Title: Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild
Author: Gustav von Bodelschwingh
Release date: October 4, 2014 [eBook #47038]
Language: German
Credits: Produced by Norbert H. Langkau and the Online Distributed
Proofreading Team at http://www.pgdp.net
Ein Lebensbild
von
G. v. Bodelschwingh.
Durchgesehene Auflage.
Nicht im Buchhandel zu haben.
Zu beziehen nur vom Pfennigverein der Anstalt Bethel
Bethel bei Bielefeld.
[S. 2]
Alle Rechte, insbesondere das
Übersetzungsrecht, vorbehalten.
Für die Vereinigten Staaten
von Nordamerika: Copyright
1922 by Verlag des Pfennigvereins
der Anstalt Bethel
bei Bielefeld.
I. | ||||
1831–1872. | ||||
Seite | ||||
I. | Voreltern und Eltern | 5 | ||
II. | Die Jugendzeit | |||
a) Coblenz | 12 | |||
b) Berlin | 17 | |||
c) In der westfälischen Heimat | 29 | |||
III. | Die Ausbildung | |||
a) Als Eleve im Oderbruch | 33 | |||
b) Als Soldat in Berlin | 39 | |||
c) Als Landwirt in Pommern | 44 | |||
d) Als Student | ||||
1. in Basel | 67 | |||
2. in Erlangen | 83 | |||
3. in Berlin | 89 | |||
e) Als Kandidat | 91 | |||
IV. | Im Amt | |||
a) Paris | 100 | |||
b) Dellwig | 124 | |||
II. | ||||
1872–1910 | ||||
Bethel. | ||||
I. | Die übernommene Arbeit und ihre Entwicklung | |||
a) Die neue Heimat | 157 | |||
b) Das Mutterhaus | 162 | |||
c) Die Epileptischen | 172 | |||
d) Die Brüder | 184[S. 423] | |||
e) Die übrigen Mitarbeiter | ||||
1. Unsere Mutter | 189 | |||
2. Mutter Emilie und Schwester Lottchen | 194 | |||
3. Wilhelm Heermann | 202 | |||
4. Pastor Stürmer | 205 | |||
5. Otto Mellin | 210 | |||
6. Die Ärzte | 213 | |||
f) Der Anstaltsvorstand | 217 | |||
g) Wachstum nach außen | 222 | |||
II. | Neue Aufgaben | |||
a) Die Arbeiterkolonie Wilhelmsdorf | 226 | |||
b) Der Bau der Zionskirche | 238 | |||
c) Arbeiterheim | 244 | |||
d) Das Kandidatenkonvikt | 255 | |||
e) Afrika | 261 | |||
f) Lutindi | 276 | |||
III. | Die Ausgestaltung | |||
a) Als Pastor der Gemeinde | 282 | |||
b) Frühlingszeit | 292 | |||
c) Gebet, so wird euch gegeben | 311 | |||
d) Ruhezeiten | 325 | |||
e) Kaiser Friedrich | 335 | |||
f) Amrum | 338 | |||
g) Metz, Hunsrück und Ems | 349 | |||
h) Tante Frieda | 351 | |||
IV. | Herbstfrüchte | |||
a) Die theologische Woche | 356 | |||
b) Freistatt | 362 | |||
c) Die Theologische Schule | 369 | |||
d) Gastein | 381 | |||
e) Als Abgeordneter in Berlin | 383 | |||
f) Das Wanderarbeitsstättengesetz | 392 | |||
g) Hoffnungstal | 396 | |||
V. | Das letzte Lebensjahr | 409 |
Während der sommerlichen Ferienzeiten, die wir Geschwister vom Jahre 1883 ab mit unseren Eltern an irgend einem stillen Erholungsort zubrachten, pflegte uns unser Vater Erinnerungen aus seinem Leben zu diktieren. Sie umfassen die ersten vierzig Jahre seines Lebens und reichen bis zu seinem Eintritt in die Arbeit in Bethel. Für die Darstellung der Zeit von 1831–1872 boten mir diese Erinnerungen, die der Raumersparnis wegen nicht ganz gebracht werden konnten, wesentlichen Anhalt. Sie erschienen vollständig in der Monatsschrift „Beth-El”, Jahrgang 1909, 1912–14 und 1918/19. (Verlag des Pfennigvereins der Anstalt Bethel bei Bielefeld.) Da, wo diese Erinnerungen im Text wörtlich angeführt sind, sind sie durch Anführungsstriche gekennzeichnet.
Die Heimat der Familie v. Bodelschwingh liegt zwischen Ruhr und Lippe im Herzen des westfälischen Industriebezirks, wo heute die rauchenden Schornsteine den Tag dunkel machen und die grellen Feuergarben der Hochöfen die Nacht erhellen. Wer jetzt mit dem eilenden Zuge jenes Gebiet durchreist, der ahnt kaum, daß mitten in dieser lärmenden, flammenden Welt noch manche stille Zeugen der alten Zeit stehen. Zu diesen Zeugen gehört auch die ehrwürdige Wasserburg, die zwei Stunden westlich von Dortmund am Ausgange einer kurzen, engen Waldschlucht sich aus breitem Wassergraben erhebt. Das ist Haus Bodelschwingh, dessen Name um die Wende des 12. und 13. Jahrhunderts zum erstenmal in alten Urkunden auftaucht.
Eine märkische Familie Speeke, die hier wohnte, nimmt um diese Zeit nach ihrem Wohnsitz den Namen Bolschwich, später Bolschwingh und Bodelschwingh an. Unter der alten Fehmlinde zu Dortmund, die erst vor wenigen Jahren dem Bau des neuen Bahnhofes weichen mußte, sollen Herren aus dem Hause Bodelschwingh forterbend das Gericht der heiligen Fehme geübt haben. Aber gewiß ist das nicht. Die spärlichen Urkunden melden nur, daß ein Sohn des Hauses Bodelschwingh im Dienst des deutschen Ordens ostwärts zog, um sich und seinen Nachkommen im Baltenlande eine neue Heimat zu gewinnen. Ein anderer fiel im Kampf gegen die Türken und liegt in Ungarn begraben. Im Dom zu Mainz findet sich das Grabmal eines Wennemar v. Bodelschwingh mit der Jahreszahl 1543, der nach den alten Berichten des Domkapitels seinem fürstlichen Bischof ein treuer Ratgeber gewesen sein muß, und um die[S. 6] gleiche Zeit meldet das Kirchenbuch der Stadt Elberfeld, daß Friederike v. Bodelschwingh um ihres evangelischen Bekenntnisses willen mancherlei Ungemach zu leiden hatte.
Ein Sohn aus dem Hause Bodelschwingh heiratete im Jahre 1633 Felicitas v. Oeynhausen, die wegen ihrer Herzensgüte bei arm und reich hochgeschätzte Erbin des zwischen Dortmund und Hamm gelegenen Gutes Velmede. Aus diesem Hause Bodelschwingh-Velmede stammt Ernst v. Bodelschwingh, der Vater des späteren Pastor Friedrich v. Bodelschwingh.
Ernst v. Bodelschwingh, geb. 1795, hatte nach seiner Schulzeit die nassauische Forstakademie in Dillenburg besucht und war dann im Herbst 1812 zum Studium der Rechtswissenschaften nach Berlin gegangen. Hier traf ihn im Frühjahr 1813 der Aufruf des Königs Friedrich Wilhelm III. „An mein Volk”. Wenn er sich zu den preußischen Fahnen meldete, so war damit der elterliche Besitz in dem damals unter französischer Herrschaft stehenden Westfalen bedroht, und ein Freund warnte ihn, daß er sich nicht leichtsinnig um sein Erbe bringe. „Aber”, rief Bodelschwingh aus, „was ist eine Handvoll Erde gegen mein Vaterland!” und eilte, kaum siebzehn Jahre alt, nach Breslau. Um aber Eltern und Besitz möglichst zu schützen, ließ er sich unter falschem Namen in die Liste der freiwilligen Jäger eintragen.
Er kämpfte in den Schlachten von Groß-Görschen, Bautzen und an der Katzbach und war bei Leipzig in dem besonders blutigen Ringen des Yorckschen Korps um das Dorf Möckern. Bei der Verfolgung der zurückflutenden französischen Armee kam es hinter Freiburg auf den Höhen über dem Unstruttale zum Gefecht, und hier erhielt der junge Jägerleutnant, hart über dem Herzen, einen Schuß durch die Lunge. Er hatte am Tage dem bedrängten Stadtschreiber des Städtchens Lauchstädt beim Ausschreiben der Quartierzettel geholfen, und dieser kleine Dienst rettete ihm das Leben. Denn als der Transport der Verwundeten Lauchstädt passierte, holten der Stadtschreiber und seine Frau den todesmatten jungen Leutnant, der den Transport bis Halle an der Saale nicht überstanden haben würde, in ihr Haus. Das Bett war zu kurz für den fast sechs Fuß langen Kranken. So bekam er sein Strohlager an der Erde, und sein treuer Bursche Schneeberg — wie oft hat das später der Sohn des Verwundeten den Pflegern und Pflegerinnen seiner Kranken erzählt! — bettete sich zu den Füßen seines Herrn und sagte:[S. 7] „Herr Leutnant, wenn Sie etwas wünschen, dann treten Sie nur.” Denn zum Sprechen war der Kranke zunächst zu schwach.
Die Wunde des jungen Leutnants schloß sich nur langsam, und die alte Frische wollte nicht wiederkehren. Die Eltern, die nach langem, bangem Warten endlich die Nachricht des Stadtschreibers erhielten, machten sich auf den Weg, um ihren Sohn zu holen. Im Angesichte der Stadt eilte die Mutter dem Wagen voraus und trat unverhofft in die Stube, wo ihr blasser Sohn in die Kissen gelehnt auf dem Stuhle saß. Die übergroße Freude ließ das Blut des Kranken aufwallen, sodaß sich die Wunde aufs neue öffnete. Aber gerade das war der Anfang der Genesung. Denn aus einem verborgenen Eiterherd kamen Reste der Uniform zum Vorschein, die bisher die Heilung gehindert hatten.
Freilich blieben die Kräfte noch lange geschwächt. Als 1815 der Krieg mit Napoleon abermals ausbrach, verweigerten darum die Eltern ihrem Sohn, sich bei der Truppe zu stellen. Da machte er sich zu Fuß von Göttingen, wo er studierte, querfeldein auf den Weg nach Velmede, seiner Heimat. „Mutter, ich kann wieder marschieren,” so trat er ins Zimmer und erkämpfte sich die Erlaubnis der Eltern.
An dem Tage, wo er von Unna aus zur Armee aufbrach, erlitt dicht vor Unna das Gefährt zweier junger Mädchen, der beiden Schwestern von Diest, die denselben Weg zum Rhein reisen wollten, einen Unfall. Die Pferde hatten gescheut, der Kutscher war schwer verwundet, und so blieb den beiden nichts anderes übrig, als zur Weiterreise den Postwagen zu nehmen. Das war derselbe Weg und derselbe Wagen, den auch der junge Leutnant v. Bodelschwingh benutzen mußte, um die Truppe zu erreichen. So lernte Ernst v. Bodelschwingh in einer der beiden Schwestern seine spätere Lebensgefährtin, Charlotte v. Diest, kennen, und durch diesen Unglücksfall wurde der Grund gelegt zu einer Ehe, durch die ein Strom von Glück über ungezählte Unglückliche kommen sollte.
So spärlich die Nachrichten über die Bodelschwinghs fließen, so reich sind sie andrerseits über die Familie v. Diest. Über Ort und Gau der im Jahre 838 zum ersten Male erwähnten deutsch-niederländischen Stadt Diest erwarb Otto v. Diest im Jahre 1090 das Herrschaftsrecht und wurde zum Stammvater eines Hauses, dem die Herzöge von Brabant und Flandern und manche andere alte und berühmte niederländische Geschlechter[S. 8] ihre Töchter zu Frauen und ihre höchsten Ämter zur Verwaltung gaben. In Münster, Lübeck, Utrecht und Straßburg finden wir Bischöfe v. Diest; und Arnicus v. Diest, der in seiner Einsiedelei als „ein Freund Gottes”, aber auch als Freund der Tiere, Kinder und Kranken lebte, wurde um das Jahr 1200 heilig gesprochen.
Früh bekannte sich die Familie zum evangelischen Glauben. Johann v. Diest, Prediger zu Antwerpen, wurde 1571 von seinem Krankenbett zum Scheiterhaufen geführt, und sein Sohn wurde auf dem Heimwege von der Synode in Dordrecht 1583 aufgegriffen und in einem Sacke ertränkt. Schließlich konnten sich die Evangelischen der belgischen Niederlande nur noch durch die Flucht ihren Verfolgern entziehen; und so finden wir von jetzt ab die Familie v. Diest im kurbrandenburgischen Staatsdienst oder, wie einst auf den Bischofsstühlen, so jetzt auf evangelischen Kanzeln und Lehrstühlen der rheinischen Städte. Samuel v. Diest, Professor der Theologie und Philosophie an der Universität Duisburg, trat als ein entschlossener Kämpfer für den Frieden der in bitterem Streit liegenden Lutheraner und Reformierten hervor, „um gegenseitige Duldung und brüderliche Gesinnung herbeizuführen, welche vor allem auch bis zur Gemeinschaft des Wortes und Sakramentes gehen müßte”. Und doch blieb solche edle Weitherzigkeit bei den Diests frei von feigem Nachgeben. Denn als der preußische Resident v. Diest in Cöln im Jahre 1714 von den dortigen Studenten durch Gewalt an der Abhaltung evangelischer Versammlungen in seinem Hause verhindert werden sollte, wandte er sich an König Friedrich Wilhelm I., der mit zähem Nachdruck sich hinter seinen Residenten stellte und Kur-Cöln zum Nachgeben zwang.
Eins der wenigen übriggebliebenen Glieder dieses alten Geschlechts war der Tribunals-Präsident Heinrich v. Diest, der erst in Cleve, dann in Burgsteinfurt gelebt hatte. Er und seine Frau aber waren vor und während der Freiheitskriege gestorben und hatten ihre Kinder in bescheidenen Verhältnissen zurückgelassen. Zu diesen Kindern gehörten auch jene beiden jungen Mädchen, Charlotte und Angelie v. Diest, mit denen Ernst v. Bodelschwingh in Unna zusammentraf und von denen die ältere später seine Frau wurde.
Nach seiner Rückkehr aus dem Feldzuge vollendete Ernst v. Bodelschwingh sein Studium und arbeitete als Referendar[S. 9] in Arnsberg, Berlin und Münster. Die Ferienzeiten aber führten ihn immer wieder zurück ins Elternhaus nach Velmede.
Nur anderthalb Stunden von dem väterlichen Gute entfernt lag Kappenberg, der Wohnsitz des vielleicht besten deutschen Mannes des ganzen Jahrhunderts, des Reichsfreiherrn vom Stein. Sein Auge fiel auf den jungen Referendarius, und Stein zog ihn in seine Nähe. So kam eine Freundschaft zustande, die bis zum Tode des Reichsfreiherrn anhielt und die für Leben und Amt Ernsts v. Bodelschwingh die größte Bedeutung gewann.
1822 wurde er zum Landrat des Kreises Tecklenburg ernannt. Das Landratsamt in dem Städtchen hatte keine geeignete Wohnung. Aber die Witwe des früheren Landrats, Frau v. Diepenbrock-Grueter, die dicht unterhalb der Stadt Tecklenburg in Haus Mark wohnte, bot einen Teil des Hauses zur Wohnung an. So konnte denn der Landrat sein „Lottchen”, wie er zeitlebens seine Frau nannte, heimführen. Die junge Landrätin war freilich ihrer Schwiegermutter keine willkommene Tochter. Die alte Frau v. Bodelschwingh stammte aus dem Hause Plettenberg, das einst dem deutschen Ritterorden in Hans v. Plettenberg einen seiner größten Ordensmeister gestellt hatte. Sie war bei kleinem, zartem Körper eine stolze und sehr willenskräftige Natur. Im Stillen hatte sie sich eine der Töchter des Freiherrn vom Stein an die Seite ihres ältesten Sohnes gewünscht. Darum blieb sie lange Zeit ihrem Sohne gram, obwohl er, wie sie selbst sagte, ihr niemals Kummer gemacht hatte. Namentlich aber mußte ihre Schwiegertochter viele Jahre hindurch unter schwerer Zurücksetzung leiden. Doch die junge Landrätin trug es still und gewann dadurch das Herz ihrer Schwiegermutter in einer Weise, daß die alternde Frau schließlich niemand lieber um sich hatte als ihr „Lottchen”. „Kinder, vergeßt es nie, was ihr für eine Mutter habt!” rief sie einmal ihren Enkeln zu. Und als es zum Sterben mit ihr ging, war es wiederum ihre Schwiegertochter, der sie ihr ganzes Herz ausschüttete, wie ein Beichtkind dem Beichtvater, und von der sie sich Trost und Stärkung holte für den letzten Gang.
Ihr Mann, der „Franzherr”, wie ihn seine Leute nannten, war ihr im Tode längst vorangegangen. Er war ein Mann von gewissenhafter Treue und größter Herzensgüte. Das Gut war[S. 10] zum Teil verpachtet, und der Pachtzins mußte jährlich in bar bezahlt werden. Ein Pächter, der in jenen schweren Zeiten die Summe nicht rechtzeitig hatte aufbringen können, kommt zum Gutsherrn, um ihn um Stundung zu bitten. Der weist ihn an seinen Rentmeister, dem die Einkassierung des Pachtgeldes oblag. Dieser aber bleibt hart. So kehrt der bedrängte Pächter zum Gutsherrn zurück und bittet ihn, ihm das Geld vorzustrecken, damit er es dem gestrengen Rentmeister zahlen könne. Der Franzherr gibt ihm das Geld, und der Pächter trägt es zum Rentmeister hinüber. Aber der findet unter der Summe ungängige Münzen und lehnt sie ab. Und noch einmal kommt der Pächter zu seinem Herrn, um sich die gewünschten Münzen einzutauschen und so mit dem Gelde seines eigenen Pachtherrn die Pacht zu bezahlen.
Die Landrätin in Tecklenburg, seine Schwiegertochter, hatte nach einer beängstigenden Nacht eines Morgens zu ihrem Mann gesagt: „Ich weiß nicht, warum ich so unruhig bin, ich glaube, unserm Vater geht es nicht gut.” Noch denselben Morgen kam ein reitender Bote mit der Nachricht, daß der Vater krank sei. Sofort warf sich der Landrat aufs Pferd. Aber als er Velmede erreichte und die Magd, die ihm begegnete, fragte: „Wie geht es dem Vater?” sagte sie nur: „Der ist eingegangen zu seines Herrn Freude.” Der Sohn dieses Vaters aber, der Landrat von Tecklenburg, stand mit gleicher Treue und mit großer Umsicht in seinem Amt. Noch nach Jahrzehnten haben die Augen der Tecklenburger geleuchtet, wenn der Name ihres ehemaligen Landrats genannt wurde.
Der Osten Deutschlands hatte in den Jahren 1813–15 den großen Frühling vaterländischen Erwachens erlebt. Jetzt erlebte der Westen ein neues Erwachen des alten Glaubens der Väter. Statt des Rationalismus, der keinen Menschen mehr befriedigte, wurde der Geschmack an dem Evangelium lebendig. Auf vielen Kanzeln erstanden Männer, die den sehnenden Herzen und Gewissen den Sünderheiland predigten.
Die Kirche in dem Städtchen Tecklenburg blieb freilich von diesem neuen Frühlingshauch unberührt; aber im benachbarten Lengerich spürte man ihn und drüben in dem kleinen Walddorf Ledde, nur eine kurze Stunde von Haus Mark entfernt. So sehen wir auch die Tecklenburger Landrätin mit ihrem Mann in Ledde unter der Kanzel des feurigen jungen Predigers Walter[S. 11] wie auch in Lengerich, wo Pastor Smend stiller, aber auch tiefer von dem neuen Leben erfaßt war.
Fünf Kinder hatte sie ihrem Mann geboren, und jetzt, wo sie ihr sechstes Kind erwartete, war es für sie eine Zeit, wo ihr Herz unter dem Wehen des Geistesfrühlings mehr als je in Sprüngen ging und ihre Liebe zu dem, der sie zuerst geliebt hatte, besonders hell brannte. Nie vorher hatte sie einem ihrer Kinder mit solcher Freudigkeit und Sammlung des Herzens entgegengesehen. So kam der 6. März 1831 heran. Es war ein Sonntag. Die Hausgenossen waren zur Kirche gegangen. Die Landrätin hatte still für sich eine Predigt des Württembergers Hofacker gelesen. Nun weihte sie das Kind, das sie erwartete, noch einmal, wie sie es früher schon getan, ihrem Herrn zum Eigentum und Dienst. Am Abend desselben Tages hielt sie ihren kleinen Friedrich in den Armen.
Zwei Monate später mußte die Familie v. Bodelschwingh ihr liebgewonnenes Tecklenburger Land verlassen. Es ging dem Rheine zu nach Cöln, wohin der Landrat als Oberpräsidialrat versetzt worden war. Noch in demselben Jahre wurde er Regierungspräsident von Trier. Von hier schrieb später seine Frau an ihre Schwester: „Von Fritz läßt sich nur sagen, daß er ein recht aufgeweckter Junge ist und das Soldatenspiel so fleißig übt, als wenn es ihm damit schon ein großer Ernst wäre.” Und der kleine Fritz selbst erinnerte sich aus dieser Zeit an die großen Taubenschwärme, die um die Porta Nigra, das uralte Römertor, flogen, und — an den Sarg, in welchem sein kleiner Bruder Ernst lag. „Die Kränze,” so erzählte er, „hüllten den Sarg ein, die Lichter brannten, und als der Sarg aufgehoben wurde, da war es mir, als würde er gradeswegs in den Himmel getragen.” So nah und dicht ragte dem Kinde unter der Unterweisung der treuen Mutter die unsichtbare Welt schon damals in die sichtbare hinein.
Dann, 1834, kam die Ernennung des Vaters zum Oberpräsidenten der Rheinprovinz, und der kleine Fritz weiß noch, wie eines Tages die ganze Familie auf der „Eiljacht” moselabwärts von Trier nach Koblenz fährt. „Koblenz”, so erzählt er später, „wie freundlich blickst du aus Kindheitstagen mich an! Wie haben die schönen Fluten der Mosel und des herrlichen Rheinstroms, in denen ich schwimmen lernte, wie haben die schönen Berge, in die so mancher fröhliche Weg uns hineinführte, mich erfreut und erquickt! Aber ganz besonders traut bleibst du mir, alte Wohnung in der Oberpräsidium-Straße! Welch ein Kinderparadies warst du für uns! Welche Schätze mancherlei Art, gruselige und heitere, botest du uns dar: einen großen Flur, wo wir nach Herzenslust unsere Kreisel treiben konnten, eine unbeschreiblich gemütliche Wohnstube, wo die Mutter in allen Anliegen aufgesucht werden durfte; ein Hinterhaus nach dem[S. 13] Garten zu, wo unser Hauslehrer wohnte und wir zu arbeiten hatten, dazwischen ein langer, langer Gang mit einer Glastür, durch die es auf die Rumpelkammer des Hauses mit ihren altertümlichen Truhen ging und von da auf einen langen Boden, wo wir unsere Mäusefallen aufstellten. Vom Ende dieses Bodens aber, das war unser Geheimnis, gelangten wir durch ein losgelöstes Brett mittels eines kühnen Sprunges auf den Heuboden des Kutschers Franz. Kein schöneres Spiel, als hier von oben nach unten Kobolz zu schießen oder, was noch viel schöner war, oben in der verborgensten Ecke des Heubodens sich ein Häuschen zu bauen. Da wurden die schönsten Geschichten erzählt. Und, o Wonne, wenn es nun gar am Schloß rappelte und Kutscher Franz den Heuboden betrat! Da hielten wir alle den Atem an, bis er mit seiner Tracht Heu wieder verschwunden war.
Aber einmal, als wir Kinder an der Glastür vorbeikamen, klopfte es von innen, und oben durch die Scheiben guckte ein Kerl. Eigentlich war es gar kein Kerl, sondern ein alter Hut, der oben auf der Rumpelkammer gelegen hatte und der nun auf einem mit einem weißen Tuche behangenen Stocke in die Höhe gehalten wurde. Natürlich ein furchtbarer Schreck der kleinen Gesellschaft und Fersengeld, was nur die Füße laufen wollten. Was half es, daß der Bruder Ludwig die Tür aufmachte und lachend den alten Hut auf dem Stocke zeigte. Der Schreck blieb nun einmal. Und so oft der Spaß wiederholt wurde in wechselnden Gestalten, die durch das Fenster guckten, — bald war es eine große ausgestopfte Puppe, bald ein ausgehöhlter Kürbiskopf — die Furcht vor der Glastür verlor sich nicht.
Ganz besonders schön war unser Garten, der in zwei Terrassen zur alten, dicken Stadtmauer hinunterführte. In dieser Mauer legten wir unsere Räuberhöhlen an und bargen unsere selbstgeschnitzten Waffen darin: Säbel, Pistolen, Streitäxte, Bogen und Pfeile. In der Mitte des Gartens lief eine Allee von Linden, in deren prachtvoll verschlungenen Kronen wir Kinder manche Stunde zubrachten. Von allen Obstbäumen bleibt der große Birnbaum oben rechts in der Ecke des Gartens besonders unvergeßlich. Er trug so treu jedes Jahr mehrere Waschkörbe voll Birnen, daß der Tag, an dem wir ihn abernteten, jedesmal ein Familienfest war. Hinter dem Birnbaum war ein Himbeerbeet, das beliebteste Versteck, wenn wir Anschlag [S. 14] spielten. Unten im Garten aber hing an vier Balken eine lange Schaukel, auf der wir Kinder alle zugleich Platz hatten. Oben links in der Ecke stand eine Geißblattlaube, wo so manches Mal unser Vesperbrot verzehrt wurde, und an der Mauer waren die prachtvollsten weißen und blauen Weintrauben. Das alles genossen wir nicht allein, sondern mit treuen Spielgefährten zusammen, die sich täglich bei uns einstellten.
Besonders reich wurde unser Leben, als der Vater noch einen Garten am Rhein hinzukaufte, dem Dörfchen Pfaffendorf gegenüber. Diesen Garten, der unser eigentlicher Gemüse- und Obstgarten war, halfen wir Kinder bepflanzen und bestellen. Wir konnten alle klettern wie die Katzen. Darum war es uns auch ein Kleines, über den hohen Gartenzaun zu kommen. Als das aber der Vater erfuhr, verbot er es uns, damit wir es andern Kindern nicht vormachten. Wir sollten fortan immer den Schlüssel mitnehmen und nur durch die ordentliche Tür aus- und eingehen.
Nun hatten mich einmal die Geschwister, als sie kurz vor Mittag nach Hause gingen, aus Versehen in dem Garten eingeschlossen in der Meinung, ich sei schon voraus, während ich ganz vertieft hoch in den Zweigen eines Kirschbaums saß. Plötzlich merkte ich, daß alles still um mich her war. Ich stieg vom Kirschbaum und stand alsbald vor der verschlossenen Tür. Es wäre mir ja ein kleines gewesen, über den Gartenzaun hinüberzuklettern, wie ich dies schon oft getan hatte. „Aber der Vater hat es ja verboten”, so hieß es in meinem Herzen. Da mein Rufen nichts half, legte ich mich schluchzend auf die Bank in der Gartenlaube, die ganz von Gebüschen eingeschlossen war. Eine Nachtigall, die dort in dem Busch ihr Quartier hatte, kam ganz zutraulich auf den Tisch geflogen, der vor der Bank stand, auf der ich endlich über meinen Tränen einschlief.
Inzwischen war zu Hause große Unruhe gewesen. Die Geschwister hatten gesagt, ich müsse gewiß schon vor ihnen aus dem Garten gegangen sein. Und wenn sie mich doch vielleicht eingeschlossen hätten, so wüßte ich ja, daß ich zu Mittag zu Hause sein müßte, und wäre gewiß über den Zaun gesprungen. So hatte man mich denn überall gesucht, nur da nicht, wo ich zu finden war. Da, mit einemmal, hörte ich mich beim Namen rufen. Der Vater stand vor mir und sagte: „Mein Sohn, wie konntest du uns das antun?” Ich antwortete, aufs neue in Tränen ausbrechend: [S. 15] „Vater, du hast es uns doch verboten, über die Mauer zu klettern.”
Sehr lebhaft stehen mir noch die schweren Erkrankungen meines Vaters in Erinnerung. Zweimal lag er in Koblenz an seiner durchschossenen Lunge todkrank, beide Male an Lungenentzündung. Das eine Mal kam es so weit, daß die Ärzte ihn aufgegeben hatten. Es war spät am Abend, da holte uns die Mutter alle herein in das vermeintliche Sterbezimmer. Wir Kleinen nahmen mit heißen Tränen vom lieben Vater Abschied, der noch in der Nacht das heilige Abendmahl empfing. Nachdem die Mutter uns zu Bett gebracht hatte, suchte sie, wie sie mir später erzählte, eine verborgene Stelle auf, legte sich dort auf ihr Angesicht und bat Gott um ein ganz gehorsames Herz, mit dem sie sagen könne: „Herr, dein Wille geschehe!” So hielt sie lange an mit Beten und Rufen, bis es endlich ganz still in ihr wurde und sie ihr Jawort geben konnte zu dem Opfer, das sie bringen sollte. Kaum aber hatte sie in ihrem Herzen das Opfer vollbracht, da war es ihr, als bekäme sie einen freundlichen Zuspruch: „Nun sollst du ihn noch einmal behalten.” Und siehe da, wie sie von leiser Hoffnung getragen in das Krankenzimmer zurückkehrt, da merkt sie, daß der eigentümliche Schweiß eingetreten ist, der eine Wendung zur Genesung ankündigt. Noch ganz deutlich habe ich das glückliche Angesicht der Mutter vor Augen, wie sie sich morgens über unser Bett neigte und uns Kleinen mit der Freudenbotschaft begrüßte: „Liebe Kinder, der Vater wird wieder besser.”
War es bei dieser Krankheit oder bei der vorhergehenden, das weiß ich nicht mehr gewiß, aber das weiß ich, daß ich oftmals auf dem Bette des Vaters saß, als er in der Genesung begriffen war, und daß er ein kleines Buch in der Hand hatte, aus dem er mir den ersten Leseunterricht gab. Auch meine älteren Geschwister hatten alle aus demselben kleinen Buch lesen gelernt. Es enthielt zugleich den ersten Religionsunterricht in kurzen Sätzen mit lauter einsilbigen Wörtern und fing an: ‚Mein Kind, Gott ist sehr gut, er hat dich sehr lieb.’”
Treue Hauslehrer — einer von ihnen kam, von Zeller empfohlen, aus der Anstalt Beuggen am Rhein — setzten den Unterricht bei dem kleinen Friedrich und seinen Geschwistern fort. Sie waren auch die Begleiter der heranwachsenden Kinder bei den schönen Wanderungen den Rhein aufwärts bis ins[S. 16] Nahetal oder den Rhein abwärts in die westfälische Heimat zu der zwar gefürchteten, aber doch zugleich innig geliebten Großmutter. Vorübergehend wurde auch die Bürgerschule von Koblenz besucht und auf dem Heimweg zwischen der in ein katholisches und ein evangelisches Lager geteilten Schuljugend manch heißer Strauß ausgefochten.
Vornehme Gäste kamen ins Oberpräsidium, auch der preußische Kronprinz und die Kaiserin von Rußland. Aber die Mutter blieb dieselbe schlichte Frau und wurde es noch immer mehr. Einmal, als die Köchin erkrankt war und die zum Diner geladenen Gäste nicht mehr abbestellt werden konnten, auch keine andere Hilfe sich zeigte, blieb sie in der Küche und besorgte das ganze Essen, ohne sich ihren Gästen zu zeigen.
Unvergeßlich blieb auch ihren Kindern, was sie von ihrer Reise nach Berlin erzählte, wo ihr Mann, der zur Huldigungsfeier des Königs Friedrich Wilhelm IV. an den Hof gerufen worden war, abermals an Lungenentzündung krank lag. Als sie mit der Post bis Cassel gelangt war, hieß es: „Zwölf Stunden Aufenthalt.” Das war keine Kleinigkeit für die um ihren todkranken Mann geängstete Frau. Da ihr ein Paar Schuhe fehlten, machte sie sich auf den Weg in die Stadt. Die prunkenden Läden liebte sie nicht, und so suchte sie eine Nebengasse auf, in der sie das Schaufenster eines Schusters fand, mit einem einzigen Paar kleiner Schuhe besetzt. Sie trat ein und fand darin das vergrämte Gesicht einer Frau. Sie merkte gleich, daß sie die Schuhe kaufen mußte, ob sie ihr paßten oder nicht, und fragte teilnehmend, warum denn nur ein Paar Schuhe übriggeblieben seien. Da kam es heraus, daß der Mann an der Schwindsucht darniederliege und nicht mehr arbeiten könne. Bald saß die Oberpräsidentin am Bette des Kranken. Nachdem sie unten im Laden die Frau erfreut hatte durch den höchsten Preis, den sie irgend für die Schuhe anbringen konnte, erquickte sie nun vollends den Mann aus dem reichen Schatz ihres Herzens und stärkte ihn für seinen Weg aus der Zeit in die Ewigkeit. Darüber wurde ihr eigenes sorgenvolles Herz, das durch den langen Aufenthalt in doppelte Unruhe gebracht war, still. Und als sie nach zwei Tagen in Berlin ankam, fand sie ihren Mann schon auf dem Wege zur Genesung. Gerade in der Stunde, wo sie am Bette des armen kranken Schusters in Cassel gesessen hatte, war die Krisis eingetreten.
Solche Erfahrungen machten es immer mehr zu ihrem inneren Besitz und Grundsatz, durch keine Verlegenheit verlegen zu werden und durch keine Verdrießlichkeit verdrossen. „Es ist alles gut, was wir nicht selbst verschuldet haben”, pflegte sie oft zu sagen; und wo etwas besonders Schweres kam, sagte sie: „Gott hat gewiß etwas besonders Gutes damit im Sinn.” Darin war sie vollkommen eins mit ihrem Mann, der von Natur noch glücklicher veranlagt war als sie und an dem alle, die mit ihm in Berührung kamen, mit einer unbegrenzten Liebe emporsahen.
Schon ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt schrieb Professor Clemens Perthes in Bonn: „Ich fand in Koblenz viel verändert; statt des alten guten, aber schwachen P. einen jungen überaus kräftigen Mann als Oberpräsidenten, der mit eigener Hand überall eingriff und schon ein gutes Maß Schmutz aus dem alten Schlendrian aufgewühlt hat. Bodelschwingh ist aus Vinckes Schule, ebenso kräftig und sorgsam, aber gewiß viel besonnener als dieser, dabei von einem schönen, männlichen Äußeren, Meister in allen körperlichen Übungen, Ritter des Eisernen Kreuzes 1. Klasse. Durch sein einfaches Auftreten paßt er ganz vorzüglich für die Rheinlande, denen wohl nicht leicht ein größerer Verlust zugefügt werden könnte, als wenn der Oberpräsident wirklich, wie es heißt, Finanzminister werden sollte. Es muß eine Lust sein, unter Bodelschwingh zu arbeiten.” In der Tat gelang es der hingebenden Treue und Umsicht Bodelschwinghs im Bunde mit seinen von ihm hingerissenen Mitarbeitern, die rheinische Provinz, um die Frankreich mit so heißen Bemühungen geworben hatte, wieder fest mit dem Mutterlande zu verknüpfen.
Auch die Verhaftung des Cölner Erzbischofs von Droste-Vischering, die er infolge des Mischehen-Streites auf Befehl der Krone persönlich zu vollziehen hatte, konnte dem evangelischen Mann das Vertrauen der meist katholischen Rheinländer nicht entziehen. So tief waren alle trotz unvermeidlicher sachlicher Differenzen von der Rechtlichkeit seiner Person überzeugt.
Nach achtjähriger Tätigkeit in Koblenz wurde Ernst v. Bodelschwingh 1842 zur Leitung des Finanzministeriums nach[S. 18] Berlin berufen. Er hatte eigentlich schon damals das Ministerium des Innern übernehmen sollen, den wichtigsten Posten im preußischen Staate, doch hatte er es beim König durchgesetzt, ihm das Finanzministerium zu geben, dem zu jener Zeit noch außer den eigentlichen Finanzfragen ein großer Teil der Aufgaben unterstellt war, die später von dem Ministerium des Handels und der öffentlichen Arbeiten erledigt wurden. Die Erfahrungen als Landrat und in den verschiedenen Ämtern der Rheinprovinz hatten ihm gerade diese praktischen Gebiete besonders vertraut gemacht. Aber das Losreißen in Koblenz war sauer. Und nicht nur dem Oberpräsidenten wurde der Abschied von seiner ihm so ans Herz gewachsenen Provinz schwer, sondern auch seiner ganzen Familie. Der Rhein hatte es ihnen allen angetan. Und als der damals elfjährige Friedrich längst zum Mann und Greis geworden war, hörte man ihn noch manchmal vor sich hinsummen:
Während der Vater mit den älteren Kindern schon nach Berlin vorausgeeilt war, reiste die Mutter mit den jüngeren Geschwistern hinterher. Schon seit Jahren war Karl, der um zwei Jahre ältere Bruder Friedrichs, leidend, und der kleine Friedrich hatte während der Reise nicht nur den Kanarienvogel, der in seinem Käfig an der Decke des Wagens hing, und die Meerschweinchen, die in einer Kiste mitgeführt wurden, zu versorgen, sondern auch als Krankenpfleger dem leidenden Bruder Handreichungen zu tun. Nach zehntägiger Fahrt in der Postkutsche wurde die neue Heimat erreicht und das Finanzministerium, das bis heute, wenn auch in veränderter Form, auf demselben Platze am Kastanienwäldchen steht, bezogen.
Von da war es ein kurzer Weg zum Joachimstalschen Gymnasium in der Burgstraße jenseits des Lustgartens. Die Aufnahme [S. 19] ging glatt vonstatten. Aber als es vom Lateinischen zum Griechischen vorwärts gehen sollte und das Gymnasium mit den außerordentlichen Ansprüchen an höchste Leistungen auf dem Gebiete der klassischen Sprachen auch an den kleinen Quartaner und Tertianer herantrat, da bedurfte es der größten Anspannung der Willenskraft, um das geforderte Ziel notdürftig zu erreichen. Erst nach zwei Jahren gab es ein Aufatmen. Statt des Finanzministeriums übernahm der Vater das Kabinettsministerium und im Jahre darauf außerdem auch noch das Ministerium des Innern. Damit war ein Wohnungswechsel verbunden, erst in die Wilhelmstraße, dann in die Straße Unter den Linden. Jetzt war der Weg zum Joachimstalschen Gymnasium zu weit geworden, und Friedrich bezog mit seinen Brüdern das damals in der Kochstraße gelegene Friedrich-Wilhelms-Gymnasium. Mit wachsender Lust, unter verständnisvollen Lehrern, ging es an die Arbeit, und lange, nachdem er die Schule verlassen hatte, verfolgte ihn das Heimweh nach den Bänken seines lieben Friedrich-Wilhelms-Gymnasiums.
In der Freizeit wurde, wie einst in Koblenz, geturnt, geschwommen, gerudert und Schlittschuh gelaufen. Jetzt kam auch das Reiten hinzu. Einmal freilich setzte Cora, das Reitpferd seines Vaters, den jungen Friedrich im Tiergarten ab und trabte ohne ihn durch das Brandenburger Tor nach Hause. Von den älteren Brüdern lernte er das Fechten, das er so lieb gewann, daß er bis zum Jahre 1854 sich nicht von seinem doppelten Fechtzeug mit Rapier, Schutzhaube und Bandagen trennen konnte. Und zeit seines Lebens führte er über seinem rechten Auge einen Denkzettel mit sich in Gestalt einer Narbe, die ihm sein kleiner Bruder Ernst geschlagen hatte. Seiner Überlegenheit sicher, hatte der ältere Bruder, ohne sich durch Bandagen zu schützen, dem jüngeren das scharfe Rapier in die Hand gedrückt, und dieser, nicht faul, hatte ihm im kühnen Dreinschlagen den Hieb gerade über dem Auge beigebracht.
Bald kam auch das edle Weidwerk hinzu. Der König hatte seinem Minister für die Stunden der Erholung vor den Toren Berlins ein Jagdgebiet zur Verfügung gestellt. So liefen denn die Söhne hinter dem Vater her, erst um das geschossene Wild zu tragen, dann um auch selbst die Flinte in die Hand zu nehmen. Auf Hasen und Hühner wagte Friedrich den Schuß, aber auf den Rehbock nur ein einziges Mal. Die Augen des[S. 20] verendenden Tieres hatten es ihm angetan. Seitdem konnte er nicht wieder darauf anlegen.
Noch größer waren die Freuden der gemeinsamen Wanderungen mit dem geliebten Vater oder auch allein mit den Brüdern und Freunden. Dem Vater waren von Jugend auf weite Märsche Lust und Erholung gewesen. Noch vor den Freiheitskriegen war er einmal von Berlin nach Westfalen zu Fuß gegangen. Zugleich mit der Post hatte er Berlin verlassen, und eher als die Post hatte er die Heimat erreicht. Später, als Student in Göttingen, war er in einem Tage auf den Brocken gegangen, hatte dort am andern Morgen den Sonnenaufgang erlebt und war noch am selben Abend wieder in Göttingen gewesen. Zehn Meilen hin, zehn Meilen zurück, d. h. etwa 150 Kilometer in zwei Tagen. Als Referendar war er sogar einmal in elf Wochen von Westfalen durch Süddeutschland und die Schweiz an die oberitalienischen Seen bis Mailand gewandert und wieder zurück, ohne irgend ein Gefährt unter den Füßen zu haben als nur auf den schweizerischen und italienischen Seen das Deck der Schiffe, die ihn von einem Ufer zum andern trugen. So gab es auch jetzt mit den heranwachsenden Söhnen unter frohen Liedern eine Reise über Rheinsberg und Hohen-Zieritz mit den Erinnerungen an Friedrich den Großen und die Königin Luise nach der Insel Rügen. Eine Fußreise nach Süddeutschland machten die Brüder zusammen mit einigen Freunden ohne den Vater. 87 deutsche Burgen wurden begrüßt oder bestiegen, und in sieben deutschen Strömen bis hinunter zum Neckar wurde gebadet.
Unter solchen Freuden glitten die schalen Vergnügungen der Hauptstadt fast unbeachtet an Friedrich vorüber, zumal schon damals weitere und engere Freundschaftsbande ihn ganz in Anspruch nahmen. Schon als Quartaner auf dem Joachimstalschen Gymnasium war er für einen fälschlich angeklagten Klassengenossen, Gustav Bossart, eingetreten. Ritterlich war er zum Direktor vorgedrungen und hatte sich, wenn auch unter lautem Schluchzen, für die Redlichkeit des Beschuldigten verbürgt. Das hatte ihm zugleich das Herz des Direktors und seines Kameraden gewonnen.
Bald darauf erschütterten tiefe Zweifel an der Güte Gottes das Herz des jungen Bossart. Während sie unter dem Sternenhimmel [S. 21] miteinander dahingingen, gestand er sie seinem Freunde Friedrich. Es handelte sich um das alte Problem des ewigen Gerichtes und der ewigen Gnade. Was konnte Friedrich sagen? Das Firmament strahlte zu ihnen herunter, und während er sein Auge aufhob, kam es über ihn wie eine Erleuchtung: Ist nicht beides gleich unfaßlich, die Endlichkeit und die Unendlichkeit des Himmelsraumes? Wenn es mir wirklich gelänge, bis an sein Ende zu kommen, was würde ich dann jenseits seines Endes erblicken? „So”, sagte er seinem Freunde Bossart, „ist es auch mit den Fragen, die dich bewegen. Sie lassen sich beide nicht zu Ende denken. Es gibt im Reich der Gnade und im Reiche der Natur eine Grenze, die dem menschlichen Geist gesteckt ist, bei der das Denken aufhört und der Glaube anfängt, der, ohne die letzten Dinge ergründen zu können, Gott traut.” — Mit unermüdlicher Treue hat der Knabe, der Jüngling und der heranreifende Mann an dieser Freundschaft festgehalten; und wir werden ihr später noch einmal begegnen.
Unter den Häusern, die denen Bodelschwinghs besonders verbunden waren, stand obenan das Haus des damaligen Generals v. Diest. Der General war der einzige noch überlebende Bruder der Ministerin. Nach der Schlacht bei Auerstedt, an der er als junger Offizier teilnahm, hatte er sich überzeugt, daß nur von Osten her die Befreiung Preußens kommen konnte. So war er über Holland nach Rußland gegangen und in russische Dienste getreten. Als Vermessungsoffizier hatte er der russischen Armee ausgezeichnete Dienste getan, hatte die Feldzüge 1812 und 13 auf russischer Seite mitgemacht und war schließlich so sehr in das Vertrauen des russischen Kaisers hineingewachsen, daß dieser alle Mittel aufwendete, um ihn in seiner Armee zu behalten. Aber er konnte außerhalb der Luft seines befreiten Vaterlandes nicht leben. In preußische Dienste zurückgekehrt, war er schließlich Generalinspekteur der Artillerie geworden und lebte jetzt als „der schöne Diest”, wie die Berliner Jungen ihn nannten, in Berlin. Er war in der Tat eine hervorragend schöne Erscheinung, aber in dem stattlichen Manne lebte ein kindlich frommer, demütiger Sinn, der ganz mit dem Geist seiner Geschwister Bodelschwingh übereinstimmte. Seine drei Kinder standen in gleichem Alter mit den älteren Kindern des Hauses Bodelschwingh, und so oft die beiden Geschwisterkreise sich zusammenfanden, was jede Woche mehrmals geschah, gab[S. 22] es das fröhlichste Leben. „Denn die Diests konnten lachen aus dem Effeff.”
Zu dem innersten Freundeskreis gehörte in den ersten Berliner Jahren besonders auch der westfälische Ober-Präsident von Vincke, dessen erste Frau eine Kusine des Ministers von Bodelschwingh gewesen war. Klein und unscheinbar von Person, war dieser Mann vor und nach den Freiheitskriegen einer der größten Wohltäter seiner engeren und weiteren Heimat geworden. Er hatte einen klaren Blick für das Kleinste und für das Größte und entwickelte bei äußerster persönlicher Anspruchslosigkeit für die wichtigsten wie für die unscheinbarsten Dinge den gleichen Eifer. An den Akten pflegte er in echt preußischer Sparsamkeit jeden freien Streifen Papier abzuschneiden, um ihn zu seinen schriftlichen Notizen zu benutzen. Im blauen Kittel, um seinen darunter befindlichen guten Anzug zu schonen, visitierte er in Westfalen die Landräte und Amtleute, reiste auch in demselben blauen Kittel von Westfalen nach Berlin. Immer führte er eines oder mehrere dieser Kleidungsstücke bei sich, um sie seinen Freunden und Bekannten zu empfehlen oder zu schenken und ihnen bei der ersten Anprobe behilflich zu sein, die bisweilen nicht ohne Schwierigkeit vor sich zu gehen pflegte, da der Kittel ohne Knöpfe war und über den Kopf fix und fertig auf den Körper gezogen werden mußte. Er konnte keine Reise von Westfalen nach Berlin unternehmen, ohne sich mit allerlei Paketen zu beladen für die in Berlin studierenden Söhne seiner westfälischen Freunde und Bekannten.
Eine Reise, auf der Friedrich mit seinem Vater den alten aus Westfalen gekommenen Oberpräsidenten nach Eberswalde begleitete, blieb ihm unvergeßlich. Nachdem die Dienstgeschäfte erledigt waren, durcheilte der kleine über siebzigjährige Mann die Stadt, um die westfälischen Schüler der dortigen Forstakademie aufzusuchen und sich von ihnen Grüße und Aufträge für ihre Verwandten nach Münster zu holen. Als er 1844 starb und auf seinem Gute „Haus Busch” im westfälischen Lennetal begraben wurde, setzte man ihm auf seinen Grabstein nur die Worte: Vixit propter alios — er lebte für andere.
In demselben Sinne hatten auch Bodelschwinghs ihr Leben eingerichtet. Darum ging es im Hause einfach und sparsam zu. Wenn es freilich galt, bei festlichen Gelegenheiten den Staat zu[S. 23] vertreten, wurde nicht gespart. Der junge Friedrich hatte den Kandidaten, der seinen jüngeren Bruder unterrichtete, bisweilen auf seinen Gängen zu armen Leuten begleitet. Bei der Rückkehr nach Hause fiel ihm der Abstand zwischen den behaglichen und stattlichen Räumen seines Elternhauses und den Stuben der armen Leute schwer aufs Herz. Und einmal, als die Tafel für Gäste des Finanzministeriums festlich gedeckt und mit allerlei Prunkgeschirr und köstlichen Speisen besetzt war, fing der Knabe bitterlich an zu weinen im Gedanken daran, wie reichlich es hier zuging und wieviel statt dessen die armen Leute entbehren mußten. In beiden Fällen kostete es die Mutter Mühe, ihn über diesen Unterschied, unter dem er litt, zu beruhigen.
Bedeutsam für Friedrich v. Bodelschwingh und seine spätere Arbeit wurde es auch, als 1845 an einige Gymnasien und an die Kadettenanstalten die Aufforderung kam, zu Gespielen des Prinzen Friedrich Wilhelm, des Sohnes des Prinzen von Preußen, geeignete Altersgenossen vorzuschlagen. Unter den Vorgeschlagenen war auch der junge Bodelschwingh. Mit sieben oder acht Kameraden fand er sich von nun an wöchentlich einmal, namentlich Sonntags, bei dem jungen Prinzen ein, im Winter in Berlin, im Sommer in Babelsberg bei Potsdam.
Er erzählt darüber: „Wir waren zumeist zwischen 14 und 15 Jahren alt. Jedesmal, wenn ein neuer Gespiele hinzukam, begrüßte ihn der Prinz auf das zutraulichste und bot ihm gleich das Du an. Im Winter tummelten wir uns in dem geräumigen Turnsaal. Im Sommer, in Babelsberg, war unser Treiben meist noch viel freier und fröhlicher, weil wir nicht so unter den Augen des Generals von Unruh, des Gouverneurs des Prinzen, waren. Hier wurden nicht nur die gewöhnlichen Laufspiele gespielt, sondern wir durften uns wohl auch die Pferde aus dem Stall holen, große und kleine, und so, beritten, allerlei Spiele spielen, die sonst Knaben zu Fuß zu treiben pflegen. Am meisten Freude machte uns die kleine Flotte auf dem See, mit der wir unsere Seeschlachten lieferten. Ich erinnere mich noch, wie wir eines Tages den Prinzen Friedrich Karl angriffen, der eine kleine Fregatte kommandierte. Aber bei dem Versuch, mit meinem Freunde Zastrow zusammen die Fregatte zu entern, wurden wir von dem Prinzen durch verschiedene Eimer Wasser in die Flucht geschlagen.
Unser Prinz Friedrich Wilhelm war wohl der gesittetste unter uns Knaben, der in keiner Weise uns seine hohe Geburt fühlen ließ, sondern ganz wie mit seinesgleichen seine Spiele mit uns trieb und sich von uns Kleinen etwas gefallen ließ, da wir zumeist gelenkiger und hurtiger waren als er. Öfter kam auch Emanuel Geibel, um mit uns kleine Aufführungen einzuüben.”
Aber die tiefsten Erinnerungen und Einflüsse blieben doch auch in dieser Berliner Zeit dem Elternhause vorbehalten. Die Ministerin sah es bei dem mühevollen und unruhigen Leben ihres Mannes als ihre Hauptaufgabe an, Frau und Mutter des Hauses zu sein. Darum hatte sie sich schon bald nach ihrer Ankunft in Berlin, unter Hinweis auf ihren kränker werdenden Sohn Karl, beim König und der Königin die Erlaubnis ausgebeten, den Hoffestlichkeiten fern bleiben zu dürfen. Ihr Mann konnte sich diesen natürlich nicht entziehen. Aber ehe er ins Schloß fuhr, pflegte er vorher mit den Seinen die Abendandacht zu halten. Dann meldete er sich beim König und der Königin, ging nacheinander, bald den einen, bald den andern anredend, durch die Reihe der Festsäle, und manchmal, noch ehe die Kinder eingeschlafen waren, hörten sie den Wagen ihres Vaters wieder zurückkommen. Dann fand ihn der Rest des Abends wieder an seinem Schreibtisch; und früh um fünf Uhr war er aufs neue bei der Arbeit.
Nachmittags aber, nach dem einfach und eilig eingenommenen Mittagbrot und der kurzen daran sich anschließenden Ruhepause, fand sich die ganze Familie zum Kaffee zusammen, im Sommer im Garten, im Winter im geräumigen Saale. Dann gehörte der Vater ganz seinen Kindern, scherzte und tollte mit ihnen in größter Heiterkeit, als wenn niemals die ungeheure Last seines Amtes auf ihm gelegen hätte. Und wenn gelegentlich einmal sein Bruder Karl dazu kam, der ihm später im Finanzministerium folgte, dann mischte auch dieser sich in das fröhliche Spiel, und die Kinder sahen zu, wie die beiden schon ergrauten Brüder sich mit Kissen warfen. In der Erinnerung an solche Stunden sagte später der Sohn: „Ich glaube nicht, daß es einen so edlen, glücklich veranlagten Mann wie unseren Vater noch einmal gab.” Die Brüder unterhielten sich einmal über ihn. Der eine: „Solchen Menschen wie Vater gibt es nur einmal in Preußen!” Der zweite: „In Preußen? In Deutschland!” [S. 25] Der dritte: „In Deutschland? Nein, in Europa!” „Und”, fügte die Tochter hinzu, „dabei war er ein strenger Vater.”
Auch die Dienstboten nahmen an diesem Glück des Hauses teil. Durch den treuen Pastor Smend von Lengerich, der durch seine Briefe der seelsorgerliche Freund des Hauses geblieben war, wurde die Verbindung mit dem Tecklenburger Land wach erhalten, und mehr wie ein Tecklenburger Kind trat in Berlin in die Dienste des früheren Landrates und seiner Frau und wurde, auch wenn es sich verheiratet hatte, nicht vergessen, sondern als bleibendes Glied des Hauses angesehen.
Aber ohne seine Bürde war das Glück des Hauses nicht. Das ernste Leiden des dritten Sohnes Karl führte zu dauerndem Siechtum. Nie dachte die Mutter, obwohl sie selbst die Kaiserswerther Schwestern in die Charité eingeführt hatte, daran, sich eine Diakonisse zu Hilfe zu nehmen. „Die Schwestern gehören den Armen”, pflegte sie zu sagen. Die Kranken im eigenen Hause pflegte sie selbst. So hatte sie einen schwindsüchtigen Studenten aufgenommen und bis zum Tode gepflegt und blieb nun auch die Pflegerin ihres Sohnes, der in kindlichem Glauben sein Ende erwartete, bis seine Mutter ihm die Augen zudrücken konnte.
Auch ihr Bruder, der General von Diest, siechte dahin, und auch bei ihm, der seit langem Witwer war, hielt sie in treuster Pflege bis zuletzt aus. An dem Tage, an dem er starb, schrieb sie in ihr Tagebuch: „Todestag? — Gott sei Dank, daß ich mit Gewißheit sagen darf, nicht Todestag, sondern seliger Heimgang meines treuen, noch einzigen Bruders Heinrich. Sein großes schweres Leiden machte ihn keinen Augenblick zweifelnd an der Liebe seines Gottes. Des Herrn Kraft ist in dem Schwachen mächtig, und wie er ihn bekannt hat vor den Menschen als seinen Helfer, Erlöser und Seligmacher, so wird der Herr auch ihn jetzt bekennen vor seinem himmlischen Vater und sagen: ‚Gehe ein zu deines Herrn Freude!’ Seine Lagerstatt war mir ein stilles Heiligtum, und sein letzter Atemzug war für ihn der Anbruch eines Tages, wo er zum Anschauen dessen gelangt, was er hier geglaubt. Ich mußte ihn mit den Worten begleiten: ‚Der Erlöste des Herrn ist nach Zion kommen mit Jauchzen, seine Zunge wird voll Rühmens und sein Mund voll Lachens sein![S. 26]’”
Ernster noch, aber doch von ähnlicher heiliger Freude begleitet, war der Weg zum Grabe ihres ältesten Sohnes. Er war einst als kleines Kind in Tecklenburg schwer krank gewesen. Da hatte ihn die Mutter in leidenschaftlichem Gebet Gott abgetrotzt: Er sollte ihr das Kind am Leben erhalten. Das Kind genas wirklich. Es war ein geweckter, für alle Eindrücke sehr empfänglicher Knabe geworden. Nun in Berlin schlug die Verführung der großen Stadt ihre Krallen in den hochbegabten, von Kraft und Schönheit strotzenden Studenten der Rechtswissenschaft. „Mit seinem Glauben verlor er die Kraft zu Kampf und Sieg,” schrieb später sein Bruder Friedrich. Die Mutter sah ihn bergab gleiten. Aber er ließ sich nicht halten. Bittere Selbstanklagen stiegen in ihr auf in Erinnerung an jene Krankheit und jenes Gebet in Haus Mark. Dazu kam die Sorge um ihren heißgeliebten Mann, an dessen Herzen der Kummer nagte. Jede Nacht blieb sie auf und wartete, bis ihr Sohn zurück war. Wenn sie endlich seinen Schritt hörte, kam kein Wort des Scheltens über ihre Lippen, nicht einmal einen Gedanken des Vorwurfs duldete sie in ihrem Herzen. Sie litt still um ihn und für ihn und klagte sich selbst an.
Eines Nachmittags trat er ganz ruhig ins Zimmer. Seine Hand war verbunden. In einem studentischen Lokal war er mit einem politischen Gegner seines Vaters aneinander geraten. Es war zu einer Forderung und zum Duell gekommen. Er wußte, daß sein Gegner, der ein sehr guter Schütze war, ihn töten wollte. Er selbst hatte in die Luft geschossen und hatte dann seine Hand mit der abgeschossenen Pistole vor die Brust gelegt. So war ihm die Kugel des Gegners, der auf die Brust gezielt hatte, in das Handgelenk gefahren.
Die Wunde schien ungefährlich. Aber als Friedrich, der in der dritten Nacht bei seinem Bruder gewacht hatte, um die Wunde, wie es damals Sitte war, mit Eis zu kühlen, dem Kranken mit anbrechendem Morgen ins Gesicht sah, erschreckten ihn dessen veränderte Züge. Eine Blutvergiftung hatte sich angebahnt, die schnell zum Tode führte. „Doch konnte er noch”, so schreibt Friedrich, „der Mutter sein ganzes Herz in allen Stücken aufschließen und dem Vater auch.” Am Morgen vor seinem Tode feierten Vater und Mutter und die beiden ältesten Geschwister, Frieda und Franz, mit dem Sterbenden zusammen das heilige Abendmahl. „Der liebe Pastor Snethlage” (Hofprediger [S. 27] des Königs) — schreibt Friedrich — „konnte in solchen Stunden mit seinem heiligen, stillen Ernst und seiner großen Einfachheit so nahe ans Herz dringen. Ich erinnere mich, daß es mir vorkam, als wäre der Himmel ganz nahe auf der Erde, wie ich es vorher nie gespürt. Am Nachmittag ging ich wieder in die Schule, da wir das Ende nicht für so nah hielten. Aber kurz vor vier Uhr, ehe die Schule schloß, hatte ich einen ganz besonderen Eindruck, den ich nicht beschreiben konnte. Es war mir so, als wenn die Stunde des lieben Bruders nun doch schon geschlagen hätte. Ich eilte nach Hause und in das Sterbezimmer hinein. Da saß die Mutter dicht an dem Bett, dem Bruder gegenüber. Sie hatte ihm eben die Augen zugedrückt, nachdem sie ihm in seinem letzten Augenblick zugerufen hatte: „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöset, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!”
In dem Briefe, den Ludwig am Morgen des Duells an seinen Vater geschrieben hatte, hieß es: „In wenigen Stunden werde ich nun doch meinem Dir bekannten Gegner mit der tödlichen Waffe in der Hand gegenüberstehen, und nach dem, was vorausgegangen ist, ist nicht daran zu denken, daß die Sache ohne Unglück ablaufen könne. Ich erkenne es daher als meine heilige Pflicht, mich darauf vorzubereiten, daß ich vielleicht heute noch vor meinem Richter erscheinen und von meinem Leben Rechenschaft geben muß. Aber ich fühle auch, wie wenig ich darauf vorbereitet bin. Die Schuld meines ganzen Lebens lastet schwer auf mir, und ich kann mich nur zweifelnd und mit Zittern fragen, ob ich Gnade und Vergebung hoffen darf. Ich habe mich streng geprüft, welche Gefühle ich meinem Gegner gegenüber hege, und kann aufrichtig versichern, daß ich keinen Groll gegen ihn empfinde. Das Duell wird daher in keiner Weise ein Akt der Rache für mich sein. Ich schlage mich, weil ich mich nicht stark genug fühle, den herrschenden Standesansichten entgegenzutreten, weil ich einsehe, daß ich sonst eine ehrenhafte Stellung in der Welt nicht behaupten kann.
Es kann und muß mich sehr beruhigen, daß ich an dem Duell ganz schuldlos bin. Mein Gegner zwingt mich dazu, und es ist von meiner Seite durch meinen Sekundanten alles geschehen, was eine friedliche Beilegung herbeiführen könnte.
Ich komme nun zu der schwersten Pflicht des Abschiedes von Dir, treuer, bester Vater, von meiner lieben, guten Mutter[S. 28] und meinen Geschwistern. So sage ich Euch denn, teuerste Eltern, in dieser ernsten Stunde den wärmsten und aufrichtigsten Dank für die große Liebe, die Ihr mir mein ganzes Leben durch bewiesen habt, und bitte Euch, daß Ihr mir verzeihen wollt, wenn ich sie so schlecht vergelte. Ach, ich fühle es jetzt nur zu bitter, was ich an Euch verschuldet, und alle Sorge, aller Schmerz, den ich Euch bereitet, lastet schwer auf mir. Aus tiefstem Herzen und mit aufrichtigster Reue flehe ich daher für alle meine Verirrungen um Eure Verzeihung und versichere Euch vor Gott, daß in diesem Augenblick wenigstens die wärmste Liebe und Dankbarkeit gegen Euch mein Herz erfüllt und daß es mir unendlich schwer fällt, nur diesen schriftlichen Abschied von Euch nehmen zu können. Ach, ich bin Eurer Verzeihung ja gewiß; möchte ich ebenso gewiß der göttlichen Verzeihung sein können! Fleht für Euren armen sündigen Sohn, daß ihm Gnade werde!
Meine Geschwister beschwöre ich, daß ihnen mein Tod eine ernste Warnung fürs ganze Leben sein möge, die Sünde zu fliehen und einen ernsten, Gott wohlgefälligen Wandel zu führen. Ja, werdet Ihr alle der Trost meiner armen Eltern, liebt und verehrt sie und bedenkt, daß Ihr das nie wieder gutmachen könnt, was Ihr an ihnen verschuldet! Vergeßt nie die letzte Bitte Eures Bruders, der Euch beschwört, daß Ihr Euer ganzes Leben hindurch unsern teuern Eltern Freude bereiten möget und dadurch einen Teil der großen Schuld abtragt, die auf mir in dieser meiner letzten Stunde so schwer lastet.
So lebt denn zum letzten Male wohl, mein lieber guter Vater, meine innig geliebte Mutter, und Ihr alle, meine teuren Geschwister, und betet für Euren unglücklichen Sohn und Bruder Ludwig.” Diesen letzten Teil des Briefes schrieb sich jedes der Geschwister ab und führte ihn in seiner Bibel bei sich.
Zum siebenten Mal seit der Verwundung 1813 erkrankte der Vater an der Lungenentzündung. Neun Tage und Nächte hindurch brachte die Mutter an seinem Bett zu. Mehrere Male fanden die Kinder sie nebenan auf den Knien liegend. Der König schickte seinen Leibarzt. Am neunten Tag, als die Krisis eintrat, glaubte der Arzt, daß sich die Krankheit zum Tode neige. Er trat in das Zimmer, wo die Kinder auf die Nachricht des Arztes warteten. Der Arzt stand vorn, die Mutter etwas[S. 29] hinter ihm. Während der Arzt den Kindern mitteilte, daß ihr Vater nur noch kurze Zeit zu leben haben würde, schüttelte die Mutter hinter ihm leise lächelnd mit dem Kopf. Das sah Franz, der Älteste, und konnte sich eines zuversichtlichen Lächelns nicht erwehren. Nicht wenig befremdet über den gefühllosen Sohn verließ der Arzt das Haus. Aber die Mutter, die aus vielfacher Erfahrung heraus auf dem Gesichte des Kranken die Wendung, nicht zum Tode, sondern zur Genesung gesehen hatte, behielt recht.
Kaum hergestellt, hatte der Minister auf dem ersten vereinigten Landtage der preußischen Provinzial-Abgeordneten die Krone zu vertreten. Heinrich von Treitschke, der Geschichtsschreiber Preußens, sagt darüber: „Eben von schwerster Krankheit genesen, fast allein, selbst ein parlamentarischer Neuling, bot v. B. dieser stürmischen Versammlung die Stirn. Es ergab sich, daß er allein unter allen Ministern ein ungewöhnliches Rednertalent besaß. Höchst unscheinbar gekleidet, fiel er sogleich auf durch seine hohe kriegerische Gestalt und durch den treuherzigen Blick seiner offenen großen Augen. Ursprüngliche Kraft, unschuldige Frische sprachen aus seinem ganzen Wesen, und General von Gerlach, der einen „liberalen” Minister durchaus nicht liebte, sagte wohl: „So ungefähr muß Adam ausgesehen haben.” Der letzte hervorragende Vertreter des alten absolutistischen Beamtentums, hielt er sich verpflichtet, die Willensmeinung des Königs, sofern sie nur dem Rechte nicht offenbar widersprach, mit der ganzen Selbstverleugnung des altgermanischen Vasallen zu verteidigen. Er hatte bei der Beratung des Patents immer wieder und wieder Bedenken hervorgehoben, die ihm sein schlichter Geschäftsverstand aufdrängte, aber der Monarch hatte gesprochen, und an seinem Willen ließe sich nichts mehr ändern.”
Dreiviertel Jahre später, 1848, brach die Revolution aus, und Bodelschwingh erhielt seine Entlassung. In tiefstem Schmerz trat er den Weg in die westfälische Heimat an. In Minden auf dem Bahnhof wurde der verabschiedete Minister erkannt, und ein Mann spottete hinter ihm her: „Oller Ex, oller Ex.” „Laßt ihn spotten,” sagte er zu seinen Kindern, „es ist uns gut so.”
Der König erwog ernstlich, Bodelschwingh als leitenden Minister zurückzurufen, und richtete eine Vorfrage an ihn, ob er bereit wäre zu kommen. Bodelschwingh aber lehnte in einem ausführlichen Schreiben ab. Diese Tatsache widerlegt stärker als alles andere den später gegen Bodelschwingh erhobenen Vorwurf, als hätte er am 19. März die Zurückziehung der Truppen veranlaßt. Nie würde Friedrich Wilhelm IV. einen Minister zurückgerufen haben, dem er die tiefe Demütigung der königlichen Würde zur Last legen mußte, die eine Folge der Zurückziehung der Truppen war.
Zeitweise beschäftigte den verabschiedeten Minister der Gedanke, mit den Seinen nach Amerika auszuwandern. Aber dann entschloß er sich, die heimatliche Scholle zu pflügen, und gerade jetzt nach den schmerzlichen Erlebnissen brach die glücklichste Zeit für die Familie an. Das alte Gutshaus in Velmede war schon vor den Freiheitskriegen abgebrochen worden und hatte längst durch ein neues ersetzt werden sollen. Da aber infolge des Krieges ein großer Teil des Vermögens verloren gegangen war, so war der Neubau bis jetzt unterblieben. Nur die alte, strohgedeckte Wagenremise stand noch, die sich einst die Eltern des Ministers zum Wohnhaus eingerichtet hatten und in der jetzt der Förster wohnte. Hier zog nun die Familie ein.
Bald ging es an den Bau eines einfachen einstöckigen Landhauses, an das Zuschütten des alten Hausgrabens und an die Einrichtung des neuen Blumen- und Obstgartens. Überall legten der Vater und seine Söhne selbst mit Hand an. Dazwischen aber tauchten all die alten Freuden aus Koblenz und Berlin wieder auf. In der Seseke, dem kleinen Fluß, der das Gutsland durchschnitt, wurde geschwommen, gefischt und gerudert; auch die Jagdflinte wurde wieder über den Rücken geworfen und mit dem geliebten Vater um die Wette das Land in die Länge und Breite durchstreift.
Aber inzwischen mußten weitere Schritte ins Leben hinein getan werden. Der Konfirmationsunterricht bei dem Hofprediger Snethlage in Berlin war unterbrochen worden. So brachte der Vater den nun schon siebzehnjährigen Friedrich nach Unna. Pastor von Velsen, als Mensch und als Christ eine gleich anziehende Persönlichkeit, wollte den Primaner nicht mit den so viel jüngeren Konfirmanden zusammen unterrichten [S. 31] und gab ihm auf seinem Zimmer die Konfirmationsstunden. „Das waren selige Wege nach dem lieben Unna hinaus,” schrieb er, „und tiefer als die Konfirmationsfeier selbst blieben diese Stunden in der Seele haften.”
Dann kam die Aufnahme in das Gymnasium zu Dortmund. Aber heimisch wurde er hier nicht. Dazu war die Heimat zu nah. Einige Male machte er am Sonntag zu Fuß den weiten Weg von Dortmund nach Unna, um den Konfirmator wiederzusehen, dessen Predigten ihm mehr zu Herzen gingen, als es sonst ein menschliches Wort bis dahin getan hatte. Aber für gewöhnlich ging es mit den Brüdern Franz und Ernst jeden Sonnabend Nachmittag auf Fußwegen quer durch die Felder die drei Stunden weit zu Eltern und Geschwistern nach Velmede. „Dabei begegnete es mir einmal,” erzählt er, „als das Elternhaus aus der Ferne winkte, daß ich mich wiederholt umblickte, weil es mir vorkam, als ob ein Reiter auf dem schmalen Fußpfade hinter mir her galoppierte, bis ich erkannte, daß es mein eigenes Herz war, welches so laut vor Freude und Wonne klopfte beim Anblick des geliebten Vaterhauses.” Und am letzten Busch kamen Vater und Mutter und die beiden Schwestern Frieda und Sophie den Brüdern entgegen. Dann ging es gemeinsam ins Elternhaus, das vorher nie so genossen worden war als jetzt, wo die Söhne nicht jeden Tag darin zubringen konnten.
Am Sonntagmorgen stand der Vater, der in gesunden Tagen nie den Gottesdienst versäumte, für den Weg in die Kirche nach Methler bereit, und die Kinder folgten ihm, während die Mutter sich alle vierzehn Tage mit den Mägden abwechselte. Am Nachmittag ging es dann unter die Eichen des Mühlenbruchs, wo die Söhne einen lauschigen, stillen Sitzplatz für die Eltern und Schwestern errichtet hatten und wo nun an dem flackernden Feuer die Kartoffeln geröstet wurden. „Wie konnte der Vater jubeln durch den Mühlenbruch wie ein Kind!” schreibt der Sohn. Und in einem Brief der Tochter Sophie heißt es: „An jeder Blume, jedem Blatt und Strauch hatte er seine kindliche Freude. Es ist ja auch ein wahrhaft erfrischender Anblick, den Mann zu sehen, der durch alle Unnatur der Welt, alle Schlechtigkeit und Niedrigkeit der Menschen, alle die ertötendsten Geschäfte des täglichen Lebens und durch viel bittere Enttäuschungen sich hindurchgerettet und sich den reinen, heiteren,[S. 32] ungetrübten Sinn eines Kindes zu erhalten gewußt hat. So heiter, frisch und kräftig habe ich ihn eigentlich noch nie gekannt.”
Ostern 1849 entließ das Gymnasium in Dortmund den jungen Friedrich von Bodelschwingh mit dem Zeugnis der Reife. Da er nur ein halbes Jahr in Berlin und nur ein Jahr in Dortmund die Prima besucht hatte, so würde er am liebsten noch ein halbes Jahr auf das geliebte Friedrich-Wilhelms-Gymnasium nach Berlin zurückgekehrt sein, um trotz des guten Dortmunder Zeugnisses die klassischen Studien zu vertiefen. Aber der Vater riet ab.
„Meine landwirtschaftliche Lehrzeit ist unzweifelhaft die reichste meines Lebens gewesen und wird mir auch wahrscheinlich immer die angenehmste Erinnerung bleiben, sodaß ich sie um keinen Preis missen möchte, sollte ich auch jede beliebige andere Karriere ergreifen. Wenn Zeit und Mittel es gestatten, so will ich einem jeden unbedingt raten, dem Juristen sowohl wie dem Forstmann und Bergmann, vor allem aber dem zukünftigen Soldaten, daß er sich durch ein landwirtschaftliches Lehrjahr für seinen späteren Beruf vorbereitet.”
F. v. B. an seinen Vater 1853.
Was nun werden? Schon während der Zeit in Dortmund hatte Bodelschwingh gelegentlich ein Bergwerk befahren und als Hauer mitgearbeitet. Eigentlich gefesselt hatte ihn diese Arbeit nicht. Sollte er Jura studieren? Aber die unsicheren politischen Verhältnisse schreckten ihn ab. Dagegen brachte ihn die vielfache Beschäftigung mit seinem Vater in Garten, Feld und Wald zu dem Gedanken, zunächst einmal die Landwirtschaft zu ergreifen. Um sich für die praktische Tätigkeit als Landwirt vorzubereiten, ging er zum Studium der Botanik und der Physik für den Sommer 1849 nach Berlin, wo er außer den beiden genannten Fächern Philosophie und Geschichte hörte. Im Herbst 1849 brachte ihn dann sein Vater auf seine neue Arbeitsstelle.
„Ich besinne mich noch darauf,” schreibt er, „daß es gerade die Nacht vom 14. auf den 15. September war, wo wir in Begleitung meines neuen Lehrherrn, des alten Koppe, zu Wagen von Berlin nach Kienitz im Oderbruch fuhren. Die Nacht war für mich sehr lehrreich, weil der alte Herr meinem Vater, den er schon als früheren Finanzminister kannte und liebte, viel aus seinem Leben erzählte. Der alte Koppe war in der Tat eine ausgezeichnete und in vieler Beziehung für meinen neuen Beruf[S. 34] vorbildliche Persönlichkeit. Er war auf einem Gute in der märkischen Lausitz Hütejunge gewesen. Sein Gutsherr hatte ihn als einen munteren, geweckten Knaben, der in allen Stücken besonders treu war, kennen gelernt und liebgewonnen. Er hatte ihm dann zu seiner weiteren Ausbildung verholfen, sodaß er später zum Gutsverwalter aufrückte.
Wir fuhren in jener Nacht durch die Güter eines der reichsten Herren dort in der Mark. Diese Güter hatte der alte Koppe lange Zeit verwaltet und hatte seinem Herrn in seinen Vermögensverhältnissen durch große Umsicht und Treue sehr fortgeholfen. Als dann die beiden wertvollen königlichen Domänen Kienitz und Wollup bei Küstrin pachtfrei wurden, reichte ihm sein Herr gegen die Teilung des Reingewinnes die Mittel dar, die Pachtung anzutreten. Mit großen Opfern kaufte sich Koppe später von dieser Verpflichtung, den Reingewinn zu teilen, frei. Trotzdem brachte er es so weit, daß er seiner Frau das Gut, auf dem er als Hütejunge gedient hatte, zum Geburtstagsgeschenk machen konnte und daß er seine sämtlichen Söhne und Schwiegersöhne ebenfalls entweder mit einem großen Gut oder mit großartigen Pachtungen auszustatten in die Lage kam.
Dies alles verdankte er nächst dem Segen Gottes seiner großen Treue im Kleinen und seiner pünktlichen Sorgfalt. Er wurde der Begründer des landwirtschaftlichen Rechenwesens in seiner jetzigen Genauigkeit, wodurch man in die Lage gesetzt ist, von jedem Zweige der Landwirtschaft am Schluß des Jahres genau zu wissen, was er an Gewinn oder Verlust gebracht hat. Während, wie Koppe in jener Nacht erzählte, sein Vorgänger z. B. keine Ahnung gehabt hatte, ob er bei seiner Pferdezucht gewinne oder zusetze, — das zweite war tatsächlich der Fall — gab sich Koppe über jeden einzelnen Betrieb seiner Wirtschaft genau Rechenschaft. Bis in sein hohes Alter behielt er die gleiche Pünktlichkeit bei: Punkt fünf Uhr stand er fertig angezogen an seinem Schreibtisch und erwartete, daß auch auf denselben Glockenschlag die Inspektoren und Eleven hereintraten, um die Arbeitseinteilung zu besprechen. Dabei sorgte er treulich für seine Arbeiter und ging ihnen auch in seinem kirchlichen Leben mit gutem Beispiel voran.
Ich wurde zunächst seinem zweiten Sohn, dem er die Bearbeitung der Domäne Kienitz übertragen hatte, als Eleve anvertraut. [S. 35] Die Domäne Kienitz war damals zwar nicht eins der größten, aber doch eins der bestbewirtschafteten Güter des Oderbruchs. Auch war sie das einzige Gut des Oderbruchs, das eine Zuckerfabrik besaß. Von den 2200 Morgen wurden jedes Jahr 700 mit Zuckerrüben bestellt. Der Viehbestand setzte sich zusammen aus 40 Ackerpferden, 24 Kühen, 100 Ochsen und mehreren 1000 Schafen. Das Gut lag nur eine halbe Stunde von der Oder entfernt. Die breiten mit Weiden bestandenen Wassergräben, die das Gut durchzogen, und ein einziger Sandhügel von 2 bis 3 Morgen, der mit Birken und Tannen bepflanzt war, bildeten die geringe Abwechslung in dieser einförmigen, aber überaus fruchtbaren Ebene.
Mein Prinzipal war in einiger Verlegenheit, was er mit dem etwas ungewöhnlichen Lehrjungen anfangen solle, der als Studiosus von der Universität kam und von dem er zu denken schien, er würde besondere Ansprüche machen. Auf dem ersten Spaziergang mit ihm ins Feld hinaus kamen wir zu den Ochsenpflügern, die den Acker für die Rüben, die im nächsten Frühjahr gelegt werden sollten, aufbrachen. Es war eine lange außerordentlich dürre Zeit gewesen und darum der Acker so hart wie eine Dreschtenne. Die sogenannten Rigolpflüge waren jeder mit fünf starken Ochsen bespannt, zwei hinten und drei vorn, und der von ihnen umgebrochene Acker war anzusehen wie ein Feld voller aufgebrochener Steinblöcke. Die einzelnen Erdschollen waren zum Teil zentnerschwer. Ein Mann mußte den Pflug führen, während ein anderer die Ochsen langsam antrieb, die unter beständigem Keuchen und Stöhnen einen Erdblock nach dem andern herausholten.
Ich fragte meinen Prinzipal, ob ich das Pflügen wohl lernen dürfe. Diese Frage schien ihm eine große Erleichterung zu gewähren. Denn ihm war nun aus der Verlegenheit geholfen, und ich war an der Arbeit. Etwa vier Wochen lang habe ich dann einen solchen Rigolpflug geführt. Das war freilich keine leichte Aufgabe. Die Ochsen wurden zweimal am Tage umgespannt, aber der Pflüger mußte von morgens fünf bis abends acht Uhr aushalten, und es war damals in den Septembertagen noch eine recht heiße Sonnenglut. Die Knöchel schwollen mir vor Anstrengung dick an, und ich war bald von der Sonne braun gebrannt trotz einer großen grünen Mütze, die ich auf dem Kopfe trug. Hierauf lernte ich auch mit den Pferden pflügen,[S. 36] deren immer sechs vor einen Pflug gespannt waren, drei in einer Reihe, wobei ich gleichzeitig den Pflug führen und die Pferde regieren mußte.
Nun ging auch die Herbstbestellung an, und ich lernte mit vier Pferden die Eggen im Kreise herumschleudern, um die steinharte Erdkruste zu zerkleinern. Inzwischen hatte auch die Rübenernte begonnen, die bis tief in den November hinein dauerte. Alle Arbeit, die vorkam, machte ich mit. Am sauersten wurde mir das Säelaken, in das ein halber Scheffel Roggen eingebunden war und mit dem ich den tiefen Acker durchschreiten mußte. Hierbei wurde ich völlig lahm. Als das Frostwetter eintrat, bekam ich meine Arbeit auf dem großen Pachthof, wo nun tüchtig gedroschen wurde. Drei Drescher waren jedesmal zusammen auf dem Scheunenflur. Drei Tage wurde gedroschen und den vierten aufgemessen. Das Aufmessen hatte ich besonders zu beaufsichtigen. Die Drescher bekamen von Roggen und Weizen jedesmal den 15. Scheffel, von Hafer und Gerste jedesmal den 16. zum Eigentum. Das war ihr Lohn. Geld bekamen sie nicht. Daneben hatte ich die Futterausgabe und die Aufsicht über die Ställe. Hier bei den Ochsen, Schafen und Kühen war es im Winter gar heimlich und angenehm.
Mitunter galt es tagelang auf dem Kornboden stehen und das Getreide einmessen, das auf die Oder-Kähne verladen wurde, um nach Stettin und anderen Hafenstationen ausgeführt zu werden. Eine andere Winterarbeit war das Köpfen der Weiden. Abgesehen von den Gartenbäumen ist fast der einzige Baum des Oderbruchs die Weide, die die zahllosen Gräben der Niederungen begrenzt. Jedes Jahr wurde eine bestimmte Abteilung dieser Weiden abgeholzt, d. h. nur die drei- bis vierjährigen, und zwar über dem Kopf des Stammes. Diese Arbeit wurde mit einem kleinen scharfen Beil verrichtet und kostete mich erst einige Übung, denn die einzelnen Äste durften nicht splittern.
Sobald der Frühling ins Land kam, ging es an die Vorbereitung der wichtigsten Arbeit des ganzen Jahres, an die Rübenbestellung. Hierbei lernte ich eine heilsame Kunst, nämlich die, treu auf dem bestimmten Posten auszuharren. So verlangte es der alte Herr Koppe von allen seinen jungen Leuten. Nachdem der Acker zubereitet war, wurde zunächst der Same mit Hilfe einer sogenannten Hopser-Schnur gelegt. Die Schnur[S. 37] hatte hundert Knoten in gleich weitem Abstande. Je zwei Knoten, die mit bestimmten Bändern bezeichnet waren, gehörten immer einer Samenlegerin. Diese hatte da, wo ihre beiden Knoten waren, zwei Löcher zu graben, den Samen hineinzulegen, wieder zuzuscharren und mit dem Fuß daraufzutreten. An den beiden Enden der langen Schnur aber standen zwei Leute mit dem Hopser. Diese riefen jedesmal, wenn die Schnur weiterrückte, „Hopp”. Auf solche Weise mußten 700 Morgen mit Samen belegt werden — eine Arbeit, die die größte Sorgfalt erforderte. Es galt aufzupassen, daß keine der Samenlegerinnen zurückblieb und keine unordentliche Arbeit machte. Die größte Freude machte es mir, in den langen, langen Streifen die kleinen Rüben regelmäßig aufgehen zu sehen, und der Kummer war groß, wenn irgendwo schlecht gearbeitet worden war. Hatte man sich die Reihenfolge der einzelnen Legerinnen aufgeschrieben, so konnte man noch nach Wochen wissen, an wem die Schuld lag. Dann kam das Verhacken und Verziehen und abermalige Verhacken der Rüben. Vierzehn Wochen habe ich so ununterbrochen aushalten müssen, ohne mittags nach Hause zu kommen. Mein Mittagessen bekam ich in einem kleinen Korb an irgend einen Grabenrand hinausgeschickt.
So eintönig diese Arbeit scheint, so machte sie mir doch große Freude. Ihre Eintönigkeit erleichterte ich mir dadurch, daß ich in der Frühstücks- und Mittagspause meinen armen Rübenhackerinnen schöne Geschichten vorlas. Auch führte ich in meiner Tasche entweder Matthias Claudius oder eine andere Sammlung bei mir und lernte, hinter meinen Arbeiterinnen auf- und abgehend, unbemerkt manches schöne Gedicht auswendig. Hiernach kamen die Klee- und die Heuernte und dann die Getreideernte mit ihrer heißen Arbeit und ihrer Freude des Einfahrens, woran alle vierzig Pferde beteiligt waren.
Als wir eben die Rübenernte begonnen hatten, gab es für mich ein wichtiges Ereignis. Der Krieg gegen Österreich drohte auszubrechen. Meine sämtlichen älteren landwirtschaftlichen Mitarbeiter, auch der erste Inspektor, ja selbst der ältere Bruder meines Prinzipals, der Administrator von Wollup, wurden zu den Fahnen einberufen. So blieb meinem Prinzipal nichts anderes übrig, als mich zum ersten Inspektor avancieren zu lassen. Die Not ist ja der beste Lehrmeister. Ich bekam jetzt ein Reitpferd und hatte mich vom Morgen bis zum Abend tüchtig zu[S. 38] tummeln. Am Abend hatte ich die Löhne auszuzahlen, und oft saß ich bis tief in die Nacht, um mit meiner Rechnung in Ordnung zu kommen. Denn es war eine Haupttugend des alten Koppe, daß er eine so sorgfältige Rechnungslegung verlangte und von jedem Arbeiter, jedem Ochsen, jedem Pferd jeden Abend genau aufgeschrieben haben mußte, was und worauf sie gearbeitet hatten.
Mitten in diese tapfere Arbeit, die mir viel Freude machte, kam die Nachricht, daß mein Vater, als die Kriegswolken sich dichter zusammenzogen, sich zum Eintritt in die Armee gemeldet und sich sein früheres Regiment als Oberst ausgebeten hatte. In einem seiner Briefe kam es mir so vor, als ob er dächte, mir wäre die Not des Vaterlandes gleichgültig. Ich trat mit diesem Briefe zu meinem Prinzipal und sagte: „Es hilft mir nichts, ich muß mich heute noch in Berlin als Soldat melden.” Als ich in Berlin bei meinem Vater eintrat, sagte er: „Dein Bruder Franz hat sich bereits bei den Garde-Jägern gemeldet; ich wünsche, daß auch du dort eintrittst.” Ich fuhr sofort nach Potsdam, meldete mich beim Kommandeur des Jägerbataillons und wurde als Freiwilliger angenommen. Um dies meinem Vater mitzuteilen, kehrte ich noch einmal nach Berlin zurück. Als ich bei ihm eintrat, war er sehr traurig. Denn soeben war die Nachricht gekommen, daß sich Preußen in Olmütz vor Österreich gedemütigt hatte und das Schwert wieder in die Scheide gesteckt wurde.
Nun sorgte mein Vater dafür, daß meine Meldung für ungültig erklärt wurde und ich wieder auf mein Arbeitsfeld zurückkehren konnte. Noch an demselben Tage langte ich um Mitternacht auf meinem todmüden Pferde in Kienitz an zur großen Freude meines Prinzipals, um am andern Morgen wieder meinen Dienst zu übernehmen. Als nach einiger Zeit auch meine Kollegen zurückkehrten, wollte mein Prinzipal mich nicht wieder Lehrling werden lassen, sondern schickte mich für den Rest meiner Lehrzeit nach Wollup zu seinem Bruder, einem äußerst liebenswürdigen Manne, dem ich das Hauptbuch abschließen half und bei dem ich auch die in Kienitz nicht vorkommenden Zweige der Landwirtschaft kennen lernte, namentlich die dort blühende Branntweinbrennerei.
An herzlicher Freundlichkeit in beiden Familien Koppe hat es mir nicht gefehlt. Im übrigen aber war das Leben für mich[S. 39] mit viel Kampf und Not verbunden. Das Dasein der jungen Landwirte ist meist sehr traurig, weil sie vielfach für höhere Genüsse keinen Sinn haben. In die Kirche ging niemand. Das war insofern freilich kaum recht zu ändern, weil es mit dem Geistlichen in Kienitz überaus dürftig aussah. Ich ging aber aus Trotz, um nicht als Feigling dazustehen, und gerade weil ich darüber ausgelacht wurde, mitunter in die Kirche. Morgens beim Frühstück las ich meinen Tacitus, römische Geschichte. Im Hause war eine Schwester des Professors Steinmeyer, ein vortreffliches Mädchen, die „Fränzchen” genannt wurde. Mit ihr spielte ich, während die andern Karten spielten, manche Partie Schach. Denn für das Kartenspiel hatte ich mich nicht erwärmen können; ich hatte es wohl einige Male versucht, wurde aber, weil ich keinen Ernst bei der Sache zeigte, abgesetzt. Am liebsten ging ich Sonntags still durch die Felder, die ich hatte bestellen helfen, oder auch wohl an das Ufer der Oder, wo ich vom Deich eine liebliche Aussicht über die weiten fruchtbaren Fluren genoß. Der Abschied von diesem arbeitsreichen Ackerfeld wurde mir immerhin nicht ganz leicht, als es im Frühjahr 1851 galt, des Königs Rock anzuziehen, um mein freiwilliges Soldatenjahr abzudienen.”
Am 1. April 1851 trat ich beim Kaiser-Franz-Grenadier-Regiment ein und ließ mich gleichzeitig in der Universität als Student einschreiben, diesmal als Jurist, während ich vor zwei Jahren Philosoph gewesen war. Auf eine gemütliche Wohnung kam es mir ganz besonders an, weil ich wußte, wie wichtig das für einen Studenten ist, damit ihm sein Zimmer angenehmer bleibt als die Kneipe. Auch liebte ich damals sehr die Romantik, sodaß es mir wichtig war, in dem alten Berlin eine romantische Wohnung zu bekommen. Ich fand eine solche in der Klosterstraße, gerade gegenüber der alten Klosterkirche.
Am Anfang waren meine Eltern noch in Berlin, da mein Vater Mitglied des Landtages war. Aber bald kehrten sie nach Westfalen zurück. Ich hatte sie zum Abschied auf den Bahnhof geleitet, von dem sie den Nachtzug benutzten, und ich erinnere mich noch deutlich, daß es mir eigentümlich bange zu Mute war, als ich beim Schein der Laternen durchs Brandenburger Tor[S. 40] zurückwanderte in die große, böse, versuchungsvolle Stadt, in der ich einen wirklich treuen Freund nicht besaß.
Mein früherer Freund, Gustav Bossart, war zwar auch Student in Berlin. Aber unsere Wege waren weit auseinander gegangen, und für meine Seele hatte ich an ihm keinen Halt mehr. Ja, ich mied ihn sogar. Meine Kameraden aber unter den Freiwilligen waren meistenteils recht lose Gesellen, die nichts als Narrenteidinge im Kopfe hatten. Nur einer war darunter, der Sohn eines armen Schäfers aus Pommern, der sich mit eisernem Fleiß durchgearbeitet hatte, um Theologie zu studieren. Er stand leider bei einer andern Kompagnie. Aber ich sah ihn doch mitunter, und er erzählte mir einmal mit großer Freude, daß ihn sein Hauptmann habe zu sich kommen lassen, weil er sein blasses und müdes Gesicht bemerkt hatte, — er mußte sich damals aufs äußerste durchhungern — und wie er ihn aus eigenen Mitteln aufs freundlichste versorgt und ihm einen Mittagstisch verschafft habe. Auch fand ich einen unter unsern Unteroffizieren, der sich vor der gewöhnlichen Sorte auszeichnete und für seine Leute vortrefflich sorgte.
Mein Kompagnieführer war mein Vetter, August von Witzleben, ein strammer Soldat, der es mit der Ordnung sehr genau nahm, aber von dem Einen, was not ist für seine Soldaten, nichts wußte. Interessant war mir jedesmal der Wachdienst, und ich freute mich immer, wenn ich an die Reihe kam. Am interessantesten war meine letzte Wache, die mir mein Vetter offenbar aus besonderer Freundlichkeit ausgesucht hatte, nämlich vor dem Palais des alten Kaisers, des damaligen Prinzen Wilhelm. Es war die zweite Nacht vor der Enthüllung des Denkmals Friedrichs des Großen. Ich hatte den Vorzug, in der frühen Morgendämmerung, ehe noch jemand auf der Straße sich blicken ließ, die Probe der Enthüllung vornehmen zu sehen und früher als andere das Bild des alten Fritz zu schauen.
An demselben Tage, vor meiner Ablösung, war ein gewaltiges Gedränge vor dem prinzlichen Palais. Viele fremde Offiziere fuhren in ihren Wagen vor, und ich mußte beständig auf meiner Hut sein. Unter andern kam auch mein alter Freund, Prinz Friedrich Wilhelm, und ich hatte die Freude, auch vor ihm mein Gewehr zu präsentieren. Er sah mich einen Augenblick scharf an, erkannte mich aber offenbar nicht in meinem Soldatenrock. Als er fort war, kam mit einem Male mitten aus dem[S. 41] Getümmel des zusammengedrängten Volkes mutterseelenallein ein kleines Stümpchen von höchstens zwei Jahren die Rampe heraufgestiegen, gerade auf mich los. Da es in Gefahr war, von den Wagen überfahren zu werden, nahm ich es bei der Hand und führte es herunter, zum großen Jubel des zuschauenden Publikums.
Am folgenden Tage stand das ganze Gardekorps teils auf dem Schloßplatz, teils auf dem Opernplatz in Parade, und ich erinnere mich noch deutlich, wie ich des Königs Stimme selbst vernahm, als er laut rief: „Achtung!”, ihm nach dann die Generale: „Achtung!” und so herunter bis zu unserm Regimentskommandeur immer eine Stimme nach der andern: „Achtung!” und dann: „Präsentiert das Gewehr!” In demselben Augenblick fiel der Vorhang vom Denkmal des alten Fritz, und 101 Kanonenschüsse donnerten zum Zeichen, daß des großen Königs Andenken erneuert worden war, und in begeisterter Stimmung marschierten wir im Paradeschritt vor des Königs und sämtlicher Prinzen und Prinzessinnen Augen an dem Denkmal vorüber und die Linden hinunter.
Kurze Zeit danach hatten wir am Kreuzberg unser großes Feldmanöver zu Ehren des russischen Feldmarschalls Paskewitsch. Dieses Manöver war nach Gottes Führen und Regieren für meinen ganzen Lebensweg von Entscheidung. Es war ein heißer Tag. Nach längeren, scharfen Bewegungen, zum Teil im Laufschritt, hieß es plötzlich auf dem weiten zugigen Felde: „Halt! Gewehr ab!” Da standen wir. Von der Stunde ab fühlte ich mich nicht wohl, ohne daß jedoch sofort eine Krankheit ausgebrochen wäre. In meinem jugendlichen Trotz wollte ich nicht nachgeben und machte an den folgenden Tagen noch die Felddienstübungen mit. Aber es wurde mir immer saurer, und ich litt an Atemnot. Die Atemnot glaubte ich am besten durch kräftige Anstrengungen der Lunge überwinden zu können. Es war gerade damals ein köstliches Wellenbad in Moabit eingerichtet, wo ich gern mit meinen Kameraden badete. Ich gewann noch eine Wette beim Schwimmen, aber damit war auch meine Kraft zu Ende. Ich mußte mich revierkrank melden, da ich keine Kraft mehr zum Marschieren hatte und mein Atem immer kürzer wurde.
Zwei Tage lag ich recht elend auf meiner einsamen Stube in der Klosterstraße, von meinen guten jüdischen Wirtsleuten[S. 42] gepflegt. Da besuchte mich mein Freund, Gustav Bossart, den ich sehr vernachlässigt hatte, und bewies sich nun recht als Helfer in der Not. Er brachte die Nacht an meinem Bette zu und schaffte mich dann, da er sah, wie ernst die Sache wurde, in das Militärlazarett in der Grünen Straße, wo ich mit zwei andern Freiwilligen, zu denen zu meiner großen Freude mein lieber Schäferssohn gehörte, ein Zimmer teilte. Der Bataillonsarzt erkannte die Krankheit nicht sogleich; als aber der Regimentsarzt kam, sagte er sofort: „Hier will ich Blut sehen”, d. h. ich sollte zur Ader gelassen werden. Der junge Militärarzt hatte noch wenig Übung in der Kunst des Aderlassens; darum floß wohl dreimal so viel Blut, als der Arzt bestimmt hatte. Es mochte aber so Gottes Wille sein zur Rettung meines Lebens. Denn es zeigte das Blut einen hohen Grad von Lungenentzündung, sodaß ich am nächsten Tage trotz des starken Blutverlustes noch einmal zur Ader gelassen wurde.
Die Lungenentzündung war mit einer Entzündung des Rippenfells verbunden, und es folgten nun dunkle Fieberstunden, die mich fast drei Tage lang ohne Besinnung ließen. Doch waren die Fieberphantasien meist freundlicher Art. Es ist mir darin etwas von dem klar geworden, was Paulus erfahren hat: „Außer dem Leibe wandeln”. 2. Kor. 12, 2. Es war mir nämlich so, als ob ich selbst die Schmerzen gar nicht mehr erlitte, die mein armer Leib zu tragen hatte. Ich sah in der Nacht, als meine Krankheit auf dem Höhepunkt war, einen Menschen, in welchem ich mich selbst erkannte, auf einem hohen Berggrat liegen. Die eine Hälfte des Menschen war ganz ein Eisklumpen, die andere stand in rotglühender Hitze. Zunächst nämlich war nur die eine Hälfte meiner Lunge entzündet. Dies war die Seite, die ich in der Gluthitze schaute. Ich konnte den Menschen in seiner Qual bedauern, während ich mich selbst ganz wohl fühlte.
Übrigens war meine Pflege jämmerlich. Der gute flachsköpfige Soldat, der bei mir Nachtwache halten sollte, schlief die ganze Nacht durch, und meine Bitte um einen Schluck frischen Wassers zur Linderung der Gluthitze blieb vergeblich. Nur mein Freund Bossart saß tagsüber öfter an meinem Bett. Eines Morgens aber, als ich eben aus einem kurzen Fieberschlummer aufwachte, saß statt seiner mein guter Vater da. Gerade in den ersten Tagen meiner Krankheit war des Vaters Bruder Karl, mein späterer Schwiegervater, als Minister nach Berlin versetzt[S. 43] worden. Er hatte mich zum Mittagessen eingeladen, und als statt meiner die Nachricht kam, daß ich krank im Lazarett läge, hatte er meinen Vater benachrichtigt. Der Vater blieb drei bis vier Tage bei mir, bis ihn die liebe Mutter ablöste, die freilich die Pflege besser verstand als die Lazarettgehilfen, zumal sie ja den Vater so oft in der Lungenentzündung gepflegt hatte.
Die Krankheit ging aber nicht so schnell vorüber. Durch den übermäßigen Blutverlust bei den beiden Aderlässen war eine Art Wassersucht eingetreten, zu der dann noch ein typhöser Zustand hinzukam. Doch erinnere ich mich noch mit Freuden daran, wie mich einmal ein starker Grenadier auf die Arme nahm und die drei Treppen hinunter in den Garten trug, wie er mich in einen Lehnstuhl, der zwischen blühenden Blumen auf dem Rasenplatz stand, legte und wie mich dann ein Gefühl des Dankes und der Freude über meine Genesung ergriff. Einige Wochen später wurde ich zu meinem Onkel ins Finanzministerium transportiert. Hier bekam ich mein Quartier in dem schönen Gartensaal, wo wir als Kinder so glücklich gewesen waren. Nach fünf Wochen hatte sich die Kraft so weit eingestellt, daß ich die Reise in die Heimat antreten konnte.
Diese ernste Krankheit blieb mir ein Zeichen der Erbarmung und Freundlichkeit meines Gottes. Ich hatte ihn öfter gebeten, wenn er sähe, daß die große Stadt mit ihren Versuchungen mir gefährlich werden würde, dann möge er mich selbst hinausführen an seiner Hand. Ich konnte seine Gnadenführung deutlich erkennen. Namentlich die ersten beiden Tage im Lazarett, ehe ich die Besinnung verlor, hatten einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Ich lag ja mit den beiden Freiwilligen auf dem Krankenzimmer und zwar zwischen beiden. Der eine, der Schäferssohn aus Pommern, auch an der Brust leidend wie ich, wenn auch nicht gerade an Lungenentzündung, war freundlich, dankbar, still, ergeben, voll Lied und Lobgesang im Herzen. Der andere, ein junger Kaufmannssohn aus Elberfeld, infolge seines leichtsinnigen Lebens erkrankt, war beständig am Schimpfen und Fluchen, worüber er von meinem Nachbarn zur Linken mit großer Offenheit gestraft wurde. Als meine Krankheit zu schwer wurde, bekam ich ein Zimmer allein. Von meinen beiden Leidensgefährten habe ich nie wieder etwas gehört, aber der Eindruck blieb mir, was es doch für ein Unterschied sei zwischen einem gottlosen Menschen und einem Kinde Gottes.
Weil meine Krankheit einen chronischen Charakter annahm, so hatte ich, als ich in die Heimat reiste, einen langen Urlaub bekommen. Aber auch jetzt wollten sich die alten Kräfte nicht so schnell wieder einstellen. Als ich mich darum nach abgelaufenem Urlaub bei dem alten Regimentsarzt stellte, erklärte mich dieser für dauernd dienstuntauglich. Doch bekam ich meine definitive Entlassung erst neun Monate nach meinem Diensteintritt und zwar, wie es in meinen Militärpapieren hieß, „als ein mit der Muskete ausgebildeter Halbinvalide”.
„Nun war guter Rat teuer. Was sollte weiter aus mir werden? Als ich von dem alten Doktor wieder auf die Straße kam und der Droschkenkutscher mich fragte, wohin er fahren solle, sagte ich zu ihm, das wisse ich selbst nicht. Er möge fahren, wohin er Lust hätte. So fuhr er mich auf die nahegelegene Post, und ich entschloß mich flink, da die Postpferde gerade angespannt wurden, um nach Luckau zu fahren, einen kleinen Abstecher zu meinem Freunde Ernst von Senfft zu machen, der damals auf dem Hauptgute des alten Herrn Koppe in die Lehre getreten war.
Ernst von Senfft war in der Berliner Zeit, wo wir zusammen das Friedrich-Wilhelms-Gymnasium besuchten, mein nächster Freund geworden und seitdem auch geblieben. Die Freundschaft zu ihm war mit ein Grund gewesen, weshalb ich den landwirtschaftlichen Beruf ergriffen hatte, in der Hoffnung, mit ihm gemeinsam landwirtschaftliche Studien treiben zu können. Während der Schülerzeit hatte ich von Berlin aus meinen Freund einige Male auf das Gut seines Vaters, Gramenz in Hinterpommern, begleitet, und es bestand ursprünglich die Absicht, daß wir dort gemeinsam unsere erste landwirtschaftliche Lehrzeit zubringen sollten. Aber gerade als wir diesen Plan in die Wirklichkeit umsetzen wollten, wurde mein Freund berufen, den Prinzen Friedrich Wilhelm (unseren späteren Kronprinzen und Kaiser) nach Bonn auf die Universität zu begleiten. Auf diese Weise waren wir auseinander gekommen und freuten uns nun um so mehr des Wiedersehens.
Ich brachte einige schöne, stille Wochen mit meinem Freund zusammen zu und lernte zugleich bei dem originellen alten Koppe[S. 45] manches, was ich im Oderbruch nicht hatte lernen können. Die Abende aber las ich mit Ernst Senfft, nach unserer gemeinsamen alten Jugendlust, Homers Ilias und dergl. mehr. Während unseres dortigen Zusammenseins traf eine Einladung des Vaters meines Freundes ein. Dessen Berufung als Oberpräsident von Pommern stand bevor. So konnte er sich wenig um seinen Besitz kümmern und forderte uns auf, daß wir im kommenden Frühling gemeinsam unsere bisher in der Landwirtschaft erworbenen Kenntnisse auf den Gütern in Hinterpommern verwerten sollten. Da die Ärzte vor der Hand bei dem Zustand meiner Lunge ein wissenschaftliches Studium nicht für geraten hielten, so willigte mein Vater ein.
Um mich auf meine Tätigkeit noch weiter vorzubereiten, folgte ich der Anregung eines andern Freundes, den ich in Kienitz kennen gelernt hatte, und ging zu dessen Bruder Franz Bieler nach Machern bei Friedeberg, einem trefflichen Landwirt, in dessen Hause ich viele Freundlichkeit und Förderung genoß.
In den ersten Tagen des April 1852 langte ich zugleich mit meinem Freunde Ernst in Gramenz an. Wir bezogen miteinander das Vorwerk Raffenberg, eine halbe Stunde von dem Hauptgute Gramenz entfernt. Raffenberg sollte von meinem Freunde Ernst bewirtschaftet werden, während mir zunächst die beiden andern Güter, Schoffhütten und Zechendorf, zugeteilt wurden, die ich von Raffenberg aus inspizieren sollte.
Der alte Herr von Senfft hatte Gramenz in den dreißiger Jahren für 60 000 Taler erworben. Er hätte bei diesem günstigen Ankauf ein sorgenfreies Leben führen können, denn das Hauptgut, das für sich allein 500 Morgen groß war, besaß sehr alte fruchtbare Ländereien und war darum recht wertvoll. Allein der rastlose Geist des alten Herrn war darauf gerichtet, alles unbebaute Land urbar zu machen. Um das dafür nötige Vieh halten zu können, legte er großartige Rieselwiesen an, zu deren Bewässerung das Wasser in drei großen Bassins durch aufgeführte Dämme gesammelt wurde. Allein diese Anlage, die Hunderttausende verschlang, brachte den gewünschten und erhofften Ertrag nicht, zumal gleichzeitig über 100 verschiedene Häuser gebaut wurden, sowohl für die wirtschaftlichen Zweige als für die Tagelöhner. Die Wasser des pommerschen Landrückens waren zu arm und darum der Ertrag der Wiesen zu gering. Infolgedessen befand sich der alte Herr beständig in den[S. 46] drückendsten Sorgen. Da sollten wir jungen Leute nun raten und helfen, und die Hoffnung, die er auf uns setzte, ging dahin, daß binnen kurzem alle Sorgen von ihm genommen sein würden.
Immerhin war, äußerlich angesehen, Gramenz ein prachtvoller Besitz, zwei Meilen (15 Kilometer) lang, eine halbe Meile (3 bis 4 Kilometer) breit, von rieselnden Bächen und anmutigen Tälern durchzogen und an seinem Rande von lieblichen Seen umgeben, die mit Buchenwald eingefaßt waren. Was aber die Hauptsache war, um den Aufenthalt für mich segensreicher zu machen als meine drei letzten landwirtschaftlichen Orte Kienitz, Wollup und Machern: es bestand von alter Zeit her ein kirchlicher Sinn in der Gemeinde, und der Pfarrer Diekmann meinte es sehr treu. In der aufs freundlichste ausgestatteten Dorfkirche wurden erquickende Gottesdienste gehalten, zu denen wir uns regelmäßig Sonntags einfanden.
Wir beiden jungen Leute führten auf unserem Vorwerk ein eigenartiges Junggesellenleben. Die Schäfersfrau besorgte uns unsere Küche. Wir hatten jeder unser Reitpferd. Das meines Freundes hieß Soliman, meins Dido. Ich hatte es bald so gewöhnt, daß es, wenn es auf der Weide ging, auf einen Pfiff herankam und ich ihm bloß die Gerte, die ich in der Hand hatte, ins Maul zu legen brauchte. Dann ließ es sich ungesattelt in allen Gangarten reiten, indem ich es mit der Gerte, deren beide Enden ich gefaßt hatte, lenkte.
Wir beiden Freunde sahen uns gewöhnlich nur morgens und abends, gönnten uns aber doch bisweilen in einer trauten Einsamkeit an irgend einem Bachufer ein Ruhestündchen, um unsere klassischen Studien fortzusetzen. Unsere Freundschaft war sehr innig, auch in bezug auf die äußeren Dinge. Wir waren beide genau gleich groß, sodaß uns unser Zeug gegenseitig paßte. So hielten wir denn auf völlige Gütergemeinschaft, und jeder schaffte nach seinen Mitteln etwas in den gemeinsamen Kleiderschrank an, wobei man mit Vorliebe das anzog, was der andere angeschafft hatte.
So scharf und heiß unsere Arbeit meist den Tag über war, so fehlte es doch auch nicht an Erquickungen. Abends ritten wir oft auf unsern schnellen englischen Vollblutpferden nach dem nur eine Meile entfernten Buchwald hinüber, wo die älteste Schwester meines Freundes an einen Herrn von Glasenap verheiratet[S. 47] war und wo damals ein liebliches Familienleben aufblühte. Glasenaps hatten sich am Ufer eines Sees ein gar freundliches Landhaus gebaut. In den schönen Sommernächten fuhren wir oft noch spät unter fröhlichen Liedern auf dem See, nachdem wir vorher ein erfrischendes Bad genommen hatten. Auch in Gramenz selbst, ehe der alte Herr nach Stettin übersiedelte, gab es in dem lieben Familienkreise manche freundliche Stunde.
Übrigens merkten wir beide, Ernst und ich, bald, daß die Sachen nicht standen, wie sie stehen sollten. Waren in den früheren Jahren große Fehler begangen, indem man zu große Flächen Wald urbar machte und stattliche Gehöfte auf ihnen aufrichtete, ohne die nötigen Mittel zu haben, um das urbar gemachte Land auch ertragfähig zu machen, so war es neuerdings ein besonders schwerer Mißgriff gewesen, daß man sich auf englische Pferdezucht und gar auf Trainierung kostbarer Rennpferde eingelassen hatte. Vor allem aber hatte der liebe alte Landesökonomierat Koppe, der sonst der kundigste Ratgeber war, den man hätte finden können, seinem Freunde Senfft geraten, eine große Zuckerfabrik zu bauen. Doch für den Zuckerrübenbau waren viele Flächen noch zu jung und zu arm.
Noch schlimmer war es, daß der alte Herr von Senfft nicht nachließ, seinen Pächtern immer neue Flächen zu entziehen in der Meinung, dadurch, daß er das Pachtland in eigene Bewirtschaftung übernahm, besser abzuschneiden. Der Sohn war hierin mit seinem Vater gar nicht einverstanden. In seiner romantischen Art konnte er wohl, wenn wir abends über einen der kleinen mit Eichen umstandenen Pachthöfe ritten, unter einer der alten Eichen still halten und sich dann in die Seele solch eines alten vertriebenen Erbpächters hineinzudenken, wie er seine mit ihm ausgetriebenen und zu Tagelöhnern hinuntergesunkenen und hinuntergestoßenen Leidensgefährten versammelte, um ihnen eine Rede zu halten, in der er sie zum Aufruhr gegen ihren Bedränger aufforderte, der sie von ihrem väterlichen Herd verstoßen und sie, voll unersättlicher Gier nach erweiterten Grenzen, aus dem Schatten ihrer alten Eichen verdrängt habe.
Der alte Senfft war in der Tat einer der wunderbarsten Menschen, die ich je kennen gelernt habe. Schärfere Widersprüche können kaum in ein und demselben Herzen angetroffen werden. Voll inniger, ungeheuchelter Frömmigkeit, sich seines Heilands niemals schämend, auch am Hofe des Königs nicht, für[S. 48] seine eigene Person mit dem Geringsten zufrieden, ja, ängstlich sparsam, ohne jeden Adelsstolz, hatte er doch auf der andern Seite Eigenschaften, die einem geraden Charakter, wie z. B. meinem Vater, unbeschreiblich schwer waren. Er liebte heimliche Wege, um zu seinen Zielen zu gelangen, und ließ sich niemals hinter seine Geheimnisse schauen. Das schwerste aber war uns Jungen seine Landgier. Diese besondere Gier verschloß ihm die Augen gegen manche furchtbare Härte, ohne die die bisherigen Pächter sich nicht aus ihren alten Wohnstätten vertreiben ließen.
Dazu kam, daß er in der Bewirtschaftung seiner Güter vielfach Unmögliches forderte und darum von seinen Beamten, von deren Vortrefflichkeit er oft geradezu kindliche Ansichten hatte, vielfach hintergangen wurde. Unter solchen schwierigen Umständen, in die sein Sohn und ich ahnungslos hineinversetzt waren, konnte es wohl vorkommen, daß wir zueinander sagten: „Wir müssen beten, sonst sind wir verloren.” So schwer legte sich mitten unter allerlei Knabenscherzen die große Sorge auf unser Herz.”
Einige Wochen nach seiner Ankunft in Gramenz schrieb der junge Inspektor Bodelschwingh seinem Vater:
Raffenberg bei Gramenz, Himmelfahrtstag 1852.
Lieber Vater!
Sei nicht böse, daß ich Dich so lange auf einen vernünftigen Brief habe warten lassen. Die unerwartete Bedeutsamkeit und Ausgedehntheit meiner hiesigen Stellung hat mich bis jetzt bei einer steten aufgeregten Tätigkeit kaum zur Besinnung kommen lassen. Die Feiertage selbst waren bis jetzt teils durch notgedrungenes langes Schlafen, regelmäßigen Kirchenbesuch und gezwungenen Gramenzer Familienaufenthalt, teils mit weitläufigem Rechnungswesen und reformatorischen Beratungen so ausgefüllt, daß ich bis jetzt vergeblich nach einer ruhigen Stunde gespäht habe, die mir nun endlich ein feierlich schöner Himmelfahrtsabend freundlich gewährt.
Zuerst will ich nur gleich vorausschicken, daß unter allen Wohltaten, für die ich dem lieben Gott Dank schuldig bin, kaum eine mir größer erscheint, als daß er mich hierher geführt hat. Ich muß wirklich meine hiesige Stellung nach allen Richtungen hin, sowohl was ihren Wert für meinen Lebenslauf direkt, als für meine ganze geistige Ausbildung im allgemeinen anlangt,[S. 49] eine ausgesucht glückliche nennen. Hier hast Du zuerst eine flüchtige Beschreibung meines landwirtschaftlichen Wirkungskreises.
Schoffhütten, das größere der beiden mir unterstellten Vorwerke, Raffenberg, meinem Wohnort, am nächsten gelegen (3,8 Meilen Entfernung), hat bei einer Viehhaltung von ca. 10 Pferden, 12 Ochsen, 20 Kühen und 700 Schafen ein Areal von etwa 800 Morgen Acker mit 100 Morgen natürlichen Wiesen, außerdem eine unberechnete Fläche teils verpachteten, teils noch nicht urbaren Landes, im ganzen 2400 Morgen. Der bis jetzt unter den Pflug genommene Teil des Schoffhütter Ackers ist seiner Bodenmischung nach unbezweifelt der beste unter allen Gramenzer Ländereien, aber teils von den früheren Pächtern ausgesogen, teils überhaupt noch ohne Kultur. Das Terrain ist dabei im höchsten Grade unübersichtlich, unzählige Gräben und steile Abhänge; die ganze Beackerungsweise ist mir vollständig neu. Dabei sind größere Entwässerungsarbeiten eines in diesem Jahre neu hinzugenommenen Schlages, Roden, Planieren usw. im Gange.
Das zweite mir unterstellte Vorwerk Zechendorf (der Wirtschaftshof liegt über eine halbe Meile von dem Schoffhütter entfernt, sonst sind beide Feldmarken nur durch einen kleinen Gramenzer Pächter voneinander getrennt) hat 700 Morgen Acker, Wiese und Bruch, 6 Pferde, 12 Ochsen, die nötigen Kühe und 3 bis 400 Schafe. Es ist erst seit vorigem Jahre teils aus der Verpachtung genommen, teils neu zugekauft und befindet sich noch auf allen Punkten im Zustande gänzlicher Verkommenheit und Verarmung. Hier sind noch bedeutende Meliorationsarbeiten in Angriff genommen.
Überall handelt es sich um eine erste mühsame Bestellung, überall ist Mangel an allem, darum aber herrscht auch über jedes mühsam neugeschaffene Stück Land desto größere Freude. Die Handarbeitskräfte auf beiden Vorwerken sind mehr als zureichend, da außer 20 eigenen Tagelöhnerfamilien gegen 40 Pächter täglich einen Dienstmann stellen müssen, sodaß ich täglich gegen 80 Leute zu beschäftigen habe. Auf jedem Vorwerk ist ein Hofmeister, beides recht gescheite, eifrige, tüchtige Männer, die bis dahin direkt unter den angrenzenden Inspektoren von Raffenberg und Ernsthöhe gestanden hatten, außerdem aber und seit der bedeutenden Erweiterung der Betriebe in diesem Frühjahr ganz vorzugsweise unter dem Oberinspektor selbst. Der[S. 50] hat mich aber seit dem großartigen Gramenzer Fabriktrubel völlig im Stich gelassen (es handelte sich um eine Meinungsverschiedenheit über Anlage und Betrieb der Zuckerfabrik). Über eine Meile von Gramenz entfernt bin ich selbständiger, als mir lieb ist. Herr von Senfft kümmert sich eigentlich gar nicht um die spezielle Bewirtschaftung; nach meinen entfernten Vorwerken kommt er höchstens fünf- bis sechsmal im ganzen Jahr; mich hat er erst einmal flüchtig besucht.
Außer diesen beiden Vorwerken, von denen mir in ihren jetzigen Verhältnissen jedes einzelne eine reichliche und angenehme Beschäftigung gewähren würde, habe ich nun unser hiesiges Raffenberg, ein Gut von 2200 Morgen schweren Weizenbodens mit 700 Morgen Wiesen, täglich selbst tätig mitwirkend, unter Augen, da Ernst Senfft allein von der Arbeit erdrückt werden würde. Namentlich des hiesigen Rübenbaus, über 200 Morgen (ich selbst habe auf meinen Vorwerken aus Mangel an aller Kultur erst dreißig Morgen bauen können), habe ich mich speziell angenommen.
Außer Raffenberg passiere ich nun auf meinem täglichen Ritt noch Ernsthöhe, 1500 Morgen leichteren Bodens, auch erst seit wenigen Jahren aus der Wildnis emporgearbeitet, und auch hier bleibe ich mit dem ganzen Wirtschaftsbetriebe bei dem ewigen Ineinandergreifen der Vorwerke mit Leuten und Gespannen immer im Zusammenhange. Außerdem muß ich mindestens ein- bis zweimal wöchentlich, außer Sonntag, nach Gramenz, wo mir 450 Morgen Zuckerrüben unterstellt sind, dazu die dortige Rieselwirtschaft und die Wäsche und Schur von 5000 Schafen, wovon die beiden letztgenannten Sachen mir noch ganz fremd sind. So ist das Feld für meine landwirtschaftliche Tätigkeit so unendlich groß, daß ich gar nicht im Stande bin, es auch nur einigermaßen auszunutzen und meine Pflicht, wie ich möchte, zu erfüllen.
Gleichwohl hat diese ersten Wochen über die eigentliche Landwirtschaft nur den geringeren Teil meiner Aufmerksamkeit in Anspruch genommen. Was mich viel lebhafter und inniger beschäftigt hat, war das Schicksal der Tagelöhner, besonders auf meinen entfernten Vorwerken, aber auch in Gramenz. Bei diesen Leuten, die unter rohen Inspektorhänden auf etwas brutale Weise verkümmert und verkommen waren, war es meine erste Sorge, wenigstens dem gröbsten Elend abzuhelfen, wobei[S. 51] mir übrigens Herr von Senfft auf die entschiedenste und freundlichste Weise zu Hilfe kam, da er eigentlich von der Größe des Elends gar keinen Begriff hatte.
Schoffhütten und Zechendorf sind nämlich nicht, wie Raffenberg und Ernsthöhe, neue Vorwerke, sondern beides alte Dörfer, mit ehrwürdigen Bäumen aller Art schön ausgestattet, die die alten Pächterwohnungen nach westfälischem Stil umgeben. Die Pächter sind nun zum großen Teile aus ihren Wohnsitzen verdrängt, und statt ihrer, soweit sie nicht selbst in Tagelöhner umgewandelt und als Tagelöhner wohnen geblieben sind, ist allerlei Gesindel eingezogen, das man aus Gramenz weggebracht hatte. Diese Leute, überschuldet wie sie waren und daher nicht imstande, von ihrem Verdienst zu leben, waren seit mehreren Monaten ohne Kartoffeln, ohne Getreide. Sie trieben sich teils bettelnd umher, teils lagen sie faul zu Hause, mißmutig, etwas zu tun, weil ihnen doch all ihr Verdienst auf ihre gemachten Schulden abgerechnet wurde. Da war es nun meine erste Sorge, gewaltsam und eigenmächtig einzugreifen. Da dies aber nicht geschehen konnte, ohne daß ich mich auf das genaueste um die Familienverhältnisse der Leute kümmerte, so bin ich fast täglich in allen Stätten des großen Elends herumgekrochen und habe in vielen Familien förmlich die Haushaltung geführt.
Pfingsten. Am Himmelfahrtstage zu früh unterbrochen und aufs neue in den Strudel hineingetrieben, bin ich heute vom Gramenzer Mittagstische direkt wieder nach Raffenberg umgekehrt, um endlich den angefangenen Brief zu Ende zu bringen. Du kannst Dir denken, daß nach der Behandlung, die die Tagelöhner bis dahin genossen, ich in diesem Punkte eine unglaublich leichte und dankbare Stellung habe. Obgleich ich mir eine Strenge und Härte anzwinge, die ich mir bis dahin nie zugetraut habe, sind mir alle meine Leute in so kurzer Zeit so ganz zugetan und anhänglich geworden, daß ich mich fast täglich der Ausbrüche ihrer Dankbarkeit gewaltsam erwehren muß.
Ich denke übrigens, indem ich die Leute aus dem Elend gerissen, auch Herrn von Senfft bedeutend genutzt zu haben. Indem ich die Kräfte der eigenen Leute aufs äußerste durch Akkordarbeiten ausnutzte, das Gramenzer Betteln durch Hilfe an Ort und Stelle zu Ende brachte, Frauen und Kinder beim Rübenbau beschäftigte, ist es mir mit der Zeit möglich geworden, gegen 40 fremde Arbeiter und Pächterknechte teils zu entlassen,[S. 52] teils nach Gramenz zu schicken und hier wieder die Annahme von noch teureren fremden Leuten zu vermeiden. In ähnlicher Weise habe ich eine Menge kleiner Einrichtungen gemacht, die ich erst in Zechendorf, dann in Schoffhütten ausprobte und von da hierher nach Raffenberg verpflanzte. Ich habe den Leuten statt des bloßen teuren Roggens, von dem sie ausschließlich lebten, Kartoffeln und Gerste angeschafft, womit sie ein Drittel billiger auskommen. Ich zahle ihnen ihren Tagelohn statt vierteljährlich wöchentlich aus, wodurch sie zu doppeltem Fleiß angefeuert werden. Für die ganz verkommenen Familien lasse ich Suppe kochen, die sie für ein billiges erhalten, damit auch die Frau ohne häusliche Sorgen täglich mitarbeiten kann. Manchen messe ich ihr Mehl für ihre Suppe zu und bestimme danach, wie lange sie mit ihrem Scheffel auskommen müssen, weil ich erfahren hatte, daß sie in der Not, aber wohl auch zum Branntweinsaufen, das empfangene Korn teilweise wieder verkauften.
Ich halte mich notgedrungen beständig in Zusammenhang mit den Speisekammern fast sämtlicher Leute. Die Vorräte an Mehl, Kartoffeln, Salz und Milch muß ich stets im Gedächtnis haben. Das Ganze ist im eigentlichen Sinne des Worts meine eigene Haushaltung. Denn indem ich das Schicksal sämtlicher Leute von der Gramenzer Inspektoren-Kamarilla losband, habe ich auch ihre ganzen Schulden, gegen 300 Taler, persönlich auf mich genommen, zwar nicht mit der Verpflichtung, sie der Gramenzer Gutskasse wieder zu bezahlen, aber doch mit dem Versprechen, darin mein Bestes zu tun. Ich erhalte nun wöchentlich aus der Gutskasse meinen vollen Tagelohn für alle Leute, mit dem ich nach besten Kräften für die Leute wirtschafte. So habe ich also außer meiner ausgedehnten landwirtschaftlichen Tätigkeit auch eine große Familienhaushaltung, die neben manchem andern Lehrreichen auch für mich das Gute hat, daß ich im steten Zusammenhange mit so großer Armut und so großen Entbehrungen mit meinem eigenen Lose recht von Herzen zufrieden sein kann und mir auch für die Zukunft jede Entbehrung leicht werden wird.
Übrigens ist meine jetzige Lebensweise auch keineswegs üppig zu nennen. Am frühen Morgen Raffenberg mit einer Tasse Milch und einem Stück Brot im Magen verlassend, kehre ich der Regel nach erst abends gegen zehn dahin zurück, zu müde, mehr wie einen Teller saure Milch zu vertilgen. Den[S. 53] Tag über auf meinen Vorwerken wird nach Umständen gelebt, mitunter ein Butterbrot, mitunter ein paar Kartoffeln oder Eier, mitunter gar nichts. Dabei befinde ich mich aber so gründlich wohl und kräftig, daß ich es nicht beschreiben kann.
Mein täglicher Ritt beträgt in gradester Richtung mindestens zwei gute Meilen, wozu dann häufig noch die dritte und vierte kommt. Der Weg ist indessen entweder so hart oder bei nassem Wetter so schlüpfrig, das Terrain so hügelig, so viel Moraste, Gräben und mühsame Pfade, daß von scharfem Reiten selten die Rede ist und daß die Zeit zu Pferd mir immer eher eine angenehme Erholungszeit für Geist und Körper als eine Anstrengung ist. Die Szenerie ist zum großen Teile wirklich so lieblich und wird für mein Auge mit jedem Tage so viel lieblicher, daß ich Euch auf Eurer Reise im Thüringer Walde gar nicht zu beneiden brauche.
Jeden frühen Morgen führt mich mein Weg durch den im frischen üppigen Grün prangenden Buchenwald, meist auf selbstgesuchten näheren Pfaden, wo ich oft Zweig für Zweig zurückbiegen oder gebückt durch Laubengänge kriechen muß. Und des Abends, so wie gestern zum Beispiel, kehre ich im Mondschein wieder zurück, am liebsten an den Bachufern entlang, wo die Nachtigallen seit drei Wochen schon fleißig am Singen sind. Meine Feldmarken selbst aber sind wie aus der schönsten westfälischen Landschaft herausgeschnitten, mit Eichengruppen, kleinen Wiesen, Hecken und zerstreuten Pächterwohnungen mannigfach verziert; dazu dann eine weite herrliche Aussicht über das ganze Gramenzer Gelände (denn Schoffhütten und Zechendorf liegen wohl mehrere hundert Fuß über den Gramenzer Wiesen). Da geht mir nicht selten das Herz so auf, daß ich laut aufjauchzen möchte vor Fröhlichkeit.
Zu andern Zeiten kann ich dann freilich auch eine gewisse Wehmut nicht zurückweisen, wenn ich die schönen alten Pächtereien, auf denen oft ein und dieselbe Familie hundert Jahre gewohnt hatte, nun verwaist und verlassen stehen sehe, und nicht selten trifft man auf Leute, denen in Erinnerung an ihre alten Wohnstätten, die sie als ihr Eigentum anzusehen sich gewöhnt hatten, die Tränen in die Augen treten. Wie weit da nun Recht oder Unrecht waltet, kann ich nicht beurteilen, geht mich auch gar nichts an. So viel weiß ich aber, daß so viele Leute ihres heimatlichen Landes beraubt sind, ohne daß bis jetzt Herrn von[S. 54] Senfft der geringste Nutzen daraus erwachsen ist. Denn das den Pächtern genommene Land ist teilweise in Hände geraten, die es noch mehr mißhandelt haben wie jene.
Der jetzige Oberinspektor aber, dahinter sind wir bald genug gekommen, ist in der Tat ein höchst untüchtiger Mann, der seiner Stellung nicht im geringsten gewachsen ist. Er hat in sehr wilder und leichtsinniger Weise darauf losgewirtschaftet, Land und Leute verdorben und Herrn von Senfft großen Schaden gemacht. Es ist daher auch bald ein drückendes Verhältnis zwischen Ernst und mir auf der einen Seite und ihm auf der andern Seite eingetreten. Wir kamen zuerst mit unsern Verbesserungsvorschlägen zu ihm. Aber da wir von ihm zurückgewiesen wurden, hielten wir uns bald für verpflichtet, sie durch Herrn von Senfft selbst durchzusetzen, der uns in allen Stücken ein fast zu großes Vertrauen schenkt. Dadurch ist nun der Mann moralisch sehr heruntergedrückt, während unser Wirkungskreis sich sehr erweitert hat. Einmal mißtrauisch geworden, haben wir uns bald verpflichtet gefunden, überall mit zuzusehen, haben in der Fruchtfolge geändert, im ganzen Leutewesen reformiert, ohne des Oberinspektors Einwilligung das Rechnungswesen umgestaltet usw. Dadurch sind wir allmählich sehr mächtig geworden und sind fast wider unsern Willen in eine Stellung hineingeraten, der wir gar nicht recht gewachsen sind.
Zum Schluß will ich nur noch sagen, daß unser Familienleben, nämlich Ernst Senffts und meins, einzig ist und daß die Freude, mit dem unvergleichlichen Jungen zusammen leben zu können, alle andern Freuden, die mir hier Natur und Beruf reichlich gewähren, weit übersteigt. In einem kleinen Zimmer, mit allem möglichen Studentenflitter ausgestattet, hausen wir auf das lustigste, präsidieren bei Tafel über zwei Wirtschaftslehrlinge und einen Schulmeister, denen gegenüber wir die Würde zweier Wirtschaftsprinzipale einzunehmen wissen. Daß bei unserer jetzigen Tätigkeit nicht viel von theoretisch-wissenschaftlichen Studien die Rede sein kann, magst du leicht denken. Gleichwohl passiert es uns gar häufig, daß wir uns des Abends unwillkürlich aus übergroßer Müdigkeit aufrütteln und uns über irgend einem unserer guten alten Klassiker bis tief in die Nacht hinein ergötzen oder uns an beiderseitigen reichen Erinnerungen aus den letzten Jahren, die wir noch lange nicht alle ausgetauscht haben, beglücken.
In der leisen Hoffnung, wenn nicht Dich selbst, so doch eins der Schwesterchen mit Herrn von Senfft von Berlin ankommen zu sehen, bin ich freilich diesmal getäuscht worden, hoffe aber doch noch einmal, Dir und ihnen unsere Herrlichkeit hier zeigen zu können.
Verzeih mein wildes, unruhiges, unordentliches Geschwätz noch einmal, indem ich hoffe, bald vollständigere Nachricht geben zu können, und grüße die Mutter und die Schwestern
von Deinem gehorsamen Sohn
Friedrich.
„Da der alte Herr”, so heißt es in den Erinnerungen weiter, „die gewöhnlichen Tänzereien bei den Erntefesten nicht litt, so erlaubte er meinem Freunde und mir, unsere Erfindungskraft anzustrengen, auf welche Weise dennoch fröhliche Volksfeste gefeiert werden könnten, um den Tagelöhnern und ihren Kindern nach der heißen Sommerarbeit einen Festtag zu gewähren. An irgend einem hochgelegenen Waldrande unter Eichen und Buchen wurden eine ganze Reihe von Feldküchen eingerichtet und ganze Körbe voll Kuchen und Obst hinausgeschafft. Mit Lied und Lobgesang im Kirchen- und Volkston wurde begonnen. Dann folgte eine Ansprache an die Versammlung, die auf die reiche Güte Gottes hinwies. Jetzt ging’s an die fröhliche Mahlzeit, die von den Gesängen der Kinder unterbrochen wurde. Dann wurde zu den mannigfaltigsten Spielen eingeladen, die für die Größeren und die Kleineren, für die Burschen und für die Mädchen besonders eingerichtet waren. Am Abend wurde mit Gesang und Gebet geschlossen.
