The Project Gutenberg eBook of Arnold Beer: Das Schicksal eines Juden

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Title: Arnold Beer: Das Schicksal eines Juden

Author: Max Brod

Release date: December 29, 2010 [eBook #34782]
Most recently updated: January 7, 2021

Language: German

Credits: Produced by Jana Srna, Norbert H. Langkau and the Online
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*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK ARNOLD BEER: DAS SCHICKSAL EINES JUDEN ***

Anmerkungen zur Transkription:

Schreibweise und Interpunktion des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler wurden korrigiert. Änderungen sind im Text gekennzeichnet, der Originaltext erscheint beim Überfahren mit der Maus.

Buchtitel

Und Simson sprach:

»Mit dem Kinnbacken eines Esels einen Haufen, zwei Haufen – mit dem Kinnbacken schlug ich tausend Mann. Und als er vollendet zu reden, da warf er den Kinnbacken aus seiner Hand und nannte selbigen Ort: Ramath-Lechi.« Die Richter, 15

Max Brod

Arnold Beer
Das Schicksal eines Juden

Roman

Axel Juncker Verlag
Berlin/Charlottenburg

I.

Arnold Beer war ein hübscher junger Mann, nicht einmal sehr elegant, aber da er in der Stadt häufig mit den elegantesten Leuten zusammen – überdies auch oft mit anderen – angetroffen wurde, nannte man ihn den Eleganten. »Aha, da kommt das Gigerl«, – oder »Die Parta ist da. Ich erkläre den Bummel für eröffnet«, hieß es am Abend auf dem Korso, wenn in den Reihen der gewohnten Spaziergänger und Nichtstuer Arnold samt seiner Freundschaft erschien; denn schon hatte man hier und dort begonnen, sein unnützes Treiben mit einigem Mißwollen zu beobachten. – Was überdies seine Eleganz anbelangt, so irrten die Leute ganz entschieden. Näher betrachtet, bestand Arnolds so effektvolle Kleidung durchaus nicht aus den tadellosesten Stücken, war vielmehr häufig betupft mit einzelnen großen und mit vielen kleinen Flecken und Tropfen, manchmal auch leicht angerissen und zerfasert, der Strohhut vom Regen mattbraun überflossen und weichgedrückt, die Stiefel ohne den rechten Glanz. Alle diese Fehler erschienen nun freilich niemals beisammen, sondern sie führten ein einsames Dasein, jeder für sich und an einem andern Tag, konnten aber dem aufmerksamen Beobachter auch in dieser gleichsam fluchtartigen Abwechslung nicht entgehen. Übrigens war Arnold selbst der letzte, der sich den merkwürdigen und komischen Einzelheiten seines Anzugs verschlossen hätte; im Gegenteil, er pflegte laut und ungeniert, vor Damen und Herren, auf solche gelegentliche Schönheitsmängel hinzuweisen und sich selbst auszulachen, um desto sicherer alle, die über ihn erschraken, auslachen zu können. Er nannte sich – denn er hielt für alles Worte bereit und hatte besonders über seine so fragwürdige Wesensart schon oft und unter Schmerzen nachgegrübelt – »eine typische Fernwirkung« und hob hervor, daß er diese »gute Sache« seiner schlanken Gestalt, seinem vorzüglichen blassen Teint und seinen feinen Händen verdanke, lauter Dingen, »für die er natürlich gar nichts könne«, wie er in einem Anflug pessimistischer und unklarer Philosophie hinzuzusetzen pflegte. Dann versank er, noch anschließend, über das Thema »Kleider machen Leute« in ausgedehnte trübe Betrachtungen. »Ja, meine Eltern haben das Geld dazu, mein Papa ist eine gute alte Firma. Also gelange ich, wie von selbst, an den ersten Schneider der Stadt, und der macht mir Röcke und Hosen, ohne daß ich ihn darum bitten muß, ja bitten darf, aus den teuersten Stoffen und nach den neuesten Schnitten. Kann ich dafür, nun bekommt sogleich mein Anblick einen reizenden Schwung und Schmiß, ohne mein Mitarbeiten, und ich biege ein in eine Richtung des Angeschautwerdens und sogar des Michselbstfühlens von innen her, die mir gar nicht so besonders paßt. Wie machtlos ist man dagegen. Schließlich würde mir ja diese Richtung auch passen, warum nicht, hätte ich nur Zeit dazu. Aber wie kann ich mich mit solchen Kleinigkeiten abgeben! Es geht einfach nicht. Stärker wie Löschpapier bin ich eben nicht. Und daher auch meine schlechte primitive Frisur, meine ungepflegten Nägel, meine Schnalle nur am Schuh links und nicht auch rechts.« Er pflegte sich die Haare zu scheiteln, aber aus Unlust, die richtige Teilungsstelle zu suchen, wurde oft, wenn der erste Hieb mißlang, nur ein Gestrüpp hängender Strähnen aus den schönen Wellen.

Derselbe äußere Schwung nun, den er mit einiger Selbstgehässigkeit an seinen Kleidern bemerkt hatte, wallte durch seine ganze Person und mit so gewaltigem unwiderstehlichem Antrieb, daß er nach allen Seiten hin sein Schicksal aufbauschte, aber auch begrenzte. – Arnold war eine überaus lebhafte Natur. Schon in der Volksschule hatten alle Lehrer darüber geklagt, daß er »kein Sitzfleisch« habe, und einige hatten später, bei aller Anerkennung seiner Intelligenz, durch mindere Noten ihn für sein Übermaß an Temperament strafen zu müssen geglaubt. Er antwortete auf Fragen, die niemand an ihn gerichtet hatte; er schrie plötzlich laut auf, rannte aus der Bank und aus der Klasse hinaus, weil er draußen einen so komischen großen Schmetterling gesehn hatte, der sich später als eine langsam aus dem dritten Stock herabflatternde alte Kravatte erweisen mußte. – Einmal rief ihn der Lehrer zum Weiterlesen auf; »Bitte, die Übung ist hier zu Ende« meldete mit hoher Stimme der Kleine, statt in dem gewöhnlichen dumpfen Tonfall der Schüler fortzuspinnen. Da bekam er seine erste Strafe. »Ich soll nicht vorlaut sein«, zehnmal abzuschreiben. Seine Lebhaftigkeit und Naseweisheit hatten ihn nämlich schon in der ganzen Schule so berühmt gemacht, daß man immer geneigt war, in seinem Benehmen einen kleinen Unfug zu sehn, auch wenn, wie in diesem Fall, gar nichts daran war. Denn die Übung war wirklich zu Ende, und obwohl die nächste Übung ja in unmittelbarem Zusammenhang mit der eben gelesenen anschloß, wäre wohl auch ein anderer Schüler geneigt und vielleicht kouragiert genug gewesen, mit dem Herrn Lehrer sich in einen näheren, gleichsam kameradschaftlichen Zusammenhang durch eine solche höfliche Frage nach dessen weiterer Absicht zu setzen statt mechanisch einfach die leere Zeile zu überspringen und sich im Text als armseliger Lernknabe fortzuhaspeln. Einen Pfiffigen gar wie Arnold mußte die Situation reizen, und es soll nicht verschwiegen werden, daß er sich schon oft genug mit aller Sehnsucht in sie hineingewünscht hatte, als in die einzige, wo er einmal dem hochverehrten Herrn Lehrer ebenbürtig, sozusagen als Mensch, gegenübertreten könnte, daß er oft im voraus die Zeilen abzuzählen pflegte, um herauszubringen, ob diesmal, nach der Sitzordnung, bei der entscheidenden Übergangsstelle die Reihe an ihn kommen würde. Und nun war der Moment da und Arnold hatte mit Anstand und stolzer Gefaßtheit, vollkommen richtig, seine oft vorbereiteten Worte herausgesungen, hatte sich ausgezeichnet … mit diesem traurigen Erfolg leider. Er weinte die ganze Stunde lang, denn er war sehr ehrgeizig. Und als die liebe Mama sorgfältig um elf Uhr ihn abholen kam und ihm das Schultäschchen abnahm, weinte er wieder, kaum beruhigt, und erzählte alles. Nun mußte er gar noch in das schöne verehrte Papiergeschäft eintreten, wo er sonst nur die ausgestellten »Münchener Bilderbogen« sich anzuschaun pflegte, zufrieden und heiter nach der Schultätigkeit, oder zaghaft die imponierenden Schatzhaufen verschiedenartiger Klaps-, Glocken-, Kuhn-, und Aluminiumfedern, mußte eintreten und um einen Bogen liniierten Papiers kaufend bitten. Schon dieser Umstand, daß er einen einzelnen gottverlassenen losen Bogen kaufen mußte statt wie sonst ein ordentliches Heft zum ehrenvollen Vollschreiben, schien ihm so sehr schlampig, heruntergekommen und Sache eines schlechten Schülers, daß er sich schämte, – und als ihn gar noch der Kommis mit irgend einer gleichgiltigen Frage nach der Zeilenbreite beunruhigte, brach er aufs neue in Tränen aus und erklärte heulend: »Es ist für eine Strafe.« Er weinte so bitterlich, daß alle im Geschäft stockten und auf den Knirps hinsahn. Zwei in Schwarz gekleidete Damen traten näher und, tief zu ihm herabgebeugt, begannen sie, ihm zuzusprechen. Er aber hielt die Händchen in Fäusten vor den Augen, so daß er nichts sah und auch gar keine Anstalten machte, zu zahlen und den Laden wieder zu verlassen. Sondern rücksichtslos und ohne Verlegenheit ergab er sich seiner Reue und seinem tiefen Schmerze, bis die Mutter, der das lange Ausbleiben draußen verdächtig wurde, hereinkam und ihr Kind, dem sich inzwischen das allgemeine Mitleid der Angestellten und Kunden, der Kassiererin, des Geschäftsinhabers sogar zugewendet hatte, energisch herausholte.

Natürlich konnten Strafen und schlechte Klassen dieser Lust des lebendigen Gemüts wenig anhaben. In der Schule lernte er allmählich die kalte Ordnung respektieren, nun warf er sich aber auf Eltern und Verwandte. Der Vater mußte ihm schon Ohrfeigen androhn, um sein ewig erregtes »Papa, schau …« auf den Spaziergängen zum Schweigen zu bringen. Niemand wollte mit ihm ausgehn, denn er war gefürchtet wegen seiner unaufhörlichen bohrenden Fragen, die sich mit keinerlei Ausweichen abstellen ließen. Eine Gouvernante nahm ausdrücklich deshalb ihren Abschied. Und noch in späteren Jahren pflegte ihn Frau Direktor Wahlberg, mit der seine Eltern verkehrten, mit einem seiner Aussprüche zu necken: »Tante, bitte, erkläre mir, ist der Mond ein Fixstern oder ein Planet«, das hatte er in großer öffentlicher Prachtgesellschaft ihrer damenhaften Glätte zugemutet.

Es kam eine Zeit, in der er von den Menschen, die seinen reißenden und dabei so liebevollen Ansturm nicht aushalten mochten, sich abwandte und nichts tat als stille vertrauliche Bücher lesen. Nachmittags auf dem Sopha, wenn er aus der Schule kam; nicht liegend, nicht sitzend, sondern zusammengekauert, den ganzen Körper zwischen Polster und Lehne gedrängt, während das Buch frei auf dem Sopha lag – so ruhte seine Wange über den beiden verschränkten Armen, und nur wenn er umblättern mußte, langte er unter Verrenkungen eine Hand aus dem Knäuel hervor … sonst rührte er das Buch nicht an, er hatte es gern in einiger Entfernung von sich, selbstständig wie ein lebendiges Wesen, mit dem man sich unterredete, vom Polster her blickte es ihn an, gab seine schrägen tiefen Blicke atmend zurück. Und er las so ziemlich alles, was sein angebeteter Vater, ein in jüngeren Jahren kunstbeflissener Mann, im Bücherkasten hatte. Dieser Kasten war versperrt. Arnold mußte jeden Mittag, in der knappen Zeit zwischen der Beendigung der Mahlzeit und dem Mittagsschläfchen des Vaters, sein Anliegen vorbringen, um dieses oder jenes Buch: »Papa, gib mir heraus …« Dann wurde der rätselhafte Kasten mit den undurchsichtigen Scheiben geöffnet, und nur in diesem Augenblick durfte der Sohn die Verlockung all dieser mannigfachen Goldrücken empfinden und, schnell einige Titel überfliegend, bei sich die Bücher feststellen, die er die nächsten Male herausverlangen wollte. Niemals wurde ihm erlaubt, einer seltsamen Pedanterie des Vaters zufolge, alle Bücher der Reihe nach durchzusehen und in Ruhe auszuwählen. Niemals wurde ihm auch mehr als ein Buch geborgt. Und so rasch ging der Vater dabei vor, militärisch mit Wunsch und Ausführung, Hinzeigen und Herausnehmen, daß manchmal ein Fingerlein oder die Nase des in all die Pracht versunkenen Knaben Gefahr lief, an der Kante der wieder zuklappenden Türe eingeklemmt zu werden. Allmählich kam er daher auf Listen; er sagte um »Kleist« und zeigte dabei auf die oberste Reihe, obwohl er gut wußte, daß die Kleist-Bände rechts unten aufmarschiert waren. Aber in der Zwischenzeit, während der Vater vergeblich oben kramte, hatte er Zeit, einen Überblick über andere nie gesehene Partien des großen Büchergartens zu erwischen. Oft allerdings nützte alles nichts, und er sah sich mit einem Buch, das er nur des fremden Titels oder des hübschen Einbandes wegen gewählt hatte und das ihn bei näherem Durchblättern gar nicht interessierte, enttäuscht und leer vor den wieder gesperrten Kasten gestellt, in einen steinigen leeren Nachmittag verschlagen wie ein Schiffbrüchiger auf eine öde Insel, wo der ersten Freude des Gerettetseins eine umfassendere Angst vor der Zukunft folgen muß. Denn niemals nahm der Papa ein schon herausgegebenes Buch noch an demselben Tag zurück, das war eherne Regel … Im Verlauf der Zeit nun las Arnold alles, von der Bibel und Goethe an bis zu dicken staubigen Lieferungsromanen wie »Die Geheimnisse der Bastille«, die noch uneingebunden in den untersten Schubläden lagen. Sein Kopf füllte sich mit den Gestalten Schillers und Heines, mit den Kreuzfahrern und Schillschen Offizieren der Weltgeschichte, mit Lokomotiven aller Konstruktionen aus einer vielbändigen »Geschichte der Erfindungen und Industrien«, mit den Jägergeschichten und rührenden Affen-Szenen der Gefangenschaft aus »Brehms Tierleben«. Und nur eines hatte ihm der Vater verboten, in den Shakespearebänden den Othello. Arnold befolgte auch getreu diese Absperrung, ängstlich wich er dem Stück aus, obwohl seine Neugierde aufs höchste erregt war und niemand ihn überwachte, und nur die Vorrede mit der Inhaltsangabe las er einmal doch, indem er sich sagte, daß die ja nicht eigentlich zu dem gebannten Stück gehöre. Welch ein Geheimnis, diese überblätterten und stets wie mit Leim zusammengehaltenen Seiten hie und da, wie durch Zufall, aufzuschlagen, vom Wind aufblättern zu lassen, unbeachtet ein Wort, einen Satz aus dem Zusammenhang zu packen, eine Abbildung vorbeiträumen zu sehn, niemals aber dem lieben strengen Vater durch wirkliches Lesen der Reihe nach ungehorsam zu werden. Wie peinigte das sein pochendes Herz!… Überdies hatte der Vater dieses Verbot nur einmal und nur beiläufig fallen lassen, nie mehr wiederholt, vielleicht selbst nicht so wichtig genommen und längst vergessen. Und als Arnold, zu Jahren gekommen, später einmal diesen fürchterlichen »Othello« durchnahm, fand er zwar gleich in der ersten Szene eine obszöne Phrase, im Ganzen aber nichts, was dieses Stück vor den vielen, die er lesen gedurft hatte, ausgezeichnet hätte. Derartige Phrasen hatte er ja als Kind zu hunderten unverstanden eingeschluckt. Und so blieb ihm dieses Verbot seiner Kinderjahre weiterhin ein Geheimnis, über das er seinen Vater aus Respekt auch nachmals nicht weiter auszuforschen sich getraute.

Indessen kam der Hausarzt einmal, anläßlich einer Masernerkrankung – man mußte dem Kerlchen mit den verklebten Augen unermüdlich von früh an bis in die späte Nacht vorlesen – auf Arnolds überreichen Bücherkonsum. »Ihr Junge ist mit achtzehn Jahren ein Idiot«, schrie er die tödlich erschrockene Mutter an, und von nun an war es mit der Lektüre zu Ende. Furchtsam wachte die Mutter darüber, daß Arnold keine Zeile mehr außer den Schulaufgaben zur Hand nahm. Auf vielfaches Jammern und als sich die Folgen der Langweile in seiner gesteigerten Wildheit zu zeigen begannen (er stach der Köchin mit ihrer Hutnadel den Daumen durch), wurde ihm endlich jeder dritte Tag als Lesetag eingeräumt … Arnold erinnerte sich überdies später oft mit Vergnügen daran, wie großen Eindruck der Schrei des erzürnten Arztes auf ihn gemacht hatte. Bis zu seinem achtzehnten Jahre erwartete er allen Ernstes mit Grausen täglich das Eintreten der prophezeiten Verblödung, erst nachher fiel es ihm plötzlich als Erlösung ein, daß der Arzt vielleicht nur in einer Metapher geredet hatte. Ja, als Kind pflegte er eben Aussprüche älterer Leute unauslöschlich ernst zu nehmen …

Die Lesewut machte zu Beginn des Gymnasiums einer unbändigen Sammelfreude Platz. Arnold besaß bald, wie ein Onkel sich ausdrückte, eine »Sammlung von Sammlungen«, er hob alte Tramwayzettel auf, flehte alle Abreisenden an, ihn in fremden Städten auf Zahnradbahnen und Elektrischen ja nicht zu vergessen, ferner ordnete er in Schachteln und Kistchen abgesondert: Knöpfe, alle Arten von Zündholzschachteln, Zigarrenbinden, Ansichtskarten mit und ohne Marke auf der Bildseite, Bleistifte, Autogramme, Münzen, Vereinsmarken, Siegelabdrücke, Mineralien, hinter Glas spannte er Schmetterlinge und Käfer auf, in Mappen hatte er bald mehrere Tausende von Bildern, aus alten Zeitschriften ausgeschnitten und sauber auf dünne Pappendeckel aufgeklebt. Er brannte um diese Zeit auf derartige alte Bände der »Gartenlaube«, der »Guten Stunde«, und unzerschnitten schienen ihm diese Hefte ihren wahren Zweck vollständig verfehlt zu haben, so daß ihm bei ihrem Anblick und wenn er sie nicht in seine Sphäre ziehen konnte, das Herz zerbrach. – Wie alles, betrieb er solchen Sport mit dem ganzen Eifer seiner ganzen Natur, und wenig fruchtete da die stereotype Warnung des Vaters: »Arnold, du übertreibst alles.« Dem Kinde, das zwei oder drei Sachen derselben Art beisammen sah, lag nichts näher als der Gedanke, solcher Dinge noch mehr auf einen Haufen oder in schöne Reihen zusammenzukriegen, und namentlich bestärkte ihn in diesem immer neu wiederholten und dadurch schon ganz geläufigen schnellen Gedankengang die Beobachtung, daß es ja so leicht war, eine Sammlung irgendwelcher Manier anzufangen, ja, daß eigentlich die Sammlungen schon um ihn herumlagen, nur freilich noch unentdeckt, ungeordnet, daher unwirksam. Es bedurfte aber jedenfalls keiner schöpferischen Tätigkeit, keines Hervorstampfens. Er mußte nur, wenn er beispielshalber auf die Idee gekommen war, Stahlfedern zu sammeln, seine alte Liebe, zuerst einmal seine Pennale ausleeren. Da lagen sie ja schon beisammen, halbverbraucht, aber immer noch Muster ihrer Art, er brauchte nur die besten herauszuklauben. Dann ging es über die Vorräte des Vaters im Comptoir her, wo die seltenen großen Stücke, wie Kolumbusfedern, oder die komisch verkrümmten Soennecken oder die zierlich-spitzen Stenographiefedern, die fast wie Nadeln aussahen, eiligst zusammengerafft wurden. Und mit dem Taschengeld, das ihm zum Ankauf von Schreibzeug übergeben wurde, ging nur eine kleine Verschiebung vor, er kaufte, statt wie bisher gedankenlos Federn immer derselben Art, möglichst verschiedenartige und exotische, natürlich nicht zum Schreiben, sondern zum Aufheben, während zum Schreiben möglichst lange derselbe Invalide herhielt. So rückte die Sammlung feurig vorwärts, es war gar keine Unmöglichkeit, tausend Stück zusammenzubekommmen oder die größte Sammlung von Europa überhaupt, es galt nur die richtigen Stege und Zuflüsse zu graben, durch rein geistige Überlegungen, denn der Rohstoff war ja vorhanden. Nur ihn gescheit in die Grube zu leiten, das war das Problem, ihn nicht unnütz an den Seiten abrinnen zu lassen. So hatte er beim Sammeln das Gefühl, nicht nur sich durch nützliche Tätigkeit auszuzeichnen, sondern auch irgendwie der ganzen Welt zu dienen – und übersah er dann an einem der ersten Abende, da alle Quellen noch munter der neuen Sammlung zuflossen, seinen sauber geschlichteten Reichtum, so überfiel ihn ein beinahe schwindelndes Glück von Größe, Schönheit und Triumph, und der Wunsch, mit dem er einschlief, die Sammlung möge so weiter und weiter gedeihn, war um nichts weniger innig als das Nachtgebet … Freilich nahm sein Interesse bald ab, wenn in seiner Nähe keine neuen Höhlen mehr zu sprengen waren, in denen schon große Haufen der gewünschten Dinge wie vorbereitet dalagen und auf ihn warteten; wenn es galt, nun ein Stück ums andere mühsam heranzulocken. Dann wurde die Sammlung aus den Kasten ins Dunkle gestellt, halb vergessen, eine andere trat mit neuen Hoffnungen ans Licht. So ging es zwei Jahre lang, bis endlich sein Streben an einer Briefmarkensammlung hängen blieb und sich gewitterwolkenähnlich verdichtete, da hier nebst dem Reiz der Ausdehnung und Vollständigkeit nun auch der des nicht mehr bloß kindischen Wertes in Aussicht gestellt wurde. Nun begann er in den Zehnuhrpausen zu »tauschen«, nicht ohne Streit und Schwindel, nun wußte er bald alle Wasserzeichen, Fehldrucke, Zahnungsunterschiede und Farbennüancen auswendig, niemand kam ihm darin gleich, ja sein stürmisches Interesse für alles, was mit Marken zusammenhing, ging so weit, daß er sogar den Flächeninhalt, die Hauptstadt und die Münzsorten jedes Landes wie dies in seinem Album angegeben war, schnell und genau erlernte. Mit seinem »Senf« in der Tasche, den er stets sorgfältig nach der neuesten Ausgabe korrigiert hatte, galt er unter den Kollegen als Autorität, wurde in schwierigen Fällen befragt und entschied unwidersprochen. Und nur etwas unterschied ihn von einem kühlen Fachmann: während er die verlockendsten Stücke fremder Sammlungen nachsichtslos, von ängstlichen Blicken ungerührt, als »falsch« oder »Neudruck« verurteilte, konnte er selbst sich von den Fälschungen, die ihm gehörten und die er als solche längst erkannt hatte, in einer seltsamen grundlosen Zärtlichkeit nicht trennen. Er glich da dem glühenden Liebhaber, der seine Leidenschaft nicht bezwingen kann, obwohl er die triftigsten Gründe hat, von dem Unwert des geliebten Gegenstandes überzeugt zu sein. So besaß Arnold, beispielsweise, eine alte Schweiz »mit der sitzenden Helvetia« – nachgemacht, ganz plump nachgemacht. »Ich weiß ja, daß sie falsch ist« pflegte er zu sagen und sah die Marke mit stillverliebten, unendlich traurigen Blicken an, »aber ich laß sie doch drin, sie schadet ja doch nichts«, während er einen Kameraden in gleichem Fall unfehlbar mit den Worten: »So ein Stück ist eine Schmach für jedes anständige Album« ausgescholten hätte … Ja es gab sogar Zeiten, allerdings nur zu Anfang der Markenperiode, in denen Arnold selbst fälschte, sich selbst betrog, indem er aus einem alten Album einfach die vorgedruckten Markenbilder, sofern sie mit »grau« oder »schwarz« bezeichnet waren, ausschnitt und als wirkliche Marken in sein Album einklebte. Davon ließ er bald, konnte aber von den einmal gewonnenen Exemplaren auch in der Folge nicht Abschied nehmen, in einer ganz unbestimmten, sinnlosen Hoffnung, wie sie eben den Ekstatiker auszeichnet: diese Scheinmarken könnten eines Tages doch vielleicht, wie durch ein alchymistisches Wunder, in echte und allgemein anerkennenswerte verwandelt werden. Ebensowenig mochte er sich entschließen, beschmutzte oder lädierte Stücke auszuscheiden. »Sie fehlt mir ja gerade zum Satz,« dieses Zauberwort hielt ihn fest. O welche Freude war das, welcher Anblick konnte schöner sein als der einer Albumseite, deren vorgezeichnete Reihen –, manche sind länger, manche kürzer, mancher seltsame »Satz« besteht nur aus zwei oder drei Stück – komplett mit Marken besteckt waren; »komplett«, das war das Wort, das er mit scheinbarer Flüchtigkeit, mit leichter stolzer Handbewegung dem Kollegen zurief, vor dem er eben die Sammlung durchblätterte, »Belgien komplett«, o wie das klang! Und dabei wurde schon umgeblättert, mit selbstverständlichem Besitzergleichmut, während des andern Augen bewundernd umherschossen; da flatterten wie kleine bunte Regenbogenwimpel die Marken, jede sauber gewaschen, jede von ihrem geknickten Spannleisten lustig getragen. Manchmal blies Arnold unter eine Reihe, um die Wasserzeichen, Netz oder Posthorn, Gummierungsfeinheiten oder die Stampiglie »Geprüft« einer großen Firma zu zeigen – dann drückte er sanft wieder mit weichen Fingerballen die kostbaren Papierchen nieder. Sie waren leuchtend wie sein Ehrgeiz, vielfältig wie seine Träume, leicht erregbar in ihren Reihen wie sein junges Gemüt. Seinen einzigen Schatz machten sie aus, beinahe seine Religion. Markensammler zu sein schien ihm, wenn er sich selbst ernstlich bewertete, seine beste Eigenschaft und jeden Burschen, den er kennen lernte, fragte er sofort: »Was ist mit dir? Sammelst du?« An langen Nachmittagen grübelte er über Auswahlsendungen nach, verglich die Vorteile und Preise der heimatlichen Markenhändler, studierte Katalog oder Sammlerzeitung, oder er ließ leise Glücksschauer über seinen Kopf kräuseln, indem er sich einbildete, er käme durch Zufall, Fund oder glücklichen Tausch, zu den gepriesenen Glanzstücken der Philatelisten, Mecklenburg oder Bergedorf, Mauritius, Kirchenstaat, alte Sachsen. Für die kleinen verschollenen Staaten, deren Marken in seinem Album sämtlich den hochzuverehrenden Vermerk R oder GR trugen, was »Rarität« oder »Große Rarität« bedeutete, hegte er eine schwärmerische Verehrung, die sich auf ihre längstverstorbenen Regenten und Tyrannen, auf ihre ganze Historie ausdehnte. Schon vor S, das ist: Seltenheiten, erzitterte er in Glücksfieber. Denn seine Sammlung war ja leider, trotz aller Anspannungen und theoretischen Kenntnisse, nur klein … Allmählich erweiterte er sie, übertrug sie, nach Art großer Sammler, aus dem festen Album auf lose Pappendeckelblätter, gab dann hochmütig die »Ganzsachen« und alle außereuropäischen Länder auf. Nur Europa sammeln, das war die Devise eines soliden vornehmen Kenners; diese exotischen Gschnasstückerl sind ja nur schön fürs Auge, nichts wert. Mit wachsendem Taschengeld stiegen seine Ankäufe und so blieben die Marken, zu Zeiten vergessen, dann wieder einmal hervorgeholt und gestreichelt, immer aber wohlbehütet, seine liebste Spielerei bis in die Mannesjahre hinein.

Diese Sammlung führte ihn auf dem Wege des Verkehrs und der allgemeinen Schätzungen wieder zu den Kameraden zurück, denen er eine Zeit lang eigensinnig ausgewichen war. Gegen das Obergymnasium hin wurde er wieder kollegialer und bald entwickelte sich als erste Frucht dieses menschlichen Umgangs eine neue Eigenschaft aufs höchste in ihm … die unbezähmbare Schwatzhaftigkeit. Es war, als müsse er für jahrelanges stilles Vorsichhinspielen auf einmal sich entschädigen. Angepfropft mit Zitaten, mit Bücherereignissen, wie er war, begann er zunächst in den Pausen, auf den Korridoren vor den Kollegen lange Reden zu führen, in denen keiner ihn unterbrechen konnte, denn er hatte die lauteste müheloseste Stimme, die selbst, wenn er gemütlich sprach, zu zanken und zu drohn schien. Man hörte ihm in einer Mischung von Spott und Bewunderung zu, wenn er einen Professor mit Don Quixote und die andern mit den Pickwickiern spaßhaft verglich. So gezierte ausgewählte Scherze klangen allen ungewohnt, ja unbehaglich; da er aber in seinem Eifer die frostige Wirkung, die er hervorbrachte, selbst nicht zu bemerken schien, vielmehr immer in derselben Richtung sich steigerte, sich überbot, berauscht von eigenem Beifall immer freundliche Zurufe der andern um sich zu hören glaubte und so sich noch mehr erhitzte, begann er zu imponieren. Jedenfalls bereicherte er den seit langer Zeit festgewordenen Gesprächsstoff, brachte ein paar neue Redensarten auf. Man ahmte ihn nach, eine Partei bildete sich um ihn. Einige begleiteten ihn täglich nach Hause. Auf offener Straße nun entfaltete sich seine neue Kunst, denn anders als in den öden glatten Gängen gab es hier tausend Dinge, an die er seine effektvollen Betrachtungen anknüpfen konnte. Von der Tramway kam er auf Elektrizität zu sprechen, brachte verworrenes Zeug vor, das er sich selbst nach wenigen Andeutungen seiner Erfahrung zurechtgemacht hatte und von dem die andern nur wußten, daß sie »das noch nicht genommen hatten.« Wie erbebte er vor Entzücken, wenn ihn nun einer seiner Anhänger um Erklärung einer Sache bat, wie begann er gleich mit sanftem Anstand, ernsthaft, auch wenn er gar nichts wußte, zu erklären. »Das ist a sehr einfach« waren immer die ersten Worte. Allen Ernstes glaubte er, daß es nur eines recht guten innigen Drauflossprechens bedürfte, um alle Dinge der Welt klar zu machen. Und wenn er es dann nur aushielt, recht lange bei dieser einen Sache zu bleiben, recht ausführlich und immer verwickelter über sie zu reden, meinte er, seine Aufgabe aufs beste vollführt zu haben. Er glaubte nämlich, auch in den sogenannten wissenschaftlichen Büchern einigemal bemerkt zu haben, daß das Erklären nur in einem recht langen, mannigfachen und undurchsichtigen Brei bestehe, den man um die Dinge gieße, und diese Regel bewahrte er als ein Schlauer, der nun dahintergekommen war und der sich von dem allgemeinen Vorgeben nicht mehr täuschen ließ, wohl im Gedächtnis. Wenn er aber an seine Kindheit zurückdachte und an die Mühe, die seine Erzieher angeblich mit seiner Wißbegierde gehabt, so lachte er sie noch nachträglich aus. Was für Kunststücke! Nur ein wenig Geistesgewandtheit gehörte dazu und man hatte die ganze Welt in der Hand, wie ein Ausleger die Bibel. – So moralisierte er auch nicht schlecht, hatte Gedanken über den Staat, über Religion, Gott, Theater, Mode, gute und böse Menschen. Darin vornehmlich war er Meister: wenn er ein Sprichwort irgendwo oder einen Satz aufgegabelt hatte, diesen zum Motto langer Erörterungen zu nehmen, beständig in neuer und überraschender Form zu wiederholen, hin- und herzuschrauben, so daß ohne viel inneres Wissen ein verwunderliches farbenreiches Getön und Hohlwerk aus großartigen Worten entstand. – Widersprach ihm jemand, so kam ihm das gerade recht, denn nun konnte er gar erst mit aller Kraft losbrechen, an die fremden Worte wie an Kähne sich anklammern und sich von ihnen durch das Wasser obenauf mitschleppen lassen. Ganz naiv munterte er auch manchmal solche, die ihm dazu geeignet schienen, auf: »Du, komm, debattier ein bißl mit mir.« Und das war ein Herumirren in den Straßen, ein Begleiten hin und zurück, die Gasse hinunter und nochmals hinauf bis zur Ecke, ehe er nach so einem Schulweg endlich zu Hause anlangte. Gewöhnlich war es eine ganze Gruppe von Burschen, jeder seinen Pack Bücher lose unter dem Arm (denn Riemen oder gar Schutzleder waren als unmännlich und schülerhaft längst verworfen), Arnold immer in der Mitte, neben ihm die Bevorzugten, die auch schon etwas verstanden, und an den Seiten unbedeutende Flügelmänner, die sich abwechselnd immer wieder bis zum Zentrum der Gruppe durchzuquetschen suchten, immer um die Mittleren mit unbeachteten Fragen und unbegehrten Antworten herumtanzten und immer wieder, wie nach einem Naturgesetz, an die kühlen äußeren Enden der Reihe gedrängt wurden, wo sie gelangweilt mitstolperten. Vor dem Haus sammelte Arnold nochmals alle um sich, gab gleichsam die Parole aus, irgend eine Schlußpointe, aus dem allgemeinen Lachen aber gerieten die Zurückgelassenen, sobald Arnolds Licht verschwunden war, schnell in die gewohnte Balgerei; »wo bist du wieder so lange gewesen?« empfingen indessen oben den Helden die besorgten Eltern. – Nicht zufrieden mit diesen Heimschlendereien ging Arnold bald dazu über, die Freunde zu sich zu laden, am liebsten gleich rottenweise, erzürnte die sparsame Mutter mit seinen ewigen Kaffee- und Kuchenbestellungen und gab ihr, da er nicht immer die Saubersten sich aussuchte, Anlaß zu häufiger Wiederholung ihrer beliebten Grußformel: »Guten Tag. Bitte, putzen Sie sich die Stiefel ordentlich ab, aber ordentlich!« Er gründete einen Lesezirkel für die »Intelligenz der Klasse«, der sich im Sommer als Fußballklub fortsetzen sollte; denn Stubenhocker wollten sie ja nicht sein. Da er um diese Zeit mit einigen Genossen das Schachbuch von Dufresne studierte, war man auch von einem Schachklub nicht mehr weit entfernt … Aber auch sonst noch, auf den Gassen, hielt er die Kollegen fest, führte sie mit sich oder schloß sich an ihre Besorgungswege an, oft auch setzte er sie in Verlegenheit, indem er aus einer Quergasse wie aus einem Hinterhalt hervorstürzte: »Da bin ich. Jetzt aber laß ich dich nicht los, ob du willst oder nicht willst. Jetzt bist du mein.« Und zärtlich eingehängt überströmte er den Zuhörer mit seinen neuesten rhetorischen Eingebungen. Da half kein Abschied, keine Eile, kein Zugversäumen. Denn es galt ja auch allgemein als interessant, ihm zuzuhören, und nur ungern und lässig wurden höhere Pflichten gegen ihn geltend gemacht. Bis ins Tor der Häuser, bis an die Wohnungstür vor die Glocke folgte er den Geduckten, geschmeichelt Gepeinigten, eifrig redend, nach und es hatte gar nicht den Anschein, als sei er der Spender und gieße aus seinem Innern etwas in den Krug des andern aus; sondern so war es, als spende der andere, als hinge Arnold mit den Lippen saugend an dem Zuhörer wie an einem Gefäß mit süßem Wein, das man von ihm wegziehn wolle und dem er deshalb in Abhängigkeit, immer saugend, nachfolgen müsse. Rufend entfernte er sich um einen Schritt, machte aber plötzlich noch einmal einen zwei Schritte langen Sprung nach vorn, um aus dem Mann an der Türklinke noch das Anhören von sieben oder acht Sätzen auszupressen.

Es konnte nicht fehlen, daß ein Jüngling solcher Vorzüge bald auch echte Freunde an sich zog, nebst dem Schwarm geringerer Mitläufer. Der erste, der sich näher ihm zugesellte, war Philipp Eisig und dieser Seelenbund blieb fest durch viele Altersstufen hindurch, obwohl er nur dem kleinen Zufall das Entstehen verdankte, daß die Eisigsche Familie eines schönen Tages übersiedelt war und nun dem Hause Beer gerade gegenüber wohnte. Jetzt war ein ständiger Gefährte für die Heimwege gefunden – und das genügte als Grundstein einer so langen und folgenreichen Freundschaft, wie sich überhaupt Arnolds Beziehungen oft durch ganz geringe Fügungen und gleichsam ohne seinen Willen anknüpften, in aller Hast. Arnold stürzte sich nun gleich mit wahrer Glut in das neue Gefühl, seine Redeströme bekamen einen Inhalt, zum erstenmal ein heimliches inneres Zittern zu ihrem glatten äußeren Schimmer, enthusiastisch schwärmte er vom Bund fürs Leben, von Intimität und Herzensgemeinschaft, er machte sogar kleine witzige Gedichtchen und ein Akrostichon auf den Namen seines Auserwählten. Alles erzählte er ihm, was er sich bei allen Gelegenheiten dachte, und sorgsam trug er nach, woran er sich aus der noch nicht gemeinsamen Vergangenheit erinnerte. Offenheit und Mitteilsamkeit waren ihm die selbstverständlichsten Freundespflichten, ja eine gewisse Kühnheit im Aussprechen von Dingen, die man sonst nur mit einer gewissen Scheu nennt, schmeichelte ihm wie ein Opfer, das er dem andern brachte, dem Freunde, der mit seinem großen dicken gelben Gesicht still neben ihm ging, schaukelnd über dem breiten Bauch. Denn ein Umstand kam dem Verkehr vornehmlich zustatten: Eisig stotterte ein wenig, daher war es dem lebhaften Arnold leicht möglich, ihm geschickt in die Rede zu schnellen, während er selbst in seinem Hinstürmen nie unterbrochen werden konnte. Arnold schien ihn förmlich mit seiner Zunge zu regieren, sowie er auch mit den Händen oft durch einen kleinen starken Ruck dem großen, aber haltlos wankenden Körper des Freundes schnell die richtige Wendung gab, um ihn auf irgend eine flüchtige Erscheinung aufmerksam zu machen oder um ihn in die gewünschte Gasse einzubiegen. Und dieses angenehme Gefühl des sofortigen Befolgtwerdens, der Ungehemmtheit, das er übrigens nicht durchschaute – so natürlich und triebhaft entströmten ihm die Befehle – verschmolz ihm in eins mit den zärtlichen Aufwallungen der ersten Zuneigung, mit den Geheimnissen, die die beiden einander mitteilten, mit dem erhabenen Beispiel von Orest und Pylades, das ihn seit jeher begeistert hatte. Er fühlte sich zu jeder Heldentat bereit, hätte gern stoisch Folterungen ausgehalten, um den andern in nichts zu verraten. Abends gingen sie manchmal, eingeschlossener trotz der ungleichen Statur und mit seltsam gezwungenem Schritthalten, auf den Feldern draußen vor der Stadt spazieren, sie starrten in die Sonne oder vom reinlichen Quai hinab in den großen tiefen Fluß, dann sprachen sie wieder etwas, und obwohl es nur ein Witz oder Schultratsch war, kam oft eine ahnungsvolle Verworrenheit in ihre Worte, wie Wind in die Seiten einer Äolsharfe, und solche Innigkeit verklärte noch ihr geringstes Gespräch, daß Arnold nicht selten die Tränen in seinen Augen aufsteigen fühlte. Dann wischte er sie mit dem Rockärmel ab, während der Dicke in feinfühligem Verständnis sich zur Seite wegwandte, um ihn nicht beschämen zu müssen. Erst zur Nachtmahlzeit schieden sie voneinander und am nächsten Morgen, während des Ankleidens, brannte Arnold unbändig schon wieder auf die nächste Zusammenkunft, denn es hatten sich ihm noch am Abend vor dem Einschlafen so viele Dinge aufgehäuft, die er dem Freund auf dem Schulweg mitzuteilen hatte und die er nun sorgsam ordnete, das minder Wichtige voran, das Schönste zuletzt, um alles in der richtigen Reihenfolge und mit der richtigen Wirkung an den Mann zu bringen … Indessen war Eisig bei all der aufgedrängten Schweigsamkeit der Überlegene in diesem Verkehr, da er Billard spielen konnte, auch schon hie und da Kaffeehäuser besuchte und den Frauen nicht mehr ganz ferne stand; was alles er dem Muttersöhnchen Arnold binnen kurzem beibrachte. Welch neue interessante Blütenwelt! Arnold war bald bis über die Ohren in sie versunken, bestrebt, den Lehrer womöglich zu übertreffen. Denn kein Ding machte ihm eigentliches Vergnügen, wenn er nicht andere darin übertreffen konnte. Nur Geld fehlte ihm, Eisig borgte willig die Hälfte seiner Taschenbezüge, was Arnold übrigens als selbstverständlich auffaßte und in Eisigs Lage genau so gemacht hätte. Dafür half er dem Geliebten bei Hausübungen nach. Eisig war nämlich einer der Schwächsten und Faulsten in der Klasse, Arnold natürlich Primus, was ihn jedoch nicht hinderte, auch bei den gröberen, untergeordneten Naturen, die sonst das Fleißige und Erfolgreiche hassen, sehr beliebt zu sein, an allen ihren Streichen teilzunehmen und bald sogar ihre Führung an sich zu reißen, während er trotzdem bei den Lehrern das Ansehen eines willigen Glanzes behielt.

