Title: Der Ewige Jude
Author: August Vermeylen
Illustrator: Frans Masereel
Translator: Anton Kippenberg
Release date: December 20, 2014 [eBook #47711]
Language: German
Credits: Produced by Jens Sadowski
August Vermeylen
Aus dem Flämischen übertragen von
Anton Kippenberg
*
Mit zwölf Holzschnitten von Frans Masereel
Leipzig • im Insel-Verlag
1921
Zu der Zeit, da unser Herr und Heiland noch unter den Menschen predigte, lebte in einem armseligen Keller zu Jerusalem ein Schuhflicker, mit Namen Ahasverus. Er war im selben Jahre geboren wie Christus und war ein strammer, hochgewachsener Kerl von einem Juden, mit knochigem Gesicht und ein paar hellen, kecken Augen, in denen eine Flamme stak.
Er liebte es, mit beiden Füßen fest auf der Erde zu stehn, und was nicht gerade war, das nannte er krumm, ob er gleich wenig vom Reden hielt: jeder geht doch seinen eigenen Gang, dachte er, und der Tod ist aller Welt gegeben.
Dieser Ahasverus fühlte sich nicht glücklich.
In ihm war etwas, das ihm keine Ruhe ließ, da drinnen brannte etwas, womit er nirgend hin wußte; er war wie einer, der sich in seinem Bette hin und her wälzt und keinen Schlaf finden kann.
Vom frühen Morgen bis zum späten Abend saß er gebückt in seinem Keller, schnitt sein Leder, zog den Pechdraht, flickte Absätze, hämmerte auf Hacken und Sohle und schuftete, daß es bis zu den Nachbarn hin rauchte, aber niemals hörte er das süße Zischen von Butter in der Pfanne. Tagaus, tagein: es war immer so gewesen und würde immer so bleiben: er konnte nicht mehr heraus, das Leben hatte ihn beim Wickel und stieß ihn vorwärts.
Wohin? Dem Ende zu.
Warum? Darum.
Er sah die Kinder zur Welt kommen, jämmerliche, wehrlose Würmlein, er sah die Menschen sterben, jung und alt, alles ohne Zweck. Er sah, wie die Kleinen von den Großen aufgefressen wurden; er sah die ausgehungerten Schlucker aus seiner Gasse zu Hunden werden, die sich um einen Knochen rissen; er sah unschuldige kleine Geschöpfe leiden wie Märtyrer. Und er hätte über all dies ungereimte Zeug lachen mögen, denn er konnte nicht einmal weinen, er würgte alles in sich hinein, und es lastete ein Stein auf seinem Herzen.
Oft saß er lange grübelnd auf seinem niedrigen Schusterschemel, und seine Gedanken liefen im Kreise herum, wie ein Pudel, der nach seinem Schwanze schnappt. Er stand auf, setzte sich wieder hin und blickte umher in seinem dumpfigen Keller, als röche es da nach dem Grabe. Und bisweilen stieg dann ein wilder Drang in ihm auf, verbissen klopfte er auf den alten Stiefel, der zwischen seinen Knieen eingeklemmt war, klopfte wie der Neck auf eine Seele, und in ihm rief eine dumpfe, drohende Stimme: Es muß ein Ende haben, es muß ein Ende haben! Und sein scharfes Auge flackerte. Aber das Morgen glich dem Heute und das Übermorgen dem Gestern, und Ahasverus, das braucht nicht gesagt zu werden, lebte nur so weiter, nach der Menschen alter Gewohnheit. Und die Tage gingen hin, einer nach dem andern, als ob es niemals einen Ahasverus gegeben hätte.
Tastete sich ein Kunde, gebückt, sein Trepplein hinunter, so wartete er, bis der zu sprechen anfing, und gab ihm wortkarg Bescheid. Wenn ich nur endlich seine Hacken sähe, um allein zu bleiben, dachte er; — allein mit der düsteren Glut, die in ihm loderte. Was konnten die armen Teufel ihm erzählen, es sei denn von ihrem elenden Leben, demselben Leben, wie das seine war! Mit Kindern hätte er wohl einmal spaßen mögen, aber die fürchteten sich vor seinem Lachen und kamen nicht gern in diese unheimliche Höhle.
Wenn seine Einsamkeit ihm allzu öde wurde, dann lief er ziellos die schmutzigen Gassen entlang mit ihrem Armeleutegeruch, durchs Gedränge der sich herumbalgenden Rotznasen, der Gemüseweiber, die neben ihren Karren humpelten, der Juden, die überall, vor den Kellern, auf den Türstufen, in Löchern unter den Freitreppen, beim Schachern und Krakeelen waren. Aber er betrachtete mit Groll den elenden Kuddelmuddel und fühlte sich darin noch einsamer denn je.
Manchmal war es ihm, als ob er nur ein Ding zu finden brauchte, nur ein Wort, um glücklich zu sein, — doch kein Mensch in der Welt wußte ihm dies Wort zu sagen. Er hätte seine Arme ausstrecken mögen, um das volle Leben einmal tüchtig anzupacken, aber er fühlte wohl, daß, was er auch tun mochte, die schreckliche Leere seines Herzens nicht füllen konnte, daß niemals Happen und Brocken seinen Hunger befriedigen würden, daß er immer weiter streben würde, frei, freier als die Lerche, als die Winde, als der Tod, und daß alles Wünschen darum nutzlos war, alles nutzlos.
Und so saß er gefangen in seiner Verdammnis, wie in einem Keller ohne Tür oder Luftschacht.
Und doch, hatte das Leben auch keinen Reiz für ihn, kam er sich auch oft gänzlich ausgelaufen vor, es steckte im Tiefsten seines Herzens, so tief, daß er selbst es nicht sah, etwas, woran kein Teufel rühren konnte. „Sie werden mich nicht kriegen“, sprach er bei sich selbst und lachte höhnisch und biß die Zähne zusammen und hielt sich steif. Denn das will ich euch nur sagen: er war ein Mann vom Kopf bis zu den Füßen, kein Seelchen von Zucker und Honig, kein Faselhans oder Flausenmacher, sondern ein knorriger Kerl aus einem Stück mit ein paar sehnigen Arbeitshänden, einem klaren Kopf und einem Brustkasten, den man anpacken konnte.
Nun war es, müßt ihr wissen, damals eine harte Zeit, und das Volk hatte viel zu leiden: das Korn, aufgehäuft auf den Böden der Reichen, kostete ein schweres Stück Geld, und alles Fett auf der Suppe wurde abgeschöpft durch Auflagen und Fronden, durch große und kleine Zehnten, die kein Ende nahmen. Daß gemurrt wurde, könnt ihr euch denken: man steckte die Köpfe zusammen und räsonierte hier und dort, an Ecken und Kanten. Wenn die Walker und die Weber am Sonntag getrunken hatten, gab es Radau in ihrem Bezirk, und dann bebten die Patrizier und die Blutsauger des Volkes in ihren verriegelten Häusern. Ahasverus verzog die Mundwinkel und zuckte die Achseln, denn es war ihm bisweilen, als ob er die ganze Menschheit für ein Butterbrot hätte verkaufen können. Doch sah er mit heimlichem Vergnügen, daß bei Volkszählung und Steuererhebung immer mehr geknurrt wurde. „Vielleicht werden sie doch noch einmal Menschen werden!“ dachte er. Aber wenn dann die geharnischten Hellebardiere zu Pferd mit ihren roh lachenden Gesichtern auf dem Markt erschienen, war niemand, der noch zu mucksen wagte.
Der Kram könnte vielleicht doch einen besseren Dreh bekommen, dünkte ihn, als er zum erstenmal Jesus den Nazarener sah.
Er hatte schon seit einiger Zeit davon gehört, wie dieser Fremdling zum Ärger aller Priester und Wucherer die Kleinen um sich scharte und sie mitriß mit seinem inwendig brennenden Wort; und alle glaubten ihm, wenn er prophezeite, daß sie glücklich sein würden und daß einst die Güte auf Erden herrschen würde.
„Faxen!“ hatte Ahasverus konstatiert und war sogleich wieder in seine Höhle gekrochen.
Aber ein andermal hatte er vernommen, wie der Nazarener die Tische der Wechsler im Tempel umgestürzt und all ihre durcheinanderkollernden Geldscheiben über das klingende Pflaster geschüttet hatte, wo sie darnach grapschten, gebückt unter seiner geflochtenen Geißel; und wie er sie mit Sack und Pack zum Tempel hinausgefenstert hatte, mitsamt den Taubenzüchtern, die dort Tauben für die Opfer verkauften. An diesem Tag hatte Ahasverus geschwiegen.
Und etwas später hatte er ihn selbst gesehen. Es war gegen Abend, außerhalb der Stadtmauern, wo zwischen ärmlichen Gärtchen und Plätzen voll Aschengrus, Schutt und Topfscherben die Seiler arbeiten und die Ziegelbrenner. Ein ganzer Schweif war ihm aus Galiläa gefolgt, Tölpel, die wegen ihres bäurischen Aussehens in den Straßen von Jerusalem von den Gassenjungen verhöhnt wurden, rote, wetterharte Fischer, hungrige Lümmel mit dämlichen Augen und bärtige Weinbauern mit harten Köpfen: sie standen um ihren Meister herum und nickten „ja“ zu allem, was er sagte. Die Seiler hatten ihre Bahn verlassen und die Ziegelbrenner ihren Ofen; die Arbeiter, die aus der Stadt heimkehrten, ihr Gerät auf der Schulter, blieben stehn und guckten, und da waren auch Galiläer aus Jerusalem, allerhand Tagediebe, verlauste Krüppel und ein paar Freudenmädchen, inmitten zahlreicher Kinderbrut.
Die Hände in den Taschen und mit den Ellbogen stoßend, schob Ahasverus durch dies Gedränge, immer noch mißtrauisch: „Wir wollen uns diesen Kerl nun mal ansehn . . .“
Er sah ihn, — er sah die erhaben-ernste Erscheinung mit dem schmalen Gesicht, dem etwas bitteren Zug um den Mund und den Augen voll Liebe. Und plötzlich schwieg alles in ihm, er lauschte gespannt, und die Stimme drang in sein Herz; es war, als hätte eine mächtige Hand sich auf ihn gelegt.
Ja, da stand ein Mann! und sein Wort kam auf Ahasverus zu wie eine einfache, nackte Wahrheit. Ja aber, ja aber, wir wollen mal sehn . . . Und Ahasverus sträubte sich dagegen, denn viel begriff er nicht, wie er wohl gewünscht hätte, aber eines wurde ihm doch sogleich klar: daß der ganze Kram von unten nach oben gekehrt werden sollte; von dem großen Tempel, der sich da hinten wie ein Ungeheuer von Weiß und Gold in den Himmel hineinwölbte, würde kein Stein auf dem andern gelassen werden . . . „Wähnet nicht, daß ich gekommen sei, Frieden zu bringen auf die Erde; ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.“ Und Jesu Blick fiel starr auf Ahasverus, der ihn schweigend ansah und plötzlich, er wußte nicht warum, ein tolles Jauchzen spürte in der verstopften Kehle.
Später schämte er sich dessen, und es schien ihm fast, als ob der Nazarener ihn verzauberte. Denn als er vor ihm stand, wurde er gleichsam ein anderes Wesen, er fühlte, daß er ein Mensch war, und daß es noch andere Menschen gab gleich ihm selbst, und daß das Leben einen Sinn hatte und alle Dinge vielleicht so einfach waren. Aber was hoffte er denn eigentlich? Er wußte es nicht. Und zu Hause nagte und knabberte er noch mehr an all seinem Zweifel, und er haßte dann diesen Jesus, der die stumme Glut da drinnen in seiner Brust aufgeschürt hatte, denn nun konnte seine Seele nicht mehr schlafen.
Wußte der Galiläer selbst wohl, was er wollte? Warum schwatzte er von Vergebung und Liebe, wenn er die Macht brechen wollte? Und wie würde er es anfangen, den Hungrigen und Beladenen den ersten Platz an der Tafel zu geben? Wie würde er nun die Menschen ändern? Lag sein Neues Reich in den Wolken, oder wollte er König von Jerusalem werden, und würde dann alle Tage Sonntag und alle Sonntag Kirmes sein? Er sagte wohl: Eure Rede sei ja, ja, nein, nein! Aber warum dann all diese Gleichnisse und diese Bildersprache, woraus kein Mensch klug wurde? Er war am Ende doch nur ein Träumer! . . . Und warum saß er stundenlang im Tempel, zu tifteln über das Gesetz und die Propheten mit den heuchlerischen Pharisäern, „diesen übertünchten Gräbern“, er hatte es selbst erkannt, „die auswendig hübsch scheinen, aber inwendig sind sie voller Totengebeine und alles Unflats“? Seine Apostel, einfältige Tröpfe, die überallhin mitliefen, vermochten selbst nicht viel davon aufzuschnappen. Warum entschloß er sich nicht einmal, mit einigen handfesten Genossen die Fäuste aus dem Ärmel zu recken? Aber wenn die Köpfe warm wurden und da etwas zu rumoren anfing, dann wandelte er in aller Gemütsruhe nach Bethanien zu den Schwestern des Lazarus! Nein, auch das gefiel Ahasverus nicht: es war immer zu viel Weibervolk um ihn herum.
O, könnte er doch einmal all diese verrückten Mädchen und diese Lumpenkerle, diese Schwätzer und Tagediebe von dem Manne wegjagen und irgendwo allein mit ihm sitzen, am Abend, und seine Hand in die eigene nehmen und in seine seltsamen, stillen Augen blicken und ihn fragen, was er tun sollte! Denn er konnte sie nicht vergessen, diese sanfte Stimme, die durch begehrende Lippen aus der Tiefe klang, dies entschlossene Gesicht, diesen Blick, der an jenem Tag auf ihn gefallen war und worin er gelesen hatte, ja, deutlich gelesen, daß auch in Jesus etwas brannte, wie in ihm selbst, etwas, womit er nirgendhin wußte . . .
Aber sein ganzes Wesen umgab solch ein Hauch inbrünstiger Trauer, wenn er seinen Blick schweifen ließ über sein hoffendes Volk und weiter zu den hohen Zinnen von Jerusalem, daß Ahasverus nicht wagte, ihn anzureden.
Er blieb in einer kleinen Entfernung schweigend stehen, und oft, wenn er lange nach ihm hinsah, hatte er das Vorgefühl eines großen Glückes, wobei es ihn immer wieder quälte, daß dieses Glück so gar nicht zu greifen war. Aber das wußte er doch: daß da ein Mann war so wie er selbst, ein Mann, der ihn verstehen würde, der ihn retten konnte; und wenn der endlich einmal, wie er versprochen, das Schwert über die fahle Verderbtheit der Welt zückte, ja, dann würde er, Ahasverus, wild in den Kampf fliegen, so dicht wie möglich an seiner Seite, und fechten, daß es krachen sollte, unverdrossen und heiter und triumphierend bis in den Tod, — bis in den nutzlosen Tod, denn wofür gekämpft würde, er wußte es nicht zu sagen: der Himmel würde immer der Himmel sein, so hoch über unserm Haupt, und die Erde an ihrer Stelle bleiben, mit Waschlappen von Menschen darauf, — aber um endlich doch aus seinem Kellerloch und seinem dumpfigen Leben in die Höhe zu springen und sich einen Weg zu hauen nach etwas anderem, was es auch sein mochte, nach dem Ungereimten, dem Sinnlos-Tollen, und doch einen Augenblick über dem zerstörten Leben tanzen zu dürfen in einem gewaltigen Rausch von Verzweiflung, wobei die Welt bersten und vergehn mochte . . .
Doch Jesus predigte nur immerfort und zankte sich weiter mit den Priestern; und da Ahasverus seit einiger Zeit mehr hinter ihm hergelaufen war, als sich um seine Arbeit gekümmert, und sich tüchtig in Schulden gestürzt hatte, so erschien in seinem Keller, am Donnerstag vor Ostern, ein dicker, untersetzter, buntbeturbanter und stolzgefiederter Wicht von einem Gerichtsdiener, der ihm verkündete: daß man in der nächsten Woche sein armseliges Gerümpel verkaufen und ihm nicht einmal einen Nagel lassen würde, um sich damit zu kratzen.
Ahasverus hatte nicht übel Lust, diesen ganzen Hanswurst mal mit dem Gehirn gegen die Wand zu klatschen. Aber etwas war zerbrochen in ihm: er rührte sich nicht und schwieg und schwieg und blickte um sich wie ein Tier, das den Tod sieht. Er fühlte die Faust wieder, die ihn beim Nacken gepackt hielt, er saß gefangen in seinem Verhängnis, er konnte nicht mehr heraus. Er lag da, weggespült, willenlos, halb zusammengesunken, in einem schmierigen Winkel. Läg er doch nur sechs Fuß tief unter der Erde! Wenn man kaputt ist, so ists aus, dachte er; die Menschen sind ebenso schwach gegen das Böse wie gegen das Gute, sie sind weder die Hölle noch den Himmel wert. Aber das Nichts, das Nichts, — das schien ihm noch fürchterlicher als selbst der Höllenbrand . . .
Die Glut fraß wieder in ihm und wußte nicht, wo sie herausschlagen sollte; er fühlte, wie eine tödliche Lähmung ihn beschlich, und eine wilde Raserei schäumte in seinem zerschlagenen Kopf, — umsonst! umsonst! Stunden entglitten, eine nach der andern, und er saß noch da, als schon das Dunkel alles umhüllt hatte. Ihn fror, seine Zähne klapperten. O kämpfen! kämpfen! Wogegen, das war ihm einerlei . . . Er konnte doch so nicht dahinfahren, er hätte auf einmal untergehn mögen in einer alles zermalmenden Tat, aber er vermochte nicht mehr zu denken, die ganze Welt schien ihm leer, so grausig still . . . Er legte sich endlich auf seinen Strohsack, und die Stunden gingen wieder über ihn hin, alles verflüchtigte sich, versank . . .
Wie war Jesus hereingekommen? Ahasverus lachte, ein albernes, klangloses Lachen, als er in dem bleichen Antlitz die Augen fiebrig glänzen sah. Es war wie an jenem Tag, am Stadttor. „Ich hab noch ein Messer,“ sagte Ahasverus, „das sollen sie mir nicht wegnehmen . . .“ Sie liefen auf die Straße, eingezwängt in ein hastiges Gedränge von Kerlen mit Keulen und Beilen und von Schmiedehämmern, die mächtige Schultern trugen. Von überallher, aus allen Gäßchen, kam Menschen- und Pferdegetrappel, ein jeder hatte die unausgesprochene Botschaft verstanden. Ahasverus lief, um vorne zu sein, und da stand er mit Jesus oben am Tempel, gegen die goldene Kuppel, so nahe bei der matt-schimmernden Milchstraße, daß er die roten Sternbüschel fast hätte pflücken können wie Früchte. Über Jerusalem blinkte, hoch am Himmel, ein Komet, unbeweglich in der wimmelnden Nacht, wie ein blutiges Schwert. Ah! ah! da begannen die Häuser der Wucherer in der Ferne zu brennen mit lustigem Knistern, und die Flammen flackerten und tanzten so toll in die schweflige Luft hinein . . . Aber sieh da, unten, im Dunkel, war ein surrendes Meer von bleichen Gesichtern, das sich über den ganzen Großen Markt heranwälzte gegen die Treppen und Portale. Wütend rammten die Sturmböcke; nun wird der ganze Kram einstürzen, dachte Ahasverus, denn das Marmorpflaster bebte unter seinen Füßen. Aber das schien ihm auch ganz natürlich; er war seiner Sache sicher: er würde mit wilder Freude in die Tiefe donnern oder sich vielleicht an die Sterne festklammern . . . Nun war das Volk hereingebraust wie durch Schleusen, er hörte das Kreischen vergewaltigter Frauen und ein langgedehntes, rasendes Gebrüll, dann und wann vermischt mit Trommelgewirbel und dem sinnlosen Schrillen einer Flöte, das da war wie das silberne Stimmlein eines Kindes auf einem Schlachtfeld. All dieser Lärm machte Ahasverus trunken, und es tat ihm wohl, den warmen Raubtiergeruch dieses stiebenden Gedränges einzuschnauben. Auf einmal stieg der todesbange, bloße Kopf des Gerichtsdieners über die Zinne empor; er wollte hinauf, denn von unten schrieen Tausende von Mündern Mord und Brand zu ihm hin, und seine Klauen in die Rinne gekrampft, flehte er um Gnade. Doch Ahasverus drückte mit seinen beiden Tatzen auf diesen verschimmelten Käsekopf und sah dann das Männlein mit lustigem Schwung in die schwindelnde Tiefe hinunterzappeln. Das machte ihn plötzlich ganz närrisch vor Vergnügen, es war, als ob er nun die Welt hätte zerknacken können wie ein Streichholz; mit einem blöden Lachen lief er die Wendeltreppe hinab, über seinem Kopf schlugen die Glocken, und er drehte, drehte sich unaufhörlich im Dunkel, weiter gehetzt durch den schrecklichen Gedanken, daß er so in alle Ewigkeit die Wendeltreppe hinunterlaufen müßte, ohne je einen Ausweg zu finden aus diesem Abgrund; aber er hörte noch deutlich die Glocken dröhnen und den Lärm da draußen, und er befand sich wieder auf dem Platz, gestoßen und getragen von einem wilden Menschenstrom. Der Schall schien wie ein Sturm aus den Steinen herauszuschlagen, er fühlte, wie seine Füße weich wurden von der Lauigkeit des Blutes, — er wollte sich loswühlen, er wollte rufen, aber dieses Blut stieg in ihm auf, es röchelte in seiner Kehle, er verschmachtete und rief, rief . . .
