The Project Gutenberg eBook of Lose Blätter: Neue Novellen

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Title: Lose Blätter: Neue Novellen

Author: Doris von Scheliha

Release date: April 18, 2022 [eBook #67861]

Language: German

Original publication: Germany: Verlag von F. A. Berger

Credits: the Online Distributed Proofreading Team at https://www.pgdp.net (This book was produced from images made available by the HathiTrust Digital Library.)

*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK LOSE BLÄTTER: NEUE NOVELLEN ***

Lose Blätter.

Neue Novellen
von
Doris Freiin von Spättgen.

Leipzig.
Verlag von F. A. Berger.
1895.

Vor Nachdruck geschützt.
Übersetzungsrecht vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis.

Licht 3
Fächer-Bilder 35
Aus Großtantchens Hofdamenleben 63
Unter dem Niagara-Falle 83
Zahnschmerzen 103
Amerikanische Existenzen 133

Licht.

Weit draußen am äußersten Ende von Williamsbourgk, einem Stadtteile Brooklyns, dort, wo die Straßen- und Häuserreihen bereits durch ausgedehnte Wiesenflächen und üppige Obstplantagen unterbrochen werden, so daß die Bezeichnung »Stadt« daselbst eigentlich nicht mehr zutreffend erscheint, weil die Gegend schon allmählich den Charakter des Ländlichen annimmt – dort steht eine Reihe allerliebster, hüttenartiger Häuschen, deren Gesamtheit, wegen der Zierlichkeit und Gleichheit der Gebäude, im Volksmunde »Dolly Ward (Puppenfestung)« benannt wird. Diese Miniaturvillen, eine aufs Haar genau so wie die andere, mußten unzweifelhaft aus der Hand desselben Baukünstlers hervorgegangen sein, der sie, wohl mehr um einer flüchtigen Laune zu genügen, als um praktische Behausungen zu schaffen, aus der Erde hervorgezaubert haben mochte.

Jedes der Häuschen war mit einem niedlichen Vorgärtchen, einer Art Veranda, worauf die Hausthür mündete, und einer grün angestrichenen, hölzernen Treppe versehen, deren Geländer ein fast elegant zu nennendes Schnitzwerk auswies. Das Innere einer solchen Villa bestand aus nur zwei größeren Zimmern im ersten Stock, sogenannten Parlours, drei Mansardenstübchen und der großen hellen Küche im Basement (Souterrain).

Merkwürdigerweise stand nur äußerst selten ein Häuschen der Dolly Ward zu vermieten. Die meisten derselben befanden sich schon seit vielen Jahren in festen Händen, was ihr Äußeres auch fast durchweg verriet. Die Gärtchen zeigten sich auf das sorgsamste gepflegt, ihre schmalen Gänge waren mit rotem Kies bestreut, während verschiedenes feines Strauchwerk die etwas primitiven Staketenzäune, welche die Grundstücke von der Verkehrsstraße trennten, verdeckte und dadurch eine Art hübsche lebende Hecke bildete. Rosen und andere duftende Blumen erfreuten im Sommer das Auge der Vorübergehenden, und die stets blitzblank geputzten Fensterscheiben und sauberen Gardinen vollendeten den guten Eindruck, den diese Villen auf den Fremden ausübten.

Die Bewohner von Dolly Ward, zum Teil bejahrte Leute, welche sich nun ins Privatleben zurückgezogen hatten, zum Teil Angestellte großer Geschäfte von Brooklyn und New York, welche ihrer Familie wegen die bei weitem billigeren und gesünderen Wohnungen hier draußen dem Geräusch und dem Staube der Großstadt vorgezogen, und einige alte Fräuleins, welche Pensionäre hatten, bildeten eine förmliche feste Clique, so daß auf Dolly Ward jeder neue Ankömmling anfänglich allseitigem Mißtrauen begegnete.

Im Anfang des Frühlings 188. war Mr. Holstein, der deutsche Eigentümer des Häuschens Nr. 9, plötzlich gestorben und bald darauf hatte seine Witwe den guten Bekannten von rechts und links Lebewohl gesagt, weil sie ihren Aufenthalt fortan nach Jersey City zu einer verheirateten Tochter zu verlegen gedachte. Mr. O'Reilly, der Nachbar zur Rechten, welchem die alte Dame vor ihrem Scheiden die vorteilhafte Vermietung ihres Besitztums noch recht eindringlich ans Herz gelegt hatte, hing eigenhändig die weiße Tafel zum Fenster hinaus, auf welcher mit großen Lettern zu lesen stand: »to let

Etwa vier Wochen lang zerbrach man sich in Dolly Ward die Köpfe, wer wohl seinen Weg hier heraus nach dem entlegenen Teile von Williamsbourgk nehmen würde, denn die guten Leute der kleinen Villenkolonie waren äußerst exklusiv und fürchteten begreiflicherweise das Niederlassen des ersten besten Rowdy in ihrer friedlichen Ansiedelung. Da verkündete Mr. O'Reilly eines Morgens einer wißbegierigen Dame, daß des seligen Holsteins Häuschen vermietet worden sei und die neuen Bewohner, in Gestalt von Mutter und Tochter demnächst schon eintreffen würden. Das gab natürlich viel zu reden. Allein auf alle an ihn gerichteten Fragen vermochte Mr. O'Reilly keine weitere Auskunft zu geben, als daß beide Damen respektabel aussähen und gebildet schienen.

Vier Tage später war die kleine Villa von den neuen Bewohnern bezogen. »Wer mag das wohl sein? Weshalb kommen Leute, die solch eine Masse von eleganten Möbeln mit sich führen, hier heraus? Die Geschichte gefällt uns nicht – das hat sicher noch einen Haken!« So flüsterte man sich gegenseitig zu nach dem Eintreffen von Mrs. Northland und ihrer schönen Tochter auf Dolly Ward. Nachdem jedoch zwei und drei Monate ins Land gegangen und die beiden Damen trotz ihrer großen Zurückhaltung bekannter geworden waren, fing man an, sie gerade um ihrer Zurückhaltung und vornehmen Würde willen mit anderen Augen anzusehen, und nun sagten die Nachbarn von rechts und links unter sich: »Feine Leute sind es offenbar, das bezeugt ihr ganzes Auftreten, allein – wovon leben sie?«

Nach amerikanischen Begriffen hat das Wort »Arbeit« die höchste und ehrendste Bedeutung und nur der gilt als angesehen, welcher auf irgendwelche ehrliche Weise durch eigene Arbeit sein Brot erwirbt. Die reichen Leute arbeiten aus angeborener und anerzogener Lust zum Schaffen, die Unbemittelten, um reich zu werden – Müßiggang giebt es in den Vereinigten Staaten nicht und wer sich ihm hingiebt, hat Mißtrauen zu fürchten über die Art, durch die er sich seinen Lebensunterhalt erwirbt. Da nun Mrs. Northland und ihre Tochter, außer einer gelegentlichen Fahrt nach New York, keine besondere Beschäftigung zu haben schienen, so war das selbstverständlich auch ein Grund, sich über die seltsame Lebensweise der beiden Damen aufzuhalten. Dessenungeachtet hatten die Fremden es verstanden, sich bald die Achtung und Teilnahme der Bewohner von Dolly Ward zu erwerben. Wer auch hätte dem freundlich sanften Wesen der Mutter, wer dem bezaubernden Augenaufschlag der Tochter zu widerstehen vermocht? So schroff und absprechend auch anfangs über die beiden Frauen geurteilt worden war, jetzt bemühte sich jeder, ihnen Gefälligkeiten zu erweisen, wenn auch ein näherer Verkehr nicht in den Wünschen der Damen zu liegen schien.

Außer Mr. O'Reilly, dem jungen Advokaten, welcher in Goldsmiths Office in Brooklyn arbeitete und hier bei der alten Miß Colnay Pensionär war, außer diesem hatte noch keiner der Bewohner von Dolly Ward Mrs. Northlands Schwelle überschritten, und auch sein Verkehr mit den beiden Damen beschränkte sich nur auf einige geschäftliche Besuche, die O'Reilly der neuen Mieterin als Verwalter des Holsteinschen Grundstücks zu machen hatte. Es schien auch durchaus nicht in deren Absicht zu liegen, mit irgend jemand näher bekannt zu werden. Bei Begegnungen grüßte man untereinander, sprach gelegentlich einige Worte über den Gartenzaun, das war alles.

Im allgemeinen galt Mr. O'Reilly als wortkarger Mann; seit er jedoch die Bekanntschaft der Fremden gemacht, gab es dennoch einen Punkt, der seinen Mund überfließen machte: das war, wenn er von Mrs. Northland und deren Tochter sprach und in Lob und offener Bewunderung über beide sich erging. Durch ihn wußte es auch bald jedermann in Dolly Ward, daß diese Damen eine ganz ungewöhnliche Bildung, sowie die feinsten Umgangsformen besäßen und daß, obwohl Miß Grace Northland alltäglich mit einem Körbchen am Arm die Einkäufe bei Fleischer und Kaufmann selbst machte, die jetzige Einrichtung von Nr. 9 derjenigen einer Lady der V. Avenue von New York gleichgestellt werden konnte.

An einem regnerischen Junitage, um die sechste Abendstunde, trat Miß Grace, eine schlank gewachsene Brünette, mit kühn geschwungenen Augenbrauen und herbgeschlossenem, ausdrucksvollem Munde, dessen Linien sowohl starke Willenskraft wie auch Unerschrockenheit bekundeten, nach einem Ausgange durch die Verandathür in das vordere der beiden Parlours und schaute sich sichtlich befremdet darin um: »M'ma! Mama!«

Keine Antwort erfolgte – das junge Mädchen stellte daher den Regenschirm rasch beiseite und eilte nach dem zweiten, nach der Rückseite des Häuschens gelegenen, kleinen Salon, welcher von dem ersten nur durch eine schwere, moosgrüne Portiere getrennt war.

»M'a!«

Auch hier zeigte sich niemand. Und doch wußte Grace, daß die Mutter Tag für Tag an dem nach der Straße gelegenen Fenster saß und die Tochter, wenn sie von ihren kurzen Ausgängen heimkehrte, regelmäßig an diesem Plätzchen erwartete. So lange man auf Dolly Ward wohnte, war dies geschehen und heute nun zum erstenmale vermißte sie die teure Gestalt an dem gewohnten Platze.

Ein banges Gefühl beklemmte die Brust des jungen Mädchens. Rasch sprang sie die Treppe zum oberen Stockwerk hinan und öffnete die Thür des gemeinsamen Schlafgemachs – dort saß Mrs. Northland und schien, über ein weißes Papier gebeugt, zu schreiben. Sobald die ältere Dame jedoch der schnell Eintretenden ansichtig wurde, schrak sie leicht zusammen und sagte halb verlegen, die Hand über das vor ihr liegende Schriftstück breitend:

»Wie, schon zurück, mein Kind? Ich habe Dich noch nicht erwartet.«

»Eben das befremdet mich, Mama, was thust Du hier allein?«

Mit diesen erregt gesprochenen Worten eilte Grace auf die Mutter zu und umschlang sie mit fast ungestümer Zärtlichkeit. »M'a, geliebte M'a, Du verbirgst etwas vor mir, Du willst etwas thun, was ich nicht wissen soll. O warum das? Haben wir bisher nicht alle Sorgen und Mühen miteinander geteilt?« Ein wahrhaft rührender Ausdruck lag jetzt über den schönen Zügen der jungen Sprecherin.

»Grace!« Die ältere Dame suchte ein Schluchzen zu bekämpfen, »o Grace, es kann ja so nicht weiter gehen.«

»Es darf nicht, Mama, Du leidest physisch und seelisch darunter, das habe ich Dir schon oft gesagt, und deshalb werde ich Abhilfe schaffen. Ich muß es schon um Deinetwillen thun,« entgegnete das junge Mädchen mit fester Stimme.

»Nein, nein, nur das nicht! Du sollst nicht hingehen in die großen Geschäfte, wo all' die tausend von jungen Mädchen als Verkäuferinnen angestellt und von früh bis spät in jenen Tretmühlen beschäftigt sind – nimmermehr! Mein Stolz würde das nie ertragen lernen. Lasse mir doch diesen Stolz – er ist das einzige, was von allem Glanz und Schimmer der schönen Vergangenheit mir geblieben ist,« schluchzte Mrs. Northland unter heißen Thränen.

»Es giebt aber doch auch noch andere Wege, uns einen genügenden Unterhalt zu verdienen,« gab Grace unbeirrt zurück.

»Du meinst als Lehrerin, mein Kind! Gewiß – diese Damen werden gut bezahlt, allein, ob wir auch an Deine Erziehung viel gewendet haben, so bist Du für diesen Beruf doch noch nicht ausgebildet genug und müßtest noch einmal mit Deinem Studium von vorn beginnen, was einige Jahre beanspruchen – nein, mein Kind, auch das will ich nicht. Welchen Demütigungen und Versuchungen wärest Du in einer solchen Stellung ausgesetzt!« fügte Mrs. Northland hinzu, ihre Wange zärtlich an die der Tochter schmiegend.

»Aber, was willst Du denn thun, Herzens-Mama, hast Du denn einen anderen Plan?« fragte das junge Mädchen eindringlich, indem sie das mit Zahlen bedeckte Papier auf dem Tische prüfend musterte.

Die Antwort ließ eine Weile auf sich warten, dann kam es zagend über der Mutter Lippen: »Ich glaube, daß unsere Einrichtung, das bißchen Silber dazu genommen, noch ein recht leidliches Sümmchen repräsentiert. Nach meiner Zusammenstellung des Ganzen ergiebt sich – schlecht gerechnet – ein Ertrag von 2300 Dollars. Damit könnte ich vielleicht – irgend ein – bescheidenes Geschäft beginnen, das uns wenigstens vor Not schützte. Niemand kennt uns in New York – wer ahnt in mir die Witwe des Millionärs und Eisenbahnkönigs Frederik A. Northland aus St. Louis, dessen Name ehedem im Westen einen solch' bedeutungsvollen Klang gehabt?! Nicht Du, mein Liebling, sondern ich muß mich aufraffen aus dieser lähmenden Apathie und für unsere Zukunft sorgen!«

»Nein, um Gotteswillen, nein, wenn Du mich liebst, Mama, so schweige von solchen Dingen,« rief Grace fast leidenschaftlich, »Du, die schöne, vornehme Frau Dich erniedrigen, hinter dem Ladentische zu stehen – entsetzlich! Du Dich von Deinen lieben Sachen trennen, wo jedes Stück Dich an das frühere Glück und den teuren Vater erinnert! Das undankbarste Geschöpf unter der Sonne müßte ich sein, wollte ich das zulassen. Wozu bin ich jung und kräftig. Nein, Mama, daraus wird absolut nichts!« Jetzt hatte das junge Mädchen sich zur vollen Höhe emporgerichtet, wobei ein Ausdruck von Energie und Mut aus den schönen Augen leuchtete.

»O Gott, daß es dahin kommen mußte! Wenn er, Dein Vater, noch lebte, es stünde besser mit uns, und wie gern wollte ich auch Not und Sorgen mit ihm teilen!« weinte leise die beklagenswerte Frau.

»Der Himmel hat ihm dieses Schwerste erspart, das muß uns trösten, M'a,« sagte die Tochter weich.

»Als wir hier ankamen, Grace, glaubten wir uns beinahe reich mit der kleinen Summe, die wir mitbrachten – nun ist sie fast ganz zusammen geschmolzen! Ich habe nie gedacht, daß die täglichen Bedürfnisse des Lebens soviel Geld verschlingen könnten. Dabei steht der Quartalswechsel vor der Thür und die Miete soll an Mr. O'Reilly bezahlt werden. – Ach, ich werde ihn wohl bitten müssen, uns den Betrag für einige Wochen zu stunden.«

»Nimmermehr, Mama! Nur keine Gefälligkeit von diesem Manne, es wäre mir schrecklich – erdrückend!« wehrte Grace mit auffälliger Hast ab. Prüfend schaute ihr die Mutter ins Gesicht und sagte bedeutsam:

»Er ist kein übler Mann. Seine Manieren sind tadellos und neben einem guten Einkommen scheint er ein redliches gutes Herz zu besitzen. Nicht ohne Grund sucht er uns verlassenen Frauen öfters auf – hast Du daran schon gedacht, mein Kind?«

»Er ist mir unsympathisch, Mama! Bitte, erwähne seiner gegen mich nie mehr in dieser Weise, ich könnte Mr. O'Reilly sonst nicht mehr unbefangen und freundlich begegnen,« gab Grace unwillig und in ernstem Tone zurück. Mrs. Northland seufzte und schwieg, worauf beide Damen langsam nach der unteren Etage hinabstiegen.

Da die Dämmerung eingetreten war, so brachte das junge Mädchen die Lampe, welche sie alsbald mit großer Geschicklichkeit in Brand setzte. Ein intensives Licht beleuchtete jetzt das mit feinem Geschmack ausgestattete Gemach, so daß jeder Gegenstand darin erkennbar war. Die Mutter, welche mit sichtlichem Vergnügen den flinken Bewegungen der auffallend schönen Hände ihres Kindes zugeschaut hatte, sagte plötzlich lächelnd:

»Wie Du doch diese wenig anmutende Arbeit verstehst und graziös verrichtest, mein Liebling! Ich habe niemals, auch in jener Zeit, als viele Diener mir zur Verfügung standen, solche hell und klar brennende Lampe gehabt, wie jetzt, wo mein teueres Töchterchen sich dieser Mühe eigenhändigst unterzieht!«

»Ich bin auch stolz darauf, Mama, weil ich mir sage: Arbeit schändet nicht,« versetzte Grace heiter.

»Nein, gewiß nicht, aber, ganz abgesehen von Deiner Opferwilligkeit, Du hast wirklich ein großes Talent dafür.«

Bei diesen harmlosen Worten hob das schöne Mädchen die langen, dunklen Wimpern und sah der Sprecherin einige Sekunden starr und nachdenklich ins Gesicht. Eine schärfere Beobachterin, als Mrs. Northland war, würde wahrgenommen haben, daß es zugleich wie ein blitzartiges Aufleuchten über die regelmäßigen Züge glitt.

Als nach einer halben Stunde die Damen am Theetisch saßen, der in seinem zierlichen Arrangement von gutem Porzellan und einigen wertvollen Stücken Silbergerät nur zu deutlich verriet, daß die Dasitzenden einst bessere Tage gesehen, erschien Grace merklich einsilbig und zerstreut. Abermals seufzte die Mutter still für sich und beobachtete mit Wehmut und Trauer, aber verstohlen des einzigen Kindes liebes Angesicht.

Am nächsten Morgen fuhr Grace, kleine Einkäufe vorschützend, hinüber nach New York. Pünktlich nach drei Stunden, wie sie es versprochen, kehrte sie auch zurück, doch konnte das junge Mädchen es jetzt nicht unterlassen, der Mutter eine Mitteilung zu machen. Halb verlegen, halb freudig schlüpfte die geheimnisvolle Enthüllung über die rosigen Lippen, daß sie Hoffnung hege, vielleicht einen kleinen Verdienst zu bekommen.

Aufs höchste erschreckt, starrte Mrs. Northland der Erzählerin ins Gesicht, indem sie darauf noch einmal alles schon unzählig oft Gesagte wiederholte und das junge Mädchen himmelhoch beschwor, sich nicht als Ladenmädchen zu verdingen. Aber Grace beruhigte die erregte Frau insofern, daß diese Aussicht auf einen Erwerb bisher nur in einer Annonce bestände, die sie in den »Herald« habe einrücken lassen und worüber sie die Mutter aufklären wolle, sobald man darauf geantwortet haben würde. Unter einer Chiffre habe sie Briefe, Hauptpostamt restante New York erbeten. Der flehende und zugleich so mädchenhafte reine Ausdruck in Graces Augen bekämpfte die im Herzen der bekümmerten Frau aufsteigenden Zweifel und damit war diese Sache fürs erste abgethan. –


Im Speisesaale eines hocheleganten Privathauses der V. Avenue in New York befanden sich eine ältere, aber noch immer sehr wohl konservierte Dame, welche, den »Herald« in der Hand, am Fenster saß, und ein junger auffallend hübscher Mann von vielleicht neunundzwanzig Jahren, der sich mit seinem Frühstück beschäftigte.

»Welch' seltsame Annonce! Bitte, höre mir einmal zu, Anthony, Hahaha!«

»Ja, sofort, Mutter! Erlaube nur, daß ich noch dieses halbe Ei verzehre, dann stehe ich zu Deinen Diensten.«

»Das ist wirklich originell, hahaha!« – Abermals tönte das helle Lachen nach dem Sprechenden hinüber.

»So, nun, was ist denn da so spaßig, Mutter.«

Der Gerufene war jetzt näher getreten und zog sich einen Stuhl dicht an die Seite der stattlichen Frau. Diese las:

»Eine sehr respektable junge Dame aus guter Familie, welche, durch mißliche Verhältnisse gezwungen, sich einen eigenen Broterwerb zu verschaffen genötigt ist, bietet in nur feinen Häusern ihre Dienste an, um das von den Domestiken in der Regel vernachlässigte Geschäft des Putzens, Reinigens und Versorgens der Lampen zu übernehmen und bestmöglichst auszuführen. Dieselbe besitzt in dieser Branche eine seltene Fertigkeit und Übung und wird ihre Kunden sicherlich zufriedenstellen. Auf Wunsch Referenzen. Briefe erbeten: Head-Postoffice restante Nr. 600

»In der That höchst sonderbar,« äußerte der mit Anthony Angeredete kopfschüttelnd, mehr ernst als scherzend, »entweder ist das nur ein schlechter Spaß oder – was mir wahrscheinlicher dünkt – ein Notschrei aus der Brust einer armen Frau.« Er nahm die Zeitung in die Hand und ließ die Blicke über die vielen kleinen Annoncen gleiten, ehe er fort fuhr: »Ich bin überzeugt, daß fast jede dieser Zeilen einen Roman zu verzeichnen hat. Dafür lebt man eben in der Riesenstadt New York. Wohl demjenigen, dem es einmal vergönnt ist, einen Blick in solch' verborgenes Leid zu thun, der in die Lage versetzt wird, heimlich geweinte Thränen trocknen zu können!«

»Du bist ein Schwärmer, Anthony. Diesen weichen, menschenfreundlichen Sinn und das poetische Gemüt muß Dir Deine deutsche Mutter vererbt haben. Dein Vater besaß hiervon nichts,« versetzte die stattliche Dame mit einem leichten Seufzer, indem sie das edel geformte Antlitz des Stiefsohnes wohlgefällig betrachtete. »Was meinst Du, Anthony, ob ich diese Annonce beantworte? Man könnte ja dann sofort erfahren, inwieweit Deine Vermutungen zutreffend sind oder nicht.«

»Thue das, Mutter; es würde mich herzlich freuen, wenn Du ein gutes Werk damit zu stiften im stande wärest,« sagte der junge Mann lebhaft, und die Dame fuhr angeregt fort:

»Übrigens könnte wirklich eine kunstgeübte Hand unseren Lampen samt und sonders nicht schaden, da der alte, schwachköpfige Jim sein Geschäft zuweilen arg vernachlässigt. Fast täglich habe ich Klage über ihn zu führen – wohlan, ich schreibe, Anthony.«

Als der junge Handelsherr Mr. Anthony E. Clark gegen die elfte Vormittagsstunde nach seiner in der unteren Stadt gelegenen Office fuhr, hatte er selbst den Brief der Stiefmutter zur Beförderung in der Tasche. Als dies geschehen, war aber bei ihm auch die Annonce und das darauf bezügliche Gespräch vergessen. –

Der nächste Morgen führte den jungen Mann indessen nach der in einem Seitenflügel seines großen Hauses gelegenen Bibliothek, um ein für sein Geschäft wichtiges Werk daraus zu entnehmen. Beim Durchschreiten eines in den Garten mündenden Zimmers, welches von seiner Stiefmutter zur Aufbewahrung des häuslichen Wäscheschatzes benutzt wurde und mächtige Schränke und Truhen aufwies, stutzte Mr. Anthony überrascht. Dort an einem großen Tische am Fenster, auf welchem eine förmliche Batterie von Lampen aufgestellt war, stand ein hochgewachsenes Mädchen und schien in ihre prosaische Beschäftigung so vertieft zu sein, daß sie den Eintritt des jungen Mannes gar nicht wahrgenommen hatte.

Wohl drei Minuten betrachtete dieser das trotz seiner Originalität höchst anmutige Bild. Durch die halb zugezogene Gardine fiel ein Strahl der goldenen Morgensonne gerade über den dunkeln Scheitel des feinen, etwas vorgebeugten Kopfes und ließ ein wahrhaft holdseliges Profil erblicken, das gegen den hellen Hintergrund wie gemeißelt erschien. Die ebenmäßige Figur zeigte auffallend schöne Formen, wie auch der Schnitt des Kleides unleugbare Eleganz bewies. Anthony Clark zögerte noch immer, weiterzuschreiten, weil er darauf wartete, daß die junge Unbekannte vielleicht einmal die tief auf die Arbeit gesenkten Augen heben würde, aber vergebens. Nun trafen seine prüfenden Blicke die rührigen Finger – wie sonderbar! Ein Paar waschlederne Handschuh bedeckten die Hände bis zum Gelenk, hieran schlossen sich eine Art Schutzärmel aus grauem Futterstoff, die bis über den Ellenbogen hinaufreichten; ein kleines, weißes Schürzchen vervollkommnete diese seltsame Toilette.

Das also war die junge Dame aus guter Familie, welche ihr Brot zu erwerben genötigt war? Er hatte mit seinen Vermutungen demnach doch recht gehabt. »Eine Dame, hm!« Im Augenblick dachte er gar nicht mehr an seine Absicht, jenes Buch zu holen, sondern beschäftigte sich mit dem Gedanken, daß diese Bezeichnung hier in der That höchst gerechtfertigt erschien, wobei ein merkwürdiges Gefühl, halb Befriedigung, halb Freude sein Inneres bewegte: »Wie glücklich mochte das arme Mädchen sein, etwas Beschäftigung – und hoffentlich auch recht lohnende – gefunden zu haben!« –

Gleichsam instinktiv, als ob es die Nähe eines Fremden ahne, schlug das schöne Mädchen jetzt die Augen empor und trat, merklich erschrocken, zurück, während ein heißes, verräterisches Rot sich über Antlitz und Hals ergoß. Mr. Anthony Clark wußte nichts anderes zu thun, als leicht zu grüßen und rasch nach der Bibliothek hinüberzuschreiten, von wo aus er dann seinen Rückweg durch einen anderen Teil des Hauses nahm.

Etwa vier Wochen mochten vergangen sein, während welcher die junge Fremde alltäglich um die zehnte Morgenstunde bei Mrs. Clark erschien, um sämtliche im Haushalt gebrauchten Lampen in Ordnung und Stand zu setzen. Nach Vereinbarung wurde ihr regelmäßig durch die Lady selbst ein Dollar für ihre Arbeit verabreicht, den sie auch mit ruhiger Würde, man hätte fast sagen können, mit vornehmer Herablassung entgegennahm, als ob sie selbst dem Hause einen großen Dienst geleistet hätte und nicht die Empfängerin eines unverhältnismäßig hohen Arbeitslohnes sei. Mrs. Clark, eine obwohl stolze, doch zugleich äußerst gutherzige Frau, hatte das junge Mädchen, dessen schönes Antlitz sie oft nachdenklich musterte, gelegentlich auch einmal gefragt, ob es auf die im »Herald« erlassene Annonce noch mehr Arbeit und Verdienst erhalten habe, worauf ihr die in kühlem Tone gegebene Antwort wurde, daß sie bereits fünfzehn der feinsten Familien New Yorks zu ihren Kunden zähle und mit der Zeit noch bekannter zu werden hoffe.

Mr. Anthony Clark, ein Mann von durchaus ehrenhaften, edlen Gesinnungen, hatte es nicht mehr gewagt, die Unbekannte bei ihrer mehr oder weniger demütigenden Beschäftigung durch seine Gegenwart zu belästigen, und mied das Zimmer, in welchem sie ihre Arbeit stets pflichttreu verrichtete. Allein der Zufall wollte es, daß er ihr öfters in der großen Halle oder auf der Treppe begegnete. Alsdann lüftete er jedesmal in ausgesuchtester Höflichkeit den Hut, wobei er es jedoch nicht unterlassen konnte, einen raschen Blick in das reizende, stets so ernste Mädchengesicht zu thun.

»Nun, freust Du Dich nicht über meine Acquisition, Anthony?« fragte Mrs. Clark eines Abends, als man einige Freunde zum Diner erwartete und nun bei den prächtig und tadellos brennenden Lampen saß.

»Die Freude ist eine problematische, Mutter,« lautete die freundliche, aber bestimmte Antwort des Stiefsohnes, »die blendende Helligkeit all' dieser Lampen bildet einen grellen Kontrast zu dem dunklen Lebenswege des armen Mädchens, dem wir zu Dank verpflichtet sind.«

Die Hausfrau zuckte halb bedauernd die Schultern und meinte gutmütig, daß man der Fremden zu Neujahr ein recht anständiges Geschenk zu machen verpflichtet wäre. –

Eines Morgens, bevor Mr. Anthony wie gewöhnlich nach seiner Office fuhr, trat Mrs. Clark, zum Ausgange gerüstet, noch einmal in des Stiefsohnes Privatzimmer und sagte in mütterlich herzlicher Weise: »Bitte, thue mir den großen Gefallen, Anthony und trage die Bücher, welche ich mir gestern Abend aus der Bibliothek holte, wieder an den alten Platz. Du weißt, ich liebe die Ordnung – sie liegen auf meinem Schreibtisch.«

Da das Verhältnis zwischen dem Sohne und der zweiten Frau des verstorbenen Mr. Clark ein selten inniges war, so entgegnete er ebenso freundlich und zuvorkommend:

»O gewiß gern, liebe Mutter, aber ...«

Den Schluß seiner Rede hörte die Dame nicht mehr, weil sie Eile zu haben schien und das Zimmer bereits verlassen hatte.

Zögernd und mit einer ihm selbst unerklärlichen Befangenheit stand Anthony Clark noch einige Minuten vor der Thür des Zimmers, das von der Fremden zu ihrem prosaischen Geschäft benutzt wurde. Er wußte es selbst nicht, warum er gerade diesen Weg nach der Bibliothek eingeschlagen hatte. Einerseits scheute er eine Begegnung mit dem jungen Mädchen, andererseits trieb eine innere Gewalt ihn vorwärts. War er denn nicht der Hausherr hier, der überallhin kommen und gehen konnte, wie es ihm beliebte? Mit dieser Schlußfolgerung trat er endlich ein.

Ja, da stand sie wieder, die so eigentümlich imponierende und doch so mädchenhaft schüchterne Gestalt. Ein leichtes Rot war ihm nun in die Stirn gestiegen, weil er sich bewußt war, oft – vielleicht sehr oft sich dieses seltsame Bild vor die Seele gezaubert zu haben.

Recht auffällig sichtbar nahm er nun den mitgebrachten Bücherstoß in seinen linken Arm und grüßte höflich mit den Worten: »Verzeihung, mein Fräulein, daß ich Sie störe, allein – ich muß hinüber nach der Bibliothek!« Dabei war aber Anthony keineswegs weitergeschritten, sondern etwa sechs Schritte von dem jungen Mädchen stehen geblieben. Verwundert und, wie es ihm vorkam, mit leisem Lächeln, begegnete sie seinem leuchtenden Blicke.

»Es steht mir kein Recht zu, dieses Zimmer für mich allein beanspruchen zu wollen, Mr. Clark,« entgegnete sie mit volltönender überaus sympathischer Stimme. – Also wußte die Fremde darum, daß er der Hausherr war. Rasch erwiderte er:

»O doch, Miß, Miß –« (augenscheinlich verlangte es ihn, ihren Namen zu erfahren) – »Northland!« klang es sehr leise zurück.

»O doch, Sie haben ein Recht, hier ganz ungestört zu sein, Miß Northland. Sie sind ja die Wohlthäterin für das ganze Haus, ich meine: seit Sie zuerst hier eingetreten, ist es – Licht geworden.«

Der schöne Mädchenkopf senkte sich tiefer auf die Brust herab. »Man ist gütig gegen mich,« flüsterte sie bescheiden.

»Vielleicht ist es sehr anmaßend von mir, Ihnen ein plumpes Lob zu spenden, aber ich kann es doch nicht unterlassen, Ihnen zu gestehen, daß ich Ihren Mut, Ihre Willensstärke und Selbstverleugnung – bewundere,« sagte Anthony nun eigentümlich erregt.

»Das Wörtlein ›muß‹ ist ein strenger Lehrmeister, Mr. Clark, welcher mit eiserner Hand alle rebellischen Oppositionsgelüste herabzudrücken versteht. Aber dennoch giebt es noch etwas Mächtigeres als diesen moralischen Zwang, und diesem Mächtigeren bringt man gerne Hochmut, Eitelkeit und thörichte Eigenliebe zum Opfer,« versetzte das schöne Mädchen, indem ihre großen Augen freudig aufleuchteten.

»Sie haben Eltern, Miß Northland, eine Mutter, für die Sie sorgen?« forschte er, näher tretend.

»Jawohl, um meiner Mutter willen stehe ich hier an diesem Platze, und das Bewußtsein, für sie, die mir auf Erden das teuerste ist, meine Kindespflicht zu erfüllen, hat den Gedanken an Demütigung und Erniedrigung noch niemals in mir aufkommen lassen.«

Mr. Anthony erwiderte kein Wort und so war es mehrere Minuten ganz still im Zimmer; Miß Northland hatte unterdessen ihre Beschäftigung wieder aufgenommen.

»Haben Sie keine Verwandten oder Freunde hier in New York?« fragte er nun eindringlich und leise. Es kam ihm so vor, als ob seine Stimme plötzlich einen veränderten Klang bekommen hätte.

»Nein, keine; wir sind erst vor einigen Monaten aus dem Westen – aus St. Louis gekommen und daher noch ganz fremd hier,« lautete der einfache Bescheid.

Die Sprecherin gewahrte nicht die sichtliche Überraschung in des jungen Mannes Zügen; unverwandt und forschend waren seine Augen auf das feine Profil gerichtet. Nur als er sich jetzt fast ehrfurchtsvoll vor ihr verbeugte und leise sagte: »Auf Wiedersehen, Miß Northland,« schaute sie eigentümlich befremdet auf und entgegnete schüchtern:

»Ich hoffe, daß Ihre Frau Mutter meine kleinen Dienste noch einige Zeit wird gebrauchen können.«

Nicht lange verweilte Mr. Anthony in der nahen Bibliothek, schon nach fünf Minuten kehrte er daraus zurück; allein dieses Mal durchmaß er beinahe hastig das Gemach, indem er in Anknüpfung an das vorige Gespräch nur die halb prophetische, halb aufmunternde Bemerkung hinwarf:

»Miß Northland, gewiß wird sich auch an Ihnen das Dichterwort erfüllen: Was man Schwerstes je empfunden, Liebe hat es überwunden!« –

An demselben Abend nach dem Diner war es das erste Mal, daß Anthony seiner Stiefmutter gegenüber die Rede auf die Fremde brachte. Er blätterte dabei in einem Buche und seine gleichgültige Miene zeigte nichts von der Erregung und Unruhe, die in ihm arbeiteten. Ernst und wie beiläufig fragte er:

»Hast Du niemals nach den Familienverhältnissen des Mädchens geforscht, das seit einigen Wochen hier ein- und ausgeht, Mutter?«

»Nein, wieso? Ich denke, sie ist sehr bescheiden und zurückhaltend. Auf mich macht sie einen ausnehmend günstigen Eindruck. Vielleicht bin ich aber bei dieser Meinung beeinflußt durch eine Ähnlichkeit, welche – mich an frühere glückliche Zeiten erinnert. Hast Du, mein Sohn, etwas gegen das Mädchen einzuwenden?«

»Ich – einzuwenden? Allerdings!« Der junge Handelsherr war aufgesprungen und ließ sein schönes, kluges Auge mehrere Sekunden prüfend auf den wohlgebildeten Zügen der älteren Dame haften, dann fuhr er, tief und schwer aufatmend, fort:

»Als ich heute, auf dem Wege zur Bibliothek, zufällig einige Worte mit der jungen Dame (er betonte letzteres Wort ziemlich scharf) wechselte, erfuhr ich, daß sie den Namen »Northland« führt und mit ihrer Mutter aus St. Louis herübergekommen ist. Du hast mir nun früher das große Vertrauen geschenkt, mich in eine mir ziemlich nahe gehende Angelegenheit einzuweihen, und soviel ich mich aus Deinen damaligen Mitteilungen erinnere, ist dieser Name Dir durchaus nicht unbekannt, vorausgesetzt, daß irgendwelche Beziehungen bestehen sollten, zwischen – zwischen ...« Er stockte.

»Northland! O mein Gott, also doch! Ja, diese Ähnlichkeit mit diesem Manne, den ich einst liebte, frappierte mich sofort.« Tief erblaßt hatte Mrs. Clark jenen Ausspruch hervorgestoßen und die Hände dabei aufs Herz gepreßt: »O Anthony, sie, diese arme Kleine, wäre Marys und Northlands Kind? Nein, das kann, das darf ja nicht möglich sein!«

»Dieses Rätsel bald – recht bald zu lösen, soll Dir und mir eine Pflicht sein!« gab der Sohn mit Nachdruck zurück, indem er seinen Arm zärtlich um die Schulter der tief erschütterten Stiefmutter legte. Mit dem Taschentuche vor den Augen weinte diese jetzt leise vor sich hin:

»O, Anthony, das wäre eine grausame Strafe für mich. Wie oft, als ich mich damals voll Empörung mit harten Worten von Mary losgesagt und Northlands Reichtum und Ansehen höher und höher stieg, wie oft habe ich da das Glück dieses Paares beneidet und berufen! Und tief im Herzen grollte ich der einstigen Freundin, weil von rechtswegen der Platz an ihres schönen Gatten Seite mir gebührte, mir, die ihn ebenso, vielleicht noch inniger geliebt. Und auf diese Weise soll ich endlich, endlich wieder von Mary hören! Anthony, ich kann's nicht fassen!«

»Gottes Wege sind unerforschlich,« versetzte der Angeredete sanft.

