von dem Glanz geblendet, der ihm entgegenstrahlte.
Die sechs Kristallkugeln der Hänglampe im Verein mit der großen Lampe des Theetisches gossen fast überreiches Licht über den behaglichen Raum. Die Geister Aladins schienen einen kleinen Salon der Residenz mit seinem ganzen weichen, glänzenden, warmen, duftenden Inhalte aufgehoben, über die Berge hingetragen und in die braunrothen Wände des Schweizerhauses niedergesenkt zu haben.
Er überblickte die Gesellschaft. Auf dem Ecksofa am Theetische war Reiland um eine blonde junge Frau beflissen, welche ihm zerstreut zuhörte und die lebhaften Augen klug und beobachtend von einem Mitgliede der Gesellschaft zum andern fliegen und nur manchmal auf ihrer Häckelarbeit ruhen ließ. Ihre Gestalt und Haltung machte den Eindruck der Selbstständigkeit und Entschiedenheit, welcher durch weiche, schöne Züge gemildert wurde. Das Fauteuil neben ihr besetzte ein Herr, in dessen Zügen nebst der entschieden günstigsten Meinung von sich selbst, auch die Kurse von Kredit und Nordbahn zu lesen[S. 34] waren. Er demonstrirte irgend Etwas mit großer Lebhaftigkeit einem vor ihm stehenden Husaren-Obersten und einem dürren, scharf und falsch blickenden Geistlichen. An einem Seitentischchen im Journal lesend, saß Knorr in einem, dem riesenhaften schwarzen Holofernes-Kopfe zur besondern Folie dienenden weißen Drill-Anzuge —, das Höchste, was er an „Staat“ entwickelte, wenn es galt zu repräsentiren, wie bei den seltenen Besuchen, womit er, und zwar erst in neuerer Zeit, den Kollmann’schen Salon beehrte. Ihm gegenüber der Hofrath, blaß und in sich zusammengeschrumpft, mit Bleistift in seine Tablettes schreibend. Zwei schöne Mädchen von etwa sechszehn und achtzehn Jahren schwätzten mit einigen jungen Leuten, deren Schablonengesichter durch die Gebirgstracht, die sie zum Freinhofbesuch angelegt, noch unbedeutender als gewöhnlich erschienen.
Einen Augenblick fühlte sich Arnold von der ganzen fremden Welt, die ihm durch die leichten Vorhänge entgegenglänzte, so abgestoßen, daß ihn der Gedanke anwandelte, auf seine Zimmer zu gehen, einen Brief mit Dank und Lebewohl an Julie zu schreiben, und dann — die Reisetasche gepackt — in die Nacht hinaus — über die Föhrleiten zum Bahnhofe... Der Abend sollte dann ein für sich bestehendes Bild, das mit seinem früheren und späteren Le[S. 35]ben nicht zusammenhing, sollte nur die letzte und schönste seiner Reiseerinnerungen bleiben.
Doch fühlte er schnell das Unpassende eines solchen Benehmens. Hätte er sich mit gewohnter Gewissenhaftigkeit befragt, so hätte die Antwort gelautet: du bleibst nicht weil das Gehen unpassend ist, sondern weil du sie nochmals sehen willst.
Er trat ein; die Gesellschaft ohne sie schien ihm ein Wachsfigurenkabinet. — Nach leichter Erwiederung seines leichten allgemeinen Grußes kümmerte sich Niemand um ihn, außer Knorr, welcher aufstand, ihn in ein Fenster zog und sagte: „Studiren Sie sich die Gesichter und sagen Sie mir aufrichtig, welches Ihnen das unausstehlichste wäre.“ Arnold lächelte und entschied für den Geistlichen. „Ins Schwarze getroffen! — sagte Knorr. — Uebrigens wird noch der Herr des Hauses in der Nacht erwartet.“ —
Jetzt flog die Thür des Boudoirs auf, und im hellblauen Kleide, rothe Mohnblumen im Haar, trat Julie herein, mit leichtem elastischen Schritte, ein strahlendes Lächeln um die frischen Lippen, Rosenflammen auf den Wangen, Liebreiz und frohes Leben in jedem Zuge des Gesichtes, jeder Wellenlinie der Gestalt, und das Siriusfeuer ihrer Augen durchflog elektrisch den Kreis, der sich um sie zusammendrängte.
In den ersten drei Minuten waren auf jeden[S. 36] der Anwesenden von der Springflut ihrer Begrüßungsworte einige Tropfen gefallen: Jeder mochte das Gefühl des Bevorzugtseins haben. Eine Umarmung der blonden Frau, ein Handreichen an den Obersten, den Banquier und Knorr, eine für den feineren Beobachter fast ironische Verbeugung vor dem Geistlichen, zwei Küsse auf die beiden Mädchenstirnen — — das folgte einander in leichtem Fluge, wie wenn der Wind die Blüten vom Baume weht. — Und nun klangen die Stimmen in jenen Chor zusammen, welchen manchmal eine Gesellschaft in dem Moment anstimmt, wo ein Alle gleichmäßig berührender Gegenstand wie das heutige Gewitter und die Wechselfälle der Seefahrt sich darbietet, den nun Alle wie einen Ballon aus den Raquettes des Gespräches umherfliegen lassen und dem Nachbar zuwerfen, bis Jeder sein heureux mot, seine Frase los geworden.
Julie durchbrach den Kreis, ging auf Arnold zu und führte ihn an der Hand zum Sofa mit den Worten: „Wir haben heute zusammen die Launen eines treulosen Elementes getragen, nun bleiben Sie mein Nachbar und ruhen Sie hier im Genusse, den jedes überstandene Leiden gewährt.“ —
Arnold, der um die Welt gern wieder auf dem treulosen Elemente gewesen wäre, entgegnete: „So erquicklich auch die jetzige Lage, so wüßte ich doch[S. 37] nicht, daß sie vor jener, die Sie als überstandenes Leiden betrachten, für mich einen andern Vorzug hätte, als den, Sie selbst in schöner, behaglicher Sicherheit zu sehen.“
„Nun müssen Sie noch dazusetzen — sagte Julie, daß für den Mann der Kampf mit den Fluten beglückender ist als der Frieden am Samovar, und beidem ist genügt, sowohl der Galanterie, die Sie im Westen gelernt, als dem Stückchen Nordlandsrecke und Junker Frithiof, das Sie aus der Heimat mitgenommen und, in seiner besten Bedeutung, wieder zurückgebracht haben.“ —
„Wie kann man einen so traurigen Namen haben? wer heißt doch Friedhof!“ rief der Banquier Hr. v. Wörlitzer aus; und da gewisse Fragezeichen auf der Stirn des Obersten und des Hofraths verriethen, daß auch sie sich nicht in der Lage befanden, das Mißverständniß zu lösen, so nahm Reiland das Wort und sagte: „Herr von Plomberg, der Mann des Schwertes, ist durch seine Thaten auf dem Schlachtfelde der Verpflichtung enthoben, die erdichteten der alten Germanen zu lesen, und sowohl der Herr Hofrath, als Herr von Wörlitzer, der Mann des allbeherrschenden Goldes, dürften bei ihren reellen Geschäften kaum Muße finden, sich mit den Nebelbildern altdeutscher Poesie zu befassen.“
„Gehorsamer Diener, rief der Oberst, meinen Sie vielleicht die Thaten im letzten Feldzug, wo mein Regiment immer da stand, wo es kein Mensch brauchte? In den Stunden unsers müßigen Zuschauens, wo wir uns nicht rühren durften, wenn unsere Leute unter unsern Augen zusammengehauen wurden, hätte ich den ganzen Junker Friedhof oder wie er heißt zehnmal auswendig lernen können!“ — Das Gesicht, welches Knorr bei Reilands vermittelnder Anrede aufgezogen hatte, läßt sich nicht beschreiben. „Da haben wir das tägliche Brot, die Politik,“ brummte er vor sich hin.
Und so kam es auch. In wenigen Minuten hatte sich das Gespräch der Tagesfragen bemächtigt und trug den Charakter jener allgemeinen Verstimmung und Gereiztheit an sich, welcher seit dem letzten Friedensschlusse auch die konservativsten Elemente ergriffen hatte. Der Oberst, der Geistliche, der Banquier, der Hofrath konnten als Vertreter der Stände gelten, welche die Grundpfeiler des Bestehenden vorstellen, aber Alle waren darüber einig, daß die öffentlichen Zustände beklagenswerther geworden als je, mit dem Unterschiede, daß der Soldat und der Geistliche das Heilmittel in einem entschiedenen Rückwärts erblickten, — der Banquier in einem ent[S. 39]schiedenen Vorwärts, während der Hofrath zwischen den Kontrasten durchlavirte.
Besonders lebhaften Antheil nahm die blonde junge Frau, welche, als dieses Thema auftauchte, in kurzen scharfen Sätzen die Meinungen zusammenfaßte, und den beurtheilten Personen und Verhältnissen jene schonungslosen Bezeichnungen gab, welche die Standeskonvenienz den Männern verbot. Das Gespräch durchlief seine natürlichen Stadien der Gährung und endigte, wie all’ die Tausende seinesgleichen, mit dem Refrain: „So kann es nicht bleiben.“
Bald nach Beginn desselben hatte Julie sich erhoben, Arnold gewinkt ihr zu folgen und ging mit ihm in den Musiksalon, wo sie sich in eine Causeuse in der Fensterecke setzte.
„Wir sehen uns nun erst eigentlich wieder, — begann sie, denn bei der Gesellschaft draußen waren Sie mir so ferne als in Ihrem Zimmer im Fremdenflügel. Waren Sie denn nicht überrascht, fuhr sie lächelnd mit Selbstironie fort, mich als Rose wiederzufinden, nachdem Sie mich als Lilie verlassen hatten?“
„Ich gestehe, daß entweder die natürlichen Umwandlungen Ihres Wesens wunderbar rasch vor sich gehen, oder daß Sie eine, ich möchte sagen, übermenschliche Kraft besitzen, um so zu scheinen — —[S. 40] denn was kann eine Frau, welche angegriffen, leidend, nach einer bestandenen Lebensgefahr zurückkehrt, bewegen, eine Stunde später eine solche Fülle von geselliger Liebenswürdigkeit zu entwickeln, während ihr vielleicht die Einsamkeit ein Labsal wäre, — und einen Frohsinn — verzeihen Sie mir den Ausdruck, — zur Schau zu tragen, der Sie, wenn ich nach dem Eindruck der kurzen Seefahrt über Ihr Wesen urtheilen dürfte, ein Opfer kostet, — — das Diejenigen, denen es gebracht wird, kaum zu erkennen scheinen?“
Julie sah ihn überrascht, — sinnend, — erfreut an und sagte:
„Genug, ich besitze diese Kraft; was mich bewegt, sie anzuwenden, wird Ihnen so wenig ein Räthsel bleiben, als meine befremdende Frage auf der Heimfahrt.“
„Ein Räthsel ist mir der ganze heutige Abend, von dem Augenblicke an, wo ich Sie am Felsenufer begrüßte, bis zum jetzigen. Der Freinhof selbst war ja wie ein Märchen vor mir aufgetaucht an einer Stelle, von welcher mir, als ich sie vor Jahren betrat, nur das Bild der tiefsten Einsamkeit und Abgeschiedenheit geblieben. Ihre Worte aber, aus der Luft des freundlichen Scherzes in geheimen Tiefen tauchend, klingen mir, wenn auch als ungelöste Räth[S. 41]sel, in der Seele nach, und werden mich begleiten, wohin mich das Leben auch führe. Eine Unwahrheit wäre es aber, wenn ich sagte, daß der Eindruck, den ich mitnehme, ein froher, glücklicher ist. Sie sind beides nicht.“
„Arnold!“ erwiederte sie, und ihre duftigen Locken berührten fast seine Wange — „ich spreche zu Ihnen, wie keine Frau vor mir zu Ihnen gesprochen, vielleicht keine sprechen wird. Ich vertraue Ihnen, weil die Wahrheit selbst ihre Gestalt der Lüge geborgt haben müßte, wenn aus Ihren Augen ein falsches Gemüth blicken könnte. Ich sage Ihnen, ich weiß, daß Sie den Freinhof, daß Sie mich nicht vergessen werden, — weiß, daß wenn ich einen Beweis dieses Gedenkens, selbst ein Opfer von Ihnen forderte, Sie mir Alles verheißen, Alles erfüllen würden.“
Arnold war, wie ein im Blumenduft Schlummernder, betäubt: das war wieder der tiefe in der Seele nachzitternde Ton der Stimme — waren wieder die langsam, in spannenden Zwischenräumen einander folgenden Worte.
Sie neigte sich im Sprechen zu ihm, und der reiche Flor der wundervollen Formen lag warm mit mattem Glanze vor seinen verwirrten Augen. — —
Er fand keine Worte als die Bitte, jenen Beweis, jenes Opfer zu nennen!
Sie erwiederte: „Die Zeit, wo Sie Ihr Wort erfüllen, wird kommen! — — Wenn ich Sie errathe, so kann Ihnen in der Gesellschaft, zu der wir nun zurückkehren, nicht heimisch zu Muthe sein; wenn Sie sie verlassen, nehmen Sie von Niemandem Abschied; es wird, wie es hier gehalten wird, Keinem auffallen. Den Brief, den ich Ihnen hier gebe, sind Sie so freundlich, in der Stadt an seine Adresse zu geben. Und nun, da Sie vor Tagesanbruch über die Höhe wollen — sagen wir uns hier Lebewohl, — auf Wiedersehen!“
Ihre Hand hatte während des ganzen Gespräches in seiner geruht; sie zog sie bei den letzten Worten zurück, stand schnell auf, und im nächsten Augenblicke schlugen die Wellen der Gesellschaft über die Blumenauen zusammen, welche für Arnold mit Zauberschnelle erblüht waren in der tropischen Wärme des Gespräches im matt erleuchteten Musiksalon — — in welchem wohl noch keine Melodie einen Hörer mächtiger ergriffen haben mochte. — — —
Sie tönte fort durch die stille Nacht, als er in seinem Gemache am Fenster stand und auf den dunkeln See hinaussah.
Hell flammten die Lichter im Schweizerhause. Es war ihm peinlich, sich diese Gesellschaft als Rahmen des Bildes zu denken, das ihn erfüllte.
Er dachte sich’s am rothen Kreuze, mit einem Kranze von Alpenrosen. —
Ein rollender Wagen und Stimmen verkündeten die Ankunft des Besitzers des Freinhofes. — — —
Erst lange nachdem jedes Licht verlöscht und jeder Laut verstummt war, legte sich das Gewölk des Traumes um Seele und Sinne, die Bilder des Abends mit weichem Schmelz verklärend, — wie der Goldnebel am See die Gestalt der — Geliebten? —
[1] Krummholz.
Sechs Stunden nur liegen zwischen dem Augenblicke, wo Arnold von der jäh aufsteigenden Bergstraße den letzten Blick nach dem Freinhof geworfen, welchen der weiße über Thal und See liegende Morgennebel nach wenigen Schritten seinen Augen verhüllte, — und zwischen jenem, wo er in der Hauptstadt aus der Halle des Bahnhofes tritt, um sich in den nächsten Wagen zu werfen, da er in seiner Gebirgstracht auch nicht die wenigen Straßen durchwandern will, die ihn von seiner in der hochgelegenen Vorstadt nächst dem Bahnhofe befindlichen Wohnung trennen.
Sein Diener kniet nun vor dem bereits seit einigen Tagen vorausgeschickten Reisekoffer, reicht ihm Stück für Stück in die Hand und nach einer Stunde ist Alles geordnet, jedes Ding an der Stelle, die es einnehmen soll, und so lange er in dieser Wohnung bleibt, einnehmen wird, und die ganze Einrichtung des[S. 45] kleinen Salons, des Schlafzimmers und Arbeitskabinets gewährt ein wohlthuendes Bild der Nettigkeit, Einfachheit, des Praktischen und Zweckmäßigen.
Nun fährt er nach der Fabriksniederlage in der Stadt, wo er von alten und jungen Bediensteten, vom Geschäftsführer bis zu den Knechten in den Magazinen, mit achtungsvollen Freudenbezeigungen empfangen wird, und sich mit Ersterem aufs Comptoir begiebt, wo er in Büchern und Korrespondenzen arbeitet, — Bestellung von Aufträgen seines Vaters an Geschäftsfreunde, — ein schnelles Mittagsmal in einem Hotel, Besuche in zwei Maschinenfabriken, bei alten Bekannten seiner Familie und bei Freunden, welche er mit Ausnahme dessen, nach welchem er sich am meisten gesehnt, alle zu Hause trifft, haben die zweite Hälfte des Tages in Anspruch genommen, und er kehrt in seine Wohnung zurück und setzt sich ans Schreibpult, um dem Vater und der geliebten Schwester Helene den ersten Gruß aus der Residenz zu senden.
Und diese zwölf thätigen, wechselvollen Stunden hatten die Bilder des vorigen Abends mit mehr Schleiern bedeckt, als eben so viele Tage eines einförmigen unbeschäftigten Lebens vermocht hätten.
Wer hat nicht die Erfahrung gemacht, daß am zweiten oder dritten Reisetage eine Woche zwischen die[S. 46]sem und dem Abschiede von der Heimat zu liegen scheint, — daß ebenso die Eindrücke der Reise von denen, welche den Rückkehrenden umfangen, schnell in eine gewisse Ferne gerückt werden?
Mächtig hatte das eigenthümliche, wie mit magnetischen Strichen bezaubernde Wesen der reizenden jungen Frau auf Arnold gewirkt. Aber seine gesunde jugendliche Kraft kannte keine Schwelgerei in einem Gefühle um des Gefühls willen: er goß in eine Flamme, die in ihm aufzuckte, weder Oel noch Wasser. So viel natürliche Nahrung sie in seinem Innern vorfand, so lange eben brannte sie und so helle.
Schon auf dem drei Stunden langen Wege über das Gebirge in der Morgenfrische milderte sich das schmerzliche Gefühl, womit er, aus seinem Zimmer tretend, zur Gardine des Eckfensters im Schweizerhause hinaufgeblickt hatte.
Die Reise hatte seinen Blick erweitert, seine edelsten Kräfte entwickelt und nun war der Augenblick gekommen, wo das Sistem sich bewähren sollte, welches sein Begleiter, Sprenger, der treffliche, kluge Freund seines Vaters, befolgt hatte, als er es sich zur Aufgabe gemacht, der Mentor des jungen Mannes zu sein, ohne es zu scheinen.
Er hatte keinen Sumpf und keine Giftblume vor[S. 47] ihm verhüllt; — aber den Sumpf durch kalte ruhige chemische Analise in seine ekelhaften Bestandtheile aufgelöst, die Giftblume vor den Augen des Jünglings botanisch zergliedert, medizinisch ihre zerstörende Kraft erwiesen, ohne Duft und Farbenpracht wegleugnen zu wollen.
Wohl wußte er, daß ein jugendlich heißes Blut weder durch Reflexionen noch moralische Abschreckungstheorien zu kühlen sei; er eiferte nicht gegen Weiber, nicht gegen Liebe, ja nicht einmal gegen Sinnenliebe, sondern suchte vor Allem in seinem Telemach jenen Stolz zu entzünden, der vor Wegwerfen seiner selbst und vor Zersplitterung bewahrt.
Mit klaren Worten gerade aufs Ziel losgehend, mochte er sagen: „Die Gelegenheit, durch Handeln den höhern Platz, der deinen Kräften gebührt, einzunehmen, dich positiv auszuzeichnen, ist dir nicht immer, ist dir jetzt nicht geboten: aber negativ, durch Unterlassen, dich vor den meisten deines Alters auszeichnen, das kannst du immer; — liebe, wenn dir die Rechte begegnet, mit ganzer Seele und ganzem Sinne, aber niemals soll dich Eine haben können bloß deswegen, weil sie dich haben will, und wäre sie die Reizendste ihres Geschlechts. — So wenig der Mann sich „heirathen lassen“ soll, so wenig soll er sich „verlieben lassen.“ — Kurz du darfst nicht Mittel eines[S. 48] Weiberzweckes werden, sei dieser Zweck die Befriedigung einer Seelenschwärmerei oder eines Sinnenverlangens. — Liebe Eine, welche dich liebt, aber nicht, weil sie dich liebt. — Du wirst Derjenigen, die dich erfüllen und fürs Leben beglücken kann, nicht begegnen, ohne dich früher mehr als einmal getäuscht zu haben, das heißt du wirst nicht heirathen, ohne vorher ein Paar Narrheiten zu begehen, aber es seien wenigstens selbstständige, aktive Narrheiten, kein „halb zog sie ihn, halb sank er hin“ — kein passives Aufgehen in einer begehrlichen Laune einer Erfahrnen, welche an deinem frischen unverdorbenen Wesen die überreizten Nerven kühlen will, wie eine von der Mysterien-Literatur Uebersättigte sich plötzlich in „Dorfgeschichten“ und „Zwischen Himmel und Erde“ stürzt.“
Sicherlich gibt es keine Erziehungskunst, welche bloß durch aufgeführte Dämme eine junge Saat vor Ueberflutungen zu schützen vermag. Ein weiblicher Blumengarten mag auf solche Art eine Weile bewahrt werden: das männliche Schlacht- und Erntefeld ist nur sicher durch seine Höhe. Gelingt es nicht, das ganze Niveau des innern Menschen zu heben, so sind alle Dämme, die bald da bald dort durchbrochen werden, nutzlos.
Arnolds inneres Terrain war keine flache Niederung. Die gefährlichen Wasser, die ihn einige Mo[S. 49]nate hindurch in Paris und London umspülten, reichten nicht hinan. Der vorhergegangene, Geist und Körper stärkende Aufenthalt im Cockerill’schen Etablissement zu Seraing, wo Arnold, wie viele andere junge Männer aus guten Häusern, in der Blouse des Arbeiters in den Maschinenwerkstätten gehämmert und in den übrigen Stunden Sprachen und wissenschaftliche Studien betrieben, — hatte ihn an Kraftentwicklung und an den Genuß des Schaffens gewöhnt. Sprenger gab sich nie, am wenigsten in Paris, den Anschein ihn zu überwachen, behielt ihn aber fortwährend im Auge, und hatte die Befriedigung, ihn aus Versuchungen unbefleckt hervorgehen zu sehen.
Er stellte sich aber die Frage: „Vielleicht waren es für ihn keine Versuchungen?“
Wenn er sah, wie die Wange des jungen Mannes nicht nur beim Anblick eines großen echten Kunstwerkes sich höher färbte, sondern auch in der mit allem Sinnenreiz durchdufteten Atmosphäre der Oper, wie sein Auge nicht nur vor Laroche’s Napoleon, sondern auch vor Winterhalter’s Florinde aufflammte, so sicher er auch den innern Werth beider Bilder zu beurtheilen vermochte, so mußte sich Sprenger sagen: „er scheint nie anders als er ist, und wenn er das ganze hohe und niedere Lorettenthum an sich vorübergehen läßt, ohne durch einen Blick zu verrathen, daß[S. 50] es ihn reizt, so hat es ihn eben nicht gereizt. — Für dieses Wasser liegt er schon zu hoch. Ob nur für dieses?“
Die Zukunft allein konnte es beantworten: Sprenger hatte seine Aufgabe erfüllt und seinen geliebten Arnold so blühend und rein, so reizbar und offen, nur ernster und kenntnißreich in das Korbachthal zurückgeführt an das Herz des Vaters und konnte diesem sagen: „Laß ihn nun allein gehen: führen können wir ihn nicht weiter.“
Und nach drei im Schoße der Familie zugebrachten Tagen schlug Arnold, die kurze Fußreise durch das langentbehrte Gebirge vorziehend, den Weg ein, auf welchem wir ihm begegnet haben, und schritt im frohen Gefühle einer thätigen, ein bestimmtes Lebensziel verfolgenden Jugendkraft dahin.
Sumpf und Giftblumen lagen wohl tief unter ihm.
Aber ein kristallreiner Gebirgssee, — und eine weiße Wasserlilie —? — — — —
— — Der Brief nach Korbach war geschlossen und abgesendet. Arnold wollte spät am Abende seinen geliebten Freund Günther, den er verfehlt hatte, nochmals aufsuchen, als dieser bei ihm eintrat.
Ein gleiches Gefühl durchdrang beide bei der ersten innigen Umarmung — ein sehr ungleiches,[S. 51] als sie einander beim hellen Lampenschimmer betrachteten. Während Günther freudig ausrief: „Du bist ja ein ganz prächtiger Junge geworden!“ vermochte der Andere kaum den Schmerz zu verbergen, womit er in Günthers lebhaften, ausdrucksvollen Zügen jene Linien entdeckt hatte, welche gleichsam der Abdruck des Netzes sind, das eine unerbittliche Macht über ihr auserkornes Opfer geworfen. Nur die Stunde, wann es zusammengezogen wird, ist ungewiß; die Fäden sind unzerreißbar.
Reiseerzählungen und die Mittheilungen Günthers über Verhältnisse und gemeinschaftliche Bekannte in der Residenz füllten ein Paar Abendstunden. — Die heitere, sprudelnde Laune des Letzteren hatte gleichwol nichts von jener überreizten, verzweifelten Lustigkeit an sich, welche manchmal einen dem Tode Geweihten, seines Zustandes Bewußten, ergreift. Sie war ihm natürlich, und daß sie durch Vorstellungen, welche sie in vielen Andern gebrochen hätte, nicht einmal getrübt wurde, war das Ergebniß eines vollkommenen „mit sich Fertigseins.“ —
Das Band zwischen den Freunden war so fest geschlungen, — sie hatten sich mit ihren Eigenthümlichkeiten so vollständig in einander aufgenommen, daß sie nach der Trennung von vierzehn Monaten, so zu sagen im Buche ihrer Freundschaft ohne Nach[S. 52]blättern da weiterlesen konnten, wo es aufgeschlagen liegen geblieben war.
Arnold erzählte seine Reise zwar in natürlicher chronologischer Folge, langte jedoch unverhältnismäßig schnell im Freinhofe an. Er malte so ruhig und objektiv als möglich, nicht um vor dem Freunde ein halbes Geheimniß zu bewahren, sondern weil er kein ganzes zu haben glaubte. Nachdem er ihm die Aufschrift des Briefes, den ihm Julie gegeben „an Freiherrn Edmund von Sembrick“ gezeigt, welchen er heute nicht bestellt hatte wegen des Beisatzes „von 9 bis 10 Morgens zu treffen“ — schloß er mit den Worten: „Nun hast du Alles!“ — worauf Günther erwiederte: „Was habe ich? Nichts hab’ ich. Lieber Freund, den Abend im Freinhof, über den du jetzt in Worten, die eine halbe Stunde dauerten, geschwiegen, den mußt du mir erst erzählen.“
— „Ich habe dir Alles gesagt.“
— „Ja, Schifffahren, Stranden, Landen, Hutschwenken, Theetrinken, kurz wo sie hingegangen sind, was sie gethan haben, etwa noch was die Welt dazu gesagt hätte — das habe ich Alles bekommen. Was dein Herz dazu gesagt hat, das hast du weggelassen. — Ich bitte dich zu bemerken, daß du in deiner Geschichte nur eine halbe Stunde gebraucht hast, um über Brüssel, London und Paris in den Freinhof zu[S. 53] gelangen, und dann gerade eben so lang vom rothen Kreuz bis in die Fensterecke im Musikzimmer. Sei also so gut und rücke heraus, nach unserm alten Gelöbniß, uns nie Etwas nachträglich zu vertrauen!“
Er war lachend aufgesprungen und hatte Arnold an beiden Schultern gefaßt, ihn mit einem Gesicht ansehend, welches eine so unbeschreiblich komische Mischung von Grimm, gutmüthigem Spott und Bedauern war, daß es dem Freund, der diese Dekorazion wohl kannte, selten möglich war, auch nur die Voranstalten dazu ohne Lachen anzusehen. Als ihm jetzt dieses greuliche, hundert Erinnerungen gemeinschaftlicher Erlebnisse weckende Gesicht, ein wahres Kunststück Günthers, angrinste, fiel er ihm um den Hals und rief: „Du alter, guter, einziger Seelenbruder! wenn dir nicht mit einer Lüge gedient ist, so frage mich nicht weiter, — ich kann dir nur die verbrauchten Worte sagen: Ich weiß nicht wie mir geschehen. Ich weiß nur, daß ich, wenn ich nicht arbeite, immer an sie denke, und daß mir ist, als wenn ich eine vierzehnmonatliche Reise bloß nach dem Freinhof gemacht hätte!“
„Also hat doch der Teufel — —!“ rief Günther auf den Boden stampfend, und unterbrach sich mit den Worten: „Verzeih’, Alter! ich bin unverbesserlich, aber Gott sei Dank auch unveränderlich darin, daß[S. 54] mir, seit ich meine Mutter verloren, nichts so nah geht als was dich betrifft. — Jetzt schreibe mir alle Namen auf, die du im Freinhof gehört — einige klingen mir bekannt; ich werde morgen bei dir frühstücken und dich für deine Duft- und Nebelgeschichte in klingender Münze bezahlen.“
Arnold, dessen Gedächtniß jeden an seinen Gehirnwänden hingleitenden Klang behielt, wußte fast alle Namen und gab den Zettel dem Freunde, welcher rief: „Und nun leb’ wohl — bet’ und schlafe, daß dir besser werde!“ — und ging. — — — — —
Als Arnold allein, — als die Lampe verlöscht war, trat ein altes ewiges Naturgesetz in sein Recht: der Schleier des Tages war gefallen — der vorige Abend allein stand mit allem Zauber vor Arnolds Lager. Die duftenden Locken Juliens streiften wieder seine Wange. Er meinte, er müsse das Fenster öffnen und nach dem Schweizerhause sehen. — —
Günther las zu Hause den Zettel. — Die Namen waren für ihn keine todten Buchstaben, jeder rief ihm Menschen, Thatsachen, Erlebtes und Gehörtes vor.
Seine Freunde hatten oft von ihm gesagt, er habe einen spiritus familiaris, einen Taschenteufel, den er um Alles, was da vorgehe, befrage und der ihn hinter Gardinen und Konferenztische, in Geschäftsbücher und Liebesbriefe, durch den Schleier, den die[S. 55] Demuth über gute, und das böse Gewissen über schlechte Thaten legt, hindurchblicken lasse.
Heimliche Kriegszustände öffentlich friedlicher Familien, verborgene Krebsschäden scheinbar gesunder Vermögensverhältnisse, — Ehen, an deren im Dunkeln gebrochenen Ringe der gelöthete Sprung für die Welt unsichtbar blieb — Alles schien im Register des Taschenteufels aufgezeichnet, der seinem Herrn in jedem Augenblicke das verlangte Blatt hinhielt. — Und doch lag ihm nichts ferner als alles Forschen oder Eindrängen, aller an Weibern bemitleidenswerthe, an Männern geradezu verächtliche Klatsch. —
„Ich suche nicht und frage um Nichts — sagte er mit Recht — die Dinge kommen zu mir, sie fliegen mir an, wie Eisenfeile dem Magnet.“ — Der Kreis seiner Freunde war klein, der seiner Bekannten unübersehbar. — Durch seine Stellung als Beamter der Bank und Mitglied der Verwaltung einer der bedeutenderen industriellen Unternehmungen des Landes war er mit der Finanzwelt, durch seine leidenschaftliche Liebe zur Malerei und Musik mit allen Künstlerkreisen in Berührung.
Der Talisman, welcher das Wunder wirkte, daß ein nicht unbedeutender Mensch kaum einen einzigen Feind hatte, lag in einer Vereinigung von fester Selbstständigkeit, die sich nie etwas vergab, mit der[S. 56] durch keine Talente, durch keine sonstigen Vorzüge zu ersetzenden Gottesgabe der Liebenswürdigkeit — jener Liebenswürdigkeit, die nicht nur im ersten Augenblicke, sondern nachhaltend fesselte, weil sie auf dem festen Unterbau eines streng rechtlichen Karakters ruhte.
— Ueber das Ganze hin leuchtete eine heitere, oft geradezu tolle Laune, welche seine schonungslosen Einfälle nur als Schaumperlen im Champagner, nicht als verletzende Glassplitter erscheinen ließ. — Er besaß gewisse Privilegien in seinen Kreisen, von denen er bis an die äußerste Grenze Gebrauch machte. Es war unter den Frauen ausgemacht, daß „der Günther Alles sagen dürfe“ — — es lag eben in dem wie — — er machte seine Sprünge auf dem Glatteis anscheinend unmöglicher Gespräche ohne auszugleiten.
Dieses allgemeine Vertrauen war es, welches ihm in den verschiedensten Kreisen jene „Eisenfeile“ von Mittheilungen zufliegen ließ und dann verband er, mit Menschenkenntniß und scharfem Verstande kombinirend, ganz entlegene Daten und gelangte zu den überraschendsten Schlüssen. —
Dem Zustande seines Körpers, an dessen Zerstörung ein Brustübel langsam aber unaufhaltbar arbeitete, machte er in seiner Lebensweise nicht das mindeste Zugeständniß. Er war nun einmal entschlossen[S. 57] lieber drei Monate zu leben als drei Jahre unter Medizinflaschen zu vegetiren. — Weder schön, noch eine imponirende Erscheinung, hatte er dennoch bei Frauen entschieden mehr Glück als mancher weit glänzender Begabte, und da er dem Grundsatze, lieber zu leben als zu vegetiren, leider auch auf diesem Felde seine Geltung ließ, so hatte an den Linien in seinem Gesichte, welche Arnold mit Schmerz entdeckte, manche schöne weiße Hand als Verbündete des dunkeln Zerstörers mit gezeichnet.
Er überdachte alle Mittheilungen Arnolds, citirte den Taschenteufel und begab sich, nachdem er seinen Stoff geordnet, am nächsten Morgen zum jungen Freunde, der ihn mit erklärlicher Ungeduld erwartete.
Nach eingenommenem Frühstück zündete er wie in gesunden Tagen seine Zigarre an und sagte: „Du siehst mit einem so rührenden Jammer meinem Rauchen zu, daß ich dich vor Allem beruhigen muß. Das schadet mir nicht; ich bin überzeugt, daß es meinem armen Teufel von Vetter mit seiner Sparkasse-Anstellung von 500 fl. nicht um ein halbes Jahr früher zur Erbschaft verhilft. — Daß ich heute noch lebe, ist mir ganz angenehm, denn ich glaube dir Einiges leisten zu können. — Nun frage ich dich, bist du in einem Stadium, in welchem man dir die Wahrheit noch ohne Streuzucker geben kann?“ —
„Sprich und gib was du hast und wie du es hast, ich werde dich nicht einmal unterbrechen.“
„Gut! ich kenne, den Knorr ausgenommen, alle Uebrigen so weit, daß ich ihnen einen kurzen Steckbrief in Frakturschrift voranschicken kann. — Zuerst die radikale Blondine; du hast sie Zeltner genannt. Ihr Mann war im Kriegsministerium, ist weggejagt worden, unter die Literaten gegangen und hat in Hamburg eine Brochüre drucken lassen, in welcher der General-Adjutant Graf Greuth so zu sagen in effigie, moralisch gehangen wird. Zeltner wurde hierauf in persona, fisisch, eingesperrt, es wurde ihm ein Hochverrathsprozeß wegen anderer vorgefundener Schriften angehängt, und er sollte sechs Jahre in Königstadt sitzen. Eine Audienz aber, welche seine Frau beim General-Adjutanten erwirkt, verbreitet plötzlich neues Licht über die Sache, der Prozeß wird revidirt und die halbe Strafzeit erlassen. Die Blonde schien immer noch mehr Licht auf die Sache werfen zu wollen, denn sie hatte durch drei Monate einen ganzen Cyklus von Audienzen bei Seiner Excellenz. Es wurde aber nichts weiter revidirt noch gemildert, und sie soll jetzt bemüht sein, einer noch höheren Person die Angelegenheit ihres Mannes zu beleuchten, und, wie es heißt mit Erfolg. — Weiter. — Wörlitzer macht alle Geldgeschäfte für den Minister des[S. 59] Innern, Baron Thorn und für einige spekulirende Diplomaten. Außerdem gehört er zu denen, welche, wie man zu sagen pflegt, Alles mitnehmen. Er ist, wenn nicht Thorn’s rechte Hand, wenigstens seine Wertheim’sche Kassa und hat freien Zutritt bei ihm, und was mehr werth ist, eine schöne interessante Nichte. Der Baron Sembrick, an den dein Brief lautet und den ich für ganz honett halte, soll sich für sie interessiren. — Ich würde aber an deiner Stelle den Brief doch nur hinschicken und abwarten, was seinerseits geschieht. — Nummer drei: — der Geistliche, Pater Bernhard, kann kein anderer sein, als der Prior und wahrscheinliche künftige Prälat von St. Martin und hat vielen Einfluß auf unsern Erzbischof, der jeden Sommer mehrere Tage dort zubringt. Ich habe bemerkt, daß immer zur Zeit dieser Besuche irgend ein oberhirtlicher Wetterstrahl über die ungläubige Welt hinfährt. Der Pater kommt auch oft hieher, und wohnt dann beim Erzbischof. — Was den Husaren-Obersten von Plomberg betrifft, so kannst du seinen Fiaker alle Abende hinter dem Mersey’schen Palais stehen sehen. Plomberg ist der Geliebte der alten Gräfin, der Schwester der Obersthofmeisterin unserer Prinzessin Anna. Sie zahlt alle Jahre seine Schulden. — Schließlich Hofrath Blauhorn. Die Julie Kollmann hat dir von seiner bösen Frau ge[S. 60]sprochen. Er ist aber doch nur durch sie vom Finanzminister in die Kommission ernannt worden. — Ich gebe dir noch als Vermuthung gratis in den Kauf, daß die beiden schönen Mädchen, wenn sie wirklich Leonore und Sidonie heißen, die Töchter des Vizepräsidenten Mildern sind oder vielmehr des Fürsten Leuchtendorf, bei dessen Kassa der alte Mildern unverschämt genug ist, die Pension seiner Frau persönlich zu beheben. — Knorr macht mir den Eindruck eines Menschen, dessen eine Hälfte klug genug ist, um die andere, verrückte, als Mittel zu benützen, sich im Freinhof gut füttern zu lassen. Ich will ihm nicht Unrecht thun, habe aber solche Kerls gekannt, die sich für ihre grobe Treuherzigkeit mit feiner Kost bezahlen ließen. — So weit einstweilen die Steckbriefe. — Ganz unbekannt ist mir das alberne Subjekt Reiland.“
In steigender Aufregung hatte Arnold zugehört. Er gedachte des Augenblickes, wo er durchs Fenster ins Theezimmer gesehen hatte. Es war ihm als betrachte er einen Hogarth’schen Kupferstich nach gelesener Erklärung. — Die Leuchtkugeln Günthers waren doch noch ganz anders wirksam als die acht Lampenkugeln. Derselbe fuhr fort:
„Wenn du nun Alles zusammenfassest, so wirst du mir erlauben die Behauptung aufzustellen, daß[S. 61] die ganze Gesellschaft im Freinhof, wie sie vor Erscheinung der Frau vom Hause beisammen saß, dasjenige ist, was wir, denen soziale Stellungen nun einmal nie so weit imponiren, um ein Kind nicht bei seinem Namen zu nennen, ein Gesindel heißen; von jener Gattung Gesindel, die im Salonwasser nicht nur gleichberechtigt mitschwimmt, sondern, wegen ihrer Leichtigkeit, sogar meistens obenauf.“
Arnold hatte gegen den kräftigen Schlußsatz nichts einzuwenden; es hatte ihm ja selbst weh gethan, sich ihr Bild in diesem Rahmen zu denken.
„Meine Bezeichnung, sagte Günther, ist hart, aber du weißt, daß ich gewisse Unterscheidungen von ganz, halb und drei Viertel honett nicht acceptire. Frage dich, ob dieser oder jener Mann, diese oder jene Frau die volle Achtung deines Vaters und deiner Schwester verdienen — das ist der Probierstein — und Alle, bei denen du Ja sagen kannst, gehören herüber und alle Andern hinüber. — Nun aber eine andere, wichtigere Wahrnehmung. — Es muß dir auffallen, daß alle diese Elemente im Freinhof ein Gemeinsames haben, noch außer der gebrauchten Bezeichnung, nämlich: jede dieser Figuren bildet eine Hintertreppe in eine höhere Region. Du siehst da Telegrafendrähte zusammenlaufen, durch welche auf die Prinzessin, zwei Minister, den Erzbischof, den al[S. 62]ten Fürsten Leuchtendorf u. s. w. gewirkt werden kann — alles indirekt und durch Seitenthüren, nichts gerad und honett, aber vielleicht um so sicherer. — — Ob dieses Zusammentreffen bloß die Folge der chemischen Verwandtschaft, womit sich dieses Volk überall erkennt und anzieht, — ob es ein geleitetes, beabsichtigtes ist, dazu habe ich vor der Hand keinen Schlüssel.“ —
„Alles was du sagst, nahm Arnold das Wort, hat das Gepräge der frappantesten Richtigkeit. Es mag sein, daß du in deiner letzten Hipothese zu weit gehst. Doch hat dieß Alles keine Beziehung auf das, was mir jener Ort geworden ist. Was gehen mich die übrigen Besucher dort an? wenn nicht in dem Sinne, daß ich sie auf den Boden des Sees wünsche, und daß sie Julien vielleicht eben so unleidlich sind. Wer kann sagen, was sie zwingt, mit allen diesen Gesichtern freundlich zu sein?“
— „Weder du noch ich. Aber das Folgende geht dich an: wenn der Freinhof ein Punkt ist, wo die besagten Fäden mit Absicht zusammengezogen sind, so bist du zu einem solchen Faden bestimmt so gut wie die Andern.“
— „Und welcher Prinz oder Minister soll durch mich in Bewegung gesetzt werden, durch einen un[S. 63]bedeutenden jungen Menschen ohne Rang und Verbindungen?“
— „Keiner; sondern du selbst.“ — Günther sprach mit jenem Ernst, der eben an ihm, im Gegensatz zu seiner gewöhnlichen Laune, um so tiefern Eindruck zu machen pflegte. — „Täusche dich nicht hierüber. Gott erhalte dir deinen Vater lange Jahre, vergiß aber nicht, daß, wenn er die Augen schließt, du der Herr eines Besitzthums bist, welches ungefähr eine Million repräsentirt, eine Million in den reellsten Werthen die sich denken lassen, du bist überdieß — verzeih die Impertinenz unter Männern — ein entschieden schöner Bursche. Weißt du was das sagen will? Und wenn du albern und häßlich wärst, so ist dein Vermögen ganz allein hinreichend, um in dir entweder einen Zweck oder ein Mittel zu sehen.“ —
— „Ich gehe noch immer auf Alles ein. Aber alle Namen und alle Verhältnisse der Personen und deren etwaige Zwecke haben nur dadurch Interesse für mich, daß sie auf diese Frau Bezug haben; — welche Rolle willst du denn ihr, die mir nur den Eindruck eines lächelnden geschmückten Opfers machte, in dieser Gesellschaft, oder diesen Zwecken gegenüber, anweisen? Sie soll doch nicht die Seele von Intriguen oder ihre Hand die bewegende Kraft irgend eines unlautern Getriebes sein? Ich würde dir übrigens[S. 64] Alles vergeben, so lang du sie nicht gesehen. Weißt du mir denn, nachdem du alle Schattenparthien beleuchtet, gerade über den hellen, schönen Lichtpunkt nichts zu sagen?“
„Thatsächliches, über den Lichtpunkt — Nichts! Daß Kollmann vor ungefähr dritthalb Jahren hieher gekommen, den Winter über ein großes Haus gemacht, daß die Frau von allen Frauen verlästert, von allen Männern gefeiert wurde, daß sie im zweiten Winter verreisten und durch den Bau des Freinhofes nach der Rückkunft wieder ins Gerede kamen, — um das zu erfahren, brauchst du mich nicht zu fragen.“
„Lieber Günther, gestern hast du gesagt, ich hätte dir Nichts erzählt, — gabst dich nicht zufrieden, bis ich dich auf den Grund meiner Seele blicken ließ, und heute hältst du zurück. Deine Meinung über sie ist es, die ich von dir erwartete.“
Günther stand auf, stellte sich ihm gegenüber, sah ihm einen Moment schweigend in die Augen und sagte: „Nun denn —! deine ganze Julie Kollmann ist eine mit ungewöhnlichen Mitteln begabte Kokette! und wären nicht in dir selbst Zweifel an ihr aufgestiegen, so wäre dir nicht eingefallen, überhaupt um irgend eines Menschen Meinung zu fragen. Ich sehe in der affektirten Frase wegen des unversöhnlichen Hasses, in dem Wechsel von blassen und rothen De[S. 65]korazionen, in dem ganzen geheimnißathmenden Gespräche von Vertrauen und zu gewärtigenden Opfern, in dem Hinausgehen über alle Grenzen, welche weibliche Zurückhaltung gegen einen Fremden einzuhalten befiehlt, — nur eben so viele Beweise mindestens jener Koketterie, die auch ohne bestimmten Zweck ihr Feuerwerk vor Jedem spielen läßt, weil sich später ein Zweck finden kann. — Auch hat sie gesagt, daß ihr dein Name nicht fremd sei! Und nun sag ich dir mein Letztes: Ich habe diese Frau einmal gesehen — über ihre Schönheit kann nur Eine Stimme sein. Bist du bloß verliebt in sie — du kennst die tadelnswerthe Dehnbarkeit meiner Moral in diesem Punkte, — so magst du dich, wenn sie dich erhört, eines der reizendsten Abentheuer auf deiner Lebensreise freuen. Hast du aber das Unglück sie zu lieben, wie der Franzose sagt de la prendre au sérieux, so ist Alles, was gut und trefflich an dir, in Gefahr; Alles — von deinem Herzens- und Lebensglück angefangen bis — das getraue ich mir zu behaupten — bis zu deinen Metallfabriken herunter. Leb wohl und antworte mir jetzt nicht.“
Er bot Arnold die Hand, der sie tief ergriffen faßte und schweigend drückte; — seine Augen waren feucht.
So tief er auch vom Anfange der letzten Rede[S. 66] Günthers verletzt war — — in dem Augenblicke fühlte er nicht den Schmerz der Wunde, sondern nur den Balsam der innigen Liebe, welche in Günthers tiefem seelenvollen Blicke lag, und in dem schmerzlichen Zuge, welcher über die sonst so bleichen, nun hochgerötheten Wangen lief.
In heftiger Erregung ging er nach dessen Weggehen einigemale im Zimmer auf und nieder. Da fiel ihm der Brief an Baron Sembrick in die Augen.
Der mußte denn doch persönlich abgegeben werden.
Edmund von Sembrick wohnte in der Jägerstraße, am entgegengesetzten Ende der Stadt. Ein Diener in einfacher brauner Livree öffnete das eiserne Gitter im ersten Stockwerke und fast im selben Augenblicke trat aus der gegenüber befindlichen Thür ein Mann in schwarzer Kleidung, mit weißen Haaren und einem klugen Gesichte, welcher Arnold bat einen Augenblick im Salon zu warten, dessen dunkelbraune hohe Flügelthüre er öffnete.
Arnold befand sich in einem jener Räume, die durch eigenthümlichen, individuellen Karakter angenehm berühren, deren Einrichtung kein Gemeinplatz, keine Zusammenstellung der in den betreffenden Magazinen von Möbeln und Luxusartikeln vorgefundenen Gegenstände ist, sondern der Ausdruck des persönlichen Geschmackes, die Ausführung der eigenen Ideen des Bewohners. — Die dunkelrothen, mit alten werthvollen Gemälden, größtentheils Niederlän[S. 68]dern, bedeckten Tapeten, die hohen, in den reinsten Renaissance-Formen gearbeiteten Lehnstühle, die Marmorplatte des Tisches mit acht abgerundeten Ecken, der grüne langwollige, wie Moos dem Tritte nachgebende Teppich, — die kunstvolle Zeichnung der Holzmosaik des Plafonds — Alles war volle Harmonie in Farbe und Form, und wo auch der Blick sich hinwendete, fand er einen wohlthuenden Ruhepunkt und ward durch schöne vermittelnde Linien weitergeleitet.
Der Kammerdiener öffnete nach einigen Augenblicken die schweren Vorhänge der Thür zu Sembrick’s Kabinet und Arnold stand einer von jenen Erscheinungen gegenüber, welche nimmer vergessen noch verwechselt werden können.
Die Natur gräbt zum Ausprägen einiger Gestalten einen eigenen Stempel, den sie dann zerbricht, während die Massen nach gewissen vorräthigen, ein Paar Tausend verschiedene Typen darstellenden Formen gegossen scheinen, denen man mit gewissen Varianten immer wieder begegnet.
Edmund von Sembrick mahnte an ein einziges, — nur einmal über die Erde gegangenes Vorbild: — — der Stempel, nach welchem seine Züge ausgeprägt schienen, ist vor achtzehn Jahrhunderten zerbrochen worden. — —
Es glänzte aber in den Augen dieses Christuskopfes nicht der sanfte Schimmer der versöhnenden Liebe, sondern das Feuer, vor dem die Käufer und Verkäufer aus dem Tempel flohen. —
Auch in der Umgebung des Mannes grünten keine Palmen- und Olivenzweige: — alte, breite Schwerter, gekreuzte Pistolen, Pulverhörner, Schrotbeutel, bildeten an der Wand ein von einem geschlossenen Helm gekröntes Tableau, dessen Devise eben nicht lautete „der Friede sei mit Euch.“
Mit stummer Verbeugung erwiederte er Arnold’s Worte: „Ich erfülle den Auftrag einer Dame, indem ich diesen Brief persönlich übergebe“ — erbrach das Siegel, durchflog die Zeilen, und wie groß auch seine Herrschaft über jedes Zeichen seiner Empfindungen war, verrieth doch der Schatten, der über die Stirn flog, daß die runden Schriftzüge verwundende Spitzen für ihn hatten. —
Wenn Arnold, welchem trotz seiner Jugend eine bloße äußere Erscheinung nicht leicht imponirte, von jener des Barons einen Augenblick beherrscht war, als ihm dieser im ganzen Nimbus entgegentrat, welchen die zufällige Aehnlichkeit mit dem alles Erhabenste verkörpernden Urbilde über seine hohe Gestalt verbreitete, so fand er bei dessen Kälte, und namentlich beim Anblicke des Waffentableaus, seine[S. 70] ganze Haltung wieder, und fühlte sich eben als Mann einem Manne gegenüber. —
Sembrick setzte sich, den Brief weglegend, in seinen Lehnstuhl, wies Arnold einen nebenstehenden und begann: „Die gemeinschaftliche Bekannte, welche ich meinerseits eine theure, hochverehrte Freundin nennen darf, spricht den Wunsch aus, daß wir einander kennen lernen, und es kann mir nur zum Vergnügen gereichen, ihn zu verwirklichen. Es könnten, wie ich ihre Lage kenne, Verhältnisse eintreten, die ein Zusammenwirken ihrer wahren Freunde erwünscht machen, und sie scheint in diesem Sinne auf Sie zu zählen.“
„Ich halte es für meine Pflicht, zu bemerken, — sagte Arnold — daß ich bisher nicht in der Lage war, das Vertrauen dieser Dame zu rechtfertigen, daß aber, wenn der feste Entschluß hierzu die Grundlage der von ihr gewünschten Bekanntschaft sein kann, ich mit Freude die Hand dazu biete.“
Es war gut, daß Arnold das Handbieten nicht wörtlich gemeint und die seinige nicht bewegt hatte, denn die Rechte des Barons blieb in der Brusttasche stecken, als er sagte: „Das Schicksal dieser Frau ist allerdings ein solches, welches jeden Mann von Herz und Ehre zur Theilnahme bewegen muß. Es fragt sich eben, ob Ihr Entschluß aus der Kenntniß der[S. 71] Verhältnisse, was ich bezweifle, oder aus der ihrer Person hervorgegangen.“ —
„Mag bei Ihnen das Eine, bei mir das Andere der Fall sein, — war Arnold’s Antwort — so wird das Ergebniß dasselbe sein, sobald wir uns offen über Dasjenige verständigen, was gethan werden soll, um in unglückliche Verhältnisse helfend einzugreifen.“ —
„Es handelt sich hier um etwas mehr. Ich brauche nicht zu sagen, daß der Eindruck Ihrer Persönlichkeit auf mich vollkommen dem Sinn dieser Zeilen entspricht. Allein, — Sie werden einem Manne, durch dessen Hände in einem bewegten Leben viele Angelegenheiten der schwierigsten und vertrautesten Art gegangen sind, zu Gute halten, wenn sein Gang ein wenig rascher ist als der einer jungen Frau. Ich verreise heute für einige Tage und behalte mir vor, Sie nach Beseitigung einiger Hindernisse mit Dingen bekannt zu machen, für welche wohl der Rahmen unseres ersten Gespräches zu eng wäre. Ich werde auf Sie als einen Gentleman im vollen Sinne zählen können.“
Arnold konnte durch sein rasches Aufstehen kaum dem des Barons zuvorkommen; er richtete sich vor diesem mit allem Stolz, der ihm zu Gebote stand, auf, und sagte: „Ich hoffe, mich des Gleichen zu[S. 72] Ihnen versehen zu dürfen, Herr Baron, und in dieser Voraussetzung werde ich Vorschläge zur Mitwirkung für eine gute Sache bereitwillig empfangen.“
Der Baron neigte den Christuskopf schweigend mit einem kalten Lächeln und abermals war, wie am rothen Kreuze, eine Geisterbrücke zwischen zwei Augenpaaren aufgebaut, — aber die beiden Seelen am Ende derselben standen einander gegenüber, wie zwei mit gezogenen Kanonen bespickte Brückenköpfe.
Als die schweren Thürvorhänge wieder zwischen ihnen lagen, nahm Sembrick Juliens Brief wieder zur Hand und ein innerer Vulkan schien die künstlichen Eisfelder auf den ausdrucksvollen Zügen zu schmelzen, als er die Zeilen wiederholt überlas. Sie lauteten: „Ich wünsche, daß Sie mit dem Ueberbringer, Arnold, dem Sohne des Besitzers von Korbach, bekannt werden. Ich darf nach dem, was ich durchlebt, auch mit meinen einundzwanzig Jahren von Menschenkenntniß reden, und sage Ihnen, daß er ein Mann ist, auf den Sie zählen können. Wenn Sie des letzten Gespräches zwischen uns gedenken, wo Sie ausriefen: „Nur noch Eine treue, verläßliche Hand!“ ohne sich näher über das, was Sie für mich ersonnen, zu erklären, so werden Sie meine Zeilen vollkommen begreifen. Man sieht auf den Grund eines tiefen Wassers, wenn es rein ist.[S. 73] Das seichte gilt oft für tief, wenn es trübe. Wozu ich eine Stunde gebraucht, dazu wird Ihrem Blick eine Minute genügen.“ —
„Grenzenlose Unbesonnenheit! rief Sembrick aus, — — und eben diesen! — Wohl hast du ihn recht gesehen, Julie — aber dieser Verbündete wäre schlimmer als ein Feind! — ein tiefes, reines Wasser nennst du ihn — du hast hineingeschaut bis auf den Grund — dein Bild darin gesehen — genug um das Auge hineinzutauchen, bis die Seele nachsinkt.“ —
Er wurde in dem Nachsinnen, das diesen Worten folgte, durch den Eintritt des Kammerdieners unterbrochen, welcher meldete, Herr Reiland wünsche seine Aufwartung zu machen. —
„Soll sogleich hereinkommen.“ —
Er nahm wieder seinen Platz ein, und grüßte den Eintretenden mit einer Handbewegung und den Worten: „Sie kommen wie gerufen.“
„Ich bin sehr glücklich, Herr Baron,“ —
„Das freut mich, und ich werde noch mehr dazu beitragen, wenn Sie schnell und treu berichten.“
„Ergebenst zu dienen. Am Montag hat die ganze Gesellschaft, von der ich geschrieben, den Freinhof verlassen. Auch der fremde junge Mann, Herr Korbach; Frau von Kollmann hatte eine Unterre[S. 74]dung mit ihm allein. In der Nacht war Herr von Kollmann eingetroffen, — die Frau war eine Stunde bei ihm, und sie ist in sehr leidendem Zustande auf ihr Zimmer gekommen.“
„Wollen Sie mir gefälligst Nachmittags Alles berichten, was Sie über die Verhältnisse dieses Korbach bis dahin erfahren können. Ich reise Abends weg. — Was machen die Ehrenschulden?“
„Ich gestehe, daß meine Posizion in der Gesellschaft gefährdet ist, wenn nicht ein wohlwollender Freund“ — —
„In Ermangelung eines Freundes — sagte der Baron mit verächtlichem Lächeln, wird auch ein einfacher Darleiher auf Nichtwiederzahlen genügen“ — und reichte ihm eine Banknote aus dem Portefeuille. — „Was für eine ostensible Rolle spielen Sie denn eigentlich im Freinhofe?“
„Ach, Herr Baron, man gilt eben durch seine Persönlichkeit; — wenn man einmal vorgestellt ist, handelt es sich darum, den Damen angenehm zu sein, sich mit den Männern auf guten Fuß zu setzen. Auch mit dem sonderbaren Knorr ist mirs gelungen. Er hat mir angetragen Du zu sagen, aber auf so eigenthümliche Weise, — er meinte, ich meinerseits könne Sie zu ihm sagen, wenn ich wolle, es sei ihm sogar lieber, — nur er bringe es nicht über die Lip[S. 75]pen; man darf aber an diesen Menschen nicht unsern Maßstab anlegen.“ —
„Unsern Maßstab?“ wiederholte der Baron, seinen Kopf langsam an der Stuhllehne gegen Reiland wendend — „wenn ich mich recht entsinne, so sind Sie bei einer frühern Gelegenheit von Knorr durchgeprügelt worden? Das ist vermuthlich mit Ihrem Maßstabe geschehen.“ —
„Es ist wahr, sagte Reiland, dessen Gesicht mit einer rothen Brühe übergossen war, — daß dieser Mensch sich in einem seiner ungeschliffenen Scherze an mir vergriffen, allein die Sache wurde schnell ausgeglichen — die Frau vom Hause wußte Alles in ein so humoristisches Licht zu setzen.....“
„Ich weiß, ich weiß — doch genug für jetzt. Leben Sie wohl, Reiland, und geben Sie sich Mühe!“
„Ich werde die Ehre haben, nach dem Speisen aufzuwarten.“
„Wenn Sie nirgends geladen sind, speisen Sie mit Weinrotter.“
So hieß der alte Kammerdiener des Barons und Reiland nahm die Einladung mit Vergnügen an. Es gibt eben geborne Bedientenseelen und im Verhältnisse zu ihrer Gesammtzahl stecken wenige in Livree. Das Kleid verändert sie auch nicht. Man ziehe ihnen Staatsuniformen über, stelle sie auf je[S. 76]den Platz, wo es gilt „Herr“ zu sein — und wenn sie vor Tausenden aufrecht dastehen, Einer wird einmal vorüberfahren, dem sie den Kutschenschlag zu öffnen, den Mantel nachzutragen bereit sind, — wenigstens in moralischem Sinne. — Reiland wird in einem fremden Lande, wo ihn Niemand kennt, ohne Bedenken seinen Panama-Hut mit einem Cilinder mit silberner Borte vertauschen, um den Preis einer Löhnung, welche das Einkommen übersteigt, das er von Sembrick bezieht. Vielleicht auch von Andern. — Er ist noch kein eigentlicher Schurke, — er wird noch roth, wie wir gesehen. Die Natur hat eben vergessen in seinen Teig den Gährstoff zu mischen, und ihm gerade so viel Scham gelassen, um vor einem Andern zu fühlen, was er Ehrloses gethan. Allein wohl niemals.
— — Sembrick aber überließ sich nun ganz dem Eindrucke des Briefes. Sein edles Antlitz war ein Kampfplatz von Zorn und Schmerz — in seiner Seele kämpfte vielleicht der Engel mit dem Teufel — Sankt Georg mit dem Drachen — der Genius des höheren Menschen mit dem durch Grundsätze gezähmten Raubthiere der Leidenschaft. — Wie war es möglich, daß diese Hand, welche für das breite Ritterschwert geschaffen schien, sich eines Gewürmes wie Reiland bediente? — Vielleicht dachte der Christus[S. 77]kopf, daß die Nachfolger seines Urbildes sich ja auch der Inquisizion bedienten?
Er schien endlich mit einem Entschlusse im Reinen; abzureisen hatte er wirklich vorgehabt, nur das Ziel wurde verändert.
In nicht geringerer Aufregung, als in welcher Sembrick zurückgeblieben, war Arnold die Treppe hinabgegangen. — Der Baron hatte ihn nicht nur in der Sache, sondern auch in der Form in einer solchen Entfernung gehalten, daß ihn neben der breiten Wunde des beleidigten Stolzes auch der feine tiefe Stich der verletzten Eitelkeit brannte, so wenig er auch von letzterer in sich hatte.
Sembrick hatte Julie eine theure hochverehrte Freundin genannt. Julie hatte gesagt, sie habe einen einzigen starken Karakter gekannt, der jenes „unversöhnlichen Hasses“ fähig. Das war Sembrick! — trotz aller der ewigen Liebe abgeborgten Linien seines Gesichtes. — Dann überdachte er seine eigenen Worte, und war wenigstens mit seiner Haltung gegen den Baron am Ende des Gespräches zufrieden. Aber Alles war ja Nebensache gegen die wahrhaft brennende Frage: in welcher Beziehung steht dieser Mann zu ihr?
Er hing, wie der Taucher, im Wirbelwasser der Zweifel, von Haifischen und Molchen der Eifersucht[S. 78] umringt, aber aus der Tiefe ragte das Felsenriff des Glaubens — an den einzigen langen tiefen Blick, der den Worten: „Ich vertraue Ihnen“ — auf ihrem Wege über dunkle Rosen geleuchtet.. und er hielt es fest. — — Doch fühlte er, daß er kämpfe, daß er den Schatz dieses Vertrauens gegen Etwas vertheidige. —
Seine Natur ließ ihn nicht lange in der Tiefe der Charibde hangen — an den spitzen Korallen. Den Becher der Hoffnung, daß sie aus Allem rein hervorgehen müsse, in der Hand, tauchte er kräftig auf in die ihn rufende Welt der Wirklichkeit, der unerbittlichen materiellen Beschäftigung.
Wer ihn eine Stunde später im Comptoir sah, und hörte, wie er die neuen Bestellungen des Marine-Kommando’s mit dem Geschäftsführer besprach und nach allen Gesichtspunkten erörterte, der konnte in den ruhigen, in die Rechnungen vertieften Augen nichts von dem lesen, was seit dem Morgen durch die Seele gegangen war.
Und er selbst ahnte noch weniger, was der Abend bringe.
Er suchte an demselben Günther auf. Dieser lachte ihn aus und sagte: „Ich habe mir von der persönlichen Uebergabe nichts Erquickliches versprochen; übrigens hast du deine Sache, nach den Umständen,[S. 79] gut gemacht, — Rückzug mit etwas dünnen, kriegerischen Ehren, wenigstens todesmuthig, wenn nicht siegesmuthig. Ich bin aber, trotz der Meinung, die ich so unverhohlen und, ich gestehe es, rücksichtslos über die Kollmann aussprach, überzeugt, daß sie diese Wendung nicht beabsichtigte. Sie glaubt offenbar mehr über ihn zu vermögen, als der Fall ist.“
„Das Schlimmste ist nur,“ rief Arnold mit einem Aerger, in dem einmal seine ganze Jugendlichkeit zum Vorschein kam, „daß nun alle Wege, alle Brücken zwischen mir und dem Freinhofe abgerissen sind! Ich war ja nur hingegangen, um mir einen Verkehr mit dort zu erhalten! Jetzt stehe ich vor der chinesischen Mauer!“ —
„Armer Kalaf! sei ruhig und glaube mir, die Turandot wird selbst den Schleier zurückschlagen. Und wenn du nicht ihr Kalaf bist, — bedenke die Möglichkeit — wenn Sembrick es wäre, so wird es dir nicht schaden, wenn du deinen Kopf noch ein Paar Tage herumträgst.“
„Und wenn er es ist,“ sagte Arnold entschieden, „so werd’ ich, weiß Gott, meinen Kopf behalten; das Herz hat damit nichts zu schaffen. Halte mich auch nicht für so blind und taub, daß ich das Richtige in deinen Urtheilen nicht unterscheide. Ich gestehe dir ja, daß ich mir selbst Fragen über Julie stellen muß,[S. 80] die ich noch nicht lösen kann, wie es mein Herz verlangt.“ —
„Vielleicht sind wir der Lösung in einer halben Stunde näher: damit du siehst, daß ich keine Schadenfreude über die abgebrochnen Brücken habe, baue ich dir selbst eine. Mittags erhielt ich einen Zettel von meinem alten Freund und deinem ehemaligen Meister, dem gar zu vortrefflichen Harkeboom — sagte Günther, den Namen eine Elle lang ausziehend im norddeutschen Accent. — Harkeboom hat die Ferientage zu einem Ausfluge benützt, von dem er mit verletztem Fuße zurückgebracht worden, und da ich nicht glaube, daß alle Professoren der Akademie sich in das Gebirg geworfen und die Beine gebrochen haben, so ist er es, von dem dein Schiffer erzählte, — das unglückliche Opfer, welches Julie auf den Wetterstein geführt. Er bittet mich, ihn zu besuchen, wird sich jedenfalls ungemein freuen dich wiederzusehen, und wenn du willst, so gehen wir gleich.“
Günther handelte nicht ohne eine kleine Perfidie. Als Arnold ihn rasch umarmte und nach dem Hute griff, dachte er: freue dich nicht zu sehr! Er rechnete auf das ruhige, nicht leicht zu bestechende Urtheil des im reifsten Mannesalter stehenden, gebildeten und liebenswürdigen Künstlers.
Es war ziemlich spät am Abende, als sie bei[S. 81] ihm eintraten. Der Professor saß aufrecht im Bette, ein Buch lag auf der rothen Seidendecke.
„Wer kommt?“ rief er mit seinem vollen schönen Organe. —
„Gute Freunde!“ erwiederten die Beiden, welche erst die Staffelei umgehen mußten, welche mitten stehend das Kabinet in zwei Hälften theilte.
„Ach das ist doch gar zu schön, Ihr lieben, vortrefflichen Menschen, daß Ihr des alten Harkeboom nicht vergeßt, und nu gar mein treuer guter Korbach!!“ Und so klang es fort in gemüthlicher Breite und mit einem gewissen wohltönenden Pomp aus der breiten Brust des Professors, dessen kahler Vorderkopf und wasserblaue freundliche Augen sich zu Sembricks Erscheinung verhielten, wie ein Albrecht Dürer zu einem Salvator Rosa.
Schwerlich konnte Günthers Kreuzzug zur Bekehrung des Freundes mit einem unglücklicheren Manöver beginnen als mit dem, freilich durch die Terrainverhältnisse gebotenen, Flankenmarsche um die Staffelei, auf welcher ein fertiger Freinhof mit angefangenem Wetterstein auf schwarzem Wolkengrunde wie eine maskirte Batterie lauerte. — Ein Blick Arnolds hatte Günther über die Wirkung ihres Feuers belehrt.
