The Project Gutenberg eBook of L'Âme aux deux patries: Sieben Studien

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Title: L'Âme aux deux patries: Sieben Studien

Author: Annette Kolb

Release date: May 16, 2014 [eBook #45661]
Most recently updated: October 24, 2024

Language: German

Credits: Produced by Jens Sadowski

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK L'ÂME AUX DEUX PATRIES: SIEBEN STUDIEN ***

L’ÂME AUX DEUX PATRIES
 
SIEBEN STUDIEN
Von
ANNETTE KOLB

Das scheinbar kränkste Volk kann der Gesundheit nahe sein, und ein scheinbar gesundes kann einen mächtig entwickelten Todeskeim in sich bergen, den erst die Gefahr an den Tag bringt.

Burckhardt: Cultur der
Renaissance, II. Band

Verlegt bei Heinrich Jaffe
München 1906

Von den folgenden Studien sind drei in der „Neuen Rundschau“, beziehungsweise der Wiener Wochenschrift „Die Zeit“ erschienen.

D. V.

I.

Zwei Stunden von Paris liegt zu Füßen einer hohen Ruine ein altes Städtchen, das an einem Hügel herumklettert. Und ringsumher einsiedlerische Wälder, sonnige Gefälle, lauernde Teiche, an deren Rande dunkle Vögel mit unheimlichen Schritten spazieren gehen; und ringsumher verträumte, weltentrückte Auen.

Ein sonniger Spätsommertag ging zur Neige, als mein Zug vor diesem Städtchen hielt, das mir allzu stille Tage zu verkünden schien.

Aber in ein Milieu, in dem es ausschließlich Diplomaten, Abgeordnete, Direktoren politischer Revuen und Vertreter großer Zeitungen zu sehen gab, sah ich mich da plötzlich wie hineingeschneit. Mein Tischnachbar war gleich am ersten Abend ein ganz schief gewachsener und ergrauter, aber sehr strammer Herr, der mich übrigens gänzlich ignorierte. Dabei sprach er fortgesetzt, richtete aber seine Worte nur an den Hausherrn. Der Blick seiner Augen, die wie zwei Sterne leuchteten, war starr wie ein Scheibenherz. Mit größter Präzision wußte er eine Reihe von Themen so eindringlich und zugleich so eilig durchzunehmen, als gälte es, innerhalb der wenigen Stunden, die er hier verbrachte, seine Gedanken für Jahre hinaus und auf Jahre zurück zusammenzufassen. Es war dem Uneingeweihten nicht möglich, ihm zu folgen, oft auch nur zu erraten, wovon er sprach.

Nach dem Essen fuhr er im Salon in derselben glänzenden und gedrungenen Weise zu berichten fort. Seine Augen sahen jetzt aus wie zwei große Monocles. Die Damen stickten schweigend, oder sprachen leise unter sich. Vor dem brennenden Kamin lag ein englischer Jagdhund ausgestreckt und seufzte vor Müdigkeit. Die Lampen warfen milde Scheine auf die eingelassenen Louis XIII-Spiegel und die laubreichen Tapisserien der Wände. Durch die hohen Fenster und die schmalen wurmstichigen Türen blies der Wind. Ich war noch auf keine Stickerei eingerichtet, saß in einer Sofaecke und hörte den Herren zu; denn ob ich auch ihren Gesprächen nicht viel entnehmen konnte, interessierte es mich, sie zu betrachten.

Als es 10 Uhr schlug, schnellte der graue Herr empor, empfahl sich den Damen mit großer Korrektheit, aber auch mit denkbar größter Kürze, und gleich darauf rollte sein Wagen, der noch den letzten Zug nach Paris erreichen sollte, in aller Eile davon.

Mich hatte diese Konversation, von der ich nichts verstehen konnte, in große Aufregung versetzt; und mit der Belletristik oder gar mit Werken der schönen Beschaulichkeit war es mit einem Schlage vorbei. Ich holte sie so wenig wie die Stickerei aus meinem Koffer hervor. Denn Zeitungsartikel, Berichte und Telegramme waren das einzig Spannende für mich geworden.

In dem weitläufigen Garten, der zu dem Hause gehörte, gab es eine Auswahl von Bänken, Lauben, steinernen Nischen und Terrassen. Steil und verwildert fiel er die sonnige Felsenwand herab, um sich wie in einem Graben geheimnisvoll und schattig auszubreiten. Dorthin schleppte ich denn auch mein neues Steckenpferd: die Zeitungen und politischen Abhandlungen aller Länder.

Man stand im Zeichen der ersten sonoren Pendelschwingungen der Entente cordiale mit England einerseits, des rapprochements mit Italien anderseits; sie und l’Isolement de l’Allemagne bildeten die Parole des Tages. Eines Nachmittags, — den Morgen hatte ich in Paris verschwärmt — saß ich wieder in einer versteckten Mauernische meiner Gartenwildnis und hielt die letzte Nummer der „Renaissance latine“. Sie brachte den ungemein schneidigen Entwurf einer politischen Karte Europas, mit sensationellsten geographischen Neuerungen. Der Wunsch war darin Vater aller Voraussetzungen, und Deutschland rückte er kühn bis in die Polargegenden hinauf, so daß es mit grönländischer Kälte von allen Seiten darauf einblies.

Ich notierte Titel und Nummer des Blattes und sah verdrießlich zum feingetönten französischen Himmel empor.

Ach, dachte ich, wie wenig weißt du von Deutschland! — und dachte dann hinüber zu uns, unseren Brücken und Häusern, unseren Mondscheinnächten und Wäldern.

Ach wie viel tausend Meilen lagen auch sie von hier entfernt, und wie wenig wußten sie dort von den Franzosen!

Und ich wußte es wohl, hier war keine unüberlegte, instinktive und impulsive Liebhaberei, wie sie England gegenüber oft bei mir im Spiele war, sondern ich vermochte einfach nicht, die Geschicke jenes Landes mit einem gleichgültigen oder unbeteiligten Bewußtsein zu erwägen. Von französischen Naturen in zu mannigfacher Weise verschieden, empfand ich die Franzosen zugleich als meine Angehörigen, und es schnitt mir oft ins Herz, wie gut ich sie kannte! Denn leider ist es ja noch immer keine Anmaßung, wenn heute der Deutsch-Franzose — und umgekehrt — sich für den allein Befugten hält, die Kluft zu messen, die zwei so große Nationen voneinander scheidet, die unzulängliche Kenntnis voneinander, in der sie leben, wie die Sehnsucht, die sie zueinander zieht!

Aber noch nie war mir so deutsch zumute gewesen, wie heute morgen, denn nirgends fühlten sich meine Augen so heimisch, mein Herz so eifersüchtig wie in Paris!

Nicht die neuen Viertel hinter dem Trocadéro und der Barrière de l’Etoile, die den neuen Stadtteilen anderer Städte so ähnlich sehen, noch die neuen Monumente, noch die grands und petits Palais, die in dem Sardanapalischen Stil gewisser moderner Architekten wohl nur ein minus von Geschmacklosigkeit aufweisen, sondern das Paris der Früh-Renaissance bis zum zweiten Empire ist es, das unsere junge und werdende Kultur auf immer distanziert.

Und doch so jung nicht, als daß sie nicht schon einmal des Sterbens Bitterkeit, die triste Mühsal gekostet hätte, aus Verwüstung und Schutt zerfallene Türme wieder aufzurichten. Hoch über den stillen Garten hin profilierte sich da vor meinem inneren Auge, intakt in ihrem entflohenen Leben, wie der einbalsamierte Leichnam eines Jünglings, eine deutsche Stadt in ihrem unterbrochenen Wachstum. Ihr langentschwundener Frühling prangt an den Marktplätzen, den Pforten und Brücken, den Erkern und Laternen. Er weht von den Türmen und Brunnen, durch die Häuser und Stuben. Er flutet in den Kirchen und von den Glasgemälden, und in dem verwitterten Stein umrauscht er Jungfrauengestalten mit ihrem unbeschreiblichen Gemisch deutscher Morbidezza und deutscher Lauterkeit.

Ich sah die Marienkirche und atmete wieder ihre berückende Luft. Und vor den Toren der Stadt jenen anderen Zeugen reinster und raffiniertester Kunst: das Tuchersche Jagdschloß mit dem verhaltenen Lauschen seiner Fensternischen und Türen, der holden Strenge seiner Räume, den verschwiegenen Schwellen, der verträumten Stiege. Denn die ganze Burg in ihrem herben, heimlichen Reiz ist reich an Widerhall wie ein Vers von Walther von der Vogelweide, und wir stehen inmitten ihrer Stille wie an einer Brandung.

Aber scholl da nicht von der Burg hernieder, von Dürers Hause, weithin durch alle Gassen, Hans Sachsens eherner Ruf: Habt acht! uns dräuen üble Streich? —

Mir war als könnte ich da nicht länger das Mitgefühl verantworten, das auf der Fahrt nach Frankreich mich ergriff, als ich von meinem Zuge aus im Morgengrauen französisch aussehende Häuser auf deutschem Boden sah und unvermutet alle Trauer, die an dieser verlorenen Erde haftet, mitempfand, von jener Flut von Trübsal eingeholt, mit ihrem universalen, geisterhaften Anrecht: jenem geheimnisvoll, zeitlos elementaren Etwas — der Zeit bittersten Rest! —, den sie als unser Erbteil zurückläßt! — Ah, dachte ich, wann wird der Tag anbrechen, an welchem zwischen Ländern, wie den unseren, der letzte Schlachtenplan zum letzten Ritterharnisch sich als Museumsstück gesellen wird, weil unter Nationen, wie den unseren, der Gedanke in Stücke gerissener oder zerschossener Glieder mit der menschlichen Würde nicht länger verträglich, geschweige denn rühmlich erschiene!

Und seufzend hatte ich da in die regnerische Dämmerung hinausgestarrt und der dilettantischen Betrachtungen noch eine große Menge angestellt. Sie kosteten mich nichts! Hatte ich doch zur Zeit des Burenkrieges fanatisch zu den Engländern gehalten, weil nach meinem Empfinden das Fesselnde, ja Ergreifende der englischen Tapferkeit in ihrer unmilitärischen Kriegführung lag, und nach meinem Empfinden das moderne und dramatische Moment dieses Krieges darin beruhte, daß hier die weitaus zivilisiertere, schönere und fortgeschrittenere Nation sich als die strategisch ungeübtere erweisen mußte. —

Allein, wie immer bei geschichtlichen Problemen, war es am Ende wieder Bismarcks gigantische Gestalt, auf die sich meine Mutmaßungen konzentrierten. Drei Jahre, glaubte Bismarck, seien das äußerste, was sich in der Politik voraussagen ließe, und: „für drei Jahre haben wir heute vorgebaut,“ meinte er nach einem seiner größten diplomatischen Erfolge der achtziger Jahre.

Und darum wissen wir heute nicht, wozu er damals sich entschlossen hätte, welchen Plan er damals entworfen und ausgemeißelt, ob er dem deutschen Volke nicht einen gleichwertigen anderen Entgelt ersonnen hätte, wenn er damals schon einer deutschen Kolonialpolitik hätte Rechnung tragen müssen?

Jene Worte am Abend seines Lebens haben in ihrer tiefen Nachdenklichkeit einen so echt Bismarckischen Klang: „Das westliche Glacis, das wir ihnen nehmen mußten, was sie uns nie vergessen werden.“

Es ist der Gedanke an unser zuversichtliches Bewußtsein alles dessen, was er heute, angesichts der vielen veränderten Faktoren unternehmen, an die Initiativen, die ein Mann wie er heute ergreifen würde, der ihn uns so unersetzlich groß erscheinen läßt. Denn der vorbildliche Geist seines Wirkens schuf ihn zu einem so großen Lehrer der Menschheit, weit mehr noch als seine Taten, die das Schicksal und die Zeit ereilen können. Und wer tiefer in jenen Geist einzudringen suchte, wie könnte der noch zweifeln, daß ein heutiger Bismarck, gleichviel welcher Nation er angehörte, jene große Einigungsidee, die einst ein kompaktes Italien und ein kompaktes Deutschland schuf, in erweitertem Sinne zu vertreten und aktuell zu gestalten wüßte? Wer könnte zweifeln, daß ein heutiger Bismarck, ob er unser eigener, oder Cavours, oder Gambettas Landsmann wäre, zum Vorkämpfer eines föderierten Europas würde?

Eins aber konnte nur Paris in seinem überlegen verführerischen Reiz mich lehren, dies edle, schimmernde Paris, das herrlich sich vollenden durfte, wie inmitten einer Welt des Friedens! Nie wieder, schien mir, konnte, durfte ich umflorten Auges, wie an jenem Morgen, Frankreichs Trauer bebend nachempfinden und beklagen! Denn nicht um eine Minute hatten wir die Kultur dieses Landes zurückgeworfen, das als ein unerhörter Feind der unseren in der Geschichte steht.

Ich war empört in meiner Mauernische aufgesprungen: und nicht länger hielt es mich da in dem verlassenen Garten. Der Zwiespalt, der mich bewegte, ließ mir dies Land, mein eigenes, die ganze Welt beengt erscheinen.

Unsichtbare Schatten glitten schon durch das Tageslicht und hielten die alten Bäume umschlungen. In peinigender Flüchtigkeit und Süße durchschauerten sie die Luft, und die Psyche längst vergangener Dinge umhallte mich. Wir waren Brüder! Noch stehen sie überall, die Spuren unserer einstigen Gemeinschaft, unsere umdüsterten Kathedralen, unsere alten Minnelieder und Novellen. Und heute sind wir Nationen, die sich schon lange insgeheim langweilen, weil gerade in der Reife, zu der unsere nationalsten Züge und Besonderkeiten gediehen sind, das Bewußtsein unserer Halbheit und in der Verschmelzung unserer Qualitäten der Keim vollkommenerer Typen liegt. Denn ach, wozu sich betören? Von Herzen froh wird man ja heute nirgends. Kläglich veraltet und vermorscht sind heute unsere tausendjährigen Familienzwiste, als könnte ihrer Asche allein der neue Phönix unseres Erdteils entstrahlen: nur einem greater Europe ein greater England, greater Germany und greater France.

II.

Im Laufe jenes selben Herbstes fuhr ich mit einem der klügsten Männer Frankreichs von Vendôme nach Paris. Schlösser und Hütten, Riesenwälder, lichte Pappelgruppen an langweiligen kleinen Flüssen waren an uns vorübergeflogen, und ich dachte zurück an den verflossenen Abend, an eine nächtliche Fahrt nach einem wundervollen mittelalterlichen Schloß, und an ein vollendetes, und wenn ich so sagen darf: erhebendes Diner, denn Götter hätten hier tafeln können, ohne sich zu schämen.

Nur die Konversation war nicht auf der entsprechenden Höhe gewesen. Die üblichen Gesprächsthemen in der Provinz: die Jagd, das Automobil und die religiösen Zustände waren ergiebig und einmütig verhandelt worden; von dem damals eben erfolgten Besuch des italienischen Königspaares in Paris gelangten dafür nur einzelne Verstöße beim Empfang in Versailles zu ausführlicher und höhnischer Erörterung, und der Rest war Schweigen. Nun hatte ich Paris während der Festlichkeiten gesehen, und nach meinem Empfinden nahm es sich ja, gerade in diesen Tagen, in der verhältnismäßig etwas naiven Schmückung der Häuser und Straßen, am wenigsten zu seinen Gunsten aus. Was sollen auch Fähnchen und provinziale Jubeltransparente auf einer Place Vendôme viel ausrichten? Vollends am Gala-Abend, im Lichtermeer der illuminierten Kugel-Girlanden und Triumphbögen schien es, als zöge sich für den Abend das stolze herrliche Paris hinter einem riesengroßen funkelnden Kasperltheater zurück.

Ich erzählte meinem Tischnachbarn, daß ich der Einfahrt des Königs von einem Hause der Champs Elysées aus zugesehen und mich über die verhältnismäßige Stille in der Avenue gewundert hatte. Er belehrte mich jedoch: das Demonstrative läge nicht in der Natur der Franzosen. Ein Zufall hatte aber gewollt, daß mir noch an jenem selben Abend ein ganz anderes Paris: das der Revolution, auf das grellste und lebhafteste veranschaulicht wurde.

Einige Stunden nach dem Einzug hatte mich mein Weg durch eine jener schmalen Gassen geführt, die das Elysée umgrenzen, und ich dachte für den Augenblick nicht an die Anwesenheit des italienischen Königspaares, als ich auf die denkbar peinlichste Weise daran erinnert wurde. — Von einem Strom von Menschen plötzlich fortgerissen und umringt, gab es für mich kein Vorwärts noch Zurück. In der Angst, zu fallen, und von dem schrecklichen Dunst bedrängt, sah ich ratlos umher und erblickte da zu meiner Verwunderung und Freude in nächster Nähe, friedlich an einen Baum gelehnt — einen unbesetzten Stuhl. Rasch darauf springend und so dem Haufen einigermaßen entzogen, wollte ich hier ruhig warten, bis er sich zerstieb.

Wer die Franzosen nicht für demonstrativ hielt, der wurde nämlich hier eines anderen belehrt. Weder nach rechts noch nach links sehend, schrien sie da gerade hinaus, halb betäubt, halb wie die Wilden, nach der Königin. „Kommen sie bald?“ fragte ich beklommen einen wenig anziehenden beschürzten Vertreter des stärkeren Geschlechts. — „Sie sind schon vorüber,“ gab er mir zur Antwort.

Dies erklärte nun zwar den disponiblen Stuhl. Warum aber beharrte diese Menge nach wie vor an der Stelle, belagerte alle Ausgänge und schrie mit heiserer Stimme: „La reine! nous voulons voir la reine!“ Und plötzlich, von meinem erhöhten Posten auf sie herabsehend, war mir, als erkannte ich sie genau wieder als jenes selbe kopfscheue, schnell überschäumende Volk, das unfähig sich zu besinnen, die Köpfe so mancher harmloser, zur Unzeit geborener Opfer zu höllischen Bildsäulen erhob und in diesen Straßen wütete. Ich erkannte den furchtbarsten Pöbel innerhalb der kultiviertesten und feinsten Nation.

Allein ich hütete mich wohl (aus Widerspruchsgeist), bei jenem Diner irgendwelche zustimmende Kommentare zu liefern: sie hätten allzu bereiten Erfolg gefunden. Denn an die hundertjährigen Hecken, die das Dornröschen von der Außenwelt trennten, sah ich mich in diesen Schlössern gemahnt, und weit genug war ich hier von meinen Pariser Erlebnissen getrennt. Man muß sie gesehen haben, Frankreichs politische Mumien, im Leben oft so reizende Menschen! Eine Dame in einem beneidenswerten Perlendiadem äußerte sich, es sei unbedingt heroisch vom König von Italien, ein so heruntergekommenes Land wie Frankreich offiziell zu betreten, und fragte mich über den Tisch herüber, ob wir im Ausland gegenwärtig die Franzosen nicht sehr von oben herab behandelten?

War es der hohe Saal, die edlen Bilder an den Wänden, der Prunk der strahlenden Rosen, die aus der Erde emporzublühen schienen, war es der herrliche Rahmen dieser Tafel, der mich hinriß? Denn wie ein Glockenspiel, das einmal aufgezogen, ausklingen muß, gerieten da meine eigenen, bisher noch kaum bestimmten Eindrücke in Schwung. „Ist Ihre Verfassung als solche,“ sagte ich verwundert, „der Grund Ihrer Verstimmung Ihrem eigenen Lande gegenüber? Aber Ihre große Majorität ist doch nun einmal republikanisch?“

„Die ganze erste Gesellschaft Frankreichs würden Sie anderer Meinung finden,“ gab mir die Dame zur Antwort.

„Ach,“ seufzte ich, „es gibt nur erste Menschen.“

„Nicht, daß ich Gesellschaften nicht anerkenne,“ führte ich alsbald und unter dem allgemeinen Schweigen etwas mühsamer aus, „ich glaube jedoch an so vieles, so verschiedenes, und an die Berechtigung so mannigfaltiger, scheinbar entgegengesetzter Anschauungen, weil sie mir vielmehr gemacht erscheinen, einander zu erfüllen und zu ergänzen, als einander auszuscheiden.“

Hier trat nun einer der Gäste, derselbe, der jetzt in der Eisenbahn hinter seinen Zeitungen vergraben, mir gegenüber saß, für mich ein: „Der höhere Mensch kann nicht aristokratisch genug, er kann nicht demokratisch genug sein,“ sagte er. „England hat diese Wahrheit auch für seine Gesellschaft praktisch zu verwerten gewußt. Worin beruht die Macht und Würde des englischen Adels, wenn nicht in seiner demokratischen Affiliation, und woran ging unser Königtum zugrunde, wenn nicht an seinem Mangel jeder demokratischen Basis?“

„Es gibt noch Leute, mein Herr,“ unterbrach ihn ein vergrämter, früh verabschiedeter einstiger Diplomat, „welche in der französischen Revolution den unglücklichsten Augenblick in der Geschichte unseres Volkes erkennen.“

„Doch nur,“ rief er, „weil es vor seinem eigenen edlen Freiheitsgedanken nicht bestand und die eigene Saat mit dem eigenen Blute so unheilvoll tränkte! Denn während aus jenen Gedanken über das ganze zivilisierte Europa ein belebender Zug strömte, weilen in ihrer Heimat, an ihrer Quelle selbst, unversöhnt, unüberzeugt, die Sühnegeister der Gemordeten. Jeden Hauch veränderter Gesichtspunkte halten sie zürnend von ihren Nachkommen ab, und nicht das Leben, wie es sich seitdem erhob, nicht das Königtum, wie es sich seitdem verjüngte, ein altes verstaubtes, ewig überwundenes Königtum, möchten diese in vergoldeten Kutschen einholen und begrüßen!“

Einen Augenblick war es still in dem glänzenden Saale wie in einem verzauberten Schloß.

