The Project Gutenberg eBook of Moses Tod: Legende

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Title: Moses Tod: Legende

Author: Rudolf Kayser

Release date: July 7, 2016 [eBook #52517]

Language: German

Credits: Produced by Jens Sadowski and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK MOSES TOD: LEGENDE ***

MOSES TOD

LEGENDE
VON
RUDOLF KAYSER

MÜNCHEN
KURT WOLFF VERLAG

Bücherei „Der Jüngste Tag“, Band 86

Gedruckt bei Poeschel & Trepte in Leipzig

Copyright 1921
by Kurt Wolff Verlag A.-G. München

Für Werner Schendell
in großer Freundschaft

Und der Herr sprach zu ihm: Dies ist das Land, das ich Abraham, Isaak und Jakob geschworen habe, und gesagt: Ich will es deinem Samen geben. Du hast es mit deinen Augen gesehen; aber du wirst nicht hinübergehen.

Also starb Mose, der Knecht des Herrn, daselbst im Lande der Moabiter nach dem Worte des Herrn.

5. Mose 34; 4-5.

Als man das Lager aufschlug, war es später Abend. Müdigkeit und die Anstrengungen der letzten Tage warfen das Volk schnell in die gebräunten Zelte. Nur Flüche, Schmerzensschreie der Mütter und kleines Jammern der Kinder gingen noch hin und her, um in der übersternten Nacht dann zu versinken. Der Morgen setzte goldene Spitzen auf die Zelte, die langsam, eins nach dem andern, sich öffneten. Hagere Männer, deren Körper nur Ausdruck von Hunger und Überdruß waren, traten, den Blick zu Boden gesenkt, hervor, sahen nach den Herden und ließen sich aus den wenigen Schläuchen, die noch gefüllt waren, in kleine Holzgefäße Wasser gießen.

Da brach plötzlich durch das sich noch im halben Schlummer dehnende Lager ein Schrei: hell wie der Schofarklang, der vor der Bundeslade daherzog, und innig wie unbesorgtes Kinderlachen. Jobab, der siebzehnjährige Sohn des Priesters Josef vom Stamme Levi, der seinen braunen Körper wie jeden Morgen mit durchsengtem Wüstensande wusch, hatte ihn ausgestoßen. Von allen Seiten eilte man auf ihn zu. Selbst die am Rande des Lagers gelegenen Zelte hatten sich geöffnet. Männer und Frauen stürmten herbei, Greise und Kinder schlürften langsamer nach.

Jobab stand auf einem Stein, jetzt völlig vom Morgen überstrahlt. Sein braunes Auge starrte verzückt in die Ferne. Alles hing an seinem leicht geöffneten Mund, um den ein übermütiges Lachen sich auszubreiten begann. Schließlich wies er nach Osten: auf den hell erglühenden Horizont.

Und da erkannten die schärferen Augen der Jungen, daß dort, wo die Welt durch die Himmelskugel abgeschlossen erschien, die Wüste sich wellig zu heben begann. Als ob ein Schläfer am Morgen, nach einer guten Nacht, die Decke langsam von sich streift und am Fußende des Lagers auftürmt, so hob sich die Erde, und je höher die Sonne in den neuen Tag stieg, desto schwerer, breiter und zackiger empor. Über den Sand strich leiser Wind und trieb die Körner dem fremden Wunder entgegen.

Da warfen Mädchen und Jünglinge ihre schmalen Leiber auf den Boden der Wüste und riefen dreimal, Angst in der Kehle und unterdrücktes Weinen in der Stimme, den Namen Jahve den Erdtürmen zu. Die Älteren aber lächelten. Freudig blickten sie sich an, ergriffen ihre harten Hände und hoben dann sanft die Kinder empor.

Sie wußten, daß jene gewellte Mauer nicht der Thron Gottes sei. Sie dachten zurück an Mizrajim, an die breiten, schweren Gebirge, die das üppige Land vor der Wüste schützten. Und auf ihren Lippen formten sie dies ungewohnte Wort „Gebirg“ und sprachen es langsam und feierlich aus.