. . . und wurde mit einem Ruck wach auf seinem Strohsack, vom Fieber geschüttelt, und seine weit geöffneten Augen starrten in die wimmelnde Finsternis; sein Herz pochte . . . Aber er hörte immer noch den Lärm und das Glockengedröhn . . . Es war kein Traum . . . Er war nun doch wach, er erkannte das Geläut von mehreren Türmen, — nein, war es möglich? Aber von ganz fernher kam das dumpfe Getöse von vielem Volk, und mehr in der Nähe rasselte eine Trommel; wer schlug denn da Alarm zu dieser nächtlichen Stunde? Schritte eilten durch schlafende Straßen, er lauschte gespannt . . . Ja, das Volk war los, die Puppen waren am Tanzen, und die Glocken, die Glocken, sie sprangen über der Stadt hin und her! Dieser verteufelte Nazarener, er hatte es nun doch gewagt! „Ich habe noch ein Messer!“ lachte Ahasverus; ja, es war ein gutes freundliches Messerchen; „er wird schon sehn . . . er wird zufrieden sein . . .“ Und eine wunderbare Seligkeit stieg in ihm auf, mit solcher Gewalt, daß Sterben oder Leben ihm nun einerlei war, wenn er nur in wildem Triumph seiner Verzweiflung die Zügel schießen lassen konnte.
Er war schon draußen, sein Messer in der Faust. Die Frühlingsnacht war pechschwarz, als zöge ein Unwetter herauf. Ahasverus schauderte vor Kälte, und sein Kopf glühte. Das Geläute und Getöse hielt an, — wo war es? Er schwankte einen Augenblick, — er wußte nicht, wohin. Etwas von dem Traum wirkte fort in ihm, und er wollte zum Tempel, aber von einer anderen Seite stieg nun ein gewaltiges, wirres, vielstimmiges Geschrei auf und wuchs zu einer Wolke von Lärm.
„Am Bethlehemer Tor!“ dachte Ahasverus und fing an zu laufen. Hier und da wurde ein Fenster aufgestoßen: „Was ist los? — Ist der Feind im Land?“ Ängstliche Schlafmützen fragten es einander und riefen hinter Ahasverus her. Und er hielt immer nur sein Messer hoch wie ein Verrückter: „Jungens! . . . der Nazarener . . . es geht los . . .“
Nein, beim Bethlehemer Tor war es nicht, der Koloß des runden Wachtturmes machte die Nacht dort noch dunkler. Die Glocken dröhnten unaufhörlich . . . „Das Lagerhaus steht in Brand!“ sagten die Männer im Vorübereilen. Und Ahasverus hinterher. „Kein Stein auf dem andern!“ jauchzte es in ihm. Aber links glaubte er nun wieder das Getöse zu hören wie ein Meer, und er trabte durch krumme Gäßchen und verlief sich und geriet plötzlich ins Gewühl auf dem Platz vor dem Haus des Hohenpriesters Kaiphas. Der phantastische Schein von Fackeln, die vor der Tür zusammengeschart waren, tanzte über den Köpfen. Es wurde geschrieen und gelacht und geheult; halbbetrunkene Strolche drängten sich, um nur vorwärtszukommen, Schulter an Schulter, und brüllten ein aufrührerisches Lied. Ahasverus stieß und brüllte mit, aber sie konnten nicht weiter. „Haben sie ihn gefaßt?“ fragte er. — „Ob sie’s haben!“ . . . grinste jemand neben ihm, und Ahasverus blickte verwundert auf, denn er erkannte einen schmierigen Halsabschneider aus seiner Nachbarschaft, und dann starrte er mit ausgerecktem Hals zu den erleuchteten Fenstern, ob sie des Kaiphas höchsteigene Person nicht hinunterkegeln würden. Aber in dem selben Augenblick geschah etwas, das den Atem in seiner Brust stocken ließ: das Toben versank und verebbte in erwartungsvolle Spannung, es wogte ein großes Geschaukel von Fackeln und Volk, hocherhobene Posaunen bliesen eine wildschmetternde Fanfare, und da erschien auf der hohen Vortreppe, zwischen Landsknechten mit Piken, der Mann, Jesus der Nazarener, ganz bleich und still, mit gebundenen Händen.
Vor ihm her schritt der kleine Fettsack von Kaiphas, und Ahasverus sah, wie über seinem Wabbelkinn auf dem würdevollen Kupfergesicht mit den stechenden Schweinsäuglein die Befriedigung leuchtete. Und dahinter das aufgeregte Gebaren dichtgedrängter Priester und Pharisäer, die höhnten und pfiffen. Jesus blieb einen Augenblick stehen, aufrecht wie eine Bildsäule, aber sie stießen ihn die Treppe hinunter, und plötzlich war der ganze Platz wieder ein tosender Strudel.
„Laßt ihn los!“ riefen hier und da Stimmen. „Tötet ihn! Tötet ihn!“ bellten andere. „Er hat doch nichts Böses getan! . . .“ Wiederum Stoßen und Drängen; an der Ecke entstand eine Schlägerei. „Es lebe der König von Jerusalem! Uh! Uh! — Tötet ihn! — Laßt ihn los! . . .“
„Der Teufel soll ihn holen!“ schnaubte dicht neben Ahasverus ein Kerlchen mit gelbem Gesicht, „die Geschäfte gehen schon ohne all diese Aufrührer schlecht genug . . .“
„Aber sie werden ihn morden . . .“, sagte ein junger Mensch mit bebenden Lippen.
Ahasverus packte ihn beim Arm wie mit einer Kneifzange:
„Wie haben sie ihn gefaßt?“
Und der junge Mensch erzählte: „Auf dem Ölberg . . . Judas hat ihn verkauft . . . Sie wollen ihn morden! o Gott! sie wollen . . .“
„Judas! ein Apostel! Und die anderen? Haben sie sich nicht gewehrt?“
„Was hätten sie machen sollen? Petrus hat einem einen Hieb übers Ohr gegeben . . .“
„Und Jesus, hatte er keine Waffe?“
„Es scheint nicht, das Schaf; er hat freiwillig seine Hände ausgestreckt, daß sie ihn binden sollten . . .“
Verflucht! Es war Ahasverus, als ob seine Beine unter ihm wegsänken. Und er lachte ein verzweifeltes Lachen voll ohnmächtiger Raserei:
„Diese Memme! Er hatte einen Traum, einen Traum, und kein Schwert, um ihn wahr zu machen! . . .“
Er hielt immer noch sein Messer umklammert und stand unbeweglich, mit dem Rücken gegen ein Haus: er sah dahinten die Fackeln und die Lanzen weiterziehen, von Gewühl umdrängt, und das Gewühl trieb langsam mit ihnen fort.
Nahe beim Hause des Kaiphas waren noch einige Wächter um ein Feuer geschart, faul ausgestreckt oder an ihre Partisanen gelehnt; auch ein paar Mädchen und Müßiggänger lungerten dort noch herum, und in dem Feuerschein konnte Ahasverus das Gesicht des Petrus unterscheiden, des einzigen Apostels, der für Jesus auf dem Ölberge den Kampf gewagt hatte. „Von dem werde ich alles erfahren“, dachte er, und die alte Hoffnung spitzte in ihm wieder ein wenig die Ohren: „Vielleicht ist noch etwas zu machen . . .“
Als Ahasverus zum Feuer kam, sagte eines der Mädchen zu Petrus: „Du gehörst auch zu der Bande, tu nur nicht so, als ob du nicht bis dreie zählen könntest, ich hab dich mit dem Nazarener gesehn.“
Und Petrus, mit einem unschuldigen Maul, als fiele er aus den Wolken: „Ich? Was redest du für dummes Zeug? Ich? . . .“
„Ihr hört ja an seiner Sprache, daß er aus Galiläa ist“, sagte ein anderes Mädchen. Und ein Landsknecht trat näher an ihn heran und sah ihm forschend ins Gesicht: „Jüngelchen, halt mal eben . . . hast du nicht dem Malchus das Ohr abgeschlagen? . . .“
Petrus wurde plötzlich frech und rief mit einem unsteten Blick, der zugleich guckte und auswich: „Das ist nicht wahr! Das ist nicht wahr! Ihr seid besoffen! . . .“
Aber Ahasverus packte ihn bei der Kehle und fuhr ihn mit fürchterlicher Bestimmtheit an: „Du bist Petrus, der Fischer aus Galiläa, und Jesus war dein Freund, du Feigling!“
„Ich habe Jesus niemals gesehn! . . .“ schrie Petrus, der blau und grün wurde.
Just in diesem Augenblick krähte ein Hahn mit erhobener, gewaltiger Raspelstimme ein heiseres, langgezogenes, endloses Kikiriki, das ganz aus der Tiefe hervorzuröcheln schien wie im Todeskampf und grausig abriß in einer Art teuflischem Lachen. So brach auch ein Lachen der Verzweiflung aus Ahasverus Gurgel hervor, denn: umsonst! dachte er wieder, umsonst! . . . Und Petrus, plötzlich frei, wankte rückwärts hinaus, als hätte der Blitz gerade vor ihm einen Abgrund in die Erde geschlagen. Niemand wagte die Hand nach Ahasverus auszustrecken.
Er ließ sein Messer fallen und irrte weiter.
Eine stille Klarheit hatte den Himmel gebleicht, und der Nacht entwuchs geräuschlos langsam ein bleigrauer Morgen. Auf den Steinen begannen schon die Wagen zu rasseln, die die Bäuerlein zum Freitagsmarkt fuhren. Ahasverus betrachtete das alles nun, als ob es ihn nichts mehr anginge; die Lust, weiter zu leben, war in ihm gebrochen.
Die Bauern gingen mit krummen Rücken in Kellerwirtschaften, um eine Kumme warmen Kaffee zu schlürfen, und Ahasverus hörte, wie sie geladen waren auf diesen Aufrührer, diesen verfluchten Radaumacher; es war seine Schuld, daß der Kram wieder mal aus Rand und Band war, just an einem Markttag.
Nach und nach kam die ganze Stadt auf die Beine, die Läden wurden geöffnet, man trug die Fensterluken hinein, und verschlafene Gesichter besprachen die große Neuigkeit.
„Wenn sie ihn kreuzigen, daß sie es dann nur schnell heute noch abmachen,“ hörte Ahasverus sagen, „sonst ist das Osterfest zum Teufel!“
„Und die Geschäfte gehn ohnehin schlecht genug!“
„Die Wirte werden nicht zu klagen haben . . .“
„Sie sollten all diese Besserwisser einsperren . . . mit ihrem Gequatsch . . . damit sie die Menschen bei ihren Angelegenheiten nicht stören . . . damit sie die Menschen in Ruhe lassen . . .“
„Diese fremden Ratten . . .“
„Sie wissen nicht mehr, was sie sich ausdenken sollen, heutzutage . . .“
Und dem Wirt der Ausspannung „Zur fröhlichen Einkehr“, der über der Fensterbrüstung lag, erzählte der Barbier von der Ecke, wie Petrus — „es ist schrecklich!“ — dem Judas den Kopf glatt abgehauen hatte.
Wie lange Ahasverus so umherschweifte, er hätte es nicht sagen können, — bis er endlich mit dem Haufen wieder mittreibend zum Gerichtshaus zog, vor dem eine große Menge versammelt war. Auf einem Altan stand der Landpfleger Pontius Pilatus, der eine Ansprache hielt, mit seinem behäbig-groben, alltäglichen Gesicht, das nur ein wenig verdrießlicher aussah, weil sie ihn aus seiner feisten Ruhe aufgestört hatten.
Man sah deutlich, daß er sich die Sache am liebsten vom Leibe halten wollte; die Glaubenslehre der Juden war ihm gleichgültig, und die krähenden Priester hingen ihm zum Halse heraus. Er schwatzte mit knappen Gebärden etwas von seiner Liebe zum Volk, und daß in erster Linie Ordnung herrschen müßte im Interesse der ökonomischen Entwicklung der Stadt, daß die Bürger von Jerusalem einander nun endlich einmal verstehen müßten und aufhören mit ihrem ewigen Gehäkel um Bagatellen. Bei diesem Wort begannen die Pharisäer schon wieder sich die Augen aus dem Kopf zu blöken, und das Publikum rumorte nur immer mehr. Kaiphas, der neben Pilatus über dem Geländer des Altans hing, schrie wütend und aufhetzend zu seinen Trabanten hinunter. Und Pontius Pilatus, ein wenig aus dem Konzept gebracht, ließ ihn nun seinerseits reden, um das Gebrodel zu stillen. Kaiphas, den knallroten Kopf stolz über dem Bauch, predigte erst mit salbungsvoller Stimme, legte dann mehr Nachdruck auf seine Worte, als er auf diesen Aufrührer zu sprechen kam, der sich für den König der Juden hielt, und auf die nötige Ehrerbietung vor dem jüdischen sowohl wie vor dem römischen Gesetz, und er schloß seine Rede mit einem gewaltigen Gedonner prasselnder Sätze. Ja, heilig durfte man die Ordnung nennen; aber dieser Fremdling, der gerade war der Störenfried, der weg mußte. „Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!“ wurde gerufen.
„Ach, was kann er denn viel Böses anrichten?“ sagte Pilatus achselzuckend. „Er ist nur ein Träumer, ein Intellektueller!“
Die Schriftgelehrten, die Küster des Tempels, die Reichen, die Wechsler, die Leute an der Spritze, alle, die Jesus bei ihren Geschäftchen gestört hatte, alle, die einen Augenblick gezittert hatten, sie waren überall eifrig am Werk, tobten, daß es staubte, ließen Bier herumreichen und versprachen goldne Berge, wenn Jesus gekreuzigt würde. Und vor dem Sturm zog sich Pontius Pilatus ins Haus zurück, gereizt mit Kaiphas sich kibbelnd, der ihm mit aufgeregter Geschwätzigkeit folgte.
Rings um Ahasverus sagte nun ein jeder sein Sprüchlein:
„Er predigte doch gegen die Lehre . . .“
„Wenn er mehr ist wie wir, warum hat er sich dann greifen lassen und kein Wunder getan?“
„Ein Gaukler . . .“
„Er hat einen Blinden an einem Sonntag geheilt. Rechtschaffene Leute arbeiten nicht am Sonntag . . .“
„Warum blieb er nicht kusch? Warum kümmerte er sich um anderer Leute Angelegenheiten?“
„Er wollte den Tempel abbrechen . . .“
„Und was für ein Gesindel hatte er um sich herum, Landstreicher und Huren! . . . Dieses Magdalenchen!“ . . . Und voller Geilheit erzählten sie zweideutige Geschichten von diesem Magdalenchen.
„Er entriß die Kinder ihrer Familie . . .“
„Er säte Haß unter die Menschen . . .“
„Ein Glück, daß ich dabei war! Petrus ging schon ans Hauen und Stechen: er hat einen Kerl in zwei Teile gespalten bis an den Nabel . . . Aber ich habe ihm zum Donnerwetter nochmal eine neingehauen, daß ihm schwummerig wurde . . .“
„Die Apostel hatten selbst genug davon: ihr seht es ja, es ist einer von seinen besten Freunden, der ihm das Spiel verdorben hat.“
„Ha! ha!“ fluchte Ahasverus bei sich, „sieh da, das auserwählte Volk des Neuen Reiches!“ Die letzten Anhänger Jesu hatten sich auf die Strümpfe gemacht oder standen da, verblüfft und verbaast, und sperrten das Maul auf.
Aber plötzlich erschütterte Lachen, gewaltiges Prusten und Lachen, die dichtgedrängte Menge. Denn Jesus war auf dem Altan erschienen, vorwärts gestoßen, — und er glich mehr einer Vogelscheuche als einem König: sie hatten ihm zum Zeichen seiner Macht einen zerlumpten Purpurmantel umgehangen, in dem seine Füße strauchelten, und sein Haupt trug eine Krone aus Dornen geflochten, und als Zepter hielt er in seinen gebundenen Händen ein Rohr. Wahrhaftig, ein famoser Ulk! Ahasverus lachte und tobte mit, denn es war ihm, als ob er selbst da oben stünde, es war ihm, als ob er sich selbst verspottete, als ob die Dornen aus seinem eigenen Haupte den roten Schweiß tropfen ließen.
Soldatenvolk umgrinste den schäbigen Herrscher. Ein Lümmel zupfte ihn am Haar und fragte: „Du, der alles weiß, sag, wer hat das getan?“ Aber Jesus schwieg.
Und ein anderer gab ihm hinterrücks einen Backenstreich und fragte: „Weissage: wer hat dich geschlagen?“ Ahasverus fühlte die Ohrfeige auf seiner eigenen Backe brennen und lachte wild mit dem Volke mit. Jesus schwieg.
Und nun wurde nach seinem Antlitz gespieen: „Weissage! Weissage!“ Es schien Ahasverus, als ob er auf seine eigene Seele spiee, und er schrie mit. Ein fürchterliches Gedränge stieß nach vorn, jedermann wollte dabei sein, wollte mitspielen. Frauen und Kinder gellten mitten hinein ins Geheul dieser ungebärdigen, tausendköpfigen Bestie, die sich gegen die Mauer des Gerichtshauses quetschte.
Pilatus, der sich den ganzen Mummenschanz ausgedacht hatte, in der Meinung, daß das Publikum ihn nach solch einem Schauspiel in Frieden lassen würde, trat nun vor, und um zu zeigen, wie unschädlich der arme Schächer doch eigentlich wäre, spöttelte er gutmütig, indem er mit seiner geöffneten molligen Hand auf ihn wies:
„Ist das nun der König der Juden?“
„Hu! hu!“ raste das Volk zu dem schweigenden Manne mit der Dornenkrone und dem Rohr, und „Hu!“ raste Ahasverus, „hu! der König des Neuen Reiches, der König, der einen Traum hatte und kein Schwert, um eine Wirklichkeit, eine Wirklichkeit daraus zu machen!“
Aber die Hohenpriester fürchteten, daß die Beute ihren Krallen entschlüpfen könnte: „Pilatus höhnt die Juden!“ riefen sie von allen Seiten, „der Kaiser in Rom ist unser König! . . . Er lästert den Kaiser! . . .“ Und Pilatus war schon wieder aus der Fassung, betäubt durch das Gebrüll, aufgehetzt durch Kaiphas.
„Kreuzige ihn! Kreuzige ihn!“ ging es hier und da hartnäckiger los.
Pilatus wurde ärgerlich. „Wir müssen kurzen Prozeß machen“, dachte er. Und da er nicht wußte, was tun, nahm er seine Zuflucht zum Nazarener selber: der verhielt sich auch allzu stumm und wollte kein Wort zu seiner Rechtfertigung sprechen: er mußte — zum Teufel! — doch mal deutlich auseinandersetzen, was er sich eigentlich dachte, dann würde das Urteil vielleicht milder ausfallen; und barsch werdend, platzte Pilatus heraus: „Komm, sei nun endlich mal vernünftig, sei nicht so romantisch, nimm die Dinge, wie sie sind . . . Ich habe dich in meiner Macht, ich kann mit dir machen, was ich will, rede . . .“
„Du vermagst nichts über mich!“ sagte Christus, den Blick in sich gekehrt; „ich bin die Wahrheit.“
„Wahrheit . . . Wahrheit . . . was ist Wahrheit?“ murmelte Pilatus und betrachtete mit aufrichtigem Mitleid diesen armen Schwärmer, der so jämmerlich seine Sache verdarb. Aber er hatte schon einen anderen Ausweg gefunden, um sich die Geschichte mit einem Schlage vom Halse zu schaffen:
„Werte Mitbürger, es ist ein uralter Brauch, eine ehrwürdige Überlieferung . . . eine Überlieferung, sage ich, der wir also treu anhängen müssen, daß der Statthalter zum Osterfest einen Gefangenen losläßt; — wollen wir diesen denn nicht laufen lassen?“
„Nein, nicht Jesus, — Barrabas!“ rief eine Stimme. Und „Barrabas! Barrabas!“ war der Schrei, der nun von überallher emporstieg. „Barrabas!“ schrie auch Ahasverus.
Dieser Barrabas, müßt ihr wissen, war in Jerusalem wohl bekannt und dem Volke teuer, als ein unverbesserlicher Windhund, Lüderjan, Nachtschwärmer, Pflastertreter, Saufaus, Würfelspieler, Hurenbock, Prasser, Zotenreißer und Hans in allen Gassen.
„Wenn du uns die Wahl läßt,“ sagte Kaiphas, „dann gibst du zu, daß Jesus schuldig ist!“
Pilatus verlor auf einmal alle Geduld: „Ich hab genug davon,“ schloß er wütend, „ich sitze hier schon den ganzen Morgen und rede mir die Zunge aus dem Hals, kreuzigt ihn, wenn ihr ihn nun doch mal kreuzigen wollt, aber dann gleich, damit es ein Ende hat! Und der erste, der sich dann noch muckst, fliegt an . . .“
Es war, als ob eine fürchterliche Welle das ganze wimmelnde Gedränge oben hinauf zum Richthaus tragen wollte mit wildem Gejauchze. Jesus wurde im Tumult fortgeschleppt, und Pontius Pilatus machte sich mit rundem Rücken aus dem Staube.
Für Ahasverus verlief alles nun, als ob es ganz fern von ihm geschähe, als ob er jenseits der Menschheit irrte, jenseits des Lebens. Was sie zu kreuzigen sich anschickten, es war etwas von dem letzten Traum, der ihn aufrechterhalten hatte; aber auch diese Kreuzigung und alles, es geschah in einem Traum. Alle Dinge trugen das Antlitz des Todes.
O, er mußte da heraus, er wollte zurück in die Wirklichkeit, er wollte noch einmal von ganz nahe Jesus anschauen, um deutlich zu fühlen, daß dies alles kein Hirngespinst war, zu fühlen, ob es wahr sei, daß er, Ahasverus, nun ganz allein, ganz allein auf dieser Welt blieb, um all ihre Jämmerlichkeit, all ihre Leere zu schleppen.
Das Fieber brannte in ihm, er war heiser vom Schreien, er mußte heraus aus diesem höllischen Gewühl. Er ging bis an das Stadttor, durch das der Zug zum Kreuzberg hinauf ziehen mußte. In dem Tor war eine kleine Wirtschaft. Ahasverus gab seine letzten Pfennige für ein Glas Bier und blieb draußen auf einer Bank sitzen: dort konnte er alles gut sehen.
Ein Blinder und ein Lahmer, die früher vor dem Tor zu betteln pflegten und die Christus geheilt hatte, machten laut ihre Späße mit der Wirtin.
„Ihr solltet euch schämen!“ sagte diese.
Der eine antwortete: „Was können wir dabei machen? — Hat er mir meine Augen wiedergegeben, so tat ers doch, damit ich sie brauchen sollte!“ Und er sah die Wirtin lauernd mit geilem Blick an.
