Title: Kentaurenliebe. Die Toteninsel
Zwei antike Novellen
Author: Richard Voss
Release date: June 11, 2024 [eBook #73808]
Language: German
Original publication: Leipzig: Verlag von Philipp Reclam jun
Credits: Alpo Tiilikka and the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net
Anmerkungen zur Transkription
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Zwei antike Novellen
von
Richard Voß.
Leipzig
Druck und Verlag von Philipp Reclam jun.
[S. 3]
Der antike Spuk einer römischen Frühlingsnacht.
Ein später Karneval war's dieses Jahr. Die Römer konnten den Anfang der großen Narretei kaum erwarten; feierten sie doch, uraltem Brauch gemäß, nur die letzten zehn Tage der tollen Zeit. Zwar war der Mensch zu allen Zeiten des Jahres närrisch. Und närrisch war das Leben, also närrisch die Welt, die für lächelnde Optimisten der Welten beste bedeutet. Sie sei es! Eine närrische Welt bleibt sie trotzdem.
Deshalb bedarf die Menschheit im Jahre eine Reihe von Tagen, wo sie ihr tiefstes und wahrstes Wesen offen zur Schau tragen, sich wohlgefällig die Narrenkappe aufsetzen und lustig mit den Schellen rasseln kann; einer Reihe von Tagen, wo sie mit »wenig Witz und viel Behagen« je nach Wahl Harlekin, Pulcinell, Bajazzo, eben — Narr sein darf: so recht nach Herzenslust und innerster Natur. Und gerade dieses Jahr fiel die letzte Faschingswoche erst spät in den März hinein!
Es ward bereits Frühling. Auf der Pinienwiese der Villa Doria Pamfili pflückten Römer und Fremdlinge die letzten blühenden Edelsteine: die lieben bunten Anemonen; die ganze Villa Borghese duftete nach Veilchen; den Pincio vergoldeten Beete gelber Tazetten,[S. 4] und von Santa Prisca aus schweifte der Blick über das weiße Gewölk der Mandelblüte. Dazu jubilierten hoch in den Lüften die Campagnalerchen und die Amseln begannen zu flöten: leise, zarte Weisen, die ersten Minnelieder der verliebten Frühlingswelt. Denn Lenz und Liebe gehören nun einmal zusammen.
Endlich konnte die Narrheit losbrechen! Das Volk der Romulusenkel behängte sich mit bunten Lappen und billigem Flitter, begnügte sich mit dem Phantasielosesten und Ärmlichsten, machte sich Kronen aus Schaumgold und Staatsgewänder aus Bettüchern. Es tollte durch den Korso, tanzte Saltarello auf Treppen und Plätzen, schleuderte sich Sträuße weißblühenden Campagnaunkrauts (mazzetti) und Mengen kleiner steinharter Gipskugeln (confetti) ins Gesicht; es heulte und johlte, und nannte das Feste feiern ...
Bis in den christlichen Himmel hinauf drang der Heidenlärm römischer Volkslust und erfüllte die Heerscharen der Seligen und Heiligen mit heftigem Unwillen. Die lieben bausbäckigen Engelknaben drängten sich in hellen Haufen zu den Wolkenvorhängen, wollten sie heimlich aufheben und neugierig hinabspähen: »was da unten wieder einmal los sei?« Sie wurden jedoch von den zürnenden Cherubimen fortgeschickt, und mußten nun Hymnen absingen: teils zur Strafe; teils, um den Ärgernis erregenden Erdenspektakel durch fromme Weisen zu übertönen. Obgleich sich die Kleinen schier heiser sangen, gelang ihnen das doch nicht; und wieder und wieder schallte vom Tiberstrand ein Laut überlustiger Erdenfreude zu den seligen Höhen empor.
»Warte, Gesindel! Auf Faschingsdienstag folgt Aschermittwoch! Der wird euch Mores lehren —«[S. 5] trösteten sich die gekränkten Himmlischen nicht ohne heimliche Schadenfreude über die gute christliche Einrichtung des großen grauen Bußtags nach all der höllischen Weltlichkeit.
In dem Berge Cavo, dem hochheiligen Mons Albanus der Alten, der sich wie ein Monument der Erdenschönheit über die Campagna Roms erhebt, hausten die neun Musen.
Seitdem Rom und Griechenland offiziell das Christentum angenommen hatten, hielten sich die hehren Heidinnen im tiefsten Innern des klassischen Waldgebirges verborgen, welches sie jedoch auf höheren Befehl jeden Abend und Morgen verlassen mußten. Sant' Agnese und Santa Caecilia hatten gemeinschaftlich mit den holdesten Worten auf das Eindringlichste versucht, sie zu bereden, sich taufen zu lassen. Aber die neun Jungfrauen wollten ihrem leuchtenden Gott getreu bleiben und erklärten: lieber Märtyrerinnen zu werden als Christinnen. Sie wären sicher zum ewigen Inferno verdammt worden, hätte die süße Madonna als Mutter aller Gnaden für sie bei ihrem lieben Sohne nicht eine gar bewegliche Fürbitte getan. So ward ihnen denn jenes Asyl gewährt, doch unter der Bedingung, sich dafür dankbar zu erweisen. Jeden Abend und jeden Morgen mußten sie von dem Gipfel des Berges aus über das römische Land die Purpurteppiche breiten, die sie in ihrem Refugium an uralten Webestühlen wirkten. Auf solche Weise überdauerten sie in ewiger Jugend die Jahrtausende, webten römisches Morgen- und Abendrot und nährten sich von den Erinnerungen an eine Zeit, da die Erde noch von frohen Gottheiten bewohnt[S. 6] ward, strahlende Tempel sich erhoben und Apoll zur Freude der Menschen und Götter die Schar seiner Jungfrauen anführte. Die neun Verbannten nannten jene längst verschwundenen Tage mit einem schmerzlichen Seufzer: »das goldene Zeitalter«. Ihrem Urteil war freilich nicht sehr zu trauen.
Eines schönen Märzabends begab es sich, daß sie, nachdem sie sorgfältig für eine besonders glühende Beleuchtung gesorgt hatten, zauderten, sogleich in die dunklen Tiefen wieder niederzusteigen. Es versprach eine leuchtende Vollmondnacht zu geben und die Neun hatten eine solche seit länger als einem Jahrtausend nicht erlebt. Auch hätten sie gern einmal nachgesehen: was wohl eigentlich aus dem Tempel des Jupiter Latialis geworden sei, wozu sie sich noch niemals Zeit gelassen — so eilig hatten es die Guten stets gehabt, wieder nach Hause und an ihre Webearbeit zu kommen. Denn nachts mußten sie für den nächsten Tag die Morgenröte wirken — wie sie über Tag nur knapp mit dem Abendrot fertig wurden. Deshalb war die himmlische Illumination über Rom nicht immer gleich herrlich an Gluten und Glanz.
Unter Anführung der feierlichen Urania nahten sich Apolls Hofdamen a. D. den gewaltigen Rüstern, hinter denen die Mauern von Latiums ältestem Heiligtum lagen. Noch waren hier oben Wipfel und Zweige winterlich grau; denn der Lenz begann sein blühendes Wesen erst in der Tiefe zu treiben. Er kroch gar langsam und mühselig den hohen Berg hinan, den er dann freilich in eine Pyramide von Blüten: von[S. 7] Veilchen und Tazetten, von wilden Päonien und Orchideen verwandelte und mit Chören von Nachtigallen bevölkerte. Die Schönen hatten den Ort beinahe erreicht, als sie mit leisem Schreckensruf wie gebannt stehen blieben: als große blutrote Scheibe stieg über den Gipfeln der volle Mond auf; und von diesem mystischen Hintergrund hob sich, hoch und schwarz, ein Kreuz ab.
Wo Latiums erhabenster Gott einst seine Stätte gehabt, befand sich ein Kloster der Passionisten, aus den Trümmern des Tempels erbaut.
Die Jungfrauen entwichen ... Dann sprachen sie untereinander: »Vielleicht lebt von unseren Göttern doch noch der eine oder der andere? Es ist nicht möglich, daß alle gestorben sein sollten! Irgendwo erhebt sich gewiß noch ein Altar, darauf wir opfern, eine Bildsäule, zu der wir flehende Hände erheben dürfen. Laßt uns daher in dieser Mondnacht ausziehen und nach einem der Götter Roms und Griechenlands suchen!«
Also wandten sie sich und hielten Umschau nach einem Wege in die Tiefe der Waldungen hinab, die den Berg einhüllten. Ihnen zu Füßen blitzte es geheimnisvoll auf. Es waren die Kraterseen von Albano und Nemi; auf deren dunkler Flut Luna ihre Strahlen warf. Sie wirkte auch um jede der neun fleißigen Weberinnen ein Gewand aus Silberglanz. Denn der antike Faltenwurf, der ihre hohen und schlanken Gestalten gar feierlich umwallte, war während der Jahrtausende denn doch etwas abgetragen, so daß die Herrlichen ziemlich schäbig gekleidet einhergingen. Nun aber umleuchtete sie himmlische Glorie; nicht anders, als gehörten sie zu der Schar höchster christlicher Heiligen, die zur Rechten des Gekreuzigten thronten.
[S. 8]
Sie fanden die Straße, die abwärts führte. Es war die uralte Via triumphalis, darauf einstmals bei den latinischen Festen die Völkerschaften in Prozessionen den Mons Albanus emporgezogen kamen: aus dem Hain der Ferentina, dem Tal von Ariccia und von Rom her. Nicht nur Priester und fromme Waller taten die Pilgerschaft, sondern auch siegreiche Feldherren mit Öllaub bekränzt.
Als die unsterblichen Schwestern diesen Weg in dem aufsprießenden Buschwerk entdeckten, überkam sie eine heilige Freude; denn er führte sicher einem Tempel, also einer Gottheit zu! Das schwarze Lavapflaster säumten zu beiden Seiten weiße und blaue Anemonen und purpurblütige Zyklamen. Von diesem römischen Lenz pflückten die Leuchtenden eifrig und flochten Gewinde, mit welchen sie das Standbild eines — vielleicht durch Zufall — übriggebliebenen Gottes schmücken wollten. Auch ihre eigenen Stirnen kränzten sie, was seit ihrer Verbannung nicht mehr geschehen war.
Als sie auf ihrem Haupt die frischen Blüten fühlten, ergriff die Huldinnen heiße Sehnsucht nach der Schönheit der Welt, die sie hatten verlassen müssen, und die in immer neuer Herrlichkeit geblieben war, mochten Zeiten und Götter kommen und weichen. Zu dreien faßten sie sich bei der Hand, stiegen tiefer und tiefer hinab, schritten weiter und weiter in den Mondglanz hinein, davon sie selber Strahlen zu sein schienen.
Sie erkannten die Gegend: den Hain der Diana von Ariccia. Die Wipfel wölbten über ihren bekränzten Häuptern feierliche Kuppeln, welche die moosigen mondbeschienenen Stämme als Säulen aus Smaragd stützten; und durch das Laubwerk der niederhängenden Äste schimmerte aus der Tiefe eine kreisrunde Silberfläche:[S. 9] der Spiegel der keuschen Schwester des leuchtenden Gottes, von den Christen dieser Tage in rohem Verkennen lago di Nemi genannt.
Aber vergeblich schauten die neun nach dem zierlichen Rundtempel aus, der sich einstmals auf einem Felsenvorsprung des hohen Uferrandes erhob; vergeblich lauschten sie auf den Gesang der jungfräulichen Priesterinnen. Auch die wunderbaren Schiffe der Kaiser Tiberius und Caligula konnten sie nirgends erspähen; und als sie über die Narzissenflur schritten, darauf sie manche Frühlingsnacht heimlicherweise die Adonisfeier begangen hatten, umfing sie eine Einsamkeit, als wären von allem Göttlichen des schönheitstrunkenen, heiteren Heidentums nur sie übriggeblieben.
Doch hofften sie noch immer zu finden, was zu suchen sie ausgingen. Also eilten sie weiter und weiter.
Auf der Via Appia antica schritten sie schwebend dahin. Der Saum ihrer Strahlengewänder streifte die schwärzlichen Lavasteine und ihre Füße, die bisweilen den Boden berührten, spürten die tief in das harte Gestein gegrabenen Spuren der Wagenräder aus den Zeiten, da auf dieser Straße ein Gewimmel aller Völkerschaften der Erde Rom zudrängten, dem goldenen, dem ewigen Rom (Roma eterna)! War aber Rom ewig, so mußten die Suchenden in Rom auch die »ewigen« Götter finden.
Grabmale zur Rechten, zur Linken: die traurigen Ruinen der einstmals gleichfalls für die Ewigkeit errichteten Totenpaläste. Zur Rechten, zur Linken gestürzte Säulen, zertrümmerte Sarkophage, gebrochene,[S. 10] einstmals herrliche Marmorleiber. Dazu Öde ringsum; Schweigen des Todes in den Lüften ...
Vor den Schreitenden, den Schwebenden, ein langgezogener Lichtstreif, hoch in den Horizont hinaufsteigend, als stünde der Himmel in Flammen. Dort, vor ihnen, lag Rom. Ganz Rom mußte in Flammen stehen! Schon einmal hatten die hohen Jungfrauen Rom brennen sehen — da der ruchlose Sohn der kaum minder verruchten Agrippina über Rom herrschte. Als Nero im Anblick der lodernden Stadt im Gewande Apolls, die Strahlenkrone auf dem Haupt, zur Leier den Brand Trojas besang, waren sie zürnend entwichen: hinauf nach Tusculum; und sie hatten die Stätte der Gotteslästerung lange gemieden. Heute nun eilten sie dem brennenden Rom entgegen, getrieben von einem Gedanken, der sie hinzog wie eine geheimnisvolle Gewalt: »Wenn noch Götter sind, so müssen sie in Rom zu finden sein!«
Sie langten an. Aber — war das Rom? Das! Wo waren die Tempel, die Basiliken, die Portiken, die Altäre, die Bildnisse in Marmor und Erz? Die Bildnisse von Göttern und Helden!
Versunken, verschwunden ...
Hier eine Ruine, dort eine Ruine; ein Trümmerstück hier und dort. Sonst nichts — nichts — nichts! Alles und alles versunken, verschwunden, als wäre es niemals gewesen.
Aus weitoffenen, erschrockenen Augen schauten die armen Himmlischen um sich; eng drängten sie sich aneinander. Doch auch jetzt noch flüsterten sie sich zu: »Wir wollen suchen! Wir müssen finden! Nicht alle unserer ewigen Götter können tot und begraben sein!«
Und sie suchten.
[S. 11]
Eine bunte Menge drängte sich durch Roms Straßen und über Roms Plätze: Narren, Narren! Plötzlich entstand ein Zusammenlauf. Es entstand tobendes Gelächter und Geschrei wie von Besessenen: »Die Masken! Seht, die Masken! ... Wer sind sie? ... Keine echten Närrinnen! ... Seht doch, seht! Die Dämchen wollen uns wohl klassisch kommen? Antik? Als ›Musen‹ haben sie sich verkleidet! ... Seht nur: als Musen! Vornehm wollen sie tun! ... Was werden sie sein? ... Hetären, Dirnen! ... Seht, seht, seht!«
Schwärme von Harlekins und Kolumbinen umrasten die hohen Frauenwesen, die nicht wußten, wie ihnen geschah; die aus dem Gewühl nicht fliehen konnten, sich nicht zu retten vermochten. Das hatten sie nun von ihrer heißen Sehnsucht nach Göttern.
Die Weiber trieben es am ärgsten. Sie verhöhnten die wundersamen Erscheinungen, beschimpften sie, daß sie etwas so ganz anderes vorstellen wollten, als sie selbst waren. Sie lachten ihnen ins Gesicht, zerrten sie an ihren aus Mondglanz gewebten Gewändern. Die Römer dagegen fanden die fremden Frauen wohl schön; sie waren ihnen jedoch zu feierlich und hehr. Auch wagten sie aus Furcht vor den eifersüchtigen Römerinnen nicht laut zu bewundern, stimmten daher ein in den wüsten Lärm. Sie bliesen greulich auf blechernen Trompeten, schwangen mit Luft gefüllte Schweinsblasen, schrien durch die Straßen: »Die Musen sind wieder da! Alle neun! ... Was wollen sie wohl bei uns? Als ob wir sie brauchten? In unserer Zeit die Musen! ... Hinweg mit ihnen! Dirnen wollen wir haben! ... Reißt ihnen die Masken[S. 12] ab, damit wir ihr wahres Gesicht sehen. Denn ihre Göttlichkeit haben sie sich aufgeschminkt! Es gibt auf Erden keine Göttlichkeit mehr!«
Gerade, als die Entsetzten sich in den ärgsten Nöten befanden, kam unerwartet Hilfe. Eine Reihe seltsam aufgeputzter Karren zog die Aufmerksamkeit des Volks von ihnen ab. Als Galeerensträflinge kostümierte Männer: blühende Jünglinge und welke Greise, zogen die bunten Wagen. Sie trugen blutrote Kleider, hatten blutrote Narrenkappen auf, an Händen und Füßen klirrten blecherne Ketten. In den Karren aber befanden sich käufliche Weiber mit nackten Armen und entblößten Brüsten, Bacchantinnen vorstellend. Jede führte eine Geißel, mit der sie auf die Menge einhieb. Diese heulte auf vor Entzücken. Männer und Frauen stießen einander unter die Räder, um von den Schamlosen gegeißelt zu werden.
An die Gefährtinnen Apolls dachte keine Seele mehr. Trunken vor Tollheit bereiteten die Fastnachtsnarren den Königinnen des römischen Karnevals einen Siegeszug durch die ewige Stadt ... Die Neun entwichen der allgemeinen Orgie, gelangten in eine dunkle Gasse, wo es einsam war, standen nahe beieinander und wollten anheben laut zu klagen, wie schlecht es ihnen auf Erden erging. Thalia jedoch sprach begütigend: »Sie reden nicht mehr unsere Sprache, haben sie längst vergessen — wie auch uns selbst. Also können sie uns nicht verstehen. Ihr Lieben — laßt uns daher in Frieden weiter schreiten und voller Hoffnung weiter suchen. Gewiß werden wir doch noch Götter finden!«
So geschah es denn auch ... Es blieb in diesen Teilen der Stadt menschenleer, daß so sie ungehindert[S. 13] ihres Wegs wandeln konnten, von dem sie nicht wußten, wohin er sie führte. Sie kamen an hohen und prächtigen Gebäuden vorüber, deren Pforten weit offen standen. In viele dieser Häuser traten sie ein, in vielen erkannten sie bei dem Mondesleuchten, das sie verbreiteten, die Säulen ihrer Tempel; und in allen wohnte der bleiche, blutige Christenheiland, der dornengekrönte, gekreuzigte Sieger über die glückseligen Götter. Sie aber wandten sich schaudernd ab, und fuhren fort nach einer Gottheit zu suchen, von deren Wesen sie ein Teil waren.
An mancher Hauswand, mancher Straßenecke befand sich das Bildnis einer Frau, darunter ein mattes Lichtlein glühte. Immer war es dasselbe unsäglich traurige Antlitz. Einige Male war die Brust der Schmerzensreichen von Schwertern durchbohrt und ihre Augen weinten blutige Tränen. Von Mitleid ergriffen, blieben die Musen vor Maria stehen. Sie erkannten ihre hohe Fürbitterin; und diese und jene nahm sich den Frühlingskranz vom Haupt und legte den blühenden Schmuck schweigend bei dem blassen Bildnisse nieder. Da war es, als ob die leidensvollen Lippen der Gottesgebärerin ein leises, ganz leises Lächeln umspielte.
Weiter schritten sie, und betraten eine breite Straße. Auch hier war es einsam. Aus der Ferne drang der Karnevalslärm zu den Wandelnden herüber wie das Rauschen eines Meeres von Stimmen und Tönen. Zwischen zwei Reihen von Palästen ging es allmählich hinan, einer festlichen Treppe zu, inmitten von weißblühendem Buschwerk, dunklem Lorbeer und feierlichen[S. 14] Palmen. Gleich weißen Rosen lagen die Mondesstrahlen auf den Marmorstufen.