Das Gebirg aber begann zu wachsen. Die letzten Wolken fielen von seinen Spitzen. Im bräunlichen Licht des vollen Tages dehnte es sich in unendlicher Weite. Jeder begriff: die Wüste war hier zu Ende. Die lange Wanderung, auf der Generationen gestorben und geboren waren, hatte ihr Ziel erreicht. Jenseits dieser Mauer begann Verheißung und Glück, das kanaanitische Paradies, in das Jahve sein Volk zurückzuführen versprochen hatte.

Da brach ein unendlicher Jubel im Lager aus. Schalmeien, Pauken und Schofare ertönten. Alles verließ die Zelte. Selbst die Kranken und Sterbenden schleppten sich von den Lagern, um das Ende von Israels Leidensweg zu schauen. Neue Lieder wuchsen auf Gassen und Plätzen und wurden von allen gesungen. Hier kamen junge Menschen zusammen, rissen die verfallenen Fetzen ihrer Kleider vom Leibe und begannen jauchzende Reigen. Dort fielen Paare in liebende Umarmung. Statt Fluch, Erbitterung und Not standen helle Gebärden und freudige Worte auf.

Man rief sich Belehrungen über das Gebirge zu, die niemand glaubte. Jeder wußte genau, wie hoch und breit es sei und wie lange man noch bis zu seinem Fuß zu gehen hätte. In einigen Gruppen gestikulierender Männer schien sogar Streit hierüber zu entstehen.

 

Als der Mittag kam, fand sich das Volk den neuen Erwartungen schon zugekehrter. Die Gespräche gingen um die Genüsse und Vorteile des reichen Landes, das sie in wenigen Tagen betreten würden. Von den vierzigjährigen Entbehrungen und Qualen sprach niemand mehr. Aber wie eine Erinnerung strahlte die Wüste ihre schmerzliche Schönheit aus.

In ihrer weiten Monotonie glich sie Gedanken, die ins Unendliche sich dehnten. Da war das große, braune, endlose Meer, durch das als schmales Rinnsal die Spuren eines wandernden Volkes sich zogen. Da war die schwere und tiefe Stille, die nur Schakale und göttliche Verheißung zerreißen konnten. Da war die Schönheit der Weite, Reinigung und Einsamkeit. Über die Landschaft hingen wie Abschiedsworte graue Wolkentücher.

Einige Jünglinge hatten sich von den Zelten entfernt, lagerten sich auf einem erratischen Felsen und blickten schweigend zur Wüste hinab. Sie, die in der Wüste geboren und aufgewachsen waren, ihr junges Leben zwischen Auf- und Abbau der Zelte verbrachten, denen Wandern, stilles, schweres Wandern und der Glaube an Gott und Israels Zukunft einziger Lebensinhalt geworden waren — sie hatten ihre Seele mit der Landschaft so gefüllt, daß Trennung unmöglich schien. Die Stille war in ihnen, wie sie in der Stille waren.

Nur einer von ihnen streckte über die Wüste wie segnend seine Hände aus, um sie dann langsam sinken zu lassen.

Da fingen alle zu beten an. Die schwere, heiße Luft saugte ihre Worte und Empfindungen auf wie der durchglühte Sand die Wasserreste. Ihre hellen Stimmen schwollen an, jubelten, klagten und sehnten sich. Irgend etwas ging in ihnen vor, das sie nicht benennen konnten.

Sie sahen sich schweigend an. Sie wußten, was jetzt geschah, war anderes und größeres als die Trennung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Entscheidungen standen bevor, fast zu schwer für ihre schwache und hilflose Jugend. Weltenschicksal wollte sich an ihnen vollziehen. Gefühle standen in ihnen auf, so mächtig, weit und furchtbar, daß ihre Leiber wie unter einem Frost erschauerten. Sie konnten die Vergangenheit nicht von sich stoßen; sie war ihnen mehr als Not und Entbehrung, sie war ihnen Leid, tiefes, verantwortungsvolles, letztes Inneres entblößendes Leid.

