The Project Gutenberg eBook of Der Gang nach der Himmelpforte

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Title: Der Gang nach der Himmelpforte

Eine Erzählung für Kinder und Kinderfreunde

Author: Ferdinand Friederich

Release date: June 15, 2024 [eBook #73835]

Language: German

Original publication: Wernigerode: B. Angerstein

Credits: Christian Reinboth

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DER GANG NACH DER HIMMELPFORTE ***

Der Gang nach der Himmelpforte

Eine Erzählung für Kinder und Kinderfreunde.

(Zum Besten der Neustädter Klein=Kinder=Schule.)


Wernigerode, 1851
In Commission bei F. Heinecke.


Druck von B. Angerstein.

Inhalt

Cap. I. Der Ausgang
Cap. II. Der Ursprung des Namens Himmelpforte
Cap. III. Das Mißverständnis
Cap. IV. Die Klöster
Cap. V. St. Augustinus
Cap. VI. Der Augustiner-Orden
Cap. VII. Das Gewitter
Cap. VIII. Geschichte der Entstehung des Klosters Himmelpforte
Cap. IX. Geschichte des Bestehens des Klosters Himmelpforte
Cap. X. Geschichte des Untergangs des Klosters Himmelpforte
Cap. XI. Der Regenbogen
Cap. XII. Die Heimkehr

I.

»Väterchen, laß uns doch auch nach der Himmelpforte gehen!«

So sprach im Tone der innigsten Bitte die kleine Sophie, indem sie sich zärtlich an den Vater schmiegte und dessen erfaßte Hand küßte.

Der Vater kniff ihr leise in das runde rothe Bäckchen und erwiederte nach einigem Besinnen: »Nun ja, Schmeichelkätzchen, es mag geschehen!«

Kaum war das Wort verlautet, so zeigte ein sich erhebendes lautes Frohlocken an, mit welcher Freude die Einwilligung des Vaters nicht bloß von der kleinen Sophie, sondern auch von deren Geschwistern vernommen worden war. Diese hatten bis dahin am Fenster gestanden und mit Sehnsucht den Leuten nachgesehen, welche schon seit einigen Stunden vorüberzogen und von denen sich annehmen ließ, daß sie sämmtlich die Himmelpforte zu ihrem Ziel erwählt hatten. Denn es war heute das Fest der Himmelfahrt Christi, und der Besuch der sogenannten Himmelpforte am Nachmittage dieses Festes war eine altherkömmliche Sitte bei den Bewohnern der guten Stadt Wernigerode. Daß darüber manche den nachmittäglichen Gottesdienst versäumten, war gerade nicht nöthig und nicht löblich, denn die Himmelpforte lag so nahe bei der Stadt, daß zu ihrem Besuche auch nach der Kirche Zeit genug übrig blieb.

Als Vater Lehrwart, der selbst Prediger war, seinen Kindern die Erlaubnis zum Besuch der Himmelpforte ertheilte, war die Kirche schon aus und auch der Kaffee war schon getrunken. Es war halb drei Uhr Nachmittags. Die Leutchen, welche jetzt noch hinausgingen, schienen so große Eile zu haben, als fürchteten sie, mit jeder Minute etwas zu versäumen. Daher harrten auch die drei Kinder Lehrwart's, die sich in der größten Geschwindigkeit fertig gemacht hatten, mit Ungeduld des Augenblicks, wo ihre Tante Elisabeth, die sie begleiten wollte, gleichfalls bereit sein würde. Endlich war es so weit gekommen, daß nur noch zärtlicher Abschied vom Vater zu nehmen war. Aber, in welches Erstaunen und in welche Freude geriethen die Kinder bei der unerwarteten Erklärung des Vaters, er selbst wolle auch von der Gesellschaft sein! Man hüpfte vor Freude. Ernst sprang eilig treppauf, um des Vaters Hut herunterzuholen, während Louise seine Handschuhe und Sophie seinen Stab herbeibrachte. Wedelnd und bellend bezeugte der muntere Spitz seine Erwartung, auch mitgenommen zu werden, und kaum war die Hausthür geöffnet, als er schon zu wissen schien, wohin man sich wenden werde, und der Gesellschaft voran, spornstreichs aus dem nahen Thore hinauslief.

So sehr sich die Kinder darüber freueten, daß der Vater mitging, so ließ es sich doch bald an ihrer Ungeduld, womit sie vorausgingen und dann wieder, stillstehend, zurücksahen, merken, daß ihrer Meinung nach der Vater mit der Tante dießmal allzulangsam einherschritt. Als vollends eine nachfolgende Gesellschaft vorbeigehend zuvor kam, konnte Ernst die Klage nicht mehr zurückhalten: »Aber Vater, wir werden gewiß die Allerletzten werden, wenn wir nicht schneller gehen!« Lächelnd versetzte der Vater: »und wir werden doch noch früh genug kommen!« »Ach ja,« fiel die kleine Sophie, klugschnäbelig zustimmend, ein, »wenn wir auch nicht Alles sehen, das schadet nichts!«

Diese Aeußerung veranlaßte die Tante Elisabeth zu der Frage: »Was hofft ihr denn eigentlich zu sehen, Kinderchen?« Die Kinder sahen etwas betroffen den Vater, die Tante und sich untereinander an, ohne recht zu wissen, was sie antworten sollten. Endlich ließ sich die schnippische Louise dahin vernehmen, es müsse doch wohl heute in der Himmelpforte etwas recht Schönes zu sehen sein, weil sonst nicht so viele Leute dahin gehen würden.

»Aber doch,« erwiederte ihr darauf der Vater, »doch, mein Kind, irrst du dich, wenn du irgend etwas Besonders oder Außerordentliches zu sehen erwartest. Es wird heute da, wohin wir gehen, nichts anderes zu sehen sein, als was an jedem anderen schönen Frühlingstage an vielen anderen schönen Orten zu sehen ist!«

Das »Ach!« welches sich nach dieser Erklärung des Vaters aus dem Munde des neunjährigen Fräuleins hören ließ, war in einem so gedehnten und unmuthigen Tone gehalten, daß die Tante Elisabeth eine rügende Bemerkung darüber machte. »Ich dächte,« sagte sie, »es wäre gut genug und aller Ehren werth, daß der Vater heute einmal mit uns spazieren geht, was doch so selten kommt, und daß so schönes, heiteres, mildes Frühlingswetter ist, und daß das Ziel unseres Spazierganges ein so anmuthiges, liebliches Thal ist, und daß noch obenein so viele Leute, die alle festlich geschmückt sind, denselben Weg mit uns gehen. Heißt es nicht im Liede:

"Wie schön ist's im Frein,
bei grünenden Maien,
Im Walde, wie schön?"

»Ja, liebe Tante!« gelobte die drollige kleine Sophie, »wir wollen auch recht vergnügt sein!«

»Ich bin es schon!« sagte Ernst. »Ich ja auch« erklärte Louise. »Aber,« fügte sie hinzu, als ob sie sich rechtfertigen wollte, »ich möchte doch wissen, warum gerade heute so viele Leute in die Himmelpforte gehen?«

Ernst nahm eine wichtige Miene an, als ob er viel weiter sähe, und fragte: »Das weißt du nicht einmal? Ist denn heute nicht Himmelfahrt?«

Louise schien mit dieser Auskunft befriedigt zu sein. Tante Elisabeth und der Vater wunderten sich im Stillen über den naiven Einfall, der die beste Deutung der unterbewußten Volkssitte zu sein schien, die sich geben ließ.

Indessen glaubte der Vater doch die Gelegenheit wahrnehmen zu müssen, das Nachdenken der Kinder weiter zu führen, und sann eben darüber nach, wie sich wohl an den Namen Himmelpforte ein für die Kinder faßliches Lehrgespräch anknüpfen ließe, als ihm der Zufall dabei zur Hülfe kam.

Sophie that die ihm sehr willkommene Frage, woher wohl der Name Himmelpforte gekommen sei? Ehe er sie aber noch beantworten konnte, begüßte ihn ein Bekannter, der mit seiner Familie aus dem nahen westlichen Thore der Stadt gekommen war, und in deren Gesellschaft nun der Weg nach der Himmelpforte weiter fortgesetzt wurde.

II.

Die hinzugetretene Wander=Gesellschaft bestand aus dem Archivarius Herrn Gründler nebst seiner Frau und drei Kindern, Hermann, Marie und Julie, die zwar im Alter schon weiter vorgerückt waren, als die Lehrwart'schen Kinder, sich aber dennoch freundlich mit ihnen paarten.

Nach den ersten wechselseitigen Begrüßungen sagte Vater Lehrwart dem werthen Freunde, es sei ihm doppelt lieb, mit ihm zusammenzutreffen, weil er hoffe, mit seiner Hülfe den eben gehegten Wunsch, den Gang nach der Himmelpforte für seine Kinder lehrreich zu machen, desto besser erreichen zu können. Er bitte, ihm ein= und auszuhelfen, wo seine Kunde nicht hinreichen sollte.

Zuvörderst sei er seiner kleinen Sophie die Antwort auf die Frage schuldig, woher der Name Himmelpforte wohl stamme? Ueber den Ursprung dieses Namens glaube er nun schon selber aus dem Archive, worin er zu Hause sei, Auskunft geben und sich dieserhalb auf eine der allerältesten Urkunden von der Welt berufen zu können.

»Nun, das wäre!« fragte verwundert der Archivarius.

Vater Lehrwart fuhr fort: »Ich meine die Geschichte des Erz=Vaters Jakob. Ihr wißt doch, wer der war, Kinderchen?«

»O ja,« gab eins zur Antwort, »es war der Sohn Isaaks.«

»Richtig,« belobte der Vater. »Ihr wißt, Isaak hatte zwei Söhne, Esau und Jakob. Esau verkaufte leichtsinniger Weise das Vorrecht seiner Erstgeburt für ein Linsengericht an seinen jüngern Bruder, und Jakob wußte durch einen listigen Anschlag seiner Mutter Rebekka auch noch obenein das zu erlangen, daß ihm der Segen zu Theil ward, den der alte Isaak eigentlich seinem erstgeborenen Sohne Esau zugedacht hatte. Um dem Zorne Esau's darüber auszuweichen und zugleich um sich eine Frau zu suchen, ergriff Jakob den Wanderstab und machte sich auf den Weg gen Haran in Mesopotamien, wo die Anverwandten seiner Mutter wohnten. Der Weg war weit, und nachdem Jakob eine Tagesreise gemacht hatte und die Sonne untergegangen war, sah er sich genöthigt, sein Nachtlager unter freiem Himmel zu halten. Er nahm also einen Stein, den er unter sein Haupt legte, und legte sich schlafen. Ungeachtet dieses harten Kopfkissens schlief er dennoch, ermüdet von dem langen Marsche, den er gemacht hatte, bald sanft und süß ein. Im Schlafe hatte er einen gar schönen, lieblichen Traum. Es träumte ihm nämlich, er sähe eine hohe Leiter auf der Erde stehen, die mit ihrer Spitze an den Himmel rührte. An der Leiter stiegen die Engel Gottes auf und nieder und oben auf der Höhe derselben stand Gott der Herr selbst und sprach zu Jakob: »Ich bin der Herr, der Gott deiner Väter, der Gott Abrahams und der Gott Isaaks, und das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen zum Erbe und Eigenthum geben. Und deine Nachkommenschaft soll sehr groß und zahlreich werden und sich ausbreiten gegen Morgen und gegen Abend, Mittag und Mitternacht. Und durch dich und deinen Samen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst und will dich wieder herbringen in dieß Land, denn ich will dich nicht lassen, bis daß ich thue Alles, was ich dir geredet habe.« Da nun Jakob von seinem Schlafe erwachte, sprach er: »Gewißlich ist der Herr an diesem Orte und ich wußte es nicht!« Und erfüllt von Erfurcht sprach er weiter: »Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes denn Gottes Haus und hier ist die Pforte des Himmels!« Und Jakob stand des Morgens früh auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte und richtete ihn auf zu einem Denkmahl, und goß Oel oben darauf, um ihn damit einzuweihen und hieß die Stätte Bethel d.h. Gottes=Haus, und that ein Gelübde und sprach: »So Gott wird mit mir sein und mich behüten auf dem Wege, den ich reise, und mir Brod zu essen geben und Kleider anzuziehen, und mich mit Frieden wieder heim zu meinem Vater bringen, so soll der Herr mein Gott sein und dieser Stein, den ich aufgerichtet habe zu einem Mahle, soll ein Gotteshaus werden, und Alles, was Gott mir giebt, davon will ich den Zehnten dahin geben.«

Die Kinder hatten alle aufmerksam zugehört. Das kleine Heer ihrer flüchtigen Gedanken würde sich aber bald wieder zerstreut haben, wenn nicht Vater Lehrwart gesucht hätte, es durch einige hingeworfene Fragen beisammen zu halten. Er hob an: »Wer Achtung gegeben hat, wird wiederholen können, was Jakob an dem Orte sagte, wo ihm im Traume die Himmelsleiter mit den auf= und absteigenden Engeln und Gott der Herr selber erschienen war.«

Rasch war Louise mit der Antwort bei der Hand: »Er sagte: »Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist die Pforte des Himmels!«

»Warum,« fragte der Vater weiter, »mochte denn wohl Jakob meinen, hier sei die Pforte des Himmels?« - »Nun, was hatte sich für ihn an diesem Orte gleichsam eröffnet und aufgethan?« »Der Himmel!« riefen aus einem Munde die Kinder.