Langsam stiegen die heiligen Neun zur Höhe empor. Auf dieser umfingen Säulenhallen ein ehernes, im Mondglanz wie Silber leuchtendes Reiterstandbild, bei dessen Anblick den schönen Heidinnen etwas leichter um die beschwerten Gemüter ward; und plötzlich rief die eine — es war Jungfrau Clio — mit fast fröhlicher Stimme und Miene: »Das ist ja unser lieber Marc Aurel!«
Da echoten alle im Chorus: »Ei, das ist ja unser lieber Kaiser Marc Aurel!«
Doch dann sprachen sie untereinander: »Eigentlich ist er gar nicht unser lieber Kaiser! Denn eigentlich hat er sich aus uns herzlich wenig gemacht. Das kam von seiner großen Gelehrsamkeit. Bei solchen gelehrten hohen Herren geht es unsereins nicht allzugut. Auch wir wollen mit ihnen nichts zu schaffen haben. Immerhin, wenn man so verlassen und verloren ist, wie wir Armen, freut man sich einem alten Bekannten zu begegnen.«
Und nun hielten sie vor dem Kaiserbildnis ein kleines behagliches Schwätzchen, welches sie derartig erfrischte, als wäre ihnen auf dem kapitolinischen Hügel von dem freundlichen Knaben Ganymedes eigenhändig eine Schale Nektars kredenzt worden ...
Wie sie hineingelangten, wußten sie schließlich selbst nicht. Genug, sie gelangten hinein! Vor ihnen öffnete sich Saal auf Saal; und jeden Saal füllte ein bleiches stummes Marmorvolk, eine wahre Heerschar olympischer Gestalten. Die schneeigen Glieder umflossen die Mondstrahlen, daß sie in unirdischer Verklärung erglänzten; aber sie standen regungslos und blaß wie[S. 15] Gestorbene. Es waren die Bilder ihrer höchsten Götter und Göttinnen, nebst allen heidnischen Sippen: Faune und Satyre, Nymphen und Kentauren; dazu Amazonen, Heroen, Epheben. Auch Antinous neigte sein junges Haupt mit einem Ausdruck unsäglicher Trauer; und sämtliche Weisen Griechenlands waren wie zu einem Kongresse versammelt.
Die Musen eilten von einer Statue zur anderen, schauten und staunten, grüßten die Marmorbilder, nickten ihnen zu, sprachen zu ihnen, erhielten keine Antwort, klagten, weil sie starr und stumm blieben: empfindungsloser leuchtender Stein.
Wie aber ward den guten Jungfrauen zumute, als sie ihren eigenen Gott und Herrn, Apollon Musagetos, erblickten: in wallendem, feierlichem Gewande, bekränzten Hauptes, im Arm die Leier, deren Saiten einstmals Melodien entströmten von Ewigkeitsklang. Fühlloser Stein auch er! Die Seinen umringten die göttliche Gestalt, schauten dem Herrlichen in das emporgehobene strahlende Antlitz, riefen leise, leise seinen Namen, daß es wie ein erstickter Jammerlaut durch die prächtigen Hallen und die Reihen der schimmernden Regungslosen schallte.
Nachdem dieses schmerzliche Wesen eine Weile gedauert hatte, trat eine der Musen vor. Es war die Jüngste, ein zierliches zartes Geschöpf, an Schlankheit einer Blume gleich: einer weißen Lilie. Denn so bleich leuchteten durch die veilchenblauen, vom Mondlicht getränkten Schleiergewebe die Glieder; und das liebliche Antlitz, daraus große dunkle Augen strahlten, hatte die Farbe matten Elfenbeins.
Terpsichore war's ... Was sie jetzt begann, war wie ein Opfer, welches das feine Wesen ihrem Meister[S. 16] vor dessen Standbild darbrachte. Sie hob einen Reigen an. In wundersamem und wundervollem Rhythmus bewegte sie sich, daß die ganze jugendliche Gestalt zu einem klanglosen Wohllaut, einer stummen Melodie ward; ihr Tanz zu einem Liede, einem Hymnus.
Plötzlich ergriff es auch die ernsthafteren Schwestern. Sie faßten sich bei den Händen, ließen sich wieder, suchten sich von neuem, neigten sich, beugten sich, erhoben Haupt und Arme. Selbst die gewaltige Melpomene ließ sich herab, an der anmutigen Huldigung teilzunehmen. Freilich behielt ihr erhabenes Antlitz seinen Ausdruck düsterer Majestät und ihr schmerzlicher Mund blieb fest geschlossen, wo sich doch sogar die großartige Dame Clio himmlisch bewegt zeigte.
Die Huldigung der neun Musen vor der Statue des sangreichen Gottes im Kapitol erhielt ihren Höhepunkt, als Polyhymnia die lieblichen Lippen öffnete und zu der Weise des Reigens einen Gesang anstimmte, wie die Welt nicht mehr gehört hatte, seitdem daraus die alten seligen Götter entweichen mußten, und der Gipfel des Parnasses verödete.
Während des himmlischen Gesanges nun ereignete sich das Wunder dieser römischen Frühlingsnacht.
Geisterspuk war's!
Die Steingebilde belebten sich gespenstisch. Die hohlstarrenden Augen bekamen Blick, die stummen Lippen öffneten sich. Atem schwellte die Marmorbrust.
Ein langgezogener Seufzer zitterte wie Harfenton durch die Säle ...
[S. 17]
Langsam, langsam begannen die Unbewegten sich zu regen. Ein Schauer überlief die unirdisch schönen Körper. Ein Arm hob sich, ein Fuß. Von den Postamenten glitten sie herab. Sie standen auf dem Marmorboden, schritten —
Nun gab's ein Gewimmel nackter Leiber sowohl wie umhüllter Gestalten. Die ganze Antike ward lebendig in all ihrer Herrlichkeit, wie sie in solcher Vollkommenheit nur einmal auf Erden war. Götter grüßten Götter. Apoll konnte es nicht unterlassen, zum Entzücken seines vor Wonne trunkenen getreuen Gefolges unverzüglich in die Saiten zu greifen — denn selbst ein Gott hat seine Menschlichkeiten. Jupiter hatte sogleich mit Juno eine kleine Eheszene, die er dadurch zum Ende brachte, daß er sein Bündel Blitze schwang; Minerva ließ sich mit den Weisen Griechenlands in einen wissenschaftlichen Disput ein; der Kriegsgott begann mit der holden Psyche, die ihren Amor einfach stehen ließ, einen nicht ganz harmlosen Flirt, wodurch sich die keusche Diana in ihren Gefühlen ernstlich verletzt fühlte.
Auch die verwundete Amazone des Lysippos und der berühmte sterbende Gallier aus Pergamon befanden sich unter der Menge. Die kriegerische Dame zeigte sich entschieden tanzlustig und der arme Held sah sich nach einem Becher Falerner um, der ihn nach all den erlittenen Todesqualen stärken sollte. Dionysos erschien in voller Majestät seiner Jugendschöne und erhielt einen solchen Zulauf seiner sämtlichen männlichen sowohl wie weiblichen Trabanten, daß in den Sälen arges Gedränge entstand. Bacchantinnen und Satyre brachten schwellende Trauben herbei; der mädchenhaft liebliche Jüngling des großen Praxiteles blies[S. 18] für den Gott auf seiner Schalmei eine Hirtenweise; und von der berühmten Mosaik flatterten die Tauben auf, die Vögel der Venus.
»Sie kommt!«
Einer flüsterte es dem anderen zu. Ein Raunen gab's, ein Rauschen wie von Waldeswipfeln und Meereswogen. Eine geheimnisvolle Bewegung entstand; eine fiebernde Erregtheit höchster Erwartung: »Sie kommt!«
Die Götter selbst schufen freie Bahn. Es bildeten sich gleichsam eine Via triumphalis, welche sie durchschreiten sollte. Ihre Tauben flogen ihr voraus.
Und sie kam!
Die hohe Frau vom Kapitol, der Göttinnen größeste, die Spenderin aller Seligkeiten, die Bezwingerin der Welt. Zugleich der Welt Beglückerin, die einige Törichte der Welt Verderberin schelten.
Auch die Venus des Praxiteles empfing für diese eine Frühlingsnacht Leben, und trat ihre Herrschaft an.
Und voraus seiner großen Mutter schritt Amor. Der geflügelte Gott spannte den Bogen, legte an, schoß seine Pfeile ab: mitten hinein in die Menge. Dem kleinen Unhold war es vollkommen gleichgültig, wen er traf. Manchem seiner Opfer — sie waren wie Sand am Meer — wäre eine Todeswunde besser gewesen, als der Wurf, der weniger verletzte als Mückenstich. Dabei hatte der gemeingefährliche Knirps das Ansehen eines Unschuldengels mit Kinderlächeln.
Im Gefolge der Siegerin über Götter und Menschen befanden sich zwei Kentauren: ein Jüngling und ein bärtiger Mann. Auf jedem der Fabelwesen ritt[S. 19] ein Liebesgott. Der geflügelte kleine Kerl, der auf dem Jungen trabte, hatte Mühe, sein Menschenroß zu bändigen. Es war solch junger und unbändiger Geselle, mochte selbst die federleichte Last auf seinem Rücken nicht dulden, spottete aller Reiterkünste des Bengels mit einem Übermut, daß die beiden zur Belustigung des ganzen antiken Publikums ein gar artiges Schauspiel boten. Dagegen der ältere —
Das Amorlein hatte dem durch seine Pfeile Getroffenen beide Arme auf dem Rücken gefesselt, und quälte sein Opfer mit der ganzen grausamen Wollust, die den Wicht zu einem wahren Henker machte. Und dann wollte der Schlingel ein Gott sein! Das stolze Antlitz schmerzverzerrt, entstellt von Scham und Selbstverachtung, wandte der Kentaur nach seinem erbarmungslosen Peiniger das Haupt. Ein Stöhnen wie Sterbelaut entrang sich seinem Munde. Aber die belebten Antiken achteten nur seines jungen überlustigen Gefährten; bei dem allgemeinen Beifallsgetöse erstarb der Aufschrei des Gefesselten und sein Quälgeist brauchte den vergifteten Pfeil als Geißel, womit er dem zu ewiger Liebe und ewigem Leide Verdammten den Rücken peitschte.
Was jedoch bei dem traurigen Anblick als das Traurigste erschien, war, daß der Gepeinigte nicht die leiseste Anstrengung machte, seine Bande zu lösen, den Dämon abzuschütteln, und sich von dem Martyrium seiner Leidenschaft zu befreien. Mit gelähmtem Willen, gebrochenen Geistes ertrug er die Schändung seiner Mannheit. Und das mit dem Antlitz eines Heroen! Also geschah ihm recht ...
Plötzlich brachen Götter und Göttinnen mit allen anderen in ein schallendes Gelächter aus: dem jungen[S. 20] Kentauren gelang es, des boshaften Schalks los und ledig zu werden. Mit einem regelrechten Purzelbaum flog der göttliche Lümmel vom Rücken des Tiermenschen herab, und ward zum Glück von einem behenden Nymphlein aufgefangen. Sehr zum Überfluß drückte die Holde den Knaben wie ein Wickelkind an ihre junge Brust, ahnungslos, was für einen Säugling sie sich beilegte; denn der Bursch konnte des Mägdleins Herzblut trinken.
So ist es nun einmal mit der Liebe.
Jupiter und Juno; Dionysos mit seinen bacchischen Begleitern; Apoll mit dem Gefolge der verzückten Musen — alle die Hehren und Herrlichen waren plaudernd und lachend durch die glanzvollen Säle gewallt. Jetzt aber hielt Frau Venus Hof. Sie thronte auf einem antiken Marmorsessel, dessen Lehnen Sphinxe stützten, und ihr zu Füßen lagerten ausgestreckt die beiden Kentauren.
Ihnen gebot die Göttin: »Erzählt eure Geschichte! Da ihr zwei Verliebte seid, so gehört ihr mir ... Dich heiße ich jedoch einen Liebenden —« wandte sie sich huldvoll zu dem älteren. »Weiß ich erst, wen du so gewaltig liebst, daß du durch einen meiner Kleinen deiner Liebe willen ein Martyrium erduldest, kann ich dir vielleicht beistehen in deiner Not ... Nicht jetzt sprich! Zuerst soll der Junge reden, der ein rechter Verächter aller Liebesnöte zu sein scheint. Dafür soll der Leichtfuß mir büßen.«
Der von der großen Göttin Gescholtene lachte hell auf: »Herrin,« begann er mit der heitersten Miene, »o Gebieterin! Verliebt nennst du mich? Als ich[S. 21] von der Hand eines Meisters noch nicht in Stein gebannt war, bin ich das seit meinen Knabenjahren jeden Tag meines jungen glückseligen Lebens gewesen. Und wie verliebt war ich! Ich lebte in den Wäldern und auf den Fluren Kariens in Kleinasien bei der wunderschönen Stadt Aphrodisias, die ihren heiligen Namen nach dir hatte, und wo dir die prächtigsten Tempel erbaut, die herrlichsten Bildsäulen errichtet waren. Da mußte ich, armer junger Kentaur, mich denn wohl oder übel bis über die Ohren verlieben: in jede Najade und Dryade, in jedes Nymphlein, das meine vor Jugendwonne und Lebenslust leuchtenden Augen erblickten. Ich küßte alle — alle! Und wen ich küßte, der verfiel mir. Denn es war, als hätte ich zu Aphrodisias das Küssen von dir selber gelernt — verzeihe die Gotteslästerung.
Niemals hättest du dich zu einem von meinesgleichen herabgelassen: zu einem Tiermenschen mit Schweif und vier Füßen! Ich mußte mich daher mit geringeren Huldinnen begnügen; und — ich begnügte mich.
Bei deiner ewigen Gottheit — was für ein seliges Leben ich führte auf den Blumenwiesen, am Rande der Bäche, unter den Wipfeln der Haine, die deine in Schönheit strahlende Stadt umschatteten. Jeden Tag, jede Nacht, herzte ich eine andere; jede eben nur ein einziges Mal. Sie wollten mich alle behalten. Ich aber lachte die verliebten Schönen aus und warf sie von meinem Halse, wie vorhin den Schlingel, der mir den Herrn und Meister zeigen wollte — mir!
Ich bin die Jugend selbst! Bin das Tier, das in jedem jungen Menschen steckt. Ein Stück Natur bin ich. Sogar ein Stück göttlicher Natur, meinem[S. 22] Pferdeleibe zum Trotz. Solche Jugend ist eitel Verliebtheit — Verliebtheit in beständigem Wechsel. Verstehst du?
Was jedoch mein wonnigstes Glück war, sollte zu meinem Unglück werden. Das ereignete sich folgendermaßen: Die Scharen der Schönen, in die ich verliebt war, und die ich für eine einzige Brautnacht an meinem Herzen hielt, vereinigten sich gegen mich und schwuren mir Rache. In deiner Stadt lebte ein berühmter Bildhauer, Aristias mit Namen. Zu diesem Manne schickten sie eine Gesandtschaft der Schönsten und zugleich Rachegierigsten. Sie sagten und baten: Vor den Toren der Stadt haust ein junger Kentaur. Das ist ein ganz Schlimmer! Er stellt uns armen unschuldigen Jungfrauen auf allen Wegen nach, bei Tag und bei Nacht. Wir können nicht mehr unsere Krüge zur Quelle tragen, um Wasser zu schöpfen; können nicht mehr in Frieden unter den Büschen und Bäumen ein Nachmittagsschläfchen halten; nicht mehr auf den Fluren Kränze winden und den Reigen tanzen.
In unserer Not kommen wir zu dir, großer Meister, und flehen dich an, uns von dem bösen Gesellen zu befreien. Er ist so garstig, so roh! Und er hat Pferdefüße. Denke doch: Pferdefüße! Von solchem Tier müssen wir Ärmsten uns küssen lassen.
Hilf uns, befreie uns!
Welche Tücke, große Göttin! Statt ein ewig Verliebter, sollte ich am Ende ein Weiberhasser sein. Und — stelle dir das Ungeheuerliche vor! — jener Mensch ließ sich wahr und wahrhaftig von den hübschen Lügnerinnen betören, lauerte mir auf, fing mich, schleppte mich in sein Haus, verwandelte mich in Stein: meiner vielen Schandtaten willen.
[S. 23]
Erbarme dich meiner! Lasse mich das Leben diese Nacht behalten! Lasse mich wieder ein junger, verliebter, glückseliger Kentaur sein! Ich trabe hinaus: hinaus in Wälder und Auen, und küsse — küsse — küsse ...
Und ich verspreche dir feierlichst: zum Dank den kleinen Kerl mit den Pfeilen von neuem geduldig auf meinem Rücken zu tragen; ich schwöre dir: jedes Nymphlein anstatt ein einziges Mal, zum mindesten durch drei Nächte zu kosen. Was meinst du zu diesem Handel? Ich bitte dich, große Göttin, schlage ein.«
Unter dem jubelnden Beifall der gesamten Zuhörerschaft, urteilte Frau Venus ernsthaft: »Du hast deine Strafe verdient!«
Es wurde still, als der ältere der beiden Kentauren anhob zu sprechen, mit einer Stimme, darin seine Qual nach Worten rang. Zur Göttin erhob er sein entstelltes Menschenantlitz. Aber nicht um Mitleid flehte sein Blick; nicht einmal um Verständnis.
»Auch ich bin aus dem Lande mit der Stadt deines göttlichen Namens; auch ich wurde in Stein verwandelt. Er ist getränkt von dem Herzblut meiner großen Liebe, das ich fließen ließ. Denn ich wollte lieben und leiden! Große Liebe ist großes Leid. Das haben die Götter so geschaffen. Sie seien gepriesen dafür ...
Ich wuchs auf in den nämlichen Wäldern, auf den nämlichen Fluren, wie hier mein junger Gefährte, dem ich seine leichte und lustige Verliebtheit von Herzen gönne — trotzdem er mir dadurch mein Schicksal[S. 24] schuf. Für mich paßt sie nicht; für mich paßt, was ich besitze. Einzig nur das.
Bereits in meiner frühesten Jugend war ich stolz bis zum Hochmut. Und ich war unglücklich von Kind an: war ich doch ein Kentaur, ein Tiermensch! Unglück macht stolz, wie es einsam macht. Dabei sehnte ich mich nach Schönheit, nach Göttlichkeit. Damals wußte ich jedoch nicht, daß es Sehnsucht war; denn ich war damals noch ohne Seele — wenigstens wähnte ich mich seelenlos.
Mein Sehnen verzehrte mich schier.
Einer der Hehrsten und Herrlichsten hätte ich sein mögen und war — ein Halbmensch, ein Pferd, eben ein Tier.
Ich schämte mich dessen, empfand meine behaarte Vierfüßigkeit als Schmach. Aus Scham verkroch ich mich in den finstersten Schatten der Haine, wagte mich nur in dunklen Nächten hinaus auf die Fluren. Und auch das nur selten. Denn auf den Auen tanzten bei Mondschein und Sternenschimmer die Nymphen, die meine Mißbildung nicht sehen sollten.
Am liebsten hätte ich mich verkrochen wie ein zu Tode verwundetes Wild, um im Dickicht einsam zu sterben.
Damals wußte ich jedoch noch nicht, daß ein mythologisches Geschöpf sterben könnte.
Meine Einsamkeit, Göttin! Sie war so groß wie dann meine Liebe ward ...
In der tiefen Einsamkeit meines Tiermenschen-Lebens lernte ich, um dieses ertragen zu können, das Spiel auf der Leier, die ich mir aus Röhricht und Haaren meines Roßschweifes verfertigte. Ich lauschte die holde Kunst Faunen und Satyren ab. Sie füllten[S. 25] mit ihrem Wohllaut die Haine und lockten damit die Schönen an. Mein Saitenspiel sollte indes keine vernehmen.
Also übte ich mich in Melodien. Sie klangen traurig, traurig; denn ich ließ durch sie meine Sehnsucht sprechen und klagen. Wie hätten meine Weisen fröhlich klingen können? Zu den Tönen ersann ich Worte. Ich sang sie zu meinem Spiel. Meine Worte waren wie dieses.