Besonders schlecht stand Eisig beim Professor des Griechischen, Schleiderer mit Namen, dessen Laufbahn auch sonst von vielen Verwünschungen der unruhigen Schüler widerhallte, als eines unglücklichen Menschen übrigens, der er war. Seine Bosheit war berüchtigt. Und sollte man da nicht wild werden, wenn er dem Eisig die griechische Schularbeitstheke süßlächelnd mit den Worten reichte: »Eisig Philipp – diesmal etwas besser gearbeitet. – – Nicht genügend«. Eisigs gewöhnliche Note bei Schleiderer war nämlich »Ganz ungenügend« … Da trat Arnold als Vertreter eines Gedankens auf, der schon lange ungesprochen durch die Klasse gebebt hatte: »Wir müssen einen Anti-Schleiderer-Verein gründen!« Der Name machte allen alles klar, nun wurde die längst vorbereitete Bewegung grausam organisiert und als alleiniger Zweck des Vereins wurde die Losung ausgegeben: den Schleiderer heraus- oder totzuärgern. Während aber die schlechten und eingeübten Randalierer zu unfeinen Mitteln, wie: Knallerbsen, Stinkbomben – rieten, war Arnold erfinderisch. Er leitete es ein, daß einmal während der Griechischstunde hier und dort einer von seinem Platz aus langsam und allmählich sich erhob, das Buch in der Hand, an verschiedenen Stellen der Klasse, so daß es zunächst nicht auffiel. Die Ängstlichen standen in geknickter Verrenkung, als sei ihnen nur das Sitzen für ein Weilchen unbequem geworden und als wollten sie sich in halb aufrechter Stellung ein wenig ausruhn; andere hielten ihre Hefte oder Bücher dem Lichte zu, als hätten sie unten nicht Licht genug für ihre Arbeit; manche kratzten sich, wie geistesabwesend, verlegen in den Haaren. Unbemerkt standen nun andere wieder auf, immer mehr, bis entsetzt der Professor plötzlich die ganze niegesehene Veränderung rätselhaft aufgestellter, gleichsam gespensterhafter Schülerreihen vor sich hatte. – Oder er gab das »Bänkerücken« an; langsam schoben die in der ersten Bank ihre Sitze vor, die nächsten folgten, möglichst ohne Geräusch, nur ein kleines Knarren oder Seufzen des Holzes manchmal, angestrengt arbeitete die ganze Klasse dem gemeinsamen tückischen Ziel entgegen, keiner paßte auf den Homer auf, den der Professor wie über aller Köpfe und Ohren hinweg in die Luft vortrug, – und schließlich erschreckte den nichtsahnenden Feind wieder ein so ungewohnter Anblick, als er vom Katheder herabsteigen wollte und keinen Zwischenraum wie sonst zwischen dem Podium und der ersten Bank vorfand, da die Bänke bis an die Erhöhung, wie Belagerer, vorgerückt standen. Und alle machten ein möglichst unschuldiges dummes Gesicht dazu, ja sie schienen nicht einmal etwas Auffallendes zu bemerken, so daß sein Blick ratlos an ihren kalten teuflischen Gesichtern hin wanderte. – Oder die Derbsten in den letzten Flegelbänken rauchten gar – auf Arnolds Anreiz –, verborgen hinter Büchern, bliesen den Rauch in ihre Hüte, die sie immer wieder sorgfältig umklappten, bis endlich diese Sammelbüchsen voll waren und nun schlugen sie sie um, daß ein weißes dampfendes Gewölk unbekannten Ursprungs langsam zur Decke emporstieg, eindrucksvoll qualmend wie zum Aktschluß einer Zauberposse … Jetzt war Arnold Liebling und Stolz der Klasse; und immer noch brav, immer noch: »Sittliches Betragen: musterhaft« auf dem Zeugnis. Der Verein hätte ihn aber doch vielleicht entschiedener in den Unfug gezogen: da ereignete es sich eines Tages, daß Professor Schleiderer, der Verhaßte, wie von selbst auf der Schloßtreppe hinstürzte und sich den Schädel brach. War es Wahnsinn? Selbstmord? Niemand erfuhr es, auch in der Folge nicht. Die jungen Sieger aber standen nicht an, dies als Folge ihrer gutgelungenen sinnverwirrenden Quälereien zu erklären und an demselben Tage ein fröhliches Zusammentreffen in der Eisigschen Wohnung einzurichten, das ohne Reue als eine Art von kannibalischem Triumphfest geplant war, in das sich aber unvermerkt mit immer bedenklicheren Reden und gar nicht mehr knabenhafter Unfrische ein geheimes Todesgrauen einzuschleichen begann – viele von den Burschen hatten überhaupt noch nie einen Todesfall in ihrer näheren Umgebung erlebt – und das schließlich ganz appetitlos, ernsthaft, ja mit dem Entsetzen, das in Erfüllung gegangene Flüche und Orakel umwittert, und in Angst vor allen unberechenbaren Zufällen des Lebens zu Ende ging – des Lebens, das auf alle diese Kinder draußen lauernd wartete.

Die Mutter sah es nicht gern, wenn ihr Arnold in das Eisigsche Haus hinüber ging. Das ganze Treiben dort gefiel ihr nicht. Schon den dicken Philipp mochte sie nicht besonders leiden und ermahnte ihn immer, wenn er sie verlegen anstotterte: »Langsam sprechen, nur hübsch langsam«, sie hegte nämlich den Wahn, daß alle Krankheiten und üblen Zustände, die sie nicht verstand, nur schlechte Gewohnheiten seien … Arnold aber, der gemach in das Alter kam, in dem man die Freunde über die Eltern setzt und überhaupt die Ansichten der Eltern mit einigem Trotz und Mißtrauen prüft, ging nun erst recht zu Eisigs. Dort konnte sich ein gewisser toller bubenhafter Zug seines Charakters zu üppiger Entwicklung durchringen, dort hatte alles einen Strich von ungebundener Räuberromantik, schon die ungeheuerliche Unordnung und Verwüstung in den großen hohen, dabei nicht hellen Sälen des alten Gebäudes: all dies mit der ordentlichen Sparsamkeit zu Hause kontrastierend … Die Eisigskinder, fünf Söhne recht verschiedener Altersstufen, bekamen alles, was sie nur wünschten, in Verschwendung, sie hatten, außer dem besonders auffallenden Billard, in ihrer Wohnung eine Laterna magica, ein herrliches Puppentheater mit zahllosen Kulissen, Turngeräte, sämtliche Bände von Jules Verne, Gerstäcker und Karl May, und überdies durften sie nach Herzenslust alles zerreißen, verborgen und verbrauchen, wobei ihre lustigen Eltern noch spitzbübisch mitlachten, während bei Beers alles abgezirkelt und wie am Schnürchen gehn mußte. Schon daß die Eisigsjungen fünf waren und so mannigfache Talente – einer konnte Karikaturen zeichnen, einer photographierte, einer konnte mit dem Mund das Geräusch einer Säge nachmachen u. s. f. –, mußte dem einzigen Sohn Arnold imponieren. Welche Kombinationen gab es da, welche von altersher eingelebten Scherze und Neckereien, welche Wirkungen vereint und gegeneinander, und wieviel Gerümpel und altes Spielzeug, da jeder von den ersten Jahren an seine eigenen Sachen hatte! Besonders aber fand Arnold an dem Ältesten Gefallen, an dem Herrn Gottfried, der allerdings, wie er sich recht wohl eingestand, eigentlich »noch nichts für ihn war«, der ihm aber trotzdem hie und da ein Stündchen traulichen Geplauders gewährte, in unbegreiflicher Herablassung. Arnold bewunderte den Studenten schrankenlos, der, wie er häufig erklärte, die Schauspielerei studierte, eigentlich schon alles irgendwie Nötige gelernt hatte und nur vorläufig, da er ohne Engagement blieb, Gedichte »im modernsten Genre« schrieb, selbst verfertigte Verse, die sich nicht reimten und in denen häufig Worte wie »Glast, Sehnsüchte, kranke Finger, geistern, Silber, Onyx, Chysopras« vorkamen. Gottfried rezitierte sie selbst gelegentlich im Familienkreise und vor Gästen, nicht ohne Anflug eines kleinen Familien-Stotterns … O hier gab es Anregung, hier waren die neuen Sachen, hierher verlegte Arnold bald das ganze Leben seiner freien Zeit, und da schließlich das Etablissement Eisig als gewaltiges Hutexportunternehmen in ansehnlicher Blüte stand, hatten die Eltern Beer nach näheren Erkundigungen gegen diesen Umgang im Grunde nichts mehr einzuwenden.

Eisigs besaßen auch einen Fußball. Dieses an Körperinhalt so geringfügige Ding bewirkte, daß für Arnold eine neue Ära und Leidenschaft anbrach, ein Fußballjahr … Schon vorher hatte er das Spiel geliebt, das als »roh und gesundheitsschädlich« von der Schule aus und gleichfalls von den Eltern verboten war. Man wies gern auf Unglücksfälle hin, man las den Kindern aus der Zeitung vor, daß der oder jener hoffnungsvolle junge Mann durch einen unglücklichen Fall oder gar infolge eines Tritts beim Fußballspiel unheilbaren Schaden genommen hatte. Indes verklärten solche Nachrichten in den Augen Arnolds den gefährlichen Sport, munterten ihn nur auf, und obwohl man ihm strafweise das kleine Taschengeld entzog, wußte er sich doch immer wieder einen Ball zu verschaffen und eilte dann mit Gleichgesinnten in den Stadtpark, um sich für zwei, drei Stunden am »Kicken« und »Rempeln« gütlich zu tun. Im Stadtpark drohte freilich eine neue Gefahr, denn dort war auf allen Wegen das Fußballspiel ebenfalls verboten, und wenn die Buben mit glühenden Wangen gerade im besten Laufen waren, erschien manchmal der Parkwächter mit Tschako und Säbel, ein alter Mann, ergriff wortlos den rollenden Ball, den Puls des Spieles, den Ball, den man mit so viel Schwierigkeiten einem Mäderl abgeschwatzt oder irgendwo gestohlen hatte, und steckte ihn, den teuren Ball, in die Tasche, worauf er wortlos hinter den Gebüschen wieder verschwand; denn mit den unverbesserlichen Sportfreunden zu zanken oder ihnen die Vorschriften einzuschärfen, hatte er längst wegen Aussichtslosigkeit aufgegeben … Man wählte daher, um vor seinen räuberischen Überfällen sicher zu sein, gern die Abendstunden, in denen er seine Rundgänge nicht mehr so eifrig einhielt und die auch alles leicht verhüllten hinter Nebeln über den Wiesen und langen Schatten. Dann tauchte die Gesellschaft vorsichtig auf, ganz nach Art verfolgter Gottesdienste im Anfang einer Religion wurden abgelegene Plätzchen ausgesucht, Vorposten ausgestellt, ängstlich wurde das Heiligtum, der Ball, hervorgeholt, doch erst, wenn alles sicher schien. Dieser Ball … o mit welchen bejammernswerten Surrogaten mußten sich die Enthusiasten manchmal begnügen. Einmal war es ein leichter roter Gasballon, der zu hoch sprang und der die ganze wohlgeübte Fußtechnik der Mannschaft störte, einmal ein großer, ganz weicher, mit kindischen Bildern, dann ein kleiner billiger weißer Gummiball, der jeden Moment ins Buschwerk lief und kaum mehr aufzufinden war, ein anderes Mal hatte der Ball schon Luft verloren, das heißt er bekam an einer Seite eine kleine rätselhafte Einsenkung – und mochte man ihn nun streicheln und drücken, wie man wollte, mochte man mit aller Vorsicht die Vertiefung langsam in weicher Hand aufzurunden suchen, immer zeigte sich die tückische Grube an einer anderen Stelle, immer wieder genau so tief wie vorher, eher noch tiefer. War einmal ein Ball so weit, so war er unrettbar verloren. Man erkannte das an seinem hohlen scheppernden Ton beim Laufen, man konstatierte es mit einem wahren Todesschreck in den Gliedern. Denn nun war das richtige Vergnügen vorbei. Trotzdem hörte man natürlich nicht auf zu spielen, wenn auch der Ball nur schlecht sprang und von der graden Bahn abwich. Einige Künstler behaupteten sogar ganz stolz, sie spielten nicht ungern mit so einem zerkickten Balle, denn sie könnten seine »Fälsche« berechnen. Indes vergrößerte sich unaufhaltsam mit jedem Stoß der Fehler, schließlich hatte sich die Senkung über die halbe Fläche schlapp ausgebreitet. Doch nicht einmal das war ein Hindernis. Man schob nun den Ball zusammen, machte eine hohle Halbkugel aus ihm, einen Klumpen und in diesen Überrest stieß man eifrig, trug ihn mehr auf der Fußspitze als man ihn warf, verzichtete auf jede Elastizität, auf den Fernkampf, so daß das Spiel endlich in Nahkampf d. h. in eine Prügelei ausartete … Primitiv wie der Ball war auch das Goal eingerichtet, zwischen zwei Bäumen, die man durch eine mit dem Stiefelabsatz gezogene Linie im Sand verband. Fehlten die Bäume, so legte man Kleider in zwei Bündeln auf die Erde und bestimmte die Linie zwischen ihnen als Goal, wobei dann allerdings die Streitfrage entstand, ob es als Goal zu betrachten sei, wenn der Ball über die Kleiderbündel fliege oder sie streife. Man nannte das »Stange«, denn die Röcke vertraten ja die Goalstangen, und belästigte nun die älteren Spieler, sogar die Sportzeitungen mit diesem Problem. Und nun gar, wenn es immer dunkler wurde, wer konnte noch entscheiden, ob ein Schuß richtig getroffen hatte oder nicht! Man spielte einfach in die Nacht hinein, erstickend, keuchend, man bewegte sich, es galt auszugleichen oder den Sieg zu entscheiden, in höchster Spannung und Anstrengung – und dabei mußte man sich zurückhalten, durfte nicht schrein, nicht anfeuern und jauchzen, alles mußte lautlos vor sich gehn, sonst hätte man sich dem Wächter verraten. Erst bei völliger Finsternis hörte man auf. Die Feinde und Freunde hinkten nach Hause, hungrig, durstig, zerschunden – das aber fühlten sie nicht – nein für Arnold, wie für alle, lag ein süßer Zusammenhang zwischen ihrer Abgeschlagenheit, dem Schweiß, den Schuhtritten, die sie an ihren Waden schmerzten, an den Schienbeinen, längs derer vielleicht ein gegnerischer Schuhabsatz herabgeglitten war oder sich eingehackt hatte, daß innen die Sehnen brummten, zwischen all dem und dem süßen Fliederduft des Parkes, dem nächtlichen Blühn und einem leisen, eben entschlafenden Vogelgezwitscher – o ein Zusammenhang, in dem diese Knaben stärker als jemals ihre Jugend und die heldenmütige Kraft des Blutes und eine sich weitende Freude spürten bis an das schwarze Himmelsgewölbe hinauf. Sie marschierten in die Gassen hinein, sie fürchteten sich nicht vor den Eltern, nicht vor der morgigen Schularbeit, sie summten ein Lied. – So weit stand die Sache, als Arnold mit Eisigs näher bekannt wurde. Damit erhielt er plötzlich, nach all den dilettantischen Versuchen, Anteil an einem Fußball, an einem wirklichen englischen Fußball, der seine hohe Verehrungswürdigkeit schon dadurch bekundete, daß er wie ein belebtes Wesen eine »Seele« besaß. Nun überstieg die Fußballbegeisterung alle Grenzen. Täglich nach der Schule zogen die fünf Eisigs mit Arnold auf die Wiesen, drei gegen drei teilten sie sich dort und los gings. Nicht genug damit, man übte auch in der kurzen Zeit zwischen Vormittags- und Nachmittagsunterricht, und da war der große Hof im Eisigschen Haus der geeignetste Platz dazu, dieser Hof mit seinen Kisten, Handkarren, Holzschuppen, alten Bäumen, Kellertüren, dieser Hof in glühender Mittagssonne. Nichts konnte die Passionierten abhalten, nicht, daß der Hof gepflastert war und daher jedes Hinstürzen hart spüren ließ, auch nicht daß der Ball einmal bei einem Hochkick ein Fenster im ersten Stock zerschmetterte, was zu großen Mißhelligkeiten zwischen Papa Eisig und seinem Mieter führte. Es wurde nur einfach ausgemacht, von nun an keine Hochkicks mehr zu machen. Und unverdrossen kroch man zwischen Fässern durch, wenn der Ball sich zwischen sie verloren hatte, kletterte ihm nach durch die Fenster in die versperrten Keller und Schuppen, breitete sich immer weiter aus, spielte bei Regenwetter im Vorzimmer der Wohnung, zerbrach Lampen und Spiegel, umging immer wieder die elterlichen Verbote. Ja man ging zum Angriff auf ihre Herzen über, suchte sie für den Fußballsport zu gewinnen, indem man sie überredete, Sonntags sich einmal ein Wettspiel anzuschaun. Unterwegs wurde ihnen alles auf das Fachlichste erläutert: die Aufstellung, Goal, Hand, Ecke, der Elfjardstoß, die Rätsel des Offside. Angesichts des Spieles machte man sie auf hygienische Nützlichkeiten aufmerksam, zog die Olympischen Spiele der Griechen zum Vergleich heran, deutete auf die moralischen Werte gerade dieses Sports hin, der es dem einzelnen verbiete, »egoistisch« zu spielen und das Gesamtinteresse seiner Partei auch nur einen Moment aus dem Auge zu lassen … Um diese Zeit erschien zum erstenmal eine englische Mannschaft in der Stadt. Es war eine Umwälzung! Man hatte ein ganz neues Zusammenspiel zu erlernen, das Zuspielen auf der Erde, Kopfstöße. Die sechs Helden trainierten unverdrossen, jeder mit dem festen Vorsatz, ein Champion zu werden. Sie kannten alle Wettspielresultate der letzten Jahre, alle Meisterschaften auswendig, sie umgaben die berühmten Spieler mit schwärmerischer Verehrung. Sich selbst photographierten sie im Hof, in verliebten Stellungen, mit dem Ball im Arm, oder in gestellten Gruppen, wie einer dribbelte und den Gegner dabei »täuschte« oder wie er im letzten Augenblick »rettete« oder wie er im Goal dem Schuß entgegensah, die Hände auf den Schenkeln, den Kopf gesenkt mit spähendem Blick. Sie schafften sich »Treter« an und hatten dabei ein an Verbrecherlust grenzendes Gefühl von Grausamkeit und Mut. Ihr Traum war, sich zu einer Mannschaft auszubilden und siegreich den Kontinent zu bereisen … Arnold hatte sich unbestritten zum Kapitän aufgeworfen. Er trug auch immer den Ball zum Spielplatz, was ein besonderes Ehrenamt war und außerdem dem Träger Gelegenheit gab, schon unterwegs einige Kicke in den Ball zu tun. Dies jedoch wurde ihm von den andern stets mit lautem eifersüchtigen Geschrei untersagt. Es war verpönt. Der Ball sollte getragen, aber nicht gekickt werden. Auf das Kicken behielten sich alle das gleiche Recht vor und wachten streng darüber, so überirdisch schien ihnen dieses Vergnügen, dieser geschickte Anstoß an die stählern klingende Rundung, diese Kraft und Richtung … Ging Arnold allein durch die Gassen, so phantasierte er sich auch stets einen Ball vor die Fußspitzen, den er kunstvoll lenkte und an den Spaziergängern knapp vorbeitrieb. Das war seine liebste Unterhaltung. Und abends konnte man ihn wild, die Mütze in der Hand, durch leere Gassen rennen sehn. Dann war er in seiner Vorstellung mitten im Wettspiel, draußen auf dem rechten Flügel Forward – dies war sein Posten, wenn er mit Eisigs spielte –, dann überholte er Feinde, die mit ihm zurückliefen, wich den Mittelstürmern, die ihm entgegenkamen, gewandt aus. Seine ganze Mannschaft sah er im gleichen Tempo mitrennen, über das grüne Feld hin wie einen riesigen Fächer, der sich verlängert, sah aller Augen auf sich gerichtet, denn er hatte den Ball, – knapp an der weißen Outline lief er, während das Publikum mit »Hipp, hipp« ihn anspornte und erregte Köpfe über die Holzstangen ihm sich nachbogen – sah sich als Teil eines Ganzen, als Anführer, all dies in wenige Sekunden zusammengepreßt – endlich spielt er den Ball in die Mitte, der Centre hat ihn und läßt ihn mit der Wucht beinah eines senkrechten Falles durch das feindliche Goal in das heftig aufzitternde Netz stürzen, … während der tapfere unegoistische Flügel langsamer heranläuft, alles überblickend. Und nun wird applaudiert, es rauscht, es schreit. Sieg! Sieg!

Eine Zeit lang verkehrte Arnold mit niemandem als den Eisigbuben. Bald aber wuchs sein Bekanntenkreis und wurde schließlich ihm selbst unübersehbar und unheimlich. Während er in der Schule voran blieb, öffentlich und im Geheimen, auch in der Kommerskassa zum Obmann anstieg, die Kneipzeitung nicht nur redigierte, sondern auch auf einem selbstgekochten und selbst in die Blechpfanne eingegossenen Hektographen abzog (welche Schmerzen, wenn schließlich mitten in der immer dünneren und durchscheinenderen Masse der Blechgrund durchsah oder wenn die Gelatine in kleinen Kandiszuckertröpfchen an die feuchten Abziehbogen abbröckelte), während er sogar eine kleine verbotene Lotterie für die Maturakneipe unter den Kameraden und deren möglichst weit herangegriffenen Angehörigen veranstaltete, begann er doch auch noch außerdem ein schwungvolles Privatleben zu führen. Gottfried Eisig, der Schauspieler, brachte ihn in eine Gesellschaft von Konservatoristen, in dunkle Hofzimmer, wo es von Violinskalen und Nässe seufzte; bei einem von ihnen, Waldesau, der durch besondern Ernst ihn ansprach, lernte er mit reißenden Fortschritten Klavier. Nebstbei trat er in einen Tennisklub ein und erwählte auch dort, in der vornehmen Welt, seine Freunde. Dies alles steigerte sich noch, als er nach glücklich mit allgemeiner Auszeichnung abgelegten Prüfungen die Hochschule bezog. Eigentlich sollte er in das Geschäft seines Vaters eintreten, doch zog er dies durch unschlüssiges Studium und Berufsprobieren noch einige Jahre hinaus. Er inskribierte dort und da, klaubte aus allen Gegenständen die üppigen Mandeln heraus, ließ sich von Gefährten zur rechten und zur linken Seite bald in die »gerichtliche Medizin«, bald zu »Experimentalphysik« oder »Sanskrit« oder den »Versmaßen des Horaz« ziehn. Er gewann zu ganz intimen Brüdern: Löb, den sachlich strebenden Bakteriologen, der zunächst im Schul-Mikroskopieren, bald auch mit eigenen Ideen Geschicktes leistete – ferner den ruhigen kleinen Krause, der mit Jusstudium eine gründliche Erforschung des jüdischen Wesens und zionistische Propaganda verband. Arnold selbst trat einem deutschen Studentenverein bei und war dort eine Zeit lang der Vertraute des in politischen Dingen jugendlich-energischen und wohlvertrauten Technikers Grünbaum. Grünbaum nahm Malstunden, natürlich teilte sie Arnold mit ihm … Das Seltsame nun bei diesen nach allen Seiten umsichgreifenden Beziehungen war, daß Arnold mit Sicherheit für jeden seiner Freunde den richtigen Ton traf, daß er niemals dem Waldesau, sondern immer nur dem eleganten Preisruderer Bobenheim unanständige Witze erzählte, daß er mit Grünbaum ebenso schwärmerisch von Rodin, wie mit Löb von »Ehrlich 606« sprach, und wieder daß ihm Professor Ehrlich für Löb den großen Arzt und für Krause den großen Juden bedeutete … Natürlich war er längst klug geworden und hatte die schwadronierende Art seiner Gymnasiasten-Reden längst aufgegeben; aber die prächtige und beflügelte Sprechweise, der strömende Schwall von Ideen, der auch den Hörer in einen Zustand angenehmer Leichtigkeit versetzte, war geblieben. Hierzu gab nun sein wirklich übermenschlicher Eifer in allen Bestrebungen, der Mut, mit dem er immer seine ganze Person, seinen edelfunkelnden Geist einsetzte, mit dem er immer furchtlos sofort das Herz der Probleme attackierte, all diese Zauberei einer schnellen Auffassung und eines unverwüstlichen Gedächtnisses – gab Untergrund und Quadersteine für blendende Bauwerke … Kein Wunder, daß ihn alle Freunde für ein vielseitiges Genie hielten. Als bedeutender oder, wie man unter ältern Leuten sagt, als »gescheiter« Mensch war er allgemein bekannt. Er war jetzt von ziemlich großer Statur, seine Augen lagen unter hohen Knollen der trotzdem freundlichen Stirne, in tiefen bläulichen Höhlungen also, aus denen sie wie schattige Gebirgsseen, klar und doch von unergründlicher Färbung, hervorsahn. Diese großen verfinsterten Flächen teilten zugleich mit dem Nasenschatten, der über der glattrasierten Oberlippe spielte, mit den weißen ebenmäßigen Wangen sein Gesicht überblickbar ein, machten es leicht einprägsam. Dazu der flache breitgerandete Strohhut, der niedrige Umlegkragen, dem der Hals frei und künstlerhaft entstieg, der weite gutgeschnittene Überzieher – und die markante Persönlichkeit, der angesehene Mitbürger war beinahe fertig … Auf solche Äußerlichkeit, die sich ja mit der Zeit von selbst einstellte, gab jedoch Arnold wenig; sein Flammenstreben richtete sich vielmehr nur darauf, mit jedem einzelnen der Freunde zu wetteifern und alle zu überflügeln. Er stieg einfach in alles hinein, ohne Berechnung, aus purer Lust. Wenn Löb zu wissenschaftlichen Lektürzwecken Englisch und Französisch erlernte, so begann er gleich noch Italienisch dazu. Las Krause die Bibel im hebräischen Urtext, so verschaffte sich Arnold schon Auszüge aus dem Talmud.

Dies jedoch hätte die Verehrung, die ihm diese so verschiedenartigen jungen Leute zollten, noch nicht erklärt. Es muß noch gesagt werden, daß er alle nicht nur begleitete, sondern auch stieß und antrieb und tröstete. Tröstete, indem er sie stieß – nirgends Schwierigkeiten sehend und mit der ihm angeborenen nebelhaften Energie gleich nach Erfüllung aller Wünsche langend. Es war eben seine eigentümlichste Eigenschaft, daß er, in Gesellschaft mit einem Freunde, ganz und freudig erfüllt von dessen Liebhaberei, unter allen Umständen weiterdrängte und in hellstem Optimismus sich und den andern für fähig zu allem hielt. War etwas in den Lehrbüchern beiden unverständlich, so war es falsch, eventuell ein Druckfehler. Stimmte eine Theorie nicht zu eigenen Beobachtungen, so verwarf er jedesmal ohne Gewissensbisse die Theorie, niemals die noch so flüchtige Beobachtung … So kam es, daß er überall nichts als Reformbedürftigkeit sah. Die Philosophie sollte von Grund aus umgeformt werden, die Physik war lächerlich, die Welt des öffentlichen Lebens beruhte ebenso auf falschen Prinzipien wie das Rudertraining. Wieviel gab es da zu arbeiten, wie zum Verzweifeln wenig war eigentlich fertig! Und wie schön war diese Verzweiflung!… Arnold hielt sich nie mit Details auf, nur die großen Grundideen warf er über den Haufen und schrie: »Das ist überwunden. Da müßte so und so weitergebaut werden!« Mit erhobener Hand stand er über den Freunden, die in ihrem mühsamen ehrlichen Kleingewerbe befangen den großen Zug verlernt hatten und gern den frischen Hauch so freimütiger Weltgedanken hörten, wenn sie auf dem ersten Schritt zu diesem Luftzug hin über irgend ein ernsthaftes Kramzeug stolperten. Hatten sie aber auch nur einen kleinen vorsichtigen Schritt nach vorn getan, gleich war Arnold da und lobte, nannte das eine »tüchtige Leistung« und ließ das Kommende hochleben. Er verstand sich besonders darauf, gut und einschmeichelnd zuzuhören; und dies wieder, weil er das Zuhören nicht affektierte, sondern weil er ernstlich glaubte, von seinen in die Spezialstudien detachierten Freunden die reinste Essenz der Wissenschaft einziehn zu können, die fertigen Resultate, zu deren Erarbeitung er selbst keine Zeit hatte. So saß er andächtig, behielt immer die Einteilung ihrer ganzen Arbeit sicher im Kopf, wußte, wie weit man neulich gekommen war, konnte durch Ausbessern kleiner Flüchtigkeitsfehler oder Dispositionsabweichungen seine Aufmerksamkeit wohltuend dem andern beweisen … Natürlich war er nicht so unliebenswürdig, mit der Türe ins Haus zu fallen, sondern nahm auch an den Familienverhältnissen der Freunde einen Anteil, an ihren Liebschaften und Verdrießlichkeiten. Immer aber wußte er, ihre fortschreitenden Fachkenntnisse und die besondere Richtung ihres Denkens als das Wichtigste an ihnen und an ihrem Verkehr mit ihm zu behandeln, wie es ja seiner Überzeugung entsprach, auf diese Facharbeit kam er nach jeder Einleitung zu sprechen, und da die Freunde bald merkten, daß aus ihrer Umgebung nur er stets und wirklich aus dem Herzen auf dem bestand, was sie selbst als das Edelste an sich, wenn auch manchmal als etwas Unbequemes, ansehn mußten, zogen sie ihn bald allen übrigen Kameraden vor. Zumindest hatte er eine Sonderstellung. Man plauschte mit ihm, aber es war kein leerer Zeitvertreib, es war eine Anspannung, seinem impulsiven Andrücken immer genügen zu können, man mußte sein Bestes geben. Abschweifungen in andere Gebiete lehnte er ab, indem er sich plötzlich (und ebenso ehrlich wie vorher interessiert) uninteressiert verhielt. Solche Laienhaftigkeit schien er nur sich selbst vorbehalten zu haben … Doch arbeitete er auch selbst, vertiefte sich manche Tage lang in irgend eine Frage, die ihm im Gespräch mit einem Freunde gekommen war, schrieb er ein paar Klavierstücke, einen »Abriß einer neuen Werttheorie«, einen »Entwurf zur Kritik Spinozas vom Standpunkte der Rasse aus« – lauter kleine Heftchen, vollgeschmiert mit flüchtigen, oft klecksartigen Schriftzeichen, Abkürzungen, Symbolen – und mit großem Vergnügen las er dann die noch unfertigen Darlegungen dem betreffenden Freunde vor, für den er eigentlich die Arbeit unternommen hatte. Das Vorlesen war nämlich das Ziel der ganzen Arbeit; Arnold arbeitete mit Unlust und Ungeduld, unter tausend Ablenkungen, und was ihn während dieser Mühsale emporhielt, war nichts anderes als der Gedanke an die herannahende geisterfüllte Vorlesestunde. Und war sie da, dann erschütterte die Leidenschaft sein blasses Gesicht, seine zuckenden Hände mit aufschießenden Blutwellen, dann erst begann seine eigene Arbeit ihm sich zu färben und zu beleben, dann schrie er in melodischen Akzenten, hielt nur still, um neue Ausblicke einzufügen, entschuldigte sich, daß dies ja noch nicht die endgiltige Fassung sei, man möge mehr auf die Absicht sehn als auf das, was wirklich dastehe, schloß dann mit leuchtenden Augen in einer ausführlichen Skizze, was und wie es nun weiter zu machen sei: »also, lieber Krause, das überlasse ich jetzt dir. Da leg dich hinein und schau, daß was draus wird. Es ist ja so einfach …« – Wie er aber selbst gern vorlas, so verlangte er auch von den Freunden rückhaltlos die Produkte ihrer Tätigkeit, selbst wenn diese mutlos und schamhaft lieber ihre halbausgereiften Pläne verborgen hätten. Er brach in ihre Schreibtische ein, er zwang sie durch flehentliches Bitten, ihm doch etwas, was sie gerade im Kopf wälzten, zu erzählen. Daß sie in der letzten Zeit nicht gearbeitet hätten, ließ er einfach nicht gelten. Ausreden wie: Zweifel an ihrer eignen Tüchtigkeit, Unwohlsein, Müdigkeit – schob er mit burschikosen Flüchen weg. Schließlich schämte man sich, mit leeren Händen vor ihm zu erscheinen. Arnold verlangte einfach, daß rings um ihn geleistet wurde; als hätte er selbst das dunkle Gefühl, daß er für seine Person mit seiner Zersplitterung nichts Nennenswertes hinterlassen würde, suchte er seine Spannkraft wenigstens durch das Medium anderer Gehirne hindurch wirken zu lassen. Der starke Wille, der in ihm lebte, in ihm selbst unfruchtbar, wurde auch tatsächlich die Stütze und der Sauerteig vieler Arbeiten seiner Freunde. Der verwickelte Ausbau seiner vielfachen Bedürfnisse und natürlichen Triebkräfte stand wie ein Turm da, an den sie sich lehnten … Waldesau zum Beispiel, der Musiker, der in einem beständigen Ekel vor sich selbst lebte, gestand oft, daß er keine Note schreiben würde, wenn ihm Arnold nicht immer wieder mit kollegialen Schimpfreden den Teufel aus dem Leib triebe. So aber lieferte er Kompositionen, Lieder und Sonaten, die zwar er selbst erbärmlich, verbrecherisch fand, die aber das enthusiastische Lob nicht nur Arnolds, auch älterer Musikkenner hervorriefen.

Arnold ging weiter. Er liebte es – all dies instinktiv, nicht aus Überlegung – seine Freunde, die einander noch nicht kannten, mit einander zusammenzubringen, falls er sich davon gegenseitige Anregung und Förderung ihrer Arbeiten versprach. Er hatte seine Freude an den neuen Konstellationen, er verfolgte mit einer Art von Zärtlichkeit die weitere innige Verflechtung der Fäden, die er selbst neben einander gelegt hatte und die jetzt ohne ihn lustig und oft mit einer in seinem Anstoß gar nicht zu ahnenden Bedeutsamkeit sich fortspannen. Zu vielen tiefgreifenden Beziehungen legte er so den Grund, nur selten tat er einen Mißgriff. Kein Wunder, daß ihn Liebe und Begeisterung der ganzen Gruppe, die er so hübsch organisiert hatte, umgab. Selbst der spitzige vielüberlegende Grünbaum, der jede körperliche Berührung mit Menschen scheute, drückte ihm wärmer die Hand. Alle fühlten, wenn auch undeutlich, daß die zartgebauten Wurzeln ihres Daseins aus den strömenden übervollen Bächen dieses Verschwenders immer neue Bewässerung zogen und daß dabei gar kein Schwindel oder eine Willkürlichkeit Arnolds mitspielte; daß vielmehr dies alles nach Naturgesetzen so geschehn mußte – und gerade dieses Unbedingte, Automatische, Gesetzmäßige war die Ursache, aus der man ihm vertraute, ihm doppelt verpflichtet war … An seinem Geburtstage empfing er nun auch glühende Briefe sonst ruhiger Genossen, Danksagungen in klugen, nicht alltäglichen Worten, selbst Geschenke, und wiewohl er selbst sich der Repräsentation so außergewöhnlicher Beliebtheit nicht ohne Würde und Rührung unterzog, sagte er sich doch auch manchmal, daß es eigentlich komisch sei, wie selbstverständlich er diese Opfergaben, den Tribut gleichsam, einkassierte. Er selbst schenkte keinem seiner Freunde etwas zum Geburtstage; das fiel ihm auf, die andern schienen es selbstverständlich zu finden. Es beunruhigte ihn … Überhaupt wurde ihm, wenn er einmal allein mit sich zu Rate ging, nicht wohl nach all dem metallischen Getöse rings um ihn. Kam er zur Ruhe, so fand er, daß er eigentlich nichts zu Ende führte und nichts ganz von vorne begann. Eine beklemmende Traurigkeit legte sich auf seine Lunge. Was interessierte ihn eigentlich? Was wollte er auf der Welt? Was hatte er geleistet? Daß er der Gschaftlhuber nicht war, als den ihn Mißgünstige gern ausgeschrieen hätten, fühlte er sehr wohl. Seiner Redlichkeit und einer gewissen Tüchtigkeit im Kern blieb er sich ja stets bewußt. Aber mindestens ebensoweit wie vom Gschaftlhuber war der Abstand zu der »modernen Goethenatur«, für die ihn manche Anhänger aus ehrlicher Überzeugung hielten. War er allein, so fühlte er sehr wohl, daß er nicht Goethe war, nicht die in sich ruhende und daher so wirksame Vollkommenheit. Was war er also eigentlich?… Nun, eben der Arnold Beer, ein einmaliges Individuum, so und so eingerichtet, mit den und den Fehlern und Vorzügen, die man noch näher studieren, entwickeln mußte. Also mit Vorzügen auch – heraus damit!… Er dachte nach … Ihm fiel nichts ein … Mit warmem Kopf rutschte er vom Diwan zum Schreibtischsessel, vom Schreibtischsessel zum Diwan, und vergebens suchte er, während sein Blick über die Dächer hin in den fernen Himmel, in die rotglänzenden Wolkenkelche einschlüpfte, beim Anblick dieser leuchtenden Gebilde auch nur einen jener befeuernden und frischen Einfälle selbst zu empfinden, wie er sie am Nachmittag seinen Freunden zu Tausenden um die Köpfe geschlagen hatte … Ja, wenn er neben ihnen ging, neben Löb zum Beispiel ins Kolleg, oder neben Eisig in der Weinstube saß, dann konnte er sich die Wonnen der gedankenreichen Einsamkeit wohl vorstellen. Einsamkeit – wie eine Fata Morgana schwebte sie vor ihm, eine Stadt mit flachen quadratischen Dächern, alle menschenleer, doch alle wohnlich eingerichtet mit kleinen rauschenden Springbrunnen, seidenen grünen Kissen am Geländer, süßen Speisen und Limonaden in elfenbeinernen Kästchen. Und Arnold stieg von Dach zu Dach, auf kleinen Leitern, ruhte hier und dort aus, sah über die Treppen hinunter in Wohnungen, in denen Stimmen klangen, freute sich – o Einsamkeit – über die Straßen und Bazare unten, lebendiges Wimmeln, die große Aussicht in den Abendhimmel … So vertieft war er in dieses Bild, daß er die Reden des Gefährten nicht mehr hörte, und verriet sich eine von ihnen durch die erhobene Stimme als Frage, so mußte er geschwind die letzten Worte, die der andere gesprochen hatte, aus seinem unbewußten Gedächtnis, in dem sie eben beinahe verschwanden, zurückholen, um irgend etwas Kleines erwidern zu können. O wie wünschte er da den Störer seiner Einsamkeit hinweg, wie hätten, ohne den, diese Bäume oder dieser Wohlgeschmack eines französischen Weins zu seinem treuen, auf sich allein gefüllten Herzen gesprochen! War er aber wirklich einsam, so wurde ihm sofort bang und verlassen zu Mute. Die Gestalten dieser fühllosen unüberwindlichen Natur, die Blumen und Gräser, erschreckten ihn durch ihre rohe Gesundheit, die er nicht trösten und nicht anfeuern konnte, in der es keine Bravourstückchen gab; einsames Trinken gar erschien ihm langweilig und tierisch … Also lief er schnell wieder unter die Menschen, mit denen man reden konnte, begann dies und jenes in seiner intensiven, aber kurzatmigen Art und brachte sich auch wirklich, wenn er die Zahl der von ihm bepflügten Gebiete überblickte, seine Jugend, seine Pläne, nach allen Richtungen ausstrahlend, seine halbausgeführten Werke, seine Talente, seine Hoffnungen und die Hoffnungen, die seine Freunde auf ihn setzten, in einen schönen Rausch von Selbstzufriedenheit. – Klagte er einmal, in einer kleinen Erinnerung an seine einsamen Prüfungsstunden, den Freunden, daß seine Seele so zerrissen sei, so lachte man ihn immer aber mit der allergrößten Entschiedenheit aus: »Du unglücklich? Und was soll ich dann sagen? Du machst das und das. Und ganz vergißt Du an das und das. Solche Erfolge! So eine Arbeitskraft, das ist ja etwas ganz Abnormales! Und du wirst dich noch beklagen! Das wäre aber eine Frechheit …« Man ahmte die Art seiner gutgemeinten Scheltreden nach. Er aber wandte sich, mit einer kleinen Träne im Auge, ab: »Ich könnte ja etwas leisten, wenn ich nur Zeit hätte.«