Der Professor hatte seine Erzählung des Aus[S. 82]fluges begonnen und seinen Unfall beschrieben „und wie dann der Herr Knorre, ein gar zu köstlicher, origineller Mensch, ihn mit seiner Riesenstärke eine volle Stunde weit geschleppt, und die liebenswürd’ge Frau Kollman, ein wahrer Schatz von einem Frauchen, neben ihnen hergegangen, und daß er über ihrem herzlichen Geplauder fast seines Schmerzes, und einer ganz unbeschreiblich ergreifenden Szene vergessen;“ — — —
„Aber wie haben Sie denn eigentlich, — Sie unverbesserlicher alter Sünder — unterbrach ihn Günther, diesen Schatz von einem Frauchen kennen gelernt?“
„Sehr einfach, sagte der brave Mann nach einem Gelächter „wie Orgelton und Glockenklang,“ sie ist im Frühlinge in mein Atelier gekommen und hat zwei Bilder bestellt, — es war eben ganz kurze Zeit nachdem ich den Unterricht der Prinzessin Marie übernommen hatte.“
Arnold erhielt einen nicht sehr leichten Tritt auf seinen Fuß, womit Günther den Zuwachs einer neuen Hintertreppe bezeichnete.
„Dann erhielt ich, fuhr Harkeboom fort, eine gar freundliche Einladung nach der schönen Besitzung, wo ich die Feiertage zubrachte, und in der Frau des Hauses eine ganz treffliche Dilettantin fand. — Da habe ich den ganzen Tag Studien gemacht — unter[S. 83] andern die Ansicht, die ich dort auszuführen angefangen — das ist der Wetterstein; aber was meine Gedanken am meisten beschäftigt, das konnte ich nicht hineinmalen. Diese Frau hatte die Parthie nach diesem Berge projektirt, und als sie widerrathen wurde, so ernst und entschieden erklärt, sie gehe allein, daß ich mich denn doch schämte. Herr Knorre sagte, sie wäre vor einem Jahre an demselben Tage hinaufgegangen. Nun hatten wir die Höhe erstiegen, welche ganz senkrecht nach dem See zu abfällt, — da macht sie uns ein Zeichen, zu bleiben, und steigt auf einen etwa ein Paar hundert Schritte höheren etwas überhängenden Vorsprung des Felsens, sieht einen Augenblick hinunter, dann kniet sie nieder; Knorre sagt: „Lassen wir sie mit ihrem Herrgott allein, sie ist ihm doch dort um zweihundert Klafter näher als unten am See.“ — Nach einiger Zeit kommt sie vom Gipfel herunter; — ich habe in meinem Leben kein so ergreifendes Bild gesehen... die Spuren der Thränen auf den Wangen, die Locken im Winde fliegend, ein Zucken um die Lippen und eine Flamme in den Augen, wie von der ungeheuersten schmerzlichsten Erregung; — wenn die Frau da oben gebetet, so wars kein Herr dein Wille geschehe, sondern ein Gebet um einen Wetterstrahl aus den rings aufsteigenden schwarzen Wolken, ob auf ihr eigenes Haupt oder ein an[S. 84]deres, das weiß der, an den’s gerichtet war! Das Bild möcht ich malen können: ich habe denn doch eine Skizze versucht — — es ist eben nicht ganz mißlungen — ach wollten Sie wohl, lieber Korbach, sich die Mühe nehmen den grünen Karton dort am Fenster zu öffnen — da liegt’s ganz oben!“ —
Im nächsten Augenblicke hielt Arnold mit zitternder Hand das Blatt gegen das Licht; es zeigte einen mit kühnen Strichen meisterhaft hingeworfenen Umriß.
„Obgleich nun, erzählte der Künstler weiter, die Frau sich keine Mühe gab, die Zeichen ihres Gemüthszustandes zu verbergen, so lag in den ersten Worten, die sie an uns richtete, ein so entschiedenes Ablehnen jeder Frage oder Theilnahme, daß von einem Besprechen dieser Szene keine Rede sein konnte, und nach kurzer Zeit war sie in den gewöhnlichen Ton übergegangen. — Wir sind doch einverstanden, meine Freunde, daß der Moment der Skizze, von der sich Arnold heute nicht mehr trennen zu wollen scheint, unter uns bleibt? Es muß da ein psychologisches Geheimniß dahinterstecken, das wir ehren wollen. — Da seht Ihr immer das Bild an! Gallait hätt’s freilich anders gemacht; ich konnt’ es noch nicht herausbringen, — aber Etwas habe ich mir doch mitgenommen — ihre herrliche Hand, die ich in Gyps[S. 85] modellirt habe — — reine Antike! — ach lieber Günther, ziehen Sie doch gefälligst den Vorhang von jener Etagère weg!“ — —
Ehe er aufstehen konnte, hatte Arnold das weiße Modell auf rothem Marmorsockel enthüllt, — und während Harkeboom seinem vormaligen Schüler begreiflich machte, daß man ein Modell nicht mittelst Anfühlen und Wärmen in der Hand, sondern mit dem Auge studiere, hatte Günther Zeit, die Resultate des kurzen Feldzuges zu betrachten. —
Das Freinhofgemälde, die Erzählung, die Hand, die Aquarell-Skizze — das war Montebello, Palestro, Magenta, — Solferino. Er trat einen Augenblick vor den Spiegel und sagte ganz leise zu seinem Bild: O König Wiswamitra, was für ein Ochs bist du! — oder warst du heute... Doch — früher oder später mußt’ es so kommen.
— — — Die Freunde gingen schweigend nebeneinander. Endlich begann Arnold:
„Ist das auch Koketterie?“
„Nein. — Um so schlimmer; was soll werden?“
„Gehandelt muß werden!“
„Wie das? Da du unter Handeln schwerlich ein Beseitigen Kollmanns verstehen wirst, von einem einfachen Abenteuer aber, wie ich nun erkenne, keine Rede sein kann, so sehe ich nur das selige Elend ei[S. 86]nes ziel- und endlosen Verhältnisses, welches entweder ins Materielle herabsinkt, oder in welchem, wenn es oben schweben bleibt, deine ganze selbstständige Existenz aufgeht.“
„Ich handle nicht um sie, sondern für sie. Unter Handeln verstehe ich das Aufbieten aller meiner inneren und äußeren Mittel, um den Schleier zu zerreißen und, was Feindliches für sie dahinter, zu bekämpfen. Halte mich aber nicht für so blond-gemüthlich und germanisch-treuherzig, daß ich ohne Bienenkappe in das Wespennest steche. Ich bin durch dich vor dieser Umgebung gewarnt. Wenn ich noch heute früh fragte, was sie mit einem unbedeutenden jungen Menschen vorhaben können, fühle ich mich nun bedeutend genug, für meine erste, einzige, herzinnige Liebe ihnen Allen den Handschuh hinzuwerfen. — Und wenn du mich meine Geschäfte mit lässiger Hand führen siehst, wenn ich träume, statt zu arbeiten, wenn ich über dem Pochen meines Herzens die Hämmer in Korbach vergesse, dann, und nicht früher, erlaube ich dir zu sagen, daß meine Selbstständigkeit in einem seligen Elend aufgegangen. Dich aber bitte ich, mir mit deinem scharfen Auge zur Seite zu stehen, welches eben nur dort irrte, wo es nicht selbst gesehen.“
— Günther wußte, was er für heute von seinem scharfen Auge zu halten habe, erwiederte aber[S. 87] — der vollendeten Thatsache gegenüberstehend — mit Nachdruck und Herzlichkeit: „So lange ich zu leben habe, rechne auf mich, — Gott mit dir!“ — — — — —
Arnold war am nächsten Morgen in froherer, selbst ruhigerer Stimmung erwacht, als an beiden vorigen Tagen. Er war vollkommen klar über sein Gefühl geworden. Aber bald empfand er, daß nichts eine bestimmte Gestalt gewonnen, als eben nur sein eigenes Gefühl. Er stand gerüstet da, das Silberschild der jugendlichen Zuversicht am Arm, das Schwert des festen, von Liebe entflammten Willens in der Hand, — es fehlte nichts als nur der Feind. Nicht einmal der Schleier, hinter dem er lauern sollte, war zu fassen.
Günther suchte er nicht auf. Er scheute sich, nach dem erlassenen Manifeste: „Gehandelt muß werden!“ in seiner dermaligen Rathlosigkeit vor ihn zu treten, und fürchtete ein gewisses lächerliches Streiflicht von Don Quixote, — Prinzessinnen befreien, — Riesen erlegen. — Desto lebhafter interessirte er sich für den Zustand des wackern Professors, den er in drei Tagen zweimal besuchte. Allein der Deckel des Kartons lag plump und dumm auf der Skizze und die Hand auf dem rothen Sockel rührte keinen Finger, um den Vorhang wegzuschieben. Harkeboom sagte ihm mit dem herrlichsten Organ gar zu gute[S. 88] und herzliche Dinge, war aber, mit leichten Wendungen, nicht wieder auf den Wetterstein zu bringen, und einen Satz, welcher ungefähr gesagt hätte: Herr, ich bin da, um Etwas von Julie Kollmann zu sehen und zu hören, — brachte er nicht über die Lippen. — Da die Hand und das Bild unsichtbar blieben, überließ er das Bein Harkebooms dem natürlichen Heilungsprozesse und ging nicht weiter hin. —
Tag auf Tag verging: er mußte Schwert und Schild an die Wand hängen. Kaum vermochte das Eiswasser der Arbeit seinen heißen Aerger zu kühlen.
— — Ereignisse von eingreifender Bedeutung fliegen selten einzeln, meistens in Schaaren, wie Zugvögel am Himmel unseres Lebens auf, — seien es Schwalben, die einen Frühling bringen, oder Krähen, die eine Leiche wittern. Nachdem eine Woche lang an Arnolds Firmamente nichts aufgeflogen, als das Sperlingsgewimmel der täglichen Geschäfte, trat ihm eines Abends der Comptoirdiener mit zwei Vögeln von unbekanntem Gefieder, — zwei Briefen von fremder Hand entgegen.
Der eine lautete: „Ich bitte Euer Wohlgeboren, mich wo möglich morgen zwischen drei und vier Uhr mit einem Besuche zu beehren, zum Zwecke einer, wie ich annehmen darf, für Sie interessanten und erfreulichen[S. 89] Mittheilung. Mit größter Hochachtung u. s. w. — Blauhorn, Hofrath.“ —
Der zweite enthielt eine Visitenkarte: P. Bernardus, Prior Conventus Sti. Martini, — und die darunter geschriebenen Worte „ersucht p. t. Herrn Korbach jun. sich morgen vier Uhr gefälligst zu ihm in das Erzbischöfliche Palais zu bemühen.“
Die gegebenen Stunden trafen so aufeinander, daß eben Zeit bleiben mochte für den Weg vom Staat zur Kirche. — Arnold gab sich keine vergebliche Mühe zu errathen, was die Brieftauben brächten. Was an ihrem Halse hing, war allerdings nicht vom Freinhofe, aber die Hand, die sie fliegen ließ, konnte nur dort zu finden sein. —
— — — Der Hofrath wohnte dem Finanzministerium gegenüber. Der Minister, Graf Breuneck, konnte in seine Fenster sehen und that es auch; ein Umstand, den Herr von Blauhorn nicht versäumte gegen jeden Besuchenden hervorzuheben.
Als Arnold dem Diener seine Karte gab, sagte dieser, der Herr habe befohlen ihn sogleich in sein Kabinet zu führen.
„Ich kann nicht umhin, Herr Hofrath, begann Arnold, Ihnen vor Allem ein Wort des Bedauerns über meine, wie ich mich baldigst überzeugte, ungegründete, jedenfalls voreilige Bemerkung am rothen[S. 90] Kreuze zu sagen, und bitte, dieselbe der Vergessenheit zu übergeben.“
„Sie wäre mir nie wieder eingefallen, wenn Sie mich nicht daran erinnerten. Uebrigens war der Schein zu sehr gegen mich. Ein ritterlicher junger Mann konnte kaum anders sprechen. — Doch nun zum Gegenstande unserer Unterredung. — Wir haben, wie Sie wissen, eine Kommission gebildet, deren Aufgabe es ist, zu ermitteln, auf welche Weise unsere Finanzlage verbessert werden könne. Dieselbe hat ihre Arbeit nahezu vollendet, welche nun einer Prüfung in der höchsten Region unterzogen werden soll. — Es sollen zu diesem Zwecke von der höchsten Behörde, dem Reichssenate, zeitweilige berathende Mitglieder aus den verschiedenen Ständen zugezogen werden, von denen eine gediegene Ansicht in ihrer Sfäre zu erwarten. Es ist mit größter Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß den Mitgliedern des auf solche Weise vielleicht um die doppelte Anzahl der bisherigen vermehrten Senates eine Anzahl anderer hochwichtiger Gegenstände zur Berathung vorgelegt werde, nach jenem, welcher ursprünglich seine Neugestaltung motivirte. — Sie begreifen die ganze Wichtigkeit eines solchen Postens. Der Name Ihres geehrten Herrn Vaters hat in den industriellen Kreisen einen Klang wie wenige; seine Erfahrungen, viel[S. 91]seitigen Kenntnisse und erprobte Gesinnung sind allgemein anerkannt, und es dürfte sich die ehrenvollste Gelegenheit finden, sie zur Geltung zu bringen. Se. Excellenz werden auf die Wahl der erwähnten zeitweiligen Senatsmitglieder — denen übrigens ein bleibendes Zeichen der Anerkennung nicht fehlen dürfte — einen gewissen Einfluß nehmen, — und es ist mir die Andeutung gemacht worden, daß die Zuziehung Ihres Herrn Vaters den Absichten Sr. Excellenz entsprechen würde. Ich habe, von Ihrer Anwesenheit zufällig in Kenntniß, nicht gesäumt, die Ermächtigung des Ministers zu meiner heutigen Mittheilung vertraulich einzuholen, und ersuche Sie, als das natürliche Organ, über dieselbe mit Ihrem Vater zu sprechen. Es könnte, so wenig eine Ablehnung denkbar, ein Hinderniß seinerseits obwalten, und ein etwaiger direkter Antrag Sr. Excellenz muß gegen jedes Nichteingehen gesichert werden.“
„Ich danke für die mich ehrende Wahl zur Vermittlung“ —
„Es handelt sich um keine Vermittlung, sondern um ein indirektes Sondiren, ob Ihr Vater die ihn vor allen Standesgenossen ehrende Auszeichnung auch in diesem Sinne auffasse.“
„Ich glaube nun meinen Auftrag“ —
„Verzeihen Sie, lieber Herr Korbach, es ist[S. 92] auch kein Auftrag, sondern eine vertrauliche Insinuazion von mir.“ —
„Ich werde meinen Vater fragen, ob er zeitweiliges Mitglied des Reichssenats zur Prüfung der Kommissionsarbeit werden will — sagte Arnold mit offenem Lächeln, das Spinnengewebe der Unterscheidungen durchreißend — ich werde Ihnen dann die Antwort sagen, und Sie, verehrter Herr Hofrath, werden das Weitere machen.“
„Ich glaube wenigstens, die Meinung Sr. Excellenz richtig aufgefaßt — — da sehen Sie, der Herr Minister sieht eben herüber — mein ganzes Haus liegt offen vor meinem Chef — — was wollte ich doch sagen“ — — Graf Breuneck hatte sich wirklich drüben gezeigt und einen Blick herübergeworfen, aber die Schußlinie desselben schien Arnold nicht in das Fenster des Kabinets, sondern in ein anderes einzufallen. —
Da der Hofrath den verlornen Faden nicht wiederfand, so empfahl sich Arnold und schritt, von ihm begleitet, durch das anstoßende Zimmer, wo die schöne böse Frau, deren Julie erwähnt hatte, im Fenster stand. Sie wendete sich um, erwiederte seine Verbeugung mit freundlich würdevollem Kopfneigen und ließ einen Blick von Schutz und Gnade an ihm hinabgleiten.
— — Er hatte gestern zu Günther gesagt: „Ich werfe ihnen Allen den Handschuh hin!“ Das schienen eben keine Feinde. Waren es aber Feinde, so mochten sie sich wohl — das fühlte er — nicht bedenken, den Handschuh aufzuheben.
Es war ihm keine Zeit gegeben, für jetzt über Blauhorn’s Mittheilung nachzudenken, denn nur eine Entfernung von wenigen Minuten trennte ihn vom erzbischöflichen Palais.
— — Er wurde in die Wohnung des Pater Bernhard, und, da dieser eben beim Erzbischof, über lange Gänge in einen großen Saal geführt, wo er sich in ein mit rothem Sammet gepolstertes Sofa mit weißem Gestell und Goldleisten setzte und lange wartete.
Der Eindruck der jetzigen Umgebung überwog den der eben erhaltenen Mittheilung. — Der Auftrag Blauhorn’s hatte seine Gedanken bereits zum Vater, in die Heimat geleitet: in dem erzbischöflichen Saale gedachte er nun des Pfarrgartens in Korbach, — wie da die Rosen dufteten und Weinranken die Fenstergitter umspannen. Wie da Alles grünte und blühte, als wären Worte Gottes vom Abendwinde aus der Kirche herübergetragen worden und befruchtend auf das Gartenland gefallen, zum Dank für die Lindenblüthen, die durch das offene Fenster auf[S. 94] die Kanzel geweht wurden. Wie war da Alles frohes Leben und thätige Liebe! Er gedachte auch des Klosters Sankt Martin, wo der Kreuzgang den kleinen Garten voll Blumenpracht und Sonnenglanz umschloß, und die nickenden Schatten der jungen Birken auf den Gesichtern der alten Aebte spielten, deren Bilder in langer Reihe die Wand bedecken. Der Ruß von Jahrhunderten liegt auf diesen weingrünen Fässern des heiligen Geistes, aber die Augen blicken noch glänzend und heiter, voll Glaubenskraft.... In allen Erinnerungen seiner Kindheit tönt der Lerchentriller mit dem Glockenklang zusammen. — Er hatte das heilige Wort nur aus dem Munde des würdigen, freundlichen Pfarrers vernommen, der von der Kanzel herabstieg, um das zu vollbringen, was er oben gesprochen.
Die Kirche war klein und eng, die Klosterhallen dumpf, und doch hatte er so frei darin geathmet, doch flogen Gefühl und Gedanke so hoch über das goldne Thurmkreuz hinaus!
Und hier in dem hohen, weiten Saale fällt es ihm so schwer auf die Brust, drückt ihn eine schwüle, den Geist narkotisirende Luft.
Es ist nicht die gewöhnliche, allbekannte geistliche Atmosfäre, die sich analisiren, materiell erklären läßt: dieselbe besteht einfach aus etwas Weihrauch,[S. 95] der von der Kirche herüberdringt, gewissen Exhalazionen der Gewänder, alten Schränke und Bücher, — Weinduft, und dem Abgang jener wahren, vollkommenen Sauberkeit, welche nur das Werk einer sorgenden Hausfrau.
Was hier drückt, ist nichts Materielles, sondern etwas rein Geistiges. — Es ist eine Gespensterfurcht, die eben nur den ungläubig Eintretenden zur Strafe befällt. Er sieht den Geist des geheimen Staatsministeriums des Dogma, — den Gegensatz zur lebendigen Kraft der christlichen Liebe; — das Gespenst des Torquemada, wie es am hellen Tage in den modernsten Gestalten durch die parkettirten Säle zieht. — Das ist eben Vision des Unglaubens! Der Fromme ist gefeit dagegen und weiß, daß unsere Kirchenfürsten sich nicht träumen lassen jene Zeit heraufzubeschwören! — — Wozu auch?
Arnold war nicht gegen die Gespenster gefeit: er glaubte jeden Augenblick eines aus der hohen Flügelthür treten zu sehen. — Es trat endlich der Dünnste unter den „Dünnen“ des Anastasius Grün heraus, — das Gesicht, dem er im Freinhofe die Palme der Unausstehlichkeit gereicht, und das ihm heute weniger so erschien, weil es ernst war, — nicht so liebreich! so schelmisch! —
„Ich habe Sie lange warten lassen, werther Herr Korbach, da ich eben mit Sr. Erzbischöflichen Durchlaucht die Angelegenheit besprochen, um deretwillen ich Sie bitten ließ. — Ihr Vater hat durch seine glänzende Munificenz in Betreff der Erbauung der, wie wir vernehmen nun vollendeten neuen Kirche in Korbach den schmerzlichen Eindruck mehr als verlöscht, welchen seine Haltung dem Protestantismus gegenüber, oder leider vielmehr diesem zur Seite, auf das Herz unseres Oberhirten gemacht hat.“
Arnold machte eine ablehnende Bewegung —
„Unterbrechen Sie mich gefälligst nicht. Es fehlt nicht an naheliegenden Beweisen, oder vielmehr an nahestehenden — sagte Bernhard, über sein nicht sehr gelungenes Wortspiel lächelnd. Auch wurde der Bau des protestantischen Bethauses vor jenem der Kirche unternommen.“
„Ich muß mir die Bemerkung erlauben, — warf Arnold ein — daß unsere Protestanten, dermalen über dreihundert, eines Gotteshauses gänzlich entbehrten, während der Gottesdienst der Katholiken niemals unterbrochen wurde.“
„Ich habe Sie nicht zu mir bitten lassen, werthester Herr, um Ihnen irgend Etwas zu sagen, was wie ein Vorwurf klingt. Im Gegentheile bin ich beauftragt, Ihnen vorläufig, bis es auf solennere Weise[S. 97] geschehen wird, zu sagen, daß die Kirche Ihrem Vater für den jüngsten Beweis seiner Treue dankt, und ich, — der ich während der Krankheit unseres Prälaten dem Kloster Sankt Martin vorstehe, erfreue mich insbesondere solcher Gesinnung, da, wie Sie wissen, diese Pfarre von uns aus besetzt wird.“
„Mein Vater kann nicht genug danken für die Wahl des Priesters, der nun seit drei Jahren zum Segen der ganzen Gegend dieses Amt bekleidet.“
„Hierbei habe ich kein Verdienst; unser Prälat hat damals — freilich schon bei geschwächtem Gesundheitszustand — diese Wahl getroffen. — Doch zur Hauptsache. Die Einweihung der auf Kosten Ihres Vaters erbauten Kirche wird in einigen Wochen stattfinden. — Ich kann Ihnen mittheilen, daß Se. Erzbischöfliche Durchlaucht die Absicht haben, diese Feierlichkeit in eigener Person vorzunehmen, um ihr, zur Erbauung der in jener Gegend besonders der Stärkung bedürftigen Gläubigen, den größten Glanz zu verleihen. — Es würde jedoch sehr guten Eindruck machen, wenn Ihr Vater in dieser Beziehung ein Bittschreiben an den Herrn Erzbischof richten würde. Es bietet sich hierdurch Ihrem Vater eine ihm gewiß erwünschte Gelegenheit, seine Gesinnungen in einer so bestimmten Weise auszusprechen, daß in Betreff des Schutzes, welchen[S. 98] das katholische Element in Korbach gegen das weitere Umsichgreifen der Irrlehre von ihm zu erwarten berechtigt ist, nie mehr einem Zweifel oder einer Besorgniß Raum gegeben werden kann. — Sie verstehen mich. Ich habe von den wohlwollenden Intenzionen des Herrn Erzbischofs erst vor wenigen Minuten einen Beweis erhalten, indem Se. Durchlaucht angedeutet, daß sie die Freigebigkeit Ihres Vaters zur Kenntniß des päpstlichen Nunzius zu bringen vorhaben, — — worauf vielleicht von Seite des heiligen Vaters ein ehrendes und beglückendes Zeichen der Befriedigung erfolgen dürfte, welche seinem apostolischen Herzen solche Handlungen der Pietät gewähren.“
Pater Bernhard hielt inne und schien die Wirkung dieser Rede abwarten zu wollen. Als Arnold ruhig, bescheiden, ernst und schweigend stehen blieb ohne eine Miene zu verändern, fuhr er mit schlecht verhehlter Gereiztheit fort: „Ich ersuche Sie, werthester Herr, diese Mittheilung ganz vertraulich Ihrem Vater zu machen, welcher, ich bin davon überzeugt, ihre Bedeutung zu würdigen wissen wird.“
„Ich werde mich beeilen, den Auftrag Ew. Hochwürden zu erfüllen.“
— — Arnold empfand beim Weggehen keine drückende Gespensterfurcht mehr. Es war ihm, als[S. 99] ob der gefürchtete Geist ein Mensch geworden und vor ihm gestanden, und den fürchtete er nicht.
* *
*
Er fühlte die Nothwendigkeit mündlicher Besprechung mit seinem Vater. — Der nächste Morgen trifft ihn im Bahnhofe.
Durch die Fläche, das glänzende Meer von Licht und Widerschein, fliegt der Train den blauen Bergen zu. — Nach zwei Stunden umrauschen ihn statt der Kornfelder die Zwergföhren, womit die steinige Ebene bepflanzt ist, — der Vortrab des gewaltigen hohen Waldheeres auf den Zinnen der ewigen Stadt Gottes, des Hochgebirges: schon unterscheidet man ihre Felsenmauern und schneebedeckten Thürme, und bald umschließt sie die Reisenden in den sonnedurchglühten Waggons, und labt sie mit Harzduft und Wasserrauschen.
In Pottenbach ist längerer Halt. Der aus Süden kommende Train begegnet hier jenem Arnold’s. Sein Blick ist nach einem hohen fernen Felsen gerichtet, auf der Höhe der Föhrleiten.. der zackige Stein ist auch jenseits vom Freinhofe sichtbar; — so nahe!! — — Hoch über die Gruppe der den andern Train abwartenden Reisenden wegsehend, gewahrt er nicht den Baron, der, abseits an[S. 100] eine Säule der Halle gelehnt, ihn einen Moment anblickt und sich langsam abwendet.
Die Dampfpfeife schrillt durch Arnold’s Gedankenmelodie — wie damals Knorr’s Stimme durch das erste Gespräch mit Julie, — die Lokomotive stößt den zischenden Athem aus der ehernen Lunge — in einer Minute fliegen er und Sembrick auseinander, — leiblich wie es bereits geistig geschehen. — In Frauenwang verläßt Arnold die Bahn; ein leichter, offener Wagen mit kräftigen Pferden wird im Orte gemiethet und führt ihn dem Korbachthale zu.
Er erreicht es am späten Abende. Noch durch eine Waldschlucht, einen Felsenpaß und weit und offen liegt es vor ihm. Die Glocke des Hochofens, das Pochen der Hämmer, das Brausen der gewaltigen Wehre begrüßen ihn, durch den blauen Schleier, welchen Abendduft und Rauch der Schmieden über den Thalgrund breiten. Nun fliegt der Wagen vorüber am mächtigen Bau, wo die Walzen den Begriff der Härte verneinen und das Metall unter ihrer Gewalt die Rolle des Wachses spielt, — am Drahtzuge mit den hundert schnurrenden Spulen, am Hammerwerke, aus dessen offenen Thüren der Feuerschein bis auf die Brücke fällt — die von der Straße abseits zum Wohngebäude führt.... nun durch die al[S. 101]ten Linden und Tannen des Parks — und das Ziel ist erreicht.
— — Das Abendessen stand noch auf dem Tische. Ein heller, vierfacher Klang tönte durch das Zimmer, als Arnold eintrat.
Das mußte ein freier, lichter Gedanke, ein gottgefälliger Wunsch sein, — auf dessen Erfüllung diese vier Männer ihre Gläser zusammenstießen: — — Arnold’s Vater — ihm gegenüber Sprenger, — neben ihm der katholische Pfarrer und der Pastor.
Die beiden Geistlichen zogen sich bald zurück, da sie annahmen, daß nur eine wichtige Ursache Arnold’s schneller Rückkehr nach Korbach zum Grunde liegen könne. — Dieser, wissend daß sein Vater kein Geheimniß für Sprenger habe, erzählte, und nahm so viel vom Freinhofe in seinen Bericht auf, als eben hinreichte, um den Zusammenhang nicht sowol zu erklären als zu verwirren.
„Wo der Wind hinweht, ist klar“ — meinte Sprenger.
„Viel wichtiger ist, wo er herkommt, erwiderte der alte Korbach. Sie wissen oben, daß ich das Promemoria vom vorigen Jahre verfaßt habe, und nun soll ich umsatteln, mich hinten auf’s Steckenpferd des Ministers setzen und seine Freihandels-Experimente unterstützen, die uns ruiniren. Wäre eine hübsche Bresche in der Opposizion unserer Eisen-Industrie u. s. w. Was ich ihnen im Senat zu sa[S. 103]gen hätte, können sie aus unserer Eingabe herauslesen. Sie werden Theorienreiter genug finden, ich sitze nicht auf. Von der Supplik an den Erzbischof kann ohnedem keine Rede sein. Die neue Kirche habe ich ihnen bauen lassen, und damit Basta. Will der Erzbischof herauskommen, so ist es mir eine Ehre, wenn auch kein Vergnügen, aber mich hinstellen lassen als verlaufenes Schaf, das zur Herde zukückkehrt, — darauf können sie warten.“
Sprenger war nicht einverstanden. Seine Meinung lautete: „Setze dich auf sechs Wochen in den Senat und sage ihnen Wahrheiten, welche sie von keinem Andern hören. Schreibe dem Erzbischofe und bleibe der Herr vom Hause, indem du ihn ladest. Du kannst mehr in deinem Sinne wirken, wenn du auf gutem Fuße bleibst. Brichst du offen, — und die Ablehnung des Schreibens ist ein direkter Bruch, — so ist das erste Opfer unser braver, biederer Pfarrer, und eines schönen Morgens hetzen sie dir die Arbeiter gegeneinander.“
Sprenger stand vielleicht auf einer freieren Höhe, als der alte Korbach. Ihm ging die Erhaltung der Sache stets über Konzessionen in der Form; er stand wirklich über den Parteien, während sein Freund dem Namen nach zur einen, mit seinem Herzen zur andern gehörte. Sprenger hatte die Ueberzeugung,[S. 104] daß ein Kampf mit der herrschenden katholischen Gewalt nur zum Nachtheile des Herausfordernden ausschlagen könne. Er sah übrigens ein, daß die gelegte Falle keinen andern Zweck haben könne, als, entweder diesen Kampf herbeizuführen, oder ein in seinen Folgen unberechenbares „Korbacher“ Konkordat. — Es lag allerdings die Möglichkeit vor, letzterem in der Ausführung die schärfsten Spitzen abzubrechen: vielleicht ließ sich durch einige Form-Zugeständnisse das Verbleiben des Pfarrers erkaufen; vielleicht war es der kirchlichen Autorität mehr um eine lautklingende, weithin leuchtende Wahrung des Prinzipes als um die Thatsache zu thun, mehr um einen breiten goldnen Rahmen für ihr Gnadenbild: war es nur hoch und glänzend genug hingestellt, so mochte sie dann nicht so genau nachrechnen, wie viele Kniee im Korbacher Thale sich davor beugten. Freilich lauter „Vielleicht!“ — Auf den Senat legte er weniger Werth — es schien ihm höchstens ein entgangener Gewinn: sein Freund mochte mit sich ausmachen, wie hoch er ihn anschlage, und ihn zurückweisen, aber im Kampf mit der Kirche sah er nur gewisses Unheil.
Arnold hatte, gleich nach Beendigung seines Berichtes, da er dachte, sein Vater wolle die Sache mit Sprenger allein besprechen, sich zur Schwester begeben,[S. 105] welche sich gewöhnlich nach dem Abendessen zurückzog, während die Männer noch zusammen blieben.
Sprenger hatte seine reichliche Munizion von Gründen des schwersten Kalibers verschossen: der alte Freund hielt Stand, wich kein Haar breit. — Er sah sich nach Verbündeten um.
Die Eine, auf welche er einstens nie vergebens gezählt — Arnolds Mutter — ruhte nun auf der grünen Anhöhe, welche sich am Ende des Marktes erhebt, in geringer Entfernung von der netten Häusergruppe der protestantischen Arbeiter — jener Häuser, in welchen ihr Name in das tägliche Gebet geflochten wurde, als der Wohlthäterin von hundert Familien. Aber die letzten Tage ihres segensreichen thätigen Lebens an der Seite des Gatten, der ihr Werk mit Kraft und Liebe beschützte, waren durch Sorgen getrübt, welche ihrem hellblickenden Geiste die allmälig auftauchenden feindlichen Bestrebungen der ringsum herrschenden Intoleranz erregten. Sie schloß die Augen mit dem schmerzlichen Gefühle, durch ihre Schöpfung den Frieden der alten Tage ihres Gatten gefährdet zu haben. An ihr hätte Sprenger eine Fürsprecherin gefunden bei jedem Schritte, welcher begütigend, ausgleichend wirken konnte.
Aber nur mit geringer Hoffnung begab er sich zu Helene, welche bei manchen wichtigen Veranlassun[S. 106]gen mehr über den Vater vermocht hatte, als er und ihr Bruder. Er erzählte ihr Alles.
Das Mädchen hatte eine eigene, reizende Art, zuzuhören. Es war nicht ein einfaches Merken auf das, was gesprochen wurde, — sie sah mit ihren dunkelblauen Augen dem Quell des Gedankens auf den Grund, und der Erzähler hatte das wohlthuende Gefühl, sie ganz in seinen Gegenstand versunken, denselben in ihrer Antwort oft vollständiger wiedergegeben zu sehen. — In ihr war die Festigkeit und Entschiedenheit des Vaters in die weichste, reizendste Form gehüllt, — — als wäre ein Diamant in eine offene Rosenknospe gefallen; die Blätter mochten jedem Drucke nachgeben, durch den leichtesten Nadelstich verwundet werden, — der Diamant des Karakters schnitt durch das bunte Glas der Schmeichelei, durch das falsche Gold der Eitelkeit, durch allen Schein und alles Unwahre, das sich in ihrer Nähe unbehaglich fühlte.
Die reichen blonden Haare hatten jene so seltenen, nicht durch Flechten und Brennen entstandenen, natürlichen kleinen Wellen, welche das reine Oval des geistvollen Gesichtes in lebhaft bewegten Linien umspielten, nicht mit einer glatten, kalten Spiegelfläche einrahmten. Wie war das blühende Mädchen so blond und weiß — — und doch nicht ein schmach[S. 107]tender Zug! — Alles so lebendig, kräftig und warm! — Die Natur hatte da ein Schneeglöckchen mit Nelkenduft geschaffen. —
Als die Erzählung des väterlichen Freundes geendet war, sagte sie nach kurzem Nachsinnen: „Das ist verlorne Mühe, lieber Sprenger, ich habe oft Etwas beim Vater erreicht, wenn ich vorangeschickt wurde, selten, wenn ich nachkam, niemals, wenn etwas schon Verweigertes nur durch meinen Mund wiederholt wurde. Er sagte mir einmal: Helene, wenn du mich in fremdem Auftrag küssest, ists gar nicht dein Mund. Ich kenne auch seine Ansicht. Meine Meinung ist, daß der Vater den Senat annehmen, dem stolzen Geistlichen aber, der um Etwas gebeten sein will, was er für sein Leben gern selbst thun wird, nicht schreiben soll. Ich bin Protestantin, wie meine Mutter, und darum“ —
„Doch nicht empfindlicher gegen den katholischen Stolz als ich?“ — unterbrach sie Sprenger.
„Gewiß nicht, auch ehre ich Ihre Klugheitsrücksichten, aber der Vater hat doch Recht! Unser Korbach wird es aushalten, wie Deutschland den dreißigjährigen Krieg,“ schloß sie lächelnd und mit jenem Zuge um die Lippen, der, wie Sprenger wußte, ein anmuthiges, aber entschiedenes Nein ausdrückte. —
„Das ist schlimm,“ sagte er, „Sie waren meine letzte Hoffnung. Ich sehe nichts Gutes kommen; fürchte selbst Verwicklungen und Gefahren für die Zukunft Arnolds.“
„Ich fürchte nichts. Er sprach auch kein Wort mit mir darüber.“
„Er hielt sich nicht für berechtigt, von der Angelegenheit des Vaters zu sprechen, bevor dieser sich entschieden, aber ich durfte es mir erlauben.“
Sprenger war nun fertig; auch die Beziehung auf Arnold hatte fehlgeschlagen. —
Der Vater gab diesem folgende Instrukzion: „Sag’ dem Hofrath, daß ich die Ehre, im Senat zu sitzen, annehme, wenn der Minister keine Freihandelschimären von mir vertreten sehen will. — Sie wollen nur Leute, welche sagen, was man Oben gerne hört, und wer anders spricht, wird seine Rolle bald ausgespielt haben.“ — Er theilte hierin eine damals allgemein verbreitete, zum Theil später widerlegte Meinung über die Haltung, welche man vom Reichssenate erwartete. „Dem Erzbischof aber — fuhr er fort — wollen wir weiße Mädeln entgegenschicken, trommeln und pfeifen und läuten, daß die Glocken bersten, aber geschrieben wird nicht. Und nun mache, daß du fortkommst, damit sie nicht glauben, ich habe zwei Tage gebraucht, um mich zu bedenken.[S. 109]“ Arnold konnte eben noch eine Viertelstunde für seine Schwester gewinnen. Sie theilten jeden Gedanken, ohne einander eine Ueberzeugung zu opfern, kaum eine Meinung; — sie spiegelten im innigsten Verständniß Eines des Andern Farbe zurück, ohne die eigene darüber zu verlieren. Er hatte ihr im ersten Briefe aus der Stadt einen Umriß der Freinhof-Begebenheiten gesendet, und theilte ihr nun auch das Gespräch mit Günther, und dessen Ansicht mit. Wie sie einander so gegenüberstanden, sich an beiden Händen hielten, das Mädchen ihm gerade in die Augen sah, unterbrach sich Arnold mit den Worten: „Deine Augen werden immer dunkler! Vor der Reise waren es Kornblumen, jetzt sind es schon Genzianen!“
„Und am Ende werden sie noch schwarz, und dann siehst du noch lieber hinein,“ rief sie lachend. — — „Nun aber genug, — der Vater wird ungeduldig, — ich schreibe dir, was etwa noch vorgeht, heute durch die Fabriksgelegenheit. Sei klug, und grüße mir deinen Günther, — auch er hat nicht Recht, — heute bin ich mit Euch Allen im Krieg.“ — —
Ein frischer, herzlicher Kuß, eine Umarmung, — und Arnold sprang auf den Wagen, und hatte nun Zeit genug, auf eine für die büreaukratischen und hierarchischen Ohren annehmbare Form der väterlichen[S. 110] Ablehnungen zu sinnen, welche ganz nach seinem Herzen waren.
Sicherlich wird es sein Erstes nach der Ankunft in der Stadt sein, sich der Mission zu entledigen: wir erwarten ihn im Kabinette Blauhorns, wohin wir ihm voraneilen, und finden uns leider im Gegensatze zu dem noch friedlichen Korbacher Thal auf dem Schauplatze der bedauerlichsten Anarchie.
Die Gattin geht mit raschen, sehr hörbaren Schritten auf und nieder, — der kleine gelbe Hofrath sitzt zusammengekauert im Lehnstuhl, auf irgend ein Aeußerstes gebracht, wie ein Igel zur Stachelkugel eingerollt. Es ist keine Emeute, kein „beklagenswerther Versuch einer Handvoll Unzufriedener“, — der Hofrath hat sich nicht wie gewöhnlich zusammengerottet, um durch einen Gensdarmenblick seiner Gemahlin auseinandergetrieben zu werden: — es ist offene Empörung.
Es mußte ein großer Mißgriff von Seite der obersten Behörde des Hauses geschehen sein, denn Blauhorn gehörte zu den am leichtesten zu regierenden Provinzen. Man mußte ihm nur einen Schein von Volksvertretung lassen. Er sagte gerne Ja, wollte aber gefragt werden; — gehorchte willig, wollte aber wissen, wozu seine Steuer von Gehorsam verwendet werde. Er hatte im Freinhof von Julie den Auftrag erhalten,[S. 111] seine Frau dringend dahin zu laden, und diese war der Einladung gefolgt. Nach ihrer Rückkehr lauerte er auf eine Mittheilung, aber vergebens. Zwei Tage später erhielt er vom Minister den Auftrag an Arnold, errieth einen Zusammenhang, und schwieg nun ebenso hartnäckig. — An den Gedanken einer Wechselwirkung zwischen dem Grafen Breuneck und seiner Frau hatte er sich gewöhnt; er fing an, sich für einen Intriganten zu halten und sagte sich vor, er werde, — da er nun einmal auf die Süßigkeiten des häuslichen Glückes verzichtet, vom Teufel des Ehrgeizes geritten, und beherrsche durch seine Frau den Minister; — er war ein Tender, der die fixe Idee hat, die Lokomotive zu schieben. —
Nun fühlte er sich als einen hinten angehängten Lastwagen. — Seine Frau ihrerseits wollte sehen, wie weit die rebellische Verstocktheit, dieses Schweigen über den ihr nur zu wohl bekannten gräflichen Auftrag gehe, und gab ihm achtundvierzigstündige Frist. Als diese verstrichen, trat sie am Morgen in sein Kabinet mit der Kernschuß-Frage: „Wann bekommst du Antwort von Korbach?“
Blauhorn fuhr los: „Er werde dem Minister die Augen über Alles öffnen!“ Die Frau konnte nicht wohl begreifen, worin dieses noch bestehen solle — und es entwickelte sich nun das Feuer auf der[S. 112] ganzen Linie mit solcher Lebhaftigkeit, daß Arnold und der ihm voranschreitende anmeldende Diener das schwere Posizionsgeschütz der Hofräthin und das dünne Kleingewehr-Geknatter aus dem Lehnstuhle deutlich durch die Thür unterscheiden konnten. — Als dieselbe aufging, war unter den schnell geordneten Falten der Empfangsgesichter die Pulverschwärze noch wahrnehmbar, aber der Kampf war bereits entschieden.
„Sie werden, bester Herr Korbach, — sprach die Hofräthin — so gütig sein, mir das Ergebniß Ihrer Anfrage mitzutheilen, da mein Mann an einer so fürchterlichen Migraine leidet, daß ich ihn nicht sprechen lasse.“
„Mein Vater, — erwiederte Arnold auf einen schweigend zustimmenden Wink Blauhorns — wird eine Ehre und ein Glück in der bewußten Eventualität sehen und hofft dem in ihn gesetzten Vertrauen um so leichter zu entsprechen, da er überzeugt ist, daß er in keine Kollision mit gewissen von ihm seiner Zeit ausgesprochenen Ansichten kommen werde, welche er allerdings nicht aufzugeben vermöchte.“
Arnold wußte, was ihm die Zusammensetzung dieser hölzernen Frase gekostet. Er fühlte sich keinen ganzen, aber ein gutes Stück Talleyrand.
„Ich bedauere vorzüglich im Interesse Ihres Herrn Vaters dessen Auffassung einer Sache, welche wir[S. 113] nunmehr als abgethan betrachten müssen,“ — sagte Blauhorn gemessen und spitzig.
„Herr Korbach hat ja angenommen?“ rief die Hofräthin.
„Abgelehnt!“ sagte der Gatte, schneller begreifend. —
Arnolds Schweigen war die beste Politik. Das Gespräch hatte geringe Lebensfähigkeit und gefror zu zwei oder drei Eisblöcken von Redensarten, welche dießmal von keinem Gnadenblicke der Dame geschmolzen wurden. — —
Als das Paar allein war, wehte auf Blauhorns Stuhllehne die Siegesfahne. Jetzt dankte er Gott, nicht die Lokomotive zu sein. „Marianne, sagte er, laß dir dieß zur Warnung sein, keine Intriguen ohne mich einzufädeln! Zu so etwas muß man geboren sein.“ Sie verließ das Zimmer ohne ihn einer Antwort zu würdigen. Sie fürchtete sich allerdings, beim Grafen kompromittirt zu sein, doch hatte sie keine Wahl gehabt — oder vielmehr nur die Wahl, auf andere Weise kompromittirt zu werden, — wie sich später zeigen wird.
In Pater Bernhards Wohnung wurde Arnold von der Mittheilung überrascht, daß derselbe nach St. Martin abgereist, und den Auftrag hinterlassen habe, ihn zum Sekretär des Erzbischofs zu führen.[S. 114] Dieser empfing ihn mit den noch überraschenderen Worten, Se. Erzbischöfliche Durchlaucht habe befohlen, ihn zu melden.
Nach einigen Minuten stand er vor dem höchst ehrwürdig aussehenden greisen Priester, welcher mit freundlichem, mildem Blicke und leichtem Neigen des Kopfes seine Verbeugung erwiederte und mit sanfter Stimme sagte: „Ich habe Ihnen, werther Herr Korbach, bereits im Allgemeinen durch den Herrn Prior von St. Martin mittheilen lassen, daß ich die Einweihung der Kirche in Korbach vornehmen werde, und kann Ihnen nun sagen, daß ich am Mittwoch über vierzehn Tage daselbst eintreffen werde. Ich weiß, daß hierdurch auch ein frommer Wunsch Ihres Vaters erfüllt wird, welchen er wohl, Angesichts einiger früherer unliebsamer Vorgänge, Bedenken getragen haben dürfte auszusprechen. Ich komme demselben mit Freuden zuvor, da die Dinge in Korbach eine gute Wendung nehmen. Es soll der Gesinnung Ihres Vaters an einer kräftigen Unterstützung von Oben nicht fehlen, ich gedenke dieß bei meiner Anwesenheit zu beweisen. — Sollte Sie in Zukunft ein Anliegen zu mir führen, so werde ich für Sie immer zugänglich sein.“
Ein Schritt zurück und eine freundlich entlassende Bewegung mit Hand und Kopf schnitten jede[S. 115] Gegenrede Arnolds ab, selbst wenn er eine solche bereit gehabt hätte. — Die Audienz war zu Ende. Nach der Abschiedsgebehrde konnte er nur bleiben, wenn er ein Schreiben des Vaters aus der Tasche zu ziehen hatte. Daß er keines habe, hatte der kluge Kirchenfürst beim ersten Blicke vermuthet und war nach den ersten zehn Worten davon überzeugt, da er keine Anstalt sah, ein Derlei zu Tage zu fördern. — Und eigentlich hatte er auch kein Schreiben erwartet, sondern — den alten Korbach selbst. — — Ein sehr bezeichnender Unterschied zwischen der geistlichen und weltlichen Gewalt lag in der Weise, wie Beide die Ablehnung behandelten. Der Erzbischof läßt es gar nicht zum Aussprechen des Nein kommen, nicht einmal gegen Pater Bernhard. Er weiß was ist, er hat ins Herz geschaut, und das genügt. Die weltliche Gewalt begnügt sich nicht mit faktischem Wissen und Handeln, sie hat noch menschliche Leidenschaften, keine Rancünen, sie zeigt Gereiztheit. Die Kirche läßt es nicht auf den Punkt kommen, daß sie beleidigt sein muß, bevor sie es angezeigt findet. — Arnold erschien sein Vater wie das arme Volk in der offiziellen Zeitung bei der Durchreise eines allgeliebten Herrschers; haben zehn Menschen gerufen, so ist es tausendstimmiger begeisterter Jubel. Hat sich kein Mund geöffnet, so ist die Rührung[S. 116] keine lärmend ausbrechende, aber eine um so tiefere. — Sein Vater mußte sich nach dem Erzbischof sehnen, laut oder stumm. — — —
Nächsten Morgen begrüßte ihn, da er eben die trübe Sündflut des ganzen unerklärlichen ihm widerlichen Getriebes überschaute ohne Land zu entdecken, eine Taube mit einem Oelzweig, — ein Brief Helenens.
Sie schrieb:
„Nach deiner Abreise abermalige Conferenz, zu der ich gerufen wurde. Ich sagte von Günthers Ansicht über ein Freinhof-Komplott Alles, was ich sagen konnte ohne deinen mir anvertrauten Herzensschatz zu enthüllen. — Niemand findet eine Erklärung. — Günther, Sprenger und ich haben verschiedene Meinungen.
Günther hält nach deiner Erzählung den Freinhof für ein Gewebe, wo mitten die Spinne sitzt, welche auch Julien umklammert, und nach allen Seiten hin ihre misteriosen Fäden nach den Fliegen ausspannt.
Unser Mentor sagt: Gerade umgekehrt. Im Freinhof sitzt die Fliege, die Person, welche von all’ den Spinnen in den obern Regionen zu verschiedenen Zwecken benützt wird.
Ich sage: Beide haben Recht, Beide Unrecht. Es ist da ein Mensch, der von Einigen zu ihren[S. 117] Zwecken gebraucht wird, und selbst seine eigenen mit Andern verfolgt.
Ihr sucht überhaupt zu tief — Ihr wollt eine Freimaurerloge, Vehmgericht, Falschmünzerbande, kurz irgend eine prächtige Roman-Teufelei mit einem vielgestaltigen Anführer und Verschwornen in allen Ständen herausfinden. All das könnte sein, — aber es ist eben nicht! Ich sehe das so klar, mit diesen meinen Augen, die trotz deines Vergleiches kein anderes Blau haben als eine frisch abgesottene Forelle. Glaub’ mir, hinter der ganzen Geschichte steckt Nichts als Ein schlechter Mensch, dessen Opfer auch die arme schöne Frau. Der Vater sagt, von seinen Freunden würde keiner so handeln, und entsinnt sich keines Feindes. Den Herrn des Freinhofes kennt er gar nicht. — Was bei uns vorfällt, erfährst du gleich.“ — —
— — — Wer sah am Richtigsten? Der Taschenteufel, — der vielgereiste Mentor oder die achtzehnjährigen Genzianen-Augen? —
*
* *
Ein Streiflicht fällt, wenn nicht auf das Gewebe, doch auf die Spinne, wenn wir Sembrick folgen, der am Nachmittage nach Arnolds Besuch abgereist, Abends im Freinhofe eingetroffen war.
Mit einem Gewitter hatte drei Tage früher unsere Erzählung begonnen — es folgte ihm die Abendfeier am Himmel, die zugleich das Morgenroth einer erwachenden Liebe. — — Das heutige war auf den Raum eines Menschenherzens eingeengt — es folgt ihm aber kein Abendroth. —
Als Edmund ankam, war Julie auf ihrem Zimmer. — Er faßte mit ruhiger Hand ihre dargebotene zitternde. Tiefer Ernst, — gebändigter Schmerz lag auf seinem Gesichte — — das ihre war eine weiße Rose im Sturm.
„Edmund, ich wußte, daß Sie kommen würden!“
„Und Sie sind so bewegt, als wäre das Unerwartetste erschienen.“
„Ich bin’s, weil ich Sie erwartete! Sie erhielten meinen Brief“ —
„Ich erhielt ihn aus Korbachs Händen heute Morgen, und bin gekommen, ihn nach seinem ganzen Inhalte zu beantworten.“
„Ach Gott, Sie sprechen so gemessen, in einem so feierlichen Tone“ —
„Wie es eine Stunde fordert, in welcher klar werden muß, Julie, was wir einander sind, und fortan sein können.“
„Und war denn nicht Alles so klar, wie es sein[S. 119] soll und kann und mag, sein wird, wenn Sie es nicht unklar machen wollen? Edmund, ich leide genug, — können denn Sie mich quälen?“
„Leid von Ihnen fern zu halten war mein Ziel, seit ich Sie gefunden. Wenn ich es nicht erreicht, noch lange nicht erreichen werde, so liegt die Schuld nicht im Mangel des Willens, noch der Kraft. Jedes Handeln ist für jetzt unmöglich!“
„Unwürdig ist unser jedes Wort, das den Gedanken verschleiert! Sie wollen mir nicht sagen, daß Sie nicht handeln können, Sie wollen sagen, daß Sie dabei allein stehen wollen. Was Sie unklar zwischen uns nennen, das ist der Brief, mit dem ich Arnold sandte! Und Sie vergessen Ihre Worte: „Noch Eine sichere Hand, eine treue Seele, auf die Sie zählen können!““
„Ich habe sie nicht vergessen, — und statt Sie zu fragen, wie Sie in Korbach den Mann erkannt, auf den ich zählen könne, sage ich Ihnen geradezu, Sie haben recht gesehen, — er ist es. Aber die Zeit ist noch nicht gekommen, — und wenn sie kommt, so bedürfen Sie meiner dann nicht mehr.“
„Edmund, glauben Sie nicht, mich durch Ihre Härte dahin zu bringen, daß ich etwas sage, was Sie mit Recht verletzte, damit Sie ein hartes Wort von mir als Schild gegen Ihr eignes Gefühl halten[S. 120] könnten, das Ihnen sagt: sie bedarf meiner! — Was ist anders geworden seit dem Tage, wo Sie von diesem Fenster auf den Berg hinüberblickten und sagten: So wahr der Geist Gottes über den Wassern und jener Höhe schwebt, der in das Dunkel, in dem Sie wandeln, hineinrufen wird, es werde Licht! so lange weiche ich nimmer von Ihnen, bis mit seiner Hülfe die Fessel gelöst ist! — Was ist anders geworden? — nicht ich, Edmund, aber Sie!“
„Ich bin, der ich war und sein werde. Ich stand aber nie auf jener Höhe, wohin mich Ihr Gedanke stellte. Ich habe Nichts gethan, was Sie berechtigt, mich für ein übermenschliches Wesen zu halten, und das mußte ich sein, wenn mit dem Entschlusse für Sie zu kämpfen, nicht der Gedanke erwachen, mich mit Allgewalt durchdringen sollte, es ist um Sie!“
(— — — Wenn ein allgegenwärtiger Schutzgeist der Liebe die Worte hört und wiegt, welche als Bitte oder Schwur von Menschenlippen zu ihm hinaufgesendet werden, so vernahm er fast zur selben Minute das Wort, das Arnold zu seinem Freunde Günther sprach: Ich handle für sie, nicht um sie — — — und tief mochte sich unter dem reinen Gold die Wagschale auf Arnolds Seite neigen. — — —)
„So war es nicht immer, sagte Julie mit Innigkeit — Sie waren wie ich Sie sah! Sie standen wirklich auf jener Höhe, nicht ich habe Sie hinaufgehoben — — — jetzt hinweg mit den Schranken, welche eine alberne Wortprüderie um uns Frauen ziehen will: ich selbst will Ihr Inneres vor Ihnen aufdecken. Ich habe Ihre Liebe zu mir zur Klarheit geführt, bis Sie selbst sagten: „Ich habe überwunden, und bin im Stande, ohne Wunsch und Verlangen der Freund eines unglücklichen Weibes zu sein,“ — ich lasse Sie auch jetzt nicht im Dunkel und sage Ihnen, der Gedanke an Arnold ist es, der Sie zurückgeworfen in eine Tiefe, aus der Sie sich emporgerungen... Sie sind noch der, als den ich Sie kennen lernte, — Edmund, — in Frauenwang! — wo Sie jenes Kind gerettet — wo ich Sie zum ersten Male sah, als Sie den Sprung des de Lorges, aber nicht zwischen Tiger und Leu’n thaten — — die konnten sich erbarmen, — sondern an den feuersprühenden Rachen der Lokomotive hin, — im letzten Moment, — wo es keiner mehr wagte — und das Mädchen emporrissen! — — ich höre noch den Schrei der Umstehenden — der meine erstickte in der Brust — es war ja eines Haares Breite zwischen Tod und Leben! — und wie Sie das Kind dann ruhig an die Säule hinstellten, aber ohne es auch[S. 122] nur einmal zu küssen — — — Sie hätten es am nächsten Tage, vielleicht in der nächsten Stunde nicht wiedererkannt... Da zuckte mir’s durch die Seele, der kann dein Retter sein! — Dann gedacht’ ich der Kälte, mit der sie das dem Tod entrissene liebliche Geschöpf hingestellt — als wär’s ein Waarenbündel, — den nun der Eigenthümer wegtragen soll! Und eben darum, meint’ ich, konnten Sie es sein! Wie dann die Mutter, die ihr Kind in guter Obhut geglaubt, herbeistürzte, — sich zu Ihren Füßen warf, wendeten Sie sich mit zornigem Auge ab und sagten: Sie sind nicht werth eine Mutter zu sein! Dann fiel Ihr Blick, als Sie eben den Wagen bestiegen, auf mich — Sie sahen, wie ich den meinigen fest und lange auf Sie richtete, voll Bewunderung Ihrer Entschlossenheit, — mit dem Gedanken, dieser Mann wäre im Stande, auch dich von deinen Eisenschienen aufzuheben“ —
„Und dann kalt und ruhig wegzugehen — — der Weihrauch der Bewunderung, die Mirrhe des Dankes, das Gold der echten, reinen Freundschaft — — das sind die Gaben, die selbst der Welterlöser erhielt, — sollte ich unzufrieden sein? ich, der ich nichts gethan, als vielleicht Ihre Geduld, Ihre Hoffnung auf ein gelobtes Land der Zukunft gestärkt?“
„Und ist das Nichts? — ist’s denn nicht tausendmal mehr, als ich bieten konnte? Lebt’ ich nicht ohne Glauben an einen Menschen, ohne einen Funken Hoffnung eines Glückes, — und hab’ ich Ihnen nicht Beides zu danken?“
„Der Glaube an den Menschen mußte zerfallen, eben als Sie ihn in seiner ganzen Menschlichkeit vor sich sahen — — die Hoffnung eines Glückes aber sollen Sie so entschieden festhalten, als ich Sie nun verloren habe.“
„Und an welches konnten Sie glauben — —? Edmund, dürfen Sie, die Hand auf Ihr Herz, von Täuschung, — von Enttäuschung sprechen? Als Kollmann, der in Frauenwang kein Auge von Ihnen verwandte, Sie hier vorstellte, als er, — mir unerklärlich, Ihnen Alles mittheilte — — was Sie von mir nie erfahren hätten, als Sie dann mit mir darüber sprachen und sagten, ich ruhe nun nicht eher, als ich in meiner Waffensammlung den Dolch gefunden, der eine Kette zerschneidet, von welcher kein göttliches und kein menschliches Gesetz weiß — da sah ich mit dem Blicke des Weibes in der ersten Stunde, daß Sie mich nicht — — wie jenes Kind hinstellen würden. Ich bat Kollmann, Sie nicht wiederzubringen, — vergebens. Ich erhielt den Befehl mit Ihnen so liebenswürdig zu sein, wie mit[S. 124] allen Jenen, — — deren er bedarf. Auch das sagte ich Ihnen, auf jede Gefahr von seiner Seite hin. Und als der Augenblick kam, den ich fürchtete, als Ihr Gefühl, — wie ein heißer Quell aus Island, der das Felsenstück wegschleudert, um sich zu befreien, in das lang unterdrückte Wort ausbrach — — habe ich die Augen mit den Händen bedeckt —? habe ich Sie mit Entsetzen über ein Unerhörtes verlassen? — haben Sie eine jener Frasen der fliehenden Koketterie vernommen — ein „Mein Herr, was berechtigt Sie —? Ich habe mich in Ihnen getäuscht —?“ Oder ein ähnliches Nichts? — — Hat auch nur ein gepreßter Athemzug, ein verwirrter Blick Ihnen etwas Anderes gesagt als das heilig wahre Wort, das ich ruhig sprach: Wenn ich Sie liebte, so würd’ ich so freudig Ja sagen, als ich mit Schmerz um Ihretwillen Nein sage — — so würde ich nicht einmal fragen, ob Sie mich wieder lieben! — — Ich wäre darum doch nicht ein Haarbreit von jener Linie gewichen, die ich mir selbst gezogen, und Sie wären, wenn ich Sie liebte, ganz so unglücklich gewesen, als Sie jetzt zu sein glauben. Es ist einmal in den Sternen geschrieben, daß ein Mann keinen andern Preis seines Handelns und Strebens für eine Frau kennt, als sie selbst. Wenn von Enttäuschung die Rede sein kann, so bin[S. 125] ich es, Edmund, die das Recht hat zu sagen, Sie haben verheißen und nicht gehalten.“
— — Wenn ich sagte, ich habe überwunden — erwiederte Edmund mit sanftem aber festem Tone, so sagte ich damit, — um Ihr eignes Bild zu gebrauchen, das Felsstück ist auf den heißen Quell gedrückt — preßt ihn in’s Innerste zurück, — — Sie haben kein Ueberwallen mehr zu fürchten. Meine Worte aber, es müsse klar werden, was wir einander fortan sein können, sollen sagen: Bin ich fortan derjenige, in dessen Hand Sie die Lösung Ihres Schicksales allein mit unbedingtem Vertrauen legen wollen? — Bin ich es, so sollen Sie die Frau sein, für welche ein Mann, der sie unbegrenzt liebt, so handelt, um jenes höllische Gewebe zu zerreißen, als wäre er ihr Freund in dem Sinne, den sie verlangt — — ohne irgend eine andere Hoffnung. Bestehen Sie darauf, Ihr Geheimniß mit Korbach zu theilen, so gebe ich ihm alle Mittel in die Hand, die sich mir, wie ich die Sache verfolge, bieten werden, und behalte Nichts als das Bewußtsein, bis zum jetzigen Augenblicke Ihr Vertrauen ungetheilt genossen zu haben. — Mit Korbach Hand in Hand gehe ich nicht. — Unsere Wege führen auseinander. Der meinige ins Weite zurück, nachdem ich einen hellen, leuchtenden Mittelpunkt meines Lebens gefunden, der[S. 126] seine Kometenbahn in eine abgeschlossene Sfäre verwandeln konnte, — und den ich wieder verloren. Wohin der seine? — Ich kann den Lauf des tiefen, reinen Wassers nach dem Meere nicht hemmen, Julie, aber ich grabe ihm auch nicht das Bette dahin. — Das verlangen Sie von Sembrick nicht. — Verlangen Sie es um Korbach’s willen nicht! — Vergessen Sie nicht, daß er, um mit mir zu wirken, Alles wissen muß, und wer verbürgt Ihnen, daß Korbach den Kampf zwischen der Pflicht, für Sie zu schweigen, und jener, zu entdecken, so trägt wie ich?“
„Daran habe ich nie gedacht — Edmund, Sie glauben unmöglich, daß Arnold einen Augenblick uneins mit sich sein kann“ —
„Wie er handeln werde, gewiß nicht; aber täuschen Sie sich nicht über sein Pflichtgefühl. Er ist mit allen Banden, durch eine hoffnungsreiche Zukunft an dieses Land gebunden, und kann über das Bestehende, über die Forderung des Gesetzes nicht so leicht hinwegsehen! Seine Ansicht, wenn ich ihn in den wenigen Minuten durchschaut, — dürfte jener nachgebildet sein, welche das Ideal jedes jungen Mannes sein soll, — er wird nicht wie Max seinen Friedland, seine Liebe opfern, — aber er wird empfinden wie dieser, und in den schmerzlichsten Zwiespalt mit sich gerathen.“
Julie schwieg betroffen — sie legte die Hand auf’s Herz — und sagte nach einigen Minuten leise aber heftig: „Das entscheidet! — das allein. Sagen Sie nichts mehr davon — — Sie haben mir die Augen über etwas geöffnet, was ich nicht geahnt. — — Und Sie! — Sie haben von der Last die sie trugen, geschwiegen, bis Sie dieselbe theilen sollten! Das ist groß — das ist wieder der Edmund, zu dem ich wie zum unbeweglichen Polarstern hinaufgeschaut! Sie geben sich mehr Mühe, klein zu scheinen, als Andere groß!“
„Und so bleibe ich denn am hohen kalten Himmel stehen, Julie, und wir lassen Korbach auf der warmen Erde wandeln, ohne ihn mit der Kette Ihres Geheimnisses zu umschlingen?“
„Es soll so sein — — ich werde seinen Frieden nicht brechen!“
„Und wie werden Sie gegen ihn widerrufen, was Sie im Briefe aussprachen?“
„Das überlassen Sie mir — ich werde leicht Hände lösen, die sich nicht berührt haben — — und die Ihre wird die eines treuen Freundes bleiben wie zuvor?“ —
„Ich werde wie ein solcher handeln. Und nun, Julie, — da mir Alles — Alles klar, sagen Sie mir, was Sie denn eigentlich gedacht, beabsichtigt[S. 128] welchen Plan Sie im Aug’ gehabt, als Sie mir diesen Verbündeten sandten?“
„Gedacht? — Plan? — Was ist denn, — das Eine ausgenommen, daß ich mir selbst treu bin und dem, was ich gut nenne, — was ist denn in mir, was nicht Eingebung des Moments wäre? Was berechne ich? Eine Stunde lang sah ich Arnold, — es fiel mir nicht ein, zu denken, wie er Ihnen beistehen könne — ich mußte ihn senden, — fassen Sie denn nicht, daß ich diesen Augen vertrauen mußte? — Ich fragte mich ja selbst, warum, und da ich’s nicht weiß, ist es eben ein Gegebenes, ein Gottgesendetes, wie alles Unerklärliche, das uns hebt und besser macht! Ich konnte, nachdem ich mit ihm gesprochen, mir einen Augenblick denken, daß es Nichts in der Welt gebe, was nicht vergeben und gesühnt werden könne, und das hat mir wohlgethan. Sie sagten, wer von ganzer Seele liebe, der könne auch von ganzer Seele hassen — vielleicht bin ich des Ersteren nicht fähig — denn ich kann mir nun keinen Haß denken, selbst gegen den, der Alles gethan ihn zu verdienen, welcher nicht in ein „Gott verzeih dir wie ich!“ hinschmelzen würde, wenn er mir auf dem Sterbebette, — auf meinem oder seinem, die Hand reichte. Und noch vor wenig Tagen hatte ich — Sie erschrecken nicht vor dem Gedanken, aber[S. 129] ich — hatte ich zu Gott um Rache gerufen, — da oben — an der Stelle selbst! — Vor Arnold könnte ich ein solches Gebet nicht laut aussprechen!“
„Ich hoffe, Sie hatten in der letzten Zeit weniger zu leiden, da Kollmann, wie ich weiß, selten hier war.“
„Sie wußten —?“
„Ich behalte den Freinhof stets im Auge, wenn Sie auch nicht von mir hören.“
„Thun Sie, was Sie um meinetwillen für gut finden. Kollmann war vorgestern hier, eben als Arnold gekommen war. Er ließ mich rufen, nachdem die Gesellschaft auseinandergegangen. — Er lag im Bett, rauchte seine Zigarre, — ich saß neben dem Bette, im Nachtkleid, — das Fieber schüttelte mich. Er schwieg einige Zeit, — hatte die Augenlider gesenkt — da sah ich wenigstens nicht, was mir das Fürchterlichste ist. — — Sembrick — haben Sie denn je einen Menschen mit so weißen Augen gesehen? Es ist gräßlich, wenn er sie aufschlägt und ich diese Augäpfel — wie die eines Blinden — nur mit zwei schwarzen Punkten mitten, auf mich gerichtet sehe — — er sieht Sie durch und durch, — aber Sie können ihm nicht hineinsehen, nicht durch die äußerste Hülle der Seele. — Die schmalen, eiskalten Züge, der lippenlose Mund — das ist Alles nichts[S. 130] gegen diese Augen! — Endlich fragt’ er mich, wer im Freinhof — ich nannte Alle, auch Arnold — er sagte: Ich erwartete seine Rückkehr von der Reise und hätte ihn aufgesucht — nun kommt er selbst, um so besser, — so kann Alles durch dich gehen. — Ich fragte: Was hast du mit dem vor? — Nur Gutes, erwiederte er — so freundlich lächelnd — daß ich alle Mächte des Himmels um Schutz für Arnold anrief. — Und doch hat er auch schon Gutes durch mich gethan. Ich fragte, ob ich gehen dürfe, — er befahl mir, die Blauhorn durch ihren Mann dringend nach dem Freinhof zu laden und entließ mich. Am Morgen hatte er noch eine Unterredung mit Pater Bernhard und reiste ab. — Ich konnte den ganzen Tag das Bett nicht verlassen.“
„Und so wird und muß ein Moment kommen, rief Sembrick mit Schmerz aus, wo Ihre Kraft zusammenbricht, — ich fürchte, früher, als ich oder wen die Vorsehung erwählen wird, Hülfe bringen kann.“
„Fürchten Sie das nicht, erwiederte Julie lebhaft, fast heiter. — Sehen Sie meinen Arm an, ist er weniger rund? ist das übertriebene Korallenroth meines Mundes verschwunden? Ich bin in einzelnen Stunden viel elender, und Tage und Wochen[S. 131] viel weniger unglücklich als Sie glauben. Oft fühl’ ich’s gar nicht.“
„Ihre Abhängigkeit vom Momente, wie Sie’s nannten, ist in Ihrer Lage ein Gottesgeschenk. Ich gedachte aber des Nervenfiebers, von dem Sie mir erzählten.“ —
„Das war bald nach dem ersten Sturme, und gerade damals war die Sklavenkette leichter. Kollmann sagte: „Ich verlange von dir, daß du so liebenswürdig, so reizend, so unwiderstehlich sein sollst, als du sein kannst, gegen Alle, die ich dir bezeichne, dafür magst du es auch gegen Jeden sein, den du selbst wählest, ich ziehe dir keine Schranken.“ — — Ich bedurfte auch keiner; sie hätten Nichts verhindert, wenn ich von Gott nicht so geschaffen wäre, daß ich nicht untergehen kann. Meine Natur stößt nun einmal das Schlechte zurück.“ —
„Das ist’s, was Ihnen die alleinseligmachende Clique nicht verzeiht — hörten Sie’s doch selbst, wie Einer davon zum Andern sagte: Sie muß doch untergehen, — sie hat keinen Halt, — wenn sie noch rein ist, so ist’s nicht die Tugend der Grundsätze, sondern jene anmaßende, auf sich ruhende! — — und diese ist ihnen weit verhaßter als selbst die Sünde. Diesen Menschen ist eine Frau welche fällt, dann an dem Blumenstabe des Entsündigungs-Ap[S. 132]parates hinaufkriecht und auf den positiven Krücken weiterhinkt bis zum nächsten Falle, hundertmal lieber, als eine, die das in ihren Augen unverzeihlichste Verbrechen begeht, ihrer nicht zu bedürfen, und gut zu bleiben, weil sie eben nicht anders kann und will!“
„Ich war gefeiert, und das war ein zweites Vergehen. Ich konnte mich dessen freuen; auch Sie waren in dem Irrthum, daß die Feuerräder und farbigen Raketen, die ich in der Gesellschaft spielen ließ, nur am Höllenfeuer des Schmerzes angezündet seien, welche eine heroische Willenskraft in sprühende Bouquets verwandelte, ich war aber hundertmal das als was ich erschien, ein gefeiertes junges Weib, das sich des Augenblickes freut.“
„Für mich war immer Alles rein, Julie, wo die Welt trübe sah — wenn ich aber alles Willkürliche, alles Unberechenbare an Ihnen begreife, so fasse ich das Eine nicht, wie Sie hier — so nahe jener Stelle, nach welcher Kollmann drohend den Arm ausstreckt wie ein Wegweiser zur Hölle, — wohnen, — auch nur eine Stunde frei athmen können; und doch war der Freinhof Ihr Gedanke!“
„Und das glaubten Sie? weil Sie hörten, daß ich den Plan angegeben, das Werk gefördert? Er hat es gewollt, — ein Nein gibt es ja nicht. Er[S. 133] mochte denken, dieser Ort hält das Bild lebendig, vor welchem wie vor dem Medusenschilde jeder Gedanke des Widerstandes erstarrt. — Vielleicht will er ihn auch überwachen. — Und neben der großen teuflischen Idee das kleine Gewimmel von klugen Berechnungen und Vorahnungen, wie der Freinhof so herrlich allen Zwecken entsprechen werde, wie da ganz anders auf Jeden gewirkt werden könne, jedes Wort einen andern Klang habe, wenn es die Weiber beim Ton der Zither, die Männer beim Male nach der Jagd vernehmen! — daß ich hier frei athme? wenn ich den Nächten der ersten Woche nicht erlegen, so war es gewiß, daß ich in der zweiten Ruhe fand, in der dritten die Besuchenden empfing, wie Kollmann gebot. — Ich bin eines stillen Hinliegens in ewigem Schmerze nicht fähig. Daß aber die Thränen jener Stunden, wo ich verzweifeln möchte, hinreichen werden, um das frohe Lachen der andern zu verlöschen, wenn es als Sünde in mein Schuldbuch geschrieben wird, das hoffe ich so gewiß, als ich mit Arnold an endliche Sühnung jeder Schuld glaube.“
„Vielleicht würde auch er fühlen, wenn ihm Ihr Schicksal enthüllt wäre, daß es Lagen gibt, wo der Mensch erst dann vergibt, wenn Gottes Gericht über den Schuldigen hereingebrochen, — so wie Gott vergeben mag, wo die Menschen gerichtet —!“
„Edmund —!“ rief Julie — — es war ein Aufschrei des Entsetzens — ihr Blick eine Bitte um Erbarmen — —
Er faßte ihre Hand und sprach bedeutungsvoll: „Vergebung! Julie! — — Noch sehe ich keinen Ausweg, kein Licht. — Ich verlasse Sie, um nach dem Ort zu reisen, wohin Sie nicht denken sollen ohne sich zu erinnern, daß ich in einem schwereren Kampfe gesiegt als der, dem ich entgegengehe!“
„Ich habe Gott darum gebeten, und er hat mich erhört“ —
„Er wird auch Ihr zweites Gebet hören! — in wenig Tagen bringe ich Ihnen Nachricht.“
— — Er schied, und Julie las in seinem letzten Blick voll Schmerz und Liebe, daß Gott ihr Gebet nicht erhört habe. Das war noch nicht die hohe, ruhige Flamme, die aus dem Auge des Siegers leuchtet — es war nur Ergebung, — nicht Erhebung.