„Sehen Sie sich doch die Elemente an der Spitze unserer Verfassung an!“ sagte dann die Dame mit dem Perlendiadem, welche die Place de la Concorde nie anders als Place Louis XV nannte.

„Bedenken Sie den Spielraum, den wir ihnen gelassen haben,“ rief er. „Bedenken Sie, daß es bei uns zum guten Ton gehört, sich für Politik nicht zu interessieren! Indes selbst die Herrscherhäuser der anderen Länder ein so weitgehendes Verständnis für die großen Strömungen an den Tag legten, welche die Welt Frankreich verdankt, und welchen die ganze erste Gesellschaft Frankreichs widerstrebt! Eben weil ich ihr Kontingent so hoch einschätze, erscheint mir diese Gesellschaft in so hohem Grade verantwortlich für Extreme, die ich mit Ihnen beklage, und als deren bitterster Ankläger sie sich erhebt. Denn ihre Geschichte, — und er deutete auf die Wände, von welchen die Ahnen des Hauses in Harnisch oder Lockenperücken herniedersahen — ist nicht mehr wie bisher die ihres Landes!“ —

 

Immer schneller fuhr der Zug dahin mit seinem gleichmäßig gleitenden Gerolle, das uns schweigsam macht und die Nachdenklichkeit isoliert und erhöht. Draußen lag schon Blässe über das Land gebreitet und die Wälder atmeten herbstliche Klagen. Blässer noch, im langen, regelmäßigen Viereck, schimmerte da, wie entschlafen, ein künstlicher Teich, und weiter zurück, fast geisterhaft, das prunkvolle Versailles mit den majestätischen Senkungen seiner Terrassen.

„An was denken Sie?“ fragte mich da plötzlich mein Reisegefährte.

„Wie soll ich das der Reihe nach sagen?“ erwiderte ich. „Gedanken können sehr wohl in Schwärmen auf uns eindringen und ebenso wieder verfliegen.“

„Aber eine Taube in der Hand,“ sagte er, „ist besser, als viele auf dem Dache.“

„Nun, ich dachte an Ihre gestrigen Theorien, und geriet dabei vom Hundertsten ins Tausendste. Alle Äußerungen nämlich, welche die Geistesart, den Charakter einer Nation am intensivsten oder am geschlossensten kundgeben, reizen und fesseln mich zumeist, denn unwillkürlich beziehe ich auf Deutschland, was immer im Ausland mein Interesse erregt. Allein ich staune, wie mächtig innerhalb eines kleinen Gebietes der Nationalgeist benachbarte, verwandte Völker auseinanderhält, wie verschieden er sie bildete, und daß in einer Welt, die überall so gleich, unter Menschen, die sich überall so ähnlich sind, hier der Schwerpunkt aller Differenzierungen liegt.“

„Wußten Sie das nicht?“ sagte er.

„Ich zweifle, daß wir es alle zur Genüge wissen. Denn diese Differenzierungen sind gegenwärtig so weit gediehen, daß drei hervorragendste europäische Nationen, die Deutschen, Franzosen und Engländer, die, rein menschlich gesprochen, einander am vollkommensten ergänzen, tatsächlich außerstand gesetzt sind, einander in ihrer Wesenheit wirklich zu durchdringen und psychologisch unüberbrückbar fern einander gegenüberstehen!“

„Wollen Sie Ihre Eindrücke nicht näher bestimmen?“ fragte er.

„Zum Beispiel,“ sagte ich, „leugnen wir gar nicht, daß es eine bêtise allemande gibt. Inzwischen wurde ich nun auch mit der fine fleur der Ihrigen bekannt. Aber Sie glauben nicht, wie weltverschieden die beiden voneinander sind! Wieviel unbestimmter, breiter, verschwommener die unsere, wieviel greifbarer, logischer durchgeführt, ich möchte sagen ‚abgeschliffener‘ die Ihre ist, welches Talent sie hat, sich zu veräußern. Les deux bêtises erkennen sich nicht wieder.“

„Daraus folgt nicht, daß sich die Klugen nicht verständigen könnten.“

„Aber auch da,“ sagte ich, „ist mir eines zumeist aufgefallen: die Schwierigkeit für den Ausländer, sich in seiner Beurteilung der Franzosen zurechtzufinden, beruht darin, daß er den französischen Geist von der französischen Kultur nicht genügend unterscheidet. Es fiel mir auf, wie sehr der Formensinn in allen seinen Äußerungen in Kleidung, Möbel und Gewerbe, auf allen Gebieten des äußeren Lebens bis hinauf zu den bildenden Künsten in Frankreich seine eigentliche Heimat hat. Der sichere Instinkt des Schönen ist da von einer Ära zur anderen Ihr Monopol. Angesichts gewisser Gärten, Lauben und Fassaden, gewisser Plätze in Paris, war ich von Bewunderung für die Franzosen hingerissen und verehrte in ihnen die Lehrer der Welt! Aber trotz jenes großen Stilgefühls, das bei ihnen den Geschmack zur Kunst erhob und veredelte, trotz jener Gründlichkeit und Vollendung, jenes strengen Maßes, das ihre Leistungen krönt, ist es nicht seltsam, daß auf rein ideellem Gebiete, gerade in ihrem Lande das Extreme und Maßlose sich freier als anderswo entfalten durfte, während in dem rauhen und vielspältigen Deutschland ein Mann wie Goethe unser Geistesleben adelte.“

— Ist es nicht seltsam, wie unser Gefühl für Goethe mit uns wächst? Oft vergeht doch eine lange Zeit, ohne daß wir uns mit ihm beschäftigen, noch ihn lesen, und plötzlich erfaßt uns dann der Gedanke an ihn wieder mit einer Macht, die uns durchschauert. —

„Werden Sie mir später auch einige Kritiken gestatten?“ begann da mein Reisegefährte. „Aber Sie sehen zum Fenster hinaus. Sind Sie schon fertig mit unseren Extremen?“

„Ah,“ sagte ich, „Frankreich ist doch wie ein Garten voll Blumen, mit Schlössern und Gütern besät. Unlängst,“ fuhr ich zu ihm gewendet fort, „sah ich ein Schloß, in dem die Schlafzimmer genau aussahen wie Zellen. Das einzige, was den strengen Eindruck etwas milderte, waren Büchergestelle, die den Wänden entlang liefen, aber wohin man auch sah, waren es ausschließlich Gebet- und Erbauungsbücher. Ich lernte dort eine Verwandte Mussets kennen, die mir versicherte, einer solchen Verwandtschaft könne sie sich nur von ganzem Herzen schämen! Flaubert zu lesen habe ihr Gatte ihr zeitlebens untersagt; es hätte jedoch seines Verbotes nicht bedurft, da sie gottlob den Schlamm nicht liebe.“

„Aber solche Leute,“ rief er, „gibt es doch überall!“

„Der Unterschied, wie gesagt, liegt nur im Grad. Ich hörte in Frankreich Sonntagspredigten, die bei uns nicht gestattet wären. Eine junge und reizende laisierte Klosterfrau klagte mir ihre Not mit den Dorfkindern; von den Volksschullehrern würden sie unterwiesen, nicht darauf acht zu geben, was ihnen der Pfarrer von der Kanzel herab lehrte, und dieser wiederum male der Gemeinde die Autoritäten des Landes in den fürchterlichsten Farben. Tatsächlich habe ich nichts betrüblich Unfrommeres gesehen, als das hiesige Bauernvolk, wenigstens in der Gegend, von der wir kommen. Dafür traf ich unter den begüterten Familien nicht einen einzigen Knaben, dessen Erziehung unter einer anderen Obhut als der eines Abbés stand. Auch diese Sitte wäre uns zu extrem! Aber ich fürchte,“ schloß ich, „derartige Auslassungen sind nicht der Brauch. Man sagt sich von einem Lande zum anderen in den Zeitungen unangenehme Dinge, zu einer Aussprache aber pflegt man nicht zu kommen. Und doch hätten wir so viel voneinander zu gewinnen!“

„Ich finde Sie zumeist mit den deutschen Vorzügen und den französischen Mängeln beschäftigt.“

„Nein,“ rief ich, „denn nichts regt ja, wenigstens meinem Gefühle nach, unseren patriotischen Eifer so sehr an, als unsere Anerkennung für die Vorzüge einer anderen, sei es einer fremden oder verwandten Nation! Solche Empfindungen erregen in mir der unvergleichliche Formensinn, die bewundernswerte Regsamkeit, welche Paris zu einer der schönsten Kundgebungen menschlicher Kultur erhob und inmitten so gefahrvoller Geschicke stets auf seiner Höhe zu erhalten wußte. Und mit ebensolchen Empfindungen bewundere ich in England den praktischen, nie ins Kleine sich verlierenden Überblick, das englische Erziehungssystem, die englische Ästhetik, kurz alles, wodurch dies Volk zur glücklichsten und schönsten Nation der Welt geworden ist.“

„Aber Ihr Eifer ist ja die reine Utopie!“ rief er. „Die Vorzüge der Franzosen und Engländer sind Ihnen entzogen, weil Sie eben Deutsche sind!“

„Zu welchem Reichtum gerade unser Wesen sich entfalten kann, dafür bürgen unsere großen Männer.“

„Immer diese großen Männer!“ sagte er. „Sie sind noch lange nicht die Nation! Und Sie vergessen, daß noch keine von ihren eigenen großen Individuen so unumwundene Aussprüche des Tadels erfuhr, wie die deutsche.“

„Weil niemand besser als diese vollendeten Typen die Tiefe und Fülle unserer Anlagen erkannte.“

„Aber was nützt es?“ sagte er. „Die Deutschen bearbeiten meist nur eine Geisteskraft. Es ist Lichtenberg, wenn ich nicht irre, der ihnen dies vorwirft. Daher gewisse Rückstände, die sich sonst nicht erklären ließen, und daher noch heutzutage unter Ihren gebildeten Ständen jene merkwürdigen, provinzialen, füreinander ungenießbaren, sich argwöhnisch voneinander abschließenden, sogenannten ‚Kreise‘, über die wir im Ausland lächeln! Was nützt es, daß sie denken, wenn sie die Kunst des Lebens nicht erlernen? Durch ihre minder durchdringende, minder ausgeglichene Kultur bleiben sie der Kritik fremder Nationen ausgesetzt.“

„Ein glücklicheres Ebenmaß,“ sagte ich, „könnte diese Kritiker über schwerer zu beseitigende Mängel hinwegtäuschen. Wir sind noch im Werden. Das ist auch etwas Schönes.“

„Wir sind alle im Werden!“ rief er. „Aber warum unterschätzen Sie jene Großzügigkeit, die Ihrem gesellschaftlichen Leben fehlt?“

„Bei uns,“ sagte ich, „machen sich die klugen Leute nichts aus der Geselligkeit, weil sie ganz ihrer Arbeit leben.“

„Bei uns arbeiten sie ebenso. Und Sie irren: kluge Leute sind von Natur nicht einsamer als andere. Aber sie wollen herrschen! Die Berechtigung ihres Einflusses wie ihr Prestige gestehen wir ihnen in weit größerem Maße zu; die Deutschen dagegen sind hierin viel demokratischer als wir; und dies ist der Grund, warum ihrem Verkehr nicht selten der Zug und das Interesse fehlt, das ihrem geistigen Niveau entspräche. Dazu kommt, daß bei ihnen der Prozentsatz zwar sicher nicht der Reisenden, aber der ‚Bereisten‘ ein so geringer ist. Man kann ja,“ fuhr er fort, „den Kosmopolitismus zu weit treiben; wo aber die unentbehrliche Voraussetzung für denselben: eine wahre und vererbte Bildung, vorhanden ist, bildet er deren letzten Abschluß und verleiht unter anderem den Überblick und die Menschenkenntnis der eigentlichen Leute von Welt. Bei ihnen reisen jedoch die Vermögenden wie die Windsbraut durch ganz Italien und wieder retour, haben Italien und nichts von der Welt gesehen, und ein anderes Mal fahren sie mit derselben Eile nach Paris, sehen mit diebischer Freude alle Cafés chantants und wissen viel von den Boulevards, aber nichts von den Franzosen!“

„Und Sie sind der Mann,“ rief ich, „der mir vorhin meinen utopischen Eifer vorwarf, als ich sagte, wir hätten soviel voneinander zu lernen! Wer denkt nun logischer von uns beiden?“

„Sie vergessen nur zu leicht,“ sagte er lachend, „daß es auch politische Gesichtspunkte gibt.“

„Was andere besser verstehen,“ sagte ich, „überlasse ich ihnen lieber ganz und finde es anregender, die Dinge von einer anderen Seite aus, die mir mehr Übersicht gewähren kann, zu betrachten. Voneinander getrennt stellen sich mir da, wie die Begriffe, von welchen Sie gestern sprachen, so auch die hervorragendsten Nationen in ihrem Gesamtbild als mangelhaft dar. Ich bin für psychologische Eroberungen, und ich sehe nicht ein, warum ich nicht in hundert Jahren recht haben sollte. Aber hier sind wir ja,“ rief ich mit einem Gefühl großer, plötzlicher Lebensfreude, „in Ihrem schönen Paris!“

Langsam rollte der Zug in die große Halle der Gare St. Lazare.

III.

Alte Leute schütteln die Köpfe über unsere Ruhelosigkeit, weil wir mit unseren immer beschleunigteren Schnellzügen nicht zufriedener sind, als unsere Väter zur Zeit der Stellwagen. Aber zu unserer Ehre sei’s gesagt: wir sind um so ruheloser und unzufriedener, je weniger wir die Zufriedenheit, je mehr wir den Fortschritt erstreben! Ein steigernder Drang, eine Hast und Ungeduld, wachsenden Flügeln vergleichbar, ist heute in uns rege: wir durchschneiden die Luft, durchfahren unterirdisch große Städte mit Windeseile, und größte Schnelligkeit der Bewegung ist uns zur entsprechendsten Äußerung, ja zur Notwendigkeit geworden, wie der Schatten des Glücks, nach dem wir jagen. Eine solche Generation bringen heimelige Postkutschen zur Verzweiflung, und selbst das Geticke der alten Wanduhren verträgt sie nicht mehr! Sie bringt viel Unrecht und viel Unsinn zutage, aber sie ist im Grunde nicht schlimmer, sie ist besser als eine andere, denn sie ist so müde und überreizt zugleich, weil ihr der Frühling in den Gliedern sitzt.

Zwar stehen uns noch zu viel trübe, regnerische Tage bevor, als daß wir merken könnten, daß sie länger werden. Aber wenn es stürmischere Zeiten gegeben hat, als die unsere, so war kaum eine, in der so viel neue, noch unausgesprochene Gedanken zu reifen, Gegensätze sich zu versöhnen, alte Vorurteile zu zerfallen strebten.

Kürzlich ging ich an einem Nachmittag die kurze Strecke von der Rue de la Paix zur Place Vendôme: den weltberühmten Modeläden entstiegen elegante Frauen mit blassen Zügen und großen sicheren Augen. Die reiche, fast edel zu nennende Vollendung ihrer ganzen äußerlichen Haltung lieh ihnen einen Abglanz von Schönheit und Überlegenheit. Sie harrten einen Augenblick, bis ihr Wagen aus dem Gedränge vorfuhr, und neugierig betrachtete ich ihre stolz zerstreuten, unbefangenen Blicke. Nichts ist ja psychologisch tiefer begründet, als jenes Gefühl unendlicher Differenzierung, unendlichen Entrücktseins von der Not des Lebens und die satten, fast melancholisch strengen Mienen der Besitzenden.

In jenen Pariser Straßen geht es sich so leicht! Was das Auge dort fortwährend fesselt, trägt den Schritt so schnell, gedankenvoll dahin! Geschmeide blitzten mir entgegen, große träumerische Perlen, ein köstlich strahlender Halsschmuck aus Smaragden, smaragdne Ringe und viele zärtlich funkelnde Smaragde.

Allein zärtlicher noch und schimmernder: ein Triumph für die ersten Kürschner und Putzmacher der Welt, war da der Anblick einer schönen Engländerin mit einem samtnen Gesicht wie eine Primel. Kaum war sie aus dem Laden ins Freie getreten, als ein Automobil um die Ecke raste und einer der bekanntesten jungen Männer von Paris: morbid und unverschämt, den Hut vom Winde etwas zurückgeschoben, aber herrlich und frei wie ein Marmorbild, ihr entgegenfuhr.

„Es geht sich heute so schön,“ sagte da plötzlich dicht neben mir ein Pariser Freund, „haben Sie Zeit?“

„Aber bleiben wir in diesen Straßen,“ sagte ich; „man wird da von dem Leben ringsumher wie von Wellen so herrlich fortgerissen und überflutet.“

Zwar hörte man vor dem Getöse und Gebrause ringsumher seine eignen Worte nicht; dann zerstreuten die Schaufenster, hier ein Pelzumhang — unnachahmliche Mäntel, in die man im Vorübergehen sich hineindachte; dann wieder unter den vorübereilenden Wagen so manches glänzende, bewegte Bild. „Ach,“ seufzte ich, „mir ist hier oft, als müßte mein Herz brechen vor Sehnsucht nach Geld!“

„Nach Geld?“ rief er erstaunt.

„Ja,“ sagte ich, „ich konstatiere an mir selbst eine immer wachsende Leidenschaft für die Güter dieser Erde, und wie sehr sich unsere Anforderungen an das Leben mit unseren geistigen Fähigkeiten steigern!“

„Diese lehren uns vielmehr, das Glück in uns zu suchen.“

„Sie scherzen,“ rief ich. „Alles was mich hier umgibt, lehrten sie mich ersehnen.“

Aber hier erlitt unser Gespräch von neuem eine Unterbrechung; denn langsam kamen uns zwei hinreißende Gestalten entgegen: es war die Dame mit dem eleganten Primelgesicht, an der Seite ihres Begleiters. Göttliche Schultern trugen ihr leichtsinniges Haupt und zauberhafte Haare verklärten es. Es lag etwas halb Zärtliches, halb Spöttisches in ihrer Anmut; zugleich etwas Siegreiches, ja Unnahbares in ihrer Sorglosigkeit, in ihrer Flüchtigkeit selbst. Und es war, als zöge sich, wie um die Mondessichel, ein hellerer Schimmer um die beiden, ein Schein, der sie der Not fehlgeschlagener Hoffnungen, vergeblicher Wünsche entrückte.

„Folgen wir ihnen!“ schlug ich vor, auch als sie gleich darauf im „Ritz“ verschwanden. Es war Teezeit. Wir betraten das schöne Hotel, dessen Art sich in der Welt wohl schwerlich übertreffen ließe. Die Galerie, in welcher der Tee genommen wird, der — wie allerorts in Paris — verhältnismäßig zu wünschen übrig läßt, glich um diese Stunde einem Turnierplatz geschmackvollster und zugleich kühnster Hüte. Man sah die diszipliniertesten Taillen und die kunstvollsten Teints. Allein weit entfernt, frivol zu sein, war nach meinem Empfinden der äußere Eindruck dieser möglichst „hergerichteten“ Pariserinnen der eines sehr gründlichen und strengen, höchst erstrebenswerten Formensinns. Übrigens waren sie nicht in der Mehrzahl vertreten, sondern alle Sprachen schwirrten hier durcheinander. Auch unenthusiastische Jünglinge mit fallenden Schultern hatten sich eingefunden, und stattliche Damen, deren Mundbildung von weitem den amerikanischen Akzent verriet, mit Physiognomien von faszinierender Gewöhnlichkeit.

Ich hatte die Eckplätze links am Eingang gewählt, die zugleich einen Ausblick auf die Treppe gewährten, denn die Menschen, die dort vorüberkamen, waren als Millionärtypen vielleicht noch charakteristischer. Ein blasser, schwarzer Herr, mit breiten Schultern, stumpfen Augen und einem lautlosen Tritt, sah aus wie der Mammon selbst. Die Marchioneß von A*, eine sehr schön gewesene Dame, mit fliegendem Schleier, fliegendem Mantel und einem fliegenden blauen Blick, hielt eine Weile unter der Türe stand, sah mit theatralischer Insolenz um sich her und verschwand. In unserer Nähe ließ eine Österreicherin, die Frau eines durchreisenden Diplomaten, immer lauter ihren deutsch-französischen Jargon vernehmen. Sicher fiel die ihrem Manne durch zu große politische Wißbegierde niemals lästig! vielmehr war sie von jenem rein gesellschaftlichen Prestige einer Diplomatenstellung wie ihn die Scribeschen Lustspiele feiern, wie Bismarck ihn verhöhnt, noch gänzlich erfüllt. Weder jung noch schön, aber von ansehnlicher Größe, mit ihren großen, konventionellen Zügen, ihrer kunstvollen Frisur und ihrem erbsenfarbenen Gewand sah sie aus wie der Genius des „Journal du High Life“. Mit groben aber wohlgepflegten Händen schwang sie unaufhörlich ein Lorgnon. Es war ihr Degen, ihr Symbol. Denn auch die Welt in Zeit und Raum sah sie durch ein solch abgrenzendes Glas, das für sie nur die „Welt des Salons“ auffing und spiegelte.