Schließlich sprach einer: „Es ist nicht gut zu jubeln, weil wir die Wüste verlassen. Die Wüste ist schön.“

„Ja, sie ist schön,“ riefen sie alle und beugten sich tief über die Landschaft wie über den Körper der Geliebten hin. Sie ahnten, daß das Wandern, das Fehlen jedes Genusses, das Hinziehen der Tage in unendlicher Gleichmäßigkeit sie veredelt hatte; so standen sie fremd jenen gegenüber, die Mizrajims Reichtümer gekannt hatten und in Kanaan sie wiederzufinden hofften. Sie hatten ihr Leben nur Gott geweiht. Heiligkeit brannte in ihrem Blut. Erkenntnis lenkte ihren Willen, der weit über irdische Güter sich sehnte. Glauben verband sie einander zu einer Gemeinschaft, die, gefühlt nur und nie genannt, kein anderes Ziel als dieses eine hatte: Gott.

Als sie ins Lager zurückkehrten, brach man die Zelte ab. Der letzte Teil der großen Wanderung sollte beginnen.

 

Noch drei Tage und drei Nächte mußte das Volk durch die Wüste ziehen, ehe es den Fuß des Gebirges erreichte. Dort angelangt, lebte man ganz in den Vorstellungen dessen, was jenseits der Berge auf Israel wartete. Alle Herrlichkeiten Mizrajims steigerte man zu einer phantastischen Fülle von Gaben, Freude und Schönheit und preßte die Seelen so voll von ihnen, daß sie müde wie überladene Weinstöcke sich neigten. Begehren glänzte von den Gesichtern und machte sie feindlich und verschlagen. Die Blicke suchten, dem Bruder die Pläne zu rauben, um alle Vorteile des gesegneten Landes auf sich vereinigen zu können. So wurden sie habgierig, zänkisch und klein. Sie riefen sich Schimpfworte und Prahlereien zu.

„Ich werde die größten Weiden am Flusse Jordan haben; Herden von Rindern, Schafen und Ziegen, unzählig wie die Herden des Stammvaters Abraham. Du aber wirst in der Stadt hausen, in einer engen, schmutzigen Kammer und dich kümmerlich nähren von deinem armseligen Handwerk.“

„An meiner Tür wirst du betteln, und ich werde dich fortpeitschen lassen wie einen räudigen Hund.“

„Ich werde ein Handelshaus haben, das seine Karawanen nach Babylon, Damaskus und Kairo schickt.“

„Ich werde Gold aufhäufen, gleißendes, gelbes Gold, zu Bergen, höher als der Libanon, und wenn ich sterben werde, so nehm’ ich das Gold und streu’ es zuvor in den Jordan, damit niemand nach mir es haben wird.“

Die Entbehrungen ihres bisherigen Lebens strömten sich in solchen Wünschen aus. Ihre Herzen waren hart und verschlossen geworden, und wo sonst Hilfe und Güte waren, herrschte Neid und Mißtrauen. So standen sie schon in dem Schatten kommenden Besitzes und waren eitel und schlecht. Sie klagten nicht mehr, aber sie beteten auch nicht mehr; sie träumten und planten, wie Räuber und Eroberer es tun.

 

Der letzte Abend in der Wüste war gekommen. Die Israeliten ruhten vor ihren Lagerfeuern und sprachen, zankten und ereiferten sich. Plötzlich erschien mitten in ihrem Kreis, steinern und groß, den breiten Körper wie eine Brücke zwischen Himmel und Erde gespannt, den Blick in jede Seele gewandt, Mose, ihr Führer.