»Und als welches Herrn Haus oder Wohnung sah Jakob den Himmel an, dessen Pforte oder Eingang er an diesem Orte meinte gefunden zu haben?« - »Als Gottes Haus!« erwiederte Ernst.

»Was gelobte er daher, auf der Stelle der Erde, wo er mit dem Haupte auf dem Steine gelegen hatte, bauen zu wollen, wenn Gott seine Verheißung erfüllte?« »Ein Gotteshaus!« war die Antwort.

»Wißt ihr denn, was für Häuser man noch heutiges Tages Gotteshäuser zu nennen pflegt?«

»O ja,« sagte Ernst, »man nennt die Kirchen so.« »Aber,« fuhrt der Vater zu fragen fort, »sind denn die Kirchen wirklich eigentliche Wohnhäuser Gottes?« »Nein!« sagten einstimmig die Kinder.

Unser junger Freund Hermann wird uns einen vortrefflichen Ausspruch des Apostels Paulus darüber anführen können, der in der Apostel=Geschichte im 17. Kapitel geschrieben steht. - Hermann Gründler sagte voll Ausdruck die Stelle her: »Gott, der die Welt gemacht hat und Alles, was darinnen ist, sintemal er ein Herr ist Himmels und der Erden, wohnet er nicht in Tempeln mit Händen gemacht; sein wird auch nicht von Menschenhänden gepfleget, als der Jemandes bedürfte, so er selber Jedermann Leben und Odem allenthalben giebt; und hat gemacht, daß von einem Blute aller Menschen Geschlechter auf dem ganzen Erdboden wohnen, und hat Ziel gesetzt, zuvor versehen, wie lange und wie weit sie wohnen sollen; daß sie den Herrn suchen sollen, ob sie doch ihn fühlen und finden möchten, und zwar er ist nicht fern von einem jechlichen unter uns. Denn in ihm leben, weben und sind wir, als auch etliche Poeten bei euch gesagt haben: wir sind seines Geschlechts!« »Bravo!« lobte Vater Lehrwart den Sohn seines Freundes und richtete sogleich an die jüngeren Kinder desselben die Frage: »Wenn sich nun Gott allenthalben fühlen und finden läßt und wenn da, wo man sich zu Gott nahen und Gottes Nähe spüren und empfinden kann, eine Pforte des Himmels ist - wo giebt es dann eigentlich auch für uns Pforten des Himmels?«

»Allenthalben!« ließ sich Marie Gründler vernehmen. Vater Lehrwart bestätigte ihre Antwort mit der hinzugefügten Erklärung: »Allerdings, liebe Kinder, jeder Ort in der Welt kann zu einer Himmelpforte für uns werden und wird wirklich dazu, wenn wir uns an demselben in Ehrfurcht und Andacht zu Gott nahen und seine beseligende Nähe und Gegenwart fühlen. Weil uns aber die Kirchen die schönste Gelegenheit dazu darbieten, uns gemeinschaftlich zu erbauen und im Umgange mit Gott himmlischen Frieden und selige Freude in unseren Herzen erfahren und damit gleichsam einen Vorgeschmack des ewigen Lebens und der himmlischen Seligkeit genießen zu können, so verdienen denn auch die Kirchen in dieser Hinsicht besonders Gottes=Häuser oder Himmelspforten und Vorhöfe des Himmels zu heißen.«

Die nach diesen Worten Lehrwart's eintretende andächtige Stille unterbrach zuerst die Tante Elisabeth durch die an die kleine Sophie gerichtete Aufforderung: »Sag' doch einmal die schönen Verse her, die du auswendig gelernt hast und an die du durch die Worte des Vaters gewiß erinnert bist!« Die Kleine sagte: »Nicht wahr, Tantchen, du meinst die Verse: Wo wohnt der liebe Gott?« und als ihr die Tante freundlich aufmunternd zunickte, hob sie die folgenden Verse zu sprechen an und brachte sie auch glücklich ohne Stocken zu Ende:

"Wo wohnt der liebe Gott?
Sieh' dort den blauen Himmel an,
Wie fest er steht, so lange Zeit,
Sich wölbt so hoch, sich streckt so weit,
Daß ihn kein Mensch erfassen kann;
Und sieh der Sterne gold'nen Schein
Gleich als viel tausend Fensterlein:
Das ist des lieben Gottes Haus,
Da wohnt er drin und schaut heraus
Und schaut mit Vater=Augen nieder
Auf dich und alle deine Brüder!

Wo wohnt der liebe Gott?
Hinaus tritt in den dunkeln Wald,
Die Berge sieh' zum Himmel gehn,
Die Felsen, die wie Säulen stehn,
Der Bäume ragende Gestalt;
Horch, wie es in den Wipfeln rauscht,
Horch, wie's im stillen Thale lauscht!
Dir schlägt das Herz, du merkst es bald.
Der liebe Gott wohnt in dem Wald;
Dein Auge zwar kann ihn nicht sehen,
Doch fühlst du seines Odems Wehen!

Wo wohnt der liebe Gott?
Hörst du der Glocken hellen Klang?
Zur Kirche rufen sie dich hin.
Wie ernst, wie freundlich ist's darin!
Wie lieb, wie traut und doch wie bang'!
Wie singen sie mit froher Lust!
Wie beten sie aus tiefer Brust!
Das macht, der Herr Gott wohnet da!
Drum kommen sie von fern und nah,
Hier vor sein Angesicht zu treten,
Zu flehn, zu danken, anzubeten.

Wo wohnt der liebe Gott?
Die ganze Schöpfung ist sein Haus.
Doch, wenn es ihm so wohlgefällt,
So wählet in der ganzen Welt
Er sich die engste Kammer aus.
Wie ist des Menschen Herz so klein!
Und doch auch da zieht Gott herein;
O, halt' das deine fromm und rein!
So wählt er's auch zur Wohnung sein,
Und kommt mit seinen Himmelsfreuden
Und wird nie wieder von dir scheiden!"

Eine innige Rührung hatte während des Aufsagens der Verse die ganze Gesellschaft ergriffen. Die kleine Rednerin wurde mit einem zärtlichen Kusse sowohl von der Tante als auch von deren Freundin belohnt, die sich für ihre Kinder eine Abschrift der schönen Verse ausbat.

Die eingetretene ernste Stimmung wurde indessen bald auf eine kleine Weile dadurch gestört, daß ein sehr possierliches Mißverständnis zum Vorschein kam.

III.

Der elfjährige Ernst Lehrwart, der sich neidlos über den Beifall, den seine kleine Schwester erhalten hatte, mitfreute, wollte ihr vermuthlich auch den seinen bezeugen, hatte diese daher bei der Hand erfaßt, um sie zu führen und sagte zu ihr: »Komm, mein liebes Sophiechen, laß uns vorangehen, da wirst du weniger müde und dann sind wir die ersten in der Himmelpforte und ich zeige dir gleich die Stelle, wo Jakob geschlafen und wo das Gotteshaus, welches er nachher baute, gestanden hat!«

Bei diesen Worten brach die Tante Elisabeth in ein lautes Gelächter aus und sagte mit einem etwas schalkhaften Seitenblicke auf ihren Bruder: Nun, das muß ich sagen, das ist ein lustiger Irrthum! Dachte ich's doch beinahe, daß so etwas herauskommen würde, als der Vater bei seiner Erklärung des Namens der Himmelpforte so gar weit ausholte und bis auf die Geschichte des Erzvaters Jakob und seines Traumes von der Himmelsleiter zurückging. Die ganze übrige Gesellschaft stimmte in das Gelächter der Tante ein und Vater Lehrwart selbst nahm einen Augenblick daran Antheil. Doch faßte er sich bald wieder, als er sah, wie sehr sich Ernst beschämt dadurch fühlte, dem, ungeachtet aller seiner Bemühung sie zurückzuhalten, Thränen entfielen. Er redete ihm tröstlich zu mit den Worten: »Du hast nicht Ursach, mein Sohn, dich so sehr zu schämen und zu betrüben. Der Irrthum, in den du geraten und wegen dessen du so eben verlacht bist, ist sehr zu entschuldigen. Dein Vater selbst ist gewissermaßen Schuld an demselben gewesen. Uebrigens hättest du bei etwas mehr Nachdenken wohl auch von selbst einsehen können, daß die Himmelpforte, nach der wir gehen, nicht derselbe Ort sein könne, an welchem Jakob schlief, als er auf der Reise nach Haran in Mesopotamien begriffen war. Es bedarf nur, daß du auf einige Umstände aufmerksam gemacht wirst und du wirst dann selbst deinen Irrthum lächerlich finden.

Du weißt doch, in welchem Welttheile das Land Kanaan liegt, von welchem Jakob dazumal ausging? In Asien. Wie heißt dagegen der Welttheil, in welchem wir wohnen? Europa! Wie weit meinst du wohl, daß es von uns bis dorthin sei?« Ernst besann sich einen Augenblick und erklärte dann, indem er sich lachend vor die Stirn schlug: Ach, viele hundert Meilen weit. - Jakob aber, wie lange war der erst gegangen, als er das Nachtlager hielt, während dessen er im Traume die Himmelsleiter erblickte? Mit zunehmendem Lachen sagte Ernst: Er war erst einen Tag lang gegangen! Und also - half der Vater fort, - kann der Ort, den Jakob die Himmelpforte nannte, nicht unsere Himmelpforte gewesen sein.

Nun erfordert aber die Billigkeit, fiel hier der Archivarius ein, daß Sie, mein lieber Freund, das Unrecht vergüten, welches Ihrem Sohne geschehen ist, als er so sehr ausgelacht wurde und daß Sie die in seinem Irrthume verborgen liegende Wahrheit an's Licht ziehen; denn sicher hat er die Glocke läuten gehört, nur ohne zu wissen, wo sie hängt, wie man zu sagen pflegt. Ja, sagte Vater Lehrwart, Ernst wird wohl früher schon von mir gehört haben, daß einst in unserer Himmelpforte wirklich ein Gotteshaus, ein Gott geweihtes Heiligthum gestanden und daß der Ort daher seinen Namen erhalten hat. Vielleicht habe ich ihm damals auch gesagt, daß das sonst hier befindlich gewesene Gotteshaus vermuthlich seine Entstehung einem ähnlichen Gelübde, wie das des Erzvaters Jakob war, zu danken gehabt hat.