Daß er keine Zeit hatte, war eigentlich für Fernerstehende das hervorstechendste Merkmal seines Lebens. Und meist befand ja auch er selbst sich, dank seiner fortreißenden Strudeleien, in der Lage dieser Fernerstehenden. Dann fiel ihm auf, daß er sich zu viel aufgebürdet hatte; an einem Tage ein Rudermatch, vier Vorlesungsstunden, Besuch bei zwei Freunden, bei einer Familie Tee, Klavierüben, und dazu die vielen angefangenen Bücher mit winkenden Lesezeichen auf dem Schreibtischregale, das ging entschieden über Menschenkraft. Und da ja die meisten dieser Verpflichtungen in langvergangene Zeit zurückreichten, zu denen er sprunghaft immer wieder zurückkehrte, ohne sie je durch Beendigung loszuwerden, wurde er sich immer nur bewußt, daß er Verpflichtungen zurückwies, nur selten neue aufnahm. Also erschien er sich als armer Verfolgter, Begehrter, Bedrängter, vergaß bald den eigenen Leichtsinn, mit dem er sich nach einander auf so verschiedene Dinge gestürzt hatte, und begann einen geheimen Groll gegen seine Freunde insgesamt zu nähren, die ihn in Anspruch nahmen und ausnützten, ja ausnützten und zu keiner eigenen Arbeit kommen ließen. Was half es, daß er stets einen Zettel bei sich trug, mit den wichtigsten Pflichten für die nächsten Tage, daß er ein Tagebuch begann, in das er die Dinge schrieb, um sie keinem Freund erzählen zu müssen und um also auf diesem Wege einen Verkehr mit sich selbst anzubahnen, was halfen alle Anstrengungen, Ordnung in sein so hinausgestreutes Leben zu bringen Und grimmig ging er die Schwächen seiner Freunde durch, die sie an ihn fesselten, die Blutarmut Waldesaus, die diesen melancholisch machte und auf lindernden Zuspruch angewiesen, die Armut Krauses, die ihm den Verkehr mit Arnold als mit dem gesellschaftlich Höheren unentbehrlich erscheinen ließ, die Dummheit Bobenheims, der, durch den intelligenten Umgang geschmeichelt, zu einiger Selbstachtung gekommen war, während er sich vordem nur als einen »trostlosen Wüstling« gekannt hatte. Und er verfluchte sein gutes Herz, das ihn aus Mitleid an diese fehlerhaften Menschen klemmte. Zugleich war er erbost über seine grübelnde Scharfsichtigkeit, seine Lieblosigkeit gegen so gut verhüllte Schwächen der Freunde. In einem allgemeinen Katzenjammer fand er dieses Leben erbärmlich, nicht länger zu ertragen. War dies gemeines Menschenlos, oder nur vielleicht typisches Schicksal eines jungen Juden? So weit hatten ihn Krauses Ideen schon beeinflußt, daß er dies in Erwägung zog. Schließlich aber blieb er, ohne Zusammenhang mit Gott, oder mit irgend einem Volk, in der zusammenschlagenden Dunkelheit allein, von allen Teilnehmenden verlassen, verzweifelnd und unsympathisch … Da traf er den nächsten auf der Gasse. Sofort heiterte sich sein Antlitz auf, sein Herz zugleich, er fand schnell wieder die freundlichen Worte, die Fragen voll Interesse und Ermunterung, und dabei war dies durchaus keine Heuchelei, sondern die bloße Gegenwart des Freundes eben bewirkte in ihm jene schnellere Zirkulation von Ideen, die ihn sprudelnd auf Flammenpfeilen in die Höhe schoß und ihm den Zusammenhang mit einer glücklichen Menschheit und ihrem wohlwollenden Wirken zurückgab … Am wärmsten aber wurde es ihm, wenn er mit Lambert und Genossen (dies war wieder eine andere Partei besonders eleganter internationaler Nichtstuer, die aus unbekannten Mitteln glänzend in den Tag lebten) auf dem Corso erscheinen konnte, auf dem Bummel, den diese Herren nie versäumten, mit ihren siegesgewissen Mienen, ihrem arroganten Hütelüpfen. Auch bei ihnen war Arnold beliebt, durch seine schussige Munterkeit und Originalität, und obwohl er weder der fescheste noch der witzigste unter ihnen war, räumte man ihm gern eine beherrschende Stellung ein. Wenn es nur anging, machte er sich täglich eine Abendstunde dafür frei, und dies nannte er seine Erholung, mitten in einer dunklen Schar befreundeter Köpfe sich geschützt und gemütlich zu fühlen, wie in einer Herde auf- und abzurollen die Gasse entlang, gestoßen werden, stehen bleiben und ungerührt in die Vorbeigehenden starren wie in die beleuchteten Auslagen, durch lustiges Flüstern und Blicken fest mit der Genossenschaft verbunden, beinahe bewußtlos. –

Und gar wenn er sich niedersetzte und Briefe an seine Freunde aller Heerlager schrieb, in die Ferien hinaus zu Dutzenden! Denn das liebte er, diese Bulletins waren wieder eine Sache, in der er sein ganzes Orkantemperament austoben lassen konnte. So wie es Leute gibt, denen alle Sorgen einfallen, wenn sie einen Brief schreiben und deren Briefe daher ein wesentlich zu trauriges Abbild ihrer Situation geben: so wurde im Gegenteil vor Arnolds Blick, wenn er ihn auf das weiße geradebegrenzte Papier richtete, alles rosig und in gute Linien geklärt. Ihm war Briefeschreiben eine gesteigerte Form menschlicher Unterhaltung und alle seine Vorzüge flossen ihm willig in die Feder, ein Goldglanz ohne irdische Schwere, wenn er seine strammen, beinahe militärischen Loblieder auf das, was ihn gerade erregte, losließ. Gern beschrieb er Kunstgenüsse oder gefiel sich in rückhaltslosen Offenheiten oder schwelgte in gigantischen Vorsätzen, zu deren Ausführung es Jahre ernsthafter Arbeit bedurft hätte, in seinem feurigsten Stil, tat sie damit gleichsam für sich ab, obwohl er sich während des Schreibens gar nicht bewußt war, daß er sie nie werde in Taten verwandeln können, daß gerade dieser Brief als Energieableiter zwischen Plan und Ausführung trat. Nein, die Wahrheit selbst, hinreißende Tatkraft und ansteckend gute Laune sprachen aus solchen Episteln, die unmittelbar, ohne zu überlegen, mit allen Quersprüngen und den schlechtesten Witzen, die ihm gerade einfielen, hingerissen waren; und so verfehlten sie natürlich nicht, seine Freunde zu rühren und zu neuem Schaffen anzustacheln, während Arnold mit ausgeschöpftem trockenem Herzen zurückblieb. Überdies schwankten diese Ergüsse in ihrer Länge von der dreißigseitigen Dissertation, deren Erscheinen schon im Kuvert beim Adressaten Erstaunen und ehrfürchtige Schauer hervorrief, bis zum kurzen Zettel voll mit Gedankenstrichen, Rufzeichen, humoristischen Symbolen, verschiedenen Buchstabengrößen und Schriftarten, kurz allen Mitteln einer aufs Höchste gesteigerten Anschaulichkeit, wie sie aus seinem Hitzkopf explodierte. Die Schrift hatte pomphafte Schnörkel, große Bäuche, starke Schatten und weit auseinandergezogene Haarstriche, so daß manchmal ein etwas längeres Wort eine ganze Zeile einnahm. – Hier eine der unbedeutenderen Noten an Waldesau:

»Lieber Kerl,

Ich bin durch ununterbrochenes BACH-Spielen in den letzten Wochen endlich dahintergekommen, daß ich – ein Schöps bin, wenn ich nicht – endlich einmal – und zwar soforrrrrrt – die ganze Musiktheorie gründlich durchnehme!! Mein Buchhändler bietet mir ein großes Werk zum Selbstunterricht, solche Hefte, weißt Du – mit hübschen Fragen und Antworten – Ermahnungen an den faulen Schüler u. s. f. – bißl kindisch, aber es gefällt mir vor-Leipzig – 60 Hefte, 50 Mark (!!!!) – Soll ich es kaufen. Bitte, schreibe soforrrrrt, genau und viel, empfiehl anderes! Ich muß ALLES haben, das ganze Gebiet – also Elementarlehre, Generalbaß, Formen – Du weißt ja – ich hab es satt, so ungebildet weiterzutrotteln – Also, auf, sattle den Hippogryphen, schicke mir Pläne – auch Instrumentation natürlich – Wenn schon, denn schon – Ich habe jetzt riesige Lust. Also schreib nur schnell, damit das Feuer net auskühlt, Du kennst doch – Deinen Dichliebenden u. s. f. – Momentan fühle ich mich so stark, daß ich Berge bewegen könnte. Und Du auf Deinem Jeschkenberg? (Ein gebirgiger Brief!) – Ich arbeite täglich 9 Stunden, kann Abends nie einschlafen vor Ideen. Habe etwas merkwürdiges angefangen, eine neue Art von Kontrapunkt. Sei neugierig! Es steht dafür – Schrecklich glücklich bin ich dabei. Und Du? Und Du? Und Du? – Wieder mal die Flinte ins Korn geworfen? Porco maledetto! Wenn jetzt nicht bald mal eine fette Notensendung (Manuskript!!) von Dir kommt, so treffe ich Dich wie der Blitz – der immer die Nabelbeschauer trifft – wo? Im Popo – weil sie so gebückt sitzen. Aber Spaß bei Seite: Was treibst Du – Ich bin sehr besorgt. – Servus!«

Ein Bildchen, die rauchende Jagdflinte, vervollständigte diesen auf einer halbzerrissenen Kuvert-Innenseite in schrägen Zeilen hingedonnerten Aufruf. Darunter eine Wolke, aus der zwei zackige Blitze schlagen; alles mit der Feder gekritzelt, beim Abtrocknen etwas verwischt …

Gottfried Eisig, der inzwischen (man mußte doch etwas machen) in die Redaktion eines heimatlichen Blattes eingetreten war, munterte nach solch einem Brief Arnold auf, doch einmal etwas »Selbstständiges« zu schreiben. Arnold brachte ein paar »Reisebriefe.« Sie wurden gedruckt, ohne aber besonderes Aufsehn zu erregen, außer in Arnolds nächster Umgebung; übrigens waren sie auch, da ihnen der persönliche Anlaß fehlte, ziemlich matt, ja schablonenhaft ausgefallen.

II.

Eines Tages erklärte der Vater, das Söhnchen habe nun genug gebummelt – und am nächsten Morgen schon ging Arnold in dem großen Geschäft auf und ab, die Schachteln an den Wänden mit neugierigen Blicken musternd.

Der Abschied von der Universität wurde ihm nicht schwer. Daß aus den allenthalben verzettelten Kollegien nichts Gescheites werden könne, war ihm längst klar geworden. Nun hoffte er, durch eine vollständige Umwandlung seines Lebens, wie sie der Eintritt ins Geschäft bedeutete, sich zu konzentrieren; Dinge, die er nur aus Treue gegen das einmal Begonnene mit Unlust weiterbetrieb, abzuschütteln; ein Mann zu werden. Vielleicht im Geschäft. Doch täuschte er sich da nicht in der Voraussicht, daß der Vater in seinem pedantischen Geschäftseifer keinen wichtigen Teil des Betriebs selbst aus der Hand lassen würde. Zunächst versuchte Arnold allerdings Einfluß zu gewinnen, das Geschäft umzudrehn, da er natürlich sofort, noch ehe er den naturgemäßen Lauf der Sache kannte, schon Umwälzungsideen im Kopf hatte. Aber da war er an den Unrechten gekommen; mit nicht mißzuverstehender Verwunderung wehrte der Alte ab. Und so gewöhnte sich Arnold bald daran, Vormittags im Kontor Bücher seines Geschmacks zu lesen und an Nachmittagen sich überhaupt nicht mehr im Geschäft blicken zu lassen. Auf dem einförmigen Boden des Geschäfts- und Familienlebens wucherten seine Launen nun noch üppiger und bunter als vordem.

Doch stand er bei seinen Eltern nicht minder hoch als bei seinen Freunden im Wert. Schon seit seiner Jugend, da er als »Wunderkind« frühzeitig aufsagen, lesen und schreiben gelernt, hatte sich ein großer Stolz auf ihn in ihren Herzen eingebürgert. Dann war er der Einzige geblieben, und immer lebhaft, bei den Mahlzeiten gesprächig, heiter und ausgelassen, was den Eltern Freude machen mußte. Auch zärtlich wurde er zu angemessenen Zeiten. Sie lobten ihn überall deshalb, in den nahen Familien wurde sein Beispiel als eines hochbegabten Musterknaben im Munde geführt. Einen Zirkel älterer Damen, der sich an regelmäßigen Nachmittagen bei Frau Beer einfand, entzückte er durch sein Klavierspiel. Die Freunde seines Vaters unterhielt er, bei ihren Kartenabenden manchmal, mit den letzten Kuplets, die in seinem Jugendkreise eben aufkamen. Er war der Liebling, die Hoffnung aller. Und Arnold fragte sich vergebens, wodurch er so viel Enthusiasmus erregt haben konnte. Ja es nützte auch gar nichts, wenn er einmal sich vornahm unliebenswürdig zu sein. Ein Besuch kam aus Berlin, eine Geheimratswitwe, schwarzgekleidet, überlaut und temperamentvoll, vor der er in einem fort seine Arme, Beine und Wangen in Sicherheit bringen mußte. Zur Strafe sprach er kein Wort mit ihr, erwiderte ihre mütterlich-verliebten Blicke mit möglichst gleichgiltigen. Es half nichts, einige Tage nachher schickte sie ihm, in einem Brief an Frau Beer, spezielle Grüße, zerschmelzende: »Dem lieben lieben liebenswürdigen Sohn, den ich so schnell liebgewonnen habe.« »Aber warum denn? – Ich hab sie gar nicht liebgewonnen. Ich war doch auch gar nicht lieb zu ihr« fragte er die Mama. »Du hast sie an ihren Sohn erinnert« war die Antwort. Er seufzte, sein guter Ruf war stärker als er … Nur einmal, erinnerte er sich, in frühester Jugend war diese Weihrauchwolke um ihn zerrissen worden – durch die Großmutter, die sonst in Wintertal lebte und nach einer von Spektakeln erfüllten kurzen Besuchszeit dahin wieder abreisen mußte. Sie hatte an allem etwas auszusetzen gefunden, auch ihm einmal einen Stoß vor die Brust gegeben, weil er ihr nicht schnell genug auswich, das wußte er noch genau … Doch da sie als unverträglich bekannt war, man sprach von ihr als von einer »Furie«, dem »bösen Geist der Familie«, tröstete er sich schnell über diesen Mißerfolg und die alte Glorie war bald wieder hergestellt. – Besondere Triumphe feierte er im Musikzimmer der Kurorte. Oder beim Kurkonzert, wo er in Potpourris die neuen, aber auch die altmodischen Opern wie »Zampa«, »Wasserträger« vom weiten erkannte, zum allgemeinen bewundernden Erstaunen, das ihn dann immer mit Abscheu erfüllte. Von solchen Philistern gelobt werden, pfui! Beschämt gestand er sich selbst, daß das nur daher komme, weil er seinen Mund nicht halten könne, immer gleich sagte, was er wußte. Er überlegte eben nicht, vor wem er sprach; jedes Publikum war ihm recht. Dann fiel ihm ein, daß ja wiederum solche Leute in keine andere als eine höchst bewundernde Stellung ihm gegenüber gehörten. Wenngleich er selbst sich für nichts Besonderes halte, diese dürften schon von ihrem Standpunkt aus ruhig es tun, ja sie müßten es, und kniefällig dazu. So mischte sich bei ihm Stolz und Ekelgefühl, Schmeichelei und Überdruß, und diese Mischung beschwingte ihn zwar nicht, doch drückte sie ihn auch nicht nieder, sie wurde seine gewöhnliche Atmosphäre … Von allen Anfechtungen unbesiegt blieb er der charmante junge Mann, der gute Gesellschafter, die Seele des Heims, und selbst der Bruder der Mama, Poldi Goldberg, der als armer Verwandter mit der ganzen Familie zerfallen war, machte ihm gegenüber eine Ausnahme, dankte ihm freundlich auf seinen Gruß … So hätte nicht viel gefehlt, daß er ganz in der Sphäre häuslichen Wohlgefallens eingeschlossen geblieben wäre, in der er so viel Beifall erntete; aber seine Eltern waren zu schwach, um ihn andauernd zu fesseln. Die Mutter eine sanfte Hausfrau, die alles in peinlichster Ordnung hielt, ohne daß man je ein lautes Wort aus ihrem Munde gehört hätte; der Vater mit all seiner nicht unbeträchtlichen Energie im Geschäft, sein einziges Glück »sich zu vergrößern«, daß heißt: den Laden jedes Jahr umzubauen, Wände durchzubrechen, Keller des Nachbarhauses mit seinem Hof zu verbinden oder wegen der Portale mit der Stadt zu prozessieren. Beide waren ordentliche gute gewissenhafte Leute, aber ohne jede Spur von Romantik, beide alt; und so wurde eben Arnold zunächst ins Eisigsche Haus, dann in die Kolonnen seiner Freunde getrieben, wo es so viel Resonanz für sein lautes Geschrei gab.

Sein Kreis hatte sich indessen in den wenigen Jahren nach dem Austritt aus der Hochschule einigermaßen geändert; Arnold wußte selbst nicht recht, wie es gekommen war. Da er nicht mehr in die Vorlesungen ging, hatte er die regelmäßigen Treffpunkte mit einigen verloren. Andere blieben aus, weil er die studentischen Vereine nicht mehr besuchte. Mit Krause, der immer fanatischer das Jüdische herauskehrte und gegen die »Assimilanten« loszog, hatte er sich nach einem Wortwechsel ganz zerschlagen. Dafür war Philipp Eisig nach mehrjährigem Aufenthalt in Amerika wieder aufgetaucht, gänzlich verändert in seinem Äußern, einem eingeborenen Ur-Chicagoer nicht nur in der Kleidung, sondern zum Erstaunen auch in den Gesichtszügen gleich, als hätte das fremde Land ihn von Grund aus umgeboren. Die alte Jugendliebe blühte unverwandelt wieder auf und mit ihr auch das alte Pumpverhältnis. Während nämlich Eisig für die väterliche Firma große Reisen unternahm und jedesmal mit einem dicken Haufen von Banknoten, die er sich angeblich erspart hatte, in die Stadt zurückkam, wurde Arnold für seine kärgliche Betätigung mit einem schmalen Taschengeldchen abgefunden und hatte immer unbefriedigte Bedürfnisse. Eisig stotterte nun auch nur unbedeutend, das hatte er in einer Anstalt drüben sich abgewöhnt, und behauptete überhaupt in allem die Oberhand, mit seiner tiefen mürrischen, aber sehr entschiedenen Stimme, seinem wankenden Korpus, dem sich der breite Kopf nur ungern nachschob, so daß er manchmal in der Luft zurückzubleiben schien, unsicher schwebend. Er hatte jetzt breite Schultern, ein reines Gesicht mit flachem braunem Haar in Wellen, das in der Mitte gescheitelt war, fast wagrechte Augenbrauen, helle mutige Augen, den Mund regelmäßig, die Stirn kindlich. Und dieses neue Gesicht trug er mit derselben Selbstverständlichkeit wie die neue überseeische Tracht, den niedrigen, wie ein weißer Ring ganz zusammenschließenden Kragen, die schön hellgelben Stiefel, die nach vorn in Keulen statt in Spitzen ausliefen. Unter seinem sehr langen Rock – er fiel bis fast ans Knie, ein unscheinbarer Stoff, doch von vollendetem Schnitt – konnte man keine Weste vermuten, eher den Leibgurt eines Trappers oder Patronenreihen. Und ebenso bequem wallten die Hosen herab, oben breit, am Fußgelenk schmal, wallten wie Fahnen im Wind und man hatte das Gefühl, darunter müsse gleich das Fleisch nackt und gesund sich regen. So zog er mit Arnold durch die Nachtlokale der Stadt, von denen keines ihm wüst genug war, und statt diesen alltäglichen Dingen zuzuschauen, gab er lieber selbst einen Tanz zum Besten, einen lustigen Niggertanz, der ihm lauten Beifall eintrug. Da trappelte er mit kleinen Schritten, fast auf demselben Fleck, während die Arme aufwärts schwebten, sein Kopf sich langsam senkte, wie um den immer schnelleren Schritten immer genauer zuzusehn; dann warf sich der Kopf wieder empor, während die Füße abwechselnd im Cakewalk mit Spitze oder Absatz aufklopften; dann waren in die Hände plötzlich fremdartige Matrosenbewegungen gefahren, sie hoben ruckweise ein Tau oder sie schleuderten es unsichtbar in den Saal; zum Schluß glitten die Beine aus, ganz steif fiel der Körper hin, lag schon ganz schief dem Boden nah, hupfte aber unvermutet wieder gerade in die Höhe … Der Clown verwandelt sich in einen Gentleman, der, die Hände in den Taschen, ohne Lächeln, ja mit trüben Augen an seinen Tisch sich zurückbegab, den Applaus überhaupt nicht hörend. Er beklagte sich darüber, daß es hier kein starkes Bier gebe. Er probierte die schwersten dunklen Sorten. Nichts. Er hatte sich eben, Gott verdamme es, an Ale gewöhnt … Arnold war entzückt von solchen Kraftausbrüchen. Nun ließ er sich von Philipp in die Gesellschaft anderer Geschäftsleute und junger Börsengrößen führen, die Nachmittags in matten Glaszellen, hinten in einem großen Kaffeehause, an kleinen grünen Tischchen Karten spielten. Bald beteiligte sich Arnold, verbrachte mit dem größten Eifer Stunden um Stunden mit Mischen, Abheben und Aufschlagen, mit den lustigen Zwischenreden dabei, die überlaut klangen, weil sie kurz waren, fühlte sich gemütlich und doch kampflustig in den Hemdärmeln, schloß sich von keiner noch so gewagten Kombination aus. Er verliebte sich ganz in die schlechte aufregende Kaffeeluft; gab es keinen Tarock, so las er nächtelang Zeitungen. Alle Kellner kannten ihn schon und schütteten gleich Stöße von Tagesblättern neben ihn auf das Plüschsopha, wenn er sich niedersetzte. Eisig starrte neben ihm in die Luft oder malte Zahlen auf den Tisch, wie es überhaupt seine Art war, sich lange Weilen schweigsamen Berechnungen hinzugeben, über die er nie etwas Näheres verlautete, die aber den Eindruck von Verwicklung und oft auch Ärgerlichkeit machten, nach seinen dicken Falten auf der Stirn zu schließen. Oft kam auch Lambert und die Bummelclique ins Kaffeehaus, Arnold wunderte sich, wie bekannt Eisig mit allen war … Diese Art von Geselligkeit nahm ihn nun fast vollständig in Anspruch; dazu noch Bobenheims Ruderklub, dann Söhne von Geschäftsfreunden, die sich ihm nach und nach angeschlossen hatten, jeder mit irgend einer Passion, sei es Okkultismus oder Weiber oder Jagden, und die Arnold natürlich in der gewohnten Weise regierte. In Börsekreisen lernte er damals auch den jungen Walder Nornepygge kennen, einen Chemiker, der sich erfolgreich mit Erfindungen und Börsenspekulation befaßte. Die gemeinsamen Freunde, die das Zusammentreffen der beiden arrangiert hatten, waren überzeugt, daß die beiden so ähnlichen Charaktere, beide so tätig und so vielseitig, einander schnell verstehn würden. Doch unerwarteterweise stießen sie einander gegenseitig ab, Nornepygge äußerte später, daß er Arnold roh gefunden habe, und Arnold nannte den andern im vertrauten Kreise »einen eingebildeten melancholischen Narren«. Überdies, so setzte er fort, habe er keine Zeit und Lust zu neuen Bekanntschaften. Und wirklich war er immer noch außerordentlich beschäftigt, in Anspruch genommen, und davon war noch lange keine Rede, daß er endlich einmal Zeit zu seinen eigenen Arbeiten gefunden hätte. Schon die paar Stunden im Geschäft, nicht viele, aber regelmäßig einzuhalten, nicht nach Belieben zu schwänzen wie die Universität, fielen ihm lästig, behinderten ihn aller Ende. Im Geschäft machte er übrigens bald gar nichts mehr, auch für sich nichts, schon der bloße Gedanke, daß er dort Gelegenheit habe, allein zu sein und seine innere Tüchtigkeit und wirkliche Arbeitskraft also zu erproben, reizte und verdroß ihn, – daß dies gewissermaßen ein Prüfstein sein könnte. Er erfand also allerlei Ausreden, wie den Lärm und die unziemliche Örtlichkeit, und nur in Briefen raffte er sich dazu auf, nebst schmetternden und daher eigentlich glanzvollen Klagen über den jetzigen Zustand baldige Änderungen in Aussicht zu stellen. Und im Anschluß an diese leeren Vormittagsstunden floß der ganze Tag wie von selbst schnell und lustig dahin, ohne daß Arnold jemals das ausgeführt hätte, was ihm im Sinne lag. »Ja, stärker wie Löschpapier bin ich eben nicht« seufzte er manchmal, in humoristischer und doch selbstanklägerischer Weise … Im ganzen war sein Umgang jetzt um einiges weniger geistig als vorher, doch er selbst war genau derselbe geblieben, immer tätig und befeuernd, auch mit großer Behaglichkeit, wenn er unter Menschen war; immer auf dem Sprung, sich in ein neues Abenteuer zu werfen, immer unterwegs, im Wagen oder zu Fuß, wie er sich denn auch eine eigene, besonders schnelle Gangart angewöhnte, mit weit gespreizten Beinen, um den vielfachen Rendezvous halbwegs zu genügen – und da hatte die Mutter gut sagen: »Kleine Schritte machen, Arnold, kleine Schritte.« Sie fand nämlich, daß seine schöne aufrechte Statur unter diesem Galoppieren litt … Welches Vergnügen fand er nun, beispielsweise, daran, eine regnerische Abendstunde bei seinem Schneider zu verbringen, in der hübschen und wohlgeheizten Probierstube, die eng wurde durch allseits anrückende Stellagen, behangen mit Röcken und Hosen. Lässig an den Pult gelehnt sah er dem alten Herrn zu, der mit geübter Hand die scharfe Kante seiner Talgkreide, dieser angenehm-klebrigen gelblichen Fläche, über die Stoffe wandern ließ und dann eine Schere – sie war so schwer, daß sie bei jedem Schnitt herabzusinken schien – die schnell geschwungenen Linien entlang in das Dunkel der hingebreiteten Stofflagen führte. Arnold bewunderte ihn, wie jede ausgezeichnete Tüchtigkeit, aufs innigste. Und dann kamen so viele Bekannte hin, um sich Maß nehmen zu lassen oder zu probieren wie er, man plauderte, der Schneider erzählte die neuesten Anekdoten, empfing neue von den Kunden dafür, es war ein heiteres erbauliches Stelldichein, in dem man doch immer durch den Anblick des Chefs, der bei aller Artigkeit und allen Scherzen eifrig sein ruhiges Geschäft weiter besorgte, vor dem Gedanken völligen Faulenzens, wie etwa im Kaffeehaus, bewahrt blieb. Man ging auf und ab, setzte sich auf die roten Holzsophas, die mit ihren dünnen Stäbchen (wie Möbel beim Photographen) einen zerbrechlichen Eindruck machten, stellte sich in Gruppen oder wandte sich in einer zierlichen Langweile ab, um ein Modegruppenbild an der Wand zum hundertstenmal zu studieren, über die Ideen und möglichen Beziehungen dieser Leute zu einander nachzudenken, die doch nur jeder wegen eines andern Kleidungsschnittes auf dasselbe Blatt gemalt waren, also im Grunde ebenso zufällig und ohne innern Trieb beisammen wie die wirklichen Menschen in diesem Raum; plötzlich aber lachte man auf über einen Witz, der hinter dem Rücken einem andern erzählt wurde, schwang sich wieder zu ihnen herum, fühlte wieder einen wärmenden menschlichen Zusammenhang in der beinahe starren Brust. O diese leisen Stimmen, das feine Kommen und Gehn über Teppiche hin, die gebeugten Köpfe, von denen der schöne Hut sich entfernt, diese Blicke, still und verbindlich, mit denen ein geeigneter Platz für den Schirm im Schirmständer gesucht wird, o diese Wunder einer zivilisierten Gegenwart, einer vornehmen reichen Stadt, diese laue Luftströmung unserer gefühlvollen Höflichkeiten! Und dazu klatschte der Regen an die Scheiben, es war nicht ratsam fortzugehn, man sah hinaus auf die belebte Gasse mit eilenden Menschen, deren Schirme im Wechsel der Beleuchtung sich unaufhörlich zu drehn schienen und wie schwarzes Glas funkelten, und in die gelberleuchteten Auslagen gegenüber, die mit all ihrer Pracht im Kot zu zerfließen drohten …

Arnold liebte jetzt solche Orte, an denen man viele Leute sah und Anregung hatte. Er besuchte alle Bälle, die Rennbahnen, die Tennisturniere. Ohne irgendwo als Mittelpunkt aufzufallen, eignete er sich schnell die entsprechenden Umgangsformen und Gewohnheiten an, entwickelte dann in ihrem Rahmen einen solchen Enthusiasmus, eine solche lustige Unbekümmertheit, daß stets ein Kreis bedürftiger und weniger erfinderischer Köpfe ihm Gefolgschaft leistete. Der harmlose Leichtsinn, mit dem er alles mitmachte, hatte von außen gesehn etwas Sympathisches, und graue würdevolle Herren klopften ihm manchmal auf die Schulter als einer Zierde und Hoffnung der Stadt, erfreut über sein frisches Gesicht, das gesunde Aussehn, die flotte Konversation, sie machten träumerische Augen, als dächten sie an ihre Jugend, als hätten sie eine Erinnerung ihm mitzuteilen, gerade ihm: daß sie früher mal es auch so getrieben, ach lange lange vorbei –, als unterdrückten sie eben das alles, um ihn nicht aufzuhalten und weil das ja keinen Zweck habe. Das alles lag manchmal in solch einem anerkennenden Auf-die-Schulter-Klopfen, mit dem sie ihn zugleich wegschoben, wieder in das Fest hinein … Arnold kannte bald alle wichtigeren Personen der Stadt, mehr oder weniger flüchtig. Einigen Spaßvögeln gegenüber, die ihm besonders gefielen und die ihn nicht minder schätzten, hatte er die Gewohnheit angenommen, sich gegenseitig in scheinbarer Rührung um den Hals zu fallen, so oft sie einander trafen. Dabei begleitete ihn immer noch der Ruf besonderer Bildung, besonderer Begabung; und wenn er hie und da ein kleines Klatsch- und Unterhaltungsfeuilleton im lokalen Blatt veröffentlichte, gleich hieß es: »Sie sind aber fleißig! Wo nehmen Sie nur all die Zeit her?« und neidisch fast: »Na, ich gratuliere.« Er erschrak immer bei so billigem Lob, fand aber zugleich etwas Angenehmes dabei, wie Betäubung, wie Halbschlaf. Selbst dachte er immer unlieber über sich nach. »Ich bin halt eine Fernwirkung« stellte er bei sich fest »von fern schaut's nach was aus, was ich treibe. Aber wenn man's näher anschaut …« Nun näherte er sich bald dem Dreißigerjahr und eigentlich hatte er noch immer keine irgendwie begründete Lebensstellung, frettete sich so im Nebenberuf als Anhängsel seines Vaters durch, dessen Geschäft er ja später einmal erben würde – ja, aber eben so sicher auch ruinieren. Seine einzige Hoffnung, sein Rückzug gleichsam auf sich selbst, war in dieser Zeit – nichts anderes als seine Markensammlung, die er auf Lamberts Rat und mit dessen Vermittlung durch beträchtliche Ankäufe vermehrte. Die gedachte er gelegentlich vorteilhaft loszuschlagen, nach Senff besaß sie jetzt schon einen Wert von fünfzehntausend Mark, und mit dem auf diese Art selbstverdienten kleinen Kapital wollte er sodann etwas Selbständiges und Ehrenvolles beginnen, in irgend einem fremden Land, eine Buchdruckerei in Amerika vielleicht, endlich einmal Ruhe und wirkliche Unternehmungsfreude haben. Liebevoll pflegte er also diese Sammlung, mit großem Ernst schrieb er alljährlich in kleinen Bleistiftziffern den erfreulich steigenden Wert unter jede Marke; wobei er sich natürlich nicht verhehlte, daß der wirkliche Verkaufswert kaum mehr als die Hälfte des angegebenen Katalogwerts ausmachte. Aber auch er hatte ja die Marken nicht teurer als zum halben Wert gekauft, noch dazu bei niedrigeren Preisen, gegen diese Art von Kapitalsanlage war also nichts einzuwenden. Und mochte auch der Vater diese ganze Sammlerei als dumme Verschwendung, als hinausgeworfenes Geld beschimpfen, Arnold konnte mit gutem Recht einwenden: »Und wo wäre das Geld, wenn ich es nicht für Marken ausgegeben hätte? Ich hätte es für andere Dinge ausgegeben und jetzt hätte ich gar nichts davon.« »Und was hast du jetzt davon! Großartig! Du meinst doch nicht, daß dir irgendwer für die Papierl etwas gibt?« Arnold bestand darauf, daß Marken ein Wert wie jeder andere sei. »Aber die Zinsen?« jammerte der Vater, in die Enge getrieben. Arnold lachte ihn aus: »Vierzig Knöpfe jährlich!« und wußte überhaupt für jeden Grund Gegengründe in Masse, da war er ja in seinem Element. –

Einmal vertrat ihm Eisig den Weg, dessen Gewohnheit es war, von der Seite plötzlich heranzukommen und mit der ganzen Masse seines Leibes sich dem Angeredeten in den Weg zu stellen: »Du, was sagst du zu Blériot?«

Es war die Zeit, in der die Aviatik ihre ersten Erfolge zum Staunen der ganzen Welt errang. Die Brüder Wright hatten sich mit ihren Apparaten in beträchtliche Höhen erhoben, Zeppelin war mit seiner ersten Reise glücklich gewesen, Blériot hatte den Ärmelkanal überflogen … Eisig, der eben von einer Tour aus Frankreich kam, wußte Wunderdinge zu erzählen. Er hatte zum ersten Mal Aeroplane gesehn, ja es war so weit gekommen, daß er einmal in Reims, als man in die Restauration von der Gasse hereinrief, draußen fliege eben ein Luftschiff über die Stadt hin, gar nicht vom Tisch aufgestanden war, so sehr war er an diesen Anblick schon gewohnt. Er hatte auch bereits ein Projekt: man müsse Blériot einmal in der Heimatstadt fliegen lassen, wenn nicht ihn, so doch wenigstens einen Schüler. Das koste nicht viel und man könne damit ein gutes Geschäft machen.

Arnold wäre nicht er selbst gewesen, wenn ihn die Neuheit dieser Idee nicht sofort gepackt hätte. Er geriet in Entzückung, beschwor den Freund um nähere Einzelheiten. Wie sehe so ein Aeroplan aus? Wie ein Vogel? Sei er groß, so groß wie die Gasse, größer, nein kleiner? Eisig antwortete, mit seiner tiefen Stimme, der die Langsamkeit der Aussprache stets einen Beiklang von Verdrossenheit gab, und damit kontrastierte merkwürdig genug die Zielbewußtheit, die List, die aus den Worten selbst sprach. Auch war sein Hals kurz und dick, beinahe null, so daß das dicke Kinn an die Brust stieß, und wollte er einmal lauter reden, ein Wort besonders betonen, so hob er nicht den Kopf, sondern senkte, um den Mund besser zu öffnen, mit fauler Miene das Kinn noch mehr, so daß es sich in Falten und mehreren Lagen über einander über die Kravatte hin ausbreitete. Für Arnold hatte dieses Stockende, Langsame, ihm so Entgegensetzte von jeher einen besondern Reiz gehabt Heute bezauberte es ihn so, daß er einen Vereinsabend des »Bürgerklubs« ausließ, obwohl er dort neulich als jüngstes Mitglied in den Ausschuß gewählt worden war. Er nachtmahlte mit Eisig im »Schweizer Keller« und schon zwischen Vorspeise und Braten war der Plan fertig: ein Konsortium zu bilden, zwecks Veranstaltung des ersten hiesigen Schaufluges.

Am nächsten Nachmittag konstituierte man sich. Eisig hatte noch einige Herren mitgebracht, von denen Arnold nur Lambert näher kannte. Es wurden sofort Listen angelegt, um die reichsten Mitbürger zu einem Garantiefond heranzuziehn. Man mußte nun von einem zum andern fahren, ihm die Wichtigkeit, kulturelle und andere, des Unternehmens vorhalten, den sichern Gewinn, mußte die Regierung einladen, das Militär. Arnold überlegte gerade für sich, daß er sich da wieder in eine hübsch zeitraubende Geschichte verwickelt habe; da schlug Eisig vor, ihn zum Obmann zu wählen. Es geschah mit freudiger Akklamation.

Unser Held hatte, wiewohl er sich darüber nicht klar war, im Grunde nichts anderes erwartet; pflegte er sich selbst doch manchmal in ironischer Laune den »geborenen Vereinsobmann« zu nennen. Wie vielen Ballkomitees, wie vielen Versammlungen hatte er schon präsidiert!… Nun rannte er in die Sache gleich mit dem frischesten, und doch gleichsam auch schon geübten Anlauf hinein. Zunächst die Presse. Man beherrschte sie durch Gottfried Eisig und da machte Arnold doch noch einmal eine Anleihe bei seiner ehemaligen jugendlich-gegenstandslosen Beredsamkeit, indem er gänzlich ohne Fachkenntnis, nur aus ein paar andern Zeitungsartikeln und dem Rest der Gymnasialbildung einen neuen Artikel zusammenkochte, und was für einen strahlenden, über die »Eroberung der Luft«. Er begann mit Ikarus, selbstverständlich, widmete sich in aller Kürze den Brüdern Montgolfier, wobei die drei in die Gondel mitgenommenen Tiere zu leichthumoristischer Wirkung gelangten, entfaltete sich behaglich über das Los der unglücklichen Erfinder von ehemals, über das Unmögliche und unmöglich Scheinende (Quadratur des Zirkels, Stein der Weisen, Röntgenstrahlen, drahtlose Telegraphie), gewann allgemach Donnerkräfte, besang in sparsamer Daten-Melodie, aber mit einer Begleitung rauschender vollgriffiger Begeisterungs-Akkorde die letzten Fortschritte der Menschheit, wobei einige Impressionen Eisigs zu geschickter Wirkung kamen, schüttete nun, oben angelangt, fast ohne Atem, wie aus einem Füllhorn auf die staunenden Heimatsgenossen die Verheißung nieder, daß man derartiges vielleicht bald auch in allernächster Nähe zu sehen bekommen werde, gipfelte aber klugerweise nicht in diesem Effekt, sondern in einer kurzen farblosen Bemerkung über die Flugwoche in Brescia. – An anderer Stelle des Blattes wurden sachlich die Namen der Arrangeure und ihr Programm bekannt gegeben. Anfragen und Nachrichten an die Adresse: Arnold Beer u. s. f.

In den nun hereinbrechenden Konferenzen bewies sich Arnold als fest und schlagfertig, geduldig und kühn, ja mit der Größe der Veranstaltung schienen sich seine Kräfte zu vervielfachen. Man hatte mit den Fliegern in Frankreich zu korrespondieren, die von allem Anfang die unverschämtesten Preise verlangten, wie beleidigt und zugleich stolz gemacht als echte Franzosen durch die Zumutung, daß sie ins Ausland sollten. Dagegen drängten sich Deputationen der Vororte heran, von denen jeder den schönen Vorrang und Profit des ersten heimatlichen Fluges einheimsen und jeder daher den geeignetsten Platz zur Verfügung stellen wollte. Indessen wählte das Komitee, um dieser Eifersucht auszuweichen und auch aus technischen Gründen angeblich, eine weite Wiesenfläche in der Nähe von Waldbrunn, dem kleinen Kurort nahe der Stadt. Jede Etappe der fortschreitenden Verhandlungen veröffentlichte Arnold in handfertigen Artikelchen; es wurde bald zum Stadtgespräch, daß die Eisenbahndirektion in entgegenkommendster Weise eine eigene neue Station errichten wollte, während sonst die Züge nur in der nahegelegenen Stadt Bischofstein hielten, daß sogar ein Nebengeleise zum Flugplatz gelegt wurde, daß die Postverwaltung ebenso liebenswürdig die Aktivierung eines eigenen Post- und Telegraphenamtes mit der Stampiglie »Waldbrunn-Aerodrom« für die Dauer der Aufstiege zugesagt hatte. Die städtischen Omnibuslinien nahmen Sonderfahrten in Aussicht, die Hotels erwarteten großen Zuzug vom Lande und sicherten sich Privatzimmer, die Polizei entwarf Pläne für diese neue schwierige Aufgabe, auch die Militärbehörde wurde unruhig. An den Straßenecken, in den Wagen der Straßenbahnen machten sich die ersten Plakate bemerkbar, Witze begannen zu kursieren.