Und der andere: „Unsere Schuld ist es nicht! — Hat er meinen Händen wieder Gefühl gegeben, so tat ers doch, daß ich was davon haben sollte . . .!“ Und sein Arm umfaßte die Wirtin, die aus vollem Halse mit schuddernder Brust lachte.
Vor der Wirtschaft schlenderten Jerusalemer, ganze Familien, die vor Ungeduld gähnten. Niemand arbeitete an diesem Tage, es war etwas wie eine seltsame Kirmesstimmung in der Luft, wenn das Wetter auch tot und trübe blieb. An dem Stadttor näselte ein Spielmann seine Lieder, angegafft vom Volke, und ein Haufen Rotznasen lief hinter einem roten Lappen, der an eine Stange gebunden war, singend vorbei mit Rumpelkasten und Kesselpauke. Aus allen Fenstern steckten Neugierige ihre Köpfe heraus, und auch auf den Dächern saßen die Menschen dicht gedrängt.
Das Mittagbrot hatten sie schon hinunter, und viele begannen stumpf zu werden vom langen Warten, als endlich Radau und Fanfarengeschmetter in der Ferne hörbar wurde. — „Da sind sie! Da sind sie!“ Und bald erschien die klägliche Prozession an der Biegung der Hochstraße, von wo sie sich langsam zum Stadttor bewegte.
Hinter einem Haufen Straßenjungen und Pflastertreter, die, von Hunden angebellt, dahinliefen oder Arm in Arm in Reihen pfeifend weiterhopsten, kamen zuerst Soldaten mit Helm und wehendem Federbusch, auf bunt-geschabrackten Pferden; die trugen Schilder und Standarten. Und dann etwas Musik und Fußvolk mit Spießen, Landsknechte in schweren Kollern, Hellebardiere, Bogenschützen, Hilfstruppen aus Libyen und Äthiopien, Mohren und Schornsteinfeger, kurzum, der Teufel und seine Großmutter, alles, was sie auf die Beine bringen konnten. Und umschlossen von all dieser rohen Macht schritten höchst befriedigt die Hohenpriester mit Kaiphas, die Schriftgelehrten, die Ältesten des Volks, die Küster und Stuhlsetzer des Tempels, der Statthalter und sein Rat, die Zunftmeister der reichen Tuchgilde, der Bund der Geldwechsler, die Gesellschaft zur Förderung des Fremdenverkehrs, der Verein der Hausbesitzer und Grundeigentümer, all die Mucker, Betbrüder und Schwarzen von Jerusalem, all die konzessionierten Betrüger und Halsabschneider, all die Schacherer, all die Geldhunde, all die Blut- und Hirnsauger, all die Schinder und Auffresser des gemeinen Mannes. Und wieder Soldaten und Soldaten, unaufhörlich . . . Wer konnte dagegen noch an? Wer sollte sich da noch mucksen? — Aber o! der elende, gebrochene König, der dahinter unter dem großen Kreuz sich fortschleppte! . . .
Die meisten Zuschauer schwiegen nun, die Kehle zugeschnürt, mit einer düsteren Vorahnung im Herzen, oder guckten mit ihren Kuhaugen und dachten: „Er hat es verdient!“ oder „Was können wir daran ändern?“ oder „Er hat uns betrogen, er hat uns das Glück versprochen“, und diese waren ärgerlich, weil kein Wunder geschah. Aber sie wagten einander nicht mehr anzublicken. Es gab auch solche, die einsahen, daß sie übel getan hatten, und darum ärgerlich wurden: sie riefen Schimpfworte und warfen Dreck nach dem Mann. Die Frauen bedauerten ihn mit leisen Worten des Mitleids und schluchzten. „Er muß doch etwas verbrochen haben . . .“ sagte nahe bei Ahasverus eine, die einen Säugling auf dem Arm trug.
Und Ahasverus sah den Mann mit dem Kreuz heranstraucheln. In seiner Seele saß der Tod. Er hätte alles vergessen mögen, nicht mehr diese feigen Lumpenhunde sehen, nicht mehr dies ohnmächtige Weibergejammer hören. Er dachte: „Da ist der Wortgaukler, der seinen Traum nicht tragen konnte, der Verräter, der meinen Traum gemordet hat. Und nun bleibe ich allein, — ich — allein . . .“ Er wälzte es wieder in sich herum, gleichgültig gegen seinen eigenen Schmerz; Gleichgültigkeit umschloß ihn überall, als hätte er niemals wieder seine Arme ausstrecken können. Ja, es hätte so schön werden können! Aber alles war unnütz, das Leben war unnütz . . . Und weil er allein, er allein das wußte, sprach etwas in ihm: „Ich werde nicht zerbrechen.“
Aber als der Galiläer das Stadttor erreicht hatte, geschah etwas Wunderbares.
Ahasverus stand kerzengerade mit hohen, breiten Schultern da, seinen harten Blick auf Jesus gerichtet. Jesus fiel auf die Kniee unter der schweren Last des Holzes und sah Ahasverus an mit etwas wie einem flehenden Schrei in seinen Augen. Sein Gesicht war bleich, schweißbedeckt, voll Staub und Blut. Er hatte Ahasverus erkannt, und schweigend schien er zu sagen: „Du, der du mein Bruder bist, hilf . . .“
„Warum?“ dachte der Zweifler, und noch einmal „warum?“ mit einem höhnischen Lachen über sich selbst und über alles. Und in der schaurigen Öde seines Herzens stand es tief eingegraben: „Ich werde dem nutzlosen Traume treu bleiben. Ich werde nicht weinen. Ich werde nicht zerbrechen.“
Seine Lippen blieben geschlossen, sein Blick blieb hoch und hart. Aber auf einmal sah er nichts mehr als die Augen Christi, Schweiß und Blut verdämmerten, er sah nichts mehr als die stillen, durchdringenden Augen, die reinigend das Antlitz erhellten. Ja, das war sein Bruder; ja, er sah es nun wohl: dieser hatte auch etwas, das dunkel in ihm glühte, etwas, womit er nirgendhin wußte, eine ewige Unrast; er sah es da wie in einem Abgrund, aber über dieser Tiefe zitterte ein unergründliches Licht, wie ein Lächeln, ein Segen . . . Ahasverus fühlte, wie die sanfte Flamme dieser Augen sein Herz versengte.
Und seitdem er das gesehen hatte, brannte es in ihm fort, mitleidslos, unauslöschlich, und er mußte Christus folgen, seinem Bruder. Und die ganze schreckliche Passion mußte er mit leiden: sein Fleisch war es, das durchbohrt und an das Kreuz genagelt, sein Mund, der voll Essig und Galle gestopft, seine Seite, die durchstochen wurde. Als Jesu Mutter in Ohnmacht sank, zerriß auch ihm das Herz, aber nicht einen Sohn nur beweinte er. Und als das Volk, von Furcht und Reue ergriffen, wegflüchtete unter dem trüben, leeren Himmel, ehe Er da oben Seinen letzten Seufzer tat, und nur noch einige Soldaten dablieben, die um seinen Mantel würfelten, und eine Wolke seine Stirn umflorte und Er rief: „O Vater, warum hast Du mich verlassen?“ — da suchte Ahasverus’ Blick Seinen geliebten Blick, und sie vergingen zusammen in demselben Meer von Verzweiflung, über dem dann das triumphierende, das unbegreifliche Lächeln Christi wieder glänzte.
Und als alles vollbracht war, eilte Ahasverus fort, wohin, wußte er nicht: er wußte nur, daß er niemals wieder ruhen würde und wandern und wandern würde, ohne Ende — ohne Ende.
Er ging, das Haupt zur aschgrauen Erde gebeugt; der Himmel da oben war nicht mehr für ihn da, er wollte nichts mehr sehen. Aber unauslöschlich brannte in ihm die sanfte Flamme von Christus’ Blick.
Und er haßte diesen Blick. O, hätte er ihn vergessen können, seine Brust offenreißen, um die Glut da drinnen totzuwürgen! . . . Umsonst! Er ging mit dieser unsagbaren Pein durch die leere Welt, und in seinem ganzen Wesen war eine Lust, nicht mehr zu sein.
Ja, nicht mehr sein! Aber . . . sterben — wie ist das Sterben doch mühsam! Er konnte nicht mehr wollen; — nicht denken, das war das einzige, was er wollte. Und es war doch auch eine versteckte Angst in ihm . . . er wollte nicht mehr denken.
Die Helle der Tage und das Dunkel der Nächte wechselten in ständigem Wandel über ihm. Er ging, schlief einen unruhigen Schlaf von einigen Stunden und ging dann weiter; die eine Hand hielt einen Knotenstock umklammert, die andere wühlte in seiner Brust oder umkrampfte bisweilen seine Stirn, als stäche ihn da eine Dornenkrone. Er mied zuerst die Dörfer, aß Früchte oder Rüben, und ging nur immerzu, unbewußt, verloren.
So wanderte er bergauf und bergab, durch Sonne und Wind, über die unermeßlichen Straßen der Welt. Er irrte wohl einmal tagelang auf Heiden und in Wäldern umher, um dann ausgehungert wieder niederzusteigen in die Täler, wo die Menschen wohnen. Und dort bettelte er, unwillig brummend wie ein Bär, der unter der Peitsche tanzen muß. Mit seinem mageren Gesicht, worin die starren Augen glommen, jagte er den Frauen Schrecken in den Leib; sie gaben ihm ein Butterbrot und zogen schnell ihre Kinder wieder ins Haus. Er dankte nicht und ging weiter und machte vor der Wirtschaft halt, wo die Pächter im Schatten beim Kegeln saßen und ihre Pfeife rauchten, die Hand am schäumenden Krug. Sie hatten Scheu vor seinem langen, unbeweglichen Schatten und rückten vorsichtig zur Seite, damit er sie nicht anrührte. Er sprach kein Wort, aber seine hagere Gestalt prophezeite Krankheit, Hungersnot und vielleicht noch schlimmere Plagen. Und in seinen Augen lag eine stumme Frage, die sie lieber nicht sehen wollten. Vor Ahasverus fühlte man sich beunruhigt, ohne recht zu wissen warum, — wie beim Sinken der Abendschauer, wenn der Mensch über das kurze Leben nachdenkt und das, was jenseits liegt.
Und er wanderte, wanderte. Bisweilen, als fürchtete er sich selbst, fühlte er wieder den Drang, unter vielen Menschen zu sein, verloren in einer Menge. So lief er einmal tagelang mit einem Heere mit, längs der Wege. Die Kriegsknechte wurden wild von dem endlosen Latschen und trieben allerlei Mutwillen auf dem platten Land, spielten die Herren, stießen mit ihrer Pike die Bauern vor sich her, forderten Speck mit Eiern, altes Bier und junge Mädchen. Zum Schluß, als sie in eine große Stadt kamen, fingen sie an zu meutern und zu plündern. Sie rannten wie wilde Raubtiere brüllend durch die dunklen Gassen, drangen in hellen Haufen in die Läden der Juden ein und warfen dann die Leichen durch die Fenster. Der Boden war rot und schwarz vom Blut, man focht bis in die Kirche, und Ahasverus sah, wie flehende Frauen und Würmlein von Kindern abgestochen wurden, als wäre es zum Spaß. Aber das Schrecklichste schien ihm dabei, daß sein Herz nicht einmal bebte: Geschah das in einem fernen Traum? Waren das Menschen, die da mordeten oder starben? — Als eine gewaltige Orgie über all dieses Sterben hinwegzulodern begann, flüchtete er wieder weiter, denn mitten im Gewühl noch war er allein — er war immer mutterseelenallein.
Er stand außerhalb der Menschheit und blieb doch ein Mensch, nichts als ein Mensch. Er stand außerhalb der Zeit der Menschen und fühlte doch diese Zeit in sich nagen. Er sah überall den Tod und das Leben im Streit, ohne Ende. Er sah Tempel in stinkende Beinhäuser verwandelt, wo am hellen Tag Hyänen heulten; er sah, wo früher die Wüste lag, eine Stadt ihre hohen Mauern und Türme erheben. Er sah neue Völker auftauchen und andere versinken. Er war der gleichgültige und doch leidende Zeuge des sinnlosen Daseins, das auf- und abgeht, stirbt und aufersteht, um wieder zu sterben. Er ging von Land zu Land, unbefriedigt; was ihm auch begegnete, es konnte sein Herz nicht füllen, er wollte weiter, weiter. Und er wußte es wohl, im Tiefsten seines Bewußtseins, daß sein Sehnen ewig war — daß ewig die Flamme war, die seine Seele versengte.
Er sah in Ägypten die Sphinx: eine Art Krebs fraß an ihrem Gesicht, und sie war schon halb im Sande versunken; sie schien müde vom Schauen in das Nichts. „Deine Zeit ist aus,“ dachte der Wanderer, „nun kommt die meine.“
Er sah das Land, wo die Bäume mit den Wipfeln im Boden wachsen und mit den Wurzeln in der Luft. Da laufen die Menschen auf dem Kopfe; sie kriegen Hühneraugen auf dem Schädel und Verdrehtheiten in die Füße; und sie essen mit dem Hintern, was mancher Gelehrte nicht glauben will. Aber Ahasverus hatte schon lange gefunden, daß nichts wahr oder unwahr genannt werden darf.
Er sah auch das Land, wo es eine löbliche Tat ist, seine Eltern umzubringen, ehe sie zu zäh werden, und sie einzupökeln für den Winter. Das schmeckt ganz lecker, sagen sie, wenn mans mal gewohnt ist. Ahasverus tat nicht wie ein unerfahrener Tourist, der sich über alles wundert, denn er hatte schon lange gefunden, daß nichts gut oder böse genannt werden darf.
Er sah Völker, die den Frieden priesen, und andere, die von nichts wissen wollten als von Krieg und Blut. So war jeder auf seine Weise glücklich oder unbefriedigt und hielt alles übrige für Narrheit. Er sah einen Stamm in Afrika, der sich von Waldpavianen regieren ließ. Er sah Menschen, die Weihrauch anzündeten für bekleidete Puppen oder für einen Haubenstock mit einem Hut darauf, und andere wieder, die ihren Dreck anbeteten. Und alle waren überzeugt, daß sie allein die göttlichen Gesetze beim richtigen Zipfel hatten.
Er sah das Land der Läusemenschen: die leben splitternackt in einem Tal, das wie ein Kessel ist, und beten gar nichts an, sondern liegen den lieben langen Tag auf dem Bauch, die Augen halb geschlossen, verloren in einem trägen, gestaltlosen Traum. Mit den Nägeln kratzen sie sich ihre Nahrung aus der Erde und kennen kein festlicheres Mahl, als Würmer und Ungeziefer. Wenn es regnet, verkriechen sie sich in Höhlen. Ahasverus sah von einem steilen Felsen aus gerade unter sich solch ein Faulwams sitzen und spuckte darauf: das plumpe Ding kroch etwas weiter, wie eine Kröte, und als Ahasverus noch einmal spuckte, rührte es sich nicht mehr. Wenn es Abend wurde, suchten sie einander träge und setzten sich dicht zusammen, und dann begann eines von ihnen ein ängstliches, langgezogenes Geheul durch seine heisere Kehle zu jagen, worauf zwei oder drei andere und dann eine ganze Herde da unten in der Dämmerung mitblökten, so traurig und verlassen, daß Ahasverus es niemals wieder vergessen konnte.
Oben, auf dem Berg, war die Stadt der Weisen: die pfiffen auf alles zeitliche Gut, und ihr Gesicht schien immer verklärt durch himmlische Gedanken, wie ein stilles Licht, das rötlich durch eine Alabastervase scheint. Sie waren sehr zart von Umgang und fürchteten das Sterben nicht, aber man fühlte etwas wie ein stilles Heimweh in ihrem Lächeln.
Als Ahasverus dort nach einiger Zeit wieder vorbeikam, bemerkte er, daß ein tüchtiges Stück von dem Berg der Weisen nach einer besonders feuchten Jahreszeit allmählich ins Tal niedergesackt war, so daß Heilige und Läusemenschen nun brüderlich vereint lagen, dreihundert Fuß unter der Erde. Ahasverus zertrat noch einige Ameisenhaufen, aber lustig war das eigentlich nicht, und voller Ekel zog er anderswohin.
So fand er, siebzehn Meilen oberhalb des Südwindes und dann rechtsum und quer geradeaus, nahe bei dem Pfannkuchenberg, wo man die Wolken mit einer Mausefalle fängt, das weitberühmte Schlaraffenland voller Vergnügen und Wohlleben. Die Bäume sind dort von Zucker und hängen voller Konfekt, die Häuser werden aus Pfefferkuchen gebaut und mit Honigtörtchen und Eierfladen gedeckt. Da könnt ihr den lieben langen Tag Reisbrei mit silbernen Löffeln essen, und überall säuseln Bächlein von goldenem Schaumwein, süßem Met, Hippokras, Geusenlambik und Oudenaarder Doppelbier. Wenn ihr des Ambrosias überdrüssig seid, streckt ihr die Hand aus nach den gebratenen Küken, die zu eurer Verfügung herumlaufen, oder ihr schneidet eine Scheibe Schinken von den zappeligen Ferkelchen, die immer das Messer parat in der Hinterbacke tragen. Jede Stunde Schlaf bringt einen Groschen ein; ihr braucht nur zu denken: „Herzchen, wonach steht dein Begehr?“ und das Appetitlichste, wovon ihr träumen könnt, steht vor euch, und es ist alles ein Prassen und Ludern und Schlampampen, was das Zeug hält.
„Ich spiele mit!“ sagte Ahasverus, denn es schien so, als ob diese strahlenden Vielfraße und Faulenzer sich durch keine überflüssige Grübelei den Teufel auf den Hals lüden. Und das war mir ein schönes Leben! und ein Schmausen! und ein Schleckern! und ein Vivatrufen! — aber es machte ihn übel und krank, sein Magen war bald aus dem Gleis, und da floß kein Wein, der seinen Durst ganz hätte löschen können. „Wir Schlaraffen“, sagte einer von ihnen, „haben Genuß vom Leben, weil wir uns nicht um die Unsterblichkeit der Seele kümmern.“ — „Ob ihr nicht beruhigter sein würdet,“ fragte Ahasverus, „wenn die Unsterblichkeit des Leibes euer Teil wäre?“ Denn er merkte, wie der Schrecken in ihren Bauch fuhr, wenn unangemeldet Freund Hein zwischen all diese fetten Saufsäcke trat, um einem von ihnen sein Brotgäßlein zuzudrücken; und wenn der Körper dann eiligst unter die Erde gestopft wurde wie ein fauliger Schwamm, der von überreifen Säften geschwollen ist, dann war das „Halleluja“ bei den Würmern, aber das „Ach, der Arme!“ da oben . . .
Es würde zu weit führen, euch von A bis Z zu erzählen, was Ahasverus auf seinen mannigfachen Reisen noch alles sah. Aber je mehr er sah, um so tiefer wurde die fürchterlich öde Kluft in ihm. Denn das war es nicht, das nicht, was er brauchte; die Dinge, die er sehn und greifen konnte, hatten nichts zu tun mit dem, was er brauchte; Dinge und Menschen standen da wie ein Spiel widerstreitender Kräfte, ein nutzloses Treiben ohne Zusammenhang oder Sinn, mit dem stummen Tod dahinter; und im Grunde konnte ihm das ganze Sammelsurium einer Schöpfung doch gleichgültig sein, da er sich als etwas anderes fühlte: er allein war von seiner Art, der auserwählte Verstoßene, und fand nirgend einen Reim auf die Stimme da drinnen, die ihn weitertrieb.
Das Unglaublichste schien ihm, sobald es das Neusein verloren hatte, gewohnt, und die jämmerliche Alltäglichkeit der ganzen weitgedehnten wunderbaren Welt hielt ihn eingeschlossen, so wie früher die dumpfige Enge seines Kellerchens in Jerusalem. Er fühlte, daß sein Schicksal in ihm lebte, stärker als der Tod, und es war ihm, als ob er eine Ewigkeit in sich trüge; aber er blieb doch unwiderruflich ein Mensch, mit seinem peinvoll sich abquälenden Kopf, mit seinen blutenden Füßen, die er über die Steine schleppte, mit seinen zwei ohnmächtigen Händen, die nichts packen konnten als ein wenig Staub, der sterben mußte. Er war kein Gott — nicht einmal ein Teufel! — und selbst eine Ewigkeit, durch die keine andere Klarheit als das wechselnde trübe Licht der Erde hindurchschiene, dünkte ihn ein Gefängnis, worin er sich im Kreise drehen würde mit eintönigem Schritt. Er hatte so ein Vorgefühl, daß er alles erfahren könnte, früher oder später, alles besitzen, was die Welt trägt. Früher oder später würde er alles schmecken, was ein Mensch schmecken kann, Freude, Leid, Liebe, Wollust, alle Genüsse, alle Erfahrungen der fünf Sinne; früher oder später würde er alle Leben kennen und mitleben. Seitdem er wußte, daß nichts das, was in ihm brannte, ersticken konnte, war das Mögliche für ihn vertausendfacht, aber gerade darum wollte er das Unmögliche. Er konnte vom einen Ende der Welt zum anderen laufen, und darum träumte er von dem, . . . was da drüben liegt, darum war ihm nichts begehrenswert als das Unaussprechliche, das ihm verborgen und verschlossen blieb. Was gab er um all diesen zerbröckelten Krimskrams ohne Ziel und Sinn? Und wenn eine herbe Frucht ihn nicht reizte, was war ihm dann eine Million herber Früchte? Die Zeit und alle irdischen Dinge waren sein, aber er verlangte doch, verlangte heftiger denn je nach dem Einzigen, was er nicht sehen konnte.
Er wollte nicht wissen, daß er darnach verlangte, er hätte alles, alles vergessen mögen. Jenen Blick von Christus, der ihn sanft versengte, den vor allem hätte er vergessen müssen. Das glückte ihm wohl einmal, aber niemals, ach! für lange. Denn der Himmel ohne Anfang und Ende mit seinem schweigenden Geflüster unerreichbarer klarer Sterne, — und das hin und her, ewig hin und her wogende, dumpf donnernde Rauschen des einsamen Meeres, — oder bisweilen schon der schmetternde Gesang einer Lerche, das feurig helle Schlagen einer Nachtigall in der Dunkelheit, es rief alles in ihm wieder die Glut wach, die Flamme einer Sehnsucht nach etwas, das er ahnte, das er nicht sagen konnte und das er nötig hatte.