Mit zunehmenden Jahren wuchs mein Unglück über mein Tiermenschentum. Ich wähnte, es sei mein Geheimnis, welches ich keinem Wesen unter dem Himmel verraten wollte. Um es zu hüten, zog ich mich tiefer und tiefer in die entlegensten Einöden zurück; wurde ich einsamer und einsamer. Zugleich mit meinem Unglück, nahm ich zu an Stolz und an Hochmut.
So schwand meine Jugend, so begann das Alter ...
Noch immer hatte ich nicht geliebt, noch immer nicht gelebt. Vom Tode wußte ich nichts, fühlte mich indessen wie tot. Trotzdem diese Sehnsucht! Große Göttin, diese Sehnsucht —
Doch dann sollte sich mein Schicksal erfüllen. Höre, du Herrliche, wie es kam: Eines Sommertags begegnete mir in der Wildnis hier dieser muntere Geselle. Er war der erste von meinesgleichen, den ich sah. Du kannst dir daher denken, wie mir bei seinem Anblick zumute ward: wie einem großen Toren, der die Welt nicht kannte. Ich trabte eilends auf ihn zu und sprach ihn an: »Sei gegrüßt, mein Leidensgefährte!«
Er aber, höchst verwundert, als sagte ich ihm etwas Ungeheuerliches, fragte: »Wie nennst du mich?«
»Leidensgefährte.«
[S. 26]
»Weshalb sollte ich leiden?«
»Weil du doch gleich mir ein Tiermensch bist.«
»Darum leidest du?«
»Du nicht?«
Er lachte unbändig: »Ich nicht. Bei allen Göttern — ich ganz und gar nicht!«
»Wie ist das möglich?«
»Wie ist's möglich, darum zu leiden? Darum!«
»Wie ist's möglich, darum nicht zu leiden?«
Aber er: »Ich bin mit Wonne das, was ich bin; möchte nicht um die Schönheit des Adonis etwas anderes sein. Als Tiermensch kann ich genießen — genießen — genießen! Mehr als ein ganzer Mensch; mehr als selbst ein Gott. Wie ein Tier kann ich genießen ... Weißt du, was Weiber sind?«
»Holde himmlische Wesen.«
Wiederum das gellende Hohnlachen: »Weiber sind's, Dirnen sind's!«
»Göttinnen!«
»Narr! O du Narr!«
»Ich kenne sie also nicht.«
»Dir hing niemals ein Weib am Halse, niemals der Mund einer Frau an deinem Munde?«
»Niemals.«
»Du Tor, du Narr, du — Mensch! Du verdientest wahrlich ein Mensch zu sein, der allernärrischsten einer.«
Und er wälzte sich am Boden vor Vergnügen über meine Narrheit. — Als er nicht mehr lachen konnte, erhob er sich, stand vor mir, meinte plötzlich: »Komm mit mir.«
»Wohin?«
»Ich führe dich.«
[S. 27]
»Ich muß wissen, wohin. Siehe, ich bin gewiß ein großer Tor; aber ich bin zugleich ein großer Einsamer. Aus meiner Einsamkeit lasse ich mich nicht fortlocken.«
Da redete er mir schmeichelnd zu: »Nur dieses eine Mal, du großer Tugendhafter. An deiner Leier erkenne ich, daß du Musikant bist. Gewiß sogar Dichter. Du siehst mir ganz danach aus. Als Lautenschläger und Poet sollst du mir helfen, ein armes Weiblein zu trösten, ein blutjunges, bildhübsches, verlassenes.«
Ich rief mit tiefem Erschrecken: »Geh allein!«
»Folge mir, ich bitte dich. Ich selbst habe es nämlich verlassen, wie ich dir nur gestehen will. Ich kann eben nicht anders. Es ist meine Natur. Und dann — ich bin jung, jung, jung! Und ich will genießen, genießen, genießen! Will leben! Ohne Ende! Du scheinst mir zwar ein sonderbarer Kauz zu sein, so etwas von einem Schwärmer, einem sogenannten Idealisten, eben einem Narren. Zugleich aber ein netter Kerl, ein gutmütiger alter Herr. Dabei höchst ehrbar. Dir wird das niedliche Dingelchen nichts anhaben; und du tust an ihm und auch an mir ein gutes Werk. Denn ich bin zwar ein Tier; aber schließlich doch immerhin ein leidlich anständiges. Das erkenne ich daran, daß die Verlassene mir leid tut.«
So sprach dieser Jüngling, der mich jetzt mit Augen und Lippen anlachte — wieder mich auslachte ... Ich ließ mich von seiner fröhlichen Jugend auch wirklich beschwatzen. So meinte ich nämlich damals. Denn damals wußte ich nicht, daß es etwas anderes, ganz anderes war, was mich gewaltsam trieb, seiner Lockung zu folgen.
Große Göttin, meine Sehnsucht war's!
Meine Sehnsucht nach Leben, nach Liebe.«
[S. 28]
Nach diesen Worten schwieg der Liebende. Und schweigend verharrten alle, die ihm zuhörten. Alle empfunden, daß dieser Mann mit dem Heroenantlitz, der sich derartig sklavisch dem Gott unterwarf, und Hände sowohl wie Seele in Fesseln schlagen ließ — daß es bei ihm etwas anderes war als verächtliche Schwäche. Die Kraft zu lieben, und um seiner Liebe willen zu leiden war's! Es war der Mut, eine große Leidenschaft auf sich zu nehmen gleich einem Kreuz. Still und milde schaute die Göttin auf den Mann, der sonder Scheu und Scham bekannte, mit gebrochenem Stolz, zermarterten Herzens ihr zu Füßen zu liegen.
Der Tiermensch mit der durch seine leidensvolle Liebe göttlich gesprochenen Seele sprach weiter in dem schweren Schweigen rings um ihn: »Dieser glückliche Leichtfertige führte mich zu einer kleinen Waldwiese, die voll roter Anemonen stand, so daß sie mit lichtem Purpur bedeckt schien. Mitten in der glühenden Blütenflut ruhte das erste Weib, das ich sah. Sie war von feiner Gestalt und von solcher Anmut der Bildung, wie ich die Frau bei meinen Weisen und Gesängen im Geiste schuf, wenn meine Sehnsucht in mir nach Lieben und Leben schrie.«
Vollkommen hüllenlos sah ich das erste Weib, das ich für eine Göttin hielt: für dich selbst, Tochter des Zeus ...
Wir waren am Waldessaum stehen geblieben, und hier dieser rannte mir zu: »Sie ist eingeschlafen. Ihr Schmerz wiegte sie in Schlaf. Möchte sie im Traume den Treulosen vergessen! Du aber wecke das Kind mit deinen süßesten Melodien, singe der Reizenden[S. 29] deine zartesten Lieder: deine Melodien und Lieder werden sich in ihr trauriges Seelchen schleichen. In den Gesängen wird sie den Sänger lieben; und über deinen jungen Liedern deine alternden Jahre vergessen. Im übrigen nimm dich in acht. Denn auch dieses Nymphchen ist ein Hexlein. Diesen Rat lass' ich dir als Warnung zurück; und — Aphrodite sei mit dir!«
Wie im Traum vernahm ich des Gesellen raunende Rede; und wie das Bild eines Traums sah ich dicht vor mir auf dem blutroten Teppich der Frühlingsflur das leuchtende Frauenwesen. Nicht mit meinen Augen sah ich's; sondern mit meiner Seele, die ein gütiger Gott — oder war es ein furchtbarer, erbarmungsloser? — auch uns Tiermenschen gab. Das empfand ich plötzlich in diesem einen Augenblick.
Als ich noch stand und versuchte, das große Wunder zu fassen, das sich mit mir begab, verschwand der Versucher von meiner Seite. Aus den Dickichten hörte ich sein lustiges Lachen als letzten höhnenden Gruß.
Nun bewachte ich den Schlummer der weißen, wundersamen Gestalt. Die Ruhende seufzte im Schlaf. Da ergriff mich ein unsägliches Mitleid, ein mir bis dahin völlig unbekanntes Gefühl, wie ich mir denn auch erst jetzt meines qualvollen Sehnens bewußt ward und dieses Sehnens Grund.
Dort lag er vor meinen Augen schlank und licht im Anemonengefilde ...
Ich begann leise zu spielen, leise zu singen: von meiner verzehrenden Sehnsucht! Daß ich soeben erst meine Seele empfangen und angegraute Locken hatte bekommen müssen, bevor ich erfahren, was Leben und Liebe sei. Aber zugleich gedachte ich gar nicht[S. 30] meines Alters. Und ich gedachte nicht meiner Einsamkeit. Auch nicht meines Stolzes. Das war mein Schicksal.
Meine zarte Weise weckte sie. Sie schlug die Augen auf: große azurblaue Augen, die in dem weißen Gesichtchen unter der goldigen Haarflut fast schwarz strahlten. Still schaute sie auf mich, gar nicht erschrocken, kaum erstaunt. Sie blieb ruhig liegen, schien sich in dem weichen Blütenbett so recht wohlig zu fühlen, und behaglich auf Spiel und Gesang zu lauschen. Da spielte und sang ich denn, als sollte ich meine soeben erst empfangene — soeben erst empfundene Seele hingeben.
Endlich erhob sie sich ... Es war, als erblühte aus dem roten Grunde eine binsenschlanke, wundersame, blasse Blume. Als ich sie in ihrer ganzen hüllenlosen Frauenherrlichkeit vor mir sah, riß auf meiner Leier eine Saite.
Sie tat durchaus nicht fremd und scheu, schien nicht im mindesten traurig und des Trostes bedürftig zu sein. Ja, sie lachte mich an, daß ich zwischen ihren roten Lippen die Zähne schimmern sah, weiß wie Winterschnee auf den Felsengipfeln.
Ich stand mit zerrissenem Saitenspiel verstummt und bebend, von heißen Schauern geschüttelt. Da trat sie auf mich zu, sagte mit einem Stimmchen wie Vogelgezwitscher im knospenden Lenz: »Du also bist der Spieler und Sänger? Du!«
Ich fragte — und kaum, daß ich sprechen konnte: »Kennst du mich denn?«
[S. 31]
»Gut, recht gut. Ich schlich mich häufig in deine Nähe und belauschte dich heimlich. Alle deine Lieder kenne ich. Darum kann ich mit dir reden wie mit einem alten lieben Bekannten ... Aber sage mir: warum sind deine Weisen so traurig?«
Da sagte ich's ihr: »Weil ich dich nicht fand.«
»Weil du mich nicht fandest —«
»Weil ich mich nach dir sehnte! Immer, immer!«
»Suchtest du mich denn?«
»Immer, immer!«
»Also wußtest du, daß ich auf der Welt war?«
»Das Weib! ... Ich ahnte es ... Ich ahnte dich!«
»O du —«
Sie wollte lachen. Aber etwas wie Schreck ließ sie verstummen. Ich las die Ursache in ihren Augen: weil ich ein Kentaure war — ein Tiermensch!
Und ich sagte es ihr ... Sie aber meinte leise, ganz leise: »Der andere hat mich ja auch geküßt. Freilich der andere war —«
Da sie stockte, so sprach ich für sie. Ich rief, schrie es auf: »Der andere war jung!«
Nun mußte ich doch meiner ergrauenden Haare gedenken: Sie selbst erinnerte mich daran. Das hätte mich warnen sollen. Aber — welcher Liebende ließe sich warnen?
Wer sich warnen läßt, liebt nicht.
Was würde sie antworten? ... Ich wartete darauf. Mein Herz hörte ich in der Brust klopfen, mein Blut durch die Adern rauschen. Jetzt weiß ich, was es damals mit mir war: Todesangst wegen der Jugend des anderen. Denn Jugend ist die triumphierende Siegerin.
[S. 32]
Sie sah mich an. Mir war's bei ihrem Blick, als sänke meine soeben erst empfangene Seele in einen strahlenden Abgrund, darin sie unterging: so abgrundtief war ihr Auge. Dann antwortete sie: »Deine Melodien und Lieder sind jung; und frühlingsjung ist deine Seele; und kinderjung werden deine Lippen sein, wenn ich sie küsse.«
Ich, grauer Tor, stieß hervor: »Wie kannst du mich küssen, da du doch den jungen Treulosen küßtest; da du ihn doch liebst, um ihn leidest?«
Ihr Blick ward fremd und fern. Sie sprach mir nach: »Da ich ihn doch liebe, um ihn leide ... Sagte er dir das?«
»Er führte mich zu dir, damit ich deiner liebenden und leidenden Seele meine traurigen Lieder sänge.«
»Er selber brachte dich her? ... Weshalb sprichst du nur immer von Lieben und Leiden? Und wer sagt dir, daß ich lieben und leiden kann?«
Ich verstand sie damals nicht, schwieg, schaute sie an; schaute in den strahlenden Abgrund ihres Auges. Sie fragte: »Kannst du lieben und leiden?«
»Seit ich dich sah —«
Und sie, beständig mit ihrem abgrundtiefen Blick auf mich gerichtet: »Du bist anders als alle. Einen solchen wie du bist, küßte ich niemals. Ich möchte dir die Seele ausküssen. Das möcht' ich! Weil du so ganz anders bist.«
Da entrang es sich mir wieder wie ein Stöhnen: »Ein Tiermensch bin ich! Ein lebendiges Stück Unnatur.«
Ernsthaft meinte sie: »Ein Sänger bist du, ein Dichter. Schmähe dich also nicht selbst ... Jetzt aber komm!«
[S. 33]
»Ich soll mit dir gehen?«
»Du sollst mich lieben und sollst um mich leiden. Ich will deine Seele haben: deine Dichterseele! Ich will deine Seele mit meinem Lächeln zerstören, mit meinen Küssen morden. Oder fürchtest du dich eines solchen seligen Todes zu sterben?«
So erfuhr ich, daß es auch für uns ein Sterben gibt. Aber nur dann auch für uns, wenn wir lieben und leiden: unserer Liebe willen blutige Qualen erdulden. Wir sterben an unserer Liebe ...
Aus ihrem lächelnden Munde erfuhr ich's; und sie fragte mich, ob ich an ihr sterben wollte?
Das wollte ich.
Sie schlüpfte von mir fort, schwebte wie ein Silberstreif über die rote Flur, neigte sich nieder, pflückte von den Anemonen, flocht sie zu Gewinden, kränzte mir Haupt und Brust. Auch ihren eigenen schneeweiß schimmernden Leib schmückte sie bacchantisch mit dem Blütenglanz und streute sich die blutenden Tropfen in ihr strahlendes Haar.
Das Blumenspiel der Reizenden begleitete meine Melodien, die trotz der zerrissenen Saite plötzlich einen neuen, gar wundersamen Klang hatten: als wäre auch in meinem Spiel erst die Seele erwacht. Dann streckte ich mich ihr zu Füßen aus, sie setzte sich auf meinen Rücken, und — es geschah in diesem Augenblick, daß der kleine Gott mir die Hände fesselte, die keine Macht wieder lösen kann.
Nun entführte ich meine holde Last an den schönsten und zugleich einsamsten Ort. Es war dies eine[S. 34] wonnige Flur am Gestade eines Alpensees. Nur über die blauende Flut konnte man hingelangen. Ringsum stiegen gewaltige Felsenmauern auf, darüber allein die Wolken und Adler zogen und schwebten. Die Aue selbst war ein einziges Rosengefilde, an dessen Ende eine Grotte sich öffnete, wie eine Halle so feierlich schön. Wände und Decke erglänzten von Kristallen und den Boden umhüllte smaragdgrünes Moos.
Als ich die Geliebte über den See trug, kamen Schwäne geschwommen und gaben unserem Brautzuge das Geleit. Nur ihre winzigen weißen Füße wurden naß. Ich aber beneidete die Wellen, die ihren Fuß küßten, und mißgönnte ihren Anblick den Schwänen. So schlimm stand es gleich anfangs um mich ...
Es ward jedoch schlimmer von Tag zu Tag. Wir hausten in der glanzvollen Grotte und ich wurde nicht nur ihr Liebhaber, sondern ihr Wärter und Wächter, ihr Knecht, Sklave, Leibeigener.
Mit jeder Stunde wuchs mein Leid. Je qualvoller dieses war, um so größer ihre Freude daran. Sonst empfand sie nichts — nichts — nichts! Keine Wonne bei meinen Küssen, keine Seligkeit in meinen Armen. Aber wenn sie meine Liebespein sah, lachte sie mich an; und wenn mir das Herz blutete, kränzte sie meine Stirn. Dazu mußte ich die Leier schlagen und singen zu ihrem Preis.
Mein ganzes Sinnen und Dichten war, sie heiß und heißer zu lieben; ihr mehr und mehr meine Seele zu eigen zu geben und Lieder zu singen zum Preise ihrer jungen holdseligen Schönheit.
Eins jedoch vergaß ich nie: daß sie bereits an den Herzen anderer gelegen hatte. Und noch ein[S. 35] Zweites; daß sie nicht zu lieben und zu leiden vermochte; also keine Seele besaß.
Keine Seele! Und sie hatte mir doch die meine gegeben ...
Es kam eine Zeit, da merkte ich wohl, wie sie meine Lieder nicht mehr »jung« fand, nicht mehr in mir den Sänger und Dichter sah, sondern nur noch den alternden Mann mit dem schmerzlichen Antlitz, den todtraurigen Augen und den sklavisch gefesselten Händen. Die Zeit kam, wo sie meine Küsse nicht mehr wollte, wo sie fortstrebte von mir.
Fort von mir wollte sie. — Ich aber wollte sie nicht fortlassen. Wie hätte ich sie fortlassen können? Sie war zu meinem Atem geworden; und Atem ist Leben. Ich konnte doch nicht plötzlich aufhören zu atmen, zu sein.
Da machte sie mein Herzblut strömen — nur um von mir fortzukommen. Ich ließ es hinströmen in Fluten. Wenn sie nur bei mir blieb.
Was jetzt folgte, war nichts anderes als meines Schicksals letzte Erfüllung ...
Nach einer mondhellen wütenden Sturmnacht tat ich in der Frühe am Gestade einen seltsamen Fund.
Es war ein Jüngling, ein Menschen-Jüngling! Zugleich das Schönste, was ich jemals erblickt hatte: fast schöner als die Geliebte. Jener Holde dort (der Kentaure deutete auf den ernsthaft zuhörenden Antinous) gleicht dem schlanken Knaben, der in der wilden Mondnacht über den See schwamm — ich erfuhr später weshalb — und der nun am Ufer lag ohne Bewußtsein, ohne Leben.
[S. 36]
Ich hob ihn sorgsam auf, trug ihn in die Grotte, bettete ihn auf das Mooslager. Da sah ihn mein Weib, und da wußte ich's denn.
Ich wußte es sogleich ...
Der Jüngling erwachte zum Leben, lag aber im heftigen Fieber. In seinen Phantasien sprach er von der schneeigen Frau, die er vom jenseitigen Ufer aus erblickt hatte, und deretwillen er in der Sturmnacht über den See geschwommen war. Sie stand dabei, hörte sein Seufzen und Sehnen, und lachte.
Dann ward er gesund. Ich pflegte ihn; ich liebte ihn. Seine Schönheit war von schier göttlicher Art. Ich mußte ihn lieben! Und ihn lieben müssen hätte das junge Weib — wenn es hätte lieben können.
Es wollte ihn jedoch nur küssen ...
Aus abgrundtiefen Augen lachte sie ihn an: anders, ganz anders, als sie jemals mich angelacht hatte. Sie wand um seine Stirn Kränze, dafür sie die allerschönsten Blumen suchte. Er half ihr suchen und pflücken. Dabei küßte sie ihn. Ich sah es nicht; aber ich wußte, daß sie ihn küßte: anders, ganz anders als mich ...
Wiederum eines schönen Morgens hieß ich beide, sich auf meinen Rücken setzen. Sie gehorchten stumm. Über denn See trug ich das Liebespaar und die Schwäne geleiteten uns. Am jenseitigen Gestade stieg ich ans Land.
Sie glitten von meinem Rücken herab in das blumige Gras, faßten sich bei der Hand, schritten davon: schweigend, ganz schweigend. Mit keinem Blick schauten die beiden jungen lichten Gestalten zurück nach dem Einsamen, dem Tiermenschen, dem alten Kentauren mit den gefesselten Händen und der gemordeten Seele.