Und all dies im Zuge erhalten, bewegen, treiben und wieder beruhigen, war Arnolds Aufgabe. Eisig und die andern besorgten das Geschäftliche, die Verrechnungen, den Kampf mit den Lieferanten, das Engagement des Aviatikers, den Kern der Sache gleichsam, alles hingegen, was das Äußere betraf, Repräsentation und ehrenvolle Fassade gegen die Mitbürger, oblag Arnold, und es zeigte sich bald, daß das Komitee allen Grund gehabt hatte, ihm diesen Verkehr mit der Welt zu übertragen, denn an vielen Stellen, wo er vorfuhr und Anhänger warb, sagte man ihm: »Wir tun's nur Ihretwegen. Sonst scheint uns ja die ganze Sache nicht sehr reell.« Man fragte ihn nach der Solidität dieses und jenes Mitglieds, einer wollte sogar wissen, daß der Grund, den das Aerodrom beanspruchte, vorher von Lambert gekauft und durch einen Vormann dem eigenen Konsortium gegen gehörigen Preisaufschlag weiterverkauft worden sei. Entrüstet wies Arnold derartige Anwürfe zurück, was für Verleumdungen, und in seinem Innern war er eigentlich nur darüber verwundert, daß diese jungen Leute, die mir ihrem Schliff die vornehmsten Gesellschaften in Erstaunen zu setzen pflegten, doch irgendwie aus rätselhaften Gründen nicht für voll angesehen wurden, wie sich jetzt herausstellte, während er, Arnold, ein redliches Ansehn genoß. Doch dachte er darüber nicht weiter nach, nahm solches nur für die üblichen Schwierigkeiten, die sich großen unvorhergesehenen Unternehmungen seit jeher in den Weg stellen müßten, und nicht etwa in seinem Vertrauen machte es ihn wankend, sondern wie ein leises Prickeln der Gefahr drängte es ihn nur noch ungeduldiger vorwärts, trieb ihn noch mehr, alle Kräfte aufzubieten, das Zerbröckelnde zu stützen mit den Armen eines Atlas, und zu leisten, was nur zu leisten war, in eigener Person. Er kam nun oft von früh bis Abend nicht aus dem Automobil. Das Telephon hörte nicht auf zu klingeln. Mittag war er einmal bei Tisch so zerstreut, daß er die Suppe mit der Gabel zu essen versuchte. Ängstlich sahn ihm die Eltern zu. »Ich warne dich«, sagte der Vater, »aber du machst ja doch nur immer, was du willst.« – »Er ärgert sich, weil ich jetzt überhaupt nicht mehr ins Geschäft komme,« registrierte der Sohn und war im Grunde seines Herzens froh, daß er nun auch die Vormittage mit geistsprühender geselliger Tätigkeit anfüllen konnte. Er schlief jetzt nur wenige Stunden, so daß er morgens vor dem Spiegel manchmal erstaunte, gleich nach dem Aufstehn, wie unversehrt noch seine Nachtfrisur auf dem Kopfe stand, noch gescheitelt und noch wie zusammengepreßt vom Rauch der Weinlokale. Aber unter der Stirn ging es wirr und polternd, die Ideen wie Steinlawinen. Er überredete Bobenheim und seine Sportsfreunde dem Komitee beizutreten und durch das Ansehn dieser wirklich patrizischen Familien, nicht solcher Windbeutel, befestigte sich nun die allgemeine Neigung, mit ihr die Sicherheit des Unternehmens. Die Beiträge liefen jetzt beträchtlicher ein. Der Landesausschuß gab eine Subvention. Man trug sich mit Unerhörtem, nach dem ersten Flug sollte ein ganzer Zyklus veranstaltet werden, ein Wettbewerb der verschiedenen Systeme, ein Rundflug über viele Städte hin, man wollte die Maschinen kaufen und eine Schule gründen, das Aerodrom sollte jedenfalls für ständige Veranstaltungen stehen bleiben. Kurz, Arnold glaubte endlich den Beruf gefunden zu haben, für den er paßte. Wer weiß, vielleicht lernte er selbst fliegen, vielleicht gelang ihm eine epochemachende Verbesserung, und, von dort aus gesehn, würde dann sein ganzes Leben bisher einen Sinn bekommen, alle seine mannigfachen Kenntnisse und Beziehungen würden ihn dann wie nach einem Plan zu diesem großen Ziel hingeleitet haben. Er hatte jetzt nichts im Kopf wie diese ungeheure Zusammenfassung seines Seins in einer nahen stürmisch-blitzenden Zukunft, und nur wie ein dunkler Wind wälzte sich noch der Schwall anderer Lebensverknüpfungen hinter ihm her, die Vergangenheit mit ihren Ansprüchen, die er möglichst schnell und nebenher abtat.

Draußen in Waldbrunn erhoben sich schon die gelben rohen Holzplanken des Aerodroms, und für Arnold, der auch die ganze Korrespondenz besorgte, war aus ein paar Brettern mitten im Bauplatz ein kleines Zimmer errichtet worden, sein Bureau. Er arbeitete zwar das Wichtigste in der Stadt, im Palasthotel, in dem das Komitee über einige Zimmer verfügte, doch fuhr er gegen Abend täglich auf den Rennplatz hinaus, um sich vom Fortgang der Arbeiten selbst zu überzeugen, oft brachte er auch Journalisten, Offiziere, Sportsleute, Gönner mit. Und da fand er, daß ihm manchmal da draußen, im kühlen Abend, aus der wehenden duftenden Waldluft, die besten Gedanken kamen – sofort schreiben, Brief aufgeben, das war ihm Bedürfnis, und da man ja im Kleinen das Geld nicht sparte, das ganze Komitee vielmehr die herrlichsten Dinge je nach Geschmack der einzelnen, in Erwartung des sichern Glücks, herunterschluckte, hatte er eiligst dieses »Wigwam«, wie er es nannte, sich bauen lassen. Nirgends noch hatte er sich so wohl gefühlt wie zwischen diesen schnell zusammengenagelten, groben, harzig-riechenden Brettern, die man nicht anrühren durfte, ohne einen Span in die Finger zu kriegen, und die nicht einmal bis ganz auf den Boden reichten, so daß man untendurch den Wiesenboden sah, die Schuhe der Vorbeigehenden. Herein klangen unaufhörlich Hammerschläge und Kommandorufe, ein rhythmisches Pfeifen, schwache Stimmen verwirrt. Man fühlte förmlich das Werk, wie es rüstig wuchs, wie es mit wonnevollem Gebraus aus dem Tal gegen die Waldanhöhen hin emporstieg, und Arnold, der sich als das Herz dieses Lebens fühlte, seinen Willen im entferntesten Maurerjungen noch, schrieb auf elegantem bläulichen Briefpapier, das eine Art Wappen des Konsortiums in Reliefpressung trug, seine befehlshaberischen oder einschmeichelnden Manifeste. O hier war er zu Hause, hier hatte sein Leben, das fühlte er wohl, zum erstenmal einen Höhepunkt erreicht. O Gott, hier sich einklammern, dachte er, um diesen Mittelpunkt Zellen ansetzen, sonst komme ich nie zum Eigentlichen. Aber was ist es denn, das Eigentliche im Menschenleben, das, weshalb man lebt? Gibt es das überhaupt? Ist es nicht vielmehr eine Phantasie von mir? Vielleicht habe ich dieses Eigentliche schon einmal in der Hand gehabt und habe es nicht gewußt. Vielleicht geht es allen Menschen so wie mir. O nein, vielleicht erlebe ich eben jetzt das Eigentliche oder marschiere geradeaus darauf los … Seine Angst verschwand, er atmete tief und kühl, er schaute einen Augenblick durch das kleine Fensterchen in die Sonne, die dem Untergang entgegenzitterte. »Die ist doch das größte Etablissement hier in der Nähe« sagte er leise vor sich hin, wie einen kleinen verliebten Witz, ein Kompliment, als stünde er auf du und du mit dem roten Gestirn, als streichle er diese Fläche, von der jetzt wie von einer ungeheuren Pfanne aus die letzte Hitze emporschlug. Und er errötete bei diesem Gedanken, als fühle er sich heute, in der Blüte seiner Energie, einer solchen Freundin nicht unwürdig. Man konnte jetzt den Glanz dieser Sonne mit dem Blick schon aushalten, man sah ihre Kreiseinfassung deutlich als dünne zitternde Linie, und die gelbe glänzende Fläche schien gleichsam tiefer in den Himmel hineingedrückt, wie eine Münze mit scharfem Rand …

Abends nach getaner Arbeit überfiel ihn ein ruhiger tiefer Glücksrausch. Er kreuzte die Arme und trat aus seiner Brettertüre ins Freie, fühlte den schwachen Waldwind an seinen Schläfen, in die Haare hinein, und obwohl er gar nicht wußte, wohin mit all der Kraft, machte er keine Bewegung, sie abzuleiten, ließ gleichsam den Deckel über seine inwendige Zufriedenheit stürzen und sie sorgsam gar kochen in ihrem eigenen Dunst … Manchmal rief er auch die Kinder zu sich, die von der Straße her dem bewegten Arbeitstreiben zusahn, und begann mit ihnen zu spielen. Es waren Dorfkinder und Kinder von Waldbrunner Kurgästen, alle freuten sich über das, was da gebaut wurde, waren gespannt auf das Kommende, verstanden am Ende mehr davon als ihre erwachsenen blasierten Eltern. Arnold liebte Kinder; unter ihnen erwachte seine noch kaum verschwundene Lust am Fußballspielen aufs neue, sein Vergnügen an jedem tollen Herumschrein und Vorwärtsstürmen, sein oft sinnloses Kommandieren und Kommandiertwerden. Von Zeit zu Zeit, wenn er zufällig in eine Kindergesellschaft geriet, fühlte er sich auch immer schnell als einer der ihren, fand unter ihnen Trost gegenüber dieser langsam klebrigen Welt, ohne jedoch ein Prinzip daraus zu machen, sondern von einem zum andern Mal vergaß er diesen Eindruck und war immer aufs neue überrascht … Einmal arrangierte er jetzt, in Waldbrunn, ein Wettrennen längs des Waldsaums. Der blonde Gerhart, ein großer Junge von etwa fünf Jahren, fiel über jede Baumwurzel hin, endlich aber so derb, daß er zu schrein anfing …

Eine Dame eilte heran und Arnold begann sich bei ihr zu entschuldigen.

»Im Gegenteil, sie haben ganz recht, Wichse verdient er, tüchtige.«

Jetzt erst, erstaunt über diese in devotem Ton hervorgebrachte und, wie ihm gleich auffiel, ziemlich unsinnige Rede, blickte Arnold die Dame an, während er bisher nur an dem kleinen quäkenden Kerlchen herumgearbeitet hatte, um ihm einen Schmutzfleck von der Nase zu wischen … Es war eine große auffallende Blondine, die er schon mehrmals gesehn haben mochte, und nun wußte er auch, wo: sie hatte ihm einigemal, wenn er hier auf Bauplätzen und Gerüsten herumregierte, mit einer Andacht zugesehn, die ihm zugleich schmeichelhaft und widerlich vorgekommen war, ohne daß er sich übrigens viel um sie bekümmert hätte.

»Aber verzeihn Sie, gnädige Frau …«

»Ich bin nur die Gouvernante« entgegnete sie in einem Ton, als könne sie sich nicht schnell genug demütigen. »Im Gegenteil, ich habe Ihnen zu danken, Herr Beer …«

»Sie kennen mich …«

Sie lächelte und nickte: »Par Renommée! Ich war einige Jahre bei Grünbaum, bei der jüngeren Schwester des Herrn Technikers Grünbaum. Da hat man so oft von Ihnen geredet und immer nur das beste …«

Etwas, was nicht oft geschah: Arnold wurde verlegen, errötete sogar ein wenig. Er konnte sich im Augenblick absolut nicht vorstellen, welches Gute denn die Schwester Grünbaums mit ihrer Gouvernante von ihm gesprochen haben dürfte … Als müsse er so unverdientes Lob abwehren, stotterte er: »Dafür treffen Sie mich jetzt in einer Situation …«

»O nein, ich bewundere Sie ja – wie Sie sich auch noch mit Kindern abgeben können, ein so beschäftigter Mann …«

»Ja, ich treibe viel unnützes Zeug,« seufzte er.

»Unnütz? O wer dürfte das sagen. Im Gegenteil …« Sie stockte, und Arnold fand es grausam süß, sie bei diesem Wort, das sie jetzt schon zweimal in der kurzen Weile gebraucht hatte, ein wenig zappeln zu lassen. Endlich fuhr sie fort: »Was Sie leisten, davon erzählt ja die ganze Stadt.«

»Was man erzählt, das ist nicht immer wahr.«

»Sie sind zu bescheiden, Herr Beer, ich habe es ja auch selbst gesehn … nur in den letzten Tagen zum Beispiel …«

»Das war ein hübscher Oberleutnant neulich … was?«

»Wollen Sie mich auslachen?« Sie machte ein beinah beleidigtes Gesicht, mit gerunzelter Stirn, doch etwas störte die Wirkung des Gekränkt-Aussehens: die Wichtigkeit und der durch nichts geforderte, allzu liebevolle Ernst, mit dem sie das Folgende erklärte: »Sie meinen, daß ich auf buntes Tuch fliege? O nein, das imponiert mir gar nicht …«

»So, so …« Arnold schüttelte den Kopf. Obwohl ihn diese Beobachtung wenig interessierte, fand er bei sich, daß das Fräulein allerdings so aussehe, wie er sich im allgemeinen Frauen oder Geliebte von Offizieren vorstellte. Sie war groß, blondhaarig, eine »Fernwirkung«. Ihr starker, doch nicht mehr als anmutig geschwellter Busen zog die Blicke auf sich. Im Gesicht aber lag eine eigentümliche Disharmonie. Arnold durchforschte es, kam jedoch zu keiner Erklärung dieses Eindrucks … Dabei hatte er sich langsam neben dem Mädchen, das den Knaben an der Hand führte, in Bewegung gesetzt. Er redete etwas vom Militär, ganz unklare Dinge, denen ein aufmerksames Lauschen seitens der Dame begegnete. Er wußte kaum, was er sprach. Vielmehr war er einzig damit beschäftigt, unter dem Vorwande, daß er die Mütze des Knaben studierte – der Knabe ging zwischen ihm und dem Fräulein – zu bemerken, wie bei jedem Schritte des Knaben über dem roten Bummerl der Mütze die schöne weibliche Hüftenrundung im blauen Rock auftauchte und wie eine Welle wieder versank, er sah das mit jenem Anflug willenloser Schläfrigkeit, die den Beginn sinnlicher Erregungen zu begleiten pflegt. Dabei hörte ein Widerstand, eine Art von Ekel, nicht auf, sich in seinem Innern fühlbar zu machen. Plötzlich hatte der Widerstand gesiegt, Arnold wachte auf, und begann nun die Scheinbeschäftigung mit dem Knaben in eine wirkliche umzuwandeln. Er brach mitten im Satz ab, neigte sich wieder, und während sie durch den Wald weiter dem Kurörtchen zuschritten, kitzelte er das Kind links am Ohr, indes er sich rechts von ihm hielt. Gerhart sah zum Fräulein auf. Nun zupfte ihn Arnold geschwind am rechten Ohr und schaute sofort in die Luft. Der Knabe aber verstand schon den Witz und drehte sich mit wütendem Gelächter gegen Arnold, um ihn ins Knie zu boxen. »Wirst du nicht unartig sein!« ermahnte die Bonne und wollte ihm in die Hand fallen. Inzwischen hatte aber auch Arnold eine Abwehrbewegung gemacht und so trafen sich vor seinem Bein plötzlich die drei Hände. Die des Kindes löste sich gleich wieder los, um mit aller Gewalt auf Arnolds zweites ungeschütztes Knie loszuschlagen; aber die Finger des Fräuleins und Arnolds blieben fest beisammen, verschlangen sich einen Augenblick lang ineinander, während auch ihre Blicke offen ineinander tauchten. Beide waren still; eine herrliche Gelegenheit für den kleinen Rangen, mit beiden Fäusten auf Arnolds Knie sich der Rache hinzugeben. Und er trommelte, bis Arnold mit gleichgültigem, gar nicht mehr kinderfreundlichem Schub ihn abschüttelte …

Sie hieß Feistnig und stammte aus Deutschböhmen, aus dem Erzgebirge. Ihre Eltern waren sehr arm, er solle nur ja nichts anderes dahinter vermuten, ein armer Bauer, eine arme Spitzenklöpplerin; und deshalb mußte sie dienen. Übrigens hatte sie die Lehrerinnenbildungsanstalt absolviert, ja gelernt hatte sie etwas, Gott sei Dank. Einer ihrer Lehrer habe sie heiraten wollen, aber das hatte sie ausgeschlagen, weil er ein Witwer war. »Ein Wittmann hat zwei Herzen.« Nein, das mochte sie nicht. An Heiratsanträgen war kein Mangel. Mochte Gott wissen, was die Leute an ihr fanden … Arnold machte ihr ein Kompliment … Sie erzählte schon etwas von einem Berg und einem Bach bei ihrem Heimatsdorfe. Wenn sich ein Mädchen in einer Märznacht in diesem Bach wasche, dann werde sie schön. »Und das habe ich ein paar Jahre hinter einander gemacht, so dumm war ich. Ja, wenn man jung ist. Ja die Heimat …« Diese sanfte Poesie fand Arnold unausstehlich, diese schwärmerischen Augen. Zudem bemerkte er mit Mißvergnügen, daß das Gespräch immer wieder stockte, daß es ihn solche Mühe kostete, als müsse er jeden Augenblick es von neuem anknüpfen. Er hatte das Gefühl, als mache er mit jeder seiner Fragen eine wichtige und schwierige Erfindung, die indes von seiner Partnerin nur ganz oberflächlich ausgeschöpft wurde; und im nächsten Moment stand er schon wieder vor der Notwendigkeit, etwas Neues zu erfinden. Also los, er gab sich einen Anlauf und fragte sie nach ihrem Vornamen. Sie wollte ihn nicht sagen. Er bestand darauf. Nun aber blieb sie seltsamerweise eigensinnig, gerade den Vornamen wollte sie nicht sagen. »Warum denn nicht?« »Sie müssen nicht so neugierig sein.« Er bat sie: »Nein, das ist aber nicht nett von Ihnen« und dachte dabei: Endlich ein Gesprächsstoff gefunden! Sie lachte: »Muß ich denn immer nett sein?« »Aber jetzt haben Sie mir schon so hübsch erzählt.« »Wer zu viel weiß, wird bald alt.« Endlich gab sie es ihm frei, zu raten. Er riet: Anna, Toni. »Das i wär richtig.« Er strengte sich an und jetzt erst zum erstenmal empfand er eine Art geistiger Erregung ihr gegenüber. Plötzlich wandte sie sich dem Kleinen zu, der auch beschäftigt sein wollte und unaufhörlich an ihrem Kleid riß. »Du, fang mich!« … Sie lief voraus. Ihre Gestalt war mächtig und dabei schlank in der Taille. Einfach, aber gerade infolge der Glätte wie durchsichtig zeichnete der Rock, in der Bewegung jetzt, ein reizendes Spiel langer Beine, das sich im Ungegliederten fast geheimnisvoll verlor und erst an den sich drehenden Hüften eine Fortsetzung fand. Der volle Busen lehnte sich wie ein kleiner Polster neben den Baumstamm, an den sie sich schmiegte, um sich umzudrehn und aus dem Versteck hervorzugucken, und zugleich wirbelte es unten am Rocksaum weiß wie Wellenschaum aus dem Innern hervor, um leichte spitze Füßchen. Dazu strömte der gewaltige Geruch der Tannen im Abendwind, als verstreue ihn das Mädchen mit ihren lebhaft hin und hergeworfenen Armen, mit ihren Wendungen, denn bald lief sie davon, bald stand sie und rief das Kind, machte einen Tanzschritt zur Seite. Arnold konnte es nicht lassen, er beteiligte sich am Spiel. Zunächst stellte er dem Knaben die Wahl, ihn oder das Fräulein zu fangen, und jauchzend trieb sich Gerhart hinter beiden her, ohne sich zu entschließen. Er war noch zu jung für vernünftiges Spiel, er wollte nur strampeln und schrein. Dann schrie Arnold – mehr um sich mit ihr als mit dem Knirps zu verständigen –: nun würden sie also beide das Fräulein fangen, und jagte schon hinter ihr drein. Und dabei hatte er eigentlich nur die Absicht, das Gespräch fortzusetzen, ihren Widerstand wegen des Namens zu brechen. Aber schnell blieb Gerhart zurück, das Fräulein floh immer entschiedener, Arnold bekam immer mehr Lust sie einzuholen, sie bog, da er schon ganz nahe bei ihr war, mit einem geschickten weiblichen Ruck zur Seite, ins Gehölz, er verfitzte sich zwischen den Ästen, ihr nach, die ihm ins Gesicht schlugen, – da öffnete sich eine freiere Stelle und sie konnte ihm nicht mehr entrinnen. Von hinten her umklammerte er sie, drückte sich an sie: »Also wie heißen Sie, schnell, wie heißen Sie?« Sie suchte sich loszumachen, ermattete und seufzte: »Lina,« wie besiegt … damit fiel ihr Rücken an seine Brust zurück, ihr Köpfchen hob sich, das bisher wild geduckte, während der seine über ihre Schulter herüberkam. Das hatte kaum eine Sekunde gedauert. Schon spürte er den fremdartigen Geruch ihrer Haare, ihres Atems, und in demselben Augenblick erschien es ihm widerstrebend bis zur Unmöglichkeit, einem unbekannten Menschen plötzlich, unvermittelt so nahe an die Haut zu geraten. Eine bittere Wolke schien ihm aus ihren dunkelroten, halbgeöffneten Lippen emporzuquellen, die er jetzt knapp vor den seinen hatte, und allem Widerstreben zum Trotz zog ihn dieser warme unangenehme ungesunde Dampf in sich hinein, wie man manchmal Freude daran findet, die Fingernägel über die eignen Finger schneidend und immer tiefer zu ziehn, vom Schmerz nicht ablassen kann … Er hatte sie auf den Mund geküßt. Sie stieß ihn zurück, nun energisch und mit einer ganz erstaunlichen Unfreundlichkeit, eilte wieder auf den Weg zurück … Arnold glaubte, sie beleidigt zu haben, folgte ihr langsam. Sie tat ihm leid. Eben hatte er noch in einer leichten Stimmung von Verführungskünsten und von Gedanken wie: »Na, man muß dem Mädel den Gefallen tun« herrschaftlich geschwelgt, jetzt sagte er sich: Ich bin ein Barbar, was mag sie sich von mir denken … Sie führte nun den kleinen Gerhart an der Hand und sprach kein Wort, die Augen niedergeschlagen. Er neckte wieder den Knaben, ziemlich geistesabwesend, nur weil es ihm peinlich war, ganz stumm zu sein. Allmählich redete auch sie: »Nun also, wirst du dem Herrn die Hand geben, wirst du hübsch artig sein?« Ein Stein fiel Arnold von Herzen, da er ihre unveränderte, etwas zu blendendweiche Stimme wieder hörte; er erhob den Kopf: »Er ist artiger als Sie, Fräulein Lina … Lina« wiederholte er leiser und fuhr fort »er hat keine Launen, benimmt sich artig, nicht war, du?« und bückte sich zu dem Gesicht des Kleinen herab. »O Sie sollten ihn nur sonst kennen, was, Geri? Er kann schon sein Stückl bestehn« … So kam das Gespräch wieder in Gang, ganz ruhig, als ob nichts geschehen wäre. Es war so dunkel geworden, daß man einander nicht mehr die Gemütszustände vom Gesicht ablesen konnte, das gab einen guten Übergang zur Unbefangenheit, in die sich übrigens das Fräulein, so schnell ging es, auch ohne Dunkelheit bald hinübergedreht hätte. Nun klang ihr Lachen wieder wie vorhin, etwas übertrieben und künstlich, bei jeder Wortwendung Arnolds, die nur ein wenig von der geraden Ausdrucksweise abwich. Es war ein gewissermaßen tiefernstes, beinahe tragisches Lachen und verwandt jenem speichelleckerischen, das Schulkinder bei den kleinen Witzen des Lehrers hervorstoßen. In seiner Pedanterie blieb es niemals aus, kroch einem wie ein Hund nach. Arnold, der sich durch Linas Zurückweichen nach dem Kuß angezogen gefühlt hatte, wurde wieder verdrießlich … Endlich mündete die Waldchaussee auf die Landstraße mit ihren Obstbäumen, bald war man bei den ersten Häuschen von Waldbrunn angelangt, wo sich Arnold mit einem Handkuß vom Fräulein, von Gerhart mit einem Backenzwickerl verabschiedete.

Am nächsten Tag dachte er nur mit Unlust an diesen Vorfall. Was für eine neue Störung!… Arnold war von wenig sinnlicher Anlage, sein rasches Leben schien tieferen Eindrücken der Frauenschönheit gleichsam zu entgleiten, so wie etwa ein reißender Bergbach von der Sonne nicht bis auf den Grund durchwärmt werden kann. Es sind ja meist die schwerblütigen Naturen, nicht, wie man meinen sollte, die lebhaften, die an den Frauen untröstlich kleben bleiben … Er hatte zwar die ganze nicht eben umfangreiche Skala großstädtischer Verderbtheit mitgemacht, mit den Freunden eben, war eine Zeit lang von einer Dirne mit mehr als bezahlter Liebe geliebt worden, hatte Stubenmädchen und Weinstubenkellnerinnen Sonntags ins Hotel geführt, oder hatte in der Garderobe eines Klubhauses ein Familienmädchen eilig abgeküßt, aber all dies ohne rechten inneren Anteil, nur schnell und stundenweise und mit dem stets wachen Bewußtsein, daß daran nicht viel sei. Das Vergnügen überhaupt war seine Sache nicht, er strebte nach Anstrengungen, Leistungen, Wirkungsmöglichkeiten. – Diesmal aber schien er an ein anständiges Mädchen geraten, die die Sache ernst nahm, und das machte ihn unruhig. Ein langes Verhältnis konnte etwa daraus entstehn, mit Zärtlichkeiten, Verpflichtungen, gebundenen Rendezvous, kurz all den Dingen, zu denen er keine Zeit und Lust hatte. Sie gefiel ihm auch nicht besonders. Er sagte sich, indem er ernst wie ein Kaufmann Aktiva und Passiva gegen einander hielt: No ja, ein fesches G'stell, aber das Gesicht mutet mich nicht an, eine typische Fernwirkung … Den Fehler ihres Gesichtes hatte er allerdings noch nicht herausgefunden, konnte sich überhaupt nichts mehr an ihr genau vorstellen, nur noch die feine dünne Empfindung seiner Fingerspitzen an ihrer leise aufrauschenden Seidenbluse, als er sie umfaßt hatte, und diese Erinnerung regte ihn freilich doch ein wenig auf. Ueberdies war sie ja so dumm, so simpel. Arnold hielt die Weiber überhaupt für unfeine inferiore Geschöpfe; lächerlich, mit ihnen sich abzugeben. Und mehrmals kam er erleichtert auf den Gedanken zurück, daß ja nichts Großes zwischen ihnen vorgefallen war, Gott sei Dank. Er stellte sich erschauernd sein Gefühl heute vor, wenn … Nein, das auf keinen Fall! Und doch wußte er, daß es dazu gekommen wäre; gut, daß der kleine Junge dabei war, o, er segnete ihn nachträglich. Und die ganze Sache wurde ihm mehr und mehr unheimlich, da er fand, daß sie ihn doch von seinen wichtigeren würdigeren Geschäften mehrfach in Träumereien abzog.

Am Nachmittag blieb er in seinem Wigwam, schrieb und kümmerte sich um nichts anderes … Da stand sie in der Tür, den Jungen an der Hand: »Ich mußte mir doch mal ansehn, wie Sie wohnen«. Er fand kein Mittel unhöflich zu sein, auch nicht die Neigung dazu. Mit einem gewissen Stolz (wie ehemals vor den Kurkapellen) setzte er sich zwanglos vor ihr in Szene, zeigte ihr den beladenen Tisch, den riesigen Einlauf, das ganze einfache Gehäuse, das so recht seine eigene Schöpfung war, die einzige bisher. »Hier möchte ich ganz gerne wohnen« knüpfte er bedeutungsvoll an ihren Scherz an, mit einem tiefsinnigen Blick gleichsam in die eigene Seele »hier ist der einzige Ort auf Gottes weiter Welt, wo ich mich zu Hause fühle …« Sie fürchtete zu stören, er hatte so viel zu tun, nicht wahr. Diese Zurückhaltung rührte ihn, er erklärte, daß es nicht so arg sei, und las den halbfertigen Brief vor, der auf dem Tisch lag, um ihr zu zeigen, förmlich herablassend, daß das alles doch gar kein so besonderes Kunststück sei. »Das würde ich auch zusammenbringen«, lachte sie. Er ermunterte zu einer Probe. »Gerhart, spiel da draußen«, sie führte das Kind vor die Tür, wo noch große Sandlöcher um die eingerammten Pflöcke offen lagen, »da hast du Mehl und Zucker.« Und schnell kehrte sie zurück, entwarf ein paar Briefe, nach kurzen Andeutungen, die Arnold machte. Ihre Intelligenz überraschte ihn. »Da hätte ich ja einen perfekten Sekretär, das wünsche ich mir schon lange, nur hab ich's bisher nicht so weit gebracht.« »Ich komme jeden Nachmittag, wenn Sie wollen,« stimmte sie erfreut zu und eifrig schrieb sie weiter, sorgfältige Buchstaben, wobei sie ihre ohnedies großen hellgrauen Augen noch mehr herauswälzte. Arnold ging zuerst auf und ab, blieb aber dann stehen und betrachte sie von der Seite, irgend etwas fesselte seine Aufmerksamkeit, ohne daß er sich darüber Rechenschaft ablegte, erst nach geraumer Weile bemerkte er, daß es wieder diese im Verhältnis zur dünnen Taille reizend sich vorbiegende weiche Linie ihrer Brust war. Er bemerkte es ärgerlich, trat aber, noch halb im Taumel, hinter ihren Sessel und prüfte mit schwerem Ernst, ja mit Bekümmernis, die Wölbung ihres Rocks um die Hüften, dann die Falten der Bluse, denen man es anmerkte, daß darunter der Leib eng geschnürt war, betrachtete voll Interesse die scharfe, wenn auch nur wenig gehobene Kante, die der obere Rand des Mieders deutlich in den Blusenrücken preßte, glitt zum Gürtel mit seinem Blick und tiefer hinab, wo ihn das in jedem der zart eingewebten Rockstreifen ausgedrückte Anschwellen und dann das im finstersten Schatten ganz undeutliche Abschwellen zur Verzweiflung brachte. Endlich raffte er sich auf; ein Coupletrefrain, oder war es nur ein Spottvers, ging ihm im Kopf herum, immer lauter: »Er regt soch auf, hat nichts davon.« O pfui, wie ordinär war das, wie ordinär erschien er sich, ordinär, ordinär, und welch ein erbärmlicher Kontrast zu diesem Mädchen, die in ihrem Eifer und Schülerschreiben im Grunde einen so netten Anblick bieten mußte. – »… regt soch auf, hat nichts davon.« Wie ordinär! Die Schamröte stieg ihm ins Gesicht. Und so sind also die Männer. O wenn sie wüßte … Wahrscheinlich hatte sie gar keine Ahnung davon, welche ihr gewiß ganz entlegene Wirkung die Profilansicht ihres Körpers, ihr Rücken auf diesen – gebildeten jungen Mann ausübte. Sie arbeitete da, zeigte voll harmloser Beglücktheit, was für ein kluges Mädchen sie war … Oder wußte sie es? Verstellte sie sich so gut? In diesem Gedanken legte ihr Arnold teuflische Krallenhände zu, Hörner unter der blonden, welligen Frisur. Er entfernte sich von ihr, bis in die entfernteste Ecke der Hütte, von wo aus er sie anrief: »Nun, sind Sie bald fertig?« – Jetzt erst bemerkte er, wie lange er nichts gesprochen hatte. Was war denn vorgegangen? Wieder stieg der Coupletrefrain in seinem Kopfe auf, so daß er sich schüttelte. – Sie nahm es für Ärger und beeilte sich noch mehr: »Ja, ja, gleich«, dabei legte sie eine Wange auf den linken Arm, schob das Papier weit nach rechts und jagte mit schräger Feder darüber hin. Als sie fertig war, bewegte sie den kleinen Finger der rechten Hand hin und her: »… tut weh.« »… regt soch auf«, dachte er unwillkürlich in demselben Moment, durch den Rhythmus ihres kurzen Sätzchens aufgestachelt, wie ein höhnisches Echo. »Bin's halt nicht gewöhnt«, setzte sie fort. Ihm fiel der zweite Teil des Couplets ein, unaufhaltsam. »Wird das so weitergehn?«, dachte er wütend. Zugleich spürte er eine kindliche Wichtigtuerei aus ihren Worten heraus, die ihm gefiel, aber nichtsdestoweniger seine Überlegenheit zurückgab. »Rufen Sie Gerhart«, befahl er und hütete sich, ein »Bitte« dazuzusetzen. Er sah sie streng an, mit einer energischen Miene, die eigentlich ihm selbst galt. Sie ging an ihm vorbei, durch die Türe hinaus. An seinem gespannten untätigen Stehnbleiben in diesem Moment merkte er, daß er, wieder verlockt, sie blöde anstarrte … Erst unterwegs dankte er ihr für die Mühe. »Jetzt sind Sie so lange gesessen, da müssen Sie Bewegung machen.« Das war natürlich der Übergang zu derselben Fang- und Kußszene wie gestern, nur erleichtert dadurch, daß Lina sofort von der Chaussee bereitwillig zwischen die Baumstämme einbog.

Sie wurde ihm von nun an unentbehrlich. Sie schrieb seine Memoranden ins Reine, die er in flüchtiger Stenographie skizzierte, sie übersetzte Französisches, sie machte ihm die Korrespondenz so weit fertig, daß er nur noch lesen und unterschreiben mußte. So einen Diener, einen Ausführer konnte er gerade brauchen, dem er nur die Keime seiner zahllosen Ideen hinwarf, und schon wurden sie sorgsam aufgelesen, gereinigt, aufgezogen. Alles ging richtig, der kleine Gerhart spielte indessen draußen vor der Baracke, sie konnte sich mit einem Blick durch die Türe oder unten durch die Bretterluken durch schnell davon überzeugen … Doch mit all ihrer Dienstfertigkeit war sie Arnold nicht angenehm. Gerade dieses Nutzbringende an ihr, diese Sklavennatur stieß ihn ab, weil er fühlte, daß er dadurch an sie gefesselt war. Die Verehrung, mit der sie ihn umgab, fand er unsinnig, ganz anders als die Anbetung der Freunde, die er doch zu verdienen geglaubt hatte. Wie sie ihm von fern himmelnd mit den Blicken folgte, wenn er die Gerüste inspizierte oder Besichtigenden flink zur Hand war: das lähmte ihn fast. Ihre Kugelaugen waren wohl auch das entscheidend Häßliche im Gesicht, diese wässrigen, ausdruckslosen Glasbäuche, doch nicht minder mißfiel ihm, daß ihre Nase und die Kinnwölbung rot waren, die Backen derb und, aus der Nähe gesehn, nicht ganz glatt. Dafür entschädigte das reiche blonde Haar und die auffallend volle, doch biegsame Figur; jedoch, weiter betrachtet, war es gerade diese unlösliche Verbindung eines weichen, anmutigen Leibes mit einem so durchaus ungraziösen Gesicht, eines dämonisch Anziehenden mit einem eiskalt Abstoßenden, was Arnold unheimlich und widerwärtig wie eine ätzende übelriechende Flüssigkeit vorkam. Und mit diesem heillosen Eindruck wieder verbunden ihre offenbare Sanftmut, die Ergebenheit: o es war eine Disharmonie in allem. Und hatte er denn Zeit, das zu ordnen und zu entschuldigen, wie ein Verliebter etwa?… O, diese Liebe machte ihn ganz und gar nicht glücklich, nein, nur unruhig und niedergeschlagen. Er fühlte sich schwach gegen dieses Mädchen, er beneidete sie manchmal, denn sie war gewiß beseligt in ihrer aufrichtigen Neigung zu ihm. Sie sprachen überdies nie über Liebessachen, es fiel ihm nicht einmal ein, sie zu duzen. Als sie ihm gestand, sie sei einmal schon getäuscht worden, der Bräutigam habe sie nach schmählichem Tun im Stiche gelassen, erschrak er heftig. Zwar nicht wegen einer etwaigen Heirat, dieser Gedanke lag wohl beiden gleich fern; aber daß sie schon einem angehört hatte, mußte ihre Eroberung beschleunigen, und er selbst war, das wußte er, im gegebenen Moment zu unbesonnen, um aus eigenem Willen einzuhalten. So sah er die Gefahr vor sich und keine Möglichkeit, ihr auszuweichen … Zudem peinigte ihn der Gedanke, daß dieses Verhältnis wenig standesgemäß sei, daß er es zu wichtig nehme, und nur wenn ein Freund ihn neidisch fragte: »Du, wer war denn gestern diese Fesche?« beruhigte er sich ein wenig. Von außen her, durch die Wirkung auf andere mußte er sich ihre Schönheit und Begehrenswürdigkeit deutlich zu machen suchen. Auf ihn selbst blieb diese Wirkung erstaunlich oft aus. Dann mußte er sich ins Gedächtnis rufen, wie er sich gestern oder vorgestern in ihrer Nähe in Erregung wohlgefühlt hatte; sonst hätte er sie überhaupt nicht ertragen. Oder er hörte gern zu, wenn sie erzählte, wie ihr einer nachgegangen war, sie vergebens angesprochen hatte. Er forderte sie selbst zu solchen Berichten auf, die ihm ihren Wert ins Bewußtsein brachten. Daher hielt sie ihn für eifersüchtig, freute sich darüber, wenn sie auch viel zu demütig war, um diese seine Schwäche irgendwie auszunützen. Sie verschwieg ihm also lieber solche Begebenheiten; er, der beinahe das Gegenteil von eifersüchtig war, mußte sie mit List hervorlocken. So war ein versteckter Krieg entbrannt, ohne daß sie es wußten … Es war nicht zu vermeiden, daß seine Leidenschaft, die auf bloße Sinnlichkeit ohne die leiseste Spur eines seelischen Anteils gestellt war, in ihrer Stärke heftige Schwankungen zeigte, je nach dem Wetter oder seinem Ausgeschlafensein. Sank sein Feuer, so war es ihm schmerzlich, denn dann kannte er sich in diesem Verhältnis überhaupt nicht mehr aus, wußte nicht, was er wollte und was das Ganze bedeutete. Deshalb geriet er auch jedesmal in Unruhe, wenn Lina hie und da schlecht aussah oder wenn ihr ein Kleid nicht paßte. Es verdroß ihn, wenn ihre Gestalt in gewissen Stellungen nicht vorteilhaft wirkte, er konnte dann den Gedanken nicht abweisen: Am Ende ist gar nichts an ihr – er fühlte sich wie betrogen. Manche Tage erschien sie ihm zur Verzweiflung unscheinbar, eine Pustel entstellte den Mundwinkel. Sorgsam kontrollierte er ihr Abmagern oder Zunehmen, bat sie, nun in dieser Fasson innezuhalten, scheinbar scherzhaft, mit verhülltem innerstem Ernst. Er fragte sie, ob sie gut schlafe, wie viel sie gegessen habe – alles nur zu dem einen Zwecke: um auf dem Umwege über ihre Schönheit seine Behaglichkeit zu erlangen. Er hatte auch einen gewissen zärtlichen unmerklichen Griff, um sie gleich beim Kommen an der Taille anzurühren und rasch festzustellen, ob die diesmalige gute Wirkung mit oder ohne Zuhilfenahme eines Korsetts zustande gebracht sei. Dabei geriet er halb unbewußt in inbrünstige Gedankengänge wie diese: »Da sie heute so wenig fesch aussieht, so hat sie doch hoffentlich wenigstens kein Mieder an« – oder: »Mein Glück wäre vollständig, wenn der heutige süße Effekt ohne Mieder hervorgebracht wäre.«

So kam es, daß er niemals an dem, was sie war, an ihrer natürlichen und begrenzten Organisation ein endgiltiges Wohlgefallen fand. Sondern oft, wenn er sie in Muße beobachten konnte (sie schrieb, er diktierte) stellte er sich vor, wie ihre Nase oder die Hände etwas besser zu machen wären, er probierte in Gedanken, ob ihre Brust noch etwas voller reizend wäre oder schon unschicklich und übertrieben, ob man ihr nicht mit Brillantohrgehängen oder mit einer Brille (o diese Augen!) beispringen könnte. Er kleidete sie in Trachten verschiedener Zeit, er operierte sie. Wie schwer war es doch, sich in die Liebe hineinzureden. Da er den naturgemäßen Zusammenhang ihrer Eigenschaften nicht kannte, auch sich keine Zeit dazu nahm, über ihn nachzudenken, hatte er Angst, es könnte eines Tages ihre ganze Schönheit plötzlich verschwunden sein. So war er stets angespannt, stets auf dem Posten, nervös und erregt. Sie jedoch, natürlich ohne jedes Verständnis für seine Qualen, störte ihn obendrein durch Reden wie: »An mir ist ja nichts« oder »Ich weiß, daß ich nicht schön bin«. Das war immer wie ein Fußtritt in seinen kunstvollen Ameisenbau, dann kribbelten schnell seine Ideen und Reden heran, um den Schaden wieder gut zu machen. Er stellte ihr vor, daß er solche Selbsterniedrigung hasse, daß sie ja damit ihn selbst angreife und blamiere, denn was sei er, wenn er mit einer, »an der nicht viel sei«, so viel verkehre. Sie versprach zerknirscht es nie mehr wieder zu tun, vergaß das aber schnell, da sie es im Grunde nicht begriff, lobte ihn: »Was bin ich gegen Sie?«, sehr erstaunt, daß ihn das ärgerte. Dann weinte sie. Er mußte sie trösten, doch wiederum fand er bald den Unterschied gegenüber seiner früheren Trostwirkung auf Freunde: Damals hatte es sich um Taten und Ermutigungen zur Arbeit gehandelt, hier umfaßte der Trost die ganze Person und war eben deshalb ein leeres Gerede … Alles in allem empfand er ein Gemisch von Mitleid, Dankbarkeit, Neugierde, Unmut, Eitelkeit, auch ein wenig Hingezogenheit und starken Kitzel, all dies wechselnd und heftig, wie es sich für sein unstetes Gemüt eben schickte.