Eins dieser Feste, das wir an einem besonders herrlichen Platz meines hochgelegenen romantischen Schoffhütten feierten, nahm freilich ein trauriges Ende. Denn der Pommer liebt leider den Schnaps über alle Maßen. Lieschen Senfft, die Schwester meines Freundes, hatte den Honoratioren der Gesellschaft eine Überraschung bereitet. In einer besonders dichten Waldecke hatte sie einen kleinen Platz aushauen lassen, zu welchem ein ganz verborgener Pfad führte. Hier war künstlich eine schöne Laube zurechtgeflochten, mit Blumen geschmückt und mit Rasenbänken versehen, zwischen denen die schönsten Kaffeetische mit allerlei Zubehör aufgeschlagen waren. Während nun unsere Dorfbewohner fröhlich schmausten und Kaffee tranken,[S. 56] hatten wir uns hierher zurückgezogen. Da kam plötzlich die Nachricht: „Man prügelt sich.” Irgend ein Nichtsnutz hatte in ein anderes Waldgestrüpp ein Schnapsfaß eingeschmuggelt. Dem hatten eine Anzahl junger Burschen so fleißig zugesprochen, daß alsbald nach pommerscher Weise auch das Prügeln begann. Denn Schnaps und blutige Prügeleien waren hier alte Volkssitte. Die Männer liefen mit langen Knütteln bewaffnet herzu, um Frieden zu stiften. Da galt es denn für meinen Freund und mich, mitten zwischen die Knüppel zu springen, und nur mühselig gelang es uns, den Blutströmen zu wehren. Der traurige Abschluß unseres Festes war der Anlaß, daß hinfort keins dieser fröhlichen Volksfeste mehr gefeiert wurde.
Übrigens diente während der Erntezeit dieses ersten Sommers ein merkwürdiges Ereignis dazu, mir die Augen über die ganzen Verhältnisse noch mehr zu öffnen. Mein Freund und ich waren spät abends noch zu einem Moorbrand gerufen worden, dessen Löschen uns bis tief in die Nacht hinein beschäftigt hatte. So hatte ich nur wenig Schlaf gefunden, als ich am andern Morgen um fünf Uhr schon wieder mein Pferd bestieg, um meinen gewohnten Weg nach meinem Vorwerk einzuschlagen. Dort bin ich aber von niemand bemerkt worden. Dagegen kam ich nach etwa sieben Stunden auf dem Pferde sitzend wieder in Raffenberg an. Meine Dido hatte ihre beiden Knie und ich meinen Kopf etwas wund. Ich stieg noch selbst vom Pferde und wollte, wie ich es gern, wenn ich nach Haus kam, zu tun pflegte, das kleine Töchterchen unserer Wirtin auf den Arm nehmen. Diese bemerkte aber etwas Besonderes an mir, gab mir das Kind nicht, sondern geleitete mich auf mein Zimmer, brachte mich zu Bett und sorgte für kalte Umschläge auf meinen Kopf. Erst mit hereinbrechender Nacht wachte ich auf und sah den lieben alten Herrn von Senfft an meinem Bette sitzen.
Offenbar bestand die Lösung des Rätsels darin, daß ich infolge meiner geringen Nachtruhe auf dem Pferde eingeschlafen war und daß meine Dido, durch keinen Zügel gehalten, gestürzt war. Da ich das gelehrige Tier daran gewöhnt hatte, sowohl frei hinter mir herzugehen, indem ich ihm den Zügel über den Hals legte, als auch still zu grasen, wenn ich mich irgendwo ein wenig ausruhen wollte, so hatte mich Dido auch nach unserm beiderseitigen Sturz nicht verlassen, bis ich nach etwa fünf- bis sechsstündigem Liegen auf der Erde wieder so[S. 57] weit zur Besinnung kam, daß ich in den Sattel kommen konnte. So hatte denn das Pferd von selbst seinen Weg nach Hause eingeschlagen. Merkwürdig war nur, daß von dem Vorgefallenen nichts in meiner Erinnerung geblieben war.
Der Arzt stellte eine Gehirnerschütterung fest, und ich hatte etwa vierzehn Tage völlige Ruhe nötig. Erst allmählich lernte ich wieder gehen und lesen, da mir beides anfangs schwer gefallen war. Für diese Ruhezeit nahm mich der alte Herr von Senfft mit nach Gramenz und ließ mich auf das treuste pflegen. Zugleich fand ich hier Gelegenheit, tiefere Blicke in die auf mannigfache Weise zerrütteten Verhältnisse zu tun und auch die Persönlichkeiten zu durchschauen, die dem Bestehen des Ganzen gefährlich waren. Zu meinem Freunde zurückgekehrt, teilte ich ihm alles mit, was ich wahrgenommen, und nicht ohne heiße Kämpfe wurden nun einige Persönlichkeiten aus dem Sattel gehoben, die bis dahin in der höchsten Gunst des alten Herrn gestanden hatten, aber sonst als Tyrannen gefürchtet waren.
Damit brach nun allerdings für mich eine sehr ernste Zeit an. Der alte Herr forderte mich auf, und die Umstände ließen es auch nicht wohl anders zu, die Leitung des ganzen Gutes zu übernehmen. Da ich von Kienitz her mit dem Zuckerrübenbau sehr genau vertraut war, so glaubte er wohl, ein besonderes Recht dazu zu haben, mir die neue Aufgabe zuzumuten. Denn an den Zuckerrüben schien in der Tat die Rettung der ganzen Lage zu hängen. Da er selbst, wie schon bemerkt, nach Stettin übergesiedelt war und sich nur noch gelegentlich in Gramenz aufhielt, so mußte ich meinen Wohnsitz von Raffenberg nach Gramenz verlegen.
Im Herbst 1853 verließ mich mein Freund Ernst, um in Berlin sein Einjährigenjahr abzudienen. Aber Gott schenkte mir ein paar tüchtige neue Gehilfen. Der eine war der Bruder meines früheren Lehrmeisters in Mechern, Bieler, der schon in Kienitz mit mir zusammen gearbeitet hatte, und der andere der Sohn meines früheren Religionslehrers, des Dompredigers Snethlage, Moritz, der anstelle von Ernst Senfft die Bewirtschaftung von Raffenberg übernahm.
Es war kein Geringes, was auf meine Schulter gefallen war. Im Äußeren schenkte Gott gerade für dieses Jahr viel Segen und Hilfe, sodaß die materiellen Nöte zu schwinden schienen. Aber um so größer waren die Nöte und Gefahren,[S. 58] die auf meiner Seele lagen, und oft stieg ich an der Stelle, wo ich, wie ich vermutete, an jenem Morgen bewußtlos gelegen hatte, vom Pferde — die Stelle lag an einem schattigen Bachufer mitten im Walde verborgen —, um Gott um Hilfe anzuschreien. Es waren im ganzen zwölf Inspektoren, ältere und jüngere, die alle der Leitung und Aufsicht bedurften. Dazu fühlte ich aber keineswegs die Kraft in mir. Sonntagmorgens ging man wohl nach alter Ordnung in die Kirche, aber den ganzen Sonntagnachmittag pflegten wir auf der Kegelbahn zuzubringen, und an viel Leichtsinn und Verirrungen mancherlei Art fehlte es unter uns nicht.
Doch wir jungen Leute fanden in unsern geistlichen Nöten einen besonders treuen Freund. Das war der Posthalter von Gramenz, ein früherer Wirtschaftsinspektor, der aber, weil er leidend war, diesen leichteren Posten übernommen hatte. Er hieß Otto Mellin. Oft wenn jemand einen Brief holte oder brachte, hörte er gleichzeitig dessen verborgenste Klagen mit an und teilte Freud und Leid mit jedermann. In besonderen Fällen aber, und wenn Zeit und Stunde es erlaubten, nahm er den Betreffenden mit in sein kleines freundliches Stübchen, das hinter dem Postbüro lag. Dort schlug er in der Bibel die Stelle auf, die ihm für die besondere Not die rechte Arznei zu liefern schien.
Unverhofft merkten wir, der eine wie der andere unter uns jungen Leuten — denn laut wurden diese Sachen nicht verhandelt —, daß man in Otto Mellin einen Freund gefunden und an derselben Quelle Hilfe und Trost geschöpft hatte. Unser lieber Pastor Diekmann, der kräftig und treu sein Amt verwaltete, war persönlich zu heftig, sodaß man sich nicht zu ihm traute. So bot der liebe Mellin, der in unsern schalkhaften Freundeskreisen immer „Seine Majestät die Post” hieß, einen Ersatz für das, was wir bei unserm Pastor an Seelsorge nicht fanden.
Durch Freund Mellin machte ich in einer Hütte, die zu Gramenz gehörte, die Bekanntschaft eines armen Kranken, die für mich von besonderem Wert wurde. Der Besuch in dieser Hütte war um so bedeutsamer für mich, als er in großem Gegensatz stand zu einer früheren Erfahrung. Der alte Herr von Senfft hatte mir einmal im ersten Jahre eine Rolle mit 100 Talern geschenkt mit dem Auftrag, sie zum Besten der[S. 59] Armen zu verwenden, und zwar in den beiden Vorwerken, die mir zuerst anvertraut waren. Besonders in einem dieser Vorwerke herrschte noch in ungezügelter Grausamkeit der Branntwein. Von dieser Macht des Branntweins hatte ich gleich in einer der ersten Katen, in die mich meine Armenbesuche führten, einen besonders erschreckenden Eindruck. Bei den alten pommerschen Katen waren die vier Pfosten der Hütte ohne jede Schwelle einfach auf vier Steine gesetzt. Je mehr nun diese Pfosten an ihrem unteren Ende faulten, desto tiefer sank die Hütte zur Erde herunter. Solange der Branntwein in solch schornsteinlosen Hütten nicht das Regiment führte, ließ sich ganz glücklich darin leben. Ja, es hatte früher einen langjährigen Krieg der Bewohner dieser alten Hütten gegen die modernen Schornsteinhäuser gegeben.
Aber in der obenerwähnten Hütte, in die ich nur mit gebücktem Kopf hatte eintreten können, herrschte der Branntwein. Der Mann soff, solange er etwas hatte, die Frau auch, und selbst ihren Kindern gaben sie zur Betäubung des Hungers von dem unseligen Naß. Als ich nun durch die niedrige Tür in den einzigen Raum, den der Katen enthielt, hineingekrochen war, sah ich auf dem Strohlager an der Erde eine Leiche liegen. Es war die Leiche der Mutter des Hauses. Während ich noch, entsetzt von dem Anblick der Not und des Grauens, dastand, bewegte sich die Decke, und ein schmutziger Kinderkopf und bald noch einer guckten unter der Decke hervor, verkrochen sich aber bald wieder, denn es war bitter kalt. Draußen lag Schnee und drinnen brannte kein Feuer.
Bei dieser armen Familie versuchte ich zuerst mein Heil mit meinen 100 Talern, wurde aber gründlich zuschanden. Denn der Roggen, den ich ihnen schenkte, und die Kleider, die ich für die armen zerlumpten Kinder kaufte, wurden, soweit es möglich war, wieder in Branntwein verwandelt. Ähnlich ging es mir bei andern Familien. Meine 100 Taler waren im Umsehen ausgegeben; aber ausgerichtet hatte ich nichts. Und diese Lehre war mir nicht zum Schaden, denn ich lernte, daß mit bloß menschlichen Künsten der Gutmütigkeit gegen menschliches Elend und gegen Sünde, von der das Elend stammt, nichts auszurichten ist.
Wie ganz anders sah es aber in der Hütte aus, in die mich mein Freund Mellin führte! Auch in ihr wohnte große[S. 60] Armut und Krankheit und Elend dazu. Aber statt des Branntweins hatte hier der Friede Gottes das Regiment! Seit 28 Jahren, fast von seiner Jugend an, lag hier auf verhältnismäßig sauberem Lager ein Lazarus: „der kranke Fritz”, so hieß er im Dorf. Aber er besaß, was mehr war als die Schätze Ägyptens: er wußte, was er an Jesus Christus hatte, nämlich die Erlösung durch sein Blut, die Vergebung der Sünden. Und das machte ihn reich und glücklich. Der Vergleich mit den armen Branntweinsäufern, die mit keinem Mittel menschlicher Weisheit aus ihrem Elend gerissen werden konnten, zugleich mit der Erinnerung an meine vergeblich ausgegebenen 100 Taler — und dem gegenüber der kranke Fritz mit seinem reichen Besitz der unvergänglichen köstlichen Perle machten einen tiefen Eindruck auf mich. Der kranke Fritz wurde von da ab im Verborgenen mein Freund. Gott allein weiß es, und die Ewigkeit wird es klarmachen, was ich ihm verdanke!
Mitten in diese für mich so bewegte Arbeits- und Kampfeszeit fiel ein Ereignis besonderer Art. Ich war eines Abends im Monat Mai 1854 nach Buchwald hinübergeritten, wo mir ja immer der Eintritt in das liebe Glasenapsche Familienleben offen stand. Da wurde ein Brief durch einen besonderen Boten von Gramenz hinter mir her geschickt. Er war von der Hand meiner lieben Mutter und begann: „Ehe Du diesen Brief liest, mein lieber Sohn, bitte Gott, daß es Dir zum Segen werde, was ich Dir mitteilen muß.” Und nun kam die Nachricht von dem seligen Heimgang meines Vaters.
Der Vater hatte sich schon mehrere Jahre zuvor wieder eine Arbeit vom König ausgebeten. Und zwar hatte er gewünscht, daß ihm wieder ein Landratsamt zugewiesen werden möchte. Er trachtete nicht nach hohen Dingen, und solch ein geringer Posten wäre ihm in der Tat das liebste gewesen. Statt dessen hatte ihn der König im Jahre 1852 zum Regierungspräsidenten in Arnsberg ernannt anstelle des jüngeren Bruders meines Vaters, der das Finanzministerium in Berlin übernahm. Auch dieser Posten war ihm recht, und er hat ihn mit größter Freudigkeit und Treue die zwei letzten Jahre seines Lebens verwaltet.
Etwa ein Jahr vor der mir ganz überraschend gekommenen Todesnachricht hatte mich schon einmal ein Brief der Mutter plötzlich den weiten Weg von Gramenz nach Westfalen machen[S. 61] lassen. Die Mutter schrieb, daß der Vater tödlich erkrankt sei und die Ärzte wenig Aussicht für sein Leben ließen. Als ich nach Berlin zu meinen Verwandten kam, war die dort eingetroffene Nachricht noch hoffnungsloser, sodaß ich nichts anderes mehr erwarten konnte, als des Vaters Antlitz hienieden nicht mehr zu sehen.
Ich kam von Soest mit der Post abends zehn Uhr in Arnsberg an, wo das elterliche Haus dicht bei der katholischen Kirche an einem freien Abhang gelegen war. Der Mond stand hell am Himmel. Ich traute mich zunächst nicht in das Haus hinein, sondern ging von allen Seiten herum, um an den etwa vorhandenen Lichtern zu erkennen, was ich darin wohl vorfinden würde. Noch stand ich einen Augenblick an das Geländer des Abhangs gelehnt, als plötzlich die Haustür aufging und ein Mann heraustrat. Es war der Doktor. Ich lief ihm nach und faßte ihn beim Arm. „Gehen Sie nur getrost hinein,” sagte er, „seit heute mittag ist die Krisis zum Leben eingetreten.”
Drinnen fand ich außer der Mutter und den beiden Schwestern auch meine beiden Brüder, die bereits vor mir eingetroffen waren, Franz von seiner Oberförsterei, Ernst, der den Soldatenstand erwählt hatte, von seiner Garnison in Frankfurt a. M. Ich war der weiteste und letzte. Am Morgen nach meiner Ankunft hörte ich, an der Tür stehend, den Vater zur Mutter sagen: „Frau, was machst du für ein Gesicht! Ich glaube, der Friedrich ist auch da.” So mußte ich denn hinein. Dann haben wir miteinander, wie schon so oft, die selige Zeit der Wiedergenesung des Vaters mit innigster Dankbarkeit und Freude gefeiert. Denn sobald die Krisis eingetreten war, ging es bei der kräftigen Natur des Vaters meist schnell wieder mit ihm aufwärts. Es war dies das letzte Zusammensein, das ich auf Erden mit dem teuren Vater hatte. Noch einmal kosteten wir alle mit vollen Zügen das friedsame Glück unseres Familienlebens.
Bei Gelegenheit dieser seiner Erkrankung hatte Vater vor der Feier des heiligen Abendmahls einmal gesagt: „Herr, wenn du siehst, daß es mir und den Meinen heilsam ist, daß ich noch bleibe, so will ich wohl bleiben; wenn du aber siehst, daß ich von dir abkommen sollte, so nimm mich nur gleich dahin!” Dem Pastor Bertelsmann aber sagte er damals: „Ein armer bußfertiger Sünder stirbt allezeit in Frieden.” Von dieser Zeit ab[S. 62] äußerte er öfter das Verlangen, daß ihm Gott doch ein langes untätiges Alter ersparen möchte und, wenn er nicht mehr arbeiten könne, mit ihm eilen möchte aus der Zeit in die Ewigkeit.
Besonders schwer lag meinem Vater meine Zukunft auf der Seele. Weil er arm war und mir kein eigenes Gut kaufen konnte, mich auch die Bewirtschaftung unseres kleinen Familienbesitzes Velmede nicht hätte befriedigen können, so hatte ich meinem Vater öfter erklärt, daß ich gern mein Leben lang als Verwalter fremder Güter arbeiten wolle. In der Tat erscheint mir das noch jetzt viel leichter, als selbst Besitzer zu sein, wenigstens unter den Verhältnissen, in denen sich die meisten Besitzer der östlichen Provinzen befinden. (1884 geschrieben.) Einmal ist es die Last der Sorge, die einen großen Teil von ihnen drückt, da sie mit Schulden beladen sind. Aber noch mehr sind die Umstände qualvoll, daß sie sich immer in den Gewinn der Ernte gewissermaßen mit den Tagelöhnern zu teilen haben und dabei der beständige Kampf nicht aufhört, wieviel sie diesen geben, wieviel sie selbst behalten sollen. Für einen Verwalter fremden Gutes, der keinen eigenen Gewinn für sich daraus zu ziehen hat, ist dagegen die Lage unvergleichlich leichter, und die Sorgen sind so viel geringer.
Gleichwohl war dieser Gedanke meinem Vater schwer; und er hatte den Wunsch, da meine Gesundheit sich inzwischen wieder vollkommen gekräftigt hatte, daß ich noch einmal eine Universität beziehen möchte. Was ich aber nach seiner Meinung studieren solle, sagte er nicht. Bloß wenn vom juristischen Studium die Rede war, sagte er: „Junge, das ist für dich zu trocken, das hältst du nicht aus.” — So blieb diese Frage offen. Ich reiste von Arnsberg nach Pommern zurück, um zunächst meine dortige Arbeit fortzusetzen, in der ich dann, ein Jahr später, durch die Nachricht von dem Tode meines Vaters überrascht wurde.
Durch eine Hungersnot, die infolge einer Mißernte im südlichen Teil des Regierungsbezirks Arnsberg herrschte, hatte Vater im Frühling 1854 eine ihn besonders bedrückende Last auf sich liegen. Er liebte es nicht, solche Nöte vom grünen Tisch aus zu bekämpfen, sondern hatte sich persönlich nach dem armen Wittgensteiner Land aufgemacht. Er hatte zu Fuß die armen Ortschaften durchwandert und war selbst in die Hütten eingetreten, an deren Tür der Hunger klopfte, um nach eigenem [S. 63] Augenschein desto leichter und gründlicher Abhilfe schaffen zu können.
Eines Nachmittags wurde er von einem Regenschauer überrascht, sodaß er durchnäßt in dem kleinen Städtchen Medebach anlangte. Dort war es, wo ihm Gott seine Sterbestunde bescherte. So wie er es sich gewünscht hatte, wurde er mitten aus seiner frischen, fröhlichen Arbeit herausgerufen. Die Mutter konnte auf die Nachricht von seiner Erkrankung noch zu ihm eilen und einige Tage das ihr allezeit köstliche Glück genießen, ihn selbst pflegen zu dürfen und mit ihm stille, selige Stunden zu feiern. Sie war diesmal voller Hoffnung, daß es wieder zum Leben gehen würde. Dann aber war plötzlich Lungenschlag eingetreten, der beiden nur eben so viel Zeit ließ, voneinander Abschied zu nehmen, ohne daß zu einem langen schmerzlichen Scheiden Zeit geblieben wäre.
Als beide Schwestern, Frieda und Sophie, die zuerst die Trauernachricht erreichte, in das Zimmer traten, wo die Mutter neben der Leiche des Vaters saß, da sahen sie zu ihrem Erstaunen nicht ein von Schmerz zerrissenes, sondern von Dank verklärtes Antlitz, ebenso voll Frieden als das verblichene Antlitz des Vaters selbst. „Aber du weinst ja nicht?” fragt eine der Schwestern. „Wie sollte ich weinen,” war ihre Antwort, „da Gott ihn mir 28 Jahre lang gelassen hat und wir so unbeschreiblich glücklich zusammen gewesen sind!” Es war freilich noch etwas Größeres, das ihre Tränen stillte und ihre Traurigkeit in Freude verwandelte: Sie wußte, daß sie nicht in Ewigkeit geschieden waren, sondern vielmehr im Vaterhause ewig verbunden sein sollten.
Ich mußte manches entbehren von dem Segen, der meinen Geschwistern in diesen Tagen geschenkt wurde. Der Brief meiner Mutter nach Gramenz hatte nahezu drei Tage gebraucht, und wiewohl ich mich auf der Stelle aufmachte und Tag und Nacht reiste, so fand ich doch nur das bereits mit Erde zugedeckte Grab meines Vaters. Und doch waren es Tage unerwartet reichen Segens und Friedens, die uns um das Grab versammelten Geschwistern zuteil wurden, als wir noch einige Tage bei der Mutter blieben. Bei unserer lieben Mutter war es immer so, daß gerade während der Zeit des ersten und tiefsten Schmerzes der Glaube in ihr sich am sieghaftesten bewies und die Freude über die Tröstungen Gottes viel größer war[S. 64] als der Schmerz. Besonders groß aber war ihre Freude, als sie während unseres Beisammenseins merkte, daß wir fünf Geschwister alle uns mit ihr auf demselben Wege befanden und ihren Glauben und ihre Hoffnung teilen konnten.
Jedes von uns Geschwistern hatte in jener Zeit in großer Versuchung und Gefahr gestanden oder doch in ernster und schwerer Entscheidung seines Lebens. Noch vor dem Tode des Vaters hatte sich meine Schwester Sophie mit dem Landrat Julius von Oven, mein Bruder Franz mit Clara von Hymmen verlobt. Mein jüngster Bruder Ernst stand bei den Jägern in Frankfurt a. M. Wir Geschwister waren nie gewohnt gewesen, uns über alles auszusprechen, was den tiefsten Herzensgrund bewegte. Aber diesmal öffnete uns die ernste große Stunde den Mund. Mehr wie jemals sonst konnten wir einander ins Herz sehen lassen. Es war uns allen zu Mute, als wenn der Vater, den doch keiner von uns vor seinem Sterben gesehen hatte, noch vorher jedem seine Hände aufs Haupt gelegt und jedem einen ganz besonderen Segen mitgegeben hätte, und wir konnten uns vorstellen, daß er das, was er leiblicherweise zu tun nicht mehr vermocht hatte, doch im Geiste getan hatte und daß er jetzt im ewigen Vaterhause unser aller segnend und liebend gedenke.
Acht Tage dauerte dies unser köstliches Beisammensein. Dann mußte ich in meine große schwere Arbeit zurück. Während der Reise war es nicht eigentlich meine Sorge, wie ich die noch übrigen fünf Monate bis zur Rückkehr meines Freundes Ernst die Verwaltung des großen Gutes leiten sollte, sondern ein anderes bedrückte mich. Mehr wie je vorher hatte ich ein Verlangen nach einer stillen Stunde der Einkehr, zu der während der Arbeitslast der Woche keine Zeit war. Am Sonntag hätte es ja sein können. Aber es war ja unsere Gewohnheit, daß wir jungen Leute den ganzen Sonntagnachmittag auf der schönen Kegelbahn zubrachten, die auf der Insel im Garten recht traulich angelegt war. Und wer wollte uns jungen Leuten diesen Zeitvertreib verargen? Trotzdem hätte ich mich gar zu gern hiervon freigemacht, um den Sonntagnachmittag still für mich allein zu haben. So bat ich Gott, er möge mir einen Weg zeigen, wie ich davon loskäme, ohne eine Unwahrheit zu sagen und ohne mehr von mir zu verlangen, als ich damals öffentlich zu bekennen die Kraft hatte.
Da sah ich es denn als eine Erhörung meines Gebetes an, was mir gleich bei meiner Ankunft in Gramenz widerfuhr. Mein Pferd, der Soliman, ein ausgezeichnetes, ausdauerndes Roß, war während der langen Ruhezeit übermütig geworden. In dem Augenblick, wo ich mich zum erstenmal wieder in seinen Sattel schwang, stieg das Tier steil in die Höhe und überschlug sich rückwärts, sodaß ich unter das Pferd auf das Steinpflaster des Hofes zu liegen kam. Ich hatte weiter keinen Schaden genommen, als daß mein rechter Ellbogen kräftig blutete und der Knochen etwas verletzt war. Aber ich mußte doch meinen Arm mehrere Wochen lang in der Binde tragen; und während der Gramenzer Zeit erstarkte er überhaupt nicht wieder so weit, daß ich eine Kegelkugel damit hätte schieben können. So hatte ich den mir erbetenen stillen Sonntagnachmittag.
Gott schenkt uns mitunter Zeiten in unserer Pilgerschaft, wo wir nicht im dunklen Glauben, sondern im seligen Schauen seiner Gnadenwege einhergehen können und wo jeder Tag uns ein neuer Beweis seiner Barmherzigkeit und Treue ist. Solch eine Zeit brach jetzt für mich an. Ich benutzte sogleich meinen ersten Sonntag, um mich, während die andern Kegel schoben, still in Gottes Wort zu vertiefen, das mir seit meiner frühsten Kindheit ja genug gepredigt worden, mir aber nicht wieder recht persönlich nahegetreten war. Ich stand auch wochentags eine Viertelstunde früher als sonst auf, um unter den alten Linden im Garten auf- und abzuwandeln und dort ungestört meine Morgenandacht zu halten. Jedes Wort der Schrift — ich pflegte jedesmal ein Kapitel aus dem Neuen Testament zu lesen — sah ich nun mit ganz andern Augen an als je zuvor.
Dazu kam noch ein Erlebnis eigener Art. Ich hatte seit einiger Zeit die Gewohnheit, den Kindern, die mir beim Reinigen der großen Zuckerrübenfelder halfen, außer ihrem Lohn einen der kleinen Traktate zu geben, die entweder aus Stuttgart oder Straßburg oder auch aus Basel stammten und die ich von dem Kolporteur bezog, den der alte Herr von Senfft angestellt hatte. Viele Tausende dieser Traktate hatte ich schon verteilt, doch selbst gelesen hatte ich noch keinen.
Eines Sonntagnachmittags aber, als die andern wieder am Kegelschieben waren, fiel mein Blick auf einen dieser kleinen Kindertraktate. Er hieß: „Tschin, der arme Chinesenknabe”,[S. 66] und kam aus Basel. Er erzählte von einem armen Chinesenkinde, das englische Soldaten während des bekannten Opiumkrieges der Engländer gegen China in Schutz genommen hatten, nachdem des Kindes Vater, weil er den Engländern Dienste geleistet hatte, von den Chinesen ergriffen und hingerichtet worden war. Um das arme Waisenkind zu retten, brachten es die Soldaten mit nach England. Hier nahmen sich christliche Freunde des armen Knaben an, er wurde treulich unterrichtet, kam zum kindlichen Glauben und wurde getauft. Dann aber erkrankte er, wie so viele Kinder des Südens, die in unser kaltes Land kommen, an der Lunge und siechte langsam dahin. Er hatte aber beständig nur ein Verlangen, nämlich daß er seinen Landsleuten auch von dem Heiland sagen könnte, den er selbst gefunden hatte, und er sprach es einmal mit großem, heiligem Ernst aus: „Was soll ich einmal am Tage des Gerichts sagen, wenn meine Brüder mich fragen würden, warum ich, obwohl ich den Weg des Heils gewußt, ihnen solches nicht mitgeteilt hätte?”
In dem Augenblick, wo ich diese einfachen Worte las, war es plötzlich, als ob mir in bezug auf meinen Lebensberuf die Schuppen von den Augen fielen. Ich hatte bis dahin niemals auch nur einen leisen Gedanken in meinem Herzen gehabt, noch hatten es weder Vater noch Mutter noch irgend ein anderer Mensch mir je von fern nahegelegt, daß ich Pastor werden möchte. In diesem Augenblick aber wurde es mir so vollständig gewiß, daß mir Gott diesen Beruf geschenkt habe, daß auch kein leiser Zweifel von der Stunde an über mich kam, und ich konnte Gott mit Freudentränen dafür danken.
Doch teilte ich zunächst keinem Menschen etwas von meiner Freude mit, auch nicht meiner Mutter, auch nicht meinem Freunde Mellin, sondern nahm mir vor, mir von Gott selbst weitere Fingerzeige geben zu lassen. Daran fehlte es dann auch nicht. Im Anschluß an jenes Büchlein hatten sich meine Gedanken zunächst auf die Arbeit unter den Heiden gerichtet. Dahin ging meine Sehnsucht.
Inzwischen war die Erntezeit hereingebrochen. Es war eine gewaltige Ernte, die in den fünf großen Gütern einzubringen war. Es trat anhaltende Hitze ein. Das Korn reifte schnell und gleichzeitig, sodaß es auch möglichst schnell hintereinander geerntet werden mußte. Es wurde mir sehr bange, wo ich die[S. 67] Arbeiter für die Ernte herbekommen sollte, damit sie nicht verdürbe.
Eines Tages hatte ich mich schon mit Tagesanbruch auf mein Pferd gesetzt, um in einem Nachbardorf Arbeiter für meine Ernte zu werben. Als ich damit fertig war, ritt ich hinüber nach dem kleinen Städtchen Bublitz, wo, wie ich wußte, eben ein Missionsfest gefeiert wurde. Die Feier neigte sich schon ihrem Ende zu. Ich band mein Pferd draußen an und trat, um doch noch einiges zu hören, in die Kirche ein. Ich merkte gleich, daß der Pastor den Text hatte: „Die Ernte ist groß, aber der Arbeiter sind wenige; bittet den Herrn der Ernte, daß er Arbeiter in seine Ernte sende!” Herzandringend schilderte er die Not hinsiechender, sterbender, verderbender Menschenseelen und des Herrn Jammer über sie, und zuletzt fragte er mit großem Ernst, ob denn unter der ganzen Gemeinde, unter allen, die im Gehorsam gegen den Befehl Christi um Arbeiter in seine Ernte bäten, nicht auch ein solcher wäre, der sich selbst für diesen Dienst stellen wollte. Da hieß es laut in mir: „Ja, ja, ich will gern kommen.” Fröhlich, ja, frohlockend jagte ich heimwärts, um zunächst die irdische Erntearbeit in Gang zu bringen.
In fliegender Eile gingen nun die letzten Monate meiner Gramenzer Zeit zu Ende. Mein Freund Ernst Senfft kam, um mich abzulösen. Die äußeren Verhältnisse hatten sich auch weiterhin entschieden gebessert. So konnte ich, da auch einige tüchtige Wirtschaftsinspektoren gefunden waren, meinem Freunde die Aufgabe getrost in die Hand legen. Am 11. Oktober nachts schnürte ich mein Bündel. Das Andachtsbuch meiner Eltern, der liebe Bogatzky, war inzwischen auch mein Freund geworden, und es war mir eine nicht geringe Stärkung meines Glaubens, was mir Bogatzky an diesem Abend mit auf den Weg gab, Apostelgeschichte 26, 17: „Ich will dich erretten von dem Volk und von den Heiden, unter welche ich dich jetzt sende.”
Die kleine Schrift, die die große Entscheidung für Bodelschwingh gebracht hatte, war aus Basel gekommen. Als es sich nun für den Beginn seiner theologischen Studien um die Wahl einer Universität handelte, fühlte er sein ganzes Herz nach Basel[S. 68] gerichtet. Da er aber nicht lediglich einem Gefühl folgen wollte, so fragte er in Berlin seinen alten Seelsorger Snethlage um Rat. „Gehen Sie nach Basel!” sagte dieser, schickte ihn aber zu seinem Kollegen, dem Domprediger Hoffmann, der bis vor kurzem Missionsinspektor in Basel gewesen war, um auch dessen Meinung einzuholen. Auch Hoffmann sagte: „Gehen Sie nach Basel!” Und so sah er seinen Weg entschieden.
Er eilte zur Mutter. Sie stimmte der Wendung, die sein Lebensweg genommen hatte, aus tiefstem Herzen zu und sah darin die Erfüllung ihres verborgenen Herzenswunsches. Zugleich entdeckte sie ihrem Sohn, daß auch sein Vater, ohne es je seinem Kinde auszusprechen, die Hoffnung gehegt habe, daß einer seiner Söhne einmal das Studium der Theologie ergreifen möchte. Nur Ernst von Senfft war aufs tiefste erschüttert. Er hatte die geniale Begabung seines Freundes für das Praktische zur Genüge erkannt, und nun beschwor er ihn, bei dem alten Berufe zu bleiben. Er war überzeugt, daß der Entschluß seines Freundes nichts als das Aufwallen einer religiösen Stimmung sei, die ihn nur auf Abwege bringen könne.
Aber die Stimme des Freundes konnte nichts mehr ausrichten. Wichtiger als seine eigene Entscheidung war ihm die Gewißheit, daß Gott über ihn entschieden hatte. Und wenn es auch Jahre dauerte, so erlebte er es doch schließlich bei seinem Freunde Senfft, daß, wenn jemandes Wege Gott gefallen, er nicht nur seine Feinde, sondern erst recht seine Freunde mit ihm zufrieden macht.
So machte sich der im 24. Jahre stehende Student über Frankfurt a. M., wo sein Bruder Ernst stand, nach Basel auf.
„Der Aufenthalt bei meinem Bruder Ernst”, so heißt es in den Erinnerungen weiter, „brachte mir eine besondere Erquickung. Ich war ja so ganz mit ihm aufgewachsen, so viele Jahre lang hatten wir ein Wohn- und Schlafzimmer geteilt, so viele Wege hatten wir miteinander zur Schule gemacht. Aber nun erst konnten wir unsere Herzen ganz gegeneinander aufschließen. Ernst war von einem unbeschreiblich kindlichen Zutrauen zu mir. Wir gingen in der Nacht am Ufer des Mains auf und ab, und er erzählte mir von den schweren Kämpfen, die er habe, um seinem Versprechen nicht untreu zu werden, das er zusammen mit seinem Freunde von Oidtmann Gott gegeben hatte, daß sie in ihrem Soldatenleben nichts tun wollten, was[S. 69] ihr Gewissen befleckte. Er bat mich brüderlich und herzlich, ihn in diesem schweren Glaubenskampf zu unterstützen und gemeinsame Sache mit ihm zu machen. Er sagte mir auch, daß es ihm von ganz besonderem Segen sei, den lieben Vater, der an ihm, seinem Benjamin, wie er ihn zu nennen pflegte, mehr noch als an seinen andern Kindern gehangen hatte, im Himmel zu wissen; denn er könne sich vorstellen, daß der Vater erfahre, wie er, sein Sohn, auf Erden wandele. Und dies sei ihm eine Stärkung im guten Kampf. Auch bat er mich, ihm von Basel gute Schriften zu schicken, um mit ihnen den ihm unterstellten Soldaten zu dienen.
Am andern Tage — es war am 6. November 1854 — langte ich abends spät in Basel an, das mir nun für anderthalb Jahre eine ganz besonders reiche Segensstätte werden sollte. Ich stieg in einem kleinen Gasthof ab, der dicht am Rhein lag. Hier wurde ich gleich freudig überrascht, als ich auf meinem Nachttisch eine Bibel liegen fand, die sich als Eigentum des Wirtshauses herausstellte, und als ich von der alten Magd, die das Zimmer bediente, erfuhr, daß der Wirt in jedes Zimmer eine Bibel lege. Das war mir bis dahin auf meiner Pilgerreise noch nicht vorgekommen.
Ich fand auf dem Petersplatz bei ein paar alten Fräulein ein gar freundliches Zimmer, das ich auch die anderthalb Jahre nicht wieder verlassen habe. Die beiden alten Damen hatten eine württembergische Magd, die auch schon bei Jahren war. Sie hieß Rösli Schwarz. Es war für mich, der ich nach ernster Sammlung und stillem Studium verlangte, eine große Wohltat, durch diese Magd alle Mahlzeiten im Hause bekommen zu können, auch mein Mittagbrot. Ich hatte aber auch außerdem manchen Segen durch diese treue Person. Sie hatte eine Schwester, die an einen Missionar in Afrika verheiratet war, und sie trug die Heidenmission, die ja auch mir so sehr anlag, unablässig auf betendem Herzen. Sie war eine von den Verborgenen und Stillen im Lande, durch die Gott gewiß nicht die kleinsten Taten tut.
So oft eine frohe Nachricht aus den Heidenländern kam, konnte ich es ihr gleich anmerken; denn dann glänzte ihr Angesicht vor Freude. So oft aber auf dem Missionsfelde etwas Schmerzliches vorgefallen war, ging sie gebeugt einher als eine, die selbst an solcher Niederlage mit schuld war, weil sie, wie sie[S. 70] sich selbst anklagte, im Wachen und Beten nachgelassen habe. Es ist selbstverständlich, daß ich bei solchem Herzenszustande an ihr eine mütterliche Pflegerin hatte, und bis auf diese Stunde (1887), wo sie als eine bald 80 jährige Pfründnerin zu Fellbach bei Stuttgart lebt, bekomme ich von ihr alljährlich die rührendsten Gaben und Liebeszeichen. Durch sie wurde ich auch mit manchen Württemberger Zuständen näher bekannt, namentlich mit dem lieben Korntal, wo sie längere Zeit ihres Lebens gewohnt hatte.
Ebenso angenehm wie mein kleines Zimmer und meine häusliche Verpflegung war auch die Umgebung meiner Wohnung. Dicht vor meinem Fenster ragten die schönen hohen Ulmen und Linden des großen Petersplatzes empor. An der linken Seite, von der die Treppe nach der Unterstadt hinabführte, lag die Peterskirche, an der der würdige Pfarrer La Roche stand. Schaute ich rechts zu meinem Fenster hinaus, so begrenzte hier der alte Wall meine Aussicht. Ich brauchte aber nur den Kamm des Walles zu übersteigen, so sah ich auf der andern Seite des Wallgrabens den großen Friedhof der Stadt liegen und darüber hinweg die Vogesen. Wenn ich quer über den Petersplatz ging, so hatte ich von der andern Seite des Platzes aus nur noch ein kurzes Gäßchen zu durchschreiten, dann stand ich an dem schönsten Tor der Stadt, dem alten Spalentor, vor dem jetzt das neue Missionshaus liegt. Damals war jenseits des Tores noch freies Feld. So suchte ich mir dort in der Frühlings- und Herbstzeit jeden Morgen zwischen den grünen Matten die schönsten Wege auf, um in der Stille ein Kapitel in meinem griechischen Neuen Testament zu lesen. Da habe ich unbeschreiblich köstliche Feierstunden zugebracht.
Die alte Universität von Basel lag dicht über dem Rhein, oberhalb der Rheinbrücke. Die Hörsäle blickten fast sämtlich vom steilen Abhang herunter in den lieben Rheinstrom hinein, der in einem prachtvollen Bogen die Stadt durchströmt. Ein wenig oberhalb der Universität liegt das herrliche Münster von Basel, aus rotem Sandstein gebaut, in das ich oft und gern eintrat und in dem ich manche wertvolle Predigt gehört habe.
Es war damals gute Zeit in Basel, so gut, wie sie vorher und nachher Studenten vielleicht kaum erlebt haben. Ein kleiner Kreis frommer Männer hatte seit längerer Zeit aus freiwilligen Mitteln dafür gesorgt, daß immer ein entschieden biblischer [S. 71] Theologe an der Universität angestellt war. Als Nachfolger des trefflichen Beck, der nach Tübingen gegangen war, stand damals Professor Auberlen in seiner vollen Liebesglut. Er war einer von denen, die, wie Woltersdorf und Hofacker, ihre Kraft im Dienste ihres Herrn verzehrten. Denn nur bis in den Anfang seiner dreißiger Jahre hat er seine Pilgerschaft geführt, und man merkte es ihm an, daß er seinen Lehrerberuf nahe vor den Toren Jerusalems trieb. Unangetastet von allen kritischen Grübeleien, ließ er die ganze Schrift von Anfang bis zu Ende in herzlichster Freude stehen, wie sie stand. Er hatte eine ungemein einfältige biblische Belesenheit, und seine frischen, warmen Vorträge fanden lebendigen Widerhall in den Herzen seiner Zuhörer.
Aber als entschlossener Freund biblischer einfältiger Theologie stand er nicht einsam da. Da war unser lieber Professor Joh. Riggenbach, der vorher während seines neunjährigen Pfarramtes sich auf dem Boden der Praxis aus den Irrgängen des Rationalismus zum fröhlichen Glauben durchgerungen hatte, eine rechte Johannesnatur, nicht streitbar, aber reich an Liebe und Demut. Da war der alte Preiswerk, unser Hebräer, den wir Levi nannten. (Da ich auf dem Gymnasium kein Hebräisch getrieben hatte, so wurde ich ihm zu besonderem Dank verpflichtet, weil er mich fast allein in die hebräische Grammatik einführte.) Er war neben seiner Professur Prediger an St. Leonhard und predigte damals stets über das Alte Testament, kurz und kernig und immer so, daß er zum Schluß mit wenigen Worten von der Weissagung auf die Erfüllung hinwies und aus dem Schatten des Alten Bundes in das Licht und die Helligkeit des Neuen Testamentes eintrat. Da war Hagenbach, der ausgezeichnete Kirchenhistoriker, und schließlich der Lizentiat Stockmeyer, später Antistes der Baseler Kirche, dessen scharfsinniger und gewissenhafter Auslegung paulinischer Briefe ich manches verdanke.
Außerdem war gerade damals ein junger Philosoph Steffensen aus Kiel nach Basel gekommen, fast noch ein Jüngling mit wallendem Haar und ausdrucksvollem, schönem Gesicht. Er war von seinem Beruf durch und durch ergriffen und trug die Geschichte der Philosophie mit einer Glut der Begeisterung vor, daß man aus den verschiedenen Fakultäten in sein Kolleg lief. Dabei hatte er eine prachtvolle Diktion, sprach völlig frei und[S. 72] oft mit solcher Anstrengung, daß er am Schluß ganz erschöpft war. Doch hatte ihn keineswegs seine Philosophie so berückt, daß er sich nicht hätte gefangen geben können unter den Gehorsam des Glaubens. Mit einigen von uns ging er gelegentlich spazieren, wobei wir über dies und jenes Problem disputierten.
Aber wieviel gesunde Speise damals auch die Universität bot, noch lieber war mir das Missionshaus. Auf die Fürsprache von Hoffmann in Berlin, dem früheren Missionsinspektor, war es mir gestattet worden, an dem Unterricht der Missionszöglinge teilzunehmen. Da ging es dann freilich weniger gelehrt, aber doch noch inniger und zutraulicher zu als auf der Universität. Es war besonders der Pfarrer Geß, später Generalsuperintendent in Posen, der uns mit seiner Tiefe und Einfachheit in die Heilige Schrift einführte. Wir lasen das Alte und Neue Testament im Urtext, und zwar so, daß wir nicht nur selbst übersetzten, sondern auch selbst auszulegen versuchten, Geß uns aber verbesserte.
Später nahm ich an den Predigtübungen teil, die Inspektor Josenhans leitete. Aber auch zu allen andern Gelegenheiten stand mir das Missionshaus offen. Besonders lieb waren mir immer die Abschiedsfeiern der ausziehenden Missionare. Ich lernte hier mit steigender Freude die Seligkeit eines Dienstes in der Nachfolge Christi kennen, in der man um seinetwillen Vater und Mutter, Vaterland und Freundschaft verlassen kann und dabei in der Gewißheit eines beständigen Beisammenseins vor seinem Angesicht kurze irdische Scheidestunden nicht zu achten braucht. Wenn ich an solche Feiern und überhaupt namentlich an meine Sonntage im lieben Basel denke, so fällt mir ein, daß ich oft am Abend so voll Freude über alles Erlebte war, daß ich mit Jauchzen und Springen in meine Wohnung eilte und über dem, was Gott schon auf Erden schenkt, manchmal in der Nacht vor Freude nicht schlafen konnte.
Unter denen, die zu dieser meiner Freude beitrugen, steht mir besonders das Angesicht des lieben alten Missionars Graf Zaremba vor Augen. Wir pflegten wohl zu sagen, daß, wenn man ihn ansehe, man unmittelbar in den Himmel hineinsehe. Sodann war es Dr. Ostertag, der Bibelmann, der, schon an seinen Augen erblindend, sich doch noch am Unterricht der Missionszöglinge beteiligte und mit seinen köstlichen Predigten viel dazu beitrug, daß uns die Augen aufgeschlossen wurden für die Herrlichkeiten [S. 73] des Reiches Gottes. Unter den Lehrern am Missionshaus war auch noch ein junger Kandidat Haug, bei dem ich zwar keinen Unterricht hatte, der mich aber oft aufsuchte und mit mir spazieren ging. Einmal an einem Pfingstmorgen sagte er mir: „Heute vor vier Jahren habe ich mein Augenlicht wiederbekommen, und zwar auf das Gebet des lieben Pfarrers Blumhardt.” Durch Haug wurde ich auf solche Weise zuerst auf Blumhardt aufmerksam.”
Neben den Vorlesungen auf der Universität und im Missionshaus benutzte Bodelschwingh jede Gelegenheit, um mit seinen Lehrern in persönliche Berührung zu kommen. Namentlich auf ihren Spaziergängen begleitete er sie und besprach sich mit ihnen. Auf peinlich nachgeschriebene Kollegienhefte legte er keinen Wert. Dagegen faßte er zu Hause den Ertrag des Hörsaals und der Besprechungen, die er mit seinen Lehrern gehabt hatte, in eigener Bearbeitung zusammen. So begann er schon in Basel die selbständige Ausarbeitung einer Glaubenslehre.
Dazu kam nun ein reiches Freundschaftsleben. „Mit der jüngeren Generation”, schreibt er, „hatte ich damals schon bemoostes Haupt nicht sehr viel Umgang, weil ich niemals den Tabaksdunst der Pfeife vertragen konnte und darum die studentischen Versammlungen gern mied. Doch gab es in der Studentenverbindung „Schwyzer Hüsli” eine Anzahl lieber frischer junger Leute. Sie nahmen mich, wie es in der Studentensprache hieß, als Konkneipant bei sich auf, und mit einigen von ihnen knüpfte ich ein enges Freundschaftsband.
Ganz besonders aber zog mich ein Student an, der nicht diesem Kreise angehörte. Er stand, wie ich, im ersten Semester und hieß Jakob Riggenbach. Er gehörte einer alten Baseler Kaufmannsfamilie an, hatte sich zunächst dem Kaufmannsstande gewidmet und war erst später, ebenso wie ich, zur Theologie übergegangen. Er war eine hohe, Achtung gebietende Gestalt, noch fünf Jahre älter als ich. Heiße Kämpfe des Leibes und der Seele standen in seinem Angesicht geschrieben. Da er in der reformierten Kirche die persönliche Seelsorge vermißte und namentlich den Gebrauch der Löseschlüssel in der Privatbeichte, so hatte er sich eine Zeitlang zur irvingianischen Gemeinde geflüchtet; doch hatte er auch dort nicht gefunden, was er suchte, und sich mit großem Mut wieder von ihr getrennt. Schließlich hatte der Friede Gottes aber die Oberhand bei ihm gewonnen,[S. 74] und sein freundliches, mildes Auge hatte etwas besonders Anziehendes für mich. Er konnte es nicht viel und lange in den Kollegien aushalten, und mir ging es ebenso. Deswegen streiften wir miteinander oft in den nahen Bergen umher, manchmal mehrere Tage ausbleibend, wobei wir auch befreundete Pfarrhäuser in der Landschaft besuchten. Immer führten wir die Schrift mit uns und besprachen sie gegenseitig.
Bei einer solchen Wanderung kehrten wir auch einmal bei einem Pfarrer ein, in dessen Gemeinde viel geistiges Leben war. Der Pfarrer selbst aber hatte einen großen Schmerz, der damals schon anfing, sein Vaterherz zu zerreißen. Er hatte einen 15 jährigen Sohn, der sich auf das entschiedenste gegen den Geist des Elternhauses auflehnte. Da der Sohn die höhere Schule in Basel besuchte, so bat mich sein Vater, ihm doch nachzugehen. Ich wußte, daß der Sohn Wege ging, die ihm sein Vater verboten hatte. Aber ich war auch nicht einverstanden mit dem Vater, daß er dem Sohn mehr verbot, als er halten konnte.
Der Junge hatte einen glühenden Zug zum Theater und verwandte darauf jeden Groschen, den er erübrigen konnte. Sein Vater aber hatte ihm den Theaterbesuch verboten. Nun stellte ich mich eines Abends in der Nähe des Theaters auf, wo der Junge durchkommen mußte. Und richtig, es dauerte nicht lange, da kam er mit scheuen, hastigen Schritten dahergestürzt. Er erschrak, als ich ihn beim Arm faßte. Flehentlich bat er, ich möchte ihn doch nicht zurückhalten; er müsse ins Theater. Ich sagte ihm dagegen, daß er nichts gegen das klare Verbot des Vaters tun dürfe, versprach ihm aber, mich bei seinem Vater zu verwenden, damit er die Erlaubnis bekäme, mitunter einmal mit gutem Gewissen ins Theater zu gehen. Der Junge heulte laut, gab aber endlich doch nach.
Leider erreichte ich beim Vater nichts. Die Schule in Basel schickte schließlich den Jungen fort; und nun ging es immer mehr mit ihm bergab. Ich hörte lange nichts von ihm, bis er mir eines Tages aus einem jener schrecklichen Lazarette schrieb, in denen die Soldaten der afrikanischen Fremdenlegion untergebracht sind. Als ich den Brief an seinen Vater weitergab, antwortete er mir mit einem durchdringenden Schmerzensschrei. Aus Haß gegen das Christentum ging der unglückliche Mensch schließlich so weit, daß er Mohammedaner wurde. Er ist dann[S. 75] gestorben und verschollen — ich weiß nicht, wo. Dies Erlebnis aber war mir ein schmerzliches Warnungszeichen dafür, daß christliches Leben niemals gewaltsam aufgepreßt werden darf, wie es bei diesem unglücklichen Sohn seitens des Vaters geschehen war.
Unter den jüngeren Freunden, mit denen ich in Basel zusammen studierte, war auch Theodor Zahn, der, während Riggenbach mir um fünf Jahre voraus war, mir um sieben Jahre nachstand, denn er war damals erst 17 Jahre alt. Er wohnte ganz in meiner Nähe, und wir arbeiteten öfters zusammen. Doch war er mir an Tüchtigkeit weit überlegen, und ich konnte ihm in der Schnelligkeit seiner Auffassung auf wissenschaftlichem Gebiete nicht folgen. Auch gingen unsere Anschauungen, nicht sowohl über das Eine, was not ist, — denn er war ein lieber, entschieden gläubiger Jüngling — wohl aber über die Art der Vorbereitung auf das Predigtamt weit auseinander. Ihm war es in Basel nicht wissenschaftlich genug. Wir sind später zusammen nach Erlangen gezogen, haben dort in einem Hause gewohnt und an einem Tisch gegessen. Aber auch hier war mir sein wissenschaftlicher Flug zu hoch. Er ist denn auch in der Tat nach den ihm von Gott verliehenen Gaben einen andern Weg gegangen als ich. Er ist jetzt Professor in Erlangen und steht als ein treuer biblischer Theologe in rechtem Ansehen.
Auch mein Freund Gustav Bossart, der zuletzt an meinem Krankenbett in Berlin gesessen hatte, stellte sich in den ersten Baseler Sommerferien zu einer Fußwanderung ein. Er hatte sein Assessor-Examen gemacht und von seinem Vater das Geld zu einer Reise in die Schweiz und nach Italien bekommen. Unsere Wege waren inzwischen weit auseinander gegangen; nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich. Als wir das Aare-Tal hinaufwanderten, fragte ich ihn, ob er mir erlaube, jeden Morgen und Abend ein Kapitel aus dem Neuen Testament mit ihm zu lesen. Er bat aber, daß ich ihm diese Qual nicht antun möge; er habe mit allem, was die Schrift enthielte, völlig gebrochen. Dagegen gelobe er, daß er seinerseits während unserer Wanderschaft sein Kneipenleben aufgeben wollte.
Auf dem Wege nach dem Rhonegletscher hinauf hatten wir unter emsigem Gespräch nicht genau auf den Weg geachtet und uns verirrt. Umkehren wollten wir nicht, weil wir weiter oberhalb einen Richtweg zu erreichen hofften. Aufwärtssteigend [S. 76] und an den Büschen uns festhaltend, schien uns der Weg nicht zu gefahrvoll. Aber bald kamen wir an eine Stelle, an der ein weiteres Vorwärtsdringen ganz unmöglich war. Als wir rückwärts blickten, fing uns an zu schwindeln. Denn unter uns gähnte der Abgrund, den wir beim Hinaufklimmen übersehen hatten. Da klebten wir nun an der Felswand und wußten weder vorwärts noch rückwärts zu kommen. In diesem Augenblick fing mein Freund an zu fluchen. Ich gewann den Mut, ihn ernstlich zu strafen. Es sei kein Augenblick zum Fluchen, sondern es gälte, zu Gott zu rufen. Mein Freund ließ sich meine Strafe gefallen, und Gott ließ es uns gelingen, ohne daß unser Fuß glitt, die sichere Straße wieder zu gewinnen.
Wir kamen auf diese Weise bis Mailand und Genua, wo wir von einem kleinen Boot aus, das wir uns gemietet hatten, im Mittelländischen Meer badeten. Der Rückweg führte uns ins Engadiner Land, wo mein Freund Riggenbach in Vertretung eines Pfarrers einer kleinen einsamen Gebirgsgemeinde in einem stillen Dörfchen zu dienen hatte. Mit großer Herzlichkeit wurden wir aufgenommen, und mit großer Unbefangenheit hielt Riggenbach seine einfachen köstlichen Andachten, bei denen er auf den Knien zu beten gewohnt war. Ich merkte, daß mein Freund sich hiervon nicht abgestoßen fühlte; denn es kam kein Wort des Widerspruchs über seine Lippen. Nachts schliefen wir zusammen in einem Bett, denn Riggenbach hatte nur eins.
Riggenbach begleitete uns bis ins Rheintal und erzählte unterwegs ergreifend von einem Sterbenden, der noch etwas Schweres auf dem Gewissen hatte und zum Frieden kam, als er es glücklich über seine Lippen gebracht hatte.
Als Bossart und ich in Zürich am schönen Seeufer entlang schlenderten, traf mein Freund einen alten Bekannten aus Berlin, der mit dem Züricher Leben und Treiben genau vertraut war. Dieser bat ihn, ihn doch den Abend zu besuchen. Ich ahnte nichts Gutes. Und wie ich es gefürchtet, so kam es. Mein Freund hatte versprochen, bald wiederzukommen. Aber er blieb aus. Da ich mancherlei zu lesen und zu schreiben hatte, legte ich mich nicht schlafen, sondern blieb auf. Endlich um drei Uhr morgens polterte es die Treppe herauf. Ein Mensch in jämmerlicher Verfassung kam herein, dem ich sogleich zu Bett helfen mußte, ohne daß ich ihm natürlich ein[S. 77] Wort des Vorwurfs sagte. Den andern Tag lag tiefe Scham auf seinem Angesicht; ja, mehr als das.
Als wir abends in Basel ankamen, hörten wir, daß die Cholera, die schon bei unserer Abreise geherrscht hatte, noch immer neue Opfer fordere. Trotzdem wollte mein Freund nicht gleich weiterreisen, sondern noch einige Tage bei mir bleiben. So überließ ich ihm mein Bett und machte das meine auf meinem Sofa. Als ich mich niederlegen wollte, sagte er: „Friedrich, gib mir eine Bibel!” Und er las lange darin, während ich mich schon zum Schlafen anschickte. Der andere Tag war ein Sonntag. „Ich gehe mit dir in die Kirche,” sagte er gleich. Auch bat er mich, jetzt abends und morgens die Schrift mit ihm zu lesen, ging auch einige Male mit mir ins Kolleg zu Professor Auberlen.
Bei seinem Abschied geleitete ich ihn eine halbe Tagereise weit in den Schwarzwald hinein. Dann trennten wir uns. Es war ein stiller, hoffnungsreicher Abschied, nicht mit viel Worten, aber voll inniger, dankbarer Freude, daß wir uns endlich wiedergefunden hatten. Er besuchte noch einmal meine liebe Mutter in Velmede und brachte einige stille Tage bei ihr zu. Bald danach starb er an einer kurzen Krankheit, und ich habe auf Erden sein Angesicht nicht wiedergesehen.
Auf der Reise, die mich mit meinem Freunde Bossart durch die Schweiz nach Italien führte, waren wir eines Tages infolge eines schweren Gewitters ganz durchnäßt worden, sodaß wir uns, in unser Quartier gelangt, gleich zu Bett legen mußten, um unsere Kleider am Herde trocknen zu lassen. Da hatte denn die Magd in meiner Tasche mein kleines Neues Testament entdeckt, und ich hatte es ihr auf ihre Bitte geschenkt. Wir waren mittlerweile bis zur Isola Bella im Lago Maggiore gelangt. Während sich mein Freund mit andern Reisenden, deren Bekanntschaft er gemacht hatte, unterhielt, ruhte ich im Schatten der Lorbeeren aus. Da ich nun mein Neues Testament nicht mehr bei mir hatte, so zog ich ein anderes Buch heraus, das ich noch in meiner Wandertasche bei mir führte. Es war ein kleines Buch von Dichtungen eigenen Fabrikats, die ich jetzt auf der Wanderschaft hatte vermehren wollen. Aber als ich eine Weile hineingesehen hatte, kamen mir im Vergleich zu dem, was Gott an köstlichen geistlichen Liedern geschenkt, meine Lieder elend vor. Auch erschien mir die Gefahr, mich[S. 78] in solchen eigenen Erzeugnissen zu sonnen, so groß, daß ich einen Stein suchte, einen Bindfaden darum band und das Machwerk in die Tiefe des Sees schleuderte. Ich war froh, wieder ein Stück des alten Adams abgetan zu haben und leichter weiterpilgern zu können.
Mehr als einmal bin ich mit meinen Baseler Freunden den Weg zum lieben Vater Zeller nach Beuggen am Rhein gepilgert. In den Franzosenkriegen vor hundert Jahren war das Schloß von Beuggen Kriegslazarett gewesen, und der Lazarett-Typhus hatte in furchtbarer Weise darin gehaust. Zuletzt hatte man keine Wärter mehr bekommen können, die sich in das entsetzliche Todeshaus hineinwagen wollten. So hatte man schließlich den Sterbenden nur noch das Essen in die Tür hineingeschoben und sie sich selbst überlassen. Noch lange Zeit hatten in einzelnen Teilen des Hauses Knochengerippe umhergelegen. So war das Schloß eine Stätte des Grauens, in die sich niemand hineintraute, bis Zeller, getrieben von der Liebe Christi, es wagte, sich vom Großherzog von Baden das Schloß auszubitten, um hier mit verwahrlosten Kindern seinen Einzug zu halten. Da ist denn an der Stätte des Todes ein fröhliches, frisches Leben aufgesproßt, das bis auf diesen Tag nicht versiegt ist.
Auf seinem Arbeitspult hatte Zeller ein großes Corpus juris stehen, daneben Goethes Faust und die Bibel. „Ich habe”, sagte er mir, „diese Bücher neben einander stehen lassen, um beständig zum Dank gegen Gott ermuntert zu werden, daß ich von dem toten Buchstaben des irdischen Gesetzes zum ewig lebendigen Gesetzbuch des Wortes Gottes geführt wurde und von den verführerischen Gärten des menschlichen Geistes in ihrer höchsten Blüte, wie wir sie in Goethes Faust finden, zu dem einfältigen Evangelium von Christo.”
Besonders erinnerlich ist mir ein Sommerabend, an dem ich mit meinem mir vertrautesten Freunde aus dem Missionshaus, Hendrichs, von Beuggen nach Basel heimkehrte. Wir saßen, unter dem Schatten eines Baumes ausruhend, am Ufer des Rheines, und mein Freund sprach von dem unbeschreiblichen Glück und der Sicherheit, die er genieße, seit er an den Heiland glaube. Es könne ihm nun gar nichts widerfahren, als was ihm nötig und selig sei. Denn auch jeder Widersacher, der ihm etwas anhaben wolle, helfe ihm nur dazu, sich selbst zu verleugnen [S. 79] und sich zum Heiland zu flüchten, und jeder Stoß, den sein alter Adam bekomme, sei ihm lieb, weil dadurch der neue Adam desto mehr Luft bekomme. Es war mir dieses Gespräch von besonderem Segen und ist mir unvergeßlich geblieben in Erinnerung an meinen treuen Freund, der nun schon lange Jahre in Indien an der Küste von Malabar schläft, wo er seinen Lauf mit Freuden vollendet hat.
Neben Hendrichs stand mir ein anderer angehender Missionar sehr nahe: Gottfried Hauser. Daß ich mit ihm verbunden wurde, hatte seine besondere Veranlassung. Es bestand nämlich im Missionshause zu Basel die Einrichtung, daß die Missionare in dem letzten Jahre vor der Ausreise auf das Missionsfeld zu zwei und zwei auszogen, um in den Dörfern des Baseler und badischen Landes Bibelstunden zu halten oder auch die Kinder zu sammeln in der Weise der heutigen Sonntagsschulen, die man damals aber noch nicht kannte. So war mir mit Gottfried Hauser zusammen das Dorf Birsfelden, südlich von Basel, zugeteilt worden. Eine Witwe, eine fromme alte Bauersfrau, hatte hier ihr Haus für die Versammlung geöffnet. Es waren vor allem Kinder, die hier zusammenkamen und die von Hauser und mir in der Weise von Frage und Antwort unterwiesen wurden, während einige ältere Personen zuhörten. Mit welchem Zittern und Zagen habe ich mich auf diese Stunden vorbereitet, zumal dabei auch öffentlich gebetet zu werden pflegte! Aber wie manchen Segen habe ich auch aus diesen Stunden mitgebracht für meine eigene Seele!
Von einem höchst merkwürdigen Mann muß ich noch einiges sagen, der mir in besonderer Weise nahetrat: das war der Vater Spittler. Von Beruf Buchhändler war Spittler zu Anfang des Jahrhunderts aus dem Württemberger Land nach Basel gekommen. Er wohnte im sogenannten „Fälkli”, einem alten Gebäude, das früher zum Augustinerkloster gehört hatte und einen Falken im Wappen führte. Das Fälkli war die Heimat der von Spittler gegründeten Buch- und Traktatgesellschaft. In innigster Dankbarkeit gegen jenes kleine Büchlein über Tschin, den Chinesenknaben, das von hier aus mir nach Gramenz geschickt geworden war, konnte ich es nicht lassen, mir im „Fälkli” immer neue Traktate zu kaufen und nach allen Richtungen zu verteilen, namentlich unter den Kindern. Auch versorgte ich von hier aus, unserer letzten Verabredung entsprechend, [S. 80] meinen Bruder Ernst in Frankfurt mit den Schriften, die er sich für seine Soldaten von mir erbeten hatte.
Das Zimmer des alten Spittler steht mir noch lebendig vor Augen. Es erschien mir sehr ehrwürdig, wie das eines alten Einsiedlers, in alter deutscher Weise ausmöbliert. Die Wände waren mit allerlei Missionskarten behangen. Eine dieser Karten stellte die christlichen Länder dar. Auf ihr waren überall durch Lichter und kleine Fackeln die Gegenden bezeichnet, in denen der eingeschlafene Glauben wieder im Erwachen war oder wo für die Ausbreitung des Reiches Gottes sonst irgend etwas geschah. Zwischen diesen Lichtern und Fackeln aber lag der größte Teil der Christenheit im Halbdunkel oder im schwarzen Schatten.
Der alte Spittler erklärte mir die Karte selbst. Während das Baseler Missionshaus unter den Heiden leuchtete, sah er es als seine Hauptaufgabe an, in der abgefallenen Christenheit das Wort Gottes wieder auf den Leuchter zu stellen. Durch ihn waren fast alle Anstalten der christlichen Barmherzigkeit, die in und um Basel blühten, ins Leben gerufen worden. Sobald er auf einem Punkt fertig war, ging er wieder einen Schritt weiter. Augenblicklich galten seine Liebe und seine Kraft ganz besonders der Pilgermission. Jenseits des Rheins, auf dem letzten Vorsprung des Schwarzwaldes, hatte er eine kleine alte Kirche gekauft mit einigen Äckern umher. Die Kirche samt ihrem Turm hatte er so ausgebaut, daß darin seine Zöglinge samt ihren Lehrern Unterkunft fanden. St. Chrischona hieß das Kirchlein. Und ich bin manchmal auf die herrliche Höhe hinaufgestiegen, von der man bei klarem Wetter über den Jura weg die Alpenkette überschauen kann.
Nun waren damals die Gedanken des alten Spittler besonders auf die alte christliche Kirche in Abessinien gerichtet. Dahin hatte er bereits seine Pilger geschickt, um diese alte eingeschlafene Kirche wieder wachzurufen. Von Abessinien aus aber sollte es weitergehen zu dem südlicher wohnenden wilden afrikanischen Stamm der Gallas. Bald merkte ich, daß Vater Spittler sein Auge auf mich warf, ob ich wohl bereit sei, nach Abessinien zu ziehen.
Durch meine Verbindung mit dem Baseler Missionshaus, das Inspektor Josenhans leitete, standen aber meine Gedanken damals nicht nach Abessinien, sondern nach Indien. Und wenn[S. 81] ich auch beschlossen hatte, zunächst mein theologisches Examen in Preußen zu machen, so wollte ich doch so bald wie möglich nach Basel zurückkehren, um meinen Freunden Hauser, Hendrichs und dem dritten aus unserm engeren Freundeskreis, namens Strobel, nach Indien zu folgen.
Jetzt aber wurde ich in meinem Vorhaben erschüttert. Denn eines Tages erschien in Begleitung meiner Dienstmagd, der Rösli Schwarz, eine schwarze Mädchengestalt auf meinem Zimmer. Es war Pauline Fatmele, die Tochter eines Gallafürsten aus dem Süden Abessiniens. Sie war, nachdem ihr Vater neben ihr erschlagen worden war, von einem Sklavenhändler zum andern schließlich an den Hof des Vizekönigs von Ägypten verkauft worden. Dort war sie einem deutschen Reisenden geschenkt worden, und dieser hatte sie nach Stuttgart gebracht. Von da war sie nach Korntal in eine christliche Familie gekommen. Hier war in wunderbarer Weise ein fröhliches christliches Glaubensleben in ihr erwacht. Der alte Spittler war ihr Taufpate geworden und hatte sie nun nach Basel kommen lassen. Da meine Magd ja auch aus Korntal war, so hatte Fatmele sie besucht, und auf diese Weise kam es, daß sie mit meiner Magd zusammen mein Zimmer betrat.
Das reine, kindliche, mächtige Glaubensleben der schwarzen Fürstentochter machte, obwohl sie nur eine Viertelstunde bei mir blieb, einen großen Eindruck auf mich. „Wenn ich jetzt Flügel hätte,” sagte sie mir, „dann möchte ich gern in meine Heimat fliegen, um zu erzählen, wie lieb Gott Europa hat.” Ihr Wunsch wurde ihr nicht erfüllt. Wenige Tage darauf bekam sie Bluthusten, aus dem sich die galoppierende Schwindsucht entwickelte, und im Diakonissenhause zu Riehen, wohin sie der alte Spittler brachte, starb sie nach wenigen Wochen seligen Leidenskampfes, vielen zur Stärkung des Glaubens. Chrischonabrüder bliesen an ihrem Grab die Posaunen. Auf ihrem Sterbebett aber hatte sie den Vater Spittler gebeten, ihr Volk nicht zu vergessen, wenn sie selbst auch nicht hinziehen könne.
So kam es, daß der alte Spittler einen Beschluß des Komitees herbeiführte, durch den ich armer, junger Student berufen wurde, als Bote der Pilgermission an den Hof des Königs Theodorus nach Abessinien zu gehen. Ich sollte zunächst bei Bischof Gobat in Jerusalem das Abessinische lernen und[S. 82] mich von da mit einigen Pilgermissionaren nach Abessinien und dann weiter südwärts zu den Gallas aufmachen. Solche Aussicht zog mein Gemüt lebhaft an, und ich stand im Geiste schon auf dem Ölberg, um von da aus mit dem Kämmerer aus dem Mohrenlande meinen Weg anzutreten.
Jetzt aber erfuhr der Inspektor des Missionshauses, Pfarrer Josenhans, von dem Plan des alten Spittler. Er ließ mich auf sein Zimmer kommen und ergoß sich in einem Strom von Zorn über meinen lieben alten Freund und sein unüberlegtes Handeln, mich mit solchen Plänen zu umstricken. Jetzt kamen auch mir ernste Bedenken gegen den Plan des alten Spittler. Aber als ich zu ihm ging, um ihm diese Bedenken vorzutragen, da gab es nun auf Spittlers Seite eine solche Schilderung der Verkehrtheit des Missionshauses, daß ich gar nicht wußte, wie ich daran war.
Spittler vertrat ungefähr den Standpunkt des alten Vater Goßner, der von dem vielen Studieren und der Gelehrsamkeit seiner Missionare gar nichts hielt, sondern sie einfach hinaussandte und sie draußen sich selbst ihren Unterhalt verdienen ließ. Deswegen bildete er seine Pilgermissionare auch besonders in allen Handwerken und in der Landwirtschaft aus, um ihnen so die Möglichkeit zu gewähren, sich ihren Unterhalt in den Heidenländern selbst zu erwerben. Josenhans dagegen vertrat die Notwendigkeit einer gründlichen wissenschaftlichen Bildung, auch in den alten Sprachen, und glaubte, seinen Missionaren durchaus ein auskömmliches Gehalt geben zu müssen, damit sie ihre ganze Kraft dem Dienste des Wortes widmen könnten.
Beide Anschauungen haben ihr Berechtigtes, und es wäre auch wohl möglich, auf demselben Missionsgebiet, je nach den verschiedenen Gaben, beide zu vereinigen. Es wäre darum auch nicht nötig gewesen, daß die beiden vortrefflichen Männer sich um dieser verschiedenen Anschauungen willen so ereiferten. Aber das Entscheidende für mich war, daß ich merkte, daß es bei beiden auf meine Person abgesehen war und daß hierdurch ihr Eifer ein falscher Eifer war. Es war gerade Fastnachtszeit. Alles lief auf den Straßen von Basel in Fastnachtskappen umher, und ich weiß noch, wie ich zu einem meiner Freunde sagte, es wäre mir lieber, daß der alte Spittler und Josenhans sich Schellenkappen aufgesetzt hätten und auf der Gasse von Basel[S. 83] miteinander herumgesprungen wären, als daß sie sich in solcher Weise um meine arme Person zankten.
An sich war mir die Sache gut. Denn ich hatte mich in der Tat zu sehr an Menschen gehängt und zu hoch an Menschen hinaufgeblickt. Ich wies die Versuchung von mir, mit halber theologischer Bildung ohne weiteres in die Heidenwelt hinauszugehen, wie es der alte Spittler wünschte; und die Dankbarkeit gegen das Baseler Missionshaus ließ den überwiegenden Wunsch in meinem Herzen bestehen, dereinst in die Arbeit auf dem Baseler Missionsgebiet einzutreten.
Am 21. März, kurz vor meiner Abreise aus Basel, am Abend des Karfreitags, hielt ich meine erste öffentliche Predigt in der kleinen Elisabethkirche über Jes. 53, 11 und 12; es war mir eine gar herzbewegliche Stunde. Am 22. März nahm ich Abschied von meinen Lehrern und Freunden und von der lieben Stadt, die mir eine zweite Heimat auf Erden geworden war, um über Frankfurt a. M., wo damals meine Mutter wohnte, nach Erlangen zu gehen.”
Erlangen stand in bezug auf die theologische Fakultät damals in sehr hoher Blüte. Hofmann, Thomasius, Delitzsch, Harnack zogen namentlich aus Norddeutschland große Scharen junger Theologen an, und es herrschte ein reges wissenschaftliches Streben voller Ernst, Frohsinn und Tüchtigkeit. Bei Hofmann war es mir schwer, daß ihn viele Studenten und namentlich die, die ihn am wenigsten verstanden, zu sehr vergötterten und daß seine Ausdrucksweise durchaus eine andere sein mußte als die anderer Theologen. Ich habe mich am meisten an seiner Auslegung der Psalmen erquickt, obwohl man ihm gerade hier am wenigsten Tüchtigkeit zuschrieb. Auch freute es mich, daß der hochgelehrte Mann für Studenten ein Missionskränzchen hielt, in das ich mich auch aufnehmen ließ und in dem ich vor einer größeren Studentenschaft einen Vortrag hielt.
Es war eine ganze Reihe meiner Baseler Freunde mit mir nach Erlangen übergesiedelt, und es war merkwürdig, daß wir Baseler uns ganz besonders zu den Philadelphen hingezogen fühlten, die aus der Leipziger Schule stammten und streng konfessionell-lutherisch gerichtet waren. Die Baseler waren das Gegenteil. Trotzdem fanden wir uns in der Woche mit den[S. 84] Philadelphen in einem theologischen Kränzchen zusammen, wo einer von uns eine von ihm durchgearbeitete theologische Frage vorzutragen hatte, über die dann disputiert wurde. Oft ging es hierbei sehr scharf her, sodaß es nötig wurde, für den andern Tag einen Versöhnungsspaziergang anzuordnen.
Viel Freude machten uns unsere gemeinsamen Wege nach dem schönen Nürnberg. Am liebsten zogen wir Sonntags ganz früh aus und kamen mit dem Läuten der Glocken in der Stadt an, um hier in einer der prachtvollen Kirchen dem Gottesdienst beizuwohnen. Nachmittags wurden dann die Herrlichkeiten der alten Reichsstadt gründlich durchmustert, die alte Hohenzollernburg nicht ausgenommen, und abends kehrten wir zu Fuß zurück. Zu Himmelfahrt sind wir auch mit den Philadelphen nach Neuendettelsau zu Löhe gepilgert, um ihn predigen und nachmittags auf seiner Filiale katechisieren zu hören.
Meine Gefährten kehrten am Tage nach Himmelfahrt wieder nach Erlangen zurück, ich aber zog noch an demselben Abend auf das liebe Schwabenland los, wo ich mir mit meinem Baseler Freunde, Gottfried Hauser, ein Stelldichein gegeben hatte, ehe er nach Indien aufbrach. Ich hatte mir zu dieser Reise einen Kittel von grauer Leinwand machen lassen und mich zum Schutz gegen den Regen mit einem Stück Wachstuch versehen, das ich mir um die Schultern legen konnte.
Auf dem Wege durch die fränkische Schweiz wurde ich von einem reisenden Handwerksburschen eingeholt, der sich mir als Buchbinder zu erkennen gab. Durch ihn erfuhr ich zum erstenmal die verschiedenen Regeln, welche Handwerksburschen auf ihrer Pilgerfahrt und in ihrem Nachtquartier befolgen. Auch kamen wir in Religionsgespräche hinein, und ich mußte staunen, bis zu welchem Grade schon damals grundstürzende Gedanken über Gottes Wort unter den Handwerksburschen verbreitet waren. Wir blieben gemeinsam in einer kleinen Dorfschenke auf einer Kammer über Nacht und zogen auch des andern Tages noch einige Stunden miteinander weiter unter manchen fröhlichen und ernsten Gesprächen. An einem Scheidewege trennten wir uns, der Buchbinder seinen Weg nach Frankfurt, ich den meinen nach Stuttgart einschlagend. Zum Abschied schenkte ich ihm mein Neues Testament, schrieb ihm auch von Stuttgart aus noch einen längeren Brief, um ihm eine Anleitung zum Lesen des Neuen Testamentes zu geben.
Als ich 32 Jahre später im Vereinshaus in Leipzig einkehrte, wo ich, wie vorher in den Blättern angezeigt worden war, einen Vortrag halten sollte, wurde mir mitgeteilt, es sei etwas für mich abgegeben worden. Es war das Neue Testament, das ich meinem Reisegefährten geschenkt hatte, und mein Brief aus Stuttgart. Nach dem Vortrag stellte sich dann richtig ein ehrwürdiger Buchbindermeister mit langem, grauem Bart ein. Es war mein damaliger Reisegefährte, der mir sagen wollte, daß jene kurze Pilgerfahrt samt meinem Briefe und dem Büchlein ihre Früchte für ihn und sein Haus getragen hatten.
Mein Weg ging über Kirchheim unter Teck nach Welzheim. Dort traf ich mit meinem Freunde Hauser zusammen, und hier wurde er bei Gelegenheit eines Missionsfestes von Inspektor Josenhans ordiniert. Von da ging es weiter nach Fellbach, dem Heimatsort meines Freundes. Fellbach war damals einer der Orte im Württemberger Lande, an welchem das christliche Gemeinschaftsleben grünte und blühte. Die Fellbacher hatten ein eigenes Vereinshaus gebaut, wo sie unter sich ihre Andachtsstunden hielten, doch so, daß sie auch gern ihren trefflichen Pfarrer zu sich einluden.
Ehe wir in diesem Vereinshaus den Abschied meines Freundes feierten, machten wir noch eine gemeinsame Fußwanderung durch die Dörfer in einem größeren Umkreise von Stuttgart, die der Mission besonders zugetan waren. Überall wurden wir von den lieben Bauersleuten beherbergt und mit großer Liebe aufgenommen und verabschiedet. Überall steckten die Leute auch dem abziehenden Freunde Geld für seine Reise nach Indien in die Hand, und ich konnte es nicht immer abwehren, daß sie auch mir eine Gabe aufpreßten. „Sie werden es schon brauchen,” sagten sie; denn ich hatte immer noch meinen grauen Reisekittel an. Auf diesem Wege kam ich auch nach Calw, wo ich den merkwürdigen alten Dr. Barth, den Leiter des Calwer Verlages, kennen lernte.
Die Reise nach Calw, auf der Inspektor Josenhans uns begleitete, ist mir in besonders lebendiger Erinnerung geblieben. Denn Josenhans erzählte unterwegs von dem wunderbaren Gesicht, das er einmal in Basel gehabt habe. Er sei etwas leidend gewesen, in fieberhaftem Zustande, aber völlig wach. Plötzlich fangen vor seinen Augen die Herrlichkeiten der Stadt, namentlich die Kaufläden von Basel, an zu tanzen und[S. 86] stürzen nacheinander in den Abgrund. Dann sieht er, wie die Türme der Stadt zu wanken anfangen und zusammenbrechen. Jetzt sinken auch die Berge des Schwarzwaldes, des Jura und der Alpen in sich zusammen. Vor sich sieht er nichts als eine unabsehbare Ebene. Er macht sich auf und läuft über die Ebene weg auf Stuttgart zu. Da begegnet ihm sein Sohn, ein zwölfjähriger Knabe, (er saß bei uns im Wagen, während sein Vater dies erzählte) und sagt: „Vater, komm! Sie warten schon alle.” Und wie er aufblickt, sieht er eine unermeßliche Schar, die niemand zählen kann, auf einem weiten, weiten Felde stehen. Aber sie sind nicht alle gleichartig: die Freude auf den Gesichtern der einen ist durcheinandergemischt mit dem Schrecken auf den Gesichtern der andern. Da tritt einer auf — Josenhans erkennt in ihm den Kirchenvater Augustinus — und ruft mit gewaltiger Stimme: „Kommt! Laßt uns dem Herrn entgegengehen!” Und eine ungezählte Schar macht sich strahlenden Antlitzes auf und folgt ihm. Es sind die Gläubigen aus der katholischen Kirche. Aber eine ebenso große Schar wird blaß und grau, schrumpft zusammen und verkriecht sich in die Löcher der Erde. Jetzt tritt ein zweiter auf: es ist Dr. Martin Luther. Und Luther ruft wieder überlaut: „Kommt! Laßt uns dem Herrn entgegengehen!” Und wieder folgt ihm eine Schar, die niemand zählen kann, mit erhobenen Häuptern. Aber wieder schrumpft eine andere ebenso große Schar zusammen und verkriecht sich in die „Mauselöcher”. Dann tritt Calvin auf und erhebt seine Stimme; und noch einmal wiederholt sich dasselbe wie bei Augustin und Luther. Jetzt aber stehen sie alle still und blicken unverwandt gen Osten. Da mit einemmal wird es hell wie ein Blitz vom Aufgang bis zum Niedergang — —. In diesem Augenblick fiel der Sohn des Inspektors, der der Erzählung atemlos zugehört hatte, seinem Vater laut schluchzend in die Arme, sodaß dieser große Mühe hatte, ihn wieder zu beruhigen, und seine Erzählung nicht zu Ende brachte; aber wir wußten ja, wem die ungezählten Scharen entgegengegangen waren.
Nach Fellbach zurückgekehrt, rüsteten wir uns auf den Abschied meines Freundes. Am letzten Abend versammelten sich noch einmal alle gläubigen Christen Fellbachs in dem Versammlungshause. Verschiedene der alten Väter traten auf und gaben dem scheidenden jungen Missionar einen Gruß aus dem[S. 87] Worte Gottes mit auf den Weg. Andere beteten aus tiefbewegtem Herzen. Er selbst mußte ihnen ebenfalls ein Abschiedswort sagen, und ich auch. Dann legten sie noch mehrere hundert Gulden Reisegeld zusammen, und beim Hinausgehen aus dem Saal war viel Schluchzens.
Am andern Morgen wanderten wir zu Fuß nach Stuttgart. Bis zur Anhöhe über dem Dorf gaben uns noch viele das Geleit. Dann wanderten mein Freund und sein Vater, sein Schwager und ich allein weiter. Die Mutter war schon längst gestorben. Auf dem Bahnhofe in Stuttgart stand der Zug zur Abfahrt nach Basel bereit. Der alte Vater hielt sich tapfer bis zur letzten Umarmung und dem letzten Kuß, den er seinem Gottfried gab. Aber in dem Augenblick, als das Antlitz des Sohnes, der am Wagenfenster stand, entschwand, wandte sich der alte Mann zu mir, fiel mir um den Hals und schluchzte: „Gottfried, mein Sohn, mein Sohn, warum hast du mich verlassen?”
Von Stuttgart aus wanderte ich zunächst dem Hohenstaufen zu. Von da hätte ich es nicht weit bis zu dem damals schon so berühmten Boll mit seinem Pfarrer Blumhardt gehabt. Aber ich hatte eine Abneigung, solche Orte zu besuchen, die gewissermaßen als Wallfahrtsorte galten und zu denen die Menschen vielfach mehr aus Neugierde als eines inneren Bedürfnisses wegen gehen. Doch während ich die einsame, kahle Berghöhe des Hohenstaufen hinaufkletterte, zog ein schweres Gewitter herauf. Ich sah von oben schnell nach allen Seiten in das schöne Schwabenland hinein und eilte dann bergab in der Hoffnung, das Städtchen Göppingen noch vor Ausbruch des Gewitters zu erreichen. Aber das Unwetter ereilte mich unterwegs in seiner vollen Wut. Ich wurde durch und durch naß und hielt es nun für besser, geradezu vorwärts zu marschieren, bis ich vor der Tür von Bad Boll stand. Der liebe Vater Blumhardt nahm sich dann auch des wider Willen zu ihm getriebenen Studenten aufs väterlichste an, und ich gewann solches Zutrauen zu ihm, daß ich ihm mein ganzes Herz ausschütten konnte. Ich blieb einige Tage bei ihm, die mir von großem, bleibendem Segen geworden sind und unser Gemeinschaftsband knüpften bis an das Ende der Tage.
Dann ging es über Ulm und Augsburg, wo die prachtvollen Dome und Kirchen besucht wurden, wieder zurück in die freundliche [S. 88] Musenstadt an der Regnitz, wo freilich aus dem Studieren nicht mehr viel wurde, da ich in diesem sehr heißen Sommer viel an Kopfweh, Nasenbluten und Schlaflosigkeit litt und schließlich so von Kräften kam, daß ich für drei Wochen das Studentenkrankenzimmer in der Universitätsklinik aufsuchen mußte.
Nach Schluß des Semesters gab ich mir mit meinem lieben Freunde Riggenbach in Würzburg ein Stelldichein. Er hatte sich entschlossen, als Pastor zu den Deutschen nach Nordamerika zu gehen, und wir beide wollten die letzten Tage vor seinem Abschied noch miteinander verleben. Wir suchten zunächst den Pastor Fabri auf, den späteren Inspektor des Barmer Missionshauses, der mich schon in Erlangen besucht hatte. Wir blieben einige Tage in dem kleinen lieben Pfarrdörfchen, und Fabri gewann unser Herz durch seine äußerst anregenden Gespräche über die tiefsten Fragen des Reiches Gottes. An Leib und Seele erfrischt, zogen wir dann weiter dem Norden zu. Wir wanderten viel zu Fuß, wie einst in den schönen Schweizer Bergen, und es war mir von großem Segen, zu erleben, mit welcher Einfalt und Treue mein Freund abends und morgens eine Stelle aus der Heiligen Schrift vornahm, sie mit wenigen Worten auslegte und dann niederkniete zum Gebet. Wie war man für den ganzen Tag dann gestärkt und erquickt, und wie schön schlief’s sich abends ein! Es gehört gewiß mit zum Köstlichsten, was man auf Erden haben kann, mit einem solchen Freunde durchs deutsche Vaterland zu wandern.
Unsere Pilgerschaft ging das Lahntal hinauf zu meiner Schwester Sophie, die in Berleburg an den Landrat von Oven verheiratet war, dann zu meiner lieben Mutter nach Velmede und von da nach Bremen, wo wir bei dem Besitzer des Auswandererschiffes, das mein Freund benutzen wollte, die herzlichste Aufnahme fanden. Der liebe Pastor Mallet stand noch in ungebrochener Kraft, und die Kanzel, auf der später Schwalb, mein Studiengenosse von Basel her, den Unglauben verkündete, hatte damals noch der treffliche Treviranus inne. Bei Mallet gingen wir noch einmal gemeinsam zum heiligen Abendmahl. Andern Tages geleitete ich meinen Freund nach Bremerhaven und von da noch ein Stück auf dem Auswandererschiff in die See hinaus, von wo ich über und über seekrank auf dem Lotsenboote wieder in den Hafen gelangte. Dann ging es zur lieben Mutter nach Velmede.”
„Nur zu schnell waren die köstlichen Ruhetage im lieben Velmede zu Ende gegangen. Die Ferienzeit war vorüber, und da man nach den damaligen Bestimmungen mindestens ein Jahr auf einer preußischen Universität studieren mußte, so richtete ich meinen Pilgerweg nach Berlin. An der Ecke der Artilleriestraße, hart an der Spree, mit der Aussicht auf den Monbijou-Garten, eroberte ich mir glücklich ein stilles Stübchen, wo ich mein letztes Studienjahr zuzubringen dachte.
Es war damals auch in Berlin schöne Zeit. Neander, den ich in meinem ersten Semester neben meinen physikalischen und botanischen Studien gehört hatte, war schon heimgegangen; aber Strauß, Hengstenberg und Nitzsch standen noch in frischester Kraft. Bei Nitzsch besuchte ich das praktische Seminar, wo wir Predigtübungen zu halten hatten; und ich besinne mich noch gut, wie er solche Studenten, die mit oberflächlichen Redensarten und schönen Worten ihre Predigt füllten, als eitle Gecken abzutun wußte und ihnen den Hoffartsteufel austrieb.
Ich blieb übrigens bei meiner Predigt, die ich vor ihm zu halten hatte, stecken und mußte demütig mein Konzept herauslangen. Umgekehrt ging es mir bei meiner Katechese in der Propstei-Schule an der Nikolaikirche so gut, daß mein lieber Nitzsch mich besonders in sein Herz schloß und mich auch zu seinem regelmäßigen Studenten-Familienabend einlud.
Indessen wurde in diesem ersten Wintersemester aus meinem Studieren nicht sehr viel. Denn für meinen Dienst unter den Heiden mußte ich versuchen, mir einige Kenntnisse in der Krankenpflege und in der Arzneilehre zu erwerben. Pastor Müllensiefen, den ich noch aus der Zeit her kannte, wo er meine Vettern Diest als Hauslehrer unterrichtet hatte, und der jetzt Pastor an der Marienkirche war, machte mich mit seinem Freunde, dem Regimentsarzt Dr. Lauer, dem späteren Leibarzt des alten Kaisers Wilhelm, bekannt. Dieser nahm mich als Lazarettgehilfen in das Lazarett des Kaiser-Franz-Regiments auf. Jeden Morgen besuchte ich zunächst mit dem Assistenzarzt die einzelnen Kranken und ließ mir von ihm zeigen, wie Verbände angelegt und die chirurgischen Dienstleistungen verrichtet werden. Hernach nahm ich an der Visite des Regimentsarztes [S. 90] selbst teil und lernte dann die angeordneten Arzneien in der Apotheke bereiten.
Auf dem Wege zum Lazarett begegnete mir eines Tages ein früherer Schulkamerad vom Joachimstalschen Gymnasium, namens Blankenburg. Ich sah ihm gleich an, daß Schmalhans bei ihm Küchenmeister war. Er war teils wegen seiner schlechten Ernährung, aber auch wegen seiner schlechten Wohnung an seinen Nerven krank geworden. Ich wußte ihm nicht besser zu helfen, als daß ich ihn einlud, ob er bei mir wohnen wollte. Das wurde mit Freuden angenommen. Aber die Aufgabe war nicht klein; denn die Nerven meines Freundes wurden mir förmlich zu Haustyrannen, nach denen ich mich in allen Stücken richten mußte.
Trotzdem wurde ich meinem Stubengenossen bald zu großem Dank verpflichtet. Er machte mich nämlich auf eine große Lücke in meiner Ausbildung aufmerksam. Was ich an Bibelsprüchen und Kirchenliedern auf der Schule und im Konfirmandenunterricht gelernt hatte, war über alle Maßen wenig gewesen. Blankenburg zwang mich nun, sowohl Kirchenlieder als auch ganze Stücke der Heiligen Schrift wörtlich auswendig zu lernen. Ich war inzwischen mit dem Lazarettkursus fertig geworden, und so wurde neben den übrigen Studien diese Arbeit in der Tat mit allem Fleiß betrieben. Jeden Morgen ging ich in den einsamen Monbijou-Garten, und dort, auf dem schönen Wege, der an der Spree entlang führt, prägte ich mir Kirchenlieder und ganze Kapitel aus der Bibel ein, und wenn ich nach Hause kam, überhörte mich mein lieber Blankenburg.
Inzwischen war mein letztes Semester — Sommer 1857 — herangekommen. Der jüngere Bruder meines Vaters, mein Onkel Karl, legte mir nahe, für den Rest meiner Studienzeit zu ihm überzusiedeln. Ich war in der Tat in meinen Ernährungsverhältnissen etwas zurückgekommen, da ich mit meinem Freunde Blankenburg zusammen etwas zu sparsam hatte leben müssen, um uns beide durchzuschlagen. Zudem wünschten meine Verwandten um ihrer beiden jüngsten Söhne willen, die noch auf dem Gymnasium waren, meine Gegenwart, da sie selbst den größten Teil des Sommers abwesend sein mußten. So zog ich denn gleich nach Ostern in meine alte Heimat, in das Finanzministerium, hinüber.
Von meinen Baseler und Erlanger Freunden hatte mich[S. 91] nur noch einer nach Berlin begleitet. Es war ein Pfarrerssohn aus der Schweiz, mit Namen Endres. Er hieß gewöhnlich nur „der kleine Schwyzer” und kam meist am Nachmittag zu einer Tasse Kaffee und einer Partie Schach ins Finanzministerium herüber. Auch beteiligte er sich wohl an den kleinen Fußtouren, die ich mit meinen beiden jungen Vettern in die Umgegend von Berlin unternahm. Sonst war bei der strammen Arbeit, die das letzte Semester mit sich brachte, kaum irgend ein anderer Verkehr möglich. Nur einige Male ging ich in das theologische Studentenkränzchen, das ähnlich wie in Erlangen auch hier seine Zusammenkünfte hatte. Hier feierten mein Freund Endres und ich auch den Abschiedsabend unserer Universitätszeit. Reiche, köstliche drei Jahre lagen hinter mir, als ich Anfang August 1857 von meiner letzten Musenstadt Abschied nahm und mit dem Nachtzuge nach Hamburg hinüberfuhr!”
„Mein Angesicht stand zunächst nach dem dicht bei Hamburg gelegenen Wandsbeck, der Heimat des alten Matthias Claudius, der mir mit seinen Schriften der treuste Freund meiner Jugend gewesen war und mir über so viel öde Zeit, namentlich während meiner landwirtschaftlichen Laufbahn, hinweggeholfen hatte und den ich fast auswendig konnte. Nach einer köstlichen stillen Morgenstunde in dem Wandsbecker Waldtal wanderte ich, der Stimme eines Glöckchens folgend, in einer halben Stunde hinüber zum Rauhen Hause. Ich blieb den ganzen Tag unter der fröhlichen Kinderschar und ihren ebenso fröhlichen Pflegern und lernte an der Hand meines freundlichen Führers, des Hausvaters Pastor Riehm, die ganze Entstehung und das Wachstum der Anstalt, Station auf Station, kennen. Am Abend aber saß ich schon wieder im Postwagen und fuhr die Nacht durch hinüber nach Bremen und von da zu Schiff die Weser hinunter nach Geestemünde.
Denn zwei Stunden von Geestemünde war einer meiner Baseler Studienfreunde Pastor geworden. Er war in Basel mein englischer Lehrer gewesen. Jeden Nachmittag war er für eine Stunde zu mir gekommen, um mit mir englisch zu treiben. Er war dazumal schon 28 Jahre alt, und sein Lebensgang war sehr gewaltsam gewesen. Eines Tages, kurz vor unserm ersten[S. 92] Baseler Weihnachtsfest, sagte er mir einmal: „Heute vor vier Jahren brachte ich die Nacht auf einer Fleischerbank in Neu-Orleans zu. Diese Bank war damals für längere Zeit mein Nachtquartier, denn eine Wohnung besaß ich nicht. Ich lebte von Spottgedichten, die ich für die Zeitungen lieferte. Zigarren und Branntwein waren meine Hauptnahrung.”
Er war in der Schweiz als Hirtenbube in großer Armut aufgewachsen. Freunde, die seine Talente bemerkten, hatten ihn unterstützt und bis zur Universität gefördert. Mit eiserner Energie hatte er sich durch Stundengeben auf der Universität unterhalten, zu gleicher Zeit aber in seinem Trotz und seiner Wildheit solche Streiche gemacht, daß er sich unmittelbar aus dem Karzer in ein Schiff flüchtete, das ihn nach Amerika brachte. In jener tiefsten Zeit seines Lebens, als eine Bank auf dem Fleischmarkt sein Nachtquartier war, ergriff ihn Gottes Hand. Er erkrankte am gelben Fieber und stand nahe vor der Todestür. Da nahm sich ein unbekannter Fremdling, der aber ein entschiedener Jünger des Heilandes war, des gänzlich Verlassenen an. In seinem unbekannten Wohltäter trat ihm das Erbarmen mit solcher Macht vor die Seele, daß er, als er von seinem Krankenlager aufstand, entschlossen war, ein anderes Leben zu beginnen.
Da er Jurisprudenz studiert hatte, so übersetzte er nun in kurzer Zeit das Gesetzbuch des Staates Indiana ins Deutsche und erhielt dafür eine sehr bedeutende Geldsumme. Diese wollte er benutzen, um Theologie zu studieren. Allein in seinem doch noch ungebrochenen Sinn verstand er nicht, mit dem Gelde umzugehen, und als er auf deutschem Ufer landete, war fast alles Geld schon wieder seinen Händen entschwunden. So war er genötigt, in Basel in einem Studentenheim Quartier zu nehmen, wo man für ein geringes Entgelt Wohnung und Nahrung erhielt. Abgemagert, in dürftigster Kleidung, und, um durch die Kälte das Einschlafen zu verhindern, ohne wärmenden Ofen saß er oft bis drei Uhr nachts auf und arbeitete mit einem wahrhaft staunenswerten Eifer, während er bei Tage Unterrichtsstunden gab, durch die er sich das nötige Kostgeld verdiente.
Er trieb vor allem das Studium der alttestamentlichen Propheten, und ihre Donner gegen die Israeliten waren ihm ein besonderer Ohrenschmaus. Das unverständlichste Wort in[S. 93] der Schrift war ihm das Wort „Gnade”. „Mit diesen beiden Fäusten muß es verdient sein,” rief er einmal aus, indem er seine hageren Arme ausstreckte, die frostig aus dem dünnen Jäckchen hervorguckten.
Ein anderes Mal tat er bei der Lektüre des Wandsbecker Boten, den ich unter seiner Anleitung ins Englische übersetzte, eine Äußerung, die so wild und roh war, daß ich ihm erklärte, ich wollte nun keine Stunden mehr bei ihm haben und er solle mir nicht mehr auf mein Zimmer kommen. In wildem Zorn hatte er mich verlassen. Da, gegen Mitternacht, hörte ich, wie kleine Steinchen gegen mein Fenster geworfen wurden. Mein Freund stand unten und forderte mich auf, herunterzukommen; er habe mir etwas zu sagen. Ich tat es, und wir gingen fast bis zum Anbruch des Morgens auf dem Petersplatz auf und ab. Er bekannte, daß er bei seinem Vorsatz, mit eigener Kraft und mit eigener Vernunft Gottes Wort zu treiben und Gottes Reich zu bauen, aus der Friedelosigkeit nicht herauskomme, und versprach, es sollte anders mit ihm werden.
Vor seinem Abschied aus Basel versammelte er seine Kollegen aus dem Studentenheim und forderte sie aufs ernstlichste auf, nicht so zu studieren, wie er es gemacht habe; dabei würden sie alle verloren gehen. Er pries ihnen als das einzige Mittel der Seligkeit die freie Gnade Gottes an. Als ich ihn spät abends an seinen Postwagen brachte, sagte er zu mir: „Du siehst mich nicht wieder, oder ich bin ein anderer Mensch geworden.”
Nun nach drei Jahren sollte ich ihn wirklich wiedersehen. Er hatte in seiner ersten Stelle in der Schweiz gegen die Sünden der Regierung, namentlich ihre Sonntagsentheiligung, so geeifert, daß er infolgedessen seines Amtes entsetzt worden war. Aber Bremer Kaufleute, die ihn hatten predigen hören, hatten seine Berufung in jenes dem Staate Bremen gehörige Dorf durchgesetzt. Ich war neugierig, wie ich meinen Freund, den ich als einen blutarmen Bruder Studio verlassen hatte, nun als Pastor wiederfinden würde. Man hatte mich in Bremen schon darauf aufmerksam gemacht, daß er seine Schwester bei sich habe, ein armes Schweizer Landmädchen, das ihm den Haushalt führe, und daß er mit ihr etwas tyrannisch verfahre aus Angst, sie könne vornehm und hoffärtig werden.
Ich traf meinen Freund, wie er mit strahlender Freude[S. 94] eben seine Hühner fütterte. Während er mich durch seinen großen Obstgarten führte, kletterte er plötzlich auf einen Apfelbaum, der voll Früchte hing, und mit gespreizten Beinen oben im Baum stehend, rief er: „Alle diese Äpfel sind mein.” Dann sprang er in ein Kartoffelfeld und rief wieder: „Alle diese Kartoffeln sind mein.” Den blutarmen Schweizerknaben, der sein ganzes Leben mit Hunger und Not gekämpft hatte, nun im Besitz eines so prächtigen Pfarrhofes zu sehen und all seine Freude zu teilen, war wirklich schön. Seine Schwester hatte uns mit aller Sorgfalt ein Mittagbrot bereitet, und ich hatte es durchgesetzt, daß sie, die sonst nur als Magd aufgewartet hatte, mit uns zu Tische saß. Am Nachmittag sollte auf dem Filialdorf eine Kindtaufe sein. Als ich nun bei Tisch die Schwester fragte, ob sie uns nicht dahin begleiten wolle, war mein Freund mit seiner Geduld am Ende. Er sprang wütend vom Tisch auf und schrie mich an: „Ich wollte, daß du zu Hause geblieben wärest. Meine Schwester soll nicht mit auf Kindtaufen gehen; dann will sie auch feine Kleider haben, und das geht nicht.” Ich war auch nicht faul und sagte: „Ich kann den Weg zu deiner Tür wohl finden. Geht deine Schwester nicht mit, dann nehme ich Abschied.” Da lenkte er ein.
Ehe wir uns zur Kindtaufe aufmachten, kamen noch Leute, die nach Amerika auswandern wollten. Für diese Auswanderer herrschte die schöne Sitte, daß sie vor ihrem Abschied noch einmal im Pfarrhause das Abendmahl feierten. Vom Nebenzimmer aus hörte ich die Beichtrede meines Freundes über die Worte: „Die Wasserwogen im Meer sind groß und brausen greulich. Der Herr aber ist noch größer in der Höhe.” Da zeigte sich die ganze gewaltige Größe des Mannes. Mit erschütterndem Ernste konnte er Buße predigen und in die tiefsten Abgründe des menschlichen Herzens hinabsteigen, aber ebenso gewaltig dann auch von der Gnade Zeugnis ablegen, die viel größer ist als unsere Sünde.
Wir hatten dann einen schönen Weg durch Feld und Wald zur Kindtaufe und einige friedsame Abend- und Morgenstunden, in denen mein Freund ganz besonders köstlich und kräftig den Reichtum der Gnade Gottes zum Gegenstande seiner Andachten und Gespräche machte. Dann ließ er mich in Frieden pilgern. Gott hat an diesem merkwürdigen Mann noch viel und ernst zu arbeiten gehabt, bis wirklich die Gnade das stolze[S. 95] Herz zerbrochen und die Schlacken im Schmelztiegel ausgeschmolzen hatte.
Als ich von da zu meiner lieben alten Mutter nach Velmede zurückgekehrt war, fand ich einen Brief eines andern Baseler Freundes vor, der mir mitteilte, daß er eben in Straßburg sein Examen bestanden habe und bereit sei, meiner Einladung zu folgen und mich in Westfalen aufzusuchen. Es war mein Freund Jules Steeg, mit dem ich in Basel auf eine merkwürdige Weise zusammengeführt worden war. Für jenen unglücklichen Pfarrersohn, der später in der Fremdenlegion so schmerzlich endete, hatte ich in demselben Hause, wo ich in Basel wohnte, ein Zimmer gemietet. Ich hoffte, ihn so etwas mehr unter Augen zu haben und ihm in seiner Not gründlicher beistehen zu können. Aber die Sache hatte sich zerschlagen. Da jedoch das Stübchen einmal gemietet war, so war ich in das nahe Studentenheim gegangen und hatte gebeten, den ersten Studenten, der eine Wohnung suche und sie im Studentenheim nicht mehr bekommen könne, zu mir zu schicken.
Wenige Stunden darauf trat ein zartes Männchen bei mir ein, bräunlich wie David, mit schwarzen Haaren, aber herzinnig freundlichen Antlitzes, das nicht nur große Intelligenz, sondern auch Feuer der göttlichen Liebe verriet, das aus seinen Augen strahlte. Er fragte in seinem gebrochenen Deutsch nach dem leeren Zimmer, und wir waren schnell eins, daß er bei mir einziehen solle. Sein Vater war im Nassauischen Schuhmacher gewesen und von dort nach Paris gewandert. Dort war er hängen geblieben und hatte eine französische Katholikin geheiratet. Das einzige Kind aus dieser Ehe war dieser Jules. Er wäre vermutlich, wie die meisten Kinder aus gemischten Ehen, in der katholischen Kirche erzogen worden, wenn nicht der rastlose Eifer des Pariser Pfarrers Meyer die Familie entdeckt und die mittellosen Eltern bewogen hätte, den munteren Knaben in dem von Pastor Meyer geleiteten Pensionate der Kirche Billettes aufziehen zu lassen. Er wurde von Pfarrer Meyer konfirmiert, machte mit Hilfe einiger wohltätiger Freunde die höhere Schule in Paris durch und langte nun auf seinem ersten Wege aus seiner Heimatstadt voll glühenden Durstes, das Wort Gottes gründlich erforschen zu können, in Basel an.
Es dauerte nicht lange, da waren wir beide innige Freunde. Während er mir half, mein Französisch wieder aufzufrischen,[S. 96] wurde ich hauptsächlich sein deutscher Lehrer, und zwar besonders an der Hand der deutschen Lutherbibel, die wir bei unserer täglichen Bibellektion mit dem hebräischen und griechischen Text verglichen. Die Herrlichkeit der Schrift nahm damals das ganze Herz meines Freundes ein, und ich sehe ihn noch, wie er des Morgens einmal in meine Stube gehüpft kam, seine Bibel vor Freude und Lust fest an seine Brust drückend, sodaß ich in ihm recht das Vorbild hatte von dem, was Luther von sich sagt, daß er ein Doktor gewesen sei, hurtig und lustig zur Heiligen Schrift.
Zugleich war er ganz erfüllt von der Schönheit des geistigen Weinberges, den Gott in Paris, seiner Vaterstadt, mitten in die Wüste hineingepflanzt hatte. Er wurde nicht müde, mir von seinem Pfarrer Meyer zu rühmen und von den durch ihn erweckten Seelen, die in den elenden Gassenkehrer- und Lumpensammlerquartieren von Paris Brunnen gegraben hatten, von deren sprudelndem Wasser es grünte und blühte. Sein großes Verlangen war, dort einmal arbeiten zu dürfen. Er hatte auch seinem Pastor Meyer von unserer Freundschaft geschrieben, und dieser hatte mir schon nach Basel durch ihn sagen lassen, ob ich nicht, statt zu den Heiden in Indien oder Afrika zu gehen, meinen Landsleuten, die im Pariser Heidentum zu versinken drohten, helfen wolle.
Steegs Freund war der bereits oben erwähnte Schwalb (später Pastor in Bremen). Dieser stammte aus einer armen jüdischen Familie, war, wie Steeg, durch Pastor Meyer in das Pariser Pensionat aufgenommen und von wohltätigen Gliedern der Gemeinde bis zum Studium der Theologie gefördert worden. Er hatte ein Jahr vor uns in Basel studiert und war von da nach Straßburg übergesiedelt, kam aber einige Male zum Besuch seines Freundes Steeg herüber. So lernte ich ihn kennen, und wir machten einmal einen gemeinsamen Weg zu Vater Zeller nach Beuggen.
Bei unserm Gespräch merkte ich wohl, daß der fröhliche Glaube, den Schwalb aus Paris mitgebracht hatte und der in Basel tiefer gegründet worden war, ins Wanken gekommen war. Er konnte seine Vernunft schlecht gefangen geben unter den Gehorsam des Glaubens, und ich sah öfter einen finsteren und fast verzehrenden Zug auf seinem Angesicht, der seine inneren [S. 97] Seelenkämpfe anzeigte, während unser gemeinsamer Freund Steeg ihn vielleicht schärfer, als es sich ziemte, angriff, wenn er bei Schwalb eine Abweichung von dem einfachen Kinderglauben bemerkte. Dies war überhaupt ein Fehler, den ich an Steeg rügen mußte, daß er öfter zu scharf war im Richten gegen solche, die in irgend einer Weise von den Bekenntnissen der Kirche abwichen.
Während ich dann nach Erlangen gegangen war, hatte Steeg seine Schritte ebenfalls nach Straßburg gelenkt und dort mit seinem Freunde Schwalb zusammen sein Studium fortgesetzt. Die Briefe meines Freundes zeigten bald, daß er mehr und mehr von dem Schwalbschen Geiste angehaucht worden war, und das hatte meine Seele tief beunruhigt. Denn auch mich hatte mein Berliner Studium nicht aus einer mehr und mehr zunehmenden Unklarheit herausgebracht, und es war mir sehr schwer geworden, in diesem Zustande meinen alten heißen Wunsch, zu den Heiden hinauszugehen, festzuhalten. Denn ich war meiner Sache nicht gewiß, was ich den Heiden als geglaubte, anerkannte und erfahrene Wahrheit verkündigen sollte.
Ich hatte meinem Freunde Steeg vorgeschlagen, daß wir uns in Barmen treffen wollten, wohin auch Pastor Meyer aus Paris kommen wollte, um dort an der Festwoche teilzunehmen, die die verschiedenen christlichen Vereine des Rheinlandes jährlich veranstalteten. Immerhin war im Blick auf meinen eigenen Herzenszustand und den meines Freundes mein Herz banger Sorge voll, als ich ihm nach Barmen entgegenreiste.
In Barmen angekommen, erfuhr ich, daß mein Freund bereits im Missionshause eingetroffen sei. Aber ich fand ihn nicht gleich. Dagegen traf ich einen lieben alten Freund wieder, den Hausvater Busch, den ich von Basel aus kennen gelernt hatte, als er noch im nahen Wiesental Lehrer war. Jetzt stand er in Barmen dem Hause für Missionskinder vor. Er führte mich zu seiner Kinderschar, und während ich ihn so herzlich mit den Kindern reden hörte, stieg plötzlich in mir die Sehnsucht auf, ob ich nicht zunächst einmal Lehrer armer Kinder werden könnte, um daran zu merken, wie viel und wie wenig ich ihnen vom Glauben sagen konnte, ohne gegen mich selbst unwahr zu sein.
Gleich darauf fand ich nicht nur meinen Freund Steeg, sondern auch den lieben Pfarrer Meyer, und wir konnten ihm[S. 98] nun gemeinsam als unserm geistlichen Vater unser Herz ausschütten und alle unsere Not offenbaren. Dabei sprach ich ihm den Wunsch aus, der eben im Anblick der Missionskinder in meinem Herzen aufgekommen war. Da schlug er mit ganz entschiedener Freude ein. Er schilderte mir die Not der armen kleinen Kinder in Paris und die tiefe Verborgenheit vor aller Welt Augen, in der ich dort arbeiten könnte. So ging ich auf seinen Vorschlag ein, ihm zunächst einmal nach meinem Examen für ein halbes Jahr zu dienen.
Um gleich alles ins klare zu bringen, begleitete der treue alte Meyer mich zugleich mit Steeg zu meiner Mutter nach Velmede, wo wir gemeinsam einige reiche, stille Tage zubrachten. Selbstverständlich war es der Mutter für ihr mütterliches Herz ein Lichtstrahl, daß mein Weg zunächst statt nach Indien oder Afrika nur nach Paris gehen sollte, und so hatte ich leicht ihr Jawort zu diesem Plane.
Nachdem Pfarrer Meyer uns verlassen hatte, entschlossen Steeg und ich uns zu einer kleinen Fußreise, die zu gleicher Zeit als erste Kollektenreise für die deutsche Mission in Paris dienen sollte. Unser Weg ging zunächst in die Heimat meiner Kindheit, die ich wenige Monate alt verlassen und in diesen 27 Jahren niemals wiedergesehen hatte, ins Tecklenburger Land. In der Kirche in Ledde, wo meine Mutter so oft gesessen hatte, wurde ich von dem alten Küster an der Ähnlichkeit mit meiner Mutter erkannt, der ich in der Tat von allen meinen Geschwistern am meisten ähnlich sah. Von dieser Stunde an glich unsere Wanderschaft durchs Tecklenburger Land fast dem Triumphzuge eines Königs, der in sein Reich wiederkehrt. Die große Liebe, die sich meine Eltern im Lande erworben hatten, wurde nun auf mich übertragen, und ich konnte es erfahren, wie das Gedächtnis des Gerechten im Segen bleibt und daß seine Werke zwar nicht ihm vorauslaufen, als ob sie ihm den Himmel verdienen könnten, aber daß sie doch als Zeugen seines Pilgerlebens hinter ihm hergehen.
Von da durchwanderten wir das Ravensberger Land und klopften an manchem Pfarrhaus an. Überall wurden wir mit großer Herzlichkeit aufgenommen und knüpften die ersten Beziehungen für das Werk in Paris an. Steeg begleitete mich noch bis Velmede zurück und zog dann wieder in seine französische Heimat. Es war das letzte Zusammensein mit meinem[S. 99] Freunde. Wir hatten uns der Hauptsache nach noch einmal zusammenfinden können. Aber dann kam doch die Stunde, wo er sich überhob über solche, die sich kindlich und einfach an Gottes Wort halten, und sich mit Schwalb zusammen als vollberechtigter Richter über die Heilige Schrift einsetzte. Mehrere Jahre ist er noch Pastor in Frankreich gewesen und dann in die Leitung des französischen Schulwesens eingetreten.
Ich verlebte nun eine unbeschreiblich köstliche Zeit bei meiner lieben Mutter, während welcher allerlei landwirtschaftliche Arbeit auf dem väterlichen Gute sich mit fleißigem Studium zur Vorbereitung auf mein Examen ablöste. Als meine Mutter nach Erfurt zu meinem ältesten Bruder zog, der dort als Forstmann stand, folgte ich ihr, um in Erfurt den vorgeschriebenen Seminarkursus durchzumachen.
Mehr noch als durch die Arbeit auf dem Seminar wurde mir Erfurt auf eine andere Weise zu einer Vorschule für meine spätere Arbeit. Es wurde nämlich an der Tür meines Bruders stark gebettelt, und ich entschloß mich, die Bettler in ihrer Wohnung aufzusuchen. Da fand ich denn unter anderem eine Bettlerniederlassung sondergleichen. In einem entlegenen Hof der alten Stadt hatten sich die armen Leute aus allerlei alten Wagen, wie sie von fahrenden Leuten benutzt und später als unbrauchbar verkauft worden waren, und aus Resten abgerissener Häuser usw. eine wahre Bettlerburg zurechtgebaut. Ich erfuhr, daß gerade dieser Winkel wegen seines furchtbaren Schmutzes und wegen der Verkommenheit seiner Bewohner, unter denen sich leider auch eine große Schar von Kindern befand, weder von dem Geistlichen, in dessen Sprengel die Bettlerburg lag, noch von den Armenvorstehern aufgesucht wurde. Die Ärmsten waren von jedermann aufgegeben, und ich war froh, wenigstens etwas für sie ausrichten zu können, indem ich einigen unter ihnen dauernde Arbeit verschaffte.
Von Erfurt aus ging es dann im April nach Münster ins Examen. Mit der licentia concionandi in der Tasche galt es am 21. April, Abschied zu nehmen von der teuren Mutter und der lieben Heimat. Am 24. April 1858 abends langte ich in Paris an und fand zunächst im Hause meines lieben väterlichen Freundes, Pastor Meyer, gastliche Aufnahme.”
In der Mitte des vorigen Jahrhunderts, also um die Zeit, als Bodelschwingh nach Paris kam, hatte Paris unter seinen Einwohnern etwa 80–100 000 Deutsche. Scherzweise wurde Paris die dritte deutsche Großstadt genannt, denn nächst Berlin und Hamburg waren in keinem Ort der Welt so viele Deutsche versammelt. Künstler, Studierende, Handwerker, Kellner und Dienstmädchen bildeten den einen Teil dieser Einwanderer. Der andere, größere Teil aber bestand aus ganz armen Leuten. Ihre Mittel hatten nicht gereicht, um nach Amerika auszuwandern. So waren sie nach Paris gegangen, um dort Arbeit und Verdienst zu finden. Jeder deutsche Stamm war unter ihnen vertreten. Vor allem waren es Bayern, Elsässer und Hessen.
Sie lebten durch ganz Paris zerstreut. Zu 10, 20 und 30 Familien hausten sie in einer Gasse beisammen. In den Steinbrüchen, auf den Holzplätzen und in den Fabriken in und um Paris fanden sie ihre Arbeit. Wer keine Arbeit hatte, mischte sich unter die französischen Lumpensammler, die mit der Kiepe auf dem Rücken, die Laterne in der linken und den Haken in der rechten Hand, nachts die Müll- und Kehrichthaufen durchsuchten, die damals die Pariser Haushaltungen, sobald es dunkel wurde, einfach auf die Straße zu schütten pflegten. Von den erwachsenen Einwanderern lernten die wenigsten französisch. Nur die notwendigsten Worte, soweit sie zur Arbeit und zum Einkauf des täglichen Unterhalts nötig waren, eignete man sich an. Aber auch dann blieb die Aussprache deutsch: Boulevard hieß Bullerwagen, Champs Élysées Schandliese, rue de Sèvres rote Seif’ u. s. f. Mit den Kindern aber war es umgekehrt. Beim Spiel und in der Schule lernten sie schnell das Französische und vergaßen die deutsche Muttersprache. So kam es, daß viele Eltern sich nur noch notdürftig mit ihren Kindern verständigen konnten. Darunter litt die Erziehung natürlich[S. 101] aufs schwerste; und die heranwachsenden Kinder versanken oft erschreckend schnell in dem Sumpf der Großstadt.
Das Rückgrat unter den Deutschen in Paris bildeten die Einwanderer aus Hessen-Darmstadt. Früher waren die Hessen vielfach in den Osten gewandert, um in den polnischen Seen den Blutegelfang zu betreiben, wie Glaubrecht es so anschaulich in seiner Volkserzählung „Anna, die Blutegelhändlerin” beschreibt. Dann hatte sich der Strom nach Paris gewandt. Hier waren sie Gassenkehrer geworden. Die Straßenreinigung von Paris war allmählich fast ganz in ihre Hand übergegangen. Um vier Uhr morgens begann die Arbeit, ohne Unterschied von Sommer oder Winter, Sonntag oder Werktag; Männer, Frauen und Kinder arbeiteten zusammen unter der Aufsicht von französischen Unternehmern. Um neun Uhr hörten die Kinder auf, um zwölf Uhr die Frauen und am Nachmittag die Männer.
Der Verdienst war gering, aber regelmäßig. War die Familie sparsam, so konnte nach fünf, acht oder zehn Jahren so viel zurückgelegt sein, daß nicht nur die in Deutschland zurückgelassenen Schulden bezahlt, sondern auch die Grundlagen zu einem Neuanfang in der Heimat gewonnen waren. Denn der Sinn dieser Gassenkehrer war darauf gerichtet, in die Heimat zurückzukehren. Ihr Beruf schloß sie von dem Verkehr mit den Franzosen ab und verband sie untereinander. So blieb das Heimatgefühl bei ihnen wacher als bei den übrigen deutschen Landsleuten. Darum lag ihnen auch daran, für ihre Kinder deutschen Unterricht zu bekommen, damit sie bei der Rückkehr in die Heimat die deutsche Schule und den kirchlichen Unterricht mit Erfolg besuchen könnten.
Die geistliche Versorgung dieser deutschen Einwanderer, soweit sie evangelisch waren, lag in der Hand der kleinen Kirche Augsburgischer Konfession. Ihre Anfänge führten in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges zurück, wo zahlreiche Deutsche und auch manche Schweden in Paris Zuflucht gesucht hatten. Auch während der schlimmsten Verfolgungen hatte diese kleine Gemeinde ausländischer Lutheraner ihre Gottesdienste halten können. So kam es, daß sich ihr auch Franzosen anschlossen und daß in der Zusammensetzung der Gemeinde allmählich die französischen und elsässischen Elemente überwogen.
Napoleon hatte die Gemeinde anerkannt und ihr eine[S. 102] katholische Kirche für ihre Gottesdienste überwiesen, der später durch die französische Regierung eine zweite hinzugefügt wurde. Um die Zeit, als Bodelschwingh nach Paris kam, stand Pfarrer Louis Meyer an der Spitze dieser kleinen Kirchengemeinschaft, die zusammen mit den übrigen lutherischen Gemeinden in Frankreich und dem Elsaß sich „die Kirche Augsburgischer Konfession” nannte.
Louis Meyer stammte aus Mömpelgard, einer alten württembergischen Kolonie in der Nähe von Belfort. Durch den großen Pariser Prediger Adolf Monod, in dessen Hause er eine Zeitlang lebte, war er der theologischen Freigeisterei entrissen worden. Mit Klarheit und Tiefe hatte er das Evangelium ergriffen, und mit deutscher Gründlichkeit und französischer Glut diente er seiner Gemeinde und seiner Kirche auf und unter der Kanzel. Die große Verwahrlosung der deutschen Einwanderer war ihm auf das Gewissen gefallen. So war ein besonderer kleiner Missionsverein entstanden, der in engem Anschluß an die Kirche Augsburgischer Konfession den Deutschen in Paris dienen sollte. Einen jungen deutschen Kandidaten, namens Beyer, der sich nur besuchsweise in Paris aufgehalten hatte, holte Meyer aus dem Zuge, den er schon zur Heimreise nach Deutschland bestiegen hatte, wieder heraus und gewann ihn zum ersten deutschen Missionar an seinen Landsleuten. Ihm folgten andere deutsche Kandidaten und Hilfsprediger, die meist von Meyer persönlich gewonnen wurden. Zu ihnen gehörte nun auch der Kandidat von Bodelschwingh.
Napoleon hatte damals durch ganz Paris breite Straßenzüge, die sogenannten Boulevards, brechen lassen. Dadurch hatten viele Deutsche ihre Wohnungen im Süden der Stadt verloren und waren in den Norden gezogen. Diese Leute, die auf ein Revier von drei Stunden Länge und einer halben Stunde Breite zerstreut wohnten, sollte Bodelschwingh sammeln. Einige Wochen blieb er in der gastlichen Familie Pfarrer Meyers, um sich nach allen Seiten in Paris umzusehen, dann nahm er das ihm zugewiesene Arbeitsfeld in Angriff. Auf dem Montmartre mietete er sich in einem großen kasernenartigen Gebäude, dem Château des Brouillards („Nebelschloß”), zwei Zimmer, schaffte das geringe Mobiliar, das einem seiner Vorgänger gedient hatte, hinein und begann von dort seine Streifzüge, um seine Herde zu sammeln.
In einem Bericht an die Freunde der Arbeit in Paris aus dem Jahre 1865 schreibt er: „Es war an einem schönen Frühlingsmorgen des Jahres 1858, wo zwei kleine Mädchen in hessischer Tracht im Alter von etwa sieben und zehn Jahren den steilen Abhang des Montmartre hinaufstiegen und in das Château des Brouillards eintraten. Sie kamen aus einer der Sackgassen, die sich an der Mauer des großen Kirchhofes von Montmartre befanden. Dort hatte ich sie tags zuvor bei meiner ersten Entdeckungsreise auf der Straße an ihrer deutschen Tracht erkannt. Da Vater und Mutter, zu denen sie mich führten, bitterlich klagten, daß ihre Kinder ohne Unterricht aufwüchsen — denn zur nächsten deutschen Missionsschule war es quer durch die Stadt fast anderthalb Stunden Weges —, so hatte ich sie zu mir eingeladen und ihnen für das erste Mal den Weg zu meinem Nebelschloß gezeigt.
Inzwischen hatte ich das größere meiner beiden Zimmer zum Schulzimmer und zugleich zur Hauskapelle eingerichtet. In einer Nische der Wand hatte ich ein kleines Harmonium aufgestellt und darüber den bekannten schönen Holzschnitt von Gaber, Christus am Kreuz, gehängt. So ausgerüstet erwartete ich meine ersten geladenen Gäste. Und richtig, zur bezeichneten Stunde klopfte es an die Tür, und die beiden kleinen Hessinnen traten herein.
Es wird mir für mein ganzes Leben ein unvergeßlicher Augenblick sein, als ich nun zum erstenmal die zwei kleinen Mädchen die Hände falten ließ und Gott um seinen Segen bat. Es war mir vollauf so feierlich zumute, als sollte ich in einer großen Pfarrkirche vor Tausenden von Zuhörern meine Antrittspredigt halten, da ich nun anhob, den beiden Kindern, unter Hinweisung auf das Bild, von dem Mann mit der Dornenkrone zu erzählen, der um unserer Sünde willen an das Kreuz erhöht ward. Der Eindruck meiner höchst ungeschickten kurzen Erzählung — denn ich hatte gar keine Übung, mit Kindern von den Geheimnissen des Kreuzes zu reden — war namentlich bei dem kleineren der beiden Mädchen so mächtig, daß ich selbst dadurch innerlich ganz ergriffen wurde. Mit einem unbeschreiblichen Ausdruck innigsten Mitleides schaute die Kleine aus ihren dunklen Augen bald auf das Bild, bald auf mich, und hin und wieder lief eine große Träne über ihre braunen Wangen.
Es kann lächerlich oder anmaßend vorkommen, daß ich den Leser mit dieser unbedeutenden Geschichte hinhalte. Aber mir war wirklich nicht lächerlich zumute. Es ist ja doch etwas überaus Ernstes und Großes um die Predigt vom Kreuz des Herrn. Und es ist doppelt und dreifach groß und ernst für einen jungen Menschen, der zum erstenmal, und das in Paris, mit dieser Predigt auftreten soll. Wie war mir doch so bange zumute gewesen, als einige Wochen vorher der Zug spät abends auf dem Nordbahnhofe hielt und der Schaffner sein für den neuen Ankömmling wirklich unheimliches „Paris” in den Wagen hineinrief! Während der Fiaker mit mir die lange Reise quer durch die Stadt bis zum Hause meines väterlichen Freundes, Pfarrer Meyer, machte, mußte ich schließlich die Augen fest zudrücken, so sehr ängsteten mich die breiten Lichtstreifen der verschiedenen Boulevards mit ihrer bunten, wogenden, in die tiefe Nacht hineintaumelnden Volksmenge. „Hier sollst du armen Menschen von dem Kreuze Christi predigen!” so dachte ich; „wie wird’s dir gehen?”
Die Universitätszeit und die Examina sind an und für sich selten dazu angetan, einem jungen Menschen zum fröhlichen Auftun des Mundes zu verhelfen. Wie ich schon erzählte, war mir die Freudigkeit zur Predigt von Christo in dieser Zeit je länger je mehr geschwunden. Ja, ich war schließlich über allem Studieren so konfus im Kopf und so unklar über die Grundwahrheiten des Christentums geworden, daß ich nicht wußte, was ich mit gutem Gewissen den Leuten predigen könnte.
Lediglich die Bemerkung in dem an mich ergangenen Rufe, daß ich in Paris besonders ganz armen Kindern zu dienen habe, hatte mir Freudigkeit gegeben, diesem Rufe zu folgen. Denn ich dachte bei mir selbst: „Du willst einmal sehen, was du, ohne daß sonst ein Mensch es hört und weiß, solch einem armen Kinde von dem Evangelium sagen kannst. Was du dem sagen kannst und was es begreift und faßt, das wirst du dann ja auch getrost weitersagen können.”
Es ist ja ohne allen Zweifel die allergrößte Not, in die ein Menschenkind auf Erden geraten kann, wenn es in seinem Glauben wankend wird, und ganz bejammernswert ist in diesem Fall ein armer Prediger, wenn er noch halbwegs ehrlich ist. Die Hoffnung, aus solcher Not herauszukommen, hatte mich, wie gesagt, nach Paris getrieben.
Man begreift nun, daß mir jene erste Stunde mit den beiden Gassenkehrerkindern eine wichtige Stunde war und daß mir, als die beiden Kleinen wieder ihres Weges gezogen waren, das Herz in Sprüngen ging. Ich wußte nun wieder, was ich vom Kreuze Christi zu halten hatte, ich konnte mit Freudigkeit davon predigen; und von dieser Stunde an ist mir auch nie wieder ein Zweifel gekommen.
Aber ich sollte durch Gottes Barmherzigkeit von meinen kleinen Lehrmeistern noch mehr lernen. Ich hatte ihnen beim Abschied die Weisung gegeben, sie sollten nicht allein wiederkommen, sondern auch andere ihrer Gespielen von der Gasse mitbringen. Und richtig, sie hielten Wort. Keuchend und schwitzend, aber mit triumphierenden Gesichtern standen am andern Morgen meine beiden wackeren Erstlinge wieder vor meiner Tür und hielten in ihrer Mitte mit ihren derben Fäusten einen kleinen Burschen von etwa sechs Jahren. Er hatte ihnen Last genug gemacht, bis sie ihn oben hatten. Mehrmals war ihm die Sache leid geworden. Er war ihnen davongelaufen, und sie hatten ihn wieder einfangen müssen. So war bei ihm fürs erste bitter wenig Interesse für das Kreuz Christi zu spüren, die Gassen von Paris zogen ihn weit stärker an.
Auch bei einer Anzahl der sich nun einfindenden andern Kinder, Knaben wie Mädchen, behielt die Liebhaberei für das Herumtreiben auf der Straße die Oberhand. Keineswegs bei allen kam ich mit der Kreuzespredigt aus, sondern mußte zu andern Mitteln greifen, um ihren alten Adam in den gehörigen Schranken zu halten. Aber bei alledem ging es doch weit über all mein Bitten und Verstehn. Ohne daß ich mich weiter ans Suchen gab, mehrten sich von Tag zu Tag meine kleinen Gäste. Eins brachte das andere mit. Immer neue Kinder klopften an meine Tür. Ich behielt dabei meine erste Lehrmethode bei. Erst wurde ein kleines Lied gesungen und dann das Bild des Gekreuzigten erklärt; seine Nägelmale, seine Dornenkrone, seine Todesschmerzen gaben täglich für einzelne der Neuangekommenen Ursache zu der innigsten Teilnahme und Herzensbewegung ab, und diejenigen, die die Geschichte bereits gehört, hörten sie zum Teil mit steigendem Interesse immer aufs neue.
Nicht allein aus dem nahen Batignolles und vom Montmartre selbst, auch von Courcelles, aus dem Faubourg Saint-Honoré, aus den Ortschaften draußen vor den Befestigungswerken, [S. 106] ja ganz besonders von der fernen Villette und selbst aus Pré-Saint-Gervais, von wo die Kleinen fast zwei Stunden zu marschieren hatten, stellten sich meine Schüler ein, ungezwungen, eins von dem andern geladen. Es vergingen wenige Wochen, da war mein Wohnzimmer und auch mein Schlafzimmer zu eng, die immer neu Ankommenden aufzunehmen, und ich erschrak fast, wenn es immer aufs neue klopfte, da ich die kleinen Gäste nicht mehr zu beherbergen wußte.
Dieses unerwartete Sichsammeln der sehr zerstreuten Schar war mir ein Wunder vor meinen Augen. Es wurde mir zur lebendigen Auslegung und zur sichtbaren Erfüllung der Verheißung des Herrn: „Wenn ich erhöht sein werde von der Erde, so will ich sie alle zu mir ziehen.” Die wunderbare Anziehungskraft des Kreuzes Christi wurde mir offenbar, und ich sah in dieser schönen Frühlingszeit meines evangelischen Predigtamtes nach jener ersten seligen Erfahrung noch manches liebe Kinderauge glänzen oder feucht werden bei den allereinfachsten Erzählungen von der Liebe Christi, der uns geliebt hat bis zum Tode am Kreuz.
Freilich weiß ich seitdem besser, als ich es damals wußte, wie wenig in den meisten Fällen auf eine Träne zu geben ist; und ich weiß leider auch, daß viele jener Kinder, die mir so sehr zur Stärkung meines Glaubens dienten, die Welt längst wieder liebgewonnen und die Kreuzesfahne Jesu verlassen haben. Aber dennoch ist eine Träne, eines armen Kindes Träne, über das bittere Leiden Christi geweint, etwas sehr Großes und Herrliches inmitten jener Taumelwelt, und sie wiegt gewiß schwerer, als man denken mag, in der Wagschale unseres Gottes.