[S. 37]
Was weiter geschah?
Ich hauste in Öde und Wildnis, rührte meine Leier nie wieder, sang nie mehr ein Lied.
Auf meiner Leier waren sämtliche Saiten zersprungen, und zersprungen war etwas in meinem Herzen.
Auch der Dichter, der ich sein sollte, war tot.
Und das war gut so.
Einmal belauschte ich wider Willen das Gespräch zweier alter Dryaden in den Wipfeln einer grauen Steineiche. Die beiden Frauen erzählten sich von einem großen Künstler in der Stadt Aphrodisias, der Götter und Heroen, Faune und Kentauren und sonst alle Fabelwesen zu Erz und Marmor umschuf. Da wußte ich sogleich, auf welche Weise ich zu einem leiblichen Tode gelangen konnte: zur Entgeisterung, Erstarrung, zur Umwandlung in Erz oder Stein.
Wie ich wollte, so ist mir geschehen ...
Das ist meine Geschichte, große Himmlische, du Siegerin über Menschen und Götter.«
In dem schweren Schweigen des antiken Geisterspuks dieser Frühlingsnacht erschallte ein weicher Wohllaut. Die Stimme der großen Göttin war's, welche fragte: »Vermag ich dir einen Wunsch zu erfüllen?«
»Was für einen Wunsch?«
»Zum Leben will ich dich nicht wieder erwecken. Was solltest du, armer Geselle, wohl noch auf der Welt? Sie kennt keine Götter mehr; also auch keine Kentauren. Es würde dir daher auf Erden schlecht ergehen. Die Römer würden dich bei ihren Karnevalsfesten[S. 38] als ›Barbari‹ laufen lassen; sie würden dich hetzen und höhnen, dich wohl gar wie einen Büffel vor einen Karren oder Pflug spannen.
Werde daher auch du wieder fühlloser Stein wie wir alle hier, die in dieser leuchtenden Frühlingsnacht durch die holden Frauen Apolls für einige Stunden zum Leben erweckt wurden. Uns allen ist besser, ist tausendmal besser, in der neuen Zeit, die hereinbrach, starre stille Bildsäulen zu sein.
Aber siehe, Lieber: ich könnte dich von dem bösen kleinen Gott befreien; denn er trieb es wahrlich arg mit dir. Ich könnte deine Hände aus ihren Fesseln lösen und den grimmigen Schmerz aus deinem Antlitz streichen. Wünsche also, mein Freund.«
Des Kentauren Antwort lautete: »Was ich war, will ich in Ewigkeit bleiben. Da ich von meiner großen Liebe nicht mehr zu spielen und zu singen vermag, so sollen die Menschen sie an meinen gefesselten Händen, an meinem gramvollen Angesicht erkennen. Und sie sollen daraus erkennen, daß auch ein Tiermensch lieben kann — wie sie; also auch er eine gottgeschaffene Seele besitzt — wie sie. Vielleicht, daß sie alsdann mich und meinesgleichen weniger verachten.«
Plötzlich rief aus der Versammlung der Olympischen eine strenge Frauenstimme: »Wie kann ein ernsthafter Mann, wenn er auch nur ein Kentaure und Halbmensch ist — wie konntest du, o Meisterwerk des Bildners Papias, eines derartigen Geschöpfes willen in solchen Abgrund von Schwäche versinken? Pfui, schäme dich, grauer Gesell!«
Mit einem Lächeln, welches das schmerzliche Antlitz wundersam verjüngte, erwiderte der Geschmähte der hehren Minerva: »Weise Göttin, weißt du nicht,[S. 39] daß wir nicht den Gegenstand unserer Liebe lieben, sondern —«
Er blickte sie leuchtenden Auges an, die ihn ungeduldig unterbrach: »Sondern was? ... Willst du mich etwa belehren?!«
»Ich will dir nur sagen, daß es die göttliche Liebe selbst ist, die wir in einem unwürdigen Geschöpfe — wie du es nennst — lieben. Ich weiß nicht, ob du mich verstehst?«
Aber die Göttin der Weisheit verstand ihn nicht. Wie sollte sie auch?
Kaum hatte der Kentaure diese Worte gesprochen, als die Zeit um war. Der Frühlingstag dämmerte auf. In feierlicher Prozession kehrte die Welt der Antike zurück in die Säle, verteilte sich auf die Postamente, wurde wiederum Statue — Stein.
Ein leises, leises Klirren wie ein unirdischer Klagelaut begleitete die Wandlung ...
Die neun Musen verließen das Standbild ihres Gottes, schritten traurig hinweg: aus dem Palast des kapitolinischen Museums, den Hügel hinab, über das zertrümmerte Forum, an den Ruinen des Palatins vorbei und hinaus in die Campagna, darüber keine Morgenröte Purpurglanz warf. Denn die himmlischen Frauen hatten ihr Nachtwerk ungetan gelassen, für welche Versäumnis sie sicher einer strengen Strafe verfielen.
Etwas Erfreuliches begegnete ihnen an diesem grauen Morgen aber doch noch auf der Via Appia antica in Gestalt eines jungen zärtlichen Liebespaares, welches die leuchtende Frühlingsnacht im Hain der guten und getreuen Egeria verbracht hatte. Als die neun Hehren die beiden Glücklichen gewahrten, sprachen[S. 40] sie untereinander: »Es gibt doch noch Götter auf Erden!«
Und sie kehrten getröstet auf ihren Mons Albanus zurück.
Am Vormittage besuchten die Fremden zu hellen Haufen das Museum des Kapitols. Sie kamen mit braunen und roten Büchern in den Händen, schlugen darin wichtig nach, lasen eifrig; und wenn eine Statue mit einem Stern bezeichnet war, so blieben sie davor stehen und fanden das besternte Steinbild in allen Sprachen Europas ganz besonders wundervoll, oder reizend, oder sonst etwas.
Am begierigsten drängten sie in das Kabinett der »Venus vom Kapitol«, verglichen sie mit anderen Standbildern der großen Göttin der Liebe; und die meisten fanden die Mediceerin um vieles herrlicher, was jedoch niemand laut sagte.
Aber auch die beiden Kentauren des Aristias und Papias aus Aphrodisias in Karien fanden Beachtung. Die Fremden lasen darüber: »Das Motiv der Gruppe ist die verschiedene Wirkung der sinnlichen Liebe auf das reifere und das jugendlichere Alter.«
»Ach so! ... Seht! Der Junge hat den Amor abgeworfen: Jugend läßt sich nicht fangen ... Aber seht das andere mythologische Vieh! Alter schützt vor Torheit nicht! Selbst nicht solchen Halbmenschen.«
Sie lachten.
[S. 41]
Es war zu Roms goldener Zeit. Die Kaiserstadt am Tiber war in Flammen aufgegangen und soeben aus der Asche neu entstanden. Was der menschliche Geist an Herrlichkeit, an Üppigkeit und Vergeudung, an ungeheuerlichster Verworfenheit und schändlichem Laster hervorbringen konnte, ward ausgesprochen, wenn man Rom nannte. Mit dem Wahnwitze Neros war die schreckliche und scheußliche Kaiserkrankheit bereits typisch geworden: es gab nichts, was in der Welt, die jener Grimasse eines großen Herrschers untertan war, unmöglich gewesen wäre.
Noch lebten die Götter Griechenlands. In Rom befand sich eine Stadt von Tempeln, welche ein Volk von göttlichen Bildnissen aus Marmor, aus Gold und Elfenbein bewohnte. Überall standen die Altäre der Olympier. Aber bereits schwebte über der Glorie dieser Götterwelt der Schatten des Kreuzes, unter dessen triumphierendem Zeichen der Glanz der goldenen Roma erblassen, die Tempel zerbrechen, die Altäre stürzen, die Götter vergehen sollten; bereits stieg von Golgatha der Dunst vergossenen göttlichen Blutes auf, den alle Wohlgerüche Arabiens nicht zu überduften vermochten, und das bacchantische Evoe des Heidentums durchzitterte der letzte Seufzer des sterbenden Gottessohnes; in der von Lust und Genuß übersättigten[S. 42] Menschheit erwachte die Sehnsucht nach einem erlösenden Tode.
Rom war das Meer brausender Lebensfreuden, schäumender Daseinswonnen und schimmernder Herrlichkeiten, von dem nach allen Himmelsgegenden Ströme ausgingen, die Welt mit Wogen römischen Glanzes und römischer Verderbnis überflutend. Einer dieser zahllosen Kanäle, welche römische Kultur, Sitte und Fäulnis über die Erde verbreiteten, lief durch Latium dem Meere zu, die ganze Küste von Centumcellae bis zu dem wollüstigen Bajä mit einem strahlenden Bande von ländlichen Lusthäusern und Prachtbauten säumend, so daß der Strand weit hinausleuchtete in die blauenden Fernen des herrlichen, von Göttern und Menschen geliebten, tyrrhenischen Meeres.
Und die römische Herrlichkeit schimmerte gleich einem Nebelstreif zu einem winzigen Klippeneilande hinüber, das weltfern in der erhabenen Einsamkeit der Meeresfluten ruhte.
Die Insel war der Krater eines toten Vulkans, tief lag der mächtige Berg in die Wellen versenkt. Nach dem Festlande zu hatte die Gewalt des unterirdischen Elementes die Rundung gesprengt, auseinandergerissen und teils in die Tiefe des Kraters selbst, teils in den Abgrund der Wellen geschleudert. Als ein Halbkreis von mächtigen Wänden, an denen kein Pflänzlein Wurzel zu fassen vermochte, entstieg der braune Lavafels dem Meere; gleich dem Thron des Neptun erhob sich der geborstene Gipfel über der leuchtenden Wogendecke. Möven umkreisten die Klippen, der Seeadler ruhte darauf, die Wellen schlugen beim Sturme schäumend und donnernd daran; aber keines Menschen Fuß berührte das öde Gestein. In langer[S. 43] Kette zogen die Jahrhunderte an dem einsamen Felsen vorüber, langsam eine Wandlung vollziehend.
Der vulkanische Stein verwitterte, und wo der Krater in sich zusammengestürzt war, deckte eine dünne Erdschicht die Trümmer. Winde und Vögel trugen geschäftig aus beiden Weltteilen Samen von Bäumen und Blumen nach dem Eiland hinüber. Im Halbkreis der Felsenmauern blühte es auf; ein tiefschattiger Hain entstand, ein paradiesisches Gefilde, die köstlichste Wildnis von Blumen und Blüten, in denen Scharen buntgefiederter Vögel nisteten, ringsum die Luft mit Gesang erfüllend, so daß Vogellied das Rauschen der Meeresflut übertönte.
Dann entdeckte der Mensch das glückselige Eiland. Von der Küste her kamen die Römer, und da die winzige Klippe zu wenig Raum bot, als daß ein Volk von Lebendigen darauf hätte Fuß fassen können, wurde die Insel zu einer Wohnstätte der Toten bestimmt. Man sprengte Galerien in das Gestein, wölbte Grotten und Grabkammern, rodete den Hain aus, die Platanen und Steineichen, die Palmen und Pinien, und pflanzte den Toten schwarze Zypressen, in deren Mitte sich leuchtend der Altar erhob, darauf den Unsterblichen das Opferfeuer angebrannt wurde. Was die tiefen Schatten der Bäume durchstrahlte, weit bis ins Meer hinaus, das waren die Rosen, deren Heimat der meerumbrandete Fels zu sein schien: Rosen umblühten die Stufen des Altares, Rosen umrankten die Stämme der Zypressen, durchwanden die starren Zweige, kletterten hinauf in die Wipfel, stürzten sich von droben in schimmerndem Blütenfall zur Erde nieder.
Und Rosen bedeckten ringsum die braunen Klippen! Gleich einem strahlenden Vorhang hing es von den[S. 44] jähen Wänden, in deren Tiefen die Toten ruhten, bis hinab in die Fluten. Die rosigen Blumenwellen trieben auf den Meereswogen.
Generationen von Menschengeschlechtern schliefen in den engen, dunklen Kammern vom Leben aus; ein ganzes Volk von Toten bewohnte das liebliche Eiland, schon war es mit Sarkophagen und modernden Leichnamen angefüllt, aber das Blühen der Rosen nahm kein Ende. Mancher, der aus der blauen Flut das schimmernde Eiland auftauchen sah, rief, ernsten Auges hinüberspähend, mit gedämpfter Stimme aus: »Seht dort — die Insel der Seligen!«
Die Insel der Seligen, wie das Eiland von den Küstenbewohnern bald allgemein genannt wurde, war zur neronischen Zeit außer von der Heerschar seliger Toten nur noch von einem Priester und einem Hüter der Gräber nebst ihren Familien bewohnt. Der Priester, welcher dem Dienste der Totenopfer oblag, hieß Atinas und war ein überaus gottesfürchtiger, in seinem Glauben strenger und eifriger Mann. Sein Weib führte den göttlichen Namen Trivia. Leider starb die Frau in jungen Jahren, nachdem sie ihrem Gatten, der sie heiß liebte, einen Sohn geboren hatte. Die Götter mögen wissen, was aus dem kleinen Tullus geworden wäre, hätte das Weib des Grabhüters Daunus nicht mütterlich des Knäbleins sich angenommen. Zur selben Zeit, als Trivia einem Kinde das Leben gab und daran starb, ward auch die wackere Larina Mutter eines Mädchens, so daß sie die Quelle ihrer Brust zwischen dem mutterlosen Knaben und ihrem eigenen Kinde teilen konnte. Der arme Atinas hüllte sein[S. 45] totes Weib in ein Linnen, opferte für ihren Schatten den finsteren Gottheiten und half Daunus den Leichnam in eine Grabkammer tragen. Da fast alle Höhlungen der Felsen ihre Sarkophage oder Aschenurnen bereits empfangen hatten, mußten die Männer mit der Gestorbenen bis in das höchste Stockwerk des großen Totenhauses hinauf, woselbst sich noch einige leere Zellen befanden: eine mühselige Wanderung beim Scheine der Fackel durch die Nacht des engen Felsenganges. Als das Grab seine ewige Bewohnerin aufgenommen hatte, meinte Daunus: »Nun ist unser Tagewerk hier bald getan. Wenn unsere Kinder groß geworden sind, schiffen wir uns alle ein, fahren nach Antium hinüber und wandern miteinander nach Rom. Dort soll es uns gut gehen! Die Toten hier werden wohl von den Wellen bewacht werden und auf deinem Altare, mein guter Atinas, mögen die Zypressen und Rosen den Göttern opfern.«
Atinas erwiderte nichts. Er gedachte seiner Toten und daß sein Weib ihren Knaben nicht sehen sollte, wenn er groß geworden war und mit der jungen Acca nach Rom zog.
Anderen Tages wurde der Eingang zur Grotte, darin sich nur noch Platz für einen Gestorbenen befand, vermauert, und Larina flocht aus Zypressenzweigen und bunten Bändern eine Tänie[A], die Atinas trauernd über die Grabtür hängte.
[A] Binden, die man den Toten weihte.
Einträchtig lebten die Inselleute weiter. Atinas, dessen von Natur finsteres Gemüt sich mehr und mehr verdüsterte, wohnte auf der einen Seite der Insel, wo neben dem eingestürzten Kraterrand der Fels als [S. 46]mächtige und unzugängliche Wand ins Meer abfiel, seinen treuen Gefährten in der Einsamkeit gerade gegenüber. Zwischen beiden Behausungen lag der Zypressenhain mit der Blumenwildnis und dem Altar in seiner Mitte. Beide Hütten waren ehemalige Grabkammern, in welche man nach dem Meere zu Fenster eingebrochen hatte. Aber weder bei Atinas noch bei Daunus war es den Räumen anzumerken, daß sie während vieler Jahrhunderte von Toten bewohnt gewesen. Die Wände waren mit hellem Stuck überzogen, darauf heitere Gemälde: Landschaften, Genien und anmutige Menschengestalten, Bilder des Lebens, der Schönheit und der Freude erglänzten; ein bunter Fries, an dem Gewinde von Blumen und Früchten niederhingen, umrandete die mit lichten Stuckaturen geschmückte Decke. Der Fußboden trug eine schöne Mosaik und wurde an festlichen Tagen mit wohlriechenden Kräutern bestreut.
Die Geräte beider Wohnungen waren überaus schlicht und ihrer nur sehr wenige; sie genügten indessen den Bedürfnissen der Bewohner. In der einen Kammer stand neben dem Ehebette der Webstuhl; in einem andern Gelasse befand sich der Stein, darauf das Brot gebacken und die Fische gebraten wurden, befanden sich auch die verschiedenen Amphoren, Gefäße von nicht allzu mäßigem Umfange, und der Platz, um den Mischkrug zu bewahren.
In dem kleinen Nachen, für den die sorgende Natur an dem Gestade der einen Inselseite einen winzigen Hafen geschaffen, trat der biedere Daunus einmal in jedem Monat die Meerfahrt nach Antium an. In dieser herrlichen Stadt, in deren Mauern der Kaiser geboren worden, beschaffte er für sich und seinen priesterlichen[S. 47] Freund alles, dessen das Haus und der Grabkultus bedurfte: Mehl und Salz, Öl, Wein und Flachs, buntes Bandwerk, um Tänien zu flechten, und allerlei Spezereien für den heiligen Opferdienst.
Nach glücklich abgeschlossenem Handel und nachdem er sich beim Oberpriester des Apollotempels gemeldet, unter welchem hohen Heiligtum die Gräberinsel stand, schiffte Daunus so eilig wie möglich wieder zurück. Die reiche, lärmende Hafenstadt mit ihrer Menge von prangenden Tempeln, Basiliken und Hallen war für sein ehrliches, weltfremdes und weltscheues Gemüt voller Schrecknisse, Gefahren und Nöte, denen er sich erst dann glücklich entronnen fühlte, wenn er sich weit entfernt von dem sirenischen Gestade auf offenem Meere befand. Segelte er seiner lieben Gräberinsel zu, so war ihm, als ob die Wellen ihn einem seligen Gestade entgegentrügen, und das Herz bebte ihm bei der Vorstellung, daß, sobald die Kinder groß geworden, sie ihr friedliches Eiland verlassen und nach Rom ziehen würden, um sich in dieser ungeheuren Stadt ihres Lebens zu erfreuen. Der gute Daunus zerbrach sich bereits jetzt den Kopf, wie sie es dereinst anfangen sollten, in dem Gedränge der Gassen nicht erstickt und erdrückt zu werden. Wenn schon das kleine Antium als ein Rom erschien, wie groß mußte dann erst die Stadt des Kaisers sein!
Die glückliche Rückkehr des Daunus aus der weiten, weiten Welt war auf der Insel jedesmal ein Ereignis. Der Weitgereiste sollte erzählen. Larina erkundigte sich eifrigst nach allerlei Frauenangelegenheiten: ob die vornehmen Antiatinnen sich immer noch das Haar auftürmten, des Nachts frisches Hühnerfleisch auf die Gesichter legten und Belladonna in die Augen gössen?[S. 48] Ob die Frau des Cäsars wirklich goldenes Haar hätte, ein Hemd aus Byssus[B] trüge, wie Spinnweb so fein, und eine Freigelassene wäre? Ob Daunus einen Gladiator gesehen und ob in Antium nicht bald wieder ein Fest gefeiert würde, bei dem wilde Tiere gefangene Übeltäter zerrissen?
[B] Batist.
Der schweigsame Atinas fragte nur nach einem; aber er fragte es jedesmal: »Sage, o Daunus: werden in Antium die Götter geehrt?«
Dann wurde Daunus redselig: »Das will ich meinen! Welche Tempel, welche Bildnisse, welche Weihgeschenke! Es ist nicht zu glauben!«
»Und in Rom? Hörtest du in Antium sagen, daß auch in Rom den Unsterblichen eifrig gedient würde?«
»Je nun, in Rom — freilich auch in Rom, ganz sicher auch in Rom! Es soll nicht zu glauben sein!«
»Aber der Kaiser?«
»Nun, das ist einer! Der versteht's! Das ist ein anderer als der Caligula. Und wie er die Götter ehrt! Er soll sogar daran denken, selber einer zu werden, ein ganz anderer, als der Caligula war: ein wirklicher Gott. Gar nicht zu glauben ist's!«
Und Atinas seufzte tief auf.