»Aber, mein Himmel, was sitze ich hier so müßig und lasse die kostbare Zeit verrinnen,« rief Mrs. Clark nun heftig aufspringend. »Mary, meine arme Mary in Not und Elend, während ich in Wohlleben und Überfluß schwelge. Fort, mein Sohn, bringe mich zu ihr! An mein reuiges Herz ziehen will ich die Teure und ihr Kind. O, welch' eine Schmach ist es für mich, daß gerade hier in unserem Hause das arme Mädchen sich so erniedrigen mußte, Anthony!«

»Erniedrigen? O nein, Mutter! Das, was Miß Northland gethan hat, webt einen Glorienschein um ihr edles Haupt,« klang es auffallend feurig aus des jungen Mannes Munde, so daß Mrs. Clark in stummer Überraschung zu dem Stiefsohne aufblickte.

»Willst Du meine Ratschläge befolgen, Mutter?« fragte er nach einer Pause.

»Thue ich das nicht stets, Anthony?«

»Wohlan, so lasse die junge Dame, welche zweifellos die Tochter Deiner Freundin ist, morgen noch einmal – zum letztenmale – hier ihres schweren Amtes walten, nur damit ich ihr dann unbemerkt folgen und Mrs. Northlands Wohnung erforschen kann. Ist das erreicht, so magst Du hingehen und thun, was Dir Pflicht und Herz gebieten. Bist Du damit einverstanden, Mutter?«

Unter Thränen nickte diese ihm zu. –

Anthony Clark vermochte in der darauffolgenden Nacht gar keine Ruhe zu finden. Immer und immer stand das hochherzige Mädchen mit den ernsten, charaktervollen Zügen und den wunderbar schönen Augen vor seinem fieberhaft erregten Geist. Und als gegen Morgen der Schlaf sich endlich auf seine Lider herabsenkte, war es ihm, wie wenn ihr holdes Angesicht, von einer leuchtenden Strahlenkrone umgeben, sich über ihn niederbeugte und die melodische Stimme in sein Ohr flüsterte: »Was man Schwerstes je empfunden, Liebe hat es überwunden!« – – –

Ganz seltsam unsicher und befangen hatte Miß Northland am andern Morgen das Clarksche Haus betreten und war viel eiliger als sonst durch die weite Halle der unteren Etage die Treppe hinauf nach dem für ihre Obliegenheiten bestimmten Zimmer geschlüpft. Dort angekommen atmete sie förmlich erleichtert auf, daß ihr niemand begegnet war, weil sie sich nach ihrer Idee in einer krankhaft erregten Gemütsstimmung befand. Zu ihrer Schande mußte sie auch selbst die Wahrnehmung machen, daß ihr die zu verrichtende Arbeit zum erstenmale drückend und peinlich erschien. Wenn Mr. Clark nur nicht etwa wieder bei ihr eintreten und ein Gespräch mit ihr anknüpfen wollte, dachte das junge Mädchen hochklopfenden Herzens – heute würde sie ihm nicht mehr so unbefangen in die klugen Augen blicken und nicht mehr so präcise antworten können! Warum aber fürchtete sie sich davor? Über dieses Warum indessen vermochte sich Grace nicht klar zu werden und schob es auf »ihre krankhaft erregte Gemütsstimmung!« –

Bei ihrem Eintritt in den gewohnten Arbeitsraum stand alles wie sonst am bekannten Platze. Sie zog flink Schürze, Schutzärmel und Handschuhe aus der mitgebrachten Tasche hervor und war eben im Begriff, an die Arbeit zu gehen – da gewahrte sie, dicht neben den Lampen liegend, eine prachtvolle Marschall-Niel-Rose. Was bedeutet das? Beim Anblick der Blüte war Grace dunkle Glut ins Gesicht geschossen und eine tiefe Zornesfalte legte sich über die weiße Stirn. Empörend! Das mußte der unverschämte Nigger, der Butler des Hauses gethan haben, welcher ihr beim Kommen und Gehen stets den Mantel an- und ausziehen half und sie dabei immer so keck anstierte oder seine wulstigen Lippen zu süßlichem Grinsen verzog. Empörend war das! Mit dem Zeigefinger der linken Hand schob sie die zartgelbe Blüte an das entgegengesetzte Ende des großen Tisches; allein eben so schnell ergriff sie dieselbe wieder, sie mit fast wildem Ungestüm an die Brust pressend. Allmächtiger Gott, wäre es denkbar, konnte es möglich sein, daß er – Anthony Clark, dessen Bild sich in ihrer jungen Brust gar fest eingelebt hatte, dessen milde, zum Herzen dringende Stimme ihr noch jetzt durch das Gemüt klang, daß er jene Blume hier auf diesen Tisch gelegt? Ein Zittern überfiel die hohe Mädchengestalt – und wenn er es wirklich gethan, mußte sie es dann nicht eher als Demütigung und Beleidigung ansehen, die er, der reiche, hochgestellte Mann dem armen, schutzlosen Mädchen damit angethan? Durfte sie die Blüte, ohne erröten zu müssen, auch wirklich annehmen? Was würde die Mutter dazu sagen? O gewiß, Anthony Clark war eines unedlen Gedankens nie fähig, das war ja sonnenklar! Mit fliegenden Händen, gewiß das erste Mal weniger gewissenhaft als sonst, verrichtete Grace Northland an diesem verhängnisvollen Morgen ihre Arbeit. Mrs. Clark sei ausgegangen, bedeutete sie der aufwartende Butler, als sie sich zur Dame des Hauses, wie alltäglich, begeben wollte. Wie Grace bei dieser Auskunft voll Beruhigung wahrnahm, verrieten die Züge des Schwarzen heute nur steife Würde und stumme Ehrerbietung. Gott sei Dank, endlich konnte sie dem sie heute so eigentümlich beengenden Hause den Rücken wenden, flink eilte das junge Mädchen in die anderen Häuser, in welchen sie die nämliche Beschäftigung zu verrichten hatte, und wenige Stunden später lief Grace Northland bereits leichtfüßig die Treppenstufen zu dem traulichen Häuschen Nr. 9 auf Dolly Ward hinan.

Hätte sie während des Weges nur ein einziges Mal nach rückwärts geschaut, dann würde sie wohl sicher nicht mehr im Zweifel über den Geber jener Rose gewesen sein.


Es war ein zauberisch schöner Juliabend. Gleich Diamanten strahlten die Sterne am Himmel und wer nie eine amerikanische Sommernacht durchlebte, der hätte denken können, ein Teil der Gestirne wäre zur Erde herabgefallen, so glitzerten und funkelten die zahlreichen glow worms (Leuchtkäfer) allenthalben im tauigen Grase und duftigen Gesträuch. In traulicher Eintracht saßen Mutter und Tochter auf der kleinen Veranda, während Polly, eine junge Negerin, welche Grace, seitdem sie so guten Verdienst erzielte, zum Beistand der Mutter ins Hauswesen genommen, geräuschlos hin und her glitt und den Theetisch abräumte.

»Du bist heute so still, mein Kind, was ist Dir? Zuweilen scheint es mir, als ob Deine Gedanken ganz wo anders weilten, als zu Hause!« fragte Mrs. Northland, nachdem sie schon einigemal nach der prächtigen Rose geschaut, die an des jungen Mädchens Busen prangte.

»Ich denke darüber nach, daß wir doch jetzt sehr glücklich sein können, Ma,« entgegnete die Angeredete mit halb abgewandtem Gesicht.

»Du, mein Engelskind! Wie sorgst und plagst Du Dich für mich – das zu vergelten, vermag nur Gott,« flüsterte die ältere Dame in tiefer Bewegung.

»Ich ernte ja auch reiche Früchte. Die Mühe ist so gering, in anbetracht, daß ich Deine Stirn wieder ohne Sorgenfalten erblicke,« lautete die heitere Erwiderung.

»Du wolltest mir ja längst einmal etwas über die verschiedenen Häuser erzählen, in denen Du ein- und ausgehst, Grace. Ich hoffe, man begegnet Dir mit Achtung?«

»Sei außer Sorge, Mama. Noch niemals habe ich die geringste Zurücksetzung erfahren. Vor allen ist es –« (Grace zögerte ein wenig) »ist es Mrs. Clark, die stets in sehr liebreicher Weise zu mir spricht.«

»Mrs. Clark, eine noch junge Frau?«

»Etwa in Deinem Alter. Sie ist eine große volle Blondine, mit selten schönen, blauen Augen und – –«

»Und einem kleinen, roten Male an der Oberlippe?« fiel Mrs. Northland der Tochter hastig ins Wort.

»Ja, gewiß. Woher kennst Du denn diese Dame?«

Die Mutter war jetzt in ihren Stuhl zurückgesunken und atmete tief und schwer.

»O Grace, welche Entdeckung! Warum auch mußtest Du gerade in dieses Haus geraten? Gerade sie ist die Frau, um deretwillen Dein armer Vater einen Treubruch beging, indem er mich ihr, dem reichen Mädchen, mit welchem er bereits verlobt war, vorzog. Einst waren wir uns beide in beinahe mehr als schwesterlicher Liebe zugethan, lange Jahre hindurch; dann aber hat sie mir die Thür gewiesen, sich gänzlich von mir losgesagt – mich verflucht! Ein Unsegen ruhte seitdem auf dem Bunde zwischen Deinem Vater und mir. Dein Vater verlor sein ganzes Hab und Gut und ist im kräftigsten Mannesalter dahingerafft worden. Annie, meine frühere Freundin, wurde die zweite Frau des reichen Handelsherrn Mr. Albert Clark, wie ihr Vater es wünschte, und nun lebt sie im Überfluß in New York. So viel ich weiß, besaß Clark auch einen Sohn aus erster Ehe; Annie hatte keine Kinder!«

Längst war das junge Mädchen von ihrem Sitze aufgesprungen, war niedergekniet und lauschte, die verschlungenen Hände im Schoße der Mutter, atemlos deren Worten. »Grace,« fuhr dieselbe nach kurzer Pause fort, »in diesem Hause darfst Du Deinen Namen niemals nennen, hörst Du, Grace?«

Es erfolgte keine Antwort. Dafür aber gewahrte Mrs. Northland, ungeachtet der zunehmenden Dunkelheit, wie ein Herr und eine Dame sich langsam dem Hause Nr. 9 genähert hatten und nun leise zögernd die Stufen der hölzernen Treppe emporstiegen.

Durch die Glasthür der Veranda fiel ein heller Lichtstrahl direkt auf das blasse Gesicht einer stattlichen, noch immer schönen Frau.

»Annie! Barmherziger Gott!«

»Mary!«

Wie durch einen Federdruck in die Höhe geschnellt, fuhr nun auch des jungen Mädchens Kopf aus dem Schoß der Mutter empor. Allein, Grace sah nicht, daß diese der eleganten Dame in die Arme sank, nicht, daß jene das vergrämte Gesicht der Wiedergefundenen mit heißen Küssen bedeckte – sie sah nur ihn – Anthony Clark und seine herzlich und liebevoll auf sie blickenden Augen.

»Annie, Du kommst zu mir? Bringst Du mir Vergebung – bringst Du Deine so schmerzlich vermißte Liebe mir zurück?« klang es schluchzend aus Mrs. Northlands Munde.

»Alles, alles, Mary. Aber ich bringe Dir noch mehr: Siehe hier, das ist Anthony Clark, der mir zu jeder Zeit ein lieber Sohn gewesen. Er hat eine Bitte an Dich zu richten, die so groß und bedeutungsschwer ist, daß es meiner Fürsprache bei Dir bedarf!«

Der Genannte war rasch näher getreten und verneigte sich tief vor der überraschten Frau.

»Eine Bitte an mich?« stammelte Mrs. Northland, während sie in fast scheuer Verwunderung von dem eleganten, hübschen Manne zu ihrer Tochter hinübersah. Was war denn hier geschehen? – Das purpurglühende Gesichtchen mit den Händen bedeckend, lehnte das junge Mädchen an einem Sessel.

Obwohl in leidenschaftlicher Erregung, aber doch in festem Tone, sagte nun Mr. Anthony: »Ich habe einmal die Äußerung gethan, daß es, seit Sie, Grace Northland, die Schwelle unseres Hauses überschritten, Licht darin geworden ist. Allein damals wagte ich nicht, hinzuzusetzen, daß dieses Licht mit einer Kraft und Macht, die höheren Ursprung zeigten, auch mir ins Herz hineingedrungen ist! Wie ein Geblendeter bin ich seit Wochen umhergegangen – geblendet und beschämt über die eigentliche Erbärmlichkeit des sonst so hochgeschätzten eigenen Wertes. Erst Sie, nur Sie, Miß Northland, haben mich gelehrt, daß es noch Höheres giebt als das, was mir bis dahin als allein edel und erhaben vorgeschwebt. Wenn ich mir bisher einbildete, ein guter Mensch zu sein, so erkannte ich mich jetzt als einen egoistischen, jämmerlichen Wicht, dessen ganzes Verdienst darin bestanden hatte, die Annehmlichkeiten des Lebens mit Behagen zu genießen. – Heute, als die verhängnisvolle Rose auf Ihrem Platze lag, war ich so anmaßend, durch eine Thürspalte zu Ihnen hinüber zu sehen. Ich gewahrte Ihren Kampf, gewahrte aber auch, wie mein stummes Liebeszeichen mit Ungestüm ans Herz gepreßt wurde. Grace Northland! Diese Brust erfüllt nunmehr ein einziger, seliger, heißer Wunsch – eine Bitte – –«

»Anthony!« Ein fassungsloser Jubelruf unterbrach den Sprecher; Graces Arme waren jetzt schlaff herabgesunken und wie in einer Verklärung starrte sie ihn an.

»Grace, mein hochherziges, mutiges Mädchen, ich will noch nichts anderes wissen, als ob Sie meine tiefe innige Liebe einst werden erwidern können. Das weitere überlassen wir der Zeit und diesen da ...«

Damit deutete er auf die beiden älteren Damen, welche Hand in Hand nebeneinander standen und mit seligen Blicken an der reizenden Befangenheit des holden jungen Mädchens sich weideten.

Jedenfalls mußte die Antwort auf jene inhaltsschwere Frage wohl zur allseitigen Zufriedenheit ausgefallen sein, denn bald darauf saßen vier glückliche Menschen in dem kleinen, gemütlichen Salon, wo Erinnerungen ausgetauscht und neue Zukunftspläne geschmiedet wurden. Als Anthony Clark, über das Geländer der Veranda gebeugt, indessen die Stiefmutter lächelnd vorausgegangen war, noch ein letztes Lebewohl, einen warmen Kuß austauschte mit seiner schönen Braut, war es bereits dunkle Nacht geworden.


Selbstverständlich brachte nun die nächste Zeit den guten Leuten von Dolly Ward wieder viel Stoff zum Reden. Mr. O'Reilly jedoch ging womöglich noch etwas einsilbiger als sonst umher. So lange schon hatte er sich, nach einem schweren Kampf mit seiner ursprünglichen Absicht einer Geldheirat, bereit gemacht, der schönen Tochter seiner Nachbarin von Nr. 9 einen ernsten Antrag zu machen, aber es hatte ihm stets an dem nötigen Mut gefehlt, und nun mußte ihn das glückstrahlende Gesicht des jungen Mädchens, als es wenige Tage später an Anthony Clarks Arme an der Behausung des Advokaten vorüberging, hinlänglich darüber aufklären, daß seine erträumten Aussichten auf Erfüllung seiner stillen Herzenswünsche nur sehr kümmerlich beschaffen gewesen seien, und das schien ihm ziemlich nahe zu gehen, denn bei einem gelegentlichen Besuche in der Nr. 9 ließ der junge Irländer die Bemerkung fallen, daß er demnächst »aus Geschäftsrücksichten« nach Brooklyn übersiedeln werde.

Noch vor seiner Vermählung mit Grace hat Anthony Clark ganz heimlich das Häuschen Nr. 9 auf Dolly Ward käuflich erworben, um es seiner holden Braut als Morgengabe zu schenken. Mrs. Northland ist fortan die Gebieterin desselben, und für die schwergeprüfte Frau ist es stets ein Festtag, wenn das glückliche junge Paar dem Geräusch und Getriebe der Riesenstadt einmal entflieht, um ein paar ruhige, selige Stunden zu verleben in der poetischen Einsamkeit von Dolly Ward.

Fächer-Bilder.

Berlin, 14. Januar 18..

»Caro amico!

Warum ich so lange nicht geschrieben, willst Du wissen? Nun, das ist eigentlich keine so leichte Sache, Dir zu erklären. Fürs erste begnüge Dich damit, daß ich mich langweile – zum Sterben langweile und Dein heiteres Künstlergemüt – Dich, Du Glücklicher, der Du unter Italiens Sonne der abgeschmackten Wintergenüsse unserer Reichshauptstadt kaum mehr gedenkst, nicht mit Stoßseufzern und Lamentationen inkommodieren wollte, die Dir doch vielleicht nur ein mitleidiges Lächeln entlockt haben würden!

»Aber Mensch, bist Du verrückt geworden!« höre ich in Gedanken Deine Stimme rufen: »Bist verheiratet seit sechs Monaten, hast eine charmante Frau, ein Heim, eine Stellung unter den Künstlern, um die Dich die Götter beneiden könnten, und sprichst von Langweile?!« Zugegeben – alles zugegeben, alter Freund! Aber ich kann Dir einmal nicht helfen. Gerade das Geregelte meines jetzigen Daseins widert mich an. Es erscheint mir zu philisterhaft, zu sittsam, zu hausbacken, keine Spur von Abwechslung – von prickelnden Reizen liegt darin. Wo bist Du hin, Du goldige Junggesellenzeit! Nimm den freien Waldvogel, stecke ihn unbarmherzig in einen Paradekäfig und schau zu, was er für eine Miene macht! So ungefähr kannst Du Dir denken, wie mir, den Du früher zur Genüge gekannt, nun zu Mute ist. O heiliger Brahma! Es war eine große Dummheit, mir jetzt schon die Flügel zu stutzen und mich ins Joch zu spannen. Die Galle läuft mir zuweilen über, wenn ich an die verschiedenen Tanten, Onkels – und Schwiegermütter denke, welche mir diese Heirat so plausibel dargestellt und es fertig gebracht haben, aus einem von Übermut und Lebensgenuß beseelten Taugenichts einen soliden Ehemann zu machen! – Solide?? Das doppelte Fragezeichen steht nicht ohne Bedeutung da. Arme kleine Frau! Ich glaube, sie hat von uns beiden wohl doch noch die schlechtere Nummer gezogen, obgleich ich bisweilen moralischen Katzenjammer bekomme und in bitterer Reue diesem noch so kindlichen Geschöpfe, was sich mein Weib nennt, alle begangenen Sünden abbitten möchte. Wer aber verlangt auch, daß ein Maler, ein Künstler von Ruf, wie ich ohne Überhebung es mir zu sein schmeichle, der überdies in Berlin lebt, Grundsätze und Selbstverleugnung des heiligen Antonius besitzen soll! Wer das verlangt, der ist ein Narr! Ich habe Agnes geheiratet, erstens: weil meine und ihre Familie es wünschten; zweitens: weil sie ein leidlich hübsches, sanftes Geschöpf ist, die sogar einer Ameise aus dem Wege geht, um sie nicht zu zertreten, wie viel weniger dem eigenen Gatten unfreundlich begegnen oder ihm gar widersprechen würde. Darum habe ich sie zu meiner Gemahlin gemacht, nicht aber, weil –, wie Du es zu glauben scheinst – sie es verstanden hätte, mein launisches Herz in Fesseln zu schlagen, noch weil sie überhaupt qualifiziert wäre, einen Mann – noch dazu einen verwöhnten Mann – zu begeistern und hinzureißen. In unserer Art führen wir ja auch eine ganz glückliche Ehe. Sie ist eine wohlhabende Frau, ich derjenige, der um sein Brot schaffen muß. Daher habe ich es mir selbstverständlich auch zur Pflicht gemacht, jeden ihrer Wünsche zu erfüllen und ihr stets aufs Rücksichtsvollste zu begegnen. Nebenbei glaube ich wirklich, daß sie einiges Vertrauen zu mir hat und mir aufrichtig zugethan ist. Dankbar zeigt sie sich wenigstens für jedes freundliche Wort aus meinem Munde, wenn auch mein übriges Thun und Lassen – außer unsern vier Pfählen – sie wenig oder gar nicht zu interessieren scheint. Von Eifersucht habe ich vorläufig noch nicht das Mindeste bemerkt. Manchmal sogar könnte mich der sonst sehr anerkennenswerte Mangel dieser Untugend an meiner jungen Frau beinahe ungeduldig machen. Wir führen somit ein ganz modernes, großstädtisch angehauchtes Eheleben.

Agnes lebt ziemlich häuslich, verkehrt nur im kleinen Verwandten- und Bekanntenkreise. Ich hingegen tummle mich in der großen Welt umher, wozu ein Künstler von Beruf verpflichtet ist, wenn er seinen Geist anfeuern will. Trotzdem aber entgehe ich bei solchem Dasein der Langweile nicht. Das ewige Haschen nach pikanten Abenteuern und reizvoller Abwechslung wird schließlich fade; oft fehlt dabei der wahre Humor, oft aber auch jedwede Poesie! Pah! So ist einmal der Mensch. Er erwartet immer, daß Fortuna ihm einmal etwas ganz Apartes in den Schoß werfen soll! Das einzige, was mich wahrhaft befriedigt, ist und bleibt immer die Kunst. Diese edle Dame ist es auch, die mich zuweilen recht energisch bei den Ohren zieht mit der Mahnung: »Nun ist's genug, Freund Gilbert, mit dem Vergnügen! An die Arbeit mit Dir!« Und dieser Mahnung habe ich mich bisher noch immer willig gefügt. Halte mir aber in Deinem Antwortschreiben um Himmelswillen nicht etwa eine Moralpredigt, amico Carolo, um mich mit diplomatischen Redensarten auf den schmalen Pfad der Tugend hinüberzulocken! An mir ist nun einmal Hopfen und Malz verloren, und muß ich fürs Leben verbraucht werden, wie ich eben bin. Wenn Dir übrigens etwas daran liegt, so will ich Dir von Zeit zu Zeit eine gedrängte Übersicht meiner hiesigen Lebensweise, oder richtiger gesagt: ein Sündenregister zukommen lassen. Vor Dir kennt mein Herz keine Geheimnisse. Und nun Addio bis zum nächsten Male.

Gilbert.«


Berlin, 8. Februar 18..

»Teurer Freund!

Es ist zum Totlachen! Ich habe ein reizendes Abenteuer erlebt, welches ganz nach meinem Geschmack ist und die mich befallene schlappe Gemütsstimmung total aufgefrischt hat. Übrigens danke ich Dir für Deinen Brief und die freundlichen Grüße an Agnes, der Du allem Anscheine nach ein liebenswürdiges Interesse zu teil werden läßt. Das gute Kind hatte vor einigen Tagen zum erstenmale eine Anwandlung von Eifersucht. Wie komisch! Doch davon später.

Also: unser Künstlerbund gab vorige Woche einen brillanten Maskenball, den ich selbstverständlich besucht habe, während meine Frau dergleichen rauschende Vergnügungen grundsätzlich meidet. Natürlich bin ich weit davon entfernt, sie in ihren etwas streng puritanischen Ideen beeinflussen zu wollen. Ich hingegen warf mich mit blasierter Gleichgültigkeit in den wildesten Strudel dieses Zauberfestes. Ein schlichter Domino aus moosgrüner Seide, der noch aus meiner Junggesellenzeit stammt und mir vor Jahren zur Karnevalszeit in Rom gute Dienste geleistet, wurde wieder hervorgesucht und für tauglich befunden. Vom Scheitel bis zur Zehe verhüllte er meine Gestalt, so daß ich darauf hätte Gift nehmen wollen, unerkannt zu bleiben. Allein es kam anders. Denn bereits vom Beginn des Balles an intriguierten mich zwei Damen ganz impertinent, indem sie mich auf Schritt und Tritt verfolgten.

Die eine, ebenfalls im Domino, schien der Figur und Haltung nach schon etwas bei Jahren zu sein, wogegen die andere, im entzückendsten Susannenkostüm, Formen und Bewegungen auswies, wie ich solche an einer Sterblichen überhaupt noch nicht gesehen. Im Nu war meine blasierte Stimmung verschwunden; ich fühlte einen Feuerstrom durch meine Glieder ziehen. Große Samtmasken mit lang herabfallenden Spitzenbärten machten jedes neugierige Erspähen der Gesichtszüge rein unmöglich.

Wer war dieses Götterweib? Sicherlich wohl eine Fremde. Denn solcher Anmut und vornehmer Grazie war ich in Berlin noch nicht begegnet. Aufs höchste interessiert und sympathisch angezogen, daß die Aufmerksamkeit dieser distinguierten Erscheinung sich gerade auf meine unbedeutende Person gelenkt, mache ich unserer bisherigen stummen Wanderung durch die Säle ein Ende mit den an die Jüngere gerichteten bedeutungsvollen Worten:

»Was veranlaßt wohl nur das Licht, der armseligen ›Motte‹ zu folgen?«

Sie zuckte zum Zeichen, daß sie mich nicht verstanden, die wohlgerundeten Schultern. Ich wiederholte dieselbe Frage auf Französisch. Da lachte sie hell auf. Es war ein köstliches melodisches Lachen; dann klang eine glockentiefe Altstimme an mein in Verzückung lauschendes Ohr:

»Monsieur Gilbert besitzt viele Freunde, ohne daß er davon eine Ahnung zu haben scheint.«

Beinahe erschreckt stutze ich. Also faktisch erkannt!

»Ist er doch nicht umsonst zwei Karnevalsaisons in Rom gewesen. Jener grüne Domino hier –« (ihre mit schwarzen Halbhandschuhen bekleidete Rechte strich sanft über meinen Ärmel hinweg) – »machte den Verräter.«

Etwas verblüfft starre ich durch die Augenschlitze der Maske nach der Sprecherin hin.

»Eine Freundin, Madame? So sind wir alte Bekannte?« sagte ich ziemlich indiskret.

»Das weiß ich nicht, Monsieur! Wer zählt die Völker, kennt die Namen! Künstler Gilbertos Herz ist weit, aber sein Gedächtnis scheint kurz. Armer Gilberto!« fuhr sie, bedauernd den Kopf wiegend, fort: »Jetzt ist er ein Philister geworden; er mußte es nolens volens werden, – hat eine reiche, unelegante, häßliche Frau heiraten müssen, die nebenbei noch grimmig eifersüchtig sein mag. Seine Freunde bedauern und bemitleiden ihn aber aus tiefstem Herzensgrunde und hoffen wenigstens, daß die geniale Künstlernatur unter solchem Mißgeschick nicht zu Grunde gehen wird!«

»Eine häßliche Frau!« Das verschnupfte mich, und ein wenig ärgerte ich mich über solchen meinem sonst stets als kompetent geltenden Geschmack gemachten Vorwurf, insbesondere, weil er ganz ungerecht war. Allein der Moment schien nicht geeignet darüber zu streiten, und deshalb nahm ich es ruhig hin; ja ich war sogar entzückt davon, daß die reizende Susanne nun sans gêne ihren Arm unter den meinen schob und dicht neben mir weiter schritt. Der weibliche Domino folgte uns.

Witz, Geist und Übermut sprudelten aus jedem Worte meiner Begleiterin. Ich schwelgte in einem Meer von Wonne. Hier war doch einmal wieder richtiges Amüsement, nach welchem ich mich förmlich gesehnt hatte. Berlin, meine Ehemannspflichten, ja sogar die sanfte, braunhaarige Agnes, – alles war vergessen; ich verträumte mich wieder nach Italien, in die selige Periode meiner unbeschränkten Freiheit!

Mio amico! Ich kann Dir versichern, daß es wirklich ein außerordentlich amüsanter Abend war. In einem ziemlich entlegenen Winkelchen nahmen wir ungestört Erfrischungen ein, nach deren Genusse diejenige, welche von meiner reizenden Maske mit Tante angeredet wurde, in einen wohligen Halbschlaf zu fallen schien. Wir ignorierten das selbstverständlich und unterhielten uns um so lebhafter. Aus verschiedenen Äußerungen der jetzt Schlummernden war mir klar geworden, daß die Damen Russinnen sein mußten, ihr Domizil in Wiesbaden hatten und bloß für kurze Zeit auf Besuch zu einer Malerfamilie nach Berlin gekommen waren, indessen die Hauptstadt schon am nächsten Tage zu verlassen gedachten. Halb mechanisch spielte ich mit dem mir angeeigneten Fächer meiner Begleiterin und that dabei die vielleicht etwas dreiste Äußerung, daß ich denselben als Pfand für ein eventuelles Wiedersehen, oder auch zur Erinnerung an diesen Abend als mein Eigentum behalten wollte.

»O nein! Dieses unscheinbare Ding hier ist ein teueres Andenken an einen Freund,« entgegnete sie wieder mit dem so bezaubernden Lachen. »Aber, ich will Ihnen einen Vorschlag machen, Monsieur Gilberto! Sie behalten den Fächer einstweilen und malen mir mit Künstlerhand ein Bildchen darauf, dann wird er mir erst doppelt wert sein.«

»Gern. Doch wie soll ich Ihnen denselben wieder zustellen, bella Susanna?« fragte ich gespannt, indem ich ihre reizende, brillantenfunkelnde Hand einen Moment fest zwischen die meine nahm.

»Eh bien! Sie schicken ihn mir par poste, oder was noch besser wäre, Sie bringen ihn selbst, Gilberto! Meine Adresse ist: Madame de Baranow, Wiesbaden ... Straße. Im Mai komme ich übrigens wieder nach Berlin.«

Darauf erhob sie sich, weckte mit sanften Schütteln die schlummernde Tante, und bald waren die Damen im Maskengewühl meinen Blicken entrückt.

Ich glaube, daß ich noch eine ziemliche Weile, in selige Träumereien versunken, mit dem gedachten Fächer in der Hand auf diesem Platze gesessen habe. Obgleich kein Kunstwerk, was die schöne Unbekannte mir zurückgelassen, entströmte demselben doch ein eigentümlich süßes Parfüm. Von goldverziertem Schildpatt war der zierliche Griff, alles übrige von feiner schwarzer Seidengaze. Und doch fühlte ich mich in dem Besitze gleich einem Krösus, so daß auch in meinem erregten Geiste allerlei mögliche Ideen auftauchten – liebliche Phantasiegebilde, denen ich auf dem duftigen Gewebe mit dem Pinsel Ausdruck, ja Form und Gestalt verleihen wollte. Sicherlich sollte Dir, bella Susanna, der Beweis geliefert werden, daß Gilbertos leidenschaftliches Temperament, sein zündender Geistesfunke noch nicht untergegangen im hausbackenen Eheleben.

Das Fest hatte jetzt keinen Reiz mehr für mich. Ich ließ mir von dem ersten besten dienstbaren Geiste ein Stück Papier bringen, wickelte den mir so kostbaren Fächer sorgfältig ein und schob das kleine Päckchen in die Tasche. Nach zwanzig Minuten stieg ich die Treppe zu meiner Wohnung hinan.

Schon von der Straße aus hatte ich wahrgenommen, daß in dem an mein Atelier stoßenden Wohnzimmer, wiewohl die Mitternachtsstunde längst geschlagen, noch eine Lampe brannte. War denn Agnes noch wach? Wollte die kleine Frau mich, an dessen späte Rückkehr sie doch hinlänglich gewöhnt sein mußte, heute auf einmal erwarten? Das dünkte mir höchst wunderbar. Der Entreedrücker befand sich in meiner Tasche, weshalb ich, ohne zu klingeln und von den Dienstleuten unbemerkt, mein Heim zu betreten vermochte. Ein wenig neugierig öffnete ich die Stubenthür; doch machte der sich mir darbietende Anblick unwillkürlich lächeln. Dort – an dem mit umfangreichen Weißnähereien bedeckten Tische, über welchen die Hängelampe ihr mildes Licht ausstrahlte, lag, auf die gekreuzten Arme herabgesunken, das Haupt meines jungen Weibes, während die Brust der sanft Schlummernden unter regelmäßigen Atemzügen sich hob und senkte.

»Die häßliche Frau!« So schoß es mir plötzlich durch den Sinn. Leise trat ich näher, um mich mit Kritikerblicken einmal zu überzeugen, in wie weit jener Ausspruch gerechtfertigt schien. Freilich wies dieses zierliche Köpfchen dort keine regelrechten Schönheitslinien auf. Dafür aber lag der Schmelz holder Frauenhaftigkeit, die Taufrische eines weiß-rosigen Teints über dem beinahe noch kindlich runden Gesichte. Häßlich? Nein, das war entschieden ganz ungerecht. Der Chic der großen Welt, und das so gewisse, auch weniger schöne Frauen anziehend machende Etwas fehlte hier natürlich durchaus. Allein mein Malerauge fand heute zum erstenmale, daß das, was ich an Modellen so oft vergeblich gesucht und wofür ich, um es auf die Leinwand zu bannen, eine wahre Leidenschaft hegte, nämlich: einen rötlich goldigen Glanz im hellbraunen Haar, was die Engländer so bezeichnend auburn nennen, – daß gerade diese große Seltenheit mein eigenes Weib besaß. In einem langen Prachtzopfe hing dieses jetzt vom Lampenlicht beleuchtete, wunderbar schimmernde Haar der schlanken Gestalt über den Nacken herab. Merkwürdig, nicht wahr, mio amico? Und noch merkwürdiger, daß ich das vorher gar niemals beachtete.

Nachdem ich Cylinder, Handschuhe und das kleine Paket mit dem Fächer auf den Tisch gelegt, war ich eben im Begriff, mich auch des Paletots zu entledigen, da erwachte Agnes.

Halb verstört schaute sie mich an. Doch nur mit verlegenem Gruße raffte sie eilig die Arbeit zusammen und barg dieselbe auf dem Schoße.

»Aber, Kind! Was fällt Dir ein, so lange wach zu bleiben! Das ist thöricht!« sagte ich mehr unwillig, als freundlich, indem ich es nicht einmal der Mühe wert hielt, ein lautes Gähnen zu unterdrücken. »Meinetwegen brauchst Du das nicht mehr zu thun!«

Nur ein ängstlich scheuer Blick aus ihren stahlblauen Augen streifte mich. Was sie dabei wohl gedacht, vermochte ich nicht zu ergründen. Vielleicht hatte sie gerade um meinetwillen den Schlaf der halben Nacht geopfert, vielleicht auch auf ein herzlich dankbares Wort aus meinem Munde gerechnet. Arme kleine Frau! Sie packte, wie das so ihre Gewohnheit war, meine nachlässig hingeworfenen Sachen sorgsam zusammen. Dabei aber entschlüpfte der Fächer seiner papiernen Hülle und fiel zurück auf den Tisch. Sie stutzte, da sie das verräterische Rot sofort bemerkte, was meine Stirn bezog.

»Hast Du Dich neuerdings auf Fächermalen verlegt, Gilbert?« kam es eigentümlich spöttisch von den rosigen Lippen. Der Ton reizte mich.

»Ja wohl, wenn Du nichts dagegen hast, kleine Moralistin! Ich werde diesen schlichten, schwarzen Fächer zu einem wahren Kunstwerk umgestalten, weil die Besitzerin ein ...« (ich stockte, denn der Ausdruck des mir zugewandten Gesichtes glich dem eines entsetzten Kindes) – »weil eine Dame mich freundlich darum gebeten hat, dieses unscheinbare Ding zu verschönern,« fügte ich gleichgültig hinzu.

»So? Nun, mir hast Du noch niemals einen Fächer gemalt, Gilbert!« sagte sie halb schmollend, während sie den verfänglichen Gegenstand zur Hand nahm und denselben, das ihm entströmende Parfüm einsaugend, an ihr Stumpfnäschen hielt.

»Dir?« fragte ich höchlichst verwundert. »Trägst Du denn überhaupt einen Fächer? Ich dachte, solch' Spielzeug für große Kinder erscheine Dir viel zu frivol?«

Zu meiner noch größeren Verwunderung sah ich, wie das zierliche Köpfchen mit einem energischen Ruck ganz plötzlich in den Nacken fuhr, worauf es mit eigentümlich bebender, allein halb trotziger Stimme an mein Ohr schlug:

»O, natürlich ahne und verstehe ich nichts vom Fächerspiele all' jener Frauen, deren Lebenszweck nur eitles Haschen nach Vergnügen ist und für welche das heilige Wort Pflichten überhaupt keine Bedeutung hat. Einen Fächer zum Gebrauche in Deinem Sinne brauche ich gottlob nicht! Gute Nacht, Gilbert!«

Damit ließ sie mich allein.

Dergleichen Heftigkeit war mir neu an meiner Gattin. Gut, dachte ich, fangen wir doch zur Abwechslung einmal an, uns gegenseitig auf den Kriegsfuß zu stellen! Das würde jedenfalls mehr Anregung bieten im häuslichen Einerlei, als diese lauwarme Spülwasser-Stimmung. Oho! Ich war sicher nicht der Mann, um mich über die kindischen Launen der einfältigen kleinen Frau zu grämen. War doch mein Geist ohnehin so vollständig gefangen genommen durch das reizvolle Abenteuer des Maskenballes, daß alles andere gänzlich in den Hintergrund trat.

Für heute aber mag's genug sein, mio Carolo! Das Fächerbild ist bereits begonnen worden und scheint mir vortrefflich zu gelingen. Vive l'amour!

Dein Gilbert!«


Berlin, den 26. März 18..

»Lieber Karl!