Aber er wollte nicht daran denken. Als er einmal finster ein Dorf durchzog, wurde ihm ein Almosen gegeben von einer Frau, die das Gesicht hatte von einer, die viel gelitten hat, und sie schien keine Angst vor ihm zu haben; sie meinte, daß er auf einer Pilgerfahrt sei, und sagte ruhig: „Im Namen Gottes, den Ihr so fern suchen geht . . .“
„Ich suche den Teufel!“ fluchte Ahasverus.
Aber die Stimme säuselte in ihm fort: „Im Namen Gottes, den Ihr so fern suchen geht . . .“ Er hätte diese Stimme morden mögen, er hätte sich die Augen ausreißen mögen, um diese Augen von Christus nicht mehr zu sehn, er hätte sterben mögen, um dies Verlangen zu ertöten in dem Abgrund seiner Seele.
„Ich suche den Tod“, dachte er, — aber ganz aus der Tiefe kam ein Zweifel, den er nicht bannen konnte: es war nicht wahr, er würde nicht zerbrechen . . . Und warum beschlich ihn nun eine sonderbare Angst vor dem Tode, — als könnte er niemals ganz sterben? . . .
„Was ich suche, ist einfach nicht da“, grinste er dann wieder und verspottete sich selbst, aber er wanderte, er wanderte, ohne Rast.
So traf er einst auf seinen langen Wegen einen Pilgrim; unter dem breiten, mit Muscheln besetzten Filzhut schlotterte der Reisemantel, auf den ein Bettelsack und eine Kürbisflasche drückten. Es war eine knochige Gestalt, die ohne zu hasten weiterschlurfte, und beim Gehen fiel der Leib regelmäßig aufs eine und dann aufs andere Bein; der Kerl schien nicht mehr von seinem Willen getrieben. Als die beiden Schatten nahe beieinander wandelten, blickte er nicht auf. Er murmelte zwischen seinen Zähnen: „Unser Vater, der Du bist im Himmel . . .“, und man hörte die dicken Kugeln seines Rosenkranzes leise klappern.
„Warm!“ sagte Ahasverus, der durstig war und nach der bauchigen Flasche schielte.
Unter dem Rand des Hutes blickte das alte Gesicht auf, mit einem toten Blick, der in einer großen Augenhöhle saß, und sagte:
„. . . Geheiliget werde Dein Name . . .“
„Ein Schlückchen würde mir gut tun, Mann!“
„. . . Dein Wille geschehe wie im Himmel, also auch auf Erden . . .“ antwortete der Pilgrim.
Ahasverus griff nach der Kürbisflasche und tat einen langen Zug, aber der Pilgrim murmelte immer nur und knabberte weiter an seinem Gebet, ohne auf etwas zu achten. Ahasverus wurde es seltsam zumute; das schien ihm wie ein Gespenst, beladen mit einem furchtbaren Geheimnis, und er fragte mit unsicherer Stimme:
„Aber Mann . . . lebst du? . . .“
Doch der Pilgrim sah noch einmal auf, wie ein gutmütiger Tropf:
„. . . Erlöse uns von dem Übel,“ und mit tiefem Atemholen: „Amen.“ Darauf fiel sein Blick wieder auf die Erde, und er begann von vorne mit einer anderen Kugel.
„Nicht viel Abwechselung in seinem Gespräch“, dachte Ahasverus, aber er folgte ihm doch in einem Abstand, angezogen von diesem Trottel, der auch nur immer wanderte, als hätte er kein Ziel, und seit Jahren vielleicht sich ganz und gar blödsinnig gepaternostert hatte; und der wurde ihm wie ein fernes Bild seiner selbst, aus dem der Tod, der unmögliche Tod ihm höhnisch entgegengrinste.
O, könnte er nur, immer und immer dasselbe Gebet wiederholend, langsam und verbissen und zuversichtlich seinen Geist in dem Nichts sich verirren lassen! Der alte Knabe da ging mit einem Schritt „ich werde schon hinkommen“, und als er am Mittag, immer noch vaterunsernd, seine Beine ausstreckte unter einer schattigen Linde, fiel er bald in Schlaf, wie ein unschuldiges Kindchen, und schnarchte ganz leise. Ahasverus betrachtete das totenhafte Gesicht, auf dem Ruhe ohne Falten lag. Neidisch zog er dann weiter, allein.
Aber kein Gebet brachte er über die Lippen, und er zählte seine Schritte, hundert, und wieder hundert, bis tausend und zwei- und dreitausend. Doch dabei waren seine Sinne mit etwas anderem beschäftigt, — mit dem, was an jenem Freitag geschehen war . . . — er konnte seine Gedanken nicht zur Ruhe bringen, er konnte das Bild des Gekreuzigten in sich nicht zermalmen, und wütend begann er dann zu fluchen, immer den selben Fluch, der niederhämmerte im Takt mit dem Schritt seiner Füße, bis dies Geramme seinen Geist betäuben würde.
Aber endlich mußte er wieder wild über sich selbst lachen. „Ich bin ein Kind,“ dachte er, „ein törichtes kleines Kind!“
Das Land verschwamm in den Abendnebeln, die sich mit dem langgezogenen Rauch schwelender Kartoffelfeuer mischten. Es war überall so einsam, so verlassen und voll Abendduft. „Wo werde ich nun landen?“ dachte Ahasverus erschöpft. Bald erkannte er die flachen Strohdächer eines Dorfes, mit Ställen und Scheunen; als er zu dem Platze kam, der die Kirche umgab, begann in den geschlossenen Häusern das freundliche Licht zu brennen. Er betrat eine Herberge, wo Bauern bei ein paar Kerzen um eine Tonne herum beim Kartenspiel saßen, und verlangte Bier und trank schweigend, mürrisch, ein Glas nach dem andern. Es war nun nur ein bewußtes Saufen noch, um seinen Geist abzustumpfen, um zu vergessen, um für einige Stunden tot zu sein. Aber es dauerte sehr lange, bis er betrunken wurde; dann kamen einige von den jämmerlichen Saufbrüdern spöttisch grinsend heran, um mit ihm anzustoßen, und sie grölten immer dasselbe schleppende Lied, indem sie ihre angeglühten Visagen einander zuneigten. Da lag ein Kumpan an Ahasverus gelehnt und langweilte ihn lallend und kläglich jammernd mit Geschichten von seiner Frau, die vor zwanzig Jahren am Pips gestorben war. Ahasverus wollte mitbrüllen, sank aber düster wieder in sich zusammen und trank . . . Am andern Tag erwachte er auf einem Misthaufen. Er torkelte weiter, legte sich noch etwas in einen Graben, um zu schnarchen, schob dann wieder in eine Wirtschaft hinein und trank. Sein Kopf schmerzte ihn, er sah alles durch einen Nebel. Frech schmiß er seine Groschen auf den Tisch, goß hinunter, daß seine Eingeweide davon brannten, zerbrach Gläser und wurde hinausgeprügelt. Und so zog er von neuem schwankend die Straße entlang, von Spelunke zu Spelunke, oder zwischendurch schnarchend, mit dem Gesicht auf der Erde.
Bis er, nüchtern geworden, wieder das Licht sah, wieder das Leben in sich fühlte und voller Ekel erkannte, daß sein Trotz nur eine Kinderei war, — daß es etwas gab, das er nicht vergessen hatte, etwas, das er niemals vergessen würde. Und in ihm lebte das heimliche Feuer, unauslöschlich.
„Wie sollte jemand sterben können,“ dachte er, „der so stürmisch nach dem Tode sich sehnt?“
Es war wieder einmal gegen Abend, und er war so müde. Was nützte es noch, die Arme auszustrecken? — und nach wem, nach was sollte er rufen? . . . Er setzte sich gebrochen auf einen Stein, am Rande eines großen, finsteren Waldes, während die Dämmerung grau aus der Ebene stieg; das säuselnde Schweigen der Erde sprach zu dem Schweigen des Himmels, nur in der Ferne schlug eine Glocke an; einmal trottete auch ein Hirte vorbei, der seine folgsamen Schafe zum Stalle trieb, und ihr Getrappel im Staub glich dem sanften Geräusch des Sommerregens. Es war so sonderbar, was in Ahasverus vorging, und dies schien wohl ein anderer Abend zu sein als gewöhnlich. Wie lange war er nun gelaufen? Er wußte es nicht; vielleicht waren die Jahre wie Stunden für ihn gewesen, gleichsam als wäre er in einem Traum gewandelt, der seinen Willen überzogen hatte, aber vor seinem klarer werdenden Heimweh nun langsam fortdämmerte. Sein Herz war zerstückt, aber auch seine lähmende Gleichgültigkeit war wie gebrochen, und aus der Leere seines Geistes richtete sich trauernd etwas auf, das er doch nicht töten konnte und das sein Bewußtsein war. O diese Glut wieder, diese lodernde Glut da drinnen! . . . Das Gefühl, daß das Leben in ihm doch fortwuchs und aus all dem Schutt unerbittlich aufschoß, und dazu die allzu süße Inbrunst dieses Abends, das alles machte seine Pein noch bohrender, als sie jemals gewesen war. Und er dachte:
„Ach! warum habe ich den Gekreuzigten angesehen? Gerade an jenem Mittag, bevor ich ihn ansah, hätte ich so leicht sterben können!“
Er wußte wohl, daß das nun nicht mehr möglich war, daß der gemeine Tod der Menschen den Hunger seiner schwellenden, seiner wollenden Seele, ach! fortan nicht mehr stillen konnte. Er träumte von einem übermenschlichen Vergehn, das zugleich die Welt selbst vernichten würde, einem Tod, der wie ein Fluch sein würde auf . . . auf jenes andere, Namenlose, wonach er begehrte, das er nicht erlangen konnte und das er haßte, das er nicht kennen wollte, — einem Tod, der sein würde wie ein Speien auf das Geheimnis, das ihn leiden machte. Er hätte mit beiden Händen den Himmel auf sein Haupt und auf alles mögen einstürzen lassen . . . Nein, es war zu albern! Er wollte nicht wissen, daß es einen Himmel gab, er klebte doch für immer an dieser harten Scholle . . . Und er fiel verzweifelt auf die Kniee, mit seinen Krallen in die Erde greifend; er wollte diese Erde sein, er wollte der Urstoff selber sein, er hätte sich in Millionen und Millionen Stücken verteilen lassen mögen, um in allen Dingen zu leben, — und seine Seele nicht mehr zu fühlen! — um der Saft der Bäume zu sein, das Blut des warmen Tieres, das Wasser der Ströme, der Fels und die Luft, das ewige Gären der Erde.
Die stille Flut der Nacht hatte sich über das ganze Land gebreitet, aber die Tiefen des Himmels blieben wie eine spiegelklare See. Und Ahasverus, erdrückt von der Verdammnis dieser Unendlichkeit, flüchtete in den Wald, — in das grüne Dunkel.
Der Wald war voller Flüsterstimmen und seltsamem Gezitter; tastend ging Ahasverus hindurch. Die größten Bäume standen da wie Riesen, bemoost und so viel Jahrhunderte alt, daß sie das überflüssige Sprechen verlernt hatten. Über den durchsichtigen Laubgewölben ahnte man überall andere Laubgewölbe, als wären da zwei, drei Wälder übereinander, und ringsum, zwischen den Ästen von blasserem Grün, die leise zitterten wie mit vielen fast regungslosen Flügeln, verirrte sich der Blick durch ein geheimnisvolles Spiel von Schatten bis in schwarze Höhlen von wirrem Gewächs.
Von dort quoll nun überall die volle Nacht heraus, während alle Dinge ihren Atem anhielten, um keinen Laut zu wecken. Nur ganz ganz hoch rauschten Blätter, die der Mond vielleicht beschien; bisweilen piepte ein Vogel, der halb im Schlaf etwas erzählte. Das Dunkel tat Ahasverus wohl, und auch, daß alles wieder einem Traume glich.
Vorsichtig schritt er weiter; der Boden senkte sich immer mehr zu tieferen Mulden, wo die Luft schwül war von wilden, feuchten, brütenden Gerüchen, und die Stille voller Unrast, als wäre sie ein großer Seufzer, der herauswollte und nicht konnte. Viele kaum hörbare Laute bullerten und knisterten in der dunklen Wärme, — Tiere lebten da und waren gewiß bei der Paarung. Einige sprangen weg neben ihm, und das Gestrüpp knackte unter ihrem Lauf. Dann begann auf einmal ein Hirsch vor Brunst zu schreien, irgendwo in der Einsamkeit einer Tiefe. Ahasverus lauschte gespannt: — nichts mehr, nur das Klopfen seines Blutes fast bis in die Kehle hinein, — wieder das klägliche Rufen, — andere Hirsche antworteten im Dunkel, — dann ein Galopp, der in der Ferne immer undeutlicher wurde, — dann nichts mehr . . .
Aber rieselnd sank da unten ein Gewimmel von Mondschein herab auf das silberne Zittern eines Sees, und am Rande, in der niederstäubenden Bläue, gewahrte Ahasverus eine nackte Frau, die halb ausgestreckt ihr Gesicht in dem flachen Wasser spiegelte, und sie sang ein schleppendes Lied, ein Dideldumdei, bei dem man sich nichts denken konnte.
Ahasverus schlich näher, um es zu verstehn. Der Gesang brach ab, die Frau sah sich flüchtig um, aber sie schien Ahasverus nicht zu bemerken. Sie wiegte sich langsam hin und her; spielend wie ein Kind erhob sie die Hände, gefüllt mit Wasser, das ins Licht niederrieselte wie perlende Blasen, — es war, als wollte sie die dem Monde weihen, — und dabei hielt sie ihr Köpfchen hintenübergebeugt und schwatzte allerhand Unsinn in der Vogelsprache. Und dann kein Laut mehr, nur noch das Glimmern des Mondlichts auf dem dunklen Wasser.
Die Stille lastete auf Ahasverus, und er rief gezwungen lachend nach dem artigen Ding, ohne selbst zu wissen warum. Sie blickte von der Seite mit schrägem Kopf auf, wie ein scheuer Vogel, der fortfliegen will.
Ahasverus kroch vorsichtig durch die Sträucher hinzu und blieb in einem kleinen Abstand auf der Lauer. Nach einer Weile schien das Meerweibchen ihn wieder vergessen zu haben, das Zittern eines Pfeilkrautes oder einer Wasserlilie hatte sie zerstreut, und sie träumte nun, lauschend in die Nacht und den Mondenschein, die junge Brust vorgestreckt, die leise atmete. Das Licht, das ihre reinen Glieder umzitterte, ohne Strahlen, war ein unbeschreiblicher Flaum, ein Tau, ein dunstiges Etwas, — wie eine gedämpfte Musik, die heimlich durch eine andere hindurchspielt, — zwei Gesäusel von Musik, die einander suchen und doch nicht zu berühren wagen.
Ahasverus erhob mit einem Ruck den Kopf, seine Augen triumphierten: „Ich hab sie!“ und er sprang hinzu. Aber fft — war sie unterm Wasser und weg . . . Von viel weiterher hörte er ihr helles Gelächter, daß der ganze Wald davon erklang.
Und Ahasverus stand da mit leeren Händen. Die Nacht wurde unendlich groß von peinvoller Stille.
„Uh! . . . Uh!“ rief endlich die Lockstimme, mit einem schelmischen Trällern.
Ahasverus rührte sich nicht, obgleich die Lust in seinem Leibe brannte; mürrisch in sich selbst verschlossen, tat er, als hätte er niemals von Meerweibchen gehört; nur sein Blick lebte in seinem düsteren Gesicht, denn er sah die göttliche Weichheit dieses schneeweißen Wunders langsam auf sich zuschwimmen, nachlässig und faul sich räkelnd; um ihre Hände und den gewellten Rücken glitt bisweilen ein Phosphorglanz; sie blickte zu Ahasverus hin wie ein schmollendes Kind, das doch lächeln möchte.
Als sie dicht vor ihm wiegelte, erschien sie wieder anders: ihr Fleisch hatte die Farbe sonnenvergoldeter weißer Trauben, ihr schwarzes Haar stand wie ein Helm und fiel nieder in wilden Ringeln, ihre Augen waren harte Steine voll dunklem Wechselglanz; und diese Augen riefen ihn, riefen ihn, aber Ahasverus rührte sich nicht.
Da sang sie für ihn dieses Lied:
„Du hast mich gesucht und hast mich gefunden, es konnte ja nicht anders sein. Und willst du es auch nicht wissen, — mich hast du begehrt, mich begehrst du.
Denn ich bin das Göttliche, das man besitzen kann.
Ich bin der Baum des Lebens. Meine Früchte schmecken nicht nach Gut oder Böse, sie haben den Schmack des Göttlichen.“
Sie schwieg einen Augenblick, und ihre Gedanken schienen zu anderen Zaubersprüchen abzuschweifen:
„Ich brauche dich, um ganz glücklich zu sein.
Ich schlummere da unten in kühlen Kammern, wo die Stunden keine Stunden mehr sind. Da wachsen allerlei seltsame Muscheln, und Smaragden so schön wie der Abendhimmel. Ich spiele da in Büschen träge lebender Pflanzen, die schwanken in der sanften Strömung.
Aber ich denke dort an dich, ich kann dort nicht schlafen, ich brauche dich, die Ewigkeit ist nichts ohne dich.
Komm, — ich weiß mehr, ich will dir mehr zeigen, wovon du nicht träumen kannst:
Ich kenne den Weg zu weiten, weiten Meeren, die ohne Ende sind. Da laß ich mich schaukeln von plätschernden Wellen und schreie vor Lust, wenn ich emporgeschwenkt den flüchtigen Schaum fangen kann in meinen Händen.
Die Wellen und ich, wir verstehen einander so gut! Sie nehmen die Gestalt an meines leichten Körpers, und ich, ich bin vielfältig wie sie.
Meine Augen schon, sieh in meine Augen! das ganze Meer ist darin. O, du weißt nicht, wie schön es ist, das erste Zittern des Morgenrots in den Tiefen der See!
Du weißt nicht, wie schön es ist, sich zu mischen mit dem durchsichtigen Wasser, das wie der Himmel ist und sich greifen läßt und dich greift, das bleiche Wasser, das fließende, lebende Wasser.
Ich streck meine Arme aus, ich fühle das Wunder meines Lebens, mein Blut singt das gleiche wie das singende Wasser.
Im Wasser halte ich den Wind fest und die Sonne, ich trinke das Licht, ich nehme alle Dinge in mich auf, ich bin wie eine einzige Blume, worin die Sonne und alle Dinge leben.
Meine Hände, meine Brust voll jauchzender Begierden, meine Lippen, meine Augen, sie sind nur ein Schrei noch, ein Seufzer, ein Gesang des Wassers und aller Dinge, sie sind der Gesang des brandenden Lebens, das immer neu geboren wird.
Aber dich allein hab ich nicht, dich allein hab ich nötig, denn alles, was in mir ist, verlangt nach dir, meine heimlichste Schönheit drängt zu dir . . .
Alles will ich sein für dich, das Leben alles dessen, was lebt; die Klarheit des Lichtes ist in meinem ewigen Fleisch, all die besonnten Dinge des Tages und die Schatten des köstlichen Abends, und auch die Nacht, die niemand messen kann, in der die Zeit stille steht.
Laß unsre Begierden ineinanderschmelzen, — wir werden unsre Seelen nicht mehr fühlen.
Die Welt wird in uns vergehn, wir werden das göttliche Meer sein und das göttliche Licht.“
Sie hatte sich bis vor ihn hingewunden, mit der gelassenen Geschmeidigkeit eines prächtigen Tieres, sie hielt seine Lenden umklammert und hob ihr Gesicht zu seinem Gesicht; er hatte mit beiden Händen ihren Kopf ergriffen, ihre Nüstern zitterten, ihre Augen berührten ihn, und er hörte aus ihren feuchten Lippen dies Geflüster, das ihm mächtiger schien als der Donner:
„Ich bin zugleich Rausch und Tod.“
Ahasverus beugte sich wild über ihre Augen, zu ihrem Mund; ein gewaltiger Schrei war in ihm eingeschlossen, der durch seine Kehle herausbrach; er stürzte sich auf sie wie auf eine Beute, und ineinander verschlungen kämpften sie den grausamen Kampf in dumpfer Wollust.
Er sah sie nicht mehr, den Kopf getaucht in die Nacht ihres Haares, gepreßt in ihre Arme; er fühlte nur die keuchende Brust und die lebendige Herrlichkeit dieses Leibes ihn umschwellen, wie wenn ein gewaltiger Seufzer durch das Meer fährt, — vergebens suchte er diesen sich windenden Leib ganz festzuhalten in einem Griff. Und sie rief:
„Zerbrich mich, umfaß mich, schlürf mich ein in dich . . .“
Und er: „Ich drücke dich an mich, ich drücke dich in mein Fleisch, aber ich hab dich nicht, ich hab dich nicht in mir . . .“
„Fühlst du mein Leben? fühlst du mein Blut? Verzehr mich, verzehr mich, ich will in dir vergehn . . .
— Ich will in dir vergehn . . .
— Wir sind wie zwei Flammen, die einander verschlingen . . .
— Ich kann nicht . . . ich kann nicht . . .
— Ich will sterben durch dich . . . O, wir sterben zusammen . . .
— Mein Mund zerquetscht deinen Mund wie eine Frucht, aber ich fühl deine Seele nicht . . .
— Fühlst du ganz das Leben, das brennt in meinen Brüsten, meinem Mund, in allem, was ich bin? . . . Mehr! mehr! Ich hab dich noch nicht . . .
— Meine Adern springen, mein ganzes Leben zerspringt in dir . . . O sanfter, bittrer Tod! . . .
— Fühlst du den Tod steigen, wie ein Wasser? Fühlst du dich verfließen und vergehn, aufgeschlürft von der Wollust? . . .
— Schweig, schweig still, laß mich los . . . O bitterer Tod, der kein Tod ist! . . . Meine Seele brennt fort in mir . . .
— Ich laß dich nicht los, ich will deine Seele . . .