Unter Toten, die in ihrem ewigen Frieden selig waren, und unter Blumen, welche das ganze Jahr hindurch blühten, wuchs das Kinderpaar auf; an Lebensfülle, Heiterkeit und Schönheit jungen Göttern gleich. Die kleine Acca mit ihren zarten Gliedern,[S. 49] dem schlanken Hals mit blassen Gesichtchen glich einem Marmorbilde der Psyche, das in einem laurentinischen Heiligtum verehrt wurde. Sie hatte lichtes, welliges Haar und in ihrem lieblichen Antlitz erstrahlten die Augen in dem tiefen Blau der von Sonne durchleuchteten Meereswogen. Wenn sie lächelte, was sie tat, so oft sie ihres Spielgefährten ansichtig ward, erschien sie so reizend, daß selbst Atinas glaubte, es könnte auf der Welt nichts Holdseligeres geben. Ihre Stimme war voll Wohllauts, und sie hatte eine eigentümlich anmutige Art zu gehen und sich zu bewegen. Im Spiel mit dem Knaben huschte und schlüpfte sie wie eine Eidechse durch die Büsche; dann hörte man durch die Zweige ihr Lachen, lieblich wie Sirenengesang.
Sie war heiteren Gemütes, von einem stillen Frohsinn, gleichmäßig sonnig, einem schönen Frühlingsmorgen ähnlich. Wenn sie in die Kammer ihrer Eltern oder in die Wohnung des Atinas trat, schien der trübste Tag plötzlich weniger trübe; ein sonniger noch strahlender zu werden. Frühzeitig lernte sie ihrer Mutter Larina beim Flechten der Tänien behilflich zu sein, welche das Weib des Grabhüters an bestimmten Tagen vor den Grabkammern aufzuhängen hatte; sie goß für Vater Atinas den Wein in die Opferschale, häufte die Spezereien auf dem Altar, den sie jeden Tag mit frischen Blüten kränzte, und schaffte bereits als halbwüchsiges Mädchen eifrig mit der Spindel und am Webstuhl. Da nun seit dem Tode der armen Trivia in des Atinas Kammer der Webstuhl verlassen stand, so war nichts natürlicher, als daß der leere Platz von Acca eingenommen wurde, welche auch sonst im Hause des Priesters geschäftig als kleine Domina waltete.
[S. 50]
Auch der junge Tullus war von besonderer Art, ein prächtiger Bursche, um dessen braunes Antlitz düstere Locken sich ringelten, mit schwarzen, blitzenden Augen, die bald in überquellender Lebenslust und Jugendfreude aufleuchteten, bald voll unsäglicher Schwermut still vor sich hinblickten. In solchen Stunden schien des Knaben Seele eine Flamme zu sein und er sich bei diesem innern Feuer zu verzehren.
Schneller als Tullus selbst empfand Acca die Wandlung, die so häufig mit ihrem Freunde vorging. War sie bei ihm, so wich sie nicht von seiner Seite. Nie war ihr Lächeln so lieblich, ihr Antlitz so sonnig, ihre Stimme so voll süßen Wohlklangs, als wenn Tullus' Geist von der dunkeln Wolke beschattet ward, von der auch das Mädchen nicht wußte, woher sie kam und was sie barg. Sie steckte voller unschuldiger Liste und Künste, denen nicht zu widerstehen war. Tausend Einfälle flogen ihr zu; immerfort neue, mit denen sie den Freund fortzulocken wußte; allerlei anmutige Possen kamen ihr in den Sinn. Sie summte schelmische Lieder, die niemand sie gelehrt, erzählte wunderschöne Geschichten, die sie von niemand gehört hatte. Aus der engen Kammer trieb sie den schwermütigen Gespielen hinaus in den von Sonnenglanz durchfluteten Tag. Sie selbst versteckte sich im Hain; Tullus mußte sie suchen, und fand er sie endlich, so warf sie ihm eine Fülle von Rosen ins Gesicht. Dann riß auch Tullus Blüten ab; es entbrannte zwischen beiden der Kampf, bei dem der Jüngling Heldentaten beging und seine reizende Feindin glorreich besiegte. Oder sie lockte die Vögel, die Nachtigallen, die Amseln und die Tauben, welche Acca als Herrin und Königin des Eilandes kannten und ihr untertan waren. Die kleine[S. 51] Zauberin stand auf den Stufen des Altars und von allen Seiten kam das Gevögel herangeflattert. Zwitschernd und gurrend schwirrte es aus den Blumendickichten und den Wipfeln der Zypressen nieder; von den Felsen herab kamen sie geflogen, ein schimmerndes Gewölk, das sich, Accas Haupt umrauschend, zu ihren Füßen niedersenkte. Auf Schultern und Armen saß das kecke Vogelvolk, die Brosamen von den geöffneten, rosigen Lippen naschend. Dann wurde Tullus eifersüchtig, dann lachte Acca.
Zuweilen zog das Mädchen den Träumer mit sich fort, tief in das Innere des Totenberges hinein. Die düsteren Gänge entlang, die engen Felsenstiegen empor, die sie kannten wie die Gänge und Wege draußen im Hain; an allen den Gräbern und Grüften vorüber, klommen sie hoch und höher, bis sie wieder hinaus an den Tag und auf den Gipfel gelangten. Auf seinem schmalen Rand dahinschreitend, schienen sie zwischen Himmel und Erde zu schweben. Zu ihren Füßen ruhte das herrliche Meer, so weit sie blickten in dunklem Purpur erstrahlend, oder in hellem Silberglanz aufleuchtend, unübersehbar, unendlich, aus seinem heiligen Schoß die schöne Erde zur Sonne emporsendend und in seinen Abgrund den Himmel hinabziehend mit aller seiner Wolkenpracht. Dann stand Acca auf der Klippe; ihr weißes Kleid wehte um ihre winzigen nackten Füße, es wehte um Stirn und Wangen ihr glänzendes Haar. Sie hob die Arme. Es war, als ob ihren Schultern Flügel entwachsen müßten und die kleine lichte Gestalt sich aufschwingen würde in den Himmel hinein. Waren die beiden in die blühende Tiefe zurückgekehrt, so war Tullus' Blick wieder beruhigt, dann wand ihm die Freundin zum Lohn für[S. 52] seine heitere Miene von ihren schönsten Blumen einen Kranz. Diesen setzte sie ihm auf, und wenn er sie zum Dank küssen wollte, entwand sie sich ihm; er mußte sie jagen und fangen und halten. Dann tönten die Stimmen der beiden Unschuldigen und Reinen fröhlich durch die wonnige Wildnis, mit den Vogelstimmen und dem Rauschen der Wogen sich mischend.
Aber nicht immer gelang der jungen Sirene ihre Bestrickung; zuweilen enteilte Tullus, wohin sie ihm nicht zu folgen vermochte. Er sprang in den Nachen und trieb mit raschen Schlägen vom Lande ab; taub für die süße, flehende Stimme, die vom Ufer her zu ihm drang, blind für die kleine, einsame Gestalt, für die ihm zuwinkende Hand, ihren bittend erhobenen Arm. Oft geschah es dann, daß Tullus im Nachen sich hinwarf und, vollständig unbekümmert um Wind und Wellen, dalag, zum Himmel aufblickend, der wie ein zweiter strahlender Ozean über ihm flutete; die junge Seele krank vor Sehnsucht nach einem unbekannten, aber göttlichen Glück, träumte der Knabe.
Einmal war es ihm, als sähe er den Himmel offen. Alles war Glanz und Glorie. Zwei leuchtende Gestalten schwebten empor: Acca und er! Es waren aber nur zwei zarte Wölkchen, die dem Abendrot zuwallten. Da sie in das goldene Licht eintauchten, lösten sie sich auf und zerannen.
Weil auf der Toteninsel beinahe alle Grabstätten gefüllt waren, kam von der Küste selten noch jemand herübergeschifft. Nur bisweilen erschien im Morgengrauen dieser und jener Trauernde, um an irgendeinem Gedächtnistage seinen Verstorbenen eine Tänie[S. 53] zu bringen und nach kurzem Aufenthalt wieder zu scheiden. Niemals kam jemand von den Ponza-Inseln herüber, deren Bewohner die nächsten Nachbarn der Leute auf dem Gräbereiland waren; denn dort lebten Verbannte, Feinde und Widersacher des Kaisers, welche der Herr der Welt nicht hatte töten lassen wollen und daher auf diese öden Klippen sandte, wo ihr Leben ein langsames Sterben war. So kam es, daß von der Sturmflut der Ereignisse und Dinge selten der Schall einer verrauschenden Woge zu den fünf Einsamen drang; aber es befand sich unter ihnen keiner, der sich nach den brausenden Tönen des Lebens gesehnt hätte; jeder Laut, der nicht von dem altgewohnten Liede der Wellen und Winde herrührte, gellte als Mißklang in diese von den Vogelstimmen und dem Lachen Accas durchtönte reine und schöne Welt.
Friedlich spannen sich die Tage ab. Mutter Larina und Acca walteten sorgsam in den beiden Häusern; der fromme Atinas diente mit aller Strenge den Göttern, von Jahr zu Jahr mehr in seinem Gemüt verdüstert, während der derbere und gutmütigere Daunus für Herd und Tisch bedacht war, wobei ihm Tullus zur Hand gehen mußte: er tat es nicht allzufreudig.
Manchen Tag befanden sich die beiden schon beim Morgengrauen auf dem Meere; aber anstatt dem Daunus zu helfen, das schwere Netz zu werfen, hockte Tullus im Nachen und schaute der Sonne zu, wie der große, goldige Flammenball aus dem Pupurgewölk langsam und feierlich aufschwebte und die ersten Strahlen sich über die dunklen Wellen ergossen. Dann murrte der wackere Daunus; »Aus dir wird dein Lebtage nichts. Wozu du wohl auf der Welt bist?«
[S. 54]
Das hätte Tullus selber gern gewußt; da er es aber nicht wußte, überließ er diese Sorge den Göttern.
Eine noch unliebsamere Beschäftigung war dem Jüngling, zu den Zeiten, wo der Thunfisch die Küsten entlang strich, mit Daunus des Nachts auf den Fischfang auszuziehen. Alsdann flammte am Bug des Schiffes die Harzfackel; Daunus lehnte mit dem spitzen Dreizack über den Rand und traf mit sicherem Stoß den Thun in den fleischigen Rücken, worauf es zwischen dem Fischer und dem mächtigen verwundeten Tier häufig zu einem Kampf kam, bei welchem in dem schwankenden Kahn auch der Mensch seines Lebens sich wehren mußte. Bessere Zeit war im Frühling, wenn der Jüngling mit dem Alten die Klippen erstieg, um den von Afrika wiederkehrenden Wachteln Netze zu stellen. Von dem weiten Flug übers Meer zu Tode ermattet, ließen sich die heimkehrenden Vögel in Scharen auf den Felsen nieder: eine leicht erjagte Beute, welche Larinas Vorratskammer füllte.
War des Tages Arbeit vorüber, so fand man sich beim Altar zusammen. An schönen Abenden, deren es auf diesem seligen Eilande gar viele gab, ruhte man nach vollbrachtem Opfer am Ufer, angesichts der lang sich hinziehenden lateinischen Küste. Dann erzählte Atinas von dem göttlichen Helden Odysseus. Dort, wo jener Felsenthron dem Meere entstieg, waren die Gärten der argen und holdseligen Zauberin Kirke! Und Atinas berichtete von dem unsterblichen Äneas: An jenem Gestade, der Insel gerade gegenüber, war der Held mit den Seinen nach langer Irrfahrt gelandet; damals war die Gegend dort drüben dunkle Waldung und schauervolle Wildnis, grenzenlose Steppe und Sumpf. Nach Antium zu erhob sich unweit des[S. 55] Meeres die Stadt des schönen Rutulerfürsten Turnus; und mächtig ragten, von hochstämmigem Lorbeer beschattet, die Mauern der Stadt des greisen Königs Latinus, der den stammverwandten, griechischen Fremdling gastlich empfing, diesem die Tochter, die liebliche Lavinia, zur Ehe gelobend. Heiß entbrannte zwischen Rutulern und Latinern der Kampf, dem von des Albanus Höhen die zornige Juno zuschaute: dort ragte der Gipfel des heiligen Berges! — In jenen Wäldern starb das herrliche Jünglingspaar Nisus und Euryolus den Heldentod, sank der wonnige Pallas, auf Todeswunden blutend, auf die Blumen der Flur, beweint von Göttern und Menschen.
Starren Auges schaute Tullus hinüber, wo so hehre Dinge geschehen waren. Ein Nebelstreif, versilbert vom Mondesglanz, säumte das Land. Aus dem Haupt des Albanus, der des Landes höchstes Heiligtum trug, stieg das sanft glühende Himmelslicht empor; eine breite Strahlenbrücke führte von der Insel zur Küste hinüber; hätte Tullus sie beschreiten können!
Leise erhob er sich und schlich davon in die Finsternisse des heiligen Haines. Hier, auf den Stufen des Altars, darauf das Opferfeuer verglühte, warf er sich nieder, seufzte, schluchzte, weinte. Schön war das Leben, denn Acca atmete es! Aber noch schöner mußte es sein, das Leben dahingeben zu können, zu sterben — ganz gleich, um was; starb man nur den Tod eines Helden. Acca kam dem Freunde nachgeschlichen. Sie kauerte neben ihm nieder, raunte ihm zu, tröstete ihn. Aber selbst Acca vermochte nicht ihn zu trösten. So geschah es manche Nacht.
Daunus befand sich auf einer seiner gewöhnlichen Fahrten nach Antium, mußte indessen jede Stunde[S. 56] zurückkehren. Es war Abend geworden, das Meer bewegt, der Himmel bewölkt; aber der Wind erwies sich dem Heimkehrenden günstig, so daß die Seinen um den einsamen Schiffer nicht zu sorgen brauchten. Da der Herbstabend kühl war, hatten sie sich in der Kammer des Atinas versammelt. Die dreiarmige Lampe brannte; auf dem Herde knisterte das Feuer; vor dem Fenster hing der bunte Teppich herab. Man hörte das Rauschen des Windes in den Zypressen und das Meer an den Felsen rollen.
Atinas erzählte von den Göttern, in deren urewiges Sein und Wesen sich der Priester mit immer größerer Inbrunst versenkte, eifrig bestrebt, in seinem Sohn dem Unsterblichen einen wahrhaft frommen Diener zu erziehen. Und das schien dem Vater zu gelingen; denn so wenig der junge Tullus von der Welt und dem Leben kannte, so gut Bescheid wußte er mit den Himmlischen, die er liebte, ehrte und fürchtete und die ihm überaus hehr und herrlich zu sein schienen.
Dann vernahmen sie den lauten Ruf des heimgekehrten Daunus. Larina und Tullus standen auf und gingen hinaus; der Nachen mußte ans Land gezogen und die Ladung in den Kammern geborgen werden. Das war bald geschehen. Nach einer Stunde saßen alle beim Herdfeuer; Daunus labte sich am Wein und sprach kräftig den warmen Ölkuchen und den gebratenen Fischen zu, die seine Hausfrau ihm bereitet hatte. Gegen alle Gewohnheit war der Gute, der sich sonst seiner Rettung aus den Gefahren der Welt und der Bergung im sicheren Hafen mit lautem Behagen erfreute, diesmal seltsam verdüstert und in sich gekehrt.
Man bestürmte ihn mit Fragen: Wie war es in Antium gewesen? Was hatte er vom Kaiser gehört?[S. 57] Welche Neuigkeiten über den Brand von Rom, der immer noch in den Gemütern lebte? Hatte es sich bestätigt, daß der Kaiser, purpurgekleidet, lorbeergekrönt, in einem von zwölf weißen Rossen gezogenen, goldenen Wagen nach seiner Vaterstadt gekommen war, um im Theater vor dem Volk der Antiaten zu singen und sich am nächsten Tag auf dem Forum als höchsten Gott ausrufen und anbeten zu lassen?
Nun ja, bestätigt hatte sich die Kunde. Atinas fuhr wild in die Höhe; aber Daunus blieb wortkarg. Endlich schmeichelte es Acca aus ihrem Vater heraus.
»Was soll mir geschehen sein? Geärgert habe ich mich! Denkt euch: da gibt es jetzt Menschen, die behaupten, unsere Götter wären nicht Götter. Solche Bestien! Sie verkünden einen andern Gott, den sie Jesus nennen und der aus der asiatischen Stadt Nazareth ist. Kann man sich solches vorstellen? Diesen Jesus von Nazareth haben die Juden, als Tiberius Kaiser war, unter dem Statthalter Pilatus in unserer Provinz Judäa gekreuzigt. Der soll nun ein Gott sein.«
Atinas war aufgesprungen. Mit heiserer Stimme stieß er hervor: »Wie sagtest du, Daunus? Unsere Götter wären nicht Götter? Es gibt Leute, die solches auf der Straße ausrufen und die von dem Grimm der Götter nicht zermalmt werden? Sie leugnen Jupiter und predigen von einem Gott Jesus, der unter Kaiser Tiberius gekreuzigt ward? Ei, Daunus, ein Toter soll ein Gott sein und unsere Unsterblichen sollen niemals gelebt haben? Mein wackerer Daunus, welcher laurentinische Äsop hat dir in Antium Fabeln erzählt?«
[S. 58]
Auch Larina schüttelte den Kopf über ihren Hausherrn, der solche Geschichten mitbrachte. Die Götter wären nicht Götter! Hatte man jemals so etwas gehört? Besorgt beobachtete die verständige Frau den Gatten, ob nicht etwa der Trank des Bacchus aus ihm rede. Doch schien jener gütige Himmlische dem wackern Mann gänzlich fern geblieben zu sein.
Mit stummen Schrecken blickten Acca und Tullus einander an; es sollte keine Götter geben! Der Jüngling war erblaßt; er mußte an den neuen Gott denken, der wie ein Mensch gestorben war. Die Götter Roms starben nicht!
Nun erzählte Daunus. Und wenn er nichts mehr wußte, wiederholte er das Gesagte. Atemlos lauschten sie auf seine verworrenen Reden, Atinas mit einem Ausdruck in seinem mächtigen Antlitz, daß sein Sohn voller Scheu zu ihm hinübersah. Daunus berichtete, wie die Nazarener — so nannten sie sich nach ihrem Herrn — den neuen Gott begeistert verkündeten, wie sie die alten Götter lästerten, wie sie von den ergrimmten Römern sich töten ließen, wie sie sterbend voller Glückseligkeit waren; denn ihr Tod vereinigte sie mit ihrem gestorbenen Unsterblichen. Mit eigenen Augen hatte Daunus in Antium solche Nazarener erblickt. Sie sahen ganz aus wie andere Menschen, kleideten sich auch so, aber sie hielten sich still und grüßten einander mit einem besonderen, feierlichen Gruße.
Daunus schloß seine Rede: »Und das ärgste ist, daß dieser Gott Jesus eines Zimmermanns Sohn gewesen sein soll. Wäre er noch Kaiser gewesen!«
Aber da stieß Atinas, der in düsterem Schweigen und halber Entgeisterung dagesessen hatte, einen Seufzer aus, so laut und schmerzlich, daß es wie ein Stöhnen[S. 59] klang. Und der Priester gedachte des Kaisers, der, nachdem er öffentlich vor allem Volk als Schauspieler, Sänger und Rosselenker aufgetreten war, sich als höchste Gottheit hatte ausrufen lassen. Und auch das hatten die Götter geduldet! Dies bedenkend, schämte sich Atinas über die Schmach, welche die Unsterblichen sich selber zugefügt.
Bis spät in die Nacht hinein blieben die Freunde beisammen. Der Wind legte sich, die Wolken verzogen sich; der Insel gegenüber stand am Himmel ein kleiner leuchtender Streifen: der junge Mond. Es war, als wäre das Firmament aufgeritzt und Glanz quelle hervor.