„Rom ist delicios,“ hörten wir sie sagen — „c’est autre chose que la Suède! Ganz die große Welt! — In der Saison komme ich einfach nicht zu Atem; die Unmasse von Engagements, déjeuners, dîners und die vielen jours . . .“ sie suchte dies in bedauerndem Tone vorzubringen, aber es gelang ihr nicht. Dabei hatte sie durch ihr Lorgnon jemanden von der „großen Welt“ erblickt, der auf sie lossteuerte: „Sie hier, cher Comte?“

Es war alles so ergötzlich! Der Pariser Freund und ich, wir sahen einander lächelnd an: „Ihre zwei Göttergestalten scheinen sich in die oberen Stockwerke verloren zu haben,“ bemerkte er. Indeß kam die Marchioness von A* mit Bekannten wieder. Sie kam in Begleitung einer außerordentlich reizvollen, melancholischen Dame, einem hypereleganten, unwahrscheinlich schönen Mädchen, und einem nicht mehr jungen Mann von wortkargem und gebieterischem Wesen. Was Lebensstellung und Gewohnheiten anbelangte, gehörte er zweifellos zu den Großen dieser Erde. Sein großes weißes Gesicht trug zugleich den Stempel der Oberflächlichkeit und einer gewissen Leidenschaft. Aus seinem stahlgrauen, etwas starren Blick sprach nicht etwa eine sehr machtvolle oder reiche Individualität, aber deren ungehemmte und machtvolle Entfaltung.

Plötzlich war alle meine Munterkeit dahin: den Tee, von dem ich mir noch eben eine Tasse eingeschenkt, schob ich mit Widerwillen von mir. Bisher, wie im Schauspiel, meinem eigenen Bewußtsein gänzlich entfallen, war ich mir plötzlich meiner selbst aufs heftigste bewußt! —

Keine Paläste mit unschätzbaren Tapisserien und alten Bildern, keine Reichtümer und keinerlei Macht war mein eigen! Über das blaue Meer hin, nach Indien oder Griechenland, wo gerade die Erde am schönsten blühte, nach London, unter Menschen, deren Pracht gerade am lachendsten sich entfaltete, wohin er nur wollte, setzte der Mann dort herrschend seinen Fuß. — „Kein Ersatz,“ dachte ich, „ist dem Menschen beschieden! Nicht die eine Sache zum Trost, weil ihm die andere verwehrt ist. Nie darf er den Kelch verhaßter, tödlicher Entsagung von sich schleudern!“

Wir standen wieder im Freien, diesmal den Tuilerien zugekehrt. Grau und vornehm ragte die Säule von Vendôme, aber nicht länger zog es mich hin zu den Herrlichkeiten der Rue de la Paix.

„Ich begreife Sie nicht,“ sagte der Pariser Freund, „ist es denn möglich, daß Ihnen solche Leute imponieren!“

„Ich nehme sie ja nicht persönlich,“ sagte ich. „Aber die Ermöglichung einer sehr raffinierten Existenz imponiert mir allerdings: I believe in surroundings! Wenn ein kunstvoller Rahmen ein wertloses Bild nicht zu heben vermag, so wird eine schlechte Holzleiste die Wirkung eines Kunstwerkes sehr wohl beeinträchtigen können. Und weil sich um die gewöhnlichsten Menschen oft die herrlichsten Rahmen ziehen, so brauchen wir deshalb den Wert dieser letzteren nicht zu verkennen. Das Leben ist zu schön geworden!“

„Was wollen Sie damit sagen?“

Hier galt es jedoch, schweigend und mit Bedacht, von Automobilen wie von feindlichen Kanonen umsaust, die Rue de Rivoli an der Mündung der Rue Castiglione zu überschreiten.

Nach dem Gewoge der Straßen schienen die Tuilerien so weit und still. Schweigend gingen wir eine Zeitlang weiter.

„Und morgen geht’s dahin!“ seufzte ich. „München wird Ihnen jetzt zu still erscheinen?“

„Nicht das Zurückkehren, das Nichtfortkönnen von einem Ort fällt uns heute so schwer.“ Und im stillen durchbebte mich schon im voraus die Sehnsucht, die mich in der Ferne ergreifen würde, an den Ort zurückzukehren, an dem ich jetzt stand. Alles lag in jenen entzückend feinen, mattsilbernen Tönen der zärtlichen Pariser Luft, die so leicht und optimistisch schimmert und selbst den kahlen Bäumen ihre Düsterkeit benimmt. In hoher kalter Grazie dem grauen Louvre zugewandt, stand eine nackte steinerne Nymphe.

Mit Statuen aber geht es uns häufig wie mit der Musik: was im Museum wohl zurückstände, im Konzertsaal uns kritisch ließe, kann unter freiem Himmel hinreißen und rühren. Unwillkürlich waren wir stehen geblieben.

„Wie der menschliche Körper durch die griechische Kunst, so hat sich seitdem das menschliche Leben selbst zu einem Ideal gestaltet.“

„Zum mindesten ein vorgreifender Glaube,“ meinte er.

„Wie jeder Glaube,“ sagte ich.

IV.

So machen wir auf Reisen unsere schnurrigsten Erfahrungen. Gilt es jedoch die Ansichten vorzubringen, die sich da ganz von selbst für uns ergeben, so dünken sie uns gar zu einleuchtend und elementar, um noch erwähnt zu werden. Aber das langweiligste ist, daß wir mit solchen Ansichten, obwohl sie längst unausgesprochen da sind, immer noch als Vorläufer erscheinen, und daß es immer noch keine Gemeinplätze sind; denn sie stehen noch immer nicht in den Zeitungen, diesen Feldern des Überdrusses, diesen mit wenigen Ausnahmen so träg geschäftigen Wiederkäuern zu oft gesagter oder überwundener Dinge!

Oft sind es aber ganz kleine Dinge, die uns mit der Artung einer Nation unversehens in Berührung bringen, wie ein plötzlicher Augenaufschlag, oder der Schatten eines Lächelns uns plötzlich neue Einblicke in das Wesen eines Menschen gewähren kann.

Zwei Pariser Episoden bleiben mir deshalb stets lebhaft in der Erinnerung.

Eines Nachmittags ging ich den Quai d’Orsay entlang und einem matten winterlichen Sonnenuntergang entgegen.

Ich hielt einen Strauß der wundervollsten Blumen. Besonders prangte da eine ganz erstaunliche Rose, mit der man immer wieder sich befassen mußte. Sonst war ich eigentlich eher verstimmt. Ich kam gerade von einem déjeuner, das mir zwar, so lange es dauerte, sehr animiert und glänzend schien, bis ich nachträglich merkte, daß es mich gelangweilt, daß all die unnützen Dinge, die ich vernommen oder selbst gesagt, ja selbst all die schönen saillies und mots d’esprits mich zuletzt verdrossen hatten. Gott, und mein Nachbar erst, wie sich der verpuffte! Es glitzerte und flickerte, jedoch das Wässerlein war seicht, und war kein Fischlein darin.

Vielleicht ist die „Gemütlichkeit“ dasjenige, was wir bei den Franzosen, ob hoch oder niedrig, am öftesten vermissen. Und sie ist es, welche der médiocrité allemande vor der médiocrité française, den „kleinen Leuten“ vor den „petites gens“ den großen Vorzug verleiht. Bei den Franzosen hingegen schlägt sich das Interessante ganz auf seiten der Individuen und gedeiht sozusagen auf Kosten der Masse.

Ich steuerte indeß dem Quartier de la Madeleine zu und verfehlte dort wie gewöhnlich meinen Weg. Der Zeitpunkt, den ich für eine Verabredung in der Rue Montalivet getroffen hatte, war längst vorüber, und immer irrte und eilte ich noch durch ein ganzes Strickwerk kleiner Gassen, als ein Mann, der seinem rußigen Aussehen nach Lokomotivführer oder Tunnelarbeiter sein mochte, plötzlich wie aus dem Erdboden vor mir stand. Indem ich nun im Sturmschritt an ihm vorüberging, sah ich ihn stutzen, und mit einem leisen, halbunterdrückten Ausruf des Entzückens auf meine Blumen starren. Einem Impulse folgend hatte ich da auch schon die Wunderrose, die mir nicht gehörte, hervorgezogen, wandte mich im Gehen schnell noch einmal um, warf sie ihm in einem Bogen zu und eilte weiter. Auch wäre mir der kleine und so flüchtige Vorgang kaum im Gedächtnis haften geblieben, hätte er da nicht etwas wie ein Freudenlichtlein in mir angesteckt. Denn es hätte kein Mann von Welt, kein Fürst den Sinn dieser zugeworfenen Rose mit bereiterem Takte erfassen, noch mir zarter dafür danken können, als dieser zerlumpte junge Mensch in seinem Kittel; und ich werde ihn nie vergessen, niemals, den edel aufleuchtenden, emporgerichteten Blick, als er die Rose auffing.

Das speziell Französische dieser Szene beruhte in der Unmittelbarkeit, mit welcher hier eine ganze Reihe von Nuancen blitzschnell und regenbogenartig sich ergaben.

Ein paar Tage darauf ging ich abends wieder die Rue St. Honoré hinauf, wieder auf dem Weg zur Rue Montalivet, und war noch viel müder und verstimmter als das erste Mal. Denn ich hatte in Paris kein Glück, und konnte mich doch nicht davon losreißen. Statt daß aber auf französischem Boden die französische Seite meines Wesens in Schwung gerät, geht es mir gerade umgekehrt; unter Franzosen wird mir so deutsch zumute; Deutschland klingt und rauscht in Frankreich durch mein Herz; wie in ein Wetterhäuschen zieht sich Marianne tief zurück, und einsam wie eine Schildwache rückt Michel vor.

Wie ferne, dachte ich, sind die Franzosen selbst mir, der ich schon mittewegs zu ihnen stehe! Und im Lichte unserer immer beschleunigenden Verkehrsmittel wollte mir die gute alte Zeit, je weiter sie zurücklag, nur um so schlimmer, und jede, die verflossen, als abgetan erscheinen; denn Lloyddampfer, Blitzzüge und Automobile waren im letzten Grunde Friedensmaschinen, während die idyllischen Postkutschen, in ihrer Unfähigkeit einen Kontakt zwischen den Ländern aufrecht zu erhalten, Nationen und Staaten eines Stammes bis zur Unkenntlichkeit sich entfremden ließen!

Tief in Gedanken ging ich also meines Wegs, und merkte nicht, daß die Straßen immer leerer wurden. Mit seiner Dinerstunde nämlich läßt der Pariser, ob Kapitalist oder Concierge, nicht gerne spaßen, und zwischen acht und neun Uhr ist Paris am stillsten. — Zu meinem tiefen Schrecken sah ich jetzt plötzlich meinen Weg durch einen Arm, den unter der Türe eines finsteren Hauses ein Mann vor mir ausstreckte, gesperrt. „Donnez-moi de l’argent!“ sagte er auffahrend, „ou achetez-moi du pain, parce que j’ai faim.“ Er hielt sich im Dunkeln und ich unterschied nur seine Größe und den gerade ausgestreckten Arm. Ohne eine Miene zu verziehen, als hätte ich ihn nicht vernommen, als sei ich eine wandelnde Uhr und mein Gang nur ein Pendelwerk, ging ich an ihm vorüber. Aber an der Bewegung meines rechten Armes konnte der Mann, wenn er mir nachkam, sehen, daß ich in die Tasche griff. Immer im selben Takte weitergehend, fingerte ich mit der rechten Hand, was ich an kleiner Münze spüren oder greifen konnte, hervor, und an der Ecke der Rue de l’Elysée, drehte ich mich um. Der Mann war mir in einiger Entfernung mitten auf der Straße gefolgt, blieb nun auch stehen und wartete. Aber etwas Furchtbares und Verzweifeltes in der Haltung dieses Menschen veranlaßte mich, ihm in meinem besten Salonschritt näher zu treten, und es vollzog sich auf einmal etwas, wie eine szenische Wandlung. Denn nicht wie einem Bettler und nicht wie in einer feuchten, glitschigen Straße, im dürftigen Laternenschein, sondern wie auf Teppichen und unter Kronleuchtern schritt ich auf ihn zu, und händigte ihm die elenden Sous wie einen Brückenzoll mit einer vagen Geste ein. Der Mann machte rasch Kehrt, und ich verfiel wieder in meine vorige Gangweise, als hätte nichts ihr Tempo unterbrochen. Plötzlich aber, wie von einem Schlage, verdunkelte sich mein Blick. Denn ich wurde mir bewußt, wie sehr diese Begegnung durch den Stempel des Stolzes, den jener Unglückliche seinem kläglichen Geständnis verlieh, mich entzückte und begeisterte!

Und Michel trat zurück und ließ Mariannen vortreten. Herrliche Kinder! dachte ich, diese Franzosen. Aus ihren Herzen brach er hervor, jener Gedanke tiefinnerster, reinmenschlicher Gleichheit, über dessen Adel uns nichts hinwegtäuschen darf.

Aber Kinder hatte ich sie genannt! Und wüßten sie es doch endlich über dem Rheine drüben, in welchem Sinne die Franzosen Kinder sind. Oder sind die Deutschen, die keine Kinder sind, zu naiv, um es zu lernen? Denn hier liegt der wahre Grund zu all den kontinuierlichen und unerfreulichen Gegensätzen, die einer wahren inneren Annäherung der beiden Nationen, und wenn sie beiderseits noch so sehnlich empfunden wäre, immer wieder im Wege liegt!

In einem Zeitalter, wie dem unseren, in unserem so klein gewordenen Europa weiß sich der Franzose das deutsche Gemüt noch immer nicht zurechtzulegen, der Deutsche den Franzosen noch immer nicht zu behandeln! Denn für die Mobilität, die Akuität — ich muß bezeichnenderweise lauter Fremdwörter gebrauchen! — der französischen Empfindungsweise, zeigt der Deutsche wenig Sinn. Der Franzose, der auf „Nuancen“ eingerichtet ist, harrt indeß vergebens, daß der andere, dem sie ganz entgangen sind, darauf eingeht, und fühlt sich von ihm verletzt. Der andere borgt sich dafür bei ihm das Wort: sensibel, denn mit der sensibilité, dieser Monnaie courante des Gemüts, führt er nicht Haus.

Kurz: für ihr Gefühlsleben finden die beiden Völker nicht den adäquaten Austausch. Denn wahrlich, nicht der Geist der zwei Nationen ist es, der sie auseinanderhält! Der Idealismus, der geistige Ausblick des Deutschen ist vielmehr sein mächtigster Anziehungspunkt für den Franzosen. Frankreich hat sich mit Begeisterung deutscher Musik, mit Sehnsucht dem Einfluß Goethes zugewandt. Denn diese „wankelmütigen“ Leute, sie stehen vor sich selbst und vor aller Welt als die Nation généreuse. Und in der Anerkennung unserer eigenen Vorzüge legten sie ein Verständnis und eine rückhaltslose und geniale Großherzigkeit zutage, vor der länger zurückzustehen uns weder zum Lobe noch zum Nutzen gereichen könnte.

Hören wir einen so leidenschaftlichen Sohn seines Landes wie Maurice Barrès, mit welch unendlich zarten und tiefen Worten er seine Betrachtungen über Goethes Iphigenie beschließt.

„Peut-être n’est il pas permis, — permis, ce mot si vague rend seul ma peur un peu mystérieuse, — que nous produisions au dehors nos pensées les plus intimes; peut-être devons-nous protéger, voiler nos réserves, de crainte qu’une source, dont nous avons écarté les branches, ne se dessèche au soleil. Mais je dois reconnaître mes obligations. La destinée qui oppose mon pays à l’Allemagne, n’a pourtant pas permis, que je demeurasse insensible à l’horizon d’outre-Rhin: J’aime la Grecque Germanisée.“

Fand jemals eine Huldigung, in ihrer scheuen Zurückhaltung, einen so wundervollen Ausdruck? Ich kenne mir nichts Edleres als jenes Geständnis, das sich einem so französischen Herzen entrang: „J’aime la Grecque Germanisée.“

Aber Deutschland und Frankreich scheinen mir oft dahinzuleben, wie ein sehr männlicher Mann neben einer sehr feinen Frau, die ihn schon durchschaute, die er noch nicht verstand. Gerade diesem Manne aber hat der Mangel an Übung und Verausgabungstalent seines Empfindungsvermögens manchen Nachteil gebracht, und manch unfreundliche Reflexe zugezogen. Wenn ihm aber der Neid, wenn seiner Sprache das Monopol des Wortes „schadenfroh“ zum Hauptvorwurfe werden konnte, so hat er dafür ein Wort, das im Widerspruch zu jenem anderen steht und es an Kraft weit überbietet, das Wort, das in keiner Sprache seinesgleichen findet und einen Zug, der viel deutscher noch ist, als sein Neid, und das ist: seine Treue. Treu aber sind die Deutschen sich selbst, nur indem sie streben.

Zwar ist von vielen Seiten behauptet worden, seit ihrem großen Siege seien sie in ihren sympathischen Eigenschaften weniger gefördert worden, als im Verhältnis die Franzosen seit ihrer großen Niederlage. Nichts scheint mir zweckloser, als darüber Worte zu verlieren, denn Glück wie Unglück liegen hinter uns. Jede Nation hat heute die Tafeln ihrer Siege und ihrer Niederlagen, und der Haß ist zwischen ihnen etwas Künstliches geworden. Die Schwelle eines neuen Zeitalters ist schon überschritten, und eine neue Stunde hat für uns geschlagen. Fluch träfe das stumpfe Auge und die verbrecherische Hand, die den Zeiger wieder zurückstellte.

V.

Ein sommerlicher Sonnenuntergang in München lebte heute in meiner Erinnerung auf. Von der Terrasse zur Friedenssäule hatte ich auf die Isar herabgesehen, die unter dem verklärten Gewölk so leuchtend und blau dahinfloß, so deutsch mit dem verträumten Gebüsch ihrer weiten Sandbänke, und zugleich so sagenhaft schön in ihrer ewigen Frische, als eile sie nach dem Meere, Galateens Muschelboot zu umspielen.

Und München erschien mir da wie eine jener herrlichen mittelalterlichen Schlaguhren, mit ihrem kunstvollen Aufbau von Säulen, Gehäusen und Vertiefungen. Zeiger und Figuren treten immer in gleicher Schönheit, gleicher Bedeutsamkeit hervor, und das Zifferblatt ist von erlesener Pracht. Aber etwas in den goldenen Speichen der Räder ist zertrümmert oder gehemmt, und die Zeit verhallt hier in zu tiefen, zu lauschenden Klängen. Und dieses Echo, diese Beschaulichkeit ist es, die wir nicht immer ertragen, denn gerade das Unveränderliche und Unverbrüchliche in uns erheischt ein schnelleres Tempo unseres äußeren Lebens.

Aber wie uns in dem trüben, und zugleich schon grellen Lichte spätwinterlicher Tage Bilder des Südens bewegen, so umwehten mich jetzt, inmitten der weiten Regungslosigkeit und Leere, die Bilder bewegterer Städte. Von den lauen Winden zu mir herübergetragen, durchschauerte mich das silberne Paris, und lächelnd wie eine verschleierte Schöne, die Place de la Concorde. Ein anderer Sonnenuntergang flammte da auf, und überflutete die weiten Champs Elysées, den surrenden Wagenstrom mit seinem gedämpften, prunkenden Gerausch, und all die strahlenden oder trügerischen, oder schnöden Silhouetten des Glücks, die er vorbeiträgt. Was immer sie quälen mag, stets sind es Schattenbilder selbstverständlichen Genusses, die sie uns malen. Wie die weithin leuchtende Front der zwei Paläste am Eingang der Rue Royale, so trägt hier die Fassade des Lebens den Stempel jenes Maßes und jener Disziplin, die wahren Formensinn kennzeichnet. Wenn andernorts Leichtsinn und Ungefähr an Äußerlichkeiten haften, so ist es hier das Auge, das zumeist sich heimisch fühlt und inmitten der Verwirrung ganz vermag sich auszuleben.

Allein hier riß mich das brutale Gellen einer Trambahnglocke aus der Ferne in die Wirklichkeit zurück. Mit furchtbarem Gepolter lärmte der umfängliche Kasten einher, und eine Dame im Reformkleid wandelte mir entgegen. Heiß und öde dehnten sich die Häuserreihen wieder vor mir hin, und jede Straße fand von neuem Muße, mit ihrer Physiognomie, ihrer Atmosphäre mich zu bedrängen. Denn ach! inmitten der seelischen Abgeschiedenheit, die München an Wintermorgen wie an Juliabenden oft bis an den Rand wie einen Schmerzensbecher füllt, war mir, als ob der Strom des Lebens sich hier zu einem See besänftigte, sich weitete, und als ahne er hier nichts von seinen reißenden Stellen, deren Hast und Getöse allen Schmerz der Besinnung so weit überrauscht!