* *
*
Sembrick kehrte von der Reise, welche zum Zweck hatte gewisse Verhältnisse an einem Orte, wohin wir ihm später folgen werden, zu erkunden, am vierten Tage seiner Verheißung gemäß, zurück.
Mit sichtlicher Betroffenheit vernahm er, daß Kollmann mit Julie den Tag zuvor den Freinhof verlassen. Es war einiges leichte Reisegepäcke mitgenommen worden. — Das Wohin wußte Niemand.
Vergeblich sann Edmund nach. Was Kollmann begann, wurde selten klar, ehe es durchgeführt war. Er fragte nach Knorr; es war möglich, daß dieser mehr wußte als die Diener.
Man wies ihm dessen Wohnung, welche übrigens vom ganzen Thalgrunde aus sichtbar war. Hart am Ende des Parks, der den Hof umgibt, erhebt sich eine steile, kegelförmige Anhöhe, mit Fichten rings bewachsen, auf deren Gipfel altes Gemäuer steht: die Ruine einer Kapelle und eines Gebäudes, welches einige Mönche vor Jahrhunderten bewohnt haben mögen. Kurze Zeit vor Erbauung des Freinhofes hatte Knorr, auf dessen Vergangenheit wir später zurückkommen werden, den Waldkegel sammt der Ruine von der Grundherrschaft, dem Kloster St. Martin angekauft, das Gebäude so weit herstellen lassen, daß es nun einige freundliche Wohnzimmer und eine Küche enthielt, und sich mit einer alten Bäuerin, welche seinen Haushalt besorgte, darin festgesetzt und gegen Alles behauptet, was, wie wir sogleich hören werden, aufgeboten wurde, um ihn zu vertreiben.[S. 136] Der übrige Theil der Ruine blieb in dem Zustande, worin er sie gefunden.
Als Sembrick den Waldpfad hinanstieg, hörte er Schüsse in kurzen regelmäßigen Zwischenräumen und fand Knorr auf dem kleinen Plateau vor seiner Wohnung beschäftigt, aus einem achtläufigen Revolver nach einem, die Spuren zahlloser Kugeln weisenden, Baumstamme zu feuern, auf welchem mit Kreide Buchstaben, Kreise und sonstige Figuren gezeichnet waren. Auf der Bank vor der Hausthüre lag ein ganzes Arsenal von vier-, sechs- und achtläufigen Revolvers nebst Kugeln u. s. w.
„Gegen wen, lieber Knorr — rief der Baron — vertheidigen Sie denn Ihr Raubnest mit einem so mörderischen Feuer?“
„Gott zum Gruß, verehrter Baron, man muß sich auf dieser Welt voll ewigen Friedens stets in der Verfassung erhalten, nöthigenfalls ein Licht auszuschießen, brenne es auf einer Millykerze oder in einem Kopfe!“
„Lassen Sie einmal sehen!“ erwiderte Edmund, dem es darum zu thun war, Knorr näher kennen zu lernen, den er bis dahin wenig beachtet hatte, aber nach Reilands Mittheilungen nun nicht für unbedeutend hielt. „Ich bin auch keiner der schlechtesten Schützen!“
„Ich bitte anzufangen! Alle sind geladen.“ Sembrick versandte mit Meisterhand Kugel auf Kugel nach den Zielen, Knorr aber schoß fast jedesmal in das Loch, welches jene des Barons gebohrt, welcher sich endlich für überwunden erklären mußte.
„Nun den letzten Schuß!“ sagte Knorr. — „Sehen Sie, der geht auf den schwarzen Stummel da unten, mit den zwei weißen Augen von Kreide, da rufe ich immer hinab: Gute Nacht, Nachbar Kollmann, und jage ihm eine Kugel in die Rinde.“
„Eine schöne freundnachbarliche Gesinnung! — rief lachend der Baron, — Sie machten ein Gesicht dazu, daß ich kaum bezweifle, Sie möchten alles Ernstes den Abendgruß hinabsenden, wenn’s gut anginge.“
„Von Herzen gern! aber es würde vor der Hand zu Nichts führen. Uebrigens sind Sie herausgekommen, um zu fragen, wohin die Nachbarn gereist, und ich bedaure nicht mehr zu wissen, als der Stummel dort. Sie könnten mich aber wenigstens über einiges Andere ausholen!“
Sembrick ging in Knorrs Stil und Idee ein und entgegnete: „Das hatte ich vor, und nun möchte ich Ihnen vor Allem auf den Zahn fühlen, warum Sie Ihren Nachbar, in dessen Hause ich Sie doch traf, in effigie erschießen, mit dem frommen Hintergedanken, es wirklich zu thun?“
Statt der Antwort führte Knorr den Baron um das Haus herum in die Ruine, die hölzerne Stiege hinan, welche die vorige steinerne im Innern des zur Hälfte eingestürzten Thürmchens ersetzte, von dessen Höhe man die Rundsicht über das Thal genoß, und sagte, über die Gegend hinzeigend: „Länderdurst, Herr Baron, das Fantom der Universalmonarchie, welches meinen Nachbar hetzt, ist jener Grund unseres Haders, von dem sich sprechen läßt. Ein anderer, triftigerer liegt freilich vor, davon habe ich aber nicht vor, zu reden. Sehen Sie um sich! Alles ist sein Gebiet. Bloß mein Fichtenkegel und meine Burg stecken ihm wie ein Pfahl im Fleisch, daß er sich nicht arrondiren kann. Zuerst bot er mir den dreifachen, dann den sechsfachen Preis für den alten Steinhaufen und die Paar Stämme. Ich bin aber kein Fürst Hohenzollern und trete meine Souverainität um keine preußischen, noch andere Thaler ab. Da sich aber in der Gegend die Ansicht herausgebildet hatte, ich sei halb oder dreiviertels verrückt, so überreichte er dem Landesgericht eine gediegene Abhandlung über meine Narrheit, um mich unter Kuratel zu bringen und dem Kurator mein Land abzukaufen. Ich wurde von den Gerichtsräthen und einem Doktor scharf auf meinen Verstand inquirirt, und es fand sich gerade so viel vor, daß der Nachbar abgewiesen wurde. Nun bot er mir[S. 139] einen Friedenstraktat, den Frau Julie unterhandelte. Seitdem sind wir die besten Freunde, wie Oesterreich und Piemont.“
„Aber was bewog Sie denn, um dieses höchst romantischen, aber eben so uncomfortablen Aufenthalts willen einen solchen Vernichtungskampf zu bestehen?“
„Es ist sonst kein Platz im Thale, da Alles ihm gehört, und ich muß die Gegend bewachen, wie ein Bulldog, denn es liegt irgendwo ein Schatz darin, der gehoben werden muß.“
Es schien Sembrick, daß nun wirklich eine Saite klinge, welche nicht nach der Stimmgabel des gesunden Menschenverstandes gestimmt sei. Er erwiderte: „Da haben Sie vollkommen Recht, und Sie werden ihn auch finden und heben, wenn Sie genug Geduld und Ausdauer besitzen.“
„Sie gehen geschickt auf meine fixe Idee ein, Herr Baron, aber es ist bloß bildlich zu nehmen. — Sie finden es hier nicht comfortable, aber glauben Sie mir, es ist auf meinem Thurm gemüthlicher, als da unten im Freinhof.“
„Wenigstens gegen einen Handstreich sind Sie mit Ihrer Artillerie und diesen zwei ungeheuren Hunden gesichert.“
„Hinter dem Hause sind noch zwei. Es sind drei hohe Tenore und ein Sopran. Wir fünf zusammen bringen manchmal dem Freund und Nachbar unten ein Ständchen. Wenn der Vollmond über dem Wetterstein steht und die leichten Nebel auf- und abkriechen, da fangen meine vier Neufoundländer alle zu heulen an, und ich begleite sie mit dem Posthorn und knattere mit den Revolvers dazwischen. Herr Baron, — — dem Nachbar klingt das Geheul meiner Hunde, als ob vier Teufel ein langgezogenes: Du — — Schuft — —! hinausbrüllten! Ich weiß das. Die rechten Teufelsnächte sind bei uns nicht die schwarzen, sondern eine oder die andere helle, die die ganze weiße zarte Nebelsippschaft aus den Felsenkammern da drüben in den Mondschein herauslockt. Wir Beide sind aufgeklärte Männer und glauben an keine Geister. Aber meine Hunde sind anderer Ansicht. Nun hat mir das Bezirksamt das Schießen und Hornblasen nach neun Uhr verboten, und seitdem arbeitet bloß das Vokalquartett.“
„Sie werden mir glauben, daß mir die Erscheinung Kollmanns so wenig simpathisch ist, wie Ihnen, allein auf die zwei Worte des Textes, den Sie der Melodie Ihrer Hunde unterlegen, ließe sich schwer ein Verfahren gründen; somit muß man eben durch[S. 141] freundschaftliche Theilnahme das, wie es scheint, nicht immer heitere, Loos dieser Frau zu erleichtern suchen.“
Das Gesicht Knorrs nahm einen sehr ernsten Ausdruck an. „Herr Baron,“ sagte er, „ich habe das Vorhandensein meines Verstandes vor Gericht erwiesen und ein günstiges Gutachten in meinem Kasten. Auf Grundlage desselben erkläre ich Ihnen, daß Sie mich jetzt über Etwas sondiren, wovon Sie mehr wissen, als ich. Wenn ich aber einmal mehr weiß, als Sie, so werde ich nicht erst warten, bis Sie heraufkommen.“
Sembrick wollte mit Knorr, über dessen Farbe und Gesinnung er nun im Reinen war, auf gutem Fuße bleiben, und sagte, dessen geänderten Ton nicht beachtend: „Wir verstehen uns, — man muß eben Alles der Zukunft überlassen, ich bitte Sie nur, der Frau Julie bei ihrer Rückkehr zu sagen, daß ich dort war, das Terrain geprüft habe und nicht ohne Hoffnung zurückgekommen; mehr könnte ich auch ihr selbst nicht sagen; für jetzt sei es aber unmöglich, Etwas zu thun.“
— — Vielleicht war im tiefsten Grunde der Seele des „Siegers über sich selbst“ ein Atom von Befriedigung über diese Unmöglichkeit. Er hatte als Kavalier, als Mann von Ehre die Stellung angenommen, in welche ihn die letzte Unterredung mit[S. 142] Julie zurückdrängte. Aber durch die Bande, die das Wort trug, war das Gefühl nicht gebunden. Er war keineswegs über die Jahre hinaus, wo Gefühle ihre volle Herrschaft behaupten, — wenn es überhaupt Jahre gibt, die ein solches Hinaussein bedingen, — aber sicher über jene, wo man sich über ihre Namen täuscht. Wenn er jedoch klar genug über sich selbst war, eine Leidenschaft nicht Liebe zu nennen, so war dieß zwar hinreichend, seine edle Natur zum Kampfe gegen dieselbe aufzufordern, — aber noch nicht, ihn heute als Sieger vom Freinhofe scheiden zu lassen.
Mit einem Ausdrucke, welcher der Abglanz der innern Fehde war, sah er Arnold nach, als er diesen, wie wir erzählt, auf seiner Fahrt nach Korbach im Bahnhofe zu Pottenbach traf, wo er den Blick nach dem Felsen auf der Höhe, den Herzensgruß nach dem Freinhofe sandte.
Sembrick war zu ernst gestimmt, um darüber zu lächeln, daß der Gruß nach dem leeren Schweizerhause hinüberflog.
Aber freundlich mochte der alte Berggeist, wenn er etwa in jener Stunde von dem die Straße hoch überragenden Felsengipfel der Föhrleiten sein Gebiet überschaute, gelächelt haben bei jenem Blicke Arnolds. Ihm hat er Kühlung in labenden Lüften nachgesendet auf seiner heißen Fahrt. — Und sicherlich eine Hagelwolke einem Andern, der fast zur selben Stunde nach der Höhe hinaufsieht — und auch des Freinhofs gedenkt, — und auch einen Gruß hinübersendet, — aber nicht aus treuem Herzen und blauen Augen an die reizende Julie, sondern aus einer falschen Seele und pechschwarzen Augen an den Gebieter derselben, den ihm gleichgesinnten und geistesverwandten Kollmann.
Es ist Pater Bernhard, der Prior von Sankt Martin, den sein Weg nach dem Stifte, wohin er sich von der Residenz begibt, nahe am Freinhofe vorüberführt. Wir eilen ihm nach dem Schauplatze[S. 144] seiner gegenwärtigen Thätigkeit voran, um seine vergangene zu beleuchten.
Das Stift liegt im Gebirge, fünf bis sechs Stunden von Korbach, etwa halb so weit vom Freinhofe, ein Dreieck mit diesen beiden Punkten bildend. Es gehört einem Orden, welcher grundsätzlich seine Wohnungen in Thälern baute, so wie andere auf beherrschenden Höhen.
In seiner abgeschiedenen Lage in einem weiten, tiefen Thale zwischen den Ausläufern des Hochgebirges, bisher nicht berührt von den Tendenzen der Zeit, hatte sich das Kloster bis zu den Tagen unserer Begebenheit begnügt, seine geistliche und weltliche Mission von der realistischen, soliden Seite aufzufassen, ohne sich in Spekulazion, weder in transzendentem noch pekuniärem Sinne, einzulassen.
In weltlicher Beziehung kehrten seine Kühe, Ochsen und Schweine mit Medaillen behangen von den Viehausstellungen zurück, die Stämme seiner Waldungen wurden zu den profansten Bauwerken der gottlosen Industrie um schweres Geld gekauft, auf seinen Feldern schienen die sieben fetten Jahre Egiptens in Permanenz erklärt.
Der Prälat hatte, während Viele seiner Standesgenossen sich an Akziengesellschaften betheiligten, ja selbst durch vertraute Hände in Fonds zu operiren[S. 145] versuchten, die bedeutenden Geldkräfte seines Klosters auf Bodenkultur verwendet, jede Verbesserung und praktisch bewährte Neuerung auf seinem Gebiete durchgeführt, ohne Opfer zu scheuen, aber auch ohne den Zweck zu erreichen, den er nächst dem Gedeihen des Klosters im Auge hatte, nämlich die Bauern zur Nachfolge zu bewegen. — Sie schrieben in bequemer Verstocktheit den Wohlstand der Klosterwirthschaft, im Gegensatze zu ihren eignen magern Kühen und Feldern, lieber einem besondern Schutze des Himmels zu, als ihrer eigenen Faulheit und Indolenz.
In geistlicher Hinsicht beschränkte sich das Kloster St. Martin auf die unteren, sinnenfälligen Funkzionen, die grobe Arbeit an der Kultusmaschine. Es hatte ein gut organisirtes, lebhaftes Wallfahrtswesen, führte ein reiches Lager von Rosenkränzen und Heiligenporträts auf Hausenblase und auf Spitzenpapier und Goldgrund, — worunter namentlich ein St. Martin, seines aufsteigenden Schimmels und carminrothen Mantels halber, starken Absatz fand, — und besaß ein in diskreten Zwischenräumen wirksames Mirakelbild.
Die jungen Kleriker wurden zu tüchtigen Oekonomen, und, in Betreff der Seelsorge, zu Leuten herangebildet, welche zwar nicht mit dem feinen hochkirchlichen Fleuret zu fechten, aber mit den Schwefel[S. 146]stangen und Pechkränzen, welche die alte theologische Rüstkammer darbot, umzugehen wußten. — Die Männer, mit welchen das Kloster die vielen von ihm abhängigen Pfarren besetzte, gehörten fast Alle zu jenem zähen, rothen, kräftigen Schlage von Landgeistlichen, welche mit nie ermüdendem Pflichtgefühl die Speise des Trostes in der Nacht Stunden weit durch den Schnee in die Hütte des Holzknechtes tragen, — dafür aber auch keine „Narren ihr Lebelang“ sind. Sondern — sie halten Weib, Wein und Gesang — statt des letzteren häufig Blas- und Streichinstrumente — für Gottesgaben, deren letztere die Kirche überhaupt gestattet, die erstere aber, so zu sagen, nur auf erlaubtem Wege verboten, auf verbotenem aber stillschweigend erlaubt habe, — in welcher Beziehung auch das natürliche, gesunde Urtheil der Gemeinde stets ziemlich nachsichtig gefunden wird, wenn der Geistliche sonst seine Pflicht gegen sie erfüllt.
Ein einziger Posten erforderte in neuerer Zeit einen höher gebildeten, taktvollen, aufgeklärten Priester, einen Mann von anderer Befähigung, als welche für die Bauerndörfer ausreichte. Dieß war das Korbachthal. Der kluge und wohldenkende Prälat hatte den einzigen hiezu vollkommen Geeigneten in der Person des bereits erwähnten Pfarrers Namens Valentin ausersehen.
Die Stürme, welche im Jahre 1848 in den Ebenen wütheten, brachen sich an den Bergen, und der einzige Windstoß, welcher nach St. Martin hinüberwehte, war eine halbe Kompagnie Studenten, welche auf requirirten Wagen angefahren kamen, das Kloster für aufgehoben erklärten, an die Thore „Nazionaleigenthum“ anschrieben, und wieder abfuhren, nachdem sie von den Geistlichen gut bewirthet und von den Bauern mit Erschlagen bedroht worden waren. —
Der Prälat begriff seine Zeit, und fürchtete für den materiellen Bestand seines Stiftes Nichts von den Ideen des Fortschrittes, gegen deren geistige Wirkungen der Zustand der Bewohner und Umwohner hinreichende Bürgschaft bot, und deren etwaigen gewaltsamen Kundgebungen die Regierung mit dem Bajonette und der Bauer mit dem Dreschflegel entgegentrat. Er fürchtete die Ideen des Rückschrittes. Sie schienen ihm allein gefährlich für die Ruhe, das Bestehen und Gedeihen dieses behaglichen, gesunden Körpers, der ein überlebtes Prinzip mit einer noch für ein halbes Jahrhundert ausreichenden Lebenskraft repräsentiren konnte, wenn er in seinem Organismus nicht gestört wurde. —
Er las das von der Regierung abgeschlossene Konkordat gleich so vielen Helldenkenden seines Stan[S. 148]des mit dem Vorgefühle der schlimmsten Folgen, und die höchste kirchliche Gewalt machte ihm den Eindruck jenes Verstorbenen zu Edimburg, auf dessen Grabstein die Worte stehen: „Ich war gesund, wollte noch gesünder sein, nahm Medizin und starb.“ —
„Wir wollen es besser haben als gut, — sagte er, und werden es schlechter haben.“ —
Als einige Zeit hierauf ein Besuch des Erzbischofs, mit welchem er bisher auf freundlichem Fuße gestanden, erfolgte und dieser nach vielen Fragen über die Zustände des Klosters die Wiedereinführung der alten, strengen, seit einem Jahrhundert außer Uebung gekommenen Ordensregel verkündigte, trat er ihm mit Energie entgegen und setzte das Unangemessene und Nachtheilige einer solchen Maßregel zuerst mündlich, und später in einer schriftlichen Eingabe auseinander. Nach wenigen Tagen erschien eine im gregorianischen Stile gehaltene, niederschmetternde Zurechtweisung, welche das Gefühl des biedern Prälaten, der durch fünfundzwanzig Jahre dem Stifte zur Zufriedenheit seiner Untergebenen vorgestanden, so verletzte, daß er in eine schwere Krankheit verfiel, von welcher er sich nicht wieder erholte.
Pater Bernhard übernahm nun als Prior die faktische Leitung und stellte sich an die Spitze der sehr kleinen Partei im Kloster, welche sich dem Konkordat[S. 149] mit allen seinen Konsequenzen anschloß, und aus den wenigen Ehrgeizigen bestand, die durch ihre, mit jener der Mehrheit kontrastirende Haltung die Gunst des Erzbischofs zu gewinnen suchten, dessen Vertrauen der Prior nun in hohem Grade besaß.
Dieser war vor Jahren mit Bewilligung des Prälaten aus dem Kloster, und als Erzieher in das Haus des Fürsten Leuchtendorf getreten, dessen Günther bei Aufzählung der Freinhof-Gesellschaft erwähnt hatte, als er zwei dort auf Besuch anwesende Fräulein als seine Töchter bezeichnete. Er eignete sich einen Grad von wissenschaftlicher und Weltbildung an, welche ihn vor seinen Mitbrüdern auszeichnete, die von seinen vielversprechenden Mittheilungen bestochen, ihn zum Prior wählten, als dessen Stelle erledigt worden.
Pater Bernhard kehrte als solcher ins Kloster zurück und sein nächstes Ziel war nun der Krummstab des infulirten Prälaten.
Seine Stellung war eine schwierige. Starb der Prälat, so wurde seine Stelle durch Wahl besetzt und diese Wahl fand durch Stimmenmehrheit statt. Durch sein Auftreten für den Erzbischof hatte er aber alle Popularität verloren.
Er segelte mit vieler Geschicklichkeit durch die Klippen. Nachdem er sich zuerst die Gunst seines[S. 150] Beschützers gesichert, indem er in kräftigen, beredten Worten den Geistlichen die Nothwendigkeit auseinandersetzte, sich den Bestimmungen desselben zu fügen, bearbeitete er Jeden einzeln und machte ihm begreiflich, daß in der Ausführung dieser Bestimmungen alle erdenklichen Erleichterungen eintreten könnten, wenn ein Mann auf dem Prälatenstuhle säße, der ein Auge zudrücke. Allerdings hatten die Brüder dieses Augezudrücken von Jedem aus ihnen so sicher und sicherer zu erwarten als von ihm; wählten sie aber einen Andern, so blieb seine Feindschaft und jeden Augenblick Denunziazion beim Erzbischofe zu fürchten.
Er brachte es auf diesem Wege durch Furcht und Hoffnungen dahin, daß er gegenwärtig mit Sicherheit auf eine Majorität von drei Viertheilen rechnen konnte.
Sein nächstes Ziel schien erreicht und er dachte bereits über dasselbe hinaus.
Dieser Mann baute die Schlösser seiner Zukunft so, daß wenn das Nächste unter Dach gebracht, ein zweites in halber Höhe dastand und zu einem dritten bereits die Grundfesten gelegt wurden. Er war in seinem fünfunddreißigsten Jahre und hatte keineswegs vor, weitere fünfunddreißig Jahre als Muster-Oekonom und behaglich friedlicher Oberhirt des Waldklo[S. 151]sters zu verleben. Wenn er jetzt schon in seinen Gedanken über den noch von einem Andern besetzten, erst zu besteigenden Prälatenstuhl hinausflog nach einem erzbischöflichen, so ist es natürlich, daß er gegen die Abendsonne seines Lebens keinen andern Schutz träumte, als den Schatten der breiten Krempe eines Kardinalshutes.
Der Erzbischof, ein Menschenkenner wie wenige, wußte den Mann nach seiner Brauchbarkeit zu würdigen, ohne ihn zu überschätzen. Er hielt ihn für fähig, auf dem Schlachtfelde der streitenden Kirche ein Armeekorps kühn und klug zu kommandiren, nicht aber in den geheimen Berathungen am grünen Tische des hohen kirchlichen Generalstabes mitzustimmen. Er durchschaute seine Pläne, vielleicht seinen Gedankenflug bis zum runden Hute, er sah aber auch das Bleigewicht, welches nach seiner Ansicht diesen Flug hemmte.
Dieß Gewicht war die Eitelkeit des Priors, die ihn hinderte vollständig im Prinzip aufzugehen. Er konnte sich die kleine Befriedigung nicht versagen, seinen inneren freieren Standpunkt bei gewissen Gelegenheiten gegen Solche zur Schau zu tragen, welche er auf dem gleichen vermuthete, um intelligenten Männern gegenüber das prestige der eignen Intelligenz zu wahren. In keinem Stande[S. 152] ist aber so unbedingt wie in dem seinigen ein gegenseitiges Zugeben des Unglaubens an gewisse Satzungen verboten: der Aspirant auf eine hohe Stufe in der Hierarchie darf mit sich allein, in seinen vier Wänden, vor seinem Spiegel nicht anders sprechen und erscheinen als vor dem Fremden. Zwei Kirchenfürsten mögen ihren beiderseitigen Standpunkt noch so klar erkennen: sie werden nie, nicht im vertraulichsten Gespräche, die Form der Ueberzeugung ablegen. — Pater Bernhard ließ so gern ein „wir verstehen uns“ durchblicken, — er war Parvenü, indem er sich gern als Eingeweihten gab, der vor einem andern Eingeweihten die Maske lüften dürfe.
Vielleicht würde der Prior diese Schwäche ablegen, wenn er erst die rechte, wirkliche Höhe erklommen. Jedenfalls mußte dem Erzbischof, der die Zügel in seiner Diözese straff anzuziehen beschlossen hatte, ein Kopf und eine Hand wie die des Pater Bernhard in einem Zeitpunkte erwünscht sein, wo das Kloster St. Martin durch die Verhältnisse in Korbach besondere Bedeutung gewann.
Die protestantische Kolonie war von einer kleinen Niederlassung von sechs oder acht Familien im Lauf eines Jahres durch Einwanderung auf mehr als 300 Seelen angewachsen. Zwischen den Arbeitern der beiden Konfessionen bestand ein ungetrübt[S. 153] freundliches Einvernehmen. Die Wahl der ins Land gezogenen Protestanten war durchgehends auf sittliche, fleißige, verträgliche Leute gefallen, welche sich gegen die Katholiken so zuvorkommend benahmen, daß die beiden Seelsorger in ihrem Bestreben, die Eintracht zu erhalten, das leichteste Spiel hatten.
Dieses Hand in Hand Gehen konnte nach der Ueberzeugung des Erzbischofs nur zum Nachtheile des Katholizismus ausschlagen.
Der sogenannte „aufgeklärte Katholik“ der gebildeten Stände — eine Sekte, welche die Kirche nun einmal dulden muß, und welche, wenn nicht mitwiegt, wenigstens mitzählt — wird sich im Verkehr mit dem gebildeten Protestanten vor dem „Ansteckungsstoffe“ bewahren: es ist wenigstens so leicht keine Abtrünnigkeit zu fürchten, da die Anschauung nahezu die gleiche ist, und, Ausnahmsfälle abgerechnet, Jeder aus Gefühls- oder Konvenienzgründen seine Form beibehält.
Nicht so der gemeine Mann, — der Arbeiter. Ist er einmal in beständigem Verkehre mit den Bekennern der andern Konfession auf den Punkt der Reflexion gelangt, wo er mehr als einen Weg nach jenem Himmel für möglich hält, der ihn für die zehn täglichen Arbeitsstunden seines Erdenlebens entschädigen soll, so wird es nur eines lockenden materiellen[S. 154] Anstoßes bedürfen und der Schritt hinüber ist geschehen.
Und an eine solche Mehrheit der Wege lernten die katholischen Arbeiter glauben, wenn sie das Wort der Duldung aus dem Munde des eigenen Priesters vernahmen, und an ihren Kameraden jene Redlichkeit und Zufriedenheit im Leben, jenes ruhige Gottvertrauen im Sterben sahen, welches eben die Wirkung des echten der drei Ringe Nathans.
Als die Nachricht von dem abgeschlossenen Konkordate nach Korbach kam, wurde sie von den Protestanten mit großer Bestürzung aufgenommen. Der alte Korbach erklärte ihnen, daß sie nichts zu besorgen hätten, — er werde sie kräftiger unterstützen als bisher, — ihr Bethaus könne man nicht sperren, ihren eigenen Friedhof hätten sie ohnedem, und was die gemischten Ehen betreffe, so müsse nun einmal in Zukunft ein Theil dem andern nachgeben, — sie würden sammt ihren Kindern selig werden, ob sie vom Pfarrer oder vom Pastor getraut seien. Schwerer waren die Katholiken zu beschwichtigen. Als sie von Beichtzwang, Kirchenstrafen u. drgl. hörten, erklärte eine große Anzahl, daß sie beim ersten Versuche einer gewaltsamen Durchführung augenblicklich zum Pastor gehen und sich „lutherisch machen lassen“ wollten. Pfarrer Valentin beruhigte sie mit der auf[S. 155] eigene Gefahr gegebenen Versicherung, es seien dieß Uebertreibungen von Solchen, die es schlecht mit der Kirche meinten. — Die Gemüther beruhigten sich, die schlimmsten Befürchtungen trafen nicht ein, da mehrere der aufreizendsten Verfügungen des Konkordats auf dem Papiere blieben. —
Man hatte in der Hauptstadt davon zu sprechen angefangen. Die frommen Zirkel, deren Mittelpunkt Prinzessin Marie, hatten bereits einen Kreuzzug gegen Korbach gepredigt, die Oberhofmeisterin Gräfin Merfey Bernhard im Leuchtendorf’schen Salon gefragt, ob denn sein Prälat les bras croisés dem Unwesen zusehen werde — und er hatte geantwortet, der kranke Herr sei unzurechnungsfähig, ein energischer Hirt würde die Herde bald von räudigen Schafen reinigen.
Nun kam die glänzende Gabe zum Kirchenbau; die Prinzessin hielt sich an die Thatsache in der offiziellen Zeitung und hielt den alten Korbach für einen Bekehrten.
In diesem unentschiedenen Zustande waren die Dinge bei Bernhard’s Wiedereintritt ins Kloster, und er fand ihn für seine Pläne höchst ungelegen.
An seiner Wahl zum Abte nicht mehr zweifelnd hatte er vor, den Antritt des hohen Amtes durch einen großen, weithin glänzenden coup d’état zu be[S. 156]zeichnen. — Der Thron von St. Martin sollte jetzt erst aufgerichtet werden, eine neue Aera für das Stift beginnen. Nicht mehr die grobe Arbeit an der Kultusmaschine, das Segnen der Wallfahrter, und ebensowenig die Oekonomie, die Anwendung der neuesten Mästungs- und Düngungsmethoden sollte die Mission des Prälaten des Waldklosters sein, sondern er mußte Sitz und Stimme in der Konferenz der hohen kirchlichen Diplomatie haben, — römisch-katholischer Staatsmann werden.
Und hierzu war ein konkordatgemäßer Eclat erforderlich, und ein schöneres Feld nicht denkbar als die Korbacher Frage. — Mit der Mine, welche dort den Protestantismus in die Luft sprengte, flog Pater Bernhard zugleich in die Sonnennähe der zufriedengestellten höchsten Hierarchie. Nun herrschte aber dort tiefer Friede, und um ihn zu brechen, bedurfte es eines casus belli.
Inzwischen verschlimmerte sich der Zustand des Prälaten, die Aerzte gaben ihm nur noch Tage. Die Zeit drängte, einen Operazionsplan zu fassen. Es fehlte dem Prior noch immer das gewisse Etwas, die Handhabe.
Er kannte einen einzigen Mann, mit dem er sich zu berathen gedachte: — Kollmann.
Als dieser seinen Grundbesitz am See, mit Ausnahme des von Knorr vorweg okkupirten Fichtenkegels, vom Stifte ankaufte, war Bernhard während der betreffenden Unterhandlung mit ihm öfter in Berührung gekommen. Sie hatten einander beobachtet und insofern ein verwandtes Element gefunden, als jeder in dem Andern einen Mann erkannte, der weit aussehende Pläne verfolgte.
Während aber Kollmann durch die glänzenden schwarzen Granaten, die unter den dichten Brauen des Priors saßen, diesen bis auf den Grund durchblickte, sah Bernhard durch das trübe Milchglas der sogenannten weißen Augen nicht tiefer als jeder Andere. Kollmann, der jedes Wort, das er für nothwendig hielt, um seinen Gedanken zu verbergen, in einer Weise sprach, als kehre er das Innerste der Seele heraus, hatte das Vertrauen Bernhard’s gewonnen, indem er ihm sagte: „Ich kann keine schönen Frasen machen, und sage Ihnen geradezu, daß es unverzeihlich und unverantwortlich ist, daß ein Mann, in dem ich den künftigen Fürst-Erzbischof sehe, aus Lauheit und Mangel an Selbstvertrauen die Hände in den Schoß legt, statt die Zügel zu ergreifen.“
Eine feine Schmeichelei hätte den Prior vielleicht stutzig gemacht. Die ganz plumpe hielt er für[S. 158] keine. Nachdem er sich ziemlich weit gegen ihn entwickelt, trat Kollmann in sein Schweigen und seine Unsichtbarkeit zurück. Bernhard gedachte nun seiner Worte: „Sie werden lange suchen, bis Sie einen Mann finden, der Sie versteht; wenn Sie des Suchens satt, werden Sie zu mir kommen und finden, was Sie brauchen.“
Nun suchte er ihn auf, — sprach Anfangs reservirt, im Tone des Ueberzeugten, von Umtrieben der Feinde des Glaubens in Korbach, — innerem Berufe, kräftig einzugreifen. Kollmann erwiederte: „Sie führen die Sprache eines Missionärs, nicht eines künftigen Kirchenhauptes.“ — Der Prior rückte weiter heraus, bis Jener merkte, daß es sich um den Mechanismus handle, den man in Korbach spielen lassen wollte, und über welchen er offenbar nicht im Reinen war. Endlich sagte er: „Ich werde Ihre Sache machen. Sie fällt mit einer der meinigen zusammen. Beehren Sie mich in drei Tagen im Freinhofe.“
Der Prior schied mit dem unangenehmen Gefühle einer verlornen Schachpartie, wenn man sich für den Meister hält. „Beehren Sie mich in drei Tagen,“ war eben nicht die Sprache eines „Werkzeuges.“ — Auch hatte er gegen Kollmann auf eine Weise gesprochen, die seinem hohen Gönner sehr[S. 159] mißfallen haben dürfte, und fühlte sich gewissermaßen der Diskrezion seines Alliirten anheimgegeben.
Dennoch kam er wieder, an jenem Abende, wo Arnold im Freinhofe eintraf, den er, als ihn Julie vorstellte, beobachtete, ohne sich ihm zu nähern, um keinem etwaigen Plane des noch nicht anwesenden Kollmann vorzugreifen. Dieser ließ ihn, wie wir wissen, am nächsten Morgen zu sich bitten. Er könnte auch auf mein Zimmer kommen, dachte der Prior, ging aber hinüber.
„Sie brauchen einen Krieg, begann Kollmann — ich liefere Ihnen den Kriegsfall. — Den Krieg führen Sie auf Ihrem Gebiete, ich unterstütze Sie auf einem andern. In dieser Angelegenheit ist rasches Handeln nöthig. Wir dürfen nicht vergessen, daß, wenn dem Protestantismus dort das Genick gebrochen werden soll, dieß nur geschehen kann, so lange der alte Korbach Herr ist. Man kann ihm als Katholiken in anderer Weise beikommen als dem jungen. Nach meiner Ansicht muß die Sache so angegriffen werden, daß den Gegnern die reichen Mittel zur Durchführung ihres Prinzipes etwas verkürzt werden. Folglich handelt es sich darum, sie auf dem industriellen Felde anzugreifen. — Die Korbacher Fabrik verdankt aber ihren Wohlstand vor Allem den Staatsbestellungen. — Es wird somit[S. 160] eine weitere Aufgabe sein, sie mit den Behörden zu überwerfen. — — Leichter wäre dieß Alles vor der Ankunft des jungen Korbach gegangen, doch zweifle ich auch jetzt nicht am Gelingen. — Wir wollen übrigens als die besten Freunde des Alten auftreten.“
Mit gespannter Aufmerksamkeit hörte Bernhard hierauf den Plan in Betreff des Schreibens an den Erzbischof entwickeln. — Er begriff nicht, welche weittragende Wirkung die kleinliche Intrigue mit dem Briefe haben solle. Kollmann fuhr fort: „Der Erzbischof ist jetzt mild gegen Korbach, und Sie brauchen ihn hart. Zweifeln Sie nicht, daß er, so wenig Gereiztheit er zeigt, mit dem vollen apostolischen Grimm bewaffnet nach Korbach kommen wird. Zweifeln Sie ebensowenig, daß der Alte eine Haltung bei der Feierlichkeit annimmt, welche diesen Grimm steigert. Indessen werden Sie Prälat. Ihr Erstes ist, daß Sie den Pfarrer abberufen. Der Erzbischof wird einen Hirtenbrief erlassen, mit dem der Nachfolger Valentin’s auftritt. Es wird zu einem Konflikt, zu einem Exzeß in Korbach kommen — ein Paar zerschlagene Räder und Drahtspulen — vielleicht auch ein Paar Knochen. Sie fliegen nach der Residenz — die Prinzessin, die ganze Partei gibt Ihnen allen appui; — es kann der Fall eintreten,[S. 161] daß Sie die weltliche Gewalt requiriren: in vier Wochen können Sie als der Bezwinger des Protestantismus in Korbach dastehen.“ Der Prior hatte nun die Wahl, entweder zu antworten: Herr, Ihr ganzer Plan ist eine reine Infamie, eine Niederträchtigkeit — oder einfach und schlecht auf Alles einzugehen.
Und viel zu viele Minuten hatte er mit der Antwort gezögert, um noch als Priester mit einem Donnerworte der gerechten Entrüstung loszubrechen — — mit diesem Schweigen hatte er den Priester abgelegt — den Pfaffen angezogen. — Es war ein historischer Moment in seinem Leben. —
Er begab sich nach der Hauptstadt und es gelang ihm nicht ohne Mühe, den Erzbischof für die Idee mit dem Briefe zu gewinnen, und dieß nur dadurch, daß er sie weniger als einen Prüfstein der anscheinend gebesserten Gesinnungen Korbach’s, als vielmehr als eine diesem dargebotene Gelegenheit, sie auf solenne Weise auszusprechen, darstellte. Während er Arnold’s Rückkehr erwartete, wurde er durch die Nachricht, daß der Prälat nur noch Stunden zu leben habe, nach St. Martin gerufen.
Er fand ihn bereits in der Todtenkapelle. Wahrer, tiefer Schmerz lag auf den Gesichtern der Geistlichen, die um ihn beteten. Als der Prior mit offi[S. 162]zieller Trauermiene an den Sarg trat, niederkniete, ein Gebet sprach, den Todten mit Weihwasser besprengte, erschienen ihnen die Tropfen auf dem biedern Antlitz des geliebten Herrn wie Thränen um die gute alte Zeit des Waldklosters.
Der Prior begab sich auf sein Zimmer, berief Einen seiner Vertrauten und ließ sich über die letzten Tage und Stunden des Verstorbenen berichten. Er vernahm, daß derselbe meistens in halbbewußtlosem Zustande gelegen, in der letzten Nacht aber plötzlich zu voller Besinnung erwacht sei. Er habe Papier und Bleistift verlangt, und mit einer Allen unbegreiflichen Kraft längere Zeit geschrieben, das Papier zusammengefaltet, von einem seiner Lieblinge, dem jungen Pater Leo, siegeln lassen, und die Adresse geschrieben, die Niemand gesehen. Hierauf habe er den Jäger Schellhammer rufen lassen, — als dieser eintrat, alle Anwesenden in das Nebenzimmer geschickt, und einige Minuten mit ihm gesprochen. Der Jäger, der ihm viele Jahre gedient, sei weinend weggegangen. Der Prälat habe nach Mitternacht alle Geistlichen zusammenrufen lassen, sie gebeten, sein Andenken in Liebe zu bewahren, ihm zu vergeben, wenn er einen von ihnen beleidigt, sie gesegnet, — dann still gebetet, und sich hinübergelegt. Sie hätten lange Zeit geglaubt, er schlummere nur. — Unbegreiflich sei ihnen[S. 163] Allen seine Geistesklarheit, nach so langem Siechthum, in den letzten Momenten gewesen.
Pater Bernhard sandte sogleich in die Wohnung des Jägers. Es erschien dessen Frau, welche erzählte, daß ihr Mann, als er vom Prälaten gekommen, schweigend seine Jagdtasche, deren er sich auch auf Reisen und Botengängen bediente, umgehängt, den Stock in die Hand genommen und mitten in der Nacht fortgegangen sei; auf ihre Frage: wohin? habe er nur geantwortet, er komme nächsten Abend zurück. — Der Prior überzeugte sich bald, daß die Frau wirklich nicht mehr wisse, und entließ sie.
Am frühen Morgen traf ein Schreiben des erzbischöflichen Sekretärs an ihn ein, welches lautete wie folgt: „Ich habe die Ehre, im Auftrage Seiner Durchlaucht Hochderen Wunsch zu melden, daß Hochdieselben, wenn es Gott gefallen sollte, den Herrn Prälaten, wie die Aerzte vermuthen, in Bälde abzuberufen, das Kapitel zur Erwählung seines Nachfolgers ungesäumt, ja selbst vor der Bestattung des Verewigten, zusammenberufen, da bekannte Verhältnisse die Wiederbesetzung des Stuhles von St. Martin dringend nöthig erscheinen lassen. Es ist ein neuer Beweggrund, welcher als Ew. Hochwürden bekannt vorausgesetzt wird, unmittelbar nach Ihrer Abreise hinzugetreten. Womit ich die Ehre habe u. s. w.“
Der Prior wußte, daß mit letzterem nur die Antwort des alten Korbach gemeint sein könnte, und gedachte Kollmanns, und dessen richtiger Berechnung. — Er ließ Vormittags sämmtliche Geistliche zu sich berufen, verkündete den Zusammentritt des Wahlkapitels für nächsten Morgen und versäumte nicht, ihnen in einigen Worten seine Beziehungen zum Erzbischofe, so wie Alles, wodurch er bereits früher auf sie gewirkt, zu Gemüthe zu führen.
Im Laufe des Tages kamen zahlreiche Besuche von Bekannten und Freunden des Verstorbenen, und Schaaren von Landleuten drängten sich in die Kapelle, um den allgemein geliebten Herrn nochmals zu sehen. Unter den Besuchern war auch der Bischof von Rothenau, welches Städtchen eine halbe Tagereise von St. Martin liegt. Pater Bernhard, der seinen Besuch erwartet hatte, empfing ihn mit allem Ceremoniell, führte ihn in die Kapelle, und hatte hierauf eine lange Unterredung mit ihm, worin er die Grundzüge der in der Verwaltung des Klosters nothwendigen Veränderungen entwickelte, und ihn um seinen kräftigen Beistand in den bevorstehenden schwierigen Tagen bat. Der Bischof, wohl wissend, daß der Prior nicht ohne seine Gründe zu haben, eine solche Sprache führe, betrachtete und behandelte ihn als künftigen Kollegen, und Pater Bernhard genoß den Vorgeschmack[S. 165] der Würde mit der ganzen Befriedigung, welche die Erstlingsfrüchte jedes Strebens gewähren, und welche durch den Genuß der späteren, wenn gleich reicheren, nicht übertroffen wird.
Als der Bischof sich zur Abreise anschickte, erbat sich der Prior die Ehre, ihn bis nach einem, ungefähr zwei Stunden entfernten Orte zu begleiten, nahm im Wagen des Gastes neben diesem Platz, und ließ den eigenen, zu seiner Rückfahrt, leer nachfolgen.
— — — Der Tag neigte sich zu Ende. Der vergoldete Thurmknopf spiegelte die letzten Sonnenstrahlen zurück, und die letzten Glockenklänge zerrannen im Schweigen des Abends.
Gruppen der Landleute standen unter den Linden im Klosterhofe. Sie sprachen über den verstorbenen Prälaten, machten ihre Bemerkungen über den Prior, von dem sie wenig Gutes erwarteten, — und wie sie eben mit traurigen Gesichtern und Manche mit nassen Augen andächtig und scheu durch die Todtenkapelle am Paradebett vorübergezogen, — gingen sie nun, zuerst Einige, dann Alle, in das dem Klosterthor gegenüberliegende Wirthshaus.
Der Bauer hält in dieser Gegend den Leichenschmaus, auch wenn ihm Weib oder Kind stirbt. Er faßt das Sterben überhaupt anders auf, als der Ge[S. 166]bildete: er kennt kein lirisches Raffinement des Sterbens, keine jener Reflexionen, welche wie Schallgewölbe jeden Schmerzenslaut zehnfach verstärken. Der Verstorbene „hat es überstanden, — der Herrgott hat ihn zu sich genommen.“ — Die Arbeit geht fort. —
— Nun wendeten die traurigen Zecher die Blicke nach der Bergstraße, welche von der Waldhöhe über einen Wiesenhang herab nach dem Thore des äußeren, mit einer niedrigen Mauer umfangenen Hofes führt. Der klingende Ton des Radschuhes hatte sie aufmerksam gemacht auf die grüne Kalesche, welche, mit zwei starken schönen Eisenschimmeln bespannt, nach wenigen Minuten durch den Thorbogen rollte, und vor dem Klostergebäude hielt.
Neben dem Kutscher saß der Jäger Schellhammer, welcher absprang und den Schlag öffnete. Ein junges Mädchen im braunen Reisekleide mit rundem Strohhut und blonden Wellenscheiteln war mit leichtem Sprunge am Boden, ohne seiner Hülfe zu bedürfen, und bot nun die Hand dem Vater. — Einige der Landleute waren aufgestanden und umgaben — den alten Korbach, der sie freundlich grüßte. Er kam zwar nur ein- oder zweimal im Jahre nach St. Martin, aber Viele aus der Gegend kannten ihn und nannten den Uebrigen den Namen des Mannes,[S. 167] der seines Karakters und Reichthums wegen in allgemeinem Ansehen stand.
Die Angekommenen schritten zuerst nach der Kirche, wohin sich Helene begab, da ihr nach dem Klostergesetze der Eintritt in die sogenannte Klausur, innerhalb welcher die Wohnungen der Geistlichen liegen, untersagt ist. Sie wartete daselbst, bis sie der Vater nach der Todtenkapelle abholen würde.
Dieser ging durch den Kreuzgang nach dem Refektorium, wo die Geistlichen um diese Stunde zum Abendessen versammelt waren.
Die Tafel nahm nur die Hälfte des langen schmalen Saales ein, dessen andere im Halbdunkel lag. Der alte Korbach trat ein und schritt bis nahe an den beleuchteten Tisch, bevor ihn Jemand erkannte, — nun aber erhoben sich Alle mit dem herzlichsten, freudigsten Gruße, drückten seine Hand, nöthigten ihn zum Mahle. — Er nahm seinen Platz neben Leo, den er als Freund des Prälaten kannte, und sprach: „Ich bin zu mancher Zeit gekommen, meine hochwürdigen Herren, um Ihre Gastfreundschaft zu genießen, heute aber komme ich, um die letzte Pflicht gegen Ihren Prälaten zu erfüllen, mit dem ich zwar selten, aber immer nur in freundschaftlicher Weise im Leben zusammengetroffen. Ich kann seiner Bestattung nicht beiwohnen, da ich morgen in Korbach sein muß und[S. 168] noch in der Nacht zurückfahre. Wenn Sie Ihr Mahl geendet, werden Sie mich zu ihm führen; ich habe meine Tochter mitgebracht, deren Gebet Sie nicht für weniger fromm und gottgefällig halten werden, weil sie nicht der katholischen Gemeinde angehört.“
„Wir halten dafür, sagte Leo, daß jedes Gebet Gott gefällt, das aus reinem Herzen kommt!“
„So ist es!“ riefen Andere. — — Der Prior war ja mit dem Bischof weggefahren. —
Während der wenigen Minuten, welche die Abendtafel noch währte, sagte Korbach leise zu Leo: „Ich möchte die Todtenkapelle am liebsten in Gesellschaft von lauter wahren Freunden des Verstorbenen betreten; ich höre, daß nicht Alle so denken, wie Sie und Gott sei Dank! die Meisten.“
„Die vier hier Fehlenden, welche jetzt bei ihm beten, denken wie wir über ihn, erwiderte Leo, — die Andern, die Sie begleiten werden, waren ihm gleichfalls theuer, die es nicht gut mit ihm meinten, gehen nicht nach der Kapelle, wenn sie nicht die Ordnung des Gebetes trifft.“
Man erhob sich. Korbach ging, von Leo begleitet, nach der Kirche, um Helene zu holen, von dort durch den dunkeln Gang nach der Kapelle, wohin außer den das Stundengebet verrichtenden, noch drei andere Priester gekommen waren.
Die Flammen von dreißig Kerzen durchstrahlten den heilig stillen Raum. — Die Wände waren mit schwarzem Tuche bekleidet; mitten erhob sich auf drei Stufen der Katafalk mit der Leiche in vollem Ornate. Auf den Zügen des Todten lag der volle Gottesfrieden, mit dem der Gerechte entschlummert.
Helene trat an den Sarg, faltete die Hände und sah mit den tiefblauen feuchten Augen nach den festgeschlossenen des Verstorbenen, dann kniete sie an den Stufen nieder und betete.
Die acht Geistlichen standen um sie und den Vater, der gleichfalls einige Minuten in stiller Andacht das Bild des Friedens und der Verklärung betrachtete.
Dann stieg er mit langsamem, festem Schritte die Stufen hinan, stellte sich dicht neben den Sarg, seine Rechte auf die zusammengefalteten Hände des Todten legend, und sprach laut und mit feierlicher Betonung:
„In diesem Raume, meine hochwürdigen Herren, hat wohl nur der geweihte Priester das Recht, sein Wort vernehmen zu lassen“ — die Geistlichen näherten sich aufmerksam und schweigend. — „Wenn ich spreche, so ist es, weil der Mund dessen, für den ich spreche, für immer geschlossen ist.“
„Was ich Ihnen mittheile, ist so heilig, wie irgend ein Gebet, es ist das letzte Wort, das der Ver[S. 170]blichene an Ihren würdigen Bruder, den Pfarrer von Korbach gerichtet hat, — mit welchem er ihm und Ihnen Allen sein letztes Lebewohl sagt.
„Es sind die Zeilen, die er auf seinem Sterbebette geschrieben, in der Nacht seines Todes abgesendet, eine Stunde ehe dieses von echter Christentugend erfüllte Herz stillgestanden. Ich bin, Sie wissen es, Keiner von denen, welche vor manchen strengen Augen Gnade finden, — man nennt mich einen Freigeist, aber, daß Gott dem Manne, der durch Monate so selten sein volles Bewußtsein hatte, in der letzten Stunde die Kraft verlieh, seine Gedanken, sein Gebet für Sie in so herrlichen Worten niederzuschreiben, das ist nach meinem Gefühl und Glauben ein Wunder im wahren Sinne und ein Zeichen, daß ihm diese Gedanken wohlgefällig waren.
„Vernehmen Sie den Inhalt dieses Schreibens, das ich Ihnen gegen den Willen des Empfängers — aber im Geist und Sinne dessen mittheile, den Sie mit mir beweinen!“
Kein Athemzug war vernehmbar. Alle Blicke hingen an den Zügen des Mannes, dessen imponirende Gestalt höher, dessen Stimme bewegter wurde, als er das Papier entfaltete und las:
„Mein theurer, innigst geliebter Bruder! Nach wenigen Stunden werde ich Rechenschaft ablegen über[S. 171] mein Amt, vor dem Throne dessen, der es mir verliehen. Durch Sie bitte ich Alle, die meiner Obhut vertraut waren, mir ihre Liebe zu bewahren. Ich scheide mit dem innigsten, heißesten Danke für ihre Treue, und wenn mich Gott aufnimmt in die Wohnung des Lichtes, so werde ich ihn um Beistand bitten in den schweren Zeiten, die ihnen bevorstehen. Meine Brüder werden den ersten Kampf zu bestehen haben bei der Wahl meines Nachfolgers. Mögen sie muthig an ihrer Ueberzeugung festhalten, unbekümmert um Menschengunst und Drohung. — Sie, mein geliebter Valentin, werden vielleicht von den meisten Brüdern als der Würdigste erkannt werden, wie ich Sie dafür erkenne und vor dem Allmächtigen nennen würde, wenn er mich von seinem Throne fragte, wer soll Hirt meiner Herde sein. — Und somit werden Sie wenigstens Eine Stimme für sich haben, die aber auf Erden nicht zählt! Wenn aber unter den Brüdern, was ich zu meiner Beruhigung im Sterben glaube, Mancher ist, der so denkt wie ich, so werden sie muthig und treu im Tode zu mir halten, wie es Alle im Leben gethan!“
Mit flammendem Auge, kraftvoller und doch vor Erregung zitternder Stimme hatte Korbach die letzten Worte gesprochen.
Nun legte er den Brief auf die Brust der Leiche[S. 172] und schloß: „Ich habe Ihnen, meine hochwürdigen Freunde, hiemit die letzte Bitte Ihres in den Frieden vorangegangenen Herrn und Vaters vorgetragen, meine Pflicht gegen ihn ist erfüllt.“ —
Dann stieg er die Stufen herab, faßte die Hand der Tochter, die bewundernd und ergriffen den Vater unverwandt angeblickt, den sie nie mit so hinreißender Begeisterung sprechen gehört, — und wollte die Kapelle verlassen; da trat Leo vor ihn hin und sagte: „Nehmen Sie die Ueberzeugung mit, daß mehr als Einer treu und muthig zu dem Verklärten hält!“ „Wir, wir Alle halten zu ihm!“ tönte es durch den Raum — ein achtfacher Widerhall der Einen Stimme, — die auf Erden nicht zählte. — — — — — —
Der grüne Wagen rollte wieder durch das Klosterthor, den Wiesenhang hinan, — in den Tannenwald, — fort durch die sternenhelle Nacht.
Helene hatte den Arm um den Vater geschlungen und küßte ihn mit Innigkeit. — „Ich habe gesprochen, wie es vom Herzen kam, sagte er, und ich hoffe, es ist zum Herzen gegangen; das sind aber acht, — und im Kapitel werden vierundzwanzig stimmen.“ —
Im Augenblicke, wo dieß gesprochen wurde, waren es nicht mehr acht. —
Die in der Kapelle anwesenden Geistlichen hat[S. 173]ten als unwiderstehliche Waffen ihre Ueberzeugung und den Brief des geliebten Herrn, der die Kraft eines letzten Willens für sie hatte, und den sie Andern mittheilten. Nur über einfache, schlichte Gemüther konnte die Stimme des Todten diese Gewalt haben, mußte sie aber auch haben: ein Abfall von ihm erschien ihnen als eine so feige Sünde, als ein so schändlicher Hochverrath an der heiligsten, durch viele Jahre mit Liebe erfüllten Pflicht, daß sie lieber allen zeitlichen Gefahren und Bedrängnissen ins Auge sehen wollten. —
— Etwa eine Stunde nach Korbachs Abreise kehrte der Prior ins Kloster zurück. — Er erfuhr, daß derselbe angekommen, in der Todtenkapelle gewesen und wieder abgereist sei — mehr nicht. — Die acht Priester mußten keine Unwürdigen ins Vertrauen gezogen haben.
Bernhard sah in der dem Verewigten dargebrachten Huldigung nur einen neuen Beweis jener Gesinnung, die er wünschte. Er begab sich nach seiner Wohnung, wollte ruhen, doch heftige Aufregung verbannte den Schlaf von seinem Lager. —
Er trat ans Fenster und sah mit klopfendem Herzen in die ruhige klare Nacht hinaus. Unter ihm glänzten im aufgehenden Mond die Dächer des Meierhofes, die Wiesen und Felder... „Dieß Alles soll[S. 174] dein sein — hatte der Satan zu ihm gesagt, — wenn du niederkniest und mich anbetest“ — Er hatte ihn angebetet, — und ehe der Mond wieder heraufstieg, mußte dieß Alles sein werden! —
Es gibt keinen größeren Sprung von Nichts zu Allem, von Unterwürfigkeit zur Herrschaft, von Beschränkung zu unermeßlichem Reichthume, von dunklem, unbeachteten Dasein zu glänzender hoher Würde, als in dem Augenblicke geschieht, wo die Stimmzettel eröffnet werden und aus der Mitte der Brüder der Eine, der bisher ihresgleichen, als ihrer Aller Herr hervortritt, vor dem sie sich beugen bis an das Ende seines Lebens.
Der Prior begrüßte die Sonne noch wach. Nur eine kurze Stunde fieberhaften Schlummers ließ ihn in wirren Bildern das nächste goldne Ziel, — ließ ihn auch ein fernes träumen, zu dem nun die erste Stufe erklommen. —
— — Am Abende desselben Tages aber stand vor dem Pfarrhofe in Korbach das schäumende, schweißbedeckte Pferd des Boten, welcher Valentin einen Brief von Leo überbrachte. Er trug die Aufschrift: „An den hochwürdigsten Abt des Klosters Sankt Martin.“
Neun Priester hatten für den Prior gestimmt und fünfzehn mit dem Todten für Valentin.
Der Fehdehandschuh, welchen Arnold’s Vater der Konkordatpartei hingeworfen, war kein Glacéhandschuh, sondern einer von dickem Elennsleder mit Eisenschienen und Platten, dessen Klirren durch die teppichverhangenen Kabinetsthüren der geistlichen und weltlichen Minister, in die Boudoirs der frommen Damen, ja bis in den Vatikan drang, da dem Korbacher Metallfabrikanten die Ehre widerfuhr, zum Gegenstand einer, am Tage nach der Wahl abgegangenen, telegrafischen Chiffredepesche des Nunzius zu werden. — Doch nicht die oberen Lüfte wurden von dem unerhörten Ereignisse aufgewirbelt, auch die unteren geriethen in Bewegung, natürlich in entgegengesetzter Richtung. —
So dicht der Schleier war, welchen die verschwiegene Treue der für Valentin stimmenden Geistlichen bis zum Momente der Wahl über den Vorgang gezogen, so wurde er doch unmittelbar darnach[S. 176] gelüftet, und es hätte nicht des Schreibens Helenens bedurft, welche Arnold in glühenden Farben das Geschehene erzählte, um ihn von den Einzelnheiten zu unterrichten.
Er vernahm sie mit wahrem Entzücken und eilte zu Günther, natürlich zu spät, um demselben eine Neuigkeit zu bringen, da ihm dieser nebst einigen Arnold unbekannten Details erzählte, daß der Hofarzt Doktor Siebenberg nach St. Martin telegrafirt worden sei, um den Prior, welcher nach Eröffnung der Stimmzettel aus dem Kapitelsaale getragen werden mußte, der Menschheit zu erhalten. —
Günther goß einige kalte Ströme in Arnold’s Freudenfeuer. „Ihr Herren von Korbach“, sagte er, „seid umgekehrte Don Quixotes. Dieser hielt die Windmühlen für Riesen, und Ihr schlagt mit Euern Messingstangen auf Riesen los und haltet sie für Windmühlen. Fürs Erste müßten sie mit ihrem kanonischen Recht, welches nach Umständen bald von Gußeisen und bald von Kautschuk ist, schlecht umzuspringen wissen, wenn sie nicht den ganzen neuen Prälaten, sammt allen seinen Stimmen aus der andern Welt, über den Haufen würfen. Fürs Zweite könnt Ihr nun warten, bis Ihr von einer landesfürstlichen Behörde eine jener großen Bestellungen bekommt, welche Euch eigentlich zu Millionären ge[S. 177]macht haben. Endlich — und das ist das Wichtigste von Allem, und ich hätte dich jedenfalls noch heute aufgesucht um es dir mitzutheilen — ist Etwas vorgefallen, was nun wenigstens auf einen Theil der gegen Euch spielenden Maschine helles Licht wirft. — Ich war gestern mit dem Notar Reichl zusammen, und brachte das Gespräch auf das Korbachthal. Du kennst das Altenberger Metallwerk, welches — merke wohl, um fünf Stunden näher an der Südbahn liegt als Ihr. Dieses Altenberg mit seiner halbverfallenen Fabrik ist verkauft worden, Reichl hat den bereits unterzeichneten Kontrakt gemacht, und der Käufer ist — Kollmann.“
Nach einigen Augenblicken, die er Arnold gönnte, um sich von einer Ueberraschung, die ziemlich nahe an Bestürzung grenzte, zu erholen, fuhr Günther fort: „Der bisherige Besitzer von Altenberg, Richtmeyer, bis über die Ohren verschuldet, hat Euch keine Konkurrenz gemacht; nun laß aber einen dort sitzen, der die Sache angreift, der bauen und Maschinen aufstellen kann, und zugleich in den obern Regionen gut genug angeschrieben ist, um die Staatsbestellungen wegzuschnappen, so könnt Ihr in zwei Jahren auf Euren englischen Walzen Tannenzapfen auswalken und im Drahtzug Prälaten strecken —[S. 178] Ihr habt bisher das Terrain behauptet nicht weil Ihr besser und wohlfeiler arbeitet, sondern zufolge des büreaukratischen Schlendrians, weil es nun einmal seit zwanzig Jahren herkömmlich, in Korbach zu bestellen. Einmal aus dem Sattel gehoben, kommt Ihr zufolge desselben Schlendrians nicht wieder hinein, — und die höchst rühmliche, in den Augen jedes honetten Mannes bewunderungswürdige Handlung deines Vaters ist für den Besitzer von Altenberg, wenn er anders dem technischen Theile gewachsen, gleichbedeutend mit einer feierlichen Uebertragung der Regierungskundschaft von Euch auf ihn!“
Arnold war hinlänglich besonnener praktischer Geschäftsmann, um das volle Gewicht der Wahrheit in Günther’s Worten zu würdigen. Er übersah mit einem Blick die Bedeutung der Lage.