Nicht bloß vermuthlich, entgegnete der Archivarius, sondern wir dürfen dieß nunmehr als gewiß ansehen, nachdem vor einigen Jahren die Stiftungsurkunde des Klosters Himmelpforte im Archive des Johannisklosters zu Halberstadt aufgefunden worden ist. - Ei, sagte Vater Lehrwart, das ist mir ja lieb zu vernehmen! Ich wiederhole nun meine vorherige Bitte, daß Sie, mein werther Freund, jetzt an meiner Statt reden, und meinen Kindern in der Kürze das Wichtigste von der Geschichte des vormaligen Klosters Himmelpforte erzählen, was mir doch nur aus Ihren schätzbaren Mittheilungen in einem früheren Jahrgange unseres Wochenblattes bekannt ist. Das will ich gern thun, erwiederte der gefällige Freund, und ich werde dabei jene Mittheilungen durch Angabe einiger Umstände berichtigen und ergänzen können, die damals mir selbst noch unbekannt waren. Aber es heißt ja im Sprüchwort: Schuster, bleib' bei deinen Leisten! Und ich würde Ihnen vorgreifen, wenn ich es nicht Ihnen selbst überließe, unseren Kindern vorerst das Nöthige über die Klöster überhaupt und über den Augustiner=Orden insbesondere zu sagen, was wir doch wohl billig der Geschichte des Klosters Himmelpforte vorangehen lassen.

In letztrer Hinsicht haben Sie Recht, sagte Vater Lehrwart; ich will das Meinige thun und mich dabei kurz zu fassen versuchen.

IV.

Schon in den ersten Jahrhunderten der christlichen Kirche, so begann Vater Lehrwart seine Erzählung, gab es unter den Christen manche, welche in ihrem ernstlichen und eifrigen Streben, ein recht frommes heiliges Leben zu führen, so weit gingen, daß sie sich ganz von der übrigen menschlichen Gesellschaft absonderten und in Höhlen und Wüsten begaben, um in der Einsamkeit desto ungestörter ihre Andacht verrichten und sich desto besser in der Enthaltsamkeit und Selbstverleugnung üben zu können. Unter den Leuten dieser Art, die man Eremiten oder Einsiedler nannte, erlange einen besonders großen Ruf der Frömmigkeit und Heiligkeit ein gewisser Antonius, der deshalb auch der Heilige oder der Große hieß und der zu der Zeit des ersten christlichen Kaisers, Constantin des Großen, 300 Jahre nach Christi Geburt, in Aegyptenland lebte. Zu diesem gesellten sich in seiner Einsamkeit bald mehrere gleichgesinnte Leute, welche ihre Hütten neben die seinige bauten und eine der seinigen ähnliche Lebensart führten. Dieß Beispiel von Vereinigung einer frommen Gesellschaft zu einer gemeinschaftlichen heiligen Lebensart fand anderweit Nachahmung. Man erbaute sich in abgelegenen, unbewohnten stillen Gegenden Häuser, in denen man zusammen mit anderen Gleichgesinnten wohnen und sich gemeinschaftlich mit ihnen der Andacht und Frömmigkeit befleißigen wollte. Solche Häuser wurden Klöster und die Bewohner derselben Mönche und Nonnen genannt.

Auch fehlte es nicht an reichen und vornehmen Leuten, welche zwar nicht selbst Lust hatten, das für besonders heilig und Gott wohlgefällig gehaltene Klosterleben zu führen, aber doch für Andere auf ihre Kosten Klöster erbauen ließen und dieselben überdem mit Gärten und Feldern und allerlei Einkünften zum Lebensunterhalte ihrer Bewohner ausstatteten, weil sie das für ein gutes Werk hielten, um dessen willen sie wähnten in den Himmel zu kommen.

Es hatte sich bald gezeigt, daß diejenigen, welche in den Klöstern lebten, nicht bloß Vorsteher, sondern auch bestimmte Gesetze haben müßten, nach denen sie sich richteten, damit Ordnung unter ihnen statt fände. Die Gesetze, welche in einem Kloster befolgt wurden, nannte man die Regel desselben. Alle die Mönche und Nonnen, welche dieselbe Kloster=Regel befolgten, machten zusammen einen Orden aus und pflegten auch zum Unterschiede von anderen eine besondere Kleidung zu tragen, fast wie die verschiedenen Truppen=Gattungen einer Armee.

Sie waren auch in der That gleichsam die geistlichen Soldaten des Papstes und trugen sehr viel zu der Ausbreitung und Aufrechterhaltung der angemaßten Gewalt dieses vermeintlichen Statthalters Christi auf Erden bei. Jeder besondere Orden hatte einen eigenen General. Ueber die Klöster eines Ordens, die sich in einem und demselben Lande befanden, war ein Provinzial gesetzt. Die Vorsteher der einzelnen Mönchsklöster pflegen Aebte, Prioren oder auch wohl Pröbste zu heißen. Die Nonnenklöster hatten Aebtissinnen oder Priorinnen an ihrer Spitze.

Anfangs gehörten zwar die Kloster=Leute mehrentheils dem weltlichen Stande an und nur zu den Vorstehern der Klöster pflegte man Geistliche zu wählen. In der Folge aber erlangten auch die meisten der Mönche, welche einige Gelehrsamkeit und Bildung besaßen, das Ansehen und die Rechte der Geistlichen und genossen dann auch in den Klöstern manche Vorzüge vor den übrigen Mönchen, welche Laienbrüder genannt wurden und geringere Dienste verrichteten, z.B. allerlei Handarbeit leisten, die Aecker und Gärten des Klosters bestellen, auch wohl in den benachbarten Städten und Dörfern terminiren d.h. umherziehen und milde Beiträge für die Unterhaltung des Klosters einsammeln, mit einem Worte: betteln mußten, während ihre geistlichen Brüder theils in der Umgegend predigten und andere gottesdienstliche Geschäfte verrichteten, theils der Jugend Unterricht gaben, theils innerhalb der Klostermauern in ihren Zellen allerlei Wissenschaften studirten und sich besonders viel mit dem Abschreiben der heiligen Schrift und anderer Bücher beschäftigten, wodurch sie sich um die Mit= und Nachwelt hauptsächlich verdient gemacht haben.

Die Klosterregeln der verschiedenen Orden wichen von einender darin ab, daß sie mehr oder minder strenge Vorschriften für die tägliche Lebensordnung der Klosterleute enthielten. Darin aber stimmten fast alle überein, daß sie den, der einmal in den Orden aufgenommen wurde, durch ein feierliches Gelübde zum unbedingten Gehorsam gegen die Vorgesetzten, zum ehelosen Leben, zu vielen an gewissen Stunden des Tages und in der Nacht zu haltenden Andachtsübungen, zu mancherlei Selbstverläugnungen und besonders zu häufigem Fasten verpflichteten. Doch wurde unter dem Fasten nicht die strenge Enthaltung von aller Speise, sondern nur die Verzichtung auf den Genuß des Fleisches an gewissen Tagen verstanden und auch dieß war wieder dadurch gemildert, daß dabei der Genuß von Fischen, als welchen man kein Fleisch zuschrieb, erlaubt war. Daher pflegten natürlich die Klosterleute so gescheut zu sein, dafür zu sorgen, daß es ihnen an Fischen nicht fehlte und legten alle viele Fischteiche in der Nähe ihrer Klöster an. Auch die Mönche des vormaligen Klosters Himmelpforte haben es so gemacht, wie ihr die deutlichen Spuren davon sogleich mit euren eigenen Augen sehen könnt.

Man hatte während der letzten Erzählung das Thal der Holtemme, in dem die Kolonie Friedrichsthal liegt, die nahe vor dem Westernthore von Wernigerode anhebt, verlassen und den Weg in ein Seitenthal eingeschlagen, dessen Anfangs ziemlich weite Mündung sich an dem Punkte, wo man jetzt stand, verengte. Hier sah man einen hohen Damm, der das Thal vormals geschlossen hatte, aber durchstochen war, so daß das sonst von dem Damme angehaltene und angesammelte Wasser eines kleinen Bächleins abfließen konnte. Mit verwunderungsvollen Ausrufungen, wodurch sie die folgende Fortsetzung der Erzählung des Vaters Lehrwart öfter unterbrachen, zählten die Kinder nachher noch sechs bis sieben ähnliche Dämme in dem Thale, in welchem man weiter hinauf stieg.

Vorerst sah sich der Vater Lehrwart genöthigt, eine kleine Pause in seiner Erzählung zu machen, weil der Fußpfad, den man verfolgte und der an dem Bergabhange zur Rechten des Thalgrundes hinlief, so schmal war, daß die Gesellschaft sich in eine lange Reihe auflösen mußte und nur einzeln hintereinander hergehen konnte.

V.

Nachdem der Weg wieder breiter geworden war und sich die Gesellschaft wieder näher um ihn versammelt hatte, fuhr Vater Lehrwart fort.

Unter den vielen Mönchsorden, die nach gerade entstanden, zeichnete sich in mancher Hinsicht sehr vortheilhaft der Augustiner=Orden aus, der uns näher angeht, weil das Kloster Himmelpforte ein Augustiner=Kloster gewesen ist. Dieser Orden leitete seinen Ursprung von einem der berühmtesten christlichen Kirchenlehrer, dem gewöhnlich so genannten heiligen Augustinus ab, von dessen merkwürdiger Lebensgeschichte ich Euch Etwas erzählen muß.

Er hieß eigentlich Aurelius Augustinus und wurde zu einer Zeit geboren, wo das Christenthum in dem damaligen großen Römischen Reiche, zu dem auch sein Geburtsland, das nördliche Afrika, gehörte, immer mehr herrschend ward, nämlich ohngefähr 50 Jahre nachher, nachdem der Römische Kaiser Constantin der Große selber ein Christ geworden war. Auch die Eltern des Augustinus waren schon Christen; sein Vater, ein vornehmer Mann, war wenigstens ein Christ dem äußeren Bekenntniß nach; seine Mutter aber, die Monika hieß, war eine recht lebendige und eifrige Christin und wandte allen Fleiß daran, ihren lieben Sohn von Kind auf mit der heiligen Schrift bekannt zu machen und ihn aus derselben zu unterweisen zur Seligkeit durch den Glauben an Christum. Doch schienen ihre Bemühungen nicht gelingen zu wollen. Denn während der junge Augustinus auf den niederen und höheren Schulen, auf die ihn sein Vater schickte, mancherlei Wissenschaften erlernte, die dazu gehörten, um einmal einen tüchtigen Advokaten abgeben zu können, so hielt er dabei doch wenig auf das Wort Gottes, das ihm viel zu einfältig vorkam, und führte ein leichtsinniges und ausschweifendes Leben.

Bei seiner großen Wißbegierde ließ er sich durch den lockenden Reiz des geheimnißvollen Wesens verleiten, unter die Manichäer zu gehen, eine damals weit verbreitete Sekte von Menschen, die Christenthum und Heidenthum mit einander vermengten und vorgaben, oder sich selbst einbildeten, in den Lehren des Mannes, eines gewesenen Magiers, den Schatz einer viel höheren Weisheit, als die des Christenthums, zu besitzen. Diese ihre vermeintliche Weisheit hielten sie aber geheim. Neun Jahre lang brachte Augustinus als Lehrling in der Mitte dieser Leute zu, ohne daß er in ihre Geheimnisse eingeweiht wurde, bis er endlich einsah, daß er getäuscht sei. Nachher meinte er in den Schriften des Griechischen Weltweisen Plato alle Weisheit gefunden zu haben, während es ihm doch noch immer an dem Anfange der wahren Weisheit, der Furcht Gottes, mangelte, indem er sein Herz und Leben nicht besserte. Ueber das Alles war natürlich seine fromme Mutter Monika sehr betrübt. Sie klagte einstmals ihr Leid unter vielen Thränen einem frommen christlichen Bischofe, indem sie ihn bat, doch einmal eine Unterredung mit ihrem Sohne zu halten, um ihn von seinen Irrthümern zu überzeugen zu suchen. Allein der Bischof antwortete, es würde bei dem jungen hitzigen Manne mit Disputieren nichts auszurichten sein, sie sollte nur fleißig für ihn beten, daß ihn Gott mit seinem heiligen Geiste erwecken und erleuchten möge, und fügte die tröstliche Verheißung hinzu: ein Sohn so vieler Thränen könne unmöglich verloren gehen! Das Wort dieses Mannes bewährte sich bald wunderbar. Augustinus war nämlich unterdessen als Lehrer der weltlichen Redekunst an die hohe Schule zu Mailand berufen. Da lockte ihn die große Beredsamkeit des dortigen Erzbischofs, des heiligen Ambrosius, an, so daß er denselben oft und gern predigen hörte, obgleich es ihm dabei nicht um die Erbauung seines Herzens, sondern nur um die Ergötzung seiner Ohren zu thun war. Doch endlich wurde er in seinem Gewissen von der Kraft des göttlichen Wortes getroffen, entschloß sich von Stund' an zu gänzlicher Aenderung seines Sinnes und Wandels, ließ sich taufen, gab sein Rhetor=Amt auf und ging wieder in sein Vaterland Afrika, wo er sich ganz aus der Welt in einen Kreis gleichgesinnter, frommer Freunde zurückzog, mit denen er sich zu einem gemeinschaftlichen, stillen und gottseligen Leben vereinigte. Drei Jahre lang hatte dieses klösterliche Leben Augustinus gewährt, als er gegen seinen Willen aus seiner Zurückgezogenheit wieder hervorgeholt und als ein brennendes und scheinendes Licht der Welt auf einen hohen Leuchter gestellt ward. Er wurde nämlich in Hippo, der Hauptstadt derjenigen Gegend von Afrika, wo er sich aufhielt, zuerst zum Presbyter erwählt und nachher sogar zum Priester erhoben. Als solcher führte er ein klösterliches, nach gewissen Regeln geordnetes Leben auch bei den ihm untergebenen Geistlichen ein, was sich als eine sehr zweckmäßige Maßregel bewährte.