Und wie ein Riese schien da die Sehnsucht den Weg mir zu vertreten und mich zu würgen, als müßte sie aus meinen Augen hervorbrechen beim Anblick der hoch dahinziehenden Vögel: zur englischen Küste trugen sie meinen Geist im Fluge hin, und die Lust zu wandern kam wieder über mich.

Ich gedachte der Woche, die ich in London einsam verschwelgte, und zu welcher Lust sich mein Alleinsein steigerte, angesichts der Gestalten, die uns, lebenden Statuen gleich, zu Hunderten dort begegnen. In welcher Stimmung ich da eines Nachts aus dem Theater fuhr, und wie mich fror in der warmen Sommernacht, weil angesichts so vieler, vollendet schöner Erscheinungen, derselbe Gedanke wie angesichts der Elgin Marbles mich bewegte: welch edles Ding ist doch der Mensch. Wie müde und erregt zugleich ich dann das leere Haus betrat, in dem ich wohnte und wie ich da mit geschlossenen Augen und verschränkten Armen noch lange unten verweilte, ganz in London versunken; von dem Sausen und Brausen des unendlichen, nie lärmenden London berauscht. Ja wie ich mitten in der Nacht entzückt erwachte, die stolzen Bilder zu atmen, die London entströmten. Zwar schwebte mir gerade in Frankreich, gerade in England — Deutschlands geistiges Bild so gerne vor Augen! So tags zuvor bei englischen Freunden auf dem Lande, als ich in der großen Halle mit mir allein zurückblieb, weil mir schien, als wüßte ich in letzter Zeit, durch neue Eindrücke und die Meinungen und Ansichten anderer von allen Seiten abgelenkt, oft nicht mehr, was ich selber dachte.

Nun aber flutete das Licht des alabastermilden englischen Himmels so beschaulich durch die weitgeöffneten Tore, und die Bäume vor dem Eingang breiteten wie schützend ihre gewaltige Ruhe über diese Erde, diesen Rasen, und über das unaufhörlich holde Gurren und Geflatter der Turteltauben!

Aber wie hoch in der stillen Luft das Laub der Bäume erst leis erzitterte, und dann in Aufruhr blieb, so wurden meine erst leis sich schwingenden Gedanken von allen Himmelsrichtungen aufgescheucht, bis sie im Sturme hin und wieder fortgetragen, wie Blätter mein Bewußtsein umwirbelten. Ich konnte sie nicht erhaschen, die eigene Verwirrung, den eigenen Zwiespalt nicht begreifen, noch jenes tiefe Echo heimatlicher Erde, das deutschem Geiste aus angelsächsischem Boden entgegenhallt; als würden jene Worte wieder zu ihm hingetragen, mit welchen Shakespeares verbannte Könige dies Land betraten:

Ich grüße mit der Hand dich, teure Erde,

— — — — — — — — — —

— — — — — — — — — —

— — — — — — — — — —

So weinend, lächelnd, grüß ich dich, mein Land

Und schmeichle dir mit königlichen Händen.

Aber Shakespeare selbst, der in seiner ausgeprägt englischen Eigenart uns so nahe stand, wie glich er diesem Boden, auf welchem geschlossenste Äußerungen unserer Rasse, so heimisch und fremd zugleich, uns entgegentreten!

An diesem Faden weiterspinnend, war es dann ein anderer wichtiger Punkt, der zumeist mich fesselte. Die Identität unserer geistigen Stellungnahme zu den Griechen: Walter Pater, in seiner Auffassung und Fühlung zur Antike mit unseren Rhode und Burckhardt, als eines Geistes Kind.

Von unseren inneren Analogien aber versank ich staunend in die Betrachtung unserer äußerlich so starken Verschiedenheiten. — Allein von allen Dingen sah und erfaßte ich da nur ihr Suchen, Fließen, Streben nach einem gleichen Ziele. Und nichts, was die Vorzüge der Engländer, Deutschen und Franzosen länger auseinanderhielt und voneinander abschloß, wollte mir da noch den Eindruck von etwas Verheißungsvollem, noch Ganzem, noch Befriedigendem gewähren.

Mein Alleinsein wurde indeß von einem der Gäste unterbrochen, einem gewichtigen Parlamentarier und Anhänger Chamberlains, der in die Halle trat. Zwar war gerade er es, dessen politisches Credo: „We are the first nation“ aus allen seinen Beweisführungen mit unfehlbarer Sicherheit hervorging.

„What are you doing?“ sagte er.

„I was thinking against protectionism“ sagte ich. Und da er mich verwundert ansah: „Because we have so many things to agree on and to exchange!“ Und da er mich anstarrte: „because if you are the first nation, then we are the first people.“

„Oh! is that so?“ sagte er.

Doch als ich ihm nun meine Gedanken auseinandersetzen wollte, da standen mir die Worte, die den Stein des Weisen, den ich doch schon zu halten glaubte, fassen sollten, nicht zu Gebote, sondern die Flammen, die im Kamin mit ihrem laut- und ruhelosen Rhythmus loderten, schienen in elementarerem Bezug zu meinen Träumen, als ich selbst. — —

Warum aber weckte ich den Nachhall so vergessener Dinge? Lag an der Wirklichkeit, lag in der Gegenwart stets ein Etwas, das des Reizes tief entbehrte, oder ihn verhüllte, da Augenblicke, die wir zu genießen uns nur flüchtig bewußt wurden, als wir sie erlebten, sich verklären, wenn sie wie abgeflossene Wellen längst verrauschten? Selbst die fiebernde Öde dieses Münchner Sommertages, täuschte mich seine spleenartige Wirkung nicht?

Still schwebte schon der Mond am klaren Himmel über die Parkanlagen, die Straßen und Plätze. Von den dunklen Baumgruppen hob sich der Hildebrand’sche Brunnen wie ein Götterzeichen ab, die immer neuen Strahlen seiner Lebensfülle milde wie der Mond ergießend. Immer neu sind dem Auge die kühnen, reichen Schweifungen des Beckens, in welchem das Wasser unter der überströmenden Schale, frei wie eine Flut sich ausbreitet und bewegt. Und immer neu blicken von dem mächtigen Sockel, wie durch rieselnde Schleier, überlebensgroße, marmorne Häupter. Aber das edel gesenkte Antlitz des Athleten, die weit getrennten Gruppen und das Quellen aus all den herrlichen Nischen, sie alle ertönen in übermächtiger Einheit zu einem rauschenden Akkord, aus welchem Münchens eigenste Seele in ihrer hohen Intellektualität und ihren reichen Gründen, echt wie der frische Strahl des Wasserstaubes, uns entgegenhaucht.

VI.

An einem Spätnovembermorgen sah ich zum ersten Male die Straßen von Berlin unter einem regnerischen Himmel tropfnaß und düster vor mir liegen, und musterte mit enttäuschten, übernächtigen Augen ihre graue, geradlinige Nüchternheit.

Auf meiner Fahrt vom Anhalter Bahnhof zum Potsdamer Platz war es zugleich das einzige Mal, daß ich in Berlin dazu kam, mich über Berlin zu besinnen. Ich weiß nicht, welch verzehrende Neugierde dort alsbald von mir Besitz ergriff und mich in eine Art von Gummiball verwandelte, der ohne Unterlaß von einem Ende Berlins zum anderen flog.

Die meisten Dinge natürlich sah ich nur im Fluge.

Im Fluge machte ich dort übrigens eine, wenigstens für mich, endgültige Erfahrung: wie sehr nämlich die Wirkung, welche die Plastik auf den künstlerischen Laien ausübt, eine von der Malerei nicht nur verschiedene, sondern ihr entgegengesetzte ist. Allerdings haben wir bis jetzt nur Glyptotheken, welche organisatorische Probleme auf siegreiche Weise lösen. Vergleichen wir aber den Zustand von Beglückung und Rast, den wir im Pergamon finden, mit der Nervosität, dem Unbehagen, das uns bei längerem Verweilen in einer Bildergalerie befällt, so will uns dabei der Maler von allen Künstlern als der glücklichste erscheinen, weil von allen Kunstwerken Bilder am rückhaltlosesten zu einer Charakteristik ihres Schöpfers, im vollsten Sinne zu „Individualitäten“ sich gestalten. Je bedeutender zwar, desto bestimmter natürlich, desto mehr Aufmerksamkeit und Spielraum beanspruchend, auch nach außen hin, desto mehr Perspektive gebietend. Wer hätte im Louvre nicht die fast schmerzliche Empfindung einer Gioconda, fast hätte ich gesagt eines Lionardo, der hier in einem licht- und luftlosen Kerker gefangen liegt? — Ich für meinen Teil kann nicht an den Giorgione im Kaiser Friedrich-Museum denken, ohne daß mir ein kaum einen Meter davon entferntes Bild durch seine schreiende Unverträglichkeit mit dem Giorgione dazwischenfährt. Aber scheinen nicht alle Wände dieses selben Saales von laut aufbegehrenden und unzufriedenen Leuten erfüllt, deren Heterogenität uns peinigt und verfolgt, und die alle zusammen das große Tizianbild umlärmen? Auf meinem Wege zu den Botticellis fesselte mich ein Gemälde durch den klangvollen, durchdringenden Reiz des Kolorits. Als ich aber auf dem Rückwege an diesem Bilde wieder vorbeiging, zog sich bei seinem Anblick — ich übertreibe nicht — wie ein eiserner Ring um meine Schläfen, von nahezu unerträglicher Erschöpfung und Qual. Wahrlich! dachte ich, die Musik ist eine stillere Kunst als die Malerei.

Um aber auf Berlin zurückzukommen: als am siebenten Tage der Zweck meines Aufenthaltes erreicht schien, reiste ich am nächsten Morgen wieder ab. Zwar wurde mir von allen Seiten, und überall auf Grund meines außerordentlichen Behagens an Berlin lebhaft davon abgeraten. Aber hierüber schien mir, mußte ich doch selbst am besten Bescheid wissen, und packte unbeirrt meine Sachen. Zwar fand ich Berlin nicht mehr so häßlich, wie bei meiner Ankunft, eine „jolie laide“ vielmehr, mit sehr grandiosen und fesselnden Einzelheiten.

Am Morgen meiner Abreise fuhr ich in einer offenen Droschke und bei dichtem Nebel noch einmal um den Schloßplatz, durch die Linden, die Wilhelmstraße, Leipziger- und Friedrichstraße, und dachte: „Berlin ist doch die uneleganteste und zugleich imposanteste Stadt, die ich je gesehen habe: als Großstadt diskutabel, aber spannend wie keine andere.“ Deutlich war jetzt der Wunsch in mir aufgestiegen, es besser kennen zu lernen und bald wiederzusehen, als mir der bedenklich vorgerückte Zeiger einer Riesenuhr ins Auge fiel, und zugleich an einer Straßenecke ein Zeichen trübseliger Vorbedeutung, das, wie meiner harrend, stille stand. Nicht länger spendete ich da mehr nach rechts und nach links halb gleichgültige, halb neugierige Blicke des Abschieds. Was konnte es an diesem Morgen Verdrießlicheres für mich geben, als meinen Zug zu versäumen, nachdem ich eigens deshalb so früh aufgestanden war? Besorgt trieb ich den Kutscher zur Eile an, stürmte zehn Minuten später die Treppen des Bahnhofs hinauf, lief zum Gepäckschalter, flog durch den Perron. Kaum war ich eingestiegen, als der Zug sich in Bewegung setzte, und ich in meiner glücklich eroberten Waggonecke zufrieden einschlief.

Und dann kam das Erwachen, — das eine unvermittelte und grenzenlose Deprimiertheit wie mit dumpfen Stößen begleitete. Draußen starrte ein totes, träges, grelles Mittaglicht wie ein Abglanz des riesenhaften und unerhörten Katzenjammers, der mich bedrückte. Es war doch gestern so gut wie ausgemacht, daß ich um diese Stunde nach Charlottenburg fahren und dann in ein Konzert gehen würde. Und abends wollte ich die Oper von Nicolai hören. Warum in aller Welt war ich denn fortgefahren? Ich konnte den Grund nicht finden. Es mußte irrtümlich geschehen sein, weil ich nicht wußte, daß ich noch bleiben wollte. Ich wußte nur, was ich jetzt vergebens wollte! Mit welchem Ungestüm ich die Lokomotive an das andere Ende des Zuges wünschte, und daß sie mich wieder nach Berlin zurückbrächte!

Und ich erwachte ganz.

Eine dumpfe, trübe Hitze erfüllte den Waggon. Ich stand auf, um das Fenster einen Augenblick zu öffnen. Aber mein Gegenüber, ein mächtiger, breitschulteriger Herr, sah mir, ohne sich zu rühren, mit so unsäglicher Empörung zu, daß ich seinen Einspruch nicht provozieren mochte, weil der Gedanke, ihn auch noch sprechen zu hören, unerträglich war. O, wie mußte der seinen Enkelkindern imponieren und seiner Schwiegertochter auf die Nerven gehen! Und ich sank zurück. Aber die Reue, der leidenschaftliche Ärger über meine unbedachte und sinnlose Übereilung, brach mit der Gewalt jener unvorhergesehenen Stürme über mich herein, wie sie über Nacht, zur Zeit der Äquinoktien sich entfesseln, Kamine wegreißen, und Steine und Ziegeln von den Dächern schleudern. Wie verträumt rauschte der Zug durch das winterliche Land, während ich unbeweglich und gramerfüllt in meiner Ecke saß. „Komm,“ sagte ich zu mir selbst, „dies ist alles nur die Reaktion irgend einer ganz abnormen Übermüdung.“ — Meine Hände lagen mutlos ineinander, meine Arme waren wie mit Gewichten behängt, an meinem Herzen hing ein großer Stein, und ein anderer saß mir am Kopfe wie ein Helm. Es war lächerlich. Es konnte nicht sein. „Trink eine Tasse Kaffee,“ schlug ich vor. „Sieh nur, wie müde du bist!“ fuhr ich ermunternd zu mir fort, als ich im Speisewagen mit zitternden Knien und mit aufgestützten Armen vor meinem Tischchen saß, und das öde Licht, das durch die angehauchten Scheiben fiel, meine Bitterkeit noch erhöhte. Warum hatte ich nur so eilig Reißaus genommen? Es lohnte sich doch wahrlich, Berlin besser kennen zu lernen! Warum aber denn jetzt eine so ungestüme und überspannte Betrübnis? — Es wurde mir immer heißer, immer fiebernder zumute, und der Kaffeegeruch machte mich vollends untröstlich. Ich kehrte also wieder auf meinen Platz zurück, zog den Vorhang zu, den Hut tiefer ins Gesicht, und wie nach dem Sturme der Regen einsetzt, so drängten da die ungeheuerlichen Wolken, die mein Gemüt umlagerten, leise, langsam und unaufhörlich, nach Art der Landregen sich zu lösen. Es war viel besser, daß ich mir’s eingestand: Der vorschnelle Abschied von Berlin machte mir eben Beschwerden. Aber wie? Was lag mir dort so sehr am Herzen?

Ich habe jedoch schon öfters erfahren, daß persönliche Momente für unsere Abneigung oder unsere Vorliebe für einen Ort, keine oder nur eine relative Rolle spielen. Und ich kann mir nicht helfen: meine Eindrücke großer Städte verdichten sich zu einem gewiß anthropomorphistischen Bilde, wie es uns in der Karikatur etwa die Münchner Bavaria entgegenhält. Eine Stadt oder eine Landschaft aufzusuchen, um dort Erinnerungen nachzuhängen, stelle ich mir deshalb als ein höchst unerfreuliches Experiment von ganz besonders öder und ausgeblasener Wirkung vor. Denn der Dämon eines Ortes ist viel zu stark für die einzelne Psyche!

Daß ich mich aber durch jenen einen proletarischen Zug in der Physiognomie der Jolie Laide in meinen wirklichen Eindrücken so hatte täuschen lassen, und während die Schärfe ihrer intellektuellen „Aura“ mich hinriß, immer noch der Meinung war, daß sie mich abstieß? — Seit einer Woche ganz von ihr eingenommen, und mit ihr beschäftigt, wollte ich alles kennen lernen, und mir nichts entgehen lassen, jeder Einladung Folge leisten, auch wenn sie mit einer anderen in Kollision geriet, um dann, wenn auch nur für einen Akt, schnell noch ein entlegenes Theater zu besuchen. Zwischendrin aber, sobald ich allein war, in der Droschke, der Hochbahn, oder während einer musikalischen Soiree, zog ich unverzüglich, wie aus einer geistigen Schublade, die Schlußseiten eines literarischen Produktes hervor (mit dessen Umarbeitung ich vor meiner Abreise fertig werden mußte), korrigierte, glättete und feilte daran herum, suchte fortgesetzt nach neuen Satzstellungen und Worten, und fand niemals Zeit, mich auf mich selber zu besinnen.

So war ich in meinem Element, und glücklich gewesen, ohne es zu wissen. Denn die Wagschale des eigenen Ichs, aller Gewichte persönlicher Bezugnahme ledig, war seltsam erleichtert aufgestiegen.

Ich merkte nicht, wie sehr mich hier alles Nüchterne oder Geschmacklose verdroß, welche Genugtuung mir alles Schöne, Hervorragende oder Bedeutende gewährte. Ich wußte erst, nachdem ich Berlin verließ, mit welch nationalster Anteilnahme ich es betrachtete!

Wie leicht beschlich mich sonst inmitten einer neuen Umgebung ein Gefühl der Isolierung, kalt und leise wie ein Gift! Nichts wirft uns ja so sehr auf uns selbst zurück, als das Gefühl oder das Bewußtsein, oder die Idee unrichtig taxiert, sei es nun, überschätzt oder verkannt zu werden. Diesen Berlinern aber, die mir ungewohnter, in mancher Hinsicht vielleicht auch fremder waren, als Londoner oder Pariser, schien ich eine längst bekannte Nummer, und so half alles zusammen, daß ich mir selbst gänzlich in Vergessenheit geriet.

Allein derselbe Schwung, der mein Auffassungsvermögen mit so ungewohnter Schärfe nach außen wandte, währenddem er mein Bewußtsein gewissermaßen suspendierte, stürzte mich zuletzt, so unwahrscheinlich dies auch klingen mag, vor lauter Elastizität blindlings in diesen Zug.

Das Spiel war zu Ende, und der Gummiball lag im Graben.

VII.
Rufford Abbey.

Ich hatte für den August 1899 eine Einladung nach Rufford Abbey erhalten.

Rufford Abbey in Nottinghamshire ist einer der ältesten Herrensitze in England. Eigentum der Zisterzienser bis zu Heinrich VIII., der ihn einem Earl von Shrewsbury verlieh, blieb er inmitten höchst wechselvoller Schicksale ein bevorzugter Aufenthalt der Könige von England, besonders Karls II. Auch heute noch wird jener traditionelle Verkehr durch Eduard VII. besonders lebhaft rege gehalten.

Hatten schon die Berichte von Ruffords Ländereien und historischen Schätzen, vom langen Saale, mit seinen elf nach Westen sehenden Fenstern, der Halle mit der Minnesängergalerie, Straffords berühmtem Porträt usw, meine Erwartungen sehr hoch gestimmt, so vollends die Geistergeschichten, die über dieses Schloß im Umlauf sind. Die Aussicht auf eine Bekanntschaft mit ihnen wollte mich mit gespannter, aber durchaus heiterer Neugierde erfüllen. Steht doch selbst der Leichtgläubigste solchen Dingen skeptisch gegenüber, weil er fühlt, daß sein Leben alles Gespenstige so siegreich ausscheidet, wie das Licht die Finsternis; und darum macht es ihm Spaß, wenn er von jenen leeren Schemen — zu welchen er zwar selbst über Nacht gehören kann — wie von etwas „Wirklichem“ Kunde erhält.

Schlaflos war ich die Nacht hindurch via Ostende gefahren. Draußen graute kaum merklich der Tag über ein baumloses, flaches, unsäglich trübes Land. Hie und da streckte eine Windmühle wie verzweifelt ihre bretternen Arme aus und erhöhte noch den Eindruck von Verlassenheit und Öde. Fast lautlos fuhr jetzt der Zug die trauernde Ebene dahin. Und in jenem unendlichen, schattenhaften Grau, das den Himmel und die weite Erdfläche erfüllte, wollte endlich auch mein Bewußtsein ruhen und versinken.

Aber kaum eine Minute lang!

Denn als ich erwachte, lag nach wie vor matte, unklare Dämmerung über das Land gebreitet, und zugleich rief meine erschrocken ausgestreckte Hand ein anderes Bild in mir wach, das unvergeßlich, ich wußte es wohl! zwischen mir und der Außenwelt in jenem Augenblick entstanden war.

Aber welcher Unhold hatte mich da so unvermittelt und so willenlos über eine so fremde Schwelle geführt?