Darum hat mich auch meine erste fröhliche Hoffnung beim Anblicke dieser ersten Tränen nicht enttäuscht. Denn aus den zwei armen Kindern, die sich zuerst bei mir einfanden, sind durch Gottes Wunderwege in den sechs Jahren, die zwischen jener ersten und der Stunde liegen, wo ich dies schreibe, zwei Gemeinden geworden: die Gemeinden zu La Villette und Batignolles.”
Wer nun den Weg verfolgt, auf dem es zur Aufrichtung dieser beiden blühenden deutschen Gemeinden kam, der beobachtet, daß der junge Missionsprediger Bodelschwingh keinen weitangelegten Plan in sich trug, sondern daß er lediglich die[S. 107] nächstliegenden Aufgaben in einfältigem Glauben und mit tatkräftiger Liebe in Angriff nahm und sich Schritt für Schritt vorwärts drängen ließ.
Die beiden Zimmer auf dem Montmartre boten schon nach kurzer Zeit nicht mehr genügend Raum. Und das Ungeziefer, das die Kinder zurückließen, machte den Aufenthalt darin qualvoll. Nun hatten die Besuche, die Bodelschwingh bei den Eltern seiner Schulkinder machte, ihn immer wieder in die weiter östlich gelegenen Gegenden von Paris geführt, die damals zum Teil noch jenseits der engeren Stadtgrenze lagen. Denn von dort her hatte sich der größte Teil der Kinder im Nebelschlosse eingestellt.
Am Abend eines heißen Tages, den er wieder einmal auf der Suche nach seinen verstreuten Landsleuten in jener Gegend zugebracht hatte, entdeckte er in der Vorstadt La Villette einen kleinen grünen Hügel, etwa sechzig Schritt lang und vierzig Schritt breit, völlig unbebaut, nur mit einigen schattigen Bäumen bestanden. Müde wie er war, und in dem Verlangen, ein wenig auszuruhen, ehe er den weiten Heimweg bis zum Montmartre anträte, stieg er die wenigen Meter hinauf.
„Es wehte da oben”, so heißt es in seinem Bericht aus dem Jahre 1861, „eine kühle, gesunde Luft, die mich erquickte. Einige arme Kinder spielten friedlich miteinander. Es wurde mir ganz besonders wohl und heimatlich zumute auf der stillen Anhöhe. Und indem ich an den Rand des Hügels trat und dicht zu meinen Füßen die armen Hütten von La Villette erblickte, in denen mir bereits so viel leibliches Elend und sittliches Verderben zu Augen gekommen war, ohne daß ich bisher eine Abhilfe aus solcher Not gefunden hätte, war es mir plötzlich, als hörte ich eine Stimme, die sagte: ‚Dieser Hügel gehört dem Herrn!’”
Diese Stimme ließ ihn nicht wieder los. Er forschte nach dem Besitzer des Hügels und trat mit ihm in Verhandlung. Verkaufen wollte er den Hügel nicht, wohl aber bei halbjähriger Kündigung gegen einen geringen Preis vermieten. Auf einem gemieteten Grundstück war natürlich an einen festen Bau nicht zu denken. So gab Bodelschwingh einem Zimmermeister ein einfaches Blockhaus in Auftrag, das noch heute steht. Ehe er aber seine Arbeit vom Montmartre dauernd auf den Hügel[S. 108] verlegte, galt es für ihn, den für den Fortgang seiner Arbeit und namentlich für den Unterricht der Kinder so nötigen Mitarbeiter zu finden.
Nachdem er am 29. August, vier Monate nach seinem ersten Examen, durch Pastor Meyer ordiniert worden war — der preußische Oberkirchenrat hatte ihm mit Rücksicht auf die dringenden Aufgaben in Paris das zweite Examen erlassen —, brach er nach Deutschland auf. Auf dem Kirchentage in Hamburg berichtete er in der Michaeliskirche von seiner Arbeit in Paris.
„Am Schluß meines Berichtes”, so erzählt er, „bat ich nicht ohne Zagen um einen Lehrer für meine Pariser Gassenkinder, dem ich zwar bitter wenig Geld geben könne und dem es allein genug sein müsse, Kinderaugen glänzen zu sehen, wenn ihnen von der Liebe Jesu ans Herz geredet würde.”
Nach der Versammlung erschien ein junger Lehrer auf meiner Stube und sagte: „Selber kann ich nicht kommen, aber eine Gabe sollen sie doch haben.” Damit zog er einen Taler aus der Tasche. Ich sagte: „Wo der Taler herkommt, kommt vielleicht auch der Geber her.” Er erklärte mir aber, er könne seine Arbeit in Glückstadt nicht verlassen. Doch der Blick, mit dem er mich dabei ansah, nahm mir nicht jede Hoffnung. Ich fragte ihn über einige Umstände seines Lebens und erfuhr, daß er bei dem bekannten Archidiakonus Versmann in Itzehoe konfirmiert worden sei. Am andern Morgen fuhr ich nach Itzehoe und fragte Pastor Versmann nach dem Geber der drei Mark. „Den nehmen Sie mit,” war seine Antwort, „dann haben Sie das Rechte getroffen.” Kurz darauf stand ich in Glückstadt in der Schule des jungen Lehrers und hörte seiner biblischen Geschichtsstunde zu. Darauf war ich fertig, und ich ließ ihn nicht los, bis ich sein Jawort hatte.
Wenige Wochen später trat Heinrich Witt[1] — denn so hieß der junge Lehrer — in Paris in mein Stübchen. Damit war mir eine schwere Last vom Herzen gefallen. Inzwischen war unsere Schule nebst unserer Wohnung bereits in Angriff genommen worden. Sie kostete alles in allem fix und fertig aufgerichtet 800 Taler und war etwa 15 Meter lang und 6 Meter breit. Der erste Teil war die Pfarrerwohnung, in der Mitte[S. 109] lag die Lehrerwohnung, und das längste Stück bildete die Schule, die durch Zurückziehen der hölzernen Scheidewände, durch die Lehrer- und Pfarrerwohnung von ihr getrennt waren, am Sonntag auf das Doppelte vergrößert und in einen Predigtraum verwandelt werden konnte.
[1] Siehe „Lebensbild des Lehrers Heinrich Witt” von Lehrer Witt, G. Ihloff, Neumünster i. H., 127 Seiten.
Am 11. Dezember 1858 zogen wir in unsere bescheidene Hütte ein und begannen unser fröhliches gemeinsames Leben. Mein lieber Witt machte jeden Morgen Feuer, worauf er sich vortrefflich verstand, während ich den Morgenkaffee und das zweite Frühstück herrichtete, das wir nach Pariser Sitte um 12 Uhr einnahmen. Das Abendbrot, das nach unserer damaligen Gewöhnung unsere Hauptmahlzeit bildete, bereitete uns eine in der Nähe wohnende Witwe, Mutter Schnepp.
Von nun an hatte ich es unbeschreiblich gut. Ein ganz neues Leben begann für mich, nicht nur durch die Gemeinschaft, die uns beide bei unseren täglichen Andachten und Mahlzeiten erquickte, sondern besonders dadurch, daß meine armen verwilderten Kinder nun einen überaus sorgsamen Unterricht, namentlich auch einen gründlichen Religionsunterricht empfingen, sodaß mir die Konfirmandenstunden dadurch überaus erleichtert wurden. Aber nicht nur in der Schule, sondern auch in der Gemeinde war mir mein Freund Witt ein sehr treuer Gehilfe, teils durch die Bibelstunden, die er hielt, — ich hatte außer in der Villette noch an drei andern Orten Gottesdienste und Bibelstunden zu halten — teils dadurch, daß er mit größter Hirtentreue den armen verirrten Kindern nachging, deren es nur zu viele gab.
Es ist mir namentlich unvergeßlich geblieben, wie er den Michel Jakob gewann, einen auf den Gassen von Paris ohne jeden Unterricht aufgewachsenen Knaben, der schon das zwölfte Jahr überschritten hatte. Er trieb sich nachts gewöhnlich vor den Theatern umher, um sich dort durch Öffnen und Schließen der Kutschwagen Geld zu verdienen. Das brachte er dann auf unnütze Weise durch, sodaß er schon oft mit dem Gefängnis Bekanntschaft gemacht hatte. Im Sommer durchstreifte er die großen Stachel-, Johannis- und Himbeerbeete, die in unserer Vorstadt damals noch reichlich standen und in denen er schwer zu finden war. Sein armer Vater hatte es an Schlägen nicht fehlen lassen, blaue Flecke gab es an seinem Leibe übergenug, und mit dem Stock sollte er nun auch in unsere Schule gezwungen [S. 110] werden. Da kam er dann wohl einen Tag, aber den andern war er wieder verschwunden; denn Schulzwang gab es damals in keiner Pariser Schule.
Was tat nun mein Freund Witt? Abends spät, wenn er hoffen konnte, daß Jakob von seinen Streifzügen heimgekehrt sei, erschien er in der Wohnung der Eltern. Ohne ein Wort des Tadels setzte er sich neben den armen Jungen: „Jakob, du hast heute nicht in die Schule kommen wollen, so muß ich zu dir kommen”, nahm die Fibel vor und fing mit aller Geduld und Sanftmut an, das ABC mit ihm zu treiben. Das tat er nicht einmal, das tat er wieder und wieder. Diese Liebe hielt Jakob nicht aus; sie war ihm doch zu stark. Nun kam er willig und regelmäßig zur Schule.
Einmal an einem Karfreitagmorgen sah ich ihn, wie er vor Witts Fenster einen langen Zweig einer wilden Rose anstarrte. (Wir hatten uns in den Festungsanlagen wilde Rosen gesucht und vor unser Fenster gepflanzt, um sie später zu veredeln.) Als er mich erblickte, war er einen Augenblick verlegen. Dann fragte er: „Waren das solche Dornen, Herr Pfarrer, die der Heiland am Karfreitag um sein Haupt hatte?” Ich sagte: „Ja, Jakob, die Dornen an seinem Haupte waren noch länger; und sie sind an seinem Kopf hängen geblieben, als er das verlorene Schaf suchte.” Da blickte Jakob mich mit großen Augen an und sagte: „Ich war auch verloren.” Dies war ein Beispiel von vielen verlorenen Kindern unter der versinkenden Jugend der Weltstadt, an denen mein Freund Witt mit unvergleichlicher Treue arbeitete und die er, wie ich hoffe, am großen Tage wiederfinden wird.”
So fing denn der kleine Hügel von La Villette an, eine Oase in der Wüste zu werden. Wer heute den Hügel besucht und die geordneten Straßenzüge sieht, die ihn rings einschließen, wer namentlich den Park durchwandert, der wenige Schritt vom Hügel entfernt seinen Anfang nimmt und der in seiner märchenhaften Schönheit heute eine der Hauptsehenswürdigkeiten der Stadt bildet, der kann sich kaum noch eine Vorstellung davon machen, in welcher Wildnis damals die beiden jungen Männer sich niedergelassen hatten.
An der Stelle des heutigen Parkes befanden sich große Kalksteinbrüche mit tiefen Gruben und Höhlen. Das Gesindel und die Verbrecher von Paris hatten dort ihre Schlupfwinkel.[S. 111] Und rings um die Steinbrüche und den Hügel her standen armselige Buden und Hütten, teils aus Brettern, teils aus gepreßtem Kalksteinstaub hergestellt. Hier wohnten mitten unter der armseligen französischen Bevölkerung die deutschen Einwanderer. Und in diese Wildnis hinein, durch die noch keine geordneten Straßenzüge führten, drangen jetzt Morgen für Morgen vom Hügel herunter die Lieder der Kinder, und am Sonntagnachmittag, wenn die Gassenkehrer von ihrer Arbeit heimkehrten — denn einen Ruhetag gab es ja für sie nicht —, lud die kleine Glocke die Bewohner der grauen, elenden Hütten zu Gottes Wort in das kleine Blockhaus.
Durch die Teilung der Arbeit, die mit dem Eintreten Witts geschaffen wurde, konnte sich Bodelschwingh nun auch in erhöhtem Maße den Kranken widmen, sowohl denen, die in ihren elenden Wohnungen lagen, als auch denen, die in den großen Pariser Spitälern Aufnahme gefunden hatten. Über diese Arbeit in den Spitälern schreibt er 1860:
„Unter den unzähligen Stätten der Erde, an denen Deutschland seine wanderlustigen und die Fremde liebenden Söhne und Töchter zu suchen und wohin namentlich die rettende Liebe ihre oft mutwillig aus Heimat und Vaterhaus gegangenen Kinder zu begleiten hat, um sie nicht ohne eine Freundesstimme zu lassen, — unter diesen Stätten verdienen die Hospitäler der französischen Hauptstadt eine besondere Teilnahme.
Wie Paris reich ist an öffentlichen Anstalten für weltliche Lust und Freude, so ist es auch reich an öffentlichen Häusern des Elends und der Schmerzen. Man zählt heute — 1860 — im ganzen 28 öffentliche Hospitäler und Siechenhäuser, die reichlich 17 000 Kranke, Sieche und Greise beherbergen. Es ist ganz gewiß die unverhältnismäßig große Zahl der öffentlich gepflegten Kranken ein trauriger Beweis von den gelockerten Familienbanden der französischen Hauptstadt.
Ein Kranker paßt nicht wohl in das Pariser Familienleben hinein. Wie man in Paris die Freude und den Segen einer deutschen Kinderstube nicht kennt, sondern mit der größten Leichtigkeit die kleinen Kinder von der Mutterbrust weg zur Amme aufs Land und von da nach kurzem Aufenthalt im Elternhause in die Pensionen schickt, so kennt man auch nicht die Heiligkeit und den Segen der Krankenstube. Man will[S. 112] sich ja nicht gern zum Ernste mahnen lassen, und darum schafft man den Kranken lieber von sich hinaus. Auf der andern Seite hat die Leichtigkeit, mit der jeder Kranke ohne weiteres in ein Hospital aufgenommen wird, und die Freigebigkeit, mit der er ganz umsonst gepflegt wird, etwas Erfreuliches und Erquickendes.
Echt samaritermäßig wird an den Pforten der Pariser Hospitäler niemand gefragt: „Wo kommst du her? Welches Glaubens bist du? Kannst du bezahlen?” usw. Jeder wirklich kranke Mensch, der sich morgens zwischen acht und neun Uhr an der Tür eines Hospitals einfindet, wird aufgenommen. Findet er in dem betreffenden Hospital keinen Platz, so wird er nach dem Zentralbüro der Hospitäler gesandt und bekommt dann sicher sein Bett angewiesen, einerlei ob er Franzose oder Engländer, Deutscher oder Italiener, ob er schwarz oder weiß, katholisch, evangelisch oder mohammedanisch ist.
In allen Spitälern ist die Pflege der Kranken den Händen der katholischen barmherzigen Schwestern anvertraut, und im ganzen muß ich sagen, daß die meisten Schwestern ihren Namen „barmherzige Schwestern” mit Ehren tragen und mit wirklich mütterlichem Herzen für ihre Kranken sorgen, und zwar mit gleicher Treue für die Fremdlinge und für die Kinder der eigenen Kirche.
Im schmerzlichen Gegensatz dazu ist zu sagen, welche Gleichgültigkeit, welche Frivolität oftmals an diesen Stätten des Schmerzes und des Todes anzutreffen ist, und zwar fast noch mehr bei den Frauen als bei den Männern. Unmittelbar neben dem Bett eines Sterbenden, der eben seinen letzten Kampf auskämpft, wird laut gelacht, gespottet und leichtfertig geschwatzt.
Was nun die evangelischen Deutschen betrifft in den beiden Hospitälern La Riboisière und St. Louis, die mir zugewiesen sind, so habe ich darin im vergangenen Jahre 270 Protestanten gefunden, darunter etwa 80 Deutsche. Diese deutschen Kranken sind zum größten Teil einzelstehende junge Leute, vor allem Handwerker oder Dienstmädchen. Dieses Häuflein der Protestanten befindet sich in diesen Spitälern in einer ganz eigentümlichen Lage. Es wird, wie wir hörten, bei der Aufnahme der Kranken ebensowenig Rücksicht genommen auf die Sprache wie auf das Bekenntnis, sondern allein auf die Art[S. 113] der Krankheit. Wo eben ein Bett frei ist, da bekommt der Kranke sein Zimmer angewiesen.
So geschieht es denn, daß unsere deutschen Glaubensgenossen zerstreut zwischen der fünfzigmal größeren Zahl französischer Katholiken liegen. Und da viele von ihnen des Französischen nicht mächtig sind, so befinden sie sich in einer Art Einzelhaft, in einer völligen Abgeschlossenheit und Verlassenheit, bei der sie sich nur durch Zeichen mit ihren Pflegerinnen und dem Arzt verständlich machen können. Und solche Einzelhaft wirkt um so stärker, als diese Kranken in der schmerzlichsten Weise von ihren eigenen Angehörigen im Stich gelassen werden. So hatte eine hier verheiratete Württembergerin ihre Schwester, die sie selbst nach Paris gelockt hatte, sieben Monate unbesucht im Spital liegen lassen. Mehrmals habe ich sie persönlich auf das dringendste ermahnt, sich nicht so schwer zu versündigen. Namentlich in den letzten Tagen vor dem Tode ihrer Schwester habe ich ihr wiederholt teils geschrieben, teils gesagt, es sei der letzte Wunsch der Sterbenden, sie noch einmal zu sehen und sich mit ihr zu versöhnen. Sie kam dennoch nicht; sie habe ihrer Schwester vergeben, aber ihr Geschäft erlaube einen Besuch nicht.
So kommt der Seelsorger in diesen Spitälern oftmals in die Lage, an den Kranken Vater-, Mutter-, Geschwister- und Freundesstelle zu vertreten. Dadurch wird ihm natürlich der Zutritt zu den Herzen sehr erleichtert. Auch der Klang der Muttersprache kommt uns bei diesen Kranken kräftig zu Hilfe. Es ist nicht zu sagen, mit welcher Freudenstimme diese Verlassenen oftmals den ersten deutschen Gruß erwidern, mit dem man an ihr Bett tritt. Da ist vielfach das Herz vom ersten Augenblick an aufgetan, und die Worte der Ermahnung und des Trostes können jetzt tiefer dringen und werden nicht zurückgestoßen, weil sie sozusagen in lieber Begleitung kommen.
Namentlich sind es die Klänge der Kindheit, die in der Jugend gelernten biblischen Sprüche und Liederverse, die hier wieder einmal zu ihrem Rechte kommen. Es ist mir begegnet, daß eine Todkranke, die ich zum erstenmal sah und von der auf die verschiedensten Fragen kein Zeichen des Verständnisses herauszulocken war, sodaß ich nicht einmal wissen konnte, welche Sprache sie eigentlich rede, plötzlich lebendig wurde, als ich das bekannte deutsche Sterbegebetlein „Christi Blut und[S. 114] Gerechtigkeit” anstimmte. Ihr Auge wurde hell; über dem Versuch zu sprechen zitterten ihre Lippen einen Augenblick, dann brach die Stimme durch, und die Kranke sprach laut und freudig die Worte zu Ende.
Einem jungen Mann aus Nürnberg gingen sofort die Augen über, als ich ihn deutsch anredete. Heimweh erfüllte seine Seele, und besonders ward das Verlangen mächtig, seine verwitwete Mutter noch einmal zu sehen, zu der er eine herzliche kindliche Liebe an den Tag legte und an deren Trauer er mit Tränen dachte. Es war aber deutlich, und der Kranke selbst spürte es auch, daß sein Wunsch auf Erden schwerlich könne erfüllt werden. Darum wies ich ihn hin auf die bessere und gewissere Hoffnung des Wiedersehens in der oberen Heimat. Die Sprüche, die ich ihm vorsagte, waren ihm bekannt und ergriffen ihn sichtlich. Namentlich war es der 23. Psalm, der ihm tief zu Herzen ging, weil seine Mutter gerade diesen Psalm ihm in der Kindheit oft vorgesagt hatte. Er gestand, es habe ihm daheim an christlicher Unterweisung nicht gefehlt, aber er habe leider seit Jahren nicht danach gelebt. Jetzt brachen die lange verschlossenen Quellen wieder auf und überströmten sein Herz noch zur rechten Zeit mit der rechten göttlichen Traurigkeit und mit dem rechten Troste. Als ich ihn fragte, ob er von Herzen wünschte, noch einmal kindlich wie einst glauben zu können, da antwortete er mir mit einem Ausdruck, den ich nie vergessen werde, er wünschte, ich möchte mit ihm beten, und der Druck seiner Hand sagte mir, wie sein ganzes Herz dabei gewesen.
Da es nicht möglich ist, daß ein Kranker öfter als im Durchschnitt einmal wöchentlich von uns besucht wird, so kann man denken, daß besonders die, die noch gar kein Französisch verstehen, auch mit rechter Freude zu den Büchern greifen, die wir ihnen mitbringen. Ich weiß, daß gar manche schmachtende Seele in ihren einsamen Stunden bald einen heilsamen Schrecken, bald Stärkung im Glauben, bald kräftigen Trost in der Anfechtung aus diesen Schriften geschöpft hat.
Hätten wir Zeit, die einzelnen Lebenswege niederzuschreiben, die in den Pariser Spitälern entweder eine Haltestelle oder für diese Erde ihr Ende finden, so würde manches an den Tag kommen, das vielen zur Lehre, zur Warnung und zur Ermunterung dienen könnte. Wie manches mit den goldensten [S. 115] Hoffnungen, mit den hochfliegendsten Plänen hinausgezogene junge deutsche Blut liegt hier an Leib und Seele verderbt, befleckt, bleich und kümmerlich auf seinem Siechbette und merkt nun erst, wie grausam es von der Welt und dem eigenen Herzen betrogen worden ist. Wie manche tränenreiche Bekenntnisse kann man hier vernehmen: „Ich bin meinen Eltern nicht gefolgt, ich habe den Glauben meiner Kindheit vergessen, ich habe den schmalen Weg verlassen, habe meine Zeit in der Fremde durchgebracht mit Prassen!” Wie manchen Vorsatz des verlorenen Sohnes kann man aussprechen hören: „Wenn ich noch einmal aufkomme, will ich umkehren ins Vaterland und Vaterhaus und da sprechen: Vater, ich habe gesündigt im Himmel und vor dir.”
Aber freilich geht es auch hier, wie es mit den meisten durch die Not der Krankheit abgetrotzten Gelübden geht: sie werden nicht gehalten. Weitaus der größte Teil, besonders der jungen Leute, die wir im Spital kennen lernen, verschwindet trotz ihrer freiwilligen, oft sehr aufrichtigen Versprechungen wieder völlig aus unserm Auge, und wir müssen hier meist nur auf Hoffnung den Samen ausstreuen, ohne mit unsern Augen eine Saat hervorsprießen zu sehen. Aber es gibt auch köstliche Ausnahmen. Der auf dem Krankenbett gefaßte Vorsatz zur Rückkehr ins irdische Vaterhaus wird doch von etlichen ausgeführt, indem sie sich unmittelbar aus dem Spital auf den Weg in die Heimat machen. Andere Angesichter bekommen wir in der Kirche oder am Tisch des Herrn wieder zu sehen. Und, was besser ist als dies beides, unter denen, die die Spitäler nicht wieder verlassen, sondern dort ihre irdische Laufbahn beschließen, können wir denn doch an viele mit ganz fröhlicher Zuversicht denken.
Ich entsinne mich nur eines einzigen Falles, daß mich ein Sterbender, der wirklich selbst klar sein Ende kommen sah, bestimmt abgewiesen hat und nichts von der Gnade Gottes in Christo wissen wollte. Ein andermal fertigte mich ein armer, in unsäglichen Schmerzen liegender Mensch ganz in der Weise Hiobs sehr bitter ab: Er habe solches Elend nicht verdient; Gott suche ihn ungerecht heim; ich solle ihn zufrieden lassen mit meinem Trost von der Gnade Gottes, der nur aus Liebe züchtige. Ich ging traurig weg; doch als ich noch einmal auf dem Rückwege durch den Saal an seinem Bett vorüberging,[S. 116] reckte er mühsam seine abgezehrte Hand unter der Decke hervor und reichte sie mir mit einem Blick entgegen, der wohl deutlich sagen wollte: „Vergeben Sie mir!”
Dieser Arbeit in dem Hospital hätte sich Bodelschwingh nicht so hingeben können, wenn ihm nicht auf dem Hügel und in der Gemeinde neue Hilfskräfte zugewachsen wären. Zwei arme Witwen, Frau Rech und Frau Götz, übernahmen den Diakonissendienst. Sie versorgten die Kranken und trugen, was sie von der Sonntagspredigt behalten hatten, zu denen, die nicht zur Kirche kommen konnten.
Ein eingewanderter Schweizer, Abraham Blanck, seines Handwerks ein Schmied, tat von seiner elenden Hütte aus, an die er durch die Wassersucht gefesselt war, Evangelistendienste. Bei dem ersten Weihnachtsfest, das auf dem Hügel gefeiert wurde, hatte Bodelschwingh mit den Schulkindern dem alten einsamen Blanck ein in einen Topf gepflanztes Weihnachtsbäumchen gebracht und ihm Weihnachtslieder gesungen. Das war für den Alten der Anfang zu einem neuen Leben geworden. Der kindliche Glaube und das kindliche Gebet wachten in ihm wieder auf. Und wenn er auch während der letzten drei Jahre seines Lebens seine Hütte nicht mehr verlassen und niemals den Hügel betreten konnte, so ging doch von dem Lager des alten treuen Mannes eine Macht in die ganze Gemeinde aus.
Lehrer Witt verheiratete sich. Seine kluge, hingebende Frau übernahm den Unterricht der Mädchen und machte bald auch der Junggesellenwirtschaft ein Ende. Das junge Paar hatte zunächst die beiden Stübchen, die bisher Pastor und Lehrer innegehabt hatten, bezogen, und Bodelschwingh hatte sich wieder eine Mietswohnung in der Stadt gesucht. Aber auf die Dauer ließ sich die Errichtung einer besonderen Wohnung für Pastor und Lehrer doch nicht hinausschieben. Da der Hügel nach wie vor nur gemietet war und darum auch jetzt noch an die Errichtung eines festen Hauses nicht gedacht werden konnte, so kaufte Bodelschwingh ein Holzhaus, das bereits in London auf einer Ausstellung gewesen war und nun binnen weniger Wochen fix und fertig auf dem Hügel stand. So war für Pastor und Lehrerfamilie eine neue behagliche Unterkunft geschaffen.
Aber die Erweiterung der Arbeit forderte auch größere Mittel. Sie mußten, da es sich um Versorgung von Deutschen handelte, der Hauptsache nach aus der deutschen Heimat kommen. Unermüdlich rührte darum Bodelschwingh die Feder. Seine Mutter, seine Geschwister, die Verwandten und Freunde waren die ersten, an die er sich wandte. Für die Kirchenblätter in Hamburg, im Wuppertal, in Minden-Ravensberg schrieb er an der Hand von Tatsachen hochanschauliche, zu Herzen gehende Aufsätze. Seine alten Gastfreunde Volkening in Jöllenbeck, Klein-Schlatter in Barmen, Sengelmann in Hamburg eröffneten Sammelstellen; auch Louis Harms in Hermannsburg. Die 800 Taler, die die erste Blockhütte gekostet hatte, schickte Volkening als Gabe des Minden-Ravensberger Landes in einer Summe.
Den Dank für solche Mithilfe stattete Bodelschwingh nicht immer nur schriftlich ab. Er kam selbst. Jährlich mindestens einmal reiste er nach Deutschland. Bald hier, bald da sehen wir ihn auftauchen, im Elsaß, in der Rheinprovinz, in Brandenburg, Berlin, Potsdam und besonders im Ravensberger Lande. Wohin der junge hagere Edelmann, dem die Mühsal des Pariser Lebens im Gesicht geschrieben stand, mit seinen Predigten, Ansprachen und seinen kurzen Besuchen kam, gewann er im Fluge die Herzen. „Ich suche nicht das Eure, sondern euch”, war der tiefe Eindruck, den man von ihm hatte. Aber mit den Herzen flogen ihm auch die Gaben zu. Es konnte vorkommen, daß am Schluß einer Versammlung sich Broschen, Ringe und andere Schmucksachen auf dem Teller fanden, weil die Leute die Empfindung hatten, daß der Inhalt ihrer Börse einfach nicht ausreichte.
Bei der Werbereise, die er im Herbst 1860 unternahm, reifte plötzlich in ihm der Entschluß, sich zu verheiraten. So gut er es auch bei seinen Freunden, den Witts, hatte, er fühlte sich doch oft abgehetzt und übermüdet. Dazu quälte ihn, wie er später öfter erzählte, der Gedanke an so manche junge deutsche Lehrerin und Erzieherin, die sich in den Gottesdiensten auf dem Hügel einstellten mit leisen Hoffnungen im Herzen. So mußte auch bei der entscheidendsten Wahl seines Lebens die Barmherzigkeit mit andern ihn zur Tat treiben; und im Sturm, sich selbst, seinen Verwandten und vor allem seiner Braut zur Überraschung, eroberte er sich das Herz seiner Lebensgefährtin.
Sie war die zweite Tochter seines Oheims, des damaligen Finanzministers Karl v. Bodelschwingh. Wohl hatte er sie schon mehrere Jahre im Herzen getragen. Aber solange es noch seine Absicht war, nach Afrika oder Indien zu gehen, hatte der Gedanke an ihre zarte Gesundheit keine ernsthaften Pläne aufkommen lassen. Inzwischen aber hatte ihn die Pariser Arbeit mehr und mehr gefesselt. Er sah keine Möglichkeit, sich ihr so schnell wieder zu entziehen, fühlte vielmehr die Verpflichtung, sich ihr mehr wie je und in vollster Ausrüstung zu widmen. Darum zögerte er nicht lange. Unter heißen Tränen gab ihm seine Braut das Ja. Nur zwei Tage blieb er in Haus Heide, dem Gute der Schwiegereltern, dann machte er sich wieder an die Werbearbeit für seine Pariser Gassenkehrer. Aber als er in den Wagen stieg und die Braut noch immer kämpfte zwischen Trauer und Freude, rief er: „Mein Herze geht in Sprüngen und kann nicht traurig sein, ist voller Freud’ und Singen, sieht lauter Sonnenschein.”
So schnell sich der junge Bräutigam auch entschlossen hatte, so sorgsam hatte er doch gewählt. Ida von Bodelschwingh war von klein auf ein zurückhaltendes Kind gewesen. In dem großen Kreise von zehn Geschwistern war sie vielleicht die Stillste. Früh war sie von dem Strom ernsten religiösen Lebens erfaßt worden, der in der Zeit Friedrich Wilhelms IV. auch die vornehmsten Kreise ergriff. Aber die Auswüchse einer gekünstelten, wortreichen Frömmigkeit waren ihr fern geblieben. Sie hörte die treusten, entschiedensten Prediger, aber geschwärmt hat sie nie für einen von ihnen, sondern führte einen selbständigen Christenstand. Es war ihr schwer, die Bälle und Hoffeste mitzumachen, die sich nach der Stellung ihres Vaters als Finanzminister nach der Meinung der Eltern nicht umgehen ließen, und sie bat wohl mit Tränen, sie davon zu befreien, fügte sich aber ohne Auflehnung, als der Vater fest blieb.
Sie hatte eine sehr sorgfältige Erziehung genossen. Curtius und Wiese, die auch ihres späteren Verlobten Lehrer aus dem Joachimstalschen Gymnasium gewesen waren, hatten ihr zusammen mit ihrer älteren Schwester Luise und einem kleinen Kreise von Freundinnen Unterricht gegeben. Für die Ausbildung in der Musik stellte der Vater ungewöhnliche Anforderungen. Schon früh um sechs begann für sie das Üben auf dem Klavier, damit die drei bis vier täglichen Übungsstunden[S. 119] durchgehalten werden konnten. Die Mutter, sparsam und einfach, wie die damalige Zeit es war, hielt im Hause auf große Pünktlichkeit und Ordnung und legte gerade so die sichere Grundlage für die Heiterkeit und Sorglosigkeit des Hauses.
„Wer als Gast ins Finanzministerium kam,” so erzählt ihre nächste Freundin, Frau von Zacha geb. von Löwenfeld, „fühlte sich von großer Behaglichkeit und Fröhlichkeit umweht. Und im Grunde war Ida von allen ihren Geschwistern die Heiterste. Gerade weil sie von Jugend auf je und dann im Kampf mit der Schwermut lag, hatte sie, sobald der Angriff wieder überwunden war, etwas Befreites und Befreiendes. Da sie selbst viel gelitten hatte, sah sie schnell, wenn andere litten, und auch die Schwächen anderer entgingen ihr nicht. Aber je schärfer sie sah, je tiefer fühlte sie mit Gesunden und Kranken, und das hingebende, selbstverständliche Mitleid, das sich nicht in Zärtlichkeit, sondern in Fürsorge äußerte, machte sie schon damals zur Wohltäterin für jeden, mit dem sie zusammentraf.
Dabei machte sie niemals irgend einen Unterschied des Standes. Sie war gegen jeden gleichmäßig gütig. Hoheit blendete sie nicht, und Niedrigkeit schreckte sie nicht. Auch verleitete sie ihr scharfes Auge nie dazu, andern weh zu tun. So hat sie mir während unserer fünfzigjährigen Freundschaft immer die Wahrheit ins Gesicht gesagt, oft mit verblüffender Schärfe, aber ohne mich jemals zu verletzen. Das ging auch Fernerstehenden so. Die Ehrlichkeit ihrer Liebe, auch wenn sie scharf war, tat nicht weh, sondern überaus wohl.
Und ehrlich wie im Wesen war sie auch im Wort. Sie beschönigte nichts; sie stellte die Dinge dar, wie sie waren. Nie hörte man von ihr irgend eine Unwahrheit. Darum war auch ihr Urteil klar und schnell gefaßt. Wenn andere sich zergrübelten, sagte sie: „Was quält ihr euch? Die Sache liegt doch so einfach.” So sah sie auch ihren eigenen Weg klar vor sich. Sie zersplitterte und zerstreute sich nicht, sie ließ sich nicht verwirren von dem, was andere taten und trieben, und wenn es ihre Nächsten und Liebsten waren. Sie war nicht für das Weite und Große veranlagt; darum trachtete sie auch nicht danach. Aber in ihrem Kreise war sie von unvergleichlicher Treue und Hingabe.”
Im April 1861 wurde die Hochzeit in Haus Heide gefeiert. Die Hochzeitsreise führte besonders zu den Freunden ins Minden-Ravensberger [S. 120] Land. Volkening in Jöllenbeck segnete sie zu ihrer gemeinsamen Arbeit in Paris. „Sie gehen unter die Löwen und Bären”, sagte er der jungen Frau.
In Paris wartete das Londoner Holzhaus auf sie. Achtmal acht Meter hatte es im Geviert. Unten wohnten Lehrer Witt mit Frau und Kindern und Witwe Schnepp mit ihrem Sohn, die beiden Familien als Magd diente. Darüber war die Pfarrwohnung. In den engen kleinen Stübchen hatten natürlich nur die kleinsten Möbel Platz. Und es war gut, daß die damalige Möbelmode von Paris Gelegenheit gab, solche kleinste Möbel zu erwerben. Das Klavier konnte nur durch das Fenster hinaufgeschafft werden.
Die ungewohnten und unbehaglichen äußeren Verhältnisse, zu denen namentlich auch das harte Regiment von Frau Schnepp gehörte, wurden tapfer ertragen. Pastor und Pastorin, die ja ihrer äußeren Herkunft nach die Vornehmsten innerhalb der Gemeinde und des Mitarbeiterkreises waren, sahen darin desto mehr Verpflichtung, sich selbst und ihr Haus allen zu Dienst zu stellen. So wurde der kleine stille Hügel mit seiner Pfarrwohnung in den Sommermonaten für die Familien der Mitarbeiter in der Stadt und den Vorstädten zu einem Ausflugsort, wo man gern für einige Stunden aufatmete. Im Winter freilich, solange die Eisenbahn noch nicht bis La Villette durchgeführt war, waren die Wege fast unergründlich, und für die Verwandten, die aus Deutschland zu Besuch kamen, blieb als einziger Spazierweg nur der kleine Pfad übrig, der rings um den Hügel durch die Gebüsche geschlagen worden war.
Noch im Laufe des Jahres 1861 konnte der Hügel endgültig käuflich erworben werden. Nun war es auch möglich, Kirche und Schule aus festem Material zu bauen. Beide wurden unter einem Dach errichtet, und auch den französischen Gemeinden, die sich allmählich unter der Arbeit französischer Pastoren in den jungen Stadtteilen gebildet hatten, wurde Gastrecht in der von deutschen Mitteln erstehenden Kirche gewährt. Unten waren die Schulräume, sowohl für die Kinder deutscher wie französischer Zunge, oben die Kirche. Für den französisch sprechenden Teil wurde ein besonderer Pastor angestellt, der am Vormittag den Gottesdienst hielt, während der Nachmittag nach wie vor den Deutschen vorbehalten blieb.
Aus dem verkauften Schmuck der Pastorin und andern Gaben erhielt die Kirche eine Orgel, auf der die Pastorin statt des bisherigen eintönigen Gesanges die rhythmischen Lieder mit der Gemeinde einübte. Ein neues Gesangbuch und eine neue Gottesdienstordnung wurden eingeführt, und die Haupt- und Nebengottesdienste wurden liturgisch ausgestaltet. Da die Massenbegräbnisse auf den Pariser Friedhöfen, wo Sarg auf Sarg in unaufhörlicher Reihenfolge versenkt wurde, keine Stille aufkommen ließen, so wurde jeder Sarg der Hügelgemeinde zunächst vom Trauerhause in die Kirche getragen und hier in aller Sammlung die Trauerfeier gehalten, ehe der gemeinsame Weg zum Friedhof angetreten wurde. Nicht nur den Erwachsenen, sondern auch den Kindern der Gemeinde wurde diese letzte Ehre erwiesen.
Das alte kleine Blockhaus wurde Kleinkinderschule, und zwei Nonnenweierer Schwestern übernahmen die Arbeit darin. Zur festeren Verbindung der Gemeindeglieder untereinander, namentlich auch derer, die Sonntags nicht kommen konnten, schrieb Bodelschwingh „Das Schifflein Christi”, ein kleines Monatsblatt, das zugleich die Freunde in Frankreich und in der deutschen Heimat wach und warm erhielt für die Aufgaben an den Deutschen in Paris.
Die Feder seiner Frau kam Bodelschwingh bei allen seinen schriftlichen Arbeiten sehr zu Hilfe. Wenn es auch innerhalb des Kollegiums der deutschen und französischen Pastoren Augsburgischer Konfession Brauch war, alles Schreibwesen möglichst zu unterlassen und statt dessen in den vierwöchentlichen Zusammenkünften die schwebenden Fragen mündlich zu erledigen, so blieb doch für den Schreibtisch immer noch eine Fülle von Arbeit übrig. Namentlich besorgte Eltern und Verwandte, die ihre Angehörigen in Paris hatten oder nach Paris reisen lassen mußten, baten um Rat, Auskunft und Hilfe.
Aber viel mehr Zeit und Kraft nahmen die Besucher selbst in Anspruch. Das Gastzimmer oben im Giebel wurde zu einer Herberge zur Heimat, in der es von seltsamsten Gästen aus- und einging. Schon vor seiner Verheiratung hatte Bodelschwingh einmal eine ganze Karawane von 23 Missionsfrauen und -kindern, die aus Indien kamen und in die Schweiz weiterreisten, in geborgten Betten quartiert. Jetzt wurden er und seine Frau vollends zu Herbergsleuten für allerlei Volk. Mehrmals [S. 122] waren es Angehörige vornehmer deutscher Familien, die sich nach Paris geflüchtet hatten, um dort sich selbst und ihre Vergangenheit zu vergessen, die aber doch schließlich durch die Not gezwungen wurden, nachdem sie alle andere Hilfe durchprobiert hatten, an die kleine Tür des Hügelpastors zu klopfen.
Mancher von ihnen hat ihn belogen, betrogen oder auch bestohlen, und oft war es für die Pastorin nicht leicht, wenn ihr Mann bis spät in die Nacht hinein auf den Außenstationen der Gemeinde war, mit irgend einem ungewissen Herbergsgast allein gelassen zu sein. Aber daß beide sich belügen, betrügen und bestehlen ließen, ohne verbittert zu werden; daß sie wohl vorsichtiger wurden, aber doch ihre Herberge nicht schlossen, sondern fortfuhren, den Verlorenen und Versinkenden zu dienen, segnete Gott. Bisweilen gelang es, verlorene Söhne, die aus der Heimat nach Paris geflüchtet waren, zu bewegen, sich den deutschen Gerichten zu stellen, die erwirkte Strafe willig zu ertragen und so den ersten Schritt zu einem neuen Anfang in der Heimat zu machen. Und einige Male kamen aus deutschen Gefängnissen rührende Beweise des Vertrauens und des Dankes von solchen, die nicht umsonst in dem Hügelpfarrhaus eingekehrt waren. Aber es waren nicht nur solche gefährdete Existenzen, die die Herberge benutzten. Angehende Mitarbeiter in dem deutschen Missionswerk in Paris, alte und neue Freunde, Bekannte und Verwandte stellten sich ein, und manche dauernde Freundschaft wurde geschlossen, die zugleich unmittelbar dem weiteren Ausbau der Hügelgemeinde diente.
Aber der helle Sonnenschein, der über dem Hügel lag, wurde von ernsten Schatten abgelöst. Acht Tage nach der Geburt des ersten Söhnchens erkrankte Ida von Bodelschwingh. Die Freude nach der überstandenen Angst war zu groß für ihr zartes Gemüt und schlug bald in desto schwereren Gemütsdruck um. Der treue Arzt, der Bruder Adolf Monods, riet zur Reise in die Heimat. Der Pariser Rothschild stellte seinen Salonwagen zur Verfügung. Für drei Monate wurde die kleine Familie auseinandergerissen. Das Kind kam zur alten Großmutter, die Mutter in die Pflege eines treuen befreundeten Arztes, und Bodelschwingh kehrte allein in sein verödetes Heim zurück.
Aber die Arbeit litt unter seinem Schmerz nicht, und seine eigene Seele versenkte er desto tiefer in die kräftigen[S. 123] Tröstungen Gottes. Wenn er abends von seinen fernen Außenstationen nach dem Hügel zurückkehrte, oft so spät, daß er keinen Omnibus mehr benutzen konnte, dann lernte er, von Laternenpfahl zu Laternenpfahl wandernd und im Schein des Laternenlichtes sich den Inhalt des Verses einprägend, ein Kirchenlied nach dem andern auswendig. Seine Predigten, die er für gewöhnlich frei gehalten hatte, schrieb er eine Zeitlang wieder auf, um sie seiner Frau zu schicken, sobald es ihr Zustand erlaubte.
Aber ehe er im Mai Frau und Kind wieder zurückholen konnte, traf ihn und die ganze Familie ein neuer schwerer Schlag. Sein jüngster Bruder Ernst, der Liebling der ganzen Familie, der jetzt als Jägeroffizier in Cleve stand, wurde durch einen Hitzschlag seiner Frau und seinen zwei kleinen Söhnchen entrissen. Bei großer soldatischer Tüchtigkeit hatte er sein bewußtes Christenleben durchgeführt, aber ohne irgendwie sich aufzudrängen, und sein Freund, der spätere General von Oidtmann, rühmte es ihm nach, daß Ernst von Bodelschwingh wohl regelmäßig mit ihm die Bibel läse, aber ohne je auch nur den leisesten Versuch zu machen, ihn aus der katholischen Kirche herauszuziehen. Gerade das bewog dann Oidtmann zum Übertritt. So dunkel das Sterben dieses Bruders war, es kam kein Ton der Klage in der Familie auf, und Bodelschwingh, der seinen Bruder in Velmede beerdigte, schrieb an seine Frau:
Meine teure Ida!
Unser lieber Bruder ist genesen, genesen für die Ewigkeit. Träumend hat ihn der Herr durch des Todes Türen geführt, ohne ihn seine Bitterkeit kosten zu lassen. Die arme Elise ist ganz wunderbar gestärkt, so auch unser Mutterchen. Sie hat noch am Abend vor seinem Tode sagen können: „Halleluja! Willst du ihn erlösen, so will ich dir danken.” — Sie ist nicht hier, aber wir drei Geschwister sind beisammen, Franz, Friedchen und ich. Morgen, nachdem ich auf der Geschwister Bitte dem geliebten Bruder einige Worte des ewigen Lebens habe nachrufen dürfen, eile ich mit den Geschwistern zur lieben Mutter. Die Leiche nehmen wir mit, sie nach dem Wunsche des Seligen an des Vaters Seite zu bestatten.
Sei ganz getrost um mich, mein liebes Weib. Solch einen Bruder darf man ja getrosten Mutes in die Ewigkeit ziehen[S. 124] sehen. War doch seines Jesu Kreuz seit langem sein einziger Ruhm.
Der Friede des Herrn sei mit dir!
Dein Friedrich.
Ende Mai zog dann die kleine Familie wieder auf dem Hügel ein. Die Krankheitszeit über war aus der Gemeinde heraus, namentlich auch von den Kindern gebetet worden, daß Mutter und Kind dem Hügelpastor erhalten bleiben möchten. Darum war der Tag der Rückkehr für die ganze Gemeinde ein großer Freuden- und Danktag. Auf ihn folgte noch fast ein Jahr neuer gemeinsamer Arbeit an den Aufgaben im unruhvollen Paris. Nur der Sonnabend bildete einen Ruhepunkt. Wenn irgend möglich, zogen dann die Eltern Bodelschwingh mit ihrem kleinen Ernst zur stillen Vorbereitung auf den Sonntag hinaus in den Bois de Boulogne mit seinen einsamen Inseln und schattigen Plätzen, wo die Nachtigallen sangen und die stillen Schwäne dahinzogen.
Aber die Krankheit seiner Frau hatte Bodelschwingh doch die Frage aufs Gewissen gelegt, ob er ihr auf die Dauer das unruhige Leben in Paris zumuten dürfte. Als sich ihm in dem jungen Württemberger Vikar C. Berg (dem späteren württembergischen Prälaten) ein Nachfolger zeigte, dem er mit größtem Vertrauen das begonnene Werk übergeben konnte, und als sich ihm in der Heimat ein Arbeitsfeld bot, das ihm Raum genug ließ, in Deutschland für das Missionswerk in Paris weiter zu werben, war sein Entschluß gefaßt.
Wer das Tal der Ruhr hinaufwandert, läßt bei Schwerte die dunklen Schornsteine und rauchgeschwärzten Häuser des westfälischen Industriegebietes hinter sich und sieht, wenn er zwei Stunden durch die lieblichen Weiden mit ihren schwarzbunten Herden flußaufwärts gelangt ist, zu seiner Linken einen spitzen, hohen Kirchturm ragen: das ist Dellwig, eines der ältesten Kirchdörfer der Grafschaft Mark.
Sein Turm hat schon seit 900 Jahren die Ruhr hinauf- und hinuntergesehen, und all’ die Geschlechter dieser 900 Jahre liegen zu seinen Füßen begraben, sodaß der Kirchhof allmählich[S. 125] immer höher wurde und man jetzt auf mehreren Stufen in die Kirche hinabsteigt. Die Familie Neuschmidt aber, die am Rande des Kirchplatzes im Schulhause wohnte, hat der Gemeinde vier Jahrhunderte hindurch die Lehrer gestellt, indem immer der Sohn auf den Vater folgte. Es muß ein zähes Geschlecht sein, das von einer solchen Lehrerfamilie 400 Jahre hintereinander unterrichtet und erzogen wurde; und es ist es auch.
Wer aber den tief ausgewaschenen Talweg hinaufsteigt, bis er die Wasserscheide des Haarstrangs erreicht, hat oben von der Wilhelmshöhe einen weiten Rundblick. Jenseits der Ruhr nach Süden zu liegen die stillen Wälder des Sauerlandes, altes kurkölnisches Gebiet. Nach Norden geht der Blick in die Gegend der Lippe und bis in die fruchtbare Soester Börde hinein. Der Westen ist verschleiert durch den Dunst der Hochöfen von Dortmund. Hart am Fuße des Berges aber, nach Nordosten zu, liegt das alte Städtchen Unna, wo Philipp Nicolai zur Zeit der Pest seinen „Freudenspiegel des ewigen Lebens” schrieb und der Christenheit den König und die Königin ihrer Choräle schenkte: „Wachet auf! ruft uns die Stimme” und „Wie schön leuchtet der Morgenstern”.
Dellwig hatte bis zu Anfang des vorigen Jahrhunderts zwei Pfarrer gehabt. Nachdem aber in der napoleonischen Zeit die Seelenzahl auf 1300 heruntergegangen war, beschloß man, die zweite Pfarrstelle eingehen zu lassen. Der übriggebliebene Pfarrer war ein gemütvoller Mann, der in jenen wirtschaftlich vielfach so schweren Jahren seinen Gemeindegliedern recht und schlecht zur Seite stand. Aber, wie die meisten der damaligen Amtsträger dem Vernunftglauben verfallen, kam er über eine äußere Erledigung seiner Amtsgeschäfte kaum hinaus und predigte meist vor leeren Bänken.
Einmal im Jahre hatte er sämtliche Gemeindeglieder der sechs nach Dellwig eingepfarrten Ortschaften zu besuchen. Das tat er treulich zu Anfang jeden Jahres. Er sammelte bei dieser Gelegenheit die Abgaben ein, aus denen ein großer Teil des Pfarreinkommens bestand, und erhandelte die Kühe, die den Sommer über auf den Pfarrwiesen jenseits der Ruhr fettgeweidet wurden. Der Lehrer und Küster Neuschmidt begleitete ihn, und ein Knecht mit einem Wagen und den nötigen Säcken folgte.
In diese gemütlichen, aber für das innerste Leben der Gemeinde doch recht dürren Zeiten kam erst ein Umschwung, als im Herbst 1854 Pastor Philipps in das niedrige alte Pfarrhaus in Dellwig einzog. Er war ein Mann, der in der unsichtbaren Welt zu Hause war und tiefe Einblicke getan hatte in die Geheimnisse der Menschenseele. Mit Entschlossenheit verkündete er den Glauben an den Heiland der Sünder. So fing seit Herbst 1854 ein neuer Luftstrom an, durch die Gemeinde zu wehen.
Zehn Jahre hatte Philipps die Arbeit in Dellwig allein getan. Da begannen seine Kräfte nachzulassen. Denn die Wege nach Billmerich hinauf und nach der andern Seite bis Strickherdecke hinunter waren weit, und Sonntags, wenn, wie es Sitte war, nicht in der Kirche, sondern in den einzelnen Häusern der Gemeinde die Kinder getauft wurden, ging die Arbeit oft über sein Vermögen, und ein ernstes Halsleiden zeigte seine ersten Spuren. So entschloß man sich, die eingegangene zweite Pfarrstelle wieder aufleben zu lassen. Der erste, der für die neu zu besetzende Stelle eine Gastpredigt hielt, war der bisherige Gassenkehrer-Pastor aus Paris. Als er auf die Kanzel kam und, wie das seine Art war, seine klaren, dunklen Augen durch die ganze Kirche wandern ließ, stieß einer von denen, die oben auf der Männer-Prieche saßen, seinen Nachbar an und sagte leise: „Wenn wir den doch zum Pastor bekämen! Den Mann hat man ja lieb, noch ehe er ein Wort gesprochen hat.”
Und so kam es. Im Frühjahr 1864 nahmen Bodelschwinghs, nicht ohne heiße Tränen der ganzen Gemeinde, von ihrem kleinen Hügel in Paris Abschied und zogen mit ihrem Erstgeborenen in das Pfarrwitwenhaus von Dellwig ein. Mit dem Aufhören der zweiten Pfarrstelle war auch eines der beiden Pfarrhäuser, das oben neben der Kirche gelegen hatte, verkauft worden. Das Pfarrwitwenhaus aber, worauf seit langem keine Witwe Anspruch erhoben hatte, war für die Zwischenzeit einem Schweinehändler überlassen gewesen. Seine Fachwerkwände waren zum Teil schon sehr windschief, und der Lehm war an manchen Stellen herausgefallen. Aber zum Einzug des neuen Pfarrers wurde das Haus, so gut es nur irgend ging, hergerichtet. Immerhin mochte es damals wohl das bescheidenste Pfarrhaus sein, das in der ganzen Grafschaft Mark zu[S. 127] finden war. Aber gegenüber den engen Stübchen des Pariser Holzhauses bedeutete es doch eine Verbesserung. Nach vorn, wo die Brücke über den Dorfbach auf die Straße und zum Haus von Pastor Philipps führte, lag ein kleines Blumengärtchen, hinter dem Haus aber und zur Seite erstreckte sich ein schöner Obstbaumhof. Dort lag auch die Scheune, wo die Pfarrkuh ihren Platz hatte.
Es war eine köstliche Zeit der Stille, die Bodelschwingh und seine Frau nach der heißen Pariser Arbeitszeit in den ersten Jahren in Dellwig verlebten. Man spürt es den Briefen der Pastorin, die aus der damaligen Zeit erhalten sind, ab, wie sie in dieser ländlichen Zurückgezogenheit aufatmete und wie auch ihr Mann, auf dem die Not der Weltstadt und der tägliche Anlauf bisweilen schwerer gelastet hatten, als er selbst es zugeben wollte, heiterer und mitteilsamer wurde. Er konnte wieder ein wenig studieren, er konnte auch bei seinem lebendigen Teilnehmen an allen Geschehnissen wieder die Kreuzzeitung lesen, und oft saß seine Frau bei ihm auf seinem Zimmer, während ihr Mann ihr vorlas. Sonnabends aber brauchte er nicht, um sich auf den Sonntag vorbereiten zu können, auf die unruhigen Straßen von Paris zu flüchten, wo er doch immer noch ungestörter gewesen war als auf seinem überlaufenen Stübchen im Hügelhaus, sondern er konnte in die „Hulmke” gehen, einen schönen stillen Eichenwald, der sich damals noch an der Ruhr entlangzog, und seiner Gewohnheit nach, ohne Feder und Tinte zu Hilfe zu nehmen, seine Predigt meditieren.
Lieblich blühte das Familienleben auf. Zu dem kleinen Ernst gesellte sich noch eine Elisabeth, ein Friedrich und ein Karl. Von Velmede her kam zu Wagen die alte Mutter mit ihrer Tochter, der Tante Frieda, gefahren, und von dem noch näheren Heide stellten sich die Eltern und Geschwister der Pastorin ein, um sich an dem reichen Glück mitzufreuen, das sich in dem Witwenhaus von Dellwig entfaltete. Und als zum ersten Dellwiger Geburtstag der Pastorin als Geschenk ihres Vaters gar ein Paar Ponys vor der steinernen Treppe standen, die ins Haus hineinführte, gab es manche erquickliche Fahrt zu lieben Verwandten und Nachbarn in der Nähe und Ferne. Auch die alten Pariser Freunde und Mitarbeiter stellten sich ein, bald einzeln, bald zu zweien und dreien. Sie freuten sich,[S. 128] in dem stillen Pfarrhause für eine Weile dem Getriebe der Weltstadt entrückt zu sein, und zogen auch wohl mit hinaus in eines der Eichengehölze des Ruhrtales, um an den Rasenabhängen zu lagern, während die Kinder die Abhänge hinunterkullerten und Blumen, Erdbeeren und Brombeeren für Eltern und Gäste sammelten.
Wer aber heute durch die Gemeinde Dellwig wandert und nach den früheren Pastorsleuten fragt, den umfängt nicht nur wie aus weiter Ferne ein Sonnenstrahl jenes glücklichen Familienlebens im kleinen Pfarrhaus, sondern überall umtönen ihn die Erinnerungen an die stille, ernste Arbeit, die alsbald von dem Pastor und der Pastorin in Angriff genommen wurde. Die Verkündigung des Evangeliums war schon in Paris der Mittelpunkt der Arbeit gewesen. So wurde nun auch in Dellwig in Früh- und Hauptgottesdienst, in Christenlehre und wöchentlichen Bibelstunden der Same reichlich ausgestreut.
Noch heute erzählt man sich in Dellwig von den Predigten, die durch Gleichnisse und Erzählungen für das Verständnis so sorgsam zugerichtet waren und durch heiligen Ernst und lockende Liebe tief in Herz und Gewissen griffen. „Ich weiß, wie euch zu Mute ist, ihr lieben Dellwiger, ich habe ja selbst das Säelaken auf dem Rücken gehabt”, sagte der Pastor wohl gelegentlich. Und wie es den Bergleuten, die von Billmerich herunterstiegen, zu Mute war, wußte er auch. Hatte er doch einst wie sie im Schoß der Erde vor Ort gelegen. Die Konfirmanden und Katechumenen aber hatten den ersten Platz in der Kirche; und noch findet sich in Dellwig manch sorgsam geschriebenes Heft, worin die Konfirmanden am Sonntag nachmittag die am Morgen gehörte Predigt eintrugen.
Treu teilten sich die beiden Kollegen in die Arbeit. Aber die Krankheit von Pastor Philipps wuchs, und nach zwei Jahren konnte er eines Sonntags nicht mehr. Sein Hals versagte den Dienst. Er merkte, daß es zum Sterben ging. Unvorbereitet mußte Bodelschwingh statt seiner auf die Kanzel. Er nahm den Text von den Vögeln und Lilien, die nicht sorgen; und manches Auge in der Kirche wurde feucht, als er so kindlich und zuversichtlich von der sieghaften Freudigkeit sprach, mit der der sterbende Pastor dem Tode entgegengehen dürfe, und als er der Gemeinde schon jetzt die Frau und die Kinder ihres Abschied nehmenden Hirten so eindrücklich ans Herz legte.
Fortan bis kurz vor dem Tode des langsam hinsterbenden Kollegen findet sich in den Kirchenbüchern keine Aufzeichnung mehr von Bodelschwinghs Hand. Alle schriftlichen Arbeiten überließ er Pastor Philipps. Er sollte die Freude der Arbeit bis zuletzt genießen. Und wie froh war Bodelschwingh, nun die Feder ruhen lassen zu dürfen! Sie war ja nie seine Freundin gewesen, und manchen herben Tadel des Superintendenten mußte er einstecken für Berichte, die dem Schema der Kirchenordnung nicht entsprachen oder zu spät abgeliefert waren. Freilich mahnte ihn Pastor Philipps wohl in heiterem Ernst, er möchte doch wenigstens für seine Predigt sich an Tinte und Feder gewöhnen, damit er Zeit und Maß besser innehalte. „Du hast recht, lieber Philipps,” war dann wohl die Antwort, „du hast recht. Ich will mir auch Mühe geben. Aber es wird mir so sauer.” Doch schon bei nächster Gelegenheit stand er wieder in der Tür und bat: „Ach, Philipps, laß mich für meine Predigt ein bißchen in deinen Kuhkamp laufen! Ich kann von meiner Pariser Art noch nicht lassen.”
Kaum einen weiteren Weg aber machte er in die Gemeinde, ohne vorher bei seinem kranken Kollegen einzukehren und mit ihm zu überlegen. Auf dem Rückweg sprach er wieder vor, um ihm von seinen Wegen durch die Gemeinde zu berichten. Die Kinder des Philippsschen Hauses aber wissen sich noch zu erinnern, wie sein Rock einmal, als er in ihr Haus kam, ganz mit Holzfasern bestreut war. Während sie ihn abbürsteten, ließen sie ihm keine Ruhe, bis er gestand, woher die Fasern kamen.
Er hatte eine alte Frau getroffen, die sich mühsam mit ihrem Holzbündel schleppte. Da hatte er nicht nachgelassen, bis sie ihm ihr Bündel abgab und er es ihr nach Haus trug. Aber es war ihm schrecklich, wenn aus dergleichen etwas gemacht wurde. Das verstand sich ja für ihn von selbst; und noch heute erzählen die Leute von Dellwig, daß er überall, wo er jemand unter einem Sack oder irgend einer andern Last mühsam dahingehen sah, mit zufaßte und nicht eher nachgab, bis der andere sich helfen ließ.
Aber es gab schwerere Lasten zu tragen als Holzbündel und Mehlsäcke. Der Märker ist aus hartem Holz gemacht. Einer, der ihn kennt, sagt von ihm: „Er schreibt seinen Haß[S. 130] oben in sein Hypothekenbuch, und dieser Haß muß von Kind auf Kindeskind fortgeerbt werden.” Unermüdlich war darum Bodelschwingh bemüht, solchen Haß, wie er ihn in Dellwig reichlich vorfand, im Keime zu ersticken. War der Termin für die streitenden Parteien vor dem Gericht zu Unna schon angesetzt, so kam es öfter vor, daß Bodelschwingh durch einen Brief oder einen persönlichen Weg zum Gericht einen Aufschub erwirkte. Dann benutzte er die Zwischenzeit, um Frieden zu stiften.
Einmal sah man ihn vom Mittag bis zum Abend an der Arbeit, um mit langen Bohnenstangen, an denen weithin sichtbare Papierstreifen flatterten, eine strittige Grenze festzustellen. Aber als der Abend kam, war man sich noch nicht einig, und Bodelschwingh sagte: „Leute, wenn wir uns aufs Recht steifen, kommen wir nicht zum Ziel; wir müssen den gütlichen Weg nehmen.” Und wirklich, die Leute gaben nach und vertrugen sich.
Zwei andere Nachbarn stritten um eine Eiche, die auf der Grenze stand und 30 Taler Wert hatte. Ehe entschieden war, wem der Baum gehöre, ließ der eine, der ein besseres Anrecht zu haben glaubte, die Eiche schlagen. Natürlich war dadurch der Kampf aufs äußerste verschärft. Was tun? Bodelschwingh schickte seinen Wagen und ließ die Eiche auf den Pfarrhof bringen, wo gerade das neue Pfarrhaus im Bau begriffen war. Dann ging er zu den Streitenden und bat sie, jeder von ihnen möchte ihm sein Anrecht an die Eiche zu Gunsten des Pfarrhausbaues abtreten. Die beiden erklärten sich mit dieser höheren Gerechtigkeit einverstanden. Obgleich keiner auch nur einen Pfennig Geld bekam, war doch im Grunde die Eiche noch gut bezahlt, da jeder von beiden nun die weiteren Prozeßkosten gespart hatte.
Auch von der Kanzel griff er in die jeweiligen Zwistigkeiten der Gemeinde ein. Zwei Höfe in Altendorf, die nach Dellwig eingepfarrt waren, lagen in Streit. Die eine Partei des Dorfes stand für diesen Hof, die andere für den andern. Eide über Eide wurden geschworen. Da rief er von der Kanzel herunter, daß es den Leuten noch nach Jahrzehnten in den Ohren klang: „Schämt ihr euch nicht, ihr Altendorfer?” Und auch hier gelang es ihm über Jahr und Tag, dem Haß der streitenden Parteien wenigstens die schärfsten Spitzen abzubrechen. Denn[S. 131] seine Liebe hatte schon damals eine Geduld und eine Glut, denen nur ein ganz verhärteter Sinn auf die Dauer widerstehen konnte.
Diese Glut konnte gelegentlich auch in hellem, heiligem Zorn auflodern. Es war eine sogenannte Gebehochzeit in der Gemeinde gewesen, bei der es, wie immer bei solchen Gelegenheiten, ganz besonders ausgelassen und wüst zugegangen war, weil Eß- und Trinkvorräte als Gaben der einzelnen Festteilnehmer herbeigeschleppt wurden. Bodelschwingh und seine Frau hatten getan, was sie konnten, um das Brautpaar zu bewegen, eine stille Hochzeit zu feiern. Umsonst. Das Fest ging in der gewohnten üppigen Weise vor sich. Auch der Sohn einer Witwe nahm daran teil. Als er am Morgen in jämmerlichem Zustande nach Hause kam, gab es einen heftigen Zusammenstoß zwischen Mutter und Sohn. Der Sohn verließ das Haus und kam nicht wieder. Als er am Abend noch nicht zurück war, machte sich seine Mutter auf, um ihn zu suchen, und fand ihn erhängt im Holze. Die Nachricht eilte durchs Dorf. Bodelschwingh war aufs tiefste erschüttert. Er litt mit der unglücklichen Mutter, als wenn er das Schreckliche an seinem eigenen Kinde erlebt hätte.
Noch stand die Leiche über der Erde, als in der Nähe des Trauerhauses ein Richtfest mit dem üblichen Lärm und Branntweingenuß gefeiert wurde. Bodelschwingh hörte den Lärm, nahm seinen Stock, stürzte, aufs tiefste verwundet, zu der lärmenden Schar und rief: „Während die Witwe über den Tod ihres Sohnes verzweifelt, seid ihr hier am Tollen? Ich schlage jeden nieder, der nicht sofort nach Hause geht.” Die Kinder, die ihren Pastor nie so gesehen hatten, kletterten, so schnell sie konnten, über die Hecke und suchten das Weite. Die jungen Burschen drückten sich still davon, nur einer sagte im Davonschleichen: „Herr Pastor, man lebt doch nur einmal.” Daran knüpfte Bodelschwingh am nächsten Sonntag an: „Man lebt nur einmal, aber — man stirbt auch nur einmal.” Und dann gab es eine Predigt, die bei vielen den Grund der Seele traf und noch durch Jahre nachklang.
Im Anschluß an dieses Ereignis führte Bodelschwingh einen Beschluß des Presbyteriums herbei, wonach jedem Brautpaar die Trauung versagt wurde, das sich nicht vorher verpflichtete,[S. 132] auf eine Gebehochzeit zu verzichten. Auch sonst hielt er das Presbyterium an, von seinen Pflichten und Rechten in bezug auf die Zucht der Gemeinde nachdrücklich Gebrauch zu machen. Einen notorischen Trinker schloß das Presbyterium vom Abendmahl aus, und über zwei streitende Nachbarn, die sich nicht vertragen wollten, wurde derselbe Beschluß verhängt. Aber nur im äußersten Notfall schritt Bodelschwingh zu solchen Maßregeln. Er erwartete überhaupt nicht viel von ihnen, wenn nicht gleichzeitig treue Liebe den also Gemaßregelten zu Hilfe kam.
Da die Beichte am Sonnabendnachmittag stattfand, das Abendmahl aber erst am folgenden Sonntag, so benutzte Bodelschwingh die Zwischenzeit, um den einzelnen Abendmahlsgästen nachzugehen. Er sah sich dann gern nach besonderer Gelegenheit um, damit er die Betreffenden, auf die er es abgesehen hatte, wie zufällig auf dem Felde oder bei der Arbeit träfe, um sie nicht vor ihren Hausgenossen und Nachbarn zu beschämen. So ging er auch einer Frau nach, die in der Beichte gewesen war und von der er wußte, daß sie in unversöhntem Streit mit ihrer Nachbarin lebte. Er traf sie draußen bei der Arbeit. Sie wies ihn schroff ab; sie habe jetzt keine Zeit. Dann wolle er warten, bis sie Zeit hätte; ob er sich so lange auf die Bank vor das Haus setzen dürfe. Das konnte sie ihm nicht abschlagen. Er hielt aus, bis sie ihn anhörte und bis er auch zu der Feindin gegangen war und die Versöhnung zustande gebracht hatte.
Einmal freilich wurde er bei einem solchen Friedenswege von einem Trinker zur Tür hinausgewiesen. Er gab, um den Mann nicht zu reizen, für den Augenblick nach, ging aber nach einer Weile zur Niedertür, wie man in Dellwig den zweiten Eingang ins Haus nennt, wieder hinein, um einen neuen Anlauf zu nehmen.
Er bekämpfte das Böse am liebsten dadurch, daß er so wenig wie möglich davon sprach und statt dessen das Gute an seine Stelle setzte. Dabei half ihm seine Frau treulich. Sie begleitete ihn am Sonntagnachmittag auf die Kindtauffeste, auf denen bis dahin noch so manche Unsitte herrschte. Oft ging die Pastorin auch allein in die Häuser, und ihr schlichtes, heiteres und doch so entschlossenes Wort fand manche gute Stätte. In der Woche aber versammelte sie die Frauen und Töchter der Gemeinde um einige große Kannen Kaffee und einige Teller[S. 133] mit Zwiebäcken und nähte mit ihnen zusammen für die Armen und die Kinder ihrer früheren Pariser Gemeinde.
Als Pastorin der Gemeinde bewährte sie sich besonders während der Kriegszeiten 1866 und 1870, wo ihr Mann als Feldprediger bei der Truppe war. In den einsamen und bangen Monaten waren ihr die regelmäßigen Briefe ihres Mannes, durch die er sie in der Form eines Tagebuches an allen kleinen und großen Erlebnissen eingehend teilnehmen ließ, ein tröstlicher Ersatz.[1]
[1] Siehe die Tagebuchaufzeichnungen aus dem Feldzuge 1870 von F. v. B., 1896, Schriftenniederlage der Anstalt Bethel.
In beiden Feldzügen war er den westfälischen Infanterie-Regimentern Nummer 15 und 55 zugeteilt, zu denen im Jahre 1870 noch das 8. westfälische Husarenregiment hinzukam. Den Wagen, der zu seinem Dienstaufwand gehörte, benutzte er nie, sondern stellte ihn stets den Verwundeten, Kranken und Schwachen zur Verfügung. Er selbst war immer zu Pferde. Es gibt noch eine Zeichnung von der halbgeübten Hand eines Fünfzehners, die den Feldprediger darstellt, wie er unter den einschlagenden Granaten den Schützengraben entlang reitet, um den Kämpfenden Zuspruch zu bringen.
Für Freund und Feind sorgte er während der Feldzüge ohne jeden Unterschied, wo er nur konnte. Wie mancher einsamen Franzosenfrau, an deren Nahrungsmitteln sich die hungernden Soldaten schadlos halten mußten, hat er aufs sorgsamste den Requisitionsschein ausgestellt! Für das schöne Kloster Peltre, das im Belagerungskampf vor Metz dem Feinde immer wieder Rückhalt bot und darum in Flammen aufgehen mußte, sammelte er in seiner Gemeinde Dellwig eine Kollekte, die dem Wiederaufbau des Klosters zugute kam.
Im Rückblick auf seine Kriegserlebnisse vor Metz schrieb er in sein Tagebuch aus dem Jahre 1870: „Es ist ein zweifaches Bild, das sich meinen Augen darstellt. Das erste ist ein schmerzliches. Reichlich zwei Meilen weit im Umkreise von Metz ist ein Gottesgarten in eine Wüste verwandelt. Alle Äcker liegen unbestellt, und wo sie nicht gänzlich zertreten sind, sind sie hoch mit Unkraut bewachsen. Ein ganzer Gürtel von Dörfern und Schlössern, der zwischen den kämpfenden Armeen liegt, ist[S. 134] niedergebrannt, alles Vieh ist geschlachtet oder weggetrieben, alles Futter und Korn ist aufgezehrt oder in den Lagerstätten verdorben. Die Bäume, auch die schönsten Obstbäume, namentlich in der Nähe von Metz, sind abgehauen und verbrannt oder von den verhungernden französischen Pferden ringsum abgenagt, und statt der fehlenden Weizensaat ist eine andere Saat — eine große Gräbersaat — überreich ausgestreut. Und nun erst die Lazarette mit all ihren Schmerzensbewohnern. Metz selbst ist ein einziges großes Lazarett und rings ein großer Gürtel von mehr als dreißig deutschen Lazaretten in den Ortschaften umher.
Dies ist die eine Seite des Bildes. Aber nun die andere Seite! Da erscheint mir mitten in den verwüsteten Leichenfeldern ein Gottesgarten, viel schöner als der, den die Kunst der Gärtner und die Üppigkeit des Bodens und die Wärme der Frühlingssonne heranreifen läßt. Über all dem Greuel der Verwüstung wölbte sich Gottes Himmel, und dieser Himmel war uns in jenen Tagen so viel näher als in Friedenszeiten. Überall auf den Höhen der Berge und in den Tälern, in Feldern und Wäldern, in Wiesen und Gärten war allezeit unser Gotteshaus fertig. Dazu hatten wir sozusagen alle Tage Sonntag. Und, was das Schönste war, es gab alle Tage Menschen, die gern und willig ihre Augen aufhoben zu den Bergen, von denen uns Hilfe kommt. Es gab, was so viel köstlicher ist als alle Blüten der Gärten, hie und da aufrichtig bußfertige Herzen, bußfertige Männer und Jünglinge, die da gelobten, fortan zu suchen, was droben ist, und nicht, was auf Erden ist.
Ich habe in jenen heißen Augusttagen auf den steinharten ausgetrockneten Boden nicht nur Blutstropfen, sondern auch Tränen fallen sehen, die köstlicher und fruchtbarer sind, als aller Tau des Himmels. Ich weiß, daß mehr wie ein verlorener Sohn gesprochen hat: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen.” Da ist kaum ein Plätzchen in jenem breiten Umkreis, wo unsere Truppen gekämpft und geharrt haben, das nicht von Gebeten und Seufzern und Lobgesängen zu sagen weiß, die zu Gott emporgesandt worden sind.”
Als der Friede geschlossen war, wurde auf dem Kirchplatz von Dellwig die Friedenseiche gepflanzt, und die Festversammlung sang nach der Weise „Erhebt euch von der Erde”:
Dann zog alles auf die Wilhelmshöhe hinauf. Da gab es Kaffee und Kuchen und auch manches gute Lied und manches gute Wort. Noch lange Zeit hindurch hat sich von Mund zu Mund das eine oder andere Lied in der Gemeinde erhalten, das der Pastor zu solchen frohen, harmlosen Festfeiern dichtete. Er ritt mit den Kindern Steckenpferd und jagte mit den jungen Burschen hinter dem Fußball her. Von Anfang aber bis zum Ende wurde Gott die Ehre gegeben, und alt und jung zog dankbar nach Haus.
„Überwinde das Böse mit Gutem!” Das war die Regel, durch die Bodelschwingh auch des Treibens in der Neujahrsnacht Herr wurde. Die halbwüchsige Jugend des Dorfes sah es als ihr Vorrecht an, in dieser Nacht vom Kirchturm herunter zu lärmen und bis zum Morgengrauen mit der Glocke zu kläppen. Mit einer Schar von Jünglingen, die der Pastor zu einem kleinen Verein gesammelt hatte, stieg er kurz vor Mitternacht in den Turm hinauf und sang, als die Mitternachtsglocke schlug, vom Turm herunter: „Wachet auf! ruft uns die Stimme”. Diesmal schien alles ruhig zu verlaufen. Aber die Störenfriede waren unbemerkt durch die offen gebliebene Turmtür nachgeschlichen und hatten sich in der Kirche versteckt, um, sobald die Sänger den Turm verlassen hatten, zu den Glocken hinaufzusteigen und den gewohnten Lärm aufs neue zu beginnen. Bodelschwingh aber drang mit einigen handfesten Burschen abermals in den Turm und nahm die Lärmmacher so ernst ins Gebet, daß von da ab jede Neujahrsnacht statt unter dem üblichen Skandal mit den schönen Liedern begonnen werden konnte, die vom Turm herunter in die stille Gemeinde schallten.
So nahm er überall mit großem Ernst den Kampf gegen das Böse auf. Ohne Niederlage ging es dabei freilich nicht ab.
Einhundert und einen Soldaten mußte Dellwig 1870 ins Feld ziehen lassen. Vor dem Auszuge rief Bodelschwingh noch einmal die ganze Gemeinde zur entschlossenen Umkehr zu Gott und gelobte dann in der gemeinsamen Abendmahlsfeier mit allen 101 Ausziehenden, nach Sieg und Frieden und glücklicher Heimkehr Gott die Treue zu halten. Nun war der Krieg beendet. Der Kriegerverein hatte die Vereine der Nachbargemeinden zu einem Fest auf die Wilhelmshöhe geladen. Der Pastor sollte die Festrede halten. Er erinnerte in der Vormittagspredigt an das Gelübde, das man damals getan hätte, und bat, diesmal von dem sonst üblichen wilden und ausgelassenen Feste abzustehen, damit nicht von den Dellwigern gelte, was 5. Mose 32, 5. 6 geschrieben steht: „Diese verkehrte und böse Art fällt von ihm ab. Sie sind Schandflecken und nicht seine Kinder. Dankest du also dem Herrn, deinem Gott, du toll und töricht Volk?”
Bodelschwingh erklärte sich bereit, die Festrede zu halten, wenn er nicht nur den Anfang, sondern auch den Schluß machen dürfe. Mit Freuden willigte man ein und versprach, die Feier um zehn Uhr enden zu lassen. Das Fest begann so schön, wie man es sich nur wünschen konnte. Aber als der Abend hereinbrach und die älteren Festgäste anfingen, sich zurückzuziehen, nahm das junge Volk die Zügel in die Hand. Der wilde ausgelassene Tanz begann. Überall erhitzte Worte und erhitzte Gesichter. Die für den Schluß verabredete Stunde kam, aber der Vorstand mühte sich vergeblich, sein Wort einzulösen. So nahm das Gelage seinen wüsten Fortgang. Beschämt kam bald der eine oder der andere an Bodelschwingh heran und bat, er möchte jetzt gehen; es wäre ja doch nichts mehr zu machen. Aber er blieb. Er sah, wie sich von zwölf Uhr an das Zelt wieder zu füllen begann. Denn nachdem die Eltern zur Ruhe gegangen waren, stiegen Kinder und Dienstboten heimlich aus und eilten aufs neue zum Festplatz. Erst als der Morgen herankam, begann sich die Menge zu zerstreuen, und hinter dem letzten Mann her verließ auch er das Zelt.
Er hat es nie bereut, ausgehalten zu haben. Denn er hatte bei dieser Gelegenheit in manche Schäden des Gemeinde- und[S. 137] Familienlebens tiefer hineingesehen als je vorher. Auch hielt er an der Hoffnung fest, doch schließlich noch über die verderblichen Ausartungen derartiger Volksfeste Herr zu werden. Seine Abberufung nach Bethel hinderte ihn an der Weiterarbeit. Doch blieb es bis zuletzt seine Überzeugung, daß Landrat, Amtmann und Pastor nur dann an solchen ländlichen Festen teilnehmen sollten, wenn sie entschlossen seien, das Fest bis zu Ende mitzumachen. Sonst würde ihr Erscheinen nur gar zu leicht zu einem Deckmantel für nächtliche Ausschreitungen schlimmer und schlimmster Art.
Desto fröhlicher wurde auf derselben Wilhelmshöhe das Missionsfest gefeiert, das Bodelschwingh schon im ersten Jahre, nachdem er nach Dellwig gekommen war, eingerichtet hatte. Von einem Jahr zum andern stellten sich immer größere Scharen zu Fuß und zu Wagen von nah und fern dazu ein, und während bis dahin die Synode Unna nur ein einziges Missionsfest feierte, hatte bald jede Gemeinde ihr besonderes Fest. Die gastlichen Dellwiger nahmen schon am Vormittag die Festbesucher in ihren Häusern auf, um dann den Nachmittag über oben auf der Wilhelmshöhe sich mit ihnen zu erquicken. Bis in sein hohes Alter hinein hat Bodelschwingh, so oft er nur konnte, dieses Missionsfest besucht und manch frohes Wiedersehen mit seinen alten Gemeindegliedern gefeiert.
Alle freie Zeit aber, die ihm die Gemeindearbeit ließ, widmete er neben dem „Schifflein Christi”, das über die Pariser Arbeit berichtete, dem „Westfälischen Hausfreund”, den er ein Jahr nach seinem Antritt in Dellwig begründete, um jede Woche einmal gesunde Kost in die Häuser zu tragen als Gegengift gegen die verderblichen Einflüsse einer gottfremden Presse. An Feinden fehlte es freilich nicht.
So spottete man wohl auf die zwölf Mitarbeiter des Blattes.
Aber je mehr man spottete, desto mehr kam der Hausfreund unter die Leute und desto trefflichere Mitarbeiter kamen zu jenen zwölf hinzu, um Beiträge für das Blatt zu liefern. Der geistreiche Pastor Niemann in Hamm, hernach Konsistorialrat in Münster, und nach ihm Pastor Pötter, der spätere Generalsuperintendent von Pommern, lieferten in ihrer urwüchsigen Weise den politischen Teil; Pastor Philipps hatte das große weite Reich der Natur und Geschichte zu bearbeiten. Bodelschwingh selbst schrieb über das Reich der Gnade und die Arbeit dieses Reiches auf der ganzen Erde, während der ehrwürdige Pastor von Velsen in Unna, Bodelschwinghs Konfirmator, der der Druckerei am nächsten wohnte, die Drucklegung besorgte.
Immer gute Speise bot das Blatt, aber nicht immer dieselbe Speise. Bald begann es mit einem politischen Artikel, bald mit der Besprechung eines Bibelabschnittes, bald mit einem patriotischen Lied, bald mit irgend einem andern Stoff. So wurde es auch für solche schmackhaft gehalten, die für die innerste Richtung des Hausfreundes noch kein Verständnis hatten. Und mancher wurde auf solche Weise, kaum daß er es selbst merkte, dem verderblichen Einfluß der seichten Tagespresse entzogen.
Neben der regelmäßigen Redaktionsarbeit blieb auch andere Arbeit in der Gemeinde nicht aus. Der Bahnbau Schwerte-Arnsberg machte es nötig, daß das Pfarrwitwenhaus mit seinen Grundstücken an die Bahnverwaltung abgetreten wurde, und so entstand aus dem Erlös, den die Bahnverwaltung zahlte, auf der Höhe über dem Dorf das neue Pfarrhaus. Bodelschwingh ließ es nicht zu, daß auch nur ein einziger Backstein dazu gekauft wurde. Vielmehr wurde der für die Kellerräume ausgeschachtete Lehm unter seiner Anleitung an Ort und Stelle zu Backsteinen geformt und gebrannt.
Dann kam auch die Kirche an die Reihe. Ihr Inneres sah mit den aufeinander getürmten Emporen und den engen, halb zerfallenen Bänken einem Speicherraum ähnlicher als einem Heiligtum. Dazu war auch der Platz zu klein geworden. Darum ging Bodelschwingh, als der Friede geschlossen war, von Haus zu Haus, um die Gemeindeglieder zu einem fröhlichen Dankopfer für den Kirchenbau zu ermuntern. Er trug ein Buch bei sich, worin er die Namen der 400 selbständigen Gemeindeglieder verzeichnet hatte. Jeder Name hatte seine eigene[S. 139] Seite. Darauf trug er die Summe ein, für die der einzelne sich auf drei Jahre hinaus verpflichtete. Aber keinem sagte er, wieviel der andere geben wollte. Es war alles auf Freiwilligkeit gestellt.
Es galt, neben dem Chorraum nach rechts und links zwei Flügel anzubauen. Dazu mußten erst die alten Grabstätten entfernt werden. Alle Beteiligten gaben ihre Einwilligung dazu. Nur die Familie von G., die ebenfalls an der Kirchenmauer eine Grabstätte und ein altes Grabdenkmal hatte, mußte kirchenordnungsgemäß noch befragt werden. Da kein Mitglied der Familie mehr in der Gemeinde lebte, so erbat Bodelschwingh durch eine öffentliche Anzeige in der Zeitung die Erlaubnis zur Verlegung der Grabstätte. Aber statt der Erlaubnis lief ein flammender Protest eines der Familienmitglieder ein, die Grabstätte dürfe unter keinen Umständen beseitigt werden. Dennoch stand am andern Morgen das Denkmal außerhalb des Platzes, der für den Neubau geräumt werden mußte. Dort steht es noch heute, hart neben dem äußersten Eckpfeiler des neugebauten Seitenschiffes. Trotz des Protestes hatte Bodelschwingh es stillschweigend bei Nacht wegrücken lassen.
Nun konnte es also an die Ausschachtung gehen. Viele alte Gebeine kamen zum Vorschein. Der Pastor stieg selbst hinunter und fing an, die Knochen in einen Korb zu lesen. Dann griffen auch die Konfirmanden mit zu, und ein Korb voll gesammelter Knochen nach dem andern wurde unter stillem Gebet drüben auf dem neuen Kirchhof, zu dem der schöne Rundbogen über den Talweg hinüberführte, noch einmal bestattet.
Ein Steinbruchbesitzer gab seinen Steinbruch frei, alle für den Bau nötigen Steine daraus zu holen. Die Bergarbeiter aus Billmerich und andere Hilfskräfte brachen in ihrer freien Zeit und ohne Entschädigung die Steine. Die Bauern aber schafften mit ihren Gespannen die Steine herbei. Es war nicht immer leicht, sie zu den freiwilligen Fuhren zu bewegen, und mancher verschwor sich: „Wenn heute der Pastor kommt, schlage ich es ihm ab.” Aber wenn er kam und bat, konnte ihm doch keiner widerstehen.
Noch lange nachher erzählte einer: „Man stand sich immer gut, wenn man tat, worum Bodelschwingh bat. Nach langer Regenzeit wollte ich am nächsten Tage, weil sich das Wetter endlich gebessert hatte, Weizen einfahren, der aber noch recht[S. 140] feucht war. Da kam der Pastor und bat um meine Pferde. Ich konnte ihm die Bitte nicht abschlagen und fuhr, weil die Mauerleute an der Kirche sonst keine Arbeit hatten, zwei Tage Ziegelsteine. Während dieser zwei Tage klärte sich das Wetter auf, sodaß ich den Weizen schöner einbekam als alle andern.”
Von zwei verfeindeten Nachbarn hatte der eine einen schönen Haufen Steine auf seinem Hofplatz liegen. Er schenkte sie dem Pastor zum Kirchbau. Aber fahren konnte und wollte er sie nicht. Auch litt er nicht, daß sein Feind, der Nachbar, auf seinen Hofplatz kam, um sie mit seinem Gespann abzuholen. So spannte Bodelschwingh seine beiden Ponys an und fuhr die Steine von dem hochgelegenen Hofplatz herunter. Unten aber standen die Pferde des Gegners und schafften die Fuhre weiter. Da mußte auch der Feind, der von seinem Hause her zusah, lachen, und sein Lachen war der Anfang zum Frieden mit seinem Nachbar. Waren aber die Steine auf dem Kirchplatz, so sprang der Pastor auf den Wagen und reckte sie selbst auf das Baugerüst empor; dann griffen wie von selbst auch die andern zu. Auch die Kinder kamen aus der Schule gelaufen, um mitzuhelfen. So stieg der Kirchbau in die Höhe. Und wenn Bodelschwingh auch seine Vollendung nicht mehr an Ort und Stelle erlebte, so findet sich doch im Protokollbuch der Gemeinde im Jahre 1875 die Notiz: „Die durch den Erweiterungsbau der Kirche entstandenen Kosten sind nunmehr durch freiwillige Gaben der Gemeinde gedeckt. Gott sei Dank!”
Zwischen solchen irdischen Aufgaben ging der Strom der stillen Gemeindearbeit ungehindert weiter. Am stärksten floß er wohl im Konfirmandenunterricht. Es wurde nicht viel aufgegeben, und der Kopf wurde nicht überbürdet, desto tiefer aber wurde das Herz angefaßt. „Das 53. Kapitel im Jesaias erschütterte und erhob das Herz”, schreibt eine Konfirmandin, „und die Auslegung von Phil. 2, 5–11: ‚Ein jeglicher sei gesinnet wie Jesus Christus auch war!’ ist mir nie aus dem Gedächtnis gekommen. Luthers kleiner Katechismus wurde ganz auf die Schrift zurückgeführt, wie wir denn überhaupt mit der Bibel vertraut wurden und sie handhaben lernten. Es war ein lebendiger Austausch zwischen Pastor und Schüler, oft so in die Tiefe führend, daß Zeit und Stunde darüber vergessen wurden und wir statt zwei bisweilen fast drei Stunden zu den Füßen unseres geliebten Lehrers saßen. Zwischenein aber erzählte er[S. 141] unermüdlich von Paris und seinen Gassenkehrern dort, sodaß uns das Herz brannte, auch einmal an andern Mitmenschen zu arbeiten.” — Die Denksprüche der Konfirmanden suchte der Pastor mit besonderem Eingehen auf das einzelne Kind aus, sodaß er noch nach Jahren daran anknüpfen konnte, und mit eigener Hand schrieb er den Spruch auf den Konfirmationsschein.
Den Alten, Kranken und Einsamen der Gemeinde aber galt sein liebster Weg, und manch friedvolles Sterbebett erquickte ihn neben mancher Enttäuschung. „Leben, Frieden und heilige Freude” — so heißt es in einem Brief — „erblühte überall, wo unser Pastor eingriff; an den offenen Gräbern besonders empfand man, als ob ein Strom des Lebens von ihm ausging.”
Auf den Wegen durch die Gemeinde gab er jedem, der darnach begehrte, Rat nicht nur in Herzensangelegenheiten, sondern auch in irdischen Dingen. Er selbst aber ging auch in allen äußern Stücken mit gutem Beispiel voran, und der heutige Pfarrwald mit seinem kräftigen Bestande ist ein Zeuge davon, wie trefflich der Pastor das irdische Gut seiner Gemeinde verwaltete. „Er wußte alles, und er kannte alles,” sagt man noch heute in Dellwig, „und man tat gut, seinem Rat auch in irdischen Angelegenheiten zu folgen.”
Über Dellwig lag ein Wiesental, das von einem Bach durchschnitten wurde. Hier hätte Bodelschwingh gar zu gern eine kleine Talsperre errichtet, um die darunter gelegenen Wiesen regelmäßig zu berieseln. Aber diesmal gelang es ihm nicht, die Anlieger, denen die Talsperre zugute gekommen wäre, unter einen Hut zu bringen. Doch schafften auch solche rein äußerlichen Bemühungen seiner innersten Arbeit in der Gemeinde besonderen Nachdruck. Daß er auch im Irdischen alles so gründlich erfaßte, gab seiner Predigt und Seelsorge doppelte Kraft und immer tieferes Vertrauen.
Zwischen den Pastoren und Lehrern der Gemeinden, die Dellwig benachbart waren, schuf Bodelschwingh eine Zusammenkunft, und auf der Synode war er immer bemüht, den Wagen des kirchlichen Lebens in eine etwas schnellere Gangart zu bringen und neue Anregung zu geben. So drückte er bei einer Synodalversammlung seinem Freunde, Pastor Buschmann, das märkische Gesangbuch in die Hände, das so viele verunstaltete und verwässerte Lieder enthielt. Buschmann[S. 142] mußte ein verfälschtes Lied nach dem andern vorlesen, während Bodelschwingh gegen jeden Vers des bisherigen Liedes den ursprünglichen Vers setzte und so einen kräftigen Anstoß gab zur Einführung des neuen Gesangbuches, wie es jetzt die Gemeinden von Rheinland und Westfalen besitzen.
Aber so reich an Arbeit das Leben in Dellwig auch war, noch reicher an Leid wurde es. Während Bodelschwingh im Sommer 1866 als Feldprediger bei der Main-Armee stand, erhielt seine Frau die Nachricht, daß von ihren vier Brüdern, die bei Königgrätz mitgefochten hatten, einer gefallen, ein zweiter verwundet war. Und als auch von diesem zweiten nach vierzehn Tagen die Todesnachricht kam, da war es doppelter Balsam, als unvermutet der Schritt ihres Mannes vor der Tür hallte, der, um seine Frau zu trösten, für einen kurzen Urlaub herübergeeilt war.
1867 starb Pastor Philipps. Immer reicher und lieblicher hatte sich von Jahr zu Jahr der Verkehr zwischen den beiden Pfarrhäusern gestaltet. Es gab keine Freude, die nicht miteinander geteilt wurde, und die Philipps- und Bodelschwinghs-Kinder hatten in beiden Häusern und den zugehörigen Gärten ihr gemeinsames Kinderparadies. Auch mancher gemeinsame Spaziergang wurde unternommen, wobei Bodelschwingh mit einer Schäferschüppe den Kindern Blumen ausgrub, damit sie sie in ihre kleinen Gärten pflanzten. Noch manchmal saßen die beiden Freunde nebeneinander und erquickten sich gegenseitig im Vorblick auf das unvergängliche Reich, bis der Tod kam und die Kinder der beiden Pfarrhäuser in kindlicher Harmlosigkeit um die blumengeschmückte Leiche des Pastors Philipps spielten.
Auf dies friedvolle Sterben aber folgte der erbitterte Wahlkampf um den Nachfolger. Seit alter Zeit bestanden zwei Parteien in der Gemeinde, und jedesmal bei einer Pfarrwahl entbrannte der Parteikampf von neuem. Dieses Mal steigerte er sich zu ungeahnter Heftigkeit. Jede Partei stellte einen trefflichen Mann auf, sodaß es eigentlich ein leichtes hätte sein müssen, sich auf einen der beiden zu einigen. Aber das duldete die Parteiehre nicht. Man ging so weit, daß ein Jude gedungen und mit Geldmitteln versehen wurde, der in der Stille unter den Mitgliedern der Kirchenvertretung für den einen und gegen den andern Kandidaten arbeiten mußte.
Als der Wahltag kam, war die Erregung der Gemeinde schon bis aufs höchste gestiegen. Nicht nur die kirchlichen Vertreter, sondern auch ein großer Teil der Gemeindeglieder versammelten sich in der Kirche, wo der Superintendent die Wahl leitete. Unter lautloser Spannung wurden die Wahlzettel gezählt. Es ergab sich Stimmengleichheit: 15 gegen 15. So mußte gelost werden, und das Töchterchen von Pastor Philipps griff in den Hut und zog den Namen „Lange”. Da ging ein Tumult in der Kirche los. Anhänger beider Parteien stürzten auf den Turm. Die Unterlegenen schlugen die Feuerglocke, die andern die Totenglocke. Etliche drehten ihre Jacken um und zogen durchs Dorf und bis ans äußerste Ende der Gemeinde zum Ärger für die, die gleichsam ihre Jacken gewendet hatten, indem sie bei der Wahl umgefallen waren und einem andern ihre Stimme gaben, als sie ursprünglich zugesagt hatten.
Bodelschwingh aber, der sich der Stimme enthielt, hatte gerade so die Niederlage der einen Partei bewirkt. Darum wandte sich die Wut der Unterlegenen auch gegen ihn. Am Abend des Wahltages flogen ihm durchs Fenster Steine ins Haus, sodaß der Topf auf dem Herde zersprang und die Suppe in das Feuer floß. Denjenigen aber, von denen man mit Bestimmtheit annahm, daß sie sich durch Geld hätten bestechen lassen, wurden noch denselben Abend als Anspielung auf die dreißig Silberlinge des Judas dreißig Scherben vor das Fenster gezählt. Einer, dem man die Hauptschuld gab, wurde sogar von einem gedungenen Bösewicht durch Monate und Jahre verfolgt und verleumdet, sodaß man die Schuld an seinem Tode dem inneren Gram zuschrieb, der ihn frühzeitig ins Grab geführt hatte.
Dann wurde Protest gegen die Wahl eingelegt, sodaß die Entscheidung ein ganzes Jahr hingehalten wurde und Bodelschwingh die Last der Gemeindearbeit weiter allein tragen mußte. Ein halbes Jahr lang half ihm der Hilfsprediger Stürmer, von dem später noch die Rede sein wird, gegen ein Entgelt von fünfzig Talern, bis endlich Pastor Lange bestätigt wurde. Langes milde, treue Art ließ ihm bald alle Herzen zufallen, zumal ja überhaupt nicht eigentlich um seine Person, sondern nur um die Parteiehre gekämpft worden war.
Kaum aber hatten sich die wildesten Wogen des Wahlkampfes gelegt, so brach die dunkelste Zeit über das Pfarrhaus[S. 144] in Dellwig herein. Im Frühjahr 1868 war die heißgeliebte jüngste Schwester Bodelschwinghs, Frau von Oven, ihren fünf kleinen Söhnen entrissen worden. Aber dieser Schmerz war nur das Vorspiel zu noch größerem Leid. Darüber heißt es in dem von Bodelschwingh niedergeschriebenen Bericht „Von dem Leben und Sterben vier seliger Kinder”:[1]
[1] Der ungekürzte Bericht ist unter obigem Titel erschienen in der Schriftenniederlage der Anstalt Bethel.
„Das Weihnachtsfest nahte heran. Fröhlicher, erwartungsvoller als je bisher hatten sich unsere Kleinen auf das frohe Kinderfest bereitet. Wie freudig erklangen seit Wochen von ihren Lippen die Lobgesänge dem Christuskinde entgegen! Selbst unser kleinster Sohn, der gerade in dem lieblichen Alter stand, wo er seine ersten Lauf- und Sprechversuche machte, konnte schon, wenn auch ohne Worte, in den kindlichen Jubel einstimmen.
Welche Freudenstunde, die uns noch einmal mit diesen lieben Kindern hienieden geschenkt wurde! Nur unser sonst so besonders fröhliches Ernstchen war am Weihnachtsfest schon viel stiller als die andern Kinder. Er hatte seit einiger Zeit einen bösen Husten, der ihn an das Haus fesselte. Sein letzter Ausgang war ein Liebesgang gewesen. Die Mutter hatte ihm und Elisabethchen die Geschichte von den beiden Kindern, die den Himmel suchen, vorgelesen, sie hatten mit leuchtenden Augen zugehört und sich darauf beide — es waren etwa zwei Tage vor Weihnachten — allein aufgemacht, um einem schwer kranken lieben Kinde in der Nachbarschaft, das sich auf den Heimgang zum Himmel rüstete, dies Büchlein als Weihnachtsgeschenk zu bringen. Überglücklich kehrten sie von diesem ihrem letzten Wege heim. Ernstchens Husten stellte sich bald als Stickhusten heraus, und zwar von sehr bösartiger Natur. Er fühlte sich binnen weniger Tage so schwach, daß er ganz das Bett hüten mußte. Er zeigte auch von vornherein einen wehmütigen Ernst. Von Spielsachen wollte er nichts mehr wissen, dagegen verlangte er immer wieder, daß man ihm vorlesen möchte, wobei ihm die ernstesten Geschichten die liebsten waren. Ebenso bat er sich immer aufs neue aus, daß die Morgenandacht an seinem Bett gehalten werden sollte, und es war wehmütig anzuhören, wie das Vaterunser, das von den drei ältesten Kindern[S. 145] gemeinsam gebetet wurde, von ihm und gar bald auch von den andern beiden nur noch mühsam mit zitternder Stimme gesprochen werden konnte, ja, wie ein Stimmchen nach dem andern in der wachsenden Atemnot verstummte.
Der Arzt stellte fest, daß bei Ernst eine Lungenentzündung hinzugetreten und sein Zustand recht bedenklich sei. Die drei jüngeren Kinder waren inzwischen ebenfalls erkrankt, auch ihr fröhlicher Jubel verstummte schnell, und es zeigte sich, daß bei ihnen der Stickhusten denselben bösartigen Charakter annehme, indem heftige Fieber hinzutraten und die Lungen angegriffen wurden. Während aber unser armer Ernst sehr große und lang anhaltende Schmerzen vor den Hustenanfällen zu leiden hatte, unter denen er allmählich zu einem rechten Leidensbilde zusammenschwand, so war es den andern drei Kindern, wenigstens Elisabeth und Friedrich, geschenkt, ohne besondere Schmerzen ihrer Todesstunde entgegenzugehen.
Unser lieber kleiner Friedrich, der mit seinem treuherzigen Wesen und mit seinen tiefdunklen, fast schwermütigen Augen sich aller Herzen stahl und der mit der ihm eigenen großen Entschiedenheit sich längst entschlossen hatte, er wolle Pastor werden, um Papa zu helfen, machte den Vorgang unter der heimziehenden Schar. Ich werde es nie vergessen, mit welch treuen Augen er in seinen gesunden Tagen an des Vaters Lippen hing, um als der erste bei der Morgenandacht mit kräftiger Stimme sein „Vater unser” anzustimmen. Als seine Mutter im Spätherbste leidend war und eine Zeitlang nicht zur Morgenandacht kommen konnte, da bat er sich immer ein Lied aus: „Für die liebe Mama!” oder, was ihm auch besonders am Herzen lag: „Ein Lied für die armen Heidenkinderchen.” Sein Lieblingsvers in seiner letzten Zeit, den er öfter laut für sich hersagte, war der letzte Vers aus: Wachet auf, ruft uns die Stimme: „Gloria sei dir gesungen — Mit Menschen- und mit Engelszungen, — Mit Harfen und mit Zimbeln schön! — Von zwölf Perlen sind die Tore — An deiner Stadt, wir steh’n im Chore — Der Engel hoch um deinen Thron. — Kein Aug’ hat je gespürt, — Kein Ohr hat je gehört — Solche Freude. — Drum jauchzen wir — Und singen dir — Das Halleluja für und für.” Nun durfte er als der erste sein himmlisches Gloria anstimmen und in die Perlentore einziehen.
Gar bescheiden und still ging das liebe Kind in seinen Tod. „Ein Schlückchen Wasser,” das war fast seine einzige Bitte, die er in den letzten drei Tagen vorbrachte; freilich zuletzt fast jede Minute, denn sein Durst war sehr groß. Er behielt seine Besinnung bis ans Ende. Wie versuchte die Mutter, ihm noch die erkalteten Händchen und Füßchen zu erwärmen, in der Hoffnung, es sei nur ein Krampf — eine Krisis. Wir beide waren allein an seinem Bettchen. Plötzlich hebt er seine Augen auf gen Himmel, sie werden leuchtend, wirklich himmlisch schön. „Was siehst du, Friedemännchen?” fragt die Mutter. Keine Antwort. Da brechen die Augen, und wir nehmen schon Abschied. Doch nein, noch einmal schlägt er sie freundlich hell auf und bittet: „Mama, Schoß!” Die Mutter nimmt ihn auf den Schoß, und die Tränen fließen ihr über die Wangen. Das sieht doch der Kleine noch, hebt sein Händchen auf, wie er so oft getan, die Tränen abzuwischen. Es ist sein letzter Liebesdienst. Das kleine Haupt fällt vornüber, und noch keine Viertelminute ist vergangen, da sind die letzten schweren Atemzüge getan. Es war um elf Uhr nachts am 12. Januar.
Die Heimat, in die der kleine Pilgrim gezogen, war mit ihrem Frieden auch uns nicht fern. Ich faltete ihm die lieben kleinen Hände, und die Mutter ließ es sich nicht nehmen, ihm die letzten Liebesdienste zu erweisen und ihm selbst das Sterbehemdchen anzuziehen. Dann versammelten wir neben der lieben Leiche unser Haus, und Psalm 126: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird” machte die mitternächtliche Tränenstunde zu einer Gnadenstunde, in der wir schon etwas von der Freudenernte vorausnehmen durften.
Auch der erste Gang zum Grabe mit dem ersten geliebten Kinde wurde uns Eltern über Bitten und Verstehen erleichtert, nachdem uns Bruder Stürmer an dem offenen Sarge, worin die überaus liebliche Hülle, ganz wie ein schlafendes Kind, in grünen Kränzen ruhte, das Wort Offenbarung Joh. 7, 15–17 zum Pilgerstab gereicht hatte: „Darum sind sie vor dem Stuhl Gottes und dienen ihm Tag und Nacht in seinem Tempel. Und der auf dem Stuhl sitzt, wird über ihnen wohnen. Sie wird nicht mehr hungern oder dürsten; es wird auch nicht auf sie fallen die Sonne oder irgend eine Hitze. Denn das Lamm mitten im Stuhl wird sie weiden und sie leiten zu den lebendigen Wasserbrunnen, und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren[S. 147] Augen.” So wurde es uns geschenkt, auch in Hiobs Worte einzustimmen, die uns Pastor Philipps aus Opherdecke am Grabe auslegte: „Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen, der Name des Herrn sei gelobt.”
Ebenso lieblich war Elisabethchens Heimgang. Diese liebe einzige fünfjährige Tochter, ein Bild strahlender Freude und Gesundheit, hatte ein gar zärtliches, sorgsames, williges Gemüt. Der Mutter an den Augen hängend, suchte sie ihr bereits mit tausend kleinen Liebesdiensten an die Hand zu gehen in unermüdlicher Geschäftigkeit. Rührend, ja erbaulich war die Freundlichkeit und Herzensstille des lieben Kindes bis zu ihrer Todesstunde. Kein Klageton kam über ihre Lippen. Wenn es ihr in ihrer Atemnot schwer wurde, so redete sie sich selbst zu: „So, so, nun ist’s gut.” Als in den letzten Tagen ihr Stimmchen zu einem kaum hörbaren Lispeln zusammengebrochen war, lag sie dennoch mit demselben freundlichen Gesichte da und versicherte, so oft man sie fragte, wie es ihr gehe: „Gut!” Ja, als sie nicht mehr sprechen konnte, nickte sie dem Fragenden diese Antwort noch zu.
Es war in der Nacht vom 19. zum 20., daß ich, an Ernstchens Bette wachend, meine Frau rufen ließ, weil ich glaubte, sein Todeskampf sei angebrochen, wie es der Arzt bei jedem schweren Hustenanfall erwartete. Statt seiner fährt plötzlich Elisabethchen aus einem leichten Schlummer, dem ersten seit drei Tagen, auf, versucht zu husten, es gelingt nicht mehr, und augenblicklich bricht sie zusammen, die Augen richten sich hellleuchtend himmelwärts, und der Todeskampf ist da. In diesem Zustand, mitunter leise schlummernd, aber mit glänzendem Angesicht, die Augen voll Klarheit der zukünftigen Welt unverwandt gen Himmel gerichtet, aber für diese Welt ganz abgestorben, blieb sie bis fünf Uhr morgens, wo sie auf des Vaters Schoß die letzten bangen Atemzüge aushauchte. Wir taten ihr, wie bei unserm lieben Friedrich, die letzten Liebesdienste und erquickten uns in der Morgenandacht an ihrem Bettchen mit dem Evangelium von Jubilate, Joh. 16, 16: „Über ein kleines.” Schöner, als sie je im Leben gewesen, und wie plötzlich gereift zu einer Jungfrau, als eine rechte Braut Christi, lag die liebe Tochter in ihrem Todesschrein —, und der zweite Weg zum Friedhofe wurde uns in gleicher Weise durch das verborgene Manna, das im göttlichen Worte liegt, auf unbegreifliche Weise[S. 148] versüßt: Ps. 23; Jes. 40, 11; Joh. 10 am Sarge und 1. Kor. 10, 13 am offenen Grabe. — O ja, ein treuer Gott, dessen Verheißungen nicht Ja und Nein, sondern lauter Ja in ihm und lauter Amen sind.
Eines besonderen Zwischenfalls muß ich hier Erwähnung tun. Wir hatten einen sehr treuen und gewissenhaften Arzt, Dr. K., der auch darin seine Gewissenhaftigkeit zeigte, daß er uns die Todesgefahr der Kinder nicht verheimlichte. Er hatte unser Ernstchen besonders in sein Herz geschlossen und hörte gerne seinen kindlichen Reden zu. Nun kam er einmal, da er allein an Ernstchens Bette gesessen, zu uns in die andere Krankenstube und teilte uns mit sichtlicher Bewegung mit, Ernst habe ihm erklärt: „Du kannst mir mit deiner Medizin doch nicht helfen, der liebe Gott muß mir helfen.” Nicht über Ernstchens freimütiges Wort wunderte ich mich, sondern über das Bekenntnis des Arztes und noch mehr darüber, daß er in den folgenden Tagen das Wort des Kleinen, wie ich nachher erfuhr, an einer ganzen Anzahl von Krankenbetten wiederholt hatte, um das Vertrauen der Kranken von sich auf den lebendigen Gott abzuleiten. Bei der großen Verschlossenheit, die sonst Dr. K. im Gespräch über göttliche Dinge zeigte, und bei der Neigung zum Selbstvertrauen, das wegen seiner großen Tüchtigkeit und Tatkraft bei ihm verzeihlich war, mußte uns dies Benehmen sehr auffallen. Er hatte, als ich ihn vor Elisabethchens Leiche führte, Tränen im Auge und ließ sich mit sichtlicher Rührung Ernstchens mannigfache liebliche Äußerungen über den Tod und die selige Ewigkeit mitteilen. Es war sein letzter Besuch. Als er sich am andern Morgen von seiner Wohnung wieder auf den Weg zu seinen Kranken machte, vernimmt plötzlich sein Kutscher das Klirren des Wagenfensters. Dr. K.’s Haupt hängt aus der Fensteröffnung heraus. Er ist eine Leiche. Der Schlag hat ihn gerührt, vermutlich, während er das Fenster zu öffnen versuchte. Hatten vielleicht unseres heimziehenden Kindlein nach Gottes Rat dazu dienen dürfen, daß dem im Irdischen so treuen Mann noch ein Morgenglanz der Ewigkeit seine letzten Lebenstage erleuchtete?
An der Morgenröte, die er von seinem Bette aus sehen konnte, hatte unser Ernstchen immer eine besondere Freude gehabt und gar oft sich aufgerichtet, um ihren schönen Glanz zu bewundern, hatte auch über ihr Wesen und ihre Natur viele[S. 149] Fragen getan. Auch auf seinem Sterbebette kam ein Freudenstrahl über ihn, wenn die Morgenröte nach einer bangen Schmerzensnacht auf sein bleiches Angesicht fiel. Und wie anders verstanden wir jetzt unser Morgenlied, das wir auf seine Bitte einige Male an seinem Bette anstimmten: „Morgenglanz der Ewigkeit, — Licht vom unerschöpften Lichte, — Schick’ uns diese Morgenzeit — Deine Strahlen zu Gesichte — Und vertreib’ durch deine Macht — Unsre Nacht! — — Leucht’ uns selbst in jene Welt, — Du verklärte Gnadensonne, — Führ’ uns durch das Tränenfeld — In das Land der süßen Wonne, — Da die Luft, die uns erhöht, — Nie vergeht!”
Unterschiedlich waren bei gleicher innerer Herzensstellung und gleichem Frieden doch die Äußerungen der Kinder über ihre Trennung von uns und über ihren Heimgang. Der kleine Friedrich, der Mutter besonderes Trostkind aus der für sie so schweren einsamen Zeit des Kriegsjahres 1866, in dessen Anfang er geboren war, hatte sich denn auch besonders fest an die Mutter geklammert, und sein einziger Wunsch blieb: „Bei Mama bleiben.” Elisabeth hatte durchaus nichts gegen das Sterben, das ihr ja ein gewisser Eingang zum Himmel war. Aber Mama und Papa, die Geschwister und noch viele andere Lieben sollten auch gleich mit. Ernst machte diese Bedingung nicht. Es war merkwürdig, daß dies lebensfrische Kind, das mit so natürlichem, lebendigem Interesse auch an den Dingen dieser Welt und mit so überaus inniger Liebe an Vater und Mutter hing, sich von vornherein bei der ihm vorgelegten Frage, ob er lieber bleiben oder in den Himmel gehen wollte, für den zweiten Weg entschied, und man konnte gewiß sein, daß er wußte, was er sagte. Freilich, als ich ihm die Geschichte von Gethsemane und des Heilandes dreifaches Gebet: „Nicht wie ich will, sondern wie du willst” vorgelegt hatte, antwortete er in der Folge bei ähnlichen Fragen mit Magdalenchen Luther: „Wie der liebe Gott will.” Indessen behauptete doch der paulinische Wunsch: „Ich habe Lust, abzuscheiden und bei Christo zu sein, welches mir auch viel besser wäre” das Übergewicht in seinem Herzen. Am Abend vor des kleinen Friedrichs Tode erklärte er unaufgefordert aufs bestimmteste: „Wenn Friedemännchen diese Nacht stirbt, werde ich doch nicht traurig sein, er hat es ja dann viel besser.”
Ganz in diesem Geiste und mit der Wiederholung dieser[S. 150] Erklärung nahm er dann auch die Todesnachricht hin. Und als ich in der Todesnacht unserer lieben Elisabeth mich einmal mit der sterbenden Tochter auf dem Schoß neben ihn gesetzt hatte, sodaß er selbst in das verklärte schöne Antlitz seines Schwesterchens sehen konnte, da erweckte in ihm ihr Scheiden keine Traurigkeit. Nur als er Tränen in den Augen seiner Mutter sah, da füllten sich seine Augen auch mit Tränen, denn er konnte die Mutter nie gut weinen sehen. Aber mit einer Art von heiligem Unwillen strafte er sie: „Was weinst du denn, Mama? Du weißt es ja doch, daß es Lisabethchen viel besser bekommt.”
Er und Elisabeth hatten sich ausgebeten, ihres kleinen Bruders Friedrich Leiche noch einmal zu sehen. Als der offene Sarg hereingebracht wurde, richteten sie sich mühsam in ihren Bettchen auf, sahen still in das freundliche bleiche Antlitz und sagten dann nur: „Adieu, Friedemännchen;” aber Traurigkeit bemerkte man nicht.
Als aber nun auch Elisabeth abgerufen war und ihre Leiche vor dem Wege zum Grabe aufs Ernsts Verlangen noch an sein Bettchen getragen wurde und er ihr, selbst zum Tode matt, das letzte Lebewohl gesagt hatte, da wurde sein Heimweh immer größer. Zwar willigte er wohl noch ein, daß er bleiben wollte, wenn die Mutter ihm vorstellte, daß der Vater doch an ihm einen Gehilfen haben müßte, wenn er alt würde, und daß der kleine Karl ja doch sonst ganz allein spielen müßte. Als aber nun vollends am nächsten Sonntagabend auch unser kleiner Karl, der mit rührender Stille seit vierzehn Tagen gekämpft hatte, ohne einen Klageton von sich zu geben, sein freundliches kleines Haupt in den Tod neigte und ich mir von Ernstchen, der mich in den letzten Tagen nur ungern von seinem Bette ließ, Urlaub ausbat, bis Karlchen im Himmel sei, da rief er mit lauter Stimme und mit dem Ausdruck tiefer Sehnsucht: „Ich will auch mit, Papa!” „Wohin denn?” „Zu Friedemännchen und Elisabeth,” lautete die Antwort. Von da ab klang in mir aus der Seele des heimziehenden Sohnes das Wort Eliesers durch und behielt die Oberhand über alles natürliche Wünschen: „Haltet mich nicht auf, der Herr hat Gnade zu meiner Reise gegeben,” und sein „viel besser” daheim sein bei dem Herrn, das er wiederholt mit großer Bestimmtheit ausgesprochen hatte, wurde auch im eigenen Herzen der überwiegende Wunsch für den geliebten Sohn.
Es ist ja freilich in gewissem Sinne richtig, was ein treuer Freund uns kürzlich aus Paris schrieb, daß der Herr die Kindlein krönt, ehe sie gestritten, insofern als der Kampf des Fleisches und des Geistes noch nicht zum rechten klaren Bewußtsein gekommen ist. Aber ohne Kampf geht es auch bei den Kleinen vor dem Sieg nicht ab.
Bei Friedrich und Elisabeth war der Streit zwischen Fleisch und Geist in ihren gesunden Tagen doch schon sehr deutlich erkennbar, und es hat ihnen manchen harten Strauß gekostet, Eigensinn und Selbstsucht niederzukämpfen. Es war uns aber eine Freude zu bemerken, daß gerade in den letzten Monaten solcher Kampf auch ohne Strafe meist schnell und siegreich ausgekämpft wurde, wozu doch der Geist der Gnade nötig ist.
Ernst aber vornehmlich hatte sein eigenes böses Herz recht viel zu schaffen gemacht, und es war bei ihm auch bereits zum Bewußtsein gekommen, was Sünde und was Gnade sei. Er kannte seine natürliche Selbstsucht wohl, und es war rührend zu sehen, wie er auf seinem Sterbebette in den letzten Tagen nichts wollte für sich aufgehoben haben, sondern auch die schönsten Sachen immer gleich zum Verschenken bestimmte und selbst sich eine besondere Freude daraus machte, das aufgehobene Zuckerwerk, Bücher, Bilder und andere Spielsachen auszuteilen. Es war uns aber doch auch dies tröstlich, daß der kleine Streiter seinen Weg zum Vaterhause nicht auf seine Gerechtigkeit hin wagen wollte. Als jemand äußerte, Friedrich sei immer so lieb gewesen und darum in den Himmel gekommen, da brachte dies Wort einen Mißton in ihm hervor, und er erinnerte daran, der kleine Bruder sei doch auch sehr eigensinnig gewesen. Von ganzem Herzen stimmte er ein, und ich sah, wie es ihn beruhigte, als ich zu ihm sagte: „Du weißt ja wohl, warum wir in den Himmel kommen, nämlich, weil der Heiland für uns gestorben ist und uns unsere Sünden vergeben hat.” Da nickte er mit tiefem Einverständnis. Jeden Sonntag lernte er bei seiner Mutter aus seiner Bibel einen Wochenspruch. Als — vor Weihnachten — Psalm 103, 1–3 an der Reihe war und die Mutter ihn fragte: „Was hat der Herr denn dir Gutes getan?”, da antwortete er ohne Besinnen: „Daß er für mich gestorben ist.” „Und was weiter, mein Sohn?” „Daß er mir alle meine Sünden vergeben hat.” So hatte er sich denn nach eigener Wahl unter seinen vielen Gebeten, die er auswendig konnte, für die letzte Zeit[S. 152] ganz feststehend das Gebetlein ausgewählt: „Christi Blut und Gerechtigkeit, — Das ist mein Schmuck und Ehrenkleid, — Damit will ich vor Gott besteh’n, — Wenn ich zum Himmel werd’ eingeh’n.” Nur ein einziges Mal, etwa acht Tage vor seinem Tode, hat er noch versucht, sein Lieblingsgebet, den 23. Psalm, zu beten, und hat es unter großer Anstrengung zu Ende gebracht. Von da ab blieb er aber bei dem erwähnten Sterbeseufzer, den er auch noch am letzten Abend vor seinem Todestage gebetet hat.
Eine eigentümliche sinnige Bitte hatte er noch kurz vor seinem Sterben. Da unser Pfarrhaus durch den Bahnbau neu aufgebaut werden mußte, so war bereits auf dem Hügel hinter der Kirche ein neuer Brunnen gegraben worden, aus dem bis dahin noch nie ein Mensch getrunken hatte. Mehrmals war Ernst selbst hinaufgewandert und hatte dem Brunnengraben zugesehen. Jetzt kam ihm plötzlich der sehnliche Wunsch, er möchte einen Trunk „frischen Wassers aus dem neuen Brunnen” haben. Und siehe, es war wirklich gar köstliches gutes Wasser, und es blieb „das frische Wasser aus dem neuen Brunnen” seine beste irdische Erquickung bis in den Tod. Anknüpfend an den guten irdischen Lebensquell konnte ich ihm von dem lauteren Strom des lebendigen Wassers erzählen, der klar wie Kristall im neuen Jerusalem unter Gottes Thron hervorquillt. Wie leuchteten da noch einmal seine schon matten Augen, und wie freute er sich auf die Stunde, da er auf den grünen Auen an den Ufern dieses kristallenen Stromes unter den Augen des guten Hirten mit seinen geliebten Geschwistern würde spielen dürfen!
Und die ersehnte Stunde kam ja auch endlich für ihn, den allein übriggebliebenen kleinen Leidträger. Die großen Schmerzen hatten ihn in den letzten drei Tagen verlassen, und er konnte mitunter stundenlang stille schlummern. Nur einigemal noch faltete er am letzten Tage stille seine Hände, doch so, daß es seine Eltern nicht sahen, und betete: „Ach, lieber Gott, hilf mir doch!” Gegen vier Uhr am Montagnachmittag hatte ich ihn auf seine Bitte in ein ganz neues Bettchen gelegt, das die Großmutter ihm zu Weihnachten geschenkt hatte, das aber jetzt eben erst eingetroffen war. Das neue Bettchen war, wie das Wasser aus dem neuen Brunnen, ihm ein besonderer Gegenstand der Sehnsucht gewesen. Allein auch das neue Bett konnte ihm die Ruhe nicht geben, nach der er sich sehnte.
Die glückliche Stunde war da, wo er in seines Hirten Arm und Schoß gebettet werden sollte. Vater und Mutter waren noch einmal neben ihm niedergekniet und hatten das Schmerzenskind und sich dazu in die guten Hände gelegt, in denen man allein ewig wohl gebettet ist. Als er mich darauf in der Atemnot etwas bange ansah, sprach ich zu ihm: „Fürchte dich nicht, mein Sohn, der Herr hat dich erlöst, er hat dich bei deinem Namen gerufen, du bist sein.” Darauf schlummerte er ganz leise und ruhig ein, und während ich hinunterging, ihm aus dem Teich frische Eisstückchen zu holen, um sein Trinkwasser damit zu kühlen, und die Mutter allein bei ihm war, fuhr er plötzlich mit dem gleichen Husten, der Elisabethchens Todesstunde ankündigte, aus dem Schlafe auf, — er konnte nicht mehr aushusten, und seine Sinne waren sofort hinweggerückt. Er erkannte mich nicht mehr, seine großen, hellen Augen schauten leuchtend, so schien es uns, in eine andere Welt hinein, und sein in langen Leiden abgemagertes Antlitz wurde wiederholt während dieses letzten Kampfes ebenso schön und glänzend, wie das der andern sterbenden Kinder. Ich hatte die Hoffnung, daß er nun bereits nichts mehr vom Todeskelch zu schmecken hatte und daß die Stunde schon da war, von der Paul Gerhardt in seinem schönen Liede über seinen heimgegangenen Sohn singt: „Ach, sollt’ ich doch von ferne stehn — Und nur ein wenig hören, — Wenn deine Sinne sich erhöhn — Und Gottes Namen ehren, — Der heilig, heilig, heilig ist, — Durch den du auch geheiligt bist, — Ich weiß, ich würde müssen — Vor Freuden Tränen gießen.”
Es war uns so, als ob seine Sinne schon erhöht seien, als ob seine Augen herrlichere Dinge sähen, seine Ohren lieblichere Klänge vernähmen, als diese Welt sie bieten kann.
Wir legten abwechselnd das Haupt auf das Kissen des sterbenden Kindes, während ein lieber Hausgenosse uns mit kurzen Unterbrechungen die schönsten Lieder aus dem Gesangbuch und die köstlichsten Trostworte aus der Heiligen Schrift vorlas, z. B.: Röm. 5–8; Joh. 17; 2. Kor. 4, 17 bis 6, 10. Ich kann es nicht aussprechen, wie sehr uns die letzten bangen Stunden durch die wunderbare Kraft des Wortes Gottes abgekürzt und erleichtert wurden. Er hatte gerade Offenb. Joh. 7 zu Ende gelesen: „Sie wird nicht mehr hungern noch dürsten” und wollte eben Offenb. Joh. 21, vom himmlischen Jerusalem, beginnen — da war’s vollbracht, und wir durften dem letzten geliebten Kinde[S. 154] die brechenden Augen zudrücken. Es war elf Uhr nachts am 25. Januar.
Drei Tage darnach standen zwei Särge nebeneinander an der Stelle, wo die beiden ersten gestanden hatten, mitten im Winter über und über mit grünen Kränzen behangen, aus der Ferne und Nähe von liebenden Händen gespendet. „Jerusalem, du hochgebaute Stadt, — Wollt’ Gott, ich wär’ in dir! — Mein sehnend Herz so groß’ Verlangen hat — Und ist nicht mehr bei mir!” — wurde angestimmt und klang uns tiefer aus dem Herzen als wohl je bisher. Und: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben,” dies von Pastor von Velsen mit wärmster Liebe uns ins Herz geworfene Wort mußte fester als je von uns ergriffen und zu dem letzten Wege zum Friedhofe mit den beiden letzten Kindern festgehalten werden.
Der kleine Karl, an dem Ernstchen mit besonders zärtlicher Liebe gehangen, durfte nun noch im Grabe neben ihm ruhen, sein kleiner Sarg wurde dicht an den Ernstchens gerückt. Da liegt nun die liebe Schar auf dem schönen Friedhof zu Dellwig, dicht neben dem Grabe meines treuen Kollegen, den wir hier auch zwischen drei seiner Kleinen gebettet, und wartet der fröhlichen Stunde der Auferstehung, Ernst und Elisabeth in der Mitte, Friedrich an Elisabeths, Karl an Ernstchens Seite.
„Der Herr ist mein Teil, spricht meine Seele, darum will ich auf ihn hoffen. Denn der Herr ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und der Seele, die nach ihm fragt. Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des Herrn hoffen. Es ist ein köstlich Ding, daß ein Verlassener geduldig sei, wenn ihn etwas überfällt, und seinen Mund in den Staub stecke und der Hoffnung warte. Denn der Herr verstößt nicht ewiglich, sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte.” Klagel. Jer. 3. Mit diesem köstlichen Wort half uns der liebe Pastor Philipps von den teuren Gräbern in unser nun vereinsamtes Haus zurückkehren.”
Damit schließt der Bericht des Vaters. Der Mutter fingen seit der Zeit die Haare an auszufallen, und noch nach einem Jahre zitterte ihre Hand beim Schreiben. Oft stand sie schluchzend an den Gräbern, und ihren Mann sah man eines Tages mit einem Brett und vier Pfählen zum Kirchhof gehen, um an der stillen Stelle, wo die vier Gräber lagen, eine kleine Bank zu machen, damit er dort mit der Mutter zugleich nachdenken[S. 155] könne, was Gott ihnen durch solches Leid sagen wollte. Die geheimnisvolle Tiefe ihres Schmerzes ließ sie neue, ungeahnte Blicke tun in die Geheimnisse Gottes. „Damals,” so sagte Bodelschwingh später einem trauernden Vater, „als unsere vier Kinder gestorben waren, merkte ich erst, wie hart Gott gegen Menschen sein kann, und darüber bin ich barmherzig geworden gegen andere.”
Nicht nur als eine Heimsuchung, sondern als ein Gericht empfanden beide Eltern den Schlag, der auf sie gefallen war. Und weil sie sich so tief demütigen konnten, konnte Gott sie auch erhöhen. Darum wurden die letzten Jahre in Dellwig die schönsten. Und als die tiefste Erfahrung, nicht nur aus den schmerzlichen Niederlagen, die ihnen das harte Märker Herz bereitete, sondern vor allem aus diesem Sterben ihrer heißgeliebten Kinder nahmen beide die Gewißheit in ihr ferneres Leben hinein: „Wenn du mich demütigst, machst du mich groß.”
Vier Monate später mußte Bodelschwingh auch seiner geliebten 76 jährigen Mutter den Todesschweiß von der Stirn wischen. In zunehmender körperlicher Schwäche, aber auch in zunehmender Heiterkeit des Glaubens war sie durch die letzten Jahre ihres Lebens gegangen. Jedem, der in ihre Nähe kam, welcher Richtung er auch angehörte, pflegte sie mit größtem selbstverständlichem Vertrauen zu begegnen, ohne ihn irgend welchen Unterschied merken zu lassen. Das war der Weg, auf dem sie aller Zuneigung gewann und auf dem sich manches Herz ihr erschloß, dem sie dann aus der Welt des Unglaubens in die Welt des Glaubens helfen konnte.
In Dillenburg, wo sie bei den verwaisten Kindern ihrer Tochter Sophie und ihrem einsamen Schwiegersohn weilte, schlug ihre letzte Stunde, auf die sie sich mit großer Sorgfalt und Demut vorbereitet hatte. „Dennoch bleibe ich stets an dir. Ob mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bist du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil” waren die letzten Worte, die der Sohn von den sterbenden Lippen seiner Mutter hörte und mit denen er in seine beiden letzten Arbeitsjahre in Dellwig zurückkehrte. Dann kam der Ruf nach Bielefeld.
Wie zwei gewaltige ins Meer hinausgebaute Dämme schieben sich das Wiehengebirge und der Teutoburger Wald in das niederdeutsche Land hinein. Still legt sich die weite, unermeßliche Ebene gleich dem Meer, das sich nach dem Sturme zur Ruhe begeben hat, an den Fuß der beiden Gebirgszüge. Das Land aber dazwischen sieht anders aus. Es ist, wie wenn das Meer plötzlich mitten in seiner Bewegung zum Stillstand gekommen wäre. Wellenberge und Wellentäler folgen aufeinander. Durch tiefe Wiesengründe rieseln die Bäche, fruchtbare Äcker wechseln ab mit waldigen Hügeln, und oben auf den Höhen recken die Windmühlen ihre langen Arme aus. Das ist das alte Sachsenland, die Heimat Hermanns, des Cheruskers, und Wittekinds, des Sachsenherzogs.
Als Tacitus vor 2000 Jahren seine Germania schrieb, sagte er von dem Bewohner des Landes: „Wo irgend ein Hain, eine Quelle, eine Wiese ihm wohlgefällt, da schlägt er seine Hütte auf.” Vielleicht nirgends sonst im Vaterlande findet sich ein Landstrich, für den bis heute die Beschreibung des römischen Geschichtsschreibers in solchem Maße paßt wie für das Land zwischen Teutoburger Wald und Wiehengebirge. Manches Gehöft des Landes freilich ist im Laufe der Jahrhunderte zum Dorf geworden, manches Dorf zur Stadt. Aber die meisten Häuser[S. 158] liegen noch heute vereinzelt, hin und her durchs Land gestreut, im Kranze ihrer Obstbäume und im Schatten der alten Eichen. Wer des Nachts von den Höhen ins Land hinunterblickt, sieht weit und breit die einzelnen kleinen Lichter der einsamen Häuser und Gehöfte aufglänzen, als wenn sich die Sterne des Himmels auf der Erde spiegelten.
Dieses Sachsenland zwischen dem Teutoburger Wald und dem Wesergebirge, das sich heute zusammensetzt aus dem ehemaligen Fürstentum Minden, der alten Grafschaft Ravensberg, dem früheren Fürstentum Lippe-Detmold und Teilen des hannoverschen Landes, ist von alter Zeit her die Heimat der Spinner und Weber gewesen. Vor 50 Jahren noch pflegte das Kind des Ravensberger Landes seinen Weg zur Schule nicht eher anzutreten, als bis es in früher Morgenstunde das vorgeschriebene Teil Garn gesponnen hatte, und bis spät in die Nacht summten die Spinnräder und klapperten die Webstühle. Der Mittelpunkt der Leinenindustrie aber war die alte Stadt Bielefeld. Auf der Sparenburg, die mit ihren vier vorgeschobenen Bastionen wie eine schützende Löwin über Bielefeld Wache hält, haben die Grafen und Kurfürsten von Hohenzollern je und dann residiert, und sein „Spinn- und Webeländchen” war ein besonderes Lieblingskind des Großen Kurfürsten und seiner Gemahlin Luise Henriette gewesen.
In der Gegend von Bielefeld spaltet sich der Teutoburger Wald in vier parallel laufende Höhenrücken, die durch drei freundliche Waldtäler voneinander getrennt werden. In dem ersten dieser Täler, hart vor den Toren der Stadt, stand im Jahre 1867 ein Bauernhof zum Verkauf. Ein kleines Komitee, dem die Not der Epileptischen im Vaterlande auf die Seele gefallen war, erwarb den Hof. Am 14. und 15. Oktober 1867 zogen hier die ersten fünf epileptischen Kranken ein. Zwei Jahre später entstand durch die Arbeit eines zweiten Komitees in Bielefeld selbst ein kleines Diakonissenhaus. Für diese beiden Anstalten wurde Vater zum Leiter berufen.
Am 23. Januar 1872 kamen die Eltern von Dellwig nach Bielefeld. An der Detmolder Straße war für sie eine Wohnung gemietet worden, und in dem Garten, der das Haus umgab, pflanzte Vater die Obstbäume, die er aus dem Pfarrgarten von Dellwig mitgenommen hatte. An der andern Seite der Straße lag das Grundstück, auf dem das neue Diakonissenhaus gebaut[S. 159] werden sollte, das seit seiner Gründung im Jahre 1869 eine vorläufige Unterkunft in dem alten Marienstift, dicht an der Neustädter Kirche, gefunden hatte.
Die Pocken, die mit dem Krieg 1870/71 auch in Bielefeld ausgebrochen waren, waren noch nicht erloschen, und auf dem Grundstück, welches für den Neubau des Diakonissenhauses bestimmt war, standen die hölzernen Baracken, in welchen von einer Schwester des jungen Diakonissenhauses die Pockenkranken gepflegt wurden. Eine der Schwestern, die damals dort arbeitete, hat noch in ihrem hohen Alter erzählt, welch tiefen Eindruck auf sie und alle Insassen des Hauses die Unbekümmertheit und Seelenheiterkeit gemacht habe, mit der der neue Diakonissenpastor sich unter den Pockenkranken bewegte und ihnen Zuspruch brachte.