Atinas erhob sich und sprach feierlich: »Laßt uns den Göttern ein Opfer bringen.«
Er verließ die Kammer. Acca füllte die Opferschale. Tullus holte die Spezereien und alle begaben sich zum Altar. Als die Flammen stiegen, hob Atinas die Schale: »Euch, die ihr ewig seid!«
Und er sprengte den heiligen Wein.
Trübe Tage folgten jener Nacht. Das Gemüt des Atinas blieb verdüstert und es stürmte in der Seele des sonst festen und sicheren Mannes. Er trug sich mit schweren Gedanken, verbrachte die Tage in der Tiefe des Haines, sogar den geliebten Sohn meidend, dessen Geist er nach seinem Geist gebildet und mit dessen Leben sich dereinst das seines Vaters erfüllen sollte. So oft er jetzt seines priesterlichen Amtes waltete, spendete er das Opfer den »ewigen« Göttern, jenen Herrlichen und Hehren, die da waren, die da sind, die da sein werden.
[S. 60]
Wochen verstrichen. Der Herbst brachte die Regenzeit. Unaufhörlich strömte es hernieder; dichte, graue Wolkenschleier umhüllten das Eiland, weder Sonne noch Mond waren zu erblicken; die ganze Welt schien in Dunst und Geriesel sich auflösen zu wollen.
In den Zypressen stöhnte der Wind; er beugte die Wipfel, brach die Blütenzweige der Büsche und trieb Schwärme bunter Blätter in die Luft. Die aufgewühlten Wogen peitschten die Klippen, der Fels erbebte vom Anprall der wilden Flut; die Brandung stritt mit dem Sturm, wessen Stimme am grimmigsten zu tosen vermöchte.
Auf den Seelen der Inselbewohner lastete der graue Himmel, als wäre er der Deckel eines Sarges, der über ihnen, den Lebendigen und Atmenden, geschlossen würde. Tullus schlich blaß und stumm umher, als wandle er im Schlafe, aus dem selbst Accas Zauberstimme ihn nicht zu wecken vermochte. Zuweilen konnte man ihn starr vor sich hinschauen sehen und dabei die Worte murmeln hören: »Euch, ihr ewigen Götter!«
Eines Abends trat Atinas in die Kammer der Freunde. Indem er es vermied, seinen Sohn, der sich gerade bei Daunus befand, anzusehen, sprach der Priester mit rauher Stimme zu dem Gefährten: »Morgen gibt es einen freundlichen Tag. Der Regen hat aufgehört und der Wind ist umgeschlagen; das Meer beruhigt sich über Nacht. Getrautest du dir wohl, morgen nach Antium hinüber zu schiffen?«
»Wir haben noch Mehl genug; Wein und Öl reichen auch wohl für eine Woche.«
»Es ist diesmal nicht, um Mehl und Wein zu holen, daß du nach Antium sollst.«
Verwundert blickte Daunus auf: »Weshalb sonst?«
[S. 61]
»Du sollst mich hinüberbringen.«
»Dich, Atinas? Du willst nach Antium?«
»So sagt' ich.«
»Aber was willst du dort?«
Tullus stand leise auf und trat zu seinem Vater.
»Ja, was willst du eigentlich in der Stadt?« fragte mit besorgtem Gesicht jetzt auch Larina. »Du gehst ja niemals hinüber. Es werden zehn Jahre und länger her sein, daß du zuletzt in Antium gewesen bist. Was willst du dort?«
»In Antium nichts.«
»Wie?«
»Ich will nach Rom.«
»Nach Rom!«
Alle vier riefen es. Die beiden Alten erschraken; Acca tat einen leisen Schrei; denn Tullus' schwermütiges Gesicht erhellte sich und er hatte den Ausruf mit ersticktem Jubel getan.
Atinas runzelte die Stirn.
»Nun ja, ich will nach Rom. Was ist da weiter? Ich muß selbst sehen, selbst hören — das von den Nazarenern. Es läßt mir keine Ruhe; ich halte es hier nicht länger aus. Genug, ich gehe morgen fort. Bis zum Frühling bin ich wieder zurück. Was willst du, Tullus?«
Atinas wußte sehr wohl, was der Jüngling wollte. Bevor dieser indessen seine Bitte stammeln konnte, vernichtete er ihm jede Hoffnung auf Erfüllung derselben.
»Du bleibst hier,« gebot Atinas. »Was wolltest du in Rom? Rom ist nichts für einen Knaben wie du einer bist. Das ist eine Stadt, die den Menschen vergiftet und verdirbt an Leib und Seele. Still! Bitte[S. 62] mich nicht! Genug, du bleibst bei Daunus und Larina und — bei Acca.«
Atinas sah sie an. Sie stand da, immer noch zitternd von dem gewaltigen Schrecken, aber mit einem Antlitz, das von der holdesten Freude verklärt ward: Tullus würde dableiben, bei ihr! Atinas nickte ihr zu und lächelte; bei den ewigen Göttern: der finstere Atinas lächelte! Da erglühte Acca über und über.
Am nächsten Morgen vor Aufgang der Sonne war der Nachen zur Abfahrt gerüstet. In tiefer Bewegung schloß Atinas seinen Sohn in die Arme, den Jüngling mit feierlichem Segen unter den Schutz der Ewigen stellend, denen er vorher zum letztenmal am Altare geopfert hatte. Noch lange sahen die Zurückbleibenden die hohe Gestalt im Nachen aufrecht stehen und ihnen zuwinken. Dann tauchte das Fahrzeug in den Glanz des jungen Tages, in dessen Strahlen es ihren Blicken entschwand.
Tullus war zumute, als könnte keine Woge ihm den Vater zurückbringen.
Von Atinas drang keine Kunde nach dem Eilande. Aber obgleich der opfernde Priester fehlte, wurde nach gewohnter Weise jeden Morgen und jeden Abend am Altar den Himmlischen gespendet.
»Euch, ihr ewigen Götter!«
Es war Tullus, der, während Daunus das Opfer darbrachte, diese feierlichen Worte sprach.
Auf der Insel befand sich eine Bildsäule des Jupiter. Die herrliche Marmorgestalt, von einem griechischen Künstler gebildet, stand unweit des Altars, an einem[S. 63] Ort, wo das ganze Jahr über Rosen in solcher Fülle blühten, daß es aussah, als lägen zwischen den dunklen Zypressen scharlachrote Teppiche gebreitet und rosige Schleier gehäuft. Die schönste Ranke, daran vor Blüten keine Blätter zu sehen waren, hatte sich um den Sockel der Bildsäule geschlungen und höher um den in unsterblicher Schönheit strahlenden Leib, bis zum Haupt des Donnerers empor, ihm einen Kranz von Rosen auf die Stirn drückend.
Der heimliche Winkel war von Kinderzeiten an der Lieblingsaufenthalt des jungen Paares gewesen; zu Füßen des Gottes hatten die beiden ihre ersten Spiele gespielt und das schöne Marmorbild, das mit göttlichem Lächeln auf die Kleinen niederblickte, war dabei das dritte im Bunde gewesen. In späteren Zeiten hatte Tullus manchen halben Tag vor der Jupiterstatue verträumt, glühende Sehnsucht nach einem zukünftigen Leben voll großer Taten in der Seele. Jetzt nun, nach der Abreise des Atinas, brachte er von neuem die Stunden unter dem Bildwerk zu; während er in den Anblick des hellenischen Gottes versunken war, kam dem Jüngling die Absicht jener Nazarener, so viel Majestät und Größe zu leugnen, mehr und mehr als ein Frevel vor, für den alle Qualen des Todes nicht Strafe genug waren. Pochenden Herzens gedachte er in solchen Stunden seines herrlichen Vaters, der sich in Rom sicher an der Verfolgung der Nazarener beteiligte, für die alten, unsterblichen und ewigen Götter Großes vollbringend. Mit Tränen heißen Schmerzes in den Augen fühlte er seine Nichtigkeit und daß er hatte zurückbleiben müssen, anstatt an seines Vaters Seite dessen glorreiche Taten zu teilen. Als der Jüngling das hehre Bild des höchsten Gottes[S. 64] anschaute, stieg in seiner Seele eine andere Gestalt auf, die eines Menschen, dessen gemarterter Leib an einem Kreuze hing: Jesus von Nazareth, der neue Gott. Ein gekreuzigter Mensch ein Gott — ein Toter ein Unsterblicher!
Tullus haßte und verabscheute den Leichnam, der ewig sein sollte.
Wieder einmal war Daunus nach Antium hinübergeschifft. Tullus hatte ihn durchaus begleiten wollen, war aber beinahe mit Gewalt zurückgehalten worden; denn Daunus hatte dem Atinas gelobt, seinen Sohn der Küste fernzuhalten. Die Nachrichten, welche er über die Nazarener zurückbrachte, waren nicht danach angetan, die Gemüter zu beruhigen: laut und lauter erhoben die Jünger des neuen Gottes ihre Stimmen; offen schmähten sie die Ewigen als ungöttlich und gar nicht seiend; triumphierend erlitten sie Verfolgung, Marter und Tod. Ihre Zahl wuchs und wuchs.
Dann war lange Zeit der Verkehr mit dem Festlande unterbrochen: Winterstürme umbrausten die Insel. Endlich kam der Frühling: es war, als ob die Schwingen einer Gottheit im Vorüberrauschen den Felsen im Meere berührt hätten. Unter den Zypressen erblühte über Nacht ein Teppich von weißen und gelben Krokus; in den Gebüschen dufteten die Veilchen; die öden Klippen bedeckten sich mit Anemonen und Tazetten, und neben den Myrtensträuchern öffneten die Blumen des schönen Narzissus ihre duftenden Kelche.
In Schwärmen erfüllten Amseln und Nachtigallen den Hain mit Gesang. Es war ein Getön, als hätten die Zweige Stimmen und Wohllaut empfangen. Gleich Strahlen durchschossen die Blaudrosseln die sonnigen Lüfte; in den von Schmetterlingen umschwärmten[S. 65] Blumendickichten schwirrten bunte Käfer, und in den Zypressen nisteten zahllose Turteltauben.
Halbe Tage lang lag Tullus am Strand, hörte die Wogen rauschen, sah die Wolken über sich ziehen und starrte in die glanzvolle Meeresweite hinaus, hinüber zu dem langen, leuchtenden Streifen der lateinischen Küste. Es war in diesen Tagen, daß der Jüngling sich wie sterbend fühlte vor Sehnsucht.
Acca saß am mütterlichen Webstuhl, das Schifflein weniger eifrig als sonst durch die Fäden werfend. Sorgend gedachte sie des dunklen Wesens ihres lieben Freundes und fühlte sich so kummerbelastet, daß ihr häufig die Arme wie in tiefer Ermattung am Leibe herabsanken. Die Sonne ging unter in den purpurnen Fluten, die Glorie des Abendrotes verklärte den Webstuhl und die junge Gestalt des einsam in Trauer dasitzenden, reizenden Kindes.
Was war's nur mit ihm?
Er wollte fort!
Und fort mußte er, sonst verkam er. Sie kannte ihn! Lange ertrug er's nicht mehr, dann ging er fort: in aller Heimlichkeit, ohne ihr Lebewohl zu sagen. Er folgte seinem Vater; er ging nach Rom, in die ungeheure Stadt, wo Gefahren ihm drohten, wo niemand bei ihm war, ihn vor dem Verderben zu schützen.
Denn sie kannte ihn!
Was wollte er in Rom?
Seinem Vater helfen, die Nazarener zu verfolgen. Er haßte sie.
Acca verstand nicht, wie der Mensch hassen konnte.
Leise trat Tullus in die Kammer und sah zu der verklärten, lieben Gestalt hinüber, lange und unverwandt.[S. 66] Sie schaute auf und ihre Blicke begegneten sich. Da wußte sie es; sie wußte es gleich.
Er wollte fort, diese Nacht noch — ohne von ihr Abschied zu nehmen.
Sie erhob sich, ging langsam auf ihn zu, stand und sah ihm tief in die Augen.
»Ich gehe mit dir.«
Tullus erbebte.
»Ich gehe nicht fort.«
»Du willst nach Antium und weiter: bis nach Rom — diese Nacht noch.«
»Acca!«
»Es wird meine Eltern sehr bekümmern, aber ich kann ihnen nicht helfen.«
Noch einmal versicherte Tullus: »Was fällt dir ein? Ich bleibe hier.«
Ihren leuchtenden Blick von seinem bleichen Gesicht nicht abwendend, lächelte sie ihn an, ohne ein Wort zu sagen; da stürzten ihm die Tränen aus den Augen, laut schluchzte er auf.
»Ich weiß ja auch nicht, was es ist,« stammelte er; »aber ich sehne mich so — ach, Acca, Acca, wie ich mich sehne!«
Sie umschlang ihn mit beiden Armen, drückte sein Haupt an ihre Brust und flüsterte ihm zu: »Wo du bist, muß ich sein. Kannst du dir denken, daß es anders geschehen könnte?«
Er konnte es sich nicht denken; so gestand er ihr denn alles und sie tröstete ihn. Daran küßten sie sich, unschuldig wie Kinder, die sich gezankt haben und sich wieder versöhnen.
Heilige Frühe wehte um die Stirnen der beiden Flüchtlinge. Die ganze Nacht waren sie mit günstigem[S. 67] Winde gesegelt und trieben nun beim aufglühenden Tageslicht der Küste zu, deren Herrlichkeiten bereits dicht vor ihren Augen lagen. Voller Entzücken sah Tullus die Menge der Paläste, der Basiliken, Thermen und Amphitheater; er sah den Strand, so weit seine Blicke schweiften, besetzt mit Landhäusern, Portiken und Heiligtümern.
Acca schaute nicht vorwärts, sondern zurück, wo an dem lichten Horizont ein Wölklein zu schwimmen schien: die verlassene Heimat. Doch so oft Tullus mit einem Ausbruch des Jubels sich nach ihr umwendete, bog sie hastig das Köpfchen und teilte sein Staunen über alles, was er erblickte.
»Das ist die Welt, Acca! Sieh, wie groß, wie schön! Hier sind die Götter, die sie leugnen wollen.«
Und nach einer Weile leise, mit bebender Stimme: »Bist du glücklich, Acca?«
Sie nickte ihm zu: »Ich bin glücklich, Tullus.«
Trotz dieser Versicherung glaubte er sie trösten zu müssen: »Sie werden nicht allzusehr um dich besorgt sein; wissen sie doch, daß du bei mir bist! Was sollte dir da geschehen können? Siehst du nun ein, wie unnütz du dich quälst? Mutter Larina wird jammern und Vater Daunus schelten, nicht allzusehr! Sie werden sich gewiß denken können, wie alles gekommen ist; daß ich fortwollte, daß du mich nicht zurückhalten konntest, und daß du dann natürlich mit mir gegangen bist. Es war wirklich ganz natürlich, daß du mich nicht allein ließest. Sicher werden sie das einsehen! Sie haben uns wie Gefangene gehalten, ich wäre beinahe gestorben. Wenn man jung ist und auf einer Klippe lebt und die Welt jeden Tag vor Augen hat und doch nicht hin kann, und wenn[S. 68] man fühlt, wie man zu etwas Besserem taugt, zu etwas Größerem; wenn man etwas tun will, etwas tun muß — ach, Acca, Acca, mir ist so wohl, ich fühle mich so frei, so stark, so — — ich kann es nicht sagen, aber die Götter wissen es. Sieh nur die Herrlichkeit! Ist es denn möglich, daß die Welt so groß, daß sie so schön ist? Sei glücklich! Wir wollen glücklich sein!«
Sie nickte ihm wieder zu: »Das wollen wir.«
Eine Weile schwiegen sie; dann flüsterte Tullus, die zarte Gestalt seiner Gefährtin mit scheuem Blicke streifend: »Acca!«
»Ja.«
»Dir ist doch nicht bang?«
»Wovor sollte mir bang sein?«
»Vor der Stadt, vor den Menschen, vor Rom, vor der Welt. Aber du hast ganz recht; wovor sollte dir bang sein? Sind doch die Götter bei uns.«
Acca wendete sich ab.
»Ob wir wohl einen Nazarener zu sehen bekommen?«
Sogleich verfinsterte sich des Jünglings Gesicht. Er preßte die Lippen zusammen und murmelte: »Ich hasse sie.«
Acca wollte ihn bitten, das nicht zu tun; Tullus schaute aber so finster drein und hatte eine so feindselige Miene, daß sie schwieg.
Bereits befand sich das Boot mitten im Gewühl des Hafens; doch achtete niemand der beiden. Tullus ermahnte: »Du darfst dich nicht fürchten. Ich beschütze dich. Es soll niemand wagen, dich anzurühren, sieh nur recht mutig drein und kehre dich nicht an das Geschrei! Ich habe es mir viel schlimmer gedacht.[S. 69] Sobald wir gelandet sind, suche ich einen Schiffer, der mit dem Nachen zur Insel zurückrudert. Dein Vater wird froh sein, das Boot wiederzuhaben und den Mann gewiß für die Fahrt bezahlen. Das müssen wir ihm sagen, verstehst du. Ich werde schon alles besorgen, fürchte dich nur nicht! Du bist ganz bleich. Gewiß hungert dich. Wie gut, daß wir Geld haben! Dafür können wir uns kaufen, was wir wollen. Es wird herrlich sein. Die Götter werden uns beschützen.«
Es währte einige Zeit, bis sie ans Ufer kamen. Der Nachen erhielt von allen Seiten Stöße, von allen Seiten wurde der junge Fährmann angeschrien. Doch schließlich gewannen sie festen Boden unter den Füßen. Schwindlig von der langen Fahrt stieg Acca ans Land; Tullus faßte sie bei der Hand und schickte sich an, einen Schiffer zu suchen, dem er das Boot übergeben konnte. Die Sache war bald erledigt. Der Mann, den Tullus deswegen ansprach, zeigte sich sofort geneigt; gleich am Abend wollte er nach der Insel ausbrechen. Mit stockender Stimme bat Acca den Boten, an die Eltern Grüße auszurichten und ihnen zu sagen, daß — — nein, nur grüßen sollte er Vater und Mutter, vielmals grüßen. Der Mann versprach es zu tun. Die Menschen waren doch viel freundlicher und hilfreicher, als die jungen Leute geglaubt hatten, und beide fühlten sich von froher Hoffnung beseelt.
Wie von einer Last befreit, nahmen sie von dem gefälligen Antiaten Abschied, sich Hand in Hand in das Gewühl der großen und prächtigen Stadt begebend; zunächst, um bei anderen freundlichen Menschen ihren Hunger zu stillen. Es schmeckte prächtig! Sie genossen weißes Brot und heißen, aus Gewürzen[S. 70] bereiteten, mit Honig versüßten Wein. Auch für ihre Wanderschaft kauften sie ein. Neugestärkt erfragten sie den nächsten Weg nach Rom. Zuerst sollten sie die Via Severiana gehen, welche längs der Küste hinführte und sodann die Straße nach Ardea einschlagen. Tullus wollte, ehe sie Antium verließen, die Tempel der höchsten Götter besuchen; aber Acca bat ihn inständig, sogleich aufzubrechen, damit sie bald nach Rom und zu Vater Atinas gelangten. Der Gefährtin zuliebe zügelte der Jüngling sein ungestümes Verlangen; doch waren sie bereits müde vom Schauen und Staunen, als sie sich noch in den Straßen Antiums befanden.
Schon seit Stunden wanderten sie und immer noch schienen sie aus der Stadt nicht herauszukommen; denn immer noch schritten sie zwischen herrlichen Bauwerken dahin und hatten Mühe, den Wagen und Fußgängern auszuweichen. Aber als Tullus sich erkundigte, ob Antium noch nicht bald ein Ende nehme, hörten sie, daß sie die Stadt bereits gute fünf Miglien hinter sich hatten.
Sie sprachen unterwegs nicht viel. Von Zeit zu Zeit fragte Tullus seine Gefährtin mit leiser Stimme: »Bist du glücklich?«
Diese erwiderte jedesmal ebenso leise: »Ich bin glücklich.«
Ihre Hände hielten sie fest ineinandergeschlossen.