Ich bin allein in meiner stillen Bude. Agnes sah in letzter Zeit miserabel aus und ist recht erholungsbedürftig, so daß ihre besorgte Mama, meine verehrte Frau Schwiegermutter, für einige Wochen das Töchterlein zu sich genommen hat, um ihr alle erdenkliche Pflege und Schonung angedeihen zu lassen, deren sie im eigenen Heim entbehrt. Liegt doch das Haus ihres Vaters im schönsten, gesundesten Teile Berlins, wo die herrliche laue Frühlingsluft, die dort vom Tiergarten herüberweht, die Wangen des blassen Kindes hoffentlich bald wieder runden und rosig färben wird.

Über die letzte Zeit habe ich wenig Interessantes, noch Erfreuliches zu berichten. Ich meine, daß ich seit Wochen schauerlich schlechter Laune und höchst ungemütlich gewesen bin. Manchmal befielen mich wahrhafte Wutparoxismen, so daß ich am liebsten jede lästige Fessel gesprengt hätte und hingeeilt wäre zu derjenigen, die unausgesetzt all' mein Denken gefangen hielt – hin zu Madame de Baranow nach Wiesbaden. Dann aber versank ich auch wieder in eine stumpfsinnige Apathie, welche mir das Dasein fast ekelhaft fade erscheinen ließ. Glücklicherweise ist der bedeutungsvolle Fächer noch vor dieser Trübsinnsperiode vollendet worden und befindet sich jetzt schon in den Händen von bella Susanna. Was ich darauf gezaubert?

Ich glaube wirklich, der Genius der Malerei hat mir dabei die Hand geführt und Amor die Palette gehalten. Seit jenem Abende fragte Agnes allerdings nicht mehr nach dem Fächer; doch weil ich so unvorsichtig gewesen, ihn einmal unverschlossen liegen zu lassen, hatten ihre Kinderaugen ihn dennoch erblickt.

Mehreremale in jeder Woche besuche ich das Haus der Schwiegereltern, um mich pflichtschuldigst nach dem Befinden meiner Gemahlin zu erkundigen, welche wieder sanft und freundlich zu mir ist, aber auffallend traurig. Der Herr Papa dagegen betrachtet mich öfters mit seltsam herausfordernden Blicken, während die Frau Mama mir stets so offen ihre Ungnade zeigt, daß sie mit mir überhaupt nicht mehr spricht. Amico Carolo! Es will mich bedünken, es steigen düstere Wolken über meinem unseligen Haupte auf. Zuweilen sogar regen sich im Busen leise Anwandlungen von Reue, und ich sage mir dann ganz ehrlich, daß ich doch ein recht ungemütliches, trübseliges Leben führe, welches anders – besser sein könnte, wenn ich – ja, was denn eigentlich? Ich glaube, der Fächer hat mich verhext – ich bin ein Narr! Adieu!

Gilbert.«


Berlin, 3. Mai 188.

»Bester Freund!

Hast Du zufällig jemals die Physiognomie eines Menschen beobachtet, der in heiterster Stimmung und anregendster Unterhaltung begriffen, sich niedersetzen will, den aber irgend eine Schicksalstücke des vermeintlich hinter ihm stehenden Stuhles beraubt hat. Todesschreck, innere Wut, lächerliche Hilflosigkeit, ja jammervolle Stupidität – das alles prägt sich stets in den Zügen solch' eines Beklagenswerten aus.

Mir ist gestern Abend Ähnliches passiert, das heißt: etwas passiert, was mich veranlaßte, den Gesichtsausdruck eines dummen Jungen anzunehmen. Nicht etwa, daß ich mit meinem ganzen physischen Körpergewicht auf die Erde geplumpst wäre, nein, amico, moralisch habe ich einen Purzelbaum gemacht, der wirksam genug sein könnte, selbst den überspanntesten Phantasten und Idealisten in die rauhe Wirklichkeit zurückzuführen. Ich knirsche – ich tobe in machtlosem Grimme, dabei aber befällt mich auch wieder ein wahrer Lachkrampf, wenn eine Stimme – ich glaube, es ist das bessere Ich in meiner Brust – mir zuraunt: »Reingefallen, Gilbert, gründlich reingefallen!«

Zurückgekehrt von einem Besuche bei Agnes, wo sie mir beim Abschiede, als wir zufällig allein im Zimmer waren, mit holdem Erröten versicherte, demnächst bald heimzukommen, finde ich endlich die langersehnte Antwort aus Wiesbaden vor. Welch' ein Dank, welch' ein Brief! Doch zu meiner Überraschung zeigt die Marke den Poststempel: Berlin. Frau v. Baranow teilte mir als Postskriptum mit, sie sei im Kaiserhofe abgestiegen und erwarte am nächsten Tage meinen Besuch. Wie damals auf dem Maskenballe fühlte ich jenes aus Entzücken und Leidenschaft gemischte Gefühl meine Adern durchrieseln. Bombenfest stand es in mir, die verführerische Frau morgen aufzusuchen. Allein auf welche Weise sollte ich mir die langen Stunden bis dahin verkürzen? Mit Eifer studierte ich den Vergnügungsanzeiger Berlins und verfiel schließlich auf das »Deutsche Theater«.

Gesagt – gethan. Zwar war der Andrang an der Kasse desselben groß. Doch bald hielt ich ein glücklich erobertes Parkett-Billet in den Händen: Dritte Sitzreihe, Platz Nr. 35. Herrlich fürwahr! Ich bin ganz befriedigt und befinde mich in äußerst animierter Stimmung. Da es übrigens noch ziemlich früh war, so mache ich noch eine kleine Wanderung durch die Straßen, weil ich es hasse, vor Beginn der Komödie meine ohnedies nicht sehr guten Nerven durch das entsetzliche Bänkeklappen und Thürenwerfen in unnötigen Aufruhr versetzen zu lassen. Als ich das Theater betrat, war der Vorhang bereits aufgezogen und das Stück hatte begonnen. Meine Nr. 35 war glücklicherweise ein Eckplatz.

Nachdem ich in größter Gemütsruhe das Opernglas blank geputzt, schaue ich nach der Bühne. Da schlagen die Laute einer mich wie mit elektrischem Schlage berührenden Stimme aus nächster Nähe an mein Ohr. Herr des Himmels! Das konnte niemand anders – das mußte Susanna – Madame de Baranow sein, die hier in dem so reinen, so fließend und melodisch klingenden Französisch eben gesprochen! Gleich einem Achtzehnjährigen – beinahe zum Zerspringen klopfte nun mein Herz, und ich lausche atemlos. Wo – wo war – wo saß das entzückende Geschöpf, das allein schon durch Organ und Grazie mich bestrickte? Sollte es mir jetzt – von diesem still verborgenen Platze aus – vergönnt sein, das im Traume schon tausendmal mir vor die Sinne gezauberte, holde Angesicht zu schauen? Welche Seligkeit, die schöne Frau, ohne daß sie meine Gegenwart ahnte, beobachten zu können! Soviel ich indes mein Gehör auch anstrenge, diese wohllautende Stimme ließ sich nicht mehr vernehmen.

Prüfend, aber möglichst vorsichtig, überschaute ich die nächste Umgebung, die größtenteils aus Herren und einigen schlichten Matronen bestand. Nur links von mir – in der ersten Reihe, sah ich die wohlfrisierten Köpfe zweier eleganten Damen auftauchen. Sollte das ...? Meine Brust wogte so heftig auf und nieder, daß ich, um mich nicht bemerklich zu machen, oder aufzufallen, den Atem dämpfen mußte. O Gott! Sollte sie es wirklich sein? Schien das nicht das nämliche goldige Lockengeringel im Nacken zu sein, wie es mir viele Stunden lang auf jenem Maskenballe vor Augen geschwebt? Damals freilich wurde das herrliche Blond des Vorderhaares von der scheußlichen Maske neidisch verhüllt. Ja gewiß! Diese und keine andere mußte bella Susanna sein!

Allein so viel ich mich auch drehte und wendete, von ihren Augen vermochte ich nichts zu erspähen; immer blieben nur die nach aufwärts gekämmten blonden Haarsträhne des Hinterhauptes sichtbar. – Da – noch während ich dies niederschreibe – lähmt ein krampfartiges Gefühl die Muskeln meiner Rechten – da taucht plötzlich in der Hand der blonden Dame ein Fächer – ein ausgebreiteter Fächer auf. Mein Herzschlag stockt; denn mit glühenden Blicken erspähe ich darauf – das eigenhändig gemalte Bild! Sie ist's! So juble ich vor stummem Entzücken und verkrieche mich förmlich hinter den breiten Rücken eines behäbigen Berliner Rentiers, um recht ungestört nach der Angebeteten hinüberschauen zu können. Einmal – hoffte ich – würde sie doch wohl den Kopf nach mir herumwenden. Ein unglücklicher oder vielmehr glücklicher Zufall kam mir zur Hilfe. Noch war der erste Akt nicht zu Ende gespielt, da ließ eine Dame in der zweiten Sitzreihe ihr Opernglas mit ziemlichem Geräusch zur Erde fallen. Natürlich wendeten sich sofort eine Anzahl höchst indignierter Gesichter nach der Ruhestörerin um, la bella Susanna ebenfalls. Allmächtiger Gott! Sind denn meine Augen getrübt, – bin ich verrückt oder treibt der Satan sein Spiel mit mir? Keuchend stößt mein Atem aus der Brust, so daß der gemütliche Rentier neben mir wohl gedacht haben mochte, ein Mensch im letzten Stadium der Lungenschwindsucht befinde sich in seiner Nähe. Einerlei – ja, was geht mich die ganze Welt an! Wie gelähmt starre ich in das als engelhaft schön erträumte Antlitz von Madame de Baranow. Wut und Abscheu krampfen mir das Herz zusammen. Das also ist die vermeintliche Beauté, um deren Figur und Grazie selbst Juno vor Neid geborsten wäre? O pfui! Welch' ein tückisches Spiel, welche Grausamkeit der Natur! Ein pockennarbig gelbes Gesicht mit wulstigen Negerlippen, in welchem eine niedrige Stirn und kleine geschlitzte Tartarenaugen den fatalen Gesamteindruck noch erhöhen, zeigt sich meinen getrübten Blicken. Doch wie ist mir denn! Plötzlich taucht in meinem wilderregten Geiste auch eine Erinnerung auf. Diese widrigen Züge kenne ich ja; der cynisch-frivole Ausdruck derselben war mir durchaus nicht fremd?

Heiliger Brahma! Gleich einem zündenden Funken fiel es in das Gedächtnis Deines armen Freundes. Lieber Karl! Entsetze Dich nicht! Denn – die häßliche, uns allen von Rom her nur zu wohlbekannte Paula Uschakow war es, welche schon damals gerade mich mit ihrer Affenliebe immer verfolgt und gepeinigt hat. Und ich Narr, – ich Esel, – bin hier so einfältig auf den Leim gegangen! Meine Empörung kannte keine Grenzen; alles wurde mir mit einem Schlage klar. Du, mein Freund, mußt es ja noch wissen, daß Paula, nachdem sie vergeblich darnach getrachtet, durch ihr nicht unbedeutendes Talent unter den deutschen Künstlern sich einen Mann zu erobern, schließlich einen alten, sehr reichen Russen geheiratet haben soll. Und jetzt muß das abscheuliche Weib mir solch' einen Streich aufspielen! Wirklich schändlich – empörend! Ist es nicht wahrhaft jammervoll, daß mein reizendes, poetisches, alle zarten Empfindungen der Menschenbrust versinnbildlichendes Fächerbild in solche Hände geraten! Dabei aber tönen, als ob ein guter Geist sie gesprochen, Agnes' Worte sogleich in mein Ohr: »O, mir hast Du noch niemals einen Fächer gemalt, Gilbert!« Nein, ihr, diesem reinen, unschuldsvollen Kinde habe ich wirklich noch nie eine derartige Freude gemacht, habe sie ja kaum beachtet, während ich drei Monate meiner kostbaren Zeit nur an diese Kokette gedacht. Vor Wut zitternd ballte ich heimlich die Faust nach den Damen in der ersten Sitzreihe hin, drückte dann den Hut so tief wie möglich in die Stirn und verließ eilends das Theater. Erst auf der Straße atmete ich ein wenig freier auf. Da es kaum halb neun Uhr war, so fand ich unter den Linden noch einige elegante Läden geöffnet. In dem ersten besten Galanterie-Bazar, wo ich hineinstürme, verlange ich einen kostbaren, aber unbemalten Fächer.

»Schwarz?« fragt schüchtern die Verkäuferin mit ängstlichem Blicke in mein erhitztes Angesicht. Sie mochte wohl gedacht haben, ich sei angetrunken.

»Nein, rot – feuerrot!« entgegnete ich diktatorisch und hielt schon nach zwei Momenten ein wahrhaft entzückendes Exemplar in den Händen. Die geforderten vierzig Mark erschienen mir eine Lappalie. Ich hätte fünfhundert Mark gezahlt, wenn sie verlangt worden wären, ohne eine Miene zu verziehen. Darauf warf ich mich in eine Droschke und ließ mich schnurstracks nach Hause fahren. Totenstill – öde und einsam dünkte mir in diesem Momente mein sonst so behagliches Heim.

Der verwundert mich anstarrenden Dienerin befahl ich, im Atelier sofort einige Lampen anzuzünden, während ich nur ganz beiläufig fragte, ob irgend eine Nachricht von meiner Frau gekommen wäre. Die bejahende Erwiderung bewies mir, daß man im Hause eben besser orientiert sei, als ich, der Ehemann. Denn bald erfuhr ich aus dem Munde des Dienstmädchens, Agnes gedächte schon in den nächsten Tagen zurückzukehren.

Deswegen mußte ich also fleißig sein, um das, was mir vorschwebte, rechtzeitig zu vollenden.

Nun gute Nacht, Bruderherz! Vielleicht schreibe ich morgen oder übermorgen weiter. Ich spüre nämlich in mir das Bedürfnis, einer fühlenden Seele mich mitzuteilen. Gehab Dich wohl und gieb bald Nachricht

Deinem

Gilbert.«


Berlin, den 8. Mai 188.

»Alter lieber Freund!

Wie neugeboren fühle ich mich, wenigstens, wie ein Mensch, der eine lange Krankheit überstanden und nun mit hoffnungsseligen Empfindungen in der Brust jetzt ein sonniges Dasein vor sich sieht. – Übrigens – Du bist ein Diplomat, Freundchen! Vielleicht haben auch Deine Briefe, der warme, herzliche, durchaus nicht mentorhafte Ton, der daraus spricht, sowie Dein stets vermehrtes Interesse für Agnes ein wenig zu meiner Heilung beigetragen.

Aber ich will dem Gange meines »kleinen Romans« nicht vorgreifen, sondern da weiter erzählen, wo ich im letzten Briefe stehen geblieben bin.

So höre denn! Nachdem ich schon an dem nämlichen, für mich so verhängnisvollen Abende eine Skizze entworfen, warf ich mich mit wahrem Feuereifer auf das Malen des roten Fächers, indem ich täglich einige Stunden darüber festsaß. Kein Kunstwerk – kein Bravourstück sollte diese Arbeit werden, – Gott behüte! Ich malte ja für Agnes, für mein junges, sanftes Weib. Etwas aber wollte ich darauf zaubern, was die Augen des holden Wesens in seliger Freude strahlen machen, – ein Etwas, was ihr sagen sollte, daß ihr Gatte .... Doch halt! Die Feder geht schon wieder im Galopp davon!

Endlich – endlich ist das Bildchen vollendet, und meine Mühe zeigt sich vom schönsten Erfolge gekrönt. Da die Farben noch eine Weile trocknen mußten, spannte ich den Fächer ausgebreitet auf ein Stück Karton, und trug ihn, im Gefühl seliger Befriedigung hinüber ins Zimmer meiner Frau. Dort plazierte ich ihn auf Agnes Schreibtische hinter einem wahren Walde von Maiglöckchen, ihren Lieblingsblumen.

Es war der nämliche Nachmittag, an dem meine Frau eintreffen sollte. Nachdem ich in mein Atelier zurückgekehrt, versuchte ich alle rebellischen, mir selbst ganz neu und fremdartig erscheinenden Gedanken durch anstrengende Arbeit zu ersticken, rührte mich auch nicht von der Stelle, als ich eine Droschke am Hause vorfahren hörte. Direkte Mitteilung, daß Agnes heimkommen würde, war mir, dem Hausherrn, ja gar nicht gemacht worden, und hatte ich es nur en passant erfahren. Darum sah ich keine Veranlassung, der Zurückkehrenden entgegenzueilen. Zwar drang öfteres Thürenzuwerfen und Stimmengemurmel dumpf zu mir herüber, doch blieb es für die nächste halbe Stunde in meiner Klause ganz still. Ich male – male eifrig weiter, obgleich ein sonderbares Flimmern in den Augen mich die Farben kaum unterscheiden läßt. Da – auf einmal macht ein schüchternes Klopfen jeden Nerv in mir erzittern. »Herein!« konnte ich nur mit Kraftanstrengung über die Lippen bringen, und als bald darauf ein goldbraunschimmerndes Haupt in der Thür erscheint, erkenne ich mit raschem Blicke, wie Agnes den Fächer hinter sich verborgen hält.

»Schon da?!« rief ich mit einer Unbefangenheit, die mich selbst in Erstaunen setzte. Während ich, Pinsel und Palette beiseite geworfen, der Eintretenden entgegeneilte, brachte ich keine Silbe heraus und zog nur schüchtern und ungelenk die kleine Hand an die Lippen.

»Ich wollte Dich überraschen, Gilbert, und nun bist Du mir zuvorgekommen, hast mir solch' eine reizende, süße Überraschung bereitet,« kam es stockend aus Agnes' merklich zitterndem Munde.

»Ich? Wie so?« fragte ich mit gut gespielter Harmlosigkeit.

»Aber, Gilbert! Nennst Du das nichts?«

Mit diesen Worten, die von holdseligem Erröten und glücklichem Lächeln begleitet waren, hielt sie mir den wohlbekannten Fächer vor die Augen.

»So? Also das kleine Ding da macht Dir etwas Spaß, Agnes?« Ich glaube, daß ich zu dieser eigentlich nichtssagenden Bemerkung wirklich ein recht einfältiges Gesicht gemacht habe.

»Etwas Spaß?« wiederholte sie leise. »Weiß ich doch gar nicht, wie Du dazu kommst, mir solch' eine unendliche Freude zu bereiten, Gilbert? Das Bild ist – ist entzückend!«

»Es sind Deine Züge. Wenigstens habe ich mir Mühe gegeben, dieselben aus – dem Gedächtnis auf den Fächer zu zaubern. Das – andere, was noch darauf ist, sind – natürlich nur Gebilde meiner Phantasie.« Ich sah ihr jedoch, während ich das sagte, zum erstenmale voll in die Augen. Allein, wie mit Purpur übergossen, hatte sie den Blick rasch zur Erde gesenkt.

Teuerster Carolo! Es fehlte wahrhaftig nicht viel daran, so hätte ich meine Agnes, das liebliche Geschöpf, mit einem Jubelschrei an die Brust gezogen, um ihr frei vom Herzen herunter alles das zu enthüllen, was seit jenem heilsamen Theaterabende meine Pulse fliegen ließ. Doch Gott bewahre! Ich überwand mich. Nicht jetzt – nicht um des Fächers willen sollte die Scheidewand zwischen uns in nichts versinken. Stand doch gerade ein anderes Fächerbild gleich einem mahnenden Gespenste vor meinem Geiste – ein anderes Bild, was die Weihe eines so seligen Moments sicherlich gestört haben würde. In sanfter, liebender Fürsorge führte ich mein junges Weib nur hinüber in ihr Zimmer, küßte sie schüchtern auf die Stirn und – ging. –

Aber Du willst natürlich gern wissen, warum mein Geschenk Agnes so ganz besonders wertvoll dünkte, warum sie vor seliger Freude darüber errötet war? Gut, auch das sollst Du jetzt erfahren! Das Fächerbild zeigt nichts anderes, als eine jugendschöne Mutter, die, strahlendes Glück in ihren Zügen, über ihr neugeborenes Kindlein sich niederbeugt!

Bist Du jetzt mit mir zufrieden, amico?

Dein Gilbert.«


(24 Stunden später.)

»Herzensfreund!

Was ich diesem »meinem kleinen Romane« noch hinzuzufügen habe, ist wenig, doch ist es das Bedeutungsvollste, was ich während meiner Künstlerlaufbahn jemals erlebte.

Nur eine kurze Spanne Zeit verfloß, nachdem Agnes zu mir zurückkehrte; aber eine Wandlung ist seitdem vor sich gegangen – mit ihr – mit mir – mit und in unserem Heim, daß ich vor staunender Bewunderung und stummer Verzückung oft die Hände falte und flüstere: »O Gott, bin ich denn solchen Glückes auch wert?«

Aber Du wirst ungeduldig und neugierig über das Mysteriöse meiner Worte oder errätst Du vielleicht jenes Geheimnis, das Deinen wilden, zügellosen Freund plötzlich zu einem völlig Anderen umgeschaffen? – –

Bald nach ihrer Ankunft und unserem Wiedersehen im Atelier hatte Agnes, weil sie ruhebedürftig war, sich zu Bett gelegt. Ich aber langte nach meinem Hut und stürmte hinaus; hinaus in den wonnig warmen Maienabend zog es mich. Die erste mir entgegenkommende Droschke rufe ich an und fahre in den Tiergarten. In Gottes freier Natur wollte ich allein sein mit meinen Gedanken und Empfindungen. Ich wußte – fühlte, daß ein veredelnder Läuterungsprozeß in mir vor sich ging, und diese heilsame Krisis mußte sich ganz still, fern von allem Menschengewühl vollziehen. Nicht mehr als der Gilbert, den Du, mein Freund, gekannt und welchen Du aus all' diesen Briefen noch zur Genüge studieren konntest, – nein, nein, und tausendmal nein! – nur als ein Mann wollte ich Agnes wieder vor die Augen treten, der das von ihr einst mit so scharfer Betonung gesprochene, heilige Wort »Pflichten« zu würdigen und im ganzen Maße zu erfüllen verstand. Verachtungswert erschien mir plötzlich mein verflossenes Leben gegen das wahre, süße Glück, welches ich heute, als mein junges Weib so holdselig schüchtern neben mir im Atelier stand, vor mir auftauchen gesehen. Und dennoch bin ich lange Monate wie ein Blinder an diesem Schatze vorübergeschritten, ohne ihn zu heben und mein eigen zu nennen. –

Viele Stunden mochte ich wohl im Tiergarten umhergeirrt sein; denn längst war die Sonne zu Rüste gegangen und die ersten Schatten der Maiennacht zogen bereits über Wege und Rasenplätze. Als ich nach der Uhr sah, zeigte sie schon ein Viertel vor Zehn. Da durchzuckte plötzlich ein heftiger Schrecken meine Glieder. In meinem Freuden- und Glückestaumel war ich von Hause fortgestürmt, hatte nicht bedacht, daß Agnes meiner vielleicht bedürfen könnte. Sie war allein! Wenn ihr irgend etwas zugestoßen! Jähe Angst befiel mein Herz. O, ich war doch immer noch der alte Egoist, welcher zuerst nur an sich selbst dachte!

Im Sturmschritt ging's nun nach dem Droschkenhalteplatz. Gott Lob! Dort steht richtig noch das schlichte Gefährt, dessen ich mich zur Herfahrt bedient. Ich drücke dem Kutscher fünf Mark in die Hand und befehle ihm, im Galopp nach der angegebenen Adresse zu fahren. Zu Hause angelangt, renne ich, von düsteren Ahnungen gepeinigt, die zwei Stiegen zu meiner Wohnung hinan und trete atemlos in den Vorsaal. Nichts regt sich – alles mäuschenstill! Dem Himmel sei Dank! Meine allzubange Sorge war demnach unbegründet, und mit diesem Gefühl der Erleichterung öffne ich die Thür nach dem Wohnzimmer meiner Frau, an welches ihr Schlafzimmer stößt. – Da – da, Allmächtiger, was ist das? Welch' seltsam fremde Laute tönen von dort heraus an mein Ohr! Ich halte mir den Kopf mit beiden Händen – ich taumle. Das klägliche Schreien eines kleinen – meines Kindes ist's, was ich vernehme.

Gleich einem Rasenden laufe ich vorwärts, – keine Macht der Erde hätte mich in diesem Momente zurückzuhalten vermocht – und befinde mich alsbald in dem matt erhellten Heiligtum. Hatte Agnes mein Kommen gehört oder hatte das teure Wesen meine Gegenwart nur geahnt? Zwar gedämpft, aber dennoch deutlich klingt hinter einer hohen spanischen Wand mir mein Name entgegen: »Gilbert!«

Nun war es mit Fassung und Selbstbeherrschung an mir vorbei. Ungeachtet der Anwesenheit einer mir unbekannten Wärterin, ungeachtet des aus dem Hintergrunde plötzlich auftauchenden, strengverweisenden Gesichts meiner Frau Schwiegermutter – machte ich auf den Zehenspitzen zwei Sätze gegen den Bettschirm hin und lag, ehe ich selbst noch recht zur Besinnung kam, am Lager derjenigen, die mich zu neuem, besseren Leben zurückgeführt, den Kopf auf deren kleine Rechte gestützt, knieend und unter Schluchzen flüsternd: »Agnes, meine Agnes! Ich bin namenlos glücklich!«

Da schob sie mit der einen freien Hand einen bisher an ihrer Brust liegenden, meinen unerfahrenen Blicken paketähnlich dünkenden Gegenstand, woraus nur ein dunkles Köpfchen sich bemerklich machte, sanft nach mir hin und schlang mit zärtlichem Drucke ihren Arm um meinen Hals.

»Das ist mein Dank für das süße Fächerbild! Hier ist Dein Sohn! Freust Du Dich über dieses Geschenk, Gilbert?« –

Für heute aber sei es genug, mein lieber Karl! Als ich blind, thöricht, leichtsinnig und von bösen Leidenschaften verfolgt war, fand ich der Worte genug, Dir zu schreiben. Jetzt bin ich am Ende. Das Glück ist stumm. Sei darum nachsichtig mit mir! Das beste wäre übrigens, Du kämest bald selbst nach Berlin und beglücktest damit Deinen

stets getreuen Freund Gilbert.«

Aus Großtantchens Hofdamenleben.

Deutlich steht die greisenhafte, schlanke Gestalt der Cousine des seligen Großvaters noch vor meinem Geiste.

Damals – lange Jahre sind nun auch seitdem vergangen – imponierte mir Achtzehnjährigen, die ich erst seit wenigen Monaten mit stolzem Selbstgefühl das Prädikat »Frau« trug und somit in Tante Babettens Familie hineingeheiratet hatte, diese kleine wahrhaft originelle Dame von vierundneunzig Jahren gewaltig.

Noch niemals im Leben hatte ich einem so alten menschlichen Wesen gegenüber gestanden, und als ich zum erstenmal in dem mit steifer Empirepracht möblierten Paradezimmer mich tief zur Erde niederbückte, um meiner alten Verwandten, die kerzengerade und unleugbar hoheitsvoll von ihrem Sitze sich erhob, in Ehrfurcht die runzelige Hand zu küssen, da überkam mich eine Empfindung, als wäre ich um acht Jahrzehnte zurückversetzt, und eine jener mythenhaften Ahnmütter, deren Existenz mir nur dunkel vorschwebte, sei plötzlich zum Leben erwacht. Wie konnte dieses mumienartige, zusammengeschrumpfte Gesichtchen, mit den kaum einem Menschen ähnlichen wimperlosen trüben Augen noch Spuren von Leben, Geist und Intelligenz verraten? Was wohl würde dieses seltsame Wesen aus einer längst begrabenen Zeit mit mir, dem heiteren Kinde des neunzehnten Jahrhunderts, sprechen? War es denn möglich, daß dasselbe überhaupt noch Interesse zu finden vermochte an Leuten und Verhältnissen, die – nach meiner Idee – den Anschauungen jener Tage so weit entrückt lagen? Das alles dachte ich im ersten Moment meiner Bekanntschaft mit Tante Babette.

Wie sehr sollte ich mich jedoch geirrt haben! Heute noch, nachdem der Greisin kleiner Körper längst von allen irdischen Mühsalen ausruht, – heute noch gehören alle die Stunden, welche ich in ihrer Gesellschaft verbringen durfte, mit zu den liebsten, heitersten Erinnerungen meines Lebens. Tante Babette war zwar ein Original, allein ein geistreiches, witziges, zuweilen etwas elegisch angehauchtes, zuweilen aber auch ein wenig scharf boshaftes Original. Von Gedächtnisschwäche und dem bei solch' hohem Alter vielleicht sehr natürlichen Verwechseln von Personen, Namen und Daten war an Großtantchen keine Spur zu bemerken. Staunen erregte es in mir wirklich, wie sie für alles, was in der eigenen Familie, unter ihren Bekannten, ja sozusagen in der Welt vorging, nicht bloß das lebhafteste Interesse bezeigte, sondern wie sie sogar in den reichen Schatz ihrer Erlebnisse mit einer Sicherheit und Genauigkeit zurückzugreifen vermochte, um dieses oder jenes interessante Stücklein oder lustige Episode eines langen, erfahrungsreichen Lebens ans Tageslicht zu fördern.

Dreißig Jahre war Tante Babette als Hofdame bei einer thüringischen Herzogin gewesen, und schien es besonders diese Zeit zu sein, bei der ihr reger Geist am liebsten verweilte. Kam es mir, der in Andacht Lauschenden, dabei doch zuweilen vor, als rolle sich ein Stück Geschichte oftmals vor meinen Augen auf.

In bunten Farben schilderte mir die alte Dame unter vielem anderen das amüsante Leben am zeitweiligen Hofe der Kaiserin Josephine zu Kassel, dessen wechselvollen Reiz Tante Babette in Begleitung ihrer Herzogin kennen zu lernen das seltene Glück gehabt. Mit eigenen Augen hatte sie den überaus glänzenden Kreis geschaut, in welchem Josephine durch Schönheit wie durch Geist, die Königin Hortense dagegen durch liebenswürdige Anmut den Mittelpunkt gebildet. Sobald sie aus jener Zeit erzählte, dann reckte sich die kleine, dürftige Gestalt in die Höhe, und dünkte es mir zuweilen, als husche dabei ein Schimmer einstiger Jugend über die welken, verwitterten Züge von Tante Babette, die übrigens niemals schön gewesen sein soll. Ganz besonders aber war es ein Name, der ihre matten Augen stets in merkbarem Feuer aufflammen machte.

Zwar bezeigte Großtantchen sich immer als gute Patriotin, hing auch mit Leib und Seele treu an ihrem Königshause und hatte in Preußens Sturm- und Drangperiode gewiß im tiefsten Innern unter des Usurpators Joch geseufzt und getrauert. Allein trotzdem schlug ihr Herz, wie sie mir oftmals versichert hatte, in einer ihr unerklärlichen, halb bangen, halb berauschenden Freude, wenn sie in jener aufregenden, so verhängnisvollen Zeit des Weltbezwingers Antlitz mit den durchdringenden, stahlgrauen Adleraugen einmal begegnete. Lächelnd und ungeachtet ihrer vierundneunzig Jahre mit fast jungfräulichem Senken der Lider gestand Tante Babette mir eines Tages ein, daß sie nie für einen anderen Mann geschwärmt habe, als für den großen Kaiser Napoleon.

»Und er?« hatte ich mit schüchternem Einwurf zu fragen gewagt; worauf Großtantchen – noch in der Erinnerung an die dahingegangene Jugend und deren mannigfache Enttäuschungen – seufzend erwiderte, daß der Stolze, Gewaltige der kleinen, so wenig schönen Hofdame wohl eigentlich niemals Beachtung, ja kaum einen eingehenden Blick geschenkt. Und dennoch hatte eine Schicksalstücke an dem für eine still im Busen getragene Neigung so blinden, undankbaren Mann sich zu rächen ersonnen. Tante Babette sollte eine, wenn auch nur zweifelhaft ehrenvolle Revanche haben.

Ihre eigenen, genau in der ihr charakteristischen, sentimentalen, dabei jedoch scharf witzigen Redeweise wiedergegebenen Worte sind es daher auch, welche ich hier bringe, und die in nachstehender kleinen Episode aus Großtantchens Hofdamenleben mir damals eben so scherzhaft als originell erschienen, daß ich heute, nach fast fünfundzwanzig Jahren, weder irgend Bedenken hegen, noch eine Indiskretion zu begehen fürchte, wenn ich sie wahrheitsgetreu nacherzähle:

»Der Kaiser – der Kaiser sollte auf Besuch zu meinen Herrschaften kommen! Gleich einem Lauffeuer durchflog diese überraschende Kunde unser herzogliches Schloß. Wann er eintreffen, wie lange der hohe, mächtige Gast in unseren bescheidenen Mauern weilen würde, davon verlautete fürs erste noch nichts. Mir genügte, daß er kam, daß ich ihn sehen, daß meine Füße denselben Boden berühren sollten, den er gestreift! Eines Abends war ich länger als gewöhnlich bei der Frau Herzogin in deren Gemächern zurückgehalten worden. Der französische Roman, welchen vorzulesen mir befohlen worden, hielt uns dermaßen in Aufregung und Spannung, daß wir der späten Stunde gar nicht gedachten. Endlich – ich glaube, es schlug bereits halb zwölf Uhr – nahm meine Gebieterin mir das Buch aus der Hand und hieß mich zur Ruhe gehen.

»Mit tiefem Kompliment nach rückwärts hatte ich mich verneigt und war die Thürklinke bereits in meinen Fingern, als die hohe Frau einen seidenen Shawl ergriff und eigenhändig ihn mir um Kopf und Schultern schlang.

»›Die Gänge des Schlosses sind kalt, und der Weg nach Ihren Zimmern ist weit, mein liebes Kind!‹ sagte sie dabei freundlich wie immer. ›So, nun aber laufen Sie recht schnell, ich wünsche, daß Ihnen niemand begegnen möge! Denn – denn ...‹

»Der Herzogin weitere Worte verstand ich nicht mehr, da sie mich rasch auf die Stirn küßte und zur Thür hinausschob.

»Hu! Ich fror wirklich; wenigstens rieselte ein eigenartiger Schauer durch meine Glieder, einerseits verursacht durch die aufregende Lektüre, andererseits aus Bangigkeit, in schon so weit vorgerückter Nachtstunde den endlos langen Korridor des Schlosses und sogar noch eine Stiege aufwärts bis zu meiner ziemlich entfernten Wohnung allein zurücklegen zu müssen. Spukgeschichten hat wohl ziemlich jedes größere, ältere Schloß aufzuweisen, und so kam es denn auch, daß in diesem Moment allerlei gruselige Dinge und Gestalten vor meinem Geiste auftauchten, um so mehr noch, weil man hinsichtlich der Beleuchtung in jener Zeit noch äußerst haushälterisch zu Werke ging und nur hier und da in den weitläufigen Fluren und Gängen ein bescheidenes Lämpchen anbrannte.

»Thorheit! dachte ich, ärgerlich über mich selbst, und schüttelte das kindische Grauen von mir ab. Schnell rannte ich eine Strecke in das gespenstige, ab und zu von einem magischen Lichtschein unterbrochene Dunkel hinein. Wie unheimlich laut hallten doch meine Schritte von den hohen gewölbten Wänden wieder! – Doch vorwärts mußte ich. Noch einmal holte ich tief Atem und lief, das Tuch fester über den Kopf ziehend, weiter. Beinahe war die Biegung, in welcher der lange Korridor des zweiten Schloßflügels und auch die Treppe zum oberen Stockwerk mündete, glücklich erreicht, – da höre ich eine Thür leise öffnen und wieder schließen, und ein fester, energischer Tritt kommt den Gang entlang, mir gerade entgegen.

»Entsetzt fahre ich zusammen. Das mußte ein Mann sein. Schrecklich! mich, der Frau Herzogin Hoffräulein, um die Mitternachtsstunde in den Gängen des Schlosses anzutreffen! Gerade an unserem Hofe hielt man auf strengste Etikette. War es aber nicht sofort erklärlich, daß ich aus den Gemächern meiner Gebieterin kam? Bekannt war es ja, daß diese gern sehr lange aufzubleiben beliebte.

»Immer näher ertönen die verhängnisvollen, eigentümlich kurzen, energischen Schritte. Keiner der Lakaien wagte so sicher aufzutreten. So mußte es also wohl jemand von den Hofkavalieren sein. Wie ärgerlich, wie fatal! Jetzt – neugierig spähe ich – trotz meines fieberhaften Herzklopfens – mit einem Auge aus dem mich verhüllenden Shawl. Eine kaum an die Mittelgröße hinanreichende, von einem weiten Radmantel bedeckte Mannesfigur steht vielleicht nur noch zehn Fuß von mir entfernt und stutzt. Gleich einem vom Geier eingeschüchterten und verfolgten Hühnchen ducke ich mich und krieche förmlich in mich zusammen, um mit geschickter Wendung an der drohenden Gestalt rasch vorbeizuhuschen.

»Da – ich glaube, jeder Blutstropfen zog sich während dieses entsetzlichen Augenblicks in mein armes Herz zurück und machte es fast springen vor Angst und Scham – da vertritt der Unverschämte mir schnell und gewandt den Weg. Empört weiche ich etwas nach rückwärts, doch noch nicht genug; er breitet die Arme aus und drückt mein schmächtiges Figürchen stürmisch an die Brust.

»Schreien hätte ich mögen vor Wut und Zorn. Allein was hilft das; es würde die böse Situation eher noch verschlimmert haben. Mein energisches Zerren und Winden, um die Umschlingung zu lösen, blieb wenigstens umsonst. Denn ein bartloses Männergesicht bog sich mit Blitzesschnelle zu meinem Kopfe nieder, und – ehe ich noch so recht zum klaren Bewußtsein kam, brannte ein herzhafter Kuß auf meinen Lippen!

»Entsetzlich! Mich, der Frau Herzogin sittsames, anerkannt prüdes Hoffräulein, so sans façon zu küssen! Wer war der Beleidiger? Das konnte – das durfte ich nicht so ruhig hinnehmen.