— Meine Seele brennt fort in mir . . . Verzehr mich, oder ich erwürge dich! . . .
— Mehr! mehr! jedes Stück meines Leibes soll ein neues Fest des Wahnsinns werden!“
Es war, als ob er sie ersticken wollte an seiner Brust, doch ihr Blick forderte ihn noch heraus, in dem Dunkel, und er fühlte, wie sie ihn zur Tiefe zog.
„Ich bin noch, was ich war . . . Der Schaum von Genuß und Schmerz ist wie Salz in meinem Mund . . .
— Nimm mich, werde eine Flamme in mir, nimm mich . . . ich will dich lehren, was mehr ist denn alle Lüste . . .
— Ohnmächtige Raserei! . . . Dein Abgrund ist nicht größer als mein Abgrund . . .
— Ah, du kannst nur beißen, Bestie! . . .
— Beiß nur, beiß! . . . Du kannst meine Seele nicht austrinken, elende Harpyie! . . .
— Hinunter, hinunter! . . . wo alles Licht vergessen ist . . .
— Dein Tod ist Lüge . . . Meine Flamme wird deinen Tod verzehren . . .
— Ich schlepp dich mit, ich muß dich haben . . . Sieh mich an . . . entschlüpf mir nicht! . . .
— Ich will dein verblühtes Fleisch zermalmen in deinem Kot . . . Dein Tod ist Lüge . . . deine Augen sind Lüge, deine einfältigen Fleischaugen . . . O, die Deinen, Christus! Christus! . . .“
Ein unmenschlicher Schrei gellte durch den Wald, das Meerweib rang noch einen Augenblick seine blutenden Hände, während es sich wie toll in den Arm biß, und sank zurück in die Nacht.
Ahasverus lag allein, keuchend, in der dunklen Totenstille voll von Gerüchen verwesender Teiche. Sein Herz lastete schwer in ihm, wie eine zu reife Frucht: es blieb ihm nichts als Ekel übrig und Haß. Warum lebte er noch? Warum hatte er jenen Namen ausgestoßen? Warum konnte er den nicht ausspeien für immer? —
Und langsam kam nun, mit sanftem Windessäuseln in den Kronen und erwachendem Vogelgezwitscher, die feuchte Graue des Morgens, und dann der Morgen selbst, grausig in seiner Stille, ein Licht, das ohne Hast, aber unabwendbar wuchs, die Weite des Raumes einnahm und durch das dichteste Laub etwas von seiner Klarheit niedersickern ließ. Und mit diesem Licht wuchs in Ahasverus die Angst.
Tiefer noch, tiefer in den Wald hinein! In die grüne Nacht . . .
Aber er wußte es nun wohl, daß das, dem er entfloh, in ihm selbst war; wie er seine Brust auch aufreißen mochte, es lebte da, wie das fürchterlich stille Licht von zwei Augen . . .
Und eine folternde Frage war aus seiner gebrochenen Seele aufgestiegen:
„Wenn es nichts anderes gibt, warum dann dein Rasen?“
Verzweifelt suchte er nicht mehr zu denken, aber die Frage war da, und er mußte wohl hassen, er konnte nicht mehr anders, mit einem Haß, der schon das Zeichen des Todes trug. Und er blieb den ganzen Tag irgendwo in einer Höhle verborgen, niedergekauert wie ein Tier, das Angst hat.
Sein Kopf schmerzte ihn, seine Kehle war trocken, das Fieber brannte in ihm; in seinem Munde fühlte er noch etwas wie einen faden Geschmack von Blut, der ihn an das Meerweib erinnerte.
Er jagte ihr Bild fort, er wollte alles, alles vergessen; aber andere Visionen stiegen herauf, bisweilen verschwommen und dann zugleich wieder furchtbar deutlich.
Er sah die Stadt in Feuer und Flammen, wo die Landsknechte beim Morden waren; er sah die Augen eines steinalten Mannes, der nicht mehr schreien konnte und das Messer in die Kehle kriegte; er sah eine Frau auf den Knieen, ihr Kind an der Brust, fast in ihren eingekrampften Leib gedrückt; sie rief: „Gott, o Gott!“ dem Wüstling zu, der auf sie eindrang, und das unschuldige Lamm in ihren Armen wurde auf eine Pike gesteckt, das Blut spritzte bis zu Ahasverus’ Gesicht . . .
Ja, diese Mutter rief nach . . . etwas anderem . . . Denken wohl die Ameisen, die man tottritt, auch manchmal daran? Dies Kind hatte doch nichts verbrochen, sie marterten es ohne Grund, und es litt sinnlos. So war es überall: blinder Blutdurst, sinnloses Leid! Ahasverus’ Gedanken kreisten darum, mit einer heimlichen, tückisch lauernden Zufriedenheit: es war etwas darin, das ihm wohltat. Grausam sein ohne Zweck, war das nicht das Göttliche? Und erstickte das nicht in Blut, was die Ameisen von Menschen Gott nennen?
Es war, als ob er das zuckende Fleisch des Kindleins mit seinen bebenden Fingern berührte. Ein teuflisches Lachen wollte aus ihm heraus, aber er konnte nicht einmal mehr lachen. Und als er aus seiner Höhle gekrochen war, stand er in der Nacht glotzend da, auf Händen und Füßen, und fühlte den Wahnsinn in sich steigen und dachte: „So ist es gut!“
Im Walde war nur noch hier und da ein trübes grünes Licht, wie tief unter dem Wasser, und es schienen träge Gestalten sich darin zu bewegen. Ahasverus hörte Stimmen auf sich zukommen, Stimmen ohne menschlichen Klang, die er aber bisweilen zu verstehen glaubte, wenn sie auch verworren waren und flüchtig. So begann die Nacht seltsam zu leben, mit dem matten Flügelschlag der Eulen und allerlei Lauten von Tieren, die im wilden Gestrüpp einander suchten. Was sie riefen, war ihm zuweilen verständlich, aber er vergaß es sogleich wieder: es war etwas wie Schreie aus ihrem Fleisch, durch andere, ebenso zusammenhanglose Schreie rasch wieder fortgeweht. Das ganze Volk des Waldes begann um ihn herum zu erwachen. Wölfe liefen vorbei auf weichen Pfoten, und er fühlte ihren feuchten Atem; eine Schlange zog langsam ihre kalten Ringe über seine Hand; das Gesträuch knackte unter dem schweren Leib eines Ebers, der, mühsam aus den Nüstern blasend, sich an einem Baume rieb, und Ahasverus roch den warmen Geruch seines Schweißes und dachte: „So ist es gut!“ Er spürte zugleich wieder jenen Blutgeschmack in seinem Mund und dachte: „So ist es gut!“ Und als der ganze Wald zu rumoren anfing und er ringsum Gestampf und Gebrüll vernahm von Brunst und schmerzendem Genuß, begann er mit zu heulen, ohne zu wissen warum, wie ein Raubtier, das zuviel unerträgliches Leben in sich hat und es voll Schmerzen ausströmen will.
Nun war es, als ob alles, was laufen, fliegen oder kriechen konnte, um ihn herum krabbelte und wimmelte. Haufen kleiner Tiere schwärmten wie Bienen, wanden sich wie Würmer, besprangen einander in Paarungswut und bissen einander. Die mageren wurden verschlungen von den fetten, die fetten gestochen von den flinken. Viele waren da wie fliegende Pünktchen, die alles töteten, was sie berührten. Die Liebe sogar war ein Kampf. Ineinanderverschlungen kämpften Einhörner, Schlangen, Greife, riesengroße Spinnen und phantastische Ungeheuer, mächtig gewappnet für die Begattung und den Mord, mit Ruten wie rote Dolche und Greifarmen zu beiden Seiten des Mauls, die mit Zähnen besetzt waren wie Sägen. Alle wurden nun trunken von stummer Begierde und Zerstörungswut, einige zerfleischten sich selbst, mit triefenden Kinnbacken, und das Blut der Geburten vermengte sich mit dem Blute des Todes. Der Schrei jener Mutter und ihres unschuldigen Kindes in der brennenden Stadt schrie nun aus allem. Die Bäume selbst sah Ahasverus leiden, die Knospen sprangen auf mit einem schmerzlichen Seufzer, die Früchte barsten ächzend und streuten ihren Samen ins Weite, der Saft rann wie eine verzehrende Glut unter der Rinde, und überall war das Leben nichts als ein schmerzenvolles Feuer, das neues Wachstum hier entstehen ließ und es dort wieder versengte: verbrennen, um von neuem zu wachsen, wachsen, um von neuem zu verbrennen, — Leben und Tod waren ein Brand, der auch in Ahasverus’ Adern kochte. Aber er konnte nicht mehr aufstehn, er konnte nicht mehr heulen, er ließ sich mit dem Gesicht auf den Boden fallen, ihm war, als ob er in der Erde festwüchse, um sich niemals, niemals wieder zu rühren, und das Leiden dieser Erde fühlte, all dies Leiden ohne Sinn, während unaufhörlich über ihn hin der Lauf der sich paarenden und kämpfenden Tiere ging und der Schrei des brennenden Waldes, der schrie: „Ewig! ewig! ewig! ewig! . . .“
Und das Schrecklichste waren ihm, über der Hölle, die Augen Christi, die um ihn weinten.
Auf einer Lichtung hauste in jenem Walde ein alter Eremit: seine Klause war so klein, daß ein Kaninchen mit vier Sprüngen alles davon gesehen hätte. Der heilige Mann schlief dort auf einem Bett von dürren Blättern. Er buk sich selbst sein Roggenbrot, zog etwas Gemüse und hielt eine Ziege und ein Dutzend Küken. Für die schönen Körbchen, die er zu flechten verstand, bekam er dann und wann das wenige, was er sonst noch brauchte, aus einem entlegenen Dorf, und Wallfahrer brachten ihm bisweilen auch Leckerbissen von der Kirmes, etwa weißen und schwarzen Schwartenmagen mit Schnuten und Poten. Aber des Klausners Seele und all sein Tun waren stets Gott allein zugekehrt. Ihn bewundern und loben in all seinen Werken und versinken in die Betrachtung seiner unerschöpflichen Güte, das war seine Beschäftigung, und das war sein Leben.
Und so geschah es einst, als er am frühen Morgen schon still am Wandeln war und mit dankbarem Staunen das Wunder aller Tage beschaute, den Morgensonnenglanz, der durch den feuchten Wald spielte, daß er einen Mann auf dem Bauche liegend fand, mit ausgestreckten Armen, der leise stöhnte. Der Klausner holte etwas Wasser aus einem Bach, wusch dem Fremdling das Gesicht, und endlich schien dieser aus einem Traum zu erwachen, mit irrem Blick. Er begriff nicht, was der Alte zu ihm sprach, und ließ sich schwankend tragen bis zu dem Blätterbett, wo er dann erschöpft wieder zusammensank.
Ahasverus brannte von dem Fieber, und Visionen durchdüsterten sein Erinnern; die Hölle rief noch hinter ihm, und er klammerte sich fest an den Arm des Klausners, um nicht in jene grausige Tiefe zu fallen, wie ein Stein in einen Abgrund. Und der Alte, um ihn zu beruhigen, klopfte ihm dann leise in die Hände, wie man einem Kinde tut, und dankte im Innersten Gott, der ihn vielleicht als Werkzeug erwählt hatte, um einen armen Sünder zu retten.
Und jedesmal, wenn Ahasverus seine Augen öffnete, sah er den guten Graubart sogleich herbeikommen, und das Lächeln in diesem runzligen Gesicht war so natürlich, daß Ahasverus dann auch matt lächelte, — er fühlte sich so völlig erschöpft . . .
An diesem Tage sprachen sie beinahe nichts. Von Zeit zu Zeit bat Ahasverus um einen Trunk; das kühle Quellwasser erfrischte sein Herz für einen Augenblick. Als das Fieber ihn ein wenig losließ, blickte er halb bewußtlos auf das ruhige Treiben des Eremiten, der Kräuter für den Kranken ziehen ließ oder ihm seinen Brei kochte oder still dasaß über den dicken Kugeln seines Rosenkranzes und betete.
Aber als der Abend kam, wurde Ahasverus todesbang: das geheimnisvolle Leben des Waldesdunkels begann wieder zu spuken und über ihn hin zu heulen. Erst als er fühlte, daß der Klausner ihn bei der Hand hielt, konnte er die Nachtmahr von sich abschütteln, und als er das klare Gesicht über sich gebeugt sah, war es ihm auf einmal, als ob seine Mutter vor ihm stünde. So schlief er denn sanft ein.
Als der Hahn ihn wach krähte, war der Wald, den er durch die offene Türe sah, schon blauig von der Frühe des Morgens; ein rosiger Strahl glitt durch das Fensterchen in die Klause, und draußen war ein Gezwitscher und Geflöte von Meisen und Amseln in der Kühle; sogar den alten Eremiten hörte Ahasverus irgendwo singen, etwas wie ein Gebet, auf eine verhaltene und eintönige Weise, die kindlich klang.
So duselte Ahasverus noch einen Augenblick vor sich hin, und Erinnerungen von einst, da er ganz klein war, stiegen ungerufen in ihm auf; seine Mutter nahm ihn wieder mit zur Kirche, und er durfte da mitsingen; in der Kirche waren duftende Weihrauchwolken und schöne Lichter, die den ganzen Tag brannten, und goldene Dinge, die im Halbdunkel glommen. Seine Mutter war früh gestorben, sie sah immer so traurig aus . . . Er schloß von neuem die Augen und träumte von diesem Weihrauch und diesem Gesang, bis der Klausner wieder behutsam hereinkam; er plauderte mit friedvoller Stimme und brachte Ahasverus Milch und Brot und Eier, was ihm sehr gut tat, denn er fühlte wieder das gierige Leben seines Leibes.
„Ich will leben . . .“ — er sagte es mit einer Frage in seinem Blick, und „Gott wird Euch heilen“, sprach der Alte.
Es befremdete Ahasverus selbst, daß seine Stimme so ohne Kraft war. „Gott . . .“ lispelte er, schwieg aber wieder, sobald er dies Wort aus seinem eigenen Munde gehört hatte.
Und als er nun aufrecht saß und umherblickte, sah er dicht beim Fensterchen einen Holzblock, worauf ein gekreuzigter Heiland seine Arme ausstreckte, neben einem schweren Buch und einem Totenschädel. Ahasverus betrachtete das lange und mit schmerzlicher Andacht. Er begriff nicht mehr, was in ihm vorging, es war wie eine geheimnisvolle Scheu, die zauderte: er fühlte es wohl, daß er wie ein Kind dalag, daß er nicht mehr hassen konnte, daß sein Hochmut gebrochen war, und er fühlte das wie den süßen, süßen Schmerz von einer Wunde, aus der sein Blut unsichtbar wegtropfte.
„Frag mich nicht, wer ich bin . . . Du darfst mich nichts fragen . . .“
Er ließ sich wieder hintenüberfallen, und seine mageren Hände lagen ohnmächtig da, und in seiner Brust brannte der süße Schmerz.
„Gott hat Euch zu mir gesandt“, sagte der Alte ruhig und ernst.
Ahasverus lächelte wehmütig und schwieg.
An diesem Tage wandelte er mit dem Eremiten durch den Wald. Die Milde des Herbstes lag schon in der Luft; feiner Nebel glitzerte auf den Spinneweben, und der Sonnenschein war eine blonde Röte, die alle Dinge so schön machte wie eine schöne Erinnerung. „Ich lebe!“ dachte Ahasverus immer nur, mit einer Art von Verwunderung und einfältiger Freude. Er fühlte den Boden unter seinen Füßen, sah das Schauern des reinen Lichtes durch die Bäume, die voller Vögel waren, sog den Duft der Himbeeren ein, und das alles war Leben, Leben, — aber durfte er dieses Leben wohl anrühren? Würde es nicht auf einmal verschwinden in einem Traum? Und er lauschte nach der ruhigen, innigen Stimme des Alten so wie früher nach den Märchen seiner Mutter. Wieviel Jahre war das her? War sein Leben eine einzige lange Krankheit gewesen, aus der er nun erst langsam genas?
Als es Abend wurde, saßen sie zusammen auf einer kahlen Höhe, von wo man, über die Kronen der Bäume blickend, all die Wälder sich dehnen sah wie große Wellen, die endlich ineinanderliefen und immer blauer wurden bis hin zur purpurnen Ferne, wo die Sonne sterben ging. Die letzten Strahlen schienen noch da drüben auf dem strengen Antlitz des Waldes, der die Stille umsäumte. Als Ahasverus so neben dem Eremiten saß, war all das böse Grauen verbannt; aber je mehr Friede aus der Welt heraus flüsterte, und je zarter der Himmel über ihm wurde, um so mehr fühlte Ahasverus die alte Unrast wieder in seinem Herzen, fühlte er die Wunde seines Herzens brennen, unerträglich sanft, in dem verlöschenden Lichte des Abends.
Sie schwiegen lange. Das Antlitz des Eremiten war ein unbewegliches Leuchten in der lichten Dämmerung. Er schloß seine Augen, um tiefer in sich selbst die währende Schönheit anzuschauen alles dessen, was er gesehen hatte, und sagte halblaut: „Gott!“
Dies eine Wort war wie die Stimme des großen Schweigens, worin sie da irgendwo saßen, verloren wie in einem Meer.
„Ich habe ihn so lange gesucht . . .“ sagte Ahasverus kurz und dumpf, den Kopf zum Boden gewendet.
„Was könntet Ihr wohl anders auch suchen?“ fragte ruhig der Greis. „Alles, was die Menschen tun, sind Bewegungen hin zu Gott. Aber sie wissen es nicht und liegen im Schlamm.“
„Ich habe ihn niemals gefunden . . .“
„Wenn Ihr nun ahnt, daß Gott ist, dann könnt Ihr nichts anderes finden. Er ist das Unbegreifliche Licht. So wie alle Flammen nach oben schlagen, so kann Eure Seele nicht anders, als steigen zum Licht.“
„Aber wenn alles nur ein Traum wäre . . .“
„Alles ist ein Traum, nur nicht dies eine.“
Die unhörbare Flut der Dunkelheit kam langsam herauf: die Wälder standen tiefschwarz gegen den opalglänzenden Himmel. Und Ahasverus fühlte schmerzlicher denn je, daß, was da in ihm brannte und ewig brennen würde, ach! kein Traum war.
Die folgenden Tage schweifte er wieder umher, von seiner Unrast gejagt. Das Bild jenes Abends lebte in ihm fort, eins geworden mit den Worten des Klausners: die schwarzen Wälder und der leuchtende Himmel, der die Welt überwölbte . . . Da hatte er auf einmal so deutlich begriffen, was er war; — das Unergründliche Licht! dies Wort war bis in sein tiefstes Innere gefallen, und . . . er fand es so einfach, nun, da es ausgesprochen war, wie wenn es schon lange in ihm läge, unbewußt. War es also doch dieses, wonach er verlangt hatte? Wonach er noch verlangte, — denn die Flamme schlug wieder empor, er hatte sie in den Abgründen des Erdenstaubes nicht auslöschen können . . . O, diese Abgründe! . . . Seit er dort gewesen war, fühlte er mehr denn je seine Ohnmacht, und daß er ein armseliges Pünktchen war, verloren im Ewig-Unbegreiflichen: sein ganzes früheres Leben schien ihm zusammengeschrumpft zu einem Nichts — zum Rascheln dürrer Blätter von einem Schritt, der vorübergeht — vor diesem einen, wovon der Eremit gesprochen hatte. Warum sollte er es noch leugnen, sich verkriechen hinter einem Stein? Er suchte dies eine, ach, er suchte dies eine!
Aber . . . wenn es gar nicht vorhanden wäre? . . .
Zerrissen von diesem Zweifel, blieb er lange, den Kopf zwischen den Händen, versunken in grausige Nacht, bis endlich wieder eine Klarheit in ihm tagte, und diese Klarheit war wie ein Blick, den er so wohl kannte:
„Etwas von diesem Licht war in den Augen Christi . . .“ grübelte er.
Er lief durch den Wald, strauchelnd, und rief: „Gott! Gott!“ als ob das hätte helfen können! Erschöpft lag er dann wieder, die Hände ringend, im Grase und rief: „Gott! Gott!“ und auf der freien Höhe blieb er hochaufgerichtet stehen, den Kopf hintenüber gebeugt und die Augen geschlossen, und rief: „Gott! Gott!“ — aber er war unabänderlich und ewig allein.
Sein Blick folgte einer Lerche, die singend stieg und stieg, in die Luft, so hoch, daß sie in dem strahlenden Raum verschwand. „Sie wird bald doch wieder hinunter auf die Erde müssen!“ lachte Ahasverus. So flogen auch seine Gedanken, aber sie waren wie blinde Vögel, die zum Licht emporstiegen, um dann, vom Blitzstrahl der eigenen Verzweiflung getroffen, auf verbrannten Flügeln wirbelnd wieder in die Finsternis hinabzutaumeln.
Und selbst in der Helle des Tages erschienen alle Dinge der Erde ihm dunkel, wie an jenem Abend; im Walde war es ihm, als ob kaum ein wenig Kellerlicht durch die alten Bäume herabsickerte.
Bisweilen dachte er: „Meine Füße haben in dem Tod gestanden, meine Hände haben den Tod gefühlt, ich kann nichts, ich bin nichts, nimm mich in deine Unendlichkeit, o Gott!“
Und bisweilen, wenn das Blut wieder in ihm stark geworden war, erhob sich auch die Stimme von früher: „Ich werde nicht zerbrechen“, und verbissen irrte er dann durch die Verlassenheit der Wälder, bis er am Abend, hungrig und erschöpft, wieder in der Klause ankam und still sitzen blieb bei dem Eremiten. Sie sprachen wenig; aber Ahasverus fühlte sich dort wohler und sicherer. Denn wenn er auf das friedvolle Gesicht des alten Mannes blickte, sah er, daß dort eine Zuversicht war, die er nicht begriff, aber doch fühlte.
Und Ahasverus glaubte nicht, aber etwas war in ihn hineingeschlüpft, wenn er es auch selbst nicht deutlich wußte, das immer heller brennen würde in der Glut seiner dunkel-öden Seele: die Hoffnung, — die Hoffnung, daß auch er einst seine Ruhe finden würde, — vielleicht . . .