Das für das neue Diakonissenhaus bestimmte Grundstück hatte eine auserlesene Lage. Es zog sich an dem Hang des Höhenrückens hinauf, auf dessen Vorsprung die alte Sparenburg lag. Je höher man stieg, je freier dehnte sich unter dem Auge des Beschauers Stadt und Land.
Dennoch sollte der Bau des Diakonissenhauses an dieser Stelle nicht zur Ausführung kommen. Mit dem ersten Blick übersah der neue Vorsteher, daß sich mit dem Festhalten an diesem Grundstück eine falsche Entwicklung anbahnen würde, und griff sofort entschieden ein. So schön auch die Lage des Platzes war, er neigte sich gegen Norden und hätte Kranken und Gesunden für immer zu wenig Sonne gebracht. Dazu kam ein anderes. An der andern Seite des Sparenbergrückens, tief unten im Tal des Kantensieks, war, wie oben gesagt, zwei Jahre früher als das Diakonissenhaus jener alte Bauernhof Eben-Ezer gekauft worden, der für Deutschland die erste selbständige Heimat der Epileptischen geworden war. Wohl hatte jede Anstalt ihren Vorstand für sich, aber die Mitglieder des einen Vorstandes waren vielfach auch die Mitglieder des andern. Darum drang Vater darauf, auch die Anstalten selbst räumlich so nah als möglich miteinander zu vereinigen. Das alte Eben-Ezer unten im Tal hatte längst nicht mehr der wachsenden Zahl der Kranken genügt. Dreihundert Meter oberhalb, am Rande des Buchenwaldes, mit dem Blick nach Südwesten, war ein großer Neubau für die Epileptischen entstanden, der den Namen Bethel führen sollte. Zwischen Bethel und Eben-Ezer aber lag ein[S. 160] unbebautes Gelände, das nun auf Vaters Rat zum Neubau des Diakonissenhauses und des Pfarrhauses bestimmt wurde. So wurden die Anstalt für Epileptische und das junge Diakonissenhaus aufs engste miteinander verbunden. Im Herbst 1873 mußten die Dellwiger Obstbäume noch einmal ihre Heimat wechseln, und mit dem vierjährigen Wilhelm und dem einjährigen Gustav, der von der treuen Magd Friederike im Kinderwagen gefahren wurde, zogen die Eltern über den Sparenberg hinüber in das neue Pfarrhaus am Jägerbrink, in welchem Anfang 1874 auch die kleine Frieda ihren Einzug hielt und drei Jahre später der jüngste des Geschwisterkreises, Friedrich.
Einzelne Bilder tauchen aus dieser ersten Kinderzeit noch ganz deutlich vor der Erinnerung auf. In der Schlafstube, die wir Kinder bis zu unserm sechsten oder siebenten Jahr mit den Eltern teilten, stand mein Bett unter der alten runden Wanduhr, die Vater eigenhändig alle drei Wochen aufzuziehen pflegte. Die Wände meiner kleinen Bettstelle bestanden aus einem Holzgitter, sodaß ich zwischen den Stäben durch beobachten konnte, was in der Stube vorging. Meist schliefen wir Kleinen ruhig weiter, während die Eltern sich erhoben. Aber wenn ich einmal zeitiger als sonst erwachte, war es ein unermeßliches Vergnügen, den Vater zu beobachten. Er war bis auf Rock und Weste bereits angekleidet, aber er hatte den Hemdkragen zurückgeschlagen und rieb sich mit dem angefeuchteten Ende eines rauhen Handtuches den Hinterkopf und Nacken. Dabei ging er an der Längsseite des Schlafzimmers zwischen seinem Waschtisch und der Stubentür auf und ab, ab und auf. Von Zeit zu Zeit blieb er vor seinem Waschtisch stehen, tauchte das Handtuch aufs neue ein und nahm dann seinen Weg wiederum auf, immer den Nacken reibend. Auf dem Rückweg von der Tür zum Waschtisch konnte ich Vaters kräftigen Nacken beobachten, der unter dem Reiben natürlich immer roter und roter wurde; aber noch viel mehr interessierte mich sein Gesicht, in das ich unmittelbar hineinsah, wenn er vom Waschtisch zur Tür ging. Er sah mich nicht, obwohl ich mit weitgeöffneten Augen gerade durch das Gitter hindurchguckte. Vielmehr war sein Auge in die Ferne gerichtet auf Menschen und Dinge, mit denen seine Gedanken beschäftigt waren. Dabei pflegte er, ihm selbst unbewußt, seinen Gedanken in kurzen, abgebrochenen Selbstgesprächen Luft zu machen. Alle Töne, von den kräftigsten bis zu den zartesten,[S. 161] kamen dabei zum Ausdruck. Bisweilen kam es freilich auch vor, daß sein Auge aus der Ferne zurückkehrte in die Nähe und meinem geöffneten Auge begegnete. Dann trat er wohl an mein Bett, strich mit seiner großen, weichen Hand über meine Stirn und sagte: „Mein herzgeliebtes Kind,” — mehr nicht, aber es war genug, um mich bis ins Innerste zu beglücken.
Waren wir Kinder fertig angezogen, so pflegte die Mutter durch ein kleines Sprachrohr, welches von der Schlafstube nach oben in Vaters Arbeitszimmer führte, den Vater zur Andacht zu rufen. Dann kam regelmäßig das Kleinste von uns, soweit es sich schon an der Andacht beteiligen konnte, auf Vaters Schoß; die Mutter saß am Harmonium, und Vater sagte in ganz kurzen Sätzen das Lied vor, sodaß auch die Kleinsten sich schon an dem Gesang beteiligen konnten und wir so unbemerkt allmählich einen großen Teil des Gesangbuches auswendig lernten.
Zwischen dem Singen trank Vater immer wieder einen kleinen Schluck aus dem Glas ganz frisch gepumpten Wassers, das vor ihm stand, — eine Gewohnheit, die er bis an sein Lebensende beibehielt und der er wahrscheinlich seinen gesunden Magen verdankte, der ihm nie den Dienst versagte. Nach dem Gesang kam der Bogatzky, ein Andachtsbuch, das schon in den Elternhäusern von Vater und Mutter viel gebraucht worden war. Uns Kindern blieb es, bis wir erwachsen waren, fast unverständlich, und doch bot es auch uns Erbauung genug, weil wir merkten, mit welch tiefer Andacht Vater und Mutter aus dem Wort dieses gründlichen Schrift- und Seelenkenners ihre Stärkung für die Arbeit des Tages nahmen.
Von den Gebeten, mit denen Vater die Andacht schloß, ist mir eins in besonderer Erinnerung geblieben. Der kleine Kanarienvogel, der uns aus dem Hause an der Detmolder Straße in die neue Heimat begleitet hatte, lag am Morgen tot in seinem Bauer. Er war verdurstet. Unser ältester Bruder, dem die Pflege des kleinen Tieres anvertraut war, hatte ihn vergessen. Nichts von Schelten oder Strafen. Aber in dem Gebet, das sich an den Bogatzky anschloß, brachte Vater die Sache vor Gott. Es ging durch Mark und Bein, wie er um Vergebung bat und um Treue. Und wer unsern nun auch schon dem Vater in die Ewigkeit nachgefolgten Bruder Wilhelm gekannt hat, weiß, in welchem Maß dieses Gebet erhört worden ist. Er wurde die wandelnde Treue selber. Nie vergaß er etwas, weder[S. 162] Dinge noch Menschen. Was ihm anvertraut war, für das stand er ein; und wenn es auch bisweilen schien, als hätte er etwas vergessen oder versäumt, er holte es nachher mit doppelter Treue nach.
Ein andermal kam es freilich doch zu einer Strafe. Diesmal war ich der Attentäter. Worum es sich handelte, besinne ich mich nicht mehr gewiß, doch muß es ein gröblicher, bewußter Ungehorsam gegen ein ausdrückliches Gebot der Mutter gewesen sein. Denn das weiß ich noch, daß die Angelegenheit, die eigentlich lediglich die Mutter und mich anging, von der Mutter dem Vater übergeben wurde. Auch weiß ich noch heute genau die Stelle in der Schlafstube, in der sich das Strafgericht vollzog. Unsagbare Gefühle der Scham und Reue beschlichen mich, als mein heißgeliebter Vater, der so viel Wichtigeres zu tun hatte, meinen Kopf zwischen seine Knie nahm und mit einer Glut und Milde zugleich schlug, daß Leib und Seele einheitlich erschüttert wurden. Es war das erste und das letzte Mal, daß ich meinen Vater in dieser Weise bemüht habe.
Vor dem Einschlafen pflegte Vater regelmäßig laut mit der Mutter zu beten. Das erlebten wir Kinder natürlich nur selten, da wir meist schon längst in festem Schlummer lagen. Aber einige Male habe ich es doch erlebt. Das war dann jedesmal das Größte und Tiefste, das ich mir denken konnte. Noch mehr als in der gemeinsamen Andacht mit allen Hausgenossen quoll jetzt das Herz des Vaters über in Dank und Fürbitte. Mit Namen wurde jedes einzelne Kind genannt und der Bewahrung und dem Segen des Heilandes empfohlen. Er hatte wenig Zeit für uns übrig, unser geliebter Vater, er strafte nur im äußersten Notfall, er schalt, soweit ich mich besinnen kann, nie; aber er betete für uns.
Unser Haus lag im Schatten des Mutterhauses. Denn so wurde das Diakonissenhaus Sarepta stets von Vater genannt. Er hatte den Bau vom ersten Augenblick an überwacht. Um Kosten zu sparen, hatte er aus dem nahen Lipper Land einen bewährten Ziegler kommen lassen, der mit einigen Gehilfen den Ton, der für die Fundamente ausgehoben wurde, an Ort und Stelle zu Ziegeln verarbeitete und die Ziegel gleich unterhalb [S. 163] der Baustelle in einem Feldziegelofen brannte. Auch der Plan des Hauses stammte in seinen Grundgedanken, soweit ich mich besinne, von Vater. „Es ist kein Winkel im Haus,” sagte er gelegentlich, „den ich nicht selbst nachgemessen habe.”
Wenn es möglich ist, das wahrhaft Mütterliche durch Steine und Holz in einem Bau darzustellen, so war es bei dem Bau des Mutterhauses gelungen. Schon die beiden Flügel des Hauses, die nach dem Walde zu lagen, waren wie die weit ausgebreiteten Arme einer Mutter, und wenn wir Kinder über die frei vorspringende Treppe ins Innere traten, so umwehte uns ein unbeschreiblich wohltätiges Gefühl mütterlicher Behaglichkeit. Die Gänge, die nach der schattigen Waldseite zu lagen, waren in ein trauliches Dämmerlicht gehüllt. Um die Kranken- und Schwesternzimmer aber lief den ganzen Tag vom Morgen bis zum Abend die Sonne. Und im Winter sorgten schlichte gelbe Kachelöfen, die nur des Morgens angeheizt zu werden brauchten und den ganzen Tag durchhielten, für die behaglichste Wärme.
Für alles war in diesem mütterlichen Bau Raum, für die kleinen Säuglingskinder, die die Gemeindeschwestern von den verschiedenen Stationen mitbrachten, für die größeren Kinder, kranke oder gesunde, für erwachsene Kranke, mit welcher Krankheit sie auch behaftet waren, für die jungen Schwestern, die lernten, für die erholungsbedürftigen Schwestern, die eine Zeitlang ausruhten, für die Apotheke, die Küche, die Waschküche und die Bäckerei, und für wer weiß was sonst noch.
Das Herz des Baues aber war die kleine Kapelle, die den Mittelpunkt des Hauses bildete. Hierhin nahmen die Gänge, die Treppen, die Säle ihre Richtung, und zwei Brücken, die vom Walde aus über den tiefen Talweg in den ersten Stock des Hauses führten, sorgten dafür, daß auch von auswärts jedermann zu Fuß oder im Rollstuhl mit Leichtigkeit die Kapelle erreichen konnte. Sie lief durch zwei Stockwerke, und ihre Fenster, unten und oben, gingen nicht nur nach draußen, sondern auch in die anliegenden Krankensäle, sodaß die Kranken von ihren Betten aus dem Gottesdienst beiwohnen und durch die geöffneten Fenster die Predigt hören konnten.
Die wachsende Zahl der Schwestern, der Kranken und übrigen Anstaltsbewohner brachte es mit sich, daß allmählich eine Station nach der andern aus dem Mutterhause verlegt[S. 164] wurde, bis schließlich auch die alte, liebe Kapelle einem Neubau Platz machen mußte. Aber für die ersten Anfänge einer Diakonissenarbeit wird der alte Bau von Sarepta immer vorbildlich sein.
Der Entschluß des Vaters, das Diakonissenhaus so eng wie möglich mit der jungen Anstalt für Epileptische zu verbinden, zeigte sich von großer Bedeutung für die Ausbildung der Schwestern. Denn nun ergab es sich von selbst, daß auch die jungen Schwestern schon bald in die Pflege der Epileptischen eintraten, ja, daß manche von ihnen von vornherein ihren Beruf in einem der Häuser für Epileptische begannen.
Unter allen Kranken sind aber Epileptische am schwersten zu pflegen. Die Plötzlichkeit der Anfälle und die unberechenbaren Stimmungen der Epileptischen auf der einen Seite und dazu die Geistesgegenwart und körperliche Gewandtheit, die gerade während des Ausbruches des Anfalles von seiten des Pflegers nötig sind, erfordern die größte Anspannung aller geistigen und körperlichen Kräfte. Auch die Nacht bringt keine Ruhe. Denn in jener ersten, man möchte sagen, herben Zeit war es Sitte, daß die Pflegekräfte, die den ganzen Tag über den Dienst an den Kranken getan hatten, auch des Nachts auf den Krankensälen schliefen und sich oft mehrere Male durch die Anfälle der Kranken aus dem Schlaf reißen lassen mußten.
So wurden gerade durch den Dienst an den Epileptischen die Kräfte der Aufopferung auf die höchste Probe gestellt, und die Lauterkeit der Gesinnung fand hier ihre tiefste Bewährung. Unter den Diakonissen habe ich immer gern das Gesicht einer Schwester gesucht, der von einer Kranken das Ohrläppchen abgebissen war, und die Stille und Gelassenheit, die über diesem Gesicht lag, tat in der Seele wohl.
Eine Schwester, die sich im Dienste an den Epileptischen bewährt hatte, konnte der Regel nach auf jedem andern Arbeitsplatz gebraucht werden, sei es in einer Kleinkinderschule, einer Gemeindepflege oder einem der vielen Krankenhäuser, die in rasch wachsendem Maße die Hilfe des jungen Mutterhauses begehrten. Es war damals, nach dem Kriege 1870/71, die Zeit, in welcher die rheinisch-westfälische Kohlen- und Eisenindustrie sich immer gewaltiger ausdehnte. Kleine Siedlungen wurden zu Dörfern, Dörfer zu Städten, Städte zu Großstädten; und das Mutterhaus Kaiserswerth, das bis dahin dort allein die Arbeit[S. 165] getrieben hatte, rief immer lauter die junge Tochteranstalt Sarepta zu Hilfe.
Hilferufe aber waren allezeit des Vaters Lust. Je größer das Gedränge der Hilfesuchenden wuchs, je höher stieg sein Glaube, je glühender wurde seine Liebe, je munterer eilte sein Schritt, je dringender wurde sein Wort. Hatte er des Morgens in der kleinen Sareptakapelle gepredigt, so ging es oft des Nachmittags hinaus, zu Fuß, zu Wagen oder auch mit der Eisenbahn, um in Stadt und Land für den Dienst an den Kranken, Kindern und Notleidenden zu werben.
Oft haben wir Kinder mit der Mutter zugleich ihn auf seinen Wegen begleitet. Dann saß er mit fest zugekniffenen Augen neben dem Kutscher auf dem Bock, in seinen Text vertieft. Ging es bergauf, so sprang er ab und eilte dem Wagen voraus, wir Kinder hinter ihm her. Nur die Mutter behielt das Recht, im Wagen zu bleiben. Wenn dann Vater bei der Feier das Wort ergriff, konnte man herzandringender niemand sprechen hören. Handgreiflich malte er den Heiland vor Augen, wie er in den armen blöden Kindern, den elenden epileptischen Knaben, den verstümmelten Bergmännern des Industriegebietes oder in einsame Bettler verkleidet den Dienst seiner Christenheit begehrte. So stellte sich eine Kraft nach der andern ein, die vornehme Bauerntochter und das geringe Mädchen aus dem Heuerlingshause, und auch solche, die höhere Schulen besucht hatten, mischten sich darunter. Oft kamen unmittelbar im Anschluß an eine Predigt des Vaters die Meldungen zum Dienst. Einmal waren es sieben junge Mädchen zu gleicher Zeit, die alle kamen und alle blieben.
Das Kind sieht nicht die Schatten. Sie haben gewiß auch dem jungen Mutterhause Sarepta damals nicht gefehlt. Ich aber sah nur einen Strom hilfsbereiter, sterbenswilliger mütterlicher Liebe sich aus dem Mutterhause in das Land ergießen.
Wie schnell aber kamen manche der Schwestern, die gesund aus dem Mutterhause ausgezogen waren, todkrank zurück! Namentlich solche, die sich bei einer Privatpflege am Typhus angesteckt hatten. Ohne daß wir Kinder es uns untereinander gestanden, schnitten uns die vielen und tödlichen Erkrankungen der Schwestern immer wieder ins Herz, und wir konnten es nicht verstehen, daß Vater die Schwestern nicht ernstlicher schonte. Aber er hatte längst aufgehört, den Wert des Menschenlebens[S. 166] nach der Zahl der Jahre zu berechnen. Ihm waren die kranken Tage einer Schwester noch wichtiger als die gesunden, und zu den sterbenden Schwestern ging er am liebsten mit einem Blumenstrauße in der Hand wie ein Gratulant; denn „das liebe letzte Stündlein war gekommen”.
Aber den Sieg des Sterbenden über den Tod konnte er nur darum feiern, weil er mit unermüdlicher Treue den Sieg des Lebenden über sein eigenes Leben lebte und lehrte. Regelmäßig zweimal die Woche gab er den Schwestern Stunde. Nur im äußersten Notfalle ließ er solch eine Stunde ausfallen, und ich sehe immer noch, wie er, wenn wir am Kaffeetisch oder beim Abendbrot saßen, von Zeit zu Zeit seinen Kopf zur Uhr wandte, um genau auf die Minute zur Schwesternstunde aufzubrechen. Eine eigentliche Unterrichtsstunde war es nicht. „Ich bin kein Lehrmeister”, sagte er öfter in richtiger Erkenntnis der ihm gesetzten Schranken. Darum überließ er allen übrigen Unterricht der Schwestern desto umfassender andern geschulten Kräften. Sein eigener Unterricht war im Grunde eine durch kurze Fragen und Antworten unterbrochene Erbauungsstunde, in der er in die Schrift und in das kirchliche Leben einführte und von da aus die Linien zog für die Aufgaben des Christen und die besondere Aufgabe des Schwesternberufes. Der Grundton der Stunde blieb immer das eine Thema: Seel’ und Leben, Leib und Glieder, — Alles gibst du für mich hin; — Sollt’ ich dir nicht geben wieder — Alles, was ich hab’ und bin? Ich bin deine ganz alleine, — Dir verschreib’ ich Herz und Sinn.
Den jüngeren Schwestern gab er regelmäßig von einer Stunde zur andern einige Verse eines Kirchenliedes oder auch Bibelsprüche auf. Er hörte das Gelernte ab, doch ängstete er nie, wenn es nicht gekonnt wurde, sondern ermunterte immer wieder. „Zwang”, sagte er einmal, „ohne innere Nötigung richtet Zorn an; aber Ermunterung macht fröhliche Leute.”
Etwas anders hielt er es bei den Kinderschwestern. Diesen, die in den Kleinkinderschulen rings um Bielefeld arbeiteten, gab er Freitagnachmittags eine besondere Stunde. Nach einem bestimmten Lehrplan wurde in den Kinderschulen die Woche über eine Geschichte des Alten oder Neuen Testamentes behandelt, und diese Geschichte wurde in der Freitagsstunde von Vater mit seinen Schwestern durchgenommen. Hier hielt er darauf, daß die Schwestern die Geschichte auswendig wußten. So wie[S. 167] sie da stand, in ihrer ursprünglichen Kraft und Frische, sollte sie zunächst auch den Kindern erzählt werden, und erst dann erlaubte er, die einzelnen Teile der Geschichte auszumalen und Zug um Zug dem kindlichen Gemüt und Verständnis nahezubringen.
Alle vier Wochen hielt er am Sonntagnachmittag den Schwestern einen besonderen Schwesterntag, zu dem außer unserer Mutter niemand zugelassen wurde. Und den Schwestern auf den auswärtigen Stationen schrieb er zu diesem Tage einen Brief. Auf diesen Brief, der vervielfältigt und jeder einzelnen Schwester zugeschickt wurde, bereitete er sich immer mit besonderer Sorgfalt vor. Durch drei oder vier Fragen wurde jeder Brief eingeleitet. Die Antwort auf diese Fragen sollte jede Schwester selbständig aus der Schrift, dem Gesangbuch und der eigenen Erfahrung suchen. Dabei wünschte Vater, daß jede Schwester diese Fragen in einem vertraulichen Brief beantwortete.
Seelsorgerliche Briefe an einzelne Schwestern schrieb er selten oder nie. Aber er besuchte die Schwestern, sooft er nur konnte. Dabei galt der Besuch nicht nur den Schwestern, sondern immer zugleich auch den Kranken, an denen die Schwestern arbeiteten.
Die Stationen des Mutterhauses waren allmählich in die Weite gewachsen. In der großen Krankenanstalt von Bremen, in der Universitätsklinik und in der Charité von Berlin, in dem deutschen Hospital von London, in Paris und Metz, in Frankfurt, in Nizza, in Davos standen die Schwestern in der Arbeit, dazu vor allem an vielen kleinen und großen Arbeitsplätzen der westfälischen Heimat. Kam er auf eine Station, so galt sein erster Weg immer den Elendesten und Sterbenden. Sie zu erquicken und aufzurichten, war ja zugleich die wesentlichste Hilfe, die er den Schwestern in ihrem oft mühsamen Dienst bringen konnte.
In der Charité von Berlin hatten die Schwestern die Station der Kranken, die das Straßen- und Nachtleben an Leib und Seele verdorben hatte. Unvergleichlich, unvergeßlich waren der Ernst, die Milde und die suchende Liebe, womit er zu diesen Kranken sprach, teils zu den einzelnen, teils auch zu dem ganzen Saale. Daraus gewannen dann zugleich auch die Schwestern neue Kraft und Freudigkeit für ihren sauren Dienst.
Waren die Kranken besucht, so versammelte er den Schwesternkreis. „Habt ihr Frieden untereinander?” lautete immer wieder seine Frage, auf die er keine Antwort erwartete, die er aber desto ernster auf die Gewissen legte. Dann sprach er die einzelnen.
Ganz einsam stehende Schwestern, die nur unter großem Aufwand von Zeit zu erreichen waren, bestellte er mit einer Postkarte auf irgend eine Station der Bahnstrecke, nahm sie ein Stück Weges im Zuge mit und ließ sie dann auf ihren Posten zurückkehren. Unserer Mutter schrieb er von solchen Reisen immer kurze Grüße, ließ sie auch nie vergeblich warten. Konnte er es nicht anders einrichten, als nachts nach Hause zu kommen, dann telegraphierte er: „Schlüssel heraus”. So wußte die Mutter: „Er kommt”, und legte den Hausschlüssel an eine verabredete Stelle vor dem Fenster. Am Morgen aber durften wir Kinder seine kleine schwarze lederne Reisetasche auspacken, in der regelmäßig für jedes von uns ein kleines Mitbringsel steckte, das selten mehr als einen Groschen kostete, aber darum doch jedesmal die größte Freude erweckte.
Für alle Häuser, in denen Schwestern arbeiteten, erwartete er von den Vorständen zweierlei: einmal, daß von den Kranken nicht Karten gespielt wurde, und dann, daß die Schwestern die Freiheit hatten, in den Sälen der Kranken und auch an den einzelnen Krankenbetten eine kurze Andacht zu halten. Den Schwestern im Londoner Hospital, in welchem Protestanten, Katholiken und Juden durcheinander lagen, stellte er ein besonderes Andachtsbuch zusammen, für alle drei Glaubensrichtungen passend.
Freie Ansprachen der Schwestern und freie Gebete erwartete er nicht. Er widersprach und widerriet dem im einzelnen Falle nicht, aber die keusche Zurückhaltung der Frau auf diesem Gebiet war ihm lieb.
Selten kam es vor, daß er Schwestern des Mutterhauses ihren Vorständen gegenüber in Schutz nehmen mußte. War es dennoch nötig, dann tat er es mit der ganzen Ritterlichkeit seines Wesens. Mit einer hochgestellten Dame, die ein kleines[S. 169] Pflegehaus unterhielt, es aber an der körperlichen Versorgung der Kranken und der Schwestern mangeln ließ, brach er nach einigen vergeblichen Verhandlungen vollständig und ließ ihre Briefe unbeantwortet. Die Schwestern, die unter Professor von Bergmann in der Berliner Universitätsklinik arbeiteten, zog er zurück, weil ihm die natürlichen Empfindungen der Schwestern während mancher der öffentlichen Operationen in Gegenwart der Studenten nicht genügend geschützt schienen. Die Trennung von dem von ihm hochverehrten Professor von Bergmann war ihm tief schmerzlich, aber er blieb fest. Die Vorwürfe, die von dem leitenden Arzt einer großen Krankenanstalt öffentlich gegen die Schwestern erhoben worden waren, entkräftete er bis zu ihrem letzten Austrag, der in die Entlassung des Arztes auslief.
Im allgemeinen aber erwartete er von den Schwestern, daß sie sich auch in schwierige und schwierigste Verhältnisse geduldig schickten; wie er denn auch umgekehrt erwartete, daß man mit den Schwachheiten, Schranken und Fehlern der Schwestern Geduld habe. Dabei blieb es nicht aus, daß er das gleiche Maß von Geduld, das er selbst an einzelne Schwestern gewandt hatte, auch von andern erwartete. Aber was er tragen konnte, konnten doch keineswegs immer auch andere tragen. Hier hat er bisweilen dem Kreise der Schwestern, die eine ungeeignete Mitarbeiterin in ihrer Mitte hatten, fast zu schwere Lasten aufgelegt dadurch, daß er immer wieder die Ablösung eines solchen störenden Elementes hinausschob. Wurde er aber belehrt und überzeugt, dann griff er streng durch. Das tat er namentlich auch in den Fällen, wo er das innerste Leben einer Schwester an dem Platz, wo sie stand, gefährdet glaubte. Dann mochte der betreffende Vorstand, der unter Umständen mit der Schwester, um die es sich handelte, in höchstem Maße zufrieden war, alle Mittel anwenden, die Schwester zu halten, — Vater blieb unerbittlich. Er löste sie ab.
Der Mittwoch wurde schon frühzeitig für uns Kinder ein besonderer Festtag. Denn da war am Nachmittag eine sogenannte „Lehrprobe”, die bald in dieser, bald in jener Kleinkinderschule in und um Bielefeld von Vater gehalten wurde und zu der er uns bisweilen mitnahm. Dann waren alle Kleinkinderschul-Schwestern und ihre Gehilfinnen versammelt. Die Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren saßen auf ihren Bänkchen, die kleinsten vornan, und nun pflegte Vater[S. 170] eins der Kleinen an die Hand zu nehmen, damit es sich unter der Schar der Kinderschwestern eine aussuchte, die die biblische Geschichte erzählen sollte. Alles Sträuben half dann nichts; die von dem Kinde Gewählte mußte heran und die Geschichte, die am Freitag vorher in der Vorbereitungsstunde durchgesprochen war, behandeln. So gelang es, daß alle Teilnehmerinnen gleichmäßig für die Lehrprobe vorbereitet waren und alle an dem Verlauf das gleiche Interesse hatten.
Hernach kam dann die Besprechung eines Bildes an die Reihe, das ebenfalls vorher allen Teilnehmerinnen bekannt gegeben worden war und das alle studiert hatten. Wieder war es ein Kind, das an der Hand des Vaters die Auswahl unter den Schwestern traf. Zuletzt kam das gemeinsame Spiel. Vater, der schon vorher beim Erzählen immer durch ganz kindliche Fragen und Antworten bald den Kindern, bald der erzählenden Schwester weitergeholfen hatte, war jetzt beim Spiel vollends ein Kind unter den Kindern. Wenn die Riesenschlange gemacht wurde, dann ging er mit in der Reihe, das Kind, das vor ihm marschierte, an seinem Schürzchen haltend, während das Kind hinter ihm ihn an seinem Rockschoß gefaßt hatte. Und es war gar nichts Gemachtes dabei, sondern es war, als wenn es sich ganz von selbst so verstünde.
Das Wertvollste dieser Lehrproben bestand, wenn die Kinder nach Hause geeilt waren, in der Kritik, die in großer Gemütlichkeit beim festlich gedeckten Kaffeetisch abgehalten wurde. Diese Kritik spielte sich in der Weise ab, daß Vater alle Teilnehmerinnen nach ihrem Urteil fragte, erst die jüngeren, dann die älteren. So wurde jede verantwortlich gemacht für die andern. Erst am Schluß faßte er das Ganze zusammen. Die, die es am schlechtesten gemacht hatten und am meisten Ermutigung bedurften, kamen oft am besten weg, und andere, die in Gefahr standen, sich etwas auf ihre Leistung zugute zu tun, senkten die Köpfe.
Noch lieber als die Mittwochnachmittage waren uns die Mittwochabende. Da war Familienabend. Was irgend von Schwestern abkommen konnte, versammelte sich am gemütlich gedeckten und geschmückten Abendbrottisch im Schwesternspeisesaal des Mutterhauses. Im Unterschied von der sonst klösterlich einfachen Kost gab es an diesem Abend nicht nur Graubrot und Schwarzbrot, sondern auch Weißbrot mit Butter und[S. 171] Schinken, Käse und Wurst. Und wir Kinder genossen diesen festlichen Tisch in vollen Zügen. Denn zu Hause ging es bei dem äußerst geringen Gehalt des Vaters sehr sparsam zu.
Vater erzählte an diesem Abend aus Vergangenheit und Gegenwart, aus eigenen und fremden Erlebnissen, oder er las auch vor; in jener Anfangszeit am liebsten aus Christophorus von Rocholl, aus Matthias Claudius oder aus der Liedersammlung von Wackernagel. Sobald wir Kinder einigermaßen die Kunst des Lesens erfaßt hatten, mußten wir dem Vater beim Vorlesen helfen. Allmählich wurde es Brauch, daß alles, was an Gästen in den Anstalten verkehrte, zu diesem Familienabend eingeladen wurde, und wer irgend etwas zu erzählen und zu berichten hatte, durfte sein Pfund nicht im Schweißtuch behalten. So weitete sich der Gesichtskreis des Mutterhauses, und der Strom des Weltgeschehens, der sonst so leicht an Anstaltshäusern vorbeirauscht, bespülte seine Ufer.
Einen Höhepunkt erreichte das Leben des Mutterhauses immer in den vierzehn Tagen, die der Einsegnung der Schwestern vorangingen. Es waren regelmäßig die Tage zwischen Palmsonntag und Quasimodogeniti, die Zeit, wo ringsum in den Buchenwäldern die Leberblümchen und Anemonen den Frühling anmeldeten. Dann sah man jeden Nachmittag die Schar der Schwestern, welche drei oder vier Jahre lang ihren Entschluß geprüft hatten und nun bewährt und bereit waren, den Dienst einer Diakonisse als Lebensberuf zu erwählen, mit dem Vater durch das Frühlingsland wandern. Auf diesen Wanderungen nahm er dann Gelegenheit, jede Schwester an der Hand ihrer Familienverhältnisse und ihres Lebensganges kennen zu lernen und zu beraten. Mancher Schwester sind diese stillen Wege wichtiger und wertvoller geblieben als die feierliche Einsegnung selbst vor der sich drängenden Gemeinde.
Und diese Einsegnung zum Dienst blieb keine einmalige, sondern wiederholte sich jedesmal, wenn eine Schwester das Mutterhaus verließ, um auswärts eine Arbeit zu übernehmen oder um auf den alten Arbeitsplatz zurückzukehren. Dann kam sie regelmäßig zum Abschiednehmen bei Vater vor. Neben seinem Arbeitszimmer hatte Vater ein Dachkämmerchen, in welchem die Mutter ihre Vorräte aufbewahrte, dessen eine Wand aber freigelassen und mit einem großen, aus Holz geschnitzten Kruzifix geschmückt war. Darunter stand ein kleiner[S. 172] Tisch. Es waren immer nur ganz wenige Minuten, die Vater dort den einzelnen Schwestern widmete. Was er sagte und fragte, ist naturgemäß in den meisten Fällen Geheimnis geblieben. Aber höchst schlicht und natürlich ging es allemal zu. Vielfach sagte er auch gar nichts, sondern warf sich vor dem kleinen Tisch unter dem Kruzifix auf die Knie, und während die Schwester an der andern Seite kniete, befahl er sie und sich selbst der vergebenden und gebenden Gnade dessen, in dessen Dienst sie beide standen. Und in seiner harmlosen Art vergaß er oft, die Doppeltür, die in das Kämmerchen führte, zu schließen, sodaß, wer von uns nebenan zu tun hatte, es nicht immer wehren konnte, daß die Worte des Gebetes auch zu ihm drangen. Tränen in den Augen und doch strahlenden Antlitzes haben wir manche Schwester aus dem Zimmer kommen und ihren Weg in die entsagungsvolle Arbeit antreten sehen.
Nicht immer hatte Vater in dem großen Gedränge seiner Arbeit für die einzelne Schwester viel Zeit; und manche hat, bewußt oder unbewußt, darunter gelitten. Aber wie er es bei seinen Kindern hielt, so hielt er es auch bei den Schwestern: er betete. Wo ihm selbst die Zeit und Kraft für die einzelnen fehlte, da befahl er sie betend desto inniger und zuversichtlicher dem segnenden Herrn. Und diese Gebete sind erhört worden. Als er eine Diakonisse begraben hatte, die einzige Tochter eines großen Bauernhofes, sagte ihre Mutter, während sie am Grabe stand: „Herr Pastor, und wenn ich sieben Töchter hätte, ich gäbe sie Ihnen alle; denn mein Kind ist zu glücklich gewesen.” Von wie vielen Diakonissen konnte dasselbe gesagt werden! Sie waren in der Tat unter dem Segen ihres Herrn zu glückseligen Menschen geworden.
Unter allen Kranken leidet der Epileptische am schwersten. Sobald die plötzlich auftretenden Anfälle zunehmen oder bekannt werden, wird er gemieden. Das epileptische Kind muß die Schule verlassen, der epileptische Erwachsene verliert seine Arbeit und seinen Beruf. Aus Furcht, aufzufallen oder zu stören, meidet er ganz von selbst alle öffentlichen Versammlungen, auch die Gottesdienste, oft sogar den eigenen Familienkreis. Kann der Arzt nicht helfen, so treibt ihn die Qual seiner Lage[S. 173] von einem Ratgeber zum anderen, von der ersten vergeblichen Kur zur zweiten, dritten, vierten.
Nur scheinbar ist der Zustand eines Blödsinnigen trauriger als der des Epileptischen. Der Blödsinnige empfindet seine Lage kaum; seine Stimmung ist gleichmäßig, oft sogar heiter. Die Leiden des Geisteskranken dagegen sind wohl in manchen Fällen gesteigerter als die des Epileptischen, aber sie sind vorübergehend: entweder tritt verhältnismäßig bald Besserung und Heilung ein, oder aber es löst der Tod auf der einen, der sich anbahnende Blödsinn auf der anderen Seite das Leiden ab.
Der Epileptische dagegen sieht, wenn eine Kur nach der anderen fehlgeschlagen ist, mit wachen Sinnen und mit tätigen körperlichen und seelischen Kräften ein Leben der Hoffnungslosigkeit, der Verlassenheit, des Ausgestoßenseins vor sich. In vielen Fällen brechen die Anfälle nur langsam, oft erst nach Jahren, ja, Jahrzehnten den körperlichen und seelischen Widerstand des Organismus. Und solange dieser Widerstand dauert, so lange dauert auch das Leiden, sodaß der Tod oder die Verblödung, je früher sie eintreten, die großen Befreier von einem Leben der Qual sind.
Bis in die 60 er Jahre des 19. Jahrhunderts lag in Deutschland von kleinen Anfängen abgesehen (1773 wurde ein erstes Asyl in Würzburg eröffnet), die Fürsorge für die Epileptischen noch fast ganz im argen. Soweit sich ihr Elend nicht in der eigenen Familie verbarg, waren sie zumeist in den Anstalten für Blödsinnige oder Geisteskranke untergebracht. Aber nur im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit empfindet ein Epileptischer, der unter Blöden oder Geisteskranken lebt, seine Lage nicht mehr. In den frischeren Fällen zeigt ihm der Zustand der Blödsinnigen, unter denen er lebt, den Abgrund, dem auch sein Dasein entgegenrollt. Andrerseits läßt der Zustand des Geisteskranken, sobald er den Wendepunkt überschritten und den Weg zur Genesung gefunden hat, den Epileptischen die Höhe sehen, die für ihn unerreichbar ist: der Geisteskranke kehrt in seine früheren Verhältnisse zurück; der Epileptische bleibt Jahr um Jahr an die Anstalt gebannt.
In Süddeutschland wurde die erste besondere Anstalt für die unglücklichen Kranken 1862 in Pfingstweide (Württemberg) gegründet. In Norddeutschland hatten sich die Augen der Freunde der Epileptischen auf eine kleine Anstalt gerichtet, die[S. 174] durch den evangelischen Pastor John Bost in der Nähe der kleinen französischen Stadt La Force entstanden war und ausschließlich den Epileptischen diente. Die von dort kommenden Anregungen brachten den Verein für Innere Mission in Rheinland und Westfalen zu dem Entschlusse, getrennt von den Anstalten für Geisteskranke und Blödsinnige eine lediglich für Epileptische bestimmte Anstalt ins Leben zu rufen. Der junge Reisesekretär des Vereins für Innere Mission, Hesekiel, der später als Generalsuperintendent der große Wohltäter der Provinz Posen wurde, war unermüdlich tätig, diesem Gedanken Freunde zu gewinnen. Da neben den Anstalten in Kaiserswerth das Rheinland noch eine weitere Anzahl von Stätten christlicher Barmherzigkeit besaß, so wünschte man, daß die neue Anstalt womöglich in Westfalen ihre Heimat fände.
Nun war der Rheydter Pastor Balke, ein Ravensberger von Geburt, durch seine Arbeit als Seelsorger an der Blödenanstalt Hephata in München-Gladbach in besonderer Weise mit dem Lose der epileptischen Kranken vertraut geworden. Denn wie in anderen Anstalten waren auch unter die Blödsinnigen der Anstalt Hephata epileptische Kranke gemischt. Für diese Epileptischen erhob nun Balke seine Stimme.
Land und Stadt in Minden-Ravensberg waren auf seinen Ruf nicht unvorbereitet. Überall, bald in kleineren, bald in größeren Herden, brannte das Feuer einer zur Tat bereiten Liebe. In Bielefeld waren es vor allem einige Frauen aus den ersten alten Patrizierfamilien der Stadt, die mit wachem Gewissen und geöffnetem Herzen sich in den Dienst Gottes gestellt hatten. Durch sie waren auch ihre Männer und Verwandten gewonnen worden. Die Funken eines Vortrages, den Pastor Balke aus Rheydt im Jahre 1865 hielt, sprangen nach Bielefeld über. Das kurze Kriegsgewitter von 1866 dämmte wohl das Feuer eine Weile ein, brachte es aber nicht zum Erlöschen. Vielmehr zogen wirklich im Jahre 1867 die ersten sieben epileptischen Kranken in dem kleinen Bauernhofe ein, der am Fuße der Sparenburg erworben war. Der westfälische Generalsuperintendent D. Wißmann hielt die Einweihungsrede der jungen Anstalt an der Hand des Wortes: „Aus dem Kleinsten sollen tausend werden und aus dem Geringsten ein mächtig Volk. Ich, der Herr, will solches zu seiner Zeit eilend ausrichten.” Jes. 60, 22. Mit den sieben Erstlingen beugte er seine[S. 175] Knie vor Gott, um den Segen für die junge Pflanzstätte zu erflehen.
Zwei Jahre später kam, wie bereits erwähnt, die Schwesteranstalt Sarepta hinzu. Beide standen unter demselben Präses, dem Kaufmann Bansi in Bielefeld, und unter dem gleichen Vorsteher, dem Pastor Simon. Als nach den ersten vier Jahren allmählich wachsender Aufgaben Pastor Simon sich vor die Wahl gestellt sah, sich entweder auf seine ausgedehnte Bielefelder Tätigkeit zu beschränken und dann auf die Leitung der Anstalt zu verzichten oder umgekehrt, entschied er sich dahin, dem Vorstand die Wahl eines neuen Vorstehers zu empfehlen.
Nun war Vater ja längst in Bielefeld kein Unbekannter mehr. Namentlich von Paris war er wiederholt in Bielefeld eingekehrt und hatte in dem Bansischen Hause Aufnahme gefunden. So war es Gottfried Bansi, der den Blick des Vorstandes auf den Dellwiger Pastor richtete. Mit Pastor Simon zugleich machte er sich persönlich nach Dellwig auf, um die Berufung des Vorstandes zu überbringen. Vater reiste nach Bielefeld, um alles an Ort und Stelle zu besprechen. Nach Dellwig zurückgekehrt, setzte er selbst die Richtlinien auf, unter welchen er bereit war, die Arbeit zu übernehmen, und als diese vom Vorstand bewilligt waren, sagte er zu. Damit war er der Vorsteher der Diakonissen und Epileptischen geworden.
Und nun sehe ich Vater in der Erinnerung unter seinen Epileptischen stehen. Als ein Hoffender stand er unter ihnen, den Hoffnungslosen. Durch seine persönlichen Erfahrungen war er ja dazu vorbereitet.
Über dem Bett der Eltern hingen die Bilder unserer vier verstorbenen Geschwister. Sie umrahmten eine kleine Heliogravüre von Mintrop. Diese stellte eine Frauengestalt dar, die von den himmlischen Heerscharen der Himmelstür entgegengeleitet wird. An der geöffneten Tür kommen mit Palmen in den Händen vier Kindergestalten der Mutter entgegen, um sie vor den Thron Gottes zu führen. Das waren unsere vier Geschwister, die erst die Mutter, dann den Vater abholten.
Über dem großen Schmerz, der die Herzen unserer Eltern getroffen hatte, als ihnen alle vier Kinder genommen wurden, waren sie stille geworden durch den Glauben an den auferstandenen Herrn, der auch für sie die Stätte bereitet hatte, da man zusammenkommen soll. Hinfort lebten sie vor den Toren der[S. 176] hochgebauten Stadt. „Ganz dicht vor den Toren Jerusalems”, wie oft haben wir Vater das sagen hören! Die Hoffnung für diese Zeit hatte den Eltern durch das Sterben aller ihrer Kinder genommen werden müssen, damit sie den Anker ihrer Hoffnung fest hineinsenkten in die ewige Welt Gottes. So waren sie vorbereitet für die Arbeit unter den Hoffnungslosen.
Man mag den Nachlaß des Vaters in seinen Briefen und Ansprachen oder das Buch der Erinnerung an ihn aufschlagen, wo man will, überall findet man seine Seele gestimmt auf den gleichen Ton der Hoffnung: „Die Leiden dieser Zeit sind nicht wert der Herrlichkeit, die an uns soll geoffenbart werden.” Darum jammerte ihn wohl das Los der Epileptischen, aber er bejammerte sie nicht. Körperliche Krankheit und körperliche Gesundheit hatten für ihn die große Entfernung voneinander und die große Bedeutung verloren, die ihnen sonst so gern beigelegt wird. Vielmehr galt ihm der körperlich Gesunde für krank, wenn sein Blick haften geblieben war an den armen vergänglichen Dingen dieser Erde; der körperlich Kranke galt ihm für gesund, sobald er durch den Glauben den Zugang gefunden zu der ewigen Hoffnung. Darum konnte er mit glühendster Überzeugung einen armen verblödeten Epileptischen, der mit seliger Hoffnung dem Abschied aus der Welt entgegeneilte, glücklich preisen gegenüber dem andern, der mit gesunder Körperkraft ohne Ziel und Zweck ins Leben hinausstürmte.
An der Ecke von Sarepta und beim Eingang in das Haus der Epileptischen, Bethel, befand sich in jener Anfangszeit je eine schlichte Gaslaterne. Unter der zweiten dieser beiden Laternen sehe ich immer noch einen epileptischen Kranken stehen, namens Heinrich Hudel, der unter der Laterne seinen Standplatz hatte. Er sagte nichts, aber auf seiner Mundharmonika spielte er immer das eine Lied, das ihm zum Lieblingslied geworden war: Weil ich Jesu Schäflein bin, — Freu’ ich mich nur immerhin — Über meinen guten Hirten, — Der mich wohl weiß zu bewirten, — Der mich liebet, der mich kennt — Und bei meinem Namen nennt. — — Unter seinem sanften Stab — Geh’ ich aus und ein und hab’ — Unaussprechlich süße Weide, — Daß ich keinen Mangel leide. — Und so oft ich durstig bin, — Führt er mich zum Brunnquell hin. — — Sollt’ ich nun nicht fröhlich sein, — Ich beglücktes Schäfelein? — Denn nach diesen [S. 177] schönen Tagen — Werd’ ich endlich heimgetragen — In des Hirten Arm und Schoß. — Amen! Ja, mein Glück ist groß!
Das war, in die kindlichste Form gebracht, die Summe der Theologie, in der Vater lebte und die er darum auch seinen Kranken brachte. Jedes Jahr einmal kam Heinrich Hudels Mutter aus den Nassauischen Bergen. Er war ihr einziger Sohn und sie selbst eine Witwe. Aber das Glück, das in dem Herzen ihres kranken Heinrich lebte, strahlte von dem Angesicht der Mutter wider. Als endlich der letzte Kampf gekämpft war und Vater Heinrich Hudels Mutter an der Leiche ihres Sohnes traf, da „wußte ich nicht,” — so hat er uns oft erzählt — „was glücklicher aussah, das Angesicht des Heinrich oder das Angesicht der Mutter.”
Die Grabhügel und schlichten Kreuze der Epileptischen aus den ersten Jahren, die sich oben auf dem stillen Waldfriedhof Reihe an Reihe legten, sind mit den Jahren verschwunden und haben dem grünen Rasen und dem Schatten der Lebensbäume Platz gemacht. Aber der Hügel und das Kreuz Heinrich Hudels sind noch heute zu finden mit dem Vers darauf, den er nicht müde wurde zu spielen. Er ist, man möchte sagen, der Vorsänger und Kapellmeister der Epileptischen von Bethel geworden, und das Kreuz auf seinem Grabe mit der Inschrift darauf wurde zur Losung und zum Feldgeschrei aller seiner Leidensgenossen.
Im Gegensatz zu Heinrich Hudel taucht eine andere Gestalt aus jenen Tagen auf. Es war ein Landwirtssohn, der erst im beginnenden Mannesalter epileptisch geworden war. Er war ein Hüne von Gestalt, und seine Anfälle waren so heftig, daß er mit Riemen an Händen und Füßen gefesselt werden mußte, weil die Pfleger sonst nicht verhindern konnten, daß der in wilden Zuckungen sich windende Körper sich selbst und andern Schaden tat. Aber wie es bei solchen frischen Fällen bisweilen vorkommt: die Krankheit tobte sich aus, der Kranke genas und konnte entlassen werden. Am Körper war er gesund geworden; aber seiner Seele hatte die furchtbare Krankheitszeit des Körpers nicht zur Gesundheit geholfen.
Solch einen Gesundgewordenen sah Vater nur mit Schmerzen den Weg ins Leben zurücknehmen. Sein Weg glich dem Wege, an welchem auf allen Seiten der Tod lauert, während umgekehrt die Leichenfeier eines Epileptischen, der im Glauben [S. 178] vollendet hatte, zur Lebensfeier, der Leichenzug zu einem Triumphzug wurde. Am liebsten ließ Vater bei solcher Gelegenheit ein Loblied singen, und Lob und Dank war der Inhalt seiner Leichenrede. Dem Leichenzug voran aber zog der Posaunenchor. In leuchtendem Weiß strahlte der blumengeschmückte Sarg, den die Mitkranken trugen. Wir Kinder standen mit um das geöffnete Grab her, und für Kranke und Gesunde wurde der Schauer des Todes überflutet von dem seligen Rauschen der Ewigkeit.
Aber diese hohe Hoffnung des Glaubens wurzelte in der Tiefe. Nicht nur als ein Hoffender unter Hoffnungslosen stand Vater unter den Epileptischen, sondern als Schuldiger unter Schuldigen. Wir haben ihn oft sagen hören: „Ich täte meinen Kranken das größte Unrecht, wenn ich ihnen die Verantwortung nähme und alles bei ihnen entschuldigen wollte.” Alle die Stimmungen, Launen und Leidenschaften, denen ein Epileptischer mehr als andere Kranke ausgesetzt ist, erklärte und entschuldigte Vater nicht aus ihrer Krankheit heraus. Vielmehr war die Krankheit mit ihren Erschütterungen für ihn nur wie das Erdbeben, das das im Innern des Vulkans schlummernde Feuer weckt und zum Ausbruch bringt. Jedes Menschenherz, einerlei ob im kranken oder gesunden Leib wohnend, glich ihm dem Vulkan; und erst die Krankheit mit ihren erdbebenartigen Erschütterungen öffnete, was sonst im Innern verborgen geblieben wäre. Nicht für das Erdbeben, aber für dies Innere machte Vater den Kranken verantwortlich. Und eben darum wurde er zum Wohltäter für die Kranken. Denn gerade so gab er ihnen die volle Menschenwürde. „Nichts ist feiger als die Entschuldigung, nichts größer als das Zugeben der Schuld.”
Aus falscher Barmherzigkeit hatten Eltern, Verwandte, Pfleger und die Kranken selbst alle Eigentümlichkeiten der Epileptischen aus ihrer Krankheit heraus erklärt und entschuldigt, ohne zu bedenken, daß sie dadurch nur desto haltloser ihren Stimmungen, Launen und Leidenschaften ausgeliefert wurden. Vater aber erhob die Kranken zum vollen Adel des Menschentums dadurch, daß er ihnen half, sich für ihre Gedanken, Stimmungen und Taten vor Gott und Menschen verantwortlich zu wissen. Und ihre Krankheit zeigte er ihnen nicht als ihren Feind, sondern als ihren Wohltäter, weil sie gerade[S. 179] durch ihre Krankheit das eigentliche Wesen ihres Herzens erkannt hatten, das ihnen ohne die Krankheit verborgen geblieben sein würde.
So wurde gegenüber dem früheren dumpfen Zustand der weichlichen Entschuldigung das Verantwortungsgefühl zum erfrischenden Morgenwind, das Schuldbewußtsein zur Kraft, die Reue zur Freude und die Krankheit zum Gehilfen der Wahrheit. Noch heute kann man kaum etwas Ergreifenderes hören als das lautgesprochene Sündenbekenntnis der Epileptischen, das sich seit jenen Anfangstagen bis heute in jedem Gottesdienst wiederholt. Während draußen in der Welt die Starken und Gesunden immer schwächer und morscher werden, weil sie die Verantwortung über sich selbst weggeworfen und die Zügel ihres Geschickes aus der Hand verloren haben, steht hier eine Schar von Ausgestoßenen und Kranken, unter denen sich immer wieder solche finden, die die Höhe des sittlichen Urteils über sich selbst erklommen und damit die Kraft gewonnen haben, gegen den Strom zu schwimmen.
Darum spielten auch meine Geschwister und ich mit den epileptischen Altersgenossen lieber als mit unsern gleichaltrigen gesunden Spielkameraden. Denn unwillkürlich fühlten wir, daß viele unter diesen epileptischen Kindern auf einer größeren sittlichen Höhe standen als gesunde Kinder im gleichen Alter. Es befand sich unter ihnen ja immer eine große Anzahl von solchen, bei denen die körperlichen und geistigen Kräfte noch nicht wesentlich gemindert waren, und wir teilten ihre Spiele und ihre Arbeit in großer Unbefangenheit. Manche von ihnen waren uns beim Spiel und bei der körperlichen Arbeit durchaus ebenbürtige Gefährten. Und während der Verkehr mit den gesunden Kameraden der städtischen Schulen dunkle Schatten über unsere Kinderzeit zu werfen drohte, so waren wir im Kreise unserer epileptischen Altersgenossen davor bewahrt und zogen uns zeitweise ganz in diesen Kreis zurück.
Diese Höhe des sittlichen Standes aber und die Kraft des sittlichen Urteils wurde bei den Epileptischen nicht erreicht durch irgend welche Moralpredigt. Es war vielmehr das allgemein menschliche Mittel: Jesus Christus, der mit seinem Leben, Leiden und Sterben und seiner Auferstehungskraft vor die Augen gemalt und in die Herzen hineingepflanzt wurde. Und das geschah von einem, der lebte, was er glaubte. Die tiefe,[S. 180] wahre Demut, in der Vater vor Gott stand, und das offene Bekenntnis seiner Sünderschaft vor Kranken und Gesunden ist mir als Kind oft nicht nur unverständlich, sondern geradezu ärgerlich gewesen. Sahen wir Kinder doch an unserm Vater nichts als Hingabe, Liebe, Aufopferung und eine unermüdliche Geduld. Die epileptischen Kranken aber, die vielfach gerade durch ihre Krankheit eine leichtere Erkenntnis ihres eigenen Herzens hatten, fühlten sich durch die Ehrlichkeit und Überzeugung, mit der sich Vater unter die Schuld stellte, vor das Angesicht der Wahrheit geführt und dadurch bewogen, nun auch ihrerseits mit der Wahrheit, die ihnen aus ihrer Krankheit heraus und aus dem Bilde Jesu Christi aufgegangen war, Ernst zu machen.
Aber mit derselben Energie, mit der Vater vor den Augen und den Gewissen seiner Kranken jedes Vertrauen auf sein eigenes Herz fortwarf, ergriff er nun auch unablässig die Gnade Gottes in dem vollkommenen Werke und der vollkommenen Person Jesu Christi. Er lebte in dem Lieblingslied seiner Mutter: Einmal ist die Schuld entrichtet, — Und das gilt auf immerhin. — Mosis Opfer stehn vernichtet, — Weil ich nun vollendet bin. — Denn mit einer Opfergabe — Hat das Lamm so viel getan, — Daß das Volk von seiner Habe — Sich vollendet nennen kann.
So wurde er zum Führer eines Volkes, das für Fernstehende lediglich ein Volk von Elenden, Bemitleidenswerten, Hoffnungslosen und Sterbenden war, das aber in Wahrheit eine vollendete Schar war, die durch die Verurteilung ihrer selbst auf der einen Seite, durch den Glauben an den Christus der Welt auf der andern Seite die eigentliche Höhe und Vollkommenheit des Menschentums erklommen hatte. „Hier sitzen”, sagte Vater einmal von den Epileptischen, „die Professoren auf ihren Lehrstühlen und bringen uns deutlich bei, was Evangelium und was Gotteskraft zur Seligkeit ist.”
Natürlich gab es innerhalb dieser Schar die größten Unterschiede und die verschiedensten Grade. Aber beides, Sünderschaft und Gotteskraft, blieb durch alle Unterschiede und Grade das Gemeinsame. Und je gründlicher einer auf diesem Boden unter sich wurzelte und über sich Frucht trug, je mehr kam es dem Ganzen zugute. Grundsatz aber blieb es, daß nicht durch Zwang oder Gewalt, nicht durch Moralpredigten und Kopfwaschen [S. 181] für dieses Heer der Sünder und Begnadeten geworben wurde, sondern durch den freien Geist der Liebe und des Glaubens.
Es war unter den Kranken jener ersten Zeit ein reicher Bauernsohn, der durch seine Aufgeblasenheit und Hoffart sich selbst, seinen Mitkranken und seinen Pflegern zur Plage war. Einer seiner Pfleger hatte sich allmählich erlaubt, hart gegen hart zu setzen. Das endete damit, daß er eines guten Tages von jenem Kranken verprügelt wurde. Entrüstet eilte er zum Vater. Der sagte nur: „Brüderchen, die Prügel hast du schon lange verdient.” Wie aber behandelte Vater seinerseits diesen in der Tat höchst schwierigen Kranken? Er hatte bei ihm eine Freude an Blumen entdeckt und ermunterte ihn, die schönsten Sträuße für seine Mitkranken zu suchen. Für jeden Sonntagmorgen aber erbat sich Vater von ihm einen Strauß für unsere Mutter. Ich sehe den Kranken noch immer glückstrahlend jeden Sonntagmorgen vor unserm Fenster erscheinen und unserer Mutter den neuen Strauß reichen. So gewannen Vater und Mutter sein Herz. Von beiden ließ er sich alles sagen und sich Schritt für Schritt auf den Weg leiten, der auch für ihn die Befreiung bedeutete.
So wurde die Gemeinde der Epileptischen zu einer Gemeinde der Hoffenden, der Büßenden, der Glaubenden, der Liebenden und — das muß zuletzt noch gesagt werden — der Arbeitenden. Arbeitslosigkeit gehört ja zu den besonderen Leiden der Epileptischen. Ausgestoßen aus Beruf und Werkstatt müssen ihre seelischen und körperlichen Kräfte allmählich abstumpfen und absterben. Die Rückkehr zur Arbeit aber bedeutet für sie neue Lebensfreude und Lebensfrische. Darum wurde die Anstalt für Epileptische von vornherein auf dem Grundsatz der Arbeit aufgebaut. Haus, Garten, Feld und Wald boten vom ersten Entstehen an den Kranken mannigfache Gelegenheit zur Beschäftigung. Als Vater die Leitung übernahm, waren auch schon die ersten Handwerksstätten im Entstehen begriffen.
Eine Zeitlang trug er sich mit dem Gedanken, ob nicht aus den frischesten Epileptischen die Meister für einige kleine Handwerksstätten genommen werden und die Kranken je nach ihrer Leistung auch bezahlt werden könnten. Aber dieser Gedanke trat bald wieder zurück. Seine Durchführung hätte die schwächeren [S. 182] Kranken, die kein leitendes Amt und kein Entgelt bekommen hätten, ihre Krankheit allzu empfindlich fühlen lassen. Hinfort herrschte in diesem Stück Einheitlichkeit: ein Avancement im eigentlichen Sinne und eine Bezahlung gab es nicht. Die Arbeit selbst wurde zur Ehre und zum Lohn. Jener Epileptische, der zunächst zum Meister ausersehen war, hat hernach, nachdem er hatte zurücktreten müssen, unter seinem gesunden Meister und Hausvater noch nahezu dreißig Jahre lang in der Tischlerwerkstätte gearbeitet, immer mit gleichmäßiger Treue und Heiterkeit, ohne je einen Pfennig Lohn sein eigen zu nennen. Er bekam, was er an Nahrung, Kleidung und allem übrigen nötig hatte, aber das Geld spielte für ihn keine Rolle mehr. Daß es in Bethel so viele glückliche Menschen gab und gibt, hat mit darin seinen Grund, daß der auri sacra fames, d. h. dem höllischen Hunger nach Geld, und zugleich dem „lockenden Silberton des reizvollen Ruhmes” so viel wie möglich der Boden entzogen wurde.
Natürlich gelang es nicht immer sofort, jeden zur Arbeit willig und fröhlich zu machen. Die erste kleine Ackerbaustation „Hebron” war entstanden, aber der Weg, der von Hebron eine Viertelstunde weit zum Mittelpunkt der Anstalt führte, war zunächst unausgebaut und im Winter nahezu grundlos. Eines Tages verweigerten deshalb die beiden epileptischen Kranken, die aus der Bäckerei von Sarepta das Brot zu holen hatten, den Dienst. Davon hatte Vater gehört. Er verschaffte sich eine Kiepe, ließ sich die Zahl Brote, die für Hebron bestimmt waren, hineintun, nahm sie auf den Rücken, trug sie durch Dreck und Unwetter nach Hebron hinüber und lud mit großer Heiterkeit sein Brot an Ort und Stelle ab. Damit war ein für allemal das Widerstreben gebrochen, und der Posten, das Brot zu holen, war zu einem besonderen Ehrenposten geworden.
Bei der Verteilung der Arbeit galt der alte preußische Grundsatz: suum cuique. Keine Einseitigkeit, sondern jeden möglichst nach seinen Kräften, Gaben und Neigungen einspannen! Nur so konnte ein freudiger Geist gepflegt und erhalten werden. So entstand dann Schritt um Schritt eine Arbeitsstätte nach der andern. Die Kranken selbst mit ihrer Arbeitslust und ihrem Arbeitshunger trieben die Entwicklung vorwärts.
Auch solche Kranke, die von Haus aus körperliche Arbeit nicht gewohnt waren, griffen fröhlich zu Hobel, Axt und Spaten; andere wiederum fanden in den Schreibstuben und bei mancherlei Botengängen ihre Beschäftigung. Mein Bruder Wilhelm und ich bekamen unsern ersten Unterricht bei einem epileptischen Lehrer.
Vaters erster Schreibgehilfe war ein epileptischer Eisenbahnsekretär. Er war verlobt und wurde während seines Dienstes auf dem Bahnhof in Gütersloh durch ein Telegramm, das ihm den unerwarteten Tod seiner Braut meldete, so erschreckt, daß er auf der Stelle im ersten epileptischen Anfall zusammenbrach. Seine geistige Fähigkeit hatte schon gelitten, als er in Bethel Aufnahme fand. Desto mehr war Herr Kneipp, so hieß er, gehoben und beglückt, als ihn Vater in seinen persönlichen Dienst zog. Unermeßlich muß die Geduld gewesen sein, die Vater mit ihm hatte. Manchmal waren beide Eltern im Arbeitszimmer des Vaters um ihn bemüht, wenn ihm plötzlich die Feder aus der Hand gefallen und er bewußtlos zu Boden gesunken war.
Die Erinnerung an diese Zeit, auch als sie schließlich um seiner zunehmenden Schwäche willen ein Ende fand, begleitete den Kranken durch den Rest seiner Tage, sodaß ich sein von Glück strahlendes Gesicht und seinen im Hochgefühl der Freude sich wiegenden Schritt immer noch deutlich vor Augen habe. Man fand ihn eines Morgens tot im Bett. Unbemerkt hatte er sich im Anfall herumgeworfen und war in seinem Kopfkissen erstickt.
Aber was wurde aus denen, deren Arbeitskraft versagte? Wer nicht mehr die Hände rühren konnte, konnte sie doch noch falten und so das Herz der Menschen und Gottes bewegen. Und das konnte auch der Schwächste und Elendeste noch. „Ihr könnt noch die Hände falten” — wie oft hat das Vater gerade den ganz Schwachen zugerufen und sie damit in die vordersten Reihen der Mitarbeiter gestellt!
So wuchs eine Gemeinde heran, die unter Gottes gewaltige Hand gebeugt, beides war, still und tätig, demütig und hochgemut, elend und doch gesund, „als die Sterbenden, und siehe, wir leben”.
Und wer will es dieser Gemeinde verdenken, daß, wo sich Vater zeigte, die Herzen rauschten, nicht aus Menschenvergötterung, [S. 184] aber aus Dank gegen Gott? Und Vater ließ es sich gefallen. Von Natur war ihm jede Berührung mit Kranken, sonderlich unsauberen, peinlich; nicht einmal ein Butterbrot, das von einer andern als von unserer Mutter Hand geschnitten und gestrichen war, aß er ohne Widerstreben. Aber kaum einer hat ihm das angemerkt. All den stürmischen Begrüßungen der Kranken gab er nicht nur nach, sondern gab sich ihnen hin. Wie oft hat ein Kranker, der seinen Dank nicht in Worte fassen konnte, seinen Kopf tief in seine Seite hineingebohrt oder ihm unversehens einen Kuß aufgebrannt! Er hat dem nicht gewehrt, sondern zum Dank mit seiner linden Hand die Wange und die Stirn gestreichelt.
Der Dienst an den Epileptischen konnte natürlich nicht getan werden ohne einen Kreis gleichgesinnter Pfleger und Pflegerinnen. Neben die Diakonissen traten die Diakonen, neben die Schwestern die Brüder.
Die ersten Brüder kamen aus der Diakonenanstalt Neinstedt am Harz. Sie bildeten den Grundstock einer kleinen Bruderschaft, die sich im Jahre 1877 zu einer besonderen Diakonenanstalt zusammenschloß. Zwischen dem Diakonissenhause Sarepta und dem Hause der Epileptischen Bethel war noch ein Platz frei. Hier entstand die Heimat der Brüder, das Haus Nazareth.
Woher sie kamen? Ein Schustergeselle stellte sich aus dem Hannöverschen ein, dem sein Freund aus einer Predigt erzählt hatte, die Vater in dem kleinen hannöverschen Bad Essen gehalten und in der er für den Dienst an den Kranken geworben hatte. Ein Landwirt meldete sich, der im August 1870 als Paderborner Husar vor Metz inmitten seines Regimentes im feindlichen Kugelregen gehalten und in dieser Gefahr das Gelöbnis getan hatte, er wollte Gott sein Leben weihen, wenn er ihn gesund wieder ins Vaterland brächte. Der Sohn eines der reichsten und größten Höfe aus dem Herzen des Ravensberger Landes kam. Auch ein Kaufmann, der seinem Kompagnon seinen Anteil an dem reichen Ertrage des Geschäftes allein überließ. Und so einer nach dem andern. Mehr noch als bei den Schwestern waren es meist Angehörige der körperlich arbeitenden [S. 185] Stände, selten, zu selten jemand, der ähnlich den Gliedern des alten Johanniter- und Templerordens eine umfassende Bildung besaß.
Aber die Herzensbildung war ja gerade im Dienst an den Epileptischen das Entscheidende, der innere Friede, die Gelassenheit des Gemüts. Als eine Säule im Sturm stand Bruder Nispel als Hausvater unten in Eben-Ezer unter den aufgeregten Kranken. Wie natürlich und gemütlich ging es zu! Da kommt ein Kranker die schmale Treppe heraufgestürmt. Irgend etwas muß zwischen ihm und einem Mitkranken vorgefallen sein, das sein Gemüt so in Wallung bringt. Zitternd vor Erregung steht er vor dem Hausvater und kann kaum mit der Sprache heraus. Da langt Hausvater Nispel zur Kiste mit Zigarren, die oben auf dem Schrank steht. „So, Wilhelm, nun wollen wir uns erst mal eine anstecken.” Und Wilhelm nimmt mit bebender Hand das köstliche Kraut, der Hausvater hilft beim Anzünden, und während die ersten hastigen Züge des Kranken die Rauchwolken herausstoßen, hat auch der Hausvater in aller Muße seine Zigarre in Brand gesetzt. Nun qualmen die beiden miteinander. Viel Worte sind nicht mehr nötig. Die kleine Freundlichkeit und die große Ruhe haben die Hauptsache getan, und still und zufrieden geht Wilhelm wieder an seine Arbeit zurück. Vater selbst rauchte nicht. „Aber”, so konnte er oft sagen, „ich danke Gott für das gute Kraut.” So wenig er für seine Person den Tabak schätzte, so war er ihm doch oft in der Pflege der aufgeregten Kranken ein lieber Bundesgenosse, den er gegen Fanatiker in Schutz nahm.
Als im Jahre 1872 das große Haus „Bethel” fertiggestellt war, in welchem 200 epileptische Kranke jeden Alters und Geschlechts untergebracht waren, wurde das ganze Haus zunächst einem Inspektor unterstellt, dem nun ihrerseits wieder die Brüder und Schwestern untergeordnet waren. Aber als der erste Inspektor, namens Unsöld, nach jahrelanger treuer Arbeit in seine schwäbische Heimat zurückkehrte, wurde seine Stelle nicht neu besetzt. Von jetzt an stellte Vater die Kranken weiblichen Geschlechts ausschließlich in die Obhut der Schwestern und die männlichen Geschlechts in die Obhut der Brüder. Station um Station wurden die männlichen Kranken aus dem Hause hinaus verlegt, bis das ganze Haus nur den weiblichen Kranken gehörte. Unter der geräuschlosen Leitung von Schwester [S. 186] Luise hat so das alte liebe Haus Bethel allen andern Häusern vorangearbeitet in Stille, Sparsamkeit und Fleiß.
Als weitere Häuser für weibliche Kranke nötig wurden, wurden dieselben Wege innegehalten. Sie alle standen ausschließlich unter der Leitung von Hausmüttern, die dem Diakonissenhause angehörten. „Hausmütter”, das war das entscheidende Wort. Überall sollte der mütterliche Sinn der Frau, so viel wie nur irgend möglich, das Haus durchdringen.
Aus demselben Grunde aber mußten die Brüder heiraten. Neben den Hausvater, der der einzelnen Station epileptischer Kranker vorstand und sie mit einigen ledigen Brüdern verwaltete, mußte die Hausmutter treten, die mit mütterlichem Geiste das Haus erfüllte. Beide Hauseltern aber konnten, wenn ihnen Kinder geschenkt wurden, an ihren eigenen Kindern die rechte väterliche und mütterliche Art lernen, mit der sie ihre Kranken versorgten und ihnen das ferne Elternhaus und die verlorene Heimat ersetzten.
Aus den Diakonissen durften die Brüder die Lebensgefährtin nicht wählen. Diese Ordnung wurde vom ersten Augenblick an durch Vater aufgerichtet und durchgehalten. Nicht aus einer Möncherei heraus. Aber bei den Schwestern wurde der Entschluß vorausgesetzt, ihr Leben, ohne durch die Ehe gebunden zu sein, ungehindert dem Dienst des Nächsten zu widmen, es sei denn, daß Gott durch die Verhältnisse ganz klar andere Wege zeigte. In diesem Entschluß sollten sie durch ihre nächsten Mitarbeiter, die Brüder, nicht wankend gemacht werden. Es ist, soviel ich weiß, auch niemals geschehen.
Nicht in der Pflege der Epileptischen, wohl aber auf den übrigen Krankenstationen arbeiteten Schwestern und Brüder in jener ersten Zeit zusammen, sowohl im Diakonissenhause Sarepta als auch in andern Krankenhäusern hin und her im Lande. Die Leitung des Hauses, auch die der einzelnen Stationen für männliche Kranke, lag in der Hand der Schwester. Unter ihr, in möglichst großer Selbständigkeit, aber doch ebenso unter ihr wie die jungen Schwestern, arbeiteten die Brüder.
Denn auf dem Gebiete der Krankenpflege reichte Vater als etwas Selbstverständliches der Frau die Palme. Er hatte während seiner Krankheit als junger Rekrut in Berlin und hernach während der Feldzüge 1866 und 1870 aus eigener Erfahrung erprobt, daß die Begabung des Mannes in diesem Stück hinter[S. 187] der der Frau zurücksteht. Der Mann sieht auf das Ganze, die Frau auf das Einzelne. Die Arbeit in der Pflege des Kranken aber besteht in erster Linie aus vielen Kleinigkeiten. Doch über diese Dinge wurde von Vater keine Theorie aufgestellt. Er handelte aus unmittelbarem Empfinden heraus, wenn er dem mütterlichen Blick und Herzen der Frau die erste und letzte Sorge für die Kranken, auch für die männlichen Kranken anvertraute, und wenn er von den Diakonen die Anerkennung einer auf diesem Gebiete den Mann überragenden Würde der Frau als ganz selbstverständlich erwartete.
Aber auf seiten der Schwester gehörte dazu, daß sie solche Würde sich nicht zum Stolz und zur Herrschsucht gereichen ließ; auf seiten des Bruders, daß die Einsicht in die Schranken ihm nicht zur Last wurde und zur Fessel, sondern zum Antriebe, unter ehrlicher Anerkennung des Tatbestandes doch zugleich sein Bestes daranzusetzen. Wo das geschah — und es kam auf einzelnen Krankenstationen in dem Zusammenarbeiten zwischen Schwestern und Brüdern vor —, da erreichte die Pflege der Kranken eine Höhe und die Atmosphäre, die das Haus durchwehte, eine Reinheit und Kraft, die für Vater zu den schönsten Erfahrungen seines ganzen Lebens gehörte.
Doch es konnte nicht ausbleiben, daß er auf diesem Gebiete Schwestern sowohl wie Brüdern eine Höhe und innere Reife und eine Zartheit des Taktes zumutete, hinter der bald der eine, bald der andere Teil, bald beide zurückblieben. Kam doch bei Vater noch seine ritterliche Art hinzu, die es ihm fast von Natur leicht und zur Lust machte, sich der Frau auf diesem bestimmten Gebiete unterzuordnen. Da hat er manchen Sohn und manche Tochter des Volkes zu sehr mit seinem eigenen Maß gemessen, statt an jeden den Maßstab anzulegen, der der eigenen Entwicklung des betreffenden Bruders, der betreffenden Schwester entsprach. So ist denn auch diese Art der Zusammenarbeit immer mehr zurückgegangen und schließlich ganz aufgehoben worden. Da, wo bisher Diakonen und Diakonissen zusammen gearbeitet hatten, traten bezahlte Pfleger an die Stelle der freiwilligen und, ebenso wie die Schwestern, nur gegen Taschengeld arbeitenden Diakonen. Das ist Vater immer schmerzlich geblieben. Und das hohe Ideal, dem in jener ersten Anfangszeit mit der Tat zugestrebt wurde, sollte nie von der Christenheit aus dem Auge gelassen werden.
Doch lag die Sache nicht so, daß Vater, weil ihm diese Schranke in der Begabung des Mannes klar war, nun die Brüder etwa lieber so bald wie möglich in einem geistlichen Beruf gesehen hätte, statt in der schlichten Pflege der Kranken. Womit hätte er dann das immer stärker heranstürmende Heer der Notleidenden versorgen sollen? Nur durch die Pflege des körperlichen Menschen kam er ja an den verborgenen inwendigen Menschen heran. Darum waren ihm im Grunde diese Unterschiede zwischen Mann und Weib gering gegenüber der unermeßlichen an Schwestern und Brüder herandrängenden Not. Was lag schließlich daran, wenn der einzelne von der Frau ein wenig besser, vom Mann ein wenig geringer versorgt wurde, wenn er nur überhaupt versorgt wurde! Hier war wirklich keine Zeit für Schreibtischtheorien über die Grenzen der Frau und die Grenzen des Mannes. Sie würden sich von selbst herausstellen, wenn nur jeder an seinem Teil Hand anlegte an die unendliche Aufgabe, die sich auftat.
Nur wer Lust hatte und willig war, einerlei ob Weib oder Mann, sein ganzes Leben im allergeringsten, verachtetsten, verborgensten Dienst an der leiblichen Not des Nächsten zuzubringen, war in Vaters Augen überhaupt für irgend welche sogenannte geistliche Arbeit zu gebrauchen. Wer aber aus solch geringem Dienst emporschielte nach höheren geistlichen Aufgaben und den Dienst in der blauen Schürze, wie Vater den Dienst des Diakonen so gern nannte, nur als Sprungbrett ansah für eine vermeintlich gehobene Laufbahn, den sah er schon als innerlich ungeeignet an für den Gesamtbereich der christlichen Bruderhilfe.
Wenn der Mangel an geeigneten männlichen Pflegekräften besonders hart drückte, kam es vor, daß Vater wieder und wieder an die Anstalten der äußeren Mission schrieb mit der Bitte, man möchte doch diejenigen männlichen Kräfte, die sich in diesen Anstalten meldeten, aber aus Mangel an Platz abgewiesen werden müßten, auf den Dienst in der blauen Schürze aufmerksam machen. Aber selten geschah es, daß jemand solchem Ruf folgte. Darin erblickte Vater ein ernstes warnendes Zeichen für den Tiefstand der Christenheit, deren erweckte Glieder wohl den hohen Dienst des Wortes unter den Heiden begehrten, doch den geringen Dienst unter den Kranken und Schwachen der Heimat ablehnten.
Keineswegs aber war es so, daß Vater dem Diakonen den Weg von der blauen Schürze zum Gemeindehelfer, Jugendleiter, Stadtmissionar oder Seemannspfleger verwehren wollte. In all diese Berufe sind später Mitglieder des Hauses Nazareth eingetreten und haben sich darin bewährt. Und standen sie auf einsamem Posten, so wußten sie, wie schnell und gern ihr Leiter, Pastor Kuhlo, zur Stelle war, um mit seinem kindlichen Glauben das Herz zu erquicken und mit den seelenvollen Klängen seines nie rastenden Hornes Berge von Sorgen hinwegzublasen und Täler voll Kleinmut mit Dank und Lob zu füllen. Daheim in Nazareth aber führte währenddem Pastor Göbel, der aus der Brüdergemeinde gekommen war, in stiller Weisheit und Treue das Steuer der Brüderschaft.
Ich höre noch aus den frühesten Kindertagen ihre schnelle Feder über das Papier eilen, wenn sie in unserer Wohnstube an ihrem kleinen Schreibtisch saß und Vater, an unsern lieben gelben Kachelofen gelehnt, mit fest zugedrückten Augen ihr diktierte. Er hatte eine schwere Hand, die, wenn er beim Schreiben angestrengt nachdachte, so undeutlich wurde, daß die wenigsten sie lesen konnten. Hier hat Mutter ihm geholfen, von der Pariser Zeit an bis lange in die ersten Jahre von Bethel hinein. Denn Freund Kneipp, von dem oben die Rede war, war doch nur zu gewissen Zeiten des Tages zur Verfügung. Und wie mancher Tag fiel seiner Krankheit wegen ganz aus!
Aber auch abgesehen von dieser großen, oft sehr anstrengenden, bis in die Nacht gehenden Schreibarbeit ergänzte sie mit ihrer Feder den Vater. Vielfach war sie früher als das übrige Haus auf, um in aller Morgenstille den Briefverkehr mit den Verwandten und Freunden des Hauses und später auch mit den Kindern zu pflegen.
Während der Beruf des Vaters ihn naturgemäß aus dem Hause führte, war Mutter immer daheim. Sie war in jedem Augenblick für uns Kinder da. Mit völliger Sorglosigkeit überließ darum Vater uns Kinder der Mutter. Auf allen ihren Wegen durchs Haus trabten wir hinter ihr her, und überall leitete sie uns an, ihr zur Hand zu gehen und keinerlei Arbeit[S. 190] zu scheuen. Wenn sie nachmittags still auf dem niedrigen Sessel saß, auf dem sie alle ihre Kinder gewartet und genährt hatte, das kleine Arbeitstischchen vor sich, dann hockten wir Kinder um sie her, und sie lehrte uns stricken und sticken, auch uns Jungen, und erzählte dabei am liebsten aus ihrer und des Vaters Lebensgeschichte.
Wie eng und klein gegen ihre früheren Lebensverhältnisse war das Haus geworden, wie bescheiden auch der Lebenszuschnitt! Aber es kam ihr zustatten, daß sie in einer Zeit groß geworden war, in welcher auch in den hochgestellten Kreisen die Lebenshaltung eine sehr einfache und sparsame blieb. So wurde es ihr nicht schwer, mit dem geringen Gehalt, das der Vater bekam, — es war in den ersten 20 Jahren seiner Tätigkeit nicht mehr als 2400 Mark jährlich, zu denen noch ein verhältnismäßig kleiner Zuschuß aus ihrem väterlichen Erbteil hinzukam, — durchzukommen und noch immer übrig zu haben für andere.
Sie selbst war ein Vorbild von Einfachheit. Die Mode machte sie nicht mit. Nur einmal während der 22 Jahre ihres Lebens in Bethel leistete sie sich einen neuen Hut und einmal einen neuen Mantel. Das war ein Fest für uns alle. Seit mit dem Tode ihrer vier ersten Kinder ihr Kopfhaar sehr spärlich geworden war, trug sie eine höchst kleidsame weiße Rüschenmütze. Draußen hatte sie darüber nur selten einen Hut, sondern statt dessen ein dreieckiges schwarzes Tüchlein, und statt des Mantels war ihr ebenfalls ein langes schwarzes wollenes Tuch das liebste. So ging sie uns Kindern und der ganzen Gemeinde in edler Einfachheit voran.
Als wir größer geworden und dem Schlafzimmer der Eltern entflohen waren, versäumte sie doch ohne besondere Not keinen Abend, mit uns zu beten. Das alte, unendlich einfache und zugleich so tiefe Zinzendorfsche Gebet bildete immer die Einleitung: „Christi Blut und Gerechtigkeit, — Das ist mein Schmuck und Ehrenkleid, — Damit will ich vor Gott bestehn, — Wenn ich zum Himmel werd’ eingehn.” Dann kamen die einzelnen Anliegen. Wie hat sie uns gewöhnt, im Gebet insonderheit der einzelnen Verwandten und ihrer Kinder zu gedenken!
So lag unsere Erziehung im wesentlichen in ihrer Hand. Nur sehr selten kam es vor, daß Vater sich in die Erziehung mischte. Während die Mutter mit ihren wachen Augen und[S. 191] ihrem schnellen Empfinden rasch eingriff, hatte Vater eine unermeßliche Geduld mit uns. Nicht selten entgleiste unsere geschwisterliche Liebe in Gegenwart der Eltern. Aber Vater tat meist wie Saul, als hörte und sähe er es nicht. Bat ihn aber, wenn es gar zu arg wurde, die Mutter um sein Einschreiten, dann wirkte es um so tiefer.
So wird es mir unvergeßlich bleiben, wie wir drei Brüder eines Sonntagmorgens in der kleinen Dachkammer, die wir miteinander bewohnten und die gerade über dem Wohnzimmer der Eltern lag, in erbitterten Streit geraten waren und einen Heidenlärm machten. Während wochentags die Schule uns keine Zeit ließ, gab uns gerade der Sonntagmorgen erwünschte Muße, uns einmal gründlich gegeneinander Luft zu machen. Da, während einer kurzen Atempause unseres Streites, hören wir Tritte die Treppe heraufkommen. Werden sie in Vaters Studierzimmer verhallen? Nein, sie kommen den Gang entlang, der auf unser kleines Arbeitszimmer führte, hinter welchem die Kammer lag. Jetzt kommen auch schon die Tritte durch das Arbeitszimmer; jetzt öffnet sich die Tür, nicht weit, sondern nur so viel, daß gerade Vaters vorgebeugter Kopf hineinsehen kann. „Kinder,” sagt Vater, „am Sonntagmorgen?” Mehr sagt er nicht, sondern schließt die Tür wieder und geht davon. Unsere Seele zitterte, nicht weil wir ein Dreinschlagen des Vaters gefürchtet hätten, sondern weil uns der Frieden, die Stille, die große Güte, die sich mit dem väterlichen Ernst verband, bis in die Seele getroffen hatte. Unser Streit war wie in einem tiefen Abgrund versunken und vergessen. Gericht und Gnade Gottes, wie sie in eins tätig sind, sind mir an diesem Erlebnis immer verständlich geblieben.
Noch freiere Hand als bei uns Kindern ließ Vater naturgemäß der Mutter in der Erziehung der Hausmädchen. Weil sie nicht weichlich war gegen sich selbst, so war sie auch nicht weichlich gegen ihre Angestellten. Wer ihre Schule bestand, hatte etwas Tüchtiges gewonnen. Einige bewährte Hausfrauen und mehrere Diakonissen, die von unserm Hause aus den Weg in das Mutterhaus fanden, haben ihr über das Grab hinaus gedankt.
Durch die schweren Führungen ihres Lebens war sie von Menschen gelöst worden und ganz auf Gott gestellt. Jedes Gepränge [S. 192] nach außen hin, aber auch jedes fromme Getue war ihr fremd. Sie kannte aus eigenster Erfahrung die Tiefe des Leides und hatte darum ein unmittelbares überaus wohltuendes Mitempfinden mit jedem Leidenden. Aber sie war ganz und gar nicht wehleidig. Sie beklagte niemanden. Es lag über ihrem Mitleiden der köstliche Humor, der im Schmerz die Quelle der edelsten Freude ahnt und auf dem Grunde des bitteren Kelches die glänzende Perle erblickt. Wie manchen, der müde an Leib und Seele ins Haus kam, um sich bei Vater Rat und Hilfe zu holen, hat sie erst durch eine kleine leibliche Erquickung erfrischt und dann, ohne daß sie in Versuchung kam, Herzensgeheimnisse zu erforschen, durch ein klares, offenes, gütiges Wort die Seele zurechtgerückt, sodaß Vater nur noch halbe Arbeit hatte.
Es gab Zeiten, wo Vater und Mutter regelmäßig um zwei Uhr nachmittags einen gemeinsamen Spaziergang durch die Anstalt und die Anstaltshäuser machten, um überall an der Not teilzunehmen und nach dem Rechten zu sehen. Auf solchen Wegen hat dann Mutter, ganz unbewußt und ungewollt, Vaters Augen und Urteil ergänzt. Bei der großen Beweglichkeit und Glut, die Vaters Herz erfüllte, und bei der großen Tragkraft, die er besaß, kam es oft vor, daß Dinge und Menschen ihm in einem Lichte erschienen, das doch der Wirklichkeit nicht ganz entsprach. Nie hat dann Mutter mit ihrem ergänzenden Urteil zurückgehalten. Unerbittlich, wie andern Menschen gegenüber, blieb sie auch gegenüber ihrem Mann in der Wahrheit, und für die rechte Beurteilung von Menschen und Dingen, namentlich auch bei der Wahl der Mitarbeiter, blieb ihr klares Auge und unbestechliches Empfinden von höchstem Wert für ihren Mann. „Sie hat mir nie geschmeichelt,” hat er an ihrem Grabe gerühmt.
Siebzehn Jahre nach ihrem Tode kam ich einmal auf Reisen in eine rheinische Stadt, gerade rechtzeitig zum Beginn des Gottesdienstes. Es predigte ein Pastor, der früher eine Zeitlang in Bethel gearbeitet hatte und mir befreundet war. Es war eine dreigeteilte, tief zu Herzen gehende Predigt. Nachher ging ich in die Sakristei, um meinen Freund zu begrüßen. Da sagte er: „Die Predigt habe ich schon einmal in Bethel gehalten — aber nur in zwei Teilen. Damals hat mir deine Mutter gesagt: ‚Sie haben den dritten Teil vergessen.’ Den[S. 193] habe ich jetzt nachgeholt.” So wirkte ihr offenes und klares Wort über Jahre hinaus.
Aber sie trug den reichen Schatz ihrer Seele in einem Gefäß, dessen Wandungen sehr zart geblieben waren. Ihr an und für sich so heiteres Gemüt konnte hie und da von ganz kleinen Dingen überrannt und in eine Stimmung gebracht werden, die sich auf ihre ganze Seele und damit auch auf unser Haus wie ein Nebel legte. Dann half kein Zureden; der Zustand mußte einfach seine Zeit haben. Darunter haben wir Kinder manchmal gelitten, und die Mutter selbst am meisten. War der Zustand der Verstimmung überwunden, dann strahlte die Sonne des Glückes wieder desto heiterer über unserm Haus. Vater selbst ertrug sie in solchen Stunden mit unermüdlicher Geduld. Wir haben nie ein einziges hartes Wort gegen die Mutter von seinen Lippen gehört.
Zu diesen vorübereilenden Schatten kamen längere Ruhe- und Krankheitszeiten der Mutter, namentlich in den letzten Jahren ihres Lebens, als unter der großen Last, die auf ihr lag, die Widerstandskraft der Nerven schwächer und schwächer wurde. Aber das waren eigentlich besondere Feierzeiten für unser ganzes Haus. Denn der Strom der Fremden, die aus- und eingingen, stand dann still. Vater hielt sich so viel wie möglich zu Haus. Und die einsamen Wege durch Wald und Feld, die Mutter dann mit dem Vater, oft aber auch bald mit dem einen, bald mit dem andern von uns Kindern machte, waren wichtige Sammelstunden für uns in dem sonst oft so unruhigen und zerstreuenden Anstaltsleben.
In solchen Zeiten erquickte dann Mutter sich und uns durch ihr Klavierspiel. Sie besaß eine Weichheit und Kraft des Spiels, wie ich es mit Bewußtsein nie wieder gehört habe. In den letzten Jahren ihres Lebens war es nur noch Bach, den sie spielte, und der tiefste deutsche Musikmeister war ihr durch die Tiefe des Leidens in besonderer Weise verständlich und tröstlich geworden.
Vor dem Eintritt in ihre letzte Krankheitszeit wurden ihr noch einige Monate völliger geistiger und körperlicher Frische beschert. Das war für sie wie für uns alle eine ganz unbeschreibliche Wohltat. Alle Hemmungen waren verschwunden. Das Leuchtende, Sprudelnde, Humorvolle und dabei so zärtlich Fürsorgende ihres innersten Wesens brach hervor, wie wir es[S. 194] in solchem Maße eigentlich nur in der frühesten Kindheit gekannt hatten. Ein achttägiges Zusammensein im schönen Beatenberg im Berner Oberland, das uns vier Kinder um die Eltern vereinigte, war der Höhepunkt dieser Zeit.
Als wir im Spätherbst auf verschiedenen Wegen wieder in Bethel uns zusammenfanden, hatte sich schon die letzte Krankheit der Mutter angebahnt. Es zeigte sich, daß in dem letzten hellen Feuer, das uns so tief beglückt hatte, zugleich ihre Kraft ausgebrannt war. An ihr Ende dachte freilich keiner von uns.
Um sie einmal ganz in die Stille zu führen, brachte Vater sie in die Anstalt eines ihm nahestehenden Arztes. Dort verschlimmerte sich der Zustand schnell und steigerte sich zur Verwirrung der Gedanken. Ein Brief, der Vater herbeirufen sollte, fand durch ein Versehen nicht rechtzeitig den Weg zur Post. Er wurde überholt durch ein Telegramm vom 4. Dezember 1894, das unsere Schwester öffnete. Es enthielt die erschütternde Mitteilung vom Tode der Mutter.
Nur bei der Nachricht von dem Tode Kaiser Friedrichs hatten wir Vater weinen sehen; jetzt, als wir beiden älteren Söhne aus Berlin heimeilten, hörten wir ihn bitterlich schluchzen. Dann aber konnte er in großer innerer Stille vor der versammelten Gemeinde Gott und Menschen danken für dies nun abgeschlossene gesegnete Leben.
Unsere kleine Dachkammer oben, wo wir Brüder unser Quartier behalten hatten, hat damals manche stille Träne gesehen. Der tiefe Schmerz schloß die Herzen fester denn je zusammen und überwand die zarte Scheu, die sonst gerade uns Westfalen eigen ist, sodaß unser ältester Bruder des Abends aus dem Herzen heraus mit uns und für uns betete. Einige Male wachte ich mitten in der Nacht an meinem eigenen Wehklagen auf. Fortan bildeten wir Kinder enger denn je einen Kreis um den geliebten Vater. Aber ersetzt werden konnte der Verlust nie wieder.
Sie sind in meiner Erinnerung beide unzertrennlich voneinander. Mutter Emilie war Oberin des Diakonissenhauses. Sie wurde aber nie so genannt, sondern hieß einfach „Mutter”. Schwester Lottchen war die Probemeisterin, d. h. die Leiterin derjenigen jungen Schwestern, die zur Probe aufgenommen[S. 195] wurden. Mutter Emilie war Schwester des Kaiserswerther Diakonissenhauses, Schwester Lottchen hatte dort ihre Ausbildung erhalten. Darum behielten sie auch bis an ihr Ende ihre alte Kaiserswerther Haube. Auch die Sarepta-Schwestern hatten ursprünglich dieselbe Tracht. Da aber die Kaiserswerther Haube mit ihrer feinen das Gesicht einrahmenden Rüsche, die bei jeder Wäsche losgetrennt und wieder zusammengereiht werden mußte, sehr viel Arbeit kostete, so führte Vater nach dem Vorbilde des Diakonissenhauses in Neuendettelsau eine andere Haube ein, die weniger Arbeit brachte und die bis heute beibehalten wurde, obgleich auch sie Vater nie völlig praktisch genug erschien.
Mutter Emilie stammte aus einer schlesischen Pastorenfamilie. Sie hatte schon eine reiche Berufsarbeit hinter sich. Für uns Kinder war es von ganz besonderem Interesse, daß sie in Jerusalem und Bethlehem gewesen war. Denn sie hatte jahrelang auf den Orientstationen des Kaiserswerther Hauses gearbeitet, hatte auch die Maronitenverfolgung miterlebt und in der Gegend des alten Tyrus und Sidon die maronitischen Witwen und Waisen gepflegt, deren Väter von Drusen erschlagen worden waren.
Besonders in Jerusalem hatte sie vielen mit ihren medizinischen Kenntnissen geholfen und wurde von den Eingeborenen wie ein Arzt geehrt. Als sich während eines Aufstandes in Jerusalem das Gerücht verbreitet hatte, sie sei fortgeschleppt oder getötet, da drangen die Araber des Nachts in das Haus und ließen keine Ruhe, bis Schwester Emilie aufstand und sich ihnen zeigte, damit sie sich überzeugten, daß sie unversehrt und zu Hause geblieben sei.
Sie war eine ungemein tätige Natur von größter Schlichtheit des Wesens und auch der äußeren Erscheinung. An die geringste äußere Arbeit wandte sie die gleiche Sorgsamkeit wie an jede andere Aufgabe; und den Aschenhaufen im Hofe des Diakonissenhauses sah man sie eines Tages durchsuchen, um die noch brennbaren Kohlenschlacken herauszuholen.
Sie sprach nicht viel. Aber man fühlte, was sie dachte. Man konnte es auf ihrem Gesichte lesen.
Jung eintretende Schwestern nahm sie am liebsten mit in den Garten hinaus zum Bohnen- und Erbsen- oder Strauchobst-Pflücken. Dabei lernte sie sie kennen. — Es hatte sich ein Mädchen, [S. 196] das im Hause von Pastor Stürmer den Haushalt gelernt hatte, zur Diakonissin gemeldet. Mutter Emilie ging zur Pastorin Stürmer, und als sie deren Urteil gehört hatte, bat sie: „Nun zeigen Sie mir doch noch das Zimmer!” Sie fand das Zimmer in musterhafter Ordnung und sagte nur: „Gut, die kann kommen.”
In jeder Arbeit ging sie den Schwestern voran bei Tag und bei Nacht. Nichts entging ihrem sorgsamen Auge. In dem bitter kalten Winter des Jahres 1878 ging sie nachts von Bett zu Bett, um sich zu überzeugen, ob Kranke und Gesunde auch genügend zugedeckt seien. Den Schwerkranken und Sterbenden opferte sie immer wieder ihren Schlaf. Es gab keine Stunde der Nacht, in der nicht Mutter Emilie den Nachtwacheschwestern zu Hilfe eilte, um den Kranken und Sterbenden die letzte Liebe erweisen zu helfen.
Den genesenden Schwestern galt ihre besondere Fürsorge; und es war für sie eine lang ersehnte Wohltat, als es gelang, in einem einsamen, eine halbe Stunde entfernten Waldtal ein Ruhe- und Erholungsheim zu schaffen. Manchmal war sie schon um vier Uhr morgens dorthin unterwegs, um nach dem Rechten zu sehen. Und um sechs Uhr, wenn die Schwestern zum ersten Frühstück kamen, war sie im Mutterhaus wieder in ihrer Mitte. „Ja, das war eine Mutter”, sagte noch kürzlich aus tiefstem Herzen heraus eine der alten Schwestern. Und wir, die wir wußten, was diese kleine, zarte Gestalt an innerer und äußerer Arbeit bei Tag und Nacht leistete, wunderten uns nicht, wenn ihr je und dann im Gottesdienst der Sareptakapelle vor Übermüdung die Augen zufielen. Aber das dauerte nur wenige Augenblicke. Dann feierte sie desto inniger und aufmerksamer den Gottesdienst mit.
Ich habe überhaupt aus jener Anfangszeit den Eindruck, daß man in Bethel die Hauptnahrung für die Arbeit der Woche aus dem Sonntagsgottesdienst holte und sich nicht auf das Lesen von Sonntagsblättern und andern Schriften verließ. Diese wurden nicht verachtet, waren aber doch in erster Linie für die bestimmt, die den Sonntagsgottesdienst nicht besuchen konnten. Auch wir Kinder nahmen ganz regelmäßig an diesen Gottesdiensten teil. Das gehörte einfach zur Sitte des Hauses.
Schwester Lottchen, die Probemeisterin, stammte aus Bielefeld und war in Kaiserswerth vor allem in der Kleinkinderarbeit [S. 197] ausgebildet worden. Aber ihrer Natur entsprach diese Arbeit eigentlich nicht. Wir Kinder haben uns immer ein klein wenig vor ihr gefürchtet. Nicht deswegen, weil sie uns einmal beim Naschen von Johannisbeeren im Diakonissengarten ertappte. Da nahmen wir Reißaus vor ihr und rechneten es ihr zeitlebens hoch an, daß sie über die Angelegenheit als über etwas Nebensächliches stillschweigend hinweggegangen war und es nicht zur Anzeige gebracht hatte. Aber sie war uns zu straff und zu kurz angebunden. Wenn sie Mittwochs beim Familienabend an der Tür stand und die Schwestern empfing, um ihnen die Plätze anzuweisen, dann taten uns jedesmal die jungen Schwestern ein klein wenig leid. Wir hätten ihnen nach des Tages Last und Hitze zu diesem höchsten Freudenabend, den wir Kinder in der Woche kannten, einen etwas herzlicheren Empfang gewünscht als den kurzen Händedruck und fast strengen Wink, mit dem Schwester Lottchen jeder einzelnen Schwester ihren Platz anwies.
Aber wer Schwester Lottchen hiernach eingeschätzt hätte, würde ihr unrecht getan haben. In Wirklichkeit trug sie die einzelnen Schwestern nicht minder stark auf dem Herzen wie Mutter Emilie. Ihr Gedächtnis war von einer geradezu staunenerregenden Treue und Genauigkeit. Sie reiste nie, kannte darum die einzelnen Stationen, auf denen die Schwestern arbeiteten, nicht aus persönlichem Augenschein. Aber sie holte sich bei jeder Schwester so eingehenden Bescheid über die Umstände, unter denen sie arbeitete, daß sie über jeden einzelnen Fall deutlich im Bilde war. Sie wußte genau über die Krankenhäuser, Pflegehäuser, Kleinkinderschulen Bescheid, in denen die Schwestern arbeiteten: ob sie praktisch eingerichtet waren oder nicht und darum der Schwester die Arbeit erleichterten oder erschwerten. Sie wußte, ob die Zimmer der Schwestern nach Süden oder nach Norden lagen, ob sich die Küche im Keller oder zu ebener Erde befand. Sie kannte jeden Zug, mit dem die Schwestern ankamen oder abreisten, wußte die Fahrpreise auswendig bis zu jeder einzelnen Station und legte das Fahrgeld in Papier eingewickelt vor jeder Abreise der einzelnen Schwester zurecht. Sie sorgte für die Kleidung und das Taschengeld der Schwestern, führte für jede einzelne Schwester ein besonderes Kontobuch und hatte auch ihre Urlaubszeiten im Kopf.
Selbst nahm sie nie Urlaub. Statt dessen verließ sie jeden[S. 198] Donnerstagnachmittag pünktlich zur festgesetzten Stunde das Haus und ging in die Stadt zu ihrer Schwester, die dort eine eigene kleine Wohnung besaß. Da ruhte sie inmitten ihrer Verwandten aus und erfrischte sich im Kreise des heranwachsenden Geschlechts der Familie. Abends war sie dann wieder im Mutterhause. So ging es fast vier Jahrzehnte durch bis zu ihrem Ende.
Diese beiden immerhin ungewöhnlichen Frauen fand Vater vor, als er seine Arbeit im Diakonissenhaus antrat. Sie haben gemeinsam dem Diakonissenhause das Gepräge gegeben. Sie waren der Feuerherd, um den sich die Familie der Schwestern sammelte. Die Glut dieses Herdes bestand nicht aus einer selbstbeschaulichen, sich selbst pflegenden, mit sich selbst beschäftigten Frömmigkeit. An diesen drei Persönlichkeiten konnte man vielmehr in Wahrheit sehen, daß das Ziel des Christen im Dienst des andern besteht, nicht in der frommen Ausgestaltung der eigenen Persönlichkeit. So konnte es nicht anders sein, als daß die stille reine Glut, die von diesem Herde ausstrahlte, immer größere Scharen in ihren Bereich zog.
Vor dem Auge der Erinnerung steigt eine schier unabsehbare Reihe von Frauengestalten in der weißen Mütze auf, die, fast alle aus kleinen und kleinsten Verhältnissen hervorgegangen, nun in den verschiedensten Stellungen, sei es auf einsamstem schwierigem Posten, sei es als Leiterinnen großer städtischer Krankenanstalten, auf dem schlichten Wege selbstverleugnender Hilfsbereitschaft und in mütterlicher Umsicht und Weitherzigkeit bei hoch und niedrig, jung und alt Zeugnis ablegten von dem Herrn, in dessen Dienst sie standen.
Es war ein Wachsen und Sichausbreiten, wie es in verhältnismäßig so kurzer Frist kein Diakonissenhaus erlebt hat. An dem geräuschlosen Glühen Mutter Emiliens und Schwester Lottchens und an Vaters loderndem Brennen entzündeten sich immer neue Flammen. Wer konnte und wollte solches Wachstum hemmen? Aber damit entstand auch die Sorge, ob mit dem Wachstum nach außen das Wachstum nach innen Schritt halten würde.
Es war schon in jenen Anfangszeiten so, daß, wer in Vaters Nähe kam, unwillkürlich in eine andere Höhenlage gehoben wurde. Durch den Geist des Vertrauens, der Liebe, des kindlichen Glaubens, der von Vater ausströmte, wurde jeder über sich selbst hinaus versetzt. Der Betreffende hörte auf, er selbst[S. 199] zu sein. Er wurde für den Augenblick schon jetzt das, was er später einmal werden konnte und werden sollte. Darüber konnten Selbsttäuschungen nicht ausbleiben. Man kam in Gefahr, sich für etwas zu halten, was man noch nicht war. Darum blieb bei mancher Schwester, die in Vaters Nähe kam, trotz stärkster innerer Erlebnisse die entscheidende innere Wendung oder das echte innere Wachstum aus. Die außergewöhnlichen Wirkungen, die Vater ganz ohne Absicht ausübte, lockten bei allen, mit denen er zusammenkam, alle Sonnenseiten des menschlichen Wesens heraus, ließen alle Schattenseiten zurücktreten. Aber gerade so kam es, daß er in der Beurteilung von Schwestern sowohl wie in der Beurteilung seiner übrigen Mitarbeiter wieder und wieder vor tiefe und schwere Enttäuschungen gestellt wurde.
Und gerade auf diesem Gebiete, auf welchem Vaters Schranke lag, sah er sich weder von Mutter Emilie noch von Schwester Lottchen in ausreichender Weise ergänzt. Auch ihnen fehlte die Gabe der stillen Seelenführung, wie sie eine Mutter in der Verborgenheit ihren Kindern angedeihen läßt, indem sie sich dabei der Eigenart jedes einzelnen Kindes anpaßt. Das Wort Gottes und die Arbeit waren die Erzieher der Schwestern; aber das Zwischenglied, die stille persönliche Pflege, die sich in die Besonderheit der einzelnen Schwester hineinversenkt, trat zu sehr zurück.
Mit dem Wachstum des Mutterhauses wuchs darum, wie bei Mutter Emilie und Schwester Lottchen, so erst recht bei Vater das Verlangen nach einer zunehmenden Zahl innerlich führender Persönlichkeiten. Aber das große Gedränge der Not, das um Hilfe flehte, hemmte immer wieder die ausreichende Erfüllung dieses Wunsches und ließ ihn über andern Aufgaben stärker zurücktreten, als es gut war. Manche Persönlichkeit von innerlich reicher Begabung, aber geringer äußerer Kraft schied wieder aus, weil sie den großen Anforderungen, die an die körperlichen Leistungen gestellt wurden, nicht gewachsen war; und der Korpsgeist, der die Stärke, aber auch die Schranke einer Schwesternschaft ist, wurde nicht immer der Eigenart der einzelnen Mitarbeiterinnen gerecht und ließ manche Schwester wieder in ihr Elternhaus zurückkehren, die ein wertvolles Glied des Kreises hätte werden können.
Um diesem Mangel stärker abzuhelfen, kam es vor, daß[S. 200] Vater hier und da, nicht gegen die Ordnung, aber doch über die Ordnung des Diakonissenhauses hinweg, ältere Persönlichkeiten, die nicht von der Pike auf im Mutterhause gedient und nicht die sonst übliche Zahl der Jahre bis zur Einsegnung abgedient hatten, in leitende Stellungen einsetzte und ihnen die geistliche Pflege und Führung jüngerer Schwestern anvertraute.
Auch dadurch wurden die empfundenen Lücken bis zu einem gewissen Grade ausgefüllt, daß sich allmählich ein Kreis sogenannter freier Hilfsschwestern um das Mutterhaus her bildete. Sie gehörten nicht als eigentliche Diakonissen dem Mutterhause an, hatten aber in ihm ihre Ausbildung gefunden und stellten sich, je nachdem ihre Familienverhältnisse und ihre ganzen Umstände es erlaubten, bald für längere, bald für kürzere Fristen dem Mutterhause zur Verfügung. Aus ihnen traten dann immer wieder einige ganz in die Schwesternschaft über.
Wenn ich mich recht besinne, geschah es auf diesem Wege, daß in Vater der Gedanke erwachte, dem Johanniterorden zu empfehlen, sich für seine Aufgaben in Krieg und Frieden aus den Kreisen der gebildeten Mädchen mit einem Stab von Pflegekräften zu versehen, die in den einzelnen Mutterhäusern geschult werden sollten, aber dann nicht zunächst diesen, sondern in erster Linie dem Johanniterorden sich zur Verfügung hielten. So wurde der alte Gedanke des Ritterordenswesens, daß die führenden Kreise des Volkes sich unmittelbar mit ihrer ganzen Person dem Dienste des Nächsten in Pflege und Hilfsdienst widmen sollten, zu neuem Leben erweckt.
In bezug auf die Frage der gelegentlichen Verheiratung der Schwestern hat es von Fall zu Fall zwischen Vater und den beiden leitenden Schwestern wohl Verschiedenheit der Meinungen gegeben, — wobei die beiden Schwestern das strengere, Vater das weitherzigere Element vertraten —, aber grundsätzlich stimmten alle drei darin überein, daß eine Diakonisse ihren Beruf als Lebensberuf ansah und nicht mehr mit der Verheiratung rechnete. In diesem Entschluß sah Vater nicht eine Knechtschaft, sondern eine große Freiheit und Sicherheit angesichts der mancherlei schwierigen Lagen, in die eine Diakonisse bei Ausübung ihres Berufes kommt. Höher aber als der Entschluß der Schwester stand ihm die göttliche Führung. Diese genau zu erkennen, darauf kam es ihm an in jedem einzelnen[S. 201] Fall, in welchem eine Schwester vor die Frage der Verheiratung gestellt wurde.
Der Regel nach riet er aufs ernstlichste ab. Er hatte zu oft erfahren, daß es doch bloß Menschenwege waren, die man für göttliche ansah, hatte auch zu oft festgestellt, daß Diakonissen, die schon länger in einer selbständigen Stellung sich befunden hatten, sich selten ganz in die Beschränktheit des Lebens an der Seite des Mannes fanden. Er konnte auch dem um eine Diakonisse anhaltenden Mann es ernst ins Gewissen schieben, ob es wirklich recht sei, bei der großen Fülle lediger Mädchen den Blick auf eine Kraft zu lenken, die im Dienst der Kranken und Elenden bereits erfahren sei und deren Lücke nicht so leicht wieder ausgefüllt werden könnte.
Aber starr war er nicht. Überzeugte er sich, daß es nicht Menschenwerk war, dann hat er mehr als einer Diakonisse seinen Segen auf ihren Weg gegeben, ist auch in ständiger Verbindung mit ihr geblieben und suchte sie, wenn er irgend konnte, in ihrer Familie auf.
So eng Vater auch mit seinen beiden Mitarbeiterinnen verbunden war, und so wenig er an Einrichtungen rüttelte, die er übernommen hatte und die durch die Verhältnisse geboten waren, so sah er doch das Ideal der Leitung eines Mutterhauses in Sarepta nicht verwirklicht. Vielmehr schwebte ihm dafür die ursprüngliche Verfassung des Kaiserswerther Diakonissenhauses vor, wo Vater und Mutter Fliedner nicht nur Vater und Mutter für ihre leiblichen Kinder, sondern auch für die Diakonissen gewesen waren. Wiederholt sagte er, das schönste wäre, wenn seine Frau, unsere Mutter, ihn auf allen seinen Reisen zu Diakonissen begleiten könnte, um überall mit ihm zugleich nach dem Rechten zu sehen. Darum blieb der Besuch des Ehepaares Dändlicker, das gemeinsam als Vater und Mutter ihrem Diakonissenhause in Bern vorstand, eine ganz besondere Herzenserfrischung für unsere Eltern und ebenso der Gegenbesuch, den sie nach Jahr und Tag in Bern machten.
Eine erste Bedingung zur Aufrichtung eines solchen Ideals war freilich, daß die Diakonissenhäuser nicht zu groß wurden. Darum hat Vater, wo er nur konnte, zur Entstehung selbständiger kleiner Diakonissenhäuser mitgeholfen und überall für die Anfangszeit die tüchtigsten Schwestern zur Verfügung gestellt, so in Amsterdam, Oldenburg, Kreuznach, Detmold, Arolsen [S. 202] und Miechowitz, wie denn auch die Entstehung des zweiten westfälischen Mutterhauses in Witten und der rheinischen Anstalt Tannenhof bei Lüttringhausen ihm eine ganz besondere Freude und Entlastung war.
Grundlegende Änderungen hat er bei keinem dieser neu entstehenden Diakonissenhäuser, die um seine Unterstützung baten, anbahnen helfen. Es blieb bei gelegentlichen mündlichen kritischen Äußerungen über die Mängel des jetzigen Diakonissenwesens, sowohl was die Durchbildung der einzelnen Schwester als die Zusammensetzung der Schwesternschaft betraf. Ihn schmerzte es unablässig, zu sehen, wie hohe und höchste katholische Familien immer wieder mindestens eine ihrer Töchter in den Dienst der Kirche stellten, während die evangelischen Diakonissenhäuser eine Rekrutierung aus allen Schichten der christlichen Gemeinde doch zu schmerzlich entbehren mußten.
Hätte Vater, als er die Arbeit in Bielefeld übernahm, nicht schon die festgelegte Grundlage des Diakonissenwesens vorgefunden, so könnte man sich denken, daß er für die Heranbildung einer evangelischen Truppe von Pflegern und Pflegerinnen des Volkes in allen seinen körperlichen und geistigen Nöten, ich möchte nicht sagen freiere, wohl aber höhere Wege gesucht hätte, auf denen in ganz anderer Weise, als es jetzt der Fall ist, die Gesamtheit der ihrem Herrn in Wahrheit ergebenen Christenheit sich vor den Wagen des Elends gespannt hätte. Aber zum Reformator von Instituten, die bei allen Schranken, welche ihnen anhaften, doch schon einen Stempel reichen göttlichen Segens an sich trugen, hat sich Vater nie berufen gefühlt.
Oft hat Vater den Gedanken abwehren müssen, daß er der Begründer der Anstalt gewesen sei. Er war ja tatsächlich erst eingetreten, als der erste Anfang bereits fünf Jahre zurücklag. Wenn er aber gefragt wurde, wer denn eigentlich der Begründer gewesen sei, wen sollte er da nennen? Er hätte manche Namen aus Rheinland und Westfalen anführen müssen, die in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bei den ersten Fundamenten zusammengewirkt hatten und für die Pastor Balke aus Rheydt der öffentliche Sprecher geworden war. Balkes Bild behielt darum in Vaters Zimmer seinen Platz.
Aber wenn Vater die Besucher durch die Anstalt führte, brachte er sie gern auf den Friedhof und zeigte ihnen dort in der äußersten Ecke ein Grab, auf welchem geschrieben steht: „Hier ruht ein treuer Freund des Ravensbergischen Volkes, Friedrich Wilhelm Heermann, geb. 31. März 1800, gest. 26. Jan. 1882 in Sarepta. Der Herr wird dein ewiges Licht sein, und die Tage deines Leidens sollen ein Ende haben. Jes. 60, 20.”
Diesen Heermann bezeichnete er am liebsten als den eigentlichen Gründer der Anstalt. Ich habe den achtzigjährigen Mann noch deutlich in Erinnerung, wenn er an unserm Mittagstisch saß oder wenn er sich an meiner Hand von unserm Haus in sein Zimmer auf der Männerstation von Sarepta zurückführen ließ. Dort stand auch seine kleine Stubenorgel, zu der ich ihm einige Male den Wind gemacht habe. Es war mir sehr feierlich in Gegenwart dieses Mannes zu Mut, aber nicht eigentlich furchtsam; und das ist mir noch heute ein Zeichen, daß in dem Mann eine tiefe, lautere Frömmigkeit gewohnt haben muß und er nicht zu den Überfrommen gehörte, vor denen Kinder so leicht eine Scheu empfinden.
Er stammte aus der Gemeinde Werther, zwei Stunden nordwestlich von Bielefeld. Dort hatte sein Vater eine kleine Stätte besessen, d. h. ein eigenes Haus mit einigen Morgen Acker, die er mit den Kühen bewirtschafte. Als etwa zwanzigjähriger Jüngling war Heermann von dem Boden auf die Diele gestürzt, und als Folge dieses Sturzes hatte sich eine Störung seiner Sehkraft und schließlich vollständige Erblindung herausgestellt. Aber die Nacht, die sich über sein äußeres Leben legte, wurde ihm zur Nacht von Bethlehem, von der es heißt: „Dies ist die Nacht, da mir erschienen — Des großen Gottes Freundlichkeit. — Das Kind, dem alle Engel dienen, — Bringt Licht in meine Dunkelheit. — Und dieses Welt- und Himmelslicht — Weicht hunderttausend Sonnen nicht.”
Die Zeit der vollständigen Erblindung Heermanns fiel zusammen mit der Zeit der Erweckung des geistlichen Lebens, die nach der Öde und Dürre des Vernunftglaubens wie ein erfrischender Lufthauch durch das Land ging. Auch in Minden-Ravensberg waren in Stadt und Land die Gewissen erwacht. In kleinen und größeren Kreisen sammelte man sich, um gemeinsam nach Gottes Wahrheit und Willen zu forschen und sich im Glauben an den Versöhner zu stärken.
Heermann wurde einer der Pfleger dieser Kreise. Es kam ihm zustatten, daß er noch in den Tagen des gesunden Augenlichtes gelernt hatte, im Sattel zu sitzen. Jetzt sah man den blinden Mann mit einem Geleitsmann zusammen durch das Land reiten, um bald hier, bald dort die Versammlungen der Glaubenden zu stärken. Bald wußte er so genau auf den Straßen des Landes Bescheid, daß er, wenn er nicht ritt, zu Fuß ganz allein die weitesten Strecken zurücklegte, um nicht nur die Versammlungen aufzusuchen, sondern auch die einzelnen Familien, die den neuen Weg des Glaubensgehorsams beschritten hatten, zu stärken und zu fördern. Auch in mehr als einem adligen Hof des Landes war er ein gern gesehener Gast.
Er blieb nicht bei der Gewinnung einzelner Seelen und einzelner kleiner Kreise stehen. Sein inneres Auge war auf die Erfassung der Volksseele, auf die Gewinnung der Gemeinden gerichtet. Darum lag ihm daran, daß die Kanzeln des Landes wieder mit Männern besetzt wurden, die durch ihre Predigt das tiefste Bedürfnis stillen und zu dem Heiland der Welt führen könnten. Nach dieser Richtung hin leitete er darum vor allem das Gebet derer, die mit ihm eines Sinnes waren. Zugleich unternahm er alles, was zur Gewinnung tüchtiger Pastoren führen konnte. Mehrmals reiste er deswegen nach Berlin, und man gab ihm Gelegenheit, sich vor dem König Friedrich Wilhelm IV. über seine Gedanken und Wünsche auszusprechen.
Das war in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Der Same, der immer reichlicher ausgestreut wurde, ging auf. Ein Frühling neuen Lebens füllte die Hügel und Täler des Ravensberger Landes, und in das stille Rauschen der Bäche, die die verborgenen Wiesentäler des Landes durcheilten, mischte sich das Rauschen des neuen Geistes, der die Herzen erfüllte. Aus solchen Herzen aber erwuchs die Willigkeit, dem Rufe Gottes zu folgen, um den Elenden nicht nur die Häuser zu bauen, sondern sie auch in diesen Häusern zu pflegen, nicht um Geldes willen, sondern frei und umsonst aus Dank gegen Gottes große Heilandstat in Jesus Christus.
Später folgte dann Heermann dem Rufe des Grafen Arnim-Muskau, um dort längere Jahre hindurch in ähnlicher Weise tätig zu sein wie im Ravensberger Lande. Als die Kraft nachließ, lud ihn Vater ein, für den Rest seines Lebens zu uns[S. 205] zu kommen. Er wurde dann in Sarepta zum Seelsorger der Kranken, die aus Stadt und Land Aufnahme fanden.
Bei den Andachten, die er regelmäßig in den Krankensälen hielt, ging ihm sein Freund und Gesinnungsverwandter, der alte Schmied Pöppelmeier, zur Hand, der die Lieder vorsagte und die Texte verlas, die dann von Heermann ausgelegt wurden.
Im Sterben ließ sich Heermann noch einmal das 53. Kapitel des Buches Jesaia von Vater vorlesen. Als der Vers kam: „Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilet”, rief er: „Halleluja, Halleluja!” Es ging uns schon als Kindern stets durch und durch, wenn Vater, wie er es immer wieder tat, in seinen Predigten von diesem Halleluja des sterbenden Mannes erzählte. Wir konnten das tiefe Geheimnis, weshalb gerade über diesen Versen ein Sterbender jubeln konnte, noch nicht mit dem Verstande fassen, aber unsere Seele ahnte etwas von diesem beseligenden Glauben.
Bedeutsam aber bleibt, daß Vater diesem schlichten Mann des Volkes vor andern grundlegenden Einfluß zuschrieb für die Bereitung des Bodens, auf dem die Anstalt erwuchs.
Die Arbeit wuchs von Jahr zu Jahr, und Vater hatte Hilfe nötig. Zu suchen brauchte er eigentlich nicht mehr. Bei Gelegenheit eines Missionsfestes, zu dem er von Dellwig aus gereist war, hatte er in Bruchhausen an der Weser den damaligen Hilfsprediger Hermann Stürmer kennen gelernt. Fast auf der Stelle hatte er Herzensfreundschaft mit ihm geschlossen und ihn nach Dellwig eingeladen. Er bedurfte dort der Entlastung, weil mit dem Tode seines Kollegen Philipps außer allen andern Pflichten, die er übernommen hatte, die ganze Gemeindearbeit sich auf ihn gelegt hatte. Stürmer kam und erlebte jene erschütternden dreizehn Tage, in welchen den Eltern alle ihre vier Kinder genommen wurden. Er ist ihnen damals ein großer Trost gewesen, und das gemeinsam erlebte tiefe Leid verband alle drei zu unlöslicher Freundschaft.
Die Anstalten in Ducherow in Pommern waren zu jener Zeit durch manche Schwierigkeit gegangen. Vater hatte von Dellwig aus bei der Ordnung der Verhältnisse an Ort und Stelle mitgeholfen, hatte sich aber nicht entschließen können,[S. 206] selbst nach Ducherow überzusiedeln. Statt seiner empfahl er seinen Freund Stürmer. Nach siebenjähriger Tätigkeit in Ducherow kam dann Stürmer, der sich inzwischen verheiratet hatte, nach Bethel. Es war natürlich ein großes Ereignis für uns Kinder, als unsere beiden Anstaltsschimmel Max und Hektor den neuen Pastor mit seiner Frau und seinen beiden kleinen Töchtern im Kutschwagen den Berg herauf vor unser Haus zogen.
Wir Kinder haben vom ersten Augenblick dem Pastor und der Pastorin Stürmer den größten Respekt entgegengebracht. In Stürmers äußerer Erscheinung lag nichts Imponierendes, aber Ruhe, Klarheit und eine unerschütterliche Treue standen ihm auf dem Angesicht geschrieben. Die Pastorin aber war in ihrem ganzen Wesen von einer Schlichtheit, Milde und Herzensgüte, daß man sie nur zu sehen brauchte, um ihr Verehrung entgegenzutragen. Daß auch mit den Kindern dieser Eltern uns bald eine herzliche Kameradschaft verband, versteht sich von selbst.
Vor allem entlastete Pastor Stürmer unsern Vater in der Arbeit an den Epileptischen. Was Vater bei seinem zunehmenden Pflichtenkreis nicht mehr so, wie er es wünschte, gekonnt hatte, tat jetzt Stürmer: er nahm sich der einzelnen Stationen und der einzelnen Epileptischen an. Wenn Vater sich oft nur so viel Zeit genommen hatte, das Feuer der Erregung, das bei Epileptischen so leicht auflodert, durch ein kurzes gütiges oder, was auch nicht ausblieb, strenges Wort rasch zu dämpfen, so nahm Pastor Stürmer sich die Muße, dem Herde des Feuers nachzugehen und ihn in seiner Tiefe aufzudecken. So machte es einst einen großen Eindruck auf mich, als ich ihn einmal in seinem Arbeitszimmer mit einem epileptischen Kranken zusammen fand. Er hatte die Bibel auf seinen Knien und suchte darin, bis er den Spruch fand, den er dem Kranken als Arznei mitgab. Das war überhaupt seine Regel: wenn irgend die Fassung des Kranken noch ausreichte, führte er ihn in die Schrift und stellte damit die unruhvolle Seele des Epileptischen auf den festen, unerschütterlichen Grund der ewigen Wahrheit und des ewigen Friedens.
Wie bei den einzelnen hielt er es auch auf den Stationen. Nicht um sich sammelte er die Kranken, nicht an seine Person fesselte er sie, sondern immer war es die Person des Heilandes und die Majestät Gottes, die er an der Hand irgend eines[S. 207] Schriftwortes vor die Kranken hinstellte und damit die tiefsten Wirkungen erzielte.
Daneben war es die Musik, die er unter den Epileptischen pflegte. Auch hierin ergänzte er Vater, der es auf dem musikalischen Gebiet nicht weiter gebracht hatte, als daß er mit einem Finger eine Melodie tippen konnte. Die kleine Orgel, die einst in der Hügelkirche in Paris gestanden hatte, war bei dem Erweiterungsbau überflüssig geworden und stand nun im Speisesaal von Groß-Bethel. Um diese Orgel sammelte Stürmer den Chor der Epileptischen. Der 126. Psalm — „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird” —, mit dem bis heute dieser Chor viele Herzen ergreift, ist von Pastor Stürmer zuerst eingeübt worden.
Auch die Aufnahme der Epileptischen übernahm Pastor Stürmer, insbesondere die Festsetzung der Pflegegelder. Es war vom ersten Augenblick an Vaters Grundsatz gewesen, keinen Epileptischen um des Geldes willen abzuweisen. Aber seine Güte war doch nicht selten mißbraucht worden, namentlich auch von Gemeindeverwaltungen, die sich den Pflichten gegen ihre Gemeindekinder zu entziehen suchten und den Wohltätigkeitssinn der Freunde der Epileptischen ausnutzten. Jetzt sind die Leistungen der Gemeinden, soweit diese zur Unterbringung ihrer epileptischen und geisteskranken Eingesessenen verpflichtet sind, fest durch das Gesetz geregelt. Damals war es nicht so. Und Pastor Stürmer ging mit zäher Treue allen Quellen nach, die zum Unterhalt der Epileptischen beitragen konnten.
Während die Schwestern in Vater ihren Leiter behielten, wurde Pastor Stürmer der Leiter der Brüder. Doch blieb das feste Band dadurch erhalten, daß Vater bei den Brüdern eine oder zwei Unterrichtsstunden gab, Stürmer umgekehrt bei den Schwestern. Rascher als Vater drängte Stürmer zur Klärung und Entscheidung. Vaters unermüdliche Geduld konnte nicht anders, als immer und immer wieder zu warten, ehe er eine Schwester oder einen Bruder, die ungeeignet schienen, veranlaßte zurückzutreten. Er hat damit, wie schon gesagt, den Diakonissen und Diakonen, die Tag für Tag mit solchen ungeeigneten Kräften zu tun hatten, oft Außerordentliches zugemutet, hat freilich so auch ihre Schultern im Tragen und Ertragen gestählt und manche derartige Kraft mit seiner unermüdlichen[S. 208] Geduld innerlich überwunden und dadurch der Arbeit erhalten, die sonst verbittert ihres Weges gegangen wäre.
Stürmer hatte diese Art nicht. Unlautere Elemente wurden unter den Brüdern schneller ausgeschieden als unter den Schwestern; und das war auch gut, da die Geduld des Mannes von Natur kürzer ist als die der Frau und die Brüderschaft zu stark in ihrer Arbeitsfreudigkeit gehemmt worden wäre, wenn Pastor Stürmer nicht immer wieder schnell die lauen Elemente abgewehrt hätte.
Seine Entschiedenheit trug er natürlich auch in die Schwesternstunden hinüber und ergänzte so Vater in der Erziehung der Schwestern, wie umgekehrt Vater manche Herbigkeit glätten konnte, die Stürmers Arbeit an den Brüdern mit sich brachte.
Stürmers Predigten, die er abwechselnd mit Vater hielt, machten auf Kranke und Gesunde tiefen Eindruck durch die Kraft und Innerlichkeit der Überzeugung, die von ihnen ausging, auch wenn sie nicht immer von allen verstanden wurden. Namentlich waren es Stürmers Unterrichtsstunden, vor allem auch der Konfirmandenunterricht der epileptischen und gesunden Kinder, wodurch er der ganzen Gemeinde zum großen Segen wurde. Pastor Wilm, jetzt am Diakonissenhause in Witten, dem Stürmer als väterlicher Freund nahe stand, hat mit dem Titel „Unter dem Rauschen des Gottesbrünnleins” (erschienen in der Buchhandlung der Anstalt Bethel) Auszüge aus den Predigten und Stunden Stürmers herausgegeben. Wer Stürmer ganz verstehen und einen Eindruck empfangen will von der tiefen Kraft, die von diesem stillen Mann in die Gemeinde ausging und bis heute fruchtbar geblieben ist, der muß zu diesem Büchlein greifen.
Die Texte, über die die Predigten und Ansprachen gehalten wurden, verabredeten die beiden miteinander, und Pastor Stürmer hielt sich unerschütterlich daran. So waren einmal für die Abendgottesdienste der Passionswoche die sieben Worte Jesu am Kreuz festgelegt worden, und auf den Abend des Palmsonntags, als des ersten Tages der Passionswoche, fiel das erste Wort: „Vater, vergib ihnen.”
Nun traf es sich, daß an diesem selben Tage unsere Eltern ihre silberne Hochzeit feierten. Vater hatte am Morgen den Gemeindegottesdienst gehalten; am Abend sollte die Feier sein,[S. 209] in welcher Pastor Stürmer die Freude und die Wünsche der Gemeinde zum Ausdruck bringen sollte. Man erwartete einen besonderen Freudentext. Aber nein, Stürmer blieb bei dem, was einmal festgelegt war: „Vater, vergib ihnen.” Und es ergab sich, daß der geistvolle Mann in zartester Weise in die Behandlung des Textes die tiefsten Erfahrungen und die ganze Lebensgeschichte der Eltern einflocht, die im Grunde aus der Vergebung der Sünden heraus ja in nichts hinauslief als in Leben und Seligkeit. „Denn wo Vergebung der Sünden ist, da ist Leben und Seligkeit.” Auf diese beglückendste Wahrheit stellte Stürmer an diesem Abend das Leben der Eltern und mit ihnen der ganzen Gemeinde und traf so in der Tat den festlichsten Ton.
Die unerschütterliche Freundestreue und tiefe Verehrung, die Stürmer gegen Vater erfüllte, brachte es mit sich, daß er bei Tag und Nacht bereit war, Vater zu entlasten und zu ergänzen. Es gab keine Reise, keine Predigt, keine Stunde, die Vater nicht in jedem Augenblick, wenn ihm Hindernisse dazwischen kamen, auf ihn übertragen konnte. Wie oft sind wir Kinder hinübergesprungen durch den Garten des Diakonissenhauses ins zweite Pfarrhaus, um solch ein Anliegen zu überbringen, und immer wurde es mit derselben Willigkeit aufgenommen, trotzdem der treue Mann vielfach unter schwersten Kopfschmerzen litt, die ihm die Arbeit zur Qual machten. Aber klagen hat man ihn nie hören.
Die epileptischen Kranken hatten nach wie vor auch bei Vater zu jeder Zeit und Stunde freien Zutritt. Aber immer wieder konnte er sie dann Pastor Stürmer zur gründlicheren Behandlung aller ihrer Klagen zuweisen. Oft war das Sprechzimmer Stürmers mit Epileptischen gefüllt, die rings um ihn her saßen. Er pflegte dann wohl in großer Gemütsruhe von der eingegangenen Post einen Brief nach dem andern mit dem Bleistift aufzurollen, — denn um den Umschlag wieder verwenden zu können, zerschnitt er ihn niemals — und während dessen hörte er einen Wunsch nach dem andern an. Aber auch für die gesunden Anstaltsglieder blieb das Stürmersche Haus ein stets weitgeöffneter Ruheport und für die Gäste, die kamen, eine nie sich schließende Herberge zur Heimat. Das war namentlich in den Zeiten, wo der leidende Zustand unserer Mutter unser Haus in die Stille versetzte, eine große Wohltat für unsere Eltern.
In der selbstlosen Hingabe an sein Amt und in der wahrhaft großartigen Freundestreue gegen unsern Vater verzehrte sich Stürmers Kraft. Während eines Familienabends bei den epileptischen Damen in Bethanien erlitt er 1895 einen Schlaganfall, von dem er sich nicht wieder erholte. „Es ist schwer, nichts zu sein”, seufzte der tätige Mann wohl gelegentlich. Als er im Herbst 1899 erlöst war, rief Vater an seinem Grabe: „Es ist mir leid um dich, mein Bruder Jonathan, ich habe große Freude und Wonne an dir gehabt.” Das ging uns durch Mark und Bein. Seine Witwe erkrankte an der Gicht, die schließlich zur völligen Lähmung führte, aber bis zu ihrem Tode mit einer Stille und Geduld getragen wurde, die in der Gemeinde fortwirken.
Das Kassenwesen der Anstalt forderte bald eine besondere Kraft. Wen sollte Vater rufen? Auch diesmal wieder, wie bei Pastor Stürmer, war ihm die Qual der Wahl erspart. Seit seiner Landwirtszeit in Hinterpommern war er mit seinem seelsorgerlichen Freunde Mellin verbunden geblieben. So kam der schon ergrauende Mann zu uns und bezog die beiden warmen Südzimmer im Giebel unseres Pfarrhauses. Erst als er längst seine Augen geschlossen hatte und wir Kinder erwachsen waren, deutete Vater einmal an, durch welche tiefen Versuchungen „Onkel Mellin”, wie wir ihn nannten, gegangen war, längst ehe er ihn kennen gelernt hatte. In der Tiefe hatte ihn Gottes Gnadenstrahl getroffen, und nun lag ein Abglanz davon auf seinem Angesicht und in seinem Wesen.
Wir Kinder hatten ein unbegrenztes Vertrauen zu ihm. Immer konnten wir bei ihm eindringen. Aus den alten Aktenstücken seines Papierkorbes drehte er uns herrliche lange Posaunen, und wenn er sich auch gar nicht mit uns beschäftigte, so war es uns schon eine Wohltat, in der Nähe dieses friedevollen Mannes uns aufhalten zu können. Als es sich zeigte, daß die Kassenstube im unteren Teil der Stürmerschen Wohnung günstiger lag als bei uns, siedelte Mellin dahin über, und von dort aus ist er vielen Anstaltsgenossen, jungen und alten, namentlich auch den Diakonen ein seelsorgerlicher Freund geworden, gerade so wie einst in seinem Posthalterstübchen in Hinterpommern der Landjugend und den jungen Landwirten.