Durch ein hoch und ohne Sims in der Mauer angebrachtes Fenster schien das Abendlicht unsäglich bange in ein schmales, verließartiges Zimmer schräg herein; und ich sah in einem hohen Lehnstuhl, der aber nicht entfernt bis zu dem Fenster reichte, die Umrisse einer zarten und kostbar gekleideten, aber schon sehr alten Frau: — zwei langgedrehte seidne Locken, deren Enden sich ätherisch lösten, umschimmerten ihre klaren Züge; ihre reizende Hand hing ernst und traurig herab, und den Blick hielt sie gespannt, erwartungsvoll auf mich gerichtet! Als ich aber, seltsam zu ihr hingezogen, nähertrat und in der sinkenden Dämmerung sie zu erkennen suchte, da zerfiel, zersetzte, zerfetzte sich ihr Angesicht vor meinen Augen zu dem eines grauen, unnennbaren Gespenstes, und schaudernd streckte ich die Hand aus um den furchtbaren Anblick von mir abzuwehren. —

Ein herrlicher Tag strahlte über das blaue Meer und Englands teure Küste.

Wer ahnt es heute nicht, in unseren so stark differenzierten Ländern, jenes wachsende, peinvoll sehnsüchtige Bewußtsein unendlichen Einsseins verwandter Rassen? — Von meinem Zuge aus sah ich Englands berückendes, in seiner Fülle so gedämpftes Licht, und mit halb verträumten, halb beglückten Augen starrte ich in diese auf den ersten Blick so schlichte, in ihrem Reiz so mächtige Natur. Denn London hatte eine Lebensfreude in mir hervorgerufen, wie ich sie noch nie empfunden!

Aber noch am selben Nachmittag fuhr ich weiter, und von Ollerton aus in einem flügelleichten Wagen durch herrliche umzäunte Wälder schnell dahin. Es ging ein Rufen, Schlagen, Wehen, wie von Tieresstolz über Boden und Gezweig. Unter dem hohen Farren huschte und raschelte es, und ein winziger Hase, vor Schreck gelähmt, hockte mitten am Weg. Ich lachte über diesen Anblick auf. Meine lautlose Fahrt, das herrliche Gespann, der lebenflutende Wald ließen nur freudige Eindrücke zu. Zuletzt flogen die Pferde eine weite Allee im hellen Abendlicht entlang, und in einer Mulde, von einem weiten Waldesring umschlossen, und keinem unbefugten Auge sichtbar, lag Rufford Abbey ein riesengroßer, schweigsamer und strenger Bau; — hinter einer breiten kurzen Brücke trat zuerst der niedere Teil des ehemaligen Konvents hervor, dann unter steinernen wappentragenden Löwen der offene Eingang in der gedämpften gemütlichen Pracht seiner kostbar ausgeschlagenen Wände. An Rüstungen und Waffen, an der Minnesängergalerie vorbei, eilte ich in den Rittersaal. Meine Stimmung war so hoch, daß ich nicht wider sie an konnte: in einem solchen Rahmen lang entbehrte Freunde wieder zu begrüßen, war ein Erlebnis.

 

Zufällig wurde noch am selben Abend bei Tisch von den Gespenstern Ruffords gesprochen, ein Thema, das in Gegenwart der Eigentümer gewöhnlich vermieden wird. Aber ich war hierin, wie überhaupt in allem, noch sehr wenig eingeweiht und erfuhr also auf mein neugieriges Fragen hin, daß es über Ruffords Geschichte viele, zum Teil von den Besitzern selbst verfaßte Bücher und Urkunden gab, die samt und sonders unter Ruffords Kriegsdaten, Erbschaftsprozessen und Mordtaten, — meist in demselben trocknen sachlichen Tone, — auch Ruffords Gespenster zur Erwähnung brachte. Dies rief nun unverzüglich meine eigenen Erinnerungen wieder wach. Mir hätten „rief ich“, diese Geister wohl ganz besondere Ehren zugedacht, da mir ja einer schon bis übers Meer entgegenfuhr. Und lebhaft schilderte ich das seltsame Gemach, seine eigentümliche Lage, und das Gesicht, das ich am Morgen dieses Tages erlebte, hielt aber betroffen mitten in meiner Erzählung inne, als ich die plötzliche Stille und die überraschten, gespannten Mienen rings um mich her bemerkte.

 

Ich wohnte im ersten Stockwerk nach Osten. Ein breiter Korridor trennte mich von den westlichen, sogenannten Stuartzimmern. Nach Norden hin lag wieder eine Flucht wahrhaft königlicher, zurzeit leerstehender Gemächer.

Ach die Pracht der Möbel, der Gobelins und Kamine war es nicht allein! In Nationalmuseen sieht man vereinzelt, wie ausgestopft, solche Stücke. Aber überall das Zusammentönen und -leben dieser stillen Truhen, dieser alten Teppiche und Seidenvorhänge, und überall an den Säulen und Himmelbetten, und an den Angeln der schlanken Fachkästen und Stühle das kunstvoll so rein und naiv gewundene oder skulptierte Holz! Wo an den niederen Wänden der Raum nicht von den Wappen mit den ausgehauenen Löwen ausgefüllt, oder köstliche Schreine eingelassen sind, ziehen sich durch jene Zimmer hindurch früh mittelalterliche Gobelins: lange Prozessionen schreiten da einher, Könige, Bischöfe und Heilige, edle Jungfrauen blicken rührend und ernst, und hinter dem Stuartbett, heute wie damals, eine geheimnisvoll schöne, eine große, weinende Gestalt!

Ich ging von Zimmer zu Zimmer mit einem der Gäste, der mich als Führer auf meinem Rundgang begleitete. Aber fast hatten wir einander vergessen. Denn wie in sehnsüchtiger Abendröte atmete und verweilte hier noch die weite Vergangenheit.

Und nun betraten wir die Plattform eines breiten, turmförmigen Vorbaus, der den Übergang bildet zwischen dem Schloß und der noch älteren Abtei. Von da aus führt ein langer, schmaler Gang zu den jetzigen Privatgemächern Ruffords, die ziemlich entfernt über der Kapelle und dem ehemaligen Refektorium liegen. „Noch ein Zimmer muß ich Ihnen zeigen,“ sagte jetzt mein Führer und deutete auf die Wand. Eine Eckmauer höhlte sich hier in verschiedenen Windungen und Stufen, und führte plötzlich zu einer Versenkung und einer Türe. Wir traten ein. Zwischen den Quadern verborgen hineingebaut, hing da wie ein Lift ein hohes, schmales Gelaß. Schwermütig fiel das Licht durch ein hoch und ohne Sims in der Mauer angebrachtes Fenster, und ein hoher Lehnstuhl, der aber nicht entfernt bis zu dem Fenster reichte, stand davor. Zu genau war mir schon der Anblick, die unheimliche Lage dieser Kammer und ihre bange Atmosphäre bekannt! —

Indes erfüllte es mich mit unbeschreiblicher Genugtuung, daß die teilweise Bestätigung eines gespenstigen Traumes mich nicht ängstigte, um so mehr, als die Inhaber der Stuartzimmer sich über die fiebernden und schlaflosen Nächte, die sie in Rufford verbrachten, unumwunden äußerten. Dabei wußte man von diesen Räumen, sowie von dem anstoßenden Prunksaal, den der König, damals noch Prinz von Wales, bewohnen sollte, gar nichts Schauerliches zu berichten. Ich hingegen wohnte auf der Ostseite nicht nur ganz allein, sondern meine Türe führte direkt in ein großes, in gelbem Damast und Silber ausgeschlagenes Paradezimmer, das für die „schwersten Gespensterfälle“ notorisch ist.

Unter sich nämlich pflegen die Gäste in Rufford Abbey solche Geschichten ohne Ende auszutauschen. Nur mußte es mich befremden, wenn von erwarteten Besuchern die Rede war, immer wieder Namen zu hören, die mit den haarsträubendsten Erlebnissen verflochten waren. Aber dies läge an dem unglaublich großen Reiz dieses Hauses, erklärte man mir. Ich sei noch zu sehr Neuling, würde ihn aber noch erfahren.

 

Nach einigen Tagen reisten die Inhaber der „Stuart-rooms“, ein Ehepaar aus der französischen Schweiz, zu meiner Erleichterung ab. Denn Monsieur und Madame de X. waren drückend, fast unmenschlich konventionell, und in allen Dingen von der Mode so eingenommen und genarrt, daß sie zu ganz eigentümlichen Ideenassoziationen und Bildern den Anklang gaben: den grell beleuchteten Kursaal eines großen Badeortes, einen Dampfschiffsalon I. Klasse und derlei. Und dann genierte es mich, zu fühlen, wie sehr es sie genierte, nicht herauszubringen, was es denn puncto Mode für eine Bewandtnis mit mir habe?

Allein infolge dieser Abreise stand nun der ganze obere Teil des rechten Schloßflügels leer, und meine Freunde forderten mich wiederholt und dringend auf, in ein anderes, bewohnteres Stockwerk umzuziehen; ich weigerte mich aber auf das entschiedenste, denn jetzt gefiel es mir hier erst recht! — Doppelt reizvoll und anheimelnd zwar, wirkte gerade in diesen Gemächern der Kontrast hypermoderner Existenzen! Nun beruhigten und erhellten keine herumliegenden Reisetaschen, keine neuesten Hüte und Hutschachteln mehr die düstere Atmosphäre, die wie ein schwerer Himmel über diesen Räumen hing, jetzt war alles so schauerlich und schön!

Allein ich besaß für Geister offenbar doch keine Attraktion. Denn weder „das Mädchen“, noch „der Mönch“ noch der „cuddling-ghost“, noch die „alte Dame“, die mich doch kennen mußte, bemühten sich zu mir!

 

Da — eines Nachts — fuhr ich aus tiefem Schlafe plötzlich empor, warf mich mit einem Satze blindlings gegen die Ausgangstüre, drehte blitzschnell das Licht auf und stürzte dann zu Boden. Verwundert sah ich in dem hell erleuchteten Raume um mich her. Was war geschehen? Ich konnte mich auf nichts besinnen, und fühlte doch meinen Blick umtrauert, wie ein vom Nebel umdüstertes Licht. Warum? Nur ein Gedanke: Licht zu schaffen hatte ja in mir gelebt! Aber welch höllisches Entsetzen hatte mich dann niedergeworfen und jagte mich jetzt von neuem, bevor ich es faßte? — Ach! jenes Licht, ich hatte es entfachen müssen, damit ich die Erschütterung ertrug, die mir jetzt das Bewußtsein brachte: Ich war nicht erwacht, ich war geweckt worden!

 

Erst als Tageshelle mein Zimmer erfüllte, löschte ich und trat ans Fenster. Wohin man von dem Schloß aus blickte, das diese weiten Parkländer, diese offenen Haine und Äcker beherrschte, erstreckte sich unübersehbar ein alter, heilig gehaltener Boden, dehnten sich Wälder, die kein fremder Fuß je betrat, und im nächsten Umkreis Plane mit zauberhaften Bäumen, Terrassen, die nur ein tiefes Schönheitsbedürfnis so ins Leben rufen und erhalten konnte; und rechts dem Flüßchen entlang, die schattige und stets geheimnisvolle Straße, das niedere Tor, das alle Verlassenheit und Poesie der Erde zu atmen scheint, und den weiten Rosengarten einfriedet! Und von hier bis zu jenem Tore drang unaufhörlich und hold der Turteltauben matter Ruf. — Aber diese Mauern, — dieses Zimmer, — diese Flucht qualerfüllter, leerer Gemächer im Morgenschein! Nein! die Frühluft, die jetzt so froh zu mir hereindrang, verscheuchte nicht, wie ich es hoffte, die Grauen dieser Nacht. Wohl aber lehrte mich dieser zärtlich silberne Morgenhimmel mit seinen frohlockenden Wölkchen, daß ich den Mut nicht finden konnte, ja daß ein unheimlich seltsamer Widerwille mich erfüllte, meine untatsächlichen Erlebnisse zu bekennen, als hafte etwas Totenhaftes an mir selbst, weil ich sie erfuhr! Keine Worte, die vor dem hellen Tage nicht zerflössen, konnten mir für das trostlos Bezuglose solcher Eindrücke zu Gebote stehen. Und ich mußte alleine damit fertig werden. — Aber das Licht, das nunmehr die ganze Nacht hindurch in meinem Zimmer brannte, sowie die Furcht vor einem Erwachen, wie ich mit Bestimmtheit glaubte, es in seiner Unnatur ein zweites Mal nicht zu ertragen, hielten Nacht für Nacht meine Wachheit rege. Und ich saß aufrecht und horchte! — Gerührt vernahm ich das Rauschen der Bäume, oder wenn ein Nachtvogel sich bewegte! Und ich horchte entsetzt — wie ein Scheinlebender — auf den unhörbaren Lärm, auf die feindselige Luft, und durch alle Ritzen und Gänge hindurch die zerrüttete Ruh! Welcher Sinn war in mir erwacht, für die finsteren Flammen lechzend wie das Leben reißender Tiere, vom Leben Verstoßener? Für dies Wehen wie von Schmerzensfaltern, der schweren Raupe des Verbrechens entflattert!

Und es schien, als dürsteten sie, mich zu erreichen! Als richte sich ihr Sturm gegen eine verwundbare oder gefahrvolle Stelle, einer Bresche in meinem innersten Selbst.

Dabei hing es oft an einem Haar, daß ich über all dies nur lachte und daß ein ängstigender Wahnkreis mich wieder freigab, wie die beengende Schlucht den Bach zur Ebene entrinnen läßt.

So drehte ich auch eines Nachts das Licht ungeduldig wieder zu und lag, vor Müdigkeit wie eine Schnecke zusammengerollt, ganz jenem angenehmen Gefühl des raschen Versinkens und der Sicherheit anheimgegeben, das uns umfängt, wenn der Schlaf, wie ein Riese, unser Bewußtsein davonträgt.

Allein, wie eine Beute ließ er jäh mich fallen! — In der Schnelligkeit, mit der ich nach dem Lichte auffuhr und ans Fenster stürzte, hatte ich Decken und Tücher mit fortgerissen; mein Blut, wie in Flucht geschlagen, hämmerte in meinen Schläfen, als dränge es, den Augenhöhlen zu entströmen, und in dem glänzenden Gemache, wie in einer Zelle eingemauert, fühlte ich mich von der Nacht, die beglückt da draußen flutete, geschieden. Und wie gemartert umklammerte ich meine Knie, zu einer anderen Welt unwiderstehlich hingezogen!

 

Nach Verlauf einer Woche wurden Heimat und Vergangenheit, das eigne Leben ferne und undeutlich. Aber wer schilderte zugleich den Widerwillen vor einem solchen Zustand und vor jener wachsenden Bangigkeit, die auch bei Tage, unter freiem Himmel, nicht mehr von mir wich, die mir das Herz zusammenschnürte wegen nichts, weil ein Vogel zu nahe vorüberflog, beim Öffnen eines Gatters draußen im Walde, oder wenn ich die grauen Mauern Ruffords, die auf düsteren Gedanken wie auf Pfeilern zu ruhen schienen, von weitem, unversehens vor mir sah.

Oft verbarg ich mich nun tagsüber in dem langen Saal, ganz der verwunschenen Stimmung hingegeben, die von Norden her eine gewaltige Front finsterer Bäume über die Beauvais-Tapisserien und die Wände ergoß, und zwischen einem Watteau und einem Greuze schlief ich in einer Mauervertiefung am Fenster ein.

 

Das Wetter blieb den ganzen August hindurch heiter und schön. Vor der Ostfront des Hauses verbrachten wir einen großen Teil des Tages in Korbstühlen, unter paradiesischen Bäumen, lasen, nahmen Tee, sprachen oder schwiegen uns aus und rührten uns oft stundenlang nicht von der Stelle.

Eines Nachmittags saßen wir wieder so tief in unseren Korbstühlen vergraben, daß wir einander kaum sahen. Und willkommen war es mir! Denn meine Sinne, nach außen hin, ja mir selbst entfremdet, zogen sich, wie die Fühlhörner einer Schnecke, in ein dunkles Gehäuse immer mehr zurück.

Tod und Leben, sie konnten ja nur einer Welt gehören! Wie Raum und Zeit, war unsere Trennung von dem Geisterreiche einzig durch die unübersteigliche, aber illusorische Schranke unserer Sinne bedingt. — Schaudernd sah ich zu einer gewissen Fensterreihe empor und gedachte der vergangenen Nacht und der Gedanken, welche da auf mich eindrangen, bis ich, unfähig, mein Alleinsein länger zu ertragen, nach einem anderen Teil des Schlosses fliehen wollte, aber alsbald die Türe wieder zuwarf, wie vor einem Sturm, als sei das Dunkel dieser Gänge eine wilde Flut, vor deren Toben der hellere Raum meines Zimmers noch einzig mich beschützte! — Zum Greifen nahe war ich in dieser letzten Nacht bis zu des Todes Schranken lauschend vorgetreten. Denn des Todes Sicherheit entsendet einen Lockruf, vor welchem des Lebens unsicheres Licht in dunkler Müdigkeit erschauert.

Aber ich lebte ja! Um mich her war der Tag! Aus undurchdringlich seligem Gezweige drang der süße Ruf der Turteltauben durch die laue Luft! Wie sicher fühlte ich mich hier unten, inmitten der anderen, in dem still verweilenden Sommerlicht! Und ermüdet schloß ich die Augen, in dem schwindligen Doppelleben, das ich jetzt führte, versonnen, wie der an steilem Bergesabhang Träumende.

 

Als ich erwachte, war ich allein. Die Blumen, die in hohen Rabatten nach Art der Klostergärten alle Mauern des Schlosses umwuchsen, umschlossen sie jetzt wie entseelt, mit einem fahlen Ring. Im unteren Stockwerk und links über der Kapelle waren schon alle Fenster beleuchtet, der Schatten einer Zofe huschte geschäftig vorüber und der Prozeß des Ankleidens schien überall in Schwung. Ich eilte nun über den Vorplatz, Gänge und Stiegen hinauf; aber im Laufen fühlte ich die Angst gleich einem Riesenschatten wieder dicht an meiner Seite, als habe sie es gar nötig, mich in mein Zimmer zu begleiten. Zum ersten Male versagte dort das Licht; wie ein entlegener und vergessener Raum lag es in der Dunkelheit vor mir. In dem verlöschenden Tagesschein, der durch das Fenster fiel, sah ich jetzt die Draperien des Bettes heruntergerissen, und daß der Balken, der sie hielt, schräg an der Mauer herabhing. Halb tastete, halb suchte ich nach den Kerzen, fand aber nichts mehr zur Hand, und wandte mich erschrocken der Türe zu, um das Zimmer wieder zu verlassen; allein sie widerstand und die Klinke war von außen gehalten. Noch ehe ich mich besinnen konnte, drang jedoch ein Schrei durch die Türe zu mir und zugleich hing die Klinke wieder locker in meiner Hand.

Auf den Gang hinausstürzend sah ich einen Diener, der wie besessen nach der Richtung der Freitreppe rannte. (Offenbar hatte der mich für einen Geist gehalten.) Flugs holte ich ihn ein, und zwang ihn, mich zu erkennen. Als hätte ich ihn erwartet, nahm ich dann den Brief, den er mir entgegenhielt. Er enthielt eine Menge Gründe für meinen, ohne mein Wissen, schleunigst vollzogenen Umzug. Aber ich las ihn nicht zu Ende! Ob diese Gründe wahr oder erfunden, oder auch nur wahrscheinlich waren, kümmerte mich nicht. Nach meinem neuen Zimmer, das in einem anderen Stockwerk, nach einer anderen Himmelsrichtung lag, flog ich mehr, als ich ging. Dort standen wohlgeordnet alle meine Sachen; die Kerzen brannten vor dem hohen Spiegel und das Kleid, das ich für den Abend anziehen wollte, lag ausgebreitet auf dem Bett. Eine Grille zirpte vor dem Fenster, der warme Rasen duftete so sommerlich herein. Wie schön war alles, was atmete, war diese Erde, war dies Leben! Und wie am Tage meiner Ankunft, als ich im hellen Abendlicht durch die Wälder nach Rufford fuhr, war es da wieder nur ein Bild, das mein Geist begierig greifen und erfassen wollte: des Lebens, der Natur ewig tröstliches Erstehen.

Und doch sind es die schauerlichen Nächte in jenem anderen Zimmer, deren Erinnerung ich heute nicht vermissen möchte.

TORSO

Gedanken, Meinungen und Überzeugungen drängen nach Äußerung, lange bevor wir noch wissen, welchen Ausdruck wir ihnen verleihen, in welche Form wir sie bringen können. Den einen treiben sie zur Gestaltung, zur Ausführung oder zur Tat, den minder Glücklichen zwingen sie zur Schrift.

Leopardi nennt die so verbreitete Meinung von der Seltenheit der Originale einen großen Irrtum, denn bei näherer Betrachtung erweise sich fast ein jeder als ein ganz einziges, noch nie dagewesenes Exemplar! Einem solchen Begriff der Originalität fehlt freilich jedes Prestige. Aber tatsächlich ist es mit den geistigen Physiognomien der Menschen, wie mit den äußerlichen. Könnten wir jene mit den Augen sehen, wir würden da genau dieselbe Mannigfaltigkeit, aber auch dieselben Mißverhältnisse wahrnehmen, wie an den sichtbaren Gestalten; nur daß sich auf geistigem Gebiete der Wahn so bemerkbar macht, als sei hier eine Unterschiebung der eigenen Identität durch eine schönere oder bedeutendere leichter möglich, die Gesetze der Unveränderlichkeit leichter zu täuschen oder zu umgehen, als in der körperlichen Welt. Wie wenige sind denn wirklich schöne oder vollendete Typen! Und wie viele gleichen jenen Bruchstücken antiker Statuen, deren Wirkung durch einen ergänzten Kopf, eine fremde Bewegung verdorben oder gestört wird, statt daß sie bleiben, was sie sind, nämlich meist ohne Kopf und Fuß, aber echt.