— — Er gedachte jenes Abends, wo er vom Professor Harkeboom nach Berührung der kalten Marmorhand in so heißer Kampflust weggegangen und die grüne Kriegsfahne des Profeten gegen unsichtbare Gegner entfaltet. Vergebens hatte er geharrt und gehofft, daß sich irgend ein feindlicher Helmbusch durch den Nebel zeige, hatte zehn Pläne gefaßt und verworfen — alle liefen mehr auf ein Zerhauen, als Lösen des Knotens hinaus; seine Natur trieb zu offenem Handeln auf geradem Wege.[S. 179] Bald wollte er nach dem Freinhof, Julie geradezu fragen, wo das Ende der Kette, die sie umschlinge, — bald Sembrick aufsuchen, dessen kaltes Ablehnen ihn umsomehr verletzte, je länger die eigene Spannung währte. Er sah jedoch den gelinden Wahnsinn ein, das Geheimniß aus dem Christuskopf mit Schwert und Feuerschlund heraustreiben zu wollen. Als dann die beiden Briefe vom Prior und Blauhorn kamen, war er Anfangs uneins, ob das Schwungrad dieser Maschine von einer Engelshand oder einer Teufelsklaue in Bewegung gesetzt werde.
Eine Einladung in den Reichssenat und das eventuelle Versprechen eines päpstlichen Ordens unter einer Bedingung, die Jedem, der seinen Vater nicht genau kannte, ganz annehmbar erscheinen mochte, waren doch wahrlich an sich keine feindseligen Handlungen. — Als die Teufelsklaue erkennbar wurde, als gewiß war, daß zwar Alles vom Freinhofe, aber eben so gewiß, daß es nicht von Julie ausgehe, stieg ihm auch der Gedanke auf, gerade vor Kollmann hinzutreten, ihn zu fragen, welche Schurkerei hinter den seinem Vater zugedachten Würden und Ehren stecke — — ihn einfach zu fordern.... Allerdings durchschoß die Kugel, welche Kollmann hinstreckte, auch jedes Band mit Julie, — aber war dies nicht[S. 180] das alleruneigennützigste Handeln für sie, — Befreiung ohne Hoffnung eines Lohnes? — da er immer von der Meinung ausging, daß Nichts als eben eine sehr „unglückliche Ehe“ im gewöhnlichen Sinne ihr Los, obgleich Sembrick im Gespräche mit ihm gesagt, es handle sich um „etwas mehr.“ — — —
Nun war die Ungeduld befriedigt!
Er war bei aller Entschlossenheit von der plötzlich demaskirten feindlichen Aufstellung überrascht... Nicht eine romantisch kostümierte Banditenschar, die durch den raschen Angriff eines Husarenpiquets zersprengt oder gefangen wird: eine mit allem Bedarf ausgerüstete Armee, deren Kriegszweck in weitester Ferne der Ruin seines Hauses, die Vernichtung seiner materiellen Existenz, stand ihm entgegen.
Mehr als einmal hatte Sprenger zum Ankaufe Altenbergs gerathen. Sein Vater hatte eingeworfen, Richtmeyer könne keine neue Maschine aufstellen, mit den alten nichts Großes unternehmen und wenn er jetzt für die verschuldete Besitzung 60,000 Gulden verlange, werde noch ein Moment kommen, wo er froh sein werde, die Hälfte zu erhalten. — In der letzten Zeit hatte das Werk völlig stillgestanden. Man sprach vom Konkurse. Der alte Korbach hielt nun den Zeitpunkt für passend, ließ sich nach den Disposizio[S. 181]nen des Besitzers erkundigen, und hörte, daß Richtmeyer rangirt werde, — die Fabrik als solche aufgeben, das kleine Gut aber bewohnen und bewirthschaften wolle. Damit schien alle Gefahr beseitigt.
Noch war wenig zu besorgen, wenn nicht die Fehde mit Kirche und Staat dazwischenkam. —
Der alte Korbach hatte Minister- und Sistemwechsel, Revoluzion und Reakzion erlebt, und dem alten festgegründeten Bau seines Kredits war kein Stein ausgebrochen, an seinen Verbindungen mit den bei den großen Lieferungen maßgebenden Behörden nichts gelockert worden. — Er war bei vielen Gelegenheiten entschieden, ja schroff aufgetreten, aber sein Karakter und die Solidität seiner geschäftlichen Gebahrung hatten das alte Monopol der Korbacher Werke trotz kleiner persönlicher Reibungen und trotz der ihm seit Jahren feindlichen Gesinnung der ultramontanen Partei aufrecht erhalten. Als er selbst nach einem Konflikte mit dem Minister, aus Anlaß der erwähnten Eingabe über den Freihandel, im Besitze aller Aufträge blieb, stieg seine Zuversicht noch höher.
Das Alter wird den Mann entweder zu mißtrauisch gegen seine Kraft und sein Glück machen, oder allzu zuversichtlich, je nachdem er auf mehr zur Frucht gereifte, oder auf mehr in der Blüte geknickte[S. 182] Hoffnungen von der Warte seiner sechzig Lebensjahre herabsieht. —
Die lange Reihe von erfolggekrönten Bestrebungen ließen ihn keinen Gegner mehr fürchten. Fast hätte er sich mit seinem ältesten, treuesten Freunde überworfen, als dieser mit der höchsten Entschiedenheit gegen die protestantische Einwanderung auftrat. „Das ist der Anfang vom Ende,“ hatte Sprenger gesagt — „ist dein russischer Feldzug. Die Kirche ist wie Rußland, — verbrennt ihr eignes Moskau, wenn sie den Gegner nicht anders bezwingen kann.“
— — Arnold schrieb die wichtige Nachricht sogleich nach Korbach. Die kurze Antwort lautete dahin: „die Altenberger könnten vor einem Jahre ohnedem nicht arbeiten; der bis dahin wahrscheinlich fertige Flügel der Westbahn nach Korbach paralisire den Vortheil, den jenen die Südbahn gewähre. Die Fabrik habe andere Zeiten und Konkurrenten ausgehalten.“
Dieser Auffassung gegenüber war Arnold’s Weg klar vorgezeichnet. Er konnte über seine Aufgabe nicht in Zweifel sein: nach Kräften in jenen Richtungen ausgleichend zu wirken, wo das Naturell und die unbeugsame Haltung seines Vaters Verwicklungen herbeigeführt. — So sprach er zu sich als Sohn. Ein Fremder würde es rücksichtsloser so ausgedrückt[S. 183] haben: der junge Korbach fühlte, daß er gut machen sollte, was der Alte verdarb, — den Schaden abwenden, den die übrigens respektable Hartnäckigkeit desselben zu verursachen drohte.
Dieß war leicht begriffen und schwer ausgeführt.
Er kannte außer Günther Niemanden, mit dem er sich berathen wollte. Den sehr gewandten und treuen Geschäftsführer, der den kommerziellen Theil aufs Gründlichste verstand, glaubte er so wenig als irgend einen Andern in die neuentstandene Situazion zu früh einweihen zu sollen: es war dieß einer jener Gegenstände, welche zu einer Macht werden in dem Augenblicke, wo man sie bespricht und anerkennt. Sprach Korbach eine Besorgniß aus, so war sie für den Zweiten Furcht, für den Dritten Eingeständniß, der Konkurrenz nicht gewachsen zu sein.
Mit seinem Freunde hatte er desto häufigere Unterredungen. Sie kamen fast täglich in dessen Wohnung zusammen.
Günther hatte ein mit echten, alten, durch viele Jahre mit Kennerblick gesammelten Stücken eingerichtetes Zimmer. Den Raum an den Wänden, welchen die geschnitzten Kasten und Kästchen frei ließen, deren Oberfläche mit lauter antiken Seltenheiten bedeckt war, nahmen Gemälde ein, und durch alle Zwischenräume in den Ecken, an den Fenstern, schlän[S. 184]gelte sich üppiger Efeu empor. — Einiges mahnte an Sembrick’s Salon — aber ins Wohnliche, Traute, Gemüthliche übersetzt. —
Die Freunde saßen auf einem mit Rohr ausgeflochtenen hochlehnigen Sofa, das sich in rechtem Winkel um den massiven Tisch von natürlicher Holzfarbe bog — — und entwarfen Schritt für Schritt ihre Operazionspläne.
— „Wie stehts mit dem Marine-Kommando?“ begann Günther.
— „Ich habe heute mit Bianchi gesprochen, der das hiesige Haus der Franchini führt, durch welches das Kommando Alles verhandelt. Bianchi stellt viele weitere Aufträge in Aussicht. Die jetzigen betreffen die breiten Messingplatten.“
— „Mit denen können die Altenberger mit ihren dermaligen Maschinen nicht aufwarten. Aber wenn dein Vater sich mit der gesammten Geistlichkeit und Staatsgewalt überwirft, so wird die Letztere, da kaum eine Fabrik außer Eurer darauf eingerichtet ist, mit dem Auftrag nach England gehen.“
— „Das geschieht nicht, so lange Prinz August Ernst das Marine-Kommando führt, der entschieden darauf besteht, die einheimische Industrie nicht zu übergehen. Aber die weiteren Aufträge sind solche, die jedes gewöhnliche Walzwerk ausführen kann, und[S. 185] für diese fürchte ich. Ich bin entschlossen, nach — (wir nennen nicht die südliche Hafenstadt, wo das Marine-Kommando seinen Sitz hat) zu gehen, und habe dem Vater um Erlaubniß geschrieben.“
— „Ich verschaffe dir Briefe, die dich gleich auf den rechten Boden stellen. Du darfst nicht als Ansuchender kommen, sondern an einem Draht von oben herabgelassen. Von oben heißt für Franchini von Rothschild. Bis übermorgen hast du das zärtlichste Empfehlungsschreiben, worin dieses Haus jemals eine Anweisung auf seine Liebe ausgestellt hat.“ —
— „Vielen Dank. Ich gedenke aber zum Prinzen selbst vorzudringen, kurz zu sagen, daß wir jeden Auftrag als gute Patrioten billiger als jeder Andere vollziehen, daß das Vermögen meines Vaters ihm erlaube, nicht auf Gewinn, sondern auf die Ehre zu sehen u. dgl.“
— „Das wird dir Alles nichts nützen, wenn du nicht den festen Kontrakt schneller in die Hand bekommst, als man von hier aus operirt. Ihr seid jetzt die bête noire der ganzen Coterie — seid plötzlich so berühmt, daß selbst die Prinzessin, die Mersey, Plomberg“ — —
— „Plomberg? wie kommt der dazu?“
— „Der Husarenoberst ist der Vetter des Baron Heidenbrunn, und dieser der Adjutant des Prinzen[S. 186] Ernst August. Plomberg hat jedenfalls Einfluß dort. Uebernimm auf ein halbes Jahr die Rolle der alten Mersey und zahle seine Schulden, so hast du ihn mit Haut und Haar!“
— „Nicht, wenn ich ihn um einen Gulden haben könnte. Das ist kein Weg für einen Korbach.“
— „Lieber Arnold, mein Gewissen ist um nichts elastischer als deines! Das ist reine Geschäftssache. Wenn ein solcher Kerl licitando zu haben, so lizitire ich mit, wenn ich weiß, daß er sich sonst der Gegenpartei verkauft. Wenn ich mit einer Handvoll Banknoten vielleicht eine niederträchtige Intrigue vereiteln kann, so ist das ein Weg, welchen Die von Korbach so gut wandeln können, als Der von Günther!“
— „Nenne es Caprice, aber wir überlassen einmal, eben als gute Bürgerliche, den geschlossenen Helm dem Adel und fechten nur mit offenem Visir. Mit Plomberg habe ich Nichts zu thun.“
— „Auch gut. Aber bei Wörlitzer kannst du dich mit offenem Visir vorstellen; die Westbahn, von welcher er Direktor ist, kann für Euch höchst wichtig werden. Mich hat er im kaufmännischen Verein zehnmal geladen, und ich lasse mir jedesmal wieder seine Adresse geben. Nun gehe ich hin, und nach deiner Rückkehr stelle ich dich vor.“
— „Auch dieser ist mir höchst antipathisch.“
— „Vielleicht, weil du dort mit Sembrick zusammentreffen wirst?“
— „Das vergaß ich. Jetzt gehe ich jedenfalls hin. Ich muß ihn treffen, damit wir wenigstens ordentlich auseinander kommen. Die Art, wie wir uns verlassen haben, kann wohl nicht füglich ein letztes Wort vorstellen.“
— „Wenn du vielleicht bloß zu Wörlitzer gehen willst, um den Salon des Banquiers als Turnierplatz mit Sembrick zu benutzen, so laß dich gefälligst von Jemand Anderem vorstellen.“
— „Besorge Nichts! Ich weiß nur nicht, was es nützen soll, — der Minister des Innern ist das personifizirte Konkordat, und jedenfalls schon prävenirt.“
— „Was ihn nicht verhindert, seine Fonds durch einen Juden verdoppeln zu lassen, der viel zu klug ist, um sich nicht wärmer für Euer gegenwärtiges Korbach, als für die Altenberger Zukunftsmusik zu interessiren. Wenn du die ganze Geschäftswelt auf deiner Goldwage wägen und dich mit Niemandem einlassen willst, der nicht in unserm Sinne korrekt, so nimm lieber heute als morgen die Tafel von Eurer Niederlage ab!“
Arnold war bei aller Korrektheit praktisch genug, um sein Prinzip nicht auf die Spitze zu treiben.
— „Mit den Geistlichen, fuhr Günther fort, ist jetzt nichts zu thun; du kannst deinen Vater nicht desavouiren.“
— „Um so weniger, als ich ihm vollkommen Recht geben muß.“
— „Wann willst du reisen?“
— „Sobald die Antwort von Korbach eintrifft.“
— „Lasse mich’s wissen, ich hole dich dann ab, und begleite dich die zwei Stunden bis Treustadt, wo ich ein Geschäft habe, das an keinen Tag gebunden ist. Und nun noch ein Wort in alter Aufrichtigkeit: Sprichst du von dem, was dir bei der ganzen Sache am tiefsten zu Herzen geht, seit drei Tagen keine Silbe, weil du mich nicht für fähig hältst, dich zu begreifen?“
— „Ich spreche nicht davon, sagte Arnold, indem er die Farbe wechselte und Günthers Händedruck mit krampfhafter Heftigkeit erwiderte, weil ich dir kein Bild aufrollen will, das dir zeigen würde, wie diese ganze geschäftliche Besonnenheit eine eiserne Maske ist, hinter der mir, ich schäme mich nicht, dir’s zu sagen, oft blutige Thränen herabrollen. Es wird eine Zeit kommen, wo ich wieder sprechen kann, jetzt bin ich nicht falsch gegen dich, sondern gegen mich selbst. Ich belüge mich den Tag über, und lasse die Wahrheit für die Nacht.“
— — Und die Nacht war Zeuge, wie unter all’ den grellen Mißtönen, die von allen Seiten auf Arnold eindrangen, das Herz nicht verstummt war, — seine Stimme war keine weichliche Wehklage, aber ein Schmerzensschrei, der, keinem Andern vernehmbar, in ihm doch Alles übertönte! —
— In welcher lichten verklärenden Höhe hatten die ersten Lerchen dieser Liebe gesungen! — Julie, das räthselhafte, reizende Weib, so ganz anders als Alle, denen er begegnet, — die mit einem ihrer tiefen innigen Blicke größere Seligkeit schenkte, als Andere mit dem glühendsten Kuß, — und deren Händedruck doch weniger Rechte zu gewähren schien, als ein freundliches Lächeln einer Andern! — Julie, die auf dem Felsengipfel unter den Wetterwolken gebetet, — und dann unter den rothen Mohnblumen hervorgelächelt und durch Scherz und frohe Anmuth entzückt! Wie lagen für ihn Alle so tief in der Fläche der Alltäglichkeit, neben ihr, die ein dunkles Geschick mit allem Zauber des Geheimnißvollen umhüllte, — und die es zu tragen schien vor den Augen der Andern, als drückten nur Rosen auf das weiche dichte Haar, — und nur in einsamer Stunde hinsank, sich windend unter den scharfen Dornen.
Und was war nun aus dem Goldnebel am See hervorgegangen!
— Arnold war keiner von denen, die „wild auffahren,“ — knirschen, — im Selbstgespräche an die Stirn schlagen, — — er saß nach vollbrachtem Tagewerke schweigend, in Schmerz versunken, an dem Platze, wo er Günther den Abend im Schweizerhause erzählt. Jedes Ausdrucks war sein Mund eher fähig, als jenes des Hohnes, aber mit bitterem Spotte lächelte er, — — als er der Julie gedachte in Verona, und Romeo’s! des großen Kampfes der alten Häuser um Macht und Ehre! — Wie edel die Waffen! das Schwert, — selbst der Dolch, — selbst das Gift, — — Alles noch groß und edel!.... Und nun auch hier zwei Häuser: — — — „Kollmann und Kompagnie“, — „Korbach und Sohn“. — — Statt Schwert und Dolch: Messingstangen und Kupferplatten... Nie hat die plumpe Tatze des gemeinsten Materiellen in kaum erschlossene Blüten roher hineingegriffen. —
Wie oft hatte er gelacht über das „Ich und Nicht-Ich“ der Gott und Welt zerdenkenden Schule. Nun gewann es ihm einen Sinn. Nun begriff er die Trennung, den Abgrund zwischen dem Ich und jener zweiten selbstständigen, unbezwinglichen Macht in uns, welche Gedanken schafft, von denen das Ich nichts hören, — Bilder aufsteigen läßt, welche der Wille zertrümmern möchte — vergebens! Wie jener[S. 191] Fromme der Legende vom bösen Geiste gezwungen war, Gott zu lästern, und dabei das sündige Wort im Herzen verfluchte, das seine Lippen gegen seinen Willen sprachen, — so rang Arnold gegen Gedanken, welche Wolke auf Wolke um Juliens Bild legten, — er konnte das seelenvolle Feuerauge nicht mehr klar schauen — sie stand nicht mehr vor ihm, so fleckenlos wie die frisch erblühte Blume, kristallrein wie der Bergquell.
Und doch sagt’ ihm das treue alte „Ich“: Entweder einen reinen Himmel mußt du glauben, oder eine Hölle. Sie kann nur um Alles wissen, oder Nichts.
— — In solcher Stimmung, welche dießmal auch der helle schöne Morgen nicht zerstreute, traf ihn Günther, als er ihn, nachdem die Genehmigung des alten Korbach angelangt, zwei Tage später abholte, um ihn bis Treustadt zu begleiten. Ein Blick auf die verstörten Züge des Freundes verrieth ihm dessen Gemüthszustand.
„Ich bringe den Brief an Franchini und noch zwei andere,“ — begann er, „und damit du nicht die Energie verlierst, deren du bedarfst, nimm dich zusammen und hänge nicht Gedanken nach, welche entschieden keinen Grund haben. Du weißt doch, daß ich Anfangs keine Kränze für diese vielbesungenen schwar[S. 192]zen Locken geflochten, die leider Gottes deine ganze Existenz umspinnen, ich sage dir aber eben so, daß, wenn diese Frau mit Kenntniß der Sache ihre Hand in dieser Intrigue hat, ich mir die meine abhauen lasse! Du kannst in dem Ganzen höchstens einen Sporn für deine Thätigkeit finden. Hoffentlich wirst du doch kein Bedenken tragen, gegen Kollmann, weil er ihr Gatte, ein geschäftliches Duell zu bestehen, da dir gewiß ein anderes ein Vergnügen wäre? Frisch ans Werk! und nochmals: Zweifel an dieser Frau in dem Sinne, wie ich jetzt bei dir vermuthe, sind geradezu wahnsinnig.“
Der Ton der Ueberzeugung verfehlt seine Wirkung gewiß nicht, wenn das Gesagte mit dem Herzenswunsche des Zuhörers zusammenfällt.
Arnold erwiederte: „Es ist nicht der eine und nicht der andere Gedanke, sondern der gesammte Karakter der Fehde, der mich durch den Kontrast des Gemeinsten mit dem Edelsten peinigt — lieber als dieses elende Gebalge mit einem im Trüben fischenden Fabrikskonkurrenten wäre mir wahrlich gewesen, wenn ich einen Kampf zu bestehen gehabt, um einem wirklichen, schwarzen Verbrecher die Maske abzureißen!“
— „Aber lieber Freund, man muß immer das Beste hoffen! Wer weiß, ob nicht die Konkurrenzschlei[S. 193]cherei zu Kollmanns läßlichen Sünden gehört? Ich habe immer die Idee, daß in der Geschichte dieses Menschen ein Blättchen ist, das er nicht gern vor dem Kriminalgericht herablesen möchte.“
— — Arnold hatte der heitern Stimmung, in welcher sein Freund gekommen, nicht ganz widerstanden. — Sie waren nun zur Abreise fertig. —
Wir finden sie eine Viertelstunde später im Waggon, wo sie kaum Platz genommen, als Günther sagte: „Deine Reise beginnt unter guten Auspicien, der Wind weht vom Freinhof her! Da unten, ganz am Ende des Wagens, sitzt die Zeltner! Die fährt jedenfalls wieder irgendwohin, um die Angelegenheiten ihres Mannes revidiren zu lassen. Aber ein hübsches Weib, — das muß man ihr und dem Grafen Greuth lassen. Dieses röthliche Blond! dieses prachtvolle Weiß!“
Arnold erkannte die Blondine vom Freinhof. Sie reiste ohne Begleitung. Einiges Handgepäck, der blaue Schleier, die Reisetoilette ließen auf ein weiteres Ziel der Fahrt schließen. —
„Willst du wetten,“ sagte Günther nach einigem Nachdenken, „daß die Blonde mit dir reist, bis an den Ort deiner Bestimmung? Ihre Bestimmung aber ist der Prinz August Ernst. Ich habe den Spektakel im Theater mit angesehen, als er zwei Monate[S. 194] lang hier war. — Sie hatte einen Sperrsitz unter der Hofloge, und die Augen des Prinzen gebrauchten förmlich russische Bäder: von den feurigen Haaren in die Schneeflächen, die sich von Oben ganz prachtvoll ausnehmen mußten, und vom Schnee wieder ins Feuer. Sie führte mit der Spitzenmantille ganze Schicksalsdramen auf, mit glänzender Beleuchtung ihres äußern Schauplatzes. Und das wallte und wogte so fort acht Tage lang, bis endlich der Adjutant des Prinzen, der Baron von Heidenbrunn, am Ausgang wartete, bis die Zeltner in einen Wagen stieg, worauf er sich in den zweiten warf und nachfuhr. Seit diesem Abende habe ich sie nicht mehr im Theater gesehen. Der Krieg scheint lokalisirt. Wahrscheinlich reist sie, da vom Grafen Greuth keine Strafermäßigung Zeltners mehr zu erwarten, dem Prinzen nach, wird aber gegen das südliche Element schwer aufkommen.“
Die Besprochene machte auf jeder Stazion mit ihren Augen die Ronde durch den Waggon, um den Zuwachs der Gesellschaft zu kontrolliren, und begegnete einem jener ruhigen, hellen Blicke Günthers, welche so oft den feurigen oder schmachtenden Pantomimen Anderer ans Ziel vorausgeflogen waren. Sie erwiederte ihn einen Moment, sah dann anscheinend gleichgültig weg, — allein die Begegnung wie[S. 195]derholte sich, da zwei Augenpaare im Raum eines Waggons entweder stillsitzen, oder auf ihrer Promenade zusammentreffen müssen.
Arnold war nicht aufgelegt, dem Geplänkel eine besondere Theilnahme zu schenken, mußte aber doch lachen, als er Günther plötzlich einen wirklich beredten, ganz ernsthaft zärtlichen Blick absenden und darauf die Augen wie verwirrt senken sah, — worauf er sich gegen Arnold herumwandte und hinter dem abgenommenen Hut das bekannte gemüthliche — Teufelsgesicht schnitt und sagte: „Die Zeltner hat mich vor der Hand bloß bezaubert, wie die Klapperschlange, bis Treustadt hoffe ich umstrickt zu werden.“
— „Hast du alles Ernstes vor, da Etwas anzuknüpfen?“
— „Angeknüpft ist bereits; ich möchte nur wissen, was sie immer im Abgrund des Raumes sucht und findet und wieder versteckt? Ein Flacon! sie leidet; nach der ungewöhnlichen Blässe könnte es sogar wahr sein.“
Frau Klotilde Zeltner hatte in der That mit der ihr gegenübersitzenden, wie es schien fremden alten Frau einige Worte gesprochen, sich dann zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Die Stirnfalte und das Eindrücken der schönen Zähne in die Unterlippe verriethen einen heftigen Schmerz. — Ihre bei[S. 196] aller Fülle schlanke und ebenmäßige Gestalt beseitigte die Vermuthung, welche sich Günther bei den ersten Simptomen des Unwohlseins aufdrang. Er sah, daß keine jener Katastrofen drohte, welche manchmal auf Eisenbahnen und Dampfschiffen eine Ungleichheit in der Zahl der ursprünglich eingestiegenen und der aussteigenden Passagiere veranlassen. — Vielleicht wenn die Fahrt sechs Monate gedauert hätte..... Vor der Hand war es eben nur eine vorübergehende „Störung des Organismus.“
Auf der nächsten Stazion rief Günther nach einem Glas Wasser, präsentirte es ihr mit ernster, theilnehmender Miene, und zog sich ohne ein Wort zu sprechen zurück, nachdem sie ihm mit schmachtendem, trüben Lächeln gedankt.
Als der Train wieder in Bewegung war, sagte er: „Lieber Freund, reise glücklich und nimm hier mein Lebewohl! — ich werde zwar neben dir stehen bleiben, — weiß aber nicht wie lange —, jeder Augenblick kann uns trennen, wenn die Pflicht ruft.“
Arnold sah, daß sein Freund heute unter besonders heitern Sternen aufgestanden, und erwiederte das Lebewohl. Er beneidete ihn zwar nicht um die Weise, wie sein glückliches Temperament zur Geltung kam, aber doch um dieses selbst, und sah der Entwicklung der Dinge zu.
Günther winkte den Kondukteur zu sich und sagte: „Diese Dame dort ist sehr unwohl; halten Sie sich etwas in ihrer Nähe auf, und wenn Sie bemerken, daß es sich wieder verschlimmert, so sagen Sie, daß ein Doktor im Waggon ist. Ich will mich nicht selbst anbieten und möchte doch gern helfen... Sie verstehen das schon.“
Der Kondukteur verstand jedenfalls den Gulden, der ihm in die Hand gedrückt wurde. Nach einigen Minuten sah man ihn mit der Frau sprechen und Günther wurde, unmittelbar nach seiner Promovirung zum praktischen Arzte, zu seiner ersten Patientin gerufen.
— „Ich vernehme, daß Sie Arzt sind?“ sagte Klotilde Zeltner.
— „Ich bin, — erwiderte Günther leise — ein solcher, dessen Spezialität eben ausschließlich die Behandlung von Frauenzuständen ist, und werde das größte Vergnügen finden, meine Berufspflicht an Ihnen nach meinem besten Wissen auszuüben.“
— „Darf ich wohl um Ihren Namen bitten?“
— „Ich heiße Günther, — nicht zu verwechseln mit einem hochberühmten Arzte unserer Residenz, mit welchem ich mich jedoch, ohne Ruhmredigkeit, gerade in meinem Fache messen darf. Da uns Niemand als diese freundliche Frau uns gegenüber hören kann,[S. 198] so bitte ich, meinem kurzen Examen mit vollster Unumwundenheit zu folgen.“
Arnold sah aus seiner Ferne Pulsfühlen und ernstes Kopfschütteln, ein schnelles Vorzeigen der Zungenspitze, — sah Günther mit bekümmerter Miene einen Augenblick zwei Finger auf die Stirn der Leidenden legen, um deren Temperatur zu erforschen, konnte aber natürlich nicht hören, daß das Examen mit der kategorischen Erklärung schloß, daß von Weiterfahren über Treustadt hinaus durchaus keine Rede sein könne, sondern daselbst abgestiegen, ein Pulver genommen, geruht, und der Abendtrain abgewartet werden müsse, bei Vermeidung unberechenbarer Folgen.
Frau Zeltner machte viele Einwendungen; sie hatte Gepäckstücke aufgegeben, welche nach der Hafenstadt adressirt waren. Günther erklärte ihr, daß sie dieselben dort im Magazine finden werde, unterwegs aber derselben nicht bedürfe. Er werde in Treustadt für Unterkunft und Medikamente sorgen, sie wieder zum Train begleiten, kurz Alles leisten, was einem Arzte obliegt, dem es nicht nur mit dem wissenschaftlichen, sondern auch mit dem humanistischen Theile seines Berufes Ernst ist.
Als der Train in Treustadt anlangte, schien Klotilde volles Vertrauen zu dem Heilplane Gün[S. 199]ther’s gefaßt zu haben. Sie verließ, auf seinen Arm gestützt, den Waggon, und Arnold sah sie zusammen eine der bereitstehenden Lohnkutschen besteigen, welche durch die, nach dem nahen Stadtthore führende Allee hinabrollte und in letzterm verschwand. —
So bedenklich es scheinen mag, wollen wir ungescheut unserem ärztlichen Freunde folgen, und lassen Arnold jeden beliebigen Vorsprung nach dem Hafen, wohin wir ihm auf dem, Dampf und Elektrizität hinter sich lassenden Zauberteppich, den jeder Autor besitzt, leicht zur rechten Stunde nachfolgen.
Die drei Gaben der Prinzen Ali, Achmed und Hussein scheinen nach deren Ableben in Hunderttausenden von Exemplaren auf die gesammte Autorenwelt übergegangen zu sein. Ein Verfasser bittet seinen Leser, einen Augenblick neben ihm auf dem überall hin versetzenden Teppich Platz zu nehmen und führt ihn, zwischen Ende und Anfang zweier Zeilen, ohne Erschütterung und Paßplackerei von Moskau nach Lissabon. — Er hält ihm das Sehrohr vor’s Auge, und der leichte Bettvorhang wie die eisenbeschlagene Kerkerthür werden zu Solinglas. — Er vermag aber auch mit dem Alles heilenden Apfel jede Wunde zu schließen, die er nicht selbst als tödtlich bezeichnet, jede Krankheit zu heilen, so lange ein Funken Leben glimmt. — Um so leichter,[S. 200] wenn das Uebel so wenig wie das Klotildens ein solches ist, welches die Aerzte einen „schönen Fall“ nennen.
Günther sah noch während der Fahrt ihre Besserung auf’s Bedenklichste fortschreiten, und fürchtete bis zum letzten Augenblick, seine Anstellung gekündigt und sie weiterreisen zu sehen.
Doch fügte sie sich, wie gesagt, seinen Gründen, und wir sehen Beide die Treppe des einzigen eleganten Hotels der Stadt hinaufsteigen und in ein Zimmer treten. Klotilde ertheilte dem sie begleitenden Stubenmädchen den Befehl, das Zimmer nicht zu verlassen, — auch nicht einen Augenblick, — warf sich auf das Ruhebett, beseitigte ein Paar allzu lästige Paragrafe im Preßgesetz ihrer Toilette und bat den Doktor, sein freundliches Versprechen zu erfüllen und das Pulver zu holen. —
Günther empfahl sich somit, besorgte das Geschäft, um dessenwillen er eigentlich nach Treustadt gefahren, ließ sich auf dem Rückwege ein Katarrhpulver geben, und präsentirte es Klotilden, welche ihn mit der lebhaftesten Freundlichkeit und allen Zeichen des wiedergekehrten Wohlbefindens empfing.
Sie wußte das über hundert Dinge hingleitende Gespräch auf die ungezwungenste Weise so zu leiten, daß Günther dem, was er unter dem huma[S. 201]nistischen Theil der Praxis verstand, in einer Stunde nicht näher gerückt war als im Waggon.
Dazu das unvermeidliche Mädchen! Er hatte die Zollschranken ihrer Ohren zu umfahren versucht, indem er französisch zu sprechen begann: Klotilde gab, im besten Französisch, den Bescheid, daß die Unterhaltung deutsch weitergeführt werde.
Er mußte für den Augenblick die Segel streichen. Es lag bis zum Abendtrain noch manche Stunde vor ihm. Wenn sich die Situazion bis Mittag nicht klärte, war er entschlossen, sich zu einem Patienten rufen zu lassen und zurückzureisen. Doch hatte er nebst dem Abenteuer etwas Anderes im Auge; — es war nicht unmöglich, dasselbe mit Arnold’s Angelegenheit in Zusammenhang zu bringen. —
Nun sprach Klotilde abseits mit dem Mädchen, welches sich zwar entfernte, aber sogleich wiederkam, und bald darauf erschien ein elegantes Gabelfrühstück, und sie lud mit allem Aplomb der anständigsten Frau vom Hause den freundlichen Arzt ein, ihr Gast zu sein. Günther machte einige medizinische Einwendungen, sie erklärte sich jedoch für ganz hergestellt. — Er nahm die Einladung an, überließ sich seiner ganzen natürlichen Laune, und Klotilde ging während des Dejeuners auf manche Wendungen ein, denen sie früher mit jener Sicherheit aus[S. 202]gewichen, welche nur die Vertrautheit mit dem Ziele aller Wendungen verleiht. Kaum war aber das Konfekt verzehrt und der letzte Tropfen des schäumenden Weines geleert, so sprang sie auf, befahl dem Aufwärter, Jemanden mit der Handtasche um die Stunde des Abendtrains nach dem Bahnhof zu schicken, und ersuchte Günther, sie nach dem — Park zu begleiten. —
Es war nun hohe Zeit, an die Lösung des Komödienknotens zu denken; Günther war, indem er ihn geschürzt, einer jener tollen Impressionen gefolgt, denen er sich in dem Bewußtsein überließ, jederzeit im rechten Moment den Rückzug zu finden. Er konnte jeden Augenblick mit Klotilde in der Residenz zusammentreffen, und seine Usurpazion des Doktorhutes wurde, wenn er die Sache auf sich beruhen ließ, zu einer mit seinem Karakter so wenig als mit seiner Stellung zu vereinbarenden Polissonnerie. Er hatte die Sache so weit getrieben, daß Klotilde empört sein, oder scheinen mußte, wenn sie sich aller Dinge erinnerte, die sie dem Frauenarzte mitgetheilt. Er mußte ihr also einen Rückzug lassen, und zweifelte nach den Proben von Verstand, die sie gezeigt, nicht, daß sie ihn benützen werde.
Im Park angelangt, bog er in die nächste beste Kastanienallee ein und begann: „Nachdem ich[S. 203] Ihnen so wahrhaft vergnügte Stunden verdanke, erlauben Sie mir nun eine sehr ernste Frage, zu der mich die wahrste Theilnahme drängt. Haben Sie Hoffnung, daß das Schicksal Ihres geliebten, unglücklichen Gatten bald eine andere Wendung nehme?“
Klotilde trat einen Schritt zurück und sah ihn sprachlos an.
„Sie stellen sich erstaunt, daß ich Sie kenne. Allein so geistreich, so liebenswürdig, so unnachahmlich Sie auch vom ersten Moment an Ihr Spiel gespielt haben, so hat mir doch Ein unbewachter Moment verrathen, daß Sie mich so gut gekannt, als ich Sie. Sie haben mein Pulver nicht genommen, und von da an wußte ich, daß Sie meine Intrigue, zu der mich Etwas bewog, was ich Ihnen nun nicht gestehen darf, durchschaut. — Als eine Persönlichkeit, welche die halbe Residenz kennt, hätte ich auch nicht auf ein Inkognito rechnen sollen. Sie aber haben die Rolle, mich wirklich für das zu halten was ich sagte, mit der vollendetsten Grazie gespielt!“
Die Sortie war nicht viel feiner, oder noch viel weniger fein als der Knoten. Aber Klotilde erwiderte das Einfachste und Beste:
„Alle Täuschungen zugegeben, so ist ja noch[S. 204] die Frage, wer von uns Beiden heute unangenehmer getäuscht wurde, ich oder Sie?“ —
Entscheidend für Klotilde waren Günther’s Worte gewesen: „Eine Persönlichkeit, welche die halbe Residenz kennt.“ — Wer war der Mann? Eine Celebrität jedenfalls; genug für sie, um nachsichtig zu sein. Der größte Milderungsgrund lag aber jedenfalls darin, — daß er ihr ausnehmend gut gefallen hatte.
Die Versöhnung war wider Erwarten schnell und vollständig. Er brachte nun, nachdem sie unter vielen Seufzern von ihrem Manne erzählt, das Gespräch auf Kollmann und erfuhr, daß sie diesen bei dem Advokaten, der Zeltner vertheidigte, kennen gelernt, und von ihm nach seiner Besitzung geladen worden. Julie nannte sie das liebenswürdigste Geschöpf unter der Sonne, und ließ durchschimmern, daß sie sie für unglücklich halte.
„Ich habe von Kollmann eine schlechte Meinung, sagte Günther. — Vielleicht wäre das Paar glücklicher, wenn sie Kinder hätten?“
— „Möglich, aber nicht wahrscheinlich. Uebrigens werden sie nie welche haben, wie ich die Verhältnisse im Freinhof kenne.“
— „Im Freinhof? sagte Günther mit einem seiner schändlichsten Gesichter — also lokale Ursa[S. 205]chen? Sollen da eigenthümliche geognostische Verhältnisse einwirken?“
— „Können Sie denn nicht einen Augenblick honett und ordentlich sprechen?“
— „Ich will es versuchen, auf die Gefahr hin Ihnen dadurch zu mißfallen. Haben Sie für Ihre Vermuthung des Aussterbens der Dinastie Kollmann kein faßlicheres Gewand?“
— „Wenn Sie nicht den abscheulichen Betrug gespielt hätten, und wirklich das wären, wofür Sie sich ausgaben, so würde ich Ihnen mehr sagen. Es genüge Ihnen, daß ich als Frau meine Vermuthungen habe. Ich glaube, daß keine bestehenden Verhältnisse, sondern eben nicht bestehende Verhältnisse daran Schuld sind, und jetzt halten Sie Ihren gottlosen Mund.“
— „Nur Einen Versuch erlauben Sie mir, Sie zu übertreffen! Sollte Kollmann, den ich vor der Welt für ein schlechtes Subjekt halte, im Geheimen ein so edler Mensch sein, daß er“ —
Klotilde schlug ihn nun wirklich mit ihrer hübschen weißen Hand auf den Mund und rief: „Was zu viel, ist zu viel!“
— „Verzeihung! ich wußte nicht, daß Sie über Kollmann nichts Unangenehmes hören wollen!“
— „So viel Sie wollen; ich habe mich nicht über ihn zu beklagen, aber ich glaube, er handelt gegen Julie ganz schlecht.“
— „Das glauben Viele; wenn er schlecht ist, ist er aber gewiß eben so klug.“
— „Nach dem, was er schon durchgesetzt, gewiß. Vor drei Jahren hat er als kleiner Fabrikant angefangen, jetzt kauft er eine Besitzung nach der andern, hat ein Paar fremde Orden, und vor einigen Tagen erst wurde er zum Konsul ernannt, ich weiß nicht, von welchem Großherzog.“
— „Er hat jedenfalls hohe Verbindungen. Man sagt, sein Hauptprotektor sei der Prinz Ernst August.“
— „Das ist mir neu, und ich bezweifle es, da ich zufällig viele Details vom Prinzen weiß.“
— „Ich sage nur, was die niederträchtige Welt behauptet. Es heißt, Kollmann habe Schritte gethan, um zu gewissen Zwecken die Gunst des Prinzen zu gewinnen; sie seien nicht ohne Erfolg gewesen, und er erwarte den Haupteffekt von der reizenden Persönlichkeit seiner Frau. Sie kennen wahrscheinlich die Empfänglichkeit des Prinzen für das rein Schöne, und wenn dieser Coup gelingt, hat Kollmann seine Schäfchen im Trocknen.“
Klotilde schwieg. Ein ganzes wildes Heer von Gedanken jagte durch ihren Sinn. „Dieses hübsche[S. 207] Projekt, sagte sie endlich, würde jedenfalls an dem Umstande scheitern, daß diese Frau nie, nicht um die Welt, in irgend etwas willigt, was gegen ihre Begriffe von Ehre ist!“
— „Das liegt vielleicht gar nicht in Kollmanns Absicht. Die Wirkung einer einzigen Entrevue in allen Ehren, die gehobene Stimmung des Prinzen, wenn er ein Paar Minuten mit einer reizenden Frau spricht, werden wohl hinreichen, einem Anliegen den Weg zu ebnen.“
Klotilde war nachdenklich und ernst geworden. Günther sah, daß der Funke fortglimmte und warf gleichgültig hin: „Das sind lauter on dit, Vermuthungen, — aber daß Kollmann nicht versäumen wird diese Mine springen zu lassen, sobald er nur einmal den Weg zum Prinzen gefunden, bezweifle ich nicht. Und den kann man ihm nicht versperren!“
— „Und doch wäre dieß eigentlich eine Pflicht gegen die arme Frau, die allein darunter zu leiden haben wird.“
— „Ja wohl, aber wer kann das! Wer vermöchte dem Prinzen die Augen darüber zu öffnen, was dieser Kollmann für ein Subjekt, wenn die Augen einmal geblendet sind? — vielleicht vorher!“
— — Günther lenkte nun das Gespräch auf[S. 208] andere Gegenstände. Er hatte mit Klotilde in einem kleinen Kiosk Platz genommen — die Sonne ging unter, die Stunde des Abendtrains war nahe.
Sie gingen durch die dunkle Allee zurück, — zu dunkel, um sammt unserem Sehrohre entscheiden zu können, ob der Händedruck, mit dem sie später im beleuchteten Bahnhofe Abschied nahmen, das einzige Pfand des Wiedersehens gewesen. —
— — Günther verglich auf der Rückfahrt unwillkürlich seine heutigen Erlebnisse mit dem Besuch beim Professor, wo er mit aller Berechnung zu Werke gegangen und eine völlige Niederlage erlitten. Heute war er, kaum mit einer Ahnung die Angelegenheit Arnolds hineinflechten zu können, auf ein improvisirtes Abenteuer ausgegangen, und hatte vielleicht Etwas für ihn gewirkt.
Er versprach sich jedoch nicht viel von Klotildens Dazwischenkunft, da er von einer irrigen Voraussetzung ausging.
Er glaubte sie reise nach der Hafenstadt, um ein verlornes Kronland wieder zu erobern. Sie reiste aber hin, um sich, nach gehörigem Widerstand, erst erobern zu lassen.
Wie der Zufall Günther immer zu den prägnanten Momenten führte, — zu einer Feuersbrunst, wenn sie ausbrach, — während Andere regelmäßig[S. 209] mit der landesfürstlichen Spritze, das heißt zum Verlöschen eintreffen, — so war er allerdings in dem Augenblicke aus dem Theater getreten, wo der Adjutant des Prinzen dem Wagen Klotildens nachfuhr. — Aber der Prinz hatte sich von der Loge herab in derselben Weise verrechnet, wie Günther im Waggon. Sie war größer in ihrem genre, als die Leichtigkeit der ersten Annäherung vermuthen ließ. — Beide erriethen sogleich die Serie, irrten sich aber in der Nummer. —
Sie hatte, früh verwaist, durch den Vormund in einer Pension untergebracht, diese verlassen, um in ein gräfliches Haus zu treten, als Gesellschafterin der beiden Komtessen, nicht aber des jungen Grafen, was dieser zu glauben schien. Das Ende der alten, immer neuen Geschichte, die dießmal kein Herz entzwei brach, sondern nur ein Paar Schwüre und ehrgeizige Hoffnungen, war, daß Klotilde den jungen Korrepetitor des Grafen, Zeltner, heiratete, welcher von der Familie im Kriegsministerium untergebracht wurde.
Dieß war der auf losem Wellsande aufgeführte Unterbau ihrer moralischen und materiellen Existenz. Letztere ward durch Zeltners Prozeß untergraben, durch die Erbschaft eines „Onkels in Köln“ wieder aufgebaut. — Als aber ihre späteren Beziehungen zum[S. 210] Grafen Greuth bekannt wurden, fand sie sich von der guten Gesellschaft, worin sie früher gelebt, ausgeschlossen, und somit isolirt. Mit der eigentlichen demi-monde ging sie nicht um. Sie ging ihren eignen Weg, — stand und fiel für sich allein.
In Folge des politischen Prozesses Zeltners und der zweimal erfahrnen gräflichen Treulosigkeit hatte sich ein Gewirr von roth-republikanischen Ideen in ihr gebildet: prinzipiell guillotinirte sie Alles vom Baron aufwärts, trennte aber wie ein Staatsmann das Prinzip von den Personen. Ein praktischeres Resultat für sie war die Besonnenheit, mit der sie nun die angeborne Leidenschaftlichkeit zu bändigen verstand, — in Folge welcher Besonnenheit sich das Verhältniß zum Prinzen noch in einem zukunftsreichen ersten Stadium befand.
* *
*
Günther konnte sich zwar nicht sagen, daß seine heutige Thätigkeit für den Freund, wenn sie ersprießlich war, mit großer Aufopferung verbunden gewesen, fand aber darin keine Ursache unzufrieden zu sein.
Es freut uns, ihn auf seiner Rohrbank sitzen und einmal einen Abend ruhen zu sehen. Er hat in den letzten Tagen nicht gelebt wie Einer, bei dem[S. 211] erst vor drei Wochen der Tod, zwar nur mit einem ganz leichten, unscheinbaren Hustenanfalle angeklopft, aber dabei, wie schon mehrere Male, eine mit blutiger Frakturschrift geschriebene Visitkarte abgegeben hatte.
Die Fensterläden schließen glücklicherweise fest genug gegen die Steine, welche eine höchst achtbare fromme Schar durch das Efeugewinde auf ihn schleudern möchte, weil ihm die herübergewehten präludirenden Töne der Weltgerichtsposaune nicht wie ein Memento mori klingen, sondern wie ein Memento vivere! — Und schlügen sie auch durchs Fenster, so prallen sie am breiten festen Schirm eines Gewissens ab, in welches dreiunddreißig Jahre nicht Eine Handlung gegraben, welche der unverfälschte Urtext des Gesetzbuches der Pflicht und Ehre verurtheilt hätte.
Wenn in der Gallerie seiner Erinnerungen viele reizende, vor den Augen der Moralisten nicht Gnade findende Bilder hingen, so war dieß immer besser als die Gallerie der meisten Moralisten selbst, in deren dem Publikum geöffneten Sälen zwar lauter Kreuzigungen und Himmelfahrten hängen, — in einem Kabinet zum Privatgebrauch aber meistens Ein Stück — — worüber das Pergament der daneben liegenden Bibel erröthet.
Vielleicht war aber, ganz abgesehen von der sündhaft angenehmen Perspektive, welche das Aben[S. 212]teuer mit Klotilde eröffnete, der Weg, auf dem er für Arnold wirken wollte, ein solcher, von dem dieser gesagt hätte „daß ihn kein Korbach geht?“
Wir antworten: nicht vielleicht, sondern gewiß!
Aber die zehn Jahre, um die er länger in die Welt gesehen, haben ihm die Illusion genommen, daß die Zwecke der Schlechten mit lauter turniergemäßen Waffen bekämpft werden können. — Und wenn der alte, große Mephisto ins Proscenium tritt und „zu dem jüngern Parterre das nicht applaudirt,“ sagt: „Bedenkt, der Teufel der ist alt, so werdet alt, ihn zu verstehen!“ — so darf wohl unser guter Taschenteufel, der nur das Beste will, seinem jungen Freunde zurufen: „Werde um zehn Jahre älter, und du wirst verstehen, daß man einen Marder, Iltis, oder Kollmann nicht mit Edelfalken jagt, sondern in Fallen fängt, — wenn man kann.“
Wer ist es, der an dem Schicksale eines Menschen theilzunehmen vermag, ohne durch Bande des Blutes oder der Freundschaft an ihn gefesselt zu sein? ohne Wohlthaten von ihm empfangen, ohne ihm welche erwiesen zu haben? — der mit inniger Sorgfalt der Quelle seiner Freuden und Schmerzen nachforscht, bis er sie aufgefunden, — seinen Gedanken folgt und ihrer Entwicklung bis zur That? — unermüdet lauscht auf jede Regung seiner Wünsche — auf seinen Schritt in Licht und Dunkel, — und, ohne Dank oder Lohn von ihm zu hoffen, das treue Auge auf ihn heftet, das ihn begleitet über Land und Meer — —?
Wir können es Niemandem verdenken, wenn er meint, es sei die Vorsehung oder etwas Aehnliches. — Es ist aber die Polizei. —
Wenn es uns gelungen sein sollte, einen Leser für die Persönlichkeit Kollmann’s zu interessiren, —[S. 214] wenn die Familie Korbach — Günther — Baron Sembrick und noch eine Anzahl Männer und Frauen, im verschiedensten Sinne an ihm Antheil nehmen, so können wir versichern, daß er, wenn gleich in anderer Richtung, in eben so hohem Grade das Interesse eines Mannes erregt hat, welcher weder sein Freund noch Feind, noch Verwandter ist, und dennoch nicht ablassen kann, seiner zu gedenken.
Es ist dieses der Polizeikommissär Lipprecht, — dessen Erscheinung alle herkömmlichen, eingeteufelten Polizei-Schablonen vollkommen Lügen straft. — Es läßt sich kaum etwas Gemüthlicheres denken als das dicke, glänzende, tadellos rasirte Gesicht dieses Mannes, an welchem Alles lacht — von der gespannten spiegelglatten Stirnhaut bis zu den Grübchen in den Wangen und dem fetten Kinn, — ja bis zu den runden, schneeweißen kurzfingerigen Händen. —
Merkwürdigerweise weicht dieses wohlwollende Lächeln gerade im Dienste nie von ihm. — Er ist da am heitersten; — wie ein Kavalleriepferd, das die Trompete hört, ganz Feuer und Leben, mit dem Herzen Polizeimann. — In guter Gesellschaft spielt er sich häufig auf den Mann hinaus, der das Gehässige seines Berufes fühlt und wird manchmal fast wehmüthig über die schmerzliche Pflicht, einigen seiner Mitgeschöpfe zu schaden. —
Seine außerordentlichen Leistungen bei Entdeckung zweier geheimer Etablissements, deren eines sich mit Vervielfältigung von Banknoten, das andere mit Vorarbeiten zur gewaltsamen Umgestaltung der Regierungsform beschäftigte, hatten seinen Ruf festgestellt. Wenn man einen Zeitungsbericht über eine „schauderhafte That“ las, der mit den Worten schloß: „Leider ist es den Bemühungen der Behörden noch nicht gelungen, den Schuldigen u. s. w.“ — so sagte Jeder: „Hätten sie es lieber gleich dem Lipprecht gegeben.“
Er war für sein Fach geboren; — Natur-Polizeikommissär. — Sein politisches Prinzip betreffend, würde er der Republik ganz so gern und gut gegen dinastische Umtriebe gedient haben, als er der Dinastie gegen demokratische diente. Näher lag ihm die Idee vom Schutze der Gesellschaft, aber die eigentliche Triebfeder war reines Jagdvergnügen, und mit dem Augenblicke, wo er des Wildes habhaft, war auch sein Interesse dafür erloschen. Solche, die ihn genau kannten, behaupteten, er wäre der Mann, der — wenn er vor Entdeckung sicher wäre — allenfalls einen Spitzbuben entspringen und ihm einen Vorsprung bis Hamburg ließe, um wieder von vorn anzufangen.
Da er so oft von den peinlichen Pflichten sei[S. 216]nes Standes gesprochen hatte, gerieth er in einige Verlegenheit, als er eine sehr bedeutende Erbschaft machte, und nun gefragt wurde, ob er denn nicht den unangenehmen Dienst quittire? Er fand jedoch, daß sich in seiner Stellung so zahllose Gelegenheiten darboten, Gutes zu wirken, — humane Zwecke zu verfolgen, daß es Pflicht sei zu bleiben. Seine Uneigennützigkeit ging so weit, daß er in wichtigen Fällen, wo ihm die knickernde Behörde nicht die nach seiner Ansicht ausreichenden Mittel zur Verfügung stellte, wohl auch eine Reise oder die Belohnungen selbstgewählter Organe aus seinem Eigenen bestritt.
Seine Chefs schätzten seine Leistungen, ohne ihn zu lieben. Wenn man schon, mit einer wirklich unverschämten Ironie, irgend ein Gefühl im büreaukratischen Verkehre mit dem Ausdruck „lieben“ bezeichnen will, so hatte er sich dasselbe durch seine Selbstständigkeit und Unlenksamkeit verscherzt. — Immer freundlich und immer lächelnd, that er Nichts als was er für zweckmäßig hielt, kümmerte sich um keine Instrukzion und pflegte nachträglich in Form einer Entschuldigung auf eine für die höhere und folglich unfehlbare Instanz höchst unverdauliche Art nachzuweisen, daß, wenn er nach der Instrukzion gehandelt hätte, die ganze Sache fehlschlagen mußte. Auch mißbilligte man seinen losen Mund über die siechen öffentlichen[S. 217] Zustände und über die Taubheit gegen Reformvorschläge an maßgebender Stelle. — Er schimpfte wie ein agent-provocateur, ohne es jemals zu sein. Solche polizeiliche Schülerarbeit lag tief unter ihm. —
Eben hatte er eine glänzende Aufgabe gelöst und zur Verzweiflung der hohen Gesellschaft einen ihr angehörenden bisher undurchdringlichen Schurken aus dem Salon ins Zuchthaus befördert. Es war eine schwere und lange Arbeit gewesen, er glaubte der Erholung und einiger Zerstreuung zu bedürfen und folgte um so lieber einer Einladung Günthers zu einem Champagner-Souper tête-à-tête, von welchem er eben in der rosenfarbensten Laune nach Hause kommt.
Allein die Gedanken an Ruhe sind bereits verflogen. Günther hat ihm den, übrigens nie von ihm vergessenen Namen Kollmann frisch ins Gedächtniß gerufen.. der Name raucht und leuchtet wie Fosfor in seinem Kopf!
Er hat seine Lampe angezündet, läuft oder rollt vielmehr pfeifend in seinem Zimmer auf und nieder, — bleibt vor seinem Sekretär stehen, — zieht ein Lädchen und aus diesem ein Packet Schriften heraus und blättert darin mit einem Behagen, wie ein Don Juan in alten Liebesbriefen. —
Das erste Dokument ist fast drei Jahre alt. —
Damals war es buchstäblich nichts als das Gesicht Kollmanns, welches seine Aufmerksamkeit erweckt hatte. Was ihn eigentlich, abgesehen von den wirklich unheimlichen Augen, so polizeilich simpathisch berührte, darüber vermochte er sich nicht Rechenschaft zu geben. Eine hohe Stirn mit einer tiefen Falte, — der Mund, der nichts als ein farbloser, feiner Querschnitt im bleichen langen Gesichte war, das durch den spitzen Kinnbart noch um zwei Zoll verlängert wurde, — alles das kam an Tausenden vor. Allein er hatte bei seinem Anblick Etwas in sich „rege werden“ gefühlt, ein gewisses prickelndes Behagen, welches ihn niemals getäuscht.
Er erkundigte sich auf eigene Hand, da die Behörde sich auf fisiognomische Inzichten und seine Impressionen nicht einließ, und schrieb, nachdem er erfahren, daß Kollmanns Paß von Trautenfeld datire, an einen dortigen Unterbeamten. Von diesem erhielt er den oben erwähnten Brief, den er zwar auswendig wußte, aber nun aufmerksam überlas. Derselbe lautete:
„Euer W. geehrtem Auftrage gehorsamst entsprechend, habe die Ehre zu berichten, daß Jakob Kollmann, Civil-Ingenieur und Chemiker, 35 Jahre alt, dessen Person-Beschreibung mit der von Ew. W. gegebenen genau übereinstimmt, sich auf hiesiger Herr[S. 219]schaft vier Monate hindurch aufgehalten und im Auftrage des Besitzers, Bankiers Freiherrn von Sieberg beschäftiget war, Vermessungen, geognostische Untersuchungen und Erz-Analysen vorzunehmen.
„Derselbe hat einen ruhigen, arbeitsamen Lebenswandel geführt und in keiner Weise Anlaß zu Bedenken gegeben. In Betreff seiner politischen Ansichten wäre hervorzuheben, daß er sich im besten Sinne sowol gegen die Arbeiter als anderwärts geäußert, auch nach der Euer W. bekannten Verhaftung des Oberingenieurs Alberti, mit welchem er auf freundschaftlichem Fuße gestanden, sich gegen dessen demokratische Umtriebe mit Entrüstung ausgesprochen.
„Kollmann hat hier im Hause eines gewissen Grünschenk, vormaligen Besitzers einer Gipsstampfe, gewohnt, welcher, während eines der häufigen tagelangen dienstlichen Ausflüge Kollmanns, starb, und demselben ein kleines Legat von 1500 Gulden, sein übriges bedeutendes Vermögen aber der Gemeinde vermachte. —
„Während seines hiesigen Aufenthalts ist er trotz seiner höheren Bildung nicht mit den Honorazioren, sondern meist mit gemeinen Leuten umgegangen. Im Ganzen war er ernst und schweigsam und äußerte nur lebhafte Freude über das Legat, das ihm seinen Lieblingswunsch erfülle, reisen zu können, wie er denn[S. 220] auch kurze Zeit nach dem Ableben des Grünschenk Trautenberg verlassen hat. Womit ich die Ehre habe u. s. w.“
Ein zweites Schreiben, aus Genf, bestätigt, „daß Kollmann daselbst, bald nach seiner Ankunft, die Bekanntschaft eines Fräuleins Julie Brito gemacht, welche, väterlicherseits verwaist, mit ihrer Mutter daselbst trotz ihrer notorisch sehr günstigen Vermögensumstände einfach und zurückgezogen lebte. Bei Kollmanns Ankunft sei die Mutter bereits auf den Tod erkrankt gewesen und habe die Trauung ihrer Tochter mit ihm nur um zwei Tage überlebt. Das Vermögen sei wahrscheinlich in seine Hände übergegangen.“ —
Der Aufwand Kollmanns bei seiner Ankunft mit der jungen Frau in der Residenz, so wie der Ankauf einer Chemischen-Produkten-Fabrik war hierdurch allerdings erklärt. Das dritte Schriftstück jedoch ist es, welches dem gemüthlichen Kommissär bisher das meiste Behagen und zugleich das größte Herzeleid bereitete. —
Er hatte die Orte in Erfahrung gebracht, welche Kollmann auf seiner Reise berührt, und aus Mannheim die Nachricht erhalten, „daß er daselbst einige Tage in einem Hotel gewohnt und mit einem Fremden lange Unterredungen gehabt, welchen man[S. 221] seines als gefälscht erkannten Passes halber verhaften wollte, jedoch um einige Stunden zu spät kam. Die Behörde habe die Ueberzeugung, daß der Fremde kein Anderer gewesen als Wangerode, das bekannte Haupt der deutschen Emigrazion in London.“
Der Chef, welchem Lipprecht, mit seinen frühern Bedenken gegen Kollmann abgefertigt, dieses Schreiben mit vieler Befriedigung vorgehalten, war aufmerksam geworden, und hatte die Korrespondenz, welche dieser zu seinem Privatvergnügen eröffnet hatte, offiziell fortsetzen lassen. Es ergab sich jedoch, daß man Kollmann so wenig verpflichten konnte, den Fremden als Wangerode gekannt zu haben, als ihn die Mannheimer Polizei als solchen, wenigstens zur rechten Zeit, erkannt hatte; und da derselbe inzwischen festen Fuß im Lande gefaßt und hohe Protekzionen gewonnen hatte, so war Lipprecht angedeutet worden, daß man es anerkennen werde, wenn es ihm gelinge, in demselben einen Konspirator zu fangen, daß aber die Polizei keinen Grund sehe, auf ihn als solchen Jagd zu machen. —
Lipprecht zog sich nun zurück, keineswegs gekränkt, sondern lachend über die Bornirtheit, welche da nicht einmal Keime sah, wo nach seinem Gefühle schon eine reife Frucht abzuschütteln war, und bedauerte, daß man diesem Gefühl nicht mehr traute,[S. 222] als den gedankenlosen Zuschriften von Agenten, welche nur mit den äußern Sinnen wahrnehmen.
Sein polizeiliches Herz hatte einmal laut gesprochen und sagte: die ganze industrielle Thätigkeit und die ehrgeizigen Bestrebungen Kollmanns sind der Deckmantel seiner politischen Rolle. Irgend ein kleines ordinäres Kriminalstückchen mochte mit im Spiele sein, aber für ihn war der Mann vor Allem Emissär im großen Stile, und davon brachte ihn kein Verkehr desselben mit hochgestellten Leuten, kein Orden, kein Konsulsposten ab. —
Sein Standpunkt bei Beurtheilung eines Revoluzionärs, seine Auffassung dieses Wortes verdienen ein näheres Eingehen.
Sie waren von jener des Polizeichefs verschieden. Dieser erkannte in Kollmanns Handlungen durchaus keine umstürzende Tendenz, keines von jenen Elementen, welche das Dikzionnär der Sicherheitsbehörde als staatsgefährliche Umtriebe bezeichnet. Auf einer gewissen Höhe, verbunden mit einer gewissen Beschränktheit der Ansicht, unterscheidet das Auge nur einen Feind des herrschenden Prinzips, nämlich den der es angreift, der ihm gegenübersteht.
Wenn aber ein reicher Mann durch gewisse Leidenschaften, seien es theure Raritäten, Rennpferde[S. 223] der Tänzerinnen u. s. w. in seinen Vermögensumständen zerrüttet worden, so ist nicht der Dieb, der den Rest seiner Kasse stiehlt, oder der Räuber, der sie ihm mit der Pistole abfordert, allein der „Umsturzmann“ seines Vermögens, sondern auch Jener, der ihm die mit frischen Transporten englischer Pferde ankommenden Händler, die Raritäten-Trödler ins Haus schickt, oder ihn hinter die Kulissen führt, und die Reize der theuern Lieblingsobjekte anpreist. — Der arme reiche Mann wird ihn nicht als seinen Feind erkennen, wohl aber sein Kammerdiener, — Stallknecht, — Jeder außer ihm. —
So auch im Staate. —
Ist das gesunde Gleichgewicht gestört, thront ein falsches schädliches Prinzip auf der herrschenden Höhe, sei es die Diktatur des Säbels, — des Krummstabes, — der Feder — oder des Geldsackes, so ist Derjenige, der das Prinzip bestärkt, reizt, auf seine äußerste Spitze treibt, ein so entschiedener Feind des Bestehenden, — nur der herrschenden Gewalt nicht erkennbar, — als der Barrikadenerbauer. — Der Teufel ruft „nur zugestoßen! ich parire.“ Und die Staatsgewalt freut sich eines hingestreckten Gegners — es fällt ihr nicht im Schlafe ein, daß der Teufel gerufen: sie hält es für die Stimme des Landespatrons. —
Lipprecht nannte dieß die Partei des „Nur so fort!“
Wer soll sie erkennen? der General? dem sie zurufen: „Dein Säbel hat den Thron gerettet! Dein Stand ist der erste, der einzige, — alle andern sind daneben nur Professionen!“ — Oder der Geistliche? dem sie zuflüstern von der Kanzel herab zu predigen: „Ihr habt im letzten Feldzuge nicht gesiegt, weil Ketzer in Euern Reihen fochten!“ — Soll er es fühlen, daß er die Sache der jubelnden Partei des „Nur so fort“ so warm und kräftig fördert, wie es kaum einer derselben vermöchte, wenn er selbst die Kanzel bestiege? — Und so Jeder der Andern! — —
Wer vor Lipprechts Ohren, oder vor den noch so viele Meilen entfernten seiner Getreuen, mit Leidenschaft für den Bestand der Militärherrschaft sprach, für Durchführung der übergreifenden kirchlichen Tendenzen, — für eiserne Gewalt den Forderungen der Zeit gegenüber, — für Centralisazion den berechtigten provinziellen Wünschen zum Trotz, der war ihm, ohne Unterschied der Stellung, sofort verdächtig als Einer von jener Partei, — vorausgesetzt, daß er ihn als intelligent, als begabt erkannt hatte.
Kollmann war für ihn ein Revoluzionär in dieser Bedeutung. Während Günther in dessen künstlichem[S. 225] Hineinziehen der kirchlichen Gewalten nur einen tiefdurchdachten industriellen Plan sah, hielt der Kommissär alle ihm bekannten Beziehungen Kollmann’s zusammen und fand ihn in lauter Richtungen thätig, wo es galt, einem verwerflichen Bestehenden zu schmeicheln, womöglich einen Uebergriff herbeizuführen, — zu Extremen zu treiben.
Daß in einer kleinen, beschränkten, bürgerlichen Sfäre eine solche Thätigkeit ein in seinem Verfalle noch immer gewaltiges, über unermeßliche Hülfsquellen verfügendes Sistem nicht umstürzen, kaum erschüttern werde, war allerdings klar; aber eben so gewiß, daß wenn das langsam und sicher tödtende Gift von Vielen, von Hunderten ausgestreut wird, der Erfolg kaum ausbleiben könne. —
Dieses „zum Selbstmorde Treiben durch Ueberreizung des Genusses“ konnte nach Lipprecht’s Meinung die Devise einer geschlossenen, organisirten Gesellschaft sein, wie es nach den Erfahrungen der Polizei seines Landes zwischen den Jahren 1824 und 1830 der Fall gewesen.
— Er fragte sich, welches Interesse Kollmann, der Industrielle, der Besitzende, — überhaupt an einem Umsturze haben könnte? Allein nach seiner Ansicht war der plötzlich reich Gewordene überhaupt kein Repräsentant jener Klasse, welche subversiven[S. 226] Tendenzen unzugänglich ist, und dann war für Lipprecht nicht erwiesen, was dem Manne eigentlich gehöre. Der große Besitz, dessen Mittelpunkt der Freinhof, ließ allerdings auf die Absicht schließen, sich an das Land zu fesseln; allein diese Partei wirft im Moment der Krise die Maske ab, fraternisirt mit den übrigen Gesinnungsgenossen, und schnappt häufig die besten Posten weg. — Bleibt alles ruhig, so bleiben auch sie im unangefochtenen Besitz und produziren fort, wie die Konservativen vom reinsten Wasser.
Lipprecht stand mit seiner Auffassung allein. Sein Chef z. B. hätte keinen für einen Umsturzmann gehalten, der ihm rieth, die kaum aufathmende Presse fester zu knebeln, während der Kommissär sagte: „Gerade die sind die Rechten! entweder unbewußte Revoluzionärs aus Bornirtheit, oder bewußte vom Nur so fort!“
Allein wenn das Erkennen schwer, war das Beweisen noch weit schwerer.
Die Hoffnung Lipprecht’s war auf Einen Umstand gegründet.
Da diese Partei verstellten Deserteuren gleicht, welche sich unter eine Garnison mischen, sie durch falsche Berichte zu ungeschickten Ausfällen reizen, und schließlich dem Feind die Thore öffnen, so muß[S. 227] sie mit diesem in Verbindung bleiben, — wäre es auch nur, um nicht schließlich, da sie die Uniform der Garnison trägt, mit dieser zusammengehauen zu werden.