Inzwischen war auch das Flugunternehmen an einen kritischen Punkt gelangt. Aus nichtswürdigen Quellen häuften sich die Angriffe, anonyme Briefe flogen, die Sicherheitsbehörden schritten ein. Ein radikales Blatt sprach offen von »Schwindel und Bankrott«. Farman, Blériot sagten ab und so hatte sich der Ausschuß an den jungen hoffnungsvollen Aviatiker Ponterret gewendet, einen Belgier, der einen Apparat eigener Konstruktion vorführen sollte. Er war einverstanden und bald sah man in den Auslagen Photographien eines hübschen Herrn, frisiert und schlank, der aus dem Hohlsitz seines Monoplans die Mütze schwenkte oder kühn wie Latham Zigaretten rauchte oder aus kriegerischer Schutzbrille in die Luft starrte, die Hand am Lenkhebel. Die Zeitungen brachten seine Biographie, er hatte sich öffentlich noch wenig hervorgetan, umso mehr privat, auch zitierte man einen Ausspruch Paulhams, daß dieser junge Mann der Einzige sei, der ihm jemals gefährlich werden könnte. Auf den Plakaten führte er daher das ehrende Attribut »Der Rivale Paulhams«, und bald war sein Name so sehr in aller Munde, daß man ganz vergaß, ihn vor einer Woche noch gar nicht gekannt zu haben, daß man beim Aussprechen schon jenen illustren unbeschreiblichen Beiklang herausschmeckte, den die Namen der großen Helden und Meister haben: Ponterret!… Der Apparat kam, per Sonderzug, wurde ausgestellt, photographiert, erklärt, von Mittelschülern klassenweise offiziell besichtigt, unter sachverständiger Führung des Physikprofessors. Endlich traf der Champion selbst ein, von der Stadtvertretung begrüßt, übrigens sehr bescheiden und sympathisch, nur auf seine Arbeit bedacht. Man beschrieb ihn in den Zeitungen, wie er eigenhändig, selbst geschickter als seine Monteure, die niedrigsten Dienste an seiner Maschine zu leisten sich nicht scheute, keinen Bestandteil für unwichtig hielt, jede Schraube tausendmal ausprobierte. Schon am nächsten Tag versuchte er einen Flug, der Motor ging nicht, das Benzin war schuld daran. Bei der nächsten Probe geriet die wertvolle Dogge des Fliegers in die Schraube, die gerade angelassen wurde, die Schraube brach, die Dogge blieb auf der Stelle tot. Ohne mit der Wimper zu zucken, ließ Ponterret sofort eine neue Schraube anmontieren, doch setzte der Motor bald darauf aus, die Probe mußte abgebrochen werden. Die Journalisten konnten nichts tun als immer wieder den »Piloten« beschreiben, der nach solchem Mißgeschick mit kaltblütigem Lächeln vor dem Hangar auf- und abspazierte, winzige Zigaretten rauchte, dann aber gleich wieder im blauen Arbeitermantel, unter dem die gelben Lackstiefelspitzen hervorschauten, unverdrossen ans Werk ging, die Verbindungsdrähte wechselte oder das Traggestell ausbalanzierte. Ponterret plagte sich unermüdlich, er setzte sein Leben bei den fortgesetzten Proben mehrmals aufs Spiel, er war zugleich liebenswürdig und energisch, mutig und auf das Schlimmste gefaßt, er bot eine Vereinigung sämtlicher Heroentugenden; trotzdem erzielte er nicht den mindesten Erfolg, der Apparat funktionierte einfach nicht. Kurz und gut, Ponterret bot das unserer Zeit schon etwas entfremdete, aber für die damalige Kinderstammelperiode der Flugtechnik typische Bild des hingebungsvollen, tüchtigen, durchaus ehrenwerten Aviatikers, dem trotz aller Anstrengungen und Aufopferungen ein leiser Hauch von Komik anhaftet, weil ihm so gar nichts gelingt, dem vielleicht nur ein kleiner Handgriff fehlt oder am Ende gar nur unglückliche Zufälle im Weg stehn. Man wünscht ihm ja das Beste, man wünscht aber zugleich, peinlich berührt, der beweinenswerte Held wäre hübsch zu Hause geblieben, da man ja nicht die Möglichkeit hat, seine Handgriffe oder Zufälle irgendwie günstig zu beeinflussen. Er stellt, man mag ihn entschuldigen wie man will, das konzentrierteste Symbol menschlicher Unsicherheit und Machtlosigkeit dar; und das kann man ihm nie verzeihn … Drei Tage vor dem angesetzten Schauflug brach Ponterret einen Flügel seines Aeroplans, nun mußte man Ersatz aus Paris herantelegraphieren, den Flugtag um vierzehn Tage verschieben. Das Publikum wurde allmählig ungeduldig. Zwei Holzhändler ließen es aber bei akademischer Ungeduld nicht bewenden, sondern führten Exekution gegen das Konsortium, das sie auf den Flugtag vertröstet hatte, und ließen den Apparat mit Beschlag belegen. Die Pfändung mußte natürlich aufgehoben werden, denn der Apparat war Privateigentum des Fliegers. Die Sache aber machte Aufsehn, und nur wer finanziell nicht beteiligt war, lachte.

Jetzt erst begann Arnold stutzig zu werden. Er stürmte zu Philipp Eisig um Aufklärung. »Was für Aufklärungen« erklärte heiter der Dicke. »Es wird natürlich ein Reinfall.« – »Was, du meinst, Ponterret wird nicht aufsteigen.« – »Aufsteigen muß er, das steht im Kontrakt, das heißt: starten. Aber fliegen? Du hast es ja gesehn.« – »Du glaubst, nein?« – »Was willst du von mir. Ich kann nicht an seiner Stelle fliegen.« – »Aber wir sind doch verantwortlich, vor der Öffentlichkeit. Man wird das Entree zurückgeben müssen, dann liegen wir drin.« – »Keine Idee. Man wird natürlich das Entree nicht zurückgeben.« – »Man wird es. Das verlangt der Anstand.« – »Du bist ein Narr.« – »So, dann trete ich aus. Einem betrügerischen Unternehmen stehe ich nicht vor, das ist nicht meine Art.« – Nun aber wurde Eisig ganz ernst und kühl, während man das Bisherige immerhin noch als Ausdruck seiner spöttisch-mürrischen Sitten hätte erklären können: »Das wirst du nicht.« – »Ich werde es.« – »So, dann bitte ich doch, du Gerechtigkeitsprotz, zunächst auch einmal deine Verbindlichkeiten gegen mich zu erfüllen. Ich denke,« er blätterte in einem Notizbuch, das er merkwürdig schnell zur Hand hatte, »es sind jetzt bald tausend Gulden«. – »Nur achthundert« erwiderte Arnold betroffen, halb mechanisch. – »Ohne Zinsen!« – »Du weißt, daß ich momentan kein Geld …« – »Ach was, momentan, immer momentan …« – »Du hast mich doch heute zum erstenmal gemahnt.« – »Nun, und was folgt daraus? Ich brauche momentan Geld, das ist die Sache, verstehst du. Alles andere ist mir ganz wurscht. Sonst erfährt nämlich mein Alter, daß ich dort drüben Wechsel für ihn einkassiert und für mich behalten habe. Lange genug schieb ich's von einer Seite auf die andre, einmal muß das Loch zugeklebt werden. Und da wird man aufs Entree verzichten, schöner Gedanke!…« – Arnold erschauerte; je länger und begründeter Eisig sprach, desto klarer wurde ihm, daß es sich da um sehr schmutzige Geschäfte handelte. Jetzt erst sah er, in was er sich eingelassen hatte. Ja, hätte er's nicht gewußt, jetzt hätte er es an Philipps Gesicht erkannt, an diesen wulstigen Lippen, den breit wie gelbe Wandteller hinausgezogenen Wangen und den allzu dichten Haaren darüber, durch den Scheitel zu zwei gleichmäßigen dicken Polstern aufgeschichtet. Was Jahre dichtesten Umgangs nicht entschleiert hatten, entdeckte er jetzt: den verbrecherischen Zug in diesem Kropfgesicht, und verstand in einem Blitz den gründlichen Unterschied zwischen seinem eigenen Abenteuerwesen und dem des Freundes. Wütend machte er sich davon …

An diesem Nachmittag erschien ihm Lina angenehmer als sonst. Ihre Güte und Unterwürfigkeit tat ihm wohl, schon die weiche klagende Stimme verscheuchte ein wenig seine Sorgen. Das war doch ein befreundeter Mensch, auf den man sich verlassen konnte. O, ein Glück, daß er die hatte, so ein braves anständiges Mädchen! Er drückte ihr warm die Hand, doch eilig, denn heute hatte er ihr besonders viel zu diktieren und anzuregen, ihre Feder flog nur so. Es fiel ihm zugleich ein, daß er Unrecht tat, ihre Liebe so auszubeuten, sein moralischer Sinn war gleichsam durch die Unterredung mit Philipp geschärft. Sie tat ihm leid. Doch heftiger erfüllte ihn wie ein Nebel die Angst um die eigene nächste Zukunft, tausend Rettungspläne, das Notwendigste für den Moment. Es war, als entfache das drohende Fiasko nun noch die letzten Reserven seiner Willenskraft und Anspannung, seine äußersten Gedanken. Heute bewunderte er sich selbst, und als er gegen Abend den Haufen der fertiggestellten Briefe überschaute, darunter ein paar wirklich gelungene, – um vorzubeugen, Rückzug zu sichern – atmete er zufrieden auf … Ein Schrei Linas erschreckte ihn. Der kleine Gerhart war nicht da, verschwunden. Sie suchte vor der Hütte, überblickte von den Stufen des Amphitheaters aus die Rennbahn, vergebens. Verzweifelnd gab sie sich, nur sich selbst alle Schuld an dem gräßlichen Unfall, sie hatte heute weniger aufgepaßt als sonst, das Kind mochte sich verirrt haben, ins Wasser gefallen sein, Gott im Himmel, was war da zu tun! – Arnold forschte indessen die Arbeiter in der Nähe aus. Ja, man hatte den Kleinen auf dem Wege zum Weidengestrüpp gesehn, das auf der andern Seite der Flugwiese in menschenleerer Öde sich erstreckte, gegen den Fluß zu. Schon eilte Lina in dieser Richtung, Arnold ihr nach. Sie kreuzten durch die niedrige Wildnis, bückten sich unter verflochtenen Ästen durch, rissen sich wund, schwitzten. Der Boden wurde schwarz und fett; setzte man den Fuß auf ihn, so quoll kotiges Wasser hervor. Die Weiden standen dicht wie ein Kornfeld beisammen, Lina bog sie auseinander, hielt sie fest, um dem Nachfolgenden Raum zu geben, ließ sie aber doch noch einen Augenblick zu früh los, so daß sie ihm gerade recht ins Gesicht peitschten. Gereizt bat er sie umzukehren. Sie waren über glitschrige Steine an das Schilfufer des Flusses gelangt. Man sah fast gar nichts mehr, denn der Tag war regnerisch gewesen und jetzt gegen Abend erfüllte warmer aufsteigender Dunst die Luft. Nun wateten sie durch Binsen und Röhricht zurück, gerieten wieder in die Bäume … plötzlich erblickten sie, beide zugleich, durch eine dichte Brombeerhecke von ihnen getrennt, das Kind, das arglos ruhig auf einem steinigen Plätzchen einen Sandturm aufbaute. Ein Anblick, so voll Kontrast zu der angstzerrissenen Stimmung der beiden, daß sie trotz Ärgers und Kopfschüttelns und Hastens wie auf einen Schlag stehn blieben und, wie man es einer Vision gegenüber tun mag, unter langsamem Händeaufheben beide die Lippen zu einem notwendigen, gar nicht lustigen Lächeln dehnten … Den Sand hatte das Kind offenbar in seinem kleinen Blechkübel vom Flugplatz hierhergetragen, beschwerlich, in mehrmaligen Gängen, und es gefiel ihm so gut, in dieser neuen Umgebung zu schippen, wo es eigentlich von rechtswegen gar keinen Sand gab, als ein kleiner Herrgott also, daß es Augen und Ohren an sein Spiel verloren hatte … Lina, aus dem Bann erwachend, unterdrückte einen Jubelschrei, ihre Augen glänzten dankbar gegen Arnold, als schulde sie ihm den glücklichen Ausgang dieses Zwischenfalls. Einen Moment lang fand er sie wirklich schön, in diesem feuchten dunklen grünen Laubwerk, mit ihren glänzenden roten Wangen, der klopfenden Brust. Lau brodelte es aus dem Moos, den alten Stämmen, wie ein Bad, das alle Glieder in Wohlbehagen löst. Dicke Fliegen setzten sich ihm auf die Stirn, die Augenlider, und wenn er sie verscheuchte, fielen sie wie besinnungslos wieder auf ihn zurück, berührten ihn heftig zitternd, kleinen schweren Händchen gleich. Es schien ihm, als trügen sie ihm Linas Körperduft näher, als balle er sich um diese schwarzen Körperchen, ja als seien die Fliegen nichts als kompakte Pillen dieses betäubenden Geruches, o dieses gar nicht mehr fremden, nein wohlvertrauten Geruches einer Frau, die er schon oft geküßt, geküßt, aber nur geküßt hatte, … die jetzt so dicht bei ihm war, wie in einem Zimmer bei ihm. Und das spielende gerettete Kind so nah, so nichts ahnend, so unwissend, blind gegen das, was jetzt sofort neben ihm geschehn wird: diese eigentümliche Vorstellung, die ihn wie mit der allerdurchtriebensten Freude erfüllte, entschied. Vielleicht wirkten auch die vielen überstandenen Aufregungen dieses Tages mit. Plötzlich fühlte er sich sicher, nicht wie sonst im Kurwäldchen von Menschen bedrängt. Eine seltsam qualvolle Lust ergriff ihn, wie ein letzter Ausläufer der raschen Gehbewegungen vorhin, die nicht unvermittelt abbrechen wollten, er strauchelte vorwärts, über eine Wurzel, er faßte mit beiden Händen geradeaus langend, die beiden Brüste des Mädchens, diese vorstehenden nachgiebig-festen Brüste, die ihn immer so gelockt hatten, faßte sie mit einem Griff, dem man hätte anmerken können, daß er ihn in eben dieser Art und mit dem glühendsten Feuer in Gedanken oft schon ausgeführt hatte, er drückte sie wie Ballons, wie um sie auszupressen, wie um sich an ihnen festzuhalten, über einem Abgrund schwebend gleichsam, und nun, keuchend, heiß, außer sich, mit hüpfenden Augen, die Haare gesträubt, singend, matt, verzückt, drängte er Lina an den nächsten Baum, dessen trockene Rinde in kleinen Stückchen herabsplitterte. Einen Augenblick später war sie sein.

Seine Empfindung sofort nachher war ohne jeden Übergang: eine maßlose Wut gegen sich selbst. Also doch, also doch war es geschehn, trotz allen Inachtnehmens, also doch, also doch … Er war still, während Lina sich abwandte und nach einer Weile, da nichts mehr geschah, das Kind holte. Das Geschrei des kleinen Lausbuben, der seine Bauten nicht verlassen wollte, zergellte ihm die Ohren. Er begleitete sie nach Hause, niedergeschlagen, doch so weit gefaßt, daß er noch einiges sprach, was sanft klang, weil seine Wut sich inzwischen in eine unsägliche Traurigkeit verwandelt hatte. Lina flößte ihm mit jeder ihrer Bewegungen Furcht ein, sie war ihm unheimlich, bald weil sie nach seiner Meinung eine Wendung ins Zärtliche machte, bald weil er sich von ihr verachtet glaubte. Und dieses Kind, dieses Teufelskind war schuld an allem, diesen Gerhart hätte er kaltsinnig erwürgen mögen. Los werden die zwei, das war sein einziger Wunsch, den er durch Rücksichtnahme und galante, dankbare Anwandlungen verfälschte, der aber zum Schluß den Abschied doch bedeutend abkürzte. Arnold hatte das Gefühl, als müsse er auf die Erde stampfen und mit gerecktem Arm die beiden weit von sich wegschicken. Er zwang sich noch zu einigen Phrasen; als aber Lina immer noch nicht ging, drehte er sich auf dem Absatz herum und geriet rasch in immer schnelleren Schritt … über die dunkle Ebene jagte er seiner Baracke zu. Dort stürzte er nieder, konnte nicht mehr weiter. O ein Wigwam, fragte er sich höhnisch, nein ein Brettersarg ist das! Er trat ein. Ohnmacht und Reue erfüllten seine Seele, doch zugleich erschienen wie von einem tieferen Grunde herauf unzusammenhängende Bilder, halb vergessene, ungerufen zogen sie vorbei und lenkten den armen wirren Geist in ihre Träumerei … Da sah er sich, sah sich als kleinen Knaben, an der Hand der teuren Mama im Schulsaal zum erstenmal, bei der Aufnahme in die Schule. Und während ihn der Lehrer für die erste Klasse einschrieb, hatte das Knirpschen schon den Mund offen: warum hier zwei Tafeln übereinander seien, nicht eine, wie er es in Puppenschulen bisher gesehn. Freundlich belehrte ihn der Herr Lehrer: »Ja, wenn die eine vollgeschrieben ist, dann ziehn wir eben die obere leere hinunter, nichtwahr. Siehst du, so macht man das, so …« und hatte es ihm gezeigt, während er sich zugleich lobend zur Mutter wandte: »Ein aufgeweckter Junge.« O Gott, warum hatte ihn denn damals jeder lieb gehabt und jeder gestreichelt, sich über ihn gefreut, und so unschuldig, spielend alles – und jetzt war es doch nur derselbe Trieb, der ihn in Schuld und Schande verstrickt hatte, genau ebendieselbe Glut, die damals allen so wohl getan hatte, er konnte gar nicht mehr dafür als damals für seinen kindlichen Reiz … Zum erstenmal überblickte er sein ganzes Leben und fand es erschreckend wie ein Gewitter in der Nacht, fand es sinnlos, trostlos und sich selbst immer unter demselben Stachel ungerecht leidend, preisgegeben, verschmachtend, ein Spielzeug übermächtigen himmlischen Zorns. O wer kannte seine Qualen! Wer stand ihm bei! Wer hatte Mitleid mit der Unbesonnenheit des verblendeten Kindes, mit dem Unseligen Mitleid!… Hätte er nur ein Herz gehabt, einen Freund, Eltern, die ihn verständen! O auf die Berge hätte er steigen mögen und wie Gießbäche seine Arme ausstrecken nach einem guten menschlichen Herzen … Doch nein, da hatte man ihn immer weiter rennen lassen, zurück übersah er es bis hinab zu seiner dunklen Fußballeidenschaft, zu den ersten Tollheiten, immer weiter hatte man ihn rennen lassen, den Hitzigen, und so war er bis hierher gerannt, niemand hatte ihn gewarnt, bis hierher auf diesen Fleck und auf diese Stunde, wie blind, während von allen Seiten die Wände des Engpasses immer näher und drohender zusammenrückten, aber blind immer weitergerannt, bis hierher, wo es kein Zurück mehr gab … Tränen entströmten ihm bei diesem Gedanken, er weinte, ein tiefes Erbarmen mit sich selbst hatte ihn erfaßt, mit seiner reinen verlorenen Jugend, ja mit der ganzen Welt … Nur eine Weile. Dann kehrte der Zorn zurück. Er erinnerte sich – o war das nicht Warnung genug gewesen? – daß er schon mitten in dem kurzen Genuß vorhin den Widerwillen gespürt hatte, den dieses verdammte Weib ihm einflößte, einen Ekel und eine Notwendigkeit zugleich, wie wenn man etwa früh in den noch ungespülten Mund ein Glas Wasser aus Durst hinunterschlucken muß. Er spie aus … Da lagen ja noch die Briefe, ein ganzes Paket. Er verfluchte seine Energie, sie war zu nichts nutze. Und mit einem gewaltigen Druck riß er mitten an dem Stoß, es ging nicht, da teilte er ihn in zwei Lagen, hierin wenigstens konsequent, und zerfetzte jede in kleine Stücke. Mochte alles werden, wie es wollte, er gab's auf …

Eine Idee kam ihm. Die Markensammlung verkaufen, und nach Amerika!… Da waren doch fünfzehntausend Mark nach Senff, ein Kapital, ein Anfang!… Er fuhr in die Stadt, und obwohl schon bald zehn Uhr war, beschloß er, Lambert zu besuchen. Der hatte kommissionsweise die Einkäufe vermittelt, sicher wußte er einen Käufer, vielleicht war er sogar selbst geneigt … Er klingelte. Jetzt erst bemerkte er, wie unschicklich es war, mitten in der Nacht mit dieser Verkaufsangelegenheit einzudringen; er faßte schnell den Plan, seine Absicht zu maskieren. »Ich habe da ein Angebot«, rief er, »es muß sofort entschieden werden, telegraphisch. Soll ich zwanzig Sätze Jubiläumsmarken bestellen? Das macht so etwa fünfhundert Kronen.« Lambert, geschmeichelt durch dieses Zutraun zu seiner Fachkenntnis, rückte sich zurecht. In seinem taubengrauen Schlafrock mit dunkleren Schnüren, im Lederfauteuil, jetzt Zigaretten anbietend und der Sitte gemäß sofort sich erhebend, um einen Likör aus dem Kästchen zu holen, war er ein Musterbild reifer, gesetzter Jugend, ein Beispiel für jene merkwürdige Leichtigkeit und Unbedingtheit, mit der gewisse Naturen (es sind nicht immer die wertvollsten) den Übergang von unverantwortlichem Knabentum zur würdigen repräsentativen Mannheit vollziehn. Arnold, so tief unterlegen gerade in diesem wirren Moment er dem Gefestigten war, fühlte doch eine gewisse lächerliche Schwäche an ihm heraus, in der er sich instinktiv sofort festnistete: »Ich komme zu Ihnen als einem Kenner, Sie wissen ja …« »Nun, ich glaube«, holte Lambert aus, »das ist ein gutes Geschäft. Die Verwaltung gibt nur eine sehr beschränkte Anzahl aus. Schließlich ist doch Bayern kein Costa Rica oder sonst ein exotischer Staat, der an Jubiläen Geld verdienen will.« … Wie langweilig waren für Arnold diese selbstverständlichen Gedankengänge, mit denen Lambert sich ein Ansehen gab. Seine aufgeregte Hast kämpfte mit der Klugheit, den Schwätzer ausreden zu lassen, endlich fiel er doch ein: »Ich weiß. Gut, aber das hat man bei der vorigen Emission auch gesagt. Und da kamen Nachträge. Von Raritäten ist nicht viel zu spüren … Schlechte Spekulation. Ich hab's überhaupt satt. Wissen Sie nicht, wie ich die ganze Sammlung loswerden könnte?« … Lambert blieb noch eine Weile im alten Geleise, sei es, daß er Arnolds Wendung für eine bloße Gesprächslaune hielt, sei es, daß er auf eine so fernliegende Abschweifung überhaupt nicht aufgepaßt hatte. Er redete also weiter von steigenden Werten, Neudrucken, Facsimilien, bis ihn ein nochmaliges Andrängen Arnolds aufhielt. Nun erst ging er mit gleichgiltiger Miene (auch Arnold blieb äußerlich ruhig) auf das neue Thema ein: »Ja, das ist eine schwere Sache. Man müßte die Sammlung ausschreiben, in Fachzeitungen, das dauert lang und dann werden Ihnen die besten Stücke herausgeklaubt und der Schund bleibt. Oder Sie tragen das Ganze zum Händler, der gibt Ihnen gar einen Pappenstiel. Es bleibt also nur irgend ein großer Privatsammler.« … »Ja, ein Privatsammler«, wiederholte Arnold gierig. »Wissen Sie also einen?« … Lambert überlegte … »Für zehntausend,« begann Arnold, und da Lambert überrascht lächelnd aufblickte, fuhr er fort: »Für zweitausend Kronen gebe ich alles. Denken Sie, Altsachsen vollständig.« … Lambert machte ein spitzfindiges Gesicht, wie am Schlusse seiner Überlegung angelangt, als habe er es jetzt herausgebracht: »Ja, wer legt aber so leicht zweitausend Kronen auf den Tisch? Das ist ein schönes Geld. Das tut einem weh.« … »Wie kommt das aber?« fragte Arnold betrübt und kindlich … Lambert erging sich in Vergleichen. Sammelwert sei etwas anderes als Wert im Allgemeinen. Und wenn man einen neuen Pelz kaufe oder ein Schmuckstück, ein Möbelstück, wieviel bekomme man beim Weiterverkauf, auch für die besten, wie neuen Stücke … Das Gespräch verlor sich ins Allgemeine, Arnold lobte Lamberts Einrichtung, eine echte Junggesellenwohnung, dabei sah er im Innern ein, daß hier nichts zu holen war. Erschöpft und bleich blieb er noch ein Weilchen sitzen, fand nicht die Kraft, aufzustehn und wegzugehn, seine Gewandtheit hatte eben auch ihre Grenzen. Endlich empfahl er sich. Lambert meinte im Weggehen: »Also wegen der Jubiläumsmarken können Sie ganz unbesorgt sein. Dabei riskieren Sie nichts. Eventuell beteilige ich mich.« … Arnold hätte am liebsten laut aufgelacht. »Und unser Meeting morgen«, fügte er noch hinzu, probierend, »das wird ein schöner Humbug, was?« Er zwinkerte dabei. Auch Lambert lächelte verschmitzt und kniff ein Auge halb zu, mit kleinen Fältchen: »No, das glaub ich.« Sie schüttelten einander die Hände, wie in vergnügtem Einverständnis … »Und gegen dieses niederträchtige Leben«, sagte sich Arnold, indem er Stufe um Stufe hinunterschritt – Lambert leuchtete, über die Geländerbrüstung gebeugt, klingelte dem Hausmeister, im finstern Gang unten erschien etwas Undeutliches, Warmhauchendes, Mann oder Weib, führte Arnold ans große Eisentor, stellte die Laterne auf den Steinboden, steckte den Schlüssel ein und gab endlich mit leichter Hand der massiven Pforte einen ganz kleinen Stoß – »und gegen dieses niederträchtige durchdachte kolossale Leben habe ich mit Spielereien ankämpfen wollen, mit Papierschnitzeln. Da seh' ich erst, wie ahnungslos ich war … ein Kind, in allem …« Von neuem traten ihm Tränen in die Augen.

Auf seinem Schreibtisch zu Hause lag ein Brief. Gottfried Eisig, der vor einigen Tagen einen Journalistenposten in Berlin angenommen hatte, schrieb ihm begeistert (Arnold erkannte den eigenen Stil darin) von seinem jetzigen Leben, von der Weltstadt. Ob er nicht hinkommen wolle? Ein dritter Feuilletonredakteur werde eben gesucht. – Ärgerlich warf Arnold den Brief weg. Ja, neue Wirren, neue Verlockungen, das wäre so das Rechte! Man kannte ihn ja, man hielt ihn schon für fähig zu jeder Dummheit.

Da trat sein Vater herein: »Weißt du es schon? Die Großmutter liegt im Sterben … Pst! Die Mama darf es nicht wissen. Ich hab sie nur ein bißchen vorbereitet. Da lies die Karte von Lichtnegger.«

Arnold las, ohne Bewegung, gedankenlos.

»Den letzten Satz hab ich ihr gar nicht gezeigt. Trotzdem fährt sie morgen Nachmittag nach Wintertal. Ich kann nicht mit, jetzt in der Hochsaison. Wenn sie sich nur nicht zu sehr aufregt …«

So viel Lärm wegen einer alten Frau, dachte Arnold. Plötzlich fiel ihm ein: »Wenn du willst, begleite ich die Mama …«

»Du wolltest?… Aber morgen ist ja euer Schauflug.«

»Ja richtig, der Schauflug!« Arnold machte, als ob er sich erst jetzt darauf besänne. Dann zog er mit dem letzten Rest seiner Energie den Mund männlich zusammen: »Das kommt nicht in Betracht. Ich fahre mit der Mama nach Wintertal.«

Der Vater sprach noch eine Weile, bereitete nun auch ihn gleichsam auf das Unvermeidliche vor: Die Großmutter sei ja schon vierundneunzig Jahre alt, was für ein Leben … man könne sich denken … man müsse froh sein … einmal wäre sie jetzt so wie so eingeschlafen, aus Altersschwäche … nun diese Lungenentzündung, das würde sie wohl nicht überstehn. – Und in allem Sanftmut schien er dieses baldige Ende förmlich von der Natur zu fordern, als Bestätigung seiner regelmäßigen Ansichten … »Sie wird sich freun, wenn sie dich noch einmal sehn kann« schloß er »du bist ja ihr besonderer Liebling.«

Arnold wich zurück: »Ich – ihr Liebling? Ist das ein Witz?«

»Natürlich. Wie sie vor fünfzehn Jahren hier war, hat sie sich mit niemandem vertragen, nur mit dir. Sie ist ja, unter uns gesagt, eine wahre Furie … Immer noch erzählt sie von dir, was für ein braver Junge du warst.«

Um Arnold sauste es. Er mußte die Fäuste ballen, um diesem Sturmwind standzuhalten. »Die auch,« murmelte er und seine gleißnerische Stellung in der Welt, all der lügenhafte gute Ruf, der so ungerechtfertigt sein hirnloses Zappeln umgab, fiel ihm wie höhnischer Vorwurf auf die Seele.

Der Vater trat besorgt näher. »Was sagst du?«

»Nichts, Papa. Gute Nacht also. Ich bin todmüde. Morgen weiter.«

III.

Erst im Eisenbahnkoupee wurde Arnold ruhiger. Nur ein dunkler Mißmut blieb ihm zurück, unten auf dem Grund, den auch die Stöße des Zuges nicht aufrüttelten und nach dessen einzelnen Bestandteilen zu forschen er sich wohl hütete.

Die Mutter hatte eine Unzahl von Paketchen mitgebracht, die er tätig ins Netz schlichten half: Obst und Buttersemmeln als Reisekost, für die treue Frau Lichtnegger Würste und einen großen Schinken, für die Großmutter Magenlikör, den sie immer verlangte, Brustbonbons und andere Kleinigkeiten … Erst als sie alles in Ordnung wußte, heiterte sich ihr Gesicht auf, und indem sie sich bequem zurechtsetzte, gab sie Arnold Anweisungen, wie er sich verhalten müsse. Laut reden, natürlich – und sich nichts draus machen, wenn er manches nicht verstehe, die Mutter spreche eben noch wie die alten Leute – er solle nur recht lustig sein, ihr Witze erzählen, auch sagen, daß er schon Geld erspart habe, das sei die Hauptsache – und warum er so eine schlechte Krawatte anhabe, er solle in Wintertal gleich eine bessere kaufen, darauf gebe die Mutter sehr viel, letzthin habe sie zum Beispiel ihr Reisekleid nicht elegant genug gefunden.

»Auf solche Sachen gibt sie noch acht?« meinte Arnold zerstreut. Jetzt etwa begann der Flug in Waldbrunn.

»O sie gibt auf alles acht. Du würdest staunen. Überhaupt, gescheit ist sie …« Es klang so wie: Ja wenn alles an ihr so gut wäre …

»Ist sie wirklich so bös?« fragte Arnold gleich, etwas übereilt, da er eben nicht ganz bei der Sache war, trotz innerer Anstrengung.

Der Mutter aber schien diese Wendung nicht unangenehm zu sein; sie begann gleich von ihrer Jugend zu erzählen, als gingen ihr alle diese Dinge schon recht eifrig im Kopf herum. Durch die Reise in ihre Heimatstadt war die Vergangenheit näher an sie herangerückt. Was für Qualen!… Sie hatten eine Glasperlenerzeugung gehabt, die Mutter am Platz, der Vater immer auf der Reise, denn zu Hause war ja die Hölle. Oft mußten die Kinder Nächte und Tage lang Knöpfe auf kleine Kartons befestigen, bis ihnen die Augen zufielen. Wenn nicht so und so viel Gros fertig waren, mußten sie auf Erbsen knien und weiterarbeiten. »Wir haben mehr Schläge gekriegt als zu essen.« Und dabei war solcher Fleiß gar nicht nötig, denn das Geschäft ging ja damals noch sehr gut, sie kauften sogar später ein eigenes Haus. Aber die Kinder mußten weiter arbeiten, nur aus Geiz, daß ihnen die Finger wund wurden, auf einem Schammerl stehn und große Kisten packen und wehe, wenn etwas zerbrach! Dann auf den Markt fahren, nach Pilsen. Und immer Lärm, Schimpf, Prügel, daß schon die Nachbarn sich dessen annahmen. Einmal wurde die älteste Schwester, die Marie, im Hemd hinausgejagt, mitten im Winter, weil sie geantwortet hatte. Und niemand da, um die Kinder zu schützen. Nur der Vater sandte manchmal aus der Ferne zehn Kreuzer, ein Papierzehnerl an jedes Kind, das war alles. Marie lief denn auch bald fort in die Fremde, sie wollte Kindergärtnerin werden, war gebildet, an einem gewissen Ort hatte sie heimlich zu Hause Bücher gelesen – anderswo, das wäre ihr schlecht bekommen! Aber unbehütet, unerfahren, wie sie war, geriet sie an einen Kellner, einen Schwadroneur – nie hatte sie mit einem Mann reden dürfen, immer zu Hause eingesperrt, kein Tanz, kein Vergnügen, jetzt war sie natürlich von dem ersten besten entzückt – der hatte sie geheiratet, in Not und Elend, und so war sie untergegangen, gestorben – so schöne Zähne, schöne Haare, alles weg – und wie oft hatten die Geschwister, auch der Bruder, der Poldi, die Alte auf den Knien gebeten, mit aufgehobenen Händen, ihr doch mit etwas beizustehn. Die hatte ja immer Geld. Nein, nur ihre Flüche waren der verbotenen Ehe gefolgt, als Mitgift. Und ebenso der Ehe des Poldi. Indessen hatte auch der Vater das Heim verlassen, eine andere Frau in Serbien irgendwo genommen, Prozesse waren gefolgt, wegen Bigamie, und lauter solche schreckliche Sachen, dann hatte man vom Vater nichts mehr gehört; verschollen. Die Hütte aber in Wintertal hatten irgendwelche Feinde angezündet, so sagte wenigstens die Großmutter, kurz sie war abgebrannt. Das ganze Vermögen ging zu Grunde, nur noch Herr Beer als Bräutigam, der das gänzlich hilflose Mädchen nahm, rettete etwas. Denn auch sie – Mama, als letzte – war einmal auf dem Pilsner Markt der Großmutter entwichen: »Und wenn du jetzt machst, was du willst, wenn du dich auf den Kopf stellst, ich gehe nicht mehr mit nach Hause« … Sie hatte zuerst bei Marie gewohnt und mittags, statt zu essen, hatten die zwei armen Mädchen halt ein bißl geweint. Mit Näharbeiten auf der Maschine sich das Brot verdienen, das ging nicht so leicht. Glücklich waren sie, wenn sie täglich fünf Kreuzer auf eine Wurst hatten. Und drei Jahre lang kümmerte sich niemand um sie, nicht Vater, nicht Mutter, Waisen waren sie in der großen Stadt bei lebendigen Eltern, niemand fragte, ob sie einen Bissen in den Mund zu nehmen hätten, ob sie noch anständig seien. Jetzt freilich, wenn man der Großmutter zuhöre, habe sie sich den Kopf für sie ausgesorgt. »Meine süße Marie, was hast du sterben müssen.« Sie könne solche Reden gar nicht anhören … Bestürzt blickte Arnold in den dunklen Abgrund, aus dem er selbst emporgetaucht war, zu rätselhaftem Geschick. Er kannte ja diese Familiengeschichte, aber nur unvollständig, nur aus dritter Hand. Nie noch hatte er die Mutter so erzählen gehört, jetzt war er ergriffen, und während der Zug an reizenden Wäldchen, heiteren Villen vorbeilief, tappte er wie im Finstern nach ihrer Hand.

Auch die Mutter meinte: »Nun, das ist ja alles jetzt vorbei und ich trag ihr's nicht nach. Kann sie denn dafür? Schließlich ist sie ja doch nur die Mutter. – Wenn man nur mit ihr auskommen könnt. Neulich, vor zwei Monaten, wie ich dort war, bin ich doch auch im Bösen fortgefahren …«

»Warum denn?« Arnold bewunderte immer mehr die unendliche Güte seiner Mama, die er ja kannte, die sich ihm aber noch nie in so ausführlicher Entwicklung gezeigt hatte. Gegen die alte Frau dagegen, seine Großmutter, verspürte er immer entschiedenere Abneigung, ja Haß.

»Sie ärgert sich halt vielleicht, daß wir sie nicht zu uns nehmen. Aber geht das denn? Könnte das ein Mensch aushalten?… Und dann spricht so vieles dagegen. Der Doktor meint, daß nur die Landluft da draußen sie so lang gesund erhält; sie würde nicht einmal mehr die lange Fahrt vertragen.« Sie schloß in einiger Verlegenheit.

Arnold verstand sie wohl, und um auf ein anderes Thema zu kommen, aber nicht auffällig, erkundigte er sich, wovon denn die Frau da draußen lebe.

Man schickte ihr Geld, doch erst seit heuer, bis dahin hatte sie eigensinnig keins angenommen und sich selbständig ernährt, Gott weiß, womit. Sie mache Geschäfte unter den Leuten, verborge Geld, kaufe und verkaufe allerlei. Und das treibe sie auch jetzt noch, unverdrossen, nur halte sie es nicht mehr so aus. Wahrscheinlich beschwindelten sie ja auch die Leute, sie könne ja weder lesen, noch schreiben, noch rechnen, für sich selbst stelle sie an der Stubentür mit Kreide irgendwelche seltsame Zeichen zusammen. – Überdies habe sie Geld in der Sparkasse, fünf Büchel zu zweihundert Gulden, aber das rühre sie um keinen Preis der Welt an, das sei ihr größter Stolz, daß sie einmal jedem ihrer Enkerlen zweihundert Gulden hinterlassen würde, was nach ihren Begriffen eine enorme Summe sei. »Besonders dir, Arnold, du bist ja ihr Liebling.«

Arnold war, wie gestern Abend, nicht angenehm berührt. Er beichtete der Mutter seine Erinnerung, den Streit mit der Großmutter vor Jahren.

»Aber das ist eine Kleinigkeit. Solche Sachen macht sie hundert im Tag. Das hat sie längst vergessen. – Jedenfalls bist du jetzt ihr Gott. Und dein Papa, das ist der Obergott.«

»Warum?«

»Ich weiß nicht. O ja, er war ja die gute Partie. Marie und Poldi haben arm geheiratet … Nicht hören kann sie noch jetzt von ihren Familien. Und wie sie schimpft.«

Die arme Mama schauerte zusammen. Doch angeregt durch die schöne Landschaft draußen, den Tiergarten und das Schloß von Sichrov, erinnerte sie sich an heitere Dinge ihrer Jugend, an die spärlichen Lichtblicke – einmal hatte sie an einer Dilettantenbühne mitgewirkt. »Der Herr Registrator auf Reisen«, das war der Titel des Stückes. O, sie könne noch die Rolle auswendig, das würde sie wohl nie vergessen. Was für Mühen waren das aber gewesen, um die Großmutter zur Zustimmung zu überreden. Das ganze Dorf mußte bitten kommen. Der Lehrer selbst. Auf Lehrer habe die Großmutter überhaupt sehr viel gegeben, und daß einmal einer, der selige Herr Schmidt, die kleine Schülerin gerühmt, das vergesse sie niemals zu erzählen. Nun, er werde ja diese Anekdote morgen selbst hören. – Diese Wendung brachte sie auf die nahe Zukunft zurück. Sie äußerte Besorgnisse. »Wie werden wir sie antreffen.« Und Arnold, der besser unterrichtet war, dachte im Stillen, ohne besondere Regung, nur um die Mutter besorgt, man werde diesmal wohl gerade zum Begräbnis zurechtkommen.

Gleich nach der Ankunft, noch Abends, als man kaum das Gepäck im Hotel untergebracht hatte, gingen sie zu Lichtneggers. Die Mutter eilte so, voll Ängstlichkeit, und Arnold, der sie nur als friedliches und ziemlich ausdrucksloses Gestirn durch geglättete Zimmer wandeln gesehn hatte, wunderte sich, wie erregt sie hier und dort auftauchenden Lauten des schlesischen Dialekts nachlauschte: »Ai der Bohne – hörst du – das heißt: an der Bahn – ja, so spricht man bei uns, ich kann's aber nicht mehr, ich versteh's nur.« Sie sprach von der Heimat, den Örtlichkeiten, an denen sie vorbeigingen. Alles kannte sie genau, auch die letzten Veränderungen, da sie mindestens alle Vierteljahre einmal hierher zu Besuch kam. Sie erklärte Arnold, wer diese Lichtnegger eigentlich seien, eine Maurerfamilie hier, Jugendfreunde, Christen, nur aus Gefälligkeit hätten sie den schweren Dienst übernommen, täglich bei der Großmutter nachzusehn und von Zeit zu Zeit Nachricht von ihr zu geben. Und sie danke es ihnen schlecht, es sei ein Malheur halt. So habe sie neulich in der Stadt herumerzählt, Frau Lichtnegger komme nur deshalb zu ihr, weil Herr Beer ihr das kleine Seifengeschäft eingerichtet habe. Eine vollständige Lüge, solche Dinge setze sich die alte Frau ganz aus sich selbst zusammen. Und diese Launen … Nun, er solle nur bei Lichtneggers recht freundlich sein, man könne ihnen gar nicht genug danken … Und Arnold fand ganz erstaunt, mit was für Dingen, die er noch gar nicht kannte, er im Grunde zusammenhing. Nun gar mit einer Maurersfamilie. Davor hatte er doch einen kleinen aristokratischen Abscheu und fragte: warum Mama nicht lieber gleich zur Großmutter nachschauen gehe. – »Nein, ich muß mich zuerst erkundigen. Sie ist vielleicht im Spital. Und das ist sehr weit von ihrer Wohnung und auf dem Berg, hoch oben. Ja, hier geht das nicht wie in unserer Stadt, alles hübsch gradaus, in Wintertal geht's bergauf, bergab.« Und als hätte sie damit etwas sehr Lobendes gesagt, in großem Stolz zeigte sie die Reihen winziger Lichter, die sich in der schwarzen Ferne hoch oben zeigten, wie mit einer Nadelspitze in den Nachthimmel gestochen. Sie standen in einer Richtung, in der man Sterne, nicht Häuser vermutet hätte, auf hohen Bergen rings um den Kessel. Und auch die Straße, die Mutter und Sohn jetzt durchschritten, war steil, an vielen Ecken führten Stiegen zum Trottoir empor, um die Steigung auszugleichen, der kalte Gebirgswind ergoß sich wie durch eine Röhre längs der Häuserwände herab. Frau Beer lief immer erregter, und obwohl Arnold ihre Liebe zu dieser alten bösen Frau unbegreiflich fand, sagte er sich, daß er seiner Mutter zuliebe einen vergeblichen Weg bergauf nicht gescheut hätte. Diese Halbheit, diese Mäßigung in der Besorgtheit verstand er nicht.