Tullus kam vor Aufregung nicht dazu, seine Müdigkeit zu fühlen; er drängte vorwärts und vorwärts. Plötzlich wankte Acca und wäre hingesunken, hätte Tullus sie nicht schnell mit beiden Armen umfaßt und gehalten. Er führte sie vom Wege ab, in einen Pinienwald, wo sie sich rasch erholte und nun gleich weiter[S. 71] wollte. Besorgt spähte Tullus in ihr bleiches Gesichtchen; doch sie plauderte und scherzte, so daß er sich überreden ließ, sie fühle sich ganz kräftig und wohl. Bis Ardea, der uralten, einst mächtigen Stadt des Rutulerfürsten Turnus, setzten sie ihre Wanderung fort; dann bat Tullus einen Landmann, der in seinem Karten nach Rom fuhr, sie beide mitzunehmen. Ja, wenn sie ihn bezahlen könnten, meinte der Mann. Er ließ sie erst aufsteigen, nachdem Tullus ihm das Geld, fast den ganzen Rest seiner Barschaft, eingehändigt hatte.
Jetzt ward es herrlich. Der Bauer bereitete aus seinem Mantel einen bequemen Sitz für Acca, von dem sie über die niedrige Brüstung des Karrens nach beiden Seiten hin frei ausschauen konnte; Tullus stand neben ihr, ließ sich von dem Wagenlenker alles zeigen und nennen, so viel der Mann wußte, und berichtete das Erfahrene der Freundin. Jener langgestreckte, ganz mit Landhäusern bedeckte Bergrücken war Tusculum, die Stadt des Sohnes des Odysseus, welchen die goldige Zauberin Kirke dem Helden geboren hatte. Weiterhin, unterhalb des Tempels des Jupiters auf dem Gipfel des Albanus, dunkelte der Hain der Ferentina, dieser herrliche, hochheilige Wald, in dem vorzeiten die Städte des lateinischen Bundes an der Quelle der Göttin zum großen Völkerrate sich zusammenfanden und die höchsten Feste des Landes begingen. Dort drüben der Ort, an welchem, hoch über dem blauenden See, einst Albalonga gelegen, die Wiege Roms, das seine Mutterstadt dem Erdboden gleichgemacht hatte. Seht! Das Landhaus des Helden Pompejus leuchtet herüber, nicht als Palast erscheinend, sondern als eine Stadt von Palästen. Dann[S. 72] Ariccia, an der Stelle erbaut, wo des Theseus Sohn, der herrliche Hippolyt, von Rossen zu Tode geschleift ward. Jetzt die Waldung, die den strahlenden Spiegel Dianas umschattet, in deren Heiligtum der von den Furien verfolgte Orest das auf Tauris geraubte Götterbild barg. Tibur müßt ihr noch sehen, das hochragende, herrliche! Von den elyseischen Höhen der Sabina glänzt es herüber. Dort die Felsenberge des hehren Praeneste und dort — — nichts mehr! Nichts mehr!
Der Bauer erzählte: »Der Cäsar ist jetzt in Rom. Das ist einer! Ein Gott ist's: Gott Nero. Solch ein Gott! Nun, was geht's mich an? Ich habe meine Hütte, mein Feld, mein Weib und meine Kinder in Laurentum drüben. Warum soll der Kaiser kein Gott sein? Der Caligula war auch einer und das Pferd des Caligula war auch einer; und ein Gott könnte des Nero Hund und des Nero Pfau und des Nero Katze sein. Warum nicht? Gott Nero behüte uns! Ich sage: das ist einer! So einer, wie der, der bringt Geld unter die Leute. Sein neues Haus geht vom Palatin über den Quirinal und den Viminal. Warum soll's nicht? Wenn so ein Gott ein neues Haus haben will, baut er sich's eben. Es heißt: sogar die Straßen in dem römischen Haus wären mit Gold und Perlen gepflastert. Was geht's mich an? Wenn dabei nur Geld unter die Leute kommt. Es lebe Gott Nero! Habt ihr schon gehört: sie wissen jetzt, wer damals die Stadt angesteckt hat.«
»Wer war's?«
»Die Nazarener.«
»Jupiter vernichte sie!«
»Nun ja; sie sollen nichts auf die alten Götter geben, sie sollen einen neuen Gott gefunden haben.[S. 73] Was geht's mich an? Wenn der Cäsar stirbt, bekommen wir wieder einen neuen Gott. Ein neuer Gott bringt Geld unter die Leute; die Nazarener sind arme Schlucker. Das mag ein rechter Gott sein, den die haben! Nun, was geht's mich an? Ich habe mein Feld, meine Hütte, mein Weib und meine Kinder in Laurentum drüben. — Da ist die Stadt.«
»Acca, da ist Rom! Acca! Acca!«
Sie stand auf, hielt sich an ihm fest und schaute mit ihm hinüber — ein Häusermeer, unabsehbar, unendlich. Auf den Tempeln und Palästen, welche die Hügel krönten, lag die Glut der Abendsonne. Es leuchtete und lohte, als ob Rom zum zweitenmal in Flammen stünde, als ob goldige Strahlen über die Stadt hinfluteten. Dort ragte der Kaiserpalast, ein Olymp! Jenseits des Stroms, auf dem Janiculus, die Kaisergärten, ein Elysium! Ein zarter schimmernder Dunst schwebte über der ungeheuren Stadt, als würde auf tausend Altären tausend Gottheiten geopfert.
Die beiden schauten und wußten nicht, wie ihnen geschah. Sie glaubten zu träumen. Die Stimme ihres Wagenlenkers rief sie wieder ins Leben zurück.
»He, ihr! Was wollt ihr eigentlich in der Stadt? Zwei solche Vögelchen!«
Tullus fand auf diese Frage nicht gleich eine Antwort. Der Bauer murmelte verdrießlich: »Nun, was geht's mich an? Ich meine nur. Nehmt euch vor der Stadt in acht! Das meine ich, obgleich es mich nichts angeht. Ihr seid ein hübsches Paar. Noch blutjung! Hättet auch noch ein Jährchen warten können, ehe ihr Mann und Frau wurdet. Juno, die reinen Kinder! Seht nur zu, daß ihr bald zu einem[S. 74] Stücklein Feld kommt, mit einer Hütte darauf und Kindern darin. Das ist das beste. Und je entfernter von der Stadt, um so besser; recht weit fort von der Stadt, das ist am allerbesten. — Nun, was geht's mich an? Hier ist das Haus meines Herrn, hier müßt ihr absteigen. Die Götter seien mit euch: die alten und die neuen; man muß es mit allen halten.«
Der Karren hielt; die beiden stiegen ab, schweigend, ohne ihrem freundlichen Lenker ein Wort des Dankes und des Lebewohls zu sagen. Sie gingen fort, immer noch stumm, mit gesenkten Augen und sich nicht mehr bei der Hand haltend.
Sie wußten selbst nicht, wie es gekommen war: auf einmal merkten sie, daß sie von der Landstraße abgewichen und sich auf einem einsamen, mit Gras und Blumen überwachsenen Wege befanden. Zwischen silbergrauem, gelbblütigem Fenchel und dunklem Akanthus wucherten üppige Asphodelen und die blassen, schönen Blumen der Aronswurzel; den Eppichüberhang der Hecken durchrankte buntes Kaprifolium; Schlehen und Goldregen blühten. Die stumme Acca pflückte den Mantel voller Blumen, daß sie mit ihrem lichten Haar und den strahlenden Augen der Tochter des Ceres glich, welche Blüten spendend über die Flur wandelt. Kein Auge ließ Tullus von der schlanken, ihm vorausschreitenden Gestalt, die ihm plötzlich wundersam verändert deuchte. Zum erstenmal gewahrte er ihren schwebenden Gang, gewahrte, mit welcher Anmut sie das Köpfchen trug und die Arme bewegte, wie strahlend ihr Blick, wie lieblich ihr junger Mund. Aber zugleich erschien ihm die Gefährtin geweiht und heilig, ein göttliches Wesen, das keine irdische Hand[S. 75] berühren durfte. Wenn ihr Gewand ihn streifte, überliefen Schauer den Jüngling.
Auch er fühlte sich wie durch Zauber ein anderer geworden. Ein wütender Schmerz bebte in ihm auf, eine unsägliche Wonne; ihm war's, als zersprengte es seine Brust, als müßte er ersticken; er dachte nicht daran, daß er in Rom war, sondern, daß er bei Acca weilte; er sehnte sich nicht mehr nach Heldentaten; sein einziges Verlangen war, immerfort bei Acca sein zu dürfen, an ihrer Seite, so wie heute in die Helle des Sonnenuntergangs hineinzuwallen, weiter und weiter.
Über ihnen war der Himmel Glanz und Glorie; durch die Blütenmauern schritten sie hinein in die flammende Abendröte.
Es begann zu dämmern. Schleier woben sich um den Glanz, verhüllten die himmlischen Flammen, erstickten sie. Schatten stiegen auf; sie wuchsen und wuchsen. Aber schon schimmerten die Sterne. Es war wie in einem Mysterium.
Die Nacht brach an, eine Frühlingsnacht voll balsamischen Wohlgeruches, voll Sternenglanz und geheimnisvoller Stimmen.
Sie gelangten auf eine weite Wiese, weiß von Narzissen. Ein Bach durchfloß die Flur, die Ufer waren mit einem Kranz heller Lilien besäumt. Nirgends war ein Haus, nirgends ein Mensch zu sehen. Inmitten der lichten Weite ruhte ein großer, schwarzer Schatten, gleich einer dunklen Insel in diesem Blumenmeer. Eine breite Spur von zerknickten Stengeln, zertretenen Blüten hinter sich lassend, schritten sie darauf zu.
[S. 76]
Über Rom schwebte ein fahler Schein; einem düstern Gewölke ähnlich lagerte das ferne Gebirg über dem Lande.
»Wohin gehen wir?«
»Wohin die Götter uns führen. Fürchtest du dich?«
»Nein, nein.«
»Morgen sind wir in Rom, morgen finden wir meinen Vater, Acca —«
Was mochte es sein, das der nächste Tag bringen würde? Es war Tullus, als müßte etwas Großes, Ungeheures geschehen, etwas, danach sie beide nicht länger würden leben können. Doch was es auch sein mochte, es wurde ihnen von den Göttern gesendet.
Der mächtige Schatten erwies sich als eine Waldung hoher, dichtbelaubter Steineichen; am Rande des Haines stehend, schauten sie vor sich in eine weitklaffende Höhle. Tullus sagte: »Bleibe hier! Ich will hinein und sehen, was drinnen ist.«
Aber Acca faßte seinen Arm und drängte sich an ihn. So schritten sie denn zusammen in das Dunkel.
Als ihre Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten, fanden sie, daß der Hain voller Grotten und Höhlen war, die tief in das Innere der Erde hinab zu führen schienen. Tullus wollte an der unheimlichen Stätte nicht bleiben, aber Acca war zu sehr ermattet. So riefen sie denn die Ewigen zu ihrem Schutze an, Acca begab sich in eine der natürlichen Felsenhallen und Tullus lagerte sich am Eingang nieder, entschlossen, kein Auge zuzutun und den Schlaf der Geliebten zu bewachen. Um noch einmal ihre liebe Stimme zu hören, rief er leise in die Grotte hinein: »Acca, bist du glücklich?«
[S. 77]
»Glücklich,« tönte es zurück wie der zitternde Widerhall seiner eigenen Stimme.
Trotz seiner guten Vorsätze schlief Tullus bald ein. Ihm träumte: Ein Kreuz ragte auf. An dem Kreuzesstamm hing mit eisernen Banden festgeschmiedet, ein sterbender Mensch, von dessen Haupt heller Schein ausging. Unter dem Kreuz stand Acca, mit einem Antlitz, darauf von den Strahlen, die um des Sterbenden Antlitz flossen, ein heller Glanz fiel. Acca winkte ihm, näher zu treten.
Tullus aber sprach: »Das ist ja der Gott aus Nazareth.«
Doch Acca fuhr fort zu winken und das Licht, welches sie verklärte, wurde immer leuchtender, so daß endlich ihre ganze Gestalt erstrahlte. Sie winkte, lockte und lächelte so lange, bis Tullus zu ihr kam und mit ihr zusammen unter dem Kreuze stand, dessen Schein nun auch ihn überflutete. Da hörte er Acca flüstern: »Bist du glücklich, Tullus?«
Und Tullus hörte sich antworten: »Ich bin glücklich.«
Auf einmal war ihm, als klänge der Donner einer göttlichen Stimme in seine Ohren: »So empfanget das ewige Leben.«
Tullus erwachte; aber er glaubte, immer noch zu träumen. Von dem Platz aus, wo er sich zur Ruhe niedergelegt hatte, sah er in das Innere der Grotte hinein, die von dem glühenden Schein mehrerer Fackeln, welche in eisernen Ringen an den Wänden steckten, erleuchtet wurde. Durch die vielen natürlichen Säulen, welche die Decke stützten, erhielt der Raum das Ansehen eines Felsensaals; der Helle der vorderen Höhle folgte[S. 78] geheimnisvolle Dämmerung, hinter der die Finsternis wie eine mächtige schwarze Woge zusammenschlug.
Gestalten füllten die Grotte: Greise und Matronen, Jungfrauen und Jünglinge, wehrhafte Männer. Alle trugen die weiße Festtoga und auf aller Gesichtern lag ein heller Schimmer, Abglanz eines anderen Lichtes, als von den Fackeln ausging.
Sie befanden sich in feierlicher Versammlung beieinander, einen hehren Greis umstehend, der soeben zu ihnen geredet haben mußte, und es schienen alle noch andachtsvoll zu lauschen. Eine tiefe Stille herrschte.
Wie aber ward Tullus, als er Acca erblickte, mitten unter den Jungfrauen stehend, ohne jedes Zeichen von Angst und Befangenheit, zutraulich, als befinde sie sich in einem Kreise von Gespielinnen! Zwei schöne Mädchen hielten sie zärtlich umfaßt und begannen jetzt leise zu ihr zu sprechen. Da schaute Acca herüber und gewahrte, daß Tullus erwacht war; sie schien es den anderen mitzuteilen, denn der Jungfrauen Blicke richteten sich auf ihn. Acca löste sich aus den Armen ihrer neuen Freundinnen und kam auf Tullus zu.
»Wer sind diese und was wollen sie von dir?«
Acca erwiderte: »Als ich erwachte, waren sie da; sie kamen jedoch von einer andern Seite in die Höhle als wir. Zuerst erschrak ich heftig, fürchtete mich sehr und regte mich nicht, so daß sie meiner nicht gewahr wurden. Da hörte ich, was sie miteinander sprachen, ganz herrliche Dinge, so daß ich jede Angst verlor. Als dann jener schöne, alte Mann zu reden begann, erhob ich mich und schlich zu dir, um dich zu wecken. Aber du schliefst so fest. Da sahen mich jene guten Jungfrauen, traten zu mir, grüßten mich freundlich und forschten, wer wir seien und wie wir hierher[S. 79] gekommen. Ich sagte ihnen, du seiest des Atinas Sohn, der nach Rom gezogen, um dem Cäsar zu helfen, die Nazarener zu verderben, und daß ich mit dir zusammen die Insel verlassen und wir keine andere Stätte für die Nacht gefunden hätten. Da führten sie mich zu jenem ehrwürdigen Greise, und alle erwiesen mir Gutes. Dann sprach der alte Mann, und sie weinten bei seinen Worten, die groß und gewaltig klangen, wie ich niemals Worte gehört habe, selbst nicht aus dem Munde deines Vaters.«
»Aber wer sind sie?«
»Gute Menschen. Komm!«
Tullus blickte finster auf die Versammelten; da näherten sich ihm die Jünglinge und luden ihn ein, zu ihnen zu treten. Sie führten auch ihn vor jenen ehrwürdigen Greis, der ihn mit milden Worten anredete und willkommen hieß. Zu den anderen gewendet sprach er: »Rüstet das heilige Liebesmahl. Wenn diese beiden, die der Herr uns gesendet hat, auch nicht unseres Glaubens sind, so sind sie doch unseres Geistes; denn sehet, wie beiden die himmlische Liebe aus den Augen leuchtet. Deshalb mögen sie von fern an unserem Feste teilnehmen und in Frieden unter uns weilen.«
Sogleich brachte man einen Korb herbei; darin befand sich ein Krug voll Weins, ein Becher und ein Laib Brotes; langsam und feierlich, als wären es heilige Dinge, wurden sie herausgenommen. Der Alte stellte sich hinter einen altarähnlichen Stein, alle anderen ordneten sich vor ihm. Die beiden Jünglinge aber traten zur Seite des Greises.
Dieser sprach inmitten einer großen Stille: »Zwar des Menschen Sohn gehet hin, wie von ihm geschrieben[S. 80] stehet; wehe aber dem Menschen, durch welchen des Menschen Sohn verraten wird! Es wäre demselben Menschen besser, daß er nie geboren wäre.
Und indem sie aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach es und gab es ihnen und sprach: Nehmet, esset; das ist mein Leib.
Und nahm den Kelch und dankte und gab ihnen den; und sie tranken alle daraus.
Und er sprach zu ihnen: das ist mein Blut des neuen Testamentes, das für viele vergossen ist.«
Also der Greis.
Und er nahm von dem einen der Jünglinge Krug und Becher und schenkte ein. Alle traten hinzu, einer nach dem andern, und tranken von dem Wein. Dann nahm der Greis das Brot, brach es und die Gemeinde trat von neuem herzu, auch das Brot zu empfangen. Nur Tullus und Acca standen von ferne, beide von dem feierlichen und geheimnisvollen Vorgang auf das tiefste ergriffen und sich nicht zu dem hehren Mann heranwagend. Da blickte dieser zu den beiden hinüber, winkte sie mit einem gütigen Lächeln zu sich und sprach: »Auch euch kann der Heiland und Erlöser geboren werden, welcher ist Jesus Christus, der Sohn Gottes.«
Tullus schrie auf: »Acca, es sind Nazarener!«
Und er wollte sie fortreißen, wollte mit ihr voller Grausen entfliehen.
In demselben Augenblick stürzte vom Hain her ein Jüngling in die Grotte.
»Löscht die Fackeln, flieht in die Tiefe! Der Priester Atinas kommt mit der Leibwache des Cäsars, uns gefangen zu nehmen. Rettet euch!«
Niemand zeigte Schrecken oder Furcht; alle waren vorbereitet, den Feinden ihres Gottes in die Hände zu[S. 81] fallen und den Märtyrertod zu erleiden. Ihr Bischof mußte ihnen befehlen, die Fackeln bis auf eine zu löschen. Dann wendete er sich zu den beiden, die nicht seines Glaubens waren: »Verlaßt uns! Es könnte der Wille des Herrn sein, daß die Heiden uns hier finden; der Priester Atinas ist es, der nach uns sucht, unser und des Herrn, unseres Gottes, grimmigster Feind. Weiche von uns, Sohn des Atinas, damit dein Vater, sollte Gott uns in seine Hand geben, nicht wähne, du seiest einer der Unseren. Denn wenn du uns auch hassest, so möchte es deinen Vater doch kränken, daß du eine Stunde als unser Freund bei uns weiltest. Geh, Jüngling, und nimm diese holdselige Jungfrau mit dir. Aber das wisse: wen der Herr suchet, den findet er. Auch deine Stunde wird kommen, ehe du es denkst. Und so ziehet hin in Frieden!«
Nach diesen feierlichen, mit lauter Stimme gesprochenen Worten winkte der Bischof den beiden gebieterisch, die Grotte zu verlassen. Tullus schlich mit der weinenden Acca hinaus.
Als sie draußen am Eingang standen, im Dunkel des Haines, raunte der Jüngling dem Mädchen zu: »Warte hier auf mich!«
»Was soll ich?«
»Ich komme gleich zurück.«
»Wo willst du hin?«
»Still!«
»Tullus!«
Aber er war schon fort.
»Tullus, was willst du tun?«
Aber auf ihre angstvolle Frage kam keine Antwort.