»Zum Glück vermochte der arglistige Attentäter, dem die dunkle Nachtstunde gerade willkommen schien, ein ahnungsloses Fräulein arglistig zu überfallen, mich nicht zu erkennen, indem ich das Tuch mit heftigem Ruck noch tiefer herabgezogen hatte. Doch zwischen den langen seidenen Franzen hindurch, die schützend ihm meine Züge verhüllten, sah ich nun direkt in ein lachendes Gesicht mit einem Paar flammensprühender Augen.

»Allgütiger Gott! Der Kaiser Napoleon – mein angebeteter Held – mein Ideal war es!!

»Die Füße versagten mir fast den Dienst, und es war nicht weit davon, so hätte ich laut aufgeschrien. In diesem Moment wußte ich wahrlich nicht, ob es Todesschreck – ob es Freude war, was mir jede Spur von Fassung raubte. Die kraftvollen Arme gaben mich nun endlich frei, und halb betäubt, nur die Geistesgegenwart bewahrend, daß ich fortan mein Angesicht vor ihm verbarg, taumelte ich nach rückwärts.

»›Adieu, ma belle! Au revoir!‹ tönte ein heiterer, merklich spöttischer Ruf mir nach. Aber wie von Furien gejagt, nicht rechts noch links schauend, stürmte ich meines Wegs – die Treppe hinan und erreichte atemlos, dabei an allen Gliedern bebend, glücklich mein Zimmer. – –

»Den anderen Vormittag war ein großer, offizieller Empfang des Kaisers Napoleon bei der Frau Herzogin. Schon in der Frühe hatte die freudige, überraschende Kunde sich im Schlosse verbreitet, daß der Allgewaltige, nur von seinem Adjutanten begleitet, augenscheinlich um jeder lästigen Feierlichkeit auszuweichen, ganz plötzlich eingetroffen sei. Die glänzende Suite war dem Kaiser erst am Morgen nach jenem kleinen Abenteuer gefolgt. Wir drei Hofdamen, Gräfin N. N., Fräulein v. Z. und ich, standen zu Ehren des hohen Gastes, aufs schönste geschmückt, im Vorzimmer, welches direkt zu Ihrer Hoheit Privatgemächer führte, und harrten in Aufregung und banger Ungeduld des verhängnisvollen, so wichtigen Moments. Beugte sich damals doch alles vor dem siegesstolzen, durch Glück und Ruhm verwöhnten Mannes Haupt. –

»Endlich – Napoleon in seiner rücksichtslosen Art liebte es, auf sich warten zu lassen – endlich öffneten sich die Thüren, und ein glänzender Zug, eingeführt durch den Hofmarschall unseres Herzogshauses, der Kaiser in großer Uniform an der Spitze, überschreitet die Schwelle ...

»Erst nach unserer tiefen Verneigung vermochte ich in schüchternem Blick die Augen zu erheben zu dem angebeteten und doch wieder gefürchteten Manne. Stolz, gleich einem Siegesgotte, den charaktervollen Kopf in den Nacken zurückgelegt, einen Zug von blasiertem Hochmut und unbeugsamen Trotz um den festgeschlossenen Mund, – so kam er dahergeschritten. Nun erst mußte er unserer ansichtig werden. Denn plötzlich stutzte er, und das große, stahlfarbige Auge richtete sich eine Weile mit neugierigem, indes scharfprüfendem Ausdruck auf uns drei Damen.

»Gräfin N. N. war eine große, schlanke Blondine, Fräulein v. Z.s Figur zeigte auffallend üppige Formen. Beide waren um ein beträchtliches Teil hübscher als ich. Allein gerade an meiner unbedeutenden, kleinen, zierlichen Gestalt blieb das Kaiserauge am längsten und eingehendsten haften. Fest und voll schaute er mir darauf ins Gesicht hinein. Ein Moment war das, wo ich am liebsten in die Erde hätte sinken mögen. Denn ich gewahrte, wie die scharf markierten Brauen dieses seltsamen Antlitzes sich finster zusammenzogen und sichtlich Zeichen von Ärger und Verdruß um die stolz geschwungenen Lippen sich ausprägten.

»Was war das? – Hatte er mich wiedererkannt? – War diejenige, welcher sein heiterer Zuruf: ›Au revoir, ma belle!‹ gegolten, vielleicht nicht ganz nach seinem Geschmack, nicht seinen Erwartungen entsprechend? O, daß ich in dieser bitteren Stunde meinen so wenig anziehenden Zügen den Stempel der Schönheit hätte zu leihen vermögen!

»Noch stolzer und steifer richtete der Kaiser sich empor, grüßte nur mit kurzer, vornehmer Handbewegung nach uns hinüber und verschwand in den Gemächern der Frau Herzogin. –

»Während seines zweitägigen Aufenthalts an unserem Hofe hat der Allgewaltige auch nicht ein einziges Mal mit mir gesprochen. –

»Eingeschüchtert und mit Thränen in den Augen habe ich jedoch später meiner Gebieterin diese kleine ›Aventure‹ gebeichtet. Sie lachte nur dazu und meinte, daß sie von der Ankunft des Kaisers an jenem Abende schon gewußt, es aber für besser gehalten, zu mir darüber zu schweigen. Im übrigen tröstete sie mich mit den heiteren Worten: ›Einen Kuß in Ehren, kann niemand wehren!‹ Mir aber ist es zeitlebens nicht recht klar geworden, worin die große Ehre dieses Kusses eigentlich bestanden. Wenigstens wußte ich nie, ob ich mich darüber freuen oder grämen sollte!« –

Als Großtantchen mir jene niedliche Episode erzählte, mußte sie indes wohl die Enttäuschungen, welche der damalige Besuch Napoleons mit sich gebracht, längst verschmerzt haben. Denn auch sie lachte dabei: nur hatte sie die Augen geschlossen und leise flüsternd hinzugefügt: »Mein Ideal – mein kaiserlicher Held blieb er aber dennoch!« – – –

Großtantchen hat das seltene Alter von 97 Jahren erreicht und erfreute sich bis zu ihrem eigentlich unerwartet schnellen Ende einer unerschütterlich guten Gesundheit. Die Kammerfrau fand die dürftige, kleine Gestalt derselben eines Morgens kalt und steif in ihrer, auf goldenen Löwenklauen ruhenden, prächtigen Empire-Bettstatt.

Mir selbst, die ich am entgegengesetzten Ende Deutschlands lebte, war es leider nur selten beschieden, nach Thüringen reisen und die alte Verwandte besuchen zu können, allein wurde diese Freude mir einmal zu teil, so unterließ ich es sicher nicht, Tante Babette zu bestimmen, mir gelegentlich irgend ein interessantes Episödchen aus dem reichen Schatzkästlein ihrer Erlebnisse während einer dreißigjährigen Hofdamenzeit mitzuteilen.

»Ich bitte mir aber aus, Kind, daß Du nicht etwa alle diese Dinge schon zu Papier bringst und drucken läßt, so lange ich noch unter den Lebenden weile. Wenn ich nicht mehr bin, dann magst Du nach Gutdünken damit verfahren,« hatte die alte Dame einmal lächelnd und mir dabei mit dem Finger drohend, gesagt. Ich glaube daher jetzt, nachdem Tante Babette schon mehr als fünfundzwanzig Jahre unter dem grünen Rasen schlummert, keine allzu große Indiskretion zu begehen, wenn ich das einstige Hoffräulein der Herzogin von X... abermals selbst reden lasse und eine ihrer Erzählungen hiermit aus der Erinnerung niederschreibe:

»Die Geißel des Krieges und das eiserne Joch des Usurpators lastete schwer auf unserem armen Vaterlande. Nach den unglückseligen Schlachten von Jena und Auerstädt am 14. Oktober 1806 war nunmehr auch das gottgesegnete Thüringen der Schauplatz schrecklicher Verheerungen geworden. Die Felder lagen unbebaut oder waren durch endlose Truppendurchmärsche verwüstet, die Städte geplündert, die Dörfer zum teil niedergebrannt, überall Not, Krankheit und Jammer!

»Um so überraschender mochte es erscheinen, daß, gleich einer Oase in der Wüste, unser Ländchen von allem Greuel und Ungemach des Krieges verschont geblieben war. Was hielt den Weltbezwinger wohl davon ab, das unbedeutende Herzogtum X... nicht mit gleicher Tyrannei und Willkür zu behandeln. Uneingeweihte mochten sich über diese sonderbare Huld vielleicht den Kopf zerbrechen. Allein bei uns am Hofe war es durchaus kein Geheimnis mehr, daß Napoleon diese Rücksicht einzig und allein dem Herzoge und Gemahl meiner hohen Gebieterin angedeihen ließ, der, wie allgemein bekannt war, eine schwärmerische Verehrung, ja, ich möchte sagen, glühende Anbetung für des Kaisers Person hegte und mit seinen Gefühlen keineswegs hinter dem Berge hielt.

»Man sprach davon, daß Napoleon, der für jede Schmeichelei sehr empfänglich war, sich über diese in einem Männerherzen für ihn entflammte Leidenschaft königlich amüsierte und in einem Anfalle seiner unberechenbaren Launen den Befehl gegeben habe, das Herzogtum X... nicht allein in jeder nur erdenklichen Weise zu schonen, sondern auch von allen Kriegslasten zu entbinden.

»Wie von seiten anderer Höfe dieser seltsame Umstand aufgefaßt und beurteilt, ob es dem deutschen Fürsten verdacht wurde oder ob man gar über ihn spöttelte, das ficht den Gemahl meiner Gebieterin durchaus nicht an. War es doch ein Mensch, dessen krankhaft überspannter Geist sich selten mit der Wirklichkeit beschäftigte, sondern sich meist in einer eingebildeten Welt voll eitler Hirngespinste und traumhafter Ideale bewegte. Der Herzog lebte nämlich in dem thörichten Wahne, das Fühlen und Denken, ja die Seele eines Weibes zu besitzen und bemühte sich daher, jedwede Männlichkeit zu verleugnen und abzuschwören. Aus diesem Grunde drehten sich auch alle seine Gedanken und Interessen nur um Dinge, die im Gesichtskreise der Frau liegen.

»Wer diesen eigentümlichen Mann nicht mit eigenen Augen gesehen, konnte sich von seiner wunderbaren Erscheinung gar keinen klaren Begriff machen.

»So war des hohen Herrn Kleidung ganz ausgesprochen frauenhaft, was zu seinem bartlosen Gesicht mit dem weichlich elegischen Ausdruck und den schmachtenden großen blauen Augen allerdings nicht übel paßte. Lang wallende, meist weiße Gewandungen umhüllten seine etwas schlaffen Glieder, während das üppige, gelockte Blondhaar sich unter einer turbanartigen Kopfumhüllung bis tief in die Stirn hineinsenkte.

»Waren wir, das heißt, die Frau Herzogin mit ihren drei Hoffräuleins, zu Seiner Durchlaucht zum Thee geladen, so lag Serenissimus in halb griechischem Kostüm mit breitem Goldgurt um die Hüften, den für einen Mann wirklich blendend weißen Hals und Nacken teilweise entblößt, die vollen, ebenfalls bloßen Arme über und unter den Ellbogen mit kostbaren Spangen geschmückt, auf einem Ruhebett und empfing uns, indem er sich graziös erhob und nach Art der Damen sich verneigte.

»Niemals drehte sich die Unterhaltung um die damals alle Gemüter beschäftigende Politik und die aufregenden Ereignisse einer schweren Zeit, sondern nur um seichte französische Romane – Hofklatsch und – Toilettenangelegenheiten!

»Selbstverständlich waren wir Hofdamen viel zu gut geschult und nebenbei von einer zu innigen Teilnahme und Verehrung für unsere Gebieterin erfüllt, als daß wir gewagt hätten, auch nur den kleinsten Schimmer eines Lächelns um unsere Lippen zucken zu lassen. Die Etikette jener Zeit erheischte die allergrößte Rücksicht.

»Daß unter den obwaltenden Verhältnissen sich unsere Frau Herzogin sehr unglücklich in ihrer Ehe fühlte und wohl nur die äußere Form und Konvenienz dieses gewiß niemals innig gewesene Band der beiden Gatten noch zusammenhielt, sind Dinge, auf die ich jetzt nicht weiter eingehen möchte. Nur einer kleinen Episode will ich noch Erwähnung thun, die wirklich höchst spaßig war und dem in seinen Gewohnheiten und Geschmacksrichtungen oftmals zur Überspanntheit hinneigenden Fürsten eine gründliche Lehre geben sollte.

»Napoleon, der sich auf seinem Siegeszuge auf dem Wege nach Berlin befand, glaubte unserem Herzoge keine größere Freude bereiten zu können, als wenn er ihm die Ehre eines Besuches schenkte. Vielleicht waren es auch leise und sehr natürliche Regungen der Neugierde, den als Original bekannten Fürsten einmal von Angesicht zu Angesicht zu sehen, die den Weltbezwinger zu diesem Schritte – persönlich nach X. zu kommen – veranlaßten.

»Kurz, Serenissimus schwamm in einem Meer von Entzücken und ersann die denkbarsten und undenkbarsten Sachen, um dem vergötterten Kaiser einen ihm gebührenden Empfang zu bereiten.

»Natürlich spielte die Toilettenfrage dabei wieder eine nicht unbedeutende Rolle, und mochte die gefallsüchtigste, kokettste Frau wohl kaum so lange über die Mittel, ihre Reize in das beste Licht zu stellen, – nachgegrübelt haben, als es der Herzog vor dem zu erwartenden Besuche des Kaisers gethan.

»Vielleicht sollten wir, die am Hofe befindlichen weiblichen Elemente, alle in Schatten gestellt werden.

»Unsere Herzogin, die durchaus keine schöne Frau war, ließ in ihrer edlen Herzensgüte und rührenden Bescheidenheit alles über sich ergehen. Daher hatte auch Seine Durchlaucht, zweifellos um seine eigene Person noch mehr zur Geltung zu bringen, den Empfang des hohen Gastes nach seinen Privatgemächern verlegt, so daß wir übrigen eigentlich nur Staffage bilden sollten.

»Vorausschicken muß ich noch, daß Napoleon dem Herzoge bereits schriftlich die Stunde seines Besuches angekündigt hatte, und in diesem äußerst huldvollen Briefe mit einfließen ließ, derselbe möge sich irgend eine Gnade vom Kaiser erbitten.

»Und der große mit Sehnsucht und Spannung erwartete Moment kam endlich! War doch die Macht und das Ansehen des Mannes, der auf dem Wege war, sich ganz Europa zu unterjochen, eine so große, daß hoch und niedrig, alt und jung vor seinem bloßen Angesicht zitterte.

»Von seinen Generälen, Adjutanten und einem Kreise besonders bevorzugter Männer umgeben, betrat Napoleon das mit verschwenderischem Luxus eingerichtete, jedoch an ein mit verweichlichtem, üppigen Geschmack ausgestattetes Frauengemach erinnernde Zimmer des Herzogs, in dessen Mitte ein schwellendes Ruhebett stand, von dem sich eine dem Auge eines Fremden ganz seltsam erscheinende Gestalt emporrichtete.

»Hinter meiner Gebieterin versteckt, vermochte ich des Kaisers Züge genau und völlig unbemerkt zu beobachten, daher sah ich deutlich, wie plötzlich ein heiteres, allein merkbar spöttisches Lächeln über das ehern finstere Antlitz glitt und das durchdringende Adlerauge halb ungläubig, halb staunend an dem sich seinen Blicken Darbietenden haften blieb.

»War das eine Komödie, eine ganz besondere Überraschung etwa, die man ihm hier vorgeführt? Was bedeutet das? – so mochte der hohe Gast wohl bei sich denken, indem er sich jetzt mit fragendem Gesichtsausdrucke seitwärts wandte, wo mit gesenkten Lidern und sich schüchtern verneigend, meine Gebieterin stand! Dieser aus dem Kaiserauge sie treffende Blick war ebenso demütigend als niederschmetternd, das fühlte selbst ich – die Hofdame.

»Entsetzlich! In dieser merkwürdigen, von blaßrosa Seidenstoffen umwallten Figur, deren entblößter Hals und Arme von kostbarem Geschmeide strotzte, konnte Napoleon doch unmöglich den Herrn und Gebieter eines deutschen Fürstenstaats, den regierenden Herzog von X. vermuten! So weibisch verputzt, in fast lächerlichem Aufzuge, so jeder Männlichkeit Hohn sprechend, hatte der Weltbezwinger sich denjenigen, dessen glühende Anbetung er sich bisher stillschweigend gefallen ließ, doch nicht vorgestellt. Deutlich sah ich die tiefe Falte des Unwillens über der eisernen Stirn, welche nur zu wohl besagte, daß Napoleon sein Erscheinen in unserem Schlosse bereits bereuen mochte.

»Den Herzog vielleicht ausgenommen, fühlten wir alle, daß dies ein furchtbar peinlicher Moment war, und schien es den Herren aus des Kaisers Suite wirklich Mühe zu kosten, Fassung und Contenance zu bewahren. Einige, wenigstens die Jüngsten davon, hatten nicht übel Lust, aller Hofetikette zum Trotz laut aufzulachen und ihrem Übermut und Witz die Zügel schießen zu lassen. Andere bissen sich krampfhaft in die Lippen und sahen unverwandt zu Boden.

»Obwohl es auch Napoleon noch immer sehr verräterisch um die Mundwinkel zuckte, trat er jetzt mit hastigen Schritten der in ihrem zweifelhaften Liebreize vor ihm stehenden rosaumhüllten Gestalt entgegen, maß dieselbe mitleidigen, spöttischen Blickes und sagte in seiner bekannten schroffen Art:

»›Fürwahr, ein sonderbarer Empfang! Aber Wir nehmen ein gegebenes Wort niemals zurück. Durchlaucht dürfen Sich von Uns eine Gnade erbitten. Sie soll gewährt sein. Eh bien?

»Die vollen weißen Arme verlangend nach dem Kaiser ausgestreckt, die blauen Augen in einem Ausdruck schwärmerischer Sinnlichkeit zu des Weltbezwingers Antlitz emporgeschlagen, flüsterte der Herzog mit frauenhaft sanfter Stimme, aber laut genug, um von den Anwesenden verstanden zu werden: ›Un baiser, Sir!

»Für Sekunden war es, als ob der lähmende Druck einer Erstarrung auf uns allen lastete. Wahre Totenstille herrschte ringsum, weil wohl jeder befürchten mochte, daß jetzt sicherlich ein brüskes, spottgefärbtes Lachen oder gar der Ausbruch jenes zügellosen Zornes – vor dem Europa zitterte – von den Lippen des Allgewaltigen hervorbrechen würde.

»Nichts davon. Trotzdem mir unter dem knappen Atlasleibchen das Herz in wilden Schlägen hämmerte, verwandte ich von Napoleon keinen einzigen Blick.

»Jetzt richtete sich die kleine Gestalt in der ihr eigenen hochmütigen Weise stolz empor – das stahlgraue Auge verfinsterte sich merklich, doch ohne daß in den charaktervoll wie gemeißelt erscheinenden Zügen der geringste Schimmer von Bewegung sichtbar wurde, stieß er schroff und verächtlich hervor: ›Vous êtes un fou! Adieu!

»Sprach's und verließ, von seiner glänzenden Suite gefolgt, unverzüglich das Gemach.

»So kläglich endete des Kaisers Besuch an unserem Herzogshofe.«

Unter dem Niagara-Falle.

Niagara-Falls, den 18. Oktober.

Teure Carrie!

Der glühendste Wunsch meines Lebens ist wirklich in Erfüllung gegangen. Ich bin unter dem Niagara-Falle gewesen! Nicht allein, daß es mir vergönnt war, das kolossalste Naturschauspiel unserer Erde zu bewundern, in stummer, staunender Erstarrung versunken, die gigantischen Fälle in die Tiefe stürzen zu sehen, während mir dabei ein eisiges Gruseln über jenes Wunder durch die Glieder bebte, – nein, Carrie, Herzensschwester, in die berühmte cave of the winds (Windhöhle) bin ich mit Papa hinabgestiegen! –

Von Goat-Island aus ist es möglich, unter die Fälle zu gelangen, oder richtiger gesagt: unter den Raum zwischen der Felsenwand und den über dieselbe hinabstürzenden Fluten des amerikanischen Falles. Kaum glaublich ist das, und doch ist es nur der kleinste Teil der mächtigen Katarakte, unter welche ein menschliches Wesen sich wagen kann.

Indes ist es durchaus nicht meine Absicht, Dir, Du Hasenfuß, der aus purem Mangel an Courage sich an unserer schönen Partie nicht beteiligen wollte, eine eingehende Naturbeschreibung zum besten zu geben. Wenn es Dich interessiert, so nimm Dir ein Reisehandbuch vor, und Du bist schneller orientiert, als ich es zu thun vermöchte. Nur von einem allerliebsten Abenteuer muß ich Dir noch berichten. Denke Dir: ein Abenteuer unter dem Niagara-Falle! So etwas erlebt ein einfacher Sterblicher, ein Mädchen von neunzehn Jahren, und noch dazu eine Deutsche, nicht oft im Leben!

Höre also!

Der Fremden-Andrang an den Fällen war, wohl der vorgerückten Jahreszeit wegen, nicht mehr sehr groß. Nur fünf Personen, darunter Papa und ich, machten sich auf den Weg nach der Windhöhle; ich als die einzige Dame, was meinen Stolz nicht wenig hob, besonders, da man mir von verschiedenen Seiten das wirklich Gefährliche und Anstrengende unseres Unternehmens klar zu legen sich bemühte. Vor allem war es ein junger Deutscher, – die Visitenkarte, welche er uns reichte, lautete: »Arnulf Clemens, Privatdocent. Berlin«, – der fast außer sich darüber geriet, als er erfuhr, daß ich die Herren begleiten, mein blutjunges Leben, wie er feurig sich ausdrückte, diesen elementaren Mächten der Tiefe preisgeben wolle. Er selbst habe den Weg durch die Windhöhle in wissenschaftlichem Interesse schon einmal gemacht, kenne daher die gefährliche Passage ziemlich genau, worauf er dann noch eine schauerliche Schilderung derselben folgen ließ. Doch ich blieb unerschütterlich und lachte. Nichts in der Welt hätte mich auch von meinem Vorhaben abzubringen vermocht. Hatte mein Widerstand den Deutschen verletzt oder gekränkt? – ich weiß es nicht. Wenigstens verlor ich ihn bald darauf aus dem Gesicht, das heißt, sein Gesicht verlor sich unter der riesigen Kapuze des sogenannten »wasserdichten« Anzuges aus safrangelbem Wachstuch, womit man uns vom Kopfe bis zu den Füßen bekleidete. Nebenbei vervollständigten monströse Filzpantoffeln, die einem jeden von uns unter die Füße gebunden wurden, die originelle Toilette. Das Betreten des nassen, schlüpfrigen Gesteins wäre ohne letztere auch eine Unmöglichkeit. Und so traten wir, derartig ausgerüstet, die Reise nach der Unterwelt an.

Aber, o Carrie! Deine waghalsige kleine Schwester hatte doch ihren Mut und ihre Kräfte überschätzt.

Gar schnell verschwand das übermütige Lachen von meinem Gesicht, und fast bereuete ich, Mr. Clemens' wohlmeinender Warnung kein Gehör geschenkt zu haben. Ein unheimliches Brausen und wahrhaftes Donnergetöse umfing uns bald, und der ungeheure Luftdruck, durch die Gewalt und Geschwindigkeit des herabstürzenden Wassers verursacht, übte einen so beklemmenden Einfluß auf unsere Lungen aus, daß man kaum zu atmen vermochte. Über unsere Häupter hinweg raste und rauschte die Wasserflut mit betäubendem Gebrüll in den Abgrund, dicke, graue Nebeldämmerung und fortwährender feiner Regen erfüllte die Atmosphäre ringsum, während von Zeit zu Zeit brausende Schaumwolken weißen Gischtes bis zu uns heranschlugen.

So ging man langsam aus dem nur durch ein höchst primitives Geländer geschützten Wege vorwärts. Drei vermummte Gestalten bewegten sich vor mir; ich selbst wankte hinterdrein, und zuletzt schritt noch ein Mensch, es konnte nur Papa sein, der bisher dicht an meiner Seite geblieben war.

Überwältigend und kaum mehr erträglich wirkte auf mich das furchtbare Tosen. O spotte meiner deshalb nicht! Denn was sind Menschennerven gegenüber jenen entfesselten Naturgewalten. Du wirst es daher natürlich finden, daß wir nicht lange in diesem schauerlich schönen Raume blieben. Die Großartigkeit der Windhöhle spottet überhaupt jeder Beschreibung.

Dann kehrte ein jedes auf dem Absatz um und, äußerst vorsichtig, Schritt um Schritt genau beachtend, tappte man den lebensgefährlichen Weg wieder rückwärts. Da überkam mich plötzlich ein derartiger Schwindel, daß ich die Füße nicht mehr zu heben vermochte und die Augen schließen mußte. Das Geländer umklammerte ich krampfhaft und taumelte hin und her. Im Moment aber umfaßten auch schon zwei starke Arme meine bebende Gestalt vorsorglich. Nur denken konnte ich noch: »welches Glück, daß Papa neben mir ist!« Dann schmiegte ich mich halb besinnungslos, allein glücklich und beruhigt, an die treue Brust.

Indes währte diese vorübergehende Schwäche wohl kaum zwei Minuten. Da schlug ich die Augen auf und drängte wieder vorwärts. Dort, ein ziemliches Stück von uns entfernt, schritten bereits die übrigen, die während dem vorgekommen waren. Mutig raffte ich mich daher empor. Und, dem Himmel sei gedankt, endlich wurde es auch heller, das fürchterliche Sausen und Brausen verminderte sich. Freier vermochten die Lungen wieder zu atmen, und schon drang Tagesschein bis zu uns. Nur ein kurzer Pfad noch aufwärts, und, – Gott Lob, wir waren gerettet! Freudetrunken schaue ich zurück, um für meine Heldenthat von Papa mich beglückwünschen zu lassen, – da, – o Schrecken! – der Deutsche, Mr. Arnulf Clemens, war es, der mir folgte. Die Kapuze hatte er abgeworfen, und übermütig lachten seine blauen Augen mich an.

Gräßlich, Carrie! Nicht wahr? Von seinen Armen umschlungen, habe ich an seiner Brust geruht! Verwünscht habe ich in diesem Momente alle meine Niagarasehnsucht. Ich hätte mich selber ohrfeigen mögen.

Was aber half es? Mußte ich nicht noch gute Miene zum bösen Spiele machen? Das heißt, ich glaube, daß ich mit wütendem Gesichte gestammelt habe: ich hätte Papa hinter mir vermutet. Innerlich schäumte ich und nahm mir fest vor, dem zudringlichen Patron meinen Zorn fühlen zu lassen.

Auf dem Rückwege nach dem Hotel wich er noch dazu nicht von meiner Seite, als ob der mir geleistete Dienst ihm etwa gar das Recht einräume, fernerhin meinen Beschützer zu spielen. Nebenbei entwickelte er eine echt deutsche Redseligkeit, um mich zu unterhalten.

Vorausschicken muß ich übrigens, daß er kein übler Mann ist, – gewiß nicht, Carrie! Elegante Figur; zwar nicht besonders hübsch, aber hervorragend intelligent ist sein Gesicht, die Augen könnte man sogar als schön bezeichnen. Sie sprudeln von Geist und lachen von Herzensgüte. Eine tiefe Narbe, wahrscheinlich eine Reminiscenz aus der Studentenzeit, zieht sich über die linke Backe hin. Allein der Mensch hatte sich meine vollste Ungnade zugezogen, und dafür sollte er büßen.

Eine günstige Gelegenheit fand sich rasch genug, indem er, da wir deutsch sprachen, seine Freude ausdrückte, in mir eine Landsmännin zu begrüßen. Die Männer besitzen alle eine gründliche Portion Neugierde, und so schlich er denn, wie man in unserem alten lieben Deutschland zu sagen pflegt, gleich der Katze um den heißen Brei. Er tippte hier, – er tippte dort an; kurz, er brannte darauf zu erforschen, wer wir seien.

Aha, dachte ich, das ist die Falle!

Endlich erkühnte er sich, zu fragen, ob wir stetig oder nur vorübergehend in den Vereinigten Staaten wohnten!

»Stetig. Der Beruf und die so überaus einträgliche Stellung meines Vaters hält ihn in Amerika fest,« log ich in größter Gemütsruhe.

»Advokat? Politiker offenbar?« forschte er weiter.

»O nein!« entgegnete ich mit der ernsthaftesten Miene der Welt. »Papa ist der – Totengräber von New York!«

Bin ich nicht ein gräßliches Mädchen, solch' haarsträubenden Unsinn zu sprechen, Carrie? Dear old Pa? Ich könnte mich tot lachen über meinen Witz. Und doch, – im Moment, da die Lüge heraus war, that er mir leid. Denn das bisher überaus fröhliche Gesicht meines Begleiters nahm einen so erschreckten, traurigen Ausdruck an, als ständen wir plötzlich inmitten des großen Gräberfeldes von Greenwood-Cemetry in der Zeit, wo die Uhr die Geisterstunde schlägt, – huh!

Armer Arnulf Clemens!

Er verbeugte sich höflich, indes merklich steif gegen mich, und wir legten schweigend den Weg nach dem Hotel zurück. Die Medicin that demnach bereits ihre Wirkung. Auffallende Abkühlung! Die erhöhte Temperatur seines Blutes sank auf den Normalstand zurück!

Während des Lunch saß Mr. Clemens Papa und mir schräg gegenüber und unterhielt sich lebhaft mit unseren Reisebegleitern. Nur ab und zu streifte mich ein scheuer – unsäglich trauriger Seitenblick. Aus den Gesprächen vermochte ich jedoch so viel zu entnehmen, daß Arnulf Clemens Geologe sei und eine sechs- bis achtmonatliche Studienreise nach den Vereinigten Staaten unternommen habe. Darauf sprachen die Herren schrecklich gelehrte Dinge, über Schliemann, über die alten Ruinen des Forts Ticonderoga am Champlain-See, über die wunderbare Bodenbeschaffenheit im Yellowstone-Park, und mehr dergleichen. Ich merkte es Papa an, wie gern er an dieser wissenschaftlichen Unterhaltung sich beteiligt hätte. Allein, da ich ihn bereits vor dem Frühstücke von meinem Scherze in Kenntnis gesetzt, so that er mir wirklich den Gefallen, mich nicht zu blamieren, und vertiefte sich statt dessen lediglich in die Wissenschaft der »Gastronomie«. Dabei legte er auch einen so indifferenten, fast möchte ich sagen stumpfsinnigen Ausdruck in sein liebes Gesicht, der dem Totengräber von New York wahrhaftig alle Ehre machte. Im übrigen zürnte er mir durchaus nicht und äußerte, mit dem Finger drohend, bloß, daß ich ein loser Schelm sei! – Eine Stunde später dampften wir zurück nach New York. –

Vollkommen befriedigt war meine wißbegierige Seele von unserem Ausfluge. Auch Papa zeigte sich in bester Laune, schwatzte heiter und machte schon Pläne für die nächste Sommerferienreise. Und dennoch – mir, Carrie, – nun bitte ich wiederum, mich nicht auszulachen –, mir war das Herz ein wenig schwer! Warum? Ja, das wußte ich selbst nicht. Du Vernünftige, Vortreffliche, Du, mein besseres Ich, – Du würdest sagen: das ist die Reue über eine böse That! Vielleicht hättest Du recht. Der tieftraurige, erschreckte Blick aus Mr. Arnulf Clemens' blauen Augen peinigt mich zuweilen fürchterlich. Die Strafe dafür, daß sein schützender Arm eine schwankende Mädchengestalt im Momente der Gefahr gehalten und an sich gedrückt, war wohl doch zu grausam? –

So endete mein Abenteuer unter dem Niagara-Fall. Gehab' Dich wohl, amüsiere Dich gut bei unseren Freunden in Washington und schreibe gelegentlich einmal an

Deine kleine Schwester Terrie.


Washington, den 10. November.

Meine liebe Terrie!

Dein frommer Wunsch: amüsiere Dich gut bei unseren Freunden in Washington hat sich glänzend erfüllt. Die letzten Wochen brachten eine solche Fülle von Abwechselungen und interessanten Bekanntschaften, daß ich Dich um Dein spaßiges Niagara-Abenteuer wahrlich nicht beneide.

Unsere guten Newtons sind Menschen, welche sehr hohe Achtung und große Liebe hier genießen, so daß jeder, der zum Besuche in ihrem Hause weilt, täglich mehr von dem Werte dieses vortrefflichen Ehepaars überzeugt wird. Mich verhätscheln sie fast wie ein Baby und sinnen nur immer darauf, mir neue Amüsements zu verschaffen. Daher werde ich so bald nicht heimkehren, und Du wirst für unseren guten Papa noch einige Zeit allein Sorge tragen müssen. Ach, Terrie, es ist so wundervoll, sich einmal von einem Mütterchen ein bißchen verwöhnen zu lassen und zu fühlen, daß ...!

Doch davon später! –

Dein allerliebstes Abenteuer unter dem Niagara, welches mich höchlichst amüsiert und meine prüde, schnell aufbrausende Terrie wieder einmal recht charakterisiert hat, sollte ein Nachspiel finden –; staune nur! Und das habe ich erlebt! Mich hatte das Schicksal auserkoren, die Sünden meiner herzlosen Schwester zu sühnen!

Trotz der ziemlichen Entfernung zwischen Washington und New York, höre ich bei diesen Worten Dein Herz klopfen, – sehe auch deutlich, wie unruhig und ängstlich Deine Augen flackern. Allein Du mußt noch einige Minuten Geduld haben, mein teures Schwesterchen, und mich erst in Ruhe über diese komischste aller irdischen Zufälligkeiten Bericht erstatten lassen.

Es war bei einer reizenden Tea-party bei dem Präsidenten der Vereinigten Staaten. Schon hieraus magst Du ersehen, welch bevorzugtes Menschenkind ich bin, daß sogar die exklusiven, geheiligten Räume des weißen Hauses sich für mich geöffnet haben.

Also: das glänzende Fest war bereits in vollem Gange, – übrigens wurde auch getanzt, – als aus den dichten Reihen der jüngeren Herren die Gestalt eines Mannes sich löste, welche sofort meine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Elegante Figur, – intelligentes Gesicht mit einer tiefen Narbe über der linken Backe, – schöne, geistvolle blaue Augen!

Die schäumenden Wasser des Niagara-Falles, die safrangelbe Kapuze, meine halbohnmächtige, kleine Schwester und, – der Totengräber von New York, – das alles tauchte plötzlich zündend vor meinem Geiste auf.

Eine Pause nach dem Tanze war eben eingetreten, und ich lehnte mich, ein wenig ermüdet, an einen der riesigen Gas-Kandelaber des Saales, das bunte, reizvolle Bild gedankenvoll überschauend. Wahrhaftig! Der bewußte Herr schreitet schnurstracks auf mich zu. Was sollte das wohl bedeuten? – Das Herz pochte mir zwar eben nicht; aber etwas Unruhe, oder vielmehr Unbehagen beschlich mich dennoch. Denn daß ich dem Mr. Arnulf Clemens, Privat-Docenten aus Berlin, gegenübertreten sollte, war zweifellos. Ebenso zweifellos aber erblickte er in mir die liebliche Nymphe des Niagara.

Offen gestehe ich Dir ein, daß die frappante Ähnlichkeit mit Dir, welche bisher meinen Stolz und das Glück meines Lebens bedeutete, mir in diesem Momente zum erstenmale peinlich wurde. Hatte der junge Mann den schändlichen Betrug entdeckt? Wohl sicher nicht, folgerte ich ziemlich richtig. Denn dann würde er in der Empörung seines Herzens Dich gewiß mit Verachtung gestraft und die frühere Begegnung völlig ignoriert haben.

Nein! Ersichtlich war es ja, daß er jene flüchtige Bekanntschaft mit Dir zu erneuern wünschte, daß das lebhafte Interesse für meine boshafte kleine Schwester ihm rasch über alle etwaigen Bedenken hinweggeholfen. Warum soll die Tochter eines »Totengräbers« nicht eine reizende, feingebildete junge Dame sein, für welche ein feuriges Mannesherz sich begeistern kann, zumal, wenn man dieselbe auf dem Balle bei dem Präsidenten der Vereinigten Staaten antrifft? – Amerikanische Verhältnisse sind eben andere, als deutsche. So viel hatte Mr. Clemens sicher schon ausfindig gemacht während des hiesigen Aufenthaltes. Ich hätte sogar darauf schwören wollen, daß er, als er den heroischen Anlauf nahm, zu mir heranzutreten, hinter seiner klugen Stirn kombinierte und meinte, ein Totengräber in Amerika nähme mindestens die hohe Stellung eines deutschen Geheimrates ein. Und das besiegte entschieden die letzten Skrupel.

Den vollendeten Kavalier verratend, indes nicht etwa mit einem tieftraurigen Blicke, verbeugte sich Mr. Arnulf Clemens vor mir und fragte artig: ob die Partie nach der Windhöhle mit all den großen Anstrengungen und Fatiguen auch keine üblen Folgen für mich gehabt? Und lächelnd setzte er hinzu:

»Sie waren an jenem Morgen so schnell abgereist, daß ich gar nicht mehr Zeit gefunden, mich bei Ihnen zu verabschieden.«

Was sollte ich thun? Irgend ein witziger, oder wenigstens witzig sein wollender Mensch hat einmal geäußert, daß junge Mädchen im Alter von fünfzehn bis neunzehn Jahren in für sie kritischer Situation, selbst wenn ihnen das Weinen nahe sei, nichts klügeres thun könnten, als – immer nur lachen!

Gut! Da ich eben erst neunzehn Jahre geworden bin, so lachte ich.

Mein Lachen schien ihn jedoch noch mehr zu ermutigen. Denn mit einem schwärmerischen Aufschlage seiner schönen Augen fragte er weiter, ob der gemeinsame interessante Ausflug nicht doch sehr reizvoll und poetisch gewesen sei? Er selbst wäre seitdem wie von einem wunderbaren Zauberbanne umfangen. Sicherlich müßten Nixen und Geister der Tiefe in der Windhöhle ihr Wesen treiben.