Schnell waren die Gespräche verstummt. Man versuchte, die schlechten Worte und Blicke zu verbergen, wie ein Dieb unter seinen Gewändern die gestohlenen Gegenstände verbirgt. Ein großes und ängstliches Schweigen lagerte unter dem nächtlichen Himmel.

„Führer, sprich!“

Mose machte eine Gebärde, aber er sprach noch nicht. Auf seinem Gesicht stand tiefe Klarheit und Feierlichkeit. Er wandte sich Menschen, Bergen und Wüste zu, und jeder sah, daß ein Erlebnis seine Seele schwellte, groß und erschütternd wie einst am Sinai. Da erinnerte sich mancher an Moses Blicke und Worte, als er die Tafeln zerbrach, da das Volk von Gott abgefallen war. Furcht und Beschämung griffen um sich. Viele empfanden Reue, viele Furcht vor kommenden Vorwürfen, denn Mose kannte jede Sünde.

Sie lagerten sich in einem großen Kreis. Die giftige Besitzgier war schnell verschwunden. Auf den Gesichtern stand Demut und Feierlichkeit. Alle empfanden ihr Auserwähltsein durch Gott, ihre Gemeinschaft und Einsamkeit unter den Völkern.

Mose trat in die Mitte des Kreises. Langsam und träumerisch erklangen die ersten Worte, um dann in mächtiger Steigerung emporzubrausen. Doch kein Wort des Vorwurfs erklang.

„Gesegnet seist du, Volk Israel, da das Ende deiner Wanderung erreicht ist. Zweimal wird die Sonne noch auf- und untergehen, dann schreitet dein Fuß über üppiges Land, das Jahve, dein Gott, dir verheißen hat. Deine Herden weiden auf heimatlichem Boden, Brunnen rauschen in deinen Dörfern, jeder wird seinem Tagewerk nachgehen. So werdet ihr Ruhe und Freuden finden. Auch Gott wird zur Ruhe kommen, und seine Lade hinter Tempelmauern stehen. Vierzig Jahre habe ich dich durch Wüste und Entbehrung geführt, wie Gott es befahl. Nun sind wir am Ende. Der Segen Jahves wird dich weiter geleiten.

Ich habe das Land eurer Kinder gesehen. Sonne strahlt über Weiden und Seen. Wälder stehen tief und dunkel. Im Westen erglänzt das Meer. Jahreszeiten bescheren Blüte, Frucht und Ernte. Ewiges Werden und Vergehen randet um Israel, und du wirst bleiben, mein seßhaftes Volk.

Doch meine Zeit ist erfüllt. Gottes Hände graben mein Grab in den Bergen. Ihr zieht in das Land der Weiden und grünen Wiesen. Doch Gottes Wort lastet eisern auf euch. Ihr wart auserwählt unter allen Völkern der Erde, den Geist zu erkennen und zu verkünden. Verrat wird dennoch unter euch herrschen, und der Zorn Gottes, entflammt über eure Untreue, euch strafen und in alle Länder vertreiben.

Dich, Josua, Sohn Nuns, hat Gott erwählt, von nun an dieses Volkes Führer zu sein. Einsicht beleuchte deinen Weg. Kummer und Verzweiflung bleiben dir fern, bis auch an dich das Wort Gottes ergeht, das dich von den schwellenden Jordanufern fortruft in sein ewiges Reich.“

Bei diesen Worten zitterte ein Volk. Abschied, Mahnung und Schicksal sprachen, fesselten Mensch an Mensch, gaben ihrem Leben Weite, Ungewißheit und Not.

Bruder, Schwester, Stunde, Land und Gott!

Alle Geheimnisse schwanden, Wünsche starben, Bilder lösten sich ab. Erinnerungen standen auf, Ängste zuckten, Stimmen jammerten, und alles schlug zusammen in dieser einen Erkenntnis, unwahrscheinlicher als Weltuntergänge und Wundertaten: der Führer stirbt!