Er konnte sich nicht überwinden und, vor dem Haus der Familie Lichtnegger angelangt, bat er die Mutter, warten zu dürfen. Seine goldenen Manschettenknöpfe raschelten, und irgend ein hoher adeliger Offizier, mit dem er noch gestern angelegentlich sich unterhalten hatte, trat ihm vor die Augen … Die Mutter kam bald wieder: »Mir scheint, diesmal ist es arg. Sie hustet und hat Schmerzen, hat auch schon heute zweimal nach mir gefragt, warum ich noch immer nicht komme und man soll nur noch einmal schreiben.« … Arnold dachte: Also sie lebt noch, wirklich unverwüstlich … »Aber denk dir nur. Gestern noch hat sie der Frau Lichtnegger, die sich so um sie bemüht und sie pflegt, einen Skandal gemacht. Die hat geweint, die Ärmste, wie sie mir's erzählt hat. Frau Lichtnegger, hat die Mutter gesagt, Sie haben da eine schöne Schürze, genau so eine ist mir vor ein paar Tagen gestohlen worden … Was soll man da sagen?… Und dabei würde sie doch elend zugrunde gehn, wenn sie die Frau nicht hätte, kein Mensch wüßte was davon.« – »Hast du ihnen den Schinken und das andere gegeben?« – »Sie wollten nichts nehmen, erst nach langen Reden. Es sind so anständige gute Menschen.« – Arnold bekam aufs Neue Wut gegen die Alte: »Gehn wir jetzt noch hin?« Er wollte ihr mal seine Meinung sagen. – »Nein, sie schläft jetzt. Und das ist recht, da soll man sie nicht stören. Frau Lichtnegger ist eben dortgewesen …«

Im eisigen Hotelbett erst überfielen ihn die eigenen Sorgen. Unruhig träumend sah er den mißglückenden Flug, die ganze Stadt hinausgelockt nach Waldbrunn, die Regierung, die Spitzen der Vornehmheit, und alle murrend in einem einzigen tiefen Donnerlaut; dann eine Photographie: sich selbst, das Aerodrom verlassend, in großen Schritten mit gehobenen Schuhsohlen, und sein Gesicht mit emporgehobener Handfläche vor dem Photographen schützend, wie er dies bei Bildern von Prozeßberühmtheiten gesehn hatte –, in diesem Schreck wurde er ein wenig wach, haderte mit sich wegen aller Dinge, aber noch ganz besonders wegen seines phantastischen Rückhalts an Lambert und der Sammlung – jetzt war der Flug längst entschieden – ein ganz klarer Gedanke: morgen früh gleich die Zeitung lesen, nicht vergessen – er schlummerte wieder ein wenig, da trat Lina ins Zimmer, sie hatte ein Kind geboren, nein, Zwillinge mit ebensolchen Glotzaugen, wie sie sie hatte, große gesunde rote Kerle von Kindern, so groß wie Gerhart, dieser dumme Bursch, auch ihm ziemlich ähnlich, wenn man's recht nahm – von neuem riß es Arnold empor, und die einsamen kahlen Wände anstarrend, die sich schon im Morgengrauen erhellten, überlegte er hastig, wozu er eigentlich nach Wintertal gekommen sei, wieder so ein unsinniger Streich, denn hier sich verbergen, bis zu Hause alle die Geschichten vergessen seien, das ginge doch nicht – aber vielleicht ins Gebirge fliehn – er begann von Lawinen zu träumen, die sich in Stöße blauen Briefpapiers verwandelten, auf seine Baracke losstürmend; nun war das Hüttchen überschüttet, ein paar Schnörkel einer Mädchenhandschrift stiegen aus dem Papier, tanzten wie Rauch über den Trümmern, sie wollten sich zu Worten ordnen, ein Wind aber trieb sie immer wieder auseinander, sie waren Schilfrohr, nein, ein Fußball fuhr zwischen sie, ein roter, die Sonnenkugel … Am Morgen erwachte Arnold ganz gedemütigt und sanft; fast ohne zu reden, folgte er der Mutter durch die sonnigen kühlen Straßen.

Sie bog hinter einem zweistöckigen Häuschen ein, das, in einer Nebenstraße gelegen, noch ganz das Aussehn eines Großstadthauses hatte, mit Fensterkrönungen, Quadern, Balkonen, nur etwas verkleinert. Dahinter lief ein grasiger Fußpfad steil bergab, zwischen freien und bewachsenen Erdhügeln, wie man sie auf Bauplätzen sieht. Eine Ziege, an einen Baumstamm gebunden, weidete da. Links führte ein Nebenweg zu einem verzäunten Garten, der auf einem Hügel lag, neben ihm die stattliche Hütte. Eine unansehnlichere trat quer gegen den Fußpfad vor, so daß sie ihn mit einer Spitze berührte. Zu dieser bog die Mutter ein … »Hier also?« fragte er beklommen. Er zitterte ein wenig, in so etwas dörfisch Armem, Zusammengeducktem lebte also etwas wie sein eigen Fleisch und Blut. »Warte ein bißchen« sagte die Mutter »ich will sie doch vorbereiten.« Während sie vorausging, betrachtete Arnold, fast mitfühlend, den dunklen niedrigen Holzbau, die Wände aus Balken und Latten, in denen nur die kleinen Fensterchen, weiß eingerahmt und mit Blumen, eine Farbe hatten, darüber dann das große, mit schwarzer alter Pappe bezogene Dach, rußig und wie zerfallen; wie eine faltige Haube, höher als das ganze übrige Gebäude, drückte es mit unverhältnismäßiger Kraft herab und armselig sah eben deshalb solch ein Bauwerk aus, dessen Hauptkraft in dem unwohnlichen, sich verjüngenden Dache liegt. Und die kurze Treppe, die zu einer Art Plattform vor der Türe heraufführte, o diese Plattform aus großen rohen Steinen, mit einem ureinfachen Geländer – wie wenig bequem, wie ländlich das alles!… Die Mutter stand nun wieder in der engen Türe, in ihrer Stadtjacke und im Hut seltsam abstechend. Sie winkte. Arnold betrat die Treppe, durchschritt ein von dunklem Gerät verstelltes modriges Vorhaus, durch das eine mächtige Holzleiter, zum Boden vielleicht, emporführte; etwas Helles und Dunkles, Undeutliches, verwirrte seine Augen, jetzt eine wie mit einem Sofapolster verlegte Tür, an der ein Anklopfen unhörbar geblieben wäre und die die Mutter vor ihm öffnete, während sie ihm nochmals zuflüsterte: »Sei nur hübsch lustig …«

Er trat ein, sich bückend.

Im Bett der Tür gegenüber, unterschied er ein winziges gelbes, von Falten unendlich tief zerdrücktes Gesicht, das der Zimmerdecke zugekehrt auf dem Kissen lag, wie im Schlaf oder Tode. Aber eine leise deutliche Stimme sagte, während er zögernd sich näherte: »Arnoldele, mei Gold, gesünd sollst de sein bis über hündert Jahr. Soll dir Gott geben, was du werst brauchen, mei Gold …« Er beugte sich, um eine kleine Hand zu küssen, die warm war. Da sah er nebenan seine Mutter das Taschentuch ziehn und schnell an die Augen pressen. Und auch die Augen der Großmutter veränderten sich, diese beinahe hundert Jahre alten Augen, sie weinte nicht, aber die Augen wurden trübe wie graue Regentropfen, loschen ganz aus – und dieser Anblick rührte ihn so, daß er seine Kehle, den Hals noch tiefer unten sich zusammenziehn fühlte … Wie ein Gebet murmelte die Großmutter leise fort, aber durchaus nicht erregt: »Groß bist de geworden, unberufen, e Gewure von e Menschen, Gott soll …« Er verstand einige Worte nicht und sagte nun selbst: »Küß die Hand, Großmutter, no du siehst ja gut aus, es fehlt dir also nichts, nichtwahr …« Sie flüsterte weiter, wie in sich hinein, mehrmals wiederholte sie mit einem ganz schwach singenden, einschmeichelnden Ton: »Was tu ich dir nur für e Kowed an, Arnoldele?…«

Die Mutter soufflierte ihm die Übersetzung: »Kowed – Ehre –«, und während er sich an sie wandte: »Ich weiß ja«, steckte sie ihm die Düte mit Brustzelteln in die Hand.

»Ich bin froh, daß ich bei dir bin« sagte Arnold laut und seine reine Aussprache erschien ihm gegenüber dem stets modulierten, undeutlichen Herzensmurmeln der Greisin hart und geziert: »Schau, was ich dir mitgebracht hab. Ich hab gehört, daß du das gern hast …« Er wollte sagen: »magst«, doch erschien es ihm plötzlich notwendig, die einfachsten Worte zu gebrauchen.

»Ich hob immer gewüßt, daß du e braves Kind bist …« Auf mehrere deutliche Worte folgten immer ein paar unverständliche. Dann, an die Mama gewendet, erhob sie ein wenig den Kopf: »Ich sog dir, Regie, von dem Kind wirst de ka Herzlad haben und immer Freiden sollst de erleben. Er hat Herz und Gemüt.«

Arnold reichte ihr die Düte.

»Nimm dir, du wirst doch jetzt etwas essen, von deinem Enkerl« sagte die Mutter, die Gelegenheit benützend, und zu Arnold leise: »Sie hat zwei Tage lang nichts zu sich genommen.«

»Ich hab ka Appetit.«

»No eine Kleinigkeit« schmeichelte er »wenn ich dich schön drum bitt.«

Sie kam mit ihrer Hand der seinen, die das Bonbon reichte, schwach entgegen und steckte es in den Mund. Resigniert schloß sie die Augen, wie eben ein Wohlerfahrener, der dem minder Erfahrenen zum Spaß einmal nachgibt. Darauf fiel ihre Hand langsam wieder auf die Decke zurück: »E Mensch soll nix essen, wo er ka Appetit hat … für e kranken Menschen is das nix …« Sie seufzte auf. »Nur herümgehn wenn ich könnt …«

»Es wird schon wieder werden« tröstete die Mutter. »Nur Geduld. Eine gute Patientin, was? Noch ein bißchen Fieber?« Sie tastete ihr auf die Stirn. »Nicht so arg.«

»Das verfluchte Fieber, ja ja …« Die Kranke keuchte wieder und hustete ein wenig, wobei es den Anschein hatte, als übertreibe sie, aus Zorn, nicht völlig gesund zu sein oder als spiele sie die Wehleidige, wie ein Kind, um sich interessant zu machen. Dieses regelmäßige Keuchen erweckte jedenfalls keine Besorgnis. »Wie ich voriges Jahr operiert bin worden, hab ich gar ka Fieber gehabt, und jetzt diese Geseres. Alle Kränk auf krumm Gitel …«

»Das ist die Medizin, nichtwahr.« Die Mutter kramte am Fensterbrett »wo ist aber das Löfferl?«

»Ich hab ka Löfferl – ich trink mir e bissel aus dem Fläschel.«

»Aber da kannst du doch nie wissen, wie viel.«

»Mei Deige! Bis ich halt genug hab.«

Die Mutter kramte weiter: »Und das Thermometer, zerbrochen!«

»Mit dem Stückele Glas wird er mich gesünd machen, soll er so leben.« Die Großmutter, die immer erregter gesprochen hatte, faltete bei diesen Worten die Stirne mit einer Energie, die Arnolds Herz wie ein Glockenton ganz erfüllte. Wie magisch angezogen legte nun auch er die Hand auf ihre Stirn, drängte die Hand der Mutter zart weg … Da war Wärme wie unter einer dünnen Schichte, und dieselben wohlgerundeten Knollen über den Augen, die er auch an sich wußte … Ein Gefühl unbeschreiblichen Behagens erfüllte ihn, vielleicht verstärkt durch das stete Pochen der Adern an seiner Hand, durch die Fieberwärme oder die Ahnung, daß er hier etwas wie ärztliche Hilfe leiste, ganz entfernt etwas Liebendes, Sachverständiges. »Hitze, ein bißchen Hitze« nickte er wie im Traum. Die Großmutter schloß die Augen wieder. »Was hat der Doktor gesagt?…«

Die Mutter hatte sich indessen im Zimmer weiter umgeschaut: »Was für eine Wirtschaft, Gott im Himmel … Mutter, ein bißl Kaffee, nicht?« und näherte sich mit einer Tasse, die sie vom Ofen nahm, schmeichlerisch: »Koffi, nicht?«

Die Großmutter nahm eben das nur ein wenig verkleinerte, jetzt glänzende Bonbon aus dem Mund, und legte es aufs Federbett. Ein Schleimfaden zog sich daran. »Geh loß mich, wenn ich dir schon emol gesagt hab« und ihre Augen bekamen plötzlich zwei glänzende scharfe Punkte wie Dolchspitzen. Dann wandte sie sich an Arnold, der noch immer, die Hand an ihrer Stirn, dastand: »Nü, setz dich henidder, mei Kind, was tu ich dir nur für e Kowed an.« Er zog den groben Stuhl aus weißem Holz ans Bett.

»Brauchst dich nicht zu kümmern, Mutter, wir haben uns schon alles selbst mitgebracht.« Die Mutter entfaltete aus Papieren kleine Würstchen. »Ich muß nur Feuer machen. Hab nur keine Angst, wir sorgen schon für uns.«

Arnold wiederholte, halb zur Mutter gekehrt: »Wann kommt der Doktor,« da er darauf noch keine Antwort hatte. – »Um zwei Uhr, hat Frau Lichtnegger versprochen.« – Und nun beugte er sich, beruhigt, zärtlich, zu der alten Frau nieder, scherzhaft: »Nun also, was gibt es denn? Schöne Geschichten! Krank sein, das würde dir so passen, nichtwahr …«

»Ich kann nimmer gehn« jammerte sie schwach. »Ich hab mr ja gewünscht, ich könnt zwa Täge vor mei Tod hausieren gehn. Aber jetzt dos daliggen … Ich kömm scho gar nicht mehr vom Fleck. Wenn ich üm zehn weggeh, bin ich umme zwölf dort, wo ich hab hingewellt …«

»No es wird schon wieder besser werden. Natürlich es kann nicht immer so sein wie neulich. Da hast du uns geschrieben, die Mama soll nur schnell kommen. Und wie sie gekommen ist, war das Zimmer zugesperrt und du bist erst Mittag gesund von irgend einem weiten Weg nach Haus spaziert …«

»Sei haben geschrieben« sagte die Alte still. »Ich hab ihnen nix gesagt.«

Die Mutter, die beim Ofen kniete, machte ihm ein Zeichen. Er erinnerte sich, daß sie ihn schon unterwegs auf diese Eigenheit aufmerksam gemacht hatte, und schwieg …

»Sei haben geschrieben« wiederholte die Großmutter »Aber jetzt geh i nimmer aus … Jetzt bin ich echtfärbig.«

»Echtfärbig?« Er hatte vielleicht falsch gehört.

Ein ganz schwaches Lächeln suchte die Falten zu durchbrechen: »No ja, weil's nicht ausgeht …«

Er lachte auf und lachte dann noch einmal, um ihr eine Freude zu machen. Wie dieser Funke von Geist ihm entgegenleuchtete, er begriff es kaum. Aber sie sah schon wieder ruhig vor sich hin. Nur ihre Wangen röteten sich, war es Fieber oder schon Erholung? Jedenfalls keine Spur eines erregten Wiedersehns, nein, erregt war sie nicht, während er sich immer noch nicht fassen konnte, und diese ihre Ruhe, vereint mit ihrer Frische, machte den Eindruck verhaltener Kraft und einer Weisheit, die schon jenseits der menschlichen Zeit stand.

»Ich sog immer, sei sollen nicht schreiben. Haben sei enk leicht wieder geschrieben, diesmal, die Ludern. Was sie nur wollen …«

»Nein, wir sind von selbst gekommen, Großmutter. Oder bist du vielleicht nicht froh, daß wir da sind, no schau …«

Sie antwortete nicht, vielleicht weil die Antwort selbstverständlich war. Doch hatte er manchmal die Empfindung, daß sie ihn nicht verstehe oder er sie nicht. Auch ihre Müdigkeit schien da mitzuspielen, die Krankheit, wie eine Wand fühlte er das manchen Moment lang. Hatte er doch, beispielsweise, einen Vorwurf gefürchtet, daß er noch nie zu ihr zu Besuch gekommen war. Doch in diesen Bahnen bewegte sich ihr Denken eben nicht. Er staunte; aber das Bewußtsein einer Verständigung war ihm so süß, wenn es ihm wieder kam, daß er alles andere übersah, so wie man etwa bei kleinen Kindern nur ihre Zeichen von Vernunft bemerkt und daher alle für gescheit hält. »Schau an« meinte sie plötzlich und ihm schwoll das Herz »dei Mutter, wie se den Hut nicht auszieht bei mir … no er paßt ihr auch gut, was nur wahr is.«

»Wenn ich Dir nur gefall« erwiderte die Mutter, und Arnold fand ihren überlegenen Ton nicht ganz berechtigt. Sie nahm übrigens den Hut ab.

»Schöne Frisur.« Ganz schwach kamen die Bemerkungen und doch mit der intelligentesten Deutlichkeit, die aus diesem verfallenen Gesicht erstaunlich tönte wie eine Prophezeiung.

»Gott sei Dank, ich gefall Dir heut …« Auch etwas Eigensinniges lag in diesem Ton, wie wenn ein halbwüchsiges Mäderl gegen ihre Eltern die Erfahrene machen wollte.

»Aber dick biste geworden, eppes dick, Regieleben.«

»Paß nur auf, gleich wird ihr etwas nicht recht sein«, wandte sich die Mutter an Arnold, doch mit lauter Stimme.

»Die Dicke taugt nischt. Das ist ungesund … Ich war ach emol so dick, haben do die Kinderl e Freid gehabt, daß ich dick bin. So die Ärme haben sie mr gedrückt. Aber es war nix gut … Und e dörre Nachbarin haben wir gehabt, die hat gesogt damals: Mei Mo tut mich auslachen, weil ich so dörr bin. Ich will Dich mit e Zündholz anzünden, sogt er. Da könnten Sie mir eppes abgeben, Frau Goldberger, hat sie gesogt, Na ja, wenns geht, so nehmen Se sich nur e Stückele, hab ich gesogt. Do wär uns beiden recht …« Die Großmutter wurde zusehends munter. Sie plauderte mit sichtlicher Lust. Arnold, der immer nur einige Worte verstand, labte sich an ihrem Feuer, den ausdrucksvollen Biegungen der Stimme, die jetzt, ohne stärker geworden zu sein, ohne sich geändert zu haben, wie ihm schien, etwas Metallisches, Helles wie bei guten Schauspielern hatte und etwas so Jugendliches, wenn sie Freundliches schildern wollte. Diese Stimme mochte aus dem Halse kommen, obenhin, nicht aus den Tiefen der Brust, und dennoch klang sie stark, mannigfaltig, mühelos, sie war süß.

»Es brennt schon« rief die Mutter vom Ofen her. »Das ist halt Dein Kuksöwile, was, Mutter.« Sie wollte der Großmutter einen Gefallen machen, indem sie ihren Ausdruck gebrauchte. Die Großmutter merkte es aber gar nicht, sondern meinte nur ganz ernst: »Ja das is mei Kuksöwile, e guts Öwile.« – »Da brauchst Du Dich wenigstens mit keinem Dienstmädchen abzuärgern.«

»Willst Du Dich nicht auch hersetzen, Mama?«

»Loß se gehn« sagte die Großmutter, mit einem vertraulichen klugen Zwinkern zu ihm »sei is doch glücklich mit ihrem Gegeh und Geschwindel und Geputz. Das hat se von der Tante Lise noch. Die hat auch allemal geputzt und geramt. Wenn man is zu der gekommen, hat alles geblinkt und gefinkelt und der Fußboden war genau eso rein wie das Tischtüchele. Meschugge, metorf. Hat ihr emol der alte Schlojme gesagt, aus Petschau der, kannst Dich erinnern, Regie, – sei soll emol die Zimmerdeck ach abwaschen, aber da is ihr das Wasser über den Kopf geschütt …« Arnold verlor den Faden von hier an, doch glücklich, als sehe er sein eigenes Anekdoten- und Unterhaltungswesen leibhaftig vor sich, blickte er ihr ins Gesicht, aus dem das Kinn scharf hervortrat. Dieses Kinn war mit vielen großen Poren besetzt, wie durchlöchert, als hätten die Falten auf dem Kinn die Gestalt von Löchern angenommen, diese Falten, die auf der Stirn in gleichmäßigen Krümmungen hinzogen und über die Wangen hin nach allen Richtungen wie ein Netz lagen, das sich um die Mundwinkel herum undurchdringlich zusammenschnürte. Hier drängten die Linien so dicht an einander, daß die schwächeren von den tieferen durchschnitten oder als Hügel an die Oberfläche gedrängt wurden, und diese tieferen schienen gar keine Hügel mehr, sondern Einschnitte ins Fleisch, unbeweglich. Die Nase dagegen hob sich ziemlich glatt und schön gebogen aus dem Wirrwarr. Mit unendlicher Wehmut betrachtete Arnold diesen beredten Mund, der keine Zähne mehr hatte; seine Lippen bildeten dafür zackige Erhöhungen und Ausbuchtungen, die sich an einander schlossen und wieder auseinander zogen, je nachdem der Mund sich schloß oder öffnete. Die Augen blitzten. Das Schönste jedoch war das schneeweiße Haar, reich und ohne jede Beimischung von Gelb an der Stirn beginnend, übrigens vom Liegen jetzt ein wenig zerrauft … Arnold begann es leise zu streicheln; eine Ruhe, noch nie empfunden, eine gänzliche Sorglosigkeit beschlich ihn dabei, wie am Ende aller Dinge, er hörte nicht mehr genau zu und doch war ihm, als verstehe er alles, sein Ohr füllte sich mit verworrenen Tönen, mit Erzählungen ohne Ende, deren Zusammenhang ihm fragwürdig war, deren Ausgang in nichts verlief, ohne Pointe, die aber so lebhaft klangen und auch offenbar der Erzählerin die Erinnerung an so lebhafte Dinge nahebrachten, daß ein jugendliches warmes Licht durch das ganze Zimmer aufzustrahlen schien. Plötzlich unterbrach ein stärkerer Husten und die Großmutter drehte sich der Wand zu …

»Was ist?« rief die Mutter und kam herbei.

Die Großmutter klagte, mit heftigen Zuckungen des Gesichts, über Schmerzen. Der Husten reize ihr altes Leiden wieder. Arnold, der wußte, daß sie einen neulich operierten Bruch habe – auch schmutzige Bandagen, unter dem Kopfpolster zusammengerollt, erinnerten ihn daran – wandte sich ab, seinen Sitz der Mutter überlassend. Während die beiden Frauen mit einander flüsterten, ging er durch das Zimmer. Es war so schmal und klein, daß das Bett beinahe ein Viertel des Raumes wegnahm. Gleich an die Türe stieß ein Küchenofen, dessen Platte, mit einem Gewirr von Schüsseln und Töpfchen, dennoch nie benützt zu werden schien, denn auch alte Papiere, Kleider wälzten sich über sie und dicht daneben hing an einer Schnur ein Bündel neuer Schürzen, das Warenlager vielleicht. Über ihn weg ging überdies zu dem wirklich benützten, kleinen, so beliebten Eisenöfchen, das auch jetzt brannte, ein schwarzes Rohr, das in zwei herabhängenden wackligen Drahtschlingen wie etwas Schlafendes schwebte. Und schlafend lagen auch, in angemessener Entfernung dem Ofen gegenüber, mehrere Koffer und Kisten auf der Erde, alle in Eisenreifen mit Schlössern, aber alt und verfallen. Seltsam genug machte sich neben ihnen die Pracht eines ganz neuen Kanapees, das zwischen sich und dem Bett nur einen ganz schmalen Durchgang ließ, so breit war es mit seinem roten Leder, den gepolsterten Armlehnen, den zum Schmuck tief eingenähten Knöpfen. Es paßte gar nicht herein und, als werde dies auch gefühlt, stand es mit der Rücklehne nicht ganz an der Wand, sondern fremdartig suchte es nach Stützpunkten … Arnold erinnerte sich denn auch, daß die Mutter es erst neulich angeschafft hatte, damit die Großmutter zu Mittag darauf ausruhn könne, zum großen Ärger der Sparsamen übrigens, die alle Geldausgaben verabscheute … Nur noch ein Möbelstück außer dem Kanapee gab es in dem kahlen und doch überfüllten Zimmer: ein mageres Glaskästchen, wieder mit Geschirr gefüllt; obenauf lagen viele Brillen (Arnold nahm sich vor zu fragen, warum so viele, vergaß es aber) und Gebetbücher (Also konnte sie doch lesen. Oder nur hebräisch?). Die Kleider dagegen hingen nicht in Kästen, sondern frei an der Wand, nur von einem schmutzigen weißen Tuch, das oben mit zwei Nägeln befestigt war, verhüllt. Das war das Armseligste, diese nackten graugestrichenen Wände, mit zwei winzigen quadratischen Fensterchen nur, deren Bretter wieder allerlei Porzellanzeug füllte – und die niedrige Decke, nicht glatt, sondern mit offenem Gebälk, mit Spinnweben und Gott weiß was noch – und alle Gegenstände hier nicht etwa Mann für Mann und sauber hingestellt, sondern durcheinandergeworfen, wie in Schwächeanfällen, mit einander verbunden durch hingestreute Haufen von Gerümpel, durch Fliegen mit ihrem unerträglichen Gesumm und Niedersitzen und wieder Kreisen, durch zerbrochenes Holz, Fetzen, Abfälle, noch hinter dem Bett lugte ein ganzer Sack mit abgetragener Wäsche hervor. Und dieses Bett, ganz eng, schwachfüßig, die Federbettdecke grau statt weiß, mit großen eingesetzten Flecken von andern Leinwandsorten, betropft mit rötlichen Spuren … Wenn Arnold an seine Wohnung zu Hause dachte, mit ihren aufgeputzten hübschen großen Stuben, Palasträumlichkeiten förmlich, erschrak er. Und wie mochte es im Winter hier aussehn, im Schnee. Oder die langen einsamen Nächte einer Kranken … Und kein Mittel, dem abzuhelfen, denn die alte Frau duldete aus Mißtrauen (alle Leute bestahlen sie, in dieser Einrichtung!) keine Bedienung, holte sich lieber selbst das Wasser und wusch sogar noch den Fußboden allein auf … In sein Graun mischte sich Bewunderung für diesen heißen eigensinnigen Kopf, und Liebe, Mitleid. Wie fremd und wie vertraut dies alles. Was mochte sie machen, während er die elektrische Lampe an seinem schönen Schreibtisch spielen ließ oder wenn er im Ruderboot saß, mit Millionärssöhnen, in demselben Moment, was tat da die Großmutter? Gab es gar keine Fäden? War es seine Schuld? Irgend jemandes Schuld?… O er hing doch mit dieser Bettlerin zusammen und war stolzer darauf als auf seinen Umgang mit allen Bürgern der Stadt. Wie kam das alles? So wahr und so sagenhaft. Er hätte weinen mögen, in seinem Herzen zitterte und klang eine ganze Harfe von Zärtlichkeiten und Kosenamen. Namentlich aber dem Prunkkanapee näherte er sich mit jenem tief schweigsamen Blick, der manchmal in einem einzigen Gegenstand das Symbol ganzer Schicksale erkennt.

»Setz dich nur hernidder« seufzte die Großmutter vom Bett her »auf dei Kanapee. Das ist doch enkerer Kanapee, das gehört enk und ich will's nicht. Setz dich nur auf dei Kanapee. Wenn ich nicht mehr bin, so nehmts enk nur wieder, den Dingerich do.«

Er setzte sich wieder auf den Küchensessel, während die Mutter an ihre Arbeit zurücklief: »Aber was redest du denn? Davon redet man nicht. Was fällt dir ein.«

Sie murmelte etwas.

»Ich sitz lieber so bei dir, recht nahe, Großmutter. Das ist mir lieber.« Obwohl er alles, was er sagte, herzlich fühlte, ja herzlicher, als er es aussprach, kam ihm doch vor, als rede er nur, um ihr das Stichwort zu geben.

Sie wandte ihm denn auch das Gesicht zu, in dem wieder der Zug von Schmerz, eigentlich mehr von Ungeduld, sich zeigte: »Ich möcht scho gern unten sei, unter der Erd. Oben war ich halt scho genüg, es freut mich nimmer, ich hob genüg gehabt, glaub mir. E Sof möcht ich machen.« Plötzlich aber erhob sie sich aus dem Klageton und ein wenig stärker, für die Mutter berechnet, begann sie zu schelten: »Awere, mit den Würstlach wärech scho lang fertig. Das is e Kocherei.«

»Ich bin ja auch schon fertig« antwortete die Mama, sichtlich stolz darauf, daß sie ihren Humor nicht verlor »deine Kocherei natürlich, da hast du's leicht. Immer Koffi und Koffi noch und wieder.« Wie ein Dolmetsch wandte sie sich an Arnold: »Die Mutter trinkt nichts als Kaffee, das ist ihr Liebstes …« und leiser »Gut, daß sie uns heut keinen kochen kann. Mich ekelt's, aus dem Zeug da zu trinken.«

Arnold, der die Reden seiner Mutter überflüssig fand und diesen Ton eigentlich weniger verstand als den der Großmutter – offenbar lagen da Verhältnisse zu Grunde, die er nicht kannte, noch aus alten Zeiten her – sagte ihr leise scherzend ins Ohr, wie ein Verbündeter: »Daraus machen wir uns nichts, was?«

Die Alte drehte ihr Händchen, das auf dem Federbett lag, um, mit der Handfläche nach oben und dann wieder zurück – eine stumme Verachtung oder Hoffnungslosigkeit.

»Was macht denn Deine Maus, Mutter, tanzt sie Dir immer noch zwischen den Kochtöpfen« spottete die Mama weiter, offenbar um zu belustigen. »Da ist ja die Falle …« Sie zog aus einem der für Arnold unergründlichen Haufen ein Gitterwerk: »Leer …«

»Das Mäusile« lächelte die Großmutter, fast gutmütig. »Was macht denn mei Mäusile. Do hab ich 'r Speck 'reigetue und sie frißt en weg und läuft heraus. Is sie nicht drin?… Hast e Chutzpe gehabt.«

»Auf Dich wird sie warten, wenn Du ihr so altes Zeug hinstellst. Aber ich hab Dir doch unlängst eine ganz neue gekauft, wo ist sie denn?« Sie stieß Arnold leise an, aber doch so, daß die Großmutter es hören mußte: »Sie wird sie verkauft haben …«

»Der Maurer hat mir geraten« schwenkte diese mit natürlicher Überlegenheit ab »ich soll ihr Glas vor das Loch streuen. Also hab ich Glas gesammelt und ihr gestrien, do stechen se sich herch.« Sie ächzte. »Wenn ich nur wieder gesünd wär und aufstehn könnt. Das is ka Naches, so zu liegen. Nur gesünd sein, wenn mir Gott gibt.« –

Es klopfte.

Herein trat Frau Lichtnegger, eine große hellblonde Frau im Kopftuch, mit ihrem Buben, der schnell beim Eintritt den Finger in den Mund steckte. Sie wollte sich, wie täglich, nach dem Befinden der Frau Goldberg erkundigen; vorsichtig und bescheiden kam sie näher, stieß aber plötzlich einen Freudenschrei aus: »Nein, das ist ja unmöglich. Wenn Sie sie gestern gesehn hätten, Frau Beer. Das ist ja gar kein Vergleich. No geh's nicht besser, Frau Goldbergen … Sie hat halt Freude, daß Sie da sind … Und das ist der Herr Sohn, nichtwahr.« Arnold verbeugte sich befangen. Die Großmutter sprach zu ihr wie zu etwas Fremdem, nicht ganz auf gleicher Stufe Stehendem: »Nehmen Sie doch Platz, liebe Frau …« und redete überhaupt so still und sanft mit ihr, daß man sich ein Zanken von diesem Ton aus gar nicht recht vorstellen konnte »wie geht's denn?« Und zum Buben: »No, mei kleins Schekitzele.« Auf die wiederholte Frage der Frau Lichtnegger, wie sie sich heute fühle, antwortete sie mit einem traurigen, sehr absichtlich scheinenden Kopfschütteln. »Kein Vergleich mit gestern« flüsterte die Maurersfrau der Mutter zu.

Die Mutter brachte eben die warmen Würstchen vom Herd, lud auch die Gäste ein. Man aß von einem ausgebreiteten Papier weg … »Nun, Mutter, was wirst du essen?«

»Ich hab ka Appetit.«

»Ein bißchen Himbeersaft mit Kuchen.«

»Ich hab ka Appetit.«

»Aber du mußt doch etwas essen, – eine Grieskasch?«

»Vielleicht eine Omelette« mischte sich Frau Lichtnegger ein und die zwei Frauen bedrängten mit wohlgemeintem Eifer die Greisin, so daß Arnold sie bemitleidete, doch zugleich, da sie fest blieb, anstaunte. Sie hatte nun einmal keinen Hunger, als Fieberkranke. Er sagte es laut.

Die Mutter war bös: »Hat man dich gefragt?«

»Eppes hat mir heint geträumt« sagte die Großmutter, an so unvermittelte Übergänge mußte man sich hier gewöhnen »Sie können auch zuhören, Frau Lichtneggern, von dei seligen Lehrer Schmidt, nebbich, daß er mir hat erzählt, wie damals, von dir, Regie …«

»Das ist es« machte ihn die Mutter lachend aufmerksam.

»Er hat gerechnet auf der großen Tafel und gesagt, keiner soll jetzt reden von die Schüler. Da is die kleine Goldberg aufgestanden: Derf ich nicht aber doch etwas sagen? – Aber was willst du denn sagen, Kind? – Ich möcht Ihnen was ins Ohr sagen, Herr Lehrer – Aber jetzt sagt man nichts – Derf ich aber nicht doch e kleins bißl was sagen?… und sagt ihm, die Regie, daß irgendwo e Fehler is, auf der Tafel. Also hast du ihm einen Fehler ausgebessert, dem Herrn Lehrer Schmidt, und warst doch die jüngste in der Klasse. Er hat sich aber dann auch gewundert: Mir hat se selbst e Fehler gezeigt, so e Tam von e Kind – derf ich aber nicht doch e kleins bißl was sagen, so hat er dir nachgemacht … Und hat es dem hochwürdigen Herrn selber erzählt, wie sie do zusammsitzen auf die Bierbänk, und der hochwürdige Herr hats dann mir erzählt.«

Die Mutter hatte nicht zugehört und erkundigte sich, während Arnold der Großmutter die Hand drückte, bei Frau Lichtnegger, was denn der Doktor gestern gesagt habe … Er war eine halbe Stunde geblieben, so gut habe er sich mit dem Mutterl unterhalten. Was sie denn für Schätze in all den Kisten hat, habe er gefragt … »Ja, das mußt du dir anschaun« sagte die Mutter zu Arnold, wie in einem Museum, indem sie unter dem Kopfpolster einen Schlüsselbund hervorzog. »Acht Schlüssel und nur drei ganze Schlösser im ganzen Zimmer« sie zeigte auf die Kisten »und was ist drin: ein bißchen stinkige Kohle – und das glaubst du, Mutter, daß dir irgendjemand wegtragen wird – und dabei kannst du die Kisten nur so aufheben, daß dir der Deckel in der Hand bleibt, so alt sind sie – aber wenn sie nur hübsch zugesperrt sind …«

Arnold, nun wirklich neugierig, glaubte die Gelegenheit gekommen, in einem Einzelfall zu sehn, wie es mit diesem Wahn stehe, und fragte ganz harmlos die Großmutter: »Wozu hast du denn die hübschen Schlüssel

Sie hatte, es schien ihre Gewohnheit, nicht gehört oder beachtet, was über sie gesprochen wurde, und zählte nun langsam, aber präzis auf: »Der is für die Almer, der für das Fach in enkerem Kanapee …« bis alle acht richtig herum waren. »Nun also« warf er den Kopf gegen die Mutter auf »Was redest du also? Nichtwahr, Großmama …«

Indessen fuhr Frau Lichtnegger fort, zu erzählen, wie beschäftigt dieser Arzt sei, Herr Heiger, er mache nirgends hier Besuche, nur der alten Frau Goldberg zu Liebe …

»Er kommt ja bald … Wir müssen, ich muß aufräumen, das ist ein Skandal« fuhr die Mutter verzweifelt in die Höhe, sie hatte jetzt schon zu lange geplauscht »die Betten überziehn …«

Leise erwiderte die Großmutter, obwohl man sie diesmal nicht direkt angeredet hatte: »Mei Deige is der Doktor. Er wird zu Haus auch nicht alles so akrat haben.« – Trotzdem stimmte sie, ganz wonniglich sanft, zu, als die Frauen ihr nahelegten, sich zu kämmen. Nur allein wollte sie es machen. Sie setzte sich im Bett auf, man rückte ihr als Stütze die Kissen an den Rücken. Vom nahen Fensterbrett nahm sie den gelben, fast zahnlosen Kamm und fuhr sich heftig, ihre Hand zitterte nicht, ins Haar. Es war noch voll und ziemlich lang und ordnete sich schnell. Dann teilte sie es in zwei Teile und flocht aus jedem einen Zopf, dessen letzte, ganz enge Maschen sie offen ließ, so daß sie sich wie kleine Fingerchen emporkrümmten. Arnold wußte nicht, was ihn bewegte, beim Anblick dieser zarten Flechten, deren äußerste Enden nun doch einen gelblichen Schimmer zeigten … Mühevoll legte nun die Großmutter ihre schwarze dicke Winterjacke ab, die sie bisher angehabt hatte, alle drei mußten sie halten, an dem gebrechlichen krummen Rücken, unter den weichen Schultern, und endlich die vielfach Seufzende wieder hinlegen. Indessen erging sich Frau Lichtnegger in Beschreibungen von Großmutters Krankheitszuständen, als sei sie gar nicht anwesend. »Wenn nur der Schüttel nicht wiederkommt.« Damit meinte sie den Schüttelfrost. »Gestern hat sie wieder so einen Schüttel gehabt« und die immerwährende, selbstverständliche Wiederholung dieses Wortes dünkte Arnold sehr einfältig, keines der komischen Worte, die er heute von der Großmutter gehört, zum erstenmal in seinem Leben, hatte diesen kindischen unernsten Eindruck auf ihn gemacht. – Frau Lichtnegger fuhr fort: No Mutterle, habe der Doktor gesagt, ich seh, Sie sind eine saubere Frau, – als ihm die Großmutter erzählt hatte, zur Entschuldigung, sie habe sich heute nicht waschen können … Und wieviel er zu tun habe, noch einmal. »Bis zehn Uhr nachts, von früh sieben. So beliebt ist er. Wenn er nicht bald von hier wegzieht, so vergeht er.« – Plötzlich legte sie den Finger an den Mund und hielt ein. Die Großmutter atmete langsam, sie war eingeschlafen. Leise schloß sie: »Das tut sie gern, wenn man vor ihr spricht. Das tut ihr wohl.« – Und die beiden Frauen berieten, eine Suppe mußte für die Kranke gekocht werden, eine kräftige Fleischsuppe. Arnold, der erst jetzt den Sessel am Bett verließ, trat auf Fußspitzen zu ihnen. Ob sie nicht lieber zum Doktor sehn wollten, daß er recht bald komme. Er werde schon kommen, war die Antwort, und der Husten sei ja nur heilsam, weil er den Schleim entferne, und nun dieser gute Schlaf, – es sei nicht mehr so gefährlich. Frau Beer beschloß, ein gutes Stück Rindfleisch kaufen zu gehn. Frau Lichtnegger wollte ihr einen billigen guten Laden zeigen. Sie winkte dem Jungen, der lautlos in der Ecke gesessen war. Arnold reichte ihm ein paar Zuckerl. Der Bursch nahm sie verlegen und wollte ihm, ohne Worte, seine bunte Holzflöte dafür schenken, die er fest in der Hand hielt. Arnold schob ihn lächelnd hinaus.