Nun war aber der Moment gekommen, ihn über die Täuschung, in der er schwebte, aufzuklären.

»Sie irren, mein Herr!« entgegnete ich ebenfalls sehr höflich, doch glaube ich, daß mir dabei der Schalk um die Mundwinkel zuckte. »Meine Augen haben das große Schöpfungswunder, den Niagara-Fall, niemals geschaut. Meine Schwester war es, mit der Sie dort zusammengetroffen sind.«

Fast ungläubig stutzte er und schien forschend meine Züge zu mustern, während Ärger und Verlegenheit deutlich über sein Gesicht huschten.

»O, verzeihen Sie! Diese fabelhafte Ähnlichkeit, mein Fräulein! Ich konnte unmöglich ahnen ...!« stieß er lebhaft hervor.

»Wir sind auch Zwillings-Schwestern!« kam ich ihm mitleidig zu Hilfe.

Darauf wollte er sich mir noch einmal in aller Form vorstellen; doch war ich so unbedacht, zu verraten, daß Du mir von ihm bereits geschrieben, und er daher mir kein völlig Fremder sei. Merkwürdig strahlten bei dieser Nachricht seine blauen Augen auf. Ich glaube, Terrie, die Nixen der Tiefe haben es ihm gewaltig angethan.

Die Musik rief jetzt zur Quadrille, zu der mich Mr. Clemens pflichtschuldigst aufforderte. Da indes genügend Paare vorhanden waren, und wir beide eben keine große Lust zum Tanzen verspürten, so behielten wir unseren Platz inne und plauderten weiter.

Deine Beschreibung seines Äußeren paßt übrigens vollkommen; ich habe ihn auch sofort erkannt. Allein, wenn Du Dich gleich mir eine Viertelstunde mit ihm unterhalten hättest, würdest Du jene häßlichen Worte: »zudringlicher Patron« ihm im stillen abbitten. Ich finde Arnulf Clemens nicht nur liebenswürdig und charmant, sondern ich bin sogar überzeugt, daß er ein ganz vortrefflicher Mensch ist. Doch brauchst Du, wenn dieser Mann sich nicht von vornherein Deine vollste Ungnade zugezogen, Dir somit also höchst gleichgültig ist, nicht im geringsten auf mich eifersüchtig zu sein, aus Gründen, die ich Dir am Schlusse meines Briefes mitteilen werde.

Rührend sprach er von seinem lieben, alten Mütterchen in der Heimat und von zwei jungen, unmündigen Brüdern, für die er arbeitet, und welchen eine Stütze zu sein, bisher seine Lebensaufgabe gewesen. Nach der Rückkehr von dieser Reise hoffe er eine Professur an einer hervorragenden Universität zu erlangen. Jedes Wort, das er sprach, ja sein ganzes Sein und Denken erschien so treuherzig, edel und wahr, daß es mich wirklich fast schmerzte, wie Du an diesem Manne frevelhaft Dein Mütchen hast kühlen können. O schäme Dich, böse Terrie!

Gleich alten Bekannten plauderten wir zusammen, sodaß er ganz vergessen zu haben schien, eine fremde junge Dame vor sich zu haben, und gewiß kaum mehr daran dachte, daß wir des »Totengräbers« Töchter seien. Um ein Haar wäre ich auch selbst bald aus der Rolle gefallen, indem ich unvorsichtigerweise äußerte: Du seiest seit drei Wochen mit Papa wieder in New York, da die Herbstferien zu Ende gegangen, und ersterer betreffs des Winter-Semesters sehr in Anspruch genommen würde.

Der starre, fragende Blick des jungen Mannes brachte mich indes schnell zur Besinnung. Seine Stirne zog sich in Falten, und schweigend schaute er zu Boden. Offenbar mußte er darüber nachsinnen, wie komisch es klinge, daß auch Totengräber Ferienreisen unternähmen, oder ob die Sterblichkeit in Amerika wohl in Semester eingeteilt wäre.

Herzlich gern hätte ich ihm jetzt gesagt, daß Du einen Scherz mit ihm getrieben, so leid that er mir in diesem Momente. Aber ich durfte Dich ja nicht gar zu sehr kompromittieren und wartete mithin eine günstige Gelegenheit ab, ihm die Wahrheit zu gestehen.

»Nach den Mitteilungen Ihrer Fräulein Schwester ist der Beruf Ihres Herrn Vater ein ernster und schwerer?« warf er schüchtern und etwas unsicher ein.

»Ernst wohl, aber nicht schwer, da Papa sich ihm mit Leib und Seele hingiebt, und die Passion alle Mühseligkeiten desselben überwindet,« entgegnete ich mit schlecht unterdrücktem Lächeln.

Wieder sah er mich von oben bis unten fragend an. »Passion zum Totengräber!« mochte er wohl denken.

»Sie, Mr. Clemens, müssen das doch am besten begreifen und verstehen,« – sprach ich inzwischen lebhaft weiter, – »daß ein Mann im Feuereifer des Studiums und Forschens, wie es Papa zuweilen thut, die lichte, sonnige Gegenwart, – die Welt mit ihren Freuden und Genüssen völlig vergessen kann, um des – Verblichenen, – ja um des Staubes der Vergangenheit willen!«

Das kluge Auge richtete sich einige Sekunden prüfend und beinahe streng auf mein lachendes Gesicht. Ohne Zweifel konnte er die innere Verbindung meines Ideenganges nicht finden.

»Ich?« fragte er daher halb unwillig.

»Nun ja! Sagten Sie mir nicht soeben, daß Sie Geologe seien? So ein klein wenig geistige Verwandtschaft besteht dann wohl zwischen Ihnen und Papa,« war meine heitere Antwort, indem ich fortwährend sein immer finsterer werdendes Gesicht beobachtete.

»Ich weiß nicht, mein Fräulein, ob Sie Scherz mit mir treiben, oder ob ich selbst in einem argen Irrtume befangen bin?« sagte er in einem steifen, völlig veränderten Tone. »Denn alles, was Sie in den letzten fünf Minuten gesprochen haben, erscheint mir dermaßen unverständlich und rätselhaft, daß ich wirklich bitten muß, sich ein wenig deutlicher zu erklären!«

»Aber, mein Gott, wie so denn? Was ist Ihnen nicht klar? Ich scherze wahrhaftig nicht!« rief ich in ungeduldiger Hast und Erregung.

»Nicht?!« fragte er immer noch ungläubig. »Dann verzeihen Sie meine Indiskretion und sagen Sie mir, welche Stellung Ihr Herr Vater eigentlich bekleidet?«

Jetzt pochte mein Herz wirklich. Allein in möglichster Unbefangenheit erwiderte ich:

»Papa ist Professor der toten Sprachen an der Universität von New York.«

»Ah!« Mr. Clemens war einige Schritte zurück getreten und starrte, wie ein Mensch, der aus festem, gesunden Schlafe jäh aufgerüttelt wird, mich an.

»Gewiß, mein Herr!« bestätigte ich mit stolzem Selbstgefühle. »Und einen Ruf besitzt Papa, der weit über die Grenzen von United-States hinausgeht!«

»Ja –, aber mein Himmel! Dann muß ich Ihr Fräulein Schwester ganz und gar mißverstanden haben,« stotterte Mr. Clemens in höchster Verwirrung.

Ein wunderbar glückseliger Ausdruck breitete sich mit einem Male über seine treuherzigen Züge, als er fortfuhr:

»Sie sagte mir doch, daß ...«

»Wohl möglich,« unterbrach ich ihn herzlich lachend. »Doch wie kann man auch in nächster Nähe des Niagara-Falles, der, wie Terrie mir schrieb, solch ein Höllengetöse verursacht, daß der abgefeuerte Schuß einer Kanone ungehört verhallen würde, – wie kann man also dort jemanden recht verstehen?«

In selige Träume und Erinnerungen versunken, nickte er nur mit dem Kopfe.

»Terrie, Deine Ehre war gerettet!« –

Das also ist meine Begegnung mit Mr. Arnulf Clemens im Weißen Hause. Übrigens sagte er mir, ehe wir uns trennten, daß er in den allernächsten Tagen nach New York zu reisen und Euch aufzusuchen gedächte. Hüte Dich daher, kleine Schwester! Die Nixen der Windhöhle sind arge Neckteufelchen, die sich an allzu wißbegierigen Menschenkindern gar zu gerne rächen.

Wie Du, Mr. Clemens gegenüber, Dich dann aus der Schlinge ziehen wirst: ob Du es bei dem »Mißverständnisse« bewenden lassen, oder ob Du lieber beichten willst, das werden die eigenen Gefühle Dir wahrscheinlich am besten sagen, meine Terrie!

Giebt es doch in der ganzen Welt nichts Unberechenbareres, Widerspruchsvolleres, als ein Mädchenherz. Man könnte wirklich Bücher darüber schreiben. Weißt Du noch, wie ich selbst immer über die Liebe gespöttelt und stets so übermütig – prahlerisch geäußert habe, daß dieser süße Dämon niemals Gewalt über mich bekommen würde? Wer solchen Ausspruch thut, ist – eine Närrin; denn ...!

Doch ich muß schließen; Mütterchen ruft nach mir, weil Gilbert Newton, der einzige Sohn des Hauses, ein junger Schiffs-Kapitän, der ein auffallend schöner Mann ist, soeben ankam, und ich ihn unterhalten soll. Wahrhaftig, Terrie, er ist der interessanteste Mensch, welcher mir jemals begegnete, – voller Geist und Feuer! Es leben die Amerikaner!

Schreibe bald von Mr. Arnulf Clemens' Besuch und sei umarmt von

Deiner glücklichen Schwester Carrie.

Nachschrift.

Vielleicht kehre ich doch noch früher heim, als ich anfänglich gedacht, da Newtons beabsichtigen, selbst mich nach New York zurück zu bringen. Das wird ja ein herrliches Wiedersehen werden! Gut wäre es aber jedenfalls, wenn Du Papa langsam auf diesen unverhofften Besuch vorbereiten wolltest. –


New York, den 20. November.

Du böse, liebe Carrie!

Was hast Du da angerichtet? Zur Strafe für Deine Schwatzhaftigkeit sollst Du jedoch die Antwort auf Deinen Brief heute nur in Form einer Depesche erhalten, welche wohl genügen dürfte, Dich über die Begebenheiten der letzten Tage aufzuklären. – Also:

»Verratenes Inkognito! Mr. Clemens' Reise nach New York. Schüchterner Empfang und fieberhaftes Beben aller Glieder meinerseits. Wiederholte Besuche seinerseits. Niagara-Nixen begannen ihr Spiel. Unumwundene Beichte aller losen Streiche. Seliges Finden, – Verlobung! Es leben die Deutschen!

Deine Terrie.«

Nachschrift.

Arnulf schaut mir über die Schulter und findet diese lakonische Kürze meines Briefes fast beleidigend. Er läßt Dir daher sagen, daß er dem Feste im Weißen Hause und der witzigen Unterhaltung mit einer gewissen liebreizenden Blondine, die ein gütiges Geschick ihm als Schwägerin auserkoren, zwar viel, – sehr viel verdanke; aber jene unvergessene Stunde unter dem Niagara-Falle hätte es ihm nun einmal angethan, und würde er sich das Mädchen, welches damals so kindliche Hilfe suchend sich an seine Brust geschmiegt, zur Lebensgefährtin zu erringen getrachtet haben, auch wenn es – des Totengräbers Töchterlein geblieben! –

Zahnschmerzen.

»Schneller Entschluß – guter Entschluß!« heißt es im alten Sprichwort. Ich möchte aber lieber sagen: »eine Laune« hatte mich im Jahre 1876 zur Weltausstellung nach Philadelphia geführt.

Ein ziemliches Stück von Europa war ich bereits durchwandert; nur Amerika kannte ich noch nicht. Allerdings waren es keine besonderen Sympathien, die mich hinüber ins Land des allmächtigen Dollars zogen; aber es reizte mich, den Urtypus des Yankee gerade in dem Momente kennen zu lernen, wo die sonst kühl-materielle und egoistische Nation in vollster, ungeheuchelter Begeisterung über die Centennialfeier, das Bestehen ihrer hundertjährigen Freiheit, sich befand, wo ungeteilte Freude und Einigkeit herrschte und geherrscht hat – während der Julitage des Jahres 1876 in der Stadt der Bruderliebe.

Eine weitschweifige Schilderung der wahrhaft überraschend großartigen Ausstellung im Fairmount-Park mit ihren tausend und abertausend Menschen aller Nationen abzugeben, liegt nicht in meiner Absicht. Genugsam ist darüber bereits geschrieben und gesprochen worden, obgleich bei uns in Deutschland dadurch nur ein geringeres Interesse hervorgerufen wurde. Ausstellungen sind ja seitdem an der Tagesordnung.

Nachdem ich die mir unglücklichem Neulinge tropenhaft erscheinende Gluthitze, die damals über Philadelphia lag, bis zur Erschlaffung durchkostet und alle die Qualen eines bei lebendigem Leibe Gebratenen erduldet hatte, langte ich nachmittags mit dem 4 Uhr-Train, völlig abgespannt, in dem – wenigstens im Vergleich zu Philadelphia während der Exhibition – stilleren New York an.

Wie die Gefilde des Elysiums erschienen meinen Blicken die schönen breiten Straßen und Avenues der Empire City, wo alles Ruhe und Ordnung atmete. Gott sei gelobt! Nun gab es kein Drängen, Stoßen, Schreien und Schimpfen, keine zerbrochenen Wagen und Gliedmaßen, keine vom Sonnenstich befallenen, armen Opfer mehr, wie ich das zur Zeit meines Aufenthalts in der Stadt der Bruderliebe genügend geschaut und wovon mein unerfahrenes deutsches Auge sich oft zornig oder auch hilfesuchend abgewandt hatte.

Ein kühles, stilles Zimmer zu ungestörter Siesta in einem der prächtigen Hotels New Yorks, dann ein behagliches kleines Diner, in irgend einem lauschigen Winkel des Diningrooms – ein Fläschchen – – o nein, wir sind ja im Lande der Temperenzmen – eine Flasche erfrischenden Sodawassers – wie verlockend wirkte das alles nach stundenlanger Fahrt im durchgluteten Eisenbahn-Coupé!

Allein solche Bilder hüpften und tanzten gleich boshaften Neckteufelchen vor meinem niedergedrückten und bekümmerten Geiste. Denn – ich litt an Zahnschmerzen! Bei 30 Grad Reaumur im Schatten an schauderhaften, kaum erträglichen Zahnschmerzen!

Die körperlichen und geistigen Anstrengungen der letzten Tage, die von Stunde zu Stunde noch im Steigen begriffene, mir vollständig ungewohnte Hitze – das alles mußte meine Nerven und mein Blut in solche Aufregung und Wallung versetzt haben, daß dieses leidige Übel, wovon ich seit meinen Jugendjahren kaum mehr geplagt worden war, mich mit so unbarmherziger Gewalt gepackt hatte. Wer kennt sie nicht – all' die Folterqualen und Torturen endloser, durch nichts zu besänftigende Zahnschmerzen?!

In New York angekommen, raste ich, unter Zurücklassung des Gepäcks, wie ein Besessener vom Bahnhof nach einer in der Nähe gelegenen Apotheke. Mit meinem etwas unverständlichen Englisch, jedoch mit für jedermann desto verständlicheren Gesten nach der linken Backe vermochte ich mein Elend zu offenbaren, und lächelnd wurde mir für 25 Cents eine winzige Phiole eingehändigt, welche die verheißungsvolle Aufschrift: »immediatly« (augenblicklich) trug.

O trostreiches, süßes Wort! Am liebsten wäre ich dem unbekannten Retter, dessen Hand mir diesen Schatz entgegenreichte, um den Hals gefallen. Doch halt! Mein kühles deutsches Blut bewahrte mich vor einer Übereilung. Erst probieren!

Gewiß – das Wundermittel half – aber nur für einen »Augenblick«, ganz der Überschrift entsprechend. Dann kehrten die wütenden Schmerzen mit doppelter Gewalt zurück. Zornig das Fläschchen beiseite schleudernd, verlangte ich nun rasch ein anderes Medikament und wankte schließlich, die Tasche voll Opiumpillen, spanischer Fliege und Kampfer, rat- und mutlos auf die Straße, um von der Apotheke bis zum ersten besten Hotel die unerquickliche philosophische Betrachtung anzustellen, warum eigentlich der weise Schöpfer uns ohnedies geplagten Erdenkindern zum Überfluß auch noch Zähne gegeben hat? Alle Dichter und Schriftsteller verwünschte ich, die jemals über: »zwei Reihen Perlen zwischen rosigen Lippen«, oder: »blendende Elfenbeinzähnchen« gereimt und gefabelt hatten. Alles das ist bittere Ironie.

An Speise und Trank war unter solch' kümmerlichen Verhältnissen natürlich nicht zu denken. Nachdem ich nur notdürftig Gesicht und Hände vom Eisenbahnstaube gesäubert hatte, bestieg ich den nächsten Tramwaywagen, bezahlte meine fünf Cents und fuhr hinaus nach dem Centralparke, weil ich zunächst und vor allem das Bedürfnis hatte nach reiner, frischer Luft, nach absoluter Ruhe. Fern vom Geräusche der Großstadt, ungestört von jedem mich belästigenden Blicke aus teilnehmenden oder neugierigen Augen – wollte ich dort oben in der Einsamkeit mein Elend zu vergessen suchen. Zumal lockte der prächtigste Sommerabend hinaus ins Freie. Endlich – endlich mußte ja doch dieser böse Plagegeist ein menschliches – Unsinn! ein Geist empfindet nie ein menschlich – sagen wir also: ein himmlisches Rühren fühlen oder seiner boshaften Mucken überdrüssig werden.

Erfrischender Waldgeruch und würziger Blumenduft schlugen mir entgegen. In langen Atemzügen sog ich den klaren Äther in mich ein. Wohlweislich die wenig frequentierten Wege suchend, gelangte ich nach etwa halbstündiger Wanderung in den oberen, romantischeren Teil des Parkes, wo Mutter Natur mehr gethan, als künstlerisches Schaffen und Geldaufwand zu thun im stande gewesen. Erschöpft und schon halb verzweifelt ließ ich mich dort auf eine Bank nieder und stöhnte laut.

Lachen Sie nicht, meine schönen Leserinnen! Warum soll ein alter Junggeselle nicht einmal laut stöhnen, selbst wenn er nicht vom Zahnweh geplagt wäre? Hat doch gerade er am meisten Ursache dazu. Keine weiche Hand streichelt ihm zärtlich die Wange, kein rosiger Mund spricht liebevolle Worte oder flüstert ihm tröstend zu, nur nicht ungeduldig zu werden und hübsch auszuharren! Zwar habe ich nie ein sehr liebebedürftiges Herz besessen; aber in diesem Momente fühlte ich wieder so recht allen Jammer und alle Hilflosigkeit meines Junggesellentums! Eine resolute Ehefrau würde auch vielleicht ausgerufen haben: »Genug jetzt des grausamen Spieles; geschwind in eine Droschke mit Dir und zum Zahnarzt! Der Missethäter muß ausgezogen werden!«

Ja, gewiß lobe und erkenne ich jeden gütigen Rat an, bin überhaupt windelweich geworden seit gestern, besonders gegen das schöne Geschlecht, opponiere nie mehr! Doch wenn man zwischen Fünfzig und Sechzig steht, außerdem mit Kauwerkzeugen nur mehr dürftig versorgt ist und diese wenigen sich des Gebrauchs halber noch einige Zeit erhalten möchte, da ist so eine Parforcekur wohl zu erwägen.

Also laut stöhnend, stützte ich den Kopf in die linke Hand und starrte in stummer Resignation auf den Kiesweg vor mir. Oder hatte die so natürliche physische Erschöpfung doch vielleicht für ein Weilchen mir die Augen geschlossen – ich weiß es nicht zu sagen. Besserung wenigstens verspürte ich nicht; denn plötzlich fuhr ich jäh empor. Ein dunkler Schatten war auf den Weg gefallen, und ich hatte das unbestimmte Gefühl, daß jemand vor mir stand.

Ja, vor mir standen wirklich zwei Personen. Aber um alles in der Welt, wer war das nur? – Mehrere Sekunden stierte ich mit fast blödem Ausdrucke in ein hageres braunes Antlitz, aus dem mir ein Paar merkwürdig sprechende Augen entgegenblitzten. Eine Frauengestalt mit einem Kinde war es; allein deren Erscheinung schien so durchaus originell, so frappierend, daß die angeborene deutsche Höflichkeit mir völlig abhanden kam und ich nicht einmal aufstand, den Hut zu lüften. Demungeachtet merkte ich, wie diese Gestalt sich etwas zu mir herabbeugte und halb teilnehmend fragend, halb bedauernd äußerte:

»Zahnschmerzen, Sir?«

Welch' guter Geist leitete mich nur in diesem Momente, daß ich, anstatt die Ruhestörerin schroff abzuweisen, ihr vielmehr offenherzig erwiderte:

»Ganz fürchterliche, Madame!«

»O, da wollen wir sofort Linderung oder Hilfe schaffen,« sagte die volle, merkwürdig tiefe Frauenstimme in fließendem, dabei jedoch eigenartig accentuiertem Englisch. Auch wurde das mit solcher Bestimmtheit gesprochen, als ob die Abhilfe so schnell und leicht zu bewerkstelligen wäre, wie man jemandem ein Stäubchen vom Rockkragen entfernt.

In sprachlosem Erstaunen, wahrscheinlich mit einem recht einfältigen Gesichte, blickte ich noch immer zu der seltsamen, wunderbaren Figur empor. Aber da saß sie auch schon dicht neben mir und suchte eifrig in den Falten ihres Kleides.

Trotz der mich noch immer peinigenden Schmerzen folgte ich in steigendem Interesse jeder ihrer behenden Bewegungen. Jetzt träufelte sie eine helle Flüssigkeit aus einem Fläschchen auf etwas Baumwolle und reichte mir diese zu.

»Hier, Sir! Nun schnell ans Werk! Bezeichnen Sie mir den Übelthäter und Sie werden wie neugeboren sich fühlen,« meinte sie scherzend, indes im Tone unverkennbarer Überlegenheit und hohen Selbstbewußtseins.

Einen Moment zögerte ich. Der scharfe, fast stechende Blick des dunklen Auges machte mich unsicher.

»Nun, glauben Sie vielleicht, ich wolle mir nur einen Spaß mit Ihnen erlauben?« fragte sie jetzt herb. »Haben Sie denn in New York noch nichts von Mary Powl gehört?«

»Mary Powl? – Nein!« stotterte ich zaghaft. Aber halb getröstet und rasch entschlossen, machte ich den Mund auf und ließ sie gewähren.

Mehrere Minuten vergingen unter tiefstem Schweigen. Dann sprang ich wie elektrisiert mit jugendlicher Lebhaftigkeit von der Bank empor.

»Donnerwetter, Blitz Element! Wo sind denn –?«

»Pst, pst, noch einige Sekunden Ruhe!« unterbrach sie mich besänftigend, dabei lächelnd, so daß ihre gesunden Zähne zwischen den Lippen sichtbar wurden. »Wo sind Ihre Zahnschmerzen – wollten Sie fragen – nicht wahr? Die sind abgethan und hoffentlich für eine lange Weile. So, jetzt gestatte ich Ihnen, auch wieder zu sprechen, mein Herr! Das heißt, wenn es Ihnen Vergnügen macht, sich einige Minuten mit mir zu unterhalten.«

In wirklich tief empfundenen Dankesgefühlen hatte ich ihre braune, unbehandschuhte, jedoch zarte Hand ergriffen und drückte sie kräftig.

»Sind Sie Zauberin, Fee oder ein leibhaftiges Menschenkind?« fragte ich mit vor Erregung zitternder Stimme. Ein wohliges Gefühl rieselte durch meine Adern. Wahrhaftig – sie hatte recht, wie neugeboren erschien ich mir.

»Mary Powl,« erwiderte sie einfach.

»Aber, mein Gott, wie kommen Sie dazu, einem Ihnen gänzlich Fremden solchen Liebesdienst zu erweisen? Erlauben Sie, Madame, daß ich mich Ihnen vorstelle, mein Name ist ...«

»O, lassen Sie Ihren Namen, den ich jedenfalls doch nicht aussprechen kann! Sie sind ein Deutscher und das genügt mir.«

Ein stolzes Emporwerfen des Kopfes begleitete ihre Worte.

Schnell hatte ich mich an ihre Seite wieder niedergelassen und war jetzt im stande, die sonderbare Erscheinung mit Ruhe und Muße zu betrachten.

Das Kind, anscheinend ein Knabe von elf bis zwölf Jahren, lehnte gleichgültig dreinschauend und mit einem melancholischen Ausdruck in dem fast kupferfarbigen mageren Gesichtchen neben der Bank, auf welcher wir saßen. Ihre auffallende, höchst bunte Tracht mußte jedenfalls eine Art Nationalkostüm repräsentieren. Denn um am helllichten Tage in New York in einem Maskenanzuge umherzuziehen, dem widersprach das ganze Wesen und Auftreten der sonderbaren Frau.

Ein kornblumenblauer faltiger Rock mit breiter roter Borde bildete das Untergewand, worüber ein langer, weißer, grobgewebter Mantel fiel, ähnlich dem Stoffe, den in Mähren die Hannaken über den Schultern tragen. In malerischen Falten, den schlanken doch kräftig gebauten Oberkörper nur zum Teil verhüllend, drapierte sich derselbe über ihrer Figur. Das glatte, pechschwarze, in der Mitte gescheitelte Haar war zur Hälfte von einem grünlich schillernden Seidentuche bedeckt. Um den Hals und über die Brust wanden sich mehrere Schnüre bohnengroßer, dicht aneinander gereihter Goldkörner, während an einem breiten, ziemlich primitiven Ledergurte ein kurzes, in roher Scheide ruhendes Dolchmesser herabfiel.

Ihre Gesichtszüge waren hager, hart und eckig, verrieten indes noch Spuren einstiger Reize. Ganz besonders aber waren es die Augen in stets wechselndem Ausdrucke, welche, bald wild flammend, bald herzgewinnend freundlich, mein Interesse an der merkwürdigen Frau noch besonders erhöhten.

In gleich phantastischer Weise war auch das Kostüm des Knaben, dessen Anzug viel Ähnlichkeit mit dem eines jungen Hochländers verriet. Nur bildeten Mokassins die Fußbekleidung, und eine Art Toque mit wehender Adlerfeder zierte das dunkle, nicht uninteressante Köpfchen.

Stillschweigend, aber keineswegs gekränkt, hatte sie meine scharfe Musterung über sich wie das Kind ergehen lassen, ja sie schien durch dieselbe beinahe belustigt. Denn sie brach das Schweigen plötzlich mit den heiteren Worten:

»Sie sind ein völlig Fremder hier in New York, wie ich sehe, Sir?«

»Ja, Madame! Nur um die Weltausstellung zu besichtigen, bin ich herübergekommen. Meine staunenswerte Unkenntnis über den Namen Mary Powl ließ Sie das natürlich sogleich vermuten. Jedenfalls hat dieser Name hier einen hohen und berühmten Klang. Daher segne ich den Zufall – oder vielmehr meine Zahnschmerzen, die mir Ihre interessante Bekanntschaft verschafften,« entgegnete ich mit feiner Galanterie, indem ich mich leicht verneigte.

Wieder warf sie so eigenartig stolz und herausfordernd den Kopf in den Nacken und flüsterte, träumerisch in die Leere starrend:

»O nein, weder berühmt noch hoch! Einst wohl war er das beides. Aber dieses einst ist begraben. Hier betrachtet man mich als Original – als letztes Überbleibsel eines ehemals mächtigen Irokesenbundes von draußen am herrlichen Genesee-Thale im westlichen Staate New York. Den Kultus, den ich noch immer mit dem Andenken früheren Glanzes, mit den teuren Erinnerungen des so bald dahingeschiedenen Gatten – eines stolzen Häuptlings – treibe, nennen die poesielosen Amerikaner überspannte Phantastereien. Allein man läßt mich gewähren. Ist doch Mary Powl, die Indianer-Squaw, völlig harmloser Natur. Die Leute in den Straßen und die Fremden schauen ihr wohl neugierig oder herausfordernd nach, ja, die Schulbuben lachen über sie und ihren Sohn – was thut das! Mary Powl hat anderen, tieferen Schmerz erfahren und geduldig hinnehmen müssen – den nie sterbenden Gram über das Herabsinken, das Niedergehen einer großen, herrlichen Nation!«

Aufs höchste interessiert, lauschte ich diesen mit monotoner Stimme vorgetragenen Worten und entgegnete nur wie schüchtern tröstend:

»Aber es giebt doch noch viele Indianer Ihres Stammes. Wenngleich, so viel ich hörte, die einstigen Irokesenbunde teilweise aufgelöst und deren Glieder in verschiedene Gegenden zerstreut worden sind, so leben doch gerade hier, im Staate New York, von denselben noch genug und führen als angesehene Männer unter den Amerikanern ein einträgliches, friedliches Dasein.«

Abwehrend und verächtlich schüttelte sie das Haupt.

»Seit sie ihren Tomahawk vergraben und den Glauben der Weißen angenommen, hat Omäneo, der große Geist, von ihnen sich abgewendet. Die Amerikaner haben den Fuß auf den Nacken der roten Männer gesetzt. Nicht Herren sind sie mehr in diesem Lande, nur erbärmliche Knechte!«

Tiefe Bitterkeit klang bei dieser Rede durch der Indianerin Stimme, während sie wie schützend den einen Arm um des Knaben Schulter legte und fort fuhr:

»Kinder eines Vaters – so lehrt das Christentum! Allein, sind wir das wirklich? Diese Frage drängt sich immer von neuem vor meine Seele. Ihr Deutschen befolget Gottes Gebot: ›Liebet euren Nächsten!‹ im schönsten, reinsten Sinne des Wortes, Ihr sehet in uns – den Farbigen – den Bruder. Nicht so der Amerikaner, dessen Brust der unbegründete, bittere Erbhaß erfüllt, ja der ungerecht und hart ist – oft bis zur Grausamkeit.«

»Und dennoch wählten Sie Ihren Wohnsitz mitten unter ihnen?« fragte ich, die Witwe des Irokesenhäuptlings betrachtend.

Sie deutete auf den Knaben.

»Es ist nur um seinetwillen! Iron Hand (die eiserne Hand) soll einst das reiche Wissen und die Gelehrsamkeit der weißen Männer mit dem Verstande und dem Mutterwitz seines Stammes verbinden. Meine Lebensaufgabe besteht einzig noch darin, seine Studien zu überwachen, für ihn zu arbeiten und das Vermögen, welches sein teurer, tapferer Vater ihm hinterlassen, zu verdoppeln – zu verdreifachen! Mein Sohn soll Medizin studieren,« setzte sie mit einem Blick voll Stolz und Zärtlichkeit hinzu.

Ich vermochte ein Lächeln nicht zu unterdrücken, und ihr scharfer Geist mußte meinen Ideengang erraten haben, denn sie sagte schnell:

»Nun ja! Ich selbst pfusche den Ärzten so ein klein wenig ins Handwerk. Mein großes Interesse an der Heilkunde hat mir schon manche trübe, einsame Stunde erhellt Ich schöpfe nur aus der Natur, kenne deren geheimnisvolle Kräfte, und meine Mittel helfen zuweilen besser, als die der hochgelehrten Herren dort drüben in der City.«

Freudig zustimmend nickte ich mit dem Kopfe. Einen Moment schaute sie mich scharf und prüfend an; dann rief sie lebhaft:

»Besuchen Sie mich, Sir! Ich sehe, Sie sind ein welterfahrener, edeldenkender Mann, der die Vorurteile des Kastengeistes von sich abgestreift hat, dessen Gesichtskreis unbegrenzt ist. Mit solchen Menschen verkehre ich gern; ihnen zeige ich mich auch von einer anderen Seite, als wie der übrigen Welt, die in Mary Powl nur ein halb verrücktes weibliches Original sieht. All right! Sie kommen?«

Mit wirklich anmutigen Bewegungen, jedoch ohne jede Spur von Koketterie, und mit herzgewinnendem Lächeln reichte sie mir die Hand entgegen.

»Gewiß, Madame! Mit dem allergrößten Vergnügen,« erwiderte ich, ihre Rechte herzlich drückend.

Diese Frau gefiel mir. Es lag so viel Urwüchsigkeit, so viel angeborene Vornehmheit in ihrem Wesen, nebenbei sprach aus jedem ihrer Worte Geist und tiefes Denken, so daß für mich in dem freundlichen Anerbieten ein eigener Reiz lag und ich mir interessante Stunden und Erinnerungen von diesem Besuche versprach. Mary Powl nannte mir ihre Adresse. Darauf schaute sie nach der im Sinken begriffenen Sonne und erhob sich.

»Und wie soll ich meiner gütigen Helferin aus jenem unerträglichen Zustande danken?« fragte ich, indem ich fast ehrfurchtsvoll den Hut vor ihr zog.

»Damit, daß Sie dieser Stunde ein Andenken bewahren, mein Herr!« war die ernste Antwort.

Sie nahm den Knaben wieder an die Hand, neigte leicht den Kopf und ging.

Tief gedankenvoll blickte ich der fremdartigen Erscheinung nach, bis der leuchtende weiße Mantel hinter dem Gebüsch verschwunden war. Der endlose Park breitete sich wieder totenstill vor mir aus. Die Spatzen – andere Vögel vermag dieser nicht aufzuweisen – hüpften zutraulich über den Weg, als ob, seitdem ich auf der einsamen Bank mich niedergelassen, nichts die feierliche Ruhe ringsum gestört hätte. Sollte ich die letzte halbe Stunde wirklich nur geträumt haben, oder war die reizvolle Scene einzig nur meinem erregten Geiste entsprungen? Auch die nüchterne Phantasie eines alten Junggesellen erlaubt sich zuweilen eine Verirrung. Plötzlich jedoch lachte ich herzlich auf. Die Zahnschmerzen – fort waren sie zweifellos; o Glück! Dieses wonnige Bewußtsein war kein Traum!

Ein eigentümliches, höchst prosaisches Gefühl in der Magengegend verscheuchte indes bald alle poesiereichen Gedanken. Jetzt verursachte mir die Aussicht auf ein gutes Diner ein angenehmes Behagen. Wer auch wollte mir das verdenken! War doch seit meiner Abreise aus Philadelphia kein Bissen über meine Lippen gekommen. – Eine halbe Stunde später saß ich bei Delmonico, und trotz aller Ehrfurcht und Hochachtung vor der weisen Einrichtung des Temperenzgesetzes stand eine Flasche »veuve Cliqot« vor mir im Eiskühler. Gern nahm ich am heutigen Tage solche Sünde auf mein Gewissen. Das erste Glas galt ihr. Es lebe Mary Powl, die Indianer-Squaw! –

Die Vormittagsstunden des nächsten Tages verbrachte ich mit planlosem Umherstreifen in der großen Hauptstadt der Union. Was mir darin am charakteristischsten dünkte, das war jenes Hinauf- und Hinunterhetzen – anders läßt es sich kaum bezeichnen – am Broadway. Weder in Paris noch in London ist mir derartiges Jagen je wieder vorgekommen. Millionen gewonnen – Millionen verloren – alles geschieht dort drüben in fast ängstlicher Hast! Wer das ganze bunte Bild vom objektiven Standpunkte aus betrachtet, dem erscheint es wirklich ergötzlich.

Endlich zeigte die Uhr die vierte Nachmittagsstunde – die Zeit, welche Mary Powl mir zum Besuche bestimmt hatte.

In einer ziemlich entlegenen Gegend – weit über die 8. Avenue hinaus – lag ihre Wohnung, und ich muß offen gestehen, daß eine gewisse Unruhe oder auch Neugierde mir die Pulse rascher schlagen ließ. Denn obwohl ich schon manches im Leben gesehen und kennen gelernt hatte – in die inneren Verhältnisse einer Indianer-Häuslichkeit war mein Blick noch nicht gedrungen. Einen Wigwam erwartete ich im Mittelpunkt der City of New York selbstverständlich nicht; allein ich konnte – mit Rücksicht auf Mary Powls Äußeres und deren romantisches Vorleben – auf außergewöhnliche interessante Entdeckungen schließen. Da sie ja von dem ererbten Vermögen ihres tapferen Gemahls gesprochen, so durfte ich annehmen, daß sie pekuniär in guten Verhältnissen lebe.

Die Hitze war aufs neue drückend, so daß ich mir ein Cab nahm, um rascher mein Ziel zu erreichen. Das Haus, wohin dasselbe mich führte, kam mir auf den ersten Blick allerdings nicht sehr elegant vor. Eines jener Tenement houses – oder wie wir es bezeichnen würden: eine Mietkaserne war es, wie dergleichen in New York Leute bewohnen, welche nicht in der Lage sind, für sich ein Haus allein zu mieten, es aber vorziehen, eigene Menage zu führen, anstatt sich bei anderen in board (Kost) zu geben. Immerhin deutete das Innere des Gebäudes auf große Sauberkeit und Accuratesse. Die Stiegen waren mit Wachstuch bekleidet und die Scheiben der hohen Flurfenster blitzten förmlich in der Sonne. Rasch entschlossen klopfte ich an die mir genau bezeichnete Thür, weil die Wohnung keinen verschlossenen Vorsaal nebst Klingelzug aufwies.

Im selben Augenblicke steckte auch schon ein wollhaariges Negermädchen den Kopf heraus und fragte mürrisch nach meinem Begehr. Ihr meine Karte überreichend, erwiderte ich, daß Mrs. Powl mich erwarte.

Schon nach wenigen Sekunden kehrte die Dienerin zurück und öffnete mir schweigend die Pforten des geheimnisvollen Tuskulums. Moderne Möbel – moderne Teppiche und Fenstervorhänge – boten sich meinen überraschten Blicken dar.