Es bleibt beachtenswert, wie Vater von vornherein die tiefsten, innerlichsten Persönlichkeiten, die in seinem Gesichtskreis lagen, zur Mitarbeit heranzog, nachdem sie längst vorher in seinen Lebensweg gestellt waren. Und daß ihm gerade für das scheinbar so äußerliche Gebiet der Geldangelegenheiten die tiefe Persönlichkeit Otto Mellins sich darbot und beide sich ganz verstanden, war von unauslöschlicher Bedeutung für den Fortgang der Arbeit.
Wer die heutige Entwicklung der Anstalten überschaut, der fragt sich, woher die Mittel kamen und wie es möglich war, daß so große Mittel unserm Vater anvertraut wurden. Das Geheimnis lag in der persönlichen Freiheit Vaters dem irdischen Besitz gegenüber. Er hatte für seine Person kein Geld nötig. Er hatte nie Geld bei sich. Ging er auf Reisen, so legte ihm unsere Mutter das Portemonnaie zurecht. Aber auch so kam es vor, daß er es liegen ließ. Dann borgte er sich unterwegs das Nötige; und die Leute gaben es ihm. Als er einmal zur bestimmten Stunde in Potsdam zu einer Audienz beim späteren Kaiser Friedrich, dem damaligen Kronprinzen, sein mußte und auf dem Potsdamer Bahnhof in Berlin sich die Fahrkarte lösen wollte, entdeckte er, daß seine Tasche leer war. Kurz entschlossen legte er die goldene Uhr seines Vaters hin. Aber ein Reisender, der hinter ihm stand, legte den Fahrpreis neben die Uhr, und Vater konnte Uhr und Fahrkarte einstecken.
Es war für uns Kinder immer ein Schmerz, gar nichts zu wissen, was wir unserm Vater zum Geburtstag oder zu Weihnachten schenken sollten. Er hatte nichts Asketisches an sich, aber er ließ sich wirklich an Nahrung und Kleidung genügen und hatte darüber hinaus keine Wünsche und keine Bedürfnisse. Doch diese Freiheit den irdischen Dingen gegenüber machte ihn keineswegs unsorgsam. Er rechnete immer, wenn er nach Hause kam, ab. Jede, auch die kleinste Gabe wurde sofort notiert und in Verwahr gegeben. Auch für uns Kinder verstand es sich von selbst, daß wir über das kleine Taschengeld, das wir bekamen, sorgsam Buch führten. Beides, die sorgliche Harmlosigkeit dem Gelde gegenüber und die große Sorgsamkeit, die er ihm zugleich widerfahren ließ, hatte bei Vater in Gott seinen Grund. Gott lebt und gibt; was brauche ich zu sorgen um das Geld? Gott aber gibt das Geld, also bin ich sorgsam; [S. 212] denn ihm gehört beides, Silber und Gold, darum bin ich ihm auch für den kleinsten Pfennig verantwortlich.
So spürte man es Vater ab: bei ihm ist das Geld wirklich in guter Hand. Ihm können wir es anvertrauen. Er braucht es nicht zu unnützen Zwecken, nicht zum eigenen Vorteil, nicht zum eigenen Ruhm. Hier wird wirklich das Geld, das so selten Gutes stiftet, aus einem Fluch zum sorgsam verwalteten Segen. Hier wird aus dem harten Tyrannen ein Diener des Erbarmens.
Aber auch diese Verwaltung und Verwendung des Geldes innerhalb der Anstalt geschah unter dem Gesetz der Freiheit, in der innerlichen Unabhängigkeit vom Gelde, und nie wurde mit Rücksicht auf das Geld etwas unterlassen, was wirklich von der Liebe gefordert wurde. Die Liebe sollte regieren, nicht das Geld. „Nie”, sagte Vater einmal, „soll das Geld Königin sein, sondern die Barmherzigkeit. Hierbei werden die Anstalten sich auch materiell am besten stehen.” Darum wurde auch für die einzelnen Haushaltungen kein bindender Haushaltsplan aufgestellt. Es ging auf Treu’ und Glauben, wie beim Bau des ersten Tempels in Jerusalem. Dem einen Hauselternpaar war die Gabe gegeben, mit wenigem auszukommen. Gut, wenn es sich nur keinen Ruhm daraus machte, sich nicht vom Sparsamkeitsteufel ergreifen und die Liebe darüber sterben ließ. Dem andern Hauselternpaar wollte es trotz aller Mühsal nicht gelingen, mit dem Monatsgelde auszukommen. Was schadete es, wenn es sich nur nicht von ängstlicher Sorge fassen ließ und darüber für sich und die Kranken den Frieden einbüßte.
So konnte es vorkommen, daß Vater für den geschickten Hauswirt am meisten bangte, mit dem ungeschickten am meisten Rücksicht übte. Denn bei jedem sah er nicht auf das Geld, sondern auf die Barmherzigkeit. Gegen Verschwendung in jeder Gestalt war er unerbittlich. Wie oft haben wir es gesehen, wie er einen halben Backstein, der am Wege lag, aufhob und an seinen Platz trug. Wie oft hat er immer wieder zur Treue gerade in den kleinen und kleinsten Dingen ermahnt. Aber niemals um der materiellen Ersparnis willen, sondern weil Gott gerade auch das Kleinste nicht gering geachtet sein läßt.
In dieser seiner Freiheit und seiner Gebundenheit gegenüber dem irdischen Gut sich von Mellin verstanden zu wissen, mit ihm darin völlig eins zu sein, das bedeutete für Vater und die ganze Arbeit eine unermeßliche Wohltat. Und dieser Sinn[S. 213] der unbedingten Freiheit und ebenso unbedingten Treue gegenüber dem ungerechten Mammon wurde nun von Mellin durch seinen täglichen Dienst den einzelnen vermittelt. Damit wurde der Grund gelegt einerseits zu einer Sparsamkeit im Kleinen und Kleinsten, die manche Haushaltung zu einer Musterwirtschaft machte, andererseits aber auch zu einer Freiheit und Weite, die das Geld zu einer Dienerin der Liebe machte und seine harte Tyrannei, die sich so oft in den Mantel der Sparsamkeit hüllt, nicht aufkommen ließ.
Mellin erlebte noch den Bau der Zionskirche, zu der so viele kleine und große Gaben aus aller Welt Enden durch seine Hand gegangen waren. An einem Sonnabendabend im Sommer 1884 ging er mit uns durch den Buchenwald zum Bauplatz hinaus, und ich sehe noch das strahlende Angesicht, mit welchem er in unserer Mitte stehend zu dem Balkenwerk emporsah, das kurz vorher gerichtet war. Am nächsten Tage besuchte er auswärts einen leidenden Freund und kehrte erst abends zurück. Am andern Morgen blieb seine Tür verschlossen. Als man sie öffnete, fand man den treuen alten Mann entschlafen. Auf seinem Tisch lag der kleine Bogatzky, der auch für ihn, gerade so wie für unsere Eltern, der Freudenmeister der täglichen Buße und des täglichen Glaubens geworden war. Ich blätterte darin herum und fand, wie er jeden Tag, an welchem er zum heiligen Abendmahl gegangen war, besonders bezeichnet hatte: „Heute zum Tisch des Herrn.” Ein treuer Knecht seines Herrn, im Irdischen und im Himmlischen. „Ei, du frommer und getreuer Knecht — gehe ein zu deines Herrn Freude!” Zwischen den Gräbern der Diakonen ist noch heute sein Grab zu finden.
Bis zum Jahre 1887 waren es Bielefelder Ärzte, die nebenamtlich die Kranken der Anstalt besuchten, erst Dr. Tiemann, dann, als seine Nachfolger, die Doktoren Bertelsmann und Müller-Warneck, beide alten Bielefelder Familien entstammend. Sie kamen immer erst in der Mittagsstunde, nachdem sie ihre Kranken in der Stadt besucht hatten. Jeder hatte eine Abteilung im Diakonissenhause und einige Abteilungen der Epileptischen. Die Epileptischen-Abteilungen wurden nicht täglich, sondern, abgesehen von besonderen Fällen, nur zwei- oder dreimal [S. 214] die Woche besucht. So waren die Besuche der Ärzte in den Anstaltshäusern verhältnismäßig schnell erledigt. „Unsere lieben Ärzte haben nicht viel zu tun,” hörte man Vater in jener Anfangszeit öfter sagen, „die Brüder und Schwestern machen die Hauptsache.”
Es ist später wohl der Vorwurf erhoben worden, es wäre in jener ersten Zeit auf ärztlichem Gebiet zu wenig geschehen. Aber damals waren die eintretenden Kranken meist solche, an denen alle ärztliche Kunst sich bereits umsonst abgemüht hatte. Allmählich änderte sich das, und namentlich das Gesetz über die Fürsorge für Epileptische und Geisteskranke vom Jahre 1891 brachte es mit sich, daß mehr und mehr auch die frischeren Fälle der Epilepsie zur Behandlung kamen. Die Erweiterung der Anstalt durch die Errichtung sogenannter geschlossener Häuser für Epileptische und Gemütskranke gab vollends dem Krankenbestand gegenüber den ersten Anfängen ein ganz verändertes Gesicht. Damit war die feste Anstellung vermehrter ärztlicher Kräfte, die im Hauptamte standen, gegeben. Ihnen folgte Schritt auf Schritt ein umfassender wissenschaftlicher Apparat, der es ermöglichte, auf der Höhe der wissenschaftlichen Forschung zu bleiben und ihre Ergebnisse zur engeren und weiteren Anwendung zu bringen.
Doch liegt auch für das Urteil des Arztes die Bedeutung des Anstaltsaufenthaltes bei den Epileptischen nicht in erster Linie in der medizinischen Behandlung, sondern vielmehr in der neuen Atmosphäre, die sie umgibt. Das Leben der Zurückgezogenheit, der Einsamkeit, der Arbeitslosigkeit, der Aussichtslosigkeit hat für die Epileptischen mit ihrem Eintritt in die Anstalt ein Ende; eine feste, ärztlich geregelte Tagesordnung mit dem gleichmäßigen Wechsel von Arbeit und Ruhe nimmt sie auf; wachsame Augen der Pfleger und Pflegerinnen sind für den Augenblick des Anfalls zur Stelle, und das Zusammenleben mit Leidensgenossen wirkt keineswegs, wie vielfach angenommen wird, niederdrückend, sondern beruhigend und ablenkend. Die Kranken werden gelehrt, den Pflegern und Pflegerinnen zur Hand zu gehen, bei den Schwindeln und Anfällen ihrer Mitkranken selbst mit zuzugreifen und schwerer Leidende in besondere Obhut zu nehmen, sodaß sich ihnen immer wieder die Wahrheit bewährt: „Drückt dich eine Last, nimm eine fremde hinzu! An beiden wirst du leichter tragen, als an deiner allein.” [S. 215] Aber natürlich gehört dazu, daß die Diakonen und die Diakonissen, die einer solchen Krankenstation vorstehen, sich nicht selbst vom Krankenelend überwinden lassen, sondern mit fröhlichem Herzen dem festgeordneten Tageslauf Geist und Leben einhauchen. Und insofern behielt Vater bis heute recht, wenn er sagte: „Die Schwestern und Brüder tun die Hauptsache.”
Sie sind ja auch die einzigen, die dem Arzt aus ihren Beobachtungen heraus genauen Bericht über Stimmung und Zustand des einzelnen Kranken geben können. Sie haben die für die ärztliche Behandlung notwendige Liste über die Schwindel und Anfälle zu führen, die bei jedem einzelnen Kranken im Laufe des Tages und der Nacht vorgefallen sind. Darum ist gerade bei den Epileptischen ein zuverlässiges Pflegepersonal die Grundbedingung einer gedeihlichen ärztlichen Behandlung.
Schon wenige Jahre nach seinem Eintritt in Bethel schrieb Vater für die Diakonen und Diakonissen eine Berufsordnung, welcher er ältere Arbeiten ähnlicher Art zugrunde legte, die er durch eigene Gedanken ergänzte. Diese Berufsordnung wurde jedem einzelnen Diakonen und jeder Diakonisse in die Hand gegeben und diente zugleich als Hilfsbuch bei den wöchentlichen Berufsordnungsstunden. Vater hat darin immer wieder Pflegern und Pflegerinnen die sorgsame Unterordnung unter den Arzt zur freudigen Pflicht gemacht und sowohl Brüdern wie Schwestern die Neigung genommen, selbst den Arzt spielen zu wollen.
Auch er seinerseits hat sich an die in der Berufsordnung aufgestellten Regeln gebunden. Nie hat er in die Befugnisse des Arztes eingegriffen. Für seine Person war er am liebsten sein eigener Arzt. Seine gründliche Morgenwäsche und sein Trunk frischen Wassers vor dem Morgenfrühstück und dem Nachmittagskaffee waren seine vorbeugenden Medikamente, die sich in hohem Maße bei ihm bewährten. Aber nicht einmal auf diesem einfachsten hygienischen Gebiet hat er je einem Kranken Ratschläge gegeben. Alle diese Dinge überließ er ganz dem Arzt. Für ihn war die Krankheit selbst im Grunde das große Heilmittel, das Gott zur innersten Genesung verordnet hatte. Diesem Heilmittel lehrte er trauen und stillhalten und schließlich dafür danken.
So waren die Gebiete des Seelsorgers und die des Arztes völlig getrennt. Eines lag neben dem andern. Auf dem einen[S. 216] Gebiete, dem des Arztes, war die Krankheit der Feind, der bekämpft werden mußte. Auf dem andern Gebiet, dem des Seelsorgers, war sie der Freund, für den man dankte. Aber gerade so wurde Vater der wirksamste Bundesgenosse des Arztes, indem er die Krankheit innerlich überwinden half und damit die tiefsten Kräfte des Kranken weckte, so daß er den Anordnungen des Arztes sich nicht mit ängstlicher Sorge oder stumpfer Gleichgültigkeit fügte, sondern mit der Gelassenheit des Geistes, die die beste Hilfe ist zur Genesung. Bei dieser innerlichen Trennung der Gebiete waren Zusammenstöße nicht denkbar, und die sachliche Scheidung ermöglichte die freundschaftlichen Beziehungen auf persönlichem Gebiet, wie sie seit jenen ersten Tagen zwischen Vater und den Ärzten bestanden.
Rückblickend darf hier wohl gesagt werden, daß die große Pietät und die tiefe Achtung fremden Arbeitsbereichen gegenüber für Vater ein Hindernis bedeuteten, auf dem Boden der Gesundheitspflege neue Wege einzuschlagen. Ein Reformator war er eben auch auf diesem Boden nicht und wollte er auch nicht sein. Das hätte zu Kämpfen führen können, die möglicherweise den Frieden innerhalb der Anstaltsleitung gefährdet hätten. Aber Kämpfen auf Gebieten, die ihm nebensächlich erschienen, ging Vater aus dem Wege, um so Wichtigeres zu erreichen: die innere Harmonie der gesamten Arbeit.
Als vollends auch das Diakonissenhaus zu erheblichen Erweiterungen seiner Krankenanstalt gezwungen wurde, um für die wachsende Zahl seiner heute 1600 Diakonissen umfassenden Schwesternschaft die Möglichkeit zu gründlicher und allseitiger Ausbildung zu gewinnen, erweiterte sich der Kreis der im Hauptamt stehenden Ärzte noch um weitere Mitglieder, so daß ihre Zahl heute auf zehn gestiegen ist, ohne die Assistenten und auch ohne Spezialisten, die in Bielefeld ihren Sitz haben und von dort aus ihre täglichen Sprechstunden in Bethel abhalten.
Den Vorsitz im Ärzte-Kollegium führt seit nun 35 Jahren der ehrwürdige Geheimrat Huchzermeier. Sein Name braucht nur genannt zu werden, um eine Fülle der trautesten Bilder auftauchen zu lassen. Er war für Vater in Krankheitszeiten nicht nur der Arzt, sondern zugleich der fürsorgendste Freund, und so ist er es für viele Kranke gewesen und geblieben. Seinen Spuren sind dann auch seine Kollegen gefolgt.
Es ist für die Ärzte der Anstalt nicht immer leicht gewesen, sich in die Tatsache zu finden, daß die Oberleitung nicht in ärztlichen Händen lag; aber der Verzicht, den sie übten, ist ihnen entgolten worden nicht nur dadurch, daß sie von den oft so zerreibenden Verwaltungsgeschäften befreit blieben und sie ungehindert sich ihrem eigentlichen Beruf widmen konnten, sondern noch viel mehr dadurch, daß ihnen für ihre hingebende Arbeit ein volles Maß von Liebe und Dankbarkeit von Kranken und Gesunden entgegenströmte. So wurden sie vielfach in höherem Maße als die mit Nebenarbeiten überlasteten Anstaltspastoren die hochgeschätzten Berater und Freunde der Kranken.
Vater wurde einmal gefragt: „Wem gehören die Anstalten eigentlich?” Er antwortete: „Der ganzen Christenheit.” Aber die Christenheit brauchte Beauftragte, die in ihrem Namen und für sie den Besitz verwalteten. Das waren die Vorstände der einzelnen Anstalten. Jede Anstalt, wie bereits berichtet, hatte ihren Vorstand für sich, Bethel, Sarepta, Nazareth, und jeder einzelne Vorstand besaß und vertrat die Rechte einer juristischen Person. Er konnte Beamte berufen, Käufe und Verkäufe schließen, Anträge auf Bewilligung von Bauten und Kollekten stellen usw.
Warum — so wurde des weiteren oft gefragt — sind denn drei Vorstände nötig, wenn doch die Anstalten ganz dicht neben einander liegen und alle drei im Grunde den gleichen Zweck verfolgen? Und warum vollends drei Vorstände beibehalten, wenn doch, wie es in der Tat der Fall war, die Mitglieder des einen Vorstandes meist zugleich die Mitglieder des andern waren?
Auf solche Fragen legte Vater die Vorteile auseinander, die in der Beibehaltung der Dreiteilung lagen: Wohl waren die Vorstandsmitglieder der einzelnen Anstalten der Regel nach dieselben, aber der auswärtige Freundeskreis der drei Anstalten war nicht immer der gleiche. Es gab Kreise, die von Anfang an für die Epileptischen mitgearbeitet hatten, aber der Diakonissenarbeit fernstanden, und umgekehrt. Es gab auch solche, denen die Diakonissenarbeit vor andern am Herzen lag, die aber von der Diakonenarbeit kaum etwas wußten. Diesen[S. 218] Kreisen jedesmal das gleiche Interesse an allen drei Arbeitsgebieten zuzumuten, wäre zu viel verlangt gewesen. Die Schultern wären überlastet worden, und das Interesse wäre erlahmt. Hier galt wirklich das Wort: Ein Teil ist mehr als das Ganze.
Dazu kam das unmittelbar wirtschaftliche Interesse. Jede juristische Person konnte für ihr Gebiet besondere Bitten aussprechen, besondere Anträge auf Gewährung von Beihilfen aus öffentlichen und aus privaten Mitteln stellen. Wäre es, statt drei, nur eine juristische Person gewesen, so hätte die Einbuße an Beihilfen aus öffentlichen und privaten Mitteln eine beträchtliche sein müssen. Darum blieb die Dreiteilung erhalten und hat sich bis heute bewährt.
Nun ist es von hoher Bedeutung gewesen, daß die Vorstände dieser drei juristischen Körperschaften sich aus Persönlichkeiten zusammensetzten, die mit größter Treue und Hingabe das Werk von Anfang an auf Herz und Gewissen trugen.
Von diesen Vorstandsmitgliedern wurden der Kommerzienrat Gottfried Bansi und Pastor Simon bereits erwähnt. Bansis Großvater stammte aus dem Engadin in der Schweiz, von wo er, wie so viele Engadiner, als Bäcker ins Ausland gegangen war. Seine Wanderschaft hatte ihn nach Bielefeld geführt, und hier war er haften geblieben. Er hatte aus seiner Schweizer Heimat die Kenntnis der würzigen Kräuter mitgebracht und daraus ein Magenmittel bereitet, das noch heute gern gebraucht wird und dessen Vertrieb zur Entwicklung eines angesehenen Geschäftes führte. Unvergeßlich wird Bansis kleine, fast schüchterne Erscheinung allen bleiben, die noch in jene Anfangszeiten zurückschauen können. Er war wie einer, der sich nie ganz zu Hause fühlte, weder in seinem Geschäft noch in Bielefeld, sondern sich immer heimlich zurücksehnte in die schlichteren Verhältnisse der Heimat seiner Väter, und der den verborgenen Schmerz zu übertäuben suchte durch rastlose Hingabe an andre. Für wie viele ist er im Verborgenen ein Wohltäter gewesen, und mit welch unermüdlicher Treue hat er durch Jahre hindurch den Vorsitz in den Sitzungen des Vorstandes geführt!
Neben Bansi taucht die hohe Gestalt des Pastors Simon auf, der später Jahrzehnte hindurch Superintendent der Synode Bielefeld war. Auch er war kein Westfale, sondern ein Hesse von Geburt. Ein Germane von Kopf bis zu Fuß, wie ein Recke,[S. 219] mit einer Löwenstimme und dann wieder zart und sanft wie ein Kind. Er besaß ein großes Geschick in geschäftlichen Angelegenheiten und hatte in den fünf ersten Jahren von 1867 bis 1872, während welcher er die Anstalt leitete, eine gesunde Grundlage gelegt, auf der er bis zu seinem Tode 1912 weiterbauen half.
Dann kam wieder ein Kaufmann, der Kommerzienrat Hermann Delius, eine patriarchalische Gestalt, der seinen Bart wie der alte Kaiser Wilhelm I. trug, und an dem wir Kinder mit ehrfürchtiger Scheu emporsahen. Er war in ruhiger, sachlicher Vornehmheit der Vertreter des alten Leinenhandels Bielefelds. Seine Mutter gehörte zu jenen Frauen Bielefelds, in denen sich das neuerwachte Glaubensleben in besonderer Kraft entfaltet hatte. Der Segen der Mutter hatte sich auf den Sohn fortgeerbt und kam nun durch diesen den Arbeiten des Vorstandes zugute.
Pastor Jordan, ebenfalls Mitglied des Vorstandes, war Vaters Kriegskamerad aus den Feldzügen 1866 und 1870. Er stand an der Neustädter Kirche, in unmittelbarer Nachbarschaft der Anstalt. Unter der Kanzel noch wirksamer als auf der Kanzel, war er in seiner Gemeinde der väterliche Freund und Berater von hoch und niedrig und behielt daneben immer noch Zeit übrig, der jungen Anstalt in unermüdlicher Hilfsbereitschaft als treuer Nachbar zur Seite zu stehen. Als Herausgeber des Sonntagsblattes hat er ihr jahrelang auch mit der Feder wertvolle Hilfe gebracht.
Der geschäftliche Kleinbetrieb der Vorstandsangelegenheiten, soweit er Ankauf und Verkauf betraf, lag seit den ersten Anfängen in den Händen des Kaufmanns Heinrich Bökenkamp. Er vereinigte in seiner Person die Klugheit des Landmannes mit der Gewandtheit des Kaufmanns und hat ganz in der Stille, je mehr sich die Aufgaben und der Besitz der Anstalt ausdehnten, ganz unschätzbare Dienste geleistet.
Es wären noch weitere Namen zu nennen, so der ehrwürdige Kaufmann Coesfeld, der erste Anstaltsarzt Dr. Tiemann, dessen Namen Vater immer mit besonderer Dankbarkeit nannte, u. a. Aber ihre Gestalten sind schon fast in der Erinnerung verblaßt oder gar verschwunden. Der einzige noch Lebende von den Vorstandsmitgliedern jener ersten Zeit ist Direktor Mohr, ein Württemberger von Geburt, der aus kleinen [S. 220] Anfängen zum Leiter eines der angesehensten Betriebe der Bielefelder Leinen- und Baumwollindustrie emporstieg und so durch seinen gesegneten Lebensgang die Entwicklung der Anstalt aus dem unscheinbaren Reise zum ausgedehnten Baum darstellt.
Vater hatte nach den Statuten bei den Beratungen der Vorstände nicht mehr Stimme als jedes andere Vorstandsmitglied auch. Und Präses des Vorstandes war nicht er, sondern Kommerzienrat Bansi, welcher, wie erwähnt, auch die Sitzungen leitete. Vater aber war derjenige, der die Beratungen der Vorstände vorbereitete und für die Ausführung ihrer Beschlüsse zu sorgen hatte. So ergab es sich, daß er bald, nicht der Form, wohl aber der Sache nach der eigentliche Leiter des Gesamtwerkes wurde.
Wenn aber hier und da das Verhältnis zwischen dem Vorstande und ihm so dargestellt worden ist, als wenn er mehr und mehr in uneingeschränkter Machtvollkommenheit unter Übergehung des Vorstandes die Leitung in seine alleinige Hand genommen hätte, so wird dadurch das Bild getrübt. Es wird mir vielmehr immer eindrücklich bleiben, mit welchem Ernst Vater jeder einzelnen Vorstandssitzung entgegensah, sowohl den Sitzungen des engeren Vorstandes, die in kurzen Zwischenräumen stattfanden, als der Versammlung der vereinigten weiteren Vorstände, des „Verwaltungsrats”, die jährlich einmal abgehalten wurde. Immer hat es ihm daran gelegen, eine völlige innere Einigkeit zwischen allen verantwortlichen Männern zu erzielen und festzuhalten. Und das ist ihm auch gelungen.
Wohl ist es gelegentlich vorgekommen, daß seine ganze Überredungskunst dazu gehörte, um bei neuen Schritten einen einheitlichen Beschluß zu erzielen. Aber solche Kraft der Überredung ruhte doch auf der tiefen Zuversicht in die Richtigkeit und Notwendigkeit der Sache. Und immer ist es so gewesen, daß aus den Überredeten schließlich Überzeugte wurden.
Auch das andere ist vorgekommen, daß Schritte getan, z. B. Bauten in Angriff genommen wurden, noch ehe der Vorstand seine Einwilligung dazu gegeben hatte. Aber eine absichtliche Zurücksetzung des Vorstandes hat bei solchen Schritten nie zugrunde gelegen. Und wenn der Vorstand nachträglich seine Genehmigung erteilte, so geschah es nicht etwa, weil er wohl oder übel gute Miene zum bösen Spiel machte[S. 221] und, vor eine vollendete Tatsache gestellt, zwecklose Versuche aufgab, sie wieder rückgängig zu machen, sondern weil er später, soweit es sich nicht um Nebendinge, sondern um Fragen von grundsätzlicher Bedeutung handelte, die Notwendigkeit und die Richtigkeit der Sache einsah.
So oft es Vater zum Bewußtsein kam, daß er seinem Vorstande gegenüber in der äußeren Form die Bahn der buchstäblichen Korrektheit nicht innegehalten hatte, hat er sich auch nicht gescheut, deswegen um Entschuldigung zu bitten. Das hat er erst recht getan, wenn ihn jeweilen seine Leidenschaft fortgerissen und er ungewollt jemand gekränkt hatte. Und weil ihm das von Herzen kam, so konnte ihm nie jemand etwas nachtragen. Denn man fühlte, daß hier eine Hingabe war, eine Glut, eine Liebe, der gegenüber Verstimmung, Übelnehmen, kleinliche Verärgerung ausgeschlossen waren.
Und doch läßt sich nicht leugnen, daß gegen Vaters Willen durch seine überragende Erfahrung und Einsicht, durch seine alle mit sich fortreißende Tatkraft und durch das große Vertrauen, das er genoß, die Bedeutung des Vorstandes heruntergedrückt wurde. Nicht daß man keinen Widerspruch gegen ihn gewagt hätte. Es mag wenige Menschen gegeben haben, die Widerstände so vollständig unpersönlich, so rein sachlich, so ohne jede Empfindlichkeit aufnahmen wie Vater. Darum hat man auch aus den Kreisen des Vorstandes heraus nie mit dem Widerstand zurückgehalten, so oft er notwendig schien. Und ich wüßte von keiner Angelegenheit, die Vater gegen die klare Überzeugung des Vorstandes durchgedrückt oder aufrechterhalten hätte. Bei Meinungsverschiedenheiten grub er tiefer oder nahm den Flug höher und suchte so in größeren Tiefen oder höheren Höhen neue Wege der Einigung. Fand er sie nicht, so wartete er lieber lange. Und gerade diese innerste zarte Rücksichtnahme ließ die Achtung und das Vertrauen nur desto höher steigen.
So aber mußte es kommen, daß manche Vorstandsmitglieder sich überflüssig fühlten. Sie wußten die Sache in den besten Händen; warum noch weiter sich um jede Einzelheit kümmern? Warum nach neuen, jungen Kräften suchen und um sie werben, wenn man sie im Blick auf die überragende Persönlichkeit des Anstaltsleiters doch nicht locken konnte mit dem Ausblick auf eine starke Verantwortung? So geschah es, daß namentlich aus den Kreisen Bielefelds, dessen beste Männer und Frauen[S. 222] das Werk ursprünglich getragen hatten, nicht mehr der Nachwuchs für den Vorstand hervorging, der jetzt schmerzlich entbehrt wird und den, wie wir hoffen, die steigende Not neu schenken wird.
Im Laufe der Jahre richteten sich immer mehr Augen und Hoffnungen nach Bethel, und Familien sowohl wie Gemeinden baten in immer wachsendem Maße um Aufnahme ihrer Kranken. Aus allen Teilen Deutschlands kamen die Bitten, bald auch aus andern Ländern. Immer enger und enger wurden die Betten zusammengeschoben. Das Mutterhaus Sarepta stellte an Raum zur Verfügung, was es nur irgend entbehren konnte. Aber schließlich mußte doch an Erweiterung gedacht werden. Sie vollzog sich in den bescheidensten Formen.
Zunächst wurde für die epileptischen Handwerker, die im Keller des Hauptgebäudes ihre Handwerksstuben hatten, ein Schuppen errichtet mit zwei Räumen, einem für die Anstreicher, einem für die Tischler. Dann kamen die Schuster an die Reihe, die Schmiede, die Buchbinder, die Klempner. Sie alle behielten ihr Quartier im Hauptgebäude. Nur ihre Werkstätten wurden in unmittelbarer Nähe in einem kleinen Bau aus Tannenfachwerk untergebracht. Die Bäcker waren die ersten, für die eine eigene Heimat geschaffen wurde. Unter ihrem Bäckermeister Meise zogen sie in Bethlehem, dem „Brothaus”, ein, das zugleich einer Reihe von epileptischen Kranken gebildeter Stände Unterkunft bot.
Erst für das Diakonissenhaus, dann für die Epileptischen entstanden kleine Ökonomien und damit notwendige und hochwillkommene Arbeitsgelegenheiten für die Epileptischen in Stall, Feld und Garten. Zu den Gärten, die rings um die Häuser her lagen und von weiblichen und männlichen Kranken bestellt wurden, kam eine besondere Gärtnerei hinzu, in der Samen und junge Pflänzlinge und die Blumen für die Blumenbeete von den Epileptischen gezogen werden konnten.
So reihte sich in allmählicher Entwicklung eins ans andere. Kein vorgefaßter Plan lag dieser Entwicklung zugrunde, kein weitausschauendes Programm. Keiner zog, keiner drängte vorwärts. Lediglich die Kranken selber, die um Aufnahme baten, waren es, welche drängten und schoben. Es hätte schmerzliche[S. 223] Stauungen und Störungen gegeben, wenn man solchem Schieben und Drängen nicht nachgegeben hätte. Um so freudiger und zuversichtlicher konnte darum auch Vater seine Stimme erheben und durch das ganze Vaterland um Hilfe bitten für die Not, die aus dem ganzen Vaterlande heraus sich vor die Tür von Bethel legte. Und die Hilfe blieb nicht aus. In dem Maße, als die Erweiterungen notwendig wurden, erweiterte sich auch der Kreis mithelfender Freunde.
Der Besitz an Grund und Boden war ursprünglich nur klein gewesen. Und der größte Teil davon bestand in steilen Berghängen, die mit Buchen bestanden waren und zur Anlage von Neubauten sich schwer eigneten. Aber Schritt um Schritt, mit der wachsenden Notwendigkeit der Ausdehnung, boten die anliegenden und umliegenden Besitzer ihr Eigentum an Wohnstätten und Ländereien zum Verkauf an.
In Wirklichkeit war es vielfach ihr Eigentum nicht mehr. Sie waren durch Überschuldung zum Verkauf genötigt. „Wir wohnen”, sagte Vater einmal, „zum großen Teil auf Land, das uns der Schnaps angeschwemmt hat.” In der Tat herrschte damals im Hinterland der Anstalt die Alkoholnot in erschreckendem Maße. Der Wohlstand ging zurück, die Verschuldung führte zur Überschuldung und zum Zwangsverkauf. Teilweise waren es grauenhafte Umstände, unter denen die früheren Besitzer dem Alkohol erlagen. Einen fand man erschossen in seinem Garten; ein anderer hatte sein Jagdgewehr in seinem Wald an einen Baum gebunden und mit Hilfe einer Schnur den Hahn gegen sich selbst abgefeuert. Einem dritten hatte seine Frau in der Not das Geld versteckt, um ihn am Fortsaufen zu hindern. Die Frau lag krank zu Bett. Der Mann drohte mit Gewalt. Aber die Frau blieb fest. Da schleppte der unglückliche Säufer eins seiner eigenen Kinder an das Bett der Mutter und drückte dem Kind so lange den Hals zu, bis es blau wurde und die gequälte Mutter aus Angst um ihr Kind nachgab und das Geld herausrückte. So waren es Stätten des Fluches, die rings um die Anstaltshäuser her lagen und die sich nun in Segen verwandeln sollten.
Trotz der großen Nähe der in stetiger Entwicklung begriffenen Stadt Bielefeld blieben die Preise für die zum Ankauf angebotenen Besitzungen in erträglichen Grenzen. Eine starke Konkurrenz fiel darum fort, weil man die Epileptischen fürchtete [S. 224] und sich nicht in ihrer Nähe ansiedeln wollte. Dennoch blieb es lange Zeit für die Bürger Bielefelds ein von ihrem Standpunkt aus berechtigter Schmerz, daß ihnen so Schritt um Schritt das langgestreckte nach Süden gerichtete Tal als Stadtgelände entzogen wurde.
Schon gleich nach der Entstehung der Anstalt für die Epileptischen war unter Führung eines angesehenen Großgrundbesitzers eine von vielen einzelnen Namen unterschriebene Erklärung erschienen, die gegen die Ansiedlung fallsüchtiger Kranker in der Nähe der Stadt Einspruch erhob. Ihr Anblick müsse die Spaziergänger erschrecken, und die Häuser, gerade am Eingang in das Tal des Kantensieks und Sandhagens gelegen, würden die Entwicklung der Stadt hemmen. Um nicht durch seinen Widerstand die Stimmung noch mehr zu reizen, erklärte der Vorstand der jungen Anstalt sich mit einer Verlegung einverstanden unter der Bedingung, daß ein ähnlich günstiges Grundstück in größerer Entfernung von der Stadt angeboten und die Mittel dargereicht würden zur Errichtung von Bauten, die dem bisherigen Krankenbestand entsprächen. Das Anerbieten wurde nicht angenommen, und der Widerstand erlosch im Laufe der Jahre.
Jetzt sieht man Sonntag für Sonntag die Wege der Anstalt von zahllosen Spaziergängern der Stadt Bielefeld benutzt, die nichts von Scheu vor den Kranken wissen. Gerade die Nähe der Stadt mußte mit dazu beitragen, den Kranken den Aufenthalt in der Anstalt lieb zu machen. Fernab in großer Einsamkeit, ohne etwas zu merken von dem Pulsschlag der Zeit, hätten doch manche das Gefühl haben können, dauernd aus der menschlichen Gesellschaft verbannt zu sein.
Die Zeichnungen für die kleinen Werkstätten, für die Umbauten der neuerworbenen Besitzungen und auch für die Neubauten machte Vater der Regel nach selbst. Vielfach benutzte er die Abende dazu. Vor dem Zubettgehen saß dann wohl noch eins von uns Kindern auf seinem Schoß, wir andern standen herum, und er zeigte uns auf einem abgerissenen Stück Papier, wie sich das alte Haus umbauen ließe oder wie das neue am praktischsten angelegt würde. Der erste Entwurf wurde dann immer wieder neu durchdacht und mit dem jetzt noch lebenden, nun hochbetagten Maurermeister Karmeier besprochen, bis der Bauplan schließlich von letzterem in genaue Zeichnung gesetzt und[S. 225] ausgeführt wurde. Die damalige Baupolizei kannte noch nicht die scharfen Vorschriften von heute, und so konnten oft mit sehr geringen Mitteln aus den alten Häusern, die von den bisherigen Besitzern geräumt waren, höchst bescheidene, aber doch oft auch höchst gemütliche Heimstätten für die Kranken errichtet werden.
Sehr bescheiden blieben auch die Neubauten jener Anfangszeit. Vater stand immer unter dem Eindruck großer kommender Ereignisse. „Kinder,” sagte er öfter, „was werdet ihr noch erleben!” Er rechnete nicht mit einem Weltbestehen von unbegrenzter Zeit. „Es wird nicht mehr so lange dauern, dann kommt der Herr wieder.” Aber der Ankauf einer kleinen Ziegelei, die am Rande des Anstaltsgebietes lag, brachte es dann doch mit sich, daß der Bau von massiven Häusern sich wohlfeiler stellte als die Fachwerkbauten, die schon nach verhältnismäßig kurzer Zeit große Ausbesserungen nötig machten.
Waren die Häuser glücklich gerichtet oder vollends zum Einzug hergestellt, so gab es jedesmal ein kleines Fest. Das Richtfest der Bäckerei ist das erste, das ich mitfeierte. Es ist mir in unauslöschlicher Erinnerung geblieben. Das Richtelied, von Vater verfaßt und in Reime gebracht, bestand in einem Zwiegespräch zwischen Bauherrn und Zimmergesell. Vater als Bauherr stand unten, der Zimmergesell oben auf dem frischgelegten Gebälk des Baues. Und zwischen beiden flogen Frage und Antwort hinauf und herunter. Daran schloß sich dann in der Backstube, die unten in dem bereits fertig gemauerten Keller lag, das Richtessen. Die epileptischen Bäckergehilfen mit ihrem Meister Meise und seiner Familie, die Maurer und Zimmerleute und die geladenen Gäste saßen im engen Raum fröhlich beisammen. Lieder und Ansprachen wechselten miteinander. Es war über alle Maßen gemütlich. Aber was für mich die Hauptsache war, es gab belegte Butterbrote und Semmeln, so viel jeder nur wollte, und — das war die Krone — für jeden ein Fläschchen Bier, auch für die Epileptischen. So harmlos ging es damals noch zu.
Der siegreiche Feldzug von 1870/71 hatte einen übergroßen Tatendrang auf wirtschaftlichem Gebiet im Gefolge. Die französischen Goldmilliarden, die in das Land geströmt waren, hatten viele Augen geblendet. Es waren Gründungen aus der Erde gestampft worden, die sich nicht halten konnten. Auf den Aufschwung folgte ein großer Rückschlag. Viele Arbeitskräfte, die in die neu entstandenen Fabriken geströmt waren, wurden brotlos. Sie in die Verhältnisse, aus denen sie gekommen waren, zurückzuverpflanzen, gelang nur schwer. Eine große Zahl von ihnen bevölkerte die Landstraßen. Es waren meist die körperlich und moralisch Schwächsten, die am ersten entlassen wurden. Nun zogen sie von Ort zu Ort, von Stadt zu Stadt, suchten nach Arbeit, aber fanden sie nur gar zu selten. Denn überall stockte Handel und Wandel.
Man nannte dies fahrende Volk „reisende Handwerksburschen”. Aber das, was der ursprüngliche Name damit meinte, waren sie nicht. Der alte Handwerksgeselle, der seine lange Lehrzeit hinter sich hatte, wanderte nach Handwerkerbrauch. Er mußte, wollte er sich in seiner Heimat als selbständiger Meister niederlassen, nicht nur die Welt gesehen, sondern vor allem neue Erfahrungen für sein Handwerk gesammelt haben. Er schnallte also sein Felleisen um und reiste statt mit der viel zu teuren Post, die seine kleinen Ersparnisse schnell verschlungen haben würde, an seinem Wanderstab durchs Land, von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt. Wo er in seinem Handwerk einen leeren Arbeitsplatz fand und einen Meister, der ihm gefiel, da blieb er, oft kurz, oft lang, bis er weiterzog und schließlich, als Handwerker und als Mensch in seinen Erfahrungen bereichert, die Schritte heimwärts lenkte.
Dabei war es Sitte, daß der Handwerksbursche überall „das Handwerk grüßte”, d. h. bei den Meistern, die mit ihm[S. 227] eines Handwerks waren, um Zehrgeld vorsprach, damit er in der Gesellenherberge nicht seine kleine Barschaft zu verzehren brauchte, sondern von seinem Gesellenverdienst für den ersten Anfang als Meister einen kleinen Sparpfennig von der Wanderschaft mit heimbringen konnte. Wie der Student auf den Universitäten, so hatten auch diese wandernden Handwerksstudenten ihre besonderen Ausdrücke, deren Sinn nicht jeder verstand, die aber unter den Handwerksburschen selbst gang und gäbe waren. Wie beim Studenten, so hieß auch bei ihnen das Geld Moos, das Ausweispapier, das ihr Handwerk, ihre Heimat usw. bescheinigte, hieß Flebbe, usw.
Aber je mehr das Handwerk zurückging und die Industrie aufkam, je mehr verschwand auch der eigentliche Handwerksbursche von den deutschen Wanderstraßen. Aus dem kleinen Rinnsal der wandernden Handwerksgesellen wurde ein immer höher anschwellender Strom von Arbeitslosen jeglichen Gewerbes, die Arbeit suchend Land und Stadt überzogen. Fanden sie keine Arbeit, so waren die kleinen Ersparnisse, die sie mit auf die Wanderschaft genommen hatten, bald verbraucht. Wovon sollten sie leben? Sie klopften an die Türen und baten um milde Gaben. Der eine gab Essen, der andere ein Butterbrot, der dritte einige Pfennige, der vierte auch wohl, wenn die Kleidung zerschlissen war, ein Paar Schuhe, ein Paar Strümpfe oder ein Hemd, eine Jacke oder eine Hose. War es Sommertag, so schlief man bei „Mutter Grün”, war es aber kalte Jahreszeit, so mußten den Tag über so viele Pfennige zusammengesucht werden, daß es zum Schlafgeld in der Herberge reichte.
Auch an die Tür des Pfarrhauses von Bethel flutete dieser Strom. Oft schöpfte unsere Mutter das letzte aus der Mittagsschüssel heraus, und wir trugen es zu dem Wandersmann, der sich draußen gemütlich auf der Stufe des kleinen Windfangs niederließ und sein Mittagbrot verzehrte. Oft brachte auch Vater selbst den Teller hinaus, um den Mann kennen zu lernen und sich nach seinen Verhältnissen zu erkundigen, und Mutters mitleidiges Herz holte manches alte Kleidungsstück hervor, um dem abgerissenen Mann zu helfen.
Nun geschah folgendes: Eines Tages kam Vater ins Diakonissenhaus hinüber und fand da wieder einen solchen „armen Reisenden”, wie sie sich selbst zu nennen pflegten, dem gerade eine der Schwestern ein Hemd gab, das er flehentlich erbeten[S. 228] hatte. Das Gesicht des Mannes kam Vater bekannt vor, und es stellte sich heraus, daß derselbe Mann wenige Tage vorher auch bei uns gewesen war und ebenfalls ein Hemd bekommen hatte. Wo war das erste Hemd geblieben? Und wo hatte sich der Mann während der Zwischenzeit aufgehalten? Das gab Vater Anlaß, der ganzen Frage der „armen Reisenden” näher nachzuforschen.
Es ergab sich ihm nun, daß viele von ihnen das Reisen längst aufgegeben und statt dessen in Bielefeld ihr Standquartier aufgerichtet hatten. Sie waren des Wanderns müde geworden, weil an andern Orten ja ebenso wenig Arbeit zu finden war wie in Bielefeld auch. So waren sie geblieben und nahmen nun bald diesen, bald jenen Stadtteil, bald auch einen der äußeren Bezirke für ihre Streifzüge vor, um sich für den Tag das nötige Essen und für die Nacht das nötige Schlafgeld zu verschaffen.
Je tiefer Vater in die Sache eindrang, desto düsterer wurde das Bild, das sich ihm entrollte. Ein ganzes Heer von Gewohnheitsbettlern tauchte vor seinen Augen auf, die mit größter Schlauheit die Mildtätigkeit und Gutmütigkeit der Bewohner ausnutzten und wahre Schätze von Lebensmitteln und Kleidungsstücken durch die beweglichsten Reden erpreßten. Oft konnten sie nur das wenigste davon für sich selbst verwenden. Alles übrige wurde an Kollegen, die im Betteln weniger geschickt waren, für ein Spottgeld verkauft oder aber in der Herberge gegen Schnaps umgesetzt. Vater stellte in der Nähe von Bielefeld solch eine berühmte Schnapsherberge fest, in der der Wirt mehrere Schweine mästete allein mit den Butterbroten, die seine Gäste bei den gutmütigen Landbewohnern zusammenkollektiert hatten und die sie nun, außerstande, sie zu verzehren, bei ihm gegen den Branntwein eintauschten.
Es zeigte sich ferner, daß die Zahl der Reisenden, die an unsere Tür klopften, verhältnismäßig gering war. Unser Haus lag abseits der großen Heerstraße. Wer aber an den Hauptverkehrswegen wohnte, der stand unter dem Eindruck einer wirklichen Landplage. So war es nicht nur in Bielefeld, so war es mehr oder weniger überall. Die Kinder einer Witwe in Gütersloh hatten ein kleines Papphäuschen geschenkt bekommen, das in Form der Pfefferkuchenhäuschen statt mit Kuchen und Süßigkeiten ganz mit Ein- und Zweipfennigstücken beklebt[S. 229] war. Es waren im ganzen 52 Geldstücke. Nun schlug die Mutter den Kindern vor, sie sollten, statt das Geld für sich zu verwenden, jedem armen Reisenden, der an ihre Tür klopfte, jedesmal eins der Stücke von dem Häuschen loslösen. Die Kinder stimmten freudig zu. Und siehe da, an einem einzigen Tage waren sämtliche 52 Stücke fortgegeben. 52 Bettler an einem Tage!
Nun waren aber keineswegs alle diese heimat-, obdach- und arbeitslosen Leute bereits gewohnheitsmäßige Bettler. Unter die, denen das müßige Bettler- und Kneipenleben zum zweiten Dasein geworden war, mischten sich solche, die nach wie vor verzweifelt nach Arbeit suchten aber keine fanden. Überall, wo sie anfragten, stießen sie auf Kopfschütteln. Wenn sie aber um eine Geldgabe baten, trafen sie immer wieder auf mitleidige Herzen. So gewann mancher Schritt um Schritt das Betteln lieb, während er sich in gleichem Maße der Arbeit entwöhnte. Die Barmherzigkeit seiner Mitmenschen erzog ihn zum Betteln!
Was aber war seitens der Behörden zur Eindämmung dieser Not geschehen? Sie hatten den Bettel unter Strafe gestellt! Wer bettelte, kam in Polizeigewahrsam; wer wiederholt beim Betteln gefaßt wurde, wurde mit Gefängnis bestraft. Je öfter sich der Fall wiederholte, je höher stieg die Strafe. Da nun aber viele der Arbeitslosen, die ohne ihre Schuld arbeitslos geworden waren, schlechterdings ohne zu betteln ihr Leben nicht fristen konnten, so entspann sich zwischen ihnen und den Beamten der Polizei ein regelrechter Kleinkrieg, nicht ein Krieg der Gewalt, sondern der List. Vielfach gingen zwei Arbeitslose zusammen. Der eine „stand Schmiere”, d. h. er beobachtete von einem sicheren Standort aus, ob die Luft rein und kein Polizist in der Nähe sei, während der andere an die Türen der einzelnen Häuser klopfte und um eine milde Gabe bat. So wurden ganze Kapitalien zusammengetragen und gemeinsam durchgebracht.
Natürlich kam es immer wieder vor, daß die Polizei doch den einen oder andern beim Betteln ertappte und abführte. Je nachdem wurde er dann zu Haft, Gefängnis oder Korrektionsanstalt (Arbeitshaus) verurteilt. Vielen der alten Bettler machte das nichts mehr aus. Ja, im Winter war es ihnen sogar erwünscht, verhaftet zu werden. Die Klügsten unter ihnen suchten die Städte auf, weil sie wußten, daß es dort im Gefängnis den behaglichsten Winteraufenthalt und das beste Essen gab.[S. 230] Dort setzten sie so lange ihren Bettel fort, bis sie gefaßt und zu Gefängnis verurteilt wurden. In den Gefängnissen und Korrektionshäusern selbst aber saßen gewohnheitsmäßige Vagabunden zusammen mit jungen Burschen, die zum erstenmal verurteilt waren und nun von den alten Kunden in all die Geheimnisse und all den Schmutz des eigentlichen Vagabundenlebens eingeweiht wurden. „Die wenigsten Menschen”, schrieb Vater, „wissen, was das heißt, zum erstenmal in ein Korrektionshaus gesperrt zu werden. Ich halte die Todesstrafe für eine leichtere Strafe als die erste Verurteilung zum Arbeitshaus.”
So wurden diese Häuser, die das Landstreicherwesen eindämmen sollten, geradezu zu Hochschulen des Vagabundentums, aus denen sich eine wahre Flut von unsauberen Elementen schlimmster Art über das Land ergoß, körperlichen und seelischen Ansteckungsstoff überall hintragend.
Aber längst ehe sich für Vater diese Einzelheiten ergaben, war er zur Tat geschritten. „Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen,” das klang ihm im Ohr und im Gewissen. Und er selbst fügte hinzu: „Wenn wir barmherziger werden wollen, dann müssen wir härter werden.” Nun war unser Haus nur durch einen schmalen Bergweg, den Jägerbrink, von dem steil abfallenden Buchenwalde getrennt. Es war Vater schon längst ein Anliegen gewesen, den steilen, wilden Abhang gleichmäßig nach dem Jägerbrink abzuschrägen und durch eine kleine Mauer gegen den Bergweg abzugrenzen. Hacke und Spaten wurden angeschafft, und als die nächsten Arbeitslosen an unsere Tür klopften, sagte Vater, daß sie gern Essen bekommen könnten, daß es aber keines Menschen würdig sei, bloß zu essen, ohne zu arbeiten, wenigstens solange die Möglichkeit bestände, sich sein Essen durch Arbeit zu verdienen. Ob sie bereit seien, vorher eine Stunde drüben am Abhang zu arbeiten. Sofort schieden sich die Geister. Die einen lehnten entrüstet das Ansinnen ab und gingen schimpfend davon; die andern griffen zu Spaten und Hacke und ließen sich nach getaner Arbeit ihr Essen doppelt gut schmecken. Ihnen war das ehrlich erarbeitete Brot lieber als das schimpfliche Bettelbrot! Es dauerte nicht lange, da war die Arbeit vollendet und die Mauer aus den im Abhang selbst gewonnenen Steinen aufgeführt. Sie steht noch heute, und über ihr erhebt sich jetzt ein kleiner Tannenbusch.
Aber es war doch nur eine halbe Hilfe. Wohl hatten sich die Leute ihr bißchen Mittagbrot durch ihre Arbeit erwerben können, dann aber mußten sie ihren Weg auf den Straßen und an den Zäunen fortsetzen. Einer von ihnen, dieses armseligen Lebens überdrüssig, bat Vater, ob er ihn nicht dauernd behalten und beschäftigen könnte. „Ja,” sagte Vater, „wenn Sie fallsüchtig wären, dann könnte ich Sie behalten.” Da stieß der Mann heraus: „Ich bin aber auch fallsüchtig.”
Dies Wort traf Vaters Herz. Wie ein Blitz beleuchtete es die Lage. In diesem einen Mann stand das ganze Heer dieser ausgestoßenen Menschen vor ihm, arbeitslos, heimatlos, hoffnungslos wie die Epileptischen auch. Langsam und desto schauerlicher versinkend im Morast des Nichtstuns, des Bettels, des Ungeziefers und des Saufens. Die Barmherzigkeit der Menschen half ihnen nicht auf, sondern als eine in Wahrheit grausame Barmherzigkeit ließ sie diese Unglücklichen durch Almosen, die nur noch den Schein der Barmherzigkeit an sich trugen, immer tiefer sinken. Und die Gerechtigkeit des Staates half ebenfalls nicht, sondern stieß, eine in Wahrheit ungerechte Gerechtigkeit, diese Verlorenen nur immer weiter aus der menschlichen Gesellschaft aus. Denn wer gab solch einem armen Menschen noch Arbeit, der in seinen Papieren fünf, zehn, zwanzig und noch mehr Polizeistrafen verzeichnet hatte? Niemand. Überall wurde er abgewiesen. Wohl drückte man ihm ein paar Pfennige in die Hand. Aber diese Pfennige wurden ihm nur zum Anlaß neuen Falles, tieferen Versinkens in dem Sumpf der Vagabundenkneipen. Das waren in der Tat Fallsüchtige, deren Los noch schwerer war als das Los der fallsüchtigen Epileptischen!
Was tun? Zunächst durfte der eine nicht wieder hinausgestoßen werden. Er blieb. Aber nun galt es, auch den andern, die wie dieser Erstling sich nach einer rettenden Hand ausstreckten, gründlich zu helfen.
Gleich jenseits des Teutoburger Waldes, nur eine halbe Stunde von den Tälern entfernt, in denen die Epileptischen ihre Heimat gefunden hatten, dehnt sich die weite Ebene der Senne, alter Meeresboden, in dessen Sandbänken sich noch heute Muschellager und hin und her zerstreut auch mal ein Stück Bernstein finden. In der Richtung der alten Landstraße, die Bielefeld mit Paderborn verbindet, drang Vater mit seinem getreuen[S. 232] Berater Bökenkamp in dieses einsame Land vor. Nur hier und da ein ärmlicher Hof. Sonst weithin rote Heide, stehende Wasserlachen, kümmerliche Kiefern, ein weites ödes Land. Überall lagerte in der Tiefe von ein bis drei Fuß der Ort, eine dunkle Eisensteinschicht, die ein Auf- und Absteigen des Wassers hinderte und weder für Baum noch Halm ein Gedeihen aufkommen ließ. Wurde der Ort aber aufgedeckt, so zerfiel er an der Luft und an der Sonne, und aus dem Feind des Landes wurde ein Freund, der mit dem armen Sand vermischt den Boden besserte. Hier war also Arbeit die Fülle für die Arbeitslosen, im hoffnungslosen Land hoffnungsvolle Aufgaben für die Hoffnungslosen. Bald hatten auch die beiden Suchenden am Ufer des Dalbke-Baches, zwei Stunden von Bielefeld entfernt, einen zum Verkauf stehenden zerfallenden kleinen Hof entdeckt, der den obdachlosen und heimatlosen „Brüdern von der Landstraße”, wie Vater fortan am liebsten diese seine jüngsten Schützlinge nannte, Obdach und Heimat bieten sollte.
Es dauerte nicht lange, da konnten die ersten, die in Bethel vorübergehend Aufnahme gefunden hatten, nach der kleinen Kolonie in der Senne übersiedeln. Und nun ging durch ganz Bielefeld die Parole: „Kein Arbeitsloser braucht mehr mit Pfennigen abgespeist zu werden. Es ist Arbeit für ihn da; schickt ihn hinaus in die Senne!” Das brachte die Scheidung. Die abgefeimten Bettler drückten sich davon. Sie konnten und wollten nicht mehr los vom Bettel und Schnaps. Sie verzogen sich in die weitere Umgegend, in die die verwünschte Parole noch nicht gedrungen war. Aber die andern kamen, zerlumpt, verlaust, versoffen, Männer aus allen Gauen, allen Ständen und jeglichen Alters; Jünglinge und Greise, Arbeiter und Barone, Studierte und solche, die kaum die Schule besucht hatten.
Würde solch eine bunt gemischte Gesellschaft sich ineinander schicken? Wir hatten in Bielefeld einen Gendarm, zu dem ich als Kind immer voll Stolz und heimlichem Neid emporschaute, wenn er in langem, wallendem Bart dahergeritten kam. Der meldete sich eines Tages bei Vater. Ich sehe ihn noch, gestiefelt und gespornt, die Treppe heraufkommen. Er wollte seine Dienste anbieten für den Fall, daß eine feste Hand, die kein Fackeln kannte, unter der zusammengewürfelten Schar nötig werden sollte. Aber sie wurde nicht nötig. Hier waren ja lauter Leute, die freiwillig gekommen waren, durch nichts anderes gedrängt[S. 233] als die selbst empfundene, selbst erfahrene Not. Niemand hielt sie als ihr eigener Entschluß und die Luft der Barmherzigkeit, Ordnung und Sauberkeit, die sie umgab, und die so lange entbehrte Wohltat der Arbeit und des selbstverdienten Brotes.
Gerade für diese ausgemergelten, kraftlosen Menschen war die Arbeit im weichen Sand wie geschaffen. Denn je nach der Tiefe, in der sich der Ortstein befand, wurde der Sand ausgehoben, bis der Ort erreicht, zerschlagen und nach oben geworfen war. Die Schicht des zweiten Grabens füllte den ersten, die des dritten den zweiten und so fort. So wuchs durch die Arbeit des Rigolens neues Land für Wiese und Acker aus dem armen Heideboden empor und weckte zugleich neue Hoffnung für eine neue Zukunft in dem Herzen des Kolonisten.
Kein Treiber hetzte sie, sondern jener Husar, der sich am 14. August 1870 Gott gelobt hatte und nun als Bruder eingetreten war, stand selbst mit im Graben, den Spaten führend, ein Bruder unter Brüdern, ein Arbeiter unter Arbeitern, ein Werdender unter Werdenden! Auch der Schwächste konnte diese Arbeit tun und neue Kraft für Leib und Seele aus ihr schöpfen. Hier gab es wirklich noch einmal ein Aufstehen für Fallsüchtige. Hier rief die Glocke nicht zum elenden Fusel und erbettelten Brot, sondern zur selbst erworbenen Mahlzeit und läutete den Feierabend ein zum Lobpreis Gottes, der fahrenden Leuten diese Stätte bereitet hatte, zur stillen Sammlung unter seine Stimme. Dann wurde draußen auf der Bank noch ein Abendpfeifchen geraucht und dem Abendlied der Amsel gelauscht: „Längst vergess´ne alte Lieder wurden wach in ihrer Seele.”
Es konnte nicht ausbleiben, daß der Ruf der jungen Kolonie sich schnell ausbreitete. Von allen Seiten strömte es herbei. Ein Aufhalten gab es nicht mehr. Es mußte gebaut werden. Die schwächeren Kräfte blieben beim Rigolen, die stärkeren legten Hand an bei der Aufrichtung der notwendigsten Räume für Menschen und Vieh. Aber noch ehe sie fertig waren, wurde es ganz deutlich, daß mit dieser einen Zufluchtsstätte dem überall wogenden Elend nicht gedient war. Es mußte umfassender Rat geschafft werden. Wo war die helfende Hand, die durch das ganze Vaterland hin sich den Versinkenden entgegenstreckte?
Vater wandte sich an den, der ihm einst in der Berliner Gymnasiastenzeit ein Spielkamerad gewesen war und der sich[S. 234] seitdem wie ein Freund zu ihm gestellt hatte: den Kronprinzen Friedrich Wilhelm, den späteren Kaiser Friedrich. Immer haben die Hohenzollern Herz und Verständnis für den Geringen und Geringsten im Volke gehabt. Das zeigte sich auch jetzt. Auf stillen Wegen im Schloßgarten von Potsdam wurde zwischen beiden Männern der Bund geschlossen zum Wohl der „Brüder von der Landstraße”.
Das Kronprinzenpaar hatte kurz vorher seine Silberhochzeit begangen. Zu dieser Feier war ihm eine in ganz Deutschland veranstaltete freie Sammlung in Höhe von einer halben Million Mark überreicht worden. Die Kronprinzessin bestimmte die auf sie entfallende Hälfte zur Gründung des Hauses der Viktoria-Schwestern in Berlin, und der Kronprinz bot Vater die andere Hälfte an, um damit den „Brüdern von der Landstraße” gründlich Hilfe zu schaffen. Vater schlug dem Kronprinzen vor, jeder preußischen Provinz und jedem deutschen Bundesstaat aus dem Dotationsfonds eine Prämie zur Verfügung zu stellen zur Aufrichtung einer Kolonie für Arbeitslose. Gleichzeitig bat er den Kronprinzen, selbst die junge Kolonie in der Senne einzuweihen und ihr Protektor zu werden. Beide Wünsche erfüllte der Kronprinz. Damit war mit einem Schlage der jungen Sache die Bahn durch ganz Deutschland gebrochen.
In der Morgenfrühe des 16. Juli 1883 kam der Kronprinz. Ich sehe noch die wehenden Fahnen Bielefelds, die jubelnde Menschenmenge, die Blumensträuße, die in den Wagen geworfen wurden, und neben dem Kronprinzen Vaters Gestalt, der von dem allen kaum etwas zu sehen und zu hören schien, sondern tief in das Gespräch mit dem hohen Gast und den ihn begleitenden Herren versunken war. Die Fahrt ging durch den Teutoburger Paß unmittelbar hinaus nach Wilhelmsdorf. In dem alten, inzwischen zum Speisesaal ausgebauten Kuhstall des Bauernhauses versammelten sich die Mitglieder der preußischen Regierung, der Provinzial-Verwaltung, die Vertreter der evangelischen und katholischen Kirche um den Erben des Hohenzollernthrones zum Dienst der Verachteten und Ausgestoßenen des Volkes. Zur Erinnerung an Kaiser Wilhelm I. bekam die Kolonie den Namen Wilhelmsdorf.
Bald kamen von überall her Abgesandte, um die Kolonie an Ort und Stelle kennen zu lernen und mit Hilfe der kronprinzlichen [S. 235] Prämie in ihrer Heimat ähnliche Zufluchtsstätten ins Leben zu rufen. Natürlich konnte die Prämie, die in jedem einzelnen Fall nur 5–10 000 Mark betrug, nur für die ersten Fundamente ausreichen. Aber weitere Beihilfen aus öffentlichen und privaten Mitteln strömten der Mutterkolonie Wilhelmsdorf und den entstehenden Tochteranstalten zu.
„Einen Menschen langsam zu Grunde zu richten, ist unendlich viel kostspieliger, als einem Menschen rechtzeitig zu helfen”, war der Grundsatz, den Vater immer wieder hinausrief und der überall Verständnis und Echo fand. Was kostete in der Tat ein einziger Bettler der Bevölkerung für Unsummen! Jahraus, jahrein schatzte er das Land ab, versoff sein Geld, ließ sich im Winter im Gefängnis oder in der Korrektionsanstalt durchfüttern und zog, und das war das teuerste, durch sein Wort und Beispiel einen nach dem andern hinter sich her in den Sumpf, die dann wieder an ihrem Teil den Bewohnern von Stadt und Land zur Last fielen. Da bedeutete es in der Tat eine große Ersparnis, den entstehenden Kolonien eine Unterstützung zuteil werden zu lassen, sie dagegen dem zu versagen, der nur betteln, aber nicht arbeiten wollte.
Überall waren es freie kirchliche Vereine, die die Träger des Gedankens waren, evangelische und katholische. Es war für Vater eine ganz besondere Freude, daß hier in dem tiefen Tal der Wanderarmen-Not sich die Wege beider Konfessionen trafen, beide von den trennenden Höhen herabstiegen, um gemeinsam zu raten und zu taten. Und das ist all die Jahre hindurch bis heute geblieben. Daß dabei Hemmungen und Widerstände zu überwinden waren, versteht sich von selbst.
Als Vater nach Münster kam, um mit dem Bischof die Anlage einer katholischen Kolonie zu beraten, meldete ihm der Kastellan, daß der Bischof mit dem Domkapitular zu tun habe und nicht zu sprechen sei. Nun war gerade der Domkapitular, wie Vater wußte, ein Gegner der Sache und machte dahin seinen Einfluß beim Bischof geltend. Vater hatte Stock und Hut bereits abgelegt, nahm sie nun aber von neuem zur Hand; denn es lag ihm nicht daran, mit dem Domkapitular zusammenzutreffen. Unterwegs fiel ihm auf, wie viele Leute ihn verwundert ansahen, als wüßten sie nicht recht, ob sie einen Bekannten oder Unbekannten vor sich hätten. Und als nun einer vor ihm den Hut zog und er den Gruß erwiderte, merkte er, daß[S. 236] er im bischöflischen Palais statt seines eigenen den breitkrempigen bequasteten Hut des Domkapitulars gegriffen hatte. Lachend kam er zurück, und lachend empfing ihn der Kastellan: „Der Herr Bischof warten bereits.” Solche kleinen Ereignisse und Verlegenheiten, die Vater in der Zerstreutheit öfter passierten, mußten mithelfen, größere Verlegenheiten zu beseitigen und die Herzen auf den heiteren Ton zu stimmen, in dem alle Dinge am besten gedeihen. Die katholische Kolonie kam denn auch wirklich zustande.
Die Asyle für die Wanderarmen waren errichtet. Sie standen jedermann offen. Niemand abzuweisen, der freiwillig kam, freiwillig auf jeden Schnapsgenuß verzichtete und freiwillig sich der Hausordnung unterwarf, das war von vornherein die Losung dieser Arbeiterkolonien. So war es also nicht mehr nötig, Bettelpfennige zu reichen und dadurch Bettler und Vagabunden großzuziehen. Jeder Arbeitslose konnte in die Kolonie gewiesen werden. Wie aber sollte die Kolonie erreicht werden, wenn sie ein, zwei, drei Tagereisen entfernt war? War das möglich, ohne auf dem Wege dorthin doch wieder zu betteln? War es nicht halbe Arbeit, Kolonien zu schaffen ohne die Zwischenstationen, die zu ihnen hinführten?
In der Tat: sollte dem Betteln gründlich gewehrt und dem Arbeitslosen ganze Hilfe zuteil werden, so mußten die Zwischenglieder geschaffen werden, die alle auf die Zentralstation, die Kolonie, zuliefen. Aber hier war es nicht nötig, neue Wege zu gehen. Es galt nur den Ausbau der alten durch Professor Perthes in Bonn bereits gebrochenen Bahn. Er hatte in Bonn im Jahre 1854 die erste christliche Herberge errichtet, die im Gegensatz gegen die wüsten Branntweinkneipen den Wanderarmen einen wirklichen Dienst erwies, ihnen gegen billiges Entgelt Quartier und Nahrung bot und den gänzlich Mittellosen Brot gegen eine Arbeitsleistung verabfolgte. Solche Herbergen waren inzwischen hin und her entstanden. Aber noch waren sie viel zu gering an Zahl und lagen zu weit auseinander. Darum kam es darauf an, diese Herbergen zu vermehren und durch kleine Zwischenstationen miteinander zu verbinden.
So entstanden zugleich mit der wachsenden Zahl der Herbergen zur Heimat die sogenannten Verpflegungsstationen. In kleineren und größeren Abständen, zwei, drei, vier Stunden[S. 237] voneinander entfernt, bildeten sie die einzelnen Etappen, die von Herberge zu Herberge und schließlich bis zur Kolonie führten. Gegen kurze Arbeit, die meist in Holzhacken bestand, wurde dem Wanderer die nötige Nahrung gereicht, sodaß er, mit dem Ausweis der Verpflegungsstation versehen, die nächste Etappe aufsuchen konnte.
Von dem Wohlwollen und dem sittlichen Ernst der einzelnen Gemeinden getragen, schossen diese Verpflegungsstationen vielfach wie Pilze aus der Erde. Und in demselben Maße, wie der Ausbau dieses Zwischennetzes fortschritt, hörte das Betteln auf. Wo es vorher gewimmelt hatte von fremden Leuten, war es jetzt still geworden. Die Polizei, die vorher mit Recht so manchmal ein Auge zugedrückt hatte, konnte jetzt scharf über die Ordnung wachen. Jeder ehrliche Arbeitslose setzte mit Ernst alle Kräfte daran, Arbeit zu finden. Fand er sie dennoch nicht, so machte er sich auf den Weg in die Kolonie; und nur das licht- und arbeitsscheue Gesindel drückte sich seitab in die Gegenden, wo es bisher weder Kolonien noch Herbergen noch Arbeitsstätten gab, bis auch dort das Überhandnehmen des Bettelns den Weg der barmherzigen Zucht lehrte.
Diese gesamten Aufgaben der deutschen Arbeiterkolonien, Herbergen zur Heimat und Verpflegungsstationen fanden ihr Organ in einer Monatsschrift, die unter dem Titel „Die Arbeiter-Kolonie”, später „Der Wanderer”, durch Jahrzehnte von Bethel aus durch Pastor Mörchen mit eindringender Umsicht herausgegeben wurde und jetzt von Pastor Lemmermann in Hildesheim geleitet wird.
Charakterisiert aber wurde Vaters Tätigkeit an den „Brüdern von der Landstraße” durch ein Lied, das kurz nach seinem Tode in der Münchener „Jugend” erschien:
Johannes Trojan.
(Die weitere Entwicklung dieser Arbeit siehe in den Kapiteln „Freistatt”, „Das Wanderarbeitsstättengesetz” und „Hoffnungstal”.)
Inzwischen hatte die Entwicklung in Bethel nicht stillstehen können. Die Provinzen Westfalen, Rheinland, Hannover, Schleswig-Holstein und Hessen-Nassau hatten zunächst von der Errichtung eigener Anstalten für Epileptische abgesehen und baten in steigendem Maße für ihre Kranken um Aufnahme. Da, wo in den übrigen Teilen Deutschlands Anstalten für Epileptische im Entstehen waren, mußte ihnen zu richtiger Entfaltung Zeit gelassen werden, sodaß, auch abgesehen von den genannten Provinzen, noch immer die Bitten um Aufnahme in Bethel drängten. Dazu kamen nach wie vor die Aufnahmegesuche aus dem Ausland.
Sollte Vater, so wie er es in der Arbeitslosen-Sache getan hatte, darauf hinarbeiten, daß jede Provinz, jeder größere Bundesstaat nach der Art von Wilhelmsdorf nicht nur eine eigene Arbeiterkolonie bekam, sondern auch eine eigene Anstalt für Epileptische? Er hat es nicht getan!
Die Arbeiterkolonien waren einfache Gebilde, in denen fast ausschließlich Landwirtschaft getrieben wurde. Eine Anstalt für Epileptische aber muß ein vielgliedriger Körper sein, wenn[S. 239] sie ihren Bewohnern gründlich dienen will. Die Arbeiterkolonien waren nur Hafenplätze, in denen wrack gewordene Schiffe sich herstellen und wieder ausstatten lassen konnten zur neuen Fahrt ins Leben, zur Rückkehr in den alten Beruf. Eine Anstalt für Epileptische aber sollte so viel wie irgend möglich dauernd jeden einzelnen Kranken an den Platz stellen, der seinen Kräften, Gaben und Neigungen entsprach. Das ist aber nur in einer Anstalt möglich, die ihrer Ausdehnung keine zu engen Grenzen setzt, sondern die verschiedensten Handwerke und Betriebe sich entfalten läßt und auf diese Weise die Kranken nicht auf einen zu engen Kreis der Beschäftigung beschränkt.
Wie sehr darum auch Vater auf der einen Seite, wo und wie er nur konnte, bei der Errichtung neuer Anstalten für Epileptische mithalf, sobald er sah, daß ein wirkliches Bedürfnis vorlag und ursprüngliche Liebe und urwüchsige Kraft zum Wohl der Epileptischen sich regten, wie z. B. bei den jungen Anstalten von Rastenburg in Ostpreußen, Rotenburg in Hannover, Hochweitzschen in Sachsen, so warnte er doch auf der andern Seite ernstlich, wo es sich um Gründungen handelte, die von vornherein nur für einen kleinen Kreis von Epileptischen in Betracht kamen. Denn nur zu leicht sahen sich diese kleinen Anstalten gezwungen, sich mit einem eng umschriebenen Kreis von Arbeitsgelegenheiten begnügen zu müssen. Dadurch aber war von vornherein der Geist der freudigen vielgestaltigen Arbeit beengt, ohne den das Leben des Epileptischen so gelangweilt und drückend ist.
So kam es denn, daß Bethel um der Barmherzigkeit willen die Pflöcke seiner Zelte weiter und weiter stecken mußte. Ein Handwerkshaus, ein Ackerhof kam zum andern. Für die epileptischen Frauen und Mädchen mußte mehr Raum gemacht und auch die Kinder mußten gesondert werden. Im Buchenwald, hoch wie der Berg Hermon alle andern Häuser überragend, entstand ein Haus für die epileptischen Pensionäre, wo Russen, Dänen, Finnen, Amerikaner und britische Untertanen friedlich mit den Deutschen zusammen wohnten. Und ähnlich war es unten im Tal, wo an der sonnigsten Stelle des Kantensieks für die epileptischen Pensionärinnen im Hause Bethanien eine freundliche Heimat geschaffen wurde.
Aber auch die Gründung von Wilhelmsdorf brachte für Bethel neue Pflichten. Der Regel nach sollte jeder nur ein[S. 240] Vierteljahr lang in Wilhelmsdorf bleiben, um dann andern Platz zu machen. Aber wohin, wenn diese Zeit abgelaufen war und sich kein sicherer Arbeitsplatz zeigte? Und selbst wenn er sich zeigte, so entstand doch die Frage, ob die Widerstandskraft schon genug gestählt sei, um allen Versuchungen im Strom der Welt standzuhalten. Bei denjenigen, die aus dem Arbeiter- oder Handwerkerstande kamen, gelang es immer noch am leichtesten, ihnen zur Rückkehr in den früheren Beruf zu verhelfen. Aber für die Kaufleute und Akademiker war die Schwierigkeit oft unübersteiglich. Darum mußte sich ihnen Bethel in seinen Arbeitsstätten, Schreibstuben und Schulen und mit all seinen übrigen Möglichkeiten als Übergangsstätte öffnen und Raum für sie machen.
So stieg und stieg die Zahl derer, die Sonntags in der Kapelle von Sarepta sich zusammendrängten, um dort die ewige Wahrheit als Arznei zu empfangen. Schließlich genügten die Räume schlechterdings nicht mehr. Für die Sommermonate hatte Vater oben im Buchenwalde Bänke aufschlagen lassen, die ganz nach Bedarf vermehrt werden konnten. Und die Gottesdienste hier oben in der Waldkirche unter Begleitung der Posaunen sind seitdem die besondere Freude der ganzen Gemeinde geblieben. Aber für die kalte Zeit und die Regentage mußte ein Ausweg gesucht werden.
Auf dem schmalen Bergrücken unterhalb der Waldkirche, der sich steil zum Kantensiek hinuntersenkt, wählte Vater den Platz für die neue Kirche. Hier lag sie ganz still und doch leicht erreichbar für alle Häuser, die zu Füßen des Berges in den beiden Tälern sich hinaufzogen oder in den Rand des Buchenwaldes gebettet waren. Am 16. Juli 1883, an demselben Tage, wo Wilhelmsdorf eingeweiht wurde, fand die Grundsteinlegung statt, zu der von Wilhelmsdorf her der Kronprinz kam. Es war mitten im strömenden Regen einer der größten Festtage, den die Gemeinde erlebte. Still hielt der Kronprinz während der Ansprache unseres Vaters im Unwetter aus. Unsern jüngsten noch nicht sechsjährigen Bruder geleitete er fürsorglich aus dem Regen unter einen schützenden Schirm. Selbst wehrte er ab, als man ihm einen Schirm überhalten wollte, und ließ sich, wie Vater später immer wieder den Kranken erzählte, für uns naßregnen. Kräftig klang seine damals noch gesunde Stimme zu jedem seiner drei Hammerschläge; „Christus der Grundstein [S. 241] — Christen die Ecksteine — Gott segne den Bau!” Und welche tief-menschliche Güte ging den ganzen Tag über von seinem Wesen aus! Es waren Stunden, die die Gemeinde unlöslich mit dem Hohenzollernhause verbanden, dem besten Königsgeschlecht, das die Weltgeschichte kennt.
Wenn übrigens immer wieder die Meinung auftaucht, als wäre zwischen Vater und dem Kronprinzen jede Grenze weggewischt gewesen, so ist das irrig. Wohl hatte Vater gewünscht, daß es bei der Mittagsmahlzeit, die der Kronprinz nach der Feier im Walde in unserm Hause einnahm, ganz familienmäßig zugehen und darum auch wir Kinder mit dem hohen Gast und den andern wenigen Geladenen an einem Tisch essen möchten. Aber die Einwände der Mutter hatten aus Gründen des Platzmangels gesiegt, und die Eltern hatten sich dahin geeinigt, daß wir Kinder im Nebenzimmer unsern besonderen Tisch haben sollten, aber bei geöffneter Tür. Von da aus haben wir es dann mit erlebt, in welch überaus herzlicher Weise unser hoher Gast den Eltern zugetan war, sie neckte und Vater „Friedrich” und „Du” nannte. Aber Vater blieb, wie in seinen Briefen, so auch jetzt im mündlichen Verkehr, bei dem respektvollen „Kaiserliche Hoheit”.
Im Herbst wurden dann die Fundamente der Kirche gelegt, und im frühesten Frühjahr — wenn ich mich recht besinne, war es der erste Februar — begann die Maurerarbeit. Es war nach des Kronprinzen Wunsch wirklich ein gottgesegneter Bau! Die Zeichnungen hatte Vater auch diesmal wieder selbst gemacht. Schon einen Sommer vorher hatte er manche Stunde seiner Ferienzeit dafür gewidmet. Nur die Stärke der Kreuzbalken, die den Dachreiter tragen sollten, ließ er der Sicherheit wegen von einem befreundeten Baumeister in Hannover berechnen. Hohe künstlerische Ziele steckte er sich bei dem Bau nicht. Es war ein sehr schlichter Raum. Aber von jedem Platze aus konnte man die Kanzel sehen, und die fünf kleinen Ruhekammern an den Enden und Ecken der Kirche, in die die Kranken während des Anfalls gebracht wurden, gaben ihm das besondere Gepräge eines Gotteshauses für Fallsüchtige.
Die tägliche Beaufsichtigung des Baues übergab er einem jungen Maurer, der, in Hamburg arbeitslos geworden, von Wilhelmsdorf gehört hatte und in achttägiger Wanderung, des Nachts immer in den Heuhaufen schlafend, geradeswegs nach[S. 242] Wilhelmsdorf gekommen war. Dort hatte er sich durchaus bewährt. Es steckte ein gewisser Stolz in ihm, und er behauptete, da er eine Zeitlang eine Baugewerkschule besucht hatte, sich Architekt nennen zu dürfen. Die andern aber nannten ihn statt dessen immer nur „Arg-im-Dreck”. Das nahm er aber nicht übel, sondern zeigte sich wirklich bei unermüdlichem Fleiß und gutem Humor als ein überlegener Geist, dem trotz seiner Jugend sich alles fügte, sodaß der Bau in großem Frieden und noch größerer Freude vorwärtsschritt.
Steine und Sand wurden zur Schonung der Pferde unten am Berge abgeladen. Quer den Wald hinauf bildeten die epileptischen Mädchen lange Ketten, in denen die Steine, von Hand zu Hand wandernd, auf den Bauplatz befördert wurden. Andere trugen in ihren Schürzen den Sand hinauf. Und nachmittags kamen die Jungen von Nazareth und die erwachsenen Kranken der Landstationen mit ihren Schiebkarren. Wer aber sonst hinaufstieg, um den Bau zu sehen, der nahm, Vaters Beispiel folgend, allemal in jeder Hand einen Backstein mit. Rotkehlchen und Rotschwänzchen nisteten in größter Zutraulichkeit in den Mauerlöchern, aus denen eben erst die Gerüststangen ein Stockwerk höher verlegt waren, und wurden auf das sorgsamste von den Maurern gehütet.
Ungezählte Gaben der Liebe wurden in den Bau hineingebaut, die Vater durch ein besonderes Kollektenblatt erbeten hatte. Wir Brüder schliefen damals nur mit den Schulbüchern unter dem Kopfkissen, um beim ersten Morgenerwachen die Schularbeiten zu erledigen. Denn nachmittags und abends ließ der Kirchbau beim besten Willen keine Zeit dazu.
Auf einen Glockenturm hatte Vater verzichtet. Nur oben in dem Dachreiter sollte ein bescheidenes Glöckchen hängen. Davon hatte der alte Missionar Lückhoff in Südafrika gehört und in seiner schwarzen Gemeinde für einen richtigen Glockenturm 2000 Mark gesammelt. Das war Vater eine ganz besondere Freude, und er prüfte sofort, ob sich der Plan ausführen ließe. Es zeigte sich, daß ein solcher größerer Turm viel zu teuer geworden wäre und die ganze Anlage der Kirche gestört haben würde. Aber in den Ecken neben dem Altarraum waren zwei Sakristeien vorgesehen, deren Mauern leicht in die Höhe gezogen werden und sich zu zwei kleinen Türmen zu beiden Seiten des Chors auswachsen konnten.
Ich sehe noch Vater, wie er auf dem freien Mauerwerk in zehn Meter Höhe ohne Schwindelscheu vor uns Kindern herlief, um die Mauern zu prüfen, ob sie wirklich die Glockentürme tragen konnten. Es zeigte sich, daß sie stark genug waren, und so stehen heute die beiden kleinen Türme da zum Zeichen der Gemeinschaft zwischen Europa und Afrika.
Die Einrichtung der Kirche wurde zum größten Teil in den Werkstätten der Epileptischen hergestellt. Am 26. November war der Bau zur Einweihung vollendet. Nach dem 126. Psalm „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird”, der längst zum Lieblingspsalm der Kranken geworden war, und entsprechend der hohen Lage des alten Zionsberges bekam die Kirche den Namen Zionskirche. Prinz Albrecht von Preußen, der spätere Prinzregent von Braunschweig, damals als Großmeister des Johanniter-Ordens mit Vater in mannigfacher Beziehung, schloß die Tür auf mit den Worten: „Ich öffne die Tür mit dem Wunsche, daß alle, die in dieses Haus eingehen, Frieden suchen und alle, die ausgehen, Frieden gefunden haben.” Den Mittelpunkt der Feier bildete naturgemäß Vaters Ansprache, und man kann sich denken, wie gerade bei dieser Gelegenheit sein Herz überfloß von Dankbarkeit gegen Gott und Menschen.
Bei der Nachfeier im Diakonissenhaussaal überbrachte der Generalsuperintendent Nebe im Auftrage der Theologischen Fakultät Halle Vaters Ernennung zum Doktor der Theologie. Wir Kinder waren sehr stolz; Vater aber hat nie von dem Titel Gebrauch gemacht, ebensowenig wie von seinen Orden. Nicht aus Geringschätzung. Er konnte sich gelegentlich redlich für andere bemühen, wenn er wußte, daß jemand mit solch einer Auszeichnung eine Freude und Ermunterung zuteil wurde. Aber für ihn selbst war dies Gebiet menschlicher Anerkennungen überwunden. Er bedurfte ihrer nicht, weder für seine Person noch für seine Arbeit. Nur das Eiserne Kreuz, das ja nicht eigentlich in die Reihe der Orden gehört, legte er bei besonderen Vaterlandsfesten und bei Besuchen im königlichen Hause an.
Der junge Bauführer der Kirche aber verdiente sich bei dem Bau seine Sporen. Er kehrte in seine Vaterstadt zurück, und nach Jahr und Tag fanden wir seinen Namen an der Spitze eines gemeinnützigen Bauunternehmens.
„Es ist ein schweres Unrecht, wenn man den kleinen Mann, der doch wie wir mit beiden Beinen auf der Erde steht und stehen muß, nur immer auf das Jenseits vertröstet.”
F. v. B.
Bielefeld war rasch gewachsen. Neben die alte Leinenindustrie waren andere Industrien getreten, die bald die Vorherrschaft übernahmen. Mit dem schnellen Wachstum, das nach außen alle Lebensverhältnisse ergriffen hatte, hatte das Wachstum der inneren Kräfte nicht Schritt gehalten, weder bei Arbeitgebern noch bei Arbeitnehmern. Die Stände rückten immer weiter auseinander. Die Arbeitgeber behaupteten ihre alte uneingeschränkte Stellung, und ihnen gegenüber drängten die Vortruppen der Revolution heran. Es kam zu immer erregteren sozialdemokratischen Versammlungen. Einige Male nahm Vater daran teil. Er glaubte zum Frieden oder wenigstens zur Verständigung helfen zu können, stieß aber auf kühle Ablehnung, zum Teil auf bitteren Hohn. Nach dem zweiten oder dritten Versuch verzichtete er endgültig auf diesen Weg. Er hat seitdem nie wieder irgend eine parteipolitische Versammlung besucht, zu welcher Richtung sie sich auch bekannte.
In der Arbeiterschaft aber hatte sich zunächst der Verdacht festgesetzt, daß Vater zu den Reaktionären gehöre, die auch die berechtigten Ansprüche der Arbeiter hintertrieben. Die Diakonissen von Sarepta, die in jahrelanger treuer Arbeit an Kindern, Kranken und Armen der Stadt, namentlich aus den Kreisen der arbeitenden Bevölkerung, gedient hatten, wurden jetzt auf den Straßen als geheime Agentinnen Bodelschwinghs öffentlich beschimpft.
Im Winter 1886 brach in Bielefeld der erste größere Streik aus. Die Erbitterung wuchs in solchem Maße, daß es zu Gewalttätigkeiten kam und der Belagerungszustand erklärt werden mußte. Mitten in die Erregung der Gemüter wurde die Nachricht geworfen, Vater hätte der Fabrik, in der der Streik entstanden war, durch Kolonisten von Wilhelmsdorf heimlich Hilfe geschickt. Die Sache war völlig aus der Luft gegriffen, wurde aber geglaubt, und eine Flutwelle von Zorn und lange verhaltenem Grimm warf sich auf Bethel. Nun mußte auch das friedliche Anstaltsgebiet in den Belagerungszustand einbezogen [S. 245] werden. Militär-Patrouillen umkreisten bei Tag und Nacht die Anstaltshäuser. In unsern Garten wurde ein Schilderhaus mit ständigem Wachtposten und geladenem Gewehr gesetzt. Die Chorfenster der Zionskirche, die vom alten Kaiser Wilhelm, dem Kronprinzen und dem Prinzen Wilhelm, dem späteren Kaiser, geschenkt waren, wurden durch Drahtnetze gegen Steinwürfe geschützt.
Da erscholl eines Nachts Feuerlärm: „Eben-Ezer brennt!” Es war das alte Bauernhaus unten im Tal, die Wiege der Anstalt für Epileptische. Nicht das Haupthaus brannte, sondern ein angebauter Schlafsaal, von blöden epileptischen Männern bewohnt, dessen Dach sich tief an den Berghang lehnte und durch böswillige Hand mühelos von ebener Erde aus angesteckt werden konnte. Die Feuerwehr war schnell zur Stelle, aber ebenso schnell sammelte sich rings um die Brandstelle her eine Schar wilder Gestalten, meist junger Burschen, die dem Schauspiel zusahen. In das Schreien der Kranken, die zum Teil nur mit Gewalt aus dem brennenden Hause getragen werden konnten, mischte sich das Johlen jener Zuschauer, in denen die rohe Leidenschaft entfesselt war. In plattdeutscher Sprache hörte man den Ruf: „So ist’s recht, daß Bodelschwingh brennt; warum hat er uns aus unsern Häusern vertrieben!”
Drei Tage daraus brannte es zum zweiten Male, diesmal in dem Ackerhofe für Epileptische, Hebron. Auch diesmal blieben alle Nachforschungen nach der Ursache des Brandes unaufgeklärt; nur daß alles darauf hindeutete, daß in beiden Fällen ein heimlicher Racheakt vorlag.
Aber Vater blieb jedes Gefühl der Bitterkeit fern. In seinen Ohren tönte jener nächtliche Ruf fort: „So ist’s recht, daß Bodelschwingh brennt; warum hat er uns aus unsern Häusern vertrieben!” Wie ein Feuerbrand war dieses Wort in seine Seele gefallen und hatte gleichzeitig wie ein Blitz ein dunkles Gebiet erhellt, das nun als ein neues weites Arbeitsfeld vor seinem Auge lag: das Feld der Wohnungsfrage.
Worin lag das Berechtigte in jenem nächtlichen Anklageruf? In der Tat war im Hinterlande der Anstalt eine Besitzung nach der andern im Laufe der Jahre aufgekauft worden. Nicht nur die Eigentümer dieser Besitzungen waren fortgezogen, sondern mit ihnen auch die Mieter, die teils mit den Besitzern im selben Hause, teils in den kleinen Kotten der aufgekauften[S. 246] Bauernhöfe gewohnt hatten. Niemand, auch Vater nicht, hatte sich darum gekümmert, wo sie geblieben waren. Das fiel ihm jetzt wie eine schwere Anklage auf die Seele. Denn immer, wenn er auf Bitterkeit und Feindschaft stieß, fragte er zunächst nicht nach des andern Schuld, sondern nach seiner eigenen.
Er überdachte, wie alle diese kleinen Besitzer und Mieter sich früher einer Wohnung abseits der großen Stadt hatten erfreuen können und dazu eines Stückes Garten- und Feldlandes, wo Mann, Frau und Kinder miteinander die Früchte für sich und ihr Kleinvieh ziehen und den Feierabend und Sonntag in Gottes freier Schöpfung zubringen konnten. Jetzt waren sie durch den Verkauf in die Stadt gedrängt, ohne Licht und Luft für Weib und Kind und ohne das liebgewordene Stück Land, aber mit wachsender Verbitterung im Herzen gegen die „Frommen”, die für die Kranken sorgten, aber die Gesunden darüber verkümmern ließen. Was Wunder, wenn sich diese Verbitterung Luft machte!
Aber das war doch nur ein kleines Stück des weiten Gebietes, das durch jenes Wort in helles, lebendigstes Licht gerückt worden war. Das ganze Wohnungselend der Großstädte tauchte vor ihm auf. Wie viel edles deutsches Familienleben war hier in staubige Straßen, in hohe, unruhige Mietskasernen zusammengepfercht! Ohne Sonne, ohne Vogelsang, fern von Wald und Feld mußten hier die Eltern ihre Kinder aufwachsen sehen, während dicht vor den Toren der Städte sich das weite Land dehnte, wo ungezählte Familien ihr eigenes Heim hätten finden können. „Man hat gänzlich vergessen,” schrieb Vater, „daß, seitdem wir Pulver und gezogene Geschütze haben, die Zeiten längst vorüber sind, in denen man die Menschen, um ihnen Schutz zu gewähren, in feste Städte zusammenpressen mußte.”
Aber was hatte überhaupt den deutschen Arbeiter in die Stadt gedrängt? Die Erinnerung an seine Zeit als landwirtschaftlicher Eleve und Inspektor in Hinterpommern tauchte vor Vaters Augen auf. Schon damals waren es vielfach gerade die Gutsarbeiter gewesen, die, sobald sie sich genügend erübrigt hatten, die Abhängigkeit von der Gutsherrschaft aufgaben und, von der Sehnsucht nach Selbständigkeit getrieben, entweder nach Amerika gingen oder in die Großstädte zogen. Seitdem hatte dieser Zug vom Lande in die Stadt immer mehr[S. 247] zugenommen. Statt daß Bismarcks Wort aus einer seiner ersten Reden: „Die großen Städte müssen zerstört werden” — im rechten Sinne verstanden — in die Wirklichkeit umgesetzt worden wäre, hatte man die Städte immer mehr zu schrecklichen Wasserköpfen anwachsen lassen, die den ganzen Volkskörper verunstalteten, dessen Glieder gleichzeitig durch die beständige Abwanderung vom Lande in die Stadt immer mehr verkrüppelten.
Dazu kam die zunehmende kirchliche Verwahrlosung in den großen Städten. Vater ließ sich nie erbittern, aber hier haben wir ihn doch manchmal mit tiefen Gefühlen des Schmerzes kämpfen sehen im Gedanken an die schmerzlichen Versäumnisse der Kirche. Statt mit dem Wachsen der Großstädte Schritt zu halten, überall schnell und im voraus für geeignete Plätze für Kirchen oder noch lieber einfache Bethäuser zu sorgen, statt kleine Gemeinden einzurichten, in denen noch ein persönliches Verhältnis zwischen Pastor und Gemeindegliedern möglich gewesen wäre, hatte man diese Riesengebilde entstehen lassen, Gemeinden von oft vielen Zehntausenden von Seelen, die keine Gemeinden mehr waren, sondern nur noch Pflegestätten für einzelne.
Aber nie hielt sich Vater lange bei solchen Anklagen auf. Immer wandte er sich schnell zu dem, was er selbst versäumt habe, was er selbst wieder gut machen könne. Und hier mußte er, der sich so manchmal über die Kurzsichtigkeit entsetzt hatte, mit der man früher in Hinterpommern die Bauernhöfe aufgekauft hatte und die Gutsarbeiter ihrer Wege hatte ziehen lassen, ohne zu fragen, wohin — jetzt mußte er sich ehrlicherweise gestehen, daß er selbst das gleiche hatte geschehen lassen; denn was hatte er für die Leute getan, die ihre Besitzung und Wohnung seinen Kranken eingeräumt hatten? Nichts. Aber was konnte er jetzt tun?
Vaters Studierstubenfenster lag nach dem Garten und den Bergen hinaus. Von seiner Arbeit fiel sein Blick auf diese Berge und in unsern Garten. Welche Freude hatte er immer an seinen Obstbäumen, die er aus Dellwig mitgebracht hatte! Schon im frühesten Frühjahr suchte er nach den treibenden Blütenkolben. Im Garten, vor seinen Augen, hatte er uns ein Turnreck aufrichten lassen und uns die ersten Übungen daran selbst vorgemacht; dicht unter seinem Fenster hatten wir unsern[S. 248] Kaninchenstall und unsere Räuberhöhle angelegt; und im Giebel an der andern Seite girrten die Tauben, die des Morgens, wenn wir in der kleinen Veranda frühstückten, uns auf Schultern und Armen saßen und uns die Bissen aus dem Munde holten. Das alles hatte er und hatten wir. Aber der Arbeiter wohnte in der engen Stadt! Wie oft hat er sich und uns diesen Gegensatz vor Augen gemalt!
Über den Garten hinweg aber ging der Blick auf die Höhen des Teutoburger Waldes, an deren Abhang die Ackerbürger von Bielefeld und seiner Vorstadt Gadderbaum ihre Gärten und Felder hatten. Dort oben war auch der schöne neue städtische Friedhof entstanden, und links davon, vom Friedhof auf der einen Seite, von Buchen- und Tannenwald auf zwei andern Seiten eingeschlossen, aber mit freier, weiter Aussicht nach Osten hin, lag ein Grundstück von etwa sechs Morgen Größe. Darauf blieb Vaters Blick hängen. Diesmal konnte er nicht warten, bis von irgendwoher ein Angebot kam; denn jetzt galt es, verloren gegangenes Gebiet zurückzuerobern. Freund Bökenkamp, der stille, vorsichtige, zuverlässige Mann, tat die entscheidenden Schritte, und bald war das Grundstück oben am Berge gekauft. Damit war neuer Heimatboden gewonnen für Heimatlose, Vertriebene, Verbitterte.
Das Grundstück wurde in acht gleich große Bauplätze eingeteilt, und für jeden Platz entwarf Vater je ein Haus, für jedesmal eine Familie bestimmt, jedoch groß genug, daß oben in den Dachzimmern noch die erwachsenen Kinder oder, wenn eins der Kinder sich verheiratete und die Besitzung übernahm, die alternden Eltern Wohnung finden konnten. Dann wurde der Platz öffentlich ausgeschrieben. Jeder Arbeiter konnte sich bewerben. Nach seiner Partei oder politischen und kirchlichen Stellung wurde nicht gefragt. Bedingung war nur, daß er eine selbstersparte Summe von 500 Mark anzahlen konnte. Darin sollte die Bürgschaft liegen, daß man es mit einem nüchternen, fleißigen Mann zu tun habe, der auch in Zukunft regelmäßige Abzahlungen leisten würde.
Hatte man schon von unserm Hause aus den Eindruck, wie schön es dort oben sein müsse, so zeigte sich, wenn man oben stand, die Lage der Grundstücke vollends als unvergleichlich. Es meldeten sich alsbald mehr Bewerber, als berücksichtigt werden konnten. Das Los mußte entscheiden. Unter die[S. 249] acht, zu deren Gunsten die Entscheidung fiel, wurden abermals durch das Los die einzelnen Plätze verteilt. Doch war keiner gezwungen, den für jedes einzelne Grundstück vorhandenen Bauplan anzunehmen. Er konnte daran je nach Wunsch und Bedürfnis ändern. Man wollte helfen und raten, aber keine Gewalt antun. Sobald ein Drittel des Gesamtwertes abgezahlt war, ging das kleine Besitztum an seinen neuen Eigentümer über.
Was aber wurde aus den übrigen Bewerbern, die nicht hatten berücksichtigt werden können? Sie waren jetzt diejenigen, die vorwärts drängten. Ein Aufhalten, ein Stillstehen wäre Unbarmherzigkeit gewesen. So kam es zum Ankauf des zweiten Grundstückes, des dritten u. s. f., und in allmählichem Fortschreiten legte sich ein großer Kranz von Arbeiterheimstätten in näherer oder weiterer Entfernung rings um Bielefeld.
Aber die örtliche Not, die hier gestillt wurde, war doch nur ein winziger Bruchteil der ungeheuren Wohnungsnot des Vaterlandes. Und die Aufgabe, die man hier auf kleinem Raum löste, mußte überall in Angriff genommen werden. Es galt, einen eigenen Mittelpunkt zu schaffen, von dem aus diese Not an alle herangetragen und diese Aufgabe allen zur Pflicht und Freude gemacht wurde. So entstand im April 1885 der „Deutsche Verein Arbeiterheim”. In besonderen Anschreiben setzte Vater den Zweck des Vereins auseinander, und bald meldeten sich aus allen Teilen des Vaterlandes die Mitglieder, teils einzelne Privatleute, teils Korporationen und Gemeinden. Die Kaiserin und später die Kronprinzessin Cecilie übernahmen das Protektorat zum Zeugnis, daß es sich hier um die wichtigste Grundlage alles Staats- und Volkslebens, die Erhaltung der Familie, handle.
„Mehr Luft, mehr Licht und eine ausreichend große Scholle für den Arbeiterstand!” war nun der Ruf, den Vater durch Wort und Schrift hinausgehen ließ in Stadt und Land. In schlichtesten, tief ergreifenden Worten brachte er alle Saiten des Herzens zum Schwingen. Herz, Gemüt, Verstand, Gewissen faßte er in gleicher Weise an. Die städtischen und ländlichen Behörden so gut wie die einzelnen Besitzer wies er auf diese entscheidende Aufgabe hin. Wir haben sein Herz beben gehört, zittern gefühlt über der Frage: Wird es noch gelingen, hier das deutsche Gewissen wachzurufen?
Und immer gingen Wort und Tat Hand in Hand. Die grundlegende Frage war: Wie kann dem Arbeiter das Geld zur Aufrichtung einer Heimstätte beschafft werden? Denn selten oder nie hatte er dazu ausreichendes eigenes Kapital in der Hand. Wohl hatte der Verein „Arbeiterheim” an seinem Teil den einzelnen Erwerbern als Rückhalt gedient und ihnen das nötige Kapital flüssig gemacht. Aber seine Schultern wären zur Durchführung im großen zu schwach gewesen. Es mußte stärkerer und weiterer Rückhalt geschaffen werden. Wo war er zu finden?
Die staatlichen Rentenbanken halfen größeren und mittleren Besitzern mit Darlehen, die in jahrzehntelanger Tilgungsfrist unter geringer Verzinsung zurückgezahlt wurden. Hier setzte Vater ein. Was dem größeren und mittleren Besitzer zugebilligt wurde, warum sollte es dem kleinen nicht auch gewährt werden?
„Es gibt kein Kapital, das sicherer angelegt wäre, als beim kleinen Mann, kein Kapital auch, das höhere Zinsen brächte.” In allen Tonarten, mit allen Beweismitteln hat Vater diesen Satz vertreten. Er kannte die nie zu erstickende Liebe des deutschen Familienvaters zur eigenen Scholle. Er vertraute mit größter Zuversicht, daß der deutsche Arbeiter überall, wo man ihm die Hand dazu böte, alles daran setzen würde, ein eigenes Heim nicht nur zu erwerben, sondern auch zu behalten und die, die ihm dazu verhalfen, nicht im Stich zu lassen. Er wußte auch, daß es unter allen irdischen Mitteln kein sichereres Gegengift gibt gegen Trunksucht, Unzucht und Prunksucht als das eigene Dach und den eigenen Herd.
Darum gelang es ihm auch in unablässigem Bemühen um die Herzen der verantwortlichen Männer und Behörden in Provinz und Staat, in Schreibstuben und auf den Ministerstühlen, daß schließlich die Beleihungsgrenze bis zu den kleinsten Besitzungen ausgedehnt wurde. Im Jahre 1907 erfolgte der Ministerialerlaß über Zwergrentengüter, wonach auch die sogenannten Zwergsiedlungen von nicht mehr als einem halben Morgen Größe von den Rentenbanken bis zu drei Vierteln des Gesamtwertes beliehen wurden.
Damit war der Weg gebahnt zu umfassenden Siedlungen in städtischen und ländlichen Bezirken. Wenn nur weitherzige Baupolizeivorschriften, weitblickende Gemeindepolitik und weitgreifende [S. 251] Anleitung der Verwaltungsbehörden alle tätigen, sich selbst helfenden Kräfte des deutschen Vaterlandes künftig nicht eindämmten, sondern weckten und förderten, so zeigte sich jetzt die ungehinderte Aussicht auf eine Gesundung des gesamten Volkskörpers. Der Arbeiter war nicht mehr ausschließlich angewiesen auf die Barmherzigkeit von Privaten oder gemeinnützigen Vereinen, sondern es war ihm zu einem Recht verholfen an die materiellen Hilfsquellen des Staates.
Schwere Hemmungen blieben ja bestehen. Immer war es so, daß, wo irgend eine Arbeitersiedlung einsetzte, die Bodenpreise in der Umgebung der Siedlung in die Höhe schnellten und den nachfolgenden Siedlern die Erwerbung eines Eigentums erschwerten. Um hier grundlegende Wandlungen zu schaffen, hatten die Bodenreformer unter Damaschke eine unermüdliche Arbeit angegriffen. Aber dieses ganze große Gebiet ließ Vater unberührt. Ich fragte ihn einmal, wie er über die Frage der Bodenreform im Sinne Damaschkes dächte. Er antwortete: „Davon verstehe ich zu wenig.” Es lag nicht in seiner Natur, sich mit Fragen zu beschäftigen, deren Lösung erst in weiter Zukunft lag. Er fühlte sich auch auf diesem Gebiete nicht zum Reformer oder Reformator berufen. Die praktischen Aufgaben, die sich ihm mit zwingender Gewalt aufdrängten, griff er an und suchte er dadurch zu lösen, daß er die vorhandenen Hilfsmittel verwandte und diese Hilfsmittel so viel wie irgend möglich ausgestaltete.
Alles, was zunächst nur Theorie blieb, lag außerhalb seines Interesses. Die ganze immer mehr anwachsende Literatur über die sozialen Probleme blieb ihm fremd. Er las nichts davon. Nur das, was seine unmittelbar jetzt lösbare Aufgabe betraf und ihn darin förderte, bildete eine Ausnahme. Das griff er mit hellem Blick heraus und machte er sich zu eigen.
Als ihn zu einer Zeit, wo alle Welt mit der „sozialen Frage” als solcher beschäftigt war, der ihm befreundete Professor Riggenbach in Basel bat: „Sagen Sie mir einmal Ihre Gedanken über die soziale Frage!” antwortete er: „Ich spreche nicht gern über Dinge, von denen ich nichts verstehe.” Aber dann ließ er den Fragesteller in anschaulichster Weise hineinsehen in die Gebiete des sozialen Lebens, auf denen er nicht theoretisch, sondern praktisch gearbeitet hatte.
Vaters historischer Sinn, die Dankbarkeit für das, was geworden war, die Achtung vor einer jahrhundertealten treuen Arbeit des Staates ließen ihn nie in den Verhältnissen die Hauptschwierigkeiten erblicken. Deshalb griff er, wie verwickelt oder rückständig diese Verhältnisse oft auch sein mochten, immer mit großer Zuversicht hinein, indem er allem, was gesund in ihnen war, zur Fortentwicklung half, um dadurch ganz von selbst das Verkehrte absterben zu lassen. Nicht unter den Hemmungen, die von den Dingen ausgingen, litt er, wohl aber unter denen, die von den Menschen herrührten. Und gerade auf dem Gebiet der Arbeiterwohnungsfrage erlebte er es mit wachsendem Schmerz, wieviel hier durch Kurzsichtigkeit, Engherzigkeit, Hartherzigkeit und mangelnde Nächstenliebe unterlassen und versäumt wurde.
Am meisten schmerzte ihn die Stellung der landwirtschaftlichen Kreise; denn bei ihnen lag die eigentliche Entscheidung. Je mehr die Städte sich dem Gedanken öffneten, in ihrem Umkreise für die Ansiedlung des Arbeiters zu sorgen, desto mehr Arbeiter wurden doch wieder aus dem Lande in den Bannkreis der Stadt gelockt. Darum mußte das Land seine bisherige Stellungnahme aufgeben. Wohl gab es auch hier eine langsam zunehmende Einsicht. Aber sie war doch nicht allseitig genug. „Wir werden uns keine Laus in den Pelz setzen dadurch, daß wir unsere Arbeiter selbständig machen”, mußte er immer wieder hören. In einer der besten Gemeinden des Ravensberger Landes sagte er in einer Predigt, daß die Besitzer alle im Grunde nicht Besitzer, sondern nur Verwalter ihres Gutes seien und daß sie, um als Verwalter bestehen zu können, wenn Gott einmal Rechenschaft von ihnen forderte, die Pflicht hätten, dem kleinen Mann zu einem Haus und Stück Land zu verhelfen, das dieser dann wieder als selbständiger Verwalter innehaben könne. Der Bauer müsse sich endlich von dem Gedanken freimachen, als sei es unrecht, wenn er von dem von den Vätern ererbten Besitz etwas abgebe für den kleinen Mann. Aber Vater stieß auf kühle Ablehnung und wurde auf lange Zeit hinaus nicht wieder in diese Gemeinde eingeladen.
Ähnlich ging es ihm weiten Kreisen der Großgrundbesitzer gegenüber. Er hat es nie verkannt, wieviel von manchen unter ihnen für den Landarbeiter geschah, wie die Wohnungen in wachsendem Maße verbessert wurden und der Landarbeiter[S. 253] sich, wenn er seine Einkünfte berechnete, vielfach weit besser stand als der freie Industriearbeiter der Großstadt. Aber eng und starr hielten vielfach auch die besten Besitzer an dem Grundsatz fest: „Alles für den Arbeiter, nichts durch ihn”, d. h. sie waren bereit, für den Arbeiter und die Verbesserung seiner Lage in jeder Hinsicht nach dem Maße ihrer Kräfte zu sorgen, aber nur, solange er als Mietsmann in abhängiger Stellung dem Gute gegenüber blieb. Sobald es sich aber darum handelte, den Arbeiter auf eigene Füße zu stellen, sodaß er auf eigener Scholle durch eigene Arbeitskraft sich sein Heim schuf und dann durch freien Entschluß in ein neues Dienstverhältnis zum Gute trat, hielten die Besitzer mit ihrer helfenden Hand zurück. Man wollte ihn in der Hand behalten, und gerade so verlor man ihn.
Durch die immer mehr gesteigerte Tätigkeit der Volksschule wurde der Gesichtskreis auch des Landarbeiters erweitert, sein Selbstbewußtsein gehoben, all seine Kräfte geweckt. Aber man gab diesen Kräften kein Feld eigener Betätigung, eigener Entfaltung. Das mußte schließlich zu einer Katastrophe führen. „Zwanzig Jahre habt ihr noch Zeit,” hörte ich Vater zu einem Großgrundbesitzer sagen; „wenn ihr dann nicht Ernst gemacht habt, habt ihr die Revolution.” Und ein anderes Mal: „Vor den Russen und Franzosen ist mir gar nicht bange. Aber bange ist mir vor der Unzufriedenheit und Gottentfremdung im eigenen Volk. Wenn ihr helfen wollt, dann helft, dem Deutschen die eigene Scholle wiederzugeben.” Dabei ging für ihn die Lösung der sozialen und der religiösen Frage immer Hand in Hand. So sagte er auf dem Kongreß für Innere Mission in Kassel im Jahre 1888: „Um reif zu werden für die himmlische Heimat und Heimweh nach dem Vaterhause droben zu haben, ist es nötig, daß man zuerst einmal ein irdisches Vaterhaus liebgewonnen hat. Diejenigen, die nichts mehr von einem Verlangen nach einem irdischen Vaterhause wissen, sind meist auch für das Verlangen nach einem ewigen Vaterhause abgestorben.”
Es muß ehrlicherweise zugegeben werden, daß Vater manchen Großgrundbesitzer befremdete, weil er bei der Glut, mit der er seinen Gedanken vertrat, bei manchem den Eindruck erwecken konnte, als wollte er alles Bestehende auf den Kopf stellen. Aber im Grunde hatte er nie daran gedacht, daß die vorhandenen Mietsverhältnisse sämtlich aufgelöst werden sollten, [S. 254] damit jeder Arbeiter sein eigener Herr würde auf eigener Scholle. Er wollte nur, daß dem Arbeiter die Möglichkeit dazu verschafft und daß seiner drängenden Kraft Ventile geöffnet würden. Es war ja klar, daß viele das sorgenfreie Leben im Mietshause der Verantwortung für ein eigenes Besitztum vorziehen würden. Aber denen, die nach dieser Verantwortung sich sehnten, sollte der Weg dazu offen stehen.
Mit der freien Bahn, die dem Landarbeiter geöffnet werden sollte, ging freilich Hand in Hand, daß auch der Industrie Möglichkeit gewährt wurde, sich auf dem Lande niederzulassen. Nur so würde das Wachstum der Großstädte unterbunden werden. Namentlich die Kanäle sollten nach Vaters Gedanken dazu dienen, die Industrie auf das Land zu ziehen. Unermüdlich war er auch für diesen Gedanken eingetreten.
Mit der Industrialisierung des Landes würde ja auch mehr und mehr dem Mißverhältnis gesteuert werden, daß die Bodenpreise in der Nähe der Städte übertrieben hoch, auf dem Lande unverhältnismäßig gering waren. Und denjenigen Landwirten, denen die ganze Frage nicht so sehr eine Angelegenheit der sozialen Gerechtigkeit, sondern des Geldbeutels war, zeigte Vater, wie auch sie bei ganz nüchterner Berechnung sich sagen mußten, daß das Festhalten des Arbeiters auf dem Lande, auch rein vom rechnerischen Standpunkte angesehen, ihr eigenster Vorteil sei. Durch die Rente, die der Landarbeiter für den erworbenen Grund und Boden zahlte, konnte der Großgrundbesitz einen Teil seiner Schulden abstoßen. Durch die Zunahme der Landbevölkerung war das Absatzgebiet für die Landwirtschaft bereichert und die Möglichkeit zur Erlangung geeigneter Arbeitskräfte nicht gemindert, sondern vermehrt.
Hat Vater vergeblich gearbeitet? Als die Revolution ausbrach und Bielefeld im Norden Deutschlands eine der wenigen großen Städte war, in denen sich der Umschwung der Dinge verhältnismäßig ruhig vollzog, wurde als letzte Ursache dieser erfreulichen Erscheinung zweierlei genannt: die verständige Hand eines maßvollen sozialdemokratischen Führers und die soziale Arbeit Vater Bodelschwinghs. Das will freilich, auf das Ganze des Vaterlandes gesehen, nicht viel sagen. Aber wenn der praktische Ertrag auch verhältnismäßig gering war, — denn was bedeutete die Ansiedlung von einigen tausend Arbeitern auf eigenem Grund und Boden im Einfamilienhaus[S. 255] gegenüber der großen Masse, die in die Städte gepfercht blieben und auf dem Lande keine Entwicklungsmöglichkeit vor sich hatten! — Vater ist durch alle Hindernisse und alle schmerzhaften Enttäuschungen nicht abgeschreckt worden, den Gedanken selbst immer wieder hinauszurufen: „Mehr Luft, mehr Licht und eine ausreichend große Scholle für den Arbeiterstand!”
Als darum während des Krieges der Gedanke entstand, jedem deutschen Kämpfer seinen freien Anteil am deutschen Lande zu sichern, da fand er überall lautes Echo. Großgrundbesitzer des Ostens stellten damals weite Gebiete ihres Besitztums zur Verfügung, damit der Gedanke in die Tat umgesetzt würde. Hätten sie es zwanzig Jahre früher getan, wie viel wäre verhütet worden!
Zu spät ist es auch jetzt noch nicht. Die Gedanken des Vereins „Arbeiterheim” haben sich inzwischen überall durchgesetzt. Das ganze Vaterland ist zu einem Verein Arbeiterheim geworden. So könnte sich der Verein in die Stille zurückziehen. Doch besteht er noch fort, damit er überall, wo es gilt, den Gedanken in die Tat umzusetzen, mit seinen Erfahrungen helfen kann.
Der Überschuß an Kandidaten der Theologie war in den achtziger Jahren groß. Manche von ihnen mußten jahrelang auf feste Anstellung warten und fragten in Bethel um Arbeit an. Vater ergriff diese Gelegenheit, um dafür zu sorgen, daß die brach liegenden Kräfte während der Wartezeit nicht müßig blieben, sondern eine gründliche Schulung erhielten. Er bat den damaligen Kultusminister Goßler, ihm zur Ausbildung einer kleineren Anzahl zukünftiger Pastoren für den Dienst der inneren und äußeren Mission die erforderlichen Geldmittel darzureichen. So entstand 1888 das Kandidaten-Konvikt. Zunächst für vier, später für acht Kandidaten wurden seitens des Ministers die Mittel gewährt. Ein Nebengebäude des Hauses Hermon, Klein-Hermon, wurde ihre Heimat und ist es bis heute geblieben.
Die Arbeit der Kandidaten wurde so geteilt, daß sie des Vormittags auf den verschiedenen Stationen der Anstalt tätig waren, während der Nachmittag der besonderen Ausbildung[S. 256] auf den zukünftigen Beruf vorbehalten blieb. Einer arbeitete auf der Männerstation des Diakonissenhauses, wo er unter der Anleitung der Kandidaten-Mutter, Schwester Riekchen, das Reinmachen der Krankenstuben, das Bettenmachen und dann die eigentliche Krankenpflege lernte und auch an den Operationen teilnahm; ein anderer hatte seinen Posten in Zoar bei den geistesschwachen epileptischen Knaben, der dritte in Hebron, der Landstation der epileptischen Männer, der vierte auf dem Arbeitszimmer des Vaters. Alle acht bis zwölf Wochen wurde gewechselt, sodaß jeder die verschiedenen Arbeitsgebiete kennenlernte. Mit der Zunahme der Kandidaten nahmen auch die Tätigkeitsfelder zu: Arbeiterkolonie, Herberge zur Heimat, Trinkerheilstätte, Pflege der Geisteskranken, Unterricht der Brüder und der epileptischen Kinder usf.
Es verstand sich für Vater von selbst, daß ein zukünftiger Diener des Wortes Jesu Christi, des Freundes und Helfers der Armen, Kranken und Schwachen, zum geringsten Dienst an den Elenden willig sei. Darum stellte er sofort mit einer Selbstverständlichkeit, gegen die es gar kein Widerstreben gab, die ersten Kandidaten, die sich meldeten, in die Arbeit an den Kranken. Ganz von selbst banden sie sich gleich den Schwestern und Brüdern, die ihnen vorarbeiteten, die blaue Schürze um. Sie wurde ihnen schnell zum Ehrenkleid, das sie nach einem Jahr nur mit Wehmut ablegten. Und mancher von ihnen hat die blaue Schürze unendlich leichter und lieber getragen als den Talar.
Es ging allerdings nicht jedem so. Einige kamen, die schon nach kurzer Zeit wieder verschwanden, weil ihnen der Anblick der Kranken zu schwer, der Dienst zu niedrig und entsagungsvoll war. Aber die allermeisten blieben. Ihnen wurde es zur großen Wohltat, daß sie einmal die Gedankenarbeit mit der gründlichen Praxis vertauschen konnten. Das alte Wort „Praxis epibasis theorias” (der Weg der Gewißheit führt durch die Tat) wurde hier immer wieder zur Wahrheit. Über der tätigen Hilfe, die er leisten konnte, vergaß mehr als ein Kandidat die Gedankengrübelei. Im Zusammenleben mit manchen Brüdern und Schwestern des Diakonen- und Diakonissenhauses merkte er, daß Jesus Christus die eigentliche Großmacht in der Welt sei, von der noch heute Wandlungen und Wirkungen ausgehen, die sonst in keines Menschen Macht stehen, und der[S. 257] kindliche Glaube eines am Geiste schwachen Knaben von Zoar oder eines epileptischen Ackerbauers von Hebron wurde ihm zu einem Erlebnis, das alles übertraf, was die Universitätszeit geboten hatte.
Dazu kam dann der persönliche Dienst als Gehilfe unseres Vaters. Die Post kam schon früh, und Vater ließ jede Sendung durch seine Hand gleiten, um an der Handschrift zu prüfen, ob die Rücksicht auf den Briefschreiber es erfordere, daß er allein den Brief öffnete. Alle übrigen Briefschaften übergab er dem Kandidaten. Natürlich kam es vor, daß auch unter dessen Augen Geheimnisse kamen, die den Briefschreiber und Vater allein angingen. Aber nie ist solches Geheimnis ausgeplaudert worden. Das große Vertrauen, das Vater vom ersten Augenblick an in seine Mitarbeiter setzte und das die zartesten und tiefsten Kräfte im Herzen zur Mitarbeit wachrief, wurde heilig gehalten.
War die Post durchgesehen, so berichtete der Kandidat über die einzelnen Schriftstücke, und Vater gab Anleitung zur Erledigung. Je klarer und kürzer der Bericht ausfiel, je größer war für Vater bei seiner gedrängten Zeit natürlich die Wohltat. So berichtete einer, der es besonders knapp machen wollte: „Junger Mann, Offizier gewesen, Schulden gemacht, Abschied, sucht Stellung.” Da sagte Vater nur, aus tiefster Seele heraus: „Arme Mutter.” Der Kandidat hat nachher erzählt, von welch unauslöschlichem Eindruck diese zwei Worte auf ihn gewesen seien.
Die einen Briefe bekam der Kandidat zur Erledigung, mit andern ging er in die einzelnen Häuser, um sie dort zu besprechen oder auf den Schreibstuben abzugeben. Was übrig blieb, beantwortete Vater selbst, und zwar am liebsten immer sofort, indem er seinem Sekretär, der stets die Vormittagsstunden ebenfalls auf dem Arbeitszimmer war, diktierte. „Nur nichts aufschieben” war seine Losung. „Aufschieben macht Qual.” Dann hörte der Kandidat zu, welche Antworten gegeben wurden, und die tiefe Liebe, die bei aller Kürze aus jedem Briefe sprach, den Vater diktierte, konnte nicht ohne stärksten Einfluß bleiben und wurde zu einer Saat, die in der Erinnerung haften blieb und bei manchem Kandidaten, der inzwischen längst zu Amt und Würden gekommen war, Jahr um Jahr neue Früchte trug.
Am Nachmittag wurde unter der Leitung des Seniors der Kandidaten und später eines Inspektors die Auslegung des Alten und Neuen Testamentes nach dem Grundtext getrieben, an der Hand von Vorträgen und Ausarbeitungen der Mitglieder wurden theologische Fragen besprochen und außerdem die Geschichte der Inneren und Äußeren Mission behandelt.
Die Übungen in der Katechese und in der Predigt leitete Vater selbst. Aber eigentlich konnte man die kurzen Stunden, die jeden Mittwochnachmittag um halb drei Uhr im Krankensaal des Kinderheims gehalten wurden, nicht katechetische Übungen nennen. Wie schon einmal erwähnt, war Vater in der Tat kein Schulmeister, darum erwartete er auch von den Kandidaten keine katechetische Kunstleistung. Was Vater verstand, war etwas anderes: er konnte erzählen. In der Weise, wie er die biblischen Geschichten in höchster Anschaulichkeit darstellte, hat manche seiner Schwestern es zu einer Kunst des Erzählens gebracht, die Kinder und Kranke aufs tiefste fesselte und die bis in den Grund nicht nur des Gemütes, sondern auch des Gewissens ging. Dieses Erzählen, nur durch gelegentliche Fragen unterbrochen, hat er auch mit den Kandidaten geübt und ihnen selbst vorgemacht.
So besinne ich mich, wie er einmal vor den Kindern, die zum Teil in ihren Betten lagen, zum Teil auf kleinen Stühlen vor und zwischen den Kandidaten saßen, die Geschichte von der königlichen Hochzeit erzählte. Als er an die Stelle kam, wie der König hineinging, die Gäste zu besehen, und Vater nun seine Augen von einem zum andern wandern ließ, da ging ein Beben durch uns hindurch, und als er vollends darstellte, wie der König den einen Gast traf, der kein hochzeitliches Kleid anhatte, da schlug jeder unwillkürlich die Augen nieder in der Sorge, er selbst könne vielleicht der eine sein. Es war gar keine Mache dabei, nichts Theatralisches, nichts Eingeübtes; es war ein wirkliches Ergriffensein von der Schönheit, Größe und Gewalt des Wortes Jesu.
Auch die alttestamentlichen Geschichten wurden so behandelt. Alle nicht in Hast, aber in möglichster Kürze. Länger als höchstens eine Viertelstunde hatte meistens der einzelne Kandidat nicht. Dann kam noch ein zweiter an die Reihe, um irgend eine andere Geschichte aus dem Leben daheim oder in der Heidenwelt zu erzählen.
Am Freitag um fünf Uhr war die Predigt der Kandidaten in der kleinen Kapelle von Sarepta. Sie war den Kandidaten so leicht und zugleich so schwer gemacht wie nur möglich. So leicht, weil das Publikum, vor dem sie zu sprechen hatten, nicht zum Fürchten war. Die Fenster, die nach rechts und links in die Krankensäle führten, waren geöffnet, und von ihren Betten lauschten die Kranken nicht auf hohe Töne der Weisheit, sondern auf ein einfaches Wort der Erquickung; und auf den Bänken in der Kapelle selbst saß für gewöhnlich nur eine einzige Station von epileptischen Mädchen unter der mütterlichen Führung der alten Schwester Christiane. Auch sie stellten keine hohen Ansprüche, sondern waren um so dankbarer, je einfacher das Wort war, das zu ihnen gesprochen wurde.
Aber gerade hierin lag nun auch die große Schwierigkeit der Aufgabe. Über die höchsten Dinge ganz kindlich zu sprechen, sodaß Leidende, Sterbende und am Geiste Schwache sich daran aufrichten können, das war die Kunst, die hier gelernt werden konnte, nicht an hohen menschlichen Vorbildern, sondern an dem Vorbilde dessen, der die tiefsten Geheimnisse des Reiches Gottes in so schlichte Bilder und Gleichnisse fassen konnte, daß sie allen Völkern der Welt in ihren einfältigsten und ihren weisesten Gliedern zugleich faßlich und unergründlich sind.
In der kleinen Brüderstube der Männerstation von Sarepta, in der der alte Heermann gewohnt hatte und gestorben war, fand dann im unmittelbaren Anschluß an die Predigt die Kritik statt. Erst kam die Nachmittagsstunde bei den Kindern des Kinderheims zur Besprechung, dann die Predigt. „Wer sagt ihm etwas?” fragte dann Vater die versammelten Kandidaten. „Bitte, sagt ihm etwas!” Zum Schluß kam dann Vater selbst. Er ließ sich das Konzept nicht vorher geben, aber er hörte sehr genau der Predigt zu.
Auch das Äußere ließ er sich nicht entgehen. Es war damals die Zeit der langen Schnurrbärte. „Sieh mal,” sagte er zum Träger eines derartigen Schmuckes, „die Kranken fürchten sich, wenn du mit solch einem langen Schnurrbart daherkommst, als wärest du ein Unteroffizier.” So traf er, ohne zu verletzen, die verborgene Eitelkeit.
An der Einteilung der Predigt rüttelte er, wenn es nötig war, mit kräftigen Stößen. Aber ihren Inhalt behandelte er[S. 260] immer mit der größten Zartheit. Denn hier handelte es sich ja jedesmal um das Opfer des Heiligsten, was ein Mensch besitzt, das um so größerer Schonung bedurfte, je zarter die Pflanze noch war, die die Früchte ihres Glaubens und ihrer Erfahrung der kleinen Zuhörerschaft dargeboten hatte. Den glimmenden Docht nicht auszulöschen, sondern durch freundliche Ermunterung zu entfachen, und das zerstoßene Rohr nicht zu zerbrechen, sondern zu stärken, das übte Vater in diesen kurzen Feierstunden. Und wenn er weder Lob noch Tadel sparte, so war es so, daß das Lob ermunterte, aber zugleich demütigte, und der Tadel befreite und darum zugleich getrost machte. Einem Kandidaten, dessen Predigten er schon wiederholt zugehört hatte, sagte er: „Wenn du predigst, dann wird mir immer so bange. Du zeigst immer wieder so scharf das sündige Herz. Ich mache das anders. Ich meine, man muß erst in der Gnade stehen und dann von der Gnade aus sich mit den Händen und Armen hinunterneigen und sie heraufheben.”
Sooft wie möglich ließ er sich von den Kandidaten auf die Feste im Ravensberger Lande begleiten. Bei der Rückkehr von solch einem Feste stellte es sich heraus, daß die Kandidaten, die in einem zweiten Wagen saßen, an zwei Frauen, die zu Fuß gingen, vorübergefahren waren, ohne sie zum Mitfahren einzuladen. Er ließ sie alle aussteigen und den Wagen zurückfahren, um die Frauen aufzunehmen.
Sieben Jahre hat Vater in dieser Weise die Konviktsarbeit geleitet. Zwei Gehilfen, Wilm und Hild, die aus den Kandidaten selbst hervorgegangen waren, haben ihn dabei wie Söhne unterstützt. Schließlich zeigte sich die Berufung einer besonderen Kraft zur Leitung dieser wichtigen Arbeit als das Gewiesene.
Pastor Rahn war in der Zeit, wo er in Amsterdam in größtem Segen an der deutschen lutherischen Gemeinde stand und das dortige Diakonissenhaus ins Leben rief, zu Vater in nächste Beziehung getreten. Er übernahm im Jahre 1895 die Führung der Kandidaten, denen er, bis seine Kräfte zusammenbrachen, ein väterlicher Freund und wissenschaftlicher Berater von nie versagender Gründlichkeit, Treue und Hingabe geworden ist.
„Zu den Regeln des Reiches Gottes schickt es sich, daß wir da mit besonderer Kraft des Evangeliums einsetzen, wo die Not am größten ist.”
F. v. B.
Obwohl sein Weg ihn nicht persönlich in die Heidenwelt hinausgeführt hatte, war Vater der Missionsaufgabe treu geblieben. In Paris war er, wie berichtet, für die kommenden und gehenden Baseler Missionare und ihre Familien Berater und Gastgeber gewesen; in Dellwig hatte er durch den „Westfälischen Hausfreund” den Blick auch zu den Heiden hinausgelenkt. In Bethel konnte es darum nicht anders sein. In der Anfangszeit waren es namentlich die kleinen Schriften der Baseler Mission, die ihm ständig zum Verteilen zur Hand waren. Und bald kamen zu den alten Beziehungen neue hinzu. Der junge Bäckergeselle der kleinen Bäckerei von Sarepta, Dietrich Baumhöfner, war als Kind durch eine Kinderschulschwester innerlich angefaßt worden und der göttlichen Stimme treu geblieben. Vater bahnte ihm den Weg in das Berliner Missionshaus, das ihn nach Südafrika aussandte.
Seine Briefe, die er von der Reise und aus den ersten Anfängen in Transvaal schickte, schrieben wir Kinder ab, weil Vater die Originale an andere Missionsfreunde weitersandte. Im Wochengottesdienst las er sie der Gemeinde mit einer so tiefen Anteilnahme vor, daß wir die Reise und die Arbeit Baumhöfners persönlich miterlebten. Im Anschluß an solch eine Stunde eilte ich nach Hause, um meine ganze kleine Barschaft der Missionsbüchse anzuvertrauen, die in Gestalt eines knienden Negers in unserm Zimmer stand. Schon nach wenigen Monaten, als wir eben auf die Bitte Baumhöfners die ersten Posaunen für seine kleine Gemeinde hinausgeschickt hatten, kam die Nachricht, daß er in Georgenholz dem Fieber erlegen war. Wir alle, Kranke und Gesunde, empfanden seinen Tod als einen großen persönlichen Verlust. Die Liebe zur Berliner Mission blieb aber und wurde namentlich durch die südafrikanischen Reisen des Inspektors Wangemann, die Vater eingehend verfolgte, wachgehalten.
Mit der Barmer Mission ergaben sich bald noch engere Anknüpfungen, nicht nur durch die persönlichen Beziehungen zu deren Inspektor Fabri, die seit seiner und Vaters gemeinsamer [S. 262] Studienzeit in Erlangen nicht erloschen waren, sondern besonders auch dadurch, daß die Barmer Mission in allen Gemeinden des Ravensberger Landes treuste Freunde hatte und Vater öfter zu den Missionsfesten eingeladen wurde, auf denen die Barmer Missionare aus ihrer Arbeit berichteten. Missionar Hanstein, aus Hessen gebürtig, hatte sich in Sumatra der Aussätzigen angenommen. Er war auf Schwefelquellen gestoßen, die sich zur Linderung des Aussatzes als besonders wirksam erwiesen, und bat nun um Hilfe, um an den wohltätigen Quellen den Aussätzigen eine Heimat zu errichten. Das war natürlich eine Sache nach Vaters Herzen, der nie gut ins Allgemeine hinaus helfen konnte, sondern immer am liebsten an einer bestimmten Stelle einsetzte und dafür die Herzen erwärmte. Hansteins Briefe verlas Vater in den Familienabenden und wöchentlichen Missionsstunden und entfachte damit unter Kranken und Gesunden die Liebe und Fürsorge für die Aussätzigen, sodaß die Heimat der Aussätzigen auf Sumatra der feste Stützpunkt wurde, um den sich unsere Anteilnahme an den übrigen Aufgaben der Barmer Mission lagerte.
Besonders lebhaft wurden diese Beziehungen, seit der Nestor der Barmer Mission in Südafrika, Missionar Lückhoff, der jene 2000 Mark für die Glockentürme der Zionskirche aus seiner schwarzen Gemeinde gesammelt hatte, nun nicht müde wurde, eine Sendung nach der andern abgehen zu lassen mit südafrikanischen Fellen, Früchten, Straußeneiern und Federn, die den Grundstock bildeten zu einem kleinen Missionsmuseum, das nicht wenig dazu beitrug, unsern Blick in die Völkerwelt hinauszulenken.
So war der Boden längst vorbereitet, als ungewollt und unvermutet sich neue größere Aufgaben auf dem Gebiete der Heidenwelt einstellten.