Der Ruhm und Einfluß seiner eifrigen Wirksamkeit, und besonders seiner tapfern geistlichen Bekämpfung der vielen Irrlehrer damaliger Zeiten verbreitete sich bald fast über die ganze christliche Kirche. Seinen großen Fleiß beweisen seine vielen geistreichen Schriften, die auf uns gekommen sind. Er starb im Jahre 430, während seine Stadt von den wilden Horden der Vandalen belagert ward, die sie bald nachher auf eine schreckliche Weise zerstörten. In den folgenden Zeiten des Aberglaubens, unter der Herrschaft des Pabstthums, wurde Augustinus als ein Heiliger verehrt, und seine angeblichen Todtengebeine wurden gleich denen anderer sogenannten Heiligen als kostbare, wunderthätige Reliquien angesehen.

Während wir Gottlob von solchem Aberglauben befreit sind, so muß doch auch uns evangelischen Christen das Andenken dieses Mannes desto werther sein, weil die beiden großen Reformatoren Luther und Calvin in der Hochschätzung gegen ihn einerlei gesinnt waren und, wie sie selbst dankbar bekannten, aus seinen Schriften viel gelernt haben.

VI.

Schon während eines Theils seines letzten Vortrages war Vater Lehrwart stehen geblieben und hatte einige Male seinen Sohn Ernst durch bedeutungsvolle Winke erinnern müssen, daß er aufmerksam zuhören möge, anstatt seine Geschwister und die übrige Gesellschaft in ihrer Aufmerksamkeit zu stören. Ernst hatte zwar bis jetzt geschwiegen, aber mit sichtbarer Ungeduld, und hatte wenigstens nicht unterlassen können, durch Fingerzeige die Blicke Aller dahin zu richten zu suchen, wohin seine eigenen gingen. Diese hafteten an den, großen Gräbern ähnlichen, Unebenheiten und Hügeln, womit der Grund des Thales in der Gegend, wo der Vater Stillstand gemacht hatte, bedeckt war.

Als der Vater die Lebensgeschichte des heiligen Augustinus beendigt hatte, erhielt Ernst die Erlaubniß zu reden, der, wie es schien, sich nicht wenig darauf einbildete, kund thun zu können, daß jene Hügel die Stelle des vormaligen Klosters Himmelpforte bezeichneten, wobei ihn die Bestätigung des Herrn Archivarius, daß er Recht habe, gegen die etwanigen ungläubigen Zweifel der übrigen Kinder sicherte.

»Ja,« sagte dieser, »da liegen die wenigen Rest des Klosters begraben, von welchem wir, Eure Väter, als wir in eurem Alter waren, noch weit mehrere Ueberbleibsel erblickten. Mein seliger Vater aber hat noch einen Mann gekannt, in dessen Jugend die Mauern der Klosterkirche noch so vollständig vorhanden waren, daß bloß das Dach fehlte, nach dessen abgebrannten Balkenköpfen die Knaben mit Steinen zu werfen pflegten.«

Als die Augen der Gesellschaft eine Weile mit verwunderungsvollem Nachdenken auf diesem Platze geruhet hatten, that die Frau Archivarius den Vorschlag, den Beinen auch einige Ruhe zu gönnen und die bequemen Plätze zum Sitzen zu benutzen, welche einige gefällte Baumstämme darboten, die am Rande des den Wiesengrund des Thales bekränzenden Eichen= und Buchenwaldes hingestreckt lagen.

Dieser Rath wurde gern befolgt und auch die Erquickung wurde dankbar willkommen geheißen, welche Tante Elisabeth darreichte, indem sie aus ihrem Handkorbe Obst und einiges Backwerk hervorlangte und dasselbe in der Gesellschaft vertheilte. Unterdessen nahm Vater Lehrwart den unterbrochenen Faden der Erzählung wieder auf und sagte, er wolle mit der Geschichte des heiligen Augustinus nun noch einige Mittheilungen über den von ihm benannten Orden verknüpfen.

Ihr habt schon vorhin gehört, redete er die Kinder an, daß der heilige Augustinus nach seiner gänzlichen Sinnesänderung sich mit mehreren gleichgesinnten Freunden aus der Welt zurückgezogen hatte, um im Verein mit ihnen, abgesondert von der übrigen menschlichen Gesellschaft, ein einsiedlerisches Leben zu führen, und daß er später, nach seiner Erhebung zum Bischof, auch bei der, ihm zunächst untergebenen Geistlichkeit eine Art von Klosterzucht eingeführt hatte. Es war natürlich, daß bei dem großen Ansehen, worin dieser Mann stand, die von ihm aufgestellten Regeln bald in mehreren schon vorhandenen und neu eingerichteten Klöstern zur Richtschnur erwählt wurden. So entstand der Augustiner=Mönchs=Orden, der sich in zwei Klassen theilte, von denen die eine die der Eremiten, die andere die der regulären Kanoniker oder der regulierten Chorherren genannt ward. Die ersteren ahmten das einsiedlerische Leben Augustin's in seiner Zurückgezogenheit von der Welt nach. Die letztern waren solche, mehrentheils zu einer Kirche gehörige Geistliche und Kirchendiener, welche die von Augustinus bei der Geistlichkeit von Hippo eingeführte klösterliche Lebensordnung zu ihrem Vorbilde erwählten. Diese wohnten gewöhnlich in größeren Städten in der Nähe einer Hauptkirche, wenn nicht in einem Hause beisammen, doch in aneinander stoßenden Häusern und kamen zu gewissen Stunden des Tages und selbst der Nacht zu gemeinschaftlichen Andachtsübungen oder auch zu gemeinschaftlicher Mahlzeit zusammen. Jene, die Eremiten, baueten sich dagegen in der Regel ihre Klöster in einsamen, von den Städten abgelegenen, stillen Gegenenden auf, obgleich sie sich späterhin mitunter auch in Städten und Flecken anbaueten.

Beide Klassen des Augustiner=Ordens unterschieden sich auch durch die Kleidung. Die Eremiten trugen einen schwarzen Rock mit weiten Aermeln, der bis auf die Knöchel herabhing und unserm jetzigen Chorrocke sehr ähnlich war, um den Leib einen ledernen Gürtel und in der Hand einen langen Stab. Die Kleidung der Chorherren aber war weiß.

Die Eremiten gehörten zu den sogenannten Bettel=Mönchen, die von Zeit zu Zeit in der Umgegend ihrer Klöster zu ihrer Unterhaltung milde Beiträge einsammelten. Die Chorherren aber nicht. Eine recht feste Einrichtung erhielt der Augustiner=Orden übrigens erst durch den Papst Alexander IV. im Jahre 1256. Mehr als fast in allen anderen Klöstern war in denen der Augustiner Gelehrsamkeit und Bildung zu finden, selbst die Benediktiner wurden darin in mancher Hinsicht von den Augustinern übertroffen, wozu ohne Zweifel bei den letztern ihre häufige Beschäftigung mit den vielen geistreichen Schriften des großen Stifters ihres Ordens viel beitrug.

Diese Anstalten dienten nach dem Rathschlusse der göttlichen Vorsehung dazu, um in der Nacht eines finstern Zeitalters die fast erloschenen Funken eines heiligen Feuers am stillen und verborgenen Orte so lange zu hegen und zu nähren, bis sie, angefacht von dem lebendigen Odem seines Geistes, zu seiner Zeit wieder zu einer hellleuchtenden Flamme ausschlagen sollten.

Vater Lehrwart hielt einen Augenblick inne - und sagte dann mit erhobener Stimme: Aus einem Augustiner=Kloster ging der Mann hervor, der das Licht des Evangeliums Jesu unter dem Scheffel, womit es überstülpt war, wieder hervorgeholt hat: dem wir es zu verdanken haben, daß wir von dem Wahne und Aberglauben befreit sind, als ob die Gnade Gottes, die uns frei geschenkt wird, nachdem sie uns Jesus Christus unser Heiland durch sein Opfer erworben hat, noch irgendwie erkauft werden könne und müßte, von dem Wahne, als ob man dadurch in den Himmel kommen könnte, daß man ein Kloster stiftet und eine Kirche bauet, oder selbst in ein Kloster hineingeht und mit Geißeln und Fasten sich selbst quält, - der Mann, der uns die rechte, die wahre Himmelspforte, den freien Zugang zu Gott durch den Glauben an Jesum Christum wieder eröffnet hat! - Wer war der Mann? - Wer kann es mir sagen? - Martin Luther! Martin Luther! war die laut schallende Antwort, zu der des Archivarius Sohn Hermann den ersten Ton angab und in die dann die ganze übrige Gesellschaft einstimmte.

Eine Stimme vom Himmel her schien gleichsam die Bestätigung zu dem Gesagten geben zu wollen, in dem sich gleich darauf ein entferntes Rollen des Donners vernehmen ließ, wobei Alle erschrocken emporsahen.

VII.

»Es wird schlimm werden!« sagte mit besorglicher Miene der Archivarius, indem er den Vater Lehrwart auf die über den nahen waldigen Bergrücken heranziehenden dunklen Wolken aufmerksam machte. »Wir werden wohlthun,« fügte er hinzu, »wenn wir uns eilig aufmachen, um vor dem Ausbruch des Wetters nach Haus zu kommen, oder wenigstens ein schirmendes Obdach im Friedrichsthale zu finden.« Ein mehrstimmiges: Ach! und O! von Seiten der Kinder erhoben, zeigte deren Betrübniß über die gehörten Worte an und sicherte dem Vater Lehrwart im Voraus eine bedeutend überwiegende Stimmen=Mehrheit für den Vorschlag zu, den er dem Rathe des älteren Freundes mit geziemender Bescheidenheit entgegenzustellen wagte, indem er das Bedenken äußerte, daß man wohl selbst das nahe Hasserode nicht mehr erreichen würde, ehe es zu regnen anfinge, und dabei die Hoffnung ausdrückte, es dürfe ein viel näherer sicherer Schutz gegen das, wahrscheinlich sehr bald vorübergehende, leichte Gewitter zu finden sein. Denn, sagte er, wenn mich meine Augen nicht trügen, so sahe ich vorhin die Thüre des Jagdhäuschens am Saufange geöffnet und unsern Freund, den Herrn Förster Immermann, in dasselbe hineingehen.

»Ja, ja,« bestätigte die Frau Archivarius, »das habe ich auch gesehen!«

»Aber,« wandte ihr Mann ein, indem er die Uhr herauszog, »es wird ohnehin sehr bald Zeit zu der Rückkehr werden, es ist gleich halb fünf Uhr.«

Ein stärkeres Rollen des Donners, welches halb nach einem leuchtenden Blitzstrahle folgte, hob inzwischen alle weiteren Bedenken, und der Archivarius folgte halb unbewußt und unwillkürlich der überwiegenden Neigung seiner Ehe=Hälfte und der ihr anhängenden Kinderschaar, welche sich sämmtlich mit eiligen Schritten nach dem nur einige hundert Schritte weiter hinaufliegenden und das Thal abschließenden Saufange wandten, wo das rothe Dach des Jagdhauses Schirm gegen den Platzregen verhieß, dessen Vortrab sich in einzelnen großen Tropfen, die herniederfielen, bereits eingestellt hatte.