Den ersten Augenblick überkam es mich gleich einem Gefühl der Enttäuschung. Nichts, auch nicht der kleinste Gegenstand entsprach hier dem Bilde, das ich mir von dem home Mary Powls gemacht hatte. Fast ärgerlich ließ ich fast alles in dem Gemache Revue passieren. Also nur mit leeren Worten, und vielleicht mit den paar bunten Lappen, die ihre Toilette ausmachten, blieb sie dem Andenken an die einstige Berühmtheit ihres Stammes treu? Von einem Kultus hatte sie gesprochen, den sie mit den Erinnerungen an die ihr teure Vergangenheit trieb – und das geschah hier in dieser, der Erscheinung der Indianerin so gänzlich widersprechenden Umgebung? Alles Anziehende, jeder Reiz dieses Besuches ging für mich völlig verloren.

Sicher mußte ich demnach auch darauf gefaßt sein, sie selbst in moderner Toilette, mit einer unmöglichen Haarfrisur, das dunkle Bronzegesicht von einem Lockengekräusel umrahmt, erscheinen zu sehen! Lächerlich! Wie konnte ich doch nur so unüberlegt und einfältig sein, mich hier anlocken zu lassen? Möglicherweise lief die ganze Geschichte auf einen echt amerikanischen Humbug, eine fein angelegte Schwindelei hinaus! Die schlaue Person witterte sicher in mir einen grünen Deutschen. Wie oft hört und liest man doch von solch' gründlich gerupften Vögeln – von Mord – von unheimlichem Verschwinden in New York! Unwillkürlich drückte ich die Hand auf die auf meiner Brust ruhende Barschaft und schaute mich halb forschend, halb ängstlich um.

Das Negermädchen hatte das Zimmer wieder verlassen. Da erhob sich plötzlich ein schwerer, dunkler Thürvorhang und – Mary Powl stand genau im nämlichen Anzuge, wie sie mir im Parke begegnet, nur ohne den weißen Mantel, mir gegenüber. Ernst und ruhige Würde, dabei wieder jene kühl herablassende Vornehmheit, sprachen aus der ganzen Erscheinung. Ein Seufzer der Erleichterung entschlüpfte meiner Brust, und fast beglückt schritt ich ihr entgegen.

»Ich freue mich, daß Sie Wort gehalten haben, Sir!« sagte sie, mir näher tretend, mit dem monotonen, etwas schwermütigem Tonfall in der Stimme, indem sie mir, gleich einem alten Bekannten, die Hand reichte. »Ich habe mich viel mit Ihnen beschäftigt seit gestern und darüber nachgedacht, daß ihr Deutschen doch ein beneidenswert glückliches Volk seid!«

»Woraus schließen Sie das, Madame?« fragte ich lächelnd, voll Interesse das dunkle Gesicht anschauend, welches mir heute weniger eckig und in dem Momente, wo die brennenden Augen in Begeisterung flammten, eher anziehend erschien.

»O, ich lese ja Zeitungen!« rief sie, den Kopf selbstbewußt emporwerfend. »Sie sind Preuße? Ich kenne sie alle, eure großen tapferen Männer,« – fuhr sie lebhaft fort – »den greisen Kaiser William, Bismarck, Moltke! Das heißt, ich kenne ihre Namen auf dem Papier. In Wirklichkeit wird mein Auge sie wohl niemals schauen.«

»Das zu erreichen, liegt ja nur an Ihnen,« erwiderte ich verbindlich, den mit vornehmer Handbewegung mir angebotenen Platz einnehmend. Sie hatte sich gegenüber gesetzt und die schlanken braunen Finger im Schoß gefaltet. »Entschließen Sie sich zu einer Reise nach Berlin, Madame! Das würde Ihnen eine reizvolle Zerstreuung und Abwechslung gewähren.«

»Damit ich dann – nach meiner Rückkehr – mich um so unglücklicher in Verhältnissen fühlen würde, in denen zu leben ich doch angewiesen bin. O nein, Sir! So lange mein Sohn sein Ziel noch nicht erreicht hat, wanke ich nicht von diesem Platze.«

Ich mußte ihr beipflichten.

Darauf fragte sie mich nach meiner Lebensstellung und meinem Berufe, und als ich ihr gesagt, ich sei Schriftsteller, sah sie mich fast scheu und ehrfurchtsvoll von der Seite an und meinte befangen, sie hätte sich einen Mann der Feder ganz anders vorgestellt. Da mußte ich nun viel erzählen über deutsche Zustände und Sitten; über Litteratur und Geschichte sprachen wir, und ich gestehe offen, daß ihr, wenn auch nicht gerade reiches Wissen, so doch ihr richtiges Urteil, ihre Kenntnis von Dingen, die man ihr kaum zugetraut, mich wahrhaft überraschten. Freilich wohl zwangen mir die oft kindlich naiven Fragen hin und wieder auch ein Lächeln ab. Aber ich erinnerte mich dann schnell, mit wem ich die Unterredung führte. Jedenfalls stand dieselbe, was Originalität und Unterhaltung anlangte, keiner von jenen mit irgend einer deutschen Dame eingegangenen nach.

Auch Mary Powl erzählte mir von ihrer Kindheit und Jugend, von dem kurzen Glück ihrer Ehe, – daß ihr Gatte bei einem räuberischen Überfall eines feindlichen Stammes grausam erschlagen worden, und daß sie darauf mit ihren Landsleuten, mit der Menschheit, ja mit sich selbst zerfallen, der Heimat den Rücken gekehrt und nach New York übergesiedelt sei.

»Und hier führe ich nun seit fast zehn Jahren ein stilles, zurückgezogenes, mir zusagendes Dasein,« schloß sie den schlichten Bericht. »Mein home ist meine Welt, in der ich mich glücklich fühle.«

Wie das so natürlich war, flog mein Auge über die moderne Einrichtung des Gemaches, während ich die schüchterne Frage aufwarf, weshalb sie alles, was an das einstige romantische, abenteuerliche Leben der Vergangenheit gemahnte, daraus verbannt habe?

Sie lachte. Es war das erste und letzte Mal, daß ich diese Frau wirklich lachen hörte.

»So glauben Sie im Ernst, daß das durch Abhärtung und Entbehrungen aller Art gestählte Weib an die verweichlichte Lebensweise der Weißen sich gewöhnt habe, daß solcher Ballast« – sie deutete auf ein von schwellenden Kissen strotzendes Ruhebett – »ihr unentbehrlich geworden ist? Eine von der Kultur beleckte Indianer-Squaw – wäre das nicht eigentlich spaßhaft? Nein, mein Herr! Mit Leib und Seele, mit jeder Fiber meines Herzens hänge ich noch an alten Erinnerungen. Allein ich verschließe mein Teuerstes vor der Welt. Kein profaner Blick soll je mein Heiligtum erreichen! Dieses Zimmer hier bedarf ich zum Empfange von Leuten, mit denen ich ab und zu geschäftlich verkehre und in Verbindung komme, für die ich auch nur Mrs. Mary Powl bin, welchen Namen ich mir seit dem Fortgange aus meinem Heimatsthal gegeben habe. Doch hier« – in graziös behenden Bewegungen sprang sie empor und schlug den dunkeln Vorhang, durch den sie gekommen, zurück – »hier, Sir, ist mein wahres home! Ihnen zeige ich es; Sie sollen sehen, daß ich das warme Interesse, das Vertrauen, welches Sie mir bewiesen, zu schätzen weiß!«

Zögernden Schrittes war ich gefolgt und blickte nun in stummer Überraschung durch die offene Thür. Mit heiterem Gesichte weidete sie sich an meinem Staunen.

»Nun, ich bitte, treten Sie ein, Sir! In diesen Räumen begrüßt Sie die Witwe des Irokesenhäuptlings Onundega.«

Wir schritten beide über die Schwelle.

Jetzt wußte ich, daß jedes Wort, was Mary Powl von ihrer Vergangenheit mir erzählt, lautere Wahrheit war, daß jeder noch so kleine Verdacht wider sie, der eben noch in meiner Seele Platz gefunden, eine bittere Ungerechtigkeit, ja, eine Kränkung für sie gewesen.

Der Raum, in welchem wir jetzt standen, glich in der That der Vorstellung, die ich in meinen Knabenjahren von dem Wigwam eines Indianerhäuptlings mir vielleicht gemacht. Eine von grobem, eigenartig gewebten, blaubemalten Stoffe, in der Mitte der Decke angebrachte und an den Wänden niederhängende Draperie war geschickt und kunstgerecht zu einer Art Zelt verarbeitet, so daß die Seite, wo die Fenster sich befanden, ebenfalls verhangen blieb, weshalb sich nur ein mattes, angenehmes Dämmerlicht über den nicht großen Mittelraum verbreitete. Jeder Gegenstand dieses wunderbaren Gemaches trat klar und scharf ins Auge, und jeder Blick sagte mir, daß hier Mary Powl in ihrem Elemente, in ihrem eigentlichen home sei.

Ihr kurz befehlender Wink nach der einen Ecke bedeutete den dort am Boden kauernden, anscheinend lesenden Knaben aufzustehen und mich zu begrüßen. Mit dem Buche in der Hand kam er leise herangeschlichen und schaute schüchtern zu mir auf.

Liebkosend strich ich ihm über das schlichte, lange tiefschwarze Haar und fragte, was er denn so fleißig studiere? Mit stolzem Augenaufschlag erwiderte er:

»Latin, Sir!«

Dann hüpfte er wieder behende in seinen Winkel, schlug aufs neue das Lexikon auseinander und nahm anscheinend keine Notiz mehr von uns.

Währenddessen stand, den einen Arm an die schlanke, doch kräftige Hüfte gestemmt, die Indianerin neben mir und verfolgte mit einem Ausdruck von Befriedigung im Gesichte meine sich immer steigernde Verwunderung.

An der einen Längenwand des Zeltes, dicht über dem Haupte des Knaben, hingen die einstigen Waffen, Schild, Speer und Bogen, wie der phantastische Kopfschmuck mit der wehenden Adlerfeder (dem Abzeichen des Häuptlings) ihres heimgegangenen Gemahls. Verschiedene indianische Gerätschaften oder Handwerkszeuge, deren Zweck und Nutzen mir im ersten Augenblicke nicht recht klar war, bildeten eine originelle, malerische Verzierung um die mit sichtlicher Pietät gehüteten und bewahrten Überbleibsel einer kurzen, jedenfalls ruhmvollen Kriegerlaufbahn. Und weiter – mein Auge irrte neugierig über hundert mir völlig unbekannte Dinge hinweg. Hier lagen Jagd- und Kriegstrophäen des stolzen Onundega, ausgestopfte Tiere und Vögel, Köcher und Pfeile, wie auch seltsamer Federschmuck, dort Sattel- und Zaumzeug seines Lieblings- oder Streitrosses neben den primitiven Toilettenartikeln eines besiegten Feindes. Aber – was war das? Mein Blick war plötzlich auf etwa sieben bis acht ganz unheimliche Gegenstände gefallen, die in Manneshöhe, an einem starken Hanfseile aufgereiht, gleich gefangenen Krammetsvögeln im Dohnenstrich, herabhingen.

Ein leises Gruseln lief mir über den Rücken und ich fühlte die einstigen Haare meines jetzt kahlen Schädels sich sträuben. Skalpe – wahrhaftige, Original-Skalpe, je nach der Nationalität derselben mit langen oder kurzen Haaren bedeckt und an ihnen zusammengebunden, baumelten da als Siegestrophäen über meinem Haupte und mußten einem deutschen Herzen wohl begreifliches Unbehagen einflößen.

Unwillkürlich wandte ich das Gesicht rasch nach einer anderen. Mary Powl gewahrte es und führte mich mit feinem Takt schnell zur entgegengesetzten Seite des Gemachs, wo eine in der That auserlesene Waffen- und Gewehrsammlung mein Interesse bald völlig in Anspruch nahm.

Es gab in Mary Powls home überhaupt so viel Merkwürdiges zu schauen, daß wohl Tage dazu gehörten, alle die sehenswerten Dinge mit Ruhe und Verständnis betrachten zu können. Etwas indes nahm meine Aufmerksamkeit besonders gefangen. Dieses war ein höchst eigentümliches, primitives Lager. Auf einer Art Erhöhung nämlich, von Matten und Bärenfellen zusammengestellt, halb verdeckt von einem blauweißen Vorhange (blau ist die Lieblingsfarbe der Indianer), befand sich die Schlafstätte dieser sonderbaren Frau, und ich dachte dabei unwillkürlich ihrer Worte: daß das an Abhärtung und Entbehrungen gewöhnte Weib sich mit der verweichlichten Lebensweise der Weißen nicht befreunden könne.

Also hier schlummerte Mary Powl, hier träumte sie vom einstigen Glück und Ruhm – von der hoffnungsvollen Zukunft ihres Knaben! Hier, umgeben von Waffen, die noch das Blut der Feinde rötete, umgeben von menschlichen Skalpen, – hier fand sie Ruhe nach des Tages Lasten! Ländlich – sittlich! Ich hätte mein bequemes Bett im lieben Deutschland mit dieser Lagerstätte sicher nicht vertauschen mögen.

Viel gesprochen oder gar bewundert und gelobt habe ich nicht, während wir miteinander einen Rundgang durch den hochinteressanten Raum machten. Das dünkte mir in dieser Stunde abgeschmackt und einer Mary Powl unwert. War doch ihr Gesichtsausdruck tiefernst, als riefen all' die Gegenstände tausend schmerzliche Erinnerungen wach. Jedes leere Wort erschien mir daher gleich einer Verletzung ihrer innersten Gefühle.

Doch plötzlich lächelte sie wieder, indem sie mich aufforderte, sie in das viel kleinere Nebengemach zu begleiten. Dieses war, ähnlich dem ersteren, geschmückt und aufgeputzt und diente augenscheinlich ihrem Sohne als Schlafzimmer, ihr selbst jedoch als eine Art Laboratorium. Wunderliche Gefäße, Retorten und Phiolen standen dort auf rohgezimmerten Bänken und Borden umher. Auf dem kleinen Herde dampfte und brodelte es auch, und große Bündel Kräuter und Pflanzen hingen, sorgsam zusammengebunden, von der Decke herab.

Was aber in diesem Zimmer mir noch bemerkenswert vorkam, das war eine ganz prachtvolle amerikanische Safe (eiserner Geldschrank) neuester Konstruktion, an welche Mary Powl nun herantrat. Sie entnahm daraus mehrere kleinere Fläschchen, welche sie mir heiter entgegenreichte mit dem Bemerken, daß das eine vorzüglich gegen Migräne, jenes unfehlbar zur schleunigen Beförderung des Haarwuchses diene.

Mechanisch glitt meine Hand über meine recht bedenkliche Glatze. Allein ich dankte ihr herzlich für diesen feinen Wink, indem ich erwiderte, daß ich zugleich mit dem Schmucke des Hauptes auch meine Eitelkeit abgelegt hätte, ja, daß ich mir lächerlich vorkommen würde, wollte ich plötzlich wieder mit wallenden Locken im Kreise der heimatlichen Freunde erscheinen; im übrigen glaube ich an die Unfehlbarkeit ihrer Mixturen. Zögernd indes setzte ich hinzu, daß, wenn sie mir einige Tropfen jenes wunderthätigen Mittels gegen die Zahnschmerzen geben wolle, so würde ich das mit größtem Danke annehmen. Gutmütig nickte sie und holte geschäftig das Wundermittel, welches mich von peinigender Qual befreit, mir zugleich aber diese interessante Bekanntschaft vermittelt hatte, aus der Safe. Wie eine kostbare Reliquie bewahrte ich dieses Geschenk auf meinem Busen.

»Hier, Sir!« sagte sie darauf, die Thür des Schrankes weit öffnend und mich näher heranwinkend. »Schauen Sie einmal da hinein und sagen Sie mir, ob Mary Powl nicht gut und haushälterisch für ihren Sohn gewirtschaftet hat? Das eine habe ich von den Amerikanern profitiert und gelernt – das Rechnen und Spekulieren.«

Überrascht glitten meine Blicke über den Inhalt des Geldschrankes, und in diesem Momente schämte ich mich wirklich im stillen meiner unedlen, garstigen Gedanken, die ich, bevor die Indianerin eintrat, über dieselbe in dem tiefsten Winkel meines sonst vertrauenden Herzens gehegt hatte.

Dort lagen Wertpapiere, Staats- und Eisenbahn-Obligationen neben aufgetürmten Rollen Zwanzig-Dollar-Goldstücken. Auch Häufchen Goldkörner und unregelmäßige Klümpchen dieses edeln Rohmetalls gewahrte ich und wurde immer mehr durchdrungen von der Überzeugung, Mary Powl sei nicht allein eine interessante, anziehende sondern auch sehr vermögende Frau, welche – nach europäischen Begriffen – sich ihr Leben hätte ganz anders gestalten können.

»Ich staune über Sie, Madame!« konnte ich nicht unterlassen, in vollster Bewunderung auszurufen. »Gute Mutter, tüchtige Geschäftsfrau und ein mutiges, unerschrockenes, stets hilfsbereites Weib, – das vereint sich selten in einer Person und verdient die höchste Anerkennung, welche jeder Ihnen zollen muß!«

Wieder huschte jener Ausdruck von innerer Befriedigung über ihr dunkles Gesicht und sie entgegnete dann fast traurig:

»Hier ernte ich nur Undank, wie unüberwindliches Mißtrauen, welches sich an meine Fersen zu heften scheint, und es mir gar oft erschwert, die menschenfeindlichen Gefühle und Regungen des Busens zu bekämpfen. Doch lassen wir das!« setzte sie abwehrend hinzu. »Wir beide ändern das nicht. – Jetzt kommen Sie wieder hinüber in mein Parlour und nehmen einen kleinen Imbiß, Sir!«

Mir rasch voranschreitend, öffnete sie die Thür des vordersten Gemaches. Noch einen letzten Blick sandte ich über Mary Powls home, dann folgte ich ihr hinaus.

Das uns entgegenstrahlende grelle Sonnenlicht, verbunden mit dem Anblick der modischen Zimmereinrichtung wirkte auf mich beinahe, als wäre ich von einer Wanderung durch ein Märchenland in die Wirklichkeit zurückgekehrt. Noch halb wie traumbefangen starrte ich auf das Negermädchen, welches sich eben damit beschäftigte, Wein, Früchte und feines Backwerk auf einem Tische zu ordnen und für uns bereit zu stellen.

Aufs neue betrachtete ich gedankenvoll und kopfschüttelnd das elegante Porzellan-Service und Glasgeschirr, welches im entschiedensten Widerspruche stand zu allem, was ich soeben geschaut hatte.

»Wir führen einen echt amerikanischen Haushalt,« sagte Mary Powl, meinen Ideengang erratend, mit feinem Lächeln, indem sie mir eine Platte köstlicher Bananen darbot. Ich nahm eine dieser aromatischen Früchte.

»Meine kleine Sally« – sie deutete nach der Thür, durch welche die Negerin uns verlassen – »ist die Lehrmeisterin, ich bin die Schülerin in der höhern Kochkunst; und so geht das wundervoll von statten. Was mir anfänglich schwer und ungewöhnt ist, das überwinde ich schnell bei dem Gedanken, daß ich Iron Hand ein Opfer bringe. Die Verhältnisse, in denen sein späteres Leben dahinfließen wird, bedingen sorgfältige Erziehung. Einst wird er seiner Mutter das danken. O, Sie sollten nur sehen, – er speist mit Messer und Gabel wie ein junger Gentleman!«

Ungefähr noch eine halbe Stunde verweilte ich in anregendem Gespräch mit der originellen Frau; dann erhob ich mich. Zwei volle Stunden hatte ich bereits in ihrer Gesellschaft zugebracht und ich mußte nun gestehen, daß der Abschied von Mary Powl mir nicht leicht wurde. Der weite Ozean mußte uns ja gar bald für immer trennen. Ob ich – in ihrer Sprache zu reden – das große Wasser noch einmal durchschifft hätte, um sie wieder zu sehen, wenn ich zwanzig Jahre weniger zählte? Wer weiß es! Jedenfalls wußte ich heute genau, daß dies ein Abschied fürs Leben war.

Die Worte, die ich dabei gesprochen, mögen wahrscheinlich recht nichtssagend und abgeschmackt geklungen haben, indem es nämlich eine Eigentümlichkeit von mir ist, daß ich, je tiefer innerlich eine Sache mich berührt, äußerlich desto linkischer und trockener werde. Vom Tragischen zum Lächerlichen ist bekanntlich nur ein Schritt! Das sollte jeder bedenken, der einmal in reiferen Jahren von einer kleinen Gefühlsanwandlung übermannt wird – umsomehr, da sie selbst, die Witwe des Irokesenhäuptlings, die freie Tochter der Natur, die Frau ohne höhere Erziehung und Bildung, mir gegenüber keinen Finger breit aus den Formen edler, züchtiger Weiblichkeit herausgetreten war. Taktlos und indiskret wäre es daher gewesen, hätte ich mit Blicken oder banalen Redensarten verraten wollen, daß sie mich aufs Lebhafteste interessiere, daß ich wirkliches Gefallen an ihr fand.

Einen Moment hielt sie meine Hand fest in der ihren und schaute mich mit den brennenden Augen an. Der Knabe war gleichfalls herangetreten und lehnte sich, zärtlich angeschmiegt, an die Mutter.

»Ich danke Ihnen für reizvolle, genußreiche Stunden, Sir!« sagte sie in ihrer schlichten, ruhigen Weise. »Nur selten wird mir das Glück zu teil, mich frei von der Seele herunter aussprechen zu können. Liegt doch der Trieb, ja das Bedürfnis hierzu in jeder Menschenbrust. Lange werde ich über alles, was Sie mir erzählt, nachdenken und weise Lehren daraus schöpfen für Iron Hand.«

Einige Sekunden legte ich meine Rechte auf des Knaben Haupt und fragte:

»Du willst ein kluger Mann – ein berühmter Arzt werden und Deiner Mutter treue Liebe und Fürsorge für Dich einst hundertfach vergelten – nicht wahr, mein Junge? Sie verdient es im reichsten Maße!«

Ein strahlendes Aufblitzen der dunklen Kinderaugen gab mir Antwort.

So schieden wir. – – –

Jahre sind seitdem dahingezogen. Aber noch oft und gern verweilen meine Gedanken drüben in der großen Empire City Amerikas bei Mary Powl.

Die kleine Flasche, welche sie mir damals mitgegeben, hat noch manchmal ihre wunderthätige Kraft bewährt, sowohl an mir selbst, als auch an anderen. Stets hat es mir Freude gemacht, im edlen Sinne der gütigen Spenderin zu wirken und zu helfen. Jetzt ist sie längst geleert.

Wenn indes einer meiner verehrten Leser oder Leserinnen sich zu einer interessanten Reise über das Meer und nach New York entschlösse und drüben von Zahnschmerzen geplagt werden sollte, so rate ich dringend, nicht zu versäumen, sich auf eine einsame Bank im entlegendsten Teile des Zentralparks niederzulassen. Vielleicht – ich sage nur vielleicht – begegnet ihm dort meine Freundin Mary Powl, die Indianer-Squaw. Ihre Adresse darf ich diskretionshalber nicht verraten.

Ob sie noch lebt? Ob Iron Hand ihren stolzen, gerechten Hoffnungen entsprochen haben wird? –

Ich habe von beiden niemals wieder etwas vernommen.

Amerikanische Existenzen.

Die Mittagsglut eines Julitages brütete über dem Madison-Square von New York, dessen weite Räumlichkeit mir heute beinahe noch endloser erschien als sonst. Fast senkrecht schleuderte die Sonne ihre glühenden Strahlenbündel auf den weich gewordenen Asphaltboden nieder, so daß dieses von stattlichen Häusern eingefaßte große Flächenquadrat völlig schattenlos vor meinen Blicken lag.

Ich zog den wahrhaft monströsen Sonnenschutzschirm noch tiefer über mein gefährdetes Hirn, that mehrere schwere Stoßseufzer und strebte, einen heroischen Anlauf nehmend, vorwärts über den Platz – meinem Ziele zu.

Wer jemals einen amerikanischen Sommertag in New York erlebt hat und der Gefahr ausgesetzt gewesen ist, vom Sonnenstich betroffen zu werden, der kennt solche Situation genau. Allein sich sträuben oder gar klagen half hier nichts, indem ich vorwärts mußte, das heißt, mich von der Eisenbahnstation aus auf der Wohnungssuche befand und noch vor Abend mit Sack und Pack in einem guten und bequemen Boardinghouse untergebracht zu werden wünschte.

O New York! Du Eldorado aller nach Fortunens Schürzenzipfel haschenden Deutschen! Wie erfreute mich trotz Hitze und Staub der Anblick der langentbehrten Metropole der Union, wie hatte ich in Tagen der Trübsal und des Kampfes ums Dasein mit sehnsüchtigem Verlangen deiner gedacht und das grausame Schicksal verwünscht, welches mich Jahr um Jahr an den fernen Westen gebunden. Endlich jedoch schien die launische Göttin ein Einsehen und Erbarmen mit mir gehabt zu haben. Ein Glücksfall ließ meine wirklichen oder vielleicht auch nur eingebildeten Talente und Geistesgaben doch schließlich zur vollen Geltung kommen. Durch die vorsorglich zurückgelegten Ersparnisse saurer Arbeit und eine, wie durch höhere Inspiration plötzlich in mir erwachte, fast amerikanische Unternehmungslust und Dreistigkeit bemühte ich mich um die Partnership einer der renommiertesten Advokaturen New Yorks und – erhielt sie. Jetzt war ich ein gemachter Mann. Denn ich kannte die Verhältnisse Amerikas zu gut, um nicht überzeugt zu sein, daß ich den mühsam errungenen Platz auch würde behaupten können. Wie ganz anders waren daher die Empfindungen meiner Brust gegen diejenigen vor fünf Jahren, wo ich mit wenigen hundert Mark in der Tasche vom Steamer des Bremer Lloyd ans Land stieg. Mit stolzem Selbstgefühl betrat ich nun zum zweiten Male den Boden der Empire-City. Die alten Freunde aus jener Sturm- und Drangperiode meines Debuts im Heim des allmächtigen Dollars hatte ich indes darob nicht vergessen und erinnerte mich freudig einer alten Amerikanerin Miß Kathleen Emmerson, in deren gastlichem Hause ich bereits damals – dank ihrer Rücksicht auf meine knappe Barschaft – unter angenehmen Bedingungen einige Wochen verbringen durfte. Mit Miß Kathe, wie das liebenswürdige und menschenfreundliche alte Fräulein von all ihren Bekannten zu jener Zeit kurzweg benannt wurde, hatte ich später auch ab und zu in Korrespondenz gestanden und wußte demnach, daß ihre pekuniäre Lage sich gleichfalls bedeutend verbessert und sie anstatt des kleinen Kosthauses in St. Marks-Place jetzt ein elegantes Boardinghouse in der 24. Straße zwischen der 5. und 6. Avenue inne hatte.

Dorthin also lenkte ich meine Schritte. Das Äußere desselben entsprach vollkommen meinen Erwartungen. Wenigstens zählte es zu den sogenannten guten Brownstone-Houses der City, welche die Straßen der oberen Stadtteile New Yorks zieren und alle ohne Ausnahme wie nach einer Schablone gearbeitet zu sein scheinen.

Beim Eintreten gewahrte ich, daß an der mit massivem Gußeisengeländer versehenen steinernen Vortreppe ein Wagen der New York-Expreß-Compagnie hielt und verschiedene Gepäckstücke, darunter auch ein wahrer Monstre-Koffer, abgeladen und ins Haus hineingetragen wurden. »Aha!« dachte ich mit Befriedigung. »Auch die heiße Jahreszeit thut allem Anschein nach dem Geschäfte meiner alten Freundin keinen Abbruch. Gratuliere, Miß Kathe! Solch enorme Bagage-Zahl deutet auf noble und ständige Gäste.«

Lebhaft sprang ich nun die sechs bis acht Stufen hinan und trat durch die bereits offenstehende Eingangsthür. Mehrere Personen, dabei natürlich auch Miß Emmerson, befanden sich auf dem etwas düsteren Vorflur, als auch schon der freudige Ruf – in eigentümlich accentuiert gesprochenen deutschen Worten mir entgegenklang:

»Kann ich denn meinen Augen trauen? Sie sind es wirklich, Herr Baron von ...?«

»Pst, pst! Lassen wir doch die einstigen Titel und Würden beiseite!« entgegnete ich lachend und ebenfalls auf deutsch: »Mr. Richard Berken, Teilhaber der Firma Haberton & Comp. am Broadway, steht heute vor Ihnen, meine Liebe, und möchte höflich bitten, ihm ein bescheidenes Stübchen in Ihrem gastlichem Hause anzuweisen, Miß Kathe!« Damit schüttelten wir uns beide wahrhaft herzlich die Hände.

Neugierig und mit höflicher Verbeugung schielte ich dabei nach der aus drei Damen und zwei Herren bestehenden Gesellschaft, welche, in Anbetracht ihres mit der Hauswirtin unterbrochenen Geschäftes, dem Anschein nach ziemlich ungeduldig drein schaute. Daher sagte ich zuvorkommend und entschuldigend, daß ich nicht länger stören wolle.

Diese verbindliche Äußerung entschlüpfte mir einzig nur wegen des reizenden Gesichtchens der jüngsten dieser drei eleganten Ladys, deren blaue Kinderaugen in ernstlich forschendem Ausdruck auf mir hafteten. Dann folgte ich mit kurzem: »Auf Wiedersehen, Miß Emmerson!« dem durch die Hausfrau avertierten Neger die Treppe zur oberen Etage hinan. –

Um sieben Uhr abends war das gemeinschaftliche Diner, welches alle Logiergäste des Hauses im Speisesaale versammelte. Ich selbst, bereits vollständig häuslich eingerichtet, war einer der ersten Ankömmlinge gewesen und hatte mir die recht hübsch arrangierte Tafel mit Muße betrachten, wie auch jeden neu Eintretenden eingehend mustern können.

Halt! Jetzt stutzte ich. Da kam ja meine fashionable Gesellschaft von heute vormittag, deren voluminöse Koffer schon meine ganze Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, soeben aus der Halle. Voran eine große, brünette Dame mittleren Alters mit auffallend harten, fast fatalen Gesichtszügen, deren elegante Seidenrobe mir zu der starkknochigen Gestalt wenig im Einklang zu stehen schien. Neben ihr schritt eine sehr schlanke, beinahe ätherische, junge Frau, – nach meinen unerfahrenen Toilettebegriffen ganz reizend und distinguiert in einen hellen, undefinierbaren Sommerstoff gekleidet, dessen roter Seidengürtel und Bandgarnitur den zarten Teint des schmalen Ovals gar vorteilhaft hob. Trotz der Verschiedenheit der Gesichter zeigte ein merkwürdig ähnlicher, halb bitterer, halb verdrossener Zug um den Mund, daß das Mutter und Tochter sein mußten. Ihnen folgten ein mittelgroßer, hagerer Mann mit militärisch verschnittenem Haar und braunem, intelligentem Gesichte und meine allerliebste Unbekannte aus dem Vorsaal – mit den mir bereits bekannten, mich so sehr anheimelnden blauen Augen.

Welch poetische Erscheinung! dachte ich lebhaft angeregt. Dieses hellblonde, gewellte Haar, dieses mädchenhaft zurückhaltende, dabei doch so edle Auftreten, dieser fast schüchterne Blick – dies alles entrückte mich für Sekunden der Gegenwart, ja dem Lande, in dem ich mich befand, und ließ schmerzliche Erinnerungen an traute deutsche Frauengestalten in meiner Seele auftauchen.

Im größten Gegensatze zu den anderen Damen entbehrte der Anzug meiner »Beauty« fast jedweder Eleganz. Ein schlichtes, aber um so reizenderes Kleid von feinem grauem Wollstoff bildete die Toilette – voilà tout!

Völlig in meinen Reflektionen versunken, vergaß ich, mich daran zu erinnern, daß noch ein zweiter Herr, ein auffallend gut aussehender junger Mann, diesen Morgen beim Eintreffen der Gesellschaft zugegen gewesen.

Alsbald führte Miß Emmerson mich mit dem simplen Namen: Mr. Richard Berken bei allen Anwesenden ein und wies uns die Plätze an. Doch wer beschreibt meine freudige Überraschung: als ich aufschaute, sitzt die liebreizende Blondine dicht an meiner Seite.

Sonderbar! Dieser kurze Aufblick aus ihren Augen glich fast einem stummen Verhör. Instinktiv fühlte ich, daß sie mit echt amerikanischer Scharfsichtigkeit sich einen sowohl das Individuum, als auch dessen Charakter und Nationalität betreffenden Eindruck festzuhalten und sich einzuprägen suchte.

»Sie verstehen englisch, Sir?« fragte mich die liebliche Tischnachbarin mit den aus ihrem Munde reizend klingenden Tönen ihrer Muttersprache.

Freudig bejahte ich es, und bald kam unsere Unterhaltung in guten Fluß. Nur sah ich mit Verwunderung auf ihre allerliebsten Hände, wie sie von allen ihr servierten Gerichten, außer daß sie sich selbst versorgte, noch reichliche Quantitäten auf bereits vor ihrem Platze stehende Teller legte und diese dann sorglich mit einem kleinen Schüsselchen bedeckte. Sie selbst aß hastig und zerstreut.

Was bedeutete nur das? Als Mann von guter Erziehung wagte ich natürlich nicht, danach zu fragen. Doch mochten meine Gesichtszüge wohl einige Neugierde verraten haben; denn lachend – es war dies genau ein verlegenes Kinderlachen – sagte sie:

»Dies ist für Frank, meinen Gatten, Sir! Er leidet schon seit längerer Zeit an einer sehr fatalen, unbequemen Magenverstimmung, kann infolgedessen nicht jedes Gericht vertragen und somit auch nicht mit uns an der Tafel speisen. Aber es freut ihn immer so sehr, wenn ich selbst ihm sein bescheidenes Diner hinaufbringe, – der arme Franky!«

»O, wie betrübend!« entschlüpfte es unwillkürlich meinen Lippen. Doch wäre es gewiß schwer festzustellen gewesen, ob der Ausruf des Bedauerns der üblen Magenverstimmung des armen Franky oder dem Umstande gegolten, daß mein holder Blondkopf bereits einen Ehemann besaß. Das also war der gut aussehende Gentleman, welcher an der Gesellschaft fehlte und den ich diesen Vormittag schon von Angesicht gesehen!

Wirklich erhob sich nun nach einer Weile die junge Frau, ließ von dem aufwartenden Neger sich ein Präsentierbrett reichen, arrangierte darauf die verschiedenen Teller und verließ damit geräuschlos den Speisesaal. Die übrigen Tischgäste mochten den kleinen Vorfall wohl kaum bemerkt haben. An meiner Nachbarin rechter Seite saß ein alter Herr mit blauer Brille, welcher überhaupt miserabel zu sehen schien. Nur Miß Emmerson warf mir vom anderen Ende des Tisches einen seltsam bedeutungsvollen Blick herüber, welcher mir nun auch sofort klar machte, warum sie gerade mich an die Seite der reizenden Amerikanerin placiert hatte.

Nach beendeter Mahlzeit, als ich schon den Hut in der Hand hielt, um dem schwülen Speisezimmer zu entfliehen, und hastig hinausstrebte in den herrlichen Sommerabend, faßte unsere freundliche Wirtin mich plötzlich am Rockärmel und drängte mich etwas nach einer Fensternische.

»Ich glaube aus unbedeutenden Reden und Anzeichen leider bemerkt zu haben, daß hinter dem ganzen Auftreten der Newlands irgend etwas Mystisches steckt,« flüsterte sie auf deutsch mir ins Ohr – eine Sprache, welche die alte Dame in der Praxis, das heißt, in jahrelangem Verkehr mit meinen Landsleuten, wohl erlernt haben mochte. »Meine große Menschenkenntnis hat mich noch selten getäuscht, und man könnte, wenn man sich die Zeit dazu nehmen wollte, zu spionieren, gerade hier vielleicht interessante Entdeckungen machen. Wir leben aber im glücklichen Lande der Freiheit, Mr. Berken, und so denke ich, wir lassen jeden ruhig seinen Weg gehen, – nicht wahr? Die Newlands zahlen brillant, und mein Haus will bestehen. Alles übrige geht mich nichts an, wenigstens soweit meine Logiergäste nicht mit dem Gesetze in Konflikt kommen. Denn darin verstehe ich keinen Spaß. Well, mein Freund! Wir kümmern uns also nicht weiter um dieser Familie Privatangelegenheiten, noch darum, ob und weshalb Mr. Newland nicht zum Diner kommt?«

»Ganz gewiß nicht, Miß Kathe!« entgegnete ich bereitwilligst und heiter lachend. »Mich interessierten anfänglich nur die auffallend schönen Augen meiner jungen Tischnachbarin. Doch seit ich erfuhr, daß diese Dame bereits einen Gatten hat, ist der sie vorher umgebende Nimbus schon ganz gewaltig geschwunden.«

»O, immer noch der alte Schelm!« drohte mir Miß Emmerson mit dem Finger. »Nun, good evening, Mr. Berken!« Damit winkte sie mir freundlichst zu und ich ging meines Weges.

Man spricht zuweilen in vollster Überzeugung, die Wahrheit gesagt zu haben, doch trotz alledem eine recht handfeste Lüge aus und gelangt oft erst durch Zufall hinter solchen Betrug heimtückischer Schicksalsmächte.