1884 waren die ersten deutschen Stützpunkte in Ostafrika auf der Insel Zanzibar sowie im Küstengebiet geschaffen worden. Der Kaiser wies sofort darauf hin, daß eine politische Besitzergreifung des Landes nicht genüge, sondern eine Arbeit der Christianisierung ihr auf dem Fuße folgen müsse. Nun hatte Pastor Diestelkamp von der Nazareth-Gemeinde in Berlin von vornherein den regsten Anteil an der Entwicklung der Dinge in Ostafrika genommen und ein kleines Komitee für die Missionsarbeit in der jungen Kolonie zustande gebracht. Der alte,[S. 263] in langjähriger Arbeit in Abessinien erprobte Missionar Greiner und ein junger von der Berliner Mission übernommener Missionar Krämer hatten die Arbeit drüben begonnen.
Aber woher weitere Kräfte nehmen? Sowohl für den Pflegedienst an den Deutschen, die in jener Anfangszeit angesichts des ungesunden Klimas in ganz besonderem Maße solcher Hilfe bedurften, als auch für einen kräftigen Vorstoß in die Welt der Eingeborenen fehlte der Nachschub. Alle Versuche Diestelkamps, bei den bestehenden Gesellschaften und Vereinen der Äußeren und Inneren Mission die nötigen Kräfte zur gründlichen Fortsetzung der Arbeit in Ostafrika zu finden, waren mißlungen. So machte er sich zu Vater auf den Weg. Beide kannten sich von der gemeinsamen Arbeit an den Berliner Arbeitslosen her, für die Diestelkamp die Berliner Arbeiterkolonie in der Reinickendorfer Straße geschaffen hatte. „Es gibt keine Pfütze in Berlin, in die er nicht springt,” sagte Vater einmal, um damit die große Hilfsbereitschaft Diestelkamps und seinen unerschrockenen Unternehmungsgeist auch angesichts schwieriger Aufgaben zu kennzeichnen.
Diestelkamp saß in dem kleinen Sofa unseres Wohnzimmers und Vater ihm gegenüber. Wer wollte es Vater verdenken, daß er angesichts der Aufgaben, die bereits auf seinen und seiner Gemeinde Schultern lagen, zögerte und alle Bedenken darlegte. Aber Diestelkamp blieb fest. Die Absage, die er von allen Seiten bekommen hatte, machte seine Bitte nur um so dringender. Schließlich erklärte er: „Ich stehe nicht eher aus dieser Ecke auf, als bis du mir hilfst.” Anhaltende Bitten aus glühendem Herzen machten auf Vater stets tiefen Eindruck. So auch hier. Er gab nach und sagte Hilfe zu.
Damit war es, als wenn ein Deich überstiegen und der Zionsgemeinde nicht nur der Blick, sondern auch der Weg in unendliche Fernen geöffnet wäre. Bis dahin hatten wir nur von jenseits des Deiches das Rauschen der Völkerwelt gehört; jetzt sollten wir selbst mitten in ihre Wogen hineintauchen. Und es war kein Widerstreben da. Im Schwestern- sowohl wie im Brüderhaus regten und zeigten sich überall die Kräfte, die lieber heute als morgen bereit waren, sich nach Afrika auf den Weg zu machen.
Der Bund, den Vater und Diestelkamp zum Besten Afrikas geschlossen hatten, blieb freilich nicht unwidersprochen. Manche[S. 264] der alten Missionsgesellschaften erschraken. Führer der deutschen Mission erhoben laut Einspruch; das junge Unternehmen bedeute eine Zersplitterung der deutschen Missionswelt und der deutschen Missionskräfte. Vater blieb dem gegenüber nicht taub. Er suchte sich durch eingehende Nachforschungen zu überzeugen, ob nicht doch irgend eine andere deutsche Missionsgesellschaft bereit und in der Lage war zu helfen. Aber ein klarer Ausweg zeigte sich ihm nicht. So ging er seinen Weg fort und trat in den Vorstand der jungen Gesellschaft ein, die von da ab neben der alten Berliner und der Goßnerschen Mission als dritte Berliner Missionsgesellschaft ihren bescheidenen Platz an der Sonne beanspruchte.
Es war damals ein hochbegabter baltischer Pastor nach Bethel gekommen, der nach dem Tode seiner Lebensgefährtin und seines einzigen Kindes einen Zufluchtsort suchte, wo in der Stille sein wundes Herz ausheilen konnte. Er hatte mit einer ungewöhnlichen Hingabe auf verschiedenen Krankenstationen gearbeitet; und als er nach einiger Zeit sich entschloß, sein Schweigen zu brechen, zeigte es sich, daß er zugleich eine hohe Gabe hatte, mit dem Wort an die Herzen heranzukommen. Vater fragte ihn, ob er bereit wäre, der Führer der ersten kleinen afrikanischen Vortruppe zu sein. Dieser hochgemute, edle Mann schien ihm gerade gut genug für die Arbeit unter den Negern. „Denn”, so sagte er gerade im Blick auf Afrika, „die Untersten und Elendesten müssen die besten Pfleger haben.” Und Worms sagte zu. Erst auf der Insel Zanzibar, dann in Dar-es-Salam, wo Missionar Greiner inzwischen die erste Pionierarbeit getan hatte, griff Worms den Pflegedienst an den kranken Deutschen und zugleich die Arbeit an den Eingeborenen an, von zwei Schwestern Sareptas und einem Bruder aus Nazareth unterstützt, alle wiederum von Missionar Greiner beraten, dem seiner Eigenart und Neigung nach die gesamte Arbeit des äußeren Ausbaues der Station vorbehalten blieb.
Inzwischen hatte auch Missionar Krämer in der nördlichen Hafenstadt der Kolonie, Tanga, Fuß gefaßt, und nun entstand die Frage, in welcher Weise sich in Zukunft die Arbeit gestalten sollte. Vater hatte alsbald mit den deutschen Kolonial-Pionieren Wissmann, Baumann, Meyer teils persönlich Fühlung genommen, teils ihre Reisewerke eingehend studiert.
Er hatte daraus die Überzeugung gewonnen, daß die Küstenbevölkerung durch das Arabertum, den Sklavenhandel und den Mohammedanismus schon zu sehr durchseucht sei, um einen fruchtbaren Ackerboden für junge heidenchristliche Gemeinden abgeben zu können. Lediglich die Pflege der Kranken komme hier in Betracht, eine eigentliche Missionsarbeit nicht.
Ebenso lagen für ihn die Dinge im Hinterland der großen Hafenplätze. Auch hier sah er das Volkstum schon zu stark durch die fremden Einflüsse angekränkelt, als daß ein gesundes Aufblühen heidenchristlicher Gemeinden noch zu erhoffen gewesen wäre. Nur unter Widerstreben willigte er darum in die Pläne des Missionsvorstandes, daß im Hinterlande von Dar-es-Salam auf den Höhen von Usaramo ein Versuch gemacht würde, und lenkte für seine Person gleichzeitig den Blick auf das Bergland von Usambara, auf das ihn die Reisenden Baumann und Meyer hingewiesen hatten.
Hier fand er beides: einen gesunden, durch den Mohammedanismus noch nicht berührten Bauernstamm von 80 000 Menschen und ein gesundes Klima, das den Missionaren und ihren Familien eine dauernde, gleichmäßige Arbeit unter dem Volke sicherte.
Gleichzeitig boten sich ihm auch die nötigen Kräfte: zwei Theologen, Johanssen und Wohlrab, mit umfassender wissenschaftlicher Schulung, im Glauben gegründet, in der Liebe glühend und von zäher Gesundheit. Im Frühjahr 1891 wurden sie in Berlin und in Bethel abgeordnet.
Von Vater geleitet, sind wir dann im Geist mit ihnen über das Meer gefahren, erst in Zanzibar, dann in Tanga gelandet, haben den ersten Erkundungszug mit ihnen in das Bergland gemacht, sind wieder zurückgereist durch die Steppe sechs, acht Tage lang an den Indischen Ozean, um es dann mit zu erleben, wie der älteste Sohn des Groß-Häuptlings selbst mit seinen Leuten kam, um unsere ersten Boten wie im Triumphzug hinaufzugeleiten auf die Höhen von Mlalo, die Vater schon lange im voraus als den Ort der ersten Niederlassung ausersehen hatte. Jeden einzelnen kleinen Fortschritt hat dann ganz Bethel geteilt, die erste Hütte, die ersten Sprachstudien, die ersten Schüler, die ersten Taufbewerber, den ersten erlegten Panther, den ersten Einzug der deutschen Frau, das erste Tauffest, [S. 266] das erste weiße Kindchen unter den Schwarzen, die ersten Briefe der schwarzen Christen usf.
Vaters Herz ging in Sprüngen. Das Volk, das Land, die unermeßliche Steppe in der Tiefe, der Spiegel des Indischen Ozeans am Horizont, die blauen Berge von Pare, die herüberwinkten, und das schneeige Haupt des Kilimandscharo, der alles überragte, standen ihm so lebendig vor Augen, wußte er so glühend, so nah, so gegenwärtig zu schildern, daß Besucher, die in den Familienabend von Sarepta oder in die Donnerstagstunde in der Zionskirche kamen, fragten, wann er denn eigentlich in Afrika gewesen wäre. So konnte es nicht anders sein, als daß die Glut auf uns alle übersprang, auf Kranke und Gesunde; und wenn Vater gefragt hätte, wer von uns hinüberziehen wolle, dann hätte keiner zurückbleiben mögen, weil wir alle längst drüben zu Hause waren und es bei jedem von uns im Gedanken an Afrika nach der alten Weise klang:
Als darum die Zeltpflöcke auf den Bergen von Usambara weiter gesteckt werden konnten und die ersten beiden Boten um Nachschub baten zur Besetzung weiterer Posten, ging Vater ins Konvikt der Kandidaten: „Wer ist bereit zu ziehen?” Sie waren alle bereit. „Keiner ist brauchbar für den Dienst in der Heimat, der nicht von ganzem Herzen willig und bereit ist, zu den Heiden zu ziehen”, das war der Sinn, den er unter den Kandidaten gepflegt hatte und der nun zur Tat wurde. Darum ging es jetzt nach dem Liede Krummachers: „Zeig’s an, wen du erkoren, — Greif’ in die Schar hinein! — Dir sind wir zugeschworen, — Dein sind wir, Amen! Dein!”
Natürlich waren bei manchen die häuslichen oder die gesundheitlichen Hindernisse so groß, daß sie, oft mit schwerstem Herzen, zurückstehen mußten. Aber so viele Kräfte von drüben verlangt wurden, so viele waren jedesmal auch im Konvikt und im Brüderhause zur Stelle. Becker und Döring, Holst und Göttmann, Gleiß und Lang-Heinrich waren die ersten Paare, die nach Usambara gingen. Ihnen folgte im Laufe der Jahre eine große Schar von Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Als[S. 267] fast den letzten in dieser Reihe fiel dann auch meiner Frau und mir und unsern vier Kindern, einem Herzensanliegen unseres sterbenden Vaters entsprechend, die größte aller Freuden zu, in den Dienst der Heidenwelt zu treten. Zu denen, die durch Gesundheitsrücksichten in der Heimat festgehalten wurden, gehörte der Lizentiat Trittelvitz, dem freilich später noch ein Aufenthalt auf dem afrikanischen Missionsfelde zuteil wurde, der aber doch die längste Zeit seines Afrika-Dienstes in der entsagungsvollen Stellung eines Heimatinspektors zubrachte, in der er mit nie ermüdender Beweglichkeit und heiterer Zähigkeit bis heute das Schiff unserer Missionsarbeit steuert.
Und zu den Menschen kamen die Gaben. Wer wollte der Liebe Einhalt tun? Die Schwestern trugen die Nachrichten weiter auf ihre Stationen, die Brüder ebenso. Im Kinderheim hielten die kranken Ärmchen den Besuchern ihre kleinen Sammelbüchsen hin. Die Kranken schrieben es nach Hause. Und Vater selbst war immer wieder wie der Hirte, der das Schaf gefunden hat, wie die Frau, die ihren Freunden und Nachbarn ruft: Freuet euch mit mir! Die kleinen Blätter, die sonst nur die Nachrichten von den Epileptischen oder von den Brüdern von der Landstraße gebracht hatten, füllten sich nun mit den ersten Siegesbotschaften aus dem fernen Afrika. Und wie sich in Bethel selbst der Horizont geweitet hatte, so weitete sich nun auch der Gesichtskreis der Bethelfreunde im Lande. Auch ihnen trat die hohe leidende Schönheit Afrikas vor Augen. „Schwarz bist du, doch bist du lieblich, holdes, stilles Afrika.”
Als nun vollends an den stillen Abhängen von Mtai die ersten beiden Aussätzigen entdeckt wurden, als Becker und Döring wieder und wieder zu ihnen herniederstiegen in ihre Bergkluft, um ihnen die große neue Botschaft zu bringen, und als der eine von ihnen, Kiase, seinen Landsleuten, die von fern standen, um nach ihm zu sehen, die Botschaft von dem Leben nach dem Tode zurief: „Hört es, Leute, kein Leiden mehr, keine Schmerzen mehr, kein Aussatz mehr; Leute, Leute, hört es!” — da hallte die Stimme der Aussätzigen bis zu uns herüber und stärkte die Leidenden, Ausgestoßenen und Sterbenden von Bethel aufs neue in derselben Zuversicht, die die beiden Aussätzigen drüben so froh machte, und ein Dankbarer, der nicht gekannt sein wollte, warf nächtlicherweile eine getragene Hose[S. 268] über den Zaun unseres Gartens mit einem Zettel daran: „Für den aussätzigen Kiase.”[1]
[1] Vergl. die kleine in der Schriftenniederlage der Anstalt Bethel erschienene Schrift von Missionsdiakon W. Hosbach: „Abraham Kilua, der schwarze Vikar von Neu-Bethel”.
Aber solch hellem Sonnenschein fehlte auch der Schatten nicht. Nicht alle konnten sich mit uns und mit den Bergen Afrikas freuen. Die, die es nicht miterlebt hatten, daß Vater sich auch diesmal nicht in ein neues Arbeitsfeld hineingedrängt hatte, sondern sich vielmehr vorwärtsgeschoben und über alle Hindernisse und Schwierigkeiten von hoher Hand hinweggehoben sah, sie standen zum Teil kopfschüttelnd am Wege, tadelten, hemmten und schütteten das Wasser der Kritik in unsern Freudenwein.
Um Klarheit zu schaffen, schrieb Vater in Erinnerung an den Bau der Mauer zu Jerusalem unter Nehemia (Neh. 4, 10–12): „Schwert und Kelle in Sachen der ostafrikanischen Mission”, eine kleine Schrift, die aus manchem Feind einen Freund der Sache machte. Überhaupt blieb der Kampf, in welchem Vater zeitweilig alle Führer der deutschen Missionswelt gegen sich hatte, auf das sachliche Gebiet beschränkt und half mit dazu, daß die Aufgaben in den neuen Kolonien immer gründlicher und rascher von der deutschen Christenheit verstanden und in Angriff genommen wurden, sodaß eine Missionsgesellschaft nach der andern ihr Zögern aufgab, mit in die zentralafrikanische Arbeit eintrat und, um rascher vorwärts zu kommen, in stärkerem Maße als bisher ausgebildete Theologen heranzog und sie unter ihre seminaristisch geschulten Missionare mischte.
So wurde es deutlich, daß die Befürchtung, die neue kleine ostafrikanische Mission entzöge den bestehenden Missionsgebieten und Missionsanstalten geistige und materielle Kräfte, nicht richtig war. Vielmehr wurden umgekehrt durch Vaters entschlossenes Vorgehen, der sich nicht beirren ließ, neue Ziele gesteckt, neue Kräfte geweckt und neue Hilfsquellen erschlossen. Auch auf diesem Gebiete zeigte es sich, daß ein Wettbewerb, der nicht aus irgend welcher künstlichen Mache entstanden ist, sondern aus dem zwingenden Drängen der Verhältnisse, niemals die natürliche Entwicklung der Dinge hemmt, sondern fördert, während umgekehrt jeder Versuch, einen ehrlichen Wettkampf[S. 269] aufzuhalten oder zu vernichten, die eigenen Lebenskräfte unterbindet.
Als der Gedanke auftauchte, die Missionsarbeit in den Kolonien der organisierten Kirche unter Leitung des Oberkirchenrates zu überlassen, riet Vater auf das entschiedenste ab. Es lag darin keine Geringschätzung der organisierten Kirche — die Treue gegen alles geschichtlich Gewordene war ein hervorstechender Zug in Vaters Art und Arbeit, wie er ja auch die durch die Kirche herangebildeten Theologen in die erste Linie der afrikanischen Vorkämpfer stellte —, aber der Apparat der Kirchenverwaltung erschien ihm zu langgestreckt und schwerfällig für ein Unternehmen, das zu seiner gedeihlichen Entwicklung die innigste und schnellste Zusammenarbeit aller beteiligten Kräfte erforderte. Sind es doch auch in der Tat in der Geschichte der Christenheit fast immer die freien Kräfte gewesen, die die erste Bresche gelegt haben in unbezwungene Mauern.
Viel schwerer als unter dem Widerstande, der nach außen hin zu überwinden war, litt Vater unter dem Gegensatz, in welchem er sich zu dem Vorstand der jungen Missionsgesellschaft in Berlin befand, obwohl auch dieser Gegensatz ganz auf das sachliche Gebiet beschränkt blieb. Keiner von den Vorstandsmitgliedern war jemals in Afrika gewesen. Jeder mußte sich sein Urteil aus den Erfahrungen und Anschauungen anderer holen. Aber selbst als der leitende Inspektor eine Reise in das junge Gebiet machte, konnte sich Vater den Eindrücken, die er mitbrachte, nicht fügen. Sie waren ihm zu jung, zu voreingenommen durch alte Tradition, zu wenig in persönlichem Leiden und persönlicher Arbeit an Ort und Stelle erprobt.
Tief setzte sich seitdem bei Vater die Überzeugung fest, der er immer wieder Ausdruck gab, die Missionsgesellschaften sollten alles daransetzen, nur solche Männer in die verantwortlichen Stellen in der Heimat zu rufen, die auf dem Missionsfelde selbst jahrelang in Reih’ und Glied gearbeitet und dort ihre Erfahrungen gesammelt hätten.
Der Gegensatz drehte sich immer wieder um die Hauptfrage: Arbeit an der Küste oder Arbeit im Innern. An der Küste saß der Mohammedanismus, im Innern das Heidentum. Es war damals die Zeit, wo die Mohammedanermission anfing, [S. 270] sich ihren Platz neben der Heidenmission zu erringen. Darum „Mohammedanermission und Heidenmission”, „Arbeit an der Küste und im Innern”, war die Linie, auf der sich die meisten Missionsvorstände bewegten. Vater konnte diese Bewegung nicht mitmachen. Er war freilich weit davon entfernt, die Mohammedaner preiszugeben. Noch kurz vor seinem Sterben hat er mit tiefster Anteilnahme das Buch des Missionars, jetzigen Superintendenten, Simon über den Islam studiert. Aber für die Küstenplätze Ostafrikas blieb er fest: Hier ist die Arbeit an den Mohammedanern zwecklos. Aufgeben wollte er die Küste nicht. Aber hier sollten nur kleine Stützpunkte bleiben, auf denen einmal den Kranken gedient und zugleich den christlichen Eingeborenen, die durch Erwerb und Handel aus dem Innern an die Küste gezogen waren, ein Halt gewährt wurde.
Der Hauptstoß aber sollte mit ungebrochener Kraft in das Heidentum selbst geführt werden. Je schneller und kräftiger dieser Stoß erfolge, desto besser. Nur so könne dem Vordringen des Islam Einhalt geboten werden. Jede Zersplitterung zwischen Küste und Innerem sei weggeworfene Kraft; und die Gewinnung der vom Islam unberührten Volksstämme des Innern sei die wirksamste Missionsarbeit gegenüber dem Islam selbst.
Nun hatte Vater aber seinerzeit Diestelkamp versprochen, die notwendigen Kräfte für die Aufgaben der jungen Gesellschaft zu stellen. Forderte darum der Vorstand für die Arbeit an der Küste oder an dem schon halb vom Mohammedanismus durchseuchten Stamm der Wasaramo im Hinterlande von Dar-es-Salam die Einlösung dieses Wortes, dann gab es für Vater jedesmal einen Kampf, unter dem wir oft sein ganzes Herz haben erbeben sehen. „Wieder soll ich jemand nutzlos hinschlachten,” rief er dann wohl aus, wenn die Tagesordnung der Vorstandssitzung, die aus Berlin eintraf, Kräfte für die umstrittenen Gebiete begehrte.
Im Konvikt selbst, in der Brüderschaft und Schwesternschaft konnte man nicht anders als sich neutral verhalten. Man ging ja nicht hinaus, um sein Leben zu schonen, sondern es zu opfern, auch wenn der Kampf ganz hoffnungslos schien. „Wehe euch,” konnte dann Vater wohl sagen, „wenn ihr nicht bereit wäret, jeden Augenblick im Fieberland zu sterben, — aber wehe auch mir, wenn ich nicht alles daran setzte, daß euer Leben nicht vergeblich hingeopfert wird!”
Mit unermüdlicher Treue reiste Vater, oft die Nächte zu Hilfe nehmend, nach Berlin, um im Vorstande der Mission seine Überzeugung zu vertreten. Mit fast leidenschaftlicher Glut malte er die Fäulnis des Mohammedanismus an der Küste, für die jedes Salz weggeworfen wäre, und dagegen den sehnsuchtsvollen Ruf der noch unberührten Völkerschaften: Kommt herüber und helft uns!
Seitdem ist die Arbeit an der Küste 25 Jahre lang mit zäher Energie fortgesetzt worden, oft so, daß man gerade die tüchtigsten Kräfte an sie wandte, nicht nur seitens der kleinen Mission Berlin III, sondern auch der großen Berliner Mission, die später die Arbeit in Dar-es-Salam übernahm. Aber weder in Tanga noch in Dar-es-Salam hat die Mission unter der eigentlichen Küstenbevölkerung Fuß fassen können. In Tanga waren es, wie Vater richtig vorausgesehen hatte, fast ausschließlich eingeborene Christen aus dem Innern, die sich vor den Toren der Stadt als ein kleines, beständig vom Islam gefährdetes Häuflein behaupteten.
Als ich im Jahre 1916 die kleine Christengemeinde von Dar-es-Salam besuchte, die sich jenseits des Hafens, fern von dem Getriebe der Stadt, unter ihrem treuen Lehrer und Ältesten Martin ihre kleine Niederlassung geschaffen hatte, und ich einen nach dem andern nach Heimat und Herkunft fragte, da stellte es sich heraus, daß auch nicht ein einziger darunter war, der in Dar-es-Salam geboren war; sie stammten alle aus dem Innern, aus Volksstämmen, die von Mohammedanern noch nicht berührt waren.
Was es aber umgekehrt heißt: sich nicht zersplittern, sondern mit aller Kraft in das gesunde Heidentum vorstoßen, zeigen die guten Erfahrungen von Uganda. Rechtzeitig und mit einer schnell wachsenden Truppe von männlichen und mindestens ebenso zahlreichen weiblichen Kräften hat hier die englische Mission eingesetzt und ist so tatsächlich dem verheerenden Anmarsch des Islam zuvorgekommen. In den Bergländern, die im Gebiet des Indischen Ozeans liegen, ist es nicht mehr gelungen, das Eindringen des Islams zu verhindern, weder in Usambara noch in seinen Nachbargebieten. Vielmehr mußte das kümmerliche Dasein, das die evangelische Mission in den Hochburgen des Islams an der Küste führte, dem Mohammedanismus den Mut stärken für die mohammedanische Propaganda[S. 272] im Hinterlande. Um den Sieg zwischen Christentum und Islam wird dort noch heute gerungen.
Aber unter all den Schmerzen, die er im Widerstreit der Überzeugungen litt, hat Vater sich nicht ermatten lassen. Wie oft haben seine Freunde in Bethel, wie oft auch seine eigenen Kinder ihn gebeten, die Arbeit an der Mission aufzugeben und das Aufgehen der kleinen Gesellschaft in eine größere in die Wege zu leiten oder aber sie ganz nach Bethel zu übernehmen! Er sah für beides die Wege nicht gewiesen. „Berlin hat unsere Arbeit nötig,” konnte er wohl sagen.
Darum bemühte er sich, da die Missionsleitung jahrelang nur zur Miete wohnte, ihr eine eigene Heimat in Berlin zu verschaffen. Er dachte vor allem an die Johannisgemeinde in Alt-Moabit, wo eine kleine Truppe von Sarepta-Schwestern eine Gemeindepflege-Station bediente. An einem Winterabend habe ich ihn einmal dorthin begleitet. Er überzeugte sich, daß der Platz neben der Kirche noch Raum genug bieten würde für ein bescheidenes Missionshaus. Hier sollte nach seiner Hoffnung ein kleines neues Zentrum entstehen zur Pflege des geistlichen Lebens in Berlin. Indem die Schwestern mit ihrem stillen Dienst in den Häusern die Arbeit in der Gemeinde taten, sollten sie zugleich mithelfen, die Blicke der Gemeinde über die eigenen Nöte hinweg zu den großen Aufgaben an der Heidenwelt zu richten. Der Plan zerschlug sich an dieser Stelle, kam aber später in Groß-Lichterfelde zur Ausführung, wo wirklich ein Missionshaus gebaut wurde. Doch gelang es auch von hier aus nicht, dauernd Fuß in Berlin zu fassen, sodaß schließlich aus dem Vorstand selbst heraus der Wunsch entsprang, das Zentrum der Arbeit einheitlich nach Bethel zu verlegen. Nur mit schwerem Herzen hat Vater sich dem gefügt. Er empfand diesen schließlichen Ausgang als einen innersten Verlust für die Berliner Gemeinden, deren wagemutigen Gliedern der erste Anfang der ostafrikanischen Missionsarbeit zu verdanken war.
Aber schließlich lag in dieser Entwicklung doch eine innere Notwendigkeit. Schon mit dem Augenblick, wo damals Pastor Diestelkamp in Bethel erschien, war der eigentliche Schwerpunkt der Arbeit von Berlin nach Bethel verlegt worden. Denn hier lagen die Ausbildungsstätten der Arbeiter und Arbeiterinnen für das Missionsfeld. Hier sahen sie, wenn sie ausgezogen waren, ihre geistige Heimat. Von hier führte Vater,[S. 273] namentlich solange die Arbeit noch klein blieb, mit jedem einzelnen einen eingehenden Briefwechsel, der eine Fülle von väterlichen, seelsorgerlichen Ratschlägen und praktischen Winken enthielt und das gesamte Gebiet der Arbeit umfaßte. Es wurde keine Station draußen angelegt ohne Vaters eingehende Vorstudien, namentlich auch in bezug auf die so wichtige Frage nach gesundem Wasser, und mehrfach war er es, der auf Grund solcher Studien den Stationsplatz bestimmte.
Die Posttage für Afrika, die alle vierzehn Tage wiederkehrten, hielt er pünktlich inne, und oft waren nicht nur Vaters treuer Sekretär, sondern auch wir Kinder auf das angestrengteste beschäftigt, um die Übertragung der zahlreichen Stenogramme rechtzeitig fertigzustellen.
Doch war es nicht so, daß mit der Übersiedlung nach Bethel im Jahre 1906 alsbald eine neue Blütezeit angebrochen wäre, die an die erste Zeit der jungen afrikanischen Liebe erinnert hätte. Während für Vater alle Arbeitsgebiete der Erde in eins zusammenflossen und die Grenzen zwischen der Heimat und der Heidenwelt ineinander überglitten, lenkte Pastor Rahn, seit er der Leiter des Konvikts geworden war, die Blicke der Kandidaten bewußt auf das Feld der heimischen Arbeit zurück in der Überzeugung, daß für den Dienst unter den Heiden ein besonderer, nur ausnahmsweise erfolgender Ruf gehöre.
So kam es, daß das Konvikt nicht mehr wie früher das starke Quellgebiet bildete, das ganz der Arbeit in Afrika zur Verfügung stand. Darum kam zeitweilig der Gedanke auf, man müsse auf die Hoffnung verzichten, Kräfte mit voller theologischer Ausbildung immer in genügender Zahl zur Hand zu haben, und die Frage entstand, ob nicht nach dem Vorbilde anderer Missionsgesellschaften an die Heranbildung seminaristisch geschulter Kräfte gedacht werden müßte.
Es war nicht Vaters Art, namentlich wenn es sich um seine nächsten Freunde und Mitarbeiter handelte, sich sofort solchen Gedanken zu widersetzen. Er ließ sie ausreifen und wartete. Für seine Person blieb er bei der Zuversicht: „Wir haben Theologen genug, wir müssen sie nur rufen.” Als einmal der Leiter einer alten deutschen Missionsgesellschaft ihn besuchte und ihm seine Not klagte, die ihm die beständigen pekuniären Schwierigkeiten bereiteten, sagte Vater: „Ich habe nach immer die Erfahrung gemacht, daß Gott uns nicht mehr Geld gibt,[S. 274] als er uns Geist gibt.” Er lebte auch im Blick auf die wichtigsten Missionsgaben, d. h. die lebendigen sich für die Arbeit unter den Heiden darbietenden Menschen, auch soweit die Theologen in Betracht kamen, der Überzeugung, daß gerade so viele sich einstellen würden, als Geist Gottes in der Missionsgemeinde lebendig ist.
Das zeigte sich in der Tat, als wieder einmal, von Vater unvermutet und ungewollt, im Jahre 1907 ein großes afrikanisches Arbeitsfeld sich öffnete. Unvermutet und ungewollt. Denn inzwischen war das südliche Missionsgebiet Usaramo an die große Berliner Missionsgesellschaft abgegeben worden, deren im Innern gelegene Arbeitsfelder in Dar-es-Salam ihren Hafenort hatten. Es schien, als wenn wir in Bethel auf die sorgsame Bearbeitung des Usambara-Gebietes beschränkt bleiben sollten. Nun aber war der Usambara-Missionar Röhl auf einer Instruktionsreise durch Südafrika mit einem Goldsucher bekannt geworden, der ganz unbekannte zentralafrikanische Gebiete bereist hatte und Röhl auf die starken Völkerschaften hinwies, die, vom Mohammedanismus noch unberührt, jene Gebiete bewohnten.
Jahr und Tag hatten diese Worte in Röhls Seele geschlummert, bis ihm das Buch des Forschers Kandt in die Hände fiel, in dem dieser unter dem Titel „Caput Nili” seine Forschungsreisen zur Entdeckung der Nilquellen beschrieben hatte. Dieses Buch und jene Worte des südafrikanischen Goldsuchers bestimmten die Konferenz der Usambara-Missionare, den heimischen Vorstand zu bitten, einen Vorstoß in jene unbekannten Gebiete unternehmen zu dürfen.
Mit größtem Interesse las Vater das geistvolle Buch Kandts. Hier taten sich in der Tat neue große Ausblicke für die evangelische Missionsarbeit auf. Und alsbald ging die freudige Zustimmung nach Usambara hinüber: Vorwärts nach Ruanda!
Vater hat dann noch die hoffnungsvollen Anfänge in diesem wunderbaren Land der zentralafrikanischen Riesen und Zwerge erlebt. Bis über die Quellgebirge des Nil hinaus konnte die Arbeit ausgedehnt werden.
Auf der Insel Ijwi im Kiwusee, in dem sich die Berge des Kongo und des Nil spiegeln, wurde das Kreuz errichtet zum[S. 275] Zeichen, daß diese Insel, auf die Vater mit besonderem Nachdruck hinwies, mit ihrer starken, eigenartigen Bevölkerung die lebendige Brücke bilden sollte zwischen den Völkern des Nil und des Kongo. Neue Arbeitskräfte stellten sich ein. Theologen, Handwerker, Landwirte, Kaufleute und vor allem die, die überall mit mütterlichem Sinn im Kindheitszustand des einzelnen Menschen wie der Völker die tiefsten Wirkungen ausüben: Frauen, verheiratete und unverheiratete.
Die Erfahrungen, die in Usambara gesammelt waren, konnten jetzt auf dem neuen Gebiet ausgenutzt werden und fanden in der Person Johanssens, der vor dem Aufbruch nach Ruanda die Leitung der Usambara-Mission in die treu bewährten Hände seines Freundes und Schwagers Wohlrab legen konnte, ihren Brenn- und Mittelpunkt. Die schwarzen Gemeinden in Usambara sandten ihre besten Glieder zur Mitarbeit, das Mutterhaus Sarepta, in Verbindung mit der Frauenschule in Freienwalde, half die freiwilligen Frauenkräfte ausbilden, das Brüderhaus Nazareth die Handwerker und Landwirte. Durch die Verbindung mit dem Baseler Missionshaus und seinen kaufmännischen Unternehmungen traten auch Kaufleute in die Arbeit ein, um dem indischen und mohammedanischen Handel mit seinen verderblichen Wirkungen zuvorzukommen, und das erste Krankenhaus, von einem ausgebildeten Arzt geleitet, war in Vorbereitung.
So schickten sich alle Kräfte der Zionsgemeinde an, in vereinigtem Zusammenwirken untereinander und mit den Christengemeinden in Usambara im Herzen Afrikas das große Millionenvolk Ruandas zu erfassen. Gerade der Weg, den Vater von Anfang an eingeschlagen hatte, Kräfte auszusenden, die in ihrem Fach so gründlich wie nur möglich ausgebildet waren, verbürgte eine den Frieden der Mitarbeiter sichernde Arbeitsteilung und damit den tiefgegründetsten Erfolg: Theologen mit vollem wissenschaftlichem Rüstzeug für die allseitige Erforschung und Durchdringung des Volkslebens, Handwerker, die ihre ganze Kraft ihrem Berufe widmen wollten, ebenso Landwirte, Kaufleute und Ärzte, jeder mit freiem Raum zur Entfaltung seiner Gaben und Kräfte auf seinem besonderen Gebiet, und dazwischen eingestreut in Haushalt, Schule und unter den Kranken die durch stillen Dienst herrschende Frau. Dieser Weg wurde immer fester ausgebaut, immer fröhlicher beschritten, immer[S. 276] dankbarer zurückgelegt. Er wird auch, sobald uns Gott eine Rückkehr schenkt, aufs neue klar ins Auge zu fassen sein.
Übrigens war es nicht so, daß Vater durch die besonderen Aufgaben, die Afrika stellte, den Blick der Zionsgemeinde und ihrer Mitarbeiter auf dies eine Missionsfeld beschränkte. Im Jahre 1905 lernte er im Berliner St. Michael-Hospiz in der Wilhelmstraße den Kandidaten Wilhelm Gundert kennen, einen Menschen von ungewöhnlicher innerer Glut und Hingabe, der sich entschlossen hatte, auf eigene Faust als Missionar nach Japan zu gehen. Vater riet ihm dringend, nicht ohne festen Rückhalt, wenn nicht an einer Gesellschaft, so doch an einer Gemeinde, den Schritt in die Heidenwelt zu tun. Gundert folgte Vaters Einladung nach Bethel, arbeitete dort eine Zeitlang mit und wurde von Vater in der Zionskirche für den Dienst in Japan abgeordnet und von der Zionsgemeinde für die ersten Anfänge in Japan auch mit Geldmitteln ausgestattet. Zu einer engeren Verbindung kam es nicht. Doch blieb die einsame Gestalt Gunderts auf fernem Vorposten im Osten für Vater und die ganze Gemeinde wie der ausgestreckte Arm eines Wegweisers zu neuen Aufgaben und Zielen, die der deutschen Christenheit gesteckt sind.
(Der Afrika-Verein.)
Als die Greuel des Sklavenhandels bekannt wurden, der ganz Afrika mit endgültiger Vernichtung bedrohte, war es der Kardinal Lavigerie gewesen, der im Jahre 1889 die Augen der römisch-katholischen Welt auf dieses dunkle Gebiet gelenkt und zur Abhilfe gerufen hatte. Er hatte eine Afrika-Liga ins Leben gerufen, die, mit dem Sitz in Algier, die römisch-katholische Christenheit aller europäischen Völker zum Dienste Afrikas vereinigen sollte, in der richtigen Erkenntnis, daß es nicht genüge, wenn die europäischen Weltmächte den Sklavenhandel auf dem Wege der Gewalt unterdrückten, sondern daß es vor allem darauf ankäme, die blutende Wunde Afrikas zu heilen. Aus dieser Liga ging der Orden der weißen Väter hervor, dessen Boten und Botinnen ganz Zentralafrika vom Indischen bis zum Atlantischen Ozean mit Stätten der Barmherzigkeit durchdringen sollten.
Und die evangelische Christenheit? Sie war, was ihre Arbeit in Afrika betraf, in viele einzelne kleine Missionsgesellschaften zersplittert. Würden sie in diesen Fragen Stoßkraft genug besitzen, in schneller und wirksamer Weise die Wunden zu verbinden, die der Sklavenhandel geschlagen hatte, und in die Gegenden, wo nur noch Völkertrümmer saßen, neue Entwicklungsmöglichkeiten zu tragen?
Nun erschien bei Vater eines Tages, es war im Januar 1892, unvermutet ein Fräulein Sutter. Sie war die Tochter eines deutschen von Basel nach Indien entsandten Missionars. Dort war sie geboren. Ihr Lebensweg führte sie nach Deutschland und später nach England. Ein treues deutsches Herz war bei ihr vereinigt mit einem starken Verständnis für die Schwäche nicht nur, sondern auch für die Stärke Englands. Sie hatte die Schriften des bekannten Naturforschers Drummond ins Deutsche übersetzt, darunter die geistvolle Beschreibung seiner Forschungstätigkeit in Inner-Afrika, der er auf Fräulein Sutters Wunsch für die deutschen Leser noch ein besonderes Kapitel über die afrikanischen Sklavengreuel beifügte. Sie war eine glühende Verehrerin Gordons, des Helden von Chartum, dessen Lebensbild sie in fesselnder Darstellung gezeichnet hatte. Das zog Vater an, denn auch er hatte die Tätigkeit Gordons im Sudan mit tiefster Anteilnahme begleitet und an der Hand einer Spezialkarte, die er sich eigens zu dem Zweck verschaffte, den Marsch der Entsatztruppen auf Chartum mit hoher Spannung verfolgt und fast wie um einen Freund geklagt, als der Entsatz drei Tage zu spät kam und der edle Mann sein Leben lassen mußte.
Nun stellte es sich heraus, daß Fräulein Sutter die katholische Afrika-Liga genau studiert hatte und dafür brannte, daß die evangelische Christenheit doch nicht zurückstehen, sondern in ähnlich großzügiger Weise auch an ihrem Teile bei der Rettung der Negerstämme mithelfen möchte. Sie hatte eine ergreifende Flugschrift über den Sklavenhandel verfaßt, die in Hunderttausenden von Exemplaren durch Deutschland ging. In Berlin hatte sie die führenden Kreise aufgesucht und überall Verständnis für ihre Absicht gefunden, aber niemand, der die Bereitwilligkeit der Gedanken und Gefühle zu einer gemeinsamen Tat sammelte. So war sie nach Bethel gekommen. Die außergewöhnliche Glut, die in ihr für alles Vergessene, Verachtete, Verstoßene lebte, tat Vater ungemein wohl. In dieser[S. 278] kinderlosen, einsam ihres Weges ziehenden Frauengestalt spürte er den Pulsschlag eines im höchsten Sinne mütterlichen Herzens, das für Millionen von armen versinkenden schwarzen Menschenkindern Raum hatte.
Nie hatte Vater den Eindruck, daß er selbst genug getan hätte, daß in Bethel genug geschähe, daß man überhaupt jemals genug tun könnte. Ja, alles, was die Christenheit tat, erschien ihm nur wie ein einziger kleiner kühlender Tropfen auf die weite fieberheiße Leidensstirn der Menschheit. So nahm er die Spuren auf, die Fräulein Sutter in Berlin hinterlassen hatte, und es entstand, mit dem Sitz in Berlin und unter einem dortigen Präsidium, der evangelische Afrika-Verein.
Kulturelle, soziale, humanitäre Pflege der Eingeborenen in allen deutschen afrikanischen Kolonien war das Ziel des Vereins. Alle evangelischen Kräfte, die an der Entwicklung Afrikas interessiert waren, auch die, die der eigentlichen Evangelisations- und Missionsaufgabe fernstanden, sollte er in sich vereinigen. Kulturstationen sollten in Afrika gegründet, in der Heimat geeignete Kräfte für die Hebung und Förderung der Eingeborenen herangebildet, zunächst aber in erster Linie für die befreiten und zu befreienden Sklaven gesorgt werden.
Das Blatt „Afrika” sollte alle diese Aufgaben vor der Öffentlichkeit vertreten. Pastor Müller, Grottendorf, später Superintendent in Schleusingen, der schon als Kandidat in Bethel seine große Hingabe bewährt hatte, übernahm mit höchstem Fleiß die Herausgabe des Blattes. Namentlich mit der Bekämpfung der Schnapseinfuhr in die Kolonien setzte das Blatt sofort mit größter Energie ein.
Es kam auch, wenn ich mich recht besinne, schon bald zu einer selbständigen kleinen Expedition nach der Insel Ukerewe im Viktoria-Nyanza zwecks Gründung einer dortigen Kulturstation, auf der die Eingeborenen zur Anlegung eigener Baumwollkulturen herangebildet werden sollten; und in der Heimat wurde die Anregung gegeben, die zur Aufrichtung der Kolonialschule in Witzenhausen führte.
Das kräftigste Reis aber ging aus der Arbeit des Vereins an den befreiten Sklaven hervor. Die arabischen Sklavenhändler pflegten ihre Menschenware in kleinen offenen Segelbooten von den ostafrikanischen Küstenplätzen aus zu verschiffen. Auf diese Boote wurde seitens der deutschen Küstenfahrzeuge Jagd[S. 279] gemacht, ihre Inhaber wurden kurzerhand gehängt und die Sklaven in Freiheit gesetzt. Aber nur ein Teil von ihnen konnte bei den vielfach ungeheuren Entfernungen an eine Rückkehr in die Heimat denken, und die evangelischen und katholischen Missionsstationen wurden gebeten, sie in Pflege zu nehmen. So kam eine große Schar befreiter Sklaven auf unsere Station in Tanga und in die Obhut einer Diakonisse und eines Diakonen. Der Aufenthalt in dem verführungsreichen, ungesunden Küstenplatz erwies sich aber je länger je mehr als durchaus ungeeignet. So empfahl Vater dem inzwischen ins Leben getretenen Afrika-Verein die Gründung einer besonderen Freistätte für befreite Sklaven auf den gesunden Höhen von Usambara. In unvergleichlich schöner Lage am Rande des Urwaldes, von starken Gebirgsbächen umrauscht, mit freiem Blick in das grüne Tal des Pangani und in die weite Tiefebene wurde die Station Lutindi gegründet.
Erwies es sich auch, daß das Gelände für eine Ausdehnung der Station zu abschüssig war und daß die Nähe des Urwaldes zu gewissen Jahreszeiten immer wieder die kalten Morgennebel festhielt, so zeigte es sich doch, daß auch in einem geringen Gefäß edler Wein geborgen werden kann. Jahrelang haben hier die befreiten Sklaven, namentlich die Kinder, ihre Heimat gefunden, bis dem Sklavenhandel endgültig das Handwerk gelegt war, die Kinder selbst herangewachsen, in ihre Heimat zurückgekehrt oder in der umwohnenden Bevölkerung aufgegangen waren. Einige waren Christen geworden und hatten sich zu den Füßen des Lutindi-Hügels angesiedelt. Und gerade für diese hatte sich, noch ehe die Arbeit an den Sklavenkindern zu Ende ging, eine Aufgabe von eigenartiger Schönheit und Bedeutung gefunden:
Im Urwald von Lutindi hauste ein schwarzer Geisteskranker ganz für sich allein. Er nährte sich von den Früchten und Wurzeln des Waldes, schlief in irgend einer zerfallenden Hütte und war nur noch mit Fetzen bekleidet. Von Zeit zu Zeit wagte er sich hervor, kehrte für einige Augenblicke in Lutindi ein, aß sich satt, ließ sich ein Stück Stoff zur Kleidung schenken und war dann wieder verschwunden. Als er wieder einmal erschien, war gerade die Mittagsmahlzeit gerichtet. Auch für Bruder Bokermann, den Leiter der Station, stand das Essen bereit, und es gab sich, daß er aus seiner eigenen Schüssel dem[S. 280] verstörten Menschen seine Mahlzeit aufschüttete. Das wandelte dem armen Kranken das Herz um. Wider Erwarten verschwand er diesmal nicht, sondern blieb. Bokermann berichtete darüber an Vater und schilderte zugleich das Elend vieler anderer armer Geisteskranker, die teils das Opfer furchtbarer, qualvoller Geisterbeschwörungen wurden, teils auch gefesselt an den Felsenhang jenseits des Lutindi-Urwaldes geschleppt und dort in die Tiefe gestürzt wurden. „Darf ich diese Geisteskranken sammeln und aufnehmen?” fragte Bokermann. Es braucht nicht gesagt zu werden, wie die Antwort lautete.
So wurde aus der Heimstätte für befreite Sklaven eine Heimstätte für diese Gebundenen des Geistes und ist es bis heute geblieben. In immer steigendem Maße hat sie sich das Vertrauen aller umliegenden Stämme erworben. Oft Tagereisen weit werden die Kranken gebracht, manchmal noch mit Fesseln aus Lianen gebunden, aber doch nicht mehr, um sie dem Tode auszuliefern, sondern in der Hoffnung, sie einmal genesen wiederzubekommen. Aus den befreiten Sklaven und ihren Frauen sind einige der bewährtesten und treuesten Pfleger und Pflegerinnen geworden, die furchtlos sich in die kleinen Zellen der armen Tobenden hineinwagen und sie mit der Ruhe und Gelassenheit versorgen, in der sie vielfach uns unruhige Europäer übertreffen.
Gleichzeitig hat sich rings um die Station her in kleineren und größeren Niederlassungen eine Christengemeinde aus den Waschambalas gesammelt, die wie eine warme, schützende Mauer die Pflegestätte der Geisteskranken umgibt.
Diese Heimat der Geisteskranken ist begreiflicherweise ein besonders geliebtes Pflegekind der Gemeinde der Kranken von Bethel und ihrer Pfleger und Pflegerinnen geworden. Als der Oberpfleger Lutindis aber steht in unserer Mitte der, dem Vater diese Arbeit besonders ans Herz gelegt hat, unser lieber Bruder zur Heiden. Schon als Hausvater des Hauses Zoar, wo er manchen Kandidaten in den Dienst an den blöden Knaben einführte, hatte er die Fürsorge für Lutindi als Nebenaufgabe übernommen. Und als „Fürst von Zoar”, wie er nach der alttestamentlichen Geschichte von seinen Kandidaten genannt wurde, waltet er noch immer seines Pflegeamtes an Lutindi; der einzige der deutschen Fürsten, wie er selbst feststellte, an den kein Umsturz sich bis jetzt heranwagte.
Wenn auch die hohen Hoffnungen des Afrika-Vereins mit seinen ganz Zentral-Afrika umspannenden Kulturplänen zunächst unerfüllt blieben: in Lutindi ist Saat für die Zukunft ausgestreut. Denn hier ist ein Vorbild geschaffen, wie unter Führung eines Unstudierten, der aber Herz und Kopf auf dem rechten Fleck hat, und seiner gleichgesinnten tapferen Frau ein Brennpunkt entstehen kann, der das Licht und die Kraft barmherziger Liebe bis in weite Fernen trägt. Wenn es der Bethel-Gemeinde vergönnt war, bald da, bald dort ein Licht im dunkeln Afrika anzuzünden, so habe ich während der unvergeßlichen Zeit afrikanischer Arbeit keinen Ort gefunden, der so sehr an die Muttergemeinde in Bethel erinnerte, als — wie Vater sie so gern nannte — „die herrliche Höhe Lutindi”.
Die Aufgaben, die sich auf Vaters Schultern legten, sah er nie an als bloß ihm persönlich, sondern als der ganzen Gemeinde gegeben. Er konnte und wollte seine Arbeit nicht tun ohne ihre innere Zustimmung und Mithilfe. Darum blieb die Gemeinde immer der Kern seiner Tätigkeit, und die Verkündigung und Pflege der göttlichen Wahrheit in der Gesamtheit und an den einzelnen hat er für sich und seine Mitarbeiter immer als den eigentlichen Mittelpunkt angesehen.
In Paris schrieb er seine Predigten noch auf. Aber oft konnte er kaum entziffern, was er selbst geschrieben hatte. So machte er sich, wie wir sahen, schon in Dellwig frei von seinem Konzept. Und vollends in Bethel ließ ihn das Gedränge seiner Arbeit selten vor dem Sonnabendnachmittag an seine Predigt kommen. Von Anfang an hatte er nicht gut am Studiertisch nachdenken können. In Dellwig war er am liebsten in den Wald und die einsamen Weiden längs des Ruhrtals gegangen; in Bethel wurde der Friedhof oben im Walde sein stiller Zufluchtsort, wohin er sich mit seinem Text zurückzog. Dort zwischen den Gräbern standen die Entschlafenen im Geiste um ihn und wurden ihm zu Auslegern und Zeugen für das, was er der Gemeinde bringen wollte. So trug ihm die Gemeinde der Vollendeten das zu, was er der Gemeinde der Streitenden zu sagen hatte. Nur selten nahm er andere Ausleger oder Predigten zur Hand; wenn es doch vorkam, am liebsten Bengel, Rieger und Löhe.
Je näher die Stunde der Predigt kam, je ernster wurde er, je gebeugter wurde seine Gestalt. Die Last der Verantwortung legte sich auf ihn. „Gib mir ein Tröpflein für meine arme Gemeinde!” hörte man ihn wohl seufzen. So war es nichts Erdachtes, was er brachte, sondern Erlebtes, Erkämpftes, Erbetenes, oft aus tiefster Armut heraus Erbetteltes. Aber wenn[S. 283] er dann auf der Kanzel stand, dann merkte man nichts mehr von den Kämpfen, die hinter ihm lagen. Dann war es wie frischester, perlender Tau, der aus den ewigen Höhen kommt. Ein Kandidat der Theologie, voll Zweifel und Zerrissenheit im Herzen, saß zum ersten Male in der Zionskirche, als Vater auf die Kanzel trat und den Gruß in die Gemeinde hinunterrief: „Gnade sei mit euch und Friede!” Es sei ihm, erzählte er später, durch Mark und Bein gegangen, hätte ihn um und um geworfen und von Stund an seinem Leben die klare entscheidende Richtung gegeben. Denn mit zwingender Gewalt habe er hier gespürt, das sei erfahrene Gnade, erlebter Friede, die auch für ihn erfahrbar und erlebbar seien.
Die Predigt, die auf solchen Gruß folgte, konnte darum auch nur auf Tatsachen sich gründen. Nicht wie ein Luftgebilde trat sie vor die Gemeinde, sondern sie ruhte von Anfang bis zu Ende auf Geschehenem. Wenn ich nicht irre, ist es Professor Kähler gewesen, der einmal sagte: „Die beste Art der Evangeliumsverkündigung ist nach Gesichtspunkten geordnete Erzählung.” So war es bei Vaters Predigt. Schon das Thema wurde am liebsten in Form einer Geschichte geboten und die Teile mit Geschichten gefüllt; vor allem mit Geschichten der Bibel und eigenen Erlebnissen. Vor unsern Augen wiederholten sich diese Geschichten. Aber Abraham, Joseph, Moses, David waren keine Menschen der Vergangenheit, sondern Menschen von heute. Die Jahrtausende, die uns von ihnen trennten, schrumpften zusammen; Vergangenheit und Gegenwart flossen ineinander. Vor allem bei den Geschichten des Herrn. Wir zogen mit den Weisen; wir knieten an der Krippe; wir saßen mit im Boot auf dem stürmenden See; wir lagerten im Grase mit den Tausenden, und die Jünger teilten Brot und Fische unter uns aus; wir sahen Jairi Töchterlein vor uns die Augen aufschlagen; wir standen mit verhaltenem Atem unter dem Kreuz und von Trauer und Hoffnung hin- und hergerissen vor dem leeren Grabe.
So wurden angesichts der Großtaten Gottes die eigenen Sorgen, Wünsche, Erlebnisse und Zweifel klein. „Was ich besitze, seh’ ich wie im Weiten, und was entschwand, wird mir zu Wirklichkeiten.” Die Person des Heilandes, alle Welten, alle Zeiten überragend, stand unmittelbar vor uns, den Ernst und die Güte Gottes auf der Stirn, Segen und Frieden in seiner Hand und auf seinen Lippen. So kam der Glaube zustande,[S. 284] nicht durch Überredung, sondern durch den Anblick der Wirklichkeit. Und in diesem Menschen, der auf der Kanzel stand, trat er selbst, der Herr, vor uns hin, weckte das Vertrauen, das sich ihm ganz hingab, und den Gehorsam, der zur entschlossenen Nachfolge willig wurde, und die Buße, die mit Petrus sprach: „Herr, gehe von mir hinaus; denn ich bin ein sündiger Mensch!”
Zu dem Herrn aber, der zum Vertrauen, Gehorsam und zur Buße lockte und reizte, trat dann die Wolke von Zeugen, die uns ermunterte, solchem Locken und Reizen nicht zu widerstehen, sondern dem Fürsten des Lebens uns aus ganzer Macht zu überlassen. Dann sandten die Gräber, zwischen denen Vater am Abend vorher gestanden hatte, ihre Boten in unsere Mitte: Heinrich Hudel kam und der alte Heermann, Pastor Stürmer und der treue Mellin, und die Brüder und Schwestern, die den Weg des Glaubens gegangen waren durchs Leben und durch den Tod. Und die Apostel und Märtyrer mischten sich hinein und die Erstlinge von den Bergen Usambaras, und Kiase, der Aussätzige, rief: „Hört es, Leute, Leute! Kein Leid mehr, keine Schmerzen mehr, kein Sterben mehr; hört es, Leute, Leute!”
So war es der Glaube, der uns gepredigt wurde, aber gepredigt von einer Liebe, die sich auch zu dem Schwächsten herunterließ und sich auch dem müdesten Kopf verständlich machte. Denn diese aus der Schrift und dem Leben geschöpften Geschichten konnte jeder verstehen; hiervon konnte jedermann etwas mitnehmen nach Hause. Und wenn die Geschichten selbst dem wirren, kranken Gehirn vielleicht auch schnell wieder entschwunden waren, der Glanz der großen, herrlichen Wirklichkeit, der über ihnen lag, ging mit in die Woche hinein.
Aber weil es Geschichte war, erhabenste Geschichte, weltbewegende Ereignisse, Erlebnisse, die über alles andere Erleben hinausgingen, darum brauchte auch der Gesundeste, Klügste, Nachdenksamste unter uns nicht leer auszugehen, sondern sah sich zu eigenem Nachdenken geweckt, zur eigenen Ausgestaltung dessen, was er gehört hatte, angeregt. Alle aber waren vereinigt in dem einen Lebensstrom, worin, wie Luther sagt, der Elefant schwimmt und das Lamm plätschert. Nicht hier und da ein einzelner war es, zu dem er sprach, sondern die ganze Zuhörerschaft. So wurden wir zur Gemeinde zusammengefaßt.
Und eben ein Sprechen war es, keine Rede. Wäre es eine[S. 285] Rede gewesen, so wären uns die 40, ja 50 Minuten, die Vater auf der Kanzel stand, zu lang geworden. Aber weil es ein Gespräch war, wo Frage und Antwort wechselten, darum ließen wir ihm gern lange Zeit. Er sprach mit allen, mit denen, die körperlich vor ihm saßen, und mit den andern, die im Geiste versammelt waren. „Paulus, Paulus,” konnte er wohl fragen, „was sagst du? Ich sterbe täglich? Ich verstehe dich nicht, wie meinst du das?” Und dann fragte er wieder in die Gemeinde hinein: „Kann es von euch mir wohl einer sagen, wie Paulus das eigentlich meint?” Und wenn die Antwort noch auf sich warten ließ, dann ging er zu Luther hinüber und fragte den, bis es eins von den Epileptischen aus dem Munde Luthers mit deutlicher Stimme durch die ganze Kirche hin sagte: „Es bedeutet, daß der alte Adam in uns durch tägliche Reue und Buße soll ersäuft werden und sterben mit allen Sünden und bösen Lüsten und wiederum täglich herauskommen und auferstehen ein neuer Mensch, der in Gerechtigkeit und Reinigkeit vor Gott ewiglich lebe.”
So ging Frage und Antwort hin und her, so waren wir alle beteiligt, alle zur Mitarbeit am Text berufen, alle zu Auslegern geworden, einer dem andern zum Wegweiser gesetzt auf dem Wege zum Leben. Darum drang unser Glaube, unser Gehorsam, unsere Buße über den Kreis des eigenen kleinen Ich hinaus; einer trat für den andern ein, einer empfing für den andern die Gabe des Lebens; gemeinsam wurde unsere Last, gemeinsam unsere Freude. Unser Blick, unsere Liebe, unsere Hilfe wuchsen schließlich nicht nur über die Grenzen des eigenen Lebens, sondern auch der eigenen Gemeinde hinüber; wir lernten teilnehmen an den Aufgaben draußen, für die Vater der Kanal war, der sie uns zuleitete, lernten uns freuen mit den Fröhlichen und weinen mit den Weinenden.
Es war ein wunderbares Ineinander von Ernst und Heiterkeit, das über diesen Stunden lag. Es konnte vorkommen, daß die ganze Kirche hell und aus vollem Herzen lachte, und im nächsten Augenblick, wenn der Schrei eines Epileptischen, der im Anfall zusammengebrochen war, durch die Kirche drang, lag wieder der feierliche Ernst über der Versammlung. „Hört ihr den Todesschrei?” rief Vater dann wohl. „Wir können es nicht wissen, wie bald der letzte Schrei auch für uns kommt! Dicht, dicht stehen wir vor den Toren der Ewigkeit.”
Und es war nicht die Predigt allein, die uns den Sonntagmorgen so lieb machte. Die Liturgie kam hinzu. Schon in den ersten Jahren hatte Vater die Liturgie mit Rücksicht auf die Kranken in besonderer Weise lebendig gemacht. Auch hier war die ganze Gemeinde beteiligt in Buße, Anbetung und Dank. Alle dankten, beteten, lobten laut, bald im Chor sprechend, bald in wechselndem, bald in gemeinsamem Gesang. Vater las die Liturgie nicht, sondern, obwohl er sich streng an die für die ganze Kirche vorgeschriebenen Worte und Gebete hielt, erlebte er sie, während er sie las. Und so durchlebten wir sie mit. Er war wirklich unser Anführer in Beugung, Bitte und Lobpreis Gottes, sodaß trotz der regelmäßigen Wiederkehr die Liturgie uns keine leere Form wurde, sondern sich mit ewigem Gehalt füllte.
Große Sorgsamkeit hatte Vater auf die Ausgestaltung des Gesangbuches gelegt. Dem Minden-Ravensberger Gesangbuch hatte er einen eigenen Anhang beigefügt, der außer einer großen Zahl wertvoller Lieder die ganze Liturgie enthielt, sodaß jeder Kranke und Gesunde, der neu in die Gemeinde trat, von vornherein am Gottesdienst handelnd teilnehmen konnte. Dazu kamen die alten kirchlichen Responsorien und die Psalmen, die teils in den Hauptgottesdiensten, teils in den Abend- und Wochenfeiern zwischen Männern und Frauen abwechselnd gesungen wurden. Die Lieder ließ Vater am liebsten ganz durchsingen und zwar so, daß ein vierstimmiger Chor mithalf. Dann sang der Chor die erste Strophe, die Gemeinde die zweite, der Chor die dritte u. s. f. Oft griffen auch die Posaunen mit ein, namentlich wenn es galt, einer neuen noch unbekannten Melodie Eingang zu verschaffen. „Denn auf dem ehernen Geleise der Posaunen ziehen die neuen Melodien am sichersten in die Ohren und in die Gemeinde ein.” Und wer wird je den Silberton des einen Hornes vergessen, das bis heute von den Lippen und aus dem Herzen unseres Posaunengenerals Kuhlo sich in die Stimmen der Menschen, der Orgel und der Posaunen mischt, jubelnd bis zu den höchsten Tönen sich schwingend und dann wieder, wenn alle andern Stimmen verstummt sind, in heiliger Tiefe die verborgensten Saiten des Herzens rührend und so die ganze Gemeinde auf den Flügeln des Liedes vor Gottes Thron tragend!
Unvergeßlich werden uns auch andere Gestalten bleiben, die bei diesen Gottesdiensten mitwirkten.
Vater Scheele hatte den Küsterdienst. Ein wildes Leben lag hinter ihm. Erst im Alter war er zur Besinnung und gründlichen Umkehr gekommen. Nun stand er Sonntag für Sonntag, sein Samtkäppchen auf dem Kopf, am Haupteingang, um die Kirchgänger zu empfangen, den Glanz Gottes auf seinem Angesicht. Ein stiller Mann, ohne viel Worte, aber für meine Erinnerung von unbeschreiblicher Freundlichkeit gegen jedermann. Wir haben ihm sehr nachgetrauert. Am Eingang in den Friedhof, gleich zur rechten Hand, ist sein Grab zu finden mit dem Spruch darauf: „Ich will lieber der Tür hüten in meines Gottes Hause denn wohnen in der Gottlosen Hütten.”
Der Glockenläuter Waltemath! Er zog die Glocke während des Vaterunsers am Schluß des Gottesdienstes und zog sie die Woche über dreimal täglich als Betglocke. Er war Hausknecht nebenan in Hermon. Bei einem Brande hatte er einen Kranken, der in der Verwirrung nicht wußte, wohin fliehen, gefaßt und den fast zwei Zentner schweren ungelenken Mann die 40 Treppenstufen hinunter und ins Freie getragen. Seitdem hatte er einen Herzfehler, der ihn unzählige Stunden Schlaf kostete, ihn oft mühsam um Atem kämpfen ließ, aber den Frieden Gottes ihm nicht nehmen konnte. Wie Simeon hat er in diesem Frieden seinen Kampf vollendet.
Der Organist Eppelsheim! Bis zur Prima hatte er es in seiner pfälzischen Heimat gebracht. Dann hatte die Epilepsie seinen irdischen Hoffnungen ein Ziel gesetzt, aber nur um sein Leben in unvergängliche Harmonien zu tauchen. Mehr als zwei Jahrzehnte hat er uns davon auf der Orgel Zeugnis abgelegt. Es störte uns nie, wenn manchmal die Töne durch einen Anfall Eppelsheims jäh abgerissen wurden. Und auch auf ihn paßten die Verse, die „Martin”, der bekannte Domprediger Lange in Halberstadt, in seinem schönen Liede auf den „Mönch und seine Freundin” sang:
Der Kassierer Lahusen! Während Vater Scheele am Hauptausgang die Kollektenbüchse aufhielt — es wurde bei jedem Gottesdienst eine Sammlung gehalten —, stand er bescheiden Sonntag für Sonntag mit seiner Büchse an einer Seitentür, um dann am Schluß die gesamte Kollekte zu zählen. In Südamerika, wo seine alte bremische Familie Besitzungen hatte, war ihm ein Blatt in die Hände gefallen, das über Bethel berichtete und um helfende Menschen bat. Eines Tages stand er in Vaters Stube und fragte: „Können Sie mich brauchen?” So trat er erst als Gehilfe des Kassierers Mellin, dann als sein Nachfolger in die Arbeit ein. Ein Jüngling im Silberhaar. Immer im Trab — wohl an die siebzig Mal stürzte er während der Jahre seines Aufenthaltes im Laufe und renkte sich dabei jedesmal seinen Arm aus. Immer hilfsbereit, die langen Rocktaschen voll Johannisbrot für die Kinder am Wege, ein verborgener Freund geängsteter Seelen, voll Lebenskraft und Lebenslust bis zum achtzigsten Jahr. Nun ruht auch er in derselben Reihe mit Vater Scheele und dem alten Mellin.
Und schließlich Schwester Lydia! Sie war wie eine Priesterin des Alten Testaments, die aber durchgedrungen ist in das Allerheiligste des neuen Bundes. Sie holte die Liedernummern und schrieb das Abkündigungsbuch. Sie hatte die Tücher auf den Altar zu legen und ihn zu schmücken. Sie besorgte das Taufwasser, führte Täufling und Paten an den Taufstein und leitete die Abendmahlsgäste mit stillem Wink an ihre Plätze. Und das alles tat sie mit einer Würde, Demut und Anmut, daß ihr Anblick tiefste Erbauung war. In ihrer Seele war eine glühende Treue gegen das irdische Vaterland und sein Königshaus vereint mit anbetender Hingabe an das Königreich Gottes. Mit engem Gewissen und weitem Herzen, in der Tiefe der Sünderschaft wurzelnd und in die Höhe der Gnade mit Gedanken, Empfindung und Willen emporsteigend, so ist sie der ganzen Gemeinde eine Purpurkrämerin Lydia gewesen (Apostelgesch. 16, 13–15), die unter uns mit den besten Stoffen handelte, die die Welt kennt.
Nach dem Gottesdienst ging Vater zu den Kranken. Hatte er nicht zu predigen, so brachte er am liebsten den ganzen Sonntagvormittag in den Krankensälen und bei den Kranken zu. Nur in besonderen Fällen hielt er sich lange am einzelnen Krankenbett auf. Meist machte er es ganz kurz. Seine Seelsorge bestand nicht im Eindringen in die Gänge und Irrgänge der einzelnen Seele. Dazu hätte es der Gabe der Menschenkenntnis bedurft, und die besaß er im eigentlichen Sinne nicht. Es kam die Natur des Westfalen hinzu, die zurückhaltend, fast schüchtern ist dem andern gegenüber, voll angeborener Achtung vor der Eigenart des Mitmenschen und darum voll Verständnis, wenn auch der andere Zurückhaltung übt.
Seelengeheimnisse sind ihm darum selten offenbart worden. Nicht weil man ihm in tiefster Not nicht vertraut hätte. Aber die Last wurde klein, sobald er ins Zimmer kam. Man schämte sich in seiner Nähe der kleinlichen Sorgen. Das kurze Wort, das er sagte, hob empor in eine Welt, in der Schwachheit und Verdruß liegen unter unserm Fuß. Man war wie mit einem Ruck über die Wolken gehoben in den Sonnenschein des Glaubens hinein, der Gott alles anheimstellt. In diesem Licht konnte man nicht klagen. Aber dieses Licht fiel nun zugleich in die tiefen Täler der Seele. „Und hinter uns, im wesenlosen Scheine lag, was uns alle bändigt, das Gemeine.” Wesenlos wurde es im Lichte der Liebe. Aber es lag doch zugleich da, tief unten in den Tälern der Seele, das Gemüt immer wieder zum Bösen weckend, immer uns anklebend und träge machend. Aber Vater brauchte nicht darauf zu stoßen, der einzelne sah es selbst.
So führte diese Art des Vaters, ohne daß er sich dessen bewußt war, zu beidem: zur sorglosen Kindschaft in die Höhe und zur klar erkannten Sünderschaft in die Tiefe. Und in dieser Doppelheit lag die große Wohltat seiner Seelsorge. Man sah die Schuld in der Tiefe, beugte sich unter sie und gab das Widerstreben auf gegen Gottes Hand, die sich im Leiden aufgelegt hatte, und war doch nicht an die Schuld gefesselt, sondern in das Licht der befreienden, vergebenden Gottesnähe gerückt. Das war aber nur darum möglich, weil Vater selbst immer in dieser Doppelheit lebte, in der Sünderschaft, sobald er auf sich sah, in der Kindschaft, sobald er nach oben sah.
Das strahlte von ihm aus, wo er ging und stand. Und darum war er Seelsorger, wo man ihm begegnete. Oft in noch viel höherem Maße in seinen ganz gelegentlichen Bemerkungen, als wenn er zu besonderem Zuspruch an ein Krankenbett trat. Im Saal des Mutterhauses stand ein großer Globus, der zu Unterrichtszwecken geschenkt worden war. Vater studierte ihn gern. Aber einmal faßte er ein Kind, das gerade neben ihm stand, setzte es auf den Globus und rief: „Solch ein einziges Kind ist mehr wert als die ganzen Weltteile.”
An seinem Geburtstag pflegten wir Kinder morgens auf ihn zu warten, wenn er aus seinem Schlafzimmer kam. Einmal war unsere Schwester die erste, die ihm um den Hals fiel, um ihm zu gratulieren. „Meine geliebte Tochter,” sagte er, „vergib mir alles, was ich an dir versäumt habe!” Solch ein Wort erquickte unbeschreiblich. So wurde er ganz klein und ganz groß zugleich und lebte uns vor, daß nur, wer sich selbst erniedrigt, erhöht werden kann.
Aber diese ganze Zartheit und Innerlichkeit machte ihn nicht weichlich; namentlich nicht mit körperlichen Zuständen. Ich kam einmal als Primaner abgespannt und mutlos von Gütersloh nach Hause. Der Körper wollte dem Geist nur noch mühsam gehorchen. „Junge,” sagte er nur zum Abschied, „nun kümmere dich nicht zu viel um deinen armen Kadaver” — fertig. So warf er mich mit einem Ruck aus der Welt der Sorge hinaus. Man sah sich in der tiefsten Tiefe verstanden, aber nicht darin festgehalten, sondern rasch emporgehoben.
Verstimmungen überwand er nicht durch Worte, sondern dadurch, daß er uns Arbeit gab. Vergeblich hatte ich einmal gegen mich selbst gekämpft, war der Mutter und den Geschwistern stundenlang mit elendem Nörgeln zur Plage geworden; schließlich hatte Mutter es Vater geklagt. Vater rief mich auf sein Zimmer. Was wird es geben? Kein Wort des Tadels, sondern statt dessen eine Bitte, ihm zu helfen: „Mein lieber Junge, ich habe hier einen Brief, den muß ich einmal ganz sorgsam abgeschrieben haben.” Nichts weiter. Als die Arbeit fertig war, war auch der Sieg errungen! Wie hat er auf solche und ähnliche Weise wieder und immer wieder Kranken und Gesunden, namentlich den Epileptischen in ihren schweren Verstimmungsstunden die Arbeit zur stets wirksamen Arznei gemacht.
Und dann ermunterte er uns durch Lob. Auch über die schwächste Leistung konnte er sich aus tiefster Seele freuen und schüttete seine Freude und seine Anerkennung wie einen erquickenden Strom über uns aus. „Schelten”, sagte er, „richtet Zorn an, aber Ermunterung macht fröhliche Leute.” Und weil dies Lob aus einem Herzen kam, das nicht ehrsüchtig war, sondern demütig blieb, darum machte es nicht hochmütig, aber mutig, nicht aufgeblasen, aber tatenfroh, nicht leichtsinnig, aber sorgenfrei. Und gerade im Lichte solch befreiten Geistes sahen wir wieder desto klarer hinunter in die Schatten des eigenen Herzens, sodaß Mut und Demut immer wieder vereinigt wurden.
Er hat nicht auf unseren Seelen gekniet, hat nichts in uns hineingepreßt, sondern hat uns mit befreiender Liebe in das Verständnis und in die Gemeinschaft seines Herrn geführt, den einzelnen und immer wieder die ganze Gemeinde. Das kam am ergreifendsten zum Ausdruck bei den gemeinsamen Abendmahlsfeiern. Es war die einzige Gelegenheit, wo er vorher — von besonderen Fällen abgesehen — uns alle, Mutter und Geschwister, auf seinem Zimmer vereinigte und kniend mit uns betete. Nach dem Gebet gab er jedem von uns einen Kuß. Bei der Feier selbst waren dann wieder alle vereinigt, Kranke und Gesunde. Als der Allerschwächste, Kleinste, Ärmste, Sündigste stand er, wenn er die Beichtrede hielt, mit uns vor seinem Herrn. Und eben darum zugleich als der, der es erfährt: „Wenn ich schwach bin, dann bin ich stark; wenn ich unterliege, so hilfst du mir.” Gerade deshalb bedeuteten diese Stunden gemeinsamer Beugung auch Stunden gemeinsamer Erhebung voll Leben und Seligkeit, von denen eine Macht ausging in die Gemeinde.
Wir haben ihn sehr geliebt. Das konnte ja nicht anders sein. Die Feder des Sohnes ist nicht imstande, die unbeschreibliche Art seines Wesens wiederzugeben. Nichts Frömmelndes, nichts Weichliches lag in seiner Erscheinung, sondern urwüchsige männliche Kraft, mit harmloser Kindlichkeit vereinigt. Sein dunkles Auge, weich wie Samt, mit unbeschreiblicher Tiefe, ganz in der Gegenwart lebend und dann wieder über alle Welt hinausblickend.
Aber so sehr wir ihn liebten, es wurde keine Menschenvergötterung daraus. Wo er spürte, daß jemand für ihn schwärmte, da zog er sich zurück. Es kam ja allmählich ganz von selbst[S. 292] so, daß er als Vater der Gemeinde alle „Du” nannte. Aber da, wo er merkte, daß jemand sich an ihn hängte, sagte er aus unmittelbarem Gefühl heraus „Sie” und nicht „Du”. „Hängt euch an keinen Menschen!” Wie laut, wie dringend hat er uns das oft zugerufen! So löste er die Gemeinde von seiner Person, um sie an den zu binden, von dem er gern singen ließ: Liebe, die mich hat gebunden — An ihr Joch mit Leib und Sinn, — Liebe, die mich überwunden — Und mein Herz hat ganz dahin: — Liebe, dir ergeb’ ich mich, — Dein zu bleiben ewiglich.
Der der Sonne zugeneigte Berghang, an dem sich der größte Teil der Häuser von Bethel hinzieht, macht den Frühling immer besonders schön. Schon Ende Februar kommen überall im Buchenwald die blauen Leberblümchen hervor, und hinter ihnen her dringen im März zwischen dem Efeu die Anemonen durch. Bald aber leuchtet das warme Tal unten von goldenen Wiesenblumen. Buchfink und Amsel stimmen ihre Kehlen wieder, Rotkehlchen und Rotschwänzchen kommen hinterher und all die andern Sänger, bis unten am Teich von Mamre die Nachtigall den schönsten Akkord in das Konzert mischt.
Einem solchen Frühlingstag kann man die Zeit vergleichen, die unter der Verkündigung des Evangeliums in der Beweisung des Geistes der Wahrheit und der Kraft der Liebe in der Zionsgemeinde anbrach. Überall blühte und grünte es, und von überall her stellten sich, wie die Sänger in Wald und Feld, Kräfte ein, um die Mauern Zions zu bauen.
Aus Dellwig kam der Sohn des treuen Freundes Philipps, und aus den schon von Paris her nahe verbundenen Pfarrhäusern in Schildesche und Gohfeld kamen der leitende Arzt Huchzermeier, die Mitarbeiter am Diakonen- und Diakonissenhaus Kuhlo und Siebold und des Letztgenannten Bruder als Leiter des Bauwesens — keine Fremden also, sondern längst Bekannte und Vertraute, jeder mit seiner besonderen Art und mit seiner besonderen Liebe, jeder an seinem Teil in westfälischer Art und Zähigkeit alle Kraft zum Bau der Gemeinde einsetzend. Und hinter ihnen her strömten dem Diakonen- und Diakonissenhause immer neue Scharen freiwilliger Mitarbeiter zu. Nie[S. 293] würde Vater so treue, bewährte Kräfte für die wachsenden Aufgaben bekommen und behalten haben, wenn er sie ängstlich bis ins einzelne angeleitet und beaufsichtigt hätte. Er kommandierte nicht, sondern vertraute ihnen. Er lähmte nicht durch enge Regeln, wohl aber wies er, ohne es zu wollen, bei jedem Zusammentreffen mit zwei, drei Worten die innere Richtung. Einer seiner jüngeren Mitarbeiter schrieb nach Vaters Tode: „Wodurch hat er uns von Grund aus gewonnen und zur Buße geführt? Eigentlich nur dadurch, daß er uns Liebe erwies auch dann, wenn wir gar nicht darauf rechneten. Ich habe so manches Mal gewünscht, er möchte mir doch einmal gründlich die Wahrheit sagen. Aber er hat es nie getan etwa in dem Sinne, daß er mir gesagt hätte: ‚Du bist doch eigentlich recht hoffärtig.’ Nein, er war stets unbeschreiblich freundlich gegen uns. Dann schämte man sich und fing an, innerlich zu weinen.”
Zu denen, die dauernd in die Arbeit eintraten, kamen andere, die wie vorüberziehende Sänger waren, deren Lied aber unvergessen bleibt. So immer wieder die Kandidaten des Konviktes. So auch manche hochgemute Frauengestalt, Töchter vornehmer Familien, die für längere oder kürzere Zeit die Gehilfinnen der Diakonissen wurden. So auch die Gäste des von Fräulein Heidsiecks fürsorgender Hand geleiteten Anstalts-Hospizes, die Anregung suchten und Anregung brachten und über die zunächst drängenden Aufgaben hinweg immer wieder den Blick in die Weite lenkten.
Die einzelnen Hausgemeinschaften und Arbeitsgruppen schlossen sich immer fester in sich zusammen, jede gleichsam einen besonderen Sängerchor bildend, der für sich übte, aber nur um desto besser in dem einen großen Konzert mitzuwirken. Was für einen Frühlingschor besonderer Art bildete z. B. das Kinderheim! Wie vielen Töchtern des Landes, die von nah und fern kamen, um für eine Zeitlang zu helfen, wurde unter dem Jubel der Kinder, auch unter ihrem stillen Leiden und Sterben, das Herz weit, froh und dankbar! Wie hoch gingen namentlich die Wogen damals, als Missionar Greiner die kleine schwarze Elisabeth brachte, die er auf dem Schiff dem ägyptischen Soldaten abgenommen hatte, damit sie nicht als Sklavin verkauft würde. Und als nun ein Jahr später gar noch das zweite kleine schwarze Mädchen, Marie Madjesebuni, hinzukam, brach eine Frühlingszeit über dem Kinderheim an, wie es sie schöner[S. 294] wohl nie erlebt hat. Europa und Afrika mischten ihre Stimmen in eins, Deutschland und Mohrenland hoben miteinander ihre Hände auf zu Gott!
Ganz verborgene Chöre gab es auch, wie die Stimmen der Sänger im Walde, denen niemand zuhört und die doch das Singen nicht lassen können. Das waren die eigenen kleinen Kreise der Kranken, oft nur aus zwei oder drei, fünf oder sechs bestehend, die am Feierabend zusammenkamen, um sich untereinander durch Lied und Betrachtung zum Lobe Gottes zu ermuntern. Wieviel Kräfte der innersten Harmonie gingen von diesen ungehörten und ungekannten Sängern aus!
Unter solchem Frühlingswehen konnte es nicht anders sein, als daß die Gemeinde wie der Baum zur Maienzeit neue Zweige trieb. Im Lande draußen, innerhalb und außerhalb der westfälischen Grenzen, wurde durch die Schwestern und Brüder eine Station nach der andern übernommen. Alle diese Außenstationen waren zugleich wie kleine Sammelbecken, die mit dem Übermaß ihres Elends auf Bethel angewiesen waren. Wohin mit den Verkrüppelten, Blinden, den Geistesschwachen und Geisteskranken, den Halbwaisen und Ganzwaisen, den Nervenkranken und Nervenschwachen, wenn jede andere Zuflucht sich verschloß? Immer freilich gab Vater den ausziehenden Schwestern und Brüdern die Regel mit auf den Weg: „Ihr dürft niemals denken, als hätten wir die Barmherzigkeit für uns gepachtet”; d. h. sie sollten alles tun, um in solchen Fällen der Not die näheren und entfernteren Angehörigen der Kranken nach Möglichkeit heranzuziehen. Oder wenn das nicht ging, sollten sie für anderweitige Familienpflege sorgen, sollten schließlich alle zunächst in Frage kommenden Pflegehäuser und sonstigen kirchlichen und staatlichen Anstalten in Betracht ziehen. Aber wenn alles versagte: „Dann dürft ihr bei uns anklopfen.”
Wie oft kam es vor, daß eben wirklich alles andere versagte! So nahm das Anklopfen kein Ende, und darum gab es immer wieder in den einzelnen Häusern ein Zusammendrängen und Zusammenschieben, bis es schließlich nicht anders ging und wieder gebaut werden mußte.
Und nicht nur für die Kranken mußte gesorgt werden, auch für ihre Pfleger. Oft erzählte Vater die Geschichte von der Kuh des alten Flattich, die eines Morgens tot im Stalle lag.[S. 295] Klagend und jammernd kommt Frau Flattich zu ihrem Mann. Der aber sagt: „Es wundert mich gar nicht, daß die Kuh gestorben ist. Ich habe schon seit einiger Zeit gemerkt, daß du unsere Magd nicht recht gepflegt hast; darum hat die auch die Kuh nicht recht gepflegt, und so ist sie gestorben.” Sollten also die Pfleglinge recht gepflegt werden, innerhalb und außerhalb der Gemeinde, dann mußte auch für die Pfleger und Pflegerinnen gesorgt werden. So entstand für die Schwestern das stille Salem in der tiefen Bergeinsamkeit des Teutoburger Waldes und für die Brüder das auf der frischen Höhe liegende Pella — beides Zufluchtsorte für Zeiten der Erholung und inneren Sammlung. „Ihr dürft die friedsame Ruhe nicht verlieren,” hat Vater uns oft zugerufen.
Inzwischen waren draußen in der Senne durch die Kolonisten von Wilhelmsdorf die ersten Kulturen entstanden. Es zeigte sich, was für eine wertvolle Ergänzung man an der Senne hatte. Der Boden in Bethel ist schwer und für die schwächeren unter den Epileptischen nur bei gutem Wetter zu bearbeiten. Das ist bei dem leichten Sandboden der Senne anders. Hier gibt es bei jeder Witterung, namentlich auch im Winter, abwechselungsreiche Arbeit, die auch den Schwachen und Schwächsten immer wieder die Befriedigung einer nützlichen Tätigkeit gewährt. So siedelte allmählich eine Ackerbaustation nach der andern aus Bethel nach der Senne über. Die Krüppel folgten, dann auch die Lungenkranken, die in der milden Kiefern- und Tannenluft schneller genasen als unter den kräftigen, aber rauhen Winden des Teutoburger Waldes, und schließlich kamen auch noch mehrere Stationen der Gemütskranken dazu.
Auch Wilhelmsdorf selbst mußte sich dehnen, denn es zeigte sich immer mehr, wie viele arme Opfer des Alkohols unter denen waren, die sich arbeitslos und heimatlos, von aller menschlichen Hilfe verlassen, in der Kolonie einstellten. Es war nicht möglich, sie nach drei Monaten wieder zu entlassen. Das hätte nur geheißen, sie aufs neue dem alten Elende auszuliefern. So entstand eine besondere Trinkerheilstätte. Auch den Schiffbrüchigen gebildeter Stände, für die ihre Familien einen sicheren Hafen suchten, konnte man sich nicht entziehen, sodaß auch für sie eine Heimat geschaffen werden mußte.
Eine Witwe Eckardt, nach der die ganze Kolonie, die heute etwa 1200 Insassen zählt, den Namen Eckardtsheim erhielt,[S. 296] schenkte in Erinnerung an ihren verstorbenen Mann den Grundstock zu einem Gotteshause, der Eckardtskirche, die zum Mittelpunkt aller Anstaltshäuser in der Senne wurde.
Aber die Entlastung, die auf solche Weise die Tochterkolonie in der Senne der Mutterkolonie drüben im Teutoburger Walde bot, verpflichtete nun auch wieder die Mutter zu einer Gegenliebe gegen die Tochter. Viele von denen, die sich in Wilhelmsdorf und in den von Wilhelmsdorf abgezweigten Häusern bewährt hatten, baten: Stoßt mich nicht wieder hinaus in die versuchungsvolle Welt, gebt mir in Bethel eine meinem früheren Beruf entsprechende Arbeit, laßt dort meine Kräfte allmählich weiter erstarken, bis ich den Mut gewinne zu neuer Fahrt in die stürmische Welt! War es möglich, solche Bitte abzuweisen?
Sollte sie aber gewährt werden, so mußte nun auch Bethel sich wieder dehnen. Es mußte seine Werkstätten, seine kleinen Betriebe erweitern, um Arbeit zu schaffen für die, die nur unter zweckvoller Arbeit an Geist und Leib genesen und neue Kräfte gewinnen konnten. So wurde aus der kleinen Schriftenniederlage die Buchhandlung, an die Buchbinderei schloß sich ein kleiner Laden an mit Heften, Bildern, Büchern; ähnlich ging es bei der Tischlerei, der Gärtnerei und den andern Handwerken. Auch für die Vorräte an Lebensmitteln, die bis dahin aus der Stadt bezogen worden waren, wurde eine eigene kleine Einkaufsstelle geschaffen. Ich sehe noch den Nico-Nix, einen holländischen Kaufmann, der irgendwie zu uns verschlagen worden war, mit strahlendem Angesicht in dem kleinen Verkaufsraum hinter dem Ladentisch stehen und seine Gäste bedienen.
Es konnte nicht ausbleiben, daß über solchem Wachsen Teile der Bielefelder Geschäftswelt in Unruhe gerieten. Ihnen war das schöne Tal für die Ausdehnung der Stadt genommen. Nun sollten sie auch nicht einmal an dem geschäftlichen Gewinn, den die Siedlung ihnen hätte bieten können, teilhaben? Aber Vater konnte wieder und wieder in überzeugender Weise dartun, daß die Entstehung und Entwicklung der kleinen Betriebe nicht aus dem Gedanken entsprungen wäre, einen Verdienst, der bisher andern zuteil geworden, für sich zu behalten, sondern daß es sich vielmehr für die Anstalt darum handele, ihren Kranken und Pflegebefohlenen durch eine ihren Neigungen entsprechende Beschäftigung recht zu dienen, und daß für solches Dienen die[S. 297] Ausdehnung der kleinen Anstaltsgeschäfte ganz unentbehrlich sei. Nicht „womit kann ich verdienen?” sondern „womit kann ich dienen?” sollte der Grundsatz dieser kleinen sich entwickelnden Betriebe sein. Und wenn über dem rechten Dienen auch eine kleine Ersparnis, ein kleiner Verdienst für die Anstalt abfiel, so durfte ihr das gegönnt werden.
So wurde immer wieder Raum geschaffen und Arbeit, um solchen, die sonst rettungslos versunken wären, zu helfen. Hierfür nur einige Beispiele. Für gewöhnlich wurde an der Regel festgehalten, daß nur, wer sich draußen in der geringen Arbeit der Senne mit Spaten und Karre bewährt hatte und für den sich andernorts kein sicherer Zufluchtsort zeigte, in einem der Arbeitsplätze in Bethel Aufnahme fand. Aber zum unabänderlichen Gesetz wurde das nicht. So wandte sich an Vater ein Kaufmann, der so, wie die Dinge lagen, rettungslos dem Gefängnis verfallen war. Er hatte eine tadellose Vergangenheit hinter sich. Um so schrecklicher war das Los, das, freilich durch eigene Schuld, vor ihm lag. Vater legte die Sache dem Kronprinzen vor; und durch dessen Fürsprache wurde die Strafe niedergeschlagen. Der Betreffende kam dann nach Bethel, und Vater nahm ihn, als die Kräfte seines bisherigen epileptischen Gehilfen Kneipp versagten, an dessen Platz. Mit unbeschreiblicher Gewissenhaftigkeit hat er Jahre hindurch vom Morgen bis zum Abend an dem Schreibpult in Vaters Arbeitszimmer gestanden, nie ermüdend, in tiefster Verschwiegenheit, die Liebe, die Vater ihm erwies, mit einem Leben voll Pflichttreue und Hingabe lohnend. Als die Kassenverwaltung einer in jeder Weise bewährten Kraft bedurfte, wurde er von Vater, der immer auf das Liebste, was er hatte, wenn es not tat, verzichtete, dorthin abgegeben, und bis an sein Ende ist er hier ein Vorbild der stillen Treue gewesen.
Hier in der Kassenverwaltung fand auch ein anderer für den Rest seines Lebens Arbeit, der aus der Senne herüberkam, wo er zunächst ein Jahr lang in Reih’ und Glied rigolt, gerodet und die Karre geschoben hatte. Er hatte mit dem Kaiser zusammen auf einer Schulbank gesessen, war Offizier geworden, hatte dann aber infolge des Trunkes seinen Dienst verloren. Seine Familie übte die Barmherzigkeit an ihm, daß sie ihm alle Mittel entzog, durch die er seinem unglücklichen Hang weiter hätte frönen können, sodaß er sich bemühen mußte, in[S. 298] der Senne wenigstens sein Leben zu fristen. Nicht widerstrebend, sondern freiwillig fügte er sich diesem Zwang und wurde schließlich einer der glücklichsten Menschen, die in unserer Mitte gelebt haben. Seine Todeskrankheit, die mit seinem früheren Leben im Zusammenhang stand, war freilich lang und schwer; aber gemurrt hat er nicht, sondern wie sein Leben, so ist auch sein Sterben ein Segen für viele geworden.
So könnte noch mancher genannt werden, der nach einem Leben voll Unruhe und Niederlagen schließlich zum Frieden und zum Sieg gelangte und nun unter den Siegern steht, die die ewige Krone erlangt haben. Unter ihnen sei nur noch unser lieber Lehrer H. erwähnt. Von einem nächtlichen Gelage heimkehrend, war er unterwegs im Frost liegen geblieben. Als man ihn fand, waren seine beiden Arme so vollständig erfroren, daß sie abgenommen werden mußten. Darüber kam er zur inneren Einkehr und Umkehr. Er trat in den Unterricht an den epileptischen Schulknaben ein, und der Friede und die innere Kraft, die von ihm ausgingen, waren so stark, daß die unruhigen Knaben keinem Lehrer lieber gehorchten als diesem Mann, der ohne Arme vor ihnen stand.
Nicht immer war es leicht, die richtige Beschäftigung zu finden. Aber auch hier machte Vaters Liebe immer wieder erfinderisch oder ließ sich von den Hilfesuchenden selbst auf neue Bahnen weisen. So kam ein früherer Kavallerieoffizier, dessen Kraft zu irgend welcher körperlichen Arbeit einfach nicht mehr ausreichte. Es stellte sich aber heraus, daß er eine große Kenntnis ausländischer Briefmarken hatte. Darum bat Vater in einem der Anschreiben, die an die Freunde im Lande und auch im Auslande gingen, um ausländische Briefmarken. Die Bitte war nicht vergeblich, die Marken strömten herbei, und Herr v. N. hatte eine Arbeit, die seine Kraft ausfüllte und die sich schließlich so ausdehnte, daß eine ganze Zahl schwacher Pfleglinge eine Tätigkeit fand, die gar nicht anstrengte und die doch zur Sorgsamkeit und Gewissenhaftigkeit erzog.
Immer dringendere Bitten um Aufnahme von Gemüts- und Nervenkranken führten dazu, daß auch für diese Leidenden sich ein Zufluchtsort nach dem anderen in Bethel auftat. Es fehlte in den staatlichen Anstalten vielfach an den geeigneten Pflegekräften, oft auch an ausreichender seelsorgerlicher Beratung. [S. 299] Dazu kam, daß die Überfüllung der westfälischen Provinzialanstalten die Verwaltung der Provinz zu der Bitte veranlaßte, Bethel möchte ihr die unheilbaren Kranken abnehmen.
„Unheilbar”, gerade solch ein Wort lockte Vater. „Das Wort unheilbar”, sagte er oft, „steht im Wörterbuch eines Christen nicht. Wer danken gelernt hat, ist gesund geworden, auch wenn er sein ganzes Leben in der Zelle zubringen muß.”
Immer wieder trieb es ihn zu den Umnachteten des Geistes in den verschiedenen Häusern. In Magdala, dem Hause der gemütskranken Frauen, hielt er jahrelang die wöchentliche Bibelstunde. Im Anschluß daran ging er regelmäßig zu denen, deren Zustand die Teilnahme an der Stunde nicht erlaubte. Namentlich suchte er die einzelnen Zellen der Tobsüchtigen auf, ganz allein, nur mit seinem kleinen Blumenstrauß in der Hand. Er ist, soviel wir wissen, niemals angegriffen worden.
Aber die Flut grauenhafter Lästerreden, die er dann und wann bei solchen Gelegenheiten anhören und über sich ergehen lassen mußte, befestigte ihn in der alten biblischen Überzeugung, daß bei diesem Leiden nicht immer nur körperliche Anlässe zu Grunde lägen, sondern auch die Mächte einer satanischen Welt ihr Wesen trieben. „Die Barmherzigkeit”, sagte er, „fordert es, an dieser Überzeugung festzuhalten. Ich kann nicht glauben, daß solch eine Flut von Schmutz aus dem Herzen eines reinen Mädchens emporsteigt. Das stammt aus einer anderen Welt.”
Mit dem Leiter einer großen städtischen Heil- und Pflegeanstalt, in der unsere Diakonen und Diakonissen arbeiteten, hatte er eine tiefgreifende Auseinandersetzung über die Aufgaben des Anstaltsseelsorgers. Sie führte dazu, daß er die Seelsorger sämtlicher deutscher Heil- und Pflegeanstalten zu einer besonderen Besprechung nach Bethel einlud, die, zumal manche von ihnen auf vereinsamtem Posten standen, mit größter Freude der Einladung Folge leisteten und sich von da an zu einer regelmäßigen Konferenz der deutschen Anstaltsseelsorger für Gemüts- und Geisteskranke zusammenschlossen, die bis heute besteht.
Schwerer noch als die Last, die sich durch die Aufnahme der Gemütskranken auf die Schultern von Bethel legte, war vielfach die Pflege derer, die nicht gemütskrank, aber auch nicht eigentlich gesund waren, sondern mit ihren erregten Nerven[S. 300] schwer an sich selbst trugen und anderen zu tragen gaben. Aber auch diese Last lehrte Vater uns mit Heiterkeit anfassen. Schmunzelnd pflegte er immer wieder zu sagen:
Einer der ersten Gemütskranken, die in Bethel Zuflucht fanden, war ein Pastor Krekeler aus alter Ravensberger Familie. Er hielt sich für unwürdig, Nahrung zu sich zu nehmen. Mittags saß er an unserm Tisch, die Augen niedergeschlagen, in tiefe Schwermut versunken. Nur unter Vaters Zureden griff er zum Löffel, legte ihn dann aber hin, ohne seinen Teller leerzuessen. Da hörte auch Vater auf zu essen. „Lieber Bruder,” sagte er, „ich habe nun den ganzen Morgen schwer gearbeitet. Aber ich esse nicht, wenn du nicht auch ißt.” Das half, und der Teller wurde leergegessen. So ging es Schritt für Schritt vorwärts. Schon bald konnte Vater ihn bitten, ihm Sonntags eine Predigt abzunehmen. Das war Krekelers größte Freude. Aber sie wurde ihm nur dann gewährt, wenn er in der Woche vorher ein Pfund zugenommen hatte. Wiederholt hatte Krekeler die Bedingung erfüllt. Da, eines Sonntagmorgens, als er wieder predigen wollte, kam die Nachricht, daß er das Morgenfrühstück verweigert hätte. Vater eilte zu ihm und erklärte: „Du predigst nicht, wenn du nicht ißt, und hast die Verantwortung zu tragen, wenn ich jetzt unvorbereitet statt deiner auf die Kanzel muß.” Damit war der letzte Widerstand gebrochen. Schon bald konnte er seine Familie zu sich nach Bethel holen, und er und seine Frau übernahmen das Haus der epileptischen Pensionäre, in welchem er genesen war.
Gleichzeitig wurde er der Vater der Waisenkinder, die rings aus dem Lande sich einstellten und unter Schwester Pauline in einem besonderen Waisenhause gesammelt wurden. Er sorgte für ihre Unterbringung in den Familien des Landes und blieb auch weiterhin ihr väterlicher Freund, der sie regelmäßig besuchte und ihren Entwicklungsgang verfolgte und regelte. So erstarkten seine Kräfte mehr und mehr, bis er in Volmerdingsen am Hang der Weserberge wieder eine kleine Gemeinde übernehmen konnte. Hier legte er den Grund für eine Heimat der Geistesschwachen, die bis dahin in der Provinz[S. 301] Westfalen einer eigentlichen Zufluchtsstätte entbehrten und darum zunächst immer wieder unter die schwachen epileptischen Kranken von Bethel hatten gemischt werden müssen. Der kleine Zweig, der dort am Fuße des alten Wittekindsberges eingesenkt wurde, blühte unter seiner originellen Leitung schnell auf und ist jetzt ein Baum geworden, unter dessen Schatten viele arme umnachtete Menschenkinder ein glückliches Dasein führen. Lange Jahre hat Krekeler als der Glücklichste unter ihnen gelebt, bis plötzlich die alte Krankheit wieder durchbrach. Er flüchtete nach Bethel, und unter Vaters Zuspruch endete sein gesegnetes Leben.
Nicht eigentlich gemütskrank, aber schwer nervenleidend war ein Herr Schnitger, dem das Diakonissenhaus Sarepta eine Bleibestätte bot. Er war hochgebildet, hatte auf verschiedenen Gebieten gearbeitet und war auch im Kassenwesen erfahren. So übernahm er einen Teil der Kassenverwaltung von Sarepta. Sein Krankenzimmer war zugleich sein Arbeitszimmer, wo der Geldschrank stand und wo er die Kassenbücher unter musterhafter Sorgsamkeit führte und mit einer Handschrift, die zu den schönsten und charaktervollsten gehörte, die man sich denken kann.
Nun geschah etwas Merkwürdiges. Unten im Diakonissenhause, links neben dem Eingang, lag die Apotheke, in der von einer Schwester die ganzen Arzneien für die Anstaltshäuser bereitet wurden. Als sie eines Morgens in die Apotheke trat, fand sie den Giftschrank erbrochen und alle Gifte verschwunden. Der entwendete Giftbestand hätte völlig genügt, um viele hundert Menschen zu vergiften. Die Aufregung war groß. Den ganzen Tag über wurden die umfassendsten Untersuchungen vorgenommen. Aber alles blieb vergeblich. Am andern Morgen kam Herr Schnitger zu meiner Mutter, die für Kranke seiner Art immer ein besonderes Verständnis hatte, sodaß Schnitger schon vorher immer wieder sich gern ihr mitgeteilt hatte. Er sagte ihr, daß er am Abend vor dem Einbruch in der Apotheke gewesen sei, um sich etwas zu holen. Dabei habe er auch den Schrank mit der Aufschrift „Venena” (Gifte) gesehen und gedacht: „Die Gifte müssen aus der Welt verschwinden.” Denn er habe gespürt, daß das Morphium, das er von Zeit zu Zeit gegen seine große Schlaflosigkeit erhalten hatte, eine Gefahr für ihn werden könne, die er abschneiden müsse. Nun könne[S. 302] er sich freilich durchaus nicht besinnen, daß er das Gift weggenommen habe, für unmöglich aber halte er es nicht, da er eben an jenem Abend die Apotheke mit dem Gedanken verlassen habe: „Das Gift muß aus der Welt verschwinden.”
Es stellte sich heraus, daß die Nachtwachschwester in jener Nacht eine Gestalt beobachtet hatte, die aus der Richtung der Apotheke die Treppe heraufkam. Die Schwester war der Gestalt nachgeeilt und hatte gesehen, wie sie in dem Zimmer von Herrn Schnitger verschwunden war. Das konnte natürlich die Vermutung Schnitgers nur aufs äußerste bestärken. Wiederum aber waren und blieben alle Nachforschungen vergebens. Die Gifte sind bis heute nicht gefunden worden. Herr Schnitger aber erklärte: „Ein Mensch, der in Verdacht steht, Gift zu stehlen, kann unmöglich der Verwalter von Geld sein.” So stellte er seinen Dienst ein, suchte aber nach neuer Beschäftigung.
Eines Tages kam er zu Vater mit der Bitte, er möchte wohl Brockensammler werden. Es sei ihm durch den Sinn gegangen, wieviel Werte doch in all den kleinen Gegenständen steckten, die die Menschen so leichthin wegwürfen. Die beiden überlegten miteinander, und es wurde verabredet, daß Schnitger eine Liste aufstellte von solchen Gegenständen, die er wohl sammeln möchte. Es war ein langes Verzeichnis, das er Vater einreichte: alte Korke, Stahlfedern, Knöpfe, Brillen, Uhren, Handschuhe, Regenschirme usw. Ahnungslos, was folgen würde, ließ Vater die Liste vervielfältigen und legte sie einem der vierteljährlichen Boten von Bethel bei, die an die Freunde draußen im Lande verschickt werden. Kaum aber war die Liste in die Hände ihrer Empfänger gelangt, so begann es von allen Seiten Brocken zu regnen.
Nur für den allerersten Anfang genügten Schnitgers eigene Kräfte zum Auspacken. Bald mußte er sich Hilfskräfte suchen. Die Wagen der Anstaltsökonomie räumten ihren Schuppen, damit die eingehenden Sendungen wenigstens vor dem Regen geschützt würden. Nach kurzer Zeit war an Auspacken überhaupt nicht mehr zu denken, weil es an genügendem Raum zum Sortieren der Sachen fehlte. Es mußte wieder gebaut werden, es half wirklich nichts. Und Herr Schnitger siedelte als Brockenvater aus Sarepta in das Brockenhaus über. Für wie viele ist er dort ein väterlicher Freund und Arbeitgeber geworden, und wie viele im ganzen Vaterlande — in Hütten,[S. 303] Häusern und Schlössern — hat er zur Achtsamkeit auf das Geringe und zur Treue im Kleinen erzogen!
In der Brockensammlung reihte sich bald ein Arbeitstisch, ein Arbeitsraum neben den andern. Lauter kleine Reparaturwerkstätten entstanden. Regenschirme wurden geflickt, Spielzeug heilgemacht, aus verschiedenen Uhrteilen entstanden wieder gangbare Uhren, aus den Einzelgängern der Handschuhe neue Paare, Bilder wurden gerahmt, Bücher ausgebessert, aus den Haufen der verschiedensten Knöpfe hier ein halbes, dort ein ganzes Dutzend gleichartiger zusammengesucht, beschädigte Korke zurechtgeschnitten usw. usw.
Was für eine Fülle von Arbeitsgelegenheit ergab sich allein aus den eingehenden Büchern! Wie mancher wissenschaftlich geschulte Kopf hat da befreiende Tätigkeit gefunden! So bekamen die Klügsten und die Beschränktesten unter Schnitgers Anleitung willkommenste Beschäftigung. Und der Laden, wo die neu hergestellten Sachen verkauft wurden, wurde oft vom Morgen bis zum Abend nicht leer. Nicht nur die armen Familien der Umgegend, sondern auch mancher Kunst- und Altertumsfreund kam hier auf seine Rechnung.
Unter denen, an die Schnitger besondere Aufmerksamkeit und fürsorgende Liebe wandte, war ein Österreicher mit dunklen, glühenden Augen und unruhigem Wesen. Es stellte sich später heraus, daß er Marineoffizier gewesen war und ein österreichisches Torpedoboot im Adriatischen Meer geführt hatte. Er hatte die Schiffskasse bestohlen und war, als es entdeckt wurde, unter falschem Namen nach Deutschland geflüchtet. In seiner Abwesenheit wurde ihm in Wien der Prozeß gemacht, der ihn zu mehreren Jahren schweren Kerkers, wie der österreichische Gerichtsausdruck lautet, verurteilte.
Davon ahnte damals niemand in Bethel etwas, und Schnitger gewann den Eindruck, daß der Mann, wie auch immer seine Vergangenheit sein mochte, über die er natürlich ein Dunkel breitete, jetzt ein nach Licht und Wahrheit strebender Mensch sei.
Er entdeckte bei ihm eine gewisse Begabung zum Zeichnen und Kolorieren und bat Vater, ihm auf diesem Gebiet weiterzuhelfen. Vater ging darauf ein und gab ihm allerlei kleine Aufträge, bei denen er seine Gaben zur Geltung bringen konnte. Lange Jahre hindurch hing in Vaters Arbeitszimmer ein Bild,[S. 304] das die ersten afrikanischen Missionare und Missionsfamilien in Usambara darstellte und das jener Unbekannte nach einer Photographie nicht ohne deutliches Geschick hergestellt hatte.
Vater hatte, um ihm Mut zu machen, wie das ja seine Art war, mit seiner Anerkennung nicht zurückgehalten. Das aber war ihm, dem noch immer seine alte Herrlichkeit als Torpedobootsführer vorschwebte, in die Krone gestiegen. Er fing an, sich für ein verkanntes Genie zu halten, das niedergehalten, ausgenützt und mit dem bescheidenen Taschengeld, das er außer freier Station erhielt, nicht genügend bezahlt würde. Einige unzufriedene Elemente sammelten sich um ihn; andere wußte er geschickt aufzusuchen und auszuforschen, und eines Tages erschien in der sozialdemokratischen Zeitung der Stadt ein giftgeschwollener Artikel über die Zustände in der Anstalt. Nicht nur der alte Schnitger war in der häßlichsten Weise angegriffen, sondern die gesamte Anstaltsleitung und viele einzelne Personen als eine Genossenschaft von Ausbeutern hingestellt, die nur für ihre eigene Tasche arbeiteten, die Kranken und Pfleglinge aber ausnutzen wollten und offenbare Mißhandlungen ruhig geschehen ließen.
Es war sofort deutlich, daß der Ankläger nur jene geheimnisvolle Persönlichkeit sein konnte. Die Anschuldigungen waren so schwer und die ganze Öffentlichkeit in einer Weise aufgeregt, daß für Vater gar nichts anderes übrig blieb, als die Angelegenheit der Staatsanwaltschaft zu übergeben, damit die erhobenen Anschuldigungen vor aller Welt geprüft werden könnten. Mehrere Tage dauerten die Verhandlungen, die schließlich, abgesehen von einigen wenigen Verfehlungen untergeordneter Kräfte, die der Leitung entgangen waren, die völlige Haltlosigkeit der Beschuldigungen dartaten. Der arme Mensch wurde zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.
Bald nachdem er seine Haft angetreten hatte, wurde seine Vergangenheit bekannt, und das österreichische Gericht forderte ihn zur Abbüßung seiner Kerkerstrafe ein, sobald er die deutsche Strafe abgebüßt hätte. Es kam aber nicht mehr zu seiner Auslieferung. Er erkrankte im Gefängnis in Münster an der Auszehrung und starb unter der Pflege der Kaiserswerther Diakonissen, nachdem er vorher um Verzeihung gebeten hatte.
Für den alten Schnitger aber bedeutete diese schmerzliche Erfahrung einen schweren Stoß. Er zog sich mehr und mehr[S. 305] aus der Arbeit zurück und siedelte schließlich in einen Vorort von Berlin über, damit, wie er sagte, in der Einsamkeit der großen Stadt seine Nerven, die allmählich zu fein und zart geworden waren, noch einmal wieder wachsen könnten. Immer wieder hat ihn Vater in seiner Junggesellenwirtschaft aufgesucht oder sich sonst mit ihm in Berlin getroffen, bis er sich endlich überreden ließ, in das Siechenhaus von Lichterfelde zu ziehen, wo er unter der treuen Fürsorge unserer Schwestern die Augen schloß.
Mit seinem tiefen Blick in die Zusammenhänge der Dinge, mit seiner lauteren Frömmigkeit und seinem Erbarmen nicht nur verachteten, verlassenen Brocken gegenüber, sondern noch mehr gegen Menschen, deren Leben trümmer- und brockenhaft geworden war, hat er Vaters Herzen ganz besonders nahegestanden.
Die Brockensammlung wurde auch insofern eine Wohltäterin für die ganze Gemeinde, als sie für all die kleinen Feste, Vorstellungen und Aufführungen eine unerschöpfliche Fundgrube wurde, aus der sich alles zu Tage fördern ließ, was irgend an Verkleidungen und dergleichen gebraucht wurde. An den vaterländischen Gedenktagen, namentlich an Kaisers Geburtstag, rückte sie jedesmal die alten Uniformen heraus, die sich eingefunden hatten. Man kann sich die Freude der Epileptischen denken, die niemals im bunten Rock gesteckt hatten, wenn sie bei dieser Gelegenheit endlich einmal im schönsten Soldatenkleide prangen konnten. Alle Waffengattungen waren vertreten, von der schmucken Kavallerieuniform bis zum einfachen Rock des Infanteristen, und in buntem Zuge ging es durch die Anstalt.
Vater mußte dann jedesmal vor unserm Hause oder abends in der Festversammlung die Ansprache halten. Er hatte ja die Feldzüge 1866 und 1870 als Feldprediger mitgemacht. Seine beiden Eltern hatten die Zeit der Erniedrigung und Erhebung miterlebt; sein Vater war Freiheitskämpfer gewesen, hatte später dem Königshause nahegestanden, und auch Vaters eigener Weg hatte ihn in enge Verbindung mit dem Königshause gebracht. Darum brauchte er bei solcher Gelegenheit nur in die Fülle hineinzugreifen, um alle Herzen zu entflammen und für Vaterland und König auflodern zu lassen. In solcher Stunde spürten wir, daß die Welt, die weite große Völkerwelt,[S. 306] nur der lieben kann, der seinem eigenen Volk und Land bis in den Tod in treuster Liebe ergeben ist, und daß Krieg und Kampf dem großen Ratschluß Gottes, den er zum Heil der Völker gefaßt hat, nicht widersprechen, sondern als unentbehrliche Glieder sich hineinfügen.
Wie oft hat Vater uns bei solcher Gelegenheit zugerufen: „Nie haben Frankreich und Deutschland sich in den letzten siebzig Jahren so viel Gutes getan wie im Kriege von 1870 und 71.” Wenn er das aus tiefster Überzeugung heraus sagte, dann stand ihm dabei all das Elend vor Augen, das durch französische Mode, französische Literatur, französische Leichtfertigkeit in den Jahren des Friedens über Deutschland gekommen war. Und immer wieder erinnerte er daran, wieviel edles deutsches Blut langsam dadurch zugrunde gegangen sei, erst an der Seele, dann auch am Leibe; nicht schnell durch ehrliche gegnerische Kugel oder kühnen Schwerthieb getötet, sondern allmählich vergiftet, unter den Tränen der Eltern, unter eigenem, unsagbarem Herzeleid in das Grab gesunken. Ihm galt ein braver Soldatentod doch ganz etwas anderes vor Menschen und auch vor Gott. Und eine lange träge Friedenszeit hielt er für weit verderbenbringender als einen blutigen Krieg.
Immer wieder erinnerte auch Vater daran, wieviel Wohltaten, wieviel Freundlichkeit sich Freund und Feind am Abend nach den Schlachten und in den Lazaretten erwiesen hatten, und mahnte, über den Scheußlichkeiten und Schrecknissen des Krieges diese Wohltaten nicht zu vergessen.
Wenn er dieses Thema anschlug, dann erzählte er wieder und wieder die Geschichte des Franzosen, der am 18. August 1870 mit zerschossenem Oberschenkel auf dem Schlachtfelde von Gravelotte lag. Die Nacht war schon hereingebrochen. Die Lagerfeuer der Brigade Goltz, die die Höhen über Jussy besetzt hatte, brannten. Der Franzose lag, ohne einen Laut von sich zu geben. Man hatte ihm gesagt: „Fällst du in die Hände der Deutschen, dann machen sie dich tot.” Aber schließlich brachte ihn die schmerzende Wunde doch zum Stöhnen. Einige 55 er gingen dem Stöhnen nach und fanden schließlich den armen, vor Todesfurcht am ganzen Körper zitternden Menschen im Gebüsch. „Ich habe auf keine Preußen geschossen,” rief er, „ich habe auf keine Preußen geschossen!” Schnell war der Notverband angelegt, im Gebüsch wurden ein paar Stangen zur Tragbahre [S. 307] geschlagen, und dann ging es behutsam in der Dunkelheit den Berg hinunter. Der arme Mensch wußte nicht, wie ihm geschah. Immer wieder rief er: „Ich habe auf keine Preußen geschossen.” — „Gewiß”, sagte Vater, der neben der Bahre herging, „hast du auf die Preußen geschossen; ich habe ja dein Gewehr gesehen, das ganz schwarz von Pulverdampf war; und du hast ja auch nur deine Pflicht getan.” Das konnte er nun nicht leugnen und rief: „Ich werde aber ganz gewiß nie wieder auf die Preußen schießen; ich werde ganz gewiß nie wieder auf die Preußen schießen.” — So kam man unten in Ars an der Mosel an, und erst jetzt, als der junge Franzose im Lazarett sorgsam gebettet war, hörte er auf zu zittern und fing an, an die Barmherzigkeit seiner Feinde zu glauben.
Wenn Vater solch eine Geschichte erzählte, dann löste sich vor unsern Augen der Schleier, der über dem dunklen Geheimnis des Krieges liegt. Jeder Franzosenhaß war aus dem Herzen getilgt; die helle vaterländische Begeisterung, die uns in Not und Tod auf blutigem Schlachtfelde dem Vaterlande ergeben macht, war vereint mit einer Hingabe an die ganze Menschheit, die auch den Feind ehrt und liebt.
Es kam einmal zu Vater ein dänischer Schriftsteller, der den Gedanken des ewigen Völkerfriedens vertrat. Er hoffte, bei Vater einen Bundesgenossen zu finden und von ihm eine Bereicherung seiner Gedanken zu erfahren. Vater sprach ihm seine Überzeugung aus, daß in einer sündigen Welt der Krieg eine nicht zu entbehrende Zuchtrute in der Hand Gottes sei und daß der sogenannte ewige Friede zu einem fauligen Morast werden würde, worin die ganze Völkerwelt untergehen müsse.
Er erzählte ihm dann die Geschichte seines Vaters, wie der 1813 die Kugel durch die Brust bekam und im Laufe seines Lebens immer wieder infolge dieser Verwundung schwer erkrankt sei. Aber diese Krankheitszeiten seien die größten Segenszeiten für die ganze Familie gewesen. In ihnen habe die Mutter beten gelernt und die ganze Familie mit ihr. Diese Kugel habe sie alle zu Gott geführt. Und nie, nie möchte er diese Kugel entbehren. So sei es auch im Leben der Völker. Die tödlichen Wunden, die sie sich untereinander schlügen, mußten ihnen doch schließlich zum Segen und zum Gewinn gereichen, wenn sie sich unter Gottes Hand beugen lernten.
Der Däne war aufs bitterste enttäuscht. Er hatte etwas anderes bei Vater vermutet. Seine Einwendungen wurden immer erregter und kräftiger, und auch Vater hatte mit Ingrimm zu kämpfen. Was dem Dänen selbst als das Hochziel der Barmherzigkeit, Milde und Friedfertigkeit erschien, empfand Vater als Weichlichkeit, Verzerrung und Verirrung.
Schließlich sprang der Däne auf, stellte sich vor Vater hin und rief erregt: „Herr Pastor, jetzt denken Sie sich einmal, wir hätten im Kriege 1864 gegeneinander gefochten, Sie auf preußischer, ich auf dänischer Seite, und ich hätte Ihnen die Kugel durchs Herz gejagt und jetzt begegneten wir einander am jüngsten Tage vor Gottes Angesicht! Was würden Sie mir dann sagen?” Da streckte Vater dem Dänen die Hand hin und sagte: „Hab’ Dank, lieber Bruder, für die gute Kugel.” Dem Dänen stürzten die Tränen in die Augen, er schlug in die Hand ein, nahm seinen Hut und ging, ohne ein Wort zu sagen, davon. Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört.
Höhepunkte des Gemeindelebens wurden immer wieder die Jahresfeste der drei Schwesteranstalten. Im Frühling das Fest des Diakonissenhauses, im Herbst das Fest der Brüderanstalt und dazwischen im Sommer das schönste von allen, das Bethelfest. Bei den Brüder- und Schwesternfesten erschien mir immer wieder nicht die Einsegnung als das Schönste des Tages, sondern das mittägliche Liebesmahl. Da war es Sitte, daß die Eltern, deren Sohn oder Tochter eingesegnet wurden, ihr Kind am Tisch zwischen sich hatten zum Zeichen, daß sie selbst mit eigenem Willen und mit ganzer Freude ihr Kind Gott und seiner Gemeinde zum Opfer brachten, nicht um es fortan zu entbehren, sondern um nur desto fester im Dienst des gemeinsamen Herrn mit ihm verbunden zu sein. Das brachte dann Vater immer in Worten zum Ausdruck, die die tiefsten Saiten des Elternherzens zum Klingen brachten und Eltern und Kind in dem Augenblick, wo dieses aus dem Elternhause heraus und in den Dienst der Kirche trat, nicht trennten, sondern aufs engste aneinanderknüpften.
Freilich auch die nachfolgende Einsegnungsfeier entbehrte ihrer unvergeßlichen Eindrücke nicht, namentlich wenn Vater die Jünglinge und Jungfrauen des Landes, die bei solcher Gelegenheit von nah und fern sich einzustellen pflegten, mit herzandringendem Ernst in den Dienst an den Elenden einlud.
Der Hauptfreudentag jedoch war das Betheljahresfest, das in erster Linie der Anstalt für Epileptische galt, aber mehr und mehr zu einem Dank- und Jubelfest der ganzen Gemeinde wurde. Der Kreis der Bänke draußen in der Waldkirche mußte immer größer gezogen werden, um die Schar der Feiernden zu fassen. Bisweilen erweiterte sich das Fest auch zu einer Feier der Jünglings- und Jungfrauenvereine des ganzen Landes. Zu Fuß, zu Wagen und mit Extrazügen der Eisenbahn kamen sie unter Lieder- und Posaunenklängen gezogen.
Dann war es wunderschön zu sehen, wie die Epileptischen in der Mitte des Platzes saßen, und rings umher, wie ein starker Wall und die Mauer einer Festung, hatten die Chöre der Sänger, Sängerinnen und Bläser ihren Platz, bis zu zweitausend an der Zahl, und hinter ihnen die andern Festfeiernden. Und noch schöner war es zu hören, wie die Lieder und Chöre der Gesunden und Kranken miteinander wechselten. Tiefer aber als alles, was die Gäste zu bringen hatten, ging uns jedesmal der Psalm der Epileptischen zu Herzen: „Wenn der Herr die Gefangenen Zions erlösen wird, dann werden wir sein wie die Träumenden.” Und wieder und wieder blieben die Blicke der Gäste haften an den schwermütigen Gestalten, von deren Lippen aus tiefster Seele die Schwermutsklänge kamen: „Herr, wende unser Gefängnis, wie du die Wasser gegen Mittag trocknest!” Stets war ein auswärtiger Freund der Gemeinde geladen, um die Hauptpredigt zu halten. Den Schluß machte dann Vater. Zwei Klänge waren es, die er bei dieser Gelegenheit immer wiederholte. Der eine hieß: Unsere Rechnung ist schlecht, aber recht. Schlecht, wenn wir auf uns selbst sehen, auf unsere Versäumnisse und unser Versehen. Aber recht, wenn wir auf den Herrn sehen und seine wunderbare Durchhilfe. „Habt ihr je Mangel gehabt?” fragte er dann in die epileptischen Kinder hinein. „Habt ihr je Mangel gehabt dies Jahr über?” „Herr, nie keinen!” Und dann gab es immer wieder ein Fragen in die Gemeinde hinein nach all den Wohltaten, die das Jahr gebracht hatte, und die Antworten, die aus den Bänken der Epileptischen kamen, wollten kein Ende nehmen über dem, was jeder immer noch mehr zu nennen und zu danken hatte. Und darum war immer der zweite Klang: „Jedes Jahr ein Klagelied weniger und ein Loblied mehr.”
Einer der eigenartigsten Freudentage, die die Gemeinde erlebt [S. 310] hat, war der Besuch des Kaisers und der Kaiserin am 18. Juni 1897. Die Kaiserin kam vom Bahnhof aus unmittelbar nach Bethel, ging dort in ihrer wahrhaft mütterlichen Art von Haus zu Haus, von Bett zu Bett, und wir werden es nie vergessen, wie ihr im Anblick der Elenden die Augen übergingen. Währenddessen fuhr der Kaiser in seinem schönen Vierergespann mit Vater nach Wilhelmsdorf hinaus. Seiner Eigenart entsprechend vertiefte er sich sofort mit höchstem Interesse in die Entwicklung und den Stand der Kolonie und in das ganze Problem der „Brüder von der Landstraße”, gleichzeitig in hohem Maße angezogen und angeregt von Vaters sprudelnder Frische. „Hätten wir doch”, so rief er, Vater auf die Schulter klopfend, seiner Umgebung zu, „in jeder Provinz einen solchen Mann, es stände anders im Vaterlande!” Von Wilhelmsdorf kam dann der Kaiser noch zu kurzem Besuch nach Bethel, wo er sich mit der Kaiserin auf dem Festplatz im Buchenwalde zusammenfand. Zweitausend Bläser, zehntausend Sänger und Sängerinnen der christlichen Jünglings- und Jungfrauenvereine des Landes bildeten den Festchor, der vom Posaunen- und Sangmeister Kuhlo hoch vom Stamm einer Buche aus mit blitzendem Messingstabe geleitet wurde. Tief ergreifend war es, mitzuerleben, wie die Wellen der Vaterlandsbegeisterung verschlungen wurden von der Hochflut der Töne zur Ehre Gottes und seines unvergänglichen Reiches.
Weihnachten aber ging natürlich über alles. Da war am heiligen Abend in der Zionskirche die ganze Gemeinde zur Christfeier versammelt. Wie wußte Vater dann unsere Herzen zur Dankbarkeit zu stimmen gegen Gott, der uns seinen Sohn zum Heiland gab, und gegen die Menschen, die gerade zu Weihnachten in immer wachsendem Maße der Gemeinde der Epileptischen ihre Liebe erwiesen! Das ganze Herz voll innerem Jubel gingen wir heimwärts, um dann in den einzelnen Häusern noch besonders zu feiern.
Auf manchen Stationen der Kranken hatte schon an den vorhergehenden Tagen die Feier stattgefunden, damit ein Haus mit dem andern sich freuen konnte an dem Strom der Liebe, der zu Weihnachten von draußen her in die Gemeinde hineinflutete, und um die kleinen mit so viel Mühe und Freude einstudierten Darstellungen und Deklamationen der Kranken miteinander zu erleben und die Güte Gottes zu preisen. Wir werden [S. 311] es nie vergessen, mit welcher Kindlichkeit, Inbrunst und Anbetung dann Vater mit den Kindern des Kinderheims, mit den Elendesten und Ärmsten von Patmos, mit den ganz Schwachen von Eben-Ezer, mit den Gemütskranken von Morija vor der Krippe kniete, um ihnen alle einzelnen Figuren zu erklären, und wie er uns alle, Kranke und Gesunde, hineinzog in das selige Geheimnis: „Gott ist geoffenbaret im Fleisch.”
Vaters bereits erwähntes Wort „Die Anstalt gehört der ganzen Christenheit!” war aus seiner innersten Überzeugung heraus gesprochen. So sah er die Aufgabe der Anstalten und darum auch seine eigene Aufgabe an. Er für seine Person gehörte wirklich der ganzen Christenheit, ja der ganzen Welt stand er als Schuldner gegenüber. Seine Liebe kannte keine Grenzen, darum war auch sein Arbeitsfeld unbegrenzt. „Laßt es euch gern sauer werden!” konnte er uns gelegentlich zurufen. Es war in der Tat ein saures Leben, so von aller Welt vom Morgen bis zum Abend um Hilfe angegangen zu werden und niemals ein Ende zu sehen. Aber geklagt hat er nie darüber. Er ließ es sich wirklich gern sauer werden. Es war ihm immer eine Freude, wenn er um etwas gebeten wurde. Er machte es jedem leicht, ihm mit einem Anliegen zu kommen, welcher Art es auch war.
Wie konnte er uns unsere Wünsche, unsere kleinen und großen Nöte entlocken! Für sorgenvolle, traurige Angesichter, die in sein Haus kamen oder ihm unterwegs begegneten, hatte er immer das Auge der zartesten Liebe. Dann konnte seine Stimme den Klang annehmen, mit dem die Mutter ihrem verzagten Kinde seine Last, sein Geheimnis entlockt. „Hast du einen Kummer? Darfst ihn mir wohl sagen; — vielleicht nur ein Kümmerchen? ein ganz kleines Kümmerchen? Ich sage es auch niemand.” Manchmal wurde schon allein über solchem Klang der Kummer zum Kümmerchen, das Kümmerchen zum kleinen Kümmerchen und verschwand wie der Nebel im Schein dieser sonnenhaften Liebe.
Aber wer dann doch mit einem Schmerz, einem Anliegen, einem Wunsch herauskam — ungetröstet ging keiner von ihm. Er gab immer etwas. Er konnte natürlich nicht alle Bitten[S. 312] erfüllen, die an ihn herankamen. Aber ganz leer ging man niemals davon, es mochte nun ein Briefchen sein, das er einem aufgeregten Kranken an seinen Hausvater mitgab, oder ein Ratschlag oder ein kurzer väterlicher Zuspruch — etwas bekam jeder mit.
Und niemals war er in Hast. Auch wenn im letzten Augenblick der Abreise jemand kam, niemals gab es ein rasches Abweisen. „Liebes Herz, komm ein andermal wieder! Du siehst, ich habe jetzt knappe Zeit.” Aber eben wiederkommen, man durfte immer wiederkommen! Kam jemand mit äußeren Anliegen, so blieb es sein Grundsatz, nicht zu leihen, sondern entweder zu schenken oder Arbeit zu geben. Er hatte es seit Paris zu oft erfahren, daß man ihn immer wieder angeborgt, ihm aber fast nie zurückgegeben hatte. Natürlich machte er auch Ausnahmen von diesem Grundsatz, aber nur in sehr seltenen Fällen. Kam ein Schneider, der um Hilfe bat, so verfiel Vater immer wieder auf den Ausweg, sich eine Weste machen zu lassen. Einen ganzen Anzug konnte er nicht anwenden, aber eine Weste, eine Weste! „Lieber Freund, können Sie mir wohl eine Weste machen?” Als er seine Augen geschlossen hatte, war die unterste Lade seiner Kommode ganz voll von Westen!
Bei solcher Hilfsbereitschaft konnte es natürlich nicht anders sein, als daß sein Schreibtisch sich immer aufs neue füllte mit Bittbriefen der verschiedensten Art und sein Zimmer mit Bittstellern von nah und fern. Für die Beantwortung der brieflichen Bitten um Rat und Hilfe erstand ihm in Missionar Layer die stille, nie ermüdende Hilfe. Bei denen, die selbst kamen, sah er es schnell den Gesichtern ab, ob er ihr Anliegen in Gegenwart seines Sekretärs und des Kandidaten erledigen konnte oder ob es unter vier Augen geschehen müsse. „Geh ins Stübchen!” hieß es dann. „Ich komme.”
Begreiflicherweise konnte es auch geschehen, daß er nicht kam, sondern im Gedränge der Arbeit den Wartenden vergaß. Sechs Stunden lang hat einmal ein armer sorgenvoller Schuster im Stübchen unter dem großen aus Holz geschnitzten Kruzifix gesessen, ohne sich ans Licht zu wagen, offenbar in dem Gefühl, daß das geduldige Warten zum ersten Teil der Hilfe gehöre. Aber als er dann endlich entdeckt wurde, ist er doppelt getrost seine Straße gezogen.
Natürlich waren es nicht immer nur Personen, sondern auch allgemeine Anliegen, die an Vater herantraten. Eine Gemeinde möchte eine Eisenbahn-Haltestelle haben und bedarf der Fürsprache beim Ministerium. Ein Kirchbau ist ins Stocken geraten. Über ein Diakonissenhaus sind schwere Irrungen gekommen. Eine Anstalt ist zerfallen mit ihrem Vorsteher. Die Außenbezirke von Bielefeld haben Rat und Tat nötig zur Errichtung selbständiger Kirchengemeinden. In Ems sind die Kurgäste ohne geistliche Versorgung und bedürfen einer Kirche. Die Waisen und Witwen der südafrikanischen Buren leiden Mangel usw. Es ist unmöglich, die großen und kleinen Nöte aufzuzählen, die von nah und fern an ihn herandrangen. Aber wo er sich einer Sache annahm, da setzte er seine ganze Person ein, unter Umständen auch seine ganze Leidenschaft. Denn jede Lieblosigkeit, namentlich wenn sie im äußeren Gewande der Frömmigkeit kam, konnte sein Innerstes aufs tiefste erregen und sein Angesicht glühend, bisweilen sogar weiß machen vor Zorn.
Oft dauerte es Jahre, ja Jahrzehnte, bis im einzelnen Fall das Ziel erreicht, der Friede hergestellt, die Gemeinde aufgerichtet, die Kirche gebaut war — aber was einmal angefangen wurde, das wurde auch durchgeführt mit großer Zähigkeit und in dem ritterlichen Sinn, der sich gerade der Schwachen am liebsten annimmt und den Kampf nicht scheut.
Vaters unermüdliche Liebe — das konnte natürlich nicht ausbleiben — weckte Gegenliebe. Weil er selbst half, wo er nur konnte, darum wurde ihm auch geholfen. Weil er selbst sich so gern bitten ließ, darum gönnte er die Freude, gebeten zu werden, auch andern.
Schon in den ersten Jahren der Arbeit in Bethel kam einmal Georg Müller, der Vater der Waisen von Bristol, zu uns. Er sprach einen Abend in der Kapelle von Sarepta. Vater fühlte sich diesem Mann des Glaubens innerlich verwandt. Doch Müllers Meinung, daß man nur Gott, aber nicht Menschen bitten dürfte, billigte er nicht. Überhaupt hatte er die Überzeugung, daß Müller sich täusche, wenn er meinte, er bäte Gott, aber nicht Menschen. Müllers ausführliche Berichte über den Fortgang seiner Arbeit, vor allem aber seine immer erneuten Nachrichten über die wunderbare Erhörung seiner Gebete[S. 314] waren in Vaters Augen ganz deutliche Bitten, die an Menschen gerichtet wurden, wenn auch in verhüllter Form.
Aber gerade diese verhüllte Form liebte Vater nicht. Er mußte an seiner Freude zu helfen alle teilnehmen lassen, und das konnte er nur, wenn er mit einer klaren, deutlichen Bitte an die Türen und an die Herzen klopfte. Darum trat er auch stets für die Notwendigkeit und das Recht der Hauskollekten ein und wurde nicht müde, die Berufskollektanten, die tagaus, tagein in Hitze und Frost und Regen ihre Sammelwege gingen, für ihren mühseligen, entsagungsvollen Dienst zu ermuntern. Daß er nur im Aufblick zu Gott bei den Menschen anklopfen konnte, verstand sich für ihn von selbst.
Wie oft trat er mitten aus der Arbeit ganz unvermerkt an sein Fenster! Wir wußten, was da vor sich ging. Aber es blieb sein und auch unser Geheimnis. Von seinem persönlichen Gebetsleben hat er nie gesprochen. Er hat die großen Verheißungen, die dem Gebet geschenkt sind, immer wieder vor der Gemeinde und im Familienkreise gepriesen, aber nie zum Gebet gedrängt. Er wußte, daß dies Größte, Heiligste, Gewaltigste, durch das Erde und Himmel bewegt werden, ohne alles Zutun eines Menschen entsteht. Darum waren ihm auch die öffentlich abgekündeten Gebetsversammlungen wesensfremd. Für ihn war das Gebet das große Vorrecht der Gemeinde, des Familienvaters, jedes einzelnen Christen und der kleinen verborgenen Häuflein, aber eine öffentliche Abkündigung des Gebetes liebte er nicht und nahm darum auch nicht an diesen Veranstaltungen teil.
Die große Zuversicht aber, mit der er in der Verborgenheit oder mit der ganzen Gemeinde Gott um seine Hilfe bat, machte ihn nun auch zuversichtlicher, die Menschen zu bitten. Was er Gott gesagt hatte, warum sollte er das nicht Menschen sagen? Da kannte er keine Grenzen und kein Geheimnis. Die Hilfe, die er suchte, war nicht Geld, sondern Menschen. „Ein Tröpflein Liebe”, sagte er oft, „ist mehr wert als ein ganzer Sack voll Gold.” Um Liebe warb er. Hatte er sie gewonnen, so waren natürlich Geld und Gut und jede Art irdischer Hilfe auch gewonnen. „Ich suche nicht das Eure, sondern euch”, das drang durch alle seine Bitten hindurch. Und wie taten sie unbeschreiblich wohl! Hier wurde das Herz in seiner Tiefe bewegt. Hier wurde der Mensch nicht immer wieder erinnert an[S. 315] sein armes, totes Geld, sondern befreit von seinem Geld, emporgehoben über sein Geld und zu lebendiger Mitarbeit berufen mit allem, was er war und hatte.