Der Wald begann allmählich zu rosten, ein großer Palast voll trüben Glanzes.
Auf dem fahlenden Kupferrot und Bernsteingelb der Kronen lag der flüchtige Glanz der Sonne oft so fremd, weil man nicht sah, aus welchem Winkel des Himmels sie scheinen mochte, als wäre sie aus Nebel zu Licht geworden oder ein stilles Leuchten der Dinge selbst.
Aber dann kam der verwesende Herbst, der unaufhörliche, fröstelnde Regen, der die Wälder erschauern macht in einem bleichen und totenstillen Dunst.
Der Eremit wurde krank: sein Leib war so alt! Ahasverus blieb nun fast immer bei ihm; oft schwiegen sie lange, und aus diesem Schweigen erhob sich dann das verzückte Wort des Heiligen wie ein reines Feuer über eine Welt empor, die Ahasverus grauer und elender schien denn je. Weiter zu flüchten ins offene Land, daran dachte er nicht einmal mehr: was konnte das nützen? Es war doch überall dieselbe Erde, dunkel, gebunden in ihrer Verdammnis.
Aber ein kleines Samenkorn von Hoffnung kann so schnell aufschießen, ohne daß man es merkt, da drinnen! Und es schimmerte wohl eine Helligkeit da drinnen, wie das geheimnisvolle Herbstlicht, dessen Ursprung man nicht sieht, — ein blasser Widerschein jener Schönheit, die in der Seele des Klausners wie in einem hellen Spiegel lag.
„Wie bin ich doch verändert!“ mußte Ahasverus bisweilen bekennen: es wunderte ihn selbst, daß er nun still dasitzen konnte und warten — warten auf das, was er nicht zu ahnen wagte —, stundenlang, beinahe gelassen denkend an alles, was geschehen war. Die wilde Glut verzehrte ihn dann nicht mehr, die lodernde Flamme verblaßte wie in einem matten Morgenrot.
Und an einem Morgen, da alles in einem silbrigen Nebel schwamm, fühlte er auf einmal, ohne Ursache, eine heitere Gewißheit in sich, eine natürliche Aufwallung seines ganzen Wesens, etwas, das von selbst emporstieg wie ein Gesang, wie eine Welle in der Sonne, und in diesem Augenblick wußte er, wußte er in seinem Herzen, daß das Unvergängliche Licht war, es konnte unmöglich sein, daß es nicht war . . .
Aber auch dieser Tag verlief in Armseligkeit und Ohnmacht . . . Wie seltsam war es doch! Selbst das Wort des Klausners schien ihm nun dürr, wie tote Worte in einem Buch. Niemals hatte er sich so hilflos gefühlt, so ganz der Kraft beraubt, so jämmerlich lustlos, und er stahl sich in seine Ecke und dachte einfach: „Mach mit mir, was du willst!“
Wieder wartete er, Tage und Tage.
Mit dem heftigen Eintritt des Frostes war der Alte ganz steif geworden; er aß fast gar nicht, rührte sich fast gar nicht mehr und saß aufgerichtet beim Feuer: so schien er mit dem Winter zu erstarren, die mageren Hände auf den mageren Knieen, und all sein Leben war nun zusammengeschrumpft in den Glanz seiner Augen. Darin las Ahasverus deutlich, was er ihm einst gesagt hatte: „Sterben ist geboren werden.“ Je weiter der Traum der Ewigkeit in dem Greise aufblühte, um so strenger wurde seine Stimme, unerbittlich wie die Wahrheit selbst, und in dieser Stimme hörte Ahasverus seinen eigenen Groll gegen all das Halbe, das Laue, das Trübe, das Unvollkommene, sein eigenes stürmisches Begehren nach . . . dem Einzigen, das da mehr war denn alles. In die Klause eingeschlossen, vor dem Eremiten, der still ans Sterben ging, konnte er, ach! an nichts anderes mehr denken. O, hätte er demütig, ganz klein und demütig, jede Stunde zu einem Gebet gemacht zu jenem Licht, das niemand greifen oder denken kann, dann würden Erde und Menschen einst unter ihm versinken wie ein wenig Staub, — und dann: die einzige Wirklichkeit, in Ruhe ohne Ende! . . . Er betrachtete nur immer gespannt das unbewegliche, gelbe Antlitz des Heiligen, um in seinen Augen den Weg zu ergründen nach diesem Einen, diesem Einen! . . .
Es fiel dichter Schnee, der knisternd fror, auf diesen großen lichten Fleck, den der nackte Winterwald ganz schwarz umstand. An dem weißblauen Himmel hing eine Sonne ohne Wärme, die Luft und der Schnee glitzerten von klingend rauher Kälte, die beißend war wie Salz. Alles war tot, nur das starre Licht lebte allmächtig und unbeweglich über der Welt. Und die Tage waren nun immer einander gleich, manchmal kam es Ahasverus vor, als ob es keine Zeit mehr gäbe. Der Eremit und er, sie saßen da allein, mit dem Vorgefühl des Unendlichen in ihrer Brust.
Und einmal, als sie so beisammen waren in ein und demselben Traum, schien der Alte, das Haupt hintenübergebeugt und die Augen weit geöffnet, zu lauschen nach etwas, das nur er allein zu hören vermochte.
„Was siehst du? Was hörst du?“ fragte Ahasverus, der hinzusprang.
Aber der Alte sprach kein Wort. Und da geschah es, daß Ahasverus, als er durch das Fenster über den harten, weißen Boden blickte, auf dem die Sonne funkelte, im Winde Gestalten von Licht sah mit schneeigen Flügeln, höher als die Bäume, und eine übernatürliche Musik schwebte und wirbelte mit diesen Gestalten in die Höhe, und dann war nichts mehr als ein ferner Klang dieser Musik im Winde.
Ahasverus schlug seine Hand vor die Augen und lauschte in sich selbst hinein; ihm war, als ob das Leben nun für immer still stünde. Aber dann hörte er wieder das Klopfen seines Herzens und das Knistern des Feuers, wo einige Kartoffeln zum Rösten in der Asche lagen, — und in der wahrhaften Stille, durch die hindurch die gewohnten Geräusche vernehmbar waren, fühlte er noch die unsagbare Süßigkeit der Erinnerung an jene Musik . . .
„Ist einer meiner undenkbaren Gedanken lebendig geworden? . . . Sollte mein Ende auch nahe sein? . . .“ jubelte er innerlich, mit einer Freude, die alles an ihm leichter machte. Es war, als ob seine Seele über ihn selbst hinaus entrückt wäre, so daß sein ungestümes Begehren und das glühende Nagen in seiner Brust eine Winzigkeit wurde, die ihm nichts anhaben konnte, ein Leid, das zufällig nun das seine war, aber einst verschwinden würde mit dem wenigen, das sein Leben ausgefüllt hatte.
„Das Licht! Das Licht! . . .“ Es war nichts mehr in ihm als ein Gedanke, der nackt und frei emporstieg zu diesem Licht. Die Klause und der Klausner, sie schienen ihm auch plötzlich so seltsam zufällig, eine Wirklichkeit, die keine war, das Bild eines Augenblicks . . .
Hinaus ins Freie! in die Luft! auf die Höhe! wo er vor nichts anderem mehr stehen würde als vor den durchscheinenden Weiten und dem klaren Abgrund des Himmels, wie inmitten eines großen Kristalls von Licht.
Und seine Seele und dieses Licht waren ein und derselbe Gesang, den er hörte.
Gott schien ihm näher als sein eigener Leib.
Zu seinen Füßen waren die hügeligen Wälder und die ganze Welt nichts mehr als das Bild eines Augenblicks.
Nur eine Regung seiner Seele gab dem allen Leben . . .
Aber dann gewahrte er doch plötzlich wieder ein seltsames Unbefriedigtsein, wie eine Schwermut, weil er nicht mehr stieg, weil sein Herz nicht weiter und immer weiter sich öffnete, weil alles nun so blieb, unveränderlich schön; und sobald er das gefühlt hatte, stand er wieder allein da, in der Zeit.
„Was fehlt mir denn noch? Was willst du von mir?“ flehte Ahasverus, „was willst du von mir? . . .“
Allerlei Gedanken und Bilder kamen wirr in ihm herauf, und darunter waren solche, die er im stillen fürchtete, und andere, die er nicht greifen konnte, wie eine Erinnerung, die immer entflieht. Aber er wollte sie zwingen: „Ich bin ihr Herr!“ rief er und richtete sein Gesicht wieder auf. In dem klaren Licht standen alle Umrisse scharf und deutlich gezeichnet, die Büsche, die alten Bäume mit ihren knorrigen Armen; — die Luft war eine einzige Leere, die Sonne schien unbeweglich auf den Schnee, alles war erstarrt in einer kristallenen, ewigen Pracht, und das funkelnde Licht war überall, — schweigend und regungslos wie der Tod.
„Hoffe ich denn nicht? Glaube ich denn nicht? Was fehlt mir denn noch? Gibt es ein irdisches Verlangen, das ich nicht hinuntergewürgt habe, zermalmt, vernichtet?“
Er kratzte sich mit seinen Nägeln das Blut aus der Brust, aus der Stirn, er wollte seinem jämmerlichen Leibe Schmerz zufügen; und während er über der Welt und über sich selbst stand, so nahe bei seinen höchsten Träumen, blieb er unglücklich, bedrückt, mit einer harten Kruste auf dem Herzen, die er nicht sprengen konnte.
„Warum kann ich das gewaltige Leben nicht fühlen, das ich ahne?“ grübelte er. „Warum stehe ich in dem grausamen Glanz dieses Winterlichtes wie in dem Tod?“
Und so irrte er wieder durch die Wälder.
Nach einer Weile kam er auf einen Weg, wo eine Zigeunerbande lagerte, fahrendes Volk von Kesselflickern, Korbflechtern, Pferdebändigern, Wahrsagern und was weiß ich nicht alles. Stramme, schwarze Kerle waren es in Schaffellen, Frauen und Kinder in bunten und grau-verschossenen Lumpen und Fetzen, ein ganzer Stamm abgerissener Landstreicher, die aussahen wie Könige; sie lagen da beim Mittagsmahl um die Feuer herum, auf denen das Fleisch briet; etwas weiter entfernt standen ihre großen überdeckten Wagen. Ahasverus fühlte seinen Magen so wässerig von Hunger: seit wie lange hatte er keine Hammelkeule mehr gesehn! Mit scheu lauerndem Blick bat er um etwas Essen, und sie lachten gutmütig, daß die weißen Beißer in ihren verbrannten Gesichtern blitzten, als sie den mageren Schächer so tapfer an den Knochen nagen und knabbern sahen. Von allen Seiten kamen diese wunderlichen Botokuden herbei, neugierig wie die Kinder, um das Wie und Was zu erfahren. Doch Ahasverus gab nur karge Antwort; seit langer, langer Zeit war er nicht mehr unter Menschen gewesen; es kam ihm vor, als ob er allem so fern stünde, eine unsichtbare Wand zwischen sich und diesen Gestalten, zwischen sich und seinem eigenen Herzen. Er guckte sie verwundert an, diese kecken Gesellen mit Augen wie Gold, die alte Hexe, die den Spieß drehte und dabei fortwährend etwas murmelte in ihrem zahnlosen Mund, und all diese Bären von Kindern und diese Frauen mit ihren kleinen Rotznasen auf dem Rücken: das waren auch für ewig Verstoßene, Wanderer ohne Land und ohne Gott; in ihren schmutzigen Lumpen trugen sie den Geruch der Erde, etwas von der wilden Weite und dem Wind vieler Gegenden, und doch bemerkte Ahasverus keine Unrast in ihrem Blick.
„Wohin geht ihr?“ fragte er. Sie wiesen es ihm: nach da drüben zu Dörfern und Städten; sie hatten Reisigbündel gekappt und wollten die verkaufen. Damit hatte Ahasverus sich wieder ausgesprochen. Ihnen folgen? Er wollte nicht daran denken: er kannte das Leben doch und die Trübseligkeit dieses Umherschweifens ohne Ziel; es war zu spät, das süße Heimweh nach dem Himmel würde er niemals wieder aus seiner Seele bannen können . . .
Nun machten sie sich fertig zum Aufbruch. Überall gab es eine eifrige Geschäftigkeit in dem schmutzigen Schnee. Das Gerät wurde zusammengepackt und die Reisigbündel auf Karren geladen. Kleine Bürschchen rannten hinter den Pferden her, die sich zu weit verirrt hatten, und hängten sich mit fröhlichem Geschrei an ihre Mähnen. Jeder tat seine Arbeit, die Gefährten halfen einander, und so wurde in das Wirrwarr bald Ordnung gebracht, unter der Aufsicht einer Art von Erzvater, eines Mannes wie ein Baum, mit einer großen Pfeife, den Kopf in ein Tuch eingewickelt, das das eine Auge bedeckte, während das andere scharf beobachtete unter den Stoppeln des knochigen Augenbrauenbogens. Und da war auch ein junges Mädchen, das Ahasverus unaufhörlich betrachten mußte, denn auf ihren bloßen, in Schmutz und Schnee wundgelaufenen Füßen glitt sie halb gehend, halb tanzend bald hierhin, bald dorthin wie ein Sonnenstrahl, und ihr frisches Gesichtchen zwischen dem wirren Haar glich wohl einem schönen Traum bei hellem Tag.
Bei all diesem Treiben stand Ahasverus wie verloren. Er lauschte einem Liede, das hinter einem Wagen erklang:
Durch hoch und tief, durch dünn und dick!
Morgen ist morgen, doch der Augenblick
Aus deinem Lachen mir strahlt, mein Frauchen!
Durch Sonnenglühen und Sturm, der droht!
Das Werk von heute, von heute das Brot
Und deines Blickes der Trost, mein Frauchen!
Durch Kampf und Traum, durch Freude und Schmerz!
Doch Brüder mitsammen, und o, mein Herz
Bei deinem liebenden Herz, mein Frauchen!
Ahasverus ging hinter den Wagen: der Sänger war damit beschäftigt, seine Peitsche frisch zu knüpfen, und als wollte er ein heimliches Glück kundtun, winkte er Ahasverus zu dem hin, was da drinnen in dem wohlüberdeckten Wagen war. Ahasverus schlug ein Stück Segeltuch zurück und sah auf einigen Strohbündeln eine Frau liegen, die eben geboren hatte: ihr unschuldiges Würmchen hing an ihrer Brust und trank; ihr totenbleiches, eingefallenes Gesicht wollte, Mut zusprechend, lachen mit einem matten Lächeln. Aber da ließ Ahasverus das Segeltuch wieder fallen, denn in ihrem Blick hatte er etwas gesehen, das er nicht ertragen konnte, ja wahrhaftig, etwas von . . . jenem anderen . . .
„Warum befällt mich die Furcht nun wieder?“ dachte er.
Der Zug begann abzurücken mit Geschrei und Peitschenknallen und Rädergeknarr. Der Erzvater schritt voran wie ein hochbetagter Kain, der seinen umherschweifenden Stamm führte. Und als sie vorbeizogen, waren die Blicke all dieser Menschen auf Ahasverus gerichtet, und in den Adleraugen der jungen Männer, in den blutunterlaufenen und von Tränen herb gewordenen Augen der alten Weiber, in den Augen jenes wundersamen Mädchens, so einfältig wie Blumen, die sich öffnen, in all diesen Augen sah er die unbegreifliche Frage, die er, an jenem Freitag, gelesen hatte in den Augen des Nazareners . . .
„Was muß ich tun?“ flehte Ahasverus, „was muß ich tun?“ Und er rief nach Gott in seiner Einsamkeit.
Der Abend kam herauf, kalt und blau wie Stahl, und der Wind schwirrte durch den toten Wald.
War die Hoffnung gebrochen in ihm? Er hielt den Kopf in seine beiden Hände gesenkt und wollte nichts mehr sehen, nichts hören als die seraphischen Stimmen des Morgens, die er nie wieder vergessen würde; aber hinein in die unaussprechliche Seligkeit der Erinnerung hörte er nun eine andere Melodie, die er nicht bannen konnte, verschwommen klagen: wie das Rauschen eines Meeres, aus dem bisweilen ein Seufzer sich losreißt, oder der Lärm von vielen Menschen, die ganz in der Ferne schwermütig singen. Waren es die Zigeuner auf ihrem Weg da hinten in der Nacht? Oder der Wind in den Bäumen? Oder quoll es auch in ihm selbst auf wie eine Erinnerung?
Wie lastete ihm das Herz doch schwer in seiner Brust!
War dies alles eine Versuchung gewesen? Warum hatte er die Klause vergessen? Er wußte doch, daß dort die Wahrheit war; dort war er nicht der Raub seiner Unrast. Vielleicht war der Eremit tot? . . . Ahasverus stieg wieder zu der Höhe hinauf, wo das Hüttchen stand, und durch das Laufen nach einem Ziel kam endlich eine gewisse Ruhe in sein Gemüt.
Er betete: „Wärs denn möglich, daß ich noch etwas anderes schmecken könnte als dich, o Gott? Was muß ich tun? Ich werde keinen Willen mehr haben in meinem fleischlichen Leibe, bis er unbeweglich wird wie ein Stein, und werde warten, warten, ohne nur ein einziges Mal nach unten zu blicken, ganz dir zugekehrt, o Unerschaffenes Licht, bis du mich mit Blindheit schlägst und deine blitzende Schönheit mich befreit . . .“
Er erreichte die Rodung, wo die Klause dunkel stand unter dem beschneiten Dach. „Das Feuer ist aus,“ dachte Ahasverus; „er ist gestorben . . .“ Der Gedanke an den Tod verbreitete in ihm ein süßes Gefühl von Heiterkeit und Heimweh zugleich. Aber einen Augenblick blieb er stehn, so wundersam still war der Schnee und diese ganze funkelnde blaue Nacht voll diamantener Sterne, als wäre da überall das Schweigen von Engeln, die ihre Riesenflügel nicht bewegten und lauschten und warteten.
Ahasverus trat in die Klause: in der Klarheit der frostklingenden Nacht sah er das alte Antlitz noch immer hintenüber gebeugt und die Augen weit offen. Doch der Eremit war nicht tot; seine abgemagerte, kalte Hand suchte die von Ahasverus und packte sie fest mit einer unerwarteten Kraft. Das Herz klopfte noch sehr schwach: war es nicht, als hätte er auf Ahasverus gewartet, um zu sterben? Sollte dieser Tod ihm vielleicht das Rätsel des Lebens offenbaren?
„Was siehst du?“ rief Ahasverus, „was hörst du? Sag, sag, siehst du Gott? . . .“
Er beugte sich stammelnd über ihn und forschte in dem Spiegel seiner Augen, ob er dort das Unaussprechliche nicht sehen würde, das der Sterbende sah. „Rette mich! . . . Was muß ich tun? . . . Rette mich! Weise mir den Weg! . . .“ — Nein, nichts! Einen Augenblick noch, und es war zu spät, er blieb da stehn wie vor einer undurchdringlichen Mauer.
„Siehst du das Licht? . . . Weise mir den Weg! . . .“
Die Augen waren gebrochen. Ahasverus wagte nicht mehr zu sprechen. Alles schwieg. Er fiel auf die Kniee nieder, und seiner Seele entquoll ein wortloses Gebet; all die Kräfte seines Wesens wurden leichter, wie ein Gebet, das emporsteigt, und es war, als ob er selbst sterben sollte, so sanft wurde er erlöst von allem, was war.
Er fand es nicht wunderbar: „Ist der Tod denn nichts anderes?“ dachte er; „wie natürlich und einfach! . . .“ In der schaurigen Öde hielt ihn jemand bei der Hand, und dann schlug er den Blick auf; der ganze Raum, der unsagbar weite Raum zitterte von Flügeln und niedersinkendem Licht. Ein Gefühl seliger Gewißheit überströmte seine Sehnsucht und seine Angst. „Gott! Gott!“ Aber sein Atem war aus ihm gesogen, er stieg in schwindelndem Fluge empor, und er sah da oben, wie Windhosen mit ihm zur Höhe wirbelnd, leuchtende Schwärme singender Heerscharen. Aus den Abgründen des Zenits schwebten, schwankten ihm strahlende Antlitze entgegen, triumphierend in Freude ohne Ende, und schossen dann wieder pfeilschnell zu ihren klingenden Sphären. „Licht! Licht!“ sangen sie, und dieser Gesang war selbst ein fliegendes Licht, und alle Welten sangen mit in der Reinheit dieses ewigen Morgenrotes, in das sie höher und höher hineinstiegen; und andere Stimmen, höher noch, ganz zart, wie ein Seufzer, und mächtiger doch als die dröhnenden Chöre der himmlischen Heerscharen, sangen unaufhörlich „Gloria! Gloria!“ in die blendende Unergründlichkeit.
„Leben, das alles Leben ist! Ewig! Ewig! Ewig!“
Die Cherubim und Seraphim waren wie Millionen schneeiger Blüten, getragen vom Frühlingswind; und über alle Gesänge hin rauschte ein Schweigen, das noch tiefer und schöner war. Alle Himmel blühten auf, und nun wußte Ahasverus, daß er dem Reich des Geheimnisses nahte, wo die Worte keine Bedeutung mehr haben, wo nicht Gut und Böse mehr ist, kein Wille, kein Begehren, sondern alles ein Ozean von einfachem und ewigem Sein im Lichte, und die frohe Regung der Liebe nur eine Form der höchsten Ruhe in der unbegreiflichen Wesenheit.
Er schloß seine Augen vor dem Furchtbaren Licht, in dem es keinen Morgen mehr geben würde.
Und in diesem Augenblick tastete er nach einer Erinnerung, hörte er wieder den fernen Klang einer schwermütigen Melodie, die in seinem Herzen eingeschlossen lag, — und er wollte sich umschauen, zum letztenmal. Aber sobald dieser Gedanke ihn durchschimmerte, wankte das Weltall, wie zerrissen durch einen gewaltigen Schrei, die Hand hatte ihn losgelassen, — er war allein, er wußte nicht wo . . .
„Ewig! Ewig! Ewig!“ klang der Gesang der Engel aus dem Abgrund über seinem Haupt.