Da ist nicht Raum für ein anderes Gefühl, da ist nicht Zeit für andere Gedanken, da ist nur Augenblick, weit, dumpf und gefährlich, und in seiner Mitte die eine Gestalt: schwer, gereckt, einsam, tausende Blicke tragend, Turm über der Wüste, Mensch über dem Volk.

Ein Schweigen griff um sich, das Blut und Atem stocken ließ. In diesem Kauern, Liegen, Warten der Tausende geschah noch einmal Heiligkeit, Demut und Leid.

Ist das unser Ziel?

Wir Wanderer, Armen, Gott-Träger am Tore des Paradieses. Wir braunen Wüstentiere, hager, von Jahve getrieben und geführt, auserkoren unter allen Völkern der Erde. Früchte warten unser, Weide, Milch, Honig, ein gesegnetes Land. Aber der Führer schreitet nicht mehr voran, ebnet nicht Wege, läßt Jahves Wort nicht steigen durch Gebirg, Täler und Feinde. Wir sind die Verlassenen, die rissigen Tafeln der Verkündung, blökende Herde, beschwert und zerdrückt von der blutigen Last unseres Gottes.

 

Roter schwerer Abend an der Grenze Afrikas und Asiens. Dumpf fegte ein westlicher Wind Steine und Geräusche in das Lager, knatterte über die Zeltbahnen und lagerte sich dann, kosend und gesänftigt, Mose zu Füßen.

Da geschah aus dem Gebirge Pisga dumpfes, schweres Dröhnen. Staubwolken stoben empor, Sterne verdunkelnd und die Atmosphäre zusammenpressend. Unter Blitz und Donner senkte eine helle Lichtsäule sich zwischen die Berge. Ein großer, glänzender Arm griff, eine mächtige Schaufel, in den Boden, hob eine Scholle nach der andern empor und türmte in unendlichen Pyramiden sie zu neuen Gebirgen auf.

So schaufelte Jahve dem Mose das Grab.

Alle sahen empor, von blassem Grausen erfüllt. Als ob jeden Tod, Krankheit oder Fluch treffen sollten, so zitterten sie und wurden klein und still vor der Furchtbarkeit Gottes. In ihren Blicken leuchtete Schrecken und Nichtbegreifenkönnen.

Als die ersten Schollen stiegen und sanken, ging ein Zittern über den Leib Moses. Ein grelles Heulen der ihm am nächsten Liegenden antwortete drauf und setzte als dumpfes, geschütteltes Weinen bis zu den äußersten Rändern des Lagers sich fort. Dann kamen wieder Sicherheit und Glaube in Mose, richteten den Körper empor, machten sein Gesicht lächeln und froh, einen hellen Schein weißer Locken um es gespannt.

Plötzlich stürzte eine Schar von Jungen auf ihn zu, umfaßte sein Knie, küßte sein Gewand und lagerte sich um ihn als leuchtender Glanz. Suchend und verharrend, waren sie Kreis zu dieser gewaltigen Mitte. Ein Schweigen, wartend auf Zeichen oder Wort, das die Unerträglichkeit des Augenblicks aufheben würde, umspannte das Lager. Vom Gebirge dröhnte immer noch Gottes Hand.

Da sprang Jobab, der zu Moses Füßen lagerte, empor, richtete sich an ihm auf, zitternd und schmal, griff seine Hand und sprach: „Bleib bei uns, Führer. Stirb nicht. Kehren wir in die Wüste zurück, damit du leben kannst.“

Mose schüttelte ein Sturm. Wie fiebernd warf er seinen Körper herum, streckte die zitternden Arme, nunmehr ein Greis, den Kindern zu, die weißen Locken ihnen windig entgegen. Dann faßte er Jobabs Hände, sah ihm suchend ins Auge, legte ihm schließlich die Rechte aufs braune Haar.

Ganz leise waren seine Worte, so daß nur Jobab sie hören konnte, so sehr das Volk sich auch um beide drängte.