 

Marie stand mit fünf Jahren eines Morgens unter einem Baum, dessen Laub im Winde rauschte, und den blauen Himmel durchblicken ließ. „Das Leben ist schön!“ dachte sie.

Da flog ein Blatt von den Zweigen herab in ihre Hand, und während sie seine groben Adern und Fasern langsam auseinanderriß, wurde sie unsäglich verstimmt. Nicht der froh bewegte Wipfel in der Höhe, das einzelne langweilige Ding in ihren Händen, war die Wirklichkeit! —

Der Grundakkord ihres Wesens schlug da zum erstenmal an ihr Bewußtsein an; denn es gibt nichts Neues im Menschen. Das fin mot eines Ich’s ist ein Motiv, und was hinzutritt, sind Amplifikationen.

Schon ein Jahr darauf lernte Marie im Kloster die Langeweile kennen, zu der sie neigte, wie ein anderer zu Gichtschmerzen oder Rheumatismen, und die sie anwehen konnte, plötzlich, unvermittelt wie ein Wind, der um die Ecke fährt.

In ihrem Kloster blies sie durch das ganze Haus, um alle Mauern, und durch den ganzen Garten, die Stelle ausgenommen, an der eine reizende Brücke über den Wildbach bog, Libellen unklösterlich schwirrten, und die Bäume parkähnlich zusammenstanden. Aber alles andere war häßlich. Zwei hohe plumpe Berge versperrten wie Riesentore nach Norden hin die Welt, und die Monatsrosen standen meist verwelkt und verweht, um ein mächtiges Kreuz vor dem Haus. Alles, was sie sah, mußte sie zugleich empfinden, doch ohne auch nur entfernt die Fähigkeit zu haben, sich dies zum Bewußtsein zu führen. Wie schmerzlich schien ihr im Frühjahr das Licht, wenn die Furchen der Berge so rauh aus dem Schnee hervorstachen, und die grünenden Bäume im Scheine eines regnerischen Tages fröstelten. Ach wie öde der Ackergeruch im Winter, die Stoppeln und Maulwurfhügel auf dem Felde, der schwere, fette Flug der Raben!

Zu ihrer Unterhaltung verfiel sie da auf ein höchst seltsames Gedankenspiel: sie setzte sich abseits, stützte die Arme auf, schloß die Augen und dachte mit immer beschleunigterem Tempo und eingezogenem Atem: „Ich bin Ich.“ An diesem Gedanken konnte sie nämlich, wie an einem Seil, immer dunklere Schlünde hinab gleiten, bis sie ein Schwindel erfaßte, und ihr Ich ihrem Bewußtsein entsank.

Wie sie das zusammenbrachte, wurde ihr später selbst ein Rätsel: ihr Geist hatte damals eine jongleurartige Geschwindigkeit, als sei er transparenter und zugleich schärfer gewesen, lösbarer von ihr? — sie wußte es nicht. Aber sie fand es „spannend“ sich selbst zu jagen, bis zu einer Wurzel, die sie nicht mehr war. — „Ich bin gefangen!“ dachte sie da wohl. „Auch nicht für eine Stunde kann ich jemals von mir fort, und wenn mir andere Menschen noch so sehr gefallen werden, kann ich sie nie sein!“

Aber einmal, als ihr diese geistige Rutschpartie besonders gut gelungen war, faßte sie ein Entsetzen, als hätte sie sich verloren, als hinge das Seil ihrer Identität in der Luft, — als harrten ihrer Gespenster in den Tiefen, in die sie geraten war, — und mühsam, wie ein Ertrinkender, so rang sie seufzend zur Oberfläche ihres Bewußtseins zurück.

Ein Instinkt riet ihr jedoch, dies unheimliche Spiel zu lassen und die Fähigkeit verlor sich auf diese Weise sehr rasch. Dafür fingen andere Probleme, deren Lösung sie keinen Augenblick gewachsen war, an sie zu quälen.

Starb eine Klosterfrau, und wurde es den Zöglingen freigestellt, sie auf der Bahre noch einmal zu sehen, so ließ Marie alles liegen und stehen, und marschierte zwei Schuhe hoch, allen voran. Dann starrte sie forschend in das fahle Gesicht, dem der Geist schon zu lange entschwunden war, und das ausdruckslos, ja sinnlos vor ihr lag. Und nichts schien ihr gerade auf das Klosterleben ein so trauriges Licht zu werfen, als der Tod.

Aber es kamen immer mehr Dinge, die ihr mißfielen.

Eines Sonntags fand sie in einem Bilderbuch eine Palmengruppe abgebildet, einen sprungbereiten Tiger, und ein Mädchen, das mit tödlich entsetzter Miene sich vor ihm zu verbergen suchte, aber vergebens, denn er hatte sie schon fast erreicht und mußte sie unfehlbar zerreißen.

Empört und außer sich, rannte Marie im Zimmer umher. Sie blickte zu den gemalten Inschriften auf, die an den Wänden hingen, und die ihr so gut gefielen: „Siehe, so sehr hat Gott die Welt geliebt. . . .“ „Er aber liebt die Seinen bis in den Tod . . .“ „Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr gehört . . .“ Über ihren Schrank breitete ein Pelikan seine Flügel aus mit einem ähnlichen gefühlvollen Spruch. Wie reimte sich dies? — Und sie verbiß sich von neuem in das schreckliche Bild. — Wie konnte Gott dies ertragen, wenn wir sein Ebenbild waren und seine Kinder?

Ein anderes Mal hatte die Feuerglocke wegen eines in der Nähe brennenden Anwesens wohl eine Stunde hindurch geläutet. Endlich kam, fliegenden Schrittes eine Klosterfrau den Gang heraufgeeilt, und sagte: „Gottlob Kinder, es ist kein Menschenleben zugrunde gegangen: nur 16 Kühe sind verbrannt.“

In der Nacht sah Marie die Tiere heulend durch die Flammen jagen und fuhr erschrocken aus ihren Träumen empor. Sie schlief nahe am Fenster, und der Wildbach rauschte mit düsterem Schwalle, ewig stöhnend, schwarze Klagen herauf. Was war dies für eine Welt, in der die Kinder ihre Eltern begruben, und der Herr der Schöpfung zur Beute eines niedrigen Tieres entehrt werden durfte? Schöne Menschen, die sie kannte oder gesehen hatte, und die schwerlich je in Kollision mit einem Tiger oder einem Boa constrictor kommen würden, schwebten ihr vor Augen. Allein gewisse Möglichkeiten genügten, um da ihren Weltschmerz zu einem unerhörten Fortissimo zu steigern. Es gab ja kein Entrinnen aus einer solchen Welt, keinen Tod, keine Bewußtlosigkeit mehr für unsere unsterblichen Seelen! „O wie ist das?“ dachte sie erschrocken: „Ich kann Gott nicht lieben!“

Am nächsten Morgen waren Geschenke für sie angekommen, und sie bezeigte eine solche Gier, sie alsbald in Empfang zu nehmen, daß die Oberin sie zurechtwies: „Du genußsüchtiges Kind,“ sagte sie streng. Marie hörte dies Wort zum erstenmal, und vernahm es mit Interesse. In der Tat: Warum haßte sie nichts so sehr auf der Welt, als den Schmerz? Warum ging sie stets mit abgewandtem Gesicht den unteren Gang entlang, wo die Apostel der Reihe nach in schlecht gemalten Bildern hingen, mit Kreuz, Nägel und Stricken, all den furchtbaren Zutaten ihres Sterbens? Warum erfaßte sie jede Freude mit so peinvoller Hast, und entbehrte sie mit solcher Heftigkeit? und warum waren selbst ihre schwärzesten Stimmungen so seicht, wie Wolken, die ein leichter Windstoß wieder vertreibt?

Aber ihre Grübeleien brachten ihr nur Überdruß und sie war froh, sich ihrer zu entschlagen. So fing sie mit acht Jahren an zu schwärmen, und wenn Orgelklänge und Weihrauchdüfte die Kirche erfüllten, dachte sie nur mehr an Rosa Flatz, Paula Baselli, Irene Angermaier und Livia Gelmini.

Es gibt Wesen, die in früher, unwahrscheinlicher Vollendung ins Leben hineinleuchten, gleich jenen vereinzelten Tagen inmitten langer Regenzeiten, an denen das Licht so zärtlich, das Laub so golden, der feuchte Blick der Sonne so kristallen leuchtet! Aber tags darauf haben Regen und Wind ihre trüben Lieder wieder aufgenommen . . . Flatz war von hohem Wuchs, hatte goldenes Haar und den Kopf einer Sirene. Da sie fast schon erwachsen war, wagte Marie nur im Winter, wenn die Zöglinge schweigend spazieren gehen mußten, sich zu ihr zu gesellen, ergriff ihre Hand und sah stillbeglückt von der Seite zu ihr auf. Kein Frost konnte die liebliche Röte dieser Wangen beeinträchtigen, so schön und blühend war ihr Flaum. Aber sie blühte so königlich! Wo sie ging, war kein Winter, heftige Rosensträuche blühten an allen Wegen, und an den Frühling gemahnte selbst ihr sicherer, zerstreuter Blick.

Baselli hatte einen zu tiefen Teint und ungeschmeidiges Haar. Aber der Schnitt war rein wie der eines Ägineten, und ihr stolzer Blick flammte in unbewußter oder in Zaum gehaltener Trauer. Marie hielt sich gern in ihrem Umkreis, um die edlen Augenhöhlen, die köstliche Zeichnung ihrer Lippen in der Nähe zu sehen, und wie über einen heiligen Wald schwärmte ihr inneres Auge über sie hin.

Aber Irene Angermaier war die schönste! mit braunem, weichfließendem Haar, ruhig und müd wie eine Nymphea im Mondlicht. Sie lehnte in ihrer harten Schulbank mit jener überlegenen Grazie, welche die Menge anjubelt, und vor der die Maler knien. In prunkvoll ausgeschlagener Gondel, in Palästen hätte sie ruhen sollen; ein Antlitz für Perlen und unschätzbare Schleier, ein Wesen, zu schön um zu leben, zu leicht, um im Grabe zu ruhen.

Gelmini war aus Salurn, und melodisch wie ein Glockenspiel. Ihre Achseln schienen wie mit Blütenfäden an ihren Körper gefügt, und an der Art, wie sie den Arm nach der Stiegenrampe ausstreckte, und an ihrem Gang konnte Marie sich nimmer satt sehen. So schritt wohl Julia, als Romeo sie zum erstenmal erblickte. Und wenn Livia: „il gallo, la primavera, la catena“ sagte, dann schwärmte Maries Herz, wie ein bunter Schmetterling in der Sonne. Mit Livien, die erst neun Jahre alt war, hätte sie verkehren können, aber sie gefiel ihr zu gut, und wo sie bewunderte, zerfloß sie in Verehrung. In Wirklichkeit wollte sie weder von Puppen, noch von Freundinnen etwas wissen, und mit Vertraulichkeiten war ihr nicht gedient. Sondern sie wollte höhere Wesen, die sie ihrer enthoben. Und angesichts jener vier reizvollen Gestalten, die sie so früh verlieren, und sterben oder scheiden sehen mußte, war sie vielmehr einem Zustand, als Gefühlen hingegeben. Sie sprach nie mit ihnen und suchte nie von ihnen beachtet zu werden, nur in der Nähe, im selben Zimmer mußten sie sein; sie mußte sie alle vier sehen können, wenn sie den Kopf wandte, dann war ihr Kloster ein gar schöner, gewählter und träumerischer Ort.

Mit ihnen schwand alle Poesie aus Maries klösterlichem Leben; sie stak von neuem in Grübeleien, wie in ödem, verwirrendem Sande, langweilte sich und sehnte sich fort. Zudem wurden alle ihre Bücher, die sie gerne reglementswidrig in ihrer Schublade aufgeschlagen hielt, der Reihe nach konfisziert, und ehe sie sich versah, stand sie als Verkörperung der Insubordination von allen Zöglingen abseits. Alljährlich feierte man in ihrem Kloster das sogenannte „Königsfest“, bei dem sich das ganze Pensionat in einen Hofstaat umwandelte, und jeder Zögling, von der Königin herab zu den Köchen und Kaminkehrern, je nach Verdienst, seine Charge erhielt. Die ersten Jahre stand Marie als Page, in Korkziehlocken und Goldreif, einen ganzen Tag hindurch stumm, doch voll Entzücken in der Königin Dienst. Es war Irene Angermaier, in Silbergaze und königlicher Krone. Aber später wurde ihr dies reizende Fest verleidet: In einem schief aufgesetzten, viel zu kleinen Schäferinnenhut und einem zu engen grünen Tarlatankleid (denn es hatte als ehemalige Balltoilette eine Taille, und sie noch lange nicht) spazierte sie als „königliche Lectrice“ mit einem Riesenbuch, allein und tödlich verlegen, hinter den Landgräfinnen einher, und wenn im cortège die Reihe an sie kam, tanzte der „Bouffon“ in seiner roten Schellenkappe vor ihr her und verkündete ihre Streiche. Nun pflog sie zwar über die Weltordnung allerlei Separatanschauungen, doch für das Maß ihrer eigenen Missetaten fehlte ihr jedes persönliche Gutdünken, und sie schämte sich über Gebühr.

Aber dafür war die freie, herrliche Welt der Tummelplatz aller Freiheiten, und ihr Herz schlug hoch, als die schweren Klosterriegel auf immer hinter ihr zufielen.

 

Das Leben präludiert meist anders, als es verläuft. In der Tat: so unglaublich es ihr selber erschien: einen Monat später durchschwärmte sie, frei wie ein Waldestier, eine Mondnacht um die andere in den Bergen und kampierte am offenen Feuer, wie ein Zigeuner. Was hätte sie gesagt, die würdige Mère Supérieure, die ihre Uhr nach den Hühnern richtete? — Da hing Maries Disziplin, am hohen Klostergiebel, als leeres Fähnchen zurückgeblieben.

Folgendes müssen wir Maries eigenen Aufzeichnungen entnehmen.

„Es war zur Sommerszeit in den bayrischen Bergen, als uns vier Kinder die Wanderlust zum erstenmal ergriff. Aber der Tag ließ uns nicht weit genug gelangen; so rüsteten wir uns sorglich auf einen längeren Streifzug aus. Daß uns gerade nur soviel Geld bewilligt wurde, um 24 Stunden fernzubleiben, kümmerte uns nicht.

Erst als der späte Nachmittag golden verglühte, traten wir vor. Bald rauschte dann im Mondlicht der Fluß uns zur Seite, und schneeweiß zog sich die Straße den schwarzen bewaldeten Felsen entlang. Jeder Stein, der im Flusse die Wellen zurückwarf, die Kiesel am Wegesrand, ja das zertretene Gras am Ufer schienen verklärt, und die Mulden der Berge in Schleier gehüllt. Und wenn sich in dem mondlichen Schweigen der Schrei eines Tieres entrang, durchzitterte ein ewiges Glück dies schimmernde Tal.

Immer leichter trugen uns unsere Schritte voran! Immer eifriger berieten wir die Möglichkeiten einer einstigen großen Erbschaft, und in der großen Bergesstille schallte unser lautes Gelächter.

Als die Lichter der „Fall“ vom anderen Ufer herüberleuchteten, hielten wir Rat: denn aller Spaß wäre zu Ende gewesen, hätte unserem Auftreten etwas von dem hohen Ansehen gefehlt, von dem wir selbst so sehr überzeugt waren. So betraten wir, stets fremde Sprachen untereinander führend, das alte Gasthaus, bestellten ein wohl ausgeklügeltes, sehr zimperliches, aber sehr billiges Essen, gaben dann vor, einer Wette halber, die Nacht in keinem Hause verbringen zu dürfen, und griffen, mitten in der Nacht, mit großer Eile nach unseren Stöcken. Der Eindruck war nach Wunsch: die paar Reisenden und das Personal standen neugierig an der Türe, eine alte Dame protegierte, die Wirtin bewunderte uns, der Förster zog seine Pfeife weg und wies uns den Weg, und von freundlichen Zurufen verfolgt, von der alten Dame gewarnt, drangen wir fröhlich in den Wald, und weiter hinein in die Riß. Den Tag verschliefen wir auf Almen oder Bergeshauben. Kamen Stürme, so äfften wir sie. Von den Felsen geschützt, apostrophierten wir das finster fliegende, grandiose Gewölk, und begrüßten die Donnerschläge mit dröhnendem Gelächter.

In der Folge dehnten wir unsere Touren immer stattlicher aus. An einem Herbsttag kamen wir vom Achensee und wollten über den Schildenstein zurück. Die Alm war geschlossen. Da liefen wir in der Dämmerung den Kanten des Blauberges entlang, drangen durch das Fenster in eine leere Hütte und machten uns Feuer. Aber draußen lockte die Nacht, lockten die im Monde getauchten Tiefen des Achentales und der silberne See. Unbeweglich wie Berggeister saßen wir, in unsere Mäntel gehüllt, vor unserer Alm. War es Ahnung oder Müdigkeit, die uns verstummen ließ? Die Welt mit ihrem Spiel riesiger Schatten, schimmernder Lüfte und frohlockender Höhen atmete Gesang, aber die Leier unserer Freuden schwebte zerrissen über uns.

Bald standen wir wie ein Häuflein, das ohne den Führer trübe zerfällt. Der große Zauber jener Wanderungen hing an einem romantischen, 19jährigen, höchst merkwürdigen Wesen, in dem kein Raum war für Pandorens Trug. Reinste Vernunft gebot hier jeder Unruhe, und die Erkenntnis überstrahlte den Wunsch. Aber nie vorher hatte sich so hohe Weisheit mit solcher Grazie umkleidet, und die Taue eines so unschuldigen Lebens gelockert. In dieser fast morbiden Erscheinung, mit dem unbeschreiblichen Relief ihrer bangen Umrisse, blieb alle Schwäche ausgeschieden, war alles Schönheitssinn und Stil. Zuletzt sind Linien, die uns fesseln, solche, an die wir uns nicht gewöhnen, und stete Neugier erregte diese schmale, ernste Stirne mit den hochgezogenen Brauen, die fast leichtsinnige Anmut des kleinen Ovals, das eitel gesteckte Gold der Haare, und dabei die männliche Zurückhaltung in den durchdringenden Augen. So glich die Mischung ihrer psychischen Elemente der Stimmung eines herrlichen, aber zu zarten Instrumentes. Und so ließen sich ihre Anforderungen an ein Leben, an das sie nicht glaubte, nicht herabdrücken, und mit allen Fasern zog sie sich von ihm zurück.

„La mort est bête“ sagte Gambetta. Aber der Tod überblickt Zusammenhänge und das Leben ist befangen. In unserer Erscheinung wähnen wir unser Wesen erschöpft, währenddem die Grundlagen neuer Individualitäten schon in uns dämmern, neue Lebensformen unserer harren mögen.

Allein einzig ist der Mensch als Kunstwerk! Und mit Grauen erfahren wir, daß es Wesen gibt, die, köstlichen Schalen gleich, einmal zerschlagen, der Natur nicht wieder gelingen.“

 

Wie der Seekranke vom Schiff im ersten Morgengrauen nach der Küste späht, so sehnt man sich oft nach dem Tode — man weiß, daß man den Gang und die Richtung seines Schiffes nicht verändern kann.

Nietzsche. Nachgelassene Werke.

Ob wir wollen oder nicht, wir werden am Ende alle katholisch.

Moltke.

Als Marie heranwuchs, wurde ihr der Ernst so widerwärtig, wie früher das Leiden. Von den beiden Philosophen, von welchen der eine die Welt ewig beweinenswert, der andere sie ewig komisch fand, hatte nur der letztere ihren Beifall. Denn wer sich über eine Welt, gegen die er nichts vermochte, Sorgen machte, der war in ihren Augen ein Narr. Man lebt nicht lange, also lebe man, ohne zu denken. Allein ihren Theorien zum Trotz, erhoben sich die Gedanken wie ein brennender Wüstenwind in ihrem kindlichen Gehirn. Da faßte sie eine tiefe Abneigung zu Menschen ihrer Art. Mädchen ihres Alters umging sie in weitem Bogen, aber das Zusammensein mit schönen verwöhnten Frauen, im Kreise weltgewandter Männer, wurde ihr Paradies. So geriet sie sehr früh in eine Clique welterfahrener, mächtiger und verfeinerter Leute, die sich täglich sahen, in deren Intimität, die keine war, das Herz fast keine Rolle spielte, sondern mehr das Behagen, und deren Denkprozeß bei oft interessanter Begabung ein geringer blieb. Aber gerade dies fand sie bezaubernd. Das Leben war es wohl wert, zur Kunst erhoben, erheitert zu werden, und die Sorglosen waren die Lieblinge, die Nachdenklichen nur die Frondiener der Götter.