Aus den raschen Schritten der Kinder, die selbst bei ihrer Verdoppelung doch denen der Erwachsenen kaum zu folgen vermochten, wurde bald ein völliger Wettlauf, wobei denn wieder das Alter zurückbleiben mußte. Doch kam noch eben zu rechter Zeit Alles unter Dach und Fach in dem Jagdhäuschen, dessen Thüre den Schutz suchenden Flüchtlingen von dem ihnen entgegenkommenden und sie freundlich willkommen heißenden Förster gastfreundlich so weit als möglich geöffnet ward.

Das Jagdhäuschen, welches von Niemand bewohnt wurde, und eigentlich nur bestimmt war, zum sicheren und bequemen Schießstande Behufs der Erlegung der im angränzenden Garten eingefangenen wilden Schweine zu dienen, war zwar eng und klein. Das im oberen Raume desselben befindliche Zimmer schien bei dem Eintritt der Flüchtlinge schon hinlänglich besetzt zu sein; denn die Frau Försterin bewirthete in demselben eine befreundete Familie, die der schöne Tag und die Volkssitte gleichfalls zum Besuche der Himmelpforte angelockt hatte. Aber da man eng zusammenrückte, so fand sich doch am Ende auf den an den Wänden des Zimmers umherlaufenden Pritschen und auf einigen Stühlen in der Mitte desselben noch Platz zum Sitzen für die ganze Gesellschaft. Ja, als in Kurzem der Regen rauschend herabfloß und noch mehr als ein Häufchen von der auf den Wiesen der Himmelpforte hie und da gelagerten Menge seine Zuflucht hierher nahm, so zeigte sich's, daß das Häuschen im Stande war, in dem Raume seines unteren Schießstandes, seiner kleinen Küche und seines Ein= und Ausgangs noch mehr als ein Dutzend von Menschen zu bergen, während sich noch manche Andere an der von dem Wetter abgekehrten äußeren Seite desselben, unter dem überragenden Dache, wenigstens einigermaßen gedeckt sahen.

Zum Glücke folgten nur noch sehr wenige Donnerschläge. Sonst hätte sich vielleicht der bedachtsame Herr Archivarius, der nicht mit Unrecht die Anhäufung so vieler Menschen im engen Raume, während des Gewitters, gefährlich fand, nicht abhalten lassen, sich mit seiner Familie lieber in das kalte Traufbad zu stürzen. Da sich aber die tröstliche Verheißung des Försters bewährte und das immer später eintretende und immer schwächer werdende Rollen des Donners bewies, daß das Gewitter vorüberzog, während das Rauschen des Regens noch anhielt, so nahm Vater Lehrwart die Gunst der Umstände wahr und unterbrach die trauliche Stille des auf den Regenguß lauschenden Kreises mit der an den Archivarius gerichteten Bitte, in Gemäßigkeit seines früheren Versprechens, jetzt die Geschichte des Klosters Himmelpforte zum Besten zu geben, wobei er bemerkte, daß er den ansehnlichen Zuwachs des Auditoriums, welches er sich zu Danke verpflichten werde, als eine Aufforderung mehr dazu ansehen müsse. Der Förster und mehrere der im Häuschen versammelten Leute, sowie sämmtliche Kinder unterstützten die Bitte des Predigers.

Der Archivarius sträubte sich zwar etwas dagegen, indem er die Besorgniß äußerte, daß seine Erzählung gegen den vorherigen Vortrag des Predigers zu sehr abstechen und desto trockener ausfallen werde, je mehr jener erbaulich gewesen sei. Indessen schlug ihn der Prediger mit der scherzhaften Gegenbemerkung, daß, wer eine nasse Salbung lieben sollte, ja nur hinauszugehen brauche, um sie zu finden. Dieß erregte allgemeines Gelächter. Der Archivarius wurde von dem Förster und Prediger mit vereinter sanfter Gewalt in die Mitte des Kreises gezogen und statt des Katheders auf den daselbst stehenden, schon vorher abgeräumten, handfesten eichenen Tisch gesetzt, worauf er denn nach einigem Räuspern erklärte, er sehe wohl, er müsse sich fügen, wolle es wenigstens in einer Hinsicht, nämlich der, der belobten Kürze, seinem Vorredner zuvorzuthun versuchen und übrigens seinem Vortrag nach der beliebten Weise des Herrn Prediger 3 Theile geben, indem er kürzlich erstlich die Geschichte der Entstehung, zweitens die des Bestehens und drittens die des Unterganges des Klosters Himmelpforte zu erzählen gedenke.

Er holte dabei die Uhr heraus und nahm sie in die Hand.

VIII.

»In dem Thale der Holtemme,« so hob der Archivarius seine Erzählung an, »wo jetzt der Fleckenort Hasserode=Friedrichsthal liegt, unweit der Wohnung unseres lieben Gastfreundes, des Herrn Försters Immermann, ganz nahe unterhalb der Böterschen Papiermühle am Fuße des Kellerberges, stand vor Zeiten die Burg der edlen Herren von Hartesrode. Ein kleines Dörfchen gleiches Namens, der nachher in Hasserode verwandelt wurde, lag um die Burg her. Die Ritter von Hartesrode, wenigstens die späteren Zweige dieses edlen Stammes, waren Vasallen oder Lehnsleute der Grafen von Wernigerode und zugleich Erbmarschälle des Bisthums Halberstadt, welche Würde bei der Erlöschung ihres Stammes auf die Herrn von Rössing überging. Sie führten Anfangs in ihrem Wappen das friedliche Zeichen eines Zweigleins mit 3 fünfblättrigen Blumen, welches nachher aber einem mehr kriegerischen Sinnbilde, dem eines Balkens mit Mauerzinnen wich. In dieser seiner späteren Gestalt ist ihr Wappen noch zu schauen neben dem Gräflichen und dem Stadtwappen an der Kanzeln der St. Nicolai=Kirche zu Wernigerode. Die letzteren Sprossen ihres Stammes liegen in dem von ihnen erbauten Grabgewölbe neben dem hohen Thore der St. Sylvestri=Kirche zu Wernigerode, welches nachher zum Gräflichen Erbbegräbnisse erwählt wurde, begraben. Von den ersten Zweigen ihres Stammes, die uns die urkundliche Geschichte nennt, weiß sie keine anderen Thaten, als friedliche Vermittelung und fromme Stiftungen, die sie machten, zu rühmen.

Sie waren es, welche den Grundraum zu der Kapelle des heiligen Blutes bei Wasserleben hergaben. Ihnen hatte auch das Kloster Himmelpforte seinen Ursprung zu danken.

Der Ritter Theodorich von Hartesrode war der Stifter desselben, höchst wahrscheinlich eben derselbe, der in einer Urkunde vom Jahre 1251 als Schiedsrichter einer Streitsache der Herren von Derenburg vorkommt, wo er aber Tiderikus von Hartesrode genannt wird. Die von ihm ausgestellte Stiftungsurkunde des Klosters Himmelpforte trägt die Jahreszahl 1253, hinsichtlich deren Richtigkeit indessen einige Zweifel obwalten.

Aus der Urkunde selbst geht übrigens deutlich hervor, daß die erste Ansiedelung der Brüder Einsiedler oder Eremiten nach der Regel des heiligen Augustinus in unserer Himmelpforte bereits vor dem Jahre 1236 erfolgte, also wenigstens 20 Jahre früher, als Papst Alexander IV. seine Reform des Augustiner=Ordens bewirkte. Die Urkunde sagt, daß die erste Anlage des Klosters Himmelpforte bereits zu den Zeiten des Bischofs Friedrich von Halberstadt, welcher 1236 starb, begonnen, daß die weitere Einrichtung desselben dann unter den Nachfolgern jenes, den Bischöfen Ludolph (I.), Meinhard und Ludolph (II.) und endlich unter dem Bischof Volrad fortgeführt sei. Der Ritter Theodorich von Hartesrode bestätigt in diesem Dokumente die Augustiner=Eremiten zur Himmelpforte in dem Besitze der ihnen von ihm verliehenen bereits urbar gemachten und noch nicht urbaren Ländereien, Triften, Waldungen, Bäche, Berge und Thäler, die in der Umgebung des von ihnen bewohnten Platzes, der sonst Elbingerothe geheißen habe, lägen und deren Gränzen er angiebt. Er erklärt, er habe diese Stiftung gemacht aus Ehrfurcht gegen unseren Heiland Jesum Christum und die allerheiligste Mutter desselben, zum Heil seiner Seele und der Seelen der Seinigen, mit Genehmigung des ehrwürdigen Bischofs von Halberstadt und mit Zustimmung seiner Söhne. Als Zeugen dessen werden unter anderem die mit unterschriebenen Grafen Gebhard und Friedrich von Wernigerode, die würdige Frau Heilewige von Hartesrode und deren Sohn Ritter Johannes angeführt. Aus einer anderen Urkunde erhellt, daß am 11. April 1257 der Marien=Altar der neuen Pflanzung zur Himmelpforte von Bischof Volrad von Halberstadt eingeweihet und zugleich mit einem Berge beschenkt ward, wie auch, daß damals der Ritter Theodorich von Hartesrode, der Stifter des Klosters, schon nicht mehr am Leben war.

Verschiedene spätere Urkunden beweisen, daß der Schutz des Klosters Himmelpforte mit dem Besitze der Stammburg der Herren von Hartesrode verknüpft blieb. Als einer der ersten Gönner und Beförderer des Klosters erscheint der Bischof Wilhelm von Münster, der im Jahre 1260 allen denen 40 tägigen Ablaß versprach, welche den Eremiten=Brüdern des Ordens St. Augustinus zur Himmelpforte im Halberstädtischen Sprengel Almosen mittheilen oder sonst hülfreiche Hand leisten würden. Erwerbsquellen dieser Art eröffneten sich nachher für das Kloster noch mehrere, da jenem Beispiele außer dem Bischofe und Churfürsten von Mainz, Werner von Epstein, der im Jahre 1267 ein Gleiches that und außer dem Erzbischofe Rudolph von Salzburg noch manche andere Bischöfe nachfolgten. Ueberdem kamen dem Kloster Himmelpforte natürlich auch alle diejenigen Vortheile zu Gute, welche dem Augustiner=Orden überhaupt zustanden, zu dessen Gunsten unter anderem der Papst Nicolaus IV. im Jahre 1289 verfügte, daß Alle einen hundertjährigen Ablaß erhalten sollten, welche an gewissen Festtagen zu den Klöstern und Kirchen der Augustiner wallfahrten würden.«

»Was war denn daß eigentlich: Ablaß?« fragte hier Julie, die jünste Tochter des Archivarius. Das laß dir, erwiederte ihr Vater, von dem Herrn Prediger sagen. Vater Lehrwart nahm darauf so das Wort.

»Ablaß, mein Kind, war eigentlich und ursprünglich nur so viel, als Erlassung derjenigen Bußen und Strafen, welche von der kirchlichen Obrigkeit auf solche Vergehungen gelegt wurden, deren sich billig jeder Christ schämen mußte und um deren willen der, der sie beging, eigentlich von der Gemeinde der Christen und von der Theilnahme am christlichen Gottesdienst hätte ausgeschlossen werden sollen, aber denn doch zugelassen wurde, wenn er zum Beweise, daß ihm seine Sünde aufrichtig leid sei, öffentlich Buße that, strengere Fasttage hielt, oder aber ein härenes Gewand trug oder nach dem gelobten Lande wallfahrtete, oder sonst etwas Schweres und Lästiges, was ihm aufgelegt wurde, unternahm. Solche Kirchenbußen oder Strafen konnten von dem Papste und von den einzelnen Bischöfen erlassen, oder doch gemildert werden und das hieß dann Ablaß. Mit der Zeit aber wurde aus dem Ablaß ein sehr schlimmes Ding. Nämlich es kam der Wahn auf, als könne man auch von Gott Vergebung seiner Sünde und Erlösung der Seele aus dem Fegefeuer d.h. aus ihrem qualvollen Zustande nach dem Tode erlangen, wenn man Kirchen und Klöster beschenkte und sich damit Ablaß erkaufte. Da wurde dann mit dem Ablaß ein für die Päpste sehr einträglicher, abscheulicher Handel getrieben.