Der Kommissär nahm mit Recht an, daß seine Revoluzionärs mit der demokratischen Emigrazion, mit jener thatbereiten Schar, in Verbindung stehen müssen, welche in dem Momente hervorbricht, wo die Bewegung aus den Hörsälen, Lesevereinen, Salons und Gaststuben auf die Straße tritt und das schnell zu erbauende und eben so schnell umgeworfene Monument der Volkssouveränität aus Pflastersteinen errichtet.
Diese Annahme gab Lipprecht die Hoffnung, einen Beweis einer solchen Verbindung in die Hand zu bekommen, und wenn die Zusammenkunft Kollmann’s mit dem Demokraten Wangerode nicht genügend befunden worden, so mochte der Zufall bei verdoppelter Aufmerksamkeit Etwas darbieten, was seinen Chef überzeugen konnte, daß bei gewissen Zuständen des Staates nicht der, der „schimpft“, ein Verräther, sondern der sich Allem anschließt, was die intelligente Majorität aller Stände laut und entschieden verdammt hat.
Und dieß war der Zustand des Landes unserer Begebenheiten. — Ingrimm im Herzen von Tau[S. 228]senden seiner tapfern Söhne, die den Fahnen gefolgt, über welchen trauernd der verklärte Geist eines großen Feldherrn schwebte, — gefolgt mit unbegrenzter Hingebung, — und mit blutenden, verstümmelten Gliedern heimkehrten, die Todten beneidend, die nicht bis zum Ende mit angesehen, wie der Stolz und die Kraft des Landes wie ein elendes Spielzeug zum Zerbrechen hingeworfen wurde, von der Hand der beispiellosen Unfähigkeit! — Männer, die, wenn sie tausend Leben hätten, sie freudig hinopferten für ihren Kriegsherrn, die kein höheres, schöneres Ziel kennen außer dem Siege, als den Tod auf dem Schlachtfelde, aber nicht auf der Schlachtbank, auf welche sie mit gebundenen Händen gelegt wurden von den Trägern des Sistems, oder besser von Denen, die vom Sistem emporgetragen worden! — von Jenen, welche wissen, daß die Treue unerschütterlich, — daß sie ein Menschenherz so zu stählen vermag, daß man mit dem Hammer der Willkür darauf einhauen kann!... eher wird der Hammer zerspringen, — als die Treue!
Enttäuschung im Herzen der Diener, oder besser, der Herren der Kirche, welche mit Palmen und Tedeumklängen einzuziehen gedachten in das gelobte Land, das ihnen ein unterzeichnetes Blatt eröffnete, wodurch der Monarch seiner Krone einen Stein[S. 229] ausgebrochen um die Tiara zu schmücken, — im frommen Glauben, der Fels, auf welchen Petrus seine Kirche baute, könne kein Loreleyfelsen sein, an dem das Staatsschiff scheitere! — Schmerz in den Gemüthern der eigentlichen Diener der Religion, die nun schutzlos anheimgegeben der Willkür der Herren.
Unmuth in der Brust des Bürgers, der sein Kleid zurückgesetzt sieht, die Last wachsen fühlt, und dennoch eine größere trüge, und gern trüge, wenn auf die alte, ewige Frage: wozu? auch nur Eine klare Silbe einer Antwort heraufklänge aus dem Abgrunde, der seine Steuer verschlingt.
Erbitterung und Sorge im Gemüthe des Beamten, welcher unter Organisazion und Reorganisazion und Desorganisazion mit jedem Mondeswechsel Grundsätze bekennen und wieder abschwören soll, wie man einen Rock wechselt!
Und so fort durch alle Stände, bis hinunter — — wohin? —
Was heißt hinunter? Wer steht „unten?“
Der Bauer? — Gott bewahre! — er liefert den Kern der Wehrkraft! —
Aber der Proletarier? — auch das ist kein rechtes „Unten“ — allenfalls der Crinoline und dem Glacéhandschuh gegenüber; aber nicht im politischen Sinne! Da genießt das Proletariat doch die[S. 230] scheue Anerkennung seiner Existenz als hungerige, zähnefletschende Masse!
Es gibt noch ein anderes „Hinunter!“
— Wir sagen noch einmal — „Und so fort durch alle Stände, bis hinunter zum — — Künstler!“
— — — Und das war der Punkt, wo selbst Lipprecht offener Revoluzionär war! —
Nicht als ob der Mann jenen echten, wahren Kunstsinn, jenen hochgebildeten Geschmack gehabt hätte, welcher Günther, der selbst nur mittelmäßig musizirte und zeichnete, zu einer Autorität machte, von welcher die bedeutendsten Künstler der Residenz gern Winke über entworfene oder halb vollendete Werke annahmen. Allein dieser, der stets einige arme Maler protegirte und seine reichen Bekannten zu Bilderankäufen veranlaßte, hatte in dem Kommissär eine Art Kennerschaft und Mäcenatenthum hineingeredet, so daß er allen Ernstes seine eigenen Ansichten auszusprechen glaubte, wenn er behaglich schmunzelnd jene Günther’s vor einem Bilde wiederholte.
— So hatte er auch dessen Ansicht über die Stellung des Künstlers im Vaterlande in sich aufgenommen, oder es bedurfte vielmehr nur des Hinlenkens seines hellen Blickes nach dieser Richtung, um ihn mit der tiefsten Indignazion zu erfüllen.[S. 231] Er sah, wie nicht nur die haute finance, sondern auch die Aristokratie Tausende für das Handwerk hinauswarfen, das ihre Salons schmückte, während die Kunst, in den Ateliers und den Magazinen der Bilderhändler, vergebens eines Käufers harrte, und er schrieb die trostlose Dürre auf diesem Felde dem Mangel der belebenden Sonne, des befruchtenden Regens zu, die von Oben herabstrahlen und strömen sollen, — und im Nachbarlande einen so reichen Flor hervorgezaubert; mit einem Worte dem gänzlichen Mangel an Kunstsinn in der höchsten Region.
Dies war die Anschauung eines wirklichen, aktiven Polizeikommissärs vom Zustande des Landes, und sogar eines der besten und brauchbarsten, — oder vielmehr eben darum.
Heute war er in der frohen Champagnerlaune von dem Steckenpferde seiner politischen Ansicht über Kollmann abgestiegen, und hatte den Gegenstand seiner Vorliebe von einer andern Seite ins Auge gefaßt. Günther glaubte den Schleier von dem Gemälde Harkeboom’s unter den nun geänderten Verhältnissen etwas lüften zu sollen; der Wetterstein war erwähnt worden. —
Aus den billets-doux, welche der Kommissär nun wieder in ihr Behältniß legte, schoß heute ein Gewimmel alter und neuer Fragen, über Kollmanns[S. 232] Promenaden im Gebirge, die Zeit, die er nach Grünschenk’s Ableben noch in Trautenfeld zugebracht, — des letzteren Testament, Leben und Sterben — — ein ganzes Album von ungelösten Rebus, die der Auflösung warteten.
Der Gegenstand verdiente und belohnte eine Kunstreise. Er bedurfte, wie gesagt, der Erholung, und schwerlich ließ sich ein genußreicherer Ausflug ersinnen, als nach Trautenfeld. Hierzu entschlossen, schlief er zufrieden ein mit dem Vorsatz, nächsten Tag einen jener häufigen Urlaube zu verlangen, welche ihm nie versagt wurden, am wenigsten seit er täglich in seinem eleganten Wagen mit zwei schönen Rappen ins Büreau gefahren kam und seine Chefs gegen seine Selbstständigkeit milder gestimmt waren, welche nun eine ihnen einleuchtende Basis hatte.
Eine eigene Ansicht haben und durchführen wollen, wenn man von seinem Gehalte lebt, war denn doch eine Marotte, welche kaum einer Spezialität wie Lipprecht zu verzeihen war. Nun war es anders. — Der Mann gab auch vortreffliche Garçon-Diners.
Sein Vorhaben war, einige Tage an dem reizend gelegenen Orte zuzubringen, Lokalitäten und Verhältnisse zu studiren, so viele Personen als möglich gesprächsweise auszuholen, — das Uebrige mußte seiner Kombinazion und dem Zufall überlassen bleiben.
Er reiste, da keine Eisenbahn dahin führt, in seinem Wagen. — Der Morgen, an dem er wegfuhr, war nicht glänzender und heiterer als er selbst; er fühlte sich von einer so frohen Sehnsucht nach den Bergen durchweht, wie er, nach seinem Geständnisse gegen Günther, gewöhnlich vor Gauermanns Bären und Geiern empfunden.
Wie ein Globus im Holzgestell saß der kleine dicke Mann in dem leichten Wagen, dessen zierliche Form nicht verrieth, daß in ihm Alles angebracht war, was auf einige Tage die ganze Außenwelt entbehrlich machte. Ein Flaschenkeller, ein Viktualienmagazin, Gebäckbehältnisse, Pistolenkassette, dieß Alles vermochte nicht, der Kalesche ihre Schlankheit zu benehmen, in welcher der Besitzer, mit nichts beladen als seinem quadrillirten Reiseanzuge und der braunen englischen Kappe, etwas mehr als zwei Dritttheile des Sitzes ausfüllte.
— — Gegen Mittag umwölkte sich der Himmel, und Abends fuhr der Kommissär im Markte Trautenfeld unter einem jener Regengüsse ein, welche die in die Hälfte der Straße vorstehenden Dachrinnen in speiende Delfine verwandeln, aus deren Maule das Wasser auf Wagendach und Spritzleder mit trommelndem Getöse niederstürzt.
In langen Strahlen fällt es von den vier ungeheuern Linden in der Mitte des Platzes in die von ihnen umschlossene Pferdeschwemme, — zugleich Kaltbadeanstalt sämmtlicher Enten und Gänse — — eine Gruppe der letzteren steht heraußen im Freien, mit emporgerichtetem Schnabel den Himmelssegen auffangend und von Zeit zu Zeit der innern Freudigkeit in einem scharfen, kurzen Trompetenstoß Luft machend. Wirkliches Naß rinnt über den steinernen Wasserfall, der an der Gießkanne des heiligen Florian hängt, — vor welchem eben der Pfarrer den Hut lüftet, der unter dem rothen Parapluie mit hochbestiefelten Beinen und halbe Klafter langen Schritten durch den improvisirten See sticht. Heller glänzt der Zeiger an der schwarzdurchnäßten Thurmuhr, heller die runden Ziegel der Giebeldächer, über welche hinweg die nahen Berge nur als dunklere Flecken in dem tief hereinhängenden Nebel erscheinen. Es sieht aus wie einer jener Gebirgsregen, die sich zur Verzweiflung des Touristen wochenlang aus sich selbst gebären, niederfallen, verdünsten, sich zu Nachtgewölken verdichten, und abermals herabträufeln, — wie ein Kind, das, einmal ins Weinen gebracht, immer von Neuem losbricht, — bis endlich ein neues Spielzeug — hier ein wohlthätiger Windstoß — dem langweiligen Unwesen ein Ende macht.
Die Kalesche nähert sich dem Gasthause und der große braungelbe nasse Hund tritt vor und salutirt mit schief heraushängender Zunge und aufgerichteten Ohren. Er ist selbst Sicherheitsorgan und es scheint ihn etwas Kollegialisches anzuwehen. Der Kommissär, durch den Regen nicht einen Augenblick aus seiner Laune gebracht, begrüßt aufs freundlichste den Wirth, in welchem er auf den ersten Blick einen jener biedern Patriarchen erkennt, welche das Bild ländlicher Einfalt sind bis zum Momente der Rechnung, und die sich in allen geschäftlichen Beziehungen, schlicht gesagt, als abgefeimte Hallunken bewähren.
Lipprecht setzte sich mit ihm auf den besten Fuß, richtete sich in einem hübschen Zimmer ein, und begab sich zum Abendessen in die Gaststube, wo die Markt-Honorazioren beisammen saßen. Sie behandelten ihn Anfangs mit jener klotzigen Exklusivität, welche den geschlossenen Bier- und Tabakkränzchen der herrschaftlichen Beamten u. dgl. meistens eigen, allein der Kommissär kannte seine Leute, brachte nach einem bescheidenen, ruhigen Eingange einige politische Neuigkeiten, — sodann ein Dutzend derber Anekdoten, und nach einer halben Stunde war er der „charmanteste, jovialste (nach Trautenfelder Aussprache: schovialste) Mann“ und erhielt, da er sich als Jagdfreund, Kegelschieber und Tarokspieler ankündigte,[S. 236] vielseitige Einladungen. — Der nächsten Tag noch fortdauernde Regen sperrte die Gesellschaft noch früher und länger zusammen als sonst. —
Er brachte mit Leichtigkeit das Gespräch auf Kollmann, den die Meisten gekannt. Alle schilderten ihn als einen unermüdet thätigen, geschickten Menschen, der, wenn er von seinen Gängen nach Hause gekommen, beständig gelesen und studirt habe. Sie hatten sein Zurückziehen Anfangs für albernen Stolz gehalten, aber dann gesehen, „daß er nun einmal keinen schovialen Karakter habe, und einen solchen Menschen müsse man gehen lassen und bedauern.“
Den Tag über hatte er den Markt und die beiden außerhalb desselben gelegenen, durch einen Garten getrennten Häuser des Grünschenk besichtigt. Das größere gehörte nun der Gemeinde, das kleine war von der vormaligen Haushälterin Grünschenk’s bewohnt, einer, nach dem Verdikt der Stammgäste, höchst achtbaren alten Frau Namens Fellinger. — Bei dieser schien ihm der Schwerpunkt seiner Erhebungen für den Augenblick zu liegen.
Er schenkte der kleinen Nichte derselben, welche für sie Verschiedenes aus dem Gasthause holte, eine silberne Münze an rothem Band, und die alte Frau kam nach einer Stunde in halbstädtischem Anzuge[S. 237] zu ihm, und dankte in gewählteren Worten, als er erwartet. Zugleich lud sie ihn ein, im Vorübergehen ihre kleine Wirthschaft zu besehen.
Lipprecht begab sich am selben Nachmittage zu ihr; es gelang ihm bald sie gesprächig zu machen, und Einzelnheiten zu erfahren, durch welche der oben erwähnte alte Brief des Unterbeamten vervollständigt, und ein Faktum in den Vordergrund gestellt wurde, welches seinen Gedanken eine neue Richtung gab.
Am 27. August vor drei Jahren war Grünschenk, seit Langem leidend, plötzlich Nachmittags sehr übel geworden und in der Nacht gegen zwei Uhr verschieden.
Kollmann, der im Hause gewohnt, war Tags zuvor auf eine Vermessung ausgegangen und erst bei dessen Beerdigung zurückgekehrt.
Bei Grünschenk’s Tode waren anwesend: der Pfarrer, der Ortschirurg, die Ober-Ingenieure Wimmer und Alberti, deren freundschaftlicher Bemühungen die Fellinger dankbar erwähnte, und Holzschreiber Walcher, welcher zwei Tage später in den Wald gegangen und nicht wiedergekommen.
— — Das klang ja in den Ohren des Kommissärs wie der erste Takt eines Triumfmarsches! — — Einer, der „nicht wiedergekommen“ —!?
Er erbat sich eine Karakteristik des Holzschreibers.
Walcher war ein stiller, schwächlicher, gutmüthiger Mensch, — ledig, — ein armer Teufel, die Ehrlichkeit selbst, und war von Grünschenk seiner guten Handschrift wegen zu Schreibereien, und außerdem zu Gängen verwendet worden. Man hatte ihn, als er zwei Tage nicht zurückkehrte, allenthalben in den Waldungen gesucht. „Es war alles umsonst, sagte die alte Frau, — im Wald hätten ihn die Hunde wohl gefunden, aber er muß sich gegen das Hochgebirg gewendet haben, das dahinter aufsteigt und wenn er sich da verstiegen oder vom Nebel überrascht worden, so liegt er vielleicht bis zum jüngsten Tag in einer Schlucht am Jaitstein, oder am Reifeneck oder Wetterstein“ — —
Wetterstein! — — wieder ein Klang für Lipprecht, — wie wenn die Norma ans kupferne Becken schlägt, um die Gallier zur Rache zu rufen...
Er hatte bereits zum Entzücken der Frau die dritte Tasse Kaffee getrunken. Nun besah er wehmüthig lächelnd alle Möbeln und sonstigen Reliquien Grünschenk’s, ließ sich sogar ein Autograf von dem alten Herrn geben, las mit Rührung die Abschrift von dessen Testament, und erbat sich endlich ein Blatt von der Handschrift des verschollenen Walcher. Die alte Frau, vollständig mit ihren[S. 239] Erinnerungen beschäftigt, wußte von manchen Einzelnheiten selbst die Stunde anzugeben. — Bedeutend schien, daß Kollmann zur Zeit von Walcher’s Verschwinden von Trautenfeld abwesend und erst am zweiten Tage darnach zurückgekehrt war; seine Thätigkeit bei den Nachforschungen, von der alten Frau sehr hervorgehoben, war für den Kommissär nur ein erschwerender Umstand.
Das leuchtete Alles ganz anders als der elende Brief des Unterbeamten.
Allerdings hingen die drei Namen Kollmann, Grünschenk und Walcher vor der Hand nur in Gott und dem Kommissär zusammen, kriminalistisch betrachtet; allein wir wissen aus dem Abc der Geometrie, daß je drei Punkte, die nicht in einer geraden Linie liegen, ein Dreieck bilden: der Holzschreiber lag nun einmal nicht in der rechten, geraden Linie, und Lipprecht legte ein Dreieck hindurch, welches mit einigem Biegen und Wenden ganz leidlich die Form eines Galgens darstellte.
Man würde ihm himmelschreiendes Unrecht thun, wollte man ihm eine diabolische Freude an diesem im Winde wankenden Resultate zuschreiben! — so wenig als der Jäger sich der Zuckungen und verglasten Augen des verendenden Hirsches freut! — — Er war nicht nur überhaupt gegen die Todes[S. 240]strafe, sondern hätte, wie wir bereits gesagt, unter Dreien Zwei laufen lassen, wenn es ohne Gefahr für die Gesellschaft geschehen könnte... aber das Jagdvergnügen...!
Das Trautenfelder Terrain war nun so ziemlich abgeweidet, sein Notizenbuch angefüllt. Ein Herumstreifen in den nassen Wäldern schien vollkommen nutzlos. Aber ein Ausflug nach dem acht Stunden entfernten Wetterstein sollte die Unternehmung beschließen. Es stand für ihn fest, daß die übrige hohe Berg-Aristokratie, Jaitstein u. s. w. so unschuldig und rein wie ihr Schnee, und der Genannte der allein Anrüchige sei. — Was er eigentlich dort wollte? Er fühlte nur das Bedürfniß zu sehen, da seine Augen schon oft anders gesehen als die der Uebrigen. — Und dann war ja das Ganze nur eine Lustreise! —
— — Terrassenförmig steigt das Mittelgebirge hinan; auf einer Strecke von vier Stunden konnte er seinen Wagen benützen, der dann zurückgesendet wurde. Von da an winden sich Fußpfade durch die Nadelwälder, bis an den nördlichen Abhang des Wettersteines selbst. Er ist von dieser Seite leicht zugänglich, während auf der südlichen nur von der Bucht des Freinhofes einige Wege hinaufführen, die[S. 241] Wände an der Seeseite aber, wie bereits gesagt, senkrecht abfallen. —
Eine Stunde bevor der Kommissär mit dem ihn begleitenden Trautenfelder Jäger an den Berg kam, gelangten sie zu einer Holzknechthütte, und es ward beschlossen, daselbst zu übernachten, wenn man vom Wetterstein zurückkäme, welchen Lipprecht, bis es dunkel würde, nach allen Richtungen abschreiten wollte, — wozu der Jäger lächelte.
Nun waren sie an der Felsenwand, die den Gipfel krönt, angelangt und ruhten. —
Unermeßlich ist die Aussicht über die Bergwellen hinaus, nach der endlosen Ebene — klar und durchsichtig die Luft nach den Regentagen. Der Kommissär gönnt sich keine lange Rast. Die Südseite ist erst der Ort, wo sich, nach der Angabe des Jägers, leicht „Jemand verlieren“ kann.
Steil ging es die Schneide hinan, — nun war sie erreicht. Der Jäger faßt ihn am Arm und mahnt zur Vorsicht, und sie ist nöthig, denn im nächsten Augenblick stehen sie am Rande, — jäh fällt es zu den Füßen ab — unabsehbar, unendlich liegt die blaue Bergwildniß der südlichen Fernsicht vor ihnen. —
Sanft waren die Linien und Töne der Ferne. — Aber die Nähe! — der Wetterstein selbst, dessen[S. 242] gewaltige Steinmasse ausgebreitet unter ihnen lag! — nicht über weichgeschwungene Wellen glitt hier der Blick: wie die Gemse sprang er von Zinke zu Zinke. Drüben Alles heiter und mild, hier der tiefe Ernst, die eiserne, starre Kraft.. das Auge glaubt die Ruinen einer zerschmetterten Titanenburg zu schauen — — ein granitnes Palmyra, — zerworfene Tempeltrümmer und Säulen und Quadern — ein mitten im Orkane versteinertes Meer.
Das Opfer der See kann ans Ufer geworfen werden, lebend oder als Leiche, aber nimmermehr Jener, der in den Abgründen dieser steinernen Wogen zerschellte.
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Der Anblick war — aus dem Standpunkte einer „Haussuchung“ — nicht tröstlich.
Erhitzt und müde setzte sich der Kommissar auf einen Vorsprung nieder, hing seinen leichten Staubmantel über, ließ die runden Beine über den Felsen hinabhängen und betrachtete die einzelnen Parthien.
Gerade unter ihm lag, nach allen Richtungen von Schluchten durchschnitten, das Hochplateau, welches weiterhin sich wieder hebt bis zu jenem Felsen, der nach dem See abfällt. Letzterer ist durch das Plateau selbst verdeckt. —
Die Schwierigkeit schien hier mehr darin zu[S. 243] liegen, eine Stelle aufzufinden, wo Jemand nicht verunglückt sein könne, als wo dieß der Fall war. — Lipprecht pfiff Melodien aus allen Opern, trommelte mit beiden Händen auf beiden Knien und gelangte zur Ueberzeugung, daß, wenn der Holzschreiber Walcher auf diesem Terrain sein Ende gefunden, die polizeilichen Kräfte des Gesammtstaates sich an Leitern und Stricken in die Eingeweide des Wettersteines hinablassen könnten, ohne etwas Anderes heraufzubringen, als zerschlagene Knochen, aber nicht die gesuchten fremden, sondern eigene. Ein Zufall, der sie eben auf jene stoßen ließ, war so wahrscheinlich, als das Zusammentreffen zweier Kanonenkugeln in der Luft.
Starr und stumm ragten die riesigen grotesken Grabsteine aus den schwarzen Grüften empor.. Mehrere, in die er von seinem Sitze aus hineinsah, endigten in eine Höhle — wie tief in den Berg? Darüber fehlten vor der Hand offizielle Angaben, — so wie über die hundert andern Felsenlöcher, von denen einige zum Theil mit Wasser gefüllt waren.
Dennoch beschloß Lipprecht auf das Plateau hinabzusteigen — da er die Partie nicht zu wiederholen gedachte, wollte er wenigstens als Naturmerkwürdigkeit besehen, was zu sehen war — und für den Hauptzweck konnte es mindestens nicht schaden.
Er stieg den beschwerlichen Pfad hinab, und jeder Schritt über die Steinblöcke überzeugte ihn, daß keine weitere Ausbeute zu holen, als landschaftliche, — diese aber reichlich. Als er auf den bekannten Vorsprung der Seewand heraustrat, war die Sonne im Sinken; wie ein dunkler Smaragd lag der See in der Tiefe, zur Linken die Bucht mit dem Freinhof, gegenüber die schwärzlichgrünen Waldhöhen und über ihnen der Kranz von fernen Gipfeln, auf denen die ewige Trikolore des Abends wehte, aus rothem Sonnengold, blauen Schatten und glänzendem Schnee gewebt.
Lipprecht ist in dem Augenblicke wirklich gemüthlich. Es fällt ihm auch ein, daß Günther, wenn er hinter ihm stünde, sagen würde: „Machen Sie doch einmal Ihre runden Maikäferaugen auf, und versuchen Sie zu sehen, so wie ein Mensch die Natur sehen muß, wenn er von Kunstsinn reden will!“ — Es steht jedoch nur der Jäger hinter ihm, der, nicht ohne Besorgniß für den Rückweg, zum Aufbruch drängt. — Er erhebt sich mühsam und sendet einen Scheideblick nach dem Freinhofe, dessen ferner Besitzer sicherlich gerührt wäre, wenn er sähe, mit welcher Aufopferung der wildfremde dicke Mann Berge um seinetwillen ersteigt, und wie es ihn schmerzt, so ganz ohne Aufklärung[S. 245] über die innersten Angelegenheiten seines erwählten Schützlings abzuziehen.
Der Kommissär hatte noch einen bösen Moment, wo er die ganze Kunstreise zum Teufel wünschte, als er nämlich auf dem Rückwege über das Plateau ausglitt, aber glücklicher als Harkeboom.
Im Augenblick wo er am Boden lag, tauchte hinter dem nächsten Steinblock ein Kopf hervor, aus dessen Munde die Worte erschollen: „Bedaure unendlich, werther Herr! bleiben Sie aber gefälligst liegen, ich helfe gleich!“ Damit war er auch schon an Lipprechts Seite, und hob ihn, ohne Hülfe des etwas vorangegangenen Jägers, mit einer Leichtigkeit empor, als wäre der Kommissär ein Kautschukballon. Dieser dankte dem gefälligen Riesen, den wir wohl nicht zu nennen brauchen, aufs Verbindlichste und sagte: „Sie scheinen mit diesem Terrain vertrauter als ich, der ich meine Naturbewunderung mit einigen Beulen bezahle. Der Wetterstein scheint die Dilettanten zu kennen“ —
„Besser als diese ihn; der zweite Fall in wenig Wochen“ — erwiederte Knorr. — „Ich gehe oft herauf, bin aber selbst neulich über die kleine Wand dort abgefahren, daß mich meine eigenen Hunde apportiren wollten. Aber wo wünschen Sie denn eigentlich Ihr Nachtquartier aufzuschlagen? hoffentlich nicht da[S. 246] oben?“ fragte er, als er sah, welche Richtung Lipprecht einschlug. —
Dieser setzte ihm seinen Plan auseinander. — „So wahr ich Knorr heiße und auch übrigens ein ehrlicher Kerl bin, gebe ich das nicht zu! Sie gehen mit mir den bequemen Weg ins Thal hinunter, schlafen in meiner Einsiedelei und gehen morgen wohin Sie wollen oder müssen. Ehe Sie über den Steig da hinauf kämen, wäre es finster. Sie wären ein zu fetter Bissen für einen dieser Höllenrachen, als daß er nicht nach Ihnen schnappte! Im vorigen Jahr hat er einen dürren Engländer eingeschluckt, den sie aber theilweise wieder herausfischten, und vor drei Jahren einen noch dürreren Holzschreiber von Trautenfeld“ —
Lipprecht zog rasch ein Blatt und Bleistift heraus, schrieb eine Ordre an den Wirth, seinen Wagen nach der Stadt zurückzuschicken, gab den Zettel dem Jäger und schickte diesen fort. Knorr’s Einladung nahm er zu dessen herzlicher Freude an, und sagte: „Ich habe drüben von einem Verschollenen, Namens Walcher gehört, aber Niemand wußte Näheres.“
„Ich war selbst neugierig, da ich den armen Teufel gekannt. Vielleicht liegt er zehn Schritte von uns! Aber wer kanns sagen? Die Holzknechte fanden Nichts. Die Polizei hat sich nicht damit befaßt,[S. 247] und meine Hunde, die jedenfalls weit klüger sind, haben nicht einmal im ersten Jahre Etwas entdeckt, — geschweige jetzt, wo der Holzschreiber schon ein ganz appetitliches, sauberes Skelett sein muß.“
Lipprecht hielt es passender, mit einer humoristischen Wendung seinen Karakter zu enthüllen, als weitere Ansichten Knorr’s über die Sicherheitsbehörde abzuwarten, — und die Männer setzten lachend ihren Weg fort.
„Ich habe, begann Knorr wieder, meinen Nachbar im Freinhof, einen gewissen oder ungewissen Kollmann, wenigstens zwanzigmal gefragt, ob er denn, als Grundherrschaft, nicht wisse, wo der Holzschreiber liegt? Die ersten Male wurde er grob, aber jetzt lacht er dazu. — Es ist so ein fixer Spaß unter uns.“
„Aber warum werfen Sie Ihre Vermuthung eben auf den Wetterstein, während jene der Trautenfelder auf dem ganzen Gebirgszuge herumirrt?“
„Herr! — wenn Kollmann seine Besitzung am Jaitsteine hätte, so würde ich nach diesem fragen. Es ist nur wegen des fixen Spaßes.“ Nun veränderte sich aber plötzlich der Ausdruck seines Gesichts, und er sagte mit jenem Ernst, den er auch im Gespräch mit Sembrick mit einem Mal gezeigt: „Mein sehr lieber und werther Gast, ich sage Ihnen, nicht[S. 248] als solchem, sondern als Polizeikommissär, daß ich leider Gottes das Rechte nicht weiß. Sehen Sie, ich rede immer von meinen Hunden; diese haben von meinem Verstande nichts angenommen, ich aber von ihrem Instinkt. — Das ist Alles!“
Wenigstens war es Alles, was Lipprecht erfuhr, welcher durchaus nicht allzu inquisitorisch auftreten wollte, den aber Knorr bedeutend zu interessiren begann.
In tiefem Dunkel waren sie in den Thalgrund herabgekommen, — am stillen, leeren Freinhof vorübergegangen, den Fichtenkegel hinangestiegen. —
Eine Stunde später hatte Knorr’s einfache, treffliche Küche und der, ganz unerwartete Sorten liefernde, Keller alle Ermüdung vollständig beseitigt. —
Es wurde Mitternacht und noch drang durch die Spitzbogenfenster Gläserklingen und Lachen in den Wald hinaus, und die Stimmfülle, womit das Gespräch geführt wurde, war ein glänzendes Zeugniß für die Organe der beiden Herren.
Während aber Knorr, mit der Tragweite seiner Flaschenbatterie vollkommen vertraut, eben so vollkommen Herr seines gerichtlich nachgewiesenen Verstandes blieb, hatte der sonst so umsichtige Kommissär einer ihm trotz seiner Kennerschaft fremden Weingattung auf die Bürgschaft seines Wirthes zu sehr[S. 249] vertraut und ein Paar Fragen gethan, die er besser unterdrückt hätte.
Als er, nach den Mühseligkeiten des Tages und der eben so angreifenden, die halbe Nacht währenden Erholung auf Knorr’s Ruhebett einschlief, stand dieser mit verschränkten Armen vor ihm, betrachtete ihn, in seinen Bart lachend, und sagte vor sich hin: „Da liegt die wirkliche Polizei und schläft wieder, — nachdem sie früher so lange geschlafen. Wer sie denn jetzt mag aufgeweckt haben?“
— — Lipprecht that am Morgen noch einen Gang durchs Thal, um den Hof herum, nahm in seinem Gehirn einen förmlichen Wachsabdruck sämmtlicher Lokalitäten mit, begab sich auf dem uns bekannten Wege nach Pottenbach zur Bahn, und brachte als Ergebniß seiner Vergnügungsreise nebst zahllosen kleinen Notizen folgende Hauptartikel zurück:
der Holzschreiber Walcher liegt in einer Schlucht des Wettersteins; —
Kollmann ist in irgend einer Weise an dessen Verschwinden betheiligt; —
ein Motiv, warum der arme Teufel aus dem Wege geschafft worden, ist nicht aufzufinden;
eben so wenig ein Zusammenhang der Begebenheit mit dem alten Grünschenk zu ermitteln; —
der Trautenfelder Unterbeamte, der in seinem al[S. 250]ten Berichte Walchers nicht erwähnte, war ein Dummkopf; —
die Oberbehörde, welche in Kollmann keinen Gegen stand ihrer Beobachtung findet, ist um nichts klüger. —
Doch zweifelte der Kommissär keinen Augenblick an einer künftigen Lösung der Aufgabe, die sich seine polizeiliche Privatindustrie gestellt, obgleich im Lande der dissolving views ein Beamter, welcher seine Pflicht nicht als Maschine, sondern razionell vollziehen will, darauf gefaßt sein muß, nicht nur durch die Steine, die der Gegner in das Geleise wirft, sondern auch durch den Radschuh, welchen das Sistem auf dem ebensten Wege, und selbst bergauf, anlegt — gehemmt zu werden.
Welches ist aber das Land unserer Begebenheit? —
Es gibt Fragen, welche der Einzelne, an den sie gerichtet sind, nicht zu beantworten vermag, — so wie an Völker Jahrhunderte hindurch Fragen gerichtet wurden, die sie nicht zu lösen vermochten.
Das treue, felsenfeste Herz des Sängers, der die Frage hinausgesungen: „Was ist des Deutschen Vaterland?“ hat aufgehört zu schlagen, ehe sie gelöst. — Wird sie gelöst? — Vierzig Millionen sangen und singen noch: „Das soll es sein!“ — Und immer noch soll es! Wen kann der kräftige Jubelchor froher stimmen, die Sänger oder die Zuhörer rings im europäischen Konzertsaal, — die Russen, Britten, Franzosen? — denen niemals eingefallen zu fragen, was ihr Vaterland sein solle.
Écoutez! Encore ces Allemands à la recherche de leur patrie! — lacht es über den Rhein herüber. —[S. 252] Ueber den Kanal tönt nicht einmal eine Persiflage, nur ernst und groß, wie das alte Meer, der Hymnus Rule Britannia! — — Der Russe hat es am Leichtesten. Er darf nicht fragen und wird nicht gefragt, aber er weiß es, — und ein Anderer hat längst für ihn gesagt: das ganze Rußland muß es sein! Und so ists auch. —
Und dennoch wird auch unser Sollen zum Haben, wenn es nur erst zum rechten Wollen geworden. Jahr für Jahr wälzen die singenden Millionen den Sisifusstein ihrer Einheit den Berg hinan, und immer geräth er auf eine Stelle, wo er abgleitet, — meist ein Stück glattes Parkett eines Konferenzsaales, — und rollt wieder in die Tiefe. — Vielleicht sind wir dem Gipfel näher als wir selbst glauben!
— — Der Strom des großen Gedankens hat unser leichtes Fahrzeug fortgerissen. Wir begannen mit der Frage nach dem Lande dieser Erzählung. Bekannte Thurmspitzen und Berggipfel ragen aus der Fata-Morgana-Landschaft, worin sie spielt, empor; der Klang der Namen lenkt unwillkürlich den Finger nach einer bestimmten Stelle der Landkarte, — und dann wird Alles wieder fremd, — wie man wohl manchmal hört: „Ich träumte, — es war in unserm Garten, — und dann war es doch wieder nicht unserer.“
„Ein Monarch, hat man zu uns gesagt, wie er des Landes der dissolving views, — ein Graf Breuneck und Andere, die dort, wo der Finger hingewiesen, nicht existiren, und alle übrigen daselbst nicht aufzufindenden Menschen und Orte vermögen doch nicht das klar gezeichnete Wirkliche zu verdecken! All dieß ist eine an den Arm gebundene Larve bei unverhülltem Gesicht.“ — Aber so verlangte es einst das Gesetz der Maskenbälle, eben in unserer Residenz: wer nicht maskirt war, mußte wenigstens das Zeichen tragen, eine kleine Wachslarve am Arm. Wir nehmen sie, um wo möglich keine Szene mit dem Ballkommissär zu haben. —
So bleiben wir denn auch bei der Bezeichnung „Hafenstadt“ für den Ort, welchem Arnold zufliegt, und zwar nicht allein, denn in Frauenwang ist ein Passagier von Korbach kommend zu ihm gestoßen, den er mit freudigem Aufschrei begrüßt. Es ist Sprenger, welcher vom alten Freunde gebeten worden, seinen Sohn zu begleiten, der des Aelteren, Erfahrneren bei seiner Sendung bedürfen könnte.
Reich genug war der Stoff ihrer Mittheilungen. Sprenger gab ein Gemälde von den Korbacher Zuständen, welches von einer Sicherheit, — ja Siegestrunkenheit Zeugniß gab, die er nicht theilen konnte.
Pater Valentin war nach St. Martin gegangen, um die Leitung des Klosters zu übernehmen, der Prior, sobald es sein Zustand erlaubte, von dort nach der Residenz gereist und der junge Geistliche Leo hatte den Pfarrhof in Korbach bezogen. —
Abschieds- und Begrüßungsfeste für die beiden Letzteren, eine große Demonstrazion der katholischen Arbeiter, welche sich mit Fahne, Musik und Blumenkränzen vor Korbach’s Hause aufgestellt und ihm für seine allgemein bekannt gewordene Thätigkeit, für die Erhebung ihres geliebten Pfarrers durch eine Deputazion dankten, — ein riesenhaftes Bouquet in Begleitung eines goldgeränderten Gedichtes, das die Mädchen Helenen überreichten, — Tags darauf ein Ständchen der Protestanten, welche nicht zurückbleiben wollten, da sie in dem Vorgange nur einen Sieg des Toleranzprinzipes sahen. Dieß Alles machte unstreitig einen ganz erfreulichen optischen und akustischen Effekt... — Der alte Korbach, sonst ein Feind alles lärmenden Gepränges, war dießmal der Demonstrazion auf halbem Wege entgegengekommen, und hatte einige kurze, kräftige Reden gehalten, des Sinnes daß, so lange er Herr in Korbach, dafür gesorgt sein werde, daß Recht und Gesetz des Staates und der Kirche gelten, nicht aber deren Verdrehungen.
Als aber Sprenger an der Altenberger Fabrik vorübergekommen war, hatte er über hundert Arbeiter mit Herstellung des Gebäudes beschäftigt gesehen, welches noch vor acht Tagen mit geschlossenen Thüren und Fenstern dagestanden war und keineswegs einen Konkurrenzbesorgnisse erregenden Anblick gewährt hatte. —
Arnold theilte ihm nun Alles mit, was er in den letzten Tagen in Erfahrung gebracht, und Sprenger war sowol von seiner Auffassung als klaren Auseinandersetzung der Sachlage, sowie der beabsichtigten Schritte befriedigt. Er fand seinen Zögling reif zur großen Aufgabe, die ihn einst als Chef eines so bedeutenden, und nun so ernstlich bedrohten Etablissements erwartete, und übergab ihm mit Beruhigung die vom Vater ausgestellte Vollmacht zu Abschlüssen, Unterzeichnungen u. dgl.
Hatte die erste Stunde der Reise durch Günther’s Abenteuer ein ungewöhnlicheres Interesse, so war dieß in der letzten durch ein anderes Zusammentreffen der Fall. —
Es war bereits ganz dunkel, und in weiter Ferne sah man das Feuer des Leuchtthurmes. Niemand außer unsern Freunden befand sich im Coupé, dessen Sitze durch hohe Lehnen getrennt sind, so daß man, ohne aufzustehen, nicht hinübersehen kann.
Auf der letzten Stazion vor dem Hafen öffnete sich unter Säbelgeklirr die Thür des Coupé, und zwei Offiziere traten ein, in deren einem Arnold sogleich den Obersten von Plomberg erkannte, welcher einen Tag früher die Hauptstadt verlassen, sich an einer Zwischenstazion aufgehalten hatte, und hier mit seinem Vetter, dem Adjutanten des Prinzen, zusammentraf.
Sie wählten das Coupé, das sie ganz leer glaubten, und nahmen in der Abtheilung neben Arnold Platz. Dieser sowol als Sprenger sprach so geläufig englisch als deutsch, und als Plomberg ein Paar Worte der eben in dieser Sprache geführten Conversazion hörte — deren sie sich nach der Ankunft der neuen Passagiere bedienten, sagte er leise zu Baron Heidenbrunn: „Niemand, als ein Paar obligate Engländer.“
Waren Arnold bis Treustadt die Köpfe der Mitreisenden willkommen, die ihn für Klotilde unsichtbar machten, so war es ihm die Lehne noch weit mehr, da ihm der Oberst geradezu antipathisch war. —
Das Anfangs halblaute Gespräch der Offiziere wurde nach und nach so laut, daß es auch Entferntere als Arnold hätten vernehmen müssen. Es ging daraus hervor, daß der Monarch sich in zwei[S. 257] Tagen nach dem Hafen zu begeben beabsichtige, um den Prinzen und die Einwohnerschaft bei einem Feste zu überraschen, welches, ohne sonstige besondere Bedeutung, zu Loyalitätskundgebungen von der einen und Huldstrahlen von der andern Seite benützt werden sollte.
Der Prinz hatte an einem mit vielem Geschmack gewählten Punkte der, die ganze Hafenbucht beherrschenden, Anhöhe eine Villa gebaut, welche seine Residenz bleiben sollte, so lange er das Marinekommando führte, und die festliche Eröffnung derselben an seinem Geburtstage bot den Anlaß zu den erwähnten Manifestazionen. Was die Ueberraschung durch den Monarchen betrifft, so gehörte sie in die Kategorie der bis ins Kleinste verabredeten, welche dem überraschten Theile die gehörige Zeit zu allen Vorbereitungen lassen, und man sprach darüber seit einigen Tagen in beiden Städten.
Oberst Plomberg entsprach im Dialog dem Bilde, welches Arnold von ihm nach einigen Aeußerungen im Freinhof behalten. Er gehörte, insofern ihn sein alter Adel als Kavalier passiren ließ, zu jener Gattung, welche bei Entwicklung ihres Standesbegriffes etimologisch zu Werke geht, und alle ihre Rechte und Pflichten von dem Stammworte herleitet —: cavallo, — cheval, — Roß. —
— Sie verkehren mit der Crême der Gesellschaft, aber der feine Salonduft vermag nicht den geistigen Stallgeruch zu beseitigen. Auch fühlen sie sich nur unter sich eigentlich behaglich. Man darf nur Einmal den Akzent hören, mit welchem die Worte: „Ein süperbes Mädel!“ aus einer beisammenstehenden Schaar dieser — wie Sprenger sie derb und richtig nannte, „Roßkavaliere“ herausklingen, um über den Standpunkt der ganzen Race im Reinen zu sein. Es sind übrigens glückliche Leute, meistens hübsch, gesund, reich und dumm, und wenn man ihnen aus dem Wege geht, thun sie nicht leicht Jemandem etwas zu Leide. — Der bürgerliche Gentleman hat vor dem adeligen den Vortheil, daß er dieser Gattung von Geschöpfen leicht ausweichen kann, während der letztere häufig gezwungen ist, sich mit ihnen abzugeben.
Das Verhältniß Heidenbrunn’s zu Plomberg war weder ein freundschaftliches, noch feindliches, sondern kühle Bekanntschaft, mit dem erschwerenden Umstande der Verwandtschaft. Der einzige Unterschied der beiden Herren bestand in der Façon, — die Kameraden, in allen Ständen die einzig kompetenten Richter, würden schwerlich gesagt haben, der Adjutant sei ein geschliffener und Plomberg ein ungeschliffener Edelstein. Von Edelstein war kein[S. 259] Rede, aber das böhmische Glas war bei einem polirt, beim andern mit Pferdestaub überzogen,
— „Wie lange wird denn der ganze Spektakel bei Euch dauern? sagte Plomberg — und was für Species von Ennui bekommen wir zu verdauen?“ —
— „Es dauert einen Tag und zwei Abende. Morgen Ball, oder vielmehr Rout, nach dem Prinzip der vollständigsten Fusion: Wir Alle, — Munizipalität, Beamten — Kaufmannschaft“ —
— „Wenigstens hübsche Weiber. Was weiter?“
— „Dabei Illuminazion und Feuerwerk. Uebermorgen Frühstück für die fremden Offiziere, und Abends kleiner Cercle mit Tableaux.“
— „Herr Gott im Himmel! — das ist ja zum Erschießen! Hätte ich nur Greuth’s Kommission nicht, so kehrte ich jetzt noch um. Er hätte auch einen Andern gefunden zu dieser Bagatelle.“
— „Das ist es wohl nicht; schon des Prinzips wegen.“
— „Prinzip? eine Misere, die sie zu einer Staatsakzion aufgeblasen haben. Was geht’s uns Soldaten an? Ich verstehe meinen eigenen Auftrag nicht, ich weiß nur daß du beim Prinzen bewirken sollst, daß eine Bestellung auf eine halbe Million ich weiß nicht was, sistirt werde.“
— „Ich weiß ganz gut um was es sich handelt[S. 260] was mir nicht klar, sind nur zwei Dinge: wie nämlich diese reine Geschäftssache ganz oben solchen Lärm machen konnte, und warum, wenn man sie schon aufgreift, nicht einfach und offiziell aufgetragen wird, dieser oder jener Firma aus Gründen, die man sagt oder nicht sagt, die Bestellungen zu entziehen?“
— „Der Lärm kommt von einem Pfaffen, den ich lange kenne, und der Prälat werden wollte, und da ist ihm ein Fabrikant, der ein ganz gescheidter Kerl sein muß, durchs Zeug gefahren, mit einem originellen Coup, und er ist durchgefallen. Darauf wird er vor Galle krank und kommt nun in die Stadt und hetzt die Leuchtendorf’s auf den Allergnädigsten, und meine Alte und deren Frau Schwester auf die Prinzessin Marie, macht einen Höllenlärm, daß in einem Jahr die ganze Provinz lutherisch wird. — Der Erzbischof gibt auch seinen Senf dazu, und gestern Abends läßt mich Greuth rufen und sagt: Sie würden ohnedem mit uns gehen, — fahren Sie voraus und sagen Sie Ihrem Vetter, und so weiter. — Es heißt sie wollen Exempel statuiren, im Keim ersticken und weiß der Teufel was, und ein Offizier muß in der Pfaffen- und Fabrikantengeschichte eine Art Kurierreise machen. Man glaubt ein Narr zu sein.“
— „Ganz richtig. Es ist übrigens nicht leicht,[S. 261] da der Prinz, dem sie in andern Dingen oben die Hände binden, sich nicht influenziren läßt, wo er auf seinem eignen Terrain steht.“
— „Meinethalben. Ich habe Greuth gesagt, daß ich ein schlechter Diplomat bin. Er hat mir geantwortet, das wisse er ohnedem, er könne zu der Sache keinen guten brauchen.“
— „Ich werde, da die Sache bloß ein vertraulicher Wink, mich ganz nach der persönlichen Disposizion des Prinzen richten.“
— „Wie du willst. Schlägt’s fehl, so habe ich das Meinige gethan. Greuth soll einen Andern mit solchen Klatschmissionen beehren. — A propos Klatsch, zwischen ihm und der Zeltner ist Alles aus. Weiß dein Prinz, daß die Geschichte bestanden?“
„Kein Wort; das würde dieser Frau, die ein gutes moyen d’action werden kann, einen Theil ihrer Anziehungskraft rauben.“
„Wie steht denn die Sache eigentlich?“
„Auf dem alten Fleck. Der Prinz ist, seit wir von der Residenz weg sind, oft ungnädiger Laune, und seine Gedichte haben einen blassen, melancholischen Teint. Wenn nicht bald eine neue Flamme auftaucht, so gehe ich mit Urlaub nach der Residenz und hole sie, vorausgesetzt daß sie geht. Sie geht aber keinen Schritt weiter, als sie will; von aban[S. 262]don, unbewachtem Moment u. dgl. ist bei diesem Weib keine Rede.“
Baron Heidenbrunn ahnte nicht, daß die Besprochene, nur in einer Entfernung von zwölf Stunden, in derselben Richtung fahre, und eben so wenig, daß das Gespräch nicht von zwei Engländern vernommen wurde.
Sprenger erinnerte sich nicht, seit Arnold’s Kindheit je einen so schweren Stand gehabt zu haben. — Bei der Erwähnung seines Vaters war er bereits aufgesprungen und Sprenger hielt ihn geradezu mit Gewalt zurück, und sagte: „Arnold! habe ich dich denn je einen andern Weg geführt, als den der Ehre? Ich selbst lade dir die Pistolen bei der ersten Ehrensache die du auszufechten hast, aber das ist keine. — Wenn er deinen Vater einen gescheidten Kerl nennt, so ist das nach meinem Verstande keine Beleidigung, und im Uebrigen erfüllen sie ihre Aufträge, für die du die ganze Coterie zur Rede stellen müßtest.“
„Es handelt sich um etwas ganz Anderes! entgegnete Arnold — Meinst du, ich könnte den Beiden, wenn sie beim Aussteigen an mir vorübergehen, ins Gesicht sehen als Fremder, und morgen oder übermorgen als Korbach? daß sie dächten, aha, das ist der! im Waggon hat er sich geduckt! —[S. 263] Diesen Leuten gegenüber muß man eher zu viel thun, als zu wenig! Ich werde ruhig sprechen und es wird sich erst zeigen, ob sie renommiren wollen.“
Damit zog er seine Hand aus jener Sprenger’s und trat, mit einem raschen Schritt um die Scheidewand der Sitze, vor die Offiziere, welche durch das lautere Gespräch und die Laute der Muttersprache überrascht, einander ansahen und im Momente eine Revüe ihrer eigenen Unterhaltung hielten, die allerdings einen sehr konfidenziellen Karakter gehabt.
Die Gedanken: Verdammte Civilisten! — Aufpasser, — Zusammenhauen (die Hauslogik des Roßkavaliers) fuhren durch Plomberg’s Kopf, während Heidenbrunn, obwol ungefähr auf derselben Höhe, mehr über die eigene Unbesonnenheit als über die Indiskrezion ärgerlich war, die nach seiner Auffassung darin lag, daß zwei Passagiere sich nicht die Ohren mit Baumwolle verstopften, um ein im Waggon laut geführtes Gespräch nicht zu hören.
Arnold’s Gesicht hatte in dem Augenblick, wo er vor sie hintrat, durchaus keinen herausfordernden Ausdruck, sondern nur jenen ruhiger Offenheit. „Herr Oberst, begann er, Sie haben in der Unterredung, deren unfreiwilliger Zeuge ich war“ — „Halt, fiel Plomberg ein, unfreiwillig, das leugne ich; von dem Augenblick, wo Sie hörten, daß das Gespräch[S. 264] nicht für fremde Ohren berechnet war, stand es bei Ihnen, durch einige laute deutsche Worte zu zeigen, daß Sie uns verstanden.“
Immer ruhig, aber sehr bestimmt, versetzte Arnold: „Abgesehen davon, daß auch ein Ausländer Ihre Sprache verstehen konnte, mußte ich voraussetzen, daß zwei Herren in Ihrer Stellung an einem öffentlichen Orte, vor Fremden, nur dann sich in so vernehmlicher Weise unterhalten, wenn sie keinen Werth darauf legen, ungehört zu sein. Nicht mir, sondern Ihnen stand die Beurtheilung zu, ob Ihre Worte für fremde Ohren geeignet seien!“
„Darüber wollen wir nicht streiten, — sagte Plomberg mit hinaufgezogenen Augenbrauen, — aber ich möchte fragen, was Ihnen eigentlich zu Diensten steht?“
„Ich wünsche, als Sohn des erwähnten Fabrikanten, die Ansicht, welche in einem hohen Kreise über die Handlungsweise meines Vaters vorherrscht, bei Ihnen, meine Herren, dahin zu berichtigen, daß derselbe mit dem, was Sie einen originellen Coup genannt, eine Handlung vollbracht, auf welche jeder Ehrenmann stolz sein muß; daß jenem Vorgang nicht ein einziges Motiv zum Grunde liegt, welches Zweifel an seiner Loyalität, oder Schritte rechtfertigen könnte, die ihm nachtheilig sind.“
„Wir begreifen, sagte Heidenbrunn, daß Sie die Sache Ihres Herrn Vaters führen, aber Sie werden auch begreifen daß, da es sich um höhere Aufträge handelt, wir weder zu richten, noch uns gegen Sie zu rechtfertigen haben. Es wird sich eben darum handeln, Ihrer Ansicht dort Geltung zu verschaffen, wo darüber entschieden wird.“
„Dieß wird sehr schwer geschehen können, da ich mit der Absicht reise, meine Angelegenheit dem Prinzen vorzutragen. Ihr Auftrag heißt Sie dem entgegentreten. Dawider steht mir keine Einwendung zu. Meine Pflicht war nur, fürs Erste zu sprechen, damit ich den Verdacht beseitige, als wollte ich irgend einer Konsequenz meines Zuhörens ausweichen, fürs Zweite die Ueberzeugung auszudrücken, daß Sie, meine Herren, wenn es mit Ihrer Pflicht vereinbar ist, einen solchen Auftrag sicherlich nicht übernähmen, wenn Sie den Karakter dessen kennen würden, gegen den er gerichtet ist.“
Arnold grüßte mit einer leichten Neigung des Kopfes und nahm seinen Platz wieder ein. Sprenger schüttelte ihm beifällig die Hand. — Die beiden Offiziere sahen einander an, und sagten fast zu gleicher Zeit: „Mir scheint, wir haben eine ungeheure bêtise gemacht.“ — Der Schein wurde ihnen, je[S. 266] länger sie nachdachten, desto mehr zur Gewißheit. Sie setzten sich ans andere Ende des Coupé.
„Was liegt daran! — sagte Plomberg. — Vielleicht könntest du die ganze Audienz verhindern?“
„Gott bewahre, der Prinz hält auf seine Popularität, so wenig wir auch noch davon gehabt haben. Der junge Mensch wird auch wahrlich nicht von Greuth oder der Zeltner reden. Im schlimmsten Falle aber kommt zuletzt Alles auf Greuth; der Prinz wird a camera fulminiren, da er ihm öffentlich nichts anhaben kann. Dieser Korbach gefällt mir übrigens nicht übel, er scheint „Schneide“ zu haben.“
„Das müßte man erst sehen! Glaub’s aber gern, daß es ihm eine Ehre und ein Vergnügen gewesen wäre, sich mit uns herumzuhauen. Seitdem das Wort Gentleman in der Mode, ist keine Barriere mehr. Früher hat sich Unsereiner manchmal herabgelassen, sich mit einem sogenannten Honorazioren zu raufen, jetzt ists schon bald verfluchte Schuldigkeit geworden, einem Federfuchser oder Kaufmann Rede zu stehen! — Ein Denkzettel hätte ihm aber nicht schaden können!“
— „Im Gegentheile nützen! Das wäre das beste Mittel gewesen ihn zu heben! Darum habe ich auch den Passus von „Konsequenzen“, denen er nicht ausweichen will, nicht aufgegriffen!“
— „Was wirst du jetzt thun?“
— „Ich werde meine Sache so machen, daß ich mit meinem Prinzen und du mit Greuth auf gutem Fuße bleiben; wie diese Beiden dann mit einander stehen, kann uns indifferent sein.“
— — Es war zehn Uhr Abends, als man im Hafen anlangte.
Vor dem Hotel, in welchem Arnold und Sprenger ihre Wohnung nahmen, ragten die Masten der Schiffe in den dunkeln Himmel, welche in dichter Reihe am Quai lagen. Der bekannte tausendstimmige südliche Lärm füllte die laue Luft. — Unsere Reisenden waren aber nicht in der Stimmung, sich mit pittoresken und kulturbildlichen Studien zu befassen, sondern sperrten die Reize des nächtlichen Seestückes und das ganze Geschrei der bella Italia mittelst der Fensterläden hinaus, so gut es ging, und suchten die Ruhe.
* *
*
Dafür begrüßte Arnold die aufgehende Sonne auf dem Hafendamme. —
Sie schüttete ihr Gold ins Meer, heute wie immer, unbekümmert um die schlafende Stadt; — so wenig diese sich um die Sonne kümmert. — Was ist daraus zu prägen? Der Sonnenaufgang gibt kei[S. 268]nen Kurszettel für die schlummernden Handelsherren. Was wäre da zu notiren? „Fernsicht flau — rothes Gewölk über dem Kastell wenig begehrt — starke Schwankungen der kleinen Fischerboote — die große Fregatte fest, aber bei den Italienern nicht beliebt — Wellengold und Nebelsilber ausgeboten — — von der unerschöpflichen Hand, welche täglich ihre Valuten auf den Markt wirft — aber kein Käufer.“
Doch Einer war ja aufgetreten! — Und wie klein ist der Preis, den die ewige Natur fordert! Nichts als ein offenes Auge und Herz, — und ohne zu wägen und zu zählen füllt sie Beide mit ihren Schätzen, — so voll, daß sie den Tropfen aus dem Auge drängen und den Seufzer des Schmerzes oder der Seligkeit aus der Brust.
Den Preis hatte Arnold zu bieten. Noch gab es Hochalpen in seinem Innern, zu denen kein Schienenweg der Industrie hinanreichte, Wildwasser, die kein Schwungrad trieben. Nur schärfer hatte sich in den letzten Tagen das Chaos in ihm gesondert, die Wasser der Höhe von denen der Tiefe. Er konnte sich Stunden lang ganz seiner materiellen Aufgabe hingeben, die mit der Schwierigkeit einen Reiz gewann. Aber unter dem häufigen gewaltsamen Zurückdrängen hatte sich sein Herzensleben nur kräftiger entwickelt, wie Keime unter Schnee.
So oft er, das Arbeitsgeräthe des geschäftigen Tages zur Seite werfend, die Pforten seines innern Heiligthums aufriß, vor das geliebte Bild, das im zauberischen Dunkel seiner harrte, hintrat und ihm ins freundlich sinnende Auge sah, ward das Wiedersehen inniger, die Andacht heißer, die Trennung schmerzlicher. — Diese Morgenstunde am Meeresstrande war dem Gebete vor seiner „Bildsäule von rosenrothem Diamant“ geweiht. — Fest und rein wie das blaue Gewölbe über ihm, war sein Glaube geworden, — jedes Wölkchen des Zweifels entflohen. — Sein Auge durchflog die Unermeßlichkeit um ihn und wendete sich von der fernen Linie, die im Süden Meer und Himmel trennt, müde und geblendet nach den Bergen über der glutbegossenen Stadt, — der Gedanke schwingt sich über sie weg, und sinkt nieder am rothen Kreuz.
Wiedersehen! und welches Wiedersehen? — Meer und Himmel hatten keine Antwort. Er fand sie in sich. — War doch in ihm die Liebe zum hohen markigen Baume emporgewachsen — — und sie könnte ihm, die halbverschlossene Knospe in der Hand entgegentreten? —
— Und doch — welches war das Pfand, das er vom Freinhofe mitgenommen, der Keim, aus welchem er den Baum großgezogen?
Sein Gedanke nach jener ersten seligen Stunde war: sie vertraut dir! — kein Anderer. Daraus war entsprossen: wenn dieses Weib dich lieben könnte! — Und wie er es Tag für Tag dachte, klang das Wenn immer leiser. Nun hatte er sich hineingelebt in den Gedanken, und vergessen, daß es jene einzige Stunde war, aus welcher er, er allein das Feenschloß einer Gegenliebe aufgebaut, — daß sie ihm nicht ein Sandkorn mehr dazu gereicht, seit der Trennung nach dem ersten Begegnen.
Am heiligsten und schönsten ist vielleicht ein solcher Glaube, der ohne irgend ein Wärmen und Pflegen von Außen, aus sich erwachsen, wie die Perle in der Perlenschale des Herzens. Aber bitterer auch die Enttäuschung, wenn in den Schmerz die höhnende Frage hineinklingt: Was hieß dich denn glauben?
— — Als Arnold nach Hause zurückkehrte, mochte Etwas von dem Morgengebet in seinen Augen glänzen. Mit Sprenger hatte er von seiner Liebe nicht gesprochen, und dieser, der das Innere seines Zöglings wie sein eignes kannte, schwieg gleichfalls. Er sah ihn besonnen und thätig, sah weder sieche Sentimentalität noch leidenschaftliche Fieberhitze, und dieser Grund, nichts dagegen zu thun, gesellte[S. 271] sich zu dem Hauptgrunde, der darin bestand, daß überhaupt nichts dagegen zu thun war.
Sie besprachen die gestrige Fahrt, die heute zu machenden Gänge, und nahmen ihr Frühstück auf dem Balkon des Hotels. — Längst war der Hafen erwacht, — dann die Stadt und immer zahlreicher mischten sich unter die braunen Gestalten und malerischen Trachten des Volkes blasse Comtoirgesichter und Gehröcke, nach den Magazinen und Schreibstuben laufend.
Unter dem Thor stand erwartend die offizielle Räuberschaar von Kellnern und Lohnbedienten, außerhalb die nicht offizielle von Trägern, Führern, Kommissionären, der Opfer harrend, die der Posttrain aus der Residenz in ihre Hände liefern sollte. Das Hotel hat einen energischen Diplomaten im Bahnhofe, der mit sicherm Blicke auf dem Gesichte eines Jeden liest, ob er bereits eine Wahl getroffen, und Jeden, der einen Augenblick suchend und fragend vor sich hinsieht, mit Beschlag belegt.
Der erste Miethwagen mit Ankommenden bricht durch das Gewimmel am Platze. Es folgt ein zweiter und dritter. — Aus einem der letzten steigt Klotilde, etwas blaß von der Nachtreise, aber hübscher als je.
Sie verhandelt mit dem Aufwärter, in geläufigem Italienisch, mit großer Sicherheit alle Punkte des Einquartirungsvertrages und tritt, vom gepäcktragenden Burschen gefolgt, ins Thor. —
Nach einigen Minuten klingt ein Fenster über den Häuptern unserer Freunde, — sie überblickt ein Paar Minuten die Aussicht und schließt es wieder. Die Vorhänge rollen herab: die Dame bedarf der Ruhe, der Sammlung ihrer Mittel zu großen Zwecken. —
Arnold wäre ihr jetzt nicht ausgewichen, da sie ihm wie ein freundlich humoristischer Gruß von Günther erschien, und weil überhaupt ein in der Heimat fremdes Gesicht in der Fremde zum bekannten wird. Ist’s vollends ein Gesicht wie das Klotildens, so liegt, wenn auch von einer Anziehungskraft für Arnold keine Rede sein konnte, wenigstens nichts Abstoßendes im Gegenstande.
Er begab sich nun mit Sprenger zu Franchini, welcher sie in seinem Kabinet empfing. Der Kopf des Banquiers hätte jedes Bild eines Gesandtenkongresses geziert. Die freien, intelligenten Züge waren wohlwollend und gewinnend, — seine schneeweißen Haare und lebhaften schwarzen Augen dienten einander als Folie, — Ausdrucksweise, Bewe[S. 273]gungen und Toilette vollendeten den Eindruck des banquier-diplomate.
Nachdem Arnold, so zu sagen als Missionschef, in klarer Form und zu sichtlicher Befriedigung des Zuhörers die Hauptzüge des fraglichen Geschäfts entwickelt, und Sprenger die Umrisse hie und da mit Details ausgefüllt hatte, faßte Franchini, schnell und mit freundlichem Tone sprechend, das Gesagte zusammen: „Der Zweck Ihrer Reise, meine Herren, ist die Sicherung der Bestellungen für die Marine. Sie deuten auf Konkurrenz hin. Es war vor kurzer Zeit ein Agent eines Herrn Kollmann hier, der auch meinen geringen Einfluß in Anspruch nahm. Ich habe abgelehnt, da kein Grund vorliegt die Verbindung mit Ihrer Firma zu lockern. Sie wünschen den Abschluß mitzunehmen und eine Audienz beim Prinzen soll Sie gerade ans Ziel führen. Es bedurfte keiner Empfehlungsbriefe, um mich aufs Wärmste für Sie zu interessiren. Ich hoffe Ihnen einen Dienst zu erweisen, indem ich Ihr Ansuchen um die Audienz vermittle, da ein mir offener indirekter Weg unter dem Gedräng der Festlichkeiten vielleicht der Anmeldung in gewöhnlicher Form vorzuziehen ist.“
Franchini schloß mit einer Einladung, heute und die ganze Zeit ihres Aufenthaltes, seine Mittaggäste zu sein; — die beste Gelegenheit, sie mit meh[S. 274]reren Notabilitäten, namentlich dem Direktor der Marine-Kanzlei bekannt zu machen. —
Arnold konnte keinen bessern Erfolg des ersten Besuches wünschen. Einige andere füllten den Vormittag. Sie fanden auf ihren Gängen die Stadt in lebhaftester Bewegung; wo immer drei Menschen beisammen standen, hörte man die Worte Villa, Ball, Beleuchtung, und die Namen des Monarchen und des Prinzen. Wir folgen dem allgemeinen Impulse und wenden uns zuerst zu Letzterem.
Der Prinz war einige zwanzig Jahre alt, und seine körperlichen und geistigen Eigenschaften mochten für jeden Posten besser taugen als für den, welchen er bekleidete. — Schwer konnte man sich diese zarte, schlanke Gestalt in der Admiralsuniform an Bord des Linienschiffes denken, als Beherrscher der schwimmenden Donnervulkane. Wenn man den blonden Schein über der feinen Lippe, durch welchen der Wunsch einen Schnurbart zu tragen ausgedrückt war, wegnahm und die weichen Haare zu Ringellocken auszog, konnte er ganz gut eine junge Lady vorstellen. — Sein Geistiges stand insofern im Einklange damit, als er eine lirische Natur war, welche im Mittelalter weniger das Ritterschwert geführt, als mit der Laute des Minnesängers Frauendank und Bandschleifen erkämpft hätte.
Er hatte, wie alle Prinzen des Hauses, eine militärische Erziehung bekommen, behielt aber auch in der modernen Uniform die mittelalterlich romantische Richtung. — Seinem Sinne war das gesammte reguläre Militär nicht simpathisch. Kreuzfahrerkostüme, oder in wirren Haufen hinjagende Tscherkessen und Perser, spanische Guerilla’s, Palikaren, — kurz alle pittoresken Gestalten waren Labsal für seinen Sinn, und er wendete auf dem Paradeplatz gern den Blick von der steifen Linie der defilirenden Grenadiere nach der Suite, nach dem fliegenden Gemeng der glänzenden Uniformen aller Waffengattungen.
Er dichtete, und nicht einmal ganz schlecht. Eines der weniger gelungenen Gedichte war aber seine Führung des Statthalterpostens einer Provinz, welche zu den widerspänstigsten des Reiches gehörte, und welche er durch eine Art von cour d’amour im Stile des Königs René, Maskenzüge, orientalisch kostümirte Trabanten und Tableaux zu beruhigen gedachte. Er ließ es dabei auch an Unterstützung der Künste und wohlthätigen Spenden nicht fehlen, machte aber, dem ernsten, festgewurzelten Hasse gegenüber, mit seinem heitern, durchsichtigen Streben nach Popularität vollständig Fiasko, mehr als es vielleicht mit einer puritanisch-strengen Haltung der Fall gewesen wäre.
Als sich sein der Centralgewalt längst nicht zusagendes Sistem praktisch nicht bewährte, verlangte und erhielt er das Marinekommando, wobei ihm jedoch wieder die Bilder von Tempesta, das Wimpelgeflatter und alle Seeabenteuer von Jason bis auf Marryat lebhafter vorschwebten, als die trockene Aufgabe, eine in der Entwicklung begriffene Marine zu organisiren. — In angebornem Pflichtgefühl suchte er seiner Aufgabe gerecht zu werden, arbeitete mit den Fachmännern, so lange er eben aushielt, erwarb sich die Liebe der Untergebenen und der Stadt, welche ihn von seiner glänzendsten Seite, der repräsentirenden, kennen lernte, und entschädigte sich für die Mühen seines Berufes durch Feste und Galanterie.