Jene also waren die überlegeneren und vollkommeneren Menschen. Ach und das ferne, freundliche Mitgefühl, mit dem sie eine eben ereignete große Katastrophe, einen Brand, ein Eisenbahnunglück besprachen, vollends die Art, mit der sie dann das Thema wieder fallen ließen, entzückte, ja betäubte Marie. Und die Ironie, mit der sie gesprächsweise die Erbärmlichkeiten des Lebens streiften, — nur streiften! schien ihr das non plus ultra seelischer Eleganz.

Diese siegreichen Typen schieden in ihren Augen alle entwürdigenden Grausamkeiten, alle Häßlichkeiten aus, alles, was sie haßte, woran sie nicht erinnert werden wollte, und keine verzehrenden, keine erniedrigenden Schmerzen, gelangten je zu diesen lachenden Höhen.

Und es lag ihr so sehr am Leben! Es schien ihr so kostbar, so begehrenswert. Sie liebte, ja in dem höher potenzierten Menschen vergötterte sie es; aber die Freude war das Gesetz, nach dem er wandeln sollte.

Aber ach! die Freunde ihrer Wahl, in deren Oberflächlichkeit sie schwelgte, deren Lächeln sie beruhigte, an deren Leichtsinn sie ihr Gemüt sonnte, wie ein Kranker am Mittagsscheine, sie hinderten ja nicht, daß ihre Gegensätze bestanden. Ihr Genuß löschte keine Qual, war nur ein Kontrast, — kein Ersatz, — nur ein Widerspruch mehr! Empfindungen von solcher Mannigfaltigkeit konnten sie da überwältigen, und der Andrang ihrer Gedanken im Verhältnis zu ihren noch kaum entwickelten Fähigkeiten sich so mächtig steigern, daß vor innerer Erregung ihre Zähne zusammenschlugen, und ein lauerndes Angstgefühl sie immer deutlicher beschlich.

Zu ihren Freunden hatte sie indeß eigentümlich Stellung genommen: zu jung, um noch zu zählen, störte sie niemanden; die Frauen litten sie gern, ja die schönste von ihnen zog sie zu den Zusammenkünften, die täglich bei ihr stattfanden, und hielt sie wie eine Art von Pagen. In der Tat hatte Marie der Schönheit gegenüber eine huldigende Art, ein Gefühl des Ausgefülltseins und Verlorengehens, ein Stillstehen ihres Selbst zu einem Atom, das nicht Schwärmerei war, sondern Glück.

Eines Tages hatte sie sich verspätet, die Besucher waren fort und ihre Freundin allein.

Durch das alte, gemalte Scheibenfenster umwob sie der goldene Staub der sinkenden Frühlingssonne. Sie lag, den Kopf zurückgeworfen, ausgestreckt, und rauchte eine Zigarette. Nichts dächte man, was in diesem Anblick klassische Erinnerungen weckte. Was hielt nun Marie vor einer der schönsten Gestalten ihrer Zeit, unbeweglich, wie geblendet, an der Schwelle zurück? Sie sah Helden verbluten, Troja im Schutt, und Hektor erschlagen, und wie von einem plötzlichen Scheine entrückt, faßte sie das ewige Relief dieses flüchtigen Lebens.

Aber der Mensch war ihr, was dem Künstler die Kunst, und ihr Wohlgefallen war ein Meer der Ruhe. Und dieser eine göttliche Funke in ihr schuf ihr Beziehungen, baute ihr Brücken, die luftig funkelten wie Regenbogen.

Allein nicht nur vergessen und sich verlieren wollte sie, sondern die Art ihrer Salon-Olympier sich aneignen und nachahmen. Stets schwärmend, haßte sie Exaltation, und Kälte des Herzens war in ihren Augen Weisheit.

Es ist ja eine Tatsache, daß nicht die Eigenschaften selbst, sondern ihr Reflex es ist, der uns besticht, und nicht der Wert, den man besitzt, sondern den man verausgabt. Hierin beruht der Reiz gewisser typischer Genußmenschen. Sie erwecken Illusionen, weil wir ihnen mehr zugute halten, als sie veräußern, manchmal mit Recht, und manchmal nicht. Es sind die Reichen, die kein dunkler Stachel der Entbehrung hindert, ihre Empfindsamkeit ohne Rest auszuleben, und von denen geschrieben steht, daß sie das Himmelreich so schwer erlangen, denn „es leidet Gewalt“.

Und doch konnte sie nicht umhin, das Leiden als einen Mißstand, die Entsagung nicht als eine Bestimmung des Menschen zu betrachten, und wenn sie glückliche Naturen so sehr liebte, so war es, weil sie ihre Berechtigung anerkannte. Dieser Glaube saß ihr im Blute, er wuchs und lebte, er zehrte an ihr. In ihrer eigenen Zerrissenheit erblickte sie einen untergeordneten Zustand, weil sie fühlte, wie dies Übergreifen ihrer Individualität nichts anderes aus ihr schuf, als einen heiseren Mißton, der jede Saite erzittern ließ, der keinen Klang ausschied und keinen unvermischt behielt. Die Röte stieg ihr dann wohl auf, wenn sie der eigenen Maßlosigkeit gedachte, ihres übertriebenen Gebahrens, noch vor einer Stunde, als sie in Voltaires Geschichte Karls XII. von Peter dem Großen las, der seine Kosaken so unentwegt, nach Tausenden rädern ließ. Gleich einem scheugewordenen Tiere war sie da mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen, wie um eine solche Tatsache aus ihrem Bewußtsein zu löschen. Denn aller Jammer, der solche Greuel deckt, war da vor ihren Blicken aufgestiegen, und ungestüme Todessehnsucht ergriff sie vor dem Bilde einer so schmerzbefleckten Welt.

 

Bei solcher Gemütsart mag es eigentümlich erscheinen, daß sie die Religion so ganz abseits ließ. Allein sie war ihr durch das Kloster zu sehr entfremdet worden. Das Breittreten großer Mysterien hatte nur ihren Widerwillen, später ihre Gleichgültigkeit hervorgerufen, und weiter ging das Senkblei ihrer Messungen nicht. Es ging ihr wie so vielen. Daß wir einem Glauben, in dessen tiefste Geheimnisse wir als kleine Kinder eingeweiht werden, eines Tages ungeduldig den Rücken kehren, ist ja ungefähr das Naheliegendste, was es gibt und erfordert spottwenig Geist. Und wie tief drang jener Rat Goethes in Wilhelm Meister, den Knaben die Mysterien des Neuen Testamentes bis zum Jünglingsalter vorzuenthalten, um der notwendigen Verstümmelung ihrer Eindrücke vorzubeugen? Christus wählte reife Männer zu seinen Zuhörern, und wie summarisch verstanden ihn selbst die! Mußten doch Jahrtausende die Blüte seiner Worte zeitigen und die winterliche Hülle von ihnen lösen!

Jene Verstümmelung ihrer Eindrücke nun hatte Marie erfahren. Christus war ihr ein furchtbares Rätsel geworden, eine unverständliche Gestalt, der Widersprüche voll, der Umrisse bar, zu der sie keine Fühlung gewinnen konnte und die sie bedrückte.

Und jene dunkle, unbestimmte Furcht umzingelte sie immer näher mit unruhigen, peinigenden Schatten. Bald mied, bald erforschte sie im Spiegel ihre scheuen, trostlosen Blicke. In den Dissonanzen ihres Innern sah sie keine Lösung, keine Lichtung für einen Strahl des Gleichgewichts, und wie der Sturm auf schwarzem Geball, so jagte das Gespenst des Wahnsinns auf dem Getürme ihrer Gedanken und Empfindungen, die ungeschieden ineinander wogten; wie ein im Stimmen begriffenes Orchester, in dem Violinen, Hörner und Baßgeigen die unzusammenhängendsten Läufe und Motive wirr ineinandertönen. Nur indem sie stets zu den heiteren Seiten des Daseins flüchtete, glaubte sie Ruhe und Rettung zu finden, und glich so einem in Brand Gesteckten, der vor der Flamme davonläuft und sie dadurch nur entfacht. Sie las grundsätzlich keine ernsten Bücher mehr und ging nie in ein Konzert. Einzig französische Musik vermochte sie zu zerstreuen. Ihr entströmten, wie Wohlgerüche aus unnachahmlicher Phiole die Kundgebungen nationalster Grazie und Form, und sie schlürfte den Tau französischen Geistes, wie durchsickert von seiner Vollendung. Denn sie liebte feste Umrisse, und der Zauber einer Rasse lag für sie in deren Geschlossenheit, aber das Feine gewährte ihr mehr Befriedigung als das Große, weil sich in ihm das Wohlgefallen ohne Stachel erschöpfte. So abhold sie jedoch dem Leben gegenüber jeder Gründlichkeit war, in der Kunst verletzte sie die Oberflächlichkeit, ja sie erschien ihr gemein. Und hierin allein mochte sie es nicht mit ihren Freunden halten, deren Stellungnahme gewissen Dingen gegenüber sie verdroß. Denn sie fühlte die gänzliche Bezuglosigkeit der Frivolität zu allen höheren Gebieten. Aber hier wie da gelangten nur flüchtige und heftige Stimmungen bei ihr zu Atem und es lag etwas Chaotisches in der Gleichzeitigkeit ihrer oft ganz entgegengesetzten Empfindungen.

Übrigens mußte sie doch bald einsehen, daß ihr alles nichts half. Sie mochte ihre Freunde noch so sehr bewundern, die Ansichten des einen, den Tonfall und das blasierte Lachen eines anderen, die Persiflage eines dritten nachahmen, schwärmen und kopieren, kopieren und schwärmen, sie wurde ihnen nicht ähnlich. Zwar wollte auch sie zu denen gehören, welche ihre Herzen abrichten, ihre Eindrücke assimilieren, nicht ihnen nachhängen — ja, aber sie stürmte nicht, wie ihre Freunde, in die weite Welt! Für sie segelte kein Schiff auf die herrlich freien, hohen Wogen des Lebens, sie stand am Gestade, und der Gedanke an ein ruhiges gleichförmiges Dasein erfüllte sie mit Verzweiflung.

Denn das Element, die Atmosphäre, in der ihre Seele lebte, war die Welt der Eindrücke; wo diese fehlten, stagnierte ihr Inneres wie ein Sumpf, und ihre Züge wurden stumpf und leblos vor den Augen derer, die entweder kein Gefühl oder kein Interesse in ihr erweckten.

 

Ein einziger in jener Gesellschaft, die ihr El Dorado war, hatte sie durchschaut. — Er trug seiner romantischen Erscheinung halber den Spitznamen Alfred de Musset. Sein Gesicht war en face gesehen schön und zauberhaft jung, das Profil niederträchtig, die Gestalt bei äußerlicher Eleganz von schlechter Rasse, die Hände unsympathisch. Seine Begabung, in ihrer Art ungewöhnlich, war à fleur de peau. Dabei gehörte er zu jenen Menschen, welche den Geist der anderen auf das lebhafteste anregen und in Schwung versetzen. In seiner Gegenwart beherrschte sich die schüchterne Marie vollkommen. Sie drückte sich frei und unbefangen aus, und die Worte standen ihr für alle ihre Einfälle zu Gebot. Dies erhöhte nur ihre Gereiztheit, denn genau so, wie sie sich im Zwiegespräch mit ihm zeigte, wäre sie gern vor ihren anderen Freunden erschienen, die nur beiläufig auf sie achteten und die ihr so gut gefielen. Sie glaubte sich an ihm rächen zu müssen, indem sie es ihm ins Gesicht sagte, und ihm alles vorwarf, was ihr an ihm mißfiel: von seinem Profil bis zu seinem dekadenten, mehr in die Tiefe als in die Breite gehenden Verstand. Er ließ sie reden, — ihr aber schien ihr eigenes merkwürdiges Verfahren höchst angebracht und loyal, und indem sie ihm ihre Antipathie gestand, ja klagte, glaubte sie den so anregenden Verkehr mit ihm aufrechthalten und nach Wunsch gestalten zu können.

Aber die Nachwirkung blieb stets dieselbe, der Abscheu vor ihm steigerte sich ins Unerträgliche, ja ins Ungeheuerliche, und genau so ehrlich, so akut, wie sich sehr junge Leute verlieben, war sie in ihn verhaßt.

Eines Tages brachte er ihr die schweren, verträumten Lieder Debussys auf Gedichte Beaudelaires, und von der Schönheit, der schwülen Atmosphäre dieser Musik halb gehoben, halb betäubt, sprach sie sich da so manche Last so leicht vom Herzen: ihre Scheu vor tiefen Problemen, und die heimliche Qual großer Musik. Und wie von fernem Ufer sah sie ihn da aus der Tiefe ihrer Verlassenheit an und lächelte ihm zu, weil er ihr vom Hauche des Frühlings umweht erschien wie ein blühender Zweig.

Er aber sagte ihr tröstliche, schmeichelhafte Dinge, für welche sie, aufatmend, naiv genug war, ihm zu danken; denn er wollte einen Einfluß über sie gewinnen, nicht aber sie erfreuen. In demselben Tone weiterredend, änderte er da auf der Stelle seine Taktik; ohne daß sie seine Absicht merkte, entstellte, verzerrte er das Bild, das er noch eben von ihr malte. Sie horchte entsetzt und sah nicht, daß er es war, der sich nun rächte. Ihr war, als stürzten die Balken eines Gerüstes über sie zusammen, als hörte sie den endlichen Schlag einer lang lauernden, elenden Stunde, den Wehruf finsterer Vögel.

„Den Wahnsinn, dem Sie verfallen sind, ahnen Sie ja längst,“ sagte er. — Aber ein mutigeres, stärkeres Wesen schien da plötzlich in ihr zu erstarken, sie von seinen Drohungen freizusprechen, zu beschützen. Dieselbe Fähigkeit aus dem Stegreif zu erfassen, zu überblicken, sich auszudrücken, verlieh er ihr auch jetzt; doch als er lächelnd, mit begütigenden Worten, Abschied von ihr nehmen wollte, hielt sie ihn schnell zurück: „dies Haus gaben Sie mir ein Recht Ihnen zu verbieten,“ flüsterte sie; und wie Liebende in ihrer ersten Umarmung, so war sie durch die definitive Trennung von ihm an das Ziel ihrer Wünsche gelangt, und Haß und Widerwille waren erloschen.

Es gibt Momente, in welchen der Mensch den Charakter seines Lebenslaufes so klar und nüchtern erschaut, daß, Maeterlincks kühner Hypothese gemäß, die Zukunft mit der Klarheit der Vergangenheit an ihn herantritt. Warum erkannte da Marie gerade jetzt, als sie dem Manne nachblickte, daß auf Jahre hinaus Alles, was sich ihr bieten, sich verkehrt zu ihr stellen mußte, und daß sie alle Früchte verdorren sehen, oder zur Unzeit brechen würde?

 

Indessen stand das Haus, in dem alle Freuden ihres Lebens blühten, unversehens leer, ihre Freunde zogen fort, und ihr Zaubergarten versank. Ach, auf so winzige Veranlassungen hin konnte dort die Schale ihres Glückes überströmen, denn mächtiger als in allen Mandelblüten des Südens, als in allen Fliederbüschen des Nordens rauschte der Frühling in ihrem Herzen. Sie sah nun zu den verödeten Fenstern empor, und litt umso mehr, als sie nicht leiden wollte, nicht fliehen, an toter Stätte nicht vergessen konnte.

Daß unser Leben zwar lange nicht so spannend, aber in seinem eigentümlichen Verlauf unwahrscheinlicher ist, als der kühnste Roman, diese Bemerkung ist ja nicht mehr neu. Aber was uns in unsere Bahn lenkt, tritt in der Regel nicht ominös, sondern leicht und mit nichtssagender Miene in unseren Weg. Die Wendepunkte des Lebens liegen im Tal, im aussichtslosen Dickicht und Gestrüpp. Maries Fingerzeig kam von New York, in Gestalt eines jungen, reichen und verwöhnten Mädchens. Es war eine jener zu rasch erfolgten atemlosen und überhitzten Kulturen, ohne Verweilen, ohne Gemütlichkeit und ohne Humor. Ihr Geist war stärker als ihre Individualität. Sie kampierte auf einer weißen, großartigen Wolke, und schien mit ihrem stets in die Ferne gerichteten Blicke, über ideelle und allgemeine Interessen das Einzelne und Persönliche aus den Augen verloren zu haben. Dabei aber war dieser „spiralähnlichen“ Begabung ein ausgesprochener Stich ins Erhabene zu eigen. Und wie sich sehr hervorragende psychische Veranlagungen oder Eigenschaften häufig in einer körperlichen Linie widerspiegeln und nach sichtbarer Gestaltung drängen, so verriet sich die hohe Unterscheidungsgabe dieses zu farblosen und abstrakten Geistes in einer eigentümlichen Hoheit der Haltung und der Gestalt, in einer unvergleichlich edlen Kurve ihrer Achseln, und man lache nicht, in dem idealen Glanz ihrer träumerischen Flechten. Äußerlichkeiten waren es denn auch, die Marie mit ihr versöhnten.

„In jeder Menschenseele wohnt das Bedürfnis, sich groß zu machen, und auch das Bedürfnis, sich klein zu machen.“ Marie, die Verherrlichungen ihrer eigenen Person mit fast kindischer Freude entgegennahm, trieb eine gewisse Bescheidenheit wiederum so weit, daß es ihr unmöglich wurde, ein ihr dargebrachtes Gefühl sich wirklich vorzustellen, noch zu begreifen. Entweder suchte sie den Grund dafür in irgend einer Lücke, einer untergeordneten Beschaffenheit des Betreffenden, oder sie fand überhaupt nicht den Mut, daran zu glauben. So verwirrte sie jetzt die entschiedene Gunst, die ihr von der jungen Fremden zu teil wurde, um so mehr, als sie viel zu unerfahren war, um sie richtig zu taxieren. Die wenigen Tage ihres Aufenthaltes gestalteten sich übrigens für Marie auf die denkbar angenehmste Weise. Sie kam zum erstenmal mit den berühmtesten Leuten ihrer Zeit zusammen, und saß stumm, doch hoch erregt, mittags mit ihnen zu Gaste und abends im Theater. Zwischendrin allerdings wurde sie von Honorien, ihrer neuen Freundin, in Zwiegespräche hineingezogen, die ihr gar nicht entsprachen. Hohen, übersichtlichen Besprechungen war Marie nicht gewachsen, und selbst wo sie diese zu verfolgen vermochte, geschah es mit Widerstreben. Denn philosophische und künstlerische Probleme schienen ihr zu so gewohnheitsmäßiger Erörterung nicht geeignet, Honoria aber besprach nie Alltägliches, selten und nur von ferne Personalien. Bei aller Herzlichkeit lag etwas so Unnahbares, Unpersönliches in ihrem Wesen, etwas so Indirektes und Ferngerücktes in ihrem Blick, daß Marie immer den Eindruck hatte, als sähe sie jene nicht selbst, sondern statt ihrer ein Schemen, das ihr gefiel.

Am Morgen der Abreise ging Marie zu ihr. Es war ein lauer Sommertag, die Bayreuther Festspiele eben zu Ende. Honoria empfing sie mit offenen Armen, und schickte den Wagen fort, um die Strecke zur Bahn zu Fuß mit ihr zurückzulegen. Alsbald war denn auch eines jener Gespräche im Gange, die Marie so sehr langweilten. Sie seufzte und sah zerstreut auf die staubigen Bäume, zum weichen, herbstlichen Himmel empor. „Gott sei Dank,“ dachte sie, „sie geht.“

Aber schon am folgenden Morgen kam ein fingerdicker, im Eisenbahncoupé geschriebener, französischer Brief, der nichts weniger enthielt, als die Fortsetzung der allzu umfassenden Philosopheme, welche Honoria auf dem Weg zur Bahn entworfen hatte. Nicht einen Augenblick länger jedoch wollte Marie eine solche Komödie aufrechthalten. Das „Du“ ignorierend, das in jenem Briefe geführt wurde, schilderte sie sich selbst so, wie sie war, mit ihrem wirklichen mit ihrem prinzipiellen Mangel an Interessen, und die gänzlich verschiedene Richtung, welcher sie ihrer Natur nach angehörte. Somit galt ihr diese Episode als beendet, und sie war nicht wenig überrascht, als Honoria, welche die Dinge von oben nahm, sie in einem noch dickeren Briefe eine Spartanerin nannte und nunmehr den Verkehr so rege gestaltete, als lebten die beiden Mädchen in benachbarten Städten, nicht in getrennten Erdteilen. Marie wurde der Gegenstand fortwährender Sendungen und Geschenke. Bald kamen persische Lieder in köstlichem Pergamenteinband, mystische und philosophische Werke, eingerahmte Gravuren in hohen Kisten, und sie hatte vollauf zu tun, um nur die Zeitschriften zu durchsehen, auf die sie sich mit einemmal abonniert sah, und sich von all den Büchern in Kenntnis zu setzen, die ihr bald direkt, bald durch Buchhandlungen zukamen. — Sie tat es denn auch mehr aus Erkenntlichkeit, denn aus Neigung.

So verging ein Jahr. Da erhielt sie in den letzten Septembertagen unerwartet einen Brief mit dem Homburger Stempel. Honoria war infolge einer durch Überanstrengung erfolgten Krankheit zur Erholung dorthin befohlen worden, und sollte nach beendeter Kur schleunigst nach dem Süden. Da ihr der Umweg zu Marie nicht gestattet war, bat sie nun dringend um ihren Besuch. Marie sah diesem Wiedersehen mit Interesse entgegen; besonders freute sie sich auf das Treiben eines so berühmten Kurortes und ließ sich durch die Jahreszeit in ihren Erwartungen nicht wesentlich beeinträchtigen, denn in Homburg, wollte sie wissen, gab es das ganze Jahr hindurch schöne oder interessante Leute.