»Seit ich weiß, daß die schöne Mrs. Newland einen Gatten hat, ist ihr Nimbus gewichen,« hatte ich spöttisch geäußert, und war natürlich gänzlich davon durchdrungen, daß jene Leute mir total gleichgültig bleiben würden. Es sollte indes anders kommen. –

Etwa 14 Tage mochten wir nun in Miß Emmersons stillem, komfortablem Boardinghouse wohnen, als etwas sich ereignete, was mein anfänglich lebhaftes, dann standhaft zurückgedrängtes Interesse für die liebliche Mrs. Newland plötzlich wieder neu anfachte. Meine anstrengenden Berufspflichten hielten mich zwar von früh acht Uhr bis nachmittags vier Uhr in der Office am Broadway fest. Allein ich fand immer noch Zeit genug, einige gemütliche Stunden im Parlour oder auch auf Miß Kathes luftigem Balkon zu verbringen. Nach wie vor konversierte ich über allerlei harmlose Tagesereignisse mit meiner hübschen Nachbarin bei Tische; auch trug nach wie vor die vorsorgliche Gattin ihrem armen Frank die Speisen hinauf in sein Zimmer. Aus der Unterhaltung mit ihr erfuhr ich nach und nach, daß die alte Dame, welche meine Sympathien durchaus nicht erwecken konnte, die Mutter von Frank Newland, sowie der schlanken jungen Frau sei, deren Mann mir als Major irgend eines Miliz-Regiments, als Mr. Fowler, vorgestellt worden war. Meine blonde Freundin erzählte ferner en passant, daß sie schon drei Jahre verheiratet wäre und mit der Familie ihres Gatten früher in Chicago gelebt, wo ihre Schwiegermutter eine Agentur für den Export von Nähmaschinen besessen, das Geschäft jedoch aufgegeben habe, um wegen Franks Kränklichkeit die besten New Yorker Ärzte zu konsultieren.

Nach dieser Richtung hin war ich also völlig orientiert, und doch mußte ich mir im Gespräche mit der hübschen Frau oft den größten Zwang anthun, um sie mit indiskreten Fragen über Dinge nicht zu belästigen, die mich von rechtswegen und auch rücksichtlich Miß Emmersons Gebot ganz und gar nichts angingen. Warum kam die Familie Newland gerade in der heißesten Zeit nach New York, welches dann außer den Geschäftsleuten alle anderen Menschen fliehen? Was that eigentlich dieser intelligent und schlau aussehende Mr. Fowler, und womit beschäftigte sich den lieben langen Tag der von seiner besseren Hälfte, wie ich wahrgenommen, so vergötterte Franky, indem er stets erst nach Sonnenuntergang das Haus verließ und das immer nur allein?

Wer konnte es mir verdenken, daß ich als thätiger Mann solch seltsame Verhältnisse mir nicht recht zu erklären vermochte! Während dieser 14 Tage war es mir auch nur ein einziges Mal vergönnt gewesen, den Gatten meiner Tischnachbarin zu sprechen; das heißt, wir trafen uns eines Abends, als ich von einem Spaziergange nach Hause zurückkehrte, auf der Treppe. Da ich ihn sofort erkannte, redete ich ihn freimütig an.

Das helle Licht der im Hausflur brennenden Gasflamme beleuchtete dabei grell sein schmales, auffallend edel geformtes Gesicht und ließ mich in ein Paar sehr ernste, fast finstere Augen schauen. Deutlich merkte ich, daß er mir auszuweichen suchte; doch hartnäckig vertrat ich ihm den Weg und sagte ihm rasch einige bedauernde Worte über sein Leiden. Nur lässig zuckte er die Achsel mit der kurzen Bemerkung: »Sehr gütig, Sir!«

Darauf erging ich mich in Lobeserhebungen über seine schöne, geistreiche Frau, hoffend, eine eifersüchtige Regung würde ihn vielleicht aus seiner stoischen Ruhe aufrütteln. Doch vergebens! Er freue sich sehr, daß Mrs. Newland angenehme Unterhaltung bei Tische gefunden, lautete die abweisende Antwort. Dann lüftete er den Hut und ließ mich stehen.

»Welch ein seltsamer Mann!« dachte ich, zwar halb ärgerlich, trotzdem aber von dieser Erscheinung angesprochen. Immer deutlicher trat daher die Überzeugung an mich heran, daß ich hier vor einem Rätsel mich befand.

Eines Morgens nach dieser Begegnung empfing mich mein Partner, Mr. Haberton, ein sonst kühler und stiller Geschäftsmann, in der Office mit sichtlich aufgeregter Miene, indem er mir sofort sechs Stück Zwanzig-Dollars-Scheine vor die Augen hielt und zornig heraussprudelte: daß dies jämmerliche Falsifikate seien, daß wir auf eine nichtswürdige Weise um 120 Dollars betrogen worden, und daß einer seiner Clerks ihm soeben erzählt habe, während der letzten Tage seien mehrere ähnliche Fälle in New York vorgekommen und die City müsse einmal wieder mit falschen Greenbacks (Kassenscheinen) überflutet sein.

Angenehm erschien mir dieses betrübende Faktum keineswegs, da ich bei diesem kleinen Verluste natürlich selbst beteiligt war. Allein wenn ich von Natur nicht ein realistisch angelegter, dabei höchst aufgeklärter Mensch wäre, so hätte ich mich in diesem Momente beinahe auf spiritistischem Gebiete ertappt. Denn – plötzlich sah ich in meiner Einbildung – dort über dem kahlen Schädel Mr. Habertons – das schöne, todestraurige Gesicht von Frank Newland auftauchen, nur mit dem Unterschiede, daß die ernsten Augen sich jetzt in einem flehenden Ausdruck auf mich richteten. Dieses sonderbare Vermengen des Wirklichen und Phantastischen meinerseits ließ mich – vielleicht nach meines Partners Ansicht – wohl höchst stupid und gleichgültig dreinschauen. Denn er faßte mich nun ein wenig unsanft bei der Schulter und rief:

»Sie müssen ein Krösus sein oder Sie kennen den Wert des Geldes bei uns noch nicht genau, mein lieber Mr. Berken! Denn 120 Dollars wirft wohl keiner gern umsonst zum Fenster hinaus!«

Erschreckt fuhr ich auf. Unsinn! Nicht die Spur eines fremden Gesichts war mehr zu schauen. Ich war ein Narr.

»Mein lieber Mr. Haberton!« erwiderte ich daher rasch mit der verzweifelt traurigsten Miene, die ich nur anzunehmen vermochte. »Der Schreck über unseren Verlust machte mich ganz sprachlos. Der Kukuk soll alle Falschmünzer Amerikas holen, und wenn ich mich von einem solchen Halunken je wieder über den Löffel barbieren lasse, so will ich nicht mehr wert sein, ein Partner der Firma Haberton & Comp. zu heißen!«

Er schien zufrieden, und im Laufe des Gespräches erfuhr ich dann noch, daß schon vor mehreren Wochen die Polizei einer großen Falschmünzer-Gesellschaft, welche aus einer völlig organisierten Bande bestehen sollte, in St. Louis auf der Spur gewesen. Doch die Schlauköpfe der Spitzbuben sind oft pfiffiger als die Schlauköpfe des Gesetzes, und so wäre denn das vorsichtig umstellte Nest der sauberen Vögel doch leer und von ihnen verlassen gefunden worden. Man spräche indes viel darüber, daß das Haupt dieser Koterie ein Frauenzimmer sei, welches mit wahrhaft genialer Geschicklichkeit die feinsten Fäden ihres Einflusses bis in alle Staaten zu spinnen verstände und ihre Verbindungen in Kreisen haben solle, wo kein Mensch einen Falschmünzer zu suchen wage.

Ich glaube, daß ich an diesem Vormittage recht zerstreut bei der Arbeit war und wirklich Gott dankte, als ich die steinernen Stufen zu Miß Emmersons Boardinghouse emporsteigen durfte.

Bei Tische überschaute ich mir sinnend die Gesichter der Familie Newland. Kerzengerade saß die Alte auf ihrem Platze. Wieder umrauschte eine schwere Robe ihre Gestalt, während ein feines Spitzengewebe auf ihrem noch dunklen Scheitel lag und mehrere prächtige Solitäre die Finger schmückten. Doch als ich mir gerade diese starkknochigen, unschönen Hände näher betrachtete, mit denen sie eben die Speisen zum Munde führte, konnte ich mich des Gedankens nicht erwehren, daß dieses Mannweib, bevor der Bruderkrieg der Union entflammte, sehr wohl eine jener gefürchteten Sklavenaufseherinnen der Südstaaten hätte sein können, die, mit der eisenbeschlagenen Hetzpeitsche in der Hand, ihre unseligen Opfer in Zucht und Ordnung gehalten.

Unangenehm berührt durch solchen Ideengang, wandte ich mich den liebreizenden Zügen meiner jungen Nachbarin zu. Sie lächelte mich heute ein wenig traurig an und meinte, daß Franky sich gar nicht recht frisch und heiter befände. Die Langeweile, zu der ihn die Ärzte verdammt, sei doch gar zu geisttötend.

»So lesen Sie ihm doch vor, Madame!« warf ich freundlich beschwichtigend ein.

»O, er haßt ja alle Lektüre, außer Zeitungen, und darin stehen doch immer die meisten Lügen!« entgegnete die schöne Frau halb trotzig.

»Nicht immer, Mrs. Newland!« sagte ich dabei sehr ruhig, aber ernst, und hob mein Auge langsam zu dem ihren. »Der ›New York Herald‹ wird zum Beispiel in den allernächsten Tagen recht interessante Entdeckungen offenbaren, die keinesfalls der Phantasie eines eifrigen Zeitungs-Reporters entsprungen, sondern der Wirklichkeit entnommen sind.«

Und völlig unbefangen erzählte ich ihr darauf von unserem kleinen Geldverluste und den Mitteilungen Mr. Habertons.

Im nächsten Augenblicke jedoch bereute ich das eben Gesagte schon aufs tiefste. Denn die Veränderung, welche nach meinen Worten in Mrs. Newlands Zügen sich ausprägte, war eine so entsetzliche, ja beängstigende, daß ich selbst ganz verwirrt davon wurde und beinahe hilflos verlegen stotterte: ob sie sich nicht wohl fühle? Das sonst so weiße und rosige Antlitz war für mehrere Minuten von einer fast bleigrauen Blässe überzogen. Die Augen starr und ausdruckslos auf einen Punkt gerichtet, die Lippen krampfhaft zusammengepreßt – so lehnte das schöne Geschöpf im Sessel.

»Nein – nein – ja – die Hitze bringt mich um!« stöhnte sie, mit vieler Mühe sich ermannend, indem sie halb mechanisch nach dem vor ihrem Platze stehenden Eiswasser langte.

Zuvorkommend und selbst äußerst erschreckt, reichte ich ihr das Glas, woraus sie hastig einige Schlucke des kühlenden Getränkes hinunterstürzte. Dann – es war bereits gegen Ende der Mahlzeit – schob Mrs. Newland mit sichtlicher Kraftanstrengung den Stuhl zurück und erhob sich.

»Ich muß mich leider hinaufbegeben; etwas Migräne, die mich zuweilen in schwülen Zimmern befällt –, weiter ist es nichts. Gute Nacht, Mr. Berken! Bitte, thun Sie aber dieses Vorfalls gegen niemanden Erwähnung!«

Jetzt traf mich ein wahrhaft flehender Blick der blauen Augen. Darauf schlüpfte die graziöse Gestalt flüchtig und noch geräuschloser als sonst aus dem Zimmer. –

Die nächsten acht Tage ging ich einher, wie jemand, der sich vielleicht mit einem großartigen Wagstück herumträgt und nicht recht zu einem festen Entschlusse gelangen kann, auf welche Weise dasselbe auszuführen sei. »Thun Sie aber dieses Vorfalles gegen niemand Erwähnung!« hatte Mr. Frank Newlands Gattin mir bittend zugeflüstert. Die Zunge hätte ich mir lieber abbeißen mögen, ehe ich nur eine Silbe von dem verraten, was seit jenem Abend – ja seit dem Morgen, als Mr. Haberton mir in der Office die falschen Banknoten gezeigt, in meinem Innern vorging. Jeder andere, selbst meine alte Freundin Miß Kathe, wenn ich ihr das zu jenem waghalsigen Unternehmen bereits eingesammelte und notwendige Material mitgeteilt, würde mich auch sicher gründlich ausgelacht und abwehrend etwa geäußert haben: »Mein Bester, das sind deutsche Thorheiten! Wer Schmutz anfaßt, der darf sich nicht wundern, wenn etwas davon an den Händen kleben bleibt!« – Doch einerlei! Was ging mich die amerikanische Herz- und Gefühllosigkeit hinsichtlich unserer Mitbrüder an, wo eine innere Stimme mich unwiderstehlich antrieb, in das dunkle Geschick zweier Menschen, die mich sympathisch anzogen, einzugreifen – zu helfen – zu retten, solange es noch Zeit war. – –

Die Familie Newland schien seit den allerletzten Tagen sich in sonderbarer Erregung oder Erwartung zu befinden. Mr. Fowler war höchst wenig zu sehen und schien dringende auswärtige Geschäfte zu besorgen. Dafür aber saßen seine Gattin und Schwiegermutter, mit Sorge und Ungeduld der Rückkehr des Abwesenden harrend, oft bis gegen elf Uhr abends auf dem Balkon.

»Wir lieben es, die erfrischende Nachtluft zu genießen,« hatte die zarte junge Frau einmal mit süßem Lächeln zu Miß Emmerson geäußert, und niemand störte sie darin.

Mittlerweile brachten die New Yorker Zeitungen, wie ich bereits vorausgesagt, wirklich eine Menge haarsträubender und mitunter auch lächerlicher Artikel über den mutmaßlichen Aufenthalt der gefährlichen Falschmünzergesellschaft, welche an Falsifikaten schon ein Kapital in Umlauf gesetzt haben sollte, das bereits mehr denn eine Million repräsentiere. Einerseits hieß es: das Haupt der Sippe befände sich völlig ungeniert und seelenvergnügt in unserer City; andererseits lauteten die Berichte, daß die so schlaue, vielleicht auch nur mythenhafte »Dame« sich in Chicago aufhielte. Auf jeden Fall aber hoffe die Polizei, dieses Mal einen brillanten Fang zu thun und ihrer wirklich habhaft zu werden.

Meine junge Tischnachbarin hatte seit jenem Migräneanfall jetzt oft so sonderbar rote und geschwollene Augen, und das reizende Kinderantlitz dünkte mir auch schmäler geworden, als ob irgend ein Gram oder heimliches Weh an dem Herzen des lieblichen Geschöpfes nage. Sie sprach wenig und aß fast nichts.

Dagegen machte ich die Entdeckung, daß sie mit ihrer Schwiegermutter auf höchst gespanntem Fuße zu leben oder – richtiger gesagt: unter dem Despotismus dieser Frau zu leiden schien. Bestärkt wurde ich noch in meiner Idee, als ich beim Vorüberschreiten an Mr. Franks Zimmer, welches, wie diejenigen seiner Mutter und Schwester, in der ersten Etage des Hauses lag und dessen Thür ein wenig offen stand, – einmal, ohne im mindesten lauschen zu wollen, die harte Stimme des mir so widerlichen Weibes zu ihrem Sohne deutlich sagen hörte:

»Und wenn Du Dich hier am Boden zu meinen Füßen winden würdest, ich gebe Dir dennoch die Freiheit nicht zurück, weil das Wohl und Wehe eines einzigen gegen die Existenz und Sicherheit von uns allen nicht in Betracht kommt. Wir brauchen Dich und das genügt!«

»Und darüber wird Frank zugrunde gerichtet! Siehst und fühlst Du denn das nicht, Mama?« vernahm ich jetzt auch die fast schluchzende Stimme meines kleinen, blonden Lieblings. Wie erstarrt zögerte ich einen Moment.

»Gut; dann geht er eben zugrunde, wenn er eine Memme – ein Feigling ist!« klang es nochmals aus dem Munde dieser Mutter zurück.

Dann stürmte ich, Abscheu und Wut im Herzen, die Treppe hinan nach meiner Wohnung. – –

Am selben Nachmittage kam ein feingekleideter, gut aussehender älterer Herr ins Haus und wünschte Miß Emmerson zu sprechen. Zufällig war ich selbst mit unserer Hauswirtin im Parlour anwesend, welche mich lächelnd bat, dazubleiben.

Nicht umsonst hatte ich die Carriere eines Advokaten in diesem Lande absolviert, um in dem Eintretenden nicht sofort den Detektiv der Geheimpolizei zu vermuten. Ein scharf prüfender Blick seines dunklen Auges glitt im Nu auch über meine unbedeutende Person herab. Doch als Miß Kathe ihm meine Beziehungen zu der Firma Haberton & Comp. genannt, wurde mir augenblicklich ein sehr verbindliches: »How do you do, Sir?« zu teil, und nun erst rückte der Besucher, wenngleich noch immer vorsichtig, mit seinem Anliegen an den Tag. Miß Emmerson solle sein zudringliches Erscheinen nicht etwa übel deuten, meinte er, Platz nehmend, wobei er den großen Diamanten an seinem kleinen Finger im Lichte der durchs Fenster dringenden Sonnenstrahlen spielen ließ. Allein, wie manche Erfahrungen bereits bewiesen, befänden sich Persönlichkeiten, deren Antecendenzien mit dem Wortlaute der Gesetzbücher oft nicht recht übereinstimmten, zuweilen vorzugsweise in den allerfeinsten und fashionabelsten Boardinghäusern, um soviel als möglich den äußeren Schein zu wahren und jeden Verdacht von sich abzulenken. Er müsse so unbescheiden sein und um die Namen und Berufsarten ihrer Hausbewohner bitten.

Miß Kathe machte trotz dieser glatten Worte ein höchst empörtes und wütendes Gesicht und rief in der ihr charakteristischen, etwas derben Trockenheit: ihr Haus berge glücklicherweise nur äußerst respektable Leute, und wenn dem Herrn ihre Aussage nicht genüge, so fordere sie ihn auf, heute abend das Diner mit sämtlichen Gästen einzunehmen, was sicher den Beweis führen würde, daß er dieses Mal auf gänzlich falscher Fährte sei.

Herr des Himmels, welche Unvorsichtigkeit von Miß Kathe! Dieselbe entsprang einzig ihrem völlig unbefangenen Gemüte, dachte ich entsetzt, und stand wie auf Kohlen in meiner Fensternische, in die ich mich zurückgezogen hatte. Wenn dieser Spürhund etwas davon erfuhr, daß Frank Newland die Gesellschaft so auffallend mied und allein auf seinem Zimmer speiste, wenn ...

Jetzt erschrak ich fast über meine seltsame Bangigkeit. War es denn möglich, daß ich selbst, ein Mann des Gesetzes, noch dazu ein Mensch, welcher jede lichtscheue That aus tiefster Seele verachtete, ja dessen Lebensaufgabe darin bestand, das gefährdete Recht, wo immer es galt, zu vertreten, daß ich also selbst für diesen unseligen jungen Verirrten und dessen Frau Partei nahm, – daß ich gegenüber der Sicherheitsbehörde New Yorks mich zu ihrem Schutze bereits aufzustellen gedachte, anstatt daß ich vor diesen Mann dort hintrat und ihm frank und frei alle Entdeckungen der letzten Tage offenbarte. Denn was ging mich schließlich dieser Frank Newland nebst seiner blonden Gattin an? Oder war diese mir selbst unerklärliche Sympathie für jene Menschen vielleicht doch etwa ein Wink von oben?

»Danke bestens, sehr verbunden, Miß Emmerson!« lautete indes zu meiner größten Beruhigung des Detektivs Antwort. »Ihre Versicherung genügt mir fürs erste, umsomehr, weil ich in meiner Stellung alles Auffällige vermeiden muß.«

Dann machte er sich einige Notizen in sein Taschenbuch und verließ mit aalglatten Bewegungen und sehr verbindlichen Verbeugungen gegen die Dame und mich das Parlour.

»Meinen Sie, Mr. Berken, daß es in der eben angedeuteten Beziehung mit den Newlands nicht recht geheuer ist?« fragte mich Miß Kathe, als wir jetzt allein waren, wobei ein etwas ängstliches Zucken ihre Mundwinkel umspielte. »Ich hielt sie bisher, das heißt die Männer, für Gambler (Spieler) von Profession, vielleicht auch für Leute, die auf irgend eine Patent-Medizin reisen oder dergleichen, jedoch hinsichtlich des guten Rufes meines Hauses für völlig harmlose Kreaturen. Ihnen aber traue ich wohl eine Portion Menschenkenntnis zu. Nun, was meinen Sie, Mr. Berken? Es thäte mir wirklich leid, wenn ich den Newlands aufkündigen müßte und meine Zimmer, voraussichtlich bis in den September hinein, leer ständen.«

Ich hatte das Gesicht ein klein wenig nach rechts gewandt, so daß Miß Kathes Blicke nur mein Profil zu treffen vermochte, und entgegnete so ruhig, als ich trotz der Aufregung, die in mir arbeitete, es fertig zu bringen imstande war:

»Liebe Miß Kathe! Da ich von dem Grundsatze ausgehe, besser ist besser und sicher ist sicherer, so würde ich doch die paar hundert Dollars nicht ansehen und gelegentlich, das heißt, auf irgend einer triftigen Entschuldigung fußend, der alten Newland zu verstehen geben, daß Sie über ihre Zimmer zu disponieren wünschten. Ich verehre Sie zu hoch und aufrichtig, Miß Kathe, um Sie auf irgend welche Weise in Unannehmlichkeiten verwickelt zu sehen! Daher rate ich Ihnen offen hierzu, weil mir die Sache mit dem Detektiv gar nicht gefällt.«

Erschreckt prallte die alte Dame zurück und starrte mich mehrere Sekunden durchbohrend an. Dann faßte sie sich rasch und versetzte mit schmerzlichem Tonfall der Stimme:

»Sie würden mir das nicht sagen, Mr. Berken, wenn es nicht Ihre innerste Überzeugung wäre!«

»Sicherlich nicht, Miß Kathe!«

»Gut denn; ich folge Ihnen!«

Ohne zu zucken und ohne vielleicht weiter des vermeintlichen Verlustes einer für sie ziemlich bedeutenden Summe zu gedenken, reichte die resolute alte Dame mir die Rechte hin und sagte:

»Morgen wird ein Ende gemacht. Punktum!«

Dann verließ auch sie das Sprechzimmer. –

»Morgen!« Mechanisch öffnete ich die nach dem Balkon führende Glasthür und riß in tiefen Gedanken an den an dem Geländer sich emporrankenden Klematisblüten. »Morgen!« kam es nochmals sorgenvoll über meine Lippen. Jetzt stand die Sonne bereits tief am Horizonte, und wenn sie dort im Osten wieder emporstieg, dann mußte etwas geschehen sein, wovon die dabei beteiligten Personen bis jetzt noch keine Ahnung hatten.

»Deutsche Sentimentalität und Thorheit!« neckte das böse Prinzip in meiner Brust. »Laß ab von Sachen, die Dich nichts angehen, und hemme die Gerechtigkeit nicht in ihrem Lauf!«

Standhaft wehrte ich mich dagegen und flüsterte dafür kaum hörbar:

»Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen!«

Doch horch! Klang das drinnen im Parlour nicht gleich einem unterdrückten Schluchzen? Peinlich berührt und um nicht etwa hier draußen auf dem Balkon der unfreiwillige Zeuge irgend einer Scene zu werden, trat ich rasch ins Zimmer zurück. Allein noch einmal stutzte ich. Dort in einem Sessel, das Antlitz auf die Armlehne desselben niedergebeugt, lag meine schöne Tischnachbarin, wie es schien, im Stadium von Agonie oder höchstem Schmerz. Nur ab und zu drang ein sich qualvoll herausringender Laut aus ihrer Brust, während die krampfhaft verschlungenen Finger das blonde Haupt umfaßten. Ungeachtet dieses betrübenden Anblicks durchströmte mich beinahe wilde Freude. Der Zufall spielte mir hier die beste Gelegenheit zum Beginn meines Samariterwerks in die Hand. Daher trat ich entschlossen an die Ahnungslose heran und rief:

»Mrs. Maud Newland!« Seit heute morgen wußte ich auch den Vornamen des jungen Geschöpfs.

Wie durch einen elektrischen Strom berührt, fuhr die Angerufene empor und stand alsbald kerzengerade mir gegenüber, während die glühenden, noch bebenden Lippen sich zu einem mühseligen Lächeln verzerrten.

»O, ich habe geschlafen und – sehr – sehr garstig geträumt!« stotterte sie, sich die wirren Locken aus der Stirn streichend. Ein anderer, als ich, hätte sich von der Wirklichkeit dieses Arguments überzeugen lassen.

Welche moralische Kraft und Geistesgegenwart steckte doch in diesem lieblichen Wesen!

»Nein, Madame, Sie haben nicht geschlafen, sondern in tiefem, leidenschaftlichem Seelenschmerz – in fassungslosem Jammer über das Unheil, welches Schritt um Schritt Ihnen näher rückt, haben Sie geweint!« entgegnete ich ruhig, aber fest.

Jetzt stierten die blauen Augen in wahrhaft entsetztem Ausdruck mir ins Gesicht.

»Mein Herr! Mit welchem Rechte wagen Sie, eine solche Sprache gegen mich zu führen?« kam es leise, jedoch zornig aus dem zuckenden Munde.

»Mit dem Rechte aufrichtiger, warmer Freundschaftsgefühle, Mrs. Newland!« gab ich völlig unbeirrt zurück und faßte nun auch rückhaltlos nach ihrer Rechten.

»Freund–schaft?« wiederholten ihre Lippen zögernd in halb ungläubigem Trotze. Dünkte es mir doch, als ob es dabei gleich nie geahntem – nie gekanntem Glücke in den schönen Augen aufflammte. Aber sie entzog mir die kleinen Finger dennoch und setzte rasch und herb hinzu:

»Ich danke, Sir, wir – ich brauche die so edelmütig gebotene Freundschaft eines – Fremden nicht, da ja auch gar kein Grund vorliegt, sich mitleidig unserer anzunehmen, nein, wirklich absolut nicht!«

»So?« Fest und durchdringend heftete ich meine Blicke auf das bleiche Gesichtchen. »Wissen Sie, Mrs. Maud Newland, daß Sie in diesem Moment eine Lüge aussprechen? Wohlan! Mir kann das ja einerlei sein. Aber ich erinnere Sie nur daran, daß dort oben über uns Einer lebt, dem wir Rechenschaft zu geben haben von unseren Worten und Werken, und daß auch für Sie eine Zeit kommen kann, wo Sie dieser Hilfe benötigt wären!« Schwer und keuchend kamen die Atemzüge aus der jungen Brust. »Wenn man in demütigem Sinne diesem Einen seine Sorgen und Lasten anempfiehlt, dann erscheint das Schwerste wirklich nicht so schwer!« fuhr ich eindringlicher fort.

Jetzt schluchzte sie auf und bedeckte das Antlitz mit den Händen.

»O, warum sprechen Sie so zu mir! O, wie lange – lange, – fast seit meinen Mädchentagen ist es her, daß jemand gegen mich den Namen Gottes genannt hat! Und doch habe auch ich einst, ehe ich Franks Gattin wurde, oftmals so innig und warm zu ihm gebetet! Stehen denn plötzlich alle süßen Erinnerungen an die Kindheit auf – an meine heimgegangenen Eltern – an jene Zeit, wo noch alles anders war?« fügte sie, die Wangen von Thränen überströmt, nun träumerisch ins Leere starrend, hinzu. »Wer sind Sie, Sir, daß Sie es verstehen, solche Saiten in meinem Innern zu berühren? Gehen Sie – o gehen Sie! Ich bin Ihrer Teilnahme und Güte nicht wert, – habe ja kein Anrecht an die Barmherzigkeit und Milde Gottes! Denn ...«

Sie stockte plötzlich und wollte an mir vorüber zur Thür hinaus. Doch energisch vertrat ich ihr den Ausweg.

»Nicht allein dürfen Sie hinaus, Mrs. Newland! Gerade um der schmerzlichen Erinnerungen willen an das glückliche Einst bitte ich Sie, mich jetzt sofort zu Ihrem Gatten zu führen und mir eine kurze Unterredung mit ihm zu gestatten. Widersetzen Sie sich dem nicht! Denn es ist zu Ihrem Wohl – Ihrer Rettung – ich weiß alles

Tödlich erschreckt fuhr die Fassungslose zurück.

»Was – was wissen Sie?«

»Daß Frank ein armer Bethörter – ein Unglücklicher ist und schwer unter dem Drucke eines tyrannischen Weibes, das sich leider seine Mutter nennt, duldet und darüber zugrunde geht!« flüsterte ich ihr entschlossen ins Ohr. »Aber, beim Allmächtigen, der mein Vorhaben begünstigt, schwöre ich, daß wir über diese Megäre, die auch Sie im tiefsten Innern verachten, siegen werden, und ich Ihnen Freiheit, Glück und Sicherheit zurückzugeben vermag! Nur folgen Sie mir und fügen Sie sich bedingungslos meiner Weisung!«

»Mein Himmel! Träume ich denn? Giebt es in dieser jämmerlichen Welt wirklich noch etwas, was Hoffnung und Glaube an der Menschheit heißt?« rang es sich zitternd über die bebenden Lippen der jungen Frau. »Darf ich Ihnen – dem Fremden – wahrhaft trauen? Sind Sie nicht auch etwa ein Mensch, wie jener, der unlängst hier war, – ein solcher, der kein Erbarmen und keine Rücksicht kennt?«

»Mrs. Maud Newland! Ich dächte doch, daß Sie von der Aufrichtigkeit meiner Freundschaft überzeugt sein sollten!« entgegnete ich fast vorwurfsvoll und weich.

»Freundschaft!« schrie sie darauf in wilder Erregung, so daß ich über den grellen Ton ihrer Stimme beinahe erschrak. »O, welch ein Zauber liegt in diesem einen Wort! Kommen Sie, ja kommen Sie rasch hinauf zu meinem armen, geliebten, unseligen Gatten! Er wird – er muß Ihnen folgen!« Und ungestüm zog das liebliche Geschöpf mich mit sich fort.

Kaum konnte die Stunde zu einem ungestörten Gespräch mit dem jungen Einsiedler dort oben in seinem stillen Zimmer günstiger gewählt sein. Denn erst vor einer Weile hatte ich die alte Newland nebst Tochter und Schwiegersohn das Haus verlassen sehen. Überdies gestand meine Begleiterin mir jetzt in merkwürdig rührender Vertraulichkeit, daß ihre Verwandten einen kleinen Ausflug nach Coney Island unternommen und vor spätem Abend kaum zurückerwartet werden dürften. Man habe zwar ausdrücklich gewünscht, daß sie selbst an der Partie teilnehmen sollte; doch hätte sie das, um Frank nicht allein zu lassen, auf das entschiedenste abgelehnt.

Unter dergleichen leise geführten Reden erreichten wir das erste Stockwerk, doch machte die junge Frau vor dem verhängnisvollen Gemache noch einmal Halt und holte, gleichsam um Mut zu schöpfen, tief Atem. Ach, hätte ich der Ärmsten die Viertelstunde doch ersparen können! Nach kurzem Zögern öffnete Mrs. Newland mit raschem Entschluß die Thür und schritt mir ins Zimmer voran.

Das Erste, was mir beim Eintreten sofort ins Auge fiel, war wieder jener eisenbeschlagene Monstre-Koffer, dessen Begegnung mir schon einmal zu denken gegeben und dessen Anblick nun aufs neue die ganze gefährliche Tragweite, ebenso aber auch die Notwendigkeit dieses Schrittes klarlegte. Die Fenster des Gemaches gingen gegen Westen, so daß die noch hellen Strahlen der Abendsonne es bis in seine tiefsten Winkel beleuchteten.

Mr. Frank Newland schien jedoch unseren Besuch gar nicht zu merken. Denn mit aufgehobenem rechten Arme, ein Pistol in der Hand haltend, zielte er soeben nach einer an der Wand der Langseite befestigten Scheibe, deren durchlöchertes Feld mir zur Genüge zeigte, wie und durch welches Vergnügen der junge Mann seine Mußestunden sich verkürzte. Wieder gewahrte ich in seinem schönen Gesichte den finsteren Schmerzensausdruck und konnte in diesem Momente mich wirklich des Gedankens nicht erwehren, ob der, wie ich ja wußte, so verzweifelt und vergeblich an seinen Fesseln Rüttelnde nicht vielleicht dort, wo sich die weiße Papierscheibe befand, die Häupter seiner Peiniger oder mutmaßlichen Verfolger im Geiste zu schauen wähnte.

»Frank! Ich wollte – ich möchte so gern, daß Du – diesem Herrn hier, Mr. Berken, für einige Minuten Gehör schenktest!« rief jetzt, das lange Schweigen unterbrechend, meine Begleiterin ihrem Gatten bittend und zärtlich zu, während sie nach ihm hinüberflog und die Arme um seine Schultern schlang.

Sofort sank die Hand mit dem Pistol herab, und, mehr erschreckt als unwillig, fuhr sein Kopf nach mir herum.

»Was soll's? Du weißt ja, Maud, daß ich nicht gern gestört bin!« kam es leise, doch grollend über seine Lippen.

Allein trotz dieses wenig ermutigenden Empfanges hatte ich mich ihm rasch genähert und begann ohne Zögern:

»Die große Wichtigkeit dieses Besuches hier, ja meines Anliegens an Sie, Mr. Newland, überwiegt das Peinliche, was zweifellos für mich in diesem etwas dreisten Vordringen eines Ihnen fast Fremden liegt!«

Franks geistvolles, dunkelumrahmtes Auge richtete sich bei diesen Worten ganz seltsam scheu und fragend nach dem meinen, indem er herb und zögernd erwiderte:

»Wegen meines Leidens empfange ich niemals – grundsätzlich niemals Besuche. Doch, wenn sie« – (ein vibrierender, auffallend zärtlicher Ton lag in diesem: sie, womit er der Gattin Hand sanft drückte) – »ausnahmsweise jemanden bei mir einführt, dann muß ich mich allerdings schon von der Notwendigkeit durch dies Abweichen von der Regel überzeugen lassen.« Er verbeugte sich gegen mich und fügte etwas weniger schroff, indes mit immer noch tief ernster Stimme hinzu:

»Meine Frau hat mir bereits von Ihrer Liebenswürdigkeit und Ihren menschenfreundlichen Gesinnungen erzählt, Mr. Berken! Es ist ein edler Grundzug im Charakter der Deutschen, daß Teilnahme und Freundschaft bei ihnen nicht leere Worte sind, sondern dem Herzen entspringen.«

Dabei legte er die kleine Schußwaffe beiseite und reichte mir die Finger hin. Eine müde Apathie machte sich im Wesen dieses Mannes bemerkbar und verlieh ihm, verbunden mit dem schmerzlich krankhaften Zuge seines schmalen Gesichts, den Anstrich eines wirklich Leidenden.

So ruhig und fest, daß ich mich in diesem Momente selbst über meine Fassung wunderte, erwiderte ich:

»Der Hauptgrund unseres Charakters ist eine unüberwindliche, ja, so zu sagen, schon mit der Muttermilch eingesogene Abneigung gegen jeden falschen Schein.«

Ganz sonderbar stutzte er, während ein halb wirrer Blick über meine Gestalt hinwegglitt, und gleichsam fragend wandte er sich nun nach seiner jungen Frau, welche mit im Schmerz gefalteten Händen in einen Sessel gesunken war.

»Ich muß wohl annehmen, daß Sie einen besonderen Zweck mit diesem – Besuche verbinden?« entfuhr es in harten, schroffen Tönen seinem Munde, indem er nun, wie zu einer kampfbereiten Stellung, sich vor mir aufrichtete und bald noch heftiger hinzufügte: »Sie hassen den Schein! Sehr gut, mein Herr! Aber unter welchem Vorwande erklären Sie mir dann Ihr sonderbar geheimnisvolles Benehmen, welches zweifellos irgend eine Absicht – einen Hintergedanken verrät? Denn nur allein deshalb hierher in mein Zimmer zu kommen, um einen Ihnen fast Unbekannten, der Ihnen niemals störend in den Weg getreten, mit zweideutigen Reden zu intriguieren, dafür halte ich Sie, Mr. Berken, doch für zu gentlemanlike und edel.«

»Sie scheinen viel Menschenkenntnis zu besitzen, Mr. Newland!« gab ich ihm, ohne mit der Wimper zu zucken, zurück. »Wohlan denn! Den Grund dafür kennt bereits Ihre verehrte Gemahlin; es ist der, daß ich Ihnen mit Rat und That behilflich sein möchte, Ihre unwürdigen Fesseln zu sprengen! Ist diese Antwort nicht klar und verständlich genug?«

Durchdringend heftete ich dabei meine Augen auf das abgehärmte Männergesicht. Doch nur ein leise gurgelnder Ton drang über seine Lippen, während er haltlos mehrere Schritte nach rückwärts taumelte.

»Ich dulde keine Einmischung in meine Angelegenheiten!« stieß er endlich nach wenigen Sekunden wild heraus. Sein Auge funkelte und jede Fiber des schlanken, aber sehnigen Körpers schien in Erregung und Leidenschaft zu zucken. Dann aber lachte er gellend auf. »Und wissen Sie, mein Herr, was wir Amerikaner aus tiefster Seele verachten? Das sind glattzüngige Schleicher, die hier und dort mit dem löblichen Grundsatze: ›der Zweck heiligt die Mittel‹ herumspionieren und schließlich doch nur Unheil stiften! Solche Leute sind mir in den Tod verhaßt. Und nun, mein Herr, bitte ich, daß Sie in Zukunft mich unbelästigt lassen!«

Damit kehrte er mir den Rücken und schritt dem Fenster zu. Hier schien demnach der Sieg nicht ganz so leicht, als unten im Parlour über die junge Frau, dachte ich unentschlossen. Doch kam schon die kleine Verbündete mir rasch zu Hilfe, indem sie, emporspringend und zu dem Gatten hinübereilend, rief:

»O Frank! Sei barmherzig! Um Deiner Liebe zu mir – um unseres Elends willen, weise diesem Herrn nicht so schroff die Thür! Denn gerade er, Mr. Berken, will uns ja dazu verhelfen, daß der waghalsige Plan, der schon längst in Deinem Kopfe reifte, aber stets wieder vereitelt wurde, wirklich einmal zur Ausführung gelangt. Ich flehe Dich an, Frank, lasse diese gute Gelegenheit nicht unbenutzt vorübergehen! Denn ohne energischen Beistand käme es nie – nie dazu!« sprudelte das schöne Weib in flammender Begeisterung für die Sache wild hervor. »Du bist so gut und treu, voller Liebe und Rücksicht für mich, aber dennoch bloß ein schwankendes Rohr gegenüber der Macht und dem Willen Deiner Mutter!«

Ich war ebenfalls näher getreten und sah deutlich, wie eine heiße Blutwelle Mr. Franks Stirn verdunkelte.