In letzterer Beziehung war er von dem Regime der Minnesänger, welche von einem Stück blauen Band und Sacktuchwehen vom Erker herab eine Anzahl Jahre lebten, bald abgewichen, und hielt diese Richtung nur in seinen Gedichten fest, während im wirklichen Leben Bänder und Taschentücher nur insofern Gegenstände seines Wunsches waren, als ihr Besitz zugleich jenen der Eigenthümerin bedeutete. Im Gedichte verherrlichte er die Silfide, den weibgewordenen Mondstrahl: in der Wirklichkeit zog er die niederländische Schule der deutschen vor, und[S. 277] schätzte eine Dürer’sche Madonna dann am höchsten, wenn er auf dem darunter stehenden Sofa einer Rubens’schen Frau zur Seite saß. — Dabei war er jedoch ziemlich beständig, und man konnte seine liaisons während dreier Jahre an den Fingern Einer Hand aufzählen. Seine poetische Natur schmückte die Erwählte mit Reizen, die ihr vielleicht nicht eigen waren, und es ließ sich nachweisen, daß der Bruch der bisherigen Verhältnisse immer durch eine Thatsache herbeigeführt worden, welche Seine Hoheit überzeugen mußte, daß man ihr ritterliches Vertrauen mißbraucht habe.
Das Admiralitätsgebäude, dicht am Hafen, entsprach in keiner Beziehung seinem Geschmacke. — Es gewährte keinen Ueberblick, kein Bild! — Der Wellenspiegel mit den Objekten seiner Thätigkeit sollte unter ihm liegen — die Marine in Morgen- und Abendbeleuchtung — des Mondes nicht zu erwähnen — — und er selbst auf der Höhe, sinnend an eine Säule gelehnt — mit dem Nelson-Perspektiv hinunterschauend! — Auch lag die Admiralität mitten unter andern Häusern. Nicht einmal Hinterpforten. Jede „Rubens’sche Frau“ mußte vermummt zwei Schildwachen passiren.
Nun thronte die Villa auf der Höhe des Berges, der dem Dampfer der Levante über die Nebel[S. 278]decke der See den ersten Gruß zusendet! Aus reichem Grün glänzt die Gloriette mit ihren Marmorstatuen, und die Flügel liegen halbmondförmig in den Armen der Waldhöhe. — —
Die Fantasie des Prinzen war einige Monate hindurch in voller Gährung über die Ausschmückung der Villa. — Es waren so ziemlich alle Stile vertreten, griechischer, gothischer, Renaissance... er hatte eine eigene Erfindung im Kombiniren von Erfundenem. So wenig das Auge des Kenners ein Labsal fand, so sehr bestach das Bauwerk die große Masse, durch den Reichthum des Stoffes und gewisse Effektstücke, die nicht ohne Reiz waren, wie z. B. der achteckige Saal, der das Centrum bildete. Die Mauerflächen waren mit weißem Marmor überkleidet, Baumstämme, täuschend aus dunklem Bronce gearbeitet, stiegen in jeder Ecke empor, unten glatt, oben in Aesten, Verzweigungen, und endlich in ein grünes Laubdach sich ausbreitend, welches den ganzen Raum überwölbte, und über welchem durch die Kuppel von blaßrosenfarbenem Glase das Licht einfiel, ohne daß man eine Flamme sah. Ein alter Gedanke, den aber der Prinz auf seinen Reisen doch nirgends ausgeführt gesehen. —
Wenn in dem anstoßenden Sale die Glasgemälde der Fenster bunte Farbenflecken auf den spitzen[S. 279] gothischen Zierrath der Wände und Gewölbe warfen, und in einem dritten das Kristallbassin mit Blumenfontaine, und die Teppiche und niedern Ottomanen einem Märchen der Scheherasade zu lauschen schienen, so mochte das Gesetz des Schönen durch den Mangel an Einheit noch so sehr verletzt werden, die Sinne wurden doch eigenthümlich gereizt, wenn der Lichtstrom und Blumenduft sich durch den ganzen Raum ergoß, und man das Ganze nur als fantastische Traum-Mosaik, als märchenhafte Zimmerreise in einem Zauberpalaste betrachtete.
Fast stellte die Villa ein Bild des Staates dar, dem der Prinz angehörte. Ein Bild seiner schönsten Zeit! Das bunte Gemenge seiner Nazionen, von Einem Gebäude umfangen, von Einer Hymne durchklungen, Eine Fahne hoch wehend über dem Farbengeflatter der zahllosen kleineren — wie hier die Kuppel Alles überragt, durch ihr Ueberragen allein dem Ganzen einen Halt und Mittelpunkt gibt. — Denkt die umfangende Mauer weg, — und der altgläubige gothische Saal steht feindlich dem Grazientempel, — der blühende Orient den klaren, scharfen Formen des Westens entgegen, — — und dennoch vermag kein’s als Ganzes für sich zu bestehen.
Doch die Villa ist kaum erbaut! — Wer denkt hier an Zerfallen?
Denkt doch auch dort kaum Einer daran, wo der Gedanke so nahe läge! — Eben fliegt der Faëton ihres Besitzers den Berg hinan, auf der herrlichen Kunststraße, die sich wie ein weißes Band in dreimaliger Windung hinaufschlingt. Er leitet persönlich die letzten Anstalten der beleuchtenden und dekorirenden Schaaren. —
— — Der Ball war an dem Tage, wie überall, so auch beim Diner bei Franchini Hauptgegenstand des Gespräches, welches schon während der ersten Gänge sehr heiter und ungezwungen geführt wurde. Mr. Brown, der Chef der Gaskompagnie, schilderte einen Abend, den er mit dem Prinzen auf dem Gebälke über der Glaskuppel zugebracht, unter beständigen Versuchen mit dem Beleuchtungsapparate, der sich endlich zu voller Zufriedenheit bewährte. —
Der Direktor der Akademie, Volpi, vertraute der, nur aus vierundzwanzig Personen bestehenden Gesellschaft unter dem Siegel der Verschwiegenheit an, daß die Wahl des Comité’s für Bestimmung der drei schönsten Frauen zur Schlußgruppe der morgigen Tableaux auf Contessa Sanvitelli, Generalin Heuneberg und die Gattin des Banquiers Strada gefallen sei. Die Gemahlin des Gouverneurs, welche bei den ricevimenti des Prinzen die Honneurs machte, war von den Damen der Stadt gebeten wor[S. 281]den, zu wählen, und hatte, — den ganzen Frieden ihrer Zukunft auf dem Spiele sehend, — drei Professoren der Academia delle belle arti ersucht, die Rolle des Paris zu übernehmen. — An zwanzig Damen fanden sich, auf Erlaß des Comités, am hellen Mittag, in ganz gleichen einfachen weißen Kleidern bei der Gouverneurin zusammen. Jede hatte die ihr vortheilhafteste Frisur gewählt; allein die genannte Dame theilte ihnen lächelnd einen weiteren Beschluß des Wahlcomités mit, in Folge dessen ein Friseur nebst Gehülfen erschien, welche alle Kunstbauten beseitigten, und die Haare sämmtlicher Kandidatinnen glatt scheitelten und aufgelöst über die Schultern fallen ließen. Sie hatten hierauf in einem Salon mit dunkelgrünen Tapeten einen Kreis zu bilden, in welchem die drei Professoren sich eine halbe Stunde sehr angenehm herumbewegten. Ihre Wahl fand zwar nicht den Beifall der Nichtgewählten, aber den einstimmigen der Tischgesellschaft. —
Korbach wurde vom Herrn des Hauses mit Auszeichnung behandelt, und die Gäste schenkten seinen ruhigen aber bestimmt geäußerten Ansichten Aufmerksamkeit. Als der Bürgermeister der großen Vortheile gedachte, welche der Prinz der Hafenstadt zugewendet, welche ihm außerdem für den entwickelten Luxus dankbar sei, nahm er das Wort und schil[S. 282]derte die Stimmung der Residenz als eine, seiner humanen, wohlwollenden Tendenz höchst günstige, namentlich in den industriellen Kreisen, wo man seinen Bestrebungen zum Schutze der inländischen Produkzion volle Anerkennung zolle. — Es waren einige free-traders anwesend, für welche der Chef eines englischen Kommissionsgeschäftes das Wort führte, während Arnold die Schutzzölle vertheidigte. Die gegen Ende des Diners begonnene Debatte wurde in schönster Form mit Beobachtung aller Rücksichten auf interessante Weise geführt, daß die Gesellschaft in zwei ungleiche Lager getheilt — da die Majorität auf Arnold’s Seite — mit Spannung und Vergnügen zuhörte. — Der junge Korbach, der zum ersten Male als Repräsentant seines Hauses und Verfechter der demselben verwandten Interessen, in einer fremden, fast durchweg aus älteren Leuten bestehenden Gesellschaft auftrat, ward durch den Beifall, den seine ersten Reden gefunden, ermuthigt und entwickelte die Forderungen der Praxis, einer glänzenden Theorie gegenüber, mit so schlagenden Gründen und zugleich in so liebenswürdiger, natürlicher Form, daß er den entschiedensten Sieg errang.
Er schloß mit den an den Engländer gerichteten Worten: „Es ist eine, wir wollen es gestehen, erzwungene Huldigung, die wir durch Vertheidigung[S. 283] unseres Schutzsistems Ihrer großen Nazion darbringen! Wir gestehen damit nur ein, nicht auf der Höhe zu sein, aus der wir Ihnen als Gegner den Handschuh hinwerfen können. So lange aber das Terrain der vaterländischen Industrie nicht hoch genug, um nicht von den Wogen Ihrer bisher an Werth und Billigkeit unerreichten Produkte überschwemmt zu werden, können Sie nun und nimmer verlangen, daß wir selbst den Damm einreißen! Der überschwemmte Markt würde in kürzester Zeit aufhören ein guter Markt für Sie zu sein, und wenn uns — was eben nicht der Fall — alle Minen Südamerika’s zu Gebote ständen, so würden wir nur dort anlangen, wo Jeder anlangen muß, der — — verzeihe mir die Gesellschaft das ganz unoratorische und unparlamentarische Gleichniß — seine Schranken zu einem Kampfe zwischen der Hauskatze der vaterländischen Industrie und dem gewaltigen brittischen Leopard öffnet!“ —
Die Gegner reichten sich lachend die Hände. Franchini ward in seinem Entschlusse, Alles was von ihm abhinge, für den jungen Mann zu thun, bestärkt. Er hielt ihn nebst Sprenger und dem Direktor der Marinekanzlei zurück, als die Gäste sich entfernten. Das Geschäft wurde nach allen Richtungen besprochen, und Sprenger übernahm die Aus[S. 284]arbeitung einer Vorlage, welche er mit Zuhülfenahme der Nacht bis zum nächsten Morgen zu vollenden gedachte, für welchen Franchini bereits die Audienz erwirkt hatte. Er übergab den beiden Gästen zugleich Einladungskarten zum Balle in der Villa, wovon jedoch nur Arnold Gebrauch machen konnte, da Sprenger keine Zeit erübrigen zu können erklärte. — Das Erscheinen des Ersteren schien allen passend, ja nöthig.
Während er hier auf dem „Wege, den ein Korbach geht“, für sich arbeitete, war ein kleiner Notenwechsel zwischen dem Hotel, wo Klotilde wohnte, und der Villa gepflogen worden.
Sie hatte, vom Schlummer gestärkt, — ihre Ankunft und den Entschluß, zwei Tage zu verweilen, in einigen Zeilen kurz und bündig dem Baron Heidenbrunn angezeigt, welcher zum Prinzen stürzte, um diesen mit einem Ereignisse zu überraschen, das ihn etwas wärmer bewegte als der Glückwunsch der eben anrückenden Gemeinde-Deputazion.
Der Adjutant flog mit einem Billet ins Hotel, mit einer Antwort zurück, und Nachmittags fand eine Schlußkonferenz zwischen ihm und Klotilden Statt, in welcher folgende Friedensartikel festgesetzt wurden:
Frau Klotilde Zeltner wird dem Balle in der Villa beiwohnen, in Gesellschaft einer griechischen Kapitänsgattin als Anstandsbegleiterin, welche Baron Heidenbrunn besorgt. — Der Prinz macht sich verbindlich, zehn Minuten lang mit Frau Klotilde in einer Weise zu sprechen, daß die Gesellschaft des Anblickes der Unterhaltung theilhaftig werde. — Ihrerseits bewilligt sie eine Unterredung, à discrétion über zehn Minuten, außerhalb der Gesellschaft. — Dieselbe stellt schließlich unbestimmte Verlängerung ihres Aufenthaltes in Aussicht. —
Der Adjutant suchte vergebens den Schlüssel zur Erklärung des schnellen Ueberganges zum Sistem der Konzessionen. —
Klotilde hatte Zeit gehabt, Günther’s Andeutungen auf der Reise zu überlegen, und den Gedanken, daß Kollmann die Erscheinung seiner Frau zu Gunsten seiner Angelegenheit in die Wagschale legen könne, so lange ausgemalt, bis sie überzeugt war, derselbe sei bereits in der Hafenstadt angelangt, und in einer niederträchtigen Intrigue begriffen. Als, auf ihr Befragen, Heidenbrunn von Schritten eines Herrn Kollmann beim Prinzen so wenig als von einer Frau dieses Namens wußte, ward sie ruhiger, hielt es jedoch für angemessener, das streitige[S. 286] Terrain zu occupiren. Sie kannte den Karakter des Prinzen hinlänglich, um zu wissen, daß er unter dem ersten Reize eines glücklichen Verhältnisses unzugänglich für andere Eindrücke sei, und beschloß ihm so viel Hoffnung zu geben als möglich, wenn noch welche übrig bleiben sollte. —
— — Der Himmel bescheerte dem Prinzen einen umwölkten Abend, — der erst spät einer hellen Mondnacht wich — als Hintergrund seiner Illuminazion. Der Chef der Gaskompagnie wüßte vielleicht zu sagen, wie viele Tausende von Flämmchen die Form der Villa in feurigen Linien auf den Grund des Waldes zeichneten. Weder Jemand von der Gesellschaft noch der Prinz hat sie gezählt, sondern Letzterer nur bezahlt, und wenn man das Spalier der Pechpfannen von der Stadt bis auf den Berg, die Girandolen auf dem Vorplatze, das bengalische Feuer auf der Kuppel und die alle fünf Minuten nach dem Himmel fahrenden Büschel von farbigen Raketen dazu rechnet, so läßt sich annehmen, daß dieser Versuch, die Nacht bei Tageslicht anzuschauen, allein so viele Mittel in Anspruch nahm, als die Verwandlung von einem Paar Hundert kalter und finsterer Stuben in warme und helle für die ganze Dauer des Winters. — — Eine nördliche Reflexion! — den tropisch heißen Empfindun[S. 287]gen gegenüber, mit welchen die Munizipalität mit Frauen und Töchtern den Berg hinanrollte, größtentheils in viersitzigen Wägen in der gewöhnlichen, durch Verspätung und Angst des Kleiderzerdrückens erzeugten Familienverstimmung. — Kühler fuhren die Damen der höchsten Gesellschaft dahin, einzeln oder zu zweien — es war ja eine Konzession, welche die geschmückten Opfer mit lächelnder Resignazion der Lieblingsmarotte des Prinzen brachten. Am kühlsten die alten Militärs, welche berechneten, wie viele Stunden sie im Glühofen dieses Feenpalastes mit loyaler Freudigkeit dorren mußten. —
In eigentlich froher behaglicher Stimmung kamen nur die Frauen der haute finance; wir werden hören warum.
Mit welcher Empfindung aber auch Jeder gekommen sein mochte — wenige Minuten nachdem er durch die Blumenpforte des Vestibule getreten, wurde er von jener erfaßt, welche sich gleich in der ersten Stunde, nachdem sich die Geladenen versammelt, Bahn gebrochen hatte.
Es gibt Gesellschaften, die einem ummauerten Teiche gleichen mit einem langweiligen Triton in der Mitte, und schief im Wasser stehenden, glotzenden Goldfischen.
Andere — seltene, glückliche! — mahnen an eine frische Quelle, die durch Felsen schlüpft und in welcher sich die Forellen jagen.
Die Goldfische in den steifen Uniformen wußten Anfangs nicht, wie ihnen geschah, als sie in das gewohnte schwüle stehende Wasser zu fallen meinten, und von einer wirbelnden Flut gefaßt wurden, die sie fortriß.
Nicht einmal die Polonaise — (armes Heldenvolk, das seinen Namen zu dem getanzten Tarok hergeben mußte!) — nicht einmal diese hatte begonnen. — Statt der geometrischen Promenade flogen in der ersten Viertelstunde die glänzenden Roben im Walzer dahin, — lösten sich wehende Locken von den warmblühenden Stirnen, — und mit den feurigen Klängen der Musik mischte sich frohes Lachen und die Fülle von hundert reizenden Stimmen bis herab zum süßen südlichen contre-Alt — der wahren viole d’amour der weiblichen Brust — und durchtönte die Blumengrotten, den Marmorsaal und alle die hohen strahlenden Räume.... Schaudernd entflohen war die langweilige Matrone Etikette, als fürchtete sie einen Orangenhagel von den Kobolden des neckenden Frohsinns!
Und wer hat sie verscheucht? wem dankt der[S. 289] Gebieter dieser Räume, daß sie heute nicht der dürre Samum des Ceremoniells durchweht?
Eine Verschwörung hatte die Matrone gestürzt.
Die Frauen hatten gesagt, so soll es sein, und sie setzen ihren Willen sicherer durch, als die am Anfange dieses Kapitels singenden vierzig Millionen.
Eine große Zahl der schönen, jungen, geistreichen, lebhaften Frauen des reichen und gebildeten Mittelstandes der Hafenstadt hatten beschlossen, dem liebenswürdigen Herrn der Villa zu zeigen, was sie der Gesellschaft zu bieten vermochten, und den vollen Reiz der ungezwungensten Heiterkeit gegen den spanisch-exclusiven Ennui ins Feld zu führen!
Sie umringten den Prinzen, es fiel wie ein Regen von Wortblumen auf ihn — ein reizendes Impromptu folgte dem andern — sie bestimmten die Ordnung der Tänze ohne nach einem Obersthofmeister zu fragen, — verflochten während des Tanzes den Prinzen, der so leicht zu verflechten war — und während der Ruhe die alten Kammerherren und Generäle in jene raschen, witzsprühenden, zündenden Gespräche, welche einmal die Damen des pur-sang für ihr Monopol hielten, und kümmerten sich um diese letzteren so gar nicht, und wenn’s möglich wäre, noch weniger als gar nicht!, bis endlich Alles belebt und durchglüht war — — mit Ausnahme einiger ver[S. 290]knöcherter Repräsentanten eines, dem Himmel sei Dank, täglich tiefer ins Meer der Lächerlichkeit versinkenden Prinzipes. —
— Es war der glänzendste Sieg der Grazie über die freudeversteinernde Medusa des Ceremoniells!
Der Prinz, nicht ohne Geist, begriff den Sinn der Demonstrazion — der einen Seite derselben, der freundlichen, seiner Person dargebrachten Huldigung, freute er sich laut, und ging in den Ton vollkommen ein, — der andern, der arrière-pensée, die gegen eine gewisse Koterie gerichtet war, freute er sich still. — Er dankte Gott, daß der Ueberraschungsbesuch des gekrönten Vetters noch nicht in den Jubel des heutigen Abends hineingefallen!
Der Wind, der heute in diesen Sälen wehte, hatte den Friedenstraktat zwischen ihm und der noch immer nicht erschienenen Klotilde insofern zerrissen, als von verabredeten gnädigen Worten und Erwiederungen keine Rede sein konnte: die Vorstellungen mit Frage und Antwort, Verbeugung, Zurücktreten und einem Andern Platzmachen, waren gar nicht zur Ausführung gekommen. Der Prinz war bald mitten im Gedränge, mit vielen zugleich sprechend, bald saß er in einer Blumennische — mit einer Feuernelke oder blaßrothen Camellie — die Frauen spra[S. 291]chen ihn an, ohne von der Hand der Gouverneurin vorgeführt zu sein — und die Männer hatten hinlänglichen Takt, um die fröhliche Razzia über die sonstigen abgesteckten Grenzen hinaus auf eine Weise mitzumachen, welche die Exklusiven am meisten ärgerte, die immer auf ein störendes, plumpes Zuviel hofften, und immer vergebens!
Auch der alte Franchini hatte seinen Moment ersehen, Arnold dem Prinzen vorzustellen. Dieser sprach von dem Glück, das ihm morgen bevorstehe (der Audienz) und von dem noch größeren heutigen, und bedauerte, fast der einzige Vertreter der Residenzbewohner zu sein, welche in dem Prinzen die eigentliche Stütze der vaterländischen Kunst anbeteten, und welche ein einziger Gang durch die Villa überzeugen würde, wie jeder seiner schönen Gedanken auch zur That werde. —
„Machen Sie schnell diesen Gang mit mir, sagte der Prinz rasch und freundlich, und erzählen Sie zu Hause; ich sehe daß Sie Kenner sind!“ und damit verließ er seinen Platz und durchschritt mit Korbach mehrere Säle, in jedem mit einigen Worten die Idee bezeichnend, die ihn geleitet.
Als sie in der letzten Piece, zunächst dem Eingange anlangten, traten die letzten Angekommenen[S. 292] der ganzen Gesellschaft — Klotilde und ihre Begleiterin, ein.
„Es hat mich sehr gefreut Sie kennen zu lernen,“ sagte der Prinz zu Arnold, das „sehr“ so laut und freundlich betonend, daß es Klotilde und die übrigen Anwesenden vernahmen.
Arnold zog sich nun zurück, und der Prinz sprach die Ersehnte und so unerwartet Wiedergefundene an, und machte mit ihr den ganzen Weg zurück nach dem Platze, wo er heute schon manches reizende Gespräch geführt. Das jetzige währte ungefähr so lange als drei der früheren.
Als es, augenscheinlich zur vollen gegenseitigen Zufriedenheit, endigte, trat der Prinz unter eine Herrengruppe, Klotilde aber ließ ihre Blicke durch die Säle schweifen, bis sie Arnold fand, den sie ohne Weiteres ansprach, von dem Zusammentreffen im Freinhof ausgehend.
Endlich ein Laut von dorther! ein Gespräch über sie! und eines, in welches sich nicht der ekelhafte Konkurrenzgedanke mischte... ein Gespräch über Julie, ohne daß die Firma Kollmann mitklang.
Er vernahm zwar nichts, was seinen Durst stillen konnte, — Klotilde war selbst seit der Zeit nicht dort gewesen — aber ihre Erscheinung wurde für den Augenblick zu einer angenehmen für ihn.[S. 293] Sie sprach ruhig und in berechnet liebenswürdiger Weise. Der Prinz war gegen Arnold äußerst gnädig gewesen: Motiv genug. — Während der Prior von Sankt Martin über den Prälatenstuhl weg nach dem Kardinalshut hinaufsah, dachte Klotilde, praktischer, über die Villa des Prinzen hinaus an eine Zeit, wo ihr jede freundliche Verbindung in einer tiefern Region erwünscht sein könnte. Ueberdies hatte die Persönlichkeit Arnold’s ihre Wirkung auch auf sie nicht verfehlt. Die Unterhaltung war lang und lebhaft. — Klotilde brach sie plötzlich mit einem „auf Wiedersehen!“ ab, und verschwand im Gedränge.
Leider schien dem Prinzen kein ganz ungestörter Genuß des Festes vergönnt zu sein. Mitten in einem angelegentlichen Gespräche wurde er durch Baron Heidenbrunn unterbrochen, welcher den Saal mit einem großen versiegelten Schreiben durchschritt, das er dem Prinzen überreichte. Dieser riß es mit offizieller Miene auf, rief dem Adjutanten zu: „Ich spreche den Kurier selbst!“ und verließ die Gesellschaft mit der Versicherung seiner baldigsten Rückkehr. —
Der Adjutant hatte nach dem Gange des Prinzen mit Arnold einige Worte an Letzteren gerichtet, welche dieser artig und kühl erwiederte. Mit Plom[S. 294]berg war es bei einem steifen Gruße geblieben. — Die beiden Offiziere hatten eine kurze Unterredung mit einander, in welcher Heidenbrunn erklärte, er habe keine Gelegenheit finden können, den vertraulichen Auftrag an den Prinzen zu vollziehen, und finde sich unter den jetzigen Konstellazionen wenig bewogen, gegen Korbach zu operiren. Plomberg, welcher sich nur Greuth gegenüber gedeckt wünschte, verlangte Nichts als das Versprechen der Bestätigung, daß er seine Sendung vollzogen. —
Und somit wehten Arnold’s Fahnen hoch im Winde!
Es waren Vortheile errungen, Gefahren abgewendet, und der Zweck des Balles für ihn erreicht. Er gedachte denselben zu verlassen, nachdem er sich noch mit Franchini unterredet, welcher ihm Glück wünschte. Das Gespräch verlängerte sich durch hinzutretende Bekannte.
Als er sich von dem Bankier trennte und umwendete, legte sich eine Hand auf seinen Arm und Klotilde, mit der griechischen Dame, stand vor ihm. „Sie scheinen zu denken wie wir, sagte sie, daß man die Spielbank verlassen soll, wenn man gewonnen, und nicht das Glück mit zu langem quitte ou double ermüden! Wir fahren nach Hause, und Sie, lieber Korbach, werden uns um so gewisser das Vergnü[S. 295]gen machen, uns zu begleiten, da Sie in demselben Hotel wohnen!“
Es ließ sich wohl schwer ein Refüs finden, und Arnold dachte auch an keinen.
Das Fest hatte früh begonnen und es war nicht viel über die Mitternachtsstunde, als der Wagen mit den beiden Frauen und Korbach die Bergstraße hinabrollte, von den Klängen des Balles, die weit in die Nacht hinaustönten, begleitet. —
Es war eine taghelle Mondnacht. Hie und da standen auf den Plätzen einzelne Menschen und Gruppen und sahen nach den vor dem Licht der Silberflut verlöschenden Flämmchen und blauen Feuern auf der Höhe. Nicht ein Wölkchen am weiten Himmel, so weit das Auge reichte. Alles klar und durchsichtig.
Die Frau des griechischen Kapitäns wohnte am Quai, einige Hundert Schritte vom Hotel. Sie stieg bei ihrem Hause ab, Klotilde gleichfalls. Letztere schickte den Wagen weg, sagte der Begleiterin Lebewohl und legte ihren Arm in jenen Arnold’s.
In wenigen Minuten war der Weg bis zum Hotel zurückgelegt. Klotilde war befangen, verwirrt und stumm, ohne daß Arnold einen Grund errathen konnte.
Als sie in das Thor traten, sagte sie: „Wenn Sie in der Contrada grande, statt auf mich, auf einen Balkon hinaufgesehen hätten, würden Sie in der Dame, die Ihnen und mir einen Augenblick ins Gesicht sah und dann zurücktrat, Julie Kollmann erkannt haben. Ich hatte aber meine Gründe, keine Erkennungsszene, auf den Balkon hinauf, zu spielen.“
Der alte Lügenfürst mit seinen hundert Namen von Luzifer bis auf Mefisto, ein Paar gläubige Jahrhunderte hindurch so zu sagen ins Privatleben zurückgedrängt, hat sich wieder der großen Weltbegebenheiten bemächtigt und treibt Politik und Regierungsgeschäfte. — Er ist zu sehr in Anspruch genommen durch die Gesammtlage Europa’s, zu entzückt über die loyale Ergebenheit eines Herrschers, welcher ihm die gloire einer großen Nazion als Rauchopfer darbringt auf dem Scheiterhaufen, den er aus den übrigen aufgebaut, — über die allgemeine Erbärmlichkeit, das allseitige Hinhalten der rechten Wange, nachdem man keinen Schlag auf die linke bekommen, als daß er sich mit Kleinem befassen könnte.
In seinen schlechten Zeiten, — als ihn Luthers Tintenfaß und römische Bullen in die Enge trieben, — als er von gott- und ehrliebenden Fürsten aus den Palästen, von frommen Bürgern und[S. 298] Bauern aus den Häusern und Hütten geworfen wurde, irrte er, des Einflusses auf den Gang der Ereignisse beraubt, wie ein Vertriebener Legitimist umher, — von der Rolle eines Staatsanwalts zu der eines Winkelschreibers herabgesunken, und befaßte sich mit Privatgeschäften der Individuen.
Dem Herabgekommenen mochte ein vom Thurm gestürzter Anton Pilgram Violinlekzionen bei Tartini, — ein blutunterzeichneter Kontrakt mit Faust — bei welchem er zuletzt noch betrogen war, — die Zeit vertreiben. Jetzt aber ist das Verderben einzelner Seelen, das Zerstören einzelnen Glückes für ihn überwundener Standpunkt.
Doch mag es Stunden geben, wo er, die Diplomatie mit Beruhigung sich selbst überlassend, heruntersteigt vom europäischen Thron und zur Erholung wie Harun al Raschid umherwandelt, im Inkognito, umschauend nach irgend einem herzlabenden Jammer.
Und so konnte er denn eine wahrhaft teufelsselige Stunde verleben, wenn er, im Mondschatten an die Wand gelehnt, hinaufgesehen nach dem Balkon in der Contrada grande, — gesehen was Alles aus dem sanften Mondlicht werden kann, wenn es nur zur rechten Minute zwei heitere Gesichter und blonde Haare beleuchtet! — — wie ein Moment kühles Silber in glühenden Stahl verwandelt!
— — Tief und heiß traf der Stich in die ahnungslose Brust. Nicht das dünnste Schild eines Zweifels, einer Besorgniß, hatte Julie vorbereitend beschützt.
Wohl hatte sie Arnold nicht ein „Steinchen zum Bau des Feenschlosses einer Gegenliebe“ gereicht, — aber dafür ihr eigenes aufgebaut. — Vielleicht höher und fester als das seine.
Eine einzige laue Sommernacht erschließt die Aloënblüthe. — Ein Herz wie Julien’s kannte keine Uebergänge vom Dunkel durch Dämmerschein und Morgengrau zum hellen Sonnentag. „Was ist denn — hatte sie zu Sembrick gesagt — was ist denn an mir, was nicht Eingebung des Momentes wäre? — eine Stunde lang hab’ ich Arnold gesehen — fühlen Sie denn nicht, daß ich diesen Augen vertrauen mußte?“ — Nur von Sembrick hätte es abgehangen, ausgesprochen zu hören, was er von dem Augenblick an wußte, wo er den Brief durch Arnold empfangen.
Wenn man versucht werden könnte, da zu vergleichen, wo der Vergleich nur auf Gegensätze trifft, so läge der schreiendste zwischen ihr und Klotilde darin, daß an dieser Alles berechnet und besonnen war, — an Julie Alles unberechnet, — und unbesonnen in dem Sinne, wie die Aloë, der wir sie[S. 300] verglichen, sich nicht besinnt, aufzubrechen, wenn ihre Stunde gekommen. —
Sie war gekommen: ihr erster Schlag hatte durch den Goldnebel geklungen, mit ihrem letzten hatte ihre Hand in seiner geruht, — und als Arnold mit seinem Klarheit suchenden Wesen im Fremdenflügel am Fenster stand und sich Fragen stellte, hatte Julie an keine Fragen an ihr Herz gedacht es war nur Eine Antwort, — ein lautes, freudiges Ja!
Wie in den klangreichen, leichtbewegten Saiten ihres Herzens der Laut der Liebe, den so Viele zu erwecken sich mühten, schlummern konnte, bis ihr Engel sie Arnold entgegenführte, mag eines jener Räthsel sein, deren Lösung sich der Meister, der das Saitenspiel der Menschenbrust geschaffen, — vorbehalten hat.
Jeder Huldigung hatten sie entgegengeklungen: mit ernsten Akkorden dem ernsten Wort, womit ein tiefes Gefühl sich gegen sie aussprach, — mit fröhlichen, leichten Melodien dem alltäglichen Liebesgetändel, — aber nur jener Eine Ton war nie erwacht, den Jeder zu hören sich sehnte.
Sie lauschte mit stockendem Athem der Erzählung des Reisenden, der die Urwälder Südamerika’s durchdrungen und in ihrem Boudoir den Teppich[S. 301] aus dem Fell des erlegten Tigers ausbreitete; — dem Gemälde der Schlacht, in welcher ein Medaillon das Herz eines Tapferen vor der Kugel beschützte, der für den Talisman um eine Stelle auf ihrer Etagere bat; — der Elegie des Künstlers, der entzückt war, mit ihrem Namen das Werk zu schmücken, zu dem sie ihn begeistert: der Teppich, — das Medaillon, — das Tonstück bewegten ihre Fantasie, beherrschten Stunden und Tage lang ihre Gedanken, aber das Herz blieb ruhig bei allen, oft großen und gewaltigen Eindrücken und Erscheinungen.
— — Und nachdem all die gefeierten Namen geklungen und Orden geglänzt und Lorbeern gegrünt — kam er im Schiffchen heran, in der grauen Jacke, im grünen Hut — und der Harfe in ihrer Brust entflog, von der rechten Hand berührt, der himmlische Dreiklang: ich liebe dich!
Der nervöse Wechsel von Fröhlichkeit und Verzweiflung wich einem stillen Glücke, das ruhigem Schmerz die Hand reichte, die ihre innere Welt beherrschend in einander übergingen wie Nacht und Tag, nicht einander zischend bekämpften wie Wasser und Flamme.
Einem furchtbaren, großen, tragischen Geschicke gegenüberstehend, wo die Welt nur eine unglückliche[S. 302] Ehe sah, — einem Verhängnisse, das sie fast willenlos in die Hände eines Gehaßten gab, aus dessen Gewalt keines jener Mittel sie befreien konnte, welche göttliche und menschliche Gesetze Andern zur Lösung unseliger Bande darbieten, — hatte die Hoffnung in ihrem Herzen die Gestalt eines fantastischen Wunderglaubens angenommen.
Edmund von Sembrick war die erste Erscheinung, welche diesem Glauben eine bestimmte Richtung gab.
Der Moment wo sie ihn kennen lernte, in einer rettenden kühnen That, — seine Erscheinung, die so gewaltig abstach gegen die konvenzionellen Gestalten, welche sie bisher umringten, — die unwillkürliche Mahnung an den Gedanken der Erlösung, die in seinen Zügen lag, — das wilde Feuer der Energie, das manchmal in seinen Augen aufloderte, der Funke des Geistes, der nie in ihnen erlosch: Alles hatte sich vereinigt, um den Blick der Alleinstehenden, Hülfesuchenden auf ihn zu lenken. — Der Schnee, der den Vulkan deckte, war ihr nur ein Zeichen seiner Höhe, die Kälte, ja Härte, welche nur selten einem weichen Momente wich, ein Beweis einer Kraft, die da einen Ausweg öffnen konnte, wo sie keinen sah.
Sie war entschlossen, ihm Alles zu vertrauen. Da gewahrte sie das plötzliche Schmelzen des Schnee’s. Wie die Minerva in voller Größe gewaffnet aus[S. 303] Jupiter’s Haupte sprang, stand seine Liebe in ihrer ganzen Glut und Kraft vor ihr.
Aber nicht schneller hatte das Auge des Weibes sie erkannt, als — Kollmann. Dieser, der über Sembrick’s Karakter im Reinen zu sein glaubte, und ihn an Julie gefesselt sah, weihte ihn selbst in Alles ein. — Edmund trat mit dem Bekenntniß seiner Liebe, und zugleich in voller Kenntniß dessen vor sie hin, was sie ihm mittheilen wollte, — aber auch mit dem Eingeständnisse, daß es gegen Kollmann’s Waffen ein einziges Mittel gebe, dessen Ausführung, gewaltsam und abenteuerlich, von der Zeit und der Ueberwindung von tausend materiellen Hindernissen abhänge.
Die vorhergegangene Unterredung der beiden Männer hatte damit geendigt, daß Sembrick die Ueberzeugung von der tiefen Schlechtigkeit Kollmann’s mitnahm, welcher dieß wohl wußte, aber sich kalt und ruhig freute, ihn durch die Mitwissenschaft an sich gebunden zu sehen, wenigstens so lange ihm Julien’s Glück theuer war, das hieß, für immer, wenn auch seine Liebe oder Leidenschaft nicht ewig währen sollte. Der Erwiederung derselben von Julien’s Seite hätte er ruhig zugesehen.
Es kam aber anders.
Sembrick hatte nicht als der Erlöser gesprochen,[S. 304] den sie gedacht. — Er wollte sie durch eine Hölle tragen, ein Leben und Freiheit gefährdendes Unternehmen für sie ausführen, — — aber am rettenden Ufer angelangt, war ihr Herz das Ziel, auf welches er hinblickte.
Sie sprach offen und wahr mit ihm, entschlossen, ihm keine Täuschung und keine Hoffnung zu lassen. Er gab sie nicht auf, eben so wenig als den Vorsatz, ganz so für sie zu handeln, wie er mit der Gewißheit des schönsten Lohnes gethan hätte.
Julie hatte den jugendlichen oder besser kindischen Traum einer „Freundschaft“ gehegt, — diese gerade darum für möglich gehalten, weil der ganze Kreis, der sie umgab, des Gedankens einer Freundschaft zwischen einem Manne und einer reizenden Frau nur mit höhnischem Lachen oder Lächeln erwähnte. Was diese für unmöglich hielten, sollte sich in Edmund verwirklichen.
Nun war der „Wunderglaube“ erschüttert, — der Befreier des Landes streckte zugleich die Hand nach der Krone desselben aus: ihr Herz hatte geschwiegen.
Hätte dieses gesprochen, — sie würde ihn wenigstens gefragt haben, welchen Gefahren er entgegengehe. Wie bange schlug es, als er sagte: Wenn Sie Korbach Alles mittheilen, so ist er gebun[S. 305]den wie ich, geräth in den Kampf zweier Pflichten! — Da erst mochte sie fühlen, daß sie vom Freunde nimmermehr erwarten solle, am wenigsten verlangen dürfe, daß er Etwas für sie unternehme, woran sie den, den sie liebte, nicht einmal durch Mitwissen betheiligt sehen wollte. Ohne irgend einen Begriff von Sembrick’s Plane, nur seiner hingeworfenen Worte gedenkend: „Noch Eine treue, verläßliche Hand!“ hatte sie Arnold gesendet. Nach dem Gespräche mit dem Baron war sie entschlossen, Jenem zu schreiben, ihn nach dem Freinhof zu bitten, ihre Fragen, Alles zu widerrufen, kurz um jeden Preis, auf die Gefahr hin, unbesonnen vor ihm zu erscheinen, ihn von jedem weitern Schritte und einer Annäherung an Sembrick abzuhalten.
Dieselbe Bitte, Nichts für sie zu thun, und sie der Vorsehung allein zu überlassen, wollte sie auch an Edmund richten. Von dem Freunde in ihrem Sinne konnte sie ein Opfer annehmen, sie fühlte aber nach seinem Weggehen, daß er im Herzen fordere, und sie hatte nichts zu bieten.
Während sie seine versprochene Rückkehr von der Reise nach dem Orte, wo das ganze Geheimniß ihres Lebens ruht, erwartete, führte Kollmann sie plötzlich vom Freinhofe fort: Sembrick traf diesen bereits verlassen.
Wohl war der „Wunderglaube“ mit Arnold einen Augenblick erwacht: Edmund gegenüber erschien er ihr wie der königliche Hirtenjüngling mit der Schleuder, der den Goliath schlug, welchem die gerüsteten Krieger erlagen. Allein der Gedanke, ihn, statt mit den Blumengewinden ihrer Liebe, mit den Dornen ihres Geschickes zu umflechten, war ihr unerträglich geworden. Keine Frage, wohin die Wellen tragen, sollte das Entzücken der Gegenwart trüben.
Sie streckte die schöne Hand nicht aus nach dem Schleier der Zukunft! Der Gedanke, wohin soll es führen, fand nicht Raum neben dem Schatze von süßen Empfindungen, zu denen es geführt. Bei Julie war nur Eines gewiß, wohin es nicht führen konnte: nie zu einem Treubruch gegen sich selbst! Wenn wir die kühne Behauptung aufstellen, daß der Paradiesvogel dieser Liebe über die Mauern der Pflicht gegen Kollmann wegfliegen durfte, so wagen wir sie auf den Umstand hin, daß auch wir einen Schleier zu lüften haben, aber nicht der Zukunft, sondern der Vergangenheit.
So unausgleichbar, anscheinend, der Widerspruch, — sagen wir, daß Julie trotz der Bande, die sie an Kollmann fesseln, wenn sie von Arnold’s Arm umschlungen in den Seespiegel blicken würde, ihr Bild so rein herauflächeln sähe, als das Edel[S. 307]weiß, womit er ihre Brust schmückt... Es war dieß ihr Traum gewesen, als sie am Morgen nach seiner Ankunft entschlummerte. —
Er trat auch jetzt vor ihre Seele, als sie, die Contrada grande hinab, nach der weißglänzenden Meeresfläche blickte. Die erfrischende Nachtluft kühlte wohlthätig die heiße Stirn. Sie strich die Locken zurück, ließ sie spielend durch die Hand gleiten und freute sich der Erinnerung, wie er dieselben betrachtet, wie in den ruhigen Augen ein heller Funke aufgezuckt bei ihrer Berührung. — — Hatte sie doch einmal ein Buch zur Seite geworfen bei der Stelle, wo die Liebende spricht: Wie arm fühl’ ich mich gegen dich! „So bleibe arm, du enges Herz —! hatte sie ausgerufen — wenn du liebend dich nicht reich genug fühlst, um deiner Dürftigkeit zu vergessen!“ — — Sie fühlte sich reich, dreifach wiederzugeben, was sie an Seligkeit empfing; freute sich jedes ihrer Reize als einer Gottesgabe für den Geliebten.
Sie drückte die Hände auf die Augen: so reizend das Nachtbild, — ein wonnevolleres stand vor ihrem Sinne. — Still lächelnd schaute sie es an, — jeder Athemzug ein Gebet um Wiedersehen! jeder Gedanke ein Kuß!
Und als sie die Hände wieder von den Augen[S. 308] nahm — — wo war da der Schutzgeist ihres Friedens, daß er sie nicht mit seinem Fittig bedeckte!?
— — Gegenüber lachte der Satan im Mondschatten. Das Wiedersehen war erreicht: die mise en scène war ihm gelungen.
Die nächste Minute hat Klotilde bereits erzählt: — „die Dame, die Ihnen und mir einen Augenblick ins Gesicht sah, und dann zurücktrat“ — — sie wankte durch den Salon, am Spiegel vorüber, der ihre Reize zurückwarf, für welche sie dem Schöpfer um des Geliebten willen gedankt hatte, — zusammengebrochen, halb bewußtlos. Wie nahe auch die Möglichkeit lag, den Giftpfeil in ein unschädliches Spielzeug des Zufalls zu verwandeln: sie hatte nicht die Kraft eine Lösung zu suchen.
Mitleidig lächelnd harrte ihr Genius des Augenblickes, wo sie die beiden Trostgeber aus seiner Hand empfangen könne: Thränen und Gebet. Es währte lange, ehe die ersten Tropfen aus den brennenden Augen drangen, und den Krampf der Nerven, jenen der Seele lösten — — dann strömten sie hin, und mit ihnen eines jener Gebete, die so selten vergebens aus der Erdennacht emporsteigen. Sie werden erhört, — und das letzte flehende Wort aus der Tiefe des Herzens klingt zusammen mit einem: „Es werde Licht“ von Oben.
Nach einer Stunde solchen Sturmes mußte das Schiff des Glaubens gescheitert und versunken sein, — oder gelandet am grünen Gestade.
Sie hatte lange am Fenster gekniet; — nun stand sie auf — die Hände hoch über dem Haupte gefaltet und sagte, noch durch Thränen lächelnd: „Es ist ja nicht möglich, und darum ist’s nicht! — Arnold und Klotilde! Vergib mir, Allgütiger! daß ich dich bat mir wiederzuschenken, was du mir nie genommen!“
Festen und leichten Schrittes ging sie einige Male auf und nieder, — ließ Licht bringen und schrieb. — Nun hat sie geendet, und sich zur Ruhe gelegt — und leise, — leise — wie Rehe, vom Wetterstrahl verscheucht, heranschleichen zum gewohnten Spielplatz — kamen die entflohenen Träume wieder — und als sie die Augen geschlossen, lächelte der Mund, als spielten, wie man von Kindern sagt, die Engel mit der Schlummernden.
* *
*
Kurz war die Freude des Teufels.
Einen längeren und nachhaltigeren Genuß hätte er haben können, wäre er der kleinen Barke gefolgt, welche am Anfange der Nacht, fast zur Stunde wo das Fest begann, vom Lande stieß, den Hafen durch[S. 310]schnitt und einer am Ausgange desselben geankerten Dampfkorvette zusteuerte.
Letztere, unter englischer Flagge segelnd, ist am Morgen von Malta angekommen, der Kapitän hat sich mit einem Begleiter ans Land begeben — daselbst den Auftrag, dessen Erfüllung wir nun zusehen werden, bestellt, und ist wieder an Bord zurückgekehrt. — Abends entsendete er einen Matrosen mit dem erwähnten Bote nach dem Quai, wo Kollmann dasselbe erwartet.
Es nähert sich der Korvette, auf deren Vordertheil der Name Aegina zu lesen: am Bord ist Alles still und wach — der Kapitän überblickt mit scharfem Auge Nähe und Ferne.
Er hat sich für die Sicherheit zweier Passagiere, die er führt, einem Manne verbürgt, welcher, auf der Höhe der Gesellschaft der stolzesten Nazion stehend, es in seinem und seines Landes Interesse findet, seinem aristokratischen Staatswagen die wilde Jagd der gesammten europäischen Demokratie vorzuspannen. — Die Steine, welche während seines langen Lebens aus allen Kabineten und sonstigen Werkstätten des konservativen Prinzipes auf ihn geschleudert wurden, könnten hinreichen, um einen Damm von seinem Vaterlande nach dem Kontinent aufzuführen. — Man erwies ihm in einer Residenz[S. 311] — (tausend Meilen von unserer entfernt) einmal die Ehre, seinen Rücktritt durch ein eigenes Plakat der Bevölkerung anzuzeigen, als ein Ereigniß, durch welches die bedrohte Zukunft eines großen Staates gerettet worden, und wir erinnern uns wohl der Indignazion der Einwohner über diese Huldigung. In seinem Lande wird aber sein Name als der Tipus des populärsten, des eigentlich nazionalen Ministers fortleben, und bei jedem Sturze von der Höhe der Ministerbank ist er nur in die offenen Arme des Volkes gefallen, das er mit seinen Tugenden und Schwächen begreift wie Keiner, und das ihn dafür in sein Herzblut aufgenommen.
Der Kapitän der Aegina, welche schon manche Reise, mit politischer Contrebande befrachtet, glücklich zurückgelegt, genießt das Vertrauen des Lords, den wir nicht zu nennen brauchen, und welcher ihm Wangerode, den deutschen Demokraten, mit welchem Kollmann auf seiner Reise vor drei Jahren zusammengetroffen, empfohlen, einen Zweiten aber, den wir bald kennen lernen, aufs Wärmste ans Herz gelegt.
Wangerode gehörte zu den Schiffsgütern, welche in allen deutschen, monarchisches Gebiet bespülenden Gewässern mit Beschlag belegt werden. Er war Keiner von denen „welche im Momente der Gefahr[S. 312] ihre Pflicht nach einem anderen Punkte ruft“ — meist nach den Bahnhöfen, und die das undankbare Vaterland nicht mit eroberten Fahnen, sondern mit gestohlnen Kriegskassen verlassen. Er hatte als achtzehnjähriger Jüngling auf den Barrikaden gefochten, unter den „von Zukunftdranges Sturm am Weitesten Getragenen“. Ein altes Schwert, das bei Einnahme des Zeughauses in seine Hände gefallen, hatte vielleicht seit zwei Jahrhunderten zum ersten Male wieder Blut getrunken, edles Blut, mit welchem nun sein Name im Schuldbuche eingeschrieben stand für immer und ewig. Wie viele Hunderte geächteter Namen auch durch das Sieb der verschiedenen Amnestien gegangen, für den seinigen waren die Löcher zu eng.
Wer aber einmal sein Leben eingesetzt für seine Gesinnung, der bleibt von der Feuertaufe gestählt für immer. — Als Wangerode den Kugeln gegenüberstand, hatte er nicht für eine Ueberzeugung geblutet, sondern für ein Gefühl, einen Enthusiasmus! Das ist ja das göttlich Schöne der Jugend, daß sie für ein Wort in den Tod geht, ohne nach dem Begriffe zu fragen!
Mit den Jahren hatte sich das Gefühl zur Ueberzeugung ausgebildet. Er war aber durch die Reife nicht besser geworden. — Das Ziel seiner[S. 313] jugendlichen Schwärmerei war: allgemeine deutsche Republik; das Mittel: Massenerhebung des Volkes zum offenen Kampfe der Blouse gegen die Uniform. Der Zweck ein Ideal, das Mittel ritterlich.
Sein jetziger Standpunkt war: Einheit Deutschlands — ob Republik, ob Monarchie — er hätte vielleicht einer das gesammte Vaterland umfassenden Militär-Diktatur den Arm geboten. Darin lag eben kein Herabsinken; es war ein Ideal wie das andere. Aber den Glauben an die Erreichung durch ritterlichen Kampf hatte er in Erkenntniß der Wirklichkeit verworfen. Umsturz des Bestehenden durch jedes Mittel, — der Schutt als Unterbau künftiger Einheit war seine jetzige Devise, und er stand im Gutheißen der verworfensten Wege dem italienischen Revoluzionschef nicht nach. — Nach wie vor bereit, seinen Kopf für seine Sache einzusetzen, hätte er kein Bedenken getragen, Andere mit dem Dolche des Meuchelmörders auszusenden.
Sein entschlossener Karakter, seine Bildung und Gewandtheit hoben ihn bald über die Schaar der übrigen Exilirten empor, und die Häupter der verschiedenen Frakzionen, welche auch in der Fremde die heimatliche Spaltung verewigten, erkannten ihn bei durchgreifenden Beschlüssen faktisch als höchste Autorität.
Bei seinem ersten Zusammentreffen in der Schweiz hatte er in Kollmann insofern einen Gleichgesinnten erkannt, als dieser vom baldigen Zusammensturz der Verhältnisse im Vaterlande überzeugt war, — bei einem zweiten, in Mannheim, kam es zu einem förmlichen Verständnisse. Der Weg, auf welchem Kollmann dem in London lebenden Wangerode regelmäßige Mittheilungen machte, blieb unentdeckt; Kollmann’s Haltung in der Gesellschaft beseitigte übrigens jeden Verdacht, außer Lipprecht’s, der, wie wir wissen, damit isolirt stand. Kurze Zeit vor seiner, aus andern Gründen beabsichtigten Reise nach der Hafenstadt hatte er die Nachricht erhalten, daß Wangerode eine Begegnung wünsche. Es war angegeben, auf welche Weise Kollmann im Hafen von Zeit und Ort derselben in Kenntniß gesetzt werden sollte.
Der Vorschlag kam ihm sehr unerwünscht; ganz andere Entwürfe nahmen seine Gedanken und Zeit in Anspruch. Allein der Wunsch war bestimmt gestellt, und er befand sich in einer Lage, welche eine schmeichelhafte Aehnlichkeit mit jener des Kaisers der Franzosen den alten Carbonari-Freunden gegenüber hatte.
In der Mannheimer Unterredung hatte Wangerode so zu sagen mit dem Herzen auf der Zunge gesprochen, und ihn in das innerste Getriebe der Partei[S. 315] hineinschauen lassen. Als Kollmann beim Abschiede eine Betheuerung seiner unverbrüchlichen Verschwiegenheit geben zu müssen glaubte, antwortete Wangerode lachend: „Dergleichen ist nicht mehr üblich! Männer überlegen bevor sie eingehen. Dann aber weiß auch Jeder, daß einem Verrath oder Abfall nicht mit verschränkten Armen zugesehen wird. Wollen Sie Beispiele?“ Es folgte eine Aufzählung von Personen, welchen bei plötzlichem Wechsel ihrer Gesinnung ein Paar Zoll kaltes Eisen als Präservativ gegen Indiskrezionen eingegeben wurde, — und die Bemerkung, daß dergleichen nur in Italien vorkomme; deutsches Wort sei noch nicht gebrochen worden. —
Das hieß schließlich doch, daß wenn das deutsche Wort ausnahmsweise gebrochen würde, ein Messer auch ausnahmsweise seinen Weg in deutsche Haut finden könnte.
Wangerode hatte Alles ganz heiter und ohne unheimliche Betonung gesagt, aber der Zuhörer kannte seinen Mann und hatte bisher seine eingegangenen Verpflichtungen getreulich erfüllt.
Er stieg nun die Schiffstreppe an Bord der Aegina hinan, der Kapitän schritt ihm voran, ins Innere des Schiffes hinab, wo er die Thür einer Kabine öffnete und nachdem Kollmann eingetreten, sich zurückzog.
Am Tische saß, beim Licht der Hänglampe schreibend, Wangerode. Leider steht uns zu seinem Bilde keiner jener kontrastirenden Züge zu Gebote, durch welche glückliche Autoren ihre Gemälde pikant zu machen wissen. Der Ritter, der die geharnischten Gegner Mann für Mann aus dem Sattel schleudert, trägt häufig „zarte, fast mädchenhafte Züge“, — der Jesuit lächelt mit so freundlicher Bonhommie, daß ihn Niemand durchschaut, als der Verfasser, — die Dame, die im Verlauf des Romans sich als eine Lukrezia Borgia entwickelt, hat ein „sanftes Madonnenantlitz“ u. s. w. Wangerode sah aber gerade so aus wie der deutsche Demokratenführer vom Maler gemalt wird, wenn er eben keinen wirklichen vor sich hat. Wenn wir eine Nachahmung hoher Vorbilder im heldenbeschreibenden Stil wagen dürfen, so sagen wir: „die breite Stirn und Nasenwurzel so wie die kühn aufgeworfene Unterlippe verriethen Entschlossenheit und Energie; in den grauen Augen lag ein Gemisch von Kühnheit und List, — die breite Brust und der gedrungene Körperbau so wie die ausgebildeten Armmuskeln ließen auf einen Mann schließen, der keinen Gegner im Einzelkampfe zu scheuen braucht; ein heller, dichter Vollbart umgab das wettergebräunte Gesicht“ — — doch genug.
Er erhob sich rasch und bot Kollmann die Hand[S. 317] mit den Worten: „Willkommen nach drei Jahren, treuer, bewährter Freund! Wir sprechen uns heute in voller Sicherheit und wollen gleich zur Sache übergehen. — Daß Sie hierher kommen, erspart mir eine Rundreise; mein Ziel ist für den Augenblick nicht Ihr Land, ich hätte aber einige Ihrer Provinzen durchflogen, wenn ich Sie nicht anders hätte treffen können. Sie haben Viel geleistet, wir wissen es Ihnen Dank, und der Moment, wo wir es beweisen werden, kann nicht ausbleiben. — Lassen Sie uns die vielleicht so bald nicht wiederkehrende Stunde genießen und nützen, rauchen Sie zum Thee eine von den Zigarren, die mir unser Lord mitgegeben, und erfreuen Sie mich mit der Erzählung dessen, was Ihre reservirten Berichte verschwiegen.“
Kollmann dankte ablehnend für alle dargebotenen Erfrischungen mit Ausnahme der Havanna, lehnte sich in das niedere Sofa zurück, und begann, mit gekreuzten Armen auf den Boden vor sich hinsehend: „Ich habe unser Programm festgehalten. Es besteht, um der Börse ein Gleichniß zu entlehnen, darin, die Kurse der politischen und administrativen Verkehrtheit bis zum höchsten Schwindel hinaufzutreiben. Meine Berichte haben einige Erfolge enthalten. Ich ergänze dieselben in Betreff der Art und Weise, wie ich sie errungen, und noch mehr zu erreichen hoffe.“
„Ich habe mir eine Verbindung mit dem Finanzminister eröffnet, durch welche ich leicht Jemandem Zutritt verschaffen kann, und habe von diesem Wege zu Gunsten von Männern Gebrauch gemacht, welche die Geneigtheit des Grafen Breuneck zu Experimenten, denen unsere Industrie nicht gewachsen ist, benützen. Es ist zugleich dafür gesorgt, daß jeder Artikel, welcher mißfällige Bemerkungen über seine Maßregeln enthält, ihm zu Gesichte kommt, und bei seiner krankhaften Empfindlichkeit gegen Tadel haben wir ihm manchen die Journalistik treffenden Schlag zu danken.“
„Es steht mir ein Organ zu Gebote, durch welches ich dem Minister des Innern auf vertraulichem Wege solche Korrespondenzen aus verschiedenen Provinzen zukommen lasse, welche von sicherer Hand nach meiner Angabe verfaßt und geeignet sind, ihn in seinem Centralisazionssistem zu bestärken, und welche er höchsten Ortes vorlegen kann, als Beweis der Zufriedenheit im Lande und der Ungerechtigkeit seiner Gegner.“
„Ich überschätze meine Thätigkeit nicht, wenn ich behaupte, daß mir Mittel zur Verfügung stehen, durch einen Vertrauten des General-Adjutanten und durch ein fürstliches Haus Belege in die Hand des Monarchen zu spielen, daß jede Konzession vom Volke nur als ein Zeichen der Schwäche betrachtet würde,[S. 319] und daß eisernes Festhalten am aristokratischen Prinzip in der Armee und unbedingte Suprematie derselben über alle übrigen Stände von den wahren Freunden der Dinastie als das einzige Rettungsmittel bezeichnet wird.“
„Ich habe in kirchlicher Beziehung auf dem kleinen Felde, worauf ich beschränkt bin, eine Saat gesäet, aus der in kürzester Zeit, vielleicht in dem Augenblick wo wir sprechen, ein Konflikt, Repressivmaßregeln und ein neuer, wenngleich nur lokaler Sieg der Konkordatpartei hervorgehen müssen.“
„Es ist nicht unmöglich, daß in Folge dieses Konfliktes eine geschäftliche Maßregel ergriffen wird, die den Wirkungskreis des Prinzen August Ernst berührt, die Spaltung zwischen ihm und dem Hofe erweitert, — daß hiedurch sein Wirkungskreis beschränkt, und somit ein populäres, wenigstens hier besänftigendes Element beseitigt werde.“
„Ich habe mir diese Verbindungen auf keinen andern Wegen geschaffen, als die ich mir selbst eröffnete, ohne andere Geldmittel als das Vermögen, das mir meine Frau zugebracht; — habe mich aus der Stellung eines in Privatdiensten stehenden Ingenieurs zum Grundbesitzer, Kapitalisten, und auf eine Stufe emporgeschwungen, auf welcher ich mit Personen aller Kreise der Gesellschaft, die höchsten[S. 320] mit einbegriffen, im Verkehr stehe, und darf behaupten, daß wenn Sie in jeder Provinz drei Vertreter hätten wie ich, in einem Jahre das Konkordat in allen seinen Bestimmungen durchgesetzt, die Zensur wieder eingeführt, die Herrschaft des militärisch-aristokratischen Elementes auf die Kulminazion getrieben und somit die Revoluzion so gut als vollbracht wäre.“
„Und somit habe ich Ihnen Rechnung gelegt, und glaube unsern Mannheimer Vertrag besser gehalten zu haben, als jemals unsere Gegner einen ihrer Friedensverträge.“
Kollmann schwieg, weder seine Stellung noch die Richtung seines Blickes ändernd, und blies in gleichen Pausen das Havanna-Gewölke von sich. Es lag etwas Imposantes in der kalten Ruhe, womit er seine Leistungen auf dem Felde des „Nur so fort“ aufzählte. Der Demokrat fühlte, daß er einen Mann vor sich habe, der aus der Schaar der gewöhnlichen nach vorwärts und rückwärts wühlenden Emissäre hoch emporrage, und freute sich, seinen Werth in der ersten kurzen Unterredung vor Jahren erkannt zu haben.
Er erwiederte mit Lebhaftigkeit: „Sie haben unberechenbar mehr für unsere Sache gethan, als wir zu erwarten berechtiget, als Sie durch Ihr Ver[S. 321]sprechen zu leisten verpflichtet waren. Sie gehören nicht zu denen, deren Triebfeder das Geld der Revoluzions-Comités, — Ihre Lage ist vielmehr eine solche, die Ihnen erlaubt, Andere zu unterstützen. Eben so wenig der Ehrgeiz: Sie haben so viel erreicht, daß Sie bei einem Umsturz der Dinge kaum mehr erreichen können. Von einem Danke unserer Gesellschaft kann Ihnen gegenüber im gewöhnlichen Sinne keine Rede sein. Wir können aber mit Gewißheit darauf rechnen, quitt zu werden, wenn das Ziel unseres Strebens erreicht ist. Im Augenblicke des Umsturzes stehen Sie als das Opfer desselben da. Ihr Name gehört nicht mehr zu jenen, die in Zeiten der Krisis in der Masse verschwinden: er wird auf der Proskripzionsliste, die das Volk mit dem ersten vergossenen Blute niederschreibt, unter denen der gehaßtesten Reakzionäre figuriren. Sie können hundertmal beschwören, daß Sie nur auf Ihrem Wege für die Sache der Freiheit gehandelt — man wird Ihnen ins Gesicht lachen und antworten: das könnte Jeder sagen. Es ist dieß der Augenblick, wo das volle Gewicht der Bürgschaft unserer Partei und ihrer Häupter Ihnen zur Seite stehen muß und wird! Ich habe dafür gesorgt daß, wenn die Flut hereinbricht, Sie in die neue Ordnung der Dinge auf einer Brücke hinübergehen, deren Pfeiler[S. 322] die Namen der gefeiertsten Volksmänner sind, welche sich vor Sie hinstellen und sagen: Wir kennen ihn! — So viel als Antwort auf Ihre gewichtigen Mittheilungen, insofern ich als Repräsentant unserer Gesellschaft spreche, zu deren, des vollsten Dankes würdigem Mitgliede. — Als Wangerode gegen Kollmann erlauben Sie mir einige Bemerkungen. Wir haben die sichersten Andeutungen, daß leider die Tage des Grafen Greuth und des Ministers des Innern und anderer für uns so unschätzbarer Männer gezählt sind, daß man mit Reformen umgeht, die Alles ins Weite schieben können.“
— „Besorgen Sie nichts! Noch stehen die Genannten fest. Und wenn sie fallen, — immerhin! — es kommt zu spät. Reformen? Ohne Zweifel bekommen wir ein oder das andere leidliche Gesetz. Wir sind aber in ein Stadium getreten, wo man die Gabe nicht mehr will wegen der Hand, aus welcher sie kommt. — Die Liebe ist dahin, — und wenn sie Jeden, der dies behauptet, auf die Festung schicken, bis das ganze Land in den Kasematten, — sie ist doch dahin! Sie wissen, was ich von der Liebe überhaupt, geschweige denn von jener des Volkes halte; man kann nicht durch die Liebe allein regieren, aber auch nicht ohne sie. Sie ist die Musik zum Tanze der Unterthanen. Sie tanzen jetzt nur[S. 323] nach dem Taktstocke des Kapellmeisters. Die besten Gesetze haben keinen Klang mehr, sie tönen höchstens wie Nothschüsse eines sinkenden Schiffes.“
— „Mögen Sie recht sehen! Aber über das Wesentlichste sind wir nicht im Reinen. Ihre Idee ist in drei Worten zusammengefaßt die, das Sistem so zuzuschärfen, daß die Spitze bricht. An wem soll sie aber eigentlich brechen? Am Volke?“
— „Was verstehen Sie unter Volk?“ fragte Kollmann statt zu antworten.