„Knabe, wozu hat Gott dich ausersehn, daß du um das Geheimnis meines Todes weißt? Woher kennst du und nur du den Sinn unsrer Wandrung? — Dies Volk betritt Kanaan, wie es Mizrajim verließ: eitel nach äußerem Gut; gierig nach Besitz und Genuß; fremd Jahve und seinem Wort.

Israel sollte herrlich vor allen sein. Geist und Dienen waren Sinn von Entbehrungen und Sterben, von langem Wandern durch Sinais Sand. Kanaan sollte Ziel sein, nicht als Paradies, Glück, Weide, Reichtum, sondern als Einkehr und Heimat.

Gott hat mein Gebet nicht erhört. Sie wurden nicht frei und gütig. Gottes Hoffnung ist zerstört, und ich ward ausgehöhlt und schal. Drum führte mich Gott auf den Berg Nebo, zeigte mir die Länder Gilead, Ephraim, Manasse und Juda und sprach: Dies ist das Land, das ich Abraham, Isaak und Jakob geschworen habe, und gesagt: Ich will es deinem Samen geben. Du hast es mit deinen Augen gesehen; aber du sollst nicht hinübergehen.

So laß mir meinen Tod, da mein Leben verloren ist. Bleibe Gott treu und deinem Volk. Sinai kehret zurück.“

Jobab sank klein zusammen. Tränen traten ihm in die Augen. Schmerzen gingen auf ihn zu, sinnlos, unfaßbar, alles Schwere des Lebens in einen Augenblick voranstellend. Sein Körper ward ihm so müd, daß er sich niederlegen mußte, nackt auf nackten Boden. Erinnerungen, Hoffnungen, Weinen und Weh trieben durch seine Seele. Als Brausen aus weiter Ferne umschlangen ihn Stimmen der Männer und Frauen, die ihn bekümmert betrachteten. Wie ein Erwachender trübe seufzend, reckte er seine Glieder, hob den Blick, stieß seine Finger in den Sand, den Staub leise zerreibend. Dann sprang er bestürzt empor, wandte sein Gesicht wieder dem Führer zu.

„Ich will nicht nach Kanaan. Ich hasse das Land. Ich will in der Wüste sterben ...“

Böse Blicke drangen auf ihn ein. Wut und Entsetzen sprachen heftige Worte über den Gotteslästrer. Doch es gelang keinem, die geballte Faust fallen zu lassen oder Jahves Fluch herabzurufen.

Denn Jobab war aufgesprungen. Schmal stand er vor allen auf einem Stein. In seinem Auge glühte der Osten und machte sein Gesicht klar und tief. Dann sprach er mit heller Stimme:

„Brüder und Schwestern, blickt auf die Wüste. Seht ihre Bräune. Mimosen und Disteln gedeihen auf ihr. Mit flinken Sohlen jagen Antilopen über sie hin, den Staub aufzuckend wie Blitze. Sandsäulen eilen den Stürmen voran.

In dieser Wüste wurden wir Volk. Wunder geschahen, wie kein andres Volk sie je erfahren. Süß wurden die bittren Wasser von Mara. In Sin regnete es Wachteln und Manna, und in Raphidim tranken wir durstig aus Felsen. Vom Sinai erscholl das Gesetz, ließ uns wachsen über Tier und jede Art Mensch; wir sahen die Tafeln Jahves und Moses glänzendes Angesicht. Dort in der Wüste, in Not und Stille bauten wir Jahves Haus: aus Akazienholz, Widderfellen und Purpur, wie das Gesetz es befahl.

Das alles soll hinter uns liegen wie ein zu Ende gesungener Psalm? Nie mehr werden uns Wunder geschehen? Nie mehr werden wir Volk sein, Gott hingegeben und irdischer Eitelkeit abgewandt? Ich glaube, wir verlassen das Paradies, da wir es betreten.