Luther fing das Werk seiner Kirchenverbesserung eben damit an, daß er diesem abscheulichen Ablaßkrame entgegentrat, indem er sich öffentlich gegen denselben erklärte in den 95 Sätzen, die er an die Schloßkirche zu Wittenberg anschlug.«

Nun wißt ihr, was der Ablaß war, sagte hierauf der Archivarius, und ich kann in meiner Erzählung fortfahren.

Inzwischen benutzte die Frau Försterin die eingetretene augenblickliche Pause dazu, um dem Archivarius ein Glas zu reichen, welches mit dem vortrefflichen Maitrank gefüllt war, der aus Rheinwein, gegossen auf Waldmeister und andere in der Himmelpforte wachsende edle würzige Frühlingskräuter, bereitet wird, und ihn zu bitten, zu seiner Erquickung, nach der Weise der guten Brüder Eremiten des vormaligen Klosters Himmelpforte, erst einmal auf das ehrenwerte Gedächtnis der frommen Stifter und Schutzherren desselben, der edlen Ritter von Hasserode zu trinken. »Wer könnte,« sagte der Archivarius, »solcher Aufforderung widerstehen!« Ich verbinde aber mit dem von Ihnen mir vorgeschriebenen Toaste zugleich den dankbaren Lobspruch aller der würdigen Hausfrauen, die so milde und freigebig gesinnt sind, wie weiland Frau Heilewige, die edle Hälfte des Ritters Theodorich von Hartesrode! Es wurde darauf angestoßen mit so vielen Gläsern als derselben in der Saufangs=Eremitage mitgebracht waren und die im engen Kreise umgingen; aber auch manche von denen, die draußen standen und nichts zu trinken bekamen, riefen doch Vivat! mit.

IX.

Ehe nach diesem kurzweiligen Zwischenakt der Archivarius zu der Fortsetzung seiner Erzählung schritt, richtete der Vater Lehrwart an denselben die Frage: ob nicht eine alte Volkssitte der Wernigeröder, am Himmelfahrtsfeste die Himmelpforte zu besuchen, daher rührte, daß vor Zeiten an diesem Tage die Wallfahrt nach dem Kloster üblich gewesen und mit Ablaß belohnt sei? Der Archivarius aber entgegnete: Nein, mein Freund! So sehr sich auch diese Vermuthung hören ließe, so haben wir doch keinen geschichtlich urkundlichen Grund für dieselbe. Ich dächte, sagte der Prediger, ich hätte in Ihren eigenen vormaligen Mittheilungen über die Geschichte des Klosters Himmelpforte im Wochenblatte eine Andeutung davon gefunden? Das beruhet sicher auf einem Mßverständniß, versetzte der Archivarius, und zwar vermuthlich auf Mißverständniß der Erwähnung, daß der Papst Nicolaus IV. anno 1289 auf den Besuch der Augustiner=Kirche an manchen Festen Ablaß verheißen hatte, unter denen allerdings auch ein Himmelfahrtsfest genannt war, wobei aber Nota bene! nicht das Fest der Himmelfahrt Christi gemeint war, sondern das damals noch nicht lange aufgekommene Fest der angeblichen Himmelfahrt der Jungfrau Maria, welches den 15. August gefeiert wurde.

»Aha!« sagte der Prediger, »ich danke für die Bescheidung. Sollte sich aber nicht vielleicht dennoch annehmen lassen, daß aus den früheren Wallfahrten nach dem Kloster Himmelpforte am Tage der Himmelfahrt Mariä, die nachherige Sitte des Besuches seiner Stätte am Feste der Himmelfahrt Christi entstanden sei?« »Unmöglich wäre es freilich nicht,« entgegnete der Archivarius. »Indessen, mein Freund! Man kann sich nicht genug davor hüten, keine Mythen in die Geschichte einzuführen!« und fuhr demnächst in seiner Erzählung also fort.

Das anfängliche gute Gedeihen und rasche Wachsthum des Klosters Himmelpforte kann man daraus abnehmen, daß von dieser Pflanzung, als sie selber noch jung war, schon Ableger gemacht wurden.

Noch in dem Jahrhundert seiner Entstehung wurden von dem Kloster Himmelpforte zwei andere neu gestiftete Augustiner=Klöster, eines in Quedlinburg und eines in Helmstädt bevölkert. Mit der erstern Tochter kam aber die Mutter Himmelpforte bald in Streit über die Gränzen der Gebiete, innerhalb deren sie ihre Almosen einsammeln ließen. Dieser Streit wurde von dem Vikar des Provinzials des Augustiner=Ordens in Deutschland geschlichtet, welcher beiden Klöstern die Gränzen ihrer Distrikte bestimmte.

Wie einträglich dieses Terminiren sein mochte, läßt sich ohngefähr daraus ermessen, wenn man hört, daß den Brüdern der Himmelpforte dabei über Heimburg und Langenstein bis Erxstedt, Harsleben und Kloster=Gröningen zu geben erlaubt war. Auch beweisen manche noch vorhandene Urkunden über Ankäufe von Grundstücken, daß es dem Kloster nicht an Geld gefehlt haben müsse. Aber freilich erlitt das Kloster in den unruhigen Zeiten des 14. Jahrhunderts, wo das sogenannte Faustrecht mit der größten Tyrannei ausgeübt ward, auch wieder manche Verluste.

Zwar hatte schon Bischof Volrad von Halberstadt im Jahre 1284 den Bannfluch über diejenigen ausgesprochen, welche sich an der Person oder den Sachen derer, die nach der Himmelpforte wallfahrteten, vergriffen, oder das Kloster sonst gewaltsam beeinträchtigen würden. Aber daran kehrten sich die Herrn Raubritter wenig, zumal da auch für die Uebertretung eines solchen Verbotes leicht wieder Ablaß erkauft werden konnte.

Daher geschah es, daß gleich im Anfange des 14ten Jahrhunderts der gute Bruder Degenhard, ein herumreisender Almosen=Sammler unseres Klosters, als er der Himmelpforte eine schöne Ladung von wollenen Tüchern und anderen Sachen zuführen wollte, von einem Truchseß von Alvensleben und von den Gebrüdern von Romersleben überfallen, seiner Ladung sammt der Pferde beraubt und selbst gefangen genommen und auf ein Raubschloß fortgeschleppt wurde.

Auf eine noch viel ärgere Weise trieben es am Ende des 14ten Jahrhunderts die Grafen von Reinstein, die auf dem jetzigen Regensteine hausten, indem sie das Kloster Himmelpforte mit Raub und Brand überfielen und die friedlichen Mönche barbarisch schunden und plünderten.

Ei, sagte der Förster, unwillkührlich die Hand an den Hirschfänger legend, beschützten denn die guten Herrn von Hartesrode das Kloster nicht?

Vielleicht, entgegnete der Archivarius, waren sie dazu nicht mehr im Stande; wenigstens erhellt aus einer Urkunde von 1398 so viel, daß damals der letzte ihres Stammes bereits verstorben war.

Indessen nach ihrem Aussterben bestand doch ihre Stiftung noch länger als ein Jahrhundert im Segen fort.

Von der Bildung und Gelehrsamkeit, die in dem Kloster Himmelpforte in jenen, sonst so finsteren Zeiten herrschte, sind uns einige erfreuliche Zeugnisse übrig geblieben. Schon unter jenen Mönchen, welche von der Himmelpforte aus nach Quedlinburg verpflanzt wurden, war einer Namens Jordan gewesen, der nachher Professor der Theologie wurde und eine Menge von gelehrten Schriften hinterlassen hat. Ein Hauptgeschäft der Augustiner=Mönche überhaupt und derer in der Himmelpforte besonders war der Unterricht und die Erziehung der Jugend. Es gab damals keine öffentlichen Schulen außer in den Klöstern und Stiftern. Der Augustiner=Orden setzte seinen Ruhm nächst der Beredsamkeit seiner Prediger vorzüglich darein, gelehrte und würdige Zöglinge aufzuziehen. Die Zahl der Prediger, des Klosters Himmelpforte war auf zwölf festgestellt, die frühzeitig auch in der Stadt Wernigerode gewisse Predigten hielten. Unter anderem hatten sie des Sonntags Nachmittags in der Nicolai=Kirche zu predigen.

Ein ausgezeichneter Beweis von der Vorzüglichkeit der Schule der Himmelpforte ist der, daß in derselben der fromme, gottesfürchtige und gelehrte Graf Albert von Wernigerode von Kind auf erzogen war, der 1386 Domprobst und 1411 Bischof von Halberstadt wurde, das Bisthum 7 Jahre lang vortrefflich regierte, guten Frieden hielt und keine anderen Kriege führte außer gegen die Raubritter von der Harzburg und ihresgleichen. Dieser Bischof erwies sich denn auch, wie natürlich, aus schuldiger Dankbarkeit, dem Kloster Himmelpforte sehr günstig. Er war ein Bruder des letzten Grafen Henrich von Wernigerode, nach dessen im Jahre 1429 erfolgten Tode unsere Grafschaft durch einen Erbvertrag an das Haus Stolberg kam.

Bei dieser Erwähnung rief der Förster: »Vivat, das Haus Stolberg!« in welchen Ruf denn nebst der ganzen übrigen Gesellschaft auch der Archivarius freudig einstimmte, jedoch sogleich nach Ausleerung des ihm dargereichten Glases selber bat, ihn seine einmal angefangene Erzählung nun auch bis zu Ende bringen und wenigstens noch von der wichtigsten Hauptperson aus der Geschichte des Klosters Himmelpforte reden zu lassen.

Diese war ohne Zweifel, fuhr er rasch fort, da alsbald Alles mäuschenstill wurde, der berühmte Andreas Proles, der 1429 in Dresden geboren war, in Leipzig studierte, 1451 als Mönch in dem Kloster Himmelpforte eingekleidet wurde, 1456 zu der Würde eines Priors dieses Klosters und einige Jahre darauf zu der eines Provinzials des Augustiner=Ordens in Deutschland erhoben wurde, während er seinen Sitz in Himmelpforte beibehielt. Mehr als diese seine hohe Würde, worin er den edlen Staupitz, den väterlichen Freund und Gönner Luthers, zum Nachfolger hatte, gereicht dem Andreas Proles zum Nachruhme, daß er ein Zeuge der Wahrheit vor Luther und ein Vorläufer der Reformation zu heißen verdient. Er war ein Mann von exemplarischem Lebenswandel, ein gewaltiger Prediger, voll weitläufiger Wissenschaft, schrieb indessen nur wenig.

Er sah den Verfall der Religion und der Geistlichkeit zu seiner Zeit ein, forderte deren Verbesserung, erklärte freimüthig Hussens Verdammung für eine begangene hinterlistige Ungerechtigkeit und weissagte einen nahen Fall der päpstlichen Herrschaft. Obgleich er es dabei bewenden ließ und zu der Herbeiführung der gewünschten Verbesserung nicht selbst Hand ans Werk legte, weil er sich dazu für zu schwach und zu alt hielt, so hatte er sich über seine Meinungen und Gesinnungen doch so kräftig geäußert, daß er dadurch dem päpstlichen Stuhle verhaßt geworden war. Er pflegte zu seinen Augustinern zu sagen: O ihr Brüder, die Christenheit hat einer tapfern und großen Reformation nöthig und ich sehe schon, daß sie sehr nahe ist. Gott wird einen Held erwecken, der genug Jugend, Kräfte, Fleiß, Lehre, Gaben und Beredsamkeit haben wird; der soll die Reformation anfangen und den Irrthümern sich entgegen setzen. Dergleichen Aeußerungen waren nicht verborgen geblieben.