— „Die sogenannten untern Stände den sogenannten höheren gegenüber.“
— „Ich verstehe darunter diejenigen, die das was man Recht nennt gegen das was man Vorrecht nennt, vertheidigen. Der Bäcker, der den Zunftzwang — das Vorrecht — gegen Gewerbfreiheit — das Recht — vertheidiget, gehört nicht zum Volke, sondern zu den Privilegirten. Mein Volk ist in allen Ständen vertheilt.“
— „Eine Auffassung, vor der ich meine aus einem andern Gesichtspunkte gegebene Definizion gern zurückziehe. Aber die Frage ist damit noch nicht beantwortet.“
— „Verzeihen Sie, lieber Freund, Alles was Sie von Druck, Aufschnellen, Spitze abbrechen, sagen können, ist Metafer, Gleichniß, und läßt sich[S. 324] nicht bis in die Details auf die Wirklichkeit anwenden. Der Prozeß geht einfach so: Eine Provinz erhebt sich. Die Regierung macht entweder den Versuch die Rebellion mit Gewalt niederzuschlagen, oder durch Zugeständnisse zu entwaffnen. Der erstere hat unter den gegenwärtigen inneren, noch mehr unter den äußeren politischen Konjunkturen wenig Wahrscheinlichkeit des Gelingens. Konzessionen aber, welche unmöglich auf Eine Provinz beschränkt bleiben können, führen zum repräsentativen Sistem, welches mit dem Zerfall unseres Staates gleichbedeutend ist.“
— „Ein lyrischer Sprung, zu dem meinem Verstande die Schnellkraft fehlt.“
— „Sie werden ihn keineswegs gewagt finden, wenn Sie mir zugeben, daß mit der Ursache auch die Wirkung wegfällt. Was die Gewalt zusammengehalten, fällt mit ihrem Aufhören auseinander.“
— „Ich leugne den Vordersatz in Betreff Ihres Staates; die Bindemittel der einzelnen Theile dieses naturwidrigen Organismus waren ganz andere —“
— „Fürs Erste, lieber Wangerode, gibt es keinen naturwidrigen Organismus. Selbst der Bucklichte, oder das Kind mit zwei Köpfen, sind nicht gegen das Gesetzbuch der Natur organisirt, sondern nur nach einer kleingedruckten Ausnahme in demsel[S. 325]ben geschaffen. Fürs Zweite ist unser Staat überhaupt kein Organismus, sondern ein Mechanismus und zwar einer der einfachsten, nämlich ein Faß. Was hält seine Dauben zusammen? Ein Druck von außen, der den Reif — entbehrlich macht, oder der Reif allein. — Der Druck von außen war die sogenannte politische Nothwendigkeit, das Drängen mächtiger Nachbarn, welche gewisse Völkerschaften zwangen, gleichsam als Quarré nach allen vier Winden hin Front zu machen. Dieser Druck hat sich in das Gegentheil verwandelt: die wichtigsten Bestandtheile sehen im Nachbar keinen Feind, sondern simpatisiren nach allen Weltgegenden nach Außen. Lassen Sie sich nicht irre machen von dem offiziellen Geschwätz, von „Millionen“, welche ein gesammtstaatliches Gefühl durchdringen soll: sie existiren nicht. Die Dauben wollen auseinander; und der Reif, — der kräftige, auf eine zahlreiche Armee und den Gegensatz der Nazionalitäten gestützte Absolutismus allein könnte sie halten. — Noch gibt es ein Drittes: denken Sie sich die Dauben geleimt, verkittet, da sie nicht organisch verwachsen können. Der Kitt ist die Liebe, — die in früheren Zeiten durch kluge Popularitäts-Apparate geweckte dinastische Simpatie. Durchreisen Sie unser Land, und zeigen Sie mir ein Stück von dem Kitt, groß[S. 326] genug, um dieses Kajütenfenster in seinen Fugen zu befestigen!“
— „Wolle Gott, daß Sie nicht durch eine rosenfarbene Brille sehen! Es mag Sie befremden, aus meinem Munde Zweifel und Besorgnisse zu hören. Unsere Londoner Klubs dürften mich nicht so sprechen hören. Wir, vom Generalstabe, dürfen die Möglichkeit widriger Ereignisse erwägen; der Mannschaft muß man Tag für Tag vorsagen: Morgen werdet Ihr siegen! Diese Leute sind nicht fähig, sich mit der Erreichung von vorbereitenden Zuständen, von Uebergängen zu begnügen, ein Feld mit ihrem Schweiße zu bearbeiten und mit ihrem Blute zu düngen, auf welchem eine künftige Generazion ernten soll. Ich gehe — Sie wissen es — unerschütterlich den Weg fort, den ich für den rechten halte, ich habe aber in den zehn Jahren so viele unausbleibliche Ereignisse dennoch ausbleiben gesehen, daß ich Nichts mehr für wirklich halte als das Vollbrachte. Allein hundertmal fehlschlagend muß unsere Sache doch siegen: die Einheit Deutschlands. Sehen Sie nicht, wie an der Flamme jeder europäischen Krisis die deutschen Souveränitäten zusammengeschmolzen sind? Vergleichen Sie deren Zahl nach dem westfälischen mit jener nach dem pariser Frieden! — In fünfzig Jahren gibt es vielleicht drei[S. 327] deutsche Staaten. Allerdings ein Ideengang, der die Köpfe unserer Emigrazion bedeutend abkühlen würde. Was fragen sie darnach, was nach fünfzig Jahren sein wird?“
— „Ein Ideengang, den auch ich nicht theile, da ich die Entscheidung aus voller Ueberzeugung näher sehe. — Ich habe Ihnen nach den Mittheilungen, deren Gewicht sie nicht verkannt haben, noch eine von geringerem Belange zu machen. Ich versäume nicht, wo ich kann, auch auf Individuen in unserem Sinne zu wirken, und habe Hoffnung in kürzester Zeit einen jungen Mann, der sich in keiner Weise bisher an Politik betheiligte, für die Sache, die Sie vertreten, zu gewinnen. Er ist der Sohn eines reichen Fabrikanten, welcher vielleicht durch meine Konkurrenz einigermaßen zu leiden haben wird, aber vermöglich genug bleibt, um beachtet zu werden. Er ist nicht auf unserem Wege zu brauchen, sondern nur auf dem der direkten Opposizion; ein gewisser Korbach. Ich werde Ihnen seiner Zeit berichten.“
— „Auch ich habe noch eine persönliche Angelegenheit zu besprechen. Richard Forster, von dem ich Ihnen bereits Einiges mitgetheilt, ist auf dem Schiffe. Eine Viertelstunde von uns liegt eine genuesische Brigg, — der Bronte, vor Anker. Ich[S. 328] lasse Richard vor Tagesanbruch nach derselben hinüberführen, da der Bronte im Hafen landet, während wir, sobald Sie uns verlassen haben, uns entfernen. Richard wird sich, mit richtigen Papieren versehen, in Ihrem Lande aufhalten; Sie werden ihn kennen lernen und finden, daß in dem jungen Menschen viele Zukunft. Er steht unter dem besondern Schutze des Lords, wird unsern Zwecken so zu sagen als Volontär dienen, ist treu wie Gold, aber Idealist; man muß ihn seinen Weg gehen lassen. Wenn Sie ihn sehen, werden Sie begreifen, daß die Weiber, — um die er sich nicht viel kümmert, sich desto mehr um ihn bemühten. Er hat kaum sein zweiundzwanzigstes Jahr hinter sich; ich habe selten ein solches Gemenge von poetischen Anschauungen und scharfem Blick im Leben gefunden; dabei ein froher Lebensmuth, nach so vielem Traurigen, was ihn getroffen, — und eine unbegrenzte Verwegenheit. Ich habe eine Szene mit angesehen, wo er einen mit Säbel und Pistole bewaffneten Franzosen auf eine Insulte gegen die Deutschen augenblicklich mit seinem Stock angriff; — er lachte hell auf, als der Schuß an seinem Ohre vorüberpfiff, parirte einen Säbelhieb, warf den Franzosen nieder und drückte ihm die Handgelenke wie in einem Schraubstocke mit seinen eisernen Sehnen zusammen, die Niemand in dem[S. 329] schlanken Burschen suchen würde, — bis er widerrief. — Vielleicht können Sie ihm während seines Aufenthaltes im Hafen eine bestimmte Richtung geben?“
„Gewiß; aber warum machen Sie mich nicht hier mit ihm bekannt?“
„Ich schlug es ihm vor, aber er will, wie er sagte, am hellen Tage Land und Leute kennen lernen, und man kann, bei seiner etwas ausnahmsweisen Stellung, auf seine Laune eingehen.“
— „Das ist gleichgültig; ich werde mir seine Person jedenfalls angelegen sein lassen.“
— „Und nun, theurer Freund, nochmals Dank für Alles! Sie sind durch Ihre Thätigkeit ein Mann geworden, der für uns den Werth von Hunderten hat! Wir können uns nur freuen, Sie in einer Lage zu sehen, welche Ihre Aufgabe erleichtert, indem Sie, nach beiden Seiten gedeckt, mit voller Ruhe des Gemüthes arbeiten können. Hält sich die Regierung, so bleiben Sie der einflußreiche Industrielle und Kapitalist; fällt sie, so sind Sie durch uns geschützt. Fahren Sie fort zu wirken und seien Sie überzeugt (Wangerode sprach mit besonders herzlicher Betonung), daß das dankbare Auge der Vaterlandsfreunde Sie überall begleitet, daß Ihnen überall eine Hand zur Seite, welche aufzeichnet, was Sie[S. 330] vielleicht zu unbedeutend finden, um sich dessen zu rühmen!“
Ob sich Kollmann in der aufzeichnenden Hand nichts als eine Schreibfeder dachte, ist schwer zu entscheiden. Er schloß mit den Worten: „Zählen Sie auf mich, wie ich auf Sie, — mögen wir uns bald am Ziele wiedersehen!“
Wangerode geleitete ihn aufs Verdeck.
Eben strahlte das Feuerwerk und die Beleuchtung der Villa in vollem Glanze.
Sie sahen einander an und ein Lächeln zuckte über die bleichen Wangen Kollmann’s und über das kräftige Gesicht des Demokraten.
„Was haben sie da oben?“ fragte Wangerode.
„Sie tanzen; der Prinz August Ernst illuminirt zu seinem Geburtstage. Sie wollen die Wölfe der ernsten Zeit durch Feuerschlagen verscheuchen.“
„Gott erhalte sie so! das Uebrige werden wir machen!“
— — — — — — — — — — — —
Als sich das Boot mit Kollmann entfernte, und Wangerode über das Verdeck zurückschritt, rief ihm eine Stimme vom Vordertheile des Schiffes zu: „Sind Sie einmal fertig, Sie langweiliger Verrina? Kommen Sie doch her und schauen Sie mit mir das göttliche Bild an! Wie sich der Mond durch[S. 331]arbeitet, und mit dem bloßen gestohlnen Widerschein der Wahrheit die ganze Pracht der feurigen Lügendemonstrazion todtschlägt! Steht nicht der Leuchtthurm dort wie die Salzsäule eines dem Sodoma da oben Entlaufenen?“
Richard Forster lag auf seinem ausgebreiteten Marinaro am Boden, den Kopf in die Hand gestützt, über welche die vollen braunen Locken von der edlen Stirn fielen und sah mit großen, dunkeln Augen zu dem Herantretenden empor, dem bei diesem Anblicke alle Bilder ins Gedächtniß kamen, alle Antinous, Mazeppa, und was sonst Künstler und Künstlerinnen aus diesem herrlichen Modell herausgefunden. Da er sich jedoch nie dazu hergab und man seiner blassen Züge, auf welchen Etwas wie ein Kampf der Finsterniß mit dem Lichte, aber auch der Sieg des Letzteren lag, — auf ehrlichem Wege nicht habhaft werden konnte, so stahl man sie so gut es ging, und der jetzige Augenblick war ein solcher, wo man dem Raube Berechtigung zuerkennen mußte.
Wer aus diesem Munde einmal ein Gedicht von Byron, Heine oder Freiligrath gehört, konnte sich kaum denken, wie derselbe sich zu einem Matrosenfluche öffnen könne; und doch war nach Stimmung und Umgebung das Eine bei ihm so gut möglich wie das Andere.
„Wir haben,“ sagte Wangerode, „eine Besprechung gehabt, bei deren einem Theile mir Ihre Gegenwart sehr erwünscht gewesen wäre.“
„Und ich danke Ihnen, daß Sie mir das Vergnügen der Bekanntschaft dieses scheußlichen Kerls erspart haben. Seine Eisbärenaugen leuchteten herüber, daß ich unwillkürlich nach meinem Terzerol suchte.“
„Doch ist dies der Mann, dem unsere Sache viel verdankt“ —
„Kann sein. Bei Tag mag er aussehen wie ein ehrlicher Mensch; — in der Nachtbeleuchtung sieht er einem Schuft gleich. Sie wissen, was Sie von meinen ersten Eindrücken zu halten haben!“
„Sie sollen ja vor der Hand nichts als sich ihm vorstellen“ —
„Dem da? Vielleicht der Vizepräsident der künftigen Republik, deren Präsident vor mir steht? Hinter dem Gesicht steckt Einer von denen, die Euch bei Euern wunderbaren Kombinazionen dienen sollen und bei der ersten Gelegenheit verrathen.“
„Davor wird sich dieser hüten. Wir haben unsere Bürgschaften.“
„Ihr seid von einer Schlauheit, daß man nicht begreift, wie jemals Einer von Euch gehenkt werden konnte.“
„Ich hoffe, die Sache nicht begreiflicher zu machen. — Sie werden aber, lieber Richard, den Wunsch des Lords nicht vergessen, sich in gewissen Angelegenheiten manchmal dem meinigen zu fügen. Thun Sie es ihm zu Liebe! Dieser Kollmann ist Ihnen jetzt widerlich, vielleicht gewinnen Sie ihm eine andere Seite ab.“
„So sei es denn, — ich verspreche es um seinetwillen.“
„Und nun gehen Sie zur Ruhe: Sie bedürfen Stärkung für Vergangenheit und Zukunft!“
„In der nächtlichen Heerschau über meine Todten werde ich sie am Besten finden! — Lassen Sie mich wach den Morgen begrüßen, an dem es über den Rubikon geht. Ich kann mir einigermaßen die Stimmung denken, in welcher der rebellische Militärgouverneur von Gallien seinen Gaul ins Wasser trieb, um gegen die Freiheit zu kämpfen, welche damals auf Seite der Regierung stand. Er hat die Nacht vorher vermuthlich auch nicht geschlafen!“
— Wangerode verließ das Verdeck und Richard blieb allein mit den Gedanken, die er seine nächtliche Heerschau genannt.
Vor ihm stand das Bild seiner schönen Mutter, wie sie ihm und seiner Schwester erzählte von den Tagen ihrer Kindheit, die sie in den Bergen der[S. 334] Heimat Ossians verlebt... die Gestalt des Vaters, der sie nach dem Lande unserer Geschichte geführt... die Stunde, wo die Sturmglocke ertönt, Feuerschein durch das Fenster gedrungen war, und der Vater, mit einer dreifarbigen Schärpe umgürtet, vom Federhut bedeckt, sich aus den Armen der Kinder gerissen. — Wie sie ihn dann ins Haus getragen, mit der Todeswunde in der Brust, wie er den Knaben gesegnet und mit brechendem Auge gesprochen: Ich bitte Gott, daß er dir das Glück schenke, für die Freiheit zu leben und zu sterben wie ich! —
Nach wenigen Wochen war ihm die Mutter gefolgt. Ihr Vermächtniß war ein Blatt an den Lord. — Er hatte sie geliebt, — nie vergessen, als sie Forster nach Deutschland folgte, — und was er im Augenblicke der Trennung gelobt, ihr Freund zu bleiben für immer, — das hielt er über das Grab hinaus mit einer Treue, als erfüllte ihn statt der Erinnerung an eine unerwiderte Liebe, jene einer glücklichen.
Er ließ die Kinder nach England kommen, wo sie unter seinen Augen erzogen wurden. Allein der Wunsch des Beschützers, Richard daselbst einen bestimmten Beruf ergreifen zu sehen, ging nicht in Erfüllung. Mit einer Anzahl von Talenten ausge[S. 335]stattet, deren jedes hingereicht hätte, ihm eine feste Stellung zu sichern, rastlos an seiner Bildung arbeitend, beharrte der Jüngling auf dem Entschlusse, im Geiste der letzten Worte seines Vaters in dem Lande zu wirken, wo derselbe den Tod gefunden. Er betrachtete England als seine Schule, und sammelte einen Schatz von Erfahrungen, welche in der Glut seines jungen Herzens zur Rüstung für den Feldzug geschmiedet wurden, welcher seine Existenz ausfüllen sollte. — Im Hause des Lords mit der Elite der Gesellschaft, in den Tavernen der Emigranten mit dem entgegengesetzten Pole derselben in Berührung, nahm er weder von den Vorurtheilen des einen noch von der Rohheit des andern Elementes Etwas in sein Inneres auf, ob ihm gleich die Formen Beider geläufig waren. — Der Logik Wangerode’s und der andern Comitéhäupter blieb er unzugänglich, und erkannte nur zwei Mittel als der Sache der Freiheit würdig: Ueberzeugung durch Ueberredung, — und offenen Kampf.
Als ihm auch die blühende Schwester durch ein Ereigniß, das wir später vernehmen, entrissen wurde, trat er, von ihrer Leiche kommend, vor den Lord und sagte ihm den Entschluß nach dem Kontinent zu gehen. — Sein Beschützer hatte, da er den Vorsatz nicht zu erschüttern vermochte, Richard zu[S. 336] dem, was er seine Sendung nannte, und was seinen eigenen politischen Prinzipien eben nicht ferne lag, ausgerüstet, und ihn Wangerode und dem Kapitän empfohlen.
— Als der Morgen graute, fuhr er nach dem genuesischen Schiffe hinüber, dessen Rauchsäule bald zwischen den Masten der am Quai liegenden Schiffe emporwirbelte, während die Aegina nur noch ein Punkt auf hoher See war.
Wir dürfen nur Richard Forster folgen, wie er mit leuchtendem Blicke und stolzem Gange über die Landungsbrücke schreitet, — um wieder im Hôtel bei unsern Freunden anzulangen.
— — Die Nacht auf dem festen Lande war nicht weniger bewegt als auf dem schwankenden Schiffe.
Sprenger hatte sich resigniren müssen, sein gediegenes Elaborat allein zu Ende zu schreiben. —
Arnold, von dessen Selbstbeherrschung wir einige Beweise erhielten, hatte dieselbe im Augenblicke von Klotildens Mittheilung vollständig verloren. Er hatte sich nicht wenig auf die Repressivmaßregeln zu Gute gethan, womit er alle Ausbrüche seines Gefühls niederzuhalten wußte; — nun brach in einer Sekunde der ganze Bau zusammen.
Seine Begleiterin war nicht wenig erstaunt, als er bei ihrem letzten Worte ihre Hand faßte, und mit einer Heftigkeit, die alle Schranken der Galanterie übersprang, ausrief: „Und das haben Sie mir verschwiegen? Das verzeihe Ihnen Gott!“
„Ich glaube, daß dieß eine der geringsten Sünden ist, die mich am jüngsten Tage belasten werden,“ erwiederte sie befremdet und sah lachend in seine von zorniger Erregung funkelnden Augen — „aber Korbach! so blond und so heftig! — Sehen Sie, das gefällt mir. Ich begreife auch jetzt Alles, seien Sie ruhig, ich werde gut machen, was ich verbrochen!“ —
„Ich bitte Sie,“ entgegnete er — „wenn Ihnen irgend etwas auf der Welt heilig ist, machen Sie Nichts gut, — vergessen Sie diese Bitte, — meinen früheren Ausruf — geben Sie mir das einzige Versprechen, Nichts zu denken und Nichts zu thun!“ —
Mit jedem Worte fühlte er lebendiger die Unbesonnenheit seines ersten. Sie war nicht ungeschehen zu machen.
Klotilde antwortete ernst und ruhig: „Nicht zu denken kann ich wohl kaum versprechen, ich rede ehrlich mit Ihnen und wünsche, daß alle Tugend[S. 338]spiegel so wenig falsch zeigen als ich. Daß ich nicht sprechen werde, schwöre ich Ihnen; schlafen Sie ruhig, und glauben Sie, daß Sie um meinetwillen Ihren Ausruf nicht zu bereuen haben!“
Hierauf wendete sie sich rasch um, die Treppe allein hinaufeilend.
— — Ein Paar Minuten später trat Arnold in Sprenger’s Zimmer. Ein Blick auf die glühenden Wangen und verstörten Mienen verrieth letzterem einen Gemüthszustand, welcher seine Erklärung nicht wohl in den Ballgenüssen der Villa finden konnte.
Nach einigen Fragen und zerstreuten Antworten sagte er: „Arnold, du bist in der Verfassung eines Menschen, der ein Unglück erlebt hat oder eines hereinbrechen sieht. Ohne mich in deine Geheimnisse zu drängen, bitte ich dich, dir Ruhe zu gönnen, du bedarfst ihrer.“
Arnold erwiederte: „Schilt mich närrisch oder was du sonst willst, sage mir nichts von Ruhe — ich danke dir, daß du für mich gearbeitet, jetzt wäre ich zu Allem unfähig. Leb wohl!“ — Und damit war er wieder zur Thür hinaus, ehe Sprenger noch eine unnütze Frage an ihn richten konnte.
— — Wenn die vierundzwanzig Tischgäste des Banquiers Franchini hätten zusehen können, wie der[S. 339] Repräsentant des Hauses Korbach und Sohn nicht eine, sondern ein Paar Stunden die Contrada grande von einem Ende zum andern durchmaß, bis er mit der Architektur sämmtlicher Gebäude vertraut war: sie hätten nach den gehörten salbungsvollen Tischreden den höchsten Begriff von seiner Vielseitigkeit bekommen. Was er daselbst eigentlich gedacht oder gewollt, hätten sie aber so wenig gewußt, wie er selbst.
Schwerlich konnte er glauben, daß Julie auf dem Balkon stehen geblieben, — und, nachdem er mit der Begleiterin vorübergegangen, abgewartet habe, bis es ihm genehm sein würde, ohne dieselbe zurückzukehren. Eben so wenig ließ sich im gewöhnlichen Lauf der Dinge voraussetzen, daß während der Stunden von zwei Uhr Nachts bis zum Morgen sich passende Gelegenheiten zu Erklärung von Mißverständnissen, zu einem, das erste, einseitige Wiedersehen verlöschenden zweiten ergeben würde.
Der gewandte und besonnene Missionschef glaubte weder dieß noch irgend etwas Anderes — er mußte nach der Contrada grande, weil er nicht anders konnte; — die Flut seiner dreiundzwanzig Jahre hatte den Damm durchbrochen und trug ihn dorthin, wo er ihr nahe. — Weiter dachte er Nichts,[S. 340] und wir freuen uns, ihn einmal so ganz außer sich, ohne warum und wozu, ohne Reflexion und sogenannte gesunde Vernunft im Mondscheine umherlaufen zu sehen. Denn wenn er heute Nacht vernünftig gewesen wäre, so hätt’ er nicht verdient, daß Juliens Augen um ihn naß geworden.
Gleich Kindern vor der geschlossenen Thüre des Saales, worin der Weihnachtsbaum flammt, standen vor der Pforte des anbrechenden Tages alle Freunde und Freundinnen, welche der Lauf der Begebenheiten in der Hafenstadt zusammengeführt, — sammt allen Bewohnern der letzteren, — mit klopfendem Herzen, Jeder der ersehnten Gabe harrend.
Und reich mußte der Baum behangen sein, wenn Jeder zufrieden den Abend begrüßen sollte!
Im glänzenden Wipfel eine Blume, ein Selam des Wiederfindens — für Julie; — der gleiche Selam, mit der prosaischen Zugabe eines rothgesiegelten Kontraktes mit der Korbacher Fabrik — für Arnold; zum Theile für Sprenger; — an einer dunkeln Stelle zwischen den Zweigen ein Blatt der Erfüllung, nach jenem der Verheißung, von Klotilde, für den Prinzen; — am Stamme, da die Aeste zu schwach aufgehangen von der Hand des erwarteten[S. 342] Monarchen, ein goldenes Füllhorn voll Orden, Adelsverleihungen und Zufriedenheitsbezeigungen für die Stadt — — selbst Richard Forster, mit einem, kräftigen und fantasiereichen Naturen häufig eigenen Aberglauben, wünscht am ersten Tage einem simpatischen Gesichte, einem ihn verstehenden Auge zu begegnen, als glückliches Omen seiner Zukunft. —
Nur der Monarch erwartet Nichts. Die letzte Zeit hat ihm alle Freude an den Bescheerungen seiner Unterthanen vergällt. —
— Die erste Hand, die am Morgen nach dem Baume langte, war jene, deren Marmorbild Professor Harkeboom besitzt. — Julie stand am Toilette-Tische, faltete ein Billet zusammen und reichte es ihrer getreuen Martha, die sie auf die Reise mitgenommen, mit den Worten: „An Frau Zeltner, — bring’ es ihr gleich!“ —
Das Mädchen, welches die Gebieterin genau kannte, warf einen Blick auf die Adresse und fragte nach dem Wo? — Julie begriff zwar, daß dieses ein wesentliches Erforderniß zur Bestellung eines Briefes, vermochte aber dem Uebelstande nicht abzuhelfen.
Sie standen einander gegenüber, Julie lachend, das Mädchen lächelnd, und so hübsch auch die Stellung der Ersteren war, wie sie, die linke Hand in die Hüfte gedrückt, den Zeigefinger der rechten zwischen[S. 343] den schönen Zähnen, nachsann, — so blieb das Ergebniß doch das gleiche, daß nur eine Rundreise durch die Hafenstadt oder polizeiliche Nachforschung ans Ziel führen könnte.
Als Julie, deren praktische Seite nicht ihre stärkste, den Knoten mit den Worten zerschnitt: „Geh nur einmal damit fort, du wirst dich schon zurechtfinden, du kannst ja Alles!“ — flog die Thür auf, — und Klotilde trat ein.
„Ich kann den Tag nicht drei Stunden alt werden lassen, liebe, theure Freundin, ohne Sie zu begrüßen! Heute Nacht sah ich Sie einen Augenblick, unter Ihrem Balkon vorübergehend, als ich vom Balle in der Villa kam, mit Korbach, demselben jungen Manne, der bei meinem letzten Besuche im Freinhofe eben dahin kam.“
„Auch ich habe Sie gesehen,“ erwiederte Julie, „und hätte Ihnen wenigstens eine gute Nacht hinabgerufen, wenn Sie nicht in dem Moment weggesehen, wo ich Sie erkannte!“ —
„Eine Täuschung, wie sie eben die Nacht mit sich bringt! Um so freudiger sehe ich Sie am Tage wieder!“
Julie zog sie aufs Sofa zu sich und das lebhafteste Gespräch begann.
Einen eigenthümlichen Reiz, der in der ange[S. 344]bornen Malice der menschlichen Natur begründet ist, gewährt dem Zuhörer eine Unterredung, in welcher jeder Theil sich vornimmt, den andern auf einen bestimmten Gegenstand zu bringen und dabei festzuhalten, keiner nachgeben will, — dem Andern ein Paar Schritte weit auf dem ablenkenden Wege mit erzwungener Aufmerksamkeit folgt, und ihn sogleich wieder nach der eigenen Richtung zu ziehen versucht.
Die beiden Frauen hatten ihr vorgestecktes Ziel im Auge. Klotilde kam mit jeder Wendung auf den Reisezweck der Kollmanns zurück, und Julie drehte mit leichter Bewegung das Steuerrad der Unterhaltung unermüdlich gegen Arnold hin, bis endlich Erstere einsah, daß es das Klügste sei, die verworren durcheinander klingenden Tonstücke zu trennen und nach einander aufzuführen, und gewissenhaft Alles, mit Ausnahme der gestrigen Schlußszene, berichtete, was sie von ihrem Begleiter wußte.
Es läßt sich nicht leugnen, daß Juliens Urtheil und Einsicht in Geschäftsgegenstände auf einer sehr primitiven, kindlichen Stufe der Entwickelung stand. Ihre Jugend hatte keine Veranlassung geboten, sich mit dergleichen zu befassen. Kollmann hatte sie nie in seine Angelegenheiten eingeweiht, wonach sie auch kein Verlangen trug, und so lebhaft der Antheil war, welchen sie in letzter Zeit der Metallfabrikazion zuge[S. 345]wendet, so äußerte sich derselbe mehr in der Bewunderung der gewaltigen Räder, Walzen und Wasserbauten, als in einer Frage, wie die entstandenen Platten und der glänzende Draht zum Gegenstande des Erwerbes, zur Basis einer wohlhabenden Existenz würden.
Auch die Ideen von gegenseitig sich bekriegender Spekulazion und Konkurrenz, — die eröffnete Campagne Kollmanns gegen die Interessen Arnolds, waren ihr nicht klarer, als der Rückzug der zehntausend Griechen unter Xenophon.
Klotilde dagegen, welche die Andeutungen Günthers, daß Kollmann vielleicht Etwas beim Prinzen zu suchen habe, mit den Mittheilungen Arnolds zusammenhielt, begriff den Hauptumriß der Fehde, und versuchte aus Julie irgend Etwas herauszubringen, was einen festen Anhaltepunkt böte. — Unter vielen zerstreuten Antworten tauchte endlich etwas Brauchbares auf. Julie sagte, Kollmann habe sich geäußert, er wollte dem Balle in der Villa nicht beiwohnen, weil er mit dem Prinzen in keine Berührung zu kommen wünsche. — Klotilde war nun zwar über den Zweck der Reise vollkommen im Dunkel, aber wenigstens darüber beruhigt, daß Kollmann keinen auf der Galanterie des Prinzen gegründeten Plan verfolge.
Die freundschaftliche Wärme der beiden Frauen nahm unglaublich zu mit der Ueberzeugung, daß sie von einander Nichts zu fürchten hatten.
Julie, welche bereits nach der heftigen Aufregung der Nacht hierüber mit sich ins Reine gekommen, wurde durch die angehörte Erzählung bestärkt, und Klotilde fühlte die Theilnahme für das Wohl und Wehe der Freundin lebhafter erwachen als je. Sie sprach von Arnold so viel diese hören wollte, und drückte im Tone des Vertrauens die Ueberzeugung aus, daß Kollmann etwas demselben in seiner ganzen Existenz Nachtheiliges beabsichtige.
Julie erschrak, verlangte nähere Aufklärungen und erhielt sie so vollständig oder unvollständig, als sie gegeben werden konnten. Sie begriff, daß die Beiden einander in ihren Interessen als Todfeinde gegenüber ständen und schwieg nachdenklich. Klotilde stand auf und fragte, ob sie Arnold, der nach dem Besuche im Freinhofe ihr doch vermuthlich auch hier einen zugedacht, Etwas melden solle? — Nach kurzem Besinnen erfolgte die Antwort: „Er soll mich nicht besuchen. Ich werde aber um vier Uhr die Gemäldesammlung der Akademie besuchen, und mich freuen ihm dort zu begegnen. Wie kann ich aber Sie treffen, liebste Klotilde?“
„Ich verlasse heute das Hôtel, um eine Privat[S. 347]wohnung zu beziehen, da ich vielleicht einige Wochen hier bleibe; Sie würden mich in dem ersten Gedränge der Angelegenheiten, die mich hieherführten, kaum treffen, — ich komme lieber, so oft ich mich frei machen kann, zu Ihnen!“
Bei diesen Worten trat Kollmann ein; das Gespräch verlängerte sich und die Erzählung des Balles bildete den Hauptgegenstand. So vorsichtig Klotilde gewisse Gegenstände berührte, wurde, unter dem Einflusse der unbezwinglichen Eitelkeit, doch des Prinzen einer Weise erwähnt, daß Kollmann tiefer in den Zusammenhang blickte, als sie dachte. Auch das Gespräch Arnolds mit dem Prinzen schilderte sie, um ihn zu ärgern, mit lebhaften Farben. Er hörte anscheinend gleichgültig zu.
Als sie fortgegangen, begab er sich sogleich zu Plomberg, welchen er bereits Tags zuvor gesprochen. Er traf ihn, in Folge eines nach dem Balle mitgemachten Gelages, mit Kopfschmerz behaftet, in der übelsten Laune. Nachdem aus seinen halben Antworten hervorgegangen, daß die allerhöchste Ankunft telegrafisch auf zwölf Uhr angesagt sei, sagte er: „Lieber Oberst, ich habe Sie um einen Freundschaftsdienst zu bitten, der für mich den größten Werth hat. Sie müssen mich auf die Audienzliste bringen.“
— — „Das geht nicht durch mich; der Gouver[S. 348]neur gibt dem General-Adjutanten eine Liste, sie machen das mit einander, ich scheere mich um diese Ceremonien nicht.“
— „Sie werden aber doch mit dem Grafen Greuth ein Wort für mich reden können“ —
— „Gott weiß wie er aufgelegt ist!“
— „Was fragt ein Mann wie Sie darnach? und schließlich — fuhr er in bestimmtem Tone fort — ist meine Bitte eine solche, die man selbst um einer kleinen Ungelegenheit willen einem Freunde nicht abschlägt. Oder glauben Sie, daß ich mich besinnen werde, Sie wieder auf die Liste zu setzen, wenn die schöne Frau Marianne Blauhorn in meinem Freinhof Audienz gibt, — wobei ich mein ganzes gewonnenes Terrain beim Finanzminister aufs Spiel setze?“
Hieran war dem Obersten wenig gelegen, wohl aber an Kollmanns Diskrezion der alten Gräfin Mersey gegenüber.
Es fällt hier einiges Licht auf einen sinnreichen Mechanismus des gewandten Ingenieurs. Frau Marianne Blauhorn besaß, wie wir wissen, bedeutenden Einfluß auf den Finanzminister. Von dem Augenblicke an, wo die Bemühungen des Obersten um sie, welchen Kollmann die Wege geebnet, von Erfolg gekrönt waren, hielt er Beide in doppeltem Schach. — Frau von Blauhorn wußte, daß ein einziges billet-[S. 349]doux Plomberg’s zugleich der Scheidebrief zwischen ihr und dem Minister wäre, und hing von Kollmann’s Verschwiegenheit ab. Der Oberst war überzeugt, daß die Mersey augenblicklich die Schuldenzahlungen einstellen würde, wenn sie von seinen Beziehungen zur schönen Hofräthin eine Ahnung hätte.
Diese Reflexion mochte ihm wieder vorschweben als er sagte: „Nun denn, in Teufelsnamen, damit sie nicht an meiner Freundschaft zweifeln, — ich getraue mich, es durchzusetzen, obwol die Liste fertig. Kommen Sie um halb ein Uhr. Aber Eins muß ich wissen, den Zweck der Audienz.“
„Sehr gern, und wenn Sie ihn nicht billigen, nehme ich meine Bitte zurück.“
Kollmann theilte ihm sein Vorhaben mit, das wir bei der Audienz selbst erfahren. — „Das wird jedenfalls refüsirt, erwiderte Plomberg, ich weiß einen ähnlichen Fall von Seite des Fürsten Leuchtendorf, und man wird Ihnen keine andere Antwort geben als ihm.“
Kollmann wußte dieß so gut als der Obrist. „Glauben Sie dessen ganz gewiß zu sein?“ fuhr er fort. —
„Ganz gewiß, der Monarch müßte denn seine Ansicht geändert haben, und das thut er nie.“
Kollmann dankte und empfahl sich. Plomberg aber sagte zu sich: „Es geschieht Einem Recht, wenn man sich unvorsichtig einem solchen Kerl in die Hand gibt; aber vielleicht ists gut, — der Zweck der Audienz kann demjenigen, der ihn aufgeschrieben, keinesfalls schaden.“
Dabei nahm er aus seinem Portefeuille die Liste, die er bereits gestern mit dem Gouverneur für den Generaladjutanten entworfen, und setzte Kollmann’s Namen darauf. —
— Während hier Minen gegraben wurden, hatte Arnold seine Streitkräfte im offenen Felde entwickelt.
Den ganzen Morgen einsilbig und zerstreut, wurde er vom späten Frühstück mit Sprenger abgerufen nach Klotildens Zimmer, stand ärgerlich auf, ging mit einem Gesichte wie ein naßkalter Novembertag weg, und kam mit einem Junimorgen zurück. Klotilde hatte ihren Auftrag erfüllt. —
„Wenn ich gleich über das Ergebniß deiner Reise in Bezug auf den ostensibeln Zweck noch nicht urtheilen kann, sagte Sprenger, so scheint wenigstens, aus deiner Stimmung zu schließen, ein anderer erreicht?“
„Ich habe gestern geschwiegen, weil ich mich unglücklich fühlte und doch einsah, daß ich keinen Grund[S. 351] hatte. Heute ists anders, und ich weiß, daß dir dieß genügt, um dich mit mir zu freuen.“
Ohne weitere Uebergänge erwiederte Sprenger: „Und eben so glücklich, und noch mehr, wird dein Vater sein, wenn der Gegenstand deiner Liebe ein solcher, den du als seine Tochter, als Erbin von Korbach, in seine Arme führen kannst.“
Wenn Arnold am Besten that auf diese Frage zu schweigen, — so hatte Sprenger seinerseits die Ueberzeugung, daß die Hoffnungen seines alten Freundes auf eine Wahl, die das Glück des Sohnes gründen könne, einer Liebe gegenüberstehen, die nach seiner Auffassung zu keinem Heile führte. Er war bekümmert ohne es zu zeigen und hielt sich an die Hoffnung, daß es eine vorübergehende Leidenschaft sei.
Die Stunde, für welche Arnold zum Prinzen beschieden war, nahte, und er fuhr nach der Villa. August Ernst empfing ihn mit der größten Leutseligkeit, und ging in die Einzelnheiten des Elaborates ein. Er machte beim Durchblättern einige jener Bemerkungen, welche im Munde eines Prinzen für sachkundige gelten, ermächtigte ihn, sich beim Chef des Departements auf die günstige Ansicht zu berufen, die er gegen ihn aussprach, und verhieß möglichst schnelle Erledigung. Arnold sprach mit seinem[S. 352] Danke die Hoffnung aus, die Entscheidung, die er in der Hafenstadt abwarten wolle, mitnehmen zu können, und bat den Prinzen um seinen gnädigen Schutz für den Fall, daß er desselben gegen einen, seinem Interesse entgegengesetzten Einfluß bedürfen sollte. — Er entgegnete: „Seien Sie ruhig, es ist mir so Etwas angedeutet worden, allein ich sehe kein Motiv, meine Ansicht über Ihre Person oder Ihre Sache zu ändern. Melden Sie sich vor Ihrer Abreise jedenfalls bei mir.“
Im Marine-Departement fand er gleich freundliche Aufnahme. Der Direktor, mit allen Punkten der Vorlage vertraut, erklärte, daß der Einwilligung des Prinzen kein Hinderniß mehr vorliege und er nur dessen formelle Genehmigung einholen werde, und beschied Arnold für den nächsten Tag zur Unterzeichnung der Kontrakte. — Dieser forschte auch hier nach einer feindlichen Thätigkeit Kollmann’s und erhielt den Bescheid, daß derselbe fast gleichzeitig einen Antrag vorgelegt, aber den Bescheid erhalten, daß bereits ein anderer vorhanden, den man keinen Grund habe abzulehnen.
Arnold hatte schon gestern seine Angelegenheiten in so gutem Geleise gesehen, daß ihn die heutigen Erfolge nicht überraschten, doch kehrte er in der frohe[S. 353]sten Stimmung zu Sprenger zurück. Er fand ihn auf dem Balkon, im Gespräch mit Richard Forster. Dasselbe hatte sich auf höchst gewöhnliche Weise, über einen englischen Zeitungsartikel entsponnen, und, in ungewöhnlichen Wendungen, zu großer Wärme entwickelt. Man schien sich gut zu verstehen, Arnold wurde sogleich in den Gegenstand hineingezogen, aber mehr als der letztere fesselte ihn der junge Fremde, dem er, — jenem Zuge der Simpatie folgend, welche sich bei ihm im Augenblicke einer ersten Begegnung so entschieden aussprach als deren Gegentheil, — im Geiste die Hand reichte, ehe es noch leiblich geschah.
Und von allen Wünschen, womit der Morgen begrüßt worden, war jener Richards zuerst in Erfüllung gegangen, — die ernsten blauen Augen, in welche seine dunkeln, feurigen blickten, waren die als günstiges Omen ersehnten. Möge er nicht verlernen, an Vorbedeutungen zu glauben! — Diese Augen werden ihn nicht täuschen.... aber aus ihnen blickt nur die Treue Arnolds und nicht jene — des Glückes! Da keine geschäftlichen Abhaltungen mehr vorlagen, machte Arnold den Vorschlag, dem landesfürstlichen Empfange, zu welchem die Stadt gerüstet dastand, aus dem Wege zu gehen, und es wurde eine Fahrt nach dem sehenswürdigsten Gegenstande der Umgebungen, dem römischen Amfitheater, beschlossen,[S. 354] wodurch für ihn ein großer Theil der Ewigkeit, nämlich der Zeit bis vier Uhr, ausgefüllt wurde.
— — Bald nach ihrer Abreise kam die Ueberraschung mittelst Separattrains herangebraust.
Die Stadt ließ sich nicht überrumpeln; sie hatte den Bahnhof, wo sich auch der Prinz mit Gefolge eingefunden, mit Deputazionen, das Gouvernementsgebäude mit Ehrenwachen, sämmtliche Treppen mit Baum- und Blumenspalieren und einen Tisch im Appartement des Monarchen mit einem prachtvollen Dejeuner besetzt.
Prinz August Ernst hatte vergeblich auf das Glück gehofft, den Vetter auf der Villa zu beherbergen. — Mit einem Sprunge aus dem Wagen durchbrach derselbe, vom Grafen Greuth und andern säbelklirrenden Adjutanten gefolgt, das erste Hinderniß, die Anrede des tiefergriffenen Bürgermeisters, überflog die andern in weniger Minuten, als ihre Aufrichtung Stunden erfordert hatte, und war im Besitze aller festen Posizionen, ehe noch die Ofikleïden der Regimentsbande den letzten Takt der Volkshimne ausgeschmettert hatten.
Die Raschheit seiner Bewegungen war um so auffallender bei der ziemlichen Korpulenz seiner gedrungenen, untersetzten, mit Mühe in die Uniform gezwängten Gestalt. Erwähnen wir noch des dich[S. 355]ten, langen, schwarzen Schnurbartes, der das volle Kinn von der römischen Nase trennt, so haben wir genug gethan, um die Auffindung seines Portraits im gothaischen Kalender zu erleichtern, wenn man sich noch an die nähere Andeutung halten will, daß es von den vier Kaisern Europas jeder am allerwenigsten sein kann; eher einer der drei Uebrigen.
— Der Prinz, der Gouverneur, der Platzkommandant ziehen sich zurück. Der Monarch nimmt im Kabinet schnell sein Frühstück ein, vertauscht die Reiseuniform mit der Gala, — auf dem Platze ist die Generalität versammelt, — er sprengt nach dem Paradeplatz, wo die Garnison aufgestellt ist.
Sie defilirt unter den Klängen vielleicht der besten Militärmusik in Europa. Ihre Haltung ist vortrefflich, ihr Aussehen mahnt Jeden unwillkürlich an Wallensteins unhöflichen Brief an den Kaiser: „Hier ist ein Heer — schickt einen Heerführer.“ — Die wackeren Kommandanten, welche diesen Wunsch mit der Mannschaft theilen, werden belobt, — letztere bringt das dreimalige Vivat, zu welchem sie vor dem Ausmarsche aus der Kaserne die Erlaubniß erhalten hat, und der Herrscher galopirt an der Spitze der glänzenden Suite in dichten Staubwolken nach der Stadt zurück.
Es ist ein Uhr, die Stunde der Aufwartungen. Der Generaladjutant legt ihm die Liste derjenigen vor, welche des Glückes harren, einen Moment lang als Sonnenstäubchen im Glanze der Majestät zu spielen, — er überfliegt sie schnell und begibt sich nach dem Audienzzimmer.
Der anstoßende Saal, in welchem die Vorzulassenden warten, ist zur Hälfte gefüllt. — Drei zu unregelmäßigen Linien ausgedehnte Gruppen stehen hintereinander.
Die erste besteht aus den glänzenden, mit dem leichten Anstande der Gewohnheit getragenen Militäruniformen, gemischt mit einigen geistlichen Talaren. Hinter diesen die uniformirten Beamten, mit gepreßten Hälsen und gehemmter Blutzirkulazion, — die Jüngeren durch Herausbäumen der Brust sich eine Contenance gebend, dem Militär gegenüber; — Mancher auf seinen Nachbar schielend, um sich zu orientiren, wie der Federhut vorschriftsmäßig in der Hand zu halten. Endlich die glanzlose Schaar jener andern schwarztrauernden Civilisten, welche, sie mögen leisten was sie wollen, nicht als dem Staate dienend erscheinen.
Ein freier Raum ist zwischen diesen Reihen und der Thür des Audienzzimmers. An letzterer stehen zwei Adjutanten, deren einer, mit einer Gegen[S. 357]liste versehen, die Namen nach einer mit dem subtilsten Gradmesser ausgearbeiteten Skala dergestalt aufruft, daß in dem Augenblicke, wo ein Vorzulassender eintritt, ein Zweiter schon en réserve in dem freien Raume steht und ein Dritter sich aus den Reihen loslöst, so daß keine Sekunde Unterbrechung eintreten kann.
Das Prinzip des Dampfes und der Elektrizität ist auch in die Audienzen gefahren. Der Wind der sich schließenden Thür ist noch nicht verweht, so öffnet sie sich wieder, und ein Gesicht, über welchem der heiße rothe Glanz der verklärenden Minute liegt, tritt heraus und wird durch ein noch steifes, gespanntes ersetzt, welches im nächsten Augenblicke seinerseits als geschmolzene Wachslarve aus dem Brennspiegel der Majestät heraustritt.
Gleich die ersten Wiederkehrenden verbreiten eine erfrischende Atmosfäre im Saal. Der Monarch hat das große goldne Füllhorn in der Hand und schüttelt es über Jedem.
Die Stadt erhält die anderswohin verlegte, schmerzlich entbehrte Kadettenschule zurück — ein Militär-Schwefelbad wird auf Staatskosten gegründet — ein leerstehendes Aerarialgebäude wird der Gendarmerie überlassen — die engbrüstige gothische Domkirche wird mit einem modernen Ansatz erweitert —[S. 358] der titellose Bürgermeister Giordani wird mit der Anrede „lieber Regierungsrath Giordani“ empfangen — alle Gesuche werden reiflich erwogen und nach Thunlichkeit berücksichtigt werden. — Wenn man bedenkt, daß die Thürflügel sich sechsundfünfzigmal öffneten um Jemanden einzulassen, den der Monarch zu sehen erfreut war, so läßt sich annehmen daß seine summirte Gesammtfreude eine ganz andere sein mußte, als die der Einzelnen.
Nachdem die Militärs und Geistlichen dieselbe durchgenossen, kam die Reihe an die blaue Konsuls-Uniform Kollmann’s. Seine Audienz währte zum Staunen der Harrenden mindestens viermal so lange als die übrigen, den Bischof ausgenommen.
Vor den Monarchen tretend begann er:
„Fremd und mittellos in das Land gekommen, welches so glücklich ist, unter dem Zepter Eurer Majestät zu stehen, ist es mir unter dem Schutze der Gesetze gelungen, einiges Vermögen zu erwerben.“ —
Der Monarch machte eine Bewegung, welche die Befremdung über den sonderbaren Eingang ausdrückte.
„Die Bitte, die ich Euer Majestät vorzutragen wage, ist mir von dem Bedürfniß eingegeben, mein tiefes Dankgefühl, und meine Verehrung für den Monarchen des Landes, dem ich mein Glück ver[S. 359]danke, durch ein Anerbieten an den Tag zu legen, welches die Entschuldigung seiner Kühnheit nur in dem Beweggrunde findet, der es veranlaßt hat.“
Die Rücksicht auf die fremde Konsuls-Uniform vermochte den Monarchen, seine Verstimmung über die lange Vorrede zu verbergen. Er fragte freundlich aber kurz: „Was ist Ihr Anliegen?“
„Meine Besitzung im Gebirge, sechs Stunden von der Residenz, einerseits an Gebirge grenzend, welche ein reiches Gemsengehäge enthalten, anderseits an Waldungen, welche von Hochwild wimmeln, würde sich mit geringen Aenderungen an den Gebäuden zu einem Jagdschlosse eignen. Die Bitte, die ich wage, besteht darin, Euer Majestät wollen geruhen dieselben allerhöchst Ihren Domänen einzuverleiben.“
Da die Jagdliebe des Souveräns allgemein bekannt war, so hatte der Hof zu verschiedenen Zeiten Anträge zu Ankäufen von dieser Art Besitzungen erhalten und auch einige an sich gebracht.
Er erwiederte: „Es ist mir leid, auf Ihr Anerbieten nicht eingehen zu können,“ und fügte lächelnd hinzu: „Sie werden wissen, daß wir Domänen verkaufen, nicht aber kaufen.“
Kollmann trat mit der Miene der tiefsten Kränkung einen Schritt zurück und sagte: „Ich hatte auf[S. 360] das Glück gehofft, meine werthlose Gabe in der Weise an den Stufen des Thrones niederlegen zu dürfen, wie es dem frommen Katholiken gestattet ist, dem Haupte der Kirche den sogenannten Peterspfennig anzubieten, und ich fühle nun erst die ganze Kühnheit meines Gesuches.“
Der Monarch war überrascht, aber nicht unangenehm, und antwortete: „Ich danke Ihnen, danke Ihnen herzlich für Ihr loyales, schönes Anerbieten, das ich jedoch nicht annehme. Wenn es aber meine Zeit erlaubt, werde ich mir Ihre Besitzung besehen und in Ihren Bergen jagen. Wenn Sie ein anderes Anliegen haben, werde ich es jederzeit thunlichst berücksichtigen. Nochmals, Ihr Antrag hat mich sehr gefreut.“
Er machte die entlassende Bewegung auf die huldvollste Weise und Kollmann trat mit dem Ausdrucke der vollsten Befriedigung unter die Wartenden heraus, und begab sich zum Generaladjutanten.
Da nämlich der Monarch allein empfängt, und der Dienst an den Thüren durch zwei Adjutanten von geringerem militärischen Range als jener des Grafen Greuth versehen wird, so veranstaltet dieser in einem anstoßenden Zimmer einen Nachdruck der souveränen Prachtausgabe der Audienzen. — Der Aufwartung avant la lettre beim Herrscher folgt jene[S. 361] beim General-Adjutanten, wie man nach dem Gebrauche von Karlsbad meist noch ein anderes Wasser als Nachkur trinken muß, wenn ersteres wirken soll. — Der Graf betrachtet die seiner Person geschenkte Aufmerksamkeit nur als eine seinem Gebieter erwiesene Ehre, — er selbst hat über alle ihm vorgetragenen Angelegenheiten gar Nichts zu entscheiden, Nichts darein zu reden, man begreift kaum, wie der Monarch einen General-Adjutanten haben mag, der sich um Nichts kümmert, was im Staate vorgeht. Doch ist es so, und er thut was er kann, um die fixe Idee zu beseitigen, daß es ganz im Gegentheile gar keine Angelegenheit gebe, in die er nicht hinübergreift. Man weiß, wie schwer ein eingewurzeltes Vorurtheil ausgerottet wird, und der Graf mußte auch heute ein halbes Hundert Male die Versicherung bekämpfen, daß man nur dann vollkommen beruhigt nach Hause gehe, wenn der vom Monarchen ausgestellte Gnadenwechsel mit dem Akzept des General-Adjutanten versehen worden.
Kollmann erzählte ihm den Verlauf seiner Audienz und bat, seinen Einfluß zu verwenden, um vielleicht bei sich ergebender Gelegenheit den Gebieter für seinen Antrag zu stimmen.
— „Das ist umsonst, lieber Herr Kollmann,“ erwiederte der Graf — „ich kenne den Herrn, aber[S. 362] Sie können überzeugt sein, daß Sie ihm eine Freude gemacht haben. Bei einem andern Anlasse dürfen Sie auf gnädige Aufnahme jedes Gesuches rechnen.“
— „Ich habe nicht gewagt, Seiner Majestät ein für mich sehr wichtiges Anliegen vorzutragen, da es leider gegen Jemanden gerichtet ist, der sich des hohen Schutzes des Prinzen August Ernst erfreut.“
— „Wie ist das?“ fragte der Graf aufmerksam.
— „Es ist ein Gegenantrag gegen das Lieferungsoffert einer Firma Korbach.“
— „Ich kenne den Namen. Warum glauben Sie, daß ihn der Prinz protegirt?“
— „Ich schließe es aus Dingen, die wohl an sich zu unbedeutend sind, um Euer Excellenz damit“ —
— „Heraus damit! Sie sehen doch, daß ich auf Ihre Angelegenheit eingehe.“
— „Der Prinz hat ihm, wie ich im Marinedepartement gehört, Zusicherungen ertheilt, und ihn auf dem gestrigen Balle mit besonders gnädiger Herablassung behandelt, wie ich aus dem Munde einer Frau erfahren, welche anwesend war, und vielleicht in der Lage ist über die Gesinnungen Seiner Hoheit unterrichtet zu sein.“
Das vertrauliche Detail war gewagt, aber der Graf war über Freiheiten, die sich Jemand heraus[S. 363]nahm, nur dann empfindlich, wenn sie seine Person betrafen. Mit Aeußerungen über den Prinzen nahm er es, bei dessen gespannten Verhältnissen zu seinem Herrn, nicht so genau.
Er fragte weiter: „Wer ist die Frau?“
„Eine Frau Klotilde Zeltner.“
— „Ah“ — rief der Graf mit gedehntem Laut — „die Zeltner! — deren Mann auf der Festung sitzt; und die war auf dem Balle?“
„Euer Excellenz zu dienen, und da sie sich besonderer Aufmerksamkeit von Seiten des Prinzen erfreute und vom jungen Korbach begleiten ließ, so gerieth ich auf die Vermuthung, daß letzterer eine persona grata und somit für mein Anliegen wenig Hoffnung vorhanden sei. Ich durfte um so weniger wagen, es dem Monarchen vorzutragen, da es ein falsches Licht auf mein Anerbieten geworfen hätte.“
„Da haben Sie Recht gehabt. Es wäre aber möglich, daß sich in Ihrer Sache Etwas thun ließe. Geben Sie noch nicht Alles auf.“
„Nach diesem Worte von Euer Excellenz gewiß nicht.“
„Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe Nichts darein zu reden, ich mache meinen Adjutantendienst und kümmere mich sonst um Nichts. Es wäre aber möglich, daß der Prinz selbst seine Ansicht änderte.[S. 364] Hoffen Sie das Beste, — es würde mich freuen, Sie zufriedengestellt zu sehen.“
— Kollmann war es im vollsten Maße, als er den Grafen verließ. Dieser rief den zur Suite gehörenden immer in der Nähe befindlichen Plomberg zu sich, und fragte, ob er den vertraulichen Auftrag in Betreff Korbachs durch Heidenbrunn bestellt habe. — Der Oberst berichtete, er habe mit letzterem gesprochen, und glaube, der Prinz dürfte bereits in Kenntniß sein.
„Ich verstehe Sie nicht,“ versetzte Graf Greuth — „Sie reden von glauben und dürfen, — sollen etwas Positives von der Aufnahme der Sache wissen, und ich glaube, daß gar nichts geschehen ist, nach Allem was ich sehe und höre.“ — Darauf entließ er in der übelsten Laune den an den Wetterwechsel gewohnten Plomberg, welcher die sich häufig bis zu einer gewissen Grobheit steigernde Derbheit des Grafen flegmatisch ertrug. Sie waren verwandte Naturen, die sich immer wieder anzogen. Der Oberst war, wie er sagte, der „Rechte“ für den General-Adjutanten; dieser besaß, bei dem Mangel tieferer Kenntnisse und diplomatischer Schule, eine angeborne Schlauheit, die ihn immer das „Rechte“ treffen ließ. Unter dem Rechten verstand er dasjenige, was zur Befestigung seiner Stellung dienlich war. — Und darunter stand[S. 365] obenan die Benützung menschlicher Schwächen, vor welchen ein sterbliches Haupt durch keine Kopfbedeckung bis hinauf zur Krone, und das Herz durch keinen Hermelin zu bewahren ist. — Plomberg wußte, daß seine Stunde wieder kommen werde, wenn ihn der Graf zu Etwas gebrauche, wodurch er der menschlichen Natur seines Herrn zu dienen glaubte. — Zum Dienste der übermenschlichen standen ja ohnedem — wir können nicht sagen wie viele — Millionen bereit.
Die beiderseitigen Audienzen sind vorüber, und nach kurzer Ruhe empfängt der Monarch aus den Händen des Grafen abermals eine Liste, — jene der zu besichtigenden Institute und sonstigen Merkwürdigkeiten. Sie enthält dreizehn Artikel:
Graf Greuth hat aus dem ihm vom Gouverneur vorgelegten Verzeichnisse die vorstehenden Objekte ausgewählt, und der Monarch genehmigt in Pausch und Bogen. — Zwei Stunden sind für die Rundfahrt[S. 366] anberaumt. — Durch dreizehn dividirt, entfallen eins ins andere gerechnet, 912⁄13 per Stück brutto, das Hin- und Herfahren abgezogen sieben Minuten netto, mehr als hinreichend, um sich von allen innern Zuständen zu überzeugen.
Sämmtliche Besuche wirkten heilbringend, schon ehe sie gemacht wurden. — Die armen Teufel in den Spitälern bekamen eine Suppe und ein Kalbfleisch zu sehen, welches selbst die Primarärzte ohne Bedenken gegessen hätten, und wurden seit 24 Stunden vom ganzen Personale behandelt als wären sie wirklich Menschen statt Nummern. — Die Pferde und Mannschaften in den Kasernen wurden durch die ihrem verschiedenen Naturell entsprechenden Mittel in eine fröhlich paradirende Haltung und Stimmung versetzt, — und die Sträflinge im Stock- und Zuchthause, durch etwas Branntwein und bessere Razionen begeistert, versuchten sich in einem vorläufigen Vivat unter munterem Kettengerassel.
Nur das kleine, quickende, rothbackige Proletariat in der Kleinkinderbewahr-Anstalt, welches seit dem Morgen das Scheuern der Gesichter und Kämmen der Köpfe erduldet, befand sich in seinen frisch gewaschenen, aufgesteiften Gewändern, in allgemeiner Gährung und radikaler Verstimmung. Jeden Augenblick gewann es wieder der Jean qui pleure über[S. 367] den Jean qui rit, zur Verzweiflung der Vorsteherin und ungeachtet der umfassendsten Amnestien und dreimaliger Rosinenvertheilung. Und endlich war Alles umsonst, — da der Strich, wodurch Graf Greuth seinen Herrn von einem zweiten Dutzend Besuche befreit hatte, durch das ganze Gebiet der Levana, von der Kinderbewahranstalt bis zur Universität gegangen war.
— Zwölf Stazionen der Rückreise waren zurücklegt; der Wagen des Souveräns hält vor der Akademie.
Sie befindet sich im aufgehobenen Kloster San Matteo. Die Reihe der Zellen war durchbrochen und in Säle verwandelt worden, und an der Stelle, wo der Mönch mit Geißel und Stachelgürtel den traurigen Kampf gegen die Natur bestand, da umfaßt sie mit heißer Liebe der junge Künstler und sein Pinsel und Meißel schaffen alle Reize, welche die blinde Aszetik als Teufelslockung aus diesen Räumen verbannt hatte. — Wo der Todtenkopf über gekreuzten Gebeinen grinste, da lächelt die meerentstiegene Afrodite, und an den Wänden, wo auf schwarzgeräucherten Bildern blasse Hände aus Scheiterhaufenflammen hervorlangten, rufen jetzt die herrlichsten Gestalten voll Kraft und Leben den Sieg des Lichts und der Wahrheit hinaus.
Aus dem letzten Saale führt eine fliegende Treppe in den ehemaligen Klostergarten. Auch ist das Heidenthum mit fliegenden Fahnen eingezogen und die sandsteinernen Apostel in den Alleen sind dem marmornen Olimp gewichen. Die alten Kastanien ragen herüber aus einer versunkenen Zeit, über ein neues Geschlecht, das unter ihrem Schatten sich blühend emporrankt, über die gewundenen Laubgänge, die Fontänen und Bassins, worin sich die ganze bunte Pflanzenwelt spiegelt, womit eine sinnige Hand den Garten zugleich mit den Gebäuden, verjüngend geschmückt hat.
Im Vestibüle an der Hauptstiege wartet Direktor Volpi im schwarzen Kleid, die Brust mit sechs (ausländischen) Orden geschmückt, umgeben von einer Anzahl Professoren. Man glaubt zwar nicht an den Besuch, muß aber in der jetzigen Zeit auf Alles gefaßt sein. — Das Publikum hatte Zutritt wie gewöhnlich und fand sich zahlreich ein. —
Der Monarch unterbrach die Begrüßung des Direktors mit den Worten: „Ich liebe Kunstwerke, verstehe aber nicht viel davon, — ich habe nicht Zeit mich damit zu befassen; Sie werden mir mit Ihrem Urtheil vorangehen.“
Der General-Adjutant aber, welchem Volpi den in Sammt gebundenen Katalog überreichte, schnitt[S. 369] gleich das erste Urtheil in so markirter Weise ab, daß Jener das Ueberflüssige seiner Bemerkungen einsah und schwieg.
Mit Entschlossenheit war der Souverain die Treppe hinangestiegen, als ginge es einer Batterie entgegen. Es mußte mit Würde getragen werden: die Kunst war einmal ein nothwendiges Uebel, und die reichen Banquiers hegten und pflegten sie und betrachteten die Akademie als ein Kleinod der Stadt.
Man setzt sich in Bewegung, voran der Monarch mit dem Grafen Greuth und Volpi, — in der Entfernung einiger Schritte die jüngeren Adjutanten und andere Offiziere, worunter Plomberg, — die zahlreichen Besucher folgen mit Augen und Ohren jedem Worte und jeder Bewegung.
Es ist gebräuchlich, daß bei solchen Gelegenheiten der General-Adjutant durch eine Bemerkung oder Frage die Gemälde bezeichnet, deren Ankauf für den allerhöchsten Hof wünschenswerth erscheint.
„Firefly, lichtbraune Vollblut-Stute des Herzogs von Devonshire,“ war der erste Gegenstand, welcher ein wohlgefälliges Lächeln hervorrief.
„Prächtiges Thier! mahnt viel an meine Arabella.“ —
„Euer Majestät geruhen zu bemerken, daß die Arabella stärker auf dem Vordergestell. Der Herzog[S. 370] scheint nicht die Force Euer Majestät, — das Pariren im gestreckten Lauf, — zu besitzen.“
Man überflog eine Wand mit verschiedenen Gallait, Achenbach, Lessing, Rottmann, Bürkel u. dgl. und kam vor einem brennenden Johann Huß von unbekannter Hand zum Stillstande.
„Etwas zu graß! Die verkohlte, zerplatzende Stirnhaut ist beinahe widerlich. Wie heißt der Maler?“ —
„Kornberger; es ist im Kataloge bemerkt, daß derselbe der Verfertiger der Holzschnitte zur Kirchenzeitung.“
Ein Wink an Direktor Volpi belehrte diesen, daß der brennende Ketzer nun an einem frommen Herrscher einen Beschützer gefunden.
Der Direktor unterstand sich, die allerhöchste Aufmerksamkeit auf einen Cäsar zu lenken, auf welchen die Dolche der Verschwornen einblitzen, mit der Bemerkung, daß der talentvolle junge Künstler, von welchem das Bild herrühre, sich um das Stipendium zur Reise nach Rom bewerbe.
Der Graf warf schnell dazwischen: „Schade um das Talent, das auf einen so abscheulichen Gegenstand verwendet worden.“ — Der Monarch aber fragte: „Ist der Mann ein Inländer?“
„Er ist ein Sohn unserer Stadt,“ erwiederte Volpi.
— „Gut, — notiren Sie seinen Namen, — er soll das Stipendium haben.“ — Dießmal war die Politik dem Verdienste zur Seite gestanden.
In den folgenden Sälen wurden auserkoren: Walachische Bauern mit Pferden — Wachtstubenszene — Scheibenschießen in Tirol — Wegnahme einer feindlichen Kanone — ein „Rastlbinder.“ —
Die Mehrzahl dieser Schöpfungen hatte die Zulassung in die Gallerie der Milde zu danken, womit der prüfende Ausschuß zu Werke gegangen war. Allein Graf Greuth war ein reeller Mann, der mehr auf den Kern als auf die Schale sah, und hielt sich nicht an die Ausführung, sondern nur an die Idee, ohne jedoch für den Reiz eines besonders lebendigen Farbenspiels unempfindlich zu sein.
Die Schaar der Besuchenden lauschte in tiefer Stille. Die Worte des Souverains in Betreff des jungen Künstlers thaten die beste Wirkung; was sie aber von dem ausgestreuten Manna des General-Adjutanten auffingen, erschien ihnen nicht schmackhafter als den Juden das ihre in der Wüste. Doch war eine große Zahl unter ihnen, welche sich nur von seiner Erscheinung unangenehm berührt fanden,[S. 372] nicht von seinen Worten, — nämlich diejenigen, welche kein Deutsch verstanden. —
— Der im Fenster stehende Aufseher der Gallerie, ein alter, stiller, freundlicher Mann, dessen Vergnügen mehr im Studiren der Beschauer als der Gemälde bestand, machte auch heute seine Beobachtungen, und ergetzlicher als die jetzigen, war ihm eine dem hohen Besuch vorhergegangene gewesen. — Er hatte schon manches Beispiel von Indifferenz erlebt, aber selten war ihm eine so empörende Gleichgültigkeit gegen die Kunstschätze, die er überwachte, vorgekommen, als die eines doch intelligent aussehenden hübschen jungen Mannes, welcher die Säle durchschritt, als wären sämmtliche Rahmen mit grauer Leinwand ausgefüllt.
Kurze Zeit später erschien eine Dame, welche ihre Blicke ungefähr mit der gleichen Theilnahme über die Wände gleiten ließ. — Daß Damen ohne Begleitung die Gallerie besuchten, war an der Tagesordnung; dann sah man ihnen aber auch meistens die Kunstliebe an, die sie hingeführt; auch kehrten sie gewöhnlich aus dem letzten Saale durch die übrigen, am Aufseher vorüber, zurück. — Als dieß im gegenwärtigen Falle nicht geschah, weder von Seite des jungen Mannes noch der Dame, trat er ans Fenster,[S. 373] setzte seine Brille auf und überblickte die verschiedenen Partien des wenig besuchten Gartens.
Er gewahrte bald, daß sich in dem grünen Reiche der Natur die Gestalten zusammengefunden, welche das Gebiet der Kunst getrennt durchwandelt hatten.
War Klotilden ein Wort vom Park entschlüpft? oder hatten die Beiden beim ersten Blick durch die offene Flügelthür auf die Blumenbeete und dunkeln Gipfel gefühlt, daß nur diese die rechten Wegweiser zum Glücke?
Genug, sie fanden sich, ohne eine Minute vergeblichen Suchens, — und die rothen Blütenpiramiden einer wilden Kastanie leuchteten als Girandolen, als ihre Hände ineinander lagen vor dem marmornen Altare, dem Piedestal einer Flora, welche den Blumenkorb über ihren Häuptern hielt.
Hätte statt der stummen Blüten und des schweigend lächelnden Götterbildes ein lebendiger Zeuge das Wiedersehen belauscht, — er hätte es nicht für ein erstes Bekennen, — er hätt’ es für die Seligkeit über die Erfüllung eines längst getauschten Schwures gehalten.
Sie fanden sich ja nicht wieder, wie sie sich im Freinhofe verlassen!
Jeder Gedanke, jede Empfindung, jedes Leid[S. 374] und Glück, das seit jener Stunde durch ihre Seele gegangen, ward zur Schwinge, auf der sie über alle Anfänge und Fragen und halben Verhüllungen des Gefühls hinwegflogen...
„Was ich am See geglaubt und gehofft — sagte Julie mit dem vollen Glanz der Liebe in den Augen — das wird mir am Meere erfüllt!“
„Und so viel tiefer und weiter dieses, als der See, um so viel reicher und glücklicher halt’ ich diese Hand in meiner.“ —
„Wie freudig lasse ich sie darin ruhen! — Dieß Blatt enthält das Bekenntniß meiner nächtlichen ersten Sünde des Zweifels, die auch die letzte sein soll. Die Augen sind wahr, Arnold, und der Mond lügt.“ —
„Nicht der Mond ist unwahr, sondern jeder Gedanke, daß vergehen könne, was unveränderlich und ewig!“
— — Lassen wir die stumme Blumengöttin die einzige Zeugin der Stunde sein, in welcher die Ringe der Seelen gewechselt wurden, und das Ja gesprochen ward auf die Frage des unsichtbaren Hohenpriesters: Ists Euer Wille, einander treu zu bleiben bis in den Tod — — —
— — —
Als Julie durch die Laubgänge nach der flie[S. 375]genden Treppe eilte, um durch die Säle zurückzukehren, war der hohe Besuch eben im letzten derselben angelangt. —
Sie trat mit gesenktem Blick durch die Thür und war mit schnellen Schritten in die Hälfte des Saales gelangt. — Nun klang das Säbelgeklirr in ihre selige träumerische Gedankenmelodie, sie schlug die Augen empor und sah die der Offiziere, der schwarzgekleideten Herren und der hinter denselben zusammengedrängten Zuschauer auf sich gerichtet.
Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß — — als Juliens Wangen, und keine Rose, keine Nelke dunkler glühen, — — wie sie einen Augenblick verwirrt und unentschlossen dastand; — sollte sie nach dem Garten zurück, — oder durch den schmalen Raum, zwischen dem Monarchen und den übrigen Uniformen hindurch, zu den Zuschauern? —
Da trat Plomberg auf sie zu, dem die Begegnung keine geringe Befriedigung gewährte, bot ihr den Arm, und führte sie am Monarchen vorüber, den sie erkannt hatte und der ihre Verbeugung mit unbeschreiblich huldvollem Dank erwiederte, gegen das Publikum, und kehrte darauf zum Gefolge zurück.