Aber andere Stimmen riefen wirr zu ihm hinauf wie aus vielen erstickten Kehlen. Und stöhnend blickte Ahasverus nach unten, nach einem Dämmer, woraus verschwommene Gestalten aufstiegen, die ihre Arme nach ihm ausstreckten wie aus einem Grab.
„Hosianna! Hosianna! Gloria in alle Ewigkeit!“
Aber ein langgezogenes Jammern stieg von unten herauf, wo verkrüppelte Gestalten im Schmutze krochen oder sich aufrichteten in dem aufgerissenen Leichenkleid, das sie hinter sich herschleppten.
„Gloria! Gloria! Friede in alle Ewigkeit!“
Aber von unten, wo die Krankheit war und der Gestank, der Widerstreit von Hoffnung und Verzweiflung, das Suchen ohne Ende, der Menschen Leid und der Menschen Liebe, schlug ein Heulen auf wie der Lärm eines Festes. In dem wühlenden Dunkel sah Ahasverus Fäuste, die sich fluchend erhoben, und Augen, in denen die düstere Flamme des Aufruhrs brannte. Waren da nicht die Zigeuner und das wundersame Mädchen mit ihrem Traumgesicht und die bleiche Mutter mit dem Kind an ihrer Brust? Aber ein ganzes Heer war da, es kamen immer, immer neue, soweit man schauen konnte, wie Ströme in einem dunklen Tal, über dem große Raubvögel von Nacht und Licht kreisten: ein Meer von Gesichtern, mit tausend und aber tausend Augen, die auf Ahasverus gerichtet waren, und mitten darin stand Einer, den er wohl kannte, der mit beiden Händen das Blut aus seiner offenen Brust aussprengte nach dem Himmel und über alle, so daß seine Arme jedesmal weit geöffnet waren, wie am Kreuze, und auch er betrachtete ihn still, wie an jenem Tag, da er gerufen hatte: „Vater, warum hast Du mich verlassen?“ und doch ein unbegreifliches Lächeln aus seinem Antlitz strahlte.
Einen Augenblick noch hörte Ahasverus das orgelnde Dröhnen der Cherubim und Seraphim in dem Licht, — ein Tropfen vom Blute Christi fiel auf sein Herz wie ein feuriger Tau, und die Kruste brach, sein Herz spaltete sich, und mit ausgestreckten Armen stürzte er niederwärts, hin zum Leide und zur ungewissen Dämmerung, vermaledeit, zerrissen, aber weit offen von Liebe.
Als Ahasverus wieder zur Besinnung kam, lief er durch den Wald, der dumpf rauschte. Nach unten, fort aus all diesem Spuk! Nach unten, wo die Menschen riefen! . . .
Wo riefen sie denn? In der Ferne, versunken im Nebel eines Tales? . . . Nirgend ein Lichtstrahl mehr, kein Stern, — nur der wilde Wind, der wachgerüttelt nun bald hier, bald dort war, voll undeutlicher Stimmen, zu Fetzen zerrissen in der Nacht. Und Ahasverus stürmte nur immer nach unten, die Hände vorgestreckt, strauchelnd durch die kalte Nässe des Gebüsches.
Denn es hatte wahrhaftig zu tauen angefangen: der beißende Winter zerschmolz, eine fröstelnde Feuchtigkeit durchdrang das Herz, und überall sickerte das Getröpfel in dem Dunkel, während eine neue Gewalt, da oben durch die Bäume rasend, brauste wie eine Sturmflut und die alten Riesen ächzten unter dem Wogenschlag der zerstiebenden Luft.
Den lebenden Wind, — Ahasverus schnob ihn auf mit wilder Lust und spürte bisweilen einen feuchten Atem darin, der die Kälte der Nacht erweichte und ihm entgegengeweht kam wie ein gewaltiger Seufzer.
Sein Fieber ließ mählich nach, als er die seltsamen Gestalten des Waldgewirrs, das ihn umschloß, im Dämmergrau zu unterscheiden begann. Der Wald wuchs heraus aus der Dunkelheit: alles wurde deutlicher nun, vertraut in dem Tag, der sich hellte; die Bäume, mächtig bewurzelt, ihre Arme in der Luft, sangen ernst in der trübseligen Feuchte, während der Weltatem hindurchfuhr mit einem Geruch von Moos und faulen Blättern und lau durchsickerter Erde, einem Geruch von Auflösung und Tod und von nahendem Frühling.
Aber als der Himmel ganz blaß geworden war und das Dunkel sich zwischen den grünschimmernden Stämmen in die Tiefe des Waldes zurückzog, da legte sich auch der Wind nieder, wie ein furchtsames Tier, und kroch brummend in seine Höhle vor dem Dämmern des Morgens. Nur das kurze Geflöt eines Vogels, der von einem Ast zum andern hüpfte und seine Federn plusterte, ertönte noch dann und wann. Der Wald wurde weniger dicht, ausgerodete Stellen unterbrachen die sich herabsenkende und wieder sanft wogende Ferne: dahinter, über fahlrotem Gesträuch, erschienen die Buchen viel größer, nun alles so still blieb.
Und auf einmal sah Ahasverus, hier, und dort, und dort wieder, Spalten von Licht: die Welt! die Weite! Sein Herz klopfte, stammelnd lief er, die Augen gierig voraus gerichtet, und stand bald betäubt am Waldessaum: das Land lag vor ihm, unabsehbar, mit Höhen und Flächen und Dörfern und Wäldern, alles noch im frischen Nebeldunst der Frühe, und am Horizont, in dem stillen Feuerwerk, das durch langgestreckte Wolken aufglühte, stieg die Sonne, wie eine gläserne Kugel, in der eine Flamme glomm.
Von dort kam eine leichte Brise auf, und der junge, lichte Tag zitterte überall. Die Welt schien ohne Ende; die Äcker waren schon ein mattes, zottiges Grün oder lagen noch nackt und fett, violett schimmernd im rauhen Morgen, längs heller, roter Pappeln; und in den Mulden drängten sich weit und breit zwischen Obstgärten die rotgedeckten Häuschen zusammen, mit ein wenig Rauch, der in Fasern aus dem Schatten abzog. Dahinter vermutete man ein Tal, und dann erhob sich Hügel an Hügel die gläsern-blaue Ferne, wo der Turm einer Burg auf einer Anhöhe in die Luft ragte und Mühlen sich eifrig drehten, um Brot zu machen mit ihren vier Armen. Doch wo die Sonne aus ihrem sauber gewaschenen Himmelstor die Erde überglänzte, die noch feucht war von der Nacht, da zerfunkelte alles zur reinem Gold. Einen Augenblick kämpfte sie gegen Dünste, hinter denen sie fahlgelb schwelte, denn der Wind kam stärker wieder, blies mit vollen Backen, die Wolkenstreifen kräuselnd, und Schatten flogen übers Land mit schnellem Flügelschlag; aber dann schoß sie von neuem empor wie ein ewiger Springbrunn und blinkte von sprühender, triumphierender Herrlichkeit.
Die göttliche! Es war, als ob das „Hosianna!“ der Engel in ihr nachsang, der furchtbare Gesang von Licht, der nicht schweigen konnte. Ahasverus’ scharfe Augen wollten ins Herz der Sonne schauen, aber sie stach blendend mit allen ihren Speeren, und er mußte den Blick wieder abwenden; nur ihren Widerschein ertrug er auf dem Saum der Luftkolosse und über der baumreichen Erde, die so erhaben und fruchtbar dalag, daß ihre Schönheit ihn traf wie die Schönheit einer Frau.
Sein Herz lief über von ungekannter Rührung; er trank wollüstig den Wind, der alle Dinge umgriff, und den Geruch des kalten, schweren, gärenden Bodens. Ja, er wußte es, er hatte recht getan! Ja, vermaledeit auf diese Erde geschleudert, fühlte er sich als Überwinder, das trotzige Leben rauschte durch sein Blut; und doch, in der Lauigkeit des weiten Raumes, die seine Schläfen umfächelte, den Kopf umzittert von den Saiten der Sonne, — wie stand er so klein und verloren da vor dieser Welt, die die Welt der Menschen war! Und warum schlich sich in sein begehrendes Staunen die Wehmut wieder, — je schöner die Erde, um so heißer diese Wehmut, — wie wenn in den Tiefen seiner Seele ein Gott schlummerte, dessen Träume dort trübe flackerten, und der niemals, niemals erwachen würde!
O, bei Menschen sein, mit Menschen sprechen! . . .
Im ersten Dorf, in das er kam, waren die Lehmhütten, grau und schief gesunken unter ihren Strohdächern, aneinandergelehnt, als wollten sie sich gegen das Unglück wehren. Einige Kinder bummelten zur Schule in ihren Holzschuhen; eine Frau scheuerte ihre Schwelle und sah mißtrauisch zu dem fremden Landstreicher hinüber. Weiter, vor der Schmiede, waren zwei Gesellen dabei, ein Pferd zu beschlagen, und gegenüber lag der Wirt eines Kruges mit seinem Backsteingesicht über seiner Halbtür und rauchte; sie gafften den wunderlichen Vogel an und getrauten sich nicht zu spaßen. Und dann war da ein Haufen Mädchen, die mit lautem Geplapper in einem Bach Wäsche spülten: sie verstummten plötzlich, als Ahasverus vorüberschritt. „Ich sehe aus wie eine Vogelscheuche“, dachte er. Er schämte sich seiner knochigen Gestalt in dem zerlumpten Mantel, seines Zuchthäuslergesichts, seiner bloßen, verdreckten Füße, seiner Schlotterhose, durch die man die Haut sah.
Und er wagte nicht zu betteln; nun er sich wieder unter Menschen befand, hatte er auf einmal Angst bekommen, daß sie ihn mit einem rauhen Wort abweisen würden. Er lief weiter.
Das Wetter war trüber geworden: dann und wann flitzte die Sonne noch durch den treibenden Vorhang und brannte die blauen Tiefen offen, aber als sie wieder erkaltet war und umflort, wurde es auf einmal rauh, als ob es hageln wollte; der Wind tollte in Stößen über die spärlich grünenden Äcker, und unter dem Flug der Regenwolken sah die Erde beinah verlassen aus: nur hier und da ein Bauer, der Mist über sein Land streute oder Rinnen grub für den Abfluß des Wassers. Das ganze Land war in Stücke zerschnitten: dies gehörte Jan und das da Peter, dies hier war für Rüben und das da für Weizen und jenes für Roggen, und nirgend ging ein Plätzchen verloren. „Nur weiter, weiter!“ knurrte Ahasverus.
Hinter den schwarzen Leibern krumm gemarterter Apfelbäume sah er die spitzen Dächer eines großen Pachthofes aufragen, der dunkel gegen den silbernen Himmel stand wie eine Burg. Er ging darauf zu. Mürrisch und schielend stand er vor dem Tor: in dieser stillen Umzäunung von Ställen und Scheunen, alt und braun, wo der Hahn mit seinen Hennen auf dem Misthaufen der Herr zu sein schien, war eine Frau, die unter einem Schuppen bei den Wagen das Essen für die Tiere kochte; zwei Männer luden eine Fuhre Rübenkraut ab, ein Mädchen ging, in jeder Hand einen Eimer, über den Hof, die Bäuerin hing die Käsekörbe in Reihen an das Haus. Sie blickten flüchtig auf, und jeder tat gemächlich seine Arbeit, wie Menschen, die die Pflicht des Tages kennen. Aber als Ahasverus ein paar Schritte vorwärts tat, sprang plötzlich wie aus der Mauer heraus ein häßliches Biest von einem Hund, der laut bellte und wütend an seiner Kette riß. „Der Teufel soll dich holen!“ fluchte Ahasverus — und begab sich wieder auf den Weg.
Die alte Empörung begann in ihm zu grollen. „Schön! Ich werde mir meinen Platz mit meinen Krallen schon erobern!“ beschloß er. Und da war nun just, bei einer abgelegenen Hütte, eine Frau, die ihren Küken Körner hinstreute. Sie sah ihn kommen und blieb in ihrer Türe stehn. „Die soll dran glauben“, war sein erster Gedanke. Er wollte sich schon holen, was er brauchte, wenn sie es nicht gutwillig hergab, — er wollte sie packen, er wollte in ihrem Fleisch wühlen, sie fühlen lassen, daß er ein Mann war, und er wollte ein Mensch sein! . . .
Ihr Gesicht war voller Sommersprossen, müde und gleichgültig.
„Ich möchte trinken!“ sagte er barsch.
Ohne ein Wort zu sprechen, kehrte sie ihm den Rücken zu und ging hinein.
Die Wut schoß Ahasverus in den Kopf, er erinnerte sich, wie Christus einst vor ihm gestanden hatte, und mit drei Schritten war er in der Hütte, gerade hinter der Frau. Sie drehte sich verwirrt um, ein wenig erschreckt: „Ssst! Ihr weckt das Kind auf . . .“, und während sie dem Landstreicher eine Kumme Milch reichte, beugte sie sich schnell über die Wiege, in der das Würmlein leise zu weinen anfing und sich mit seiner kleinen Faust das Nasenstümpfchen rieb. Und Ahasverus stand nun da, mit der Kumme in der Hand.
„Eia, eia, mein Mäuschen . . .“ Sie drückte es liebevoll an sich, aber quäkend grabbelte es nach der Brust, und ein wenig zur Wiege sich abwendend, ließ die Mutter es dann nur trinken, soviel es wollte, — „da, mein Herzchen, da!“ — und betrachtete es immerfort, als ob sein Leben ihr Leben wäre.
„Ist da jemand?“ wurde von der Schlafkammer herab gefragt.
„Gut Freund, Mann!“ — „Er ist krank“, sagte die Frau leise, während Ahasverus endlich trank, der Topf zitterte ein wenig zwischen seinen Zähnen, „nun muß ich für zwei arbeiten, und das ist immerhin kein Kinderspiel.“
Sie sagte es ohne Bitterkeit, wie zu sich selbst; niederknieend legte sie das einschlafende Kind vorsichtig wieder in die Wiege, und Ahasverus fühlte, als er auf das arme Geschöpf blickte, das da so ruhig und so wehrlos mit seinem offenen Mündchen lag, Trauer in sich aufwallen, ohne zu wissen warum. Tief in ihm löste sich etwas, als ob er weinen müßte.
Die Mutter sah zu ihm auf mit dem sanften Blinken eines schüchternen Glücks in ihren Augen, und sie war nicht häßlich mehr.
„Habt schönen Dank“, sagte Ahasverus mit gedämpfter Stimme und hätte schon draußen sein mögen. Sie lächelte ein wenig, um ihm zu bedeuten, daß es gern geschehen sei, — Menschen helfen einander doch —, und fragte: „Habt Ihr noch weit?“
Er machte eine mutlose Gebärde, als würde es zu weit führen, das zu sagen, — und als sein Wanderstab dann wieder auf dem endlosen Wege hallte, schlich sich eine seltsame Gelassenheit in ihn hinein, seine Erregung war geschwunden, er fühlte sich als ein Nichts, mittreibend auf einem Strom, aber ohne rechte Hoffnung oder auch Verzweiflung. Nur immer wandern, aufs Geratewohl! Die Sonne siebte wieder flüchtige Lichtflecken über die Felder, und eine Lerche trillerte unsichtbar in dem grauen Licht.
So blieb Ahasverus auf der Walze. Er fand nichts zu tun: die Bauern hatten ihre Leute, sie sahen ihn schief an, den Vagabunden, und zuckten die Achseln, wenn er sich für alle mögliche Arbeit anbot: man fiel doch nicht so einfach aus dem Himmel herab! Nur bei den Ziegelbrennern, abgerackerten Kerlen, durfte er ein bißchen mithelfen, wurde aber noch vor dem Abend an die Luft gesetzt. „Solch ein Gepfusch kriegt ja ein Schwein mit dem Schwanze fertig!“ meinte der Meister. Und als Schuhflicker konnte Ahasverus da auch keinen Pfennig verdienen, denn all diese armen Teufel liefen nur ihre bloßen Fußsohlen ab. Nun er mit seinesgleichen leben wollte, war er doch nirgend zu Haus. „Das ist nur natürlich“, dachte er mit bitterer Wehmut. Alles Tun und Treiben der Menschen war einmal so eingerichtet, es war auch kein Plätzchen mehr da, wo man nur so hineinschlüpfen konnte. Und wie mußte in der Erde herumgewühlt werden, bald auf diese Weise und dann wieder anders, um die Äcker dahin zu bringen, daß sie ihr bißchen Brot trugen! An der Weizenähre, die geduldig, geduldig wächst, lernte Ahasverus, wie lange Sonne und Regen und die Sorge von Menschenhand zusammen wirken mußten, ehe das Mehl aus der Mühle kam. Und so war es mit allem, was auf dieser Erde wuchs; das Leben kannte keine Hast und hatte seine eigenen Wege. Aber mit dieser Weisheit durfte Ahasverus sich vorläufig an muffigen Rüben gütlich tun.
Durch sumpfige Marschen gelangte er endlich zu einem breiten Strom, wo wohl tausend Arbeiter einen Deich bauten, und er wurde in dies gewaltige Treiben aufgenommen, um eiserne Loren voll Kies mit gespannten Muskeln vorwärtszuschieben: das war ja so etwas für ihn!
Man hätte meinen können, daß dort ein ganzes Heer herabgefallen war, um die Erde aufzuwühlen: es lag eine Menschenmenge da und mühte sich ab in den Gruben und Laufgräben, voller Schmutz und die Füße in dem gelblichen Schlamm. Hier wurde eine schräge Steinwand gegen das Wasser gemauert, dort rammten sie Pfähle wie Baumstämme in den Boden: ihrer zwanzig oder dreißig hingen halbnackte Fronknechte an den Tauen, stießen bei jedem Ruck einen rauhen Schrei aus und ließen dann den Block wie einen Donner niederdröhnen. Dazwischen das Rollen der Sandkarren, das Pfeifen von Aufsehern oder das befehlende Rufen von Werkmeistern, und alles ging im Takt. Es war da ein ganzes Dorf von hölzernen Baracken, Schuppen und Kantinen, und wenn die Sonne durch den Dunst des flachen Landes niedersank, dann schien all dies geregelte Schuften längs des trägen Gewässers, das sich buchtend in die Ferne schob, wie in einem Dampf von Schweiß zu stehen.
Am ersten Tage, bei der Eßpause, hatten einige harmlose Sticheleien den Neuling begrüßt, den mageren Hungerleider. „Das war zu erwarten“, dachte Ahasverus, aber er sah den Kerlen frei in die freien Augen: er ließ sich hier nicht hinausschmeißen, denn er fühlte, daß er bei den Seinen war, Verstoßenen, die den Bauch voll Elend hatten und harte Gesichter, aus denen finstere Kraft ihm entgegenglomm.
Wartet nur! Er wollte schon zeigen, daß Mumm in ihm saß, er hatte zwei Arme an seinem Leibe, er stand seinen Mann! Laßt sie nur kommen! Und gearbeitet sollte werden, daß die Lappen flogen! Was war das nun endlich für eine Veränderung: er kannte wieder die Freude an der warmen Körperarbeit; er war glücklich, als er, gestützt auf den Fuß, der sich tief in den Sand grub, die schwere Last zum Weichen brachte vor dem hartnäckigen Druck seiner Hände; und wenn er am Ende des Weges sein Wägelchen umkippte und, sich die Stirn wischend, einen Augenblick Atem holte, lachte er schweigend dem Kameraden zu, der mit verhaltenem Keuchen schiebend hinter ihm ankam. Sein Blick ging weiter über das Land, folgte dem Widerschein des hohen Lichts auf dem Strom, und alles hatte ein neues Aussehen für ihn. Er war zufrieden, daß er nicht mehr allein war.
Aber wenn er dann am Abend erschöpft in der sauer-dumpfigen Baracke lag und die armen Schächer überall die Lehmwände entlang auf ihren Strohsäcken liegen sah, zusammengesunken vor Müdigkeit, den Mund geöffnet in einem Gesicht, das die Farbe der Erde hatte, dann begann wieder ein dumpfes Weh ihn zu lähmen um dieses Dasein ohne Traum, von dem er nun ein Teil geworden war. Er war nicht mehr allein, er wußte fortan, daß allein zu leben nicht möglich war; aber in welche Trübseligkeit waren sie nun alle eingeschlossen! Warum all dies Schuften und Sichabschinden, ohne einen Ausblick? Wie ertrugen diese Ewigblinden ihr Leben? Aber wie ertrug er selbst es? Er, einer von diesen tausend . . .
Und der unbezwingliche Brand in seiner Brust verzehrte ihn. Doch dieser Schmerz war ihm nun beinah willkommen. „Ich habe ihn wahrscheinlich nötig,“ dachte er, „und wer weiß, durch was ich noch hindurch muß, um alles zu vollbringen! Leide nur, mein Junge, was du leiden mußt; so fühlst du, daß du lebst! Und bleibe nur bei der Stange, du bist hier an deinem Platz!“ Denn wie er sich auch abquälen mochte, dies wenigstens stand nun unverrückbar fest in seinem Herzen: daß er durch eine Welt ging, die kein trügerischer Alp ihm geschaffen hatte, daß dieser Weg der rechte für ihn war, wohin er auch führen mochte . . . Und er dachte dabei an die Weizenähre, die so geduldig wächst, als wäre sie die Weisheit selbst.
Unterdessen kam der Vorfrühling und ließ in den Morästen ein geheimnisvolles Brüten und Bollern von Pflanzen und Tieren sich regen und im Herzen der Menschen das süßbittere Verlangen der Liebe schwellen. Wenn am Sonnabendabend ein Teil nach Hause zog, zum Dorf, wo ihre Frau oder ihr Schatz sie erwartete, verfielen die andern in trübseliges Träumen oder in allerhand tierische Gelüste. Übrigens war jede Kantine ein Hurenstall, wo bei Bier und Schnaps gehörig geküßt und geknutscht wurde, bisweilen auch mit Messern gestochen, wenn die Kameraden zu sehr in Hitze gerieten. Ahasverus, der sich eine andere Art von Brüderlichkeit vorgestellt hatte, fühlte sich wie einer, der die Arme ausstreckt und niemals etwas zu greifen vermag, und dachte in seinem Innern, wie schön es sein würde, wenn er das zarte, warme Leben einer Frau an das seine drücken konnte und das Klopfen ihres Herzens fühlen, wie in sich selbst . . .