Schon hatte Proles einige Male nach Rom reisen müssen und hatte dabei das dortige Unwesen selbst angesehen. Auf einer neuen Reise dahin begriffen, ward er plötzlich in den Bann gethan und mußte, von Banditen und Meuchelmördern verfolgt, heimlich aus Welschland fliehen. Der Erzbischof von Magdeburg bewirkte seine Lossprechung, doch sollte er sich selbst in Rom stellen und sich verantworten. Im hohen Alter trat er zum vierten Male den Weg an. Unterwegs, an der Gränze von Deutschland, ließ ihn ein Kardinal durch einen geheimen Boten warnen, ja nicht nach Rom zu gehen. Er achtete den Rath, kehrte um, sah aber die Himmelpforte nicht wieder, sondern starb am 6. Juni 1503 in dem Kloster zu Kulmbach.

»Friede sei mit seiner Asche!« sprach in gerührtem, feierlichen Tone der Prediger. Ja, und mit dem Kloster Himmelpforte auch! fügte der Archivarius hinzu, denn von diesem habe ich nichts mehr zu erzählen, als die Geschichte seines traurigen Untergangs.

X.

Der Archivarius, der während seines Fluges durch ein Paar Jahrhunderte der Vorzeit die ängstliche Berechnung der Minuten der Gegenwart vergessen zu haben schien, indem er, vermuthlich unbewußt, die Uhr wieder eingesteckt hatte, nahm jetzt willig Einiges von den ihm angebotenen Erfrischungen an und fuhr dann zu erzählen fort.

Das Augustiner=Kloster zu Himmelpforte fiel, wie wir mit Wehmuth eingestehen müssen, als eines der unschuldigen Opfer der menschlichen Ungerechtigkeit, durch deren Beimischung das sonst so herrliche Werk der durch Luther herbeigeführten Kirchenverbesserung des 16ten Jahrhunderts befleckt und getrübt ward. Einer nicht unglaubhaften Ueberlieferung zufolge hatte das Kloster Himmelpforte diesen Mann Gottes 11 Jahr vorher, ehe er sein Reformationswerk anfing, im Jahr 1506 in seinen Mauern gesehen und der Jüngling hatte damals mit prophetischem Geiste dem Glanze, den er in dem Kloster zu Walkenried wahrgenommen hatte, sein nahes Erlöschen verkündigt. Diese Prophezeiung Luthers war in Erfüllung gegangen. Das Kloster Walkenried war eines der ersten gewesen, welches von den, die evangelische Freiheit so übel und so ganz gegen den Geist Luthers mißverstehenden und mißbrauchenden thüringischen Bauern, in dem von ihnen erregten Aufruhre, dem sogenannten Bauernkriege, unter Anführung des wüthenden Thomas Münzer, zerstört war. Ein gleiches Schicksal hatte bald darauf das Kloster Huysburg getroffen, welches am 9. Mai 1525 in Brand gesteckt wurde.

Auch die Klöster zu Ilsenburg, Drübeck und Wasserleben waren geplündert, während die Himmelpforte noch verschont geblieben war. Aber dafür erging es ihr dann desto schlimmer.

Es lebte damals in Wernigerode ein Barbier, Wilhelm Wiardes, gewöhnlich Wilhelm Barbier genannt. Dieser brachte in einer Frühlingsnacht des Jahres 1525, das Datum ist nicht genau bekannt, die friedlichen Bürger der Stadt in Aufruhr, indem er von einem Trommelschläger, den er sich zu verschaffen gewußt hatte, Lärm schlagen ließ und die versammelte Menge ermahnte, ihm gen Schauen zu folgen, wo damals ein großes, zu dem Kloster Walkenried gehöriges Gut war, die Inhaber zu verjagen, den Hof anzuzünden und was sie fänden, zu nehmen. Doch der Rath der Stadt ließ sogleich deren Thore verschließen und verhinderte dadurch die sofortige Ausführung dieses bösen Vorhabens.

Aber Wilhelm Barbier ruhete nicht; am andern Morgen stand er wieder am Platze und nun gelang es seiner Ueberredungskunst, sich Anhang zu einer näheren und leichteren Expedition zu verschaffen. Nach der nahen Himmelpforte ging der Zug, der unterwegs noch verstärkt ward. Man stürmte das Kloster, räumte aus Alles, was da war an jeglichem Vorrath, trieb Pferde, Kühe und Schweine fort, jeder nahm, was er kriegen konnte, endlich wurde das Kloster sammt der Kirche mit verwegener Hand in Brand gesteckt. Zwar fielen die Rädelsführer und mehrere von deren Gesellen in die Hände der Gerechtigkeit, kamen aber mit einer viel zu leichten Strafe davon. Wilhelm Barbier war zum Tode verurtheilt. Indessen die Fürbitte der Herzogin Elisabeth von Braunschweig, die damals gerade in Wernigerode anwesend war, vermochte den Grafen Botho dazu, die Strafe dahingehend zu mildern, daß er zu einer ewigen Verweisung aus dem Gräflich Stolbergischen Gebiete und 10 Meilen im Umkreise desselben verdammt wurde. Seine Gefährten kamen mit kurzer Haft und leichter Geldbuße davon.

Inzwischen hatten bei der Zerstörung des Klosters die Mönche ihr Heil in der Flucht gesucht, auch ihre Dokumente und einen Theil ihrer Habe gerettet. Der Sage nach sollen sie ihre Flucht zunächst in den über der Himmelpforte gelegenen Wald genommen und sich da an der Stelle gelagert haben, welche zum Andenken noch heute die Mönchenlagerstätte genannt wird und an einer prächtigen alten Buche kenntlich ist. Die Vernichtung des Klosters war nicht von der Art, daß eine Wiederherstellung desselben mittels des übrig gebliebenen Vermögens an Grundbesitz und ausstehenden Kapitalien unmöglich gewesen wäre. Es fehlte im Grunde wohl nur an Lust dazu. Der größere Theil der Mönche mochte sich seiner Erlösung von dem bisherigen Joche freuen. Besonders mochte dies bei dem damaligen Prior des Klosters selber der Fall sein.

Dieser hieß Hermann Inmann. Er gab sich gar keine Mühe, die Wiederherstellung des Klosters zu bewirken, was er sonst wohl vermocht hätte. Denn der schon erwähnte damalige Landesherr, Graf Botho der Glückselige, war ein eben so gerechter und billiger, als weiser und frommer Fürst, voll Großmuth und Milde, ein recht ächter Stolberger. Zwar konnte diesem an der Wiederherstellung des Klosters nichts gelegen sein, da er selbst ein Freund und Beförderer der Reformation war, und der veränderte Geist der Zeit brachte es mit sich, die Klöster als eine schändliche Last des Landes, oder wenigstens als unnützlich und überflüssig anzusehen. So ernstlich Graf Botho gewiß die frevelhafte Zerstörung der Klöster mißbilligte, so mochte er sich doch nicht berufen fühlen, die einmal eingegangenen wieder neu einzurichten. Aber was er nicht fördern mochte, wollte er darum nicht gerade hindern. Es geschah daher mit seiner Erlaubniß, daß einige Mönche des Klosters Himmelpforte, einen gewissen Gröning an ihrer Spitze, einen Versuch zu der Wiederherstellung des Klosters machten, der aber bald scheiterte, indem der Anführer selbst der erste war, der sich wieder entfernte. Nach Mißbilligung dieses Versuches aber traf Graf Botho, als natürlicher Erbherr des Klosters, solche Maßregeln, wie sie den Umständen angemessen erschienen. Er ließ zur Abfindung der jüngeren Mönche, welche die Freiheit, in die Welt zu gehen, benutzen wollten, einige Klostergüter und Verschreibungen aufnehmen und umsetzen, den älteren Mönchen dagegen sicherte er lebenslänglichen Unterhalt zu, während er den Prior Hermann Inman selbst noch besser bedachte, indem er ihn mit einigen Gütern des Klosters, unter anderem dem in der Stadt Wernigerode auf dem Klinte gelegenen sogenannten Mönchenhofe erbzinslich belehnte.

»Ach, entschuldigen Sie,« unterbrach hier der Förster dem Archivarius, »daß war wohl der nachher sogenannte Rektorhof, in dessen großem Garten wir uns als Schüler so oft getummelt haben und wo es als eine Probe des Muthes galt, wenn sich einer von uns recht weit in den dunkeln unterirdischen Gang hineinwagte, der nach der Himmelpforte geführt hat?«

»Haben soll!« verbesserte der Archivarius eilig, denn das ist für eine bloße Fabel zu achten, während allerdings die nachmalige Rektorei der vormalige Mönchenhoff war, der, als dem Kloster Himmelpforte angehörig, insofern mit demselben zusammenhing.

Nun, sagte der Förster, vergeben Sie nur, daß ich Sie störte. Hat nichts zu sagen! erwiederte der Archivarius. Doch wo bin ich nur stehen geblieben? Ja, um wieder auf den Prior Hermann Inmann zu kommen: derselbe heirathete bald nachher und hinterließ bei seinem Tode auch eine Tochter, Judith mit Namen. Ein unwillkürliches Niesen des Försters, der eben eine Priese genommen hatte, unterbrach hier noch einmal den Archivarius, der sich aber durch das dadurch veranlaßte Gelächter nicht weiter irre machen ließ, sondern ohne darauf Rücksicht zu nehmen fortfuhr: Die Verpflegung der noch übrigen 4 alten Mönche übernahm nachher, der Verfügung des Grafen Botho zufolge, der Magistrat zu Wernigerode gegen ein jährliches Kopfgeld, räumte ihnen zur gemeinschaftlichen Bewohnung ein hinter dem Thurme der Sylvestri-Kirche gelegenes Haus ein und erhielt dafür alle Obligationen und Zinsen den Klosters, welche letztere nach dem Aussterben der Mönche sammt deren Nachlaß den Armen anheim fallen sollten.

In den Ueberresten des Klosters Himmelpforte selbst wurde bald nach dessen Zerstörung eine Ziegelbrennerei angelegt, welche indessen wieder einging, nachdem sie die Ziegeln zum Wiederaufbau der im Jahr 1528 abgebrannten Stadt geliefert hatte. Später wurde sie noch einmal wieder hergestellt, aber gleichfalls ohne langen Bestand. Die Mauern wurden nachgerade abgebrochen und die Steine als Baumaterial zu anderweitiger Benutzung abgeführt. Der größte Rest derselben diente mit zum Wiederaufbau der Stadt nach dem Brande von 1751. Noch im Anfange unseres jetzigen Jahrhunderts fehlte es nicht an thörichten Menschen, welche den Grund und Boden der Himmelpforte durchwühlten, in der Hoffnung, Schätze, die hier von den Mönchen vergraben sein möchten, heben zu können. Es waren aber keine Schätze zu finden, aus dem Grunde, weil keine da waren.

Allerdings ein zureichender Grund! sagte der Prediger lachend, indem er dem Archivarius, der von seinem Thorne herabzusteigen suchte, hülfreiche Hand leistete. Aber, fuhr er fort, wer aus den Archiven, wo sie begraben liegen, solche Schätze interessanter und lehrreicher Geschichten unserer Vorzeit auf eine so geschickte Weise zu heben versteht, wie Sie es uns so eben gezeigt haben, werther Freund, dem gebührt mindestens unser Aller schönstes Lob und wärmster Dank dafür. - Ja wohl, ja wohl! stimmte die ganze Gesellschaft ein und umringte mit frohem Jubel den Archivarius, der sich indessen die Ohren zuhielt und sich durch das Gedränge hindurch arbeitete, um in das Freie zu kommen.

XI.

Kaum war der Archivarius aus der Thüre des Jagdhäuschens hinaus und ins Freie gekommen, als er mit einer Lebhaftigkeit, die bei seinem Alter und seinem sonst so ruhigen und gesetzten Wesen desto mehr auffallen mußte, ein Geschrei erhob, gleich einem Wachtposten, der die Mannschaft in das Gewehr ruft. Heraus! schrie er, heraus! Kinder heraus! Alles heraus!

Man dachte im ersten Augenblicke, es sei ihm irgend etwas Ungeheures begegnet. Den kleineren unter den Kindern schien ganz graulich zu Muthe zu werden. Eins mochte denken, es sei einer der alten Mönche erschienen, das andere, es gälte, sich einer wilden Sau zu erwehren. Aber ein jeder, der dem wiederholten Rufe des Archivarius folgte, sah im Augenblicke seines Heraustretens seinen Schrecken in ein frohes Erstaunen und Entzücken verwandelt.