Nun allein mit der Schlafenden schlich er wieder zum Sessel zurück, wagte aber nicht, sich zu setzen … Sie war schön. Das Alter hatte nichts Entstellendes, Unregelmäßiges in ihre verschrumpfenden Züge bringen können. Man sah förmlich noch durch die Runzeln hindurch, wie durch viele matte Glasschichten, unten das schöne junge lebensfrische Mädchen – und Arnold dachte daran, was ihm die Mutter manchmal erzählt hatte: daß die Großmutter viele Verehrer gehabt, aber aus Trotz, vielmehr Gleichgiltigkeit alle abgewiesen habe, von Jugend an nur auf Gelderwerb bedacht, endlich hatte sie den reichsten genommen, der aber um zehn Jahre jünger war als sie, den Großvater, und mit ihm so unglücklich gelebt … Was lag an all dem, dachte er. Nach so viel Kampf, nach so viel Leidenschaften, jetzt lag sie ruhig und schlief nicht anders, als sie in ihrer Jugend vor all den wilden Erlebnissen geschlafen haben mochte, und wie er sie ansah, die Unberührte, überfiel ihn auf einmal der Gedanke, wie leicht eigentlich das Leben sei und wie es so von selbst und allen Anfechtungen zum Trotz bis ans Ende fortschreite, ganz einerlei, was man treibe. Nichts ist da, als daß die Zeit vergeht, mehr kann ja überhaupt nicht geschehn!… Und von hier aus gesehn, schien ihm nun auch plötzlich die so verwirrte und trostlose Situation, in der er sich augenblicklich befand, gar nicht mehr so wichtig und so trostlos – er nannte sich feig, weil er den kleinen Unannehmlichkeiten durch diese Reise, diese Flucht besser gesagt, ausgewichen war, das war es – beim Anblick dieser arbeitsamen wilden Greisin bekam er aufs Neue Lust, sich ins Leben zu stürzen, aus dem er mit vorschneller Erfahrung schon hatte entweichen wollen; bekam Lust, wieder zu toben und zu schaffen, wie es in seiner Art lag. Ein süßes verlockendes Gefühl von Unverantwortlichkeit befiel ihn, als würde er aus einem Hohlweg blitzschnell vor eine riesige Aussicht fruchtbarer Ebenen entrafft und als lenke sich ihm doch alles zum Schluß ehrbar ein, moralisch beinahe, in allem Ausschweifen sinnvoll begrenzt wie diese Dorfstube. Denn wohl fühlte er sich der Schlummernden verwandt, das verstand er nun, dieselben Stürme pochten auch in seinem Blut. Mochten sie losbrechen und ihre verderblichen Ziele suchen, was lag daran – nach allen Verwüstungen würde man seinem ergrauten Haar doch nichts anderes nachsagen als: er ist ein Original, und nicht einmal mehr recht bös auf ihn sein – so wie bei der Großmutter – und die Ruhe in seinem Innern dann, o wie auf dem Gesicht dieser schlafenden lieben Frau, wie ohne Gedächtnis … Nun erfüllte ihn Stolz sogar, daß er auf seine lebensvolle Manier die Zeit verbrachte. Er mußte nur nach dem Vergleich mit der Großmutter zu solchen halbtoten Puppen zurückkehren wie diese Frau Lichtnegger eine war, wie sein Bobenheim zu Hause. … Ehrlich waren sie, aber das ist ja keine Kunst, ehrlich zu sein … Diese dagegen, dieser Starrkopf, war eine bedeutende Person, die Bedeutendste der Familie nannte er sie, nach seiner intensiven Art fast schon verliebt in das neue Erlebnis, – etwas Großes fühlte er aus ihr strahlen, etwas bis zum letzten Tropfen Selbstständiges und Unbewußtes dabei. – Sie mochte eine Heldin sein, eine Deborah, aus jener alten Zeit noch, in der es so viele Helden gab, in der jeder Mensch den Kopf so hoch trug, daß man aus ein bißchen Heldentum gar nicht so viel machte wie jetzt und daß das Andenken der Starken unter tausend andern, ebenso Starken vergessen ward. – Nein, die langen einsamen Nächte konnten diesem furchtlosen Geist nichts anhaben, der Tod hatte keinen Schrecken für sie, so erfüllt von ihrem eigentümlichen Leben war sie, von ihrer leuchtenden Gescheitheit, die alle ihre Fehler von Grund aus verklärte, o noch viel mehr als ein paar Schwächen gutgemacht hätte. Und Arnold sagte sich, in einer leichten Freude: »Ja, ja, dem Klugen wird vieles vergeben, Klugheit ist ja das Licht der Welt« – und wie in einem glänzenden Strom von Selbstentschuldigungen und neuem Selbstbewußtsein löste sich seine Schmach auf … Plötzlich fand er sich selbst wieder ganz passabel, all dem Bösen in ihm zum Trotz, fand sich beschwingt und leuchtend. Aus dieser Wendung heraus betrachtete er noch einmal das Gesicht der Schlafenden, wie um sich jeden ihrer Züge zu merken. Die Lippen waren in den Mund tief hineingesogen, so daß an Stelle der Mundöffnung in einer dunklen Vertiefung die senkrecht verlaufenden Runzeln unter der Nase und die über dem Kinn aneinanderstießen und sie paßten auch zu einander, schienen einander fortzusetzen, die kleinen Rinnen. Der Hals, jetzt entblößt, da die Großmutter nur eine lose Nachtjacke anhatte, war nichts als eine Reihe welker fallender Hautlappen, deren Anblick den jungen Mann tief erschütterte. Und das Erschrecklichste: die Augen waren nicht ganz geschlossen, sondern starrten halboffen, wie etwas Schleimigtrübes, geradeaus … Arnold bekam Angst; die Nase erschien ihm spitz, vom tiefeingepreßten Mund aus aufragend, … vielleicht war die Großmutter tot. Er beugte sich über ihr Gesicht, sie atmete. Zugleich spürte er den dumpfen Geruch, den er im ganzen Zimmer bemerkt hatte, gepreßt, schmutzig, lebensvoll – und wie ein Verbrechen erschien ihm nun in momentanem Zusammenhang die Rede seines Vaters: Sie wird einmal einschlafen … Und was würde er jetzt sagen, der Vater von seinem Komptoirtisch her: Du übertreibst alles … Nun natürlich, er übertrieb, Gott sei Dank … Er pries die Großmutter schon wie eine Heilige. Seit er hier eingetreten war, hatte sich sein Schmerz beruhigt, – vielleicht auch deshalb, weil es hier so viel Neues zu sehn, zu bemerken gab, gemütvoll zu umfassen – oder nein, nicht deshalb, das Überquellende war ja vielmehr diese Wurzelliebe, dieses Gefühl – Seine Vorstellungen begannen sich zu verwirren, so viel hatte er zu überlegen. Es war ihm, als sitze er an diesem Bett bei der Schlafenden, seit er überhaupt begonnen habe zu denken, seit frühester Kindheit, als habe er nie etwas anderes erlebt als immer nur dies eine, als gebe es kein Vorher und kein Nachher mehr für ihn …

Die Mutter trat ein, wieder mit Paketen beladen, die Gute. Fleisch trug sie, Wein, eine Sardinenbüchse, – das wünschte die Großmutter immer – sie trat ans Bett, musterte es mit einem nachdenklichen Blick: »Flöhe mag es da geben, nicht wenig …« Dann war sie wieder durch ein Bündel mit Strümpfen beleidigt, das vom Sofa fiel, als sie sich setzte. »Wo nur die neuen Hemden hin sind, die ich ihr gekauft hab. – Ich muß ihr wieder ein paar alte Hadern verbrennen, sonst trägt sie sie ewig. Ihre Blusen mußt du mal sehn. Geflickt, wie ein Regenbogen …« Unter solchen Reden begann sie, auf dem kleinen Ofen eine Suppe zu kochen.

Arnold wagte es: »Mir scheint, Mama, du behandelst sie nicht ganz richtig. So alte Leute haben ihren eigenen Kopf. Sie möchte sich halt lieber mit dir ruhig aussprechen, wenn du schon herkommst, als daß du ihr die Ordnung störst …«

»Aber wer soll's denn machen! Sie würde ja im Schmutz ersticken« erwiderte die Mutter mit viel Berechtigung.

Da erwachte die Großmutter: »Ich hab e Naches, daß se fort is.«

»Wer denn?«

»Die Orlte, die dumme, die Reschainte …«

Die Mutter nahm alle ihre Geduld zusammen: »Aber so darfst du doch nicht reden. Was fällt dir ein. – Frau Lichtnegger ist so gut zu dir.«

»Der Schlag soll sie treffen« zürnte die Greisin, jetzt lauter als bisher während des ganzen Tages. »Was kommt se her und redt und redt! Lauter Stuß. E Patsch von e Chochem is m'r lieber wie e Kisch von e Chamer. Das Gebitz nemmt se einem heraus mit ihrem Gebember und Geschmus.« Sie griff sich jammernd an den Kopf: »Mei Seide-Möach.«

»Mir scheint, es geht dir schon wieder gut. Du wirst schon wieder lustig.« Die Mutter fühlte ihr den Puls. »Das Fieber hat nachgelassen. No, geht's nicht besser?«

Die Großmutter schüttelte den Kopf, obwohl man es ihrem strahlenden Blick ansah, wie sie sich im Schlaf erquickt hatte, – sie war gegen ihren Willen gleichsam krank geworden, sie dankte jetzt auch niemandem für ihr Besserbefinden. Nur trotzig meinte sie: »Wenn ünser Herrgott mich nix gesünd sei loßt und nix verdienen loßt, so soll er mich ach nix leben lassen.«

»No das mußt du ihm schon selbst sagen« lachte die Mutter »per Telephon vielleicht. Vielleicht hast du eine bessere Verbindung mit ihm als ich. Er folgt halt meist genau so wie du folgst.«

Arnold befürchtete Zank. Die Großmutter aber hatte ihre Schlaflosigkeit überwunden und meinte liebenswürdig mit einem ironischen Lächeln, für das man sie hätte küssen mögen: »Güt, nächsten Schabbes wer ich's ihm sagen.«

»Da hab ich dir was feines gemacht.« Das Süppchen, das die Mutter im Topf heranbrachte, duftete. »Willst du nicht einmal versuchen …«

Eine gnädige Antwort mit zimperlicher Stimme: »No jo, e bißl …« Offenbar hatte sie einen tüchtigen Hunger, denn sie schnupperte schon in den Dampf, wie ein freudig erregtes Baby.

»Bißl Salz hinein.«

»Nein – ka Salz – Salz reizt doch.« Und sie hustete affektiert.

»Aber es wird keinen Geschmack haben.«

Statt der Antwort nahm die Großmutter das Töpfchen und führte mit sicherer Hand, ohne zu zittern, den Löffel an den Mund, nachdem die Mama nochmals geblasen und gekostet hatte. »Was is dos für e Supp?« fragte sie, nach dem ersten Schluck einhaltend.

»O je, wieder was nicht recht.«

»Aber Mama« wandte Arnold ein »du verstehst das schlecht. Die Großmutter fragt doch nur, was das für eine Suppe ist, den Namen möchte sie gern wissen, sonst nichts.«

»Du wirst mir die Großmutter zu erkennen geben … Nichtwahr, es schmeckt dir nicht?«

»Aber ja …« sagte die Großmutter einfach und löffelte weiter »Was für Flasch is das denn? Wo hast es denn gekauft?«

»No Rindfleisch, vom Körbelwirt. Das ganze Stück« sie brachte es vom Ofen »kostet zehn Kreuzer … Die Mutter ist nämlich noch aus dem billigen Land, mußt du wissen« wandte sie sich an Arnold.

»Wirklich nich teier« lächelte die Alte, sichtlich erfreut »Ja man muß sparen mit dem Geld … Waßt de, Geld wenn wär nur Geld – aber Geld is alles …«

Arnold erinnerte sich plötzlich, da die Großmutter aß und die Mama ihr freudig zusah, daß er ja Witze erzählen sollte, unterhalten, – bisher hatte er eigentlich nur wie bezaubert herumgeschaut und zugehört, ganz gegen seine Gewohnheit. Jetzt setzte er sich in Bewegung und begann von seinen fabelhaften Ersparnissen zu berichten, was die Großmutter sehr zu freuen schien. Nur durch sachgemäße Fragen, ob das Geld auch in der Bank liege u. s. f., unterbrach sie ihn … Das Gespräch wurde nun immer lebhafter, während die Großmutter immer wieder nach einer Pause den Suppentopf vornahm; ja Arnold, der diesen Besuch bisher als ganz außerhalb seiner Welt und städtischer Konversationsmanieren liegend angesehn hatte, fühlte sich jetzt fast wie in Gesellschaft, ohne Besonderheit, jedenfalls auf einem Niveau, das mit dem Küchensessel und den Dorffensterchen nicht das Mindeste zu tun hatte. Die Großmutter erzählte von ihrem Beruf und wie man sie überall gern sah. »Frau Goldbergen« rief man ihr zu wenn sie vorbei ging »was kümmen Sie nit a bißl zu uns rein. Wir brauchen Scherzen, Ticher. Bleibens ock doue. Es kummt Ra'n.« Eine Bemerkung Arnolds aber, daß sie also recht viel verdiene, schien ihr zu mißfallen. »Ja, viel Meloche, wenig Broche« antwortete sie. Nach einer Weile fuhr sie fort: »Häst e Geschmack von e Supp gehabt!«

»Sie schmeckt dir nicht gut?« rief Arnold besorgt.

Sie antwortete nicht, ihr Gesicht wurde finster.

Nun hielt er den Moment für gekommen, sein Gedächtnis nach Witzen zu durchsuchen. »Was ist das? Es ist weiß und hat keinen Kopf, und trotzdem schaut es« gab er auf. Die Großmutter dachte nach, ernstlich. »Ich werde es dir also …« »Ich möchte sagen« unterbrach sie »e Kopf von e Gans.« Er lachte: »Aber nein, es soll ja eben keinen Kopf haben. Ein Unterhosenbandl ist es.« Sie nickte ihm freundlich zu, schien aber den Sinn nicht zu verstehn: »Ja in der Stadt, do habts ihr so verschiedene Wörtlach. – E komische Supp, was das is. Habts ihr immer solchene Suppen?«

»Es ist eben kein Salz drin. Du wolltest keins« erklärte die Mama.

Arnold vermittelte: »Du siehst, es geht uns trotzdem gut. Wir sehn ganz beruhigend aus.«

Sie sah ihn näher an und jetzt erst fiel ihm ein, daß er nach halbschlafloser Nacht nicht eben sehr blühend sein mochte. »E bißl schmal« sagte auch sofort die Alte »Schlafst du denn genüg? Schlaf is e Wohltätigkeit für e schwachen Menschen. Regieleben« als bemerkte sie es jetzt zum erstenmal »eppes dick biste geworden. Dicker mußte nix werden, das ist nicht gesünd. So kannste bleiben.«

»Die Mutter meint, ich bin noch ein Kind, ich werde ewig jung bleiben« sagte Mama, mit niedergeschlagenem Blick; und Arnold sah sich plötzlich mit einer Deutlichkeit in den Gedanken irdischen Vergänglichseins versetzt, hier in dieser Stellung von drei Generationen, wie er es nie vorher auch nur als Andeutung gefühlt hatte, ohne daß ihm übrigens dabei irgend ein neuer, in Worte faßlicher Einfall kam.

Indessen aber, während er wie in ein Bassin von Schwermut untertauchte, hatte die Großmutter zu erzählen begonnen: »Marie nebbich hat ach immer eso gelesen in der Nacht bei der Lampen, ich hab längst gemant se schläft. Is Poldi emol nach Haus gekommen, e bißl schücker war er vielleicht und sogt ihr: No was weinst du denn da. Was lieste denn? – Von Genofeva, sogt sie …«

Die Mutter flüsterte: »Genofeva. Schöne Lektüre haben wir gehabt, was?« – Aber Arnold, der aus einer Zeit stammte, in der man solche Kinderbücher und Märchen überhaupt wieder für wertvoll hielt, fand ihre Bemerkung unverständig. Dagegen überraschte ihn dieser fremde Name im Munde der Großmutter, was lebte alles noch in diesem Gehirn!

»Sogt sie – von der Hirschkuh, wie sie ihr Milch zügetragen hat. – No warüm hat sie ihr denn Milch zügetragen, sagt Poldi.« Und die Großmutter machte es nach, wie der Bruder die weinerliche Stimme der Schwester spöttisch nachmachte. »Aber mir scheints, wenn du nicht bald schlafen gehst und aufhörst zu wanen und die Lampe auslöschst, so hau ich dir das Buch aufn Schädel nauf.« Die Stimme brach ab, in einem kleinen Gelächter.

»Und was hat sie gesagt?« fragte Arnold, obwohl er fühlte, daß nichts mehr zu erzählen sei, nur um diesen angenehmen Fluß der Erzählung weiter zu hören.

»Nu, was soll se gesagt habn« setzte die Großmutter wie improvisierend fort »Was liegt daran? Wenn du schlafst, steh i halt wieder auf und les weiter von der Hirschkuh …« Jetzt hatte sie die Suppe zu Ende gegessen und rief plötzlich, ganz laut: »Pfui Teixel!« wie einen herzhaft erleichternden Fluch, indem sie den leeren Topf mit einem Ruck aufs Fensterbrett stellte.

»Aber was ist denn?« die Mutter eilte herbei. Als das Gespräch auf die verstorbene Schwester Marie gekommen war, hatte sie sich abgewendet.

Zornig fuhr die Großmutter auf: »E schöne Supp haste mir gekocht! Aus Ferdeflasch? Was?«

Also hat doch die Mama Recht behalten, dachte Arnold. Aber mit den Schlüsseln hatte sie Unrecht gehabt. – Und er beeilte sich: »Was fällt dir ein, die Mama wird dir doch nicht Pferdefleisch kaufen, wie kannst du nur so etwas denken!« Indem er es aussprach, schien es ihm immer unerhörter.

»E guter Omensager biste« fuhr ihn die Großmutter an, dann schwieg sie eine Weile. »Was kafste ach beim Körbel. Der hat doch lauter verschimmelte Sachen. Wenn ich ihn aber emol anzeig bei der Polizei, den Ganef, dann 's Kri iber den Goi.«

»Laß sie nur« scherzte die Mutter, etwas bitter. »Sie wird sich schon wieder beruhigen. Also Adieu, Frau Goldberg, wir gehn jetzt essen, Sie können sich inzwischen ein bißchen allein so weiter unterhalten, wenn Sie Lust haben.«

Aber Arnold war indessen mit der Hand des alten Frauchens, die er ergriffen hatte, schon wieder so gut geworden, daß er den Wunsch nach einem bessern Abschied nicht unterdrücken konnte: »Schön hast du es da, Großmutter, gleich möcht ich bei dir dableiben, für immer, nur noch Blumen sollten in den Fenstern stehn, wie bei den Nachbarn vorn …«

Sie lächelte ihn an, als sei gar nichts vorgefallen, als gingen in ihrem Innern eben die zärtlichsten Dinge vor: »Ich bin ka Blumenverehrerin. Aber die Kinderl, wie se noch klein waren, die habn immer Blumen gehabt und gegossen, daß die Stub voll war. Mit ihre neie Hüte haben se das Wasser getragen von der Pump.«

»Da haben sie wohl Schläge bekommen.« Er reichte ihr noch einmal die Hand.

Sie drückte sie und machte dabei ein gutmütiges, aber erzieherisches Gesicht: »Das muß sei.« Die Mutter war schon hinausgegangen. »Also Adieu, wir kommen bald wieder.« »Eßt nicht beim Körbel« rief ihnen die Großmutter noch nach »dort is groß Jackeres.«

Als er auf die Gasse trat, mußte er ein wenig die Augen schließen, so fremd erschien ihm alles, was ihn umgab: Wie konnte der Zugang zu etwas so innig Bekanntem so unbekannt sein! Gab es denn wirklich noch eine Welt außer dieser grauen alten Stube? Die Straße mißfiel ihm. Das Bild der alten Frau im Bett, zu Riesengrößen aufwachsend, stellte sich wie ein Schatten überallhin, vor jedes Haus. Um wie viel wichtiger war sie, ja nichts auf der Welt erschien ihm jetzt in gleicher Weise wichtig. Er hätte für sie sterben mögen, so begeistert war er … Die Mutter redete neben ihm her: »Nicht zuhören kann ich, wenn sie von der seligen Marie spricht und Nebbich dazu sagt, oder von unsern Hüten. Ich glaube, wir haben überhaupt nie Hüte gehabt. Immer spricht sie so, als ob sie uns alles in Überfluß gegeben hätte. Gute Schläge, ja. Du darfst dir das nicht so vorstellen wie zu Hause, Arnold. Aber das hab ich ihr damals gesagt, bei Maries trauriger Hochzeit, wie sie uns alle mit so fürchterlichen Worten verflucht hat: – daß sich alle dir abwenden und daß du allein und einsam sterben wirst, das wird dein Fluch sein … Und so wird es und muß es ja kommen, Gott im Himmel. Das sind Sorgen, einmal wird sie auslöschen …«

Arnold fand solche Reden übertrieben, sagte sich aber, daß die Mama Recht haben mochte. Er kannte ja so wenig von diesen über lange Zeiten und Räume verteilten Ereignissen, er hatte wohl deshalb einen andern Eindruck. Ohne diese Erinnerungen der Mama hätte er die Großmutter vielleicht überhaupt nur für eine fidele gute, etwas wetterwendische alte Frau gehalten, eine spassige Grobianin, – und nun, unter Mitwirken der Mama, entstand etwas ganz Verschwommenes, Widersprechendes und doch, so weit es ihn betraf, ganz Greifbares. Das war das Verlockende daran. »Siehst du, der Doktor ist nicht gekommen – warum habt ihr denn gerade den genommen, der am meisten zu tun hat?«

Die Mutter erklärte, die Großmutter habe vorgegeben, zu keinem andern habe sie Vertraun. Indessen erriet wohl Frau Lichtnegger ganz richtig, woher dieses Vertrauen rühre: Heiger war der billigste Doktor im Ort, der Armenarzt … Überhaupt habe sie schöne Dinge erzählt … neulich einmal seien einige reiche Leute des Ortes, die die alte Frau Goldberg immer mühsam mit ihrem Pack die Straßen hatten hinaufstöhnen sehn, auf die Idee gekommen, für sie eine Kollekte zu machen, zu Purim, eine Idee, die von der Großmutter mit wahrhaftiger Begeisterung begrüßt worden sei. Und erst die Drohung der Frau Lichtnegger, sie werde es der Frau Beer und dem Herrn Schwiegersohn schreiben, habe sie aus ihrer verstellten Bedürftigkeitsrolle aufgeschreckt. Daher auch der tiefe Haß … Überhaupt liebte es die Großmutter, sich als ganz arm und almosenwürdig hinzustellen, die Besuche ihrer Tochter kamen ihr daher auch zuzeiten ungelegen, wenn sie nicht so krank war wie jetzt, und deshalb verbreite sie, diese elegante Dame sei eine Liqueurfabrikantin und bringe ihr die Flaschen aus der Hauptstadt mit, eine ganz besondere Spezialität; denn von dem Magenliqueur trank sie natürlich keinen Schluck, sondern verkaufte ihn zu den höchsten Preisen ihres Kopfes, die indessen für die neue junge Welt ringsum noch so mäßige waren, daß sie überraschend viele Käufer fand. Lauter solche Sachen, über die man lachen müßte, wenn sie nicht so traurig wären. An Markttagen bewache sie das Geschäft einer gewissen Frau Heller, nur um einen »Gülden« nebenher zu verdienen, und wenn sie dort sei, komme nichts weg, habe Frau Lichtnegger gesagt, da paßt sie gut auf … aber im Laden, in dieser grimmigen Kälte habe sie sich neulich eben diese Halsentzündung, den Husten zugezogen. »Viel braucht es ja nicht, ich bitt dich, bei so einem Alter.« Und von hier aus kehrte die Mutter zu ihren Sorgen zurück, ob man nicht die Stube bald weißen lassen müsse, und wie das anstellen …

Indessen waren Mutter und Sohn in das Restaurant eingetreten und Arnold hätte sich gern diese Dinge, die ihn bis ins innerste Mark interessierten, weitererzählen lassen, wäre ihm nicht sogar in dieser provinzialen gebirgsstädtischen Gaststube die Erinnerung an seine Schandtat von der Wand entgegengesprungen, – auch hier das große Plakat des »Rivalen Paulhans« in den primitivsten ergreifendsten Farben. So kam es, daß er mit der Speisekarte zugleich die Zeitung bestellte, an die er bis zum Augenblick nicht gedacht hatte. Nun schien es ihm plötzlich, als müsse der Flug in Waldbrunn doch gut ausgefallen sein, gleichsam zur Belohnung, weil er nicht mehr darauf gerechnet und sich immer nur so selbstverständlich auf das Schlimmste gefaßt gemacht hatte. Und dann: niemand hatte ihn angerempelt, auch nur verdächtig angeschaut, hier saß er doch, der Obmann des schönen Konsortiums, nein, es konnte nichts geschehn sein. Dies war vielleicht der erste Erfolg seines neuen, von der Großmutter beschützten Lebens … Herr Körbel selbst brachte das Blatt, freundlich lächelnd. Gleich oben das Telegramm: Ponterrets Flug mißglückt. Der Aviatiker landet nach einem Flug (Sprung) von 13 Sekunden. Pöbelausschreitungen an der Kassa. – Das eingeklammerte Wort »Sprung« verdroß Arnold ganz besonders, wie eine persönliche Unbill, konnte man denn nicht ein bißchen menschenfreundlicher sein! Ja ja, dazu hatte man die guten Freunde in der Redaktion! – Er legte das Blatt weg, nur unten fiel ihm noch ein fettgedruckter Ausspruch des Aviatikers selbst auf: Er schätze sich glücklich, daß er durch einen geschickten Griff am Lenkrad ein großes Unglück vermieden habe. Die Tribünen seien in Gefahr gewesen … »Mama, ich fahre heute abend nach Hause.« Er war plötzlich mutig geworden, sah der Gefahr ins Auge wie einer hübschen Aufgabe. »Natürlich, was sollst du hier machen! Ich hab mir's gleich gedacht, daß du's nicht lange aushalten wirst.« Er aß schnell auf: »Jetzt geh ich aber zunächst zum Doktor, ihn treiben. Sag der Großmama, daß ich bald wiederkomme.« – »Du willst noch einmal hingehn? Interessiert dich das denn? Ich könnte dirs nicht verdenken, wenn nicht. Und eine Luft ist dort.« – Mit Unlust sah sich Arnold unerwarteterweise vor die Notwendigkeit gestellt, seiner Mutter all das, was er seit dem heutigen Morgen durchempfunden hatte, zu erklären – und recht schnell. Nein, es ging nicht. Also rief er nur, etwas grell: »Von Interesse ist da gar keine Rede mehr. Ich habe mich in die Großmutter verliebt, förmlich verliebt. Kannst es ihr sagen. Sie ist ja so brav …«

Die Mutter seufzte tief auf, wie vom Mittelpunkt ihres Gedächtnisses her: »Ja, vor dir nimmt sie sich noch ein bißchen zusammen.«

IV.

Er war enteilt. Auf der Gasse erst, in frischer Luft, durch die hindurch man nahe Wälder zu spüren glaubte, fiel ihm ein, daß er heute den ganzen Tag bisher in der Familie verlebt hatte, noch keinen Augenblick allein. Das war ihm seit Jahren nicht mehr geschehn, noch gestern hätte er es für unmöglich gehalten. Vielleicht hing auch seine eigentümliche Verwirrung damit zusammen, die ihn förmlich hinderte, klar geradeaus zu sehn und sich über das, was er sah, Gedanken zu machen. Die Häuserfronten liefen nur so wie lange Gartenmauern, ohne Abwechslung, an ihm vorbei und er bemerkte es nicht, ob er über breite Plätze schritt oder durch einen Park, an einem goldglänzenden Kaiser-Josef-Denkmal vorbei. Nur, daß hier und da, mitten zwischen eleganten Häusern, auch noch solche Schindelhütten standen, wie die der Großmutter, fiel ihm auf, dann daß die meisten Firmatafeln kleine schwarze Glasplatten mit eingeritzten Buchstaben waren, was einen zierlichen sauberen Eindruck machte. Doch beschäftigte ihn dies nicht weiter. Nur die eine Frage hatte er im Sinn und wiederholte sie oft an Vorübergehende: »Wie komm ich hier zu Doktor Heiger?« Mechanisch folgte er ausgestreckten Fingern, eindringlich undeutlichen Worten, ging bergauf bergab, die zweite Gasse hinter der Ecke wieder geradeaus. Endlich fand er das Haus, immer mit summendem Geräusch im Kopf, stieg Steinstufen hinauf, die ihn daran erinnerten, daß er noch in Österreich war, wenn auch nahe der Grenze (in Deutschland gibt es nur Holztreppen, dachte er), an einem Kontor vorbei, vor dem Kisten beinahe den Weg versperrten (aha, der Export). Dann trat er in ein menschengefülltes Wartezimmer ein. Im Arm einer Frau schrie ein schwarz verbundenes Kind leise auf. Manche von den Leuten standen in stumpfsinnigem Brüten direkt vor der Tür ins Ordinationszimmer, wie bereit, sofort mit höchster Aufregung hineinzuspringen. Andere seufzten auf dem Kanapee, in bequemen Fauteuils saßen sie in unbequemen Haltungen, gelbe Zettelchen in der Hand, vielleicht von einer Krankenkasse. Arnold erkundigte sich, er lief ungeduldig wieder hinaus, jemand sagte ihm: »Ja, bei Doktor Heiger da muß man sich in Geduld fassen«. »Ist er drin?« fragte Arnold. »Ich weiß nicht.« – Was für idiotische fischblütige Leute, sie kamen ihm wie seiner unwürdig vor, er hatte das Gefühl, als errege er hier allgemeines Aufsehn, als schlage er mit Armen und Beinen um sich, obwohl er äußerlich ruhig blieb. – Wie ein Labsal, eine Zuflucht erschien ihm nun die Erinnerung an die Großmutter. Was war es denn eigentlich, was ihn an ihr so entzückte, diesen Bürgern hier so Entgegengesetztes? Ihr Charakter doch nicht? Es fiel ihm ein, daß ihm manche ihrer Eigenschaften an einem andern Menschen förmlich widerlich gewesen wären. Man konnte es auch nicht als Tüchtigkeit oder als Ehrwürdigkeit bezeichnen, als die Weisheit des Alters, nicht so und nicht so. Vielleicht ein Zug von Freiheit, von unbewußter und derber Hoheit? Eine Figur aus dem Alten Testament? Nein auch das wollte nicht ganz stimmen. Und was hätte sie gesagt, wenn er Ähnliches zu ihr selbst geäußert hätte? Was für Augen hätte sie gemacht? Wofür hielt sie eigentlich sich selbst? Dachte sie je darüber nach? Glaubte sie an Gott?… O da war etwas, wofür es in keiner Menschensprache noch ein Wort gab! Er verstand es nicht –, nur dunkel fühlte er, daß sie unterhalb der Zuckungen seines forschenden Verstandes, tief irgendwo in Regionen dunkler Instinkte, Vererbungen, Verwandtschaften ihn wie mit gebietender Stahlhand ergriff und seine Eingeweide in eine neue Ordnung zurechtzerrte. Unklare Pläne stiegen in ihm auf, mit denen seinem ganzen Leben bisher und von hier an ein neuer Sinn zu geben wäre, Funken ins Pulverfaß, ja selbst genaue Entschlüsse für die nächste Zukunft, an die er aber sofort wieder vergaß im Bewußtsein, daß sie ihm auch so unverloren nahe blieben. Im ganzen befand er sich in einem Zustand äußerster Verwirrung und Ordnung zugleich, ähnlich einem guten Schüler vor dem Examen, in dessen Kopf alles gegenwärtig ist und doch nichts faßbar, und dieses nicht Faßbare, nicht Sichtbare wieder nicht in starrer Ruhe, sondern in unaufhörlicher Bewegung wie unter einer dünnen Hülle kreisend und in solcher Menge, daß nichts vortreten kann außer auf einen äußern Anlaß hin, aber dann wird schon das Richtige in Hülle und Fülle aus dem Chaos herausmarschieren, und diese Zuversicht gibt dem dumpfen satten Kopf schon jetzt eine Art von schöpferischer Einheit, wenn er auch vorderhand noch zerstreut andern Dingen nachtaumelt, die er gerade vor sich sieht … In dieser Verfassung starrte unser Mann durch das Fenster in einen benachbarten Garten und nur ganz oberflächlich, ohne daß es seine Seele in der eigentlichen Arbeit störte, kamen ihm Gedanken wie der etwa, daß diese Aussicht nicht sehr schön sei – oder daß das Bild dort an der Zimmerwand »Apollo und die Musen« oder den »Athenäenzug« vorstellen möge, kurz etwas Klassisches und daß es wohl ein Gymnasialkollege dem Doktor gemalt und geschenkt habe, vielleicht als Pfand für ein Darlehn gegeben; denn kaufe ein Landarzt Bilder? Was für Dinge übrigens! Was ging ihn dieses Bild an, die Griechen, die andere Welt, die fremde Kultur … Plötzlich dauerte es ihm zu lange. Er stürzte wieder aus dem Zimmer, in die Küche, gab der Köchin ein Billett für den Doktor und lief weg.… Ein Festzug hielt ihn auf. Was, da gab es ja auch dekorierte Häuser, Musik. Das Schützenfest, ach so! Was für ein naiver Unsinn! Deutlich fühlte er, daß dieses helle, blonde, einfache Treiben nicht seine und seiner Großmutter Welt war. Für Bobenheim hätte das gepaßt. Auch Fahnen hatten sie im Zug, bunte, wirklich komisch … Er suchte durchzukommen. Mit Gewalt drängte er sich in die Menschenmassen wie in etwas Feindliches und war erstaunt, als man ihm höflich Platz machte. Dann fiel ihm ein, daß er sich eine neue Krawatte hatte kaufen wollen, der Großmutter zu Ehren. Er kaufte eine, die violett und blau changierte. Wie wenig hatte er die Frau überhaupt geehrt, nicht einmal etwas mitgebracht aus eigenem Antrieb. Er kaufte beschämt Pfirsiche, Kirschen, Schoten … das alles nur, während im Innern seine Seele nach ganz andern grundlegenderen Dingen suchte … Je mehr er sich aber der Wohnung der Greisin näherte, desto mehr klärten sich seine bis zur Qual verfitzten Ideen, sie senkten sich gleichsam aus den Wolken zur Erde herab, kristallisierten sich und verwandelten sich eben in den steilen Fußpfad und Großmutters Hütte in demselben Augenblick, in dem er an dem eleganten Zweistock vorbei diesen Fußpfad und die Hütte erblickte.

Er stieg die Treppe hinauf und sah dabei flüchtig zur Seite in die Vorderwohnung, wie anständig und rein konnte es also in so einer Hütte aussehn, bei einer Arbeiterfamilie. Dann aber durch den finstern Gang, wo überall leere rötlich durchscheinende Lagerbierflaschen standen, klopfte ihm das Herz, alles war so anheimelnd und doch unbekannt, so von Zärtlichkeitswolken erfüllt. Er stieß an ein großes umgestürztes Holzschaff, endlich fand er die Türe.

Ein überraschender Anblick bot sich ihm. Drei alte Frauen saßen und standen am Bett der Großmutter und plauderten mit ihr in einem solchen Schwall von Jargon und schlesischem Dialekt, daß nichts zu verstehn war. Sie sah jetzt viel besser aus, das Gesicht war größer, die Wangen in einem natürlichen Rosa, die Falten milder. »Nu, kommste doch, jech hab scho gemant, dü kommst nix mehr.«

Er mußte sich entschuldigen: daß er beim Doktor gewesen war und Obst gekauft hatte. Die Großmutter nahm seine Hand und schaute ihn liebevoll an: »Ganz schön wär's doch, wenn du ach noch dazü e Madele hättst, Regie.« Dabei wandte sie sich, etwas furchtsam, an Arnolds Mutter, die auf dem Kanapee saß. – »Ich dank dir« war die unfreundliche Antwort. Jetzt erst bemerkte Arnold, daß die Mutter rote Augen hatte. Er setzte sich neben sie und erfuhr alles. Natürlich, sie hatten die kurze Zeit, die sie unter vier Augen allein waren, zu einem ausgiebigen Zank benützt. Zuerst war die Großmutter ohne sichtbaren Anlaß, aus sich selbst heraus, in Aufregung geraten, hatte geweint und sie tausendmal um Verzeihung gebeten, sie solle ihr nur, ehe sie sterbe, alles verzeihn, was sie ihr angetan habe. Darüber natürlich war die gute Mama in Rührung und unendliche Tränen geraten. Nach einer Weile, bei einer geringfügigen Sache, die Mama wollte ihr eine Schüssel mit Sand ausreiben, habe die Großmutter wie verrückt geschrien: »Ich waß, du willst, ich soll sterben, und just tu ich dir nicht den Gefallen.« Darauf seien die Freundinnen gekommen … Es sei wirklich nicht mehr auszuhalten … Aber Gott sei Dank, die Sardinenbüchse habe sie über Mittag fast leer gegessen, sie esse eben am liebsten nur, wenn sie allein sei … Arnold tröstete sie, er fühlte eine tiefe Liebe zu dieser netten friedlichen Dame, seinem Mamachen, die in ihrem weichen Herzen alles so ganz anders auffaßte als er selbst, doch zugleich empfand er freilich auch über diesen neuen Vorfall eine schwer erklärliche Freude an der Großmutter, wie an einem seltsamen Naturschauspiel, einem Nordlicht vielleicht. – Und daß sie in diesem Alter noch Freundinnen anzog, jüngere rüstigere Weiber, die von ihr beherrscht, kaum neugierig nach ihm zu blicken wagten, daß ihre enge Stube menschengefüllt war: riß ihn zur Bewunderung hin. Also war sie doch nicht so verlassen. Und nun mahnte sie sogar die drei zum Aufbruch: »Es is Wochenmarkt heunt« und stellte sich damit selbst mitten in ihre Unternehmungen, in das regelmäßige tätige Leben. Gar nichts von einer Ausgedingerin hatte sie, das war schnell zu sehn, gar nichts von der humpelnden lästigen Halbtoten, die sich hinter dem Ofen wärmt.

Die Mutter wollte die drei mit städtischer Höflichkeit hinausbegleiten, knüpfte ein Gespräch an, aber vom Bett her flüsterte es: »Loß se geihn. Gib ihnen ka Tschüwe«, – auch im leisen Reden wurden die betonten Worte gesungen, manchmal mit zwei oder drei verschiedenen Noten gleichsam.

»Also der Doktor kommt gegen fünf Uhr« sagte Arnold, als sie allein waren.

Aber kaum hatte sich die Türe geschlossen, so begann die Großmutter in den erbittertsten Tönen von diesen Frauen zu sprechen, von der einen besonders, die sie soeben noch mit »mei goldene Frau Keller« angeredet hatte. »Verschwarzt soll se gehn« rief sie, auf Arnolds Erkundigungen. Flüchtig erinnerte er sich an seine unwillkürliche Doppelzüngigkeit gegen seine Freunde, der Vergleich mochte wohl nicht zutreffen?… Die Mutter aber war über dieses Benehmen entrüstet: »Schämst du dich nicht.« Aber der alte trockene harte Körper schämte sich nicht, er erklärte im Gegenteil, aufstehn zu wollen, es sei ihm schon ganz gut und das Faulenzen habe keinen Zweck. Als man dies abgewendet hatte, erneuerten sich die Klagen des Vormittags: »Mei Zores, mei Kopf« … »Was für Sorgen« wandte sich die Mama ziemlich derb an die Großmutter »du hast ausgesorgt. Was du brauchst, schicken wir dir. Wenn du mehr willst, mußt du uns nur zwei Worte schreiben. Du hast nichts zu tun als zu essen, zu trinken und spazieren zu gehn.« Ein Projekt kam zur Sprache, das die Großmutter schon einmal vorübergehend gebilligt hatte, nämlich: sie solle ganz zur Frau Fischmann, zu einer der drei Freundinnen übersiedeln, dort zur Miete wohnen. »Die Klafte« schrie sie, daß die Kissen sich bewegten »die rotzedige Klafte!« Nicht herauszubringen, woher dieser Groll sich schrieb. Kurz, sie lehnte es ab, sie geniere sich (dieses Fremdwort brachte sie vor) unter fremden Leuten, einmal wolle sie spät schlafen gehn und einmal bald und einmal nach Bequemlichkeit den Topf benützen und einmal etwas verdienen, mit einem Wort sie wolle selbständig bleiben. Und sie fügte hinzu, wie erdichtend, um ihren Worten mehr Nachdruck zu geben: »Die Fischmann, die is doch gechitzt. Die is doch plem-plem« und fuhr mit der Hand, mit gekrümmten vier Fingern nahe an der eigenen Stirn auf und ab.

Um sie auf andere Gedanken zu bringen, erzählte ihr Arnold, daß er bald nach Berlin fahren werde. Wirklich war einmal die Rede davon gewesen, daß er in ein Konfektionshaus in Berlin als Volontär für ein Jahr eintreten sollte, die steinerne Treppe bei Doktor Heiger hatte ihn wieder daran erinnert. Zugleich aber fiel ihm jetzt im Reden ein, daß er ja in Berlin zugleich diesen von Eisig angebotenen Journalistenposten annehmen könne und, obwohl er das nicht aussprach, verließ ihn der Gedanke nicht mehr. »Gib nur schön acht und sei gesund. Da is ach zü der Hausfrau neilich e Mädel zugezogen aus Wien und nebbich nach e paar Täg is se gestorben.«

Arnold verstand wieder den Zusammenhang nicht, erst später, als von etwas anderem die Rede war, fiel ihm ein, daß »Luftveränderung« das Bindeglied gewesen sein mochte.