»Schweig, Maud! Du vergißt Dich. Dein noch unerfahrener Sinn setzt Vorsicht und Pflichten außer acht!« raunte der Gatte unter keuchenden Atemzügen ihr leise zu.

Allein sie beachtete diese Warnung nicht. In zwei Sätzen sprang die graziöse Gestalt zu mir herüber, faßte stürmisch meine Hand und rief:

»So sagen Sie ihm doch, daß Sie alles wissen – in alles eingeweiht sind und den ganzen großen Jammer unserer Existenz entdeckt haben, Mr. Berken!«

Da drang es wie ein schlecht unterdrückter Wutschrei über des Mannes Lippen, der drohend die Faust nach dem lieblichen Haupte emporhob.

»Maud, – Unselige! Du hast uns verraten!«

»Nein, Mr. Newland, Sie irren!« sagte ich, jetzt dicht an ihn herantretend und mit festem Druck sein Handgelenk umspannend. »Der bloße Verdacht allein ist schon eine Kränkung für Ihr treues, opfermutiges Weib. Nicht sie hat den verhüllenden Schleier von dem düsteren Bilde Ihres Daseins hinweggezogen, nicht Ihre Gemahlin hat mir die traurige Wahrheit entdeckt, sondern mein eigenes warmes Interesse für ein Paar bedauernswerte junge Menschen ließ mich Schritt für Schritt dem ersten leisen Verdachte, den schon jener ominöse Koffer dort anregte, weiter nachforschen. Auch nicht um Unheil zu stiften, Mr. Frank Newland, wie Sie soeben voraussetzten, – nein, einzig nur aus dem Grunde, um im Augenblicke höchster Gefahr – und solche ist jetzt vorhanden – zu retten und zu helfen!«

Er riß sich von mir los und rannte, mit beiden Händen den Kopf umfassend, einigemal wie rasend durch das Zimmer.

»Wo – wo ist Gefahr? Wer sagt das? Wer bürgt mir dafür?« rief er heiser.

»Frank! Du selbst weißt es ja – kennst das drohende Gespenst der Verfolgung, welches Tag und Nacht über uns schwebt; weißt auch, was für ein Mensch vor kaum einer Stunde bei Mrs. Emmerson Nachfrage hielt, weißt ferner, daß der Boden unter unseren Füßen bereits wankend geworden!« mahnte die junge Frau mit todesbleichem Gesicht. »Nur Mut und rasche Entschlossenheit, Geliebter, und wir entfliehen dieser schauerlichen Existenz, die ich verabscheue, die entwürdigend für uns ist! Zeige, daß Du ein Mann bist, Frank – ein Mann, der, dieser empörenden Tyrannei anderer müde, sein besseres Ich herauswindet aus einer Bergeslast von Lug und Trug. O! arbeiten und Dir beistehen will ich ohne Murren und Klagen Tag für Tag, um uns ein neues Heim zu schaffen!« fuhr die junge Frau mit überzeugender Wahrheit und bewundernswerter Beredsamkeit fort, – »ein stilles, friedliches Heim, welches allein uns gehört und worüber der dort oben wachen soll, den wir so lange Zeit vernachlässigt haben! Frank, wenn Du mich wahrhaft liebst, so folge diesem da, der es gut und ehrlich mit uns meint!«

Überwältigt durch den Schmerz der hervorbrechenden Gefühle sank die schöne Frau zur Erde nieder und umfaßte leidenschaftlich des Gatten Knie. Ein Moment war das, der mich aller Zweifel und aller in mir sich regenden Ungewißheit überhob. Jetzt wußte ich, daß der wunderbar stürmische Drang in mir, diesem jungen Paare meine Hilfe zu bieten, höheren Ursprungs war. Alle Bedenken, gerade durch diese Hilfe mich einer ungesetzlichen, ja vielleicht gar strafbaren Handlung schuldig zu machen, zerflossen bei dem Anblicke in ein Nichts.

»Mr. Frank Newland! Ich sehe, daß die Liebe zu Ihrer Frau bei Ihnen größer ist, als zu sonst irgend etwas auf Erden, und daß diese Liebe Ihnen dazu verhelfen wird, selbst das Schwerste zu überwinden!« sagte ich mit einer Stimme, die die eigene tiefe Bewegung deutlich verriet. »Wollen Sie fortan bedingungslos sich meiner Führung anvertrauen? Die Zeit ist kurz. Jetzt gilt nur ein schnelles Entweder – Oder!« Wie Wetterleuchten zuckte es über sein bleiches Gesicht. »Zerreißen Sie mit fester Hand jenes unwürdige Band, welches Sie noch an die Vergangenheit knüpft, – schauen Sie dafür mutig und mit Gottvertrauen in eine lichtere, hoffnungsreiche Zukunft!«

Ungestüm hatte er, während ich sprach, die liebliche Gestalt zu sich emporgezogen. Eine Weile hielten die Gatten sich umschlungen.

»Der Fluch der Mutter, – grimmiger Haß von allen, die mir bisher vertraut haben, – ja, ein Leben der Not und Entbehrung, – das ist es, was uns sicher erwartet, wenn ich diese Fesseln sprenge! Würdest Du Dich auch klagelos und willig einem vielleicht noch härteren Geschicke beugen, meine Maud?« fragte der junge Ehemann so zärtlich und weich, wie man nur zu einem Kinde redet.

Ein kaum unterdrückter Jubelschrei stieg aus der Gefragten Brust.

»Und wenn dieser Schritt meinen Tod bedeutete, ich könnte nicht ruhiger und beglückter darüber sein, daß Dein Widerstand endlich gebrochen ist und Du heimlich mit mir von dem Schauplatze unserer Leiden verschwinden willst, Frank!« rief sie neu belebt und zitternd vor Erregung, indem sie aus den sie umschlingenden Armen sich befreite und wieder zu mir herüber eilte.

»Jetzt aber rasch zum Entschluß, Mr. Berken! Was soll geschehen? Bestimmen Sie über uns!« flüsterte sie mir hastig zu.

Allein auch der vor kurzem noch so verschlossene und so schroff und starr abweisende junge Mann reichte mir jetzt, wenngleich mit einem Ausdruck bitterer Trauer, seine Hände entgegen, in die ich freudig einschlug.

»In spätestens einer Stunde werden Sie New York im Rücken haben und sich auf dem Wege nach Kanada befinden,« erwiderte ich ernst und sehr bestimmt, während beide mir mit ängstlicher Spannung lauschten. »Spurlos noch ehe die Untersuchungen in jener traurigen Angelegenheit weiter fortschreiten, müssen Sie und Mrs. Newland von der hiesigen Bildfläche verschwinden, als ob der Sturm Ihre Namen hinweggeweht. Fort – vergessen! Miß Emmerson sagen Sie indessen, daß Sie anläßlich einer wichtigen Depesche mit Ihrer Frau auf acht Tage zu verreisen gezwungen wären! Das genügt. Packen Sie also die nötigste Garderobe und Wäsche in einen nicht zu großen Koffer. Alle Ihre Sachen mitzunehmen, darauf müssen Sie leider verzichten, weil das vielleicht Verdacht erregen könnte. Dann benutzen Sie den nächsten Zug nach Montreal! Fürs erste jedoch, Mr. Newland,« – fügte ich, indem ich jenem ominösen Koffer ganz nahe trat, ein wenig zögernd und sehr leise hinzu – »schaffen Sie den gefährlichen Inhalt dieses Riesen schleunigst aus der Welt!«

Er zuckte jäh zusammen und stotterte in höchster Verwirrung, während eine fahle Blässe sein Gesicht überzog.

»So wissen Sie? – nein, nein, das darf ich nicht thun, – die Mutter ...!«

»Sie dürfen auf niemanden Rücksicht nehmen! Denn ich ahne wohl, daß hierin die schlagendsten Beweise zur Überführung einer gar schlimmen Schuld für Sie enthalten sind, mein armer, bethörter Freund!« versetzte ich freundlich. »Und diese Beweisstücke müssen unter allen Umständen vertilgt sein. Dort drüben ist der Kaminofen. Was irgend brennbar ist, – hinein in ein flackerndes Feuer. Das übrige packen Sie in eine schlichte Reisetasche, die Sie mit sich nehmen und wie aus Versehen im Gedränge auf dem Bahnhofe stehen lassen! Dann erst werden Sie frei sein gleich dem Vogel in der Luft. Das leere Ungetüm hier wird nichts mehr verraten und grabesstumm bleiben. Sie sehen, mein Plan ist gut und könnte wahrlich der Intelligenz eines Amerikaners alle Ehre machen,« fügte ich ermutigend hinzu. Denn es entging mir nicht, wie hastige, schwere Atemzüge über seine Lippen stießen und er sichtlich zu kämpfen schien, mir mit neuen Einwendungen entgegenzutreten.

»Und wohin sollen wir Ausgestoßenen, denen das eigene Vaterland nicht mehr Raum und Schutz zu bieten vermag, uns wenden?« fragte er herb. »Welche Aussichten, welcher Erwerb bietet sich uns auf englischem Boden? Ich bin völlig fremd in Kanada, – habe nicht die geringsten Verbindungen ...«

»Eben deshalb ist es nötig, daß Sie dorthin Ihre Schritte lenken, Mr. Newland!« gab ich ihm tröstend zurück. »Gerade dort, wo Sie fortan leben werden, sollen Sie ein Fremder sein; auch sogar den Namen, den Sie jetzt führen, müssen Sie hier zurücklassen!«

Bei diesen Worten stieg abermals eine dunkle Röte dem Unglücklichen über die Stirn und finster, aber leidenschaftlich rief er:

»Der Name Newland gehört mir von Rechts wegen gar nicht. So hieß nämlich der zweite Gatte meiner Mutter, der vor einem Jahre starb und dessen verhängnisvolles, grausiges Vermächtnis eben jener Koffer dort ist mit allem, was darin sich befindet und daran sich knüpft – ein Vermächtnis, das gleich einem Fluche auf uns lastet. Man soll den Toten nichts Schlimmes nachsagen. Allein noch im Grabe verabscheue ich jenen Mann, der sich erkühnte, mein Stiefvater zu heißen. ›Welch eine Erscheinung!‹ hätten auch Sie bei seinem Anblick sicher ausgerufen. Im Äußeren glich er einem Heroen an Größe, Körperkraft, wie auch an Geist. Bestechend und verführerisch klang jedes Wort, mit dem er in die ahnungslose Menschenseele sich einzuschmeicheln verstand. Doch wer ihm unterlag, der saß fest in den Fangarmen des Teufels. Ein dämonischer Tyrann war er und hat meine unselige Mutter zu dem gestempelt, was sie jetzt ist, – zu einer geldgierigen Megäre, die heute noch einzig nur in den Fußstapfen des ihr teuer gebliebenen Verblichenen wandelt. Aus mir aber ...« – tief schöpfte er Atem – »aus mir hat er einen der routiniertesten, gefährlichsten Falschmünzer Amerikas gemacht, – ha, ha, ha! Das war ein Meister, wie es keinen zweiten giebt!«

»O Franky! So lasse doch die alten Erinnerungen!« bat meine kleine blonde Freundin zärtlich, indem ihr die hellen Tropfen über das süße Gesicht herabrieselten.

»Nein, nein! Jetzt muß ich reden!« erwiderte der junge Mann heftig. »Sie, Mr. Berken, sollen wenigstens erfahren, daß ich zu solch schmachvollem Berufe verführt – gezwungen wurde, daß nicht die Gier und die Lockungen nach mühelos erworbenen Schätzen mich dazu verleiteten! Beim Allmächtigen, der sich gnädig meiner erbarmen möge, – ich habe den schnöden Mammon stets gehaßt! Denn er allein ist der Satan, der die Menschheit verdirbt und erniedrigt! Was spreche ich doch von mühelos erworbenem Gelde? Wer hat gearbeitet Nacht um Nacht über Wagstücken, die oftmals doch mißlangen? Wer hat die Schweißtropfen saurer Mühe hergeben müssen für solches Teufelswerk? Ich war's – ich that's, Mr. Berken, weil ich zu schwach – zu feige war, mich loszureißen! Geknirscht und geflucht habe ich oft in ohnmächtigem Zorne. Doch der böse Blick der Mutter, in welchem ich noch fortdauernd den Dämon meines verfehlten Lebens – den Meister – den Stiefvater zu schauen wähnte, – er hielt mich gleich einem Knechte in Zucht und Banden! Aber das Maß ist voll, – länger ertrage ich es nicht!« rief er fast schluchzend. »Um ihretwillen, die mein Licht und Trost ist,« – das sterbensmüde Auge traf der Gattin aufstrahlendes Gesicht, »um ihretwillen reiße ich das Band, was mich an diejenige bindet, die mich geboren, in Stücke!« Ich schaute nach der Uhr und fragte, in der Absicht, ihn von dem schmerzlichen Thema abzulenken:

»Darf ich den Wagen für Sie bestellen, Mr. Newland?«

Wie aus tiefem Sinnen fuhr er auf und nickte halb gedankenvoll:

»Ja, ja – den Wagen – fort!«

»Auch möchte ich Ihnen hier noch eine Adresse für Montreal überreichen, Mr. Frank? ... Ja, wie ist denn Ihr wirklicher Name?«

»Wilson!« entgegnete er kurz.

»Also, Mr. Wilson! Ein sehr intimer Freund von mir, ebenfalls ein Deutscher, hat dort eine renommierte und gesuchte Law-Office (Rechts-Bureau). An diesen ganz vortrefflichen Mann habe ich Sie als tüchtigen, intelligenten Arbeiter empfohlen, da ich durch Ihre Gemahlin weiß, welch gründliche Bildung Sie genossen, und daß ein Wissen in Ihnen steckt, wie junge lebenslustige Amerikaner es sich sonst selten anzueignen pflegen. Ein Wort von mir genügt, Ihnen den Anfang zu einer vielleicht sehr lukrativen Laufbahn zu eröffnen, und gingen Sie somit im Auslande keiner allzu trüben Zukunft entgegen. Die Hauptsache ist natürlich, daß Sie mit Lust und Energie einen Ihren Kenntnissen angemessenen Beruf ergreifen.«

»Mein Gott, das ist zu viel, – das bin ich nicht wert!« stöhnte der Überraschte kopfschüttelnd. Es zuckte dabei aber doch ganz seltsam freudig um seinen Mund.

Meine kleine blonde Freundin schlug indes die Hände vor das Gesicht und schluchzte laut.

»Haben Sie das nötige Reisegeld?« forschte ich, durch nichts beirrt, mit der ernsten, trockenen Stimme eines Inquirenten weiter, obgleich mir selbst vor innerer Bewegung der Ton im Halse stecken zu bleiben drohte.

Eine lange Pause erfolgte. Dann zog Mr. Frank Wilson mehrere 50 Dollar-Billets aus seinem Taschenbuche, zündete am Tische eine Kerze an und hielt, ohne zu sprechen, noch zu zucken die Banknoten darüber, daß alsbald die hellen Flammen um seine Finger spielten.

»Ist denn der Mensch toll geworden!« hätte bei diesem seltsamen Gebahren ein anderer vielleicht gedacht und solchen Frevel zu vereiteln gesucht. Ich aber rührte mich nicht von der Stelle. Denn gerade jenes anscheinend kopflose Experiment redete für mich eine stumme Sprache. Das, was dort eben in Rauch aufging, waren ja auch nur elende Falsifikate; Lug und Trug war es –, die schauerlichen Früchte seines arbeitsschweren Daseins, an denen, wie er selbst gesagt, die Schweißtropfen saurer Arbeit hingen! Armer Frank! So kurz und straff hielt diese entsetzliche Mutter ihren einzigen Sohn im Zügel, daß sie ihm nicht das nötigste Geld zur Verfügung stellte – aus Angst, er könne doch endlich einmal ihrer Tyrannei heimlich entfliehen! In diesem Augenblicke überkam es mich wie eine wahre Wollust, jenem entmenschten Weibe einen Streich spielen zu können.

Mit zu Boden gesenkten Wimpern stand der Bedauernswerte vor mir. Welch beschämende Gefühle mochten in ihm sich regen! Daher schritt ich rasch an ihn heran und legte meine Rechte sanft auf seine Schulter.

»Lassen wir Vergangenes ruhen, mein Freund! Ich begreife und verstehe alles und beklage Sie tief. Und doch ist es am Ende besser so, damit Sie mit Ihrer Flucht aus New York niemandem – verstehen Sie wohl: niemandem mehr verpflichtet sind. Hier, Mr. Frank Wilson, lege ich 500 Dollars auf den Tisch, als ein Darlehen, was hoffentlich zum Beginn einer neuen Existenz ausreichen wird! Sie werden arbeiten und später guten Verdienst haben, davon bin ich überzeugt.«

Abwehrend erhob er seine Hände.

»Nun, was wollen Sie?« setzte ich schnell und lächelnd hinzu. »Ohne Geld kann man nicht reisen, und bleibt Ihnen somit gar nichts anderes übrig, als meine Hilfe anzunehmen. Im übrigen bin ich auch weit davon entfernt, diese Summe als verloren zu betrachten. Denn fürs erste bin ich selbst durchaus kein reicher Mann, und zweitens weiß ich ziemlich sicher, daß Sie die kleine Schuld mir nach und nach zurückzahlen werden. Sind Sie demnach mit diesem Geschäfte zufrieden?«

Einem Traumbefangenen gleich stand er vor mir und stotterte nur ein paarmal hintereinander:

»Ich danke – danke Ihnen, mein Herr!«

Seit ich mein deutsches Vaterland verlassen, war, glaube ich, eine ähnliche Anwandlung von Rührung und seelischer Befriedigung nicht über mich gekommen, als zu jener Stunde, die mit allen ihren Einzelheiten klar und fest sich bis zum heutigen Tage meinem Gedächtnis eingeprägt hat.

Stillschweigend hatte ich meinen Hut ergriffen und gedachte mich unbemerkt zur Thür hinauszuschleichen. Allein der blonden Frau war meine Absicht nicht entgangen. In stürmischer Hast rannte sie mir nach und faßte beinahe leidenschaftlich meine Rechte.

»Nein, so dürfen Sie nicht fort, Mr. Berken! O, es sieht Ihnen ganz ähnlich, daß Sie unseren Dankesworten sich entziehen wollen! Die wahre Großmut ist ja immer still und bescheiden, und ihr Deutschen seid alle von Natur so edel! Wirklich grausam wäre es gegen uns, nicht noch einen letzten, warmen Händedruck, einen letzten Abschiedsblick des einzig wahren, teilnehmenden Freundes für unser armseliges Geschick zu erhalten!«

So klang es in schmelzenden Tönen an mein Ohr. Wehmütig lächelnd blieb ich stehen, indem nun auch Mr. Wilson sich mir näherte und mit stummem Schmerze mir ins Auge schaute.

»Leben Sie wohl, Mr. Berken!« sagte er, nachdem er seiner sichtlichen Bewegung endlich Herr geworden. »Was Sie vollbracht haben, ist eine That, welche mit der Dankbarkeit eines ganzen Lebens kaum gelohnt wäre, und die nur Gott zu vergelten im stande ist! Sie werden von uns hören. Leben Sie wohl!«

Noch einmal schüttelten mir die beiden Verwaisten – diesen Eindruck machten sie auf mich, als sie, Arm in Arm, tiefste Wehmut im Angesicht, mir gegenüberstanden – die Hände. Dann schloß sich die Pforte hinter mir und ich stand auf dem Vorsaal.

Indes schien jetzt durchaus keine Zeit mehr, sich schmerzlichen Gefühlen und Reflexionen hinzugeben. Die Uhr zeigte 6½ und der Zug, welchen das junge Paar benutzen sollte, verließ New York in einer Stunde. Rasch sprang ich die Treppe hinab. Unglücklicherweise begegnete mir im Vorsaal, wo die Parlours mündeten, Miß Emmerson.

»Nun, wohin so eilig, Mr. Berken? Sie sehen ja ganz erhitzt aus,« warf die Dame lächelnd hin.

»Es ist oben in meinem Zimmer eine Bärenhitze und möchte ich mit der offenen Car (Pferdebahnwagen) etwas hinaus in den Central-Park fahren,« log ich mit abgewandtem Gesichte.

»So? Dann werden Sie zum Essen schwerlich zurück sein – hm!« Eine Weile sah sie mir kopfschüttelnd und durchdringend in die Augen. »Nun, ich bin weit davon entfernt, Sie mit indiskreten Fragen zu belästigen. Aber – an der Nase sehe ich es ja Ihnen an, daß irgend etwas faul ist im Staate Dänemark. Dazu kenne ich Sie zu genau. Well, über das dinner machen Sie sich nur keine Sorgen! Für Sie wird es aufbewahrt. Viel Vergnügen, Mr. Berken!« Damit schritt meine alte Freundin majestätisch ihres Weges.

Jedenfalls muß ich ein sehr dummes oder verblüfftes Gesicht gemacht haben, und war wirklich froh, als ich draußen in frischer Luft mich befand. – –

Erst gegen 8 Uhr abends kehrte ich nach planlosem Herumstreifen in der City zurück, weil ich es aus verschiedenen Gründen für zweckmäßig erachtete, daß die Abreise der Wilsons sich ohne meine Anwesenheit vollzog.

Unbefangen betrat ich das Speisezimmer, wo in der That noch ein gedecktes Couvert für mich auflag. »Gute Miß Kathe!« dachte ich befriedigt; denn ich war hungrig und freute mich auf eine kräftige Mahlzeit. Allein nichts verriet mir in der nächsten Viertelstunde, daß irgend etwas Besonderes im Hause vorgefallen. Der aufwartende Neger machte ein völlig indifferent stumpfsinniges Gesicht und die das Diningroom zufällig passierenden Logiergäste begrüßten mich nur mit einem kurzen »Good evening, Mr. Berken!« Trotzdem aber lag es mir wie eine Gewitterschwüle auf dem Gemüte. Waren meine Schützlinge unbehindert und glücklich fortgekommen? Zu fragen wagte ich nicht, hoffte daher auf einen günstigen Zufall, der es mir verraten würde.

Wirklich, als ich nach beendetem Speisen die Treppe nach meinem Zimmer emporstieg, trat Miß Emmerson aus den von dem jungen Paare bewohnten Gemächern heraus auf den Flur. Wir stutzten beide, und alsbald drang ein sonderbarer Geruch nach verbranntem Papier durch die geöffnete Thür mir entgegen.

»Ah – zurück?« fragte sie leichthin, doch merkte ich bald, daß in dem sonst freundlichen Gesichte ein merklich ernster Ausdruck lag.

»Ja, Miß Emmerson! Und ich habe mir soeben Ihre vortrefflichen Gerichte schmecken lassen!« erwiderte ich mit möglichster Heiterkeit.

»Nun, mein dinner ist mir heute recht gestört worden durch die sonderbare, fluchtartige Abreise zweier meiner Gäste!« war ihre etwas scharfe Antwort.

»Fluchtartige Abreise?« fragte ich mit einer äußerst wohlgelungenen Miene des Staunens, wodurch die alte Dame sofort veranlaßt wurde, halb befriedigt und freundlicher den Kopf zu wiegen.

»Nun, ich dachte mir eigentlich, daß Sie vielleicht etwas mehr von diesen Leuten wüßten, weil die kleine Blondine mit den Taubenaugen bei Tische immer so zutraulich zu Ihnen redete, und Sie, Mr. Berken, heute so sonderbar! ... Na, einerlei – die Newlands sind fort!«

»Alle?« entfuhr es etwas unbedacht von meinen Lippen.

»I bewahre! Nur das junge Paar – scheinbar nur auf eine Woche, wie das Frauchen schüchtern mir versicherte! Doch ich möchte, obgleich hier drinnen in den Schränken noch alles voll Sachen hängt, die höchste Wette eingehen, daß es auf Nimmerwiedersehen ist. Das kommt aber bei solch leichtsinniger Sippschaft gar nicht darauf an. Nebenbei haben sie in den Zimmern einen Gestank zurückgelassen, als ob mindestens zwei Zentner Makulatur verbrannt worden wären. Als ich hineintrat, mußte ich wohl zwanzigmal hintereinander niesen und konnte vor Rauch die Augen kaum aufthun, so daß ich schon fürchtete, man habe mir die Bude über dem Kopfe angesteckt. Aber schließlich kann es mir ja gleichgültig sein!« argumentierte Miß Kathe lebhaft weiter; »denn bezahlt ist alles bis zum Ersten, – und mit den übrigen mache ich morgen früh auch ein Ende. Die rasche Abreise der beiden ist mir einzig nur des Geredes im Hause wegen fatal, zumal ich, wie Sie wissen, ohnedem schon heute Nachmittag einen heiklen Besuch erhalten.«

»Auf keinen Fall würde ich es beklagen, daß die jungen Newlands fort sind!« versetzte ich, höchst gleichgültig das Gähnen unterdrückend. Doch spähte ich trotzdem neugierig durch die halbgeöffnete Thür ins Zimmer hinein. »Die Alte wird schöne Augen machen, wenn sie bei ihrer Rückkehr die lieben Kinder nicht mehr findet, Miß Emmerson!«

»O, die hat längst von der Flucht gewußt! Das war alles geplant und abgekartet.«

»So – glauben Sie?«

»Sicherlich! Ich wundere mich nur, daß Sie, Mr. Berken, bei Ihrem scharfen Beobachtungstalente nicht auch Wind davon gekriegt haben!«

Ich lachte sie heiter an.

»Wer wird so mißtrauisch sein, Miß Kathe. Was gehen mich denn diese Menschen an? Wahrlich, ich habe ja gar keine Zeit dazu, mich so viel um den lieben Nächsten zu bekümmern.«

Die alte Dame schien völlig beruhigt, und freundschaftlich wünschten wir uns gegenseitig Good night! –

Ich erinnere mich, daß ich in jener Nacht nicht viel geschlafen habe und erst wieder frei und beruhigt aufzuatmen begann, als mir am nächsten Morgen ein Telegramm überreicht wurde mit dem kurzen, aber für mich bedeutungsvollen Inhalt: »Glücklich Montreal angelangt, Wilson.« Mit seelischem Behagen kleidete ich mich an und mußte wirklich lachen, welch ein von Bosheit und Schadenfreude blitzendes Gesicht mir heute aus dem Spiegel entgegensah. Jetzt gab es ja noch einen Hauptspaß, nämlich das stille Beobachten der alten Newland, wie deren elegisch angehauchten Tochter und des ehrenwerten Mr. Fowler beim Frühstück. Denn daran, daß die Gesellschaft überhaupt kommen würde, zweifelte ich keinen Augenblick. Schon, um jeden Verdacht von sich abzulenken, mußten sie sich diesen Morgen zeigen.

Daher begab ich mich ein wenig früher als gewöhnlich hinab, um die Personen, in deren Dasein ich ohne ihr Wissen eine so bedeutende Rolle gespielt, sofort beim Eintreten ins Speisezimmer aufs Korn zu nehmen. Wer aber beschreibt meine Überraschung! In der Halle, an der weit geöffneten Hausthür, durch die ich eine elegante Equipage vor dem Hause halten sah, standen Mrs. Newland und ihre Tochter, völlig reisefertig, im Begriff, sich von Miß Emmerson zu verabschieden, und deutlich vernahm ich noch die seltsamen Worte:

»Der arme Frank! Er leidet zuweilen an schlimmen Anfällen von Geistesstörung, was seine kindische junge Frau durchaus nicht zugiebt. Ich fürchte, daß seine unmotivierte plötzliche Abreise abermals ein trauriger Beweis ist für diese nicht mehr abzustreitende Thatsache. Ellen und ich müssen uns daher schleunigst auf die Suche der beklagenswerten Kinder begeben und können daher leider die Annehmlichkeiten Ihres Hauses nicht länger genießen, meine teure Miß Emmerson! Major Fowler wird indes noch bis morgen hier bleiben und dann mit unserm Gepäck nachfolgen.«

Jetzt schritt ich unbefangen und unerschrocken die letzten Stufen der Treppe, auf der ich stand, hinab, so daß ich nur noch wenige Fuß breit von den Damen entfernt war. Mit einem höflichen: »Good morning!« lüftete ich den Hut. In demselben Augenblick aber fuhr Mrs. Newlands Kopf nach mir herum, und ich vermochte voll in ihr Angesicht zu schauen.

Ich habe wohl davon gehört, daß blühende, gesunde Menschen durch Kummer, seelischen Schmerz oder körperliche Leiden binnen weniger Monate ein vollständig verändertes Aussehen erhalten können. Diese bisher noch so rüstige Frau hatte aber eine einzige Nacht zur Greisin umgewandelt. Doch nicht der Ausdruck milder, friedlicher Ruhe lag über dem gefurchten Gesicht, – nein, eine grauenhafte, grinsende Verzerrung, welche zu verbergen ihr nicht gelang, zuckte zuweilen darüber hin. Vor diesem Anblick schauderte ich innerlich und gedachte des Hauptes der Medusa.

Zwar traf mich nur ein einziger Blick der in stiller Angst, in Grimm und Wut flackernden dunklen Augen, doch er genügte, mir zu verraten, daß die fürchterliche Kreatur mir auf dem Grunde der Seele zu lesen beabsichtigte, und daß ihr scharfer Verstand sie doch vielleicht auf die richtige Spur geleitet. Wie aus Erz gegossen, mit keiner Wimper zuckend, stand ich vor ihr. Mir erschien dies jetzt schon als Anfang der Vergeltung, die früher oder später über diese geldgierige Megäre, wie der eigene Sohn sie benannte, unfehlbar hereinbrechen mußte. Nochmals verbeugte ich mich kühl und schritt an ihr vorüber dem Speisezimmer zu.

Das war auch das letzte, was ich von Frank Wilsons Mutter jemals wieder geschaut. – –

Zwei Tage später brachten die New Yorker Zeitungen von neuem allerlei Gerüchte über die vermeintlichen Falschmünzer, unter anderem die Nachricht, daß die Polizei sich die gefährlichen Vögel jedenfalls wieder habe aus dem Garn fliegen lassen. Wenigstens sei auf einem der City-Bahnhöfe eine ominöse Reisetasche, vollgepfropft mit allerlei äußerst verdächtigem Werkzeuge nebst Zubehör, aufgefunden und mit Beschlag belegt worden, und könne das wohl zu dem Schlusse berechtigen, daß die verbrecherischen Eigentümer derselben längst über alle Berge wären. –

Nach etwa sechs Monaten erhielt ich die ersten ausführlicheren Nachrichten von meinen Schützlingen in einem Briefe, dem ein Check über 150 Dollars, zahlbar an der Bank von Montreal, beigeschlossen war. Es war Mrs. Maud Wilson, die mir schrieb; doch mußte ich bei dem Lesen öfters eine Pause machen, weil eine eigentümliche Rührung mich überkam. Fast Seite um Seite füllten nur rührende Dankesworte das Papier. Dieses Geld – so meldete sie – sei die erste Rate ihrer Schuld; indes dürften sie nicht im mindesten deshalb darben. Frank habe einen brillanten Verdienst! – Und was stand da noch in diesem Briefe? Von nie gekanntem Glück, von seligem Frieden und einem süßen, trauten Heim erzählten die Zeilen –; ferner wie Frank arbeite von früh bis spät, wie einfach und anspruchslos er sei in seinen Bedürfnissen, aber auch, wie geachtet und geliebt er sei von seinem Chef und von allen, mit denen er verkehre! »Ist dieses gottgesegnete Leben jetzt nur eine himmlische Illusion oder haben wir früher einen bösen Traum geträumt? O, möchte doch die Vergangenheit gänzlich ausgelöscht sein!« So schloß die junge Frau ihr langes Schreiben.

Und sie blieb es wirklich. Denn Frank Wilson ist bis zum heutigen Tage nie mehr an jene Schreckensperiode seines Daseins erinnert worden. Als ich ihn nach langer Zeit, völlig zum Manne herangereift, wiedersah, und er mir stumm, doch mit strahlender Seligkeit im Auge, sein einziges Söhnlein, einen prächtigen, blonden Jungen von etwa einem Jahre, entgegenreichte, da wußte ich genau, daß sein einst so verhärtetes, umdüstertes Gemüt nun endlich Frieden gefunden im Schönsten, was eine weise Hand zu unserem Segen und Frommen geschaffen – im eigenen Heim. – –

Und Mrs. Newland?

Weder mündlich noch schriftlich habe ich jemals den Sohn nach seiner Mutter zu fragen gewagt. Doch sie, die für und für des geprüften Mannes »Licht und Trost« blieb, die ihm vertraut und an ihm gehangen in den schrecklichen Tagen des Elends, – sie flüsterte mir, in dem ihr auch später noch anhaftenden, fast jungfräulichen Liebreiz einmal ins Ohr, daß Franks Mutter mit Ellen auf großem Fuße in Paris lebe. Woher sie diese Kunde erhalten hatte, war mir zu wissen gleichgültig, und ich fragte nicht danach. Allein irgend welche Gefahr fürchtete ich für meine Schützlinge nicht mehr. – –

Druck von Greßner & Schramm in Leipzig.


Hinweise zur Transkription

Im Originalbuch tragen die Titelseite, die Kapitelüberschriften und die Kapitelenden einfachen floralen, die Kapitelanfänge ornamentalen Schmuck, auf den in dieser Transkription verzichtet wurde.

Das Originalbuch ist in Fraktur gesetzt.

Darstellung abweichender Schriftarten: gesperrt, Antiqua (Römische Zahlen wurden nicht gesondert markiert).

Der Text des Originalbuchs wurde grundsätzlich beibehalten, mit folgenden Ausnahmen,

Seite 8:
im Original "hatten die Fremden es verstanden sich bald"
geändert in "hatten die Fremden es verstanden, sich bald"

Seite 9:
im Original "Rückseite des Häuschens gelegenen, kleinen Salons"
geändert in "Rückseite des Häuschens gelegenen, kleinen Salon"

Seite 9:
im Original "»M'a«!"
geändert in "»M'a!«"

Seite 11:
im Original "das bißchen Silber dazu geommen"
geändert in "das bißchen Silber dazu genommen"

Seite 15:
im Original "»Das ist wirklich originell, hahaha!"
geändert in "»Das ist wirklich originell, hahaha!«"
Die Zeitungsannonce wurde durch Einrückung markiert.

Seite 16:
im Original "Ich bin überzeugt, daß fast jede"
geändert in "»Ich bin überzeugt, daß fast jede"

Seite 17:
im Original "Bibliothek um ein für sein Geschäft wichtiges Werk"
geändert in "Bibliothek, um ein für sein Geschäft wichtiges Werk"

Seite 20:
im Original "trat Mrs. Clark zum Ausgange gerüstet, noch einmal"
geändert in "trat Mrs. Clark, zum Ausgange gerüstet, noch einmal"

Seite 37:
im Original "Berlin, 14. Januar 18.."
geändert in "Berlin, 14. Januar 18.."
Zur Angleichung wurde die Sperrung der Ortsangabe aufgehoben.

Seite 41:
im Original "das Licht, der armseligen »Motte« zu folgen?«
geändert in "das Licht, der armseligen ›Motte‹ zu folgen?«

Seite 46:
im Original "Meinetwegen brauchst Du das nicht mehr zu thun!«"
geändert in "»Meinetwegen brauchst Du das nicht mehr zu thun!«"

Seite 59:
im Original "Geheimnis, daß Deinen wilden, zügellosen Freund"
geändert in "Geheimnis, das Deinen wilden, zügellosen Freund"

Seite 61:
im Original "»Agnes, meine Agnes! Ich bin namenlos glücklich«"
geändert in "»Agnes, meine Agnes! Ich bin namenlos glücklich!«"

Seite 78:
im Original "Unsere Herzogin, die durchaus keine schöne Frau war"
geändert in "»Unsere Herzogin, die durchaus keine schöne Frau war"

Seite 92:
im Original "Unsere guten Newtows sind Menschen, welche"
geändert in "Unsere guten Newtons sind Menschen, welche"

Seite 95:
im Original "»Sie irren, mein Herr! entgegnete ich"
geändert in "»Sie irren, mein Herr!« entgegnete ich"

Seite 113:
im Original "Nur bildeten Mokassins die Fußbegleidung"
geändert in "Nur bildeten Mokassins die Fußbekleidung"

Seite 118:
im Original "es sich kaum bezeichnen – am Brodway"
geändert in "es sich kaum bezeichnen – am Broadway"

Seite 125:
im Original "Mein Blick war plötz- auf etwa"
geändert in "Mein Blick war plötzlich auf etwa"

Seite 128:
im Original "»Ich staune über sie, Madame!«"
geändert in "»Ich staune über Sie, Madame!«"

Seite 129:
im Original "Was mir an-anfänglich schwer und ungewöhnt ist"
geändert in "Was mir anfänglich schwer und ungewöhnt ist"

Seite 135:
im Original "Sonne ihre glühenden Strahlenbündel anf den"
geändert in "Sonne ihre glühenden Strahlenbündel auf den"

Seite 143:
im Original "die Mutter von Frank Newland. sowie"
geändert in "die Mutter von Frank Newland, sowie"

Seite 147:
im Original "»Der »New York Herald« wird zum Beispiel"
geändert in "»Der ›New York Herald‹ wird zum Beispiel"

Seite 163:
im Original "»der Zweck heiligt die Mittel«"
geändert in "›der Zweck heiligt die Mittel‹"

Seite 168:
im Original "»Welch eine Erscheinung!«"
geändert in "›Welch eine Erscheinung!‹"