Denn, - man rathe, was sich erblicken ließ! Ohne daß darauf geachtet war, hatte während der Erzählung des Archivarius der Regen allmählich aufgehört. Das von Süd=West gekommene Gewitter war über das Thal der Himmelpforte hinüber nach Nord=Osten gezogen. Da stand es noch gleich einer grauen Wand, oder die regnenden Wolken hingen vielmehr wie Aescherlaken auf die Erde hernieder. Aber jetzt sandte die sinkende Sonne von Westen her ihre letzten Strahlen über den waldigen Rücken der Berge herüber und malte mit denselben in den nassen dunklen Hintergrund jedes Vorhanges ein prächtiges 7 farbiges himmelhohes Gewölbe, welches gleich einer Brücke über den grünen Wiesengrund des Thales und das in demselben hinunterfließende von dem Regenguß aufgeschwollene Bächlein gespannt war.

Ach! Ach! O wie wunderschön! Welch' ein prächtiger Regenbogen! So riefen bei diesem Anblick voll Entzücken die Kinder. - Aber der Prediger sagte im Tone der Mißbilligung: Ei was! Regenbogen? Der Name kommt mir für das, was wir heute hier sehen zu ordinär vor! Weiß keins von Euch dafür einen besseren Namen zu finden? Himmelpforte! Himmelpforte! riefen Alle auf einmal. Getroffen! erwiederte Vater Lehrwart. Und - setzte er hinzu, weil ihr meine Meinung so gut errathen habt, so will ich euch auch noch ein kleines Lied dazu sagen, welches ich vor Zeiten einmal gelernt habe und hoffentlich noch kann. Es heißt:

Sehet da den Farbenbogen
Durch die Wolken hingezogen!
An der schönen Himmels=Pforte
Stehen sieben güldne Worte.

Jene sieben Farben deuten
Allen wahren Christenleuten,
Welchen Sinn sie haben sollen,
Wenn zu Gott sie kommen wollen.

Violett spricht: o Mensch senke
Demuthsvoll dein Haupt und denke:
Ach, was würde aus mir Armen,
Wäre bei Gott kein Erbarmen?

Blau kommt dann und heißt dich schauen
Gläubig himmelwärts und trauen
Dem, deß Wege höher gehen,
Als wir Menschen sie verstehen.

Purpur folgt und heischt: Erneue
Täglich deinen Bund der Treue
Gegen Ihn, der nie gebrochen,
Was Sein Wort dir hat versprochen!

Feuerroth ruft: o Mensch liebe
Gott mit glühend heißem Triebe,
Laß auch, Gotte zu gefallen,
Dein Herz für den Nächsten wallen!

Und Orange mahnt: halt' Frieden
Gern mit Jedermann hiernieden,
Brich oft deinen eignen Willen,
Lern' in Gott dein Herze füllen!

Lichtgelb räth dir, dich zu kleiden
In Geduld, bei Kreuz und Leiden,
Stetig harrend, daß am Ende
Gott zum Besten Alles wende.

Endlich sagt der grüne Schimmer:
Lieber Christ, verzage nimmer!
Den, der auf Ihn hofft auf Erden,
läßt Gott nie zu Schanden werden.

Merkt euch, Leutchen, diese Worte,
Die an seine Himmelspforte
Gott ließ durch die Sonne malen
Mit dem Bündel ihrer Strahlen.

Wird bei euch dieß Licht sich brechen
In der letzten Thräne - sprechen
Dann von euch, die hinterblieben:
"Heimgegangen sind die Lieben!"

Der Prediger schwieg. Jeder sah, voll Rührung, still vor sich hin. In den Augen der Kinder standen Thränen. Der himmlische Bogen war verschwunden. Die Sonne war hinter den Bergen im Rücken der Gesellschaft versunken. Der Archivarius drückte dem Vater Lehrwart herzlich die Hand und sagte: Nun, mein Freund, nun wollen auch wir heimgehen!

XII.

Die übrigen Wallfahrer der Himmelpforte waren sämmtlich schon fort. Auch die Gründlersche und Lehrwartsche Familie wollten sich von der des Försters dankbar verabschieden. Aber diese mit ihren frühern Gästen baten einstimmig so dringend, noch etwas länger in ihrer Gesellschaft zu bleiben und mit ihnen über Hasserode zurückzugehen, daß der Archivarius der erste war, der darein willigte, diesen Umweg zu wählen. Während die Frau Försterin im Jagdhäuschen aufräumte und die mitgebrachten Geräthschaften wieder einpackte, beeilte sich der gefällige Förster, den Kindern auf ihren Wunsch in der Geschwindigkeit noch die innere Einrichtung des Saufanges zu zeigen und ihnen die Art und Weise der Einkörnung der Thiere und ihrer Erlegung zu schildern. Dann wurde aufgebrochen. Ehe man den Wiesengrund des Thales der Himmelpforte verließ, machte der Förster die Kinder noch auf die hier nahe am Wege zahlreich zu findenden gelben Himmelschlüssel und, weiter hin, auf die am Waldrande blühenden blauen Hasselblümchen aufmerksam und sagte von den erstern, scherzhafter Weise, man könne sie als die Früchte der Aussaat betrachten, die von den Mönchen bei ihrer Flucht aus dem Kloster, wobei sie die Schlüssel desselben verloren hätten, ausgestreuet wäre. Von den Hasselblümchen dagegen ersann er in der Geschwindigkeit das artige Mährchen, daß von diesen einfachen, anspruchslosen Kindern der Natur der Name Hasserode und das ursprüngliche ächte Wappen der Ritter dieses Namens entlehnt sei. Weil sie das aber nachmals verläugnet und die Hasselblümchen aus ihrem Schilde ausgerodet hätten, so sei deshalb ihr Geschlecht so früh verblüht.

So ungehalten der Archivarius über diese Vermengung von Mythen mit wahrer Geschichte that, so wurden die launigen Einfälle des Försters dennoch von den Frauen belobt und die Kinder pflückten Himmelschlüssel und Hasselblumen in Menge, um sie zu einem Kranze zu verflechten. Durch eine kleine Waldstrecke führte der Fußpfad, den man eingeschlagen hatte, zu der sogenannten Kuhbreite, einer hochgelegenen weiten Wiesenfläche hinan. Hier wurde ein augenblicklicher Halt gemacht, um die liebliche Aussicht auf das noch durch den Abendschimmer hindurch blickende hehre Grafenschloß zu genießen. Während von jedem in der Gesellschaft im Geiste ein herzlicher segnender Abendgruß dahin gesandt ward, hatte der Förster unvermerkt aus dem Korbe der Magd, die das Geräth trug, das darin verborgen gewesene Waldhorn hervorgeholt und überraschte plötzliche die Gesellschaft mit dem schönen harmonischen Dreiklang, den ein mehrfaches Echo aus dem Walde erwiederte. Dadurch wurden die Kinder vollends gleichsam bezaubert und es hielt schwer, ihren immer erneuerten Wünschen nach einer öftern Wiederholung dieses Concertes sobald ein Ziel zu setzen, als es die zunehmende Dämmerung und die Weite des noch übrigen Weges erforderte. Auf einem sehr steilen Pfade an dem jähen Abhange des Kellerberges herunter, stieg man in das Thal hinab, in welchem die von dem starken Regengusse im Gebirge hochangeschwollene Holtemme brauste. Da sich dieselbe nun nicht wie sonst allenthalben leicht überschreiten ließ, so sah sich die Hasseröder Gesellschaft genöthigt, noch eine Strecke am linken Ufer derselben entlang mit den Städtern fortzugehen, bis zu dem schmalen Stege, der nahe dem Standorte der ehemaligen Burg und des nachmaligen Amtes von Hasserode über den Fluß führte. Diesen Steg bei der schon angebrochenen Dunkelheit zu überschreiten war für die Stadtkinder gefährlich. Hier trennte man sich also mit gegenseitigem herzlichem Danke und mit dem Wunsche bald einmal wieder zusammen zu treffen.

Unter ängstlichem Nachsehen der Städter kamen die Hasseröder, einer nach dem andern, glücklich hinüber und riefen von jenseit jenen, die ihren Weg auf dem linken Ufer des Flusses fortsetzten, den Wunsch einer guten Nacht nach.

Die noch übrige Strecke der Wanderung hinter dem Flecken Hasserode=Friedrichsthal das Thal entlang bis zu der Stadt verkürzte der Archivarius dadurch, daß er erzählte, wie nach dem Aussterben des Geschlechtes der Herren von Hasserode die Stammburg derselben mit ihrem Gebiete den Lehnsherren, den Grafen von Wernigerode anheimfiel, wie der letzte von diesen sie Anfangs der Stadt Wernigerode verpfändete, dann als Lehn überließ; wie von ihr jedoch zur Zeit der Reformation dieses Besitzthum vernachlässigt, die Pfarrkirche des alten Hasserode eingezogen und der Nikolai=Pfarre zu Wernigerode einverleibt wurde; wie späterhin die Burg zu Hasseorde der Sitz eines Königl. Preuß. Amtes ward und wie dieß dann zu der Stiftung eines reformierten Gottesdienstes, einer Kirche und dann selbst zu der Anlage der Colonie Friedrichsthal die Veranlassung hergab.

Ehe man sich dessen versah, war man am Westernthore angelangt, wo beide Familien Abschied von einander nahmen, indem die eine wieder in dieses Thor einging, während die andere den Weg nach dem Johannisthore einschlug.

Bei der Rückkehr in das Haus dankten die Lehrwartschen Kinder der Tante und dem Vater mit der innigsten Zärtlichkeit für das gehabte, große Vergnügen. Väterchen, sagte die kleine Sophie, laß uns doch übers Jahr ja wieder nach der Himmelpforte gehen! Vater Lehrwart sagte: Wir wollen sehen! Indessen wollen wir uns heute nicht schlafen legen, liebe Kinder, ohne uns noch dazu ermuntert zu haben, schon mit dem morgendlichen Tage wieder den Gang anzutreten, zu dessen täglicher, freudiger, beharrlicher und unermüdet geduldiger Fortsetzung uns die Feier des heutigen festlichen Tages hat Lust machen sollen, nämlich den Wandel in der Nachfolge unseres Heilandes, der in den Himmel einhergegangen und zu der Rechten Gottes erhöhet ist. Lasset und noch gemeinsam singen:

Er bringt und an die Pforten,
Die in den Himmel führt,
Daran mit güldnen Worten
Der Reim gelesen wird:
"Wer dort wird mit verhöhnt,
Wird hier auch mit gekrönt;
Wer dort mit Sterben geht,
Wird hier auch mit erhöht."

Nun: »Gute Nacht!«

Hinweise zu diesem eBook

Titel: Der Gang nach der Himmelpforte
Autor: Ferdinand Friederich (1798-1873), Pastor zu Ilsenburg
Erschienen in Wernigerode, 1851 (Druck von B. Angerstein)
Digitalisiert durch die ULB Sachsen-Anhalt, 2009
Open-Access-Publikation, Public Domain Mark
DOI: 10.25673/86636
URN: urn:nbn:de:gbv:3.3-7134

Transkribiert von Christian Reinboth, 2024
(unter Beibehaltung der Orthografie des Originals)

Anmerkungen zur Transkription

Der vorliegende Text wurde anhand der 1851 erschienenen und durch die ULB Sachsen-Anhalt digitalisierten Buchausgabe so weit wie möglich originalgetreu wiedergegeben. Ungewöhnliche und altertümliche Ausdrücke (z.B. ‚tapfern‘, ‚Rathschlusse‘, ‚Irrthum‘, ‚sämmtliche‘ oder Kopplungen mit ‚=‘ wie ‚Augustiner=Eremiten‘) wurden beibehalten, sofern die Verständlichkeit durch diese nicht beeinträchtigt wird. Inkonsistente Schreibweisen (z.B. erwidern/erwiedern; gelegentliche Verwendung von Apostrophen vor dem ‚Plural-s‘) wurden ebenfalls nicht vereinheitlicht.