Denn nun ging es in einem Zuge weiter. Die Großmutter, gesprächig und bei allen Kräften, schien nur Anlässe zu neuen Erzählungen zu suchen und all dies machte nicht etwa den Eindruck, als ob sie Arnold als Gast unterhalten wollte, sondern die reine Freude, sich mitzuteilen, sprach aus der klangvollen und ruhigen Stimme, die mühelos ihrem ungetrübten Geiste, ihrer Lebenskraft zu entströmen schien und dadurch den Hörer unmittelbar einnahm. Arnold verglich sich freudig mit ihr. »Seh ich der Großmutter nicht ähnlich?« fragte er die Mutter. Ja, es sei auffallend. »Aber wie willste mir ähnlich sei« lachte die Großmutter. »Ich bin doch bald iber hündert Jahr und du nur e Ableger noch.« »Wie alt bist du eigentlich?« mischte sich die Mutter ein »die Großmutter macht sich immer älter als sie ist, auch so eine Laune.« Aber die Großmutter wußte gar nicht, wie alt sie sei, es war ihr auch gleichgiltig. »Ich möcht scho gern weg. I war lang genüg do. Ich bin so nur allen zur Last und mir ach.« Seltsam, daß solche Reden den Eindruck ihrer Lebensfreude nicht abschwächten, eher verstärkten. Ob sie noch einmal jung sein wolle, fragte Arnold. Ohne direkt zu antworten, begann sie von einem Onkel Jermige zu erzählen »der hat mich emol im Theater aufgeführt, der gute Jermige, alles hat er verschenkt aus Rachmonis, an die Arme, und selbst is er im Dalles gestorben, nebbich Jermige. Selig, habn se geschrien, damals in dem Stück, selig, wenn man noch jung is. Warüm denn, hat man gefragt. No da tragen se einen auf den Armen. Willste eppes noch auf den Armen getragen werden, so haben se ihn ausgespott', wie halt Theater is.« »Du interessierst dich also auch für das Theater« fragte Arnold, innerlich erbebend; was für eine verschollene Operette mochte da eben in dieser Stube zum letztenmal zu einem kleinen Leben erwacht sein! »Die Großmutter! Na und ob sie sich dafür interessiert« lobte die Mutter. »Das hab ich per Jerusche« und sie kam auf ihre Eltern zu sprechen, auf ganze Familienverzweigungen mit ihren Leidenschaften, von denen längst keine Spur mehr auf der Erde lebte, und sie zogen vorbei, diese seltsamen Namen wie Moische, Srole, Peierl, Haschele, und ein Zusammenhang mit fremden Ortschaften ergab sich, von dem Arnold nie etwas geahnt hatte und der ihn mächtig aufwühlte, ja in Lichtenstadt hatten ihre Großeltern, die Großeltern der Großmutter, gewohnt und dort in dem Packerl müßte noch ein Stück Tuch aus Lichtenstadt sein. »Ihre Einbildungen« flüsterte die Mutter ihm zu. Auf einmal war diese uralte, eben dem Tode entrissene Person selbst ein Kind und erzählte, wie sie einmal auf dem gefrorenen Dorfteiche »geklitscht« hatte und dafür Schläge bekommen. Wie das Haus ihres Vaters abgebrannt war, der schon damals zehn Kinder hatte, neun Söhne darunter, und trotzdem sei die Mutter hundertunddrei Jahre alt geworden, und wie die Bauern der Umgebung damals für ihn zusammengeschossen hatten, um ihm fürs erste zu helfen, aber ein Jahr darauf war schon wieder ein Kind da, in all dem Schmerz. »Die Lait habn damals gemeint, das muß so sein.« Und mit einer Art von Aufklärung erzählte sie die damaligen Sitten, wie man am Samstag kein Geld bei sich getragen habe, weil das als eine Art von Arbeit gedeutet wurde, eine »Newere«, ja die ganz Frommen trugen ihr Taschentuch um die Hand gewickelt, um es nicht aus der Tasche ziehn zu müssen. »Aber gewuchert haben sie dabei« tadelte die Mutter, ernst und modern. Nicht einmal eine Beere habe man abreißen dürfen, fuhr die Großmutter fort, und da sei einmal jemand (Arnold verstand diese Geschichte nicht ganz, viele Ausdrücke kannte er nicht, erst später stellte er es sich so zusammen, daß dieser »jemand« die Mutter der Großmutter gewesen sein müsse) in den Tempel gegangen, durch den Wald, damals habe man noch so weit her zum Tempel gehn müssen, und da habe sie der Versuchung nicht widerstehn können, eine »Rotbeere« zu pflücken, trotz der Ermahnung des Rabbiners. Und darauf sei sie, die Großmutter, mit einem häßlichen Muttermal in Gestalt einer roten Beere zur Welt gekommen. Und einmal habe sie sich eine Schere genommen, weil man sie auslachte, sei ins Nebenzimmer gegangen und habe sich die Beere abgeschnitten. »Davon hast du mir aber noch nie erzählt« wurde die Mutter mißtrauisch. Arnold zeigte auf einen roten Fleck an ihrer Hand: »Ist es das?«, aus Respekt wies er nicht mit dem Zeigefinger, sondern schlug alle Finger bis auf den kleinen ein und streckte diesen vor. »Nein, das hob ich mich verbrennt, neilich.« Sie wurde nicht irre, und kam nun in der Reihenfolge der Generationen auf ihre eigenen Kinder. »Marie, mei guts Schof« rief sie plötzlich und Tränen standen ihr im Aug »Nebbich hat sie vor mir heruntergemußt. Was hätt ich nicht getan für das Kind!« Auch von ihrem Zank mit Poldi wußte sie nichts. Er war zwar ein »ungehachelter Kerl«, ein »Parchköppele«, aber was lag daran, einen Jux wußte er zu machen und lustig war er, das war doch die Hauptsache. Sie schrieb ihm den Einfall zu, daß er beim Alcheten, dem Sündengebet, bei dem man sich als Büßer zeilenweise auf die Brust klopfte, zu seinem Nebenmann, der besonders heftig klopfte, gesagt habe: »Sie, mit Gewalt werden Sie da nix ausrichten.« – Sie lachte hell wie Glöckchen, während sie das erzählte. – Ja, einmal habe er ihr geraten, mit ihrer Stubentür aufs Gericht zu gehn, weil das ihr Haupt- und Kassabuch sei. – Überhaupt, wenn er nur Zeit hätte, er würde schon kommen, er würde sie besuchen, sicher. – Die Mutter senkte traurig den Kopf. – »Poldile, wie haben se den gern gehabt. Zu jeder Huxt und Kirmes und Gvatterschaft haben se 'n geloden. Wie gefreckt is er mir immer nach Haus gekommen, wie so ein Babinski. Einmal aber hab ich gedacht, ich muß ihn holen und hab mer 'n Löffel genommen, den großen zum Auswinden für die Wäsch und hab gedacht, ich zerschlug ihn an ihm. Frau Goldbergen, habn se mir dort gesagt, bleiben's ock do und trinkens Wein mit uns. No so hab ich den Löffel unter die Bank gelegt und mitgetanzt.« … »Was, du bist geblieben« Arnold riß die Augen auf … »Nur e paar Stücklach« entschuldigte sich die Großmutter »Jo, das war nicht so wie die heutige Welt.« – »So du glaubst auch, daß es früher besser war« fragte Arnold, zart, wie man etwa einen Professor, mit dem man spazieren geht, also außer der Stunde, ohne Recht auf Unterricht zu fragen wagt, ohne eigentliche Hoffnung belehrt zu werden; nur um ihm Gelegenheit zu geben, ihn zu erfreun, riskiert man es, ihn zu belästigen. – »No, es waren halt zugetanere Lait.« – Als er aber weiter drang, mit »Wie« und »Wieso«, schnitt sie ab: »Was, ich hab mir nix den Kopf damit eingenommen.« – Aber oben auf dem Boden habe sie einmal einen Korb voll durchgetanzter Schuhe gefunden, alle von Poldi und Regieleben … Die Mutter zuckte die Achseln … Ein Schuster habe sie darauf aufmerksam gemacht, daß Poldi sich jede Woche frische Schuhe anmessen lasse. Überhaupt habe er lauter solche »Tipplach und Sterzlach« gemacht. Auch Ware über die Grenze geschwärzt, und das ausgezeichnet! – Arnold meinte, auch heutzutage sei man lustig, es werde ja eben in Wintertal ein Schützenfest gefeiert: »Nun, möchtest du nicht auch mit dabei sein, Großmama?« – »Es wird ohne mir ach gehn.« – »Aber es ist zu Ehren unseres Kaisers. Liebst du nicht unsern Kaisern? Ich habe ihn sehr gern?« – Ziemlich gleichgiltig wandte sie sich ab: »Warüm nicht. Er soll immer gut zu die Jehudim gewesen sein.« Vergebens suchte ihr die Mama klarzumachen, daß das jetzt nicht mehr so sei, mit dieser Scheidung von Juden und Christen. »Laß mich gehn. Wenn's emol zu etwas kommt, so geht's doch nur wieder über die Jehudim her. Es hat immer noch für uns e miesen Ausbruch genommen.« – Sie wurde ganz traurig. Um sie zu erheitern, erzählte ihr Arnold, daß er in einem Komitee sei (verstand sie das Wort? Ja, sie nickte), mit vielen Christen beisammen und daß man sich da sehr gut vertrage. Man habe ein lustiges Festessen gefeiert, alle mit einander. »Ja, das können se, fressen und saufen, die Chaserim.« Er verzweifelte, doch machte er noch einen Versuch, indem er ihr von einer Freikarte erzählte, die er als Mitglied des Komitees habe, für alle Bahnen. Also auch hierher sei er umsonst gefahren. Er zeigte die Legitimation. (Tatsächlich hatte die Eisenbahndirektion den Ausschußleuten Ermäßigungen für die Strecke nach Waldbrunn gewährt.) »Nu, das is schön« er hatte das Richtige getroffen »da erspart man eppes. Da nimmste de ach die Mama mit, nicht wahr.« Er lachte: »Nein, das geht nicht.« Und die Großmutter erzählte, wie ihr einmal fünf Kreuzer an der Bahnkassa gefehlt hätten und der Beamte dort sie nicht habe mitfahren lassen wollen. »So e Schlemasl, was ich hab.« Ein Lärm sei das geworden, in dem Gedränge, sie habe sich aber nicht wegdrängen lassen, bis ein Herr hinter ihr gesagt habe: So ein Skandal wegen fünf Kreuzern – die alte Frau – und ihr das Geld geschenkt habe. – Die Mama zuckte nervös zusammen, Arnold amüsierte sich, dabei fühlte er aber, daß er etwas vergessen habe, bei einer schon vergangenen Wendung des Gesprächs, so schnell ging es jetzt. Während die Großmutter weiterplauderte und immer so vergnügt, als entschädige sie sich jetzt für langes Alleinsein, fiel es ihm ein: »Aber hier hast du dich ja nicht zu beklagen. Hier in der Gegend scheinen ja lauter so freundliche offene Leute zu sein, und alle so schön.« »No ja« meinte sie »selten sieht man so e Larvengesicht. Aber jetzt sind ach Böhmacken hier, so ein Haderlumpgesindel, Zorbechol. Was, die verkafen for e Kraizer, was früher hat e Gülden gekost.« Sie entfesselte laute Anklagen gegen die Konkurrenz. Arnold erinnerte sich indessen wieder an etwas, was er vorher hatte fragen wollen: »Du hast schon mehrere Kaiser, erlebt, was?« Zuerst verstand sie ihn nicht. »Mehrere Regierungen von Österreich.« Das wußte sie nicht. Aber einmal hatte sie eine Krönung gesehn: »Do war ich in Prag, und da hat sich was angetan mit Wagen und Neugierigkeiten.« Der Krieg von Sechsundsechzig fiel ihr ein, dann die Türken und Russen. »Meinthalben sollen se sich die Köppe herunterschlagen«, als sei dies alles gestern oder heute geschehn. Sie wußte alles, sie verstand alles und man konnte daher nicht sagen, ihr Blick sei beschränkt. Wie kam es trotzdem, daß alles, wie es in ihren Kreis trat, das Merkmal ihrer eigentümlichen Anschauungsart trug. Arnold hätte es gern an dem Naheliegendsten erforscht. Er machte sie also auf seine neue Krawatte aufmerksam. »Sehr schön« war das Urteil, nach einer strengen Pause jedoch folgte: »aber so verwändlich.« »Ja, da mußt du dich in Acht nehmen« lachte ihn die Mutter aus. – »Tut nichts, wir haben uns doch gern« rief er und strich ihr über das Haar, das jetzt zu einer runden festen Frisur aus den Zöpfen geschlichtet war »Ich hab eine schöne Großmutter.«

Jetzt verlangte sie aber schon dringend, aus dem Bett zu steigen. Dabei rief sie die Mama zu sich und sagte ihr etwas ins Ohr, was diese sehr zu freuen und umzustimmen schien, denn sie half ihr sofort auf. Auch Arnold unterstützte und es war eine ziemlich schwere Sache, die Beine der Greisin von der hohen Bettkante allmählich vorsichtig auf den Boden zu stellen … Arnold sah sie nun zum erstenmal ganz vor sich. Sie stand da, in ihrer zerknitterten Nachtjacke und im roten Unterrock, viel kleiner noch als er sich sie aus der liegenden Stellung heraus vorgestellt hatte, mit ganz gewölbtem Rücken, den Hals verfallen, mit einer tiefen Rinne zwischen den schlaffen Muskeln. Langsam atmete sie und ging, indem sie sich zu beiden Seiten am Bett und am Sessel stützte, nur so fortschob. Man brachte ihr Pantoffeln. Ihre Beine waren dünn, doch an manchen Stellen geschwollen, die Adern hervortretend wie hartes rotblaues Holzgeflecht. Und wenn sie ihren Ärmel aufstreifte, sah man die Haut bis zum Ellbogen in zahllosen regelmäßigen Furchen, einem schwachgewellten braunen Meere ähnlich, dünn, beinahe durchgewetzt und so lose, über dem mageren Fleisch, daß sich diese Faltenwellen zusammenzogen und wieder abflachten, wenn sie den Arm rieb. Sie keuchte und bückte sich immer tiefer. »De Füß, de woll'n halt nimmer.« Die Mutter hielt sie fest, hüllte sie in die schwarze Jacke ein und führte sie hinaus. Da hatte Arnold, gerade wie ihr Rücken in der Türe verschwand, einen Moment lang, nur einen Moment, ein flüchtiges unklares unnatürliches Gefühl wie von Sinnlichkeit, diesem widerstandsfähigen Körper gegenüber, dieser historischen Schönheit in all dem Ruin, wunderliches Zeug fiel ihm ein und er lachte keck auf, um es zu verscheuchen.

Nach einer Weile kehrten die beiden zurück. Die Großmutter setzte sich auf das Kanapee, dort sitze sie immer am liebsten. »Aber du willst es doch nicht haben, das Kanapee« widersprach Arnold. Sie hielt es nicht für nötig, ihn aufzuklären, obwohl ihre Miene sehr verständig, gar nicht zerstreut, blieb. Von hier aus konnte sie durch die beiden Guckfensterchen hinaussehn, das eine führte gegen ein mehrstöckiges Hofgebäude, auf der andern Seite war gleichfalls das Licht beinahe ganz durch einen Gartenzaun abgeschnitten, hinter dem man eine grüne Pumpe, ein Gärtchen und einen jener nicht sehr reinlichen engen Wege sah, wie sie seitlich zwischen Hausmauer und Zaun zu führen pflegen … Über jedes Fenster wußte die Großmutter Auskunft. Dort wohnte ein Koch, ein geschickter Mensch, und dort die Witwe hatte drei Töchter, von denen die älteste an einen Juden verheiratet war und so glücklich, daß die zwei ledigen Schwestern auch nur Juden heiraten wollten. Die Schusterin dort dagegen hatte sie im Verdacht, daß sie ihr ein Pulver gestreut habe, »aus Asis«, wovon sie eben den jetzigen Husten habe. Es war eben eine Freundin von Frau Keller. »Oine mit Moine.« Ihr Schwager habe neulich das Hotel gekauft, in dem jener Koch angestellt war, und so billig … Der Besitzer war damals betrunken gewesen und habe es ja auch nachträglich zurücknehmen wollen, aber da war es schon »mit Zeugen festgemacht. Ja so ist's in der Welt. Der eine kommt dazü, der andere davon« … Arnold flocht ein, was er ihr schon vormittags erzählt hatte, daß auch einer seiner Freunde jüngst ein großes Geschäft gekauft habe. »So?« Das hatte sie schon wieder vergessen. Aber mit erstaunlichem Gedächtnis kam sie wieder auf frühere Dinge zurück. Einmal, bei irgend einem Besuch, habe ihr Poldis Frau nur »Nickelsupp« vorgesetzt (womit sie »Kaninchensuppe« meinte), während die Familie selbst Torte zum Mittagmahl hatte. Nickelsupp, so was!… Lauter Erfindungen, kopfschüttelte die Mama … Ein Fleischhacker habe die kleine Regie heiraten wollen, als sie erst siebzehn Jahre alt war. Die Eltern des Herrn Beer wollten ihr einmal sechshundert Gulden geben, wenn sie die Partie zurückgehn lasse. Aber da sei sie, die Großmutter selbst, aus Wintertal herangefahren und habe ihnen den Kopf zurechtgesetzt: die Hauptsache sei, daß ein Mädel koscher kochen könne, das Fleisch tüchtig einsalzen und da sei ihre Regie die Richtige … »Eine Idee hast du gehabt, daß ich überhaupt verlobt bin! Ja viel gekümmert hast du dich um uns« sagte die Mutter, mit zärtlicher Bitterkeit, indem sie ein Glas mit Himbeersaft vom Kästchen nahm »Willst du nicht ein bißchen? Sonst trocknet dir noch die Kehle, von dem vielen Erzählen.« – »Hast e Geruschber! Stell das Tippele hin.« – »No ein bißchen.« – »Aber Mama, du mußt doch deiner Mama folgen. Wirst du gleich das Tipfel hinstellen« befahl Arnold mit komischem Ernst.

Ohne zu klopfen war der Doktor eingetreten, ein stattlicher Mann mit blondem rundgeschnittenem Vollbart, er lächelte: »No, Mutterle, wieder ganz beinand.« – Arnold machte sich ihm bekannt, die Mama kannte ihn schon von früheren Krankheitsfällen her: »Nicht sagen läßt sich die Mutter, sie folgt halt nicht.« – »No, wir werden sehn« erwiderte der Doktor, fühlte den Puls: »fieberfrei.« – »Die Mutter will die Medizin nicht nehmen« klatschte ihm die Mama. – »Medizin müssen Sie nehmen, Frau Goldberg, das geht nicht«. Er sprach laut und eindringlich zu ihr, wie man gewöhnlich zu ganz alten Leuten spricht, er drohte beinahe »das geht nicht«, doch, wie es schien, ohne auf besondere Wirkung zu rechnen. Sie nickte, ängstlich und folgsam. Indessen hatte man ihm einen Sessel gebracht, mit einer Geberde, als sei dies ein Vorzugssessel, obwohl nur zwei ganz gleiche da waren. Er ließ sich nieder, indem er auf seine breiten Schenkel klatschte: »No, hammer uns wieder aufgerappelt, was?« und legte seinen Kopf an ihren Rücken. Nach vorn gebeugt saß die alte Frau auf dem Kanapee, die Augen ins Ungewisse, geduldig wie ein Lammerl, während der Doktor, immer den Kopf an ihrem Rücken, mit dumpferer Stimme redete: »Was wollen Sie haben, gnädige Frau Beer, man muß sie lassen, sie weiß schon selbst was ihr am besten taugt … Tut es Ihnen hier weh« fuhr er in veränderter Stimmlage fort, während er den Rücken der Großmutter mit einem Finger beklopfte, dessen Spitze er aus der Krümmung hervorschnellen ließ »Nein? und hier? Ein bißchen. Und hier?… Wie viel Kinder haben Sie gehabt.« »Vier« war die Antwort mit schwacher befangener Stimme. Die Mutter war erschrocken, machte Zeichen gegen Arnold hin, nein, was sich diese Großmutter schon alles einbildete, sie waren doch nur drei gewesen. »Ans is tot zur Welt gekommen« sagte die alte Frau, ihre Gedanken erratend. »Davon hab ich aber bisher kein Wort gewußt« flüsterte Mama, doch schien sie diesmal eher zum Glauben geneigt. Der Doktor pochte weiter. Nun als schiebe er die Patientin beiseite, richtete er sich auf: »Ein Vergnügen, das Mutterl zu sehn. In meiner Praxis sind mir noch nicht viele solcher Fälle vorgekommen, was glauben Sie. Keine Spur von Altersschwäche. Gehör, Gedächtnis, Augen, alles intakt. Sie können von Glück reden.« Was spricht er, dachte Arnold, er tut, als wäre die Großmama gar nicht vorhanden, und trotz all seiner Gemütlichkeit und Freundlichkeit schien ihm der Doktor dumm und unfein, eben mit dieser alten Frau verglichen. Und nun gar, als er abschweifte und von seiner Praxis zu reden anfing, sich breit machte mit Sechs-Uhr-früh-Aufstehn und Arbeiten-bis-zehn-Uhr, und dann noch die Gutachten für Gerichte, Versicherungsanstalten, das Geschmiere, was glauben Sie … Arnold fragte ihn, wie lange es mit der Krankheit noch dauern könne. »Husten Sie noch?« wandte sich der Arzt an die Großmutter, der die Mama indessen wieder ins Bett geholfen hatte. »Ja, e bissele.« »Ich werde Ihnen ein anderes Mittel aufschreiben« sagte der Doktor und zog auf einen Ruck die Füllfeder und sein Ledertäschchen mit dem Rezeptblock hervor, legte es aufs Knie und schrieb. »E Mittel mecht ich habn, unter die Erd zu kommen« sagte die Großmutter, wie aus einer andern Welt her, und schaute ihn dabei mit einer gewissen überlegenen Schalkhaftigkeit an. »Aber Mutterle, über der Erde ist's doch viel schöner … Nicht?« wandte er sich breitspurig an Arnold und die Mama »Über der Erde ist's doch viel schöner, was glauben Sie.« Er zeigte lachend seine großen weißen Zähne und meinte noch, sachlich: »So lange sie hustet, ist's gut. Der Schleim muß heraus … Ja, gestern wie ich hier war, da hab ich nicht gemeint, daß sie sich so schnell wieder herausmachen wird. Aber das ist es halt, dieses Fieber tritt manchmal auf, es ist noch nicht genügend beobachtet worden, in den medizinischen Fachschriften finden Sie nichts darüber, nur ein Praktiker kann Ihnen das sagen, dieses Fieber also tritt bei älteren Leuten mit einer enormen Heftigkeit auf, achtunddreißig, vierzig Grad, man meint, jetzt muß die schönste Influenza kommen, mindestens ein Typhus. Und dann ist's auf einmal nichts. Reines Fieber und vorbei, aus.« In Arnold erwachte für einen Moment die Erinnerung an zahlreiche ermunternde Gespräche mit seinem Freund Löb: »Nun, werden Sie das nicht genauer beobachten? Werden Sie nicht darüber schreiben?« – Der Arzt sah ihn förmlich mitleidig an: »Ich und schreiben! Wo hab ich denn Zeit« und er kam auf seinen seltsamen Studiengang zurück, beinahe wäre er Dozent geworden, nun, man wisse nicht, ob es so nicht besser sei. Die Arbeit sei sein größtes Vergnügen, da fühle sich der Mann. Von früh bis Abend zu tun.… Die Mama war beunruhigt: warum er bei so einem großen Einkommen nicht heiratete … Er lachte kräftig: wozu er das nötig habe, ihm fehle ja nichts, er sei zufrieden … »Dos da« mischte sich jetzt die Großmutter ein, die nur scheinbar teilnahmslos dagelegen war »Dos da is e Köppile, mei Arnoldele, der is ach tüchtig, der hat Chochme, er schreibt ach in Zeitungen.« Das hatte ihr die Mutter erzählt und jetzt brachte sie es instinktiv gegen die Protzereien des Doktors vor. »So, das interessiert mich aber sehr« wandte sich der Doktor an ihn und redete längere Zeit darüber, daß er sich nicht oder doch erinnere, seinen Namen einmal gelesen zu haben, und: »Was für ein Genre kultivieren Sie?« Er werde von nun an achtgeben. Bei der Erwähnung von Arnolds Reisebriefen kam er auf seine Reisen zu sprechen, jedes Jahr zwei Monate lang – was glauben Sie, einmal im Jahr muß man tüchtig ausspannen. Er gab sich in diesem Zusammenhang auch noch als »Nimrod« zu erkennen. So blieb er beinahe eine Stunde und Arnold sagte sich, daß er freilich auf diese Art mit seinen Patienten bis Abend nicht fertig sein könne. Doch sofort korrigierte er sich innerlich: es ist dies ja seine einzige Visite, das betrachtet er wohl nur als Erholung, ich habe ja den Andrang in seiner Wohnung gesehn – nur nicht ungerecht sein – so ein netter Mensch. Die Großmutter schien er allerdings über seinen Erzählungen etwas vergessen zu haben, nur als sie hustend seufzte, rief er ihr zu: »Was wollen Sie! Sie sind die Gesündeste hier im Zimmer. Sie werden uns noch alle überleben.« Im Weggehn stieß er an die Kohlenkisten und, als müsse er alles wiederholen, was Frau Lichtnegger über ihn berichtet hatte, ließ er zum Abschied den Witz fallen: »Nun, was für Schätze haben S' denn da eingesperrt, Mutterle. Das ist ja wie im Märchen.«

Sie atmete auf, als er draußen war: »Hast e Kol gehabt. Alles nur was wahr is.« Dann wurde sie stiller, da gegen Abend ein leichter Fieberrückfall sich wieder einstellte … Arnold mußte ans Weggehn denken, es war spät geworden, und in einer angstvollen Unruhe fragte er sich, ob er noch einmal im Leben dieses liebe Gesicht, den eingesenkten Mund, den er küßte, wiedersehn würde, ob das nicht ein Abschied für immer sei … Er konnte nichts herausbekommen, was ihren Anschauungsformen entsprochen hätte. Und doch, wie gern hätte er etwa vorgebracht, daß dieses Wintertal, bisher ein ihm gänzlich gleichgiltiger Flecken, von nun an eine ungeheure Bedeutung für ihn habe – daß er es stets in seinem Rücken wie eine Festung spüren werde – oder was für eine seltsame Reise hierher das eigentlich gewesen sei, da er von der Stadt aber nicht den geringsten Eindruck gewonnen habe, nicht einmal wisse, wo der Marktplatz sei, daß diesmal sich alles nur zu ihrem Bilde verdichtet habe und alle Straßen nur Linien waren, die durch farblose Luft zu diesem Bilde hinführten … Er stammelte und, während er rot wurde, fühlte er, daß seine Wangen schon von früher her heiß waren, daß er wohl seit dem Morgen mit dieser Röte gezeichnet herumging. Und plötzlich brach ihm ein Strom von Tränen wie aus dem Innern des Kopfes hervor, in die Augen, während er sich zu ihr niederbeugte: »Großmutter, liebe, liebe …« – Die Großmutter indessen schien sich über den Abschied weniger aufzuregen, als er gefürchtet hatte. Nur ihre Hände zitterten, die sie ein Weilchen auf seinem Kopf hielt, um ihn zu segnen.… Die Mutter blieb wohl noch zwei Tage lang hier, sie trug ihm auf, einiges dem Papa und den Dienstmädchen auszurichten … In der Stube war es nun ganz dunkel. Die Mutter hatte eine neue Petroleumlampe gekauft und schickte sich an, sie anzuzünden, während Arnold langsam hinausschritt. In der Türe blickte er sich um, fing aber keinen letzten Blick der Großmutter mehr auf, da sie gerade der Mama angelegentlich, mit gespanntem Gesicht in die Hand schaute. Der Docht flammte auf und beleuchtete ihre Stirn, auf der die zwei Halbkugeln über den Augenbrauen je einen blitzenden Punkt bekamen, wie selbstleuchtende kleine Sonnen. –

Beinahe verfehlte er den Zug. Welchen Zug denn? – Natürlich nicht den in seine Heimat, sondern über Dresden nach Berlin. – Sowie er die Hütte verlassen, hatte ihn nämlich dasselbe Gewirr wie zu Mittag befallen. Auf dem Bahnhof aber war mit einem Mal sein Plan fertig, wurde ihm wie auf einem Teller von unsichtbarer Hand vor das Gesicht geschoben: sofort an Gottfried Eisig telegraphieren, daß er den Journalistenposten in Berlin annehme, den Eltern dasselbe, und sofort nach Berlin abreisen, obwohl es dort nur hölzerne Treppen, keine steinernen gab. – Plötzlich sah er sich aus den kleinen Verwicklungen seiner Heimatstadt herausgehoben, vor ein neues Leben gestellt, als hätte ihm die Großmutter erst gezeigt, wie groß die Welt sei und wie verschiedenartig die Möglichkeit zu wirken für den Energischen. Und zwischen den glatten hellerleuchteten Wänden des Eisenbahnkoupees, den Blick auf das schwarze Viereck des Fensters geheftet, auf die Nacht da draußen, überkam ihn eine schier übermenschliche Freude … Was lag ihm am Komitee, was an Lina! Es würde schon nicht das Ärgste geschehn, es würde sich schon irgendwie aussitzen. Was war denn eigentlich dabei. Ihre Worte klangen ihm im Ohr: An Heiratsanträgen habe ich keinen Mangel. Und dann, sie hatte sich ihm an den Hals geworfen, mochte sie dafür büßen. Ebenso dieses Komitee, genau so … Er spürte in sich den bisher nie geahnten Willen, hart und rücksichtslos vorzugehn, über die Köpfe dieser unbedeutenden Menschen, die sich an ihn hängten, mit Gleichgiltigkeit hinweg. Und lustig noch dazu, ohne viele Umstände. Diese Lina – den ganzen Tag hatte er an sie nicht gedacht – jetzt erinnerte sie ihn mit ihrem Gerhart an der Hand an die klägliche Frau Lichtnegger mit ihrem einfältigen Jungen, nur daß sie noch außerdem diesen Exophthalmus hatte, den ekligen, diese kupplerischen Rollaugen, die ihm sogar krankhaft schienen, da er sich nun auf den medizinischen Namen besonnen hatte. Es war ihm fast, als hätte sie ihn beleidigt, als wäre es sein Recht, sich gegen sie zu wehren. Weg damit! Es war nicht die Hauptsache … Vielmehr dies: tüchtig sein, endlich etwas leisten, mit sich selbst zufrieden sein, so lange man lebt, und wenn man schon die unglückliche Gabe der Vielseitigkeit und Gewandtheit in sich hat, diese Üppigkeit in den einzig hierfür möglichen Beruf leiten: den Journalismus. Er hatte die bescheidene Idee, daß dies allerdings nicht das Letzte, Tiefste, für die Menschheit Wichtigste sei – und doch, nun da er erkannt hatte, daß darin seine eigentliche Begabung lag und daß sein Leben eigentlich von Jugend an darauf hingezielt hatte, nun fühlte er eine Liebe zu dieser Öffentlichkeit und allseitigen Bewegung in sich, ein Feuer, das selbst einen geringeren Gegenstand geadelt hätte. Es war ja so schön: reden, schreiben, heiß sein, immer im Galopp, aus der weißen kreidigen Asphaltwüste einer ungeheuren Stadt Lorbeerhaine und grüne duftende Zedern aufreißen, alles mit sich ziehn, Bühnen gründen, Vereine, neue Stile, Warenhäuser, Reichtümer – o, es mußte glücken! Denn nun liebte er auch sich selbst – zum erstenmal in seinem Leben – sich selbst und alles, was aus ihm herausdrang. Er war allein mit sich und doch nicht unzufrieden wie sonst immer, er fand sich selbst sympathisch, so wie er sich als Resultat der Wanderungen und Untaten seiner Väter erkannt hatte, ihrer Jahrtausende alten Verblendungen, ihres Blutes, ihrer Tugend und ihres Überschwangs. In seinem unmäßigen Temperament faßte er heute zum erstenmal das Erbe jenes biblischen Zornes, mit dem ein Volk von Raubtieren aus der Wüste sich über den Jordan schüttet und die Städte unbekannter Stämme mit der Schärfe des Schwertes austilgt, jenes Zornes, den Simson in lachenden, vor Lachen beinahe sinnlosen Heldentaten ausübt. Arnold fühlte Boden unter seinen Füßen, das war es, zum erstenmal … und wie sich ihm eine ganze Nation, eine Reihe von klotzstirnigen gewalttätigen aufdringlichen Ahnen erschloß, zu deren Füßen unglückliche Opfer, häßlich schreiend, verbluteten: so spürte er doch zugleich auch in sich all ihre in die Luft verhauchten Zärtlichkeiten, ihre feinnervige Sehnsucht, ihr Klagen wie das Rauschen eines Waldes, ihr freundliches und gescheites Aufpassen mit Lichtpunkten in den Augen, ihre kühnen unerschrockenen Würfe, ihr natürliches Führertum und Erzählertum, ihren selbstverständlichen Lebenswandel, den man fast fromm nennen konnte, und ihre Ergebung in das große Schicksal aller Menschlichkeit, nicht zu ergründen und deshalb nicht zu beklagen.

So saß er und bald beschäftigte ihn, da die Erregung nachließ und endlich der feste Entschluß wie ein starrer Goldklumpen zurückblieb, nur der Gedanke, ob er auf dem Anhalter Bahnhof in Berlin rechts oder links aussteigen werde. Das heißt: er wußte, nach der Fahrtrichtung, daß der Zug von Südosten in den Bahnhof einfahren müsse und daß also zur rechten Hand auszusteigen sei, denn auch die Lokalität dieses Bahnhofs war ihm von früheren Berliner Aufenthalten her wohlbekannt. Beim Einsteigen in Wintertal mochte er aber irgendwie die Richtungen verwirrt haben, kurz, nun hatte er immer das Gefühl, daß der Bahnhof links kommen werde. Er rückte von einer Bank auf die andere, versuchte gleichsam seinen Kopf umzudrehen, umzustülpen, vergebens, die richtige Orientierung wollte sich nicht mehr einstellen. Endlich ergab er sich in seinen Wahn, lächelnd, da die Lösung bei der Einfahrt sich sowieso von selbst einstellen mußte, und nahm die seltsame, ja geheimnisvolle Unordnung dieser Nachtfahrt für den letzten Ausklang seiner jugendlichen Ziellosigkeit, die jetzt für immer abgetan war.

Nachwort

Dem geneigten Leser wird es nicht entgehn, daß der Dichter in diesem Buche mit verstärkter Entschlossenheit in einer Richtung fortschreitet, die er in seinem letzten Roman »Jüdinnen« begonnen hat.

Da also Vorwürfe und Einwände, die gegen die »Jüdinnen« erhoben wurden, das neue Buch wiederum treffen dürften, und zwar verdoppelt – denn man wird mit Recht dem Dichter vorhalten, daß er auch wohlwollende Ausstellungen sich nicht zu Nutze hat machen wollen, man wird ihn engherzig und verstockt nennen –: so wird es wohl nicht müßig scheinen, wenn ich auf einige dieser Vorwürfe an dieser Stelle eingehe, nicht um sie zu entkräften – denn kann ehrlich aus dem Herzen Geschleudertes jemals entkräftet werden –, sondern nur, um zu zeigen, wie ich diese Vorwürfe in meinem Innern geordnet, gruppiert, teilweise mit meinem Willen in Übereinstimmung gebracht und teilweise der allgemeinen Harmonie der Welt zum Ausgleichen überlassen habe.

Nun an die Sache!

Da sei zunächst für das vorige Buch, wie für dieses und für alle meine zukünftigen das Mißverständnis, als seien in den hier handelnden Personen irgendwelche lebende Menschen meiner Umgebung porträtiert worden, weit zurückgewiesen. Wohl haben Beobachtungen des Wirklichen und Gedanken, die mir das Leben selbst eingab, in meine aufbauende Arbeit bewußt und unbewußt eingespielt; doch hat jedes, auch das geringste tatsächliche Detail durch seine Einfügung in ein ganz andern Gesetzen und höheren Zielen folgendes Ganzes so gründlich seine Wesenheit geändert, daß ein Rückschluß von dem Kunstwerk auf den verarbeiteten Rohstoff zu den willkürlichsten Irrungen führen muß – wie denn überhaupt der Satz, daß alle in einem Kunstwerk irgendwie vermutete handgreifliche Wirklichkeit sich letzten Endes als eine Wirklichkeit höheren Ranges, mithin für den gemeinen Kopf als ein bloßer Schein darstellen muß, hier durchaus und im strengsten Sinne statthat.

Ein ebenso entschiedenes »Nein« kann ich der zweiten Gruppe der Unzufriedenen nicht entgegensetzen: denen, die die Figuren meines Romans »Jüdinnen« oder doch ihre Mehrzahl als »unsympathisch« bezeichnet haben. Zwar liegt auch diesem Urteil eine allzu enge Anschmiegung von Lebens-Maßstäben an das Kunstwerk zu Grunde und das Beiwort »unsympathisch« gehört eher in die Schule des täglichen Verkehrs als in den Mund eines Kunstrichters: doch will ich mich auf diesen frostigen Standpunkt nicht zurückziehn, lieber gestehn, daß ich selbst mit den erfundenen Gestalten der »Jüdinnen«, mit Irene, Olga, Hugo und den andern, nicht nur durch literarische Gefühle, auch durch menschliche Parteinahme und Liebe mich verbunden fühle. Durch Liebe: damit habe ich ausgesprochen, was ich auf den Vorwurf des »Unsympathischen« zu erwidern habe. Ich gebe zu, daß meine Gestalten, als Menschen betrachtet, böse Züge und Charakterfehler aufweisen; aber eben ihr Fehlerhaftes und damit das Fehlerhafte eines ganzen Menschentypus, zum Beispiel aller Jüdinnen wie Irene, als etwas durch ungünstige Lebensumstände Bedingtes, als Krankhaftes, Unverschuldetes, Notwendiges, durch besondere Zufälle sogar Heilbares anzusehn, das wollte ich lehren. Für mich ist Irene weit eher bemitleidenswert als unsympathisch. Der flüchtige Betrachter nur wird bei einem Verdammungsurteil über unglückliche Wesen stehn bleiben, deren Aufschreie, deren tüchtigen Kern und bis an das Himmelsgewölbe reichende Wichtigkeiten meine eindringendere Darstellung aufdecken wollte, die freilich ohne eindringenderes Lesen, ja Studium des Buches wirkungslos bleibt.

Von hier ist nur ein kleiner Schritt zu machen, um dem Tadel, diesen Büchern fehle die »Handlung«, entgegenzutreten. In ihnen ist freilich keine Kaiserkrone zu vergeben, auch Mord und Raub kommt nicht vor. Es werden Vorgänge geschildert, die einem Nichtbeteiligten oft als geringfügig erscheinen mögen. Aber eben nur dem Nichtbeteiligten. Daß aber die Geschehnisse die ganze Seele der handelnden Personen, ihr Edelstes und ihr Niedrigstes, aufwühlen, daß nur von außen gesehn alltägliche und langsam fortschreitende Tatsachen, aus dem Herzen der Betroffenen gesehn aber schnelle Umstürze, Überraschungen, Verwicklungen, Mord und Raub vor sich gehn: das haben fühlende Leser wohl nicht unbemerkt gelassen und das weiter auseinanderzusetzen, würde mir wenig anstehn.

Noch zwei Gegenstimmen. Mein Buch sei zu ausgeprägt jüdisch, sagt die eine und die andere, es sei nicht jüdisch genug. Nun könnte ich mit einer nicht einmal sophistischen Wendung diese beiden Sätze gegen einander ausspielen und gegenseitig für widerlegt erklären. Doch würde mich eine solche ausweichende Art der Möglichkeit, mich mit meinen Lesern rechtschaffen zu verständigen, berauben und ohne die ehrliche Hoffnung auf eine solche Verständigung hätte ich ja diese ganze Ausführung ungeschrieben lassen können. Ich will also lieber annehmen, daß hinter diesen beiden schnellen Einwänden ein dritter, wenn auch nur dunkel gedacht, verborgen liegt und daß er etwa darauf abzielt: meine Bücher hätten keine entschiedene Tendenz, kein Ethos, sie äußerten trotz ihrer Titel keine eigentliche Meinung über das Wesen und die Zukunft des Judentums. – Wie nun aber, wenn gerade in diesem Nichtäußern ein Stück meiner Meinung über das Judentum, ja meines ganzen weltanschaulichen Wollens läge! Ich habe es nirgends unternommen, den Typus des Juden oder der Jüdin zu schildern, weil ich einen solchen Typus genau gesprochen nicht anerkenne. Vielmehr scheint mir die Mannigfaltigkeit und das Umfassen vieler Gegensätze dem Judentum sehr wesentlich zu sein, und ich habe dementsprechend meine Aufgabe darin gesehn, zunächst für kleinere Gruppen von Juden einen Typ zu bilden. Als solcher Typ einer immerhin ziemlich umfassenden Menschheitsgruppe wollen Irene, Olga u. s. f. angesehn werden, und auch das vorliegende Buch stellt »das Schicksal eines Juden«, vieler Juden vielleicht, aber nicht einmal andeutungsweise aller dar. Es sollen vielmehr in einem Zyklus weiterer Romane ganz andere, zum Teil entgegengesetzte, ergänzende Typen so lange auftreten, bis ein Aufsteigen von dieser Typenreihe zu einem höheren Typus vielleicht möglich erscheint, vielleicht als undenkbar für immer abgelehnt wird. In diesem erhofften Zeitpunkt wird sich das Bild des Gesamtjudentums allerdings, wie ich schon jetzt voraussehe, wesentlich komplizierter, kräftereicher, fließender, vor allem auch harmonischer darbieten als es seinen jetzigen wohl allzu einseitigen, wenn auch in manchem Hinblick vortrefflichen Theoretikern wie Birnbaum, Sombart, Buber, Zollschan u. a. erscheinen kann.

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