Dieser persönliche Klang zog sich durch alle seine Berichte. Man fühlte ihnen ab: sie sind nicht mit der Absicht geschrieben, Geld herauszuschlagen. Sie gingen tiefer als ins Portemonnaie, sie drangen ins Gemüt, ins Gewissen, in die Welt der Gedanken und des Willens, in das Innerste der Person. Und immer waren sie so geschrieben, daß auch der Geringste sie verstehen konnte.
Schon in Basel hatte er die Batzen-Kollekte kennen gelernt. So führte er kurz nach seinem Eintritt in Bethel die Pfennig-Kollekte ein. Jedesmal zehn Freunde der Arbeit erklärten sich bereit, wöchentlich fünf Pfennig für die Pflege der Epileptischen beizusteuern. Einer von den zehn übernahm das Einsammeln und die Verbindung mit Bethel. Oft war es eine Witwe oder ein Krüppelkind, die den Mittelpunkt eines solchen kleinen Kreises bildeten, wöchentlich von Haus zu Haus zogen, um die Gaben in Empfang zu nehmen, und alle Vierteljahr das Blatt mitbrachten, das aus der Arbeit in Bethel berichtete.
Nie ging Vater auf mächtige, wohlhabende, angesehene Persönlichkeiten in erster Linie aus, sondern immer vor allem auf die Kleinen, Schwachen, Geringen. Es besuchte ihn einmal ein Pastor, der für ein großes Hilfswerk eine Stadt nach der andern bereiste, aber nur zu den Reichen ging, nur große Gaben wünschte und auch bekam. Aber es waren nur einmalige Gaben. Nach kurzer Zeit brach das Werk zusammen. Es war nicht in der Tiefe gegründet gewesen. Vater konnte umgekehrt eher erschrecken, wenn er eine ganz große Gabe bekam. Wie, wenn das bekannt würde?! Dann würden seine kleinen Gehilfen und Mitarbeiter hin und her im Lande denken können, ihr Dienst sei jetzt unnötig, während doch gerade aus den kleinsten und verborgensten Quellen und Rinnsalen der Strom entstand, der die immer wachsende Last des Elends, die sich in Bethel sammelte, auf starkem Rücken trug.
Diese Überzeugung, daß die kleinsten Mithelfer die sichersten seien, gab dann auch wieder und wieder die glückliche Form für seine Bitten. Als es sich um den Bau einer Wasserleitung handelte, berechnete er genau die Wassermenge und die Kosten der Leitung. Es stellte sich heraus, daß die neue Anlage[S. 316] täglich 50 000 Liter liefern würde und daß zu ihrer Fertigstellung rund 50 000 Mark nötig seien, also für jeden Liter eine Mark. Damit war die Bitte gegeben:
„Ein Liter kalten Wassers!
Vor zehn Jahren haben die Freunde der epileptischen Kranken uns schon einmal ein köstliches Weihnachtsgeschenk gemacht in Gestalt eines frischen Wassertrunkes, da sie uns eine Gebirgsquelle kaufen und in unsere Anstalten leiten halfen. O wie dankbar waren wir, als zu Weihnachten das frische Wasser in unsern Häusern plätscherte! In den zehn Jahren ist aber die Zahl unserer Anstaltsglieder von 1000 auf 3000 Seelen gewachsen, und was damals reichte, reicht heute längst nicht mehr. Aus vielen Häusern dringt mir jetzt, sooft ich mich sehen lasse, der Ruf entgegen: „Wasser! Wasser!” Wer jemals diesen Ruf von den Lippen armer Verwundeter und Sterbender in den heißen Schlachttagen 1866 und 1870 vernommen hat, der vergißt ihn nie! Aber auch in Friedenstagen tut ein solcher Ruf weh. Frisches Wasser ist namentlich für Kranke eine sehr große Wohltat.
Brunnen graben hilft bei uns nichts, sie versiegen im Sommer. Wir haben, um uns zu helfen, eine zweite Wasserleitung aus dem Gebirge zu legen beschlossen. Dazu aber mußten wir in den sauren Apfel beißen und einen kleinen Bauernhof kaufen, der ein Recht auf das Wasser hatte und der auf keine andere Weise das Wasser abgeben wollte. Das wird ja nun freilich teures Wasser! Mit den Kosten der Leitung müssen wir mindestens 50 000 Mark dafür ausgeben, bekommen dann aber auch täglich 50 000 Liter köstliches Gebirgswasser, also für je eine Mark Anlagekapital täglich für alle Zeit einen Liter Wasser und das ohne jede Arbeit hoch in alle Häuser hinein und außerdem den kleinen Bauernhof mit drei Häusern im Gebirge, die wieder einem kleinen Teil der immer noch so großen Zahl wartender Kranker eine so erwünschte Heimat gewähren können.
Immerhin wird es uns sehr schwer, neue 50 000 Mark Schulden auf uns zu laden. Damals haben uns etwa 12 000 Geber je 50 Pfennig geschenkt und uns so die große Weihnachtsfreude bereitet. Wie wäre es, wenn jetzt jeder Leser sammelte, um für alle Zukunft täglich unsern armen Kranken[S. 317] einen Liter frischen Wassers zu reichen! Wäre das nicht ein liebliches Weihnachtsgeschenk? Ich halte es nicht für unmöglich, daß Gott uns wiederum diese Freude bereitet, und ich wage zu bitten: Frisch ans Werk!
Den Dank überlassen wir dem, der gesagt hat: Wer dieser Geringsten einen mit einem Becher kalten Wassers tränket, wahrlich, ich sage euch, es wird ihm nicht unbelohnt bleiben.”
Einen Liter, das konnte jeder; diese Freude konnte sich auch der Geringste bereiten. Aber gerade weil die Bitte sich so zu dem Geringsten hinunterbeugte, war auch der Wohlhabende gefaßt. Konnte der Kleine einen Liter geben, dann konnte der Vermögende zehn, zwanzig, fünfzig, hundert Liter schicken. So floß bald die Wasserleitung über. Und viele neue Freunde, die bis dahin den Aufgaben von Bethel fernstanden, waren hinzugewonnen.
Als die erste Nachricht über die große ostafrikanische Hungersnot nach Berlin kam, ließ sich Vater von Missionar Döring die soeben eingegangenen Berichte auf dem Bahnhof in Berlin an den Zug bringen, um sie auf der Heimreise zu studieren. Ich mußte ihm einen Bericht nach dem andern vorlesen. Dann saß er lange mit geschlossenen Augen in der Ecke. Schließlich sagte er: „Schreib mal!” In kurzen ergreifenden Zügen schilderte er die Hungersnot und ihre Folgen. Was sollte geschehen? Sofort sollten die Missionare an der Küste Nahrungsmittel und Kleidung aufkaufen und überall den Eingeborenen gegen Arbeit abgeben. Steine sollten aus den Wegen geschafft, aus den Feldern geräumt und auf Haufen getragen werden, damit Häuser und Schulen und Kirchen daraus gebaut werden konnten. Also „Brot für Steine”. Als er fertig war, sagte er: „So, nun habe ich 100 000 Mark.” Er kannte die Herzen der Kleinen, der Armen, der Schwachen, die selbst etwas von Not und Druck wußten. Den Lohn für einen Stein, der draußen in Afrika einem hungernden Kinde ausgezahlt wurde, konnte auch das ärmste Kind sich von seiner Mutter ausbitten. Wer aber mehr geben wollte, dem waren ja keine Schranken gesetzt. In der Tat kam gerade die deutsche Kinderwelt durch diese Bitte in Bewegung. Jeder wollte helfen, damit für Steine Brot gekauft und der Hunger gestillt werden könnte. Und als schließlich die Hungersnot zu Ende ging, blieb noch so viel übrig, daß auch die[S. 318] sterbenden Familien der Buren in Südafrika mit versorgt werden konnten.
Wenn solche Bitten in die Welt hinausgingen, gab es Anstalten, deren Leitungen erschraken: „Gräbt Bodelschwingh uns nicht das Wasser ab?” Nicht immer blieb es nur bei solchen Schrecken und Befürchtungen stehen; es kam auch zu Verwahrungen, zu Protesten. Vater hatte dafür keine Empfindung. Er sah in solchen Befürchtungen einen verkehrten Sorgengeist, eine geheime Fesselung durch den Mammon. Ihm lag ja gar nicht am Gelde, ihm lag immer an der Liebe. Und die Liebe zu entfachen, war nicht nur erlaubt, das war Pflicht, das kam ja aller Welt zugut, nicht nur ihm und seiner besonderen Aufgabe. Er war überzeugt, daß diejenigen Missionsgesellschaften, die sich in ihrem Gebiet abschlossen und andere ausschlossen, gegen ihr innerstes Wohl handelten. Nur ja der Liebe keine Schranken setzen!
Und wenn man jetzt zurückschaut, so wird es in der Tat in den letzten hundert Jahren wenige Menschen gegeben haben, vielleicht keinen, die so wie Vater Liebe zu wecken wußten, Liebe, die nicht nur irgend einem kleinen Sonderbereich zugute kam, sondern die überall, wo in der Heimat oder in der Heidenwelt eine Not sich zeigte, zur Hilfe willig war. Darum wollte er nichts davon wissen, daß wohltätige Unternehmungen oder Missionsgesellschaften bestimmt umgrenzte Interessengebiete für sich allein in Anspruch nahmen und jedem andern den Zugang wehrten.
Das hat sich auch in der engeren Heimat Bethels, im Ravensberger Lande, gezeigt. Als die Anstalt gegründet wurde, stand mancher der führenden Männer des Landes mit Sorge beiseite. Würden die Werke der inneren und äußeren Mission, die im Lande angefangen waren, nicht durch das neue Unternehmen zu leiden haben? Das Gegenteil ist Wirklichkeit geworden. Zu den bestehenden Anstalten im Lande sind nicht nur die von Bethel hinzugekommen, sondern noch eine nicht geringe Anzahl neuer Pflegestätten, wie die schon erwähnte Anstalt Pastor Krekelers im Wittekindshof und die unter Pastor Siebold zu einem selbständigen Zweige gewordene Waisen- und Fürsorgeanstalt Eickhof in Schweicheln und viele kleine Pflegehäuser in einzelnen Gemeinden. Sie leben alle und werden leben, solange und in dem Maße, als Glaube und Liebe da sind.
Für die Freudigkeit und Willigkeit der Freunde im Lande war es natürlich von großer Bedeutung, daß sie wissen konnten: Man geht mit der Hilfe, die wir bringen, in Bethel sorgsam um. Vater selbst hätte nicht mit solch freudigem Gewissen immer wieder bitten können, wenn er nicht innerhalb der Anstalt unablässig zu größter Treue gegenüber dem anvertrauten Gut angehalten hätte.
Und die Kräfte der Freunde konnten nur wachgerufen und wachgehalten werden, wenn auch in Bethel selbst immer wieder alle Kräfte willig und munter blieben. Als die Wasserleitung gebaut wurde, sah man Vater, seinen ältesten Enkel an der Hand, beide mit dem Spaten auf dem Rücken, an die Arbeit ziehen, um den Graben für die Wasserleitung ausgraben zu helfen. Natürlich wollte jetzt keiner zurückstehen. Es war ein Helfen und Wetteifern von Kranken und Gesunden, bis die ganze 2500 Meter lange Leitung aus dem Berge herangeführt und der Graben wieder zugeworfen war. Aber wenn dann Vater abends die Leitung entlang ging und fand noch Arbeitsgeschirr, das nicht weggenommen war, wie konnte er dann noch denselben Abend an den Hausvater, der mit seinen Leuten an der betreffenden Strecke gearbeitet hatte, ein Briefchen schicken, das durch Mark und Bein ging!
Und doch war diese Sorgsamkeit im Kleinen nicht kleinlich. Ein enges Gewissen und ein weites Herz blieben miteinander geeint. Er blieb der Vater. Es war nichts vom Aufseher, vom Aufpasser in ihm. Er erzwang nicht mit Gewalt eine Treue im Kleinen, wo er sah, daß sie Zeit haben müsse zu wachsen. Und nie sollte die Sparsamkeit die Freude und die Schönheit und den Frieden beschränken. Hätte er immer Zeit gehabt, sich jedes einzelnen Baues anzunehmen, so wäre mancher einfacher ausgefallen. Aber er ließ auch dem Baumeister Freiheit und beschränkte seine Freudigkeit nicht.
Für das Vertrauen der einzelnen Mitarbeiter am Elend aber war es schließlich von großem Wert, zu wissen, daß ihre Schultern nicht mit Aufgaben belastet wurden, die eigentlich von andern hätten geleistet werden müssen. Darum zog Vater von Anfang an und wo er nur konnte, die staatlichen Organe zu Mitarbeitern heran. Aber auch seine Eingaben an die Behörden trugen immer den persönlichen Ton, der an die Herzen drang.
Und immer unterstützte er die schriftlichen Bitten dadurch, daß er selbst kam. So suchte er einige Herren des Provinzial-Landtages in Münster morgens früh in ihrem Hotel auf, noch ehe sie aufgestanden waren, brachte ihnen ihre Stiefel ans Bett und gewann sie dann für seine Anliegen. „Sie sind ein gefährlicher Mensch”, sagte ihm einmal der Finanzminister Miquel, der pflichtgemäß immer die Sache vor die Person stellte, aber sich doch der persönlichen Glut nicht entziehen konnte, mit der Vater seine Angelegenheit vertrat.
Wie bei den Freunden im Lande, so war es auch, wenn er in die Regierungsgebäude, die Konsistorien und Ministerien kam, immer seine Art, von unten anzufangen. Die Pförtner, die Kanzlisten waren seine besonderen Freunde. Sie kannten ihn alle, sie taten ihm alles zu Gefallen. Sie wiesen ihm die Wege zu den Räten und Geheimräten, an die er sich im einzelnen Falle zu wenden hatte, und von diesen stieg er dann auf zum Präsidenten und Minister. Dieser Einfalt der Liebe, mit der Klugheit der Schlange gepaart, konnte auf die Dauer niemand widerstehen. Sie machte sich alle untertan, sodaß der Regierungspräsident von Minden im Blick auf sich und seine Beamten einmal scherzend sagte: „Wir haben die Ehre gehabt, unter Herrn von Bodelschwingh zu dienen.”
Einmal kam von Oberschlesien her ein epileptischer Knabe, Ferdinand Hintze, ganz allein angereist, nur mit einem Schild auf der Brust, auf dem die Bahnbeamten gebeten wurden, dem Jungen auf der Reise behilflich zu sein. Der kleine Ferdinand war denn auch von allen Zugführern und Schaffnern so freundlich behandelt und sicher geleitet worden, daß er bis an sein Lebensende nichts anderes werden wollte als Zugführer. Dieses Pappschild schickte Vater dem Eisenbahnminister ein, erzählte ihm, wie es dem Jungen ergangen sei und wie dankbar dieser wäre für alle ihm widerfahrene Hilfe, und schloß daran die Bitte, daß der Minister in den Fußtapfen seiner liebenswerten Beamten nun allen Epileptischen die große Liebe erweisen möchte, ihnen eine Fahrpreisermäßigung zu gewähren. Die Bitte schlug durch, sodaß seitdem alle Fallsüchtigen und andere mittellose Kranke mit ihren Begleitern zu halbem Preise reisen können, eine Wohltat, die Vater schon einige Jahre vorher allen deutschen Krankenpflegern und -pflegerinnen beider Konfessionen erkämpft hatte.
So wurde er der Bettelmann, von dem die Kinder deklamierten: „Edelmann, Bedelmann, Doktor, Pastor, Kutscher und Bauer und Lumpenmajor.” Und wenn er ein Bettelmann war, der immer wieder kommen durfte, so lag das an seiner tiefen Dankbarkeit. Er durfte bitten, weil er danken konnte. Und auch beim Danken dankte er immer für die Liebe, nie bloß für das Geld. Den Geber meinte er, nicht nur seine Gabe. Ganz unabsehbar ist die Fülle der Briefe, die er bittend und dankend schrieb und die doch immer wieder einen neuen Klang hatten, weil ihm Bitten und Danken nie zum Geschäft wurde, sondern zur täglich neuen Freude, die Gott ihm schenkte. So finden sich in dem Heft der Stenogramme aus Dezember und Januar 1891/92 u. a. folgende Diktate:
An Herrn Clemens Fischer, Bremen.
16. 12. 91.
Hochverehrter Herr!
Glauben Sie ja nicht, daß ich mich durch Ihre und Ihrer Mithelfer Gabe enttäuscht fühle. Wenn die Wohlhabenden und Reichen dieser Welt überall so willig wären, Becher kalten Wassers einzuschenken, wie Sie es gehofft haben, so würde das nicht gut für uns sein. Wir würden aufhören, arme Leute zu sein. Das Armsein ist uns recht nötig.
Ich habe neulich einmal an 57 Millionäre geschrieben und einen Beitrag erbeten für ein Krankenhaus in Ostafrika, wo drückende Not herrscht und das wir auch mit unsern Brüdern und Schwestern bedienen, die ihr Leben daran wagen. Aber von allen 57 habe ich keinen Pfennig für diesen Zweck empfangen. Da muß ich Ihre Ernte doch noch als eine verhältnismäßig reichliche ansehen und danke Ihnen doppelt für Ihre Liebe. Gott schenke Ihnen ein fröhliches, seliges Weihnachtsfest und eine Liebe, die nicht müde wird, auch wo man Enttäuschung erfährt.
Ihr Ihnen und allen Helfern Ihrer und unserer Freude innig dankbarer
B.
Zusatz zur Weihnachtsbitte für das Bielefelder Sonntagsblatt. 1891.
Übrigens möchten wir nicht allein für uns hier bitten, sondern ebenso für alle andern Anstalten der Innern Mission, die einem jeden der lieben Leser die nächsten sind. Außerdem[S. 322] möchte ich auch wiederum gern unsere Westfalen an einen fernen Westfalen erinnern, den Hausvater Meyer in Osterode in Ostpreußen mit seinen ostpreußischen Waisenkindern. Er hat seit vielen Jahren sich Weihnachten freuen dürfen, daß Westfalen ihn nicht vergessen hat. Und der gleichen Liebe und alten Treue empfehle ich auch das Waisenhaus Ducherow in Pommern.
An acht Geschwister in Berlin.
16. 12. 91.
Meine geliebten Kinder!
Wie freue ich mich, daß Ihr auch in diesem Jahre wieder treu gewesen seid. O ja, Treue ist eine ganz besonders köstliche Sache vor Gott. Er wolle Euch alle acht treu machen in allen Stücken, in der Liebe zu Gott und zu Euren lieben Eltern, aber auch in der Liebe zum Nächsten. Er wolle Euch treu machen im Gehorsam, treu in der Arbeit, treu im Glauben bis ans Ende. Wie freue ich mich auch, daß ich am Weihnachtsabend unsern lieben Kranken sagen kann, daß Ihr wiederum um ihretwillen ein Jahr willig den süßen Zucker entbehrt habt, um ihnen ein fröhliches Weihnachtsfest bereiten zu helfen. Ich schicke Euch hiermit einige Büchelchen und Bildchen von unserer Anstalt. Grüßt mir auch Euren lieben Vater und Eure liebe Mutter und dankt ihnen auch herzlich, daß sie zu Eurer Gabe das gleiche zugelegt haben.
Es gedenkt Euer in dankbarer Liebe Euer
B.
An Fabrikarbeiter in Iserlohn.
18. 12. 91.
Unter den mancherlei schmerzlichen Erfahrungen von Gleichgültigkeit gegen die Not der Brüder ist es mir eine ganz besondere Ermunterung und Stärkung in unserer Arbeit gewesen, daß in Iserlohn unter denen, die selbst nicht reich an Gütern dieser Welt sind, ein solches Liebesfeuer erwacht ist, an unsere armen Kranken zu denken. Wer selbst arm ist, weiß auch am besten, wie es andern Armen zu Mute ist. Ich will unter dem Weihnachtsbaum unsern Kranken erzählen, was Iserlohner Fabrikarbeiter für sie tun. Das wird unsere Kranken erfreuen und beschämen und dazu dienen, daß sie desto stiller und geduldiger ihr schweres Leiden tragen.
Es grüßt Sie alle in dankbarer Liebe und wünscht Ihnen ein reich gesegnetes, friedevolles Weihnachtsfest
Ihr B.
Liebe Dorothea, liebe Gertrud!
24. 12. 91.
Ich habe Euer kleines Paket bekommen und danke Euch herzlich für die 10 Mark, die Ihr für 10 Liter Wasser Euch gespart habt. Und ganz besonders danke ich Gertrud für das Hemdchen, das sie in der Schule genäht hat. Ich will es heute gleich nach dem Kinderheim tragen. Da will ich es einem kleinen schwarzen Heidenkind schenken, das vier Jahre alt ist und dem es gerade paßt. Es ist schade, daß Ihr heute nicht einmal eine Stunde in Bethel sein könnt. Da würdet Ihr etwas sehen, was Ihr noch nie gesehen habt. Da werden viele, viele hundert Kinder und Kranke an dem schönen Kripplein um den Weihnachtsbaum versammelt sein und viele schöne Lieder singen, und am Schluß wird die kleine Heidin, der ich das Hemdchen schenken will und die jetzt Fatuma heißt, getauft werden. Ein schwarzer Soldat hatte sie in Afrika gestohlen und wollte sie wie den kleinen Joseph nach Ägyptenland verkaufen. Das hat der Schiffskapitän gemerkt und sie dem Soldaten abgenommen und uns mitgebracht. Und die kleine Fatuma hat sehr schnell den Heiland liebgewonnen und ist sehr fleißig und treu im Kinderheim, die andern kranken Kinderchen zu pflegen. Nun soll sie heute abend den Namen Elisabeth bekommen.
Es grüßt Euch und Eure lieben Eltern
Euer dankbarer
4. 1. 92.
Mein teurer und geliebter Bruder und väterlicher Freund!
Ihre Simeonsgabe habe ich richtig erhalten, und unsere Kranken danken auch für diese Liebe auf das herzlichste. Der barmherzige Gott wolle den Spätabend Ihres Lebens, wo die irdische Sonne nicht mehr leuchten will, mit dem Morgenrot seines ewigen Lichtes hell machen, bis der Tag anbricht, dem kein Tag gleicht und wo alles, was hier noch dunkel ist, sich in volles Licht verwandelt.
In alter dankbarer, treuer Liebe
Ihr B.
An den wenigen Feierabenden, die ihm blieben, ließ er sich von uns vorlesen und unterschrieb währenddessen die Dankkarten. Es war oft nur ein einziger Satz, aber es lag ein Ton darin, der bis in den Grund der Seele wohltat.
Wer aber einmal in den Kreis der Freunde und Mitarbeiter eingetreten war, und wenn es auch nur mit der kleinsten[S. 324] Gabe gewesen wäre, dessen Liebe wurde festgehalten und gepflegt. „Lassen Sie mich Ihre Hand recht fest fassen”, so bat Vater immer wieder. Aber er konnte das nur, weil ihm viele treue Hände zur Seite standen. Wie die Baseler Mission ihm für die geschäftliche Leitung der Anstalt immer wieder Mitarbeiter gab, deren Treue und Tüchtigkeit auf dem indischen und afrikanischen Missionsfelde erprobt war — welche Fülle unermüdlichster Arbeit schließen auf diesem Gebiet die Namen Ostermeyer und Kehrer in sich! — so war es die Barmer Mission, durch die Missionar Heienbrok nach Bethel kam. Als Leiter des „Dankortes” blieb Heienbrok, unterstützt von einem Stabe treuer Mithelfer, immer erfinderisch, den Kreis der Freunde im Lande zu pflegen und sie durch die Schriften, die vom Dankort ausgingen, immer fester und enger an die gemeinsame große Aufgabe zu fesseln.
Die letzte Bitte, die Vater durch den Dankort aussandte, hieß:
Weihnachten!
Ein von 37 Jahre langem Bitten fast müder Mann, der dicht vor seinem 80. Lebensjahr steht, stellt sich notgedrungen noch einmal an die Spitze seiner großen Schar von Fallsüchtigen, Geisteskranken, Obdachlosen und verlassenen Kindlein und bittet in ihrem Namen: Vergeßt unser auch zu Weihnachten nicht!
Unter unsern nahezu 4000 Pflegebefohlenen haben viele niemand mehr, der zu Weihnachten an sie denkt. Darum darf ich ganz besonders für sie meine Hände ausstrecken nach den alten treuen Mithelfern unserer Weihnachtsfreude!
Ich freue mich, daß ich noch einmal diese vielleicht letzte Bitte für meine lieben Pflegebefohlenen wagen darf, und bin dankbar auch für die kleinste Gabe. Auch Spielsachen, Wäsche, Kleider, überhaupt Gaben jeglicher Art sind, je früher desto lieber, mit Freuden willkommen.
Es grüßt alle treuen Freunde in allen Landen, die im Namen des großen Freudenmeisters Herzen und Hände regen für unseres kranken, aber doch fröhlichen Weihnachtsgäste, und wartet auf die Stunde, wo die ewige große Weihnachtsfreude anbricht,
F. v. Bodelschwingh, P. em.
Bethel, Weihnachten 1909.
Die große Arbeitslast hätte Vater nicht bewältigen können, wenn ihm nicht seine Eltern eine ungemein sonnige Naturanlage mitgegeben hätten. Namentlich sein Vater konnte auch in den schwersten Lagen frohgemut sein wie ein Kind. Seine Mutter neigte dazu, die Dinge schwer zu nehmen. Aber wie erzählt, war sie in der Zeit, in der sie ihren kleinen Friedrich erwartete, von ganz besonderem Gleichmut und innerem Frieden gewesen, sodaß Friedrich von Jugend auf unter seinen Geschwistern der zufriedenste und glücklichste war.
Wie haben denn auch wir Kinder diese Freude und dies Glück genossen! Wenn Vater abends von seinen Krankenbesuchen nach Hause kam, dann packte er wohl den Kleinsten von uns, warf ihn in hohem Schwung über seine Schulter, setzte ihn rittlings auf seinen Kopf, sprang und sang in der Stube herum, bis er den kleinen Reiter mit hohem Kopsdebolder wieder auf die Erde beförderte. Oder er ließ uns Größere der Reihe nach antreten, stellte sich mit ausgebreiteten Händen hinter uns und ließ uns dann in seine Arme fallen. Dabei kam es darauf an, daß man es wagte, sich ganz tief, ohne mit den Füßen rückwärts zu treten, fallen zu lassen, den sicheren Händen des Vaters vertrauend. Wer sich am tiefsten fallen ließ, ohne zu zucken, der hatte gewonnen.
Zuweilen des Sonntags baute er auch mit uns und unserm geliebten alten Baukasten einen hohen Turm bis unter die Decke. Abends kam dann die Hauptfreude: das Sisemännchen. Er hatte aus der Zeit, wo er in Pommern hier und da einmal einen Hasen geschossen hatte, noch eine Schachtel mit Pulver übrigbehalten. Daraus nahm er eine kleine Menge, rührte sie mit Wasser an und formte sie zu einer Pyramide, die er dann hinter dem Kachelofen langsam trocknen ließ. Abends, wenn es dunkel geworden war, wurde ein Stückchen Feuerschwamm an einen Stock befestigt, das Sisemännchen oben auf den Turm gesetzt und mit etwas frischem Pulver bestreut. Jetzt kam der feierliche Augenblick, wo Vater den Feuerschwamm anzündete, den Stock mit dem brennenden Schwamm dem Kleinsten in die Hand drückte und ihn in die Höhe hob. Mit verhaltenem Atem standen wir andern um den Turm her, langsam näherte sich das glühende Stückchen Schwamm der[S. 326] kleinen Pyramide. Jetzt — si ... i. i. i. i zischte das Pulver auf, und, nach allen Seiten hin spuckend, sprühend und dampfend, verzehrte sich das kleine Sisemännchen in seiner eigenen Glut.
Zu Ostern gab es natürlich ein Osterfeuer mit den in der heißen Asche gerösteten Kartoffeln, die die Eltern besonders liebten. Die Krönung des Festes aber war allemal der Böllerschuß aus der kleinen Kanone. Sie war aus Messing und nicht länger als ein Finger. Aber das ganze Jahr über freuten wir uns auf den Augenblick, wo sie am Abend des Ostertages von Vater in Tätigkeit gesetzt wurde. Wieder mußte der Kasten mit Pulver herhalten, aus dem sie geladen und dann mit Papier zugepfropft wurde. Dann kam wiederum ein kleines Stückchen Feuerschwamm auf einen Stock, über das Mundloch wurde ein bißchen Pulver geschüttet — und nun — bumm — knallte der Schuß, daß es durch Mark und Bein ging. Aber ehe wir es uns versahen, war Vater auch schon wieder verschwunden und sann über seiner Predigt für den zweiten Ostertag. Uns aber blieb in Erinnerung an solche kurzen Augenblicke ein unbeschreibliches Gefühl des Glückes und der Dankbarkeit.
Denn wenn er sich uns gab, dann gab er sich ganz, dann waren alle Lasten abgeschüttelt, dann war er ein Kind unter uns Kindern, ein Junge unter uns Jungen. Das machte ihm überhaupt sein Leben leicht, daß er bei allem ganz war. Wenn ein armer Kranker in die Stube kam, dann konnte er sich von allem, was ihn beschäftigte, losreißen, sodaß der Kranke spürte: Hier ist nun wirklich einer, der sich meiner Sache ungeteilt annimmt, hier ist mein nächster Freund, mein hingebendster Berater, dem mein Anliegen gerade so wie mir selbst die eine große Hauptsache ist, um die sich alles dreht.
Aber auch bei den kleinen und kleinsten Dingen ging es Vater so, nicht aus einer Überlegung, sondern aus dieser glücklichen Naturveranlagung heraus, sich einem einzigen Gegenstand ganz hinzugeben. Wenn im Vorfrühling die Stare kamen und auf dem Rasenplatz vor unserm Fenster auf- und abstolzierten, dann war er ganz versunken in sie, schwatzte mit ihnen, pfiff ihnen was vor und jauchzte über die Pracht ihres Gewandes, das in der Frühlingssonne in allen Farben glänzte. Oder wenn die Grasmücke draußen vor dem niedrigen Treppenfenster ihre Jungen ausgebrütet hatte, dann lag er auf[S. 327] seinen Knien in dem geöffneten Fenster, bog den Ast mit dem Nest behutsam zu sich herüber und unterhielt sich in den süßesten Tönen mit den Kleinen im Nest, als wenn er ihr Vater wäre und nichts anderes zu tun hätte, als für die Kleinen zu sorgen.
Aber im nächsten Augenblick war er schon wieder ganz in andere Gedanken versunken. Und wie tief konnte er versunken sein in die Sache, die ihn beschäftigte. Dann hörte und sah er nichts um sich her. Dann vergaß er Essen und Trinken. Dann suchte er seine Brille und hatte sie auf der Nase, dann eilte er mit fremdem Hut und fremdem Mantel davon, ohne es zu merken, wie ein glückliches zerstreutes Kind, das ganz von einem einzigen Gegenstand gefesselt ist und die Welt um sich her vergißt.
Seine beste Ruhezeit blieb natürlich die Nacht, nicht nur die Stunden des Schlafes, sondern auch die des Wachens. Und die schlaflosen Stunden nahmen mit den Jahren immer mehr zu. Aber auch sie genoß er dankbar und nutzte sie aus. „Wenn man”, schrieb einer seiner Kandidaten, „des Morgens zu ihm in sein Arbeitszimmer trat, machte er immer einen so frisch gewaschenen Eindruck, als wenn er sich auch von innen gewaschen hätte, nicht nur von außen.” Die wichtigsten Briefe, die er am andern Tage zu schreiben hatte, durchdachte er des Nachts, sodaß es oft wie ein Strom floß, wenn er morgens um sieben in sein Arbeitszimmer kam, wo sein treuer Sekretär mit nie versagender Pünktlichkeit schon auf ihn wartete, um die Stenogramme aufzunehmen. Aber war er des Nachts mit den Aufgaben des kommenden Tages fertig, dann plagte er sich damit auch nicht über das Ziel hinaus, sondern suchte den Schlaf, indem er im Gedächtnis ein Kapitel aus der Bibel wiederholte oder sich ein Kirchenlied vornahm. Es lag ihm immer daran, das Kirchenlied ganz zu beherrschen, ohne eine Strophe auszulassen, und er ließ sich keine Ruhe, bis alle Strophen beieinander waren. Wollte die eine oder andere gar nicht auftauchen, so nahm er schließlich sein Gesangbuch zu Hilfe, das immer neben der Bibel vor seinem Bette lag. Einmal war das Gesangbuch verlegt. Da zog er sich an, und unsere Schwester, die von dem Geräusch geweckt worden war, entdeckte ihn wie einen Nachtwandler, als er unten im Eßzimmer sich das Gesangbuch holte, weil er ohne die vergessene Strophe keinen Schlaf finden konnte.
Stellte sich der Schlaf auch dann noch nicht ein, so vertiefte er sich gern in irgend ein Buch, am liebsten Treitschke oder naturwissenschaftliche Aufsätze. Überhaupt blieb das Weltall gerade in diesen schlaflosen Stunden immer wieder der Gegenstand seiner Betrachtungen und Berechnungen. Dabei nahm er einen Kubikzentimeter Sand zu 100 000 Körnern an und rechnete nun aus, wieviel Sandkörner die Erde, die Sonne und andere Himmelskörper hätten. Beim Morgenfrühstück unterhielt er uns dann mit dem Ergebnis seiner nächtlichen Berechnung und den vielstelligen Zahlen, die er für die Riesenhimmelskörper gefunden hatte, und beides war der Gegenstand seiner Bewunderung: einmal wie unendlich groß die Welt sei und wie klein doch auch wieder, weil sich ihr Maß in einer einzigen Reihe von Nullen mit nur einer Eins davor ausdrücken lasse.
Auch im Gedränge des Tages war sein Schlafzimmer oft sein Zufluchtsort, wohin er sich zurückzog. Einmal erklärte er, er hätte nun keine Zeit mehr, sich zu rasieren, und ließ sich ein paar Tage lang die Stoppeln stehen. Aber schließlich gab er unsern vereinten Bitten nach, und die stillen zehn Minuten, die ihn oben im Schlafzimmer das Rasieren kostete, bildeten ihm allmählich eine immer liebere Unterbrechung im Getümmel des Vormittags. Fröhlich gingen während des Rasierens die Gedanken mit ihm durch, sodaß er, wenn er wieder im Arbeitszimmer erschien, häufig aus vielen Wunden blutete, die er mit kleinen Läppchen Papier zuzukleben pflegte.
Zur Mittagsruhe nach Tisch, während der er mit großer Aufmerksamkeit die Zeitung las, und ebenso zu den Vorbereitungen auf die Unterrichtsstunden suchte er gleichfalls am liebsten seine Schlafstube auf, und dann immer wieder zur stillen priesterlichen Arbeit für die eigene Seele und für die ganze Gemeinde. Einmal wartete jemand auf ihn, und ich suchte ihn oben. Ganz leise öffnete ich die Tür, um ihn nicht zu stören für den Fall, daß er ruhte. Da lag er auf seinen Knien vor seinem Bett. Ich schloß die Tür wieder, ohne daß er es merkte. Seitdem wußte ich mehr denn je, woher er die Ruhe hatte in aller Unruhe und zugleich die unermüdliche Tätigkeit, die alle mit sich fortriß.
In die Nächte hinein arbeitete Vater nur sehr selten. Die Abende waren ja freilich meist auch noch nach dem Abendbrot besetzt. Aber wenn es irgend ging, wurde doch noch eine halbe[S. 329] Stunde herausgeschlagen. Dann lasen wir vor, und Vater unterschrieb die den Tag über diktierten Briefe und Dankkarten. Dabei war es erstaunlich, mit welchem tiefsten Interesse er dem Vorlesen folgte, bis die Abendandacht den Schluß machte. Die Sonntagabende aber waren die glücklichsten. Dann hockte unser jüngster Bruder auf dem Sofa zwischen Vater und Vaters Schwester, der geliebten Tante Frieda, die einige Jahre nach der Mutter Tode zu uns gezogen war. Wir andern drei Geschwister saßen um den kleinen Tisch, und dann wurden Vater und Tante Frieda geneckt! Alte und neue Erlebnisse wurden hervorgekramt, an denen das entsagungsvolle Leben unserer geliebten Tante und die sich drängenden Ereignisse in Vaters Leben so reich waren. Alle wurden in das Licht des Humors, oft auch in das Salz der Kritik getaucht. Dann schmunzelte die alte Tante vor innerstem Behagen, und Vater prustete nach seiner Art in herzlichstem Lachen — bis er schließlich, wenn die Uhr zehn schlug, aufsprang: „Gute Nacht, gute Nacht, Kinderchen, ihr seid böse Buben!”
Dieses Familienglück erhöhte sich vollends, seit aus der Ravensberger Familie von Ledebur-Crollage eine Tochter nach der andern in unsere Familie eintrat. Die ritterliche Art, mit welcher Vater seinen Schwiegertöchtern begegnete, verwandelte sich mehr und mehr in überströmende zarteste Liebe als Dank für alles, wodurch die Lebensgefährtinnen seiner Söhne den Abend seines Lebens erhellten. Er erlebte es noch, wie die Schar der Enkelkinder anfing, ihn zu umspielen, und wurde nicht satt, sich an jedem einzelnen zu erquicken. „Solch einem geliebten kleinen Kindchen zu begegnen,” sagte er einmal, als ihm eins der Enkelkinder mit ausgebreiteten Ärmchen entgegenlief, „das ist mir geradesoviel wert, als wenn ich auf einen hohen, freien Berg stiege.”
Ruhepausen im täglichen Getriebe der Arbeit waren auch immer wieder die Tage und Stunden, wo aus der Ferne Gäste bei uns einkehrten, durch die neue Anregungen kamen oder alte Zeiten wieder lebendig wurden.
Schwester Eva von Tiele-Winckler! Es war jedesmal für Vater ein Trunk frischen Wassers, sooft sie kam. Immer stärker wurde die Hoffnung, sie ganz für die Arbeit in Bethel zu gewinnen. Und schließlich, als die Kräfte der alten Mutter[S. 330] Emilie in Sarepta eine Ergänzung verlangten, und nach deren Tode gab es wirklich mehrere Jahre gemeinsamer Arbeit. Nie seit dem Verlust unserer Mutter hat Vater glücklichere Jahre verlebt als die der gemeinsamen Arbeit und des Verstehens mit dieser hochgemuten Frau. Aber schließlich siegte bei ihr die Pflicht gegen die schlesische Heimat und die dort von ihr begonnene immer mehr wachsende Arbeit.
Wie um ein fernes Kind hat Vater um sie gesorgt, für sie gebetet und sich an der Liebe erquickt, die sie wie eine Tochter ihm bis zuletzt erwies.
Tante Caroline von Zacha! Die Jugendfreundin der Mutter, mit ihrem jugendlichen Herzen, ihrem tiefen Verständnis und ihrem klugen Rat, der immer den Kern der Sache traf!
Hermann Wilm, der erste Senior des Konvikts, der, sooft er kam, mit seinem herzerfrischenden Humor alle die lieben Erinnerungen wachrief an die Frühlingstage der ersten Arbeit für Afrika und der doch nicht ruhte in der Erinnerung, sondern wie ein Sohn die gegenwärtige Freude und Last mit dem Vater teilte und zugleich mit ihm den Blick vorwärts richtete auf neues Hervorbrechen der Herrlichkeit Gottes.
Tage voll erfrischender Ablenkung brachte auch der Besuch des „Wassersuchers” von Bülow. Die Wasserleitung hatte schließlich doch nicht mehr für den immer stärker werdenden Wasserbedarf ausgereicht. So war an einer günstig erscheinenden Stelle ein Bohrloch geschlagen worden. Viel Zeit und Geld hatte man schon verbraucht, ohne daß die Bohrungen zum Ziel führten. Endlich bat Vater Herrn von Bülow, ihm die Liebe zu erweisen, uns aus der Verlegenheit zu helfen. Er kam wirklich, ließ seine Rute auf dem Felde arbeiten, wo bis dahin vergeblich gesucht worden war, und fand nach kurzer Zeit eine starke Quelle. Er stellte auch sofort die annähernde Tiefe fest, in der dann wirklich das reichlich sprudelnde Wasser gefunden wurde.
Zwei ständige Freunde von seltener Treue hatte unser Haus. Das war einmal unser Freund Nedden. Nedden[S. 331] stammte aus angesehener Familie, hatte mit Pastor Stürmer zusammen die Sexta des Gymnasiums besucht, war dann aber in seiner körperlichen und geistigen Entwicklung stehen geblieben. Er arbeitete den Tag über unten in der Ökonomie, hauptsächlich mit dem Waschen der Rüben für die Kühe beschäftigt, und nur morgens und abends kam er zu kurzer Hilfeleistung in unser Haus. Alle Glieder schienen ihm verkehrt angewachsen zu sein, mühsam trug er den kleinen schweren Körper auf den schleppenden Füßen, und aus dem übergroßen Kopf schielten ein paar glanzlose Augen hervor.
Aber welches Feuer lebte in dieser unscheinbaren Gestalt, immer bewegt in Gedanken um die höchsten Dinge! Den Feierabend und Sonntag brachte er über seinen geschichtlichen Büchern zu, die er sich von uns holte. Die Erträge seiner Forschungen, in denen richtige und verkehrte Beobachtungen in der komischsten Weise durcheinandergemischt waren, teilte er dann in vertraulichem Gespräch teils unserm Vater, teils den andern Hausgenossen mit. Die Worte seiner Weisheit waren all die Jahre, die er bei uns aus- und einging, eine nicht endende Quelle der Erheiterung. Auch als seine Beine ihn nicht mehr tragen konnten, blieb er der Hausfreund, der allemal an seinem Geburtstag im Rollstuhl an unserm Kaffeetisch erschien und mit größtem Behagen sich die kleinen Zeichen unserer Freundschaft und Dankbarkeit gefallen ließ.
Und dann Schwester Klara! Sie wohnte in dem kleinen Pförtnerhause der Anstalt, das hart an der Straße am Eingang in unsern Garten lag. Sie war der Cerberus, den jeder Besucher zu passieren hatte. Es war ein beständiger friedlicher Krieg zwischen ihr und Vater. Vater hatte ihren Dienst so gedacht, daß sie allen fremden Besuchern der Anstalt den ersten Weg zeigen, aber niemand abweisen sollte, der zu ihm selber wollte. Sie aber sah ihren Hauptdienst darin, Vater vor allem Anlauf zu schützen und jeden nicht wirklich notwendigen Besuch von ihm fernzuhalten. Dabei war sie grundsätzlich eher zu scharf als zu milde. Durch kein Bitten, durch kein Schelten, auch durch keinen Zorn des Vaters, der gelegentlich aufflammte, ließ sie sich von ihrem einmal eingeschlagenen Wege abbringen. Nur sie selbst weiß, wieviel sie in unsagbar stiller Treue und mit ihrem von Jahr zu Jahr kränker werdenden Herzen von Vater abgehalten hat.
Sie pflegte zwischendurch unsern kleinen Blumengarten und war vor allem ganz in der Verborgenheit die mütterliche Freundin mancher Epileptischen, die ihr Anliegen bei ihr ausschütteten. Nach Vaters Tode siedelte sie ins Feierabendhaus über, wo sie drei Jahre später unter schwerstem Leiden wie eine Heldin ein Leben der Treue beschloß.
Jedes Jahr einmal kam für Vater die eigentliche Ferienzeit. Das war die glücklichste Zeit für die ganze Familie, namentlich solange die Mutter noch lebte. Meist ging es an die Nordsee, nach Norderney, Wangeroog, Langeoog und schließlich immer wieder zum schönen Amrum. Dazwischen gab es Ferienzeiten im Gebirge: im Harz, im Sauerlande, auf dem Hunsrück, im Thüringer Wald. Einige Male auch wurden wir von Freunden in noch weitere Fernen gelockt: nach Holland, an die Ostsee, nach Schottland und in die Schweiz.
Es waren keine Zeiten der Zerstreuung, sondern der Sammlung und der stillen Arbeit. Hatten wir an irgend einem Ort erst einmal festen Fuß gefaßt, so wurde der Regel nach den ganzen Vormittag über gearbeitet. Denn Vater sagte immer wieder: „Nicht im Nichtstun besteht der Vorzug der Ferienzeit, sondern darin, daß man einmal arbeiten kann, ohne beständig unterbrochen zu werden.” Und für uns Kinder war es die höchste Freude, während der Ferienwochen ganz ohne Konkurrenz die Gehilfen des Vaters zu sein.
Sobald unsere kindliche Handschrift auch nur den bescheidensten Ansprüchen genügte, diktierte er uns seine Briefe und Aufsätze. Zuweilen wurde, ehe wir stenographieren konnten, das Verfahren dadurch beschleunigt, daß jedesmal zwei von uns ein Diktat aufnahmen, und zwar in der Weise, daß der eine die erste Hälfte des Satzes schrieb, der andere die zweite, und so fort. In Bethel besorgte dann Freund Kneipp, Vaters epileptischer Sekretär, das Zusammenstellen. Auf solche Weise wurden auch die Erinnerungen zu Papier gebracht, die Vater, sooft die Vormittagsarbeit eine Lücke darbot, aus seinem Leben diktierte. Es waren jedesmal nur kurze Abschnitte dieser Erinnerungen, die wir aus den einzelnen Ferienzeiten mitbrachten. Aber sie bereicherten unser ganzes Leben für die Zeit, die zwischen der vergangenen und folgenden Ferienzeit lag. Nach zwölf Jahren waren die ersten vierzig Jahre bis zur Übersiedelung nach Bethel beschrieben. Zu einer Fortsetzung über[S. 333] die Zeit seit der Übersiedelung von Dellwig nach Bethel konnte er sich nicht entschließen.
Nur ein kurzes Bad in der See oder im Bach pflegte die Vormittagsstunden zu unterbrechen. Die stärksten Wellen waren Vater immer die liebsten. Manchmal schwammen wir in Wangeroog auf die Sandbank hinüber, um dort uns den kräftigen Wellenschlag zu erobern. Und in der Asbach auf dem Hunsrück halfen wir ihm, als Ersatz für die entbehrten Meereswellen mit Hilfe eines Schüttes ein kleines Wellenbad zu bauen.
Nach getaner Vormittagsarbeit wurden am Nachmittag Insel und Land durchstreift, bald in kleinen Ausflügen mit der Mutter zusammen, bald in kräftigen Wanderungen durch Wald und Dünen, am liebsten ohne Weg und Steg geradeaus auf ein Ziel zu, oft bis in die tiefe Dämmerung hinein. Jede Kirche am Wege, jede Fabrik wurde besehen, jeder Bewohner des Landes, der ein Stück mit uns wanderte, gründlich nach Land und Leuten ausgefragt. Dazu erzählte Vater uns Sagen und Geschichten, ein Lied nach dem andern wurde angestimmt, auch die fröhlichen Studentenlieder. Am liebsten hatten wir es, wenn Vater deklamierte. Das half über jede Müdigkeit hinweg. Wohl blieb der Gedanke an Goethe ihm im Blick auf Goethes italienische Zeit immer schmerzlich; aber seine schönsten Gedichte waren Vater stets gegenwärtig. Und daneben vor allen Strachwitz und Uhland. In unserm Quartier hatte inzwischen die Mutter das Abendbrot bereitet. Was für ein fröhliches Nachhausekommen gab es jedesmal und welch gemütlichen Feierabend! Dann hatte jeder seine Handarbeit, und Vater las vor, bis die Abendandacht den schönen Tag beschloß.
1881 hatte uns eine Ferienreise in den Harz und nach Gittelde-Grund gebracht. Und als im September in Harzburg alles leer und wohlfeiler geworden war, siedelten wir noch für ein paar Tage dorthin über, um Goslar und den Brocken zu erreichen, von denen wir in Grund zu weit getrennt gewesen waren.
In Goslar wurde Vater ganz von der Wunderuhr gefesselt. Wir erlebten gerade die Mittagsstunde, wo das Uhrwerk seine volle Kunst entfaltet. Aus einer kleinen Tür treten die zwölf Apostel hervor und wandern am Herrn vorüber, einer nach dem[S. 334] andern ehrerbietig sich vor ihm verneigend; nur der letzte, Judas, bleibt ungebeugten Hauptes. Dann wurde die Kreuzigung dargestellt. Ein Kriegsknecht, auf der Leiter stehend, schlägt die Nägel durch die ausgebreiteten Hände, und ein anderer stößt mit der Lanze in die Seite.
Der Meister hatte uns selbst alles erklärt, und Vater faßte solches Vertrauen zu seiner Tüchtigkeit, daß er ihn bat, sich doch einmal an den Bau eines Flugzeuges zu machen. Er hatte als Junge sich gelegentlich aus einem Stück Blech eine Flügelschraube geschnitten, die mit Hilfe eines leeren Garnwickels und eines Bindfadens in schnelle kreisende Bewegung gebracht wurde und so nicht unbeträchtliche Höhen erreichte, bis sie schließlich ermattet wieder zur Erde fiel.
Es war damals noch nicht die Zeit, daß ein Ersatz des Luftballons durch ein anderes Luftfahrzeug erörtert wurde. Aber Vater baute auf dieses sein Kinderspielzeug seinen Plan auf. An der Hand von Zeichnungen setzte er dem Goslarer Meister auseinander, daß es darauf ankommen würde, eine wagerecht und eine senkrecht kreisende Schraube zwischen Tragflächen aus dünnem Stoff anzubringen, um so eine Aufwärts- und eine Vorwärtsbewegung zu ermöglichen. Die Schrauben selbst aber sollten durch starke Stahlfedern in Betrieb gesetzt werden, die dann während der Fahrt durch den Luftschiffer nachgespannt werden müßten.
Mehrere Stunden lang vertieften sich die beiden Männer in das Problem, sodaß wir viel zu spät von Goslar fortkamen, uns im Walde verirrten, bis wir schließlich durch ein Licht, das auf dem Harzburgberge brannte, auf den rechten Weg gelockt wurden und glücklich unser Quartier erreichten. Der Goslarer Meister hat nie wieder etwas von sich hören lassen, aber den Gedanken des Luftfahrzeuges ließ Vater seitdem nicht mehr los. Es gehörte zu seinen Erholungsstunden, sich damit zu beschäftigen und eine Zeichnung nach der andern zu entwerfen. Wenn wir an die See kamen, fesselte es ihn immer, die Möwen zu beobachten, wie sie, ohne die Flügel zu regen, im starken Wind in der Luft standen. „Seht einmal, Kinder,” sagte er immer wieder, „wie still steht sie da, wie wenig Kraft hat sie nötig! Und der Mensch sollte nicht fliegen können? Ganz gewiß, es geht, es geht!”
Wo er mit Ingenieuren und Offizieren zusammentraf, setzte er ihnen seine Tragflächen mit den eingesetzten Schrauben auseinander und ließ sich durch kein Kopfschütteln irremachen. Später fügte er einen Fallschirm hinzu, den er zu einem unbedingt nötigen Bestandteil seines Flugzeuges machte. Als die Zeppeline aufkamen, konnte er sich nicht viel von ihnen versprechen; sie würden im Winde nicht lenkbar genug sein und bald wieder abkommen. Er hielt an den kleinen Luftfahrzeugen fest. Bis zu seinem Tode war er Bezieher der Luftschiffszeitung und berechnete voll Sehnsucht, wie lange es dauern würde, bis das erste Flugzeug das Mittelländische Meer überqueren und so den Weg nach dem geliebten Afrika abkürzen würde.
Wie schon früher gesagt, blieb in der äußeren Form die Entfernung gewahrt, die den Pastor einer Gemeinde der Elenden von dem Erben des Kaiserthrones trennte. Aber wenn Wahrheit und Treue das Wesen der Freundschaft bilden, so wurde durch sie das in der Jugend geknüpfte Freundschaftsband bis zuletzt festgehalten.
Im Sommer 1885 wandte Vater sich Stöckers wegen in einem ausführlichen Briefe an den Kronprinzen. Es war in der Zeit, wo Stöcker die Niederlegung des Amtes als Hofprediger nahegelegt worden war. Der Brief ließ es dahingestellt, ob es für Stöckers Kampfnatur überhaupt richtig gewesen wäre, das Hofpredigeramt anzunehmen, widerriet aber aufs ernstlichste, ihn jetzt, nachdem er das Amt übernommen, fallen zu lassen. Ohne ihn von Fehlern freizusprechen und ohne sich mit seiner Arbeitsweise in allem einverstanden zu erklären, trat der Brief zugleich aufs wärmste für die persönliche Lauterkeit und Selbstlosigkeit Stöckers ein. Nur der vielleicht zu heißen Liebe und Hingabe Stöckers an Volk, Vaterland und Kaiserhaus seien seine Fehler zuzuschreiben; und es sei erstaunlich, daß einem Manne, der mehr als irgend ein anderer seiner Zeitgenossen im öffentlichen Leben gestanden und gekämpft habe, nicht mehr angehängt werden könne als die kleinen und kleinlichen Vorwürfe, mit denen seine Gegner versuchten, ihn mundtot zu machen. Mit großer Entschlossenheit tritt der Brief schließlich auf den christlich-sozialen Boden, der jedoch nicht als[S. 336] eine Sache der Partei, sondern der Gesinnung aufgefaßt wird. Mit dem Sieg der Gegner der von Stöcker vertretenen christlich-sozialen Parole seien die Tage des deutschen Kaiserreiches und des Hohenzollernhauses gezählt. Darum dürfte Stöcker jetzt nicht gehen.
Eine Antwort auf den Brief erfolgte nicht, wurde auch nicht erwartet. Aber Stöcker blieb damals im Amte.
In den Ferien waren die Blumen immer Vaters besondere Freude. Er pflegte mit der Mutter und uns die zartesten Blumen zu ganz kleinen Sträußen zu binden, die dann den Briefen an Kranke und Freunde beigelegt wurden. Solch einen kleinen Strauß schickte er mit einem begleitenden Briefe im Sommer 1887, als wir auf der Insel Wangeroog waren, dem Kronprinzen, dessen Todeskrankheit sich damals schon angebahnt hatte. Der Kronprinz antwortete:
Bareno, Lago Maggiore, 9. 10. 87.
Lieber Freund!
Ich danke Deinen Kindern vielmals für das Dünensträußchen, welches aus Wangeroog wohlbehalten nach den Tiroler Alpen gelangte, aber nicht minder Dir und Deiner Frau für die Gesinnungen, mit welchen die Blumen gebunden, nebst den guten Wünschen, von denen sie begleitet wurden.
Es tut so wohl, aus der Heimat Grüße der Teilnahme zu erhalten, namentlich, wenn der Körper es nötig macht, lange fern zu bleiben! Doch kann ich mitteilen, daß die Ärzte das Übel als bezwungen ansehen, zumal seit Juli keine Nachwucherungen erfolgten. Dafür muß ich aber mit vieler Geduld eine langsame Genesung in einem andern Klima als dem heimatlichen mir gefallen lassen, weswegen ich den Mund halten und mich möglichst vor Erkältungen bewahren soll. Geschieht dies, und sollte es Gott fügen, so dürfte ich im Frühjahr als Genesener heimkehren.
Mich freut’s, daß Du Dir endlich einmal Ruhe und Luft gestattest, denn angesichts Deiner unermüdlichen Tätigkeit und Hingebung für Dein Liebeswerk könntest Du es ja fast gar nicht aushalten und bist es der Sache und Deinen Freunden schuldig, auch an Dich zu denken. Denn wir bedürfen Deiner auf mannigfachem Gebiet!
Gott segne und erhalte Dich, die Deinen und Deine Schöpfungen. Hoffentlich auf Wiedersehen im Frühjahr!
Dein alter Freund
Friedrich Wilhelm.
Als im Februar 1888 die Besorgnis um das Leben des Kronprinzen immer höher stieg, wurde Vater von seinem Schwager, dem Oberhofprediger Kögel, gebeten, nach San Remo zu reisen. Kögel selbst glaubte, den alten Kaiser Wilhelm nicht verlassen zu sollen, dessen Tage ja ebenfalls gezählt waren. Prinz und Prinzessin Wilhelm begrüßten den Gedanken mit größter Freude und verabschiedeten Vater für seine Reise in großer Bewegung und Herzlichkeit.
Vater erzählte später, wie schwer ihm beim Aufbruch ums Herz gewesen sei und wie wohl ihm auf dem Wege nach Italien die Lieder der Epileptischen in der Anstalt bei Zürich getan hätten und das kurze Zusammensein mit dem alten Samuel Zeller in Männedorf am Züricher See. Mitte Februar war er in San Remo. Professor von Bergmann vermittelte die Audienz bei der Kronprinzessin. Freundlich, aber bestimmt lehnte sie es ab, Vater zum Kronprinzen zu bringen. „Er sollte nichts vom Sterben wissen”, war Vaters Eindruck. Für zwei Tage ging er nach Nizza, um dort die Diakonissenstation zu besuchen, in der zwei Bielefelder Schwestern arbeiteten. Als er zurückkam, erhielt er dieselbe Ablehnung. Traurig reiste er zurück.
Heimgekehrt, bat Vater die ihm befreundete Fürstin-Witwe Elisabeth von Lippe-Detmold, in Kunstschrift drei schlichte Strophen zu malen, die dem Herzen eines schwer Leidenden entquollen waren (Ernst v. Willich). Er schickte sie nach Charlottenburg mit der Bitte, sie im Krankenzimmer des sterbenden Kaisers aufzuhängen. Soviel wir wissen, wurde wenigstens diese Bitte erfüllt. Die Strophen hießen:
Bei der Todesnachricht schluchzte Vater auf. Man fand ihn nachher im Selbstgespräch unter dem Bilde des Kaisers Friedrich, das in unserm Wohnzimmer hing: „Mein Friedrich, bist du wirklich tot?”
Vater litt von Zeit zu Zeit an einer Schwäche des Halses und der Brust, die ihm das Atmen und Sprechen erschwerte. Zur Linderung dieses Gebrechens ging er immer wieder ans Meer. Es war im Jahre 1876, daß er mit unserer Mutter zusammen zum ersten Male an die See reiste, und zwar auf die Insel Borkum. Der Herbst war hereingebrochen, und die meisten Gäste waren schon abgereist. So verlebten die Eltern dort ganz besonders glückliche, stille Wochen, von denen sie uns oft erzählten.
Kurz vor ihrer Abreise aber durcheilte eines Morgens eine Schreckensnachricht die Insel. Man hatte in den Dünen die Leiche eines jungen Mannes mit zertrümmertem Schädel gefunden und nicht weit davon einen Strandhammer, womit augenscheinlich die Tat ausgeführt worden war. Es handelte sich um einen jungen Landwirt vom Festland, der als Badegast auf die Insel gekommen war. Man hatte ihn noch am Abend vorher bis spät in die Nacht hinein mit einem andern Badegast im Wirtshause beim Kartenspiel gesehen. Es konnte kaum anders sein, als daß dieser andere der Mörder war. Sofort wurden alle Boote mit Wachtposten besetzt, damit keiner die Insel verlassen könnte. Vater aber und sein Vetter, der Landdrost [S. 339] von Quadt, halfen bei der Suche nach dem Täter. Bald war denn auch der mutmaßliche Mörder entdeckt, der so lange am Leugnen blieb, bis man in seiner Wohnung die Geldbörse des Ermordeten fand und bis die am Strand und in den Dünen gefundenen Fußspuren zeigten, daß sie genau mit dem Maß seiner Stiefel übereinstimmten. Da gestand er seine Tat ein. Während des Kartenspiels hatte ihm der Ermordete erzählt, daß er der Sicherheit wegen all sein Geld stets bei sich trüge und daß er auch jetzt seine ganze Barschaft in der Höhe von 80 Mark in der Tasche habe. Das hatte den Mörder gereizt. Er lockte sein Opfer an den Meeresstrand, ergriff dort einen großen Holzhammer, der den Strandarbeitern gedient hatte, um Holzpflöcke zur Herstellung eines Schutzdammes in den Sand zu treiben, und jagte hinter seinem Opfer her. Man konnte die Spur der beiden im Sande verfolgen. Der Ermordete war geradeswegs auf den Leuchtturm zugeeilt, dessen Licht zum Strand herüberleuchtete. Der Mörder aber war ihm mit langen Sätzen nachgejagt, war ihm bei einem Sandberge, den er von der kürzeren Seite umkreist hatte, zuvorgekommen und hatte ihm so den tödlichen Streich versetzt.
Vater hatte niemals Freude an schauerlichen Geschichten. Aber diese Geschichte erzählte er immer wieder. Ihm spiegelte sich darin wie in einem Brennpunkte das ganze Elend, das vielfach durch das moderne Badeleben die stillen Inseln des Vaterlandes überflutet. Und die Todesangst des Erschlagenen und der Todesschrecken der friedlichen Bewohner von Borkum standen ihm immer aufs neue vor Augen, wenn er an so viele deutsche Badeorte dachte, die durch den Zustrom der Fremden in ihrem innersten Leben eine tödliche Wunde empfangen hatten.
Vater ging nie wieder nach Borkum, sondern statt dessen einige Male nach Norderney. Aber nachdem er zweimal in Norderney gewesen war, erklärte er: Ich gehe auch dahin nie wieder! Er sah, wie die eingeborene Bevölkerung durch die Badegäste ihres Sonntags beraubt wurde. Es war ihm fast unerträglich, in der Kirche zu sitzen und die von den Ortseingesessenen verlassenen Bänke zu sehen. Am meisten litt er unter dem Strom des Luxus und der Sünde, der durch die Fremden auf die Insel kam und viele Insulaner dahin brachte, ihr hartes, arbeitsames Leben aufzugeben und Sitte und Glauben der Väter zu verleugnen. Statt nach Norderney gingen die[S. 340] Eltern fortan mehrere Male mit uns Kindern auf die stilleren Inseln Langeoog und Wangeroog. In solchen Ferienzeiten taten dann die Eltern, was sie nur konnten, um Badegästen und Eingesessenen mit gutem Beispiel voranzugehen. Sie standen Sonntags früher auf als alltags und machten selbst ihre Betten. Dann wurden wir Kinder geweckt, damit wir das gleiche täten und so das Frühstück nicht so lang in den Sonntag hineingezogen würde. Ein Seebad nahm Vater nie am Sonntag, um dem Badewärter Arbeit zu ersparen, und mit ganzer Energie drang er darauf, daß Sonntags nur von einem statt von zwei Tellern gegessen wurde, damit den Mädchen die Arbeit des Spülens erleichtert würde.
So fiel die Bitte, die im Sommer 1888 von der Insel Amrum herübertönte, bei Vater auf wohl vorbereiteten Boden. Es kam nämlich von dort ein Brief des Inselpastors Tamsen, der Vater einlud, nach Amrum zu kommen und zu helfen, daß die Insel gegen die drohende Welle des modernen Badelebens geschützt würde.
Vater hatte noch niemals den Namen Amrum gehört und wußte nicht, wo es lag. Wir mußten ihm den Atlas herbeibringen und suchen helfen. Da lag denn die geheimnisvolle Insel wie ein einsamer Vorposten im Schleswiger Meer. Mit ihren Schwestern, den Inseln Sylt und Föhr, und den nach dem Festlande zu gelegenen Halligen bildet sie den letzten Überrest des einst so blühenden Landes, das vor fast dreihundert Jahren durch einen furchtbaren Sturm ins Meer gerissen worden war. 37 Kirchen waren damals mit ihren Ortschaften und einem großen Teil ihrer Bewohner im Meer verschwunden, um nie wieder emporzutauchen. Nur die Grundmauern einer einzigen von jenen 37 Kirchen blieben erhalten. Und bei klarem Himmel und stillem Wasser bringt der Schiffer von Amrum seine Gäste bis an die Stelle, wo zwischen Amrum und Sylt die Mauern der Kirche auf dem Grunde des Meeres zu sehen sind. Wenn aber lange Zeit hintereinander Ostwind weht und dadurch die tiefsten Ebben eintreten, dann steigen die Mauern der versunkenen Kirche sogar aus dem Wasser empor, ein ergreifendes Denkmal vergangener Herrlichkeit.
Aber ein wertvolleres Denkmal der alten Herrlichkeit ist Amrum selbst, nicht nur durch seine hohen, stolzen Dünen und die dahinter gelagerten fruchtbaren Felder und Wiesen, sondern[S. 341] vor allem durch das alte Friesengeschlecht, das auf Amrum zu Hause ist. Seefahrer und Ackerbauer sind die Amrumer von alten Zeiten her gewesen, und die Inschrift, die wir drüben auf einem der Friedhöfe der Insel Föhr entdeckten, paßt auch für manchen, der an der Kirchmauer von Amrum schläft:
Bis dahin hatte nur hie und da ein einsamer Badegast Amrum betreten. Jetzt aber drohte die Spekulation sich der Insel zu bemächtigen. So sah sich Pastor Tamsen nach einer Hilfe um, die die Insel vor der Spekulation schützte, sie aber zugleich auf den Weg eines gesunden sozialen Fortschrittes stellte. Pastor Ninck in Hamburg riet ihm, sich an Vater zu wenden. Vater fing alsbald Feuer. Einige Briefe gingen hin und her, bis er eines Mittags sagte: „Kinder, telegraphiert nach Amrum: Wir kommen.”
Mit dem ersten Ferientage des Jahres 1888 waren wir unterwegs nach Hamburg. Am andern Morgen aber ging die Fahrt mit der „Freia” die Elbe hinunter nach Helgoland und der Insel Föhr, und zwei Tage später landeten wir auf Amrum. Am Hafen stand ein Pastor, der als Festprediger für das Missionsfest gekommen war, der aber infolge einer Todesnachricht die Rückreise antreten mußte, ohne seine Predigt halten zu können. So ging Vater alsbald statt seiner auf die Kanzel und freute sich, auf diese Weise gleich von vornherein in kräftige Verbindung mit der ganzen Inselbevölkerung zu kommen. Wie jauchzte sein Herz dieser Gemeinde entgegen, die mitten in der Erntezeit und an einem Alltage im festlichen Schmuck der Friesenkleider ihr Missionsfest feierte! Aus der Kirche aber ging es ins Pfarrhaus. Da waren die Tische mit Kaffee und Kuchen gedeckt, wie es sich am Missionsfest gehört; drei liebliche Kinder waren da und eine stille Pfarrfrau. Das Beste aber waren die glänzenden schwarzen Augen des Pastors, die aus[S. 342] dem hageren Antlitz, das schon die Vorboten eines frühen Todes zeigte, desto durchdringender leuchteten. Ich sehe noch, wie Vater den Arm von Pastor Tamsen faßte und die beiden Arm in Arm auf der weiten Wiese vor dem Pfarrhause in ernsten Gesprächen auf- und abgingen. Sie galten der Zukunft von Amrum.
Wir fanden ein leerstehendes Haus, dessen Besitzer auf dem Meer umgekommen war und dessen Witwe kinderlos bei ihren alten Eltern wohnte. Es lag an der Grenze des Kirchdorfes mit freiem Blick auf das Wattenmeer und die Insel Föhr, deren drei hohe Kirchen wie aus dem Wasser herauszuragen schienen.
Gleich am ersten Morgen bauten wir mit Vater zusammen am Rande der Wiese, die an den Garten unseres Hauses grenzte, aus einem großen alten Segel ein geräumiges Zelt. Dort brachten wir arbeitend unsere Vormittage zu. Die Nachmittage aber dienten der gründlichen Durchforschung der Insel. Wir hatten bei unsern Streifzügen unser Badezeug bei uns, um aus eigenster Erfahrung erproben zu können, an welchen Stellen sich am günstigsten baden ließe und welcher Teil der Insel überhaupt zur Errichtung eines Seebades in Betracht käme. Wir badeten zunächst im Wattenmeer, um den Untergrund zu erforschen. Aber der Sumpf, in dem wir alsbald bis über die Knöchel versanken, zeigte sofort, daß es ganz ausgeschlossen sei, an der dem Strand entgegengesetzten Seite der Insel eine Badegelegenheit zu schaffen. Dann ging es über Süddorf und den hochragenden Leuchtturm, den stolzesten der ganzen deutschen Küste, an das Südende der Insel. Auf diesen Teil, so hieß es, hätten vor allem auswärtige Unternehmer ihr Auge gerichtet. Aber trotz des wehenden Windes waren die Wellen und der Wellenschlag so unbedeutend, daß es Vater sofort klar war, daß kein Badegast, der kräftigeren Wellenschlag begehrte, sich auf diesem Teil der Insel befriedigt sehen könnte und daß alle Unternehmungen, die sich hier festsetzen würden, von vornherein mit dem Bankerott würden kämpfen müssen.
Dann kam der mittlere Teil der Insel an die Reihe. Von Nebel aus ging es durch die hohen Dünen geradeswegs auf den Strand zu. Aber während früher die Wellen bis unmittelbar an den Dünenrand gespült hatten, hatte sich im Laufe der Jahre eine große Sandbank vorgelagert, die nur bei ganz hoher Flut überspült wurde. Diese Sandbank galt es in einer Breite von[S. 343] etwa einer halben Stunde zu durchqueren. Und wenn wir draußen auch einen vortrefflichen Wellenschlag fanden, so zeigte es sich doch, daß wegen der großen Entfernung an dieser Stelle eine Badeanlage wenig Aussicht auf Erfolg hatte. So blieb nur noch die Nordspitze der Insel übrig.
Eine Stunde von Nebel entfernt stießen wir auf den Flecken Norddorf. Es war, als wenn seine schilfgedeckten Häuser sich noch tiefer als die andern Häuser der Insel in den Sand hineinduckten und sich fast ängstlich an den Abhang anschmiegten, der sich im Rücken des Dorfes hinzog. Wohl blühten auch hier in den kleinen Gärten schüchterne Blumen. Aber sie wagten sich nicht so kühn hervor wie im geschützteren Nebel und im milderen Süddorf. Und die Stille und der Ernst, die ja überhaupt bei den Leuten der Meeresküste zu finden sind, schienen bei den Bewohnern von Norddorf in besonderem Maße Hausrecht zu besitzen. Mancher Sohn von Norddorf hatte sich jenseits des Ozeans eine neue Heimat suchen müssen, weil die alte Heimat nicht genug an Unterhalt und Arbeit bot. Und manchen Vater und Bruder hatte das Meer verschlungen. Es mochte am Nordseestrand wenig Dörfer geben, wo dem Verhältnis nach so viele Witwen und Waisen zu finden waren wie in Norddorf. Aber desto heimatlicher wurde unserm Vater dort alsbald zu Mute. Denn da, wo er auf Menschen stieß, die in Kampf und Entbehren und verborgenem Leid saßen, war ihm immer am wohlsten.
Von dem stillen Dorf aus wanderte unser Blick noch weiter nordwärts. Da lag vor uns das Marschland von Riesum, im Winter so oft von den Sturmfluten überschwemmt, aber jetzt mit seinen weidenden Schafen, Kühen und Pferden und seinem saftigen Grün ein überaus lieblicher Anblick. Über Riesum hinweg aber flogen die Augen zur nördlichen Spitze von Amrum, dem letzten einsamen Außenfort der Insel. Dahin ging nun die Wanderung.
Als wir an den Strand kamen, brauste ein Regenschauer hernieder, der uns zwang, in einem von den Strandarbeitern errichteten niedrigen Zelt Unterschlupf zu suchen. Das gleiche hatte vor uns schon ein altes ehrwürdiges Ehepaar getan. Es war der Kirchenrat Lotze, Löhes einstiger Gehilfe, der Nachschreiber und Herausgeber von Löhes Predigten, der sich mit[S. 344] seiner Frau in die weltverlassene Stille von Amrum geflüchtet hatte. Und während wir in dem engen Zelte hockten, erfüllte der alte Lotze Vaters Herz vollends mit Begeisterung für dieses schöne und ernste Stückchen Erde. „Hier hört man ordentlich die Stille”, sagte er, als er aus dem Zelte kroch und tief aufatmend seine Augen über den Strand und das einsam brausende Meer schweifen ließ.
Dann ging es weiter, der Nordspitze zu. Kein Haus, kein Mensch, kein Schiff; nur die Kaninchen huschten daher, und die Möwen schrien in der Luft, und ein paar Schäfchen weideten einsam am Fuße der Sandberge. Lange standen wir auf den hohen Dünen, die hier steiler als an irgend einem Punkte der Insel ins Meer abfallen, weil nirgends so wie hier das Meer bis an ihren Fuß spült und ihre Fundamente benagt. Dann ging es hinunter in die Wellen. Sie waren freilich nicht so hoch und mächtig, wie man sie in Norderney findet oder gar in Sylt, aber es waren doch kräftige Wasserstürze, die einem den Rücken rot peitschen konnten und das Blut frischer durch die Adern jagten. Das war ein Bad so ganz nach unseres Vaters Sinn. Zu stark konnte er es nicht mehr vertragen; aber zu schwach liebte er es auch nicht. Er stampfte ordentlich vor Freude in den festen Sand des Strandes, als wir klappernd vor Kälte und Anstrengung wieder in unsern Kleidern waren.
Schließlich wurde noch das ganze Eiland der Nordspitze gründlich durchforscht. Mit langen Schritten, jeder Schritt zu einem Meter berechnet, maß Vater die ebenen Streifen Landes ab, die sich im Schutz der Dünen für menschliche Niederlassungen eigneten.
An den folgenden Tagen überlegte Vater eingehend mit Pastor Tamsen. Dann wurden die Amrumer zu einer Abendversammlung in die Kirche eingeladen. Hier stellte Vater der ganzen Gemeinde in seiner Herz und Gewissen packenden Weise die Gefahr vor, die der Insel drohe von einer Spekulation, die nur ihren eignen Gewinn suche und keine Rücksicht auf die Bedürfnisse der Insulaner kenne. Er bot seine Hilfe an, rechtzeitig der Spekulation zuvorzukommen und dort oben im Norden der Insel ein Hospiz für stille Badegäste zu errichten, die leibliche und geistige Erholung suchten und gleichzeitig Sicherheit böten für die Erhaltung der Vätersitte und des Väterglaubens auf Amrum.
Vaters Worte schlugen ein. In der Sitzung der Gemeindevertreter, an der Vater und Pastor Tamsen teilnahmen und in der Vater seinen in der Kirche entwickelten Plan noch im einzelnen darlegte, wurde einmütig beschlossen, das ganze Vorkaufsrecht für alle bebaubaren Flächen im nördlichen Teil der Insel an Vater abzutreten. Damit war der entscheidende Schritt getan; und die Eltern kehrten mit uns in die Heimat zurück.
Nun galt es, Freunde für das junge Unternehmen zu gewinnen und das unentbehrliche Kapital flüssig zu machen. Aus schleswig-holsteinischen und Hamburger Kreisen bildete sich ein Verein, der im Bunde mit dem Diakonissenhaus Bethlehem in Hamburg und dem Bielefelder Diakonissenhaus die Aufrichtung des Amrumer Hospizes in die Hand nahm und, zumeist unter persönlichen großen Opfern, das nötige Kapital vorstreckte. Freilich ging über den Verhandlungen mit der Regierung, die die getroffenen Abmachungen zu genehmigen hatte, zunächst noch ein ganzes Jahr hin. Aber als das Frühjahr 1890 herankam, lag ein schwedisches Schiff im Hafen von Amrum. Vater hatte durch schwedische Gäste, die Bethel besuchten, von der Bauart der schwedischen Holzhäuser gehört. Das hatte ihm eingeleuchtet. Es schien ihm ohnehin geraten, auf der von den Sturmfluten so oft und schwer bedrohten Nordspitze statt schwerer Backsteinbauten möglichst leicht bewegliche Häuser zu errichten, die im Notfalle wieder abgebrochen und an einer andern Stelle aufgeschlagen werden konnten. So barg das schwedische Schiff in seinen Wänden drei fix und fertig zugeschnittene Holzhäuser, ein großes und zwei kleine, die in wenigen Wochen aufgeschlagen, mit schneeweißer Dachpappe gedeckt und mit den notwendigsten Möbeln eingerichtet waren.
Anfang August 1890 brachen die Eltern zum zweiten Male mit uns nach Amrum auf. Da lagen sie wirklich vor unsern erstaunten Augen, die drei schlichten, anmutigen Häuser, von denen das kleinste für uns bestimmt war.
Es begann ein ungemein glückliches Leben. Wir waren mit den Insulanern und Hospizgästen wie eine große Familie, die zusammengehörte und Freud und Leid miteinander teilte. Wohl trieb der scharfe Wind hier und da einmal den Regen[S. 346] durch die noch nicht ganz fest gefugten Bretter; wohl waren die Badehütten am Strand nur auf das notdürftigste eingerichtet; wohl hatte Schwester Pauline, die Hausmutter, manchmal Not, das Fleisch nach dem langen Transport von Hamburg her frisch zu erhalten, — aber Vaters Heiterkeit ließ keine Sorgen und Klagen aufkommen.
Der römische Dichter Horaz sagt einmal: „Es kommt darauf an, was zum ersten Male in ein neues Gefäß gegossen wird, denn dessen Geruch behält es für immer.” So ging es auch in Amrum. Von Vaters Art und Wesen strömte ein Wohlgeruch aus, der zugleich nach Erde und Himmel schmeckte. Natur und Gnade waren bei ihm wie zwei Rosen an demselben Stiel, und ihr Duft erquickte jeden, der mit Vater in Berührung kam, bis ins Herz. Diesen Wohlgeruch goß er damals in die neuen Häuser auf Amrum, und sie konnten ihn nicht wieder verlieren.
Schon im nächsten Jahre zeigte es sich, daß das erste Hospiz mit seinen drei Häusern nicht ausreichte, um das Werk, das einmal begonnen war, durchzuführen. Inzwischen waren nämlich auf der Südspitze der Insel mächtige Hotels entstanden. Eine umfassende Reklame hatte durch ganz Deutschland eingesetzt. Der Name Amrum war in aller Mund. Aber viele, die auf solche Reklame hin auf der Südspitze landeten, sahen sich enttäuscht, und Vaters Voraussage trat ein: ein Bankerott jener Hotelunternehmungen folgte auf den andern. Desto stärker aber wurde nun das Gedränge nach dem soviel günstigeren nördlichen Teil der Insel. Norddorf wurde von Gästen gestürmt. Und um den Gästen zu dem Quartier, das ihnen Norddorf gab, auch Speise und Trank darreichen zu können, blieb nichts anderes übrig, als an dem Dünenrande zwischen Norddorf und dem Meere ein zweites Hospiz zu bauen und bald ein drittes, bis im Jahre 1905 gar das vierte und im Jahre 1911 das fünfte hinzukam.
An Sorgen hat es freilich auf Amrum nicht gefehlt. Es kamen Zeiten, wo gute Freunde rieten, die Arbeit aufzugeben. Aber Vater blieb unerschrocken. Ja, er wurde zornig, wenn der Gedanke auftauchte, die Hospize zu verkaufen. Wie er nicht um Geldes willen die Sache angefangen hatte, so wollte er sie jetzt nicht um Geldes willen preisgeben. Er wußte, daß dann die ganze bisherige Arbeit verloren und das schöne Nordland [S. 347] mit seinen treuen Bewohnern der Macht der Spekulation rettungslos ausgeliefert sei. Jetzt konnten die Töchter Amrums in der Stille der Hospizarbeit zu tüchtigen Hausfrauen herangebildet werden. Was aber würde sonst aus ihnen werden?
Schon allein dieser eine Gedanke genügte für Vater, um die Treue, die er Amrum einmal versprochen hatte, nur desto fester zu halten. Und schließlich erlebte er es denn auch, daß alle Bedenklichkeiten überwunden und auch die Schulden- und Sorgenlasten leichter wurden. Hingebende Mitarbeiter fanden sich, die in leitender und dienender Stellung die Arbeit in Amrum trieben. Fast aus allen Ständen und Berufsarten stellten sie sich im Laufe der Jahre ein. Und daß es meist sogenannte Laien waren, die hier unter den Augen des unermüdlichen Herrn Kehrer nicht nur die äußere, sondern auch die innere und innerste Arbeit taten, war für Vater immer aufs neue eine besondere Freude. Der geistliche Vater der Hospize aber wurde mehr und mehr der alte Pastor von Wilucki. „Väterchen Wilucki!” wie oft hat das Vater gerufen, wenn er dem ehrwürdigen Manne um den Hals fiel, um ihm für seine unermüdliche Liebe zu danken, mit der er elf Jahre hintereinander seine emeritierten Kräfte vor den Hospizwagen spannte.
Nach unserer Mutter Tode hat Vater wieder und wieder sein liebes Amrum aufgesucht. Weil sein Herz jung blieb bis zuletzt, darum konnte er bis in sein hohes Alter hinein neue Freundschaften schließen. Und daß ihm Gott gerade auf Amrum so manches neue Freundesherz schenkte, gehörte zu seinen besonderen Erquickungen. Von denen, die inzwischen abgerufen sind, waren es vor allem der Herausgeber des „Baseler Volksboten”, Theodor Sarasin, und seine noch lebende hochgesinnte Frau, die beide mit ihrem Himmel und Erde umspannenden Interesse Vaters Herzen ganz besonders nahestanden. Hier fand Vater zwei ihm in ungewöhnlichem Maße gleichgeartete Naturen, in deren Gegenwart er sich besonders wohl fühlte.
Aus der Menge der Freunde und Gäste riß sich Vater dann immer wieder los, um in der Einsamkeit nachzudenken. Gern stieg er auch in das Boot, um bis vor die Brandung der vordersten Sandbänke zu segeln, die weit draußen im Meere ihren schützenden Gürtel um Amrum legen. Dann las er den Gästen,[S. 348] die mitfuhren, vor, oder er saß still für sich allein unter dem Vordersegel und summte ein Lied vor sich hin. Einmal, als eine Mißstimmung unter den Hausmädchen des Hospizes ausgebrochen war, machte er ganz allein mit ihnen eine Segelfahrt hinaus ins Meer, und als sie abends heimkehrten, waren Friede und Eintracht wieder hergestellt.
Am liebsten hatte Vater die Halligen. Unvergeßlich ist die erste Fahrt, die wir dahin machten. Vater war zum Missionsfest nach der Hallig Hooge eingeladen. Da kein Dampfer dort anlegte, mieteten wir den „Hotspur”, einen starken Segelkutter des früheren australischen Goldsuchers und jetzigen Austernfischers Peters. Schon am Tage vorher mußten wir aufbrechen, um rechtzeitig an Ort und Stelle zu sein. Erst dicht vor Mitternacht wateten wir von unserm Boote aus, Schuhe und Strümpfe in den Händen, an das einsame Eiland und suchten uns durch die Dunkelheit an den grasenden Kühen und Schafen vorbei den Weg zum Pfarrhaus. Es war dasselbe Haus, auf dessen Dach sich der Vorgänger des jetzigen Pastors mit Frau und Kind vor der Sturmflut geflüchtet hatte. Nur ihr kleinstes Kind hatten sie mit hinauf retten können, die andern Kinder trugen die Wellen davon in den Tod hinein. Die Kanzel aber, auf der Vater andern Tages seine Predigt hielt, stammte aus einer jener 37 untergegangenen Kirchen. Sie war nach jener Schreckenszeit an das Ufer von Hooge gespült worden.
Je öfter Vater nach Amrum kam, desto wohler fühlte er sich in der stillen Inselwelt, desto familienmäßiger schlossen sich die Bande zwischen Insulanern und Hospizgästen. Mancher schöne Familienabend wurde gefeiert. Dann kamen die stillen Männer der Insel und in ihrer eigenartigen Tracht die Frauen und Mädchen; und der Pastor und Doktor kamen; und hoch auf seinem Rappen kam der originelle alte Kantor Bandix Bonken, der drüben von der kleinen Hallig Gröde stammte und in dessen Geburtsjahr sich die Eintragung im Kirchenbuch der Hallig findet:
Der „Geboren eins” aber war der spätere Kantor von Amrum.
Die Hospizgäste waren wie Kinder im Hause, die Sonntags dem Vater zuliebe und dem Dienstpersonal zur Freude ihre Betten machten und mittags auf leisen Sohlen durch das Haus schlichen. Unter allen schönen Stunden aber, die wir auf Amrum verlebten, waren jedesmal die schönsten, wenn Vater die Morgenandacht hielt oder wenn er, sei es in der Strandhalle, sei es an einer geschützten Stelle in den Dünen, die Bewohner der Hospize zu einer freiwilligen Bibelbesprechstunde vereinigte. Der letzten Stunde, die ich mit erlebte, lag der Text aus dem 2. Korintherbrief zu Grunde: „Wir haben allenthalben Trübsal, aber wir verzagen nicht.” In der anschließenden Besprechung kam die Rede aufs Sterben, und Vater sagte: „Das letzte Sterben ist das schwerste nicht, aber den alten Adam täglich in den Tod geben, — nichts ist schwerer, aber auch nichts ist feiner.” „Auf das letzte Stündelein aber wollen wir uns bereit machen; desto leichter wird es sein, wenn es einmal da ist.” „Es ist mir wohl manchmal ein bißchen bange, wenn ich an die letzte Fahrt denke, aber” — mit dem Finger in die Höhe zeigend — „mein Heiland ist am Steuerruder. Und ist die letzte Fahrt überstanden, dann sind wir am lieben jüngsten Tage alle zusammen vor Gottes Thron und haben alle Vergebung der Sünden. Dann wollen wir danken und loben ohne Aufhören. Denn Dank und Lobgesang ist unser Ziel, wie wir überhaupt geschaffen sind zum gemeinsamen Lobe Gottes.”
Statt nach Amrum hatten wir im Sommer 1888 eigentlich auf den Hunsrück reisen wollen. Dort, in einem Seitental der Nahe zu Füßen der alten Wildenburg, hatte die Familie von Stumm-Halbach ein Besitztum, die Asbacher Hütte. Hier hatte die Wiege der großen Stummschen Industrien des Saargebiets gestanden. Die Hütte selbst war längst außer Betrieb gesetzt, aber das alte Wohnhaus stand noch. Die Familie von Stumm bot es Vater an, um es nach seinem Belieben zu wohltätigen Zwecken zu verwenden. Um an Ort und Stelle zu prüfen, in welcher Weise das Anwesen am besten nutzbar gemacht werden könne, war beschlossen worden, dort oben die Ferien zu verleben und zugleich einen Abstecher nach Metz zu machen, wo unsere Schwestern arbeiteten und wohin Vater[S. 350] durch so manche Erinnerungen aus der Kriegszeit gelockt wurde. Durch den Ruf, der aus Amrum kam, hatte die Reise verschoben werden müssen; aber im nächsten Sommer, 1889, wurde sie nachgeholt. Zunächst ging die Reise nach Metz.
Unvergeßlich waren die Tage, die wir dort erlebten. Der Kaiser nahm große Parade ab, und die jugendliche Kaiserin kam zur Einweihung des Mathildenstifts, wo unsere Schwestern die Arbeit übernahmen. Wir haben da die edle, gütige Frau zum erstenmal gesehen. Am Schluß der Feier rief uns Vater der Reihe nach zu ihr heran, und nach der Mutter küßten wir Geschwister der Kaiserin die Hand.
Als das Kaiserpaar Metz verlassen hatte, führte Vater die Diakonissen und uns auf die Schlachtfelder hinaus. Wir suchten die Stelle, wo er am 14. August die ersten Toten aus der Schlacht von Colombey in einem gemeinsamen Grabe bestattet hatte, fanden auch wirklich den Grabhügel und richteten das zusammengesunkene Holzkreuz wieder auf. Auch nach den Schlachtorten des 18. August, Gravelotte und St. Privat, brachte er uns. Er durchlebte alles noch einmal und wir in tiefer Bewegung mit ihm. Wir hörten die Granaten sausen, die Kommandos tönen, die Verwundeten jammern, die Sterbenden röcheln und sahen die Stille der Nacht sich über das blutige Schlachtfeld senken. Es war keine Verherrlichung des Krieges, kein Rühmen des eigenen Volkes, nichts von Feindeshaß, aber wir ahnten eine höhere Hand, aus der Friede und Krieg kommt zum Heil der Völker.
Dann folgten die Wochen auf dem Hunsrück in der Asbacher Hütte. Sie erwies sich in der Tat als ein wertvolles Geschenk, das zunächst von unserm Diakonissenhause Sarepta übernommen wurde und dann in den Besitz des jungen Diakonissenhauses in Kreuznach überging. Der Aufenthalt selbst aber brachte den Eltern wenig Erfrischung. Die Fülle unerledigter Arbeit, die Vater in die Ferien begleitet hatte, war diesmal besonders groß. Die Feder von uns Kindern reichte nicht aus. Auch die Mutter mußte wie in alter Zeit wieder mithelfen. So kamen beide Eltern müde in den Winter hinein und wurden von der Grippe, die damals zum ersten Male umging, ergriffen.
Seitdem litt Vater an einer Hinfälligkeit der Stimme, die ihn schließlich im Sommer 1893 zu einer Kur in Ems zwang. Mit sehr abgespannten Kräften langte er in Ems an; und nur[S. 351] langsam kehrten diese wieder. Eine besondere Anstrengung war ihm der Weg zur Kirche, die fast eine halbe Stunde entfernt lag. Aber die tiefen, geistvollen Predigten des Ortspastors Vömel, eines Schülers Becks, zogen ihn immer wieder an. Es war ihm schwer, daß so viele Badegäste, denen der Weg durch das heiße Flußtal zu weit war, diese Erquickung entbehren mußten. Auf der andern Seite aber empfand er es auch hier wieder als ein Unrecht, daß die Badegäste, die den Gottesdienst in der Ortskirche aufsuchten, den Ortseingesessenen die besten Plätze wegnahmen.
So entstand bei ihm und Pastor Vömel der Entschluß, am Badeort selbst in unmittelbarer Nähe der Quelle und der Wohnungen der Badegäste eine Kirche zu errichten. In schönster Lage wurde ein Bauplatz gefunden und erworben. Aber die Aufbringung der Kosten verursachte unendliche Mühe. Diesmal konnten nicht unbemittelte Kreise herangezogen werden, die schneller, williger und verhältnismäßig auch reichlicher zu geben pflegen als die bemittelten, sondern es galt, vor allem die wohlhabenden Kurgäste zu gewinnen, die in Ems Erholung und Genesung gefunden hatten. Aus den alten Kurlisten ließ Vater die Adressen der ehemaligen Badegäste herausziehen, und jeder einzelne wurde von ihm durch ein besonderes Anschreiben wieder und wieder zur Dankbarkeit für die heilkräftigen Emser Quellen ermuntert.
Auch an die Pläne der Kirche wandte Vater ganz besondere Sorgfalt. Die Ruinen des Klosters Paulinzella, die er mit uns von Oberhof aus besuchte, hatten ihn in hohem Maße angezogen. Er zeichnete ihre Motive ab, die dann von Baumeister Siebold dem Plan zu Grunde gelegt wurden. 1897 konnte endlich der Grundstein gelegt und zwei Jahre später die Einweihung gehalten werden. Sechs Jahre zähester Arbeit hatten damit ihren Abschluß gefunden.
Am 4. Dezember 1894 war unsere Mutter heimgegangen. In tiefer Verborgenheit trug Vater den Verlust seiner treuesten Mitarbeiterin. Nur unser jüngster Bruder, der von da an die Schlafkammer mit dem Vater teilte, hörte bisweilen nachts das stille Seufzen des Vereinsamten. Ohne Verabredung schlossen [S. 352] wir Geschwister den Ring der Liebe um unsern Vater noch fester. Wir sind ihm manchmal mit unserer Fürsorge lästig gefallen, haben manchmal des Guten zuviel getan. Aber er tat auch da, als merkte er es nicht. Weder mit der Gegnerschaft noch mit der Fürsorge, die seine Person erfuhr, hielt er sich lange auf, sondern ging zwischen beiden hindurch seinen eigenen Weg.
Der Diamant in dem Ring der Liebe, der sich um Vater legte, wurde vom Jahre 1898 ab unsere Tante Frieda. Hart wie ein Diamant war sie und zugleich leuchtend wie dieser von zartester Liebe. Tante Frieda war Vaters einzige noch überlebende Schwester. Sie hatte ihre Mutter bis zu deren Tode gepflegt und dann auch ihre einzige sehr geliebte jüngere Schwester, die Landrätin von Oven in Dillenburg, die ihr sterbend ihre fünf unmündigen Söhne hinterließ. Diesen fünf Kindern, denen sie nicht nur die Mutter, sondern auch den Vater ersetzen mußte, hatte sie sich ganz gewidmet.
Sie war ein Muster der Treue und Einfachheit und von tiefem Verständnis für die Kindesseele. Wie eine Mutter haben die fünf Neffen sie geliebt, und sie hat es mit demütigem Stolz erlebt, wie alle — nur einer starb früh — in den Spuren ihrer stillen Treue und Schlichtheit zu Männern ungewöhnlicher Hingabe und Tüchtigkeit wurden. Als ein Neffe nach dem andern ihrer unmittelbaren Obhut entfloh, unterhielt sie in Dillenburg eine kleine Gymnasiastenpension, die ihr den Lebensunterhalt bot.
Durch einen Sturz, den sie bei Glatteis auf den Hinterkopf tat, hatte sie sich ein schweres Kopfleiden zugezogen. Einen um den andern Tag setzten für einige Stunden rasende Schmerzen ein. Dann konnte sie nur in gekrümmter Haltung ihre häusliche Arbeit verrichten, zwischen den zusammengepreßten Lippen von Zeit zu Zeit einen schweren, langgezogenen Seufzer herauspressend. Verschiedene Kuren gaben nur vorübergehende Erleichterung. Zehn Jahre lang dauerte das Leiden in fast ungeminderter Stärke. Dann ließ es langsam nach und verlor sich erst in den Jahren vor ihrem Tode ganz. So hatte sie, wie unsere Mutter, durch eigenes tiefstes Leid gelernt, andere Leidende zu verstehen, und ihre zähe, starke Natur war im Kampf mit dem Leiden nur noch zäher und stärker geworden, aber zugleich wunderbar zart und mitfühlend.
Ihrem Bruder gegenüber ließ sie diese Zartheit freilich kaum merken. Da war sie die um vier Jahre ältere Schwester. Sie war 71, als sie zu uns kam, und Vater 67. Er blieb für sie der jüngere Bruder, an dem sie bis zuletzt mit großartiger schwesterlicher Treue und Offenherzigkeit ihr Recht als ältere Schwester geltend machte. Sie hatte dasselbe offene Auge und denselben Wahrheitsmut wie unsere Mutter. Nur fehlten ihr deren köstliche Unmittelbarkeit und blitzender Humor. Sie trug an Dingen und Menschen schwer, grub auch wohl ihre Gedanken und Bedenken in sich hinein, ehe sie sie vulkanartig äußerte. Und während Mutter meist den Kern der Sache sah und mitten ins Schwarze traf, blieb ihr Gemüt eher an Nebendingen haften, an denen sie sich stieß und um deren Abstellung sie sich vergeblich bemühte.
So ärgerte sie an ihrem Bruder die Art, mit der er Dinge und Menschen immer von der besten Seite ansah. Statt ihm in dem, worin er recht hatte, zuzustimmen und ihn dadurch willig zu machen, auch die Kehrseite nicht aus dem Auge zu lassen, schlug sie ihrerseits zu stark nach der Gegenseite um und gab dem in der drastischsten Weise Ausdruck. Wenn Vater von einem Gaste, der bei uns einkehrte, sagte: „Was für ein lieber Mensch”, — dann sagte sie: „Ein gräßlicher Peter.” Und wenn Vater eine Erinnerung aus der Kindheit in den goldensten Farben malte, dann konnte sie es nicht lassen, die tiefsten Schatten in das Bild hineinzusetzen.
Vor dieser Art seiner Schwester hatte Vater eine gewisse Scheu, sodaß er zunächst nicht wagte, sie ganz in sein Haus zu bitten, sondern ihr nahelegte, die Fürsorge für die alternden Schwestern im benachbarten Feierabendhaus zu übernehmen und von da aus nur die Hauptmahlzeiten mit uns zu teilen. So wurde sie jahrelang die mütterliche Freundin der in heißer Arbeit müde und alt gewordenen Diakonissen. Ihnen gegenüber trat die Herbigkeit, die sie ihrem Bruder zeigte, zurück. Da kamen vielmehr ihr zartes, liebevolles Verständnis und ihre große Verschwiegenheit in den Vordergrund. Vor den Ohren der alten Schwestern konnte sie sogar hier und da mit schwesterlichem Stolz in Bewunderung ihres Bruders umschlagen, um dann, wenn sie mittags oder abends an unserm Tisch saß, nur wieder desto kritischer gegen ihn zu sein. Vater ließ solche Kritik ruhig über sich ergehen. Höchstens daß er hier und da einmal [S. 354] das Tischgespräch etwas schneller abbrach als sonst und im Davongehen nur sagte: „Du machst es heute einmal wieder stark, meine alte, liebe Schwester.”
Das wurde aber von Jahr zu Jahr gelinder, sodaß Vater die Furcht vor seiner Schwester vergaß und sie sich einigten, daß sie ganz zu uns zog. Ihre Kräfte hatten nachgelassen, während die Aufgaben im Feierabendhaus zugenommen hatten. „Ich baue dir bei uns ein Sterbestübchen”, sagte Vater. Hinter einem kleinen Vorkämmerchen wurde ein ganz stilles Zimmer geschaffen. Dahin siedelte dann Tante Frieda über mit den wenigen schönen, alten Möbeln, die sie noch für sich zurückbehalten hatte. Alles andere hatte sie an ihre Pflegekinder weggegeben. In ihrer Kommode lag ihr Sterbehemd, und über ihrem Bett hingen die Bilder ihrer nächsten und liebsten Verwandten, alle auf dem Totenbett.
Sie hatte für ihre Person ganz mit dem Leben abgeschlossen und konnte darum ganz für die Lebenden da sein. In ihrem „Sterbestübchen” war die Luft der Ewigkeit in wunderbarer Weise geeint mit einer völligen Offenheit für alle natürlichen Dinge der Zeit und für Menschen aller Richtungen und Verhältnisse. Die Frömmsten und die Gottlosesten fühlten sich wohl bei ihr. Ohne zu suchen, hatte sie für jeden das rechte Wort. Bei niemand machte sie Bekehrungsversuche. Aber jeder fühlte: So wie die solltest und könntest du eigentlich auch sein. Kam hier und da einmal eine kleine Schroffheit bei ihr zu Tage, so nahm ihr das niemand übel, weil jeder spürte: Das kommt aus liebevollstem Herzen. Sie selbst fühlte sich geradezu wohl, wenn man eher etwas zu schroff gegen sie war als zu zart. Übelnehmen kannte sie nicht. Niemals hat sie jemand etwas nachgetragen.
Für Kinder behielt sie bis in ihr höchstes Alter eine ganz unwiderstehliche Anziehungskraft, obgleich sie diese, arm wie sie war, durch keinerlei äußerliche Mittel an sich kettete. Jauchzend umsprangen sie die Kinder des Kinderheims: „Tante Frieda, zeig’ uns mal deine Zähne!” Dann überwand sie sich, holte schmunzelnd ihr künstliches Zahngehege heraus und hielt es der staunenden Menge hin. Ihre kleinen Ersparnisse verwandte sie für die Reisen zu ihren Neffen oder umgekehrt für die Besuche, die ihre Neffen bei uns machten. Zum Abschied steckte sie ihnen dann jedesmal das Reisegeld bei einschließlich[S. 355] des Trinkgeldes, das sie im Hause und dem Gepäckträger zu geben hatten. Blieb außerdem noch etwas übrig, dann gab es für Großneffen und Großnichten von Zeit zu Zeit einen Weg in die Stadt, wo sie mit ihnen bei Schokolade und Kuchen feierte.
Vater hatte bestimmt damit gerechnet, daß er seine alte Schwester überleben würde; und manchmal kamen Zeiten so großer Schwäche, daß wir ihr Abscheiden in nächster Nähe glaubten. Sie wollte aber allein sterben und niemand dabei Mühe machen. Einige Male kam es vor, daß Vater sie abends zum Sterben einsegnete. Dann fand man ihn am andern Morgen an der Tür ihres Zimmers lauschend, ob er ihre Atemzüge hörte oder ob wirklich alles still geworden wäre. Sie lebte aber immer wieder auf und überdauerte ihren Bruder noch um drei Jahre.
Ihre letzte Reise machte sie nach Hannover, wo einer ihrer Neffen als General stand. Als der sie in Uniform mit seinem Burschen auf dem Bahnhofe abholte, wollte sie sich seine Begleitung nicht gefallen lassen: „Ihr müßt euch ja schämen, mit mir alten, häßlichen Person über die Straße zu gehen.” Dann willigte sie aber doch ein. Auf dem Heimwege besuchte sie in Bückeburg die Witwe und die Kinder ihres ältesten Bruders. Dort starb sie, nachdem sie mit unserm jüngsten Bruder noch das Abendmahl gefeiert hatte. Ihr Sterbehemd hatte sie bei sich in ihrem Koffer. Auf dem Friedhof in Bethel zu Häupten ihres Bruders ist ihr Grab zu finden.
„Es kann uns niemand eine größere Wohltat erweisen als die, daß er uns die Heilige Schrift lieb und verständlich macht.”
F. v. B.
Im Sommer 1897 verbrachten wir unsere Ferien in Braunlage im Harz. Eines Sonntags, während wir in der Kirche saßen, erschienen in der Bank neben uns zu unserer großen Überraschung fünf bekannte Professoren der Theologie, Nathusius aus Greifswald, Schaeder aus Königsberg, Feine aus Wien, Lütgert aus Halle und zu unserer großen Freude auch Schlatter aus Berlin. Sie hatten mit andern Kollegen, unter ihnen auch Cremer aus Greifswald, eine Zusammenkunft in Wernigerode gehabt, und jene fünf hatten sich am Schluß ihrer Konferenz noch zu einer kleinen Harzwanderung zusammengetan. Sie beschlossen, den Nachmittag mit uns zuzubringen. Am andern Morgen nahmen sie Abschied, bis auf Professor Schlatter, der bei uns blieb. Müde von der Arbeit und dem Staub Berlins hatte er ohnehin die Reise zu der Konferenz in Wernigerode mit einer kleinen Ausspannung verbinden wollen. So bezog er für acht Tage unmittelbar neben unserer Waldwohnung ein Zimmer.
Im Winter 1893 hatten Vater und Schlatter sich zum erstenmal gesehen. Unser ältester Bruder Wilhelm und ich studierten damals in Greifswald, und Vater kam auf unsere Einladung, um bei einem akademischen Missionsfest zu sprechen. Die Predigt in der Jakobikirche, in der die akademischen Gottesdienste abgehalten wurden und in der nun ein großer Teil der akademischen Welt versammelt war, wurde Vater ganz besonders sauer. Fast verlegen wie ein Kind war er, als er anfing zu sprechen, bis er allmählich sich selbst wiederfand und dann mit großer Zuversicht von den Aufgaben an der Völkerwelt diesseits und jenseits des Todes sprach. „Ich hoffe,” sagte er, „auch[S. 357] noch in der jenseitigen Welt fröhliche Arbeit zu finden an denen, die noch nichts vom Evangelium gehört haben.”
Am andern Tage saß er mit uns im Kolleg, erst bei Cremer, dann bei Schlatter. Wir hatten uns mit ihm auf die letzte Bank zurückgezogen, wie Studenten es zu tun pflegen, die ein Kolleg „schinden” und nicht wagen, einen günstigen Platz zu beanspruchen. Es war seit seiner Studentenzeit das erste Mal, daß Vater wieder unmittelbar mit dem wissenschaftlichen Leben und der wissenschaftlichen Arbeit in Berührung kam. So fleißig er bis zu seinem theologischen Examen wissenschaftlich gearbeitet hatte, so hatte später die Fülle anderer Aufgaben, die auf seine Schultern gefallen war, ihn kaum mehr zum eigentlichen wissenschaftlichen Studium kommen lassen. Jetzt zogen ihn der Ernst und die Gründlichkeit, die er den beiden Männern abspürte, ungemein an, sowohl Cremers herbe Ergriffenheit als ganz besonders Schlatters sprudelnde Frische. Aber zu einer näheren Berührung kam es damals nicht.
Das wurde nun durch Schlatters Kommen nach Braunlage anders. Wir machten gemeinsam eine Fahrt nach Ilsenburg zur Fürstin Clementine Reuß. Auf dem Rückwege im Wagen erzählte Vater von unserm früheren Besuch in Goslar, wo wir im Museum die alten Strafwerkzeuge gefunden hatten, darunter auch den Doppelkasten, die sogenannte „Beißkatze”, worin Marktweiber, die sich gezankt hatten, auf öffentlichem Markte eingesperrt wurden, die Gesichter gegeneinander gekehrt. Schlatter warf ganz ahnungslos dazwischen: „Ja, die alte Justiz war doch recht grausam.”
Das fuhr wie ein Blitz in Vaters Seele: „Nein, unsere heutige Justiz ist noch viel grausamer!” Und nun entlud er sein Herz über die Rechtspflege, die an den arbeitslosen Wanderern geübt wurde. Statt ihnen Arbeit zu geben, würden sie arbeits- und mittellos zum Betteln gezwungen; als Bettler würden sie verhaftet, vor Gericht gestellt und mit Haft und im Wiederholungsfalle mit Gefängnis bestraft; von der ersten Gefängnisstrafe ginge es zur zweiten und so weiter; immer tiefer, immer tiefer ins Elend hinunter, ein langsamer, qualvoller seelischer Tod. Das sei viel grausamer als die alte Justiz der Beißkatze. Dann entfaltete er seine Gedanken, wie durch eine vernünftige, barmherzige Justiz diese grausame Justiz, die die mittelalterliche [S. 358] an Härte und Erbarmungslosigkeit weit übersteige, abgestellt werden könne.
Schlatter, immer ruhig, kritisch, wissenschaftlich auch bei dieser für Vater brennendsten praktischen Frage, warf seine Einwände dazwischen, die zur weiteren Klärung beitragen, aber keineswegs mangelndes Interesse an dem Schicksal des Bruders von der Landstraße bedeuten sollten. Vater aber witterte hinter den kühlen, sorgsam abgewogenen Erwägungen Schlatters den Anwalt der herzlosen Justiz von heute. Sobald er aber irgendwo auf Herzlosigkeit gegen den Bruder von der Landstraße stieß, kannte er keine Rücksicht mehr. „Sie verstehen das nicht, mein lieber Professor”, sagte er ein wenig bitter. Und einmal hätte nicht viel gefehlt, daß er seinen Gegner bei den Schultern gepackt hätte, um zu versuchen, ihn durch einen körperlichen Ruck in das gewünschte Geleise zu bringen.
Ohne daß eine Verständigung gefunden worden wäre, stiegen wir in dunkler Nacht aus dem Wagen. Auch beim Mittagbrot am andern Tage war die Stimmung noch gedrückt. Es gärte und arbeitete unablässig in Vater. Endlich am Nachmittag hatte er verstanden, worauf es Schlatter eigentlich angekommen war, daß er ihn nicht hindern, sondern ihm zur weiteren Klarheit hatte helfen wollen. Er diktierte einem von uns Schlatters Gedanken, wie sie ihm inzwischen klar geworden waren, und um die Kaffeezeit ging er zu ihm hinüber. „Hier, Professor, meinst du es so?” — „Ja,” antwortete Schlatter, „so meine ich es; so wird es gehen.” So wurde Friede geschlossen und damit der Grund gelegt zu einer Freundschaft und Arbeitsgemeinschaft, die für Vater und für viele eine reiche Quelle der tiefsten Freuden wurde.
Für die noch übrigbleibenden Tage unserer Ferienzeit waren die beiden fast unzertrennlich, und auch die in Wernigerode besprochenen Gedanken wurden zwischen ihnen weitergesponnen. Dort hatten die Professoren unter anderem erwogen, wie die Kluft, die die Männer der Praxis und die Männer der Wissenschaft trennte, überbrückt werden könne. Sie empfanden es schmerzlich, daß zwischen den Studenten, sobald sie die Universität verlassen hatten, und ihren ehemaligen Lehrern der Regel nach jede persönliche Beziehung aufhöre, und beklagten den Verlust, der dadurch sowohl für das kirchliche Leben als für die wissenschaftliche Arbeit entstünde. Beide Teile mußten [S. 359] durch die mangelnde Verbindung für ihre Arbeit Einbuße erleiden. Denn die wenigen Universitätsjahre zu den Füßen der Professoren sollten doch eigentlich nur die Einleitung in dauernde wissenschaftliche Arbeit bedeuten. Umgekehrt sollten die Männer der praktischen kirchlichen Arbeit unablässig das Leben der Universitäten befruchten, damit es nicht in leere Luftgebilde sich verflüchtige, die ohne Verständnis und ohne Bedeutung bleiben mußten für das wogende Leben des Volkes und der Christenheit.
So wurde zwischen Vater und Schlatter bei einer Regenwanderung nach Andreasberg, die sie unter einem gemeinsamen Regenschirm vereinigte, für das nächste Jahr ein theologischer Kursus in Aussicht genommen. Schlatter wünschte, daß er nicht in einer Universitätsstadt sein sollte, sondern in einer Gemeinde. Denn dadurch sei von vornherein klar zum Ausdruck gebracht, daß die Besprechungen zwischen den Männern der Wissenschaft und denen der Praxis nicht den Köpfen gelten sollten, sondern den Personen, nicht dem wissenschaftlichen Betriebe, sondern im tiefsten Sinne dem wissenschaftlichen Leben. Darum ergab sich von selbst Bethel als Versammlungsort.
So kam im August 1898 die erste theologische Woche zustande. Die große Zahl der Besucher zeigte von vornherein, welch tiefem Bedürfnis der Gedanke entsprang. Cremer und Schlatter hatten die Hauptvorträge übernommen. Zugleich mit andern Teilnehmern strömten namentlich die alten Schüler der beiden Professoren herbei, um einmal wieder mit den geliebten Lehrern zusammenzusein und ganz anders, als sie es als unerfahrene Studenten gekonnt hatten, unter ihrer Leitung den tiefsten Fragen nachzugehen.
Die Vorträge selbst waren öffentlich. Es sollte jedermann sich überzeugen können, daß die theologische Arbeit keine Geheimniskrämerei sei, sondern für jeden Nachdenksamen ihren hohen Wert habe. So nahmen viele Nicht-Theologen beiderlei Geschlechts an den Vorträgen teil, aus der Anstalt sowohl wie aus Bielefeld und der Umgegend. Die Besprechungen aber, die den Vorträgen folgten, wurden im geschlossenen Kreise der Theologen gehalten, und dieses Ineinander von Öffentlichkeit und Vertraulichkeit bewährte sich auch bei allen späteren Kursen, die vom Jahre 1898 ab bis heute fast ohne Unterbrechung alle zwei Jahre stattfanden.
Andere Theologen wurden hinzugezogen. So der blinde, immer wieder mit besonderer Bewegung begrüßte Professor Riggenbach von Basel, Professor Kähler aus Halle, Professor Schaeder, später in Kiel und Breslau, Professor Lütgert aus Halle, Professor Bornhäuser aus Marburg. Die Führung behielten Cremer und Schlatter, die beiden, das darf wohl gesagt werden, neben Kähler in Halle damals bedeutendsten Vertreter der deutschen Theologie, die in tiefster Gemeinschaft der Überzeugungen einander ergänzten.
Wie einer der Durstigsten saß Vater zu den Füßen dieser „Wasserschöpfer”, wie er die Professoren am liebsten nannte, ohne es zu merken, daß er seinerseits durch seine meist ganz kurzen Bemerkungen, die er in die Besprechungen hineinwarf, die Seele des Ganzen blieb. Er war wie der Meister, der die wogenden Töne immer auf die letzten Grundakkorde einigt und zugleich die verborgensten Saiten des Herzens zum Schwingen bringt, auch die, in denen der Zweifel schläft und das Bangen vor dem Unergründlichen.
Er selbst hatte am Ausgang seiner Studentenzeit die beängstigende Unsicherheit kennengelernt, in die die Kritik hineinführt. Darum blieb er barmherzig mit denen, die in ähnlichen Kämpfen standen. Das kam immer wieder während dieser theologischen Wochen zum Ausdruck. Aber zugleich wies er in den Besprechungen, die sich an die Vorträge der Professoren anschlossen, die Wege, die zur Gewißheit des Glaubens führen: die Demut der Buße und die selbstverleugnende Liebe. Geistliche Hoffart, das sprach er immer wieder aus, war für ihn das Haupthindernis des Glaubens. „Das menschliche Herz ist so hoffärtig,” sagte er auf einer dieser theologischen Wochen, „daß es nicht einmal die Liebe eines kleinen Kindes vertragen kann, sondern sich darauf etwas zugute tut. Und wie ist es mir gegangen, als ich gestern hier predigen mußte? Da sagte mir mein Herz: So, nun mußt du vor den großen, berühmten Professoren predigen; wie fängst du es nur an, daß du ihnen gefällst? So hoffärtig ist das Herz. Den Hoffärtigen aber kann sich Gott nicht offenbaren.” Naturgemäß riefen die Besuche, die die Teilnehmer der theologischen Woche in den Häusern des Elends von Bethel machten, viele Fragen wach, die dann in den gemeinsamen Besprechungen vorgebracht wurden. Vater konnte sich demütig immer wieder in das schicken, was ihm an den[S. 361] Wegen Gottes unbegreiflich erschien, und die Buße, die sich unter Gottes Gericht beugt, löste ihm unbegreiflich scheinende Rätsel. „Ich leide auch zuweilen”, sagte er einem Teilnehmer als Antwort auf dessen bange Frage, „unter all dem Elend der Erde und kann es nicht verstehen. Aber dann denke ich immer wieder: Wie würde es sein, wenn das Elend nicht da wäre? Es würde noch viel schrecklicher auf der Erde aussehen, weil dann die Hoffart ohne alle Hindernisse wachsen würde. Das Menschenherz ist viel zu hoffärtig, als daß es das Leiden entbehren könnte.”
Neben der Buße aber war ihm die Liebe der andere Pol, um den die Erkenntnis Gottes schwingt. „Wie kann nur”, fragte ihn einer, „all dieses Elend, das sich in den Anstalten zusammenfindet, von Gott zugelassen werden?” Da sagte Vater nur: „Man muß etwas zum Lieben haben.” Und als ein zur theologischen Woche gekommener Gefängnispastor während der Besprechung darüber klagte, wieviele Gottesleugner er unter seinen Gefangenen fände, sagte Vater: „Ich habe noch nie einen Gottesleugner getroffen.” „Bebel!” rief eine Stimme in den Saal hinein. Vater aber sagte aus tiefster Überzeugung heraus: „Und wenn Bebel hier wäre, er würde es nicht wagen, Gott zu leugnen.” Da sahen wir in seine tiefsten Erfahrungen und Überzeugungen hinein. Er hatte in der Tat keinen Gottesleugner gefunden. In Debatten über das Dasein Gottes hat er sich nie eingelassen, aber unter der Glut seiner Liebe wurde auch in gottentfremdeten Gemütern die geheimnisvolle Gottesstimme wach. Sie spürten den Hauch aus einer andern Welt, und trotz aller Verstandeszweifel vermochten sie in seiner Gegenwart nicht, diese andere Welt zu leugnen. So wurde Vater uns zur Auslegung des alten Wortes: „Deus tantum cognoscitur, quantum diligitur”. Gott wird nur in dem Maße erkannt, als er geliebt wird. Und auch unser Nächster wird in dem Maße der Erkenntnis Gottes näher geführt, als er durch uns unter den Strahl der Liebe Gottes kommt.
Diese Liebe aber schöpfte Vater aus der in der Schrift geoffenbarten Liebe Gottes in Jesus Christus. Darum war ihm die theologische Woche und die Freundschaft mit den „Wasserschöpfern” solch eine besondere Erquickung. Ein Professor der sogenannten freien Theologie führte seine Studenten durch Bethel. Am Schluß machte er Vater einen Besuch. „Herr[S. 362] Pastor,” sagte er, „wieviel Gutes tun Sie den Kranken, und wie gütig haben Sie uns aufgenommen! Warum sind Sie zugleich so ablehnend gegen meine theologische Arbeit?” „Lieber Professor,” sagte er, „ohne den alten Glauben könnte ich keinen einzigen epileptischen Kranken pflegen — und du auch nicht.”
Fünfzehn Jahre lang hatte Wilhelmsdorf seine Arbeit getan. Immer mehr waren Epileptische und Geisteskranke, die nach und nach von Bethel nach Eckardtsheim übergesiedelt waren, in fröhlichen Wettbewerb mit den Kolonisten getreten. Aus der Einöde war ein Garten Gottes geworden. Überall saftige Wiesen, prangende Gärten, wogende Felder und Schonungen von Tannen und Kiefern, die auf dem durchrigolten Boden kräftig gediehen. Aber so erfreulich diese Entwicklung auf der einen Seite war, so sah Vater ihr doch auch nicht ohne Bedenken zu. Die Masse des unkultivierten Landes nahm zusehends ab. Neuerwerbungen waren nicht möglich. Denn überall um Eckardtsheim her, teilweise mit Hilfe der Kolonisten, hatten die Bauern das Vorbild der Kolonien nachgeahmt. Durch planmäßiges Rigolen und künstliche Düngung war der Wert der ganzen Umgegend um ein Vielfaches gestiegen. Niemand dachte mehr an Verkaufen. Hätte Bethel doch kaufen wollen, so wäre eine Rentabilität unmöglich gewesen.
Auf das Heideland war also nicht mehr zu rechnen. So wandte Vater seine Augen den Mooren zu. Er bereiste die nördlichen Kreise Westfalens, Lübbecke und Minden, aber alles Suchen war vergebens. Nirgends fand er ein Gebiet, das einer Zweigkolonie von Wilhelmsdorf eine neue Heimat geboten hätte. Und doch wurde solch eine Kolonie mehr und mehr zur Notwendigkeit. Denn während die Arbeitsmöglichkeit in Wilhelmsdorf immer beschränkter wurde, nahm andererseits die Zahl der Arbeitslosen immer mehr zu. Die westfälische Industrie hatte in den letzten zehn Jahren einen ungeheuren Aufschwung genommen. Aber sie war den Gesetzen der Ebbe und Flut unterworfen. Jede Steigerung des Arbeitsmarktes lockte immer neue Arbeitermassen in die westfälischen Grenzen. Jedes Nachlassen aber warf jedesmal die schwächsten und unzuverlässigsten Elemente auf die Landstraße. Dann wurden die[S. 363] Herbergen, die Verpflegungsstationen, die Kolonien überflutet, ohne dem Strom gerecht werden zu können.
Verschiedentlich war Wilhelmsdorf bis zum letzten Winkel vollgestopft gewesen. Hier mußte also gesorgt werden. Es war auch diesmal wieder kein Gründungsfieber, wie Fernstehende meinten, sondern die zwingende Gewalt der Verhältnisse, die vorwärts trieb, und das Erbarmen mit den Brüdern von der Landstraße, die ohne solches Erbarmen in Kälte und Schnaps verdarben.
Nun hatte Vater einen treuen Freund, Forstrat Deckert in Hannover, der sich nach seinem Abschied mit all seinen Kräften und Erfahrungen zur Verfügung gestellt hatte und als Nachfolger des Kommerzienrats Bansi Präses des Anstaltsvorstandes geworden war. Als der Neuerwerb von Ödland innerhalb der westfälischen Grenzen keine Aussicht bot, lenkte er im Frühjahr 1898 Vaters Augen auf das große hannoversche Wietingsmoor, wo er jahrelang eine umfassende und sehr erfolgreiche Tätigkeit ausgeübt hatte. Von der kleinen Kreisstadt Sulingen aus drangen die beiden Freunde in das Moorgebiet vor. Der alte Moorvogt Rolfs, der unter Deckert gearbeitet hatte, begleitete sie.
Es war, als wenn Vater eine neue Welt aufginge. Nicht um Niederungsmoor, wie im westfälischen Gebiet, sondern um Hochmoor handelte es sich hier. In abflußlosen, unermeßlich weiten Sandkesseln hatte sich im Laufe der Jahrtausende eine Pflanzenschicht über die andere getürmt. Die modernde Schicht des Herbstes und Winters war in jedem neuen Frühjahr zur Geburtsstätte der neuen Schicht geworden. Während die alten Lagerungen in der Tiefe verschwanden und unter dem Druck der oberen Schichten erst zu braunem, dann zu schwarzem Torf wurden, hob sich die Fläche selbst mehr und mehr, bis sie als ein riesiger lebendiger Schwamm über den Rand des Sandbeckens hinauswuchs und so als Hochmoor höher ragte als das umgebende Tiefland.
Je weiter die beiden Freunde in das Moor hineinschritten, desto heller und leuchtender tauchte eine neue Zukunft vor Vaters Augen auf. Er stieß seinen Stock in die Tiefe, der, ohne auf ein Hindernis zu stoßen, bis an die Krücke hinunterglitt. „Ha,” sagte er, „hier habe ich Arbeit.” Nach Westen und Osten[S. 364] und namentlich nach Süden zu in der Richtung auf die in der Ferne schimmernden Weserberge dehnte sich die Einöde aus. Im Schmucke des roten Heidekrautes und des schneeigen Wollgrases lag sie da wie ein schlafendes Riesenkind aus dem Märchenreiche, mit dessen Haaren der vom fernen Meer herüberströmende erfrischende Wind spielte und das auf seinen Befreier wartete.
Die Anlieger des Moors, die auf dem Gebiet der alten Langobarden sitzen, — man findet noch heute in den Hünengräbern der Gegend Urnen und Geräte, die sich mit den Funden der oberitalienischen Ebene decken — hatten bis dahin das Moor als ihren Feind angesehen. Wohl hatten sie ihm ihren Brennbedarf entnommen, und das Heidekraut hatte ihre Heidschnuckenherden genährt, aber auf der andern Seite waren die an das Moor stoßenden Äcker immer wieder durch den wehenden Torfstaub bedeckt worden. Sobald der Frühjahrswind die Oberfläche des Moores trocknete, fing das Moor, ähnlich den Dünen des Meeresstrandes, an zu wandern und überschüttete die Grenzgebiete mit dem feinen Torfmull, der sich da und dort zu kleinen Hügeln auftürmte und alles Leben unter sich begrub.
Durch die Regierung waren umfassende Pläne ausgearbeitet worden, die den Schutz des Landes vor dem Moor bezweckten. Sie würden aber Millionen verschlungen haben. Da schlug Forstrat Deckert vor, ähnlich wie im Küstengebiet durch das Dünengras, so im Moorgebiet durch schmale Kulissenwälder die Gewalt des Windes zu brechen und durch Ansamung eines geeigneten Grases die wandernden Moorwellen aufzuhalten. Der Plan wurde angenommen, und in dem Maße, als die schmalen schützenden Birkenstreifen emporwuchsen, die sich wie Vorpostenketten in das Moor hinausschoben, kam der zerstörende Vormarsch des Moorstaubes zum Stehen.
Daß aber aus dem bisherigen nur mühsam abgeschlagenen Gegner ein starker Freund werden könnte, daran hatte freilich niemand gedacht. Als darum der alte Moorvogt einen Besitzer nach dem andern anging, ob er Anteile seines Moorbesitzes verkaufen wollte, fand er überall weitestes Entgegenkommen. Man einigte sich auf 40 Mark für den Morgen. So wurden zunächst in dem tiefsten und aussichtsreichsten Moorbecken, in welchem der Torf bis zu einer Stärke von sechs bis sieben Meter stand, 4000 Morgen erworben und später aus dem[S. 365] angrenzenden staatlichen Gebiet noch weitere 1500 Morgen hinzugefügt.
Für Vater aber handelte es sich zunächst darum, die Mittel für den Neuerwerb aufzubringen. Unter der Überschrift „Wer schenkt uns einen Morgen Hochmoor?” ließ er ein kleines Blatt drucken, worin er die vorhin geschilderte Lage kurz darstellte. Die Reise zur Grundsteinlegung der Kirche von Ems führte ihn für drei Ruhetage auf das Schlößchen der befreundeten Familie von Preuschen in Liebeneck. Und diese drei Tage verwandte er dazu, der kleinen Druckschrift eigenhändige Briefe an die Industriellen und Großindustriellen Westfalens hinzuzufügen. Jeder Brief klang aus in die Bitte: „Helfen Sie uns durch einen kräftigen Ruck in den Sattel!” Die Bitte war nicht umsonst. Die Notwendigkeit der Sache leuchtete durchschlagend ein. Nach kurzer Zeit waren die Mittel zur Stelle.
In der Richtung von Osten nach Westen wird das Wietingsmoor von einem Sandrücken durchschnitten, auf dem die aus der napoleonischen Zeit stammende Heerstraße läuft. Hart neben dieser Straße, einem freundlichen Kiefernwäldchen gegenüber, wurde im folgenden Frühjahr die erste Holzbaracke errichtet, und das erste Hauselternpaar und die ersten Kolonisten zogen in „Freistatt” ein.
Freistatt! Der Name erinnert an die besonderen Freistätten in Israel, vier diesseits, zwei jenseits des Jordans, wohin die von Bluträchern Verfolgten fliehen durften. Wer sie erreicht hatte, war gerettet. So sollten auch in das einsame Moor alle von fremder oder eigener Schuld Gehetzten sich retten dürfen und eine Freistatt finden, in der der Friede herrschte und die Geborgenheit. Und niemand sollte zurückgestoßen werden. „Daß ihr mir nur keinen abweist!” schrieb Vater einmal in der Zeit der größten Überflutung, und wir wußten, daß der ganze Zorn seiner Liebe hinter solch einem Wort stand, das keine Übertretung duldete!
Bei der Gründung der Arbeiterkolonien war zunächst der Grundsatz durchgeführt worden, daß jeder für längere Zeit Arbeitslose die Kolonie seiner Heimat aufsuchte. Aber das war nur so lange durchführbar, als ein festes Netz von Herbergen und Verpflegungsstationen die einzelnen Teile Deutschlands verband. Seit dieses Netz zerrissen und solange es nicht neu[S. 366] hergestellt war (vergl. den Abschnitt „Wanderarbeitsstättengesetz”), hatte dieser Grundsatz nicht mehr befolgt werden können. Und so wurde gerade Freistatt die Zufluchtsstätte von Arbeitslosen aus allen Teilen des Vaterlandes.
Wer Menschenschicksale studieren wollte, der mußte nach Freistatt kommen! Leute aller Berufe, jedes Alters, jeder Begabung, Menschen, die noch nie vor Gericht gestanden hatten, und solche, die ein halbes Leben im Zuchthaus und Gefängnis zugebracht hatten, suchten hier Sicherheit und Bergung. Auch manche Söhne gebildeter Stände, die draußen im Leben versucht hatten, als Herren zu leben, ohne die Herrschaft über sich selbst üben zu können, und nun in der Einsamkeit sich wiederfinden sollten. Dazu kamen die schulentlassenen jungen Burschen, teils Fürsorgezöglinge, die von den Provinzen überwiesen wurden, teils solche, die von ihren Eltern gebracht wurden, um im Moor den Leib und Seele verderbenden Lüsten und Lastern des modernen Kulturlebens entrissen zu werden.
Wo die Schar derer, die nach Freistatt flüchteten und geflüchtet wurden, in sich so vielgestaltig war, ergab es sich von selbst, daß man sie in verschiedene Häuser und verschiedene Arbeitsplätze gruppieren mußte. Alle Gruppen aber blieben untereinander verbunden durch die gemeinsame große, lockende Aufgabe, das bis dahin unbezwungene Moor sich und der Menschheit dienstbar zu machen. Es war ähnlich wie in der Senne von Wilhelmsdorf; wieder wurden ausgestoßenes Land und ausgestoßene Menschen miteinander verbunden und eins durch das andere belebt, entwickelt und geheilt.
Zunächst legte man von den festen Sandinseln aus einen Damm quer durch das Moor und versah ihn mit Schienengeleisen. So war der sichere Stützpunkt geschaffen, von dem aus die einzelnen Gruppen der Kolonie den Angriff auf das Moor eröffnen konnten. Zweiggräben wurden gezogen, die Heide geschlagen, die Fläche geebnet. Mit Pferden, denen zum Schutz gegen das Versinken breite Holzschuhe unter die Hufe gekeilt waren, und mit besonders gebauten Eggen und Pflügen wurde der Moorboden bearbeitet. Durch Kalk wurde ihm die Säure entzogen, durch Kunstdünger neue Nährkraft zugeführt — und dann wurde zum erstenmal diesem verachteten Lande die Frucht der Erde anvertraut.
Man ahnt etwas von dem Staunen der umliegenden Bevölkerung, von der Freude und dem Stolz der verachteten Kolonisten, als nun dies schwarze, modrige Land im nächsten Frühjahr anfing zu sprießen, zu grünen und Frucht zu bringen. Immer weiter dehnten sich von Jahr zu Jahr Kartoffel-, Hafer- und Roggenfelder aus und zwischen ihnen die Weiden, von deren kräftiger Grasnarbe das Vieh getragen wurde ohne Gefahr, im Moor zu versinken.
Zugleich wurde das Moor gezwungen, die Wohltaten, die es schon bisher dem Lande erwiesen hatte, in immer wachsendem Maße zu erhöhen. Während der eine Teil des Moores zunächst für die Kulturen aufgehoben blieb, wurden durch den andern parallel laufende Torfstiche gelegt. Hier fanden namentlich die jüngeren Kolonisten Sommer und Winter über abwechslungsreiche Arbeit. Mit haarscharfen Messern zerschnitten sie die lederweiche Moostorfschicht in einzelne Stücke und breiteten sie zum Trocknen auf der Fläche aus. Der darunter zu Tage tretende schwarze Torf wurde mit Baggermaschinen, die auf Schienen längs des Grabens liefen, aus der Tiefe geholt, zu langen Stangen gepreßt, zerteilt und auf Brettern in der Sonne getrocknet.
Zu haushohen Mieten türmten sich die Torfhaufen auf. Sie wurden entweder in der Torffabrik, die auf der Sandinsel an der alten mit Birken und Eichen bestandenen Napoleonstraße errichtet worden war, zu Torfstreu verarbeitet oder den einzelnen Haushaltungen und Niederlassungen innerhalb und außerhalb der Kolonie als Brennmaterial zugeführt.
Um aber die weiten Heideflächen des Moores, die zunächst noch brach liegen bleiben mußten, kräftiger ausnutzen zu können, wurde den Heidschnucken mitten im Moor eine Heimat bereitet. Auf breiter Holzunterlage, die in Metertiefe im Moor versenkt und durch die Moorsäure vor dem Verfaulen geschützt war, entstand ein großer Stall und daneben auf einem künstlich aufgeworfenen Sandhügel, der allmählich durch den eigenen Druck bis auf die Oberfläche des Moors hinuntersank, ein geräumiges Wohnhaus. Hier in der wildesten Einsamkeit lebte es sich eigentlich am schönsten. Hier über dem ganz freien Horizont ging den Bewohnern die Sonne am frühesten auf und am spätesten unter. Von hier aus konnte man am ungestörtesten das Moorhuhn, den Kuckuck und die Wildenten beobachten [S. 368] und die Brust füllen mit der reinsten, kräftigsten Luft, die der Moorwind herübertrug.
Der Mittelpunkt aber der ganzen Kolonie, die sich allmählich über eine Strecke von sechs Kilometern ausdehnte, wurde, wie in Bethel und Eckardtsheim, die Kirche. Aus Brettern und dazwischengefülltem Torf wurde sie inmitten eines kleinen Kiefernhaines aufgerichtet. Manchmal hat Vater hier gepredigt und die aus den nahen und fernen Häusern herbeiströmende Gemeinde von Freistatt zu dem hingeführt, in welchem allen Gebundenen die Freiheit bereitet ist.