Honoria, die ihr einige Tage später auf dem Frankfurter Perron entgegeneilte, erschien ihr noch höheren, noch edleren Wuchses als vordem. Trotz der großen Modernität ihrer Kleidung war die Zeichnung ihres Kopfes, die Linien ihrer Gestalt erhebend wie ein antiker Fries. Ihr Anblick rührte die leicht bewegte Marie. Sie freute sich, den heißen, staubigen Zug zu verlassen, und die letzte Strecke in dem offenen Wagen zurückzulegen, der vor dem Bahnhof in der Sonne wartete, durch Frankfurt, das sie nicht kannte, und in der frischen schimmernden Luft nach Homburg zu fahren, und sie freute sich, daß sie gekommen war. Allein schon unterwegs empfand sie die alte Ungemütlichkeit, die alten Strapazen dieses Verkehrs. Honoria schien in ihrem Element, wenn ihre Gedanken gleichsam in der Luft hingen; Marie hingegen war gänzlich real, und ihr Idealismus galt dem Leben. — O wie erschrak sie über den Anblick, den ihr Homburg gewährte! Von Massen welkenden Laubes bedrückt, starrten die leeren Alleen, starrten verödete Gärten und Villen. Honoria rühmte ihr die große, wohltuende Stille des sonst so geräuschvollen Ortes. Die Villa, welche sie ganz allein mit ihrer Gesellschafterin und einer Kammerfrau bewohnte, war die Dependance des einzigen Hotels, das wahrscheinlich ihr zu Ehren noch nicht geschlossen war. Marie erblaßte. Ihr Herz sank. Sie haßte das ausschließliche Zusammensein mit Damen! Sie sah keine Anregung, keinen Sinn in einem einschichtigen Verkehr und er langweilte sie auf die Dauer zu Tränen. Ein Leben, das auf ein Weilchen das Ideal eines geistig und gesellig überanstrengten Menschen sein mochte, war nur ein Alp für das zerstreuungssüchtige Mädchen.

Honoria lag des Morgens meist mit schon ganz erschöpften Zügen zu Bett; hatte vor Tagesanbruch ihre Korrespondenz erledigt und Emersons Essays oder die Briefe des hl. Paulus gelesen. Sobald sie aufgestanden war, ging sie unverzüglich an eine aus Gefälligkeit unternommene Übersetzung, und Stunden hindurch drang der hartnäckige Lärm der Schreibmaschine durch die stillen Zimmer. Vor dem öden Klippklapp floh Marie ins Freie und strich durch die toten Straßen Homburgs oder verlor sich in einer Anwandlung von Schwermut in den großen Park. Früh am Nachmittag harrte dann die leichtgeschirrte Viktoria und Marie freute sich der langen Fahrten durch den goldenen Taunus und die endlosen Wälder. Aber als der Oktober seinem Ende zuneigte, litt sie bei dem Anblick des sterbenden Laubs, der finster welkenden Natur. Ihr war, als fielen ihr die gelben Blätter aufs Herz, und ihr Auge lechzte nach einem grünen Zweig, nach einem blühenden Fleck inmitten des ungeheuren Grabes, das sich bereitete. Sie begriff die Schönheit des Herbstes, Honoriens Freude daran nicht. Was der Augenblick verhieß, nicht was er bot, nicht der Sonne zärtliches Verweilen, ihren Scheidegruß vernahm sie allein. Und wenn der Wagen in der Dämmerung durch einen Dom welker seufzender Bäume fuhr, so umlauerten sie, wie einst die Elfen des Erlkönigs Sohn, des Verfalles grausame Schatten, und entwanden ihr das Herz.

Zuhause kam dann der lange Abend mit Shakespeares und Brownings Gedichten; aber sie fing an alle Bücher zu hassen. Wohl konnte sich ihr Blick flüchtig beleben, wenn Honoria duftend und geschmückt, gleich einer hellen Wolke, ihrem Zimmer entschwebte, sonst aber saß sie oft stundenlang mit ihrer Stickerei still am Fenster, und nach den einfältigsten Bemerkungen mußte die sonst so Gesprächige ringen. Gern folgte sie Honoriens Aufforderung zu musizieren. Allein die Töne brachten das Echo ihrer Langeweile mit quälender Steigerung zu ihrem Bewußtsein, und schlaff und zerstreut endete ihr Spiel.

Um diese Zeit hörte Marie, die sonst alle Wagner-Opern kannte, in Frankfurt zum erstenmal den Rienzi, und obwohl Aufführung wie Besetzung zu den minderen gehörten, so war sie von dem Drang, dem titanischen Gären, ja gerade von dem Unvermögen dieses Werkes heftig ergriffen. Hier war Ikarus, dessen ewiger Mut sich Flügel über Welten hin, Flügel, die nicht brachen, schmieden sollte.

Mächtig angeregt fuhr sie im offenen Wagen durch das mondumhauchte Land und weiße schlafende Dörfer nach Homburg zurück, und Wagners Schaffen wie eines Wunders gedenkend, lehnte sie den Kopf weit im Wagen zurück, und verlor sich in der stillen bethlehemischen Pracht. Vergessen und verweht schien ihre Schwermut, die doch schon tags darauf, gleich einem Nebel ihr Gemüt von neuem umschleierte. Besonders auf die Schreibmaschine wurde sie zuletzt erbittert und als diese eines Morgens wieder so geschäftig das stille Stockwerk durchdrang, fing Marie in einem Paroxysmus von Langeweile in ihrem Zimmer stürmisch zu weinen an. Das Leben war so reich: so mannigfach und schön! Es gingen auf der Welt so typische, reizende Menschen einher! Ach! warum lebte sie von ihnen getrennt! Wer war für des Lebens Genüsse königlicher geartet? Mochte sie zeitlebens entbehren, bis in alle Fibern blieb sie verwöhnt!

Und obwohl nur mehr drei Tage ihres Bleibens waren, schien ihr gerade der heutige nicht mehr erträglich. Rasch zu Honoria tretend: „Ich kann heute keine gelben Bäume sehen und fahre nach Frankfurt,“ sagte sie lachend, und drückte ihr den Arm. Sie sah noch Honoriens überraschten, aber so freundlichen Blick, dann stürmte sie die Treppe hinab und zur Bahn, der Schreibmaschine und Homburg davon!

Wie ein Füllen, das sich auf freiem Rasen tummelt, so behaglich war es Marie am selben Nachmittag auf der bewegten im lieblichsten Lichte getauchten Zeil. Die üppigen Töchter der Stadt, die mit ihren Müttern erwartungsvoll einherzogen, die eiligen Geschäftsleute, die Müßigen und die Lebensfrohen, die gemeinen, die aufgeputzten oder die sympathischen Leute, alle schufen ihr Kurzweil, und wie ein Kind in Bilderbüchern, war sie ganz in den Anblick der vielen Spaziergänger versunken; überall von dem Zauberkreis eines selben Lebens gebannt, ruhte, sich selber verlierend, ihre gehaltlose Seele, die dem Mann ohne Schatten glich, von der Einsamkeit aus.

Sie hatte die Stadt der Kreuz und Quere nach durchstreift, an Brücken, stillen Plätzen und verlornen Straßen geweilt, und schon erblaßte der Himmel. Gänzlich ihrer Stimmung hingegeben, war ihr Bewußtsein wie umflort, von der Atmosphäre des alten und des neuen Frankfurt durchdrungen, und von der sterbenslauen Luft, in der ein Klang lag ewiger Ermattung, von ewiger Vergänglichkeit.

In einer kleinen, verträumten Sackgasse machte sie Halt, um ihren Weg zur Bahn zu erfragen; und von einem entstellten Profil Richard Wagners, das dort in der Auslage eines Musikladens prangte, wandte Marie, die ungern Häßliches sah, im Vorübereilen den Blick.

Allein ihre Stunde war gekommen.

Den Abend verbrachte sie mit Honorien in aufgeräumtester Laune, erzählte, was sie gesehen, gehört, gegessen hatte, und unterbrach die Browningsche Lektüre mit allerlei Späßen.

Dies war ihre vorletzte Nacht in Homburg, und entmutigt schlief sie ein. Wann endlich würde sich ihr Leben bewegter gestalten? — Sie gedachte der vergnügten kleinen Konditorsfrau in Frankfurt, an die sie heute so viele Fragen gestellt, die über ihren schmucken Laden nicht hinausdachte und inmitten ihrer Glasglocken, ihrer Schokoladekrapfen und Schaumrollen ein Dasein lebte, vor welchem Marie erschauerte.

Aber was hatte sie denn selbst von ihrem klein bißchen Bildung, als daß sie für die Alltäglichkeit auf immer verdorben, auf immer beunruhigt blieb. Heiß schoß ihr das Blut zu Kopfe: was wußte sie denn? — und was sollte sie von Honorien halten, die über ihre Theorien zu leben verlernte?

Es war finster und still in ihrem Zimmer, als Marie erwachte. Sie besann sich nicht sogleich, was dies wilde Klopfen ihres Herzens verursacht, was sie geweckt, was sie gesehen hatte. Dann stürzte sie ans Fenster und riß es auf. Östlich dämmerte ein heller Streifen durch die Nacht, allein den Tag in ihrem Herzen begrüßte sie mit einer Flut immer neu hervorbrechender Tränen, daß ihr Gesicht erblindete wie eine Scheibe unter dem Regen.

Jenes selbe Profil, von welchem sie gestern im Vorübereilen den Blick abwandte, hatte sie verherrlicht, zwei Schritte vor sich, mit unbewegtem, gerade ausschauendem Auge gesehen. Aber es war ein vergöttlichtes Auge, weltenstrahlend, weltenspiegelnd und von unvergeßlicher Größe; ein individuelles und doch gänzlich entrücktes Auge! Es waren die ewigen Augen Wagnerscher Werke.

Wie ein Erdboden durch plötzliche Erschütterung, so hatte ihre Gesinnung durch ein so ungeahntes Bild eine Umgestaltung erfahren. Es war seltsam, es war spaßhaft genug und sie wußte, welchen Hohn die Tatsache gerade in ihrem Herzen finden, sie verfolgen würde! Hier war sie: ein junges, bis ins Mark vergnügungssüchtiges Mädchen, das nichts mehr zur Ruhe bringen, in dem nichts den einen brennenden Wunsch mehr betäuben konnte: die Wahrheit zu suchen.

Denn sie wußte in dieser stillsten Stunde ihres Lebens, daß Unwissenheit es war, die jenen Gram in ihr erzeugte, weil Gedanken hinter jenen unruhigen Schatten ruhten, die sie schreckten, und daß nichts sie retten konnte, als ein hellerer Kreis des Wissens, der sie schützend umschloß, als ein Glaube, um den sie selber rang.

Tags darauf verließ sie Homburg.

Golden flogen im Nachmittagscheine Brücken, Felder und Wiesen vor ihrem Zuge vorbei, aber vor dem Glanz einer stillen, sonnenerfüllten Welt, schloß sie bekümmert die Augen; denn immer schwerer wurde da wieder, auf der langen Fahrt, ihr einsam entschlossenes Herz. Sie sah sich wie vor einem Berg, den nur Geübte und Wetterkundige, mit einem Arsenal von Werkzeugen wohlausgerüstet, zu besteigen wagen und denen sie nun barfuß und alleine folgen wollte.

Was sie erstrebte, war ja zu schwer: Nichts was Gleichgewicht und Disziplin des Geistes betraf, lag in ihr vorbereitet noch vererbt, und zu einem systematischen Denken war sie weder veranlagt noch geschult. Kein Pegasus, die traurigste aller Rossinanten stand ihr zu Gebote. Aber weniger glücklich als der an Illusionen reichste Don Quichote, verglich sie unerbittlichen, fast feindlichen Auges ihre Unzulänglichkeit mit ihrem Wagnis. — Was hatte ihr stumpfes kindisches Gehirn mit jenen Rätseln zu schaffen, die es von jeher mühten? Nun war sie erwacht. Mit weitgeöffneten Augen, die nicht sahen.

 

Als sie bei ihrer Ankunft in München Glucks Oper „Iphigenie in Tauris“ auf dem Zettel sah, ging sie noch selben Abends hinein. Es war eine der letzten Vorstellungen, die unter Levis eminenter Leitung und einer Besetzung alternder aber trefflicher Leute dort stattfanden, und Marie atmete freier in der Atmosphäre dieses edlen Werks.

„Die Ruhe kehret mir zurück.

So sollte meine Qual Euch Ihr Götter ermüden.“

Es war Orestens erhabenes Lied, und in prachtvoller Wiedergabe, die eherne Begleitung des Orchesters.

In diesem Augenblick kulminierte das musikalische Empfindungsvermögen, die Genialität des Dirigenten. Nicht so sehr „gestaltend“ stand er dem Meisterwerke gegenüber, als daß seinem unvergleichlich künstlerischen Impuls, seiner in höchster Passivität so wundervollen Ergriffenheit die höchsten, tief umhülltesten Regionen sich erschlossen. — So stand er unbeweglich, mit gesenktem Stabe, nur verklärten Auges sein Orchester bannend. Aber der Hauch von Ewigkeit, der über den friedensvollen Fall der Baßtöne gebreitet liegt, riß Marie mit fort. Kein anderes Kunstwerk sollte wieder jene selbe überwältigende Wirkung in ihr hervorrufen, zu der sie jetzt ihr abnorm gesteigerter Gemütszustand befähigte. Sie verlor das Gesicht. Der Wunsch, den sie so früh gehegt, er war ihr erfüllt, die Müdigkeit, die sie so früh empfunden, sie war von ihr genommen, und sich selbst, der eigenen Dürftigkeit, der eigenen Torheit, allen Schranken des Persönlichen weit enthoben, behielt sie nur das Bewußtsein eines strömenden Glücks.

 

So waren denn die Würfel gefallen. Ihr Drang nach Erkenntnis war stärker als ihr Sträuben, als ihre Trägheit und ihr Unvermögen.

Stundenlang saß sie nun, meist ganz vergebens, — über einer einzigen Seite Kants. Aber gerade bei ihm, dem sie ein so lückenhaftes Verständnis entgegenbrachte, durfte sie, zum Atome sich erkennend, ruhn, — wenn sie die Schwingen ewiger Begriffe auf Augenblicke streiften. Denn Marie hatte Geist, doch keine Geisteskraft, niemanden, der ihr half, noch sie belehrte! Nur einem Menschen, dessen Überlegenheit ihr nach allen Seiten hin entsprach, hätte sie sich ohne Reue anvertrauen können, und einen solchen Freund zu haben war ihr nicht vergönnt. So mußten denn die Bücher ihre Freunde, ihre Lehrer werden. Und schon hatte sie erkannt, daß hervorragende Anlagen nur eine gefährliche Mitgift sind, wenn gerade sie einen versöhnenden Ausgleich innerer und äußerer Widersprüche erschweren. Sie hatte erkannt, daß nicht das Leben, für welches wir geschaffen wären, in die Wage fällt, daß nicht wir selbst, sondern unser Geschick das Gegebene ist, und daß sie nicht dem Knechte gleichen durfte, der mit seinem einen Talent verzagte und es vergrub.

Am schwersten ließ sie sich’s mit Schopenhauer werden, der den jugendlichen Leser terrorisiert. Und wer war sie, daß sie es wagte, ohnmächtig, verzweifelnd, so lange gegen ihn anzustürmen, bis ihre innerste Überzeugung sich wieder von ihm losriß, von seinem großartigen Gedankenring gefördert und belehrt, ihm nicht länger unterworfen war?

Wagner aber lehrte ihr, wie mit jener Philosophie zu verfahren sei: Die schroff eingehemmte Theorie der Willensverneinung lenkte er versöhnend zu Parsifals ergreifender Erkenntnis, und Schopenhauers elementare Lehre der Liebe veredelten und krönten Tristan und Isolde.

Einen heißen einsamen Sommer verbrachte sie mit Platos Büchern und unter Tränen las sie das herrliche Symposion. Hier war ein Ziel und göttliches Verweilen, der Harmonien stiller seliger Hauch, und wie vom hohen Berg herab, lag da die Welt, — beschaulich, — unbegehrt, — zu ihren Füßen.

Aber sie war schön, diese Welt! Feierlich und groß! — Und alles in ihr erhielt Sinn, Leben und Bestand durch Bezüge. Und in Bezügen lag ein Schwerpunkt selbst der größten Geister.

Der Erwerb des einen wird da dem anderen Besitz; Steigbügel für den Kommenden. Allein die Schranke war die Bedingung des menschlichen Gehirns, und die Grenze des intellektuellen Vermögens durch die menschliche Natur scharf abgesteckt.

Marie versank in immer tieferes Nachdenken.

Nein: Allumfassende Vollkommenheit war nirgends. —

Da erstand vor ihrem inneren Auge, wie im Morgengrauen deutlich erkennbar — die universellste, übergreifendste Gestalt, die keine Irrtümer und keine Lücken in sich aufwies! Vielmehr auf unnennbar geheimnisvolle Weise alle Widersprüche in sich aufhob, weil ihr nichts fremd war und nichts entzogen, was tausendfach die Menschen scheidet und vereinsamt. Ja, es war ein Mensch. Aber Himmel und Erde waren der Schlüssel zu ihm, und er erfüllte die Welt. Allumfassendes, schweigendes Begreifen entströmte seinem Auge. Es war ein Gott. Seine Züge aber! Die größten Denker und Meister aller Zeiten hatten sie ihr entschleiert, weil alle menschlichen Heroen zu seinen Kommentaren wurden, und ihre unbeschreibliche Bewandtnis zur Erläuterung! — Keine Philosophie keine Äußerung auf dem Gebiete des menschlichen Geistes, ja des Geistreichen, des Witzigen, des Profanen — keine Kunst, die nicht zu ihm gravitierte. Der Gedanke war so groß, daß sie erschauerte. Und von der überschwänglichen Tragweite jenes schlichttönenden Ausspruches: „In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen“ war sie da wie von unendlichen Schallwellen fortgerissen und durchleuchtet.

Nur eines trennte ihn von uns — das Übel, das allen Gram erzeugt. Eines mußte er uns entnehmen. Eines war göttergleich im Prinzip von ihm ausgeschieden: die Qual.

Marie mochte ihre Gedanken nicht länger ertragen. Sie ging hinab in die Straße, den starren Häuserreihen entlang, der heißen verödeten Stadt. Aber das Licht, der Anblick des leeren, weißlichen Himmels erweckte Erinnerungen und Leid. Zum Stachel war ihr da der taube Glanz des Tages, und jene „Geister der Luft“, die den Menschen jagen und ihm das Himmelslicht versteinern. Atemringend muß er es ertragen.

Nicht daß es sie jetzt nach Mitteilsamkeit drängte, nein, auszuruhen, zu vergessen, sich zu freuen. Schönheit, Gebärde, Sprache, die Form eines Auges, die Bewegung eines Arms, die alles war ein Organismus, der sie umfriedete. Dann wurde es still in der dumpfen Werkstatt, und Gedanken feierten. Der Reiz der Nähe löste den gezogenen Blick von ihren Augen, und ihr Geist erkannte rastend seine Heimat.

Denn es war ihr Geist, der in der Welt der Körper, der in dieser Welt sein Element erkannte!

Allein in der Einsamkeit, die sie also bedräute, umschloß sie jetzt deutlich wie Felsenzacken gegen das Sonnenlicht der Ring ihrer Gedanken.

Nicht länger von der Welt barer Vorkommnisse aus den Fugen gerissen, erkannte sie die tröstliche Bedingtheit alles Elends. Erkenntnis sollte nicht den Pflock des Leidens tiefer in uns treiben! Alles war Folge, und selbst Geschehnisse nicht unentrinnbar.

So weit, so anders erblickte sie die verlorenen Tore ihres Glaubens wieder. Was immer das Dogma vom Geiste löste, erschien ihr da als ungeheuerster Verrat. Nicht als Dualität, als Organismus erfaßte sie den Menschen und seine Apotheose, nicht seine Trennung als sein Endziel. Ihrem weltabgewandten und entsagungsvollen, aber stets verheißungsvollen Bildern zugekehrten Auge wollte die unendliche Elastizität jenes Glaubens als sein tiefinnerstes Geheimnis sich erschließen; des Paradoxalsten, Bedeutungsvollsten eingedenk und psychologisch tiefst Begründeten, was der Mensch zutage förderte: als das „Maß aller Dinge“ stellt er den Abstand zwischen ihm und der Gottheit, Prometheus, die seligen Götter und den allgewaltigen Zeus! Quellen und Haine belebt er mit übermenschlichen Wesen, scheu verehrend, was er selber schuf. Ahnung war es, die ihn die eigenen Ideale, das eigne Ziel so fern erkennen und den Olymp erträumen ließ! Solche Träume, mußten sie nicht das Sehnen eines Gottes nötigen, zu tausendfacher Befreiung den Menschen zu erlösen?

Druck von Oscar Brandstetter in Leipzig.

Anmerkungen zur Transkription

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