Der Allerhöchste wendete sich zu ihm und sagte: „Eine schöne Frau; ist sie aus dieser Stadt?“
„Sie ist die Frau des Konsuls Kollmann, wel[S. 376]cher heute das Glück hatte von Eurer Majestät empfangen zu werden.“
„Eine seltene Schönheit.“ — Zu Graf Greuth gewendet fuhr er fort: „Jedenfalls der reizendste Gegenstand der Gallerie. Die Verlegenheit stand ihr sehr hübsch. Warum die Maler nicht lieber so etwas malen.“
„Wenn Euer Majestät in der Weise wie der König von Baiern eine Sammlung von Schönheiten anzulegen befehlen würde, dürfte sie, nur aus Damen Allerhöchstihrer Länder bestehend, jede andere überbieten.“
„Ich glaube es, und diese Frau wäre ein guter Anfang. Ich liebe aber keine Nachahmungen.“
— So war denn auch die dreizehnte Stazion, der Akademiebesuch, überwunden, und nachdem Seine Majestät das Diner in Gesellschaft des Prinzen, des Grafen Greuth, des Kommandirenden und des Gouverneurs eingenommen, geruhten sie, sich in den schwülen Nachmittagsstunden in ihrem Kabinet auf die Chaise longue zu legen, und, nach herabgelassenen Vorhängen, den Staatsgeschäften zu widmen.
Es blieb nur noch der Bodensatz des Leidenskelches zu leeren, — der Abend auf der Villa mit den exclusiven Tableaux. Er übertraf noch die schlimmsten Befürchtungen.
Nur die Elite der Elite vermag das reine Wasserstoffgas dieses Abends zu athmen. Nicht ein Atom Sauerstoff von Wissenschaft, Kunst oder Industrie war eingedrungen. Die gestern aus diesen Räumen so schmählich vertriebene Göttin der Langeweile, die Etiquette, feierte ihr Restaurazionsfest mit schwülem, schweigenden Pomp.
— Die Gesellschaft war aber stillselig in dem einen Gedanken, welcher ihr alles andere Glück aufwiegt: sie waren unter sich!
— Und sie verdienen nicht nur dieses Glück, sondern haben sogar das volle Recht, es für eines zu halten, so lange es Geschöpfe gibt, von denen sie um dieß „unter sich!“ beneidet werden. — Der Prinz gehörte nicht dazu; er labte sich an der Erinnerung an gestern und an der Aussicht... über die Tableaux hinüber, die ihn übrigens lebhaft beschäftigen, und einen flüchtigen Blick verdienen.
Wir überfliegen die verschiedenen Gruppen nach Winterhalter, Paul de la Roche, Vernet — worunter nur eine, aus der Smala Abdel Kader’s, den allerhöchsten Beifall erregt und langen beim Schlußtableau an, welches in dem orientalischen Saale, der ein Bassin enthält, dargestellt wird, oder werden soll, da noch ein Hinderniß vorhanden.
Es war Schwanthalers Brunnen in Wien[S. 378] (auf der sogenannten Freiung befindlich) gewählt worden.
Die Donau, Weichsel und Elbe fanden ihre Repräsentantinnen in den drei bereits erwähnten, vom akademischen Ausschusse gewählten Frauen; den Po vertrat ein Kavalier einer ritterlichen Nazion, welcher das Unglück hatte, der schönste Mann des Landes und sonst Nichts zu sein. — Da sich keine Dame dazu verstanden hatte, die Rolle der auf der hohen Brunnensäule stehenden Austria zu übernehmen, so wurde statt ihrer ein „Genius des Vaterlandes“ hinaufgestellt, zu welchem ein schlanker, rothwangiger Regiments-Kadett alle wünschenswerthen Eigenschaften, nebst der Schwindelfreiheit vereinigte.
Im Bassin war natürliches Wasser, Rand und Brunnensäule reich mit Blumen verziert; die Costüme der Damen, in einigen Punkten nothwendigerweise vom Vorbilde abweichend, waren in Farbe und Form geschmackvoll von Volpi arrangirt, und das Ganze machte in der herrlichsten Beleuchtung einen zwar durchaus nicht plastischen, aber reizenden Effekt.
Bald soll der Vorhang sich theilen. Die Weichsel und Elbe sitzen in den griechischen Gewändern, mit ihren vergoldeten Wasserschaufeln spielend, noch in Fauteuils, der Po geht auf und nieder, ungedul[S. 379]dig mit dem Ruder stampfend. — Aber noch immer keine Donau erschienen.
„Aber es ist doch geradezu unmöglich, daß die Strada nicht kommt! die einzige, — einzige Bürgerliche! — eine Frau, die doch Geist genug hat, um zu begreifen, daß ihr Stand in ihr geehrt ist, wenn sie zwischen drei Flüssen steht, deren Wasser rein wie das destillirte in der Apotheke, durch fünf oder sechs Jahrhunderte fortgeronnen ohne einen fremden Bestandtheil in sich aufzunehmen!“
Der Kadett steht mit langen goldenen Flügeln in goldgestickter Tunika, mit verschränkten Armen auf der Säule und räth nach Donau-Eschingen zu telegrafiren, warum der Fluß ausbleibt.
Da kommt ein Brief: Madame Strada ist „plötzlich unwohl.“ —
Zuerst beißt man sich ärgerlich in die Lippen.
„Nicht einmal das Costüme hat sie geschickt.“ —
„Es würde es wohl kaum Jemand angezogen haben!“ —
— Dann geht der Zorn in stille Verachtung über. —
„Man sieht! — — wenn sich nicht ihrer Mehrere zusammenthun können — — als Einzelne unter uns fühlte sie sich gedrückt... es ist ja auch na[S. 380]türlich! — Schade, sie ist sonst ein liebes Weibchen! — Lassen wir die Arme!“
Aber die Minuten fliegen weg, und Minuten vom Monarchen durchwartet wiegen ungefähr ein Jahr von Unterthanserwartung.
Der Vorhang bewegt sich, das rothe Gesicht des General-Adjutanten sieht fragend herein und zieht sich wieder zurück. Die Flüsse ringelten sich verzweifelnd um Volpi.
Er rief: „Nehmen wir in Gottes Namen die Donau lateinisch, — Danubius! schnell einer von den Herren herein, wir haben noch einen grünen Bart und Schilfkrone.“ — Er stürzt hinaus zum Prinzen — bevor dieser wählen kann, hat aber Graf Greuth das Auskunftsmittel vernommen, und beordert Oberst Plomberg hinter die Szene, welchem die griechischen Gewänder umgethan, Bart und Schilf aufgesetzt werden — das Tableau ist gerettet. —
Schade, daß der Kadett, wie er die Arme segnend ausbreitet, mit offenem Munde lächeln zu müssen glaubt: es macht den fatalen Eindruck, als wäre der Genius des Vaterlandes die Bornirtheit.
Die Gesammtwirkung ist überraschend. „Charmant! — ruft der Monarch — ich habe das Original selbst gesehen, als ich einmal in Wien war, aber[S. 381] mit den Farben und Lichtern machts doch einen ganz andern Effekt!“
Der General-Adjutant erwiederte: „Die Gruppe würde aber doch ungemein gewinnen, wenn statt des Genius die schöne Frau auf der Säule stünde, welche das Glück hatte, von Euer Majestät in der Ausstellung bemerkt zu werden.“
„Das ist wahr! ganz richtig! — — Erinnern Sie mich, lieber Graf, wenn die Herbstjagden anfangen, daß ich dem Manne versprochen habe, in seinem Revier zu jagen.“
— — Endlich war auch dieß vorüber. — Der letzte Wagen rollte den Berg hinab, — der Prinz stürzte nach seinem Schlafzimmer, vertauschte die Gala-Uniform mit dem leichten Jagdrock, sprach ein Paar Worte mit Heidenbrunn und flog durch den dunkeln Park und einige Wiesen und Büsche nach dem kleinen, netten, auf halbem Wege zwischen der Stadt und der Villa gelegenen Hause — dessen Jalousien geschlossen sind, wie das Thor. — Der Prinz öffnete die Gartenpforte mit dem Schlüssel, den er bei sich trug, und vergaß in der nächsten Minute alle Leiden des exclusiven Cercle’s — in dem noch exclusiveren — an der Seite Klotildens, welche ihre Uebersiedlung nach dem mit Luxus und[S. 382] Geschmack eingerichteten Asile mit bewunderungswürdiger Schnelligkeit vollbracht hatte.
* *
*
So sind denn die Geschenke alle vom Weihnachtsbaum gepflückt, dem wir den heutigen Tag verglichen.
Auch der Bandit freut sich eines neuen geschliffenen Dolches: Kollmann hat alle Ursache den Tag zu loben. Er spricht in seiner Weise ein Dankgebet, das andern Ohren wie eine Gotteslästerung klingt.
Der General-Adjutant, Plomberg, der Prinz und Klotilde, Jeder hat seinen goldnen Apfel heimgetragen, — der Monarch freut sich des Jagdvergnügens, das er heute noch keine Anstalt macht zu vergessen, freut sich der Beweise der Loyalität und daß dieselben vorüber, — und wie tausendstimmig die Stadt gejubelt, ist in dem Telegramm des Gouverneurs an den Ministerpräsidenten zu lesen.
Arnold aber hält am Schlusse des Tages den Brief in der Hand, den ihm Julie unter den wilden Kastanien gereicht, — — den sie in der letzten Nacht geschrieben.
Er hatte das Licht verlöscht, — und wieder angezündet, um — wieder zu lesen, obgleich er jedes Wort auswendig weiß.
Sie hatte geschrieben:
„Wenn Deine Augen über dieß Blatt gleiten, so haben die meinen Dir schon das Unrecht abgebeten, — habe ich Dich durch Glück versöhnt, wie den Himmel durch eine Stunde kindischen Schmerzes. — Auch Du wirst sie vielleicht durchleben, wenn Dein Glaube nicht höher und fester.“
„Ich spreche zu Dir, als hätt’ ich aus Deinem Munde vernommen, was nur mein eigen Herz mir geschworen. Ich habe aber auf den Grund Deiner Seele geschaut wie Du in meine. Kann ich Dir, — kannst Du mir Ein Wort sagen, wodurch erst ein Schleier gelüftet würde? Soll ich den Frühlingsglanz, der über mein Leben gefallen, vor Dir verhüllen, damit Du nicht früher glücklich seist, als bis Du gesprochen, und um ein Herz geworben, das Dein eigen? Glaube dem Deinigen, und Du wirst Dir klar bleiben, glücklich, was auch verwirrend zwischen uns trete: denke nicht über mich, sonst wirst Du irre.“
„Kannst Du ein Glück fassen, ohne über die selige Gegenwart hinaus zu denken? Ich fürchte, Du kannst es nicht. Ich aber muß es. Nimm, wenn Du es vermagst, das Heute als Gottesgeschenk, ohne nach dem Morgen zu fragen. Nimm es, wie ich die schönste Freudenblume, die mir durch Dich[S. 384] erblüht, an meiner Brust bewahre und nicht frage, welcher Tag sie entblättert.“
— — Allein alle die befremdenden Klänge der letzten Worte verstummten für Arnold vor dem hellen Wonnelaute: Du bist geliebt. — Es gab keinen Glücklicheren als er — — vielleicht eine Glücklichere.
— Am folgenden Vormittage trafen in der Telegrafenstazion Frauenwang, von welchem Orte bekanntlich der Weg nach dem Korbachthale führt, im Zwischenraume einer Stunde folgende zwei Depeschen ein:
„An Herrn Morawski, Verweser zu Altenberg. — Lassen Sie Ihre Maschine arbeiten. — Mit allen Ihren Vorkehrungen einverstanden. — Hier geht Alles vortrefflich. K. unterliegt, nicht weiter zu fürchten, wenn Sie gut arbeiten.“ — Unterzeichnet: „Kollmann.“
Die zweite lautete:
„Theurer Vater! Vollständiger Erfolg. Vor einer Stunde alle Kontrakte unterzeichnet. K. ist aus dem Felde geschlagen. Ich komme morgen Abends.“
„Da habe ich einmal — sagte der Stazionsbeamte zu seinem Gehülfen — eine Anekdote gehört,[S. 386] wie in der Menagerie in London der Tiger und der Löwe einander über Nacht gegenseitig aufgefressen, so daß von beiden Nichts übrig blieb als die Köpfe. Etwas Aehnliches scheint hier vor sich zu gehen; lesen Sie einmal!“ — Der Gehülfe las und bemerkte, daß die beiden Schreibenden vielleicht gegen einen dritten gemeinschaftlichen Feind gesiegt hätten. „Gott bewahre, erwiederte der Andere, — ich kenne den Zusammenhang, es sind die zwei Fabrikanten, die einander zu Grunde richten wollen. Nun, wir werden bald sehen, welches K. das andere untertaucht.“
Er kopirte die Depeschen, machte sie zur Expedizion zurecht und fuhr fort: „Die Stücke sollen durch Expressen befördert werden, es ist dafür dort bezahlt worden. Ueber Altenberg nach Korbach? wir können zwei Expressen aufrechnen, da die eine Depesche bereits vor einer Stunde gekommen und wir sie schon hätten absenden können.“
„Gewiß, wenn wir gewollt hätten“ — —
„Nun, schicken wir sie unter Einem. Glücklicherweise ist keine Fabrikgelegenheit da. Lassen Sie den Schneiderpeter holen, — der fährt um die halbe Taxe!“
Nach einer halben Stunde erschien der Genannte, eine gutmüthige, verhungerte Gestalt in Nankingbeinkleidern und himmelblauem Rocke. — Er[S. 387] übernahm die Depeschen, beendigte zu Hause eine Flickarbeit, richtete seinen Einspänner zurecht und fuhr in einem gemüthlichen Mitteltempo zwischen Schritt und Trab von dannen. Da er wiederholt in Bauern- und Wirthshäusern kurze freundschaftliche Besuche abstattete, wurde er fortwährend von einem fleißig ausschreitenden Hausirjuden überholt, welcher, mit seinem sechzig Pfund schweren Magazin auf dem Rücken, gleichzeitig mit ihm in Altenberg eintraf.
Das Pferd wurde in den Stall gestellt, und auf der Hausbank ein Glas Wein in Gesellschaft des Gevatter Wirthes getrunken. — Das regste Leben herrschte im Orte; die Gebäude waren vollendet; eben ausgepackte Maschinenbestandtheile lagen auf dem Platze vor der Fabrik umher.
„An dem Morawski, begann der Wirth, hat Herr Kollmann den Rechten gefunden. Vor drei Tagen hat er wieder hundert Slowaken, die von der Eisenbahnarbeit nach Hause geschickt werden sollten, aufgenommen, für die großen Grabungen am Wassergang und dem Dammbau, und fünfzig Italiener für die Steinarbeiten.“
— „Das nützt Alles nichts; gegen den Korbacher kommt er doch nicht auf.“
— „Das wird sich zeigen; schau die Walzen an, sie sind größer als jene, die sie dort haben. Sie werden bald die Augen aufreißen! Die Lutherischen drüben haben ja schon geglaubt, gegen sie stehe Nichts mehr auf im Lande.“
„Ist der Erzbischof schon bei Euch durchgekommen?“
„Nein, es war ein Anderer, der statt seiner die Einweihung vornehmen soll. Es sind drei Wagen mit Geistlichen vorübergefahren; der Vornehmste hat den Segen gegeben. Da hättest du sehen sollen, wie die Slowaken auf das Gesicht gefallen sind. Das ist ein Volk! aber noch immer besser als die da drüben! sie haben wenigstens eine Religion; aber in Korbach glauben sie an gar Nichts als an einen Herrgott.“
„Ja freilich,“ meinte der Schneiderpeter, „so lange der Mensch gesund ist und vollauf hat, thuts der Herrgott allein, aber wenn Einer krank wird und recht herunterkommt, müssen doch die Mutter Gottes und die Heiligen wieder heraushelfen. Ich habe aber einen Telegrafen an Herrn Morawski im Sack und bin Expresser.“
„Geh in die Kanzlei, — er ist gerade hinübergegangen.“
Morawski las die Depesche mit sichtlicher Aufregung, und rief den Werkführer Fontana zu sich, mit welchem er sich lange und angelegentlich besprach.
Das Resultat der Unterredung wurde bald offenbar. — Obgleich es erst Mittag war, ertönte die Glocke, welche gewöhnlich nur zum Feierabende und zur Mittagsruhe geläutet wurde, und die Arbeiter warfen ihr Geräthe weg und versammelten sich auf dem Rasenplatze vor der Fabrik. Morawski trat heraus und befahl den Italienern, sich abzusondern und Herrn Fontana zu folgen, welcher sich mit ihnen etwa fünfzig Schritte entfernte, in ihre Mitte stellte und, mit einigen Abänderungen, eine gleichlautende Rede mit jener hielt, in welcher sich Morawski gegen die Andern vernehmen ließ.
Ein Blick auf Letzteren machte begreiflich, daß er das Vertrauen Kollmann’s besaß, — Redner und Publikum waren einander werth. Herr Morawski war ein großer breitschulteriger Mann, mit blatternarbigem, verschmitzten Gesicht, Ohrringen in beiden Ohren und stark böhmischem Akzent.
Die Slowaken anlangend, standen dieselben in ihren ungeheuern Stiefeln, ausgefransten Leinwandsäcken, die die Beine bedeckten, und breiten Hutdächern mit einem Ausdrucke da, welcher zu Studien über die Perfektibilität der Thierseele Anlaß geben, aber[S. 390] auch alle sanguinischen Hoffnungen auf dieselbe abschneiden konnte. — Diese Nazion ist offenbar an einem regnerischen Freitag gegen Abend geschaffen worden. Wenn sich, wie bekannt, im Kopf eines Hechtes das sogenannte Leiden Christi, nämlich alle Instrumente vorfinden, welche zur Marter des Herrn, vom Verhör bei Pontius bis auf Golgatha, gedient, so müssen sich im Kopfe eines Slowaken überdieß die Torturwerkzeuge aller der Tausende von heiligen Märtyrern entdecken lassen. Wenn dieses Volk jubelt, klingt’s noch immer wie wenn ein anderes heult: der Slowak mag arbeiten oder trinken, betteln oder stehlen, durch jede Funkzion seines Lebens wird der nazionale Urjammer, der spezifisch-slowakische Weltschmerz durchtönen. —
Morawski sprach zu ihnen wie folgt:
„Unser gnädiger Fabrikherr, Euer Arbeitgeber, sieht vor Allem auf die Gottesfurcht und Frömmigkeit seiner Arbeiter. Er will gern einen Schaden erleiden, wenn Ihr dafür ein Werk der Andacht verrichten könnt. — Er gibt Euch zwei Tage frei, ohne den Lohn abzuziehen. — Es wird morgen die Kirche in Korbach geweiht; ein hoher Geistlicher, welchen der Erzbischof geschickt hat, wird den Segen geben, welcher so gut ist, als ob er vom Erzbischof selbst käme. Wer ihn erhalten will, der geht mit mir und[S. 391] Herrn Fontana, welcher Eure Kameraden führen wird, hinüber. Da Herr Kollmann will, daß Ihr in Korbach Nichts verzehrt, so werdet Ihr mit Lebensmitteln versehen werden. In Korbach sind viele Arbeiter, die an keinen Papst, keine Mutter Gottes und keine Heiligen glauben. Ihr werdet Euch ruhig und still betragen und jeden Zank mit diesen unglücklichen Menschen vermeiden, die Ihr bedauern müßt; wir werden aufbrechen, sobald Ihr Euern Wein und die Lebensmittel gefaßt habt, auch hat Herr Kollmann befohlen, daß Jeder von Euch einen Rosenkranz bekommen solle. Wer will die Wallfahrt mitmachen?“
Die Antwort war ein einstimmiges Freudengeschrei; man konnte glauben, es werde ein Häuptling zur Erde bestattet. — Wenige Minuten später klang der prachtvolle Akkord des fünfzigstimmigen Evviva! aus den metallnen Kehlen der Italiener herüber, welche die Hüte in die Luft warfen, Kollmann und die Madonna, den Erzbischof und den Branntwein leben ließen, aber mit allem Schreien, Gestikuliren, Hin- und Herrennen nicht verhindern konnten, daß die melancholischen Slowaken ihre Flaschen und Brotsäcke früher gefüllt hatten als sie.
In kurzer Zeit war Alles marschfertig. Der Kaplan hatte dem Ersuchen um eine Kirchenfahne[S. 392] willfahrt, mit welcher ein Arbeiter an die Spitze des Zuges trat, ihm zur Seite ein Vorbeter. Morawski und Fontana bestiegen einen leichten offenen Wagen, — die Italiener führte ein Maurerpolier und vormaliger Chorist, Namens Pompeo. Sie eilten voraus, um dem Gesange ihrer Kameraden zu entrinnen, stimmten zuerst ein Lied zu Ehren der Madonna di Korbacco an, ließen sich aber von Pompeo leicht aus dem religiösen Gebiete ins melodramatische hinüberziehen und bildeten einen gelehrigen Chor zu seinen Donizettischen, Verdischen und sonstigen Arien.
Als Alle abgezogen, machte der Schneiderpeter Anstalt zur Weiterbeförderung seiner zweiten telegrafischen Depesche.
Das Pferd wurde angeschirrt, die Rechnung bezahlt, und er überholte mit leichter Mühe die Arbeiter und den Hausirjuden und gelangte mit wenigen Unterbrechungen bis Labring, eine halbe Stunde vor Korbach.
Es war spät in der Nacht, als er bei seinem Geschwisterkinde, dem Ortsrichter, anklopfte. — Dieser empfing ihn mit freudigem Ausrufe und den Worten: „Den ganzen Tag habe ich an Euch gedacht, Peter! ob Euch nicht eine Botenfahrt hereinführen würde. Morgen soll ich zur Kirchenweihe und heute klopft die Dirne meinen neuen Rock aus,[S. 393] und der Hund versteht falsch und springt hinauf, und reißt den Aermel in Fetzen. Ich hätte wohl noch einen Rest Tuch, — wollt Ihr dran gehen?“
Der fleißige gefällige Peter ging flink an die Arbeit und stach so hurtig drauf los, daß er nahezu fertig war, als die Wallfahrer nachkamen und am Hause vorüberzogen. — Schließlich traf er fünf Minuten nach den Italienern, eben so viele vor den Slowaken mit seiner Depesche im Korbacher Wirthshause ein, wo eben der Jude, der mit ihm zugleich von Frauenwang ausgegangen, seinen Großhandel in eine Ecke und sich selbst daneben niederfallen ließ. Der Schneiderpeter versorgte sein Pferd, setzte sich, um einen Augenblick auszuruhen, betäubt von Wein und Nachtfahrt, auf die Streu nieder und schlief alsbald ein. —
Erst seit einer Stunde hatten auch die Bewohner des Ortes das Letztere gethan, nach dem bewegten Tage. Die Gemeinde hatte an den Vorbereitungen für Morgen gearbeitet, Alles übertüncht und behangen und gesäubert — aber lässig und verdrossen waren die letzten Arbeiten verrichtet worden, als die Erwartung der Ankunft des Erzbischofs nicht in Erfüllung ging, sondern aus dem ersten Wagen Pater Bernhard stieg.
Sein Name war in Korbach gehaßt, während trotz des dort herrschenden, nach der klerikalen Auffassung verderblichen Geistes, die Erscheinung des Erzbischofes nicht verfehlt hätte, großen Eindruck zu machen. Es liegt ein ganz eigner Zauber in der funkelnden Inful und dem Krummstab: das alte Spielzeug, der Nikolaus, tritt plötzlich vor das katholische Kind in lebendiger Größe hin, und während ein Pfarrer, Kaplan oder Dechant dem Bauer begreifliche, vertraute Erscheinungen sind, schwebt der Bischof immer ein gutes Stück über der Erde, zwischen geflügelten Engelsköpfen und Aposteln in Wolken.
Der Kirchenfürst hatte jedoch seinen Entschluß geändert. Bernhard, von seinem Sturze von dem in die Luft gebauten Prälatenstuhl erholt, — hatte in der Residenz eine unglaubliche Thätigkeit entwickelt. Der Erzbischof, bereits durch Korbach’s Ablehnung, ihn zur Einweihung zu laden, gereizt, — so wenig er es auch merken ließ, — war nun selbst der Ansicht, daß die Dinge zur Entscheidung kommen müßten. Er hatte Bernhard, da seine Stellung im Kloster unmöglich geworden war, und man die Wahl des Valentin aus höheren Gründen nicht umstoßen wollte, zum Domherrn ernannt —; und da das Auftreten des alten Korbach besorgen ließ, daß das Fest[S. 395] nicht ohne Störung vorübergehn und er zwar eine Krisis herbeizuführen, nicht aber seine Person einer Unannehmlichkeit auszusetzen wünschte, so übertrug er Bernhard die Vertretung derselben, und ließ ihm stillschweigend zu Allem, was er vorzukehren fände, freie Hand. —
Ohne daß eine Aenderung des ursprünglichen Beschlusses nach Korbach gemeldet worden, traf der nunmehrige Domherr daselbst ein, bezog die im Pfarrhofe bereit gehaltene Wohnung, indem er die ihm durch den Pfarrer gemeldete Einladung, im Herrenhause zu wohnen, ignorirte, und ließ für die Geistlichen seiner Assistenz Zimmer im Gasthofe nehmen. Er erklärte, er habe vor, die religiöse Feier mit Vermeidung alles Kontaktes mit den weltlichen Elementen von Korbach vorzunehmen, was nicht verhinderte, daß er die Gemeindevorstände zu sich beschied, sie nach den getroffenen Vorbereitungen fragte, und mit großer Spannung eine Stunde, und eine zweite, auf ein Lebenszeichen des Gutsherrn harrte. —
Mit Pfarrer Leo sprach er in kurzem trockenen Tone und als derselbe Einiges über den befriedigenden Zustand der Pfarre äußerte, unterbrach er ihn: „Der Erzbischof ist von der wahren Sachlage hier und in St. Martin zu genau informirt, um Ihrer Berichtigung zu bedürfen, — er weiß auch, wer[S. 396] bei den Vorgängen im Kloster, die sein Herz betrübten, in vorderster Reihe stand.“
Er ging in die Kirche, — wieder nach Hause — die Reizbarkeit seines Temperaments hatte sich durch keine Aderlässe und niederschlagenden Pulver vermindert. — Um neun Uhr Abends beschloß er eine verstärkte Ausgabe des Manövers mit dem Briefe: er schickte einen Geistlichen nach dem Herrenhause, um seine Ankunft formell anzusagen. „Kriecht er zum Kreuz und kommt, — gut; dann wollen wir weiter sehen.“ Als Vertreter des Erzbischofs hatte er jedenfalls das Recht, den ersten Besuch zu erwarten. —
Der Geistliche kam mit der Meldung, daß ihn der alte Herr in seinem Schlafzimmer empfangen, und gesagt habe, er werde als Kirchenpatron den Domherrn morgen an der Kirchenthüre erwarten und feierlichst begrüßen, und hoffe, derselbe werde mit allen Geistlichen der Assistenz ihm nach der Einweihung die Ehre erweisen, Mittags seine Gäste zu sein.
Man sieht, daß die Diplomatie nicht die stärkste Seite beider Parteien war. Korbach konnte unmöglich glauben, daß der Domherr die gelegentliche Einladung durch den rückkehrenden Boten annehme. Der Domherr aber hatte nicht in der klaren Absicht die Sache zum Bruch zu treiben gehandelt, sondern[S. 397] sich doch als möglich gedacht, den Triumf einer Unterwerfung Korbachs in die Residenz mitzubringen, wozu dieß der erste Schritt. Nun war für ihn nur ein Weg, und er war gleichwol ärgerlich über den erhaltenen Affront.
Er suchte Ruhe, schickte die Musik weg, die auf dem leeren Platz zu spielen begann, und überließ sich den Gedanken an den kommenden, wichtigen Tag. Seine Aufregung war nicht viel geringer als vor Eröffnung der Stimmzettel. Er ging auf und nieder, las eine vor der Abreise aus der Residenz erhaltene Depesche Kollmanns, als wollt’ er sich überzeugen, daß er sie die zehn ersten Male richtig gelesen, und griff endlich zum Hut, um dem schwülen Zimmer zu entfliehen. —
Schlummern mag der Eingeborne in Korbach — nimmer der Fremde, der vergebens einer „Nachtstille“ harrt. Sie ist entflohen an die äußersten Grenzen des Thales, vor dem ewigen Toben des Hammers, vor dem ewigen Rauschen des Wassers, — des weißschäumenden Blutes in jenem Körper, dessen Riesenglieder nie alle zugleich ruhen. Laßt es stocken und das Herz, das große Schwungrad, steht still, der Athem der Gebläse verstummt, die Lebensglut der Feuerstätten verlischt, die tausend Gelenke der Räder erstarren. — Die Perser hielten ihr Feuer nicht hei[S. 398]liger, als die Korbacher dieß Wasser. Beim Eintritt ins Thal empfängt es eine Ehrenpforte von Quadern und nun gleitet es weich dahin in blanken hölzernen Betten, hin zu den Werken, und lustig bietet sich ihm zum Tanze die flink umwirbelnde Turbine, — gehorsam, wie der Elefant dem kleinen Kornaken, fügt sich seiner Laune das haushohe Rad. — Dort leiten es gewundene Röhren in weiche Wiesen — dort fällt’s als Strahlenregen in Helenen’s Blumenbeeten — — jeder Tropfen nützt oder erquickt. Und während es zehnfach getheilt in rastloser Eile schäumend und sausend durch all’ die Räume sich drängt, und am Ausgang des Thales wieder vereint, wo jedes der fliegenden Korps dem andern erzählen mag, wie es gekämpft und was es besiegt, — schleicht nur der Ueberfluß träge im steinigen Hauptbett dahin, wie Marodeurs zur Seite der Armee. Das Thal ist von den Wassergeistern erfüllt, man athmet sie bei jedem Schritte, — sie drängen sich in der Nacht zu weißen Schaaren unter den Bäumen zusammen. Und wie die Sonne aufgeht über den Gerechten und Ungerechten, so kühlt auch die Nacht, — diese frische, tannendurchduftete, schaumdurchsprühte Nacht von Korbach — nicht nur die Wangen des Gerechten, sondern auch jene Bernhards.
Er ging über die Brücke, den Gebäuden ent[S. 399]lang, und stand vor der Thür des Walzwerkes. Er trat hinein, die Arbeiter grüßten, ohne ihre Arbeit zu unterbrechen und schoben ein Metallstück nach dem andern zwischen die Walzen, die das gußeiserne Schwungrad bewegte.
Nun stand er vor diesem, — betrachtete es, und konnte den Blick nicht davon abwenden — — wie es im rasenden, sinnverwirrenden Fluge sich drehte, daß die Speichen für das Auge in eine graue Scheibe verrinnen — ein Sklave des Wassers über sich, und mächtiger Zwingherr der Walzen unter sich, und diese wieder die Herren des Metalles — das sie erfassen, so ruhig-spielend und leicht. Das Zucken des Lammes in der Löwentatze ist eher ein Widerstand zu nennen, als dieß ohnmächtige Schwinden in einer einzigen Umarmung.
Der Beschauer vergißt der bewegenden Kraft, — des Zusammenhanges, — des Begriffes: Maschine. Er sieht ein Lebendiges vor sich — — aber Keinem, der vor einem solchen Getriebe stand, hat jemals die Fantasie vorgespiegelt, daß es von einem Geiste des Lichts, einem Cherub bewegt werde: der nächste Gedanke ist nur der Geist der Finsterniß, der Dämon, selbst in der einfachen Mühle, und das Prinzip ergreift unwillkürlich den Zuschauer....
Wahrlich auf hohem Gipfel der Nächstenliebe muß derjenige stehen, oder ein selten glückliches Dasein hingelebt — oder ein taubenfrommes Gemüth als Wiegengabe eingebunden bekommen haben, — der im ganzen Laufe seines Lebens nicht Einmal Jemandem den frommen Wunsch nachgesendet, daß ihn — — der Teufel holen möge. Und Jeder, aus dessen Brust nicht der Polip des Hasses mit der letzten Wurzel ausgerissen, der lege die Hand aufs Herz, und gestehe, welcher Gedanke in ihm aufgezuckt vor der Höllengewalt dieser umherstürmenden, Alles zermalmenden eisernen Ungeheuer? — — Die Fantasie ist schuldiger, als das Herz. —
Man wünscht ja nicht, daß es geschehe; man denkt nur — — wenn es geschähe! —
— Wer wird dich blutgierig nennen, armer, hungeriger Praktikant der Staatsbuchhaltung, wenn du vor dem Rade stehst und ein dir sonst fremder Geist in dir denkt: eine einzige Umdrehung; und die hundert und achtzig Vorrückungen sind vollbracht, deren es bedarf um vierhundert Gulden zu erreichen! Und so Jeder, der den Karren seines Jammerlebens nicht an die Stelle, die er ein „Ziel“ nennt, schieben kann, ehe nicht der Karren seines Vorgängers umgestürzt und in den Graben am Wege gefallen. — Und wenn der fromme Rechtgläubige die ganze übrige[S. 401] Menschheit, und der Razionalist die gesammte Klerisei im Geiste durch die Walzen zieht —? so sind’s eben Spiele der Fantasie, vom Windhauche der Teufelsmaschine aufgewirbelt.
Der Stellvertreter des Fürst-Erzbischofs stand da — das starre Auge auf dieselbe geheftet, und zeichnete in Gedanken auf den dunkeln Grund hinter den Speichen die Vignette zu dem „Liebet Euch unter einander, daran soll man erkennen, daß Ihr meine Jünger seid“ — er zog vor inkognito zu bleiben. Er gedachte seines geliebten Klosters, — des Mannes, der seinen Platz einnahm — seinem Auge erschienen die Metallplatten als Menschengestalten — — der alte Korbach — Alle, die in der Todtenkapelle zugehört, immer zahlreicher wurde die Gesellschaft — — — die ganze protestantische Gemeinde hat der stumme Wunsch durch die Walzen gezogen — — Aber die Knechte fassen ewig nur Platte auf Platte, und keiner weist grinsend nach einem Besorgten und Aufgehobenen....
Der Herr mag ihm den Willen für das Werk anrechnen! — Seine Vision ward gestört, da der alte Korbach, welcher die Werke jede Nacht zu unbestimmter Stunde besuchte, am entgegengesetzten Eingange des Gebäudes erschien. Bernhard trat schnell ins Freie. Korbach hatte ihn aber erkannt, und mit der Wahr[S. 402]heit und Treue, welche die erste Pflicht des Erzählers ist, muß bekannt werden, daß auch der alte biedere Fabrikherr, als er am Rade vorüberging, von dem ansteckenden „Gedankenspiele“ nicht verschont blieb. — Und sein Gedanke dürfte ihm in einer andern Welt zwar nicht als Verdienst angerechnet werden, aber dafür — in Erfüllung gehen.
Der Domherr ging noch einige Zeit umher, sich für die Predigt vorbereitend, die er vor dem Hochamte zu halten gedachte. — Er hatte den Grundgedanken dazu im Walzwerke gefunden. —
Korbach aber kehrte ins Wohnhaus zurück, um sich zur Ruhe zu begeben. Als er ans Fenster trat um es zu schließen, drang ein seltsames Getön vom Ende des Thales her an sein Ohr, — es wurde immer lauter, deutlicher und wehmüthiger, und er erkannte den Slowakengesang und wußte nicht, wie er sich die Rücksichtslosigkeit der nächtlichen Wallfahrer erklären sollte. — Das Lied verstummte, und es folgte das sogenannte Fahnenduett aus den Puritanern, von einem zahlreichen Chor im raschesten Tempo ausgeführt. — „Das läßt sich eher hören,“ sagte er, „aber wer zum Henker hat denn den Einfall, das ganze Thal in der Nacht aufzubrüllen?“ — Nun klangen die beiden Chöre ineinander, als gelte es, wer den Andern überschreie. „Ich gehe hinab,“ rief er, „und[S. 403] wenn die Kerls — ich habe gar keinen Begriff was sie nur wollen — nicht das Maul halten, so läute ich die Arbeiter zusammen und lasse sie bis Labring hinüberpeitschen!“
Als er die Thür öffnete, trat ihm Helene entgegen, im weißen Nachtkleide, worüber sie ihr dunkelblaues Tuch geworfen, das Köpfchen von den dichten blonden Flechten umwunden, und sagte lachend: „Vater, wenn nicht Alles trügt, so sind die Erzbischöflichen angerückt und beziehen da unten ein Lager.“ —
„Wollte Gott,“ rief Korbach, „es wäre Ernst, und wir lebten noch in der Zeit, wo es Erzbischöfliche und Pfalzgräfliche und Städtische und dergleichen mehr gab — in unserm elenden Jahrhundert darf man kaum eigenhändig Einen zum Hause hinauswerfen. Ich will nun sehen, was es ist.“
Der Markt war in Alarm. Als Korbach erfahren, daß es die Altenberger seien, ertheilte er sogleich Befehle; die Arbeiter wurden in den Werkstätten konsignirt, Keiner durfte ins Freie, die Gemeindevorstände mußten die Bauern beruhigen, die Häuser wurden geschlossen und die Lichter verlöscht. Alle Vorsicht war um so nöthiger, als die Stimmung Abends nach der Ankunft des Domherrn eine so gereizte geworden, daß es der kleinsten Anregung be[S. 404]durft hätte, um eine Katzenmusik unter den Fenstern desselben zusammenzubringen.
Korbach kehrte nach Hause zurück und die Nacht verlief ruhig. Beim Frühstück, das er in Helenens Gesellschaft einnahm, wurde ein „Expresser“ gemeldet, und es erschien — der Schneiderpeter.
Korbach warf ihm einen Thaler hin, und rief, nachdem er weggegangen, — die Depesche Helenen reichend: „Viktoria! gute Nachricht von Arnold! nun soll mir Sprenger mit seinen Bedenklichkeiten kommen! Unser Monarch hält sein Zepter noch an einem Ende in der Hand, und die Pfaffen mögen am andern ziehen und winden wie sie wollen, zuletzt reißt er’s ihnen doch wieder aus den Fingern und klopft sie noch darauf, obendrein! — Hätt’ ich die Depesche Abends bekommen, ich wäre zum Domherrn gegangen, und vielleicht gar höflich mit ihm gewesen — der Sieger kann einen ersten Schritt machen, — einem geschlagenen Feind, heißt es, soll man goldene Brücken bauen! — Nun bleibt’s aber auch bei meinem Beschlusse in Betreff Arnolds.“ — Helene, welche verstand, was er mit den letzten Worten meinte, schien sich über dieselben zu freuen.
Unten wurde es bereits lebhaft. Scharen von Bauern aus allen umliegenden Orten waren zugeströmt, eine bunte Menge in Feiertagskleidern bedeckte[S. 405] den Platz, füllte die Gaststuben, vertheilte sich im Park des Herrenhauses, von welchem nur ein Theil für die Bewohner abgesperrt war. In vielen kleinen, offenen Kaleschen kamen die Verwalter, Hammerbesitzer, Amtsleute und sonstigen Honorazioren, — auf Steirerwägen die blumengeschmückten Burschen und Mädchen.
Das Programm des Tages war: um neun Uhr die Einweihung; dann Predigt; Hochamt; Diner im Herrenhause — Nach dem Nachmittagssegen große Tafel im Park, wo sämmtliches Fabrikpersonale bewirthet werden sollte.
Gegen neun Uhr stellten sich die Korbacher Arbeiter in schöner Ordnung im Halbkreise vor der Kirche auf. Die Altenberger waren gleichfalls hereingezogen; Morawski bat höflich, ihnen einen Platz anzuweisen, und man stellte sie, den andern gegenüber, in einiger Entfernung auf.
Nun erschien Korbach mit seiner Tochter, gefolgt von den Beamten und dem gesammten höheren Personale der Fabrik, in schwarzer Kleidung, und erwartete an der Spitze der Seinigen am Eingange der Kirche den Domherrn. — Dieser schritt im vollen Ornate mit seiner Assistenz vom Pfarrhofe herüber, am Gutsherrn vorbei, dessen Gruß er nicht zu bemerken schien und die Feierlichkeit begann, und[S. 406] ging in bekannter Weise vor sich. Die Geistlichen umschritten die Kirche mit den Rauchfässern, gingen dann hinein, besprengten alle Räume mit geweihtem Wasser, und sprachen Gebete und nun folgten die Weltlichen, so viel ihrer Platz fanden, in das nunmehr zum Gottesdienste geweihte Haus.
Der Domherr bestieg die Kanzel. Korbach begab sich mit Helenen in das derselben gegenüber befindliche Oratorium.
Die Predigt begann.
Der Text war: Auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen. — Die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.
Bernhard ging kurz über die erste Hälfte desselben hinweg, und wendete die gesammte Kraft seiner Rede auf den letzten Satz. — Auch nicht Ein Wehen des Taubenfittigs! — — Nichts als die Kralle des Teufels in den Nacken dessen, der da glaubt, es gebe einen andern Weg nach dem Himmel als jenen, der durch brennenden Schwefel beleuchtet ist. — „Was hilft ein neues Gebäude, wenn nicht ein neuer Geist einzieht? — Wer die räudigen Schafe nicht von den reinen trennt und vertilgt, ist Gott verantwortlich für das Verderben der letzteren. Das Feuer, das auf die entarteten Städte fiel, möge über das Thal herabfallen, wenn[S. 407] einmal nicht fünf Gerechte darin zu finden, und dahin muß es kommen, wenn die Pest der Ketzerei Hütte auf Hütte ergreift. — Aber der Herr weiß den Schuldigen zu finden, wenn nicht hier doch drüben.“ — Und nun kam das Bild der Hölle: Das Schwungrad, die Walzen, die Hämmer, der Hochofen — das mußten ja die Arbeiter begreifen: wie die Seelen und Leiber zerquetscht werden von den Rädern, die der geschmolzene Pechstrom umtreibt. — Hierauf folgte die Anwendung, wie Derjenige, der die irdische Maschine mißbraucht, um die Ketzer zu ernähren, von der höllischen erfaßt und mit ihnen zermalmt wird zur Strafe des Frevels, daß er Stein auf Stein aus den Mauern der Kirche gebrochen, deren patronus, Schutzherr er sich genannt.“
Er heftete den Blick fest auf Korbach, welcher aufstand, mit seiner Tochter das Oratorium verließ, langsam zwischen den sich öffnenden Reihen die Kirche durchschritt, und sich in ruhiger, würdevoller Haltung über den Platz nach dem Herrenhause begab.
Der Geistliche hielt absichtlich inne, um die Störung desto auffallender zu machen, und wartete noch einige Augenblicke, nachdem der Fabrikherr die Kirche verlassen, welchem einige Korbacher gefolgt waren.
Dann hob er mit schmerzlich bewegter zitternder[S. 408] Stimme wieder an, und bat Gott um Gnade für den Sünder, der dem Worte, das ihn zum Heile führen könnte, aus dem Wege geht — fiel aber bald in den früheren Ton, indem er dem Gutsherrn und Allen die zu ihm hielten, die gesammten Blitze und Donner des Anathema nachsandte, so daß es endlich auch den Uebrigen zu arg ward, welche die als Ausbund aller Laster geschilderten Protestanten als die bravsten und ehrlichsten Leute kannten, und die Kirche leerte sich rasch von den ursprünglichen Besuchern und füllte sich in demselben Maße mit Slowaken, für deren Kapazität es ganz gleichgültig war, in welcher Sprache gepredigt wurde. Trotz der gespannten Aufmerksamkeit, welche auf ihren Gesichtern zu lesen war, kürzte der Domherr nun die Predigt ab und verließ die Kanzel um das Hochamt zu halten, welches mit dem Aufwande der besten musikalischen Kräfte des Thales stattfand und ziemlich drei Stunden währte.
Die Kollmann’schen Arbeiter, von Morawski und Fontana in jeder Bewegung geleitet, nahmen nun fast die ganze Kirche ein, und die Korbacher, obgleich sie ihnen selbst den Platz geräumt, sahen es mit Aerger an. Die fremden Besucher bildeten abgesonderte Gruppen, allgemein wurde das Benehmen des Gutsherrn besprochen, von den Meisten gebilligt,[S. 409] von Einigen getadelt; — als der Gottesdienst geendet war, hatte sich Verstörung und Mißstimmung aller Gemüther bemächtigt.
Nun fuhren die Wagen mit den Geistlichen vom Pfarrhofe weg. Vor dem Kirchenthore ließ Bernhard halten, stand auf, segnete die Wallfahrer und sprach zu den nebenstehenden Gemeindevorständen mit weithin vernehmlicher Stimme: „Ich danke Ihnen für Ihre Bemühung zur würdigen Feier der heiligen Handlung. Wenn dieselbe nicht so vor sich ging wie es sein sollte, ist es nicht Ihre Schuld. Noch ist eine Handbreit Erde für den Samen des Guten in Korbach zu finden und ich bitte Sie nicht zu verzagen, — die Kirche wird Sie schützen, ihr Segen wird Ihnen so wenig fehlen, als die Strafe Denen, die sich nunmehr offen gegen sie aufgelehnt haben.“
Die Vorstände hörten schweigend und ernst der Anrede zu, — als aber die Wagen um die Ecke waren, ließ ein Hammerknecht, der zu den glühendsten Anhängern des Gutsherrn gehörte, aus voller Brust ein Vivat Korbach! erschallen, und da es bei einer aufgeregten Volksmenge nur eines zündenden Funkens bedarf, so scholl der Ruf, von Hunderten wiederholt, an die Ohren des Domherrn und seiner Begleitung, als Abschiedsgruß, — als wollte man den[S. 410] stummen Empfang gutmachen der ihm bei der Ankunft zu Theil geworden.
Morawski’s Augen leuchteten auf bei dem Rufe. Wie ein General oft mitten in der Affaire einen neuen Plan faßt, schien er jetzt mit dem seinigen im Reinen. Da trat Fontana zu ihm und sagte leise: „Meine Italiener sind nicht zu halten, sie wollen in die Wirthshäuser.“
— „Das dürfen sie nicht. Haben sie nichts mehr vom Vorrath?“
— „Keinen Schluck und keinen Bissen!“
— „Das ist schlimm. Verzehrt darf Nichts werden.“
— „Auch sind sie ungeheuer aufgeregt: es hat sich unter ihnen verbreitet, der Domherr habe den Korbach exkommunizirt. Ein Theil sagt, dieser habe Recht, die Andern reden vom Fenstereinwerfen.“
— „Da ist keine Minute zu verlieren, — hier sind vierzig Gulden, führen Sie sie augenblicklich fort, nach Labring, lassen Sie sie zechen und dann marsch! nach Hause! Ich kann hier keine Hitzköpfe brauchen. Meine Slowaken sind die rechten, — gehen Sie in Gottes oder des Herrn Kollmann Namen!“ — schloß er lachend. —
Fontana sammelte seine Schaar, welche alsbald zum Orte hinaus und die Straße hinab lärmte, dem Walde zu.
Die Korbacher waren gegen Wallfahrer überhaupt, namentlich gegen die jetzt anwesenden eingenommen. — Aus dem prinzipiellen Standpunkte sind die Akten über die Karawanen, welche die Wüste des Aberglaubens unter dem Namen von Prozessionen durchziehen, längst geschlossen. Der Ort, von welchem die Arbeitskräfte und das Geld exportirt werden, hat die Handelsbilanz offenbar gegen sich; das Mekka, wo sich die silbernen und wächsernen Votivsteuern ansammeln, und jedes Haus ein Wirthshaus, hat sie für sich, — ein Vortheil, welcher aber durch das fisische und moralische Ungeziefer, welches die frommen Scharen zurücklassen, weit überwogen wird. Nun sollte das Letztere allein der Antheil der Korbacher Gemeinde sein! — Sie hatte langmüthig zugesehen, wie die Ankömmlinge ihre Wiese in der Nacht so zu sagen abgeweidet; das Gras war allenthalben zertreten und selbst Feuerstellen waren zu sehen. Der Richter war am Morgen, ohne Korbachs Wissen, zu den Fremdlingen hinausgegangen und hatte Explicazionen verlangt. — Wenn eine Großmacht eine Ohrfeige erhält, wird der Gesandte beauftragt de demander des explications, ob damit eine Beleidigung beabsichtigt sei. — Morawski hatte sich äußerst artig entschuldigt, er habe in der Nacht nicht im Orte Quartier nehmen wollen, und im Namen[S. 412] seines Herrn Schadenersatz angeboten, den jedoch Korbach anzunehmen verbot. — Nun waren die Italiener abgezogen, die Andern lagerten nach dem Gottesdienst an der Straße und verzehrten was sie mitgebracht. — Die Bauernbursche standen nach dem Mittagsessen beisammen und beriethen die Eventualitäten eines Zusammenstoßes. —
Im Herrenhause war das Diner der Honorazioren vorübergegangen, ohne daß der Abgang des Domherrn der Fröhlichkeit Eintrag gethan hätte. Die Predigt fand die heftigste Mißbilligung; Korbach sagte, er habe sich zurückgezogen, da er nicht Lust gehabt, sich von einem Fanatiker insultiren zu lassen, der die heilige Stätte mißbrauche, um seinem Aerger über eine erlittene Niederlage Luft zu machen; er sei überzeugt, daß die Regierung solchen Uebergriffen zu begegnen wissen werde. Der Beweis, daß sie die gerechte Sache schütze, liege darin, daß trotz der Konflikte zwischen ihm und der Geistlichkeit seine Beziehungen zu den höchsten Behörden ungetrübt geblieben, wie eben eingetroffene Nachrichten von seinem Sohne bewiesen.
Die Gäste stimmten bei, und eine Reihe von Toasten auf Toleranz, Gleichberechtigung der Kulten u. dgl. beschloß das Mahl.
Nach demselben begaben sich die Gäste in den Garten, wo die Vorbereitungen für die Bewirthung[S. 413] der Arbeiter nach dem Abendsegen getroffen wurden. Ehe Letzterer begann, hatten die Slowaken wieder einen Theil der Kirche und den Platz am Eingange gefüllt. — Sie begingen keine einzige offensive Handlung. Sie waren nur da. Wo ein Anderer gehen und stehen wollte, da ging und stand ein Slowak. Ohne zu Thätlichkeiten zu schreiten, drückte und schob man sie aus dem Wege, aber die Trägheit der Masse, die bei alle dem von einer unsichtbaren Hand geleitet schien, gewann immer die Oberhand, und die Korbacher konnten ihrer neugeweihten Kirche nicht froh werden.
Als der Gottesdienst vorüber war, begaben sie sich über die Brücke nach dem Park, und nahmen an den Tischen Platz. Die Fremden aber schienen ihre Andacht über Nacht fortsetzen zu wollen. Es ist dies übrigens Nazionalsitte; wer jemals Gelegenheit gehabt dieses Volk in seinen überirdischen Beziehungen zu beobachten, wird gefunden haben, daß seine Andacht sich nicht mit dem Maße der übrigen Christenheit mißt. Die Kirche ist an Feiertagen sein Bivouac, — es liegt und steht stundenlang darin, geht ein wenig heraus, ißt und trinkt, — dann wieder hinein, bis in die Nacht. — Nun breiteten sie ihre Kotzenmäntel auf den Boden, lagerten sich und packten wieder mitgenommenen Proviant aus.
Korbach’s Arbeiter waren von ihnen durch die Brücke und die Umfriedigung des Parks getrennt, in welchem sie an den langen Tischen saßen, zwischen denen der Gutsherr ab und zu ging, mit den Leuten freundlich sprechend, und beständig die Fremden im Auge behaltend. — Die Protestanten und Katholiken saßen gemengt, die gespannte Stimmung begann einer fröhlichen zu weichen und man kümmerte sich nicht um die Slowaken. Plötzlich stimmten diese auf ein Zeichen Morawski’s eines ihrer Jammerlieder an. — Ein Murren antwortete. — Korbach gebot den Seinen Ruhe, fand Gehorsam, befahl aber dem Wächter, das Gitterthor nach der Brücke zu schließen.
Nun war das Lied geendet und man sah die Sänger sich erheben und wie zum Abzuge ordnen, woraus keineswegs zu schließen, daß sie gingen. — In diesem Augenblicke wiederholte der Hammerknecht, welcher das „Vivat Korbach“ beim Abschiede des Domherrn provozirt hatte, diesen Ruf, und in der nächsten Minute scholl es vom Kirchenplatze mit dem vollen Kraftaufwande sämmtlicher slowakischer Lungen herüber: „Zivio Gospodin Kollmann!“[2]
Die Arbeiter fuhren schreiend von den Sitzen[S. 415] empor — Korbach schlug mit voller Kraft mit dem Stocke auf den Tisch und nochmals dämpfte sein donnerndes: Ruhe! den Aufruhr — aber bereits war ein Stein aus dem Park über die Staketen geflogen und hatte einen Slowaken an den Kopf getroffen.
Morawski schien seine Leute mit eiserner Gewalt zu beherrschen, denn das angestimmte Geheul verstummte augenblicklich wieder, und nun rief er vortretend, gegen das Gitter hin: „Die Beleidigung frommer Wallfahrer, welche beten, während Andere trinken, wird ihre Richter finden! Wir ziehen ruhig ab, haben Niemanden beleidigt, aber es wird uns auch Niemand verwehren, unsern Brotherrn leben zu lassen, wie Andere den ihrigen, darum nochmals: Zivio Kollmann!“
Der Ruf war noch nicht verklungen, so war dem Wächter der Schlüssel entrissen, das Thor geöffnet, und die von Wein und Zorn glühenden Arbeiter stürzten wie ein Wildwasser, das den Damm durchrissen, heraus, über die Brücke auf die zusammengedrängten Fremdlinge. Korbach’s Ruf ward überschrien, er vermochte nur mit äußerster Anstrengung in die vorderen Reihen der Seinigen zu gelangen, allein während er die Nächsten zurückwarf, setzten die Andern, vom Dunkel begünstigt, auf allen Seiten[S. 416] ihr Rachewerk fort. Die Slowaken waren stämmige, kraftvolle Leute, vermochten aber der überlegenen Anzahl der eben so kräftigen Hammerleute und Schmiede, denen sich auch die Bauern anschlossen, kaum einige Minuten zu widerstehen, und wurden in einem verworrenen Knäuel mit unglaublicher Schnelligkeit die Straße hinabgetrieben, unter einem Hagel von Fausthieben auf ihre runden Hüte und breiten Rücken, — und buchstäblich aus dem Orte hinausgeworfen.
Korbach hatte nun das ganze Aufsichtspersonale um sich vereinigt und es gelang ihm, der Verfolgung Einhalt zu thun, — jeder der Vorgesetzten wußte rasch und energisch die ihm unmittelbar unterstehenden Arbeiter zu sammeln, die Ordnung ward so schnell hergestellt, als sie gestört worden. Der Fabrikherr verkündigte strenge Untersuchung und Bestrafung derer, die zuerst angegriffen, schickte alle in die verschiedenen Werkstätten zur Nachtarbeit und besichtigte mit Einigen von der Gemeinde das Schlachtfeld, welches mit Hüten und abgerissenen Kleidungsstücken der Vertriebenen bedeckt war. Zwei Slowaken lagen schwer verwundet an der Kirchenmauer und wurden nach dem Herrenhause gebracht, wo sie den Händen des Arztes der Fabrik übergeben wurden.
Während dieß geschah, kam Morawski mit einem Begleiter zurück, näherte sich Korbach und[S. 417] sagte ruhig, er komme, für’s Erste, um die zurückgebliebene Kirchenfahne der Wallfahrer zu holen. Sie wurde beim Laternenlicht gesucht, und fand sich, die Stange zerbrochen und das Tuch zerrissen. — Morawski übergab sie seinem Begleiter, welcher damit fortging und erklärte, sofort seine Aussage über das Vorgefallene vor der Gemeinde-Obrigkeit zu Protokoll geben zu wollen.
Das Ansinnen war nicht zu verweigern. Korbach, der ihn keines Wortes würdigte, ging ins Herrenhaus zurück, Morawski aber nach dem Ortsgerichte, wo er vor dem Richter und Geschwornen seine Aussage niederschrieb und unterzeichnete. Nachdem er sich noch überzeugt, daß die beiden Verwundeten sich in guter Pflege befänden, entfernte er sich und trat mit den Seinigen den Rückmarsch an, mit dem Gefühle der vollsten Befriedigung über seine Leistung.
Kollmann hatte gut gewählt, — Morawski seine Aufgabe in politischer und strategischer Beziehung so gut gelöst, daß ihn jeder diplomate-militaire beneiden kann.
— — Nicht ohne Bedauern sehen wir unserer Erzählung durch das Zusammentreffen der Umstände einige der schönsten Effekte entgehen.
Konnte nicht während des Kampfes Arnold mit[S. 418] seinem neuen Freunde Richard Forster erscheinen? Und da es zu unedel wäre, unsere Helden in Konflikt mit Slowaken zu bringen, konnten nicht wenigstens die Italiener Stand halten, — Richard durch einen Messerstich verwundet, ins Herrenhaus gebracht, und die Liebe zwischen Helene Korbach und ihm auf so natürliche als überraschende Weise vermittelt werden durch Wundfieber und Rekonvaleszenten-Pflege? Oder konnten nicht die Kollmann’schen Freiwilligen das Haus stürmen und eine Rettung aus den Flammen vorbereiten? — Statt aller dieser kostbaren Elemente bietet sich nichts als ein gemeiner Faustkampf der Arbeiter, Hinauswerfen der einen Partei, und leider die zerrissene Fahne, und ein Paar von Steinen zerschlagene Kirchenfenster und Slowakenköpfe!
— — Auf einen Befehl Korbachs, der in jenem Tone gegeben war, der keine Einwendung gestattete, hatte sich Helene beim Beginn der letztgeschilderten Szene in das Haus zurückgezogen.
Sie wurde nun nach dem Arbeitszimmer des ernst und nachdenklich zurückkehrenden Vaters gerufen, und als dieser eben seine Erzählung des Vorgefallenen geendigt hatte, trat Arnold ein, — in eben so ernster Stimmung, grüßte mit stummem Händedruck die Schwester, und sagte zum Vater: „Ich hoffe durch das, was ich bringe, das Unangenehme[S. 419] auszugleichen, was dir begegnet.“ Dabei legte er die Kontrakte auf den Tisch.
Während der alte Korbach dieselben durchflog, führten Arnold und Helene eines ihrer eigenthümlichen Augengespräche, in welchem sie ihm sagte: Zeige dich dem Vater nicht gedrückt, er ist es ohnedem, sei heiter! — Arnold verstand sie und sagte: „Nun ist mit Gottes und deinem Segen meine erste Mission gelungen, und meine zweite soll sein, wenn man uns einen unserer Wege abschneidet, einen andern zu eröffnen, mir ist vor Nichts bange, selbst wenn wir den Kontrakt nicht hätten, — wir haben ihn aber, und nun denke nicht an den Arbeiterkrawall, — und noch weniger an den Domherrnkrawall, sondern ruhe und laß mich arbeiten!“
Bei diesen mit Zuversicht gesprochenen Worten sah der Vater Helene an und fragte: „Hast du Arnold denn schon Etwas gesagt — daß er so spricht?“ —
Sie verneinte es und der Vater fuhr fort: „Bleibt in meinem Zimmer so lange Ihr wollt, ich gehe schlafen; mit dir, Arnold bin ich zufrieden, morgen mehr!“
Hierauf verließ er das Arbeitszimmer, und die Geschwister bemerkten mit Betrübniß, daß sein Gang nicht der feste, seine Haltung nicht die kräftige, stolze war wie gewöhnlich. —
„Wie findest du die Sache?“ begann Helene.
— „Ganz schlecht. Wie ich die Leute kennen gelernt, zerschneiden sie den Vertrag wie Kaiser Ferdinand den Majestätsbrief mit eigener Hand, nachdem was heute vorgefallen ist. Mußte der Vater von der Predigt weggehen?“
— „Er konnte nicht anders, nicht um den Preis unseres ganzen Besitzes. Wäre er geblieben, so hätte ich als Tochter seine Gründe achten müssen, wäre aber allein weggegangen.“
— „Das genügt mir. Wir müssen nun auf Schlimmes gefaßt sein.“
— „Fürchtete ich nicht für die Gesundheit des Vaters, so läge an dem Allem nichts. Vielleicht steht es nicht so schlimm, als du glaubst.“
— „Ich halte einfach den Kontrakt für zerrissen.“
— „Sage mir doch, könnt Ihr denn für Niemanden als Monarchen, Ministerien und Oberkommando’s arbeiten? Können denn die Geistlichen alle Menschen, welche auf dieser Erde Messingplatten brauchen, gegen uns aufhetzen? Die Reinhart in Dörnberg haben, wie ich gehört, keine einzige Staatsbestellung und sind so reich als wir.“
— „Ganz gut gesprochen, mein lieber Kompagnon, aber du weißt, daß der Vater sammt all’ seiner Opposizion gegen die Regierung das alte Prinzip der Firma nicht fahren läßt.“
— „Er wird es nicht; aber höre mich. Er hat heute nach Ankunft deiner Depesche gesagt: Arnold hat seine Sporen verdient! Ein schöneres Debüt für seine selbstständige Leitung könnte er nicht haben, als die Marinelieferung, er soll gleich selbst Dasjenige arbeiten, auf was er abgeschlossen. Ich übergebe ihm, da er nun 24 Jahre alt wird, die ganze Sache; es ist besser, er übernimmt das Geschäft zu einer Zeit, wo er mich noch ein Paar Jahre an der Hand hat. Du weißt nun, warum er mich früher gefragt; er wird gewiß morgen mit dir sprechen.“
— „Wenn ich ihn unter andern Umständen beschworen hätte, mich noch ein Jahr in der Residenz zu lassen, so wäre es jetzt geradezu eine Feigheit. Ich weiß, daß wenn ich freie Hand habe, das Geschäft in eine neue Bahn zu leiten, er in kurzer Zeit Resultate sieht, die ihm ein glückliches Alter bereiten.“
— „Mache was du willst und kannst; es ist ja Alles nur um des Vaters willen. Um dich und mich wird’s mir doch wahrhaftig nicht bange sein? Und wenn man uns so vollständig zu Grunde richten könnte, daß du in ein fremdes Geschäft gehen und ich als Gesellschafterin unterkommen müßte, was läge uns daran? Aber für unsern Vater, und um der schönen Schöpfung unserer Mutter willen, zum Heil der Hunderte, die da glücklich und zufrieden und[S. 422] in der freien Ausübung ihres Glaubens, der der unsere, geschützt leben, und deren Aller Loos von unserem abhängt, muß unser altes, schönes Korbach stehen bleiben, und wenn alle Erzbischöfe der Welt mit ihren Krummstäben dagegen Sturm liefen. Getraust du dich es zu halten?“
— „Ja, wenn wir die alten unhaltbaren Verbindungen aufgeben und einen neuen Weg einschlagen.“
— „Den kann der Vater nicht betreten, folglich mußt du annehmen.“
Ruhig und klar besprachen die Geschwister die Lage, die sich durch die Vorfälle des Tages gezeichnet. Endlich fand Helene den Uebergang auf den Gegenstand, der ihr nach der großen Frage des Hauses am Meisten am Herzen lag.
Sie wußte die Folge des Freinhofbesuches, wußte daß Arnold liebe und freute sich dessen. Es fiel ihr nicht ein, den Gedanken bis zu einer Konsequenz zu verfolgen, welche ihr Gefühl verletzt hätte. — Hunderte ihrer Schwestern, weniger unschuldig als sie, sind schnell mit dem Verdammungsurtheile über die Liebe zu einer Frau fertig: entweder für einige Zeit, bis sie nämlich selbst der Gegenstand einer solchen Liebe geworden, oder auf immer, wenn sie es niemals werden. Eine andere Liebe zu einer Frau als jene des Göthe’schen — nicht des wirklichen — Tasso[S. 423] konnte sich Helene nicht denken, und an einer solchen fand sie nichts Verwerfliches. — Aus dem Zusammenklange von hellem Verstande, freiem Sinn und blütenreinem Herzen konnte nichts Anderes hervorgehen, als ein Segenswunsch für das Gefühl, in welchem sie Arnold glücklich sah.
Er sprach heute ganz offen mit ihr, und sie ging in ihren Gedanken einen kühnen Schritt weiter. Sie fragte, indem sie Arnold vielsagend ansah: „Ist Julie Protestantin?“ —
„Ich weiß es nicht einmal,“ war die Antwort.
— „Ich begreife, daß Ihr Euch um andere Dinge als Euer Glaubensbekenntniß zu fragen hattet — aber du weißt wohl, warum ich fragte.“
— „Ich verstehe dich vollkommen. Ich vertraue dir Etwas, was mir nicht anvertraut worden, sondern was nur mein Gedanke ist... der Gedanke heißt: Julie ist nicht seine Frau.“ —
Helene trat betroffen zurück — ernst und schmerzlich sahen die dunkelblauen glänzenden Augen in die des Bruders. „Wenn es so ist, sagte sie mit Würde und Entschiedenheit, — was kannst du sagen, Arnold, um zu rechtfertigen, daß du mich zur Vertrauten einer Sache gemacht, von der ich Nichts wissen will, von dem Augenblicke an, wo deine Geliebte keinen Namen führt, mit dem mein Mund sie nennen kann?“
— Arnold hielt Blick und Frage und Vorwurf ruhig und lächelnd aus und sagte: „Ich würde mich deiner Betroffenheit freuen, meine liebe, schöne, strenge Schwester, wenn sie sich nicht von selbst verstände.[S. 424] Vergiß aber nicht, daß der Antheil von Ehre unsers Hauses, für den du und ich Rechenschaft zu legen haben, ein ganz gleicher ist, und suche nach keinem andern Namen für Julie, als den sie verdient, nämlich jenen deiner Schwester und einer Tochter unserer Eltern.“
— „Bedenkst du, was du damit sagst, Arnold?“
— „Ich habe bedacht, ehe ich abermals zu dir gesprochen. Ich hätte, nach der Reise, Juliens nicht mehr gegen dich erwähnt, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß sie so ist, wie ich sage.“
— „Ich glaube dir, weil ich Nichts mehr glauben will, wenn ich an dir irre werde. Die einzige Frage ist nur, ob du nicht getäuscht wirst, indem du glaubst.“
— „Lerne sie kennen und höre von ihr die Worte: „Kein heiliges Band bindet mich an Kollmann, — der Himmel ist ja barmherzig und löst die seinen — aber meine Lippen sind würdig geblieben, die deinigen — würdig, die deiner Schwester zu berühren — ich sehne mich nach ihr, der ich vielleicht mehr sagen könnte, als selbst dir!“ — Das höre von ihr, Helene, und dann zweifle!“ — Er reichte der Schwester die Hand und sah sie zärtlich, fast bittend an.
— — „Gott lasse es Licht werden über unserm Thal und Eurem Leben! — ich will ja Alles glauben — Alles hoffen!“ rief Helene und drückte in schweigender inniger Umarmung den Bruder ans Herz.
[2] Es lebe Herr Kollmann!
Ende des erste Bandes.
Halle, Druck von H. W. Schmidt.