[S. 82]
Sobald Tullus der finsteren Waldung entronnen war, stürmte er vorwärts. Dann besann er sich, blieb stehen, spähte um sich; doch entdeckte er nichts. Nun stand er und lauschte. Er hörte keinen Laut. Aber jetzt — — es klang wie gedämpfte Stimmen, wie Geräusch von Waffen, ihm ganz nahe. Da rief er: »Vater, Vater! Ich bin's! Dein Sohn Tullus!«
Ein erstickter Aufschrei. Aus dem Dunkel der Nacht löste sich die Gestalt eines Mannes und stürzte auf Tullus zu.
»Ich bin es, Vater.«
»Du, fort von der Insel, du hier?!«
»Dir nach. Verzeih' mir! Acca ist auch da. Ich will dir helfen, die Nazarener zu verderben. Wir sind diese Nacht mit ihnen zusammengekommen.«
»Mit den Nazarenern? Wo sind sie?«
»In einer Grotte, dort beim Hain.«
»Tullus!«
»Ihr Priester ist bei ihnen. Ich führe dich. Kommt, kommt schnell!«
Die Leute von der Leibwache des Cäsars und ein Hauptmann waren zu den beiden getreten. Tullus eilte den Männern voraus. Atemlos erreichte er den Hain, tastete sich bis zum Eingang der Grotte. Aber hier war keine Acca. Sie war auch nicht im Walde, welchen Tullus, den Namen der Geliebten rufend, durchsuchte.
Atinas erschien mit dem Hauptmann und der Wache; Tullus mußte vom Suchen ablassen und die Höhle zeigen. Plötzlich kam ihm ein entsetzlicher Gedanke. Er stürzte seinem Vater und den Römern voraus in die Grotte hinein. Drinnen fand er sie.
[S. 83]
Acca stand mitten unter den Jungfrauen, bei den Christen, die Tullus an die Römer verraten hatte. Atinas rief seinem Sohne zu: »Sie bekennt sich als zu diesen gehörend.«
Die Nazarener, die sich ohne Widerstand gefangen nehmen ließen, wurden herausgeführt: sie gingen festen Ganges, erhobenen Hauptes, sich einander Trost und Mut zusprechend. Acca schritt in der Reihe der Jungfrauen, welche liebevoll um die neue Christin besorgt waren.
In einiger Entfernung folgte Tullus. Sein Gesicht war fahl, seine Mienen waren verzerrt; er taumelte wie ein Trunkener und ließ von Zeit zu Zeit ein jammervolles Ächzen hören. Und von Zeit zu Zeit rief er sie an, die er mit den anderen verraten hatte: »Acca! Acca! Acca!«
Doch Acca hörte nicht auf ihn.
Der Morgenwind wehte, die Sterne erblaßten; ein totenfarbenes Zwielicht erhellte die Welt. Aber schon regten sich die Vögel und aus den Lüften drang Lerchenjubel durch die Dämmerung.
Als die Römer mit ihrer menschlichen Beute durch die Porta Capena in die Stadt zogen, war es Tag. Ein blutiger Glanz flammte über dem Albanus und dem Heiligtum des höchsten Gottes auf; schnell griff der Brand der Morgenröte um sich, entzündete Himmel und Erde, schien Rom mit allen Tempeln und Göttern verzehren zu wollen.
Beim Coelius, in der Nähe des großen Zirkus, wurden die Christen in den Kerker geführt. Acca war die letzte. Bevor der finstere Eingang sie aufnahm, blieb sie stehen, wandte sich zurück, mit feierlicher[S. 84] Gebärde Tullus winkend. Dann schlug die Tür zu hinter der lichten Gestalt.
Mit einem dumpfen Wehlaut warf sich der Zurückbleibende auf den Boden, das Antlitz gegen die Erde pressend. Von göttlicher Sehnsucht getrieben, war er ausgezogen, Heldentaten zu begehen, und seine erste Tat war Verrat gewesen, ein Verrat an denjenigen, welche ihm Gutes erwiesen, seine erste Tat war Mord gewesen, ein Mord, verübt an der Schwester, an der Geliebten.
Jene anderen, die Verratenen, die sich erhobenen Hauptes zum Tode führen ließen, sie, die Verabscheuten und Gehaßten — sie waren Helden!
Und der unglückliche Jüngling stöhnte auf, als wäre er ein Sterbender.
Der Cäsar gab den Römern in seinem neuen Hause ein Fest.
»Endlich wohne ich wie ein Mensch,« hatte der Gott gesprochen, als aus dem Schutt und den Trümmern des abgebrannten Roms des Kaisers neues Haus sich erhob. Von Gold erstrahlten Wände und Decken, von Gold funkelte der Estrich. Juwelen waren in des Kaisers Haus den Steinen gleich geachtet, und das schlechteste Material, daraus man es aufgeführt, bestand in dem kostbaren Marmor aller drei Weltteile. Wo der Gott menschliche Nahrung zu sich nahm, wölbte sich über der glanzvollen Halle ein sonniger Himmel, von dem Narden herabtauten, der sich öffnete, um auf den Gott und seine Gäste Veilchen und Rosen hinabrieseln zu lassen. Der[S. 85] Saal drehte sich um eine goldene Achse, Gestirne kreisten und die Musik der Sphären ertönte.
Wenn Nero schwelgte, stiegen die Himmlischen selber von ihren seligen Höhen hernieder, um die Freuden ihres Brudergottes zu teilen, die göttlicher waren als die ihren; wo Nero wandelte, erblühten Blumen, sangen Vögel, freuten sich Menschen und Götter; wo Nero weilte, verwandelte sich die Welt in den Olymp, Rom ins Elysium. Nur die Römer blieben, was sie seit den Zeiten des großen Augustus geworden waren: ein Volk von Knechten, Speichelleckern, Kreaturen und hündischen Kriechern.
Heute nun wollte der Gott mit seinen Geschöpfen sich auf menschliche Weise ergötzen.
Rings um den Palast, die Tiefen zwischen vier Hügeln füllend, erstreckten sich weite Fluren mit umfangreichen Seen, köstliche Haine, welche die Tiere der Wildnis bewohnten. Durch dieses wundersame Gefilde sollte heute nacht des Cäsars Weg führen, wenn er sich von seinem Hause zum Zirkus begab. Denn hier ließ der Kaiser dem römischen Volke olympische Spiele veranstalten, bei denen er seinen Römern als Apollon-Helios erscheinen wollte, ein Sechsgespann weißer Rosse lenkend.
Den Weg vom Kaiserpalast bis zur Arena sollten diese Nacht Fackeln erhellen, wie sie noch keinem Unsterblichen geleuchtet hatten.
Schon früh am Tage begannen die Vorbereitungen, zu welchen die Römer sich drängten, denen sie voll Entzücken zuschauten. Aus den Kerkern und Grüften des Coelius wurden die Christen herbeigetrieben: sie, welche, den ewigen Göttern zum Hohn, Rom in Brand gesteckt hatten — denn so wollte Gott Nero, daß es[S. 86] geschehen sei — sie sollten den ewigen Göttern zum Ruhm in Flammen auflodern. In Scharen brachte man sie herbei: Greis und Jüngling, Matrone und Jungfrau, Mann und Kind. Das römische Volk heulte auf vor Mordgier. Und es würde diese unersättliche, nach Blut lechzende Menge, welcher Todesschreie und Sterberöcheln Musik war, entzückt haben, wenn ihr »göttlicher« Kaiser seine Römer die wilden Tiere hätte sein lassen, denen man in der Arena menschliche Leiber zum Zerreißen vorwarf. Wie die Bestien ihre Opfer zerfleischt haben würden!
Unter dem Gebrüll und Geheul des Plebs, darunter sich »edle« Römer, Senatoren und Ritter befanden, wurden die Christen nach dem Hause des Kaisers geschleppt. Hier vor dem Palast, dem palatinischen Berg gegenüber, woselbst die eherne Kolossalstatue des Gottes aufgestellt war, angesichts des Forums, dieser hochehrwürdigen Stätte, welche die Größe Roms geschaut hatte, nahm das Fest seinen Anfang.
Pfähle bedeckten den Platz, lagen hoch aufgeschichtet, an dem einen Ende zugespitzt, um in die Erde gesenkt werden zu können. Nun kamen die Christen. Ihre Wächter überlieferten sie ihren Henkern.
Diese rissen ihnen die Kleider herab, schnürten sie an die Pfähle, in solcher Weise, daß ihr nackter Leib hoch über den Pflock hinausragte, umwickelten sie bis zur Brust mit Werg, das mit Öl und Pech getränkt wurde. Darauf schleppte man die menschlichen Fackeln hinweg, dahin, wo sie in den Boden gegraben werden sollten. Zu beiden Seiten des Weges wurden sie aufgerichtet; vor dem Palast des Kaisers und dessen Bildsäule sollten die schönsten Flammen lodern: die Jungfrauen, die Jünglinge, die Kinder.
[S. 87]
Nachdem die Körper der Christen in die sonnigen Lüfte ragten, schickte man sich an, die kaiserlichen Fackeln kaiserlich zu schmücken. Mit sidonischer Seide und phönizischem Purpur wurden die Pfähle verziert, um die Leiber Blumen geschlungen, daß bis zur Brust Krokus und Tazetten, Lilien und Narzissen sie umhüllten; die Häupter erhielten Kränze von Lotosblumen. Von Pfahl zu Pfahl, von Fackel zu Fackel wurden mächtige Rosengewinde gezogen, die Wege mit Myrten- und Zypressenzweigen bestreut, zu beiden Seiten der Straße Dreifüße aufgestellt, die in herrlichen Gefäßen Spezereien und Sandelholz trugen.
An manchen Stellen wurden Triumphbögen erbaut.
Hier sollten die Senatoren und Ritter, die Flötenspieler und Sänger den Kaiser erwarten.
Endlich war alles vorbereitet. Ein leuchtender Himmel wölbte sich über dem Festplatz; ringsum strahlten die Paläste, die Tempel, die Götterbilder. Frühlingslüfte wehten; in den Gärten der Kaiserpaläste schlugen die Nachtigallen, und die Menschen freuten sich ihres Lebens und des Sterbens der Hunderte.
Unter der Menge, welche die Straße auf- und niederwogte, befand sich auch Tullus. Vor einer jeden der vielen lebenden Fackeln blieb er stehen und schaute hinauf, immer von neuem in der fürchterlichen Erwartung, unter den Blüten ein geliebtes, holdseliges Antlitz zu erblicken. Und wenn er die fand, die er suchte, was sollte er dann beginnen, was würde ihm dann geschehen? Bei Accas Anblick entseelt hinsinken, bevor der liebliche Leib in Flammen aufging!
Aber Acca war nicht unter den vielen, und Tullus blieb leben.
[S. 88]
Er gewahrte alles, was geschah; er sah die Römer in bestialischer Wut, sah die Christen voll heldenhafter Ergebung; er hörte jene die Götter preisen, hörte diese ihren Gott anrufen. Unter manchem Pfahl blieb Tullus stehen und schaute hinauf; er sah das bleiche, ruhige Antlitz der dem Tode Geweihten; er vernahm, was diese von Göttern und Menschen Verlassenen in der letzten Stunde ihres Lebens, kurz vor einem martervollen Tode sich sagten: Mütter ihren Söhnen und Töchtern, Gatte der Gattin, Freund dem Freunde. Sie trösteten einander, sie sprachen sich Mut zu; sie sagten sich große, erhabene Worte, die gleich Flammen in des Jünglings Seele drangen.
»Unser Herr, der erleiden mußte, was wir erleiden, sprach: Vergebt ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Laßt uns diese Worte unserm Herrn und Heiland nachsprechen.«
Das taten sie, das taten alle.
Ein Greis ermahnte: »Auch dessen gedenket in dieser Stunde: daß uns geboten ward zu lieben, die uns hassen und verfolgen, und zu segnen, die uns fluchen. Erfüllet den Willen des Herrn, der für uns gestorben ist.«
Wiederum ein anderer: »Harret aus! Bald ist's überwunden.«
»Ja, bald werden wir bei unserm lieben Herrn im Paradiese sein.«
Tullus hörte diese Reden, und als er über einer der Triumphpforten, die am Abend der siegreiche Cäsar durchschreiten sollte, in goldener Inschrift die Worte las: »Euch, ihr ewigen Götter!« zuckte der Jüngling zusammen und wendet sich jählings ab.
[S. 89]
Es dämmerte. Vor dem Palast des Cäsars zog die Leibwache auf, drängte die Menge zurück und besetzte die Straße. Die Senatoren und Ritter, die Sänger und Flötenspieler erschienen. Im Volke ward es still, nach dem wilden Getöse ein Todesschweigen.
Schnell nahm die Finsternis zu. Plötzlich erschallten feierliche Stimmen. Wie aus den Lüften herab schwebten die Töne über die dunkle Erde — der Sterbegesang der Christen.
»Hosianna! Hosianna!«
Es ward Nacht.
Durch die Hallen und Säle des Palastes wälzte sich der kaiserliche Zug: Nero, in schleppenden goldenen Gewändern, in den duftenden Locken einen Rosenkranz, den der Gott, wenn er im Zirkus der Welt als glanzvolles Tagesgestirn aufging, mit einer Strahlenkrone vertauschen würde. Eine Schar von Korybanten und Bacchantinnen umschwärmte den Unsterblichen; junge Weiber ließen aus kristallenen Gefäßen Wohlgerüche auf den Boden rieseln, schöne Knaben spielten Zither und schlugen silberne Becken, brachten dem auf Erden wandelnden Gott in goldenen Schalen Brandopfer dar, so daß dichtes Gewölk den Himmlischen und sein Gefolge umwallte.
Jetzt trat Nero aus seinem strahlenden Hause in die Finsternis. Vor dem Gott erhellte sich die Nacht — auf flammten die Fackeln!
[S. 90]
Der Zug des Cäsars ward gestört. Tumult erhob sich, ein Gedränge entstand.
Was geschah?
Angstvoll fragte es der erblaßte Gott, für sein unsterbliches Leben zitternd. Auch seinen Vorgänger auf dem römischen Gottesthron hatten bei ähnlichem, festlichem Nachtgang die Dolche der Meuchelmörder getroffen.
Senatoren und Ritter beeilten sich, den Cäsar zu beruhigen.
Nichts war geschehen! Ein Schwärmer, ein Phantast, ein Verrückter hatte die Reihen der kaiserlichen Leibwache durchbrochen und dem Zug des Göttlichen sich in den Weg gestellt und gerufen, auch er sei ein Christ.
»Wer ist's?«
Man lief, man forschte, man brachte dem Kaiser Bescheid: »Ein fremder Jüngling. Er nennt sich Tullus, Sohn des Priesters Atinas.«
»Des Priesters Atinas — —«
Und es zuckte um des Göttlichen Mund.
»Was soll mit dem Nazarener geschehen?«
Und der Unsterbliche bedachte sich. Darauf gebot er: »Des Atinas Sohn für die Bestien!«
Und Nero lächelte.
Weiter ging der Zug.
Tullus war glücklich; was er begangen hatte, war keine Heldentat gewesen — wenigstens hielt er es nicht für eine solche; aber glücklich war er doch. Nicht Accas hatte er gedacht, auch nicht des Gottes dieser Nazarener; er sah jene den Heldentod sterben und mochte nicht länger leben.
[S. 91]
Und jetzt bereitete er sich auf das Christentum vor.
Unter den Gefangenen, die für den Kampf im Zirkus aufgehoben worden, befand sich der Bischof, jener von Tullus an die Römer verratene, ehrwürdige Greis. Es war dieser beredte Mund, der dem jungen Heiden das Evangelium verkündete, und da es das Evangelium der Liebe war, so ward es von Tullus gehört. Der Jüngling erfuhr, daß Jesus Christus auch für ihn gestorben sei, daß seine Schuld ihm vergeben werde, daß seiner die Seligkeit harrte, das Auferstehen und das ewige Leben.
Mit Acca zusammen würde er vom Tode auferstehen, mit Acca zusammen das ewige Leben erhalten — —
Und er würde zusammen mit ihr sterben.
Denn noch lebte Acca, für denselben Tod aufbewahrt, zu dem Tullus verdammt war; dem es verheißen worden, sie am Tage seines Sterbens wiederzusehen. Dann wollte der Bischof die beiden vermählen. Nun ersehnte Tullus den Tod, wie er sich einstmals nach dem vollen Strome des Lebens gesehnt hatte.
Der letzte Tag kam und die beiden Getrennten sahen sich wieder; mit strahlendem Antlitz eilte Acca dem Freund entgegen; sie flüsterte ihm zu: »Wohin ich gehe, dahin mußt du gehen, und wo ich bin, da mußt du sein.« Darauf laut und freudig: »Wie ich dir von unserer Insel ins Leben folgte, so begleitest du mich aus dem Leben in den Tod. Deine Liebe ist die größere.«
Tullus preßte die Geliebte an seine Brust, mit ersticktem Jubel sie fragend: »Bist du glücklich, Acca?«
»Glückselig in der Ewigkeit — mit dir,« lautete Accas feierliche Erwiderung.
[S. 92]
Dann wurden sie vermählt.
Eben sollten sie mit den anderen ihren Todesgang antreten, als beide vor den Priester Atinas gerufen wurden. In einem besondern Raum des Kerkers empfing dieser eifrigste Verfolger der römischen Christengemeinde das Paar. Todblassen Gesichtes, aber erhobenen Hauptes trat Tullus vor den Vater, seine junge Gattin an der Hand.
»Vergib mir!«
Atinas winkte ihm heftig zu schweigen. Dann reichte er seinem Sohn einen Becher Weins, der auf dem Tische stand.
»Trinke!«
Tullus zauderte.
Mit einer Stimme, die keinen Widerstand duldete, gebot Atinas nochmals: »Trinke!«
Da nahm Tullus aus seines Vaters Hand den Becher; ihm mit den Augen dankend, trank er.
Und nach ihm trank Acca.
Den ewigen Göttern mußte das Leben der beiden Christen geopfert werden; aber Atinas wollte barmherzig sein.
Mit verhülltem Antlitz stand er, bis es zu seinen Füßen still geworden war: dann hob er den Mantel und schaute starren Blickes auf die beiden Toten herab. Ihre Mienen waren still und friedlich; Acca trug auch noch im Tod ihr holdes Lächeln, und Tullus' trotziges Gesicht hatte einen Ausdruck tiefsten Friedens. Da mußte der Priester denken: Wenn sie dennoch für eine heilige Sache gestorben wären? In Athen soll ein Altar stehen, dem unbekannten Gotte geweiht; wie, wenn jener unbekannte Gott Jesus hieße? Und wenn dieser Jesus ein wahrer[S. 93] Gott wäre, ein ewiger Gott? Was wären dann die »ewigen Götter«?
Und Atinas stöhnte wie einer, der eine Todeswunde empfangen. Er wankte. Es war, als ob er über den beiden Leichen zusammenbrechen würde; dann aber raffte er sich mächtig auf und schritt von seinen toten Kindern hinweg festen Ganges hinaus, um die Schar der Nazarener in die Arena zu führen.
So war der Wille des Cäsars.
Purpurfarbige Frühe lag über Himmel und Meer; Glut des aussteigenden Tages bestrahlte ein mächtiges Gewölk, das langsam und feierlich dahinschwebte; Morgenluft wehte, über das ewige Antlitz des Meeres glitt es wie ein Erzittern und Schauern.
Durch die weite Einsamkeit der Wellen lenkt Atinas den Nachen, gegen dessen Planken die Wogen rauschen und rannen. Zwei Tote schiffen dahin, zwei Vereinigte, der Heimat zu.
Requiescat in Pace, Tullus — Acca, requiescat in Pace!
Ende.
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Vierteljahrspreis
ohne Zustellungsgebühr für 13 Hefte in Deutschland 4 Mk. In Österreich-Ungarn 5 Kr., in der Schweiz 5 Fr. 50 Cts., in Russland 2 Rubel 40 Kop. Bei Kreuzbandsendung nach den übrigen Ländern einschl. Porto 8 Mk. Die auf feinstes Papier gedruckte Luxusausgabe kostet ohne Zustellungsgebühr vierteljährlich 6 Mk.
Probehefte geg. Einsend. von 20 Pf. Porto direkt
vom Verlag von Philipp Reclam jun. in Leipzig