Freunde, wir sind wie die Wüste, still und einsam, Unendlichkeit um uns und in uns. Wollt ihr die Stille durch Lärm beleben? Sollen Marktbuden vor Gottes Lade stehen und Feilschen die Gebete der Priester überschrein? Wollen wir prassen an irdischem Gut, aber den Geist abschwören? Hört mich!

Wir werden Gott verlieren.

Wir waren Dienst und werden Herrschaft, genügsam mit Reichtum und Genuß, eine schmatzende, lärmende Menge.

Wir wanderten und sollen nun seßhaft sein?

Wir wollten Jahve suchen und finden gefüllte Scheuern, Weiden und beschauliche Abende an den Ufern des Jordans.

Wir hatten die Not und triefen nunmehr von Glück.

Volk, laß uns zurückkehren zur Wüste. Geben wir uns hin der Weite und Demut. Nehmen wir Abschied vom Glück, das wir noch nicht genossen.

Pest ist Kanaan, Unrat und Schmutz. Seine Äcker und Wiesen sind Kloaken und Fieberherde. Seine sanften Jordanufer wogen geil wie Dirnenbrüste, und allenthalben starrt Dreck und niedrige Lust.

Das ist das Paradies!“

Die Menge hatte mit Schaudern gehorcht.

Stürzten die Berge nicht über dem Lästrer zusammen? Verschlang der Boden ihn nicht wie Korah und seine Rotte?

Doch nichts geschah. Auch Mose sagte nichts, sondern blickte lange den Jüngling an. Aus seinen Blicken sprachen weder Strafe noch Haß. Das Volk aber murrte und verlangte den Tod des Gottesleugners.

„Ausgeburt der Wüste, von Schakalen gezeugt, du bist kein Sohn Israels.“

„Steinigt ihn.“

„Steinigt ihn.“

So rief es und drängte immer mehr auf Jobab zu, der neben Mose stand. Da erhob Mose die Hand. Schon zuckten in tausend Fäusten die Steine empor, den Knaben so zu zerschmettern. Aber ein Blick voller Schmerz und Zorn traf sie. Dann sagte Mose langsam und klar: „Tötet ihn nicht. Denn dies Kind ist heilig und von Gottes Geist erfüllt.“

Grauen brannte auf allen Gesichtern. Maßloses Staunen verschüttete jeden Laut und jede Bewegung. Verwirrung bedrohte aller Denken und Glauben.

Es brach aus der Mitte des Volks ein gellendes Lachen hervor, das erst schwieg, als Moses Blick den alten Spötter und Verächter traf.

 

Jobab hatte sich an Mose geschmiegt und begann jetzt mit ihm das Lager zu verlassen. Sie stiegen zu den Bergen empor; ihr Umriß ging langsam im zackigen Gestein verloren. Auf einer Terrasse blieben sie stehen und blickten zurück auf das betende Volk. Da erhob Mose noch einmal die Hände und sprach mit einer Stimme, die grollend wie Donner über die Wüste zog, die alten Segensworte über Israel aus.

Jobab gab er den Befehl, ihn nunmehr zu verlassen; denn die Stelle sei nah, wo Gott ihm sein Grab gegraben. Dann trat er in eine Felsenspalte, den menschlichen Augen für immer verloren.

Jobab, geschüttelt von unendlichem Weh, trat zögernd den Rückweg an. Von einem Vorsprung aus sah er das israelitische Lager, aus dem laute Stimmen und Flüche ihm entgegenschollen. Auf der andern Seite, weiß von Sternen beglänzt, ruhte die Wüste.

Da schwang Jobab die Arme empor, schrie einen jauchzenden Ruf und lief, das Geröll mit den Füßen vor sich treibend, atemlos, von Heimkehrfreude erfüllt, zur Wüste hinab.

 

Am nächsten Morgen brachen die Israeliten die Zelte ab, stiegen zu den Bergen hinauf und jenseits wieder herab und nahmen Besitz vom kanaanitischen Lande.