Natürlich konnte diese große neue Aufgabe nur unternommen werden mit Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen, die keine Mühe, Last und Enttäuschung scheuten. Auf einer Versammlung des Vereins Arbeiterheim hatte Vater einen jungen akademisch gebildeten Landwirt von Lepel kennen gelernt, der nun mit großer Willenskraft und Hingabe sich an die Spitze der kleinen Truppe von Hausvätern, Hausmüttern, Brüdern und Vorarbeitern stellte, die mit ihm wetteiferten in der Befreiung des Moors und der Befreiung der Menschen, welche sich in Freistatt zusammenfanden.
So sehr Vater als alten Landwirt die Erschließung des Moors zu Kulturzwecken beschäftigte, so behielt er doch fest im Auge, daß nicht die Befreiung des Moors das erste Ziel sei, sondern die Befreiung der Menschen. Und immer wieder hat er die Blicke der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen auf dieses eine Ziel gerichtet. Denn ungleich ernster und schwieriger als die eigenartige Arbeit im Moor blieb die Arbeit an denen, die das Moor herbeilockte.
Das galt vor allem von den jungen Burschen. Sie kamen fast ausschließlich aus den Großstädten und dem Industriegebiet. Viele von ihnen hatten schon vor den Schranken des Richters gestanden, und manche waren nur deshalb vor dem Gefängnis bewahrt worden, weil man nicht wußte, wo die Grenze lag zwischen bewußter Bosheit und ererbtem krankhaftem Hang. Sie stellten die höchsten Anforderungen an die Hauseltern und Brüder. Hier galt es nicht nur, mit fester Hand Erzieher zu sein, sondern zugleich geduldiger Pfleger und mitleidender Freund.
Namentlich in jener Anfangszeit hat manches Leben der Brüder in Gefahr geschwebt, weil die jungen Burschen wie[S. 369] wilde, ungezügelte Pferde waren, bei deren Bändigung erst das rechte Ineinander gefunden werden mußte von unbeugsamer Festigkeit und mütterlicher Zartheit. Denn:
Manchmal hat Vater gebangt, ob es gelingen würde.
Einmal erschien ein kräftiger Angriff in der sozialdemokratischen Zeitung Bielefelds gegen die Kolonie, besonders gegen ihre Arbeit an den Zöglingen. Es sollten schwere Übergriffe der Pfleger vorgekommen sein. Sofort schrieb Vater an den Redakteur der Zeitung und bat ihn, am andern Morgen um sechs Uhr sich mit ihm auf dem Bahnhof in Bielefeld zusammenzufinden, damit sie gemeinsam an Ort und Stelle die Sache untersuchten und die Angriffe auf ihre Haltbarkeit prüften. Wirklich stellte sich der Redakteur ein. In vierstündiger Fahrt erreichten sie das Moor, untersuchten miteinander den Sachverhalt, fuhren zusammen zurück, und am andern Tage gab der Redakteur in seiner Zeitung eine Berichtigung, die neben kleinen Einwendungen auf eine allseitige Anerkennung der Arbeit von Freistatt hinauslief.
Die tiefe Achtung aber, die Vater den Verachteten unter den Menschen und auch dem verachteten Moor erwies, hat sich reichlich gelohnt. Heute kann Freistatt alle Öfen der Muttergemeinde in Bethel, soweit es sich nicht um die Zentralheizungen der großen Krankenhäuser handelt, durch den schwarzen Pechtorf mit Brennmaterial versorgen. Und was noch wertvoller ist, die Muttergemeinde Bethel und ihre Zweigkolonien, die heute an Kranken und Gesunden etwa 8000 Seelen umfassen, erhalten einen Teil ihrer Lebensbedürfnisse aus den Weiden, Feldern und Ställen von Freistatt.
Im Sommer 1895 hatte Professor Harnack im Kreise seiner Studenten über das Apostolikum gesprochen. Die Äußerungen waren wider den Willen Harnacks in die Öffentlichkeit gedrungen, und darüber war ein heftiger sogenannter Apostolikum-Streit entstanden. Streitschriften hin und her waren gewechselt worden.
Einige von diesen Schriften hatte Vater gelesen. Aber Wortkämpfe über Dinge des Glaubens hatte er immer gemieden. Ihn trieb es auch jetzt wieder zum Handeln. An eine reformatorische Kirchentat dachte er nicht. Immer erneut hatten wir es ihn sagen hören, daß nach seiner Überzeugung die Verkündigung des Evangeliums selten so ungehindert im Vaterlande habe geschehen können als jetzt. Er war im Jahre 1892 während eines Ferienaufenthaltes in Oberhof in sehr herzliche Beziehungen zu Geheimrat Althoff aus dem Kultusministerium getreten, dem damaligen nahezu allmächtigen Diktator bei allen Fragen, die die Besetzung der Lehrstühle aller Fakultäten betrafen. Vater hatte in Althoff einen Mann kennen gelernt, der ohne Voreingenommenheit bereit war, jeden wissenschaftlich wirklich bewährten positiven Gelehrten der theologischen Arbeit der Universitäten zuzuführen.
Aber die ausschließliche Beschränkung auf die staatlichen Bildungsanstalten sah Vater nicht als ein Glück der Kirche an. „Die evangelische Kirche”, sagte er, „hat sich viel zu lange gewöhnt, sich auf den staatlichen Arm zu verlassen, und darüber ist sie eingeschlafen.” Er für seine Person hatte die tiefsten wissenschaftlichen und persönlichen Anregungen von Männern empfangen, die, wie seine Lehrer in Basel, nicht aus staatlichen Fakultäten hervorgegangen waren, sondern aus den Kreisen freier Körperschaften. So sah er in dem Dienst dieser freien Körperschaften, wie sie sich in der Arbeit der Inneren und Äußeren Mission durch ein Jahrhundert bewährt hatten, eine wesentliche Ergänzung der kirchlich organisierten Arbeit und der theologischen Fakultäten. Warum sollte die Christenheit, wenn sie freie Anstalten der Inneren und Äußeren Mission schuf, nicht auch berechtigt und in der Lage sein, eine freie theologische Fakultät zu schaffen, und zwar nicht in einer der verführungsreichen Großstädte, sondern am besten in einer lebendigen Christengemeinde inmitten gesunden christlichen Volkslebens? Darum schlug er als Heimat einer solchen kleinen Fakultät die Stadt Herford im Ravensberger Lande vor. Diese Gedanken legte er unter dem Titel „Eine freie theologische Fakultät” in einem Aufsatz dar, der zunächst in der kleinen konservativen Zeitung Bielefelds erschien und dann in vielen Sonderdrucken verbreitet wurde.
Neben einzelnen Zustimmungen war ein Sturm von Einwendungen [S. 371] die Antwort. Aus allen kirchlichen und theologischen Lagern kamen die Gegenstimmen.
Es war das einzige Mal, daß Vater, statt zu handeln, zunächst nur einen Gedanken, einen Plan zur Diskussion gestellt hatte. Überall stieß er auf Bedenklichkeit und Ängstlichkeit. Namentlich hatten sich an dem Wort „Fakultät” viele seiner akademischen Freunde gestoßen. Er mußte den Gedanken zurückstellen. Immerhin war sein Ruf nicht umsonst gewesen. Es trat ein Kreis von Freunden des kirchlichen Bekenntnisses in Rheinland und Westfalen zusammen, der die Gründung eines Studienhauses an der Universität Bonn in die Hand nahm und auch rasch zur Durchführung brachte. Schon im Sommer 1896 stand das Haus zum Einzug fertig, und unser jüngster Bruder war unter den ersten Studenten, die darin für ihre Studien willkommene Heimat und Anleitung fanden.
Aber das, was Vater gewollt hatte, war damit doch nicht erreicht. Nun traf er im Jahre 1903 während einer Erholungszeit in Amrum mit dem alten Pastor Speckmann zusammen, dem Vater des bekannten Schriftstellers. Speckmann war unter Louis Harms Lehrer am Missionshause in Hermannsburg gewesen und stand jetzt in einer hannoverschen Gemeinde. Die tiefen, klaren Beiträge, die er zu den gelegentlichen kleinen Bibelbesprechstunden der Badegäste lieferte, taten Vater besonders wohl und zogen sein ganzes Herz zu dem bescheidenen, stillen Mann hin.
Einmal traf er ihn am Strande tief in Gedanken versunken. „Brüderchen, was hast du?” fragte er ihn. Und nun entlockte er Speckmann die Sorge um seinen jüngsten Sohn. Er hatte ihm nichts als Freude gemacht, stand jetzt vor dem Abiturientenexamen und wollte Theologie studieren. Aber Speckmann wußte nicht, zu welcher Universität er ihm raten sollte. Zugleich mit dem mangelnden Vertrauen zu einer großen Zahl der deutschen theologischen Lehrer an den verschiedenen Universitäten drückte ihn der Gedanke an die Unruhe und Verführung so vieler Universitätsstädte und die Sorge, seinen Sohn in den Strudel einer streitenden Wissenschaft und einer von Gott abgelenkten Stadtwelt hineintauchen zu lassen.
Diese Sorge ging Vater durchs Herz. Einem Vater, einem Sohn galt es zu helfen. Aber wie? Da tauchte mit elementarer Gewalt der alte Gedanke einer freien theologischen Schule aufs[S. 372] neue auf. Diesmal vermied Vater die Öffentlichkeit und sammelte in der Stille einen ganz kleinen Kreis von Freunden, die die Sache mit ihrem Herzen und mit ihren Mitteln zu tragen bereit waren. Wenn ich mich recht besinne, waren es Schwester Eva von Tiele-Winckler, Pastor Leydhecker von Frankfurt a. M. und Kommerzienrat Bansi in Bielefeld. Ebenso sah er sich auch in aller Stille nach den geeigneten Lehrkräften der Schule um, besuchte persönlich Pastor Jäger in Eisleben, um ihn an seinem Arbeitsplatz kennenzulernen, und ließ sich von diesem und von dem Sohn des Professors Kähler in Halle das Jawort geben, als Dozenten an der theologischen Schule einzutreten.
Bei Gelegenheit der theologischen Woche in Bethel im Herbst 1904 trat er dann aufs neue mit dem Gedanken hervor. „Ich frage euch nicht mehr,” sagte er, „ob das Kind leben soll; es lebt schon, und ihr sollt es bloß aus der Taufe heben.”
Gleichzeitig warf er in einer ausführlichen Schrift den Gedanken neu in die Öffentlichkeit. Es war die Zeit, in der die Abschaffung des Jesuitengesetzes wieder einmal von der Zentrumspartei vor das Abgeordnetenhaus gebracht war. Man hatte von Vater, der damals Mitglied des Abgeordnetenhauses war, erwartet, daß er im Landtag gegen die Jesuiten und gegen die Abschaffung des Gesetzes, das die Jesuiten ausschloß, Stellung nähme. Er hatte es nicht getan. In einer Schrift „Wie kämpfen wir siegreich gegen die Jesuitengefahr?”[1] rechtfertigte er eingehend seine Stellung. Tiefer vielleicht als bei irgend einer andern seiner Schriften ist hier Vaters Feder in Glut getaucht. „Wir haben die Gegner nicht gerufen,” schrieb er darin, „aber indem sie heranrücken, wollen wir nicht protestieren und jammern, sondern uns ernstlich und mutig mit Waffen der Gerechtigkeit zum Kampfe rüsten. Hier gilt es nicht Übermut, sondern Demut, nicht Selbsterhebung, sondern Buße, nicht Verzagtheit, sondern Glaube. Damit, daß wir unsere Gegner schlecht machen, ist uns nicht geholfen; wir müssen selbst besser werden.”
[1] Das Heft (39 S.) ist in der Schriftenniederlage der Anstalt Bethel erschienen.
Wie er dieses Besserwerden verstand, legte er im zweiten Teil der Schrift eingehend auseinander, wo er die Gründe für[S. 373] die Aufrichtung der theologischen Schule erörtert und folgendes sagt:
„Gefährlicher, grundstürzender, bis in das tiefste Mark hinein vergiftender als die weiter geöffnete Tür für die Väter der Gesellschaft Jesu, das sage ich frei heraus, ist eine andere Not, die unseres Kirche an ihrem eigenen Busen großzieht. Unaufhaltsam ergießt sich eine Flut glaubensloser und oft pietätloser Kritik von den theologischen Lehrstühlen unserer deutschen Hochschulen über unsere arme theologische Jugend und rüttelt an der Grundlage unseres Glaubens, nämlich an der Heiligen Schrift. Viele junge Theologen ziehen fröhlich im Glauben auf die Universität und kommen mit zerbrochenem Glauben zurück. Es schreien viele Vater- und Muttertränen gegen solche grausamen Seelenhirten auf evangelischen Lehrstühlen. Ich würde doch viel lieber Steine klopfen als solche Arbeit treiben. Wer zwingt die Leute zu solchem grausamen Dienst? Um Glauben kämpfende, um Gewißheit ringende, wissenschaftlich fleißige und gründliche, nicht fertige, aber immer tiefer in die Wahrheit eindringende Männer der Schule kann ich gut leiden; aber nicht solche, die ihre leichtfertigen Zweifel und hoffärtigen Fündlein als sichere Resultate der Wissenschaft ihren Schülern darbieten. Diese Männer stehen sicher nicht auf des Heilands Wort Johannes 7, 17.
Selbstverständlich wird mit der Heiligen Schrift auch alles unsicher, was den Trost eines armen Sünders im Leben und Sterben ausmacht, was ihm Kraft zum Sieg über die Sünde und Fortschritt in der Lebenserneuerung darbietet. Christi Person und Werk wird nicht nur in immer nebelhaftere Umrisse gehüllt, sondern verschwindet endlich ganz. Man bedarf sein nicht mehr. Ein für uns gestorbener, für uns auferstandener, für uns zur Rechten des Vaters thronender König und Hoherpriester ist er nicht mehr. Daher gibt es auch für die Menschheit keine Auferstehung, kein ewiges Leben mehr, sondern ein wesenloses Fortleben der Seele, wie es alle Heiden haben.
Der selige Martin Boos, Goßners Freund, der bekanntlich bis in seinen Tod seiner Kirche treu und katholischer Priester blieb, schrieb einmal in einem seiner letzten Briefe: „Es ärgert mich vieles an meiner Mutter, am allermeisten aber, daß sie dem Evangelium so feindlich ist.” So möchte ich vielmehr von der evangelischen Kirche sagen: „Es ärgert mich vieles an meiner [S. 374] Mutter, am allermeisten aber, daß sie solche Feinde des Evangeliums auf den theologischen Hochschulen sitzen hat.”
Aber noch weniger als ich den Staat zum Verteidiger der Kirche gegen die Jesuiten in die Waffen rufen möchte, möchte ich ihn gegen diese Irrlehrer mobil machen und sie mit Polizeigewalt von ihren Stühlen stoßen. So hat es der Heiland auch nicht gemacht, als er klagte: „Auf Mosis Stuhl sitzen die Schriftgelehrten und Pharisäer”, sondern er hat sich von ihnen ins Gesicht schlagen und speien lassen und hat sie überwunden, indem er für sie blutete, betete und starb. Schlechte Theologen werden ebenso wenig wie falsche Jesuiten durch polizeiliche Maßregeln überwunden. Ich weiß es wohl, daß es kein normaler Zustand ist, wenn der Staat solche Männer auf die theologischen Lehrstühle setzt und sie unsern jungen Theologen zu ihren ordentlichen Lehrern bestellt und jene hernach durch eine staatliche Prüfungskommission prüfen und durchfallen läßt (ich habe dies bei einem meiner liebsten Konfirmanden erfahren), wenn sie nun von dem Geiste und dem Unglauben ihrer Lehrer durchtränkt sind und sich ehrlich zu diesem Unglauben bekennen. Aber was kann der Staat da machen? Was können wir von ihm verlangen?
Wenn schon die staatliche theologische Prüfungskommission von ihren Kandidaten nicht wohl mehr verlangen kann als den Beweis ihres treuen Fleißes und ihrer wissenschaftlichen Tüchtigkeit, so kann der Staat bei den theologischen Lehrern noch viel weniger ein examen rigorosum (hartes Examen) auf ihre Rechtgläubigkeit anstellen. Dann würde man in beiden Fällen nur Heuchler schaffen. Auch auf dem Gebiete der Wissenschaft geht es ohne heiße Kämpfe nicht zum Sieg.
Gleichzeitig mit dem Kampf um die Jesuiten und dem ungleich wichtigeren um die theologischen Lehrer an den Universitäten durchzieht die evangelischen Landeskirchen Deutschlands eine andere Bewegung, die ihr auch in die Flanken schlägt und sie aus dem Schlafe aufrüttelt. Es ist die Gemeinschaftsbewegung.
Diese Bewegung ist ohne Zweifel in ihrem innersten Kern gut und heilsam, ähnlich derjenigen, die im 18. Jahrhundert durch Spener, Francke, Zinzendorf dem Vernunftglauben und der toten Rechtgläubigkeit gegenübertrat. Ihre Führer und Glieder sind wenigstens der überwiegenden Mehrheit nach das[S. 375] Salz unserer Gemeinden. Sie begnügen sich nicht damit, äußerlich ihre kirchlichen Pflichten zu erfüllen und einen ehrbaren Wandel zu führen, sie machen ganzen Ernst mit den Forderungen der Heiligen Schrift, dringen auf gründliche Umkehr, wollen schriftgemäß nicht nur einen Jesus für uns, sondern auch einen Jesus in uns haben, wissen, daß ohne Heiligung niemand den Herrn sehen wird, sind auch keine Kopfhänger, sondern fröhliche Leute, die mit Lied und Lobgesang Hand in Hand in geschwisterlicher Liebe ihre Straße ziehen in den Fußtapfen des Anfängers und Vollenders unseres Glaubens und keine größere Freude kennen, als auch andere Seelen zu dem Freund zu locken, der ihres Herzens Freude ist. „Heilig, selig ist die Freundschaft und Gemeinschaft, die wir haben und darinnen uns erlaben”, — so singen sie auf ihrem Wege nach Jerusalem. Wie sollte man sich über eine solche Bewegung nicht freuen, die unter Leitung besonnener Männer in gesunden Bahnen einhergeht!
Aber freilich läßt sich nicht leugnen, daß diese Bewegung in ihren Ausläufern bereits bedenkliche Krankheitsspuren zeigt. Sie ist es ja nun ganz besonders, — das muß man ihr zu ihrem Ruhm nachsagen — die gegen die Angriffe der Männer der Wissenschaft für unsere liebe Bibel eifert. Sie ist besonders die Kirche der Laienprediger, unter denen zweifellos treffliche, geisterfüllte Männer sich befinden, denen an volkstümlicher Beredsamkeit und Liebesglut viele ordinierte Pastoren nicht das Wasser reichen können. Solche Laienpredigt nach dem Vorbild der beiden „Tischdiener” Stephanus und Philippus ist sicher köstlich, wenn sie in der Demut bleibt. Allein sie schlägt vielfach über die Stränge; sie fängt an, gegen jede Wissenschaft zu eifern, sieht bereits in jedem Theologen, jedem Geistlichen, der von der Hochschule kommt und die vom Staat geforderte theologische Vorbildung empfangen hat, einen unbekehrten Mann, einen Bibelfeind. Es gibt unter diesen Laienpredigern eine Anzahl minderwertiger Agitatoren, die, ohne selbst jemals die Heilige Schrift durchforscht zu haben, mit auswendig gelernten Schlagworten um sich werfen, die edelsten Führer dieser Bewegung nachäffen und, ohne sich jemals selbst bekehrt zu haben, als höchstens zu ihrem eigenen Ich, auf Bekehrung dringen. Sie machen aus der Heiligen Schrift, dieser wunderbarsten und köstlichsten aller Gottesgaben, die je durch menschliche Werkzeuge[S. 376] zustande gekommen ist und die zu freier Gotteskindschaft führen soll, ein hartes, totes Gesetzbuch, das zur Menschenknechtschaft führt, und werfen einfältigen Leuten Lasten auf den Hals, die sie selber nicht tragen mögen. Wenn sie, mit vollem Recht, wegen ihrer Hoffart gestraft werden, sehen sie sich als Märtyrer an, finden in jedem Geistlichen der Landeskirche einen Baalspfaffen, lehren ihre Zuhörer auch jeden Christen, der sich nicht zu ihrer Gemeinschaft hält und in ihre Schlagworte nicht einstimmt, für einen unbekehrten, unwiedergeborenen Menschen halten und von oben auf ihn herabsehen. So ziehen sie leider manche der edelsten Christen von Christo hinweg in die geistliche Hoffart und die Nachfolge des Verklägers der Brüder. Das ist eine schmerzliche Tatsache.
So leidet unsere liebe Bibel von beiden Seiten Not, durch die pietätlosen Kritiker auf den Hochschulen und durch ihre unverständigen Verteidiger in unsern Gemeinschaften.
Wie kann hier geholfen werden? Wahrlich nicht durch ein Lanzenstechen im Abgeordnetenhaus und Angriffe gegen den Kultusminister, wie mir dies zugemutet worden ist. Ich kann den letzten sechs Kultusministern das Zeugnis nicht versagen, daß sie sich redlich bemüht haben, nicht nur gründlich gelehrte, sondern auch herzensfromme Lehrer unserer theologischen Jugend zu verschaffen. Und es wäre Sünde gegen Gott, wenn wir nicht von Herzen dankbar sein sollten für das, was seine Güte in den letzten fünfzig Jahren auch durch die Handreichung des Staates an geisterfüllten Lehrern unserer theologischen Jugend gespendet hat. Ich nenne nur Männer wie Beck, Auberlen, Neander, Hengstenberg, Nitzsch, Tholuck, Müller, Hofmann, Delitzsch, Luthard, Kähler, Cremer, Schlatter, zu deren Füßen ich mit meinen drei Söhnen, teils als Student, teils als Pastor habe sitzen und von deren Lippen ich klares Lebenswasser für meine Seele habe trinken dürfen. Eine solche Blütezeit hat die evangelische Theologie seit der Reformationszeit nicht wieder gehabt. Wenn nicht alle deutschen, so hat doch jede preußische Hochschule auch jetzt noch Männer, die unsere Jugend nicht nur zum freien Jungbrunnen der demütigen theologischen Wissenschaft, sondern auch zu dem freien offenen Born wider alle Sünde und Unreinigkeit führen, der auf Golgatha quillt. Und wenn ich auf die fast zweihundert Kandidaten der Theologie blicke, die in den letzten achtzehn[S. 377] Jahren hier in unserer großen Kolonie von Elenden aller Art als Glieder des theologischen Konvikts die Schürze der dienenden Liebe sich umgebunden haben und von denen über zwanzig zu den schwarzen Brüdern Afrikas hinausgezogen sind, um ihnen die Kunde vom gekreuzigten Gottessohn zu bringen, so kann ich mich nicht genug freuen, wie viele von ihnen nicht bloß ein gründliches Wissen, sondern auch einen lebendigen Glauben, der in der Liebe tätig war, von den deutschen Hochschulen mitgebracht haben.
Dennoch kann ein schmerzlicher Mangel an lebendigen gelehrten Zeugen des Evangeliums an unsern Hochschulen nicht geleugnet werden, an Männern, die voll Geist, Glut und Kraft (namentlich in bezug auf das Alte Testament) den Umstürzlern die Spitze bieten und ihnen gründlich heimleuchten können. Aber solche Zeugen kann weder ein Minister schaffen noch ein Oberkirchenrat, weder eine Generalsynode noch ein Generalsynodalrat, wiewohl ich den drei letztgenannten gerne einen größeren Einfluß, wenigstens ein volles Vorschlagsrecht und ein volles Veto bei der Besetzung der theologischen Lehrstühle erkämpfen möchte.
„Fromme Lehrer der Kirche”, so pflegte mein seliger Freund D. Kögel zu sagen, „sind ein Gnadengeschenk Gottes, sie können nicht von Menschen gefordert, sondern müssen von oben erbeten werden.” Und dies wäre vor allem eine köstliche Arbeit unserer gläubigen Gemeinschaftskreise. Wenn sie erst einmal Lehrer auf den theologischen Lehrstühlen sitzen haben, von denen sie in Wahrheit sagen können: „Sie sind vom Herrn erbeten”, dann werden sie auch vor falschem Richtgeist und vor aller verzagten und selbstsüchtigen Kirchenflucht bewahrt werden und ein gutes Salz unserer Volkskirche bleiben und immer mehr werden.
Auf unserem schönen Friedhof in Bethel ruht Wilhelm Heermann, „der Freund des Ravensberger Volkes”, den wir gern und mit Recht den Begründer unserer Anstalten nennen. (Siehe Seite 202 ff.). Er schalt nicht auf Pastoren, auf Kirche und Kirchenregiment, meinte auch nicht bei seiner seltenen Zeugengabe, er könne die Sache nun besser machen als alle Geistlichen; sondern er sammelte kleine Gemeinschaften betender Christen, und hier betete man um treue Lehrer des Evangeliums. Dies Gebet wurde erhört.
Auch unsere arme Gemeinde fallsüchtiger Kranker auf dem Zionsberge zu Bethel möchte gern an ihrem bescheidenen Teil etwas Steine und Kalk zurichten, damit Zion gebaut werde. Und wie das?
Zunächst in der Weise ihres lieben Begründers auf dem Friedhof zu Bethel, daß sie den Herrn der Kirche um treue Diener des Evangeliums für Kirche, Schule und Haus bittet, gestützt auf das Wort: „Das Verlangen der Elenden hörest du, Herr; ihr Herz ist gewiß, daß dein Ohr darauf merket.” Psalm 10, 17. Vielleicht kann sie aber dem Gebet auch eine Tat hinzufügen. Sie möchte es sehr gern.
Man sollte neben den staatlichen theologischen Fakultäten zunächst eine (gibt Gott sein Ja und Amen zu diesem Erstling, später mehrere) freie theologische Vorschule aufrichten, die nicht etwa gegen die Landeskirche und gegen die bestehenden Universitäten, sondern lediglich für beide arbeitet und ihnen in einer stillen Rüstkammer gute Werkzeuge schmiedet und sie im Feuer des göttlichen Wortes so stählt, daß sie, innerlich erstarkt, getrost die staatlichen Universitäten beziehen und daß, will’s Gott, aus ihnen tüchtige Lehrer und Seelsorger für die Landeskirche erwachsen möchten. Es würde dadurch auch dem in letzter Zeit schmerzlich zunehmenden Theologenmangel abgeholfen werden. Sehr viele Eltern, die sich jetzt mit Recht scheuen, ihre Söhne sofort den großen Universitäten anzuvertrauen, würden sie gern hierher senden.
Diese Pflanzschule sollte also nichts weniger sein als eine steife Tretmühle zum Auswendiglernen orthodoxer Formeln, sondern ein freier geistlicher Tummelplatz lernbegieriger und heilsbegieriger junger Seelen zu gegenseitiger Befestigung in der freimachenden Wahrheit zu den Füßen erfahrener Lehrer, die nicht auf hohen Stühlen sitzen, sondern mit denen sie täglich freien, zutraulichen Umgang pflegen und denen sie alle ihre Not klagen können. Dieser Pflanzschule müßte man eine auch äußerlich liebliche und geistlich gesunde Stätte bereiten, in der die köstliche Saat mit Freuden und in der Hoffnung ausgestreut werden kann, daß sie nicht sofort wieder von wilden Säuen zerwühlt wird.
Es ist ja leider so, daß fast alle Universitätsstädte Deutschlands keine Orte sind, an denen in den Gemeinden christliches Leben grünt und blüht, sondern fast überall ist das Gegenteil[S. 379] der Fall, viel wüstes, gottloses, fleischliches Treiben. So erwachsen nach dieser Richtung hin unsern jungen Anfängern auf der theologischen Laufbahn keine Förderungen, sondern vielfach sehr schwere Hindernisse.
Ohne uns vorzudrängen, möchte ich heute wohl glauben, daß diese Pflanzschule in der Nähe unserer hiesigen Anstalten, nicht weit vom Grabe unseres lieben blinden Heermann, eine noch günstigere Stätte finden könnte als in der Stadt Herford. Die landschaftliche Schönheit ist hier viel größer. Die jungen Studenten würden nicht nur in kleinen Konvikten, sondern auch in vielen Privathäusern in den Familien unserer Pastoren und Beamten der Anstalten herzliche Aufnahme finden. Es grünt und blüht hier auch bereits unser Kandidatenseminar in seiner eigentümlichen Gestalt. Sie sehen hier tüchtige junge Theologen mit glänzend bestandenem Examen, die sich mit Freuden die Schürze der dienenden Liebe umbinden. Sie sehen, was das Evangelium von dem Manne, der seinen Jüngern die Füße gewaschen hat, für sichtbare Früchte trägt. Akademisch gebildete Heidenmissionare, in dieser Schule ausgerüstet, ziehen von hier hinaus und kommen wieder, um zu berichten, was der Herr unter den Heiden durch das Evangelium ausrichtet.
Eine Anzahl ausgedienter Pastoren unseres Landes lassen sich gern in unserer Kolonie nieder und sind gewiß bereit, ihre Erfahrungen und ihre Kräfte in den Dienst der jungen Studenten zu stellen. Die nötigen Mittel zum Bau für die bescheidenen Hörsäle und Wohnungen der theologischen Lehrer sind auch schon gesichert. Kurz und gut, es kommt mir so vor, als ob in dieser Stunde der Not dieses Samenkörnlein an dieser Stätte wohl getrosten Glaubens ausgestreut werden könnte und daß der Herr der Kirche ihm den Frühregen und Spätregen nicht versagen und vor allem die rechten Männer schenken werde.
Große Dinge, die der Welt in die Augen fallen, haben wir nicht im Sinn, sondern kleine und namentlich einen ganz kleinen Anfang.
An eine sofortige offizielle Anerkennung oder gar Unterstützung des Staates denke ich auch nicht. Bewähren wir uns, wird man uns auch nicht versagen, was man den katholischen Seminaren gewährt (nämlich die Anrechnung der auf solcher Schule zugebrachten Studienzeit).
Ich will diesen Gedanken also noch einmal in Gottes[S. 380] Namen hinausgehen lassen und gebe es dem Herrn der Kirche anheim, ob er ihm willige Herzen zuwenden und auch die Herzen der Leiter und Regierer unserer Kirche für uns gewinnen möchte.
Vor acht Jahren hat derselbe Gedanke die kleine Frucht getragen: unser Studentenkonvikt zu Bonn, dem ich auch ferner fröhliches Gedeihen wünsche, das aber für die Größe und Wichtigkeit der Sache nicht allein ausreicht. Ich möchte, daß sich gerade um die theologische freie Pflanzschule auch die jetzt noch weit auseinander gehenden Wünsche und Seufzer aller altgläubigen Richtungen unserer Kirche, namentlich auch der Gemeinschaftsleute, in einheitlichem, fröhlichem Wirken zusammenschließen, um in der Hauptsache einig die Mauern Jerusalems zu bauen und ihre Risse zu heilen.
Dem großen Haupt seiner Kirche auf Erden und im Himmel, unserm Herrn und Heiland, sei vor allen Dingen diese Sache an sein hohepriesterliches Herz gelegt. Gibt er sein Ja und Amen dazu, dann ist das Gelingen sicher.”
Im Herbst 1905 zogen die ersten Studenten in die junge theologische Schule ein. „Zwölf Jünger hatte der Herr; mehr als zwölf möchte ich nicht gern haben”, sagte Vater. Aber vier Wochen vor der Eröffnung hatte sich nur ein einziger gemeldet. „Ich fange auch mit dem einen an”, sagte Jäger. Da fiel ihm Vater um den Hals und sagte: „Dafür kriegst du einen Kuß.” Aber zum Eröffnungstage waren elf junge Studenten zur Stelle.
Vater selbst trat mit in den Unterricht ein. Während Pastor Jäger die systematischen Fächer nahm (Glaubenslehre, Sittenlehre usw.), Kähler das Neue Testament und der bald hinzutretende Pastor Oestreicher das Alte Testament, gab Vater jede Woche eine Abendstunde praktischen Inhalts, besonders über Innere und Äußere Mission.
Viele hundert Studenten sind seitdem durch die theologische Schule gegangen. Neue Dozenten sind hinzugekommen, bezw. nach längerer oder kürzerer Arbeit an der theologischen Schule in andere Arbeitsgebiete eingetreten: D. Warneck, P. Johanssen, Superintendent Simon, D. Schrenk, D. Michaelis, P. Schlatter. Die bayrische Kirche war die erste, die von Fall zu Fall Semestern, die auf der theologischen Schule verbracht waren, Gültigkeit gab. Die badische Kirche rechnet sie grundsätzlich an.
Im Frühjahr 1899 fühlte Vater das Herannahen eines ernsten Leidens. Die sonstige Frische ließ nach, und ein unerklärlicher Durst, der mit einer Erkrankung der Nieren zusammenhing, fing an, ihn zu quälen. Von den für alte Leute so wohltätigen Bädern des Wildbades Gastein hoffte er Stärkung. So nahm er für den letzten Kurmonat die Stelle eines Gasteiner Badepredigers an.
Von fürsorgenden Freunden war uns in der „Helenenburg” das Quartier bereitet worden. Sie lag an der einsamen Straße, die hoch über dem Orte am Abhang des Graukogls entlang führt. Früher hatte sie der Kaiserin von Oesterreich als Zufluchtsstätte gedient. Von einer Burg war freilich nichts an ihr zu entdecken. Sie war vielmehr ein einsames Landhaus, vielleicht das stillste Haus, das Gasteiner Badegästen seine Tür öffnete. Wie denn ja die unglückliche Kaiserin die einsamsten Häuser für ihren Aufenthalt am liebsten hatte. Das Getöse der Ache, die sich in gewaltigen Wassersprüngen in die Tiefe stürzt, drang aus der Ferne herüber. Aus dem weiten, lieblichen Tal unten stiegen die Erinnerungen herauf an die alten Zeiten, wo das Evangelium auch in diese Einsamkeit gedrungen war, bis die Gegenreformation kam und mit den Salzburgern auch die evangelischen Bewohner des Gasteiner Tales aus ihrem herrlichen Heimatwinkel vertrieb.
Unsere Mittag- und Abendmahlzeiten nahmen wir in der sogenannten „Schwarzen Liesl”. Das war ein kleines Gasthaus nordwärts von der Helenenburg, wohl hundert Meter über den stolzen Hotels gelegen, die sich unten im Tal aneinander reihen. Wie ein schüchternes Rehkitzchen duckt es sich an den waldreichen Abhang des Graukogls, um mit staunenden Augen in die Herrlichkeit hinunter und hinauf zu sehen, die Gott über diesen besonders schönen Fleck seiner Erde ausgegossen hat. Des Sonntagnachmittags kam je und dann der katholische Pfarrer von Gastein mit seinen Gemeindegliedern zur „Schwarzen Liesl” heraufgewandert, um auf der kleinen Kegelbahn, die an der Berglehne entlanglief, eine Partie Kegel zu schieben, bis die Betglocke aus dem Tale herauftönte und die ganze fröhliche Gesellschaft mitten im Spiel innehielt, ihr Gebet zu verrichten und sich an den Heimweg erinnern zu lassen.
Sie sah sehr bescheiden aus, diese kleine Kegelbahn, obwohl sie alle Ursache gehabt hätte, hoffärtig zu sein. Denn vornehmerer Gäste konnte sich so leicht keine Kegelbahn auf der weiten Erde rühmen. Wenn der alte Kaiser Wilhelm in Gastein weilte, hatten ihn bisweilen seine großen Paladine dort besucht, um selbst einige Tage lang die Stille der Gebirgswelt und die Nähe ihres königlichen Herrn zu genießen. Am Nachmittag aber waren sie zum Kegelspiel hinaufgegangen zur „Schwarzen Liesl”. Dann hatte die schwarze Liesl — so hieß die Frau des Wirts — aufgetischt, was Küche und Keller bot. Wenn aber der Kaiser selber kam und gar, wie es auch einmal geschah, die Kaiserin mitbrachte, hatte sie die schönsten Tassen und Gläser, die ihr Spind barg, hervorgeholt, um ihren hohen Gästen den erfrischenden Trunk zu reichen.
Aber das alles lag nun weit zurück. Nur eine Magd, die unter der schwarzen Liesl gedient hatte, lebte noch in einem stillen Häuschen des Tals. Sie wußte unserm Vater noch von der alten Herrlichkeit zu erzählen, auch davon, wie der Kaiser selbst sie besucht und auf der Bank in ihrem Garten gesessen hatte und wie die Schwarze Liesl-Wirtin einmal sogar auf die Einladung des Kaisers für zwölf Tage in ihrer Salzburger Tracht nach Berlin gefahren und vom Kaiser und Bismarck und den andern Gliedern des hohen Kegelklubs aufs beste aufgenommen worden sei.
Der nunmehrige Liesl-Wirt war seines ursprünglichen Zeichens ein Zitherspieler, der bis dahin in Stadt und Land als Musiker sich sein Brot verdient und auch jetzt seine Zither noch nicht an den Nagel gehängt hatte. Während seine Frau uns nach Kräften mit ihrer Kochkunst versorgte, saß ihr Mann mittags und namentlich abends unter seinen Gästen und schlug die Saiten. Wer seinen Weisen lauschte, dem entging nicht der wehmütige Ton, der durch alle Lieder hindurchklang. Und wer ihm vollends in die Augen sah, der merkte bald, daß eine verborgene Last ihn drückte. Aber er kam nicht mit der Sprache heraus, und so reiste Vater ab, ohne daß sich der arme Mann ihm entdeckt hatte. Kaum aber waren wir fort, so kam ein Brief nach dem andern, in denen der Wirt bat, ihm aus seiner Not zu helfen, da er von seinen Gläubigern gedrängt würde. Vater war inzwischen auf den Tod krank geworden. Eine Vergiftung des Blutes hatte sich eingestellt, die erst in Wildungen [S. 383] und dann in Bethel sein Leben monatelang dicht am Rande des Grabes hielt. Mitten in der Krankheit aber stand immer wieder die Gestalt des armen Michael an seinem Lager, und die wehmütigen, sehnsuchtsvollen Klänge der Zither tönten an sein Herz. Was sollte Vater tun, um zu helfen? Er entschloß sich, seinen getreuen Sekretär Behrendt nach Gastein zu schicken, um gründliche Klarheit zu schaffen. Es schien wirklich eine Weile, als ob der Mann noch gerettet werden könnte. Aber schließlich zeigte es sich doch, daß alles umsonst war.
Es würde zu weit führen, die folgenden fünf Jahre mühsamer Verhandlungen näher zu beschreiben. Das Ende des schmerzlichen Handels war, daß Vater gezwungen wurde, die „Schwarze Liesl” ganz zu übernehmen. Der Kreis der Freunde, die damals unserm Vater zur Rettung des Liesl-Wirtes die ersten Mittel dargereicht hatten, schloß sich zu einem festen Verein zusammen, der unter dem Namen „Kaiser-Wilhelm-Stiftung” den Veteranen der Kriege 1864, 66, 70 in der „Schwarzen Liesl” eine stille Erholungszeit verschaffen sollte.
Im Jahre 1904 zogen die ersten Veteranen ein. Mit Begeisterung war der Plan aufgenommen worden. Einer der ersten Ärzte des Bades erklärte sich bereit, die alten Krieger umsonst zu behandeln. Ein vornehmer Gasthof stellte, ebenfalls umsonst, seine Badezellen zur Verfügung; Freibetten wurden gestiftet, und die Mittel wurden so reichlich dargeboten, daß man den alten Helden freie Reise und freies Quartier gewähren konnte.
Dreimal hat Vater Gastein noch aufgesucht und einige Tage oder Wochen in der „Schwarzen Liesl” unter seinen Kriegskameraden zugebracht. „Ein ganzes Jahr lang”, sagte einer der Veteranen beim Abschiednehmen, „habe ich zu erzählen, so schön war es hier. Und das dumme ist bloß, daß es mir niemand glauben wird, auch nicht, wie man uns hier aufgenommen hat.”
Während der Jahre des großen Krieges mußte die „Schwarze Liesl” ihre Türen schließen. Seit 1921 aber hat sie sie wieder geöffnet und, soweit die Mittel der Stiftung es irgend gestatteten, Teilnehmern des letzten Krieges gedient.
Als Stöcker sich im Jahre 1896 von der konservativen Partei trennte, blieb ihm das Siegerland treu, das Minden-Ravensberger [S. 384] Land zog sich von ihm zurück. Es hatte etwas Erschütterndes, zu sehen, wie Stöcker, der bis dahin unter gewaltigem Zulauf auf den großen Dielen des Landes und in den weiten Sälen der Städte gesprochen hatte, jetzt in ganz kleinen Kreisen die wenigen ihm noch verbliebenen Anhänger sammelte.
Einer der bedeutendsten Führer der Freunde Stöckers im Ravensberger Lande war seit langem Lehrer Budde in Laar bei Herford gewesen. Er war der Sohn eines Arztes in Spenge, hatte die Erweckungsbewegung unter Louis Harms und Volkening in der Tiefe mit erlebt und gepflegt und hatte als treuer Diener der Kirche, aber zugleich als entschlossener Gegner aller Pastorenherrschaft seiner kleinen Gemeinde Laar durch den Bau eines Kirchensaales zu einer gewissen kirchlichen Selbständigkeit gegenüber der eigenen Pfarrgemeinde verholfen.
Als Pastor Krekeler die Gemeindearbeit in Volmerdingsen übernahm, trat Budde als sein Nachfolger in Bethel ein. Hier wurde er ein geistlicher Vater und Berater nicht nur der Station seiner epileptischen Kranken von Bersaba, der er im Bunde mit seiner stillen, selbstlosen Frau in musterhafter Treue und größter seelsorgerlicher Begabung vorstand, sondern zugleich auch der Dienstmädchen der Gemeinde, der Waisenkinder im Lande, der Kandidaten des Konvikts und vieler einzelner Anstaltsbewohner.
Es war Vaters Ideal, daß Pastoren und Lehrer nicht im Verhältnis von Vorgesetzten und Untergebenen einander gegenüberstehen, sondern als die nächsten Mitarbeiter an der Gemeinde sich untereinander ergänzen sollten. In dem Dienst, den Budde in seiner Gemeinde Laar und dann in der Zionsgemeinde tat, fand dieses Ideal seine Erfüllung. An den Brüderstunden, die Vater anfangs Sonntagnachmittags, später Freitagabends hielt, war Budde der regelmäßige Teilnehmer. Er konnte es nie verstehen, wenn Brüder ohne zwingenden Grund die Stunden versäumten. „Und wenn sie auf den Knien hinrutschen müßten,” konnte er wohl sagen, „dann sollten sie es tun; denn so etwas bekommen sie nie wieder zu hören.” Vater leitete die Besprechung in diesen Stunden, Budde hatte regelmäßig das Gebet. Dieses Gebet war die Erquickung, auf die sich Vater die ganze Woche über freute. Zu der äußeren Form, in der Budde es vorbrachte, lächelte Vater oft, sodaß er während des Gebetes immer den Kopf tief in seine Hände barg und auf[S. 385] das Pult legte, um niemand zu stören, wenn ihn über eigenartigen Ausdrücken Buddes das Lachen überkommen wollte. Aber der Ernst und die tiefe Inbrunst, von denen das Gebet getragen waren, erquickten ihn.
Durch die Besuche bei den Waisenkindern hin und her im Lande hatte Budde beständig die lebhafteste Fühlung mit allen Schichten der Bevölkerung, sodaß es ihm und seinen Gesinnungsgenossen allmählich gelang, die durch den Austritt Stöckers aus der konservativen Partei zersprengten Anhänger zu organisieren und um ein kleines Wochenblatt, den „Ravensberger”, zu sammeln. Vater selbst hielt sich auch jetzt, seinen Grundsätzen treu, von aller einseitigen Parteinahme, sei es für die Konservativen, sei es für die Christlich-Sozialen, fern. Ihm war Stöcker — das sprach Vater immer wieder aus — zu schade für einen Parteiführer. Er war überzeugt, daß er dem Ganzen des Volkes noch weit wirksamer hätte dienen können, wenn er sich von dem politischen Parteiwesen ferngehalten hätte. Er hatte auch Stöcker die Themata genannt, um die sich nach Vaters Überzeugung Stöckers öffentliche Tätigkeit drehen sollte. (Der Brief ist leider nicht vorhanden.) Ihm blieb es schwer, daß Stöcker nicht darauf einging. „Er hat doch etwas vom Volkstribunen an sich,” sagte Vater gelegentlich und meinte damit, daß Stöcker sich doch nicht unabhängig genug hielt gegenüber dem Einfluß der Masse.
Um so weniger konnte jetzt Vater, so sehr er sich in den Hauptsachen mit Stöcker eins wußte, irgend welche einseitige Stellung einnehmen in dem Kampf, der sich zwischen Konservativen und Christlich-Sozialen im Ravensberger Lande entfaltete. Er stand zwischen beiden Gegnern in ganzer Unabhängigkeit mit Waffen der Gerechtigkeit und Wahrheit zur Rechten und zur Linken. Einen konservativen Führer des Landes, dessen Schrift über die Christlich-Sozialen er ungerecht und scharf fand, schonte er in einer persönlichen Besprechung nicht. Und als auf der andern Seite sein Freund Budde eine für den Druck bestimmte Darstellung des Kampfes gegeben hatte, die nach Vaters Überzeugung den tatsächlichen Gang der Dinge zu einseitig wiedergab und darum neues Öl ins Feuer gegossen haben würde, scheute er auch den Kampf mit diesem seinem treuen Freunde nicht. Als Budde nicht nachgab, kam es für kurze Zeit zu einer gewissen Entfremdung zwischen beiden, bis Vater eines[S. 386] Nachts im Bett an Budde einen Brief schrieb, der Budde zum Nachgeben veranlaßte, sodaß der betreffende Abschnitt der Druckschrift überklebt und in späteren Auflagen ganz weggelassen wurde.
Allmählich hatte sich die kleine christlich-soziale Partei in Minden-Ravensberg so gefestigt, daß sie in den Wahlkämpfen eine wachsende Bedeutung gewann. Sie war aus dem Winkel, in den sich Stöcker anfangs zurückgedrängt sah, wieder eine Macht geworden, mit der die Gegner von rechts und links zu rechnen hatten. Das hatte mehr und mehr zu einer gewissen Zusammenarbeit zwischen Christlich-Sozialen und Konservativen geführt. Im Jahre 1903 sahen sich die Christlich-Sozialen so weit erstarkt, daß sie von den Konservativen eine Kandidatur Stöckers für das Abgeordnetenhaus verlangten. Aber Stöcker blieb das rote Tuch für die Konservativen. Sie lehnten Stöcker ab. Der alte Zwist, der in den vergangenen Jahren bereits die zerstörendste Wirkung auf das Land ausgeübt und im Grunde nur das Anwachsen der Sozialdemokratie gefördert hatte, drohte aufs neue auszubrechen, es sei denn, daß für die Kandidatur eine Persönlichkeit gefunden würde, die beiden Richtungen genehm war. So wurde Vater vorgeschlagen.
Ihn lockte die Arbeit im Abgeordnetenhause nicht. Aber er sah den Ernst der Lage. Er glaubte den Minden-Ravensbergern diesen Freundesdienst schuldig zu sein. So nahm er die Kandidatur an unter der Bedingung, daß er niemals gezwungen würde, irgend eine Parteiversammlung zu besuchen oder eine Parteirede zu halten. Das wurde ihm zugesichert. Wenige Tage darauf war die Wahl, und die Verständigung zwischen Konservativen und Christlich-Sozialen brachte ihnen den gemeinsamen Sieg.
Lediglich um seiner engeren Heimat einen Friedensdienst zu tun, hatte Vater angenommen. Dadurch war von vornherein die Linie gegeben, auf der er sich während der fünf Jahre als Abgeordneter bewegte. Er verzichtete von Anfang an darauf, sich in die Fülle der Aufgaben hineinzuarbeiten, die sonst für einen Abgeordneten selbstverständliche Pflicht sind. Jedermann hat ihm diese Freiheit zugestanden.
Weil er nicht im Dienste einer Partei, sondern im Dienst des Friedens gewählt war, so konnte er sich auch im Abgeordnetenhause nicht irgend einer Parteigruppe verschreiben. Um[S. 387] Anschluß zu bekommen, wurde er Gast der konservativen Gruppe, der er ja auch seinem ganzen Entwicklungsgang und seiner Überzeugung nach am nächsten stand. Aber irgend welche Fesseln wurden ihm dadurch nicht aufgelegt und ließ er sich nicht auflegen.
Das zeigte sich gleich bei der ersten Rede, die er bei Gelegenheit der Kanalvorlage — es handelte sich um den Bau des Rhein-Weser-Kanals — am 5. Mai 1904 im Abgeordnetenhause hielt. Die Bedeutung der Rede lag darin, daß er in Form und Inhalt sich selbst treu blieb. Er nannte die Abgeordneten, geradeso wie seine kranken und gesunden Gemeindeglieder in Bethel, „ihr” und den Minister „du”. Die Versammlung selbst aber hob er über alle Parteigrenzen hinaus, behandelte sie als ein Ganzes, als eine große Körperschaft, deren Verantwortung und Tätigkeit sich um das Wohl des ganzen Volkskörpers immer wieder sammeln und einigen müßte. Jetzt beim Kanalbau sollten sich, so wünschte er, die Fürsorge für den Arbeiter, der Kampf gegen den Schnaps und eine gesunde Ansiedlungspolitik betätigen und sollten schmerzliche Versäumnisse nachgeholt werden.
Die Rede fiel wie ein erfrischender Tau auf das ganze Haus. Man hatte dergleichen noch nicht gehört. Und die Zeitungen aller Parteirichtungen empfanden sie wie eine befreiende Tat. Der „Ulk”, das Witzblatt des Berliner Tageblattes, der früher Vater in der Frage der Irrenseelsorge aufs heftigste angegriffen hatte, brachte folgendes Gedicht:
(Sigmar Mehring.)
Aber diese erste Rede Vaters im Abgeordnetenhause war eigentlich auch seine letzte. Sie bedeutete Sieg und Niederlage in eins. Er war durch sie zugleich der Freund und der Feind der ganzen Abgeordneten geworden. Die Höhe, auf der er sich bewegte, übersprang alle Parteigrenzen. Das hatte alle hingerissen und für den Augenblick alle um Vater geeint. Aber indem er sich nicht scheute, um der Sache willen allen Gegnern, auch wenn sich unter ihnen seine nahen Freunde befanden, die Wahrheit zu sagen, untergrub die Rede zugleich auch die Autorität der Partei. So liebte man ihn und mied ihn zugleich. Denn man war sich nicht sicher, ob er nicht bei nächster Gelegenheit seine politischen Freunde noch kräftiger angreifen würde.
Nur einige wenige Male, in nebensächlichen Fragen, nahm er noch das Wort, und gern wurde es ihm nicht gegeben. Als er sich wieder einmal auf die Rednerliste hatte setzen lassen, deren Namen an einer Tafel angeschrieben waren, stand ich mit ihm am Eingang des Sitzungssaales gerade der Tafel gegenüber. Sein Name war zunächst an dritter oder vierter Stelle gebracht, aber wir beobachteten, wie von Zeit zu Zeit vor seinen Namen ein anderer Name eingefügt wurde, sodaß er immer an letzter Stelle blieb. Es war deutlich, daß die Sitzungszeit längst verstrichen sein würde, ehe er an die Reihe käme Schließlich sagte er traurig, aber ohne Bitterkeit: „Junge, laß uns gehen! Sie wollen mich nicht.” Aber die Niederlage wurde doch weit überwogen durch den Sieg. Er war durch seine Rede mit einem Schlage zur populärsten Persönlichkeit nicht nur des Abgeordnetenhauses, sondern von ganz Berlin, ja, es muß wahrheitsgemäß wohl gesagt werden, des Vaterlandes geworden. Mußten sich die Parteien ihm auch verschließen, sodaß das Rednerpult des Abgeordnetenhauses nicht sein Platz war, so erschlossen sich ihm desto mehr die einzelnen Abgeordneten ohne[S. 390] Unterschied der Parteien, soweit ihnen die Sache, und nicht bloß das Parteiinteresse und die eigene Person, am Herzen lag. Das galt nicht nur von den Mitgliedern des Abgeordnetenhauses, sondern auch des Reichstags. Mit den Hochkonservativen so gut wie mit Bebel konnte man ihn in den Wandelgängen des Abgeordnetenhauses und des Reichstages in tiefsten Gesprächen finden. An alle konnte er jetzt die Dinge, die ihn bewegten, persönlich herantragen und sie ihnen persönlich ins Gewissen schieben, namentlich die Arbeiterwohnungsfrage und die Fürsorge für die Wanderarmen.
Gerade je weniger er sich in seiner Kindlichkeit und unbewußten Demut seines Einflusses auf die Gemüter bewußt war, desto stärker wirkte er. Er konnte eigentlich jedem alles sagen, und niemand nahm ihm etwas übel. Im Zimmer des Direktors des Abgeordnetenhauses konnte er seine Besprechungen abhalten, und als einmal alle Stühle besetzt waren und der Direktor selbst hereintrat, rückte er in die Sofaecke und sagte: „Mein lieber Direktor, hier ist für dich auch noch ein Plätzchen.”
Ebenso ging es ihm in den Ministerien. Wenn er sich telephonisch angemeldet hatte, standen oft schon die Portiers draußen vor der Tür und sahen die Straße entlang, um ihn gleich in Empfang zu nehmen und ihm die Wege zu weisen. Dabei kam es ihm natürlich zustatten, daß er sich von seiner Jugendzeit her, wo seine Eltern in drei verschiedenen Ministerien gewohnt hatten, dort wie zu Hause fühlte. Als wir einmal bei einem Geheimrat im Kultusministerium zu einer Besprechung zusammensaßen und es draußen klopfte, rief nicht der Geheimrat, sondern Vater: „Herein!”, ohne daß der Geheimrat das als einen Eingriff in seine Rechte empfand. Man beugte sich eben unwillkürlich unter die bezaubernde Gewalt dieser harmlosen kindlichen Überlegenheit.
Um die Zeit auszunutzen, diktierte er uns oder auch seinem Sekretär in den Vorzimmern der Minister seine Briefe, bestellte dorthin auch die, die er an seinem Teile zu sprechen wünschte.
Mehr als fünfzigmal während der fünfjährigen Legislaturperiode reiste Vater zwischen Bielefeld und Berlin hin und her. Im St. Michael-Hospiz in der Wilhelmstraße hatte er sein ständiges Quartier, wo ihm und seinen treuen Pflegern und Sekretären, erst Meier und dann Balduf, sooft sie kamen, die beiden[S. 391] Zimmer eingeräumt wurden, die unmittelbar über dem Quartier des Forstmeisters von Rothkirch lagen. Die Fürsorge des alten Fräulein Kreysern und Rothkirchs übersprudelnde Herzlichkeit durchwehten das ganze Haus, und Vater fühlte sich hier inmitten der aus- und einziehenden Gäste und ständigen Bewohner überaus wohl. Mit vielen, die kamen, verband ihn alte Freundschaft, mit andern wurden neue enge Beziehungen geknüpft. Genannt seien Graf Zedlitz, der frühere Kultusminister und damalige Oberpräsident von Schlesien, General von Viebahn, der Freund und Seelsorger der Soldaten und Offiziere, Graf E. von Pückler, der Gründer der St. Michaels-Vereinigungen, Amtsgerichtsrat Kölle, der aufrechte Vertreter und Anwalt aller Unterdrückten, der namentlich in der Wanderarmensache Vater eingehend beriet und unterstützte, und schließlich die eigenartigste und bedeutsamste Erscheinung unter den Gästen des Hospizes, Baurat Schmidt, der bekannte „Heißdampf-Schmidt”, mit dem Vater später noch im Stöckerschen Hospiz bei Partenkirchen zusammentraf und eng verbunden wurde, der Mann, wie er sagte, „der modernen Lokomotiven, der vor allem für geistliche Lokomotiven Herz und Verstand hat”.
Köstlich war und blieb die Unbefangenheit, mit der sich Vater unter den vielen fremden und oft vornehmen Gästen bewegte. So stellte sich ihm ein alter Herr v. N. vor. „Herr v. N.?” sagte Vater. „In Paris suchte mich mal ein Herr v. N. auf, der taugte freilich nicht viel. Sind Sie das vielleicht?” Den Zylinder seines Freundes Rothkirch borgte er sich zu einem Besuch bei dem Prinzen Friedrich Heinrich, dem Sohn des Prinzen Albrecht, dessen Palais nur hundert Schritt weiter aufwärts in der Wilhelmstraße lag. Da der Zylinder zu klein war, trug ich ihn Vater nach über die Straße hinüber, und erst im Augenblick, wo er das Palais betrat, zwängte er ihn sich auf. Der Besuch führte zu einem herzlichen Verstehen zwischen beiden, das auch anhielt, nachdem der Prinz längst in große Einsamkeit und Stille untergetaucht war, und das sich durch immer erneute Liebeszeichen und Zuwendungen kundtat, mit denen der Prinz sein Interesse an Vaters Aufgaben bezeugte. In dem wunderschönen Garten des prinzlichen Palais konnte Vater einige Male nach Tagen ernster Krankheit die erste Erholungszeit erleben.
Als die Legislaturperiode abgelaufen war, stand Vater im 78. Jahr. Der Zweck, zu dem er vor fünf Jahren die Kandidatur [S. 392] angenommen hatte, war erreicht, indem die Beziehungen zwischen Konservativen und Christlich-Sozialen in der Tat sich nach und nach weiter gefestigt hatten. So lehnte er im Blick auf sein hohes Alter eine neue Kandidatur ab.
Der wichtigste Ertrag seiner Zeit als Abgeordneter aber lag einmal auf dem Gebiet der arbeitslosen versinkenden Massen Berlins und dann in der gesetzlichen Regelung der Wanderarmenfürsorge des ganzen Vaterlandes.
Nach Eröffnung von Wilhelmsdorf waren namentlich in Westfalen die Verpflegungsstationen in Verbindung mit den Herbergen zur Heimat rasch emporgeblüht, sodaß das Betteln nahezu erstorben war, da alle mittellosen Wanderer von der Bevölkerung den Verpflegungsstationen und Herbergen zugewiesen wurden.
Aber die Begeisterung, unter der die ersten Verpflegungsstationen entstanden waren, wurde allmählich gedämpft. Es sprach sich bald unter den Wanderern herum, wo die beste und wo die geringere Verpflegung geleistet wurde. Dadurch wurden manche Stationen überlastet. Wer sollte die Kosten decken? Die einzelne Gemeinde, in der die Verpflegungsstation lag, konnte es nicht. So trat der Kreis ein. Aber auch hier stellte es sich nun wieder heraus, daß die Kreise, die am besten sorgten, auch wieder am stärksten belastet waren. Auch zwischen den katholischen und evangelischen Gegenden zeigten sich Unterschiede. Im ganzen wurde in den evangelischen Gegenden kräftiger gegen den Bettel vorgeschritten als in den katholischen, wo das Almosengeben als solches in Gefahr stand, als gutes Werk angesehen zu werden, ohne Rücksicht darauf, ob der Almosenempfänger selbst wirklich unterstützt oder nicht vielmehr durch das Almosen entehrt und auf dem erniedrigenden Wege des Betteln bestärkt würde.
Es ergab sich also von einem Jahre zum andern in zunehmendem Maße eine ungleiche Verteilung der Lasten, die im Interesse der Wanderarmen von Gemeinde, Kreis und Bewohnern des Landes zu tragen waren. Wohl bestand ein Paragraph, der grundsätzlich die Verteilung der Lasten regelte. Es[S. 393] war der Paragraph 28 des Reichsgesetzes über den Unterstützungswohnsitz, dahin lautend, daß jeder Mittellose, an welchem Ort er auch mittellos würde, von der Gemeinde, in der die Hilfsbedürftigkeit eintrat, vorläufig unterstützt werden müsse. Der Paragraph 28 aber war in einer Zeit (1870) entstanden, wo es zu den Ausnahmen gehörte, daß ein Mensch außerhalb seiner Gemeinde unterstützungsbedürftig wurde.
Inzwischen hatten sich alle Verhältnisse geändert. Viele hatten ihr kleines Dorf verlassen, um in den Städten und Industriegegenden Arbeit zu suchen. Ebbte der Arbeitsmarkt ab, so wurden aber gerade die zuletzt Zugewanderten auch zuerst wieder aus der Arbeit entlassen. Nach kurzer Zeit waren die Ersparnisse verzehrt. Mittellos standen sie da. Der Paragraph berechtigte sie, sich als unterstützungsbedürftig zu melden. Aber keiner Polizeibehörde fiel es ein, den Paragraphen anzuwenden. Es war ja auch ein Ding der Unmöglichkeit für sie, die Unterstützungsbedürftigen so lange zu verpflegen, bis die Heimatbehörde die Unterstützung bewilligt haben würde. Wieviel Schreiberei, wieviel Zeit wäre dazu nötig gewesen!
Aber auch die Heimatbehörde lehnte die Anwendung des Paragraphen 28, wenn irgend möglich, ab. Was hätte auch aus irgend einer kleinen Gemeinde auf dem Westerwald werden sollen, wenn sie jedes ihrer Gemeindeglieder, das in der Ferne und im Dienst einer fremden Industrie unterstützungsbedürftig geworden war, hätte versorgen sollen? Sie hätte sich einfach daran arm gegeben.
An diesem Paragraphen 28 setzte nun Vaters Arbeit nachdrücklich ein. Ihn galt es sinngemäß zu ergänzen und die Last, die er der einzelnen Gemeinde zuschob, auf die breiteren Schultern des Reichs oder der einzelnen Landes- und Provinzialregierungen abzuwälzen. Es durfte nicht dem guten Willen der einzelnen Gemeinde und ihrer verantwortlichen Organe, auch nicht den einzelnen Kreisen überlassen bleiben, ob und wie sie für die einzelnen Wanderarmen sorgen wollten, sondern es mußte ein festes Verpflegungsstationsnetz geschaffen werden und zwar durch gesetzliche Regelungen, die ganze Gebiete umfaßten.
Auserlesene Kräfte aus allen Ständen und Teilen des Vaterlandes stellten sich Vater zur Lösung dieser schwierigen Aufgabe zur Verfügung. Keiner von ihnen, auch Vater nicht, ahnte,[S. 394] was es kosten würde, im Dienste der untersten Klasse, im Interesse des fünften Standes, der aus seinen Reihen keine Wortführer stellte, sondern stumm und vielfach stumpf seine Straße zog, die gesetzgebenden Körper zu einer barmherzigen Tat zusammenzuschließen.
Vor allem war es der Graf Botho zu Eulenburg, der frühere preußische Minister des Innern, der seine ganzen Kenntnisse und Erfahrungen in den Dienst der Sache stellte und einen Gesetzentwurf ausarbeitete, der zum Ziele zu führen schien. Vater hingegen übernahm es, die einzelnen maßgebenden Persönlichkeiten für den Entwurf zu gewinnen. Aber die Sache fand noch keine Mehrheit, und der Entwurf wurde vom Abgeordnetenhause abgelehnt. Das war schon im Jahre 1895.
Eine Zeitlang wandte sich Vater dem Reichstage zu, dann, als es gelungen war, in Westfalen eine vorbildliche Wanderarbeitsstättenordnung durchzuführen, aufs neue dem preußischen Abgeordnetenhause.
Es ist unmöglich, die Last von Enttäuschungen, Demütigungen, Mühsalen, schlaflosen Nächten, immer erneuten schriftlichen und mündlichen Bitten auszudenken, die Vater im Dienste seiner Brüder von der Landstraße auf sich nahm. Unaufhörlich standen ihm diese armen Menschen vor der Seele, die mittellos auf die Landstraße geworfen, zum Betteln gezwungen, von der Polizei wegen Bettelns aufgegriffen, in elendem Polizeigewahrsam untergebracht, von den Richtern verurteilt und nun im Gefängnis in den Sumpf der gewohnheitsmäßigen Bummler und Verbrecher hinuntergestoßen wurden.
Oft hatte Vater im Gedanken an die Gleichgültigkeit und Herzlosigkeit der gesetzgebenden Körper mit tiefster Erbitterung zu kämpfen. Als wir eines Abends in jener Zeit, wo er selbst noch nicht Abgeordneter war, am Abgeordnetenhaus vorbeikamen, sagte er mit unterdrückter Stimme: „Ich möchte mir am liebsten jetzt einen Stein suchen und den Herren im Abgeordnetenhause die Fenster einschmeißen. Dann hätten sie doch die Genugtuung, einmal einen Schuldigen ins Gefängnis zu[S. 395] stecken, statt daß sie jetzt immer wieder arme schuldlose Leute abführen lassen.”
Nach einer fruchtlosen Auseinandersetzung mit Miquel, der als Finanzminister natürlich ein entscheidendes Wort zu sprechen hatte, bekam er unterwegs in der Droschke vor innerer Erregung eine Blutung, die ihn dem Tode nahe brachte.
Doch keine Niederlage, keine Abweisung, keine Gleichgültigkeit stumpfte ihn ab. Solange er für das Ganze keine Regelung erreichen konnte, setzte er doch, wo er nur konnte, die Lösung der Frage im einzelnen durch. Zunächst wurde, wie gesagt, in Westfalen ein großmaschiges Netz, das den dringendsten Bedürfnissen genügte, geschaffen. Für diejenigen Wanderarmen, die sich ohne geordnete Papiere obdachlos meldeten, wurden besondere Steinklopfbuden errichtet, in denen sie die Steine für die Chausseebauten zurüsteten und sich so Kost, Schlafgeld und Wanderschein erwarben. Mit dem kurzen Stahlhammer in den Händen, stand Vater unter den Steinklopfenden, um selbst auszuprobieren, ob auch eine ungeübte Hand die Arbeit leisten könne.
Den Schein über die geleistete Arbeit ließ er in seiner eigenen Schreibstube ausstellen, um so jede Gelegenheit zu benutzen, mit den Brüdern von der Landstraße in persönliche Berührung zu kommen und ihre Verhältnisse genau kennen zu lernen.
Seine Wahl in den Landtag im Jahre 1903 bedeutete dann einen wesentlichen Fortschritt in der Sache. Jetzt hatte er regelmäßig Gelegenheit, die Angelegenheit zu betreiben und sie nach allen Seiten hin sicher zu fundamentieren. Kurz vor seinem Tode war der Sieg erfochten. Sein Freund Pappenheim, der Führer der Konservativen, telegraphierte: „Gesetzentwurf angenommen.” Damit war das Wanderarbeitsstättengesetz für Preußen geschaffen, das jeder Provinz, die von sich aus die Regelung der Wanderarmen in die Hand nahm, eine Unterstützung aus dem preußischen Dotationsfonds zusicherte und so jeder Provinzialregierung, die guten Willens war, die Möglichkeit gab, nach dem Vorbilde von Westfalen und Württemberg eine feste Wanderordnung zu schaffen und dem willkürlichen Bettel das Handwerk zu legen. Zwischen den kürzeren Strecken wurden die alten Wanderstraßen festgehalten. Bei größeren Entfernungen aber sollten die Arbeitslosen durch die Bahn von einer Wanderarbeitsstätte und dem damit verbundenen Arbeitsnachweis [S. 396] zur andern befördert werden. Sie konnten sich dann an jedem neuen Arbeitsplatze nach Arbeit umsehen oder von einer Wanderarbeitsstätte zur andern sei es die Hauptzentren der Arbeitsgelegenheit, sei es die in Betracht kommende Arbeiterkolonie zu erreichen suchen.
Man sagt von den Westfalen, daß sie die dicksten Schädel der Welt hätten und unter allen deutschen Stämmen die Trotzigsten wären. Ein zäher Trotz hatte dazu gehört, um durch Jahrzehnte hindurch in diesem Kampf nicht zu ermüden. Aber Trotz allein hätte es nicht ausgerichtet. Es kam das zerbrochene Herz dazu, das sich jede Demütigung gefallen ließ und das mit magnetischer Gewalt die göttlichen Kräfte der Liebe an sich zog. Ein harter Schädel und ein zerbrochenes Herz und selbstlose Liebe, die drei im Bunde tun noch heute Wunder.
Es war an einem Winterabend im Jahre 1905. Vater hatte für diesen Abend mit dem Berliner Stadtrat Münsterberg, der ihm seit vielen Jahren durch gemeinsame Arbeit nahe stand, einen Besuch in dem städtischen Asyl für Obdachlose verabredet. Da er leidend war, war ich ihm nachgereist, um ein wenig für ihn zu sorgen. So kam es, daß ich das Nachfolgende miterlebte.
Es war eine lange Fahrt aus dem Südwesten der Stadt durch das Zentrum hindurch in den fernen Norden. Je weiter wir kamen, desto spärlicher fiel das Licht der Laternen auf die Schilder der Straßen, durch die wir fuhren. Endlich tauchte das Schild auf, das den Namen „Fröbelstraße” trug. Damit waren wir dicht vor dem Ende unserer Fahrt angelangt. Die Gestalten, die wir überholten, hatten alle das gleiche Ziel wie wir. Mit unsicheren Schritten, wie sie der Alkohol seinen Opfern gibt, schlichen die meisten von ihnen durch den Winternebel die düstere Straße entlang. Jetzt hielt unser Wagen vor dem stattlichen Gebäude, durch dessen Tür vor uns und hinter uns die Gestalten des Elends schwankten. Als wir in den Aufnahmeraum traten, stand gerade ein Haufen von siebzig bis achtzig jungen und alten Männern bereit, um in einen der großen Schlafsäle, deren das Asyl etwa vierzig bis fünfzig enthält, geführt zu werden. Es waren noch manche frische Gesichter [S. 397] darunter, doch die meisten zeigten die Spuren der äußeren Not und des inneren Elends. Der ganze Raum war erfüllt von dem Dunst des Alkohols, der den Tag über in Pfennigen und Groschen an den Türen der Berliner Bürger zusammengebettelt war.
Wie ein Krieger, der in eine Schar von Feinden eine Bresche schlagen will, so sprang Vater zwischen den Haufen und rief: „Wer von euch will Arbeit haben? Ich habe Arbeit: Hand in die Höhe!” — Alle blieben stumm, und keine Hand rührte sich. Es war, als wenn alle von dem ungewohnten Ruf überrascht wären und sich erst eine Weile sammeln müßten. Jetzt rief Vater zum zweitenmal: „Hand in die Höhe! Wer von euch will Arbeit haben?” Da reckte sich schüchtern die erste Hand empor, dann die zweite, die dritte, bis fünf oder sechs Hände in der Luft schwankten. „Sehen Sie, Herr Stadtrat, sehen Sie diese Hände! Es heißt immer, im Asyl für Obdachlose will keiner mehr Arbeit haben. Hier sind aber noch Leute, die arbeiten wollen, und wir müssen ihnen Arbeit geben.”
Dann ließ sich Vater mit den einzelnen ins Gespräch ein, fragte nach Heimat, Stand und Alter und setzte der ganzen Schar, die anfing, immer aufmerksamer zuzuhören, auseinander, daß er daran gehen wolle, für alle, die wirklich noch einmal in die Arbeit und damit in ein neues Leben zurück wollten, draußen vor den Toren der Stadt Arbeitsgelegenheit zu schaffen. Dann sagte er, zu der ganzen Schar gewandt: „Ich brauche aber dazu auch Geld! Wer von euch kann mir Geld borgen?” Wiederum blieb alles stumm. „Wer von euch kann mir Geld borgen?” Aber keine Hand ging in die Höhe. Nun fragte Vater den Nächststehenden: „Können Sie mir kein Geld borgen?” Der Mann schüttelte mit dem Kopfe. „Wie alt sind Sie?” — „Achtzehn Jahre.” Da schlug ihm Vater mit seinen flachen Händen auf die beiden Schultern, daß es durch den ganzen Mann schütterte: „Dann könntest du mir 500 Mark borgen! Wo hast du sie gelassen?” — Keine Antwort, aber auch kein Widersetzen. Der junge Mensch spürte nicht nur die Glut des Zorns, sondern auch die Glut des Erbarmens, die hinter dieser Frage und hinter diesen Schlägen loderte.
Immer aufmerksamer und immer nüchterner hörte die ganze Schar zu, während Vater die Reihen entlang fragte.[S. 398] Jetzt kam er an einen alten Mann mit triefenden Augen und zerrissenen Kleidern. Es stellte sich heraus, daß er früher Kutscher beim alten Kaiser Wilhelm gewesen war. Vater fragte ihn: „Nun sagen Sie mal, wie ist es denn so weit mit Ihnen gekommen?” Da stieß der Alte bitter zwischen den Zähnen hervor: „Ich hab’s gewollt.” Vater faßte ihn mit seiner zarten Hand, drehte ihn der ganzen Gesellschaft zu und sagte: „Guckt ihn euch einmal an, unseren armen alten Freund! Wollt ihr auch einmal so aussehen?” Schon fingen die Wärter an, den Haufen leise vorwärts zu drängen, da der Aufnahmeraum neuen Scharen Platz machen mußte. Aus der hintersten Reihe aber kam eine zitternde Hand, die sich über die Köpfe hinweg auf den Vater zustreckte. Vater sah sie und griff nach ihr. „Was wollten Sie denn, mein alter lieber Bruder?” „Ach,” sagte der Mann, „ich wollte Ihnen bloß mal die Hand geben und Ihnen danken für die guten Worte.” — Nun schoben die Wärter immer dringender, aber nur langsam und zögernd bewegte sich der Haufe vorwärts. Alle hatten den Blick rückwärts auf Vater geheftet, als wollten sie ihm, wenn auch stumm, noch einmal danken für die guten Worte.
Dann ging Vater durch die einzelnen eng gefüllten Säle. Der energische, freundliche Direktor des Asyls begleitete uns. Hie und da hatten sich schon die Obdachlosen auf ihre Pritsche ausgestreckt, von denen eine eng neben die andere gerückt war. Aber jetzt rappelten sich die meisten wieder in die Höhe und standen jeder stramm vor seiner Lagerstatt. Wenn Vater oben in einer Reihe anfing, jedem die Hand zu geben und einige Fragen an ihn zu richten, sah die ganze lange Linie ihm entgegen. Unwillkürlich lenkte er aller Augen zu sich hin. Und wenn er weitergegangen war, sahen ihm dieselben Augen nach, bis er verschwand. Es war wie eine Heerschau, die ein General über seine Armee abhielt — eine Armee von Bettlern.
Draußen auf dem Flur kosteten wir die Mehlsuppe, die aus großen Gefäßen in das blecherne Geschirr geschöpft wurde, das jeder in seiner Hand hielt. Auch in die Badestube mit ihren sauberen Duschapparaten gingen wir und auch in die Kammer, wo die mit Ungeziefer behafteten Kleider gereinigt wurden. Schließlich kamen wir in einen der Säle, die für die obdachlosen Frauen und Mädchen bestimmt waren. Aber während Vater in den Sälen der Männer lange verweilt hatte[S. 399] — in diesem Frauensaale sagte er nichts. Stumm ging er an einem Ende hinein und am andern wieder hinaus. Das Bild war für ihn zu schrecklich. Denn fast alle Insassen dieses Saales waren betrunken. So abschreckend der Anblick betrunkener Männer ist — der Anblick dieser durch Trunkenheit und alle Art von Lastern entstellten Frauenangesichte hatte etwas Bestialisches, ja Diabolisches an sich. Darum konnte und mochte Vater nichts sagen.
Dieser Abend im Asyl für Obdachlose aber war der Gründungstag von Hoffnungstal. Von jetzt ab ließ es Vater keine Ruhe mehr. Er bereiste in kurzer Zeit mit unermüdlichem Eifer die ganze Gegend um Berlin. Überall forschte er nach geeignetem Gelände, um für die Obdachlosen Berlins eine Zufluchtsstätte zu schaffen, wo sie nicht nur Obdach und Brot, sondern vor allem Arbeit fänden. Schließlich bot sich ihm im Norden der Stadt an den Grenzen der Berliner Rieselfelder ein geeigneter Platz. Dort besaß die Berliner Stadtverwaltung ein kleines Gut mit angrenzenden weiten Kiefernwaldungen, die sich auch durch die schwachen Kräfte der Berliner Obdachlosen mit Hilfe des leicht zu beschaffenden Düngers der Berliner Pferde- und Kuhställe in Obstanlagen verwandeln ließen.
Während nun Vater den Berliner Magistrat auf der einen Seite sehr scharf angriff, daß er in seinem Asyl Müßiggänger, ja schließlich Verbrecher schlimmster Art großziehe, indem den Obdachlosen wohl Almosen in Gestalt von Quartier und Mahlzeiten, aber keine Arbeit angeboten würde, hatte er gleichzeitig den Mut, denselben Magistrat zu bitten, ihm bei der Anlage der neuen Kolonie behilflich zu sein und ihm das Gut auf achtzehn Jahre zu verpachten. Wirklich ging der Magistrat auf Vaters Wünsche ein. Und bald erklang Vaters fröhliche Bitte: „Wer hilft uns mit zum Bau von Hoffnungstal?” Während er aber diese Bitte hinaussandte und seine Kollektanten in ganz Berlin treppauf, treppab zogen, kehrte Vater zu immer erneuten nächtlichen Besuchen in das städtische Asyl zurück, um mit dem Direktor und den Beamten des Asyls seine Pläne bis ins einzelne zu überlegen. Bei einem solchen Besuche war es, daß einer der ältesten und erfahrensten Aufseher zu ihm sagte: „Herr Pastor, Ihre Arbeit ist vergeblich. Wenn die jungen unverdorbenen Leute, die in unser Asyl kommen, nur ein paar Tage neben den ausgelernten Taugenichtsen liegen,[S. 400] so ist fast kein Unterschied mehr zwischen den beiden. Sie müssen sie trennen, damit die Ansteckung nicht so leicht möglich ist.”
Das Wort schlug tief bei Vater ein. Es war ja immer seine Art gewesen, auf guten Ratschlag anderer zu horchen, wie er sich überhaupt nie etwas auf eigene Gedanken zugute tat, sondern bis an sein Ende an der Überzeugung festhielt, daß er nie, so viel die Leute ihn auch rühmten, eigene neue Wege eingeschlagen hätte, sondern immer nur in die Fußtapfen anderer getreten sei, die ihm mit Rat und Tat vorangingen. So griff er denn auch den Rat des alten treuen Aufsehers im Asyl für Obdachlose auf. Hinfort war es sein Feldgeschrei, das er immer aufs neue laut erhob: „Kein Massenquartier mehr, sondern Einzelquartier!” „Keine Anhäufung dicht gelagerter Menschen, sondern Einzelstübchen!” Und bald war die erste „Heimstätte” in Hoffnungstal fertig. Sie barg keine übereinander gebauten Betten, wie in den Herbergen, in den Arbeiterkolonien und vielfach auch in den Kasernen, sondern für jeden müden heimatlosen Gast der Straße einen stillen kleinen Raum, von drei Wänden umschlossen, mit einem Bett und einem verschließbaren Schrankstuhl möbliert, nach oben in den freien Luftraum geöffnet und nach der vorderen Seite zu durch einen dichten Vorhang verschlossen.
Kaum aber war die erste Heimstätte fertig, so eilte Vater zu seinen Freunden in das Asyl. „Wer will nun kommen? Die Arbeit wartet auf euch und euer Stübchen auch.” Da reckten sich wieder die Hände empor; nicht schüchtern mehr, wie an jenem ersten Abend, sondern nun mit heißem Verlangen: „Herr Prediger! Ick, ick! nehmen Se mir mit, nehmen Se mir ooch mit!” Es waren die Stimmen und Hände Versinkender, die im Begriff waren, in dem Sumpf des großen Berliner Morastes unterzugehen, und die sich nun dem Retter entgegenstreckten.
Darum konnte Vater sich auch an der einen Heimstatt nicht genügen lassen, sondern bald kam die zweite und dritte hinzu, und die vierte, fünfte und sechste folgte, alle mit fünfzig bis achtzig Einzelstübchen eingerichtet.
Zur Einweihung der jungen Kolonie aber kam die Kaiserin mit ihrem zweiten Sohne, dem Prinzen Eitel Friedrich, der das Protektorat übernommen hatte. Tief bezeichnend für den Sinn, mit dem die sonst so schlichte kaiserliche Frau[S. 401] und ihr Sohn die Geringsten des Volkes ehrten, war die kaiserliche Pracht, die sie bei dieser Gelegenheit entfalteten. Sie kamen im Viererzuge mit Spitzenreitern — Reiter und Kutscher im friderizianischen Kostüm mit Dreimastern und langen weißen Zöpfen. Ihren Platz hatte sie sich inmitten der Kolonisten erbeten. Die saßen denn auch während der Feier in dichtem Kranz um sie her und dahinter erst der große Kreis der Festgäste.
Am Abend vorher hatte Vater die Probe abgenommen über das Lied, das die Kolonisten während der Feier singen sollten. Er taktierte selbst mit seinem Krückstock, und nie habe ich ein Konzert gehört, das mir mehr zu Herzen gegangen wäre als der Gesang dieser von Schnaps und Elend abgenutzten Kehlen: „Lobe den Herren, o meine Seele! Ich will ihn loben bis in Tod.” Die Einweihungsrede hatte Vater vorher aufgeschrieben, auswendig gelernt und sie seiner Schwiegertochter aufgesagt. Aber als er dann vor der Versammlung stand, konnte er doch nicht anders sprechen, als es ihm im Augenblick ums Herz war.
Wie viele fröhliche Gesichter hat Vater fortan in Hoffnungstal gesehen! Wer ihn einmal ein paar Stunden durch seine geliebten Einzelstübchen mit ihren Bewohnern begleiten konnte, der erlebte einen Anblick, wie er durch keine Pracht und keine Schaustellung der großen Weltstadt, deren Dunst im Süden von Hoffnungstal über dem Horizont lagerte, ersetzt werden konnte. Wie mancher von diesen gehetzten Leuten hatte hier zum erstenmal in seinem Leben eine Stätte des Friedens gefunden, wo Leib und Seele ausruhen konnten, um sich zu stärken für einen neuen und sieghaften Kampf. Mancher von ihnen hatte nie eine Wand über seinem Haupt gehabt, an der er das Bild seiner Mutter oder seiner Kinder aufhängen konnte. Jetzt endlich hatte er seine bescheidenen, wenn auch nicht vier, so doch drei Wände um sich und konnte sie sich mit den Erinnerungen an seine Lieben schmücken. Und wie ruhte es sich des Abends in dieser Einsamkeit! Da konnten sich unbemerkt und unverspottet die Hände einmal wieder falten wie einst in der Kinderzeit. Und manch einer konnte hier seine Mannesehre und seinen Mannesmut wiederfinden, indem er sich in der Stille seines Kämmerchens beugte vor dem lebendigen Gott und dem Heiland der Sünder. Aus solcher Stille aber ging es[S. 402] doppelt fröhlich hinaus an die gesunde Arbeit im wilden Wald oder bei den fröhlich heranwachsenden Obstbäumchen. Darum konnte es nicht anders sein, als daß Vaters Gestalt, wo sie sich auch nur blicken ließ, verfolgt wurde mit vielen dankbaren Blicken und manchem dankbaren Wort.
Bald stellten sich auch die Besucher ein, geringe und vornehme, von nah und fern. Sie wollten die Stübchen sehen, die sie für Hoffnungstal und Lobetal, Gnadental und Neu-Gnadental gestiftet oder auf manchem mühsamen Wege zusammenkollektiert hatten. Sie freuten sich der dankbaren Pietät, mit der jedes Stübchen und jedes Bäumchen den Namen seines Gebers oder seines Sammlers trug, und freuten sich vor allem seiner glücklichen Bewohner. Unter den zahlreichen Besuchern der Kolonie, die immer wieder aus Berlin kamen, war auch eine jüdische Frau gewesen. Vater begleitete sie durch die ganze Kolonie. Als sie alles gesehen hatte, blieb sie stehen und sagte: „Herr Pastor, warum tun Sie das nur für die Männer von Berlin? Haben es die Frauen und Mädchen nicht noch viel nötiger?”
Wie das Wort des alten Aufsehers im Asyl, so schlug auch dies Wort der menschenfreundlichen Jüdin bei Vater ein. Es war ihm, als wenn er an eine große, lang vergessene Schuld erinnert würde. Der Saal mit den betrunkenen Frauen und Mädchen, den er bei seinem ersten Besuch im Asyl für Obdachlose gesehen hatte, trat vor seine Seele, und es beunruhigte ihn tief, daß er über der Not der Männer seine Augen für die Not der Frauen verschlossen hatte. Nun hieß es: „Wir brauchen auch Heimstätten und Einzelstübchen für die sinkende Frauenwelt der großen Stadt.” Und so erhob Vater noch einmal, kurz ehe ihn das erste Mal der Schlaganfall traf, seine Stimme zur Aufrichtung eines weiblichen Hoffnungstals. Bald hatte er auch diesmal wieder den geeigneten Platz gefunden, und wenn seine Kraft auch nicht mehr ausreichte, persönlich die Stelle zu besuchen, so freute er sich um so mehr an den Nachrichten über das fröhliche Aufblühen des neuen Zufluchtsorts, der unter einem von Liz. Bohn geleiteten Komitee im Osten Berlins bei Erkner auf ähnlichem Gelände wie Hoffnungstal den abgehetzten und abgehärmten Frauen und Mädchen seine Einzelstübchen anbot.
Dann aber setzte der Schlaganfall Vaters Arbeit ein Ende.[S. 403] Er war mehrere Wochen nahezu stumm. Es schien, als sollte es still dem Ende zugehen. Statt dessen aber ließ Gottes Freundlichkeit das glühende Herz noch einmal wieder aufflammen, um fast für ein ganzes Jahr die Herrschaft über den zerbrochenen Leib wiederzugewinnen. Sein ganzes Arbeitsfeld konnte er noch einmal überblicken, um, wo es not tat, für die alten Geleise neue Ziele zu weisen. So trat ihm auch für seine geliebten Einzelstübchen noch ein großes neues Ziel vor die Seele. Es war ihm nicht genug, darauf zu dringen, daß alle deutschen Herbergen und Arbeiterkolonien mit dem System der Massenquartiere brechen müßten, auch nicht nur für alle Diakonissen- und Diakonenhäuser wünschte er die gleiche Wohltat, vielmehr trat es ihm mehr und mehr wie eine große gemeinsame Pflicht des Vaterlandes vor die Seele, daß jedem deutschen Manne, der im Dienste des Vaterlandes für zwei Jahre auf seine Freiheit und Heimat verzichtete, als Ersatz dafür in seiner Kaserne solch eine heimatliche Stätte hergerichtet würde, deren unermeßlichen Wert Vater auf so mannigfache Weise erfahren hatte.
Mit Offizieren und Soldaten saß er manchen Nachmittag zusammen und überlegte hin und her, bis es ihm schließlich völlig gewiß wurde: „Es geht, es geht.” Er lud den Kronprinzen ein, einmal Hoffnungstal zu besuchen, und schrieb an den Kriegsminister folgenden Brief:
„Euer Exzellenz
wollen einem ehemaligen Kaiser-Franzer und späteren Feldprediger von 1866 und 1870 erlauben, sein Herz auszuschütten. Er bittet desto kühnlicher darum, als er vielleicht bald zur oberen Armee weiterziehen muß und es ihm keine Ruhe mehr läßt, vorher noch das Folgende vorgetragen zu haben.
Es ist jetzt dreißig Jahre her, daß ich zum erstenmal einem deutschen Ingenieur den Plan eines lenkbaren Flugschiffes auseinandersetzte, ohne daß ich damit durchdrang. Seitdem habe ich denselben Plan alle die vielen Jahre hindurch vielen Ingenieuren und Offizieren dargelegt, habe mir viel Kopfschütteln als über einen unausführbaren Plan gefallen lassen müssen, habe aber, wenn auch durch wichtigere Aufgaben an praktischer Mitarbeit gehindert, doch schließlich die Eroberung der Lüfte erlebt.
In folgendem handelt es sich aber um ein ungleich wichtigeres, höheres Ziel als bloß um die Eroberung der Luft.[S. 404] Darum wird es erst recht das Kopfschütteln vieler hervorrufen, ist eben darum aber auch des Schweißes der Edelsten wert. Worum es sich handelt, ist die Rückeroberung der Armee aus der ansteckenden Luft der Kasernenstuben und die Schaffung einer gesunden Atmosphäre für jeden deutschen Soldaten in einem Einzelquartier.
Ich weiß es aus meiner eigenen Militärzeit und habe es seitdem in einem fast achtzigjährigen Leben ungezählte Male bezeugt gefunden, welche Gefahren das Zusammenleben in den gemeinsamen Quartieren für die Soldaten mit sich bringt. Ein einziger unsauberer Bursche verdirbt oft eine ganze Stube. Und je größer die Stuben sind, desto größer die Gefahr. Es ist nicht in jeder Garnison und in jeder Kaserne gleich. Es gibt auch Stuben, aus denen keine Klagen kommen. Aber im allgemeinen sind die Verhältnisse so, daß nicht dringend genug auf eine Abhilfe gesonnen werden kann. Die Abhilfe aber würde eben darin bestehen, daß jedem Soldaten statt des gemeinsamen Quartiers ein Einzelquartier geboten wird. So nötig die gemeinsame Erziehung der Soldaten ist, so nötig ist als Ergänzung dazu ein bestimmtes Maß von Einsamkeit für jeden einzelnen Mann, wo er sich auf sich selbst besinnen kann. Es ist mir unzweifelhaft gewiß, daß die innere Beschaffenheit unserer Armee um viele Prozente in die Höhe schnellen würde, wenn es gelingt, den einzelnen Mann zu einem höheren Maß von Selbstachtung zu erziehen, indem man ihm ein Einzelquartier gewährt. Die mit solchen Einzelquartieren in der Praxis bereits erzielten Erfolge sind so außerordentlich, daß ich Ew. Exzellenz nicht dringend genug bitten kann, diesem Gegenstand eine ganz besondere Aufmerksamkeit zuwenden zu wollen.
Ich weise dabei auf die unter dem Protektorat Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen Eitel Friedrich stehende, von Ihrer Majestät der Kaiserin eingeweihte Kolonie Hoffnungstal bei Bernau in der Mark hin. Während alle übrigen deutschen Arbeiterkolonien das Massenquartier eingerichtet haben, ist die Kolonie Hoffnungstal die erste Kolonie, in der das Einzelquartier zur strengen Durchführung gekommen ist. Der Unterschied zwischen den Kolonien mit Massenquartieren und dieser Kolonie mit Einzelquartieren ist überraschend groß. Während in den übrigen Kolonien trotz eines gleichwertigen Aufsichtspersonals und trotz einer gleich guten Verpflegung die Haltung[S. 405] und der Ton unter den Kolonisten immer noch zu wünschen übrigläßt, ist beides in der Kolonie Hoffnungstal geradezu mustergiltig zu nennen. Obgleich die Bewohner von Hoffnungstal zum größten Teil aus den Berliner Asylen für Obdachlose stammen, die mit ihren Massenquartieren geradezu als Hochschulen des Schmutzes und der Zote angesehen werden müssen, ist in Hoffnungstal jede Zote verschwunden. Kolonisten, die nach Hoffnungstal kommen, haben immer wieder ihrer Verwunderung Ausdruck gegeben, wie es nur möglich sei, unter einer so großen Zahl aus aller Welt zusammengeströmter Menschen eine solche Atmosphäre des Anstandes und der Zucht zu erhalten. Das Geheimnis sind unsere Einzelquartiere. Das Einzelquartier macht es, besser als Worte es können, jedem einzelnen Mann klar, daß er nicht nur als Herdenmensch in Betracht kommt, sondern daß er als Einzelperson vor Gott und vor Menschen seinen besonderen Wert hat. So weckt das Einzelquartier, das jeder Bewohner sich nach seinem eigenen Geschmack ausschmücken kann, den Trieb zur Selbständigkeit, zur Selbstachtung und Selbsterziehung.
Meine Bitte geht nun dahin, daß Ew. Exzellenz einige der entschlossensten, um die Schlagfertigkeit unserer Armee wahrhaft interessierten Offiziere nach Hoffnungstal entsenden möchten und womöglich selbst einmal Hoffnungstal mit seinen 450 Einzelquartieren besuchten, wie es auch der jetzige Herr Kultusminister und sein Amtsvorgänger und auch der Minister der öffentlichen Arbeiten getan haben. Dann würden sich Ew. Exzellenz davon überzeugen, daß der Einwurf, das System sei viel zu teuer, nicht aufrecht gehalten werden kann und daß auch der andere Gegengrund, das System des Einzelquartieres gefährde die Übersichtlichkeit und die rasche Orientierung des Wachthabenden, hinfällig wird. Von Offizieren sowohl wie von Mannschaften ist mir gegenüber das Einzelquartier als durchaus durchführbar und erstrebenswert gebilligt worden.
Schließlich möchte ich noch meiner Überzeugung Ausdruck geben, daß durch die Einrichtung des Einzelquartiers mancher Dienstpflichtige, der sich jetzt aus Scheu vor dem Leben in der Kaserne mühsam zum Einjährigen durchquält, zu dem Entschluß kommen würde, auf die Einjährigen-Dienstzeit zu verzichten und zwei Jahre zu dienen. Das käme der Zusammensetzung der ganzen Truppe sehr wesentlich zugute.
Es würde sich zunächst darum handeln, in einigen Armeekorps, vielleicht nur jedesmal mit einer Kompagnie, Versuche anzustellen. Ich zweifle nicht daran, daß diese eine Kompagnie sich bald in so hohem Maße vor den übrigen ihres Regiments an innerer Qualifikation des einzelnen Mannes auszeichnen würde, daß damit der Siegeszug des Systems der Einzelquartiere gesichert wäre.
Ew. Exzellenz würden einen hellen Lichtstrahl auf das letzte Stück meines Pilgerlebens werfen, wenn Sie dieser meiner Bitte ein gnädiges Ohr schenken und vielleicht schon bald einen Besuch in Hoffnungstal zur Ausführung bringen könnten. Ob ich noch selbst in der Lage sein werde, Ew. Exzellenz persönlich durch Hoffnungstal zu führen, steht dahin, da mein Körper seit einem im Frühjahr erlittenen Schlaganfall unter immer erneuten Erschütterungen zu leiden hat. Ich würde aber dann meinen Sohn, der genau mit allen einschlägigen Fragen vertraut ist, an meiner Statt entsenden. Noch bemerke ich, daß ich den gleichen Gedanken auch dem Oberhofmarschall Seiner Kaiserlichen Hoheit des Kronprinzen unterbreitet habe, damit auch die Aufmerksamkeit des Thronfolgers auf diesen Gegenstand gelenkt wird und er womöglich ebenfalls zu einem Besuch in Hoffnungstal Anlaß nimmt. Ich habe dabei Graf Bismarck-Bohlen darauf aufmerksam gemacht, daß in der in unmittelbarster Verbindung mit der hiesigen Anstalt geleiteten Kolonie Freistatt, Kr. Sulingen in Hannover, neuerdings das System der Einzelquartiere nach den neuesten Modellen zur Ausführung kommt und daß es nach Fertigstellung der Bauten in diesem Frühjahr für Seine Königliche Hoheit den Kronprinzen, der Protektor unserer hiesigen Arbeiter-Kolonien ist, vielleicht noch wertvoller sein würde, diese neuesten Einrichtungen zu besichtigen.
Gott aber schenke Ew. Exzellenz ein tapferes Herz und einige entschlossene Mitarbeiter, damit diese große Sache zu einem fröhlichen Sieg kommt. Das wäre allerdings ein Sieg, der, mitten im Frieden erfochten, vor Gott höher gilt und für unser ganzes Vaterland bedeutsamer ist als irgend ein Sieg, der in einem irdischen Krieg erfochten werden kann.
Euer Exzellenz gehorsamster
F. v. Bodelschwingh, p. em.”
Am 6. März, gerade an Vaters Geburtstag, kam die ersehnte Antwort:
„Berlin, den 1. März 1910.
Euer Hochehrwürden
beehre ich mich für die Anregung im Schreiben vom 8. Februar 1910 auf Schaffung von Einzelstübchen für Soldaten meinen verbindlichsten Dank auszusprechen. Obwohl ich nicht verhehlen kann, daß die Durchführung der Anregung sowohl finanziellen wie militärischen Bedenken begegnet, bin ich doch gern bereit, in eine nähere Prüfung der angeregten Frage einzutreten und zu diesem Zwecke zunächst Vertreter der interessierten Abteilungen des Kriegsministeriums zu einer Besichtigung der Kolonie Hoffnungstal zu entsenden.
Euer Hochehrwürden würde ich für eine kurze — am besten an das Armee-Verwaltungs-Departement zu richtende — Mitteilung, welcher Zeitpunkt für die Besichtigung am geeignetsten wäre, verbunden sein.
Der Kriegsminister: von Heeringen.”
Am andern Tage antwortete Vater:
„Euer Exzellenz
darf ich die Mitteilung machen, daß nächst dem huldvollen Telegramm der Majestäten zu meinem gestrigen Eintritt in das 80. Dienstjahr mir nichts solche große Freude gebracht hat als Ew. Exzellenz Schreiben vom 1. März, das ebenfalls gestern zu meinem Geburtstage in meine Hand kam.
Ich bin mir wohl bewußt, daß der Verbesserung der Wohnungsverhältnisse unserer Armee sehr große Hindernisse entgegenstehen und daß vielleicht eine Reihe von Jahren hingehen werden, ehe mein Vorschlag zur Ausführung gelangen kann. Aber was Ew. Exzellenz bereits an Hoffnung für die große Sache mir bieten, übersteigt schon weit meine Erwartungen, sodaß ich nur mit Freudentränen Ihr gütiges Schreiben lesen konnte. Ich werde nun sofort den von Ew. Exzellenz angezeigten Weg einschlagen und mich, sobald ich mich mit der Verwaltung von Hoffnungstal verständigt habe, an das Armeeverwaltungsdepartement wenden und Mitteilung über den geeigneten Zeitpunkt machen. Ich halte es nicht für ausgeschlossen, daß mir der barmherzige Gott noch die Freude schenkt, persönlich [S. 408] nach Hoffnungstal zu kommen und für diesen Dienst, den ich für den Rest meines Lebens als den wichtigsten ansehe, noch meinen bescheidenen Rat und meine Kraft darbieten zu können.
Ehrerbietigst Ew. Exzellenz dankerfüllter treu ergebener
F. v. Bodelschwingh, p. em.”
Zugleich mit der Hoffnung, dem armen unglücklichen Kongo mit den Sendboten von Bethel aus noch dienen zu können, kam es bei dem Gedanken an die Neugestaltung der Kasernen wie ein letztes frohes Abendleuchten über den geliebten Vater. „Sechs Jahre”, sagte er, „möchte ich noch leben, dann habe ich die Sache durch.” — Doch wenige Tage darauf trugen wir ihn zu seiner letzten irdischen Ruhe.
Ein Offizier aber, mit dem Vater über die Frage der Einzelquartiere in den Kasernen Briefe gewechselt hatte, schrieb: „Es kennzeichnet das Wesen des unvergleichlichen Mannes, daß seine letzte Sorge den Soldaten galt. Die Frage der Einzelquartiere für die Soldaten, so hoffe ich, geht nicht verloren. Wer das Wesen der militärischen Ausbildung in der Charakterbildung des Mannes sieht, muß Feuer und Flamme dafür sein.”
Es war einsamer und einsamer um Vater geworden, Stöcker, Siebold, Kuhlo, Schmalenbach, die ihm durch Freundschaft und Verwandtschaft des Geistes besonders nahe gestanden hatten, waren vor ihm abgerufen. Nur der alte Generalsuperintendent Braun blieb als der letzte übrig. Schwer leidend, mit zerriebenen Nerven, hatte er sich schließlich, Vaters unaufhörlichem Locken folgend, von Berlin nach Bethel zurückgezogen, wo ihm Vater am Waldrande ein Häuschen bauen ließ, so wie vorher schon Siebold, Kuhlo und die Familie Schmalenbach ein solches Häuschen bezogen hatten.
1907 war Stöcker noch einmal zu uns gekommen, und die beiden Kämpfer, die mit zunehmendem Alter einander immer näher gerückt waren, hatten sich für die letzte noch vor ihnen liegende Lebensarbeit miteinander im Glauben gestärkt — „Stöcker,” wie einer, der beiden nahe stand, schrieb, „der Mann Gottes, der mehr gearbeitet hat als sie alle und über solcher Arbeit fast müde geworden ist, Vater, das Kind Gottes, dem Barmherzigkeit widerfahren ist (2. Kor. 4, 1) und das darum nicht müde werden kann.” Vergeblich hatte sich Stöcker von Vater bitten lassen, er möchte doch seinem treuesten Freunde aus der Berliner Zeit, Pastor Kuhlo vom Elisabethkrankenhaus, folgen und den Rest seiner Fahrt in Bethel endigen; er konnte sich nicht entschließen, Berlin zu verlassen.
Der alte Pastor Siebold hatte schon im Jahre 1894 Schildesche mit Bethel vertauscht und war, achtzig Jahre alt, noch Vaters Hilfsprediger geworden, indem er ihm in unablässiger Bereitwilligkeit Stunden und Krankenbesuche abnahm. Als es dann zum Sterben ging, hatten die beiden in fast kindlicher Heiterkeit sich der Ewigkeit gefreut. Vater konnte sich kaum trennen von dem Bett des Sterbenden. „Bruder,” sagte er, „was stirbst du fein!”
Schmalenbach hatte bis zur letzten Faser seiner Kraft in seinem geliebten Mennighüffen ausgehalten. Er war nach[S. 410] Volkenings Tode die überragende Gestalt des Ravensberger Landes geworden und hatte mit Wort und Feder am tiefsten auf die Gemüter gewirkt. Fast ängstlich hatte er manchmal nach dem „Berge Zion”, wie er der auf dem Berge gelegenen Zionskirche wegen die Bethelgemeinde nannte, hinübergeblickt, ob nicht durch die dort sich dehnende Arbeit die Schultern des Minden-Ravensberger Volkes überlastet würden. Besonders seit dem Beginn unserer ostafrikanischen Arbeit war er, der das Ravensberger Land in wachsendem Maße dem Dienst der Barmer Mission zugeführt hatte, noch zurückhaltender geworden als vorher. Aber namentlich Budde hatte immer wieder dafür gesorgt, daß die Fäden hinüber und herüber nicht zerrissen. Als dann die Kräfte Schmalenbachs zusammenbrachen, holte unser ältester Bruder ihn nach Bethel herüber. Seine Familie folgte ihm, und Vater konnte noch an dem Lager des Sterbenden knien, der ihm wie ein ernster, stiller älterer Bruder gewesen war.
Die Übersiedelung des alten Pastors Kuhlo von seinem langjährigen Berliner Arbeitsfelde nach Bethel warf noch einen besonderen Sonnenstrahl auf Vaters Lebensweg. Zu ihm hatte er sich, sooft er in die Unruhe Berlins untertauchen mußte, mehr als zu irgend sonst jemand hingezogen gefühlt, und der tiefe Gottesfriede, der von der geheiligten Natürlichkeit Kuhlos ausging, war namentlich in den Zeiten, wo Vater als Abgeordneter je und je in seinem Stübchen im Berliner Hospiz krank gelegen hatte, seine große Erquickung gewesen. Ganz in der Stille hatte sich Vater dort auch einmal vom alten Kuhlo das heilige Abendmahl reichen lassen. Ein Jahr noch genoß Kuhlo mit seinen beiden Töchtern sein kleines mit ganz besonderer Liebe gebautes Waldhaus. Dann mußte Vater auch ihm das letzte irdische Geleite geben.
Aber es lag nichts Wehleidiges in der Trauer, mit der er seinen voraneilenden Freunden und Mitarbeitern nachsah. Die Einsamkeit, in der ihn seine Freunde zurückließen, sah er immer wieder voll Dankbarkeit sich füllen mit neu nachdrängenden Gestalten, die bereit waren, in die Lücken zu treten. Sein kindlicher Glaube hatte ihn jung erhalten, sodaß er sich auch unter den jüngeren Kräften und Mitarbeitern wohl fühlte, ja wie der jüngste, heiterste und arbeitseifrigste unter ihnen war.
Aber das auch für ihn näher rückende Ende hatte er dabei nicht aus dem Auge verloren, zumal sein Blasenleiden, das ihn[S. 411] seit dem Jahre 1899 nicht verlassen und ihm keine einzige ungestörte Nachtruhe mehr erlaubt hatte, ein unablässiger Mahner geworden war. Wem sollte er die Arbeit übergeben?
Seine drei Söhne hatten alle den Wunsch gehabt, außerhalb der Anstalt, sei es im Dienst der heimatlichen Kirche, sei es im Dienst der Mission, ihre Arbeit zu tun, und alle hatten auch zeitweilig einen solchen Dienst versehen. Aber schließlich hatte der Gehorsam gegen die Bitten des Vaters und das Verlangen, seine Kraft zu stützen und zu erhalten, sie einen nach dem andern in die Arbeit von Bethel zurückgeführt. Schon im Jahre 1896 war unser ältester Bruder in die Arbeit des Diakonissenhauses eingetreten und hatte schließlich dessen Leitung übernommen. 1904 war unser jüngster Bruder gefolgt, war auf allen Gebieten der vielgestaltigen Arbeit Vaters Gehilfe und von der Zeit ab, wo Vater in das Abgeordnetenhaus eintrat, sein verantwortlicher Vertreter geworden. Schließlich als Vater den Abschluß seiner Laufbahn herannahen fühlte, hatte er den Vorstand gebeten: „Gebt einem alten sterbenden Mann seinen Jungen wieder!” So war auch ich schnell, meine Gemeindearbeit in andere Hände legend, mit Frau und Kindern solcher Bitte gefolgt, um mit unserer Schwester zugleich den Vater während seines letzten Lebensjahres zu umgeben.
Immer wieder hatten wir Kinder Vater gebeten, sich nach einem Mann umzusehen, dem er noch bei seinen Lebzeiten die Leitung der Gesamtarbeit übergeben könnte. Und er hatte auch unablässig seinen Blick durch das gesamte Vaterland schweifen lassen, ob sich ihm solch eine Persönlichkeit zeigte oder zur Verfügung stellte.
Wieder und wieder hatte sich sein Auge auf den Superintendenten Holzhausen in Freiburg an der Unstrut gelenkt, den er im Jahre 1903 kennen gelernt hatte, als ihn eine Feier zum Gedächtnis der bei Freiburg im Oktober 1813 gefallenen und verwundeten Yorckschen Jäger, unter denen sich auch sein Vater befunden hatte, ins Unstruttal führte. Die urwüchsige Herzlichkeit, der kindliche tiefe Glaube, die große Arbeitsfreudigkeit und der väterliche und kameradschaftliche Sinn, die in Holzhausen vereinigt waren, hatten Vater ungemein angezogen. In ihm glaubte er wirklich einen Vater seiner Gemeinde gefunden zu haben. Mehrmals reiste er zu ihm und legte ihm in vertraulichstem Gespräch die ganze Aufgabe ans Herz. Aber[S. 412] Holzhausen konnte sich nicht entschließen. Eine andere Persönlichkeit zeigte sich nicht.
So gab Vater allmählich den Gedanken auf, von auswärts eine neue Kraft zu berufen. Mehr und mehr glaubte er in den Persönlichkeiten, wie sie allmählich in die Arbeit hineingewachsen waren, diejenigen sehen zu sollen, die zur Fortführung des Werkes berufen waren. So stärkte er unserm Bruder Friedrich den Mut, die Verantwortung für die Gesamtleitung, die er bis dahin schon als Vertreter des Vaters getragen hatte, auch nach seinem Abscheiden auf sich zu nehmen, während alle andern als seine Mitarbeiter auf ihrem Posten bleiben sollten.
Waren diese Gedanken auch noch nicht öffentlich ausgesprochen und im einzelnen festgelegt, so waren sie doch mehr und mehr das selbstverständliche Eigentum der ganzen Gemeinde geworden, sodaß sowohl Vater wie die Gemeinde ohne quälende Unruhe in die Zukunft blickten. Mit zitterndem Herzen freilich beobachteten wir, wie in den ersten Monaten des Jahres 1909 sich die frischen Farben auf dem Angesicht des geliebten Vaters verloren und sein sonst so munterer Schritt mühsam und schleppend wurde. Aber als dann am 19. April die Nachricht die Anstalt durcheilte, daß Vater, der am Tage vorher noch mit letzter Kraft 47 Schwestern eingesegnet hatte, von einem Schlaganfall getroffen sei, da gab es wohl überall eine schmerzliche Bewegung, doch kein ungläubiges Erschrecken. Die Gemeinde war bereit, das Opfer zu bringen, wenn es gefordert wurde, und war ohne Erschrecken, weil sie wußte, daß Vater bei Zeiten das Haus seiner ganzen Anstaltsfamilie bestellt hatte.
Doch noch ging es nicht zum Sterben. Vielmehr gab es noch ein ganzes Jahr stillen Abendfriedens, dessen Glanz vielen zur tiefsten Erquickung wurde. Die Zunge war durch den Schlaganfall gelähmt. Aber sofort setzte Vater seine ganze Energie daran, über die Sprache wieder Herr zu werden. Er übte so lange, bis ein Laut nach dem andern wieder deutlich wurde, sodaß seine Stimme allmählich die volle Verständlichkeit wiedergewann.
Ende Mai konnten wir ihn noch einmal nach Wildungen bringen, wo er sich unter der mütterlichen Pflege der Witwe Dr. Thilenius und seines ärztlichen Freundes Geheimrat Marc in den letzten Jahren immer wieder so wohl gefühlt hatte.[S. 413] Die kleinen Wege zum Brunnen konnte er zu Fuß machen, und im Rollstuhl fuhren wir ihn weit hinaus in die stillen Wald- und Wiesentäler.
Dazu wurden bald wieder die gewohnten Arbeitsstunden aufgenommen. Sie galten namentlich den Brüdern von der Landstraße, deren Sache in einem ausführlichen Aufsatz, der zugleich den Stoff zu einem Volksfamilienabend bieten sollte, noch einmal verfochten wurde. In jene Tage fiel auch der Besuch der englischen Kirchenmänner in Bethel, die Vater in einem längeren Schreiben begrüßte. Ende Juni siedelten wir dann nach Eckardtsheim über, wo die Hauseltern Biermann im stillen Eichhof das Quartier bereitet hatten. Sinnend saß Vater am Fenster, als wir von Paderborn her in die Senne hineinfuhren. „Was ist aus der Wüste geworden!” sagte er still vor sich hin im Gedanken an die ersten Anfänge in der wilden Heide von Wilhelmsdorf. Bald der eine, bald der andere kam von Bethel heraufgewandert, um hier in der wohltuenden Einsamkeit mit Vater zusammen zu sein. Und nachmittags wurden im Rollstuhl die Fahrten in die Niederlassungen von Eckardtsheim unternommen. Die einzelnen Häuser der Epileptischen, der Trinker, der Kolonisten, der Lungenkranken, der Geisteskranken, auch der Familien der Pfleger und Handwerker wurden nacheinander aufgesucht, vor allem und immer wieder der nahegelegene Fichtenhof mit seinen Fürsorgezöglingen, an deren frischem Gesang sich Vater nicht satt hören konnte.
Einmal stand er unter den jungen Burschen, fragte sie der Reihe nach nach Namen und Heimat und legte dabei einem, wie es gelegentlich seine Art war, wie zum Segen die Hand auf den Kopf. Es war einer der wildesten Jungen. Nach einigen Tagen war er verschwunden. Alles Nachforschen war vergeblich, bis nach längerer Zeit aus Böhmen ein Brief kam: „Sucht nicht mehr nach mir, ich komme nicht wieder. Aber seid ohne Sorge um mich, der alte Bodelschwingh hat mich gesegnet.” Wieder und wieder kamen Lebenszeichen von dem jungen Burschen, aus denen hervorging, daß er sich in der Tat in der Fremde aufrechthielt. Schließlich meldete er, daß er in das österreichische Heer eingetreten sei. Noch bis zum Jahre 1916 drang hier und da von dem östlichen Kriegsschauplatz ein kurzes Wort durch, bis auch über diesen Lebenslauf sich die[S. 414] Stille deckte, durch die der Krieg so manches junge Leben geendet hat.
Der Führer des Rollstuhls bei diesen Fahrten in die Sennehäuser war der treue Bruder Liebusch. Er hatte ursprünglich Theologie studiert, aber wegen nervöser Schwäche das Studium aufgeben müssen und war schließlich in die Krankenpflege von Bethel eingetreten, in der sich seine Kräfte allmählich hoben, sodaß er einige Jahre in der afrikanischen Heilstätte für Geisteskranke in Lutindi mithelfen konnte. Doch hatten die Kräfte dort aufs neue versagt, sodaß er Afrika verlassen mußte und jahraus, jahrein in hingebendster Weise bald da, bald dort in Bethel Aushilfsdienste tat. Aber seine Seele hing an der afrikanischen Arbeit. Sooft Vater während der Rollstuhlfahrten dieses Thema anschnitt, quoll das ganze Herz des treuen Liebusch über. Er vergaß darüber Weg und Steg, und einige Male war es drauf und dran, daß er Vater in den Graben gefahren hätte. Aber gerade das machte Vater Freude, weil es ihm das sicherste Zeichen der inneren Glut des Mannes war.
Schon lange hatte er sich nach einer neuen Hilfe für den einsamen Bokermann und seine schwarzen Geisteskranken umgesehen. Jetzt reifte in ihm der Entschluß, Liebusch noch einmal hinauszusenden. Fortan ging Liebusch in Sprüngen. Seine tiefste Herzenssehnsucht, die er bis dahin nicht auszusprechen gewagt hatte, sollte sich noch einmal erfüllen.
Segnend legte ihm Vater zum Abschied vor versammelter Gemeinde die Hände auf: „Zieh in Frieden deine Pfade!” Nie ist irgend einer von uns Missionsarbeitern in Afrika mit solchem Jubel empfangen worden wie Bruder Liebusch. Freilich nur für ein kurzes Arbeitsjahr. Dann überfiel ihn ein heftiges Fieber. Bewußtlos trugen ihn seine treuen Schwarzen an die Bahn hinunter; während der Fahrt nach Tanga starb er. Unter den rauschenden Palmen haben wir an seinem Grabe gestanden. Ist er zu früh, ist er umsonst gestorben? Vater rechnete nicht so.
Ende August waren wir aus Eckardtsheim nach Bethel zurückgekehrt. Der letzte Herbst und Winter brach an. Eine wunderbare Stille lag über diesen letzten Monaten. Aber es war keine Stille, die nur Ruhe bedeutet hätte, kein bloßes Warten auf die letzte Stunde. Wie in gesunden Tagen blieb der Tag eingeteilt. Nur daß der Morgen eine Stunde später begonnen und der Abend eine Stunde früher beschlossen wurde.[S. 415] „Ich darf dem alten Kerl nichts durchgehen lassen,” sagte Vater zu sich selbst. Und pünktlich um acht Uhr morgens saß er an seinem Schreibtisch. Oft freilich übermannte ihn die Müdigkeit über dem Diktieren und Unterschreiben. „Es will nicht mehr,” sagte er dann und ließ der Müdigkeit freien Lauf. Aber nach kurzem Schlummer raffte er sich wieder auf, nahm von dem Schrank die beiden afrikanischen Stöcke und wanderte diktierend oder überlegend im Zimmer auf und ab.
Nachmittags wurden dann zu Fuß oder im Rollstuhl, einerlei, ob es stürmte, regnete oder schneite, die einzelnen Häuser besucht. Die Geisteskranken hatten Vater von Jahr zu Jahr immer mehr am Herzen gelegen. Ihnen galten auch jetzt vor allem seine Wege. Aber gleichzeitig kam ein Haus nach dem andern an die Reihe. Wo er Schwerleidende wußte, Verstimmte, Verbitterte, Vereinsamte, da nahm er sich besondere Zeit und Stille.
Im Spätherbst kam ein holländischer Bildhauer, Müller-Kühlenthal, mit der Bitte, Vater zu modellieren. Wir neckten zunächst unsere alte Tante Frieda damit, sie möchte doch dem Bildhauer sitzen. Aber in ihrer spröden Art lehnte sie mit wachsender Energie ab. „Ich will nicht mal einen Kranz auf mein Grab haben.” „Schwesterchen,” sagte Vater, „die Blümchen hat Gott auch gemacht, und die Gärtner wollen auch leben. Und wenn du dem Bildhauer eine Liebe erweisen kannst, warum solltest du es nicht tun?” Damit hatte er sich selbst gefangen. Als Tante Frieda, wie zu erwarten war, bei der Ablehnung blieb, willigte er statt ihrer ein, und am andern Morgen konnte der Bildhauer seine Arbeit beginnen.
Aber noch ehe sie vollendet war, überfiel Vater eine Lungenentzündung, die ihn für Wochen ans Zimmer fesselte. Der Arzt wünschte nicht, daß er zu Bett bliebe; und mit größter Energie nahm Vater den Kampf mit der Krankheit auf. An seinen geliebten Stöcken wanderte er, um den Atem kämpfend, im Zimmer auf und ab, lehnte sich zwischendurch eine Weile in seinen Sessel, schlief einen Augenblick und nahm dann aufs neue seine Wanderung auf.
Es war die Zeit, in der die Greuel am afrikanischen Kongo bekannt geworden waren. Über den furchtbaren Leiden der Kongoneger wurde Vater die eigene Krankheit gering. Abschnitt für Abschnitt mußte ich ihm aus den Broschüren vorlesen. [S. 416] „Junge,” sagte er immer wieder, „halt ein! Ich kann es nicht anhören; es ist nicht wahr, es kann nicht sein.” Aber dann wieder: „Lies weiter! Wir müssen die Sache zu Ende hören.” Darüber erwachte noch einmal seine ganze Glut für das arme Afrika. Der Gedanke wurde ihm schwer, daß Bethel so wenig weibliche Kräfte hinübergesandt hatte zur notwendigen Ergänzung der männlichen Arbeit in dem unermeßlichen Meer des afrikanischen Elends. „Nur nicht zu langsam!” rief er dem Missionsinspektor Trittelvitz zu. „Nur nicht zu langsam; sie sterben drüber.” Und wieder und wieder beschäftigte ihn der Gedanke, daß nach seinem Abscheiden ich mit den Meinen mich bald aufmachen möchte in das geliebte notleidende Afrika.
Die Lungenentzündung, als sie schließlich überwunden war, hatte ein gewisses Aufleben der Kräfte im Gefolge, sodaß Vater in der Zeit nach Weihnachten mit größerer Frische als vorher seine Besuche in den Häusern wieder aufnehmen und auch im Arbeitszimmer sich noch einigen Aufgaben widmen konnte, die ihm neben den täglichen kurzen Dankschreiben an die Geber und Freunde besonders am Herzen lagen. Durch den Amerikaner Buchmann, der einige Tage in Bethel zugebracht hatte, hatte der bekannte Multimillionär Carnegie Verbindungen mit Vater angeknüpft in der Hoffnung, durch ihn mit dem Kaiser bekannt zu werden.
Mit großem Interesse verfolgte Vater den Entwicklungsgang des aus kleinsten Verhältnissen emporgestiegenen, höchst energischen Mannes und ließ sich seine Aufsätze vorlesen. Aber den Gedanken des ewigen Völkerfriedens, der Carnegie besonders am Herzen lag, lehnte er als eine Utopie ab. In einem ausführlichen Briefe setzte er ihm auseinander, daß die Kriege um der Bosheit der Menschheit willen ganz unvermeidlich seien und daß er für seine Person erfahren habe, wie auch diese furchtbaren Gottesgerichte für Völker und einzelne einen Segen in sich schließen. Carnegie aber wurde durch diesen Brief bitter enttäuscht und sprach das seinem Freunde Buchmann, der inzwischen nach Amerika zurückgekehrt war, aus. Klagend wandte sich Buchmann an Vater: „Wenn dieser Brief doch nie geschrieben wäre! Jetzt sind Sie um die Million Dollar gekommen, die Carnegie drauf und dran war Ihnen zu schenken.” Das kümmerte Vater nicht. Die großen Gaben waren ihm ja immer ein Schrecken gewesen, weil sie, wenn die Kunde davon[S. 417] in die Öffentlichkeit drang, gar zu leicht die kleinen Bäche der Liebe verstopften. Aber im Traum verfolgte ihn der Gedanke, Carnegie hätte doch eine große Gabe geschickt, sodaß er im Schlafe rief: „Nimm mir die Millionen wieder ab! Nimm mir die Millionen wieder ab!”
Aber die Verbindung mit Carnegie sah er damit nicht als abgebrochen an. Für sich und seine Arbeit hoffte er nichts von ihm. Aber es lag ihm daran, Carnegie womöglich für eine tiefere Auffassung der sozialen Aufgaben Nordamerikas zu gewinnen. Mit Bestürzung hatte er in einem Aufsatze Carnegies die Meinung vertreten gefunden, daß man nur die Aufwärtsstrebenden unterstützen, die Versinkenden aber so schnell wie möglich untergehen lassen sollte. Die versinkende Masse Nordamerikas zu retten, darin sah Carnegie lediglich eine Verschwendung der nationalen Kraft. Vater umgekehrt erblickte die Echtheit wahrer Humanität, deren Carnegie sich rühmte, darin, daß sie sich gerade der Versinkenden annahm und an ihnen ihre Wahrheit und Tiefe bewährte.
Auf schriftlichem Wege Carnegie zu überzeugen, hoffte er nicht mehr. Darum knüpfte er mit dem Großkaufmann J. K. Vietor in Bremen an, der Amerika kannte. Vietor kam mit seinem Bruder, dem Pastor, zu einem ersten Besuch nach Bethel, und die herzhafte Energie der beiden Brüder tat Vater ungemein wohl. Namentlich die Lage der amerikanischen Brüder von der Landstraße, die nicht als Wanderer, sondern als blinde Passagiere auf, unter und hinter den Eisenbahnwagen in beständiger Lebensgefahr das Land durchquerten, hatte Vater aufs tiefste bewegt, und hier sollte Vietor in seinen Verhandlungen mit Carnegie einsetzen. Aber noch ehe Vater durch Buchmann eine Besprechung zwischen Carnegie und Vietor herstellen konnte, setzte Vaters Tod diesem Plan ein Ziel.
Wieder und wieder galten Vaters Besuche seinem alten Freunde, dem Generalsuperintendenten Braun, in seinem kleinen Hause am Waldrande. Vater hatte sich nie dareinfinden können, daß Braun seine Arbeit am evangelischen Gymnasium in Gütersloh aufgegeben hatte und Generalsuperintendent in Berlin geworden war. Er blieb der Überzeugung, daß Braun damit seine eigentliche Lebensaufgabe verlassen habe. „Wir haben keinen wichtigeren Posten in der ganzen evangelischen Kirche als den am Gymnasium zu Gütersloh,” sagte Vater gelegentlich. [S. 418] Nach dem Ausscheiden Pastor Möllers, der als Brauns Nachfolger zum Segen für viele bis zum siebzigsten Lebensjahr dem Gymnasium gedient hatte, wurde ein neuer Geistlicher für das Gymnasium gesucht, und Braun bat Vater, unsern Bruder Friedrich dafür freizugeben. Die Sache bewegte Vater aufs tiefste. Er blieb bis zuletzt seinem Grundsatz treu, wenn es nötig und möglich sei, das Liebste sich vom Herzen zu reißen und an die bedrohtesten Posten zu werfen. An einem Februarnachmittag fuhr er nach Gütersloh, um mit dem Fabrikanten Wolf, der seit Jahren sein verständnisvoller Mitarbeiter geworden war und als Nachfolger des Forstrats Deckert den Vorsitz des Anstaltsvorstandes führte, zu überlegen. Vater sah das Gymnasium in Gütersloh, das in seiner Unabhängigkeit einzig in seiner Art dastand, als das eigentliche geistliche Zentrum der heranwachsenden deutschen Jugend an und war bereit, dafür jedes Opfer zu bringen.
Aber er konnte die Freudigkeit des Präses seines Vorstandes nicht gewinnen und mußte sich davon überzeugen, daß der gesamte Vorstand die Ansicht des Präses teilte. So legte er den Gütersloher Plan mit kurzer Entschlossenheit beiseite, um nun desto mehr unsern Bruder in der Freudigkeit für seine Aufgabe in Bethel zu stärken. Aber nicht in irgend einem Menschen sah er den eigentlichen Mittelpunkt der vielverzweigten Anstalt. „Das Wort Gottes muß euch zusammenhalten,” sagte er, „und das eigentliche Herzblatt unserer ganzen Arbeit ist die Heidenmission.”
Aber zugleich blieb ihm die Mission an der Seele des eigenen Volkes tiefstes Anliegen. Seit einigen Jahren hatten im Anschluß an die theologische Schule regelmäßig Bibelkurse für evangelische Arbeitersekretäre stattgefunden. Anfang März 1910 waren wieder die Sekretäre zu einem solchen Kursus versammelt. Mit tiefstem Interesse nahm Vater an den Besprechungen teil und trat im Einzelgespräch den Sekretären näher, namentlich ihrem weitblickenden Führer Behrens. Die durch diese Sekretäre vertretene, von Liz. Mumm und Liz. Weber mit zäher Umsicht geleitete evangelische Arbeiterbewegung hatte seit Jahren ihr Organ in einer von Stöcker begründeten, unter dem Titel „Das Volk” erscheinenden Tageszeitung, aus der sich die Zeitung „Das Reich” entwickelte. Daß die letztgenannte alsbald in eine bedrängte Lage geriet, bewegte Vater sehr. Er[S. 419] sah den Untergang des Blattes kommen, wenn es in Berlin bliebe, und bat den Redakteur, Dr. Oestreicher, Mitte März, zu einer Besprechung nach Bielefeld zu kommen. In herzandringender Weise legte er ihm dar, daß der Herausgeber eines Blattes, das die innerste Pflege der Seele des Volkes zur Aufgabe habe, in der schwülen Großstadtluft Berlins nicht frei und tief genug atmen könne und eine gesundere Atmosphäre aufsuchen müsse. Oestreicher möge so schnell wie möglich eine Übersiedelung des Blattes aus Berlin nach Bielefeld in die Wege leiten, um dort im Anschluß an das kleine von Budde begründete christlich-soziale Organ, den „Ravensberger”, seine Arbeit fortzusetzen. Die Bitte war vergebens. Nach einem halben Jahre stellte „Das Reich” sein Erscheinen ein, und die hingebende Kraft Oestreichers war für die Sache verloren. Der Gedanke selbst aber lebte fort und fand, wenn auch erst neun Jahre später, dadurch seine Erfüllung, daß aus dem „Ravensberger” die noch heute in Bethel erscheinende Tageszeitung „Aufwärts” hervorging.
Für die Anstaltsgemeinde im besonderen beschäftigte ihn unablässig der Gedanke an die richtige Versorgung der im Dienst ergrauten Schwestern, der alsbald durch die Errichtung eines schönen, großen Feierabendhauses in die Tat umgesetzt wurde. Daneben lag ihm wieder und wieder die rechte Pflege der heranwachsenden Kinder der Anstaltshauseltern und Anstaltsbeamten am Herzen.
Einer der letzten ausführlichen Briefe Vaters galt, wie im vorigen Abschnitt gezeigt, der deutschen Armee, und die verständnisvolle Antwort des Kriegsministers war eine der letzten großen Freuden, die Vater erlebte.
Am 6. März feierten wir mit der ganzen Gemeinde im schönen großen Assapheumssaal seinen Eintritt ins achtzigste Lebensjahr. Gelassen wie ein Kind ging er seinen Weg vorwärts, zuweilen mit einer Verlängerung seiner Arbeitsfrist auf Erden rechnend, aber daneben immer wieder an sein baldiges Ende denkend. Unbeschreiblich gemütlich blieben unsere Abendstunden, in denen wir ein schönes Buch nach dem andern lasen, zuletzt, als der zehnjährige Sohn unseres afrikanischen Freundes Johanssen seine Abende bei uns zubrachte, das Leben Hagenbecks. Nicht nur den Jungen, dem zuliebe Vater das Buch lesen ließ, interessierte es aufs lebhafteste, sondern auch[S. 420] Vater selbst, der immer wieder staunte über die große Liebe und Energie, mit der Hagenbeck über die wilden Tiere Herr wurde.
Wurde Vater müde, so rief er: „Vorwärts, alter Kerl!”, richtete sich in seinem Sessel auf und ging an seinen beiden Stöcken auf und ab. Wenn die Uhr neun schlug, las unsere Schwester aus Wursters Buch die Andacht, und Vater hielt das Schlußgebet. Tagsüber freute er sich immer wieder an dem kommenden Frühling und seinen Blumen. Am Todestage Cäsars, dem 15. März, blieb er vor den sprossenden Primeln im Garten stehen. „Armer Cäsar,” sagte er, „hast an deinen Iden gewiß keine so schönen Blümchen gehabt.” Und dann im Gedanken an den schmerzlichen Untergang des großen Mannes: „Wo mag er jetzt sein? Wenn Gott dem nicht gnädig ist, wem ist er dann gnädig?”
Mit den Frühlingsblumen in der Hand ist er dann noch von einem Krankenbett zum andern gewandert. Zuletzt zu den gemütsleidenden Frauen nach Magdala und zu seiner an schwerer Lungenentzündung darniederliegenden Schwiegertochter.
Am zweiten Ostertage zogen wir noch einmal mit ihm durch das ganze liebe Anstaltstal bis zum benachbarten Hof des Kolons Wüllner, der später die Heimat der Volkshochschule werden sollte.
Am Mittwoch darauf war der letzte Abend, den wir ihn unter uns hatten. Noch einmal las die Schwester die Andacht, und Vater betete und schloß mit den Worten: „Sorget nichts, Kinder! Alle eure Sorge werfet auf ihn!”
Im Schlafzimmer oben traf ihn dann ein neuer Schlaganfall. Das Bewußtsein war gleich verschwunden. Ohne zu leiden, lag er noch drei Tage. Wie mit verhaltenem Atem ging die ganze Gemeinde dahin. Wir wußten alle, daß nun der Abschied gekommen sei. Einer nach dem andern trat still an das Sterbelager, um noch einmal in das schlummernde Angesicht zu sehen. Die Klänge aus Pastor Kuhlos Flügelhorn stärkten uns wieder und wieder.
In der Mittagsstunde des 2. April, während ich am Krankenlager meiner Frau war, wurde ich gerufen. Die Stunde des Abscheidens stand vor der Tür. Ich eilte von meiner Wohnung durch den Buchenwald hinunter. Am Wege, den Spaten in der Hand, stand ein russischer Baron von Obolianinoff, der seit[S. 421] vielen Jahren als epileptischer Kranker in Bethel war und Vater sehr nahe stand. Ich sagte ihm, wohin mein Weg ginge. Da floh der Glanz von seinen dunklen Augen, und ich sah wie in einen dunklen Abgrund des Schmerzes hinein. Sagen konnte er nichts. Aber sein erloschenes Auge sprach laut von dem, was diese Stunde nicht nur für diesen einen einsamen Kranken, sondern für ungezählte bedeutete.
Die Geschwister fand ich schon versammelt. Wir knieten um das Bett und hielten abwechselnd die erkaltenden Hände. Als der letzte Atemzug getan war, betete unser Bruder Wilhelm aus tiefstem Herzen und brachte Gott den Dank dar über diesem für die Erdenarbeit abgeschlossenen Leben.
Als ich am späten Nachmittag wieder durch den Buchenwald zurückging, wehte von der Zionskirche die Fahne. Im hellen Schein der Abendsonne leuchteten darauf die Worte: „Lobe, Zion, deinen Gott!” Jene in Schmerz getauchten Augen des Kranken und diese hell leuchtende Fahne gehörten zusammen. Darum waren auch die nun folgenden Tage, in denen der Zug der Kranken und ihrer Freunde noch einmal still in das friedliche Antlitz sah, bis wir mit vielen aus der Nähe und Ferne Herbeigeeilten um den geschlossenen Sarg in der Zionskirche versammelt waren, Tage, in denen das Klagen und Weinen überdeckt und übertönt wurde durch das Lob, das die Gemeinde der Elenden Gott darbrachte. Und als am 6. April die nicht enden wollenden Scharen sich langsam vom Grabe verloren, sang durch den scharfen Abendwind die Amsel ihr Frühlingslied.
Buchdruckerei
der Anstalt Bethel
bei Bielefeld.
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