So versteht ihr, daß er in der schmierigen Holzbude, wo sie des Abends, die ganze Rotte, ihre Suppe schlabberten, die junge Dirne, die sie zu bedienen hatte, schweigend verfolgte mit Blicken voll finsterer Glut, denn sie hatte ein Paar liebe und unverdorbene Augen in ihrem Gesicht, das hellbraun war wie eine goldene Traube, und in ihren Bewegungen etwas so lieblich Eigenwilliges, das Feuer und die Flinkheit einer Hinde. Wenn sie auch tat, als ob sie Ahasverus nicht bemerkte, so war sie doch ein wenig bange geworden vor diesem Sonderling, es war ihr, als ob er einst Unheil über sie bringen würde, und zugleich mußte sie doch, insgeheim, ein wenig zu ihm hingucken. Was wollte er denn, der sie nicht einmal anredete?
Aber die Frühjahrssonne in ihrer ersten Kraft weckte zugleich noch etwas ganz anderes als Leben und Liebe: aus dem umgewühlten Schlammboden sprang ein seltsames Fieber auf die kräftigsten Arbeiter und ließ sie nicht wieder los. Sie schudderten, ihre Augen glänzten aus der trockenen, durchscheinend gelben Haut ihres Gesichts. Zwei hatte man schon in einem Wagen abgeholt, damit sie sich anderswo erholen sollten; aber danach lagen wieder vier oder fünf am Abend im Schüttelfrost, gleichgültig gegen alles, was um sie herum vorging, wenn man ihnen nur zu trinken gab, denn sie brannten von kratzendem Durst; und auch die mußte man sogleich wegbringen. Die Männer bekamen Angst vor diesem unsichtbaren Feind und begannen zu murren, aber das half nichts.
So geschah es, daß ein strammer Bursche, der seine Kameraden als furchtsame Hasen ausgelacht hatte, selbst ergriffen wurde; aber er wollte sich aufrecht halten, trank viel Genever, „um das Fieber in seinen Beinen zum Sinken zu bringen“, und blieb unbeirrt scherzend bei seiner Arbeit, beim Graben. Er scherzte nicht lange: nach einem dieser Apriltage voll kalter Regenschauer und stechender Sonne ließ er die Schaufel aus den Händen gleiten, und bald lag er da wie ein Haufen Lumpen, zuckend vom Fieber, mit starren Augen, die etwas im Himmel suchten. Von allen Seiten eilte man hinzu mit wirrem Gerufe; ein alter Arbeiter hatte den Kopf des Unglücklichen ein wenig hochgehoben und sagte: „Hol zu trinken!“ Ahasverus eilte zu seiner Kantine.
Er fand dort nur die Dirne, die hintenüber an die Wand gelehnt fest eingenickt war in der ungewohnten Stille des leeren Saales, und er mußte schweigend eine Weile vor ihr stehen bleiben, so unschuldig atmend schlief sie, schon wie eine wilde Blume, die im Dunkel eines Waldes duftet.
Als er sie vorsichtig geweckt hatte, indem er ihr schwarzes Haar mit seinen Fingerspitzen berührte, sah sie ihn an wie aus ihrem Traum, verwundert über den gedämpften Ton dieser Stimme. Dann erst begriff sie auf einmal, was er sagte, — einen Augenblick blickten sie einander unbeweglich an, offenen Angesichts, den Gedanken des Todes über sich.
Sie ging mit ihm zu der Grube zurück, wo der Sterbende lag. Der Mann, der den Kopf hielt, starrte finster wie ein alter Wolf, und die andern wagten nicht mehr laut zu sprechen, sie standen unschlüssig da mit herabhängenden Armen.
„Genever?“ fragte einer. „Nein, Milch!“ antwortete das Mädchen und versuchte niederkniend die Flüssigkeit zwischen die geschlossenen Zähne zu gießen; aber sie lief die Mundwinkel entlang über das Kinn und die Brust, auf der die stachligen Haare zottig in dem wächsernen Fleisch standen, das schon tot schien. Ahasverus sah widerwillig auf den mageren Körper: es war, als ob diese Hände, die in die Erde griffen, und diese schmutzigen Füße, die nur immer leise tanzten, nicht mehr dazu gehörten, so unnatürlich groß erschienen sie nun; und er merkte, wie unter dem Staub und dem Schmutz des Gesichtes sich eine furchtbare Blässe verbreitete.
„Wir müssen ihn hineintragen, Hein!“ sagte das Mädchen; und in der Baracke, während die Männer, nicht wissend, was sie machen sollten, dastanden — immer mehr drängten sich hinzu —, tat sie schweigend, was zu tun war, machte die Strohsäcke und die Decken zurecht, half den Jungen aufnehmen unter seinen eckigen Schultern, um ihn besser zu legen, und wusch mit frischem Wasser sein Gesicht ab, auf dem nun etwas kalter Schweiß perlte.
Inzwischen waren ein paar Werkmeister erschienen, die kurzen Prozeß machten: „Luft muß er haben, — was steht ihr da und gafft, ihr Lohndiebe?“ Und sie trieben die murrende Herde wieder nach draußen, zu ihrer Arbeit.
Aber die Angst vor dem Tode hatte die Arbeiter beschlichen, einige von ihnen fluchten, sie würden keine Hand mehr ausstrecken, und Aufseher mußten dazwischenspringen, um den Kram wieder in Gang zu bringen. Nur Hein, der alte Isegrim, hatte kein Wort gesprochen: er war geradewegs zu seinem Platz gegangen, wo der andere umgefallen war, und fuhr fort, mit zähen Lendenstößen seinen Wagen zu füllen; und Ahasverus sah in seinem Blick eine düstere, herausfordernde Willenskraft, als ob die Gefahr ihn aufgepeitscht hätte. So kam auch in ihn mit einemmal ein trotziges Leben, das ihn größer machte, und alles, was er nun gesehen hatte, floß zusammen in ein neues Gefühl, das weder Schmerz war noch Freude, vielmehr etwas weiteres als diese beiden, eine Art bitteren Glücks, eines Glücks, das ohne Hoffnung, ohne Täuschung war und sein Blut doch wärmer klopfen machte.
Als der Mann eine halbe Stunde später weggebracht wurde, um wo anders zu sterben, war die Arbeit mit ihrem vielfältigen Lärm überall in gewohnter Weise wieder aufgenommen.
Dann sank die Pracht der Sonne hinter Wolken, die von rosigem Licht gesättigt waren und sich auftürmten bis zum höchsten Himmel, und aus dem feurigen Mund des Horizonts schauerte der Abendwind über den Strom.
Wieder ein Tag zu Ende! Die Arbeiter, die an ihrem Hunger wohl merkten, wie spät es war, waren froh, daß sie ihr Arbeitszeug bis morgen niederlegen durften. In der Nacht würde hier nichts mehr sein als das sanfte Rauschen des Rieds und das Klatschen des Wassers, das immerfort hinabfloß zu anderen Gegenden. Ahasverus, der seinen letzten Wagen leer zurückgerollt hatte, blieb einen Augenblick stehen und dachte an all die Menschen, die da drüben, in den fernen Dörfern und Städten, unzählbar, jung oder schwer von Jahren, nun in den Abend hineingingen, — unbekannt, hier weinend und dort lachend, jeder mit seinen Heimlichkeiten.
Hein, der mit seinem verwitterten Gesicht und den beringten Ohren voll Büscheln weißen Haares fast aussah wie ein alter Matrose, stand auch da und sah mit scharfem Blick über das weite Land. Und er sagte zu Ahasverus:
„Das wird hier noch schön werden, wenn wirs erst mal trocken gekriegt haben.“
Ahasverus begann zu sinnen und verstand das große Werk: die Stauung der stummen Gewalt der Flut, die geduldige Geschäftigkeit einer ganzen Bevölkerung, wo jetzt alles so verlassen war; er sah die Saat gesät, das Korn, das aus der tiefen, dunklen Erde emporwächst, langsam gedörrt und reifend im Wechsel des Wetters, Brot für die Menschen; und vom Deiche aus würden die jungen Burschen, an einem Abend wie dieser, nach den Schiffen ausschauen, die von der See kommen.
„So machte ich also, einer von diesen tausend, einen Teil aus von einem schönen Traum,“ sann Ahasverus, „so wäre ich mit diesen tausend das Werkzeug, wodurch ein schöner Traum verwirklicht wird . . .“
Wie dieser Gedanke in ihm Klarheit gewann, atmete er freier, als sei die Welt weiter geworden und zugleich vertrauter, die geringsten Dinge bekamen ein lieblicheres Ansehen, — und dann kam von selbst wieder in sein Herz das Bild jenes Mädchens mit ihren jugendlichen, ungezwungenen Bewegungen und dem stillen Ernst ihres lachenden Gesichts.
In der Kantine gab es, beim Essen und mehr noch beim Saufen darnach, ein mächtiges Summen und Rumoren, denn der Meister hatte ein paar Dutzend Dickköpfe nach Hause geschickt, die gegen ihn rebelliert hatten, und die Kameraden stachelten, erhitzt durch das Pfeffergetränk, einander mit Flüchen und Verwünschungen auf in dem dicken Rauch, worin eine Petroleumlampe trübselig brannte. Das Mädchen schenkte ein und lief zwischen den Bänken dahin, wo sie gerufen wurde, — „Lene! he, liebes Lenchen!“ — flink sich umdrehend, überall zur Hand mit ihren kecken Augen, gekniffen vom einen, umfaßt vom anderen, aber immer frei und unbekümmert, und in dem Lärm erklang bisweilen ihre spottende Stimme, wie ein Glöcklein in der Luft. Über den Schenktisch lehnte der Wirt der Baracke, wie gewöhnlich sternhagelvoll, ein Riese von einem Kerl, mit einer fürchterlichen Narbe quer übers Maul.
Ahasverus sah von seiner Ecke aus, gegen ein Fenster gelehnt, das sich in die laue Nacht hinein öffnete, lauernd zu Lene hinüber mit einer Art verdrießlicher Ergebung; aber die schweigende Frage, die unerträgliche Frage mußte wie immer in seinem Blick sein, denn:
„Habe ich dir etwas gestohlen?“ scherzte Lene plötzlich, gereizt ausfallend, gerade vor ihm.
Ahasverus begriff nicht, was ihn so peinlich furchtsam und schwach machte; er wurde ärgerlich gegen sich selbst und hätte ihr beinahe zugeschnaubt: „Was ist los, Hurenbalg? . . .“ Aber es war, als ob sie es fühlte; sie errötete, und einen Augenblick sahen sie einander an wie zwei Feinde, die sich kampfbereit gegenüberstehen, die ein Geheimnis in des anderen Gesicht zu lesen trachten, — wie zwei Liebende, die einander Leid zufügen wollen in der Seele, um das Geheimnis herauszubrechen, damit es reden sollte . . . Sie hörten den Trubel nicht mehr, für sie war es da in diesem Augenblick so still wie an dem Nachmittag, als der Gedanke an den Tod da war . . . Doch ihr Blick zauderte dann und wich zurück und schien fast um Verzeihung zu bitten.
„Warum hast du Angst vor mir?“ sagte Ahasverus mit gedämpfter Stimme.
„Ich habe keine Angst vor dir“, antwortete sie kurz. Er griff sie bei den Handgelenken, aber sie kehrte ihr Gesicht ab, wollte sich kleinmachen, weg sein.
„Lene . . . Lene . . .“
„Laß mich, wie ich bin! Laß mich, wie ich bin! . . .“ Und dann sagte sie leiser, wie jemand, der Furcht hat: „Was könntest du wohl mit mir tun?“
Sie hatte sich sanft losgemacht und blickte dann doch ein wenig zu ihm auf mit einem unbewußten Lächeln, aber es war, als ob sie in diese Welt voll lärmenden Gewühls, das sie umgab, nicht zurückflüchten und auch Ahasverus’ Blick nicht ertragen konnte und sich an ihn hätte pressen mögen, daß er sie nicht sähe, daß niemand sie sähe . . .
Sie hörte wieder das Gemurre und Geschrei, das den Saal erfüllte, — Lene wurde gerufen und lief, die Kerle brüllten immerfort. Einer unter ihnen fuhr sie, gebückt und den Kopf vorgestreckt, an, daß sie Memmen seien:
„Wir gehn hier kaputt! Sie dürfen — verflucht noch mal! — uns nicht behandeln wie Tiere! . . .“
„Was sollen wir machen?“ schimpfte ein anderer, „mit dem Kopf gegen die Wand rennen? Sie sind doch allemal stärker als wir! . . .“
Und aus ohnmächtiger Wut tranken sie doppelt und hatten Lust, einander zu Leibe zu gehn. Es kam Ahasverus vor, als ob er mit diesen Unglücklichen irgendwo in einem Abgrund läge, aus dem sie verzweifelt die Arme nach oben ausstreckten, er und sie alle, nach einem schöneren Leben rufend, das sie nicht sehen konnten, — und die ganze Welt schien ihm solch ein Abgrund . . .
Auch sie — mit ihren ewigen Augen! — sie war mit ihm in dieser Tiefe. Und er fühlte es nun wohl, mit einer Art herben Genusses, daß er sie lieb hatte, daß er sie noch inniger lieb hatte, so wie sie war, mit all den Küssen, die sie besudelt hatten, mit diesen Fältchen von Schwermut um den jungen Mund, mit diesem stillen, unschuldigen Lächeln, das bisweilen wie eine Wintersonne ihr braunes Gesicht erhellte, — mit dem Geheimnis ihrer Menschenseele voll Gut und Böse, voll werdender, lebender, unendlicher Schönheit . . .
Was trieb ihn zu ihr, was trieb sie zueinander, durch diese große Welt von Menschen, die alle suchten nach etwas, das sie nicht nennen konnten — er und sie alle —, ohne zu überlegen, was aus all diesem Verlangen einmal erblühen würde?
War nicht wie das Werk seiner Hände vielleicht auch dieses Begehren seines armen Herzens, die Regung selbst, die seine Seele emporhob, ein Teil eines schönen Traumes, eine der tausend und aber tausend Regungen, durch die ein schöner, unbegreiflicher Traum verwirklicht wird, mit dem Blut, mit dem Geist und der Seele, von Geschlecht zu Geschlecht, ein werdender, lebender, unendlicher Traum? . . .
Und all diese Stimmen, die da grölten und fluchten aus finsteren Mündern in dem halberleuchteten Loch, sie drangen nun zu ihm beinah wie Flammen, die aus dem Schweigen geweckt waren und die immer wieder herausschlagen würden.
„Jungens,“ rief er plötzlich, die beiden Fäuste hoch erhoben, „so gehts nicht! so gehts nicht! Wir müssen wissen, was wir wollen! Und dann alle zugleich, wie ein Mann! . . .“ Es ging wie eine Glocke durch das Geschrei.
„Ja! Ja! Wir können doch nicht länger liegen bleiben wie Hunde! . . .“
Hartnäckig hämmerte er weiter:
„Alle gleich! Und so wollen wirs ihnen morgen sagen, wie wir behandelt werden wollen! Und hören sie nicht darauf, dann zeigen wir, was wir sind! . . .“
„Ja! Ja! Hand in Hand!“
„Und ob wir durchkommen oder nicht, das werden wir später schon sehn! . . .“
Die Genossen hatten sich dichter zueinander gedrängt, ein Wille begann zu sprechen aus diesen wüsten Gesichtern, die das flackernde Licht der qualmenden Lampe scharf umriß.
Ja! so brannte da auch ein Verlangen, das Geschlecht auf Geschlecht die Menschen durchbrannt hatte . . . Nutzlos vielleicht, ohnmächtig? . . . Wie viel solcher Aufwallungen, worüber die Zeit wie Wasser hinweggegangen war! Wie viel Herzen gleich diesen, die Blut geweint hatten und nun etwas geworden waren von jenem Staube, wovon ein Körnchen all den anderen gleicht! Aber wer weiß — Ahasverus blickte auf Lene, die still lächelte —, wer weiß, was aus einem Tropfen Blut einst erblühen kann? Und wer weiß, wie viel Tropfen Blut nötig sind, ehe die geduldig, geduldig wachsende Ernte einst blond von Reife die Menschen erfreut?
„Ob wir durchkommen oder nicht, das werden wir später schon sehn!“ So sprach das Leben, das, kampfbereit vorwärtsblickend, — auf den Tod vielleicht! darauf kam es nicht an! — doch lächelt, weil es das Leben ist, weil es dem Traume nicht widerstehen kann, der es immer reifer machen will.
„Ob wir durchkommen oder nicht, das werden wir später schon sehn!“ Sie fühlten es alle nun, bis zu denen, die unbeweglich stierten in ihrem Geneverrausch; und viele Blicke, die lange mutlos in sich selbst gekehrt gewesen waren, lachten einander zu, mit dem frohen Bewußtsein ihrer vereinten Macht, — so wie Ahasverus und Lene einander betrachtend ihre eigene Winzigkeit erkannten und zugleich eines in des anderen Blick das Vorgefühl lasen ihrer beider Göttlichkeit.
Aus einer Ecke stieg ein Lied auf, — es verlor sich in wirrem Gebrüll. Ja, singen, singen mußten sie nun! An einer anderen Stelle wurde von neuem eingesetzt, aber dann hob plötzlich eine alte Stimme an, vor der alle Stimmen schwiegen, denn wie alt sie auch war, beinahe furchtbar klang sie von Ernst und verhaltener Willenskraft: Hein war es, den weißen Strubelkopf kerzengerade aufgerichtet, die eine Faust geballt auf dem Tisch, unbeweglich, mit demselben festen, herausfordernden Blick wie damals, als er die Arbeit wieder aufgenommen hatte. Und es war eine seltsame Weise, die er sang, ein Lied von den alten Wassergeusen, er sang es feierlich und langsam, wie einen Psalm, — wo hatte er es hervorgeholt? Wie lange hatte es schlummernd in ihm gelegen, um nun auf einmal herauszubrechen? — Sie fragten nach dem Sinne nicht: es handelte von Aufruhr und Vertrauen, von Kampf und Glauben, und sie lauschten ergriffen und suchten halblaut den Kehrreim mitzusingen sie fühlten einander in dem alten Lied.
Ahasverus hatte Lene beim Arm gefaßt, und er flüsterte mit einer sonderbaren Betonung: „Ich halte dich fest! ich lasse dich nicht mehr los! . . .“ Sie ließ ihn gewähren und sah nach ihm auf, aber seine Züge waren wie gespannt in einer wilden, tollen Begierde, und in ihren flehenden Augen stieg da solch eine Angst auf, daß all seine Macht bezwungen hinfiel, und er konnte nicht anders, als das Mädchen, wie ein zartes Ding nun, an sich drücken, innig sanft, bis ihre Blicke ineinanderlächelten, mit der stummen Bewunderung, die in dem Blick eines Kindes sein kann.
Am anderen Tage brach der Ausstand aus, ungestüm und fröhlich; Ahasverus und andere wurden fortgejagt, aber sie lachten, denn sie sahen den Aufruhr hinter sich aufflammen. Ein und dieselbe Hoffnung pochte in aller Herzen.
Und in der Nacht flüchtete Ahasverus mit Lene.
Als die Luft allmählich durchsichtig wurde, lagen sie am Saum eines Wäldchens; sie schlief noch in seinem Arm, gehüllt in ihre grauen Lumpen, und er, auf den Ellbogen gestützt, wachte und träumte und betrachtete ihr schlafendes Gesicht im Morgenlicht.
Er dachte an alles, was geschehen war, — an den Gesang der Engel in dem ewigen Morgenrot, an den Gesang des Meerweibes im feurigen Dunkel, — aber ohne Vorwurf, ohne Reue, — es waren alles Stimmen, die nachklangen in den Stimmen des großen Traumes, den er vorfühlte, unaufhörlich reifend, und der kein Traum war.
Er dachte an Christus, — an die Sehnsucht seiner Augen, an den Segen seines Lächelns, — und diese Augen und dieses Lächeln brannten noch tief in seinem Herzen; aber ein Schmerz war diese Glut nicht mehr, — er war etwas Besseres und Volleres geworden, als Freude selbst.
Als der Tag in der Stille des Taues gekommen war, wurde Lene wach, und Ahasverus sah Erde und Himmel in ihren vertrauenden Augen sich spiegeln.
Dann zogen sie zusammen in die Welt: denn der Wanderer wußte, daß er wandern mußte, frohgemut, und daß nichts gesünder war als solch ein Wandern . . .
Unter der Sonne, die in feuchtem Dunst die sprießende Schöpfung bestrahlte, glänzten die Weiden wie Weiher, in denen Perlengefunkel versunken lag; der Frühling begann vom Saft zu schwellen; die ersten zarten Blätter an den alten Bäumen längs des Weges erschienen wie ein hellgrüner Regenschauer, der da oben hängen geblieben war mit dem Zittern des hohen silbrigen Lichtes; und da hinten, weit, weit, war die Luft offen und klar, wie über dem Meer.
So gingen sie an Obstgärten mit Apfelbäumen entlang, die blühten voller Gezwitscher und Geflöte, an Dörfern und Feldern vorbei, wo die Menschen überall bei der Arbeit waren; und die erhoben den Kopf, als Ahasverus und Lene vorüberzogen, und grüßten: „Gott segne euch!“
„’s ist heute ja Karfreitag!“ sagte Lene.
So gingen sie, ihr Brot verdienend auf die eine oder andere Weise, neuen Sommern und Wintern entgegen, neuem Lebenskampf, neuem Leiden und neuen Höhen, — so gehen sie noch, und was einst die letzte Höhe und das Ende des Weges sein wird, kann zum Glück niemand verkünden.
Der „Ewige Jude“ wurde 1897—1906 geschrieben. Die Übertragung folgt der veränderten zweiten flämischen Auflage; die vom Dichter veranlaßte französische Übertragung wurde zum Vergleich herangezogen. Den Druck dieser Ausgabe besorgten Poeschel & Trepte in Leipzig. Zweihundertundsechzehn Exemplare wurden auf echtem Büttenpapier abgezogen; zweihundert davon wurden numeriert, und sechzehn nicht für den Handel bestimmte Exemplare mit Nameneindruck versehen.
*